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Full text of "Berliner Klinische Wochenschrift 1897 34 Teil 1 Bis 576"

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BERLINER 

KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 

Organ für practische Aerzte. 

Mit Berücksichtigung der preussischen Medicinal-Verwaltung und Medicinal-Gesetzgebung 

nach amtlichen Mittheilungen. 

R e d i g i r t 

von 

Prof. Dr. C. A. Ewald, und Prof. Dr. C. Posner, 

Geh. Med.-Rath, dirig. Arzt am Augusta-Hospital zu Berlin. zu Berlin. 


VIERUNDDREISSIGSTER JAHRGANG. 


BERLIN 1897. 

Verlag von August Hirschwald. 

N.W. Unter den Linden 68. *' .. 

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Inhalt. 


I. Origiual-Niltheiluiigeii. 

Aus den Kliniken und Krankenhäusern. 

Ans dem ehern. Laboratorium des Patholog. Instituts in Berlin. 

1. £. Salkowski: Ueber den Nachweis des Peptons (Albumosen) 
im Harn und die Darstellung des Urobilins 35B. 

Ans der I. medicinischen Universitäts-Klinik (Geh.-Rath v. Leyden) 

in Berlin. 

2. Paul Jacob: Ueber einen tödtlich verlaufenen Fall von Kali 
ehloricum-Vergiftung 580. 

3. O. Huber und F. Blumenthal: Ueber die antitoxische nnd 
therapeutische Wirkung des menschlichen Blutes nach überstandenen 
Infectionskrankheiten (Scharlach, Masern, Pneumonie und Ery- 
sipel) 671. 

Aus dem chemischen Laboratorium der I. medicinischen Klinik in Berlin. 

4. Ferdinand Blumenthal: Ueber Zucker abspaltende Körper 
im Organismus 245. 

Aus der II. medicinischen Universitätsklinik (Geb. Med.-Rath Professor 
Gerhardt) in Berlin. 

5. C. Gerhardt: Pulsus paradoxus einer Seite. Ungleiche Pulszahl 
der Armaiterien 285. 

6. M. Heidemann: Ueber Folgezustände von pericardialen Oblite- 

ralionen 92. 119. 

7. Martin Jacoby: Ueber den Einfluss des Apentawassers auf den 
Stoffwechsel einer Fettsüchtigen 248. 

8. Ludwig Bl um reich und Martin Jacoby: Experimentelle Unter¬ 
suchungen über Infectionskrankheiten nach Milzexstirpation 411. 

9. W. Zinn: Ueber einen Stoffwechsel versuch mit Schilddrüsen¬ 
tabletten bei Fettsucht 577. 

10. II. Rüge und W. Hüttner: Ueber Tabes und Aorteninsufflcienz 760. 

Aus der Poliklinik der II. medicinischen Klinik der Charitä (Geh.-Rath 
Gerhardt) in Berlin. 

11. M. Heidemann: Situs transversus viaeerum 600. 

Ans der III. medicinischen Universitäts-Klinik (Geh. Med.-Rath Professor 
Senator) in Berlin. 

12. H. Senator: Zur Kenntniss der Osteomalacie nnd der Organo¬ 
therapie 109. 143. 

13. H. Senator: Die Pathogenese der chronischen Nephritis 820. 

14. A. Loewy und P. F. Richter: Zur Chemie des Blutes 1028. 

15. Heinrich Ros in: Ueber einen eigenartigen Eiweisskörper im 
Harne und seine diagnostische Bedeutung 1044 

16. S. Marwin: Ueber die Glykosnrie erzeugende Wirkung der Thy¬ 
reoidea 1129. 

Aus der chirurgischen Klinik der Charite (Geh. Med.-Rath Prof. König) 

in Berlin. 

17. König: Die chirurgische Klinik der Charitä 11. 

18 . König: Die congenitale Luxation des Hüftgelenks 21. 

Aus der geburtsh.-gynäkolog. Universitäts-Poliklinik der Charite in Berlin. 

19. P. Strassmann: Die Entstehung der extrauterinen Schwanger¬ 
schaft 776. 


Ans der psychiatrischen und Nervenklinik der Charite (Piof. Jolly) in 

Berlin. 

20. M. Laehr: Lepra und Syringomyelie. 45. 

21. F. Jolly: Ueber Unfallverletzung und Mukeiatrophie nebst Be¬ 
merkungen über die Unfallgesetzgebung 241. 

22. A. West phal: Ueber Popillenerscbeinnngen bei Hysterie 1024, 1052. 

Ans der . König!. Univeraitäts-Augenklinik in Berlin. 

23. Richard Greeff: Ueber Pseudogliome der Retina 736. 

Aus der Universitäts-Klinik für Kinderkrankheiten (Prof. Henbner) in 

Berlin. 

24. W. Stoeltzner: Ein neuer Fall von Cerebrospinalmeningitis 333. 

25. O. Heubner: Ueber Säuglingsernährung und Säuglingaspitäler 441. 

Aus der Königl. Universitäts-Poliklinik für Hals- und Nasenkranke 

in Berlin. 

26. Albert Rosenberg: Die Behandlung der Strumen mittelst 
parenchymatöser Injectionen 804. 

Ans der Königl. Universitäts-Poliklinik für orthopädische Chirurgie 

in Berlin. 

27. Joachimsthal: Ueber Verbildungen an extrauteiin gelagerten 
Foeten 75. 

28. Julius Wolff: Ueber die Operation der doppelten Hasenscharte 
mit rüsselartig prominirendem Zwischenkiefer und Wolfsrachen 
1021, 1054, 1073. 

Aus dem Institut für Infectionskrankheiten in Berlin. 

29. A. Wassermann: Ueber Gonokokken-Cultur und Gonokokken- 
Gift 685. 

Aus dem Königl. Institute für Sernmforachung nnd Sernmprüfung in Steglitz. 

80. Bonhoff: Versuche über die Möglichkeit der Uebertragung des 
Rotzcontagiums mittelst Diphtherieheilserum 89. 

Ans dem städtischen Krankenhanse am Friedrichshain in Berlin. 

31. H. Stabei: Versuche mit Jodotbyrin und Thyraden an tbyreoi- 
dektomirten Hunden 721, 747, 764. 

Aus der inneren Abtheilung (Prof. Renvers) des städt. Krankenhauses 
Moabit in Berlin. 

82. Manfred Bial: Ueber die Beziehungen der Gastroptose zu ner¬ 
vösen Magenleiden 624. 

Aus dem städtischen Krankenhause am Urban. 

83. C. Benda und Fr. Borchert: Laryngocele ventricularis als 
Todesursache 687. 

Ans der inneren Abtheilung des städt. Krankenhauses am Urban 
in Berlin. 

84. A. Fraenkel: Ueber einige Complicationen und Ausgänge der 
Influenza 309, 388. 

Aus der inneren Abtheilnng des Augustahospitals (Prof. Ewald) 
in Berlin. 

85. Leop. Kuttner und Dr. Dyer: Ueber Gastroptose 420, 452, 471. 

86. C. A. Ewald: Erfahrungen über Magenchirurgie, vornehmlich bei 
malignen Geschwülsten 797, 824. 


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IV 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


87. Leop. Köttner: lieber Gastroskopie 912, 989. 

88. Elliot P. Joslin: Ueber Stoffwechselantersuchuogen mit Fleisch¬ 
pepton and Eucasin bei einem Fall von Magengeschwür, bei einer 
Resection des Magens and einem Fall von Gastroenterostomie 1047. 

Ans der chirurgischen Abtheilung (Med.-Rath Lindner) des Augusta-Ho- 
spitals in Berlin. 

89. Emil Reichard: Erfahrungen an 16 Magenresectionen 978. 

Aas dem Kaiser- und Kaiserin-Friedrich-Kinder-Krankenhaase in Berlin. 

40. A. Baginsky: Zar Pathologie der Darchfallkrankheiten der 
Kinder 22. 

41. A. Baginsky: Der grosse Iohalationsapparat im Diphtherie-Pa¬ 
villon des Kaiser- and Kaiserin-Friedrich-Kinder-Krankenhauses 948. 

Aas der inneren Abtheilung (8anitätsrath von Steinrück) des Kranken¬ 
hauses Bethanien in Berlin. 

42. Curt Horneffer: Pyramidon (Dimethylamidoantipyrin) 759. 

Ans der städtischen Irrenanstalt in Dalldorf. 

48. Max Edel: Röntgenbilder bei Akromegalie 689. 

Aas Prof. Dr. Hirschberg’s Aagen-Klinik in Berlin. 

44. J. Hirschberg: lieber die Körnerkrankheit in Ost- und West- 
preussen 197, 281. 

45. J. Hirschberg: Ueber Entfernung von Kupfersplittern aas dem 
Aagengrande 812. 

Aas der Poliklinik für Nervenkranke des Prof. Oppenheim in Berlin. 

46. J. Strauss: Zwei Fälle von isolirter peripherischer Lähmung 
des Nervus masculocutaneas 800. 

47. Herrn. Oppenheim: Ueber die durch Fehldiagnosen bedingten 
Misserfolge der Hirnchirnrgie 1066, 1095. 

Aus Prof. L. Land au’s Frauenklinik in Berlin. 

48. Ludwig Pick: Von der gnt- und bösartig metastasirenden Blasen¬ 
mole 1069, 1097. 

Ans Dr. Abel’s Privat-Franenklinik in Berlin. 

49. Abel: Ergotinal (Vosswinckel) als Ersatz für Ergotin 161. 

50. Abel: Ueber Abortbehandlung 271, 298. 

Ans Dr. G. Gutmann’s Augenklinik tu Berlin. 

51. E. Stern: Drei Fälle von Tätowirnng der Hornhaut 878. 

Aus der Poliklinik des Prof. Posner in Berlin. 

52. J. Cohn: Therapeutische Erfahrungen über Urotropin 914. 

Ans der medicinischen Klinik der Universität in Bonn. 

58. Fr. Schultze: Tetanie und Psychose 177. 

54. L. Brauer: Letal endende Polyneuritis bei einem mit Queck¬ 
silber behandelten Syphilitischen 267, 294. 

55. Fr. Schultze: Die Pathogenese der Syringomyelie mit beson¬ 
derer Berücksichtigung ihrer Beziehungen zum Trauma 841, 867. 

Aus dem pharmakologischen Institut in Bonn. 

56. C. Binz: Der Weingeist als arzneiliches Erregnngsmittel 221. 

57. C. Binz: Ueber einige Recept-Sünden und ihre Folgen 1011. 

Ans dem Laboratorium der medicinischen Klinik des Prof. Käst in Breslau. 

58. Kühn au: Ueber die Bedeutung der Serodiagnostik beim Ab¬ 
dominaltyphus 397. 

Aus der chirurgischen Universitätsklinik zu Breslau. 

59. J. Mikulicz: Die chirurgische Behandlung des chronischen 
Magengeschwürs 488, 522, 540, 561. 

Aus der Universitäts-Augenklinik in Breslau. 

60. W. Uhthoff: Ein Beitrag zu den Sehstörungen bei Zwergwuchs 
und Riesenwuchs bezw. Akromegalie 461, 501, 687. 

61. Theodor Axenfeld: Weitere Erfahrungen über die chronische 
Diplobacillenconjunctivitis 847. 

Aus der Universitäts-Klinik für Hautkrankheiten in Breslau. 

62. A. Neisser: Syphilisbehandlnng und Balneotherapie 329, 862. 

63. Steinschneider: Eidotteragar, ein Gonokokken-Nährboden 379. 

Ans der psychiatrischen Klinik (Geh. Rath Meyer) in Göttingen. 

64. A. Cr am er: Die conträre Sexualempfindung in ihren Beziehungen 
zum § 175 des Strafgesetzbuches 934, 962. 

Aus der chirurgischen Universitäts-Klinik (Prof. v. Bramann) in 

Halle a. S. 

65. L. Wullstein: Ueber Aufnahmen des Rumpfes durch Röntgen¬ 
strahlen 334. 


Aus der psychiatrischen und Nervenklinik in Halle a. S. 

66. E. Hitzig: Ueber einen durch 8trabismus und andere Augen- 
symptome ausgezeichneten Fall von Hysterie 183. 

67. W. 8eiffer: Beitrag zur Aetiologie der Peroneuslähmungen llll. 

Aus dem hygienischen Institut der Universität in Halle a. S. 

68. G. Sobernheim: Untersuchungen über die Wirksamkeit den 
Milzbrandserums 910. 

69. C. Fraenkel: Die Unterscheidung der echten und der falschen 
Diphtheriebacillen 1087. 

70. P. Cohn: In wie weit schützt der Brand- und Aetzschorf asep¬ 
tische Wunden gegen eine Infection (mit Hühnercholera und Milz¬ 
brand)? 1182. 

Aus der medicinischen Klinik in Kiel. 

71. H. Quincke: Ueber therapeutische Anwendung der Wärme 1065. 

72. H. Salomon: Ueber die locale Wirkung d*r Wärme 1093. 

Aus der Universitäts-Augenklinik zu Marburg. 

73. C. Achenbach: Beitrag zur Kenntniss der selteneren Ursachen 
der typischen Keratitis parenchymatosa 7. 

Aus der psychiatrischen Klinik zu Strassburg i. E. 

74. A. Hoche: Ueber die Luftdruckerkranknngen des Centralnerven- 
systems 464. 

Aus dem Institut für Hygiene und Bacteriologie der Universität 
Strassburg i. E. 

75. J. C. Th. Scheffer: Ueber die Widal’sche Serumdiagnose des 
Typhus abdominalis 223. 

76. Sidney Wolf: Ein Beitrag zur Aetiologie der clrcumscripten 
Meningitis 200. 

77. Hayo Bruns: Ueber die Fähigkeit des Pneumococcus Fränkel, 
locale Eiterungen zu erzeugen 357. 

78. E. Levy und Hayo Bruns: Beiträge zur Lehre der Aggluti¬ 
nation 491, 574. 

Aus der medicinischen Klinik zu Leipzig. 

79. Ernst Romberg: Bemerkungen über Chlorose und ihre Behand¬ 
lung 583, 538, 585. 

80. Carl Hirsch: Ein Fall von Alkaptonurie 860. 

Aus dem hygienischen Institute der Universität in München. 

81. Martin Hahn: Zur Kenntniss der Wirkungen des extravaseuiären 
Blutes 499. 

Aus der medicinischen Klinik (Geh. Rath Erb) in Heidelberg. 

82. S. Bettmann: Ueber den Einfluss der Schilddrüsenbehandlung 
auf den Kohlehydrat-Stoffwechsel 518. 

Aus der medicinischen Poliklinik der Universität in Heidelberg. 

83. O. Vierordt: Zur Klinik der Diphtherie und der diphtheroiden 
Anginen 153. 

Aus der chirurgischen Klinik (Prof. Czerny) in Heidelberg. 

84. Ernst Lobstein: Ueber die Methoden der Mastdarmexstirpation 
641, 675. 

85. Czerny: Therapie der krebnigen Stricturen des Oesophagus, des 
Pylorus und des Rectum 733, 762, 779. 

Aus der chirurgischen Abtheilung (Prof. Krause) des Stadtkrankenhauses 

in Altona. 

86. Schwertzel: Ueber den Werth der Röntgenstrahlen für die 
Chirurgie 628, 648. 

Aus dem städtischen Krankenhause zu Charlottenburg. 

87. E. Grawitz: Zur Physiologie und Pathologie der Pleura 621. 

Aus dem städtischen Krankenhause zu Elberfeld. 

88. Künne: Kali chloricum 1009. 

Aus dem städtischen Krankenhause (Abtbeil, des Prof. Noorden) in 

Frankfurt a. M. 

89. G. Herxheimer: Untersuchungen über die therapeutische Ver¬ 
wendarg des Kalkbrodes 423. 

90. Friedrich Kraus jr.: Die Resorption des Nahrungsfettes unter 
dem Einflüsse des Karlsbader Mineralwassers 447. 

91. Max I’ickardt: Zur Kenntniss der Chemie pathologischer Er¬ 
güsse 844. 

92. Hans Leber: Zur Physiologie und Pathologie der Harnsäureaus¬ 
scheidung beim Menschen 956, 984. 

Aus der dermatologischen Abtbeilung des städtischen Krankenhauses in 

Frankfurt a. M. 

93. Karl Herxheimer: Ueber Psoriasisbehandlung 756. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


V 


Aus der chirurgischen Abtheilung (Geh. Rath Bardenheuer) des Bürger¬ 
hospitals in Köln. 

94. Loew: Mittheilungen über die Kalzwedel’scbe Spiritusbehand¬ 
lung 775. 

Aus dem Knappscliafts-Lazareth (Prof. Wagner) Königshütte. 

95. O. Schräder: Ein Fall von traumatischer Lungentuberculose 1001. 

Aus dem Neuen Allgemeinen Krankenhanse in Hamburg. 

90. Rumpf: Ueber die Behandlung der mit Gefässverkalkung ein¬ 
hergehenden Störungen der Herzthätigkeit 265, 289. 

Aus der Universitäts-Kinderklinik in Graz. 

97. Th. Escherich: Begriff und Vorkommen der Tetanie im Kindes¬ 
alter 861. 

Aus der K. K. Universitätsklinik des Prof. v. Jak sch in Prag. 

98. Berlizheimer: Ueber einen Fall von Magentetanie 773. 

Aus dem hygienischen Institut (Prof. Hueppc) der deutschen Universität 

in Prag. 

99. Oscar Bail: Ueber das Freiwerden der bactericiden Leuko- 
cytenstoffe 887. 

100. Basch und Weleminsky: Ueber die Ausscheidung von Mikro¬ 
organismen durch die thätige Milchdrüse 977. 

101. Leo Zupnick: Ueber Variabilität der Diphtheriebacillen 1085. 

Aus der chirurgischen Universitätsklinik in Utrecht. 

102. D. B. Boks: Beitrag zur Myositis ossifleans progressiva 885, 
917, 942. 

Aus der hospital-therapeutischen Klinik des Prof. A. Ch. Kusznezoff 

in Charkow. 

103. M. Futrum: Ein Fall von positivem centrifngalcm Venenpuls 
ohne Tricuspidalinsufficienz 115. 

Aus der II. medicinischen Klinik von Prof. M. Jano wsky in St. Petersburg. 

101. G. Ja wein: Ein eigentümlicher Fall von Anaemia splenica 
pseudoleucaemica 713. 

Aus Dr. Turban’s Sanatorium in Davos. 

105. E. Rumpf: Das Verhalten des Zwerchfellphänomens bei Lungen¬ 
tuberculose 116. 


106. Victor Lange: Ueber adenoiden Habitus 5. 

107. Goluboft: Die Appendicitis als eine epidemisch-infectiöse Er¬ 
krankung 9. 

108. B. Scheube: Bemerkung zu Rasch’s Aufsatz: „Ein Fall von 
monströser Elephantiasis aus den Tropen“ in No. 49 1896 18. 

109. R. Schaeffer: Zur Frage der Catgutsterilisation 27. 

110. Martin Brasch: Ein Fall von motorischer Aphasie bei einem 
Kinde im Frühstadium eines acuten Exanthems 30. 

111. A. Freih. v. Eiseisberg: Zur Technik der Jejunostomie 33. 

112. Fritz 8chanz: Die Schnelldiagnose des Löffler’schen Diph¬ 
theriebacillus 48. 

118. Emil Senger: Vorschlag zu einer Modiflcation des Lorenz’schen 
Verfahrens der unblutigen Hüftgelenk-Einrenkung bei älteren 
Kindern 50. 

114. Franz Bruck: Zur Therapie der genuinen Ozaena 53. 

115. Albert Hoffa: Das Problem der Scoliosenbehandlung 65. 

116. O. Israel: Magenkrebs mit ungewöhnlicher secundärer Ausbreitung 
insbesondere im Darmcanal, Recnrrenaläbmung nnd Bemerkung 
über künstliche Beleuchtung 68. 

117. O. Rosenbach: Die Emotionsdyspepsie 70, 97. 

118. E. Heinrich Kisch: Ueber eine bei Officieren beobachtete 
Form nervöser Herzbeschwerden 95. 

119. E. 8aul: Zur Catgut-Frage 101. 

120. Adolf Lorenz: Zur congenitalen Luxation des Hüftgelenkes 112. 

121. v. Babes und Dr. Nanu: Ein Fall von Myosarcom des Dünn¬ 
darmes 188. 

122. Eugen von Koziczkowsky: Beitrag zur Aetiologie der Magen¬ 
neurosen 140. 

128. O. Israel: Ueber den Tod der Zelle 158, 185. 

124. Karl Bornstein: Ueber Fleischersatzmittel 162. 

125. A. Löwy und P. F. Richter: Die Heilkraft des Fiebers 182. 

126. Albert Albu: Die Wirkungen körperlicher Ueberanstrengungen 
beim Radfahren 202. 

127. M. Kirchner: Die Bekämpfung der Körnerkrankheit (Trachom) 
in Preussen 179, 206. 

128. Richard Stern: Ueber Fehlerquellen der Serodiagnostik 225, 
249. 

129. Tb. Rosen heim: Ueber motorische Insufficieuz des Magens 
228, 252. 

130. Max Schüller: Extraction eines Knochenstückes aus der Speise¬ 
röhre nach vorheriger Röntgendurchleuchtung 270. 

13t. Robert Kutncr: Beitrag zur Steinbchandlung 273. 


132. Martin Mendelsohn: Zur internen Behandlung der Nierenstein¬ 
krankheit 286. 

133. Leop. Casper: Aufgaben und Erfolge bei der Behandlung der 
chronischen Gonorrhoe 314. 

134. A. Freudenberg: Die galvanokanstische Radicalbehandlung der 
Prostatahypertrophie nach Bottini 318. 

135. Hans Büchner: Zu Robert Koch's Mittheilung über neue Tuber- 
culinpräparate 322. 

136. Kittel (Franzensbad): Ueber Uratablageruugen in der Fusssohle, 
ihre Entstehung nnd Behandlung 359. 

137. Moeli: Weitere Mittheilungen über die Pupillcn-Reaction 373, 401. 

138. Fr. Neumann: Chronische Herzinsufücienz, deren Behandlung 
nach eigener Beobachtung 376, 405. 

139. Wilh. Heerlein: Ueber die Wirkung der Sanguinalpillen bei 
Chlorose und verschiedenartigen Anämien 380. 

140. A. Baginsky: Zur Säuglingskrankenpflege in grossen Städten 408. 

141. D. Hansemann: Ueber Akromegalie 417. 

142. Arnold Sack: Ueber die Multiplicität des syphilitischen Primär- 
affectes 425. 

143. Edgar von Sohlern: Der Kissinger Rakoczy und seine Ver- 
werthbarkeit bei Magenerkrankungen 449. 

144. W. Havelburg: Experimentelle und anatomische Untersuchungen 
über das Wesen und die Ursachen des gelben Fiebers 493, 526, 
542. 564. 

145. O. Binswangen Ueber die Pathogenese und klinische Stellung 
der ErBchöpfungspsychosen 496, 523. 

146. M. Nencki, N. Sieber und W. Wyznikiewicz: Ueber die 
Rinderpest 513. 

147. Otto Dornblüth: Ueber Kolanin-Knebel 536. 

148. G. Klemperer: Ueber künstliche Nährpräparate 553. 

149. Walther Menke: Ueber Hermaphroditismus 556. 

150. Leop. Casper: Experimentelle Untersuchungen über die Prostata 
mit Rücksicht auf die modernen Behandlungsmethoden der Pro- 
statabypertrophie 582. 

151. E. Lesser: Syphilis insontium 597. 

152. Otto Mankiewicz: Ueber einen interessanten Blasensteiu 602. 

153. C. Posner: Die Florence’sche Reaction 602. 

154. Lenne (Neuenahr): Beitrag über den Einfluss der Schilddrüsen- 
extractbehandlung 627. 

155. Knud Faber: Perniciöse Anämie bei Dünndarmstricturen 643. 

156. Fuchs: Ein Fall von acuter Cholecystitis und Cholangitis mit 
Perforation der Gallenblase 646. 

157. E. Simonson und S. Cohn: Die Bedeutung der Schlelch’schen 
Infiltrationsanästhesie für den praktischen Arzt 652. 

158. P. Baumgarten: Untersuchungen über die Pathogenese und 
Aetiologie der diphtherischen Membranen 665, 691. 

159. E. Kaufmann: Beitrag zur Tuberculose des Herzmuskels 667. 

160. F. Rauschenbusch: Vergiftungserscheinungen infolge einer pro- 
phylactischen Serumlnjection von Behring's Antitoxin 694. 

161. J. W. Runeberg: Von der diagnostischen Bedeutung des Eiweiss¬ 
gehaltes in pathologischen Trans- und Exsudaten 710. 

162. 8. von Fedoroff: Zur Cystoskopie bei blutigem Harn nebst 
einigen Betrachtungen über den Katheterismus der Ureteren 716. 

163. N. Reichmann: Ueber den Einfluss der Krankheiten der Gallen¬ 
wege auf die motorische Thätigkeit des Magens 718. 

164. P. J. Nikauorow: Ueber die Gewinnung von Diphtherieheil- 
serum von hohem Antitoxingehalt 720. 

165. E. Holländer: lieber den diagnostischen Werth des Ureteren- 
katheterismus für die Nierenchirurgie 740. 

166. L. van’ THoff: lieber einen Fall von paroxysmaler Hämo¬ 
globinurie 745. 

167. Johannes Fibiger: Ueber Bekämpfung von Diphtherieepidemien 
durch Isolation der Individuen mit Diphtheriebacillen im Schlunde 
754, 783, 806, 826. 

168. E. Ponfick: Ueber die allgemein-pathologischen Beziehungen der 
Mittelohr-Erkrankungen im frühen Kindesalter 817, 851, 873, 890. 

169. Leop. Casper: Ueber den diagnostischen Werth des Ureteren- 
Katheterismus für die Nierenchirurgie 828. 

170. Reinhold Rüge: Ein Beitrag zum Krankheitsbilde des Eczema 
tropicum 849. 

171. H. Citron: Zur diagnostischen Verwerthung des Eiweissgehaltes 
seröser Flüssigkeiten 854. 

172. Jaques Joseph: Eine neue orthopädische Brustklammer 889. 

173. P. M. Rewidzoff: Zur Technik der Gastroskopie 893. 

174. H. Obersteiner: Die Pathogenese der Tabes 905. 

175. Th. Rosenheim: Ueber nervöse Dyspepsie 908, 936, 965. 

176. E. Lesser: Geschlechtskrankheiten und Volksgesundheit 929, 958. 

177. Th. Gluck: Die chirurgische Behandlung der malignen Kehlkopf¬ 
geschwülste 932, 960, 987. 

178. Adolf Lorenz: Allgemeine Erfahrungen über die mechanische 
Reposition der angeborenen Hüftverrenkung 953. 

179. II. Maass: Ueber Celluloidverbände 982. 

180. E. Baelz: Zur Lehre von der Lepra und ihrer Behandlung 997, 
1031. 

181. A. Frendenberg: Zur Bottinl’schen Operation bei Prostata¬ 
hypertrophie 1002. 

182. Hugo Wolff: Neue Mittheilungen zur Vorlagerung des Lidliebe- 
muskels bei Ptosis congenita 1004. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


VI 


183. Reinhold Rüge: Zur geographischen Pathologie der Westküste 
Südamerikas 1005. 

]Hi. He low: Die Mclannrie, ein Kunstproduct der Chininsalze 1007. 

185. Fritz Schanz: Zur Differentialdiagnose des Diphtheriebacillus 

1002. 

18(5. .1. Frank: lieber den resorbirbaren Darmknopf 1100. 

187. L. Herzog: Beitrag zu den Eierstockgeschwülsten im kindlichen 
Alter. 1114. 

188. J. Ehrmann: Ueber die Wechselbeziehungen zwischen „Salz¬ 
säuredeficit“ und „combinirter Salzsäure“ des Mageninhalts 1115. 

180. Ilüblersen.: Ein Fall von chronischer Perihepatitis hyperplastica 
1118. 

100. Karl Grube: lieber Psoriasis (Schlippenflechte) in Zusammen¬ 
hang mit Gicht und Diabetes 1184. 

101. J. Hang: Ueber die Ausscheidung des Jodothyrins durch die 
Milch 1136. 


II. Kritiken und Referate. 

Innere Medicin. 

Vierordt, 0.: Rachitis und Osteomalacie 18. 

Ewald, Ant.: Die Erkrankungen der Schilddrüse, Myxödem und Creti- 
nismus 33. 

Wilkens: Ueber die Bedeutung der Durchleuchtung für die Kiefer- 
höhleneiteruDg 35. 

Gyorkovcchky: Pathologie und Therapie der männlichen Impotenz 188. 

Friedländer: Beiträge zur Anwendung der physikalischen Heilmethoden 
234. 

Koch. Robert: Ueber neue Tuberculinpräparate 323. 

Hammerschlag, A.: Untersuchungen Uber das Magencarcinom 342. 

Möbius, Paul Julius: Der umschriebene Gesichtsschwund 427. 

Jacob, Chr.: Atlas der klinischen Untersuchungsmethoden 504. 

Fl einer, W.: Lehrbuch der Verdauungskrankheiten 504. 

Keen, W. W.: Gangreno as a Complication and Sequel of the continued 
Fevers, especialiy of Thyphoid 505. 

Romberg, Ernst: Ueber die Entwickelung der jetzigen therapeutischen 
Anschauungen in der inneren Medicin 605. 

Sulzer, Max: Anatomische Untersuchungen Uber Muskelatrophie arti- 
culären Ursprungs 605. 

v. Leube, W.: Specielle Diagnose der inneren Krankheiten 606. 

Einhorn, Max: Diseases of the stomach 767. 

Blumenfeld, Felix: Specielle Diätetik und Hygiene der Lungen- und 
Kehlkopfschwindsiichtigen 787. 

Rosenbach, O.: Die Krankheiten des nerzens und ihre Behandlung 891. 

Dieudonne, R.: Ergebnisse der Sammelforschung über das Diphtberie- 
heilserum für die Zeit vom April 1805 bis März 1896 895. 

Ganghofner, F.: Die Serumbehandlung der Diphtherie 895. 

Wiemer, O.: Das Diphtherieheilsernm in Theorie und Praxis 895. 

Burot, F. und A. Legrand: Thcrapentique du Paludisme 967. 

v. Noorden: Die Bleichsucht 1034. 

Jones, E. Lloyd: Chlorosis, the special anaemia of young women etc. 
1034. 

Wide, Anders: Handbuch der medicinischen Gymnastik 1034. 

Unterberger, S.: Ueber Scrophulose, Tuberculose und Phthise und 
ihre Behandlung in Haus-Sanatorien 1121. 

Filippo Rho: Malattie predominanti nel paesi calidi et temperati 1137. 

Chirurgie. 

Hoffa, A.: Atlas und Grundriss der Verbandlehre 13. 

Helferich, H.: Atlas und Grundriss der traumatischen Fracturen und 
Luxationen 58. 

Krukenberg: Lehrbuch der mechanischen Heilmethode 102. 

Hildebrandt: Jahresbericht über die Fortschritte auf dem Gebiete der 
Chirurgie 188. 

Reichel, Paul: Lehrbuch der Nachbehandlung nach Operationen 255. 

Albert, E.: Lehrbuch der speciellen Chirurgie 365. 

Riedel, B.: Chirurgische Behandlung der Gallensteinkrankheit 724. 

Petry: Ueber die subcutanen Rupturen und Contusionen des Magen¬ 
darmcanals 1076. 

Rehn: Die Verletzungen des Magens durch stumpfe Gewalt 1076. 

Michaux: Intervention chirurgicale dans les contusions de l’abdomen 

1076. 

Deavcr: The indications and nature of treatment in severe abdominal 
injurics and intra-abdominal hemorrhages unaccompanied by external 
evidence of violence 1076. 

Man ly: A practical study of serious abdominal contusions with a clinical 
report of twenty-one cases 1076. 

Harper: A case of injury to the abdomen and left lung 1076. 

Madelung: Einige Grundsätze der Behandlung von Verletzungen des 
Bauches 1076. 

Langenbuch: Chirurgie der Leber und Gallenblase (zusätzlich der 
Gallenwegc) 1077. 


Nerven- und Geisteskrankheiten. 

Strübing: Ueber Neurosen der Athmung 57. 

Dreyfuss: Die Krankheiten des Gehirns und seiner Adnexe im Gefolge 
von Naseneiterungen 57. 

Hoche, A.: Die Frühdiagnose der progressiven Paralyse 78. 

Rauschoff: Chloralamid als Hypnoticuni bei Geisteskranken 78. 

Möbius: Ueber die Behandlung von Nervenkranken und die Einrichtung 
von Nervenheilstätten 79. 

Determann: Casuistischcr Beitrag zur Kenntniss der Migräne 166. 

Flechsig: Die Grenzen geistiger Gesundheit und Krankheit 166. 

Dornblüth: Nervöse Anlage und Neurasthenie 210. 

Jolly: Traumatische Epilepsie und ihre Behandlung 210. 

Scholz: Ueber die Reform der Irrenpflege 210. 

Edel, M.: Ueber Versorgung verletzten und invalide gewordenen Irren¬ 
wartpersonals 865. 

Windscheid, Franz: Neuropathologie und Gynäkologie 382. 

Sach8, B.: Die Nervenkrankheiten des Kindesalters 383. 

Loewenfeld: L.: Lehrbuch der gesammten Psychotherapie 410. 

Snell: Grundzüge der Irrenpflege 4 1 L. 

Kalischer, S.: Was können wir für den Unterricht und die Erziehung 
unserer Schwachbegabten und schwachsinnigen Kinder thun? 411. 

Hcilbronner, Karl: Ueber Asymbolie 672. 

Tippei, M.: Leitfaden zum Unterricht in der Behandlung und Pflege 
der Geisteskranken für das Pflegerpersonal 680. 

v. Kraf ft-Ebing: Arbeiten aus dem Gesammtgcbiete der Psychiatrie 
und Neuropathologie 787. 

Raymond: Clinique des maladics du 8ystcme nerveux 914. 

Rutgers, J.: Ueber die Aetiologie des perversen Geschlechtstriebes 9<>8. 

Bernhardt, M.: Die Erkrankungen der peripherischen Nerven 1056. 

von Leyden und Goldscheider: Die Erkrankungen des Rückenmarks 
und der Medulla oblongata 1122. 

Kinderkrankheiten. 

Booker, William D.: A bacteriological and anatomical study of the 
summer diarrboeas of infauts 122. 

Lange, Jcrome und Max Brückner: Grundriss der Krankheiten des 
Kindesalters 274. 

Frühwald, F.: Ueber Mastdarm-Rhagaden und Fissuren im Kindes¬ 
alter 275. 

8achs, B.: Lehrbuch der Nervenkrankheiten des Kindesalters 383. 

Dennig, Adolf: Ueber die Tuberculose im KindesAlter 544. 

Schlesinger, Eugen: Die Tuberculose der Tonsille bei Kindern 514. 

Heubner, (>.: Die Syphilis im Kindesalter 545. 

Eschle: Kurze Belehrung über die Ernährung und Pflege des Kindes 
im ersten Lebensjahre 515. 

Mugdan. Otto: Die Ernährung des Kindes im ersten Lebensjahre 5-45. 

Festschrift. Eduard Hagenbacb-Burckhardt 605. 

Fahrn, Z.: Ueber congenitale Missbildungen 605. 

Eichenberger, E.: Ein Fall von Diabetes insipidus im Kindesalter 605. 

ßrandenberg, F.: Chronischer Icterus (mit letalem Ausgang) bei zwei 
Geschwistern im 8äuglingsalter 605. 

Fehr, Emil: Zur geographischen Verbreitung und Aetiologie der Rachitis 

605. 

Wieland, Emil: Ueber Incubation bei Kehlkopfcroup 606. 

Adam, A.: Ein Fall von traumatischer Hämorrhagie des Gehirns 606. 

Meyer, Heinrich: Ueber weitere Fälle von metastatischen Eiterungen 
nach Empyem im Kindesalter (>06. 

Henoch, Eduard: Vorlesungen über Kinderkrankheiten 854. 

Filatow, Nil: Kurzes Lehrbuch der Kinderkrankheiten für Studirende 
der letzten Semester 854. 

Monti, Alois: Ueber Verdauung und natürliche Ernährung der Säug¬ 
linge 854. 

Heubner, Otto: Säuglingsernährung und Säuglingsspitäler 854. 

Freud, Sigm.: Die infantile Cerebrallähmung 1102. 

Dolega: Zur Pathologie und Therapie der kindlichen Scoliose 1137. 

Geburtshülfe und Gynäkologie. 

Veit: Handbuch der Gynäkologie 56. 

Landau, Leop. und Theod.: Die vaginale Radicaloperation 77. 

Boden, Karl: Ein Fall von Spontanheilung einer Blasenscbeiden- 
flstel 145. 

Veit, J.: Ueber die Behandlung der Eklampsie 209. 

Knapp, Ludwig: Klinische Beobachtungen über Eklampsie 209. 

Dührssen, A.: Der vaginale Kaiserschnitt 209. 

Klein, Gustav: Die Gonorrhoe des Weibes 209. 

Winternitz, E.: Ueber Fremdkörper in der Scheide und über Scheiden- 
pessarien 255. 

Carossa, K.: Eine neue Methode der Behandlung des Kindbett fl ebers 
mit durchschlagendster Wirkung 343. 

Dührssen, A.: Ueber chirurgische Fortschritte in der Geburtsbülfe 343. 

Dührssen, A.: Ueber vaginale Coeliotomie und conservative vaginale 
Adnexoperation 343. 

Dührssen, A.: Ueber vaginale Anteflxatio uteri 343. 

Edebohls, George M.: The Indications for ventral Fixation of the 
Uterus 343. 

Noble, Charles P., Suspenso uteri with reference to its influenee 
lipon pregnancy and labor 343. 


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Berliner klinische Wochenschrift. 


vn 


Noble, Charles P., Drainage versus radical Operation in the treatment 
of large pelvic abscesses 343. 

Beaukamp: Ueber Hebammen- und Wärterinnen-Wesen 343, 809. 

Windscheid, Franz: Neuropathologie und Gynäkologie. Eine kritische 
Zusammenstellung ihrer physiologischen und pathologischen Be¬ 
ziehungen 382. 

Webster, J. Clarence: Die ectopische Schwangerschaft. Ihre Aetio- 
logie, Classification, Embryologie, Symptomatologie, Diagnose und The¬ 
rapie 383. 

Fränkel, Ernst: Tagesfragen der operativen Gynäkologie. Beob¬ 
achtungen und Forschungen der operativen Thätigkeit in den Jahren 
1893—1896 383. 

Fasbender, H.: Entwickelungslehre, Geburtshülfe und Gynäkologie in 
den hippocratischen Schriften 654. 

Menge und Kroenig: Bacteriologie des weiblichen Genitalcanales 749. 

Edebohls, George M.: Shortening the round Ligaments 767. 

Doyen, Eugene: Traitement des suppurations pelviennes de l’hyste- 
rectomie abdominale totale, traitement chirurgical des retrodeviations 
uterines, du meilleur mode de fermeture de la paroi abdominale 809. 

Pantaloni, H.: De l’hysterectomie abdominale totale 810. 

Fischl, Rudolph: Infections septiques du foetus, du nouveau-ne et du 
nourrisson 831. 

Flesch, Max: Bericht über die Thätigkeit der Poliklinik für Frauen¬ 
krankheiten in Sachsenhausen-Frankfurt a. M. in der Zeit vom 15. April 
1889 bis 30. Juni 1896 831. 

Engström, Otto: Mittheilungen aus der Gynäkologischen Klinik 832. 

Gottschalk, Sigmund: Zur Abortbehandlung 832. 

GottBchalk, Sigmund: Ueber die Castrationsatrophie der Gebär¬ 
mutter 832. 

Assaky, M.: La suture ä trois etages dans l’opcration de la flstule 
vesico-vaginale 832. 

Löh lein, H.: Zur Entstehung und Behandlung des Hämatoma vulvae 
der Neuentbundenen 874. 

Knapp, Ludwig: Aceton im Harn Schwangerer und Gebärender als 
Zeichen des intrauterinen Fruchttodes 874. 

Fritsch, Heinrich: Ein neuer Schnitt bei der Sectio caesarea 875. 

Emanuel, R.: Beitrag zur Lehre von der Endometritis in der Schwanger¬ 
schaft 875. 

Emanuel und Wittkowsky: Ueber Endometritis in der Gravidität 875. 

Emanuel, R.: Ueber Endometritis in der Schwangerschaft und deren 
Aetiologie 875. 

Döderlein, Albert: Ueber Vergangenheit und Gegenwart der Geburts- 
hülfe 919. 

Kossmann, R.: Ueber die Abortbehandlung 919. 

Pipeck, Ulrich: Bericht über die Morbiditäts- und Mortalitätsverhält¬ 
nisse auf der geburtshülflichen Klinik von Prof. Pawlick in derZeit 
vom 1. October 1897 bis 31. December 1895 920. 

Winternitz, E: Ueber die Häufigkeit und Prognose der Zangenent¬ 
bindungen auf Grund des gynäkologischen und geburtshülflichen Ma¬ 
terials der Tübinger Universitäts-Frauenklinik 920. 

Eiermann, Arnold: Der gegenwärtige Stand der Lehre vom Deci- 
duoma malignum mit besonderer Berücksichtigung der Diagnose und 
Therapie 920. 

Schottlaender, J.: Ueber Eierstockstuberculose 920. 

Winter, G.: Lehrbuch der gynäkologischen Diagnostik 1010. 

Syphilis und Hautkrankheiten. 

Polotebnoff, A.: Einleitung in den Curaus der Dermatologie 101. 

Oeuvres coraplctes du Dr. Edouard Leonard Sperck: Syphilis, Pro¬ 
stitution 255. 

Oppenheim, H.: Die syphilitischen Erkrankungen des Gehirns 427. 

Joseph, M.: Dermatologisches 567, 590. 

Fordycc: Angiokeratom am Scrotum 568. 

Fordyce: Lupus erythematosus disseminatus 568. . 

Hallopeau: Lupus erythematosus 568. 

Legrain: Behandlung des Lupus erythematosus mit Lamraserum 560. 

Hallopeau: Eine neue eitrige Pemphigus ähnliche Form von Haut- 
tuberculose 568. 

Morris, Malcolen: Behandlung der Actinomycose der Haut mit Jod¬ 
kalium 568. 

Hyde: Beitrag zum Studium des Madurafusses 568. 

Brocq, L.: Beitrag zu den Hautaffectionen im Gefolge der Malaria 568. 

Legrain und Bourguet: Zwei Fälle von primärem Hautsarcom 568. 

Pospelow: Arsenmedication bei Hautsarcom 568. 

Behrend, M.: Ein Fall von Pemphigus acutus mit Horncystenbildung 
569. 

Herxheimer, K.: Ueber Pemphigus vegetans nebst Bemerkungen über 
die Natur der Langerhans’schen Zellen 569. 

Buschke, A.: Ueber chronischen Rotz der menschlichen Haut nebst 
einigen Bemerkungen über die Anwendung des Mallein beim Men¬ 
schen 590. 

Mibelli: Studien über die Anatomie des Favus 590. 

Finger, E.: Beitrag zur Dermatitis pyaemica 590. 

Hallopeau: Ein neuer Fall von Lichen planus atrophicans 590. 

Lukasiwierz: Lichen ruber acuminatus und planus aus der Haut und 
Schleimhaut desselben Individuums 590. 

Joseph, M.: Beiträge zur Anatomie des Lichen ruber 591. 

White: Distrophia unguium et pilorum hereditaria 591. 


Lukasiewicz: Ueber das an der Mundschleimhaut isolirt vorkommende 
Erythema exsudativum multiforme 591. 

Janovsky und Mourek: Beiträge zur Lehre von der multiplen Haut¬ 
gangrän 591. 

Ehlers, Edw.: Aetiologische Studien über Lepra 591. 

Doutrelepont und Walters: Beitrag zur visceralen Lepra 591. 

Lang, E.: Vorlesungen über Pathologie und Therapie der Syphilis 749. 

Doehle: Ueberfärbung von Organismen in syphilitischen Geweben und 
die Uebertragnng der Syphilis auf Meerschweinchen 549. 

Cooper, Al fr.: Syphilis 1011. 

Ohren-, Nasen-, Rachen- und Kehlkopfskrankheiten. 

Zank au, L.: Vaderaecum und Taschenkalender für Ohren-, Nasen-, 
Rachen- und Halsärzte 1896/97 35. 

Avellis: Die Behandlung des Schluckwehs 35. 

Liebermann: Ueber die centrale Hörbahn und über ihre Schädigung 
durch Geschwülste des Mittelhirns, speciell der Vierhügelgegend und 
der Haube 122. 

Stacke, Ludwig: Die operative Freilegung der Mittelohrräume nach 
Ablösung der Ohrmuschel als Radicaloperation zur Heilung veralteter 
chronischer Mittelohreiterungen, der Caries, der Necrose und des Cho¬ 
lesteatoms des Schläfenbeins 428. 

Gradenigo, C.: Ueber die Manifestationen der Hysterie am Gehörorgan 
475. 

Politzer, Adam: Atlas der Beleuchtungsbilder des Trommelfelles im 
gesunden und kranken Zustande 476. 

Schwabach: Ueber Erkrankungen des Gehörorganes bei Leukämie 1102 

Augenkrankheiten. 

Rauschenbach, Karl: Beitrag zur Pathologie und Therapie der Ca¬ 
taracta traumatica 528. 

Still ing: Grundzüge der Augenheilkunde 528. 

Graefe, Alfred: Das Sehen der Schielenden 529. 

Mooren, A.: Die medicinische und operative Behandlung kurzsichtiger 
Störungen 529. 

Hosch, Fr.: Eine 8chichtstaarfamilie nebst Bemerkungen über diese 
Staarform überhaupt 605. 

Elze, K.: Plasmodienbefunde bei Trachom 1011. 

Weiss, Leopold: Ueber das Wachsthum des menschlichen Auges 1011. 

Oeffentliche Gesundheitspflege, Statistik, Standesangele- 

genheitcn. 

Jaquet: Die Stellungsqahme des Arztes zur Abstinenzfrage 166. 

Berger, Heinrich: Geschichte des ärztlichen Vereinswesens 210. 

Neu mann, H.: Oeffentlicher Kinderschutz 274. 

Cr am er: Hygiene 455. 

Prausnitz: Grundzüge der Hygiene 455. 

Ohlmüller, W.: Die Untersuchung des Wassers 455. 

Pelc, J. und F. Hueppe: Die Wasserversorgung in Prag und in den 
Vororten 456. 

Kraschuizki, F.: Die Versorgung von kleineren Städten, Landge¬ 
meinden und einzelnen Grundstücken mit gesundem Wasser 456. 

Ueber die mit den Hochfluthen der Elbe eintretende Verunreinigung des 
Dresdener Leitungswassers und ihre sanitäre Bedeutung 456. 

Solbrig: Die hygienischen Anforderungen an ländliche Schulen 456. 

Lazarus, J.: Krankenpflege 505. 

Olshausen H. und Reineke: Ueber Wohnungspflege in England und 
Schottland 875. 

Buchheim, Eduard: Aerztliche Versicherungs-Diagnostik der voll- 
werthigen und der minderwerthigen Leben 989. 

Kapper, Friedrich: Zur Beurtheilung minderwerthiger Leben in ver¬ 
sicherungsärztlicher Beziehung 989. 

Meyer, George: Das Samariter- und Rettungswesen im Deutschen 
Reiche 989. 

Heimann, Georg: Die Ergebnisse der berufsgenossenschaftlichen Unfall¬ 
versicherung 989. 

Wissenschaftliche Mittheilungen des Instituts zur Behandlung von Unfall¬ 
verletzten in Breslau 990. 

Rumpf: Mittheilungen aus denHamburgischenStaatskrankenanstalten 1137. 

Militai r- Sani täte wesen. 

Veröffentlichungen auf dem Gebiete des Militair-Sanitätswesens. Heft 10. 
13. 

Knesebeck, B. von dem: Die deutsche freiwillige Kriegskrankenpflege 
im Kriegsjahre 1870/71 655. 

Gerichtliche Medicin. 

Spaet, Franz: Die geschichtliche Entwickelung der sogenannten hip¬ 
pocratischen Medicin im Lichte der neuesten Forschung 895. 

Geschichte der Medicin. 

Fuchs, Robert: Hippokrates’ sämmtliche Werke 102. 

Beckh, Heinrich und Franz 8paet: Anonymus Londinensis 102. 

Baas, J. H.: Die geschichtliche Entwickelung des ärztlichen Standes 
und der medicinischen Wissenschaften 144. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


VIII 


Anatomie, vergleichende Anatomie, Entwickelungs¬ 
geschichte. 

Opel: Lehrbuch der vergleichenden mikroskopischen Anatomie der 
Wirbelthiere 165. 

Schenk, S. Lt: Lehrbuch der Embryologie des Menschen und der 
Wirbelthiere US!). 

Hertwig, O.: Lehrbuch der Entwickelungsgeschichte des Menschen und 
der Wirbelthiere 189. 

Bergh, R. L.: Vorlesungen über Allgemeine Embryologie 189. 

Edinger, Ludwig: Vorlesungen über den Bau der nervösen Central¬ 
organe des Menschen und der Thiere 842. 

Ehrmann, 8.: Das melanotischc Pigment und die pigmentbildenden 
Zellen des Menschen und der Wirbelthiere 567. 

Herxhansen, K. und Müller, H.: Ueber die Dentnng der sog. Epi- 
dermisspiralen 507. 

Schütz, J.: Ueber den Nachweis eines Zusammenhanges der Epi- 
thelien mit dem darunterliegenden Bindegewebe in der Haut des 
Menschen 508. 

Exner, Sigm.; Die Functionen der menschlichen Haare als Tastorgan, 
als Walze, als Temperaturregulator und als Schmuck 508. 

Born, G.: Ueber Verwaehsungsversuche mit Amphibienlarven 705. 

Räuber, A.: Lehrbuch der Anatomie des Menschen 1057. 

Stoehr, Philipp: Lehrbuch der Histologie und der mikroskopischen 
Anatomie des Menschen mit Einschluss der mikroskopischen Technik 
1037. 

Pathologie, pathologische Anatomie, Mikroskopie and 
Bacteriologie. 

Daiber: Mikroskopie der Harnsedimente 188. 

Ziemann, H.: Ueber Blntparasiten bei heimischer und tropischer Ma¬ 
laria 202. 

Flügge, C.: Die Mikroorganismen mit besonderer Berücksichtigung der 
Aetiologie der Infectionskrankbeiten 455. 

Ullmann: Zur Aetiologie und Histologie der Trichomycosis tonsurans, 
Sycosis parasitaria Bazin 590. 

Neisser, A.: Stereoskopischer medicinischer Atlas 033. 

Hansemann, D.: Die mikroskopische Diagnose der bösartigen Ge¬ 
schwülste 094. 

Dürck: Studien über die Aetiologie und Histologie der Pneumonie im 
Kindesalter und der Pneumonie im Allgemeinen 726. 

.Bollinger: Atlas und Grundriss der pathologischen Anatomie 726. 

Metschnikoff: Immunität 720. 

Sulzer: Anatomische Untersuchungen über Muskelatrophie anticellu- 
lären Ursprungs 720. 

Unna: Histologischer Atlas zur Pathologie der Haut 720. 

Lubarsch, O. und Ostertag, R.: Ergebnisse der allgemeinen Patho¬ 
logie und Anatomie des Menschen und der Thiere 767. 

Doehle: Ueber Färbung von Organismen in syphilitischen Geweben 
und die Uebertragung der Syphilis auf Meerschweinchen 945. 

Stoehr, Philipp: Lehrbuch der Histologie und der mikroskopischen 
Anatomie des Menschen mit Einschluss der mikroskopischen Technik 
1047. 

Physiologie. 

Pavy, F. W.: Die Physiologie der Kohlehydrate. Ihre Verwendung 
als Nahrungsmittel und ihr Verhältnis zum Diabetes 165. 

Zinn: Ueber Stoffwechseluntersuchungen mit dem Fleischpepton der 
Compagnie Liebig und seine praktische Verwendung 233. 

Hohfenberger: Zur Frage der Resorbirbarkeit derAlbumosen im Mast¬ 
darm 233. 

Darnach, Otto: Ueber die Bewegungsvorgänge am menschlichen 
Herzen 301. 

Bnchner, II.: Die Bedeutung der activen löslichen Zeliproducte für den 
Chemismus der Zelle 302. 

Hitzig, E. und Ed.: Die Kostordnung der psychiatrischen und Nerven- 
klinik der Universität Halle-Wittenberg 364. 

Sachs, Heinrich: Die Entstehung der Raum Vorstellung aus Sinnes- 
empflndungen 680. 

Gamgee, Arthur: Die physiologische Chemie der Verdanung mit Ein¬ 
schluss der pathologischen Chemie 968. 

Arzneimittel- und Giftlehre. 

Lewin, L.: Lehrbuch der Toxikologie 165. 

Medicinische Chemie. 

Heinz, R.: Ueber Salzwirkung 653. 

Mendelejeff: Grundlagen der Chemie. Das Wasser und seine Ver¬ 
bindungen; wässrige Lösungen 653. 

Ostwald: Lehrbuch der allgemeinen Chemie; Lösungen 653. 

Verschiedenes. 

Rubinstein, Fr.: Hamlet als Neurastheniker 166. 

Rnnge, Max: Das Weib in seiner Geschlechtsindividualität 831. 


III. Verhaidliagea ärztlicher Gesellschaften. 

Berliner mediciniscbe Gesellschaft: 35, 59, 81, 124, 146, 167, 189, 210, 
231, 256, 275, 302, 321, 883, 411, 430, 456, 476, 505, 529, 

545, 569, 592, 606, 634, 698, 971, 9!*0, 1014, 1057, 1078, 1106, 1122. 
Verein für innere Medicin: 14, 59, 102, 150, 169. 191, 237, 259, 826, 
347. 390, 414, 481, 571, 593, 637, 680, 973, 1061, 1081, 1125. 
Gesellschaft der Chariteärzte: 42, 149, 170, 212, 277, 344, 428, 657. 

702, 875, 920, 968, 1011, 1034, 1077, 1103, 1124. 

Freie Vereinigung der Chirurgen Berlins: 14 , 39, 82, 104, 365, 388, 

655, 768, 787, 810, 832, 855, 895, 922, 915, 1036. 

Gesellschaft für Geburtshülfe und Gynäkologie zu Berlin: 123, 192, 457, 
4H1, 611, 657, 726, 750, 76!*, 834, 856, 1018. 

Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten: 16, 42, 

214, 609. 

Laryngologische Gesellschaft: 79, 103, 635. 

Hufeland'sche Gesellschaft: 58, 190, 255, 304. 

Aerztlicher Verein zu Marburg: 78!*. 812. 

Aerztlicher Verein zu Hamburg: 19, 80, 128, 173, 217, 279, 847, 433. 
50!*. 613, 728, 877, 1037, 1137. 

Physikalisch-raedicinische Gesellschaft zu Würzburg: 80, 193, 216, 261, 
305, 508, 572, 730. 76!*, 789, 1062. 

Aerztlicher Verein zu München: 85, 192, 278, 412, 615, 729, 1188. 
Wissenschaftlicher Verein der Aerzte zu Stettin: 85, 215, 260, 805, 413, 
510, 593, 897, 1062. 

Achtzehnter Balneologen Congress zu Berlin: 305, 348, 370. 

26. Congress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie in Berlin: 369. 
891, 414, 435, 458, 482. 

XV. Congress für innere Medicin in Berlin: 485, 519, 551, 572, 595, 
616, 638, 661, <181, 705. 

Xlf. Internationaler medicinischer Congress in Moskau vom 19. bis 
26. August 1897 : 770, 790, 813, 836, 857, 880, 899, 923, 946. 

Vom 25. deutschen Aerztetage zu Eisenach am 10. und 11. September 

1897: 838. 

6!» Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Braunschweig: 

878, 902, 925, 940, 994, 1018, 1038. 

Die internationale wissenschaftliche Lepra-Conferenz zu Berlin, October 
1897: 927, 947, 974. 


IV. Feuilleton aad Ueiiere Nittheilaagca. 

C. A. Ewald: Emil du Bois-Reymond + 1. 

H. Laehr: Die Bedeutung der Psychiatrie für den ärztlichen Unterricht 

61 , 86 . 

Die Medicin im Preussischen Cultus-Etat 63. 

Karowski: Zur Technik der Jejunostomie 6.9. 

E. v. Bergmann: Die Heranziehung ärztlicher Honorare zur Gewerbe¬ 
steuer 105. 

Aufruf der freien und wirtschaftlichen Vereinigung der Privatklinik- 
Inhaber 107. 

J. l’agel: Historisch-geographische Bemerkungen über die Beulenpest 129. 
Wiener Brief 174, 434, 511, 707. 

Die freie Arztwahl in Wien 175. 

George Meyer: Ein Verband- und Instrumentenkasten zur ersten Ver¬ 
sorgung und zum weiteren Gebrauch für Aerzte 193. 

R. Kossmann: Zur Behandlung des Catgut 217. 

M. Saenger: Zur Therapie der genuinen Ozaena 218. 

Budapester Brief 261, 594, 1082. 

J. M ichael f 262. 

A. Kirstein: Zur Autoskopie der Luftwege 262. 

Hugo Davidsohn: Die Fango-Curanstalt in Berlin 279. 

Sonderegger f 281. 

Der Neubau der Charit*’- 283. 

J. Hochenegg: Bemerkungen zu Prof. M. Schüller’s Artikel: Ex¬ 
traction eines Knochenstückes aus der Speiseröhre nach Röntgen¬ 
durchleuchtung 306. 

Franz Bruck: Zur Therapie der genuinen Ozaena 351. 

Die wissenschaftliche Ausstellung des XIV. Congresses für innere Medicin 
zu Berlin, 9-12. Juni 1897. 574. 

R. Schaeffer: Ueber das Curpfuscherei-Verbot 682. 

W. Ilavelburg: Historische Bemerkungen zur Ausbreitung der Lepra 
in Brasilien 731. 

Posner: Russische Congresstage 751, 769, 795, 815. 

Pielicke: Die Stellung der Aerzte in der Arbeiterversichemng 834. 
Posner: Die 69. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte 

882, 903. 

Karl Schuchardt: Der neue Operationspavillon des städtischen Kranken¬ 
hauses in Stettin 897. 

O. Lassar: Rede, gehalten bei der Eröffnung der Lepra-Conferenz 926. 
Zur Umgestaltung der preussischen Medicinalbehörden 929. 

Rudolf Heidenhain + 949. 

Paul Gucterbock f 951. 

Waldschmidt: Ueber Trinkerheilanstalten 992. 

Die Berliner Rettungsgesellschaft 1019. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


IX 


V. Praktische Notizen. 

Launois: Aorteninsnfflcienz in Folge von Klappenzerreissang bei einem 
Radfahrer 19. 

Marcotte: „8piegelsprache“ bei Hirnabscess nach Otitis 19. 
Peterson: Bacteriotherapie bösartiger Geschwülste 20. 

Vucetic: Uebermangansaures Kali als Antidot bei acuter Opiumver- 
giftnng 20. 

Drechsel: Erfahrungen mit Antixpasmin Merck 20. 

Heidenhain: Behandlung des Pruritus 44. 

Schröder: Peronin beim Hasten der Phthisiker 87. 

Richardicre: Behandlung der Urämie 87. 

Dal che: Antipyrin-Intoxication 87. 

Bonchard: Röntgenstrahlen zur Diagnose der Lungentuberculose und 
Pleuraergüsse 87. 

Aufrecht: Bisher nicht beschriebenes 8ymptom der Trachealstenose 87. 
Knapp: Anwendung des Phonendoskopes 88. 

Marraaduke Sheild: Sarkom der Mamma mit Coley's Flüssigkeit 
behandelt 107. 

Crossing und Webber: Acute Septicaemie mit Antistreptokokken¬ 
serum behandelt 107. 

Hamilton Moorhead: Puerperale Sepsis desgl. 107. 

Reverdin: Natriumsnlfat bei profusen Blutungen 107. 

Bromsalz Vergiftung 107. 

Le Pileur: Erworbene Syphilis bei einem Heredosyphilitischen 107. 
Rocco Jemma: Ueber die Serumdiagnose des Abdominaltyphus 107. 
M. Dumas: Scro-diagnoslic de Widal dans la flövre typhoide 108. 
Bergoniä: Radioscopie intracthoracique 108. 

Bristow: Röntgenbilder von congenitalem Defect beider Patellae 108. 
Laurie und Leon: Durchleuchtung von Harnsteinen mittelst Röntgen- 
strahlen 108. 

Möller: Lungenembolien bei Injection unlöslicher Quecksilberpräparate 

130. 

R. Koch und Petrnschky: Streptokokkenimpfungen 130. 

Capitan: Behandlung der Haeraoptoe 130. 

Biggs und Guerard: Anwendung des Heilserums bei Diphtherie 130. 
Spencer: Eucainum hydrochlor. als locales Anästheticum 131. 
v. Zajontschowski: ßacteriologische Untersuchungen über Silbergaze 

131. 

8charff: Mittel zur Analgesie in dem hinteren Harnorgan 131. 
Wilma: Diagnostischer und therapeutischer Werth der Lumbalpunction 
131. 

Wassermann: Diagnose innerer Krankheiten mittelst Röntgenstrahlen 
131. 

Rons: Experimentelle Diagnose des Rotzes 132. 

Pick: Zur Widal’schen Serumdiagnostik des Typhus abdominalis 151. 
Chvostek und 8tromayr: Ueber alimentäre Albumosurie 151. 
Schiff: Versuche über Beeinflussung des Stoffwechsels durch Ilypophysis- 
und Thyreoideapräparate 351. 

Fraipont: Fcrripyrin als Haemostaticum und Adstringens 151. 
Sprengel: Jodoform und Calomel bei Wunden 151. 

Scognamiglio: Tannalbin bei Enteritis und Tuberculosis intestinalis 151. 
Widal’sche Reaction 175. 

Schattenmann: Traumatol 176. 

Lepine: Pyramidon 176. 

King: Fall von tödtlicher Carboisäurevergiftung 176. 

Espagne: Syrup. Ipecacuanhae 176. 

Kleist: Jodvaxogene innerlich gegen Arteriosklerose 194. 

Ahlfeld: Heisswasser-Alkoholdesinfection der Hände 194. 

Thomson: Kochsalzlösung bei acuten Blutverlusten 194. 

Sevestre: Tracheotomie und Intubation bei Croup 195. 

Vinci: Wirkung des Eucains auf Thier- und Menschenauge 195. 
Fuchs: Behandlung der Migräne mit Bromkalium 195. 

Webster: Schwere Antipyrinvergiftnng 195. 

Kobert: Kwass 195. 

Fränkel: Der Siegel’scbe Bacillus der Maul- und Klauenseuche 195. 
Morillo: La säroreaction et le serodiagnostic 196. 

Peters: Verhältnis der Xerosebacillen zu den Diphtheriebacillen 219. 
Siegler: Ein Fall von Aktinomykose 219. 

Neumann: Fall von genitalem und extragenitalem syphilitischem Primär- 
affect 219. 

Fox: Ulceröse Endocarditis mit Antistreptokokkenserum 219. 

Vogt: Untersuchungen und Erfahrungen mit Eucain 220. 

Danlos: Fall von Psoriasis mit Arsen behandelt 220. 

Marie und Astie: Thorax en bäteau bei 8yringomyelie 288. 

Etienne: Syphilis und Aortenaneurysmen 288. 

Kildiorschevsky: 10000 Temperaturcurven Typhuskranker 239. 
Droyeglasoff: Typhusbacillen im Speichel Typhuskranker 239. 
Arloing: Agglntinirende Eigenschaft der Bacterien 239. 

Mosse’: Widal’sche Reaction bei neugebornen Kindern typhuskranker 
Mütter 239. 

Steffen: Einbeilen von Kugeln im Gehirn von Kindern 238. 
Huchard: Behandlung der Chlorose 239. 

Keller: Einfluss der Milchdiät bei cyclischer Albuminurie 239. 
Schumburg: Neues Verfahren zur Herstellung keimfreien Trink wassere 239. 
Cred6: Itrol und Atrol 239. 

Juillard: Dermatol 289. 

Lippner: Resorcin zum Auswaschen des Pleura- und Peritoneal raum es 2 >9. 


Courtail: Abortivbehandlung des Schnupfens 240. 

Haan: Vergiftung nach Genuss gekochter Schweineleber 240. 
Dienlapoy: Stein- und Griesbildung im Darmkanal 262. 

Galliard: Infectiöses Exanthem nach Enteritis membranacea 262. 
Bowes: Angeborener Verschluss der Speiseröhre 262. 

Grote: Untersuchungen mit dem Phonendoskop 262. 

GilChrist: Wirkungen der X-Strahlen auf die tieferen Gewebe 263. 
Köstlin: Keimgehalt der Milch von Wöchnerinnen 263. 

Martin: Aussergewöhnliche Herzdilatation 263. 

Hayem: Multiple Lymphome bei Schilddrüsentherapie 268. 

Catilion: Jodothyroidin 263. 

v. Voit: Werth des Fleischextractes 263. 

Dumas: Unterechwefligsaures Natron bei chronischer födider Bronchitis 263. 
Dujardin-Beaumetz: Aethoxycoffein 263. 

Haberda: Arsenvergiftung von der Scheide aus 263. 

Ilergott: Caropher als Antigalacticnm 264. 

Bull und Walter: Oesophagotomia ext. 283. 

Gut mann: Holocain 284. 

Dolgauoff: Eucain 284. 

Gabriel: Nachwirkungen des Jods 284. 

Sulfoi alVergiftung 284. 

Nicolaysen: Reinculturen von Bacillen bei Enuresis nocturna 307. 
Eyre: Chronische Conjunctivitis durch den Friedländer’schen Pneu¬ 
moniebacillus 307. 

Cant zell: Psoriasis nach Hautverletzung 807. 

Amidon: Behandlung der Pneumonie durch Aderlass 307. 

Thomson: Schwere Dermatitis nach Massage 307. 

Roll es ton: Aussergewöhnliche Urobilinurie 807. 

Darabseth: Nachwirkungen einer 8trychninvergiftung 307. 

Lejars: Cholecystitis durch Infection mit Bacillus coli 327. 

Merklen: Appendicitis nach Influenza 327. 

Grünbaum: Diagnose des Abdominaltyphus 327. 
van Oord: Serodiagnostik des Typhus abdominalis 327. 

Bottin: Sanatol 328. 

Popper: Fall von Syphilis maligna praecox 328. 

Lorenz: Ankylose des Hüftgelenkes 328. 

Hoffa: Behandlung der angeborenen Hüftgelenksluxationcn 328. 
Appleby: Puerperal-Eklampsie nach Guajacol 828. 

Malot: Subcutane Anwendung von Gnajacolchloroform 828. 

Lockwood: Amoeba coli bei Ruhr 851. 

Hofmann: Harn bei Osleomalacie 851. 

Dal che: Idiosynkrasie einer Zuckerkranken gegen'Coffein 351. 

Brunet: Lungensaft 351. 

Johnson: Kalium bypennang. bei Opiumvergiftung 852. 

Duchenne: Erscheinungen nach Antipyringebrauch 352. 

Tuffier und Marcbais: Pylorusstenosen 871. 

Le Gendre: Chronischer Icterus bei anscheinend Gesunden 871. 
Ziemke: Widal'scbe Reaction 871. 

Müller: Unterschenkelgeschwür mit Citronensäure geheilt 872. 
Lublonitz: Airol 372. 

Majewski: Wundbehandlung mit Hydrargyr. flav. Salbe 372. 

Davis: Trichmonas im Urin 895. 

v. Bergmann: Fracturen und ihre Behandlung 395. 

Joung: Filaria als Ursache von Anschwellungen des Hodens 395. 
Johnston: Nachweis des menschlichen Samens 895. 

Meunier und GrisBon: Widal’sche Reaction bei Miliartuberculose 395. 
Eichhorst: Kryofln, ein Fiebermittel und Antineuralgicum 396. 
Dalche: Idiosynkrasie gegen Bismnth. subnitric. 896. 

Saenger: Fluidcxtract von Hydrast. canad. bei Bronchialkatarrh 445. 
Courmont: Marmorek’sches Streptokokkenserum 416. 

Lukasiewicz: Behandlung der Syphilis mit intramuskulären 5proc. 
Sublimatinjectionen 416. 

Kaposi: Haarausfall von Naevus pilus nach Röntgendurchleuchtung 416. 
Bose und Blanc: Uebergang von Bacterien in das Bauchwaaser 438. 
Aubert: Palpitation des Schankers 438. 

Brown: Trichinose 488. 

Achard und Bensaude: Serodiagnostik der Cholera 438. 

Trum pp: Paroxysmale Hämoglobinurie bei Geschwistern 438. 

Blondei: Behandlung der Chlorose mit Tbymussubstanz 439. 

Czerny: Gangrän nach Anwendung wässeriger Carbollösung 439. 

List, Maltonwein 489. 

Ammann: Wirkung des Heilserums auf Augendiphtherie 489. 
Hellendall: Hereditäre Schrumpfniere im Kindesalter 459. 

Fischer: Melaena neonatorum 459. 

Bloch: Extragenitale syphilitische Infection 459. 

Childe: Pestbacillen in den Lungen 460. 

Linossier und Lanois: Resorption von Jod 460. 

Jodoformekzem 460. 

Mogele: Vergiftung mit Sublimatpastillen 460. 

Wagner: Bergmann’sche Magenkautabletten 460. 

Distoma haematobium im Urin 511. 

Hofmann: WidaFsehe Reaction 511. 

Vinay: Puerperale Sepsis mit Antistreptokokkensernm behandelt 511. 
Schreiber: Phytobezoar im Magen 511. 

Hayem: Icterus ohne Gallenfarbstoff und Urobilin 511. 

Touchard: Eucaineinspritzungen in der operativen Zahnheilkunde 511. 
Combele und Peschumaker; Sulfonal gegen Nachtscbweisse der 
Phthisiker 511. 


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X 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Bruns, Airolpaste 512. 

Bruno Alexander: Neue Wattetamponcantile 512. 

Zoege von Manteuffel: Ausgekochte Gummihandschuhe 512. 

Marie und Le Goff: Diabetiker mit Methylenblau behandelt 512. 
Kocher: Hernienradicaloperationen 512. 

Coniby: Ren mobilia im Kindesalter 574. 

Jucdell: Reincultur von Gonokokken 574. 

Job: Die Actinomycose der nervösen Centralorgane 575. 

Netter: Virulente Pneumokokken im Staube eines Krankensaales 575. 
Gocy-Ed wards: Inflcirte Milch als Ursache folliculärer Tonsillitis 575. 
fenouf: Lähmungen bei der Pneumonie der Kinder 575. 

Abrault: Darmperforation durch Ascariden 575. 

Hueppe: Lepra in Constantinopel 575. 

Jacob: Tetanus-Toxin 575. 

Hiebei: Thyreoidinbehandlung bei Obesitas und Struma 575. 

Ldpine: Erfahrungen mit Pyramidon 575. 

Vinay: Puerperalsepsis mit Marmorek’schen Antistreptokokkenserum 575 
81 ater und Catneron: Serumbehandlung der Diphtherie 575. 
Chalmer: Tetanus, erfolgreich mit Antitoxin behandelt 596. 

Bon net: Vergiftung mit Beaumß’schen Tropfen 596. 

Benzler: Einfluss der doppelseitigen Hodenentzündung auf die Zeugungs¬ 
fähigkeit 619. 

Lex er: Die Schleimhaut des Rachens als Eingangspforte pyogener In- 
fection 619. 

Lacour: Intermittirende Albuminurie 619. 

Futscher: Neusser’sche Granula 619. 

Reed: Blutuntersuchungen an geimpften Kindern und Affen und an 
Pockenkranken 619. 

Goldberger und Weiss: Jodreaction in den Leukocyten des Blutes 
619. 

Germano: Uebertragung der Typhuskeime durch die Luft 619. 
Filehne: Ueber Pyramidon 619. 

Künne: Massen Vergiftung mit Dämpfen rauchender Salpetersäure 619. 
Meyer: Intubation bei Diphtherie 619. 

Arning: Vanille-Ekzem 620. 

Heinz und Manasse: Oxycamphor, ein neues Antidyspnoicum 620. 

D eucher: Resorption des Fettes aus Klystieren 620. 

Spitzer: Tumor auf dem Fussrücken durch Brombeerschimmerraupe er¬ 
zeugt 639. 

Ahm an: Gonokokken im Blute eines an gonorrhoischem Rheumatismus 
Erkrankten 639. 

Dönitz: Versuche mit Tetanus-Antitoxin 639. 

Brandenburg: Versuche mit Nutrose 639. 

Mikulicz: Handschuhe bei Operationen 639. 

Perthes: Handschuhe bei Operationen 640. 

Bussenius: Erfahrungen mit TR-Tuberculin 640. 

Rubesca: Tetanusbacillen im Uterus 663. 

Jellinghaus: Fall von Uterusruptur in der Gravidität 663. 

Gasser: Widal’sche Probe bei 112 Typhusfällen 663. 

Gumprecht: Magentetanie 663. 

Wuittingdale: Puerperale Sepsis mit Antisteptokokkenserum 663. 
Werner: Speciflscher Icterus bei Syphilis 663. 

Braun: Verschluss der Perforationsöffnung bei perforirten Magenge¬ 
schwüren 663. 

Riether: Säuglingsdiphtherie 663. 

Geil 1: Chronische Trionalvergiftung 663. 

Kasparek: Wirkung des Tuberculins bei tuberculösen Meerschwein¬ 
chen 663. 

White: Zwischenfall bei einer Lithotripsie 683. 

Cavafy: Acute gelbe Leberatrophie bei 12jährigem Mädchen 683. 
Griffiths: Acute gelbe Leberatrophie bei 12jährigem Mädchen 683. 
Obermüller: Virulente Tuberkelbacillen in der Marktbutter 683. 
Slawyk: Tuberculin R. 683. 

Seeligmann: Tuberculin bei Pyosalpinx und Endometritis tubercu- 
losa 681. 

8chröder: Mittheilungen über Tuberculin 683. 

Bram well: Fall von Chylurie 708. 

Griffon: Endocarditis durch Pneumokokken 708. 

Morris und Whitfield: Lupusbehandlung mit Tuberculin 708. 
Vickevy: Atropin Vergiftung 708. 

Achard, Kalindero und Marinesco: Beziehungen der Lepra zur 
Syringomyelie und der Morvan’schen Krankheit 731. 

Marinosco: Veränderungen des Centralnervensystems bei acuten In- 
fectionskrankheitcn 732. 

Roux und Balthanard: Beobachtung der Bewegungen des Magens 
mittelst Röntgenstrahlen 732. 

Queyrat: Lungentuberculose bei erhaltener Körperfülle 732. 
Balthanard: Entstehung des Erythems nach Röntgographie 732. 
Rauchfuss: Diphtherie. Mortalität und Serumbehandlung 752. 

Wörner: Koch’sches Tuberculin 752. 

Greenleaf: Aconitinvergiftung 752. 

Kelynack: Rupturen von Aortenaneurysmen 752. 

Bier: Anwendung der Stauungshyperämie 772. 

Uhthoff: Temporale Papillenabblassung bei multipler Sklerose 772. 
Lesnr: Syphilitische Infection durch das Rasirmesser 772. 

Sorel: Einwirkung von X-Strahlen 772. 

Prochownik: Diätcur zur Erzielung kleiner Leibesfrüchte bei engem 
Becken 772. 


Delageniere: Gastroplastik ohne Eröffnung des Magens 795. 
Doutrelepont, Leick, Müller, Herzfeld, Baudach: Erfahrungen 
mit Tuberculin-R. 796. 

Hitzig, Lammers: Tabes mit traumatischem Ursprung 796. 
Mühl-Kuhner: Tödtlich verlautende Alveolarblutung 796. 
Rabinowitsch: Tuberkelbacillen der Marktbutter 796. 

Levy und Thumin: Beckenmessung mit Röntgenstrahlen 796. 

Cutler uhd Eli iot: Excision eines chronischen Magengeschwürs 790. 
Ortner: Recurrenslähmung bei Mitralstenose 796. 

Boinet und Rey: Geistesstörungen nach Malaria 796. 

Hitzig: Pupillendifferenz bei Tumoren des Mediastinums 816. 
Spengler und Rembold: Erfahrungen mit Tuberculinbehandiung 816. 
8chlossmann: Eselsmilch als Ersatz für Muttermilch 816. 

Parozzani: Vernähen einer Wunde des Pericards 816. 

Hildebrandt: Glandulen gegen Tuberculose 816. 

VamoBky: Ancsin ein Ersatzmittel des Cocain 816. 

Einhorn und Heinz: Orthoform 816. 

Lewis: Hodgkin'sehe Krankheit combinirt mit Lungentuberculose 839. 
Binder: Immunisirung durch Diphtberieheilscrum per os 840. 
Steavenson: Fall von CarbolsäureVergiftung 840. 

Procentverhältniss der Todesfälle bei Abstinenzlern und Nicht-Abstinenz¬ 
lern 840. 

Latzko und Schnitzler: Organtherapie bei Osteomalacie 840. 
Vulpius: Redressement des Buckels nach Calot 840. 

Domino: Heilung von Neuralgia spermatica durch Methylenblau 859. 
Borchardt: Enuresis nocturna traumatica 860. 

Heu88er: Zimmtsäurebebandlung der Tuberculose 860. 

Alexander: Fall von Pseudohermaphroditismus 883. 

Brosch: Vornahme der künstlichen Athmung 883. 

Burghart: Nachweis der Verlagerung der Brust- und Bauchorgane durch 
Röntgenstrahlen 883 

Ziemacki: Antistreptokokkensernm bei bösartigen Neubildungen 883. 
Sandwith: Thymol als Anthelminticum 883. 

Paul: Verschlucken eines Kupferringes 883. 

Sachs: Primäre tuberculose Geschwülste der Nasenschleimhaut 904. 
Killian: Entfernung eines Knochenstückes aus dem rechten Bronchus 
904. 

Mirowitsch: Prüfung der Augen beim Radsport 904. 

Reboul: Lösen des Zungenbändchens bei Neugeborenen 904. 

Winkler: Neue Methode zum Nachweis freier Salzsäure im Magen¬ 
inhalt 927. 

Kümmell: Die symmetrischen Erkrankungen der Thränen- und Mund¬ 
speicheldrüsen 928. 

Steele: Combination von Lungensarkom und Broncekrankheit 928. 
Ferrio und Bosio: Einfluss des Darmverschlusses auf die Nieren 95t. 
Singer: Nachweis von Staphylococcus pyog. alb. bei Erythema multi- 
forme 951. 

Jüngst: Fremdkörper am Penis 951. 

Bleich: Sarggeburt 975. 

8iegel: Zur Aetiologie der Maul- und Klauenseuche 975. 

Vortmann': Mit Antitoxin behandelter Fall von Wundstarrkrampf 975. 
Löffler und Frosch: Commission zur Erforschung der Maul- und 
Klauenseuche 975. 

Hansy: Drahtverband für Kieferfracturen 975. 

KrauB: Polyneuritis nach Sepsis 976. 

Kahtden: Bacteriuin coli bei acuter gelber Leberatrophie 976. 
Breslauer: Antibacterielle Wirkung der Salben 995. 

Zabel: Vergiftnngserscheinungen nach Wurmfarrnwurzelgebrauch 995. 
Koplik: Bacillus des Keuchhustens 996. 

Meyer: Chelidonin als Ersatz des Morphins 996. 

Sellner: Bacteriologische Untersuchungen von 103 Scharlachfällen 996. 
Aus dem Gebiete des gelben Fiebers in Amerika: 1039. 

Dubourg: Gastroenterostomie bei einfacher Pylorusstenose 1039. 
Thoinot: Plötzliche Ruptur der Aorta 1040. 

Terson: Atrophie des Sehnerven nach Jodoformbehandlung von Ver- 
bennungen 1040. 

Müller: Conjunctivalsecret Trachomkranker 1040. 

Price: Herzwunde mit Ausgang in Heilung 1063. 

Krehl: Zur Frage der alimentären Glykosurie 1063. 

Neumann: Methode, den Urin beider Nieren beim Weibe gesondert 
aufznfangen 1053. 

Zacharias: l’ilnlae roborantes Seile 1063. 

M’Donnell: Pericarditis im Verlauf einer Angina 1063. 

Linksseitige Pulslosigkeit infolge eines Thrombus der Subclavia 1063. 
Dner: Eigenthümliche Erkrankung eines Neugeborenen 1063. 

Clubbe: Mortalität bei 600 Diphtheriefällen 1063. 

Smetana: Braunfärbung der Haut nach Arsenikgebrauch 1063. 
Karajan: Hypertrophie der Clitoris 1083. 

Kretz: Influenzabacillen bei Gesunden mehrere Monate nach Influenza¬ 
anfall 1083. 

Dune an: Uraniumnitrat bei Diabetes mellitus 1083. 

Carstens: Orangeblüthenwasser als Desodorans des Jodoforms 1073. 
Audebert: Aetherinjection bei Asphyxie der Neugeborenen 1083. 
Carstens: Rachenuntersuchung vor der Narkose 1083. 

Reid: Strychnininjection bei Chloroformvergiftung 1083. 

Jordan: Idiopathischer Speichelfluss 1083. 

Eichner und Föchel: Verhalten des Blutes von Diabetikern gegen 
Anilinfarbstoffe 1083. 


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fcfefcLlNER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


XI 


Belin: Sterblichkeit unter diphtheriekranken Kindern bei Serumbehand¬ 
lung 1083. 

Grittner: Verschlucken einer Kornähre durch ein etwa '/ 4 Jahr altes 
Kind 1127. 

Orthoform als Anästheticum 1127. 

Ebstein: Peritonitisartiger Symptomencomplex im Endstadium der 
Addison’schen Krankheit 1127. 

Eberson: Ueber l’eronin 1127. 


VI. Literarische INotizen. 

Heubner: Arbeiten ans der Klinik für Kinderkrankheiten an der Uni¬ 
versität Berlin 64. 

M. Mendelsohn: Der Einfluss des Radfahrens auf den menschlichen 
Organismus 64. 

H. Schmidt, L. Friedheim, Lamhofer, l>onat: Diagnostisch¬ 
therapeutisches Vademecum für Studirende und Aerzte 64. 

A. Thiel e: Ueber die Technik und die Anwendung der Blutentziehungen 64. 

E. Nitzeinadel: Compendium der Arzneimittellehre und Arzneiverord¬ 
nungslehre 64. 

Liedtke: Bestimmungen über die ärztlichen Atteste und Gutachten in 
Preussen 64. 

A. Joachim und H. Joachim: Preussische Gebührenordnung 64. 

H. Eicbhorst: Handbuch der speciellen Pathologie und Therapie 130. 

Merkel und Bonnet: Ergebnisse der Anatomie und Entwickelungs¬ 
geschichte 130. 

Socin und Christ, Bräuninger und Hägeier: Jahresbericht pro 
1895 des Spitals zu Basel 130. 

Meyer’s Conversationslexicon, V. Aufl. 130. 

Baumgarten und Tan gl: Jahresbericht über die Fortschritte in der 
Lehre von den pathogenen Mikroorganismen, umfassend Bacterien, 
Pilze und Protozoen. X. Jahrgang 150. 

Kisch: Baineotherapeutisches Lexicon für praktische Aerzte 150. 

Fenchel: Die Zahnverderbniss und ihre Verhütung 175. 

C.Wegele: Die diätetische Behandlung der Magen-Darmerkrankungen 175. 

Kirstein: Autoskopie des Larynx und der Trachea 175. 

Guyon: Klinische Vorlesungen über die Krankheiten der Harnwege 175. 

Henoch: Lehrbuch der Kinderkrankheiten 175. 

Kirchner: Grundriss der Militär-Gesundheitspflege 175. 

A. Strümpell und C. Jakob: Neurologische Wandtafeln 219. 

K. Grube: Allgemeine und specielle Balneotherapie 219. 

Hansemann: Diagnostik der bösartigen Geschwülste 219. 


Medicinische Abhandlungen des Stuttgarter ärztlichen Vereins zur Feier 
seines 25jährigen Bestehens 219. 

Veit: Handbuch der Gynäkologie 219. 

P. Heyraann: Handbuch der Laryngologie und Rhinologie 283. 

G seil-Fels: Reisehandbuch über die Riviera 283. 

Verhandlungen des VIII. Internationalen Congresses für Hygiene und 
Demographie in Budapest 283. 

Laker: Die Anwendung der Massage bei den Erkrankungen der Ath- 
mungsorgane 351. 

Liebreich: Encyclopädie der Therapie 351. 

Nothnagel: Specielle Pathologie und Therapie 351. 438. 

Virchow’s Jahresbericht für das Jahr 1896 415. 

A. Bettelheim: Biographisches Jahrbuch und deutscher Nekrolog 415. 
C. Binz: Vorlesungen über Pharmakologie 438. 

B. Pol lack: Die Färbetechnik des Nervensystems 488. 

G. Buschan: Bibliographischer Semesterbericht der Erscheinungen auf 
dem Gebiete der Neurologie und Psychiatrie 683. 

L. und Th. Landau: Die vaginale Radicaloperation 683. 
Schlesinger: Diätetisches Handbuch 683. 

A. Pollatschek: Therapeutische Leistungen 683. 

R. Kutner: Aseptischer Katheterismus 683. 

G. Klemperer: Klinische Diagnostik 708. 

Mittheilungen aus den Hamburgischen Staatsanstalten 708. 

Die Sperminfrage 708. 


VII. ministerielle Verfügungen und Erlasse. 

Preisermässigung für Diphtherieserum 996. 


YIU. Tagesgeschichtliche Notizen 

am Schlüsse jeder Nummer. 


IX. Civil- und Militar-Personalien und amtliche 
Bekanntmachungen 

am Schlüsse jeder Nummer. 


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BERLMER 


Die Berliner KlinUehe Wochensehrift erscheint jeden 
lfontag in der Stärke von 9 bis 3 Bogen gr. 4. — 
Preis vierteljährlich 6 Mark. Bestellungen nehmen 
alle Buchhandlungen und Postanstalten an. 


Einsendungen volle man portofrei an die Redaction 
(W. LOtsovplats No. 5 ptr.) oder an die Verlags¬ 
buchhandlung von August Hirschvald io Berlin 
N.W. Unter den Linden No. 68, adressiren. 


KVHiMlfliiMI 


iMOimM 


Organ für practische Aerzte. 


Mit Berücksichtigung der preussischen Medicinalverwaltung und Medicinalgesetzgebung 

nach amtlichen Mittheilungen. 

Redaction: Expedition: 

Geh. Med.-Kalh Prof. I)r. C. A. Ewald und Prof. Dr. C. Posner. August Birschwald, Verlagsbuchhandlung in Berlin. 



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2 


No. 1. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


bildeten zu entwickeln und fesselnd darzustellen. Eine nie 
ermüdende Arbeitskraft stellte ihm eine seltene Fülle von Kennt¬ 
nissen zu Gebote und bei aller Lauterkeit und Vornehmheit der 
Gesinnung fehlte ihm nicht die Unerschrockenheit des Rufers 
im Streite, wenn es sich darum handelte, fllr seine Ueberzeugung 
zu kämpfen und sie zu vertheidigen. 

Schweizerischer Abstammung durch den Vater, durch die 
Mutter den Refugie’s nahe stehend, war er selbst Berliner und 
Berlin zeitlebens angehörig. So paarten sich in ihm die zähe 
Ausdauer und wägende Klugheit des Schweizers, der Esprit des 
Galliers mit dem wissenschaftlichen Idealismus und der Hingabe 
des Germanen, und seine charakterfeste Wahrheitsliebe Hess 
ihn auch da unentwegt zu seiner Ueberzeugung stehen, wo die¬ 
selbe nicht im Einklang mit der grossen Menge stand. So¬ 
genannte Opportunitätsrllcksichten kannte du Bois in grossen 
Fragen nicht. Er konnte ein starker Groller, ein gewaltiger 
Gegner sein, dessen Schläge wohl vorbereitet und mit Wucht 
geführt nicht leicht zu pariren waren — aber aus kleinlichen 
persönlichen Grllnden hat er sie nie geführt, wie er denn auch 
aufs ängstlichste jeden Schein vermied, als ob er sich oder 
seinen Anhang besonders begünstigen wollte, ja vielleicht mehr 
als nöthig in dieser Beziehung zurückhaltend war. 

du Bois ist das führende Haupt unserer deutschen Physio¬ 
logie durch nahe ein Menschenalter gewesen. Fast 40 Jahre 
bekleidete er den Lehrstuhl seines Faches an unserer Hoch¬ 
schule, vom ersten bis letzten Tage auf der Höhe seiner Wissen¬ 
schaft, ein Mann universeller Bildung und universellen Geistes, 
der sich weit Uber die gewiss nicht engen Schranken seines 
Sondergebietes hinaushob. 46 Jahre war er Mitglied der Aca- 
demie, in die er als 32jähriger Mann auf Alexander v. II um- 
boldt’s und Johannes MUller’s Vorschlag 1850 gewählt 
wurde, deren ständiger Secretar er seit 1807 war. Alle die 
Ehren, die Staat und Gesellschaft einem Mann in solcher Stellung 
geben können, sind ihm in Fülle zugekommen. Die glücklichste 
Häuslichkeit, in der ein sprudelndes geistiges Leben mit der ge¬ 
sundesten Lebensführung verbunden war, zur Seite einer con- 
genialen, edlen Gattin, umringt von trefflichen Kindern, war 
ihm beschieden und wird uns Allen, die wir daran theil- 
nehmen durften, hier in der Stadt, wie auf seinem Landsitz in 
Potsdam, zu Füssen des Pfingstberges an den Ufern der schönen 
Ilavelseen, in glänzendster Erinnerung bleiben. 

So darf man dieses Leben in der That ein glückliches und 
gesegnetes nennen, und der Tod hat diesmal eine reife und voll¬ 
wichtige Aehre geschnitten. 

„Die Geschichte zeigt uns Männer, die im rechten Augen¬ 
blick geboren, von Anfang an mit siegender Gewissheit ein 
grosses Ziel verfolgen. Vor der Macht ihrer Leidenschaft, vor 
der Gewalt ihrer Thatkraft, vor der Beharrlichkeit ihres Wollens 
beugen sich die Widersacher, die Nebenbuhler stehen in der 
Ferne entmuthigt, die Gleichgültigen werden hingerissen.“ So 
leitete du Bois seine berühmte Gedächtnisrede auf Johannes 
Müller ein. Gleiches kann man füglich auch von ihm selbst 
sagen. Denn von dem Augenblick an, wo ihn im Frühling 1841 
Johannes Müller Matteucci’s „Essai sur les phenom^nes 
(Hectriqucs des animaux“ mit der Aufforderung, die darin ent¬ 
haltenen Versuche zu wiederholen und womöglich weiter fort- 
zuführen übergab, ist sein ganzes Leben fast ausschliesslich 
dieser grossen Aufgabe gewidmet gewesen, und wenn seine be¬ 
rühmten Untersuchungen Uber thierische Electricität nicht den 
erhofften Abschluss gefunden haben, so ist daran eben die 
ungeheure Schwierigkeit der zu lösenden Probleme, die auch an¬ 
dere Männer, wie Pflüger, Heidenhain, J. Rosenthal, 
Herrn. Munk u. A. in ihren Bemühungen erlahmen Hess, aber 
sicher nicht Mangel an Beharrlichkeit und Findigkeit von Seiten 


ihres Autors Schuld. Was diese Untersuchungen aber zu einem so 
glänzenden Zeugniss wissenschaftlichen Vermögens machte, was 
ihnen den anfänglichen Zweiflern und Widersachern gegenüber 
alsbald die Anerkennung der gelehrten Welt sicherte und dem 
30jährigen Forscher mit einem Schlage einen europäischen Namen 
verschaffte, das war nicht nur die ausgezeichnete Methodik, die 
von ihm selbst zum grössten Theile geschaffen war, der Scharfsinn 
und die durchdringende Klarheit, mit welcher er dieselben geflihrt 
hatte, das war nicht zum Wenigsten auch der Umstand, dass er 
den Ertrag jahrelangen mühsamen Studiums in ihnen in vollendetster 
Form darbot. Denn 7 Jahre unausgesetzter Beschäftigung mit 
dem Gegenstände von 1841—1848 gingen bis zur Veröffentlichung 
der „Untersuchungen“ dahin. Er selbst hat uns freilich in der 
Vorrede mitgetheilt, wie mancher Anlass ihm geworden 
wäre bruchstückenweise und in abgerissenen Mittheilungen mit 
den Ergebnissen seiner Forschungen hervorzutreten. Dass er es 
nicht gethan, dass er seine Aufgabe nach allen Richtungen 
hin auf das Gründlichste erschöpfte, immer wieder durch¬ 
arbeitete, neuen Zweifeln zu begegnen, Unsicherheiten abzuhelfen 
suchte, und erst mit einem wohlgefUgten stattlichen Bau vor die 
Oeffentlichkeit trat, das war es, was dem Ganzen den Stempel 
echten Forschergeistes aufdrückte und offenbar dem durchschla¬ 
genden Erfolge seiner Arbeiten in nicht geringem Maasse zu 
gute kam. In ihnen wurde zum ersten Male mit aller Schärfe 
gezeigt, wie speciell physiologische Fragen mit allen Ilülfsmitteln, 
welche uns die exacten Gebiete der Physik und Mathematik zu 
bieten vermögen, zu lösen sind, und das Bemühen „sich den 
ursächlichen Zusammenhang der natürlichen Erscheinungen unter 
dem mathematischen Bilde der Abhängigkeit vorzustellen“, ist 
Zeit seines Lebens der Leitstern du Bois’scher Forschung ge¬ 
wesen. 

Seine ursprünglichen Untersuchungsergebnisse sind theils 
von ihm, theils von Anderen im Laufe der Jahre vielfältig er¬ 
weitert und vertieft worden. 

Er selbst fasste diese Forschungen in den „Gesammelten 
Abhandlungen“, welche das Schaffen eines mehr wie 25jährigen 
Zeitraumes umfassen, und in einzelnen Beiträgen zusammen. Sie 
zeigen die unermüdliche, in neuer Betrachtung und Behandlung 
unerschöpfliche Hingabe, mit der er den einzelnen Problemen 
nachgegangen ist. Von seiner Dissertation „Quae apud veteres 
de piscibus electricis exstant argumenta“ bis in seine letzten 
Tage nahmen deshalb auch die elektrischen Organe der Fische 
sein höchstes Interesse in Anspruch. Bekannt ist, welche An¬ 
strengungen er selbst und seine Schüler, besonders Sachs 
machten, um in den Besitz von lebenden Gymnoten zu kommen. 

Die Bedeutung der elektrophysiologischen Untersuchungen 
du Bois’ für die Heilkunde im engeren Sinne, die sich ein eigenes 
Feld, die Elektrotherapie, aus ihnen gewann, ist Jedermann bekannt. 

Heftige Controversen haben sich an seine Untersuchungen 
angeschlossen, auf die einzugehen hier nicht der Ort ist. So 
viel ist sicher: Die negative Stromesschwankung im ge¬ 
reizten Nerven wird immer eine der fundamentalsten 
Entdeckungen und eines der merkwürdigsten greif¬ 
baren Zeichen jener dunklen Vorgänge bleiben, welche 
die Impulse in den Nervenbahnen fortleiten. 

War es du Bois gelungen, die seit der berühmten Beob¬ 
achtung Galvani’s bekannten elektrischen Wirkungen der Mus¬ 
keln eingehender wie alle seine Vorgänger zu ergründen und 
auf eine gesetzmässige Vertheilung elektrischer Spannungen 
zui'Uckzuführen, so war die negative Stromschwankung deshalb 
etwas so Unerhörtes und erregte ein so ausserordentliches Auf¬ 
sehen, weil sie zeigte, dass in dem thätigen Nerven, in dem 
weder das blosse Auge noch das Mikroskop eine Veränderung 
erkennen lässt, eine wahrnehmbare Aenderung seiner elektrischen 


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4. Januar 1897. 


3 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Eigenschaften vorging. Damit war die bisher geltende Lehre 
von dem Nervenprincip, einem unbekannten Etwas, welches, wie 
die Lebenskraft ausserhalb der Materie stehen und dieselbe 
gewissermaassen nach Laune und WillkUr beeinflussen sollte, 
unverträglich, und es war nur eine Consequenz dieser Entdeckung 
und der gesammten naturwissenschaftlichen Anschauung du Bois’, 
wenn er sich schon in der Vorrede seiner Untersuchungen mit 
schlagender Schärfe gegen die Lehre von der Lebenskraft 
wendete. Man kann sagen, dass durch Volkmann, Helm¬ 
hol tz und du Boi8 dieser Popanz ein für alle Mal aus der 
Welt geschafft ist. 

„Diejenigen, welche die Irrlehre von der Lebenskraft pre¬ 
digen, unter welcher Form, welcher täuschenden Verkleidung es 
auch sei, solche Köpfe sind, mögen sie sich dessen fUr versichert 
halten, niemals bis an die Grenzen ihres Denkens vorge- 
drungen. “*) 

Auch in seinen gesammelten Abhandlungen und akademi¬ 
schen Reden ist du Bois wiederholt auf diesen Punkt zurUck- 
gekommen, und eine seiner letzten Kundgebungen in der 
Akademie der Wissenschaften war eine Zurückweisung des 
Neovitalismus, in dem einige Forscher letzthin die Lebenskraft 
unter neuem Gewände wieder aufleben lassen wollten. 

Man hat es du Bois zuweilen verargt, dass er sein 
Leben lang an der Elektrophysiologie hängen geblieben und 
nicht auch auf anderen Gebieten productiv gewesen sei. Dieser 
Vorwurf, der bei Anderen zutreffen mag, prallt bei du Bois ab. 
Denn es lag in seiner Natur, dem grossen Problem, dass ihn 
auf die Höhe des gefeierten Gelehrten erhoben hatte, bis in’s 
Aeusserste nachzugehen und die letzte Lösung desselben immer und 
immer wieder zu suchen. Und sollte er mit Waffen anderer Art, die 
ihm nicht gut lagen, in die Arena steigen? Dass er die Fort¬ 
schritte der Wissenschaft bis ins Kleinste jeden Augenblick ver¬ 
folgte, weiss freilich Jeder, der je ihm auf wissenschaftlichem 
Gebiete, im Colleg oder anderswo begegnen konnte. 

Es lag in der Natur der Sache, dass sich du Bois durch 
seine Forschungen unausgesetzt mit physikalischen Problemen 
zu beschäftigen hatte, dass er viele Vorrichtungen, welche im 
weiteren Sinne der Physik zu Gute kommen, eigens ersinnen, 
bekannte Apparate für seine Zwecke herrichten und benutzen 
musste. Die Frucht davon war sein tiefes Eindringen in die 
Physik und ihre Zwillingsschwester, die Mathematik, welches 
sich äusserlich dahin aussprach, dass er mit zu den Grllndern 
der physikalischen Gesellschaft in Berlin gehörte, deren Vorsitz 
und Ehrenvorsitz er lange Jahre geführt hat. 

Nichts hat mehr beigetragen, den Namen du Bois in die 
weitesten Kreise der Gebildeten zu tragen, als seine Reden, 
welche er bei verschiedenen, meist akademischen Anlässen, haupt¬ 
sächlich in seiner Eigenschaft als ständiger Secretar der Aka¬ 
demie gehalten hat. Sie haben sich bekanntlich auf die ver¬ 
schiedenartigsten Themata erstreckt. Keine ist ohne weiten 


1) Vorrede zu den „Untersuchungen“ S. 42. 


Wiederhall, freilich auch [nicht selten ohne lebhaften Wider¬ 
spruch geblieben. Aber Kundgebungen, wie die Uber die Grenzen 
des Naturerkennens, die sieben Welträthsel, La Mettrie, der 
deutsche Krieg, das Kaiserreich und der Friede, Uber die Uebung 
u. a. m. werden stets unvergessen bleiben. Gewiss war es 
nicht nur der rein äussere Grund, dass er in seinem Amte bei 
der Akademie der Wissenschaften so oft ihres GrUnders Leibnitz 
und des Geburtstages Friedrich des Grossen zu gedenken hatte oder 
der Umstand, dass der „Peintre graveur“ der Friedericianischen 
Epoche, Daniel Chodowiecki ihm durch Abstammung ver¬ 
wandt und von ihm aufs Höchste geschätzt war, sondern 
es war ein Zug geistiger Verwandtschaft mit jenen Männern, 
welche zuerst der modernen Geistesbildung zu Worte verholfen 
haben, dass er sich so eingehend mit ihnen beschäftigte und 
eine Kenntniss jener Epoche der Encyclopädisten erwarb, in der 
es ihm wenige gleich zu thun vermochten. Aber was auch 
immer der Vorwurf seiner Reden war, alle sind sie durch die 
Fülle des darin enthaltenen Wissens, durch die Klarheit und 
epigrammatische Schärfe der Diction, durch die Vertiefung in 
die behandelten Probleme eine stete Quelle des Genusses und 
der Belehrung. 

Sollen wir schliesslich noch seiner akademischen Lehrthätig- 
keit gedenken, in der er Generationen auf Generationen, seit 
1877 unterstützt durch die grossartigen HUlfsmittel des von ihm 
erbauten Institutes, in die Wissenschaft einfUhrte ? Von jenen be¬ 
rühmten Vorlesungen sprechen „Ueber einige neuere Ergebnisse 
der Naturwissenschaften“, die Winter für Winter das grösste 
Auditorium fUr die Zahl der Zuhörer zu klein sein Hessen? Von 
seiner Leitung der physiologischen Gesellschaft zu Berlin? Sollen 
wir die historische Erinnerung an die Stätte jenes alten Labo¬ 
ratoriums in dem WestflUgel des Universitätsgebäudes wachrufen, 
in denen der Physiologie Jahre lang die beschränkteste und 
dUrftig genug ausgestattete Heimstätte angewiesen war, in der 
du Bois mit unendlicher Sorgfalt die Vorrichtungen und HUlfs¬ 
mittel, Apparate und Wandtafeln für sein grosses Experimental- 
colleg zusammenstellte? 

Möge dieser Hinweis auch auf diese Seite seiner Thätigkeit 
genUgen. Wer ihn kannte, weiss, dass ihm auch in dem Ge¬ 
triebe des täglichen Lebens kein Rädchen zu klein, kein Unter¬ 
nehmen zu geringfügig war, als dass er es nicht auf das Ge¬ 
wissenhafteste und Gründlichste gehandhabt hätte. 

So stand du Bois unter uns, ein Charakterkopf, geistig 
wie körperlich der Typus eines hervorragenden Mannes. Er 
war sich stets bewusst, dass er die Würde seiner Stellung und 
des Gelehrten internationalen Rufes in jedem Augenblick zu 
wahren und zur Geltung zu bringen hatte. Allen, die ihm nahe 
treten durften, auf der Höhe seiner Männlichkeit, die scharf¬ 
blickenden Augen überragt von einer mächtigen Stini, energisch 
und sicher in jeder Bewegung, an allem Antheil nehmend, was 
die geistigen Interessen der Wissenschaft und des Tages brachten, 
wird sein Bild, wie es uns auch Menzel’s Meisterhand fest¬ 
gehalten hat, unvergesslich bleiben. 

C. A. Ewald. 


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4 


BERLIN KU KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 1. 


I. Pulsus paradoxus einer Seite. Ungleiche 
Pulszahl der Armarterien. 

Von 

C. Gerhardt 

Vorkommen ungleicher Pulszahlen an den Radialarterien 
eines Menschen ist schon früher öfter besprochen worden, bald 
wurde es als häufiges Vorkommniss geschildert, so von J. F. II. 
AIbers'), bald als unmöglich bezeichnet, so von dessen Gegner 
Steifersand, 2 * ) der sich dabei auf einen Ausspruch Johannes 
Müll er’s berief. Albers bezeichnet in jener Abhandlung (1838) 
denjenigen Puls als differens, der an verschiedenen Körpertheilen 
weder an Stärke noch an Zahl gleich ist. Einen Pulsus 
differens in diesem Sinne habe ich, wiewohl schon länger auf 
dieses Vorkommniss aufmerksam, doch erst in letzter Zeit zum 
ersten Male selbst beobachten können. Es handelt sich dabei 
um das Zusammentreffen der Bedingungen des Pulsus paradoxus 
mit jenem des P. differens oder, wenn man so will, um einseiti¬ 
gen Pulsus paradoxus. 

Von Griesinger wurde 1856 in einer Dissertation von 
Wiedemann Uber Mediastinitis Aussetzen des Pulses als Zeichen 
dieser Erkrankung beschrieben. Kussraa ul*) bestätigte diese 
Bedeutung des Zeichens und nannte es paradoxen Puls (1873). 
Von nun an erlangte es Beachtung und in zahlreichen Schriften 
wurde gezeigt, dass es auch bei Perikarditis, auch bei Empyem, 4 ) 
auch sogar bei Gesunden (Sommerbrodt) 5 6 7 ) Vorkommen könne. 

Schon 1859 hatte ich •) inspiratorisches Aussetzen des 
Pulses beschrieben als Zeichen des Eintrittes des dritten, as- 
phyktischen Stadiums des Croups. Die schon früher ofterwähnte 
Unregelmässigkeit des Pulses bei Croupkranken erhielt so eine 
Erklärung als nothwendige Folge fruchtloser gewaltiger Athmungs- 
anstrengungen bei durch Kohlensäure - Vergiftung abnehmender 
Herzkraft und zugleich eine prognostische Bedeutung. In der 
Literatur ist diese Angabe wenig beachtet worden, mehr in der 
Praxis. Im Petersburger Kinderhospital zeigte mir v. Rauchfuss 
wie Aussetzen des Pulses bei der Einathmung von seinem Per¬ 
sonal bei Croupkranken als Anzeige für die Tracheotomie be¬ 
trachtet wird. 

Wenn man auch künstlich durch lang angehaltene Athemzüge 
bei Gesunden paradoxen Puls hervorrufen kann, so wird doch 
sein dauerndes Vorkommen bei Kranken als besonderes Zeichen 
gelten müssen, abhängig im Wesentlichen von tiefen Athemzügen 
einerseits, Herzschwäche und ungenügender Füllung der Arterien 
andererseits. 

Auch Uber Pulsus differens, den an einer Radialarterie 
kleineren und in der Form der Welle dem der Greise sich 
nähernden Puls ist viel geschrieben worden. Er gilt vielfach 
als besonderes Zeichen des Aortenaneurysmas, richtiger als Zeichen 
endarteritischer Vorgänge am Aortenbogen, die zur Verzerrung 
und ungleichen Weite der Abgänge der grossen Arterien führten. 1 ) 


Dergleichen kommt Öfter vor. Dagegen dürften die Fälle za 
zählen sein, in welchen vorwiegend ai\ einer Radialarterie die 
Schläge während der Einathmung unfühlbar wurden. So wurde 
von L. Mainzer 1 ) berichtet von einem 27j. Tagelöhner mit 
grossem linksseitigen Pleuraexsudate, bei dem der Puls mit der 
Einathmung aussetzte. Nach Punction und Entleerung des Er¬ 
gusses verschwand die Erscheinung, um nach Wiederansteigen 
des Ergusses wieder zu kehren, nach Heilung der Krankheit 
wieder zu verschwinden. Dabei war der Puls stets an der linken 
Radialis schwächer. 

Dahin gehört unzweifelhaft auch eine ältere Beobachtung 
von 0. Heubner. 2 ) 

Bei einer 52jährigen Näherin mit Fettherz nnd Endarteriitis der 
Aorta fand sich an der rechten Art. subclavia ein dumpfes sausendes 
Geräusch, bald stärker, bald schwächer, zeitweise verschwindend. Die 
rohe Kraft des rechten Armes vermindert, der Puls der rechten Radial¬ 
arterie bald fehlend, bald vorhanden, aber dann abnorm klein, verzögert. 
Ohne eigentlich unregelmässig zu sein, zeigte er doch stärkere und 
schwächere Wellen; nicht selten fielen einzelne Schläge aus. Ebenso 
verhielt es sich an der rechten Art. brachialis und subclavia. Die Ob- 
duction zeigte in der rechten Art. subclavia einen zollangen, das Gefäss- 
lumen fast gänzlich verstopfenden Thrombus. 

Da einzelne Schläge an der rechten Radialis ausflelen, muss auch 
hier der Puls der Radialarterien ungleich an Zahl gewesen sein. 

Ohne Zweifel stecken noch manche ähnliche Beobachtungen 
zerstreut in der Literatur. Vielleicht giebt die Mittheilung des 
nachstehenden Falles Veranlassung, sie zu sammeln und zusammen 
zu stellen. 

Karoline A., 66 J. alt, Arbeitersfrau, aufgenommen 1. XII. 96, hat 
seichte Fussgeschwfire am linken seit 50, am rechten Unterschenkel seit 
11 Jahren, die zeitweise heilen, erlitt 1888 einen Bruch beider Knochen 
des linken Vorderarmes. 8ie erkrankte Weihnachten 95 unter Athem- 
noth, Fieber, später Anschwellung der Ffisse und Verminderung des 
Urins. Besserung nach Arzneigebraucb, seither Mattigkeit, herumziehende 
Glieder- und Gelenkscbmerzen, wechselnde Anschwellung der Ffisse, 
wechselnde Urinmengen, zeitweise Bettruhe nöthig. 

Klagen beim Eintritte: Athemnoth, im Liegen zunehmend, Völle im 
Unterleibe, Brustschmerzen, 8cbmerzen in den Unterschenkeln, erhöhter 
Durst, Appetit nicht gering, doch die Nahrungsaufnahme durch die Span¬ 
nung im Unterleibe vermindert. 

Befund bei der Aufnahme: Gutgenährte Frau von 60 Kilo Gewicht, 
kurzathmig (30 Athemzflge), dauernd fieberlos, hat mässigen Bronchial- 
catarrh und die Zeichen einer Mitralinsufflcienz: Herzstoss im VI. Zw. R. R., 
ausserhalb der Brustwarzenlinie, Herzdämpfting breit, systolisches Ge¬ 
räusch an der Spitze, scharf blasend, langgezogen, zweiter Ton der 
Lungenarterie verstärkt. Unregelmässiger, kleiner Puls von 80—90 
Schlägen sowie ein zeitweises kurzes diastolisches Geräusch an der 
Spitze lässt gleichzeitige Stenose vermntben. Etwas Ascites, Oedem der 
Ffisse, Unter- und tbeiiweise auch Oberschenkel, Urin spärlich, 260 bis 
1100 cc, spez. Gewichts anfangs 1020—1023, später 1012—1020, enthält 
Eiweiss, hyaline und gekörnte Cylinder, Rundsellen, Epithelien. 
Daher auch eine Nephritis wahrscheinlich. — 

Bei dieser Kranken findet sich der Puls an der linken Radialarterie 
auffällig kleiner als an der rechten, auch an der linken Brachialarterie 
und Carotis etwas kleiner als rechts, an den Crurales gleich. Diese 
Arterien sind zartwandig und zeigen keine besondere Dicke oder Härte 
ihrer Wand. Der Puls ist unregelmässig und zeigt namentlich hier und 
da kleinere Nachschläge. An der linken Radialarterie werden auf der 
Höhe der Einathmung die Schläge kleiner, theil weise un fühl bar. 

Zählungen der Pulse gleichzeitig von mehreren geübten Beobachtern 
während einer vollen Minute vorgenommen, deren Anfang und Ende ein 
Dritter bezeichnet, ergaben: 


1) Schmidt’s Jahrbücher, Bd. XXIII., 8. 168 und XXXII., S. 88. 

2) Ibidem: Bd. XXVII., 8. 82. 

8) Ueber schwielige Mediastino-Perikarditis und den P. paradoxus. 
Berl. klin. Wochenschrift 1878, p. 87. 

4) Baeumler, Ueber inspiratorisches Aussetzen des Pulses und 
den P. paradoxus. D. Arch. f. klin. Med., Bd. XIV., S. 458. — Stricker: 
Charite-Annalen Bd. II. — 0. Rosenbach: Virchow’s Archiv Bd. CV., 
8. 215. 

5) Sommerbrodt: Gegen die Lehre vom P. paradoxus. Berl. 
klin. Wochenschrift 1877, p. 42. 

6) C. Gerhardt: Der Kehlkopfscroup. Tübingen 1859, S. 49 und: 
Ein Croupfall: Würzb. med. Zeitschrift Bd. III., S. 15. 

7) v. Ziemssen: Ueber P. differens und^seine Bedeutung bei Er¬ 
krankung des Aortenbogens. D. Arch. f. klin. Med. Bd. XLVI., S. 285. 


am 5. XII. Vormittags 10 Uhr rechte Radialis 84, linke Radialis 67 
fi Mittags 12 ,, „ fi 69 „ „64 

„ Nachmittags 5 „ * „ 78 „ „69 

am 6. XII. Vormittags 11 „ „ „ 72 „ „64 

am 7. XII. „ Brachialis 88 „ Brachialis 84 

„ Nachmittags 6 „ „ Radialis 93 „ Radialis 80 

Herzcontractionen 94. 


Herz 86, rechte Carotis 84, linke Carotis 76 
„ 83 „ „ 83 „79. 


Der Sphygmograph erweist sich auch hier feinfühliger als der Finger. 
Auf der Curve der linken Radialis fehlen keine Schläge, nur sind einige 
während der Einathmung kleiner als die übrigen. 


1) Zwei Fälle von paradoxem PuIb. Prag. Vierteljahrsschrift 1879, 
Bd. I., S. 98. 

2) Fall von Thrombose der A. subclavia dextra in Folge von End¬ 
arteriitis, Archiv der Heilkunde 1868, S. 165. 


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Die Curve mit höheren Wellen stammt von der rechten, die mit 
niederen an der linken Art. radialis der Kranken A. Unter letzterer 
Curve bezeichnen die verticalen Striche den jedesmaligen Beginn der 
Einathmung. 

Die anfängliche Annahme, dass es sich bei Frau A. um 
eine Verengung der 1. Art. radialis in Folge des früheren Bruches 
des 1. Vorderarmes handle, wurde hinfällig, sobald nachgewiesen 
war, dass auch an der 1. A. brachialis und Carotis die Zahl der 
Pulsschläge geringer war als an dem Herzen und der r. A. radialis. 
Man musste mm annehmen, dass am Aortenbogen eine Vereng¬ 
ung der Ursprünge der 1. Carotis und Subclavia sich entwickelt 
habe, wahrscheinlich in Folge von Atherom, die unter den ob¬ 
waltenden Verhältnissen von Schwäche der Ilerzkraft gerade im 
Stande war, während der Inspiration einzelne Pulse an diesen 
Arterien unfllhlbar zu machen. Da die Kranke 24—40, meist 
jedoch etwa 30 Athemzüge in der Minute machte und wn 69 bis 
86 Pulsschlägen nur 4—27 ausfielen, meist nur 7—8, so hat nur 
ein Theil der Athemzüge die nöthige Tiefe gehabt, um eine 
Pnlswelle unfUhlbar zu machen, und zwar war dies an Carotis 
und Brachialis noch weniger der Fall, nur 4—8 male. — Die 
von unserer Kranken aufgenommenen Curven gleichen sehr den 
von Mainzer veröffentlichten, die auch nur kleinere Wellen, 
kein vollständiges Fehlen der Welle während der Einathmung 
aufweisen. — Die beschriebene ungleiche Pulszahl der Radial¬ 
arterien dieser Kranken besteht seit ihrer Aufnahme bis heute 
unverändert fort, unbeeinflusst durch Gebrauch von Digitalis, 
Valeriana Und ähnlichen Mitteln. 


n. Ueber „adenoiden“ Habitus. 1 ) 

Von 

Dr. Victor Lange) Kopenhagen. 

Wie bekannt veröffentlichte im Jahre 1873 der verstorbene 
Wilhelm Meyer im Archiv für Ohrenheilkunde seine klassische 
Arbeit Uber die „adenoiden Vegetationen“ im Nasenrachenraume. 
Die seitdem erschienene, reichhaltige Literatur hat hauptsächlich 
die operative Frage behandelt. Was die pathologische Seite der 
Krankheit angeht, so sind einige Untersuchungen Uber das Vor¬ 
kommen von Tuberculose und Syphilis in den adenoiden Vege¬ 
tationen sowie Uber verschiedene degenerative Processe in der 


1) Der Kürze halber habe ich den Namen „adenoiden“ Habitus 
gebraucht, nm damit das von Meyer so treffend charakterisirte Aas¬ 
sehen der Patienten za bezeichnen, die an adenoiden Vegetationen im 
Nasenrachenraum leiden. 


Tonsilla pharyngea hinzugekommen. Meyer selbst gelang es 
noch, einen recht umfassenden Ueberblick Uber die geographische 
Verbreitung der adenoiden Vegetationen zu liefern. 

Wie aus der Ueberschrift dieser kleinen Arbeit hervorgeht, 
wird hier von einer eingehenden Behandlung der Frage Uber die 
adenoiden Vegetationen nicht die Rede sein, sondern nur von 
der Bedeutung, die man einem sogenannten „adenoiden“ Habitus 
beizulegen hat. 

Da Meyer’s obeij erwähnte Arbeit hinreichend bekannt sein 
dürfte, so liegt kein besonderer Grund vor, hier bei der Be¬ 
schreibung des Habitus zu verweilen, die Meyer von den an 
adenoiden Vegetationen im Nasenrachenraum leidenden Patienten 
geliefert hat. 

Bei ganz vereinzelten, mit diesem Leiden behafteten Patienten 
fehlt der adenoide Habitus sozusagen vollständig, und die kli¬ 
nische Erfahrung lehrt uns, dass es nicht immer die Menge der 
adenoiden Vegetationen ist, die dem Patienten das charakte¬ 
ristische Aussehen aufdrückt. Uebrigens wird dieser Habitus 
von allen denen als typisch anerkannt, die sich mit der Frage 
von den adenoiden Vegetationen beschäftigt haben. 

Indessen dürfte es wohl jedem Arzte, der sich mit Krank¬ 
heiten in der Nase und dem Nasen rachenraume zu beschäftigen 
Gelegenheit hatte, aufgefallen sein, dass der sogenannte adenoide 
Habitus für die adenoiden Vegetationen im Nasenrachenraume 
nicht absolut pathognomonisch ist, mit anderen Worten, dass 
man denselben unter Verhältnissen antrifft, die mit der von 
Meyer beschriebenen Krankheit nichts zu thun haben. 

Zunächst möchte ich hervorheben, dass es eine Gruppe von 
Patienten giebt, bei denen wir wegen ihres Habitus, wegen ver¬ 
schiedener krankhafter Symptome, sowie vor Allem wegen des 
nachweislichen Vorhandenseins von adenoiden Vegetationen im 
Nasenrachenraume zu der Ansicht gelangen, einen typischen Fall 
der Meyer'schcn Krankheit vor uns zu haben. Nach gründ¬ 
licher Untersuchung operirt man den Patienten und befreit ihn 
von einer Hypertrophie der Tonsilla pharyngea oder von dem 
übrigen im Nasenrachenraum vorhandenen adenoiden Gewebe. 
Nach der Operation wartet man ruhig, bis die Reaction sich 
verloren hat — in der Regel ein paar Wochen — und sieht 
dann zu seinem Erstaunen, dass durch die Operation allerdings 
Manches erreicht ist, z. B. eine freiere Respiration durch die 
Nase und ein besseres (nicht mehr nasales) Sprechen — aber 
der für den Patienten charakteristische Habitus ist unverändert 
geblieben. 

Ganz natürlich gelangt man zu der Annahme, dass die 
Operation unvollständig gewesen sei und untersucht auf’s Neue. 

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C oogle 























f, 


No. 1. 


BERLINKK KLIX 1S<’IIK W<M’iIEXS<’IIKIFF. 


Wenn man aber keine Geschwülste mehr findet, so liegt der 
Gedanke nahe, die Ursache des adenoiden Habitus in anderen 
Faktoren als den adenoiden Vegetationen zu suchen. Man kann 
nämlich mit Sicherheit davon ausgehen, dass das Ergebniss einer 
vollständig au8geführten Operation sich bei den von Meyer be¬ 
schriebenen Kindern im Laufe von ein paar Wochen oder, um 
etwas reichlicher zu rechnen, im Laufe von einem Monat zeigen 
muss, abgesehen von den einzelnen, jedoch verhältnissmässig 
seltenen Fällen, wo alle krankhaften Symptome gleich nach der 
Operation wie durch Zauberei verschwinden. 

Ausser der eben genannten Gruppe von Patienten, die ihren 
adenoiden Habitus behalten, obgleich sie von ihren adenoiden 
Vegetationen befreit wurden, giebt es endlich eine kleinere, 
wenigstens auf Specialkliniken nicht so selten vorkommende 
Gruppe von Patienten mit adenoidem Habitus und verschiedenen 
adenoiden Symptomen, die nicht die geringste Spur von Hyper¬ 
trophie des adenoiden Gewebes im Nasenrachenraume darbieten 
und scheinbar nie daran gelitten haben. Es ist wichtig, dass 
man von dem Vorkommen solcher Patienten in der typisch 
Meyer’schen Gruppe unterrichtet ist; jeder Arzt stösst auf 
solche Patienten, und da ihr Aussehen bezüglich der einen 
Gruppe dem der anderen Gruppe täuschend ähnlich ist, so kann 
man durch das blosse Aussehen leicht zu einer irrthümlichen 
Diagnose verleitet werden. Wie überall, wo wir die Diagnose 
„adenoide Vegetationen im Nasenrachenraume“ mit Sicherheit 
stellen, ist die Digitalexploration das absolut entscheidende Hülfs- 
mittel; ein bis zur Foraix in den Nasenrachenraum eingeführter 
Finger wird unter allen Umständen — selbst bei den kleinsten 
Kindern, wo man ja im Nothfalle Narkose anwenden kann — 
darthun, ob Vegetationen vorhanden sind oder nicht. 

Wenn man die Umgebungen der Patienten näher befragt, 
so wird man in der Regel erfahren, dass die zu dieser Categorie 
gehörigen Kinder Erwachsenen und Gleichalterigen gegenüber 
fast stets reizbar und unumgänglich sind, dass sie leicht in 
Affekt, besonders in krankhaften Affekt, gerathen, bei einem 
harten Wort oder, wenn man ihnen den Willen nicht thut, dem 
Weinen nahe sind, dass sie sich beim Lernen träge zeigen und 
vergesslich sind, dass ihre geistige Entwicklung langsam vor sich 
geht und ihre Behandlung im Ganzen genommen Schwierigkeiten 
darbietet, die zuweilen die Frage nahe legen, ob das betreffende 
Kind auch normal sei. Unter allen Umständen ist das Zusammen¬ 
leben zwischen den Eltern und solchen Kindern im höchsten 
Grade beschwerlich, und mehr als ein Kind ist aus dem Eltern¬ 
haus nach einer Anstalt gesandt worden, wo es wenigstens 
während seines Heranwachsens hingehört. In Deutschland — 
wahrscheinlich auch in anderen Ländern — giebt es mehrere 
Anstalten, welche die Erziehung solcher Kinder übernehmen; ich 
kenne eine solche in Sophien höhe bei Jena, die von einem 
intelligenten Manne Namens Trttper geleitet wird, der u. A. 
als Mitredacteur der Zeitschrift „Die Kinderfehler“ bekannt ist. 

Diese Gruppe von Kindern muss wohl eigentlich für neuro- 
pathisch gehalten werden, denn alle die krankhaften Symptome, 
die sie — ausser den adenoiden Symptomen — darbieten, sind 
meist rein nervöser Natur. Hier habe ich noch zu bemerken, 
dass ich bei einzelnen Patienten eine mangelhafte Entwicklung 
des Schädels, besonders des frontalen Theils, gefunden habe, wo 
also von einer Hemmungsbildung die Rede sein kann. 

Fragt man nun nach der Ursache von dem adenoiden 
Habitus und den krankhaften Symptomen bei den zu den oben¬ 
genannten Gruppen gehörigen Patienten, so ist man grösstentheils 
darüber im Klaren. 

Wenn man den Nasenrachenraum in grösserem oder geringe¬ 
rem Grade ausfUllt (was durch Versuche mit Baumwoll-Tampons 
zur Genüge dargethan ist), so kann die Respiration durch die 


Nase so unmöglich oder beschwerlich werden, dass man genöthigt 
wird oder sich daran gewöhnt, durch den Mund zu atbmen 
ausserdem hat der Nasenrachenraum dadurch die Bedingungen 
verloren, beim Sprechen wie beim Singen als Resonanzboden 
dienen zu können. Da die Geschwulstmassen, von denen hier die 
Rede ist, so gebaut sind, dass sie, die ausserdem einen bestän¬ 
digen Katarrh unterhalten, bald ein grösseres, bald ein kleineres 
Volumen einnehmen, je nachdem ihre Consistenz (Gefässreichthnm) 
weicher oder fester ist, so ist damit ihre schädliche Einwirkung 
auf die Tuba Eustachii und das Mittelohr gegeben. 

Entfernt man nun durch eine Operation dieses Plus, dessen 
Wirkung hauptsächlich rein mechanischer Natur ist, so ver¬ 
schwinden die sich daraus ergebenden Symptome in Ueber- 
einstimroung mit dem alten Gesetz: sublata causa tollitur 
effectus. 

Da es indessen ausser diesen hier hervorgehobenen Cardinal- 
symptomen bezüglich der Respiration, des Sprechens und des 
Gehörs manche andere, krankhafte Symptome giebt z. B. Kopf¬ 
schmerzen, Trägheit, langsames Verständnis, schlechtes Ge¬ 
dächtnis, schlechte Laune u. s. w., die ebenfalls nach der Ope¬ 
ration verschwinden, so fragt man sich ganz natürlich: Weshalb 
verschwinden diese Symptome, und ist der Grund dafür in den¬ 
selben Umständen zu suchen, die jene auffallenden Symptome 
bewirkten? Die Antwort auf diese Frage ist sehr schwierig 
und stützt sich im Wesentlichen auf Hypothesen, die ich in aller 
Kürze besprechen will, indem ich jedoch betonen muss, dass 
man nicht dieselbe Erklärung aufstellen kann für das Vorkommen 
eines adenoiden Habitus und für adenoide Symptome bei Kindern 
mit und ohne adenoide Vegetationen. 

Vorläufig scheint die Erklärung der psychischen Symptome, 
die für typisch Meyer’sehe Fälle charakteristisch sind oder 
jedenfalls häufig dabei Vorkommen, sich am besten aus den Uber 
25 Jahre alten Untersuchungen von Key und Retzius herleiten 
zu lassen, wodurch (allerdings nur bei Tliieren) durch Ein¬ 
spritzungen nachgewiesen wurde, dass zwischen den subduralen 
und den subarachnoidalen Räumen im Gehirn und Rückenmark 
und den Lymphgefassen der Schleimhaut in der Nase und ihren 
Nebenhöhlen Verbindungen existirten. (Tillaux berichtet, dass 
bei einem wegen Nasenpolypen operirten Patienten Cerebrospinal- 
flüssigkeit herausgeflossen sei, von der man annehmen müsse, 
dass sie aus einer durch die Operation in der Decke der Nasen¬ 
höhle entstandenen Ocffnung gekommen sei. Siehe Monatsschrift 
für Ohrenheilkunde No. 11. 1870.) 

Die gründlichen Untersuchungen jener beiden Forscher sind 
jedenfalls weder widerlegt noch modificirt worden; sie sind also 
noch heutzutage in Kraft, und obgleich ich noch vor Kurzem 
versucht habe, mir neuere Untersuchungen über diese Verhält¬ 
nisse zu verschaffen, ist mir das nicht gelungen; ob solche 
Untersuchungen also in anatomischen oder physiologischen Werken 
existiren, muss ich dahingestellt sein lassen. 

Was der Anwendung der Untersuchungen von Key und 
Retzius im Wege steht, ist der Umstand, dass sie nur Ver¬ 
bindungen zwischen den erwähnten Räumen im Gehirn, dem 
Rückenmark und der Nase und ihren Nebenhöhlen nachweisen, 
den Nasenrachenraum dagegen unberührt lassen. 1 ) 

Indessen haben die später von Waldeyer angestellten 
Untersuchungen uns darüber belehrt, dass die Tonsilla pharyngea 
sowie das adenoide Gewebe im Nasenrachenraume ein Glied 
jener Kette bilden, welche nach dem Verfasser der Waldeyer- 


1) Das Original werk kenne ich persönlich nicht; mein Wissen stammt 
aus verschiedenen Quellen, z. B.: Ziem äsen’s Handbuch des Respira¬ 
tionsapparates, Schwalbe’s Lehrbuch der Anatomie der Sinnesorgane, 
Nord. med. Archiv 1870. 


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4. Januar 1897. 


BERLIN ER K LIN I8CH E WOCHEN SCI IR I FT. 


8che Drllsen-Ring benannt worden ist, worin das lymphatische 
Element eine bo hervortretende Rolle spielt. 

Indem wir uns also an die Untersuchungen von Key und 
Retzius halten, können wir uns eine Erklärung dafür denken, 
dass eine AnfUllung der Nasenhöhlen — nehmen wir z. B. eine 
solche, die durch einen regulären Schnupfen entsteht — durch 
eine Stase die obengenannten psychischen Symptome hervorruft; 
die Circulation ist aufgehoben oder gehemmt, es findet in den 
erwähnten Gehirnräumen eine Anhäufung von Flüssigkeit statt, 
wegen der unvollständigen Respiration durch die Nase wird die 
Aufnahme von Sauerstoff vielleicht mangelhaft, es entsteht ein 
Druck auf einige Gehirntheilc u. s. w. Thatsächlich verschwin¬ 
den die krankhaften Erscheinungen, wenn der normale Zustand 
in der Nase wieder eingetreten ist. 

Wenn wir nun diese Verhältnisse auf den Nasenrachenraum 
Überführen, so haben wir es hier mit Verhältnissen zu thun, 
die denen in der Nase analog sind; indem wir eine hypertro- 
phirte Tonsilla pharyngea oder eine Hypertrophie des adenoiden 
Gewebes entfernen, beseitigen wir gleichzeitig damit das Hinderniss, 
das vermeintlich einem freien Verhältnis zwischen den cerebralen 
Räumen und dem Nasenrachenraum im Wege steht. Man kann 
sich kaum auf eine natürlichere Weise erklären, w’eshalb die 
erwähnten psychischen Symptome nach einem gut ausgeführten 
Raclement des Nasenrachenraumes verschwinden. 

Wenn Trautmann in seiner grossen Monographie (Ana¬ 
tomische, pathologische und klinische Studien Uber Hyperplasie 
der Rachentonsille u. s. w., Berlin 1886) nach Beschreibung der 
Gefässverhältnisse im Nasenrachenraume sagt: „Fasst man das 
Vorstehende zusammen, so sieht man eine einheitliche Gefass- 
anordnung durch den ganzen Nasenrachenraum und die Nase 
gehen“, so liegt die Schlussfolgerung nahe, dass es sich mit den 
"Lymphgefässen ebenso verhält. Ausserdem ist — von Sappey 
— ein Plexus lymphaticus anterior et posterior im Nasenrachen¬ 
raume beschrieben worden (siehe Trautmann). 

Dass es sich um ein mechanisches Hinderniss handelt, er¬ 
hellt u. A. deutlich aus einer von mir vor einigen Jahren ge¬ 
machten Beobachtung. Bei einem Patienten fanden sich nämlich 
im oberen Theil des Nasenrachenraumes einige strangförmige 
Adhaerenzen, die den Raum gleichsam in einen oberen und 
einen unteren theilten. Ueber diesen Adhaerenzen sammelten 
sich im Laufe von einigen Tagen Borken an; sobald diese eine 
gewisse Grösse erreicht hatten, wurde der Patient stumpf und 
war nicht aufgelegt zur Arbeit, er fühlte sich unwohl, müde und 
verdriesslich u. s. w.; sobald sie entfernt wurden, trat eine 
vorübergehende Erleichterung ein; nachdem ich die Adhaerenzen 
entfernt und den Patienten von seinem mit Borkenbildung ver¬ 
bundenen Rctronasalcatarrh befreit hatte, verschwanden die 
krankhaften Symptome. Etwas Aehnliches habe ich bei Patienten 
mit typischem Nasopharyngealpolypen auf der Basis cranii beob¬ 
achtet, wenn es mir auch auffallend war, dass die obengenannten 
Symptome bei derartigen Geschwülsten weit weniger hervortretend 
waren, als bei adenoiden Vegetationen. 

Wenden wir uns nun zu den Kindern, bei denen keine 
adenoiden Vegetationen dem adenoiden Habitus und den ver¬ 
schiedenen adenoiden Symptomen zu Grunde liegen. Hier ist es 
kein mechanisches Hinderniss, das die Schuld trägt. Ich habe 
eben erwähnt, dass einige zu dieser Gruppe gehörige Patienten 
ein weniger normal entwickeltes Craninm und zwar besonders 
an dem frontalen Theil eine auffällige Abflachung gehabt hätten, 
die sogar auf den Photographien deutlich hervortrat. Die Zahl 
dieser Patienten ist jedoch zu verschwindend gewesen, als dass 
man für die ganze Gruppe den Grund für die krankhaften Er¬ 
scheinungen in der mangelhaften Entwicklung des Cranium und 
Cerebrum suchen könnte. 


7_ 

Was soll man denn mit allen den anderen Patienten machen, 
deren Zahl weit grösser ist? 

Meiner Ansicht nach hat die pathologische Anatomie diese 
Frage bisher völlig unbeantwortet gelassen. 

Einige dieser Patienten sind meiner Auffassung nach von 
Geburt an theilweise oder ganz degenerirt, und im Ganzen 
genommen scheint mir die klinische Erfahrung für irgend einen 
krankhaften Zustand im Nervensystem zu sprechen: die Patienten 
sind beinahe constant neurasthenisch, indem sie besonders bei 
geistiger Arbeit langsam in Gang zu bringen sind und auf der 
anderen Seite leicht ermüden; sie sind, um die alte Bezeichnung 
zu gebrauchen, nervös, unumgänglich, unzufrieden, reizbar, 
weinerlich u. s. w. 

Dass es sich hier zweifellos um das Nervensystem handelt, 
scheint mir aus der dagegen angewandten Therapie hervor zu 
gehen. Ich habe nämlich in den meisten Fällen durch eine 
längere Zeit fortgesetzte Anwendung von Arsenik erstaunlich 
gute Resultate erzielt. Es versteht sich von selbst, dass auch 
verschiedene Roborantia verordnet wurden, wo Indication dafür 
vorhanden zu sein schien. Ausserdem habe ich auf die Art und 
Weise, wie solche Kinder erzogen werden müssen, besonderes 
Gewicht gelegt; sie müssen unbedingt „behutsam“ behandelt 
werden; es kommt darauf an, sie auf keine Weise zu forciren, 
mit ihren Eigenheiten Nachsicht zu üben, sich durch ihre Un¬ 
gelehrigkeit und Schwerfälligkeit nicht ermüden zu lassen, eine 
Aufgabe, die für die Eltern und die Umgebungen der Kinder 
die grösste Schwierigkeit darbietet, weshalb es auch in der Regel 
für beide Theile eine Wohlthat ist, wenn solche Kinder, voraus¬ 
gesetzt dass die Verhältnisse es gestatten, einer Anstalt anver¬ 
traut werden, die besonders für die Behandlung solcher Indivi¬ 
duen eingerichtet ist, deren geistige Entwicklung besonders lange 
Zeit erfordert, und wo Geduld und Verständnis zur Erreichung 
eines relativ guten Resultates unerlässliche Vorbedingungen sind. 

Es ist ja eine Geschmacksache, ob man die Kinder für 
abnorm erklären will, denen in geistiger Beziehung das Eine 
oder das Andere fehlt, um sie normal nennen zu können. Es 
giebt zwischen diesen beiden Extremen unbedingt verschiedene 
Abstufungen. Da gilt es, um jeden Preis zu retten, was zu retten 
ist. Und es ist im höchsten Grade anerkennenswerth, dass man 
in unserer Zeit überall bestrebt ist, den Fordeningen der Hu¬ 
manität gerecht zu werden, und dazu haben die Aerzte nicht 
am Wenigsten beigetragen. 

Ich habe daher durch diesen kleinen Artikel die Aufmerk¬ 
samkeit meiner Collegen auf eine Gruppe von Patienten hinlenken 
wollen, die weniger bekannt sein dürfte. 

Das Aeussere und das ganze Wesen dieser Patienten zeugt 
gegen sie; daher laufen sie Gefahr, von der menschlichen Ge¬ 
sellschaft stiefmütterlich behandelt zu werden, wenn nicht der 
verständnisvolle und humane Geist, dessen wir uns rühmen, zu 
rechter Zeit hilfreich in die Schranken tritt. 


III. Aus der Universitäts-Augenklinik zu Marburg. 

Beitrag zur Kenntniss der selteneren Ursachen 
der typischen Keratitis parenchymatosa. 

Von 

Dr. C. Achenbach-St. Wendel, 
ehern. Assistent der Klinik. 

Bezüglich der Aetiologie der tiefen parenchymatösen vascu- 
larisirten Hornhautentzündung gehen die Ansichten der Autoren 
noch vielfach auseinander und ist bis in die neueste Zeit ihre 
Entstehungsursache Gegenstand lebhaftester Discussion gewesen, 

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8 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 1. 


wie dies die Verhandlungen des vorjährigen und auch des letzten 
ophthalmologischen Congresses in Heidelberg dargethan. 

Als hauptsächlichstes ätiologisches Moment findet heute all¬ 
gemeine Anerkennung die hereditäre Lues, deren Procentverhält- 
niss allerdings je nach der Bevölkerung verschieden hoch aus¬ 
fällt. Wärend Uhthoff') z. B. in Berlin bei Keratitis paren- 
chymatosa 00—70 pCt. hereditäre Syphilis beobachtete, fanden 
sich in der Marburger Augenklinik bei einem Material von 
10000 Patienten aus den Jahren 1801 — 1890, die sich haupt¬ 
sächlich aus Landbevölkerung zumammensetzten, unter 10 Fällen 
von typischen Keratitis parenchymatosa nur 2 Fälle mit sicher 
nachgewiesener hereditärer Syphilis. In einzelnen seltenen Fällen 
wird auch die erworbene Syphilis mit Sicherheit verantwortlich 
gemacht. Als passendes Beispiel hierfür diene folgender Fall: 

Frau G. aus Marburg, 42 Jahre alt, bis zu ihrer Verheirathung stets 
gesund, von irgendwelcher luetischer Erkrankung weiss sie nichts. Die 
ersten 4 Kinder waren gesund, dann folgten 1 Frühgeburt (8. Monat), 
2 Frühgeburten (0. Monat), 1 Kind 4 Stunden post partum gestorben. 
Patientin ist schwerhörig, wurde anfangs poliklinisch behandelt wegen 
einer tiefen gelblichen Randinfiltration der linken Cornea mit oberfläch¬ 
lichem Substanzvcrlust; die tiefe Trübung schritt ohne weiteren Zerfall 
fort und nahm einen deutlich grauen Ton an, seitdem ist Atropinein¬ 
träufelung ohne jeden Einfluss auf die Weite der Pupille, obwohl keine 
Iritis besteht. 

Status präsens: Haut ohne Exanthem, keine Drüsenschwellungen, 
Genitalien ohne Anomalie, desgleichen Pharynx. Dagegen besteht eine 
chronische Schwellung der Nasenschleimhaut und auf der linken Seite 
des Septums eine markstückgrosse, eiterbedeckte Ulceration mit schwam¬ 
migen, missfarbigen Granulationen. Ozaena syphilitica. Abstossung 
eines nekrotischen Stückes aus der Nasenscheiden wand. 

R. Auge völlig normal. S = */•• 

L. starke pericorneale Injection. Die untere Hälfte der Hornhaut 
ist von einer nach oben ziemlich horizontal begrenzten, dichten, ranch¬ 
grauen, tiefen Trübung eingenommen, über welcher das Epithel zwar 
granulirt, doch nirgends defect erscheint. Die Infiltration zeigt unten 
einen verwaschenen, rosarothen Farbenton, in Folge Anwesenheit feinster, 
tiefliegender Gefässchcn, die von der Trübung verdeckt sind. Auf wieder¬ 
holte Atropineinträufelung gute Erweiterung der Pupille, doch ist die 
Diffusion durch die Cornea offenbar erschwert. 

S = Finger in 8—4m. Unter antiluetischer Behandlung (Schmier- 
cur) bessert sich der Zustand derart, dass der Defect der Nasenscheiden¬ 
wand sich mit frischen Granulationen schliesst, die parenchymatöse Trü¬ 
bung lichtet sich immer mehr und wird Patientin nach 6 Wochen aus 
der Klinik entlassen. L. -f- 8,0, 8 */ 14 . 

Bemerkenswerth ist im vorliegenden Falle die geringe Ein¬ 
wirkung des Atropins auf die Weite der Pupille; die Diffusion 
in das Innere des Auges war durch die intensive Trübung offen¬ 
bar bedeutend behindert, wie solche erschwerte Diffusionsverhält¬ 
nisse Bellarminoff und Dolganoff 1 2 ) an der Hand zahlreicher 
pathologischer Verändeningen der Hornhaut schon früher nach¬ 
gewiesen haben. 

Das relativ Öftere Vorkommen von Keratitis parenchymatosa 
bei Personen, bei welchen Lues völlig auszuschliessen ist, sowie 
die Thatsache, dass analoge Krankheitsbilder schon bei Thieren, 
die man doch als frei von Syphilis ansieht, beobachtet worden 
sind (Haltenhoff beim Hund, Hennicke beim Bären, Bayer 
beim Pferd, Pflüger bei Ziegen), ist ein Beweis, dass noch 
andere ätiologische Momente bei dem Krankheitsbild der paren¬ 
chymatösen Keratitis heranzuziehen sind. In erster Linie ist es 
die Tuberculose, deren Bedeutung früher bereits erwähnt, doch 
vielfach unterschätzt, neuerdings aber von Michel, Bongarz, 
Bach, Strubeil, Bürstenbinder, Wagenmann, Vossius 
und besonders von E. v. Hippel 3 ) nachdrücklich betont wird. 

Wenn wir also Lues congenita als hauptsächlichstes ätio¬ 


1) E. v. Hippel, Ueber Keratitis parenchymatosa. Opbthalmo- 
logischer Congress. Heidelberg 1895. Discussion. 

2) Ueber die Diffusion in’s Innere des Auges bei verschiedenen 
pathologischen Zuständen desselben. Von Prof. Bellarminoff und Dr. 
Dolganoff in Petersburg. 

8) E. v. Hippel, Ueber Keratitis parenchymatosa. Albrecht von 
Graefe’s Archiv f. Ophthalmologie. Zweiundvierzigster Bd., II. 1896. 


logisches Moment kennen, ferner Tuberculose mit Sicherheit ver¬ 
antwortlich machen, so bleibt immerhin noch ein gewisser Pro¬ 
centsatz, bei dem wir noch andere Punkte heranziehen müssen. 

Rheumatische Erkrankungen führen ebenfalls gelegentlich 
zu Keratitis parenchymatosa. Nachdem schon früher mehrere 
Autoren hierauf hingewiesen (zuerst Leber 1879), fand E. 
v. Hippel unter seinen 80 Fällen aus der Leber’schen Klinik 
bei Ausschluss von Lues dreimal Gelenkrheumatismus und vier¬ 
mal unbestimmte rheumatische Schmerzen. Auch folgender in 
der Marburger Klinik behandelte Fall betrifft einen ausge¬ 
sprochenen Rheumatiker: 

Auth, Heinrich, 41 Jahre alt, Schlosser aus Homberg, aufgenommen 
am 27. II. 1890. 

Patient leidet seit 3 Jahren an heftigen rheumatischen Beschwerden 
in den Gelenken, seit 9 Wochen besteht sein gegenwärtiges Augenleiden. 

Status praesens. L. Auge: heftige Iritis. Hornhaut stark, grau¬ 
lich parenchymatös getrübt, sodass man von den darunter liegenden 
Theilen nur ein verwaschenes Bild erhält. Die Trübung hat ihren 8itz 
vornehmlich in den tieferen Schichten. Pupille eng, erweitert sich auf 
Atropin kaum. 8tarke pericorneale Injection. Cornea in ihrer tempo¬ 
ralen Hälfte und unten von zahlreichen in den tiefsten Schichten ver¬ 
laufenden Gefässen durchzogen. 

Nach 6 wöchentlicher Behandlung ist die oberflächlichste Schicht der 
Hornhaut fast völlig klar, in ihren tieferen Schichten zeigen sich durch¬ 
scheinende, fleckige Trübungen, zu denen vom Rande her tiefliegende 
Gefässe ziehen. Ein Büschel entspringt in der Mitte unten, um sich 
baumartig zu verästeln. Pupille eng, starr, Iris haftet allenthalben der 
Linsenkapsel an. Iridectomie. 

5 Monat nach Erkrankung des ersten Auges zeigt sich am r. Auge: 
hochgradige Lichtscheu, spontane Schmerzhaftigkeit, starke pericorneale 
Injection. Cornea in den tiefsten Schichten fein diffus getrübt und tief 
vascularisirt. Iris verfärbt, hyperämisch, Pupille eng. Auch hier später 
Iridectomie. 

Nach mehrmonatlicher Behandlung beiderseits langsamer Rück¬ 
gang der Hornhauttrübung, r. noch ausgedehnte Vascularisation. 

Ferner wird die Keratitis parenchymatosa genau beschrieben 
bei der Mftlaria und zeichnet sich hier durch ihren ungemein 
schleppenden Verlauf aus. Folgender Fall, den Herr Dr. Axen- 
feld mir glltigst überliess, stellt vielleicht eine solche Malaria¬ 
keratitis dar: 

Dr. F., Arzt in Niederländisch-Indien, ca. 80 Jahre alt, leidet seit 
mehreren Jahren an ziemlich schwerer Malaria mit häufigen Fieber¬ 
anfällen. Er ist zur Zeit wegen Stricturen der Urethra in ärztlicher 
Behandlung, doch wird Lues bestimmt in Abrede gestellt. Vor */, Jahr 
hat sich mit einem Fieberanfall zum ersten Mal eine Entzündung des 
r. Auges eingestellt, deren Intensität schwankend ist, die aber allmählich 
zu immer stärkerer Trübung geführt hat und mit neuen Fieberanfällen 
sich häufig zu verschlimmern pflegt. Die Erkrankung wurde von anderer 
Seite für eine atypische Herpes corneae febrilis gehalten. 

Status praesens: L. Auge normal. 

R. pericorneale Injection. Untere Hornhauthälfte graulich getrübt, 
leicht uneben, ader nirgends zerfallen. Vom unteren Rand und den 
Seiten ziehen eine Anzahl oberflächliche und dichte, tiefe, theils besen¬ 
reiserartige, theils unregelmässig gewundene Gefässcben bis zur Mitte 
der Hornhaut, um sich hier sehr frei zu verzweigen. Hier in der Nähe 
des Centrums liegen auch mehrere dichtere, grauweissliche Infiltrate in 
verschiedener Tiefe. Iris hyperämisch, aber auf Atropin gute Mydriasis. 
Patient nimmt grössere Dosen Natr. salicyl., bei eintretendem Fieber 
Chinin. Local Atropin und Borsäure. 

Die parenchymatöse Natur der Veränderungen ist mit dem 
Bilde des Herpes schwer vereinbar und stellt dieselben eher in 
eine Reihe mit der Keratitis parenchymatosa. Ungewöhnlich 
sind allerdings die Remissionen und Exacerbationen nnd die bis¬ 
her bestehende Einseitigkeit, jedoch ist nicht ausgeschlossen, 
dass auch das zweite Auge noch befallen wird, zumal seit Be¬ 
ginn der Augenerkrankung erst G Monate verstrichen sind. 

Ein seltenes ätiologisches Moment erwähnt Wagenmann 
gelegentlich der Discussion Uber Keratitis parenchymatosa auf 
dem vorjährigen ophthalmologischen Congress in Heidelberg, 
nämlich einen Fall von Influenza bei einem 17jährigen Mäd¬ 
chen, bei dem sich ohne sonstige Ursache doppelseitige Keratitis 
parenchymatosa einstellte, die unter Natr. salicyl.-Behandlung 
günstig verlief; dem entgegen bestreitet neuerdings E. von 
Hippel 1 ) den Einfluss der Influenza, indem er den Zusammen- 

l) E. v. Hippel, 1. c. 


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4. Januar 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


9 


hang mit ihr trotz der vereinzelten Mittheilungen hierüber (Ehr¬ 
lich, Adler) nicht flir sicher hält; „denn bei der enormen 
Häufigkeit der Influenzaerkrankungen in den letzten 6 Jahren 
hätte ein Zusammentreffen öfters beobachtet werden müssen.“ 

Demgegenüber ist bemerkenswerth die auffallende und inter¬ 
essante Beobachtung aus der Berner Klinik, wo während der 
Influenzapidemie im Jahre 1891 die v. Stell wag’sche Keratitis 
die hauptsächlichste Nachkrankheit am Auge darstellte. 

Diese St eil wag'sehe Keratitis sei, wie uns Pflüger 1 ) be¬ 
richtet, erst seit dem Auftreten der Influenza in der Benier 
Klinik beobachtet worden und hat mit gewissen Formen der 
gewöhnlichen parenchymatösen Keratitis Berührungspunkte, ja 
sie geht in dieselbe Uber. Diese von Pflüger gemachten Beob¬ 
achtungen wurden neuerdings von ihm auf dem diesjährigen 
ophthalmologischen Congress ohne Einschränkung als Keratitis 
parenchymatosa ausgelegt und als sicher erwiesenes ätiologisches 
Moment die Influenza genannt. Der von Trantas 2 ) mitgetheilte 
Fall ist zweifelhaft; es war allerdings Influenza vorausgegangen, 
aber es handelte sich nur um eine rauchige, nicht vascularisirte 
Trübung der unteren Ilornhauthälfte des einen Auges, die nach 
kurzer Zeit verging, also nicht um das typische Bild der Kera¬ 
titis parenchymatosa. 

Zur Ergänzung dieses spärlichen Materials sei es mir des¬ 
halb gestattet, 2 Fälle mitzutheilen, welche die Ansicht Wagen¬ 
manns und Pflügers vollauf zn bestätigen geeignet sind. Die¬ 
selben wurden während der Inflnenzaepidemie im Jahre 1890 in 
der Marburgrr Universitäts-Augenklinik beobachtet. 

Es handelt sich in beiden Fällen um erwachsene Personen 
im Alter von 20 und 54 Jahren, was um so auffallender ist, als 
gerade ein solches Befallenwerden Erwachsener für einen unge¬ 
wöhnlichen aetiologischen Zusammenhang spricht. 

1) Reinbott, Kath., 20 Jahre alt aus II., aufgenommen am 22. IV. 1890. 
Patientin hat als Kind Bräune und Rötheln gehabt, ist sonst ausser 
Menstruationsstörungen gesund gewesen. Januar 1890 hat sie Inflnenza 
gehabt. 5 Wochen später haben die Augen begonnen „schlimm“ zu 
werden, zuerst das linke unter heftigem halbseitigem Kopfschmerz, 
Thränen, Lichtscheu; nach 3 Wochen unter den gleichen Symptomen 
auch das rechte. 

Status praesens: R. Auge: Starke pericomeale Injection. Cornea 
in ihren obersten Schichten relativ frei, dagegen in der Tiefe diffus 
graulich parenchymatös getrübt. Auf dem Endothel der membr. Descemetii 
liegen zahlreiche feinste Niederschläge, dieselben sind nur zum kleinsten 
Theil als getrennte punktförmige Häufchen zu erkennen, sie bilden 
grösstentheils eine staubförmige Trübung. 

L. Auge: Massig starke pericomeale Injection. Im Centrum der 
Hornhaut liegt unter der Oberfläche ein weiss-gelblicher Fleck, der 
mehrere Schichten der Cornea umfasst und undurchsichtig ist. Zu diesem 
treten vom Rande her in den tieferen Schichten zahlreiche gestreckte 
Gefässe, die in verschiedenen Ebenen liegen, sich durch ihren unver¬ 
zweigten Verlauf auszeichnen und den untersten Theil des beschriebenen 
Flecks noch durchsetzen. Tiefer, also wohl in der hintersten 8chicht 
der Cornea, liegen um den Fleck hemm eine Anzahl kleiner punkt¬ 
förmiger weisslicher Flecke, die sich auf den mittleren Theil der Cornea 
beschränken. Uebrige Hornhaut diffus rauchig getrübt. Vordere Kammer 
tief ohne besondere Abnormität. Pupille stark verzogen, eng. Es besteht 
also beiderseits das Bild der Keratitis parenchymatosa mit Betheiligung 
der Uvea, resp. von dieser ausgehend. 

Im weiteren Verlauf: 

R. auf der Hinterfläche der Hornhaut ein massenhafter descemeti- 
tischer Belag, auch in ihren vorderen Schichten ist sie fleckig getrübt. 
Vom Rande her sind zahlreiche tiefliegende feinste Gefässchen in die 
Hornhaut getreten. 

L. gebt die tiefe Infiltration und Vascularisation bedeutend zurück. 
2 Monate später erhebliche Besserung. 

Die Untersuchung des übrigen Körpers ergiebt völlig normalen 
Befund. 

2) Suppus, Kath., 54 Jahre alt, ans Neustaudt, aufgenommen am 3. Juni 
1890. Patientin hat als Kind Rötheln, später Lungenentzündung gehabt. 
Ende December 1889, als die Influenza in ihrer Heimath florirte, hat 
Patientin Schüttelfrost bekommen, der sich mehrmals wiederholte und 
hat sich einige Tage matt gefühlt. Vor 4 Wochen ist das rechte Auge 


1) Pflüger, Ophthalm. Congress. Heidelberg 1892. 

2) Trantas, Cas de k^ratite interstitielle non syphilitique. Arch. 
d'ophthalmologie 1895. 


erkrankt mit Druck im Innern des Auges, Abnahme der Sehkraft und 
Lichtscheu. Sonst bestehen keinerlei krankhafte Beschwerden. Patientin 
hat sich wieder von der Influenza erholt. 

Status praesens: L. Auge normal -f- 0,25 ß = “/*• 

R. Auge Conj. palp. lebhaft gerüthet desgl. conjunctiva bulbi. Starke 
pericomeale Injection, an der Conjunetival- wie Episcleralgefässe theil- 
nehmen. Auf der membr. Descemetii zahlreiche staub-, punkt- oder 
streifenförmige Auflagerungen, die der Cornea makroskopisch ein diffus 
getrübtes Aussehen geben. Auch in weiter nach vorn liegenden Hora¬ 
hautschichten sind dichte Trübungen vorhanden. Beim Blick nach unten 
sieht man eine ringförmige feinste Linie, welche sehr tief zu liegen 
scheint. Auf der Iris eine Anzahl flockiger Auflagerungen, die in die 
vordere Kammer hineinragen. Iris grau verfärbt, matt, stark aufge¬ 
lockert, nach Atropin nur wenig und unregelmässig erweitert. Weiterhin 
entwickelt sich eine charakteristische tiefe parenchimatöse Trübung. Im 
Verlauf des nächsten Monats ging die Trübung etwas zurück, während 
sich zahlreiche feine tiefe Gefässchen in die Hornhaut hinein bildeten, 
besonders von oben her. 

Typisches Bild der Keratitis parenchymatosa. Dasselbe war nach 
2 Monaten etwas zurückgegangen, doch war die Hornhaut noch lebhaft 
tief vascularisirt. Patientin entzieht sich weiterer Beobachtung. 

Werfen wir noch einmal einen Blick auf vorstehende Fälle, 
so fällt uns zunächst das relativ hohe Alter unserer Patienten 
auf, während die Keratitis parenchymatosa im Allgemeinen eine 
Erkrankung des jugendlichen Alters ist. Auffallend ist ferner 
die Einseitigkeit. Während das Befallenwerden beider Augen 
sonst die Regel ist, scheint es, als ob Abweichungen hiervon auf 
Grundlage von Influenza wohl Vorkommen können. 

Im übrigen sind die mitgetheilten Fälle ein weiterer Beweis 
dafür, dass das Krankheitsbild der Keratitis parenchymatosa bei 
Ausschluss jeder anderen Erkrankung in der Influenza ein 
weiteres sicher festgestelltes ätiologisches Moment gefunden hat. 

Zum Schluss sei es mir erlaubt, Herrn Professor Uhthoff, 
meinem früheren hochverehrten Chef, der mir die Veröffentlichung 
der diesbezüglichen seltenen und interessanten Fälle gütigst ge¬ 
stattete, meinen besten Dank hierfür auszusprechen. 


IV. Die Appendicitis als eine epidemisch 
infectiöse Erkrankung. 

(Vorläufige Notiz.) 

Von 

Professor Golnboff in Moskau. 

Gegenwärtig zweifelt wohl, wie es scheint, kaum Jemand 
daran, dass beim Zustandekommen der Wurmfortsatzentzündung 
(und der Perityphlitis) den Mikrobien (Streptococcus pyogenes? 
Staphylococcus pyogenes, Bacterium coli) die Hauptrolle zu- 
komrat. Viele neigen sich in der letzten Zeit zu der Ansicht, 
dass Kothsteine (Scybala) vielleicht nur zuweilen die Rolle') 
eines die Entstehung der Krankheit begünstigenden Momentes 
spielen, wie das Trauma durch Fremdkörper, Erkältung, schwer 
verdauliche Speise u. dergl., daBS demnach Fälle von Appen¬ 
dicitis Vorkommen, welche ausschliesslich durch [mikrobielle In- 
fection bedingt sind, ohne dass daran Kothsteine (z.B. L ave ran)*), 
irgend ein Trauma der Schleimhaut mit Theil nehmen. Professor 
Sahli in Bern ist dem wahren Verhalten der Dinge nahe ge¬ 
treten, indem er zwischen der Appendicitis und der Angina 

1) Die Kothsteine sind entweder ein zufälliger Befund oder spielen 
die Rolle eines prädisponirenden oder den Verlauf der Krankheit er¬ 
schwerenden Momentes, nie aber haben sie jene wesentliche Bedeutung, 
welche ihnen früher zugeschrieben wurde (z. B. von Talamon): denn 
einerseits sind sie häufig auch im gesunden Fortsatz vorhanden, und 
findet man sie andererseits weitaus nicht in allen Fällen der Appendicitis 
(Sonnenburg), — nach der Statistik von Renvers bloss in 40 p('t. 
aller Fälle. 

2) Acadßmie de mßdecine, scance du 5. Mai 1890. 

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No. 1. 


BKKLINER KLINISCHE W(K ’I IENS( IHMFT. 


10 

follicularis grosse Aehnlichkeit ersah und deswegen die Appen- 
dicitis „Angina des Wurmfortsatzes“ nannte. 

Meine Beobachtungen berechtigen mich zur Aufstellung fol¬ 
gender These ’): In der Mehrzahl der Fälle ist die Wurmfortsatz- 
entziindung eine Infectionskraukheit sui generis, eine 
genuine Erkrankung, welche dem Wurmfortsatz in dem¬ 
selben Grade eigentümlich ist, wie die Angina follicularis den 
Tonsillen, die Dysenterie dein Dickdarm, zudem — und das ist 
der Hauptpunkt der hier zum Ausdruck kommenden These und 
zugleich eine Behauptung, die zum ersten Mal an dieser Stelle 
ausgesprochen wird — ist sie nicht nur eine infectiöse, sondern 
auch eine zuweilen geradezu epidemisch auftretende 
Krankheit; mit anderen Worten — ausser sporadischen, z. B. 
von irgend einem Trauma abhängigen Fällen von Appendicitis, 
können auch kleine Epidemien dieser Krankheit auftreten. 

lieber die Thatsachen, welche diese meine These bestätigen, 
werde ich später ausführlicher berichten; gegenwärtig sei nur 
angeführt, dass in Moskau im Verlauf des vergangenen Herbst, 
Wintere und Frühlings zeit- und stellenweise Appendicitis- und 
Perityphlitisfälle in einer Anzahl beobachtet wurden, welche im 
Vergleich mit der gewöhnlichen als eine sehr grosse erschien. 
Mir selbst sind während dieser Zeitperiode vier bis fünf Mal 
mehr solcher Fälle zur Beobachtung gekommen, als ceteris pa- 
ribus während der letzten 10 Jahre. 

Einer der Moskauer Chirurgen ist während des Februar 
und März annähernd zehn Mal wegen Perityphlitiden consultirt 
worden, während er gewöhnlich eine solche Anzahl von Fällen 
wohl nur während eines Jahres zu sehen Gelegenheit hat. 

Einige Collegen erklärten auf mein Befragen, dass auch 
ihnen die Häufigkeit der Appendicitisfälle während der genannten 
Zeitperiode aufgefallen sei: einer von ihnen notirte das Auftreten 
von Appendicitis- und Perityphlitisfällen im Bezirke eines der 
Moskauer Boulevards. 

In einem kleinen Internat einer Lehranstalt, in welchem 
mehrere Jahre hindurch kein einziger Fall aufgetreten war, hatte 
ich vom Februar bis zum April 7 Fälle zu beobachten, darunter 
einen mit schweren perityphlitischen Erscheinungen. 

Aus früheren Zeiten ist mir folgender hervorragender Fall 
bekannt: zwei Brüder, beide Gymnasialschüler, erkrankten einer 
nach dem anderen an Perityphlitis und bald darauf einer von 
ihren Mitschülern, der sie während der Krankheit besucht hatte. 

In der englischen Literatur habe ich eine Beobachtung ge¬ 
funden, welche meiner Ansicht nach zu Gunsten der Auffassung 
der Appendicitis als einer genuinen Infectionskrankheit spricht: 
Dr. Brazil’) hat zwei Fälle von Appendicitis beobachtet, welche 
mit Polyarthritis complicirt waren (pseudo-rheumatisme französi¬ 
scher Autoren) — eine Erscheinung, welche bekanntlich speciell 
vielen Infectionskrankheiten eigen ist, von dem allbekannten 
Tripper-Pseudorheumatismus angefangen. 

Meiner Meinung nach besteht eine gewisse Analogie zwischen 
der Dysenterie und der Appendicitis infectiosa epidemica: die 
Appendicitis spielt in der Pathologie des Wurmfortsatzes dieselbe 
Rolle, wie Dysenterie in der des Dickdarms, speciell dessen un¬ 
teren Abschnittes. Bei beiden Krankheiten zeigen die Verände¬ 
rungen der Wandungen grosse Aehnlichkeit: hier wie dort kann 
sich die Affection auf eine katarrhalische Entzündung massigen 
Grades beschränken oder sich zu tiefen gangränösen Ex¬ 
il leerationen steigern, welche zu Perforation und Peritonitis 
führen. Einige der ätiologischen Momente der Dysenterie finden 
ihre Analoga in der Aetiologie der Appendicitis, z. B. schwer 


1) h. auch Medicina, No. 12, 28. März 1896 (russisch). 

2) British med. Journal 1895, No. 1795: Two cases of Appendicitis 
associated with Kheumatism. 


verdauliche Speise, Anhäufung harter Scybala in der Flexurax 
sigmoidea (Obstipation), Erkältung. Was die bacteriologischen 
Verhältnisse anbetrifft, so kommt nach den Untersuchungen ron 
Tavel und Lanz bei der Appendicitis die Hauptrolle dem 
Streptococcus p., sodann dem Staphylococcus p. und dem Ba¬ 
cillus coli zu, d. h. gerade denjenigen Mikrobien, welche ge¬ 
wöhnlich als unschädliche Bewohner unseres Organismus vor¬ 
handen, zuweilen ausgeprägt virulente Fähigkeiten erhalten 
können; ich denke, dass ein ähnlicher Vorgang auch bei der 
Dysenterie stattfindet: jedenfalls wenigstens halte ich mich in 
diesem Punkte an die Ansicht von Laveran'), welcher die Ent¬ 
stehung von Dysenterieepidemien in der Weise erklärt, dass die 
gewöhnlichen Mikrobien des Darmcanals in Folge uns noch un¬ 
bekannter Ursachen virulente, pathogene Eigenschaften erhalten. 
Die oben angeführten Beobachtungen von Brazil sprechen eben¬ 
falls zu Gunsten meines Vergleiches der Appendicitis mit Dy¬ 
senterie: bekanntlich ist ja die Polyarthritis eine der Complica- 
tionen der Dysenterie. 

Nimmt man meine Auffassung der Appendicitis als einer 
epidemischen Erkrankung an, d. h. mit anderen Worten, sieht 
man die Appendicitis nicht als zufällige mikrobielle Affection, 
sondern als selbstständige, genuine Infectionskrankheit an, so 
wird von diesem Standpunkte aus, ohne dass man den That¬ 
sachen Zwang auferlegt, vieles erklärlich, was in der Geschichte 
dieser Krankheit bisher dunkel geblieben war. Ohne auf die 
Details einzugehen, beschränke ich mich darauf, ein kleines con- 
cretes Beispiel vorzuführeu: Es kommen nicht wenig Fälle vor, 
in welchen die Appendicitis (resp. Perityphlitis) plötzlich bei 
einem bis zu dieser Zeit vollkommen gesunden Menschen auftritt, 
ohne dass Obstipation, Darinleiden überhaupt, oder irgend welche 
andere der banalen ätiologischen Momente nachweisbar sind, 
und in welchen man bei der Operation weder Kothsteine, noch 
irgend welche angeborene Anomalien des Fortsatzes, noch Ab¬ 
knickungen und Dislocationen findet, denen z. B. Professor 
Sonnen bürg eine so wesentliche Rolle zuschreibt; nimmt man 
nun meinen Standpunkt an, so braucht man zur Erklärung der 
Erkrankung in ähnlichen Fällen nicht weitere grobe Ursachen 
im Organismus selbst zu suchen; die Ursache ist: — lnfection 
durch Mikrobien des bis dahin vollkommen gesunden Organismus. 

Es scheint nicht überflüssig, hier noch einige Bemerkungen 
in Bezug auf die Diagnostik der leichtesten Appendicitisfälle 
hinzuzufügen, Fälle, welche von unerfahrenen und nicht genug 
aufmerksamen Aerzten übersehen werden können. 

Prägnant ausgeprägte, besonders aber schon durch entzünd¬ 
lichen Zustand des anliegenden Peritoneum coraplicirte Fälle 
werden überaus leicht diagnosticirt, ebenso wie wir die Fälle 
ausgeprägter Leber- oder Nierenkolik fast par distance erkennen. 
Doch wie oft sehen wir, dass der Arzt z. B. eine Leberkolik 
unbedeutenden Grades, welche sich nur durch leichte Schmerz¬ 
anfälle im Epigastrium, nach dem Essen auftretend, und durch 
Druckempfindlichkeit der Gallenblasengegend raanifestirt, für 
„Magensclimerz“ ansieht! Ebenso habe ich in praxi mehrmals 
Gelegenheit gehabt zu sehen, wie leichte Anfälle von Appendi¬ 
citis für „Darmkolik“, für Dyspepsie, Magenkatarrh („ver¬ 
dorbener Magen“) angenommen w r urde. 

Das Krankheitsbild in diesen leichten Fällen ist folgendes): 
Ein junger Mensch fühlt plötzlich Schmerzen in der Mitte des 
Unterleibes, häufiger oberhalb des Nabels, wobei ein- oder 
zweimaliges Erbrechen erfolgt: der Appetit sinkt, die Zunge 
wird belegt, es stellt sich das Gefühl von Unwohlsein ein, zu¬ 


ll Societe de Biologie 1893. Laveran erkennt die pathogene 
Rolle der Amöben bei Dysenterie nicht an. 


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11 


BERLINER KL INISCH E WOCHENSCHRIFT. 

I 


4. Januar 18! »7. 

weilen steigt die Temperatur, indem sie aber meist 3H n nicht 
erreicht, der Schmerz ist meist gering, hält 1—3 Tage an, 
wonach alles schwindet. Nicht nur der Patient, sondern oft 
auch der Arzt glauben, dass es sich um „Magenkatarrh“, 
„verdorbener Magen“ handelt, um so mehr, da gewöhnlich dabei 
auch Obstipation bestellt 1 ). Untersucht man jedoch das Abdo¬ 
men eines solchen Kranken aufmerksam, lege artis durch Be¬ 
tastung, so erweist sich, dass mehr oder weniger ausgeprägte 
Schmerzhaftigkeit nur nach innen und oberhalb des rechten 
Lig. Poupartii (Mac-Bnrney’s Punkt) und sonst nirgends mehr 
vorhanden ist (in einigen Fällen gelingt es, bei dünner, nach¬ 
giebiger Bauchwand, den auf Druck empfindlichen Wurmfortsatz 
selbst als Schnur abzutasten). Haben wir diesen Befund, so ist 
die Diagnose der Appendicitis levissima gemacht. Die Kenntniss 
der Topographie wird vor der Verwechselung dieses Schmerzes 
mit Schmerzen im rechten Ureter und der Niere bewahren; 
etwas schwieriger ist es, wenn es sich um eine Frau handelt, 
ihn von Schmerzen im rechten Ovarium oder der rechten Tube 
zu unterscheiden. 


V. Die chirurgische Klinik der Charitä. 

Von 

Prof. König -Berlin. 

Zur Zeit als Berlin noch eine kleine Grossstadt war, hatte 
es im Wesentlichen zwei Heilstätten für Kranke, welche Heilung 
bei äusseren Leiden suchten: die chirurgische Klinik der Charite 
sammt Nebenabtheilung und die chirurgische Universitätsklinik. 
Die beiden Institute genügten zu einer Zeit, in welcher Berlin 
eine weit geringere Zahl von Kranken hatte, und in welcher, 
wenn ich so sagen darf, der Zudrang zu chirurgischer Behand¬ 
lung viel geringer war als heute. Die beiden Heilstätten hatten 
ein in manchen Richtungen verschiedenes, sich ergänzendes Ma¬ 
terial. Die Klinik der Charite war das gewiesene Haus für die 
landläufigen Verletzungen und äusseren Tageserkrankungen der 
Stadt Berlin, welche die Berechtigung zur unentgeltlichen Auf¬ 
nahme einer Anzahl von Kranken hatte. Und so kam es, dass 
ihre Räume sich besonders füllten mit den Kranken, welche der 
Tag brachte mit Verletzungen, mit entzündlichen Processen, mit 
Harn- und Blasenkranken und ähnlichen Dingen. Dagegen hatte 
die chirurgische Klinik der Universität freie Wahl in der Auf¬ 
nahme ihrer Patienten und einen ausgezeichneten, stets von den 
Directoren der Klinik hochgehaltenen Recrutirungsplatz, die 
Poliklinik. Eine solche Einrichtung fehlte der chirurgischen 
Klinik der Charite. Daraus erklärt es sich, dass das grosse 
Contingent der chirurgischen Erkrankungen aus Stadt und Land, 
die Neubildungen, die Erkrankungen der Gelenke, Missbildungen 
und andere Leiden in der chirurgischen Universitätsklinik zu 
finden war. Ihr Material war das der Wahl, während die 
Klinik der Charite das Tagesmaterial aufnahm, welches der 
Aufnahme in ein chirurgisches Krankenhaus nothwendig bedurfte. 

Im Laufe der Zeit, mit der Zunahme der Stadt und der 
Bevölkerung, traten andere Umstände ein, welche den Zufluss 
mannigfaltiger Kranker zu der chirurgischen Klinik der Charite 
in ungünstiger Weise beeinflussen mussten. Die Räume der 
beiden Kliniken waren für die jetzt an sie gestellten Anforde¬ 
rungen zu klein, es mussten weitere Möglichkeiten für die Auf- 

1) Obstipation tritt hier auf Grund eines pathologischen Gesetzes 
auf, welches ich folgender Weise formulire: jeder locale, selbst unbe¬ 
deutendste, entzündliche Process im Unterleibsraume, jeder von Schmer¬ 
zen begleitete Process, ist gewöhnlich mit Obstipation (reflectorischer) 
verbunden; hierher gehören: Colica hepatica et renalis, Oophoritis, Sal¬ 
pingitis, Metritis, Cystitis, Prostatitis, Appendicitis etc. 


nähme von Kranken in der Stadt Berlin geschaffen werden und 
so entstanden theils grosse, ausgezeichnet eingerichtete städtische 
Krankenhäuser, theils kleinere durch allgemeine Wohlthätigkeit 
oder durch bestimmte Gesellschaften ins Leben gerufene An¬ 
lagen, welche sämmtlich den Vorzug der Neuheit, wie moderner 
Einrichtung vor der alten Klinik der Charite voraus hatten. 
Rechnet man noch dazu, dass auch die chirurgische Universitäts¬ 
klinik bald in neuen Räumen untergebracht wurde, während die 
chirurgische Klinik der Charite eben die alte chirurgische Klinik 
der Charite blieb, so ist es begreiflich, wenn man noch hinzu¬ 
nimmt, dass sich vor einigen Jahren eine allgemeine Agitation 
gegen die Zustände in der Charite erhob, — ob mit Recht oder 
Unrecht, bleibt hier unerledigt und ist auch für die Folgen 
gleichgültig, — dass die Qualität des Krankenmaterials sich ver¬ 
schlechterte, während die Quantität keine erhebliche Einbusse 
erlitt. 


Jeder Unbefangene wird zugeben müssen, dass eine solche 
Abwärtsbewegung sowohl im humanen, als im wissenschaftlichen 
und Lehrinteresse aufgehalten werden musste, wenn nicht schwere 
Schädigung daraus entstehen sollte, — im humanen Interesse, weil 
der Staat dafür sorgt, dass in der chirurgischen Klinik tüchtige 
Sachverständige mit ausreichenden Mitteln für die Heilung chir¬ 
urgisch kranker Menschen arbeiten, im wissenschaftlichen und 
im Interesse des Lehrens, weil es nicht erlaubt ist, dass an der 
Stätte, an welcher in der Hauptstadt des Reiches die grösste 
Zahl Lernender und Arbeitender Befriedigung suchen, solche 
nicht geboten werden kann. Und so habe ich denn, als ich die 
Stellung eines Directors der chirurgischen Klinik der Charite 
unter den geschilderten schwierigen Verhältnissen übernahm, 
geglaubt, mit allen Mitteln eine Besserung in den geschilderten 
Missständen der Anstalt herbeifUhren zu müssen. Ich glaube, 
dass heute die Versuche, die chirurgische Klinik der Charit6 
derart zu reformiren, dass sie allen, billigerweise an sie zu stel¬ 
lenden Anforderungen genügen kann, zu einem gewissen Abschluss 
gekommen sind. Wohl hätte man denken können, es sei ein¬ 
facher gewesen, alle Aenderungen und Verbesserungen auf die 
Zeit des Neubaues der gesammten Häuser der Charite zu ver¬ 
schieben, und es gab manche, welche diese Ansicht vertraten. 
Ich war aber der Meinung, dass es nicht erlaubt sei noch 
weitere fünf und vielleicht mehr Jahre zu warten bis zur even¬ 
tuellen Fertigstellung der neuen Klinik, und Dank der Einsicht 
und Hülfe des Herrn Cultusministers und des überall meinen 
Bestrebungen entgegenkommenden und sie unterstützenden Herrn 
Geheimrath Althoff, sowie Dank der in allen Stücken bereit¬ 
willigen Direction der Charite, der Herren Geheimrath Spinola 
und Generalarzt Sch aper, ist es mir, wie ich glaube, gelungen, 
das überhaupt Erreichbare durchzuführen. Selbstverständlich 
wäre ohne die klingende Hülfe des Herrn Finanzministers die 
immerhin kostspielige Umänderung vieler Dinge nicht möglich 
gewesen. 

Die Aenderungen und Neuerungen, welche in der chirurgi¬ 
schen Klinik geschaffen wurden, beziehen sich: 

I. Auf die Gründung einer Poliklinik in direktem 
Zusammenhang mit der Klinik. 

Ich setze diesen Theil der Aenderungen voraus, weil es 
meiner Ansicht nach nicht denkbar ist, dass man in der Folge 
auf die Krankenbewegung der chirurgischen Klinik einen Ein¬ 
fluss gewinnt, falls man nicht durch die Poliklinik der Klinik 
frisches Blut zuführt. Nur so ist es möglich eine Vermehrung 
und eine Umwandlung der für die Wissenschaft und das Lehren 
wichtigen und interessanten Kranken herbeizuführen. Und so 
habe ich denn auch, als ich die chirurgische Klinik der Charite 


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12 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 1. 


übernahm, als Bedingung der Uebemahme die Gründung einer 
Poliklinik aufgestellt. Es wurde in bereitwilliger Weise das 
Haus Luisenstrasse 2 zur Verfügung gestellt und zwar ein auf 
der Hinterseite, im früheren Garten dieses Grundstücks gelegener 
grosser, bis dahin zu Festlichkeiten benutzter Saal sammt Neben¬ 
gebäuden. Diese Räume schliessen sich direkt an die Mauer 
des zu der chirurgischen Chariteklinik gehörigen Gartens und 
es führt ein Weg von dem Garten der Klinik aus direkt zu der 
Poliklinik hin. Die Räume haben sich in ausgezeichneter Weise 
in der Art verwerthen lassen, dass der Saal und die Neben¬ 
räume den Zwecken der Poliklinik dienen, während die eine 
Treppe hoch liegenden Zimmer als Arbeits- und Sammlungs¬ 
stätten benutzt werden. In dieser Abtheilung steht Professor 
Hildebrand unter Unterstützung von Stabsarzt Tilmann der 
Poliklinik vor; sie ist bereits seit Februar v. J. im Gange und 
hat auch in sofern den Erwartungen entsprochen, als zahlreiche 
Menschen daselbst ambulatorische Behandlung fanden und bereits 
eine Anzahl von Kranken durch dieselbe der Klinik zugewiesen 
worden sind. 

II. Nachdem auf diesem Wege versucht worden ist, den 
Räumen der Klinik frisches Blut zuzuflihren, mussten aber 
in der Klinik selbst eine Reihe von Aenderungen 
vorgenommen werden. 

In dem Promemoria, welches ich zur Begründung nothwen- 
diger Veränderungen der Klinik einreichte, bezeichnete ich fol¬ 
gende als die wesentlichen Mängel der Klinik. 

1. Das zur Aufnahme von chirurgisch Kranken bestimmte 
Haus entsprach nicht den Anforderungen moderner Hygiene des 
Krankenhauses. 

Die gröbsten Missstände bezogen sich auf die Anlage von 
Latrinen und Badeeinrichtungen. 

Während Badeeinrichtungen in nächster Nähe der Kranken- 
räurae überhaupt nicht bestanden, mussten etwa nothwendige 
Bäder mittelst fahrbarer Wannen im Krankensaal gegeben werden. 

Latrinen bestanden im Saal. Eine Thür führte direkt in 
den kleinen Abortraum. Neben dieser Thür befand sich ein 
Spülapparat an der Wand des Saales. 

Zu diesen groben hygienischen Missständen kam aber, dass 
die Einrichtungen für Pflege und Wartung der Kranken höchst 
unvollkommen erschienen. Eine relativ grosse Anzahl zum Theil 
ganz ungeschulter, sehr häufig wechselnder, undisciplinirter 
Wärter und Wärterinnen konnte unmöglich durch eine kleine 
Anzahl guter alter Wärter und Wärterinnen erzogen und disci- 
plinirt werden. Viel Lärm und wenig reelle Arbeit war die 
Devise dieses Personals. 

Zu dem allen kam, dass die grosse Mehrzahl aller Verbände 
innerhalb derKrankenräumevorgenommen werden musste, da weder 
ein separater Verbandraum existirte', noch auch der Operations¬ 
saal den Raum bot, um dort etwa grössere Verbände zu erneuern. 

Es war schwierig in einem alten Hause alle diese Schäden 
auszubessern, um so schwieriger, als die Besserung ohne Ein¬ 
stellung des Betriebs vorgenommen werden musste, und wenn 
es gelungen ist, so danke ich dies in erster Linie dem den Plan 
anfstellenden Regierungsbaumeister Herrn Schönfelder und der 
Energie seiner Nachfolger. 

Bei dem Um- resp. Ausbau wurde sofort berücksichtigt, dass 
in der Krankenpflege eine vollkommene Umgestaltung vorge¬ 
nommen werden musste. Fünf Schwestern des Clementinenhauses in 
Hannover waren uns durch das Entgegenkommen der Oberin 
des Hauses Freiin v. Lützerode zur Verfügung gestellt und 
sie mussten in Wohnungen untergebracht werden. Um all dies 
möglich zu machen, um Wohnungen, Bäder, Latrinen herzu¬ 
stellen, war es nothwendig, vier von dem Corridor des Hauses 
zugängliche Anbauten zu errichten, zwei für die Anlage von 


Latrinen und Spiilräumen, zwei für Bad und Schwesternwohnung. 
Zwischen den Krankensälen aber wurden durch das Ziehen einer 
Wand Räume geschaffen, welche wesentlich dem Verbandwechsel 
dienen sollten, zwischen je zwei Sälen einer, und also zwei in 
jeder Etage. Bei dieser Anlage war es zugleich möglich die 
zwischen den Sälen gelegenen Theekllchen zu vergrössern. 

2. War mit diesen Einrichtungen für die Hospitalhygiene 
und die Pflege der Klinik Sorge getragen, so galt es noch die 
Durchführung einer Reihe von Aenderungen. welche sich auf den 
ärztlichen Dienst und die Erhaltung der Ordnung und Disciplin 
des Hauses bezogen. 

Für die zahlreichen Aerzte der chirurgischen Klinik gab es 
in der Klinik keinen Raum. Kleider und Hüte mussten im 
Krankensaal bewahrt werden. Eine Wohnung gab es innerhalb 
der Räume der Klinik für keinen Arzt. Auch diesen Mängeln 
konnte Abhülfe geschaffen werden durch die Herrichtung eines 
gemeinsamen Zimmers für Aerzte und durch die Gründung einer 
Wohnung für einen der Herren Stabsärzte der Klinik. 

In der Ordnung des Hauses wurde aber sofort Remedur ge¬ 
schaffen dadurch, dass von den drei Zugängen der Klinik mil¬ 
der auf der hinteren Breitseite beibehalten wurde. Hier zog 
zur Seite des Eingangs ein Pförtner ein, welcher zugleich die 
Aufnahme der Patienten, die in dem seinem Zimmer gegenüber¬ 
liegenden Raum stattfindet, zu überwachen hat. Hinter diesem 
Aufnahmezimmer befinden sich auch die Reinigungsbäder für die 
neuaufzunehmenden Kranken. 

Trotz aller dieser viel Raum beanspruchenden Einrichtungen 
gelang es noch vier Einzelzimmer zu erhalten, welche der Auf¬ 
nahme von Privatkranken bestimmt sind. 

3. Als vollkommen unzureichend erwies sich der Opera 
tions- und Lehrraum der Klinik. Diesem auf der Rück¬ 
seite des Hauses über dem Eingang gelegenen Saale, welcher 
Plätze für im Ganzen 120 Zuhörer bot, war bereits durch An¬ 
legung eines Oberlichts vor meiner Ankunft besseres Licht ge¬ 
geben, und durch Herrichtung eines Nebenraumes für Verband 
und Operationen, welche auch bei geringeren Anforderungen an 
das Licht ausgeführt werden konnten, Entlastung bis zu einem 
gewissen Grade geschaffen worden. Trotzdem war der Raum 
absolut zu klein. Hier war es schwer, wollte man nicht einen 
kostspieligen Umbau, der noch dazu ein längeres Aufgeben des 
Unterrichts nöthig gemacht hätte, und zu dessen Gewährung 
wenig Aussicht war, Rath zu schaffen. Nach langem Ueberlegen 
entschloss man sich die Wand des Saales auf dem Corridor 
durchzuschlagen und den breiten Raum dieses Ganges in der 
ganzen Breite des Operationssaales und des daneben liegenden 
Nebenraumes dem alten Raum der Klinik hinzuzufllgen. Mit 
der Anlage eines nach der unteren Etage führenden, hier aus- 
mündenden elektrischen Fahrstuhls waren dann die Einrichtungen 
zur Besserung der Klinik geschlossen. 



V, VI, VII, VIII, Krankensaal, — a Verband-Zimmer, — b Wärter- 
Zimmer, — c Zimmer f. Extrapatienten, — d Theeküchc, — e Elec- 
trischer Personen-Aufzug, — f Kleiner Operationsraum, — g Operationa- 
saal, — h Zimmer d. Operationssaal-Schwester, — i Abort, — k Bade¬ 
zimmer, — 1 Treppenhaus, — m n Wohnung eines Assistenten, —. 
o Schwestern-Zimmer, — p Anrichteraum. 


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4. Januar 1897. 


ßERUNER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


13 


Das gesammte Inventar der Klinik und der betreffenden 
Nebenräume ißt den Anforderungen der Neuzeit vollkommen ent¬ 
sprechend hergerichtet. 

So darf man heute mit Recht sagen, dass die chirurgische 
Klinik der Charite in die Reihe der modernen chirurgischen 
Kliniken eingetreten ist. Wenn man auch unzweifelhaft vieles 
in einem Neubau anders und besser machen würde, so sind die 
jetzigen Einrichtungen sämmtlich doch derart, dass sie den 
modernen Anforderungen an aseptische Arbeit und humane 
Pflege und Behandlung der Kranken Folge zu leisten im Stande 
sind. 

Zur Erläuterung obiger Aenderungen gebe ich eine Skizze 
der zweiten Etage der Klinik. 


VI. Bemerkung 

zu Rasch's Aufsatze: „Ein Fall von monströser Elephantiasis aus den 
Tropen,“ in No. 49 1 896 dieser Wochenschrift. 

Von 

Dr. B. Scheabe. 

In obengenannter No. dieser Wochenschrift hat Rasch einen inter¬ 
essanten, in Siam beobachteten Fall mitgetheilt, den er als monströse 
Elephantiasis bezeichnet. Dieser Fall ist auch mir bekannt. Während 
meines Aufenthaltes in Bangkok im Jahre 1882 hatte ich Gelegenheit, die 
damals schon 30 Jahre alte Kranke zu sehen und zu untersuchen. Ein 
Vergleich der zu jener Zeit aufgenommenen, in meinem Besitze befind¬ 
lichen Photographie derselben mit der Rasch's Aufsatze beigefligten 
Abbildung benimmt jeden Zweifel, dass es sich um denselben Fall 
handelt, er zeigt zugleich, dass dieser sich seitdem nicht verändert hat. 
Der Grund, weshalb ich mir erlaube, hierzu an diesem Orte das Wort 
zu ergreifen, ist der, dass ich Rasch's Auffassung desselben als Ele¬ 
phantiasis für eine irrige halte. 

Wir haben es nach Rasch's Beschreibung mit einer monströsen 
Verunstaltung beider Hände und in geringerem Grade auch der ganzen 
linken oberen Extremität mit Verschmelzung einzelner Finger 
zu thun; an der linken Hand sind der 3. und 4. Finger mit einander 
verwachsen und an der rechten Hand sogar nur 3 Finger zu unter¬ 
scheiden. Rasch's Beschreibung habe ich noch hinzuzufügen, dass die 
Geschwulstmasse sich bei der Untersuchung anfühlte, als ob sie vor¬ 
zugsweise aus Fettgewebe bestände, und dass die Haut über derselben 
eine vollkommen normale Beschaffenheit zeigte. Von einer Fractur des 
linken Oberarmes habe ich damals nichts nachweisen können und glaube, 
dass die auf Rasch's Abbildung hervortretende Knickung desselben 
nur eine scheinbare, lediglich durch die Geschwulst der Weichtheile be¬ 
dingte ist, was jedoch ganz irrelevant sein dürfte. 

Veränderungen, wie sie der vorliegende Fall darbietet, insbesondere 
Verschmelzung einzelner Finger, und zwar sowohl der Knochen als der 
Weichtheile derselben, werden niemals durch Elephantiasis hervorgerufen. 
Dazu kommt, dass die Verunstaltung, wie mir von der Kranken selbst 
versichert wurde, angeboren ist: angeborene Filaria-ElephantiasiB, und 
diese hat Rasch im Auge, kommt meines Wissens nicht vor. Es ban¬ 
delt sich also hier zweifellos um nichts anderes als um eine angeborene 
Missbildug. Gerade in Siam sollen, wie mir dort gesagt wurde, Miss¬ 
bildungen und Naturspiele auffallend häufige Erscheinungen sein, und 
einige derselben sind geradezu Weltberühmtheiten geworden. Ich er¬ 
innere nur an die bekannten siamesischen Zwillinge und das gleichfalls 
aus Siam stammende Haarmädchen Krao, welches vor einer Reihe von 
Jahren in allen europäischen Grossstädten sich sehen liess, und das 
ich bereits 1882 in Bangkok vor Antritt ihrer Welttournöe — es war 
damals 7 Jahre alt — zu untersuchen Gelegenheit hatte. 


VIL Kritiken und Referate. 

Veröffentlichungen aus dem Gebiete des Militär-Sanität» wese ns. 
Herausgegeben von der Medicinal-Abtbeilung des Königlich Preussi- 
schen Kriegsministeriums. Heft 10: Versuche zur Feststellung 
der Verwerthbarkeit Röntgen'scher Strahlen für medicinisch- 
cbirurgische Zwecke. 

Unter den Arbeiten über den praktischen Werth der Röntgen- 
schen Entdeckung nehmen die von Schjerning und Kranzfelder im 
10. Hefte der Veröffentlichungen aus dem Gebiete des Militär-Sanitäts¬ 
wesens mitgetheilten Versuche einen hervorragenden Platz ein. Es 
waren die ersten ausführlicheren Mittheilungen über diesen jeden 
Chirurgen, speciell allerdings jeden Kriegschirurgen lebhaft inter- 


essirenden Gegenstand; sie stammten noch aus der Zeit, in der diese 
Versuche nur in grösseren physikalischen Instituten möglich waren und 
haben den Zweck, die Anwendung der Methode für die medicinische 
Wissenschaft zu fördern, vollständig erreicht. Die physikalischen und 
photographischen Arbeiten bei den in der physikalisch-technischen Reichs¬ 
anstalt angestcliten Versuchen sind von Dr. Kurlbaum und Dr. Wien 
ausgeführt. 

Die zahlreichen der Arbeit beigefügten Tafeln enthalten die Röntgen¬ 
bilder von normalen Geweben, Verbandstoffen, Flüssigkeiten, Pulvern, 
Salben und, besonders zahlreich, von eingelagerten Fremdkörpern und 
Veiänderungen am Knochen. 

Praktische Rathschläge für die Anstellung dieser Versuche und für 
die Beurtheilung und Verwerthung der durch die Bilder gegebenen Re¬ 
sultate, für die genaue Bestimmung der Lage gewisser Theile in den 
Objecten und eingehende Besprechung der Schlussfolgerungen für medi- 
cinisch-chirurgische nnd besonders für kriegschirurgische Zwecke bilden 
den Hauptinhalt der interessanten Mittheilung. 

(Die Frage nach der Verwendung der Röntgen-Strahlen ist bekannt¬ 
lich noch immer in fortschreitender Entwickelung. Heute besitzt jedes 
grössere Krankenhaus die nothwendigen Einrichtungen; im Garnison- 
lazareth No. 1 Berlin werden die betreffenden Untersuchungen vom Ober¬ 
stabsarzt Dr. Steohow vorgenommen. Auch die Kaiser Wilhelms- 
Akademie für das militärärztliche Bildungswesen besitzt seit Monaten 
die Apparate; hier hat Stabsarzt Behrendsen eine ganze Reihe 
interessanter Untersuchungen damit angestellt. — Schliesslich müssen 
wir noch erwähnen, dass die Einwirkung der Strahlen auf die mensch¬ 
liche Haut auch eine recht lästige werden kann: Ausfallen der Ilaarc, 
Pustelbildungen, ja, wie Ref. beobachtete, langwierige Brandwunden sind 
nicht selten bei längeren und häufigeren Versuchen vorgekommen.) 

A. Köhler. 


Albert Hoffa: Atlas and Grundriss der Verb&ndlehre. Lchmann's 
medicinische Handatlanten XIII. München 1897. 

Hoffa’s Lehrbücher haben wegen der klaren Schreibweise und der 
vortreffliihen Abbildungen allgemeine Anerkennung und weite Verbrei¬ 
tung gefunden. Jetzt hat H. in dem Atlas und Grundriss der Verband¬ 
lehre abermals ein hauptsächlich für Lehrzwecke bestimmtes Buch 
herausgegeben, das die gleichen Vorzüge hat, und dem man anmerkt, 
dass dem Autor reiche Erfahrung im Lehren zu Gebote stand. Wenn 
auch wesentlich für den Studenten bestimmt, ist das Buch trotz seiner 
Kürze doch auch für den jüngeren Arzt als Rathgeber geeignet, denn 
es enthält mehr als schematische, Schulverbände betreffende Angaben. 
Es umfasst die ganze Verbandtechnik mit ihren wichtigsten modernen 
Verbesserungen. Zunächst werden die einfachen Binden- und Tiicher- 
verbäude für die einzelnen Körperregionen besprochen. Dann folgen die 
Wund verbände. Hier wäre es nach unserer Meinung für den Anfänger 
vielleicht wünschenswerth, dass der Autor auf die Technik im Anlegen 
eines aseptischen oder antiseptischen Verbandes und im Wechseln des¬ 
selben etwas ausführlicher einginge, z. B. kurze Anweisungen in Betreff 
der Improvisirung von Nothverbänden, der Desinfection der Haut etc. 
und der Vermeidung secundärer Infectionen beim Verbandwechsel gäbe. 
Weiterhin werden Lagerungsverbände und Contentivverbände, sowohl 
Scbienenverbände wie erhärtende Verbände besprochen. Dann folgen 
Zugverbände, die einfache Gewichtsextension mit Heftpflaster, der Zug 
durch Contentivverbände, einschliesslich der sogen. Geh verbände, und 
der Zug durch Schienen und Apparate. Unter den letzteren sind die ge¬ 
bräuchlichsten Portativapparate enthalten. Zum Schluss folgen die 
Druckverbände. 

Der Inhalt der kleinen Buches ist ungemein reichhaltig. Es werden 
viel mehr technische Hülfsmittel geschildert, als der Student heutzutage 
kennen lernt oder der nicht speciell geschulte Arzt an wendet. Aber 
darin sehen wir gerade einen Vortheil des Grundrisses, dass Student 
und Arzt eine gute Uebersicht über die technischen Hülfsmittel der Ver¬ 
bandlehre gewinnen. Dabei ist die Schilderung so knapp und klar, dass 
einfachere Verbandmethoden ohne Schwierigkeit nach dem Buche erlernt 
und geübt werden können. Für complicirtere Verbände und Apparate 
muss wegen der Kürze des Buches auch die Beschreibung etwas knapp 
Bein. Hier treten aber die vortrefflichen Abbildungen ergänzend ein. 
Das Buch ist eben in erster Linie ein Atlas, und zwar im besten Sinne 
des Wortes. 128 Tafeln dienen zur Erläuterung. Die Abbildungen sind 
durchweg nach vortrefflichen Photographien gemacht, vermeiden daher 
alles Schematismen und zeichnen sich durch Realismus und Deutlich¬ 
keit aus. 

Hoffa hat mit seinem kleinen Werke dem akademischen Lehrer 
ein treffliches Hülfsmittel zum Lehren und dem Studenten und Arzte 
einen guten Rathgeber geschenkt. Wir zweifeln nicht, dass auch dieses 
Buch H.’s bald weite Verbreitung finden wird. Nasse. 


0. Vlerordt: Rachitis and Osteomalacie. Specielle Pathologie und 
Therapie, herausgegeben von Hermann Nothnagel. VII. Bd. 
I. Th. Wien 1896, Verlag von Alfred Holder. 147 S. 

Auf dem alten und vieldurchforschten Gebiete der Rachitis hat auch 
in den letzten Jahren eine rege Thätigkeit geherrscht; wir erinnern 
z. B. an die Discussionen über die Beziehung der Rachitis zur Barlow- 
schen Krankheit, über den rachitischen Milztumor, eine Anzahl experi¬ 
menteller Untersuchungen zur Klarstellung des Wesens und der Aetio- 


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u 


No. 1. 


UKItUNKit KLINIsril K \V<M ’IIKS*< 11HIFT. 


logie der Krankheit u. s. w. — Für einen gründlichen Kenner des 
Gegenstandes war es deshalb eine dankbare Aufgabe, einmal Umschau 
zu halten über das bisher Geleistete, den sicheren Besitzstand unserer 
derzeitigen Kenntnisse abzustecken und die Fragen zu formuliren, mit 
deren Lösung sich die Forschung demnächst wird beschäftigen müssen. 
Durch die Art, wie Verf. diese Aufgabe mit ebenso viel Saebkenntniss, 
als objectiver Kritik gelöst hat, ist das Buch über die Grenzen eines 
blossen Lehrbuchs hioansgewachsen. — Ueberall vertritt Verf. den Stand¬ 
punkt, dass die Rachitis als constitutionelle Krankheit des gesammten 
Organismus aufgefasst und nur unter diesem Gesichtspunkte die einzelnen 
Aeusserungen derselben begriffen werden können; die rachitische Knochen¬ 
erkrankung, so sehr sie im Vordergründe des Symptomencomplexes steht, 
ist auch nur ein Theil — freilich der wichtigste — der constitutionellen 
Allgemeinstörung. In Verfolg dieser Auffassang bestreitet Verf. z. B. 
das Vorkommen einer angeborenen Rachitis. — Entsprechend der Be¬ 
deutung der Knochenerkrankungen hat Verf. diesem Capitel eine beson¬ 
ders eingehende Besprechung zu Theil werden lassen. Die an jedem 
Knochen des Skelets wahrnehmbaren Formveränderungen sind unter 
Beifügung von einer grossen Zahl guter Abbildungen im Einzelnen aus¬ 
führlich dargestellt. Diese Art der Behandlung ist um so dankenswerther, 
als in den meisten Lehrbüchern gerade dieser Theil verhältnissmässig 
kurz abgefertigt wird. 

Die letzten etwa 30 Seiten des Bandes gehören der Besprechung 
der Osteomalacie. Die verhältnissmässige Seltenheit der Erkrankung 
und die davon abhängende geringe literarische Thätigkeit rechtfertigen 
die kürzere Fassung; alle wesentlichen Fragen finden aber eine genügend 
ausführliche Erörterung. Verf. hält mit Virchow, Rokitansky u. A. 
eine strenge Scheidung der Osteomalacie von der Rachitis für noth- 
wendig. Das Vorhandensein einer Osteomalacia infantilis hält er bisher 
für unerwiesen. M. Stadthagen. 


VIII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. 

Verein für innere Medicin. 

Sitzung vom 21. December 1896. 

Hr. Hirschfeld: lieber die Anwendung der Muskelthätigkeit bei 
Herzkranken. 

Die Anschauung, dass das geschwächte Herz durch Muskelthätigkeit 
zu kräftigen sei, ist zuerst von Oertel vertreten worden. Für Klappen¬ 
fehler ist sie verworfen, dagegen bei Hypertrophie in Folge von Luxus- 
consumption anerkannt. Gleichzeitig übt bei dieser Form die Nahrungs- 
vermindernng einen günstigen Einfluss, die als das wesentliche Princip 
der Karel’sehen Milchcuren bei Herzkranken anzusehen sei. Ueber die 
Einwirkung gesteigerter Muskelthätigkeit auf das Herz besitzen wir bis¬ 
her genauere Angaben nur durch Zuntz. Der Zuwachs der Leistungen 
der peripheren Muskeln und des Herzens geht nicht parallel, die Thätig¬ 
keit des letzteren wird relativ weniger gesteigert, es wird bei sehr 
starken Anstrengungen um das Zwei- bis Dreifache gedehnt. Bei 
Compensationsstörungen empfiehlt sich Ruhe, weil der Kranke gleichsam 
sein Herz überanstrengt hat. Darum wirkt auch schon die Verringerung 
der Nahrungszufuhr günstig. Beobachtungen acuter Herzdehnungen 
liegen bisher von Schott und Zuntz und Schomburg vor. II. hat 
als einziges Zeichen derselben zweimal eine Verstärkung des zweiten 
Pulmonaltones wahrgenommen. Bei Greisen ist andauernde Muskel¬ 
ruhe schädlich, Bie lässt die physiologisch nothwendige Dehnung 
des Herzmuskels ausfallen, andererseits wachsen aber auch durch die 
Bronchitiden bei Greisen die Widerstände für das rechte Herz. Auch 
bei HerzneuroBen hat man Muskelthätigkeit empfohlen. Die Steigerung 
der Leistungsfähigkeit des Herzens ist abhängig zu machen vom Alter, 
der bisherigen Berufsarbeit und der Art, wie der Kranke die gesteigerte 
Muskelthätigkeit verträgt. Bei Fettleibigen bedeutet schon geringe Ar¬ 
beit eine erhebliche Mehrleistung. H. ist deshalb Gegner der Marien¬ 
bader Cur, bei welcher in wenigen Wochen die Herzarbeit ausserordent¬ 
lich gesteigert wird. Auch bei der Widerstandsgymnastik muss das 
Maass der Leistung genau abgemessen werden. Die Steigerung des 
Blutdruckes giebt kein Bild für die Mehrleistung des Herzens. Bei 
Compensionsstörungen z. B. besteht gerade ein abnorm niedriger Druck. 
Vortragender resumirt: Bei starken Anstrengungen wird das Herz be¬ 
trächtlich gedehnt. Auf diese Weise ist die Herzerkrankung in Folge 
von Ueberanstrengung zu erklären. Der Nachweis der Dehnung ist 
durch Percussion zu erbringen. In einzelnen Fällen ist eine Verände¬ 
rung der Herztöne festzustellen. Stärkere Muskelanstrengungen sind bei 
Herzhypertrophie in Folge von Luxusconsumption und bei Herzneurosen 
zu empfehlen. Bei ersteren ist gleichzeitige Verminderung der Nahrung 
wirksam. Die Muskelthätigkeit ist in Jedem einzelnen Falle soweit zu 
steigern, als die Leistungsfähigkeit des Herzens gestattet. 

(Discussion wird vertagt.) 

Hr. H. Neumann: Ueber den Einfluss allgemeiner Erkrankungen 
auf Zahnkrankheiten. 

1. Rachitische Erosionen. Sie treten symmetrisch auf, an verschie¬ 
denen Zahnsorten in verschiedener Höhe, entstehen durch einen Krank- 
heitsprocess zur Zeit der Kalkbildung in den Zähnen. An 111 Kinder¬ 
leichen aus allen Altersstufen hat N. die verschiedenen Entwickelungs¬ 


stadien der Zähne verfolgt. Zu welcher Zeit die Erosionen zu Stande 
kommen, lässt sich nicht genau bestimmen, weil die Zähne in einem 
bestimmten Lebensalter keine durchschnittliche Grösse haben, sondern in 
der Länge sehr schwanken. Milcbzähne haben auch Erosionen, aller¬ 
dings nur an den Stellen, an denen sie auch nach der Geburt in der 
Verkalkung begriffen sind. Die Erosionen können unter Umständen vor 
der Geburt beginnen, in der Regel aber innerhalb der ersten 5 Monate. 
Der ProcesB, welcher sie verursacht, läuft in 54 pCt. im zweiten Lebens¬ 
semester, in 38 pCt. im zweiten Lebensjahr, in 6 pCt. später ab. Ueber 
die Entstehung der Erosionen giebt es verschiedene Theorien, die alle 
nicht zutreffend sind. Sie bilden sich durch einen Proceas, der sich 
mindestens durch mehrere Monate hinzieht, häufig noch länger. Die 
Syphilis spielt keine Rolle. Sie sind fast ausschliesslich auf die Rachitis 
zurückzuführen und zwar anf die specielle Form der Schädelrachitis. 
8ie sind ausserordentlich häufig, fanden sich bei 18 pCt. der Kinder an 
den permanenten Zähnen, bei Leichen im zweiten Lebenssemester in 
54 pCt. 

2. Hereditär-syphilitische Zähne (Hutchinson) unterscheiden sich 
von den erBteren ganz scharf, da es sich bei ihnen nicht um eine Local¬ 
erkrankung der Zähne, sondern um die Missbildung des ganzen Zahnes 
handelt. Die Annahme, dass nur die oberen mittleren Schneidezähne 
betroffen Bind, ist nicht zutreffend. Charakteristisch für sie ist: 1. Sie 
stehen aus einander, 2. sie sind um ihre Achse gedreht, 3. stehen diver- 
girend, 4. die Krone ist missbildet. 8ie sind selten zu sehen. In 14 
von 25 Fällen konnte N. Lues sicher nachweisen. Zweimal beobachtete 
er sie bei Kindern, deren Geschwister syphilitisch geboren waren. 
Diese Missbildung entsteht zwischen dem 7. Fötalmonat und dem 3. bis 
5. Lebensmonat. Sie ist bei Milchzähnen nicht zu beobachten, weil 
ihre Anlage schon in einer Zeit stattfindet, wo die Syphilis der Fracht 
gewöhnlich Abort erzeugt. 

8. Die gewöhnliche Caries, die an den Milchzähnen an der Schneide¬ 
fläche beginnt und allmählich flächenförmig den ganzen Zahn überzieht. 
Sie stehen nicht im Zusammenhang mit der Rachitis. Im zweiten 
Lebensjahr hat diese Caries schon das Maximum ihrer Entwickelung 
erreicht. Ocfters beobachtet man sie bei chronischen Nervenkrankheiten, 
besonders Idiotie. 

4. Die circuläre Caries. Die Milchzähne werden am Zahnfleisch 
frühzeitig verfärbt, es tritt ein3 Caries des Schmelzes ein, die allmählich 
flächenförmig tiefer geht, den distalen Theil des Zahnes abschnürt, nach 
dessen Abfall eine unkenntliche Wurzel znrückbleibt. Sie kommt bei 
schweren Krankheitszuständen, besonders Tuberculoae vor und bildet für 
letztere ein die Diagnose unterstützendes Moment. 

Hr. Heubner fragt nach genauen Zeitbestimmungen in der Ent¬ 
wickelung der kindlichen Zähne. 

Hr. Ewald fragt den Vortragenden, ob aus den sog. Hutchinson- 
schen Zähnen allein die Diagnose auf Syphilis gestellt Werden kann. 

Hr. RoBin: Bei Tabes hat D£j6rine Zahncaries und Zahnausfall 
beobachtet. R. sah eine ausgebreitete Kiefernekrose bei Tabes, wahr¬ 
scheinlich eine Folge trophischer Störungen. 

Hr. Rosenthal: Die Hutchinson’schen Zähne sind nur para¬ 
syphilitische Erscheinungen, wie z. B. auch die Leucoplakie, sie sind an 
sich nicht specifisch. 

Hr. Neumann verweist hinsichtlich der zeitlichen Entwickelung 
der Zähne auf die Tabelle in seiner ausführlichen Publication auf der 
Frankfurter Naturforscherversammlung. Die Hutchinson'schen Zähne 
sind durch Syphilis erworben, wie Missbildungen im Allgemeinen häufig. 


Freie Vereinigung der Chirurgen Berlins. 

Sitzung vom 13. Juli 1896. 

Vorsitzender: Herr Koenig. 

Schriftführer: Herr Israel. 

Hr. Hadra und Hr. Oestreich: Operative Heilung eines Falles von 
Morbus Addisonii durch Exstirpation einer tuberkulösen Nebenniere. 

a) Hr. Hadra: Die Vorstellung dieses Falles wird wohl durch die 
grosse Seltenheit der Einzelbeobachtung und ihre principielle Bedeutung 
gerechtfertigt. Die ca. 55 jährige Patientin, Frau W., wurde mir im October 
1895 zur Operation eines Magencarcinoms zugeschickt 

Die sehr gracile, kachectlsche, abgemagerte, nur 70 Pfund wiegende 
Frau datirte ihr jetziges Leiden 8—4 Jahre zurück. 

Bestimmte Gründe für dasselbe weise sie nicht. Die Mutter und 
eines von ihren 6 Geschwistern war burstkrank, der Vater magenleidend. 

Sie selbst litt als Mädchen an chlorotischem Magenkatarrb, wurde 
erst spät menstruirt, hatte in S’/i Jähriger Ehe 2 Kinder, wovon ein 
25jähriger Sohn lebt. Im Alter von 33 Jahren wurde sie im Kranken¬ 
bause behandelt, die Diagnose schwankte zwischen Schwindsucht und 
Zuckerkrankheit. Da sie jedoch geheilt wurde, liess man die Diagnose fallen. 
Jedenfalls bestand also eine schwere Ernährungsstörung. Zeitweise litt 
sie an Lungen-Katarrben. Seit 8—4 Jahren stellte sich bei mässigem 
Lungen-Katarrh eine allmählich sich extrem steigernde Schwäche, Kraft¬ 
losigkeit, Müdigkeit, Abgcschlagenheit mit Herzklopfen, Ohnmachtsanfällen, 
Luftmangel, Anschwellung der Füsse ein etc. 8eit */i Jahr Nacht- 
schweiase. Dabei bestand Dyspepsie mit heftigen sog. Magenschmerzen, 
die vom 1. Rippbogen in die Rückengegend ausstrahlten und namentlich 
nach dem Essen auftraten, zeitweise mit Erbrechen, aber ohne Blut- 


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BERLINER KLINISCHE WOC1IKNSC11KIFT. 


15 


4. Januar 1897. 


beimengungen verbanden waren. Sie selbst und der behandelnde Arzt 
constatirten Sommer 95 eine Geschwulst in der Magengegend, weshalb 
sie sich am 18. X. 95. aufnehmen Hess. Das Körpergewicht war von 
98 auf 70 Pfund gesunken. Demgemäss bestand hochgradige Abmagerung. 
An den Lungen L. V. 0. in der Unterschlüsselbeingrube einer halbhand¬ 
tellergrosse gedämpfte Stelle mit verschärftem Athemgeränsch. Wenig 
Sputum ohne Tuberkelbacillen, Herztöne rein, Herzdämpfung klein, Puls 
klein, Nieren frei. In der Magengegend in der Mittellinie liegt eine ca. 
kleinapfelgrosse, verschiebliche, harte, etwas unebene, druckempfindliche 
Geschwulst, direkt auf und links von der Wirbelsäule; Druck auf die¬ 
selbe erzeugt die geschilderten Magen-Kreuzschmerzen. Während der 
Beobachtung in der Klinik kein Erbrechen, aber Anorexie, Magendilata¬ 
tion geringen Grades, Tumor verschwindet bei Aufblähung des Magens. 
Chemismus und Mechanismus des Magens normal, d. h. Nachweis freier 
Salzsäure, Fehlen von Milchsäure, Leerheit l'/i Std. nach dem Probe- 
früstiick. 

Hiernach wurde die Diagnose nicht auf Magencarcinom, sondern auf 
einen retroperitonealen malignen Drüsentumor gestellt. 

Da dieser bei Abwesenheit anderer papabler, patholog. Erscheinungen 
als Ursache der Kachexie-Beschwerden angesehen werden musste, so 
wurde derselbe am 20. X. 95 in Aethernarkose nach üblicher Vor¬ 
bereitung durch Laparotomie entfernt. 

Schnitt in die Mittellinie 7 cm unter dem proc. ensiformis 12 cm lang 
links vom Nabel der 1. Leberlappen nach oben geklappt, Magen nach 
unten gezogen und der Tumor durch das Omentum minus freigelegt. 
Derselbe lässt sich bei der sehr mageren Frau in das Niveau der Bauch¬ 
decken bringen. Er zeigt eine fibröse Kapsel, tat z. Th. weiss, z. Th. 
gelbbräunlich durchschimmernd, etwas höckerig, namentlich im unteren 
Theil. Er sitzt auf und 1. von der Aorta, pulsirt so ungeheuer, dass die 
Orientirung über eigene oder fortgeleitete Pulsation sehr schwierig war, 
weshalb ich 3 Probepunktionen mit einer dünnen Pravazspritze vor¬ 
nahm, ohne dass Blut kam. Erst als sonach ein Aneurysma der Art. 
coeliaca auszuschliessen war, schälte ich denselden möglichst stumpf 
ohne wesentliche Schwierigkeiten aus seiner Bindegewebshülle aus; 
wobei die Aorta 8 cm lang freigelegt wurde. Beziehungen zu Nachbar¬ 
organen (Pankreas, Niere) treten nicht hervor, jedoch habe ich danach 
nicht gesucht. Ein von der Aorta in den Tumor ziehendes Stielgefäss, 
an welchem die Geschwulst zuletzt Bass, wurde über einer Klemme 
ligirt, Mikulicz’scher Jodoformgazebeutel behufs Vermeidung retro- 
peritonealer Phlegmone. 

Aus der Krankengeschichte ist als bemerkenswerth nur hervorzuheben, 
dass am 2. Tage der Leib ohne Jede peritonitische Erscheinung ganz 
weich, aber stark ausgedehnt war. Diese Darmlähmung (Sympathicus) 
war am 3. Tage zurückgegangen. Ungestörte Reconvalescenz. Ent¬ 
lassung aus der Klinik am 26. Tage. Sämmtliche Magenbeschwerden, 
Kreuzschmerzen seit der Operation wie mit einem Schlage verschwunden. 

Pat, die bei der Entlassung (15. XI.) 34,5 kg wog, hat bis 5. VH. 
(also ca. */ 4 Jahr) 9 kg, also 25 pCt. ihres Körpergewichts zugenommen. 

Sie wiegt 43,5 kg, fühlt sich ausserordentlich wohl und gesund, isst 
Alles und sagt Belbst, dass sie sich kaum entsinnen könne, jemals so 
wohl und kräftig, wie jetzt gewesen zu sein. 

Die Untersuchung des Tumors hatte Herr Dr. Oes t re ich die Güte 
vorzunehmen. Derselbe theilte mir mit, dass sowohl der makro- als 
mikroskopische Befund der einer schwer käsig tuberculösen Nebenniere 
sei und fragte mich an, ob dies auch der topographische Befund bei der 
Operation bestätige resp. ob Bronzefärbung vorlag. Seine bestimmte 
Diagnose war Morbus Addisonii. Erstes war zu bejahen. 

Nach Joessel (top. Anat.) liegt die linke Nebenniere direkt am 
Hiatus Aortae und Tripus Halleri mit ihrem inneren Rande, nach oben 
das Zwerchfell, nach unten das Pankreas, vor ihr der Magen und dürfte 
wohl, wenn hierauf mehr geachtet würde, bei Morb. Addisonii öfter ein 
Tumor an dieser Stelle zu finden sein. Dagegen bestehen und bestand 
in unserem Falle Bronzefärbung nicht. Oestreich hält trotzdem be¬ 
stimmt an der Diagnose Morb. Addisonii von seinem pathol. anat. 
Standpunkt fest und die Krankengeschichte entspricht auch 
diesem Krankheitsbild durchaus. 

Es ist ein atypischer Fall von Addison ohne Hautverfärbung wie 
solche sicher Vorkommen. 

Lewin stellt 295 typische Fälle zusammen, 44 atypische ohne 
Bronzefärbung, 85 ohne Nebennierenerkrankung, letztere aber sind nicht 
mikroskopisch untersucht, also nicht beweisend; die neueren Arbeiten von 
Fleiner (Volkmann’s Heft N.F.87), von Kahlden etc. betonen mit aller 
Bestimmtheit, dass derartige Fälle von Nebennieren-Erkrankung auch 
ohne Hautverfärbung als Addison anzusprechen sind. Hutchinson hält 
sie für solche, die vor voller Entwickelung des ganzen Krankheitsbildes 
gestorben oder, wie in unserem Falle, geheilt sind. Fleiner sagt, nicht 
jeder Morbus Brightii macht HydropR, nicht jeder Addison Bronzefärbung. 

Typisch sind die Veränderungen der Nebenniere, einer oder beider. 
Die Fälle wo letztere gesund waren, sind nicht genau untersucht, oder 
andere kachektische Pigmentirungen. 

M. H.! Die Ankündigung spricht von operativer Heilung eines Ad¬ 
dison durch Entfernung einer tuberculösen Nebenniere, 'doch bin ich 
weit entfernt, hiernach die Exstirpation der Nebennieren zur Heilung des 
Addison generaliter empfehlen zu wollen. Ich weiss sehr wohl, dass 1., 
vor Auftreten der Bronzefärbung Addison klinisch nur vermuthungsweise 
diagnosticirt werden kann, wenn auch immerhin die Palpation der Neben¬ 
nieren wohl grössere Beachtung verdient, dass 2., bei typischem Addison 
die Entscheidung der Frage, ob eine oder beide Nebennieren resp. welche 


erkrankt ist, unüberwindliche Schwierigkeiten bieten kann, selbst unter 
Zuhilfenahme der Palpation, 3. dass in fortgeschrittenen Fällen der 
Plexus solaris, Ganglion semilunare und centrale Partieen häufig schon 
erkrankt sind und endlich 4., dass es immerhin noch zweifelhaft, ob 
nicht doch die Nebennieren lebenswichtige Organe sind, wenn auch 
Schiff, Nothnagel, Pahl, Berdach, Tissoni etc. eine Reihe ihrer 
Versuchsthiere am Leben erhielten. 

Auch ist es ja etwas Anderes, gesunde oder kranke, sogar schädliche 
Organe zu entfernen. 

Trotzdem habe ich mir die Frage vorgelegt, wie event. den Nebennieren 
technisch am Besten beizukomraen sei und ist es mir nicht schwer ge¬ 
lungen, mit dem von Bergmann 1 sehen extraperitonealen Schrägschnitt 
die Niere in der Fettkapsel — darauf kommt es an, da die Nebenniere 
ausser resp. oberhalb der Nierenfettkapsel sitzt, — soweit zu luxiren, 
dass ich mit dem am oberen Pol gelegenen Fett die Nebennieren 
in toto exstirpiren konnte. 

Und da mir dies bei ganz atrophischen Nebennieren alter Leute ge¬ 
lang, muss es wohl bei Tumoren noch leichter sein. Jedoch muss ich 
erwähnen, dass mir der Weg per Laparotomie links in m. Falle leichter 
erschien. 

Nun, m. H., ich glaubte Ihnen die erste Nebennierenexstirpation 
dieser Art vorzustellen. Wie mir aber Herr College Thiem-Cottbus heut 
Mittag schrieb, hat er am 4. IX. 90 an Stelle vermutheter Gallensteine 
eine Nebennierenexstirpation ausgeführt. Pat. starb später an Carcinom. 
Keine Sektion. (Cf. Cottbuser Sitzungsberichte 1890.) 

Unser Fall ist wohl namentlich anch wegen seiner genauen mikro¬ 
skopischen Untersuchung von Bedeutung über die Herr Oestreich be¬ 
richten wird. 

b) Hr. R. Oestreich: Operative Heilung eines Falles von Morbus 
Addisonii. Zeitschrift f. klin. Med. Bd. XXXI. Heft 1 und 2. 

Die exstirpirte Geschwulst erwies sich als die linke tuberkulöse 
Nebenniere. Die Existenz dieses pathologisch veränderten Organs bildete 
das Wesen der ganzen Erkrankung. Die neuere Literatur enthält mehr¬ 
fach Fälle von Morbus Addisonii und Nebennierentuberculose ohne jegliche 
Hautverfärbung und gestattet daher ohne Zweifel die Bezeichnung des 
vorliegenden Falles als Morbus Addisonii. 

Hr. Koenig: Ich möchte mich nur über eine Frage informiren. 
Ich habe bis jetzt immer gedacht, dass der Morbus Addisonii bei der 
Tuberculose der Nebenniere so genannt wurde, wenn die Menschen braun 
gefärbt waren. Nicht etwa die Tuberculose der Nebenniere habe ich 
gedacht, ist der Morbus Addisonii, sondern das eigenthümliche Symptom 
was dazu kommt. Nun das ist Ja wohl eine einfache Frage der Be¬ 
nennung. Ist das anders geworden? 

Hr. Oestreich: Nein. 

Hr. Koenig: Ja, es wäre ja sehr interessant, wenn die braune 
Farbe geschwunden wäre. Das ist aber doch nicht der Fall. Nach 
dem Titel sollte man meinen, die Dame wäre braun gewesen, und sie 
hätte nun, nachdem dieser Tumor, der hier die Nebenniere gewesen sein 
mag, weggeschnitten ist, die natürliche Hautfarbe wiederbekommen — 
oder ist das anders geworden? Ich folge Ja nicht so den Fragen, dass 
ich es weiss. Ich weiss nicht, ob die Herren der Meinung sind, dass 
man Morb. Add. jede Tuberculose der Nebennieren nennt. 

Hr. Oestreich weisBt darauf hin, dass es sich bei Morbus Add. 
um mehr als allein um eine Hautfärbung, sondern wesentlich um einen 
schweren allgemeinen progressiven Krankheitszustand handle, welcher 
durch gastrointestinale Erscheinungen, Kräfteverfall, Anämie, nervöse 
Störungen (besonders neuralgiforrae Schmerzen) bemerklich werde. Da 
dieses Krankheitsbild vorlag, eine tuberculose Nebenniere durch Operation 
entfernt wurde, da ferner neuere Mittheilungen der Literatur (z. B. Kahl¬ 
den) der Hautfärbung den Werth eines pathognomonischen Symptomes 
durchaus absprechen, so ist trotz mangelnder Hautfärbung die Auffassung 
dieses Falles als Addisonsche Krankheit gerechtfertigt. 

Hr. G. Lewin: M. H.! Sie wissen dass bald nachdem Addison sein 
Krankheitsbild aufgestellt und die Erkrankung der Nebennieren als dessen 
Ursache erklärte, er sich selbst in Folge anatomischer Untersuchungen ge- 
nöthigt sab, auch eine Erkrankung des Bauchsympathikus zu supponiren. 
Unter den von mir in meiner grösseren Arbeit der Charitö-Analen (Bd. X 
und XVII) publicirten ca. 700 Fällen von Morbus Addisonii waren in 
einer relativ grosson Zahl die Nebennieren nicht erkrankt, ja in 2 Fällen 
waren solche garnicht vorhanden. Seit der Publication meiner 
letzten Arbeit (1892) sind sogar noch mehrere solcher Fälle veröffent¬ 
licht. Dagegen war das Ganglion coeliacum bei einer Anzahl Sectionen 
mehr oder weniger erkrankt — es mögen wohl ca. 60 Fälle sein. 
Leider ist die Untersuchung sehr oft nicht eine gründliche gewesen. 
Aus diesem Grunde habe ich mit Collegen Boer an einer grossen Zahl 
Kaninchen und Hunden Experimente aasgeführt, bestehend in Exstirpation 
und Untersuchung des Ganglion semilunare. Diese ergaben, dass eine 
Anzahl der den Morb. Add. characterisirenden Symptome in Erscheinung 
traten. Aber nicht nur das genannte Ganglion, auch die Erkrankung 
anderer Ganglien und vor Allem die des Nerv, splanchnicus, schien einen 
Theil der Symptome mit zu verschulden. Dahin tendiren auch die 
meisten Ansichten hervorragender Autoren, welche zwar den Neben¬ 
nieren einen grossen Einfluss concediren, jedoch entweder eine von ihnen 
ausgehende und auf das Semicularganglion und noch höher gelegene 
sympathische Ganglien übergreifende Alteration annchmen, oder selbst 
letztere ohne Nebennierenerkrankung als Ursache des Morbus Add. er¬ 
klären. 

Der vorgetragene Fall der Herren Hadra und Oestreich wäre für 


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Xo. 1. 


16 


die Erklärung de« Morbus Add. von höchster Bedeutung, wenn die voll¬ 
ständige Trias der Symptome vorhanden gewesen wäre. Es fehlt die 
Pigmentation der Haut, die Bronzefarbe. Wenn man auch zugeben muss, 
dass diese vielleicht, wie einige Aerzte meinen, von untergeordneter 
Bedeutung ist, so hat man doch wohl wenig Hecht die Krankheit welche 
einen Theil und zwar den wichtigen des Triascomplexes darstellt, mit 
dem Namen des Autors Addison zu belegen, welcher die Pigmentation 
als ein hauptsächliches Symptom bezeichnet. Ebensowenig wird man 
z. B. die Krankheit in welcher das Struma oder der Exophthalmus fehlt, 
als Morb. Based. hinstellen oder bei Abwesenheit der Ataxie von einer 
Friedreich'sehen Krankheit sprechen. Ich habe in meiner genannten 
Arbeit eine grosse Zahl solcher Fälle angeführt, in welchen die Bronzehaut 
fehlte, die andern Symptome aber vorhanden waren, so namentlich die 
Adynamie. Anorexie, gastroepigastrische Beschwerden und Anämie scharf 
hervortraten, bin aber der Meinung, dass man dann diese Krankbeits- 
bilder, als dem Morb. Add. sehr ähnlich benennen soll. 

Hr. Hadra: Ich glaube, ganz genau betont zu haben, dass die 
Patientin gerade an gastrischen Störungen, vom Epigastrium ausgehend, 
gelitten hat. Ich habe den Ausdruck Anorexie nicht gebraucht, ich habe 
ihn aber zufälligerweise in meinem Concept. Ich habe von dyspep¬ 
tischen Beschwerden gesprochen. Die ’ Patientin hatto än sehr starker 
Anorexie gelitten, sie hatte auch an Erbrechen gelitten. Ich habe aber 
ausdrücklich betont, dass sie an Blutungen (Magenblutungen) nicht 
gelitten hat. (Hr. Lewin: Schwindel. Ohnmacht!) Ja, die Patientin ist 
ja auch noch nicht in dem äussersten Stadium des Addison gewesen. 
Weiter möchte ich sagen, dass die Fälle ans der früheren Literatur 
nicht ganz beweiskräftig sind, in den meisten Fällen sind wahrscheinlich 
die Nebennieren nicht mikroskopisch untersucht. Darauf aber kommt es 
wesentlich an. Nur genau mikroskopisch untersuchte Fälle beweisen 
Nebennierenerkrankungen. Sonst sind die Fälle zweifelhaft und vielleicht 
kachectische Pigmentirungen. 

Hr. Lewin: In einzelnen Fällen zeigte sich die Hautpigmentirung 
ziemlich früh. Einzelne Autoren hellen sich bei Abwesenheit der Pig- 
mentirung mit der Hypothese, dass bei längerer Erkrankung diese ein¬ 
getreten wäre! Bei einzelnen Kranken soll die Pigmentirung entstanden, 
darauf geschwunden, zuletzt stabil geblieben sein (Cherandier de Dio). 
•Von grösserer diagnostischer Wichtigkeit ist die Untersuchung der Schleim¬ 
häute. Schwarze Flecken sind nicht ganz selten, haben dann Wichtigkeit. 

Hr. Iladra: Jedenfalls habe ich in der Literatur bei Fl einer in 
in den Volkmann’schen Heften gefunden, dass er ausdrücklich sich da¬ 
gegen verwahrt, dass die Fälle, diese atypischen Fälle, wie er sie nennt, 
nicht als Morbus Addisonii aufgefasst werden sollen. Er macht den 
Vergleich, dass man auch berechtigt ist, eine Bright'sche Krankheit 
liinzustellen, wenn der Patient auch nicht gerade Hydrops hat. Es kann 
ja irgend ein Symptom fehlen, namentlich wenn eine Krankheit noch 
nicht vollständig ausgebildet ist. 

Hr. Koenig: M. II.! Ich darf wohl annehmen, dass für uns die 
Frage vorläufig erschöpft ist. 

(Fortsetzung folgt.) 


Berliner Gesellschaft für Psychiatrie and Nervenkrankheiten. 

Sitzung vom 9. November 1896. 

Vorsitzender: Herr Jolly. 

Schriftführer: Herr Bernhardt. 

Der Vorsitzende gedenkt mit ehrenden Worten des verstorbenen 
Mitgliedes Geh. Rath G. Lewin. 

Vor der Tagesordnung. 

Hr. T. Cohn: Fall von Facialistlc als Beschäftigongsnearose 
bei einem Uhrmacher. 

Ein 48j. Mann. Mutter und eine Schwester nervenleidend, 2 Kinder 
starben an Zahnkrämpfen. Lucs, Potus, Nicotinmissbrauch negirt. Seit 
Jahren ist er Emphysematiker, seit langer Zeit klagt er über nervöse 
Beschwerden. Seit 34 Jahren Uhrmacher, betreibt er sein Geschäft von 
früh 8 Uhr bis Abends 8—9 Uhr, hat dabei fast fortwährend eine in 
Holz gefasste Lupe monokelartig vor das linke Auge geklemmt. — Seit 
2 Jahren Zuckungen um das linke Auge, „Flimmern“ der Wange und 
der ganzen übrigen 1. Gesichtshälfte, das Anfangs nur nach längerer 
Arbeit, später gleich früh und auch ausserhalb der Arbeit auftrat und 
jetzt fast continuirlich besteht, zeitweise mehr tonisch werdend und auch 
bei Sprech-, Kau- u. dergl. Bewegungen auftretend. Schmerzen oder 
Parästhesien bestanden nie. — Therapie: Elektricität, Massage. — Ob- 
jectiv nichts als linksseitiger Facialistic, insbesondere Augen, Trigeminus, 
Nase, Mund (bis auf doppelseitige chronische Rhinitis) normal. (An den 
Lungen Zeichen des Emphysems). — Der Tic ist wohl nicht reflectorisch, 
etwa durch Trigeminusreizung, entstanden, da niemals Schmerzen oder 
dergl. bestanden, sondern als eine durch die fortwährende übermässige 
Facialisinnervation entstandene Beschäftigungsneurose aufzufassen. — 
Beschäftigungsneurosen im Gebiete der Hirnnerven sind selten (Remak 
bei Eulenburg erwähnt nur 3). 

Ilr. Bernhardt macht in der Discussion zunächst darauf aufmerk¬ 
sam, dass vielleicht auch die Accommodationsanstrengung bei dem vor¬ 
gestellten Fall ein ätiologisches Moment abgebe, und weist ferner dar- 
anf hin, dass in der Literatur auch noch für andere Fälle von Be¬ 
schäftigungskrampf im Gebiete von Hirnnerven (N. hypoglossns, acces- 
sorius, Augenmuskelnerven) Beobachtungen vorliegen, wie er in seinem 


Buche (Erkrankungen der peripherischen Nerven II (1. Hälfte) mit- 
getheilt. Ueber einen dem vorgestellten sehr ähnlichen Fall von Be¬ 
schäftigungskrampf im Facialisgebiet (S. 40) ist von B. in seinem Bache 
ebenfalls kurz berichtet 

Hr. Levy-Doni stellt einen II jährigen Knaben vor, welcher seit 
8 Jahren nach einer Kinderlähmung fast an dem ganzen linken Bein 
gelähmt ist, und giebt das selbst verfertigte Röntgenblld von Becken 
und Hüfte des Kindes herum. 

Erhalten sind von den Muskeln der linken unteren Extremität nur 
noch der Tensor fateiae latac, biceps fetnoris, fiexor digitorum und hal- 
lucis longus. 

Bei dem langen Bestand des Leidens konnten hochgradige Ab¬ 
magerungen und Deformitäten nicht ausbleiben. Es kam besonders zu 
Klumpfuss- und Schlottergelenk in der Hüfte. Patient geht in der 
Weise, dass er die linke Hand auf den Oberschenkel legt und damit 
jedesmal Hüfte und Knie nach einer Beugung wieder streckt 

Das Bild gewährt einen klaren Einblick in die Gelenk- und Knochen¬ 
verhältnisse. Es wurde in der dem Pat. bequemsten Lage aufgenommen, 
d. h. Pat. kehrte der Platte den Rücken zu, während er den Unter¬ 
schenkel 1. auf der kranken Seite sehr stark abducirte und nach ausaen 
rotirte. Das rechte Bein nahm eine ähnliche, aber bei Weitem nicht ao 
übertriebene Stellung ein. 

Sie sehen deutlich, dass der linke Femurkopf nach aussen schaut, 
der Trochanter ma)or nach innen, das Bein also eine Stellung einnimmt, 
wie sie bei Gesunden kaum möglich ist. Zweitens erkennt man aus 
dem Schattenriss, dass auch die Knochen an der Abmagerung theil- 
nehmen. Zwar entspricht die Differenz in den Dickendurchmessera der 
linken und rechten Seite auf dem Bilde nicht ganz derjenigen der Wirk¬ 
lichkeit. Denn da die eine Seite — auch in der Glutäalgend — einen 
beträchtlich geringeren Umfang hatte, als die andere, so standen auf 
der glatten Unterlage, wie sie die photographische Platte darbot, dort 
die Knochen weiter von der Strahlenquelle ab, als hier. Es musste 
daher zu ungleichen Projectionen kommen, welche die Differenz in den 
DickendurcbmeBsern vergrösserten. Gleichwohl lässt sich leicht be¬ 
rechnen, dass es sich in dem vorliegenden Falle um eine wirkliche 
Knochenabmagerung gehandelt haben muss. 

Tagesordnung. 

Hr. Scbnster spricht Uber einen der Gesellschaft am 11. März 1895 
vorgestellten Fall und demonstrirt die anatomischen Präparate des¬ 
selben mit dem Projectionsapparat und an aufgestellten mikroskopischen 
Präparaten. Ein 43jähriger Mann ohne Alk. oder Lues erkrankte 
October 1893 mit Heiserkeit. August 1894 geringe Erschwerung in der 
Abduction der Stimmbänder, Pulsbcschlcunignng. November 1894 Schwäche 
im rechten Arm mit Abmagerung desselben. Unbedeutendes „Reissen u 
im Arm. Steigerung aller Beschwerden bis 1895. December 1894 
Auftreten der Schluckbeschwerden. Januar 1895 Aphonie. Mehrere 
Schwindelanfälle. Ende 1895 Aufnahme in Prof. Mendel's Klinik. 
Hier wurde folgendes Positive gefunden: Schwäche in beiden oberen 
und unteren Faciales, Schwäche und Atrophie der Zunge, Gaumen¬ 
lähmung, Schluckbeschwerden, absolute Aphonie, Stimmbänder in Gadaver- 
stellung. Massenatrophie degenerativen Charakters der Muskeln dea 
r. Arms von oben nach unten abnehmend, geringe Hypalgesie dea 
r. Arms ohne tactile Hypästhesie. Subjeetives Schwächegefühl im 
rechten Bein bei objectiv absolut negativem Befunde der unteren Ex¬ 
tremitäten. 8ehr lebhafte Patellarretlexe, Pulsbeschleunigung. Tod 
durch Bronchopneumonie. Die klinische Diagnose hatte Gliosis spinal» 
besonders mit Rücksicht auf die Pnpillendiflferenz und die Sensibilitäts¬ 
störung angenommen, eine chronische Poliomyelitis anter. allerdings 
nicht völlig ausgeschlossen. Anatomisch fand sich: Erkrankung zweierlei 
Art der extramedullären Wurzeln: Frische Erkrankung auf circumscripta 
Wurzelbezirke beschränkt inmitten älterer Affectionen diffuser Natur. 
Die vorderen extramedullären Wurzeln vom untersten Sacralmark bis 
zum unteren Brustmark zeigen beide Typen, den ersten am deutlichsten 
in der Lendenanschwellung: die hinteren Wurzeln eben derselben Höhen 
zeigen ebenfalls beide Typen, besonders schön den ersten, während der 
zweite etwas schwächer als in den vorderen Wurzeln ist. Vom unteren 
Brustmark bis zum Bulbus haben die vorderen Wurzeln hauptsächlich 
nur ältere Veränderungen, die sich im obersten Brustmark besonders 
als hochgradige Faserarmuth äussert. Die hinteren Wurzeln lassen vom 
unteren Brustmark aufwärts allmähliah beide Erkrankungsformen ver¬ 
schwinden und zeigen erst wieder im Halsmark ältere Veränderungen, 
welche jedoch nicht so stark sind, wie in den tieferen Rückenmarks¬ 
bezirken. Die beschriebenen Wurzel affectionen links ebenso wie rechts. 

Ausserdem unbedeutende Atrophien der Vorderhornzellen im unteren 
Lumbal- und oberen Sacralmark, äusserst suspectes Aussehen derselben 
beiderseits im unteren und mittleren Brustmark, sicherer beiderseitiger 
Zellschwund iin oberen Brust- und unteren Cervicalmark. Von der 
6. Cervicalwurzel nach oben nur noch sehr geringe Affection des linken 
Vorderhorns bei sehr starker Erkrankung des rechten. 

Unsichere systematische Degeneration der Bur dach'sehen Stränge 
in der Höhe zwischen 6.—7. Dorsalwurzel — nur auf Marchis schwach 
sichtbar. Sichere Degeneration der beiden Burdach’schen Stränge — 
besonders rechts — von der 2. Dorsalwurzel bis zum Burdach'sehen 
Kern. Unbedeutende frische Erkrankung der Vorder- und Seitenstränge, 
nach oben zunehmend. 

Hochgradige Atrophie der Kerne des 12.—9. Nerven, geringe Er¬ 
krankungen im 7. Nerven. Deutliche Degeneration der cerebralen 
Quintuswurzel. Hyperämie des Rückenmarks. Keine deutlichen inter- 


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4. Januar 1807. BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 17 


Btitiellen Veränderungen. Kleine Blutungen im Boden des 4 . Ventrikels. 
Faserverarmung mit Fettwucherung im N. radialia, medianus, ulnaris, 
vagus. Totale Degeneration beider Recurrentea. Faserverschmälerung 
mit erhaltener Querstreitung in den Muskeln, Vermehrung der Muskel¬ 
kerne. 

Vortragender macht tum Schloss aufmerksam auf den Gegensatz 
zwischen Mängel klinischer Erscheinungen auf der 1. Seite bei posi¬ 
tivem anatomischen Befund und auf die Verbindung einer systematischen 
Vorderhomerkrankunn mit Affectionen der sensiblen Wurzeln und 
Stränge. Er möchte das Krankheitsbild am liebsten noch mit zur 
chronischen Poliomyelitis anterior rechnen. 

Discussion. 

Hr. Rosin: M. II.! Zunächst möchte ich Einiges zu der eben de- 
monstrirten, eigentümlichen Wurzeldegeneration in den unteren Partien 
des Lendenmarkes bemerken. Diese circumscript innerhalb des Wurzel¬ 
nerven auftretende, gleichsam wie mit einem Locheisen geschlagene Er¬ 
weichung ist bereits zweimal, und zwar in diesem Jahre, das eine Mal 
von Moxter, das andere von mir selbst und merkwürdigerweise bei 
Tabes beschrieben worden. Die gewöhnliche tabische Würzelerkrankung, 
auch bei der Tabes insipiens, sieht anders aus, und auch in meinem 
Falle war oben, im Dorsalmark, die Wurzelerkrankung tabiscb, unten im 
Lendenmark genau so, wie von Herrn ßchuster geschildert. Ich glaubte, 
um so mehr, als im Rückenmark fortgesetzte Degenerationen fehlten, 
nicht mit Bestimmtheit die Affection der Wurzeln unten mit derjenigen 
oben gleichstellen zu sollen und habe sie, ebenso wie Moxter, nur ein¬ 
fach beschrieben. Der eigentümliche, einer acuten Erweichung ähnliche 
Process erinnert weniger an den viel schleichender durch einfachen Faser¬ 
ausfall sich documentirenden tabischen Process, als an Affectionen des 
unteren Rückenmarkes, wie sie Valentini im Conus terminalis beschrie¬ 
ben hat Ich rathe also zur Vorsicht bei der Deutung dieser Affection 
als tabuche. Doch wäre es interessant, wenn weiterhin diese Affection 
stets nur bei Tabikern gefunden würde, dann müsste man sie doch wohl 
als eine tabische Degeneratio acutissima der hinteren Wurzeln auffassen. 

Sodann ist es mir aufgefallen, dass innerhalb des Rückenmarkes in 
den Hintersträngen die Degeneration nur in den Burdach’schen Strängen, 
und zwar in ihren inneren Bezirken dicht an den Innenrändern der Hinter¬ 
hörner verlief. Dieses Gebiet nennt man bekanntlich Wurzeleintrittszone 
oder Bandelettes externes. Dennoch scheint es mir nicht, als ob hier die 
Degeneration auf Wurzelfasern zu beziehen ist. Ich glaube, es handelt 
sich hier um kurze Bahnen, wie eie auch in den Hintersträngen verstreut 
Vorkommen (in grösserer Zahl nur an ihrer vordersten Kuppe), also um 
Bahnen, die aus der grauen Substanz der Hinterhörner nach Cajal und 
Golgi in die Hinteratränge hineintraten resp. von da wieder in die graue 
Substanz sich einreihen. Denn würde es sich um Wurzelfasern handeln, 
so müssen dieselben je höher nach oben, desto mehr nach innen gedrängt 
werden, im Halamark also in oder dicht an den Goll'schen Strängen er¬ 
scheinen. Das Ist aber nicht der Fall, auch oben sind diese letzteren 
Bezirke frei. Jedenfalls ist die Localisation eine auffällige, eigenartige 
und nicht recht erklärliche. 

Drittens hat Herr Coli. 8chuster von Pigmentatrophie der Ganglien¬ 
zellen gesprochen. Ich habe mich vor Kurzem bemüht, zu beweisen, 
dass das sogenannte Pigment keineswegs etwas Pathologisches ist, son¬ 
dern ein normaler Theil aller Ganglienzellen des Erwachsenen und in 
atrophischen tritt, wie hier, das Pigment um so deutlicher hervor. Das 
ist alBO, wie ich nochmals hervorhebe, nichts Pathologisches. Uebrigens 
handelt es sich nicht, wie ich ebenfalls gezeigt habe, um einfaches Pig¬ 
ment, sondern um eine noch nicht genauer definirte pigmentirte Fett- 
substanz. 

Hr. Krön hat den Fall früher beobachtet und ihn, da er zu jener 
Zeit Sensibilitätsstörungen nicht nachweisen konnte, als Kemerkrankung 
(Poliomyelitis mit Betheiligung der bulbären Kerne) gedeutet. Die Ana¬ 
mnese hatte ergeben, dass Pat. kurz vor Beginn der jetzigen Erkrankung 
wegen fieberhafter Halsentzündung mehrere Wochen das Bett gehütet 
hatte. Es wäre danach möglich, dass es sich um eine diphtherische 
Affection gehandelt hätte, auf die man das Nervenleiden beziehen könnte. 
Die rege Betheiligung der peripherischen Nerven spräche dafür, vielleicht 
auch der unter solchen Umständen verschiedentlich erhobene Befund von 
Blutungen in die Gentrainervenorgane. 

Hr. Schuster erwidert Herrn Rosin: Das Freibleiben der Goti¬ 
schen Stränge in den oberen Markbezirken ist allerdings sehr auf¬ 
fallend. Ebenso auffallend Ist aber auch, dass die Burdach’schen 
Stränge im Lenden- und Brustmark trotz der ziemlich starken Wurzel- 
affectionen fast intact sind. Die von Herrn Rosin angenommene Er¬ 
klärung der ersten Thatsache dürfte schon ans rein anatomischen 
Gründen nicht zutreffen, denn die hinteren Wurzelfasern sind, so lange 
sie noch extramedullär sind, noch nicht in verschiedene Bündel (etwa 
die der langen und die der kurzen Fasern) getrennt. Eine Scheidung 
der Wurzelfasern in die zwei bekannten, auch entwickelungsgeschicht¬ 
lich getrennten Gruppen erfolgt erst nach dem Wurzelein tritt Aus 
diesem Grunde kann das circumscript erkrankte Segment der hinteren 
Wurzeln auch nicht nur kurze Fasern erhalten. Aber selbst wenn wir 
dies einmal annehmen wollten (eine Annahme, die schon durch die 
Lage jenes circumscripten Wurzelbündels an der medialen Wurzelseite, 
unwahrscheinlich würde, so stiessen wir auf dieselben Schwierigkeiten. 
Es müssten nämlich beim Erkranktsein der kurzen Bahnen Lichtungen 
in dem Fasernetz des Hinterborns resp. Subst. spongiosa und in dem 
Fasernetz des Vorderhorns gefunden werden, denn beide Fasernetze be¬ 
ziehen einen grossen Theil ihrer Fasern aus jenen kurzen Bahnen. 


Eine solche Lichtung jener beiden Fasernetze wird aber ebenso ver¬ 
misst, wie die postulirten Veränderungen in den Goll’schen Strängen. 

Herr Krön möchte S. erwidern, dass nach Erkundigung bei dem 
zuerst behandelnden Specialarzte keine Zeichen irgend welcher Hals¬ 
entzündung beobachtet wurden. Auf die Blutungen am Boden des 

4. Ventrikels legt Vortragender keinen zu grossen Werth, da solche oft 
in Agone entstehen. 

Hr. Koenig (Dalldorf): Ueber Mitbewegungen bei gelähmten 
und nicht gelähmten, idiotischen Kindern. 

Verfasser weist einleitend darauf hin, dass trotz einer ganzen Reihe 
caauistischer Mittheilungen über Mitbewegungen, es bis jetzt an der 
Untersuchung eines grösseren Materiales fehle, welches namentlich die 
sämmtlichen mannigfachen Formen der cerebralen Kinderlähmung und 
nicht nur die Hemiplegien umfasst; ferner fehle es bis jetzt an einer 
analogen Untersuchungsreihe an nicht gelähmten, idiotischen Kindern, 
eine Lücke, deren Ausfüllung mit Rücksicht auf die Thatsache, dass bei 
Kindern und noch mehr bei idiotischen Kindern eine bedeutende Tendenz 
zu Mitbewegungen bestehe, wünschenswerth erscheine. 

Die Untersuchungen des Verfassers erstreckten sich auf 46 Fälle 
von cerebraler Kinderlähmung der verschiedensten Art und auf 88 nicht 
gelähmte idiotische Individuen im Alter von 7—21 Jahren. Koenig 
hat bei seinen Untersuchungen 4 Arten der Mitbewegungen unter¬ 
schieden : 

1. Typische oder correspondirende Mitbewegungen (Westphal’s 
„identische Mitbewegungen“) d. h. solche Mitbewegungen, bei denen die¬ 
selben Muskeln der gegenüberliegenden Extremität in Action versetzt 
werden. 

2. Unregelmässige correspondirende Bewegungen, die darin bestehen, 
dass zwar dieselben Glieder der anderen Seite, aber nicht in genau 
derselben Weise und Ausdehnung in Bewegung gesetzt werden. 

3. Atypische Mitbewegungen (Senator’s „asymmetrische Mitbewe¬ 
gungen“) nämlich solche, die in irgend welchen beliebigen nicht correspon- 
direnden Muskeln auftreten. 

4) Reflectorische Mitbewegungen, welche durch einen peripheren 
Reiz (Nadelstich in die Vola manus oder Planta pedis) ausgelöst werden. 

Koenig fasst das Hauptsächlichste seiner Resultate zusammen 
wie folgt: 

1. Mitbewegungen fehlten ganz: bei den Gelähmten in ca. 15 pCt., 
bei den nicht Gelähmten in 34 pCt. 

2. Alle Arten der bei Gelähmten zur Beobachtung gelangten Mit¬ 
bewegungen fanden sich auch bei den Nichtgelähmten, mit Ausnahme 
der reflectorischen Mitbewegungen. Die hervorstechendsten 
Unterschiede zwischen beiden bestehen darin, dass bei Gelähmten die 
Mitbewegungen häufiger sind, im Allgemeinen mit grösserer Intensität 
auftreten, und, wie es Koenig schien, seltener durch den Willen bezw. 
durch Uebung zu unterdrücken sind. 

8. Die Mitbewegungen bevorzugen keine Form der cerebralen Kinder¬ 
lähmung besonders, hingegen scheint es, dass bei reinen Hemiplegien 
diejenigen Fälle, in welchen Mitbewegungen sowohl bei Bewegungen 
der gelähmten als der nicht gelähmten Finger auftreten, überwiegen 
über die, in welchen Mitbewegungen nur einseitig sich finden. 

4. Es bestätigt sich die bereits bekannte Thatsache, dass die Mit¬ 
bewegungen in den Fingern diejenigen sind, welche am seltensten fehlen 
und denen daher die meiste Bedeutung zukommt. 

5. Was die pathologisch-anatomischen Befunde anbetrifft, so be¬ 
kräftigen die Befunde des Verfassers die Erfahrung, dass Mitbewegungen 
Vorkommen sowohl in Fällen von Erkrankung der Rinde als der grossen 
Ganglien; ferner ist Koenig in der Lage hinzuzufügen, dass er Mit¬ 
bewegungen beobachtet hat bei Erkrankung der Pyramidenbahnen wie 
bei intactem Verhalten derselben. 

6. Bei den nicht gelähmten Idioten wurden Mitbewegungen beob¬ 
achtet bis zum 18. Jahre. In 3 Fällen, die älter waren, fehlten die¬ 
selben. (Zufall?) 

7. Ein gesetzmässiges Verhalten für die Häufigkeit der Mitbewegungen 
mit Rücksicht auf das Alter dieser nicht gelähmten Idioten hat sich nicht 
ergeben. — 

Was die Ursache der Mitbewegungen anbetrifft, so hat Verfasser in 
Uebereinstimmung mit Senator und W. Sander keine Veranlassung 
gefunden, die von Hitzig aufgestellte Theorie zn verlassen. 

(Eine ausführliche Bearbeitung dieses Gegenstandes erscheint dem¬ 
nächst in der Deutschen Zeitschrift für Nervenheilkunde.) 

(Autoreferat.) 

Discussion. 

Hr. O. Katz: Mit der Annahme der Hitzig'schen Hypothese, 
m. H., muss man nach meiner Meinung etwas vorsichtig sein. Ich 
glaube dagegen, dass wir in gewissen pathologischen Verhältnissen einen 
Hinweis wenigstens finden, wo vielleicht die anatomische Erklärung 
der Mitbewegung zu suchen sein wird. Gerade die Beobachtung West- 
phal’s aus dem Jahre 1875, die der Herr Vortragende zu Beginn seiner 
Mittheilung anführte, die krankhaften Erscheinungen der nicht gelähmten 
Seite bei Hemiplegikern betreffend, sind der Ausgangspunkt wichtiger 
anatomischer Arbeiten geworden, die vielleicht bei der Beurtheilung und 
Erklärung der Mitbewegungen von Bedeutung sein werden. Ich erinnere 
da an die Arbeiten, klinische und anatomische, von Pitres, Dignat, 
D6j6rine, Friedländer, Brissaud, Sherrington u. s. w. Be¬ 
sonders aufmerksam wurde ich auf diese Zustände bei der anatomischen 
Bearbeitung von absteigenden Degenerationen bei Hirndefecten der 
Kinder, die ich im Kaiser und Kaiserin Friedrich-Kinderkrankenhause. 


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18 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 1. 


ausführte und mit denen ich zur Zeit noch beschäftigt bin. Es ist über¬ 
aus auffallend, wie häufig neben der schwer veränderten contralateralen 
8eite im Rückenmarke sich auch Veränderungen in den Pyramidenseiten- 
strangbabnen derselben Seite finden, und ich möchte fast behaupten, 
dass die Pyramidenseitenstrangbahnen der „gesunden“ Seite nur sehr 
selten nicht mit erkrankt sind. Man erkennt das viel besser an guten 
Mikrophotogrammen der nach Weigert u. s. w. gefärbten 8ebnitte, 
als unter dem Mikroskop oder bei der Lupenbetrachtung. Es tritt im 
Photogramme die degenerirte Zone auf der „gesunden“ Seite wesentlich 
deutlicher hervor oder vielmehr sie kommt eher zur Anschauung als 
unter dem Mikroskop, wo die direkte Vergleichung schwieriger ist. Ich 
gestatte mir hier ein Photogramm eines nach Weigert gefärbten 
Schnittes herumzureichen — absteigende Degeneration bei einseitigem 
Hirndefect, der hauptsächlich die Ro 1 ando'sehen Windungen und 
Nachbarschaft betraf; Brustmark — wo man hier auch ziemlich deutlich 
neben der schweren Veränderung auf der contralateralen, hier linken 
Seite, eine geringe degenerirte Zone rechts bemerkt, die unter dem 
Mikroskop zu constatiren schon Schwierigkeiten machen würde. — Die 
Erklärung dieser anatomischen Befunde, der Erkrankung der Pyramiden- 
seitenstrangbahnen beider Seiten bei einseitigem Herde, ist eine sehr 
schwierige, und alle Versuche eine einwandsfreie Erklärung zu geben, 
sind bis jetzt gescheitert, wie das unter Anderen auch von Marie ein¬ 
gehend erörtert wird. 

Die Ansicht Hallopeau's, dass der „entzündliche“ Process, der 
sich in der kranken Pyramidenbahn abspielt, in der Decussation sich 
den Fasern der anderen Seite mittheilt, also an der Stelle, wo ein inni¬ 
ges Durcbflechten der beiderseitigen Fasern stattflndet, ist nicht annehm¬ 
bar, da von einer Entzündung oder etwas Aehnlichem gar keine Rede 
ist und selbst, wenn dies der Fall wäre, gar nicht einzusehen ist, 
warum gerade mitten in der erkrankten Pyramidenseitenstrangbahn 
unterhalb der Decussation sich völlig normal aussehende Fasern auf¬ 
finden, die auf weite Strecke innig mit den erkrankten Fasern zusammen¬ 
liegen, allerseits von degenerirten Fasern umgeben sind, wo doch die 
Entzündung, wenn von einer solchen gesprochen werden könnte, viel 
eher noch Platz greifen könnte. Auch Charcot’s Meinung, dass durch 
die vordere Commissur Fasern der einen Pyramidenseitenstrangbahn in 
die Pyramidenseitenstrangbahn der anderen Seite treten, ist nicht er¬ 
wiesen, würde aber immerhin eine befriedigende Lösung der Frage 
geben. Von allen den übrigen Hypothesen u. s. w. glaube ich absehen 
zu dürfen. Die Thatsache, dass wir beim Menschen auch auf der „ge¬ 
sunden“ Seite Degeneration in den Pyramidenbabnen finden, ist und 
bleibt auffallend und bis jetzt unerklärlich, wir müssen uns mit der 
blossen Thatsache einstweilen begnügen. Dass unter diesen Verhältnissen 
der Gedanke nun nahe liegt, dass von der einen motorischen Region des 
Gehirns aus beide Körperhälften durch motorische Fasern beeinflusst 
werden, braucht wohl nicht besonders betont zu werden und ist ja auch 
schon öfter erörtert worden, und dass diese Fasern, die auf dieselbe 
Seite gehen, trotz ausgesprochener Kreuzung in der Decussation, eine 
gewisse Rolle bei den Mitbewegungen spielen mögen, ist wohl nicht zu 
sehr gesucht — wenn es allerdings einstweilen nur Vermuthung bleibt. 
Bei der Gelegenheit möchte ich auch daran erinnern, dass man auch bei 
sehr ausgeprägten Degenerationen in der contralateralen Pyramiden- 
seitenstrangbahn eine Anzahl unversehrter Fasern mitten in der degene¬ 
rirten Zone findet, die auch schon wiederholt Gegenstand eingehender 
Untersuchung waren. Dass eine Anzahl dieser Fasern aufsteigend ist, 
ist erwiesen, ein Theil jedoch ist sicher absteigend und entspricht nach 
meiner Auffassung, neben einigen aus anderen Bezirken stammenden 
Fasern, denjenigen Fasern, die wir auf der „gesunden“ Seite degenerirt 
finden. Die beiden Bilder decken Bich sehr gut, auf derselben Seite die 
theilweise degenerativen und auf der contralateralen, schwer betroffenen, 
eine ganz beträchtliche Anzahl gut erhaltener Fasern mitten im kranken 
Bezirke, die aber zum Theil der anderen gesunden Seite des Gehirns 
entstammen. Wir haben hier also Verhältnisse in den motorischen 
Bahnen vor uns, die noch nicht aufgeklärt sind, uns aber immerhin eine 
Vorstellung gestatten, wie vielleicht ein Theil der Mitbewegungen in 
Scene gesetzt wird, wie von einer Seite des Gehirns aus ein motorischer 
Impuls nach beiden Körperbälften gesandt wird. 

Was nun das klinische Verhalten der Mitbewegungen anbetrifft, so 
muss ich vor Allem sagen, dass die Mitbewegungen auch bei gesunden 
Kindern nicht selten sind. Im Allgemeinen kann man sagen, dass mit 
der fortschreitenden Entwickelung der geistigen Thätigkeit eines Kindes 
die Mitbewegungen mehr und mehr zurücktreten, dass das Individuum 
selbst lernt, diese Mitbewegungen zu unterdrücken. Und man kann auch 
beobachten, dass geistig höher entwickelte Kinder die Mitbewegungen 
früher unterdrücken lernen, als in der Entwickelung zurückbleibende. 
Die Untersuchung dieser Erscheinungen bei jungen Kindern bietet grosse 
Schwierigkeiten dar und man muss sehr vorsichtig sein in ihrer Beur- 
theilung, aber es ist nicht zu verkennen, wie ja auch allgemein bekannt, 
dass diese Dinge häufig sind. Man gewinnt immer den Eindruck, wenn 
man sich eingehender mit diesen Bewegungen befasst, als müsste das 
betreffende Individuum erst lernen, seine Mitbewegungen zu unterdrücken, 
als übe es gewissermaassen erst eine höhere Instanz in seinem Gehirn 
ein, der Mitbewegung, die sonst automatisch erfolgt, ein Veto einzulegen. 
Die Kinder, die durch gewisse pathologische Verhältnisse in einzelnen 
Gebieten ihrer geistigen Thätigkeit gehemmt sind, haben nach meiner 
Beobachtung auch Neigung, diese Mitbewegungen stärker und in einem 
vorgeschritteneren Alter noch zu zeigen, als ihre in dieser Hinsicht in- 
tactere Genossen. Ich habe hierbei die Kinder, die mit adenoiden Vege¬ 


tationen im Nasenrachenraum behaftet sind, im Sinne, die verhältnisa- 
mässig häufig Mitbewrgungen zeigen. — In wie weit nun diene klinischen 
Thatsachen mit der Vertheilung der motorischen Bahnen, die ich vorhin 
berührte, theilweise in Beziehung zu bringen sind, darüber lässt sich ja 
wohl nichts Bestimmtes aussagen, aber immerhin glaube ich doch, da*s 
wir eine gewisse Idee uns machen können, welche Procesne sich hier 
abspielrn, und zwar eine Idee, die unseren sonstigen Kenntnissen auf 
diesem Gebiete nicht widerspricht. 

llr. M. Roth mann: Die Verbindung jeder Hemisphäre mit beiden 
Körperhälften mittelst der Pyramidenbahnen, die der Herr Vorredner 
zur Erklärung der Mitbewegungen heranziehen will ist bisher nicht mit 
Sicherheit nachgewiesen worden. Ich selbst habe in einer im Juni 1896 
im „Neurologischen Centralblatt“ erschienenen Arbeit nachgewiesen, dass 
bei Hunden mit einseitig exstirpirter Extremitätenregion der als unge- 
kreuzte Pyramidenseitenstrangbahn imponirende Zug degenerirter Fasern 
aus der nicht degenerirten Pyramide stammt, indem die Fasern der 
letzteren in der Kreuzung selbst durch die frisch degenerirten gequollenen 
Fasern der anderen Pyramide eomprimirt und zum Theil zur Degene¬ 
ration gebracht werden. Es ist nun allerdings eine Arbeit von D£jerine 
et Thomas erschienen, in der für den Menschen an der Verbindung 
jeder Pyramide mit beiden Pyramidenseitenstrangbahnen festgehalten 
wird. Jedoch sind die beiden zu diesem Resultat führenden Fälle nicht 
ganz beweiskräftig, denn bei dem einen mit infantiler cerebraler Läh¬ 
mung bestand nur eine Monoplegia brachialis. Es kann also kaum, wie 
angenommen wird, eine totale Atrophie der einen Pyramide bestanden 
haben, so dass sehr wohl markhaltige Fasern von derselben zur ge¬ 
kreuzten Pyramidenseitenstrangbahn gelangen konnte. Der zweite, nach 
Marchi'scher Methode untersuchte Fall frischer Hemiplegie lässt aller¬ 
dings degenerirte Fasern von der gleichseitigen Pyramidenseitenstrang¬ 
bahn bis in die Kreuzung verfolgen, ohne jedoch Uber ihre Abstammung 
etwas Sicheres erkennen zu lassen. Die Frage nach dem Ursprung der 
in der gleichseitigen Pyramidenseitenstrangbahn beobachteten degenerirten 
Fasern beim Menschen muss daher immer noch als eine offene gelten. 

Hr. Remak hat auch bei peripherischen Lähmungen Mitbewegungen 
beobachtet, so z. B. Handerheben bei einer Dame mit Peroneuslähmung, 
so oft sie die gelähmten Theile bewegen sollte. 

Hr S. Malischer ( kranken rorstelluag): I. Asthenische (bulbo- 
spinale) Paralyse. 

Der Fall betrifft eine 47jährige Wittwe, die 9 gesunde Kinder hatte 
und nie abortirt hat. Vor einigen Jahren litt sie öfter an Schwindel, 
sonst war sie bis vor einem Jahre gesund. Damals erkrankte sie ziem¬ 
lich plötzlich, ohne dass Fieber, Katarrhe und dergleichen vorausge- 
ganzen waren, an Spannung in der Nackengegend, 8cbwäche der Hais¬ 
und Naekenmuskeln; das Sprechen, Kauen, Schlucken wurde ihr schwer; 
sie konnte feste Sachen nicht beissen und musste beim Essen mit den 
Händen die Kiefer- und Backenrouskulatur unterstützen; die Sprache 
versagte bei längerem Sprechen, und die oberen Lider fingen an, berab- 
zuhängen. Nach einigen Wochen besserte sieh der Zustand und bis 
Juli v. J. ging es ihr leidlich gut, ohne dass sie jedoch zu schwerer 
oder andauernder Hausarbeit befähigt war. Juli 1896 suchte sie den 
Augenarzt Herrn Dr. Seeligsohn wegen Doppelseben auf; es bestand 
damals eine linksseitige Ptosis und Parese des Obliquus superior. Dazu 
traten schnell nacheinander Schwierigkeiten beim Kauen, Sch'ucken, 
Sprechen; die Arme erlahmten nach einigen Bewegungen; feste Sachen 
bekam sie gar nicht herunter, flüssige nur schluckweise. Sie konnte 
sich nicht ankleiden u. s. w. Alle diese Erscheinungen, auch das Doppel¬ 
sehen, waren nach Ruhe Morgens weniger ausgeprägt, als Abends und 
nach geringer Anstrengung. Der Zustand wechselte auch insofern, als 
bald die Ptosis, bald die bulbären Erscheinungen, bald die Rumpf- und 
Extremitätenschwäcbe und Ermüdbarkeit in den Vordergrund traten; 
dabei waren auch dauernde Paresen, bo näselnde, undeutliche, flüsternde 
Sprache u. s. w. vorhanden. Mitte September trat eine Verschlimmerung 
ein; die Kranke konnte 8 Wochen lang wegen allgemeiner Muskelschwäche 
das Bett nicht verlassen; sie konnte in dieser Zeit nur Wasser schluck¬ 
weise zu sich nehmen, magerte sehr ab und drohte immer durch den 
Schleim zu ersticken, der sich im Rachen ansammelte. Von Anfang 
October trat eine allmälige Besserung ein. Es fehlten Atrophien, cere¬ 
brale Erscheinungen, fibrilläre Zuckungen, Sensibilitäts-, Sphincteren- 
störungen. Der Angenhintergrund war normal, die Sehnenreflexe vor¬ 
handen, keine Spasmen, keine Ataxie u. s. w. Die elektrische Reaction 
erschien zunächst normal; doch bei genauerer Prüfung war die Jolly’sche 
myasthenische Reaction zeitweilig nachweisbar. Zeichen von Hysterie 
oder Morbus Basedowii waren ausser geringer Struma und Andeutung 
von Exophthalmus (?) nicht vorhanden. — Heute besteht die Muskel¬ 
ermüdbarkeit noch deutlich, wie man an der Sprache, dem Heben der 
Arme, dem Gang u. s. w. sehen kann ; auch Ptosis ist beiderseits vor¬ 
handen. Die inneren Augenmuskeln blieben dauernd frei. — Die Deu¬ 
tung des Krankheitsbildes dürfte nicht schwierig sein; schwerer die Be¬ 
zeichnung, da fast jeder Krankheitsfall dieser Art einen neuen Namen 
erhalten hat; mir scheint der zuletzt gewählte: asthenische Paralyse 
(Fayerstajn) fast am geeignetsten. Die Krankheit scheint häufiger zu 
sein, als man allgemein annimmt; ich konnte sie in ca. 5 Jahren unter 
3000 poliklinischen Kranken dreimal beobachten. Ueber den ersten 
Kranken habe ich hier vor 2 Jahren mit mikroskopischem Befand be¬ 
richtet Den zweiten Kranken stellte ich vor einem Jahre in dem Verein 
für innere Medicin vor; derselbe ist inzwischen in der Zeitschrift für 
klinische Medicin publicirt. Diese Kranke hier wurde vor einem Jahre 
in einer Nervenpoliklinik behandelt und ihre Krankheit als „Residuen 


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4. Januar 1807. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


10 


einer Blutung in die Mednlla oblongata“ gedeutet. Es batten damals 
wohl riemlieh plötzlich bulbäre Störungen sieh gezeigt, von denen ein 
Theil schnell zuriiekging, ein anderer blieb. Eine Iofectionskrankheit war 
nicht vorausgegangen; in anderen ähnlichen Fällen ist der Zusammen¬ 
hang mit Typhus, Influenza u. s. w. zweifellos. Die Diagnose ist oft 
nicht einfach und bei längerer Beobachtung nur sicher zu stellen. In 
einigen Fällen beginnt die Krankheit mit einer Ophthalmoplegie und die 
bulhären, spinalen Erscheinungen werden übersehen. Eine strenge Schei¬ 
dung von den als Poliencephalomyelitis beschriebenen Krankheitsformen 
scheint mir nicht gut möglich zu sein. Mitunter gelten die Kranken alB 
geheilt, um, wie in einem Falle von Goldflam, nach einiger Zeit an 
anderem Orte mit einer Erkrankung unter den gleichen Erscheinungen 
aufzutauchen oder an plötzlicher Erstickung, Schlund-, Respirationsläh¬ 
mung, auch an Inanition zu Grunde zu gehen. 

(Schluss folgt.) 


Aerztlicher Yerein zu Hamburg. 

Sitzung vom 15. December 1896. 

Vorsitzender: Herr Rumpf. 

Hr. Wiesinger demonstrirt einen Fall von acutem incarcerirtem 
Darmwandbruch der Linea alba bei einem 1'/,jährigen Kinde. 
Die Diagnose wurde erst nach 7 wöchentlicher Krankheit nach der Auf¬ 
nahme in das Krankenhaus gestellt. Es hatten sich von der 4. Krank¬ 
heitswoche an periodische Eiterentleerungen aus dem Nabel eingestellt. 
Eigentliche Incarcerationserscheinungen fehlten, besonders war der Stuhl¬ 
gang stets regelmässig gewesen. Bei der Sondirung der Nabelflstel 
zeigte sich die ganze vordere Bauchwand vom Peritonenm und der Fossa 
transversa abgelöst und in diesen Raum einmündend dicht oberhalb des 
Nabels eine ca. Fünfpfennigstück grosse Darmfistel. Das Kind ging 
später an Erschöpfung zu Grunde, da ein Prolaps der zuführenden 
Darmschlinge aus der Fistel eintrat. Die Section ergab eine Per¬ 
foration des Jejunums, dessen Wand partiell in einen Schlitz der Fascia 
transversa eingeklemmt und dadurch gangränös geworden war. 

Hr. Gocht hat zum Zweck des Studiums des architectonischen 
Aufbaues der Knochen und der Knochendeformitäten eine grosse Anzahl 
von Knocbenschnitten nach Röntgen photographirt und zeigt 
eine Reihe von Bildern und Platten, die Präparate des Femur, der 
Wirbelsäule, rachitischer und congenital luetischer Knochen etc. ent¬ 
stammen. Die Bilder stehen denjenigen Jul. Wolff’s in dessen be¬ 
kanntem Werke nicht nach, sie sind vielfach deutlicher und lassen die 
Structnrverhältnisse besser erkennen. Vor Allem ist das Verfahren, das 
G. eingehender schildert, sicherer und weniger zeitraubend als das von 
Wolff angewendete. 

Hr. Sick demonstrirt einen nach Chaput modifleirten Murpby- 
schen Knopf. Derselbe ist aus weichem Zinn gearbeitet, kann an¬ 
gelegt werden, wie der Murphyknopf und bringt die eingeklemmten 
Darmtheile nicht zur Nekrose. Demonstration der Präparate, die eine 
tadellose Vereinigung des Darmes zeigen. 

Hr. Rumpel demonstrirt die Leber eines 44jährigen Mannes, der 
in früheren Jahren mehrfach wegen periodisch auftretender Gelbsucht 
mit Leberschwellung im Krankenhanse behandelt worden war. Die 
einzelnen Anfälle waren stets schmerzlos und fieberlos, Gallenconcremente 
wurden nie gefunden. 8päter deutlicher Milztumor. Ascites fehlte. 
Klinisch wurde an eine hypertrophische Lebercirrho.se gedacht. — Die 
Autopsie ergab einige grosse Concremente im D. choledochus. Die Pa¬ 
pilla daodenalis war frei und für die Galle durchgängig. Ausserdem 
fanden sich perihepatische Verwachsungen, eine rechtsseitige ädhäsive 
Pleuritis und eine totale Obliteration des Pericards, links nur einige 
Pseudoligamente zwischen den Pleurablättern. 

Im zweiten Falle handelte es sich um einen 47jährigen, früher 
wegen typischer Gallensteincoliken wiederholt behandelten Mann. 
Im März 1895 wurde bei demselben ein rechtsseitiges pleuritisches Ex¬ 
sudat constatirt, später, nachdem zum ersten Male ein erbsengrosser 
Gallenstein gefunden war, wurde der Kranke operirt, und da sich nur 
wenig Concremente in der Gallenblase vorfanden, die Cholecystoduo- 
denostomie ausgeführt. Mai 1896 erneuter schwerer, fieberhafter Anfall 
von Gailsucht, Exit. letalis. 

Bei der Autopsie fand sich die Gallenblase und der D. hepatiens 
völlig obliterirt. Der D. choledochus war stark erweitert und mit Con- 
crementen erfüllt, die Papilla duodenalis intact und durchgängig. 

Auch hier bestanden perihepatische Verwachsungen, Pleuritis ad- 
haesiva dextra, Pericarditis adhaesiva. 

Schliesslich demonstrirt R. noch 2 Abbildungen, ein duodenales 
Ulcus und eine Umbildung der Papilla duodenalis betreffend. 

Fortsetzung der Discnssion Uber den Vortrag des Herrn K Um mell: 
Ueber äussere, ideale Cholecystotoroie. 

Hr. Rumpel betont zunächst gegenüber Herrn Krause, dass die 
Gallenconcremente sich in der weitaus überwiegenden Mehrzahl der 
Fälle in der Gallenblase, nicht in den intrahepat. Gallenwegen bilden 
Weiter bemerkt er, dass häufig die Gallensteine) krankungen keine mar¬ 
kanten Erscheinungen bieten. Häufig handelt es sich um griesartige 
Concremente, die im Darm zerstört werden können. Hat der Stein den 
D. choledochus passirt, so wird der Darminhalt plötzlich mit Galle 
überschwemmt und der Stuhl stark gallehaltig. In solchen Fällen tritt 


abnorm viel Urobilin auf. Zweitens hebt er hervor dass ebenso wie 
beim Leberab*ce*»s. auch bei den Gallensteinerkrankungen auf entzünd¬ 
liche Zustände der rechten Pleura zu achten sei, und besonders bei un¬ 
klarem Fieber und Schmerzen in der Lebergegend Pleuraverwachsungen 
rechts von diagnostischer Bedeutung seien. 

Hr. Simmonds weist darauf hin, wie selten die Cholelithiasis tödt- 
lich verlaufe. Unter 18 400 von Herrn Fraenkel und ihm secirten 
Individuen seien nur 21 derartige Todesfälle vorgekoramen. Setze man 
voraus, dass bei lOpCt. aller Sectionen Gallensteine gefunden worden 
sind, so ergebe sich das Resultat, dass die Cholelithiasis nur in 1 1 pCt. 
tödtlich verlaufe. Spontanheilungen seien sehr häufig. Es könne sich 
der D. cysticus dauernd durch Einkeilung eines Concrementes ver- 
schliessen und zu Hydrops der Gallenblase führen, ohne schädliche 
Folgen. Grosse 8teine könnten wohl durch Usur der Gallenblase oder 
Gallengangswand direct in den Darm gelangen, nie dürfe man aber vor¬ 
aussetzen, dass sie die unverletzte Papille passirten. Durch Narben¬ 
bildung an der Perforationsstelle sei der Nachweis später oft schwer zu 
führen, zumal im Duodenum. Gegenüber Herrn Krause hält er die 
Bildung von Gallensteinen im D. hepatiens für äusseret selten. Der 
regelmässige Ort der Gallensteinbildung sei die Gallenblase. Die in der 
ersten Zeit nach Eröffnung und Entleerung der Gallenblase sich zeigen¬ 
den Steine stammen wahrscheinlich aus den Buchten des D. cysticus. 

Hr. Kiimmell (Schlusswort) sucht sich die Fälle zur Operation aus. 
In der weitaus grossen Mehrzahl gelingt es, die Gallenblase zu schliessen. 
Es gelingt aber nicht immer, besonders bei Abscess und bei sehr dünner 
Wand der Gallenblase; dann ist auf andere Weise zu verfahren. 

Der Vortragende hat auch mehrere Fälle beobachtet, wo noch nach 
Wochen Steine in der Gallenblase erschienen, wie in den von Krause 
erwähnten Fällen; die Steine sitzen dann in der Regel in divertikel¬ 
artigen Ausbuchtungen der Gallenblase. Die Bildung von Concrementen 
in den Lebergängen selbst gehört zu den seltensten Vorkommnissen, 
wofür K. zahlenmässige Belege beibringt. Schliesslich wendet sich der 
Vortragende unter Anführung einer statistischen Zusammenstellung Cour- 
voisier’s den Fällen von Gallensteinileus zu. Nach K.’s Ansicht ist 
es unzweifelhaft, dass die Papilla duodenalis den Durchtritt grosser 
Concremente in den Darm nicht gestattet. 

Hr. Sick hat das Operationsverfahren K.’s in einer Reihe von 
Fällen befolgt und ist mit den Resultaten zufrieden. Er erwähnt einen 
eigenen Gallensteinileus. Es handelte sich um eine alte Frau, bei der 
der Stein nicht auf natürlichem Wege in den Darm gelangt war. 

Hr. Reineke: Ueber Wohnungspflege in England. 

Der Vortragende geht kurz auf die historische Entwickelung der 
Wohnungspflege in England (seit 1831) ein und schildert nach eigenen 
Erfahrungen die jetzt diesen Zwecken dienenden Einrichtungen. 

In Betreff der Häuser selbst sind die Engländer auf möglichste 
Vervollkommnung aller mechanischen Anlagen, speciell der Closet- und 
Entwässerungsanlagen, auf das Sorgfältigste bedacht, und schildert R. 
eingehend diejenigen Maassnahmen, die zur Prüfung einer sicheren 
Function dieser Anlagen dienen. 

Der Wohnungspflege fällt ferner die sanitäre Beaufsichtigung billiger 
Wohnungen, von Kellerwohnungen, Herbergen etc. zu. Sie hat weiter 
das grössere Ziel, gesundheiteschädliche Stadtquartiere zu beseitigen, 
bessere an deren Stelle zu setzen und auf diese Weise für die arbeiten¬ 
den Classen zu sorgen. 

Der Vortrag wird durch eine grosse Reihe von Abbildungen und 
Plänen aller Art illustrirt. R. weist zum Schluss auf den hervorragen¬ 
den sanitären und socialen Werth der Wohnungspflege und deren jetzige 
Bedeutung für die Stadt Hamburg hin. Die grosse Menge interessanter 
Details macht ein kurzes, zusammenfassendes Referat unmöglich und 
muss deshalb an dieser Stelle auf die spätere Publication in der Viertel¬ 
jahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege verwiesen werden. 

L. 


IX. Praktische Notizen. 

In der Societö medicale des höpitaux in Paris berichtet Jüngst 
Launois über einen Fall von Aorteninsufficienz in Folge von 
Klappenzerreissung bei einem Radfahrer. Es betraf einen 
38 jährigen Mann, der früher stets gesund war, insbesondere nie Gelenk¬ 
rheumatismus, eine Iofectionskrankheit oder Syphilis gehabt hat. Seit 
14 Jahren betreibt er den Radsport und zwar sehr eifrig. Er hat u. a. 
in sieben Tagen die 1452 Kilometer lange Strecke von Paris nach Madrid 
zurückgelegt. Einige Zeit danach verspürte er ein eigenartiges Geräusch 
in der Brust, als ob das Herz gegen seine Kleider anschlüge, fühlte 
sich aber sonst ganz gesund und radelte weiter. Seit einigen Monaten 
leidet er nun an häufig wiederkehrendem Nasenbluten, das ihn zum 
Arzt führte. Launois constatirte bei ihm eine typische Aorteninsuffl- 
cienz mit deren klassischen Symptomen. Nur über die Herzgrösse findet 
sich keine Angabe. Irgend welche subjectiven Erscheinungen, wie sie 
sonst bei Aorteninsufficienz Vorkommen, fehlten. Launois glaubt, dass 
eine der Aortenklappe in Folge der Ueberanstrengung des Herzens einen 
Riss bekommen hat und will das Fehlen der subjectiven Krankheitser¬ 
scheinungen durch den kräftigen Zustand des Herzmuskels erklären. 


Als „Spiegelsprache, la parole en miroir“, analog der „Spiegel¬ 
schrift“, bezeichnet Marcotte ein bei einem 12jährigen Mädchen mit 
Hirnabscess nach Otitis beobachtetes Symptom. Das Kind wurde, an- 


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‘20 


No. 1. 


BKRLIXKU KLINISCHK W(>011KNS('IIUIFT. 


Bcheinend in extremis, trepanirt, worauf allmählich die Sprache sich 
wieder einstellte, aber zunächst in ganz unverständlichen 8ätzen; z. B. 
sagte sie: Le — quille — trän — ser — lais — me — vous — lez — 
vou — te — tan — ma u. s. w. Erst als man sie das aufschreiben 
liess, ergab sich, dass sie die Silben, selbst sehr langer Sätze, ohne die 
geringsten Fehler in der verkehrten Reihenfolge sprach, so dass obige 
Phrasen also bedeuten: ma tante, voulez vous me laisser tranquille. Die 
Sprachstörung hielt 5 Wochen an, das Kind genas vollständig. (Progr. 
med., 25, Nov.) 

In einer ausführlichen Arbeit über die Bacteriotherapie bös¬ 
artiger Geschwülste (Bruns 1 Beitr. XVI, 2) resümirt sich Petersen, 
Assistent der Czern y’schen Klinik, dahin, dass bei Carcinomen alle bis¬ 
herigen Methoden aussichtslos sind, bei Sarkomen in ganz vereinzelten 
Ansnahmefällen ein Erfolg zu erwarten ist, — die Versuche sind aber 
auf inoperable Sarkome oder anf Prophylaxe nach Operationen zu be¬ 
schränken. Der Erfolg ist proportional der Stärke der allgemeinen 
Reaction, und damit gleichzeitig der Gefährlichkeit; es folgen sich, nach 
der Wirksamkeit geordnet, Einimpfung virulenter Streptokokken, Misch- 
cultur-Sterilisat, Prodigiosus-Sterilisat, Streptokokken-Sterilisat, Strepto¬ 
kokkenfiltrat, Krebssernm. Die Wirkung der Toxine beruht auf der 
Allgemeinreaction des Organismus, besonders dem Fieber, sowie auf der 
localen Reaction der Tumoren (parenchymatöse Entzündung). Den frag¬ 
lichen Vortheilen Btehen gegenüber die Gefahren einer Intoxication, 
Bowie einer Beförderung des Geschwulstwachsthums. 


Einen Fall, in dem das übermangansaure Kali sich als 
Antidot bei acuter Opiumvergiftung bewährte, theilt Vucetic 
(Wiener klin. Wochenschr. 1896, 82) mit; ein 2'/■»jähriges Kind hatte 
1—2gr Opiumtinctur genommen, eine halbe Stunde später zeigten sich 
die Vergiftungserscheinungen. V. injicirte zuerst 0,01 Kal. hyp., gab 
dann einen Kinderlöffel einer lproc. Lösung per os, wiederholte diese 
Dosen mehrfach. Der Effect trat schnell ein und war nach 15 V* Stunden 
vollständig. _ 


Drechsel berichtete im med.-pharm. Bezirksvcrcin Bern über seine 
Erfahrnngen mit Antispasmin Merck bei Keuchhusten. Dasselbe 
enthält salicylsaures Natron und Narceinnatrium, — nach seinen resp. 
seines Schülers Schoerer Untersuchungen ist erstere 8ubstanz allein 
die wirksame, während das Narceinnatrium gar nicht resorbirt werde; 
man erreiche den gleichen Effect mit der halben Dose salicyls. Natron, 
wie mit der ganzen von Antispasmin. In der Discussion rühmten indess 
mehrere Redner (8tooss, Fueter) die Antispasminwirkung, die sie 
über die alleinige Salicylbehandlung setzten. (Schweizer Corr.-Bl. 
No. 20.) 


X. Tagesgeschichtliche Notizen. 

Berlin. Herr Geheimer Medicinalratb Prof. Dr. 0. Liebreich 
feierte am 30. December sein 25jähriges Jubiläum als ordentlicher Pro¬ 
fessor an hiesiger Universität. Seine ausgezeichneten wissenschaftlichen 
Leistungen, seine stete Bereitwilligkeit, wo es gilt, Jüngere Kräfte zu 
fördern und zu unterstützen, sein lebendiges Interesse für das Wohl des 
ärztlichen Standes sind weiten Kreisen zu Gute gekommen, die mit 
dieser Feier die dankbare Erinnerung und den Wunsch einer Wiederkehr 
derselben nach abermals 25 Jahren verbinden werden! 

— Die Trauerfeier für Emil du Bois-Reymond fand am 
29. v. M. unter zahlreicher Betheiligung aller wissenschaftlichen Kreise 
Berlins im Hörsaal des physiologischen Instituts statt. Die Leichenrede 
hielt Pred. Scholz, weiter sprachen noch Namens der physikalichen Ge¬ 
sellschaft Prof. Warburg, für die physiologische Gesellschaft Prof. 
Hermann Munk, tür die früheren Assistenten Prof. Rosentbal-Erlan¬ 
gen, und als ältester der gegenwärtigen Beamten des Instituts Geh. 
Rath Fritsch. Der Cultusminister, der Generalstabsarzt der Armee, 
der Rector der Universität, die Mitglieder der Akademie und der Fa- 
eultät, zahlreiche Professoren, Docenten und Aerzte, sowie studentische 
Deputationen wohnten der Feier bei. 

— Der Oberpräsident hat die neugewählte Berlin-Brandenburgische 
Aerztekammer auf Sonnabend den 16. Januar einberufen. 

— Die Aerzte, welche Inhaber von Privatkliniken sind, sollen für 
deren Betrieb zur Gewerbesteuer herangezogen werden. Es wider- 
sgricht diese Absicht dem viellach festgestellten und allgemein aner¬ 
kannten Grundsätze, dass die Ausübung der ärztlichen Thätigkcit keiner 
Gewerbesteuer unterliegt. Herr Geh. Rath v. Bergmann hat Anlass ge¬ 
nommen, die in Betracht kommenden Aerzte zu einer Protestversammlung 
einzuladen; die Frage hat, auch über die unmittelbar betheiligten Kreise 
hinaus Interesse — sie beleuchtet die zweifelhafte Stellung, die den 
Aerzten durch ihre Aufnahme in die Gewerbe-Ordnung zu Theil ge¬ 
worden ist und wird als Argument für eine Aenderung dieses Ver¬ 
hältnisses von Werth sein. 

— 28 Kassen haben für das Jahr 1897 die ärztliche Behandlung 
ihrer Mitglieder dem Verein freigewählter Kassenärzte über¬ 
tragen, in erster Linie die vielnmstrittene Allgemeine Ortskrankenkasse 
gewerblicher Arbeiter (sog. Meyer’sche), ferner die Ortskassen der 


Maschinenbauer, Maurer, Lackirer, Stellmacher, Sattler, Drechsler, Gold¬ 
schmiede, Töpfer, Nadler und Siebmacher, Uhrmacher, Vergolder, Strumpf¬ 
wirker, sowie eine Reihe von Fabrikkassen und eingeschriebenen HUlfe- 
kassen. Die Anzahl der so versicherten Kassenmitglieder beträgt jetzt 
ca. 150 000, hat also ihre frühere Höhe ungefähr wieder erreicht 

— Zur Prüfung der Impfstofffrage war vom Minister der Medicioal- 
Angelcgenheiten eine Commission eingesetzt, welcher n. A. R. Koch, 
R. Pfeiffer und die Dirigenten der Institute zur Gewinnung thierischen 
Impfstoffes Freyer (Stettin), Schulz (Berlin), Vanselow (Köln) ange¬ 
hörten, und welche unter dem Vorsitz des Geheimrath Schmidtmann 
tagte. Ueber die Ergebnisse stattet Dr. Frosch aus dem Institute für 
Infectionskrankheiten Bericht ab (Berlin, J. Springer). Es ergeben sich 
folgende Schlusssätze aus den experimentellen Untersuchungen über die 
einschlägigen Fragen: Es besteht keine ursächliche Beziehung zwischen 
den Bacterien der Lymphe und den Reiz- und Entzündungserscheinungen 
beim Impfling. Etwaige erysipelatöie nnd phlegmonöse Entzündungen 
nach der Impfung sind al3 aceidentelle Schädlichkeiten aufznfassen und 
erwachsen aus dem unzweckmässigen Verhalten des Impflings oder 
dessen Pflegern. Soweit der Impfarzt und der Impfstoff dabei in Frage 
kommt, sind sie unvermeidbar. Eine Verbesserung ln der äusseren Be¬ 
schaffenheit und Reinheit der Lymphe läsBt sich durch die Methode der 
blutfreien Gewinnung, Sedimentirung, Centrifngiren und Verdünnung bewir¬ 
ken. Durch die so erzeugte Lymphe kann voller Impfschutz erzeugt werden. 

— Der bisherige erste Assistent der inneren Abtheilung des Augusta- 
Hospitals, Herr Dr. Coli atz, ist zum dirigirenden Arzt der inneren 
Station des Diakonissen-Krankenhauses zu Darmstadt ernannt worden. 

— Als Nachfolger des verstorbenen Dr. Hans Scbmid ist der 
ausserordentliche Professor Dr. Heinrich Haeckel aus Jena zum 
dirigirenden Arzt des Diakonissenkrankenhauses Bethanien zu Stettin- 
Neutorney berufen. Derselbe hat die Wahl angenommen. 

— Der bisherige a. o. Professor und Director der psychiatrischen 
Klinik Dr. Sommer in Giessen ist zum Ordinarius daselbst ernannt. 

— Der berühmte Anatom, Geheimrath Prof. a. D. Josef von Ger- 
lach, früher in Erlangen, ist am 17. r. M. in München verstorben. 


XI. Amtliche Mittheilungen. 

Personal!». 

Auszeichnungen: Charakter als Sanitätsrath: dem Director der 
Provinzial-Irren-Anstalt Dr. Knecht in Ueckermuende. 

Rother Adler-Orden IV. Kl.: dem prakt. Arzt Dr. Hermann 
Wiedemann in Pranst. 

Ernennung: der Oberarzt der chirarg. Abtheilung des Stadtlaaareths, 
Professor Dr. Barth in Danzig zum Medicinal-Assessor bei* dem 
Medicinal-Collegium der Provinz Westpreussen. 

Charakter als Medicinalrath: dem Medicinal-Assessor Prof. 
Dr. Barth in Danzig. 

Niederlassungen: die Aerzte Dr. v. d. Busche-Haddenhausen in 
Gr.-Schwülper, Weinknecht in Heiligendorf, Dr. Boretius in Cob- 
lenz, Dr. Sievers in Coppenbruegge, Reifenstuhl in Osterwald, 
Dr. Roessing in Dirmingen. 

Verzogen sind: die Aerzte Dr. Stumpe von Bladenhorst nach Bausei, 
Dr. v. BUrck von Kiel nach Niemelhausen, Dr. Hilsmann von Brussa 
nach Herne, Dr. Lucke von Finnentrop nach Hamm, Dr. Bäum ge s 
von Dortmund nach Cöln, Kiespel von Blankenstein, Dr. Reif von 
Tucheband nach Magdeburg, Dr. Feige von Hamborg nach Magdeburg- 
Sudenburg, Dr. Janssen von Gotha nach Magdeburg-Neustadt, Dr. 
Theuerkauf von Danstedt nach Magdeburg, Dr. Breese von Heiligen¬ 
hafen nach Callehne, Dr. Sonneborn von Magdeburg nach Schameder, 
Dr. Friedrich von Zanow nach Müncheberg, Dr. Liebe von Geit- 
hain nach St. Andreasberg, Dr. Schulz von Berlin nach Münster i.W., 
Dr. Grimm von Münster i. W. nach Frankfurt a. M., Dr. Werner 
von Liegnitz nach Kortan, Dr. Bach von Prostken nach Königsberg!.Pr., 
Dr. Schubert von Colberg nach Königsberg 1. Pr., Dr. Frey tag von 
Königsberg i. Pr. nach Stettin, Dr. Kunze von Königsberg i. Pr. nach 
Allenstein, Dr. Schlösser von Königsberg i. Pr. nach Tilsit, Schma¬ 
le wski von Königsberg i. Pr. nach Bischofstein, Wolters von Egels- 
bach nach Schweich, Dr. G aut er von Memmingen nach Trier, Dr. 
Schult von Ruwer nach Cöln, Dr. Koester von 8alzhemmendorf 
nach Wernigerode, Dr. Kaatzer von Bad Rehburg, Dr. Schoeningh 
von Oldesloe und Dr. Knieke von Pankow nach Hannover, Dr. 
Werner von Hannover nach 8Ulfeld, Dr. Bothe von Löhne, Dr. 
Baudorff von Oeynhausen nach Löhne. 

Gestorben sind: die Aerzte Dr. Vahland in Osterwald, Geh. Ober- 
Medicinalrath Prof. Dr. du Bois-Reymond in Berlin. 


■rkanntaaehuiie- 

Die Kreisphysikatsstelle des Kreises Pieschen, mit einem jährlichen 
Gehalt von 900 M., ist erledigt. Qualificirte Bewerber wollen sich unter 
Einreichung ihrer Zeugnisse und ihres Lebenslaufs bis zum 20. Januar 
1897 bei mir melden. 

Posen, den 12. December 1896. 

Der Königliche Regierungs-Präsident. 

Für <li* Kedartion verantwortlich Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald. LütaowpJatz 5. 


Verlag und Eigenthum von August Hirschwald in Berlin. — Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin. 


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t>ie Berliner Klinische Wochenschrift erscheint Jeden 
Montag in der Stärke von 9 bis 3 Bogen gr. 4. — 
Preis vierteljährlich 6 Mark. Bestellungen nehmen 
alle Buchhandlungen und Postanstalten an. 


BERLINER 


Einsendungen «olle man portofrei an die Redaction 
(W. Lfltzowplatx No. 5 ptr.) oder an die Verlags¬ 
buchhandlung von August Hirschwald ln Berlin 
N.W. Unter den Linden No. 68, adressiren. 


KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Organ für practische Aerzte. 


Mit Berücksichtigung der preussischen Medicinalverwaltung und Medicinalgesetzgebung 

nach amtlichen Mittheilungen. 

Redaction: Expedition: 

Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald uud Prof. Dr. C. Posner. August Rirschwald, Verlagsbuchhandlung in Berlin. 


Montag, den 11. Januar 1897. 


M 2 . 


Yierunddreissigster Jahrgang. 


I N H 

I. König: Die congenitale Luxation dea Hüftgelenks. 

II. A. ßaginaky: Zur Pathologie der Durchfallkrankheiten der Kinder. 

III. R. Schaeffer: Zur Frage der Catgutsterilisation. 

IV. M. Brasch: Ein Fall von motorischer Aphasie bei einem Kinde 
im Frühstadium eines acuten Exanthems. 

V. A. v. Eiseisberg: Zur Technik der Jejunostomie. 

VI. Kritiken und Referate. Ewald, Erkrankungen der Schild¬ 
drüse, Myxoedem und Cretinismus. (Ref. Ponfick.) — Wilkens, 
Durchleuchtung bei der Kieferhöhleneiterung; Jan kau, Vademecum 
und Taschenkalender 1896/97; Avellis, Schluckweh. (Ref. 
Kuttner.) 


I. Die congenitale Luxation des Hüftgelenks. 

Von 

Prof. König-Berlin. 

Seit Jahren beherrscht die Frage nach der chirurgischen 
Behandlung einer Krankheit die Gemiither zahlreicher Menschen. 
In der chirurgischen Section der Naturforscher wird eine neue 
Methode verkündet und bereits wirft dieselbe ihre Schatten auf 
die im Frühjahr folgende Sitzung der Deutschen Gesellschaft für 
Chirurgie. Begierig werden die neuen Mittheilungen aufgenom¬ 
men, mit der grössten Aufmerksamkeit werden die freilich oft 
noch hinkenden Beweise der Leistungsfähigkeit der empfohlenen 
Cur verfolgt. Stenographen schreiben wortgetreue Berichte und 
solche iverden in das Land vertheilt. Die Väter und Mütter der 
hinkenden Kinder fallen wissensdurstig Uber die Berichte her und 
sie kennen selbe besser als mancher Arzt und Chirurg, der ihnen 
Auskunft und Rede stehen muss. Wahrlich, wenn man mit Be¬ 
wusstsein eine Anstalt für Verbreitung eigener Thaten gründen 
wollte, sie könnte nicht besser eingerichtet werden. Und doch 
liegt etwas Derartiges, wie wir nicht zweifeln, dem Wollen der 
sich bei solcher Verhandlung Betheiligenden fern. 

Die Krankheit, welche ich meine, ist die congenitale 
Luxation des Hüftgelenks. Weit Uber den Rahmen der 
humanen Bedeutung des Leidens hinaus macht sie sich in den 
wissenschaftlichen Sitzungen breit. Wohl ist es eine Auf¬ 
gabe, der Arbeit werth, ein Gelenk da zu bilden, wo keins 
besteht, aber man soll bedenken, dass sich diese Arbeit nicht 
in der kurzen Frist zwischen Herbst uud Ostern lösen lässt. 

Wir sind allesammt grosse Kinder. Als Hoffa seine geniale 
Erfindung bekannt machte, als er zeigte, dass man dem heramirren- 
den Gelenkkopf an der Stelle, wohin er gehört, eine bleibende Stätte 
bereiten kann, da jauchzte man der Erfindung zu. Ein festes 
und doch bewegliches Gelenk, durch eine ungefälir- 


A L T. 

VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Berliner medi- 
cinische Gesellschaft. Ileubner, Falk, Gensichen, Fraenkel, 
Demonstrationen; Baginsky, Durchfallkrankheiten der Kinder. 
— Freie Vereinigung der Chirurgen Berlins. König, Gonor¬ 
rhoische Gelenkentzündung. — Berliner Gesellschaft für Psychiatrie 
und Nervenkrankheiten. Kalischer, Tabes mit Ophthalmoplegie, 
Demenz und Muskelatropbie. — Gesellschaft der Charit6-Aerzte. 
Löhr, Immunisirnngsversuche gegen Diphtherie; Finkeistein, 
Angeborene Pylorusstenose bei Säuglingen. 

VIII. Praktische Notizen. 

IX. Tagesgeschichtliche Notizen. — X. Amtliche MittheUungen. 


liehe Operation zu schaffen, damit schien allerdings 
das-Probiem gelöst! Aber es war doch auch gar zu kurz¬ 
sichtig, glauben zu wollen, dass sich stets für den deformen 
Kopf in der Hachen, deformen, jetzt neu bereiteten Pfanne ein 
genügend fixirender Pfannenhalt bilden sollte, zu kurzsichtig, 
um anzunehmen, dass ein Gelenk, welches mit Anwendung schnei¬ 
dender, hobelnder, bohrender Instrumente angefrischt und her¬ 
gestellt wurde, regelmässig oder auch nur oft die active und 
passive Beweglichkeit eines normalen Gelenks er- und behalten 
sollte, vollends kurzsichtig aber, zu glauben, dass, weil dies so 
schön gewesen, bei der fraglichen eingreifenden Hüftoperation 
niemals Eiterung, und die Folge davon, niemals der Tod ein- 
treten könne. Bald war es sicher, dass: 

1. dieOperation sich überhaupt nicht für alle Fälle 
empfehlen liess; 

2. dass da, wo sie indicirt schien, zuweilen nach 
scheinbar gelungener Reposition die Luxation 
wieder auftrat; 

3. dass.eine Anzahl Operirter steife Gelenke be¬ 
kamen; 

4. dass manche Kinder starben. 

Was Wunder bei dem so präparirten Boden, dass als die 
Schelle wieder ertönte, als die unblutige Reposition congenitaler 
Luxation jetzt als das richtige Verfahren proclamirt wurde, 
Jung und Alt, Laien und Aerzte diese Mittheilung begierig auf- 
nahmen, und als Lorenz die Methode der Einrichtung zeigte, eine 
wahre Hoclifiuth künstlicher Einrichtung von Luxationen eintrat. 

Dagegen etwas zu sagen, ist schwer. Es ist erklärlich, 
dass Mütter und Väter vorziehen, einen unblutigen Heilversuch 
mit dem kranken Bein ihrer Kinder zu machen, und es ist ver¬ 
ständlich, dass der Arzt gern nachgiebt, weil der Versuch unge¬ 
fährlich ist, und weil er oft vorerst wenigstens das Problem 
der Einrichtung des luxirten Gelenks löst. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


JZl 

Aber alle Erwägungen, welche darüber hinausgelien, sind zu¬ 
nächst unverständig, sie gemahnen uns an das Verständnis des 
Kindes. Wer seine pathologische Mechanik und pathologische 
Anatomie der Gelenke gelernt hat, wer weiss, w ie unendlich ge¬ 
ringfügig die Bildung von Gruben und Schliffflächen, beispiels¬ 
weise an resecirten Gelenken zu sein pflegt, der muss vorläufig 
auch bescheiden und vorsichtig sein in der Erwartung dessen, 
was aus den eingerichteten Gelenken wird. A priori wird er 
die Bildung einer tiefen, haltbaren Pfanne für unwahr¬ 
scheinlich halten, aber er muss es entschieden in das Reich 
der Fabel verweisen, wenn erzählt wird, dass bereits nach !„ 
nach 5 Jahr ein vollkommen bewegliches und haltbares Gelenk 
gebildet sei, er wird es für wahrscheinlich halten, dass über¬ 
haupt nur in einem geringen Procentsatz wirklich haltbare Ge¬ 
lenke geschaffen, in einem grösseren Procentsatz aber das Ver¬ 
gnügen des Eingerichtetseins nur sehr kurz dauern wird. Es 
ist ohne jede Analogie in der Mechanik der Gelenkbildung, dass 
ein Uberknorpelter Kopf eine flache, bindegewebig ausgekleidete 
Grube zu einer tiefen Pfanne umgestaltet, derart, dass ein Ge¬ 
lenk entsteht, welches in der Folge den Anforderungen, 
die man an die Haltbarkeit eines menschlichen Hüft¬ 
gelenks stellt, Genüge leistet. 

Aber vielleicht tritt ja in diesem Falle das Unmöglich¬ 
geglaubte, das Unwahrscheinliche ein? Wenn es eintritt, dann 
kann das nur nach längerer Zeit der Fall sein. Die Entschei¬ 
dung der Frage bedarf also einer längeren ruhigen Beobachtung! 

Dass solche Beobachtung jetzt gemacht werde, das ist sicher 
der Wunsch Aller, die ein Herz für die Sache haben. Aber es 
ist nicht die Aufgabe zu ernster Arbeit zusammenkommender 
Vereine von Fachchirurgen, Ort und Zeit herzugeben, um als 
Organ zu dienen für jede Wendung, w-elche die Frage der Be¬ 
handlung der Krankheit macht. Es giebt zahlreiche fachliche 
und öffentliche Blätter, welche diesem Zweck besser dienen, als die 
Versammlung wissenschaftlich arbeitender Chirurgen, nnd es 
liegt weder im Interesse der Wissenschaft, uoch in dem der sich 
für die congenitale Luxation interessirenden Menschheit, auf dem 
bis jetzt betretenen Wege Kunde zu erhalten Uber die wirk¬ 
lichen und eingebildeten Fortschritte in der Behandlung der 
Krankheit. 


IT. Zur Pathologie der Durchfallkrankheiten 
der Kinder. 

Von 

Adolf Bagtnskj. 

(Vortrag mit Demonstration, gehalten in der Sitzung der Berliner medi- 
cinischen Gesellschaft, am 16. December 1896) 

Der Gegenstand, für welchen ich heute Ihre Aufmerksam¬ 
keit erbitte, ist schon mehrfach und nach den verschiedensten 
Seiten hin von mir in Vorträgen an dieser Stelle erörtert worden. 
Ein Blick in die früheren Verhandlungen der Gesellschaft dürfte 
Sie daran erinnern, dass ich Uber meine langjährigen Studien 
auf dem Gebiete der Verdauungskrankheiten der Kinder, insbe¬ 
sondere der mit Diarrhoeen einhergehenden, fortlaufend Bericht 
gegeben habe. 

Die anatomischen Verhältnisse sind ebenso, wie der Chemis¬ 
mus der gestörten Verdauung und auch die in Frage kommenden 
Krankheitserreger in diesen Vorträgen berücksichtigt worden. 
Wenn ich nochmals auf den Gegenstand zurfickkomme, so mögen 
Sie die Gründe dafür in folgenden Thatsachen finden. — Die Ver¬ 
hältnisse gestatten mir jetzt die Erforschung der pathologisch- 


No, 2. 

anatomischen Veränderungen an einem ganz frischen Leichen- 
materiale, so dass cadaveröse Störungen fast mit Sicherheit aus¬ 
geschlossen werden können uud es schien mir wichtig, unter 
diesen Bedingungen die früheren Befunde einer erneuten Controle 
zu unterziehen, wenngleich ich schon früher bemüht gewesen 
war, nur möglichst frisch gewonnenes Material zur Untersuchung 
zu nehmen. Weiterhin erschien cs notliwendig, unter dem Ein¬ 
drücke der jüngsten Publicationen, welche sich insbesondere auf 
die Virulenz und die Infectiosität der im Danucanal bausenden 
und von mir früher studirten Darmbacterien beziehen, die Ar¬ 
beite« nochmals aufzunehmen und insbesondere hierbei wiederum 
auf das von einzelnen Autoren neuerdings urgirie Auftreten 
specifischer Krankheitserreger zu achten. 

Unter diesen Gesichtspunkten sind von mir in den letzten 
Monaten nahezu 50 Fälle zumeist bacteriologisch und patho¬ 
logisch anatomisch untersucht worden. 

Bevor ich an die Mittheilung der Ergebnisse gehe, muss 
ich dasjenige, was ich schon mehrfach in meinen Vorträgen be¬ 
tont habe, nochmals hervorheben, dass man nicht in den Fehler 
verfallen darf, alle mit Durchfällen oder Erbrechen einhergehende 
Erkrankungsformen als pathologisch-anatomisch und klinisch, 
noch weniger aber ätiologisch, identisch zu nehmen. Der Darm- 
tractus antwortet, worauf ich immer schon hingewiesen habe, 
begreiflicherweise auf die verschiedensten Reize in nahezu 
gleicher Weise. Insbesondere aber sind die in Krankenanstalten 
oder sonstigen Kinderpflegeanstalten endemisch auftretenden 
diarrhöischen Erkrankungsformen sicher vielfach gänzfieh von 
dem verschieden, was wir unter den als Sommerdiarrhoeen auf¬ 
tretenden Krankheitsformen verstehen. Man wird dies eben so 
w'enig ausser Acht lassen müssen, wie das andere, dass unter 
verschiedenen klimatischen Bedingungen sich höchstwahrscheinlich 
auch verschiedene Krankheitserreger entwickeln und zur Wir¬ 
kung kommen können, welche in letzter Linie Diarrhoeen er¬ 
zeugen. Wenn ich hier also von Diarrhoeen handele, so habe 
ich immer wieder in erster Reihe die unter Einfluss hoher 
Sommertemperatur auftreteuden Diarrhoeen und deren Folge¬ 
zustände im Auge. Auf eine kleine endemisch aufgetretene 
Diarrhoeform, die ich jüngst im Krankenhanse zu beobachten 
Gelegenheit hatte, weide ich besonders zurückkoamen. 

Die Sommerdiarrhoeen der Kinder sind ftlr Berlin trotz der 
im Allgemeinen verbesserten hygienischen Verhältnisse und auch 
der im Besonderen verbessert«! Ernäbrungsbedingungen, Milch- 
controle etc., immer noch bedeutungsvoll genug. Ich darf Sie 
wohl daran erinnern, dass Virchow der Erste war, der aut den 
Connex zwischen hoher Sommertemperatur und hoher Kinder¬ 
sterblichkeit eindringlich hinwies 1 ). Was Virchow damals her¬ 
vorhob, hat sich als allgemeines Gesetz für fast alle Grossstädte 
der Erde erwiesen und gilt auch heute noch. Berlin verlor, 
trotz sehr günstiger Witterungsverlifiltnisse und eines besonders 
günstigen Gesundheitszustandes in diesem Jahre in den Monaten 
Mai bis Ende August an eigentlichen Sommerdiarrhoeen immer 
noch 1718 Kinder; im ganzen Jahre bis Ende October 2398; 
eine immerhin so hohe Zahl, dass es wohl berechtigt erscheint, 
diese Krankheitsformen wissenschaftlich und praktisch nicht ansser 
Augeu zu Lassen. 

In meiner ersten Studie Uber die Sommerdiarrhoeen im An¬ 
schlüsse an diese Mittheilungen Virchow’s, welche aueh schon 
den Hinweis enthielten, „dass nur Verhältnisse der Luft und dee 
Wassers oder der Nahrung es sein können, auf welche man die 
excessive Sommersterblichkeit der Kinder zurückzuführen habe“, 
kam ich an der Hand von Untersuchungen der diarrhöischen 


1) Virehow, Generalbericht über die Arbeiten der städliichen 
gemischten Deputation ete. 


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11. Januar 1 Hl)7. 


BERLINKU KLINISCHE WOCIIKNS< HUIFT. 


Ausscheidungen zu der Aufstellung, dass inan 3 Formen') von 
Erkrankungen zu unterscheiden habe: 

1. Acute Verdauungsstörung, in ihrer mildesten Form Dys¬ 
pepsie, in ihrer heftigsten Cholera infantum darstellend = 
Fäulniss des Darminhaltes mit gesteigerter Peristaltik; 

2. subacuter und recidivirender Durchfall und Brechdurchfall 
= Darmkatarrh mit oder ohne Follikelanschwellung; 

3. chronischer Durchfall mit Atrophie = schwer anatomische 
Läsion der Darmwand etc. 

Habe ich auch im Ganzen im weiteren Verlaufe meiner ana¬ 
tomischen und klinischen Studien dieser Dreitheiluug treu bleiben 
können, so verschoben sich doch innerhalb derselben die Grenzen 
dahin, dass ich einmal die rein dyspeptischen (functionell chemi¬ 
schen) Störungen einzuschränken und weiterhin den echt enteri- 
tischen (folliculären) Erkrankungsformen eine mehr selbstständige 
Stellung zu geben gezwungen war. Es giebt, wie ich in einem 
früheren Vortrage*) ausgefUhrt habe, kaum je eine reine (func¬ 
tioneile) Störung des Darmchemismus, welche nicht bei längerer 
Dauer zu katarrhalischen Processen der Darmwand führt. Ich 
habe deshalb die Bezeichung des primären dyspeptischen Ka¬ 
tarrhs eingeführt und begreiflicherweise war ich an der Hand 
der schweren anatomischen Läsionen, welche man bei den Cholera¬ 
attaquen findet, gezwungen, auch diese als Katarrhus acutissimus 
von den rein functioneilen Störungen loszulösen. Auf der anderen 
Seite behaupten die echt enteritischen Processe, wegen der früh¬ 
zeitigen, ja vielfach primären Läsionen des Follikelapparates 
und der besonderen klinischen Symptome, mit welchen sie ein- 
sctzen und verlaufen, eine mehr selbstständige Stellung. So 
kann man an der Hand der Erfahrung und ohne den Verhält¬ 
nissen Zwang anzuthun, 3 Haupttypen der Erkrankungsformen, 
welche mit Diarrhoecn einhergehen, unterscheiden: 

1. die functionelle Störung = Dyspepsie; 

2. die katarrhalischen Erkrankungsformen von dem primären 
dyspeptischen Katarrh bis zur Cholera infantum und ein¬ 
schliesslich des chronischen Darmkatarrhes; 

3. die folliculären Erkrankungen des Darmtractus, Enteritis 
bis zur schweren dysenterischen Affection. 

Die früher als Atrophie bezeichneten Erkrankungen möchte 
ich vorläufig ausser Augen lassen. Mit dem weiteren Studium 
derselben noch beschäftigt, werde ich mir erlauben, später auf 
diese Gruppe besonders zurückzukommen. 

Sie werden verstehen, m. H., dass eine stricte und ganz 
consequente Trennung dieser drei Ilaupttypen in der Praxis nur 
in soweit angängig ist, wie die Natur überhaupt derartig künst¬ 
liche Scheidungen gestattet. Ebenso wenig wie es eine länger 
dauernde Dyspepsie mit gestörtem Chemismus giebt ohne katar¬ 
rhalische Veränderung des Darmes, giebt es auch wohl keinen 
sehr acuten oder gar länger dauernden Katarrh mit reichlichen 
Ausscheidungen ohne Mitbetheiligung des Follikelapparates des 
Darmes. Thatsächlich findet man ja am Darm von Kindern, 
welche an enteritischen Processen unter intensiveren, insbeson¬ 
dere länger hingeschleppten Diarrhoeen gestorben sind, schwere 
katarrhalische Veränderungen mit Follikel Veränderungen vereinigt; 
worauf es mir ankommt, ist, dass mit der Bezeichnung das Pri¬ 
märe und das eigentliche Bedeutsame des Processes angedeutet 
werden soll. 

Klinisch unterscheiden sich die extremen Vertreter der beiden 
Typen — hier die Cholera infantum für den Katarrh, dort die 
Dysenterie für die Folliculitis — ganz und gar von einander, 
so dass man sie sicher nicht verwechseln wird. Die Schwierig¬ 
keit der Differentialdiagnose ist nur in den Uebergangsformen 


1) Baginsky, Jahrb. f. Kinderheilkunde 1875. 

2) Baginsky, Deutsche med. Wochenschrift 1888, No. 21, 22. 


23 

vorhanden. Dies ist aber deshalb der Fall, weil thatsächlich 
Mischformen bestehen, wie sich beispielsweise im Choleratyphoid 
fast immer die Folliculitis zur ursprünglichen Erkrankung hinzu¬ 
gesellt. Weiter kann ich in die klinischen Details dieser Ver¬ 
hältnisse begreiflicherweise an dieser Stelle nicht eingehen und 
verweise deshalb auf die in meinem Lehrbuche 1 2 ) und in den 
früheren Arbeiten gegebenen Schilderungen. 

Was das rein Anatomische betrifft, so gestatten Sie wohl 
die Vorführung einiger mikroskopischer Präparate, welche die 
angedeuteten Verhältnisse erläutern mögen*). 

Fig. 1 lässt die Veränderungen des primären dyspeptischen 
Katarrhs erkennen. Reichliche Auflagerung von Schleimmassen 
auf der Schleimhaut des Magens; Anhäufung von Rundzellen auf 
der Oberfläche eingebettet in Schleim und das Ganze durchsetzt 
mit Bacterienhanfen. Rundzellen im interstitiellen Gewebe des 
DrUsenlagers der Schleimhaut. 

Fig. 2 giebt in stärkerer Vergrösserung die schweren Vcr- 

Fig. 1. 




cs 

o» 




änderungen des Epithels und der Zellenlagen in den Lieb er¬ 
kühn’sehen bei der Brechruhr wieder. Verquellung der Epithel¬ 
zellen bis zur schleimigen Auflösung, wie ich solche früher schon 3 ) 
beschrieben und hier in Präparaten mehrfach demonstrirt habe. 

1) Baginsky, Lehrbuch der Kinderkrankheiten S. 774 u. ff. — idem: 
Verdauungskrankheiten der Kinder. Tübingen 1884. M. H. Laupp. 

2) Die beistehenden Zeichnungen sind nur eine ganz kleine Auswahl 
aus den im Vortrage mittelst Projection eorgeflihrten Präparaten. 

3) 1. c. S. 90—92. 

1 * 


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24 


BERLINER K LINISC1 IE WCM' II ENSCH RI FT. 


No. 2. 



Fig. 3 zeigt Nekrosen der Schleimhaut und Defecte, die von 
der Oberfläche tief in die Mucosa greifen. Man erkennt gleich¬ 
zeitig die Mitbetheiligung der Submucosa und auch des intersti¬ 
tiellen Gewebes der Mucosa, an beiden durch zahlreiche Kern¬ 
vermehrung und Zellwucherung sich kundgebend. 

Fig. 4 repräscntirt den echten Follikularprocess, der bis zur 
GeschwUrsbildung vorschreitet. Submucosa und Mucosa sind von 
Hämorrljagien durchsetzt und der Follikel beträchtlich vergrössert, 
ausserordentlich zellenreich,' und in der Mitte derselben Beginn 

Fig 3. 


von nekrotischem Zerfall. Hierbei ist begreiflicherweise auch die 
Mucosa und insbesondere das Drtlsenlager lebhaft betheiligt und 
schwer katarrhalisch afficirt. Indess ist dies nicht nothwendig. 
Vielmehr erkennt man in 

Fig. 5 die erhebliche Vergrösserung des Follikels mit starker 
zeitiger Infiltration bei völlig intactem Epithel. Man wird be¬ 
greiflicherweise einen derartig afficirten Darmtractus trotz wohl¬ 
erhaltenen Epithels nicht gesund nennen können. 

Dass alle diese Veränderungen nicht ablaufen können, ohne 
gleichzeitig andere Organe in Mitleidenschaft zu ziehen, kann 
als selbstverständlich betrachtet werden. Ich darf deshalb hier 
wohl nur an die nachgewiesenen Degenerationen, fettigen Zerfall 
des Leberparenchyms, des Parenchyms der Nieren u. a. er¬ 
innern (Demonstration in Projectionsbildern). 

Wenn man sich der Frage nach der Ursache dieser Erkran¬ 
kungsformen zuwendet, so kann man, wie ich in dem oben citirten 


Fig. 5. 


Vortrage auszuftthren Gelegenheit hatte, schon bei van Swieten 
auf die Vorstellung stossen, dass es sich um GährungsVorgänge 
im Darmtractus handele, welche dieselbe und das ganze klinische 
daran anknlipfende Krankheitsbild veranlassen; später haben 
Bednar, Ile noch u. A. dasselbe betont, und ich habe in 
meiner oben citirten ersten Publication direkt ausgesprochen, 
dass der ganze Process „viel Aehnliches mit einer Vergiftung 
habe“, „dass es sich um einen intensiven Fäulnissvorgang im 
Darme“ handele. Im weiteren Verlaufe der fortgesetzten Studien, 
von denen ich Gelegenheit genommen stetig hier Kenntniss zu 
geben 1 ) gelang der Nachweis, dass es sich bei den schweren 
Choleradiarrhoeen um wirkliche Intoxication handele, indem 
von Bacterien zum Theil selbstständig, zum Theil wohl aus 
den in der Nahrung vorhandenen Eiweisskörpern giftige pepton¬ 
artige Körper gebildet werden, welche eine deletäre Wirkung 
auf den Organismus ausllben. Dem Uebergange der gebildeten 
giftigen Substanzen in die Blutbahn verdanken bei der Cholera 
infantum die schweren klinischen Symptome ihre Entstehung. 

Diese Auffassung des Processes als faulige Zersetzung des 
Darminhalts unter Bildung von Giftstoffen und der schweren 
Allgemeinsymptome als toxische, fuhrt unwillkürlich zur näheren 
Beschäftigung mit den Guhrungserregem, den im Darmcanal 
hausenden Bacterien. Es liegt so nahe, flir die so erzeugten, in 
besonderen Krankheitsbildem sich abspielenden Vorgänge auch 
specifische Krankheitserreger, Bacterien von specifischem Cha¬ 
rakter vorauszusetzen, dass man a priori immer von dieser Idee 
beherrscht an das Studium gegangen ist. 

Und doch ist man durch die ^tatsächlichen Verhältnisse 
stets wieder überführt worden, dass es die saprophytären obli¬ 
gaten Dannbacterien allein sind, welche in Action treten, freilich 
unter den besonderen Verhältnissen des Sommerklimas besondere 
Wirkungen entfaltend. So haben ebenso wie ich*) auch Boo- 
ker 3 ), Jeffries 4 ) nicht die Ueberzeugung von der Anwesenheit 
und Wirksamkeit specifischer Mikroorganismen gewinnen können. 

Freilich ist hier immer vorausgesetzt, dass nicht Krankheits- 
formen ins Auge gefasst werden, die abweichend von den in 
Rede stehenden, etwa endemisch an irgend einer geschlossenen 
Stelle, einer Anstalt oder dergl., zu Tage kommen. Für diese 
letzteren ist die Anwesenheit und Wirksamkeit von specifischcn 
Krankheitserregern keineswegs ausgeschlossen. 


1) Baginsky, Bert. klin. Wochenschrift 1889, No. 16, und Archiv 
für Kinderheilkunde, Bd. 12. 

2) Baginsky, Archiv für Kinderheilkunde Bd. 12, 1891. 

3) Booker, Transactions of the international medical Congress 1887. 
Vol. III. 

4) J. A. Jeffries, Archives of pediatrics 1889—1890. — Auch 
Sep.-Abdr. 


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11. Januar 1897. 


BERLINHK KLINISCHE WOCIIHN8(’1IB1 FT. 


Die Kenntniss der Darmbacterien ist uns durch Esche- 
rich’s‘) Arbeiten erschlossen worden. Abgesehen von einzelnen 
sporadisch auftretenden Bacterien sind B. coli und B. lactis als 
die eigentlichen Darmbacterien in wohlcharakterisirten Typen 
von Esche rieh beschrieben. So ähnlich beide Formen auch 
unter Umständen einander werden können, so lassen sie sich 
fUr gewöhnlich doch in der Cultur und in ihrem biologischen 
Verhalten unterscheiden. Freilich ist B. coli zunächst als so 
mannigfach variirend beschrieben worden, dass man kaum mehr 
anders als von der Gruppe des B. coli sprechen kann. Insbe¬ 
sondere wichtig sind die in der Literatur vielfach abgehandelten 
virulenten Eigenschaften geworden, welche B. coli annehmen 
kann. Cystitis, Nephritis, Erkrankungen des Peritoneum, der 
Gallenblase, Abscesse, selbst schwerere Allgemeinerkrankungen 
sind der Invasion von virulenten B. coli zuzuschreiben, und 
täglich mehren sich die Erfahrungen auf diesem Gebiete. Es 
darf daher gewiss nicht Wunder nehmen, wenn auch bei cholera¬ 
ähnlichen diarrhoeischen Erkrankungen B. coli als hochvirulent 
gefunden wird. Die jüngste Literatur ist reich an derartigen 
Mittheilungen, von welchen ich insbesondere die von Drey. 
fus , ) } Pottien 1 2 3 ), Macaigne 4 ), Thiercelin 5 6 ), Szegö") hervor¬ 
hebe. Im Allgemeinen zeigt sich B. coli bei unseren Sommer- 
diarrhocen mit mässig virulenten Eigenschaften ausgestattet, 
wenngleich auch mir in einem Falle ein B. coli begegnet ist, 
welches sich virulenter für Thiere erwies, als wohl sonst der 
Fall ist. 

Das bacteriologische Bild der Somraerdiarrhoeen der Kinder 
ist überraschend monoton und abgesehen von einzelnen sporadi¬ 
schen Formen, die ich früher beschrieben habe, und zumeist 
auch Es che rieh schon begegnet waren (zumeist Kokken- und 
Hefeformen, auch das Bact. der rothen Milch u. s. w.), findet 
man fast immer nur 3 Formen, das erwähnte typische Bact. 
coli, Bact. lactis und das von mir als weisses, verflüssigendes 
beschriebene Bacterium, welches augenscheinlich der Proteus¬ 
gruppe zugehört. Zumeist findet man im Anfänge des Processes 
alle 8 Formen nebeneinander, allenfalls Bact. coli vorherrschend. 
In dem Maasse, als der Process sich hinzuschleppen beginnt, 
das typhoide Stadium mit Sklerem ein tritt und die Symptome 
folliculärcr Mitbetheiligung in eitrig-blutigen Fäces sich mar- 
kiren, tritt Bact. coli zumeist etwas zurück, so zwar, dass ent¬ 
weder Bact. lactis allein, oder in Gemeinsamkeit mit der Pro¬ 
teusform in der Cultur hervortreten. 

Bact. lactis ist von Escherich und sodann auch von mir 
früher so genau studirt, dass wir sichere Grundlagen für die Beur- 
theilung vor uns haben. Ich darf hier besonders auf die von 
Escherich gegebene Feststellung des culturellen Verhaltens 
(S. 57) verweisen. Wir finden an unserem bei den Diarrhoeen 
in grösserer Häufigkeit auftretenden Bacterium genau das für 
Bact. lactis festgestellte und auch von mir früher constatirte 
Verhalten des Wachsthums in runden, weissen, gewölbten, 
saftigen, kuppenförmigen Colonien (besser vielleicht kuppelförmig) 
auf der Gelatineplatte. Das Wachsthum unter Gasbildung in 


1) Th. Escherich, Die Darmbacterien des Säuglings. Bei Ferd. 
Encke. 1886. 

2) Robert Dreyfus, Schwankungen in der Virulenz des B. coli. 
Inaug.-Dissert. 189-1. 

3) Pottien, Drei Fälle von Cholera nostras. Zeitschr. f. Hygiene. 
Bd. 22. 

4) Macaigne, Le bacterium coli. These de Paris 1892. 

5) Thiercelin, De l'infection gastro-intestinale chez l’enfant nou¬ 
veau. These de Paris 1894. 

6) Koloman Szegö, Pester med.-chirurg. Archiv 1896, No. 40.— 
Vergl. auch das umfassende Literaturverzeichniss in dem jüngst erschie¬ 
nenen Artikel von Rudolf Fischl, Infections septiques. Decbr. 1896. 


25 

der Gelatine, als weisser saftiger Belag mit Bildung von Gas¬ 
blasen auf der Kartoffel. Wachsthum mit Häutchenbildung auf 
Bouillon; Entfärbung nach Gramm. Ebenso deckt sich unser 
Bacterium mit Bact. lactis in seinem biologisch-chemischen 
Verhalten. Ich habe dasselbe früher in einer besonderen Ab¬ 
handlung 1 ) und auch in einem an dieser Stelle gehaltenen Vor¬ 
trage geschildert und darf w r ohl daran erinnern, dass es sich 
vor Allem durch Bildung grosser Mengen von Essigsäure und 
Kohlensäure aus Milchzucker auszeichnet, so sehr, dass ich mich 
veranlasst fand, für das Bacterium statt des sonst schon ver¬ 
gebenen Namens Bact. lactis den Namen Bact. aceticum einzu- 
füliren. Neben Essigsäure und Kohlensäure kommen jodoform- 
bildende Substanz und auch Wasserstoff und Methan bei der 
Vergährung des Milchzuckers zum Vorschein. Alles dies, mit 
Ausnahme des Methan, welches nicht aufgefunden wurde, fand 
sich bei den Vergährungsversuchen des Milchzuckers durch das 
von uns neuerdings gezüchtete und geprüfte Bacterium wieder. 
Die Durchführung der Versuche wurde von mir meinem Assi¬ 
stenten Herrn Dr. chem. Sommerfeld übertragen, in der Ab¬ 
sicht, eine Controle Uber meine früheren Versuche zu üben. Ab¬ 
gesehen übrigens von der mir kurz zugemessenen Zeit durfte 
von der speciell vorgebildeten Technik des Chemikers von Fach 
eine grössere Sicherheit der Ergebnisse erhofft werden. 

Die mit unserem als Bact. lactis angesprochenen Bacterium 
vorgenommenen biologisch-chemischen Untersuchungen ergaben, 
dass dasselbe unter stürmischer Gasentwickelung eine Gährung 
des Milchzuckers einleitet. Das Gas bestand aus Kohlensäure 
und Wasserstoff. Methan fehlte. Als weitere Zersetzungs- 
producte wurden besonders reiche Mengen von Essigsäure, weniger, 
aber doch vorhanden, Milchsäure, Bern st einsäure, jodoform¬ 
bildende Substanz (ob Aceton?) und auch höhere Fett¬ 
säuren gefunden. Das Verhalten ist also, wenn man von der 
vielleicht durch die geschicktere chemische Untersuchung neu 
gefundenen Bernsteinsäure und den höheren Fettsäuren absieht, 
durchaus analog demjenigen, welches von mir von B. lactis 
constatirt war. Insbesondere war beiden die Erzeugung reicher 
Mengen von Essigsäure eigentümlich. Die Details der Unter¬ 
suchung werden demnächst im Archiv für. Kinderheilkunde 
veröffentlicht werden. — Bei diesem Gleichverhalten in cultu- 
reller und biologischer Beziehung kann sonach kein Zweifel 
darüber sein, dass dasjenige Bacterium, welches bei den 
diarrhoeischen Erkrankungen in den Vordergrund treten kann, 
mit B. lactis identisch ist. Es ist dies eine um deswillen 
wichtige Thatsachc, weil das Bacterium in manchen Fällen auch 
besonders feucht und saftig und in grösseren weissen Colonien, 
gleichsam auseinanderfliessend auf der sonst festbleibenden 
Gelatine auftritt. In diesen zumeist längere Zeit hingeschleppten 
Fällen gelang es auch mehrfach B. lactis im Verein mit Bact. 
coli und der Proteusform, aus den Nieren der gestorbenen Kinder 
zu züchten. 4 Fälle waren darunter mit eitriger Pyelonephritis 
und tödtlichem Ausgange, 1 Fall, der sehr langsam und schlep¬ 
pend verlief, aber geheilt entlassen werden konnte Man er¬ 
kannte also hier am B. lactis die, so weitmir bekannt, bisher bei 
ihm nicht beobachtete Eigenschaft, in die Gewebe einzudringen und 
dort vielleicht besonders virulente Fähigkeiten anzunehmen. That- 
sächlicli gelang es gelegentlich, einige dieser Culturen von B. lactis 
zu züchten, welche auch auf Mäuse verfuttert, rasch tödtliche Wir¬ 
kung ausübten. Die Mäuse starben unter enteritischen Sym¬ 
ptomen. Ich war schon im Jahre 1887 auf ein gleich virulentes 
B. lactis gestossen, ohne indess bei der sonst nicht hervor¬ 
getretenen Virulenz des Bacterium auf diesen einzelnen Befund 


1) Baginsky, Zar Biologie der normalen Milchkothbacterien. Zeit¬ 
schrift für physiologische Chemie. Bd. 12. 


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BEHLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 2. 


Gewicht gelegt zu haben; ich habe mich eher zu der Auffassung 
hingeneigt, dass B. lact. durch die reichliche Säurebildung bei 
der Vergähruug des Milchzuckers im Stande sei, der faulig 
alkalischen Gährung des Darminhaltes das Gegengewicht zu 
halten, und so eher nützlich als schädlich zu wirken. Auch bei 
den diesjährigen Untersuchungen trat diese so beobachtete Viru¬ 
lenz nur in vereinzelten Fällen hervor. Von der grössten Mehr¬ 
zahl der Fälle konnte B. lactis nur in der bei der VerfUtterung 
nichtvirulenten Form gewonnen werden. Es gelang auch nicht, 
aus den vergohrenen Culturflüssigkeiten eine toxische Substanz 
zu gewinnen, vielmehr fand sich ebenso wie bei B. coli, wenn 
Culturen in Bouillon angelegt waren, nur Indol, Schwefelwasser¬ 
stoff und Ammoniak. Dem gegenüber erwiesen sich die mit 
Chloroform abgetüdteten Bacterienleiber sowohl beim Verfüttern 
als auch bei subcutaner Darreichung für Mäuse tödtlich. Nach 
allen diesen Erfahrungen muss man annehmen, dass in verein¬ 
zelten Fällen von Durchfall auch B. lactis ebenso wie B. coli 
virulente Eigenschaften acquiriren kann. 

Von dem dritten der stetig auftretenden Bacterien, welches 
ich früher als weissen, verflüssigenden Bacillus beschrieben habe, 
und der seinem ganzen Verhalten nach als energischer Erreger 
fauliger Zersetzung wohl der Proteusgruppe angehört, wenn er 
nicht mit gar Proteus vulgaris identisch ist, waren wir im Stande, 
aus der Culturflüssigkeit für Thiere energisch tödtlich wirkende 
toxische Substanzen zu gewinnen, und so neuerdings die schon 
früher von mir im Verein mit Stadthagen 1 ) festgestellte That- 
sache zu bestätigen. 

Während dies, wie hervorgehoben, diejenigen Bacterien 
sind, die geradezu monoton bei den Durchfallskrankheiten 
wiederkehren, begegnete mir nun bei 4 als schwere exquisite 
Enteritis follicularis anzusprechenden Fällen mit blutig eitrigen 
Stuhlgängen und rapid tödtlichem Ausgang, neben den anderen 
3 Bacterienformen ein Bacillus, welcher einen grünen Farbstoff 
bildete und der culturell Eigenschaften hatte, welche ihn mit 
höchster Wahrscheinlichkeit als B. pyocyaneus kennzeichneten. 
Auch dieses Bacterium erwies sich im chemisch-biologischen Ver¬ 
such als exquisiter Erreger fauliger Gährung. Die zuletzt erwähnten 
Fälle, welche sämmtlich neben einander in einer Baracke des 
Krankenhauses lagen, dürfen als Beweis für die Thatsache gelten, 
dass unter besonderen Umständen besondere Krankheitserreger 
zur Geltung kommen und nichts unrichtiger ist, als alle diarrhoischen 
Krankheitsformen auf dieselben Ursachen zurückführen zu wollen. 
Alles in Allem aber haben nun auch die erneuten Untersuchungen er¬ 
wiesen, dass nicht besondere specifische Mikroorganismen 
bei den gewöhnlichen katarrhalischen Sommerdiarrhoen 
und den daran sich anschliessenden echten folli- 
culären Enteritisformen zur Wirkung kommen, son¬ 
dern dass es die obligaten, im Darmtractus hausen¬ 
den saprophytären Mikroben sind, welche unter dem 
Einflüsse der hohen Sommertemperatur und vielleicht 
auch anderen besonderen, bisher nicht völlig bekann¬ 
ten Verhältnissen virulente Eigenschaften zu acqui¬ 
riren im Stande sind. 

Bedeutungsvoll für die ganze Pathologie der diarrhoeischen 
Erkrankungsformen ist weiterhin die Frage geworden, in wie weit 
die Mikroorganismen durch die Invasion in die Blutbahn zur 
Allgemeinininfection der befallenen Kranken führen. Es ist ur¬ 
sprünglich und schon gelegentlich der Naturforscherversammlung 
in Breslau im Jahre 1875 von Ritter v. Rittershein die These 
aufgestellt worden, dass die Durchfallskrankheiten nur der Aus¬ 
druck einer allgemeinen Sepsis bei den Kindern sei, was in der 


1) A. ßaginsky und M. Stadthagen: Ueber giftige Produkte 
saprogener Darmbacterien. Berl. klin. Wochenschrift 1890, No. 18. 


bacteriologisclien Ausdrucksweise etwa dem gleichkäme, dass 
die Diarrhoeen durch eine Invasion von Mikroben in die Blutbahn 
erzeugt werden. Untersuchungen französischer Autoren unter 
Leitung von Sevestre, so von Marfan') und Marot, Nanu, 
Gaston und Renard u. A. haben, wiewohl sie sich nur auf 
Leichen erstreckten, diese Anschauung insoweit zu stützen ver¬ 
mocht, als typische Darmbacterien aus dem Blute gezüchtet 
wurden und neuerdings ist unter Epstein's Leitung die ursprüng¬ 
lich von v. Ritter ausgesprochene Idee weiter cultivirt worden. 
Dieselbe hat insbesondere in einer umfassenden Arbeit von Czerny 
und Moser eine eingehende Darstellung erfahren, hier unter 
gleichzeitiger Durchführung von bacteriologisclien Blutunter¬ 
suchungen an lebenden Kindern. Gegenüber dieser letzten 
Publication hat schon Fischl, welcher das Prager Kranken¬ 
material genau kennt, auf das Fehlerhafte hingewiesen, die in 
der Prager Findelanstalt gemachten Beobachtungen für die Durch¬ 
fallskrankheiten, insbesondere die Sommerdiarrhoeen, zu verallge¬ 
meinern. Es konnte indess bei der augenblicklichen Sachlage 
die Frage auch für uns nicht umgangen werden, in wie weit 
bei unseren sommerlichen Durchfallskrankheiten Allgemeininfection 
und speziell bacterielle Invasion zu Stande kommt. Das Auftreten 
von Pyelitis bei Brechruhr ist von mir schon seit Langem be¬ 
schrieben, Vereiterungen der Nieren sind mir früher schon mehr¬ 
fach, in diesem Jahre unter den beobachteten Fällen 4 mal begegnet. 
Vielfach sind uns Pneumonien begegnet und auch diese sind 
von den erwähnten Autoren als echt (septische) embolische an¬ 
gesprochen worden. Es muss nun erwähnt werden, dass dem 
gegenüber selbst mehrfach unternommene Blutuntersuchungen 
nahezu ergebnislos waren. Unter 18 von uns sorglichst unter¬ 
suchten Fällen hatten 14 steriles Blut; in 4 Fällen fanden 
sich einzelne Kokkencolonien, die indess bei der erneuten 
Untersuchung wieder fehlten. Unter solchen Verhältnissen können 
die von französischen Autoren gegebenen Befunde um so weniger 
massgebend erscheinen, als sie an Leichen gemacht sind und 
bekannt ist, dass eine gleichsam cadaveröse Invasion von B. col. 
schon während des agonalen Stadiums der sterbenden Kinder 
stattfindet. Was aber die Befunde in Nieren betrifft, so ergiebt 
die sorgfältige Untersuchung der Pyelitis und Pyelonephritisfälle, 
dass die Bacterien nur in den Harnkanälchen gelagert sind; nirgends 
sieht man etwa Embolieen, wie man ihnen sonst beispielsweise bei 
Invasion durch Streptokokken begegnet; selten nur findet man 
Bacterien in der Bowmann'schen Kapsel an der Glomeruli. Es 
handelt sich also um eine Invasion von Bacterien, entweder rein 
zufällig auf dem Wege von den Ilarnwegen aus, oder allenfalls 
durch die Lymphbahnen. — In den Lungen beobachtet man in 
gleicher Weise nur in dem eigentlichen Parenchym und in den 
Bronchien grosse Mengen von Bacterien, nur ganz vereinzelt hin 
und wieder auch ein Bacterium in einem Blutgefäss, indess ist 
keine Rede von embolischen Infarcten, die etwa zu Pneumonien 
Anlass geben könnten. Ueberdies sind die Mehrzahl der aus 
den Lungen zu züchtenden Bacterien sicherlich nur seltenere Gäste 
im Darmtractus. Man findet zumeist Streptokokken, den Diplo- 
coccus, und nur in vereinzelten Fällen B. coli. Das Gleiche gilt 
für die so häufig auftretende Otitis media. Auch hier herrscht 
der Diplococcus-Fraenkel vor. Es sind also für die Annahme 
einer Invasion von septisch wirkenden Darmbacterien in die 
Blutbahn bestimmte und sichere Anhaltspunkte nicht vorhanden 
— wenigstens sicherlich nicht für das Gros der Fälle, wenn¬ 
gleich zugegeben werden kann, dass in vereinzelten Fällen, und 


1) Marfan und Nanu: Revue mensuelle des maladis de Tenfant« 
1892. — Gaston und Renard: La Presse mcdieale 1892. — Marfan 
und Marot: Revue menBuelle des maladis de l’enfant 1898. — Marfan: 
La Presse medicale 1895. 


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11. Januar 1H‘»7. 


BERLINER KLINISCHE WOGHENSf’IIRIFT. 


27 


besonders bei intensiverer Geschwlirbildung im Darm auch wohl 
einmal ein Einbruch von Bacterien in die Blutbahn erfolgen 
kann. So habe ich in einem Falle, den ich demonstriren kann 
(Demonstration), sogar Soorinfarct in der Niere gesehen, bei 
einem Kinde, welches an einer ganz ausgebreiteten nekrotisi- 
renden Sooraffection der Oesophagus gelitten hatte. 

Man findet also bei den Kindern eine gewisse Empfänglich¬ 
keit fUr den Angriff von Mikroben in den verschiedensten Or¬ 
ganen, und man hat es hier mit einer Art von verminderter 
Resistenz des Organismus zu thun, die man, freilich in etwas 
anderem Sinne als Liebreich es sich vorstellt, als Nosoparasi- 
tismus bezeichnen könnte. 

Ueberblickt man das Ganze, so lassen sich folgende Sätze 
aufstellen. 

1. Die im Anschluss an die erhöhte Sommertem¬ 
peratur auftretenden diarrhoeischen Erkrankungen 
der Kinder stellen sich anfänglich wohl als functio¬ 
neile (chemische) Störungen, im weiteren Verlaufe als 
mit schweren Läsionen der Darmwand einhergehende 
Prozesse dar, bei welchen nicht spezifische, sondern 
die vulgären (saprophytischen) Bacterien des Darm¬ 
inhalts als Krankheitserreger wirken. 

2. Diese Bacterien schädigen durch Produkte der 
Fäulniss ungiftiger oder meist giftiger Natur (Ammo¬ 
niak und dessen Abkömmlinge), indem sie als Ent- 
zllndungserreger wirken, die Darmwand, oder sie 
bringen von den Blut- und Lymphbahneu aus die ve¬ 
getativen und die wichtigsten Ausscheidungsorgane 
(Leber, Niere etc.) zum Zerfall. 

3. Durch die so geschaffene Beeinträchtigung der 
Ernährung und die verminderte Widerstandsfähigkeit 
der Gewebe wird der Organismus aber auch der Inva¬ 
sion feindlicher Mikroben aller Art Preis gegeben 
(Staphylococcus, Streptococcus, Pneumococcus, Soor 
u. s. w.). Es entsteht eine in mannigfachen Complica- 
tionen sich äussernde Disposition zu Erkrankungen. 


III. Zur Frage der Catgutsterilisation. 

Von 

Dr. R. Schaeffer, Berlin. 

In einer in der Berl. Klin. Wochenschrift d. J. No. 30—34 
erschienenen Arbeit hatte ich eine Methode zur Sterilisirung des 
Catgut angegeben (85 Alkohol absolutus, 15 Aqua destillata, 
0,5 Sublimat) und die bisherigen, namentlich die neueren Metho¬ 
den der Catgutpräparation einer Nachprüfung und Kritik unter¬ 
zogen. Da ein Jeder, der die Erfindung eines Anderen kritisirt, 
darauf gefasst sein muss, seinerseits angegriffen zu werden, so 
sind auch mir eine Reihe von Erwiderungen zu Theil geworden.') 
Meine Methode war hervorgegangen aus dem Saul’sehen Ver¬ 
fahren, welcher Milzbrandsporen als Testobject wählte und be¬ 
hauptete, dass ein 5—7 Minuten langes Kochen derselben in 
seiner Lösung (85 Alkohol absolutus, 10 Wasser, 5 Carbol- 
säure) genüge, um ein sicheres Abtödten derselben zu erzielen. 
Demgegenüber habe ich gefunden, dass die Saul’sehe Lösung 


1) Saul: Zur Catgatfrage: Berl. klin. Wochenschrift 1896, No. 42- 
— Hofmeister: Ueber Catgutsterilisation. Beiträge zur klin. Chirurgie, 
Bd. 15, Heft 8 und Berl. klin. Wochenschrift 1896, No. 42. — Kos 8- 
mann: Ueber steriles Catgut. Berliner klinische Wochenschrift 1896 
No 89. 


selbst bei 25 Minuten langem Kochen meine Milzbrandsporen 
nicht abzutödten vermochte. Als Erklärungsversuch für diese 
Verschiedenheit im Befunde hatte ich angegeben, dass Saul 
1) die Fäden direkt aus der antiseptischen Lösung auf Bouillon 
übertragen hatte, ohne durch Abspülcn im Wasser die Spuren 
des Antisepticums entfernt zu haben, 2) dass seine Herstellungs¬ 
art der Milzbrandculturen zwar Bacillen aber keine Sporen 
garantirt und 3) dass er vielleicht sehr wenig resistente Milz¬ 
brandsporen zur Verfügung hatte. Letzterer Grund war von 
vornherein wenig wahrscheinlich, da meine Bacillen 8 Jahre lang 
ausserhalb des Thierkörpers auf künstlichem Nährboden ge¬ 
züchtet waren (also voraussichtlich keine besondere Resistenz 
mehr aufwiesen), während Saul 4 Sorten Anthrax von ver¬ 
schiedener Herkunft benutzt hatte. 

Da nun Prof. v. Bergmann in der Sitzung der Berl. med. 
Gesellschaft (Berl. klin. Wochenschrift No. 25) an der Vorzüg¬ 
lichkeit des Sa ul’sehen Catgut festhielt, und Herr Saul mich 
persönlich bat, eine nochmalige Nachuntersuchung vorzunehmen, 
um festzustellen, auf welche Weise sich unsere verschiedenen 
Ergebnisse erklären Hessen, nahm ich die Untersuchung noch 
einmal auf. Ich hatte meine früheren Versuche mit der Säui¬ 
schen Lösung in einem in ein Wasserbad gesetzten Glasgefäss 
vorgenommen und die Milzbrandseidenfäden in ein loses Filtrir- 
papiercouvert eingeschlagen. Auf Saul’s Einsprache hiergegen 
ahmte ich seine Versuchsanordnung genau nach, indem ich das 
Kochen der Saul’sehen Lösung in einem Metallgefäss auf offenem 
Feuer vornahm und die Fäden in ein Drahtnetz that und mit 
diesem in die Flüssigkeit versenkte. Nur die eine Abände,- 
rung nahm ich vor, dass ich sowohl das Metallgefäss 
wie das Drahtnetz aus NickelVählte, weil bei Benutzung 
von Kupfer oder Blech sich durch die Berührung mit der Carbol- 
säurelösung Metalloxyde bilden, welche sehr wohl eine beschleu¬ 
nigte Abtödtung der Sporen bewirken können. Da Saul auf 
diese (jedenfalls mögliche) Wirkung dadurch verzichtet hat, dass 
er neuerdings seinen Apparat vernickelt hersteilen lässt, um 
ihn nicht durch die starke Grünspanbildung, Uber die man früher 
zu klagen hatte, zu discreditiren, so entsprach die von mir jetzt 
gewählte Versuchsanordnung den Saul’sehen Intentionen durch¬ 
aus. Das Ergebniss war nun, dass es vollständig gleichgiltig 
war, ob ich im Metallgefäss und im Nickeldrahtkorb oder wie 
früher im Glasgefäss mit Papiercouvert meine Fäden kochte. 
Nach 25 Minuten Kochen in der Saul’sehen Lösung gingen die 
Milzbrandsporen an! Während ich bei meinen früheren Ver¬ 
suchen (aus BequemlichkeitsrUcksichten) die Sa ul’sehe Lösung 
nach Volumenprocenten gemischt hatte, d. h. 85 CCül Alk., 
10 CCOI H,0, 5 CCm Karbolsäure, ging ich jetzt — ebenfalls 
durch Saul angeregt — dazu Uber, seine Lösung seiner Vor¬ 
schrift gemäss nach Gewichtsprocenten zu mischen. Ich nahm 
also 85 gr Alkohol absolutus, 10 gr H,0 und 5 gr Carbolsäure. 
wie von vom herein zu erwarten, war der desinfektorische Erfolg 
hier noch geringer, da das Uebergewicht des Alkohols Uber das 
Wasser hier ein grösseres ist. Nach 25 Minuten Kochen 
waren sämmtliche Fäden fast ohne jede Wachsthums¬ 
verlangsamung bereits am nächsten Tage gewachsen, 
so dass ich nicht den mindesten Zweifel habe, dass die Sporen 
auch nach 30 und mehr Minuten noch angehen würden. Die 
Feststellung der definitiven Abtödtung lag vollständig ausser dem 
Rahmen meiner Versuche. 

Zur Erklärung unserer verschiedenen Resultate hatte ich 
oben geltend gemacht (unter No. 1), dass die direkte Verimpfung 
auf den Nährboden seitens Saul’s die Ursache seiner schnellen 
Abtödtung sein könnte. Eine Nachprüfung ergab mir aber, dass 
Fäden, die 17 Minuten in der Saul’scheu Lösung gekocht waren, 
gleich gut wuchsen, mochten sie nun direkt verimpft, oder erst, 

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wie es sich gehört, gründlich ausgewässert sein. Wenn auch mit 
diesem Versuche die Frage nach der Bedeutung der Auswaschung 
von Carboisäurespuren noch nicht gelöst ist, so ist doch klar, 
dass in diesem Punkte der Unterschied unserer Ergebnisse nicht 
beruhen kann. 

Derselbe schreibt sich vielmehr lediglich aus der 
Herstellungsart der Milzbrandsporen her. Saul hat 
eben nicht mit Milzbrandsporen, sondern wesentlich mit Milz¬ 
brandbacillen gearbeitet, wie es sowohl aus seiner ersten 
Arbeit, wie aus seiner Veröffentlichung klar hervorgeht. Saul 
cultivirtc seinen Milzbrand in Bouillonröhrchen, in denen sich zwar 
Milzbrandbacillen prachtvoll entwickeln, Milzbrandsporen aber 
nur vereinzelt und unsicher sich finden. Um Uber diesen Punkt 
autoritative Auskunft zu erhalten, wandte ich mich an Professor 
Karl Fränkel in Halle und erhielt folgende Mittheilung: 

„. . . . Du ersiehst daraus, dass ich entgegen meinen 
früheren Anschauungen in der Züchtung bei Blutwärine ein 
Hinderniss für die Fructification der Milzbrandbacillen nicht 
mehr erblicke; wohl aber ist die Cultur in Bouillon¬ 
röhrchen an und für sich ganz ungeeignet, wenn man 
Sporen erzielen will. Die Milzbraudfäden haben bekanntlich 
die Neigung, sich in Flocken und Bündeln zusammenzuballen, 
sinken deshalb zu Boden und werden dem Einfluss des Sauer¬ 
stoffs entzogen. Gewöhnlich findet man deshalb in Bouillon¬ 
röhrchen entweder überhaupt keine oder doch nur wenig zahl¬ 
reiche Sporen . . . Behufs genügender Zufuhr von Sauerstoff 
empfehle ich besondere Oberflächencultur auf Kartoffelscheiben 
•der schrägem Agar ! , während umgekehrt in Bouillion röhren 
aus dem gleichen Grunde die Sporenbildung häufig ganz aus¬ 
bleibt oder sich doch nur spärlich und mühsam vollzieht.“ 

Meine eigenen auf Grund dieser Mittheilungen angestellten 
Versuche lassen mich Ihre volle Richtigkeit bestätigen. In den 
mikroskopischen Präparaten, die man von Schräg Agar-Gläsern 
oder Kartoffelscheiben herstellt, sieht man bereits am 3. Tage 
ganze Rasen von Sporen, während aus Bouillonröhrchen sich 
selbst nach 10 Tagen nur ganz vereinzelte Sporen nachweisen 
lassen. 

Es mag an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass die Imprägni- 
rung von 8eiden(Oatgut-)fäden mit Milzbrandsporen grosse Sorgfalt ver¬ 
langt. Namentlich muss verhindert werden, dass die auf die Fädchen 
gegossene Sporenemulsion noch nachträglich zu Bacillen auskeimt. Man 
verhindert dies am besten, indem man das Eintrocknen der Emulsion an 
die Fädchen bei möglichst kühler Temperatur vor sich geben lässt. 

Den direkten Beweis aber, dass der Fehler Saul's in der 
That in der Herstellungsart seines Sporenmaterials lag, suchte 
ich dadurch zu führen, dass ich die von Saul selbst benutzten 
Anthraxsorten — nach Herstellung vorschriftsmässiger Sporen — 
dem Saul’sehen Verfahren unterwarf. Die Cultur, die mir Saul 
auf mein wiederholtes Ersuchen als eine seiner Anthraxsorten 
persönlich übergab, zeigte nun genau dieselbe, ja scheinbar eine 
höhere Resistenz als meine eigene. Wenigstens wuchsen die 
Sporen nach 25 Minuten Kochen in Saul’scher Lösung noch so 
lebhaft, dass sich erkennen liess, wie die Grenze der Abtödtung 
bei Weitem noch nicht erreicht war. Nachdem ich die vor¬ 
liegende Veröffentlichung daraufhin geschrieben und zahlreichen 
Collegen meine Resultate mit dem Saul’sehen Anthrax mitge- 
theilt hatte, erhalte ich etwa 5 Wochen später von Herrn Saul 
die Mittheilung, dass die mir von ihm übergebene Cultur 
gar nicht sein eigener — sondern mein Anthrax (den ich 
einige Wochen vorher Herrn Saul zur Nachprüfung bereit¬ 
willigst überlassen hatte) gewesen wäre! 

Natürlich interessirt dieser „kleine Scherz“, wie Herr Saul 
euphemistisch seine Handlungsweise nennt, die Oeffentlichkeit 
wenig. Jedoch wirft dieser „kleine Scherz“ und die absicht¬ 
liche Verweigerung seines Versuchsmaterials auf den 


No. 2._ 

wissenschaftlichen Ernst des Herrn Saul ein so eigenartiges 
Licht, dass die öffentliche Feststellung dieser Thatsachen denn 
doch geboten erscheint. 

Da mir die Nachprüfung des Sa ul'sehen Anthrax unmög¬ 
lich gemacht war, prüfte ich noch eine zweite Milzbrandsorte, 
welche mir von Hofmeister (Tübingen) freundlichst zur Ver¬ 
fügung gestellt war: Nach 22 Minuten Kochen in Saul’scher 
Lösung gingen die — richtig präparirten — Milzbrandsporen¬ 
fäden an. Höhere Zeitwerthe wurden nicht geprüft. 

Auf Grund meiner wiederholten, an eigenen, an den Pseudo- 
Saul'sehen und an den Ilofmeister’schen Milzbrandsporen 
unternommenen Versuche bin ich also zu der Behauptung be¬ 
rechtigt, dass das Saul’schc Verfahren zur Abtödtung 
der Milzbrandsporen nicht genügt. 

Im Gegensatz dazu möchte ich an dieser Stelle betonen, 
dass meine Sublimat-Alkohol-Lösung in 5 Minuten ausnahmslos 
Milzbrandsporen abtödtete, wiewohl auf die gründliche Neutrali- 
sirung des Sublimats durch Schwefelammonium ganz besondere 
Sorgfalt verwandt wurde. 

Wenn v. Bergmann seinerzeit mittheilte, dass er seit Ein¬ 
führung des Saul’sehen Verfahrens bessere Resultate mit seinem 
Catgut habe als früher, wo er das nach ihm selbst genannte 
Verfahren anwandte, so beweist dieser Satz nur, wie wenig 
geeignet solche rein praktischen Ergebnisse zur Feststellung 
dieser Frage sind. Dass nämlich die Bergmann’sehe Sterili- 
sirungsmethode (2 -3 Tage angewandt) eine höhere desinfecto- 
ri8cbe Kraft entfaltet als das Saul'sche Verfahren, ist völlig 
zweifellos und jeden Tag einwandsfrei nachzuprüfen. Auf der 
anderen Seite ist es ganz unberechtigt, jede Eiterung, die von 
einem Catgutfaden ausgeht, auf mangelhafte Sterilisirung desselben 
zurückzuführen, da Niemand die Garantie übernehmen kann, ob 
nicht der vorher völlig sterile Faden beim Hinüberreichen vom 
einfädelnden Assistenten zum Operateur durch Gegenstreifen oder 
sonst wie inficirt worden ist. Trotz peinlichsten Aufpassens 
kommt ein solches Gegenstreifen immer mal vor. Deshalb be¬ 
weist die v. Bergmann'sche Mittheilung nichts gegen seine 
zu Gunsten der Saul'sehen Lösung. Ueber die Schwierigkeit 
des exacten Nachweises, dass eine Eiterung vom inficirten Faden 
ausgegangen sei, verweise ich auf die in meiner Arbeit aus- 
geführten Ausführungen Lauenstein’s. 

Um übrigens Saul Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, gebe 
ich gern zu, dass Staphylokokken und Streptokokken wohl ziem¬ 
lich sicher durch sein Verfahren abgetödtet werden. Unter 
vielen hunderten von Versuchen habe ich auch nicht einmal eine 
Kokken-Verunreinigung in meinen Culturgläsern gesehen. Die 
entgegenstehenden Beobachtungen Hofmeister's scheinen mir 
nicht beweiskräftig. 

Was das Hofmeister’sche Formalin-Verfahren anlangt, so 
ergreife ich gern noch einmal die Gelegenheit, zu erklären, das« 
meine ablehnende Kritik sich nur auf die in seiner ersten Publi¬ 
kation geschilderte Methode bezog und auf seine späteren Ab¬ 
änderungen nicht mehr zutrifft. Diese Abänderung besteht darin, 
dass Hofmeister später den Hauptwerth auf straffe Spannung 
der Catgutfäden legte und eine gründliche Auswaschung des 
Formalins vor Einbringung der Fäden in das kochende Wasser 
einführte. Wie ich mich persönlich überzeugen konnte, ist bei 
Anwendung dieser Vorsichtsmassregeln die Haltbarkeit auch der 
feinsten Nummern eine vorzügliche, und Uber die Aseptik der 
Fäden kann — da Hofmeister V,—1 Stunde in Wasser kocht 
— ebenfalls kein Zweifel obwalten. Jedoch hat die Methode 
gerade durch jene beiden Schutzmassregeln an Bequemlichkeit 
so viel eingebüsst, dass sie für weitere Kreise kaum empfehlens- 
werth mehr sein dürfte. 

Zunächst ist das Verfahren keine Schuelldesinfektion. 


BERLIN ER KEIN |K< 1IE W<)( IIENS« ’I IR I FT. 


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H EH LIN Kll KLI NI.SCI1 E WOl’II KNS< ’Il R1 FT. 


11. Januar 1897. 

Da Hofmeister eine nachträgliche Alkoholhärtung für noth- 
wendig erklärt, so dauert die Präparation etwa 2 Tage. Der¬ 
artige Sterilisations-Verfahren waren auch vordem bekannt. 

Die Sterilisirung in frischem Oleum juniperi, sowie in der 
v. Berg mann’sehen Lösung liefert, wenn man 2—3 Tage das 
Catgut diesen Methoden unterwirft, durchaus zuverlässige Resul¬ 
tate, wie ich in meiner Arbeit nachgewiesen habe. Beide 
Methoden sind aber erheblich bequemer als die Hofmeister’sehe, 
welche eine recht unbequeme Aufwickelung der Fäden, einen 
eigenen Rahmen zum Aufwickeln derselben, einer besonders ge¬ 
bauten Trog zur Aufbewahrung, die Verfügung fliessenden Wassers 
und eine mehrmalige Umbettung des Fadengestells erfordert. 

Dass die Fadenlänge bei Hofmeister nur 35 cm beträgt, 
eine Länge, die für Operationen in der Tiefe, z. B. bei Lapa¬ 
rotomien und vaginalen Operationen entschieden zu kurz ist, sei 
hier nur beiläufig erwähnt. Natürlich lässt sich durch Construi- 
rung eines zweiten grösseren Gestells dieser Uebelstand beseiti¬ 
gen. In welcher Weise Hofmeister einen sogenannten fort¬ 
laufenden Faden von seinem Gestell abzuwickeln vermag, ohne 
das Gestell mit den Händen anzufassen, ist aus seiner Arbeit, in 
welcher er Uber seinen Trog nichts weiter sagt, nicht ganz er¬ 
sichtlich. Auch die Verpackung des Catguts in kleine Gefässe 
zum Mitnehmen in der geburtshilflichen Tasche lässt sich ohne 
Berührung der schon sterilisirten Fäden kaum ermöglichen. 
Nimmt man aber all diese Unbequemlichkeiten mit in den Kauf, 
so ist durchaus zuzugeben, dass sich auch auf diese Weise ein 
durchaus brauchbares Catgut erreichen lässt. 

Wenn Kossmann in seiner Erwiderung auf meine Arbeit 
die unzulängliche Methode, mittelst deren er den Nachweis der 
Sterilität seines Catguts zu erbringen sucht, wiederum vertheidigt, 
so muss ihm abermals ebenso entschieden widersprochen werden. 
Die Eiterkokken an sich sind so leicht abtödtbar, dass ein 
wenige Minuten langes Einwirken von 5 pCt. Carbol oder l°/ no 
Sublimat völlig ausreicht, um sie unschädlich zu machen. Wenn 
aber die Erfahrung gezeigt hat, dass dies in der Praxis nicht 
genügt, so liegt dies daran, dass die Fett- und Eiweisshülle, 
welche die Kokken so häufig umgiebt, auch einem vielfach länger 
einwirkenden Antisepticum Widerstand zu leisten im Stande ist. 
Um ein Beispiel anzuführen, so gehören die Tuberkelbacillen 
durchaus nicht zu den sehr resistenten Bacterien, und doch er- 
ordert die Unschädlichmachung des festgetrockneten tuberculösen 
Sputums die Entfaltung einer grösseren antiseptischen Kraft als 
es die Milzbrandsporen (unter gewöhnlichen Verhältnissen) bean¬ 
spruchen. Um diese uns unbekannte, kaum taxirbare, ungeheuer 
wechselnde Grösse des Widerstandes auszuschalten, den eine 
complicirte Umhüllung der Bacterien dem Antisepticum gegen¬ 
über entfaltet, verwendet man ganz allgemein einen ausserordent¬ 
lichen rechnerischen Ueberschuss an desinfektorischer Kraft. Das 
10—20 Minuten lange Auskochen der Instrumente und Seide, 
das V,—1 stündige Sterilisiren der Verbandstoffe im strömenden 
Dampf, ferner sämmtliche der zahllosen Catgutsterilisationsver¬ 
fahren sind ein Ausdruck dieser aus der Erfahrung geschöpften, 
allgemeinen Ucberzeugung der Chirurgen. 

Hielte man eine Methode für zuverlässig, sobald sie genügt, 
um an Seiden- oder Catgutfädchen festgetrocknete Eiterkokken 
abzutödten, so würde ein winziger ßruchtheil der bei all jenen 
Verfahren angegebener Zeitdauer völlig ausreichend sein. Aus 
diesem Grunde haben sämmtliche neueren Catgutsteiilisations- 
methoden (die Trockensterilisation, die Cumolsterilisation, das 
Saul’sclie, Hofmeister’sche, Halban-Hlawazeck’sche Ver¬ 
fahren) die Keimfreiheit des Catgut dadurch zu erweisen gesucht, ! 
dass sie die Probe auf die schwerst ablösbaren pathogenen Pilze, 
die Milzbrandsporen, anstellten. Die Aufforderung Kossmann’s, 
das Rohcatgut durch 24stündiges Einlegen in 2 pCt. Formaldehyd 


29 


zu sterilisiren, stellt vom bacteriologischen Standpunkt aus den¬ 
selben Rückschritt dar, wie es das Einlegen der Instrumente 
in Carbolwasser (anstatt des heut zu Tage üblich gewordenen 
Auskochens derselben) bedeuten würde. Die Mimlerwerthigkeit 
aller chemischen, kalt einwirkenden Antiseptica gegenüber dem 
kochenden Wasser war der wesentlichste Grund von der Anti- 
septik zur Aseptik fortzuschreiten. 

Wenn ich daher die Prüfung der verschiedenen Stcrilisirungs- 
verfahren an der Hand eines möglichst widerstandsfähigen Pilzes 
(eines Kartoffelbacillus) vornahm, so hat dies nicht nur ein 
theoretisches, sondern ein bedeutendes praktisches Interesse. 
Gerade einer der besten und verständigsten Beurtheiler der 
aseptischen und antiseptischen Methoden, Schimmelbusch, hat 
diese Nothwendigkeit so einleuchtend und unbestritten bewiesen, 
dass ein weiteres Eingehen darauf nur Wiederholung sein würde. 

Dass Kossmann die Gefahr einer direkten Verunreinigung 
des Catgut in Folge der Verwendung milzbrandkranker Schaf¬ 
därme so gering anschlägt, darum, weil ich nur die beiden 
Volkmann’schen Fälle aus der Literatur anführen konnte, ist 
nicht berechtigt. Wenn Kossmann — sagen wir z. B. bei 
Anwendung meiner Methode — einen solchen Fall erlebt 
hätte, so würde er schwerlich diese milde Beurtheilung des 
„Bruches“ an den Tag legen, „dessen Nenner eine 7- oder 
Bstellige Zahl ist.“ Unvermeidbare Infectionen kommen uns 
allen leider öfter vor; vermeidbare nicht gering zu schätzen, ist 
einfach Pflicht. 

Wenn ich nun auf die Einwände, die gegen meine Methode 
gemacht sind, eingehe, so möchte ich zuerst erwähnen, dass mir 
von privater Seite wiederholentlich mitgetheilt ist, das so prä- 
parirte Catgut reisse leicht; auch das SanUsche Catgut sei 
nicht zugkräftig. Der Fehler in der Präparation, welcher 
in diesen Fällen gemacht worden ist, bestand darin, dass nicht 
Alkohol absolut. (99 pCt.), sondern ein verdünnter Alkohol 
benutzt worden ist. Da der 99proc. Alkohol selbst in Berlin 
nicht in allen Apotheken vorräthig ist, so schlage ich unter ein¬ 
facher Umrechnung der von mir angegebenen Zusammensetzung 
vor, künftighin 95proc. Alkohol, der in allen Grossdestillationen 
zu haben ist, zu benutzen. Da die Mischung 85 pCt. Alkohol 
absolut, enthalten soll, so erhält man die gesuchte Menge des 
95proc. Alkohols aus der Formel: 

95 

X ’Too =85 ’ d - h x = H °A 

abgerundet = 90. 

Natürlich darf dann nur 10 pCt. Aq. destillata zugesetzt 
werden. — Bei Verwendung des 90proc. (officinellen!) Alkohols 
nimmt man 94 Theile Alkohol und (3 Theile Aq. destillata. 
Aräometer und Waage ist also, wie es Kossmann meint, 
nicht nothwendig, da die Mischung nach Volumprocenten ge¬ 
schieht. Herr M. Graefe in Halle, welcher anfänglich auch 
über Zerreissbarkeit meines Catgut’s klagte, hatte die Freund¬ 
lichkeit, mir zu schreiben, dass bei Veraieidung jenes Fehlers, 
selbst Catgut No. 1 von vorzüglicher Haltbarkeit sei. 

Dass man sich auch im Uebrigen an die gegebene Vor¬ 
schrift und Anweisung bei Anwendung meines Verfahrens halten 
muss, ist selbstverständlich. 

Ebenso selbstverständlich ist, was Saul und Kossmann 
gemeinsam an meinem Apparat aussetzen, dass man Glasgefässe 
nicht ungestraft auf die Erde fallen lassen kann. Dieser „Vor¬ 
wurf“ trifft aber auch die Glasgefässe, in denen beide Autoren 
ihr präparirtes Catgut auf bewahren. Als einen nicht zu unter¬ 
schätzenden Vorzug meines Apparates sehe ich seinen niedrigen 
Preis an (die wesentlichen Theile desselben sind für 5 Mark bei 
Kähler und Martini, Berlin W., erhältlich), der die Anschaffung 
des Apparates auch für den privaten Gebrauch verlohnen lässt. 


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80 

Der Einwand Saul’s, dass durch Kochen des Rohcatguts 
in meiner Sublimatlösung das Sublimat ausgefUllt und unwirksam 
gemacht werde, ist nicht zutreffend. Wenn man einen Apparat 
mit möglichst viel Catgut beschickt, so beträgt der Gewichts¬ 
verlust, den das lösliche Sublimat erleidet, nach dem Kochen, 
Erkalten und Absetzen der Lösung, etwa = 0,1 pCt. (die quanti¬ 
tative Bestimmung wurde durch Titrirung des Quecksilbersulrtd- 
niederschlages mittelst */,„ Normal-Jodlösung und Normal- 
Natriumthiosulfatlösung vorgenommen). Allerdings folgt daraus, 
dass man, wenn man sehr grosse Mengen Catgut mit einem Male 
sterilisirt, die Lösung nicht öfter als 2—3mal benutzen darf, um 
sicher zu sein, noch immer die höchst resistenten 
Kartoffelbacillen abtödten zu können. Doch gilt dies, 
wie gesagt, nur, wenn man grosse Mengen Catgut in verhältniss- 
mässig geringen Mengen Flüssigkeit kocht. Auch die Sau Esche 
Lösung trübt sich durch Extraction des Fettes stark und muss 
zweckmässiger Weise ebenfalls von Zeit zu Zeit erneuert werden. 

Zu Schluss möchte ich, um nicht missverstanden und als 
einseitiger Verfechter „meiner Methode“ angesehen zu werden, 
ausdrücklich betonen, dass ich die Frage der Catgutsterilisation 
als im wesentlichen schon vor den Arbeiten von Saul, Hof¬ 
meister, Kossmann und meiner eigenen als gelöst betrachte. 
Die alte Kocher'sche Methode mittelst Juniperusöl und die 
Bergmann’sche Lösung leisten — genügend lange einwirkend 
— hinsichtlich der Keimfreiheit und Haltbarkeit des Catgut völlig 
Befriedigendes. Daher halte ich auch wesentlich vom Stand¬ 
punkt der schnellen und bequemen Desinfection eine Ver¬ 
besserung jener Methoden für erstrebenswerth. Als solche em¬ 
pfahl ich mein Verfahren. 

Nachtrag bei der Correctur: Das von Broese neuer¬ 
dings (Gesellschaft für Geb. u. Gynäk. zu Berlin, Sitzung den 
13. November 189(5) empfohlene Verfahren: halbstündiges Kochen 
in Juniperusöl, welches im Wasserbade auf 100° erhitzt wird, 
genügt zur Abtödtung der Milzbrandsporen nicht. Meine Con¬ 
trolversuche nahm ich in der Weise vor, dass die so gekochten 
Sporen-Seidenfädchen durch Einlegen in Schwefelkohlenstoff, 
Aether, Alkohol und steriles Wasser von jeder Spur des Wach¬ 
holderbeeröls befreit und erst dann auf Bouillon verimpft wurden. 
Nach 30, 35 und 45 Minuten gingen sämmtliche Fäden an. Die 
Fäden waren in die kalte Lösung gethan worden; die Zeit 
wurde vom Beginn des lebhaften Kochens (100°) an gerechnet. 
Auch dieses Verfahren genügt also den an dasselbe gestellten 
und zu stellenden Minimal-Ansprüchen nicht! 


IV. Ein Fall von motorischer Aphasie bei einem 
Kinde im Frühstadium eines acuten Exanthems 1 ) 

Von 

Dr. Martin Brasch, Nervenarzt in Berlin. 

Durch die Freundlichkeit des Herrn Coli egen Rehfisch, 
dem ich auch an dieser Stelle danke, hatte ich vor einigen 
Wochen Gelegenheit, den folgenden Fall zu beobachten: 

Das 3 Jahre 10 Monate alte Töchterchen eines Dolmetschers, welches 
von gesunden Eltern stammt, zur rechten Zeit und normal geboren war, 
rechtzeitig gehen und sprechen gelernt und sich überhaupt normal ent¬ 
wickelt hatte, wurde am 30. März 1806 gegen Abend weinerlich und 
begann in der Nacht zu deliriren. Die Delirien hatten einen schreck¬ 
haften Inhalt: „sie fassen mich, sie schlagen mich, der haut mich, der 
kommt schon“ u. b. w. 

Am folgenden Morgen fand Dr. R. da9 Kind bewusstlos, Stuhl 
und Urin gingen ins Bett, ein scharlachähnlicher Ausschlag hatte sich, 
von den Füssen seinen Ausgang nehmend, über den ganzen Körper ver- 

1) Nach einer Krankenvorstellung in der Sitzung der Berliner Ge¬ 
sellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten. 


No. 2. 


breitet, die Temperatur, im Anus gemessen, betrug 40.7. Es war weder 
eine Angina, noch eine Himbeerzunge vorhanden, auch kein Erbrechen 
eingetreten, der Urin war frei, das Kind war verstopft. 

Am 1. April war die Temperatur 39,8. 

Am dritten Tage erkrankte die jüngere Schwester an einem ähn¬ 
lichen Ausschlag, aber im Ganzen unter viel geringfügigeren Sym¬ 
ptomen und leichterem Verlauf. 

Bei dem älteren Kinde gingen das Fieber und die Störungen des 
Sensoriums im Laufe einer Woche allmählich zurück, aber die kleine 
Patientin hatte ihre Sprache verloren, während sich alsbald 
zeigte, dass sie alles Gesprochene zu verstehen schien. 

Am 9. April 1896 sah Herr Privatdocent Dr. Neu mann das 
Kind. Ich entnehme seinen mir freundlichst zur Verfügung gestellten 
Journalnotizen Folgendes: Brust- und Bauchorgane normal, 37,6 im 
After (am Tage vorher angeblich noch 37,8), keine Nackenstarre, Mnnd 
fuliginös, Bewusstsein etwas getrübt, reagirt nicht auf Anruf, spricht 
nicht, im äusseren Gehörgang Ceruminalpfröpfe, kleienähnliche Ab¬ 
schuppung am Halse, etwas Angina, hinten rechts Retropharyngealdrüsen, 
starke vordere Cervicaldrüsen, Pupillen, Facialis normal, keinerlei 
Spasmen. 

Zehn Tage später, am 13. April 1896, sah ich das Kind zum 
ersten Male. Inzwischen war festgestellt worden, dass der Ohrenbefund 
ein normaler, und dass der Urin nach wie vor eiweissfrei geblieben 
war. Die körperliche Untersuchung ergab mittelweite, gleich grosse und 
gut reagirende Pupillen, eine gleichmässige Innervation beider Gesichts¬ 
hälften, auch sonst keinerlei Lähmungen oder Spasmen. Die Bindehäute 
waren etwas injicirt, im Gesicht bestand ein varicelienartiges Exanthem 
und am rechten Mundwinkel ein kleiner Schorf (Herpes labialis?). Die 
Patellarreflexe waren vorhanden. Das Kind ging etwas schwankend — 
aber nicht ataktisch — auf seine Mutter zu, es sprach garnicht, es licss 
sich aber in unzweideutiger Weise feststellen, dass es alles zu ihm Ge¬ 
sprochene hörte und verstand. Zum Beispiel kam es der Aufforderung, 
welche ohne jede andere Geste gestellt wurde, nach und gab die Hand, 
es verstand aber auch eine diesbezügliche Geberde und gab die Hand, 
wenn man ihm die Hand entgegenstreckte. Weitere Nachforschungen 
wurden durch ein sehr launenhaftes Wesen vereitelt — das Kind begann 
laut zu schluchzen und zu weinen. Die Mutter erzählte noch, dass die 
Kleine auch nach dem Verschwinden des Fiebers noch unreinlich war 
und ihre Nothdurft nicht zu erkennen gab, während sie vor der Er¬ 
krankung selbst zum Topf ging; seit einigen Tagen indessen Hess sich 
die Reinlichkeit bei genügendem Aufmerken von Seiten der Mutter 
durchfuhren, weil die kleine Patientin durch eine gewisse Unruhe sich 
bemerkbar machte, wenn sie ein Bedürfniss zu verrichten hatte. End¬ 
lich sollte das Kind in einer der letzten Nächte znm ersten Male einige 
nicht recht verständliche Worte laut aus dem Schlafe gesprochen 
haben. 

Am 26. April sah Ich die Kleine wieder: sie war zu Bett ge¬ 
halten und mit lauwarmen Bädern behandelt worden und hatte in¬ 
zwischen spontan einige kurze Sätze ge-prochen: „will runter“, — „will 
Milch“, — „Mama“ u. s. w. Ausserdem hatte sie wieder begonnen, die 
Reinlichkeit zu beobachten, indem sie von selbst rechtzeitig auf den 
Topf ging, den sie an dem ihr bekannten Orte aufsuchte. 

Das Kind war artiger und zutraulicher. (Kennst du mich?) — „Ja“. 
Giebt auf Verlangon (ohne Geberde) die Hand. Nimmt die dargebotene 
Diife mit Zuckerwerk, isst nichts davon, sagte später der Mutter aut 
Befragen, dass Chocoladenplätzchen darin seien (richtig), spricht vorge¬ 
sprochene Worte nicht nach, wird sehr bald wieder unliebenswürdig. 

Am 3. Mai war ein weiterer Fortschritt zu verzeichnen. Die 
Mutter meinte, dass das Kind ihr überhaupt gänzlich genesen erscheine. 
Auch bei der ärztlichen Untersuchung sagte es auf Befragen deutlich 
den eigenen Namen und den der kleineren 8chwester. (Bist du mir gut?) 
— „Ja“. (Weshalb bist du mir gut?) — „Weil ich dir bin“. 

Am 10. Mai konnte das Kind in der That als vollkommen genesen 
betrachtet werden. Auffallend war einzig und allein, dass beim 
Sprechen die einzelnen Silben der Worte langsam und gedehnt ausein¬ 
andergezogen wurden. Die Sprache erschien dadurch im Ganzen etwas 
verlangsamt und singend (was früher nach Anssage der Mutter nicht 
der Fall gewesen war), aber inhaltlich und articulatorisch durchaus 
correct. Sodann wurde noch beim Gebrauch des Taschentuchs ein 
leichter Tremor in der linken Hand bemerkt. Der Urin war frei. 

Bei der Launenhaftigkeit der kleinen Patientin gelang cs leider 
nicht, Uber die Krankheitseinsicht und die zeitliche Ausdehnung der 
Amnesie die erwünschten Aufschlüsse zu erlangen, indessen konnte die 
Mutter, deren Aufmerksamkeit ich auf diesen Punkt hingerichtet hatte, 
feststellen, dass das Kind Erinnerungen an die Vorgänge vor und bei 
der Consultation des Herrn Collegen N. hatte. Diese fand am 7. April, 
also am 10. Krankheitstage, statt, das Kind erinnerte sich, dass es zu¬ 
sammen mit seinem Vater in einer Droschke zum Arzt gefahren, dort 
von Aerzten in weissen Mänteln untersucht worden und von einer 
Schwester angekleidet worden war. 

Der Fall hat ein grosses praktisches Interesse, er fordert 
aber auch von verschiedenen Gesichtspunkten aus Erörterungen 
theoretischer Natur heraus. 

Zunächst muss allerdings zugestanden werden, dass das 
Wesen der ursprünglichen Erkrankung keineswegs klargestellt 


BKIILINER KLINIS< 11E WOC11KNSf’IIRI FT. 


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11. Januar 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


ist — jedenfalls war das acute Exanthem, an welchem* das Kind 
unter den Zeichen einer sehr schweren Infection erkrankte, keine 
typische Scarlatina —, aber es ist bekannt, dass gerade das 
Scharlachfieber mit die zahlreichsten Typen und Verlaufsarten 
unter den Kinderexanthemen aufweist, und man wird die in 
Rede stehende Erkrankungsform als atypische Scarlatina wohl 
hingehen lassen dlirfen. 

Die Aphasieu im Kindesalter sind nun keineswegs seltene 
Erscheinungen, die Casuistik ist vielmehr im Laufe der Jahre 
so bedeutend angewachsen, dass^ich es mir versagen muss, die¬ 
selbe an dieser Stelle auch nur mit annähernder Vollständigkeit 
nachzuweisen. Ich habe vielmehr beinahe den Eindruck ge¬ 
wonnen, dass die Aphasie im Kindesalter mindestens so häufig 
ist als beim erwachsenen Menschen und erkläre mir dies aus 
der auch sonst in der Kinderheilkunde bekannten Thatsache, 
dass das kindliche Gehirn eben viel leichter als das aus¬ 
gewachsene auf Reize jedweder Art reagirt — es wäre wunder¬ 
bar, wenn von dieser Regel gerade das Verhalten der Sprach- 
centren eine Ausnahme machte. 

Unter den fllr die Entstehung der (hier nur in Betracht kom¬ 
menden erworbenen) Aphasie im Kindesalter angeschuldigten 
Ursachen werden, abgesehen von den Verletzungen des Schädels 
an den betreffenden Stellen und den Abscessen besonders otitischer 
Provenienz, genannt: Psychische Traumen (hysterische Aphasie), 
Fall auf den Kopf, Indigestionen, Insolation, Würmer u. s. w. 
Obenan aber stehen die Infectionskrankheiten, und hier sind es 
wieder, wenn man von der Tuberculose absieht, welche allerdings 
dazu neigt, gerade das jugendliche Alter in Form einer Ccrebral- 
erkrankung (Solitärtuberkel, Meningitis) zu befallen, gerade die 
acuten Infectionen, in deren Gefolge die meisten Sprachstörungen 
der Kinder beobachtet worden sind. Der Typhus abdominalis 
scheint am allerhäufigsten unter dieser C’omplication zu leiden, 
schon der erste Bearbeiter der Materie, welcher in umfassenderer 
Weise die zerstreuten Fälle sammelte und publicirte, Clarus (1), 
zählte unter 47 Fällen: 1(J nach acuten Krankheiten und unter 
diesen 12 Typhen. Kühn (2), der selbst einen solchen Fall 
beobachtete, konnte (bis 1884) noch weitere 18 aus der Lite¬ 
ratur zusammenstellen, bei Steffen's (3) Literaturnachweis 
kommt abermals dem Typhus der Hauptantheil zu. 

Sehr viel seltener figuriren andere acute Infectionskrank¬ 
heiten nntcr den ätiologischen Factoren: acuter Rheumatismus, 
Keuchhusten, Intennittens, Diphtherie, Scarlatina, Morbillen, 
Variola. Bohn (4) (1880), Loeb (5) (1889), welche schon zu 
den neueren Autoren in der Frage der kindlichen Aphasie ge¬ 
hören, gewannen den Eindruck, dass die Dysphasien nach den 
acuten Exanthemen zu den grössten Seltenheiten gehören, die 
Variola liefere noch die relativ häufigsten Complicationen dieser 
Art, seltener schon die Morbillen und am seltensten die Scar¬ 
latina. Bohn (4) konnte noch 1886 sagen, es seien höchstens 
ein halbes Dutzend solcher Fälle nach Scharlach bekannt ge¬ 
worden. 

Nun ergiebt sich aber bei näherer Betrachtung, dass die 
postscarlatinösen Sprachstörungen in der Regel eine 
ganz andere Pathogenese aufweisen als der oben mit- 
getheilte Fall, indem sie nämlich alle sammt und sonders im 
Verlaufe einer Scharlachnephritis und innerhalb dieser 
mehr oder weniger unter den Zeichen der Urämie auftraten 
resp. mit halbseitigen Lähmungen einhergingen. 

Es ist klar, dass damit ein fundamentaler Unterschied fllr 
die Auffassung der beiden Arten von Aphasien gegeben ist — 
ein Unterschied, welcher auch früheren Bearbeitern nicht ent¬ 
gangen ist. Schon Bohn (4) wies auf zwei ganz verschiedene 
Entstehungsweisen der Sprachstörungen nach Scharlach hin und 
betonte, dass gewöhnlich erst im Gefolge der die Scarlatina so 


31 _ 

häufig complicirenden Nephritis in der 3.—4. Krankheitswoche 
aphatische Störungen zusammen mit halbseitiger Lähmung vor¬ 
kämen. Diesen an sich schon seltenen Fällen konnte er nur 
eine ältere Beobachtung von Shepherd (6) aus dem Jahre 
1868 gegenllberstellcn, wo die Aphasie sehr frühzeitig einsetzte. 
Auch den Fall von Addy (7), bei welchem zwar die Nephritis 
nicht erwähnt, das Einsetzen der Aphasie aber in die 3. Krank- 
heitsw'oche fiel, rechnet er zu den Fällen, in welchen eine 
Nierenerkrankung zum Ausbruch der Sprachstörung führte. 

Der Shepherd’sche (6) Fall — ich citire nach Loeb — 
betraf ein ojähriges Mädchen, welches an einer Scarlatina mit 
reichlichem Exanthem und geringer Angina erkrankt und nach 
dem Verschwinden des Exanthems vollkommen sprach- und be¬ 
wusstlos wurde. In diesem Zustande der Aphasie und der 
Lähmung aller vier Extremitäten wurde das Kind einen Monat 
später ins Krankenhaus aufgenommen; es bewegte beim Versuche 
nachzusprechen, bloss die Lippen. — Was Uber die „Agraphie“ 
dieses 5jährigen Kindes gesagt wird, erscheint auch mir ebenso 
wenig fundirt wie Loeb. Im Laufe einiger Monate trat all¬ 
mählich Genesung ein; der Urin war immer frei von Eiweiss. 

Wenn nun dieser Fall auch eine Sonderstellung einnimmt 
und der oben von mir mitgetheilten Beobachtung insofern gleicht, 
als die Aphasie sehr zeitig auftrat, so war sie doch vorgesell- 
schaftet mit Lähmung aller vier Extremitäten und diese Com- 
plication unterscheidet ihn vielleicht doch ganz wesentlich von 
unserem Falle, der eben dadurch ausgezeichnet war, dass die 
Aphasie im Frühstadium und ohne jede andere Lähmung 
einsetzte. 

Es fragt sich nun, ob solche Fälle wie der unsrige und 
allenfalls der von Shepherd (6) sich von den übrigen noch 
durch andere Kriterien als durch die Verschiedenheit der 
Symptomatologie und des zeitlichen Auftretens abgrenzen lassen. 
— Ich komme hier auf den praktisch wichtigsten Punkt, die 
Prognose der Erkrankung zu sprechen. 

Fast keiner unter den Forschern, welche Uber die Aphasie 
der Kinder geschrieben haben, hat verabsäumt, diese Frage zu 
behandeln. Die Erfahrungen, welche man Uber den Verlauf und 
den Ausgang der Sprachstörungen gemacht hatte, führten dazu, 
die Vorhersage im Ganzen recht optimistisch zu stellen. Nur 
will es scheinen, als ob man dabei insofern nicht ganz kritisch 
verfahren ist, als man auf die Aetiologie der einzelnen Fälle 
nicht die gebührende Rücksicht nahm. — Dass eine hysterische 
Stummheit in plötzliche Genesung ausgehen kann, ist für heutige 
Begriffe etwas so wenig Verwunderliches und Merkwürdiges, dass 
man kaum versteht, weshalb derlei Fälle noch immer zum Be¬ 
weise für die gute Prognose der Kinder-Aphasien herbeigeholt 
werden. — Uebrigens eignen sie sich gerade am allerwenigsten 
für die Stellung einer präcisen Vorhersage, weil ihr Ausgang 
ein durchaus zweifelhafter ist, auch wenn die hysterische Natur 
ganz sicher gestellt ist. 

Berücksichtigt man lediglich die Aphasien bei acuten In- 
fectionskrankheiten, so kann man wohl auf Grund der grossen Häu¬ 
figkeit, mit welcher die Aphasie im Gefolge des Typhus auftritt, 
schon jetzt den Schluss wagen, dass diese Form eine durchaus 
gute Prognose giebt. Sie pflegt isolirt und ohne andere 
Lähmungen aufzutreten. Ihr günstiger Ausgang steht in einem 
auffälligen Gegensatz zu der immerhin zweifelhaften Vorhersage, 
welche man den posttyphösen Psychosen stellen muss, — dieser 
Unterschied mag wiederum darin seinen Grund haben, dass es 
sich dort meist um das kindliche, hier um das erwachsene Ge¬ 
hirn handelt. 

Was nun weiter die acuten Exantheme und die Scarlatina 
im Besonderen betrifft, so ist, wie gesagt, der obige Fall bisher 
ein Unicum in der Literatur und man wird an diesen einen Fall 

3* 


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32 


HER LIN EU KLINISCH E W< K ’I I EX SCI III l FT. 


und seinen Verlauf nur mit aller Vorsicht — wenn Überhaupt — 
einige Speculationen knüpfen dürfen. Indessen liegt es doch 
nahe, ihn mit den etwas zahlreicheren Fällen der anderen 
Kategorie und dem etwa in der Mitte zwischen beiden stehenden 
Fall von Shepherd (<») zu vergleichen. Hierbei ergiebt sich 
nun, dass auch in denjenigen Fällen, wo die Aphasie in Be¬ 
gleitung einer halbseitigen Lähmung und im Gefolge einer 
Scharlachnephritis auftrat, die Prognose keineswegs eine so üble 
ist, ja, dass selbst hier, wo mau docli eine organische Läsion 
annchmen muss (ich komme auf die pathologische Anatomie noch 
später zu sprechen), die Aphasie zurückzugchen pflegt, oft allein, 
bisweilen auch mit der halbseitigen Lähmung zusammen. So 
weist schon Bernhardt (8) darauf hin, dass bei Kindern die 
Aphasie selbst bei anderweitigen palpabeln Veränderungen selten 
als Ausfallssymptom bestehen bleibt, und B.’s Beobachtungen 
waren 4 Scharlachfälle und 1 Morbillenfall, sämmtlich complicirt 
durch Hemiplegie. Pessimistischer drückt sich Bohn (4) aus, 
welcher die posttyphösen Fälle für viel gutartiger auffasst als 
die postscarlatinösen. 

Ich glaube aber, dass man unter Berücksichtigung aller bis¬ 
herigen Erfahrungen doch die Behauptung wagen darf, dass in 
Fällen, wie dem meinigen, wo die Aphasie zu Beginn der Er¬ 
krankung einsetzte und keine Lähmung nebenher ging, die Pro¬ 
gnose als die relativ beste gelten kann. 

Ich wäre auf diesen Punkt nicht so ausführlich eingegangen, 
wenn er an allgemein zugänglichen Stellen und in den zumeist 
gelesenen Handbüchern die gebührende Berücksichtigung ge¬ 
funden hätte. Aber ich habe in den neurologischen und pädiatii- 
schen Werken vergeblich Aufklärung gesucht. Es sei hier nur 
das klassische Buch von Heuocli (9) genannt: Hier wird beim 
Artikel Aphasie der Scarlatina nicht Erwähnung gethan und 
beim Kapitel Scharlachfieber gesteht der Autor ein, dass ihm 
über die Betheiligung des Gehirns am Scharlachprocess eigene 
Erfahrungen fehlen — gewiss das beredteste Zeugniss für die 
grosse Seltenheit der Affection, falls nicht ein merkwürdiger Zu¬ 
fall im Spiel ist! An anderen Orten und in anderem Zusammen¬ 
hänge, z. B. mit Trauma, Indigestion, Intermittens, Typhus, 
Urämie erwähnt Henoch aphasische Zustände bei Kindern. 

In dem Händbuche von Gowers (10), wo alle Arten der 
Aphasie bei Kindern aufgezählt werden, fehlt die Scarlatina 
unter den ätiologischen Momenten. Oppenheim erwähnt die 
Bedeutung der Infectionskrankheiten, besonders des Typhus und 
der Urämie für die Entstehung der Aphasien. Am auffälligsten 
aber ist, dass in dem neuen ausgezeichneten Buche von Sachs 
(12), welches die Vorzüge eines neurologischen und pädiatrischen 
Handbuchs in so vollkommener Weise vereinigt, und in welchem 
der Aphasie ein besonderer Abschnitt gewidmet ist, soweit ich 
sehe, die Infectionskrankheiten als Ursache für die Aphasie bei 
Kindern überhaupt nicht erwähnt worden. 

Von grosser praktischer Wichtigkeit sind die Fälle, w r ie der 
oben dargestellte, zweifellos; überall, w r o ein Kind unter den 
Zeichen der Aphasie erkrankt, wird der Eindruck ein höchst 
alarrairender sein, und auf den Lippen jeder Mutter wird sofort 
die Frage nach den Aussichten auf Genesung schweben. 

Woher kommt nun die relativ günstige Prognose 
dieser schweren cerebralen Erkrankung? 

Einer der Gründe — physiologischer Natur — ist schon 
wiederholt erwähnt w r orden: die Erfahrung lehrt, dass das kind¬ 
liche Gehirn durch Schädlichkeiten, welche an dem nervösen 
Centralorgan des Erwachsenen spurlos vorübergehen (Fieber, 
Helminthen, Indigestionen etc.), sehr leicht aus seinem „labilen 
Gleichgewicht“ gebracht werden kann. Es ist bekannt, wie 
schnell es bei Kindern zu Störungen des Sensoriums und zu 
Convulsionen, zu cerebralem Erbrechen u. s. w. kommt. Es ge- 


No. 2. _ 

winnt nun aber auf der anderen Seite den Anschein, dass die 
Functionen des kindlichen Gehirns eben durch die ihm eigene 
„Labilität“ und sein Anpassungsvermögen auch sehr schnell 
wieder in die Ruhelage zurückzukehren geneigt sind. 

Ein zweiter Grund für die günstige Prognose —- und ein 
noch viel wichtigerer — ist der, dass ein Process, welcher beim 
Gehirn des Erwachsenen nur in Ausnahmefällen auftritt, für das 
wachsende kindliche Hirn eine Regel zu sein scheint: nämlich 
derjenige, durch welchen selbst nach Zerstörung einer Him- 
partie eine andere vicariirend für sie eintreten kann. Die Be¬ 
zeichnung des „vicariirenden Eintretens“ passt vielleicht besser 
für den Ileilungsprocess bei Erwachsenen, wo in der That die 
Functionen der Sprache bereits auf das Festeste an gewisse 
Orte der linken Himhalbkugel geknüpft sind, als für das kind¬ 
liche llim, in welchem so feste Localisationen noch garnicht 
existiren. »Sachs (13i hat gezeigt, dass bei Kindern mindestens 
so häufig linksseitige Lähmungen mit Aphasie vergesellschaftet 
auftreten, als rechtsseitige, woraus hervorgeht, dass Kinder mit 
beiden Hemisphären sprechen und erst im späteren Alter ( wahr¬ 
scheinlich erst nach einem ausgesprochenen Auftreten des Rechts¬ 
händigkeit, die Sprache „linkshirnig“ wird. Also wenn man 
bei älteren Individuen, deren Sprachcentrum unheilbar zerstört 
ist, und welche wieder sprechen lernen, von einem vicariirenden 
Eintreten (wahrscheinlich der rechten Hemisphäre) sprechen 
kann, liegen beim Kinde die Dinge so, dass bei unrettbarer 
Zerstörung der Bro ca 'sehen Windung, die motorische Sprech¬ 
function mit genau derselben Schnelligkeit an eine andere Hirn¬ 
partie sich zu knüpfen beginnt. Dass hierbei auch noch inner¬ 
halb der Kinderjahre das ältere oder jüngere Alter der Patienten 
eine Rolle spielen muss, ist klar, und man wird annehmen 
müssen — Statistiken existiren darüber meines Wissens nicht —, 
dass auch bei Kindern mit zunehmendem Alter der Ausgleich 
schwieriger wird. 

Bei diesen günstigen physiologischen Bedingungen ist es er¬ 
sichtlich, dass die pathologisch - anatomische Frage des 
hier in Betracht kommenden Processes einen mehr unter¬ 
geordneten Werth hat als in der Pathologie der Sprachstörungen 
bei Erwachsenen. Während hier die Unterscheidung und Ab¬ 
grenzung der sogenannten funotionellen von den organischen 
Läsionen von fundamentaler Bedeutung für die Stellung der 
Prognose ist, liegen bei Kindern die Dinge einfacher, man hat 
nicht nötliig, die Vorhersage von der zu Grunde liegenden Art 
der Läsion abhängig zu machen. 

Trotzdem ist es interessant, den Ursachen der Aphasie bei 
Kindern vom pathologisch-anatomischen Standpunkte aus nach¬ 
zugehen — besonders so weit die acuten Infectionskrankheiten 
mit ihren passageren Sprachstörungen in Betracht kommen. 

Anatomische Untersuchungen fehlen zur Zeit so gut wie 
ganz, was sich aus dem überwiegenden Procentsatz der Hei¬ 
lungen leicht erklärt. 

Der Eulenburg-Bernh ardt(8)- Sanders ’scheFall, welcher 
zur Section kam, ist in seinen pathologisch-anatomischen Ergeb¬ 
nissen von einer Verwerthung für die Entscheidung der Frage 
nach der Art der Läsion auszuscheiden, weil die Autopsie 
11 Jahre nach der Erkrankung stattfand. 

Ohne Zweifel ist man genöthigt, in denjenigen Fällen, wo 
neben der Sprachstörung hemiplegische Lähmungen auftraten, 
eine organische Läsion anzunehmen — so in einigeu Fällen nach 
scarlatinöser Erkrankung mit folgender Nephritis, in einigen 
nach Diphtherie, wo z. B. Abercrombie (14) einmal eine Em¬ 
bolie der Arteria cerebri media externa dextra mit Erweichung 
der rechten Hemisphäre fand, imd auch Mendel (15) einmal als 
Grundlage einer halbseitigen Lähmung (übrigens ohne Aphasie) 
einen hämorrhagischen Ileerd im inneren Gliedo des Linsen- 


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11. Januar 1H97. 


1 1 KU LI NEU KLINISCH E \V0< ’l IKNSCIIUI KT. 


keraes und den austossenden Tlieilen der inneren Kapsel ent¬ 
deckte, feiner in dem Bernhardt’sclien (8) Falle nach Mor- 
billen. 

Ob übrigens nicht in einem grossen Theile der Scharlach- 
lalle die Aphasie auf toxischer Grundlage entstanden ist — 
urämische Vergiftung —, bleibt zu erwägen, wenn auch die An¬ 
nahme einer toxischen Entstehungsweise bei einer so exquisiten 
Heerderkrankung wie dem Symptomencomplex der Hemiplegie 
und Aphasie nicht gerade viel für sich hat. 

Rein toxischer Natur dürfte wohl in dem Falle von Maass 
(16) die Aphasie gewesen sein, welche bei einem Knaben von 
13 Jahren gelegentlich einer unter Chloroformnarkose ausge¬ 
führten Operation auftrat — falls nicht auch hier, wo es zu 
mehr als einstündigen Herzstillstand kam, irgend welche t'ircu- 
lationsstörungen eingetreten waren, welche wohl zu ähnlichen 
Zuständen führen könnten. 

Viel annehmbarer — ja vielleicht ganz sicher richtig — 
erscheint mir die Auffassung, dass die zahlreichen Typhus- 
Aphasien und mein oben berichteter Fall auf rein toxischem 
Wege entstanden sind, und auch der öfter genannte Fall von 
Shepherd (6), der mehr als eine cerebrale Allgemeinerkrankung 
imponirt, ist wohl so zu betrachten. 

Ueberhaupt hat mir die Beobachtung meines Falles den 
Gedanken nahe gelegt, als ob die dabei zum Ausdruck ge¬ 
kommene Sprachstörung nichts als das Ueberbleibsel der schweren 
Allgemeinerkrankung des Hirns nach einer bösartigen Infection 
gewesen ist, wofür auch die grosse allgemeine Schwäche zu 
sprechen schien. Beim Erwachsenen würde eine solche An¬ 
nahme etwas Ketzerisches an sich haben, da eine so isolirte, 
rein motorische Aphasie eben eine exquisite Heerderkrankung 
iöt, und das Broca’sche Centrum für die motorische Sprach- 
function doch zu den am besten fundirten in der ganzen Lehre 
von den llimlocalisationen gehört, aber das kindliche Hirn hat 
eben, wie oben gezeigt worden ist, noch nicht diese festgefügten, 
ausgeschliffenen Bahnen und Centren. 

Aehnliche Erwägungen mögen Treitel (17) vorgeschwebt 
haben, welcher in seinem Vortrage „lieber Aphasie im Kindes¬ 
alter“ sehr verschiedene Formen der Sprachstörung bei Kindern 
(die motorische nach Typhus, Hörstummheit) auf eine „Störung 
des Gedächtnisses“ zurückgeführt wissen möchte. Ich kann 
diese Bezeichnung uicht gerade für eine glückliche erachten. 
Wenn TreiteTs Anschauung auch der meinigen sehr nahe 
kommt, so will mich doch dünken, dass die Einführung des Be¬ 
griffs „Gedächtniss“ bei dem Versuch der Erklärung dieser Zu¬ 
stände besser unterbleibt, weil er eben nicht geeignet ist, eine 
Erklärung herbeizuführen, sondern einen für uns unklaren Vor¬ 
gang lediglich umschreibt und für einen Begriff ein Wort setzt. 

Zum Schlüsse sei noch darauf hingewiesen, dass unter den 
Aphasien bei Kindern die motorische Aphasie bei weitem Uber¬ 
wiegt. Worauf dies beruht, ist gänzlich unklar, zumal wir 
wissen, dass bei der Entwickelung der Sprache beim Kinde die 
sensorielle Componente (das Hören insbesondere) eine mindestens 
so grosse, wenn nicht die grössere Rolle zu spielen pflegt als 
die motorische. 


Literaturverzeichn iss. 

1. Clarus, Jahrbuch f. Kinderheilk. Bd. VII. 8.369. — 2. Kühn, 
Deutsches Archiv f. klin. Med. Bd. XXX, 8. 56. — 8. Steffen, Jahr¬ 
buch f. Kinderheilk. Bd. XXIII, 8. 127. — 4. Bohn, Ebenda. Bd. XXV. 

— 5. Loeb, Archiv f. Kinderheilk. Bd. X. — 6. 8hepherd, Medical 
Times 1868, 8. 144. — 7. Addy, Siehe in Bohn’s Artikel. — 8. Bern¬ 
hardt, Virchow’s Archiv. Bd. CII, 8. 26. — 9. Henoch, Lehrbuch. 
Aufl. 1895. — 10. Gowers, Handb. der Nervenkrankh. Bd. II, 8. 122ff. 

— 11. Oppenheim, Lehrb. der Nervenkrankh. — 12. Sachs, A 


33 _ 

treatise on the nervous diseases of children. New-York 1895, p. 480. 

— 13. Derselbe, Journal of nervous and mental diseases 1887, p 503, 

— 14. Abercrombie, Lancet 1882. — 15. Mendel, Neurologisches 
Centrallilatt 1885, S. 133. — 16. Maass, Berl. klin. Wochenschr. 1892. 

— 17. Treitel, Volkmann’s Sammlung klin. Vortr. Neue Folge. No. 64. 
1893. 


V. Zur Technik der Jejunostomle. 

Von 

Prof. Dr. A. Freih. v. Eiseisberg, Königsberg i. Pr. 

In No. 50 der Berliner klin. Wochenschrift, 1896, beschreibt 
Herr Dr. Karewski unter dem Titel: „Ueber einen Fall von 
Chlorzink-Vergiftung nebst Bemerkungen zur Jejunostomie“ einen 
Fall, in welchem er durch die ausgedehnte Verätzung des 
Magens genöthigt war, die Jejunostomie auszuführen. Karewski 
bediente sich hierzu der von Witzei für die Gastrostomie em¬ 
pfohlenen Methode und hält dies Verfahren gegenüber den bis¬ 
her geübten als das empfehlenswertheste und ausserdem für 
neu. Die Methode ist in der That sehr zweckmässig. Herr 
Karewski befindet sich jedoch im Irrthume, wenn er glaubt, die 
Witzel’sclie Methode für Gastrostomie als Erster auf die Jejun¬ 
ostomie übertragen zu haben, indem er dabei die drei von mir 
ausgeführten Jejunostomien nach WitzeTs Princip nicht erwähnt, 
Uber welche ich im Jahre 1895 dem Chirurgen-Congresse be¬ 
richtete und dann ausführlich im Archiv für klin. Chirurgie, 
Bd. L, Heft 4 (einer Zeitschrift, welche Herrn Karewski wohl 
zugänglich sein dürfte) veröffentlichte. 

Ich halte die Uebertragung des Witzel'schen Principes der 
Gastrostomie auf die Jejunostomie für kein besonderes Verdienst; 
es lag ja ziemlich nahe, diese vortreffliche Methode, die sich in 
den Händen fast aller Operateure bewährte, für die Jejunostomie 
anzuwenden. 

Jedenfalls ist es interessant, festzustellen, dass in dem einen 
der damals von mir publicirten Fälle noch 2 Jahre nach der 
Operation (spätere Berichte fehlen mir) die Fistel als schluss¬ 
fähig sich erwies. Ein gleich gutes Resultat erzielte ich seither 
in zwei weiteren Fällen von Jejunostomie wegen totaler Carcinosc 
des Magens, so dass ich bereits Uber fünf Fälle mit operativem 
Erfolge (Continenz der Fistel) verfüge. 

Die von Dr. Karewski beschriebene Technik weicht in 
keiner Weise von der von mir ausgeführten ab, wahrscheinlich 
würde er, falls sein Fall nicht am 9. Tage post operat. (an 
Pneumonie und Perforations-Peritonitis, von einer Magenruptur 
herrührend) gestorben wäre, das silberne Rohr, dessen Vorzüge 
er empfiehlt, durch einen Nelaton-Catheter ersetzt haben. Ich 
war in meinen fünf Fällen mit letzterem Material vollauf zu¬ 
frieden. 


VI. Kritiken und Referate. 

Ant. Ewald: Die Erkrankungen der SchilddrBse, Myxoedem und 
Cretlntsmus. Nothnagels specielle Pathologie und Therapie. 
XXII. Band, I. Theil. Wien 1896. 

Unter den zahlreichen monographischen Darstellungen in dem grossen 
Nothnagel'8chen Sammelwerke ist sicherlich keine, welche in gleichem 
Maasse auf die Bezeichnung als „Medicinisches Neuland“ Anspruch 
erheben darf, wie der von C. A. Ewald bearbeitete Abschnitt über die 
Erkrankungen der Schilddrüse, über Myxoedem und Cretinismus. 

Schon die enge Aneinanderreihung dieser drei bis vor Kurzem noch 
ohne eine Ahnung ihres inneren Zusammenhanges aufgezählten Krank¬ 
heiten, welche demgemäss auch an sehr verschiedenen Stellen des Systems 
abgehandelt zu werden pflegten, legt beredtes Zeugniss ab von dem 
Umschwünge, welcher sich im Laufe von kaum 2 Jahrzehnten auf diesem 
Gebiete unseres Wissens, wie ärztlichen Könnens vollzogen hat: doppelt 


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No. 2. 



ItKULlNKli KUNISCIIK WorilKNsrllUIKT. 


anerkennenswerth und zu näherer Betrachtung einladend, wenn man den 
Weg in Rechnung zieht, welcher die heute gewonnene Einsicht zu er¬ 
reichen ermöglicht hat. Ist es doch das vereinte, mit jedem Schritte 
vorwärts immer zielbewusstere Zusammenwirken klinischer Beobachtung 
und experimenteller Forschung, welcher wir solchen Erfolg danken. 

In der That nur sorgfältigster, selten scharfblickender und zugleich 
nachhaltiger Abwägung de3 aus dem operativen Eingriffe erwachsenden 
Wandels in den Erscheinungen und den Eigenschaften des Patienten 
konnte es gelingen, die der Forschung zu stellenden Fragen klar zu 
erfassen, fruchtbar zu formuliren. l'nd nicht minder unumgänglich be¬ 
durfte es der auf dem einfacheren Boden des Thierkörpers fussenden 
Geistesarbeit des Physiologen, um darauf eine unanfechtbare Antwort 
zu ertheilen. 

So ist denn dieses gemeinsame Schaffen nicht bloss danach ange- 
tban, unserem wissenschaftlichen Verständnis auf einem bis dahin 
räthselvollen Gebiete zu Hülfe zu kommen, un9 eine Fülle praktisch 
werthvoller Rathschläge an die Hand zu geben, sondern cs ist zu¬ 
gleich als Methode eine Mustcrleistung, eine Probe ge¬ 
nossenschaftlicher Forschung, welche zweifellos Schule 
machen wird. 

Von dem Geiste dieses Zusammenwirkens der bahnbrechenden Autoren 
ist Ewald’s kritisch zusammenfassendes Werk gleichermaassen von An¬ 
fang bis zu Ende erfüllt. Dasselbe innige Sichdurchdringen experimenteller 
und klinischer Betrachtungsweise, welches seinen Krankheiten der Ver¬ 
dauung einen bo hervorragenden Platz in der raedieinischen Litteratur 
verschafft hat, bekundet sich hier und leitet den Leser sicheren Schrittes 
zu dem überraschend klaren Ziel. Und selbst da. wo die sich auf¬ 
drängenden Probleme eine abschliessende Lösung heute noch nicht ge¬ 
statten, wie z. B. in der Frage nach dem Verhältnisse zwischen Myx- 
oedem und endemischem Cretinismus, selbst da hat ihm die enge Ver¬ 
knüpfung jener beiden Erkenntnissmittel nicht nur dazu dienen müssen, 
um die noch strittigen Punkte von allen Seiten her so kritisch zu be¬ 
leuchten, dass sich das Gewisse scharf geschieden von dem Ungewissen 
abhebt, sondern um der Forschung zugleich den künftig einzuschlagenden 
Weg weithin vorzuzeichnen. 

Ein nicht weniger als 45 Seiten umfassendes Litteratur-Verzeichniss 
gewährt einen Begriff von der Fülle der hier geleisteten Vorarbeiten, 
nicht minder aber von dem Fleisse, wie der seltenen Gestaltungskraft 
eines Verfassers, der dessenungeachtet bestens verstanden hat, seiner 
Schreibweise die gebotene Knappheit und dem Ganzen den anziehenden 
Character des Essays zu bewahren. 

Nach kurzen anatomischen Vorbemerkungen entrollt er in der phy¬ 
siologischen Einleitung ein erschöpfendes Bild von den Folgen 
eines sei es spontanen, sei es operativen Verlustes der Schilddrüse und 
den danach sich einstellenden, theils cerebralen, tbeils nutritiven 
Störungen. Den Grund für die ganze Reihe der letztgenannten Er¬ 
scheinungen erblickt er in einer antitoxischen Rolle der Drüse, indem 
nämlich dem Secrete, welches durch die Thätigkeit ihrer Follikel aus 
dem Blute bereitet wird, die Fähigkeit innewohne, gewisse sonst giftig 
wirkende Produkte des thierischen Stoffwechsels zu vernichten. 

Nachdem im 2. Abschnitte sämmtliche strumösc Erkrankungen ab¬ 
gehandelt worden sind, wendet sich der Verfasser im 8. zu dem Kern 
seiner Aufgabe: der Betrachtung des endemischen Kropfes und seiner 
Beziehungen zum endemischen CretiuLmus. 

Von ungemeinem Interesse sind die auf die Aetiologie der Struma 
bezüglichen Angaben. Rein erfahrungsgemäss lässt sich feststellen, dass 
die Krankheit epidemisch nur da vorkommt, wo die Erdoberfläche von 
marinen Ablagerungen der ältesten Formationen gebildet wird, hingegen 
unmittelbar daneben fehlt, wo Eruptiv-Gesteine und die erstarrten Ueber- 
reste jüngerer Meeres- und Süsswasser-Ablagerungen zu Tage liegen. 
Die Bedeutsamkeit des Einflusses, welchen diese so auffällige Ungleich¬ 
heit der Bodenbeschaffenheit austibt, leuchtet sofort ein, sobald man die 
von altersher im Volke lebende und gewiss nicht zu bezweifelnde 
Meinung erwägt, dass das Wasser der Träger des Miasmas sein müsse. 

Zur Beantwortung der weiterhin sich aufdrängendrn Frage freilich, 
in wiefern die Kropf erzeugenden Eigenschaften de» Trinkwassers mit 
jenen geologischen Unterschieden Zusammenhängen, dazu reichen unsere 
Kenntnisse gegenwärtig noch nicht aus. Alles weist indessen mit solcher 
Bestimmtheit anf eine parasitäre Natur des Kropfgiftes hin, dass wir 
den infectiösen Ursprung des Leidens als äusserst wahrscheinlich be¬ 
zeichnen dürfen. Und zwar spielt das Wasser allerdings den Vermittler 
der Ansteckung, jedoch weder unbedingt, noch überall, sondern in strenger 
Anlehnung an scharf characterisirte geologische Formationen. 

Den endera. Cretinismus fasst Verf., ganz im Sinne Virchow’s, 
als potenzirte Wirkung derjenigen Schädlichkeiten auf, welche in leich¬ 
teren Graden das zunächst nur örtliche Leiden einer strumösen Entartung 
der Schilddrüse bedingen. Erfolgt die Ansteckung also in einem schwereren 
Grade oder trifft sie besonders disponirte Individuen, so kommt es, sei es 
schon während des Foetallebens, sei es sehr bald nach der Geburt zum 
Aufhören der Drüsenfunction: entweder durch deren sichtbare Atrophie oder 
durch functionelle Unthätigkeit des bald normalen, bald entarteten Organes. 

Die Folge einer solchen „Athyreosis“ im fötalen Leben oder bei 
jugendlichen Individuen ist cretinische Degeneration, bei Erwachsenen 
Myxoedem und Cachexia tbyreopriva. 

Obwohl diese Anschauung insofern noch eine empfindliche Lücke 
zeigt, als erst noch darzuthun bleibt, dass die Entartung und der 
Functionsvcrlust der Schilddrüse bei Cretincn wirklich ein regelmässiger 


Befund sei, so giebt es doch einige so schlagende Beobachtungen von 
sogenanntem sporadischem Cretinismus, dass sie jener Auffassung wohl 
eine hinreichende Stütze zu gewähren vermögen. Dass manchen dieser 
Fälle irgend welche Form der Entartung der Schilddrüse zu Grunde liegt, 
ereignet sich ja recht häufig. Vollends anschaulich wird uns deren be¬ 
dingende Rolle aber angesichts der Krankengeschichte eines 28jährigen 
Mannes, welchem Bruns als 10jährigem Knaben wegen Kropfs die 
Schilddrüse entfernt hatte. Je älter er nämlich wurde, desto mehr bot 
er das typische Bild zwerghaften Cretin-Wach9thums dar, begleitet von 
allen Zeichen des Myxoedems. Ein solches vermöge seiner Reinheit 
eindeutiges Beispiel ist ofteubar in hohem Maasse danach angethan, zar 
Aufhellung anderer minder klarer verwerthet zu werden. 

Das Ergebniss dieser und ähnlicher Erfahrungen ist die Einheit¬ 
lichkeit von Myxoedem der Erwachsenen einerseits, von 
infantilem („ sporadischem“ ) und endemischem Cretinismus 
andererseits, insofern ihnen sämmtlich eine Störung der 
SchilddrUsen-Thätigkcit zu Grunde liegt. 

Während aber der letztere einen scharf ausgeprägten Krankheits¬ 
zustand darstellt, welcher abhängt von einer unmerklich sich vorbereiten¬ 
den allmählich fortschreitenden, zuletzt zum Schwunde lührenden Ab¬ 
weichung der Schilddrüse, die ihrerseits durch gewisse Bodenverhältnisse 
bedingt wird, welcher sich ferner äussert in physischer und intellectueUer 
Entartung des Befallenen, beruht der sporadische Cretinismus und das 
Myxoedem der Erwachsenen einzig auf einer gelegentlichen Er¬ 
krankung der Schilddrüse. Demnach sind auch die sie begleitenden 
Symptome bloss als subacute Ausfalls-Erscheinungen zu deuten. Und 
zwar steht jener, weil ebenfalls schon früh einsetzend, also durch Störung 
des Gesammtwachsthums weit tiefer eingreifend, dem endemische Creti¬ 
nismus näher als das Myx. der Erwachsenen. 

Die bündigsten Belege für die Richtigkeit der über die Ursachen 
des Leidens dargelcgten Ansichten liefert ein Blick auf die erfolgreichste 
Art der Behandlung. Die wirksamste Abwehr gegenüber dem ende¬ 
mischen Cretinismus liegt unstreitig in der Prophylaxe, während wir 
gegen das bereits ausgebrochene Uebel lediglich palliative Mittel besitzen. 
Behufs Verhütung der Krankheit also empfiehlt sich die Benutzung 
filtrirten oder wenigstens in Cisternen aufgesammelten Wassers. Als 
noch zuverlässiger hat sich der Gebrauch von Wasser erwiesen, welches 
aus unverdächtigen, vielleicht recht entfernten (Quellen hergeleitet wird. 

Weit günstigere Aussichten eröffnen sich für den sporadischen 
Cretinismus. Hier ist die innerliche Behandlung mit Thyreoldin-Tabletten 
bei einer nicht geringen Zahl der Kinder unverkennbar von wesentlichem 
Erfolge begleitet gewesen. 

In dem 4. Abschnitte, welcher den Beziehungen zwischen Myx. 
und Cachexia strumipriva gewidmet ist, entwirft E. zunächst ein Bild 
von dem Gesammtverlaufe, dann den einzelnen Symptomen des „spon¬ 
tanen" Myx. Bei dem Bemühen, die klinischen Erscheinungen mit den 
nach dem Tode erhobenen Befunden in Einklang zu bringen, wird die 
beherrschende Rolle klar ersichtlich, welche hier der Schwund der Schild¬ 
drüse in der Kette der krankhaften Vorgänge spielt. 

Uebergehend zu dem Kocher'« Scharfblicke entsprungenen neuen 
Krankheitsbilde des „operativen -4 Myx. (Cachexia strnmi-, richtiger 
„thyreopriva“) weist E. auf die bis zum Verwechseln gebende Uebereic- 
Btimmung beider, des operativen und des spontanen hin. Im Hinblick 
auf die früher erwähnten Thierexperimente erkennt er in dieser Aehn- 
lichkeit der Krankheitsbilder beim Menschen nur eine Bestätigung der 
Lehren, welche aus erstcren zu ziehen sind. 

Neben den Störungeu in der psychischen und motorischen Sphäre 
(Epilepsie, Tetanie), in der Thätigkeit der Nerven, vor Allem der Vaso¬ 
motoren und der Muskeln giebt sich einige Zeit nach der Exstirpation 
Oligocythämie kund und ein sehr merkwürdiges Zurückbleiben im Wachs¬ 
thum des ganzen Körpers. So war bei dem oben erwähnten Bruns- 
sehen Patienten die Epiphysengrenze noch im 28. Jahre erhalten, auch 
die Epiphysen-Enden selber theil weise noch knorpelig. Die Sichtung 
aller Operations-Ergebnisse scheint zwar zu dem Schlüsse zu rühren, 
dass ein bedingungsloses Sichdecken von Ursache und Wirkung doch 
nicht behauptet werden dürfe. Denn angesichts der verfügbaren Casuistik 
mindestens lässt sich ebensowenig läugnen, dass nicht gar selten auch 
nach totaler Exstirpation die geschilderten Erscheinungen, sei es theil- 
weise, sei es sogar ganz ausbleiben, wie dass sie sich auf der anderen 
Seite mitunter schon dann einstellen, wenn nur gewisse Abschnitte der 
Drüse entfernt worden sind. Allein die Vennuthung, dass manche jener 
vermeintlich radicalen Operationen mit unvollkommener Entwicklung 
oder gar Ausbleiben des zu befürchtenden Myx. thyreoprivum in Wirklich¬ 
keit nur partielle gewesen seien, erscheint sicherlich sehr beachtenswerth, 
wenn man hört, dass gerade nach den von einem so geübten Chirurgen 
wie Bruns vollzogenen Thyreectomicen jene Cachexie niemals verfehlt 
hat, sich einzustellen. 

E. steht daher nicht an, seine Ueberzeugung dahin zusammen zu 
fassen, dass Myx. und Cachexia strumipriva nicht nur vermöge der Ueber- 
einstimmung der Symptome, sondern auch ihrem innersten Wesen nach 
identische Zustände mit scharf Charakteristiken Erscheinungen seien. 
Beider Ursache beruht eben auf Mangelhaftigkeit oder gänzlichem Fehlen 
der Function der Schilddrüse. 

In Bezug auf die Behandlung erklärt sich Verf. mit Entschiedenheit 
für die sogenannte Substitutions-Therapie. Den Grund für den Erfolg 
der Thyreoldin-Tabletten, welche von ihm, wie vielen Anderen in diesem 
Sinne angewendet worden sind, erblickt er in einer Steigerung des Ge- 
sammt-Stoffweelisela. Freilich kann diese, bei überreichlicher oder allzu 


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11. Januar 1K07. 


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HEU LIN KU KLINISCH E \V< KI I EN SCI IUI FT. 


lange fortgesetzter Darreichung des Mittels, za einem Zustande so allge¬ 
meiner Erregung Anlass geben — ThyreoTdismus —, dass die Gesundheit 
ernstlich bedroht wird. 

Bei dem sporadischen Cretinismus ist es bisher allerdings nicht ge¬ 
lungen, ähnlich durchgreifende und nachhaltige Erfolge zu erzielen. Allein 
auch bei diesen oft noch sehr jugendlichen Patienten lässt sich eine 
günstige Beeinflussung einzelner Symptome, zuweilen sogar eine äusserst 
auffällige Besserung des Gesammtleidens keinesfalls verkennen. 

Alles in Allem kann man sich nur freuen, dass gerade Ewald zur 
Lösung der ebenso schwierigen, wie ehrenvollen Aufgabe ausersehcn 
worden ist, die ärztliche Lesewelt in das jüngst erst eröffnete Gebiet 
der 8childdrüsenerkrankungen einzuführen. Denn epochemachend in der 
That ist die Weise, wie er sich deren entledigt hat: bei fesselnder 
Form und durchweg eigenartigem Inhalt eine Fülle wissenschaftlicher 
und therapeutischer Errungenschaften für heute, vielversprechender Aus¬ 
blicke in die Zukunft. E. Ponfick-Breslau. 


WUkens: Veber die Bedeutung der Durchleuchtung für die 
Kieferhdhleneiterung. Inaug.-Dissert. Amsterdam, de Bussy. 

Auf Veranlassung von Burger, der schon öfters für die diagnostische 
Bedeutsamkeit der Durchleuchtung bei Kieferhöhleneiterung eingetreten 
ist, hat der Verfasser eine systematische Prüfung dieser Frage vorge¬ 
nommen. Um ein ganz zuverlässiges Urtheil über die Brauchbarkeit 
dieser Methode zu gewinnen, hat W. zuvörderst eine grössere Reihe 
gesunder Individuen untersucht. Bei diesen ergab die Durchleuchtung 
der Wangen in 54 pCt., diejenige der Pupillen in 74 pCt. der Fälle ein 
positives Resultat. Der subjective Lichteindruck war in 97 pCt. der Fälle 
auf beiden Seiten vorhanden. Diese Zahlen sollen zeigen, dass das 
Vorkommen von Bildungsanomalien der Oberkieferhöhlen nicht häufig 
genug ist, um die praktische Verwerthharkeit der Methode in nennens- 
werther Weise zu beeinflussen. An diese Prüfung normaler Verhältnisse 
schliessen sich 45 kurzgehaltene, instructive Krankengeschichten an, die 
die Leistungsfähigkeit der Durchleuchtung bei der erkrankten Kiefer¬ 
höhle zu illustriren geeignet sind. Im letzten Capitel seiner Arbeit, in 
dem das Facit aus allen Untersuchungen am kranken und am gesunden 
Individuum gezogen werden soll, bemüht sich der Verfasser, die Chancen 
der Durchleuchtung gegen diejenigen der Probepunction mit nachfolgen¬ 
der Durchspülung abzuwägen. Bei dieser Gelegenheit kommt es zu 
einer kräftigen Polemik gegen Ziem, der den Werth der Durchleuch¬ 
tungsmethode, die er als eine Art von Spielerei betrachtet, nach der 
Meinung des Autors gar zu gering angeschlagen hat. Wenn Wilkens 
bei dieser Discussion Ziem zu verstehen giebt, dass er bei Abgabe 
seines Urtheils über die Brauchbarkeit der Durchleuchtungsmcthode nicht 
immer die wünschenswerthe Objectivität gewahrt habe, so wird, fürchte 
ich, Wilkens der Einwand nicht erspart bleiben, dass er andererseits 
die Beweiskraft der Probepunction nicht ganz nach ihrem Werthe ge¬ 
schätzt habe. Ich wenigstens glaube nicht, dass die zweite Hälfte der 
These XVIII (S. 64): „Gar nicht selten fällt die Probepunction zweifel¬ 
zweifelhaft aus. Wenn das Resultat der Durchspülung negativ ist, so 
ist dadurch nicht bewiesen, dass keine Kieferhöhlenentzündung vorliegt“, 
die Meinung erschüttern dürfte, welche in der Probepunction mit nach¬ 
folgender Durchspülung das souveräne Mittel für die Diagnose des Em¬ 
pyems der Highmorshöhle sieht. Durchaus anerkennenswerth ist da¬ 
gegen die Objectivität, mit der der Verfasser sein Urtheil über den 
eigentlichen Gegenstand seiner Arbeit, über die Durchleuchtung selbst, 
abgiebt. These XXI sagt hierüber: „Wiewohl die Durchleuchtung weder 
in positivem, noch in negativem Sinne absolute Sicherheit gewährt, so 
ist dieselbe ein sehr werthvolles Hülfsmittel für die Diagnostik der 
Kieferhöhleneiterung.“ Referent freut sieb, hier denselben Anschauungen 
zu begegnen, denen er selbst wiederholentlich, zuletzt in einem Aufsatz, 
der dem Verfasser wohl entgangen zu sein scheint (Eulenburg’s Real- 
encyclopädie, 3. Auf!., Artikel „Durchleuchtung“), mit fast denselben 
Worten Ausdruck gegeben hat. 


L. Jankau: Vademecum und Taschenkalender für Ohren«, Nasen«, 
Rachen« nnd Halsirzte 1890/97. Ed. Heiur. Mayer. Leipzig 

1896. 

J. hat nach dem Muster des bekannten Börner’schen Taschen¬ 
kalenders ein Büchlein zusamraengestellt, das bestimmt ist, denjenigen 
Aerzten, die sich mit den oben genannten Fachwissenschaften beschäf¬ 
tigen, zu Hülfe zu kommen. Die Zusammenstellung all’ der Dinge, die 
der Specialarzt wissen soll, ist zwar recht geschickt gemacht, die Frage 
aber, ob für das Werkchen ein Bedürfnis vorhanden war, möchte ich 
aus Hochachtung für meine Specialcollegen verneinen. Es ist doch ein 
anderes um einen praktischen Arzt, der die zahllosen Daten eines 
riesigen Arbeitsgebietes stets, 1. also auch auf seinen Krankenbesuchen, 
gegenwärtig haben muss, und 2. um den Specialisten, der nur ein kleines 
Eckchen dieses Gebietes zu bearbeiten hat nnd der überdies den weit 
überwiegenden Theil seiner Thätigkeit in seinem eigenen Hause ausübt, 
wo er jederzeit, wenn es einmal Noth thuen sollte, aus wissenschaft¬ 
lichen Werken von anerkanntem Werth sich Rath holen kann. Ich 
fürchte, dieses Büchlein dürfte, was gewiss nicht in der Absicht seines 
Verfassers lag, denjenigen am meisten Vorschub leisten, die weder durch 
ihre Ausbildung noch durch ihre Fähigkeiten einen Anspruch auf den 
Namen und die Stellung eines Specialarztes haben. 


A Teilte: Die Behandlung des Schlmkwehs. Zeitschrift für prak¬ 
tische Aerzte 1896, H. 3 u. 4. 

Verf. giebt eine Reihe diätetisch-symptomatischer Verhaltungsmaass¬ 
regeln, die dazu bestimmt sind, neben der eigentlichen allgemeinen und 
localen Therapie, der A. selbstverständlich für jeden Einzelfall die erste 
Rolle zuweist, die Schmerzhaftigkeit des Schluckactes bei den verschie¬ 
denen Halserkrankungen zu mildern. In den Fällen, wo eine medica- 
mentöse Behandlung nothwendig wurde, sah A. von einer Combination 
von Antipyrin mit Cocain (2 : 1) die beste Wirkung. 

A. Kuttner. 


VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. 

Berliner medlcinteche Gesellschaft. 

Sitzung vom 16. December 1896. 

Vorsitzender: Hr. R. Virchow. 

Schriftführer: Hr. R. Rüge. 

Vorsitzender: Wir haben als Gäste unter uns: Herrn Dr. Max 
Stifler aus Steben in Bayern, Herrn Dr. Gensichen (Vietz), Herrn 
Dr. Niels (Sjöbring). 

Sodann habe ich für diejenigen, die es noch nicht wissen sollten, 
zu bemerken, dass heute der 60. Geburtstag unseres stellvertretenden 
Vorsitzenden Herrn von Bergmann ist. Wir würden eine grössere 
Feierlichkeit bereitet haben, wenn nicht unser Jubilar in der allernach- 
drücklichsten Weise im Voraus sich das verbeten hätte. Ich kann daher 
leider nichts weiter thun, als Ihre Aufmerksamkeit auf diesen glück¬ 
lichen Tag zu richten und in Ihre Erinnerung zurückrufen, wie viel wir 
Herrn von Bergmann verdanken durch seine immer rege und ener¬ 
gische Betheiligung an unseren Verhandlungen und seine vielfachen 
Mittheilungen, insonderheit auch für die Ausgestaltung unserer äusseren 
Erscheinung. Möge es ihm gestattet sein, noch recht lange in gleicher 
Weise unter uns zu wirken. Der Vorstand glaubt, es würde Ihrem 
Wunsche entsprechen, wenn wir dem Jubilar von hier aus der Sitzung, 
was er sich doch nicht verbitten kann, den Ausdruck unserer Gefühle 
in einem Telegramm vorlegten. Wenn Sie damit einverstanden sind, 
werden wir das sofort besorgen. (Allgemeine Zustimmung.) 

Dann habe ich mitzutbeilen, dass die Aufnahmecommision am 
9. December folgende neue Mitglieder aufgenommen hat: die Herren 
DDr. Gutheil, Hirschei, Adolph Jacoby, Rudolf Isaac, 
Julian Lazarus, Löwenthal (Lankwitz), Theodor Mayer, 
Alfred Moll, B. Pionski, Pollack, Wilhelm Saalfeld, 
Schubert, Richard Schultz, Steiner, Tannhauser und 
Z e p 1 e r. 

Aus der Gesellschaft geschieden sind die Herren DDr. Steinhoff 
und Wanjura. 

Vor der Tagesordnung. 

Hr. Heubner: Der Zufall hat es gewollt, dass gerade am Tage 
einer Sitzung der Medicinischen Gesellschaft mir von Herrn Collegen 
Jahn (Eberswalde) ein Kind zugeschickt worden ist, welches so viel 
Interesse bietet, dass ich geglaubt habe, diesen Wink des Schicksals be¬ 
nutzen und Ihnen das Kind zeigen zu sollen. 

Das Kind mit diesem gewaltigen Körper, den Sie hier vor sich 
sehen, ist 8 Monate alt. Sein Gewicht beträgt 39 Pfund. Untersuchen 
wir, wodurch dieses ganz ungewöhnliche Volumen des Säuglings bedingt 
ist, so überzeugen wir uns leicht, dass jedenfalls den Hauptantheil daran 
eine bedeutende Vermehrung des Fettgewebes hat. Und zwar sehen wir 
diese Fettentwicklung vorwiegend an das Unterhautzellgewebe geknüpft. 
Ganz mächtig gepolstert von diesen Fettmaasen ist die Haut der Brust, 
des Bauches, der Extremitäten, auch der Wangen, weniger des Schädels. 
Die inneren Organe und speziell das Fettgewebe des Bauches sind wohl 
nicht so stark an der Fettsucht betheiligt, sonst würde der Bauch wahr¬ 
scheinlich noch voller sein, als er ist. An der Leber ist keine Ver- 
grösserung nachzuweisen. Auch sonst bieten die inneren Organe bis 
auf einen geringen Katarrh keine auffällige Veränderung. Die Herz¬ 
töne sind laut, die Herzdämpfung nicht verbreitert. Auf den Beginn 
einer weiteren constitutioneilen Anomalie, der Rachitis, deutet eine 
unscheinbare Kraniotabes hin. Ara Thorax und den Extremitäten sind 
aber in Bezug auf den Knochenbau keine Abweichungen wahrzunehmen. 
Zähne sind zwei durchgebrochen. 

Dieses Kind stammt von Eltern, die beide im 28. Lebensjahre 
stehen. In den Familien beider Eltern sind ähnliche Znstände nicht 
beobachtet worden. Nur sagen beide Eltern, dass die Mitglieder ihrer 
Familien alle kräftig, knochig, gross nnd auch wohlbeleibt gewesen seien, 
aber keineswegs in dieser abnormen Weise fett. Ebenso sind keine 
nervösen Leiden, keine Erkrankungen an Diabetes vorgekommen. 

Die Mutter ist eine wohlgebildete Frau, die früher sehr stark in 
Brust und Hüften war, jetzt aber durch die Ernährung dieses Kindes 
abgekommen sein will. Der Vater macht mehr einen schwächlichen als 
kräftigen Eindruck. Unser Wundermädchen ist das dritte Kind der 
Eltern. Die beiden ersten Kinder sind normal entwickelt. Das erste 
hat die Mutter nicht nähren können, das zweite bat sie ein Jahr lang 
gestillt. Dieses wiegt jetzt, im Alter von 2 1 /, Jahren, 25 Pfund, also 
gerade 2 /, so viel, als seine achtmonatliche Schwester. M. H., das Ge¬ 
wicht dieses achtmonatlichen Säuglings entspricht ungefähr demjenigen 


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3G 


No. 2. 


BKKL1NEK KLINISCH K WOC11 KN SCI I UI KT. 


eines Kindes, das zwischen dem fi. nnd 7. Lebensjahre steht. Das 
Kind scheint schon im Mutterleibe der Mutter einige Unbequemlichkeiten 
gemacht zu haben. Wenigstens in den letzten Wochen der Schwanger¬ 
schaft hat diese eine Schmerzhaftigkeit auf de» rechten Seite des Leibes 
öfters empfunden. Das Kind wog bei der Geburt 15 I*fund. Trotzdem 
ist die Geburt aber leicht gewesen. Das spricht auch dafür, dass dieses 
ganz abnorme Gewicht eines Neugeborenen nicht durch eine allgemeine 
Riesenhaftigkeit des Kopfes, Thorax u. 8. w. bedingt gewesen ist, son¬ 
dern dass die Hauptsache auch damals schon ein grosser Fettreicbthum 
war. Wir haben es also mit einer angeborenen Fettsucht au thun, was 
wohl als eine grosse Seltenheit betrachtet werden kann. Dass allerdings 
auch das übrige Körperwachsthum ein über normales ist, also abgesehen 
von der Fettsucht auch eine allgemeine bedeutende Wachsthumsenergie 
vorhanden, lässt sich aus der abnormen Körperlänge schliessen. Dieselbe 
beträgt jetzt 74 cm. Aber während diese Länge etwa einem doppelt 
so alten Mädchen entsprechen würde, kommt das Gewicht in der Norm 
einem neunmal so alten Kinde zu. 

Im Uebrigen ist das Verhalten des Kindes seinem Alter entsprechend 
ganz normal. Die geistige Entwicklung ist keineswegs zurückgeblieben, 
im Gegentheil, sie ist vielleicht etwas voraus. Es sitzt schon allein, es 
fängt an zu steheu, es entwickelt auch bereits eine Neigung seines Ge¬ 
schlechts, trinkt nämlich gern Kaffee, nimmt dabei die Tasse in beide 
Hände und schlürft die Flüssigkeit mit Geschick und Behagen ein. 

Die Frage, worauf diese merkwürdige. Anomalie sich gründet, 
ist wohl schwer zu beantworten. Ich will nicht verschweigen, dass der 
Herr College, in dessen Behandlung das Kind steht, den Vater im vorigen 
Jahre an einer Hemiplegie behandelt und durch spezifisches Verfahren 
geheilt bat. Sonst sind allerdings keine bestimmten Anhaltspunkte in 
dieser Richtung da. Der Vater selbst hat seinen Militärdienst geleistet 
und damals öfter am Kehlkopf gelitten. Dass die Stoffwechselanomalie 
des Kindes etwa mit einer spezifischen Erkrankung des Vaters in Zu¬ 
sammenhang stehen könnte, dafür kenne ich wenigstens in der Literatur 
kein Analogon. Ueberhaupt habe ich in der am heutigen Tage mir 
zugänglichen Literatur keinen ähnlichen Fall aufflnden können. Die 
einzige vielleicht hierher gehörige Angabe, die ich finden konnte, betrifft 
einen Fötus. 

Ballantyne in Edinburg, der ein Werk über die Fötalkrankheiten 
veröffentlicht hat, giebt eine Abbildung, die ich Ihnen hier vorlege, 
welche ein todtgeborenes Kind betrifft. Der Tod ist aber, wie es 
scheint, nicht durch fötale Krankheit, sondern durch einen Sturz der 
Mutter hervorgerufen. Ballantyne bezeichnet den Fall als allgemeine 
angeborene Obesity. Bei der Sektion fand sich, dass die Dieke des 
Fettpolsters am ganzen Körper 2 cm betrug. Das wäre also auch eine 
Beobachtung von angeborener allgemeiner Fettsucht. Auch dieses Kind 
hatte eine die Norm etwas überschreitende Länge von 53,2 cm. — 
Ueber die Ursachen der Fettsucht hat Ballantyne in seinem Falle 
nichts eruirt, als dass auch die Mutter sehr kräftig war. Er führt 
übrigens einige analoge Fälle aus der Literatur an und verweist auf ein 
ähnliches Vorkommniss in der Thierwelt, die sogenannten „Speckkälber“. 

Man sieht ja nicht so selten abnorm grosse und namentlich fette 
Menschen öffentlich zur Schau gestellt. Ich erinnere mich, auch einmal 
Fettkinder im Alter von 3—5 Jahren auf diese Weise kennen gelernt 
zu haben. Aber ein solcher Fall im Säuglingsalter ist mir noch nicht 
vorgekommen. Und besonderes Interesse verdient dabei der Umstand, 
dass die Anomalie schon im Mutterleib sich zu entwickeln begonnen hat. 

Das Kind ist seitdem von der Mutter genährt, hat also in den 
8 Monaten nichts weiter bekommen, als Muttermilch und, wie schon 
gesagt, Kaffee, diesen aber erst in der letzten Zeit. Mit dieser Nahrung 
ist das Kind also in 8 Monaten einen Ansatz von 12 Kilo zu bewirken 
im Stande gewesen. 

Die Mutter giebt allerdings ausdrücklich an, dass dieses Kind aus 
der Brust ungleich mehr heraustrinke, als das vorige. Aber es ist 
schwer, eine sogrosse Nahrungsmenge vorauszusetzen, dass ohne krank¬ 
hafte Neigung des Organismus ein solch enormer Fettansatz möglich 
wäre. Das grösste bisher bekannte Quantum Muttermilch, welches aus 
der Frauenbrust geliefert wurde, fand sich in einem Falle von E. Pfeiffer 
und betrug 1150—1205 gr pro Tag. Das betreffende Kind wog aber 
am Ende des 1. Lebensjahres doch nur etwa 24 Pfund. 

Da wir heute besonders ermahnt worden sind, uns kurz zu 
fassen, so will ich mich nicht auf die Gedanken einlassen, die ich etwa 
bezüglich der Behandlung dieses Kindes hätte. Ich möchte aber betonen, 
von wie grossem Interesse es wäre, wenn einige Male die 24ständige 
Menge von Muttermilch, welche das Kind zu sich nimmt, bestimmt 
würde, was ja ganz leicht geschehen kann. Natürlich noch wichtiger 
würde auch in theoretischer Beziehung eine wirkliche Untersuchung des 
Stoffwechsels und des respiratorischen Austausches sein. 

Denn der Fall ist keine blosse Curiosität, sondern bietet erheb¬ 
liches theoretisches Interesse. Es ist gerade in letzter Zeit wieder 
die Frage aufgeworfen worden, ob bei der Fettsucht des Erwachsenen 
nicht vielleicht bestimmte constitutiouelle Dispositionen eine Rolle spielen, 
oder ob ein grosser Fettreichthum des Erwachsenen lediglich erklärt 
werden könne durch bestimmte äussere Factoren: phlegmatisches Tempe- 
» rament, Abneigung gegen Bewegung bei zu reichlicher und besonders zu 
fettreicher Ernährung. Herr Hirschfeld z. B. stellt sich in seiner vor 
Kurzem erschienenen interessanten Schrift über Ueberemährung und 
Unterernährung auf die Seite derer, die meinen, dass bei der Fettleibig¬ 
keit der Erwachsenen die eben angedeutetc Categorie von äusseren mehr 
zufälligen Factoren eine hinreichende Erklärung für die Fettbildung 


liefere, wenn man nur in jedem Falle genau auf alle Einzelheiten der 
Lebensgewohnheiten eingebe. Ja, ich meine doch, in einem Falle, 
wie dem hier gezeigten, wird man um die Annahme schwerlich herum 
kommen können, dass man es mit einer im Organismus selbst liegenden 
krankhaften, oder wenigstens abnorm stark entwickelten, ungewöhnlichen 
Richtung des Stoffwechsels und Wachsthuras zu thun hat. 

Hr. Jaques Meyer: Der Herr Vortragende hat allerdings bei dem 
von ihm demonstrirten Falle die Möglichkeit eines Zusammenhanges 
desselben mit Diabetes ins Auge gefasst, jedoch einen solchen nicht 
nachweisen können. Ich gestatte mir, im Anschluss an diese Beobach¬ 
tung eine andere mitzutheilen, welche Ich vor einer Reihe von Jahren 
in Karlsbad bei einem dortigen Einwohner gemacht habe. Es handelte 
sich um einen Knaben von etwa 3 bis 4 Jahren, der damals, zum 
mindesten nach dem Aeusseren zu urtheilen, ein Körpergewicht von 
80—100 Pfund gehabt hat. Ueber die Verhältnisse während seines 
Säuglingsalters kann ich allerdings keine Auskunft geben. Interessant 
aber ist die Thatsache, dass, als der Knabe etwa 6 Jahre alt war, der 
Vater von Diabetes befallen worden und nach wenigen Jahren der 
Krankheit erlegen ist. 

Hr. Edmund Falk: Ich gestatte mir, Ihnen hier das Präparat eines 
carclnomatdBen Polypen zu demonstriren, eine Erkrankung, die, wenn 
sie auch relativ selten ist, doch grosses praktisches Interesse darbietet. 
Das Präparat stammt von einer 45jährigen Frau, die mir dnreh Herrn 
Collegen Bock zur Entfernung des Polypen überwiesen wurde. Der 
Polyp war klein wallnussgross, ging von der hinteren Wand der Cervix 
Uteri aus und verursachte wehenartige Schmerzen und Blutungen. Das 
drehen des Polypen gelang leicht; bei der mikroskopischen Untersuchung 
zeigte sich jedoch, dass sich an einer kleinen Stelle dieses Polypen 
deutlich eine carcinomatöse Neubildung entwickelt hatte. An den Prä¬ 
paraten, welche ich oben in der Wandelhalle aufgestellt habe, sehen 
Sie in dem Stroma, das aus Bindegewebe und glatter Muskulatur be¬ 
steht, mehr oder weniger ektatische Drüsen mit einschichtigem Cyltnder- 
epithel. Von dem mehrschichtigem Plattenepithel, das den Polypen über- 
kleidct, dringen Zapfen in das unterliegende Gewebe. An einigen Stellen 
fehlt das Plattenepithel, hingegen sehen Sie tief in dem kleinzellig 
inflltrirten Stroma zwischen den Drüsen Zapfen, welche aus epitheloiden 
Zellen bestehen. Hier sind auch die Drüsen verändert Im Innern 
finden wir eine 4—5fache Schiebt epitheloider Zellen, während die 
ursprünglich einschichtige Epithelanskleidung entartet, zerfallen als dunkel 
gefärbte Masse in der fast vollständig ausgefüllten Drüse liegt. Endlich 
sehen Sie in einem gefässreichen Bindegewebe eingeschlossen, deutlich 
carcinomatöse Alveoli, im Inneren des Alveolus finden sich bisweilen 
kleinste Gefässe. 

Auf Grund dieses Befundes exstirpirte ich den Uterus, der retro- 
flectirt und fixirt war. Die Exstirpation war nicht ganz leicht, jedoch 
war der Verlauf der Operation — die Operation geschah mittelst der 
Klemm-Methode —, ebenso wie die Reconvalescenz normal, sodass die 
Patientin am lß. Tage aufstehen und am 18. Tage geheilt entlassen 
werden konnte. Am exstirpirten Uterus ist ausser einer kleinzelligen 
Infiltration an der Stelle, wo der Polyp gesessen hatte, nichts Patholo¬ 
gisches nachweisbar. 

Dieser Fall zeigt wieder, wie wichtig es ist, jeden Polypen mikro¬ 
skopisch zu untersuchen, eine Forderung, die auch Abel auf Grund 
eines Willi am'sehen Falles aufstellt. 

Zum Schluss gestatte ich mir, Herrn Geheimratb Virchow für die 
Durchsicht der Präparate ergebensten Dank auszusprechen. 

Vorsitzender: Ich ertheile jetzt vor der Tagesordnung das Wort 
Herrn Dr. Gensichen. Dieser Herr ist als Gast unter uns. Er hat 
in der Klinischen Wochenschrift seinen eigenen Fall veröffentlicht. Er 
glaubt, dass er durch Injektion mit Heilserum eine Erkrankung erlitten 
habe. Diese Erkrankung wird Ihrer Kenntniss zugänglich gemacht 
werden. 

Hr. Gensichen (a. G.), In No. 49 der Berliner klin. Wochenschrift 
habe ich über meine Erkrankung in Folge einer Einspritzung mit Prof. 
Behring’s Heilserum berichtet, ich will den Fall nochmals kurz vor¬ 
tragen: Im November 1895 erkrankte ich an einer einseitigen Rachen- 
dipbtherie, deren Verlauf ich durch eine Einspritzung mit Behring's 
Heilserum, Fläschchen No. II, die ich auf der linken Seite des Ab¬ 
domens machte, günstig zu beeinflussen hoffte. Die Heilung der Diph¬ 
therie trat allerdings schnell ein; es zeigten sich jedoch bald recht un¬ 
liebsame Folgczustände, die nur der Wirkung des Heilserums zuge¬ 
schrieben werden können. Die Resorption des Heilserums geschah 
zunächst völlig reizlos, — nach einer Woche trat eine ausgedehnte Urti¬ 
cariaeruption auf, welche sich über eine Woche hinzog, und ich fühlte 
mich während der ersten Wochen nach der Injection krank; besonders 
machte sich ein quälender Durst geltend, ohne dass ich fieberte. Zu 
Ende der 3. Woche zeigte sich eine ernstere Erscheinung; es bildeten 
sich grosse Abscesse mit ausgedehnter Infiltration; es ist möglich, dass 
kleinere Pusteln schon früher aufgetreten waren, die ich jedoch nicht 
auf die Wirkung des Serums bezogen hatte. Der Gedanke an den ur¬ 
sächlichen Zusammenhang der Abscesse mit dem Heilserum kam mir 
erst, als ich die eigenthümliche Localisation der folgenden Abscesse 
beobachtete. Es trat immer ein Abscess nach dem anderen auf, manch¬ 
mal auch 2—3 zugleich, daneben kleine Pusteln, sie überschritten jedoch 


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während des ersten halben Jahres der Erkrankung nie die Grenzlinie 
der linken Körperseite incl. linken Armes; erst nach Verlauf eines 
halben Jahres breiteten sie sich auch auf die rechte Seite aus. . Die 
Beine blieben völlig verschont. Waren die Abscesse auf der Höhe, so 
zeigte sich jenes quälende Durstgefiihl und allgemeine Abspannung 
wieder ; Fieber fehlte jedoch fast ganz. Die grossen Abscesse erreichten 
durchschnittlich einen Umfang von 10 cm Länge und 6 cm Breite. Die 
Abscesse wuchsen etwa in einer Woche zur Keife, öffneten sich dann 
und entleerten spontan ein blutig-eiteriges Secret, dann bildeten sie sich 
zurück, hinterliesscn jedoch mehrfach Narben. Der Vorgang hat jetzt 
über ein Jahr gedauert und ist noch nicht völlig abgeschlossen, doch 
treten grössere Abscesse nur noch selten auf. Ich habe in meiner Zu¬ 
schrift die Abscesse als rotzbeulenähnlich bezeichnet und glaube, dass 
sie damit am besten charakterisirt sind, indessen hat die bacteriologische 
Untersuchung, die durch den Herrn Geheimrath Virchow veranlasst 
worden ist, Staphylokokken ergeben. 

Ich bin durch diese Erkrankung in meiner Uebcrzeugung befestigt 
worden, dass die Anwendung des Heilserums einen viel zu weiten Um¬ 
fang angenommen hat, und ich halte insbesondere den Gebrauch des 
Serums zu Immunisirungszwecken für verfehlt. Ich verkenne die ab¬ 
kürzende Wirkung des Heilserums auf den Krankheitsverlauf in ge¬ 
eigneten Fällen nicht, doch sollte man die Indication erheblich ein¬ 
geschränkter stellen, da die Gefahren der Injection nicht zu unterschätzen 
sind. Ich erinnere Sie an den traurigen Fall des L an gerh ans'sehen 
Kindes, und ähnliche Fälle sind auch aus anderen Orten gemeldet, so 
aus Paris (Vossische Zeitung vom 28. April 1896), aus Oregon (New York 
Medical News) und endlich neuerdings der bekannte Fall des Sanitäts- 
rathes Dr. Krueckmann. Das „Centralblatt für Kinderheilkunde“ be¬ 
rechnet ferner, dass bei 6 pCt. der Injectionsfälle Nachkrankheiten ein- 
treten, vorzüglich Gelenkrheumatismus, Scharlach- und masernähnliche 
Erkrankungen. Diese Erkrankungen und Todesfälle beweisen, dass das 
Heilserum eine Reihe verschiedener, noch unbekannter organischer Gifte 
enthält, welche im Pferde oder Schaf wahrscheinlich latent sind, in¬ 
dessen durch die Infection des Thieres mit dem Diphtheriegifte mobil 
gemacht und zu acuter Thätigkeit angeregt werden. Es lässt sich über¬ 
haupt nicht behaupten, dass es mit jenen 6pCt. der Erkrankungsfälle 
abgethan ist, es werden vielmehr erst später — vielleicht nach Jahren 
— die chronischen Krankheitskeime, die durch das Heilserum gesetzt 
werden, sich geltend machen. — 

Die Berl. klin. Wochenschrift hat sich bemüssigt gefühlt, meinem 
kleinen Aufsatze eine Reihe kritischer Bemerkungen anzubängen, welche 
ich hier gleich in das richtige Licht setzen möchte. Die Berl. klin. 
Wochenschrift sagt: „Aus „Gründen der Unparteilichkeit“ habe sie 
meinen Aufsatz acceptirt“, dass es aber mit dieser Unparteilichkoit eine 
eigene Bewandtniss hatte, geht aus dem Zusatze hervor: „und weil wir 
einer von Herrn Dr. G. andernfalls in Aussicht gestellten Veröffent¬ 
lichung in der politischen Presse ihren sensationellen Charakter nehmen 
wollten“. In ihrer Kritik steift sich nun die Berl. klin. Wochenschrift 
hauptsächlich darauf, dass ja in den Abscessen Kotzbacillen nicht nach¬ 
gewiesen wären, darauf habe ich zu antworten: Ich habe lange Zeit 
nicht die geringste Absicht gehabt, den Fall zu veröffentlichen, mir 
selbst aber war es vollkommen gleichgültig, welche Bacillen man in 
dem Eiter finden würde, denn ich erblicke in den Bacterien, 
seien es Rotzbacillen oder Streptokokken, überhaupt nicht 
die Krankheitserreger, denn die Bacterien sind nur die 
Zerfallsprodncte der Zellen, wie dies Dr. Kreidraann in 
Altona neuerdings experimentell erwiesen hat. 1 ) Es war 
nicht meine Absicht, das Heilserum der Verbreitung des Rotzes zu ver¬ 
dächtigen, ich habe im Interesse der Wissenschaft darauf hinweisen 
wollen, dass auch solche Folgezustände der Serum injection eintreten 
können, mag man die Abscesse Rotzbeulen, Furunkel oder wie sonst 
nennen. 

Die Berl. klin. Wochenschrift sagt dann, dass es sich ihres Er¬ 
achtens „um nichts mehr und nichts weniger handele, als einen Abscess, 
wie er gelegentlich bei Sublimat- und Morphiuminjectionen auch auf¬ 
getreten ist und sich durch das laiaser aller propagirt hat“. Zunächst 
möchte ich wohl wissen, ob der Herr Kritiker nach derartigen Injectionen 
schon einmal hat multiple Abscesse auftreten sehen, ich glaube, diese 
existiren nur in seiner Phantasie; wie kommt er aber dazu, von einem 
laisser aller der Behandlung zu sprechen? Ich versichere Sie, dass ich 
längere Zeit mit Incision, Chlorzink and dergl., eine so eifrige bacterien- 
tödtende Thätigkeit entfaltet habe, als wenn ich selbst an deren Wirk¬ 
samkeit geglaubt hätte; diese Arbeit ist aber völlig gutzlo3 gewesen. 

Die fernere Behauptung der Berl. klin. Wochenschrift, dass es keinem 
Menschen einfiele, Diphtherieserum bei Scharlachdiphtherie anzuwenden, 
ist ebenfalls unzutreffend; ich bin Empfehlungen dieser Art mehrfach in 
der medicinischen Presse begegnet und könnte Ihnen Namen von Col- 
legen nennen, welche bei Scharlachdiphtherie fleissig gespritzt haben; 
ich selbst habe es nie gethan. 

Wenn die Berl. klin. Wochenschrift ähnliche Mittheilungen, wie die 
meine, nicht wünscht „im Interesse einer ruhigen Entwickelung der 
Heilserumsfrage“, so ist darauf zu erwidern, dass bei allen wissenschaft¬ 
lichen Fragen auch die Fehlerquellen zu berücksichtigen sind, zumal bei 
einer Frage, welche noch so im Fluss ist. Die Bacteiiologie bringt hier 
wieder das Kunststück zuwege, ein einheitliches Krankheitsbild, wie es 

1) „Ursache, Vorbeugung und Bekämpfung der Cholera“, Anhang. 
Hamburg, Verlag von Max Schmidt. 


die Diphtherie ist, iu zwei Theile zu zerreissen. Herr Prof. Behring 
selbst weist jene bösartigen Fälle, bei denen das ärztliche Können früher 
sowohl wie jetzt werthlos war, der Wirkung, nicht des Löffler'sehen 
Bacillus, sondern den Streptokokken zu; dann wäre allerdings ein 
Streptokokkenheilserum ein viel grösserer Segen für die Menscheit, als 
das sogenannte Diphtherieheilserum, denn der gewöhnlichen Diphtherie 
standen wir bisher auch nicht machtlos gegenüber. — 

Ich habe die Veröffentlichung meines Krankheitsfalles für meine 
Pflicht gehalten und dieses Gefühl lässt auch ein abfälliges Urtheil der 
Berl. klin. Wochenschrift leicht ertragen. 

Discussion. 

Hr. Virchow: Ich darf wohl meinerseits Einiges hinzufügen. 
Als Herr College Gensichen sich mir vorstellte, war ich allerdings 
überrascht über die grosse Zahl und die sonderbare Verbreitung, 
die diese, wie er sagt, Abscesse genommen hatten. Die Erkrankung 
war ursprünglich an der linken Seite durch die Impfung hervorgerufen 
worden; sie hat sich dann allmählich verbreitet in der Umgebung, ist 
hinaufgestiegen bis hoch oben zum Arm, und hat sich endlich nach 
langer Zeit auch auf der entgegengesetzten Seite gezeigt. Ich kann 
auch nicht leugnen, dass die besonderen Formen, unter denen die ein¬ 
zelnen Abscesse auftreten, manches sehr Auffallende haben. Es waren 
fast immer tiefgehende Eiterherde, die durch die Cutis hindurch in das 
Unterhautgewebe reichten; durch ein rundes, scharf ausgeschnittenes Loch, 
wie man gewöhnlich sagt: ein wie mit dem Hohleisen abgeschlagenes 
Loch communicirten die äusserlich sichtbaren Depots mit etwas grösseren 
sinuösen Höhlen, aus welchen sich eine ziemlich reichliche Menge Secret 
ausdrüeken liess. Ich muss anerkennen, dass Manches in dem Fall 
Ubereinstimmt mit den Erscheinungen, wie man sie bei Wurm der Pferde 
oder bei Wurm des Menschen sieht. Dieser ist ja heutzutage etwas selten 
geworden; ich habe ihn aber noch gesehen. Auch in dem vorliegenden 
Fall gab es aut einer hart geschwollenen, schmerzhaften, diffusen An¬ 
schwellung pnstulöse Efflorescenzen, wie sie bei Malleus Vorkommen. 

Um die Natur der Erkrankung möglichst sicher zu stellen, haben 
wir in möglichster Genauigkeit die Untersuchung gemacht. Herr Prof. 
O. Israel und Herr Dr. Davidsohn sind mit grossem Eifer mir be- 
hülflich gewesen. Wir haben den Eiter aus den Abscesshöhlen selbst 
untersucht, wir haben Impfungen damit auf Meerschweinchen gemacht, 
wir haben Reinculturen angelegt, haben damit noch einmal auf Tbiere 
geimpft, — das Resultat ist gewesen, wie Herr Gensichen schon ge¬ 
sagt hat, eine sehr reiche Staphylococcusflora, eine beinahe vollkommene 
Reincultur, schon bei der ersten Uebertragung. Irgend eine Spur von 
einem Rotzbacillus ist dabei nicht zu Tage getreten, weder in dem ersten 
Eiter, noch in den Culturen. Ebensowenig hat sich an den Meerschwein¬ 
chen etwas gezeigt, was auf eine weitergehende Erkrankung schliessen 
lässt. Ich habe die Thiere heute noch einmal revidirt; sie befinden sich 
durchaus wohl. Die kleinen Wunden haben sich geschlossen, und es 
deutet nichts darauf hin, dass irgend ein böser Process in ihnen arbeitet. 
Nichtsdestoweniger sollen die Thiere noch weiter beobachtet werden. 
Da erst 10—12 Tage über diese Sache hingegangen sind, könnte man 
ja sagen: das genügt noch nicht. Die Beobachtung soll also fortgesetzt 
werden. Sollte sich noch irgend etwas Bemerkenswerthes ergeben, so 
wird es Ihnen seiner Zeit berichtet werden. 

Ich wollte andererseits bemerken, dass wir Anatomen in der Lage 
sind, öfters analoge Erfahrungen zn machen nach Leicheninfectionen, 
bei denen bekanntlich ja auch eine chronische Form existirt, die sich 
fortschleppt und immer neue Eruptionen macht, und diese Eruptionen 
haben in der That eine sehr grosse Aehnlichkeit mit dem, was Herr 
Gensichen an sich gefunden hat: ziemlich tiefgehende, durch die Cutis 
hindurchreichende, scharf ausgeschnittene, sinuöse Abscesse, aus denen 
sich nach ihrer Eröffnung ein relativ reichliches Secret entleert, und 
schmerzhafte diffuse Schwellungen der Nachbarschaft. 

Ich denke, damit wird wohl vorläufig das Interesse an dem Fall 
befriedigt sein. Es schien mir nur, dass in einem Fall, wie diesem, 
der so früh in die Oeffentlicbkeit übergegangen ist, die Oeffentlichkeit 
theilnehmen müsse an dem Fortschritt der Beobachtungen. 

Hr. Ewald: Die Ausführungen, die unser Herr Vorsitzender ge¬ 
macht hat, entheben mich eigentlich der Nothwendigkeit, auf das, was 
Herr Gensichen vorgebracht hat, zu antworten. Da er aber die Ke- 
daction der Klinischen Wochenschrift besonders angegriffen hat, so will ich 
doch auch noch einige Worte zur Erläuterung hinzufügen. Ich muss zunächst 
mein ausserordentliches Befremden darüber ausdrücken, dass 
ich jetzt, wie ich sehe und höre, Herrn Gensichen hier vorflnde mit 
noch frischen oder wenigstens noch nicht ab ge heilten 
Pusteln behaftet, aus denen noch jetzt Material zur Unter¬ 
suchung auf Bacillen gewonnen werden konnte. Hätte ich das 
überhaupt gewusst, resp. hätte die Redaction der Klinischen Wochen¬ 
schrift gewusst, dass der Process noch in BItithe und nicht längst abge¬ 
laufen ist, dann würden wir Herrn Gensichen’s Mittheilung überhaupt 
nicht angenommen, sondern ihn aufgefordert haben, den einzig strin¬ 
genten Beweis dafür zu führen, dass es sich um Rotzerkrankung handeln 
könnte — denn man muss aus dem ganzen Tenor seines Aufsatzes doch. 
annehmen, dass er dieses Glaubens war — d. h., dass er nun einmal zu¬ 
nächst den Versuch machte, diesen Rotzbacillus nachzuweisen, was doch 
die erste Aufgabe einer einigermaassen gewissenhaften Beobachtung ge¬ 
wesen wäre. Das ist, wie Sie sehen, nicht geglückt, und damit fällt 
also diese ganze Sache in sich zusammen. 


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No. 2. 


! i i;i: UN ich k u n isri 1 k \v< »o i kn s< m i k i kt 


_ 

Was nun das Uebrige betrifft, so stehe ich allerdings auf dem 
Standpunkt, dass ich die Erkrankung des Herrn Gensichen für nichts 
mehr und nichts weniger wie für eine Staphylokokkeninvasion halte, wie 
sie gelegentlich bei Verletzungen der Haut vorkommt, und wie sie 
namentlich bei, ich will einmal sagen nicht ganz reinlich ausgeführten 
Injectionen, trotzdem der Betreffende glauben kann, dass er ganz anti¬ 
septisch vorgegangen sei, Vorkommen kann. Ich kenne selbst solche 
Fälle, wo sich unter ähnlichen Umständen Uber ein halbes Jahr und 
noch länger solche Abscesse entwickelt haben, die aufbrachen, die 
wieder verschwanden, wieder aufbrachen, trotzdem sie von geübten 
Chirurgen, die ihre Sache gut verstehen und kennen, auf das Allerpein¬ 
lichste behandelt wurden. Also das spricht auch gar nicht dagegen, 
dass die Dinge nun auf eine vorübergehende antiseptische Behandlung 
nicht zurückgegangen sind. 

Das würde das Mcritorische der Sache sein. Ich möchte aber noch 
bemerken, dass ja zu der Zeit, wo man noch nicht von der bacillären 
Entstehung des Rotzes etwas wusste, gerade der Umstand, dass nach 
Injectionen von Eiter und von anderen reizenden Substanzen unter die 
Hant gelegentlich Eiterpusteln und Abscesse auftraten, die in ihrer Ver¬ 
breitung und die in ihrer ganzen Wesenheit die grösste Achnlichkeit mit 
Rotz haben — ich sage, dass gerade dieser Umstand von den Vertliei- 
digern des autochthonen Auftretens des Rotzes als ein Beweis für ihre 
Ansicht angeführt wurde. Indcss, ich kann mich Herrn Gensichen 
gegenüber über diese Dinge gar nicht in eine Discussion einlassen. Der 
Herr steht auf einem so absolut anderen Standpunkt, dass davon keine 
Rede sein kann — für mich wenigstens. Wenn Jemand sagt, dass er 
die Bacillen nur als ein Zerfallsprodukt des Rotzes betrachtet (Herr 
Gensichen: Der Zellen!) — meinetwegen der Zellen betrachtet, dann 
kann ich mit ihm darüber nicht discutiren. Ich muss aber doch bemer¬ 
ken, dass ich es für die Pflicht der guten medicinischen 
Presse halte, solche Dinge zunächst Innerhalb unseres 
Faches und Collegiums zu lassen und sie nicht, wenn man 
es irgend verhindern kann, gleich in die Welt hinauszu¬ 
senden und da nun kritiklos von irgend Jemand aufge¬ 
griffen zu sehen und sie in einer sensationellen Weise 
aufbauschen zu lassen. Aus diesem Grunde also habe ich damals, 
oder haben wir — ich spreche immer im Namen der Redaciion der 
Klinischen Wochenschrift — die Sache aufgenommen und gleich mit der, 
von Herrn Gensichen so übel vermerkten Notiz versehen, weil Herr 
Dr. Gensichen uns schrieb, wenn wir das jetzt nicht aufnähmen, dann 
finde er kein Gehör vor der medicinischen Presse, dann müsse er sich an 
■die politische Presse wenden, und das wollten wir, einer so unsicheren 
Sache gegenüber, so weit wie möglich wenigstens, vermieden wissen. 
Indess, er scheint doch ein grosses Bedürfniss zu haben, in die Po¬ 
litik zu gehen. Ich habe hier einen Abschnitt einer Zeitung vor mir, 
in dem nun das, was er uns hier erzählt hat, seine ganze Kranken¬ 
geschichte und Bemerkungen gegen uns schliesslich doch noch mitgetheilt 
ist. Wenn er das als eine Art von Schmerzensgeld für seine Leiden 
betrachtet, so mag er das thun. Wir haben wenigstens das Unserige 
gethan, dass wir ihn so weit wie möglich daran verhindert haben, und, 
wie gesagt, diesen Standpunkt halte ich für den loyalen und richtigen 
in dieser Sache. Herr Gensicben scheint zu glauben, dass wir Mit¬ 
theilungen etwaiger schädlicher Folgen der Seruminjectionen von vorn¬ 
herein abweisen und demnach ein Parteiinteresse verfolgen wollten. 
Davon ist gar keine Rede. Wir haben nur das Interesse, keine grund¬ 
losen Beunruhigungen ins Publicum zu bringen. Es hat sich ja anch 
gezeigt, dass wir mit unserer Auffassung des s. Z. äusserst oberflächlich 
mitgetheilten Krankheitsfalles doch im Rechte gewesen sind. 

Ilr. ncubner: Ich möchte doch hervorheben, dass wir im Allge¬ 
meinen sehr dankbar sein können, wenn diejenigen, die entweder an 
sich oder an Anderen Beobachtungen über vermeintliche erhebliche 
Schädigungen durch das Diphtherieheilserum machen, diese Beobachtungen 
in möglichst ausführlicher Weise uns auch mittheilen. Diese Absicht 
hat Herr College Gensichen Ja gewiss bei seiner Mittheilung gehabt, 
und insofern, glaube ich, ist sein Bestreben, möglichst klaren Wein über 
seine Erfahrungen einzuschäoken, durchaus anzuerkennen. Ich wünschte 
aber, dass das jeder machte, dass, ehe er Anschuldigungen erhebt, oder in 
der Zeit, wo er Anschuldigungen erhebt, er auch gleichzeitig eine ex acte 
und gute Krankengeschichte mittbeilt. Ich glaube, diese Verpflichtung 
sollten wir doch alle ein für allemal und für alle Zukunft auf uns 
nehmen, dass, wenn wir Vermuthungen und Hypothesen Uber etwaige 
schädliche Wirkungen von Heilserum äussern, wir dann auch gleich¬ 
zeitig die Belege für diese Vermuthung dem ärztlichen Publikum in der 
in der ärztlichen Wissenschaft üblichen Form unterbreiten. Dieser An¬ 
forderung gerecht zu werden, hat sich Herr Gensichen bemüht. Er 
hat seine Krankengeschichte vorgelegt, seine Angaben konnten damit 
weiter erwogen und geprüft werden. Das ist unter der Aegide unseres 
verehrten Vorsitzenden geschehen. Wir haben gehört, dass es sich um 
eine einfache Stapbylokokkeninfection handelte. Die Krankbeitserschei- 
nungen, die der Herr Vorsitzende uns beschrieben hat, erinnern eigent¬ 
lich doch stark an die Art, wie die Furunkel und aus diesem Abscesse 
sich entwickeln. Wir wissen ja, dass die Furunkulose eine Staphylo¬ 
kokkenkrankheit ist. Also das stimmt ganz gut. Wir wissen ferner, 
wie Herr Ewald schon hervorgehoben hat, dass es gar nicht so selten 
ist, dass derartige abscedirende Furunkel in einer namenlos wider¬ 
wärtigen Weise über ein halbes Jahr, über dreiviertel Jahre und länger 
immer und immer an neuen Stellen auftreten. Also an dem Fall, den 


der Herr College uns mitgetheilt hat, ist eigentlich nichts Besonderes, 
ausser, dass er drei Wochen vorher sich eine Heilserumeinspritzung ge¬ 
macht hat. Nun habe ich allerdings auch ab und und zu Abscesse nach 
dem Heilserum beobachtet; aber ich muss sagen, so lange hinterher 
nicht — auch enthielten diese Streptokokken, keine Staphylokokken. Ich 
muss mich deshalb der Ansicht ganz entschieden anschliessen, dass die 
ausführlich mitgetheilten Thatsachen dieses Falles durebaos nicht be¬ 
weisen, dass die Erankung mit der Einspritzung von Heilserum Zu¬ 
sammenhang!. Dann aber folgt daraus, dass die von Herrn Gen sichen 
ausgesprochene Warnung gegen das Heilserum und gegen das Immuni- 
siren mit Heilserum nicht berechtigt erscheint. 

Hr. A. Baginsky: Ich möchte auf den Fall nur mit einigen Worten 
näher eingchen, weil ich nicht wünschte, das auch nur das Geringste 
davon an der Serumbehandlung haften bliebe. — Abscesse, wie der 
Vortragende geschildert hat, kommen auch spontan oder aus ganz ge¬ 
ringen Anlässen vor. So haben wir jüngst im Krankenhause bei einem 
Knaben multiple, ganz tief gehende grosse Abscesse beobachtet, die 
unter hochgradigen Fieberbewegungen cinsetzten und verliefen. Der 
Fall sah durchaus so aus, dass der Gedanke an Malleusgift bei mir auf- 
stieg. — Angeblich sollte der Knabe ein Trauma erlitten haben, von 
dem sich indess keinerlei Spur erkennen liess. Nach Spaltung der Ab¬ 
scesse and Entfernung des Eiters konnte culturell der Staphylococcas im 
Eiter nachgewiesen werden. Der Ausgangspunkt scheint ein an der 
Schulter befindliches kleines Blutgerinnsel, welches, in der Tiefe sitzend, 
abscedirt war, gewesen zu sein. — Da die Presse mit der Erkrankung des 
Herrn Vortragenden beschäftigt worden ist, so wollte ich die Erwähnung 
eines derartigen Vorkommnisses, wie das von mir beobachtete nicht 
unterlassen. 

Hr. Virchow: Ich möchte noch einmal aussprechen, dass die 
Thatsache, wie mir scheint, unzweifelhaft ist, dass bei unserem Collegen 
in nächster Umgebung der Stelle, wo die Injection gemacht worden war, 
die ersten Erscheinungen aufgetreten sind und dass die folgenden sich 
eine Zeit lang auf diesem Gebiete bewegt haben. Dann haben sich 
die Eruptionen allmählich verbreitet, und zwar längere Zeit in einer 
sehr auffälligen Weise nur auf der linken Körperseite, schliesslich sind 
sie anderswo aufgetreten. Dass die Injection nicht schuld sei an dieser 
Erkrankung, wird man, glaube ich, nicht behaupten können; im Gegcn- 
thcil, ich halte es für unzweifelhaft, dass die Injection die Ursache war, 
aber nicht das Heilserum. Das sind zwei ganz verschieden^ Dinge. 
Die Injection wird man nicht aus der Krankengeschichte herausbringen 
können; sonst würde ja in der That die Sache gar kein Interesse ge¬ 
habt haben. Ich würde den Fall Ihnen auch nicht vorgefUhrt haben, 
wenn nicht eben dieser augenfällige Zusammenhang Vorgelegen hätte. 

Hr. O. Katz: Ich möchte blos auf den unglücklichen Pariser Fall 
mit ein paar Worten zurückkommen, den der Herr Vortragende erwähnt 
hat und der stets herhalten muss, wenn es sich darum handelt, in irgend 
einer Weise gegen das Serum Einwände zu machen, seine direkte Schäd¬ 
lichkeit zu demonstriren u. s. w.; ganz besonders auch in den politi¬ 
schen Tagesblättern: Es war Variot, der über diesen Fall im ver¬ 
gangenen Frühjahr in der Socicte medicale des höpitaux berichtete. Die 
geschah nicht mit der für diese Fälle so ganz besonders erwünschten 
Klarheit und Ueberlegung, sondern wohl in etwas eilfertiger Weise — 
soweit dies wenigstens aus den zu uns gelangten gedruckten Berichten 
hervorgeht. In der folgenden Discussion wurde Variot von Sevestre 
gefragt, ob er wohl jemals bei seinen 2000 Injectionen, die er bis za 
dem Tage gemacht habe, etwas Aehnliches beobachtet habe, woraaf 
Variot mit „niemals“ antwortete. Und darauf sagte 8evestre, dass 
auch er 2000—2500 Einspritzungen gemacht habe und niemals etwas 
Aehnliches beobachtet habe, dass Variot's Fall absolut nichts gegen 
die Anwendung des Serums beweise und das um so mehr, als aus der 
Beobachtung Variot's überhaupt nicht im geringsten hervorginge, dass 
der Tod des Kindes etwas mit dem Serum zu thun habe. — 

Wenn man sich diesen Variot'sehen Fall etwas näher betrachtet, 
so wird man den Gedanken wohl nicht ganz unterdrücken können, dass 
das Kind auf irgend eine Weise an seiner Larynxaffection — „Croup 
avec spasme phrimo glottique“ — zu Grunde ging. 

Dann möchte ich blos noch eine nebensächliche Trage an den Herrn 
Vortragenden richten, die aber, wenn der Rotz überhaupt zur Discussion 
gekommen ist und ja nach der Ansicht des Herrn Gensichen immer 
noch nicht von der Hand zu weisen ist, gestellt werden muss: ob der 
Herr Vortragende mit Pferden in Berührung gekommen ist? 

Hr. Gensichcn (Schlusswort): Ich möchte nur noch die kurze 
Bemerkung des Herrn Prof. Ewald entschieden zurückweisen, in der 
er sagte, ich schiene eine Neigung dafür zu haben, medicinische Dinge 
in die politische Presse zu bringen. Wenn ich eine solche Neigung 
gehabt hätte, wäre es mir ja ein Leichtes gewesen, den Fall sensationell 
in der Tagespresse zu behandeln, und ich hätte nicht nöthig gehabt, 
mich an die Berl. klin. Wochenschrift zu wenden. Ich erhielt von der 
Berl. klin. Wochenschrift auf die Einsendung des Artikels keine Ant¬ 
wort, und da sagte ich: Wenn die Sache in der Fachpresse todt- 
gesehwiegen werden soll, dann sehe ich mich auf die Tagespresse an¬ 
gewiesen. Es ist dann der Artikel sehr gekürzt, wesentlich im Sinne 
der Berlin, klin. Wochenschrift, ohne mein Zuthun, in die Presse über¬ 
gegangen und so auch in unser Localblatt, die Neumärkische Zeitung, 


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11. Januar 1897. 


UKKLIXKR KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


39 


und an dieses Localblatt habe ich mich allerdings mit einer Erklärung 
gewandt und das werden Sie mir wohl nachfühlen können, dass ich mir 
solche Entstellungen in unserer Localpresse nicht bieten lassen kann. 
Eine sensationelle Behandlung des Themas in der Berliner Presse habe 
ich verschmäht, deshalb begreife ich nicht, wie man mir aus meiner 
Handlungsweise einen Vorwurf machen kann. 

Hr. B. Fraenkel : Ich wollte einen Zahn demonstriren. Es ist das 
der zweite Molaris eines jungen Mädchens, welches sich wegen Empyem 
der Oberkieferhöhle und der Siebbeinzcllen sowie wahrscheinlich auch 
der Stirnöhle auf der rechten Seite in meiner Poliklinik in Behandlung 
befindet. In der vorigen Woche haben wir ihr den ersten Molaris 
recherseits des Oberkiefers entfernt. Bei dieser Extraction wurde sofort 
die Highmorshöhle eröffnet. Wir haben dann die gewöhnliche Durch¬ 
spülung gemacht und einige Besserung erzielt. Am vorigen Montag, 
also vorgestern, ist von dem Praktikanten in der Poliklinik, der dieses 
Mädchen behandelt, Herr Dr. Fischer aus Adelaide (Australien), auch 
der zweite Molaris ausgezogen worden, und das ist der Zahn, den ich 
Ihnen nun demonstriren möchte. Sie werden an demselben sehen, dass 
sich an einer Wurzel ein Granulom befindet, un zwar von einer Länge, 
wie es die Wenigsten wohl gesehen haben werden. Es ist mehr als 
l'/» cm lang. Schon aus dem blossen Anblick desselben geht hervor, 
dass diese Wurzel ursprünglich frei in die Highmorshöhle hinein¬ 
geragt haben muss, da sonst das Granulom nicht so lang sein könnte, 
und so wurde denn auch bei der zweiten P'xtraction wiederum das 
Antrum eröffnet. Die Durchspülungen, die jetzt gemacht werden, haben 
eine rapide Besserung nicht nur der Erkrankung der Highmorshöhle, 
sondern auch derjenigen der Siebbeinzellen zu Wege gebracht. Ich 
glaube, dass sowohl der Anblick des Zahnes, wie die Schlüsse, die man 
aus dieser Beobachtung für die Aetiologie der Nebenhöhlen der Nase 
ziehen kann, einiges Interesse bieten, und wollte deshalb nicht unter¬ 
lassen, Ihnen mit Rücksicht auf Ihre Zeit in möglichster Kürze die Sache 
zu zeigen. 

Tagesordnung. 

Hr. Raginskv: Zur Pathologie der Durchfallkrankheiten der 
Kinder. (Ist unter den Originalien dieser No. abgedruckt.) 


Freie Yereinignng der Chirurgen Berlins. 

Sitzung vom 13. Juli 1896. 

(Fortsetzung.) 

II. Hr. König: a) Gonorrhoische Gelenkentzündung. 

M. II., wenn ich das Wort ergreife, um über die Gelenkerkrankungen 
der Tripperkranken hier zu sprechen, so erscheint das eigentlich wie eine 
halbe Vermessenheit. Es soll aber nicht vermessen sein. Wenn ich 
das Wort in dieser Sache ergreife, so will ich etwas von Ihnen lernen. 
Ich bin mir vollkommen bewusst, dass das, was ich hier sage, Ihnen 
bekannt ist, und ich hoffe, dass Ihnen noch mehr bekannt ist, und dass 
ich das, was Sie wissen, von Ihnen heute erfahre. 

Ich habe in meinem Buche geschrieben, schon in der 3. oder 4. Auf¬ 
lage, wenn ein Mensch eine acute Gelenkentzündung bekommt, eine 
katarrhalisch eitrige, eine eitrige, dann sehe man nach der Harnröhre, 
und man wird ganz gewiss in 99 Fällen — vielleicht ist das etwas viel 
—, aber in 90 Fällen von 100 einen Tripper finden. Dies Wort habe 
ich in den wenigen Fällen von gonorrhoischen Gelenkerkrankungen, die 
ich während meines Aufenthaltes in der tugendsamen Stadt Göttingen 
sah, bestätigt gefunden. Aber noch mehr habe ich es bestätigt gefunden, 
seitdem ich hier in Berlin bin. Wenn ich die Häufigkeit der Gelenk¬ 
erkrankungen hier nach der Zahl derer, die in die Charitd aufgenommen 
werden, schätzen wollte, dann würde ich gewiss nicht mehr sagen, die 
häufigsten Gelenkkrankheiten sind tuberculöse — ich habe sehr wenig 
tubcrculöse —, ich würde dann sagen, dass ich wahrhaft entsetzt bin 
über die Zahl dieser gclenkerkrankten Menschen, die ich im Laufe der 
Zeit, dass ich hier wirke, zu sehen bekommen habe, und zwar waren es 
nicht nur die gewöhnlichen, die typischen, die der Zahl nach häufigsten 
Erkrankungen des Kniegelenks, sondern es giebt einfach kein Gelenk, 
was wir nicht bei Gonorrhoikern erkrankt gesehen haben im Laufe von 
*/ 4 Jahren. 

Die Geschichte der gonorrhoischen Gelenkentzündungen — ich will 
vorsichtig sein, wenn ich gonorrhoischen Gelenkentzündungen sage, dann 
will ich nicht präjudiciren, ich rede vorläufig nur von den Gelenk¬ 
entzündungen der Gonorrhoiker —, die Geschichte dieser Gelenk¬ 
entzündungen ist ja. wie Sie wissen, schon ziemlich alt. Aber wenn 
man in älteren Büchern blättert, so findet man, dass die verschiedenen 
Formen doch nur beschränkt bekannt waren. Bonnet weiss eigentlich 
nur etwas von dem Hydrops der Gonorrhoiker, und Freund Hüter in 
seinem grossen, dicken Gelenkbuch bat die Gonorrhoe als eine Ursache 
für die Gelenkentzündungen auf ungefähr 10 Zeilen abgethan. Zuerst 
sind unter den deutschen Lehrbüchern in meinem Buch die gonorrhoi¬ 
schen Gelenkentzündungen auch nach ihren schlimmen Seiten, freilich 
kurz, von Riedel geschildert. Wir hätten eigentlich schon früher 
etwas darüber wissen können, denn die Franzosen wussten darüber 
schon viel mehr, ln Frankreich ist seit den 70 er Jahren von einer 
Reihe von Männern — ich will nur Ollier, Brun, Grosselin nennen, 
aber es sind noch eine ganze Reihe weiterer — die Gelenkentzündung der 


Gonorrhoiker besprochen worden, und es ist von ihnen bereits das her¬ 
vorgehoben worden, was bei uns sehr lange nicht bekannt war, dass die 
Gelenkentzündungen der Gonorrhoiker nicht etwa in allen Fällen sehr 
milde auflreten. nicht etwa immer einfache Hydropsien oder eitrige Ge¬ 
lenkentzündungen von katarrhalischem Charakter sind, sondern dass es 
Formen giebt, die ausserordentlich maligner Natur sind. 

Selbstverständlich ist dabei die Frage nach der Aetiologie immer 
wieder aufgetaucht. Man hat vielfach versucht, die Frage der Aetiologie 
dieser Erkrankungen in der Art festzustellen, wie wir das heute ja ver¬ 
langen. d. h. man hat den Nachweis virulenter Gonokokken aus dem 
pathologischen Inhalt der Gelenke verlangt. Dieser Nachweis ist jedoch nicht 
immer gelungen und deshalb habe auch ich versucht, bei den von uns beobach¬ 
teten Krankheiten der Gelenke dies nachzuweisen. Aber diese Anzahl ist rela¬ 
tiv klein geblieben, und ich will es gleich ehrlich gestehen, uns ist es trotz 
der grossen Zahl von Erkrankungen keinmal gelungen. Wir haben ein¬ 
mal geglaubt, dass wir Gonokokken gefunden hätten, aber sie haben vor 
den strengen Augen der Bacteriologen keinen Stand gehalten, sie sind 
für Nichtgonokokken erklärt worden. Dagegen — und das glaube ich, 
ist von Bedeutung, und ich bitte, dass Sie das festhalten, — haben wir 
in der grossen Mehrzahl der Fälle andere Mikrobien gefunden, soviel 
ich weiss, auch einmal Pneumokokken, ja eine ganze Anzahl von 
Mikrobien sind aus der Aussaat aufgegangen. Da man aber die Gono¬ 
kokken nicht als Regel nachweisen kann, so halte ich es für richtiger, 
dass man sich vorläufig Uber die bacteriologische Aetiologie bescheiden aus¬ 
drückt, und sich vorläufig begnügt, von den Gelenkentzündungen bei Gonorrhoi¬ 
kern zu sprechen. Es mag das ja zum Theil daran liegen, dass der Gono- 
coccus überhaupt gleich dem Bacillus tuberculosus ein sehr schwer zu¬ 
gängliches Ding ist. Denn die Frage mit den tuberculösen Gelenken 
steht ja heute doch nicht anders. Ich habe einen unglücklichen Assi¬ 
stenten darauf gehetzt, dass er viele Exsudate von tuberculösen Ge¬ 
lenken im Laufe der letzten Jahre untersucht hat. Er ist fast ver¬ 
zweifelt bei den zahlreichen Untersuchungen, verzweifelt, weil er trotz 
der fleissigsten Untersuchungen nur in einer ganz geringen Anzahl von 
Fällen Bacillen gefunden hat. Nun, wenn die Schwierigkeiten bei dem 
Gonococcus nur annähernd bo gross sind, dann ist es wohl begreiflich, 
dass auch das Aufflnden der Gonokokken nur selten gelingt. Lassen 
wir also — das ist wohl das Richtige — die Frage vorläufig noch bei¬ 
seite, und wenn wir hier auf die Tuberculöse zurückkommen, dann darf 
ich Sie wohl daran erinnern, dass das Bild der Gelenktuberculose erst 
construirt worden ist, so dass man mit absoluter Sicherheit, darf man 
wohl sagen, aus dem klinischen und dem pathologisch-anatomischen Be¬ 
funde die Diagnose machen konnte, es handelt sich hier um eine Tuber- 
culose, ohne dass man den Bacillus findet; und ich glaube, es ist heute 
unsere Aufgabe, dass wir, da wir den Gonococcus vorläufig vermissen, 
auch an den gonorrhoischen Gelenken diese Aufgabe lösen, dass wir uns 
einmal klar machen, dass das pathologisch-anatomische Bild der Gelenk¬ 
entzündungen bei Gonorrhoikern doch nicht so einfach ist, wie es in den 
alten Büchern geschildert wird. Französische Schriftsteller haben von 
den verschiedenen Formen der Gonorrhoe in den Gelenken verschiedene 
Gruppen entworfen: eine, die arthralgische Form, dann der Hydrarthrose, 
die hitzige Gelenkentzündung, Arthrite aigue und schliesslich die Arthrite 
suppurä. Nun, so ganz möchte ich mich in dem, was ich gesehen habe, 
diesem Schema nicht anschliessen. Wenn ich nach dem Befunde in 
vielen Gelenken, die ich im Laufe der Zeit, auch früher schon — ich 
habe schon ähnliche Gelenke vor der Zeit gesehen, dass ich hier in der 
Charite meine Studien machte —, eine Gruppirung vornehmen soll, so 
würde ich zunächst den Hydrops der Gelenke acceptiren. Es giebt 
in der That bei Gonorrhoikern Gelenkentzündungen, die sich fast wie 
ein Hydrops verhalten, d. h. also, die Flüssigkeit, die in den prall ge¬ 
spannten Gelenken ist, ist fast der Synovia, der dünnen, entzündlichen 
Synovia gleich, ohne viel festen Inhalt, und wenn man die Flüssigkeit aus¬ 
gelassen hat, so ist der Gelenksack selbst so gut wie garnicht 
geschwellt. Allmähliche Uebergänge finden nun statt zu der folgen¬ 
den Form. Man findet bei anderen Hydropsien den Inhalt trüber. Es 
finden sich bereits viele Eiterkörperchen darin, es finden sich Fascr- 
stofflocken und Membranen, wenn auch immer noch in geringen 
Massen. Jetzt beginnt auch die Kapsel zu schwellen; sie be¬ 
ginnt sich etwa so zu verhalten, wie die Kapsel bei tuberculösem 
Hydrops. Diese Gruppe bildet wieder einen Uebergang. Wenn wir uns 
schon bis hierher, was die Bösartigkeit des Verlaufes anbelangt, in einer 
aufsteigenden Linie befinden, so müssen wir doch sofort noch die Be¬ 
schreibung einer weiteren Form hinzufügen, welche wir als .phlegmonöse“ 
bezeichnen wollen. Bei dieser kommt als wesentliches Glied zu dem 
Gelenkerguss, welcher sogar sehr zurücktrat, die phlegmonöse Kapsel¬ 
schwellung hinzu, und was vor allen Dingen bei den gonorrhoischen 
Gelenkentzündungen die grosse, die schlimme Rolle spielt, die Phleg¬ 
mone paraarticularis, die Phlegtnone der Verstärkungen der Kapsel, 
der Bänder, die Phlegmone der Sehnen und ihrer bindegewebigen Um¬ 
hüllungen, die an der Kapsel liegen. Es ist schwer, Alles, was zu 
dieser Gruppe gehört, mit wenig Worten zu beschreiben. Denn während 
es sich bei dieser paraarticularen Phlegmone das eine Mal um eitrige 
Formen handelt, Eiter in der Kapsel, grössere und kleinere Eiterherde, 
in den paraarticulären Geweben liegen, tritt ein andermal auch der 
eitrige Erguss in und um die Kapsel mehr zurück. Es entsteht die 
relativ wenig bekannte Form, die gerade in funktioneller Richtung die 
allerschlimmsten Folgen hat, bei der das Gelenk so aussieht, wie etwa 
ein Spindelgelenk beim Tuberculösen, bei der die Bänder ganz besonders 
geschwellt erscheinen am Kniegelenk, die Seitenbänder an den Fuss- 


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No. 2. 


40_RKKL1NKR KUX1*CUB NVOtllKXSniRlFT. 


gelenken, mit dem Bandapparat seitlich die Sehnen, ebenso an der Hand, 
Formen, die sich durch ganz ausserordentliche Schmerzhaftigkeit im 
klinischen Bilde auszcichnen, bei denen, wenn man zufällig einmal ein 
Gelenk anschneidet, — es sind nur sehr wenig derartige Fälle bekannt 
— ausserordentlich geringer flüssiger Inhalt nur vorhanden ist, dagegen 
Faserstoff, ebenso sind auch die Bänder durch die Folgen der Faser- 
stotfinflltration eigentümlich speckig degencrirt. Ollicr hat bereits auf 
diese eigentümlichen Formen vor vielen Jahren aufmerksam gemacht, 
dass auf der Oberfläche der Knorpel sieh ein trockncr grauer Faserstoff 
zeigt; er nennt die Gelenkentzündung die pseudmembranacca und giebt 
ihr gleich noch den anderen Namen, den sic leider verdient, den Namen 
der ankylosirenden. Eine sehr gute Beschreibung von einem solchen 
Falle hat uns Volk mann gelegentlich des Referats über die Fälle von 
Ollier geliefert. Er erzählt von einem Manne — er hat ihn freilich 
nicht als gonorrhoisch beschrieben; ich bin aber nach Analogien der 
festen Ueberzeugung, und es passt auch sonst ganz zu den Verhältnissen, 
dass es sich um ein gonorrhoisches Gelenk handelt, von einem Fall, der 
sich durch die rapide Entstehung einer Gelenkentzündung und die 
kolossale Schmerzhaftigkeit bei hohem Fieber auszeichnete, Symptome, 
die ihn zwangen, das Gelenk zu eröffnen. Er fand, als er das Gelenk 
aufschnitt, überall in dem ganzen Gelenk trockenen Faserstotf, 
so derb und fest, dass er zu fester Verklebung der Gelenk¬ 
enden führte. Nur durch Abkratzen mit dem scharfen Löffel konnte er 
die faserstofflgen Massen entfernen. Die Franzosen sprechen auch viel¬ 
fach von einer Arthralgie, von einer neuralgischen Form. Ich habe 
auch ähnliche Dinge gesehen, so dass man wohl von einer gonorrhoi¬ 
schen Neuralgie reden könnte. Ich möchte aber glauben, dass es sich 
in diesen Fällen um eine Neuralgie handelt, welche gerade durch die 
Verwachsung resp. Verklebung der Gelenkenden mit Faserstoff herbei- 
gefiibrt wurde. Die geringste Bewegung ruft die Neuralgie hervor. 

Nach diesen Auseinandersetzungen liesse sich also folgende Gruppi- 
rung machen: 1. Hydrops articularis, 2. Hydrops articularis sero-fibri- 
nosus und catarrhalis (Volkmann), 8. Empyem des Gelenkes, 4. 
Phlegmone der Gelenke und zwar bald mehr die eitrige, bald mehr die 
faserstofflge Form (pseudomembranacea Ollier). 

Ob es gerechtfertigt ist, dazu noch eine arthralgische Form zu 
fügen, oder ob dieselbe, wie es mir scheint, eine schmerzhafte Form des 
fibrinösen ist, lasse ich dahin gestellt. 

Wenn wir nun nach dieser Ja mehr schematischen Betrachtung 
einmal sehen, was wir klinisch und was wir pathologisch-anatomisch, 
soweit unsere pathologisch - anatomische Betrachtung reicht — viel 
Sektionen darüber giebt es nicht —, darüber wissen, so rührt unsere 
Kenntniss davon einmal aus den Punktionen und aus den sparsamen 
Incisionen der Gelenke, wir könuen uns aus den Ergebnissen dieser 
Eingriffe das bald construiren, von dem, was in den Gelenken passirt, 
wir wissen es schliesslich aus einer kleinen Anzahl von resecirten Prä¬ 
paraten; gestützt auf solche Erfahrungen können wir Bagen, dass der 
Hydrops der Gonorrhoiker die Krankheit ist, die der ganzen gonor¬ 
rhoischen Gelenkentzündung den Ruf einer leichten gegeben hat. Aeussert 
sich die Gonorrhoe in dieser Form, so ist sie in der That eine leichte 
Krankheit. Sie heilt aus in relativ kurzer Zeit. Die Therapie kann 
eine verschiedene sein; aber ich glaube im Aligemeinen, dass man recht 
thut, wenn man die Form nach der modernen Weise zur Heilung bringt. 
Sie weicht in der Regel nach vorhergegangener Punktion einer Ein¬ 
spritzung mit Carboisäure. Uebrigens geben wir zu, dass ausser diesen 
auch andere Mittel (Vesicator, Jodtinktur, Compression etc.) zur Heilung 
führen. Je mehr der Hydrops ein Sero flbrinosus oder catharrbalis wird, 
desto nothwendiger ist die chirurgische Behandlung durch Punktion und 
Injektion, wie denn bei dem wirklichen Empyem öfter auch diese Mittel 
nicht genügen, sondern die Incission und Drainage nöthig wird. Es 
kommt diese Form weiter für uns nicht in Betracht. Ganz anders steht 
es mit den schlimmeren Formen, mit den Formen, bei welchen allmäh¬ 
lich zu dem Erguss der Faserstoffe, die Infiltration der Kapsel, zu der 
Infiltration der Kapsel die Infiltration der paraarticulären Gewebe und- 
vor allen Dingen die Infiltration der Hauptbänder kommt die Auflagerung 
von Faserstoff auf die Knorpel hierzu. Aeusseriich machen sich die 
Symptome geltend, je nach dem Erguss, durch grössere oder geringere 
Schwellung. Es ist ja für die Betrachtung dieser Fälle mit Recht das 
Kniegelenk grundlegend deswegen, weil es die einfachsten Verhältnisse 
bietet; aber die anderen Gelenke unterscheiden sich nicht wesentlich 
davon. Aeusseriich fällt auch sofort auf die Starre des ganzen Gelenks, 
die eben durch die paraarticuläre Phlegmone herbeigeführt wird. Im 
Verlauf kann man an einer Anzahl dieser Gelenke Beobachtungen machen, 
die auf die entzündliche Infiltration des Bandapparates hinweisen und 
zwar entwickeln sich die Folgen davon zuweilen auffallend rasch, 
wenigstens ist es mir noch nicht passirt, dass bei Gelenkentzündung aus 
anderer Ursache ein Kniegelenk mit gar nicht viel Schwellung in Zeit 
von 10—12 Tagen vollkommen deformirt war, dass sich ein Genu valgum 
ausgebildet hatte, und dass die Tibia nach hinten zurücksank. Ich kann 
Ihnen die Kranke, die ähnliche Symptome noch heute bietet, trotzdem 
dass sie geheilt worden ist, zeigen. Ein ganz ausserordentlich häufiges 
Symptom ist die grosse Tendenz zur Ankylosirung, ein Symptom, 
welches keiner anderen Krankheit in der gleichen Art 
eigenthümlich ist. Handelt es sich dabei um mehr Erguss und hat 
man ihn durch bestimmte Mittel — und auch hier ist die Punktion oft 
am Platz — auch beseitigt, so kommen nun auch hier die gedachten 
Folgenzustände zu Stande, die die Krankheit zu einer so ominösen 
machen. Es kommen die Verwachsungen im Gelenke und die Ver¬ 


steifungen in seiner Umgebung, die wiederum sehr verschiedener Art 
sind, bei den eigentlichen Ergüssen, wie in den paraarticulären Phleg¬ 
monen. Sehr häufig handelt es sich um flächenbafte Verwachsungen. 
Und ganz besonders oft verwächst ein Gebiet des- Gelenks — ich bleibe 
beim Kniegelenk —, ein anderes Gebiet bleibt frei. Ich kann hier in 
der That von solchen Fällen sprechen, denn ich habe mehrmals, beson¬ 
ders in einem sehr charakteristischen Fall, den ich Ihnen auch noch 
zeigen will, in einem Fall, der eben auf keine andere Art zur Heilung 
zu bringen war, durch Einschnitt in das Gelenk derartige Verhältnisse 
klargclegt. (Bei diesem Kniegelenk handelt es sich um kleine Eiter¬ 
heerde, welche durch dicke bindegewebige Abschlüsse in Fächer getheilt 
waren. Ich sah eine ganze Anzahl, vielleicht ein halbes Dutzend von 
Fächern. Die Fächer waren zum Theil angefüllt mit trüber eiteriger 
Flüssigkeit, zum Theil mit Faserstoff. Eine Menge bereits organisirter 
Membranen schied eben das Gelenk in eine ganze Anzahl von einzelnen 
Abtheilungen. Etwas, was ausserordentlich häufig bei all diesen Formen 
als Folgezustand eintritt, ist, dass die Gelenkenden partiell verwachsen, 
und wenn ich da wieder auf das Knie hinkomme, so ist gerade ira 
Kniegelenk ein ausserordentlich charakteristisches Verwacheungsgebiet 
das der Patella. Nach 8—4 Wochen schon kann man sehen, dass die 
Patella fest, freilich noch so, dass man gelinde Verschiebungen machen 
kann, mit der Oberfläche der Condylen verwachsen ist. Uebrigens er¬ 
eignen sich solche Verwachsungen auch bei anscheinend unschuldigen 
Fällen. Bei nur geringer äusserer Geschwulst kann es sich um viel 
Faserstoff im Gelenk handeln und man kann erleben, dass in der 
allerkürzesten Zeit eine Ankylose entsteht. Erstaunt steht 
man vor solchen Präparaten, aus denen man sieht, dass vielleicht in 
einem Vierteljahr, während gar keine stürmischen, etwa schwere Eiter¬ 
erscheinungen vorhanden waren, dass in einem solchen Präparate weder 
vom Knorpel noch vom Knochen an seiner Oberfläche etwas zu sehen 
ist, dass der Knorpel einfach weg ist und das Gelenk verwachsen, sodass 
keine Spur von ihm blieb. Eine knöcherne Ankylose, welche in so 
kurzer Zeit entsteht, habe ich wenigstens bei keinem anderen Procesa 
gesehen — doch vielleicht bei einem, und dieser eine Process ist mir 
nachgerade zweifelhaft geworden. Es ist ja bekannt, dass bei den 
Fiebern der Puerperalen zwei verschiedene Formen von Gelenkentzün¬ 
dungen Vorkommen, die eine Form die eitrige, in der That eine Meta¬ 
stase, eine pyämischen Metastase, und die andere Form, die man wohl 
eine ankylosirende nennen kann, die in ganz kurzer Zeit zur Ankylose 
führt, ohne dass auch nur ein Tropfen Eiter im Gelenk Ist. Das Hüft¬ 
gelenk und Kniegelenk — bei beiden Gelenken habe ich dies schon ge¬ 
sehen — sind in drei Wochen so fest mit einander verlöthet, dass von 
einer Aenderung dieses Zustandes gar nicht die Rede, mehr ist. Ich bin 
nun heute der Meinung, dass es sich bei dieser ankylosirenden Form der 
Gelenkentzündung, der puerperalen, um eine gonorrhoische handelt. 

Von gonorrhoischen Gelenken kann ich Ihnen leider nur ein allerdings 
sehr charakteristisches Präparat zeigen. Es ist das Präparat eines 
Ellcnbogengelenks, was ich im vorigen Sommer resccirt habe von einem 
Studenten, der mir leider durchgebrannt ist, noch ehe die Resection 
vollkommen geheilt war. Die Erkrankung hatte etwa 6 Wochen be¬ 
standen. Es sind dies ja die Fälle, bei welchen so oft an den Gelenken 
versucht wird, ob sie nicht wieder mobil gemacht werden können, weil 
es der Arzt nicht für möglich erachtet, dass in so kurzer Zeit knöcherne 
Ankylose eintreten könne. Es war dem Kranken einmal schon das Ge¬ 
lenk gebrochen worden, denn er sagt, es wäre leicht gegangen, er wäre 
nicht narkotisirt, es hätte aber bei der Beseitigung der Verwachsung stark 
gekracht. Ich habe dann etwa 5 Monate nach der Erkrankung re- 
secirt und zeige Ihnen hier das Gelenk. Wenn Sie suchen wollen, so 
werden Sie auch in dem aufgesägten Gelenk bei aller Aufmerksamkeit 
kaum Spuren der alten Gelenkverbindung zwischen Humerus und den 
Vorderarmknochen finden. Ich kann Ihnen aber zur weiteren Illustration 
dieses Verhältnisses eine Kranke hier zeigen, bei der das Röntgen'sche 
Verfahren, was ich für die Frage der Diagnose dieser Verhältnisse am 
Lebenden doch nach den Erfahrungen für recht wichtig halte, nach¬ 
weist, dass auch bei ihr eine knöcherne Ankylose eingetreten ist Es 
ist dies freilich kein Fall, der für das als Beweismittel angeführt werden 
kann, was ich Ihnen erzähle. Es ist hier knöcherne Ankylose einge¬ 
treten, nachdem die Kranke längere Zeit erkrankt war. Sie wurde 
zuerst punctirt, wegen eines schweren eitrigen Gelenks, bekam dann ein 
Recidiv, und dann habe ich breit angeschnitten, das war die Kranke, 
bei der die vielen Fächer vorhanden waren, und habe ihr nun ausge¬ 
räumt von Eiter, und Verwachsungen, was noch möglich war. Dann 
heilte sie ziemlich rasch aus, aber Sie sehen, dass hier eine Menge 
Dinge eingewirkt haben, welche unter der primären Infection den Ver¬ 
lauf bestimmten. Das (Demonstration) ist die Röntgographie. Sie sehen 
hier die hinteren Gebiete schwarz, während nach vorne ein breiter 
Zwischenraum geblieben ist, der offenbar unverwachsen blieb. 

Nun, m. II., mir, der ich so lange Zeit mit dem Faserstoff, bei Ge¬ 
legenheit der Untersuchung tuberculöser Gelenke beschäftigt bin und seine 
Wirkung studirt habe, ist das nun in der That nichts Verwunderliches: 
weun trockener Faserstoff in den Gelenken vorhanden ist, noch dazu mit 
offenbar sehr giftigen, flüssigen Beimengungen, dann ist mir gar nicht 
verwunderlich, dass der Faserstoff ausserordentlich rasch den Knorpel 
verzehrt, und dass er nach der Verzehrung des Knorpels den Knochen 
angreift und dass er, wenn der Process abgelaufen ist, die rasche, zu¬ 
nächst bindegewebige aber bald verknöcherte Ankyloäe herbeiführt. Ich 
kann mir das aber immerhin nun sehr gut denken, aber es wäre ja nun 
sehr schön, wenn wir einmal eine Anzahl von Präparaten davon hätten; 


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41 


11. Januar 1807. HKItLIXKU KMXISCIIK NYOt’lIKNSt 11111 FT. 


leider Gottes sterben aber die Gonorrhoischen sehr selten. Ebenso 
wissen wir nur aus den spärlichen Fällen (Ollier, Volkmann), dass 
es in der That Fälle giebt, bei welchen fast immer nnr Faserstoff in 
den Gelenken ist, aber wir können es nicht beweisen, dass in der That 
in sehr vielen Fällen der Faserstoff sich so verhält, wie es Ollier und 
wie es Volkmann in den wenigen Fällen beschrieben haben. Ist dem 
aber in der That so, dann wird er eben das vollbringen, was wir 
leider Gottes in einer so grossen Anzahl von gonorrhoischen Gelenken 
oder von Gelenken der Gonorrhoischen sehen. Vor allen Dingen im 
Kniegelenk ist es Ankylose und leider — ich habe ja schon hinzugefügt, 
wie leicht Deformitäten in den Gelenken eintreten — meist eine Anky¬ 
lose in schlechter Stellung. Ich glaube, dass wir doch wohl im Ver¬ 
laufe dieses Winters 5 oder 6 Menschen mit Ankylose in nicht ganz 
guter Stellung, Genu valgum-Stellung, zum Theil nach hinten gesunken, 
haben entlassen müssen, machtlos, dagegen noch etwas zu thun. Ich 
komme darauf mit einigen Worten zurück. Nun modifleiren sich die 
Dinge dadurch, dass zn gleicher Zeit in die Sehnen und ihre Scheiden 
eine Faserstoffinflltration stattflndet, und in diesem Sinne sind besonders 
alle die Gelenke, bei denen die Sehnen in der Art ringsum liegen, wie 
beispielsweise die Hand, sehr schlimm daran. Zwei Hände wollen wir 
einmal verfolgen. Man erlebt bei den Händen überhaupt sehr viel ver¬ 
schiedenes. Einmal an den Sehnen, dann aber auch an den kleinen Iland- 
wurzelknocben. Mir ist erst das Verständnis aufgegangen für eine 
Reihe von Veränderungen in der Hand, die ich im Laufe der Jahre ge¬ 
sehen habe, die ich mir früher gar nicht habe erklären können. Erst 
jetzt, wo ich hier unzweifelhaft Gelenkentzündungen von Gonorrhoikern 
gesehen habe, bei denen die Aetiologie ansging von einem Knochen- 
abscess, und ich dann also auch die Knochen exstirpirte — beiläufig 
das einzige Heilmittel, das wir für diese Fälle und Knochenerkrankung 
haben — nnd sah dass die Knochen vom Knorpel entblösst und die 
Oberflächen cariös waren, erst da ist mir ein Liebt aufgegegangen, 
über doch 4—5 Fälle, die ich in früheren Jahren gesehen habe, bei 
jugendlichen Personen keine acuten osteomyelitischen Processe. son¬ 
dern Processe, die mir absolut räthselhaft waren. Es giebt also eine 
Reihe durch die pararticulare Phlegmone und durch das Angegriffen¬ 
werden der Knochen sehr schwerer gonorrhoischer Handaffectionen. 
Besser sind die Erscheinungen in den Füssen, weil die Fussgelenke 
doch nur auf der Vorderseite so unmittelbar von den Strecksehnen be¬ 
deckt sind. Bei der Hand kommt aber weiter noch etwas hinzu, was 
sie parallel stellt mit dem Knie! Die Dislocation tritt so ausser¬ 
ordentlich leicht ein. Wird die Hand vernachlässigt, so stellt sie der 
Kranke natürlich immer in Flexion. Dann rutscht sie im Radialcarpal¬ 
gelenk volarwärts; es giebt schlimme Dislocationen. (Demonstration.) 
Nun, Sie sehen die Hand hier schon auf dem Wege der Heilung. Es 
handelte sich um eine schwere Form von Infiltration der Sehnen, auch 
noch mit einer fluctuirenden Stelle im Carpus. Hier eine desselbigen 
gleichen, die eigentlich ausserordentlich schnell zurückgegangen ist. Ich 
komme gleich darauf, durch welche Mittel, aber bei der man doch auch 
immer noch sieht, wie die Sehnen alle verschmolzen sind. Am längsten 
dauert immer die Rückkehr der freien Beweglichkeit der Finger. Das ist 
wohl unzweifelhaft zum grossen Theil zu reduciren auf das Leiden der 
Sehnen. Das was wir an den Fussgelenken von Erkrankung sahen, ist 
rückgängig geworden nnd ebenso ist es uns gelungen, die gonorrhoische 
Erkrankung der Hüfte, welche wir sahen, durch Extension zu beseitigen. 

Auch eine gonorrhoische Affection der Schultergelenke haben wir 
behandelt. Es handelte sich um eine eitrige Form, welche durch In- 
cision der Gelenke und Auswaschung mit Carbolsäure zur Heilung ge¬ 
bracht wurde. 

Nach diesen fragmentarischen Bemerkungen wende ich mich noch 
kurz zu der Besprechung der Behandlung bei den Gelenkentzündungen 
der Gonorrhoiker. 

M. H.! Wenn man die Kranken früh zu sehen bekommt, dann 
glaube ich doch, sie sind im grossen ganzen ein sehr dankbares Object 
für den Chirurgen. Nun, ich will mich nicht weiter damit auf halten, 
wie man den Hydrops behandeln soll. Einen einfachen Hydrops be¬ 
handelt man eben am besten (wie schou oben bemerkt), wenn man die 
Technik beherrscht, in der modernen Weise. Man behandelt ihn durch 
Punction und durch Injection von Carbolsäure. Es ist so ausserordent¬ 
lich selten, dass man bei mässiger Kapselsehwellung mit diesen Mitteln 
nicht ansreicht, dass ich das Bedürfnis nach anderen nicht gefühlt 
habe, und ich kann Ihnen hier eine Kranke zeigen, die nach der ersten 
Punction noch einen mässigen Erguss behielt, und die jetzt nach zwei 
Punctionen geheilt ist. 

Also ich glaube, auch die schlimmeren Fälle, bei denen es sich um 
Fluctuation und massige Kapselschwellungen bandelt, können Sie — und 
ich darf wohl hinzufügen, sollten Sie mit Punction behandeln. Ganz 
anders steht es mit den Fällen, bei denen ausgesprochene paraarticuläre 
Phlegmone vorhanden ist. Bei denen richtet sich die Frage, ob man 
überhaupt punctiren soll, nach der Masse der Flüssigkeit. In einer An¬ 
zahl von Fällen habe ich dann, wenn sich Flüssigkeit im Gelenk nach- 
weisen Hess, auch noch punctirt. Ich habe am Knie punctirt, und ich 
habe in einem Falle sogar (wie oben bemerkt) das Schultergelcnk ein¬ 
geschnitten, ein solches Schultergelenk mit schwerer paraarticulärer 
Phlegmone in der Bicepssehne, und ich kann zu meinem Vergnügen be¬ 
richten, dass der Kranke, nachdem ich das Schultergelenk energisch 
ausgewaschen und eine Masse von Faserstoff ausgeräumt habe, mit voll¬ 
ständiger Bewegungsfreiheit geheilt ist. An der Hand und am Fuss 
rathe ich, wenn man überhaupt punktiren will, in der Regel Stich- 


injectionen zu machen. Sie sind ja nicht schwer. Mit einer Stichspritze 
kann man jede beliebige Menge von Carbolsäure einführen, während es 
mit dem Troicart ziemlich schwer ist, zwischen die Sehnen durchzu¬ 
kommen und grössere Massen von eitrigfaserstofflger Flüssigkeit heraus¬ 
zubringen. Nun ist es ja ein Segen, dass wir Mittel haben, um gerade 
die paraarticulären Processe zu beseitigen. Die Franzosen brauchen 
heute noch — das habe ich aus den neusten Mittheilungen der fran¬ 
zösischen Aerzte gesehen — das Vesicator, und ich glaube, sie haben 
recht. Ich glaube, es geht mit dem Vesicator in vielen Fällen die 
entzündliche Schwellung rasch zurück. Ich habe mich daran ge¬ 
wöhnt, auf Grund von Beobachtungen, die ich bei phlegmonösen Pro¬ 
cessen vielfach gemacht habe, bei der Jodtinctur zu bleiben. Aber 
es passirt mir noch oft, dass ein Mensch zu mir kommt und sagt, 
wenn ich ihm Jodtinctur verordne: ja die Jodtinctur habe ich nun 
schon ein halbes Jahr gebraucht und es hat mir nichts geholfen. 
Sehr oft liegt dies an der unvollkommenen Application des Mittels. 
Wer die Jodtinctur so draufschmiert, als wenn er eine Salbe ein¬ 
schmiert, wird freilich nichts erreichen. Es soll durch die Application 
des Mittels die Haut in Entzündung versetzt werden, es schadet auch 
nichts, wenn sich Blasen bilden. Die Exsudationen in die Haut sind es 
ja, die die Exsudationen in den Gelenken verschwinden machen. Dass 
sie das oft machen, ist die Hauptsache, und so rathe ich Ihnen, bei 
diesen phlegmonösen Processen, wie denen, die Sie hier gesehen haben, 
die Hände, die FUsse, die Sehnen, die auch phlegmonös sind, entschieden 
mit Jodtinctur zu behandeln. Aber Sie müssen die Jodtinctur so ein¬ 
pinseln, dass der Mensch am anderen Tage eine Haut hat, die wie 
Pergament aussieht. Dann hört man auf. Es muss also schon eiu Dutzend 
Mal hintereinander immer wieder von Neuem das Mittel aufgepinselt 
werden. Dann giebt es freilich solche Füsse, wie Sie da sehen, sie 
werden blutrünstig und es muss die Haut durch Application milder Salben 
(Zinksalbe etc.) wieder zur Heilung gebracht werden. Ein zweites 
Moment, was mit dazu gehört für die Hände und fiir die FUsse, ist die 
Ruhe. Auch darauf haben die Franzosen schon lange aufmerksam ge¬ 
macht, und wir haben es vernachlässigt. Die Ruhigstellung der Hand 
kann schon für sich allein so einen Process zurückbringen. In einer 
Reihe von anderen Fällen spielt die Extension eine grosse Rolle, vor 
allen Dingen bei den Fällen, bei denen es sich um rasch ankylosirende 
Processe handelt. So ist die Distraction und Extension ein bedeutungs¬ 
volles Mittel für die Coxitiden. Wir haben eine coxitische Kranke hier, 
die in kurzer Zeit mit Distraction geheilt worden ist, und wenn wir sie 
zu früh gehen Hessen, bekam sie stets Recidive. Ebenso spielt die 
Distraction eine relativ grosse Rolle beim Kniegelenk. Wir distrahiren 
die Gelenke eben und verhüten dadurch wenigstens — öfter den Eintritt 
von Ankylosen. 

Nun kommt aber ein Kapitel, und das ist eigentlich das schlimmste 
in der ganzen Geschichte der Behandlung der Folgezustände der 
gonorrhoischen Gelenke: Was macht man mit den unglücklichen Menschen, 
die eine Ankylose davongetragen haben? Ich finde, dass es gut ist, 
dass wir solche Menschen röntgengraphiren. Die Röntgographie wird, 
so hoffe ich, Aerzte wie Patienten vor mancher Enttäuschung bewahren. 
Denn bis jetzt haben wir immer versucht, ob man ein solches Gelenk 
brechen und beweglich machen kann. Es gelingt ja sehr häufig in 
Fällen, in denen wir es garnicht für möglich gehalten haben. Ich er¬ 
zählte heute morgen noch, dass eine junge Frau mir seit vielen Jahren 
— sie ist in der Zeit alt geworden — in jedem Jahre von Neuem ihre 
Freude ausdrückte, dass sie ihr bewegliches Knie wiederbekommen habe. 
Die Frau war auf der Hochzeitsreise erkrankt, sie kam direkt zu mir 
gereist mit einer solchen paraarticulären Phlegmone. Ich habe damals 
geglaubt, es sei ein Rheumatismus. Ich bin dann nachher anderer An¬ 
sicht geworden; ich bin der UeberzeuguDg, es handelte sich bei der 
Dame um gonorrhoische Gelenkentzündung. Nun, die Gelenkentzündung 
lief ab in der gewöhnlichen Weise. Aber eine Ankylose kam. Ich 
habe in dem Falle in der That gebrochen; gekracht hat es in dem Ge¬ 
lenk, als wenn der Knochen mit durchbräche, und trotzdem hat die 
Kranke ein ganz mobiles Knie bekommen. Aber unter welchen Leiden! 
Bis das erreicht wird, dass ein sol.hes Knie mobil wird, dazu gehört 
eine Charakterstärke von Seiten des Patienten, die geradezu kolossal 
ist. Ich glaube, dass die grössten Schmerzen, die ein Mensch durch¬ 
macht, die sind, wenn er ein vom Arzt mobil gemachtes Gelenk mobil 
erhalten will, und das Schlimmste ist: wenn das nicht am Tage 8 bis 
4 mal wiederholt wird, so wird überhaupt nichts daraus. Einen solchen 
Meuschen möchte ich Ihnen zum Schluss zeigen. Er ist hier. Er ist von 
einer anderen Klinik zu uns gekommen, nachdem er eine Gelenkentzün¬ 
dung in der Form durchgemacht hat, und hat mich eigentlich wahrhaft 
gezwuigen, dass ich Brechversuche gemacht habe. Ich habe zweimal 
sein Gelenk mobil gemacht. Es ist auch mobil geworden. Aber es 
fehlt doch noch ziemlich viel. Er hat es aber mit äusserster Energie 
jetzt seit einem Vierteljahr bearbeitet, und ich glaube, wenn er noch 
ein Vierteljahr daran arbeitet, so wird wenigstens etwas mehr heraus¬ 
kommen als gegenwärtig. 

Das, m. H., sind die Mittbeilungen, die ich Ihnen Uber die Gelenke 
machen kann, und ich bitte Sie dringend, dass Sic Zusätze dazu geben 
mögen, denn es ist ein Kapitel, das meiner Ansicht nach breit bearbeitet 
werden muss. 

(Schluss folgt.) 


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No. 2. 


«KULINKU KLIX|S<’IIK WOCI1 KXS<'IHMFT. 


Berliner Gesellschaft für Psychiatrie and Nervenkrankheiten. 

Sitzung vom 9. November 1896. 

(Schluss.) 

Hr. 8 . Kaliseher: II. Tabes mit Ophthalmoplegie, Demenz and 
Maskelatrophie. 

Der Beginn der Krankeit dieses Mannes, eines 40jährigen Conditors, 
datirt 11 Jahre zurück. Er war bis vor 11 Jahren stets gesund und an¬ 
scheinend nicht luetisch inflcirt. Er suchte Juli dieses Jahres den Augen¬ 
arzt Herrn Dr. Ginsberg auf, weil er doppcltsah. Die Untersuchung 
ergab beiderseitige reflectorische Pupillenstarre, rechtsseitige Abducens- 
parese, beiderseitige Ptosis. Ausserdem fanden sich tabische Erscheinun¬ 
gen, Demenz, Veränderung der Sprache und Muskelatrophien. Die Den- 
tung des Falles machte um so mehr Schwierigkeiten, als der Kranke 
unbestimmte und wechselnde Angaben machte. Aus diesen war ersicht¬ 
lich, dass er vor vielen Jahren in der Behandlung des Herrn Professor 
Dr. Remak stand, welcher mir einen Bericht aus seinem poliklinischen 
Krankenjoumai gtitigst zur Verfügung stellte. Demnach hatte der Kranke 
im Jahre 1885 eine Lähmung des Sphincter pup. und der Accommodation 
(Ophthalmoplegia interna), wegen der er von Herrn Professor Dr. Uthoff 
behandelt wurde. 2 Jahre später, im Jahre 18H7, zeigte er eine links¬ 
seitige Abducensparese (Doppelsehen), rechts reflectorische Pupillenstarre, 
links Pupillenerweiterung bei träger Rcaetion, Hängen des rechten Mund- 
facialis, fehlen des linksseitigen Patellarreflexes, Paraesthesien am Ge¬ 
sicht, Lippen, Händen, Füssen und Thorax, keine ausgeprägten Sensi- 
bilitätsstörnngen bis auf eine vorübergehende Analgesie im rechten Pero- 
nensgebiet. Im Verlaufe der Beobachtung (6 Monate) ging die Abducens- 
läbmung (Gebrauch von Jodkali) zurück; die Diagnose lautete auf Tabes 
mit Ophthalmoplegie. Im Jahre 1887 stand der Kranke in Behandlung 
des Herrn Professor Dr. Bernhardt, der ihn am 11. Juni 1888 dieser 
Gesellschaft vorstellte, wegen eigenthümlicher cephalischer, auf Störungen 
der Trigeminuswurzel zn beziehender Sensibilitätsstörungen. — Anfang 
August 1896 klagte der Kranke über Doppelsehen, Kriebeln im Gesicht, 
-Händen, Füssen, taubes Gefühl um den Rumpf: auch muss er angeblich 
beim Urinlassen sehr pressen, und die Geschlechtskraft soll seit ! / t Jahre 
nachgelassen haben. Neben rechtsseitiger Abducensparese, beiderseitiger 
Ptosis, reflectoriscber Pupillenstarre, träger Reaction bei Convergenz und 
Accommodation, wechselnder Pupillendifferenz bestanden: Verlust der 
Patcllarreflexe, Herabsetzung der Schmerzempflndung im ganzen Gesicht, 
besondere im oberen Trigeminusgebiet, erhaltener Cornealreflex, Hyp- 
ästhesie für alle Empflndungsqualitäien, besonders aber für die Schmerz¬ 
empflndung in einer 2 cm breiten Zone unter dem Nabel; an den Extre¬ 
mitäten bestanden keine Sensibilitätsstörungen, auch Ataxie, Romberg'sches 
Phänomen, lancinirende Schmerzen, verlangsamte Schmerzempflndung, 
Störungen der Localisation sind nicht vorhanden. Eine Differenz beider 
Nasolabialfalten gleicht sich bei mimischen und activen Bewegungen aus. 
Die Sprache ist etwas näselnd (?), klingt verwaschen. Eine deutliche 
bulbäre Sprachstörung liegt nicht vor, ebensowenig ein paralytisches 
Silbenstolpern. Die Zähne verlor der Kranke im Laufe der Jahre unter 
Schmerzen; sie waren stockig und cariös geworden. Auch bei Heraus¬ 
nahme des Gebisses bleibt die Sprache undeutlich. Ataxie oder erheb¬ 
liche Sensibilitätsstörungen weisen Lippe, Mund, Kiefer nicht auf; ich 
möchte demnach die gestörte Sprache auf eine corticale oder vielmehr 
psychische Ursache, auf eine undeutliche Articulation infolge des geistigen 
Defectes des Kranken beziehen. Derselbe zeigt nämlich eine auffallende 
Gedächtnissschwäche und Aphasie. Nach Angaben seiner Frau, mit der 
er 14 Jahre verheirathet ist, besteht dieser Stumpfsinn bei ihm von Kind¬ 
heit an, ohne irgend welche Veränderung zu zeigen. Die Gedächtniss¬ 
schwäche war schon in der Schule auffallend. Seine Arbeit verrichtet 
der Kranke, der stets einsilbig nnd jähzornig war, trotzdem sehr correct 
und genau. Eine Progression dieser Intelligenzschwäche, Stimmungsano¬ 
malien u. s. w. sind in den letzten 14 Jahren nicht aufgetreten und dem¬ 
nach wohl der Gedanke einer ptogressmn Paralyse von der Hand zu 
weisen. — Ausser den genannten Erscheinungen fallen an dem Kranken 
auf:'ein starkes Eingesnnkensein der Fossae supra- et infraspinatae, und 
eine Vertiefung im rechten unteren Oucullarisgebiet. Doch fehlen hier 
die entsprechenden Functionsstörungen; electrisch ist die Erregbarkeit im 
rechten unteren Cucullarisgebiet ein wenig herabgesetzt im Vergleich zu 
links. Anders steht es mit der Daumenballenmusculatur der linken Hand; 
dieselbe fehlt fast völlig, während die Kleinflngermusculatur, der Adductor 
pollicis und die Interossei gut erhalten sind. Das Opponiren des Dau¬ 
mens dieser Hand ist schwach, und der Daumen erreicht nur mit Mühe 
die Spitze des kleinen Fingers. Sensibilitätsstörungen und anderweitige 
Anomalien im Medianu'gebiete sind nicht vorhanden. Bei faradi- 
scher Reizung tritt vom N. medianus aus, wie bei directer Erre¬ 
gung eine ausgesprochen träge, wurmfähige Zuckung im Opponens pol- 
licis auf; das gleiche ist der Fall bei galvanischer Reizung. Herrn 
Professor Dr. Remak, der den Kranken gelegentlich untersuchte, ge¬ 
lang es auch bei Reizung mit Einzelschlägen eines starken Induc- 
tionsapparates eine träge Zuckung im Opponens zu erzielen. — 
Eine derartige Reaction ist für die Differentialdiagnosc zwischen einem 
spinalen und peripheren (neuritischen) Process kaum zu verwerthen; sie 
ist bei beiden, sowohl spinalen, wie neuritischen degenerativen Lähmungen 
und Atrophien zur Beobachtung gekommen. Speciell die faradische EaR 
ist in mehreren Fällen neuritischer Atrophie im Medianusgebiete bei 
Tabes beschrieben worden. Auch Prof. Remak stellte hier vor einigen 
Jahren einen Cigarrenarbeiter mit Tabes und Atrophie der Daumenballen- 


rausknlatur vor, bei welchem die Beschäftigung als Gelegenbeitsnrsaebe 
der Neuritis angesehen wurde. Eine professionelle Atrophie scheint in 
unserem Falle nicht vorzuliegen. Wenn auch die geringe Funetiooa- 
störung bei der starken Atrophie zu Gunsten der spinalen Natur des 
Leidens spricht, so sind doch Vorderbomaffectionen nnd spinale Atrophien 
bei Tabes überaus seltene Fälle, die früher als solche beschrieben oder 
angesehen wurden, sind hinsichtlich der klinischen nnd pathologiacb- 
anatomischen Abgrenzung von der Neuritis nicht sicher gestellt. Aneh 
hier dürfte eine Medianusneuritis anzunebmen sein, wenn der weitere 
Verlauf nicht den Gegenbeweis liefert. — Erscheinungen einer Syringo¬ 
myelie, die zuweilen mit Tabes combinirt auflritt und Atrophien ver¬ 
ursacht, lagen nicht vor. — Auch konnte an eine Combination von 
Ophthalmoplegie mit Atrophien spinaler Natur nicht gedacht werden, 
da der tabische Grnndprocess (reflectorische Pupillenstarre und Verhüt 
der PatellarTeflexe) zu ausgeprägt war. 

Hr. Jolly meint, dass nicht die Parese, sondern die Ermüdbar¬ 
keit das Hauptsymptom ist. Der Name psendoparalytiscbe Myasthenie 
sei passender, da die Sectionsbefunde theils wechselnde, tbeils negative 
seien. Auch den Namen Malattia di Erb verwirft er, da eine Krank¬ 
heit passender nach ihren Symptomen bezeichnet wird. 


Gesellschaft der CharIW-Aerzte. 

Sitzung vom 2. Juli 1896. 

Vorsitzender: Herr Senator. 

Hr. Löhr: Heber ImmanislningSTersiehe gegen Diphtherie. 

(Der Vortrag ist in extenso im Jahrbuch für Kinderheilknnde, Bd. 43. 
erschienen.) 

Immunisirungen der Kinder der Krankenabtbeilnng des Herrn Geh.- 
Rath Heubner gegen Diphtherie sind seit October 1894 in grossem 
Umfange vorgenommen worden, weil Erkrankungen an diesem Leiden, 
besonders auf der hygienisch ungünstigen HanpUtatioo, an der Tages¬ 
ordnung waren; auf dieser sind allein vom 1. October 1894 bis 30. Juni 
1896 23 Kinder an Diphtherie erkrankt. Anfangs wurden nur die Kinder 
in den Nebenbetten, später die eines ganzen Saales im Falle einer 
Diphtherieerkrankung, seit Januar 1896 überhaupt sämmtliche neu aof- 
genommenen Kinder immunisirt. Diese Immunisirungen wurden bei allen 
Krankheitsfällen vorgenommen; ansgenommen worden nur solche Kinder, 
deren Ableben kurz nach der Aufnahme zn erwarten stand. Es sind im 
Gaozen 460 Immnnisirungen ausgeführt worden an Kindern sämmtlieber 
Altersklassen. Die Menge der Immunisirungseinheiten betrog zuletzt 
200—250 I.-E., enthalten in 1 ccm. Die Erfahrung lehrte, dass wenn 
ein Diphtheriefall vorgekommen nnd nicht alle Kinder immunisirt worden, 
stets mehrere Fälle folgten; von den immunisirten erkrankten anfangs 3 
nach Ablauf von 21 — 41 Tagen; nachdem die Immunisirung bei den 
längere Zeit im Krankenhanse befindlichen Kindern nach Ablauf von 
3 Wochen wiederholt wurde, erkrankte keins mehr. Interessant ist, 
dass nach Einführung der Immunisirung von 99 Masernkranken kein 
Kind an Croup erkrankt ist, während mit dieser immer tödtlicben 
Doppelerkrankung 5 Kinder eingeliefert wurden. Vor der Immunisirung 
erkrankten von 40 an Masern leidenden 7 = 17,5 pCt. an Diphtherie 
und starben. Ein schädlicher Einfluss der Immunisirung konnte in 
keinem Falle constatirt werden; in 20 = 4,34 pCt. der Fälle traten 
Exantheme a'if. 

Hr. Senator: Nach den Zahlenangaben des Herrn Vortragenden 
ist wohl kein Zweifel daran, dass es gelungen ist, die Diphtherie auf 
den Kinderabtheilungen znm Erlöschen zu bringen. Aber ich glaube 
nicht, dass man deswegen die allgemeine Immunisirung der Kinder znr 
Zeit einer Diphtherie-Epidemie empfehlen kann, und zwar ans zwei 
Gründen. Wie der Herr Vortragende schon selbst angegeben hat und 
wie ja auch allgemein bekannt ist, ist die Empfänglichkeit der Menschen, 
der Kinder insbesondere, für Diphtherie bei weitem keine sehr grosse, 
und namentlich nicht zu vergleichen mit der Empfänglichkeit des Men¬ 
schengeschlechts für Masern und für Pocken — natürlich bei solchen, 
die nicht immunisirt sind — d. h. mit anderen Worten: bei einer Diph¬ 
therie-Epidemie wird von den Kindern nur ein geringer Bruehtheil — in 
Berlin z. B. soll er ja noch besonders klein sein — an Diphtherie er¬ 
kranken, and von den Erkrankten — das ist ja wohl nicht zu bestreiten 
— endet wieder nnr ein geringer Theil mit dem Tode. Also hat ein 
verhältnissmässig ganz kleiner Theil der Kinder die Chance, an Diph¬ 
therie zu sterben. Darin liejt schon ein grosser Unterschied von den 
Pocken. Denn bei diesen ist, wie gesagt, die Empfänglichkeit sehr 
gross, es hat also bei einer Pockenepidemie ein sehr grosser Theil der 
Menschen, die nicht durchseucht oder geimpft sind, die Wahrscheinlichkeit 
zu erkranken und an Pocken zu sterben; denn die Pocken sind sehr 
viel gefährlicher, als die Diphtherie, nnd selbst wenn der Tod aa den 
Pocken nicht eintritt, so bedingen sie bekanntlich eine Reihe schwerer 
Nachkrankheiten. Selbst die Narbenbildungen, die Zurückbleiben, sind etwas 
sehr Unangenehmes. Die Nachkrankheiten der Diphtherie dagegen sind 
lange nicht so gefährlich. Uebrigens ist noch die Immnnisirung mit dem 
Diphtherieserura. wenn ich sie auch durchaus für keinen so gefährlichen 
Eingriff halte, wie von Manchen geschieht, doch auch nicht so unschul¬ 
dig, als sie der Herr Vortragende hinstellt. Immerhin könnte man ja 
die Nebenwirkungen in den Kauf nehmen, wenn es sich nm solche Ge¬ 
fahren handelte and für eine so grosse Zahl von Menschen, wie bei den 
Pocken. Nun kommt aber noch ein zweiter Grand dazu, der gerade von 


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11. Januar 1K97 



einem StandpHnkt aus nicht für die Nottawendigkeit der Diphtherie- 
^iBmnnisinnig spricht. Er sieht doch, wie ich auch, in dem Diphtherie¬ 
serum ein Behr wirksames Heilmittel gegen die Diphtherie. Nun ist 
nicht emzusehen, warum wir die Kinder auf die kleine Chance hin, dass 
einige wenige von ihnen erkranken und noch weniger sterben, einem 
immeihin nicht ganz gleichgültigen Eingriff unterwerfen sollen. Man 
kann es ja abwarten, ob überhaupt eine Erkrankung eintritt, alsdann 
-haben wir ja das Heilmittel und zwar gleich im Anfang. Denn wo ein 
Arzt znm Immunisiren vorhanden ist, wird er ja auch bei eingetretener 
Erkrankung zur Stelle sein. 

Aus diesen Erwägungen glaube ich nicht dazu rathen zu können, 
die Immunisirung bei einer Epidemie allgemein vorzunehmen. Ausnahmj- 
weise bei einer sehr schweren Epidemie, in einem besonders ungünstigen 
Herd, mag sie wohl gerechtfertigt erscheinen, wie es eben hier in der 
Cfaaritö gewesen ist. 

Hr. Heubncr: Ich glaube, das geht schon aus dem Vortrage des 
Herrn Löhr hervor, dass er dnrehaus nicht beabsichtigt, eine allgemeine 
Immunisirung mit Heilserum, etwa wie die Pockenimpfung, vorzuschlagen. 
Das ist, ausser aus den Gründen, die Herr Senator ausgeführt hat, 
überhaupt gar nicht rätblicb, weil es sich in beiden Fällen um etwas 
ganz Verschiedenes handelt. Mit der Vaceination erregen wir eine 
Krankheit, die mit den Pocken identisch ist und active Immunität 
schafft; bei der Heilserumimmunisirnng schaffen wir nur eine passive 
Immunität, die sehr schnell wieder vorübergeht. Also gerade unsere 
Untersuchungen über die Immunisirung mit Heilserum scheinen mir an 
sieh darzulbun, dass es nicht wohl angeht, die ganze Bevölkerung im 
Falle einer Epidemie zu immunisiren. Dann würde es ungefähr alle 
20 Tage wiederholt werden müssen. Dagegen, muss ich sagen, würde 
ich doch, wenn ich in einer Familie zu behandeln habe, wo ein Dipli- 
theriefalll vorkommt, die anderen Kinder immunisiren, weil da doch die 
Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung, wie wir eben aus den Thatsachen, 
die Herr Löhr vorgebracht hat, sehen, nicht so Behr gering ist. Wenn 
anch sehr oft die Ansteckung nicht erfolgt, so erfolgt sie doch auch 
nicht so selten, und in solchen Fällen, muss ich sagen, gerade weil es 
da nur darauf ankommt, die Zeit hindnreh, während welcher das andere 
Kind krank ist, die gesunden Kinder zu schützen, scheint mir eine 
Familicn-Immunisirung gerathen zu sein. 

Hr. Senator: Ich möchte nur berichtigend bemerken, dass wenn 
man die Immunisirung so allgemein empfiehlt, damit ja ein gewisses 
Misstrauen m der Wirksamkeit des Heilserums gegen die Krankheit 
selbst ausgesprochen ist. 

Hr. Heubner: Wir heilen doch nicht jeden Fall. Ich habe Fälle 
veröffentlicht, wo wir am ersten Tage eingespritzt haben und doch der 
tödtliche Ausgang eintrat. Also so unfehlbar ist das Mittel doch nicht 
Man muss doch gegen die Diphtherie Alles anwenden, was Aussicht auf 
Erfolg verspricht. 

Hr. Finkelstein: Ueber angeborene Pylorusstenose bei Säug¬ 
lingen. 

Bei jungen Säuglingen treten nicht gar zu selten ernste Symptome 
von Seiten des Magendarmcanals auf, die durch ihren ilensartigen Cha¬ 
rakter auf eine Canalisationsstörnng des Intestinalrohre, durch ihr Ge¬ 
bundensein an die ersten Wochen und Monate des Lebens auf eine con¬ 
genitale Natur des Hindernisses hinweisen. Man kann 2 Gruppen unter¬ 
scheiden, die einen mit totaler Verschliessung des Darmlumens durch 
mancherlei pathologische Momente, die kurz berührt werden, charakteri- 
sirt durch baldigen Exitus, die anderen nur mit Verengerung einer Stelle 
des Darmrohres, die ein längeres Leben erreichen können. Durch 
Maier und Länderer ist zuerst auf die Existenz einer angeborenen 
Pylorusstenose aufmerksam gemacht worden, es sind dann von Hirsch¬ 
sprung und Hen8chel Fälle bei Säuglingen constatirt worden. Auf 
der Henbner’schen Klinik sind gleichfalls mehrere Kinder im ersten 
Lebensvierteljahr zur Beobachtung und zur Section gekommen. Beson¬ 
ders inatructiv war ein Fall, in dem schon intra vitam dureh Fest¬ 
stellung eines palpablen Tumors am Pylorus die Diagnose zweifellos 
gemacht werden konnte. Es handelt sich meist um rausknläre Hyper¬ 
trophie des Pylorasringes. Diese angeborene Anomalität scheint viel 
häufiger zu sein, als man bis jetzt glaubte; man muss an sie denken, 
wenn hartnäckiges Erbrechen, peristaltische Bewegungen der Magen¬ 
gegend, spärlicher Stuhl and Abmagerung bei einem Bäugling anftreten. 
So erklären Bich gewisse, höchst eigentümliche Zustände, die sich bei 
Brustkindern ereignen, die Kleinen aufs Aeusserste berunterbring^n, bei 
sorgsamster Ueberwachung der Nahrungsznfnhr aber wieder sich bessern 
können. Bis jetzt sind nur bei Brustkindern Heilangen gesehen worden. 
(Der Vortrag ist in extenso im Jahrb. f. Kinderheilkunde, Bd. XLIII, 
H. 1, erschienen.) 

Discnssion. 

Hr. Henbner: Ich möehte ja auch glauben, dass für die Mehr¬ 
zahl der Fälle, wie sie Herr Dr. Finkeistein angeführt hat, die An¬ 
nahme einer angeborenen Stenose des Pylorus das Richtige treffen mag, 
obwohl sie mir entwickelungsgeschichtlich schwer zu deuten scheint. 
Ich bin auch ganz der Ansicht des Herrn Finkeistein, dass es keinem 
Menschen einfallen wird, heute ans einer vorübergehenden Vergrösserung 
den Magenvolumens eine Gastrektasie za diagnosticiren. 

Hr. Stranss: Unter den Mitteilungen des Herrn Vortragenden 
ist besonders die Thatsache interessant, dass auch bei der angeborenen 
PylonusteBOse die Hypertrophie der Mnscnlaris sich vorwiegend auf die 
Pare pylorica erstreckt. Diese eigentümliche Localisation der Muskel¬ 
hypertrophie findet ihre Parallele bei den erworbenen Pylorusstenosen 


der Erwachsenen, wo sowohl bei der auf dem Boden des Carcinoms, als 
bei der auf dem Boden des Ulcus entstandenen Pylorusstenose die Hyper¬ 
trophie der Muscularis sich entweder allein oder wenigstens in vorwie¬ 
gendem Maaase auf die Pars pylorica des Magen* erstreckt. Diese 
Beobachtung ist für die theoretische Auffassung der Function der Pars 
pylorica des Magens von grosser Wichtigkeit. Denn wie von Pfungen, 
Hoffmeister und Schütz, Moritz u. A. nachgewiesen haben, ver¬ 
halten sich die Pars pylorica und der Körper des Magens functionell 
verschieden. Während dem Magenkörper wesentlich eine Secretionsarbeit 
zufällt, ist die Hauptaufgabe der Pars pylorica eine motorische. Diese 
Verhältnisse bringen es mit sich, dass die Pars motorica des Magens 
dann, wenn ein grösseres Maass von Hindernissen bei der Austreibung 
der Ingesta zu überwinden ist, in stärkerem Grade hypertrophiren muss, 
als der übrige Theil des Magens. Ich habe mich von dieser Erschei¬ 
nung sehr häufig bei der Obduction von Fällen, deren motorisches Ver¬ 
halten ich längere Zeit hindurch klinisch genauer verfolgen konnte, über¬ 
zeugt. Man kann aber auch bei Erschlaffungszuständen, wenn es zur 
Ausbildung einer wirklichen Vergrösserung des Magens gekommen ist, 
welche mit einer ausgesprochenen motorischen Insufflcienz verbunden 
sind, die Beobachtung machen, dass nicht der ganze Magen gleichmässig 
grösser wird, sondern dass die Pare pylorica in besonderem Grade 
gedehnt wird, so dass die, ich möchte sagen, Füllhornform, welche der 
Pylorustbeil des Magens in der Norm besitzt, am Schluss in Folge der 
Ausweitung eine Art Kesselform darstellt. Ich habe diese eigentüm¬ 
liche Formveränderung des Magens wiederholt intra vitam durch die 
Feststellung einer abnormen Ausdehnung des rechts von der Mittellinie 
gelegenen Theils des Magens nach weisen und mich bei der Obduction 
von der Richtigkeit meines Befundes überzeugen können. Man kann 
diese Verhältnisse ähnlich deuten, wie beim Herzen, wo der Vorhof 
mehr ein Sammelorgan ist und der eigentliche Ventrikel ein Expulsions¬ 
organ darstellt. Nach dieser Parallele würde der Magenkörper dem Vor¬ 
hof entsprechen, während die Portio pylorica der eigentlichen Herz¬ 
kammer entsprechen würde. 

Ich möchte mir weiterhin die Frage erlauben, ob es nicht möglich 
ist, bei den Kindern mit solcher Exactheit die Diagnose einer Pylorus- 
verengcrung zn stellen, da-s die Frage einer Gastroenterostomie in Er¬ 
wägung gezogen werden kann, die ja bei Erwachsenen die aussichts¬ 
vollste Therapie der Pylorusverengerung darstellt. Ich enthalte mich 
bei dieser Frage selbstverständlich eines Urtheils über die bei kleinen 
Kindern vorhandene Ausführbarkeit dieser Operation, sowie über die Aus¬ 
sichten, welche diese bei Erwachsenen häufig und mit grossem Erfolg, 
bei kleinen Kindern aber meines Wissens noch nicht oder nur selten 
vorgenommene Operation bei Kindern besitzt, wenn sie, wie ich beson¬ 
dere betone, bei noch gutem Ernährung.-zustande vorgenommen wird. 

Hr. G. Lewin: In Bezug der Aetiologie möchte ich erwähnen, dass 
es auch Fälle giebt von angeborener Syphilis, welche die Pylorusstenose 
erzeugen. Ich erinnere mich eines Falles, der von Mädel vor über 
30 Jahren hier obduzirt worden ist. Seit der Zeit ist, glaube ich, hier 
keiner vorgekommen, wenigstens nicht aus syphilitischer Ursache. Auch 
Hentschel, der eine genaue Arbeit über Magenerweiterungen geschrieben 
hat, berichtet solche Fälle von hereditärer Syphilis, welche die Stenose 
herbeigeführt haben; und da ist mir eins aufgefallen. Er betont, dass 
nicht das häufige Erbrechen, und gerade das Erbrechen von grossen 
Massen stinkenden Secrets charakteristisch für Kinder ist, wie Strüm¬ 
pell für Erwachsene erwähnt hat, sondern charakteristisch ist die 
schnelle Abmagerung, dann das Rassel-Geräusch und der Wechsel 
zwischen Obstipation und Diarrhoe. Das scheint nnn hier nicht bestätigt 
zu werden. Es scheint das Gcgentheil hier behauptet zu werden. Ich 
selbst habe ja keine Erfahrung. Es wäre mir aber sehr interessant, 
eine Erklärung der Widersprüche von zwei Autoren zu hören, die doch 
grosse Erfahrung haben. 

Hr. Heubner: In Betreff der Fälle, die ich selbst beobachtet habe, 
die von Herrn Finkeistein erwähnt worden sind, möchte ich nur be¬ 
merken, dass das in der That vollständige Unica waren und nicht etwa 
mit irgend welchen der oft fälschlich sogenannten Magenerweiternngen 
zu identiflziren waren. Den ersten habe ich, glaube ich, 1892 gesehen 
in Leipzig, die beiden anderen hier. Das waren in der That Fälle, die 
ganz und gar demjenigen Bilde glichen, was die Magenerweiternng bei 
Pyloruskrebs, oder bei der Pylorusstenose nach Magengeschwüren dar- 
bletet. Die sind garnicht zn vergleichen mit dem, was man sehr häufig 
in Berichten von Kinderärzten als Magenerweiterung bezeichnen hört. 
Ich verhalte mich gegenüber diesen sogenannten Magenerweiterangen, 
ganz genan wie Herr Finkeistein, ausserordentlich skeptisch. Meiner 
Ansicht nach wird mit der Diagnose der Magenerweiternng — die Herren 
Praktiker, die sich mit Erwachsenen beschäftigen, wissen das Ja anch — 
sehr viel Missbrauch getrieben. Man darf ja nicht einen aufgeblähten 
Magen, wie es schon Herr Finkeistein hervorhob, mit einem erweiterten 
Magen verwechseln. Einer meiner Schüler behauptete einmal, von einer 
Autorität gehört zu haben, jedes rachitische Kind hätte eine Magen¬ 
erweiterung. Ich war über diese Behauptung sehr erstaunt und wir 
sahen dann einfach am nächsten Tage in meiner Klinik sämmtiieh« 
rachitischen Kinder an, und ich wies dem Heim nach, dass davon keine 
Rede sei. Also anfgetriebener und etwas atonischer Magen kann nicht 
verwechselt werden mit Magenerweiternng. Aber in jenen Fällen war 
wirklich ganz das Bild der Magenerweiterung da; starke peristaltische 
Bewegungen, mit erheblicher wurstförmiger Vorwölbnng der Baachwand 
zogen sich vom linken Thoraxrand über das Epigastrinm und die obere 
Hälfte des Leibes hinweg um in der Lebergegend zu verschwinden. 


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Ko. ! 2 . 


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Der Perkussionsschall war an den betreffenden Stellen laut tympanitiscb 
mit metallischem Beiklang. 

In meinem ersten Fall wurde allerdings erwogen, ob nicht zu einer 
Operation gerathen werden sollte. Zu fühlen, wie in dem einen Fall, 
den Herr Finkeistein erzählt hat, war damals eine Anschwellung in 
der Pylorusgegend nicht, und so war mir immerhin die Diagnose dieses 
ersten Falles etwas unsicher. Erst die fortgesetzte Beobachtung des Falles 
und die Fälle hier haben mich retrospektiv dazu geführt, auch jenen 
ersten Fall als hierher gehörig zu betrachten. Ich dachte damals zu¬ 
nächst an multiple Stenose verschiedener Darmstellen, wie sie vielfach 
beschrieben ist. Unter abwartender Behandlung, Darmentleerung und 
Magenausspülung — nicht einmal sehr häufig — ging die Affektion 
wieder zurück. Ich halte, die Erklärung, die Herr Finkeistein von 
diesen Dingen giebt, für sehr plausibel. 

Ilr. Senator: Bei der grossen Seltenheit dieser Fälle möchte ich 
auch über einen von mir beobachteten Fall berichten, in dem alle Er¬ 
scheinungen einer Stenose des Pylorus oder des oberen Duodenal-Ab- 
schnittes vorhanden waren und der sich überhaupt ganz so verhielt, wie 
es Herr Heubner geschildert hat. Auch da konnte man einen Tu¬ 
mor, der etwa auf einen narbig verdickten Pylorus zu beziehen war, 
nicht fühlen. Von den behandelnden Aerzten war auch die Diagnose 
auf Stenose gestellt worden. Das Kind gedieh trotz sorgfältiger Pflege 
nicht. Als ich es sah, w'ar es */ 4 Jahr alt, hatte seit der Geburt Er¬ 
brechen, hartnäckige Verstopfung mit Auftreibung der Magengegend, 
magerte ungemein ab und hatte ausserdem Nystagmus. Ob und in 
welcher Weise dieses mit der Magenaffektion im Zusammenhang stand, 
muss ich dahingestellt sein lassen. Es gelang endlich, durch peinlichste 
Sorgfalt in der Ernährung mit immer nur ganz kleinen Mengen ausge¬ 
suchter und stufenweise verdünnter Milch das Erbrechen und die Ver¬ 
stopfung zu beseitigen. Das Kind erholte sich und ist jetzt nach mehr 
als 2 Jahren ein sehr gut entwickeltes Kind. Der Nystagmus hat sich 
auch verloren. Hiernach scheint es auch mir, dass man sieb mit der 
Operation der Gastro-Enterostomie, wenigstens bei kleinen Kindern, nicht 
so sehr beeilen, sondern immer erst eine sorgfältige, lange fortgesetzte 
Pflege versuchen soll. 


VIII. Praktische Notizen. 

A. Heidenhain-Köslin empfiehlt in einer Zuschrift an uns zur 
Behandlung des Pruritus pudendorum und Pruritus ani folgendes Mittel. 

Der wohlthätige Einfluss der hochgradigen Wärme bei Hyperämie 
ist bekannt; ich erinnere an die heissen Eingiessungen bei nlcerösen 
Blutungen in der Scheide, Ulcus im Mastdarm; blutende Hämorrhoidal¬ 
knoten hören auf zu bluten nach heissem Sitzbade u. s. w. Wenn nun auch 
nicht jedes Jucken allein auf Hyperämie beruht, so habe ich diese Er¬ 
fahrungen benützend seit längerer Zeit die den Pruritus bedingenden 
erkrankten Theile nur mit heissen Compressen behandelt; damit nun die 
an und fiir sich schon kranke Haut jener Theile durch die Compressen 
nicht noch mehr leicht verletzlich werde, setze ich zum heissen Wasser 
Acid. tanin. zu (1 gehäufter Esslöffel auf 1 Liter Wasser); jeder Pru¬ 
ritus ist auf diese Weise heilbar. Bei Pruritus pudendorum des Weibes 
lasse ich desinficirende Injectionen (Lysol, dann laues Wasser und 
schliesslich Sublimatlösung unmittelbar hintereinander) in die Scheide 
vorangehen und desinfleire ebenso die äusseren Theile; zwischen die 
grossen Labien lege ich Abends einen mit Tanninlösung getränkten 
Watte- oder Gazebausch; überhaupt beschränke ich mich auf eine all¬ 
abendliche Behandlung. Lässt es die Empfindlichkeit des Patienten zu, 
so beize ich sämmtliche Excoriationen u. s. w. mit dem Höllenstcinstifte 
trocken. Fraglos erscheint mir, dass die desinficirende Eigenschaft des 
Tannins bei der Heilung eine wichtige Rolle spielt. Nebenbei gestatte 
ich mir zu bemerken, dass ich cs für rathsam halte, die Patienten darauf 
aufmerksam zu machen, dass Tannin die Wäsche ruinirt. 


IX. Tagesgeschichtliche Notizen. 

Berlin. In der Generalversammlung der Berliner medicin. 
Gesellschaft am 6. d. M. wurde der Geschäftsbericht des Vorstandes 
erstattet und dessen Neuwahl vorgenommen. Die statutenmässig vor¬ 
geschriebene Zettelwahl des I. Vorsitzenden fiel nahezu einstimmig 
auf Rudolf Virchow, — der gesammte übrige Vorstand wurde 
durch Acclamation wiedergewählt. Für die Aufnahmecommission war 
eine, durch Klein’s Tod entstandene Lücke zu füllen; es muss in 
nächster Sitzung Stichwahl zwischen Herrn ltothmann sen. und Herrn 
Stadelmann stattfinden. Wissenschaftliche Vorträge wurden in der 
Sitzung nicht gehalten. Der geschäftsführende Secretair, Herr Landau, 
konnte bereits den fertigen Jahrgang 18ÜG der Verhandlungen als 
Separatabdruck aus unserer Wochenschrift überreichen. 

— In der Sitzung der Gesellschaft der Charitc-Aerzte am 
7. d. M., stellte Herr Müller II zwei Patienten mit tabischer Knie¬ 
gelenkserkrankung im Stadium des Gelenkergusses, resp. der Destruktion 
vor. (Disc. die Herren J. Wolff und König.) Herr Bennecke 


Verlag und Eigenthum von August Hirschwald in 


demonstrirte die Präparate eines Falles von Ileus, bei dem zwei grosse 
angeborene Lymphcysten eine Axendrehung des Darmes bedingt batten. 
Sodann zeigte Herr König einen Säugling, den er durch ein combi- 
nirics Operationsverfahren von einem grossen Prolapsus ani geheilt batte 
und trug unter Demonstration von Präparaten über Rektalstriktur durch 
Gonorrhoe vor. (Disc. die Herren ßehrend und J. Wolff.) 

— In der Sitzung des Verei ns für innere Medicin am 4. d. M. 
hielt Herr v. Leyden einen eingehenden Nachruf auf du Bois-Rev- 
mond. Vor der Tagesordnung stellte Herr Bras einen Patienten vor. 
bei dem ein Pyloruscarcinom operativ beseitigt worden ist, das durch 
die chemische Untersuchung allein, ohne dass ein Tumor fühlbar war. 
diagnosticirt worden war. Herr A. Fracnkel demonstrirte 1. Rein- 
culturen von Pneunokokken aus dem Blute, 2. das Präparat eines 
Aortenaneurysma. Alsdann hielt Herr Karewski seinen Vortrag über 
Perityphlitis bei Kindern, brachte denselben aber wegen der vorgerückten 
Abendstunde nicht zu Ende. 

— In der Sitzung der Berliner Dermatologischen Gesell¬ 
schaft am 5. Januar demonstrirte Herr Heller einen Kranken, bei dem 
die Frage ob Reinfection oder Reinduration zu Gnnsten der letzteren 
Annahme entschieden wurde. Alsdann stellten Herr Gebert eine 
Kranke mit Alopecia areata auf nervöser Basis und Herr Gampertz 
zwei Fälle von syphilitischer Spinalparalyse (Erb) vor. Herr Bla sch ko 
demonstrirte einen Kranken mit Alopecia decalvans und einen Fall von 
chronischer Urticaria mit Pigmentbildung, Herr Max Joseph einen Fall 
von Porokeratosis. Schliesslich hielt Herr Do hi aus Tokio seinen an- 
gekündigten Vortrag über Prurigo. Die beiden letzteren Herren demon- 
strirten zugleich mikroskopische Präparate. 

— Zu Geheimen Medicinalräthen sind ernannt die Herren Prof. 
Dr. Paul Ehrlich und Prof. Albert Enlenburg. 

— Die Herren Priv.-Doc. Dr. Seitz in München nnd Dr. Albert 
Hoffa in Wiirzburg sind zu ausserordentlichen Professoren ernannt. 
Wie die Münch, med. Wochenschr. hervorhebt, liegt hier eine principielle 
Neuerung vor: während bisher in Bayern der Titel eines ausserordentl. 
Professors an eine besondere Anstellung mit Gehalt geknüpft war. 
bedeutet diese Ernennung lediglich eine Rangerhöhung, etwa wie in 
Preussen die Titularprofessur. Da die bayerischen Privatdocenten sich 
bisher in dieser Hinsicht in einem, wenn auch äusserlichen, doch gewiss 
bitter empfundenen Nachtheil ihren deutschen Collegen gegenüber be¬ 
fanden, wird man gewiss eine derartige Gleichstellung, speciell bei den 
hier genannten, hochverdienten Männern, mit Genugtuung begrüssen. 

— Herr Dr. Eschle, früher in Freiburg, hat die Stelle eines 
Directors der Kreispflegeanstalt Hub übernommen. 

— Die Arbeiten des VIII. internationalen Congresses für Hygiene 
nnd Demographie, abgehalten vom 1.—9. September 1894 in Bada- 
pest, sind bereits erschienen und werden in den ersten Tagen künftigen 
Monats zur Expedition gelangen. Diejenigen Congressmitglieder, welche 
seitdem ihre Wohnung verändert haben, wollen ihre genaue Adressen 
dem Chef-Redacteur der Congress-Arbeitcn, Herrn Dr. Sigismund 
v. Gerlöczy, Budapest, St. Rochus-Spital, raittheilen. 


X. Amtliche Mittheilungen. 

Ferionall». 

Auszeichnungen: Charakter als Geheimer Medicinalrath: 
dem ao. Professor Dr. Ehrlich und dem Professor Dr. Albert 
Eulenburg in Berlin. 

Rother Adler-Orden IV. Kl. m. Schw.: dem Stabsarzt in der 
König!. Schutztruppe für Deutsch-Südwest-Afrika Dr. Richter. 
Ernennung: der prakt. Arzt Dr. Lembke in Berlin zum Kreis- 
Physikns des Kreises Isenhagen mit Wohnsitz in Hankensbüttel. 
Niederlassungen: die Aerzte Dr. Rosenthal in Suhl, Dr. Francke 
in Altona, Dr. Johannsen in Wandsbeck, Dr. Borchardt in Dechsel. 
Dr. Kaiser in Grossvernich, Dr. Vogel und Dr. Esch weller in Bonn. 
Verzogen sind: die Aerzte Dr. Frank von Carlsruhe nach Cöln, Dr. 
Kuznitzky von Strassburg i. E. nach Cöln, Dr. Bentler von Dor¬ 
magen nach Wörringen, Ob.-St.-A. I. Kl. a. D. Dr. Schmidtborn 
von Strassburg i. E. nach Honnef, Dr. Lehr ich von Cöln nach Berlin, 
Dr. Poschen von Brühl nach Altenwerder, Dr. Reuland von Weilers¬ 
wist nach Cöln, Dr. Glass von Bonn nach Brühl, Ass.-A. II. Kl. Dr. 
Drope von Schützen nach Annahütte, Dr. Friedrich von Zorndorf 
nach Müncheberg, Dr. Silber von Nimkan nach Lebus, Stabsarzt Dr. 
Blau von Potsdam nach Frankfurt a« 0., Ob.-St-A. Dr. Nitzel von 
Thom nach Frankfurt a. O., Dr. Hammel von Berlin nach Dührings- 
hof, Dr. Hirschberg von Schoenbaum nach Landsberg a. W., Dr. 
Abramowski von Kiel nach Lieberose, Dr. Höhne von Hamburg 
nach Ltibben i. L., Dr. Krause von Berlin nach Welzow, Dr. 
Genicke von Müncheberg nach Berlin, Dr. Linke von Lebus nach 
Charlottenburg, Dr. Stahl von Frankfurt a. O. nach Flensburg, Dr. 
Ehrlich von Forst i. L. nach Naumburg a. B. 

Gestorben sind: die Aerzte Geh. San.-Rath, Ob.-Stabsarzt a. D. Dr. 
Stahmann in Charlottenburg, San.-Rath Dr. Brekenfeld in Wriezen, 
Ass.-Arzt Dr. Guderley in Breslau. 


Für die Itedartion verantwortlich Geh. Med.-Kalb Prof. Dr. C. A. Ewald, Lfitzowplatz 5. 


Berlin. — Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin. 


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BERLINER 


Die Berliner Klinische Wochenschrift erscheint jeden 
Montag in der 8tärke von 3 bis 3 Bogen gr. 4. — 
Preis rierteljihrlieh 6 Merk. Bestellungen nehmen 
alle Buchhandlungen und Postanstalten an. 


Einsendungen wolle man portofrei an die Itedaetloh 
(W. Lützowplats No. 5 ptr.) oder an die Verlags¬ 
buchhandlung von August Hirschwald ln Berlin 
N.W. Unter den Linden No. 68, adresslrcn. 



Organ für practische Aerzte. 


Mit Berücksichtigung der preussischen Medicinalverwaltung und Medicinalgesetzgebung 

nach amtlichen Mittheilungen. 

Redaction: Expedition: 

Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald und Prof. Dr. C. Posner. August Hirschwald, Verlagsbuchhandlung in Berlin. 


Montag, den 18. Januar 1897. 


M 3. 


Vierunddreissigster Jahrgang. 


INHAL T. 


I. Aua der psychiatrischen und Nervenklinik der Kgl. Charite (Prof. 

Jolly). M. Laehr: Lepra und Syringomyelie. 

II. F. Schanz: Die Schnelldiagnose des Löffler'schen Diphtherie¬ 
bacillus. 

III. E Senger: Vorschlag zu einer Modiflcation des Lorenz’schen 
Verfahrens der unblutigen Hüftgelenk-Einrenkung bei älteren 
Kindern. 

IV. F. Bruck: Zur Therapie der genuinen Ozaena. 

V. Kritiken nnd Referate. Veit, Handbuch der Gynäkologie. 
(Ref. Martin.)— Strübing, Neurosen der Athmung; Dreyfuss, 
Krankheiten des Gehirns. (Ref. Kuttner.) — Helferich, Trau¬ 
matische Frakturen. (Ref. Körte.) 

VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Hufeland'sche 


I. Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Kgl. 
Charite (Prof. Jolly). 

Lepra und Syringomyelie. 

Differentialdiagnostische Bemerkungen. 

Von 

Dr. M. Laehr, 

Privatdocent und Assistenzarzt der Nervenklinik. 

Seitdem mit der zunehmenden Erleichterung des Weltver¬ 
kehrs die Verbreitung von Leprakranken nach allen Richtungen 
hin immer unbemerkter vor sich gehen kann, und seitdem gerade 
in den letzten Jahren in den verschiedensten, längst ftir seuchen¬ 
frei gehaltenen Ländern Europas wieder Fälle von Lepra ent¬ 
deckt werden, muss jeder Arzt mit der Möglichkeit rechnen, 
dieser Krankheit zu begegnen und daher mit ihren Erscheinungen 
vertraut sein. Während die charakteristischen Hautveränderungen 
der tuberösen Lepra kaum erhebliche diagnostische Schwierig¬ 
keiten bereiten, kann die maculo-anästhetische oder nervöse 
Form leichter verkannt werden und dann zu verhängnissvollen 
IrrthUmern fuhren. Es ist bekanntlich das Verdienst Zambako- 
Pascha’s, wieder mit besonderem Nachdruck auf die symptoma¬ 
tische Aehnlichkeit der Lepra mit gewissen Nervenkrankheiten, 
in erster Linie mit der Syringomyelie und der Morvan’schen 
Krankheit hingewiesen und auch für eine Reihe von Fällen den 
sicheren Nachweis der Lepraverkennung erbracht zu haben. Er 
ist aber noch weiter gegangen und hat gemeint, dass die ge¬ 
nannten Nervenkrankheiten, wenigstens in der überwiegenden 
Mehrzahl der Fälle, Überhaupt keine selbstständige, sondern nur 
lepröse Krankheitsformen darstellten. Ihm haben sich andere 
Autoren angeschlossen, ohne aber doch ebenso wenig, wie 
Zarabako selbst, hierfür den Beweis zu liefern. Aber auch von 
denen, welche diesen extremen Standpunkt nicht einnehmen, wird 


Gesellschaft. Gottstein, Ausbreitung der Endemicen. — Verein 
für innere Medicin. Boas, Pylorustumor; Fraenkel, Pneumo¬ 
kokken aus dem Blut, Aortenaneurysma; Karewski, Perityphlitis 
bei Kindern; Gerhardt, Pulsus differens; Hirschfeld, Muskel- 
thätigkeit bei Herzkranken. — Berliner medicinische Gesellschaft. 
Landau, Geschäftsbericht über das Jahr 1896; Bartels, Kassen¬ 
bericht; Ewald, Bibliotheksbericht. Wahlen. 

VII. H. Laehr: Die Bedeutung der Psychiatrie für den ärztlichen 
Unterricht. 

VIII. Die Medicin im Preussischen Cultns-Etat. 

IX. Karewski: Zur Technik der Jejunostomie. 

X. Literarische Notizen. 

XI. Tagesgeschichtliche Notizen. — XII. Amtliche Mittheilungen. 


hervorgehoben, wie ausserordentlich schwierig unter Umständen 
die Differentialdiaguose zwischen diesen Krankheiten werden 
kann, ja sie ist sogar von mancher Seite für unmöglich erklärt 
worden. 

Dem gegenüber scheint es mir eine daukenswerthe Aufgabe 
zu sein, im Anschluss an frühere Arbeiten (Schultze, Mare- 
stang, Hoffmanu, Schlesinger u. A.) und unter Berück¬ 
sichtigung der Uber diese Krankheiten gerade in letzter Zeit in 
ausgedehnterem Umfange gewonnenen Erfahrungen die unter¬ 
scheidenden Merkmale derselben hervorzubeben. 

Da es mir in der vorliegenden Arbeit hauptsächlich darauf 
ankommt, praktisch wichtige Anhaltspunkte für die klinische 
Diagnostik zu geben, möchte ich hier der Besprechung der ätio¬ 
logischen und anatomischen Eigentümlichkeiten uur soviel Raum 
gewähren, als dies im Interesse des erstgenannten Gesichts¬ 
punktes notwendig erscheint. 1 ) 

Vorerst seien einige Bemerkungen Uber die Mo r van'sehe 
Krankheit gestattet. Bekanntlich hatte Morvan d'.e pareso- 
analgesie ä panaris des extrGmites superieures als selbstständige 
Krankheit hingestellt und diesen Standpunkt vielfachen Angriffen 
gegenüber zu behaupten versucht, doch ist es jetzt für die über¬ 
wiegende Mehrzahl der Autoien sichergestellt, dass wir es hier 
mit einem Gemisch verschiedener Krankheiten zu thun haben; 
in einer Reihe von Fällen sogenannter Morvan’scher Krankheit 
hat es sich unzweifelhaft um Syringomyelie gehandelt, in anderen 
ist sie sicher mit der Lepra nervosa verwechselt werden. Die 
Möglichkeit bleibt offen, dass auch noch andere, peripherische 
Nervenaffectionen zu einem in mancher Beziehung ähnlichen 
Symptomencomplexe Veranlassung geben können. Begreiflicher¬ 
weise ist durch die Aufstellung dieses Krankheitsgemisches als 


l) Von einer genauen Literaturangabe muss ich an dieser Stelle 
mit Rücksicht auf den mir gebotenen Raum Abstand nehmen. 


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No. 3. 


BERLINER KLINISCHK WO<’I I EXS< 'I l RI FT. 


einer besonderen Krankheit die Verwechslung der Lepra und 
Syringomyelie begünstigt worden. Im Folgenden seien also nur 
diese beide Krankheiten einander gegenübergestellt. 

In allen frischen und meist auch älteren pathologischen Pro- 
ducten der Lepra findet sich der Hansen'sehe Bacillus. Dass 
er der specifische Krankheitserreger ist, hat jetzt wohl allgemeine 
Anerkennung gefunden; anders steht es mit der Frage nach seiner 
Contagiosität, welche zwar von der Mehrzahl jetzt angenommen, aber 
doch auch noch von gewichtiger Seite für unbewiesen gehalten 
wird. Für unsere Frage ist es von Bedeutung, die Momente her¬ 
vorzuheben, welche nach allgemeiner Ansicht die Entwicklung 
der Krankheit begünstigen, das ist einerseits eine hereditäre resp. 
familiäre Veranlagung, andererseits eine durch ungesunde Lebens¬ 
weise, Unreinlichkeit, einseitige Nahrung, möglicher Weise auch 
durch klimatische Schädlichkeiten erw’orbene Disposition. 

Die ersten pathologischen Voränderungen sind in der Haut 
nachgewiesen worden; es finden sich in gleicher Weise, wie bei 
der tuberösen Form — nur dass sie bei dieser eine besondere 
Mächtigkeit erlangen —, in der Umgebung der Cutisgefässe, die 
schon von Daniellsen-Boeck und dann genau von Virchow 
beschriebenen Zellproliferationen und die, wie es scheint, vor¬ 
wiegend intracellulär gelegenen Bacillenhaufen. Die pathologi¬ 
schen Processe gewinnen local an Ausdehnung und sind schon 
frühzeitig auch in den feineren Aesten der peripherischen Nerven 
nachzuweisen. Gerade im Peri- und Endoneurium scheinen die 
Bedingungen für das Fortschreiten der infectiösen Zell Wucherung 
besonders günstige zu sein, denn mit der Weiterentwickelung 
der Krankheit werden auch immer mehr centralwärts Ver¬ 
änderungen der peripherischen Nerven angetroffen. Es scheint, 
als ob dort, wo letztere leichter von aussen einwirkenden Schäd¬ 
lichkeiten ausgesetzt sind — wie am Ulnaris in der Ellenbeuge, 
am Peroneus hinter dem (’apitulum fibulae —, die reactiven 
Processe besondere intensiv werden. Je ausgebreiteter diese 
interstitiellen Wucherungen sind, um so deutlicher sind dann 
auch die parenchymatösen Veränderungen der einzelnen Nerven¬ 
fasern, in deren Innern ebenfalls Bacillen nachgewiesen wurden. 
Es ist nun sehr bemerkenswert!!, dass die pathologischen Be¬ 
funde in den Nerven immer spärlicher waren, je weiter spinal- 
wärts dieselben zur Untersuchung kamen, und dass die hinteren 
Wurzeln und das Rückenmark selbst meist intact gefunden 
wurden. Nur in relativ wenigen Fällen wird Uber im Allgemeinen 
geringgradige und jedenfalls nicht charakteristische Veränderungen 
derselben, speciell über Degenerationen in den Hintersträngen des 
Rückenmarks berichtet, die demnach wohl nur als secundäre Er¬ 
scheinungen oder als mehr zufällige Complicationen aufzufassen 
sind (Looft, Nonne). 1 ) Insbesondere misslang der Bacillen¬ 
nachweis in dem centralen Nervengebiet fast stets; den sehr 
zahlreichen negativen, auch in schon weit vorgeschrittenen Fällen, 
stehen bisher rur zwei positive Befunde gegenüber (Chassiotis, 
Sudakewitsch). Nach alledem können wir uns also der Auf¬ 
fassung der um die Leprakenntnis so verdienten Forscher Hansen 
und Looft anschliessen, nach denen die maculo-anästhetische 
Lepra charakterisirt ist durch die von den Leprabacillen direct 
hervorgerufenen Affectionen der Haut und der Nerven und durch 
die secundären trophoneurotischen Affectionen der Muskeln, 
Knochen und Gelenke, der Haut und Sinnesorgane. 2 ) 

Ganz anders sind unsere ätiologischen und anatomischen 

1) In den Fällen von Steudener und Langhaus mit Höhlen¬ 
bildung im Rückenmark hat es sich wahrscheinlich überhaupt nicht um 
Lepra gehandelt, worauf schon Fr. Schnitze aufmerksam gemacht hat 
(D. Arch. f. klin. Med. 43, 1888.). 

2) G. A. Hansen und C. Looft, Die Lepra vom klinischtn und 
anatomischen Standpunkt. Bibliotheca mcdica, Bd. D 11 . Berlin 1801, 
pag. 32. 


Erfahrungen über die Syringomyelie. Es würde zu weit gehen, 
liier auf die Pathogenese derselben cinzugehen. Die Syringo¬ 
myelie ist der klinisehc Sammelname für eine Reihe pathogene¬ 
tisch verschiedener Processe, welche ihren Ausgangspnnkt in den 
centralen Theilen des Rückenmarks nehmen, liier ausgedehnte 
Gewebszerstörungen bewirken, meist zu weitreichenden Hölilen- 
bildungen führen und sich nicht selten durch eine lebhafte 
Ependym- und Gliawucherung auszeichnen. Als Ursachen dieser 
Veränderungen werden einerseits Entwickelungsstörungen des 
Centralnervcnsystenis, andererseits traumatische, entzündliche und 
anämische Erweichungen der centralen Rückenmarkssubstanz ver¬ 
antwortlich gemacht. Für unsere Frage ist es jedenfalls ätio¬ 
logisch von Bedeutung, dass keinerlei Anhaltspunkte dafür vor¬ 
liegen, die Syringomyelie als eine hereditäre resp. familiäre oder 
eine Infectiouskrankhcit anzusehen, und pathologisch anatomisch, 
dass cs sich hier um eine primär in der centralen Rückenmarks- 
substanz localisirte Krankheit handelt. Dass in vorgeschrittenen 
Stadien auch die weisse Substanz, speciell die Hinteretränge und 
die hinteren Wurzeln mit ergriffen werden, kommt als secundäre 
Erscheinung dabei ebenso wenig in Betracht, wie die vereinzelten 
Befunde von nicht specifischen Veränderungen in den peripheri¬ 
schen Nerven. Schliesslich sei noch ausdrücklich hervorgehoben, 
dass bisher die Untersuchung auf Leprabacillen in Haut, Blut, 
Nerven und Rückenmark stets negativ gewesen ist. 1 ) 

Bei diesen tiefgreifenden Unterschieden erscheint eine Ver¬ 
mischung beider Krankheiten zunächst wenig verständlich, sie 
wird aber begreiflich, wenn nur die klinischen Erscheinungen 
berücksichtigt werden. Es handelt sich ja hier nicht um Kranke 
mit ausgesprochenen leprösen Hauteruptionen, sondern um jene 
scheinbar nicht so seltenen Fälle, bei denen die sichtbaren Ver¬ 
änderungen der 11a it gegenüber den nervösen Erscheinungen 
zurücktreten oder ganz verschwinden, also im Wesentlichen um 
die Anfangsstadien der Lepra nervosa, welche sich allerdings 
Uber Jahre ausdehnen können, ln weiter vorgeschrittenen Fällen 
scheinen beide Formen der Lepra immer mehr in einander Uberzu¬ 
gehen, wodurch die Diagnose dann immer einfacher wird, doch 
soll gerade die nervöse Form nicht so selten zur Heilung 
kommen, nur dass dann natürlich die durch die Nervenerkrankung 
secundär bedingten Körperveräudernngen dauernd bestehen bleiben 
(Hansen, Havelburg ). Einen derartigen Stillstand kennen wir 
bei der Syringomyelie nicht, sie endet, wenn auch häufig erst 
nach Jahren, durch Begünstigung intercurrenter Krankheiten 
(Uystitis, Phlegmonen, Schluckpneumonen etc.) stets letal. Im 
Uebrigen aber bieten beide Krankheiten in ihrem Verlauf so¬ 
wohl, wie in ihrer speciellen Symptomatologie weitgehende Aehn- 
lichkeiten. Die diagnostischen Schwierigkeiten, welche von mancher 
Seite für fast unlösbar gehalten werden, schwinden aber, wie ich 
glaube, doch, wenn wir uns auf eine genaue Analyse der Krank- 
lieitserscheinungen einlassen, ln beiden Fällen entwickelt sich 
die Krankheit schleichend, dem von ihr Befallenen oft lange Zeit 
hindurch unbemerkt, und wird dann eines Tages ganz zufällig 
entdeckt gelegentlich einer schmerzlosen Verbrennung, Zellgewebs¬ 
entzündung u. A.; doch scheinen sich bei der Lepra die ersten aus¬ 
gesprochenen Krankheitserscheinungen im Allgemeinen früher 
bemerkbar zu machen, auch schon im Prodromalstadium häufiger 
gewisse allgemeine nervöse Beschwerden aufzutreten, wie Kopf¬ 
schmerzen, allgemeine Abgeschlagenheit, unbestimmte Parästhesien, 
rheumatoide und neuralgische Beschwerden, welche bei der Syringo¬ 
myelie meist ganz fehlen, wenn aber doch vorhanden, nur wenig 


1) Die Mittheilung von Pestana und Bettencourt „über die 
Anwesenheit des Leprabacillus in der Medulla eines an Syringomyelitis 
gestorbenen Individuums (Ctbl. f. Bact. u. Paras. Abth. I, XIX, No. 18 
und 19)“ begegnet in ihrer Unvollständigkeit berechtigten Zweifeln. 


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18. Januar 181)7. 


BEULLNER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


47 


ausgeprägt zu sein pflegen. Auch werden bei der Lepra nicht 
so selten leichte Fieberbewegungen bemerkt, während die Sy¬ 
ringomyelie afebril verläuft, wenigstens so lange keine *C'ompli- 
cationen (Cystitis, Panaritien etc.) vorliegen. — Was noch bis in 
die letzten Jahre hinein als Hauptcriterium betrachtet wurde, ob 
der Kranke aus eiuer leprafreien oder -verseuchten Gegend 
stammt, kann heutzutage, wie schon einleitend bemerkt wurde, 
nicht mehr in’s Gewicht fallen. Die Differentialdiagnose wäre 
ja ausserordentlich einfach, wenn es gelänge, in jedem Falle von 
Lepra den Hansen’schen Bacillus nachzuweisen. Dies ist nun 
aber bei der maculo-anästhetischen Form keineswegs der Fall. 
Die leprosen Haut- und auch Nerveninfiltrate heilen, wie wir 
sahen, bisweilen aus, der Bacillus verschwindet und es finden 
sich dann nur noch bindegewebige Narben. Das Fehlen der 
Bacillen in einem anästhetischen Hautgebiete spricht also nicht 
mit Sicherheit gegen Lepra, mehr verspricht schon die Unter¬ 
suchung eines spindelförmigen, verdickten Nerven. Doch wird 
man begreiflicherweise Bedenken tragen, lediglich aus diagnosti¬ 
schen Zwecken in vivo einen grösseren gemischten Nerven, etwa 
den Ulnaris, zu durschschneiden. Nur ganz ausnahmsweise 
wurde der Bacillus im Blute oder in EntzUndungsproducten 
der Haut angetroffen. 

Der Hauptwerth muss demnach auf eine eingehende Wür¬ 
digung der speciellen klinischen Erscheinungen gelegt werden. 
Diese setzen sich bekanntlich im Wesentlichen aus einer Trias 
von Symptomen zusammen, aus circumscripten Anästhesien, 
Muskelatrophien und sogenannten vasomotorisch-trophischen Stö¬ 
rungen der Haut, Knochen und Gelenke; und hiervon abhängig 
kommt es im weiteren Krankheitsverlaufe häufig zu eigentüm¬ 
lichen Verstümmelungen an den Endgliedern der Extremitäten. 
So sehr sich nun auch für den ersten Blick dieser Symptomen- 
complex bei beiden Krankheiten gleicht, so lässt er doch bei 
sorgsamer Untersuchung charakteristische Unterschiede erkennen. 
Bevor ich auf diese im Einzelnen eingehe, möchte ich auf eine 
allen genannten Symptomen gemeinsame, bei den in Frage 
kommenden Krankheiten aber verschiedene Eigentümlichkeit 
hinweisen, weil ihre Berücksichtigung allein schon die Diagnose 
in eine ganz bestimmte Richtung zu lenken vermag. Dieselbe 
liegt in der verschiedenen Localisation der Erscheinungen. Das 
Studium der Lepracasuistik zeigt ein sehr regelloses Auftreten 
der ersten Symptome: am Rumpf, Gesicht und den Extremitäten 
und, wenn an den letztgenannten, dann sehr häufig zuerst an 
den unteren oder aber doch ziemlich zu gleicher Zeit an den 
oberen und unteren. Diese Multiplicität vermissen wir bei der 
Syringomyelie. Sic nimmt ihren Ausgangspunkt von umschrie¬ 
benen Partien des Rückenmarks und, in der überwiegenden 
Mehrzahl der Beobachtungen, von den dorso-cervicalen Segmenten 
desselben. Dem entspricht das erste Auftreten der wesentlichen 
Krankheitserscheinungen nur an den oberen Extremitäten — 
meist bleiben dann die Beine Jahre lang unbetheiligt — oder 
aber, wenn die Beine doch zuerst befallen werden, sehen wir 
meist erst nach langer Zeit auch eine Ausbreitung auf die Arme. 
Das Gesicht bleibt in der Regel intact, oder aber wird doch 
erst im späteren Krankheitsstadium mitergriffen. 

Die sichtbaren Veränderungen der Haut, Nägel, Fascien, 
Knochen und Gelenke sind bei beiden Krankheiten ausserordent¬ 
lich mannigfaltige und an den Händen und Füssen besonders 
intensive. Es werden in engeren oder weiteren Grenzen 
Anämien, Hyperämien, Atrophien, Hypertrophien und entzünd¬ 
liche Veränderungen verschiedenster Art beobachtet. Eine Be¬ 
sprechung aller dieser Formen ist hier nicht beabsichtigt, nur 
die diagnostisch besonders wichtigen Gesichtspunkte seien kurz 
hervorgehoben. Abgesehen von der schon vorher betonten ver¬ 
schiedenen Localisation — erinnert sei hier nur an die leprösen 


Veränderungen im Gesicht, speciell den Cilien- und Haarausfall 
— haben wir auf gewisse sicher für Lepra sprechende Haut- 
affectionen zu achten. Es sind dies die multipel auftretenden 
pigmentirten, auch partiell pigraentlosen, schon frühzeitig hyper¬ 
und bald hypästhetischen Flecke, welche der Krankheit den 
Namen der L. maculosa gegeben haben und, nach Ansicht er¬ 
fahrener Leprologen, wenigstens in ihren Anfängen, auch bei 
der L. nervosa kaum jemals vermisst werden. Des Weiteren 
wird von ihnen auf eigentümliche, blaurötliche, netzförmige 
Zeichnungen der Haut aufmerksam gemacht, welche durch Tem¬ 
peraturveränderung und Frictionen deutlicher zu machen und 
besonders it der Glutäalgegend zu finden sind (Hansen, Lie). 
Im Verlaufe der Lepra scheinen häufig acute recidivirende, 
schmerzhafte Gelenkschwellungen aufzutreten, die dann allmäh¬ 
lich zu weitgehenden Deformitäten Veranlassung geben können. 
Auch bei der Syringomyelie sind Arthropathien nicht so 
selten, zeichnen sich hier aber ebenso, wie die tabischen, durch 
ihre meist absolute Schmerzlosigkeit aus. — Beide Krankheiten 
können zu ausgedehnten Verstümmelungen der Endglieder führen, 
meist Folgen von Ulcerationen und wegen der Analgesien un¬ 
beachtet gebliebenen, sehr umfangreichen Panaritien, doch 
werden auch, unabhängig von diesen, spontane Knochenatrophien 
beobachtet; beides, besondere die letzteren, im Allgemeinen viel 
ausgedehnter bei der Lepra, bei der von spontanen Resorptionen 
ganzer Phalangen berichtet wird, als bei der Syringomyelie. 
Ich erinnere dann schliesslich noch daran, dass die leprös ver¬ 
änderten Hautgebiete meist schon frühzeitig ein Versiegen der 
Schweisssecretion aufweisen, während bei der Syringomyelie im 
Bereich der betroffenen Körpertheile gewöhnlich für lange Zeit 
gerade eine Hyperhidrosis angetroffen wird. 

Die Art der Muskelatrophie zeigt für beide Affectionen 
keine durchgreifenden Unterschiede. Es handelt sich um lang¬ 
sam zunehmende atrophische Paresen vereinzelter Muskelgebiete, 
die bei der elektrischen Untersuchung die Zeichen einer mehr 
oder weniger schweren Entartungsreaction erkennen lassen. 
Doch muss hervorgehoben werden, dass eine besonders weite 
Verbreitung der Muskelerkrankung, vor allem aber ein sehr 
ausgedehntes und intensives fibrilläres Muskelzittern entschieden 
für eine centrale Spinalerkrankung spricht; und das Gleiche gilt 
von einer im Vcrhältniss zur Atrophie nur geringen oder ganz 
fehlenden Veränderung der normalen Zuckungsform. Von Be¬ 
deutung ist dann aber noch die Beachtung folgender drei Mo¬ 
mente: Die lepröse Muskelatrophie ergreift die kleinen Fuss- 
und Handmuskeln, schon seltener das Gebiet eines peripherischen 
Vorderarm- oder Unterschenkelnerven, die syringomyelitische 
dagegen beginnt auch an den proximalen Theilen der Extremi¬ 
täten (ich erinnere an den relativ häufigen skapulo-humeralen 
Typus). Die lepröse Muskelatrophie fällt immer in das Bereich 
der Hautanästhesie, die syringomyelitische zeigt bisweilen auch 
einen gekreuzten Typus. Die lepröse Atrophie erscheint schon 
relativ früh in einzelnen Muskeln des Facialisgebiets, besonders 
im Orbicularis oculi, und führt des weiteren leicht zu ausge¬ 
dehnten Ulcerationen an den Augen, Epiphora etc. Die syringo¬ 
myelitische Gesichtsaffection ist dagegen keineswegs häufig, ge¬ 
hört zu den Späterscheinungen dieser Krankheit und ist dann 
stets als eine Kernerkrankung des Facialis gekennzeichnet, doppel¬ 
seitig, meist nur das untere Gebiet des Facialis betreffend und mit 
den ausgesprochenen Erscheinungen der Bulbärlähmung (Schluck- 
und Sprachstörungen) verbunden. Letztere Symptome kommen 
auch bei der Lepra vor, aber stets nur in Folge localer Ent- 
zündungsproces8e der Mund- und Rachenschleimhaut, welche als 
solche leicht zu erkennen sind. Die bei der Syringomyelie 
beobachteten Augenaffectioneu beschränken sich auf eine — häufig 
einseitige — Verengerung der Lidspalte und Pupille (Sympathicus- 

1 * 


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48 


n K K LIX K K KI A XIS (' 11K VV o (' 11K X S <' 11KI FT. 


lähmung) und Augenmuskelparesen, in erster Linie der Recti 
extemi (central bedingt). 

Zu den bisher aufgcfUhrten Unterschieden, deren Combination 
in der Mehrzahl der Fälle wohl schon eine bestimmte Diagnosen¬ 
stellung ermöglicht, kommen nun noch die EigenthUmlichkeiten 
der SensibilitätsBtörungen. Es ist schon von den verschiedensten 
Seiten darauf aufmerksam gemacht worden, dass die lepröse 
Anästhesie in der Regel neben der Störung der Schmerz- und 
Temperaturempfindung auch eine Beeinträchtigung der tactilen 
Hautempfindlichkeit aufweist, während bei der Syringomyelie 
eine dissociirte Anästhesie vorliegt, d. h. nur die Schmerz- und 
Temperaturempfindung beeinträchtigt ist. Dies gilt aber doch 
keineswegs ausnahmslos. Einerseits sind auch bei der Lepra in 
ausgedehnten Hautgebieten nur partielle Empfindungsstörungen 
gefunden worden, andererseits mehren sich die Beobachtungen, 
in denen auch bei der Syringomyelie mehr oder weniger 
schwere BerUhrungsanästhesien bestanden. Wir bedürfen also 
noch weiterer Kriterien, und diese finde ich wieder in der ver¬ 
schiedenen Art der Localisation der Hautanästhesie, mag sie 
nun eine alle Qualitäten umfassende oder eine mehr partielle 
sein. Die Lepra zeigt regellos Uber die ganze Körperhaut zer¬ 
streute Plaques von verschiedener Form und Grösse, welche an 
den Extremitäten häufig eine besondere Ausbreitung erlan¬ 
gen, indem sie die peripherischen Theile derselben handschuh- 
resp. strumpfförmig umgreifen, in wechselnder Höhe eine im 
Ganzen senkrecht zur Gliedachse verlaufende Abgrenzung auf¬ 
weisen und sich dadurch dem bekannten Typus der hysterischen 
Anästhesien mehr oder weniger nähern. In selteneren Fällen 
wurde auch das ganze Gebiet eines peripherischen Hautnerven 
anästhetisch gefunden. Ganz anders sind, soweit wenigstens 
meine Erfahrungen reichen, die Anästhesien bei der Syringo¬ 
myelie localisirt. Am Rumpf sehen wir hier gürtel- oder 
westenförmige Zonen und an den Extremitäten, so lange die¬ 
selben nicht total anästhetisch sind (dann ist aber aus anderen 
Gründen die Differentialdiagnose kaum noch schwierig), längs 
gerichtete Streifen, welche an den Armen vorwiegend die Aussen- 
oder Innengegend, an den Beinen die vordere oder hintere Seite 
einnehmen. Es handelt sich hier um eine segmentale Sensibi¬ 
litätsstörung, entsprechend der Erkrankung bestimmter RUcken- 
markssegmente'), während die leprösen Anästhesien durch locale 
Ilauterkrankungen, unter Umständen auch durch peripherische 
Nervenaffectionen bedingt werden. Diese Unterschiede können 
selbstverständlich nur so lange maassgebend sein, als die Aus¬ 
breitung der leprösen Erkrankung noch nicht bis zum Rücken¬ 
mark selbst vorgedrungen ist. Dass dies nur ausserordentlich 
selten eintritt, geht aus den vorher gegebenen anatomischen 
Bemerkungen hervor. Bei bo weit vorgeschrittenen Fällen scheinen 
aber auch nicht die für Lepra charakteristischen Hautaffectionen 
zu fehlen, durch welche allein ja schon die Diagnose sicher 
gestellt ist. 

Schliesslich haben wir noch eine Reihe von weiteren Sym¬ 
ptomen, welche, wenn vorhanden — und dies pflegt in nur 
etwas weiter entwickelten Fällen gewöhnlich der Fall zu sein — 
ganz bestimmte Anhaltspunkte für die Diagnose gewähren. Die¬ 
selben sind ohne Weiteres verständlich, wenn wir wieder den 
verschiedenen Sitz der Krankheiten berücksichtigen. Für die 
Syringomyelie charakteristisch sind eine langsam progressive 
Verkrümmung der Wirbelsäule (meist Kyphoskoliose), Störungen 
der Blasen-, unter Umständen auch der Mastdarmfunction, 


1) Bezüglich der Einzelheiten derselben verweise ich auf meine 
Arbeit: „Ucbcr Störungen der Schmerz- und Temperaturempflndnng in 
Folge von Erkrankungen des Rückenmarks“. Archiv für l’sych. und 
Ncrvcnkrankh., Bd. 28, Heft 8. 


N». 3. 

und spastische Erscheinungen an den unteren Extremitäten, 
letztere natürlich nur dann, wenn es sich, wie so gewöhnlich, 
um einfc vorwiegend im cervico-dorsalcn Mark localisirte Er¬ 
krankung handelt. Sie fehlen bei dem, wie schon bemerkt, sehr 
seltenen lumbosacralen Typus. Bei der Lepra finden sich die 
Sehnenreflexe entweder normal oder abgeschwächt, resp. fehlen 
ganz; eine pathologische Steigerung mit lebhaftem Nachzittern 
und Erscheinung von Clonus sind meines Wissens bisher nicht 
beobachtet. In einigen Mittheilungen wird nur berichtet, dass 
die Patellarreflexe sehr leicht auszulösen waren, während die 
Achillessehnen- und Plantarreflexe meist zu fehlen scheinen, 
entsprechend dem gewöhnlichen Ergriffensein der Unterschenkel¬ 
nerven. 

Bei der Lepra trifft man in der Regel, häufig sogar schon 
zu einer Zeit, in welcher noch keine klinische Erscheinungen 
einer Neuritis nachweisbar sind (Arning, Nonne), auffallende, 
meist spindelförmige, Verdickungen peripherischer Nerven; 
am bekanntesten sind die des Peroneus und Ulnaris — aber 
auch feinere Hautnerven wurden sicht- und fühlbar gefunden — 
und nicht so selten sind die Nervenstämme, wenigstens anfangs, 
druckempfindlich, während bei der Syringomyelie eine Druck- 
analgesie besteht. Des weiteren verdienen hier die bei der 
Lepra gewöhnlich weitverbreiteten Drüsen Schwellungen hervor¬ 
gehoben zu werden, welche bei der Syringomyelie doch nur im 
Gebiet ausgedehnter Pflegmonen zu finden sind. 

Hiermit glaube ich die für die Differentialdiagnose haupt¬ 
sächlich in Betracht kommenden Momente erschöpft zu haben. 
Meine Ausführungen haben, hoffe ich, gezeigt, dass die Lepra 
und Syringomyelie nicht nur ätiologisch und anatomisch, sondern 
auch klinisch wohl zu trennende Krankheiten sind. Trotz weit¬ 
gehender Aehnlichkeiten der klinischen Symptomatologie ist eine 
Differentialdiagnose doch möglich, wenn nur immer auf den ver¬ 
schiedenen anatomischen Sitz beider Krankheiten Rücksicht ge¬ 
nommen wird. Die Lepra ist eine multiple Affection der Haut 
und peripherischer Nerven'), die Syringomyelie eine centrale 
Erkrankung bestimmter Rückenmarkssegmente. 


N. Die Schnelldiagnose des Löffler’schen 
Diphtheriebacillus. 

Von 

Dr. med. Fritz Schanz, Augenarzt in Dresden. 

Die Ueberzeugung, dass wir in dem Heilserum ein specifisches 
Mittel besitzen, um den menschlichen Organismus vor den Schä¬ 
digungen des Löffler'sehen Diphtheriebacillus zu schützen, muss 
natürlich den Wunsch nahe legen, möglichst rasch die Erkran¬ 
kungen zu erkennen, welche dieser Mikroorganismus erzeugt, 
eher noch als die klinischen Symptome auf sein Vorhandensein 
schliessen lassen. Fenier muss auch der Umstand, dass Affectionen 
unter dem klinischen Bilde der Diphtherie verlaufen, die aber 
mit dem Löffler'sehen Bacillus nichts zn thun haben, und die 
wir nach dem Vorgang von Fränkel als Kokkendiphtherien 
den Stäbchendiphtherien gegeniiberstellen, uns veranlassen, mög¬ 
lichst rasch den Löffler’schen Bacillus nachzuweisen, um nicht 

1) In der Verbindung von Erscheinungen, welche einerseits durch 
umschriebene Hautveränderungen, andererseits durch peripherische Nerven¬ 
affectionen hervorgerufen werden, liegt auch der wesentlichste klinische 
Unterschied zwischen der L. maculo-anaesthetica und gewissen chroni¬ 
schen Formen der peripherischen Neuritis. Doch Anden sich zwischen 
den letztgenannten beiden Krankheiten noch eine Reihe anderer nicht 
unwichtiger Unterscheidungsmerkmale, auf die hier aber nicht näher 
cingegangcn werden kann. 


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\ 


1H. Januar 1H97. 

unnöthig Patienten dieser nur gegen den Löffler'schen Bacillus 
specitischen Behandlung zu unterwerfen. Gerade dieser Punkt 
dürfte jetzt um so mehr Beachtung verdienen, als Barth ') nach¬ 
gewiesen hat, dass an einer zeitweiligen toxischen Wiikung des 
Heilserums nicht mehr zu zweifeln ist. 

Dieses Bedürfnis« möglichst rasch den Löffler'schen Bacillus 
zu erkennen, besteht nicht nur für die grösseren Anstalten, die 
sich desshalb mit bacteriologischen Laboratorium versehen haben, 
sondern auch für den praktischen Arzt. Um diesem Bedürfnis 
in der Praxis zu entsprechen, hat man jetzt an verschiedenen 
Orten Untersuchungsstationen errichtet, an welche die Aerzte das 
von diphtherieverdächtigen Patienten herrührende Material ein¬ 
senden können. Dasselbe wird dort sofort untersucht, und der 
Arzt so rasch als möglich von dem Resultat der Untersuchung 
in Kenntnis» gesetzt. Diese Methode hat zur Voraussetzung, dass 
man in mindestens 24 Stunden den Löffler'schen Bacillus mit 
Sicherheit erkennen kann. Diese Voraussetzung aber dürfte zur 
Zeit noch nicht erfüllt sein. Es kann jetzt keinen Zweifel mehr 
unterliegen, dass es dem giftigen Löffler'schen Bacillus ganz 
ähnliche Bacterien giebt, die sehr verbreitet sind und mit Diph¬ 
therie nichts zu thun haben. Löffler selbst hat in einer Dis- 
cussion in der medicinischen Gesellschaft in Greifswald aus¬ 
gesprochen, dass sehr häutig ein Saprophyt in der Mundhöhle 
vorkommt, der von dem avirulent gewordenen Diphtheriebacillus 
schwer zu unterscheiden ist. Aus dem kurzen Referat ist nicht zu 
entnehmen, ob Löffler damit den Pseudodiphtheriebacillus meint, 
der sich nach der Beschreibung, wie sie uns Ho ff mann und 
Löffler selbst liefern, nur dadurch von dem echten Diphtherie¬ 
bacillus unterscheidet, dass er grössere Colonien bildet als dieser, 
und dass er die alkalische Bouillon nicht in derselben Zeit sauer 
macht wie der giftige. Diese beiden Unterscheidungsmerkmale 
dürften jetzt wohl kaum mehr aufrecht zu halten sein; aber selbst 
wenn ihnen wirklich die Bedeutung zu käme, so würden sich 
diese Prüfungen doch nicht in 24 Stunden ansfuhren lassen. 
Dass dieser Saprophyt sehr verbreitet sein muss, geben sowohl 
Löffler als auch Hoffmann an. Hoffmann fand ihn beispiels¬ 
weise in 45 darauf untersuchten Mundhöhlen 26 mal, so dass 
er ihn als einen regelmässigen Bewohner der Mund¬ 
höhle bezeichnet. Dass diese Angabe zutreffend, lehren ferner 
die Angaben von Roux und J er sin. welche den Pseudodiphtherie¬ 
bacillus als avirnlenten Löffler'schen Bacillus bezeichnen; sie 
fanden ihm bei 45 gesunden Kindern 15 mal, bei 59 Kindern 
aus einem an der Meeresküste gelegenen Dorf, in dem überhaupt 
keine Diphtherie bestand, sogar 26 mal. Becli fand ihn bei 
66 gesunden Kindern 26 mal. in 17 Fällen von Angina follicularis 
5 mal und in 14 Fällen von Angina katarrhalis 9 mal. Nach 
diesen übereinstimmenden Resultaten kann es kaum mehr einen 
Zweifel unterliegen, dass der Pseudodiphtheriebacillus einer der 
häufigsten Mikroorganismen der Mundhöhle ist, und dass er sich 
in der Mundhöhle fast jedes zweiten Kindes nachweisen lässt- 
Welchen Werth kann eine Methode beanspruchen, wenn es mit 
ihr nicht möglich ist, in der verlangten Zeit von 24 Stunden den 
echten Diphtheriebacillus von einem regelmässigen Bewohner der 
Mundhöhle zu unterscheiden? 

Den ausführlichsten Bericht Uber den Werth dieser Art der 
Untersuchung liefert uns Drä er, 2 ) der Uber 400 derartige Prüfungen 
aus dem hygienischen Institut in Königsberg berichtet. Er führt 
freilich an, dass ein geübter Untersucher leicht den Pseudo¬ 
diphtheriebacillus von den echten Diphtheriebacillen unterscheiden 
könne. Diese Ansicht stützt er aber nur mit 12 Thierversuchen. 
Er legt der Virulenzprüfung nur eine sehr geringe Bedeutung 

1) Barth, die Nebenwirkungen des Diphtherieheilserums. Deutsch, 
med. Wochenschrift 96, No. 25. 

2) Deutsche med. Wochenschr. 1896, p. 279. 


49 

bei, weil ja bekannt sei, dass auch echte Diphthericbacillen in 
einzelnen Fällen eine so bedcuteude Virulenzherabsetzung erleiden 
können, dass der Thierversuch negativ ausfällt. Dräer unter¬ 
scheidet also den ungiftig gewordenen giftigen von den Pseudc- 
diphtheriebacillen. Es wäre sehr verdienstlich, wenn er die Merk¬ 
male mittheilte, mittelst deren es ihm gelingt, diese zu unter¬ 
scheiden. Prof. C. FraenkeP) hat gezeigt, dass ausser der 
Giftigkeit kein durchgreifender Unterschied zwischen den Paeudo- 
diphtheriebacillen und den echten Diphtheriebacillen zur Zeit zu 
finden ist, und dass wir darum, wie dies schon die Franzosen 
thun, den Pseudodiphtheriebacillus als ungiftigen Löffler'schen 
Bacillus bezeichnen sollten, zu mal da die Möglichkeit nicht aus¬ 
geschlossen, dass der eine in den andern übergehen kann. Neuer¬ 
dings ist es Trum pp 1 ) gelungen, ungiftige Bacillen in giftige 
Uberzuführen. Es wird vielfach nach dem Vorgang von Martin 3 ) 
die Grösse der Bacillen als characteristisch für die Virulenz derselben 
angesehen. Meine Untersuchungen über die ungiftigen Löff 1 er¬ 
sehen Bacillen im Conjunctivalsack haben mir gezeigt, dass dieser 
Maassstab nicht aufrecht erhalten werden kann, wir finden im 
Conjunctivalsack sehr lange Bacillen mit allen Merkmalen des 
Löffler'schen Bacillus, und diese sind ungiftig. 

Neuerdings hatSpronck 4 ) in Utrecht versucht, einen Unter¬ 
schied zwischen den echten Löffler’schen Bacillen und den 
ungiftigen Bacillen im Conjunctivalsack, welche die Ophthal¬ 
mologen früher eine Zeit lang für den Erreger der Xerose 
hielten, zu finden. Die Aehnlichkeit dieser Mikroorganismen in 
Cultur und Präparat giebt er zu und versucht einen neuen Weg, 
um dieselben zu trennen, und zwar verwendet er die specifische Wir¬ 
kung des Heilserums. Er wurde darauf geführt durch seine Untersu¬ 
chungen Uber den Bacillus, den die Franzosen als kurzen ungiftigen 
Löffler’schen Bacillus (Bacillc court> bezeichnen. Diese Bacillen 
hatten sich als schwach virulent erwiesen, 1 ccm einer 24 ständigen 
Bouilloncultur erzeugte Oedem in der Umgebung der Injections- 
stelle, 2—3 ccm veranlassten vorübergehende Allgemeinerschei¬ 
nungen: Appetitlosigkeit, SchlafflKnt, Sträubung der Haare, Ab¬ 
nahme des Körpergewichtes. Meerschweinchen nun, welche mit rela¬ 
tiv sehr grossen Dosen von antidiphtherischen Serum vorbehandelt 
waren, verhielten sieh gegenüber diesen wenig virulenten Ba¬ 
cillen absolut nicht refraetär, während viel kleinere Dosen des¬ 
selben Serums genügten, um die nämliche Quantität einer voll¬ 
virulenten Diphtheriecultur vollkommen unschädlich zu machen. 
Spronek wandte diese Prüfungsmethode auch auf die Xerose- 
bacillen an, die er von 3 ihm zu Gebote stehenden Xerosefällen 
gezüchtet hatte. Kr bezieht sich dabei auf meine Publication 5 ) 
Uber den Xerosebacillus und berichtet, dass er bei seinen Ba¬ 
cillen coustant eine geringe Virulenz feststellen konnte, wie ich 
dieselbe in einem Falle festgestellt hatte: 1 ccm einer 24stän¬ 
digen Bouilloncultur bei einem mittelgrossen Meerschweinchen 
veranlasste eine ödematöse Schwellung, welche ungefähr 24Stunden 
nach der Infection am stärksten ausgesprochen war, und meist 
innerhalb 48 Stunden zur Resorption gelangte, nach subcutaner 
Injection von 2—3 ccm trat diese ödematöse Schwellung stärker 
hervor, es zeigten sich aber auch leichte Allgemeinerscheinungen: 
Appetitlosigkeit, Mattheit. Die Thiere erholten sich aber bald 
wieder und blieben die folgende Zeit gesund. 

Für Denjenigen, der sich mit der Untersuchung des Xerose¬ 
bacillus eingehender beschäftigt hat, muss diese constante 
Reaction auffällig sein. Die Untersuchungen über den Xerose¬ 
bacillus und über seine Pathogenität sind von den Ophthal- 

1) Berl. klin. Wochenschr. 1893, p. 252. 

2) Centralblatt für Bacteriologic, XX. Bd. No. 20. 

3) Annales de l’Institut Pasteur 1893, p. 335. 

4) Deutsche med. Wochenschr. 1896, p. 571. 

5) Berl. klin. Wochenschr. 1896, No. 12. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHR!FT. 


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Google 



No. 3. 


BERLINER KLINISCHE \V( M11 KNS( ‘11151 FT. 


_50 

mologen zu einer Zeit ausgeführt worden, wo man nicht daran 
dachte, dass seiner Aehnlichkeit mit dem Diphtheriebaeillus je 
eine Bedeutung zukommen könnte. Damals sind alle Unter¬ 
sucher zu dem gleichen Resultat gekommen, dass der Bacillus 
nicht pathogen. Auch damals zeigte ab und zu ein Thier eine 
geringfügige Reaction. Diese Reaction war aber nicht constant, 
sonst wäre sie den zahlreichen Untersuchem sicher aufgefallen, 
und, wo sie auftrat, schwand sie so rasch wieder, dass man sie 
nicht für genügend hielt, um dem Bacillus eine Pathogenität 
zuzusprechen. Nachdem Fränkel gefunden hatte, dass durch 
Steigerung der Dosis auch von den gering virulenten Bacillen 
eine Reaction erreicht wird, steigerte ich bei der erwähnten 
Untersuchung auch die Dosis und erhielt die Reaction, wie sie 
Spronck erwähnt. Ich habe damals mit demselben Bacillus 
weitere Versuche angestellt, welche darauf abzielten, die Giftig¬ 
keit zu steigern, habe aber kein so constantes Resultat erzielt, dass 
dasselbe meiner Ansicht nach wenigstens als ein zuverlässiges 
Criterium fllr eine solche Prüfung, wie sie Spronck ausfuhrt, 
gelten kann. 

Mir scheint im Gegentheil, dass sich ein neuer Beweis für 
die Zusammengehörigkeit dieser beiden Bacterienarten erbringen 
lässt. In der Ilygien. Rundschau berichtet Prof. C. Fraenkel 
Uber eine morphologische EigenthUmlichkeit des Diphtherie¬ 
bacillus. Er fand, dass frische Culturen zuweilen Formen er¬ 
kennen lassen, die nur als echte Verzweigungen gedeutet werden 
könnten. Diese Formen fanden sich vor allen bei der Züchtung 
auf Hühnereiweiss, wo sich eine Art „Riesenwuchs“ entfaltet, 
und dabei finden sich Verzweigungen, die als kleinste, meist im 
rechten Winkel aus der Mitte des Stäbchens hervorspringende 
Knospen erscheinen. Bei der Weiterentwickelung entstehen dann 
krüekenartige Formen, und wenn die Verästelung noch weiter 
geht, bilden sich Formen, die an ein grosses H der lateinischen 
Druckschrift erinnern. J. Bern heim er und C. Folger 1 ) be¬ 
richten im Centralblatt fllr Bacteriologie dasselbe und bringen 
dazu eine Anzahl Abbildungen.- Alle diese Formen lassen sich 
auch bei den ungiftigen Bacillen des Conjunctivalsackes finden, 
wie ich mich bei Gelegenheit meiner letzten Untersuchung (Zur 
Aetiologie der Conjunctivitis pseudomembranosa 1 ) überzeugt 
habe. Auch hier fand ich die schönsten Verzweigungen bei den 
Culturen auf HUhnereiweiss und den Culturen, die ich auf aus¬ 
gewaschenem Blutfibrin angelegt hatte. Diese Verzweigungen 
müssen aufgefasst werden als der Ausdruck charakteristischer 
Wachsthumsvorgänge, und dass diese morphologische EigenthUm¬ 
lichkeit beiden Bacterien in gleicher Weise zukommt, scheint 
mir für das gegenseitige Verhältnis ein neuer Beweis. Diese 
Verzweigungen bei den ungiftigen Bacillen sind auch schon von 
Kanthack und Babes beobachtet worden.*) 

Je mehr man den Pseudodiphtheriebacillus studirte, desto 
mehr überzeugte man sich von seiner grossen Aehnlichkeit mit 
dem echten Diphtheriebacillus, und jetzt giebt es kein zuver¬ 
lässiges Unterscheidungsmittel als die Prüfung auf die Giftigkeit. 
Damit ist selbstverständlich noch nicht gesagt, dass beide Ba¬ 
cillen'identisch sein müssen, jeder Tag kann uns einen zweifel¬ 
losen Beweis^bringen, dass beide Bacillen verschieden und nur 
Glieder einer natürlichen Familie sind, zur Zeit aber ist diese 
Familie noch gar nicht geklärt. Solange dies noch nicht der 
Fall, dürfte auch der bacteriologischen Diagnose, vor allen wenn 
sie ohne Virulenzbestimmung ausgeführt, kein allzugrosser Werth 
zukommen, ganz besonders aber nicht der Diagnose, welche 
innerhalb 24 Stunden gestellt wird. 

1) ^Centralbl. f, Bacteriol., XX. Bd., S. 1. 

2) Arch. f. Augeuhcilk. von Knapp u. Sch we’gger, XXXIII, S. 224. 

3) Centralbl. f. Bacteriol., XX. Bd., S. 29ß. 


III. Vorschlag zu einer Modification des Lorenz- 
sehen Verfahrens der unblutigen Hüftgelenk- 
Einrenkung bei älteren Kindern. 

Voll 

Dr. Emil Senger, 

Specialarzt für Chirurgie in Crefeld. 

Nach den bisherigen Veröffentlichungen von Lorenz, Jul. 
Wolff, KUmraell etc. über die Lorenz’sche unblutige Ein¬ 
renkung bei angeborener Hüftluxation kann als gesichert ange¬ 
nommen werden, dass es in einer Reihe von Fällen gelingt, ohne 
Anwendung des Messers eine Reposition des Gelenkes und später 
eine normale Funktion desselben zu erreichen und es kann fUr 
den Kundigen kein Zweifel darüber obwalten, dass der Lorenz- 
schen Methode vor allen anderen die Zukunft gehört, ebenso 
wie ein Vergleich dieser Methode mit dem Einrenkungsverfabren 
von Paci unzweideutig erweist, dass die Methode des Wiener 
Orthopäden sowohl was die theoretische logische Begründung 
und die Nutzbarmachung der veränderten statischen Verhält¬ 
nisse dabei als auch die Art der Manipulationen als eine durch¬ 
aus neue nur Lorenz allein zukommende Schöpfung betrachtet 
werden muss. Es soll dadurch gewiss nicht das grosse Verdienst 
von lloffa, dann von Schede und Mikulicz um die Therapie 
des uns beschäftigenden Leidens herabgesetzt werden. 

Leider hat aber die Lorenz’sche Methode ihre Grenzen, die 
zunächst in den anatomischen Verhältnissen des Hüftgelenkes ge¬ 
legen sind. Wo kein Kopf oder nur ein rudimentärer Kopf vor¬ 
handen ist, kann natürlich auch keine Einrenkung des Kopfes 
erfolgen. In Bezug auf diese Verhältnisse sagt Lorenz im All¬ 
gemeinen, dass nur Kinder im Alter bis zu 5 Jahren, höchstens 
C» Jahren, für die Behandlung geeignet seien, und es muss des¬ 
halb den Aerzten warm ans Herz gelegt werden, dahin zu 
wirken, dass den Kindern nicht die Wohlthat der unblutigen 
Einrenkung durch zu späte Behandlung entzogen werde. Der 
Wunsch, diese unblutige Methode auch bei Kindern jenseits des 
6. Jahres bis zu 14 und 15 Jahre anzuwenden, ist wohl wie 
bei mir auch bei vielen anderen Chirurgen rege geworden, wurde 
aber durch das Lorenz'sehe Verfahren nicht erfüllt. Sollte es aber 
gelingen, so lange noch ein Kopf und eine Pfannenandeutung 
existirt, auch im späteren Alter eine erfolgreiche Behandlung 
einzuschlagen, so wird jeder zugeben, dass die Aera der 
Hoffa’schen Operation, der wir ja unzweifelhaft den Anstoss 
zu den späteren Fortschritten zu verdanken haben, als der Ge¬ 
schichte der Medicin gehörig ihr Ende erreicht hat. 

Die folgenden Zeilen beschäftigen sich nun mit dem Ver¬ 
suche, in einer Reihe von Fällen, bei denen man mit der 
Lorenz'sehen Methode nicht zum Ziel kommt, noch die Ein¬ 
renkung möglich zu machen. 

Woran scheitert denn die Einrenkung bei älteren Kindern ? 
Meist nur daran, dass es trotz des Zuges mit der Lorenz'sehen 
Extensionsschraube nicht gelingt den Kopf herab in das Pfannen¬ 
niveau zu ziehen. Darin liegt auch gerade die Gefahr für ein 
Kind. Für mich wenigstens war die Schraubenanwendung im 
höchsten Grade peinlich und ich konnte mich einer gewissen 
Unruhe und Unsicherheit nicht erwehren, da mir jeder Anhalt 
für die Gewalt der Extension und für die Widerstandsfähigkeit 
des kindlichen Beines fehlte. Es ist eine grosse Unannehmlich¬ 
keit der Schraube, dass sie mit roher uncontrolirbarer Gewalt 
arbeitet und es ist gar nicht anders möglich, dass bei forcirter 
Extension böse Verletzungen der Muskeln, Nervenlähmungen etc. 
entstehen müssen. — Diese unbeabsichtigten Nebenverletzungen 
können auch gelegentlich bei jüngeren Kindern bis zu G Jahren 
erfolgen und deshalb ist die Forderung durchaus berechtigt, dass 


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18. Januar 181 »7. 


BERLINER KLINISCHE WocilENst’llElFT. 


51 


zwei Bedingungen vor Anwendung der Schraube erflUlt sein 
müssen 

1. die Zugkraft muss controlirt und gemessen werden 
können. 

2. Man muss ungefähr wissen, wie viel Gewichtszug, wie 
starke Zugkraft man den verschieden starken Beinen 
der Kinder zumuthen darf. 

Die zweite Bedingung ist experimentell zu erfüllen. Man muss 
an entsprechendem Leichenmaterial prüfen, welchen Gewichtszug 
Kinder verschiedenen Alters ohne Zerreissen von Muskeln und 
überhaupt ohne schwerere Läsionen ertragen können. Natürlich 
muss man vom kleinen Becken aus durch Trepanation den 
Schenkelkopf eliminiren, da man nicht Kinderleichen mit ange¬ 
borener HUftluxation zur Verfügung haben wird. 

Ich habe mich bezüglich des zweiten Punktes nur auf eine 
ungefähre Abschätzung derWiderstandsfähigkeit verlassen müssen; 
dagegen erfüllte ich die erste Bedingung auf einfache Weise so, 
dass ich zur Contraextension einen Strick von bestimmter Stärke 
nahm, der an einer festen, aber gut gepolsterten Perineal-Leder- 
schlinge angeknüpft wurde, und der nur einen bestimmten Zug 
ertrug, darüber hinaus aber riss. So konnte ich niemals den 
Kindem Schaden zufügen. Ich verzichtete demnach auf eine 
Reposition, die mit dem Opfer einer schwereren Störung erkauft 
w'ar, weil ich der Ansicht bin, dass Nebenverletzungen so roher 
Natur für den praktischen Arzt viel unangenehmer sind, als die 
misslungene Reposition bei einem Leiden, das keine Lebens¬ 
gefahren an sich hat und für die Eltern meist nur einen kos¬ 
metischen Fehler darstellt. 

Ich legte mir nun die Frage vor, ob man den Kindern, bei 
denen mit obigen Cautelen die Herabholung des Kopfes unmög¬ 
lich ist, den Vortheil der unblutigen Einrenkung vorenthalten 
und sie nach lloffa operiren, oder ob es nicht gelingen müsse, 
mit Anwendung eines kleinen blutigen chirurgischen Eingriffs 
noch die Reposition zu erzwingen. 

Wir haben oben schon erwähnt, dass meist das Scheitern 
der Einrenkung durch die unmögliche Kopf-Herabholung in das 
Pfannenniveau (Roser-Nelaton'sche Linie!) seinen Grund hat. 
Nun sind es in den meisten Fällen nicht die verkürzten Pelvi- 
trochanteren, Pelvi-femoralen und -cruralen Muskeln, die einer 
Dehnung mittelst der Schraube sich widersetzen, sondern haupt¬ 
sächlich die geschrumpfte vordere Kapsel des Hüftgelenks; 
und die Erfahrung hat gelehrt, dass bei allzustarkem Zuge die 
Muskeln früher zerreissen, als dass die Kapsel sich dehnt. 
Wenn das aber der Fall ist, liegt es nicht im Interesse des 
Kindes und ist es nicht sehr einfach, die vordere Kapsel zu 
durchschneiden? Ich thue dabei nichts anderes, als was ich 
auch bei anderen orthopädischen Operationen durch präliminare 
kleine Voroperationen wie Tenotomien etc. vornehme. 

Nach Durchschneidung der vorderen Kapsel rückt der Kopf 
leicht herunter und die Reposition gelingt, wenn nöthig unter 
Controle der Finger und des Auges. Ich gehe also folgender- 
massen vor: Das Kind liegt auf der Seite, das Bein wird exten- 
dirt. Schnitt etwa J / t cm vom vordem Rande des Trochanter 
major entfernt nach unten 5 cm lang. Einschnitt der Fascia lata, 
Abhebelung des Mm. glutaeus med. und min. nach oben und 
seitlich. Die Kapsel liegt jetzt vor und wird gespalten, indem 
das Bein nach aussen gerollt wird. Die Spaltung erfolgt nach 
den jeweiligen Spannungs-Verhältnissen in der Richtung und 
parallel dem Schenkelhälse oder senkrecht auf diese Spaltlinie 
nach oben resp. unten. Das etwa vorhandene Lig. teres kann 
man entweder stehen lassen, oder, wenn es hindert, reseciren. 
Die Wunde wird genäht, oder, was ich vorziehe, zunächst auf 
4 Tage mit steriler Gaze tamponirt. Man kann dann sofort die 
Reposition ganz nach Lorenz d. li. durch Beugung und stärkste 


Abduktion bis zu ca. 90 Grad anschliessen, einen Gypsverband 
aulegen oder die Wunde bei extendirtem und stark abducirtem 
Bein heilen lassen und secundär die Reposition vollfuhren. Aus 
Gründen der Ersparuiss einer Narkose ist das erstere Verfahren 
vorzuziehen, man muss freilich nach 4 Tagen dann den Gyps¬ 
verband entfernen, ebenso den Tampon und die Wunde bei 
reactionslosem Verlauf entweder nähen oder einfach nach Art 
des von mir sehr geschätzten Crede’sehen Amputations-Ver¬ 
bandes ohne Naht eine sterile Wollbinde unter gelinder Com- 
pression anlegen, so dass die Wunde geschlossen wird. Scheut 
man die doppelten Gypsverbände, so gelingt es auch bei vor¬ 
sichtigem Abnehmen des ersten recht derben Gvpsverbandes, 
der dann von 1 oder 2 Lagen Wasserglas zweckmässig bedeckt 
wird, den Verband aufzuschneiden und so aus einander zu dehnen, 
dass das Kind herausgenommen werden kann, und dass dieser 
erste Gyps-Wassserglas-Verband sogleich als Hülse flir den 
zweiten Verband benutzt werden kann. Die Hülsen kann sich 
jeder Arzt leicht, den jedesmaligen Verhältnissen genau entsprechend, 
selbst anfertigen. Die Hülse wird natürlich durch Gazebinden Uber 
den Watteverband befestigt. Man kann auch vor der Operation von 
dem Patienten eineGypshülse anfertigen, welcher aber in der Verbin¬ 
dung zwischen Oberschenkel und Becken ein Chamier eingegypst 
werden muss, damit man nach gelungener Reposition den 
Schenkel bis zu 90° abduciren kann. Es giebt gewiss noch 
andere Arten solcher Verbände, die das eingerenkte Gelenk ab¬ 
solut feststellen. Das übrige Vorgehen ist selbstverständlich so 
zu gestalten, wie Lorenz cs vorgeschrieben hat. Insbesondere 
wird auf der späteren orthopädischen Behandlung, auf Massage 
und Gymnastik des Beines, ein grosses Gewicht gelegt werden 
müssen. 

Die Einschneidung der vorderen Kapsel ist gewiss keine 
ganz gleichgültige Operation, allein ich für mein Theil würde 
mich immer eher bei strengster Aseptik zu dieser Operation ent- 
schliessen, als auf das dunkle Gebiet der gewaltsamen und un- 
kontrolirten Streckung mich begeben. Dazu stehen wir ja noch 
im Beginne einer neuen Operationsinethode: ich halte es für 
nicht unmöglich, dass wir mit einem Tenotom ohne 
grosse Hautwunde die angespannte Kapsel treffen und 
deren Spannung beseitigen können, denn cs ist bekannt, 
dass die ganze Hoffa’sche Operation ohne eine Unterbindung zu 
Ende geführt werden kann, und man würde wenig wagen, die 
Kapsel subcutan mit einem Tenotom zu spalten, wie eine Sehne 
bei der Tenotomie. Ich habe nur, weil der Gegenstand neu ist, 
und ich gerne sehe, was ich schneide, die offene Durchtrennung 
vorgezogen. Es würde sich aber die ganze Manipulation ausser¬ 
ordentlich vereinfachen, schon was die Verbände betrifft. 

Es könnte mir nun eingewandt werden, weshalb man nicht 
gleich die Hoffa’sche Operation machen, d. h. sogleich die 
Pfannenbildung vornehmen solle. Ich will gerade die Pfannen¬ 
bildung aus zwei Gründen vermieden wissen: 1. Weil die allge¬ 
meine Gefahr mit der Operation am Knochen bezüglich der 
Infection und Eiterung wächst; besonders aber und das ist der 
Hauptgrund, w’eil 2. nach meiner Ansicht die Chancen für ein 
normales Functioniren des Gelenkes um so bessere werden, je 
weniger ich an den Gelenkbestandtheilen operire. Es iit ja 
klar, dass die operativ angelegte Pfanne nie so vollkommen, so 
symmetrisch sich dem Kopfe adaptiren kann, als die von der Natur 
gebildete, gebildet unter dem Einfluss des Transformationsgesetzes, 
des modellirenden statischen Druckes des Kopfes in Folge der 
Belastung beim Auftreten des verrenkt gewesenen Beines und 
unter dem Einfluss der den Kopf in die Pfannengegend span¬ 
nenden Muskeln, die früher der Extension so grossen Wider¬ 
stand setzten. Aus diesen Gründen eben sehe ich in meinem 
Vorgehen einen Vortheil für die Function des Gelenkes und ich 

2 * 


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52 


BERLINKit K LI N IStH E \V(>< IIKN'SCIIRIFT. 


No. 3. 


glaube zunächst, sobald cs gelingt, den Kopf in die wenn auch nur 
angedeutete Pfanne eben nur einzuhaken, man nicht verzagen, 
und geduldig auf den weiteren Erfolg hinarbeiten müsse. Wenn 
das Transformationsgesetz zu Recht besteht, so müssen wir durch 
geeignete Belastung und Druck im Laufe der Zeit eine genügend 
lixirende Pfanne bilden können und den Patienten viel grössere Vor¬ 
theile schaffen, als ihm die bestgelungene Operation bringen kann. 
Indess sind das nur einstweilen Erwägungen: Wir stehen noch 
im Beginne einer neuen Aera der unblutigen Behandlung, und 
nur ernstes »Studium und grössere Erfahrung müssen uns lehren, 
wie viel wir der Transformationskraft bezüglich der Pfannen¬ 
bildung zumuthen dürfen d. h. wie flach noch die verkümmerte 
Pfanne sein dürfe, damit wir mit Aussicht auf einen späteren 
functionellen Erfolg die unblutige Einrenkung mit Eingehung der 
blutigen Pfannenbildung vornehmen können. 1 ) 

Zum Schluss sei es mir erlaubt, die Extensionsschraube 
näher zu beschreiben, welche ich verwende, und welche den 
Vortheil der Einfachheit und leichteren Beschaffung vor der 
Lorenz'schen hat. 

Die Extensionsschraube, die ich schon früher für andere 
Zwecke benutzte, unterscheidet sich etwas von der Lorenz'schen. 
Sie ist einfacher und von jedem »Schlosser leicht herzustellen. 
Auch die Befestigung des Beines bei der Extension ist etwas 
anders als bei Lorenz. 

Fig. 1 stellt die Schraube, vom Tisch abgenommen, dar. 
»Sie besteht aus einem rechteckigen Brett, in welches bei m eine 
eiserne Schraubenmutter eingefügt ist; in dieser bewegt sich der 
Schraubenstempel (sch): an dem vorderen Ende desselben befin¬ 
det sich ein sich leicht um sich selbst drehender Ring r, an 
diesem ein sog. Karabinerhaken k wie ihn die Feuerwehrleute 
zum Einhaken von Gegenständen tragen und wie man ihn mignon¬ 
artig an der Uhrkette trägt. Das hintere Ende des Stempels 
läuft in die Kurbel c aus, mittels deren die Schraube gedreht 
wird. Bei der Drehung der Schraube dreht sich der Karabiner¬ 
haken nicht mit, da er an dem Ringgelenk r befestigt ist. An 
den Operationstisch wird das Brett mit der Schraube einfach 
mit zwei eisernen Krampen oder Haken angebracht, von denen 
man in der Fig. 1 nur den einen Haken h sieht. Die beiden 
Haken werden einfach von unten nach oben an die Tischkante 
hinaufgeschoben, werden nicht weiter durch eine Schraube an 
den Tisch befestigt, denn die Haken bieten genügenden Wider¬ 
stand, dass die »Schraube nicht nach dem Patienten gezogen wird. 

Fig. 2 zeigt, von oben gesehen, das Bein des Patienten in 
»Streckung. Ich benutze hierzu anders wie Lorenz, der die Schaf- 
w'ollgurte um das Bein schlingt entweder oberhalb der Knöchel 
oder der Condvlen des Femur, zwei Lederhülsen 1 und L, welche 
vorne, wie die Fig. 2 zeigt, mit Agraffen und Schnur ange- 
schnllrt werden. (Man kann auch anstatt der Lederhülsen, die 

1) Anmerkung bei der Correktur: Herr Geheimrath König 
sagt in No. 2 d. Z. in dieser Hinsicht: es ist ohne jede Analogie in der 
Mechanik der Gelenkbildung, dass ein überknorpelter Kopf eine flache, 
bindegewebig ausgekleidete Grube zu einer tiefen Pfanne umgestaltet, so 
dass ein Gelenk entsteht, welches den Anforderungen an die Haltbarkeit 
eines menschlichen Hüftgelenkes Genüge leistet. „Aber vielleicht tritt ja, 
fährt König weiter fort, in diesem Falle das Unmöglich-gcglaubte, das 
Unwahrscheinliche ein“ etc. Man wird diese Auslassungen des 
Meisters gewiss beherzigen, aber man darf doch nicht vergessen, 
dass es sich nicht um eine ganz neu zu bildende Gelenkpfanne handelt, 
sondern um eine deformirte, schon angelegte und wir dürfen wohl die 
Hoffnung hegen, dass die Deformation nach Herstellung der normalen 
Verhältnisse hier ebenso allmählich schwindet, als bei anderen angeborenen 
Deformitäten z. 15. dem Pes varus etc. Dass diese Hoffnungen nicht in 
’/ 4 , j» 7« Jahr »Ich erfüllen, darin hat König gewiss Recht. 



npft'Mitfims <!<*•• *<i Mrrrlii'iiden IlrinO 
au dt r K\tfiisloii8-Schr»i»t>c. 


natürlich vom Bandagisten gut und glcichmässig gepolstert sind 
sich selbst Gyps- resp. Wasserglashülsen anfertigen, ja man 
kann einen gut gepolsterten Gypsverband um Ober- und Unter¬ 
schenkel getrennt anlegen, muss man aber seitlich je zwei Leder¬ 
riemen mit eingypsen.) Die obere Lederhülse L trägt seitlich 
zwei Riemen mit je einem eisernen Ring, die Untersclienkelhülse 
trägt unten einen eisernen Bügel. In der Fig. 2 ist derselbe 
aus Gründen der Deutlichkeit zu tief nach unten gezeichnet, er 
muss nicht weit von der Fusssohle abstehen. Ein derber Strick 
wird nun vom Ringe a durch den Haken k nach dem Ringe b 
und schliesslich nach dem Knoten d geführt; ebenso wird vom 
Zugende der Hülse des Unterschenkels also von c ein Strick 
durch k nach d geführt, die beiden Stricke — in der Zeichnung 
ist der eine punktirt, der andere mit Strichen gezeichnet — 
werden nun fest angezogen, so dass das Becken fest gegen die 
Perinealschlinge gestemmt wird und mittelst einer Doppelschleife 
(Kravattenschleife) geknotet (ein einfacher Knopf giebt nach). 
Nun kann die »Schraube bewegt werden. Die Anlegung ist schnell 
beendet, viel schneller als zum »Schreiben dieser Zeilen erforder¬ 
lich ist, wenn auch die Lorenz’sche Anschlingung schneller von 
Statten gehen mag: aber ich habe den grossen Vortheil, dass 
die ganze erhebliche Zugkraft gleichmässig auf den Ober- und 
Unterschenkel vertheilt wird und so eine Druckstelle, eine Ein¬ 
schnürung unmöglich ist. Wenn ich dagegen nur den Unter¬ 
schenkel anschlinge, so muss die eine Stelle den gewaltigen Zug 
aushalten, ferner werden auch die Bänder des Kniegelenks in 
Mitleidenschaft gezogen, was bei meiner Befestigung fortfällt. 


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58 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


18. Januar 18517. 

Ich will noch bemerken, dass ein Karabinerhaken mit Drehring 
zusammen in jedem Eisenwaarenladen käuflich erworden wer¬ 
den kann. 


IV. Zur Therapie der genuinen Ozaena. 

Von 

Dr. Franz Brack, Arzt in Berlin. 

In der Aufgabe, das trockne, der Nasenschleimhaut fest an¬ 
haftende Ozaenasecret nicht nur zu entfernen, sondern vor 
Allem dessen Neubildung und damit das Auftreten des 
charakteristischen Foetors zu verhindern, darin besteht 
die locale Behandlung der genuinen Ozaena. Denn da der 
specifische Foetor nur an den schnell zu Borken oder Krusten 
eingetrockneten Secreten, nicht aber an den ursprünglich 
schleimig-eitrigen Absonderungen haftet, so muss das therapeu¬ 
tische Bestreben neben der Lockerung vorhandener Borken dahin 
gerichtet sein, diese rasche Eintrocknung auf der Schleimhaut, 
die zum Theil wenigstens die Folge eines abnorm zähen, wasser¬ 
armen Secrets ist, zielbewusst zu verhüten. 

Dies wird unter allen Behandlungsarten am sichersten er¬ 
reicht durch die im Jahre 1878 von Gottstein') angegebene 
temporäre Tamponade. 

Diese Methode wurde von einigen Autoren, wie Bresgen 1 2 ) 
und Voltolini 2 ), mit der das Wesen derselben völlig verkennen¬ 
den Ansicht bekämpft, dass „bei foetider Rhinitis die Tamponade 
der Nasenhöhle den einfachsten hygienischen Grundsätzen wider¬ 
spricht.“ Und noch im Jahre 1888 4 ) hatte Bresgen in einem 
sehr verbreiteten Handwörterbuche, sowie im Jahre 1891, 5 6 ) 
also 13 Jahre nach der grundlegenden Publication Gottstein's, 
diese ausgezeichnete Behandlungsweise mit keinem Worte 
erwähnt, während er wenigstens in neuester Zeit*) zu einerzwar 
richtigen, wenngleich die Bedeutung dieses Verfahrens sehr unter¬ 
schätzenden Auffassung gelangt ist. 

Die Gottstein’sehe Tamponade besteht bekanntlich in der 
zeitweiligen Einlegung eines derart der Nasenhöhle ange¬ 
passten hydrophilen Wattetampons, dass damit auf das Ge¬ 
naueste die gesammte borkenproducirende Schleimhaut 
— und zwar nur diese — in direkte, massig feste Berührung 
kommt. 7 ) 

Entfernt man nach einer vom Einzelfalle abhängigen, längeren 
oder kürzeren Zeit den eventuell bis an die Choane reichenden 
Gott stein’sehen Tampon, so findet man, falls vorher das 
trockene Naseninnere mit festhaftenden Krusten bedeckt war, 
dieselben deutlich verflüssigt von schleimig-eitrigem Charakter, 
zum Theil auf der Watte, zum Theil locker auf der jetzt 


1) Gottstein: Berl. klin. Wochenschrift 1878, No. 87 und 1881, 
No. 4; und Bresl. ärztl. Zeitsehr. 1879, No. 17 u. 18; und „Nasen¬ 
krankheiten“ in Eulenburg’s Real-Encyclopädie I. Aufl. 1881, Bd. 
IX. S. 452. 

2) Bresgen: Grundziige einer Pathol. u. Therap. der Nasenkrank¬ 
heiten etc. 1884. (Dem Verf. nicht zugänglich; cit. bei Voltolini 3 ). 

8) Voltolini: Die Krankheiten der Nase, 1888. 

4) Bresgen: „Nasenkrankheiten“ in Eulenburg’s Real-Encyclo- 
pädic, II. Aufl. 1888 Bd. 14. 

5) Derselbe: Krankheits- und Behandlungslehre der Nase etc. 

II. Aufl. 1891. 

6) Derselbe: Krankheits- und Behandlungslehre der Nase etc. 

III. Aufl. 1896. 

7) Die Bezeichnung „Tamponade“ ist nicht ganz glücklich gewählt, 
weil sie zu der irrigen Annahme verleiten könnte, dass es bei der 
Gottstein’schen Methode auf ein festes Ausstopfen der Nasenhöhle 
ankommt. 


feuchten Schleimhaut sitzend. An den nunmehr flüssigeren Se¬ 
creten bemerkt man schon ohne Weiteres eine entschiedene 
Abnahme, mitunter auch ein gänzliches Fehlen des specifischen 
Foetors. Vollständig allerdings verschwindet derselbe aus der 
Nasenhöhle gewöhnlich erst nach Entfernung sämmtlicher in den 
flüssigen Zustand übergegangener und daher lose aufsitzender 
Massen, was übrigens nach der mächtigen Wirkung des Watte¬ 
tampons ohne Nasendouehe leicht durch Schnäuzen gelingt. 

In vielen, besonders hartnäckigen Fällen tritt diese Ver¬ 
flüssigung und damit die Fortschaffung der Secrete erst nach 
öfters wiederholter Tamponade ein. 

Ferner wird, wenn daneben noch der Nasenrachenraum mit 
foetiden Borken fest ausgekleidet ist, durch das sich nur auf 
die Nasenhöhle beschränkende Gottstein’sehe Verfahren der 
Gestank natürlich nicht ganz beseitigt. 

Ein ähnliches Bild reichlicherer Secretion, wie oben be¬ 
schrieben, findet man ferner beim Tamponiren einer vorher von 
Krusten völlig befreiten Nasenhöhle. Hier zeigt sich die später 
entfernte Watte deutlich mit schleimigem Eiter vollgesogen, die 
feuchte, jetzt mehr gerüthete Schleimhaut ebenfalls zum Theil 
damit bedeckt. Zu einer Borkenneubildung und damit 
zur Entstehung des Foetors war es nicht gekommen. 

Um diese auffallende Wirkung zu erklären, nimmt Gott¬ 
stein an, „dass die Watte entweder als mildes Reizmittel 
secretionsbefördernd wirkt, oder dadurch, dass sie das Secret, 
sofort wenn es aus den Drüsenausführungsgängen auf die 
Schleimhautoberfläche tritt, aufsaugt und seiner Eintrocknung 
vorbeugt.“ 

Durch einen sehr einfachen Versuch lässt sich nachweiseu, 
dass wenigstens zur Verhütung der Krustenbildung nicht der 
eine oder der andere Factor vollkommen genügt, sondern dass 
beide Factoren zugleich mitwirken müssen, um diesen bedeu¬ 
tenden therapeutischen Effekt möglichst lange zu erzielen. 
Nimmt man nämlich der trockenen, entfetteten Watte durch 
irgend welche Maasnahmen ihre absorptionsfähige Eigenschaft, 
so wird zwar durch den mechanischen Reiz des nunmehr 
impermeablen Tampons die Absonderung ebenfalls vermehrt, 
und daher der Neigung zur Borkenbildung erfolgreich entgegen¬ 
gearbeitet; allein die zwischen Schleimhaut und undurchlässigem 
Fremdkörper stagnirende Secretraenge fällt trotz Anwesenheit 
des letzteren schneller wieder der Eintrocknung und damit der 
foetiden Zersetzung anheim, als wenn es gleichzeitig noch ge¬ 
lingt, diese reichlicher secernirte Flüssigkeit, sofort wenn sie auf 
die Schleimhautoberfläche gelangt ist, begierig aufzusaugen und 
dadurch unschädlich zu machen. Ebenso wie der von vornherein 
imbibitionsunfähige Tampon wirkt natürlich auch ein solcher, 
der erst durch längeres Verweilen in der Nasenhöhle diese 
Eigenschaft angenommen hat. 

Aus der Thatsache, dass das frische Ozaenasecret nicht 
specifisch riecht, und dass, wenn man nur auf die eben ange¬ 
gebene Weise die Entstehung der Krusten von Anfang 
an verhindert, auch in der schon älteren schleimig-eitrigen 
Absonderung der Foetor hintangeh&lten wird, folgt, dass der 
letztere zum Theil von der Secreteintrocknung an sich abhängt. 
Lässt man diese nämlich durch Entziehung des Tampons wieder 
ruhig vor sich gehen, so tritt der üble Geruch in der Nase 
schon zu einer Zeit auf, wo das unter dem Einfluss des Gott- 
stein’sehen Verfahrens weiter flüssig gebliebene Secret noch 
keine Spur von Foetor zeigen würde. Und erneuert man den 
lege artis eingeführten Wattebausch jedesmal, sobald er von 
eitrigem Schleim vollständig durchtränkt ist, sobald er 
also seine Aufgabe ganz erfüllt hat, dann bleibt die Nase selbst 
für die nächste Umgebung des Kranken dauernd ge¬ 
ruchlos. Hieran ändert auch nichts der Umstand, dass, wenn 

3 


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No. 3. 



11 KR LIN KR KL1XISCHK WOCHENSCHRIFT. 


<?in solcher Tampon allzu lange im Naseninnern verweilt, 
trotzdem das Seeret seinen flüssigen Zustand bewahrt, schliess¬ 
lich doch wieder ein mehr oder weniger intensiver Foetor auf- 
tritt, wie das beim Stagniren auch anderer Absonderungen der 
Fall ist. Deshalb geht Kuttner 1 ) jedenfalls zu weit, wenn er 
aus dieser Beobachtung den Schluss zieht, dass „die Bedingungen 
für die Entwickelung des Gestankes unabhängig sind von der 
Eintrocknung des Secrets, denn auch das flüssige an und im 
Tampon befindliche Seeret riecht in gleicher Weise.“ Dem 
gegenüber ist noch einmal ausdrücklich hervorzuheben, dass so¬ 
gar das schon sehr alte, eingetrocknete und übelriechende Seeret, 
sobald es nur durch den Tampon wieder verflüssigt 
wird, sehr viel von seinem charakteristischen Gerüche 
verliert. 

Der hydrophile Wattetampon verhindert also sicherlich die 
Austrocknung des Secrets, aber nicht, wie B. Frankel -2 ) und 
P. Heymann 'i glauben, durch Abschluss der Respirationsluft und 
dadurch bewirktes „Fernhalten der Verdunstung von den wasser¬ 
armen Sccreten“, sondern durch seine secretionsanregende 
und aufsaugende Fähigkeit. Denn wie schon Gott st ein 
klar ausgeführt hat, wird „durch die Tamponirung der Nase, 
wobei also das Durchstreichen der Luft ganz verhindert ist, die 
Borkenbildung doch nur so weit hintangehalten, als der Tampon 
mit der Schleimhaut in Berührung ist.“ Man findet nämlich in 
Fällen, in denen bei nicht exacter Ausführung des Gottsteiti¬ 
schen Verfahrens die Watte nicht weit genug nach hinten reicht, 
die daselbst vom Tampon nicht getroffenen Stellen mit 
Borken bedeckt, obgleich doch auch diese vom inspira¬ 
torischen Luftstrom abgeschlossen waren. 

Es ist demnach auch, wie aus dieser Beobachtung hevor- 
gcht, durchaus zwecklos, wenn neuerdings von Saenger 4 ) und 
Kafemann 5 ) entweder durch abwechselnden Verschluss je 
eines der beiden Nasenlöcher mittelst eines Wattepfropfes — 
ein Verfahren, welches der eben erwähnten schlecht 
ausgeführten Gottstein'sehen Tamponade entspricht — 
oder durch eine künstliche Verengung des Naseneingangs beider¬ 
seits mittelst mehr oder minder complieirter Apparate der Ver¬ 
such gemacht wird, an das die Ozaena fast regelmässig begleitende 
Symptom der abnormen Weite der Nasengänge den thera¬ 
peutischen Hebel anzusetzen. Durch diese die Luftzufuhr zwar 
beschränkenden, die Nasenathmung indessen noch gerade ohne 
Beschwerden gestattenden Massnahmen soll — nach der Hypo¬ 
these Saenger's — durch die hiernach eintretende Erniedri¬ 
gung des inspiratorischen und Erhöhung des exspiratorischen 
Luftdrucks die äusserst „geringe Intensität, welche die respira¬ 
torischen Luftdruckschwankungen in abnorm weiten Nasenhöhlen 
besitzen“, gesteigert und dadurch die träge Circulation und Se- 
cretion im Innern der Nase günstig beeinflusst werden. Indessen 
soweit eine praktisch nennenswerthe Wirkung hierbei überhaupt 
erzielt wird, beruht dieselbe nur, wie man sich leicht überzeugen 
kann, auf dem durch den Fremdkörper am Introitus narium aus- 
geübten mechanischen Reiz, kann sich also nur auf einen 
kleinen Bezirk, nicht auf die gesammte, fast immer atrophisch 
degenerirte Schleimhaut erstrecken, während die Drainagewir¬ 
kung — ein wichtiger Bestandtheil der Gottstein’schen Me¬ 

1) Kuttner: Therap. Monatshefte, März 1893. 

2) B. Fränkel: Die Krankh. d. Nase in Ziemssen’s Handb. d. 
spec. Pathol. u. Therap. IV. 1. Hälfte II. Aufl. 1879, 8. 152 u. 159. — 
Derselbe: Berl. Med. Gesellscb. Sitzung vom 18. XII. 1878. (Bericht 
in d. Berl. Klin. Wochenschr. 1879, No. 16.) 

3) P. Hey mann: Berl. Med. Gesellsch. (Vergl. 2).) 

4) Saenger: Therap. Monatsh. Octob. 1894. — Derselbe: Wien, 
medic. Presse 1895, No. 39. 

5) Kafemann: Arch. f. Laryngol. u. Rhinol. Bd. II, Heft 3. 


thode — jedenfalls nur bei dem alternirenden Watteverschlusr* 
des einen Nasenlochs, und auch hier nur in der eben angegebe¬ 
nen örtlich begrenzten Ansdehnung in Betracht kommt. 

Sehr lehrreich ist in dieser Beziehung ein Fall, in welchem 
der am Naseneingang deponirte Wattepfropf nach einiger Zeit 
ziemlich tief in der Nasenhöhle liegend gefunden wurde. Dort¬ 
hin war er allmählich durch energische Inspirationen seitens der 
Patientin gelangt und hatte auf seiner Wanderung der Reihe 
nach die einzelnen Theile der Nase im Sinne der Gottstein- 
schen Tamponade beeinflusst. Die dahinter befindliche 
Partie des Naseninnern war im Gegensatz hierzu 
mit festhaftenden Krusten bedeckt. Hier zeigt sich, wie 
leicht man bei mangelhafter Beobachtung der Täuschung aus¬ 
gesetzt sein kann. Denn in diesem Falle wurde durch den ein¬ 
fachen Watteverschluss ein zwar geringer, aber doch deutlicher 
Erlolg erzielt. Derselbe hätte fälschlich noch überzeugender ftir 
die Saenger'sche Methode gesprochen, wenn der Wattebausch 
in der eben geschilderten Weise unbeobachtet seinen Gaug Uber 
die gesammte Schleimhaut bis an die Choane genommen 
hätte. Ferner beweist aber dieser Fall schlagend die Unrichtig¬ 
keit der Sa enger'sehen Auffassung. Nach diesem Autor soll 
nämlich bei dem alternirenden Watteverschluss des einen Nasen¬ 
lochs die Besserung dadurch zu Stande kommen, dass in der 
„von vom verschlossenen, einen blind endigenden Kanal dar¬ 
stellenden“ Nasenhöhle durch eine hier ganz besonders starke 
Verdünnung der Luft bei der Inspiration und Verdichtung der¬ 
selben bei der Exspiration die Intensität der respiratorischen 
Luftdruckschwankungen beträchtlich erhöht wird. Wäre dies 
richtig, dann hätte sich die günstige Wirkung dieses Verfahrens 
nur in der hinter dem Wattepfropf, aber nicht wie im obi¬ 
gen Falle ausschliesslich in der vor demselben liegen, 
den Nasenpartie zeigen müssen. 

Der doppelten Wirkung der Tamponade entsprechend wird 
aber auch bei anderen fütiden Naseneiterungen, wie z. B. bei 
einigen Nebenhöhlenempyemen, unter der Voraussetzung, dass 
die eitrige Absonderung eine spärliche ist, und dass dieses spär¬ 
liche Seeret die Tendenz hat, schnell zu Krusten einzutrocknen 
und somit in der Nasenhöhle zu stagniren, der Gestank — so 
paradox es klingt — durch das Gottstein’sche Verfahren ver¬ 
mindert bezw. ganz beseitigt. Dies wird leicht begreiflich, wenn 
man die Möglichkeit berücksichtigt, dass durch die Eintrocknung 
und fötide Zersetzung — wodurch bekanntlich das Bild einer 
genuinen Ozaena vorgetäuscht wird — das schon übelriechend 
aus dem Sinus stammende Seeret in noch grössere Fäulniss ge- 
räth, bezw. der geruchlos in die Nasenhöhle gelangende Eiter 
erst hier stinkend wird. Es kann also der positive Ausfall des 
Gottstein'schen Verfahrens nicht die differentialdiagnostiscbe 
Bedeutung beanspruchen, welche ihm Hopmann 1 ) und Rethi 2 3 ) 
beimessen. Denn wenngleich die Tamponade ihre grössten 
Triumphe bei der genuinen Ozaena feiert, so ist sie doch auch, 
wie schon ihr Entdecker bemerkt hat, bei einer Reihe anderer 
mit Borkenbildung einhergehender Nasenaffectionen ein ausge¬ 
zeichnetes symptomatisches Mittel. 

Die Gottstein’sche Tamponade für sich allein — ohne 
vorherigen Gebrauch der Nasendouche oder ähnlicher Apparate 
— Ubertrifft nicht nur durch ihre relativ sichere Wirkung, son¬ 
dern auch durch ihre Einfachheit und leichte Ausführbarkeit alle 
bisherigen Behandlungsarten der Ozaena. Denn der Tampon 
kann nach Bedarf jederzeit, auch mehrfach am Tage, vom 
Kranken selbst — nach eingehender Belehrung — mittelst der 
Gottstein'schen Schraube eingeführt werden, — ein ganz be- 

1) Hopmann: München, med. Wochenschr. 1894, No. 3, S. 46. 

2) Rethi: Arch. f. Laryngol. u. Rhinol. Bd. II, S. 194. 


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18. Januar 1807. 

sonderer Vorzug vor anderen nur vom Arzte anwendbaren Me¬ 
thoden. Die jedesmalige Dauer der Tamponade, sowie die Zahl 
der Wiederholungen während des Tages ist in jedem einzelnen 
Falle, und zwar filr jede Nasenseite, abhängig von -der schnel¬ 
leren oder langsameren Wirkung des Verfahrens. 

Hiebei mus3 noch einmal hervorgehoben werden, dass sich 
die Wirksamkeit der Tampons nicht in der Ablösung der fest- 
haftenden Krusten von ihrer Unterlage erschöpfen soll. Zu 
diesem Zwecke kommt der Wattepfropf allerdings — und zwar 
ohne Nasendouclie — im Beginne eines zur Behandlung gelan¬ 
genden Ozaenafalles mit nie versagendem Erfolge zur Anw-endung. 
Ist aber einmal dadurch die Nase von Borken völlig befreit, 
dann entfaltet der Tampon weiter seine durch kein anderes Ver¬ 
fahren erreichte Wirkung. Denn dann dient er dazu, die Pro¬ 
duction neuer Krusten Überhaupt zu verhüten. In dieser pro- 
phy laotischen Therapie liegt der Hauptwerth der 
Gottstein'schen Methode. 

Allein dieselbe hat den einen Nachtheil, dass sie bei totaler 
Degeneration der einen Nasenhälfte angewandt die Athmung da¬ 
selbst völlig aufhebt. Es dürfen deshalb niemals, wie schon 
Gottstein betont hat, beide Nasenhöhlen gleichzeitig tamponirt 
werden, noch darf selbst auf einer Seite ein allzu langer Luft¬ 
abschluss stattfinden. Wenn nun auch in einer Anzahl leichter 
Fälle durch diesen temporären Verschluss — nach Gottstein 
genügen oft für jede Nasenseite täglich nur 2—8 Stunden; zu¬ 
weilen siud dazu indessen deren 12 nöthig — einer Borkenneu¬ 
bildung auch in der tamponfreien Zeit vorgebeugt wird, so giebt 
es doch genug Fälle, in denen bald nach Aufhebung der Tam¬ 
ponade die Secreteintrocknung wieder beginnt und sich um so 
intensiver weiter entwickelt, je länger, wie z. B. während der 
Nacht, dieses freie Intervall dauert. 

Um nun auch in dieser Zwischenzeit das so wirksame 
Princip des Gottstein’schen Verfahrens zu verwerthen, empfehle 
ich hierfür eine geringe Modification desselben, durch welche 
natürlich die Athmung bei geschlossenem Munde voll¬ 
kommen ausreichend ermöglicht werden muss. 

Zu diesem Zwecke führe ich entweder gleichzeitig in jede er¬ 
krankte Nasenseite oder nur in die vom Wattetampon freige- 
lassene einen Streifen von hydrophilem Mull 1 ), dessen 
Länge und Breite von Fall zu Fall bestimmt wird — oft erst 
nach mehrfachen Versuchen — von der Ausdehnung der Erkran¬ 
kung und von der Geräumigkeit des Naseninnern unter sorg¬ 
fältigster Berücksichtigung der Nasenathmung. 

Hierbei ist analog wfie beim Wattetarapon auf eine direkte 
Berührung möglichst mit der gesammten krustenbildenden Schleim¬ 
haut genau zu achten, wenngleich diese Forderung selbstver¬ 
ständlich wegen der zu erhaltenden Nasenathmung nicht voll¬ 
kommen erfüllt w’erden kann. Aus diesem Grunde wirkt auch 
der Gottstein’sche Tampon energischer als der Mullstreifen, 
während hingegen die einfache temporäre Tamponade von dem 
eben erwähnten, erweiterten Verfahren an Wirksamkeit be¬ 
deutend Ubertroffen wird. 

Die Einschiebung dieser Streifen geschieht nach genauer 
Unterweisung besonders bezüglich der einzuschlagenden Richtung 
sehr einfach mittelst einer entsprechend starken englischen Nasen- 
bougie und ist vom Patienten leicht zu erlernen. Hierbei em¬ 
pfiehlt es sich zur bequemeren Einführung, die vorher durch Messen 
festgestellte Grösse des Streifens derart umzuändem, dass seine 
Länge dem doppelten und seine Breite dafür dem halben ur¬ 
sprünglich genommenen Maasse entspricht, um ihn so in der 


1) Die Imprägnirung desselben mit medieamentösen Stoffen behufs 
Hinzufiigung eines chemischen Reizes zu dem mechanischen bietet nur 
Nachtheile. 


Mitte über die Bougie gestülpt mit grösserer Leichtigkeit bis nach 
hinten zu führen. 

Sobald sich derartige Streifen, welche von der atrophisch 
erkrankten Schleimhaut ohne jede Beschwerde vertragen werden, 
mit flüssigem Secret vollgesogen haben — was mitunter schon 
sehr schnell, in schwereren Fällen jedoch erst nach mehreren 
Stunden geschieht —, werden sie vom Kranken ohne Mühe aus¬ 
geschnoben und meist sofort, falls nicht an ihre Stelle ein 
Wattetampon treten soll, durch neue ersetzt. Gelingt die 
Entfernung auf diese Weise nicht leicht, so beweist dies, dass 
der Streifen noch nicht lange genug gewirkt hat, und es ist 
daher ein noch längeres Verweilen desselben in der Nasenhöhle 
erforderlich, um die Flüssigkeitsabsonderung zu verstärken und 
ihn so bequem herauszufördern. Ist derselbe aber von schlei¬ 
migem Eiter durchtränkt, dann muss er auch sofort entfernt 
werden, weil er sonst bei noch längerem Liegenbleiben, z. B. 
während der Nacht, durch den Verlust seines Absorptions- und 
Reizvermögens unwirksam und — entweder in flüssigem Zustande 
oder durch Antrocknung auf der Schleimhaut — leicht übel¬ 
riechend wird. 

Die Häufigkeit des Wechsels ist demnach individuell ausser¬ 
ordentlich verschieden. Der Erfolg hängt von der consequenten 
und exacten Durchführung dieser Methode seitens der Patienten 
ab, und es ist daher sicherlich nicht zufällig, dass derselbe bei 
Kindern öfters weniger befriedigte. 

Diese Modification, welche die fortdauernde Anwesen¬ 
heit eines reizausübenden und secretaufsaugenden 
Fremdkörpers im Naseninnern ermöglicht und von allen 
Ozaenakranken als grosse Annehmlichkeit empfunden wird, ge¬ 
stattet aber nicht nur die Nasenathmung') überhaupt, sondern hat 
auch eine grosse physiologische Bedeutung für den Organismus. 
Indem die Inspirationsluft nämlich durch den feuchten, durch 
seine Falten die Oberfläche sehr vergrössernden, engmaschigen 
Mullstreifen hindurchströmt, wird sie in dreifacher Weise für 
ihre wuchtige Function vorbereitet. Denn erstens w-ird sie durch 
den in Folge des Fremdkörperreizes verstärkten Blutzufluss zur 
Schleimhaut, wodurch die letztere die Wärme bedeutend besser 
leitet und abgiebt*), in ihrer Temperatur erhöht, zweitens in 
Folge der so gesteigerten Wärmeleistung der Nase und dadurch 
bedingter vermehrter Verdunstung der in den Mullstreifen ein¬ 
gesogenen Feuchtigkeit wasserreicher, und endlich drittens durch 
das mit zähem, klebrigem Schleim bedeckte enge Filter von 
den in ihr schwebenden Staubpartikelchen grösstentheils gerei¬ 
nigt. Diese drei physikalischen Veränderungen der Respirations¬ 
luft werden um so bedeutender sein, je gewundener der durch 
die Falten des Mullstreifens gebildete Canal ist, je langsamer 
also in Folge des vermehrten Widerstandes die Luft hindurch¬ 
streicht. 

Aus diesen Gründen ist auch die Einführung eines von 
einem geraden Gummiröhrchen durchbohrten Wattetampons, den 
Maas 3 ) empfiehlt, weil er „bei gleichzeitiger Tamponirung 
beider Seiten die Athmung durch die Nase ermöglicht“, durch¬ 
aus zu verwerfen. Denn die durch das gerade und glattwandige 


1) Hieraus folgt noch ganz besonders die Unrichtigkeit jener An¬ 
sicht, dass der Gottstein’sche Tampon nur dadurch wirke, dass er 
„den Luftstrom abhalte und dadurch die Eintrocknung der Secrete ver¬ 
meide“ (B. Fränkel). Also nicht nur, wie oben gezeigt wurde, Borken¬ 
bildung bei Luftabschluss, sondern auch Verhütung derselben bei Luft¬ 
zutritt ! 

2) Vgl. LandoiB, Lehrb. der Physiol. des Menschen. V. Auflage? 
1887, S. 404. 

3) Citirt von Gottstein, Bresl. ärztliche Zeitschrift 1879, No. 18. 
Auch B. Fränkel (1. c. Berl. med. Gesellsch.) empfiehlt etwas Aebn- 
1 ich es. 


BERLIN ER KLINI8CH E WOCIIENSOH RI FT. 


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5 6 


No. 3 . 


BERLIN KR KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Rohr allzurasch strömende, von der lebenden Nasensehleimhaut 
vollständig abgeschlossene Luft kann weder erwärmt, noch an¬ 
gefeuchtet, noch gereinigt werden. Auch wird hierdurch die 
Nase als wichtiges Schutzorgan für den gesammten Respirations- 
tractus gewissermassen ausgeschaltet, da die Genichsemptindung 
und die von der Nase ausgelösten zweckmässigen Reflexe in 
Wegfall kommen. Fenier ist diese Maas sehe Abänderung des¬ 
halb unrationell, weil dadurch der Einathmungsluft in der Nase 
ein gerader, willkürlicher Weg gewiesen wird, während dieselbe 
bekanntlich normaler Weise eine durch die Stellung der Nasen¬ 
löcher bedingte mehr oder weniger steile Curve nach oben be¬ 
schreibt. Begünstigt doch diese physiologische Richtung nicht 
nur die Geruchsperception, sondern auch wegen des dabei ein¬ 
zuschlagenden grösseren und engeren Weges und in Folge der 
Umknickung des Luftstroms die Erwärmung und Anfeuchtung 
der Inspirationsluft, sowie die Zurückhaltung von Staubtheilchen 
innerhalb der Nase. 

Durch ausschliessliche Anwendung der von mir beschrie¬ 
benen Moditication') in leichteren oder durch Combination der¬ 
selben mit dem ursprünglich empfohlenen Verfahren in schwe¬ 
reren Fällen entsteht aus der temporären die permanente 
Tamponade 1 2 3 ). Auch diese gewährt ebenso wie jene einen nur 
palliativen Nutzen. Soweit wenigstens meine bisherigen Beob¬ 
achtungen reichen, tritt bei einer Unterbrechung des Verfahrens :, i 
mehr oder weniger schnell der Status quo ante wieder ein — 
ein Mangel, der übrigens auch jeder anderen Behandlung der 
Ozaena anhaftet und deshalb deren continuirliche Anwen¬ 
dung erforderlich macht. Dieses nicht scharf genug zu be¬ 
tonende Postulat bei jeder Therapie der genuinen Ozaena wird 
nur durch die oben angegebene Methode, deren Wesen in einer 
permanenten Reiz- und Drainagewirkung besteht, richtig 
erfüllt. Deshalb erreicht man auch dadurch noch am sichersten 
die Verhütung der Borkcnbildung und damit des specilisehen 
Foetors. 


V. Kritiken und Referate. 

Handbuch der Gynäkologie. Bearbeitet von E. Bumm - Basel, 
A. Döderlein-Leipzig, H. Fritsch-Bonn, K. Gebhard-Berlin, 
O. Kiistner-Breslau, H. Lühlein-Giessen, \V. Nage 1-Berlin, 
R. Olshausen-Berlin, J. Pfannenstiel-Breslau, A. v. ltost- 
horn-Prag, R. Schaeffer-Berlin, J. Veit-Leiden, F. Viertel- 
Breslau, G. Winter-Berlin. Herausgegeben von J. Veit-Leiden. 
— J. F. Bergmann-Wiesbaden. 

li.-KpriM-lirn von 

A. Martin. 

Nachdem das Handbuch der Gynäkologie in dem grossen Sammel¬ 
werk von Billroth und Lücke vor etwa 10 Jahren den damaligen 
Entwickelungszustand unserer Special Wissenschaft festgelegt, muss es 
wohl als ein wirkliches Bedürfniss anerkannt werden, die Summe der 
Arbeiten auf diesem Gebiet von Neuem in einem derartigen Werke 
niederzulegen. Die Autoren wollen daher in ausführlicher Darstellung 
den Stand unserer Wissenschaft wiedergeben. Sie wollen, dass ihr 
Handbuch den Gynäkologen eine erwünschte Uebersicht bieten, dem 
Arzt ein bequemer und sicherer Helfer sei in Fragen der Praxis und 
dem Studirenden Anregung und Leitfaden, wenn er selbstständig zu 
arbeiten beginnen will. 

1) Die-elbe eignet sich auch mit Unterbrechungen zur Behandlung 
der Rhinitis chronica atrophicans non foetida und dient überhaupt, wie 
schon erwähnt, zur durchaus nothwendigen Vorbereitung der Inspirations¬ 
luft bei abnorm weiter Nase. 

2) In manchen Fällen, in denen im Beginne der Behandlung das 
eombinirte Verfahren mit vorherrschender Betheiligung des Gottstein¬ 
sehen Tampons nothwendig war, trat derselbe allmählich — bei eintre¬ 
tender Besserung — immer mehr zu Gunsten des Mullstreifens zurück, 
bis letzterer schliesslich allein in Anwendung kam. 

3) Eine kurze Pause muss natürlich mitunter in Folge zu grosser 
Reizwirkung des Fremdkörpers eintreten. 


Bis jetzt liegt von den drei in Aussicht genommenen Bänden der 
erste vor. In ihm beginnt II. Löhlein mit der Asepsis und Anti¬ 
sepsis in der Gynäkologie. Die persönliche Asepsis der Gynä¬ 
kologen, die gebräuchlichsten chemischen Desinficienzien, der noch immer 
lebhaft geführte Streit Uber die Desinfection der Hände, die Vorbereitung 
der Instrumente, des Näh- und Verbandmaterials, des Operationsraunies 
finden eine präeise und vollkommen übersichtliche Darstellung. Iin 
Speciellen wird die Vorbereitung der Antisepsis und Asepsis bei der 
Bauchoperation und deren Nachbehandlung vorgefiihrt. Die vorgetragenen 
Sätze werden an Erfahrungen der Giessener Klinik exempliflcirt, die sieh 
dadurch als ein Musterinstitut ausweist. In den überall eingestreuten 
historischen Bemerkungen, welche den Entwickelungsgang von der Anti¬ 
sepsis zur Asepsis seharf markiren, wird Löhleiu auch den Vorläufern 
der modernen Anti- und Aseptiker gerecht. Mit besonderem Dank hat 
Referent hier des Verfassers und seines Lehrers Namen E. Martin her¬ 
vorgehoben gefunden. 

Das Capitol der Lage- und Bewegungsanomalien des Uterus 
und seiner Nachbarorgane hat O. KUstner geschrieben. Bei der 
Erörterung der normalen Lage des Uterus nimmt KUstner die Unter- 
suchungsergebnisse von Mackenrodt über die Muskulatur des uterinen 
Ligamentapparates an, des Lig. transversum oder latum colli, jene 
Mii'.kelzüge. welche von der Fascia pelvis nach dein Collum hinziehen 
und dem Naehuntentreten des Collum, der Retroversio uteri und dem 
Prolaps Vorbeugen. Den Ligamenta rotunda spricht KUstner die 
Stärke und Möglichkeit zu, dass sie auf die Lage des Uterus be¬ 
stimmt einzuwirken vermögen. KUstner bringt die Forschungsresultate 
B. S. Schnitze's vollauf zur Weitung. Dessen Zeichnungen werden 
neben eine Fülle von eigenen Bildern gestellt. Neben der pathologi¬ 
schen Lage finden die Elevation, Auteposition, Retroposi tion. 
Lateraldisposition, Lateral Version - Flexion und Torsion eine 
ihnen wohl nicht von allen 8eiten zugeUandene Würdigung. Auch der 
RetroVersion und Flexion wird wohl nicht von allen Fachgenossen 
eine gleich hohe pathologische Dignität zuerkannt. Die Repositionsmanöver 
von Schnitze und die von Kiistner durchgeführten Modificationen der¬ 
selben werden präeis erörtert Mit besonderer Wärme tritt KUstner 
für die Lösungen der Adhäsionen des Uterus nach Schultze ein. Nach 
Erörterung der Pessarbehandlung giebt KUstner eine Uebersicht über 
die operative Fixation des Uterus, die er in Ucbereinstimmung mit 
allen Fachgenossen nur „an dem von Haus aus frei beweglichen Organ 
vornehmen will, oder nachdem dasselbe völlig gelöst ist - . Nach viel¬ 
fachen Erfahrungen mit den verschiedensten Operationsniethoden tritt 
Kiistner für die Alexander-Operation als die typische Retroflexions- 
operation ein. Bei den Prolapsen des Uterus empfiehlt KUstner, die 
Ventriflxation und die scheidenverengende Operation in einer Sitzung 
vorzunelunen; bekanntlich nimmt Edebohls die Einführung dieser 
Combination für sieh in Anspruch. Jedenfalls ist bemerkenswerth. in 
welcher Häufigkeit Küstner die Indication für die Ventriflxur gegeben 
gefunden hat. Bei beschränkter Procidenz begnügt er sich mit der 
Alexander-Operation. Die Inversion findet zuletzt mit dem Ektropion 
und den Hernien noch eine kurze Erwähnung. Neben den bekannten 
Versuchen, chronische inveterirte, irreponible Inversionen zu behandeln, 
berichtet er über einen eigenen Operationsmodus, der ihm in einem 
verzweifelten Fall ermöglichte, den Uterus zu erhalten: Er öffnete den 
Douglas, spaltete die hintere Wand des Uterus in der Mittellinie 2 cm 
über dem äusseren Muttermund bis 2 cm unterhalb des Fundus bis auf 
die Peritonealfiäche, dann gelang die Reposition. Der reponirte Uterus 
wurde durch das hintere Scheidengewölbe hervorgezogen, von der Peri¬ 
tonealseite her vernäht, dann selbst znrückgebracht und die Scheide ge¬ 
schlossen. Gewiss mit Recht weist KUstner darauf hin, dass da. wo 
alle Repositionsmanöver im Stich lassen, heute die Totalexstirpation 
nicht mehr einer so scharfen Beurtheilung unterliegt, wie es früher der 
Fall war. 

J. Veit schickt der Pathologie der Vagina eine vortrefflich 
orientirende Uebersicht über den physiologischen und pathologischen 
Charakter der Scheide voraus. Veit hält durch die Walthard"sehen 
Untersuchungen für festgestellt, dass die in der Scheide vorkommenden 
Strepto- und Staphylokokken sich in einem Zustand abgeschwächter Viru¬ 
lenz befinden, wie Winter seinerzeit ausgesprochen hat. Günstige Ver¬ 
hältnisse des Nährbodens verleihen ohne Weiteres den Keimen ihre 
Virulenz zurück. Mit Recht hebt Veit hervor, dass die Infection von 
der Lebensfähigkeit und der Menge der in die Vagina eingeführten 
pathogenen Keime abhängt. Beides kann sehr variiren: aber selbst wenn 
virulente Keime eingeführt werden, braucht nicht jedesmal eine Vaginitis 
zu entstehen. Die unzweifelhaft vorhandene Schutzkraft der Vagina, 
die örtliche Disposition und die allgemeine des Individuums kommen 
dabei in Betracht. Die immer wiederholte Entstehung einer scheinbar 
geheilten Vaginitis findet ihre Erklärung darin, dass den übrig bleiben¬ 
den wenigen Keimen mit abgeschwächter Virulenz durch locale Schädi¬ 
gung der Scheide für ihre Aufzüchtung und für die Wiedererlangung 
ihrer Virulenz günstige Verhältnisse hergestellt werden. Die Vaginitis 
wird dann in ihrer anatomischen und histologischen Darstellung, ihre 
Symptome, Prognose und Therapie besprochen. Veit erkennt den von 
Alters her verordneten Ausspülungen nur einen geringen Werth zu. 
Neben den bekannten Applicationen erwähnt er die Glycovulves, deren 
Glycerininhalt den verschiedensten Medicamenten als Vehikel dienen 
kann. Für die Garrulitas vulvae giebt er insofern eine von der ge¬ 
bräuchlichen abweichende Deutung, als er den Uebertritt eines Darm¬ 
pilzes aus dem Mastdarm als die Ursache dieses Symptoms ansieht. — 


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18. Januar 1897. litillMKßR KUMSOIIK WOCHKXSrniUFT. 57 


Die Stenosen und Atresien der Scheide stellt er mit grosser Bestimmt¬ 
heit als ein erworbenes Uebel dar, das entwickelungsgeschichtlieh nicht 
zu erklären ist. Gewiss mit Recht empfiehlt Veit bei allen diesen 
Fällen von Stenose und Atresie an die Möglichkeit tubarer Erkrankung 
zu denken. Referent hat übrigens bei einem nicht kleinen Beobachtungs¬ 
material eine derartige Complication zu beobachten noch nicht Gelegen¬ 
heit gehabt. — Nach Erörterung der verschiedenen Formen von Cysten, 
Fremdkörpern, Neubildungen in der Scheide wird der Vorfall eingehend 
dargestelit. Veit spricht sich präeis für die operative Behandlung des¬ 
selben aus, betont die Nothwendigkeit, dabei auf die Lageverhältnisse 
des Uterus Rücksicht zu nehmen. — Unter den Verletzungen der Scheide 
finden namentlich die mit denen des Dammes und des Rectum ver¬ 
bundenen eine Erörterung. In Bezug auf die letzten sieht Veit in der 
Tbatsache, dass das von Schröder seiner Zeit angegebene Verfahren 
der Rectoperineoplastik von Lanenstein und dem Referenten davon 
unabhängig weiter ausgebildet worden ist, einen Wink für die Güte des¬ 
selben. Manche der von Veit präconisirten Methoden werden von anderer 
Seite kaum die ihnen hier zugesprochene Anerkennung finden. Bei den 
Mastdarm- nnd Scheidenfisteln scheidet er die puerperalen von den bei 
anderer Gelegenheit entstandenen. Bei den ersteren ist die Spaltung 
des Dammes unvermeidlich. Die von Veit hervorgehobene Neigung der 
Dünndarmscheidenfistel zur Spontanheilung kann Referent aus eigener 
Erfahrung bestätigen. 

Ueberaus zeitgemäss ist diesem Handbuch eine Darstellung der 
gonorrhoischen Erkrankungen der weiblichen Harn- und 
Geschlechtsorgane angereiht. Der anerkannte Führer auf diesem 
Gebiet, Bumm, hat die Darstellung derselben übernommen. Aus dem 
von Bumm Vorgefiihrten sei hier nur hervorgehoben, dass auch heute 
noch der Gonococcus ein Bewohner der Oberfläche der Harn- und 
Genitalorgane ist. Gewiss muss ein tieferes Eindringen dieses Pilzes 
anerkannt werden; aber unverkennbar erscheint dies als seltenes Vor- 
kommniss. Auch Serosa und Bindegewebe Bind keine günstigen Nähr¬ 
böden. Bumm hält auch heute noch daran fest, dass das Plattenepithel 
der Vagina nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen dem Gonococcus 
als Ansiedelungsort dient, ein Standpunkt, der, wie es scheint, neueren 
Forschungen anderer Autoren gegenüber wohl eine gewisse Modiflcation 
erfahren muss. Bumm sieht noch heute in dem inneren Mutter¬ 
mund einen bedeutungsvollen Schutzwall gegenüber dem Vordringen des 
Gonococcus. Menstruation und Puerperium sind die gefährlichsten Ge¬ 
legenheiten für die Uebersteigung dieses Grenzwalles. Hier und in Be¬ 
zug auf die Symptomatologie und Diagnose bleibt noch manche Contro- 
verse zwischen den Anschauungen Bumm's und denen älterer nnd 
neuerer Forscher auf diesem Gebiete auszugleichen. Für die Therapie 
giebt Bumm sehr rigorose Vorschriften, deren Durchführung in 
den breiten Schichten der Gonorrhoekranken auf grosse Schwierigkeiten 
stossen dürfte. — Bumm bestätigt übrigens die nicht so ganz un¬ 
günstige Prognose auch der Erkrankung der tiefer liegenden Organe. 
In den schweren Fällen chronischer gonorrhoischer Erkrankung tritt 
Bumm für die Radicaloperation, Exstirpation des Uterus und der Ad¬ 
nexe ein. 

Das letzte Capitel des ersten Bandes bringt eine Darstellung der 
Entwickelung und Entwickelungsfell ler der weiblichen 
Genitalien aus der Feder von W. Nagel. Dieselbe erscheint um so 
mehr zeitgemäss, als eine Zusammenfassung der mannigfachen Arbeiten 
auf diesem Gebiet ein wahres Bedürfniss ist. An die topographische 
Entwickelung des Genitalapparates beim Menschen in den verschiedenen 
Abschnitten reiht sich die Darstellung der Entwickelung des Eierstockes, 
der Tuben, des Uterus, der Scheide und die der äusseren Genitalien. 
In derselben Folge werden die Entwickelungsfehler dargestellt und be¬ 
sonders eingehend die des Uterus ausgeführt. Alle diese Ausführungen 
sind mit ausgiebiger Verwerthung der Literatur und eigener Beobach¬ 
tungen übersichtlich zusammengestellt. Grade hier muss Referent den 
Leser auf eigene Lectüre dieses so interessanten Capitels verweisen. 

Referent ist sich bewusst, dass in dieser für eine klinische Wochen¬ 
schrift zusammengedrängten Uebersicbt nur ganz vereinzelte Punkte her¬ 
vorgehoben werden konnten. Es werden aber diese genügen, um zu be¬ 
weisen, dass die Eingangs angeführten leitenden Gedanken in treff¬ 
licher, vielfach gradezu in glänzender Weise zur Darstellung gekommen 
sind; das werden auch diejenigen Mitarbeiter unter den Gynäkologen 
anerkennen, deren Antheil an der Entwickelung unseres Faches garnicht 
oder nur in beschränkter Weise zum Ausdruck gekommen ist. Mit ihnen 
wird sicher der weitere Kreis der Leser lebhaft das Verlangen empfinden, 
auch die folgenden Bände von den Herausgebern alsbald entgegenzu¬ 
nehmen. 


StrQbing: Ueber Neurosen der Alhmnng. (Spanopoe und Tachypnoe.) 

Zeitschr. für klin. Med., 30. Bd., H. 1 u. 2. 

Der Verf. bespricht in dieser Abhandlung diejenigen Athmungs- 
störungen, die durch eine Beeinträchtigung der Athmungscentren direkt, 
und diejenigen, die von peripheren Nerven aus, also auf reflectorischem 
Wege ausgelöst werden. In die erste Rubrik gehören die Störungen, 
welche durch Eklampsie und Epilepsie, durch Urämie und bei Hemi- 
plegie^zur Beobachtung kommen. 

Der Spasmus glottidis kann sowohl centraler (Semon-Horsley, 
Landois) als peripherer Natur (Rachitis, Erkrankungen des Verdauungs- 
tractus. Dentitio diffleilis etc.) sein. Unter den durch periphere Reize 
veranlassten Neurosen ist das Pseudoasthma die wichtigste Erkrankung. 


Dieses Leiden hat eine grosse Achnlichkeit mit dem Asthma bronchiale, 
mit dem es auch wohl oft genug verwechselt werden mag, unterscheidet 
sich jedoch von demselben iu vielen seiner charakteristischen Eigen¬ 
schaften. Es fehlen beim Pseudoasthma die Rasselgeräusche, die Dyspnoe 
ist nicht vorwiegend exspiratorisch u. s. w. Diese Erkrankung kann sich 
darstellen als eine Steigerung des normalen Reflexes; um eine solche handelt 
es sieh, wenn es iu dem üblichen Reflexbogen auf Grund irgend welcher 
Bedingungen zu einer abnorm gesteigerten Erregbarkeit der sensiblen oder 
motorischen Bahnen gekommen ist — Laryngitis-Krampfhusten — oder als 
pathologischer Reflex; das ist der Fall, wenn die von den sensiblen 
Nerven zugeführten Reize auf motorische Bahnen übergeleitet werden, 
mit denen sie unter normalen Verhältnissen in gar keiner Verbindung 
stehen — Magenkatarrh, Athemnoth. 

Die Grundlage, auf der sich das Pseudoasthma entwickelt, ist immer 
eine neurasthenische, durch welche die Ueberempfindlichkeit, die die 
Krankheitserscheinung auslöst, bedingt wird. Athemnoth und das mit 
dieser verbundene Angstgefühl sind die besonders hervortretenden Er¬ 
scheinungen bei diesem Leiden. Die Analyse der Dyspnoe ist Haupt¬ 
zweck der vorliegenden Arbeit. Nach Strübing’s Beobachtungen 
kann Athemnoth sowohl während einer Steigerung als auch während 
einer Herabsetzung der Athmungsfrequenz in die Erscheinung treten. 
Im ersten Falle, wo es gewöhnlich nicht zu den höchsten Graden der 
Dyspnoe kommt, werden die Athemzüge anfallsweise oberflächlich, die 
Frequenz steigt manchmal bis zu 100 Respirationen in der Minute. Es 
handelt sich hier entweder um eine Ausschaltung der Hemmungsvor¬ 
richtungen oder um eine Reizung der Beschleunigsnerven. Wird die 
Athmungsfrequenz herabgesetzt, so kann dies durch eine Erschwerung 
der Inspiration oder eine solche der Exspiration bedingt werden. Für 
beide Möglichkeiten werden die Nervenbahnen, durch welche diese Hem¬ 
mung ins Werk gesetzt wird, erörtert. Bei einer dritten Form der 
Athmung8törung kommt es zu einer vollkommenen Unterdrückung der 
respiratorischen Bewegung, wobei die exspiratorischen Muskeln das 
Uebergewicht erlangen. In derartigen Fällen handelt es sich oft, aber 
durchaus nicht immer, um eine Reizung des Trigeminus. Nicht nur 
Nase und Kehlkopf, sondern oft genug auch Verdauungs- und Genital- 
tractus bilden den Ausgangspunkt, von welchem aus, wie dies durch 
4 instructive Krankenberichte illustrirt wird, typische Athmungsneurosen 
veranlasst werden. 

Die spastischen Contractionen der Athmungsmuskeln w’erden in 
solche der Inspirations-, in solche der Exspirationsmuskeln und in com- 
binirte Krämpfe beider Gruppen geschieden. Die erste Form repräsen- 
tiren Zwerchfell- und Gähnkrampf; die zweite, wenn auch nicht in ganz 
reiner Form, Husten-, Lach-, Schrei- und Weinkrämpfe, als Typus der 
dritten, complicirten Form könnte man vielleicht Keuchhusten und Glottis¬ 
krampf anfiihren. 


Drcyfass: Die Krankheiten des Gehirns und seiner Adnexa im 
Gefolge von Nasenelterungen. Gast. Fischer. Jena 1890. 

Der Verf. hat sich bemüht, durch eine sorgsame Bearbeitung des 
bislang vorhandenen Materials festzustellen, in wieweit in den eiterigen 
Erkrankungen der Nase und ihrer Nebenhöhlen Gefahren für eine Mit¬ 
erkrankung des Gehirns und seiner Adnexa gegeben sind. 

Die eigentliche Nasenhöhle hat nur wenig einschlägigen Stoff ge¬ 
liefert. Nur eine ganz geringe Zahl von Fällen sind zur Beobachtung 
oder vielleicht auch nur zur Mittheilung gekommen, bei denen Eiterungen 
in der Nasenhöhle eine Gehirnerkrankung veranlasst haben. Zumeist han¬ 
delte es sich hierbei um Verletzungen oder Operationen, die der Nasen- 
affeetion vorhergegangen waren. Ein weit grösseres Material lieferten 
die eiterigen Erkrankungen der Nebenhöhlen. An die Aufzählung der 
hierher gehörigen Casuistik schliesst sich eine Erörterung der anatomi¬ 
schen Verhältnisse und eine Besprechung der verschiedenen Wege, auf 
denen das infleiende Virus von der Nasen- bis zur Schädelhöhle ge¬ 
langen kann. 

Auf Grund der vorangegangenen Erwägungen sucht Verfasser als 
Facit der ganzen Arbeit eine Antwort auf die Frage, ob die Erkrankung 
des Gehirns und seiner Adnexa in Folge von Eiterungen der Nase und 
ihrer Nebenhöhlen eine so häufige sei, dass die Rücksichtnahme auf 
diese Complication das therapeutische Handeln in jedem Falle von 
eitriger Nasen- und Nebenhöhlenerkrankuug zu bestimmen habe. Die 
Antwort, die D r. auf diese und einige ergänzende Nebenfragen giebt, macht 
seiner Objcctivität Ehre. Er kommt zu dem Schluss, dass man, wenn auch 
das statistische Material bis heut noch nicht sehr umfangreich ist, sich doch 
mit ziemlicher Sicherheit dahin äussern könne, dass das Uebergreifen 
der eiterigen Erkrankung von der Nase auf das Gehirn ein so seltenes 
Vorkommniss sei, dass „es dem unbefangenen Beobachter gewisser- 
maassen den Eindruck von unglücklichen Zufällen macht“. Demgemäss 
lehnt Verf. die Vornahme einer Radicaloperation der Nebenhöhlenerkran¬ 
kungen aus Rücksicht auf die Möglichkeit einer Miterkran¬ 
kung des Gehirns darchaus ab. Er redet in beherzigenswerther 
Weise einer conservativen Methode das Wort und räth in allen Fällen, 
in denen nicht wirklich dringende Symptome eine sofortige Radical¬ 
operation erfordern, es damit genug sein zu lassen, dass man der 
erkrankten Höhle eine genügende Abflussöffnung verschaffe. Wenn 
auch diese Methode keine ideale Heilung. ergiebt, die ja bei einer 
Radicaloperation allerdings auch nichts weniger als gewährleistet ist, so 
genügt sie doch zumeist, um dem Patienten unter Zuhülfenahme eines 
Spülapparats alle Beschwerden zu nehmen. Wird dann in gewisse» 


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Nu. 3. 


liKIM.lNKK KLINlsclIK WOC’IIKNSCHUIKT. 


Zwischenpausen eine ärztliche Cuntrole ausgeübt, so kann inan getrost 
von grösseren Operationen absehen. 

Den Schluss der lesenswerthen Arbeit bildet die Erörterung der Be¬ 
ziehungen zwischen der Cerebrospinalmeningitis und der pernieiösen 
Coryza. Hierbei tinden auch die Fälle Erwähnung, bei denen Keuch¬ 
husten, Diphtherie und Tubcrculose der Nase zu Meningitiden geführt 
haben. 

A. Kuttner. 


H. Helferick (Greifswald): Atlas and Grundriss der traumatischen 
Frakturen und Luxationen. Lehmann s medicinisehe Hand¬ 
atlanten. Bd. VIII. München 1897. J. F. Lehmann. Dritte 
Auflage. 

Die günstige Prognose, welche Helfcrich’s Buch bei seinem 
ersten Erscheinen in diesem Blatte, wie auch anderwärts gestellt wurde, 
hat sich voll bestätigt. Es zeugt für den Beifall, den das Buch gefun¬ 
den hat, dass Boeben die dritte Auflage erschienen ist. Der Autor hat 
dieselbe durch gute Abbildungen, auch einige instruetive Röntgen-Photo¬ 
graphien bereichert. Der erklärende Text ist vielfach noch vervollkommnet 
und verbessert. Die Hinweise auf die durch die Unfallgesetzgcbung so 
wichtig gewordene Begutachtung von Frakturen und deren Folgen sind 
fiir den Praktiker besonders sebätzenswerth. Sicherlich wird das Buch 
in seiner Neugestaltung seinen Freundeskreis noch erweitern. Dasselbe 
kann als ein klarer, sehr präcis geschriebener Leitfaden, in welchem 
besonders alles praktisch Wichtige betont ist, aufs Wärmste empfohlen 
werden. Die sorgfältig ausgewählten, sehr lehrreichen Abbildungen 
sprechen für sich selbst und geben die bündigste Hinweisung auf die 
Behandlung. Das Werkclien ist ganz besonders für (Kollegen auf dem 
Lande und in kleinen Städten ein ausserordentlich schätzenswerther 
Katligeber bei mancher schwierigen Aufgabe, die ihnen durch schwer zu 
behandelnde Frakturen oder Luxationen gestellt wird. 

W. Körte. 


VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. 

Hufeland’sche Gesellschaft. 

Sitzung vom 0. Februar 180*5. 

Vorsitzender: Herr Liebreich. 

Schriftführer: Herr Patschkowski. 

1. Die Herren Granier und Wanjura erstatten den Kassen¬ 
bericht. Es wird Decharge ertheilt. 

2. Ilr. Gottstein: Ueber gesetzmäßige Beziehungen bei der 
Ausbreitung der Endeniieen. (Der Vortrag ist in No. IG u. 17 v. J. 
dieser Wochenschrift veröffentlicht.) 

Discussion. 

Hr. Liebreich: M. H.! Ihr lauter Beifall überhebt mich der Pflicht, 
noch als Vorsitzender meine besondere Anerkennung Herrn Gottstein aus¬ 
zusprechen für die Resultate seiner mühevollen Arbeit, die er uns hier vor¬ 
getragen hat. Ich glaube, dass dieser Vortrag von allen Seiten sehr grosse 
Beachtung finden muss, und zwar einfach aus dem Grunde, weil diese 
epidemiologischen Studien und Curvcn doch sehr zum Nachdenken dahin 
zwingen, dass wenn wir bei Epidemieen Heilmittel anwenden, wir nicht 
einfach die Einzelbeobachtungen unabhängig von einander betrachten 
dürfen, sondern die Erfahrungen der einzelnen Beobachter zusammen¬ 
fassen müssen, um einen Ueberblick zu gewinnen, und vor Allem um 
damit die aus dem Verlauf der Epidemieen gewonnenen epidemiologi¬ 
schen Gesetze bei einer Kritik nicht zu vernachlässigen. Wir wissen 
schon, dass bei schnell auflodernden Epidemieen, wie bei der Cholera, 
Schwierigkeiten entstehen, die Wirkung eines Heilmittels zu beurtheilen. 
Der Einzelbcobachter ist geneigt, aus der auf einen schweren Fall fol¬ 
genden Genesung sich ein günstiges Urtheil über das angewandte Heil¬ 
verfahren zu bilden und den Werth desselben zu verkünden. Wir 
wissen, zu welchen Täuschungen dies Verfahren bei den Cholera- 
epidemieen geführt hat. Wir sehen, wie bei Beginn der Cholera¬ 
epidemie die Kranken trotz aller Heilmittel zu Grunde gehen, während 
ebenso schwere Fälle am Ende der Epidemie auch ohne Heilmittel ge¬ 
nesen. Bei der Diphtheriepidemie liegt es nur insofern anders, als der 
Verlauf einer solchen längere Zeit beausprucht. Am Anfang der Epi¬ 
demie zeigt sich fast allen Methoden gegenüber Erfolglosigkeit, während 
am Ende derselben oft die einfachsten Methoden von Erfolg gekrönt sind. 
Dieser Gesichtspunkt, dass das Resultat eines Beobachters allein nicht 
maassgebend sein kann, gilt vor Allem auch bei der Heilserumtherapie. 
Fasst man alle Ergebnisse zusammen, so lässt sich ein besseres Bild 
gewinnen, wie dies die Drew’sche Zusammenstellung von über 129 Ar¬ 
beiten in dem Februarheft der Therapeutischen Monatshefte zeigt. Ange¬ 
sichts dieser nüchternen Zusammenstellung muss man an der Berechtigung 
des vielfach hervorgetretenen Enthusiasmus zweifeln. Der Enthusiasmus 
ist überhaupt ein schlechter Begleiter der Kritik. Wir sehen diese Be¬ 
hauptung in der Geschichte der Medicin gestützt; so bewilligte einst 
das englische Parlament eine Belohnung fiir ein Stcinmittel, die Majorität 
der Aerzte und des Publicums war dafür begeistert.. Aber das Stein- 
mittel war nutzlos. 


Der Vortrag des Herrn Gottstein, welcher un9 das augenblick¬ 
liche Abklingen der Diphtherieepidemieen gezeigt und nachgewieaen hat. 
muss uns zum Nachdenken darüber anregen, ob die Berichte über die 
günstige W’irkung des Heilserums volle Berechtigung haben. 

Hr. Blaschko: Die gesaramte Statistik hat einen Mangel in Be¬ 
zug auf die Anmeldung. Ein grosser Theil der Aerzte unterlässt die 
Anmeldung von Diphtherie, Scharlach u. s. w. Nur wenn die Anseige- 
pflicht vollkommen geübt wird, sind Schlüsse aus der Statistik be¬ 
rechtigt. 

Hr. Gottstein: Gleich Herrn Blaschko bedauere ich das Kehlen 
einer zuverlässigen Morbiditätsstatistik. Daher konnte ich mich nur auf 
die Mortalitätsstatistik stützen, welche unbedingt richtig ist. Gerade die 
Unzuverlässigkeit der Morbiditätsstatistik hat zu so falschen Schlüssen 
zu Gunsten der lleilserumthcrapie geführt. Es zeigte sich, das» die 
Zahl der Anmeldungen von Jahr zu Jahr herabging, weil sie mit Lästig¬ 
keiten fiir Arzt und Kranke und dessen Familie verbunden waren. Dan n 
kam die Serumtherapie auf und verdoppelte auf einmal die Zahl der 
Anmeldungen. Behring und Heubner sahen darin fälschlich eine Ver¬ 
doppelung der Diphthericerkrankunge.n. 

Hr. Liebreich: Wenn eine Anmeldepflicht stattflnden sollte, muss 
vor Allem die Sicherheit der Diagnose feststehen. In mindestens l / i der 
Fälle von klinischer Diphtherie ist der Löffler’sche Bacillus nicht ge¬ 
funden worden, in Fällen von ausgesprochener Angina follicularis war 
er vorhanden. Was soll man nun als Diphtherie anmelden? Sie sehen 
hier eine grosse Schwierigkeit der Statistik, deshalb scheint es mir sehr 
richtig, dass Herr Gott stein sich auf die Mortalitätsstatistik beschränkt 
hat. Schlimm ist es aber, wenn ausser den durch die Methode sich er¬ 
gebenden unvermeidlichen Mängeln die Statistik durch unrichtige An¬ 
gaben getrübt wird und deren Richtigstellung die angebliche Beweis¬ 
kraft der Behring’schen Zahlen aufheben. Dies hat Herr Gottstein 
fiir Behring's letzte Publieation nachgewiesen. Leider bat Herr 
Behring den in der wissenschaftlichen Welt als üblich anerkannten Weg 
der Berichtigung nicht beschriften. 

Hr. Patsch kowski: Mit der Morbiditätsstatistik werden wir 
nicht weit kommen, da ich mich auch der Ansicht anschüease, dass ja 
die bacteriologische Untersuchung nicht entscheidend ist. 

Hr. Blaschko: Der Name Diphtherie hat sich erst in jüngster 
Zeit eingebürgert. Die früheren Epidemieen waren nicht klargestellt 
und nicht mit Sicherheit als Diphtherie zu erkennen. Erst seit Bre- 
tonneau ist Klarheit geschaffen; die früheren Epidemieen müssen doch 
anders genannt worden sein. 

Hr. Hansemann: E9 liegt eine grosse Schwierigkeit in Bezug 
auf die Bestimmung der Krankheitsart bei Anmeldungen vor. Wenn es 
sich z. B. um Fälle handelt, wie sie überaus häufig sind, wo im An¬ 
schluss an Masern oder Scharlach Diphtherie auftritt, so sind sehr viele 
Aerzte gewohnt, von Scharlachdiphtherie zu sprechen. Man hat die 
croupöse Form der Angina, abgesehen von den bacteriologischen Ver¬ 
hältnissen, aufs schärfste abzuscheiden. Wenn die Masern- und Schar¬ 
lacherkrankung bereits abgelaufen, dann tritt sie auf, und wenn das 
Kind zu Grunde gegangen ist, findet man das Bild der Bretonneau- 
schcn Diphtherie oder des Croup und weiter auch den Löffler'schen 
Bacillus. Nun wird die Bezeichnung der Krankheit verschieden gehand- 
habt. Der Kliuiker sagt, das Kind ist an den Masern oder Scharlach 
gestorben. Der Anatom kann Masern und Scharlach nicht diagnosti- 
ciren, er ist gezwungen, auf den Todtensehein zu schreiben, was er ge¬ 
sehen hat, und das ist Diphtherie. Dies kann die Statistik sehr beein¬ 
flussen. Es handelt sich hier um zwei verschiedene Fälle, nämlich 
Masern und Scharlach einerseits, zu denen Diphtherie andererseits hin- 
zukommt. Der Scharlach und die Masern geben nur die Disposition ab, 
dass die Kinder die Diphtherie bekommen. Diese Schwierigkeiten 
werden nicht gehoben, wenn der Löffle r’sche Bacillus zur Diagnose 
herangezogen wird. In vielen Fällen ist er da, in anderen fehlt er. 

Hr. Schleich: Ich habe den Eindruck, als ob die Zahlen der 
Scharlach- und Diphtherieinfectionen in einem gewissen Abhängigkeits- 
verhältniss von einander stehen. Es scheint, als wenn in grossen 
Städten viel Scharlachfälle wenig Diphtherieerkrankungen und umge¬ 
kehrt bedingen. Ich darf wohl fragen, ob die Mortalitätsstatistik einen 
Anhalt fiir die Annahme bietet. 

Hr. Liebreich: Ist es richtig, dass in Pockenpusteln Diphtherie¬ 
bacillen Vorkommen? 

Hr. Fürst: Die Annahme, dass nach Scharlach und Masern 
Diphtherie auttrete, scheint mir klinisch noch nicht bewiesen. 

Hr. Hansemann: In Krankenhäusern kommt das häufiger vor. 
als in der Privatpflege, weil die Kranken mehr Gelegenheit haben, die 
andere Erkrankung zu acquiriren. 

Hr. Gottstein: Was das Vorkommen des Diphtheriebacillus bei 
einem Pockenkranken betrißt, so ist thatsächlich im Institut für In- 
fectionskrankheiten in dem Blaseninhalt eines Pockenkranken der Löff¬ 
le r’sche Bacillus gefunden worden. 

Was sodann den Namen der Diphtherieepidemie betrifft, so ist sic 
unter den verschiedensten Bezeichnungen bekannt geworden, im 15. und 
16. Jahrhundert als Angina, Garotilla etc. 

Ob eine gegenseitige Beeinflussung von Diphtherie und Scharlach 
vorliegt, ist schwer zu beurtheilen, weil ein umfangreiches Material dar¬ 
über fehlt. Eine gewisse Beeinflussung nach wechselseitiger Richtung 
scheint vorzukommen. Zunächst gehen, wenn der Gesundheitszustand 
ganz gut oder ganz schlecht ist, alle Krankheiten parallel. Wenn dann 
eine Krankheit der Höhe zu-treiit, geht oft die andere zurück. (Bernde 


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18. Januar 1807. 


50 


IlLKLIXKU KLINISCHK WO('11KNSCII1 1 1FT. 


verweist auf seine Fig. 18.) Hier sehen Sie die Bewegung von Diph¬ 
therie und Scharlach von 1870—1890. Wo der Höhepunkt des Schar¬ 
lachs ist, da bemerken Sie eine Einknickung der Diphtheriecurve. Im 
Jahre 1895 haben wir wieder einen Höhepunkt der Scharlaeheurve und 
eine niedrige Diphtheriecurve. 

Was schliesslich die falschen Zahlen des Herrn Behring betrifft, 
so wäre allerdings zu erwarten gewesen, dass er selbst den falschen 
Schluss, den er auf dieselben anfgebaut, hätte zurücknehmen sollen, 
was bisher nicht geschehen ist. 


Verein für innere Medlcin. 

Sitzung vom 4. Januar 1897. 

1. Hr. v. Leyden: Nachruf auf du Bois-Reymond. 

2. Hr. Boas: Ein 56jähriger Arbeiter litt seit Ende 1895 an 
leichteren Verdauungsbeschwerden, hatte seitdem einen erheblichen 
Körpergewichtsverlust, aber keine Cachexie. Im Magen keine physi- 
calischen Veränderungen, aber stets erhebliche Speisereste in demselben 
von intensiv saurer Reaction. Keine Salzsäure freie Milchsäure, keine 
Sarcine, dagegen fadenförmige Bacillen. Nachdem wiederholt dieser 
selbe Befund erhoben worden war. wurde die Diagnose auf Carciuom 
gestellt. Durch die Laparotomie wurde ein stenosirender Pylornstamor 
entfernt, der sich als ein Adenosarkom erwies. Der Mann ist seitdem 
arbeitsfähig geworden und sieht wohl aus. Die Fälle, in denen, ohne 
dass ein Tumor fühlbar ist, das Carcinom sichergestellt werden kann, 
sind bisher noch sehr spärlich. 

3. Hr. A. Fraenkel demonstrirt a) eine Keincultur von Pneomo« 
kokken aus dem Blut, 4 Tage vor dem Tode von einem Pncumoniker 
entnommen. Unmittelbar vor dem Tode hatte die Zahl der Pneumo¬ 
kokken abgenommen. Die Virulenz derselben war geringer als bei denen 
aus dem Sputum und den Lungen; b) das Präparat eines Aortenaneu¬ 
rysma, von einem Falle stammend, in dem das Oliver’sche Symptom 
der absteigenden Kehlkopfpnlsation vorhanden war. Es fand sich 
bei der Autopsie ein Doppelaneurysma, welches den Bronchus zwischen 
sich fasst und bei jeder Exspiration denselben nach abwärts drängt. 

4. Hr. Karewski: Ueber Perityphlitis bei Kindern. (Der Vor¬ 
trag wird im Zusammenhang mit der Discussion referirt werden.) 


Sitzung vom 11. Januar 1897. 

Vor der Tagesordnung. 

Hr. Gerhardt berichtet über 2 Fälle von Pulsns differens aus 
seiner Klinik. Der erste betrifft eine ältere Frau mit den Erscheinungen 
der Mitralinsufficienz und -stenose und Nephritis. Der Puls ist an der 
linken Radialarterie kleiner als an der rechten. Der Unterschied besteht 
nicht nur in der Höhe der Pulswelle, sondern auch in der Zahl der 
Pulsschläge: links 98, rechts 110. Der zweite Fall betraf eine 69jähr. 
Frau mit Paralysis agitans, Schlaganfall mit Lähmung des rechten Beins. 
Puls rechts 112, links 92. Nach 3 Tagen todt. Autopsie: Erweichungs¬ 
herde im Linsenkern, Atherom der Hirnarterien. Die Ursache des 
Pulsus diff. fand Bich in einem auffälligen Unterschied der beiden Ar- 
teriae subclaviae, die rechte hatte 19 1 /, mm, die linke 8 mm Umfang. 
Ausserdem fand sich noch Pericarditis, die neben der Mediastinitis haupt¬ 
sächlich den Pulsus paradoxus hervorruft. 

Discussion. 

Hr. v. Leyden: Schon Traube hat den Pulsus differens gekannt. 
Der von Herrn Gerhardt gelieferte anatomische Nachweis reicht voll¬ 
kommen zur Erklärung desselben aus. Der Pulsus paradoxus ist zuerst 
von Hoppe-Seyler beschrieben worden. 

Hr. Litten: Der Pulsus paradoxus ist nur eine Steigerung der 
physiologischen Verhältnisse, der Pulsverlangsamung bei tiefer Ein- 
athmung. 

Hr. A. Fraenkel: Der Pulsus paradoxus kommt unter verschie¬ 
denen Bedingungen vor: 1, Bei Abknickung des Aortenbogens durch Ad¬ 
häsionen verschiedener Art in der Umgebung. Nicht zu identificiren da¬ 
mit ist die Alteration der Pulswelle bei gesunden Personen während 
tiefer Einathmung. 2. Bei starker Flüssigkeitsansammlung im Pericard 
(Traube), auch gelegentlich bei anderen Zuständen. 

Hr. Gerhardt: Der Pulsus paradoxus kommt auch im Stadium 
aspbycticum beim Croup vor, ferner ist er von Maixner (Prag) bei 
grossem linksseitigen Pleuraexsudat beobachtet worden, er stellte sich 
mit dem Recidiv desselben ein und verschwand mit demselben. Uebrigens 
zeigt der Sphygmograph die bei der Fingerzählung des Pulses heraus¬ 
fallenden Schläge desselben an, weil er feiner fühlt. 

Discussion zu dem Vortrag des Hm. Hirschfeld: Heber die An¬ 
wendung der Mnskelthfttlgkeit bei Herzkranken. 

Hr. A. Fraenkel: Bei der mechanischen Behandlung der Herz¬ 
krankheiten kommen drei Gesichtspunkte in Betracht: 1. um stimulirend 
auf das Herz zu wirken, z. B, namentlich bei den Herzneurosen; 2. um 
eine Erweiterung der peripheren Strombahnen anzustreben: bei Arterio- 
Bclerose; 3. um die Widerstände an der Peripherie des Gefässsystcms 
herabzusetzen, wie sich z. B. unter dem Einfluss der Fettleibigkeit ent¬ 
wickeln. Die von II. empfohlene Unterernährung bei Herzkranken darf 
nicht als allgemeingültige Regel aufgestellt werden, ist bei Arterioscle- 
rose und Klappenfehlern nicht ohne Weiteres einzuführen, sondern in 
jedem Einzelfalle mit Vorsicht noch besonderer Indicationen anzuwenden. 
Der Nachweis der Dehnung des linken Ventrikels durch übermässige 


Muskelanstrengung ist schon durch Traube erbracht worden. Mit II. 
stimmt Fr. in der Anwendung der Muskelthätigkeit bei Schwächezustän¬ 
den des Herzens überein, indem dadurch der Zustrom des venösen Blutes 
zum Herzen ausserordentlich befördert wird. Die vom Vortr. angegebe¬ 
nen auscultatorischen Zeichen für eine Dehnung des Ventrikels (Verstär¬ 
kung des I. Pulmonal- und Aortentones) seien nicht eindeutig. 

Hr. v. Leyden: Der Begriff des geschwächten Herzens ist bisher 
nicht sicher festgestellt. Er wird nicht einheitlich gedeutet. Man muss 
unterscheiden: 1. die wirklich geschwächten (degenerirten) Herzen im 
Gefolge von Anämie, Erschöpfungszuständen u. dgl. m. Der Herzmuskel 
hat nichts Besonderes zu leisten, aber er vermag seine normale Function 
nicht zu erfüllen. 

Der Puls ist klein und schwach. Die andere Art der Herzschwäche 
ist die von Stockes als weakened heart bezeichnet werden. Das Herz 
hat mehr zu leisten als normal, vermag das aber nicht. Der Herzmuskel 
ist im Wesentlichen intact (Klappenfehler, Arteriosclerose). Bei Herz¬ 
schwäche ersterer Art wird die Digitalis schlecht vertragen, unter deren 
Einfluss der Herzmuskel schnell erlahmt. Dagegen wirkt sie prompt 
bei der Herzschwäche der zweiten Gruppe, die in Compensationsstörungen 
zum Ausdruck kommt. Für die wirklich geschwächten Herzen ist die 
Muskelthätigkeit etwas Bedenkliches, am ehesten noch vielleicht bei 
Reconvalescenten nützlich, aber nicht ohne Gefahr, weil dadurch die 
Anforderung an das Herz noch gesteigert werden. Für die zweite Gruppe 
ist die Herzgymnastik erst recht nicht angebracht. Das Herz hat 
ja schon ein Plus zu leisten, dessen es nicht Herr wird. Ganz anders 
ist die Muskelthätigkeit, welche das Herz entlasten soll, zu betrachten. 
Das Herz wird dadurch in den Stand gesetzt, seine Arbeit zu leisten, 
für diesen Zweck bieten sich verschiedene Wege dar: I. der Blutstrom 
zu den Muskeln wird vermehrt, dadurch der Druck im Aortensystem 
herabgesetzt, 2. Beförderung der Vencncirculation, 3. Erleichterung der 
Herzarbeit durch die Athmung. Durch letzteren Umstand wirken die 
Oertel’schen Berg- resp. Terrainkuren, namentlich bei Eettleibigen. Die 
therapeutische Anwendung der Muskelthätigkeit soll keine Dehnung, 
sondern eine Verkleinerung des Herzens bewirken. Sie ist freilich kli¬ 
nisch nicht immer nachweiskar, auch ist die Bestimmung der Veränderung 
der Grenzen leicht trügerisch. Schon in der Diastole sind dieselben 
etwas weiter nach aussen gerückt. Die Veränderung des Herzvolumens 
ist übrigens für den Gesundheitszustand nebensächlich. Die Ursache 
für die Erfolge der Unterernährung bei Herzkranken sieht v. Leyden 
in der bestehenden Fettleibigkeit und namentlich der Aufülluog der Bauch¬ 
organe. Im Allgemeinen aber darf die Ernährung des Herzmuskels 
nicht beeinträchtigt werden und die Unterernährung desselben nicht for- 
cirt werden. Freie und tiefe Athmung ist für die Herzkranken wichtig, 
de-halb muss der Bauchraum klein sein. Um das zu erreichen, empfeh¬ 
len sich kleine Mahlzeiten und Abführmittel. Darin liegt die Bedeutung 
der Entziehungscuren für das Herz. Bei den wirklich geschwächten 
Herzen sind sie geradezu contraindicirt. Der Hydrops der Herzkranken 
täuscht oft über den wirklichen Ernährungszustand derselben. Die Wir¬ 
kung der Karel'schen Milehcuren beruht nicht auf Entziehung, sondern 
auf der Zufuhr guter flüssiger Nahrung. Herzkranke haben oft einen 
Widerwillen gegen feste Nahrung. Die Entziehung der Flüssigkeit nach 
Oertel ist auch nicht allgemein richtig. Zuweilen steigert die Fliissig- 
keitszufuhr sogar die Diurese. 

Hr. B. Lewy weist die Auffassung des Herrn Hirschfeld zurück, 
dass es sich bei der Zunahme des Schlagvolumens in Folge mässiger 
Muskelthätigkeit um eine Dehnung des Herzens handele; das Herz werde 
nur entfaltet, wozu ein ganz minimaler Druck ausreiche; der Ausdruck 
Dehnung gebe nur zu Missverständnissen Anlass. Bei bettlägerigen 
Greisen sei nicht, wie der Vortragende es darstellt, der Wegfall der 
Muskelanstrengungen und des dadurch auf das Herz ausgeübten Reizes 
an den eintretenden Kreislaufsstörungen schuld, sondern die schon vor¬ 
handene Herzschwäche. 

Redner zeigt zahlenmässig, wie gering selbst für eine erhebliche 
Vermehrung der Blutströmung die Vergrössernng des Herzens bei Muskel¬ 
arbeit in den linearen Dimensionen ausfällt, so dass ein percutorischer 
Nachweis dieser Vergrösserung sehr ersehweit wird, und bespricht die 
Folgen, welche Muskelthätigkeit für die Arbeit und die Ernährung des 
Herzens hat; er hält grosse Vorsicht geboten bei Herzkranken mit Albu¬ 
minurie und mit schweren Klappenstenosen; bei letzteren komme es 
schon bei mässiger Muskelanstrengung zu übermässiger Steigerung der 
Herzarbeit. 

(Fortsetzung der Discussion wird vertagt.) 


Berliner medlclnische Gesellschaft. 

Ordentliche Generalversammlung am 6. Januar 1897. 

Vorsitzender: Herr R. Virchow. 

Schriftführer: Herr L. Landau. 

Hr. von Bergmann: Meine Herren Collegen, erlauben Sie mir, 
Ihnen meinen Dank auszudrücken für die Theilnahme, die Sie mir zu 
meinem Eintritt in das 00. Lebensjahr geschenkt haben. 

Der Vorsitzende theilt mit, dass ihm in Bezug auf die in der vor¬ 
letzten Sitzung erwähnte Differenz wegen des Vortrages des Herrn 
Trcitel ein Schreiben der Bedaction der Deutschen med. Wochenschrift 
zugegangen ist, in welchem durch einen hinzugefiigten Brief des Herrn 


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No. 3. 


CO 


11KUMXKK KLINISCHK WorilKNSeilMl-T. 


Tr eitel der Nachweis geführt wird, dass die Aufnahme des Artikels 
von dem Verfasser selbst, und zwar für den November, verlangt 
worden ist. 

Der Vorsitzende wünscht mit diesem Nachweise die weitere Er¬ 
örterung Uber die Publication als solche abgeschlossen zu sehen, glaubt 
aber das Ungewöhnliche des Zusatzes („Nach einem Vortrage in der 
medicinischen Gesellschaft“) für einen überhaupt nicht gehaltenen Vor¬ 
trag noch einmal hervorheben zu müssen. Dieser Zusatz steht in der 
Nummer der Deutschen med. Wochenschrift vom 19. November, während 
der Vortrag erst am 2. December gehalten worden ist. 

Ausgetreten sind die Herren: A. Seidel, krankheitshalber, Windeis 
und Paul Philipp wegen Verzugs. 

Der Vorsitzende giebt den Gefühlen der Trauer über den Ver¬ 
lust des Professors Emil du Bois-Keymond Ausdruck. Der Ver¬ 
storbene hat sein ganzes Leben in unserer Stadt verbracht. Er ist hier 
geboren, hat hier seine Studien gemacht, ist früh in den Lehrkörper 
unserer Universität eingetreten, auf Vorschlag seines berühmten Lehrers 
Johannes Müller noch jung Mitglied der Academie der Wissenschaften 
geworden, der er nachher Decennien hindurch als beständiger Secretär 
gedient hat; als nach Müller’s Tod der bis dahin einheitliche Lehr¬ 
stuhl für Anatomie und Physiologie getheilt wurde, erhielt du Bois den 
abgetrennten Lehrstuhl für Physiologie und wurde der Gründer einer 
grossen Schule deutscher Physiologen, deren'Mitglieder bald die Mehrzahl 
der neu gegründeten Lehrstühle für Physiologie in Deutschland ein- 
nahmen. Unserem Freunde war es vergönnt, den Bau des neuen 
grossen Physiologischen Institutes durchzusetzen und damit auch äusser- 
lich der durch ihn vertretenen Wissenschaft die gebührende Anerkennung 
zu sichern. Sein Name wird sicherlich immer als der des Begründers 
der selbstständigen Physiologie genannt werden. Wir werden seiner ge¬ 
denken als des einflussreichsten Forschers auf dem Gebiete der biophysi- 
kalischcn Untersuchung. Aber in unserer Erinnerung wird er zugleich 
als Vorbild eines durch persönliche Würde und Unabhängigkeit des Cha¬ 
rakters ausgezeichneten Gelehrten erhalten bleiben. In diesem Sinne 
wollen wir ihn durch Erheben von den Plätzen ehren. (Geschieht.) 
Der Herr Secretär hat Namens der Gesellschaft einen Kranz auf dem 
Sarge niedergclegt und damit wenigstens den Angehörigen ansgedrückt, 
wie sehr wir den Verstorbenen geschätzt haben. 

1. Thätigkeit der Berliner medicinischen Gesellschaft 
im Jahre 1896. 

Hr. Landau: Die Gesellschaft hielt im Laufe des Jahres 30 Sitzun¬ 
gen ab. In diesen wurden 35 grössere Vorträge gehalten und 52 mal 
Vorstellungen von Kranken, sowie Demonstrationen von Präparaten etc. 
veranstaltet, Discussionen fanden 50 mal statt. 

Der Vorstand hielt 4 Sitzungen, davon 2 in Gemeinschaft mit dem 
Ausschuss ab. 

Die Aufnahme-Commission nahm in 10 Sitzungen 105 Mitglieder auf. 

Die Gesellschaft zählte im vorigen Jahre . . 983 Mitglieder, 
davon schieden ans: a) durch den Tod 10 
die Geheimräthe Kirstein, Klein, 

GeorgLewin, Jnl. Meyer, King, 
der San.-Kath Oldendorff, der 
Professer Angerstein, die DDr. 

Brandis, Catiano, H. Schmidt- 
Stettin. 

b) durch Verzug . 5 

e) anderweitig .10 25 „ 


Summa 959 Mitglieder. 

Neu aufgenomme n . . 105 _„ 

bleibt Bestand . 


Zusammenstellung 
Ehren-Präsident .... 
Ehren-Mitglieder .... 
Lebenslängliche Mitglieder . 
Mitglieder. 


. 1063 Mitglieder. 

1 

6 

10 

1016 


Summa 1063 


Ich erlaube mir, dem Herrn Vorsitzenden das erste Exemplar zu 
überreichen. 

2. Hr. Bartels: Kassenbericht des Schatzmeisters und 
Ertheilung der Decharge ($ 26 der Satzungen). 

Die Einnahmen des Jahres 1896 betrugen 28 000 M. Bö Pf. 

„Ausgaben „ „ „ „ 18 005 „ 07 „ 

Es bleibt ein Kassenbestand von . . . 9 995 M. 2H Pf. 

Die Gesellschaft besitzt ausserdem: 

I. Die Eulenburg-8tiftung (der deutschen Gesell¬ 
schaft für Chirurgie zinslos geliehen). IO OUO M. 

II. Die Sammlung für das Langenbeck-Haus, 
d. h. die Hälfte der mit der deutschen Gesellschaft 
für Chirurgie gesammelten Gelder, der letzteren zins¬ 
los geliehen. 54 OOO „ 

III. Den eisernen Bestand (10 einmalige Beiträge 

auf Lebenszeit, in 8'/,proc. Kgl. Preuss. consolidirter 
Staatsanleihe). 3 OOO . 

IV. Verfügbares Vermögen in Effecten, in 8'/,- 

proc. und Iproc. Kgl. Preuss. consolidirter Staats¬ 
anleihe . . ■ . 45 500 . 

Der Betrag des Nominal-Vermögens ist somit . 112 500 M. 

Anf Vorschlag des Ausschusses ertheilt die Versammlung einstimmig 
die Decharge. 

3. Hr. Ewald: Uebersicht, betreffend die Bibliothek und 
den Lesesaal im Jahre 1896. 

Der Lesesaal wurde benutzt von 

5 705 Mitgliedern, 

6 877 G ästen, 

in Summa 12 582 gegen 10 445 (1895). 

Verliehen wurden anf 8 Tage resp. 4 Wochen 20x3 Bücher gegen 

1898 (1H95). 

Wegen unpünktlicher Rückgabe mussten 230 Mitglieder gemahnt 
werden, wovon 9 zweimal. 

Laut Wunschbuch wurden angeschafft resp. ergänzt: 

Allgemeine medicinische Centralzeitung 1878—1885. 

Babes-Blocq, Atlas der path. Histologie des Nervensystems. 
Brain: a Journal of nenrology 1892. 

Ccntralblatt für allgem. Pathologie und path. Anatomie. 
Internationaler Atlas seltener Hautkrankheiten. 

Jahrbuch für Kinderheilkunde. 1. Folge. Bd. 1—3. 

Jahrbücher für Psychiatrie. Bd. 14. 

Jahresbericht über die Leistungen und Fortschritte auf dem Ge¬ 
biete der Geburtshülfe und Gynäkologie. Bd. 7. 

Mittheilungen aus den Grenzgebieten der Medicin und Chirurgie. 
Monatsschrift für Geburtshülfe und Gynäkologie. 

Zeitschrift für orthopädische Chirurgie von Bd. 4 an. 

Durch Geschenke von Mitgliedern und aus dem Nachlass des ver¬ 
storbenen Geheimrath Wilms gingen 310 Bücher incl. Sondern (»drücke 
ein. Herr San.-Kath Dr. Bartels schenkte ausserdem 786 Dissertationen. 

Am Schluss des Jahres 1896 besteht die Bibliothek aus: 


a) Zeitschriften-Bänden . . . 

5594 

gegen 

5375 (1895) 

b) diversen Büchern .... 

4068 

„ 

3806 „ 

e) Dissertationen. 

2971 


2183 „ 

d) Sonderabdrücke . 

690 


641 

e) Brunnen- und Bäderschriften 

215 

„ 

212 


Regelmässige neue Zuwendungen erhielt die Bibliothek in diesem 
Jahre von: 

Herrn Priv.-Doc. Dr. Casper: Vierteljahrsberichte über die Gesammt- 

leistungen auf dem Gebiete der Krank¬ 
heiten des Harn- u. Sexualapparates. 

„ Gen.-Stabsarzt l)r. v. Coler: Veröffentlichungen ans dem Gebiete 

des Militär-Sanitätswesens. 

„ Dr. Pollatsehek: Die therapeutischen Leistungen. 

„ Geh.-Kath Dr. Sch weigger: Archiv für Augenheilkunde. 


Bei der Feier des 25. Congresses der Deutschen Gesellschaft für 
Chirurgie hat Herr Geheimrath Dr. Virchow die Gesellschaft ver¬ 
treten. 

Der Vorstand beglückwünschte zum 75jährigen Geburtstag Herrn 
Geheimrath Dr. Virchow, zum 70jährigen Geburtstag Herrn Geheim¬ 
rath Dr. Abraham, zum 60iährigen Geburtstag Herrn Geheimrath 
Dr. B. Fränkel nnd Herrn Geheimrath Dr. von Bergmann und 
zum 25jährigen Dienstjubiläum als Beamter der Gesellschaft, Herrn 
Anders. 

Auf die Gräber der Mitglieder der Aufnahme-Commission Herren 
Geheimräthe Dr. Klein und Dr. Georg Lewin wurden Kränze nieder¬ 
gelegt. 

Zwei Anträge, das Einbringen von Resolutionen und das Ablesen 
von Vorträgen betreffend, wurden angenommen. 

Ich bin in der glücklichen Lage, Ihnen jetzt schon zu Beginn des 
Jahres unsere Verhandlungen aus dem Vorjahre 1896 zu übergeben. Sie 
sind vollständig fertig geworden dank der Unterstützung der Redaction 
der Berliner klinischen Wochenschrift. Beigegeben ist das Mitglieder- 
Verzeichniss mit Angabe, der Wohnungen und die Statuten, Geschäfts¬ 
ordnung, sammt allen Nachträgen. 


Die Bibliotheks-Commission ist wiederholt zusammengekomnien. Die 
Revision der Bibliothek ist von den Herren Pagel und Wiirzburg 
ordnnngsmässig vorgenommen worden, und darüber ein Certiflcat unter 
dem 2. Januar 1897 ausgestellt. 

Dann ist mitzutheilen, dass durch die Güte der Wittwe unseres ver¬ 
ehrten verstorbenen Mitgliedes, Herrn Geheimrath Lewin, den Mit¬ 
gliedern der Berliner medicinischen Gesellschaft die Berechtigung der 
Mitbenutzung der dermatologischen Bibliothek des Verstorbenen, die von 
der Wittwe desselben der hiesigen Dermatologischen Gesellschaft zuge¬ 
wendet ist, ausdrücklich in entgegenkommendster Weise zngesagt worden 
ist. Die Aufstellung der Bibliothek ist noch nicht von statten gegangen. 
Es handelt sich darum, ob dieselbe in unseren Bibliotheksräumen oder 
in einem eigenen Raum hier im Hause aufgestellt werden soll. 

Ich habe noch einen anderen Punkt zu erwähnen. Wir Btchen 
naturgemäss auf den Standpunkt, so liberal wie möglich in der 
Gewährung zur Benutzung der Bibliothek zu sein. Aber Sie sehen aus 
der grossen Zahl von Gästen, die im vorigen Jahre da waren — näm¬ 
lich 6877 Gäste dass die Bibliothek in ausserordentlich hohem 
Maasse in Anspruch genommen wird, so stark, dass jetzt schon der 
Raum nnfängf, uns knapp zu werden, und es häufig vorgekommen ist. 
dass Herren, die den Lesesaal benutzen wollten, keinen Platz fanden. 


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18. Januar 1 h(»7. 


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Ich möchte daher Im Interesse der ständigen Bibliotheksbenutzer und der 
Mitglieder der Gesellschaft an die Herren Collegen die Bitte stellen, mit der 
Ertbeilung von Bürgschaften für Gäste etwas sparsamer zu sein, wie bisher. 

Allen Denjenigen, welche im vorigen Jahre so wesentlich zu dem 
Wachsen und Gedeihen der Bibliothek beigetragen haben, darf ich im 
Namen der Gesellschaft verbindlichen Dank aussprechen und gleich noch 
hinfügen, dass heute eingegangen ist: von Herrn Geheimrath Eulen- 
bnrg die Realencyclopädie der gesammten Heilkunde, neue Folge, 
ferner von Herrn Dr. Joachim, die Preussische Gebührenordnung für 
approbirte Aerzte und Zahnärzte, endlich von mir das Jahrbuch der 
amerikanischen Medicin und Chirurgie für 1896, ferner die Festschrift für 
Herrn Prof. Benno Schmidt, dann „Die Ernährung des gesunden und 
kranken Menschen“ von Munk und Uffelmann, und eine Reihe von 
kleinen Festschriften und Abhandlungen. 

Vorsitzender: Ich darf wohl in Ihrem Namen unseren Beamten 
den besonderen Dank aussprecben für die grosse Mühewaltung und den 
glücklichen Erfolg ihrer Thätigkeit. 

Was unsern Herrn geschäftsführenden Secretär betrifft, so ist es das 
zweite Mal, dass schon in der Generalversammlung die gesammten Ver¬ 
handlungen gedruckt vorliegen, was für alle diejenigen, die bei uns vor¬ 
tragen, ein grosser Vortheil ist. In dem mir vorliegenden Bande werden 
Sie auch den Vortrag des Herrn Treitel finden, wenn es Sie inter- 
essiren sollte, sich zu überzeugen, dass es nicht derselbe i-t, der in 
der Deutschen medicinischen Wochenschrift abgedruckt worden ist. 

4 Wahl des Vorstandes (1 Vorsitzender, 3 Stellvertreter des¬ 
selben, 4 Schriftführer, 1 Bibliothekar, 1 Schatzmeister); der Aufnahme- 
Commission für das Jahr 1897 (18 Mitglieder); der Bibliotheks-Commission 
auf 3 Jahre (7 Mitglieder). 

Die Wahl des Vorsitzenden geschieht statutengemäss durch Stimmzettel. 
Als Stimmzähler fungiren die Herren Bidder, Fürbringer, Rothmann 
und Stadelmann. Es werden 136 Stimmzettel abgegeben, von denen 
128 auf Herrn Virchow fallen und 8 sich zersplittern. Gewählt ist 
Herr Virchow, der die Wahl annimmt. 

Hr. Virchow: Es ist nicht mit leichten Herzen, dass ich noch 
einmal hier in dieses neue Jahr eintreten soll. Sie wissen von früher 
her, dass ich persönlich immer die Meinung vertreten habe, es sollte 
eigentlich jedes Jahr ein anderer Vositzender eintreten und damit jene 
Mannichfaltigkeit der Richtungen vertreten werden, die sich bei der ein¬ 
heitlichen und eintönigen Art des jetzigen Verfahrens nicht ganz her¬ 
steilen lässt. Indess, Sie haben es gewollt, und Sie mögen die Folgen 
davon tragen. Ich werde mich meinerseits bemühen, sie Ihnen so wenig 
als möglich fühlbar zu machen. (Lebhafter Beifall.) 

Der gesammte übrige Vorstand wird Widerspruch-los durch Accla- 
mation gewählt und zwar zu Stellvertretern des Vorsitzenden: die 
Herren v. Bergmann, 8enator, Abraham; zu Schriftführern: die 
Herren Hahn, L. Landau, Mendel, R. Rüge; zum Schatzmeister: 
HerrBartelB; zum Bibliothekar: Herr Ewald. Desgleichen wählt die 
Versammlung durch Acclamation wieder die zur Zeit in der Aufnahme¬ 
commission befindlichen 17 Mitglieder: Herren M. Barschall, Bern¬ 
hardt, David, B.Frünkel, Fürbringer, P. Güterbock, Hirsch¬ 
berg, J. Israel, G. Kalischer, Fr. Körte, W. Sander, Selberg, 
Siegmnnd, Villaret, Jul. Wolff, B. Wolff, Zuntz. 

Die Wahl eines 18. Mitgliedes der Aufnahmecommission für den ver¬ 
storbenen Herrn Lewin findet durch Zettel statt. Dabei werden 45 gül¬ 
tige Stimmen abgegeben. Auf Herrn Rothmann lauten 19, auf Herrn 
Stadel mann 13, Herrn Lazarus 8, die anderen 8timmen zersplittern 
sich. Es wird beschlossen, eine Stichwahl zwischen den Herren 
Rothmann und Stadelmann stattflnden zu lassen und diese Stich¬ 
wahl auf die nächste Sitzung zu verschieben. 

Auch die Mitglieder der Bibliothekscommission: die Herren P. 
Güterbock, Guttstadt, Horstmann, L. Landau, Pagel, Re- 
mak, Würzburg werden durch Acclamation wiedergewählt. 


VII. Die Bedeutung der Psychiatrie für den 
ärztlichen Unterricht. 

Von 

Heinrich Laehr. 

Der Inhalt der nachfolgenden Zeilen war bestimmt, in der Sitzung 
der Aerztekammer der Provinz Brandenburg am 16. October er. bei der 
Discussion. über den Entwurf zu einer Prüfungsordnung der Aerzte einem 
besonderen Anträge zu Grunde gelegt zu werden. Es kamen aber 
so zahlreiche Amendements zu den gedruckt vorliegenden und an und für 
sich trefflichen Thesen des Referenten Mendel, und die Discussion 
wurde, der Wichtigkeit des Gegenstandes entsprechend, so ausführlich 
geführt, dass sie schon allein die Tagesordnung des ersten Tages aus¬ 
fällte. 

Nach dem Gange der Discussion war es überdies nicht wahrschein¬ 
lich, dass mein Antrag angenommen wurde. Voraussichtlich würden die 
Behörden ihn nicht unterstützt haben, denn (Jesetze und Verordnungen 
richten sich nach der Auffassung derer, für die sie bestimmt sind und 
meine Wünsche gehen darüber hinaus. Die medicinischen Facultäten 
noch weniger, denn wir wissen, wie sehr sic sich seiner Zeit überhaupt 


dagegen sträubten, dass die Psychiatrie als ein besonderer klinischer 
Gegenstand in der Facultät Platz fand. Die Aerzte mussten befürchten, 
dass eine neue Belastung des Unterrichts den Durchgang zur Praxis er¬ 
schweren, und das Laien-Publikum, für welches in den letzten Jahren 
„der gesunde Menschenverstand“ als befähigt zur Beurtheilung vindicirt 
wurde, lässt auf eine richtige Fassnng nicht hoffen, seitdem es noch 
nicht möglich gewesen ist, dasselbe von dem Gespenste der Freiheits- 
beranbung zu befreien. Es mussten daher auch die gesetzlichen Bestim¬ 
mungen und Verordnungen in letzter Zeit mehr darauf ausgehen, die 
nach den Schrecken des Aachener Processes durch Suggestion auch von 
Seiten der besseren Zeitungen aufgeregte Masse durch Beschränkung der 
Anstalten zu beruhigen. Ich unterliess es daher, in der Aerztekammer 
meinen Antrag zu stellen nnd zog es vor, au einer anderen Stelle die 
aus meiner Erfahrung gewonnenen Vorschläge der Oeffentlicbkeit vor¬ 
zulegen. 

Die Hoffnung verlässt mich nicht, dass der gegenwärtige noch immer 
betrübende Zustand, in welchem die Ausübung der praktischen Psychia¬ 
trie sich befindet, zu einem erfreulicheren und für den Staat nutzbareren 
sich umgestaltet, Wenn der Nachweis geführt werden kann, dass es 
ein Irrthum ist, die Psychiatrie nur unter die sogenannten Specialdis- 
ciplinen der Arzneikunde zu stellen, dass sie vielmehr nothwendig zu 
der einheitlichen Ausbildung des Arztes gehört, so dürfte durch die hier¬ 
aus sich ergebenden Consequenzen mit einem Schlage eine Reihe von 
Uebelständen, welche in Folge des Irrthums schwer auf dem Publikum, 
dem ärztlichen Stande und dem Staate lastet, beseitigt werden und 
hiermit ein geregelter Weg zu einer weiteren Entwicklung der gesamra- 
ten Heilkunde gewonnen sein. Die Bekämpfung der gegenwärtig noch 
vorhandenen Annahme, die Psychiatrie gehöre den sogen. Specialdisci- 
plinen der Medicin an, verdient jetzt besonders hervorgehoben zu werden, 
wo es sieh um Gestaltung einer besseren Prüfungsordnung handelt. 

Naturgemäss haben die Universitätslehrer diesem Gegenstände ihre 
Aufmerksamkeit zugewendet und ihre Meinung theils in selbständigen 
Schriften theils in Aufsätzen der medicinischen Zeitschriften zum Ausdruck 
gebracht. Schultze-Jena, der sein Interesse für die Psychiatrie stets 
eifrig bekannt hat. hat nicht weniger als 5 Aufsätze über die Psychia¬ 
trie als Prüfungsgegenstand für alle Aerzte geschrieben und sich nun¬ 
mehr zustimmend erklärt, nachdem die Studienzeit für Mediciner ver¬ 
längert werden soll. Alle aber dokumentiren, dass sie diese Disciplin 
nicht für einen der Hauptgegenstände der Prüfung halten. Dasselbe Resultat 
bringen die Verhandlungen der am 19. Juli 1896 in Eisenach zusaramen- 
gekommenen Delegirten der deutschen medicinischen Fakultäten über die 
in Revision befindlichen ärztlichen Prüfungsordnungen und auch aus den 
Berathungen des Aerztekaramerausschusses wie aus denen der Aerzte- 
kammern ergiebt sich, dass der Prüfung in der Psychiatrie zwar ein- 
müthig zugestimmt wird, dass aber von einer Gleichstellung mit den 
drei Hauptkliniken nicht gesprochen wird — die Psychiatrie gilt noch 
als Specialfach. Aus den Verhandlungen in Berlin kann man jedoch 
schon heranslesen (Landau und Lewandowsky), dass ein Unterschied 
zwischen Psychiatrie und den anderen als Specialfach bezeichneten Dis- 
ciplinen gemacht wird. Es wird verlangt, dass die Prüfung in der Psy¬ 
chiatrie von der „medieinisch-pharmaccutisch-psychiatrischen Prüfung“ 
getrennt wird und einem besonderen Examinator anzuvertraucn sei. 

Am klarsten geht obige Anschauung aus der beherzigenswerthen 
Schrift von Quincke-Kiel hervor, „weil das Gewicht der Einzelfächer 
für die Gestaltung der Schlusscensur ein verschiedenes, in Zahlen aus¬ 
gedrücktes sein soll“. Für Anatomie schlägt er 5, für Physiologie 5, 
pathologische Anatomie und allgemeine Pathologie 10, Hygiene 5, Heil¬ 
mittellehre 3, Psychiatrie 2, innere Medicin 10, Chirurgie 10, Geburts¬ 
hilfe 10, Ophthalmologie 5 vor. Diese 2 der Psychiatrie möchte kaum 
zutreffen, wenn der jetzt vorgeschlagene Studiengang innegehalten 
werden soll, aber diese Zahl sticht gewaltig von der 10 ab, wie ich sie 
für dringlich halte. Wenn die Ausbildung der Aerzte nicht eine lücken¬ 
hafte bleiben soll, so muss die 10 erreicht, d. h. die psychiatrische Klinik 
den 3 Hauptkliniken, der inneren, äusseren und geburtshilflichen gleich 
gestellt werden. 

So dankbar wir dafür sein müssen, dass nunmehr die Nothwendig- 
keit eines Besuches der psychiatrischen Klinik in den ärztlichen Unter¬ 
richt erkannt ist und in der Psychiatrie geprüft werden soll, dürfen wir 
uns doch nicht verhehlen, dass dadurch nur das nothdiirftigste für die 
praktische Thätigkeit eines Arztes gewonnen wird. Gewiss wird dadurch 
der angehende Arzt von den jetzt üblichen irrigen Vorstellungen über 
Geisteskrankheiten befreit werden und die Elementarkenntnisse der 
Psychiatrie in sich aufnehmen können. Aber wie jetzt in den übrigen 
Hauptfächern der Medicin die Ueberzeugung, dass die jungen Aerzte 
noch zu wenig praktisch ausgebildet in die Praxis eintreten und daher 
noch ein Jahr in praktischer Thätigkeit unter erfahreneren Aerzten sich 
weiter ausbilden sollen, ehe sie die Approbation erlangen, ebenso und 
wohl noch nothwendiger, wie wir später beleuchten werden, ist eine 
solche praktische Vorbildung in der Psychiatrie für den Arzt, wenn 
anders er die Stellung einnehmen soll, die ihm zukommt. 

Welche Vorzüge werden sich nun geltend machen, wenn in der 
Prüfungsordnung die Quincke’sche 2 in eine 10 umgewandelt und die 
Psichiatrie den 3 Hauptkliniken eingereiht wird? 

Die Psychiatrie hat bekanntlich die psychischen Functionen des Menschen 
zum Gegenstände der Forschung und durch ihre Gebundenheit an das 
Centralnervensystem haben sie sowohl auf die Symptomatologie der übrigen 
körperlichen Krankheiten als auf deren Therapie nicht unerheblichen 
Einfluss. Die Symptome der einzelnen Krankheitsprocesse äussem sich 


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1 »KU LIN Kl! KLINISCH K \Y< M II KNS( HUI Kl' 


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eben verschieden je nach der Irritabilität des Nervensystems und die 
Erfahrung belehrt andererseits über den Einfluss, welchen die Individua¬ 
lität des Arztes auf den Verlauf eines Krankheitsprocesses ausübt. Ver¬ 
sucht doch Charcot den Nachweis zu bringen, dass die therapeutischen 
Wunder vergangener Jahrhunderte sich nnschwer durch psychologischen 
Einflüssen erklären lassen. Wie sehr wird nicht in akute, noch mehr 
in unheilbaren chronischen Krankheiten an die Psychologie des behan¬ 
delnden Arztes appellirt, um Leiden erträglicher zu gestalten! Begabte 
und in ihrer Entwicklung begünstigte Aerzte üben instinctiv diesen Ein¬ 
fluss auf Kranke aus und überragen dadurch in ihrer Wirksamkeit andere 
Aerzte. Das Wissen dieser kann gleich sein, aber das Können unter¬ 
liegt. Die gleiche psychische Einwirkung auf die Kranken wie bei 
jenen fehlt. 

Freilich ist es noch nicht lange her, dass, nachdem die Neuropatho¬ 
logie zu einer früher ungeahnten Höhe sich emporgeschwungen hatte, 
selbst hervorragende Kollegen sich zu der Aeusserung verstiegen, die 
psychische Therapie sei bei Geisteskrankheiten wirkungslos; aber diese 
Uebertreibung leitete die Reaction ein und diese Anschauung ist nun 
wohl für immer verschwunden. Die Psychiatrie stützt sich allerdings 
auf die Kenntnisse in der Neurologie und Neuropathologie, aber auch 
auf die der Psychologie des gesunden und kranken Menschen. Sie baut 
sich jetzt ganz anders auf als früher und hat eine selbstständigere Stelle 
in der Reihe der Naturwissenschaften eingenommen. Welche Macht sie 
schon erreicht hat, ersehen wir daraus, dass auf einzelnen Universitäten 
jetzt schon experimentell die Psychologie als Lehrgegenstand eifrig ge¬ 
lehrt, in Königsberg sogar schon eine psychologische Klinik angekündigt 
wird, so zweifelhaft zunächst ihr Erfolg noch angesehen werden muss. 

Mit Spannung sehen wir der Entwicklung einer Schule in der Klinik 
in Heidelberg unter Kraepelin entgegen, in welcher methodisch direkt 
die Psychologie für die Psychiatrie nutzbar gemacht wird. 

Die in den letzten Decennien ausgebildete Lehre der Hypnose und 
dsr darauf gegründeten Suggestion — freilich ein neuer Name für eine 
seit Langem beobachtete Thatsache — hat auch der Laien Interesse 
erweckt und wohl dazu beigetragen, dass man, damit diese Lehre von 
wissenschaftlichen Männern correct verwerthet werde, der Nothwendig- 
keit einer psychiatrischen Klinik von dieser Seite zustimmen w'rl. 

Die Psychologie lehrt die Gesetze des Empfindens, Denkens und 
Handelns erkennen und wenngleich man ein noch fernes Ziel im Auge 
hat und stets das „Ignorabimus“ in der Erinnerung bewahren muss, so 
hat man doch schon Manches erreicht, was vor nicht langer Zeit uner¬ 
reichbar Behlen. Was die Natur begabteren Naturen in den Schooss 
geschüttelt hat, wird durch die Erkenntniss der Gesetze der Psychologie 
ihnen eine noch grössere Macht und auch dem minder Begabten einen 
grösseren Einfluss sichern. 

Der ärztliche Stand wird im Allgemeinen demnach gehoben, wenn 
die bisherige lückenhafte Ausbildung der in die Praxis eintretenden 
Aerzte zu einer universellen umgestaltet wird. Es wird wohl keinem 
Arzte erspart bleiben, dass ihm in der Praxis Fälle von Geisteskrankheit 
Vorkommen, die nicht grell hervortreten. Ein solcher Kranker fühlt ge¬ 
wöhnlich, ob der Arzt Verständniss für sein Leiden hat, und wird diesem 
das zum Erfolge der Behandlung erforderliche Vertrauen leichter ent¬ 
gegenbringen. 

Wie bei den meisten anderen Krankheiten hängt auch bei den Geistes¬ 
krankheiten die Genesung von der frühzeitigen Diagnose und sachgemässen 
Behandlung ab. Die Heilanstalten, welche gegenwärtig hauptsächlich das 
Wissen beherbergen, erhalten meist die Kranken erst dann, wenn die Krank¬ 
heit eine gewisse Höhe erreicht oder schon zu unheilbaren psychischen 
Defecten geführt hat. Oft allerdings sind jetzt noch die Hausärzte ge¬ 
zwungen, den Vorurtheilen und der Unkenntniss der Angehörigen das 
Opfer zu bringen, um so häufiger, je weniger bestimmt Bie sich aus¬ 
sprechen können. Sehr viele Kranke würden genesen, ja auch in ihren 
Familien genesen können, wenn sie in letzterer sachgeraäss behandelt 
würden oder behandelt werden könnten. Die jetzige Ueberfüllung der 
Anstalten für psychische Kranke kommt vorzugsweise von der nicht 
rechtzeitigen Uebergabe an sie her. Welches Elend aber Kranke, die 
in ihrer Familie nicht geeignete Pflege finden, in dieser selbst anrichten, 
welche nervöse Erschöpfung derselben sie bervorrufen, entzieht sich 
zumeist der Kenntniss der Aussenwelt. 

Für den Staat hätte eine demgemässe Umgestaltung der ärztlichen 
Ausbildung, im Vergleich zu der beabsichtigten, jetzt noch nicht über¬ 
sehbare Vorzüge; den jetzigen kann man noch immer mit einem Pfahle 
in seinem Fleiche vergleichen. 

Die Aachener Vorgänge hätten gar nicht Vorkommen können, wenn 
schon früher alle Aerzte auch Irrenärzte gewesen wären. Das dortige 
Pflegerpersonal that, wenn auch ungeschickt, das, was die weisesten 
Aerzte im vorigen und dem Anfänge dieses Jahrhunderts gelehrt hatten, 
die beaufsichtigenden Aerzte das, was sie nicht anders wussten, weil sie 
nicht irrenärztlich ansgebildct waren. Wunderlich bleibt es nur, dass 
diejenigen, in deren Händen die Organisation dieser klösterlichen An¬ 
stalten lag, nicht die doch sonst gezeigte Klugheit hatten, die Fort¬ 
schritte der Praxis in diesem Zweige der Heilkunde zu beachten, 
während letztere doch gegen die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts schon 
deutlich ans Tageslicht traten. 

Arge Missgriffe hat bei der jetzigen Ausbildung der Aerzte in der 
I’sychatrie die Rechtspflege zu verzeichnen gehabt. Indem sie den Ge¬ 
setzesparagraphen gemäss alle Aerzte als Irrenärzte anzusehen berech¬ 
tigt ist, hat sie es in der Hand, deren Gutachten abzuwägen und dar¬ 
nach abzuurtheilcn. Die Vertheidiger wissen dies trefflich auszunutzen. 


No. 3. 


l’m nur ein Beispiel anzufübren, konnte es in den letzten Wochen in 
Baden Vorkommen, dass die Richter trotz der entschiedenen Gutachten 
der dortigen hervorragendsten Irrenärzte sich bei einem Brandstifter für 
Verurtheilung aussprachen, weil einige Aerzte, obgleich sie nach dem 
Vorgänge Jener hätten Bedenken tragen sollen, sich für die Geiatea- 
gesundheit des Thäters aussprachen. Es ist daher erklärlich, dass die 
ärztlichen Gutachten bei den Richtern nach dieser Seite hin grossem 
.Misstrauen begegnen. Dazu trägt noch bei, dass in Fällen, welche sich 
an den Grenzen der Gesundheit und Krankheit bewegen, ganz wie bei 
anderen Zweigen der Heilkunde, ein bestimmter Ausspruch zur Zeit 
schwer oder gar nicht zu geben ist und auch die wirklichen Sachver¬ 
ständigen nicht immer die Vorsicht gebrauchen, welche hier wünschens¬ 
wert wäre. Es ist freilich nicht leicht, ein non liquet ansznsprechen. 
wo der Richter aus leicht erklärlichen Gründen zu einem bestimmten 
Ausspruche drängt. Erfreulich ist es daher, dass immer mehr in zweifel¬ 
haften Fällen der jetzt gesetzlich zulässige Ausweg vom Richter er¬ 
griffen wird, die in Untersuchung befindlichen Personen bis auf 6 Wochen 
einer genaueren Beobachtung in einer Anstalt zu unterwerfen. In ein¬ 
zelnen Fällen genügt auch dieser Zeitraum zar Feststellung einer 
sicheren Diagnose nicht. Dies Missverhältnis zwischen Rechtspflege 
und Heilkunde hat auch schon Anlass gegeben, dass s. B. im König¬ 
reich Sachsen, wo die Wohlthätigkeitsanstalten sich stets eines eifrigen 
Fortschrittes zu erfreuen gehabt haben, strebsame Juristen und Irrenärzte 
sich zu einem Verein verbündet haben, um sich gegenseitig nach dieser 
Richtung hin zu belehren. Es würde ein grösseres Resultat erreicht 
werden, wenn alle Aerzte Irrenärzte wären! 

Auch für den Staat würde es eine erhebliche Erleichterung sein, 
wenn die Unkenntniss und die Vorurtheile, welche sich betreffs der 
Geisteskrankheiten in der Masse des Volkes anfgcspeichert haben, ver¬ 
schwänden und letztere den übrigen Krankheiten näher angegliedert 
würden. Die jetzige Gesetzgebung wie z. B. in der Gewerbeordnung 
unterstützt noch diese irrige Auffassung im Volke, wenn sie die Irrenanstalten 
von den Krankenanstalten wörtlich unterscheidet. Bis in die höchsten 
Schichten der Gesellschaft ist immer noch der Gedanke festgelegt, — 
in der untersten vielleicht noch am wenigsten, — dass mit der Geistes¬ 
krankheit ein unmoralisches Etwas verbunden sei, dass um jeden Preis 
abzuwehren sei und verheimlicht werden müsse. Die Liebe der Ange¬ 
hörigen eines Kranken, oft unbewusst, wandelt sich aus diesem Grunde 
nicht gar so seiten in psychische Misshandlung des Kranken um und 
vermehrt dessen und der Familie Leiden. Es kann dann Vorkommen, 
dass, wenn der Sachverständige den Angehörigen die Sachlage klarlegt, 
wodurch doch allein nur geholfen werden kann, diesem der Stuhl vor 
die Thiire gesetzt wird. Dies würde allmählich sich ändern, wenn alle 
Aerzte Irrenärzte wären und alle Aerzte als Apostel eine andere An¬ 
schauung zur Geltung verhülfen. Freilich nur allmählich, denn nichts 
ist ja schwer ausznrotten als eingewurzelte Vorurtheile. Hat es doch 
über ein Jahrhundert gedauert, ehe die Hexenprocesse, unterstützt von 
einer herrschsüchtigen Hierarchie, nach ihrer wissenschaftlichen Verur¬ 
theilung praktisch beseitigt wurden. Auf der Höhe der Verirrung waren 
die Mächtigsten gegen sie ohnmächtig, ja geriethen selbst io Gefahr. 

Das Bedenken einer mangelhaften Ausbildung der Aerzte in der 
Psychiatrie hat bei uns in Preusscn zuerst die Militärbehörde erkannt 
und schon seit Jahren verordnet, dass die Militärärzte die psychiatrische 
Klinik besuchen mussten und ein Theil auch darin praktisch beschäftigt 
werden konnte. Das Cultusministerium hat dafür Sorge getragen, dass 
seine ärztlichen Beamten dasselbe Ziel erreichen, hat auch diejenigen, 
welche eine irrenärztlichc Vorbildung nachwiesen, bei der Anstellung 
bevorzugt, zumal die Gerichte sie als Begutachter wenn möglich heran¬ 
zogen. Aber oft ist dies nicht möglich oder zu kostbar und doch genügt 
die jetzige Ausbildung der Aerzte nicht immer, weil sie die praktische 
Durchbildung nicht zur Voraussetzung hatte. Ganz anders wäre es, 
wenn alle Aerzte Irrenärzte und Ausnahmeverordnungen nicht erforder¬ 
lich wären. 

Der Staatsaufsicht über die Heil- und Pflegcanatalten würde die 
Ausführung meines Vorschlages eine viel einfachere Durchführung ge¬ 
währen. Bekanntlich ist in Preussen die Aufsicht der Anstalten einer 
der Sachlage entsprechenden Reform unterworfen worden, welche voraus¬ 
sichtlich durch Erfahrung sich noch besser gestalten wird. Die öffent¬ 
lichen Anstalten zu beaufsichtigen, ist gegenwärtig leicht geworden. 
Nachdem die Gründung und Verwaltung der Anstalten für Psychisch- 
Kranke den Provinzen überlassen ist, ist ein so erfreulicher Wetteifer 
bei den letzteren eingetreten, dass sie keine Opfer scheuen, um sie auf 
die den Fortschritten entsprechendste Weise zu gestalten. Je weniger 
sie darin Beschränkung finden, desto eifriger werden sie sein. Das 
Ausland zollt ihnen die sprechendste Anerkennung und sucht sich die 
Grundlage, auf welcher diese Anstalten ruhen, anzueignen. Bei den 
Privatanstalten steht die Sache anders. Nach der Interpretation des 
Gewerbegesetzes glaubte man nicht ein Sachverständnis der Dirigirenden 
beanspruchen zu dürfen. Jetzt soll dies geschehen und in die Central¬ 
behörde hat man einen Sachverständigen aufgenommen, der dem 
Ministerium mit seiner technischen Acskunft zur Seite steht, freilich noch 
nicht im Hauptamte, was nicht nur wünschenswerth ist, sondern auch 
nothwendig werden wird. Augenscheinlich steht hier die Finanzfrage 
noch im Wege, da es sich um Gestaltung einer Behörde mit Einsetzung 
mehrerer Hülfsräthe handelt. Aber die Ausgaben dafür werden sich 
einst lohnen. 

Wenn alle Aerzte Irrenärzte würden, so würde sich auch das Ge¬ 
schick und die Nutzbarkeit der privaten Anstalten für psychische Kranke 


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18. Januar 181)7. 


1 »CKLINKU KLINIS< 11IC \Y< M 111CNS( 11ÜlFT. 


03 


verbessern. Nicht alle Privatanstalten haben das Gewerbe zur Ursache 
der Gründung. Manche sind zur Fortsetzung eines liebgewordenen Be¬ 
rufes entstanden, da der gerade in Deutschland zahlreiche ärztliche Stab 
einer öffentlichen Anstait nicht immer zur Schaffung einer ärztlichen 
Selbstständigkeit führt. Eine Theilnahme am Fortschritte gestaltet sich 
in den Privatanstalten unabhängiger und manches Experiment kommt 
auch den öffentlichen Anstalten zu Gute. Die jetzigen Verordnungen 
haben dem Zollstocke mehr als zu wünschen ist, Werth eingeräumt und 
der Individualität der Vorstände weniger Rechnung getragen. 

Naturgemäss sind aber diese Privatanstalten nicht gleich vollkommen, 
es wird immer trotz aller Gesetze gute, bessere und schlechtere geben, 
weil die Qualität zunächst von der Tüchtigkeit der Dirigenten, aber 
auch von finanziellen Verhältnissen, von der Zweckmässigkeit der Lage 
tt. s. w. abhängt. Die Besserung solcher Zustände kann man jedoch 
nunmehr der Concurrenz überlassen. Sind erst alle Aerzte Irren¬ 
ärzte, dann werden alle eine Controle ausüben und die Hausärzte dazu 
beitragen, dass die schlechteren Anstalten allmählich eingehen. Jetzt 
sind auch die letzteren angefüllt, weil Jene bei der Wahl der Anstalten 
für ihre Kranken sich nicht genügend kritisch verhalten können. Später 
werden sie auch die Verschiedenheit gleich guter Anstalten unter Berück¬ 
sichtigung der Form der Krankheiten und der Individualität der Kranken 
und deren Angehörigen zu berücksichtigen vermögen, je nachdem Lage, 
Einrichtung und vor Allem der dirigirende Arzt sich ffir die betreffenden 
Kranken eignen. Jetzt ist eine so sorgfältige Wahl nur in Ansnahme- 
fällen möglich. Für den Staat i&t es ja immer wünschenswestb, dass 
er nicht in die Nothwendigkeit versetzt wird, direkt einzugreifen, sobald 
er die Beseitigung von Missständen auf anderem Wege zu erreichen in 
der Lage ist. 

(Schluss folgt.) 


VIII. Die Medicin im Preussischen Cultus-Etat 

Der Etat der preussischen Universitäten enthält an Mehr- 
fordernngen für Berlin im Ordinarium 1500 M. für Verstärkung des 
sächlichen Ausgabefonds im pharmakol.Institut; Greifswald: Assistenten- 
Remunerirungen an den Kliniken mit 1200 und 1500 M., hyg. Institut 600 M. 
Für Breslau ein Ersatzordinariat für Augenheilkunde (künftig wegfallend) 
mit 4660 M.; für die Chirurg. Klinik 800 M. zur Remunerirung eines 
Oberarztes (der gleichzeitig das disponible Assistentengehalt von 1200 M. 
bezieht), 800 M. für den aseptischen Operationssaal und das Laboratorium, 
2500 M. für die Augenklinik (sächl. Fonds), 600 M. Erhöhung der Sub¬ 
vention für die Ohren-, Nasen- und Hals-Poliklinik, 10 200 M. für die 
Unterhaltung einer Kinderklinik; Kiel: Oberarztremuneration der 
Chirurg. Klinik (wie Breslau), Verstärkung der sächl. Fonds für das 
hygien. Institut 1500 M. Göttingen: Remunerirung eines Assistenten 
an der Frauenklinik 1200 M., Verstärkung der sächl. Fonds an dem 
patholog. Institut 500 M., desgl. am hygien. Institut 600 M. In Mar¬ 
burg werden 1464 M. für Verstärkung des sächlichen Ausgabefonds am 
pharmakolog. Institut gefordert; für das hygienische Institut a. zur 
dauernden Verstärkung der Ausgabefonds 1500 M., b. zur vorübergehenden 
Verstärkung desselben für serumtherapeutische Arbeiten 850 M.; c. zur 
vorübergehenden Annahme eines zrveiten Assistenten für den gleichen 
Zweck 1200 M.; in Bonn soll der Bedürfnisszuschuss für die Kliniken 
um 10000 M. erhöht werden, für die Vermehrung des Wärterpersonals 
an der Chirurg. Klinik sind 2231 M., zur Bestreitung der Kosten für den 
aseptischen Operationssaal 800 M., für das hygienische Institut 600 M. 
ausgewoi fen. 

Im Etat des Medicinalwesens, der Charit6, der Infections- 
institute, der Control Station für Diphtherieserum sind 
nennenswerthe Aenderungen nicht zu verzeichnen. 

Unter „Sonstige Ausgaben für medicinalpolizeiliche 
Zwecke“ flgurirte im Vorjahr ein Posten von 118500 M., darunter 
befanden sich 75000 M. zur sanitätspolizeilichen Controle behufs Abwehr 
der Choleragefahr, die jetzt, nachdem die Gefahr der Einschleppung 
der Seuche wesentlich gemindert ist, um 60000 M., also auf 15000 M. 
erraässigt werden; ebenso fallen 6200 M., als auf den Etat des Finanz¬ 
ministeriums übertragen, fort, die bisher als Tagegelder und Reisekosten 
für die Physici in Hannover aus diesem Fond bezahlt wurden; dem 
gegenüber steht eine Verstärkung des genannten Fonds um 22700 M., 
zur schnelleren und energischeren Feststellung von Infections- 
krankheiten unter Mitwirkung specialistisch vorgebildeter Sachver¬ 
ständiger, Verbesserung allgemein hygienischer Verhältnisse, Erforschung 
der Krankheitsursachen etc.; der Posten ermässigt sich demgemäss im 
Ganzen auf 60000 M. Bemerkenswerth ist weiter noch unter „Ver¬ 
schiedene andere Ausgaben“ die Erhöhung des Zuschusses für einen 
Arzt in Nidden (Kurische Nehrung) um 600 M. (auf 1800 M), die 
damit motivirt wird, dass trotz wiederholter öffentlichen Aufforderungen 
ein Nachfolger für den am 23. Juni 1895 verstorbenen Arzt auf 
Schwarzort nicht hat gewonnen werden können! 

Im Ganzen schliesst das Ordinarium der Universitäten mit 
8536083 M. 93 Pf., d. h. einer Mehrforderung von 146813 M. ab; das¬ 
jenige des Medicinalwesens mit 1885899 M. 55 Pf., also einer 
Minderforderung von 69262 M. 14 Pf. ab. 

An einmaligen und ausserordentlichen Ausgaben sind 
ausgeworfen: Königsberg: Erweiterung des physiologischen Instituts 
16 000 M., Instandsetzung des pharmaccutisch - chemischen Instituts 


13000 M, Heizungsanlage der Frauenklinik 10400 M., Um- und Er- 
neuerungsbau der Augenklinik 50200 M.; Fehlbetrag ebenda 5100 M. 
Berlin: Errichtung eines Repetitionssaales des I. anatomischen Instituts 
21 000 M. (derselbe soll durch Ausbau des Dachgeschosses im westl. 
Mittelbau gewonnen werden), Instandsetzungsarbeiten im gleichen In¬ 
stitut 45 000 M., Heizungsanlage der Frauenklinik 18 500 M., Operations- 
ranm für die Ohrenklinik und Untersuchungszimmer für die Augenklinik 
14 300 M, Ergänzung der Sammlung der chirurgischen Charit£klinik 
10 000 M., Ausstattung der („hinter den herrschenden Anschauungen 
wesentlich zurückgebliebenen“) Syphilisklinik mit Mikroskopien, wissen¬ 
schaftlichen Instrumenten, Wachsmodellen etc. 10 000 M., Neubau des 
I. chemischen Instituts 200 000 M., Heizungsanlagen im pharmacolog. 
Institut 10 400 M. Greifswald: Erweiterungsbau der Augenklinik 
27 600 M., Um- und Erweiterungsbau des anatom. Instituts 93 000 M.; 
Deficit der Universitätskasse 154 000 M. (grossentheils bewirkt durch Er¬ 
richtung des hygienischen Instituts und Bau von 3 Krankenbaracken zur 
Entlastung des Krankenhauses). Breslau: Erweiterung des Verwaltungs¬ 
gebäudes der klinischen Anstalten 15 300 M., Apparate, Instrumente etc. 
für die Augenklinik 14 000 M., Instandsetzung der anatomischen Samm¬ 
lung 6 000 M., Neubau der Augenklinik 20 000 M. (II. Rate, der Bau 
ist noch nicht in Angriff genommen), Neubau des anatomischen Instituts 
100 000 M. (III. Rate), Neubau des pharmakologischen Instituts I. Rate 
70 000 M., des hygienischen Instituts I. Rate 70 000 M , des physio¬ 
logischen Instituts I. Rate 100 000 M. Halle: Instrumente und Appa¬ 
rate fiir das anatomische Institut 8 000 M. Kiel: Erweiterung der 
(völlig unzulänglich gewordenen) Räume der Frauenklinik I. Rate 
110 000 M., Erweiterung des anatom. Instituts 10 500 M., des hygieni¬ 
schen Instituts 8 000 M. Göttingen: Herstellung eines aseptischen 
Operationssaales für die chirurgische Klinik 31 000 M. Marburg: Ab¬ 
sonderungsbaracke für die chirurgische Klinik 23 000 M., Waschhaus für 
die Frauenklinik 14 500 M., Instrumente und Apparate für das pharma¬ 
kologische Institut 6 000 M., desgleichen sowie Versucbsstall für das 
hygienische Institut 49 800 M., Herstellung einer septischen Station für 
die chirurgische Klinik 33 000 M., Ergänzung von Instrmenten, Appara¬ 
ten etc. für dieselbe 7 000 M., Neubauten in der Frauenklinik 16 000 M., 
Grundstückankauf (für einen Wäschetrockenplatz der Klinik) 500 M. 

Für Medicinalz wecke fordert das Extraordinarium: Zur Bekämpfung 
der Lepra, insbesondere zur Herstellung eines Leprakrankenhauses im 
Kreise Memel 36 000 M. (es sollen daselbst „solche Kranke, bei denen 
das Leiden einen ansteckenden Charakter angenommen hat und weder 
eine sichere Absonderung und genügende Pflege im eigenen Heim, noch 
eine anderweite Unterbringung auf Kosten der zunächst Verpflichteten 
möglich scheint“, untergebracht werden; zur Untersuchung der Maul-und 
Klauenseuche beim Institut für Infectionskrankheiten 20000 M.; zur Be¬ 
kämpfung der Granulöse (namentlich in den östlichen Provinzen) 75000 M. 
(bestimmt u. A. zur Belehrung der Bevölkerung über die Gefährlichkeit 
der Krankheit und die Verhaltungsmassregeln bei derselben, Behand¬ 
lung durch specialistisch gebildete Aerzte, Gewährung von Verbandmate¬ 
rial); Einrichtung eines Fortbildungskurses in der Psychiatrie für Re- 
gierungsmedicinalräthc und Kreisphyaici 20 000 M. 

Zur Förderung von Untersuchungen mit Röntgenstrahlen sind 50000 
Mark ausgeworfen. 

Ueber den Umbau der Charite enthält der Etat keine Angaben — 
hierüber soll ein specielles Gesetz vorgelegt werden. 

Es wird nicht verkannt werden können, dass die Etatspositionen, 
namentlich im Extraordinarium, das deutliche Bestreben zeigen, die 
dringenden Bedürfnisse des medicinischen Unterrichts in reichlicher 
Weise zu befriedigen; es ist erfreulich, dass die Finanzlage ein der¬ 
artiges Entgegenkommen gestattet hat. Auch die hygienischen Aufgaben 
des Staates sind in den für die Förderung der Serumtherapie, die Be¬ 
kämpfung der Lepra und anderer Infectionskrankheiten ausgeworfenen 
Posten berücksichtigt. Die oft erwünschte Gehaltsaufbesserung 
der Physiker ist auch diesmal, obwohl andere Beamtenkategorien mit 
Erhöhungen bedacht sind, ausgeblieben; wir haben schon früher er¬ 
wähnt, dass man diese auch nicht im Rahmen des Budgets zu er¬ 
warten haben wird, sondern dass sie einen Theil der gesammten 
Medicinalreform bilden soll. Hoffentlich wird letztere nun endlich 
greifbare Gestalt gewinnen, — andernfalls wäre freilich der Wunsch 
derjenigen begreiflich, die hier, bei einem Punkt über deu Alle einig 
sind, einmal einen positiven Anfang sehen möchten und schon zufrieden 
wären, wenn statt des erwarteten „Besseren“ einmal wenigstens das 
„Gute“ in’s Leben träte! 


IX. Zur Technik der Jejunostomie. 

Von 

Dr. Karewski in Berlin. 

Herr Prof, von Eiseisberg monirt in vor. No. d. W. mit Recht, 
dass ich seine Arbeit in „Langenbeck’s Archiv“ übersehen habe. 
Seine Fälle und die gänzlich unabhängig von seiner Mittheilung 
nach dem gleichen Verfahren von mir ausgeführte Operation sprechen 
um so lebhafter für die Vorzüglichkeit der Witzel’schcn Methode bei 
Anlegung von Ernährungsfisteln an Magen und Darm, welche hervorzu¬ 
heben alleiniger Zweck meiner diesbezüglichen Auseinandersetzungen ge¬ 
wesen ist. 


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No. 3. 


BKIIMNT.ll KMXISCIIK W(X’IIKNS('1IK1!’T. 


X. Literarische Notizen. 

— Arbeiten aus der Klinik für Kinderkrankheiten an 
der Universität Berlin, von Prof. Ileubner. Sep.-Abd. am d. 
Jabrb. f. Kinderheilk. N. F. XLI1I. Bd. Heft 1. Teubner. Leipzig 1896. 

Diese aus dem Jahrbuch für Kinderheilkunde zusammengestellten 
Arbeiten, neun an der Zahl, geben ein Bild von dem regen Eifer, welcher 
auf der pädiatrischen Klinik unter der Führung Heubner’s entfaltet 
wird. Wir Anden Beobachtungen und Versnche über den Meningocoecus 
intraeellularis von Heubner, Beiträge zum Stoffwechsel des Säuglinge 
von Bendix, Untersuchungen über das Vorkommen von Diphtherie¬ 
bacillen in der Mundhöhle von nicbtdiphtheritischen Kindern innerhalb 
eines grossen Krankensaales von Müller, Immunisirungsversuche gegen 
Diphtherie von Löhr, einen Fall von postdiphtheritischer Lähmung von 
Geyer, angeborene Pylorusstenose im Säuglingsalter von Finkeistein, 
angeborene Pylorusstenose nebst Bemerkungen über die Magenfunctionen 
bei solcher von Grau, acute Leukämie im Kindesalter von Müller und 
Cystitis im Säuglingsalter von Finke!stein. l.'eber den Inhalt der 
einzelnen Arbeiten zu referiren ist hier, wo es sich nur darum handelt, 
weitere Kreise darauf aufmerksam zu machen, nicht der Ort. 

— Der EinAuss des Radfahrens auf den menschlichen Organismus 
von Dr. M. Mendelsohn. Hirschwald, Berlin 18!>6. 

Bei der grossen und wachsenden Ausdehnung, welche das Radfahren 
mehr und mehr Andet, war es sehr zeifgemäss, dass Herr Mendelsohn 
im Verein für innere Medicin damit beauftragt wurde, ein Referat über 
die Frage: „Ist das Radfahren als eine gesundheitgemässe l'eburg 
anzusehen und aus ärztlichen Gesichtspunkten zu empfehlen? 1 * zu er¬ 
statten. Er hat sich dieser Aufgabe mit Umsicht und eingehendem 
Studium der betreffenden Literatur unterzogen, wobei es in der Natur 
der Sache lag, dass er auch auf die Gefahren und oft schweren Schä¬ 
digungen hinweisen musste, welche das Uebertreiben und ein massloser 
Sport mit sich bringen kann. Von besonderem Interesse wird immer 
derjenige Abschnitt sein, welcher sich mit der Frage beschäftigt, welche 
bereits bestehenden Krankheitszustände durch das Radfahren eine be¬ 
sondere Einwirkung erfahren. 

Es ist sicher, dass die Erfahrungen über diesen Sport, der eigent¬ 
lich schon nicht mehr ein Sport, sondern ein Communicationsmittel 
des täglichen Lebens geworden ist, in nächster Zeit sehr zunehmen 
werden. Jedenfalls darf das Referat von Mendelsohn als eine vor¬ 
treffliche Uebersicht über das bisher Bekannte gelten. 

— Diagnostisch - therapeutisches Vademecum für Stu- 
dirende und Aerzte, zusammengestellt von Dr. II. Schmidt, Dr. 
L. Friedheim, Dr. Lamhofer, Dr. Donat, II. AuA. A. Barth, 
Leipzig 181)6. 

Die Verfasser haben sich in das BUchelchen, welches in kurzen 
Sätzen die klinische Diagnostik und Therapie der wichtigsten Krankheiten 
geben soll, in der Weise getheilt, dass Dr. Schmidt die innere Me¬ 
dicin, Dr. Friedheim die Hautkrankheiten, Lamhofer die Augen¬ 
krankheiten und Donat die wichtigsten Kapitel der Gynäkologie behan¬ 
delt hat. So weit wir gesehen haben, sind die betreffenden klinischen 
Angaben präcise und die therapeutischen Empfehlungen mit Kritik 
gegeben. Offenbar erfreut sich das Vademecum in den Kreisen jüngerer 
Aerzte eines guten Rufes, denn es liegt bereits die zweite AuAage 
vor uns. 

— Ueber die Teehnik und die Anwendung der Blut¬ 
entziehungen, besonders des Aderlasses in der modernen 
Therapie giebt Adolf Thiele (Chemnitz) in einer in der Medicinischen 
Bibliothek fiir praktische Aerzte (No. 90 — 92, Verlag von C. G. Naumann 
in Leipzig) erschienenen kleinen Schrift eine gute Uebersicht. 

— Compendium der Arzneimittellehre und Arzneiver¬ 
ordnungslehre. Für Studirende und Aerzte bearbeitet von 
Dr. E. Nitzeinadel. Deuticke, Leipzig. 

Ein kurzes Nachschlagebuch, welches das für den praktischen Arzt 
unbedingt Nothwendige enthalten soll. In Bezog auf Receptformulare 
hat sich Verfasser ebenfalls einer weisen Mässignng beAisscn. 

— Bestimmungen über die ärztlichen Atteste und Gut¬ 
achten in Preussen von San.-Rath Dr. Liedtke. Scboetz. Berlin 
1896. 

Ein dankenswerthes Unternehmen, welches darauf abziclt, dem Arzt 
das umständliche und zeitraubende Aufsuchen der Bestimmungen in den 
einzelnen Sammelwerken etc. zu ersparen. 

— Von den Herren Rechtsanwalt A. Joachim und Dr. H. Joachim 
ist im Verlage von Osc. Coblenz hier eine Bearbeitung der preussischen 
Gebührenordnung erschienen, die in äusserst sorgsamer Weise alle 
Einzelheiten bespricht und für den praktischen Gebrauch den Collegen 
warm empfohlen zu werden verdient. Namentlich sind in sehr instructiven 
Beispielen viele praktische Fälle behandelt und überall der Vergleich 
mit der alten Taxe durchgeführt. 


XI. Tagesgeschichtliche Notizen. 

Berlin. In der Sitzung der Berliner med. Gesellschaft vom 
14. d. Mts. landen zunächst Demonstrationen der Herren Hansemann 


(pathologisch-anatomische Präparate) and Schellenberg (angeborener 
Herzfehler mit situs viscerum inversus) sowie eine Mittheilung des Herrn 
Senator über das Aufrecht’scho Stethoskop statt. Sodann hielten 
Herr Menke den angekündigten Vortrag über Hermaphroditismus und 
Herr Senator Uber Osteomalacie und Organotherapie. 

— Eine Gedächtnisfeier für du Bois Reymood wird am 23. d. M. 
seitens des physiologischen und physikalischen Vereins veranstaltet 
werden: Herr Rosenthal-Erlangen hält dio Gedenkrede. 

— Der Vorstand der Berlin-Brandenburgischen Aerzte- 
kammer hat, gemäss dem Kammerbeschluss vom 7. November v. .1. 
eine Eingabe an den Herrn Minister der geistlichen, Unterricht«- und 
Medirinalangelegcnheiten gerichtet, in der nochmals unter eingehender 
Motivirung um Berücksichtigung der Vorschläge zur Abänderung des 
Gesetzentwurfs über die ärztliche Ehrengerichtsbarkeit 
gebeten wird. Die vorgeschiagencn Abänderungen betreffen folgende 
wesentliche Punkte: es möge eine ärztliche Standesordnung zur 
Feststellung des Begriffs der Standesehre und des berufsmässigen Ver¬ 
haltens erlassen werden; die Competenz des Ehrengerichts sich nnr auf 
Vergehen innerhalb des Berufs erstrecken; das Ehrengericht ver- 
pAichtet sein, auf Antrag eines Arztes ein Gutachten über sein Ver¬ 
halten auszusprechen; beamtete Aerzte nnd Sanitltsofficiere in 
ihrer privatärztlichen Thätigkeit dem Ehrengericht unterstehen; die 
Schuldfrage nur mit Zweidrittelmsjoritlt beschlossen werden; der 
Ehrengerichtshof in seiner Majorität aus Mitgliedern der Aerztc- 
kammern bestehen; nur dem Angeschuldigten das Berufungsrecht 
zustehen. Nur wenn diese Punkte berücksichtigt werden, glaubt der 
Vorstand, .dass das zu erlassende Gesetz den gehegten Erwartungen 
entsprechen nnd dem ärztlichen Stande zum Heil gereichen“ werde. 

In Hamburg ist der bekannte Arzt Dr. J. Michael am 6. d. M. 
verstorben. 

— Dr. v. Renz in Wildbad der um die Entwickelung dieses Bades 
sich die grössten Verdienste erworben hat, ist verstorben. 

— Die Acadömie de Mädecine in Paris hat in ihrer letzten öffent¬ 
lichen Sitzung vom 15. August 1896 an zwei in Paris wohnende Aerzte 
deutscher Abkunft, Dr. B. Loewenberg und Dr. 8. Goldschmidt, 
früher in Madeira, Preise verliehen die zur Führung des Titels 
„Laureat de l’Acadcmie de Medecine“ berechtigen. 


XII. Amtliche Mittheilungen. 

Personal!». 

Auszeichnungen: Charakter als Kaiserlicher Sanitätsrath: 
dem Director der Hebammenschule in Metz Dr. Adel mann und dem 
Kantonalarzt Dr. Dietz in Barr. 

Rother Adler-Orden IV. Kl.: dem Kreiswundarzt Dross in 
Freystadt in Westpr. 

Niederlassungen: die Aerzte Dr. v. Both in Marburg, Dr. Happel 
in Vetter, Dr. Roters in Wolfhagen, Berndt in KUckenmühle bei 
Stettin, Dr. Ehrlich in Stargard i. P., Dr. Claus in Tirschtiegel, 
Dr. Pollnow in Königsberg i. Pr., Dr. Link, Dr. Donalies, Dr. 
v. Holst, Dr. Wille und Dr. Steffens in Halle a. S., Dr. Kreisch. 
Dr. Lesse, Dr. Franz Meyer, Dr. Semmler, Dr. Schaper und 
Dr. Zinn in Berlin, Dr. Radtke in Königsberg i. Pr. 

Verzogen sind: die Aerzte Dr. Friedrichs von Wehnen nach Ratze¬ 
burg, Dr. Petersen von Altona nach Frankfurt a. M., Dr. Hermes 
von Danzig und Dr. Graf von Bremerhaven nach Altona, Dr. Brandt 
von Neustadt W.-Pr. nach Kiel; von Berlin: Ballin nach New- 
York, Dr. Baumgartner nach Freiburg i. Br., Dr. Bethge nach 
Kriecht, Dr. Braun auf Reisen, Dr. Gersulanos nach Greifswald, 
Dr. Koerner nach Wilmersdorf, Dr. Oppenheimer nach Fürth in 
Bayern, Dr. Parow nach Greifswald, Dr. Rosenblatt nach Neuen¬ 
dorf und Dr. Stein nach Uebigau; nach Berlin: Brodmann von 
Alexanderbad, Dr. Gust von Charlottenburg, Dr. Laserstein von 
Altona, Alfred Neumann von Doetz, Dr. Pollack von Glogau, 
Dr. Stern von Schöneberg; Dr. Ernst Richter von Wittichenan 
nach Gr.-Leistenau, Dr. Gnndlach von Saarbrücken nach Rosenberg, 
Dr. Funke von Osterweddiogen nach Halle a. S., Dr. Noetzel von 
Halle a. S. nach Bonn, Dr. Wotschke von Meseritz nach Nietleben, 
Dr. Droste von Horn nach Weissenfels, Dr. Rieh. Schulze von 
Wcissenfels nach Leipzig, Dr. Weisseiberg von Geising nach Alte¬ 
rode, Dr. Reinhardt von Mansfeld nach Helmershausen, Weiss von 
Willenberg nach Allenstein, Dr. Schmidt von Osterode nach Brom¬ 
berg, Dr. Schieritz von Neuenkirchen nach Posen, Dr. Ziolkowski 
von Rogasen nach Posen, Dr. Kunze von Rawitsch nach Berlin, Dr. 
Protzek von Bcuthen nach Rawitsch, Dr. Münzer von Bromberg 
nach Torgelow, Dr. Niemer von Swinemiinde nach Berlin, Dr. 
Menzel von Erfurt nach Stettin, Kahnert von Danzig nach Stettin, 
Dr. Vahle von Marburg nach Berlin. 

Gestorben sind: die Aerzte Dr. Victor in Cassel, Dr. Goemann in 
Jemgum, Dr. Scbmid in Stettin, Dr. v. Koszutski in Posen, Kreis- 
Physikus Geheimer Sanitätsrath Dr. Meinhof in Pieschen, Dr. Eck- 
mann in Berlin, Albert Scheyer in Berlin. 


Für die Kedaction verantwortlich Geh. Mod.-Uuth Prof. Dr. C. A. Ewald, LüliowplaU 5 


Verlag und Eigenthum von August Hirschwald in Berlin. — Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin. 


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Organ für practische Aerzte. 


Mit Berücksichtigung der preussisclien Medicinalverwaltung und Medicinalgesetzgebung 

nach amtlichen Mittheilungen. 


Redaction: 

Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald uud Prof. Dr. C. Posner. 


Expedition: 

Aogost Hirschwald, Verlagsbachhandlang in Berlin. 


Montag, den 25. Januar 1897. 



Vierunddreissigster Jahrgang. 


INHALT. 


I. A. Iloffa: Das Problem der Skoliosenbehandlung. 

II. O. Israel: Magenkrebs mit ungewöhnlicher secundärcr Aus¬ 
breitung insbesondere im Darmcanal, Recurrenslähmung. 

III. O. Rosenbach: Die Emotionsdyspepsie. 

IV. Joachimsthal: Ueber Verbildungen an extrauterin gelagerten 
Foeten. 

V. Kritiken und Referate. L. und Th. Landau, Vaginale 
Radical Operation. (Ref. Strassmann.) — Ho che, Frühdiagnose 
der progressiven Paralyse ;Rauschoff, Chloralamid als Hypnoticum; 
Möbius, Behandlung von Nervenkranken. (Ref. Lewald.) 

VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Laryngo- 
logiBche Gesellschaft. Schoetz, Knöcherner Chaonenverschluss; 
Meyer, Rhinitis tibrinosa; Grabower, Motorische Innervation 
des Kehlkopfs. — Aerztlicher Verein zu Hamburg. Fricke, 


I. Das Problem der Skoliosenbehandlung. 

Von 

Prof. Dr. Albert Hoffa in Würzburg. 

Die orthopädische Chirurgie hat in den letzten 10 Jahren 
einen ganz gewaltigen Aufschwung genommen, einen Aufschwung, 
der nur demjenigen klar geworden ist, der mitten in der ortho¬ 
pädischen Praxis lebt und webt, und dem somit die erreichbaren 
Erfolge unmittelbar vor Augen stehen. Fangen wir oben an, so 
bietet unseren modernen Hilfsmitteln die Heilung eines Caput 
obstipum keine Schwierigkeit mehr; der Spondilitis vermögen wir 
in den meisten Fällen mit Erfolg entgegenzutreten; die schwersten 
Contracturen der Gelenke an der oberen und unteren Extremität 
vermögen wir zu strecken; ein Genu valgum oder varum zu 
heilen, halten wir für eine leichte Mllhe; die schwersten Klump- 
fUsse selbst erwachsener Patienten werden unter unseren Händen 
in relativ kurzer Zeit beseitigt und die Behandlung der Platt- 
fUsse ist eine unserer dankbarsten Aufgaben geworden. Die 
lange Zeit unseren Bemühungen, angeborenen widerstrebenden 
Verrenkungen haben wir mit Erfolg in den Bereich unserer Be¬ 
handlung zu ziehen gelernt; gelähmte Glieder können wir durch 
zweckmässige Apparate wieder functionsfähig machen; völlig 
verloren gegangene Extremitäten vermögen wir durch brauchbare 
künstliche Glieder zu ersetzen. 

So könnten wir mit voller Befriedigung auf unsere Thätig- 
keit znrückblicken, wenn uns nicht gerade die Behandlung des 
häufigsten Leidens, dessentlialben wir zu Rathe gezogen werden, 
die Behandlung der Skoliose, immer noch die grössten Schwie- 
rigkeiteiten darböte. Meiner Ansicht nach liegt in dem Problem 
der Skoliosenbehandlung das Problem der Orthopädie der Zu¬ 
kunft Überhaupt und es muss daher unser eifriges BemUhen sein, 
Mittel und Wege zu finden, um auch der Skoliose erfolgreich 
entgegentreten zu können. 


Grisson, Demonstrationen; Brandt, Pneumothorax nach Em" 
pyem. — Phys.-med. Gesellschaft zu Würzburg. Hofmeier’ 
Verhütung des Kindbett fiebere; Schenk, Einfluss des constanten 
Stroms auf Amöben. — Berliner med. Gesellschaft. Reefschläger, 
Fötale Hemmungsbildung des Herzens; Senator, Stethoskop; 
Merk, Hermaphrodismns; Senator, Osteomalacie und Organ¬ 
therapie. — Vereinigung der Chirurgen. König, Gelenkentzün¬ 
dung; Bennecke, Nierengeschwülste. — Aerztlicher Verein zu 
München. Kronacher, Fall von eingeheiltem Kalbsknocben; 
Seltz, Scharlach. — Verein der Aerzte za Stettin. Neisser, 
Typhusdiagnose; Roth holz, Blennorrhoea neonatorum. 

VII. H. Laehr: Bedeutung der Psychiatrie fiir den Unterricht. (Schluss.) 

VIII. Praktische Notizen. 

IX. Tagesgeschichtliche Notizen. — X. Amtliche Mittheilungen. 


Ich habe mich im Verlaufe der letzten 10 Jahre immer und 
immer wieder an die Lösung dieses Problems herangemacht und 
glaube, dass meine Arbeit von Erfolg begleitet worden ist. 
Ich stehe deshalb auch nicht an, die Resultate derselben den 
Herrn Collegen zu unterbreiten. 

Meine ersten Bemühungen, eine rationelle Skoliosenbehand¬ 
lung zu erzielen, hatten zur Ausbildung des sog. „Detorsions- 
verfahren8“ geführt, das vorzüglich durch die Anlegung des 
„Detorsionscorsetts u charakterisirt war. Dieses Detorsions- 
corset sollte mit einem Schlage die vier klinisch am meisten in 
die Augen fallenden Erscheinungen der Skoliose: die Verkürzung 
der Wirbelsäule, die seitliche Verschiebung des Rumpfes, die 
Verdrehung des Rumpfes gegenüber dem Becken und den Rippen¬ 
buckel corrigiren. 

Zweifellos bedeutete die Detorsionsbehandlung einen wesent¬ 
lichen Fortschritt den Resultaten gegenüber, die wir bis dahin 
erreichen konnten. Sie war aber nichts Vollkommenes und konnte 
es nicht sein, weil sie, wie wir jetzt wissen, eine wesentliche 
pathologische Veränderung der skoliotischen Wirbelsäule gar 
nicht beachtete, nämlich die von Albert sog. Reclination 
der Wirbelsäule. Wir sind auf diese Reclination erst in den 
letzten Jahren aufmerksam geworden. Ich habe wohl zuerst die 
pathologisch-anatomische Unterlage dieser Reclination genau fest¬ 
gelegt. Sie besteht in dem Hereinziehen des vorderen Endes 
der concavseitigen Bogenwurzel in die obere Fläche des Wirbel¬ 
körpers und wird dadurch bedingt, dass beim Entstehen der 
Skoliose die einzelnen Wirbel ihre gegenseitige Lage zu einander 
im Sinne einer Drehung um eine diagonale Achse verändern. 
Sie ist also eine Torsionserscheinung und charakterisirt 
sich durch den Verlust der physiologischen, antero- 
posterioren Krümmungen der Wirbelsäule. Dieses Ver- 
lorcngehen der physiologischen Kyphose des Brusttheiles und 
der Lordose des Lendentheiles ist an jeder ausgeprägten Skoliose 


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No. 4. 


BERLINER KL1NISCI1E WOCHENSUI!HIFT. 


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deutlich nachweisbar; namentlich beim Anschauen der skolioti- 
schen Wirbelsäule im Profil erkennt man, wie die Dornfortsätze 
oft nahezu in einer Ebene liegen. Sehr deutlich prägt sich die 
Krcheinung in den Messbildern nach Zander und^ Schult- 
liess aus. 

Auf diesen, wenn ich so sagen darf, integrirenden Bestand¬ 
teil der Skoliose haben wir nun bei unserer bisherigen Behand- 
lungsweise eigentlich gar keine Rücksicht genommen und das 
musste unsere Erfolge ungUnstig beeinflussen. Die Annahme ist 
doch nicht von der Hand zu weisen, dass wir bei der Skoliose 
eben so gute Resultate erzielen mussten, wie z. B. bei einem 
Klumpfuss, wenn es uns nur gelingen würde, eben so wie bei diesem, 
so auch bei der Skoliose die Deformität in ihre einzelnen Com- 
ponenten zu zerlegen und jede dieser einzelnen Componenten für 
sich zu corrigiren. 

ln diesem Sinne müssen sich nun, meiner Ansicht nach, 
unsere weiteren Versuche, eine rationelle Skoliosenbehandlung 
zu entwickeln, weiter bewegen; wir müsseen bestrebt sein, die 
Wirbelsäule gewissennassen zu „deskoliosiren“ und diese deskolio- 
sirte, der pathologischen Haltung der Wirbelsäule entgegengesetzte 
Haltung zu fixiren. Wir müssen, mit anderen Worten, die der Sko¬ 
liose entgegengesetzten statischen Verhältnisse an der Wirbelsäule 
zu erzwingen und zu fixiren suchen, damit dann durch die Bela¬ 
stung der Uberliegenden Wirbelabschnitte die unterliegenden 
Wirbel sich in einem der Skoliose entgegengesetzten Sinne zu 
entwickeln vermögen. 

Haben wir nun Mittel und Wege, ein solches Spiegelbild 
der skoliotischen Wirbelsäule zu erreichen? Das war die zu 
beantwortende Frage und ich glaube die Antwort mit „Ja“ ge¬ 
ben zu können. Es ist nach meinen und nach den Erfahrungen 
Anderer, von denen ich nur Lorenz nennen will, möglich, bei 
nicht zu hochgradigen Skoliosen eine völlige Umkrümmung der 
Wirbelsäule zu erzielen und das Mittel, diese Umkrümmung zu 
erhalten, ist die Gymnastik und das modellirende Redres¬ 
sement, welches die Mobilisation der skoliotischen 
Wirbelsäule erstrebt. 

Die moderne Skoliosenbehandlung hat es sehr richtig als 
das Erste und Wichtigste des ganzen Behandlungsplanes festge¬ 
stellt, die ja gewissermassen ein System pseudoankylotischer 
Gelenke darstellende skoliotische Wirbelsäule wieder be¬ 
weglich zu machen. Wirerstreben zurZeit mit allen Mitteln 
bei unseren Patienten zunächst eineMobilisirung der Wirbel¬ 
säule auf passivem Wege, durch Zuhülfenahme verschie¬ 
dener Apparate. Zu diesen Apparaten gehört der Lorenz- 
sche Wolm, die Redressionsapparate von Beely, von mir 
selbst, von Schede, Hübscher, Zander, Fischer, die alle 
im Grossen und Ganzen denselben Zweck verfolgen: die an der 
concaven Seite der verkrümmenden Wirbelsäule geschrumpften 
Bänder und Muskeln zu dehnen. 

Ist einmal die Wirbelsäule etwas nachgiebiger geworden, 
so unterstützt man die Apparatenbehandlung zweckmässig noch 
durch eine manuelle Redression, indem man mit der Kraft 
seiner Hände die Umkrümmung der Wirbelsäule zu erreichen 
trachtet. 

Der Endzweck des passiven Redressements ist der, 
die Wirbelsäule so beweglich zu machen, dass es die 
Patienten allmählich lernen, ihre Skoliose selbst activ 
umzukrümmen. 

Die Ermöglichung einer solchen Selbstredression muss 
vom Anfang der Behandlung an als das erstrebenswerthe Ziel 
im Auge behalten werden und darum muss die Selbstredression 
von allem Anfang an systematisch geübt werden. Es ist nim 
gar keine leichte Aufgabe, dieses Ziel zu erreichen. 

Zunächst haben die Patienten die Selbstredression des Lenden- 


.segments zu erlernen, dann üben sie die Redressinon des Brust¬ 
segments und schliesslich üben sie beide gleichzeitig. 

Die active Umkrümmung des Lendensegments erfolgt — 
eine gewöhnliche habituelle Skoliose vorausgesetzt — durch 
gegenständige Beckensenkung unter gleichzeitiger Anspannung 
der convexseitigen Lumbalmuskeln. 

Die active Umkrümmung des Dorsalsegmcnts bereitet schon 
grössere Schwierigkeiten. Dieselbe erfolgt durch Verschiebung 
des Oberkörpers auf dem Becken nach links bei kräftiger An¬ 
spannung der rechtsseitigen Rücken- und Rumpf-Schultergttrtel- 
muskulatur, während beide Hände auf dem Kopfe gefaltet 
werden. 

Die gleichzeitige Streckung beider Segmente sucht die sko¬ 
liotische Verkrümmung in ihr Gegentheil zu verwandeln und setzt 
schon grosse Uebung bei beträchtlicher Beweglichkeit der Wirbel¬ 
säule und entsprechender Muskelkraft voran. Die Patientin stellt 
— wieder eine habituelle, rechts convexe Brust- und links con¬ 
vexe Lendenskoliose angenommen — ihr rechtes Bein etwas 
abducirt und nach vom, während das linke Bein fest durchge- 
drückt wird; die linke Hand liegt auf dem Kopfe, der linke 
Ellenbogen wird möglichst nach links oben in die Höhe gedrückt, 
die rechte Hand umfasst die rechte obere Brustseite mit 4 Finger 
nach vorn und dem Daumen nach hinten und sucht unter kräf¬ 
tigem Druck, namentlich mit dem Daumen, den Rippenbuckel 
einzudrücken. Ist diese Haltung eingenommen, so wird nun nach 
Commandu das rechte Bein im Keilgelenk kräftig gebeugt — 
dadurch senkt sich das Becken auf der rechten Seite und dem¬ 
entsprechend krümmt sich die Lendenwirbelsäule nach rechts 
um — gleichzeitig aber schiebt das Kind seinen Oberkörper nach 
links, drückt den Ellenbogen möglichst nach oben links in die 
Höhe, drückt mit der rechten Hand fest nach links hin und 
dreht gleichzeitig die rechte Brustseite möglichst weit nach vorn, 
während das Becken unverrückt gehalten wird. Der Arzt selbst 
hilft anfangs in der Weise nach, dass er sich hinter das Kind 
stellt, mit seiner linken Hand das Becken nach rechts, mit seiner 
rechten Hand aber den Rumpf nach links schiebt 

Wie schon gesagt, ist die Selbstredression der Leu den Wirbel¬ 
säule leichter zu erreichen, als die der Brustwirbelsäule. Letztere 
ist aber die wichtigere, denn zu einer antistatischen Behandlung 
genügt die Redression der Lendenwirbelsäule nicht. Es ist eine 
weitverbreitete, aber falsche Annahme, dass eine Umkrümmung 
der Lendenwirbelsäule auch einen Einfluss auf die Brustkrümmung 
haben müsse. Dies ist nur dann der Fall, wenn auch die Brust¬ 
wirbel völlig mobil geworden sind. Sind sie noch starr gegen 
einander fixirt, so hat eine Veränderung der Beckenstellung und 
damit der Lendenwirbelsäule gar keinen oder gar einen schäd¬ 
lichen Einfluss auf die Verbildung der Brustwirbel. 

Haben wir nun durch oft Monate lang fortgesetzte Hebun¬ 
gen die Möglichkeit einer völligen Uebercorrectur der skolioti¬ 
schen Wirbelsäule erreicht, so halte ich nun den Zeitpunkt fUr 
gekommen, die Wirbelsäule für längere Zeit in der Ubercorri- 
girten Stellung durch einen Gypsverband zu fixiren und so den 
Wirbeln zu ermöglichen, die durch die Skoliose gesetzten patho¬ 
logischen Veränderungen wieder auszugleicheu. 

Ich erstrebe also durch die Gymnastik zuerst eine Mobili- 
sirung der Wirbelsäule, dann die Möglichkeit einer activen Um- 
krümmung derselben und fixire dann die Ubercorrigirte Haltung 
im Gypsverband. 

Das Eingypsen selbst geschieht in folgender Weise: Ich 
stelle die Kinder in meinen Detorsionsrahmen. Das Kind giebt 
sich nun selbst durch eigene, durch Selbstredression die seiner 
habituellen, skoliotischen Haltung entgegengesetzte Stellung. 
Nehmen w'ir eine gewöhnliche rechtsconvexe Brust- und links¬ 
convexe Lendenskoliose an, so stellt das Kind das rechte Bein 


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25. Januar 1897 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


etwa einen Fuss weit in Abduction und gleichzeitig vor den an¬ 
deren Kuss. Beugt es nun sein rechtes Knie, so senkt sich 
naturgemä88 dasBecken auf der rechten Seite und damit erfolgt 
die UmkrUramung der Lendenwirbelsäule, so dass sie statt nach 
links sich jetzt nach rechts convex umbiegt. Da aber das Hüft¬ 
gelenk in Folge des Vorstellens des Fusses gleichzeitig auch 
gebeugt wird, entwickelt sich gleichzeitig auch eine Lordose 
der Lendenwirbelsäule, die wir ja nach Kräften erstreben müssen. 
Mittelst eines BindenzUgels, der sich an den Detorsionsrahmen 
leicht anlegen lässt, kann man die gesenkte und die mehr nach 
vorn gesenkte Haltung des Beckens leicht unterstützen. Das 
Becken in einer Gabel zu fixiren, halte ich für unvorteilhaft, da 
die Gabel beim Eingvpsen hindert. Die Hände eines Assistenten 
sind besser; sie halten das Becken gleichzeitig so fest, dass sich 
die rechte Beckenseite nicht nach vorn drehen kann. Das Kind 
legt nun seine Hände auf den Kopf, krümmt nach Möglichkeit 
seine Brustskoliose um und wird in diesen Ausgleichsbestrebungen 
durch einen zweiten Bindenzügel unterstützt, der, mit Vermeidung 
jeglichen Druckes auf die Seitenfläche des Thorax, den Rumpf 
nach links herüberzieht und ihn gleichzeitig in Detorsion hiu- 
e in dreht. 

In dieser Stellung wird nun ein Gypsverband angelegt, der 
von den Achseln herab den ganzen Rumpf, das Becken 
und den rechtenOberschenkel bis zu dem rechten Knie umfasst. 
Der Gypsverband wird einfach Uber Tricot angelegt und dem 
Becken gut anmodellirt. 

Um eine gehörige Beckensenkung zu erzielen, kann man 
wohl auch unter den linken Fuss noch einige Bretter legen, um 
ihn noch etwas zu erhöhen. 

Die Miteingypsung des Oberschenkels halte ich für sehr 
wichtig. Man könnte ja einfach am linken Bein eine hohe Sohle 
tragen lassen, dann würde sich das Becken auch nach der 
rechten Seite senken müssen und dann brauchte man in den 
Gypsverband nur das Becken miteinzuschliessen, nicht aber den 
Oberschenkel. Das ist aber nicht richtig. Durch eine einfache 
Sohle erhält man nur die Beckensenkung, nicht aber die Lor¬ 
dose der Lendenwirbel. Nun wollen wir ja aber doch gerade 
eine solche Lordose künstlich herbeifuhren, da ja der skoliotische 
Process die physiologische Lordose zum Verschwinden bringt 
und deshalb halte ich das Miteingypsen des flektirten Ober 
Schenkels für absolut nothwendig. 

Beim Eingypsen verzichte ich auf jede Extension vom Kopfe 
aus. Dieselbe ist unnöthig, da die Wirbelsäule nichts von ihrer 
normalen Länge einbüsst, sobald das Kind dieselbe einmal in 
Selbstredression zu halten gelernt hat. 

Die ganze Procedur ist einfach auszufUhren: und die 
Kinder lernen es recht bald, sich den veränderten statischen 
Verhältnissen anzupassen und sie gehen schliesslich ganz bequem 
in dem Verband umher. 

In dem Verband macht das Kind nun weiter Strecklibungen, 
auf die ich auch viel Werth lege. Zu dem Zweck stemmt es 
beide Hände in die Hüftgegend und streckt nun, zunächst auf 
Commando, seinen Rumpf möglichst aus dem Verband heraus. 
Wenn mann es nicht gesehen hat, so glaubt man es gar nicht, 
welche Fertigkeit die Kinder in diesen Streckungen erreichen. 
Die Uebungen haben den Zweck, die durch die vorhergegangene, 
vorbereitende Gymnastik ganz ausserordentlich gekräftigten Mus¬ 
keln auch kräftig zu erhalten. 

Ich kann versichern, dass bei diesem Vorgehen von einer 
irgend wie erheblichen Muskelatrophie unter dem Verbände nicht 
die Rede ist. 

Der Verband bleibt je nach der Schwere des Falles 2—4 
Monate am Körper. Ich empfehle aber nicht, den ersten Ver¬ 
band gleich so lange liegen zu lassen. Es ist besser, den ersten 


<>7 


Verband nach etwa 14 Tagen zu wechseln und nachzusehen, ob 
die Correctur auch eine wirkliche gewesen ist, um eventuell 
beim zweiten Verband noch etwas nachzuhelfen. 

Ich möchte nochmals dringend davor warnen, solche Gyps- 
verbände sogleich zu machen, wenn die Kinder zur Behandlung 
zugeftihrt werden. Redressireude Verbände an der nicht mobili- 
sirten Wirbelsäule anzulegen, ist absolut verkehrt und unnütz. 
Die Verbände haben erst einen Nutzen, wenn die Wirbelsäule 
wirklich umgekrümmt werden kann. Dann aber ist ihre Wir¬ 
kung auch eine ganz augenscheinliche, wirklich nutzbringende. 

Hat der Verband eine längere Zeit gelegen und man nimmt 
ihn dann ab, so halten sich die Kinder unwillkürlich noch eine 
längere Zeit, 8—1Ü Tage lang in ihrer, wenn ich so sagen darf, 
deskoliosirten Haltung und diese Zeit benutze ich, um ihnen ein 
Stützcorsett nach Hessing’schem Modell machen zu lassen, wie 
ich es in meinem Lehrbuche der orthopädischen Chirurgie be¬ 
schrieben habe. 

Ich habe dann selbst bei schweren Fällen eine tadellose 
Haltung des Oberkörpers erreicht; die Wirbelsäule ist wieder 
nahezu gerade geworden und selbst am Rippenbuckel lässt sich 
eine deutliche Besserung nachweisen. Nicht nur ich bin dann 
mit dem Resultate zufrieden, sondern vor allen Dingen auch die 
Eltern meiner Patienten. 

Selbstverständlich sind nur solche Skoliosen erfolgreich zu 
behandeln, bei denen noch eine Mobilisation der Wirbelsäule 
möglich ist. Skoliosen, bei denen die Wirbel schon untereinander 
verwachsen sind, sind der Behandlung nicht mehr zugänglich. 
Auch das ist wieder eine Mahnung, die Behandlung so früh als 
möglich und gleich mit aller Energie in Angriff zu nehmen und 
nicht darauf zu warten, dass sich „die leichte Verkrümmung 
schon wieder von selbst verwachsen wird“. 

Mit dem Anlegen des Corsetts ist nun aber die Behandlung 
noch nicht abgeschlossen; die Rückeumusculatur muss nun noch 
weiter geübt werden, um den Rumpf auch wirklich aufrecht 
tragen zu können und das geschieht durch nun wieder weiter 
fortgesetzte tägliche gymnastische Uebungen und tägliche Massage 
des Rückens. Auch der psychische Einfluss des behandelnden 
Arztes spielt dann eine grosse Rolle. Man muss den Ehrgeiz 
der Kinder erwecken und die gymnastischen Uebungen mit aller 
.Sorgfalt überwachen. 

Das will ich zum Schluss noch ganz besonders hervorhebeu, 
denn da wird unglaublich gesündigt, indem man vielfach aus 
angeblichen Schicklichkeitsrücksichten die Kinder die Selbstre- 
dressionsübungen angekleidet machen lässt. Dann können sie 
gerade so gut auch unterbleiben. Die Vorderseite des Körpers 
wird durch einen Umhang geschützt, der Rücken des übenden 
Kindes muss aber völlig unbekleidet sein; das übende 
Kind muss vor dem Arzte stehen und dieser hat mit aller Sorg¬ 
falt darauf zu achten, dass die Uebungen auch richtig ausge- 
fUhrt werden. 

Gute Erfolge werden deshalb auch nur die Aerzte erzielen, 
die sich eine unendliche Mühe und Geduld nicht verdriessen 
lassen. Die Skoliose lässt sich daher auch einfach ambulant mit 
dem besten Willen nicht heilen. Skoliotische Kinder gehören in 
gut geleitete orthopädische Anstalten, in denen sie ständig unter 
Aufsicht sind und in denen sich Ihnen ein gut eingeschultes 
ärztliches Hülfspersonal Monate lang mit aller erdenklichen 
Mühe widmet. 


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No. 4. 


6H ___ _B ER M NJCIMv LINISC1 

II. Magenkrebs mit ungewöhnlicher secundärer 
Ausbreitung insbesondere im Darmcanal, Re- 
currenslämung und Bemerkung über künst¬ 
liche Beleuchtung. 

(Demonstration in der Sitzung der Berliner medicinischen Gesellschaft am 
16. December 18!»6.) 

Voa 

Prof. Dr. 0. Israel. 

Bei einer Leichenöffnung, die ich gestern vor der II. medi- 
cinischen Klinik auszufllhren hatte, ergaben sich Befunde, welche 
in der Casuistik des Carcinoms zu den grossen Seltenheiten 
gehören. Sie stammen von einem 57jährigen Manne, der se.t 
1 \ Jahren an einem Magenkrebs behandelt wurde. 

Schon die Verhältnisse des Primärherdes sind sehr unge¬ 
wöhnliche. Der Magen war, bei mässiger ( ontraction der am 
Fundus und im Pylorustheile erhaltenen Wandpartien, nicht 
grösser als eine kleine Faust, in Folge einer enormen Verkürzung 
der kleinen Curvatur; von dieser ausgehend, umfasste ein tief¬ 
greifendes gangränöses Geschwür den grössten Theil der Circum- 
ferenz. Die Zerstörung beginnt etwa 3 cm vom Pylorus und 
erstreckt sich dann in continuo bis in den Oesophagus, von der 
Cardia ist nichts mehr erhalten (siehe Fig. 1 K). An der Se- 
rosa des Magens sind tiefe narbige Einziehungen vorhanden, die 
mit der Neubildung in den übrigen »Schichten Zusammenhängen. 

Die Ulceration hat den unteren Theil des Oesophagus ganz 
zerstört; brandige Reste des umgebenden Gewebes, im Wesent¬ 
lichen aus vergrösserten Lymphdrüsen und Muskulatur bestehend, 
bilden den Grund des unregelmässig zackig begrenzten, buchtigen 
Geschwürs, das sich nach oben bis etwa 2 cm unterhalb der Kreu¬ 
zungsstelle mit dem Bronchus erstreckt. Wenn auch bei der 
vorgeschrittenen Schrumpfung die Magenaflection von vornherein 
als eine alte Veränderung erscheint, so ist doch ohne mikro¬ 
skopische Untersuchung nicht zu unterscheiden, ob sie oder die 
Veränderung der Speiseröhre dem Primärsitze der Neubildung 
entspricht, zumal vereinzelte flache Knoten in der Umgebung des 
Magengeschwürs zweifellos secundäre Disseminationen sind. Ebenso, 
wie sie, könnte auch der Hauptherd des Magens eine secundäre 
Bildung sein. Die mikroskopische Untersuchung hat jedoch 
gegen den Oesophagus, zu Gunsten des Magens entschieden. 

Was dem Falle nun seinen ganz ungewöhnlichen Charakter 
aufprägt, das ist die Verkeilung der Metastasen im übrigen 
Körper. Da ich nur die betroffenen Organe habe herbringen 
lassen, so wird es Ihnen schon von Weitem auffallen, dass Leber, 
Lungen, Milz, die gewöhnlichen Sitze der Metastasen, fehlen, 
selbst die rechte Niere, die ich Ihnen hier vorlege, ist eigent¬ 
lich per nefas hier, denn die zwei metastatischen Knoten von 
der Grösse starker Kirschkerne, welche sich im Hilus finden, 
sind wohl von kleinen Lymphdrüsen ausgegangen, das Nieren¬ 
gewebe selbst ist beiderseits frei. 

Dagegen sind secundäre Geschwülste und krebsige Geschwüre 
an vielen anderen Stellen aufgefunden. Zunächst sind die regio¬ 
nären Lymphknoten, die retrogastrischen und mediasti- 
nalen betroffen: die letzteren, wie die Bronchialdrüsen stellenweis 
durch Kohle gefärbt, sind wie die erwähnten anderen Drüsen mit 
festen gelbweissen Krebsknoten dicht und unregelmässig durchsetzt, 
auch die tiefen retroperitonealen Drüsen zeigen kleine Krebs¬ 
herde. Betroffen sind ferner beide Nebennieren, deren Mark¬ 
substanz bis zu 4 mm breit von einer weisslichen derben Neubil¬ 
dung zusammenhängend durchwachsen ist. Die rechte zeigt eine 
stärkere Entwickelung an einer Stelle, wo sich eine knoten¬ 
förmige Anschwellung, von der Grösse eines Taubeneies, aus 
dem gleichmössig verdickten Organ noch besonders hervorhebt. 


KWOniENSCHlUFT 

Dann weist das Pankreas in seinem Schwanztheil zwei ziemlich 
central gelegene derbe Knoten auf, die, etwa so gross wie kleine 
Haselnüsse, keine ganz scharfe Begrenzung zeigen, vielmehr geht 
das gelappte, ein wenig derbe Gewebe des Organs durch Ver¬ 
mittelung einer schmalen Zone fibröser Neubildung allmählich in 
die Geschwulstknoten über. Von entfernteren Theilen sind der 
linke Hoden afficirt, in dem sich mehrere, in einer centralen 
Gruppe angeordnete hanfkom- bis erbsengrosse Knötchen finden 
und beide Tonsillen. Die rechte ist zum grossen Theil von einem 
flachen Geschwür zerstört, mit weissen, wallartig vorspringenden, 
leicht zackigen Rändern, die, von derber Consistenz, ein wenig 
fungös die »Schleimhaut überragen. Links (Fig. 1 T) finden sich 
eine flache wallartige Einfassung der krebsig infiltrirteu Mandel, 


Figur 1. 



V* nat. Grösse. 

T = krebsig inflltrirte linke Tonsille; C = linke Carotis; B = krebsig 
infiltrirte mediastinale Lymphdrtise; A = Aortenbogen; P = Pylorus des 
stark verkleinerten Magens; RVc = centraler; KVp peripherischer Theil 
des 1. N. recurrens Vagi; K = Gangränöser Krebs des Magens und 

Oesophagus. 

(Nach dein frischen Präparat photographirt). 

keine Ulceration, nur einige schleimige gelbliche Pfropfe in den 
noch stellenweise als solche vorhandenen Krypten. Auf dem 
Durchschnitt zeigt sich auch die nächste Nachbarschaft auf 
2—3 mm von einer zusammenhängenden Krebsinfiltration ein¬ 
genommen. 

So ungewöhnlich secundäre Krebse an den aufgeftikrten 
Stellen sind, während sie an den Prädilectionsstellen fehlen, so 
steht doch die Darmveränderung an »Seltsamkeit ihnen mindestens 


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25. Januar 1H97. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


G9 


gleich. Es finden sich nämlich in der Schleimhaut des Jeju¬ 
num, wie im Colon eine grosse Anzahl flacher Krebsknoten und 
Geschwüre. Als die älteren sind wohl diejenigen des oberen 
Jejuualtheiles anzusehen. Die Mehrzahl derselben hängt mit 
flachen weissen, meistens von stark gerötheten Höfen umgebenen 
homogenen oder aus kleinen Knötchen zusammengesetzten derben 
Neubildungen, mit glatter Oberfläche an der Serosa, zusammen. 
Die überwiegende Zahl der Metastasen liegt an dem Ansatz des 
Mesenteriums oder in der Nähe desselben. Jedoch finden sich 
auch solche an der Gegenseite; eine bestimmte Beziehung dieser 
letzteren zu den lymphadenoiden Einrichtungen ist nicht nachzu. 
weisen. Dennoch lässt sich eine gewisse Aehnlichkeit mit 
Typhusgeschwüren nicht bestreiten, bei einigen findet sich 
sogar noch ein dünner feuchter Schorf, der von wallartigen opak- 
weissen, bisweilen auch stark gerötheten Rändern umgeben ist- 
Kleinere flache Herde ohne Geschwürsbildung zeigen nur eine 
centrale Delle mit gelblichem Grunde. 

Die kleinsten Neubildungen, welche die Grösse einer Erbse 
kaum erreichen, liegen in der Submucosa und in den tieferen 
Theilen der Schleimhaut, die über ihnen noch erhalten ist, die 
grösseren Herde jedoch durchsetzen die ganze Darmwand. Das 
lleum ist so gut wie ganz frei; erst im Dickdarm, hart an der 
lleocoecalklappe beginnt wieder die Neubildung, welche ring¬ 
förmig, vollständig in Ulceration übergegangen, die ganze Darra- 
wand umfasst und eine mässige Verengerung des Lumens her- 
beigeführt hat. Eine ebensolche Stenose findet sich etwas weiter 
abwärts im Colon ascendeus, derart, dass das Coecum blindsack¬ 
artig von der Darmlichtung abgeschnitten erscheint. Zahlreiche 
Geschwüre von der gleichen Beschaffenheit, wie die des Dünn¬ 
darmes, und jedenfalls jüngeren Datums als die im Colon ascen- 
dens, sind durch den ganzen Dickdarm zerstreut, die Flexura 
sigmoides und das Rectum sind nicht frei davon. Die tiefste 
Metastase sitzt 2 cm Uber dem Anus (Fig. 2 c). Die Mastdarm¬ 
herde zeigten an den prominenten Geschwürsrändern sehr starke 
Gefässfüllung, sie wurden deshalb gleich nach der Sectiou von 
Herrn Dr. Kaiserliug conservirt und haben in dem Glase be¬ 
reits heute Abend ihre definitive Beschaffenheit erlangt. Ihr ur¬ 
sprüngliches Aussehen ist fast unverändert geblieben. 

Die Mesenterialdrüsen sind nur ganz wenig vergrössert, von 
markiger Beschaffenheit; nur vereinzelte, welche die Grösse star¬ 
ker Bohnen nicht überschreiten, lassen auf dem Durchschnitt 
hanfkorngrosse Krebsknoten erkennen. 

Ueberblicken wir die Veränderungen insgesammt, so zeigt 
sich uns beinahe die umgekehrte Welt des Carcinoms. Nach 
einer alten, immer wieder sich bestätigenden Erfahrung treten 
die Metastasen ganz vorzugsweise in Organen auf, in denen 
Primärkrebse recht selten sind, und andererseits sind Metastasen 
gerade in Organen, in denen primäre Krebsbildung zu den 
häufigen Erscheinungen gehört, etwas sehr Ungewöhnliches- 
In dem vorliegenden Falle verhalten sich die Metastasen gerade 
umgekehrt, sie haben vorzugsweise Organe betroffen, Uber deren 
Primärerkrankung wir uns nicht wundem würden, während die 
so zu sagen legitimen Ansiedelungsplätze für Secundärkrebs mit 
Ausnahme der Lymphknoten frei geblieben sind. 

Auch ihre Betheiligung ist keine besonders hervortretende, 
nur möchte ich auf einen speciellen Punkt diejenigen Herren 
aufmerksam machen, welche sich für die Lähmung des N. re¬ 
currens vagi interessiren. Infolge eines Hinweises des Herrn 
Geheimrath Gerhardt, der während des Lebens linksseitige 
Stimmbandlähmung beobachtet hatte, legte ich bei der Section 
beide NN. recurrentes frei, und da zeigte sich auf der linken 
Seite die nicht ganz seltene Ursache dieser Lähmung in be¬ 
sonderer Uebersichtlichkeit; rechts bot sich keine Abweichung. 
Einer der mediastinalen Lymphknoten zur Seite der Trachea, 


Figur 2. 



'/a nat. Grösse. 

Rectum. a= Submucöser bis in die Schleimhaut gewachsener melasta- 
tischer Krebsknoten; b = Beginnende Ulceration einer Schleimhaut¬ 
metastase; c = Metastase mit centraler Delle. 

(Nach dem conservirten Präparat photographirt.) 

dicht an den Bronchialdrüsen, ist durch krebsige Infiltration 
so gross geworden, wie eine Haselnuss (Fig. 1 B). Durch eine 
begrenzte, von ihr ausgegangene derbe krebsige Periadenitis ist 
nun der Nerv zwischen Lymphknoten und Trachea fixirt und an 
einer nicht ganz 1 cm langen Strecke völlig durchwachsen. Der 
centrale Theil (Fig. 1 R V <•) zeigt keine sichtbare Abweichung, 
während das oberhalb des Knotens gelegene peripherische Ende 
(Fig. 1 VRp) deutlich verringerten, abgeplatteten Querschnitt 
aufweist und grau-röthlich durchscheinend ist. An den Muskelu 
des Kehlkopfes war nicht mit Sicherheit eine Abweichung zu 
constatiren. Der linke Posticus schien ein wenig blasser gefärbt 
als der rechte. 

Was die Verbreitungswege betrifft, auf denen die Keime 
ihre ungewöhnliche Vertheilung im Körper erlangt haben, so ist 
sowohl die Lymphbalm als auch das arterielle System anzu¬ 
schuldigen, letzteres bezüglich der ausgebreiteten Ansiedelungen, 
die Lymphbahn nur soweit sie für die Herde in den regionären 
Lymphdrüsen in Betracht kommt. Dabei ist allerdings hervor¬ 
zuheben, dass die Mesenterialdrüsen erst von den Darmherden 
aus inficirt wurden. 

Bei der Eigenheit dieses Falles erscheinen Zweifel an der 
krebsigen Natur der Neubildung trotz mancher charakteristischer 
makroskopischer Merkmale nicht ganz unberechtigt. Insbesondere 
bezüglich der Darmgeschwüre, welche eine gewisse Aehnlichkeit 
mit den an den betroffenen »Stellen gleichfalls sehr seltenen lympho- 
sarkomatösen und leukämischen Neubildungen haben, kann eine Ge¬ 
wissheit nur durch die mikroskopische Untersuchung erlangt werden. 
Die Präparation des frischen Materials ergab nun in den Herden 
sämmtlicher angeführten Organe zweifellos krebsige Structur. 
Ein meistentheils recht derbes Gerüst enthält fast überall reich- 

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No- 4. 


bek UN er k li n is< i i k w< >< *i iens< um ft. 


liehe Zellen, die ihre Descendenz von den Zellen der Magen- 
driisen noch deutlich verrathen. An manchen jüngeren Zelleu- 
zllgen tritt eine Neigung zur Bildung von Hohlräumen hervor, 
indem eine einfache, schlauchförmige Zellenlage auf Querschnitten 
ein rundliches Lumen erkennen lässt; die Alveolen des Krebses 
in den älteren Theilen sind dagegen sämmtlich mit Zellen ganz an- 
geflillt und von wechselnder, meistentheils leicht gestreck'e. 1 Form. 
Im Oesophagus und Magen sind kernlose, käsig und fettig umge¬ 
wandelte Partien häufig, und das Stroma besonders dicht. Die 
Präparate, welche ich zum Belege in der Vorhalle aufgestellt 
habe, sind nach dem Verfahren von Orth mit einer Mischung 
von Formalin und MUllcr’scher Flüssigkeit gehärtet und mit 
Ilämatoxylin-Eosin gefärbt. 

Wegen der Beleuchtung der mikroskopischen Prä¬ 
parate möchte ich mir zum Schluss noch eine technische 
Bemerkung gestatten, die ich hier schon früher einmal 
machte, ohne dass sie bisher Beachtung gefunden hätte. 
Das vortreffliche, dem durchschnittlichen Tageslicht in der 
jetzigen Jahreszeit weit überlegene Licht kommt von der grossen, 
von den Mikroskopen etwa 14 m entfernten elektrischen Bogen¬ 
lampe. Wenn Sie daneben die mit den beiden, der Gesellschaft 
gehörigen, Petroleummikroskopirlampen aufgestellten Präparate 
betrachten, werden Sie den gewaltigen Unterschied erkennen und 
nicht im Zweifel sein, dass die rein weisse, von Interferenzen 
völlig freie Beleuchtung mittels der Bogenlampe jedem anderen 
künstlichen Lichte w'eit vorzuziehen ist. Zudem ist die Zahl 
der gleichzeitig benutzbaren Mikroskope keine beschränkte, ent¬ 
sprechend dem grossen Radius, der von der Lampe, selbst für 
stärkste Vergrösserungen hinreichend, erhellt wird. Bei einem 
Abcndcursus, den ich im Winter 1884,85 gab, reichte eine kleinere 
Bogenlampe fllr mehr als 30 Theilnehmer völlig aus. 


IIL Die Emotionsdyspepsie. 

Von 

0. Bosenbach. 

Wie sehr die heutige Form der Diagnostik, die Methodik 
der vorwiegend analytischen Functionsprüfung des Magens, 
geeignet ist, Zusammengehöriges zu trennen und Getrenntes zu 
einem, oft unharmonischen, Ganzen zu vereinigen, d. h. auf Grund 
unwesentlicher (äusserlicher) Züge ein falsches Bild des Zu¬ 
sammenhanges zu entwerfen, zeigt sich deutlich, wenn man er¬ 
wägt, wie proteusartig sich unter den modernen diagnostischen 
Gesichtspunkten das früher so einfache Bild der Dyspepsie 
gestaltet hat. Mit vollem Rechte sagt Ewald 1 ), dass unsere 
Kenntnisse auf dem Gebiete der functioneilen Erkrankungen des 
Magens resp. der Magenneurosen viel zu sehr descriptiver 
Natur sind, als dass es bis jetzt möglich wäre, in die Ursache 
der Störungen einzudringen. Dass hier keine Uebertreibung vor¬ 
liegt, dass in der Tliat hinter der übermässigen Ausbildung der 
Phänomenologie das wirkliche Verständniss des Wesens der 
Vorgänge zu kurz kommt, bestätigt die Erfahrung. Man wird 
eben nicht gerade selten finden, dass ein als direct pathogno- 
monisch hingestelltes Symptom ganz verschiedene Bedeutung 
hat, und dass dieselbe Functionsanomalie ganz verschiedene 
Symptome bietet. Die tägliche Beobachtung zeigt ferner, dass 
die einzelnen Symptome nicht bloss bei verschiedenen Personen, 
sondern bei demselben, zu Verdauungsstörungen besonders dis- 
ponirten, Individuum variiren 2 ), dass auf dieselbe Einwirkung hin 

1) Klinik der Verdauungskrankbeiten, Tb. II, 3. Aufl., S. 467. 

2) Vergl. 0. Rosenbach, Ueber den Gebrauch und Missbrauch 
von Natr. bicarbonic. Münchener mcd. Wochenschr. 1894, No. 3. 


das eine Mal besonders starke Säurebildung und Sodbrennen, 
das andere Mal abnormer Mangel an Salzsäure mit starker Gas¬ 
absonderung oder Fettsäuregährung auftritt, während ein drittes 
Mal eine reichliche Menge eines wässerigen Secrets abgeschieden 
wird, das man wegen seiner grünlich gelben Farbe häufig fälsch¬ 
lich als Folge einer anastaltischen (antiperistaltischen) Be¬ 
wegung der Galle ansieht. Im vierten Falle endlich findet sich 
vielleicht nur Völle im Epigastrium mit Aufstosscn und Anorexie, 
in einem weiteren Diarrhoe oder Erbrechen; im letzten endlich 
zeigt sich, in Folge von Atonie oder nervöser Hemmung, sogar 
eine deutliche Verlangsamung der Verdauung mit Stagnation des 
Inhalts, plätschernde Geräusche etc., die zur Diagnose der Magen- 
insufticienz oder -Dilatation verleiten. Auf der anderen Seite sieht 
man wieder, dass bei denselben Ursachen oder Zuständen (Anämie. 
Neurasthenie, Diabetes, hamsaure Diathese) UbermäBsige Abschei¬ 
dung von Säure mit Mangel an Säure abwechseln kann u. s. w. 

Wir haben also, wenn man sich nur nach den Symptomen, 
den Resultaten ausserwesentlicher Arbeit, richtet, weil man 
in ihnen fälschlich den eigentlichen Krankheitszustand erblickt, 
scheinbar soviel verschiedene Krankheiten des Magens vor 
uns, als Symptome oder Möglichkeiten veränderter 
äusserer Arbeit vorhanden sind, gerade so, wie in der 
Aera der lleberschätzung der thermometrischen Dia¬ 
gnostik 1 ), die oft nur der wechselnden Temperaturregulation ent¬ 
sprechenden differenten Fiebercurven als starre Fiebertypen 
fixirt und schliesslich als Repräsentanten von Krankheits¬ 
einheiten betrachtet wurden. Ebenso wenig aber, wie wir die 
Fiebercurven als Wesen sui generis ansehen dürfen, können wir 
die einzelnen Symptome gestörter Magenfunction als Krank¬ 
heitswesen betrachten, da doch die Symptome nur das mannigfaltige 
Resultat von Reiz und Erregbarkeit, von Hemmung und 
Erregung repräsentiren, also trotz derselben äusseren Form 
eine ganz verschiedene und bei total verschiedener Form 
dieselbe Bedeutung haben können.') Kurz, kein einzelnes 
Symptom ist absolut pathognomonisch, d. h. erlaubt einen 
directen Schluss auf den wichtigsten Factor der Ener¬ 
getik, die Grösse der Kräfte für Erhaltung des organi¬ 
schen Gleichgewichts, des Organ- und Gewebstonus. 

Die durch unsere Methoden festgestellten Aeusserungen ge¬ 
störter Energetik des Magens (die Functionsanomalieen) sind also 
sehr mannigfaltig, aber ihre Bedeutung ist eigentlich meist gleich ; 
denn das schliessliche Resultat aller Veränderungen ist die 
Dyspepsie, die Unfähigkeit, den complicirten Act der Ver¬ 
dauung in normaler Weise und in vollem Umfange ohne 
Nebenwirkungen zu vollziehen. Ob dieser oder jener Theil der 
Leistungen mehr gestört ist, oder ob eine specielle Form der 
Störungen wegen leich terer Nachweisbarkeit durch unsere 
Methoden mehr in den Vordergrund tritt, ist irrelevant; im 
günstigsten Falle liefert eine solche Feststellung nur das Object 
für eine rein symptomatisch curirende Therapie. Die Er¬ 
fahrung lehrt, dass weder auf dem Gebiete der Verdauungskrank¬ 
heiten noch auf anderen Gebieten die Feststellung einer 
Anomalie in der Function eines Organs (einer Seite der Betriebs¬ 
störung) mit der Erkenntniss des Wesens der Erkrankung identi- 
ficirt werden oder den richtigen Weg zur Therapie weisen kann. Die 
Einheit der Function lässt sich zwar zu didactischen (systema¬ 
tischen) Zwecken in einzelne Aeusserungen zerlegen, aber die 
Beeinflussung dieser einzelnen Aeusserungen darf nicht mit einer 


1) 0. Rosenbach. Ueber Krisen bei acuten Krankheiten. Therap. 
Wochenschr. 1894, No. 1. 

2) 0. Rosenbach, Grundlagen, Aufgaben und Grenzen der The¬ 
rapie; Wien 1891, S. 25 ff., und Die Krankheiten des Herzens und ihre 
Behandlung; Wien 1898,'96, S. 880. 


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25. Januar 1H97. 


BEU LI NEU KLINI SCH E WOCII EN «CH 1U FT. 


71 


Ilegulirung der Function identificirt werden, so wenig wie 
die Beseitigung der Wärmestrahlung gleichzusetzen ist der Re¬ 
gulirung des Feuers. Wenn es durch therapeutische Eingriffe 
schliesslich auch gelingt, eine solche Anomalie nach Analogie 
des Verfahrens des Vogels Strauss temporär unsichtbar oder so¬ 
gar für den Kranken unmerklich zu machen, so ist damit doch 
nichts Wesentliches geleistet, jedenfalls nicht auf die Dauer ge¬ 
holfen. Es ist vielmehr zu erwarten, dass die Erscheinungen 
nach einer Pause in verdoppeltem Maasse zurllckkehren werden, 
weil wir eben nicht auf den eigentlichen Functionsvorgang durch 
Regulation der fehlerhaften (pathologischen) Reize resp. der indi¬ 
viduellen Erregbarkeit, die die Grundlage aller Reactionsformen 
bildet, Einfluss gewonnen, sondern nur äussere Erscheinungen 
unterdrückt, die äussere Form verändert haben. 

Es ist nichts leichter, als Diarrhoeen mit Opium zu stopfen, 
gewisse Formen des Erbrechens durch mechanische oder medi- 
camentöse Manipulationen zu beeinflussen, einen sauren Magen¬ 
saft für die Zeit der Verdauung in einen alkalischen oder neu¬ 
tralen UberzufUhren, die Milchsäure durch Salzsäure beliebig zu 
ersetzen, einer geringen Peptonisirungsfähigkeit durch Darreichung 
von Peptonen oder Pepsin, oder einer geringen Wirksamkeit 
des Speichels allenfalls durch Ptyalin oder andere Proceduren, 
die die Speichelsecretion steigern, zu Hülfe zu kommen, und 
doch werden die mechanischen und chemischen, sensiblen und 
motorischen Störungen der Verdauung fortbestelien, wo die ge¬ 
schilderten Anomalieen nicht das Leiden selbst, sondern nur der 
äussere Ausdruck einer gewissen Störung des Processes der 
inneren (wesentlichen) Gewebs- oder tonischen Arbeit an den 
Verdauungsorganen ist, deren letzte Ursache oft nicht einmal in 
den genannten Organen selbst sondern ausserhalb (im inter¬ 
organischen Verkehr) liegt. 

Deshalb ist es von besonderer Wichtigkeit, den wirklichen 
(primären) ätiologischen Momenten nachzusptlren und, falls 
der Nachweis gelingt, dass ein bestimmter Factor an der Ent¬ 
stehung der Störungen ausschliesslich oder vorwiegend betheiligt 
ist, den Versuch zu machen, die Symptome, mögen sie auch noch 
so wechselnd sein, auf diese einheitliche Ursache zu beziehen 
und demgemäss therapeutisch zu beeinflussen. Kurz, man 
wird so nicht nur wichtige diagnostische Handhaben gewinnen, 
sondern auch in den Stand gesetzt werden, den Hebel propliy- 
lactischer und therapeutischer Maassnahmen an richtiger 
Stelle anzusetzen. 

Eine der interessantesten und häufigsten Formen von Er¬ 
krankungen des Verdauuugsapparates ist nun erfahrungsgemäss 
auf die Einwirkung psychischer Erregungen im weitesten 
Sinne zurückzuführen. Dies ist auch der Fall, wenn sich die 
Patienten nicht immer dieses Einflusses erinnern, den sie nur 
bei besonders plötzlichen Einwirkungen erkennen und dann aller¬ 
dings manchmal überschätzen, indem sie ein auffallendes Ereig¬ 
niss, das zu den Erscheinungen nur in einem zeitlichen 
Verhältnisse steht oder den letzten Anstoss zum wahrnehm¬ 
baren Umschwünge gegeben hat, als Ursache von Veränderungen 
betrachten, die sich schon lange unmerkbar vorbereitet haben. 

Das uns hier beschäftigende Krankheitsbild ist für den, der 
auf diese Ursache einmal geachtet hat, stets ziemlich prägnant, 
auch wenn die Erkrankung bereits vor längerer Zeit begonnen 
hat. Selbst wenn der Beginn um Monate, ja um Jahre 
zurückliegt, wenn sich seit der schädlichen Einwirkung die Züge 
deä Bildes — mag es sich nun um subjective Angaben des 
Kranken oder um objektive Erscheinungen handeln — verwischt 
haben, so lässt sich für den Erfahrenen fast immer noch aus 
gewissen, aus dem späteren Chaos der Symptome wie Mark¬ 
steine hervorragenden, constanten Veränderungen ein sicherer 
Schluss auf die ehemalige Ursache ziehen. 


Ein wesentlicher Theil der Fälle hat überhaupt ganz 
uniforme und characteristische Symptome, die für den 
Kundigen sofort Anhaltspunkte für die Erkennung ergeben; bei 
einem kleineren Tlieile werden durch äussere Umstände, die 
Lebensweise, die Verschiedenheit der ärztlichen Behandlung, 
vor allem aber durch die Individualität des Kranken, die 
Erscheinungen wesentlich modificirt und namentlich die späteren 
Aeusserungen der Erkrankung weitaus mannigfaltiger. 

Solche Folgezustände einer Emotion können als nervöse 
Dyspepsie ohne jeden Verdauungsbefund, als Neurasthenia 
dyspeptica nach Ewald 1 ), als temporärelnsufficienz(Rosenbach), 
als Dilatation, als nervöse Kolik, als saure Dyspepsie, als galliges 
Erbrechen, als Darmatonie gedeutet werden, je nach der dia¬ 
gnostischen Auffassung resp. einem hervorstechenden zufälligen, 
aber nicht charakteristischen (wesentlichen), Befunde. Die 
Erscheinungen werden noch mannigfaltiger durch die Kuren, 
denen die Patienten auf Grund dieser Diagnose unterworfen 
werden, da ja diese, nicht die Wurzel des Uebels treffenden 
und nicht immer indifferenten Einwirkungen, sich bei der 
ohnehin abnormen Richtung des Betriebes wieder ganz ver¬ 
schiedenartig in den einzelnen Aeusserungen der Verdauungs¬ 
störung reflectiren, d. h. dem Bilde neue Züge hinzufügen können. 

Allen diesen proteusartigen Zuständen ist schliesslich ge¬ 
meinsam nur der Umstand, dass die Patienten vor Beginn ihrer 
Erkrankung unter der Einwirkung einer länger dauernden 
Gemüthsaufregung oder einer heftigen acuten Emotion 
gestanden haben, wobei wir gleich bemerken wollen, dass die 
auf das letzterwähnte Moment zurückführenden Störungen der 
Erkennung und Behandlung viel besser zugänglich sind, als die 
der ersterwähnten Art, weil die sich chronisch (unmerklich) 
entwickelnde Erkrankung wegen der dunkleren, weniger aus¬ 
gesprochenen, Symptome gewöhnlich von vom herein Object 
zahlreicher und sich gewöhnlich widersprechender diagnostischer 
Deutungen und therapeutischer Einwirkungen wird. 

Es giebt aber kaum eine Gruppe von Erkrankungen, auf 
die das vielcitirte Wort von dem Weh und Ach, das aus einem 
Punkte zu kuriren ist, besser passt als auf diese Gruppe. Des¬ 
halb verlohnt es sich wohl, — schon mit Rücksicht auf die 
günstigen therapeutischen Aussichten, die um so günstiger sind, 
je weniger der Kranke bereits zum Subjecte (Reproducenten) 
verschiedener fremder Meinungen und zum Objecte 
eingreifender und widersprechender Behandlungs¬ 
arten geworden ist, — dieser Erkrankungsform eine besondere 
Berücksichtigung angedeihen zu lassen; denn sie ist für den 
psychologisch geschulten Arzt diagnostisch interessant 
und für den Arzt, der heilen will, praktisch bedeutungs¬ 
voll. Auf keinem Gebiet haben wir so häufig erfahren, dass 
der einzelne Fall zu den verschiedenartigsten und — wenn man 
die heutige symptomatische und functionsspaltende Rich¬ 
tung der Diagnostik berücksichtigt— eigentlich gleich¬ 
berechtigten Diagnosen Veranlassung gab. Wir sagen berechtigt, 
weil der einzelneArzt eben, nach Maassgabe der von ihm bevor¬ 
zugten Form der specialistischen Untersuchung und der zur 
Zeit geltenden diagnostischen Schlagworte, zu einer vollkom¬ 
menanderen systematischen Auffassung des Befundes gelangen muss. 
Es werden ja heut allbekannte Symptomencomplexe nur durch Her¬ 
vorhebung eines neuen Gesichtspunktes oder durch Anwendung 
einer neuen Methode, die eine Aeusseruug der Function in 
ein besonderes Licht rückt, also gleichsam nur durch Verände¬ 
rung der Perspective oder der classificirenden Etikette, zu 
neuen Errungenschaften der wissenschaftlichen Medicin ge¬ 
stempelt. 


1) 1. c. S. 528. 


2 * 


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72 


No. 4. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT 


Man könnte einen Widerspruch darin erblicken, dass in 
der vorstehenden Erörterung das Haschen nach diagnostischen 
Schlagworten getadelt und zugleich ein neuer Begriff, die Emotions¬ 
dyspepsie, geschaffen wird. Jeder, der meine bisherigen Aus¬ 
führungen verfolgt und meine langjährigen Bestrebungen nach — 
man verzeihe den Ausdruck — Verlebendigung der in den 
Fesseln der pathologischen Anatomie erstarrten Dia¬ 
gnostik kennt, wird hier keinen Widerspruch finden; denn ich 
schaffe hier keine neue diagnostische Categorie, sondern betone 
nur die durchaus nicht neue Thatsache, dass der psychische 
Factor bei der Entstehung von Verdauungskrankheiten eine 
grosse Rolle spielt, dass es weniger auf die exakte Methodik 
der Functionsprlifung, als auf das allgemeine Verhalten der 
Kranken und auf Feststellung der Wurzel des Uebels ankommt, 
und dass man mit einer symptomatischen Behandlung auf Grund 
der durch subtile Methoden gewonnenen Einblicke in das Resultat 
der Verdauungsstörungen weniger Nutzen schafft als durch die, das 
Uebel an der Wurzel treffende, allgemeine Auffassung und Be¬ 
handlung. 

Wie man in der praktischen Medicin stets die Extreme liebt, so 
verfällt man auch auf dem Gebiete der Krankeiten der Verdauungs¬ 
organe von einem in das andere. Während man früher nur 
manifeste Veränderungen des Gewebes und der Organ¬ 
formen als exacte diagnostische Kriterien gelten liess, geht 
man jetzt in der Schöpfung neuer functioneller Diagnosen 
schon wieder weit Uber die erlaubte Grenze hinaus, indem man 
jede Function in so viel, angeblich selbständige, Einzelfunctionen 
zerlegt als sie vermöge der Mannigfaltigkeit der Organleistung 
den subtilsten Untersuchungsmethoden anscheinend besondere 
Merkmale bietet. Ich möchte also noch einmal betonen, dass 
ich nicht etwa einen neuen functioneilen Svmptomen- 
complex, eine neue Krankheitsform, schaffen, sondern nur 
einen ätiologischen Gesichtspunkt für eine Mannig¬ 
faltigkeit von (gleichwerthigen, aber nicht immer 
äusserlich gleichen) Erscheinungen geltend machen will. 

Im Allgemeinen entwickelt sich der Symptomencomplex 
folgendermassen: Im Anschlüsse an einen Schreck oder eine der 
Formen heftiger Gemüthsbewegung, wie sie bei unserer, im Kampfe 
ums Dasein hart beanspruchten und besonders erregbaren, 
nervös-anämischen, Generation so häufig sind, stellen sich sofort 
oder in wenigen Tagen neben Erscheinungen allgemeiner Nervo¬ 
sität und Muskelschmerzen im Rücken und Unterleibe Zeichen 
leichter und schwerer Verdauungsstörung ein. Es besteht vor 
Allem ein grosser Widerwillen gegen Speisen, häufig ist auf¬ 
fallende Trockenheit im Munde vorhanden, die mit AnfUllen 
von wesentlicher Vennehrung der Speichelsecretion abwechselt, 
wobei gewöhnlich noch höchst unangenehme Sensationen von 
Zusammenziehung im Halse, Druck im Epigastrium und in 
beiden Hypochondrien bestehen. Sehr gequält wird der Kranke 
von dem Gefühl starker Aufblähung, das bisweilen mit einer 
objectiven Auftreibung des Epigastriums, besonders nach den 
Mahlzeiten, verbunden ist. Dies letztere Symptom ist allerdings 
nur mit Vorsicht zu verwerthen, da die Patienten bei der Unter¬ 
suchung die Magengegend meist willkürlich aufblähen. Häufig 
besteht ein Gefühl von Athemnoth, und der Drang, tief Luft zu 
holen, zwingt die Patienten zu häufigen seufzenden Einathmungen; 
seltener wird Uber Zusammenschnüren hinter dem Brustbein, 
ähnlich dem Globus hystericus, geklagt. 

Viele Patienten, namentlich Frauen, leiden an Aufstossen, 
das oft mit Luftschlucken verbunden ist; viele quält ein bestän¬ 
diger Drang zu Blähungen; doch sind Flatus selten und schaffen 
weniger Erleichterung als Aufstossen. Sehr häufig ist eine grosse 
Unruhe im Leibe, die durch heftige Geräusche sich auch nach 
aussen manifestirt und im Hungerzustande gewöhnlich grösser 


ist, als in der Verdauungsperiode; doch begegnet man häu6g 
auch dem umgekehrten Verhalten, indem sich diese peristaltische 
Unruhe (Kussmaul) erst nach dem Essen einstellt, namentlich 
wenn die Mahlzeit trotz des schon bestehenden Unbehagens einge¬ 
nommen wird. 

Viele Patienten bekommen nach dem Essen eine Steigerung 
der Athemnoth, oft besteht dauernde und beträchtliche, objectiv 
nachweisbare, Auftreibung des oberen Theiles des Abdomens; bei 
manchen stellen sich alsbald nach der Mahlzeit heftige kolik- 
artige Schmerzen, die mit saurem Aufstossen verbunden sind 
und unregelmässige Formen der Diarrhoe ein. In einer Reihe 
von Fällen tritt die Erkrankung überhaupt nur unter dem Bilde 
der nervösen Diarrhoe (Nothnagel) auf, so dass nach jeder 
Nahrungsaufnahme drei bis vier Stuhlgänge erfolgen, die in der 
ersten Zeit der Erkrankung häufig auch während der Nacht die 
Ruhe der Kranken stören. 

Gewöhnlich sind Perioden völliger Appetitlosigkeit mit 
solchen von Heisshunger verbunden. Die Kranken geben an, 
dass sie heftigen Hunger, aber keinen Appetit verspüren; die 
Störungen bleiben aber die gleichen, ob die Kranken mit dem 
Gefühl des Heisshungers oder ohne jedes Bedürfniss Nahrung 
zu sich nehmen. Allerdings folgt auf die Aufnahme von Nahrung 
im Stadium des Heisshungers, Öfter als sonst Magendrücken oder 
Diarrhoe, die mit heftigen Schmerzen verbunden ist. Bei sehr 
vielen Kranken besteht ein auffallender Widerwillen gegen 
Fleisch, namentlich gegen gebratenes; sie bevorzugen dann Obst 
und amylaceenhaltige, einfache, nicht fetthaltige, Substanzen, ohne 
dass doch durch diese Beschränkung der Diät eine wesentliche 
Linderung ihrer Beschwerden herbeigeführt wird. Die meisten 
Kranken haben ein Bedürfniss nach Säure; doch ertragen sie 
sauren Salat absolut nicht, während sie schwache Salzsäure und 
Citronensäure oft ohne Beschwerden, ja mit Nutzen nehmen 
können. 

Es ist hier vielleicht der Ort, einige Bemerkungen über den 
Zusammenhang von Hunger und Appetit anzufügen, da ja 
constitutionell Kranke oder Nervöse sehr häufig die anscheinend 
paradoxe Klage äussem, dass sie zwar Hunger, aber keinen 
Appetit haben. In der That besteht zwischen Hunger und 
Appetit ein wesentlicher Unterschied, der namentlich für die 
Beurtheilung pathologischer Zustände von grosser Bedeutung ist, 
weil es sich bei beiden Aeusserungen um total verschiedene 
Zustände der Energetik (Kraftbilance) handelt. 

Wer wirklich Hunger hat, verarbeitet auch, abgesehen von 
organischen Stenosen, das Aufgenommene trotz aller, mit 
dem Verdauungsacte verknüpften, Unbequemlichkeiten; er verdaut 
und assimilirt; denn ein Organismus hat ein Bedürfniss nach 
Nahrungsaufnahme (nach Kraftmaterialien), wie auch immer 
die specifische Erregbarkeit der Apparate, die die Wahl 
der Nahrung resp. die genauere Bestimmung der Betriebsbedürf¬ 
nisse zu bewirken haben, nämlich der Bahnen der Geschmacks¬ 
nerven oder der (percipirenden) Centralorgane beschaffen sein 
mag. Appetit ist ja nur der Ausdruck einer bestimmten 
Reizung der den Geschmack vermittelnden Nerven, 
also mehr ein Ausdruck der Vorstellung, ein Signal, das 
allerdings ebenso ein wirkliches Bedürfniss des Organs nach 
Energiematerial (und zwar von bestimmter Form), wie eine blosse 
Steigerung der Erregbarkeit (im Nervensystem) für die den 
Betrieb regulirenden Reize repräsentiren kann, wie ja auch Heiss- 
hunger der Ausdruck eines starken Deficite an Material und Zeichen 
einer blossen Hyperästhesie resp. einer nicht durch Nahrungsmangel, 
sondern durch andere Reize bedingten Erregung sein kann. 

Hunger ist aber im Allgemeinen das Zeichen wirklichen 
Bedüfnisses nach Nahrung schlechtweg, und deshalb ist 
er der beste Koch, da eben jede Form des gemischten Nähr- 


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25. Januar 1807. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


73 


materials demselben Zwecke, nämlich der Anbildung des Materials 
zum Ersätze der verbrauchten Vorrüthe, dient; Appetit dagegen 
ist eine Form der Erregung, die nicht bloss oder direkt auf 
Aufnahme von kraftbildendem Material hinzielt, sondern eine 
besondere Form der Kraftsubstrate oder Reize verlangt. So 
kann Jemand noch nach einer vollen Mahlzeit Appetit auf eine 
Cigarre, auf Kaffee etc. haben, nur weil er erhöhter Reize für die Ver¬ 
arbeitung des in grossen Mengen aufgenommenen Materials bedarf. 

Weil also beide Erscheinungen —die Erregung derGeschmacks- 
nerven resp. der Apparate für die Perception der Nahrungs- 
resp. Reizqualitäten und die Reizung der Apparate, die nur den 
Mangel an Vorrätlien (an Quantitäten) schlechtweg signalisiren 
— nicht identisch sind,jedenfalls nicht zusammenzutreffen brauchen, 
so kann Hunger ohne eigentlichen Appetit, d. h. den Wunsch nach 
einer bestimmten Form derNahrung, und umgekehrt Appetit, Bedürf- 
niss nach einem bestimmten Reize, ohne Hunger, d. h. das einen De- 
fect an Energievorräthen für den Betrieb signalisirende (allge¬ 
meine) Geflihl bestehen. Deshalb verlieren so viele Kranke, die auf 
irgend eine bestimmte Substanz, auf bestimmte Reize, Appetit, aber 
keinen eigentlichen Hunger, d. h. kein Nahrungsbedtirfniss, haben, 
dieses Gelüste oft schon im Momente, wo Befriedigung in Aussicht 
gestellt ist, wo die gewünschte Speise auf den Tisch kommt, weil 
hier eben kein organischer Defect an Material, sondern nur eine 
besondere Erregung der Nerven vorliegt, die schon durch blosse 
Befriedigung der Sinne (Sinnesempfindungen) erlöschen kann. 

Damit darf natürlich nicht gesagt sein, dass nicht Hunger und 
Appetit zusammenfallen können oder sollen. Es kann jemand gerade 
das Bedürfnis nach einer bestimmten Zusammensetzung der 
Nahrung haben; es kann sich das absolute, aus der Verarmung 
des Körpers an gewissen Bestandteilen resultirende, Bedürfnis 
(das Hungergefühl), mit der relativen Reizschwelle des Magens 
oder der Geschmacksorgane, die zum Betriebe nur eines be¬ 
stimmten Reizes bedürfen, decken. So z. B. ist der besondere 
Appetit nach saueren oder süssen Sachen, der Widerwillen 
(Mangel an Appetit für Fleisch) durchaus nicht immer gleichzu¬ 
setzen einer blossen Anomalie der Vorstellung oder einem 
blossen Gelüste resp. einem Mangel an Reizen: es decken sich 
einfacher wirklicherHunger ( reelles Bedürfnis nach Nahrung, gleich¬ 
sam nach quantitativer Befriedigung) und Appetit (der Wunsch 
nach einer bestimmten Form der Nahrung resp. der Reize, 
nach qualitativer Befriedigung), weil der Organismus gerade 
nur eines bestimmten Kraft- resp. Reizsubstrats bedarf. 
(Säurebedürfniss der Anämischen, DuretgefÜhl, das nur durch 
reines Wasser gedeckt werden kann, Vorliebe der Diabetiker für 
SUssigkeiten, Bedürfnis der Potatoren nach scharfen Speisen etc.) 

Wenn wir die Begriffe Hunger und Appetit auf die Dampf¬ 
maschine übertragen könnten, so könnte die Abnahme des 
Dampfvorrathes als Grundlage des Hungergefühls, der Beginn 
eines Missverhältnisses zwischen Dampfverbrauch und Vorräthen 
an Wasser oder Kohle als Grundlage des Appetits betrachtet 
werden. Die Feststellung des Bedürfnisses nach den Elementen 
der Kraftbildung, lange bevor die Abnahme der Bildung der 
eigentlichen Arbeitskräfte (des Dampfes) in Aussicht steht, be¬ 
darf natürlich eines besonders feinen Signalapparates; denn es 
soll ja durch Controle der Grundfactoren des Betriebes 
jeder Stockung vorgebeugt werden. So ist es klar, dass die 
Einrichtungen der Organisation, die in der Form der Appetits¬ 
empfindung die feinsten Nuancen des Bedürfnisses nach 
Nahrung, (das in seiner dumpfesten aber intensivsten Form 
Hungerschmerz (Heisshunger) ist), ansdrückeu, d. h. bereits 
auf feinste Schwankungen der einzelnen Factoren der Körper¬ 
ökonomie reagiren sollen, eine besondere Mannigfaltigkeit der 
Erregbarkeit des Geschmacksnervensystems zur Voraussetzung 
haben müssen. 


Die verschiedenen Formen des Appetits sind also bereits 
bestimmte qualitative Aeusserungen der Erregung des Ge¬ 
schmacksapparats durch innere Vorgänge, wie die Farben 
Qualitäten der Erregung des optischen Apparates durch äussere 
Reize sind. Natürlich kann aber der Appetit auch insofern das 
früheste Signal des Hungers bedeuten, als er bei besonderer 
Empfindlichkeit des Nervensystems überaus zeitig anzeigt, 
dass Vorrathsmaterial (potentielle Energie) und Ausgabe an 
parater Energie nicht mehr in richtigem Verhältnisse stehen. 
Doch kann diese Anregung zur Nahrungsaufnahme natürlich 
leicht unterdrückt werden, während das Hungergefühl viel 
schwerer unterdruckbar ist, da es den Mangel an parater 
Energie selbst anzeigt. 

Je grösser nun bei den an Emotionsdyspepsie Leidenden die 
permanente Abstinenz von Nahrung ist, desto besser scheint 
im Allgemeinen in der ersten Zeit nach Angabe der Kranken 
selbst das Befinden; die Beschwerden verringern sich durchweg 
und die Patienten verurtheilen sich deshalb zu strengster Diät. 
Die Thatsache ist richtig, aber die Folgerung falsch; denn es 
stellt sich gewöhnlich bald heraus, dass trotz aller Enthaltsam¬ 
keit schliesslich doch nach einer gewissen Zeit die Beschwerden 
sich wieder steigern, und dass sogar eine Reihe weiterer unan¬ 
genehmer Symptome, die nur von ungenügender Nahrungsauf¬ 
nahme und Beanspruchung der Verdauungsapparate henUhren 
könneu, auftritt. Namentlich die Hyperästhesie der Verdau," 
ungsorgane nimmt rapid zu, wenn der Magen zu sehr geschont 
wird, und schliesslich ertragen die Kranken keine Beanspru¬ 
chung des Verdauungsapparates mehr; sie reagiren auf jede 
Form der Ernährung mit heftigen Beschwerden. Hierin liegt 
nun eine der grössten Gefahren dieser Zustände; denn die Kran¬ 
ken werden schwächer und schwächer, klagen Uber zunehmende 
Luftansammlung, Heisshunger, auffallend süssen oder pappigen 
Gesschmack, Koliken, Eingenommenheit des Kopfes, Schwindel, 
gerathen in eine melancholische Stimmung und magern gewöhn¬ 
lich zusehends ab, was namentlich bei etwas corpulenteren Per¬ 
sonen besondere deutlich ist. Dabei wird auch gewöhnlich bald 
der Urin trübe, hochgestellt, viel dunkler als normal; der Stuhl¬ 
gang wird völlig unregelmässig, es wechseln Perioden von tota¬ 
ler Verstopfung mit Diarrhoe u. s. w. ab, was eine neue Quelle 
der Besorgniss wird. Sehr häufig treten gewöhnlich in diesem 
Stadium, bisweilen schon früher, Erscheinungen am Herzen 
und Gefässapparate auf, Unregelmässigkeit des Pulses, Herz¬ 
klopfen, unangenehme Sensationen in der Herzgegend, Symptome, 
die, von reflectorischer Erregung des Herzens herrührend, den 
Zustand des Kranken ganz unerträglich machen, da sie als der 
Ausdruck einer besondere schweren Erkrankung gelten. 1 ) 

So quälen sich die Kranken zwischen Perioden von Heiss¬ 
hunger und Appetitlosigkeit, Diarrhoe und Verstopfung, Sod¬ 
brennen und Gasauftreibung unter stets wechselnden, fast nie in¬ 
differenten, therapeutischen Massnahmen hin und gerathen zuletzt, 
namentlich wenn sich eben noch unter dem Eintfusse der Un¬ 
regelmässigkeit der Verdauung Herzklopfen und Pulsunregel¬ 
mässigkeit einstellt, in einen Zustand, den man beinahe Cachexie 
nennen könnte weil er sonst nur bei schwerster, organisch 
bedingter Dyspepsie zu Tage tritt. Da sie sehen, dass ihnen 
trotz der ängstlichen Befolgung der peinlichsten Diätvorschriften 
keine Erleichterung wird, verzweifeln sie ganz an der Genesung 
und suchen in der Anwendung der bekannten Magenmittel, unter 
denen das doppeltkohlensaure Natron eine grosse Rolle 2 ) spielt, 

1) Vergl. meine Darstellung der digestiven Reflexneurose in: Die 
Krankheiten des Herzens und ihre Behandlung. Wien 1893/97, 8. 483. 

2) 0. Rosenbach, Ueber den Gebrauch und Missbrauch von Natron 
bicarbonicum. Münchener med. Wochenschrift 1894, No. 8. 

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BERLINER KUX IS< i 1E \Y0< 'II ENS< 'II HI FT. 


No. 4. 


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in dem unsinnigsten Gebrauche der verschiedensten Mineral¬ 
wässer und sonst nützlicher therapeutischer Proceduren Abhilfe, 
die ihnen ja auch seihst unter so erschwerten Umständen manchmal 
zu Theil wird, allerdings nicht gerade durch die angewandten 
Mittel, sondern durch den Umstand, dass sie unter die richtige 
psychische resp. bei ihnen Vertrauen erweckende Behandlung 
kommen, oder dass überhaupt eine wesentliche Aenderung der 
gesummten Lebensverhältnisse eintritt. 

Tn ganz ähnlicher Weise verlaufen die durch chronische 
Einflüsse bedingten Störungen der Verdauung bei Leuten, die 
ihrem Berufe nach beständigen Aufregungen und Aergernissen 
ausgesetzt und in Folge ihrer Lebensweise noch überdies gezwun¬ 
gen sind, die Mahlzeiten sehr unregelmässig zu sich zu nehmen. 

Es mag übrigens noch einmal bemerkt werden, dass sich 
die manifesten Verdauungsstörungen nicht unmittelbar diesen 
Ereignissen anzuschliessen brauchen, sondern dass eine gewisse 
Zeit vergeht, ehe die Functionsstörung merkbar wird resp. ehe 
beträchtliche abnorme Sensationen den Act der Verdauung be¬ 
gleiten. Dies ist namentlich der Fall, wenn das Ereigniss, das 
die Emotion bedingt, den Geist der Patienten eine Zeit lang so 
in Anspruch nimmt, dass gleichsam die Reizschwelle für alle 
Empfindungen beträchtlich steigt. Dann treten die Beschwerden 
erst auf, wenn sich die Aufmerksamkeit wieder dem eigenen 
Körper statt ausschliesslich äusseren Angelegenheiten zu¬ 
wendet. Namentlich nach langwierigen Krankheiten Nahestehen¬ 
der oder nach erschütternden, besonders plötzlichen, Todesfällen 
von Freunden oder Angehöiigen pflegen oft Wochen zu vergehen, 
ehe die Folgen der Emotion für den Patienten als dyspeptische 
Erscheinungen so deutlich bemerkbar werden, dass er sich ge- 
nöthigt sieht, die Hilfe des Arztes in Anspruch zu nehmen. 

Besondere Eigentümlichkeiten bietet der Verlauf bei Pa¬ 
tienten, die bei reichlich gefülltem Magen eine heftige Emotion 
erfahren. Sie zeigen, namentlich wenn sie sofort erbrechen, viel 
geringere Beschwerden als die, die bei leerem Magen betroffen 
werden oder kurz nach der Einwirkung, noch im Stadium gros¬ 
ser Erregung, eine Mahlzeit zu sich nehmen. Mit dieser Mahlzeit 
beginnen häufig erst die hauptsächlichsten Beschwerden, wie sie sonst 
nur mit der Retention von unverdaulichen Speisen im Magen ver¬ 
knüpft sind, und wiederholen sich dann regelmässig im Anschlüsse 
an die Mahlzeiten. Ebenso günstig wie Erbrechen wirkt eine sofortige 
ergiebige Entleerung durch Stuhlgang, d.h. die Störungen ge¬ 
langen überhaupt nur zu geringer Ausbildung, ja häufig bilden sie 
sich überhaupt nicht aus. In diesen Vorgängen kann also eine Form 
der natürlichen Regulation erblickt werden, und es ist des¬ 
halb nicht zwecklos, der Bedeutung der regulatorischen 
(zweckmässigen) Symptome gegenüber den Aeusserungen 
veränderter Organfunction schlechtweg, den blossen 
Reactionen, den Acten rein mechanischer Beantwortung eines 
Auslösungsvorganges, ein Wort zu widmen. 

Regulatorisch sind die Symptome, die nicht eine Schwä¬ 
chung der Function resp. der Leistungen für Kraftent¬ 
wicklung in irgend einer Richtung anzeigen, sondern nur von 
einer anderen Vertheilung der Arbeit resp. der Reize her¬ 
rühren, von einer Veränderung der Arbeitsform, die nur im Sinne 
eines Ausgleichs wirkt, also auch durch therapeutische Eingriffe, 
die, von einer falschen Auffassung der Sachlage ausgehend, den 
natürlichen Ausgleich stören, nur ungünstig beeinflusst werden 
kann. Die nach dauernder Pulsvermehrung auftretende auflal¬ 
lende Bradykardie (z. B. der Reconvalescenten von fieberhaften 
Erkrankungen resp. nach tiefenpsychischen Erregungen), die Arhyth¬ 
mie nach dem Brechacte ist fast durchweg regulatorisch und soll 
darum nicht ohne zureichenden Grund etwa als Herzschwäche 
gedeutet und durch Stimuli reu de Mittel gestört werden. 

Mit Regulation, d. h. der zweckmässigen Form der Function 
resp. der vortheilhaften Beantwortung von Erregungen, ist nicht zu 


verwechseln die Reaction schlechtweg, d. b. die Form der Beant¬ 
wortung von Reizen, deren Zweck nicht ersichtlich, die indifferent 
oder gar schädlich für den Organismus sind; denn die Bedeutung 
der Reaction hängt von diesem Vortheil fllr die Zwecke des 
Organismus und das therapeutische Vorgehen hängt wieder von 
der Sicherheit unseres Urtheils über die Bedeutung einer Reaction 
ab. Reactionsformen (Symptome), die nur anzeigen, dass auf 
einen, für den Betrieb nicht nothwendigen (ausserwesentlichen, 
abnormen) Reiz hin Kräfte verausgabt werden, ohne Gewinn für 
den Betrieb etc. oder nicht zum Zwecke der Vernichtung pathologi¬ 
scher Reize, müssen bekämpft, zweifelhafte Reactionen 
beobachtet resp. expectativ behandelt, regulatorische 
befördert werden. 

Eine der wichtigsten Formen der allgemeinen Regulation 
ist die kritische Reaction, deren Erscheinungen von weniger 
erfahrenen Aerzten öfters mit denen des Collaps verwechselt, 
prognostisch falsch gedeutet und fehlerhafter Weise mit 
Stimulantien bekämpft werden. Regulatorisch und darum 
vortheiIhaft ist z. B. das sofortige Erbrechen bei überfülltem 
Magen oder bei Intoxicationen, nur reactiv und daher nutzlos 
das Erbrechen bei Gehirntumoren, organischen Gehirnleiden: 
zum Theil noch zweifelhaft ist die Natur des Erbrechens bei der 
Seekrankheit und bei manchen Formen der Krise. 1 ) 

In diagnostischer Beziehung ist Folgendes hervorzuheben: 

Die Untersuchung des Mageninhalts ergiebt gewöhnlich 
die verschiedensten Befunde, je nach der Constitution, der 
Stimmung des Patienten oder der Krankheitsperiode, und gerade 
dieser Wechsel der Befunde kann dem Arzte einen Fingerzeig 
für die Diagnose geben, da solche auffallend variablen Er¬ 
scheinungen nicht von organischen Störungen, sondern nur von 
nervösen Einflüssen herrühren können. Vor allem wichtig ist 
aber immer die Anamnese, und die Diagnose ist überhaupt 
leicht, wenn es sich um die Feststellung einer Erkrankung im 
allerersten Stadium handelt, wo, wie wir bereits hervorgehoben 
haben, die Untersuchung des Mageninhalts (unter Berücksich¬ 
tigung der subjectiven Verhältnisse) noch ganz normale Befunde 
ergiebt, weil ja die ersten Störungen nur regulatorischer 
Natur sind oder sich auf die sensible Sphäre beziehen. Hier 
steht das Resultat der objectiven Untersuchung mit der Grösse 
und Menge der subjectiven Klagen der Patienten in grellem 
Contraste, und nur die Unregelmässsigkeit der Erscheinungen, 
die Abwesenheit stärkerer Grade von Gasansammlung und ob- 
jectiver Verdauungsanomalien, die sich nach den Klagen der 
Kranken eigentlich erwarten lassen, der häufige Stuhldrang, das 
ängstliche Aussehen der Patienten, die Furcht vor einer schweren 
Erkrankung geben Fingerzeige für die Diagnose, die zu ihrer 
Fundirung dann allein der Anamnese, nämlich der Feststellung 
bedarf, dass vor Eintritt der Erkrankungen eine zweifellose Emo¬ 
tion stattgefunden hat. 

Bei der Differentialdiagnose kommen vorzugsweise 
folgende Momente in Betracht. Von der constitutioneil bedingten 
Dyspepsie ist der Zustand erstens zu unterscheiden durch die 
Anamnese, die mit Bestimmtheit auf eine Emotion zurückführt, 
zweitens durch den Habitus der Patienten, die fast ausnahmslos 
nicht zur Categorie der Anämischen, Nervösen oder Neurastheni- 
schen gerechnet werden können. Die überwiegende Mehrzahl 
der Fälle unserer Beobachtung betraf robuste und gesunde 
Männer und Frauen, und erst bei längerem Bestehen der Er¬ 
krankung haben wir die Ausbildung von Symptomen der Neur¬ 
asthenie, Anämie und allgemeiner Nervosität (besondere Erreg¬ 
barkeit oder reizbare Schwäche) beobachtet. Drittens kommen 


1) 0. Rosenbach, lieber Krisen- und ihre Behandlung. Therapeut. 
Wochenschrift 1894. No. 1 und Die Krankheiten des Herzens etc. Wien 
1897 und a. a. O. 


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25. Januar 1807. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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in Betracht die subjectiven Symptome: Die Patienten ver¬ 
tragen überhaupt keine normale Mahlzeit, während nervöse 
und neurasthenische ja durchschnittlich einen ganz guten Ap¬ 
petit zeigen, namentlich die Mittags- und Abendmahlzeiten 
meist ohne Beschwerden geniessen, und nur allenfalls ge¬ 
gen ganz bestimmte Substanzen (warmen Braten) eine Anti¬ 
pathie äus8em. Viertens ist von Wichtigkeit die Abwesenheit 
aller bestimmt fixirten Schmerzpunkte an den Wirbeln, am 
Process. xiphoid. etc., die bei Nervösen so häufig und so beständig 
sind; bei der emotionellen Dyspepsie findet man fast ausschliess¬ 
lich nur Klagen über allgemeinen Druck im Abdomen (nament¬ 
lich im Epigastrium), Spannung im Kücken, Neigung zu Blähungen, 
lästiges Aufstossen etc. Auch ergiebt die Untersuchung, dass 
Druck gewöhnlich nirgends besondere schmerzhaft ist; er ist nur 
unangenehm, weil er das unangenehme Gefühl der Völle zu ver¬ 
mehren pflegt. In der Mehrzahl der Fälle pflegt allerdings auch 
das bei Magenkranken so häufige Schmerzgefühl bei Druck unter¬ 
halb des Processus xiphoideus vorhanden zu sein. Dagegen ist, 
wie erwähnt, der Processus xiphoideus selbst und der unterste 
Theil der Rippen nur selten diffus schmerzhaft und zwar ge¬ 
wöhnlich um so schmerzhafter, je stärker die Aufblähung des 
Magens auch objectiv ist. Sehr wichtig ist für die Diagnose 
ferner die schon erwähnte charakteristische Unregelmässig¬ 
keit des Stuhlganges, wobei plötzliche Anfälle von Diarrhoe, 
die meist im Anschlüsse an die Mahlzeit, seltener bei Nacht, auf- 
treten, mit hartnäckiger Verstopfung abwechseln. 

Einen ähnlichen Symptomencomplex, wie heftige Emotion, 
bewirkt nicht gerade selten ein zu kalter Trunk. Am häufig¬ 
sten ist der Genuss von zu kaltem — künstlich abgekühltem 
— Bier oder Selterwasser, das bei erhitztem Körper genossen 
wird, die direkte Krankheitsursache, die die Patienten gewöhnlich 
selbst hervorheben, da sie fast immer sofort nach dem Trinken 
eine unangenehme Empfindung in der Magengegend verspüren, die 
sich in kurzer Zeit zu erheblichen Belästigungen, Diarrhoe, 
Colik, Brechen, Meteorismus, steigert Diese Entstehung chroni¬ 
scher Verdauungsstörungen haben wir in sehr vielen Fällen zu 
beobachten Gelegenheit gehabt und auch hier können wir bei 
rationeller Therapie wesentliche Erfolge erzielen, da es sich ge¬ 
wöhnlich nur um eine functionelle (regulatorische) Störung, um 
eine Art von Kälteshock für das (erhitzte resp. turgescente) Gewebe 
des Magens handelt. Viel seltener ist eine organische Erkran¬ 
kung, ein hartnäckiger Katarrh der Schleimhaut, die Folge 
der Abkühlung; doch haben wir auch solche Fälle gesehen, die 
natürlich im acuten Stadium einer ganz anderen Behandlung 
bedürfen, als die nur rein regulatorische resp. nervöse Sym¬ 
ptome darbietenden Auch sie sind aber nach Verschwinden der 
acuten Erscheinungen, trotz des Zurückbleibens gewisser subjectiver 
und objectiver, denen der Emotionsdyspepsie ähnlicher, Beschwer¬ 
den, am besten in der später zu erörternden Weise zu behandeln. 

Ueber die Natur der in Folge eines Schrecks oder heftiger 
Aufregungen innerhalb der Gewebe und Organe ab laufenden 
Vorgänge haben wir folgende Auffassung: Einen anatomi¬ 
schen Ausdruck, d. h. nachweisbare Veränderungen des Ge¬ 
webes, finden diese emotionellen Zustände wohl nur in den selten¬ 
sten Fällen. Dagegen spricht schon die Art der ätiologischen 
Einwirkung, die Abwesenheit von Fieber und Brechneigung, die 
vorherrschende nervöse Verstimmung, vor allem der Befund am 
Magen selbst. Die genaueste Untersuchung des Mageninhalts 
ergiebt nie wesentlichen Schleimgehalt, und das Fehlen der 
Schleimabsonderung ist doch wohl das beste und sicherste Zeichen 
dafür, dass kein irgendwie erheblicher katarrhalischer Zustand 
vorhanden ist; auch fehlen im Mageninhalte die verschiedenen 
Formen rother und weisser Blutkörperchen, die bei heftigem 
acuten Katarrh von uns nur selten vermisst worden sind. 


Schwieriger ist in der That nach den heut maassgebenden 
Gesichtspunkten die physiologische Deutung, d. h. die Rubri- 
cirung des Zustandes als isolirte Functionsstörung; denn 
man kann eben bei der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen nicht 
annehraen, dass eine bestimmte Componente der Magenfunction 
besondere gestört ist. Es ist vielmehr wahrscheinlich, dass es 
sich um eine allgemeine Veränderung des nervösen (secretori- 
schen, motorischen) tonischen Einflusses handelt, deren Be¬ 
deutung für die Magenfunction nach den Erfahrungen in der 
menschlichen Pathologie wohl Niemand leugnen wird, auch 
wenn sie experimentell nicht sicher nachgewiesen ist. Man 
könnte den Zustand am besten als einen starken Shock in den 
Nervenbahnen betrachten, der einerseits die Erregbarkeit in den 
Leitungen steigert und zur Hyperästhesie d er Perceptions- 
organe führt, andererseits die Regelmässigkeit der für die 
einzelnen Phasen der Thätigkeit nothwendigen nervösen Im¬ 
pulse stört. Es handelt sich mit einem Worte um eine Ver¬ 
bindung von Reizung oder Lähmung resp. eine Combination 
von Erregung und Hemmung in Folge einer abnorm starken 
Einwirkung auf den gesammten Organismus, wie sie bei Dis- 
ponirten nur eine psychische Emotion, sonst nur ein starkes 
Trauma in vollem Maasse hervorzubringen vermag. 

(Schluss folgt.) 


IV. Ueber Verbildungen an extrauterin 
gelagerten Foeten. 

Voll 

Dr. Joachimsthiil. 

Assistenzarzt der Kgl. Universitäts-Poliklinik fät orthopädische Chirurgie 

zu Berlin. 

Vor einiger Zeit wurde mir von dem Herrn Collegen Dr. 
Robert MUllerheim znm Zwecke einer genaueren Untersuchung 
ein Präparat übersandt, das einer 47 j Monate bestehenden 
Extrauteringravidität entstammte und, nachdem der Fruchtsack 
geborsten, und eine innere Blutung eingetreten war, durch die 
Laparotomie gewonnen wurde. Der Foetus, der sich nach den 
mir gemachten Angaben nach geschehenem Durchtritt durch die 
Rissstelle frei in der Bauchhöhle befand, schien erst kurze Zeit 
vor der Operation abgestorben zu sein, da frisches Meconium 
am Anus zu finden war. Die mütterlichen Tuben waren beider¬ 
seits stark gewunden, der Fruchtsack an der Innenseite mit 
Leisten besetzt. 

Der Foetus, dessen Lage die beigefügte, nach einer Photo¬ 
graphie gefertigte Abbildung veranschaulicht (s. Fig.), zeigt vom 
Scheitel bis zur Analspalte eine Länge von 19 cm. Die Ober¬ 
arme messen je 4Vs, die Vorderarme 3'/s, die Oberschenkel 5'/s, 
die Unterschenkel 4'/* cm. Der Rücken ist in seiner ganzen 
Ausdehnung stark kyphotisch gewölbt; ausserdem zeigt die 
Wirbelsäule im Doreo-Cervicaltheile eine beträchtliche Abweich¬ 
ung mit der Convexität nach links, der zufolge der Oberkörper 
gegenüber dem Becken in sehr auffallender Weise nach links 
verschoben erscheint. Auch die die fixirten, im späteren Leben 
entstehenden Skoliosen stets begleitenden Torsionseracheinungen 
fehlen nicht; denn einer Abflachung der rechtsseitigen, hinteren 
Rippenabschnitte entspricht links eine erhebliche Vorwölbung 
derselben. 

Ueberaus auffallend ist die Haltung und Verbildung des 
Kopfes. Derselbe ist stark nach rechts geneigt, das Kinn dabei 
gleichzeitig nach links gedreht. Das rechte, nach vorn ab¬ 
weichende Ohr ist gesenkt, das linke direkt nach oben gewendet. 
Die Nase erscheint platt gedrückt ; über ihre Wurzel oberhalb 
des linken Ohre, dann um den Hinterkopf herum verläuft eine 

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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 4- 


tiefe Einschnürung, nm unterhalb des rechten Ohres am Kiefer¬ 
winkel zu endigen. 

Der rechte Oberarm liegt der Seite des Thorax an; recht¬ 
winklig gebeugt folgt der Vorderarm und auf diesen die stark 
flectirte und radialwärts geneigte Hand, die ein eigenartiges 
Verhalten der Finger aufweist. Der Daumen ist in dem Meta- 
carpo-Phalangealgelenk auf's Stärkste abducirt, Zeige-und Ring¬ 
finger sind in dem ersten, weniger in dem zweiten Zwischen¬ 
gelenk gebeugt, der Mittelfinger dagegen in dem Metacarpo- 
Phalangealgelenk bis zur Berührung mit der Handfläche fiectirt 
und in den Zwischengelenken gestreckt. Der 2. und 4. Finger 
liegen dabei so dicht aneinander, dass man zwischen ihnen bei 
der Betrachtung von der Handrückenflächc den nach der Vola 
abgewichenen Mittelfinger überhaupt nicht zu sehen vermag. 
Der kleine Finger, in allen seinen Gelenken leicht gebeugt, legt 
sich dicht an den benachbarten Ringfinger. Der linke Arm 
nähert sich vom auf der Brust der Mittellinie; das Ellbogen¬ 
gelenk ist gebeugt, das Handgelenk gestreckt. Bei sonst normalen 
Beziehungen ist der Daumen mit seinem Endglied unter die 
Volarseite des Zeigefingers geschoben. 



Beide Ober- und Unterschenkel sind so gestellt, dass 
der Foetus auf seinen übereinander geschlagenen Beinen zu sitzen 
scheint. Die dann an beiden entgegengesetzten Seiten des 
Körpers folgenden Füsse legen sich diesem dadurch wieder aufs 
Innigste an, dass sie, namentlich der linke, in hochgradige 
Klumpfussstellung überführt sind. Der letztere Fuss ist dabei 
so stark adducirt, dass seine grosse Zehe fast dem Unterschenkel 
anliegt. Die Ferse ist nach innen abgewichen und in die Höhe 
gezogen. Oberhalb des Malleolus extemus befindet sich eine 
verdünnte, scheinbar der Usurirung nahe Stelle der Haut. Rechts 
ist der Equinovarus nicht ganz so hochgradig wie links, dagegen 
zeigt sich hier die vierte Zehe zwischen den einander berühren¬ 
den Nachbarzehen vollkommen nach der dorsalen Seite zu her¬ 
ausgedrängt. 

Die Präparation des Foetus, bei der ich von Herrn Collegen 
Dr. Rene du Bois-Reymond in liebenswürdigster Weise unter¬ 
stützt wurde, ergab an den inneren Organen normale Verhältnisse. 
Die den Kopf umgebende Furche hatte nicht nur an dem noch 
knorpeligen Schädeldach, sondern auch an dem Grosshirn eine 
tiefe Einkerbung hervorgebracht. Am Halse erwies sich der 
rechte Kopfnicker gegenüber dem linken auf die Hälfte seiner 
Länge reducirt. An den Unterschenkeln waren die Extensoren 


an der Uebergangsstelle auf den Fuss mit diesem stark nach 
innen abgeknickt, sonst in ihren normalen Beziehungen. Zwischen 
diesen Muskeln und den Peronaeen bestand eine von dem Malleolns 
extemns ausgefüllte breite Lücke. Rechts erschien die Tibia in 
ihrem unteren Theile stark um ihre Längsachse nach einwärts 
rotirt, während an der linken Seite keine so ausgesprochene 
Torsion dieses Unterschenkelknochens hervortrat, dagegen hier 
der Malleolus externus fibulae statt nach hinten und aussen nach 
vorn und aussen hervortrat. Die Veränderungen im Talocrural- 
und Talocalcane sowie diejenigen in dem Chopart’sehen 
Gelenk wichen — im übrigen schon auf's Deutlichste ausgeprägt 
— in nichts von den hei höchstgradigen KlumpfUssen Neng-e- 
borener vielfach beschriebenen ') ab. Bemerkenswerth erschien 
besonders die beträchtliche Verkürzung des Talnskörpers, der 
links vollkommen zu fehlen schien. Das Sustentaculum tali 
war vorhanden. In der Gegend des Lisfranc'sehen Gelenks 
erschien der Fuss verschmälert. 

Das hier vorliegende Präparat erscheint in mehr als einer 
Richtung bemerkenswert!». Fassen wir die an dem Foetus auf¬ 
fallenden Verbildungen zusammen, so handelt es sich um eine 
Combination einer SchnUrfurche am Kopfe mit Schiefhals, 
beiderseitigem Klumpfuss und Finger- und Zehen¬ 
verschiebungen. 

Missbildungen an extrauterin gelagerten Foeten 
stellen excessive Seltenheiten dar. Webster 1 ) erwähnt 
Exophthalraos, Encephalocele und Klumpfuss. Lazarus*; 
bespricht einen in der Berliner Universitäts-Frauenklinik durch 
eine Laparotomie wegen linksseitiger Extrauterinschwangerschaft 
ex8tirpirten, noch lebenden, 6 Monate alten Foetus, der einen 
hochgradigen Pes varus dexter aufwies. Die Beine waren hier 
derart Uber einander geschlagen, dass die concave rechte Planta 
die convexe Aussenseite des linken Knies umfasste, während 
das linke Dorsum pedis sich dem rechten Knie aussen anlegte. 
Die Unterschenkel trugen an der Kreuzungsstelle deutliche Druck¬ 
narben. Zahlreicher sind die Fälle von Verbildungen des Kopfes 
an solchen Foeten. So verfügt Olshausen über einen Fall, in 
dem eine Seite des Schädels eine Impression zeigte, wie dies 
sonst beim rachitischen Becken vorkommt und zwar infolge von 
Dmck des Kopfes gegen die Wirbelsäule der Mutter. In anderen 
Fällen war der Kopf im verticalen oder schrägen Durchmesser 
abgefiacht oder das Gesicht stark comprimirt, nach Angabe der 
Autoren namentlich dann, wenn das Kind todt und das Frucht¬ 
wasser ganz oder theilweise resorbirt war. Nichts liegt näher, 
als an dem oben beschriebenen Präparat die Einschnürung an 
dem Kopfe auf eine an der Innenseite des Fruchtsackes beson¬ 
ders stark hervortretende Leiste sowie die übrigen Anomalien 
auf das Missverhältniss zwischen dem für den engen Raum zu 
grossen Foetus einerseits und seinem Fruchtsack andererseits zu 
beziehen. 

Die Bedeutung mechanischer Momente für die 
Entstehung der angeborenen Verbildungen, auf die 
schon Ambroise Par6 4 ) hinweiBt, ist in neuerer Zeit wiederum 
von den verschiedensten Seiten hervorgehoben worden. Man 
hat, indem man auf die Umgebung, die Lage, die Gestalt, 


1) cf. Alb. Hoffa: Lehrbuch der orthopädischen Chirurgie, .2. Aufl. 
1894, 8. 661. 

2) J. Clarence Webster: Die ectopische Schwangerschaft, ihre 
Aetiologie, Classification, Embryologie, Symptomatologie und Therapie. 
Deutsch von A. Eiermann. Berlin, 1896. 

3) S. P. Lazarus: Zur Morphologie des Fussskelettes. Morpholog. 
Jahrb. 24. Bd. 1. Heft. 

4) Oeuvres completes d’Ambroise Pare collationn£es par J. F. 
Malgaignc. II. S. 26. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT: 


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die Wandung der Gebärmutter, das Verhalten des Amnions, die 
Quantität des Fruchtwassers, das Vorhandensein mehrerer Früchte 
sowie auf Erkrankungen des Foetus selbst seine Aufmerksamkeit 
lenkte, viele Anomalien, die man allgemein als auf ursprünglich 
mangelnder Anlage beruhend annahm, auf äussere Veranlassungen 
zurückfuhren können. So erbrachte vor Kurzem v. Winckel 1 2 ) 
den Beweis, dass die sogenannte Agnathie keinen wirklichen 
Mangel sondern eine Druckatrophie des Unterkiefers, der Kau- 
und Schlingwerkzeuge darstellt, ebenso wie es — theilweise durch 
die Untersuchungen des Verfassers 1 ) — für die Defecte langer 
Röhrenknochen nach dem Nachweis fibröser die fehlenden Knochen 
ersetzender Stränge und der Combination der Anomalien mit sog. 
intrauterinen Amputationen an anderen Extremitäten des betref¬ 
fenden Foetus wahrscheinlich wurde, dass der fehlende Knochen 
zunächst in der Anlage besteht, und dass sein Schwund erst 
später, nachdem die benachbarten Gelenke angelegt sind, wahr¬ 
scheinlich unter der Einwirkung amniotischer Falten und Stränge, 
zu Stande kommt. Selbst die Polydactylie sucht March and 3 ) 
so zu erklären, dass ein zu enges Amnion die Extremitäten¬ 
stummel zu der Zeit, w'o die Finger oder Zehen zur Ausbildung 
kommen, fest an den Körper presst und so die einzelnen An¬ 
lagekeime auseinanderdrückt und in mehrere Theile trennt. 
Speciell Air die Fussdeformitäten ist es, während für eine Reihe 
von Fällen die ursprünglich fehlerhafte Anlage nach den vor¬ 
liegenden Befunden zweifellos feststeht, daneben ftlr eine kleine 
Reihe von Beobachtungen . gelungen, den Nachweis der Ent¬ 
stehung unter der Einwirkung äusserer Verhältnisse zu erbringen. 
Ich übergehe die allgemein bekannten Beobachtungen, namentlich 
v. Volkmann's, 4 5 ) welche eine hochgradige Verschränkung der 
beiden Fässchen im Uterus gegen einander unzweifelhaft er¬ 
wiesen, indem das eine Bein einen Klumpfuss,. das andere 
einen Plattfuss zeigte, sowie-den Nadrweis von Druckstellen an 
der Haut des Klumpfusses 3 ) imd erwähne an dieser .Stelle nur 
noch einen von v. Winkel 6 ) beschriebenen Fall, in dem bei 
der Mutter ein Uterus bicornis bicollis vorlag und der mit beider¬ 
seitigem Klumpfuss versehene Foetus sich in dem spindelförmigen 
linken Horn entwickelt hatte. Der Fall lag dadurch besonders 
ungünstig für die Frucht, dass ein eigentlicher Fundus fehlte, 
die Höhle nach oben hin an Breite und Dicke abnahm und 
ausserdem noch so seitlich verschoben war, dass auch dadurch 
noch eine Raumbeengung Air die Frucht entstehen musste. Es 
ist interessant im Vergleich zu den oben genauer beschriebenen 
Finger- und Zehen Verschiebungen, zu sehen, dass auch hier der 
linke Fuss eine Ueberschiebung der ganzen kleinen Zehe nach 
dem Fussrücken auf die vierte Zehe aufwies. 

, . Das von mir beschriebene Präparat bietet aber noch in 
einer anderen Beziehung ein ganz besonderes Interesse, nämlich 
Air die Frage des angeborenen Caput obstipum. 

Man hat vielfach das Vorkommen einer angeborenen Form 
von Schiefhals vollkommen geleugnet und die einzelnen Fälle 


1) F. v. Winckel: Aetiologische Untersuchungen über einige sehr 

seltene foetale Missbildungen. Münch, med. Wochenschrift I89Ö. No. 17 
und 18. " ' . , 

2) G. Joachimsthal: Ueber den angeborenen totalen .Defect des 
Schienbeins. ZeitBchr. f. orthopäd. Chir. Bd. III. S. 140. — Derselbe: 
tJeber angeborene Defecte langer Röhrenknochen. Deutsche med. Wochen*- 
Schrift. 1895, Nö. 52. 

3) A. Richard Melde: Anatomische Untersuchung eines Kindes 
mit beiderseitigem Defect der Tibia und Polydactylie an Händen und 
FüsSen. Inaug. Diss. Marburg 1892- 

4) Deutsche Klinik. . Äug. 1863. ' 

5) A. Lücke: Ueber den angeborenen Klumpfuss. Samml. Klini¬ 
scher Vorträge No. 16. .... J 

6) 1. c. • 


lediglich auf Verletzungen bei der Geburt znrückfUhren wollen. 
Im Gegensatz dazu hat Peteisen 1 ) die congenitale Natur 
sämmtlicher Fälle verfochten. Wenn auch Petersen’s An¬ 
schauung in dieser Exclusivität sicher nicht zu Recht besteht, 
vielmehr Air eine grosse Anzahl von Beobachtungen die alte 
Stromever’sehe Erklärung der postfoetalen Entstehung durch 
Zerreissung des Sternocleidorakstoidens ihre Geltnng behält,., so 
bietet die Literatur doch eine Reihe von Fällen [Heusinger, 1 ) 
Stromeyer, 3 ) Petersen,*) Rennecke,'') Lüning, 0 ) Mein¬ 
hard Schmidt, 7 ) Bruns, 8 ) Köster 0 )],, in denen der ange¬ 
borene Charakter des Leidens unzweifelhaft feetsteht. Während 
es sich in allen diesen Fällen indesß stets um Feststellungen an 
bereits ausgetragenen und geborenen Früchten handelt, liefert 
erst das hier beschriebene Präparat den noch fehlenden anato¬ 
mischen Beweis, dass ein fixirter Schiefhals mit ausgesprochener 
ungleicher Länge beider Kopfnicker lange .vor dem Abschluss 
des Foetallebens zur Ausbildung gelangen kann. 

Die von Petersen ausgesprochene Vermuthung, dass eine 
im frühen Embryonalleben bestandene Verwachsung der Gesichts¬ 
haut mit dem Amnion die Ursache des Schieflialses abgeben 
könne, sowie die Golding Bird’sehe ,0 ).Annahme eines centralen 
Ursprungs der Deformität sind für dfcn hier beschriebenen Foetus 
sicher nicht zutreffend. Die Deutung des Befundes als einer 
einfachen Schiefstellung, des Kopfes in Folge Anpassung des¬ 
selben an die vorhandenen Raumverhältnisse und einer all¬ 
mählichen Adaption seiner einzelnen Theile an die dauernd 
eingenommene Haltung, dürfte • die nächstliegendste und unge¬ 
zwungenste sein. , { 

■ _’_ ' >i , • • 

. t ' . -.. T :> 

i' - » i! • " ... 

* V. Kritiken und Referate. 

Leopold Landau und Theodor Landau: Die vaginale Radlcal- 

operation. Technik und Geschichte. Berlin 1896. Verlag Von 
A.-Hirschwald. ‘ 

Ein Buch, das einem speciellen therapeutischen Vorgehen ge¬ 
widmet ist, muss nach drei Richtungen hin kritisch referirt werden: ein¬ 
mal wie weit die betreffende Operation allgemein eiben ärztlichen Fort¬ 
schritt bedeutet, dann,-wie sie sich zu älteren oder jüngeren Methoden 
verhält und endlich, welche sächlichen‘und äusseren Einzelheiten hervor¬ 
gehoben zu Werden verdienen. 3 - 

Die vaginale Radicaloperatioii, die Ausrottung der erkrankten inneren 
Genitalien durch die’ Scheide, wird ■ nicht nur bei Geschwulstbildnng, 
sondern auch zur Heilung chronisch entzündlicher (feitriger und adhäsiver) 
Processe um den Uterus und au deh‘Anhängen ätisgeftihrt. Diese von 
Frankreich ausgehende Behandlung der Beckeneiterungen und -Entzün¬ 
dungen ist in systematischer Weise in Deutschland von L. I.ändau ein¬ 
geführt, än einer sehr grossen ZahU von -Fällen erprobt nnd weiter ans¬ 
gebildet worden. ” 

War die Vorstufe‘dieser Methode, die CSStratid Uterina (Pean), 
nur von deib sicher angreifbaren Gesichtspunkte entwickelt worden, mit 
der Resectibh des Uterus (wie mit der Rippenresectiou beim--Empyem) 


j - *. ■ * - , ..<i -d 

1) Ferd. Petersen: Ueber den angeborenen muskulären Schief¬ 
hals. Zeitschri ft orthopäd. Chir.', Bd« I, 8. 86. t , 

2) Bericht der antliropotdmischen Gesellschaft zu WürZbuCg. 1826. 

s. 42. ; , r ' ' l . •. "* ;,' ; ' t . 

3) cf.. Vonck: Studie over he^.Caput ubstipum musculare. Amster¬ 
dam 1887, S. 79.-,. .. ü :.t : .. ' • - v. 

4) Verhändl. des Chir. Congr. T891 v ’ 

5) Centralblatt für Gynäkologie, 1886, No- 22V 

6) Zur Anatomie des congenitalen Caput obstipum. Correspdzbl. f. 

Schweizer Aerzte, 1888, No. 4. . . . • 

7) Zunv Capitel des Sehfefhalses. Centralbl. fi Chir. 1890, No. 20. 

8) Verhandl. des Chir. Cöngr. 1891. 

9) Ueber muskulären Schiefbals. Deutsche med. Wochenschrift, 

1895, No. 8. ' 

10) Torlicolis congenital. Revue d’orthopedic. 1891, S. 88. 


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78 


II KR UN ER KLINISCHK W0CHKKSCH1UFT. 


No. 4. 


eine breite Abflussöffnung für die entzündlichen Ansammlungen im Becken 
zu schaffen, so hat L. Landau, anknflpfend an Doyen, in der prin- 
cipiellen Ergänzung zur Radicaloperation (d. h. zur Entfernung nicht nur 
des Uterus, sondern alles erkrankten) eine rationelle und chirurgische 
Forderung erfüllt und damit einen gewichtigen Einwand gegen die vagi¬ 
nale Operation beseitigt. Wenn es schon aus vielen Gründen (Adhäsionen, 
Hernien, Bandage, Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit u. s. w.) vor¬ 
zuziehen ist, den Leibschnitt durch den Scheidenschnitt zu ersetzen, so 
mehren sich neuerdings die Stimmen für den letzteren noch deswegen, 
weil das Resultat der Laparotomie die Patientin nicht immer beschwerde¬ 
frei macht. Es entstehen die sog. Stumpf- und periuterinen Exsudate, 
so dass selbst Operateure, die den abdominalen Weg bevorzugen, schliess¬ 
lich noch den Uterus vaginal exstirpiren mussten (z. B. Bardenheuer). 
Erst wenn das Becken leer ist und der Blindsack der Scheide das Pelvi- 
peritoneum gegen die Aussenwelt abschliesst, scheinen in einzelnen 
schweren Fällen die recidivirenden Entzündungen zum Stillstand zu 
kommen. Hierzu kommt die bessere Prognose der vaginalen Opera¬ 
tionen überhaupt (cf. die Krebsoperation), so dass man sich bemüht, ihre 
Grenzen weiter und weiter zu ziehen und sie z. B. bei Myomen schon 
auf Tumoren ausdehnt, die dem V., ja dem VI. Monat der Gravidität 
an Grösse entsprechen. 

Es erfordert natürlich die Entfernung verwachsener und bedeutend 
vergrösserter Myome die Ausbildung einer besonderen Technik. Im all¬ 
gemeinen sucht L. die Organe palpatorisch zu enucleiren, hervorzubringen 
und zu stielen, um dann ausschliesslich mittelst Klemmen die Ligamente 
zu versorgen. Er vertheidigt die Forcipressur (P6an) mit gewandter 
Beredtsamkeit und wir bestätigen, dass ohne Klemmen bei schwersten 
Verwachsungen ein vagniales Vorgehen unmöglich sein kann. Aber auch 
mit Klemmen ist die vaginale Radicaloperation nicht immer zu beenden, 
und L. schliesst dann die Laparotomie an oder begnügt sich bei 
Schrumpfungen mit der „Castratio uterina“. Das ist zuzugeben, dass es 
auch bei der Laparotomie oft nicht möglich ist, alle Schwielen und Ver¬ 
dickungen zu entfernen, aber die Anhänge selbst lassen sich schliesslich 
immer ausschälen und daher bleibt die Laparotomie doch der souveräne 
Weg. Den Vorzügen der Klemmung gegenüber verdienten die Nach¬ 
theile eine eingehendere Besprechung. Hier sind zunächst die Nach¬ 
blutungen zu erwähnen, die von verschiedenen Operateuren, auch von 
französischer Seite, selbst bei Abnahme der Klemmen nach 48 Stunden 
berichtet worden sind. Sie sind vielleicht vermeidbar. Wir dürfen auch 
die nicht so seltenen Fistelbildungen, besonders am Darme, übersehen, 
zu deren Entstehung der Druck der Stahlmasse, wenn die Darmwand 
schon bei der Trennung der Adhäsionen gelitten hat und im Wundtrichter 
verklebt, zweifellos beiträgt 

Sehr beachtenswert erscheinen uns die Erörterungen über eröffnende 
und zerstückelnde Verfahren. Die ersteren bestehen in der unvoll¬ 
kommenen oder vollkommenen Spaltung des Uterus, der sich dann durch 
Kippung der Hälften mit den Anhängen besser entwickeln lässt. Die 
„morcellirenden“ Verfahren, die man früher schon bei submucösen Fi- 
broiden anwendete, werden auch für andere Arten angewendet und be¬ 
deuten eine Erweiterung des vaginalen Vorgehens, obschon sich einer 
der Verfechter, Jakobs in Brüssel, neuerdings wieder davon abwendet. 
Bei schwersten Verwachsungen wird auch der nicht vergrösserto Uterus 
morcellirt. Wie weit das nothwendig ist, lässt sich schwer entscheiden. 
Jedenfalls wird hier zu erstreben sein, den Uterus als ganzes oder io 
zwei Hälften zu mobilisiren. Sehr anschaulich, wie die Abbildungen 
überhaupt, sind die Photogramme der mittelst Morcellement entwickelten 
Organe. Bezüglich der Instrumente (Ecarteurs, Greif- und Ovarialzangen 
u. s. w.) und einzelner Technicismen sei auf das Original verwiesen. — 
Malign erkrankte Uteri sollen wegen möglicher Impfung nicht morcellirt 
werden, hier empfiehlt L. Scheidendammschnitte, die sonst durch sein 
Vorgehen nicht benöthigt werden. 

Interessant und nicht ganz consequent dünkt es uns, dass der ven¬ 
trale Probeschnitt dem vaginalen vorgezogen wird. Ergiebt dieser doppel¬ 
seitige Adnexerkrankung, so wird die Bauchhöhle geschlossen und die 
vaginale Radicaloperation ausgeführt. Wir sehen nicht ein, wieso nicht 
die vaginale Probeincision (vom vorderen oder hinteren Gewölbe) hier 
ebenso zum Ziel führen soll. In dieser Beziehung hat unstreitig die 
Gynäkologie schon einen Schritt vorwärts gemacht. Wenn auch L. etwas 
spöttisch der besonderen alten und neu empfohlenen Methoden gedenkt, 
die mit Eröffnung von der Scheide Theile der Gebärmutter oder der 
Anhänge entfernen, so fordert es die Gerechtigkeit, anzuerkennen, dass 
diese Abzweigungen der vaginalen Radicaloperation einen Fortschritt in 
conservativem Sinne bedeuten. Die Colpotomia anterior, posterior 
oder beide gestatten bei Myomen, Adnexerkrankungen, Peririetritis Theile 
zu erhalten und Functionen wieder in Gang zu bringen, die die Radical¬ 
operation ausgeschaltet hätte. — Diese Methoden, über deren eigene An¬ 
wendung L. nichts erwähnt, sind bei perimetritischen Zuständen von 
hohem Werthe. Ob nnd wie weit bei diesem die Entfernung der ge- 
sammten Genitalien erforderlich ist, scheint uns durchaus noch nicht ge¬ 
klärt und wenn seit L.’s Vortrag in der medicinischen Gesellschaft die 
Gesammtziffer seiner Radicaloperationen von 210 auf 370 gestiegen ist, 
während sein 8chüler Abel für die völlige Zurückhaltung bei entzünd¬ 
lichen Affectionen reuevoll eintritt, so drängt sich ein Satz aus 
der Einleitung auf, wo es von anderen Operateuren heisst: „Mortalität 
einer Operation bei 100 oder 200 Fällen = 0. Die Operation ist so¬ 
mit ungefährlich und darum gut. Das allein ausschlaggebende Kriterium 
für die Zweckmässigkeit einer operativen Maassnahme, der bleibende 
Erfolg, die Dauerheilung, verfiel bei der „Rage de norabre“ der Atrophie.“ 


Gerade dieser bleibende Erfolg ist in dem Buche nicht berücksichtigt 
und wir vermissen die Statistik, vor allem die Nachprüfung, wie es 
jetzt den Operirten geht, wie viele der jüngeren Patientinnen etwa 
Oophorin gebrauchen. 

Den neugeschaffenen Namen Pachypelviperitonitis (ebenso Pacby- 
Salpingitis) halten wir für keine richtige Bildung. Wenn man von Pachy- 
meningitis spricht, so steht diese im Gegensatz zu Leptomeningitin, weil 
es zwei Meningen giebt. Es giebt aber nur ein Peritoneum und wir 
möchten daher für die mit Schwielen und Schwarten verbundene Beeken- 
fellentzündung den Namen Pelviperitonitis callosa vorschlagen. 

Was die Nachbehandlung nach der Radicaloperation an betrifft, so 
wird bis zum 0. Tage Diät gehalten, Stuhlgang soll am 6. oder 7. Tage 
erfolgen. Die Klemmen werden nach 24 8tunden, die Gaze bis zum 5., 
bei Ileusvorboten bis zum 8. Tage entfernt. Vom 4.—6. Tage werden 
durch Demarkation der Schorfe zuweilen Temperaturerhöhungen beob¬ 
achtet 8cheidenspülungen mit sterilem, lauwarmem Wasser werden 
vom 6. Tage ab vorgenommen. Sonst unterbleibt jede Localtherapie. 
Bei unvollkommenen Operationen können Monate vergehen, ehe die 
secernirenden Höhlen und Gänge zur Verödung gebracht sind. 

Die Lectüre des Werkes gewinnt durch die lebhafte Schreibweise 
und die scharf ausgeprägte Individualität der Autoren sehr an Interesse. 
Es ist nur zu bedauern, dass in dem als „Lehrbuch“ charakterisirten 
Buche verletzende Worte gegen nicht in denselben Bahnen sich be¬ 
wegende Auffassungen enthalten sind („rührendes Missverständniss“, 
„nebelhafte Vorstellungen“, „ohne Technik und ohne Armamentariam', 
„Ist die Art. spermatica abgerissen, was Operateuren, deren Legitimatioa 
zur vaginalen Radicaloperation wesentlich im Besitz von Klemmen be¬ 
steht, vielleicht öfters passiren kann, u. s. w.“ oder „Unkundige, die 
zum 8chaden ihrer Kranken ein oder wenige Male operiren“ u. s. w.). 

Die gynäkologischen Operationen Bind in Indicationen und Technik 
noch in der Entwicklung begriffen. Ist mit der Entfernung der ge¬ 
summten Genitalorgane in gewissem Sinne ein Endziel erreicht, so dürfte 
man doch in der Prophezeibung nicht fehl gehen, dass der nächste Fort¬ 
schritt in der Behandlung mancher heute radical operirter Erkrankungen 
in schonenderen Verfahren entstehen wird. Bei alledem bedeutet die 
vaginale Radicaloperation eine gesicherte neue Heilmethode. Für ihre 
Einführung bei uns, für ihre Ausbildung und für ihre Darstellung wird 
den Verfassern gern der schuldige Dank gezollt werden. 

P. Strassmann. 


A. Büche: Die Frühdiagnose der progressiven Paralyse# Halle. 

Marhold 1896. 

Verfasser bemerkt mit Recht, dass die beginnende progressive Para¬ 
lyse in vielen Fällen von den behandelnden praktischen Aerzten nicht 
erkannt wird zum Schaden der Kranken und zum Nachtheil der Ange¬ 
hörigen. Als Gründe hierfür führt H. sehr zutreffend das bescheidene 
Maass der psychiatrischen Kenntnisse der Aerxte an, sowie die oft nicht 
unbeträchtlichen Schwierigkeiten, welche die Stellung der Frühdiagnose 
der Erkrankung gelegentlich auch einem Fachmann entgegenbringen kann. 
Verfasser entwirft zunächst, wenn auch nur mit wenigen Strichen, so 
doch in sehr klarer und anschaulicher Weise ein sehr belehrendes Ueber- 
sichtsbild über den klinischen Verlauf der progressiven Paralyse, sowie 
deren anatomische Grundlage. Eingehend werden alsdann die Symptome 
gewürdigt, welche, wie die Veränderung in dem Verhalten der Pupille, 
der Kniephänomene, der 8prache von seiten des Körpers, und die Wand¬ 
lungen des Charakters und des Intellekts psychischerseits schon früh die 
schwere Gehirnerkrankung verkünden. Die Abhandlung H.’s kann dem 
praktischen Arzte auf das wärmste empfohlen werden; anregend und 
leicht fasslich geschrieben wird sie ihm erwünschte Belehrung gewähren 
über eins der wichtigsten Krankheitsbilder, dessen rechtzeitige Erkennung 
oft genug eine ganze Familie vor nachhaltigem Schaden mancherlei Art 
bewahren und für den Kranken von ausserordentlichem Nutzen sein 
wird. Doch auch der Fachmann wird die Abhandlung mit Vergnügen 
lesen. 


Baiuchoff: Chloralamid als Hypnoticnm bei Geisteskranken. Aus 

Dr. Oestreicher’s Privat Irrenanstalt, Nieder-Schönhausen. Mar- 
burger Inaugural-Disaertation 1896. 

Anknüpfend an eine Besprechung der Uber Chloralamid in 46 Ver¬ 
öffentlichungen vorliegenden Literatur, die sowohl betreffend der hypno¬ 
tischen und sedativen als der Nebenwirkungen des Mittels weitgehende 
Differenzen enthält, bringt die Arbeit die Resnltate von ca. 400 Elnzel- 
beobachtungen bei Verabfolgung an 26 Geisteskranke. Bei hochgradiger 
Erregung, besonders bei Manie, trat der Schlaf nur unsicher ein und 
war meist von kurzer Dauer; bei minder starker sowie bei Schlaflosig¬ 
keit ohne grössere Unruhe war der Erfolg dagegen fast durchweg be¬ 
friedigend. Wenn die Wirkung auch nicht so Intensiv war, wie beim 
Chloralhydrat, so hielt sie dafür — nach der Meinung des Verfassers 
vielleicht in Folge schwererer Zerlegbarkeit des Chloralamid — oft länger 
vor. Unangenehme Folgen traten nur selten und beinahe ausschliesslich 
als leichte Verdauungsstörungen hervor; einmal erfolgte stärkeres Er¬ 
brechen nach 12 Stunden. Insbesondere bleiben aber, auch bei längerer 
Darreichung, Schädigungen des Allgemeinbefindens aus, sodass Chloral¬ 
amid für schwächliche Personen den Vorzug vor Chloralhydrat, Trional 


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25. Januar 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


79 


and Salfonal verdient. Zu erwähnen wären nur noch leichte Reizungen 
der ’Conjanctiven, die bei Chloralamtdgebraueh (wie »ach bei Chloral- 
bydrat) anftraten. 

Einige Versuche an Kaninchen — wo schon nach 1,0 per rectum, 
resp. 0,5 subcutan Exitus eintrat — ergaben als auffälligsten Befand 
regelmässig Hämorrhagien in Mageu und Dickdann. Verf. glaubt, dass 
spät eintretendes Erbrechen beim Menschen vielleicht auf ähnliche Vor¬ 
gänge hinweise und empfiehlt daher, in solchen Fällen von weiterer 
Verwendung des Mittels Abstand zu nehmen. Dagegen fand er weder 
bei — allerdings leichten — Erkrankungen des Gefäassystems noch bei 
progressiver Paralyse Contralndicationen, entgegen einzelnen Angaben 
der Literatur. 

Als Dosis wurde meist 1,5—8,0 verbraucht, ohne dass je Gewöhnung 
eintrat; ffir die Verabfolgung bewährte sich eine Lösung in 2 Theilen 
Spirit dilut., die mit Wasser, Bier oder Wein gegeben und bei wenig 
bitterem Geschmack gewöhnlich gut genommen wurde. 


Möbius: Ueber die Behandlung von Nervenkranken und die Ein« 
richtung von NerrenheilstStten. Berlin 1896. 

M. bringt eine Reihe gerechtfertigter Bedenken gegen die Mehrzahl 
der jetzt bestehenden Curanstalten für Nervenkranke vor; er wirft ihnen 
unter anderen mit Recht vor, dass sie nur für die glücklich situirte 
Minderheit existiren. Und doch ist bei allen Nervenkranken zeitweise 
nöthig, den Kranken aus seinen gewöhnlichen Verhältnissen zu entfernen; 
in der Anstalt sollen zwar alle vertrauenswerthen Heilmittel angewendet 
werden, aber auch hier muss, wie bei der Behandlung von Nervenkranken, 
im eigenen Heim die Lebensführung, das heisBt die Anleitung zu rechter 
Arbeit und rechter Ruhe den Kern der Behandlung bilden. Jede 
Nervenheilanstalt sollte in diesem Sinne verwaltet werden und sollte 
den Kranken die Möglichkeit nützlicher Arbeit bieten. Der Eintritt in 
diese Anstalten soll auch minder Bemittelten möglich gemacht werden. 
Dies und die genügend lange Dauer des Aufenthaltes kann man er¬ 
reichen, wenn Anstalten mit niedrigen Preisen und mit Freibetten ent¬ 
stehen; solche Anstalten können entweder durch Genossenschaften oder 
auch Grund öffentlicher Sammlungen oder der Zeichnung von Antheil- 
scheinen gegründet werden. M. giebt die allgemeinen Gesichtspunkte, 
die bei der Errichtung und Leitung solcher Anstalten im Auge zu be¬ 
halten wären, in trefflicher Welse und es wäre dringend zu wünschen, 
dass er nicht ein Prediger in der Wüste wäre, sondern dass seinen 
kenntnissreichen und warmherzigen Vorschlägen bald die Verwirklichung 
nahte. 

Lewald (Kowanowko). 


VL Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. 

Laryngolo gische Gesellschaft. 

Sitzung vom 8. Mai 1896. 

Vorsitzender: Herr Landgraf. 

Schriftführer: Herr Hey mann. 

Hr. Schoetz: Das junge Mädchen von 18 Jahren, das ich Ihnen 
hier vorstelle, leidet an einem congenitalen knöchernen Choanen- 
Verschiss» der linken Seite. Abgesehen von mässiger Hyperplasie der 
drei Mandeln und einer Ausbiegung des Septum nach der verschlossenen 
Seite, bietet Bie keine Abnormitäten, speciell ist der Gaumen ganz 
gleicbmäsBig gewölbt und auch nicht besonders hoch. 

Ob die Septnmverbiegung nach der afficirten Seite hin auf den 
Choanenverschluss zu beziehen ist, lasse ich dahingestellt, in einem 
früher von mir beobachteten Falle einseitigen Verschlusses war sie auch 
vorhanden und machte sich als Operationshinderniss unliebsam bemerkbar. 
Bei einem Falle von doppelseitigem Verschluss (1887) stand das Septum 
gerade. 

Die doppelseitigen Verschlüsse scheinen häufiger zu sein, als die 
einseitigen. Hems konnte 1898 aus der Literatur 19 Fälle von in vivo 
beobachtetem congenitalen Choanenverschluss zusammenbringen. Davon 
waren 11 doppelseitig, 6 betrafen die rechte, 2 die linke Choane allein. 
Seither sind im Centralbl. für Rhinol, und Laryngol. noch 1 doppelseiti¬ 
ger und 4 rechtsseitige, aber kein linksseitiger Verschluss referirt 

Was die Operation angebt, so scheint es einfach, eine solche Platte 
zu zerstören. Trotzdem hat es manchmal Schwierigkeiten gemacht, za 
einem definitiven guten Resultate zu gelangen. Gouguenheim bei¬ 
spielsweise, der den letzten Fall doppelseitiger Verschliessung operirte, 
berichtet von 80 galvanokaustischen Sitzungen, die er nöthig gehabt hat. 
Empfohlen zur Operation ist am häufigsten der Galvanokauter, sodann 
der Troikart, der electrische|Trepan, der Meissei und die Knochenzange. 
Das Vorgehen mit dem Galvanokauter so weit hinten, unmittelbar neben 
der, hier nicht sichtbaren, Tubenöffnung ist nicht ganz gefahrlos. 
Lange hat einen Todesfall 6 Tage nach der Operation an Sinusthrom¬ 
bose zu beklagen gehabt. Andere Operateure haben Mittelohrenentzün- 
dnng gesehen, und mir selbst ist eine solche in dem Fall von doppel¬ 
seitiger Verschliessung nicht erspart geblieben. Ich war mit dem 
Thermokauter, um Alles auf der linken Seite recht gründlich zu 
zerstören, bis an die Peripherie der Platte gegangen. Am nächsten 
•Tage hatte Pat. Otitis media sinistra. Aus Vorsicht habe ich auf der 


anderen Seite den Galvanokauter nur unmittelbar neben dem 8eptum 
wirken lassen. Hier wurde ein Loch gebrannt, gerade hinreichend, um 
diesem (Demonstration), ad hoc angefertigten, Instrumente den Durch¬ 
tritt zu erlauben. Dasselbe ist nach Art eines Lithotriptors construirt 
und gestattet, die Platte ohne jede Gefahr für die Tube nach aussen 
hin anszufraisen. Das Verfahren hatte vollkommenen Erfolg. Am 
übelsten hat sich nach Herstellung der ersten Oeffnung zumeist der Um¬ 
stand bemerklich gemacht, dass eine grosse Neigung zur Wiederver¬ 
engerung bestand, so sehr, dass in ein paar Fällen din Operation sogar 
wiederholt werden musste. Man hat dem vorzubengen gesucht durch 
Einlegen von Jodoformgaze, von Drains, Hartgummi- oder Metallröhren. 
Ich habe in meinem früheren Falle davon Abstand genommen, und ein 
vollkommenes Resultat erzielt, wie ich glaube, dank meinem Instrument. 
Wer nur mit dem Galvanokauter (der sehr constringirende Narben setzt), 
oder nur mit dem Troikart (der die Theile einfach auseinanderbiegt) 
arbeitet, wird eher eine Wiederverengerung bekommen, als wer die 
ganze Platte mit einem solchen Instrument wegnimmt. 

Discussion. 

Hr. Landgraf fragt nach dem Alter der Patienten und der Art, 
wie die Septumdeviation in dem Falle, in dem sie sich als Operations¬ 
hinderniss erwies, beseitigt wurde. 

Hr. Schoetz: Die erste Patientin war 16 Jahre, die jetzige 18 Jahre 
und die Pat. mit der Deviation 14 Jahre alt. Die Deviation war hier 
so stark, dass ich Bie zuerst beseitigen musste, was mit der Säge leicht 
gelang. Im Uebrigen konnte die Operation nicht in der geplanten Weise 
gemacht werden, weil das Kind absolut nntractabel war und erst ein 
halbes Jahr, nachdem die erste Perforation galvanokaustisch angelegt, 
sich wieder vorstellte. Näheres bei Hems. 

Hr. Fla tau fragt, ob nicht diese Cboanenverschlüsse, wenn gleich¬ 
zeitig Hyperplasieen des adenoiden Gewebes vorhanden sind, leicht über¬ 
sehen werden können. 

Hr. Schoetz: Das ist Semon in einem Falle passirt. Er war 
erstaunt, als nach Operation colossaler Massen von adenoiden Wuche¬ 
rungen keine Luft durch die Nase eines jungen Mädchens ging. Er fand 
dann durch postrhinoskopische Untersuchung einen Choanenverschluss. 
Im Uebrigen wird sich Herr Flatau an unserem Fall überzeugen, dass 
die Diagnose ausserordentlich leicht ist. Man sieht die verschlossenen 
Choanen sofort bei der postrhinoskopischen Untersuchung und hat nur 
die Sonde zu nehmen und sich zu überzeugen, ob der Verschluss ganz 
bis auf den Boden der Nase hinabgeht, eventuell auch gefärbte Flüssig¬ 
keit, Milch oder dergl. einzuspritzen, um zu sehen, ob davon nichts in 
den Pharynx gelangt. 

Hr. Schadewaldt fragt, ob die betreffenden Leute wegen be¬ 
stimmter Beschwerden kamen. — Er fand die Anomalie einmal zufällig 
bei einer Frau in den dreissiger Jahren, die gar keine Beschwerden 
davon hatte. 

Hr. Schoetz: Das erste Fräulein mit doppeltem Verschluss batte 
alle Beschwerden der Nasenobstruction. Dieses Kind hat nicht eben 
viel zu leiden. Am meisten incoramodiren wohl die Schleim ansamm- 
lungen in der Nase, sodann ist der Schlaf angeblich ziemlich unruhig 
wegen der mangelhaften Athmung. 

Berathung der Bibliotheksordnung. Die von Herrn Schade¬ 
waldt vorgeschlagene Bibliotheksordnung wird angenommen. 

Hr. E. Meyer: Bacteriologlsrhe Befunde bei Rhinitis flbrinosa. 

Klinisch besteht zwischen Rhinitis flbrinosa und Nasendiphtherie 
eine sehr erhebliche Differenz. Einerseits Localaffection ohne Tendenz 
zur Weiterverbreitung und ohne Allgemeinerscheinungen, andererseits 
schwere Allgemeinaffection und Tendenz der localen Erkrankung, sich 
über die Nachbarschaft auszudehnen. Seit der Entdeckung des Diph- 
theriebacillus und seit dem Nachweis desselben in den Membranen der 
Rhinitis flbrinosa ist die Frage, ob ätiologisch die oben genannten Krank¬ 
heiten identisch sind, eine vielfach erörterte. Ich habe im Ganzen 8L 
Fälle von Rhinitis flbrinosa beobachtet, von diesen wurden 9 nur mikro¬ 
skopisch untersucht, dieselben scheiden deshalb für die Bedrtheilung des 
Resultats aus. Bei 22 bacteriologisch untersuchten Fällen fanden sich 
9 mal neben den gewöhnlichen Bewohnern der Nase Streptokokken von 
geringer Virulenz und Staphylococcus albus und aureus. In 18 Fällen 
gelang es, den Löffler 1 sehen Bacillus in seiner, wie das Thierexperi¬ 
ment zeigte, virulenten Form, zu züchten. Ein Unterschied im Verlauf 
war zwischen den Fällen mit und ohne Diphtheriebacillen nicht nach¬ 
weisbar. Auffallend war es, dass die Diphtheriebacillen anscheinend in 
den schon lange bestehenden Fällen von Rhinitis flbrinosa fehlten. 

Die Virulenz war vollständig erhalten, die Versuchsthiere starben 
nach 2—8 mal 24 Stunden. 

Aus den Resultaten der bacteriologischen Untersuchung gebt hervor, 
dasB die Rhinitis flbrinosa ätiologisch keine einheitliche Krankheit ist, 
sondern dass sie als Symptom einer diphtherischen Infection, aber auch 
durch andere Krankheitserreger veranlasst, auftreten kann. 

Hr. Grabower: Casuistlscher Beitrag rar Lehre von der moto¬ 
rischen Innervation des Kehlkopfe. 

Durch die Mittheilung eines interessanten Falles von Recurrens- 
lähmung bei Tabes, welchen G. längere Zeit hindurch gemeinsam mit 
Herrn Professor Oppenheim beobachtet hatte, und welcher an anderer 
Stelle ausführlich publicirt werden soll, wird ein entscheidender klini¬ 
scher Beitrag zur Frage von der motorischen Innervation des Kehlkopfs 
geliefert. Der Fall ist länger als 10 Jahre beobachtet, wiederholt 
laryngoskopisch untersucht worden, er ist zur Section gekommen nnd 
die in Betracht kommenden Organtheile sind mikroskopisch untersucht. 


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80 


IHM MN ICK K L1NISCHB WOCI1 KXS< 'II Kl FT. 


Der Vortragende bespricht im Einzelnen alle bisher bekannten Beobach¬ 
tungen, bei denen neben der. Kehlkopfmuskellähmung auch eine solche 
der vom äusseren Ast des Accessorius versorgten Mm. steroocleido- 
mastoideus und cucullaris vorhanden war. Er weist uacb, dass alle 
diese Fälle zur Entscheidung der Frage nichts beitragen. Denn ent¬ 
weder, sind sie von peripherer Genese, und dann ist allemal der Ein¬ 
wand berechtigt, dass nicht nur der Accessorius, sondern auch der 
Vagus geschädigt sei, oder ihre Actiologic ist eine centrale nnd dann 
steht — zumal bei keinem von diesen ein Sectionsbefund existirt — der 
Behanptung nichts im Wege, dass. es sich um progrediente Processe 
handelt, welche nicht nur. den Accessorioskern, sondern auch die Vagus- 
kerne in Mitleidenschaft gezogen haben. Dem gegenüber ist der mit- 
getheilte Fall ein durchaus eindeutiger. Bei einer vorher festgestellten 
Kehlkopfmuskellähmung haben die demonstrirten Präparate der extra- 
bulbär«n Accessorius- und Vaguswurzeln eine Atrophie der letzteren und 
völlige Unversehrtheit der ersteren dargeth&n- Es ist sonach dem Vor¬ 
tragenden hierdurch der Beweis vollkommen gelungen, dass - - ganz 
entsprechend seinen diesbezüglichen experimentellen Ergebnissen — auch 
beim Menschen der Vagus der alleinige motorische Kehlkopfnerv ist und 
der Accessorius au der Innervation der Kehlkopfmuskeln sich nicht be¬ 
theiligt. 


Aerztlicher Verein ra Hamborg. 

Sitzung vom 5. Januar J897. 

Vorsitzender Herr K(lmme 11. 

Hr. Fricke zeigt das durch Section gewonnene Präparat einer 
angeborenen doppelseitigen Hüftverrenkung, welche bei Leb¬ 
zeiten nach der neuen Lorenz’schen Extensionsmethode behandelt 
worden war. 

Hr. Grisson zeigt die Präparate eines Falles von Pseudo¬ 
myxom a peritonei. Es handelte sich um eine 27j. seit mehreren 
Wochen stark . dyspnoische Frau mit Erguss In die Peritonealhöhle. 
Vorhandene Resistenzen liesaen- sich bei der starken Spannung der 
Bauchdecken nur undeutlich abgrenzen. Bei der Laparotomie entleerten 
sich zunächst mehrere Liter wasserklarer Flüssigkeit, dann folgte eine 
theilweiae in Klumpen geballte geleeartige Flüssigkeit nach. Die Toilette 
der Bauchhöhle und die Entfernung der myxomatÖsen Massen war mit 
grossen Schwierigkeiten verbunden. Exit. letalis am 4. Tag post operat. 
im Collaps. Den Ausgang der Erkrankung stellte, wie die Autopsie 
ergab, ein geplatzter, mucinbaltiger, cystüser Tumor des 1. Ovariuras dar. 

Hr. Brandt hält sodann seinen angekündigten Vortrag Uber das 
Thema: „Zur Therapie des Pneumothorax nach Empyem“ und 
berichtete, dass es ihm bei lange bestehender collabirter Lunge und 
Pneumothorax nach opeririem Empyem noch gelungen ist, die Lunge 
wieder zur Entfaltung zu bringen. Es handelte sich am ein 15jähriges 
Mädchen aus gesunder Familie, zu dem Vortragender am dritten Krank¬ 
heitstage gerufen wurde, und wo er das Bestehen eines pleuritischen 
Exsudats constatirte, das sich bei der Probepunctlon als trüb-serös 
erwies. Am 5. Krankheitstage konnte er ans dem pneumonischen 
Sputum eine Pneumonie schliessen und musste das Exsudat demnach 
als metapneumonisches ansprechen. Das Exsudat wurde nun ganz all¬ 
mählich eitrig, Bödass zu seiner radicalen Entfernung erst am 25. Krank¬ 
heitstage durch Kippenresection geschritten wurde, nachdem am 23. 
Krankheitstage schon ein vergeblicher Versuch gemacht worden war, 
dasselbe durch Bülau'Sche Heberdrainage zu entfernen. Erst in diesen 
Tagen halte. die Probepunction deoidirten Eiter gebracht. Der Vor¬ 
tragende warnt aber davor, eine .Lunge so lange dem Drucke eines 
-Exsudats auszusetzen, da sie sich dann in vielen Fällen nicht wieder 
ausdehnt. Er hält es für richtiger, schon früher zu operiren, auch wenn 
das Exsudat noch nicht völlig eitrig sein sollte. — Das bis dahin noch 
bestehende Fieber fiel jn Folge der Operation sofort ab, trat aber später 
wieder auf. Die Lunge legte sich nicht wieder an, sondern es reanltirte 
ein Pneumothorax mit geriDg secernirender Fistel an der Stelle, wo die 
Kescction ausgeführt worden war. . Es war dies zwischen der 5. und 
7. Rippe in der hinteren Axillarliaie.. Trotz aller Versuche, den Pneumo¬ 
thorax zu beseitigen, gelang dies nicht. Derselbe bestand vielmehr am 
68. Krankheitatage noch fort. Dabei war die Kranke sehr herunter¬ 
gekommen, ihre- Wirbelsäule zeigte schon die bekannte Krümmung, nur 
die Rippen der erkranktet Seite lagen fest an einander. Um die 
jugendliche Kranke vor der sehr eingreifenden Thorakoplastik und ihren 
schweren Folgezuständen zu bewahren, versuchte Vqrtragender als letztes 
Mittel das Folgende: Er legte einen dicken Nelaton’schen Katheter, 
der die Fistel ganz ausfüllte, so weit ein, dass das Auge sich eben 
innerhalb des Thorax befand. Der Katheter wurde sorgfältig befestigt 
und luftdicht, an seinen Rändern abgeschlossen, indem abwechselnd 
-Watte und. Heftpflaster in je 5 Schichten dicht um denselben herum¬ 
gelegt und befestigt wurden. Daon sog Vortragender mit einer Spritze 
den eitrigen Inhalt — ca. 5 gr — und etwas Luft durch den Katheter 
aus dem Thorax und schloss darauf mit einem Quetschhahn den Katheter 
sorgfältig ab. Dieses Verfahren wurde in den nächsten Tagen täglich 
lmal wiederholt, und am .5. Tage konnte man wahrnehmen, dass die 
erkrankte Seite wieder zu athmen anflng und dass sich am 10. Tage 
nach Beginn dieses Behandlungsverfahren die LuDge wieder .angelegt 
hatte. Nach Verlauf einiger weiterer Wochen war die Fistel vollkommen 
geheilt, die Kranke wurde während des letzten Sommers aufs Land und 


No. -4. 


in ein Nordsee-Bad geschickt und erholte Bich gänzlich. Die Langen 
waren im Herbste gleich voluminös, der Thorax ganz symmetrisch and 
die Wirbelsäule durchaus grade. Vortragender glaubt, dass sich dass 
von ihm geschilderte Verfahren auch bei älteren Fällen von Pneumo¬ 
thorax nach Rippensecretion mit Erfolg anwenden lässt, zumal BQ lau 
über einen Fall berichtet (Zeitschrift für klin. Medicin 18. 34) wo er 
durch die Heberdrainage noch eine Lunge im Verlaufe von 3 Monaten 
wieder zur Entfaltung gebracht hat, die 15 Monate nicht functionirt 
hatte. Auch Schede ist der Ansicht, dass Lungen, die ein Jahr lang 
nicht geathmet haben, noch wieder athmen können, wenn man sie unter 
günstige Bedingungen bringt. Vortragender warnt davor, das beschriebene 
Verfahren bei tuberculösen Processen anzuwenden, da bei etwas brüskem 
Vorgehen leicht Risse in der Lungenpleura entstehen können, nament¬ 
lich wenn sich tuberculöse Herde dicht unter derselben befinden. Es 
ist auch insofern Vorsicht nölhig, als bei dem Ansangen durch die 
Spritze leicht Blutungen entstehen können. Bei Pneumothorax mit ziem¬ 
lich reichlicher Secretion führt eventuell auch die ßülau'sche Heber- 
drainago zum Ziel, wenn auch erst in wesentlich längerer Zeit. 

(Autorreferat.) 

Discuasion. 

Hr. Wiesinger bemerkt, dass in den Fällen, die der Estlander- 
schen bez. Schede'schen Operation unterworfen werden, das anatomi¬ 
sche Bild sich anders darstellt, als in dem Falle des Vortragenden. 
Die Lunge ist meist klein, geschrumpft, von dickem schwartigen Ge¬ 
webe umgeben, dann kann ein so mildes Verfahren, wie das vom Vor¬ 
tragenden angewendete nnmöglich zum Ziele führen. W. hebt hervor, 
dass er in operativ geeigneten Fällen nicht bloss die Rippen resecirt, 
sondern sic in toto fortnimmt, er legt dann die Haut in die Wundhöhle 
ein und erzielt auf diese Weise Heilung. 

Hr. Kümmell betont gleichfalls, dass die Chancen offenbar günstige 
waren, insofern die Zeitdauer bis zur Operation eino relativ kurze war 
(10 Wochen) und es sich um ein jugendliches Individuum handelte. Die 
Schede'sehe Operation ist für viele Fälle sehr segensreich. Auch bei 
leichter Erkrankung der Lungenspitzen braucht man vor der Operation 
nicht zurückzusehrecken. Was die Technik der Operation betrifft, so 
soll man nicht gleich eine Resection der ganzen Thoraxhältte vornehmen, 
sondern schrittweise Vorgehen und ein allmähliches Anlegen der Haut 
zu erreichen suchen. Die Schwere des Eingriffs wird dadurch abge- 
schwäcbt, die Resultate werden besser. 

Hr. Rose hält den angekündigten Vortrag: Eine neue Methode 
bei der Frau den Urin beider Nieren gesondert aufzu¬ 
fangen. 

R. geht von einer eigenen Beobachtung von rechtsseitiger Er¬ 
krankung der Hamwege bei einer Frau aus. Die r. Niere war palpabel, 
stark vergrössert, druckempfindlich; cystoskopisch entleerte sich aus dem 
r. Ureter ein trüber Ham, der wechselnde Mengen Eiweiss enthielt, im 
mikroskopischen Bilde zahlreiche Leukocyten nnd massenhafte Strepto¬ 
kokken zeigte. Bevor an eine Operation gedacht werden konnte, 
handelte es sich darum, die normale Funktion der 1. Niere sicher fest¬ 
zustellen. 

K. schildert eingehend die bisher in Anwendang gebrachten Me¬ 
thoden, den Harn der beiden Nieren gesondert aufzufangen. Er betont 
die Unsicherheit einer Compression der Ureteren, die grosse Gefahr 
einer ascendirenden Erkrankung, wie sie durch Katlieterisiren des 
Ureters besonders im vorliegenden Falle geschaffen worden wäre. 

Der Vortragende ging von dem Plane aus, deq Canal des 1. Ureters 
gewissermassen zu verlängern nnd Narkose nicht in Anwendung zu 
bringen. Er demonatrirt ein von ihm angegebenes Speculnm von 1 cm 
Lichtweite, das nach event. vorheriger Cocainirung der Urethra, bei 
Beckenhochlagerung der Frau, 5 1 /, cm weit .eingeführt wird. Am 
vorderen Ende ist das Speculnm abgeschrägt, wodurch ein dichtes An¬ 
liegen an die Hamblasenwand erreicht wird. Es gelingt unschwer, 
durch passende Drehungen des Instmmentcs die Mündong des Ureters 
als kleines warzenartiges oder schlitzförmig gestaltetes Gebilde zur An¬ 
schauung zu bringen. Der im Speculum sich sammelnde Harn wird mit 
einer Spritze aufgesogen. Nachfolgende Incontinenz ist nicht zu be¬ 
fürchten. Bei Durchsicht der Literatur fand R., dass bereits Kelly 
auf ähnliche Weise zum Ziele zu kommen suchte. R. hebt die Diffe¬ 
renzen seiner Methode gegenüber derjenigen Kelly's hervor nnd legt 
besonderen Werth auf die Abschrägung des Speculnm, wodurch allein 
ein sicherer Abschluss erreicht wird. 

Hr. Kümmell rühmt die Methode des Vortragenden als einen 
grossen Fortschritt, macht aber auf die Schwierigkeiten der Technik 
aufmerksam. Ein Nachtheil der Methode ist es, dass der Ham beson¬ 
ders aus dem Speculum mittels Spritze aufgesaugt werden muss. 

An der Discussion betheiligten sich ferner die Herren Raether 
und Rose. L. 


Phjsikallsch-medlelnlsche Gesellschaft za Wttrzbnrg. 

Sitzung vom 27. December 1896. 

1. Ilr. Hofmeier: Ueber die Verhütung des Kindbett- 
ficbers in den geburtshülflichen Unterrichtsanstalten. 

H. giebt zunächst die Mortalitätsstatistik über die seit dem Jahre 
1889 in der Würzburger Anstalt erfolgten 3000 Geburten. Bei einer 
Gesaramtmortalität von 0,7 pCt„ starben, überhaupt an Infection 0,2 -pCt. 


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2i>. Januar 18f>7. 


UKKLIXKK KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


81 


und an Infection, die vielleicht in der Anstalt erworben wurde 0,13 pCt. 
Die Gesammtmorbldität (wenn darunter eine Temperaturateigerung über 
38,0 verstanden ist) beträgt 9,*2 pCt. Davon bleiben nach Ausschaltung 
andeweitigcr Erkrankungen 5,9 pCt. und als rein puerperale Erkrankun¬ 
gen 2,1 pCt. 

Die Würzburger Anätalt figurirt somit unter den übrigen deutschen 
Anstalten, wie H. an der Hand einer Tabelle nachweist, als diejenige, 
welche die niedrigste Morbiditäts- und Mortalitätsziffer aufweist. 

Die so, trotz der höchst intensiven Ausnutzung des Materials zu 
Unterrichtszwecken, erzielten vorzüglichen Resultate sind ausser der 
natürlich beobachteten peinlichsten Antisepsis der Untersucher und der 
äusseren Desinfection der Kreissenden zurückzuführen auf die an der 
Würzburger Anstalt geübte präliminare Scheidendesinfection, die gründ¬ 
liche Auswaschung der Scheiden- und Cervixwunde mit Sublimatlösung 
1:2000 vor und während der Geburt. Doch glaubt Hofmeier die 
präliminare Scheidendesinfection nicht in diesem Umfang auf die Privat¬ 
praxis übertragen zu dürfen. Hier muss neben sorgfältiger Antisepsis 
eine möglichste Beschränkung der inneren Untersuchung der Kreissenden 
Platz greifen. 

2. Hr. F. Schenk: Ueber den Einfluss des constanten 
Stroms auf Amöben. 

Verworn hat beobachtet, dass Amöben, durch die ein galvanischer 
Strom geleitet wird, auf der Anodenseite ihre Protoplasmafortsätze ein¬ 
ziehen, auf der Kathodenseite die Fortsätze lebhafter ausstrecken. In 
der Meinung, dass das Einziehen der Fortsätze gleich der Muskelcon- 
traction ist, deutet er diese Beobachtung dahin, dass der Strom die 
Amöben an der Anode erregt, also auf sie anders wirkt wie auf Nerv 
und Muskel, die nach Pflügers polarem Erregungsgesetz an der Kathode 
erregt, an der Anode gelähmt werden. Schenk glaubt diese Beobach¬ 
tung anders deuten zu können. Das Einziehen der Fortsätze ist nicht 
bloss Ausdruck der Erregung, sondern kann auch in der Ruhe erfolgen, 
denn die Amöbe rundete sich auch unter Umständen bei Abkühlung ab. 
Das lebhaftere Ansstrecken der Fortsätze muss aber durch eine wenn 
auch mässige Erregung bedingt sein, denn das Ansstrecken erfolgt auch 
lebhafter, wenn man durch Erwärmen der Amöbe die Erregbarkeit in 
Erregung steigert. Folglich kann die Beobachtung Verworn’» auch so 
erklärt werden, dass der Strom die Amöbe auf der Anodenseite beruhigt 
oder lähmt, auf der Kathodenseite die Erregbarkeit steigert, mithin also 
gerade so wirkt, wie auf Nerv und Muskel. 

Um zwischen beiden Erklärungsmöglichkeiten zu entscheiden, hat 
S chenk den Einfluss des Stroms auf erwärmte Amöben untersucht, in 
d^ir Hoffnung, dass die von ihm vermuthete Erregbarkeitsverminderung 
am der Anode durch gleichzeitige Temperaturerhöhung aufgehoben wer¬ 
den könnte, so dass die Amöbe nun wieder auch nach der Anode zu 
Fortsätze auszustrecken fähig sein würde. Nach Verworn müsste da¬ 
gegen die erwärmte Amöbe das Einziehen der Fortsätze auf der Anoden¬ 
seite noch deutlicher zeigen. Schenk theilt nun mit, dass er zweifel¬ 
los Fälle beobachtet hat, in denen die erwärmte Amöbe nach der 
Anodenseite hin Fortsätze ausstreekte. Damit hält er die Ansicht Ver- 
worn’s für widerlegt. Zum Schlüsse macht er darauf aufmerksam, dass 
bisher noch keine Thatsache bekannt ist, die gegen die allgemeine 
Gültigkeit des Pfliiger'schen Erregungsgesetzes für alle lebendige Sub¬ 
stanz spricht. Kahn. 


Berliner medlcinlscbe Gesellschaft. 

Sitzung vom 13. Januar 1897. 

Vorsitzender: Herr Virchow. 

Schriftführer: Herr E. Hahn. 

Vor der Tages Ordnung: 

1. Hr. Beefschläger: Ich erlaube mir, Ihnen hier einen Fall von 
fötaler Hemmungsbildung des Herzens zu demonstriren, welchen ich 
Gelegenheit hatte, 7 Monate lang bei einem Kinde aus meiner Privat¬ 
praxis zu beobachten, und welcher dadurch noch besonders interessant 
wird, dass er combinirt ist mit einem totalen Situs inversus 
aller in Betracht kommeuder Organe. 

Herr Professor Langerhans, welchem ich auch an dieser Stelle 
meinen besten Dank ausspreche, hatte die Güte, die Privatsection aus¬ 
zuführen. 

Klinisch möchte ich vorher noch ganz kurz bemerken, dass ich im 
Juni vorigen Jahres das damals 13 Monate alte Kind wegen mangelhafter 
Nahrungsaufnahme in Behandlung bekam. Abgesehen von einer starken 
Atrophie — das Kind wog ungefähr 5 Kilo — fiel zunächst die kolbige 
Anschwellung der cyanotisch aussehenden Endphalangen der Finger und 
Zehen sowie eine geringe Cyanose im Gesicht auf, welch letztere aber 
beim Schreien des Kindes sehr hochgradig wurde. Ich hörte denn auch 
von der Mutter, dass die Cyanose von Geburt an sehr beträchtiich ge¬ 
wesen [sei, 4 , allmählich aber abgenommen habe. Das Kind sei sonst 
ziemlich gesund gewesen, habe aber immer blass und elend ausgesehen, 
weil es nie genügend Nahrung zu sich genommen habe. Bei der Unter¬ 
suchung zeigte sich, dass die Pulsation der Herzspitze links fehlte, dass 
auch die Herzdämpfung nicht links vorhanden war, sondern auf dem 
Sternum und rechts davon, ferner ein systolisches Geräusch rechts vom 
Sternum, an der Spitze deutlicher als an der Basis. Ebenso fehlte rechts 
die Leberdämpfung und war links, wenn auch gering, Uber den untersten 
Iutcrcostalräuraen, vorn und hinten, vorhanden. Palpiren liess sich die 


Leber nur undeutlich am linken Rippenbogen. Ich stellte somit die 
Diagnose eines angeborenen Herzfehlers verbunden mit Situs inversus. 
Nachdem ich das Kind während des letzten Halbjahres noch wiederholt 
zu Gesicht bekommen, trat im December eine Basilarmeningitis ein, 
welche vor 10 Tagen den Exitus herbeitührte. 

Das Gehirn konnte ich nicht mitbringen. Ich will indessen be¬ 
merken, dass, abgesehen von der tuberculösen Meningitis, die Rinde in 
der Gegend der Sylvischen Furche verkäst war und dass diese Ver¬ 
käsung die weisse Markmasse bis zu den grossen Ganglien hin durch¬ 
setzte. Ausgegangen war die Meningitis von den Bronchialdrtisen, 
welche Sie hier bis wallnussgross geschwollen und verkäst sehen. Es 
fand sich noch eine miliare Tuberculose anderer Organe, womit ich Sie 
aber heute nicht aufhalten will. 

Was nun den Situs inversus betrifft, so liegt, wie Sie hier sehen, 
im Abdomen die Milz rechts, der rechte Leberlappen mit der Gallenblase 
link«, die Cardia des Magens rechts, der Pylorus links, das Coecum mit 
dem Processus vermiformis links, das S romanum rechts. Im Thorax 
sind die Verhältnisse gleichfalls direkt umgekehrt. Die linke Lunge hat 
3 Lappen, die rechte deren zwei. Die Aorta liegt rechts, die beiden 
Hohlvenen links und münden in den links gelegenen Vorhof, während 
die Lungenvenen in den rechts gelegenen Vorhof einmünden. Die Lage 
des Herzens war genau in der Mitte des Thorax, also mehr nach rechts 
als normal. Die Herzspitze ist vollständig abgerundet und zeigte direkt 
nach der Mittellinie statt nach links. Was das Innere des Herzens be¬ 
trifft, so enthält das Septum atricum mehrere verschieden grosse 
Foramina, die Ventrikelwand dagegen, und dies möchte ich besonders 
betonen, fehlt vollständig, sodass nur ein einziges Ventrikel vorhanden 
ist. Aus diesem Ventrikel, welcher nach dem linken Vorhof ganz abge¬ 
schlossen, nach dem rechten offen ist, Bteigt von der Mitte der Basis 
vorn die Aorta, hinter ihr die Pulmonalis empor. Was die Richtung 
des Blutstroms anlangte, so traf das aus den Hohlvenen in den linken 
und dann durch die Foramina des Septums in den rechten Vorhof ge¬ 
langte Blut hier mit dem aus den Lungenvenen kommende Blut zu¬ 
sammen und begab sich gemeinsam in den Ventrikel, um von hier thcils 
in die Aorta theils in die Pulmonalis geworfen zu werden. 

Nähere Einzelheiten behalte ich mir für eine genauere Darstellung 
vor: was mich zu der heutigen Demonstration veranlasste, ist die merk¬ 
würdige Thatsache, dass dies Kind trotz der abnormen Anomalie ira 
Innern des Herzens im Stande war, ohne besondere Störungen 1 Jahr 
und 8 Monate zu leben. 

2. Hr. Hansemann: Das erste Präparat, das ich Ihnen vorstclle, 
stammt von einem 57jährigen Arbeiter, der infolge eines perforirten 
Magengeschwürs zu Grunde gegangen ist. Es betrifft die Harnorgane, 
und, wie Sie sich gleich überzeugen werden, besass das Individuum 
drei Nieren. Die Niere auf der rechten Seite zeigt eine normale Be¬ 
schaffenheit, normale Gefässe und einen normalen Ureter. Auf der 
linken Seite finden sich 2 kleinere Nieren. Die eine, von diesen beiden 
wiederum die kleinere, liegt entsprechend der normalen Niere, hat ein 
normal angeordnetes Gefäss und der Ureter geht nach abwärts in das 
Nierenbecken der unmittelbar darunter gelegenen, etwas grösseren Niere. 
Diese letztere, deren Becken etwas noch vorne gewendet ist, bezieht 
zwei Gefässe, und zwar eins aus dem unteren Abschnitt der Aorta und 
das andere nicht, wie man erwarten sollte, aus der linken Arteria iliaca, 
sondern aus der rechten. Entsprechend diesen beiden Gefässen hat 
diese zweite Niere auch zwei Becken. Auch die Ureter dieser beiden 
Becken laufen zusammen, sodass also schliesslich für die beiden Nieren 
der linken Seite nur ein einziger Ureter vorhanden ist, der an normaler 
8telle in die Blase mündet. Dadurch, dass die eine Arterie, und zwar 
die untere, von der rechten Seite zu dieser auf der linken Seite gelege¬ 
nen Niere hinüberläuft, dokumentirt sich dieselbe andere Niere als ein 
rudimentäres Aequivalent desjeniges Theiles, das man sehr häufig als 
Verbindungsstück zwischen den beiden Nieren bei der Hufeisenniere 
vorflndet. 

Während nun die Hnfeisenniere, ferner die Verdoppelung des Nieren¬ 
beckens, die Verdoppelung der Ureteren, alle diese Abnormitäten über¬ 
haupt häufig sind, so ist die vollkommene Verdoppelung der Nieren, 
sodass 2 von einander getrennte Nieren auf einer Seite vorhanden sind, 
ein überaus seltenes Ereigoiss. Ich selbt erinnere mich nur ein einziges 
Mal, ein ähnliches Präparat gesehen zu haben. Das stammte aber nicht 
von Menschen, sondern von einem Schwein und wurde vor einigen Jahren 
dem Pathologischen Institut der Universität von einem 8chlächter aus 
Spandau geschickt. In diesem Falle waren auf beiden Seiten 2 Nieren, 
sodass das Thier 4 Nieren besessen hatte. Auf der linken Seite aber 
waren diese Nieren durch einen bindegewebigen Stiel miteinander ver¬ 
wachsen, während auf der rechten Seite die Nieren vollkommen getrennt 
waren. Auch in diesem Falle liefen die beiden Nierenbecken der ge¬ 
trennten Nieren zusammen, sodass auf beiden Seiten nur ein einziger 
Ureter vorhanden war. 

Das zweite Präparat, das ich mitgebracht habe, betrifft, soweit mir 
bekannt geworden ist, ein Unicum. Es handelt sich um eine sehr 
eigenthtimliche Affektion des Herzens, die leider bei der 
Härtung etwas geschrumpft ist, und zwar einseitig, so dass die ursprüng¬ 
lichen Verhältnisse nicht mehr ganz deutlich vorliegen. Ich habe aber 
nach dem frischen Präparat eine Zeichnung anfertigen lassen, und da 
können Sie sich von den ursprünglichen Verhältnissen sehr deutlich 
überzeugen. Bei der Oeffnung des Herzbeutels bot sich ein merkwürdi¬ 
ger Anblick, denn man hafte zunächst den Eindrack, als ob in dem- 


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82 


No. 4. 


HRUL1X KU K M NISCIIK WO( 'II KNS( HUI FT. 


selben nicht ein, sondern zwei Herzen gelegen wären. Neben dem 
nur nra ein Weniges vergrösserten Herzen, lag noch ein grosser Beutel, 
der mit Blut gefüllt war. Nach der Herausnahme des Organs stellte es 
sich heraus, dass dieser Beutei den linken Vorhof darstellte. Der Beutel 
war grösser, als das ganze übrige Herz und dieses war so gedreht, dass 
die rechte Kante fast senkrecht zum Zwerchfell stand und der linke 
Vorhof mit dem äusscrsten Ende fast das Zwerchfell berührte. Er stellte 
eine ganz dünne durchscheinende Membran fast ohne Muskulatur dar 
und war mit einem festen Gerinnsel angefiillt, das zum Theil sich als 
Parietal-Thrombus, zum Theil als frisches Gerinnsel erwies. 

Es war zunächst daran gedaeht worden, dass es sieh hier uro irgend 
einen einseitigen Klappenfehler handeln könnte, der diese extreme Dila¬ 
tation des Vorhofes herbcigefiihrt hätte. Es stellte sieh aber heraus, 
wie das Herz aufgeschnitten wurde, dass ein solcher Klappenfehler nicht 
vorhanden war. Die Aortenklappen, die Mitralklappen waren' durchaus 
intakt; auch waren die sonst zuweilen geöffneten Septen vollkommen 
geschlossen. Das Foramen ovale war geschlossen, das Septum mcnibra- 
naceum nicht durchbohrt. Es bestand sonst keinerlei Missbildung am 
Herzen selbst. Ich finde aber keine andere Deutung für diese eigen¬ 
tümliche AffectioD, als dass es sich um einen congenitalen Defect der 
Musculatur handelt. Dagegen zeigte sieh eine Aorta nur von der Stärke 
eines kleinen Fingers, was für den 22jährigen kräftig gebauten Mann 
eine ganz ungewöhnliche Enge darstellt. 

Klinisch ist über diesen Fall sehr weenig zu berichten, da derselbe 
in bewusstlosem Zustand in das Krankenhaus eingeliefert wurde und 
sehr bald darauf starb. Es ist daher nur noch festgestellt worden, dass 
eine acute Gehirnaffection vorläge, und in der That wurde diese in der 
Form einer sehr ausgedehnten Erweichung aufgefunden. Auch in den 
anderen Organen, in der Milz und in den Nieren waren Infarkte vor¬ 
handen, und diese rührten von den Parietal-Thromben, in dem linken 
Vorhofe her. 

Es ist augenblicklich soviel von der Bubonenpest in den Zeitungen 
die Bede, dass ich glaubte, es würde Sie vielleicht interessiren, einige 
mikroskopische Präparate von dieser Erkrankung zu sehen. Ich habe 
vor einiger Zeit durch die Liebenswürdigkeit des Herrn Prof. Aoyama 
in Tokio eine Anzahl von Organstücken von der Bubonenpest zugeschickt 
bekommen, die von der Epidemie in Hongkong stammen. Es wird 
Ihnen vielleicht die Mittheilung von Aoyama über die Epidemie in 
Honkong bekannt sein, und dieser Schrift sind ansgezeichnete Abbil¬ 
dungen beigogeben, die ziemlich genau das zeigen, was Sie an den 
vorgelegten Präparaten sehen werden. Ich habe 4 Präparate aufgestellt, 
die alle aus den Lymphdrüsen stammen. Ich habe ausserdem noch von 
Leber und Niere Stücke bekommen, die aber keine besonders charakte¬ 
ristischen Veränderungen zeigen. An den Lymphdrüsen sind bei diesen 
Präparaten die verschiedenen Dinge, wie sie Aoyama schildert, sehr 
gut zu sehen. Das erste Präparat stellt eine frische byperplastische 
Lymphdrüse dar, und Sie sehen, dass sowohl die eigentlichen Lympho- 
cyten, als auch die Endothelien, die grossen protoplasmareichen Zellen 
eine sehr starke Wucherung eingegangen haben. In dem zweiten Prä¬ 
parat sehen Sie ein weiteres Stadium der Veränderung. Da sind aus¬ 
gedehnte nekrotische Particen und Zellinfiltrationen eingetreten. Die 
inflltrirten Zellen sind zum Theil wieder zerfallen. An dem dritten 
Präparat sehen Sie dann die Blutungen, die in solche Lymphdrüsen ge¬ 
wöhnlich hincintreten. Das vierte Präparat, das mit Oelimersion ein¬ 
gestellt ist, zeigt Ihnen einen Lymph-Sinus der mit Bactericn vollkommen 
angefüllt ist. Sie sehen da einen grossen Pfropf, der vorzugsweise aus 
Kokken besteht. Diese haben die Eigenthümlichkcit, dass sie sich sehr 
schwer färben. Auch in den Abbildungen von Aoyama sind diese 
Kokken sehr matt gefärbt dargestellt. Ob unter diesen Bacterienhanfen 
sich auch die Bacillen von Kitasato befinden, ist mir nicht möglich 
gewesen, deutlich zu unterscheiden. An einer anderen Stelle habe ich 
allerdings die Vorstellung gehabt, dass auch Bacillen darunter sind. 
Hauptsächlich aber habe ich überall diese Kokken gefunden, und zwar 
immer in der Form der massenhaften Anhäufung in den Lymphräumen. 
Diese Bacillen sind in dem Schnittpräparat überhaupt schwer nachzu¬ 
weisen, weil sie die Eigenthümlichkcit haben, dass sich ihre Enden 
vorzugsweise färben, und dass, wenn sie mit Kokken untermischt liegen, 
sie nicht deutlich als Bacillen zu erkennen sind, da an ihnen nur die 
einzelnen Pünktchen hervortreten. 

8. Hr. Senator: Ich möchte Ihnen mit ein paar Worten ein 
Stethoskop demonstriren, das von Aufrecht in Magdeburg angegeben 
ist, nnd welches auf dem Princip der Reibung oder Friction beruht, wie 
es die Erfinder des Phonendoskops, Bazzi und Bianchi, benutzten. 
Nur ist dieses von Aufrecht angegebene Höhrrohr ein ganz einfaches, 
leicht zu handhabendes Werkzeug, denn es ist eigentlich nichts weiter 
als eine Modiflcation der bekannten Schlauch- Stethoskope. Es besteht 
aus einem Schlauch mit Ansatzstück für das Ohr und einem Trichter, 
der auf die Haut aufgesetzt wird. Der Trichter ist hier ganz schmal, 
so dass er nur eine ganz kleine Hautfläche umkreist. Ein gewöhnlicher 
Ohrenspiegel oder ein starres breites Röhrchen thut übrigens denselben 
Dienst. Wenn das Ohrstück eingeführt ist, fährt man mit dem kleinen 
Trichter über die Haut, und nimmt dann in gewissen Gegenden ganz 
auffallende Schallunterschiede wahr, namentlich über dem Herzen, so 
dass man nach Aufrecht dadurch zu einer genauen Bestimmung der 
wahren Herzgrösse kommen kann, wovon er sich durch Vergleichung an 
Leichen überzeugt hat. Ich kann das nur bis zu einem gewissen Grade 


bestätigen. Wenn man von der Herzgegend mit dem Trichter streichend 
radiär nach aussen fährt, so wird der Schall 'indruck an gewissen 
Grenzen ganz auffallend schwächer, oder hört auch ganz auf. Die auf 
diese Weise gefundenen Grenzen nach oben, links und nach unten weichen 
von den durch Percussion, und zwar durch eine sehr sorgfältige palpa- 
torische Percussion zu erhaltenden Grenzen ab, sie überschreiten 
sic immer etwas, ungefähr um 1 1 cm. Dagegen kann ich nicht 

finden, dass die Grenzen nach rechts hin, auf und über dem Brustbein, 
zuverlässig zu bestimmen sind. Sobald man an dasselbe kommt, findet 
man sofort eine deutliche Abschwächnng des Gehöreindracks. wonach 
man also die wirkliche rechte Herzgrenze am linken Sternalrande anzu¬ 
nehmen hätte, was Ja in Wirklichkeit nicht zutriffr. Wie ich glanbe. 
rührt das daher, dass der Gehörseindruck abgeschwächt wird, wenn man 
von Stellen, die nur dnreh Weichtheile oder dicke Schichten von Weich- 
theilen gebildet werden, auf Stellen übergeht, wo dicht unter der Haut 
oder unter dünnen Weichtheilen Knochen liegt. Man kann sich von dem 
Einfluss des Knochens auf diese Gehörswahrnehmungen überzeogen. 
wenn man an anderen Stellen, etwa Arm oder Gesicht, mit dem Trichter¬ 
ehen von Weichtheilen auf Knochen übergeht. 

Aufrecht selbst hat auch bei anderen Organen seine Methode ver¬ 
sucht, ist aber bis jetzt zu entscheidenen Resultaten in dieser Beziehung 
noch nicht gekommen und ich selbst habe ebenfalls bis jetzt keine un¬ 
zweifelhaft sichere Grenzbestimmungen z. B. an der Leber, MHz, den 
Nieren erhalten können. 

Immerhin empfiehlt sich die Methode wegen ihrer Einfachheit, der 
leichten Handhabung des kleinen, zudem sehr wohlfeilen Instruments zu 
weiteren Untersuchungen, um zu sehen, wie weit es eine Ergänzung der 
bisherigen Methoden, die selbstverständlich durch diese Frictionsmethode 
nicht verdrängt werden sollen und können, bildet. Aufrecht hat das 
Instrument als Metroskop bezeichnet, was. wie ich glaube, nicht sehr 
zweckmässig ist. da man dabei leicht an ein Uterinspeculum denkt, und 
ich würde deshalb vorschlagen, cs als „ Frictionssthethosk op * zo 
bezeichnen. 

Tagesordnung. 

1. Wahl eines Mitgliedes der Aufnahmecommission. 

Es findet eine Stichwahl zwischen den Herren Rothmann und 
8 tadelmann statt, die bei der in der vorausgegangenen Sitzung voll¬ 
zogenen Wahl die meisten Stimmen erhalten haben. Als Stimmzähler 
werden berufen die Herren Fiirbringcr und Bidder. Abgegeben 
werden 180 Stimmen; davon sind 9 ungültig. Auf Herrn Rothmann 
fallen 67, auf Herrn Stadel mann 51 Stimmen. Herr Rothmann ist 
somit gewählt und nimmt die Wahl an. 

2. Hr. Merk: lieber Hermaphrodlsmus mit Demonstrationen. 
(Der Vortrag wird unter den Originalicn dieser Wochenschrift erscheinen. 

8. Hr. Senator: Zar Kenntniss der Oateomaiacfe und der 
Organtherapie. (Der Vortrag wird unter den Originalien dieser Wochen¬ 
schrift erscheinen.) 


Freie Vereinigung der Chirurgen Berlins. 

Sitzung vom 18. Juli 1896. 

(Fortsetzung.) 

Discussion über den Vortrag des Herrn König: Ueber Gonorrhoische 
Gelenkentzündung. 

Hr. Nasse: M. II., ich habe mich grade in den letzten Jahren 
ziemlich viel mit der gonorrhoischen Arthritis beschäftigt, weil auch ich 
gesehen habe, wie auendlich häufig sie hier in Berlin ist. Um Ihnen 
zu zeigen, wie häufig wir sie zu sehen bekommen, will ich nur er¬ 
wähnen, dass ich im letzten Jahre in der Poliklinik ca. 45 Gelenk- und 
Sehnenscheidenentzündungen gesehen habe, die ich mit ziemlicher 
Sicherheit für gonorrhoische gehalten habe. Dazu kommen noch eine 
ganze Reihe von Frauen mit Gelenkerkrankungen, deren gonorrhoische 
Natur ich nicht mit Sicherheit nachwcisen konnte. Es ist ja begreiflich, 
dass man das gerade bei Frauen nicht nachweisen kann. Ich will nur 
einen Fall z. B. erwähnen bei einer Frau, die von anderer Seite in 
einem hiesigen Hospital behandelt und vielfach auf den Zustand ihrer 
Genitalien untersucht worden war. Es wurde keine Gonnorrhoe kon- 
atatirt. Trotzdem nahmen wir eine gonorrhoische Gelenkentzündung an 
und wiesen die Gonokokken im Gelenke nach. 

Auf meine Anregung hat Herr Dr. Rindfleisch bakteriologische 
Untersuchungen des Gelenkinhalts in dem letzten halben Jahre durch¬ 
geführt, und da hat er doch ganz andere Resultate bekommen, als Herr 
Geheimrath König erwähnte. Unter 27 Gelenken hat er, wie er mir 
mittheilte, 14 mal in Gelenk- und Sehnenscheidenentzündungen Gonococcen 
gefunden, darunter 8mal mit anderen Organismen zusammen. In den 
anderen 13 Gelenken wurde nichts gefunden, oder die gewöhnlichen 
Eitermikroorganismen. Also ich muss nach diesen Befunden — und ich 
kann an diesen Befunden nicht zweifeln — doch daran festhalten, dass 
ein grosser Theil der gonorrhoischen Gelenke Gonococcenmetastasen sind. 

Hr. Koenig: Das bestreite ich gar nicht. Ich sage nur, es ist bis 
jetzt unbewiesen. 


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25. Januar 1897. BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Hr. Nasse: Ja, dass man cs auch nach weisen kann. 

Dann betreffs der klinischen Form hat Hr. Geh.-Rath Koenig den 
Hydrops und das Aussehen im Allgemeinen erwähnt. Ich muss sagen, 
dass ich mich mit der Einteilung nicht vollkommen einverstanden er¬ 
kläre. Es ist uns häufig anfgefallen, dass dieser Hydrops, namentlich 
in den Fällen, wo er nicht sehr reichlich ist, ein merkwürdiges Aus¬ 
sehen hat, — ich weiss nicht, ob Herr Geheimrath Koenig das auch 
bemerkt hat — dass er nicht gelblich, sondern auffallend häufig braun 
ist, als ob ein alter Bluterguss dagewesen wäre. 

Hr. Koenig: Das ist sehr richtig. Ich glaube, das ist immer dann, 
wenn die Menschen Bewegungen mit ihren Gelenken gemacht haben. 

Hr. Nasse: Inbetreff der Prognose des Hydrops bin ich auch der 
Meinung, dasB der Hydrops gewöhnlich keine schwere Erkrankung dar¬ 
stellt, wenn die Kapsel nicht geschwollen ist oder keine paraarticulären 
Schwellungen da sind. Ungünstig ist es aber auch bei leichten Fällen, 
wenn der Hydrops häufig wiederkehrt. Ich kann mich eines jungen Offl- 
ciers entsinnen, der vier-, fünfmal immer beim Recidiviren der Gonorrhoe 
oder bei einer neuen Infeetion einen IIydrop3 in demselben Knie bekam. 
Schliesslich entstand ein chronischer Hydrops, der auch auf Punktion 
und energische Auswaschung nicht zurückging. 

Von Bedeutung erscheint mir ferner, was Herr Geh.-R. König be¬ 
züglich der Puerperalinfection erwähnt hat. Ich glaube, dass das ganz 
richtig ist, und ich bin der Ueberzeugung, dass ein ganz ausserordentlich 
grosser Procentsatz der sogenannten Gelenkrheumatismen in der Schwan¬ 
gerschaft und im Puerperium gonorrhoischer Natur ist. Es existiit eine 
Arbeit hier in den Charite-Annalen von v. Noorden, worin er darauf 
hinweist, dass der Gelenkrheumatismus der Schwangeren und Wöchne¬ 
rinnen so ausserordentlich ungünstig verläuft, dass er sehr häufig nicht 
auf die gewöhnlichen Mittel, Salicylsäure, Antipyrin reagirt, dass es sehr 
häufig sich lange hinzieht, zur Ankylosirung führt. 

Ich kann den Verdacht nicht unterdrücken, dass doch manche dieser 
Gelenkrheumatismen gonorrhoischer Natur sind. Französische Autoren 
haben übrigens schon seit Jahren behauptet, dass die gonorrhische Arth¬ 
ritis und die puerperale — ausgeschlossen die pyämisch-suppurative — 
identisch seien. 

Die gonorrhoischen Sehnenscheidenerkrankungen sind auch ausser¬ 
ordentlich viel häufiger, als man allgemein annimmt. Ich habe eine 
ganze Reihe von isolirten Sehnenscheidenerkrankungen, vor allen an der 
Hand, gesehen, sowohl Erkrankungen einzelner Fingersehnen, als solche 
der gemeinsamen Sebnenseheidenbeutel am Handgelenk. Ebensolche Er¬ 
krankungen kommen an den Füssen vor. Ferner sind Schleimbeutel- 
er-krankungen nicht selten. Man hat ja jetzt in den letzten Jahren mehr 
A ufmerksamkeit vor allen Dingen einem Schleimbeutel geschenkt, der 
Bursa retro-calcanea oder aehillea. Diese habe ich auch vielfach er¬ 
krankt gefunden. 

Inbetreff der Therapie will ich noch erwähnen: Der Hydrops ver¬ 
schwindet in so ausserordentlich vielen Fällen ganz von selbst nach 
Ruhe, ganz leichter Compression, dass wir in der Regel keine Punktion 
ausgeführt haben. Es ist mir sogar verschiedentlich passirt, dass ich 
Fälle zurückgestellt habe zur Demonstration, noch auf 2—3 Tage sie 
habe liegen lassen und ihnen eine Binde umgewickelt. Wenn ich sie 
dann den Studenten demonstriren wollte, war der Erguss verschwunden. 
Bei den anderen Fällen, wo zugleich erhebliche paraartikuläre Schwellungen 
vorhanden waren, haben wir häufiger punktirt und Ausspülungen ge¬ 
macht. Es ist dann etwas anderes noch versucht worden, nämlich die 
Injection grösserer Mengen von Jodoformglycerin. Es schien uns lange 
Zeit, als ob das einen auBBerordentlich günstigen Einfluss übe; später 
ist mir dies wieder etwas zweifelhaft geworden. Die Arthrectomie, die 
Eröffnung des Gelenks ist von Franzosen schon früher empfohlen worden, 
und zwar generell. Letzteres würde wohl zu weitgehend sein. Es 
existirt darüber eine Pariser These von Christen. Wenn sie auch nur 
sehr geringes Material bietet, so ist sie doch erwäbnenswertb. Wir haben 
Artbrotomie fast nie ausgeführt. Die ableitenden Mittel sind in der 
v. Bergmann’schen Klinik niemals angewandt worden. Ich würde 
aber doch empfehlen, sie jetzt einmal zu versuchen, dagegen haben wir 
schon seit einer grossen Reihe von Jahren den Hauptwerth gelegt auf 
die Ruhe. Jedes Gelenk wird absolut flxirt. Extension ist nur bei 
Coxitis angewandt worden. 

Dann, was die Frage der Mobilisirnng anbetrifft, so habe ich auch 
die Erfahrung gemacht, dass man bei sehr energischen Patienten mit 
einer Massage, die bisweilen ein bischen roh erscheint, viel erreichen 
kann. Aber es gehört wirklich — dass mus ich zugeben — sehr viel 
Heroismus dazu, die Schmerzen auszuhalten, und ich habe selbst sehr 
kräftige und sehr energische Leute fast zusammenbrechen sehen unter 
den Schmerzen dieser Massage, dieser Mobilisirung. Oft gelingt die 
Mobilisirnng mit vieler Mühe und viel Anstrengung. Eine grosse Zahl 
Gelenke aber bleibt doch steif. 

Nun ist mir eins bei der heutigen Demonstration wieder aufgefallcn. 
Herr Geheimrath Koenig hat mehr Frauen wie Männer vorgestellt. In den 
Lehrbüchern steht durchweg, die gonorrhoische Arthritis komme häufiger 
bei Männern als bei Weibern vor. Früher hiess es sogar, der gonor¬ 
rhoische Gelenkrheumatismus kommt nur bei Männern, oder wesentlich 
bei den Männern vor. Mir scheint er mindestens ebenso häufig bei den 
Frauen zu sein. Ich habe in der Poliklinik ungefähr die gleiche Zahl 
von Männern und Frauen, vielleicht sogar mehr Frauen, mit gonor¬ 
rhoischen Gelenken gesehen. 

Dann ist mir noch eins aufgefallen: Die verschiedene Lokalisirung 
bei den beiden Geschlechtern. Unter den Frauen, die ich gesehen 


habe, ist reichlich die Hälfte an den Handgelenken erkrankt. Bei den 
Männern überwiegt entschieden das Kniegelenk vor allen übrigen Ge¬ 
lenken. Woran das liegt, ist mir unklar. Es wird ja immer behauptet, 
dass dasjenige Gelenk, welches am meisten angestrengt wird, oder 
Traumen ausgesetzt wird, in der Regel am häufigsten erkiankt. Aber 
ich kann nicht annehmen, dass das Handgelenk bei Frauen mehr Traumen 
ausgesetzt ist. als bei Arbeitern. 

Hr. Koerte: Ich wollte bemerken, dass ich nach Beobachtungen 
im Stadt. Krankenhause das vollkommen unterschreibe, was der Herr 
Vorsitzende uns vorgetragen hat. Die Trippererkrankungen sind bei 
den Männern wie bei den Frauen eine ausserordentlich häufige Aetiologie 
der Gelenkentzündungen. Bei dem Manne ist die Gonorrhoe ja leicht 
nachzuweisen, bei der Frau schwerer, weil die verschiedenen Ausflüsse 
nicht so leicht zu unterscheiden sind. Ich habe aber dann oft bei ge¬ 
nauen Untersuchungen der Genitialien auch Erkrankungen der Tuben und 
der Eierstöcke gefunden, die man wohl mit ziemlicher Sicherheit auf 
gonorrhoische Infeetion schieben konnte. 

Was die Form anbelangt, so stimme ich vollkommen überein, meist 
besteht seröser Erguss im Gelenk, der allerdings zuweilen auch zu 
katarrhalischen eitrigen Formen führt. Ich habe diese Fälle in der 
Regel mit Punction behandelt, d. h., wenn sie auf Lagerung, Umschläge 
oder Eisblase nicht zurückgingen, und das thaten sie in der Mehrzahl 
der Fälle nicht. Dann haben wir punktirt, ausgespült, zuweilen auch 
Jodoform injieirt. Gonokokken haben wir bei häufigen Untersuchungen 
nicht gefunden. Bei manchen Fällen bestehen von Anfang an ausser¬ 
ordentlich heftige Schmerzen, bei mässigen localen Veränderungen. In 
diesen Fällen habe ich von Gypsverbänden das meiste gesehen, wobei 
man, um völlige Fixation zu erreichen, die nächst höheren Gelenke mit 
in den Verband nehmen muss. Bei Kniegelenksentzündung muss der 
Verband bis um das Becken reichen. Dann kommt es in einer kleineren 
Reihe von Fällen vor, dass bei dieser leichten Form ganz allmählich 
die Kapsel schwillt, ähnlich wie bei der tuberculösen Entzündung, und 
ich bin auch in vereinzelten Fällen zur Resection genöthigt gewesen, 
weil lange fortgesetzte conservative Behandlung keine Besserung ergab. 
Dabei fand sich stets, dass die Kapsel colossal gewuchert war, über die 
Gelenkflächen sich ebenfalls Granulationen sich erstreckten und der 
Knochen usurirt war. Den Ausgang in Ankylose habe ich häufig ge¬ 
sehen und muss sagen, dass ich bei solchen Fällen trotz aller Mühe 
eine Herstellung der Gelenkbeweglichkeit bis jetzt nicht erreicht habe; 
verbesserte Stellung und zuweilen partielle Beweglichkeit habe ich 
erzielt. 

Endlich habe ich in einem Falle gesehen, dass nach einer gonorrhoi¬ 
schen Kniegelenksentzündung eine deformirende Gelenkentzündung auf¬ 
trat. Der betreffende Kranke ging mit einer Gonorrhoe ins Manöver, 
kam nach 8 Tagen mit einer serösen Kniegelenksentzündung zurück. 
Diese wurde mittelst Punction und Auswaschung behandelt. Der Erguss 
schwand, es blieb aber Rigidität der Kapsel, und allmählich im Laufe 
von etwa 2 Jahren entwickelte sich eine deformirende Entzündung im 
Knie, welche dann auf eine grosse Zahl von Gelenken sich fortsetzte, 
so dass der Betreffende invalide wurde. 

Hr. G. Lewin: Herr Koenig hält, wie ich aus seinem Vortrage 
schliessen zu können glaube, nicht jede gonorrhoische Gelenkentzündung 
durch Einwanderung des Gonococcus bedingt. Mir ist es nie gelungen, 
in der serös-purulenten Gelenkt!üssigkeit den Gonococcus autzufinden. 
Gleiches berichten andere Autoren (Hall, Chiasso, Aubert, Guyon, 
Janet, Bornemann, Holdheim). Positiver Nachweis ist von Pe- 
tione, Smirnoff, Wencie, Neisser publicirt. Holk hat schon 
1892 ein gleiches positives Resultat durch mikroskopische und bactcrio- 
logische Untersuchung erhalten. 

Auffallend ist es, dass die Krankheit bei Männern häufiger auftritt, 
als bei Frauen. Ein statistischer Ueberblick ergiebt, dass der Rheuma¬ 
tismus 0,8—5 pCt. bei mit Gonorrhoe behafteten Männern auftritt, bei 
Frauen ist ein bedeutend geringerer Procentsatz zu verzeichnen. Das¬ 
selbe betont Haas und Bornemann, letzterer hat 240 Fälle publicirt. 
Unter Gerhardt's 18 Kranken befanden sich 5, unter Holdheim's 
70 Kranken 16 Weiber. Wie viel solcher unter Auvergniot’s 110 
Fällen waren, kann ich nicht angeben. Obgleich ich innerhalb 84 Jahren 
über 100 000 Frauen behandelte, unter denen die Mehrzahl purulente 
Blenorrhoen hatten, so ist die Zahl von gonorrhoischem Rheuma äusserst 
klein gewesen. Man könnte darin eine Erklärung finden, dass Frauen 
mit Gelenkkrankheiten nicht auf meine Klinik kommen, doch würde 
dasselbe auch von den Männern gelten. — Ich will noch hervorheben, 
dass meine Kranken meist heruntergekommene Individuen waren. Diese 
Disposition heben namentlich einige französische Autoren hervor, doch 
geht ein Theil derselben von einem noch festgehaltenen humoral-patho¬ 
logischen Standpunkt aus. 

Therapeutisch hat sieh das Jodkali bei einigen Kranken bewährt. 
Selbst von Salieyl, welches als erfolglos im Allgemeinen erklärt wird, 
sab ich, wenn auch nur vereinzelt, Erfolge. Iramobilisation und Ein¬ 
reibung von Ungt. ein. und vorsichtige Massage kann ich rühmen. 

Hr. Koenig: Ich möchte nur eines hinzufügen. Ich mache nicht 
gern Hypothesen, aber es hat wohl in der Art der Besprechung gelegen, 
dass meine Meinung eigentlich ist: diese verschiedenen Formen sind da¬ 
durch bedingt, dass Mischinfectionen stattfinden. Ich bin der Meinung, 
es ist nicht alles das vom Gonococcus gemacht, und einer der Herren 
beginnt eben eine Arbeit, die das möglicherweise klarlegcn soll. Ich 
glaube aber, dass wir darüber uns vorläufig bescheiden müssen. So 
lange wir das eine nicht wissen, wissen wir das andere auch nicht. 


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1) KRUX KR KLINISCH K WOCH KXS( ’I IR 1 FT. 


No. 4. 


84 


Hr. Schueller: Ich will bloss hervorheben, was der Herr Vor¬ 
sitzende eben schon gesagt hat, dass auch nach meiner Ueberzeugung 
ein Theil derjenigen Gelenkentzündungen, die wir also nach den klini¬ 
schen Symptomen vollkommen berechtigt sind, als gonorrhoische zu be¬ 
zeichnen, auf Mischinfection beruht. Es ist ja möglich, dass man in 
diesen Fällen auch weiterhin bei genauerer Untersuchung häufiger Gono- 
coccus findet. Dass man ihn jetzt noch nicht so viel in den Ergüssen 
gefunden hat, liegt möglicherweise daran, dass man mehr die Flüssigkeit 
untersucht hat und nicht in gleicher Weise die darin enthaltenen zelligen 
Elemente. Das ist bloss eine beiläufige Bemerkung. Ich will im 
Uebrigcn nicht auf die ausführliche Pathologie der Krankheit eingehen. 
Ich habe ja auch eine grosse Anzahl von solchen Fällen gesehen und 
möchte nur eines hervorheben, was hier nicht so von Herrn Koenig 
betont wurde: -dass mir immer charakteristisch die* ausserordentlich 
grosse Schmerzhaftigkeit gewesen ist neben dem serösen Erguss, der 
Schwellung der Synovialis und der Infiltration in der Umgebung des 
Gelenks, eine enorme Schmerzhaftigkeit, wie sie in gleicher Weise sehr 
selten bei anderen acut auftretenden Gelenkentzündungen beobachtet 
wird. Dann möchte ich gleich im Anschluss daran an eine therapeu¬ 
tische Maassregel erinnern, die ich Bchon früher einmal angegeben habe, 
gerade für diese Formen, bei welchen also eine so beträchtliche 
Schmerzhaftigkeit vorliegt, dass oft selbst die Berührung des Gelenkes, 
jede leise Erschütterung des Bettes zu Schmerzäusserung Veranlassung 
giobt. In diesen Fällen werden geradezu glänzende Erfolge betreffs des 
Nachlasses der Schmerzen erzielt durch die Verordnung von Jodkali, 
natürlich nicht in der üblichen Weise, wie man es bei chronischer Lues 
giebt, sondern in der Weise, wie es auch die älteren Aerzte früher bei 
dem acuten Gelenkrheumatismus gaben, so dass man also ein- oder 
zweistündlich kleine Dosen giebt. Ich lasse gewöhnlich 3 gr pro Tag 
nehmen. Dann pflegt gewöhnlich schon nach 21 Stunden die Schmerz¬ 
haftigkeit so gut wie vollkommen verschwunden zu sein und auch die 
Schwellung und der Erguss erheblich nachzulassen. 

Nun möchte ich noch auf eine andere therapeutische Bemerkung 
zurückkommen, nämlich auf die Fixation dieser Gelenke. Es ist ja sehr 
richtig, dass man sie vor allen Dingen ruhig stellen muss. Aber ich 
glaube doch nicht, dass man sie allgemein in Gypsverband legen soll. 
Gerade dadurch belürdert man die Ankylose oder langdauernde Contrac- 
turen, mit denen man hernach Wochen und Monate lang zu thun hat. 
Ich muss übrigens bemerken, dass unter der ziemlich grossen Anzahl, 
die ich gesehen habe, doch verhältnissmässig wenig Ankylosen vorge¬ 
kommen sind. Mir ist aus den letzten Jahren nur ein Fall erinnerlich 
bei einer sehr schweren gonorrhoischen Coxitis eines jungen 25jährigen 
Mannes, der mit Extension mehrere Wochen lang behandelt worden ist. 
Da trat eine Ankylose in gestreckter Stellung ein, die wir dann auch 
nicht wieder beseitigen konnten. 

Bei den Ergüssen habe ich auch theils punktirt oder incidirt, wenn 
es eitrige Ergüsse waren, uud ausgespült mit Sublimatlösung, theils 
Jodoformemulsion injicirt. Ich kann nur sagen, dass ich damit im All¬ 
gemeinen zufrieden war und ferner auch in einzelnen Fällen von Sehnen¬ 
scheidenergüssen, die oft sehr viel mehr Schwierifk^it Für die Behand¬ 
lung machen, als die Gelenkergüsse, gerade mit der Punktion und 
Injection von Jodoform ganz gute Resultate gesehen habe. (Genauere 
Mittheilung erfolgt an anderer Stelle.) 

Hr. Salzer: M. H. Ich möchte noch bezüglich der Therapie einige 
Worte sagen, obgleich ich leider nur die wenig beweiskräftige Reihe 
von 2 Fällen anführen kann. Aber immerhin möchte ich sie bitten, 
diese Therapie einmal zu versuchen und ihr vielleicht die Wege zu eb¬ 
nen, was mir bei Mangel an Material nicht möglich ist. Es handelt 
sich um die Alkoholverbände, über die ich vor einem Jahre etwas ver¬ 
öffentlicht habe. Ich habe einen jungen Herrn gesehen, der das Jahr 
vorher einen sehr schweren Gelenkrheumatismus gehabt hat, an dem er 
Monate lang krank gewesen war. Er bekam dann bei einem neuen 
Recidiv des Trippers zugleich Gclenkerkrankungen und zwar waren beide 
Handgelenke und beide Kuiegelenke betroffen. Es handelte sich um die¬ 
jenige Form, welche Herr Geh.-Rath Koenig als die schwerste geschil¬ 
dert hat. Die zuerst gegebene Salicylsäure blieb ohne Wirkung, und ich 
entschloss mich dann eben wegen der geringen phlegmonösen Form die¬ 
ser Erkrankung — für Phlegmone hatte ich Alkoholverbände angegeben 
— es einmal mit den Alkoholverbänden zu versuchen, und in diesem 
Falle hatte ich die Freude, trotz der sehr schweren Erscheinungen und 
trotz der sehr grossen Schmerzhaftigkeit, die wohl den besten Maass¬ 
stab für die Erkrankung giebt, in auffallend schneller Weise die Schmerz¬ 
haftigkeit znrückgehen zu sehen und schon nach 5 Tagen fing der Herr 
an in den Lagerungsverbäoden, die ich ihm angelegt hatte, die Gelenke 
leise zu bewegen. Vielleicht in 2—3 Wochen war er ausser Bett, wäh¬ 
rend das in dem früheren Anfall, von dem er selbst sagt, er sei nicht 
so schwer gewesen, erst nach vielen Wochen der Fall gewesen war. 

Der zweite Kranke, den ich gesehen habe, war in einem vorge¬ 
schrittenen Stadium, es waren schon Wochen seit Beginn der Erkran¬ 
kung verflossen. Es handelte sich hauptsächlich um die Beseitigung der 
Kapselverdickunngen. Auch da gelang diese Beseitigung ziemlich schnell. 

Wie gesagt, m. II., eine Reihe von 2 Eällen ist nicht beweiskräftig. 
Aber die percutane Wirkung des Alkohols scheint mir vielleicht auch 
bei der Jodtinctur ein wirksames Moment zu sein, und wenn wir den 
Alkohol in der Weise, wie ich es vorgeschlagen habe, anwenden, so 
durchdringt er die Haut. Das sehen wir ja bei den Phlegmonen. 

Also vielleicht hat einer der Herren die Güte und probirt bei einem 
grösseren Material, als ich es habe, die Sache einmal nach. 


Hr. Zeller: Ich glaube, es dürfte nicht unangebracht sein, betreffs 
der Therapie dieser Erkrankungsform auf eine Bemerkung hinxuweisen, 
die Herr Bier gelegentlich auf dem Cbirurgencongress machte, Er theiltv 
damals mit, dass er im Anfang, als er bei chirurgischer Tuberculose 
seine Stauungshyperämie versuchte, verschiedentlich monoarticuläre Rheu¬ 
matismen, die er erst für tuberculös hielt, auf diese Weise behandelt 
und da einen überraschenden Erfolg gesehen habe. Er hat dann hinter¬ 
her die Versuche fortgesetzt, hat eine grössere Anzahl von diesen mono- 
articuläre Rheumatismen, von denen ein Theil auch bei Individuen, die 
mit Gonorrhoe behaftet waren, vorkam, auf diese Weise behandelt und 
zwar gerade diejenigen Formen, die nicht von einem Hydrops begleitet 
waren, sondern die mit starker Kapselinflltration und Neigung zur An¬ 
kylose einhergingen, und damals berichtet, dass er überraschende Erfolge 
von dieser Behandlung gesehen hat. 

III. Benneclce (Charite): Demonstration Ton NlerengeschwUstea 
aus der chirurgischen Klinik der Charite, welche von Professor 
Koenig seit dem December 1835 exstirpirt sind, sämmtlich auf retro- 
peritonealem Wege mittelst des von ihm bei der Nephrectomie stets 
angewandten Schnittes, welche von der 12. Rippe abwärts an der äusse¬ 
ren Seite des Riickenstreckers entlang nach unten führt und in der Höbe 
des Nabels bogenförmig in horizontaler Richtung nach vorn umbiegt. 

1. Linksseitige Pyonephrose bei einem 21jährigen Manne, wel¬ 
cher seit seinem G. Lebensjahre an Anfällen heftiger Schmerzen ln der 
1. Nierengegend, verbunden mit Fieber, vermehrten Urindrang, Spannen 
im Leibe litt; bisweilen trat dabei Schüttelfrost auf. Während der An¬ 
fälle war der Urin spärlich und klar, »onst reichlich und trübe. Steine 
wurden nie entleert, Pat. ist sehr heruntergekommen. 

In einem solchen Anfall aufgenommen, wurde ihm, nachdem die 
Diagnose durch den Nachweis einer hühnereigrossen Geschwulst vollends 
sichergestellt war, die 1. Niere exstirpirt. Der Verlauf war ungestört. 
Pat. wurde nach 4 Wochen geheilt entlassen. Er ist seitdem (jetzt 
5 Monate post op.) frei von Beschwerden, hat 7 Pfund zugenommen und 
thut seinen vollen Dienst als Friseur. Die Wunde ist dauernd ge¬ 
schlossen, der Urin klar. 

Das frische Präparat stellte einen dünnwandigen pyonephrotiachen 
Sack dar, der bei der Operation einriss und graue, eitrige, stinkende 
Flüssigkeit mit viel Cholesterin und lockeren Flocken entleerte; in ihm 
lagen 2 facettirte dunkelgraue Steinchen. Die Besonderheit des Präpa¬ 
rates liegt in einer theilweisen Epidermisirung der Innenfläche des Sackes, 
welche sich schon im frischen Zustande durch die eigenthümliche stumpf- 
graue Farbe kennzeichnete, wogegen die nicht epidermisirten Partien 
feucht glänzten und roth aassahen. Die obersten Schichten der Epi¬ 
dermis sind vielfach als feine Haut abziehbar. Die Epidermisirung geht 
genau bis zu dem scharfen Uebergang des erweiterten Beckens in den 
normal weiten schleimhautbekleideten Ureter und muss erst als Druck¬ 
effect aufgefasst werden. — Mikroskopisch hat man das bekannte 
Bild des zusammengedrängten, z. Z. degenerirteo, interstitiell veränderten 
und mit Inflltrationsberden durchsetzten Nierenparenchyms, das Becken¬ 
epithel ist glatt und hochgeschichtet, die obersten Schichten sind kernlos 
und verhalten sich ganz ähnlich dem Stratum corneum der gewölichen 
Epidermis. 

2. Sogenannte Struma suprarenalia der rechten Niere eines 
51jährigen Mannes, der seit 1 Jahr stark abgemagert war und zeit¬ 
weilig stark blutigen Urin hatte. Schon damals wurde (in der Chirurg. 
Klinik in Göttingen) eine grosse Geschwulst der rechten Niere con- 
statirt, die Operation angerathen, aber abgelebnt. Inzwischen hat sich 
die Oeschwul8t vergrössert, stärkere Beschwerden haben sich eingestellt, 
zeitweilig besteht Urinverhaltung, der Urin ist stark bluthaltig, die Ab¬ 
magerung hat Fortschritte gemacht, der Kranke ist anämisch und dys- 
pnoisch. 

Bei der mühsamen Exstirpation zeigten sich zahlreiche retroperi- 
toneale Drüsen, von denen eine Anzahl mit der Cava verwachsener zu¬ 
rückgelassen werden musste. Tod Tags darauf in plötzlichem Collaps. 
Die Section ergab cystische Entartung und Hydronephrose der anderen 
Niere, deren offenbare Insufficienz den Tod herbeigeffihrt hatte, Meta¬ 
stasen in der 1. Nebenniere, den retroperitonealen Drüsen und den 
Lungen. 

Das Präparat stellt die wohl auf das Dreifache vergrösBerte Niere 
dar. Der untere Pol enthält nur kleine Einsprengungen von Geschwulst¬ 
herden, die obere Hälfte dagegen ist ganz mit grösseren und kleineren 
Knoten durchsetzt; einige derselben sind weiss und nekrotisch. Die 
Geschwulst war im frischen Zustande sehr blutreich. — Mikroskopisch 
erweist sie sich als eine sogenannte Grawitz'sche Nebennieren¬ 
struma, jene Geschwulstform, deren anatomischer Bau sehr typisch ist. 
während die Frage der Aetiologie (ob von versprengten Nebennieren¬ 
keimen ausgehend, ob als Angiosarkom, Peritheliom, ob als Adenom der 
Niere anfzufassen) noch nicht vollkommen geklärt ist. Das Geschwulst¬ 
gewebe erscheint in Form von meist dnreh eine deutliche fibröse Kapsel 
von Nierenparenchym geschiedenen Knoten, die sich da, wo die Ge¬ 
schwulstmasse jene Kapsel vollkommen ausfüllt, als Systeme von reihen¬ 
weis angeordneten Geschwulstzellen darstellen, welche durch feine 
Stromabalken in kleinere Abtheiiungen geschieden werden. Da, wo der 
Schnitt weniger aasgebildete Knoten getroffen bat, Bieht man stellen¬ 
weise aufs Deutlichste die Elemente der Geschwulstbildung. Von der 
Peripherie her erheben sich feinste, meist capillarbaltige, oder nur aas 
einer solchen bestehende Sprossen, welche allseitig einen Bürstenbesatz 
von Geschwnistzcllen tragen; diese sind tbeila kubisch, theils cylindrisch. 

3. Adenom der rechten Niere bei einem G5jährigen Mann, de 


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25. Januar 1897. 


13ERLIN ER KEIN 18011E W00HENS011R1 FT. 


seit 4 Monaten stark bluthaltigen Urin entleerte, während derselbe in 
den Pausen von normaler Zusammensetzung war. In der r. Nieren¬ 
gegend war eine harte, kopfgrosse, schmerzlose, bei der Atlimung unbe¬ 
wegliche Geschwulst zu fühlen. Der Kranke verlangte dringend die 
Operation. 

Dieselbe war äusserst schwierig nnd dauerte 2'/ 4 Stunden. Es ge¬ 
lang nur mühsam, die Geschwulst aus der dicken Fettkapsel herauszu¬ 
arbeiten; letztere musste Zurückbleiben. Pat. erholte sich langsam, die 
Tagesmenge des nach der Operation eiweisshaltigen Urins stieg nach 
4 Tagen nur auf 300 ccm, der Kranke starb 5 Tage post op. Die 
Section ergab Lungenhypostasen, Bronchitis, in der linken Niere eine 
kirschgrosse Cyste, die zurückgebliebene Geschwulstkapsel enthielt noch 
Geschwulst. 

An dem Präparat ragten wohl 2 /j der Niere äusserlich wohlerhalten 
aus dem mehr als kindskopfgrossen Tumor hervor. Nach dem Auf¬ 
schneiden sieht man aber, dass die im frischen Zustande ausserordent¬ 
lich bunte, weisslich, gelb und roth gesprenkelte, von sehr weiten Blut¬ 
gefässen durchzogene Geschwulst nur einen kleinen Theil des Nieren¬ 
parenchyms ganz intact gelassen. Das Nierenbecken lässt sich als weit 
auseinandergezogene Schleimhautspalte mitten in die Geschwulst hinein 
verfolgen. Von den bei der Section gewonnenen Organen wurde uns — 
die Operation fand ausserhalb statt — die zurückgelassene Kapsel nnd 
die andere Niere übersandt; die genauere Untersuchung war aber wegen 
starker Fäulniss ergebnislos. Die Kapsel enthielt noch weitere Tumor- 
massen vom gleichen Bau, wie die grosse Geschwulst; was die Niere 
anlangt, so müssen wir nach dem klinischen Verlauf uns auf die Yer- 
muthung beschränken, dass der Tod vielleicht durch ihre Insufflcienz 
(Epithelnekrose?) herbeigeführt wurde. — Mikroskopisch erwies sich 
die Geschwulst als epithelialer Natur, als Adenom, und zwar an¬ 
scheinend vom Epithel der geraden Canälchcn ausgegangeD. In den An- 
fangflstadien sieht man Querschnitte von solchen zu kleinen Cystchen 
erweitert, deren Epithelbesatz in das Lumen hinein in Form einer 
Sprosse verwächst. In weiter ausgebildeten Partien hat man das Bild 
des ausgebildeten Adenoms mit zierlicher Verästelung und Verflechtung 
der epithelialen Gebilde, welche meist durch bindegewebige Septen und 
Kapseln zu kleinen und grösseren Knoten vereinigt sind. 

(Schluss folgt.) 


Aerztlleher Verein zn München. 

Sitzung vom 13. Januar 1897. 

1. Hr. Kronacher: Demonstration eines Falles von ein¬ 
geheiltem Kalbsknochen. 

Der Patient, ein Schneider, verlor durch Nekrose die 1. l'halange 
des rechten Zeigefingers. 2'/* Monate nach der Invagination des 
Knochens war alles vernarbt. 

Eine Bewegung ist natürlich einerseits wegen der Einheilung des 
Knochens in den Metacarpalknochen, andererseits wegen des Sehnenver¬ 
lustes nicht möglich, aber gleichwohl kann die Iland ganz gut zum 
Nähen benutzt werden. 

Die Einheilung des Knochens wurde durch 2 Röntgenphotographien, 
welche in grösseren Intervallen aufgenommen waren, näher erläutert. 

Di Bcussi on. 

Hr. Schmitt demonstrirt mehrere osteoplastische Präparate, welche 
früheren ThierverBuchen entnommen sind. S. ist der Ansicht, dass der 
ringepflanzte Knochen abstirbt und die KalkRalze das Material für den 
neuen Knochen bilden. Unter den Präparaten befanden sich Schädel 
und Extremitäten mit reactionslos eingeheilten Knochenstücken. S. giebt 
an, dass die Einheilung dieser Knochenstücke ausserordentlich leicht er¬ 
folgt; dass namentlich vom Periost aus die Neubildung des Knochens 
sehr leicht von Statten gebe. 

Hr. Seydel glaubt auch, dass der eingeheilte Knochen todter 
Knochen sei, da er bei mikroskopischer Untersuchung niemals in den 
Knochen hineingehende Gefässsprossung beobachtet habe. Ansserdem 
berichtet S. über eine Schussverletzung des Darmbeins, wobei ein in die 
Fistel hineingebrachter Hartgummipfropf reactionslos eingeheilt war. 

2. Hr. Seitz: Ueber Scharlach. 

S. theilt die Resultate seiner ätiologischen Studien über Scharlach 
mit. Die beobachteten Fälle gehörten durchschnittlich zu den schwereren 
mit 20pCt. Mortalität. 

Von den 669 Fällen waren 366 Einzelerkrankungen, die übrigen 
803 Fälle kamen in 124 Familien zur Beobachtung. Davon trafen auf 
die erste Categorie 31 Todesfälle, also 8,4 pCt., und auf die zweite 
47 Todesfälle, also 15,5 pCt. Die Intervalle zwischen der Erkrankung 
der einzelnen Kinder wird oft sehr gross. Eine Isolirung der Kinder 
ist unter der äusseren Bevölkerung ja nahezu ausgeschlossen. Fünfmal 
wurde beobachtet, dass auch pflegende Personen erkrankten, aber in auf¬ 
fallend später Zeit. 

S. erwähnt, dass auch hie und da die Praktikanten der Poliklinik 
nach mehrwöchentlicher Thätigkeit von Scharlach befallen werden. 
Ebenso giebt Vogel an, dass von den Aerzten des Militärlazareths, 
welche täglich 6—8 Stunden auf der Scharlachstation beschäftigt sind, 
im 2. oder 3. Monat hie und da einige an Scharlach erkranken. 

167 Fälle zeigten als Complication Nephritis, 35 mal kam Otitis zur 
Beobachtung, 28 mal Sehstörungen, 43 mal Pneumonie, 5 mal Glottis¬ 


85 


ödem, 18 mal Myocarditis, 10 mal Endo- nnd Pericarditis, 24 mal En¬ 
teritis, 3 mal Dysenterie, 8 mal Diphtherie, 3 mal Morbilli. 

Zweimaliges Befallensein wurde 2 mal beobachtet, einmal nach einem 
einjährigen, ein anderes Mal nach einem mehrjährigen Intervall. 

15 mal war Scarlatina maligna vorhanden. 

70 Fälle verliefen lethal, darunter waren 15 Fälle von Scarlatina 
maligna, 15 von allgemeiner Sepsis, 16 von Urämie, 8 von Herztod, 
7 von Pleuritis, 1 von Meningitis, 4 von Glottisödem, 2 von Diphtherie. 

S. ist der Ansicht, dass die Diphtherie zum Scharlach keine anderen 
Beziehungen hat, als irgend eine andere concomitirende Infectionskrank- 
heit. Scharlach mit echter Diphtherie ist sehr selten. Ebenso sind 
auch die charakteristischen Formen der diphtheritischen Lähmung nach 
Scharlach als Nachkrankheit ausserordentlich selten. Bei Scharlach be¬ 
steht eher eine Tendenz zur Ausbreitung auf die oberen Luftwege, da¬ 
gegen sind Senkungen des Bpeciflschen scarlatinösen Krankheitsprocesses 
bis zum Kehlkopf nur selten, woraus S. schliesst, dass die gewöhnliche 
sogenannte Scharlachdiphtherie mit der echten Diphtherie nichts zu thun 
habe. Auch die nach der amtlichen Liste über Morbidität und Mortalität 
bei Infectionskrankheiten, über Scharlach und Diphtherie angefertigten 
Curven zeigen keineswegs einen zwischen beiden Erkrankungen be¬ 
stehenden Zusammenhang. 

Was die Therapie betrifft, so machte S. die Erfahrung, dass man 
zwar meist mit blander Diät etwas erreichen, jedoch in so und so vielen 
Fällen das Auftreten einer Nephritis auch nicht verhindern kann. Das 
Auftreten der Scharlachnephritis ist nicht blos an individuelle Momente, 
sondern auch an den Charakter der Epidemie selbst gebunden. Die 
hämorrhagische Form der Nephritis beobachtet man im Winterhalbjahre 
häufiger. S. sah unter sämmtlichen beobachteten Fällen 2 mit Amaurose, 
welche jedoch einen vollkommen günstigen Ausgang zeigten. 

S. meint, dass man mit kühlen Bädern nicht allzu energisch Vor¬ 
gehen soll, dass man hingegen mit milden Badetemperaturen theilweisen 
Erfolg hat. S. erwähnt dann noch, dass bezüglich der Prophylaxe durch 
Anstellung von Schulärzten sehr viel geschehen könne und dadurch jeden¬ 
falls auch eine einheitlichere Handhabung der bestehenden Vorschriften 
herbeigeführt werden könne. 

Wa9 die Serumthcrapie betrifft, so dürfe man von dem Beh- 
ring’schen Serum, so erfolgreich dasselbe bei Diphtherie angewandt 
werde, bei Scharlach nicht sicher von vornherein eine Wirkung er¬ 
warten. 

Discussion. 

Hr. Ranke giebt ebenfalls an, dass die Incubationszeit bei Schar¬ 
lach sehr variabel sei. Er ist auch der Ansicht, dass die makroskopische 
Unterscheidung von Scharlachangina und Diphtherie oft sehr schwierig 
sei, dass aber in der Klinik mehr Fälle von Diphtherie bei Scharlach 
beobachtet werden, als in der Poliklinik, sowie, dass sich in einigen 
Fällen von Scharlachangina der Löfflerbacillus habe nachweisen lassen. 
R. sah ebenfalls trotz blander Diät Nephritis auftreten, die jedoch nur 
in den allerseltensten Fällen zum Tode führt. Besonders viel hält B. 
aut Irrigationen bezw. Durchgiessen der Nase. Betreffs der Schule meint 
R., dass ein Kind^jlcht vor Ablauf der 6. Woche die Schule wieder 
besuchen soll. 

Hr. Seitz frägt an, ob es nicht im Interesse der ärztlichen Welt 
gelegen wäre, dass von der Stadt eine Unt’ersuchungsstation errichtet 
würde, in welcher Aerztc bacteriologische Untersuchungen vornehmen 
könnten. 

Hr. v. ZiemBsen bittet, diese Anregung nur zu unterstützen; je¬ 
doch soll diese Station nur für Aerztc errichtet werden, um eben dort 
alle infectiösen Processe untersuchen zu können. Auf Anregung 
v. Ziemssen’s wird schliesslich Herrn Seitz der Auftrag ertheilt, 
einen diesbezüglichen Antrag zu formuliren. v. Z. erwähnt, dass um 
einen Stab gewickelte Charpietampons, die in Carbolsäure getaucht 
werden, zum Abwischen des Belages der Tonsillen bei Scharlachangina 
sehr zweckmässig seien. Es ist auffällig, wie sich das Allgemeinbefinden 
ranch bessert und eine relativ gute Euphorie eintritt. Auch die an- 
ästhesirende Wirkung der Carbolinjectionen hebt v. Z. hervor. Nament¬ 
lich seien die Abschwellung der angularen Lymphdrüsen und der Nach¬ 
lass des Fiebers bemerkenswerth. Das Heilserum hat v. Z. ebenfalls 
gute Dienste geleistet. 

Daran schliesst sich eine längere Debatte über die Schulfrage bei 
Scharlach, an welcher sich die Herren Gossman, Seitz, Ranke, 
Näher und Stiel er betheiligen. 

Zum Schlüsse wird eine Commission beauftragt, sich mit dieser 
Frage eingehender zu beschäftigen und ihre diesbezüglichen Beschlüsse 
dann dem Verein vorzulegen. v. S. 


Wissenschaftlicher Verein der Aerzte zu Stettin. 

Sitzung vom 8. Deceniber 1896. 

Vorsitzender: Herr Schleich. 

Schriftführer: Herr Freund. 

Hr. Neisser: Die bacteriologische Typhusdiagnose am 
Krankenbett. Vortr. bespricht die bisherigen Methoden, denen es 
allen an Sicherheit mangelt; auch die Milzpunction hat er nur noch 
selten — dann freilich stets mit positivem Erfolge — angewendet, nach- 


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No. 4. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


dem einmal eine allerdings geringfügige Blutung in die Bauchhöhle beob¬ 
achtet wurde. Das Elan er’sehe Verfahren der Züchtung der Typhus- 
bacillcn aus dem Stuhl wurde in über 50 Fällen eingehend geprüft: es 
gelang nicht selten, auf diese Weise eine sichere Diagnose zu stellen, 
so dass Vortr. in dem E.’schen Verfahren jedenfalls einen Fortschritt in 
der Diagnostik des Typhusbacillus aus dem Stuhl erblickt; andererseits 
versagte die Methode in einer Reibe sicherer Typhen, auch schienen die 
angegebenen Culturmerkmale nicht immer genügend scharf; es entbehrt 
also diese Methode der Sicherheit, die für die Typhusdiagnose am 
Krankenbett gefordert werden muss. 

Vortr. bespricht nunmehr ein neues diagnostisches Verfahren, das 
von Widal angegeben ist; dasselbe beruht im Wesentlichen auf der 
Pfeiffer’schen Entdeckung von der eigenthümlichcn deletären Ein¬ 
wirkung des Blutserums choleraimmuner Thiere auf Choleraspirillen. 
Widal fand, dass auch das Serum typbuskranker Personen solche 
„agglutinirenden“ Wirkungen auf Typhusbacillen ausübt. Dieser Vor¬ 
gang konnte mikroskopisch, sowie im Reagensglase nachgewiesen werden. 
Von mehreren französischen Autoren, sowie von Licht heim und 
Breuer und von Stern sind diese Angaben im Wesentlichen bestätigt 
worden. 

Auf der Inneren Abtheilung des Städt. Krankenhauses wurden fol¬ 
gende Resultate gewonnen: 

Zunächst gelang es ln einfacher Weise, für Bacillenreaction und 
mikroskopische Untersuchung zugleich genügende Mengen Blutserum 
zu erhalten; ein mit einer nicht zu schmalen zweischneidigen und sehr 
scharfen Lanzette geführter Stich in die Fingerspitze genügte stetB, um 
bei herabhängendem Arm und langsamen Streichen des Fingers peripher- 
wärts ca. 5 ccm Blut tropfenweis zu erhalten. Dieses Vorgehen erscheint 
etwas gewaltsam, ist aber thatsächlich so gut wie schmerzlos; noch nie 
bat sich ein Patient darüber beklagt oder die Wiederholung verweigert. 
Wenn es ganz schnell gehen soll, kann nun das Serum durch Ccntri- 
fugiren abgeschieden werden. 

Die Bacillenprüfung nach Widal ergab in allen 25 Fällen von 
sicherem Typhus ein schönes positives Resultat; stets wurde die Bouillon 
innerhalb 1—24 Stunden klar, während sic in 25 Fällen andersartiger 
Krankheiten unverändert nnd trübe blieb, abgesehen von einem Falle, 
wo das Auftreten einer feinen Körnung in der Bouillon eine Widal’sche 
Punction vortäuschte, die sich aber von der echten Punction deutlich 
unterscheiden Hess. 

lim nicht Täuschungen zu erliegen, durfte auch nicht unter ein 
Verhältnis von 1 Serum zu ca. 10 Bouillon heruntergegangen werden. 

Die mikroskopische Prüfung der Punction im hängenden Tropfen 
ergab, wenn mit bestimmten technischen Cautelen vorgenommen, über¬ 
wiegend eindeutige positive oder negative Resultate; nach der Ansicht 
des Vortr. Bollen nur diejenigen mikroskopischen Befunde als beweisend 
gelten, in denen sogleich völliger Stillstand und Agglutination cintritt; 
ebenso lässt ein Ausbleiben dieser Erscheinungen nach ca. 1 , Stunde 
die Diagnose „Typhus“ ausschliessen. Alle weniger scharfen und 
zweifellosen mikroskopischen Reactionen sollen der Bouillonprüfung 
unterzogen werden. 

Vortr. begrüsst in dem Widal'sehen Verfahren eine bedeutsame 
neue Methode, die für die Typhusdiagnose am Krankenbett Ausgezeich¬ 
netes leistet. 

Hr. Rothholz: Ueber Blennorrhoea neonatorum. Trotz 
aller Prophylaxe bevölkert die Blennorrhoea neonatorum noch immer die 
Blindenanstalten. In der Stettiner Provinzialanstalt waren 1895 unter 
68 Blinden 21 Blennorrhoen. — Der Vortragende bespricht zuerst das 
Cred£,'sehe Verfahren zur Verhütung der Blennorrhoea neonatorum, 
durch dessen 1884 erfolgte Einführung die Erkrankungsziffer an Blen¬ 
norrhoe in den geburtshülfliehen Anstalten von 50 pCt. auf ’/ 3 pCt. ge¬ 
sunken ist. Er stellte folgende Sätze auf: 1) das Crede 1 sehe Verfahren 
muss den Studenten und den Hebeammen praktisch beigebracht werden. 
2) Es soll stets da angewendet werden, wo Fluor der Mutter oder 
Gonorrhoe des Vaters besteht oder wo bei früheren Entbindungen ein 
Kind Bchon Blennorrhoe gehabt hat, und ferner in allen Fällen, in 
welchen Fluor der Mutter nicht sicher ausgeschlossen werden kann, z. B. 
bei Entbindungen, zu denen man plötzlich gerufen wird — natürlich nur, 
wenn die Eltern nicht widersprechen. Statt des Glasstabs empfiehlt der 
Vortragende zum Einträufeln das Tropfglas von Blokuszewski (be¬ 
schrieben in der dermat. Zeitschrift II. Juni 1895 p. 825), mit welchem 
der Ungeübte leichter nur einen Tropfen einzuträufeln vermag, als mit 
dem Glasstabe oder gar mit der Pinzette, wie es leider von den Hebe¬ 
ammen Stettins häufig geschieht. Bekanntlich kann mehr als ein Tropfen 
grossen Schaden anrichten. 

Ursache der Blennorrhoe sind die Gonokokken, deren Nachweis 
aber nur zur Sicherung der Diagnose wünschenswert ist. Das klinische 
Bild genügt zur Feststellung der Behandlung. Ausschlaggebend ist das 
eitrige Secret. das zuweilen Membranen bildet. Die fast stets vor¬ 
handene Lidverklebung setzt den Eiter unter Druck, und ist deshalb 
sorgfältig zu bekämpfen. Die Hauptgefahr besteht in Affection der Horn¬ 
haut, welche wahrscheinlich fast nur in Folge mechanischer Insulte dnreh 
ungeschickte Reinigung oder die Finger des Säuglings geschieht. Die 
Arme des Kindes müssen deshalb gefesselt werden. 

Die Hornhautaffection führt eventuell zur Perforation, Linsenaustritt 
oder Linsentrübung, völliger Zerstörung der Hornhaut und Erblindung. 
Zuweilen werden Gelenks-Eiterungen gesehen, wie bei der Urethral- 
Blennorrhoe der Erwachsenen. -— Die Behandlung hat fortwährende 
Entfernung des Eiters, viertelstündlich Tag und Nacht zu besorgen und 


Lidverklebung zu verhüten. Bei der Reinigung mittelst Läppchen darl 
dis Hornhaut nicht berührt werden. Das 8ecret wird herausgemolkeo 
und vor den Lidern abgewischt. Ferner wird zweistündlich Zinc. solf. 
0,1:100,0 reichlich eingegossen und ein Mal täglich Arg. oitr. 0,1:8". 
Nach jeder Reinigung wird Vaseline auf die Lidränder gestrichen. Ist 
die Lidhaut roth und geschwollen, so sind Eiscompressen anfzulegen 
Bei beginnender Hornbautaffektion empfiehlt der Vortragende dringend 
3 Mal täglich >/i pCt. Eserin, sulfur. einzuträufeln. Der Reinigende muss 
sich sorgfältig vor Uebertragung der höchst ansteckenden Krankheit 
schützen. Vortragender zieht die schwache Argent. nilr.-Lösung vor 
weil er dabei fast nie die Granulationsbildung auf der Conjunctiva beob¬ 
achtet hat, die bei stärkeren Lösungen häufig zu sein scheint. — Im 
Anschluss an den Vortrag regt der Vortragende an, dass der Verein 
Schritte thun möge, um die Hebeammen an ihre Pflicht zu erinnern, bei 
Blennorrhoea neonatorum sofort ärztliche Hülfe zu holen. Er bat eine 
ganze Anzahl von Fällen gesehen, die durch Schuld der Hebeammen n 
dauerndem Schaden gekommen sind. 


VII. Die Bedeutung der Psychiatrie für den 
ärztlichen Unterricht 

Von 

Heinrich Laehr. 

(Schluss.) 

Gegenwärtig wird das Verlangen nach einer „Irrengesetzgebung* 
häufig genug ausgesprochen, auch von tüchtigen Fachgenossen. Man ist 
gar zu sehr geneigt, wenn Uebelstände bemerkbar werden, deren Besei¬ 
tigung dem Staate aufzubürden. Meines Erachtens haben wir jedoch 
keine Veranlassung, in dies Verlangen einznstimmen. Die gesetzliches 
Bestimmungen und die ministeriellen Verordnungen genügen bei nns den 
Bedürfnissen, Ja sie sind den Irrengesetzen anderer grösserer Staaten 
vorzuziehen, die bisher nie zur Ruhe gekommen sind und immer wieder 
neue Lücken ausznfüilen gedrängt werden. Kleineren Staaten gelingt 
ein solches Gesetz leichter, weil die Sachverständigen meist in persön¬ 
lichem Verkehr mit den maassgebenden Behörden stehen können. Dazu 
kommt, dass die Juristen die Gesetze anzufertigen haben und bei ihrer 
zur Zeit vorhandenen Unkenntniss in der Psychatrie in Gefahr geratben. 
in Irrtbümer za verfallen, deren Beseitigung wiederum erst nach längerer 
Zeit nnd dann nur schwierig möglich wird. Die noch in Bewegung be¬ 
griffene praktische Psychatrie vermehrt diese Schwierigkeit. Wozu daher 
das gut Befundene beseitigen? 

Den Facbgenossen, welche man gegenwärtig noch als Irrenärzte be¬ 
zeichnet, kann die vorgeschlagene Reform nur znm Heile gereichen. Sie 
würden ans ihrer Sonderstellung herauskommen, welche Einzelne ver¬ 
führt, das bevorzugte und von Anderen anerkannte Wissen zu über¬ 
schätzen. Ein näherer Anschluss an die übrigen Aerzte ergäbe sieb von 
selbst. Kommt es doch jetzt noch vor, dass das Publicum voraussetzt. 
der Irrenarzt sei nicht mit der Pathologie und Therapie der übrigen 
Krankheiten vertraut, während er doch ohne solche Kenntniss vielfacher 
Irrungen in der Diagnose, daher auch in der Therapie unterworfen wäre. 
Man bat oft genug die Psychiatrie als exoterische Disciplin bezeichnet. 
Dieser MisBstand, der auch auf das Publicum eingewirkt hat, würde 
rascher ausgeglichen werden, wenn jeder Arzt Irrenarzt würde. 

Zur Durchführung einer gründlichen Reform pflegt der Kostenpunkt 
oft Hindernisse herbeizuführen. Nachdem aber der Staat die psychia¬ 
trische Ausbildung eines jeden Arztes für nothwendig erklärt haben wird 
nnd schon jetzt alle Universitäten ausser Kiel mit psychiatrischen 
Kliniken versehen bat, dürften nennenswerthe Kosten nicht in Aussicht 
stehen. Bei der jetzt allgemeinen Zustimmung, dass die Studienzeit auf 
12 8cmeBter ausgedehnt werde, ist anch die Zeit dazn vorhanden and 
es erscheint dann nur wünschenswert!», dass die Psychiatrie gleichzeitig 
mit den anderen 3 Kauptkliniken sie für die praktische Ausbildung bean¬ 
sprucht. 

Es dürfte eingewendet werden, dass die Schwierigkeit des Gegen¬ 
standes in solcher Zeit nicht za bewältigen sei. Aber die Psychiatrie 
stellt nicht mehr Schwierigkeiten entgegen, als sie bei der inneren Me- 
dicin, Chirurgie und Geburtshfilfe zu bewältigen sind. Nicht allein für 
die Erkenntniss der Geisteskrankheiten sind sichere Gesichtspunkte ge¬ 
wonnen, sondern auch deren Therapie ist wesentlich vereinfacht. Man 
will, wie dort, nicht mehr allein die Krankheitssymptomo bezwingen, wie 
dies früher oft in raffinirter Weise der Fall war, sondern man sucht die 
Bedingungen herbeiznführen, unter denen die Natur die Krankheits- 
processe ln die rechte Bahn za leiten vermag. 

Mein Vorschlag würde es dem 8taate erleichtern, der Kurpfuscherei, 
welcher man bei der jetzigen Gesetzgebung kaum beizukommen vermag, 
die Beute zu entziehen, weil gerade die Nerven- nnd Psychischkranken 
ihr leicht in die Hände fallen nnd auch Erfolge nachweisen. Die Sug¬ 
gestion ist ihr ein gefälliges Heilmittel. Wenn alle Aerzte Irrenärzte 
sind, wird zwar bei der danemden geistigen Beschränktheit des Publi¬ 
kums das Pfuscherthum ferner bestehen, aber ein grosser Thcil des Publi¬ 
kums, namentlich des gebildeten, von ihm gerettet sein. 

Mein Vorschlag dürfte einem Theile der Oollegen zu heroisch er- 


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25. Januar 181)7. 


scheinen und ihren Widerstand herausfordern. Diese erinnere ich daran, 
dass vor mehr als einem halben Jahrhundert der angehende Arzt sein 
Staatsexamen als Medicus purus absolviren konnte. Es schien dies ehren¬ 
voller, als auch Chirurg und Geburtshelfer zu heissen. Nachdem aber 
die Regierung Chirurgie und Geburtshilfe dem Examen beigefflgt hatte, 
hat man nicht gehört, dass Schwierigkeiten entstanden wären und heute 
würde Niemand dem früheren Verfahren das Wort reden. Ebenso würde 
es jetzt sein, wenn die Regierung dem Examen die Psychiatrie in er¬ 
weiterter Durchbildung hinznfügte, denn sie will nicht nur theoretisch 
gelehrt, sondern auch praktisch gelernt sein. 

Nachdem die Geneigtheit Aller kundgethan ist, 2 Semester prakti¬ 
scher Thätigkeit nach überstandenem Examen den angehenden Aerzten 
aufzuerlegen, ist in manchen Druckschriften der Zweifel aufgeworfen 
worden, ob auch die Krankenanstalten der Quantität und Qualität nach 
genügen werden, um zur zweckentsprechenden Ansbildung so vieler neu 
hinzutretenden jungen Aerzte zu dienen. Auch der bayerische Ober- 
medicinalausschuss hat sich gegen Ende December mit der Revision des 
medicinischen Studiums beschäftigt, ist zu änlichen Resultaten gekommen, 
wie die von der Reichsleitung veranlassten Berathungen der verschiede¬ 
nen Behörden, hat aber an die Forderung dieses Practicums die Vor¬ 
aussetzung ihrer Durchführbarkeit geknüpft, da in dieser Richtung noch 
nicht genügende Erhebungen gepflogen seien. 

Hier dürfte die praktische Ausbildungen in den Irrenanstalten ins 
(Je wicht fallen. Es hat schon im Jahre 1891 im Deutschen Reiche 
235 Anstalten für Psychischkranke mit 538 Aerzten und einem Kranken- 
bestande von 55784 Kranken nnd, wenn man die Privatanstalten aus- 
schliesst, noch immer 121 öffentliche mit 368 Aerzten und 42751 Kran¬ 
ken gegeben. Seit 1891 aber sind fast in allen Provinzen und Staaten 
neue Anstalten mit den neuesten Verbesserungen nnd Einrichtungen 
entstanden und dadurch hat sich auch die Zahl der in ihnen angestellten 
Aerzte und der darin aufgenommenen Kranken nicht unerheblich ver¬ 
mehrt. An Kranken und Lehrenden fehlt es daher nicht nnd zwar an 
geübten Lehrern nicht, die noch dazu keine Privatpraxis treiben. Von 
dem Augenblick an, wo einem Arzte an solcher Anstalt die Stellung 
als Direktor angewiesen ist, muss er Ja als Lehrer in seinem Sinne für 
die oft zahlreichen Assistenten eintreten und auch letztere sind meist 
schon in der Lage, auf diejenigen jüngeren College,n lehrend einzuwirken, 
welche auf ein Jahr oder unter Umständen auf eine kürzere Zeit hin¬ 
kommen, um sich praktisch ausznbilden. Unter der grossen Zahl von 
Psychischkranken fehlt es auch nicht an Fällen anderer körperlichen 
Krankheiten, um an ihnen das Wissen zu vervollkommnen. Manche 
Vorzüge werden solche Anstalten vor anderen Krankenanstalten haben. 
Die dirigirenden Aerzte sind in der Regel auch die Directoren ihrer An¬ 
stalten und ein Einblick in die und eine Betheiligung an der Verwal¬ 
tung kann dem angehenden Arzte nur willkommen sein. Freilich herrscht 
eine straffere Disciplin und dem Director wird eine grössere Last auf¬ 
gebürdet, aber dem Lernenden wird sie erleichtert durch den collegialen 
Verkehr mit den zahlreicheren dort wohnenden Aerzten und dem ärzt¬ 
lichen Director stellt sich in den Hinzutretenden ein williges nnd ärztlich 
ausgebildetes Personal zu Diensten, das er praktisch und wissenschaftlich 
za verwerthen in der Lage ist. Eine geschickte Verwendung solcher 
Kräfte wird auch den Kranken durch den täglichen Verkehr zum Heile 
gereichen, im Publikum das Misstrauen gegen die Anstalten vermindern. 
Eine, freilich wechselnde, jüngere Welt erfrischt die ältere und bringt 
mit, was die Universitäten neuerdings gelehrt haben. Die Staaten und 
Provinzen habeu alle Ursache, einige Wohnräume für die Candidaten zu 
bewilligen, da sie nur soviel Aerzte anstellen, als zur Durchführung einer 
geordneten Verwaltung nothwendig ist, durch die Hilfskräfte aber eine 
Förderung der Ziele ihrer Anstalten erreicht wird. Gerade den deutschen 
Irrenanstalten ist der Vorzug vor denen anderen Staaten zuzugestehen, dass 
sie durch ein grösseres ärztliches Personal für ihre Kranken 8orge 
tragen. Noch hat wohl kein Arzt in solcher Anstalt ohne Bereicherung 
»eines Wissens und Könnens gearbeitet. 

Möge der angehende Arzt nach seinen Neigungen wählen, welche 
Krankenanstalt, sei sie der inneren, chirurgischen, geburtshülflichen 
oder irrenärztlichen Disciplin angehörig, er für seine praktische Durch¬ 
bildung vorzieht. Wie jeder Arzt chirurgische Kenntnisse haben muss, 
ohne deshalb zum Armen Operateur sich auszubilden, eben so wenig 
bedarf es für jeden Arzt der tieferen Ausbildung in der Psychiatrie, der 
es an Unebenheiten nicht fehlt, um so weniger, als es den Kranken, 
welche in ihren Familien die geeignete Behandlung und Pflege nicht 
haben, an guten Heilanstalten nicht mangelt. Wie bei der Chirurgie ma¬ 
nuelle Geschicklichkeit oft in der Wahl des Berufes den Ansschlag giebt, 
so in der Psychiatrie die geistige Beweglichkeit nnd der Drang, die 
Räthsel des Gehirns zu lösen. In allen diesen Fällen muss die Liebe 
zur Sache und zu den Kranken die dazu erforderlichen Eigenschaften 
begleiten. 

Fehlt es gegenwärtig, wo die Gelegenheit günstig erscheint, an der 
Kraft, eine solche Reform, wie ich sie vorschlage, durchzuführen, oder 
an der Möglichkeit, widerstrebende Hindernisse zu besiegen, so ist zu 
bedauern, dass eine universelle Ausbildung des angehenden Arztes noch 
nicht erreichbar ist, wie ein Hippocrates sie schon vertrat, dann seien 
diese Zeilen dazu bestimmt, sie in Erwägung zu geben und ihre Durch¬ 
führung anzubahnen. Kommen wird diese Zeit, weil sie nothwendig ist. 


VIII. Praktische Notizen. 

Therapeutisches auil Intoiicationen. 

Ueber das Peronin und seine therapeutische Verwerthung beim Husten 
der Phthisiker theilt Schröder (Ther. Monh. 1897, 1) Erfahrungen mit, die 
er in Görbersdorf gesammelt hat. Das von Merck hergestellte Präparat 
ist die salzsaure Verbindung des Benzyläthers des Morphins; das Wasser¬ 
stoffatom der Hydroxylgruppe des Morphins ist durch das Alkoholradical 
ersetzt. Das Mittel wurde durchschnittlich 7 Tage lang in steigenden 
Dosen von 0,02—0,03—0,04 gegeben, der Hustenreiz wurde in 8 Fällen 
unter 12 sofort ausreichend gemildert, in 2 nach grösseren Dosen, in 
2 trat keine Besserung ein. Auf die Menge des Auswurfs und die 
mühelose Expectoration war 6 mal kein Einfluss bemerkbar, 5 mal stockte 
der Auswurf vorübergehend, bei einem Kranken trat während der ganzen 
Zeit der Darreichung verminderte und erschwerte Expectoration ein. 
Störungen seitens der Verdauungsorgane kamen im Allgemeinen nicht zur 
Beobachtung; nur 2 mal morgendliche Uebelkeit und Neigung zur Ob- 
struction. Bei allen Kranken bewirkte das Medicament ruhigeren Schlaf, 
zwei Kranke klagten über Kopfschmerzen und allgemeine Mattigkeit. 
Verf. befürwortet die Einführung des Mittels in die Therapie: es Bteht 
in seinerWirkung zwischen Morphin und Code in. Auch die späteren 
Erfahrungen des Verfassers in Hohenhonnef bestätige die günstige sympto¬ 
matische Wirkung. 

Man giebt das Mittel gelöst oder in Pillenform. Verf. empfiehlt 
folgende Recepte: 

Rp. Peronin 0,5 

Aq. dest. 100,0. 

MDS. Abends 1 Theelöffcl in Zuckerwasser. 

Rp. Peronin 0,1 

Aq. dest. 145,0. 

Spir. rectif. 5,0. 

Mf. sol. DS. 3 mal täglich 1 Esslöffel. 

Rp. Peronin 0, l 

Rad. et. Succ. Liq. q. s. 

ut f. pil. No. XXX. S. Abends 2—3 Pillen. 


Behandlung der Uraemie mit Aderlass und darauf fol¬ 
gender Injection von künstlichem Serum. H. Richardiere 
(Hopital Cochin). 

Ermuthigt durch die günstigen Resultate Anderer (Sahli, Boss) 
wandte R. obiges Verfahren in 2 Fällen von Uraemie (darunter einem 
sehr schweren) mit bemerkenswerthem Erfolge an: „Erhöhung der 
Temperatur, Herabsetzung der Pulsfrequenz, Regulirung der Athmung, 
Steigerung der Diurese, Diarrhoe“ stellten sich alsbald ein (das eine 
Mal schon nach wenigen Stunden). Im ersten Falle wurde das Ver¬ 
fahren — Aderlass von 800—400 g, unmittelbar darauf subcutane 
Injection von 800 g eines künstlichen, auf Körpertemperatur erwärmten 
Serums (Ilayem’sche Formel) — nach 5 Tagen, im zweiten Falle 
bereits nach 20 Stunden wiederholt. Irgend eine schädliche Neben¬ 
wirkung trat nicht ein. (L’Union raedieale No. 49, 1896.) 


Ueber Antipyrin-Intoxication in Gestalt eines Stomatitis 
„ulcero-membranosa“ bei einem 60jährigen Arthritiker berichtet 
Dal che in der Societe de Therapeutique (23. Dec. 1896). Neben der 
Affection der Wangenschleimhaut (die Zunge war frei geblieben) werden 
Ulcerationes auf dem Scrotum besonders erwähnt. 

(Gazette hebdomadaire No. 105, 1896.) 


Diagnostisches. 

Ueber die Anwendung von Roentgen-Strahlen zur Dia¬ 
gnose der Lungentnberculose und der Pleuraergüsse berichtet 
M. Ch. Bouchard in der Acadcmie des Sciences. Nach B. sind 
die Ergebnisse der Radioskopie analog denen der Percussion. Dieselben 
pathologischen Veränderungen, die an Stelle normalen Lungenschalles 
relative oder absolute Dämpfung setzen, verwandeln bei der Radioskopie 
die normale Thoraxhelligkeit in ein mehr oder weniger starkes Dunkel. 
In gleicher Weise halten Pleuraergüsse die X-Strahlen auf, so dass die 
duukle Schattirung der kranken Seite mit der glänzenden Helligkeit 
der gesunden auffallend contrastirt. (Gazette medicale de Paris No. 1, 
1897.) — Ausführlicheres über die Bedeutung der Röntgenstrahlen für die 
innere Medicin, speciell für Lungen- und Herzkrankheiten, theilt in 
Erweiterung seiner früheren Darlegungen (d. Woch. 1896, 25) Herr 
Grün mach in No. 1 der Therapeut. Monatshefte mit. 

Ein bisher nicht beschriebenes Symptom der Trachealstenose 
beobachtete Aufrecht in 3 Fällen. In 2 derselben war die Stenose 
durch Mediastinalcarcinome verursacht, die grade an der Bifurcations- 
stelle in die Trachea hineingewuchert waren nnd allmählich den Zugang 
zu beiden Bronchien verlegt hatten, im 3. Falle handelte es sich um 
eine gummöse Schwellung, die am untersten Theil der Trachea die 
linke Hälfte der Wand einnahm und pflanmengross war. 

A. constatirte „beim Aufsetzen des Stethoskops auf die Trachea 
„dicht oberhalb des Jugulum sterni, dass der unter normalen Verhält¬ 
nissen während der ganzen Dauer der In- und Exspiration in allen 
„Fällen hörbare, sehr laute, rauhe bronchiale Athmen durch ein kurz- 


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SS 


HKHLINKU KLINISCH!*; \Y<K’l IHN SCHRIFT 


No. 4. 


„dauerndes leises, weiches Athmen ereetzt oder gar nicht zu hören war.“ 
(Centralblatt f. innere Medicin 1897, No. 1.) 


— Versucheiiber die Verwendbarkeit des Pb onendoskopes von 
ßianchi und Bazzi in der Geburtshülfe hat Ludwig Knapp in 
der deutschen geburtshülflichen Klinik in Prag angestellt. 

Für 2 Fragen glaubt K. dem Instrument einen besonderen Werth 
beimessen zu sollen: 1. für die Diagnose der Zwillingsschwanger¬ 
schaft (bisher in einem Falle erprobt), 2. für die Differential¬ 
diagnose zwischen Geräuschen, die im kindlichen Herzen, und 
soeben, die in der Nabelschnur ihre Entstehung finden. 

Als Schattenseiten der phonendoskopischen Untersuchung hebt K. 
hervor: 1. die Verstärkung resp. allzuleichte Entstehung störender Neben¬ 
geräusche, 2. den Umstand, „dass das häufigere und längere Untersuchen 
mit ; dem Instrumente für die Gehörorgane des Untersuchers ziemlich 
empfindlich und anstrengend ist“ (Pribram). 

Verf. schliesst: „Das Phonendoskop hat sich sonacli gewiss für 
„unsere — bes. klinische — Zwecke brauchbar und zweckmässig er¬ 
wiesen, der praktische Geburtshelfer aber wird sich auch ohne ein 
„solches jederzeit zu behelfen wissen.“ (Prager med. Wochenschrift 
1896, No. 46.) Lr. 


IX. Tagesgeschichtliche Notizen. 

Berlin. In der Sitzung der Berliner medicin. Gesellschaft 
am 20. d. M. zeigte zuerst Herr Abel einige Präparate; darauf stellte 
Herr Gluck eiue grössere Zahl von Patienten mit theils halbseitiger, 
theils totaler Exstirpation des Kehlkopfs wegen Carcinom vor. Es folgte 
die Discussion über den Vortrag des Herrn Senator über Osteomalacie 
und Organtherapie, in der die Herren Landau, Caspari, Zuntz, 
Virchow und im Schlusswort Herr Senator sprachen. 

— In der Sitzung des Vereins für innere Medicin am 18. d. M. 
demonstrirte vor der Tagesordnung Herr Kirstein ein Verfahren, das 
Beschlagen des Kehlkopfspiegels durch die Athmungslutt zu verhüten, 
Herr Krüger die Widal’sche Typhnsreaction, Herr 0. Rosenthal 
einen Patienten mit syphilitischer Myocarditis, die durch Ueberanstrengung 
beim Radfahren manifest geworden ist. Alsdann wurde die Discussion 
zu dem Vortrage des Herrn Hirschfeld wieder aufgenommen und zu 
Ende geführt. Es betheiligten sich daran die Herren J. Mayer (Karls¬ 
bad), Wolfner (Marienbad), Albu, Zuntz, Lazarus, Vormeng, 
Ewald, Gränpner (Nauheim), Goldscheider und Hirschfeld. 

— In der Sitzung der Gesellschaft der CharitA-Aerzte am 
21. d. M. besprach Herr Lesser einen Fall von syphilitischer Schwiele 
der Wangenschleimhaut und Zunge, Herr Bi eck zeigte eine Patientin 
mit Syphilis hereditaria tarda, sowie die anatomischen Präparate eines 
zweiten solchen Falles. Sodann beendigte Herr Israel seinen Vortrag 
„Ueber den Tod der Zelle“, worauf Herr Kolle die sog. Widal’sche 
Reaction bei Typhus demonstrirte. 

— Wie wir erfahren, ist der Lehrauftrag des Directors der Syphilis¬ 
klinik an der Kgl. Charite, Herrn Prof. E. Lesser, auf Hautkrank¬ 
heiten ausgedehnt worden — eine Neuemng, die im Interesse des 
Unterrichts mit Genugtuung zu begrüssen ist. 

— Der deutsche Reichstag hat sich, auf einen Antrag des Abg. 
Lenzmann hin, mit der Frage der Irrengesetzgebnng, speciell 
der Aufnahme in die Privat-Irrenanstalten beschäftigt. Die, wie es 
scheint, bei solcher Gelegenheit unvermeidlichen 8eitenhiebe auf die 
Aerzte im Allgemeinen und die Irrenärzte ins Besondere, wurde vom 
Abg. Kruse energisch parirt. Damit, dass die Frage von Reichswegen 
in Angriff genommen wurde, kann man sich gewiss einverstanden er¬ 
klären — in der Sache selbst scheint uns der einzig richtige Standpunkt 
derjenige zu sein, der in der vorjährigen Erklärung der deutschen Irrenärzte 
eingenommen ist; auf ihm stehen auch die preussischen Aerztekammem, und 
wir dürfen unsere Leser ganz besonders an das treffliche, in dieser Wochen¬ 
schrift publicirte Referat erinnern, mit welchem Herr M e n d e 1 im vorigen 
Jahre die betreffende Verhandlung in der Berlin-Brandenburgischen Aerzte- 
kammer einleitete; gerade die damals ausgesprochene Solidarität der 
preussischen Aerzte mit den zunächst betheiligten Irrenärzten verdient 
heute noch einmal mit Nachdruck betont zu werden! 

— Als Vorort der freien Vereinigung der deutschen medicinischen 
Fachpresse für 1897 ist auf der Generalversammlung in Frankfurt a. M. 
Berlin bestimmt und sodann die Herren Ewald, Mendelsohn, Adler 
(Wien) und Honigraann (Wiesbaden) in den Ausschuss gewählt worden. 
Auf Antrag von Prof. Ewald wurde Prof. Eulenburg zum Geschäfts¬ 
führer ernannt. Ihm wird Herr Mendelsohn als Schrift- und Kassen- 
führer zur Seite stehen. Der Ausschuss gedenkt ferner die Herren 
Hirschberg und A. Martin zu cooptiren. 

— Während die vorjährige Pestepidemie in Hongkong ein vorwie¬ 
gend lokales Interesse beanspruchte und auch an Ort und Stelle wesent¬ 
lich nur in den Quartieren der Eingeborenen wüthete, ist das neuerliche 
epidemische Auftreten der Seuche in Bombay ganz danach angethan, 
die Blicke Europas auf sich zu ziehen. Bei den vielen und innigen 
Handelsbeziehungen, welche diese Stadt mit den anderen Ländern der 
Erde verbinden, bei der intensiven Ausdehnung, welche die Krankheit 
an diesem neuen Herd genommen hat, ist eine Verschleppung und Aus¬ 


breitung über diesen ursprünglichen Ausgangspunkt nur zu wahrscheinlich : 
insbesondere ist es auch hier die bevorstehende Pilgerfahrt nach Mekka, 
von der Gefahr droht, wenn es daselbst zn einem Zusammentreffen der 
Mohammedaner aus den verschiedenen Ländern kommen sollte. So sind 
denn auch von allen betheiligten Staaten bereits die dringend nöthigen 
Vorsichtsmassregcln ins Auge gefasst: insbesondere sind von Oesterreich- 
Ungarn, welches ja durch seine mohammedanischen Unterthanen mit in 
ersler Linie betheiligt wird, ein Einfuhrverbot, sowie thunlichste Beschrän¬ 
kung der Mekkapilgerfahrt geplant; auch unser Reichsgesundheitsamt 
hat sich mit der Frage bereits eingehend befasst. In unseren deutschen 
Seehäfen, in erster Linie Hamburg und Bremen wird naturgemäss allen 
indischen Provenienzen die grösste Aufmerksamkeit zugewandt. Es ist be¬ 
stimmt zu hoffen, dass die Abwehrmassregeln von ähnlichem Erfolge begleitet 
werden, wie wir dies bei den letztjährigen Choleraepidemien erlebt 
haben. Vorbedingung dazu scheint aber in diesem Fall eine internatio¬ 
nale Verständigung, namentlich in Rücksicht auf die Behandlung 
der verdächtigen Schiffe, auf Beobachtungsstationen und Quarantainen. 

Nach einem bis zum 18. Dec. reichenden Bericht des Brit. med. Journal 
hat die Zahl der Pest-Todesfälle in Bombay selber in den letzten 7 Wochen: 
49, 51, 53, 65, 64, 173, 259 betragen — ist also bisher noch gestiegen, 
nach den Telegrammen dauert das Steigen noch an; dazu kommen 
noch die Todesfälle an „remittirendem Fieber“, die sich in der letzten 
Woche auf 363 beliefen; auch eine Anzahl Europäer (u. a. auch eine 
Pflegerin) sind der Seuche zum Opfer gefallen. Das Blatt bezweifelt 
übrigens die Richtigkeit der offlciellen Zahlen; die furchtbare noch herr¬ 
schende Ilungersnoth in Indien hat der Epidemie den denkbar günstigsten 
Boden bereitet: 37 Millionen Einwohner sollen total der Nahrung ent¬ 
behren, 44 Millionen darben! 

Angeblich sind in Marseille einige Pestkranke auf dem Seeweg ein¬ 
getroffen; Brit. med. Journal erinnert daran, dass Marseille eine der 
letzten Städte West-Europas war, in der die Pest auftrat — 1720 
— dass aber selbst in jenen „präsanitären“ Tagen eine Verbreitung der 
Seuche von dort nicht stattfand. 

— An hiesiger Universität habilitirten sich als Privatdocenten Dr. 
Rene du Bois-Reymond für Augenheilkunde und Dr. Hans Rüge 
für innere Medicin. 

— Die Wiener Dermatologische Gesellschaft hat den Professor Dr. 
0. Lassar in Berlin zu ihrem correspondirenden Mitglied ernannt. 


X. Amtliche Mittheilungen. 

Peratnalla, 

Auszeichnungen: Charakter als Geheimer Sanitätsrath: den 
Badeärzten 8anitätsräthen Dr. Jaques Mayer in Karlsbad nnd Dr. 
Ignatz Hirsch in Teplitz. 

Rother Adler-Orden I. Kl. mit Eichenlaub: dem Gen.-Stabsarzt 
der Armee u. Wirkl. Geh. Ob - Med.-Rath Prof. Dr. von Coler in Berlin. 

Rother Adler-Orden III. Kl. m. d. Schl.: Geh. Med.-Rath Prof. 
Dr. Gusserow in Berlin, Ob.-Stabsarzt I. Kl. Dr. Busch in Frei¬ 
burg i. B., Geh. Med.-Rath Dr. Goetel in Colmar i. E. 

Rother Adler-Orden IV. Kl.: Sanitätsrath Dr. Stratmann in 
Solingen, Dr. Kersting in Stephansort, Kr.-Physikus San. Rath Dr. 
Atenstaedt in Bitterfeld, Ob.-Stabsarzt I. Kl. Dr. Berndgen in 
Berlin, Ob-Arzt I. Kl. Dr. Dieterich in Colberg, Dr. Ehrhardt in 
Kiel, Dr. Hersing in Geistingen, Ob.-Stabsarzt I. Kl. Dr. Koch in 
Flensburg, Ob.-Stabsarzt I. Kl. Dr. Kroker in Mainz, Ob.-Stabsarzt 
I. Kl. Dr. Leistikow in Metz, Ob.-Stabsarzt I. Kl. Dr. Nicolai in 
Frankfurt a. <>., Geh. Sanitätsrath Dr. Ohrtmann in Berlin, Ober- 
Stabsarzt I. Kl. Dr. Pfahl in Zabern, Reg.- und Med.-Rath Dr. 
Pippow in Erfurt, Dr. Schaedel in Flensburg, Ob.-Stabsarzt 
I. Kl. Dr. Schultze in Tilsit, Ob.-Stabsarzt I. Kl. Dr. Sitzler in 
Brandenburg a. H., Ob.-Stabsarzt I. Kl. Dr. Villaret in Spandau. 
Geh. Sanitätsrath Dr. Wahrendorff in Ilten, Ob.-Stabsarzt I. Kl. 
Dr. Weigand in Strassburg i. E., Kreis-Phvsikus Sanitätsrath Dr. 
Wolff in Loebau W.-Pr. 

Königl. Kronen-Orden II. Kl. mit Schwertern am Ringe: 
Gen.-Arzt I. Kl. Dr. Böhme, Corpsarzt des VI. Armeecorps in Breslau. 

Königl. Kronen-Orden II. Kl.: Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Meyer 
in Göttingen. Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Trautmann in Berlin. 

Königl. Kronen-Orden III. Kl.: Ob.-Stabsarzt I. Kl. Dr. Bobrik 
in Königsberg i. Pr., Ob.-Stabsarzt I. Kl. Dr. Ehrlich in Rastatt, 
Ob.-Stabsarzt I. Kl. Dr. Koenig in Potsdam, Ob.-8tabsarzt I. Kl. Dr. 
Krisch in Cassel, Ob.-Stabsarzt I. Kl. Dr. Krocker in Berlin, Ob.- 
Stabsarzt I. Kl. Dr. Luck in Wesel, Ob.-Stabsarzt I. Kl. Dr. Salz- 
raann in Potsdam, Ob.-Stabsarzt I. Kl. Dr. Sellerbeck in Berlin, 
Ob.-Stabsarzt I. Kl. Dr. Trepper in Coblenz. 

Ernennung: Kr.-Wundarzt Dr. Mueller in Wittlieh zum Kreis-Phyt-i- 
kus des Kreises Wittlich. 

Niederlassungen: die Aerzte Dr. Canstein in Dortmund, Dr. Holt¬ 
mann in Herne, Dr. Koch in Hamme, Dr. Schwabe in Hirschberg, 
Dr. Morro in Stendal, Dr. Wuerkert in Thale a. H., Stern in Aken. 
Gestorben sind: die Aerzte Dr. Klante in Naumburg a. B., Dr. 
Draheim in Bunzlau, Weber in Arneburg, Dr. Roderwald in 
Magdeburg, Geh. Med.-Rath Dr. Sen dl er in Magdeburg. 

Fiir die Kedaction verantwortlich Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald, Lützowplau 5. 


Verlag und Eigenthum von August Hirschwald in Berlin. — Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin. 


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Die Berliner Kliulach« Wochenschrift erscheint jeden TVTITVT T~%TT1T\ Einsendungen »olle man portofrei an die Rcdaction 

Montag in der 8t4rke ron 2 bi« 3 Bogen gr. 4. — LJ lj ' I J I I \ Ij' I J (W. LQUowplati No. 5 ptr.) oder an die Verlags- 

Preis vierteljährlich 6 Mark. Bestellungen nehmen I \ . I | I l I W II . I | buchhandlung von Angust Hlrschaald in Berlin 

alle Buchhandlungen und Postanstalten an. 1 M A M Mj N.W. Unter deD Linden No. 68, adresslren. 



Mit Berücksichtigung der preussischen Medicinalverwaltung und Medicinalgesetzgebung 

nach amtlichen Mittheilungen. 


Redaction: 

Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald und Prof. Dr. C. Posner. 


Expedition: 

August Hirschwald, Verlagsbuchhandlung in Berlin. 


Montag, den 1. Februar 1897. M 5. Vierunddreissigster Jahrgang. 


I N H 

I. Aus dem König!, preussischen Institute für Scrumforschung und 
Serumprüfung in Steglitz. Bonhoff: Versuche über die Möglich¬ 
keit der Uebertragung des Rotzcontagiums mittels Diphtherie- 
Heilserum. 

II. Aus der II. medlcinischen Klinik des Herrn Geheimrath Professor , 
Dr. Gerhardt. M. Heidmann: Ueber Folgezustände von peri- 
cardialen Obliterationen. 

III. E. H. Kisch: Ueber eine bei Offleieren beobachtete Form ner¬ 
vöser Herzbeschwerden. 

IV. O. Rosenbach: Die Emotionsdyspepsie. (Schluss.) I 

V. E. Saul: Zur Catgut-Frage. 

VI. Kritiken und Referate. Polotebnoff, Curaus der Dermato¬ 
logie. (Ref. Joseph.) — Fuchs, Hippokrates’Werke; Beckhu. 


1. Aus dem Königl. preussischen Institut für .Serum¬ 
forschung und Serumprüfung in Steglitz. 

Versuche über die Möglichkeit der Uebertra¬ 
gung des Rotzcontagiums mittels Diphtherie- 
Heilserum. 

Von 

Stabsarzt Dr. Bonhoff. 

Daus die Rotzkrankheit der Pferde auf den Menschen Über¬ 
tragen werden kann, ist längst durch zahlreiche Beobachtungen 
Uber allen Zweifel sichergestellt. In der Literatur finden sich 
reichlich Mittheilungen, aus denen die wichtige Rolle der Schleim¬ 
haut- und DrUsensecrete bei der Uebertragung dieser Krankheit 
hervorgeht. Wenn dieselben in Wunden hineingelangten, so 
entwickelte Bich ein typischer Rotz bei den inficirten Individuen, 
in dessen Krankheitsproducten mittels der bacteriologischen Unter¬ 
suchungsmethoden immer der charakteristische Krankheitserreger 
nachgewiesen werden konnte. Solche Fälle sind ausser anderen 
die von Weichselbaum'), Kiemann 1 2 * 4 5 ), Jakowski*), Halli- 
peau und Jeanselme*), Hertel 6 ) und die in den Jahresbe¬ 
richten Uber die Verbreitung der Thierseuchen im Deutschen 
Reiche in den verschiedenen Jahrgängen erwähnten. Hervorge¬ 
hoben wird von allen Autoren, die mit Rotzbacillen oder Rotz¬ 
material gearbeitet haben, die auffallende Thatsache, dass die 
Rotzbacillen in den pathologischen Producten und im 
Blute des genuinen Pferderotzes nur spärlich aufzu¬ 
finden sind. Dass indess das Blut von an Rotz gefallener 
Thiere (Katzen und Pferde) unbedingt infectiös ist, dürfte 

1) Wiener med. Woch. 1885, No. 21—24. 

2) Wiener med. Woch. 1888, No. 25 n. 2G. 

8) Gaz. Lekarska 1889, No. 46—48. 

4) Annales de dermatol. et de sypbilogr. 1891, p. 278. 

5) Charite-Annalen, XVI, 1891, p. 207. 


A L T. 

Spät, Anonymus Londinensis. (Ref. Pagel.) — Krakenberg, 
Mechanische Heilmethode. (Ref. VulpiuB.) 

VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Verein für 
innere Mcdicin. Kirstein, Kehlkopfspiegel; Krüger, Widal'sche 
Reaction; Rosenthal, Myocarditis; Hirschfeld, Muskeltbätig- 
keit bei Herzkranken. — Laryngologische Gesellschaft. Alexan¬ 
der, Schleimhantcysten der Kieferhöhle; Kirstein, Rhinoskopie 
nach Killian. — Freie Vereinigung der Chirnrgen Berlins. Israel, 
Nierengeschwülste; Koenig, Knochenplastik. 

I VIII. E. v. Bergmann, Die Heranziehung ärztlicher Honorare zur Ge¬ 
werbesteuer. 

IX. Aufruf. — X. Praktische Notizen. 

XI. Tagesgeschichtliche Notizen. — XII. Amtliche Mittheilungen. 


durch die Untersuchungen von Lissitzin 1 ) erwiesen sein. Der 
Autor fand, dass das Blut an Rotz verstorbener Katzen und 
Pferde immer durch Kultur nachweisbare Rotzbacillen enthält, 
auch wenn dieselben durch mikroskopische Untersuchung nicht 
aufzufinden waren. Die Natur der Mikroorganismen wurde durch 
Verimpfung auf gesunde Pferde und Katzen, bei denen typischer 
Rotz erzeugt wurde, sichergestellt. 

Die uns zunächst interessirende Frage ist, ob auch das Blut 
bezw. Blutserum von Pferden, die an latentem Rotz leiden, wäh¬ 
rend des Lebens dieser Thiere Rotzbacillen enthält. Unter¬ 
suchungen nach dieser Richtung sind mir nicht bekannt geworden. 
Um zur Entscheidung dieser Frage beizutragen, wurden zwei 
Serumproben von an Rotz erkrankten lebenden Pferden, Proben, 
die dem Ins'itut von der Königlichen Thierarzneischule in Ber¬ 
lin in dankenswerther Weise zur Verfügung gestellt wareiu in 
nicht zu kleinen Mengen Meerschweichen eingespritzt. Die erste 
Probe stammte von einem acut rotzkranken Pferde, dass nach 
Malleineinspritzung typische Reaction gezeigt hatte und dem das 
Blut bei einer Körpertemperatur von 40,5° C. abgenommen war. 
Weiteres Uber den Verlauf der Erkrankung bei diesem Pferde 
habe ich leider nicht in Erfahrung bringen können. Doch ist 
mir mitgetheilt, dass das Pferd am 6. Juli 1896 getödtet wurde, 
und dass sich bei der Section ausgebreitete, rotzige Verände¬ 
rungen (Knötchen, Geschwüre, sternförmige Narben, Indurationen) 
in der Schleimhaut der Nasen- und Oberkieferhöhlen befanden: 
dass die submaxillaren und retropharyngealen Lymphdrüsen 
rechterseits vergrössert, verhärtet und mit hirsekorngrossen Er¬ 
weichungsherden durchsetzt waren; dass beide Lungen zahlreiche, 
bis linsengrosse Rotzknötchen verschiedenen Alters enthielten. 

Die zweite Blutprobe war einem Pferde entnommen, das im 
Januar 1896 mit einer frischen Rotzcultur subfascial geimpft 
war. An der Impfstelle entstand eine starke Phlegmone mit 


1) Wratscli 1889, p. 509. 


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90 


BERLINER KLINISCHE \VOCI IENSCHRIFT. 
Tabelle 1. 


No. 5. 





| 

f 




k* 

o 


2 






^ 09 
«3 

o> ^ 

•o 2 

ao 

Datum der 
Impfung 

6 

fe 

"O 

j Eingeimpfte Menge 

Art des Serums 

Abimpfung auf Glycerin¬ 
agar nach 

1 t 

6 


r 

i 




' 



i < 

j 

i 



i l. 

1 

21. 11. 


1 Oese 24 std. Glycerin- 

Höchster Diphterie- 

a. 24 Stdn. 

bei 37° C. 

1 

1 „ 


I. 

B. 

agarcultur. 

Heilserum von 250 J. E. 

b. 48 * 

* * * 

— 


II. 

B. 

wie bei I. 

Ehrlich’s Pferdeserum 

a. 24 


— 





ohne Zusatz. 

b. 48 * 

v» ft w 


2 

24. 11. 


Etwa die Hälfte eines 

| Höchster Diphterie- 

a. 24 




I. 

B 

Condenswassers eines 

i Heilserum von 250.1. E. 

b. 18 „ 





1 

vor 24 Stunden geimpften 

| 

c. 72 


— 


H. 

B. 

Glycerinagarröhrchens. 

Ehrliclfs Pferdeserum 

: a. 24 

P * TT 

— 


bei I. 

ohne Zusatz. 

b. 48 

i c. 72 „ 

tt v tt 

— 

3 

28. 11. 


Ganzes Condenswasser 

; 9 ccm Ehrl. Pferdescrum 

1 a. 24 


1 _ 


I. 

B. 

eines vor 24 Stunden ge- 

+ 

b. 1G8 „ 


— 




impften Glycerinagar- 

1 ccm 5proc. Carbois. 







röhrchens. 

9ccm Ehrl. Pferdesenim 

a. 24 


— 


II. 

1 B * 

wie bei.I. 

i + 

b 108 „ 


— 





1 ccm Wasser. 




4 

5. 12. 


Ganzes Condenswasser 

■ 9 ccm Ehrl. Pferdeserum 

a. 5 Minut. 

bei 20° C. i 

+ 


I. 

B. 

eines am 4.12. geimpften 

+ 

b. 2 Stdn. 1 

bei 37 * C. 

— 




Glycerinagarröhrchens. 

1 ccm 5proc. Carbois. 

c. 4 

TT TT w 







d. 0 * 

" " TT 

— 





9 ccm Ehrl. Pferdesenim 

a. 5 Minut. 

bei 20° C. 

+ 


11. 

B. 

wie bei I. 


b. 2 Stdn. bei 37* C. 

-f 





1 ccm Wasser. 

c. 4 

n „ „ 

+ 






d. G , 

TT TT TT 

+ 

5 

7. 12. 


Ganzes Condenswasser 

9 ccm Ehrl. Pferdeserum 

a. 5 Minut. 

bei 20° C. 

+ 



B. 

eines am ß. 12. geimpften 

+ 

b. Yj Stdn. 

bei 37° C. 

+ 




Glycerinagarröhrchens. 

1 ccm 5proc. Carbois. 

c. 1 


+ 






d- 17. „ 

TT TT TT 

0 






e. 2 

TT TT TT 

0 

G 

10. 12. 


Ganzes Condenswasser 

9ccm Ehrl. Pferdeserum 

a. 5 Minut. 

bei 20° C. , 

+ i 



A. 

eines am 9. 12. geimpften 

+ 

b. 2 Stdn. bei 38« C. 



• 


G lycerinagarriih rchens. 

1 ccm oproc. Carbois. 

c. 4 „ 

TT TT TT 

o! 




1 


d. G „ 

TT TT TT 

I 

0 


+ = positiv; 
0 = negativ. 


1. 2. 3. 4. 5. 


Zahl der Colonieen 
aus einer Oeae 
Semm 
am Tage 

1. . 2. ,3. 4.1 5. 


0 

0 

+ 

+ 

0 

0 

0 

+ 

+ 

+ 


2 

10 




--QC 

— --CD 




I i 


0 '+ - 


j QD ' - 

! 00 I i I 

CD 1 — - — — 

od ' — 1 ' — 

« ' — j - , — — 

CD — } — , — — 

0 50 80 80 - 

0 0 1 | 2 2 

45 52 ; — ! — I — 


Schwellung der regionären Lymphgefässe und Lymphdriisen, 
Fieber etc. Die acuten Erscheinungen bildeten sich dann zu¬ 
rück, es blieben ein verdickter und verhärteter Lymphstrang 
und an demselben in der Buggelenkgegend zwei haselnuss¬ 
grosse harte Knoten, ganz unauffällige Residuen des früheren 
Krankheitsbildes. Später entstanden noch eine Vergrössernng 
und Verhärtung der linken Submaxillardrüse und ein etwa 
bohnengrosses RotzgeschwUr in der Mucosa des linken Nasen¬ 
loches. Das Thier wurde am 2. Juli 189(5 getüdtet. Ausser 
den beschriebenen Veränderungen fanden sich nur in der Lunge 
ältere und einige frische Rotzknoten') 

Von jeder dieser beiden Blutproben wurden zwei männliche 
Meerschweinchen geimpft, eins unter die Haut am Bauche, das 
andere in die Bauchhöhle. Das Blut hatte zwei Tage im Eis¬ 
schrank gestanden, das Serum war goldgelb und ganz klar. Die 
Dosis betrug gleichmässig 2 ccm bei allen vier Thieren. Wäh¬ 
rend einer zweimonatlichen Beobachtung zeigten letztere niemals 
Krankheitserscheinungen und nahmen dauernd an Gewicht zu; 
im Ganzen zwischen 100 und IGO g. Nach dieser Zeit w r urden 
alle vier Thiere getüdtet; die Section ergab bei allen völlig 
normale Organe; besonders an den Hoden liess sich makrosko¬ 
pisch nichts von Veränderung finden. Blut, Hodensaft und Peri¬ 
toneum erwiesen sich steril. Man darf also wohl sagen, dass in 
diesen beiden Serumproben, und zwar auch in der von dem acut 
rotzkranken Pferde, Rotzbacillen nicht in so grosser Zahl vor¬ 
handen gewesen sind, dass durch sie eine Erkrankung eines sehr 

1) Diese Angaben, sowie die Uebersendung der beiden Serumproben 
verdankt das Institut der Liebenswürdigkeit des Herrn Dr. Peter, Re¬ 
petitors an der Kgl. Thierarzneischule zu Herlin, dem ich dafür auch 
an dieser Stelle besten Dank sage. 


rotzempfänglichen Thieres hätte ausgelöst werden können. Da¬ 
gegen beweist der Versuch nicht, dass in dem Blutserum rotz¬ 
kranker Pferde niemals Rotzbacillen vorhanden sind. Wir leiten 
nur aus diesem Versuch das Recht her, die mit der Uebertra- 
gung von Pferdeserura auf den Menschen für letzteren verbundene 
Gefahr, an Rotz zu erkranken, als nicht so sehr drängend an¬ 
zusehen, wie man von mancher Seite glauben machen möchte. 
Und wir befinden uns dabei im Einklänge mit den Autoren, die 
am meisten über Rotz gearbeitet haben, und die es, wie oben 
erwähnt als auffallende Thatsache hervorheben, dass im Blute 
rotzkranker Thiere so wenig Krankheitserreger vorhanden seien. 

Die vorliegende Untersuchung hat den Zweck, festzustellen, 
inwieweit den Rotzbacillen eine Möglichkeit gelassen ist, in dem 
praktisch zur Anwendung kommenden Diphtherieheilserum auf 
den Menschen übertragen zu werden. Die deutschen Fabrikate 
dieses Heilmittels nun stellen nicht das unveränderte Serum 
diphtherieiramunisirter Pferde dar, wie es sich beim Stehen ab¬ 
geschieden hat; sie werden vielmehr, wie bekannt ist, mit 
einem Zusatz von 0,5proc. Carboisäure oder ähnlichen 
Mitteln in annähernd gleicher Concentration versetzt, ehe sic 
in den Handel kommen. Es wurde daher versucht, zu be¬ 
stimmen, ob ein solcher Carboisäurezusatz im Stande 
ist, reichlich in das Serum aus Reineulturen übertragene, 
lebenskräftige Rotzbacillen unschädlich zu machen. 
Als Controle hinsichtlich der Vernichtung der Rotzbacillen, die 
eine Zeit lang in dem Carbolserum gehalten waren, diente ein¬ 
mal die Abimpfung auf künstlichen Nährboden, vor Allem aber 
zweitens die Uebertragung des Rotzbacillen enthaltenden Materials 
in den empfänglichen thierischen Organismus. 


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1. Februar 1897. 


BERLINEU 

; KLINISCHl 

B WOCHENSCHRIFT. 


91 _ 





Tabelle II. 



No. 

Gewicht 
vor Impfung 

i 

Menge der intra- 
i peritoneal injic. 
Kultur 

i 

| Eintritt von 

Krankheits¬ 
erscheinungen 

Eintritt 
j des Todes 

i 

Befund 

1 

( Gewichts¬ 
abnahme 
im Ganzen 

Bacteriologische 

Untersuchung 

1 

390 g 

1,0 ccm derRotz- 
cnltur B (24 Stdn. 
in Ehrl. Pf.-S. 

Hodenschwellung 
vom 2. Tage nach 
der Impfung an. 

am 7. Tage 

i 

Beide Hoden stark vergrössert, fest 
in den Säcken verwachsen; die Schei¬ 
denhäute überall mit eitrigen Rotz- | 
knoten besetzt. Samenstränge stark 

I injicirt, von grausulzigei Masse ein¬ 
gehüllt. Derselbe trübe Eiter auf dem 
Peritoneum; Hämatome in den Ne¬ 
bennieren ; Hydrops der Gallenblase. 

120 g 

Herzblut** steril; 
überall aus demEiter 
(der Knoten, des Pe¬ 
ritoneums, derSchei- 
denhäute) Rotzba¬ 
cillen in grosser Zahl 
in Reinkultur. 

o 

455 g 

i 

0,1 ccm wie 1. 

■ llodenschwellung 
vom 3. Tage nach 
der Impfung. Hant 
über denselben ge¬ 
platzt am 19. Tage. 
Lähmung der linken 
hinteren Extremität 
am 16. Tage. 

durch 

Nackcnschlag 
getödtet 
am 20. Tage. 

I 

^ Geschwür an der Impfstelle in der 
Bauchbaut, Lymphgefässstrang zur 
i rechten Inguinalgegend. Beide Hoden 
walnussgross, Bonst wie bei 1. Rotz¬ 
knoten (vereiterte) in grosser Zahl 
auf denTunicae, den Samensträngen ; 
haselnussgrosser Knoten hinter der 
der Milz, die stark vergrössert ist; 
erbsengrosser Knoten auf der Nase. 
Aeussere Drüsen wenig vergrössert,! 
auf Durchschnitt speckig. 

55 g 

Herzblut** steril; 
sonst überall Rotz¬ 
bacillen wie bei 1. 

3 i 

520 g | 

0,01 ccm wie l.j 

1 

Beschleunigte, müh¬ 
same Athmuog am 
15. Tage. 

am 16. Tage. 

Die äusseren Drüsen wenig vergrössert, 
markig. Samenstränge beiderseits 
stark injicirt. Auf dem rechten Hoden 
ein kleiner Rotzknoten. 


Nur im Herzblut** 5 
Rotzcolonieen ; die 
anderen Abimpfun¬ 
gen bleiben steril. 

1 i 

1 

530 g 

| 

1 

1,0 ccm der Kotz- ! 
kultnr A (24 Stdn. | 
in Ehrl. Pf.-S.). 

Futter verweigert 
am 10. Tage. 

am 18. Tage. 

Sehr starke eitrige Peritonitis mit 
dicken gelben Pseudomembranen auf 
alle» Organen der Bauchhöhle. Ver- 
wachsungen der letzteren unterein¬ 
ander. Hoden und Samenstränge un- j 
verändert. • 

135 g 

Im Herzblut** 2 Rotz¬ 
colonieen ; massen¬ 
haft und in Reincul- 
tur Rotzbacillen im 
Eiter der Bauch¬ 
höhle. 

* 5 

010 g | 

0,1 ccm wie 4. 

— 

— 


— 


*6 

030 g | 

c No. 5 nnd 0 

0,01 ccm wie 4. \ — 

leben und sind munter, nehmen dauen 

id an Gewicht 

zu. — ** immer in einer Oese. 

— 

— 


Zweierlei Rotzbacillcnculturen kamen zur Verwendung: die 
iin Folgenden mit A bezeiclmete habe ich Jahre lang im hygie¬ 
nischen Institut in Berlin weiter gezüchtet, meist auf künstlichem 
Nährboden (Glycerinagar), nur alle Vierteljahr einmal wurde sie 
durch eine Feldmaus geschickt. Sie stammt von einem rotzigen 
Pferde aus dem Jahre 1893, aus der Thierarzneischule in Berlin. 
Die im Folgenden mit B bezeichnete Cultur ist mir von Herrn 
Geheimrath Schütz im October 1896 gütigst zur Verfügung ge¬ 
stellt worden, w'ofür ich ihm auch hier bestens danken möchte. 
Beide Arten zeigten die charakteristischen Merkmale des Löffler- 
scheu Bacillus in ausgezeichneter Weise: die kleine, schlanke, 
am 2. Tage kürzere und dickere Form, die Unfärbbarkeit nach 
Gram, das typische Wachsthum auf trocken werdenden Kar¬ 
toffeln, Glycerinagar als besten Nährboden, keine Indolbildung 
aus Pepton. Sie unterschieden sich von einander durch das 
sehr viel üppigere Wachsthum von A: auf Glycerinagar bei 37° C. 
schon am ersten Tage üppigstes Wachsthum, auf der Gelatine¬ 
oberfläche bei 20° C. nach 8 Tagen eine dicke breite Haut; 
durch weit langsameres Wachsthum von B; auf Glycerinagar 
zeigte sich erst am 2. Tage Aufenthalt bei 37 0 C. grösstraögliche 
Entwickelung und es blieb fast völlig aus die Vermehrung auf 
Gelatine; weiterhin unterscheiden sich A und B durch ihre unten 
zu besprechende Virulenz. 

An Serumsorten wurden bei den Versuchen verwandt, ein¬ 
mal Höchster Diphterieheilserum von 250 J. E., das sich bei 
der Controle im Institut steril erwiesen hatte, und ausserdem 
das frisch erhaltene Serum eines Pferdes, welches Geheimrath 
Ehrlich vor längerer Zeit gegen Diphterie immunisirt hatte und 
das seit vielen Monaten nicht mehr eingespritzt war. Der Ira- 
munisirungswerth dieses Serums betrug am Anfang December 1890 
noch unter 100 und Uber 75 J. E. Dieses Serum wurde mit 


1 ccm Wasser zu 9 ccm des Serums versetzt und so die nöthi- 
gen Vergleichsnährböden erhalten. Die Resultate der Versuche, 
in welchen der Ausfall der Züchtung auf Glycerinagar die Frage 
nach dem Abgestorbensein der Itotzbacillen entscheiden sollte, 
gebe ich im Zusammenhänge in der Tabelle I. 

Das immer gleiche Ergebniss dieser Versuchsreihe ist, dass 
der Aufenthalt in mit dem Carboisäurezusatz versehenem Pferde¬ 
serum enormen Mengen von Rotzbacillen innerhalb kürzester Zeit, 
bei der einen Cultur in 2 Stunden, bei der anderen in 4 Stunden, 
mit Sicherheit die Fähigkeit nimmt, sich auf dem ihnen am 
meisten zusagenden Nährboden und unter den günstigsten Tempe¬ 
raturbedingungen zu vermehren. 

Es fragte sich nun nur noch, ob den Rotzbacillen durch 
den Aufenthalt in carbolhaltigem' Serum auch die Fähigkeit, 
innerhalb des empfänglichen Thierkörpers Krankheitserscheieungcn 
hervorzurufen, geraubt wird. Am 1. December wurden also 
0 männliche Meerschweinchen mit verschiedenen Mengen der 
beiden Rotzculturen A und B geimpft, die 24 Stunden lang der 
Carboiwirkung in dem Serum des Ehrlich'schen Pferdes ausge¬ 
setzt gewesen waren. Die beiden Carboisäureröhrchen waren 
je mit einem ganzen Condenswasser (etwa 0,5 ccm) eines vor 
24 Stunden mit einer der Rotzculturen A und B geimpften Gly¬ 
cerinagarröhrchen beimpft worden, also mit vielen Millionen von 
Keimen; in beiden fand sich eine dicke Trübung danach vor, 
die anch nach 24 Stunden Aufenthalt im Brutschrank und Schüt¬ 
teln unverändert war. Von jedem dieser beiden Carboiserum¬ 
röhrchen wurden drei männliche Meerschweinchen intraperitoneal 
geimpft und zwar erhielten dieselben Dosen von 5,0, 2,5 und 
1,0 ccm, also die Hälfte, ein Viertel und ein Zehntel der vor 
24 Stunden eingeimpften Millionen von Rotzbacillen. Alle sechs 
Thiere, 20 Tage nach der Impfung getödtet, zeigten völlig nor- 

1 * 


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No. 5. 


BKRLINKR KLINISO!IE WOCI1KXSC11HIFI'. 


02 

male Organe und sterile Körpersäfte. Sie hatten während des 
Lebens keine Krankheitserscheinungen gehabt und alle etwas an 
Gewicht zugenommen. 

Controlversuche zeigten uns die Virulenz der Kotzculturen. 
Die Reste der am 30. November zur Impfung der Carboisäure¬ 
röhrchen dienenden Condenswässer der Culturen A und B wur¬ 
den zur Impfung zweier Serumröhrchen (von dem gleichen Pferde) 
ohne Carbolzusatz verwendet, beide Seruraröhrchen 24 Stunden 
bei 37° C. gehalten und dann von jedem derselben 3 männliche 
Meerschweinchen intraperitoneal injicirt. Eine wesentliche Ver¬ 
mehrung innerhalb, der Röhrchen war, nach dem Augenschein 
zu urtheilen, nicht eingetreten; jedenfalls war die Trübung des 
Serums kaum zu erkennen gegenüber derjenigen, die in den 
Carboiserumröhrchen durch die eingepflanzte Masse der Bacterien 
erhalten war. Je eine Oese der beiden Rotzculturen in dem 
nicht carboliBirten Serum, auf Glycerinagar übertragen, Hess 
jedoch auf diesem Nährboden unzählige Rotzcolonien zur Ent¬ 
wickelung kommen, ein Beweis dafür, dass trotz der geringen Ver¬ 
änderung in der Klarheit des Serums eine wesentliche Vermehrung 
der Rotzbacillen stattgefunden hatte. Im Folgenden ist das Er- 
gcbniss dieses Controlversuches angegeben. (Siehe Tabelle II.) 

Die Cultur B hatte also eine nicht unbeträchtliche Virulenz, 
da 0,01 ccm derselben ein Meerschweinchen innerhalb 16 Tagen 
tödtete. Es ist indess nicht ausgeschlossen, dass bei diesem 
Meerschweinchen noch andere Momente in Betracht kamen, 
welche den Tod desselben beschleunigten, so dass es vor dem 
mit der zehnfachen Menge geimpften, das wohl bald an Rotz- 
infection gestorben wäre, einging. Ich will hier auf den Befund 
bei diesen Thieren und manches Andere nicht näher eingehen, 
da es mir nur darauf ankommt, zu zeigen, dass den Rotzculturen 
überhaupt eine gewisse Fähigkeit, Meerschweinchen erkranken 
zu lassen, inne wohnte. 

Aus unseren obigen Versuchen geht also hervor, was von 
voracherein zu erwarten war: 

1. Dass das Blutserum zweier rotzkranker Pferde, auf rotz¬ 
empfängliche Thiere subcutan und intraperitoneal übertragen, keine 
Erkrankung dieser letzteren hervorgerufen hat; womit die Möglich¬ 
keit des Vorkommens einer Rotzllbertragung dann, wenn dem Serum 
keine Dcsinficientien zugesetzt sind, nicht geleugnet werden soll. 

2. Dass 0,5 proc. Carboisäurezusatz zu dem Serum diphtherie¬ 
immuner Pferde eine sehr grosse Zahl lebenskräftiger in diesem 
Material enthaltener Rotzbacillen in 2 bezw. 4 Stunden derart 
verändert, dass ihnen eine Vermehrung auf künstlichem Nähr¬ 
boden unmöglich gemacht wird. 

3. Dass durch 24ständigen Aufenthalt in 0,5 proc. Carbol- 
serum diphtherieimmuner Pfqyde den zur Untersuchung gezogenen 
Rotzbacillen die Fähigkeit genommen ist, Meerschweinchen an 
Rotz erkranken zu lassen. 

Es bleibt mir übrig, zu erwähnen, dass mindestens 7 Tage 
vergehen, ehe das Diphtherieserum nach dem Carboisäurezusatz 
in den Handel kommt. 


II. Aus der JI. medicinischen Klinik des Herrn 
Geheiinrath Professor Dr. Gerhardt. 

Ueber Folgezustände von pericardialen 
Obliterationen. 

Von 

Dr. M. Heidemann, Volontairarzt der Klinik. 

Bei der Durchsicht der Lehrbücher der speciellen Pathologie 
und Therapie und auch der Monographien Uber die Krankheiten 
der Circulationsorgane findet man Uber den Verlauf der Peri- 


carditi8 mit Verwachsung beider Pericardialblätter im Allge¬ 
meinen angegeben, dass sie entweder symptomlos verläuft und 
nur zufällig bei der Autopsie gefunden wird oder dass in bald 
längerer, bald kürzerer Zeit die Leistungsfähigkeit des Herzens 
merklich nachlässt, der Puls rascher, kleiner und dabei unregel¬ 
mässig wird, Oedeme und hydropische Ergüsse in den serösen 
Körperhöhlen auftreten, die Athmung von Tag zu Tag mühsamer 
wird, kurz dass sich dies Krankheitsbild in nichts von dem 
eines uncompensirten Herzfehlers unterscheidet. Es liegt nabe, 
die Pericardialverwaehsung als Ursache dieser Circulations- 
störungen aufzufassen. Indessen schon die von allen Klinikern 
bestätigte Beobachtung, dass es partielle und totale, lockere und 
feste Verwachsungen giebt, die während des Lebens und selbst 
bei längerer Beobachtungsdauer gar keine Erscheinungen hervor¬ 
bringen, dass wieder in anderen Fällen schon eine geringfügige 
Verwachsung deutliche Symptome zur Folge hat, weist darauf 
hin, dass die Synechie allein wohl kaum der Contraction des 
Herzmuskels einen nennenswerthen Widerstand entgegenzusetzen 
vermag; überdies liegt schon unter normalen Verhältnissen das 
äussere Blatt dem inneren stets unmittelbar an. Was vielmehr 
die schweren Circulationsstürungen hervorruft, ist, wenn man 
von den seltenen Fällen absieht, bei denen durch starke extra- 
pericardiale Verwachsung die Ilcrzsystole auf rein mechanische 
Weise gehemmt werden kann, die secundär ein tretende Degene¬ 
ration des Herzfleisches. 

Virchow war der erste, der auf die Betheiligung des 
Myocards bei der Pericarditis hingewiesen hat, nicht nur in den 
chronischen, sondern auch in den acut verlaufenden Fällen. In 
letzter Zeit hat man dem Herzmuskel eine grössere Beachtung 
geschenkt. Hesse 1 ) und Krehl-) und neuerdings Rosenbach 3 ) 
und Köster*) haben übereinstimmend auf die wichtige Rolle 
hingewiesen, die ihm bei dem normalen Spiel der Klappen zu¬ 
kommt. Weiterhin ist es Krchl's') Verdienst, auch in patho¬ 
logischen Fällen auf die hohe Bedeutung des Herzmuskels für 
die Symptome und den Verlauf der Herzkrankheiten aufmerksam 
gemacht zu haben, indem er auf Grund zahlreicher anatomischer 
Untersuchungen die grosse Häufigkeit der Erkrankung des Myo¬ 
cards hierbei darthat. 

Seine Untersuchungen wurden von verschiedenen Forschern 
aufgenommen und namentlich von Romberg 6 ) weiter verfolgt: 
alle diese Autoren bestätigten die Ergebnisse KrehUs. Man 
weiss jetzt, dass ein grosser Theil der bei Herzkrankheiten, 
speciell bei Klappenfehlern beobachteten Symptome auf die Be¬ 
theiligung des Herzmuskels zurückzuführen ist und dass die 
Störung der Thätigkeit des Myocards sich äussert in „Verände¬ 
rungen des llerzrhythmus, in Verminderung der Herzkraft und 
in mangelhafter Function des muskulösen Verschlussapparates 
der Herzo8tien“. 

Wie für die Herzklappenfehler, so gilt dies auch für die 
Pericarditis; denn entzündliche Processe pflanzen sich nicht nur 
vom Endocard, sondern auch vom Pericard her auf den Herz¬ 
muskel fort. So findet man diesen bei Pericarditis in verschie¬ 
dener Weise krankhaft verändert; man sieht fettige Degeneration 
der Muskelfasern an einzelnen kleineren oder ausgebreiteten 
Stellen oder das ganze Herzfleisch umfassend von der Oberfläche 
nach der Tiefe fortschreitend; schwielige Entartung trifft man 
häufig an, ebenso beträchtliche Atrophie des Herzmuskels, wobei 

1) Areh. f. Anat. 1880. 

2) Abhandl. d. math.-phys. Klasse der Kgl. sächs. Ges. der Wiss. 
Bd. XVII, No. 5. 

3) Berl. klin. Wochenschrift 1888, No. 87, 38; 1889, No. 2. 

4) Referat Berl. klin. Wochenschrift 1893, No. 12. 

5) Deutsch. Arch. f. klin. Med., Bd. XLVI. 

G) Deutsch. Arch. f. klin. Med., Bd. XLVIII und XLIX. 


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1. Februar 1807. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


•08 


letzterer zum Theil durch Fettgewebe ersetzt ist. Aber auch 
ohne dass so schwere Veränderungen am Herzfleisch bestehen, 
erscheint dieses bei der Nekropsie sehr häufig auffallend matsch 
und brüchig. 

Dass durch diese Veränderungen die Contractionsfähigkeit 
des Muskels leiden muss, ist klar; es kommt bald zu einer Er¬ 
schöpfung desselben, zu kraftlosen und unvollkommenen Contrac- 
tionen, und solche Fälle machen durchaus den Gesammteindruck 
eines Herzklappenfehlers. 

Indessen nicht alle Fälle von Pericarditis mit Synechie ver¬ 
laufen in dieser typischen Weise, sondern bieten einen auffälli¬ 
gen Symptomencomplex dar. Auch bei ihnen setzen innerhalb 
einer gewissen Zeit nach dem ersten Auftreten der Pericarditis 
unter deutlichen Zeichen von Herzschwäche Stauungserschei¬ 
nungen ein, aber diese beginnen nicht, wie es sonst bei Herz¬ 
fehlern im Stadium gestörter Compensation zu sein pflegt, als 
Hydrops anasarca an den abhängigen Körperstellen, unteren 
Extremitäten resp. Kreuzbeingegend, sondern die Kranken fangen 
an Uber ein lästiges Gefühl von Druck, Schwere und Spannung 
im Leibe zu klagen, das Abdomen schwillt an, Ascites ist leicht 
nachweisbar und in kurzer Zeit erreicht dieser die höchsten 
vorkommenden Grade, so dass der Leib enorm aufgetrieben ist, 
die Bauchdecken äusserst gespannt sind und hierdurch die sub- 
jectiven Beschwerden eine grosse Heftigkeit erreichen. Erst im 
weiteren Verlaufe gesellen sich Oedeme an den unteren Extre¬ 
mitäten hinzu oder, waren sie schon vordem da, was in einigen 
Fällen beobachtet ist, so treten sie doch bald vor dem das 
ganze Krankheitsbild beherrschenden Ascites weit in den Hinter¬ 
grund. 

Nur ganz vereinzelt und meist nur beiläufig Anden sich An¬ 
gaben in der Literatur Uber diesen auf fälligen Befund localer 
Stauung bei Synechie. 

So publicirt Hirschler') aus der KussmauFscheu Klinik 
die Krankengeschichte einer 43jährigen Frau mit Herzbeutel¬ 
verwachsung, die mit „hochgradigem Ascites ohne entsprechendes 
Anasarca der unteren Extremitäten verlaufen war“. 

Riegel 2 ) citirt einen ähnlichen Fall, der auf der v. Bam- 
berger’schen Klinik zur Beobachtung gelangte. 

Nach Uosenbach 3 4 5 6 ) findet man bei der Pericard Verwach¬ 
sung oft ausgedehnte fibröse Peritonitis des Leberüberzuges, 
Lebertumor und Ascites, so dass „die Vermuthung nahe liegt, 
dass Leberschwellung, Ascites und Synechie in einem Causal- 
zusaramenhang stehen“. 

Str Ihn pell') schreibt in seinem Lehrbuch: „Auffallend ist 
es, dass wir selbst und andere Aerzte einige Male in Folge von 
Pericardialverwachsung auch starken Ascites (zuweilen mit 
Hydrothorax) ohne gleichzeitige Oedeme an den Extremitäten 
beobachtet haben.“ 

Leube’) erwähnt, dass die Krankheit mitunter „zu Schwel¬ 
lung der Leber und damit zuweilen zu prävalirendem Ascites“ 
führt. 

Schrötter 0 ) weist gleichfalls darauf hin, dass mitunter bei 
der Verwachsung des Herzbeutels Ascites auftritt, „bevor es zu 
allgemeiner Hydropsie kommt“. 


1) Hochgradiger Ascites ohne entsprechendes Anasarca der unteren 
Extremitäten. Fester med.-chir. Fresse 1880, No. 15. Refer. Centralbl. 
f. kl. Med. No. 41, 1886, p. 722. 

2) Krankheiten des Herzbeutels in Gerhardt’s Handbuch d. Kinder¬ 
krankheiten 1878, IV, 1, p. 231. 

3) Eulenburg's Keal-Encyclopaedie der gesammten Heilkunde, Ud. 9, 
1887, p. 478. 

4) Lehrbuch der spec. Fath. u. Ther. 1890, I, p. 506. 

5) Spec. Diagn. der inneren Krankheiten 1891, I, p. 48. 

6) Erkrankungen des Herzbeutels. Wien 1894. p. 53. 


In neuester Zeit hat Pick 1 ) in einer Arbeit: „Ueber chro¬ 
nische unter dem Bilde der Lebercirrhose verlaufende Pericarditis 
(pericarditische Lebercirrhose)“ drei selbst beobachtete Fälle 
eingehend besprochen und auch die wichtigste hierher gehörige 
Literatur zusammengestellt. 

Im Anschluss hieran möge der folgende Fall mitgetheilt 
werden, der im Sommer v. J. auf der II. med. Klinik der Kgl. 
Charite zur Beobachtung gelangte: 

I. Else R., Arbeitertochter, 15 Jahre alt. Aufgenommen am 5. V. 96, 
gestorben am 5. VI. 96. 

Anamnese: Eltern leben und sind gesund, Geschwister sind eben¬ 
falls gesund. Als kleines Kind Masern, sonst stets gesund. Die jetzige 
Krankheit begann Anfang Mai v. J. mit Uebelkeit und Kopfschmerzen. 
Vom Arzt zuerst als Typhus behandelt. Nach 10 Tagen in ein hiesiges 
Krankenhaus eingeliefert, wo die Diagnose Herzbeutelentzündung gestellt 
sein soll. Patientin wurde hier 10 Wochen behandelt nnd als gebessert 
entlassen. Nach 5 Wochen zunächst Anschwellung des Unter¬ 
leibes, später auch der Beine, weshalb Patientin wieder das 
Krankenhaus aufsuchte. Sie wurde hier wegen „Bauchwassersucht“ 
behandelt bis zum 28. April d. J. Im Laufe des Jahres wurde Patientin 
23mal punktirt. Da ihr von dem behandelnden Arzt Stichelung der 
Unterschenkel vorgeschlagen wurde, sie sich aber hierzu nicht ent¬ 
schlossen konnte, verlies* sie d*9 Krankenhaus und kam am 5. V. 96 
zur Charite. 

Patientin hat in guten auskömmlichen Verhältnissen gelebt. Ihre 
jetzigen Beschwerden sind Anschwellung des Unterleibes und der Beine 
und Athemnoth bei tiefer Lagerung. 

Status praesens: Kleines, gracil gebautes Mädchen von schlaffer 
Musculatur und fast ganz geschwundenem Fettpolster. Gesicht im All¬ 
gemeinen blass, cyanotisch. Circumscripte Röthung der Wangen. 
Hals verhältnissmässig breit. Jugularvenen stark gefüllt. 
In der linken Fossa supraclavicularis einige geschwollene Lymphdrüsen. 
Rachen ohne besondere Veränderungen. Haut und Schleimhäute 
blass, cyanotisch. Starkes Oedem der Bauchdecken, des 
Rückens und der unteren Extremitäten. Nässende Ekzemstellen 
an den Unterschenkeln. Am Unterleib zwei Heftpflaster an den Punc- 
tionsstellen. 

Respirationsapparat. Athmung beschleunigt, linke Seite wird 
stärker gehoben, als die rechte. 42 Athemzüge in der Minute. Zwerch¬ 
fellstand wegen des bestehenden Hydrothorax und Ascites nicht zu be¬ 
stimmen. 

Percussion und Auscultation. V. R. Dämpfung von der 
4. Rippe abwärts; auf dem 8ternum Dämpfung bis zum Proc. xiph. 
H. R. Dämpfung vom 4. Brustwirbel abwärts. H. L. vom Angul. scap. 
abwärts Dämpfung. R. U. Stimmfremitus aufgehoben. 

Circulationsapparat. Spitzenstoss sehr schwach im 5. Inter- 
costalraum. Herzgrenzen: R.: linker Sternalrand. L.: 3 cm aus¬ 
wärts von der Mammillarlinie. 0.: unterer Rand der 4. Rippe. Herz¬ 
action beschleunigt, pendelnder Rhythmus. 108 8chläge p. ra. An 
allen Ostien reine Herztöne. 

Pu 18 sehr schwach, kaum zu fühlen. 

Digestionsapparat: Zunge belegt, Zähne intact. Abdomen 
prall gespannt. Haut darüber mit Epidermisschuppen bedeckt. Star¬ 
ker Ascites. Um den Nabel eine leichte Röthung sichtbar. Grenzen 
von Leber und Milz wegen des starken Ascites nicht zu bestimmen. 

Nervensystem: Sensorium frei, Motilität und Sensibilität unge¬ 
stört. Reflexe vorhanden. Rechte Pupille kleiner als die linke. Reaction 
prompt. 

Augenbewegungen frei. Augenhintergrund: Papillen verwaschen, 
an den Grenzen geröthet. Venen stark mit Blut gefüllt, Arte¬ 
rien blass, wenig gefüllt. Körpergewicht 52,0 kgr. Temperatur 37,3. 
Urin sauer, von geringer Menge, geringer Elweissgehalt, speciflsches Ge¬ 
wicht 1022. 

6. V. Unter Aetherspräy werden beiderseits an den Seiten der 
Unterschenkel je 3 Einstiche gemacht; aus denselben entleert sich sofort 
in grossen Tropfen die Flüssigkeit. Einwickelnng der Unterschenkel. 

7. V. ca. 1000 ccm Flüssigkeit abgeflossen. Spec. Gew. 1008, 
schwach albumenhaltig, kein Saccharura. 

8. V. Körpergewicht 49,0. 

15. V. Körpergewicht 44,5. 

23. V. Beine stark abgeschwollen; etwas Meteorismus, Haut-Ab¬ 
schilferung an den Unterschenkeln; Dämpfung an den Longen geringer. 

28. V. Oedeme, Ascites und Dyspnoe haben zugenommen. Hinten 
an den Lungen wieder Dämpfung. 

30. V. Die Dämpfung steht V. R. 3. Rippe H. R. 5. Brustwirbel. 
Dabei relatives Wohlbefinden, keine Cyanose. Seit 8 Tagen stärkere 
Durchfälle. Andauernd fieberfrei. Körpergew. 46,5. 

3. VI. Auf Brust und Bauch hat sich ein oberflächliches Venennetz 
gebildet. Seit 2 Tagen Temperatur-Steigerung bis zu 40,1. Gestern 
Frostgefühl. L. stärkere Athmung. R. fühlbarer inspiratorischer Stridor. 
Beim Liegen Dämpfung V. R. von der 8. Rippe abwärts mit abge¬ 
schwächtem Fremitus und verschärftem Vesiculär-Athmen. H. R. Dämpfung 


1) Zeitschrift f. klin. Med., Bd. 29 (1896), p. 385. 

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BERLINER KLINISCH!*' WOCHENSCHRIFT. 


No. 5. 


9 t 


vom 5. Brustwirbel, H. L. vom 7. Brustwirbel abwärts. Allenthalben 
rauhes Vesiculär-Athmen, starker Fremitns. Herztöne rein. Puls regel¬ 
mässig, von mittlerer Spannung. 

Die Einstichöffnungen an den Unterschenkeln sind zum grössten 
Theil verheilt. Es hat sich ein Eczem gebildet, das jedoch gutartig 
aussieht; keine weitere Entzündung. 

4. VI. Unter starkem Schwitzen in der Nacht Temperatur-Abfall 
von 40,5 auf 87,4; abends wieder Steigerung auf 89,7. Trachealrasseln, 
starke Hustenbeschwerden und Athemnoth. 

5. VI. Morgens 8'/ t Uhr exitus letalis. 

Urin spärlich, zwischen 100 und 550 ccm schwankend, meist 800, 
bei einem spec. Gewicht von 1020—1033; er enthielt andauernd geringe 
Mengen Eiweiss. Im Sediment wurden Nierenepithelien und Leukocyten 
nacbgewiesen. Cj linder wurden nur einmal am 8. V. gefunden. 

Sectionsprotocoll: Syncchia pericardii. Myocarditis 
parenchymatosa chronica. Pleuritis fi brinosa dextra. Ate- 
lectasis partialis pulmonum, llydrothorax duplex. Hydrops 
Ascites chronicus. Peritonitis fibrosa partialis, praesertira 
cavi retrouterini. Induratio rubra lienis et renum. Infarc- 
tns renis sinistri. Atrophia cyanotica hepatis. Hyperplasis 
partialis hepatis compensatoria. Atrophia laevis linguac. 

Kleine weibliche Leiche mit geschwollenen Labien und Extremitäten. 
Eczem an denselben. 

Herzbeutel: vollständig fibrös obliterirt. 

Herz: klein; die leicht bräunliche Musculatur sehr schlaff, 
vielfach gelbfleckig. 

Lungen: in sehr weiter Ausdehnung atelectatisch, ohne Heerde. 
In beiden Pleuren sehr reichliche, ganz schwach getrübte 
Flüssigkeit. 

Zungengrund: in grosser Ausdehnung geglättet. 

Abdomen: stark aufgetrieben, enthält reichliche wenig ge¬ 
trübte gelbliche Flüssigkeit. 

Milz: leicht vergrössert, derb mit stark gerötheter hypertro¬ 
phischer Pulpa, deutliche Follikel, starke Trabekel. 

Nieren: derb, dunkelroth, links ein tief eingezogener erbsen¬ 
grosser Infarkt. 

Leber: klein, mit uneben gewellter Oberfläche. Die 
äusseren Partieen mit sehr stark geröthetem Centrum und sehr dürftigen 
Peripherieen der Acini. Die centralen Theile, mit ebensolchen Flecken 
untermischt, zeigen unregelmässig gestaltete', flach prominente röthlich- 
weisse. dichte Substanz von sehr unregelmässiger Acini-Zeichnung. Da¬ 
zwischen derbere, gleichfalls prominente Durchschnitte von icterisch 
gefärbten Knoten, in denen ein kleines Lumen sichtbar ist. 

Magen- uudDarmschleimhaut: stellenweise cyanotisch, im ganzen 
blass, theilweise geschwollen. Follikel im Dünndarm etwas prominent. 

Dieser Fall bot differentiell-diagnostisch grosse Schwierig¬ 
keiten dar, doch wurde gleich in Rücksicht auf das frllhere 
Ueberstehen von Pericarditis, in Anbetracht der prall gefüllten 
Venen, des schwachen Spitzenstosses, des kleinen Pulses u. s. f. 
bei Ausschluss anderer ätiologischen Momente an Stauungen 
infolge Myodegeneration gedacht. 

Bedenkt man nun, dass die zu pericardialer Verwachsung 
führende sero-fibrinöse Pericarditis erfahrungsgemäss allmählich 
einsetzt und schleichend verläuft, ohne auffällige Herzerschei¬ 
nungen zu machen, oder dass, wenn wirklich die Anamnese das 
frühere Ueberstehen von Pericarditis ergiebt, die Inspection, Per¬ 
cussion und Auscultation am Herzen in sehr vielen Fällen kein 
Zeichen liefert, das für das Bestehen einer Synechie beweisend 
wäre, bedenkt man ferner, dass dieser Symptomencomplex immer¬ 
hin selten und daher wenig gekannt ist, so wird man es ver¬ 
stehen, dass bei einem Kranken, der nur einen hochgradigen 
Ascites mit seinen secundären Störungen darbietet, die Diagnose 
auf ungeheure Schwierigkeiten stösst und weit eher an Laennec- 
sclie Cirrhose, Lebersyphilis, Pfortadercompression, Bauchfell- 
tuberculose, chronische Bauchfellentzündung u. s. f. gedacht wird 
als an eine Erkrankung des Herzens; ja wie wir sehen werden, 
ist man selbst bei der Autopsie geneigt, die vorhandene Synechie 
der Pericardblätter mehr als zufällige Coraplication denn als 
Ursache des Kraukheitsbildes anzusprechen. Denn aus der 
Literatur habe ich noch G weitere Fälle zusammengestellt, die 
zwar unter verschiedenen Diagnosen geführt werden, die aber 
doch in ihrem Verlaufe und namentlich in ihrem Obductionsbe- 
funde eine solche Uebereinstimmung mit unserem Falle zeigen, 
dass sie zwanglos dieser Krankheit zugeschrieben werden können. 
Ich habe nur diejenigen ausgewählt, die mit keiner anderen 
Krankheit, besondere nicht mit Tuberculose coinplicirt sind. 


Diese Fälle sind folgende: 

II. Autor J. van Deen. 1 ) 

40Jähriger kräftiger Bauer. Am 4. II. 44. Pleuritis sinistra 
und Symptome von Pericarditis. Haut blaugelb. Puls klein, 
langsam; dabei Epigastrium und besonders Regio hypo- 
chondriaca dextra aufgetrieben und druckempfindlich; un¬ 
regelmässiger Stuhl. 

Am 10. VIII. wieder arbeitsfähig, dabei aber Dyspnoe und Herz¬ 
klopfen. März 45 wieder Auftreibnng des Oberbauches und der 
Lebergegend; nunmehr auch Uydropsie im Bauch und an den 
unteren Extremitäten. Im Juni Oedeme bis zum Oberschenkel, 
stark aufgetriebener Bauch, Ascites und llydrothorax, schliesslich 
auch Oedeme der oberen Extremitäten. Im Juni I. Punction: 86 Pfand 
gelbgrünlicher Flüssigkeit, Ende September II. Punction 44 Pfund, Mitte 
November III. Punction und am 19. XII. Exitus letalis. 

Obductionsbefnnd: Vorderes Peritonealblatt bis hin¬ 
unter zur Blase sehr verdickt; Darm-Peritoneum ausgenommen 
am Rectum und einem Theil des Magens speckig glänzend, gleich - 
mässig dick; es zeigt zahlreiche Verwachsungen und Unmengen von 
„miliarförmigen Körperchen“, ebenso auf beiden Flächen des Omentum 
und Mesenterium. Leber und Milz unverändert. Pankreas sehr 
gross, dick; Ductus pankreaticus ist um das Doppelte erweitert. In 
beiden Pleurahöhlen sehr viel Wasser. Innere Oberfläche 
des äusseren Pleurablattes beiderseits mit dünnen Pseudo¬ 
membranen bedeckt, desgleichen auch an einigen Stellen der 
Pleura pulmonalis. Links in Umgebung der Radix starke Verwachsung 
der Lungen mit Mediastin. Rechts Verwachsung der Lungen 
mit Pleura costalis. Vorderfläche des Pericards fest am Sternum 
angewachsen. An der ganzen Innenfläche des Pericards dicke 
Pscndomembranen von 1 — 2 mm Dicke. Verwachsung des 
Cor mit Pericard an Spitze, Basis und besonders auf der vorderen 
linken Seite des Herzens. Alle vom Herzen ausgebenden Gefässe mit 
dickem, festen Zellengewebe umgeben. 

van Deen erklärt die 1‘eriearditis, da am Herzen die be¬ 
deutendsten pathologischen Veränderungen sich fanden, für das 
Hauptleiden, von der aus sich die Entzündung auf die Pleuren 
und von hier aus durch das Diaphragma auf das Peritoneum 
ausgebreitet hat; wobei allerdings auffällt, „dass die untere 
Fläche des Zwerchfells und der obere Abschnitt des Peritoneum 
und die dort befindlichen Organe am wenigsten afficirt sind.“ 

III. Aulor Frerichs.*) 

38jährige Frau; am 17. II. 57 aufgenommen. Ihre Krankheit 
begann um Weihnachten 55 mit Schmerzhaftigkeit des Unter¬ 
leibes und Auftreibung der linken Seite desselben, Be¬ 
schwerden, welche mit geringen Unterbrechungen bereits 7 Monate 
angehalten hatten, als die Kranke am 3. VIII. 56 im Hospital Hülfe 
suchte. Damals fand man Ocdem der Füsse und Bauchdecken 
mit leichtem Icterus. Leib kugelig aufgetrieben, von hellem 
tympanitischen Schall; in der Milzgegend ein abgesacktes Peritoneal¬ 
exsudat. Letzteres verkleinerte sich etwas, die Oedeme nahmen ab. — 
6 Monate später wurde sie wieder aufgenommen mit sehr 
starken Oedemen der unteren Extremitäten und Bauch¬ 
decken. Unterleib durch eine grosse Menge Flüssigkeit 
ausgedehnt, fluktuirend; grosse Athemnoth bei normalen Herz¬ 
tönen und freien Lungen. Punction: 8 Ijuart klarer gelber 
Flüssigkeit. Leber klein, granulirt. Milz vergrössert. Anfangs März 
in Folge brandigen Erysipels Exitus. ' 

Obductionsbefund: Untere Körperhälfte stark oedematös. Beide 
Lungen fest angewachsen, nur hinten oedematös. P.ericard ist 
durch zahlreiche feste Verwachsungen mit dem Herzen 
verbunden; das letztere zeigt normale Musculatur und Klappen. In 
der Bauchhöhle viele Pfund gelblicher flockiger Flüssigkeit. 
Bauchfell trübe, theilweise injicirt und an vielen Stellen stark 
verdickt. Darmwindungen vielfach mit einander verwachsen. Milz 
gross, Hülle schwielig dick, mit Umgebung fest verbunden. 
Nach unten gegen Flexura iliaca gelbe käsige Massen. Magen and 
Dünndarm mit schwärzlichen, blutigen Massen erfüllt. Nieren normal. 
Uterus und Ovar fest verlöthet. Leber um ‘/a verkleinert, 
durch festes Bindegewebe untrennbar verwachsen. Hülle 
sehnig verdickt, zeigt weisse in das Parenchym ein¬ 
dringende Schwarten. Oberfläche uneben, grössere und kleinere 
Lappenbildung. Die Ausgänge der Lebervenen sind durch vollständige 
oder unvollständige, theilweise durchlöcherte Septa verschlossen und 
nach aussen mit dicken Bindegewebsseheiden umgeben. Hülle der 
Pfortader und Leberarterien verdickt; ihr Lumen erweitert. 

Frerichs bemerkt hierzu: „Die Entstehung der Leber¬ 
induration wurde eingeleitet durch eine Peritonitis, deren Sym- 

1) Pericarditis chronica in Verbindung mit Pleuritis und Peritonitis 
chronica. N. Arch. II. 1. 1846. Ref. in 8chmidt's Jahrb. der Med. 
Bd. 54, p. 28. 

2) Klinik der Leberkrankheiten. 2. Bd. (1861) p. 92. 20. Beob¬ 
achtung. 


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1. Februar 180?. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


ptome fast 2 Jahre denen des Leberleidens vorausgingen. Von 
der Leberkapsel drang die Entzündung theils direct in die Sub¬ 
stanz der Drüse ein, theils mit den Gefässscheiden. An den 
Venae hepaticae griff sie auf die Gefässwand selbst Uber und 
bildete hier klappenartige Verschliessungen. Diesen letzteren 
sind die bedeutenden Kreislaufstörungen zuzuschreiben, welche 
auch im Leberparenchym Blutextravasate herbeiführten, abge¬ 
sehen von ihrer Rückwirkung auf den Pfortaderstrom.“ 

IV. Autor: H. Vierordt')- 

35jährige Frau. Im 28. Jahre (1866) „hitziges Gliederweh“ an 
Hand- und Fussgelenken, das ein Jahr lang anhielt. 2 Jahre später 
Anschwellung bald im rechten, bald im linken Fuss, die als¬ 
dann dauernd blieben. Auch der Bauch schwoll allmählich 
und gleichmässig an. Im Mai 69 I. Punction (18 Maass bayrisch 
hellgelben Wassers). Juli und November 69, Januar und März 70 
weitere 4 Punctionen. Danach leidlich gesund. Juli 72 infolge Er¬ 
kältung während 8 Tage Fieber, Schwellung und Schmerzen 
im Bauche, die bald wieder verschwanden. Anfangs August 
wieder starke Schwellung des Bauches, später auch der 
unteren Extremitäten. Bei der Aufnahme hochgradige Dyspnoe 
und Cyanose. Puls klein, frequent, aussetzend. Bauch ist beson¬ 
ders in der Regio bypogastrica stark aufgetrieben, deut¬ 
liche Fluctuation, gegen Druck empfindlich. Spitzenstoss 
schwach. Neben dem I. Ton blasendes Geräusch; 2. Pulmonalton etwas 
verstärkt. Exitus infolge LuDgeninfarcts. 

Obductionsbefund: Untere Extremitäten stark, obere schwächer 
ödematös. Im Abdomen 4—5 Schoppen Flüssigkeit. Netz 
zusammengerollt, ist mit der Bauchwand, die Dünndarmschlingen 
unter einander zn einem Convolut verwachsen. Peritoneum 
stark verdickt, schmutzig grau-roth. Oberfläche rauh und glanz¬ 
los, von festem Fibrin überzogen. Leber von festen Bindegewebs- 
Schwarten überkleidet, ebenso die vergrösserte Milz. Leber 
um '/* kleiner, allseitig verwachsen, exquisite Muskatnuss¬ 
leber. Milz um das Doppelte vergrössert, ebenfalls fest mit 
Umgebung verlüthet. Nieren etwas gross, Oberfläche ziemlich 
glatt, Rinde grau-roth, Pyramiden dunkelroth. Beide Lungen 
in ihrer ganzen Ausdehnung mit der Pleura verwachsen, letztere 
stark verdickt. Lungengewebe blutreich. In beiden Lungen mehrere 
bis haselnussgrosse lnfarcte. Der Herzbentel ist grösstcntheils 
zu einer mehr als 3 mm dicken, durch Kalkeinlagerung sehr 
fest gewordenen Schicht umgewandelt, mit dem Herzen ist 
er allseitig durch lockeres Zellgewebe verwachsen. Der 
rechte Ventrikel ist erweitert, verdickt. Die Klappen sind intact. Herz¬ 
fleisch rechts fest, links in fettiger Entartung begriffen. 

Vierordt führt diesen Fall zwar unter „chronischer Ex- 
sudativ-Peritoniti8“, fügt aber an anderer Stelle 1 ) hinzu, dass 
möglicherweise die Peritonitis und die chronisch entzündlichen 
Veränderungen am Herzbeutel in einem gewissen Zusammenhang 
gestanden haben. 

V. Autor: H. Vierordt 1 3 ). 

20jähriger Patient. Im August 76 aufgenommen und „in Anbe¬ 
tracht von bedeutendem ascitischen Erguss, leicht icterischer Färbung, 
Milzschwellung etc. als Cirrhosis hepatis behandelt. Ganz ausreichende 
Aetiologie schien zu fehlen“. Im August zum 1. Male punctirt. Die 
Punctionen mussten von Zeit zu Zeit wiederholt werden; es wurden 
stets grosse Mengen Flüssigkeit von wechselndem spec. Gew. (1016—1021) 
entletrt. Im Laufe von 6 Jahren wurde 34 mal punctirt und gegen 
460 Liter Flüssigkeit abgelassen. 

Obductionsbefund: Sämmtliche Intestina zu zwei grossen, 
in der Oberbauchgegend liegenden, scheinbar aus Cysten zusammenge¬ 
setzten Tumoren von glatter Oberfläche mit einander verwachsen. Das 
Bauchfell ist in seinem Wandtheil sehr stark verdickt, bildet 
eine derbe, glänzend weisse dicke Membran. Die Unter¬ 
bauchgegend, von trüber Flüssigkeit erfüllt, zeigt eine ein¬ 
fache Höhle, von glänzend weisaem, dicken Peritoneum 
ausgekleidet. Der Eingang in das Becken ist äusserst eng und ge¬ 
stattet nur 2 Fingern den Eintritt. Leber klein, mit Zwerchfell 
untrennbar verwachsen; walzenförmig, auf der Schnittfläche 
exquisit granulirt. Aclni äusserst reducirt. Milz gross. Stauungs¬ 
nieren, Herzbeutel obliterirt. 

Auch diesen Fall zählt Vierordt zur chronischen Exsudativ¬ 
peritonitis. 

VI. Autor: A. Riedel 4 ). 

19jähriger Commis. Im 4. Jahre Pertussis, sich 7 Jahre lang von 


1) Die einfache chronische Exsudativperitonitis. Tübingen 1884, p. 78. 

2) L. c. p. 117, Anm. 1. 

3) L. c. pag. 132 u. ff. 

4) Ein Fall von chronischer idiopathischer exsudativer Peritonitis, 
Münchener med. Wochcnschr. 1892, No. 45, p. 798. 


05 


Zeit zu Zeit wiederholend. Mit dem 1. Keuchhustenanfall beginnend, 
schwoll allmählich zunehmend der Bauch an, ohne besondere Beschwerden 
zu verursachen. Vor 8 und 6 Jahren und vor 4 Wochen Punctio ab- 
dominis, wobei stets grosse Mengen Flüssigkeit entleert wurden; rascher 
Ersatz derselben. Plötzlich unter Schüttelfrost e causa ignota exitus 
letalis. 

Obductionsbefund. Enorme Livoren au den oberen Ex¬ 
tremitäten, am Rumpf und im Gesicht. Untere Extremitäten stark 
geschwollen. Abdomen prall gespannt durch etwa 15 Liter 
hellgrauer, etwas opalescirender Flüssigkeit. Sämmtliche Einge¬ 
weide durch das narbig verdickte Peritonenm zu einem 
Knäuel umschlossen nach oben gedrängt. An den Därmen und am 
Zwerchfell zahlreiche dünnwandige multiloculäre Cysten. Unterfläche 
der Leber mit Umgebung verwachsen. Sie selbst trägt 
zuckergussähnlichen Ueberzug. In beiden Pleurasäcken 
eine grosse Menge Flüssigkeit. Lungen klein, von der zu einer 
Schwarte verdickten Pleura fest umwachsen. Linke Lunge in 
ihrem dem Pericard anliegenden Theil mit demselben verwachsen. Die 
ganze Pleura von dem gleichen zuckergu ssähnlicben Aus¬ 
sehen wie das Peritoneum. Beide Unterlappen atelectatisch. Herz¬ 
beutel in toto verwachsen. Herzmuskel grau-braun derb. 
Leicht knotige Verdickungen am freien Rande der Tricuspidalis und 
Mitralis. Milz vergrössert, Kapsel narbig, derb, knorplig. 
Gewebe weich, starke Follikelbildung, braun-roth. Nieren normal 
gross, Kapsel glatt löslich, Gewebe sehr blutreich. Zeichnung 
normal. Lebergewebe quillt über die Schnittfläche stark 
vor; die grossen GefäsBO sehr weit. Läppchen springen vor. Gefüge 
derb. Matt grau-braune Farbe mit stellenweis sternförmig auf¬ 
tretenden Bindegewebszügcn. 

Riedel ist geneigt, da sich die pathologischen Veränderungen 
in gleicher Weise am Peritoneum, den Pleuren und Pericard 
zeigen, anzunehmen, dass diese Processe isochron verliefen, 
während er andererseits auch die Möglichkeit zugiebt, dass sich 
als Complication des Keuchhustens eine Pericarditis entwickelte 
und die Entzündung der anderen serösen Häute per contigui- 
tatem erfolgte. 

(Schluss folgt.) 


III. Ueber eine bei Officieren beobachtete Form 
nervöser Herzbeschwerden. 

Von 

Prof. Dr. E. Heinrich Kisch ln Prag-Marienbad. 

In gehäufter Zahl sind mir in den letzten Jahren Fälle von 
Herzbeschwerden bei activen Officieren zur Beobachtung ge¬ 
kommen, welche ein so typisches Bild boten, dass dessen Er¬ 
örterung ein gewisses Interesse beanspruchen dürfte. Die Fälle 
betrafen durchwegs Männer in den besten Lebensjahren, zumeist 
in den dreissiger Jahren, aber auch hinauf bis in die Fünfziger, 
von gutem Aussehen, kräftiger Körperconstitution, starker Muskel¬ 
entwickelung . und bis vor kurzem vollständig ungestörtem Ge¬ 
sundheitszustände. Sie gaben anamnestisch an, in einer sehr 
verantwortungsvollen Stellung, ausserordentlich stark psychisch 
angestrengt, und intensiven, längere Zeit dauernden Aufregungen 
ausgesetzt zu sein. Das Leiden befiel sie plötzlich mitten in 
scheinbar bestem Wohlbefinden und brachte eine so tiefe Ver¬ 
änderung des gesammten Organismus hervor, dass die betreffen¬ 
den Individuen und ihre Umgebung davon sehr erschreckt 
wurden. „Wer mir vor G Wochen gesagt hätte, dass aus mir 
ein solcher Waschlappen werden könnte, dem hätte ich in’s 
Gesicht gelacht,“ war die charakteristische Aeusserung eines 
solchen Patienten. Es schien mir anamnestisch hervorzugehen, 
dass zuweilen eine acute Steigerung jener ungewöhnlich grossen 
psychischen Anforderungen, wie beispielsweise vor den grossen 
Manövern oder während derselben, den Anstoss zum plötzlichen 
Eintritte der Beschwerden gab. Ich betone den Ausdruck „psy¬ 
chische Anforderung,“ weil gerade die betreffenden Patienten 
angaben, dass in Folge ihrer Stellung als höhere Officicre ihre 
physische Arbeitsleistung keine übermässige ist. Auch andere 

2 * 


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BERL1XER KLINISCHE WOCllEXSCHUIFT. 


No. 5. 


i>G 

ätiologische Momente, wie Abusus des Alkoholgenusses, Tabaks¬ 
gebrauches oder sexueller Bethätigung werden negirt. 

Der Erstbeginn des Leidens wird dahin angegeben, dass 
plötzlich, ohne markanten Anlass, ein intensiver Anfall von Herz¬ 
klopfen eintrat, welcher einige Minuten dauerte und sich mehrere 
Male im Tage wiederholte. Seitdem treten diese Anfälle in un¬ 
bestimmten Zeitabschnitten, mehrmals täglich, oder nach mehreren 
'Lagen, oder seltener ein. Des Gefühl dieser beschleunigten llerz- 
thätigkeit wird als äusserst belästigend geschildert, mit der¬ 
selben ist ein Gefühl von Druck in der Herzgegend verbunden, 
Angstgefühl, die Empfindung des Vergehens, Kopfschmerz, 
Schwäche der gesammten Körpermuskulatur, L'nsicherheit beim 
Gehen, Schwindel, ja sogar Ohnmacht. Manche dieser Patienten 
fühlen sich so beängstigt, dass sie sich nicht trauen allein zu 
gehen, und ihr ganzes Selbstbewusstsein erschüttert ist. Dabei 
leidet der Appetit, die Verdauung ist beeinträchtigt, der Stuhl¬ 
gang träge, die Gcsammternährung des Körpers ist herunter¬ 
gekommen, die Gewichtsabnahme zuweilen auffällig. Hervor¬ 
stechend ist die psychische Depression der Patienten. Sie fühlen 
sich nicht fähig, ihrem Berufe vorzustehen, sind sehr reizbar, 
weinerlich, können die Thränen bei geringen Anlässen nicht 
zurückhalten und betrachten sich vor allem als schwer herz¬ 
krank. 

Die objective Untersuchung ergiebt nahezu übereinstimmend 
in diesen Fällen einen schwachen, kleinen, leicht comprimir- 
baren, beschleunigten Puls von 80 bis 100 Schlägen in der 
Minute, während des Anfalles auf 140 und darüber ansteigend, 
welcher nicht selten intermittirt. Im sphygmischen Bilde, von 
dem ich drei Beispiele beifüge, zeigt der Puls zunächst eine 
minder hohe primäre Pulswelle, tief absteigende Descensions- 
linie, geringe Entwickelung der Elasticitätselevation, vergrüsserte 
RUckstosselevation (Curve I), zuweilen ist der Puls so klein, 
dass dessen Verzeichnung schwierig ist (Curve II). Es bedarf 
keiner Erörterung, dass diese Curvenbilder die geringe Gefüss- 
spannung, den herabgesetzten Blutdruck anzeigen. Oefter zeigt 
das Sphygmogramm Intermittenz; nach mehreren regelmässigen 
Pulswellen von verschiedener Zahl kommt es zu einer Ruhe¬ 
pause, nach welcher die Pulswellen wieder vollkommen regulär 
sind (Curve III), wobei die Auscultation des Herzens ergiebt, 
dass der intermittirenden Pulswelle auch ein Ausfall des Herz¬ 
schlages mit seinem systolischen und diastolischen Tone ent¬ 
spricht. Diese Herzintermittenz wird auch subjectiv von dem 
Patienten als Stillstehen des Herzschlages empfunden und giebt 
zu grosser Besorgniss Anlass. Vollkommene Irregularität des 
Pulses (Delirium cordis), habe ich bei solchen Patienten nicht 
beobachtet. 

Die Untersuchung des Herzens ergiebt nichts wesentlich 
Abnormes, ja zumeist sogar wahre Musterbefunde eines normalen 
Herzens in Bezug auf Percussion und Auscultation. Herztöne 
rein. Die Respiration erfolgt gleichfalls normal, nur ist häufig 
das subjective Bediirfniss tiefen Aufseufzens vorhanden. An den 
unteren Extremitäten kein Oedem, auch im oberfläclichen Venen¬ 
gebiete kein hervorstechendes Zeichen von Stauung. Der Unter¬ 
leib zuweilen tympanitisch aufgetrieben. Im Harne kein Albumen; 
in zw r ei Fällen fand ich eine grössere Ausscheidung von Oxal¬ 
säure, 18 mgr und 17,9 mgr in 1 1 Harn. 

Als der charakteristische Symptomencomplex dieser 
Herzbeschwerden ist also hervorzuheben, dass sie bei sonst voll¬ 
kommen gesunden Männern (Officieren) des besten Mannesalters, 
plötzlich einsetzen, in unbestimmten Anfällen mit beschleu¬ 
nigter Herzaction und gleichzeitiger Verminderung 
des Gefässtonus auftreten, mit psychischer Depression und 
nachhaltig ungünstiger Beeinflussung des Gesammternührungs- 
zustandes einhergehen und, wie ich vonveg bemerken will, bei 


Curve I. 



Curve II. 



richtigen therapeutischen Maassnahmen zumeist schon nach einigen 
Monaten vollkommen beseitigt werden. 

Beim ersten Betracht des Krankheitsbildes könnte man an 
jene Herzbeschwerden denken, welche hei Soldaten nach ange¬ 
strengter Thütigkeit in ihrem Berufe beobachtet wurden. Thum 1 ) 
hat eine solche Erkrankung bei Rekrufen beschrieben, welche 
in Folge fortgesetzter anstrengender Märsche „zeitweise von 
Herzpalpitationen befallen wurden, die mit erhöhter Respirations¬ 
frequenz, Blässe des Gesichts, Angstgefühl verbunden sind,“ und 
wobei sich Herzhypertrophie nachweisen liess. 0. Fraentzel 2 ) 
hat dann eingehender die in Folge der Schädlichkeiten des 
Feldzuges 187<> bei Soldaten beobachteten Symptome der Ucber- 
anstrengung des Herzens geschildert, welche mit Hypertrophie 
und Dilatation der Ventrikel einherging, „wobei gleichzeitig sehr 
hohe Pulsfrequenz und starke subjective Beschwerden vorhanden 
waren.“ 

Diese Aehnlichkeit der Beschwerden mit denen in unseren 
Fällen wird aber bei näherer Ueberlegung nicht zu Irrthiimern 
verleiten, welche diagnostisch, prognostisch und therapeutisch 
verhängnissvoll werden könnten, ln Berücksichtigung des Fehlens 
von allen Symptomen organischer Veränderungen am Herzen und 
an den Arterien, des Mangels an wirklichen Irregularitäten des 
Pulses (mit Ausnahme der Intermittenz, welche nicht zu solcher 
Irregularität gezählt werden kann), der Abwesenheit venöser 
Stauungserscheinungen sowie der Angina pectoris, endlich des 
Hervortretens der nervösen Symptome, wird man die Diagnose 
von Herzschwäche in Folge von Uebermiidung des Herzmuskels 
für unsere Fälle zurückweisen. Es sei diesbezüglich der Aus¬ 
spruch von Leyden’s 3 ) citirt: Bei den chronischen Fällen von 
Herzschwäche, wenn der Herzmuskel zu schwach wird, die ihm 
zufallende Arbeitsleistung zu absolviren, „resultiren jene Zu¬ 
stände der Stauung, der Herzinsufficienz, welche den Compensa- 
tionsstörungen der Klappenfehler entsprechen und als solche am 
besten bekannt sind.“ Wir müssen vielmehr zur Annahme ge¬ 
langen, dass es sich in unseren Fällen um eine in Folge an¬ 
dauernder hochgradiger Anspannung der psychischen Thätigkeit 

1) Thum, Entstehung von Krankheiten als Folge anstrengender 
Märsche. Berlin 1872. 

2) 0. Fraentzel, Ueber die Entstehung von Hypertrophie und Dila¬ 
tation der Herzventrikel durch Kriegsstrapazen. Vircliow's Archiv, 
57. Band. 1873. 

3) v. Leyden, lieber die Prognose der Herzkrankheiten. Deutsche 
medicinische Wochenschrift 1889. 


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1. Februar 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


97 


entstandene Functionsstörung des Herzens handelt, 
welche aus einem Insulte des Herzhemmungscentrums 
wie des vasomotorischen Centrums hervorgegangen ist, 
also um eine Folge der vielgestaltigen, neuestens als Neurasthenia 
cordis vasomotoria bezeichneten Affection. 

Diese Bezeichnung wurde zuerst von 0. Rosenbach 1 ) flir 
ein Leiden des Herznervensystems gebraucht, welches „nach einem 
Stadium der Ueberreizung (Ueberarbeitung) mit Erschöpfung (Ver¬ 
minderung der ausserwesentlichen Leistung) reagirt.“ Er nimmt 
dies Leiden fllr eine Functionsstörung, „die nicht als Folge un¬ 
genügender Leistungsfähigkeit der Theile (Insufficienz der Ma¬ 
schine), sondern nur als Ausdruck der daselbst allzu schnell 
entstehenden Müdigkeitsgefühle anzusehen ist.“ Zu gleicher Zeit 
hat auch Dell io 2 3 ) in seiner klärenden Arbeit Uber nervöses Herz¬ 
klopfen hervorgehoben, dass in manchen Fällen von beschleu¬ 
nigter Herzthätigkeit neben dem medullären Herzhemmungs¬ 
centrum gleichzeitig auch das medulläre vasomotorische Centrum 
in den Zustand einer vorübergehenden Parese verfällt und dass 
in diesen Fällen die Hemmungswirkung vom Herzcentrum auf 
das Oefässgebiet gleichsam Ubertlossen ist. Weiter hat Lehr') 
in seiner Schilderung der Neurasthenia cordis eine Form be¬ 
schrieben, die er eigentlich nur als Stadium annimmt, „wo die 
Zeichen der ermüdeten Schwäche, die Lähmung hervortreten“ 
und als deren Ursache er „eine vorübergehende Parese der be¬ 
wegungshemmenden Vagusfasem verbunden mit vorübergehender, 
den Gefässtonus schwächenden Parese des vasomotorischen Cen¬ 
trums in der Medulla oblongata“ ansieht. 

Berücksichtigen wir noch die wesentlichsten der in der 
letzten Zeit Uber die Störungen der Herzinervation erschienenen 
Arbeiten, besonders aber die von Nothnagel 4 ) in scharfer 
Kennzeichnung zur Erörterung gebrachte Frage, ob es sich in 
den einzelnen Fällen von Tachycardie um Lähmung des Vagus¬ 
centrums oder um Erregung der Beschleunigungsnerven handelt, 
so kommen wir bezüglich unserer Fälle im Hinblicke darauf, 
dass hier eine hohe Pulsbeschleunigung vorliegt, bei welcher die 
Schlagfolge eine gleichmässige, der Herzimpuls schwach, die peri¬ 
pheren Arterien nicht gut gespannt sind, anderseits aber Reizungs¬ 
erscheinungen seitens vasomotorischer Nervenbahnen fehlen — 
wohl zu dem Resultate, dass es sich nicht um eine Reizung des 
Sympathicus, auch nicht um die von Martius so intensiv als 
Ursache der Tachycardie betonte acute Herzerweiterung handelt, 
sondern um eine vorübergehende Parese des Hemmungscentrums 
des Herzens, wie des vasomotorischen Centrums, welche durch 
wiederholte psychische Reizung zu Stande gebracht wurde. 

Was nun den Verlauf der in Rede stehenden Herzbeschwerden 
betrifft, so lässt sich derselbe im Allgemeinen als ein günstiger 
bezeichnen; bei geeignetem Benehmen erfolgt vollständige Heilung. 
Das erste Erforderniss hierzu ist, dass die Patienten einen län¬ 
geren Urlaub nehmen, um frei von allen dienstlichen Verhält¬ 
nissen und losgelöst von allen die Herzinnervation ungünstig 
beeinflussenden Momenten, in einer neuen Umgebung zu leben, 
in welcher das Gesammtnervensystem anregende Impulse em¬ 
pfängt. Von grosser Wichtigkeit ist die psychische Beeinflussung 
von Seiten des Arztes, welcher namentlich die Ueberzeugung des 


1) O. Rosenbach, Ueber nervöse Herzschwäche, Neurasthenia 
vasomotoria. Breslauer ärztliche Zeitschrift 1886. Derselbe, Die Krank¬ 
heiten des Herzens und ihre Behandlung. 2. Hälfte, 1. Abtheil. Wien 
und Leipzig 1894. 

2) K. Dehio, Ueber nervöses Herzklopfen. St. Petersburger 
WochenBchr. 1886. 

3) Lehr, Vortrag über Neurasthenia cordis. Referat. Neurologi¬ 
sches Centralblatt 1889. 

4) Nothnagel, Ueber paroxysmelle Tachycardie. Wiener med. 
Blätter 1887. 


Kranken, einen Herzfehler zu haben, bekämpfen muss. Eine 
weitere Aufgabe ist, den Patienten, welcher die Empfindung hat, 
dass körperliche Bewegung die Herzanfälle leicht auslöst, syste¬ 
matisch in schonender Weise und stetiger Zunahme an verschiedene 
Bewegungsformen zu gewöhnen, wozu allerdings Geduld und 
Ausdauer auch des Arztes gehört. Leicht begreiflich, dass gerade 
die Ourorte ein günstiges Terrain bieten, um therapeutisches 
Wirken mit dem diätetischen und psychischen zu vereinen. Er¬ 
folgreich erweist sich die methodische Anwendung von Mineral¬ 
wässern, welche die Magen- und Darmthätigkeit leicht anregen, 
da die betreffenden Patienten zumeist Uber Stuhlverstopfung und 
Darniederliegen der Digestion klagen, ferner der Gebrauch 
kohlensäurereicher Mineralbäder, welche bekanntlich eine wesent¬ 
liche reflectorische Wirkung auf Regulirung der Herzthätigkeit 
üben. Nur muss auch hier der Arzt sehr vorsichtig steigernd 
zu Werke gehen, von den wärmeren, an Kohlensäure mässig ge¬ 
haltvollen, ruhigen Bädern zu den durch sehr bedeutenden 
Kohlensäurereichthum ausgezeichneten Bädern von kühlerer Tem¬ 
peratur mit kräftiger Bewegung. 

In diätetischer Beziehung ist ein grosses Gewicht auf eine 
consequente, öfter des Tages vorzunehmende Zufuhr von nicht 
grossen Mengen sehr kräftigender, leicht verdaulicher Nahrungs¬ 
stoffe zu legen. Ich lasse solchen Patienten alle 3 Stunden, 
auch während der Nacht, wenn sie nicht schlafen, roborirende 
Nahrung geben. Gute Milch, kräftige Fleischbrühe, auch con- 
centrirte Kalbfleischbrühe mit Fleischextract, frisch ausgepresster 
Fleischsaft, Rindsbraten von Lendenstücken, Wildpret, Geflügel, 
Leimgallerte mit Bratenjus, Austern, Spargel, Spinat gehören in 
bevorzugter Reihe auf den Speisezettel. Auch Reizmittel sind 
nicht zu entbehren, namentlich im Anfalle und nach demselben: 
Ein Glas von kräftigem Portwein, alter Tokayer, auch guter 
Cognac (etwa 30 Gramm), abwechselnd mit einem Glase echten 
französischen Champagners, mit einer Tasse heisser Flaschen¬ 
bouillon oder starkem schwarzen Caffe. Ich gebe solchen Pa¬ 
tienten den Rath, nie ohne ein kleines Taschenfläschchen guten 
Cognac auszugehen, um im Bedarffalle gleich einen herzhaften 
Schluck zu thun. 

Von den bekannten Herzmitteln, Digitalis, Strophantus, Con- 
vallaria majalis, Adonis vemalis, gebe ich gewöhnlich nur sehr 
kleine Gaben mehrerer solcher Mittel mit einander und 
in Verbindung mit Eisenpräparaten combinirt. 


IV. Die Emotionsdyspepsie. 

Von 

0. Rosenbach. 

(8chlnss.) 

Je mehr Bahnen von der abnormen Einwirkung betroffen 
werden, je weiter die Hyperästhesie um sich greift, je mehr die 
centrifugalen und centripetalen Impulse qualitativ und quan¬ 
titativ verändert werden, desto deutlicher und mannigfaltiger') 
sind dann auch neben den blossen subjectiven Symptomen 
die objectiven Erscheinungen gestörter und veränderter Se- 
cretion und Motilität, als deren Hauptausdruck zu betrachten 
sind: 1. abnorme Speichelsecretion, und zwar entweder die Ab¬ 
sonderung eines besonders reichlichen, meist wasserhellen, 
häufig gelblichen oder gelblich-grünen, Secrets — das bisweilen 
fälschlicherweise für Galle gehalten wird, aber wohl nur eine ab¬ 
norme Art des Magensaftes, ähnlich dem Secrete der Speichel¬ 
drüsen bei der sogenannten paralytischen Secretion, dar- 

1) Boas, Diagnostik und Therapie der Magenkrankheiten, S. 262. 

3 


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98 


No. 5. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


stellt — oder der Mangel an Speichel, der häutiger einer Hem¬ 
mung der Secretion, als einer Lähmung der Function entspricht; 
2. andere zeitliche Vertheilung der Magensecretion, d. h. ab¬ 
normer Gang der Säurecurve; 3. Unregelmässigkeit und 
abnorme Form der gesammten Peristaltik. 

Nach vielfachen eigenen Beobachtungen findet hier die Se¬ 
cretion der Säure während des Verdauungsactes nicht, wie in 
der Norm, continuirlich, sondern in unregelmässigen Perioden, 
gleichsam stossweise, und nicht immer gerade im Anschlüsse 
an die Aufnahme von Nahrung, statt; die Production macht 
deutliche Pausen, während doch in der Norm der Gang der 
Säurecurve ein ziemlich typischer, mit ziemlich ausgeprägter 
Acme und Decrementum ist. Ob diese abnorme Form der Se¬ 
cretion von der Unregelmässigkeit der motorischen Thätig- 
keit abhängt oder umgekehrt, ob beide Symptome gleich¬ 
artige (coordinirte) Zeichen veränderter Innervation sind, 
das lässt sich nicht immer sicher entscheiden; doch ist der letzt¬ 
erwähnte Zusammenhang fllr viele Fälle wahrscheinlich. 

Die Prognose ist unseres Erachtens, wenn es sich nicht 
bereits um Patienten handelt, die wegen der Dauer der Er¬ 
krankung oder weil sie eine besonders nervöse Constitution be¬ 
sitzen, zu wirklichen Hypochondern geworden sind, bei der 
emotionellen Form der Dyspepsie günstiger als bei irgend 
einer anderen Form der nervösen Dyspepsie oder bei den auf 
leichter constitutioneller Erkrankung beruhenden Verdauungs¬ 
störungen. Nur bei den Bedauemswerthen, die ihren Zu¬ 
stand mit grösster Aengstlichkeit Tag und Nacht controliren, 
die nach jeder Richtung hin befangen sind, weil ihnen bereits 
das Schreckgespenst einer bestimmten Diagnose, der Magen¬ 
dilatation, des chronischen Geschwürs, des Krebses, beständig 
vor Augen steht, wird sie ungünstig. Indessen sind auch 
solche Fälle nicht hoffnungslos: es gelingt auch hier bisweilen 
noch einem zünftigen oder unzünftigen Wunderthäter'), dem Pa¬ 
tienten das Vertrauen zur Heilkunde wiederzugeben. Man kann 
also quoad vitam et restitutionem completam die besten Hoffnungen 
hegen, wenn das Leiden noch nicht lange besteht, die Patienten 
einsichtig und nicht bereits Opfer medicinischer Schlag- 
•worte oder laienhafter resp. schematischer Behand¬ 
lungsmethoden geworden sind. 

Eine rationelle Form der Therapie leistet hier die grössten 
Dienste, sobald man sich überzeugt hat, dass keine consti¬ 
tutioneile oder schwere locale Erkrankung vorliegt, 
dass — abgesehen von regulatorischen Störungen, die oft 
nur von der Eigentümlichkeit der zu therapeutischen Zwecken 
angeordneten Ernährung* und Lebensweise, von zu grosser Be¬ 
schränkung der Diät und beständigem llantircn mit starken Ab¬ 
führmitteln herriihren —, der eigentliche peptische und Assi- 
milationsprocess in Ordnung ist, dass, mit einem Worte, die 
chemischen und mechanischen Acte der Verdauung sich im All¬ 
gemeinen auch bei angeblich schwer verdaulicher Kost objectiv 
normal oder doch nicht anders als bei blandester Diät voll¬ 
ziehen. 

Einige solche Versuche sind unter allen Umständen und 
trotz des Protestes der Patienten schon im Interesse der Dia¬ 
gnose und Prognose zu machen, da damit unter den ge¬ 
gebenen Verhältnissen keinesfalls geschadet werden kann, wäh¬ 
rend der Nachweis, dass das Eingenommene wirklich und 
gegen alle Erwartung verdaut worden ist, auf die ihre Organ¬ 
leistungen unterschätzenden Patienten stets einen grossen und 
fast immer einen günstigen Eindruck macht. Wir rathen 
übrigens in solchen Fällen nicht ein besonders zubereitetes Probe- 


1) O. Rosenbach, Nervöse Zustände und ihre psychische Be¬ 
handlung. Berlin 1897. 


frühstück zu geben, sondern den Magen 5—6 Stunden nach der 
üblichen (aus Suppe, Fleisch, Gemüse oder Compot und Braten be¬ 
stehenden) Mittagsmahlzeit zu untersuchen, weil man so sicherere 
Resultate erhält. Sehr nervöse und namentlich an Schlaflosigkeit 
leidende Patienten befinden sich bekanntlich gerade am Vormittage 
in einem viel ungünstigeren Zustande als Mittags und Abends; 
auch ihre Verdauungsfähigkeit scheint in der ersten Hälfte des 
Tages durch abnorme nervöse Impulse regulatorisch ungünstig 
beeinflusst zu werden. Auf diesen Punkt ist also jedenfalls zu 
achten. 

Die Therapie ist vor Allem erfolgreich, wenn es sich nur 
um die Wirkung einer einzelnen acuten Emotion handelt. 

Schwierig und oft unmöglich wird sie, wenn sich die schädlicheu 
Wirkungen häufiger Emotionen summiren, da hier die Reizbar¬ 
keit immer mehr gesteigert und der Erfolg der Behandlung durch 
eine neue Attacke auch sofort wieder aufgehoben wird. Bei den 
acuten Fällen handelt es sich vor Allem danim, die in Folge 
des nervösen Shocks eingetretene Reizbarkeit des Magens zu 
beseitigen resp. die daraus resultirende Schwäche oder Ver¬ 
änderung seiner Functionen zu berücksichtigen. Man muss also 
für einige wenige Tage die Ansprüche an das Organ herunter¬ 
setzen, auch wenn die Kranken keinen Widerwillen gegen 

Speisen, ja sogar einen gewissen Appetit empfinden sollten. 

Völlige Abstinenz von Nahrung aber empfiehlt sich nur, wenn 

directer Widerwillen gegen Nahrungszufuhr besteht; wo da¬ 
gegen wirkliches Hungergefühl (nicht blos Heisshunger) vor¬ 
handen sein sollte, da ist die Zufuhr flüssiger Nahrung oder 
breiartiger Speisen in massigen Quantitäten sogar geboten. 
Möglichste geistige und körperliche Ruhe, Enthaltung von 
Berufsgeschäften ist nur bei sehr erregten oder deprimirten 
Patienten fürs Erste dringend anzurathen: in anderen Fällen 
kann und soll eine gewisse Thätigkeit, ferner Spazierengehen 
oder leichte Muskelgymnastik erlaubt, ja sogar angeordnet 
werden: denn nicht Wenigen thut diese Form der Bewegung 
direct sehr wohl. 

Von localen Maassnahmen ist das Trinken massiger Quan¬ 
titäten warmen Wassers und die Application von Wärme 
(in Form von Breiumschlägen oder Wärmflaschen) am meisten 
imlicirt, da sich hierbei die Anfangs im Vordergründe stehenden 
krampfhaften und colikartigen Erscheinnngen, die durch die ge¬ 
steigerte Erregbarkeit des Reflexapparates des Magens und 
Darms ausgelöst werden, schnell besänftigen. Priessnitz’sche 
Umschläge sind zur Erhaltung des ersten günstigen Erfolges nütz¬ 
lich, haben aber nicht dieselbe eclatante Wirkung, wie directe 
Zufuhr von Wärme. Kälte, auch kaltes Getränk, scheint einen 
direct ungünstigen Einfluss nuszuüben, da dadurch die Krämpfe 
und unangenehmen Empfindungen — manchmal allerdings nach 
vorübergehendem Wohlbefinden — auf die Dauer beträchtlich 
gesteigert werden. Gegen Fleisch (Braten) besteht, wie erwähnt, 
häufig eine Aversion, ohne dass sich eine Anomalie der pepti¬ 
schen Kraft des Magens nachweisen liesse; dagegen scheint 
nicht selten eine Abnormität der mechanischen Function (ge¬ 
steigerte Katastaltik) zu bestehen, indem der Inhalt zu frühzeitig 
in den Darm getrieben wird. ITeberlanges Verweilen der Speisen 
im Magen ist in diesen Fällen überaus selten, obwohl die Pa¬ 
tienten, durch das abnorme Druckgefühl veranlasst, von der An¬ 
nahme, dass Retention bestehe und AbfUhr- oder Brechmittel 
indicirt seien, nicht leicht abgebracht werden können. 

Von medicamentösen Maassnahmen empfiehlt sich bei nicht 
gefülltem Magen die Anwendung kleiner Dosen von narko¬ 
tischen und sedativen Mitteln, namentlich Opium zu 3 bis 
5 Tropfen oder Belladonna (8—10 Tr.); eine kleine Dosis 
Cognac ist von besonderem Vortheil, da dadurch die Energetik 
des Organs (vielleicht durch Veränderung der Erregbarkeit) sehr 


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1. Februar 1897. 


HERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


99 


günstig beeinflusst wird. Bei stark gefülltem Magen sollte man 
dort, wo nur Würgen, aber kein Erbrechen erfolgt, vor Allem 
für Entleerung des Magens sorgen, um dem abnorm erregten 
Organ möglichst Ruhe su verschaffen. Hier ist, um die abnorme 
Beanspruchung des Darms zu verhindern, die eine Quelle weiterer 
Störungen ist, die Anwendung der Magenausspülung zu empfehlen, 
oder, wenn sie aus irgend einem Grunde nicht angängig sein 
sollte, die oft wiederholte Anwendung von Pepsin und Salzsäure 
(3—5 Tropfen in einem Glase lauen Wassers). In späteren 
Stadien dagegen gelingt es nur selten, durch diese und andere 
Medicamente eine wirksame Abhülfe zu schaffen. Dann ist die 
Anwendung der genannten Mittel nur noch am Platze, wenn die 
Verdauung sehr lange dauert, wenn eine starke Aufblähung 
des Magens objectiv nachweisbar ist und der Mageninhalt (resp. 
der Stuhlgang) grosse unverdaute Stücke und einen sehr geringen 
Säuregehalt oder starke Fettsäuregährung zeigt, wenn heftiges 
saures Aufstossen besteht, ln den beiden letzten Fällen ist bis¬ 
weilen Natr. bicarb. vortheilhaft (s. u.). Auch hohe Eingiessungen 
lauwarmen Wassers in den Darm sind nicht unzweckmässig. 
Nur bei sehr schweren acuten Erscheinungen (heftigsten Ko¬ 
liken und Meteorismus) und grosser Erregtheit ist eine Mor- 
phiuminjection am Platze und von wirklichem Nutzen. 

Nahrung sollte also ein bis zwei Tage nach einer starken 
Emotion nur in flüssiger Form gereicht werden; höchstens würden 
sich Brühe, breiartige Substanzen oder geschabtes Fleisch em¬ 
pfehlen, wenn die Patienten grossen Hunger zeigen; sonst ist 
es besser, dem Magen noch keine Arbeit zuzumuthen und so 
lange mit Umschlägen und narkotischen Mitteln fortzufahren, 
bis das acuteste Stadium vorüber ist oder sich gebieterisch das 
BedUrfniss nach Nahrung einstellt. 

Sind einige (2—3) Tage nach dem Anfalle verstrichen, so 
muss, wenn man eine stärkere oder katarrhalische Enteritis oder 
Gastroenteritis ausschliessen kann — und sie ist für diese Fälle 
unseres Erachtens ausgeschlossen, wenn sich Appetit einstellt, 
die Zunge sich gereinigt hat und im Mageninhalte keine grösse¬ 
ren Schleimmengen nachweisbar sind — die Behandlung eine 
vollkommen andere werden. Da als Grundlage der Störungen 
unserer Auffassung nach nur die Magen- und Darrahyperästhesie 
resp. eine Anomalie der nervösen Regulation der Magenfunc¬ 
tionen zu betrachten ist — die perversen subjectiven Erschei¬ 
nungen Uberwiegen ja, und man wird bei genauer Betrachtung 
in jedem Falle die Beeinflussung der Function durch den psychi¬ 
schen Factor wahrnehmen können —, so muss die The¬ 
rapie, wie wir dies bereits an verschiedenen Orten, namentlich 
in einer Abhandlung Uber die psychische Therapie innerer 
Krankheiten (Berliner Klinik 1890, H. 25), skizzirt haben, haupt¬ 
sächlich auf die Beseitigung der abnormen Sensationen resp. 
Functionsgefühle gerichtet sein, die bei der Thätigkeit 
des Organs besonders stark hervortreten, aber auch in der 
Ruhe vorhanden sind und in erster Linie die hypochondrischen 
Gedanken auslösen. Es muss durch den Arzt ein förmlicher 
Zwang ausgeübt werden, um die Patienten möglichst bald 
wieder zu ihrem gewöhnlichen Verhalten und zu ihrer normalen 
Lebensweise zurückzuführen. 

Man darf sich durch die verstärkten unangenehmen Sensa¬ 
tionen im Gebiete des Magens und der Verdauungsorgane, ja selbst 
durch eine scheinbar ungünstige Beeinflussung des Allge¬ 
meinzustandes auch im Beginn einer solchen Behandlung nicht 
beirren lassen, sondern muss mit der Abhärtung der Ver¬ 
dauungsorgane fortfahren, auch wenn die Patienten von dem 
Erfolge der Behandlung anfangs durchaus nicht entzückt sind. 
Wird die Methode mit Consequenz durchgefUhrt, so pflegen sich 
nach einer Reihe von Tagen alle Functionen in normaler Weise 
und dauernd wieder herzustellen, wie wir dies häufig beobachtet 


haben; wird das Verfahren nicht strict befolgt, so bildet sich 
schliesslich eine schwere Nervosität des Magens und Darmcanals 
mit allen, hier nicht erst noch einmal zu schildernden Folgen 
aus. Der Magen und Darm wird, um dies Wort zu brauchen, 
capriciös, und die von stets wechselnden Beschwerden gequälten 
Patienten werden ein Opfer der unablässigen Beobachtung ihres 
Magens. 

Wir haben diese Reihenfolge der fatalen Erscheinungen so 
oft gesehen, dass wir es uns zum Grundsätze gemacht haben, 
selbst in zweifelhaften Fällen (natürlich nach genauer Unter¬ 
suchung und Erwägung aller Möglichkeiten) trotz der Abma¬ 
gerung der Patienten und anscheinend schwerer localer und 
allgemeiner Symptome, zuerst einen energischen Versuch zu 
machen, den Kranken gleichsam wieder zum normalen psychischen 
Verhalten bei dem Acte der Verdauung zu erziehen. Wir 
versuchen eine Art Abhärtung des Magens vermittelst einer rein 
functioneilen Behandlung zu erzielen und lassen dementsprechend, 
wenn irgend angängig, eine normale Hausmannskost gemessen, 
unter Vorbehalt der Regelung einzelner Beschwerden durch be¬ 
stimmte Maassnahmen, z. B. Einschränkung der Diät in einzelnen 
Richtungen, Berücksichtigung berechtigter Gewohnheiten und 
Wünsche. 

Wir wenden auch bei wesentlicher Abnahme an Körper¬ 
gewicht nicht die moderne Mastcur an, da wir ihren Erfolg 
für vollkommen problematisch halten; wir haben uns oft genug 
davon überzeugt, dass sie, ihrem Namen entsprechend, nur das 
Körpergewicht durch Anhäufung von Wasser und 
schlaffem Fett vermehrt, ohne irgend etwas Wesentliches zur 
Kräftigung des Muskelgewebes, geschweige der Muskel¬ 
function, beizutragen. So sehr wir in vielen Fällen von 
Anämie, von beträchtlichen Störungen der Gewebsenergetik, wo 
es in erster Linie auf Ersparniss an Kräften ankommt, 
Bettruhe und Bettwärme empfehlen 1 ), so wenig können wir uns 
entschliessen, in Fällen, wo gerade die Verstärkung der 
Function, der Organleistung, anzustreben ist, die Patienten 
zur Bettruhe und blossen Milchdiät zu verurtheilen, die höchstens 
für Kinder und ganz schwache Reconvalescenten geeignet ist. 

Im Allgemeinen haben wir die besten Erfolge von folgen¬ 
dem Vorgehen gesehen: Wenn Patienten, wie dies ja sehr häufig 
der Fall ist, erst nach mehrwöchentlicher oder mehrmonatlicher 
Dauer der Erkrankung mit ganz feststehenden Anschauun¬ 
gen über die Natnr ihres Leidens oder sogar mit Miss¬ 
trauen gegen ärztliche Kunst (wegen der Verschiedenheit der 
Urtheile und der Mannigfaltigkeit der angewandten Ourmethoden) 
in neue Behandlung kommen, so ist es das Erste, die charak¬ 
teristischen Symptome und namentlich das ätiologische Mo¬ 
ment (die Emotion) festzustellen. Ist dies gelungen und so den 
Anschauungen Uber Ursache und Natur der Erkrankung eine 
gesicherte Basis gegeben, so gilt es vor Allem, die Leidenden 
von ihren bisherigen, meist festsitzenden Ideen, namentlich von 
dem Schreckgespenst der im letzten Decenniura die Modekrank¬ 
heit bildenden Magenerweiterung, zu befreien und sie zu 
einem Versuche mit normaler Diät zu veranlassen. Wenn dies 
Ziel erreicht ist, d. h. wenn der Patient sich entschlossen hat, 
gleichsam mit Todesverachtung die bisher gemiedenen Speisen zu 
gemessen, und wenn auf Grund der Resultate der Palpation und 
Percussion, der Verdauungsversuche, der Magenausspülung, der 
Besichtigung und Untersuchung des Stuhlganges, normales Ver¬ 
halten aller Organe nachgewiesen und dem Patienten über¬ 
zeugend demonstrirt ist, so hat man immerhin nur in einem 
Theile der Fälle den Sieg errungen; in anderen ist man noch 


1) Die Entstehung und die hygienische IJehapdUvng der IMfi^sutUC.' 
Leipzig 1893. • ; t* I • \ » • :* 


. . . • .**•;*• • * ' 

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100 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 5. 


weit entfernt davon, den Patienten von seinen Beschwerden be¬ 
freit zu haben. Wenn auch einzelne seiner Bedenken beseitigt 
sind, besteht doch noch ein Heer von anderen, vor Allem die 
Befürchtung, dass der Erfolg doch nur vorübergehend, vielleicht 
gar allein durch die Anwendung der Magenpunipe bedingt sei, 
die ja, nicht ganz mit Recht, als ausschliessliches local-thera¬ 
peutisches Agens gilt, während sie doch in der Mehrzahl 
der Fälle nur eins der vielen psychisch wirksamen (sug¬ 
gestiven) Mittel repräsentirt, wovon ich mich, bei sorgfältiger 
Versuchsanordnung, schon vor vielen Jahren überzeugt habe. 

Von den einzelnen Symptomen ist unserer Erfahrung nach am 
leichtesten die von einer allzugrossen Leere des Magens her- 
rührende Form der UnlustgefUhle zu beseitigen. Es handelt sich 
hier häufig nur um ein gesteigertes Hungergefühl, das ge¬ 
wöhnlich mit mehr oder weniger heftigen peristaltischen Be¬ 
wegungen verknüpft ist. Diese Phänomene, die der Volksmund 
so drastisch als Knurren des Magens bezeichnet, verschwinden 
natürlich, sobald dem Bedürfnisse nach besserer Ernährung ge¬ 
nügt wird, und mit ihnen verliert sich auch das saure Aufstossen 
oder, richtiger, das Gefühl der Säure, das nicht etwa von 
Ueberproduction an Säure hcrrührt, sondern bei ganz normaler, 
ja häufig bei aurtällend geringer Absonderung beobachtet wird, 
wenn nämlich die Nerven besonders empfindlich sind. Es ent¬ 
steht sofort, wenn die durch andere Reize als die Nahrung (z. B.) 
unter abnormen nervösen Einflüssen) producirte Säure nicht so¬ 
fort durch Speisen gebunden (neutralisirt) wird. 

Weniger leicht sind die bereits fest eingewurzelten subjec- 
tiven Empfindungen beim Acte der Verdauung, die von der 
psychischen Hyperästhesie abhängen, und die Unregelmässigkeiten 
des Stuhlganges, die nervösen Diarrhöen etc., zu beseitigen, die 
theils von der abnormen Reizbarkeit des Magens, theils ebenfalls 
von der besonderen Erregung des Gehirns rcsp. der Aufmerksam¬ 
keit, die ständig auf die Unterleibsorgane gerichtet wird und ganz 
abnorme Innervationen bedingt, herrühren. Deshalb pflegen wir 
auch hier bei besonderer Hyperästhesie anfangs kleinere Dosen 
beruhigender Mittel, unter denen das Cocain eine gewisse 
Bedeutung hat, und Wärme zu empfehlen. 

Die Anwendung dieser symptomatischen Massnahmen muss, je 
nach den Umständen, kurz vor oder nach der Nahrungsaufnahme 
geschehen, und zwar in Fällen, wo die Beschwerden schon mit 
den ersten Bissen beginnen, vor der Mahlzeit, wo sie sich aber 
erst einige Zeit später einstellen, etwa eine halbe Stunde vor dem, 
gewöhnlich regelmässigen, Eintritt der Schmerzen. Die Anwen¬ 
dung von Säure ist hier nur in wenigen Fällen und unter ganz 
bestimmten lndicationen, namentlich bei starker Essig- oder 
Milchsäuregährung, nützlich; häufige Abwesenheit freier Salzsäure 
ist nicht immer Indication, Säure zuzuführen. Dagegen kann man 
bittere und appetiterregende Mittel stets mit gutem Erfolge an¬ 
wenden. und auch in manchen Fällen von Kochsalz und kleinen 
Dosen von Natr. bicarbonic. vortheilhaften Gebrauch machen. 

Bezüglich der Darreichung des letzten Mittels muss aller¬ 
dings grosse Vorsicht obwalten, da eine nicht unbeträchtliche 
Zahl von Patienten bereits mit dem Mittel, das ihnen oft allein 
von allen Medicamenten wenigstens temporäre Beruhigung ver¬ 
schafft, Missbrauch treibt. Man muss also stets festzustellen 
suchen, ob nicht die Patienten bereits lange Zeit grosse Dosen 
von Natr. bicarbonicum brauchen, und wenn dies der Fall ist, 
den Gebrauch untersagen; denn wirkliche Heilung ist — so 
schwer es auch fällt, die Patienten zum dauernden Verzicht 
auf ihr Sedativum zu bewegen — ohne strengstes Verbot dieses 
Mittels nicht möglich, wie ich dies in der oben erwähnten Ar¬ 
beit (Ucber den Gebrauch und Missbrauch von Natron bicar- 
bpnicum) auseiqandergesetzt habe. 

Wenn, die ffaliejitdn.*Sialr: giife Reihe von Tagen Uber die 



lästigen Beschwerden hinwegzusetzen vermögen, so werden sie 
bald überzeugte Anhänger des Verfahrens (der Verdauungs¬ 
gymnastik), um so mehr, je besser sie sich sofort von 
der Unversehrtheit der Verdauungsfähigkeit und von der 
— im Gegensätze zu ihren Befürchtungen — gerade bei be¬ 
sonderer Bethätigung des Magens auffallend schnellen 
Abnahme der Beschwerden überzeugen. Wenn es est einmal ge¬ 
lungen ist, ganz normale Verdauung (d. h. Abwesenheit der 
peinlichen Beschwerden) bei den Speisen zu erzielen, die sonst 
als besonders gefürchtet auf dem Index standen, so hat man 
gewonnenes Spiel. Deshalb sind die Resultate der Behandlung 
gerade in Fällen von Ubergrosser Aengstlichkeit (bei hyper¬ 
ästhetisch und weichlich gewordenen Patienten) besondere gün¬ 
stig: wie wir es überhaupt offen aussprechen müssen, dass 
bei der Behandlung der Hauptformen der heut dem Arzte zur 
Beobachtung kommenden Magenleiden die psychische The¬ 
rapie — zu der wir allerdings auch das Bestreben rechnen, dem 
Patienten die Ueberzeugung von seiner fehlerhaften Lebens¬ 
weise und von der falschen Bewerthung seiner Empfin¬ 
dungen beizubringen— uns wichtiger erscheint, als die grosse 
Zahl von minutiösen Diätvorschriften, die sich ausschliess¬ 
lich auf die elementare chemische (procentische) Zusammensetzung 
der Nahrung beziehen, aber, in Anbetracht unserer, noch immer 
sehr geringen, Kenntnisse von der Bedeutung der Nah¬ 
rungsmittel für die Energetik, sich häufig physiologisch 
(betriebstechnisch) gar nicht rechtfertigen lassen. Die 
psychische Behandlung (Gymnastik, Stärkung der Function) 
in diesem Sinne, erscheint uns aber auch richtiger, als die bei 
schwacher Verdauung so sehr beliebte Verordnung von Nähr¬ 
präparaten und künstlichen Verdauungsgemischen, deren Ge¬ 
schmack zweifellos und deren Nährwerth fast ohne Zweifel 
keiner der Anforderungen entspricht, die wir an ein Nah¬ 
rungsmittel stellen dürfen, das ja die Geschmacksnerven 
befriedigen und die Körperkräfte') erhalten soll. 

Natürlich darf die psychische Therapie nicht bloss im 
schematischen Suggeriren oder Bestreiten (Negiren) 
von krankhaften Empfindungen bestehen — mit dem ersten 
Verfahren erzielt man nur bei Einzelnen, Willensschwächen oder 
Wundergläubigen (meist vorübergehende) Erfolge, mit dem 
letzteren macht man die Kranken, die sich nicht verstanden 
glauben, durchaus refraetär —, sondern sie muss eine Reihe 
von Maassnahmen darstellen, die nur darum erfolgreich sind, 
weil sie, der Individualität und d<jr Natur des gerade 
vorliegenden Krankheitsbildes aufs Sorgfältigste an¬ 
gepasst, eine vernunftgemässe Regelung der ge- 
sammten Lebensweise resp. des Betriebes aller Organe 
an streben. 

Eine besondere Erwähnung verdient die Prophylaxe der 
emotionellen Dyspepsie, d. h. der Versuch, schon im Entstehen 
die Beschwerden zu unterdrücken, die bei bestimmter Disposition 
oder bei Leuten, die Emotionen häufiger ausgesetzt sind, erfah- 
rungsgemäss besondere regelmässig einzutreten pflegen. Solchen 
Personen empfehlen wir, sofort nach jeder grösseren Aufregung 
einige Tropfen Opium oder Tinct. hellad. zu nehmen oder einen 
kleinen Schluck eines guten Cognacs zu gemessen, — einfache 
Maassnahmen, die doch fast immer die sonst sicher schädliche 
Wirkung eines solchen Ereignisses völlig aufzuheben im Stande 
sind. Auch Bewegung in freier Luft mit gymnastischen Hebungen. 
Massiren des Abdomens, Trinken von lauwarmem Wasser, sehr 
warme Umschläge wirken nicht selten hier coupirend. Ausser¬ 
dem ist in solchen Fällen der dringende Rath zu geben, mit 


1) O. Rosenbach: Die Krankheiten des Herzens und ihre Be¬ 
handlung. Wien. 1893/9ö 8. 


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1. Februar 1 h!>7. 


HEULlNEil KEINISC M IE W»')(11EX8CI1 RIFT. 


der Aufnahme reichlicher Nahrung zu warten, bis das 
Gefühl von Unbehagen oder Völle im Epigastrium, der Speichel¬ 
fluss, das psychische Unbehagen vollständig verschwunden sind. 
Beim Befolgen dieser Vorschriften wird, wie die Erfahrung lehrt, 
häufig der Eintritt einer längerdauernden Verdauungsstörung 
verhindert, und zwar auch in Fällen, die sonst unzweifelhaft in 
Folge jeder grösseren Aufregung erkranken. 


V. Zur Catgut-Frage. 

Von 

Dr. E. Saul, Berlin. 

In den Versuchen, die ich gemeinschaftlich mit Herrn 
Sch äff er unternehmen durfte, traten die Desinfectionswerthe, 
von denen er berichtete, nicht auf. Die Versuche wurden drei¬ 
mal wiederholt. Nachdem die ersten beiden Versuchsreihen zu 
seinen Ungunsten entschieden hatten, machte Sch äff er geltend, 
dass seine Testobjecte ungenügend inficirt gewesen seien. Die¬ 
sem Einwand konnte eine Bedeutung nicht zukommen, da er 
nachträglich erhoben wurde. Gleichwohl erklärte ich mich zu 
einer dritten Versuchsreihe bereit. Schäffer liess seinen An¬ 
thrax durch den Thierkörper gehen, züchtete ihn frisch und 
stellte neue Testobjecte her. Statt der erhofften Anthraxculturen 
traten jetzt nach dem Desinfectionsversuch in allen Gläsern 
Culturen von Kartoffelbacillen auf, die Schäffer auf einen 
Fehler bezog, der ihm bei der Abspülung passirt war. Weiter 
haben wir die gemeinsamen Versuche nicht geführt. Es liegt 
mir fern, aus ihnen einen Vorwurf gegen Schäffer herleiten zu 
wollen, da die Resistenz eine schwankende Grösse ist und nicht 
unter der Verantwortlichkeit des Untersuchers steht. Schäffer 
hätte aber, als er seine Controlversuche unternahm, nach einer 
Resistenz suchen müssen, die der unsrigen entsprach. Aus den 
Desinfectionsarbeiten von Koch, Geppert, Buttersack konnte 
er entnehmen, dass Resistenzen, die unterhalb des Grenzwerthes 
von 2 Minuten liegen, keineswegs zu den Raritäten gehören. Auch 
lässt Buttersack’s Untersuchung darüber keinen Zweifel, dass 
der Resistenzwerth eine vom Züchtungsmodus unabhängige Grösse 
ist. Wenn Schäffer Uber diese Verhältnisse aus eigener Er¬ 
fahrung urtheilen wollte, so bedurfte er unseres Versuchs¬ 
materials nicht, das uns ein Jahr nach Abschluss der Versuche 
nicht mehr zur Verfügung stand. 

Schimmelbusch giebt an (Lehrbuch der aseptischen Wund¬ 
behandlung, II. Auflage, S. 30), dass Milzbrandbacillen mittelst 
2 proc. Carbolsäure in einer Minute schon bei gewöhnlicher Tem¬ 
peratur getödtet werden. Da wir bei Einwirkung der siedenden 
absoluten Alkohole selbst in der Corabination mit 5proc. Carbol¬ 
säure nach einer Expositionsdauer von 3 Stunden regelmässig 
einen positiven Ausfall des Culturversuches zu verzeichnen hatten, 
so mag der Hinweis auf Schimmelbusch’s Angabe genügen, 
um Schäffer’s Behauptung, es wären lediglich Bacillen zur 
Abtödtung gekommen, in das rechte Licht zu rücken. 

Den einen Theil der von ihm empfohlenen Modification 
giebt Schäffer nunmehr auf, um auf den Wassergehalt der 
Originallösung zurückzugehen. An der Sublimat - Modification 
hält er einstweilen fest; es sind daher die Gründe, die schon 
Behring bewogen haben, bei Desinfection organischer Substanzen 
das unbeständige Sublimat durch die beständige Carbolsäure zu 
ersetzen, für ihn nicht massgebend gewesen. Da Schäffer 
fernerhin im Widersprach mit Geppert nach wie vor den 
Fadenversuch zur Bestimmung eines antiseptischen Werthes für 
ausreichend hält, so sehen wir keine Möglichkeit, mit ihm in 


101 

llebercinstimmung zu kommen. Im Uebrigen scheinen die öco- 
nomischen Vortheile, die Schäffer in Aussicht stellt, recht 
zweifelhafter Natur, da er genöthigt ist, die Lösung möglichst 
häufig zu wechseln, während dieselbe bei der Carbolsäure-Cora- 
bination beliebig oft gebraucht werden kann; die auftretenden 
Niederschläge verringern nicht die Desinfections-Energie unserer 
Lösung, weil Alkohol, Wasser und Carbolsäure durch Fett und 
Eiweisskörper nicht gebunden werden. 

Wir sind mit Poppert der Ueberzeugung, dass die Ent¬ 
scheidung in der Catgut-Frage nicht lediglich auf dem Gebiete 
der Desinfections-Versuche liegt. Die typischen Catgut-Eiterungcn, 
zu denen Hofmeister’s Complicationen nicht gehören, wie die 
Untersuchungen von Lanz nnd Flach lehren, (Arch. f. klin. 
Chirurg. Bd. 44) dürften nicht auf mangelhafter Energie der 
angewandten Methoden, sondern aufVerwendung schlechter Catgut- 
Qualitäten beruhen. Da die Heiss-Alkohol-Sterilisation ihre recht¬ 
zeitige Unterscheidung erlaubt und ausserdem den Vortheil der 
Schnell-Desinfection bietet, so dürfte ihr der Vorzug gebühren. 


VI. Kritiken und Referate. 

A. rolotebnoff: Einleitung ln den Cursus der Dermatologie. 

Berlin, Hirschwald 1896. 

Mit einem gewissen Stolze kann Verf. berichten, dass seit dem 
Jahre 1884 eine grosse Veränderung sich in Russland in Bezug auf die 
Stellung der dermatologischen Disciplin vollzogen hat. Während bis 
1884 sich die Dermatologie in demselben Zustande befand, wie z. B. 
augenblicklich noch in Deutschland, sind jetzt in Russland beinahe alle 
Vertreter dieses Faches im Range von ordentlichen Professoren, die 
Studenten besuchen die Vorlesungen obligatorisch und absolviren die 
Examina gleich wie in anderen Fächern der Medicin. Darnach legt 
sich Verf. mit Recht die Frage vor, wovon hängt es ab, dass 
die Dermatologie in den culturvollsten Ländern, wie eine aus Gnaden 
gehaltene, arme entfernte Verwandte angesehen wird, die nur Mitleids 
und Anstands halber geduldet wird. Wenn diese Frage allgemein auf¬ 
geworfen wird, so wird wohl der grösste Theil vorurtheilsfreier Beob¬ 
achter die Frage dahin beantworten, dass hier eine Menge äusserer 
Umstände mit«pielen, welche bisher die Dermatologie noch immer aus 
der ihr gebührenden Stellung zurückgedrängt haben. Keineswegs aber 
wird man bestreiten dürfen, dass die Dermatologie seit einigen Decennien 
enorme Fortschritte gemacht hat, dass sie Hand in Hand mit den Er¬ 
rungenschaften der neueren Medicin sich zn einer ernsten wissenschaft¬ 
lichen Disciplin ausgebildet hat. Der Verf. stimmt freilich hiermit nicht 
ganz überein, sondern glaubt die Ursache der abnormen erniedrigenden 
Lage der Dermatologie liege in ihr selbst und zwar in der einseitigen 
Methode, welcher man bei der Forschung und weiteren Ausarbeitung 
dieser Specialität gefolgt sei! Wollte ich alle die Punkte, welche Verf. 
zum Beweise seiner Anschauungen vorbringt, hier antühren, so müsste 
ich auch gleich dazu eine Reihe kritischer Bemerkungen machen, und 
das würde den Rahmen dieser Wochenschrift weit überschreiten. Verf. 
glaubt, dass heutzutage die Dermatologie ebenso wie die Mineralogie 
oder Botanik studirt werde, dass man aber den Menschen, welcher die 
Dermatose doch nur als ein Symptom der allgemeinen Erkrankung zeige, 
ganz ausser Acht lasse. Wenn er zum Beweise dessen eine Reihe von 
sehr lebhaften Discussionen auf den letzten Congressen über einige 
Specialfragen unserer Disciplin anführt, so scheint mir Verf. doch 
gänzlich das Essentielle dieser Auseinandersetzungen verkannt zu haben. 
Wir streiten uns in den Discussionen zwar oft Uber die Morphologie der 
einzelnen Papel herum, aber auf dem Umwege über die Charakteristik 
der einzelnen Elementareffloresccnzen gelangen wir zu einer grösseren 
Würdigung des gesammten Krankheitsbildes und damit zu einer besseren 
Zusammenfassung der vielgestaltigen krankhaften Erscheinungen auf der 
Haut. Wie anders will der Verf. seinen Schülern den Uebergang der 
einzelnen Dermatosen in einander nnd doch wieder die separate Stellung 
jeder für sich nach ihrer Prognose und Therapie klar machen, als indem 
er ein Hauptgewicht auf eine exacte Diagnose legt? Das aber ist das 
Punctum saliens aller noch so lebhaften und detaillirten Discussionen 
über die Morphologie der Efflorescenzen, dass die Diagnostik auf eine 
absolut sichere Grundlage gestellt werden soll. Das hierin die neueren 
Bestrebungen aller noch so specialistisch scheinenden Finessen gipfeln, 
wird kein Einsichtiger bestreiten. Wenn der Verf. gar die Unklarheit 
in der Aetiologie der Hautkrankheiten unserem Fache zum Vorwurfe 
macht, so können wir uns damit trösten, dass die Dermatologie diesen 
Fehler vorläufig noch mit vielen anderen Fächern in der Medicin theilt. 

Der Leser wird aus diesen kurzen Andeutungen ersehen, dass hier 
nicht eine der landläufigen Programmreden vorliegt, sondern dass dieser 
bei Eröffnung des dermatologischen Ambulatoriums in dem Marien- 


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No. 5. 


102 LEULlNKk KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Krankenhause in Petersburg gehaltene Vortrag reich an innerem Gehalt 
ist, so dass gewiss Viele denselben mit grossem Interesse lesen werden. 

M. Joseph (Berlin). 


Robert Fachs: Hlppokrates’ SRmmtliche Werke. Ins Deutsche 
übersetzt und ausführlich commentirt. Bd. II. München 18!>7. 
Dr. Lüneburg. VII und 604 pp. gr. 8. 0,60 Mk. ungebunden, 

11,40 Mk. gebunden. 

Rasch ist dem 1. Bande, dessen Erscheinen wir vor kaum Jahres¬ 
frist anzeigen konnten, der vorliegende zweite gefolgt. Eine unbefangene 
Prüfung desselben ergiebt, dass der Uebersetzer immer mehr in seine 
mühevolle Aufgabe hineingewachsen ist und die Hoffnungen, zu denen 
wir uns auf Grund der 1. Lieferung in Bezug auf die Fortführung für 
berechtigt halten durften, durchaus erfüllt bat. Jede Seite des neuen 
Bandes zeigt, dass Fachs keine Mühe gescheut hat, um sowohl in 
Uebersetzung wie Comroentar Gediegenes und Vollendetes zu liefern und 
auch weitgehenden Ansprüchen zu genügen. Der vorliegende Band, der 
auch das Inhaltsverzeichnis zu Bd. I bringt, enthillt: Koische Prognosen, 
die sieben Bücher epidemischer Krankheiten, die drei Bücher de morbis, 
die Abhandlungen xepi xafläiv, nspi rütv iv tos ttabiuv, irtpi cspije nooou 
(Uber Epilepsie) nnd De locis in homine nebst einigen ergänzenden 
Nachträgen. In seinem Vorwort verheisBt der Uebersetzer für den 
Schlussband III noch eine Darstellung des jetzigen Standes der Zeit- 
nnd Echtheitsfrage des „Hippocrateskorpus“ und eine Darlegung seiner 
eigenen Auffassung dieses schwierigen Gegenstandes. Auf letztere 
dürfen wir besonders gespannt sein. Möge es dem äusserst rührigen 
philologischen Forscher vergönnt sein, uns i« absehbarer Zeit auch damit 
zu beschenken. 


Heinrich Beckh nnd Franz Spät: Anonymes Londlnensis. Aus¬ 
züge eines Unbekannlen ans Aristoteles-Menon’s Handbuch 
der Hedlcin nnd ans Werken anderer älterer Aerzte. 

Griechisch heransgegeben von H. Diels. Deutsche Aus¬ 
gabe von etc. Berlin 1806. G. Reimer. XXIV und 110 pp. 8. 
8 Mark. 

Diese I’ublication ist ausserordentlich werthvoll und bedeutend. 
Wie bekannt, ist es vor mehreren Jahren dem Bibliothekar des British 
Museums F. G. Kenyon gelungen, eine Handschrift zu erwerben, die 
bei näherer Prüfung sich als Excerpt aus dem verloren gegangenen 
Werk des Menon, eines Arztes der Alexandrinischen Periode, consta- 
tiren Hess. Dieses Werk enthielt nach dem Zeugniss des Galen Mit¬ 
theilungen über Hippocratische Medicin und über die Doctrinen einer 
Reihe anderer älterer Aerzte und ist somit von der grössten literarischen 
Wichtigkeit. Nachdem der hiesige Philologe Prof. Diels in scharf¬ 
sinniger Weise den verstümmelten Text der Handschrift (im Verein mit 
Kenyon) in brauchbare Form gebracht und zuerst im „Hermes“ resp. 
selbstständig in dem Supplementum Aristotelicum auf Kosten der Berliner 
Akademie publicirt und einige damit zusammenhängend Fragen erledigt 
hatte, bemächtigte sich der Ansbacher College Spät dieses Gegenstandes, 
nm daraus speciell eine Handhabe zur Klärung der immer noch theil- 
weise recht dunklen und viel umstrittenen Angelegenheit, betreffend die 
Echtheit gewisser Schriften der Hippokratischen Sammlung zu gewinnen. 
Bereits sind mehrere Aufsätze von Spät über diese Angelegenheit 
publicirt Bei vorliegender Ausgabe, für die er sich mit dem Ansbacher 
Philologen Beckh verbunden hat, handelt es sieh ausser einer lesbaren 
und mit reichem Commentar versehenen Uebersetzung der Diels’schen 
Edition noch um eine einleitungsweise gegebene zusammenfassende Dar¬ 
stellung der Geschichte dieses Gegenstandes. Wie weit die Deutung, 
die 8pät in Bezug auf die Herkunft, die Verfasserschaft einzelner 
Schriften der Hippocratischen Schriftensammlung eben auf Grund des 
Fragments aus Menon's „Jatrika“ zu geben versucht, berechtigt ist, 
mosa die Zukunft lehren. Adhuc sub judice lis est. Auch wenn man 
anderer Meinung als Referent sein sollte, der die Resultate der Sput¬ 
schen Arbeiten fiir die bisher glücklichste Lösung der ganzen Frage 
anzusprechen kein Bedenken trägt, wird der deutsche Arzt dennoch zur 
erschöpfenden Orientirung über diese ganze Angelegenheit unbedingt auf 
die vorliegende Publication zu recurriren genöthigt sein. 

_ Pagel. 


Krakenberg: Lehrbuch der Mechanischen Heilmethode. Mit 

147 Abbildungen. Verlag von Ferd. Enke. Stuttgart 1896. 

Verf. beabsichtigt eine Darstellung der Behandlungsmethoden zu 
geben, welche für die Heilung von Bewegungsstörungen (Steifigkeit, 
Parese, Atrophie) in Betracht kommen. Es werden deshalb auch Dis- 
ciplinen besprochen, welche streng genommen nicht eigentlich mecha¬ 
nische sind wie Electrotherapie, Hydrotherapie. Dass der Praktiker in 
dem anregend geschriebenen Buch viel Nützliches finden kann, wird der 
•nicht bezweifeln, welcher den praktischen Sinn des Verfassers kennt. 
Neben der Praxis findet aber auch wissenschaftliche Forschung ihren 
Platz, davon zeugen die interessanten Besprechungen der Bewegungs¬ 
mechanik, auf welche Kr. seine Apparatsysteme (Pendel und Rolle) auf- 
gebaut hat. 

Um über dem vielen Guten auch das weniger Gelungene nicht zu 
vergessen, wie es Pflicht des Ref. ist, so möchte ich u. a. meinen, dass 
der blutigen Chirurgie mehr Recht und Platz eingeräumt ist, als der 
Titel des Buches es erlaubt, so z. B. in dem Kapitel über „Redressirende 
Manipulationen“. Vulpius, Heidelberg. 


VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. 

Verein für innere Medicin. 

Sitzung vom 18. Januar. 

Vor der Tagesordnung. 

1. Hr. Kirstein demonstrirt ein Verfahren, den Kehlkopfspiegel 
vor dem Beschlagen mit der Athmungsluft zu bewahren: durch Einreibung 
desselben mit Sapo kalinus. 

2. Hr. Krüger demonstrirt an mikroskopischen Präparaten die 
Widal’sche Reaction zur Diagnose des Typhus abdomin. 

Hr. A. Fraenkel hat die Reaction in fünf Fällen bestätigt ge¬ 
funden, welche Reconvalescenten betrafen. Sie findet sich noch nach 
langer Zeit, ihre Bedeutung aber liegt gerade in der Erleichterung der 
Frühdiagnose. Sie ist um so werthvoller, als das El sn er'sehe Ver¬ 
fahren zur Isolirung der Typhusbacillen aus den Faeces häufig fehl¬ 
schlägt. Bei nicht typhösen Erkrankungen, z. B. Miliartuberculose findet 
sich die Reaction nicht. 

Hr. Stadelmann hat die Reaction in drei Fällen bobachtet, zwei 
davon waren Reconvalescenten. In einem anfangs auf Typhus ver¬ 
dächtigen Falle, der sich später als ulceröse Endocarditis entpuppte, 
fehlte die Reaction. 

3. Hr. 0. Roseutlial stellt einen jungen Mann vor, der 1895 eine 
Lues acquirirt und danach mehrmals bis noch vor Kurzem Recidive der¬ 
selben gehabt hat. In letzter Zeit hat er grosse Touren auf dem Rade 
unternommen, sich dabei sehr angestrengt und nebenbei noch reichlich 
Alcoholica zu sich genommen. Die Untersuchung ergiebt einen sehr 
beschleunigten Puls, Arythmia cordis, systolisches Geräusch über der 
Mitralis und Pulmonalis, Verstärkung der zweiten Töne, Verbreiterung der 
Herzdäropfung nach rechts. R. glaubt, dass es sich nicht um eine Folge 
der Ueberanstrengung des Herzens handelt, sondern um eine syphili¬ 
tische Myocarditlg, die nach der ersteren zum Ausbruch gekommen 
ist. Das Organ, das von dem Trauma betroffen worden ist, ist der Sitz 
der syphilitischen Affection geworden. Die Annahme, dass sie eine 
Wirkung des wiederholt angewendeten Quecksilbers sei, ist von der 
Hand zu weisen. Die Prognose ist günstig zu stellen. Vortr. empfiehlt 
die Anwendung der Tinct. jodi, die in grösserer Dosis angewendet 
werden kann, als sie nach der Pharmakopoe gestattet ist. 

4. Fortsetzung der Discussion zu dem Vortrage des Hrn. Hirsch« 
feld: Leber die Anwendung der Maskelthfttigkeit bei Herz« 
kranken. 

Hr. Jaques Mayer: Die nicht complicirte active Herzhypertrophie 
wird nur bei einem Theil der Fettleibigen gefunden, in |der Mehrheit 
der Fälle handelt es sich um Fettherz. Bei der ersteren Art von Herz¬ 
erkrankung widerräth M. im Gegensatz zum Vortr. die Muskelarbeit in 
Form von Bergsteigen, weil das Zustandekommen der Herzhypertrophie 
nach Lnxusconsumption eben so auf eine compensatorische Leistung des 
Herzens zurückzuführen ist, wie diejenige der Arbeitshypertrophie, die 
auf übermässige Körperanstrengungen zu beziehen ist Um der Er¬ 
schlaffung und der Dilatation des Herzmuskels vorzubeugen, muss man 
derartige Fälle einer vorsichtig abgestuften Unterernährung unterziehen, 
zu ausreichender, regelmässiger Bewegung in der Ebene anbalten, die 
Zufuhr von Alcoholicis jedoch auf ein Minimum einschränken, von einer 
nennenswerten Herabsetzung der Flüssigkeitszufuhr müsse jedoch ab¬ 
gesehen werden, weil sonst die stickstoffhaltigen Zersetzungsproducte 
nicht in ausreichender Weise ausgelaugt würden. Der mechanische Theil 
der Oertel’sehen Behandlungsmethode ist bei Fettleibigen mit Fettherz 
am Platze, vorausgesetzt, dass die Steigarbeit stufenweise geleistet wird. 
Hier kann neben der allmählichen Verringerung des Herzfettes eine 
compensatorische Massenzunahme der Herzmusculatur, die in der Regel 
schwach entwickelt ist, erreicht werden. Die gefährliche Ueberdehnung 
des Herzens muss gleichwohl immer im Auge behalten werden, weil die 
Leistungsfähigkeit des Herzmuskels individuell verschieden ist Auch 
bei Herzneurosen hat M. von der mechanischen Behandlung gnte Erfolge 
gesehen. Hinsichtlich der Steigarbeit bei Compensationsstörungen kommt 
in Betracht: 1. das Alter des Patienten, 2. der Ernährungszustand des¬ 
selben, 3. welche Herzerkrankung zur Incompensation geführt hat und 
4. wie weit die Incompensation bereits vorgeschritten ist. — Unter allen 
Umständen aber ist mit der mechanischen Behandlung bei Compensations- 
störungen ein grosses Risico verknüpft und gebührt der medicamentösen 
Behandlung schon wegen ihrer leichteren Dosirung, ihrer leichteren 
Uebersichtlichkeit wegen der Vorrang. Der vom Vortr. empfohlenen 
Unterernährung glaubt M. bei nicht fetten Herzkranken und bei Compen¬ 
sationsstörungen nur unter strengen Cautelen zustimmen zu kö.inen, da¬ 
mit das geschwächte Herz, dem bei der Compensationsstörung eine so 
hohe Leistung zufällt, nicht zn Schaden komme. Die schlackenreichen 
vegetabilischen Nahrungsmittel, die Vortr. bei der Unterernährung Fett¬ 
leibiger vorwalten lässt, müssen hier vermieden werden, um die Darm- 
arbeit nicht zu erschweren und einen zu hohen Stickstoffwerth der Nah¬ 
rung nicht zu Verlust kommen zu lassen; eine Nahrung von kleinem 
Volumen und hohem Nährwerthe ist zu empfehlen: vorwaltende Eiweiss¬ 
kost verbunden mit angemessenen Mengen Fett nnd Kohlenhydraten. 

Die Angriffe des Vortr. auf die Marienbader Cur sind durchaus 
nicht hinreichend substantiirt. Uebertreibungen bei Anwendung der in 
Betracht kommenden Heilfactoren sind in Einzel-Fällen eben so wenig 
in Marienbad ausgeschlossen wie anderwärts. Nichts spricht dafür, dass 
die Gefahren bei der Steigarbeit dort weniger ausser Acht gelassen 


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1. Februar 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


103 


würden, als an anderen Orten, wo gleichfalls Fettleibige behandelt 
werden. 

Hr. Wolfner hält die Einwände des Vortragenden gegen die 
Marienbader Cur gleichfalls für unberechtigt. Nicht nur Herzkranke, 
sondern auch Patienten mit gesunden Herzen müssen vor Ueberan- 
strengung des Herzens gewarnt werden. In Marienbad wird sie sorg¬ 
fältig verhütet. Uebertreibnngen kommen überall vor und fallen dem 
Curort nicht zur Last. W. theilt einige selbst beobachtete Fälle zum 
Beweis mit. 

Hr. Albu berichtet über acute Dilatationen des Herzens, die er bei 
Wettradfahrern beobachtet hat. Sie betrafen hauptsächlich den linken 
Ventrikel und waren durch Verbreiterung der Dämpfung, Verstärkung 
des II. Pulmonal- und Aortentones, Verlagerung des Spitzenstosses ge¬ 
kennzeichnet. In den schwersten Fällen traten als Folgeerscheinungen 
Unregelmässigkeit der nerzaction, kleiner, weicher, frequenter Puls, 
cardiale Dyspnoe, Cyanose auf. Das übermässig betriebene Radfahren 
stellt eine schwere Gefahr für das Herz dar. 

Hr. Znntz: Der in eiuer Reihe von Fällen beobachtete günstige 
Einfluss der Muskeltbätigkeit bei geschwächten Herzen lässt sich durch 
die Annahme einer mechanischen Wirkung nicht genügend erklären, 
vielmehr ist der wohlthuende Effect nach Z. darauf zurückzuführen, dass 
die durch die Muskeltbätigkeit vermehrte Zufuhr von Kohlensäure und 
anderer Stoffwecbselproducte des Muskels ins Blut einen Reiz auf das 
Herzcentrum ausübt, das ebenso automatisch arbeitet als das Athmungs- 
centrum und auf die gleichen Reize reagirt. Es wird also durch das 
Blut dem Herzen eine genügende Quantität von Erregungsstoffen zuge¬ 
führt, um die vermehrte Arbeit leisten zu können. Vortrag, knüpft an diese 
theoretischen Erörterungen den Vorschlag, die Kohlensäure in solchen 
Fällen von Herzschwäche therapeutisch zur Anwendung zu bringen. 

Hr. Lazarus findet einen Widerspruch in den Ausführungen des 
Vorredners. In den angezogenen Fällen von Herzschwäche ist das Blut 
infolge der Dyspnoe und Cyanose schon mit Kohlensäure überfüllt, die¬ 
selbe müsste also in dem günstigen Sinne wirken, den Z. supponirt. 
Die Anwendung der Muskelthätigkeit bei Herzkranken muss sehr be¬ 
schränkt und genau dosirt werden, was bei den Bergsteigcnren unmöglich 
ist. Nur passive Widerstandsbewegungen sind zu empfehlen, die aber 
nicht von Maschinen, sondern vom Arzt selbst gemacht werden müssen. 
Bei endocarditischen Erkrankungen ist die Mechanotherapie zwecklos, 
sie kann, in geringem Maasse angewendet, zuweilen bei Myocarditis, 
Fettherz, 8klerose von Nutzen sein, ist bei Neurosen ganz auszuschliessen. 
Die Unterernährung darf nur da angewendet werden, wo es sich um 
Luxusconsumption handelt. Die nothwendige Kost war nicht verkürzt 
worden. Im Allgemeinen empfiehlt sich bei Herzkranken eine roborirende 
Diät. Das erste Princip in der Behandlung der Herzkranken ist Ruhe. 
L. empfiehlt sogar die Anwendung der Narcotika und schmerzstillenden 
Mittel (Kälte) zur Beseitigung der Beschwerden. 

Hr. Zuntz erwidert dem Vorredner, dass das Venenblut nicht auf 
das Herz wirkt, sondern dasjenige, welches die Lungen passirt. 

Hr. Vormeng ist auf Grund der Erfahrungen im letzten Feldzuge 
ein Gegner der mechanischen Einwirkung auf das Herz. Fraentzel 
und Thurn haben die Eolgen der langen Märsche und Kriegsstapazen 
für das Herz genau beschrieben, sie betrafen kräftige junge Menschen, 
auf die freilich gleichzeitig auch die Kälte und der Schnaps ungünstig 
einwirkten. Auch Neurosen (Angina pectoris), die Tage lang dauerten, 
traten auf. Ein Beweis für die günstige Wirkung der Muskelthätigkeit 
auf das Herz steht noch aus. Namentlich bei älteren Leuten ist sie 
mit ausserordentlicher Vorsicht anzuwenden. 

Hr. Ewald macht darauf aufmerksam, dass er Bchon vor 12 Jahren 
in einem Referat über die Oertel’sche Cur im Virchow-Hirsch’schen 
Jahresbericht den Standpunkt präcisirt hat, der in der heutigen Dis- 
cussion zum Ausdruck kommt. Nur mit der grössten Vorsicht darf von 
dieser Cur Gebrauch gemacht werden. Die klinischen Erfolge der An¬ 
wendung der Muskelsthätigkeit sind dadurch gegeben, dass 1. die Muscu- 
latur des Herzens im Stande ist, eine Mehrleistung zu vollbringen, 
2. eine groäse Summe von Schädlichkeiten für den Herzkranken 
(Stauung u. s. w.) beseitigt werden. Eine Unterernährung bei Herz¬ 
kranken zu empfehlen, ist gänzlich unberechtigt. 

Hr. Gräupner: Die Anregung des Heim Zuntz ist durch die 
Erfahrungen in Nauheim längst im negativen Sinne entschieden. Die 
Einathmung der Kohlensäure erweist sich schädlich für Herzkranke und 
sie beeinflusst die Herzaction nicht. Die Kohlensäure in den Nauheimer 
Bädern wirkt wie ein mechanisches Frotteraent, erweitert die Capillaren 
und setzt den Widerstand herab. In Nauheim wird von den meisten 
Aerzten die maschinelle Widerstandsgymnastik geübt, wirksamer ist aber 
die manuelle, weil mittelst derselben der Arzt die Insufflcienz des Herz¬ 
muskels besser beurtheilen kann, auch einen grösseren suggestiven Ein¬ 
fluss ausübt. 

Hr. Goldscheider bestreitet auf Grund seiner eigenen Unter¬ 
suchungen die Behauptung des Vorredners, dass die Kohlensäure die 
Capillaren erweitere. Das Wärmegefühl, das die Kohlensäure hervor- 
ruft, entsteht vielmehr durch Wärmereiz. Das absprechende Urtheil des 
Vorredners über den Vorschlag des Herrn Zuntz ist ohne Berechtigung. 
Es kommt bei der therapeutischen Wirkung der Kohlensäure auf das 
Volumprocent derselben in der Athmungsluft an. 

Hr. Gräupner: In Nauheim werden die Soolbäder mit einem 
minimalen Kohlensäuregehalt verabreicht. Ein stärkerer Sprudel ist für 
die Kranken sehr bedenklich. Im Uebrigen hält G. seine vorher geiiusserte 
Ansicht aufrecht. 


Hr. Hirschfeld (Schlusswort): Es ist durch practische Erfahrungen 
erwiesen, dass die Minderernährung bei Herzkranken die Herzthätigkeit 
erleichtert, wenn eine reichlichere Ernährung voraufgegangen ist. Die 
Vorschriften bei der Oertel’sehen Cur („mässig leben“) sind in Wirk¬ 
lichkeit eine Unterernährung, die Diät enthält nur 1500 Calorien. Gegen die 
Zuntz’sehe Auffassung erhebt auch H. Widerspruch, da das Herz stets 
in gleicher Weise automatisch arbeite. Herrn A. Fraenkel gegenüber 
bemerkt II, dass das Lauterwerden des II. Pulmonaltones als das erste 
Symptom beginnender Herzschwäche zu betrachten sei. 


Laryngologische Gesellschaft. 

Sitzung vom 80. October 1896. 

Vorsitzender: Hr. B. Fraenkel. 

Schriftführer: Hr. P. Hey mann. 

Ilr. A. Alexander: Die Schlelmhantcysten der Kieferhöhle. 

Vortragender hat 7 hierher gehörige Fälle gesehen, u. zw.: 

1. 41 jähriger Schneider, im Laufe von 9 Jahren mehrfach an Nasen¬ 
polypen operirt, klagt üher dumpfes Gefühl im Kopfe. Probepunktion 
der Kieferhöhlen ist rechts negativ, entleert links ‘/i Spritze seröser 
Flüssigkeit. 

2. 43jähriger Handelsmann leidet seit 20 Jahren an Nasenpolypen, 
welche zwar beiderseits vorhanden waren, jedoch vornehmlich auf der 
linken Seite recidivirten. Durchleuchtung: Beide Wangen hell, beide 
Pupillen dunkel. Probepunktion: In der 1. Höhle '/< Spritze seröser 
Flüssigkeit. Rechte Höhle leer. Eröffnung der 1. Höhle von der Fossa 
canina aus. Die Kieferhöhlenschleimhaut ist polypoid entartet. Einige 
der Polypen, namentlich solche, die an der oberen und medialen Wand 
der Höhle sassen, sind cysto* degenerirt. Mikroskopischer Befund: Bild 
der ödematösen Schleimhauthyperplasie mit Hoblräumen verschiedenster 
Grösse und vierfacher Art, nämlich a) erweiterte Drüsenacini, b) erwei¬ 
terte Drüsenausführungsgänge, c) erweiterte Bindegewebsmaschenräume, 
d) ectasirte Gefässe. 

8. 81jährige Schneiderin mit Rhino-Pharyngo-Laryngitis atrophicans 
und einigen Nasenpolypen im rechten mittleren Nasengange. Sie klagt 
über Nasen Verstopfung, Eiterausfluss rechts, Stirnkopfschmerz und zeit¬ 
weiligen Schwindel. Durchleuchtung: rechte Wange und Pupille dunkel, 
links alles hell. Subjective Lichtempfindung beiderseits vorhanden. 
Probepunktion: r. Eiter, 1. leer. Ausspülung der rechten Höhle. Da¬ 
nach derselbe Durchleuchtungsbefund. Acht Tage später Eiter im linken 
mittl. Nasengang. Abermalige Punktion entleert links '/, Spritze seröser 
Flüssigkeit. Eröffnung der Höhle wurde nicht gestattet. 

4. 31 jähriger Bahnbeamter. Seit 3 Jahren Lues. Er klagt über 
seit 5 Monaten bestehende Kopfschmerzen, an der Stirne beginnend, 
nach dem Hinterkopfe zu ausstrahlend. L. nnt. Muschel so stark hyper¬ 
plastisch, dass sie dem Septum anliegt, während rechts die Nasen¬ 
schleimhaut atrophisch ist. Durchl.: 1. Wange und Pupille dunkel, r. 
alles hell. Subjective Lichtempflndung nur rechts. Probepunktion ent¬ 
leert links i/j Spritze seröser Flüssigkeit. Abermalige Durchleuchtung: 
1. Wange nicht mehr so dunkel als zuvor, jedoch immer noch dunkler 
als die rechte. L. Pupille ganz dunkel. Subjective Lichtempflndung 
nur rechts. Eröffnung der 1. Höhle von der Fossa canina aus. Es ent¬ 
leert sich Eiter und ein zähes fadenziehendes Secret von gelbbrauner 
Farbe. Eine Cyste wird nicht gefunden, dagegen ragt ein Schleimhaut¬ 
fetzen frei ins Lumen der Höhle hinein. Derselbe ist leider nicht mikro¬ 
skopisch untersucht worden. 

5. 52jähriger Mühlenbesitzer mit beiderseitigen Nasenpolypen seit 
ca. 22 Jahren. L. untere Munschel stark gewulstet, höckrig. L. mittlere 
Muschel atrophisch. Schleimhaut des 1. mittleren Nasenganges teigig 
geschwollen. Rechts Atrophie. Durchleuchtung: Beide Wangen schwach 
durchleuchtet, die rechte schwächer als die linke. Beide Pupillen dunkel. 
Punktion 1. negativ, r. */* Spritze seröser Flüssigkeit. Nach der Punk¬ 
tion erscheint die 1. Wange schwächer durchleuchtet, als die rechte. Er¬ 
öffnung der r. Kieferhöhle von der Fossa canina aus. Die Schleimhaut 
derselben ist höckrig und gewulstet. Die Alveolarbucht ist ausgefüllt 
durch einen grossen Polypen, der an der medialen Kieferhöhlenwand in- 
serirte und eine grosse zum Theii collabirte Cyste an einer Seite zeigt. 

6. 39jähriger Friseur mit Nasenverstopfung seit ca. 8 Jahren. Zeit¬ 
weise entleert sich aus der rechten Nase eine grüngelbliche Flüssigkeit, 
Beide unteren Muscheln stark hyperplastisch, liegen dem Septum dicht 
an. Durchleuchtung ergab keine Differenz. Subjective Lichtempflndung 
rechts geringer als links. Probepunktion befürdert rechts 2 Spritzen 
gelblich seröser Flüssigkeit zu Tage. Die Durchleuchtung ergiebt jetzt 
dasselbe Resultat wie zuvor. Eröffnung der rechten Höhle von der 
Fossa canina aus. Kleine. Cysten an der medialen und vorderen Wand. 
Ein bei der Auskratzung mit herausbeförderter grosser Schleimhautfetzen.' 
erweist sich bei der mikroskopischen Untersuchung als collabirte Cyste, 
die in sich noch eine zweite Cyste trägt. (Befund vergleiche im Original.) 

7. 28jähriger Kaufmann, vielfach an Nasenpolypen operirt. 1893 
wurde die linke Kieferhöhle wegen Empyem eröffnet, heilte wieder zu. 
1895 und 96 Polypenrecidive. Zuletzt Klagen über Eingenommensein 
des Kopfes. Punktion: 1. '/, Spritze seröser Flüssigkeit. Eröffnung der 
Höhle konnte nicht vorgenommen werden. 

Im Anschluss an diese 7 Fälle theilt Vortragender den Befund mikro¬ 
skopischer Präparate mit, welche die mediale Kieferhöhlenwand mit an 
ihr befindlichen Cysten darstellen. (Anatomisches Präparat.) 


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104 


RKRUXKK KLINISCHE WOCIIKXSrilRlFT. Ko. 5. 


Unter Berücksichtigung der über diesen Gegenstand bisher vorhan¬ 
denen Literatur schilderte Vortragender sodann die klinische Geschichte 
dieser Schleimhautcysten. Er vertritt den Standpunkt, dass das Vor¬ 
handensein freier seiöser Flüssigkeit in der Kieferhöhle (ohne Cysten¬ 
bildung) zwar theoretisch denkbar, bisher aber durch nichts bewiesen 
sei. Den Fall Dmochowskis hält er nicht flir beweiskräftig. 

Die mikroskopischen Präparate wurden mit Hilfe des Projections- 
apparates demonstrirt. 

Der Vortrag erscheint in extenso in B. Fränkel's Archiv für 
Laryngologie, Band VI, Heft 1. 

An diesen Vortrag knüpft 6ich eine ausgedehnte Discussion zwischen 
Herrn P. Heymann und dem Vortragenden. Ersterer bestreitet die 
Ansicht, dass sich Cysten und Polypen immer nur in Kieferhöhlen 
finden, deren Wand 6chon erhebliche mikroskopische Veränderungen auf¬ 
zuweisen hatten. Er habe mehrfach solche Gebilde bei anscheinend 
unveränderter Schleimhaut gefunden. 

Sodann bezweifelt Hey mann, dass man in allen Fällen durch 
Einstich von aussen die in der Highmorshöhle befindlichen Cysten werde 
erreichen können; die oft kleinen Cysten Bitzen häutig an Stellen, wo 
man mit den Troicart nicht hingelangcn könne. 

Während über diese Punkte eine Einigung mit dem Vortragenden 
erreicht wird, wird ein Theil der Ausführungen des Herrn Alexander 
wodurch die Schleimhaut der Highmorshöhle in den Knochen hinein 
wachsen soll, von Herrn Hey mann als unerwiesen angezweifclt und 
wird ein Fall des Herrn Alexander als zu der von Zuckerkandl als 
ödematöse Schwellung der Schleimhaut bezeichneten Affection gehörig fest¬ 
gestellt, wozu auch Herr Alexander zustimmt. 

llr. Kirstein: Rhinoskople nach KtU'an. 

Als „Rhinoscopia media“ hat Killian eine Untersuchungsmethode 
beschrieben, die wohl besser als Rhinoscopia (anterior) profunda 
zu bezeichnen wäre. Die Methode eröffnet den Einblick in die engen 
Spalträume der Nase (Riechspalte, mittlerer Naseugang), indem nach vor- 
au«gegangener Cocainisirung ein entsprechend langes, ganz dünnes Spe- 
culum in die Spalten eingeführt und geöffnet wird. 

Die dadurch bewirkte Dislocation der mittleren Muschel (und event. 
des Septums) erfolgt meist unter einem (von Killian nicht erwähnten) 
knackenden Geräusch. Die Procedur gelingt oft sehr leicht, in anderen 
Fällen schwierig oder garnicht. Sehr häufig kommt es zu kleinen Ilä- 
morrhagien, die durch Verdeckung des ohnehin beschränkten Gesichts¬ 
feldes lästig fallen; durch Aufschnüffeln von Seite des Patienten 
(bei zugehaltener anderer NaBenseite) lässt sich das Blut theilweise be¬ 
seitigen. 

Ich habe die Killian'sche Ithinoskopie in der Königl. medicini- 
schen Universitäts-Poliklinik an zahlreichen gesunden und kranken Nasen 
erprobt und bin zu dem Resultate gelangt, dass die Methode einen be¬ 
deutenden Fortschritt darstellt, dass ihre (keineswegs sehr leichte) 
Erlernung jedem Specialisten angerathen werden muss. 

Die Anwendbarkeit der Methode ist jedoch eine beschränkte, aus 
anatomischen und anderen Gründen. Ich bin durch meine Erfahrungen 
dahin gekommen, die Methode nur noch in solchen Fällen anzuwenden, 
in denen sich an die Besichtigung der engen Spalträume ein besonders 
klinisches Interesse knüpft (beispielsweise möglichst in allen Polypen¬ 
fällen) und auch in Fällen dieser Art Verzicht zu leisten, falls die Ein¬ 
führung des Speculums nicht einigermassen leicht gelingt. Will das 
Instrument nicht in die Spalte schlüpfen, muss man durch Druck 
nachhelfen, so geht jede Controle verloren, es kommt nicht selten zur 
Bohrung eines falschen Weges (zwischen Schleimhaut und Knochen 
u. s. w.). Der Charakter einer gewissen Gewaltsamkeit ist der Methode 
nicht abzuspreckcn, doch habe ich niemals Verletzungen von irgend 
welcher Bedeutung entstehen sehen. 

Das Killian'Bcbe Originalinstrument hat einige Mängel: es ist 
(trotz seiner Länge) noch zu knrz, der Ansatzwinkel zum Handgriff ist 
nicht stumpf genug, die Nothwendigkeit, mit der Faust vor dem Munde 
des Patienten zu arbeiten, beschränkt die freie Beweglichkeit. Ein 
zweckmäßigeres Modell (bajonettförmig) hat Pfau in Berlin nach meiner 
Vorschrift angefertigt. 

In einzelnen Fällen hat mir die Rhinoscopia profunda unersetz¬ 
liche Dienste geleistet. Deswegen halte ich die Erfindung Killians 
für eine dauerhafte Bereicherung der Rhinologie. 

llr. Herzfeld: Ich glaube, dass wir Rhinologen diese Methode 
schon immer geübt haben. Hr. Kirstein ist in seinen Fällen nur da¬ 
durch zum Ziele gekommen, dass er die Muschel luxirt hat, wobei der 
ominöse Knack entsteht. Wir drängen ja oft Muscheltheile absichtlich 
mit einer gewissen Gewalt bei Seite, um die tieferen Theile, wie etwa 
Keilbeinhöhlen-Oeffnungen sehen zu können und hören in Folge lnfrac- 
tion der Mnschelknochen oft einen Knack. Ich kann bestätigen, dass ein 
Nachtheil durch diese Luxation nicht entsteht. Wir üben ja sogar diese 
Luxation systematisch, wenn wir es versuchen, in die Stirnhöhle binein- 
zukommen. Etwas Anderes in dem Vortrage des Herrn Kirstein 
möchte ich doch nicht unwidersprochen lassen, nämlich, dass wir erst 
durch diese Methode eine richtige Vorstellung von der Lage des 
Hiatus semilunaris und seiner Oeffnungeu bekommen. Wer sie nicht 
aus dem anatomischen Präparat hat, wird sie hierdurch auch nicht be¬ 
kommen. 


Freie Vereinigung der Chirurgen Berlins. 

Sitzung vom 13. Juli 189(5. 

(8chluss.) 

IV. llr. J. Israel: Mit Erlaubnis des Herrn Vorsitzenden will 
ich im Anschluss daran 4 NlerengesrhWülste zeigen, welche in den 
letzten Wochen durch Operation gewonnen sind. 

Diese mannskopfgrosse Niere ist eine Pyonephrose, welche ein be¬ 
sonderes Interesse beansprucht, weil sie einer Frau im 5. Monate der 
Schwangerschaft exstirpirt war, ohne die Schwangerschaft zu unter¬ 
brechen. Dieses ist meine zweite günstige Eifahrung über Exstirpation 
von Nieren während der Gravidität. 

Der zweite Fall betrifft eine sarkomatöse Niere, welcher Sie von 
aussen nicht viel ansehen. Sie ist kaum vergrössert. Auf dem Durch¬ 
schnitt sehen 8ie eine Geschwulst, welche im oberen Theile der Niere 
entstanden, sich als polypöser, freier Zapfen ins Nierenbecken und in 
den Ureter fortgesetzt hat, infolgedessen durch profuse, monatelang 
dauernde Blutungen zu starker Anämie Veranlassung gegeben hat Sie 
ist auch mit Glück operirt worden. 

Die dritte grosse Geschwulst ist ein Adenocarcinom einer Niere bei 
einem 15jährigen Mädchen, welches genesen ist. 

Das vierte Präparat empfehle Ich Ihrer besonderen Aufmerksamkeit: 
es ist ein colossales Sarkom der Niere mit einem aarkomatösen Thrombus, 
der die ganze Vena renalis angefüllt hat, so dass ich sie an ihrer 
Einmiindungsstelle in die Vena cava habe abtrennen müssen. 

Es ist deshalb von Interesse, weil diese naturgemäss sehr subtile 
Operation mit dem extraperitonealen Schnitt sehr präcis ausgeführt ist 
und diejenigen widerlegt, die behaupten, dass man auf extraperitonealem 
Wege Geschwülste nicht ebenso prücise operiren kann, wie auf intra¬ 
peritonealem. 

V. Hr. Koenlg: Zar Knochenplabtik mit Demonslratloa. 

M. H., ich möchte Ihnen zum Schluss nur noch einige ungewöhn¬ 
liche Kranke zeigen. Zunächst einen Kranken, bei welchem die Heilung 
nicht vollendet ist. Es handelt sich nämlich um eins jener scheusslichen 
tuberculüsen Genua va'ga, für die wir keine richtige vernünftige Correctur 
wissen. Wollen wir das Genu valgum tuberculosum nach der Ausheilung 
oder auch im floriden Stadium corrigiren, zumal falls noch dazu die 
Tibia nach hinten gesunken ist, dann bleibt oft nichts übrig, als blutige 
Operation, da die Correctar weder mit Maschinen noch mit Händegewalt 
immer zu dem gewünschten Ziele führt. Ich habe nun bei diesem Patienten, 
nachdem mancherlei versucht worden ist — es ist gezogen, gehoben, es 
ist gewaltsam zurechtgerückt worden — das Gelenk um so mehr blutig 
angegriffen, als offenbar noch ziemlich viel tloride Tuberculose darin 
war. Als ich die Tuberculose auf einer Seite am lateralen Theil der 
Tibia und des Femur ausgeräumt hatte — es war wesentlich eine ein¬ 
seitige Tuberculose, und die innere Seite war gesund, jene Form, wie 
ich sie in meinem Buche über Tuberculose des Knies beschrieben habe, 
da war ein grosser Defect auf der lateralen Heite nach Entfernung des 
Kranken geblieben, so dass zweifellos ein colossales Genu valgum ent¬ 
stehen musste, wenn eine Correctur nicht möglich war. Diese versuchte 
ich nun auf folgende Weise berbeiznführen. Ich schnitt ein ungefähr 
den Defect deckendes Stück des medianen Condylus von der freien Seite 
aus bis zur Mitte ein, Hess hier nach der Fossa intercondyloidea eine 
Verbindung stehen und klappte diese entstandene Knorpelknochenplatte 
nach aussen und pflanzte sie auf den Defect des lateralen Condylus auf; 
als jetzt in gerader Richtung Femur und Tibia gegeneinander gestellt 
wurden, glich sich das Genu valgum aus- Sie sehen hier das Resultat, 
an welchem nur betrübend ist, dass trotzdem die Operation vor 8 Wochen 
gemacht wurde, noch Fisteln bestehen. Aber die Fisteln führen nicht 
nach der Knochenplatte, so dass man wohl die Verwachsung derselben 
annehmen darf. Die Verwachsung der Gelenkenden ist steif, gerade und 
ziemlich fest. 

Der Versuch wird sich also unter ähnlichen Verhältnissen zur Nach¬ 
ahmung empfehlen. 

Dann zeige ich Ihnen noch eine osteoplastische Operation, die aber 
hier zu etwas geführt hat. Es handelt sich um einen colosaalen Schenkel¬ 
bruch, der in der Tliat eine Pforte hatte von der Grösse, dass man wohl 
eine kleine Faust hineinstecken konnte. Der Bruch war mit der Haut 
verwachsen und demnach irreponibel und musste also operirt werden. 
Aber wie nun das Loch zubekommen? Im Allgemeinen bin ich kein 
grosser Freund von Knochenbrücken. Hier wusste ich nicht, bei dem 
Mangel aller Gewebe, welche sich über die Pforte hätten nähen lassen, 
was ich machen sollte. Ich versuchte unter solchen Umständen vor 
etwa '/, Jahr den Verschluss durch Knochenplatten und das Resultat 
hat sich bis jetzt vollständig erhalten. 

Die Methode, welche ich wählte, war etwas complicirter als ge¬ 
wöhnlich. Ich habe Folgendes gemacht (Zeichnung an der Wandtafel). 
Ich machte nach Vollendung der Bruchoperation zunächst einen grossen 
Knochenlappen von der oberen Seite der Symphyse, der noch um die 
Ecke herum ging, schlug ihn herum und legte ihn auf die Bruchpforte. 
Er war aber so wenig nachgiebig und federte derart, dass er sich nicht 
ordentlich fest legen liess. Deshalb löste ich vom unteren Theil der 
Symphyse und dem oberen Theil des Ramus descendens ein Stück ab 
nach vorheriger Lösung der Muskelinsertionen. Ich hatte an diesem 
Lappen viel Gewebe sitzen lassen und klappte ihn nun, nachdem ich die 
Gefässe lateralwärts verschoben hatte, nach aussen herum, dass er sich 
auf den unteren Rand des oberen Knochenlappens legte. Nun nähte ich 
ihn durch seine Bindegewebsdecke mit dem reichlichen Bindegewebe der 


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1. Februar 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


105 


lateralen Seite der Bruchpforte (Lig. Poup., unteres Ende der Obliq.-Sehne, 
Fascia lata) zusammen. Er deckte jetzt das untere Gebiet der Bruch¬ 
pforte und hielt zugleich den oberen Lappen nieder. Darüber wurde die 
entsprechend resecirte Haut vernäht; das Bein musste zunächst der 
Spannung halber flectirt werden. 

Ein Bruch ist nicht wiedergekehrt, eine harte Platte liegt auf der 
Bruchpforte. Eine feine, nicht eiternde Fistel ist noch vorhanden. 

Dann wollte ich noch einen Fall von operirtera Kryptorchismus 
zeigen. Die Operation ist bekanntlich vor langer Zeit von Herrn 
Schüller empfohlen und auch anderweitig ausgeführt, von mir auch 
bereits einmal in der Gesellschaft der Chariteärzte besprochen worden. 
Immerhin wird sie noch so Belten ausgeführt, dass es Sie wohl inter- 
eBsirt, hier einen geheilten Monorchisten zu sehen. Es war ein Fall, 
der deshalb sich bei der Operation schwieriger verhielt, weil ein sehr 
grosser ausgeweiteter Leistencanal den ganzen Hoden aufnahm; auch 
lag eine weitere Erschwerung darin, dass die Tunica propria ausser¬ 
ordentlich kurz war, während bei mehreren Fällen, welche ich operirte, 
die Tunica propria sich ohne Weiteres herunterziehen liess, nachdem ein 
Strang, der vom Samenstrang ausging, in dem Leistencanal durchschnitten 
wurde. In dem Falle war es anders. Da war der ganze Sack so 
kurz, dass es erst gelang, den Hoden hinabzubringen, nachdem ich cir¬ 
cular die ganze Tunica propria eingeschnitten hatte und sie dann wieder 
mit einer Naht vernähte. 

Meiner Erfahrung nach sinken die Hoden in der Fo'ge immer tiefer. 
Ich habe dies bereits verschiedene Mal bei meinen Patienten nach 
längerer Zeit constatiren können. Ich möchte also diese Operation, da 
sie garnicht schwierig ist, angelegentlich empfehlen. Ich glaube, sie 
bedeutet einen grossen Fortschritt bei dem fraglichen Leiden. 


VIII. Die Heranziehung ärztlicher Honorare zur 
Gewerbesteuer. 

Von 

Ernst Yon Bergmann. 

Vom 1. Januar 1873, wo die Gewerbeordnung des Norddeutschen 
Bundes für das ganze deutsche Reich Geltung erhielt, beginnt auch die 
Agitation der deutschen Aerzte gegen ihre Einreihung unter die Gewerbe¬ 
treibenden. Der Ruf des deutschen Aerztetages „heraus aus der 
Gewerbeordnung“ ist nicht ungehört verhallt. Es ist bekannt, dass der 
Minister der Medicinalangelegenheiten der, durch die Vertreter der 
Aerztekammern erweiterten, wissenschaftlichen Deputation die Frage 
vorgelegt hat, ob nach den Erfahrungen der letzten 25 Jahre es rathsam 
erscheint, im Wege der Gesetzgebung die Aerzte aus dem Kreise der 
Gewerbetreibenden zu lösen, und dass diese Frage von der illustren 
Körperschaft in bejahendem Sinne entschieden worden ist. 

Den Wünschen der Aerzte ist ihr vorgesetztes Ministerium mit so 
grossem Wohlwollen entgegengekoramen, dass auf ihre endliche An¬ 
erkennung auch durch die übrigen Factoren der Gesetzgebung gerechnet 
werden darf und in Analogie der Anwalts-Ordnung wir demnächst auch 
eine deutsche Aerzte-Ordnung zu erwarten haben, und wie der § (5. 
Abs. 1, der Gewerbeordnung die advocatorischc und Notariatspraxis aus- 
nimmt, er bald auch die Ausübung der Heilkunde zu einer gleichen Aus¬ 
nahme zählen wird. 

Aber zu guterletzt hat ein Theil der Aerzte noch einmal unter dem 
Zeichen des Gewerbebetriebes zu leiden und Stellung gegen ihm zuge- 
muthete Ungebühr zu nehmen. 

Ihre Einreihung unter die Gewerbetreibenden hatte den deutschen 
Aerzten die einheitlichen Bestimmungen über ihre Approbation, die Frei¬ 
zügigkeit und die Aufhebung des Zwanges zur Hilfeleistung gebracht. 
Aber da gleichzeitig auch die Ausübung der Heilkunde Jedermann frei¬ 
gegeben wurde, mischte sich der edlen Gabe ein bitterer Tropfen zu. 
Gleichgültig, ob die Zahl der ohne ärztliche Approbation die Heilkunde 
ausübenden Leute grösser in den letzten Jahren geworden ist, oder ob 
es heute noch ebenso, wie zu Hans Sachs’ Zeiten steht, wo „dünkt 
sich Arzt ein jeder Fexe — Jude, Laie, Münch und Hexe“ eines 
steht doch fest, dass die Curpfuscherei frecher als je früher ihr Haupt 
erhebt und ganz besondere Früchte gezeitigt hat. Der geistliche Wasser¬ 
treter, welcher Nierengeschwülste und Lippenkrebse zu riesiger Grösse 
züchtet, und der aus Ringen und Haaren wahrsagende Hellseher in 
Dresden, welcher mit seinen Kathetern tödtliche Nierenabscesse erzeugt, 
sind doch eigenthümliche Typen unserer Tage. Oder ist es nicht neu, 
dass P. Sebastian Kneipp Diplome für seine Schüler ausstellt, nach 
welchen „Jedermann in seinen Leiden und Krankheiten sich dem Diplo¬ 
maten anvertrauen dürfe“, und der Amtsvorsteher das amtlich mit 
Siegel und Unterschrift beglaubigt? 

In den Motiven zur Freigebung des Heilgewerbes wurde der Bil¬ 
dungsgrad unseres Volkes für so gross nnd hoch gehalten, dass ein 
Zweifel in seinem Vermögen, den wirklichen Arzt vom unberufenen 
Quacksalber zu unterscheiden, für eine Beleidigung galt. „Das Pfuscherei¬ 
verbot, so hiess es, ist für die Bildungsstufe und Urteilsfähigkeit unseres 
Volkes unwürdig.“ Tempi passati! Wer hätte nicht die Besten 
unserer Nation nach dem weissen Hirsch und den Bächlein von Wörris- 
bofen pilgern sehen? 


Doch es ist nicht meine Absicht, das Gemeingefährliche der Curpfuscherei 
hier zu erörtern, wohl aber eines anderen Schadens zu gedenken, den die 
Stellung der Aerzte in die Reihe der ein Heilgewerbe Treibenden ge¬ 
habt hat, ihre Beziehung zu den Privatheilanstalten. Die Curirfreiheit 
setzt diejenigen Aerzte, welche sich Krankenanstalten schaffen, um in 
ihnen ihre Kunst auszuüben, vollständig denjenigen Nicht-Aerzten gleich, 
welche sich eine Concession zu eben solchen Anstalten verschafft haben. 
Das Gesetz gestattet auch einem Nichtarzte, ein Krankenhaus zu er¬ 
öffnen und in ihm Heilkunst zu üben; eine natürliche Folge der Curir¬ 
freiheit. Durch ein Rescript vom 30. September 1870 hat der Kgl. 
preuss. Minister der Medicinal-Angelegenhciten erklärt, dass die Con¬ 
cession zu Privat-Krankenhäusern von der Approbation für die ärztliche 
Praxis nicht abhängig sei. „Unter Privat-Krankenanstalten seien aber 
alle diejenigen Anstalten zu verstehen, in welchen der Unternehmer 
selbst bei den in der Anstalt aufgenommenen Kranken irgend ein Heil¬ 
verfahren an wendet.“ Aus dem Process des Schneiders Ott in Leipzig, 
dessen ganzer Heilapparat in einer Giesskanne und einer Klystierspritze 
bestand, mit demn äusserlich und innerlich die Patienten begossen 
wurden, hätte man lernen können, wohin solche Concessionen führen, 
aber man lernte es nicht, ebenso wenig als man im Bundesrath und 
Reichstag die Ausführungen des psychiatrischen Vereins der Rhein¬ 
provinz und des deutschen Aerztetages berücksichtigte, als diese, wenig¬ 
stens für die den Geisteskranken gewidmeten Anstalten, die Concession 
nur an approbirte Aerzte verlangt hatten. Da kamen die Alexianer 
und die Vorgänge in Mariaberg und nun erfüllte der Ministcrial- 
Erlass vom 20. September 1895 das, was vor drei Jahren schon 
der Verein deutscher Irrenärzte auf das Dringendste verlangt hatte. 
Damit waren wenigstens für die Irrenanstalten die Nachtheile beseitigt, 
welche aus der Concession von Privatkrankenanstalten an Laien noth- 
wendig folgen und welche mit der Beaufsichtigung ihres Betriebes durch 
den Kreisphysikus nicht beseitigt werden, denn diese Aufsicht, welcher 
in gleicher Weise die von Nichtärzten, wie die von Aerzten geleiteten 
Anstalten unterliegen, bezieht sich nnr auf die Prüfung und Wahrung 
der für sie bestehenden sanitätspolizeilichen Vorschriften. Das Gesetz 
verlangt nur, im § 30 der Gewerbeordnung, die Zuverlässigkeit des Unter¬ 
nehmers, ob er Arzt oder Nichtarzt darnach darf bei Ertheilung der 
Concession nicht gefragt werden. 

Mit aller Energie ist unser Ministerium dafür eingetreten, die Kranken¬ 
häuser, welche die evangelische Diakonie stiftet und unterhält, von der 
Concessionspflicht zu befreien. Eine ConcesBion zu einem Gewerbebe¬ 
triebe würde das Ansehen der Pflegeschaften schädigen, welche aus 
reiner Christenliebe sich dem schweren Berufe der Krankenpflege wid¬ 
men. Um das Odium des Gewerbes diesen Schwestern und Brüdern zu 
nehmen, befreite man sie von der flir die Aerzte aufrecht erhaltenen 
Pflicht, um eine polizeiliche Concession bei Gründung ihrer Kranken¬ 
anstalten nachzusuchen. Schade, dass nicht mit gleichem Nachdrucke 
und Erfolge das Medicinalministerium sich auch so für seine Medicinal- 
personen verwandt hat, wie das Ministerium der geistlichen Angelegen¬ 
heiten für seine geistlichen Krankenpflegerinnen. 

Der Umstand, dass in den concessionirten Privatkrankenanstalten, 
der Arzt dem Nichtarzte vollständig gleichgestellt worden ist, hat zu 
einer das Ansehen, wie die Interessen des Arztes gleich schädigenden 
Consequenz geführt. Zunächst dadurch, dass ein ärztliches Recht, das 
der Befreiung von der Gewerbesteuer aufgehoben wurde. § 4, No. 7 
des Gewerbesteuergesetzes vom 24. Juni 1891 bestimmt, dass die Aus¬ 
übung des Berufs als Arzt von der Gewerbesteuer befreit is. Für den 
nicht approbirten Heilkünstler gilt selbstverständlich diese Bestimmung 
nicht, folglich hätte der Unternehmer einer Privatkrankenanstalt, wenn 
er nicht als Arzt approbirt ist, die Gewerbesteuer zu zahlen, während 
der approbirte Arzt von Rechts wegen sie nicht zu zahlen brauchte. In¬ 
dessen stellt die nämliche Forderung einer polizeilichen ConcesBion für 
den Arzt, wie für den Nichtarzt, wenn sie eine Privatkrankenanstalt er¬ 
öffnen, beide so gleich, dass es begreiflich ist, wie, trotz des klaren 
Wortlauts vom § 4 der Gewerbeordnung, man doch daran denken konnte, 
den Arzt für den Betrieb der auf seinen Namen concessionirten Anstalt 
zur Gewerbesteuer heranzuziehen. Der Arzt freilich meint, wenn er im 
Gesetze liest, „dass er von der Entrichtung einer Gewerbesteuer befreit 
und lediglich zur Zahlung der in seinem Wohnsitze allgemein einge¬ 
führten Steuern verpflichtet ist“: 1. dass er keiner Concession für dio Er¬ 
richtung einer Krankenanstalt, falls sie den hygienischen und sanitäts¬ 
polizeilichen Vorschriften in ihrer Anlage und Einrichtung entspricht, 
— gerade wie die Diakonissenanstaltcn einer solchen nicht bedürfen, — 
und 2. dass er für die Ausübung seines von der Gewerbesteuer überhaupt 
befreiten Berufes in seiner Anstalt, keine besondere Steuer, erst recht 
nicht die Gewerbesteuer zu zahlen bat. 

Die Steuerfreiheit, welche das Gesetz proclamirt hat, ist schuld 
daran, dass die massgebenden Steuer- und Verwaltungsbehörden über 
beide Punkte anders denken. 

Bis Ende 1894 wurden die Aerzte thatsäcblich zur Gewerbesteuer 
nicht herangezogen, ob sie nun ihren Beruf im Palast oder in der Hütte, 
in einer staatlichen und städtischen, oder einer Privatkrankenanstalt und 
freien Praxis ausübten. Da kam es zu einen Conflict zwischen der com- 
munalen Steuercommission in Grossliehterfelde und einer daselbst flori- 
renden Privatirrenanstalt. Das Kammergericht und das Oberverwaltungs¬ 
gericht hatten zu entscheiden und das inapellable Urtheil des letzteren 
entschied zu Ungunsten der Aerzte. 

Die Publication des Urtheils enthält seine Motive, denen nachzu¬ 
gehen für den Arzt von Interesse ist, weil sie zweierlei zeigen, einmal, 


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No. 5. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


dass wirklich die heillose Curirfreiheit ganz uud gar den Gedankenkreis 
der Richter gefangen hält und dann, weil sie sich auf durchaus unrichtige 
Thatsachen stützen. 

Zunächst heisst es im Urtheile vom 11. October 1894: „— — ln 
der Errichtung einer Privatkranken u. s. w. Anstalt wird eine gewerb¬ 
liche Anlage und in ihrem Betriebe ein Gewerbebetrieb zu erblicken sein. 
Es ist in keiner Weise erforderlich, dass eine derartige Anstalt von 
einem Arzte errichtet, betrieben und geleitet wird. Deshalb enthält 
§ 30 der deutschen Gewerbeordnung auch nichts darüber, dass etwa nur 
Aerzten die Genehmigung zur Errichtung ertheilt werden soll; sie kann 
Jedem ertheilt werden — —“. So hat der Tropfen Gift gewirkt!! 
Weil Aerzte wie Nichtärzte in gleicher Weise zam Betriebe von Kranken¬ 
anstalten berechtigt sind, ist auch der Arzt in gleicher Weise wie der 
Nichtarzt anzufassen, zu schätzen und zu besteuern und doch hatte ein 
Jahr vorher, nämlich am 25. November 1893, dasselbe Oberverwaltungs¬ 
gericht entschieden: „die ärztliche Thätigkeit ist zwar eine gewinn¬ 
bringende, aber keine gewerbliche“. Wir Aerzte verstehen den Wider- 
spruch nicht und hoffen um so mehr von dem judex male inforroatus 
ad judicem melius infoimandum appelliren zu dürfen, als das zweite 
Motiv deB Urtheils sich auf falsche, sehr leicht zu widerlegende An¬ 
nahmen stützt. 

In der Natur der Sache liege es, so raotivirt nämlich das Oberverwaltungs¬ 
gericht, dass bei dem Betriebe einer Krankenanstalt die überwiegende 
Verfolgung von Vermögensinteressen vorausgesetzt werde. Gerade das 
Gegentheil ist aber bei denjenigen Berliner Privat-Krankenanstalten der 
Fall, welche von Aerzten geleitet werden. „Vornehmlich wird auch 
— so steht es wörtlich im Urtheile des Oberverwaltungsgerichts — eine 
private Krankenanstalt deshalb errichtet nnd betrieben, weil die Aus¬ 
übung des ärztlichen Berufes in der Verbindung mit dem Gewerbe¬ 
betriebe grösseren Gewinn bringt.“ Ein Blick, selbst nur ein flüchtiger, 
auf die Berliner Privat-Krankenanstalten lehrt, wie anders ip Wirklich¬ 
keit die Sachen stehen. Ein grosser Thcil dieser Anstalten ist von 
Universitätslehrern ins Leben gerufen worden, die an Staatsanstalten 
uiclit angestellt, keine andere Gelegenheit haben, als an den Kranken 
ihrer Privatkliniken zu demonstriren und zu lehren. Eine solche Anstalt 
war einst die Albrecht von Graefe’s, der aus allen Gegenden der 
Erde die Kranken und die Aerzte zuströmten und die einen Weltruf 
genoss — deren wirtschaftliche, d. h. aus ihrem Pensionate stammende 
Einkünfte aber stets reicher Zuschüsse des Professors bedurften. Einer 
der heute an seiner eigenen Anstalt docirenden Privatdocenten hat der 
Steuerbehörde den Beweis geliefert, dass die Unterhaltung dieser Anstalt 
ihm nicht nur sein ganzes, in ihrem Rahmen gewonnenes Honorar kostet, 
sondern auch noch 2—3000 Mark Zuschuss aus seinen anderweitigen 
Einnahmen. Wie kann diesen Thatsachen gegenüber die Meinung auf¬ 
recht erhalten werden, die Stiftung von Privat-Krankenhäusern habe 
keinen anderen Zweck. alB den, mehr Geld für ihre ärztlichen Leiter 
cinzubringen? Die Steuerbehörde hat auch, dem betreffenden Privat¬ 
docenten gegenüber, sofort ihre Forderung fallen lassen und seinen Ge¬ 
werbebetrieb zu den Ausnahmen gerechnet, welche das Urtheil des 
Oberverwaltungsgerichts zulässt. In der grössten von allen Privat- 
Kranken anstatt en Berlins, die ein Arzt, gleichfalls ein akademischer 
Lehrer, unterhält, bleibt für die dritte Klasse der Preis noch um 50 
Pfennige hinter dem täglichen Kostensatz der Königlichen Klinik zurück. 
Nun, wenn der Herr Minister, der längere Zeit Verwaltungsdirector der 
Königlichen Klinik gewesen ist, spräche, er würde bezeugen müssen, wie 
oft er mit dem ärztlichen Director dieser Anstalt über ihr Deficit ge¬ 
seufzt hat! Und doch sagt das Oberverwaltungsgericht: „Bei alleiniger 
Ausübung des ärztlichen Berufs entfällt meistens die Möglichkeit, die 
durch die Verbindung mit Capitalaufwendungen und Pensionshaltung, 
also mit Gewerbebetrieb bedingten, höheren Erträge zu erzielen.“ Viel¬ 
leicht bilden die den Docenten der Universität concessionirten Anstalten 
eine Ausnahme nnd die anderen Privat-Krankenanstalten werfen einen 
wirklichen uud grossen Gewinn ab. Um zu beweisen, dass solches nicht 
der Fall, haben sich diejenigen Berliner Aerzte, welche Besitzer von 
Privat-Krankenanstalten sind, vereinigt, um dem von ihnen für ihre In¬ 
teressen gewonnenen Rechtsanwalt die Liste der Einnahmen und Aus¬ 
gaben aus dem Wirthschaftsbetriebe ihrer Anstalten vorzulegen. Wer 
diese Liste durchsieht, wird eine merkwürdige Aehnlichkeit mit dem 
Gewinn aus dem wirtschaftlichen Betriebe der Königlichen Kliniken 
finden: das Deficit herrscht vor; und die Steuer, die auf das „einträg¬ 
liche Gewerbe“ der Bewirtschaftung eines Privat-Krankenhauses gelegt 
werden könnte, würde nicht das Gehalt eines hierfür angcstcllten 
Steuererhebers einbringen! 

Warum unterhalten, wird der Laie notwendig fragen — gerade 
wie wohl auch die Mitglieder des Senats im Oberverwaltungsgericht ge¬ 
fragt haben — die Aerzte solche Anstalten, von denen sie keinen be¬ 
sonderen pecuniären Vortheil, aber viele Mühe und Last haben? Die 
Frage ist leicht und sehr bestimmt zu beantworten. Die Entwickelung, 
welche die moderne Chirurgie, Gynäkologie, Geburtshülfe, Augen- und 
Ohrenheilkunde und noch eine Reihe weiterer Specialfächcr genommen 
haben, fordert die Behandlung in besonders dazu eingerichteten Räumen. 
Muss ich z. B. in einer Privatwohnung in der Stadt eine grössere Ope¬ 
ration vornehmen, so muss ich dazu mehr als eine Wagenladung von 
Dcsinfectionsapparaten, Operations- und Verband-Tischen und Tischchen 
hinschicken und womöglich von der städtischen Desinfectionscommission 
vorher das, zur Vornahme der Operation bestimmte Zimmer reinigen und 
herrichten lassen. Alles Dinge, die nur sehr wenige Sterbliehe sich 
leisten können. Mitunter reicht aber der Wagen- und Assistenten-Zug, 


trotz aller seiner Reichhaltigkeit nicht aus; das Licht, selbst in manchem 
Neubau des Westens, kann so viel zu wünschen übrig lassen, dass der 
Augenarzt in der Wohnung selbst des aufs Beste situirten Kranken, ihm 
nicht den Staar zu stechen vermag, sondern seine Ueberführung in die 
Privatklinik verlangen muss. Es ist eine Beleidigung, die selbst dem 
kaltblütigsten Chirurgen das Blut wallen machen muss, wenn er in dem 
Urtheil der hochgestellten Reichsbehörde seines Vaterlandes lesen muss: 
Du bringst deine Kranken nur in deine Anstalt, um von ihnen mehr 
Geld zu bekommen! Man sehe sich doch nach den Honoraren etwas 
um, welche dieselben Aerzte in ihrer Privatanstalt und in ihrer Haos- 
praxis bekommen. Die ersteren sind viel, Ja sehr viel niedriger, als die 
letzteren. Das ist ganz begreiflich. Statt eine lange Fahrt durch das 
geräumige Weichbild der Stadt Berlin zu machen, um einen einzelnen 
Patienten aufzusuchen, findet der Arzt in seiner Anstalt seine Kranken 
alle beisammen. Es liegt nicht bloss wegen der zweckmässigen Ein¬ 
richtung der Anstalt im Interesse des Kranken, dass er sich in ihr be¬ 
handeln lässt, sondern auch in seinem finanziellen Interesse. Allein das 
Oberverwaltungsgericbt sagt: „Bei dem Betriebe einer Krankenanstalt 
wird die überwiegende Verfolgung von Vermögens-Interessen voraus¬ 
gesetzt.“ Ich will nicht von mir exemplificiren, ich erhalte auch aus 
meinen Krankenanstalten mitunter überraschend hohe Honorare. Aber 
ich hörte von einem Arzte, der zwei, wie es schien, sehr wohlhabende 
Amerikaner an der gleichen Krankheit, den einen im Hotel, den anderen 
in seiner Privatkrankenanstalt behandelte, dass der erste ihm ein Honorar von 
2000 Mk., der zweite eines von 200 Mk. geschickt habe! Das Vermögens¬ 
interesse, dem die betreffende Privatkrankenanstalf, nach Ansicht des 
Oberverwaltungsgerieht dienen boII, wird hieraus nicht illustrirt. Von 
mancher anderen chirurgischen Privatanstalt, als der meinigen, könnte 
ich, wenn meine Collegen es mir erlaubten, beweisen, dass das neben 
der Tension geforderte ärztliche Honorar noch hinter der alten Medi- 
cinaltaxe zurückgeblieben ist. Innere, d. h. in der Natur der ärztlichen 
Wissenschaft und Kunst gelegene Gründe, nicht das Vermögensinteresse 
der Aerzte, haben die Zahl der Privatkrankenanstalten bei uns gemehrt. 
Das zu bezeugen würde einem Medicinal-Ministerium ein Leichtes sein! 

In den Motiven zur Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts steht: 
„Die Ausübung der ärztlichen Thätigkeit ist — in den Anstalten — in 
dem Gewerbebetriebe aufgegangen.“ Der Ausspruch ist zweifelsohne 
gut bedacht, aber in seiner Kürze nicht für mich verständlich, denn so 
oft ich meinen ärztlichen Beruf ausübe, z. B. eine Trepanation oder eine 
Amputation vornehme, ist diese Handlung nicht in dem Gewerbebetriebe 
aufgegangen, wenn ihr Schauplatz die Nummer 5 der Ziegelstrasse ist, dagegen 
in ihm aufgegangen, wenn ich sie in der KeBselstrasse 36 ausführe! 

In den meisten Privatkrankenanstalten lassen sich die Einnahmen 
aus dem Wirthschaftsbetriebe und die ärztlichen Honorare, welche von 
den in der Anstalt Verpflegten dem Arzte gezahlt werden, sondern. Wo 
die Anstalt, in welcher der Arzt honorirt wird, auf den Namen eines 
Nichtarztes, einer Krankenpflegerin oder eines Krankenwärters, conöes- 
sionirt ist, wird das betreffende ärztliche Honorar nicht zur Gewerbe¬ 
steuer herangezogen, wo aber der Arzt selbst der Inhaber der Concession 
ist, da fordert die Steuerbehörde von dem ärztlichen Honorar die 
Gewerbesteuer, denn das Oberverwaltungsgericht hat entschieden: „ .. . die 
Ausübung des ärztlichen Berufes seitens des Gewerbetreibenden 
innerhalb des Rahmens des Anstaltsbetriebes erscheint nicht 
auch als solche, sondern als Thätigkeit im Gewerbebetriebe, so dass ihr 
Ertrag in dem Ertrage der letzteren enthalten ist und nicht als beson¬ 
derer steuerfreier Theil von dem gewerblichen Ertrage ausgeschieden 
werden darf.“ Sic! Also wenn ich gerufen werde, um in einer Warm-Wasser¬ 
heilanstalt eines Baders eine Verbrennung der Haut, die lebensgefährlich 
zu werden droht, in Behandlung zu nehmen, darf ich ein steuerfreies 
Honorar beziehen, wenn ich aber den verbraunten Kranken, mn ihn vor 
neuen unheilvollen Curvcrsuchen zu schützen, in meine Anstalt nehme, 
muss ich für das etwa von ihm erhaltene Honorar die Gewerbesteuer 
zahlen, „weil in der Errichtung einer eigenen Heilanstalt — wie ich sie 
ja habe — die Verfolgung von Vermögensinteressen obwaltet.“ Was 
folgt hieraus? Der Geist der Alexianer erhebt sich wieder — und die 
von Aerzten geleiteten Krankenanstalten gehen in die Hände von Nicht¬ 
ärzten Uber. Was die Aerzte bekämpft haben, was unser Ressortministe¬ 
rium auch nicht will, im Gegentheil verabscheut, die Vermehrung der 
arztenden Laien, wird durch die Bedrohung mit der Gewerbesteuer ganz 
absichtlich und nothwendig herbeigeführt. Eine in ihren Grundsätzen 
einheitliche Handlung der Verwaltungsbehörden unseres Staates dürfte 
hierin nicht erblickt werden! 

Die Berliner Aerzte, welche Inhaber von Privatkrankenanstalten 
sind, haben sich zusammengethan, um gegen die ihnen zugemuthete Er¬ 
duldung der Gewerbesteuer einig vorzugehen. Sie wollen alle recht¬ 
lichen Mittel, um zu ihren gesetzlich verbürgten Rechten zu kommen, 
erschöpfen, sie rechnen aber auch auf das Entgegenkommen und Wohl¬ 
wollen der hohen Verwaltungsbehörde, welcher der Schutz des Medicinal- 
wesens und der Medicinalpersonen Prcussens anvertraut ist. 


IX. Aufruf. 

Das Vorgehen der Berliner Steuerbehörde, welche die Inhaber von 
Privatkliniken auch mit ihren ärztlichen Honoraren zur Gewerbesteuer 
heranzuziehen sucht, hat bei sämmtlichen Betheiligten lebhaften Wider¬ 
spruch und den Entschluss wachgerufen, gegen diese, das Ansehen un- 


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1. Kelmiar 180?. 


lu:ij \ as Kl! k1 .1 xisrit k won t kxs<«h w ift. 


8eres Standes schwer schädigende Maassregeln mit allen gesetzlichen 
Mitteln gemeinsam vorzugehen. 

Zur gemeinsamen Abwehr der Gefährdung gemeinsamer Interessen 
fassten daher die am 3. Januar 1837 im Langenbeckhause versammelten 
Aerzte den Beschluss, sich zu einer freien wirthschaftlichen Ver¬ 
einigung der Besitzer von Privatkliniken zusammenzuschliessen. 
Der nächste Zweck dieser Vereinigung ist: 

1. Eine Centralstelle zu bilden, an welcher die Mittheilungen über 
die den Collegen auferlegte Gewerbesteuer und über Bescheide der 
Steuer- oder der richterlichen Behörde, zusammcnlaufen. Wenn es auch 
nach Lage der Gesetze nicht angängig ist, eine gemeinsame Klage 
gegen die Steuercinschätzung einzureichen, wenn auch vielmehr jeder 
Einzelne fiir sich seine Beschwerde (bezw. Klage) durchfechten muss, so 
ist es doch für den Einzelnen von hohem Werth, die ergangenen Be¬ 
scheide und erlassenen Erkenntnisse nebst ihrer Begründung zu kennen, 
um mit besserer Aussicht auf Erfolg seinerseits Vorgehen zu können. 

Als juristischen Beirath hat die „Vereinigung“ Herrn Dr. P. Krause 
(Behrenstr. 24) gewonnen, welcher, so oft es erforderlich erscheint, den 
Sitzungen beiwohnen und daselbst Rechtsbelehrung ertheilen wird, auf 
welche Weise und nach welcher Richtung hin wir unsere Interessen 
wahren können. 

2. Ein weiterer Zweck der Vereinigung ist, in Berathung zu treten, 
und ev. durch eine Denkschrift Einspruch zu erheben gegen den neuen 
Ministerialerlass, betreffend den Bau, die Einrichtung und die Anlage 
von Privat-Krankenanstalten. Dieser Zweck hat für alle Inhaber von, 
oder Theilhaber an Privatkliniken (oder Krankenpensionaten) ein hohes, 
gemeinsames Interesse, denn wenn der Ministerialerlass „Krankenzimmer, 
die nach Norden gelegen sind“ oder „ringsumschlossene Höfe“ grund¬ 
sätzlich verbietet, wenn er „die Zuführung vorgewärmter Luft aus dem 
Freien in alle Krankenzimmer“ und eine Corridorbreite von mindestens 
1,80 m vorschreibt, wenn er das Vorhandensein eines Gartens für jede 
Klinik verlangt, so wird dadurch die Neueinrichtung von Privatanstalten 
fast unmöglich gemacht. 

Aber nicht allein die Einrichtung, sondern auch die Existenz der 
bestehenden Kliniken wird durch diesen Erlass auf das Schwerste ge¬ 
fährdet, da es nur von dem Ermessen der Aufsichtsbehörde fortan ab- 
hängt, unter welchen Bedingungen sie die bereits bestehenden Anstalten 
weiter bestehen lassen will. 

Die fiir die Durchführung dieser Zwecke interessirten Collegen 
werden ersucht, dem Geschäftsführer der Vereinigung, Herrn Dr. Ka¬ 
re wski, Potsdamerstr. 28, ihre Adresse einzusenden. 

Zur Bestreitung der Unkosten (Drucksachen) ist ein einmaliger Bei¬ 
trag von 10 Mk. zu entrichten. 

Die freie wirthsehaftliche Vereinigung der Privatklinik-Inhaber. 

Geh.-Rath Prof. v. Bergmann, Prof. Dr. Martin, 

1. Vorsitzender. stellvertretender Vorsitzender. 

Dr. Kare wski, Geschäftsführer. 

Prof. Dr. Landau, Dr. R. Schaeffer, Beisitzer. 


X. Praktische Notizen. 

Therapeatisches and Intaxieatinnen. 

Zur Bacteriotherapie. Einen Fall von Behandlung eines recur- 
rirenden Sarcoras der Mamma mit Coley’s Flüssigkeit (Toxine von 
Streptokokken und Prodigiosus) theils Marmaduke Sheild mit. (Brit. 
med. Journ. 23. Jan.) Patientin erhielt Injectionen direct in die Ge¬ 
schwulst, anfangs mit geringer örtlicher und allgemeiner Reaction; nach 
ca. 14tägiger Behandlung war der eine Knoten völlig verschwunden, ein 
zweiter „halbnekrotisch“, auch die Drüsen verkleinerten sich. Dann 
aber trat, im Anschluss an eine Injection Schüttelfrost mit schweren 
pyämischen Erscheinungen auf und Patientin ging zu Grunde. Die Sec- 
tion erpab multiple Abscesse und Infarkte, die übrigens baeteriologisch 
nicht Strepto- sondern Staphylokokken nachweisen Hessen; die Injections- 
flü8sigkeit selber war steril. Verf. hält fiir sicher, dass der Tod durch 
die Behandlung herbeigeführt ist — angesichts des günstigen Localer¬ 
folges hält er dennoch diese Therapie fiir berechtigt, wenn, wie im vor¬ 
liegenden Falle, ein verzweifelter Zustand vorliegt, der doch in kurzer 
Zeit zum Tode führen muss. 

In derselben Nummer berichteten Crossing und Webber über einen 
tödtlichen Fall aenter Septicämie bei einem l5’/ 2 jährigen Mädchen, 
ausgehend von einem pustulösen Geschwür an der Oberlippe, in welchem 
Injectionen von Antistreptokokkenserum (von Burroughs, Welcome & Cie.) 
erfolglos angewandt wurden. 

Dagegen hat das gleiche Serum bei einer acuten puerperalen 
Sepsis gute Dienste geleistet: Hamilton Moorhead berichtet (ebd.) 
von einem schweren Fall der Art, — es waren mehrere Schüttelfröste 
aufgetreten, Apathie, trockene Zunge etc. — in dem nach 2 Injectionen 
von 20 bezw. 10 ccm die Temperatur sank und alsbald Wohlbefinden 
und völlige Genesung eintrat. 


Natriumsulfat in kleinen Dosen als Haemostaticum wandte 
Jaques L. Reverdin (Revue medieale de la Suisse Romande, No. 1. 
1897) einer Empfehlung Kussmauls folgend, bei lange anhaltenden 
und bei profusen bezw. unstillbaren Blutungen verschiedenster 
Art mit oftmals überaus günstigem, bisweilen überraschend schnellem und 


107 

sicherem Ertolge an. Die frappanteste Wirkung sah R. Bei einer seit 
8 Wochen bestehenden, mit allen Mitteln vergeblich bekämpften Blutung, 
die der Exstirpation eines kleinen Fibrolipoms am Rücken gefolgt war. 
Patient, ein Gl jähriger Potator, — Lebervergrösserung, Ascites — hatte 
früher Haematemesis und wiederholt Epistaxis gehabt — ohne gefahr¬ 
drohende Symptome. „Der Effect des Natr. sulf. war ein unmittelbarer“. 
Die Blutung stand „gleichsam strangulirt“ und kehrte nicht wieder. 

Als gemeinsam den verschiedenartigen Hämorrhagieen, bei denen er 
Natr. sulf. wirksam fand, — Epistaxis, Menorrhagie, Metror¬ 
rhagie, Nachblutung nach Operationen u. a. m. — hebt R. den 
capilLiren Charakter der Blutnng hervor. 

„Ist vielleicht auch eine Art präventiver Wirkung vom 
Natr. sulf. zu erwarten? Wäre seine Anwendung nicht vielleicht auch 
indicirt z. B. bei Kranken, denen eine besonders blutige Ope¬ 
ration bevorsteht, um sic vor allzu grossem Blutverlust zu be¬ 
wahren?“ (Dies betrifft natürlich nicht arterielle Blutungen. R. verwahrt 
sieh wiederholt aufs Entschiedenste gegen den Verdacht, er sei ein 
Gegner der chirurgischen Blutstillungsmethoden, insbesondere der Ar¬ 
terienligatur.) 

Zu einer solchen Fragestellung gelangt R. naturgemäss auf Grund 
des Ergebnisses seiner interessanten Thierversuche (s. Original), welche 
lehren, dass es eine Beschleunigung der Blutgerinnung ist, auf 
der die hämostatische Wirkung des Natr. sulf. beruht. 

R.'s Schlussätze lauten: „Das Natr. sulf. in kleinen Dosen 
(nach Kussmaul) — 0,1 egr stündlich — wirkt in gewissen 
Fällen capilläres Hämorrhagie blutstillend. Ich habe durch 
dieses Mittel bei schweren Blutungen sofortigen Stillstand 
erreicht. Der Thierversuch hat gezeigt, dass — bei Ein¬ 
führung in den Magen oder bei intravenöser Injection — 
Natr. sulf. in kleinen Dosen im Allgemeinen die Gerinnung 
gemischten Blutes beschleunigt. Die subcutane Anwendung 
hatte nicht das gleiche Ergebniss. 

Eine Discussion über Bromsalzvergiftung fand in der 
Jahresversammlung (1896) der Vereinigung amerikanischer Aerzte statt. 

Mitchell sah wiederholt schwere psychische und somatische 
Störungen nach grossen Bromsalzdosen, so bei einem epileptischen jungen 
Mädchen nach Erhöhung der Tagesdose von 4 g auf 10 g, bei 2 epi¬ 
leptischen Kindern, die irrthümlicher Weise 7 g Bromlithium pro die 
erhalten hatten: „Ausserordentliche intcllectuelle und physische Schwäche, 
Unfähigkeit zu gehen, das linke Bein mehr befallen als das rechte.“ 
M. sah auch Melancholie (mit und ohne Selbstmordneigung) nach Brom- 
Intoxication. 

Janevav sah 3 Todesfälle nach zu grossen Bromgaben: im ersten 
Falle bei einem Tagesgebrauch von mehr als 30 g, ein zweites Mal bei 
mehr als 10 g, im dritten Falle bei mehr als 5 g. (Nähere Angaben 
fehlen.) 

Thomson sah 3 Fälle vorübergehender psychischer Störung nach 
zu grossen Dosen. 

Hase betont die giftige Wirkung des Kaliumsaizes, das er durch 
Bromnatrium zu ersetzen räth, während Dava und Mich eil Unter¬ 
schiede in der Wirkung des Kaliumbromats und der übrigen Bromate 
nicht gefunden haben. 


Diagaastisehes. 

Erworbene Syphilis bei einem Heredosyphilitischen. 
Le Pileur (Soci£te de dermatologie et de syphiligraphie, 20. Dec. 1896) 
berichtet über einen 30jährigen „heredosyphilitischen“ Mann, der wegen 
recenter Lues (Schanker, Roseola, Angina etc.) in Behandlung trat. 
20 Jahre zuvor war folgender Befund aufgenommen worden: Kleiner, 
geistig nur wenig entwickelter, fast gänzlich kenntnissloser Knabe, mit 
auffallend kleinem Kopf, stumpfem, einfältigen Gesichtsausdruck, ausser¬ 
ordentlich schmaler Gaumenwölbung, mit kleinen, kurzen Zähnen, die 
mit Streifen und Erosionen bedeckt sind. Vater des Patienten Alkoholist, 
acquirirte seine Lues 5 Jahre vor der Verheirathung, litt sein Leben 
lang an syphilitischen Ausschlägen und starb, 63 Jahre alt, im Delirium 
tremens. Angaben über die Mutter: 4 Monate nach der Verheirathung 
Abort, darauf Mercurialbehandlung, 1 Jahr später Geburt eines ausge¬ 
tragenen Kindes (des in Rede stehenden Patienten). In der frühen 
Kindheit bot Patient keine charakteristischen Erscheinungen dar. 

Le P. zieht aus seiner Beobachtung den Schluss: Entweder kann 
ein Heredosyphilitischer Syphilis acquiriren oder — falls die geschil¬ 
derten Veränderungen bezw. Ernährungsstörungen als parasyphilitisch 
(im Sinne Fournier’s) aufzufassen sind — es bieten die parasyphili¬ 
tischen Veränderungen (gleichviel in welcher Form) keinerlei Schutz 
gegen syphilitische Infection. 


Rocco Jemma: l.'eber die Serumdiagnose des Abdominal¬ 
typhus. (Aus der Klinik für innere Medicin. Genua. Prof. Mara- 
gliano.) J. beschreibt das Verfahren Widal’s und berichtet über die 
zahlreichen Nachuntersuchungen, insbesondere diejenigen in der Klinik 
von Genua. Insgesammt bestätigen auch sie die Widal’sehen Angaben. 
Aus J. ? s eigenen Versuchen ergab sich, dass sich „das Phänomen be¬ 
sonders charakteristisch und prompt während der febrilen 
Akme einstellt, dass während der Ilyperpercxic die zur Reac¬ 
tion nothwendige Sernmqnantität erheblich geringer ist als 


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108 


Ko. 5; 


RKKMK KU K U N IS( 11K Woul I KX8< 11 Kl FT. 


diejenige, die man in den übrigen Perioden der Krankheit 
gebraucht. Nicht nur das Blutserum besitzt die bacillenfällendc Eigen- 
thümlichkeit, sondern auch das Exsudat von Vesicatorstellen, der Urin, 
die Milch typhöser Frauen, die Thränen und die Exsudate im Allge¬ 
meinen.“ — Bezüglich der Einwirkung der Ilitzc auf das Fäl- 
jungsvermögen des Serums stellte J. fest, r dass bei 55° (auf 
40 Min.) und 60° (auf 20 Min.) das Phänomen nicht nur erheblich ver¬ 
zögert wird, sondern auch grössere Serummengen nöthig sind, um die 
Fällung herbeizufiihren. Bei 70* (auf 10 Minuten) verliert das Serum 
seine bacillenfällende Wirkung vollkommen. Das bei gewöhnlicher 
Temperatur von 12—15° auf bewahrte Serum bewahrt in vorzüglicher 
Weise seine fällenden Eigenschaften 40 Tage lang. (Centralbl. f. innere 
Medicin, No. 8, 1897.) _ 

M. Dumas. Sero-diagnostic de Widal dans la fievre 
typhoide. (These de la Faculte de Paris 189G.) Auf Grund der zahl¬ 
reichen bezüglichen Untersuchungen erklärt auch D. den positiven 
Ausfall der Widal’schen Reaction als ein sicheres Erken¬ 
nungszeichen des Typhus abdominalis. Die Reaction tritt gewöhn¬ 
lich zwischen dem 7. und 9. Krankheitstage auf (doch ist auch früheres 
Erscheinen beobachtet). Die Zeit des Verschwindens schwankt zwischen 
3 Wochen nach der Entfieberung und 7 bis höchstens 10 Jahren nach 
derselben. 


ßergonie bestätigt in einer Mittheilung Uber Radioscopie 
intrathoraeique (vergl. auch vorige Nummer), dass die Resultate der 
Radioscopie mit denen der Percussion völlig und oft erstaunlich genau 
übereinstimmen. In dem interessantesten der mitgetheilten Fälle — 
einem Echinococcus innerhalb der linken Thoraxhälfte — 
zeigten sich sehr helle, feine Streifen am äusseren Thoraxrande, längs 
der Wirbelsäule nnd an der Spitze. Die im Bereiche dieser Grenz¬ 
streifen angestellten Panctionsversuche hatten keine Flüssigkeit zu Tage 
gefördert. (Acadßraie des Sciences, 28. Dec. 96.) Lr. 

Durch instructive Röntgenbilder veranschaulicht A. T. 
Bristow einen Fall von congenitalem Defect beider Patellac 
— den fünften bisher veröffentlichten — 2'/,jähriges Kind mit 
doppelseitigem (rechts sehr schwerem'i Klumpfuss. Ausführliche 
Beschreibung nebst Literaturangaben s. im Original. (Medical News, 
2. Jan. 97.) _ 

Ueber Durchleuchtung von Harnsteinen mittelst Röntgenstrah¬ 
len lagen bisher nnr Versuche vor, die an den Steinen selbst, aussei halb 
des Körpers angestellt waren. Laurie und Leon ist es bei einem 
9jährigen Knaben gelungen, mit einer Exposition von 7 Minuten Dauer, 
ein sehr befriedigendes Bild eines Blasensteines in situ zu gewinnen; 
der Stein hatte etwa über 1 Zoll im Durchmesser; eine zweite Abbil¬ 
dung veranschaulicht den normalen Zustand der Blase (bezw. des Beckens) 
nach der Operation. Auch bei einem 15jährigen Knaben erhielten die¬ 
selben Verfasser darauf ein positives Resultat. (Lancet, Jan. 16.) 


XI. Tagesgeschichtliche Notizen. 

Berlin. In der Generalversammlung der Hufeland’schen Ge¬ 
sellschaft wurden zu Vorsitzenden die Herren Liebreich, Mendel, 
Ewald, zu Schriftführern die Herren Brock, Mendelsohn, Patsch- 
kowski, Salomon gewählt; die Kasse verwaltet HerrGranier. Den 
Vortrag des Abends hielt Herr Hansemann über Akromegalie. 

— Zu dem 15. Congress für innere Medicin sind ausser den 
schon von uns gemeldeten Vorträgen, nämlich: „Die Behandlung des 
chronischen Gelenkrheumatismus“, Referenten Herr Bä um ler (Freiburg) 
und Herr Ott (Marienbad); „Epilepsie“, Referent Herr Unverricht 
(Magdeburg); „Morbus Basedowii“, Referent Herr Eulenburg (Berlin), 
noch folgende weitere Vorträge bereits angemeldet: Herr A. Fränkel 
(Berlin) und Herr C. Ben da (Berlin): Klinische und anatomische Mit¬ 
theilungen über acute Leukämie. — Herr v. Jak sch (Prag): Klinische 
Beiträge zur Kenntniss des Kohlehydratstoffwechsels. — Herr O. Lieb¬ 
reich (Berlin): Die Ziele der modernen medicamentösen Therapie. — 
Herr E. v. Leyden (Berlin): Ueber die Prognose der Rückenmarks¬ 
krankheiten. — Herr Martin Mendelsohn (Berlin): Die klinische Be¬ 
deutung der Diurese und die Hüifsmittel ihrer therapeutischen Beeinflus¬ 
sung. — Herr A. Baginsky (Berlin): Zur Pathologie und Pathogenese 
der kindlichen Sommerdiarrhoen; mit Demonstration. — Herr Emil 
Pfeiffer (Wiesbaden): Zur Aetiologie des chronischen Gelenkrheuma¬ 
tismus. — Herr Rumpf (Hamburg): Neue Gesichtspunkte in der Be¬ 
handlung chronischer Herzerkrankungen. — Herr Fürbringer (Berlin): 
Zur Klinik der Lumbalpunction. — Herr Jacques Mayer (Karlsbad): 
Diabetes mellitus im jugendlichen Alter. 

Weitere Anmeldungen von Vorträgen nimmt der ständige Secretär 
des Congresses, Herr Emil Pfeiffer, Wiesbaden, Friedrichstrasse 4, 
entgegen. 

Für Krankenvorstellungen und Demonstrationen ist eine ganze Nach¬ 
mittagssitzung Vorbehalten; dieselben bedürfen vorheriger Anmeldung. 


Mit dem Congresse ist eine Ausstellung von neueren ärztlichen 
Apparaten, Instrumenten, Präparaten etc , verbunden. Auskunft über 
diese Ausstellung ertheilt der Vorsitzende des Ausstellungscomites, Herr 
Generalarzt Sehapcr in Berlin, Königl. Charite, oder der Schriftführer 
des Berliner Localcomites, Herr Priv.-Doc. Martin Mendelsohn, 
Berlin N.W., Neustädtische Kirchstrasse 9, an welchen auch die Anmel¬ 
dungen der Demonstrationen etc. zu richten sind. Die Ausstellung wird 
gleichfalls im Architektenhause (Wilhelmstrasse 92/93) stattfinden. Das 
Festessen des Congresses wird im Zoologischen Garten abgehalten werden. 

— Neuere Nachrichten von Belang über die Pest liegen nicht vor. 
Ausser in Bombay hat dieselbe auch in Karachi festen Fuss gefasst; in 
Bombay selber nehmen die Erkrankungs- und Todesfälle noch zn. Im 
Reichsgesundheitsamt haben mehrtägige Conferenzen, betr. der zn er¬ 
greifenden Maassregeln stattgefunden; eine internationale Conferenz wird 
wahrscheinlich in Venedig zusammentreten. Aus Wien ist eine ärztliche 
Expedition zum Studium der Pest entsandt, der die Herren Heinrich 
Albrecht, Anton Ghon und F. II. Müller angehören; die Expedition 
wird von der Wiener Akademie ausgerüstet. 

— Das gerichtlich-medicinische Institut der Universität Lyon ver¬ 
anstaltet seit 3 Jahren Sammelforschungen über psychologische Fragen 
unter Lacassagne's Leitung, über welche u. a. bereits die Ergebnisse 
der Themata Uranismus und Homosexualität, sowie perverse Sexualität 
zusammengestellt und erschienen sind. Augenblicklich wird eine 
Enquete Uber den Selbstmord veranstaltet, welche alle einschlägigen 
Fragen: Ursache des Selbstmordes, die fixen Ideen der Selbstmörder, 
Todesarten, Frequenz, epidemisches Auftreten, Heredität, Charakter, 
Suggestion u. s. w. umfasst. Dr. Laupts nimmt, unter der Adresse 
der Verlagsbuchhandlung Carre, rue Racine 8, Paris, die betreffenden 
Mittheilungen entgegen. 

— Prof. Robert, bisher in Dorpat, hat seine dortige Professur auf¬ 
gegeben und übernimmt die Leitung der Brehmer’schen Heilanstalt in 
Görbersdorf. 


XII. Amtliche Mittheilungen. 

Perstnalla. 

Auszeichnungen: Charakter als Professor: dem Ober-Stabs- n- 
Gamisonarzt von Hannover, Dr. Kirchner. 

Charakter als Sanitätsrath: den Kr.-Physikern Dr. v. Meurers 
in Wilhelmshaven, Dr. Wodtke in Thorn, Dr. Wen gl er in Göttingen, 
Dr. Reip in Schlüchtern und Dr. Richter in Peine, sowie dem Director 
der I’rov.-Irren-Anstalt Dr. Kayser in Dziekanka. 

Ernennung: der prakt. Arzt Dr. Mühlenbach in Lüben zum Kreis- 
PRysikus des Kreises Wohlau. 

Niederlassungen: die Aerzte Dr.Walti in St.Johann.Dr.v.Schnitzler 
in Malstatt-Burbach, Dr. Hesse in Niedaltdorf, Dr. Max in St. Wendel, 
Dr. K i s s n e r in Friedrichsdorf, Dr. M u e 11 e r in Kirberg, Dr. Scheven 
und Dr. Willerner in Frankfurt a. M. 

Verzogen sind: die Aerzte Dr. Buchholz von Marburg nach Danzig, 
Dr. En der len von Greifswald nach Marburg, Dr. Ernst Schmidt 
von Hannover nach Marburg, Priv.-Doc. Dr. Axenfeld von Marburg 
nach Breslau, Dr. Strauss von Berlin nach Fulda, Dr. Wissel von 
Hannover nach Rinteln, Dr. Krolikowski von Poppenhausen nach 
Gross-Gerau, Dr. Alsberg von Cassel nach Würzburg, Dr.Koeltschky 
von Rufach nach Cassel, Dr. Vetter von Leipzig nach Cassel, Dr. 
Gotthold von Hannover nach Celle, Dr. Wagner von Herzogenrad 
nach Essen, Dr. Robert Schmitz von Eschweiler nach Endenicb, 
Dr. Goedel von Alten weddingen nach Osterweddingen, Dr. Lange 
von Hannover nach Emersleben. Dr. Lieberkühn von Kiel nach 
Magdeburg, Loewe von Luisenhof bei Heyrothsberge nach Magdeburg, 
Dr. Kettler von Thale a. II. nach Berlin, Dr. Schnee von Magde¬ 
burg in’s Ausland, Dr. Hirsch fei d von Magdeburg nach Charlotten¬ 
burg, Dr. Wall stabe von Magdeburg nach Guesten, Dr. Schober 
von Insterburg nach Tapiau, Dr. Veitmann von Fallingbostel, Dr. 
Lenibke von Berlin als Kreis-Physikus nach Hankensbüttel (Kreis 
Isenhagen), Dr. Sperling von Seidorf nach Ludwigsdorf (Kreis Neu¬ 
rode), Dr. Ehrlich von Forst i. L. nach Naumburg a. Bober, Dr. 
Ilaensel von Hirschberg nach Görlitz, Matterne von Petersdorf, 
nach Giersdorf, Dr. Mader von Hennersdorf nach Bunzlau, Dr. Lentze 
von Görlitz nach Lauban, Dr. Lackmann von Osterwick nach Finnen¬ 
trop, Dr. Stumpe von Bladenhorst nach Rauxel, Dr. Uhle von Lipp- 
borg nach Soest, Dr. Gotthardt von Bochum nach Ueckendorf, Dr. 
Michaelsohn von Neustettin nach Dt.-Crone, Dr. Eysel von Runkel 
nach Göttingen, Dr. Schubert von Kirberg nach Rawitsch, Dr. 
Merten von Jünkerath, Dr. Steinhauer von Malstatt-Burbach, Dr. 
Pöhling von Bettingen, Dr. von Freeden von Lebach nach Bet¬ 
tingen, Maendel von Ems nach Neuwied, Dr. Schlick von Neu-Ulm 
nach Bcndorf, Dr. Schlattermann und Dr. Gr ahn von Leipzig 
nach Hannover, Dr. Rausch von Hamburg nach Hannover, Dr. 
Schneider von Hannover nach Fulda, Dr. Ehrhorn von Schlotheim 
nach Harpstedt, Dr. Schiritz von Neuenkirchen, Dr. Schaumann 
von Altona nach Stettin, Dr. Werner von Hannover nach Sälfeld, 
Dr. Zielke von Barmstedt nach Berlin, Dr. Elkens von Nortrup. 

Gestorben ist: der Sanitätsrath Dr. Aschmann in Sinzig. 

Für die Redaction verantwortlich Geh. Med. -Rath Prof. Dr. C. A. Ewald, LOtzowplatz 5 


— Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin. 


Verlag nnd Eigenthum von August Hirschwald in Berlin. 


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Die Berliner Klinische Wochenschrift erscheint Joden 
Montag in der St&rke ron 9 bis 3 Bogen gr. 4. — 
Preis vierteljährlich 6 Mark. Bestellungen nehmen 
alle Buchhandlungen und Postanstalten an. 


BERLINER 


Einsendungen «olle man portofrei an die Redaction 
(W. LQtaowplata No. 5 ptr.) oder an die Verlags¬ 
buchhandlung von August Hirschwald in Berlin 
N.W. Unter den Linden No. 68, adressiren. 



Organ für practische Aerzte. 


Mit Berücksichtigung der preussischen Medicinalverwaltung und Medicinalgesetzgebung 

nach amtlichen Mittheilungen. 


Redaction: 

Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald und Prof. Dr. C. Posner. 


Expedition: 

August Hirschwald, Verlagsbuchhandlung in Berlin. 

Montag, den 8. Februar 1897. 

M 6. 

Vierunddreissigster Jahrgang. 


I N H 

I. Senator: Zur Kenntnis» der Osteomalacie und der Organotherapie. 

II. A. Lorenz: Zur congenitalen Luxation des Hüftgelenkes. 

III. Aus der hospital-therapeutischen Klinik des Herrn Prof. A. Ch. 
Kusnezoff zu Charkow. M. Futran: Ein Fall von positivem 
centrifugalem Venenpuls ohne Tricuspidalinxufflcienz. 

IV. Aus Dr. Turban’s Sanatorium in Davos. E. Rumpf: Das Ver¬ 
halten des Zwerchfellphänomens bei Lungentuberculose. 

V. Aus der II. medicinischen Klinik des Herrn Geheimrath Professor 
Dr. Gerhardt. M. Heide mann: Ueber Folgezustände von peri- 
cardialen Obliterationen. (Schluss.) 

VI. Kritiken und Referate. Siebenmann: Die centrale Hörbahn. 
(Ref. 8chwabacb.) — Book er: 8ummer diarrhoeas of infants. 
(Ref. Neumann.) 


I. Zur Kenntniss der Osteomalacie und der 
Organotherapie. 

Von 

Prof. H. Senator. 

(Nach einem am 13. Januar 1897 in der Berliner medicinischen Gesell¬ 
schaft gehaltenen Vortrag.) 

M. H.! Die Osteomalacie stellt ein so dunkles Gebiet der 
Pathologie dar, und die Krankheit ist hier zu Lande, besonders 
in der Provinz Brandenburg, so ausserordentlich selten, dass es 
wohl keiner Rechtfertigung bedarf, wenn ich Ihnen Uber einen 
Fall berichte, den ich mehrere Monate auf meiner Klinik zu 
beobachten Gelegenheit gehabt habe. Er betrifft eine 42 jährige 
Landfrau, welche sich am 11. Mai 1896 mit' Klagen Uber allge¬ 
meine Schwäche und Reissen im ganzen Körper, wodurch sie 
am Gehen verhindert wurde, aufnehmen Hess. Die erste Unter 
Buchung liess gleich auffallende Veränderungen am Knochen¬ 
gerüst, namentlich das schnabelförmige Vorspringen der Symphyse 
erkennen und erweckte den Verdacht auf Osteomalacie, so dass 
die Anamnese auf gewisse Punkte gelenkt wurde, die sonst 
wohl keine Berücksichtigung gefunden hätten. 

Dieselbe ergab, dass sie aus dem Dorf Lübbicbau bei Frankfurt a. O. 
stammte, wo ihre Eltern und Gros>eltern bereits an«ässig gewesen 
waren. Ihre Mutter soll an Kopfrose, ein Bruder an Typhus gestorben 
nnd besondere Krankheiten in der Familie nicht erblich sein. Sie selbst 
sei bei ihrer Geburt sehr schwächlich gewesen und habe deshalb die 
Nothtaufe bekommen, dann aber habe sie sich gut entwickelt und es im 
Laufen und 8pringen ihren Altersgenossen gleich thnn können, sei auch 
als Mädchen und junge Frau immer gesund gewesen. Die Menstruation 
stellte sich znerst im 15. Lebensjahre ein und zeigte nie besondere 
Störungen. Im Alter von 27 Jahren verheirathete sie sich mit einem 
Landmann in einem Nachbardorf (Drenzig), sie hat drei normale Ent¬ 
bindungen durchgemacht, die letzte vor 8 Jahren (im Jahre 1888). Ihre 
Kinder hat sie Belbst genährt. Bis dahin ganz gesund, fühlte sie sich 
nach dieser letzten Entbindung auffallend schwach und erholte sich nicht 
so, wie früher. Es traten auch Schmerzen in allen Gliedern („Reissen“) 
namentlich in den Beinen, ein, die ihr das Gehen erschwerten, sich all¬ 


A L T. 

VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Gesellschaft 
für Geburtshülfe und Gynäkologie zu Berlin. Schäffer, Bröse: 
Demonstrationen; Discnssion über Kiefer: Die Virulenzvcrhält- 
nisse der eitrigen Adnexerkranknngen. — Berliner medicinische 
Gesellschaft. Abel: Tubengravidität; Gluck: Resection und Ex¬ 
stirpation des Larynx; Discussion über Senator: Zur Kenntniss 
der Osteomalacie und der Organotherapie. — Aerztlicher Verein zu 
Hambnrg. E. Fraenkel, Prochownik, Jollasse, Hardt, 
Hess, Peltesohn: Demonstrationen; Rumpel: Idiopathische 
Oesophaguserweiternngen. 

VIII. Pagel: Historisch-geographische Bemerkungen über die Beulenpest. 

IX. Literarische Notizen. — X. Praktische Notizen. 

XI. Tagesgeschichtliche Notizen. — XII. Amtliche Mitteilungen. 


mählich verschlimmerten, zeitweise aber anch wieder nachliessen. Seit 
etwa 1'/, Jahren (Ende 1894) aber hörten die Schmerzen gar nicht 
mehr auf und die Bewegungen der Beine verschlechterten sich immer 
mehr, so dass sie sich schliesslich nnr mit Unterstützung mühsam fort- 
scheppen konnte, anch nahmen die 8chmerzen in der Brust und dem 
Rücken zu, ihr Leib trieb sich auf und die Beine schwollen etwas an. 
8eit dieser Verschlimmerung meint sie anch kleiner geworden zu sein, 
sie hat bemerkt, dass die Kleider ihr vorn za lang wurden, so dass sie 
öfters auf dieselben trat. Die Menstruation war bisher immer regel¬ 
mässig. Von Fieber hat sie Nichts bemerkt. 

Status präsens. Kleine Frau von 156 cm Körperlänge und 
46,5 Kilo Körpergewicht, schlechter Musculatur, sehr geschwundenem 
Fettpolster, mit blasser Haut nnd blassen Schleimhäuten, ohne Exantheme, 
Oedeme und Drüsenschwellungen, fieberfrei und mit klarem Sensorium. 
Sie kann sich ausser dem Bett nur mühsam aufrecht halten und sich 
stützend in kleinen schlürfenden Schritten kurze Strecken fortbewegen, 
wobei sie über Schmerzen in den Knieen und Füssen klagt. Auch das 
Anfsetzen im Bett macht ihr Schmerzen in allen Gliedern und im Rumpf. 

Die Schädelknochen sind ohne Abnormität, auch auf Beklopfen 
nicht schmerzhaft, der Kopf zeigt ziemlich reichliches dunkles Haar, auch das 
Gesicht ist ohne Abnormität, jedoch hat Patientin nur 13 Zähne, 
nämlich im Unterkiefer 4 8chneide-, 2 Eck- und 2 Vorderbackzähne, 
im Oberkiefer die beiden mittleren Schneidezähne, den linken Eckzahn 
und die beiden Vorderbackzähne. Die übrigen Zähne sollen ganz 
schmerzlos allmählich ausgefallen se.in, znerst während der letzten 
Schwangerschaft und dann weiter nach der Entbindung. 

An dem mageren Halse ist eine Schilddrüse kaum zu 
fühlen. 

Der Thorax erscheint stark nach vorn and. hinten gewölbt, die 
Wirbelsäule in ihrem Dorsaltheil kyphotisch gekrümmt. Druck anf das 
Brustbein, die Schlüsselbeine und verschiedene Rippen ist schmerzhaft. 
Die Untersuchung der Lunge und des Herzens ergiebt nichts Bemerkens- 
werthes. 

Leib ist stark hervorgewölbt, wie ein Hängebaach, Thorax und 
Becken erscheinen stark aneinandergerückt, im Stehen noch mehr als im 
Liegen. (Die Entfernung des vorderen Thoraxrandes von der Crista ilei 
beträgt im Liegen 6—7 cm.) Die Symphyse springt schnabelförmig vor. 
Druck auf die Ovarialgegenden ist sehr schmerzhaft. Im Uebrigsn er¬ 
giebt die Untersuchung der Bauch- und Beckenorgane keine Abnormität. 
Die äussere Beckenmessung ergiebt: Diam. spin. 24, crist. 29, trochant. 
30, Conjug. ext. 21 cm. 1 ) 


1) Diese Maasse sind anch von Herrn Geh. Rath Prof. Gnsserow 
controlirt worden, welcher die Diagnose „Osteomalacie“ durchaus be¬ 
stätigte. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. fl. 


110 


Die Musculatur ist im Ganzen schwach entwickelt und an den Ober¬ 
und Unterextremitäten, zumal an letzteren, stark druckempfindlich, 
ebenso die Nervenstärome. Contracturen sind nicht vorhanden, Patellar- 
retlexe normal, kein Fussclonus, objective SenaibilitätHBtöruDgen nicht 
nachweisbar, die Keaction auf den faradischen Strom normal. 

Puls schwankt zwischen 68 und 88, seine Spannung ist gering, 
Rhythmus regelmässig, die Arterien zartwandig. Stuhl erfolgt ziemlich 
regelmässig, ebenso giebt die Entleerung des Urins Nichts zu bemerken. 
Ueber seine sonstige Beschaffenheit wird unten ausführlich berichtet 
werden. 

Die Patientin blieb bis zum 7. • September, also 4 Monate im 
Krankenhaus, welches sie sehr bedeutend gebessert verliess. Sie konnte 
ohne Unterstützung stehen und kürzere Strecken gehen, ohne, wie früher, 
Schmerzen zu fühlen. Nur noch über ein Gefühl von Schwäche in den Hiift- 
gegenden hatte sie dabei zu klagen. Die Druckschmerzhaftigkeit der 
Knochen, Muskeln und Nervenstämroe ist fast geschwunden, nur die 
linke Ovarialgegend ist noch auf Druck empfindlich. Das Körpergewicht 
betrug bei der Entlassung 58.5 Kilo, hatte also zuletzt um 12 Kilo zu¬ 
genommen nach allerhand Schwankungen, von denen später noch die 
Rede sein wird. — Nach einem eben erhaltenen Bericht hat die Besse¬ 
rung bis jetzt angedauert. 

Meine Herren, .Sie wissen, dass in Betreff des Wesens der 
Osteoraalacie verschiedene Theorien aufgestellt worden sind, die 
alle darauf hinausgehen, die Verarmung der Knochen an Kalk 
zu erklären. Zunächst wurde angenommen, dass die Kalkarmuth 
der Knochen bedingt werde durch eine mangelhafte Zufuhr in 
der Nahrung, eine Annahme, die wohl, so weit es sich um 
Menschen handelt, von vornherein als unzutreffend zurückgewiesen 
werden muss, wenigstens fllr den grössten Theil der Fälle. Denn 
die allerschlechteste Nahrung enthält immer noch genug und 
selbst mehr Kalk, als der erwachsene Mensch braucht, da das 
normale Kalkbedürfniss des Körpers nur ein sehr geringes ist. 
Etwas anders mag es sich wohl mit der Osteomalacie der Thiere 
verhalten. Es soll bei Thieren, die aus kalkarmem Boden ihr 
Futter beziehen, Osteomalacie, oder eine dafür gehaltene Krank¬ 
heit Vorkommen, oder Vorkommen können. Auf experimen¬ 
tellem Wege lässt sich allerdings durch kalkarme 
Nahrung eine wahre Osteomalacie bei Thieren er¬ 
zeugen, wie durch Versuche von Roloff, 1 ) namentlich aber 
durch einen überzeugenden Versuch von 11. Stilling und 
J. v. Me ring 2 ) bei einer trächtigen Hündin nachgewiesen 
worden ist. 

Sodann ist die Ansicht aufgestellt worden, die für den 
Menschen jedenfalls mehr Berechtigung, als jene erste hätte, dass 
zwar genügend Kalk in der Nahrung aufgenommen, aber nicht 
genügend im Verdauungsapparat ausgenutzt und dem Blut zu- 
geführt werde, und endlich, hat man eine abnorme Beschaffenheit 
des Blutes beschuldigt, nicht, wie man früher wohl glaubte, eine 
saure Reaction desselben, denn eine solche wäre mit dem Leben gar 
nicht verträglich, aber doch eine abnorm geringe Alkalescenz, 
in Folge deren der Kalk aus den Knochen gelöst werde und neuer 
Kalk nicht angesetzt werden könne. Als Ursache der Alkales- 
cenzabnahme hat man besonders die übermässige Bildung von 
Milchsäure angesehen, weil man in den Knochen Osteomalaci- 
scher und auch in ihrem Urin Milchsäure gefunden hatte, oder 
gefunden zu haben glaubte. Allein die zahlreichen, in dieser 
Beziehung angestellten Versuche haben zu keinem befriedigenden 
Ergebniss geführt. Wohl kann man durch Zufuhr von Milch¬ 
säure und anderen Säuren die Thiere krank machen, aber eine 
wirkliche Osteomalacie dadurch zu erzeugen scheint gar nicht, 
oder vielleicht nur selten und in geringfügigem Grade möglich. 
Ich führe von den vielen sich grossentheils widersprechenden 
Angaben nur diejenigen von Siedamgrotzky und Hof¬ 
meister 3 ) an, die in zahlreichen Versuchen an Pflanzenfressern 
mit Darreichung von Milchsäure wohl eine lösende Wirkung der¬ 


1) Archiv f. Thierheilk. 1879, V. S. 152. 

2) Centralbl. f. d. med. Wiasensch. 1889, No. 45. 

3) Arch. d. Thierheilk. 1879. V. S. 243. 


selben auf die Knochen und zwar fast nur auf deren Kalksalze 
wahrgenommen haben, aber keine Osteomalacie (und bei noch 
wachsenden Thieren höchstens Spuren von Rachitis), aber doch 
die Möglichkeit nicht in Abrede stellen wollen, dass die Milch¬ 
säure neben sonst noch unzweckmässiger Nahrung, aus welcher 
im Darm sich beständig Milchsäure bildet, jene Krankheiten bei 
Pflanzenfressern erzeugen könne. 

Abgesehen davon sprechen noch einige andere Gründe gegen 
die ätiologische Bedeutung der Milchsäure und vielleicht der 
Säuren überhaupt. Erstens haben neuere mit zuverlässigeren 
Methoden angestellte Untersuchungen des Urins Milchsäure im 
Urin Osteomalacischer häufiger vermissen, als auffinden lassen, 
sowie andererseits diese Säuren auch im Harn Gesunder und 
jedenfalls nicht osteomalacischer Personen gefunden worden ist. 
Zweitens fand M. Beck') bei einer frischen puerperalen Osteo¬ 
malacie verhältnissmässig wenig Ammoniak im Urin, was wenig¬ 
stens indirekt gegen eine übermässige Säurebildung spricht, da 
der Organismus sich der überschüssigen Säuren durch Bindung 
an Ammoniak, welches alsdann in vermehrter Menge im Urin 
erscheint, zn entledigen pflegt. 

Und endlich werden nach M. Levy’) durch verdünnte 
Milchsäure an frischen normalen Knochen die unorganischen 
Bestandteile in anderer Weise gelöst, als es bei der Osteomalacie 
der Fall ist. Hier bei dieser zeigen sich die Phosphate und 
Carbonate in gleicher Verhältnis vermindert, während nach L. 
durch Behandlung mit Milchsäure die Knochen viel mehr Kohlen¬ 
säure, als Phosphorsäure verlieren. 

Sonach hat sich auch die Theorie der Säurewirkung als 
Ursache der Osteomalacie als nicht haltbar erwiesen. 3 ) 

Indem ich noch kurz die von Petro ne behauptete, 4 ) aber 
von verschiedenen Seiten zurückgewiesene Theorie der parasitären 
Entstehung der Osteomalacie erwähne, wende ich mich nun zu 
der neuerdings von Fehling') aufgestellten Theorie der Osteo¬ 
malacie, die sich stützt auf die günstigen Erfahrungen, welche 
durch die Porro’sche Operation und die Castration bei Osteo- 
malacischen gemacht worden sind. F. nimmt an, dass es sich 
bei Osteomalacie der Weiber (bei Männern ist ja die Krankheit 
ungemein viel seltener) um eine von den Ovarien ausgehende 
reflectorische Beeinflussung des Stoffwechsels, insbesondere auch 
der Knochen, handle, uud er vergleicht diese Wirkung der 
Ovarien in dieser Beziehung etwa mit der Einwirkung der Schild¬ 
drüse auf den Stoffwechsel. Ja, er setzt die Osteomalacie in 
eine gewisse Parallele mit der Struma und mit den Krankheiten, 
die durch Erkrankung, oder fehlerhafte Function der Schilddrüse 
entstehen. Dass eine gewisse Beziehung zwischen Eierstöcken 
und Knochen besteht, dafür scheinen Versuche von Curätulo 
und Tarulli 6 ) zu sprechen, welche bei Hündinnen nach doppel- 

1) Prager med. Wochenschr. 1894, No. 42. 

2) Zeitscbr. f. physiol. Chemie, 1894. XIX. 8. 239. 

3) Bei der Diacnssion über obigen Vorirag (a. diese No. der Wochen¬ 
schrift), machten die Herren Zunta and Caspar! Mittbeilangen über 
Versuche mit Oxalsäure (und oxalsaurem Natron), durch deren Zuführ 
es ihnen gelang, bei Kaninchen und Schweinen Knochenerweichungen 
und Skelettveränderungen zu erzeugen, welche letzteren denen bei 
Osteomalacie sehr ähnlich, oder gleich waren. Die mikroskopische Beob¬ 
achtung liess aber keine Aehnlichkeit der Veränderungen mit denjenigen 
der menschlichen Osteomalacie erkennen. (Vergl. Zuntz in Verhandl. 
des Vereins fllr Rübenxuckerinduatrie in München, 1896, S. 83 und 
W. Caspari: Ueber chron. Oxalsäure-Vergiftung, Leipziger Inaug.-Diss. 
Berlin, 1895.) 

4) Centralbl. f. Gynäkol. 1893 (Ref.). 

5) Arch. f. Gynäkol., 1891 Bd. 89, 1895 Bd. 48 und Zeitschr. f. 
Geburtsh. u. Gynäkol. 1894 Bd. 30. 

6) Arch. ital. de Biologie, 1894, XXIII u. Centralbl. f. Physiol., 
IX. S. 149. 


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8. Februar 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


111 


seitiger Ovariotomie eine verminderte Phosphat-Ausscheidung 
beobachteten und demnach der Ansicht sind, dass ein „inneres 
Secretionsproduct“ der Eierstöcke die Oxydation der organischen 
phosphorhaltigen Stoffe begünstigt, welche das Material für die 
Bildung der Knochensalze liefere. — 

Im Hinblick auf alle diese Theorien und die bestehenden 
Widersprüche glaubte ich die sich bietende Gelegenheit benutzen 
zu sollen, um den Stoffwechsel bei Osteomalacie zu untersuchen 
und den Einfluss gewisser therapeutischer Mittel zu prüfen. Bei 
diesen Untersuchungen wurde ich von meinen Assistenten, Herrn 
Stabsarzt Dr. Bussenius, der die Kranke während der ganzen 
Zeit sehr sorgfältig beobachtet hat, und Herrn Oberarzt Dr. 
Paul Fr. Richter, der den grössten Theil der chemischen, 
sehr mühseligen Untersuchungen gemacht hat, in dankenswerthe- 
ster Weise unterstützt. Untersucht wurden hauptsächlich Urin 
und Stuhl, der letztere speciell auf seinen Kalkgehalt, der, so¬ 
weit ich mich habe unterrichten können, bisher nur zweimal bei 
Osteomalacie festgestellt worden ist, nämlich von S. Neu mann') 
und von v. Limb eck 1 ). Und doch ist gerade für die Beurthei- 
lung des Kalkstoffwechsels die Untersuchung der Fäces unent¬ 
behrlich, da der bei weitem grösste Theil des Kalks nicht mit 
dem Urin, sondern mit den Stuhlausleerungen den Körper ver¬ 
lässt. Die letzteren enthalten 10mal soviel Kalk, als der Urin 
und selbst noch mehr. Ausserdem wurde das Blut untersucht 
und selbstverständlich die Schwankungen des Körpergewichts 
verfolgt. 

Die Untersuchungen erstreckten sich über die Zeit von drei 
Monaten, und wurden dann, da die Ferien eintraten, abge¬ 
brochen, während die Kranke noch einen Monat in der Anstalt 
verblieb. Der Plau war der, dass zunächst in einer drei¬ 
wöchentlichen Vorperiode (1), vom 11.—31. Mai, keinerlei 
eingreifende Arzneibehandlung stattfand und die Kranke hin¬ 
reichend Zeit hatte, den Ernährungs- und sonstigen hygienischen 
Verhältnissen der Anstalt sich anzupassen. Dann wurde wäh¬ 
rend 6 Wochen (1. Juni bis 10. Juli) ein Versuch mit einem 
SchilddrUsenpräparat (II) gemacht mit Rücksicht auf die 
von Fehling hervorgehobene Analogie der Krankheit mit ge¬ 
wissen, auf fehlerhafte Function der Schilddrüse beruhenden 
Zuständen, wobei mich noch besonders der Umstand leitete, 
dass, wie ich vorher angab, die Schilddrüse bei der Kranken 
sehr mangelhaft entwickelt zu sein schien. Wir benutzten das 
uns damals in grosser Menge zur Verfügung gestellte Thyraden 
von Knorr in Ludwigshafen, das sich uns bei anderen Ge¬ 
legenheiten als sehr wirksam bewährt hatte. Es folgte dann 
eine Nachperiode von einer Woche Dauer (III) (17. bis 23. 
Juli), während welcher wieder keine Arznei gegeben wurde, 
worauf dann 11 Tage lang (IV) (24. Juli bis 3. August) ein 
Eierstockspräparat, nämlich das gerade damals von L. Lan¬ 
dau als sehr wirksam empfohlene Oophorin aus der Ber¬ 
liner Fabrik Organotherapeutischer Präparate von 
Dr. Freund zur Anwendung kam. Die Thyradenperiode (II) 
dauerte sehr lange, weil wir mit dem Präparat nur ganz all¬ 
mählich stiegen, von 3 am ersten Tag bis zu 25 (am 25. Juni) 
und dann wieder bis auf 3 zurück. Von den Oophorintabletten 
wurde mit 4 am ersten Tage begonnen und dann sofort auf 6 
gestiegen, die bis zuletzt genommen wurden. Die letzten vier 
Wochen, während welcher keine Untersuchungen mehr gemacht 
wurden, nahm Patientin Phosphor-Leberihran (Phosphor 0,01, 
01. Jecoris Aselli 100) 2 mal, dann 3 mal täglich ein Theelöffel. 

Die Ernährung war in der ganzen Zeit eine fast ganz 


1) Arch. f. Gynäkol. 1894, Bd. 47, S. 202. 

2) Wiener med. Wochenschrift 1894, No. 17 ff. 


gleichmässige und enthielt schätzungsweise 10—11 gr Stick¬ 
stoff). 

Was nun zunächst das Blut betrifft, so hat uns die mikro¬ 
skopische Untersuchung in den verschiedenen Perioden 
keine bemerkenswerthen Abweichungen ergeben. Es verhielt 
sich nicht anders als Blut bei massiger Aniimie und Chlorose, 
d. h. es enthielt etwas weniger Erythrocvten, als normal, und 
weniger Hämoglobin, die Leukocyten wechselten in den ver¬ 
schiedenen Perioden an Zahl, aber niemals ausserhalb der noch 
als physiologisch geltenden Grenzen, und zeigten keine erheb¬ 
liche Abweichung in dem Verhältniss ihrer verschiedenen For¬ 
men zu einander, v. Neusser hat bei Osteomalacie eine Zu¬ 
nahme dei eosinophilen Zellen und einmal sogenannte Myelo- 
cyten im Blute gefunden, Sternberg dagegen fand nur 
vereinzelt eosinophile Zellen und nie Myelocyten, auch Tschi- 
stowitsch fand keine Myelocyten, die eosinophilen Zellen sehr 
schwankend, aber viel Lymphocyten, endlich Fehling fand keine 
Vermehrung der eosinophilen Zellen. Die Reaction des 
Blutes zu prüfen war uns nur ein einziges Mal möglich und 
zwar in der Vorperiode, also in der schlimmsten Zeit, welche 
die Patientin bei uns hatte. Sie wurde nach der von Ad. Löwy 
angegebenen Methode, die noch die zuverlässigste von allen 
Methoden ist, geprüft, und gab den ausserordentlich hohen 
Werth von 976 mgr NaOH, während wir als normal nach 
derselben Methode zwischen 300—400 mgr gefunden hatten 1 ). 
Früher hatten v. Jaksch*), Renzi 4 ), v. Winkel 5 ) einen ver¬ 
minderten Alkalescenzgehalt des Blutes gefunden, v. Li mb eck“), 
sowie Fehling’) einen normalen oder auch hohen Werth, end¬ 
lich Eisenhardt'') eine Abnahme der Alkalescenz, die nach 
eingetretener Besserung einer deutlichen Zunahme Platz machte. 
Diese Verschiedenheiten mögen zum Theil in der Anwendung 
verschiedener Methoden der Untersuchung begründet sein, zum 
Theil auch darin, dass eben in verschiedenen Perioden der 
Krankheit untersucht wurde. Aber wenn auch, wie es nach der 
Mehrzahl der Untersuchungen scheint, der Alkalescenzgrad des 
Blutes bei Osteomalacie wenigstens in der Entwickelung und auf 
der Höhe der Krankheit vermindert sein sollte, so ist damit 
doch für die Erkenntniss des Wesens der Krankheit nichts ge¬ 
wonnen, denn wir wissen, dass subnormale Alkalescenzgrade 
auch bei anderen Krankheitszuständen Vorkommen, namentlich 
bei Anämie, Kachexie, z. B. in Folge von Krebs, und nach 
unseren Erfahrungen auch bei vorgeschrittener Lebercirrhose, 
ohne dass dabei Osteomalacie besteht. Es scheint also die An¬ 
nahme berechtigt, dass die bei dieser Krankheit vor¬ 
handene Abnahme der Blutalkalescenz keine speci- 
fische Erscheinung, sondern vielmehr die Folge des dabei 
vorhandenen schlechten Ernährungszustandes sei. 

Im Urin wurde ausser der 24stündigen Menge und dem 
specifischen Gewicht der Gehalt an Gesammtstickstoff, 
Phosphorsäure, Kalk und an Alloxurstickstoff bestimmt. 
Ausserdem wurde wiederholt in den verschiedenen Perioden nach 
Milchsäure gesucht, stets ohne Erfog. Eiweiss war ebenfalls 


1) Die tägliche Nahrung bestand aus 2 Portionen Kaffee, 1 Liter 
Milch, 1 Portion Kartoffelbrei, 80 gr Kalbfleisch, 80 gr Schabefleisch 
oder Schinken, 4 Semmeln, 1 Portion Butter, ’/■ Liter Ungarwein oder 
statt dessen 1 kleine Flasche Sodawasser. 

2") Vgl. H. Strauss, Ueber das Verhalten der Blutalkalescenz. 
Zeitschrift f. klin. Med., Bd. 80, S. 817. 

8) Zeitschrift f. klin. Med., Bd. 18. 

4) Virchow’s Archiv, Bd. 102. 

5) Arch. f. Gyn., Bd. 85. 

6) Pathologie des Blutes. Jena 1892. 

7) Arch. f. Gvn., Bd. 89. 

8) Deutsches Arch. f. klin. Med., Bd. 49. 

1 * 


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112 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 6. 


niemals darin nachzuweisen und ebenso wenig Albumosen 
(Propepton). Bekanntlich hat Bence Jones zuerst einen als 
Albumose anzusprechenden Eiweisskörper bei einer Frau, die au 
Osteomalacie oder an einer dafür gehaltenen Krankheit litt, ge¬ 
funden, und derselbe Befund ist dann von anderen Autoren ge¬ 
macht worden. In neuerer Zeit ist der Befund seltener gelungen 
und nach Kahler 1 2 ) ist es wahrscheinlich, dass wenigstens eine 
reichliche Albumosurie vielmehr bei der als „multiples Myelom“ 
beschriebenen Knochenkrankheit, als bei Osteomalacie vor¬ 
kommt’). 

Die Mengenverhältnisse der erstgenannten Harabestandtheile 
habe ich, um nicht alle einzelnen Bestimmungen, deren Zahl 
weit Uber 100 beträgt, auffuhren zu mUssen, in folgender Tabelle 
zusammengestellt, welche die Minima, Maxima und Mittel aus 
allen Zahlen enthält. Menge und Gewicht des Harns wurden 
jeden Tag, die einzelnen Bestandteile so oft, als in den be¬ 
treffenden Rubriken angegeben ist, bestimmt. 



I. 

II. 

III. 

Nach¬ 

periode 

IV. 



Vorperiode 

Thyraden 

Oophorin 


Menge 1 
ccm 1 

460 

1470 

760 

690 

1900 

1U80 

1160 

2160 

1730 

1750 

3750 

2760 

1 Minimum 
> Maximum 

1 Mittel 

Ge- | 
wicht | 

1013 

1022 

1017 

1010 

1022 

1015 

1010 

1012 

1011 

1008 

1015 

1010 


Minimum 

Maximum 

Mittel 

N | 

4,19 

8,834 

6,42 

(10 Bestim¬ 
mungen) 

4,84 

10.19 

7,82 

(22 Bestim¬ 
mungen) 

4,87 

7,408 

5,91 

(4 Bestim¬ 
mungen) 

6,85 

12,602 

8,29 

(8 Bestim¬ 
mungen) 


Mittel 


0.78 

1,842 

0,06 

(8 Bestim¬ 
mungen) 

0,76 

8.087 

1,944 

(21 Bestim¬ 
mungen) 

1,324 

1,805 

1.4625 

(4 Bestim¬ 
mungen) 

1,225 

1,875 

1,424 

(8 Bestim¬ 
mungen) 


Mittel 

CaO | 

0,0935 

0,198 

0,154 

(6 Bestim- 
mnngen) 

0,0806 

0,364 

0,192 

(15 Bestim¬ 
mungen) 

0,126 

0.238 

0,172 

(3 Bestim¬ 
mungen) 

0,136 

0,4712 

0,271 
(5 Bestim¬ 
mungen) 


Mittel 

Allo- 

xur-N 

0,277 
(1 Bestim¬ 
mung) 

— 

0,1826 

0,4384 

0,299 
(8 Bestim¬ 
mungen) 

0,274 

0,4223 

0,884 
(5 Bestim¬ 
mungen) 


Mittel 


Die Fäces wurden dreimal, nämlich in der Vorperiode (I)» 
in der Thyradenperiode (II) und in der Oophorinperiode (III) 
untersucht, indem jedes Mal die Menge von 2—3 Tagen gesam¬ 
melt, getrocknet und ihr Kalkgehalt bestimmt wurde. Das Er- 
gebniss ist folgendes: 

I. vom 25.—27. Mai: 

Menge 157 gr mit 18,5 gr Trockengewicht und 4,155 CaO, also pro die 

1,385 CaO. 

II. vom lß.—18. Juni: 

Menge 116 gr mit 14,4 gr Trockengewicht und 3,8127 CaO, also pro die 

1,2709 CaO. 

III. vom 24. u. 25. Juli: 

Menge 58 gr mit 9,7 gr Trockengewicht und 3,846 CaO, also pro die 

1,923 CaO. 

1) Prager med. Wochenschrift 1889, No. 4 und 5. 

2) Die Untersuchung auf den gesammten Ilarnstickstoff wurde nach 
Kjeldahl, auf Alloxur-N nach Krüger-Wolf, auf P a 0 3 durch Titri- 
rung mit essigsaurem Uranoxyd, des Kalks im Harn durch Ausfüllung 
mit Oxalsäure, in den Fäces nach der Veraschung und Ausfüllung mit 
Oxalsäure als kohlensaurer Kalk bestimmt. Nach Milchsäure wurde 
im Aetherextract des Destillats aus dem mit P,0 3 angesäuerten Urin 
durch Zusatz von Zinkcarbonat gesucht. Auf Eiweiss und Albumosen 
wurde in der bekannten Weise geprüft. 


Das Körpergewicht stieg in der dreiwöchentlichen Vor¬ 
periode (I) bis zum Beginn der Thyradenperiode (II) von 4G,5 
auf 48,5 kgr und stieg dann in den ersten 14 Tagen noch bis 
auf 49 kgr, blieb während einer Woche unverändert, wo die 
höchste Zahl der Thyraden-Pastillen erreicht wurde, um dann 
in der folgenden Woche auf 4H und in den weiteren 2 Wochen 
auf 45,5 kgr za fallen, von wo es sich in der Nachperiode (III) 
wieder bis auf 47 kgr hob. Am Ende der Oophorinperiode (IV) 
war es wieder auf 4t» kgr gesunken. Am Ende jeder Periode 
betrugen die Veränderungen des Körpergewichts in Kilo aus- 
gedrtlckt also: 

I II III IV 

+ 2 — 3 +1,5 — 1 

Nach Beendigung der Untersuchungen, als Patientin, wie 
gesagt, noch 4 Wochen in der Anstalt verblieb, hob sich ihr 
Gewicht sogleich bedeutend, in den ersten 10 Tagen um 4 kgr, 
in der folgenden Woche um 5, in der dritten uin 1, in der 
vierten um 3, und fiel zuletzt um 0,5, war also in dieser letzten 
Periode im Ganzen um 12,5 kgr gestiegen. 

(Schloss folgt.) 


II. Zur congenitalen Luxation des Hüftgelenkes. 

Bemerkungen zu Prof. König’s Artikel in No. 2 dieser 
Wochenschrift. 

Von 

Adolf Lorenz in Wien. 

Herr Geheimrath Prof. König leitet seinen oben citirten 
Aufsatz zweifellos richtig mit der Bemerkung ein, dass die Frage 
nach der chirurgischen Behandlung dieser Krankheit die Ge- 
mlither zahlreicher Menschen seit Jahren beschäftigt. 

Leider ist diess erst seit einigen Jahren der Fall, denn 
bis zu dem Augenblicke, als Hoffa’s energische Initiative die 
Frage neuerdings anregte und mit einem kühnen Wurfe mächtiger 
förderte, als es decennienlanger früherer Arbeit selbst der Grossen 
unserer Kunst gelingen wollte, hatte das Problem geruht und 
Niemandes Gemiith beherrscht. 

Wenn ein Volkmann dasselbe als unnahbar erklärte, was 
Wunder wenn die Kleinen es als Frevel betrachteten, nach der 
unerreichbaren Palme zu ringen. 

Nachdem Hoffa und seine Mitarbeiter diesen schweren Bann 
gebrochen hatten, ertönt mitten im erträumten und erhofften 
Siegeslauf abermals die mahnende Stimme eines unbestrittenen 
Meisters, um vor Hoffnungen zu warnen, die er fUr unerfüllbar hält 

Dieser Mahnruf war zweifellos seines Amtes. Wir beherzigen 
ihn, aber wir lassen uns nicht entmuthigen. 

Wohl hat die operative Behandlung unseren Erwartungen 
bisher nicht vollständig entsprochen nnd die EinwUrfe des Herrn 
König sind richtig. Es giebt einen Procentsatz von Reluxationen: 
aber man wird denselben durch vorsichtige Auswahl der Fälle 
mit Beziehung auf Form und Stellung des Schenkelhalses und 
Kopfes zu vermindern trachten. Es giebt eine Anzahl Operirter 
mit steifen Gelenken: aber die Erfahrung zeigt, dass vollkommen 
ausreichend bewegliche Gelenke durch möglichste Einschränkung 
der Narbenbildung erzielt werden können. Wenn man unter 
selbstverständlicher Schonung der Muskulatur die Kapsel nicht 
mittels Kreuzschnittes sondern in möglichst geringer Ausdehnung 
in der Richtung des Schenkelhalses linear eröffnet, so ist da¬ 
mit unter Voraussetzung eines reactionslosen Wundverlaufes der 
Gefahr der Rigidität vorgebeugt. Die Erschwerung derOperations- 
technik kann diesem Vortheil gegenüber nicht ins Gewicht fallen. 
Einige Kinder starben in Folge der Operation. Das lässt sich 


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8. Februar 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


113 


nicht beschönigen. Wenn jede Operation ihre Mortalität hat, ßo 
war von vorneherein nicht zu erwarten, (lass die operative Re¬ 
position der congenitalen Hüftverrenkung hierin eine Ausnahme 
machen werde. Glücklicherweise ist diese Mortalität nicht gross 
und wird immer geringer werden. Ich selbst zähle unter 250 
in der Privat-Klinik ausgeführten Operationen 2 lethale Sepsis¬ 
fälle. Es ist nicht zu leugnen, dass selbst eine Mortalität von 
0,8 pCt. als gewichtiger Einwand gegen eine orthopaedische 
Operation gelten kann. Trotzdem wird man die operative Be¬ 
handlung auch in der Zukunft nicht entbehren können und sie 
als letztes Auskunftsmittel betrachten müssen. Grand genug, 
um alles aufzubieten, ihre Mängel noch weiter zu verbessern und 
ihre Gefahr zu verringern. 

' Glücklicherweise wurde in der unblutigen Einrenkung eine 
Methode gefunden, welche über den letztgenannten, schwer wie¬ 
genden Einwurf erhaben ist. 

Niemand ^zweifelt mehr daran, dass die Einrenkung selbst 
noch bei relativ älteren Kindern möglich ist. 

Das Bekanntwerden der Methode war, um mit Herrn König 
zu sprechen, von einer wahren Hochfluth künstlicher Einrenkungen 
gefolgt. Zwar scheint Herr König geneigt, diess zu tadeln, doch 
findet er den Versuch verständlich, weil derselbe oft „vorerst 
wenigstens“ das Problem (1er Einrichtung des luxirten Ge¬ 
lenkes löst. 

Bezüglich dieses „vorerst wenigstens“ sehe ich mich 
in glücklichster Uebereinstimmung mit Herrn König. Im vollen 
Verständnis für die Gefährlichkeit des Terrains, auf welchem 
ich mich bewegte, habe ich in meiner Broschüre (Sammlung 
klinischer Vorträge 151—152 pg. 491 und 531) wiederholt aus¬ 
drücklich darauf hingewiesen, dass die gelungene Einrenkung 
keineswegs die Heilung bedeute, wohl aber als unerlässliche 
Vorbedingung und einzig rationelle Basis des weiteren Heilplanes 
zu betrachten sei. 

Bezüglich dieses zweiten Theiles der zu lösenden Aufgabe 
sehe ich mich von Herrn König theilweise wenigstens miss¬ 
verstanden. In dem oben citirten Aufsatze heisst es: „Aber alle 
Erwägungen, welche darüber (i. e. über die Reposition) hinaus¬ 
gehen, sind zunächst unverständig, sie gemahnen uns an das 
Verständniss des Kindes. Wer seine pathologische Mechanik 
und seine pathologische Anatomie der Gelenke gelernt hat, wer 
weiss, wie unendlich geringfügig die Bildung von Gruben und 
Schliffflächen, beispielsweise bei resecirten Gelenken zu sein 
pflegt, der muss’vorläufig auch bescheiden und vorsichtig sein 
in der Erwartung dessen, was aus den eingerichteten Gelenken 
wird. Apriori wird er die Bildung einer tiefen, haltbaren Pfanne 
für unwahrscheinlich halten, aber er muss es entschieden in das 
Reich der Fabel verweisen, wenn erzählt wird, (lass bereits nach 
{ , 4 nach '/, Jahre ein vollkommen bewegliches, haltbares Gelenk 
gebildet sei, er wird e3 für wahrscheinlich halten, dass über¬ 
haupt nur in einem geringen Procentsatz wirklich haltbare Ge¬ 
lenke geschaffen, in einem grösseren Procentsatz aber das Ver¬ 
gnügen des Eingericlitetscin8 nur kurz dauern wird. Es ist ohne 
jede Analogie in der Mechanik der Gelenksbildung, dass ein 
Uberknorpelter Kopf eine flache bindegewebig ausgekleidete Grabe 
zu einer tiefen Pfanne umgestaltet, derart, dass ein Gelenk ent¬ 
steht, welches in der Folge den Anforderungen, die man an die 
Haltbarkeit eines menschlichen Hüftgelenkes stellt, Genüge leistet!“ 

Wahrlich, man könnte den Mutli sinken lassen und die 
Arbeitsfreude verlieren, wenn man sich diese Kassandra-Rufe zu 
Gemüthe führt. Indessen bleiben die Hoffnungen trotzdem grün 
und selbst die vorgebrachten Erfahrungsarguraente vermögen die¬ 
selben nicht zu erschüttern, geschweige denn zu vernichten. Die 
kalte Douche schadet nicht, sie ernüchtert zwar, aber sie er¬ 
frischt auch. 


Uebrigens gestattet die nähere Betrachtung der genannten 
Argumente einige Einwendungen, welche ich Vorbringen darf. 

Zunächst trifft die aufgestellte Analogie zwischen resecirten 
Gelenksenden und den durch die unblutige Reposition in rich¬ 
tigen Contact gebrachten, aber unverletzten Constitueuticn des 
Hüftgelenkes nicht zu. Wenn im ersteren Fall die Bildung von 
Gruben und Schliffflächen eine „unendlich geringfügige und spär¬ 
liche“ ist, so muss dies nicht auch nothwendig für den zweiten 
Fall gelten. 

Wenn es ferner ohne jede Analogie in der Mechanik der 
Gelenkbildung ist, dass ein Uberknorpelter Kopf eine flache, 
bindegewebig ausgekleidete Grabe zu einer tiefen Pfanne um¬ 
gestaltet, so kann dieser Thatsache die Einwendung entgegen¬ 
gehalten werden, dass es ebenso ohne jede Analogie in den 
bisherigen Erfahrungen Uber künstliche Gelenkbildung ist 
wenn der Uberknorpelte Kopf durch Muskelspanuung und Körper¬ 
last continuirlicli gegen eine solche flache Grube angepresst 
wird, welche die Qualitäten des wachsenden Pfannenbodens hat. 

Wenn es auch an das Verständniss des Kindes gemahnen 
würde, sich vorzustellen, dass der Patient sich den eingerenkten 
Schenkelkopf mit jedem Schritte tiefer in die Pfanne hineintritt, 
und dieser Ausdruck höchstens im bildlichen Sinne gestattet 
sein mag, so kann auf der anderen Seite die gemachte Annahme 
keineswegs als gänzlich absurd bezeichnet werden, dass die 
dauernde und durch Druck gewissermaassen potenzirte Anwesen¬ 
heit des Schenkelkopfes auf dem Pfannenboden einen formgeben¬ 
den Einfluss auf die intensiven Wachsthumsvorgänge ira Fugen¬ 
kreuze ausüben könne, derart, dass sich derselbe der Gestalt 
des drängenden Kopfes anbequemt und denselben hierdurch 
schliesslich fixirt, wogegen sich das Wachsthum der leer stehen¬ 
den Pfanne in der formlosen Verdickung des Pfannenbodens er¬ 
schöpft. Wenn auf diesem Wege auch keüie Pfanne von voll¬ 
kommen normaler Form und Tiefe entstehen mag, so wäre die 
fibromuskuläre Suspension des Beckens am Femur nunmehr in 
eine knöcherne Stützung durch den Schenkelkopf umgewandelt 
und damit der wichtigste Theil des Problems gelöst. 

Es handelt sich gar nicht darum, eine neue Pfanne zu 
bilden, ja dies liegt nicht einmal im Plan der Methode; 
es handelt sich vielmehr lediglich darum, eine vorhandene aber 
ungenügende Pfanne unter Benutzung ihres Fundus und ihrer 
Ränder durch Wiederherstellung physiologischer Lagerangsver¬ 
hältnisse der Gelcnkskörper zu einem genügenden Bett für den 
Kopf auszugestalten. 

Zeigt sich die vorhandene Pfanne als vollkommen unzu¬ 
reichend, dann erwarte man nicht Unmögliches und verzichte 
von vornherein auf die Fortsetzung der Behandlung. Sind hin¬ 
gegen die Pfannenverhältnisse halbwegs günstig, so vermag ich 
nicht einzusehen, wesshalb die Ausgestaltung der Pfanne etwas 
Unwahrscheinliches, etwas Unmöglichgeglaubtes darstellen soll. 
Gelingt es, den Schenkelkopf, gleichviel durch welche Mittel, 
dauernd an Ort und Stelle zu erhalten, so scheint mir diese Auf¬ 
gabe lediglich eine Frage der Zeit und der Geduld zu sein und 
ich will gerne zugeben, dass mehr Zeit und mehr Geduld dazu 
gehört, als man jeweilig hat. Trotzdem aber erfliesst aus den 
von Herrn König angeführten Gegenargumenten durchaus nicht 
die Nothwendigkeit, die schon durch eine halbjährige Behand¬ 
lung erreichten Erfolge bedingungslos in das Reich der Fabel 
zu verweisen. Wohl wird es jedermann für höchst unwahr¬ 
scheinlich halten, dass sich in einem halben Jahre eine tiefe 
Pfanne bilden könne; aber ebenso sicher ist es, dass man ab 
und zu einmal auf merkwürdig gut erhaltene Pfannen trifft. Bei 
den operativen Repositionen habe ich wiederholt^Pfannen von 
überraschend guter Ausbildung vorgefunden und zweimal habe 
ich es sogar riskirt, den Kopf in die vollkommen intact gelassene 

2 


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114 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 6. 


Pfanne zu reponiren. Der Erfolg hat gezeigt, dass ich es thun 
durfte und ich entsinne mich manches anderen Befundes, welcher 
ein gleiches Vorgehen zugelassen hätte. Es erinnert dies 
einigermaassen an den Vorschlag, welchen Senger jüngst ge¬ 
macht hat. Solche günstige Ausnahmsfälle können ja auch ab 
und zu einmal bei den unblutigen Repositionen Vorkommen und 
sie sind vorgekomraen. Leider allzu selten! Aber sie gehören 
durchaus nicht dem Bereiche der Fabel an. Immerhin wollen 
wir auf solche Ausnahmsfälle gar kein Gewicht legen. Aber 
das Unwahrscheinliche und Unmöglichgeglaubte ist in sechs 
Fällen meiner Beobachtung ganz zweifellos schon nach Ablauf 
eines Jahres eingetreten. Im Besitze einer verbesserten Ope¬ 
rationsmethode dürfte mancher etwas ungeduldig veranlagte 
Chirurg überhaupt nicht länger als 1'/,, höchstens 2 Jahre auf 
einen zufriedenstellenden Erfolg der unblutigen Einrenkung warten 
wollen. — 

Es liegt mir selbstredend vollkommen fern, aus meinen bis¬ 
herigen Erfahrungen irgend welche abschliessenden Folge¬ 
rungen herzuleiten, sondern ich bin mit Herrn König der Meinung, 
dass hierzu zweifellos eine längere und ruhige Beobachtung un¬ 
bedingt nöthig ist. 

Lediglich aus diesem Grunde muss es im Interesse der 
Sache auf das lebhafteste begrüsst werden, dass eine verfrühte 
Discussion der Frage von dem Programme des nächsten Con- 
gresses der deutschen Gesellschaft für Chirurgie abgesetzt und 
bis auf Weiteres vertagt wurde. 

Ob „die zu geringe humanitäre Bedeutung“ der Frage an 
sich zu dieser Entscheidung beitragen durfte, darüber kann man 
verschiedener Meinung sein. Der allgemeine Chirurg, welcher 
täglich mit dem unerbittlichen Schicksale seiner Krebskranken 
ringt, wird geneigt sein, dieselbe zu unterschätzen und der 
Specialist, welcher das Glück geniesst, diesen furchtbaren Dingen 
ferner zu stehen, mag seinen kleinen Fragen leicht eine über¬ 
mässige Bedeutung beilegen. Das liegt in der Natur der Sache. 
Wird die Arbeit Lebenszweck, so schraubt ein bischen Eigen¬ 
liebe den Werth derselben gern zu hoch. Die richtige Schätzung 
wird wohl in der Mitte liegen. Stände die Heilung des Carci- 
noms auf dem Programm, so würde die Luxationsfrage in ihrer 
jämmerlichen Nichtigkeit sich abgrundtief verkriechen. 

Ob aber irgend eine Uberkühne, und Uber ihren thatsäch- 
lichen Werth angestaunte Carcinomexstirpation, welche ein dem 
Tode schon verfallenes Leben um qualvolle Tage verlängert, — 
wenn es dasselbe nicht kurz abschneidet, eine grössere humani¬ 
täre Bedeutung für sich in Anspruch nehmen darf, als der Auf¬ 
gabe zugemessen wird, auch nur den Lebensfrühling tausender 
von Mädchen dem Fluche der Krüppelhaftigkeit zu entreissen — 
darüber können die Meinungen auch auseinander gehen. In 
dieser Beurtheilung emancipirt sich das Gefühl von jedem Dogma. 
Dass es sich um gesunde und im übrigen von der Natur häufig 
verschwenderisch ausgestattete Krüppel handelt, das vermindert 
die humanitäre Bedeutung der Frage nicht, vielleicht erhöht es 
dieselbe. Die richtig gestellte Statistik der Häufigkeit des Ge¬ 
brechens dürfte übrigens die Frage in einem etwas anderen 
Lichte erscheinen lassen. Es besteht kein Zweifel darüber, dass 
die Hüftverrenkung das häufigste aller angeborenen Gebrechen 
ist. (Vergl. Pathologie und Therapie der angeborenen Hüft¬ 
verrenkung, pag. 141.) Jedes grössere Land beherbergt eine 
kleine Armee solcher Kinder, das will sagen ihrer Hunderte und 
selbst Tausende. Die Revision meiner Notizen ergiebt die Ueber- 
raschung, dass ich selbst Uber 700 Fälle gesehen und berathen 
habe. Für die oft beklagte Ohnmacht der ärztlichen Kunst war 
die richtig gestellte Häufigkeit des Gebrechens eine sehr unbe¬ 
queme und darum gern übersehene Thatsache. 

Ueber den Gegenstand selbst hätte ich für den Augenblick 


nichts weiter zu sagen. Aber die Schlussbemerkungen des Herrn 
König bedeuten nach meiner unmaassgeblichen Auffassung die 
Stellungnahme eines führenden Vertreters der Gesammtchirurgie 
gegenüber einer aufblühenden, streng wissenschaftlichen und im 
Boden der Chirurgie wurzelnden Specialität. Ob die Vertreter 
derselben Ursache haben, sich Uber die ihnen zu Theil gewordene 
Aufmunterung zu freuen, bleibe dem Ermessen des Lesers an- 
heimgestellt. Für mich ergeben sich hieraus nur einige Fragen. 
Der gemüthlicheren Fragestellung halber muss ich so unbe¬ 
scheiden sein, den Meister zu bitten, von seinem Piedestal für 
einen Augenblick herabzusteigen und sich mit mir auf den be¬ 
haglicheren und breiteren Boden der Mitgliedschaft der deutschen 
Gesellschaft für Chirurgie zu begeben! Nun denn: Ein Mitglied 
nimmt für irgend welche Mittheilung irgend welchen Carakters zehn 
Minuten der Verhandlungszeit in Anspruch und erläutert diese 
Mittheilung durch eine praktische Demonstration. Ob dieselbe 
Interesse erregte oder nicht, ist vollkommen gleichgiltig. Aber 
nicht gleichgiltig ist es, dass diese Demonstration ausserhalb 
der Congresssitzungen stattfand. Nicht gleichgiltig ist es ferner, 
dass das Mitglied sich zu dieser Demonstration keineswegs un¬ 
bescheiden vordrängte, sondern lediglich einer stricten Aufforde¬ 
rung des Präsidium Folge leistete. War dies ein genügender 
Anlass, das Vorgehen dieses Mitgliedes mit den drei schmerz¬ 
lichen Worten zu glossiren: „und als die Schelle wieder er¬ 
tönte? - Hatte sich etwas so Ungebührliches ereignet, dass unter 
Einem die Mittheilungen Uber die wirklichen und eingebildeten 
Fortschritte in der Behandlung der Krankheit aus den Ver¬ 
sammlungen wissenschaftlich arbeitender Chirurgen in die fach¬ 
lichen und öffentlichen (!) Blätter zu verweisen waren? 

Wenn gleiches Recht für alle gilt, warum hat die Schelle 
gerade nur bei der Hüftverrenkung getönt, warum nicht auch 
bei den sonstigen, immer mehr üblichen, weil nützlichen und 
lehrreichen Vorstellungen irgend welcher Behandlungsresultate? 

Oder hören die Wächter des Decorum die Schelle immer 
nur dann, wenn ein von vielen Menschen gehegtes Pium desi- 
derium endlich der Erfüllung wenigstens näher gebracht wird? 

War das bisher Vorgebrachte nicht ernst und wissenschaft¬ 
lich genug, um sich in den Rahmen der gepflogenen Arbeit 
würdig einzufUgen? Sind nicht gerade die Versammlungen der 
Fachmänner der richtige Ort, um durch praktische Vorführung 
der Resultate neuer Methoden für die angestrebte Verbreitung 
der letzteren zu wirken? 

Beeinträchtigt es die Bedeutung der wissenschaftlichen Ver¬ 
sammlungen, wenn deren Verhandlungen mit Aufmerksamkeit von 
jenen Menschen verfolgt werden, die ein Interesse an den Er¬ 
gebnissen derselben haben? 

Zweifellos kann es nicht die Aufgabe der Vereine der 
Fachchirurgen sein, als Organ zu dienen für jede Wendung, 
welche die Frage der Behandlung der Krankheit macht. Wenn 
aber nach langer und mühsamer Arbeit wirkliche und nicht 
eingebildete Fortschritte aufzuweisen sind, sollen die Belege da¬ 
für in Hinkunft nicht mehr dem Areopag vorgelegt werden dürfen, 
der unter seinen Richtern jenen Meister zählt, dessen Gerechtigkeit 
ebenso über jeden Zweifel erhaben ist — als seine Strenge? 

Oder sollte die fruchtbare Mutter „Chirurgie“ sich jetzt 
schon anschicken, ihre jüngste Tochter „Orthopädie“ aus dem 
Hause zu verstossen? Dazu ist das Aschenbrödel noch lange 
nicht gross und stark genug; dass es überhaupt soweit gedieh, 
ist nebst der mütterlichen Fürsorge, doch wohl in erster Linie 
der Theilung der Arbeit zu verdanken. 


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8. Februar 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


115 


III. Aus der hospital-therapeutischen Klinik des Herrn 
Prof. A. Ch. Kusnezoff zu Charkow. 

Ein Fall von positivem centrifugalem Venenpuls 
ohne Tricuspidalinsufficienz 1 ). 

Von 

H. Fatran, Assistent der Klinik. 

Man unterscheidet bekanntlich zwei Arten von wahrem 
systolischem oder positivem Venenpulse: den centrifugalen und 
centripetalen. Der erstere wird bei Insufficientia valv. tricus- 
pidalis beobachtet und wird dabei hervorgerufen durch die vom 
Herzen aus in die Venenstämme zurtlckstllrzende Blutwelle und 
deshalb noch als regurgitirender Venenpuls bezeichnet wird. Er 
wird hauptsächlich an den Jugularvenen (freilich unter Bedin¬ 
gung der Venenklappeninsufficienz) wahrgenommen, zuweilen an 
den Venen der Extremitäten, und wird gewöhnlich, doch nicht 
immer, vom Leberpulse begleitet. Nur höchst selten kommt 
die andere Form des positiven Venenpulses, der sogenannte 
centripetale oder penetrirende Venenpuls vor, welcher, wie be¬ 
kannt, von Quincke eingehend erlernt worden ist. Zu seiner 
Entstehung ist erforderlich, dass die vom linken Ventrikel ver¬ 
laufende arterielle Pulswelle in den Capillaren nicht erschöpft 
werde, sondern bis in die kleineren Venen sich fortpflanze und 
dieselben in pulsirende Bewegung versetze. Es ist daher leicht 
begreiflich, warum diese Art von Veneupuls vorzugsweise bei 
Aorteninsufficienz angetroffen wird, da letztere für diese Erschei¬ 
nung ein besondere günstiges Zusammentreffen von Bedingungen 
bietet: anomal gesteigerter Druck in den Arterien bei gleich¬ 
zeitig rascherem als in der Norm Zusammenfallen derselben. 
Vom centrifugalen Venenpulse unterscheidet sich letztere Form 
erstens dadurch, dass sie nicht an den Jugularvenen, sondern 
an den kleineren Venen der Dorsalfläche der Hand und des 
Fusses auftritt, und zweitens, dass die Compreasion der Vene 
den Puls im centralen, nicht aber im peripheren Abschnitte 
derselben unterdrückt. 

Der von uns beobachtete Fall scheint uns ebenso interessant, 
als selten zu sein, weil der hier in Rede stehende positive Venen¬ 
puls, seinem Entstehen nach, zu keiner der oben erwähnten 
Kategorien hinzugerechnet werden kann. 

Patient W. 8., 49 Jahre alt, Maler, aufgenommen in die Klinik den 
18. October 1896. Patient stammt von gesunden Eltern, niemals ernst 
krank gewesen. Seit 4 Jahren Abmagerung, Husten, Athembeschwerden 
und Herzklopfen. Vor einem Jahre trat Oedem der Unterschenkel auf, 
das von Zeit zu Zeit verschwand. Patient mittleren Wuchses, sehr ab¬ 
gemagert: Wangen und Angen stark eingefallen; Backenknochen und 
Schlüsselbeine bedeutend hervorragend. Fossae supra- et infraclavicu- 
lares, sowie Fossae supraspinatae scharf ausgeprägt. Unterhautfett¬ 
gewebe atrophirt, Musculatur schlaff. Leistendrüsen vergrössert und 
hart. Hautfarbe im Allgemeinen blass, an den Wangen wachsgelblich. 
Lippen blässlich cyanotisch. Sclera etwas icterisch gefärbt. Füsse und 
die unteren zwei Drittel der Unterschenkel ödematös, das obere Drittel 
beider Tibiae verdickt. 8ub scrobiculo cordis sehr ausgesprochene 
Pulsation bemerkbar, die sich in das rechte Hypochondrium nicht fort¬ 
pflanzt. Herzstoss sichtbar und fühlbar im V. Intercostalraume, auf 
einer 8trecke von 2 Qnerflngern, die linke Mammillarlinie eine Finger¬ 
breite überschreitend. Am Halse nehmen wir stark ausgeprägte Pulsa¬ 
tion sowohl der Arterien, als auch der Venenstämme wahr. Die 
Jugularvenen beiderseits, ebenso die V. mediana colli sind ausgedehnt 
und erscheinen (besonders bei Horizontallage des Kranken) als blaue 
Schnüre, die lebhaft, vollkommen synchron mit dem Spitzenstoss, pul- 
siren. Diese Pulsationen sind ebenso gut bei der Athmung, wie beim 
Aufhalten derselben bemerkbar. Comprimirt man eine beliebige von den 
erwähnten Venen mit dem Finger oder dem Plessimeterrande, so über¬ 
zeugt man sich leicht davon, dass in dem oberen, peripherischen Ab¬ 
schnitte, der dabei stark anschwillt, die Pulsation momentan aufhört, 
während der untere, centrale Theil, seine, wie früher mit dem Spitzen¬ 
stoss synchronischen Pulsationen fortsetzt. Ausgedehnt erscheinen 
sämmtliche sichtbare Hautvenen am Rumpfe und den Extremitäten. Von 

1) Mitgetheilt in der Medicinischen Gesellschaft in Charkow nebst 
Demonstration des Kranken. 


letzteren pulsiren (bei Horizontallage des Patienten) Vv. cephalicae, zu¬ 
weilen Vv. basilicae, und nur höchst selten V. mediana. Auch hier 
dauert bei Compression der Vene die systolische Pulsation nurfcentral- 
wärts von der Compressionsstelle fort und verschwindet gänzlich peripher 
von derselben. An den oberen Extremitäten ist die Pulsation der A. 
brachial., A. radial, und A. ulnaris eine sehr deutliche. Der Capillarpuls 
fehlt. Die peripherischen Arterien sind geschlängelt und verhärtet. Puls 
genügend gefüllt, synchronisch und von gleicher Stärke an beiden Aa. 
radiales, arhythmisch und seinem Charakter gemäss stellt den Pulsus 
irregularis et inaequalis dar, wie das auf der beigelegten sphygmogra- 
phischen Curve zu ersehen ist. Pulsfrequenz schwankt zwischen 88, 
96 und 108. In den Lungen überall Schachtelton. der an der linken 
Vorderseite bis zur II. Rippe etwas kürzer ist. Die unteren Grenzen 
rechts: oberer Rand der VL Rippe an der Parasternallinie, oberer Rand 
der VII. Rippe an der Mammillarlinie, und oberer Rand der IX. Rippe 
an der mittleren Axillarlinie. Die Beweglichkeit der unteren Lungen¬ 
ränder ist bedeutend beschränkt. Bei Auscultatien der Lungen etwas 
abgeschwächtes vesiculäres Athmen mit hier und da vorkommende 
Rhonchi sonores. Herzgrenzen: Relative Dämpfung. Die obere Grenze 
— oberer Rand der III. Rippe; die rechte — ein Querflnger rechts vom 
rechten Sternalrande; die linke — l'/j Querflngfr links von der linken 
Mammillarlinie; die untere — der obere Rand der VI. Rippe. Absolute 
Dämpfting: die obere Grenze — der III. Intercostalraum; die rechte — 
an der Grenze zwischen dem mittleren und rechten äusseren Drittel des 
Sternums; die linke — ein Querflnger links von der linken Mammillar¬ 
linie; die untere — der obere Rand der VI. Rippe. Bei Auscultation 
des Herzens Anden wir ad apicem ein intensives systolisches Geräusch 
und den zweiten Ton. An der Auscultationsstelle der A. pulmonalis un¬ 
reiner erster und accentuirter zweiter Ton. Ueber der Aorta zwei reine 
Töne, von denen der zweite accentuirt ist. An der Auscultationsstelle 
der Valv. tricuspidales zwei reine Töne, von denen der erste accentuirt 
ist. Ueber der Vena mediana colli ein systolisches blasendes Geräusch, 
über der V. jugularis Nonnengeräusch. Ueber Aa. brachiales systolischer 
Ton. Doppelton von Traube und Doppelgeräusch von Duroziez 
fehlen. Milz normal. Leber tritt unter dem Rippenbogen an der Para¬ 
sternallinie auf 8 Querflnger hervor und ist schmerzempflndlich bei Per¬ 
cussion. Bei Palpation der Leber ist ein systolisches Aufschwellen 
dieses Organs nicht wahrzunehmen, der Leberpuls fehlt. Zunge feucht 
und rein. Appetit gut. Stuhl normal. Harnmenge schwankt zwischen 
2000—2500 ccm. Specifisches Gewicht 1,007—1,009—1,011. Kein Ei- 
weiss und Zucker. Mikroskopische Untersuchung liefert negative Re¬ 
sultate. Im Sputum keine Tuberkelbacillen. Erythrooytenzahl 3680000. 
Hb 50 pCt. nach Fleischl. Temperatur normal, 86,6—87,2. 

Auf Grund der geschilderten Ergebnisse vermögen wir in 
unserem Falle eine ganze Reihe von Bewegungserscheinungen 
an den Venen auszuschliessen, welche den eigentlichen oder 
wahren Veuenpuls simuliren können. So spricht' das Vorhanden¬ 
sein der Veneupulsationen bei unserem Patienten nicht nur beim 
Athmen, sondern auch beim Auf halten desselben gegen ihre Ab¬ 
hängigkeit von den respiratorischen Schwankungen des intra- 
thoracischen Druckes. Der Effect, welcher durch die Venen- 
compression erhalten wird und namentlich das Verschwinden der 
Pulsation peripher von der Compressionsstelle bei fortlaufendem 
Pulsiren centralwärts von derselben, berechtigt uns vollkommen 
erstens, diesen Venenpuls als einen selbstständigen, so zu sagen 
primären, nicht durch die pulsatorischen Bewegungen der be¬ 
nachbarten Arterien bedingten, anzusehen, und zweitens die 
eventuelle Abhängigkeit des systolischen Venenanschwellens von 
einer Compression der V. cava superior durch die pulsirende 
Aorta in Abrede zu stellen, — eine Abhängigkeit, auf welche 
bekanntlich Friedrich aufmerksam gemacht hatte. Endlich 
ist auch an den sogenannten physiologischen oder negativen 
Venenpuls hier nicht zu denken, welcher durch die von der 
systolischen Verkleinerung und diastolischen Vergrösserung des 
Herzens abhängigen Schwankungen des intrathoracischen Druckes 
zu Stande kommt, da wir dann nicht ein systolisches Anschwellen, 
sondern ein systolisches Abschwellen der Venen hätten. 

Auf diese Weise wird offenbar, dass ein Fall von wahrem 
Venenpulse vorliegt, den wir, weil er synchron mit dem Spitzen- 
stosse ist, als den systolischen oder positiven Venenpuls be¬ 
trachten mllssen. Was nun die Frage betrifft, welche von beiden 
der oben erwähnten Formen des systolischen Venenpulses wir 
vor uns haben, so mllssen wir vor Allem darauf hinweisen, dass, 
in Anbetracht des Effects von der Venencompression in Zu¬ 
sammenhang mit der abwesenden Pulsation der kleineren Hand- 

2 * 


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11(3 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 6. 


Curve 1. 



Curve 2. 



venen, der sogenannte centripetale Venenpuls mit vollem Rechte 
auszuschliessen ist. Wir müssen also hier den sogenannten posi¬ 
tiven centrifugalen Venenpuls annehmen, oder mit anderen Worten 
muss man schliessen, dass in unserem Falle Bedingungen tUr 
die Blutregurgitation in die Venen während der Systole gegeben 
sind. Jedoch, die volle Abwesenheit eines Geräusches an der 
Auscultationsstelle der Valv. tricuspidalis, der hier dagegen con- 
statirte erte accentuirte Ton, die ausgeprägte Pulsation sub 
scrobiculo cordis und der accentuirte II. Pulmonalton veranlassen 
uns, die Möglichkeit einer Tricuspidalinsufficienz bei unserem 
Patienten in Abrede zu stellen. Functionirt aber die Tricus- 
pidalklappe normal, so drängt sich die natürliche Frage auf, 
von wo her namentlich und aut welche Weise das Blut während 
der Herzsystole in die Venen regurgitire? Unvermeidlich bleibt 
daher die Verrauthung, dass zwischen dem rechten und linken 
Vorhofe eine Communication, sei es durch das offenstehende 
Foramen ovale, existiren müsse. Aber diese Bedingung allein 
genügt noch nicht, dass das Blut während der Systole in den 
rechten Vorhof und in die Venen regurgitiren könne. Es ist 
ausserdem noch erforderlich, dass jedesmal während der Systole 
der Druck im linken Vorhofe bedeutend höher werde, als im 
rechten, was durch eine gleichzeitige Bicuspidalinsufficienz reali- 
sirt werden kann. Da in unserem Falle einerseits eine Bicus¬ 
pidalinsufficienz zweifelsohne vorhanden ist, worauf das systo¬ 
lische Geräusch ad apicem, der hypertrophirte rechte Ventrikel 
und der accentuirte II. Pulraonalton hinweisen, und da anderer¬ 
seits wir einen positiven centrifugalen Venenpuls ohne Tricus¬ 
pidalinsufficienz constatirt haben, so müssen wir annehraen, dass 
bei unserem Patienten das Foramen ovale < ffen steht. Solche 
Diagnose, von Herrn Prof. A. Ch. Kusnezoff bei seinem klini¬ 
schen Vortrage gestellt, findet eine Bestätigung in zwei in der 
Literatur beschriebenen Fällen, welche zur Autopsie gekommen 
sind. Der erstere ist von Dr. Reisch 1 ) veröffentlicht worden 
und bezieht sich auf einen Kranken, bei welchem eine systo¬ 
lische Venenpulsation nebst einer Bicuspidalinsufficienz beobachtet 
wurde, ohne gleichzeitige Insufficientia valv. tricuspidalis. Die 
Obduction zeigte ausser der Mitralläsion eine ungenügende Ent¬ 
wicklung der Klappe des Foramen ovale, an deren vorderem 
Rande ein halbmondförmiger Ausschnitt constatirt war, „der mit 
dem vorderem Theile des Isthmus eine Spalte von der Grösse 
des Kleinfinger-Nagelgliedes umgab.“ Ein völliges Analogon 
dieses Falles wurde von Rosenstein 2 ) beobachtet. 

Nachtrag am 26. XI. Der Patient befindet sich in der 
Klinik schon 5 Wochen und wurde mit Digitalis, Eisenpillen 
(Blaud) und Kali jodat. behandelt. In seinem Befinden sind 
folgende Veränderungen zu notiren: Die Gesichtsfarbe—weniger 
blass; Oedem — verschwunden. Rechte relative Herzgrenze — 

1) Schmidt’s Jahrbücher der in- und ausländischen gesammten 
Medicin. Bd. 118, 1868, S. 82. 

2) ZiemBsen’s Handbuch der speciellen Pathologie und Therapie. 
Bd. VI, S. 82. 


am rechten Rande des Sterum. Leber tritt unter dem Rippen¬ 
bogen nur 1'/, Querfinger hervor. Ervthrocythenzahl 4.320000; 
Hb. 74 pCt. nach Fleischl 1 ). Unterdessen sind die Er¬ 
scheinungen der Venensysteme — unverändert. 


IV. Aus Dr. Turban’s Sanatorium in Davos. 

Das Verhalten des Zwerchfellphänomens bei 
Lungentuberculose. 

Von 

Dr. E. Rumpfe 2. Arzt der Anstalt. 

Das Zwerchfellphänomeu wurde zuerst von Litten als 
constante physiologische Erscheinung erkannt’ und beschrieben 
(Deutsche med. Wochenschr. 1892, No. 13). Trotz wiederholter 
Empfehlung des Autors scheint dasselbe bis jetzt noch nicht die 
gewünschte Verbreitung in der Praxis gefunden zu'haben. Speciell 
für Lungentuberculose scheint das Phänomen noch wenig studirt 
zu sein. Ich habe deswegen zusammen mit Herrn Hofrath Turban 
unser Anstaltsmaterial (70 Fälle) daraufhin untersucht, und es 
ist mir eine angenehme Pflicht, meinem hochverehrten Herrn 
Chef für die Ueberlassung des Materials und seine liebens¬ 
würdige Unterstützung bei der Arbeit meinen verbindlichsten 
Dank auszusprechen. 

Litten versteht unter dem „Zwerchfellphänomen“, wie 
er 1895 auf dem Congress für innere Medicin sagte, „den sicht¬ 
baren Ausdruck der successive fortschreitenden Ablösung (oder 
Abhebung) des Zwerchfells von der Brustwand bei dessen Tiefer¬ 
treten während der Inspiration, sowie seine successive fort¬ 
schreitende Anlegung an die Brustwand beiin Höhertreteu wäh¬ 
rend der Exspiration“. 

Vorbedingungen für das .Sichtbarwerden des Phänomens 
sind ganz horizontale Lagerung des genügend entblössten Pa¬ 
tienten mit den Füssen gegen das Fenster, ferner sehr helle, 
einseitige Beleuchtung und — was ich besondere hervorheben 
möchte — maximale abdominelle (s. u.) Athmung. 

Litten sagt mit Recht, dass Jeder das Phänomen sehen 
muss, der es sehen will, und wer die eigentümlich schatten¬ 
hafte Linie, welche genau den jeweiligen Stand des Zwerchfells 
bezeichnet, einmal deutlich am Thorax ab- und aufwärts sich 
bewegen sah, wird sie später gewiss nicht verkennen oder mit 
etwas Anderem verwechseln. 

Für die anatomisch-physiologische Erklärung des 
Zwerchfellphäuomen8 nimmt Litten wohl mit Recht eine Suin- 
mirung der Wirkung zweier Momente an.~' Erstens werden bei 
der Inspiration die Intercostalräume eingedrückt, resp. angesogen 
durch den in den untersten Lungenpartien entstandenen nega¬ 
tiven Druck (Gad 2 )), und zweitens werden die Baucheingeweide, 
besonders direct unter dem Zwerchfell nach aussen gedrückt, 
worauf Be eher : ‘) das grössere Gewicht legt. 

1) Körpergewicht des* Kranken gegenwärtig 58 Kilo, bei der Auf¬ 
nahme in die Kliuik 55 Kilo. 

2) Gad citirt bei Becher s. nächste Note. 

3) Becher, Anatomisch-physiologische Bemerkungen zu dem von 
Litten beschriebenen Zwerchfellphänomen bei normaler Athmung 
(Deutsche med. Wochenschr. 1893, pag. 54). 


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BERLINER KLINISCHE \V0(’1 lENSC’HK1 FT. 


117 


ft. Februar 1HJ>7. 


Der Werth der Kenutniss dieses Phänomens für den 
physiologischen und klinisch-propädeutischen Unter¬ 
richt leuchtet sofort ein. Besser als durch jede theoretische 
Beschreibung und besser als durch Thierexperiment und ana¬ 
tomische Demonstration wird der Student durch Betrachtung des 
Zwerchfellphänomens beim lebenden Menschen die Thätigkeit 
des Zwerchfells verstehen lernen, und durch die Thatsache, 
dass er bei Feststellung der unteren Luugengrenzen mittels 
Markirung der Phänomengrenzen, mittels Percussion und mittels 
Auscultation das gleiche Resultat findet'), wird ihm selbst die 
Controle der Untersuchungsmethoden und der eigenen Technik 
in die Hand gegeben. Sodann lehrt die Beobachtung des Zwerch¬ 
fellphänomens die Ausgiebigkeit der Athmung und Ausdehnung 
der Lungen mit einem Blick zu übersehen und überhaupt den 
Unterschied zwischen oberflächlicher und tiefer, costaler und ab¬ 
domineller Athmung richtig zu würdigen. Ferner ist das Ver¬ 
ständnis» der für die Diagnose so wichtigen respiratorischen Ver¬ 
schiebung der abdominellen Organe leicht möglich, nachdem die 
respiratorische Bewegung des Zwerchfells richtig erkannt und 
ad oculos demonstrirt wurde. Auch für die Bestimmung der 
unteren Herzgrenze kann das Zwerchfellphänomen werthvoll 
sein (Litten); da es jedoch sehr häufig nur in einer gewissen 
Entfernung vom Herzen, in den seitlichen Thoraxpartien, sichtbar 
ist, so bleibt diese Bestimmung doch ebenso nur eine indirecte, 
wie die durch percutorische Feststellung der vorderen Lungen¬ 
lebergrenze gewonnene. 

Die normale Localisation (obere Grenze etwa in der 
Höhe der 7. Rippe, untere Grenze etwa in der Höhe der 9. Rippe) 
und die normale Extensität des Zwerchfellphänomens (6—7cm), 
d. h. der Ausschlag, die Amplitude des Zwerchfells, wurde von 
Litten aus dem Durchschnitt einer sehr grossen Zahl von Be¬ 
funden genau festgestellt. 

Die Intensität kann auch bei Gesunden erheblich beein¬ 
trächtigt werden durch das Vorwiegen des costalen Athmungs- 
typus und durch Fettleibigkeit. Letztere erwies sich uns, auch 
wenn sie in bedeutendem Maasse vorhanden war, bei der aus¬ 
gesucht guten Beleuchtung, Uber die wir hier verfügen, weniger 
hinderlich. 

Damit das Zwerchfellphänomen immer in seiner ganzen 
Ausdehnung und Deutlichkeit zur Erscheinung kommt, müssen 
in jedem einzelnen Falle alle Vorbedingungen erfült sein. Z. B. 
sahen wir einmal bei einem jungen, mageren, aber muskel¬ 
kräftigen Manne (Rippen deutlich sichtbar, Serratus anticus-An- 
sätze wie präparirt) trotz forcirter Athmung keine Spur von 
einem Zwerchfellphänomen, obwohl eine Erkrankung irgend 
welcher Art, welche diesen gänzlichen Mangel erklärt hätte, 
nicht bestand. Patient hatte eine doppelseitige, leichte tuber- 
culösc Spitzenaffection, die unteren Lungenpartien waren ganz 
frei, und von einer Pleuritis oder Ueberresten einer solchen war 
absolut nichts zu finden. Das Abdomen war zur Zeit der Unter¬ 
suchung schiaß und nirgends druckempfindlich. Bei genauerem 
Zusehen bemerkte mau bald, dass bei dem Patienten von einem 
abdominellen Athmungstypus schlechterdings nicht die Rede sein 
konnte; er liess sein Zwerchfell fast ganz ruhig gestellt, und 
von einer epigastrischen Vorwölbung bei der Inspiration war 
nichts zu sehen. Der intelligente Patient, welcher Anfangs schon 
auf unser Gcheiss tief geathmet hatte, wurde nun ermahnt, 
speciell mit dem Bauche zu athmen, und sofort wurde das Zwerch¬ 
fellphänomen beiderseits sichtbar; sonderbarer Weise zuerst und 

1) Die Percussion und Auscultation muss dann, ebenso wie die In- 
spection des Phänomens, in horizontaler Rückenlage vorgenommen 
werden, weil in aufrechter Haltung bei manchen Menschen, in Seiten¬ 
lage beijallcn Menschen die Lnngenlebergrcnze sich verschiebt (vergl. 
Weil, Handb. u. Atlas der topographischen Percussion S. 97). 


am deutlichsten auf der rechten, kränkeren Seite, während es 
auf der viel weniger erkrankten, linken Seite erst recht deut¬ 
lich wurde, nachdem der Patient aufgefordert worden war, mit 
der linken -Seite vorwiegend zu athmen. Auch sonst sahen wir 
häufig, besonders bei Frauen, eine bedeutende Zunahme sowohl 
der Deutlichkeit, wie der Ausdehnung des Phänomens, wenn die 
Patienten gehörig zu abdomineller Athmung angeleitet 
wurden. Die überwiegend costale Athmung und Ruhigstellung 
des Zwerchfells, welche in dem obigen Falle jede Andeutung 
des Phänomens verhinderte, muss wohl als eine Angewohnheit auf¬ 
gefasst werden, vielleicht erklärt durch ein chronisches, schmerz¬ 
haftes Darmleiden, an welchem Patient bis vor Kurzem gelitten hatte. 

Dieser Fall zeigt, dass bei Massenuntersuchungen, für 
welche Litten das Zwerchfellphänomen besonders empfohlen 
hat, bezüglich der Verwerthung desselben für die Diagnose Vor¬ 
sicht geboten ist, denn sowohl Ungeschicklichkeit, w’ie Will¬ 
kür des Patienten könnten in einem solchen Falle ein ganz 
falsches Bild geben. 

Abgesehen von solchen Ausnahmen ist jedoch das Phänomen 
auch für ein wenig geübtes Auge sofort deutlich genug, — wenn 
auch nicht rings um den ganzen Thorax herum, so doch in den 
seitlichen Partien, meist in der vorderen Axillarlinie —■ um 
auch diagnostisch verwerthet werden zu können. 

Die grosse Vieldeutigkeit des Phänomens und seiner 
Abweichungen ist jedoch der Verwendung für die Diagnose nicht 
forderlich. Eine Abweichung von der Norm kann bewirkt 
werden durch pathologische Veränderungen, resp. Functionsstörun¬ 
gen erstens des Zwerchfells selbst, zweitens der Pleura und der Brust¬ 
organe und drittens der unter dem Zwerchfell liegenden Organe. 

Bei Lüngentuberculose, wenigstens wenn die Krankheit 
einen solchen Grad erreicht hat, dass sie ausgesprochene, 
klinisch nachweisbare Symptome macht, sind Abweichungen von 
der Norm bei Weitem das Häufigere, jedoch schliesst ein 
beiderseits normales Zwerchfellphänomen das Bestehen 
einer Lungentuberculose nicht aus. Wir fanden bei unseren 
70 Fällen von Lungentuberculose nur Bmal gar keinen Unter¬ 
schied von der Norm und zwischen den beiden Seiten. Es 
handelte sich dabei nur um leichteste, doppelseitige Spitzen- 
affectionen; in einem 6. Fall fanden wir ebenfalls beiderseits 
ein Zwerchfellphänomen von einer Amplitude von 0 cm trotz 
folgenden Befundes: 

Rechts vorn bis zur 4. Rippe leichte Dämpfung, unbe¬ 
stimmte Athmung und mittelblasiges Rasseln, hinten bis etwas 
unter die Mitte der Scapula leichte Dämpfung, rauhe^Athnnmg 
und mittelblasiges Rasseln; rechts unten abgeschwächtes Athmen 
(vor wenigen Monaten daselbst kleines pleuritisches Exsudat). 
Links in der Spitze rauhe Athmung; links hinten unten als Rest 
einer alten Pleuritis eine daumenbreite Abschwächung des Per¬ 
cussionsschalles, des Stiramfremitus und der Athmung. 

Bei diesem Falle bestand jedoch insofern ein Unterschied 
zwischen den beiden Seiten, als auf der kränkeren Seite, wo 
auch das frischere, pleuritische Exsudat bestanden hatte, das 
Phänomen nur in der vorderen Axillarlinie zu sehen war, wäh¬ 
rend es auf der anderen Seite breit nach vom und nach der 
Axilla zu sichtbar war. 

Bei allen anderen Fällen fanden wir eine Abweichung 
des Zwerchfellphänomens von der Norm und zwar alle mög¬ 
lichen Veränderungen und Combinationen. 

Eine doppelseitige, ganz oder annähernd gleich- 
massige Verminderung des Zwerchfellphäncymens fanden wir 
29 mal bei unseren 70 Fällen. Dabei konnte von allgemeiner 
-Schwäche nirgends die Rede sein; eingerechnet sind hierbei aber 
5 Frauen, bei denen der costale Athmungstypus nur eine 
schwache Andeutung des Phänomens erkennen liess. 

3 


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118 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. O. 


Doppelseitiges, vollständiges Fehlen des Phänomens 
fanden wir nur einmal und zwar bei einem jungen, mageren 
Manne, der an doppelseitiger Pleuritis mit leichtester Affection 
der rechten Spitze litt. 

Bei den Fällen von doppelseitiger Verminderung waren in 
der Mehrzahl der Fälle die unteren Lungenpartien frei. Nur 
bei G Fällen reichte die Krankheit auf einer Seite bis an die 
untere Grenze. Es zeigen also diese Fälle, wie häufig auch bei 
Lungentuberculose, und zwar auch wenn sie ganz auf die Ober¬ 
lappen beschränkt ist, eine doppelseitige Verminderung des 
Zwerchfellphänomens gefunden wird. Dabei ist natürlich nicht 
ausgeschlossen, dass hie und da gleichzeitig etwas Emphysem 
mit im Spiele ist. Ueberhaupt wird man mit Litten, wenn man 
beiderseits eine Verminderung des Zwerchfellausschlags findet, — 
abgesehen von allgemeiner Schwäche, Fettleibigkeit und Processen, 
bei denen fast ausschliesslich Costalathmung vorhanden ist, — in 
erster Linie an ein Emphysem denken. Man muss sich jedoch auch 
immer gegenwärtig halten, dass ausser Lungentuberculose sehr leicht 
pathologische Veränderungen, welche eine einseitige Verminderung 
des Ausschlags verursachen (s. u.), auch doppelseitig vorhanden 
sein können, z. B. pleuritische Schwarten, wie bei dem obigen 
Falle, oder dass z. B. auf der einen Seite die Reste einer alten 
Pleuritis die Verminderung bewirken, während nur auf der 
anderen Seite ein Emphysem besteht. 

Einseitige Verminderung des Zwerchfellphänomens 
fanden wir im Ganzen bei 34 von 70 Patienten. 

Dabei war (5mal beiderseits das Zwerchfellphänomen in einer 
Ausdehnung von mindestens G cm sichtbar, aber doch auf der 
kranken resp. kränkeren Seite gegenüber der anderen etwas 
vermindert. 

Eine ausgesprochen einseitige Verminderung des Zwerch¬ 
fellphänomens derart, dass dasselbe auf einer Seite nicht ganz 
fehlt, aber doch wesentlich vermindert ist, oder dass es zwar auf 
keiner Seite ganz die Norm erreicht, aber doch auf der einen 
Seite fast normal ist, während es auf der anderen Seite nahezu 
oder ganz aufgehoben ist, ist bei Lungentuberculose ein häufiger 
Befund (10 von 70 Fällen). Wenn ein Theil der Lunge nicht 
functionirt, einerlei, ob in den oberen oder den unteren 
Partien der Lunge, so muss die Gesammtausdehnung der 
Lunge, welche bei vorwiegend abdominellem Athmungstypus haupt¬ 
sächlich in der Richtung nach unten, gegen das Abdomen erfolgt, 
natürlich entsprechend geringer ausfallen, der Zwerchfellausschlag 
kann nicht so ausgiebig sein, und das Zwerchfellphänomen muss 
daher auch eine entsprechende Verminderung erfahren. Es werden 
deswegen — von subphrenischen Processen abgesehen — ausser 
Tumoren im Thoraxraum, ausser geringen Luft- oder Flüssig- 
keitsergüssen in den Pleuraraum, ausser Schwartenbildungen 
und Verwachsungen des Zwerchfells auch alle anderen Lungen¬ 
erkrankungen, z. B. nichttuberculöse Pneumonien in den oberen 
Lungenpartien in ähnlicher Weise eine Verminderung des 
Phänomens herbeiführen. Mit einer einzigen Ausnahme befand 
sich bei allen unseren Fällen von Lungentuberculose, bei welchen 
eine, w r enn auch ganz geringe Verminderung der Zwerchfell¬ 
phänomens gegenüber der anderen Seite gefunden wurde, diese 
auf der Seite der erkrankten, bezw. der am meisten erkrankten 
Lunge, wogegen unter 19 Fällen, bei denen bei gesunden unteren 
Lungenpartien eine Pleuraaffection oder Reste einer solchen sich 
nach weisen Hessen, 4 mal gerade auf dieser Seite das Zwerch¬ 
fellphänomen ausgiebiger sichtbar war. 

Ein einseitiges vollständiges Fehlen des Phä¬ 
nomens bei vollständig normalem Befund auf der an¬ 
deren Seite wird ausser durch einseitige Zw’erchfelllähmung 
nach Litten bedingt durch eine Pneunomie des Unterlappens 
oder durch einen bedeutenden freien Flilssigkeits- oder Luft¬ 


erguss in den Pleuraraum (Empyem, Pleuritis exsudativa, Ilydro-, 
Ilämato-, Pneumothorax). Es braucht aber im ersteren Falle 
durchaus nicht eine typische, lobäre Pneumonie des Unterlappens 
vorhanden zu sein, sondern nach unseren Erfahrungen genügen 
bei erheblicher Erkrankung der Spitze in den unteren Lungen- 
parthien oft kleinste, physikalisch kaum nachweisbare, in ge¬ 
sundes Lungengewebe eingebettete Herde, um auf der Seite das 
Phänomen vollständig aufzuheben. Wir fanden bei G von unseren 
70 Patienten das Phänomen in der Weise, oder indem mit der 
Spitzeuaffcction eine Erkrankung der Pleura combinirt war, ein¬ 
seitig vollständig aufgehoben, während es auf der anderen Seite 
mindestens G cm breit sichtbar war. Bei Fällen in den letzten 
Stadien der Phthise, welche unser Anstaltsmaterial nicht enthält, 
wird man wahrscheinlich häutiger auf beiden Seiten ein voll¬ 
ständiges Fehlen des Phänomens finden, mag es nun durch die 
Ausbreitung der Krankheit oder durch Combination mit Pleuri¬ 
tiden oder durch allgemeine Schwäche bedingt sein. Bei den 
Fällen von bedeutendem Flüssigkeits- oder Lufterguss in den 
Pleuraraum ist ja durch den hohen, intrapleuralen Druck 
das Zwerchfell ruhig gestellt. Aber auch wenn dieser Druck 
durch operative Eröffnung der Brusthöhle aufgehoben 
ist, kann, obgleich man während und längere Zeit nach der 
Operation durch die Wundöffnung das Zwerchfell, zwar mit ver¬ 
minderter Amplitude, aber deutlich auf- und absteigen sieht, ein 
Zwerchfellphänomen nicht zu Stande kommen, weil die atmo¬ 
sphärische Luft aus- und einströmt, und deswegen eine An¬ 
saugung der Intercostalräume natürlich nicht stattfinden kann. 
So sahen wir z. B. bei einem Fall von offenen Pyo-Pneumo- 
thorax, bei welchem Turban zuerst eine Empyemope¬ 
ration, später ausgedehnte Rippenresectionen (sog. Thoraco- 
plastik) gemacht hatte, auf der kranken Seite garnichts von 
einem Zwerchfellphänomen, während es auf der anderen Seite 
7 cm breit sichtbar war. Bei einem ähnlichen Fall, bei welchem 
wegen eines tubereu lösen Empyems ebenfall an der 4. bis 
8. Rippe grosse Resectionen gemacht worden waren (Koehl und 
Krönlein), war auch auf der kranken Seite nichts und auf 
der anderen Seite ein G cm breites Zwerchfellphänomen sichtbar. 
Bei einem anderen Fall, bei welchem die rechte Lunge gesund 
war, während die linke von oben bis unten mit grossen, tuber- 
culösen Cavemen durchsetzt war, hatten wir vor der Operation 
auf der gesunden Seite ein 5 cm breites Zwerchfellphänomen 
und auf der kranken Seite nichts gefunden. Hier resecirte 
Turban grosse Stücke von 4 Ubereinanderliegenden Rippen, 
ohne die Pleurahöhle zu eröffnen. Drei Monate nach der Ope¬ 
ration, durch welche eine colossale Schrumpfung der kranken 
Seite erreicht woiden war, fanden wir auf der gesunden Seite 
ein 6 cm breites Zwerchfellphänomen und auf der anderen Seite 
nach wie vor kein Phänomen. 

Schliesslich sei hier noch ein vierter chirurgischer Fall er¬ 
wähnt, bei welchem es sich zwar nicht um Tuberculose, sondern 
um einen Lungenabscess handelt, welcher von Turban 
entleert wmrde und jetzt durch zweimalige, grosse Re¬ 
sectionen an der 4. bis 7. Rippe (Krönlein und Turban) bis 
auf eine kleine Fistel zur Heilung gebracht ist. Bei diesem 
Fall fanden wir IG Monate nach der letzten Operation bei guter 
Athmung der oberen Lungenparthien auf der kranken Seite auch 
gar kein Phänomen und auf der gesunden Seite bei dem gra 
eilen Thorax des 11jährigen Knaben ein Phänomen von G,G cm 
Breite. Die vermehrte, vicariirende Ausdehnung und Arbeits¬ 
leistung der gesunden Lunge wurde hier also sehr schön durch 
das Zwerchfellphänomen deutlich gemacht. 

Durch die Thatsache, dass bei einer so eminent häufigen 
Krankheit wie der Lungentuberculose in der ganz überwiegenden 
Mehrzahl der Fälle eine Veränderung des Zwerchfellphänomens 


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8. Februar 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


119 


und zwar alle verschiedenen Abweichungen von der Norm ge¬ 
funden werden, wird nun freilich der diagnostische Werth 
des Phänomens nicht erhöht, vielmehr wird dadurch die Viel¬ 
seitigkeit des Zwerchfellphänomens noch viel grösser. Dazu 
kommt, dass der diagnostische Werth des Zwerchfellphänomens 
aus dem Grunde immer ein relativer bleibt, dass man durch 
Erhebung des Zwerchfellbefundes niemals sich die genauere 
Untersuchung durch die anderen Methoden ersparen kann. Denu 
weder beweist ein normaler Befund, dass alle Organe, welche 
eine Veränderung des Zwerchfellphänomens verursachen können, 
gesund sind, noch kann man bei einem abnormen Befunde aus 
der Verschiedenartigkeit der Abweichung von der Norm sicher 
auf eines der in Betracht kommenden Organe, geschweige denn 
auf eine bestimmte Krankheit dieses Organes schliessen. 

Speciell für die Lungentuberculose hat das Litten’sche 
Zwerchfellphänomen keine wesentliche, diagnostische Bedeutung. 
Zwar kann man sagen, dass in der Regel bei Lungentuberculose 
das Zwerchfellphänomen auf der kranken bezw. kränkeren Seite 
gegenüber der anderen vermindert gefunden wird; ferner ist es 
Regel, dass bei Lungentuberculose das Zwerchfellphänomen ver¬ 
mindert gefunden wird, wenn die Krankheit eine gewisse Aus¬ 
breitung erreicht hat (bei Spitzenaffectionen etwa, wenn die 
Krankheit vorn bis unter die 2. Rippe und hinten unter die 
Mitte der Scapula hinabreicht). Ausschlaggebenden Werth hat 
jedoch das Zwerchfellphänomen weder für die Diagnose noch 
fllr die Beurtheilung des Falles. Die Diagnose einer Lungen¬ 
tuberculose ist durch einen normalen Zwerchfellbefund keines¬ 
wegs ausgeschlossen, und ein abnormer Befund kann eben so 
wohl durch alle möglichen anderen Krankheiten oder Zufällig¬ 
keiten verursacht werden. Ebensowenig kann man — wie aus 
den obigen Ausführungen hervorgeht — bei Lungentuberculose 
flir die Beurtheilung der Schwere des Falles aus dem Zwerch¬ 
fellbefunde sichere Schlüsse ziehen; man kann höchstens sagen, 
dass bei beiderseits in Höhen- und Breitenausdehnung 
absolut normalem Zwerchfellphänomen eine Uber 
grössere Theile der Lunge ausgedehnte Erkrankung 
au8zuschliessen ist. 

Es wäre nun aber sehr falsch, wenn man deswegen das 
Litten'sche Zwerchfellphänomen ganz aus der Praxis verbannen 
resp. gegen die Einführung desselben sich ganz ablehnend ver¬ 
halten wollte, denn abgesehen von dem Werth dieses hübschen 
und instructiven Phänomens für den physiologischen und klini¬ 
schen Unterricht, der nicht genug hervorgehoben werden kann, 
giebt es doch auch in der Praxis Fälle, wo das Zwerchfell¬ 
phänomen auschlaggebend sein kann; so für subphrenischen Ab- 
scess und Zwerchfellhernie. (Litten, Deutsche Aerzte-Zeitung, 
No. 1, 1895.) 

Auch zur Beurtheilung therapeutischer Erfolge bei 
Pneumotherapie (Litten) kann das Zwerchfellphänomen Ver¬ 
wendung finden. Wir beobachteten hier wiederholt ohne be¬ 
sondere Pneumotherapie, im Verlauf der Freiluftcur im Hoch¬ 
gebirge, einhergehend mit der fortschreitenden Besserung eine 
erhebliche Zunahme des Zwerchfellausschlags, in einem Falle 
sogar eine Verdoppelung desselben (zuerst rechts 4, links 4,5 cm 
und nach 3 */ 2 Monaten rechts 8,5 und links 8,25 cm). 

Wir fanden, dass diese Zunahme immer der Zunahme der 
Lungencapacität entspricht, welche wir regelmässig durch den 
Spirometer feststellen. Natürlich kann eine Zunahme sowohl 
der spirometrischen Capacität, wie des Zwerchfellausschlags 
auch durch grössere Uebung des Patienten bedingt sein. 

Ebenso zur Abschätzung behinderter Lungenthätig- 
keit nach pleuritischen Exsudaten und Verletzungen resp. zur 
Entlarvung von Simulanten kann unter Umständen das Zwerch- 
fellphäuomen von Werth sein. Aber wenn man auch in forensi¬ 


schen Fällen, in denen die Verletzten behaupteten, nicht ordent¬ 
lich athmen zu können (z. B. nach Rippenfracturen, die voll¬ 
ständig verheilt waren), auf Grund des in normaler Weise 
sichtbaren Phänomens die Simulation zuweilen nachweisen kann 
(Litten, Deutsche Aerzte-Zeitung, No. 1, 1895), so muss man 
daneben doch auch wissen, dass — wie unsere oben erwähnten 
Fälle beweisen — dadurch das Bestehen einer — vielleicht 
traumatischen Lungentuberculose keineswegs ausgeschlossen wäre. 

Gerade in dem Umstand, dass der Zwerchfellbefund durchaus 
nicht immer der Schwere der Erkrankung entspricht, ferner in 
dem Umstand, dass verschiedenartige Erkrankungen aller mög¬ 
lichen Organe, und dass schliesslich auch andere Factoren, wie 
Geschlecht, Grad der Fettleibigkeit, Gewohnheit, Intelligenz und 
Willkür des Patienten die Veränderung des Phänomens beein¬ 
flussen, ist der Grund dafür zu suchen, dass das Litten’sche 
Zwerchfellphänomen als diagnostisches Hilfsmittel eine weite 
Verbreitung nicht finden wird. 


V. Aus der II. medicinischen Klinik des Herrn 
Geheiinrath Professor Dr. Gerhardt. 

Ueber Folgezustände von pericardialen 
Obliterationen. 

Von 

Dr. M. Heidemann) Volontairarzt der Klinik. 

(SchlusB.) 

VII. Autor: Henoch. 1 ) 

5jähriger Knabe. Vor 2 Jahren Scarlatina. Seit 14 Tagen Husten, 
Dyspnoe, Blässe und Abmagerung; starkes Oedem des Gesichts, der 
unteren Extremitäten. Ascites (71cm Bauchnmfang). Leber hart, 
8 Querflnger unter dem Rippenbogen. Rechtsseitiger Ilydrothorax. 
Umfang rechts 31, links 24 cm. Herzumfang normal, Töne rein, aber 
schwach; keine systolische Einziehung. Spitzenstoss diffus. Urin spär¬ 
lich, 800 gr täglich, normal. Verdauung gut, kein Fieber. P. 120 regel¬ 
mässig. — Thoracocenthesis rechts. 300 gr klaren Serums, wenig ei¬ 
weisshaltig. 8 Tage später Fieber (88,6), Unruhe, grosse Dyspnoe. 
In Narkose vor der II. Punction Exitus letalis. 

Obductionsbefund: Im Bauch 300gr(?) Serum. Rechte 
Pleurahöhle ebenfalls ganz gefüllt. Auch links etwa 800 gr 
Serum. Totale Synechie des Herzbeutels; in den schwieligen 
Adhäsionen sind ausgedehnte gelbe, trockene Massen eingesprengt (theils 
fettiger, theils amorpher Detritus). Rechter Ventrikel eng, sehr 
dünnwandig, vielfach fibrös entartet. Pleura überall fibrös 
verdickt. Leber vergrössert, höckerig uneben, mit leicht ver¬ 
dickter Kapsel, von vielen fibrös verdickten Strängen durch¬ 
zogen, anämisch. Milz sehr gross. Im Jcjanum 2 kleine Ge¬ 
schwüre. Nieren indurirt, gross, glatt. 

Hierzu bemerkt Henoch: „Obwohl sichere anamnestische 
Thatsachen fehlten, ist doch das anatomische Bild, neben den 
vielfachen fibrösen Veränderungen, besonders der Zustand der 
Leber, so geartet, dass der Fall zu den in der Kindheit sehr 
seltenen Beispielen von Peri- und Myocarditis syphilitica mit 
gummösen Bildungen in den Schwielen des Herzbeutels gerechnet 
werden muss.“ 

Ich glaube, man braucht hier nicht seine Zuflucht zur 
Syphilis zu nehmen; auch dieser Fall passt vollkommen in das 
Bild der einfachen Pericarditis mit Synechie; denn, wie wir 
unten noch sehen werden, kommen die fibrösen Veränderungen 
nnd die höckrige Leber hierbei recht häufig vor, und die gelben 
trockenen Massen dürften, wohin schon ihre Einlagerung in den 
schwieligen Adhäsionen hinweist, eher inspissirte Ueberreste 
eines Pericardexsudates als gummöse Bildungen sein, die doch 
höchst selten in pathologischen Neubildungen zu finden sind. — 

Der Grund, warum in diesen Fällen Irrthümer in der Dia¬ 
gnose gemacht werden mussten, lag darin, dass während des 

I) Vorlesungen Uber Kinderkrankheiten. 1895, pag. 442. 

8 * 


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120 


No. fi 


BERLINKK K L1NISCIIK WO< ’l I ENS< IHM FT. 


Lebens eine Erkrankung des Herzens nicht nachgewiesen werden 
konnte und die bei der Section gefundene Synechie und Myo¬ 
degeneration wohl die cyanotischen und Stauungserscheinungen 
in Leber, Milz und Nieren, durchaus nicht aber das Auftreten 
des Ascites ohne vorhergegangenes Oedein der unteren Extremi¬ 
täten erklärlich machten. Sicher ist der Erguss in der Bauch¬ 
höhle in diesen Krankengeschichten die auffälligste Erscheinung. 

Wenn dieser auch von einzelnen Antoren, wie es von Vier- 
ordt im 4. und 5. und von Riedel im G. Falle geschehen ist, 
in Rücksicht auf die Verdickung und Schwartenbildung am Peri¬ 
toneum als entzündlicher Erguss, entsprechend dem Verlaufe 
einer chronischen idiopathischen Exsudativperitonitis, angesehen 
wurde, so muss man doch zugeben, dass das Krankheitsbild 
klinisch und anatomisch einheitlicher erscheint, sobald man den 
Erguss in der Bauchhöhle als Stauungsascites auft'asst. Die 
Kranken zeigen sämmtlich Erscheinungen von Herzschwäche, wir 
finden hochgradige Cyanose und Dyspnoe und einen kleinen fre¬ 
quenten Puls; bei der Obduction finden wir Entartungen des 
Herzmuskels, prall gefüllte Venen, die Unterleibsorgane im Zu¬ 
stande ausgesprochener Stauungshyperämie, mitunter auch capil- 
läre, selbst grössere Blutungen in und aus den Schleimhäuten. 

Im 2. Falle sind zw r ar nähere Angaben Uber die Abdominal¬ 
organe nicht gemacht, doch sprechen auch hier die starke Cya¬ 
nose und die Oedeme sogar der oberen Extremitäten für all¬ 
gemeine Kreislaufstörungen. Auch im 3. Falle müssen allgemeine 
Circulationsstöruugen angenommen werden; denn die durch 
Bindegewebswucherung bedingte theilweise Verlegung der Lebcr- 
venen-Lumina kann nur die Entstehung des Ascites begünstigt, 
nicht aber die Oedeme der unteren Extremitäten und des Bauches 
verursacht haben, die übrigens schon zu einer Zeit erwähnt 
wurden, in der bei der klinischen Untersuchung eine chronische 
Peritonitis, aber noch kein Ascites gefunden wurde, der secundär 
diese Stauungen veranlasst haben könnte. Die Angaben viel¬ 
mehr über „grosse Athemnoth bei normalen Herztönen und 
Lungen“ und die Thatsache, dass durch Bettruhe die Oedeme 
schwanden, weisen darauf hin, dass auch in diesem Falle eine 
Schwäche des Herzens vorlag. 

Haben wir demnach Grund genug, den Ascites als Stauungs¬ 
ascites anzusehen, so entsteht die Frage: warum tritt nur dann, 
wenn Synechie die Herzinsufficienz veranlasst, der Hydrops zuerst 
und vornehmlich als Hydrops ascites auf? 

Die wenigen Kliniker, die sich mit dieser Frage beschäftigt 
haben, haben sie ein jeder in anderer Weise zu lösen gesucht. 

Pick 1 ) geht von den Veränderungen in der Leber aus; er 
nimmt als Folge der Stauungshyperämie Bindegewebswucherung 
in der Leber an, die ihrerseits wieder die Ursache zur Stauung 
in dem Wurzelgebiet der Pfortader abgiebt. 

Diese Theorie, die Pick auf Grund 3 selbstbeobachteter, 
sowie einer Reihe aus der Literatur zusammengestellter Fälle 
aufgebaut hat, scheint etwas Richtiges zu enthalten; in den 
meisten Obductionsberichten sind in der That Bindegewebs¬ 
wucherungen an und in der Leber angegeben; aber auch nur 
für diese Fälle passt sie; sie muss fallen, wenn, wie z. B. in 
unserem 2. Fall besonders hervorgehoben wurde, die Leber 
keinerlei Veränderung aufweist. Zudem drängt sich hier stets 
die Frage auf, warum reagirt nur bei der durch Synechie ver- 
anlassten Stauung die Leber so oft und in so hohem Grade mit 
Wucherung des Bindegewebes? 

Most 1 ) ist der Ansicht: die Stauungserscheinungen nehmen 
im Pfortaderkreislaufe nur deshalb einen so hohen Grad an, 


1) Zeitschr. f. klin. Med. 1896, Bd. 29, p. 385. 

2) Adherent pericard with ascites and anasarca. The I’ractitioner. 

February 1887. Refer. Forschritte der Med. 1887, p, 481. 


weil hier das Blut 2 grosse Capillargebiete zu durchlaufen liat: 
demnach müssen alle (’irculationsstörungen hier im Gebiete der 
Pfortaderwurzeln auch schwerere Erscheinungen im Gefolge 
haben. 

Diese Erklärung ist unhaltbar: denn bei ihrer Annahme 
müsste bei allen Herzfehlern die Stauung sich vorwiegend im 
Abdomen geltend macben, was bekanntlich nicht zutriftt. 

Uosenbach 1 ) legt Werth auf die ausgedehnten fibrösen 
Veränderungen des Leberüberzuges. Eire positive Erklärung für 
den Ascites giebt er allerdings nicht: er führt aber aus, dass er 
nicht eine Folge einfacher Ilerzmuskelinsufficienz sein könne. 
„Hier müssen besondere Verhältnisse in Wirksamkeit sein, welche 
zwar mit der Herzaftection in Verbindung standen, aber nicht 
direct aus einer Verminderung der Triebkraft des Herzens resul- 
tirten. Wahrscheinlich handelt es sich um ein Herabkriechen 
der Pericarditis längs der grossen Venen auf den serösen Leber- 
Uberzug oder um den umgekehrten Vorgang und mit Ausgang 
der Entzündung in Bindegewebswucherung.“ 

Auch dieser Theorie ist eutgegenzubalten, dass Ascites bei 
Synechie gefunden wird, ohne dass fibröse Wucherungen an der 
Leberkapsel sich finden, und dass auch die Obduction nicht in 
allen Fällen Anhaltspunkte dafür liefert, dass die Entzündung 
vom Pericard zum Peritoneum oder umgekehrt sich ausge¬ 
breitet hat. 

Weinberg 2 * ) knüpft an experimentelle Studien liosen- 
bachV’) an, der bei rechtsseitigen Pleuraergüssen Knickung der 
V. cava inferior fand, dadurch entstehe zunächst Stauung in den 
Lebervenen mit weiteren Veränderungen in der Leber und dadurch 
wieder Stauung in der Pfortader. Zwar finde man nicht bei 
jedem rechtsseitigen Pleuraerguss Ascites, da als begünstigendes 
Moment hierfür die Erkrankung des Herzens durch die Pericar¬ 
ditis hinzukomme. 

Mit Recht weist schon Pick diese Annahme als unbegründet 
zurück, indem er ausführt, dass eine Knickung der V. cava auch 
Oedeme an den unteren Extremitäten zur Folge haben miisse, 
dass mau eine isolirte Stauung in den Lebervenen nicht recht 
verstehen könne und dass auch in vielen Fällen ein rechts¬ 
seitiger Pleuraerguss vermisst werde. 

Weiss 4 ) nimmt Veränderungen der Bauchfellgefässe als 
Entstehungsursache des Ascites an. In seinem Falle ging näm¬ 
lich Typhus vorher, der eine chronische Bauchfellentzündung zur 
Folge hatte. 

Diese Erklärung scheint mir vollkommen einwandsfrei zu 
sein. Denn wenn wir nach den obigen Erörterungen allgemeine 
Circulationsstörungen infolge Degeneration des Myocards an¬ 
nehmen müssen, wenn wir die Folgen dieser Stauung sich vor¬ 
nehmlich im Unterleibe geltend machen sehen, wenn wir anderer¬ 
seits locale Ursachen, die zu isolirter Pfortaderstauung führen, 
wie cirrhotische Processe in der Leber, Schrumpfung der Leber¬ 
kapsel, klappenartige Neubildungen an den Lebervenen u. s. f. 
nicht in allen Fällen nachweisen können und deshalb auf sie 
kein allzugrosses Gewicht legen dürfen, so bleibt doch, um den 
Ascites zu erklären, nichts Anderes übrig, als eine erhöhte 
Durchlässigkeit der Peritonealgefässe anzunehmen. Infolgedessen 
kommt es zu einer Exsudation in die Bauchhöhle; das Venen¬ 
system wird hierdurch derart entlastet, dass zunächst Stanungs- 


1) Eulenburg, Real-Encyclopädie der gesammten Heilkunde, 1887, 
Bd. 9, p. 478, u. Deutsche med. Wochenschr. 1882, No. 45, p. 601. 

2) Zwei Fälle von Pericarditis tuberculosa mit Herzbeutel Ver¬ 
wachsung und Ascites. Münch, med. Wochenschr. 1887, p. 896. 

3) Virch. Arch. Bd. 105. 

4) Ueber die Verwachsung des Herzens mit dem Herzbeutel. Wiener 
med. Jahrb. 1876, p. 1. 


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8. Felmiar 1H‘)7. 


15 KR LINER KLIN1 SCHK W0(’HKNSfUlR 1 FT. 


erBcheinungeii in den übrigen Körperregionen nicht auftreten 
können. 

Die Annahme einer geringeren Widerstandskraft der Bauch- 
fellgefässe findet ihre volle Bestätigung durch die Obdnctions- 
berichte; es sind die chronisch entzündlichen Veränderungen am 
Peritoneum, welche auch die GefUsse betreffen, ln keinem 
unserer Fälle werden die fingerdicken, sehnigen Schwielen, die 
ausgebreiteten Verwachsungen und Absackungen im Bauchraum 
vermisst. Pick ist zwar der Meinung, dass diese Veränderungen 
des Bauchfells nur accidentelle Erscheinungen sind und nur se- 
cundär mit der Läsion des Herzens im Zusammenhänge stehen. 
Er sieht in ihnen nichts anderes als eine Iieaction des Perito¬ 
neums auf die langdauernde Stauung und als eine Druckwirkung 
des Ascites, wozu noch als drittes Momeut leichte Infectionen 
bei der Punction hinzukäineu, die bei der bactericiden Eigen¬ 
schaft des Exsudates zwar nicht zu schweren Allgemeinerschei¬ 
nungen, aber doch zu localer Reaction des Peritoneums Veran¬ 
lassung geben. Ich glaube aber nicht, dass diese 3 Momente 
allein so hochgradige entzündliche Processe hervomifen können. 
Ihre Ausdehnung und Heftigkeit sprechen für eine 
primäre Peritonitis; und diese hat dieselbe Aetio- 
logie, wie die Pericarditis. 

Denn meiner Ansicht nach befällt ein und dieselbe Schäd¬ 
lichkeit zu gleicher Zeit das Pericard und das Peritoneum. So 
erkläre ich mir auch manche Beschwerden, Uber welche die Kranken 
im Beginne ihrer Pericarditis klagen, und welche oft nur als eine 
Irradiation des Schmerzes oder als nebensächliche Erscheinungen 
angesehen werden, wie Schmerzen im Epigastrium, in den Hypo¬ 
chondrien, ja sogar in der Nabelgegend. In unserem 2. Falle 
wurden gleichzeitig mit der Pericarditis peritonitische Reiz¬ 
erscheinungen im Oberbauche beobachtet, ebenso im 3. Falle, 
und in gleicher Weise wurden auch im 4. Falle Schmerzen und 
Auftreibung der Oberbauchgegend angegeben. 

Mitunter Uberwiegen sogar anfänglich die peritonitischen 
Symptome. Ilambursin 1 ) constatirte in 4 genau beobachteten 
Fällen zuerst eine acute Perihepatitis, nach deren Ablauf sich 
deutliche Erscheinungen chronischer Pericarditis einstellten. Ich 
glaube nicht, dass Weiss und Pick Recht haben mit ihrer An¬ 
nahme, dass diese „Perihepatitis acuta“ nichts anderes sei, als 
eine durch schon bestehende und nur latent gebliebene Synechie 
veranlasste Leberhyperämie. Letztere macht doch gewöhnlich 
nur Gefühl von Druck und Schwere und Schmerzen in der Leber¬ 
gegend aber nicht so heftige Symptome, dass man an eine Peri¬ 
hepatitis acuta denken könnte. Mit welcher Heftigkeit die 
Krankheit im Peritoneum einsetzen kann, möge der folgende von 
Curschmann 2 ) mitgetheilte Fall zeigen, der im Beginne aus¬ 
gesprochene peritonitische Reizerscheinungen darbot, die sich 
wohl schwerlich durch einfache venöse Hyperämie erklären 
lassen. 

54 Jahre alte Dienstmagd, vorher nie erheblich krank, namentlich 
nicht syphilitisch, kein Abnsos spirituosorom. 4 Jahre vor Aufnahme 
Schüttelfrost mit heftigen Schmerzen im Oberbauch. Dieser 
und besonders die Lebergegend waren erheblich geschwol¬ 
len und höchst empfindlich. Nach Ablauf der acuten Er¬ 
scheinungen blieben Appetitlosigkeit, Völle und Druck im 
Leibe. Obstipation wechselnd mit Durchfällen. Danach 
allmählich Ascites. Bald Punction, die innerhalb 4 Jahren 15mal 
wiederholt wurde. 2*/» Jahre nach der Aufnahme, nachdem Pat. schon 
leichte Arbeit hatte verrichten können, traten unter remittirendem Fieber 
heftige peritonitische Erscheinnngen auf; 3 Wochen später linksseitige 
exsudative Pleuritis, welcher sie erlag. 

Bei der Obduction fand sich, von einer frischen tuberculösen Pe¬ 

1) Observation de pericardite consecutive ä nne perihepatite. Presse 
mcd. Beige. No. 41). 1870. 

2) Ueber die Zuckergassieber. Deutsche med. Wochenschr. 1884. 

p. 564 u. s. a. H. Kumpf: Deutsches Arch. f. klin. Med. Bd. 55. 1895. 

p. 272. 


121 


ritonitis abgesehen, welche in Form von Pseudomembranen das Perito¬ 
neum parietale, sowie den serösen Ueberzug der Gedärme und grossen 
Unterlcibsorgane bedeckte, folgendes Bild: 

Die obere Hälfte des vorderen Bauchwandilberzuges ist in 
eine dicke weisse sehnige Masse verwandelt, die sich con- 
tinuirlich auf das ganze Zwerchfell und von da auf Leber 
und Milz fortsetzt. Die Leber ist um '.' 3 verkleinert, derb 
rundlich. Sie ist ganz von den schwieligen weissen Massen 
eingehiillt, die an vielen Stellen 4—5 mm dick sind. In der Leber 
keine Bindegewebswucherung. Milz doppelt gross, kuglig, überall 
in derbe Massen eingehüllt Schwielige Obliteration der rech¬ 
ten Pleurahöhle und des Pericards. 

Auffallend ist, dass die Krankheit die Oberbanchgegend so 
häufig befällt und besonders hier zu schwieligen Processen und 
ausgedehnten Verlöthungen führt. Man könnte daran denken, 
dass Mikroorganismen die Krankheitserreger gewesen sind, die 
nach ihrem Eintritt in die Bauchhöhle durch die peristaltische 
Bewegung der Därme verschleppt wurden, in dem abgeschlosse¬ 
nen Raum zwischen Zwerchfell und Milz und Leber haften blie¬ 
ben und nunmehr hier ihre Giftwirkung äusserteu, genau in der 
Art, wie es Weigert 1 ) für den Tuberkelbacillus beschrieben 
hat. Andererseits möchte ich aber auch an die Ergebnisse zahl¬ 
reicher Versuche aus der allgemeinen Pathologie erinnern, welche 
Herbst 2 ) zuerst angestellt hat und die von Brücke 3 ), Toldt 4 ) 
u. A. wiederholt bestätigt wurden, sowie an ähnliche Ergebnisse, 
zu denen Cohnheim und Lichtheim*) bei ihren Studien über 
die hydrämische Plethora gekommen sind, dass nämlich bei 
Thieren, in deren Jugularvene Milch, Anilinblau oder Kochsalz¬ 
lösungen injicirt wurden, Milchkügelchen u. s. f. hauptsächlich 
in die Lymphgefässe der Leber und Milz übergehen; denn es 
ist nicht unwahrscheinlich, dass diese Lymphbahnen, wie sie in 
diesen Versuchen die Entlastung des Gefässsystems von allen 
fremdartigen Bestandtheilen bewerkstelligen und dadurch Menge 
und Beschaffenheit des Blutes reguliren, so auch das kreisende 
Krankheitsgift aus der Blutbahn aufnehraen, um es in den Lymph- 
drüsen unschädlich zu machen. 

Mit der Annahme einer primären Peritonitis ist 
auch das bei der Synechie überwiegend häufige Auf¬ 
treten der Bindegewebswucherungen in der Leber er¬ 
klärt. Denn neben dem Reiz, den die chronische Hyperämie 
ausübt, ist es vor allem noch der Entzündungsreiz, der vom 
Peritonealüberzuge aus sich in die Leber hinein fortsetzt. Dass 
diese Veränderungen in der Drüse durch Verlegung und Ver¬ 
ödung ganzer Gefässbezirke zu Stauungen im Wurzelgebiet der 
Pfortader führen und dadurch eine neue sehr bedeutende Ur¬ 
sache für eine lebhafte Exsudation aus den Peritonealgefässen 
abgeben, darauf sei nur kurz hingewiesen. 

In den Sectionsprotocollen finden wir entzündliche Vorgänge 
nicht nur am Pericard und Peritoneum verzeichnet, sondern in 
gleicher Weise auch an den Pleuren; es sind dieselben Schwielen¬ 
bildungen, wie an den anderen beiden serösen Häuten, und wir 
gehen wohl nicht fehl, wenn wir die Pleuritis als einen 
weiteren Krankheitsherd neben der Pericarditis und 
Peritonitis ansehen. Klinisch bleibt sie allerdings in den 
meisten Fällen unbemerkt. Nur im zweiten Falle wurde sie 
gleichzeitig mit der Pericarditis beobachtet. 

Wurde für die Peritonealgefässe in Folge der chronischen 
Entzündung eine erhöhte Durchlässigkeit angenommen, so gilt 
dasselbe auch für die Gefässe der Pleuren. Aber trotz der 

1) Die Wege des Tuberkelgiftes zu den serösen Häuten. Deutsche 
med. Wochenschr. 1883. No. 31 und derselbe: Die Verbreitungswege 
des Tuberkelgiftes nach dessen Eintritt in den Körper. Jahrb. f. Kinder¬ 
heilkunde. 1884. p. 146. 

2) Das Lymphgefässsystem und seine Verrichtung. 1844. p. 62 u. ff. 

3) Vorlesungen über Physiologie. 2. Aufl. 1875. I. p. 202. 

4) Wiener akad. Sitzgsb. LVII. Abth. 2. 1868. p. 203. 

5) Virch. Arch. LXIX. p. 106. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 6. 


VI. Kritiken und Referate. 


122 

Gleichartigkeit der pathologischen Veränderungen beider Gefiiss- 
bezirke dürfen die Folgen derselben nicht ohne Weiteres in 
Parallele mit einander gestellt werden. Denn entsprechend der 
ungeheuren Flächenausdehnung, die das Hauchfell besitzt, müssen 
Störungen in der Secretion und Uesorption hier sich auffallender 
geltend machen als an der Pleura. Unter normalen Verhält¬ 
nissen geht ein lebhafter Flüssigkeitsstrora in der Hauchhöhle 
von den Hlutgefässen zu den Lymphbahnen, wahrscheinlich unter 
Mitwirkung einer specilischen Thätigkeit des Peritonealendo¬ 
thels 1 ). In unseren Fällen sind alle drei Factoren, anstatt com- 
pensirend zu wirken, an der Entstehung des Ascites betheiligt. 
Die Exsudation aus den Gefassen ist gesteigert, die Uesorption 
durch Verdickung des Peritoneum und Verschluss der Lymph- 
gefässe, besonders durch die Schwartenbildung und Verlöthung 
der Oberbauchorgane mit dem Diaphragma gehemmt. Daher 
Uberwiegen auch, sobald die Herzkraft zu erlahmen beginnt, die 
Stauungserscheinungen in der Hauchhöhle. Erst im weiteren 
Verlaufe treten, wenn die Entlastung des Venensystems durch 
die Exsudation in die Hauchhöhle nicht mehr genügend bewerk¬ 
stelligt werden kann, anderweitige Hydropsien auf, und zwar 
dann wieder zunächst in den Pleurahöhlen, später auch an den 
Extremitäten. In unseren Fällen sind im 1. und 2., fi. und 7. 
erhebliche Mengen hydropischer Flüssigkeit in der Hmsthöhle 
enthalten. Der 5. Fall scheidet aus, da der Befund darüber 
fehlt. Im 3. und 4. Fall sind FlUssigkeitsansammlungcn nicht 
möglich gewesen, da die Section eine vollständige Verwachsung 
der Lungen mit der Pleura costalis ergeben hat. 

Die auffallende und eigenthümliche Reihenfolge, 
in der in diesen Fällen die Hydropsien auftraten, 
findet also ihre Erklärung in den entzündlichen Vor¬ 
gängen an den serösen Häuten; nur weil diese von den 
Autoren entweder nicht genügend beachtet oder in ihrer 
Aetiologie verkannt wurden, war die Deutung des Ascites 
schwierig. 

Das Wesen der Krankheit in unseren Fällen ist 
eine Entzündung sämmtlicher serösen Häute. Ein im 
Blute kreisendes Krankheitsgift befällt Pericard, Pleuren und 
Peritoneum zu gleicher Zeit und in gleicher Weise, und es hängt 
nur von Nebenumständen ab, wenn klinisch das eine Mal mehr 
die Symptome der Pericarditis, das andere Mal mehr die der 
Pleuritis oder Peritonitis im Vordergründe stehen. 

Die Ergebnisse dieser Arbeit sind kurz zusammengefasst 
folgende: 

1. Es handelt sich in diesen Fällen um eine chro¬ 
nische Entzündung sämmtlicher serösen Häute. 

2. Die durch Myodegeneration des Herzens ver- 
anla8ste Stauung führt zu Hydrops ascites, weil die 
peritonealen Gefässe wegen der chronischen Perito¬ 
nitis einen Locus minoris resistentiae abgeben. 

3. Die hierbei so häufig beobachteten cirrhoti- 
schen Processe in der Leber werden verursacht so¬ 
wohl durch das Fortschreiten des Entzündungsreizes 
von der Leberkapsel her, als auch durch die chro¬ 
nische Hyperämie in der Drüse. 

4. Durch Wucherung und Schrumpfung dieses Binde¬ 
gewebes an und in der Leber werden Stauung und 
Exsudation in der Bauchhöhle vermehrt. 


1) Quincke, Ueber Ascites. Deutsches Archiv für klin. Medicin. 
Bd. XXX. S. 509. 


Siebenmann: Ueber die centrale Hörbahn und Aber ihre 

Schädigung durch Geschwülste des Mittelhirns, speciell der 

Vierhügelgegend und der Haube. Zeitschrift für Ohrcnheilk. 

XXIX. 8. 28. 

S. versucht in vorliegender Arbeit die Frage vom Werth der Ge- 
hörsabnahme „als Vierhiigelsymptom“ auf Grund des Studiums der be¬ 
treffenden anatomischen und physiologischen Untersuchungen und der 
Prüfung aller einschlägigen Krankengeschichten mit Sectionsergebniss zu 
beantworten. Verf. beschäftigt sich zunächst mit der topographischen 
Anatomie des Mittelhirns und berücksichtigt dabei den heutigen Stand 
unserer Kenntnisse über den Verlauf der centralen Hörbahnen. Er hebt 
hervor, dass aus den primären Hörcentren (Tuberculum acust. und vor¬ 
derer oder accessorischer Acusticuskem) die Hörbahn unter Kreuzung 
ihrer meisten Fasern in der Haube aufwärts gegen die seitliche ventrale 
Partie der Vierhiigelgegend und von dort durch die Vierhiigelarme und 
durch das Corpus genicul. intern, unter dem hintersten Abschnitte des 
Sehhügels hinweg nach der Capsula interna und schliesslich zur Rinde 
des Schläfenlappens verläuft. Weiterhin constatirt Verf. aus den in der 
Literatur vorliegenden Untersuchungen über Embryologie, vergleichende 
Anatomie und experimentelle Physiologie der Vierhügelplatte, dass uns 
beim Menschen die Ganglienmasse der Vierhügelplatte als ein relativ 
verkümmerter (»rgantheil entgegentritt. Als bedeutsam wird ferner die 
Thatsache hervorgehoben, dass die hinteren Vierhügel beim Säugethiere 
zu einem selbstständigen Gebilde anwachsen, welches an Grösse dem 
vorderen Vierhügelpaar beinahe gleichkommt; und dass dieses Anwachsen 
des hinteren Vierhiigelganglions in der Thierreihe parallel mit der Aus¬ 
bildung des eigentlichen Hörorganes läuft. Bechterew hat bei Meer¬ 
schweinchen und weissen Ratten vollständige Taubheit durch Zerstörung 
beider hinterer Vierhügel hervorgerufen. Da beim Menschen die physio¬ 
logische Bedeutung der Vierhügel am besten durch Beobachtungen am 
Krankenbett und Leichentisch ergründet werden kann, hat Verf. sich 
der Mühe unterzogen, 58 in der Literatur vorliegende Fälle von Vier- 
hiigeltumoren bezüglich der Symptomatologie und der Ergebnisse der 
pathologisch-anatomischen Untersuchung statistisch zu bearbeiten. 

Bezüglich der Schwerhörigkeit als Symptom eines Vierhiigeltumors 
(wegen der anderen Symptome s. d. Orig.) ergab sich, dass dieselbe in 
20 Fällen verzeichnet war. Verwerthbar für die Frage der semiotischen 
Bedeutung der Hörstörungen erwiesen sich jedoch nur 11 Fälle. In 
keinem einzigen derselben fand Bich der l’rocess auf die Vierhügel be¬ 
schränkt. Allen Fällen von Mittelhirntaubheit gemeinsam zeigte sich 
das Vorhandensein von Compression oder eigentlicher Zerstörung der 
Haube (resp. der Capsula interna). Im Gegensatz hierzu ergab sich, 
dass bei allen reinen Fällen von Tumoren der Vierhügel, allein das 
Gehör intact war. Verf. konnte ferner, ebenso wie früher Weinland, 
constatiren, dass in den Fällen wo Schwerhörigkeit intra vitam bemerkt, 
und post mortem Degeneration der lateralen Schleifen gefunden wurde, 
erstere allein oder hauptsächlich auf der gekreuzten Seite sich bemerk¬ 
bar machte. Diese klinischen Beobachtungen bestätigen also die An¬ 
schauung der Anatomen, dass die Fasern der centralen Acusticusbahnen 
sich auf der zwischen Vierhügel und Labyrinth gelegenen Strecke zura 
grössten Theil kreuzen. Bezüglich des Beginns, Verlaufs und Aus¬ 
gangs dieser auf Haubenläsion beruhenden Gehörsstörung ergab Verf.'s 
Zusammenstellung, dass dieselbe sich relativ spät zu den übrigen Sym¬ 
ptomen hinzugesellte (3 — 6 Monate nach der Hirnaffection) und dass mit 
einer einzigen Ausnahme im weiteren Verlauf Btets beiderseits 
Schwerhörigkeit resp. Ertaubung eintrat. Die Schnelligkeit der Gehörs¬ 
abnahme erwies sich im Ganzen proportional der Schnelligkeit des 
Krankheitsverlaufes überhaupt. Begleitende subjective Geräusche fanden 
sich nur in einer kleinen Minderzahl der Fälle notirt. Als hauptsäch¬ 
liche Ergebnisse der Stimmgabelprüfung ist zu registriren, dass die 
Kopfknochenleitung in sämmtlichen 3 Fällen, bei welchen daraufhin 
untersucht wurde, hochgradig verkürzt oder ganz aufgehoben war. Für 
die Tongrenze in Luftleitung ergab sich in dem einen daraufhin unter¬ 
suchten Falle, dass das Pereeptionsvcrmögen zuerst fast ausschliesslich 
für die unteren Töne, im weiteren Verlauf aber für alle Töne der 
Scala gleichmässig abnahm. Schwabach. 


William D. Booker: A bacteriological and analomical study of 
the sunimer diarrhoeas of iufants. Baltimore 1896. 

B. hat die Sommerdiarrhoen der Kinder an einem grossen Material 
in anatomischer und bacteriologischer Hinsicht studirt. Die Verände¬ 
rungen waren immer im untersten Darmtheil am stärksten ausgesprochen: 
die oberflächliche Epithelschicht erscheint in wechselnder Ausdehnung 
abgestossen (auch wenn alle Vorsichtsmaassregeln gegen postmortale 
Veränderungen getroffen siud); die Epithelien sind vielfach durch Leuko- 
cyten auseinandergedrängt; es findet sich Nekrose der obersten Epithel¬ 
schicht; die Mucosa ist wechselnd stark infiltrirt und weiterhin ulcerirt, 
ausnahmsweise wird sie in der ganzen Tiefe, häufiger an einzelnen 
Stellen nekrotisch. Was die übrigen Organe betrifft, so findet sieh in 
der Kegel Pneumonie (zuweilen allerdings nur in geringer Ausdehnung), 
ferner in den Nieren Nekrose der gewundenen Ilamcanälchen (nicht 
selten sind auch hyaline Cylinder erkennbar), schliesslich in der Milz 
Ilämorrhagien und herdweise Nekrose der Lymphfollikel. 

Die bacteriologische Untersuchung licss immer eine Vermehrung 


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8. Februar 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


128 


der Bacterienzahl erkennen, und zwar ist ihre Zahl am grössten im 
unteren Darmtheil; gleichzeitig sind die Bacterien mannigfaltiger als in 
der Norm. Der Bac. lactis aerogcnes oder der Bac. coli comm. finden 
sich oft in grösster Ausdehnung und Anzahl, und zwar besonders bei 
den einfach dyspeptischen Diarrhoen; ausserdem finden sich bei ge- 
schwürigen Vorgängen Streptokokken, welche bacteriologisch mehr oder 
weniger die Scene beherrschen; klinisch besteht dann das Bild einer 
allgemeinen Infection, die Stühle sind schleimig-eitrig (mit Leukocyten, 
Streptokokken und event. Bacillen); der Verlauf ist zuweilen zu beein¬ 
flussen, in anderen Fällen führt er unaufhaltsam zum Tode. Schliess¬ 
lich findet sich in einer dritten Gruppe der Sommerdiarrhoen, und 
zwar zumeist bei schweren Fällen, der Proteus; hier zeigen die Kranken 
schwere Intoxicationserscheinungen und haben wässrige oder breiige Ent¬ 
leerungen von stinkendem Geruch. 

B. hält selbst seine Ergebnisse nicht für endgültig oder befriedi¬ 
gend, immerhin verdient die gewissenhafte und schön illustrirte Arbeit 
bei den weiteren schwierigen Forschungen auf diesem Gebiete Berück¬ 
sichtigung. Das Wichtigste wird in Zukunft sein, ganz acute Fälle un¬ 
mittelbar bei ihrem Beginn zu untersuchen. 

H. Neumann (Berlin). 


VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. 

Gesellschaft Ihr Geburtshülfe und Gynäkologie zu Berlin. 

Sitzung vom 27. November 1896. 

Vorsitzender: Herr Martin; 

Schriftführer: Herr Winter. 

Zu Mitgliedern werden gewählt: die Herren Dr. Schiller, Dr. 
Sclilayer, Dr. Kallander, Dr. Baumeister, Dr. Kauffmann, Dr. 
Lesse, 8tabsarzt Dr. Volkmann, Dr. Staecklie, Dr. Voswinckel, 
Dr. Streisch. 

I. Demonstration von Präparaten. 

Herr Schäffer zeigt Milzbrandkulturen herum von Seidenfäden, 
die angegangen sind, wiewohl sie dem von Bröse in der letzte Sitzung 
empfohlenen neuen Catgutsterilisationsverfahren unterworfen worden sind. 
Bröse empfahl, das Juniperusöl auf dem Wasserbade von V 2 Stunde 
zu kochen. 

Zweitens giebt S. einige Proben von Catgut herum, die nach 
seiner Sublimat-Alkohol-Methode gekocht sind. Die Fäden sind 
völlig unzerreissbar, wiewohl sie doppelt so lange als erforderlich gekocht 
worden sind. 

Herr Bröse demonstrirt einen durch die vaginale Kadicaloperation 
entfernten Uterus mit den Anhängen. Das Präparat stammt von einer 
Frau, die viele Jahre hindurch leidend, immer wieder von pelveo- 
peritonitischen Attacken ergriffen wurde. Die Operation war besonders 
dadurch erschwert, dass der Fundus uteri mit Netz und Darm innig ver¬ 
wachsen war. Doch gelang es nach Eröflnung des Douglas'schen Rau¬ 
mes, Unterbindung der Uterinae, durch Spaltung der vorderen Uteruswand 
nach Doyen den Fundus bis vor die Vulva zu ziehen, die Verwachsungen 
zu durchtrennen, die Adnexe aus den Adhäsionen zu lösen und Alles 
mittelst der Nahtmethode zu exstirpiren. Die Blutung aus einem Einriss 
in das linke Ligamentum infundibulo-pelvicnm musste mittelst Klemmen 
gestillt werden. An dem Präparat fällt vor Allem die starke zottige 
Verdickung der Uterusschleimhaut auf; die mikroskopische Untersuchung 
steht noch aus. 

II. Discussion über den Vortrag des Herrn Kiefer: „Die Virulenz - 
Verhältnisse der eitrigen Adnexerkrankungen.“ 

Herrn Olshausen’s Erfahrungen stimmen bezüglich der Zeit, in 
in welcher Sterilität des Mikroorganismen einzutreten pflegt, mit den 
Angaben des Herrn Kiefer vollkommen überein. Es giebt aber Fälle, 
in denen man mit der Operation länger warten muss, weil immer von 
Neuem peritonitiache Attacken kommen. Während eines bestehenden 
Fiebers zu operiren, widerräth O. dringend. 

Herr Winter hält es nicht für richtig, die Funktion des Peritoneum 
und das Fieber als Kriterium für die Beurtheilung des Virulenzgrades 
der Adnexeiterungen zu verwerthen; besser eignet sich hierfür die Re- 
action des Bindegewebes; namentlich in Bauchdeckenabscessen haben 
wir oft einen Beweis für die Virulenz des entleerten Eiters zu erblicken. 

W. möchte es auch beanstanden, einen Durchschnittsvirulenzgrad 
für Adnexeiternngen autzustellen und als Richtschnur fiir praktisches 
Handeln zu verwerthen. Richtiger ist es, zunächst die Differentialdiagnose 
der verschiedenen Formen der Pyosalpinx nach ihren Infektionsträgern 
versuchen und danach die Indication zu stellen. Innerhalb der ver¬ 
schiedenen Gruppen ist es gewiss richtig, frische und ältere Formen in 
Hinblick auf die Operation verschieden zu beurtheilen. 

Herr Czempin ist der Ansicht, dass, in Bezug auf die Beurtheilung 
der zur Operation gelangenden Fälle für die Frage, ob noch Virulenz 
vorhanden ist oder nicht, lediglich das klinische Bild zu verwerthen ist. 
Die acuten Fälle, bei denen hohes Fieber, peritonitische Reizerscheinungen 
bestehen und ein inkomplicirter Tumor der Tube oder des Ovarium vor¬ 
liegt, werden von Hause aus als infektiöse anzusprechen sein. Am besten 
wird man thnn, wenn man solche Fälle überhaupt nicht im acuten Sta¬ 
dium operirt. 


Die Fälle dagegen, in welchen die klinischen Erscheinungen nicht 
in solcher Akuität, mit längerem Fieber und begleitender Peritonitis 
auftreten, sind darum oft nicht minder gefährlich. Die Beurtheilung 
ihrer Infektiosität ist zu finden in der Betheiligung dos Beckenbinde- 
gt wehes, sowohl des horizontalen Beckenbindegewebes als auch des 
Parametrium laterale selbst bis zum Ligamentum infundibulo-pelvicum 
hinauf. C. hatte in einer früheren Arbeit auf Grund seiner reichen Beob¬ 
achtungen eine Karenzzeit von 6 Monaten nach der acuten Entzündung 
gefordert. Diese Zeit gilt indessen nicht bloss für die ursprüngliche 
acute Entzündung der Adnexa und ihrer Umgebung, sondern auch für 
die acuten Nachschübe, wie sie so häufig im Gefolge der Adnexerkrankungen 
eintreten. 

Für die Frage der Virulenz der Adnexerkrankungen ist der Weg, 
die Methode der Operation gleichgültig. Die Eröflnung der frisch-eitrig¬ 
entzündeten Bindegewebsschwarten ist für das Peritoneum ebenso ge¬ 
fährlich, ob man von der Bauchhöhle oder von der Scheide aus operirt. 
C. belegt dies mit einem diesbezüglichen Fall und fordert auch für die 
vaginalen Operationsmethoden das gleiche Abwarten für mehrere Monate 
bis die Virulenz erloschen ist. 

C. weist darauf hin, dass das von Herrn Mackenrodt empfohlene 
Verfahren, die Tube samrat den Isthmus aus dem Uterus herauszuschneiden, 
nicht neu ist. Schauta hat bereits vor 10 Jahren darauf hingewiesen. 
C. bat auch davon keinen besonderen Erfolg gesehen. 

Herr Bröse kann sich mit der Auffassung des Herrn Kiefer hln- 
sichtlich der gonorrhoischen Adnexerkrankungen nicht einverstanden er¬ 
klären. 

Wenn die Auffassung des Herrn Kiefer, der da annimmt, dass die 
eitrigen Tubensäcke, welche die Toxine der Gonokokken enthalten die 
Ursachen der immer wieder auftretenden pelveoperitonitischen Anfälle 
der Pat. Bind, die richtige wäre, so müssten doch die Frauen vollkommen 
genesen, wenn man die Adnexa entfernt. Aber die Erfolge der Adnex¬ 
operationen bei Gonorrhoe sind häufig hinsichtlich der vollkommenen 
Genesung der Kranken unbefriedigend. Auch Frauen, denen beide Tuben 
entfernt sind, erkranken öfter immer wieder an Pelveoperitonitis, weil 
das Beckenperitoneum immer wieder vom Uterus aus intieirt wird. B. 
ist desshalb in der letzten Zeit von den partiellen Operationen bei den 
gonorrhoischen Adnexoperationen mehr und mehr abgekommen. Da, wo 
dringende Indicationen, z. B. auf andere Weise nicht zu beseitigende 
Blutungen oder dauernde Arbeitsunfähigkeit zur Operation drängen, muss 
man die gonorrhoisch erkrankten Genitalorgane vollkommen ausrotten. 
Est wenn eine feste Narbe im 8cheidengewölbe die Bauchhöhle gegen 
immer wieder erneute Infektionen schützt, kann man hoffen, dass der 
Process im Becken ansheilt. Die Zukunft für diese Erkrankungen gehört 
der vaginalen Kadicaloperation. 

Herr Gottschalk bestätigt, dass in abgeschlossenen Eitersäcken die 
Mikroorganismen sehr bald zu Grunde gehen. Dass es aber auch Aus¬ 
nahmen giebt hat G. noch kürzlich in einem Falle von linksseitiger 
gonorrhoischer Pyosalpinx gesehen, den er nahezn 8 Jahre lang beob¬ 
achtet hatte. Unsere Kenntnisse von der Lebensdauer der Eitererreger 
sind noch zu unsichere, als dass Bich hierauf unser praktisches Handeln 
mit Sicherheit stützen könne. Es ist desshalb praktisch besser, jeden 
Eiter, der sich in der Bauchhöhle, sei es frei oder abgekapselt, finde, 
bei der Operation als virulent anznsehen und danach Vorkehnnassregeln 
zu treffen. 

G. wendet sich ferner gegen die Behauptung des Herrn Vortr., wo¬ 
nach die Prognose der Laparotomien in erster Linie von dem Virulenz¬ 
grad der vorhandenen Infektionskeime und erst in zweiter Linie von der 
Widerstandsfähigkeit des Organismus abhänge. Dass die Gefahr mit dem 
Virulenzgrad der Infektionskeime proportional wachse, sei ja gewiss, 
doch werde dieser Virulenzgrad so sehr von der erhöhten oder herab¬ 
gesetzten Widerstandsfähigkeit des Organismus beeinflusst, dass sich eine 
solche Scheidung nicht wohl machen lasse. Es sei ferner ein grosser 
Unterschied, ob die Keime bezw. deren Stoffwechselprodnkte zuerst in 
die Blutbahnen des Pfortaderkreislaufes gelangten, bevor sie das Herz 
passiren oder aber auf dem Wege der Lymphbahnen unter Umgebung 
des Pfortaderkreislaufes gleich in den grossen Blutkreislauf bezw. in das 
Herz gebracht würden. Denn bekanntlich könnten gerade in der normal 
funktionirenden Leber die Stoffwechselprodukte der Infektionskeime nahezu 
oder gänzlich unschädlich gemacht werden: die Toxine hier entgiftet, die 
Säuren durch Ammoniak gebunden werden. Beim Passiren des Pfortader¬ 
kreislaufes können so die Folgen der primären Virulenz der Infektions¬ 
keime derartig wett gemacht werden, dass die Herzthätigkeit weiter 
keinen Schaden zu nehmen brauche. Fasse man die Widerstandskraft 
des Organismus in diesem weiten Sinne auf so sei nach dem Gesagten 
einleuchtend, dass der Virulenzgrad der Keime von ihr beeinflusst werde. 

Herr Gebhard betont die Mögsichkeit, dass Mikroorganismen, wel¬ 
che zur Zeit der Operation noch nicht virulent sind, in der Bauchhöhle 
ihre Virulenz wieder erlangen können, wenn sie sich auf totem Material 
ansiedeln. Auch der Quantität der in die Bauchhöhle verbrachten Kok¬ 
ken müsse einiges Gewicht beigelegt werden, da das Thierexperiment 
lehre, dass eine gewisse Zahl von Mikroben vom Organismus vertragen 
werde, die Einverleibung grösserer Mengen einer Kultur dagegen häufig 
tödtlich wirke. 

Herr Mackenrodt hält die Ungefährlichkeit des Gonococcus be¬ 
züglich der Erregung tödlicher Peritonitis noch nicht für erwiesen. Die 
Störungen der Spätreconvalescenz nach vielen Laparotomien hängt ausser 
von Infektion durch geplatzte Eitersäcke sicherlich noch von vielen anderen 
Faktoren ab. Insbesondere muss bei einer Pyosalpinxoperation das ganze 


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124 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 6- 


zugehörige Uterushorn entfernt werden, weil sonst leicht im zurtickgelassenen 
interstitiellen Theil der Tube neue Abscesse sich entwickeln können. 
Auch Seidenfiiden sah M. öfters als Ursache fortbestehenden Siechthuins 
in Folge chronischer Schwellung resp. Abscedirungen an den Stümpfen. 
M. protestirt gegen die Verurtheilung der vaginalen Operation bei Pyosal¬ 
pinx auf Grund eines ungünstigen Falles, wie es Herr Czempin gethan 
hat. Dem gegenüber hat sich das vaginale Verfahren an einer grossen 
Anzahl von ausgezeichneten Erfolgen als viel ungefährlicher als die La¬ 
parotomie erwiesen. Freilich sind die vaginalen Operationen durchweg 
schwieriger als die Laparotomie. Die Entscheidung für den einen oder 
den anderen Weg hiingt von der persönlichen Erfahrung und l'ebung 
des Operateurs ab. 

Hr. A. Martin hält es für unmöglich, in der Praxis das Desiderium 
durchzuführen, dass man nur nach völligem Absterben der infleirenden 
Mikroorganismen operire. Die Frage nach dem Verhalten der Bauch- 
dcckenwunde unter dem Einfluss des auslaufenden Eiters erledigt sich 
durch den fast durchweg günstigen Heilungsvorgang derselben. Gerade 
die von Herrn Czempin erwähnten Schwielen lm Peritoneum erscheinen 
verdächtig, da sie die Brutstätte pathogener Keime sind. Unter diesen 
Keimen weist er auf das von Herrn Kiefer specieller verfolgte Bacte- 
rium coli hin. M. spricht sich zum Schluss gegen die Drainage aus. 

Hr. Kiefer (Schlusswort) dankt für die umfangreiche Discussion 
und freut sich, seine Durchschnittsannahmen vom Eintreten der Sterilität 
von Herrn Olshausen bestätigt zu sehen. Ob es Ausnahmefälle giebt, 
wo in abgekapselten Eiterherden die Virulenz sich länger wie ein Jahr 
erhalten hat, ist wohl nicht erwiesen. Ein solcher Eindruck möchte 
vielleicht durch mehrfaches Rccidiviren desselben Processes hervor¬ 
gebracht werden können, wie z. B. in dem von Herrn Gottschalk er¬ 
wähnten Falle, wo Gonokokken sich über 3 Jahre frisch erhalten haben 
sollen. Bei abgesackten Herden geht das gegen jegliche Erfahrung. 
Wir wissen ja doch wenig Genaues über die Herstellung von Eitertuben 
ad integrum (analog ist z. B. mehrfache Epididymitis mit normaler spä¬ 
terer Function gar kein seltenes Ereigniss). 

Hat eine solche Pyosalpinx sich ganz zurückgebildet, so kann sie 
jeder Zeit vom Uterus aus, wo die Keime sich unbegrenzt lange halten, 
wieder infleirt werden. Nach doppelseitiger Adnexexstirpation empfiehlt 
sich deshalb zweifellos die Entfernung des Uterus anzuschliessen, denn 
zumeist wird die chronische Pelveoperitonitis nicht durch die Residuen 
alter Herde — anfangs noch vielleicht durch direkte Toxinwirkung 
mikrobenfreien Eiters — unterhalten, sondern gewiss durch frische Nach¬ 
schübe aus dem Uterus. 

Dass man durchschnittlich bei bestehendem Fieber das Operiren 
lassen soll, ist zweifellos, aber es giebt doch auch Fälle, wo die Pat. 
gerade durch dauerndes Fiebern so heruntergekommen sind, dass man 
eben nicht länger zuwarten kann. Hat man sich dann vergewissert, 
dass der Process nicht frisch und allseitig abgegrenzt ist, so kann man 
die Operation — wie unsere diesbezüglichen Fälle zeigen mit Aussicht 
auf Erfolg — schon wagen. 

Herr Winter will die Peritonealreaction nicht als Kriterium dafür 
gelten lassen, ob die Keime virulent waren oder nicht. Letztes Mal 
habe ich erwähnt, dass erstens über GO pCt. aller Fälle steril waren, 
und für den Rest der Fälle ist nicht allein die Peritonealreaction, son¬ 
dern die ganze Reconvalescenz und der Thierversuch zur Beurtheilung 
herbeigezogen worden. Auf dem Wege der klinischen Beobachtung 
allein kommen wir eben nicht zu einer irgend wie sicheren Beurtheilung, 
eben deshalb ist ja die ganze Untersnchungsreihe zum Theil mit unter¬ 
nommen worden. 

Wenn Herr Winter ferner glaubt, die Bauchdecken seien ein viel 
schärferes Reagens wie das Peritoneum, so hat das doch klar seinen 
Grund darin, dass hier die Suturen als reizende und leitende Fremd¬ 
körper mit im Spiele sind. (Von unseren 40 Fällen haben 2 Bauch- 
abscesse gehabt.) 

Speciell die ganze Catgutfrage scheint mir darauf grösstentheils hin¬ 
auszukommen, und wenn auch alle Welt Hofmeister'sches gekochtes 
Catgut verwendete, würden wahrscheinlich die Nahteiterungen keineswegs 
verschwinden, vielleicht nicht einmal an Zahl abnehmen, weil eben das 
Catgat nicht so sehr gefährlich ist durch mangelhafte Sterilisirfähigkeit, 
als vielmehr bei reichlicher Verwendung als direkter todter Nährboden. 
So habe ich schon öfters bemerkt, dass, wenn nach abdominellen Total¬ 
exstirpationen eine grosse Menge langgelassener und in die Scheide ge¬ 
führter Catgutfäden sich wieder in die Bauchhöhle hochgezogen hatten, 
diese regelmässig der Hanptsitz der eingetretenen Eiterungen waren. 
Dass sich bei solchen Gelegenheiten auch wohl die Virulenz wieder 
steigern kann, ist ganz klar, ebenso in den Fällen, welche sehr richtig 
Herr Gebhard betonte, wo im Bauch zurückgebliebene Blutgerinnsel 
und dergl. zuin Nährboden eventueller Keime werden. Ob sich aber bei 
acutem Nachlass der Widerstandsfähigkeit des Organismus die Virulenz 
steigern könne, wie Herr Gottschalk meint, das ist doch mindestens 
unerwiesen. 

Höchst erfreulich war es mir, von Herrn Winter zu vernehmen, 
dass auch er, entgegen den Herren Bröse, Dülirssen und Macken¬ 
rodt, die Existenz einer diffusen Gonokokkenperitonitis nicht anerkennt. 
Dieses von Herrn Bröse seiner Zeit klinisch beschriebene Krankheits¬ 
bild ist so lange gänzlich unhaltbar, als es ihm nicht gelingt, bei einer 
diffusen Peritonitis überall im Bauch Gonokokken und zwar nur Gono¬ 
kokken nachzuweisen. Klinische Erscheinungen allein können täuschen. 
Meine Erfahrungen, wo in 11 Fällen intra operationem frischer Gono¬ 


kokkeneiter sich in die Bauchhöhle ergoss und keine Spur von Perito¬ 
nitis entstand, beweisen stricte das Gegentheil. 

Herr Czempin glaubt Nachdruck darauf legen zu müssen, das» das 
Bindegewebe ein ganz besonders günstiger Aufenthaltsort für Mikroben 
sei. Das ist zuzugeben für frisch puerperale Fälle, aber nicht für lang- 
dauernde chronische Eiterungen, wovon das Thema handelt 

Das Entstehen einer gonorrhoischen Pyosalpinx auf dem Wege der 
Lymphbahnen ist von Niemand nachgewiesen und kommt wohl auch 
nicht vor, aber auch Strepto- und Staphylokokken dringen nur in puer¬ 
peralen Geweben unmittelbar zu üvarium und Tube vor; und klinisch 
allein kommen wir auch hier nicht weiter, weil man niemals wissen 
kann, wie viel von einem Tumor im gegebenen Fall auf Rechnung des 
Eiterherdes, wie viel auf Schwarten kommt; das ist unmöglich und 
würde ausserdem nichts nutzen. 

Herrn Gebhard gegenüber möchte ich doch dabei bleiben, dass es 
nicht auf die Menge, sondern nur auf die Virulenz der eindringenden 
Mikroben ankommt. Auch der Vorschlag des Herrn Gottschalk, das 
kleine Becken bei Eiterausti itt intra operationem prophylaktisch durch 
Vernähung der Appendices epiploica zu vernähen und gegen die fibrige 
Bauchhöhle abzuschHessen, kann seinen Zweck nicht erfüllen, weil es 
unmöglich erscheinen muss, unter solchen Verhältnissen die gänzliche 
Berührung des oberen Peritoneums resp. der betreffenden Darmschlingen 
mit dem gefährlichen Material zu vermeiden. 

Zum Schluss hat noch Herr Martin auf die Rolle hingewiesen, 
welche in unseren Fällen das Bact. coli spielte. Dieser Mikroorganismus 
ist bisher gynäkologischerseits recht wenig gewürdigt worden und doch 
fand er sich z. B. in meinen Fällen in mikroskopisch 22'/, pCt. und 
culturell 10 pCt. Wie ich seiner Zeit in Frankfurt aus einander setzte, 
glaube ich namentlich annehmen zu müssen, dass speciell bei Ovarial¬ 
eiterungen das Gros auf Bac. eoli-Basis entfällt und habe deshalb damals 
der ascendirenden Gonorrhoe die gewisserroaassen descendirende t’oli- 
Infection entgegengestellt. Die chronische Erkrankung des Darraperito- 
neums spielt dabei die primäre und ursächliche Rolle, die zufällige Ent¬ 
leerung eines Follikelhämatoms oder Corpus luteum, wodurch ein Hohl¬ 
raum mit vorzüglichen Emährungsbedingungen für die Darmbacterien 
frei wird, ist das zweite Ereigniss, an welches sich die Eiterung direkt 
anschliesst und später in die Tube durchbrechen kann. Pyosalpinx 
allein auf Coli-Basis ist selten, häufig dagegen in Verbindung mit Ova- 
rialabsccss. 

In Beziehung auf die Drainagefrage kann man sich Herrn Martin 
gewiss anschliessen, denn: sind die eingedrungenen Keime liochvirulent, 
dann nützt sie nichts, sind sie dagegen abgeschwächt, so schädigt sie 
als reizender Fremdkörper nur die Entwickelung der peritonealen Re¬ 
sorption. 

Mit Vortheil wäre sie vielleicht allein in solchen Fällen zu verwen¬ 
den, wo nicht entfernbare, dicke Schwielen Zurückbleiben müssen, deren 
eitrige Einschmclzung zu erwarten steht. 


Berliner medielnische Gesellschaft. 

Sitzung vom 20. Januar 1897. 

Vorsitzender: Herr Virchow. 

Schriftführer: Herr Rüge. 

Vor der Tagesordnung. 

Hr. Abel: Ich erlaube mir, Ihnen 4 Präparate von Tnbengravi- 
dität zu demonstriren, welche ich in den letzten 4 Wochen des ver¬ 
gangenen Jahres operirt habe. Die Tubengravidität kommt ja so häufig 
vor, dass die Präparate an sich nichts Besonderes darstellen. Ei sind 
aber in einer der letzten Sitzungen des vergangenen Jahres von Herrn 
Martin hier auch Präparate von Tubengraviditäten demonstrirt worden, 
welche er auf vaginalem Wege gewonnen hatte. Ich halte nun die 
Operation per vaginam bei Tubengravidität nicht für so geeignet, und 
das ist der Hauptgrund, warum ich Ihnen die Präparate vorfiibre. Ich 
habe in allen Fällen die gewöhnliche Laparotomie gemacht: die Pa¬ 
tienten sind alle glatt durchgekommen. 

Es sind nun verschiedene Umstände, welche gegen die Operation 
per vaginam sprechen. An und für sich bietet allerdings die Operation 
bei uncomplicirten Fällen keine Schwierigkeit, und es ist bekannt, dass 
man von der Vagina aus Tumoren der Adnexe und auch kleinere 
Tumoren des Uterus selbst entfernen kann. Man präparirt die vordere 
Scheidenwand und die Blase vom Uterus ab, schiebt die Blase hoch, 
eröffnet das Peritoneum, zieht sich den Uterus vor die Vulva und bindet 
dann je nachdem entweder eins oder beide erkrankte Adnexe ab. Nun, 
das hört sich sehr leicht an. Sobald aber etwas complicirte Verhält¬ 
nisse vorliegen, was nicht immer mit Sicherheit vor der Operation zu 
entscheiden ist, so kann die Operation von der Scheide aus ausser¬ 
ordentlich erschwert, ja unausführbar werden. Ich betrachte es als ein 
Verdienst von Steffeck, dass er im vorigen Jahre eine Reihe von 
Fällen, welche er von der Vagina aus operirt hat — ich glaube, es 
waren 14, — mitgetheilt nnd gezeigt hat, dass sobald die Verhältnisse 
etwas complicirter liegen, die Operation eine sehr unangenehme werden 
kann. Es kann zu Blutungen kommen, welche mitunter überhaupt 
schwer zu stillen sind. In verschiedenen Fällen musste die Operation 
abgebrochen werden. Dührssen, welcher ja bekanntlich die „vaginale 
Cöliotomie“ eingeführt hat, sagt selbst, dass man bei dieser Operation 


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8. Februar 189?. 


125 


liKRMNKK KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


immer alle Vorbereitungen für eine etwa noth wendig werdende ventrale 
Laparotomie treffen muss. Nun, diese Uebelstände, die sich also wäh¬ 
rend der Operation heraussteilen, sind auch schon von anderer Seite er¬ 
wähnt worden. Was aber bisher noch nicht genügende Berücksichtigung 
erfahren hat. sind die Verhältnisse selbst, dass man bei dieser Operation 
immer alle Vorbereitungen für eine etwa nothwendig werdende Lapa¬ 
rotomie treffen muss. Nun, diese Uebelstände, die sich also während 
der Operation herausstellen, sind auch schon von anderer Seite erwähnt 
worden. Was aber bisher noch nicht genügende Berücksichtigung er¬ 
fahren hat. sind die Verhältnisse, die sich nach der Operation ergeben. 
Bei dem Vorriehen des Uterus nämlich muss man die vordere Uterus¬ 
wand entweder mit Kugelzangen oder mit provisorischen Seidenligaturen 
fassen, um den Uterus durch den Peritoneal- und Vaginalschlitz vor die 
Vulva zu ziehen. Hierbei wird sehr viel Uterusgewebe zerfetzt, es 
kommt auch leicht zu unangenehmen parenchymatösen Blutungen, und 
deshalb wird dann nachher beim Schluss der Wunde gewöhnlich eine 
Vaginoflxation angeschlossen. Zum Beweise aber, wie sich die Verhält¬ 
nisse hiernach gestalten können, möchte ich Ihnen einen Fall mittheilen, 
dessen Präparat ich hier mitgebracht habe, und welcher vorher durch 
vaginale Coeliotomie gerade in der Martin'schen Klinik operirt worden 
war. Hier handelte es sich um Folgendes: Die Frau kam ungefähr 
vor einem Jahre in die Martin’sche Klinik mit Blutungen. Sie war 
zuerst ohne Erfolg ausgekratzt worden. Nachher stellte Bich heraus, 
dass an der vorderen Wand des Uterus ein kleines wallnussgrosses 
Myom sasa. Daraufhin wurde die vaginale Cöliotomie gemacht. Der 
Uterus wurde vorgewälzt, das kleine Myom nucleirt, der Uterus wieder 
zurückgebracht und die Vaginollxation angeschlossen. Trotz der Ope¬ 
ration blutete die Frau weiter. Sie wurde aus der Klinik entlassen, 
nachher noch wiederholt ausgekratzt. Die Blutungen hörten immer 
wieder auf einige Zeit auf, um dann in erhöhtem Maasse wieder einzu¬ 
treten. Schliesslich kam die Frau im November vorigen Jahres in voll¬ 
kommen ausgeblutetem Zm-tande in meine Klinik. Bei der Unter¬ 
suchung fand sich in der Cervix ein ungefähr faustgrosses Myom. Es 
lässt sich dies nur so erklären, dass wahrscheinlich bei der ersten Ope¬ 
ration schon ein submucöses Myom vorhanden war, welches übersehen 
wurde und auch bei der Auskratzung natürlich nicht mitgefasst und mit- 
nucleirt worden ist. Infolgedessen haben die Blutungen immer weiter 
bestanden. Bei der von mir vorgenommenen Operation spaltete ich 
beiderseits die Uterus wand in geringer Ausdehnung und entfernte dann 
das Myom durch Morcellement, was verhältnissmässig leicht ging. Sie 
sehen hier die einzelnen Stücke dieses Myoms und den grösseren Theil, 
welcher im Ganzen herausgekommen ist. Das Myom sass oberhalb des 
inneren Muttermundes breitbasig fest. Als ich nun weiter die Uterus¬ 
innenfläche abtastete, fand sich, dass dort auch noch Myomkeime sassen. 
Wenn ich also der Frau helfen wollte, so musste ich jetzt radical ope- 
riren und den Uterus entfernen. Ich wollte nun in typischer Weise die 
vordere Scheidenwand zur Totalexstirpation abpräpariren, kam aber 
schon hierbei sehr schlecht vorwärts durch die Adhäsionen, welche sich 
infolge der Vaginoflxation gebildet hatten. Schliesslich gelangte ich mit 
grosser Mühe bis zur Blase. Denn diese sass ja jetzt wesentlich 
anders, als vor der Vaginoflxation. Um die Blase vom Uterus abzu¬ 
lösen, ging ich mit der grössten Vorsicht vor. weil ich wusste, dass hier 
sehr feste Adhäsionen sein mussten. Trotzdem kam ich nach einiger 
Zeit mit dem Finger in die Blase hinein. Nun tastete ich die ganze 
Blase mit dem Finger ab, und konnte feststellen, dass dieselbe 
flächenhaft mit der hinteren Fläche des Uterus, beinahe 
bis zum inneren Muttermund fest verwachsen war. Hieraus 
ergab sich ohne Weiteres, dass eine Kadicaloperation überhaupt nicht 
mehr möglich war, wollte man nicht die ganze Blase dabei zerreissen. 
Ich brach daher die Operation ab, schloss die Blase, welche übrigens 
per primam geheilt ist, und entfernte ausserdem vom Uterus, was vor¬ 
her zerfetzt worden war. Ich machte also eine supravaginale Ampu¬ 
tation. Die Frau ist trotz der langdauernden und schweren Operation 
glatt durebgekommen. Es geht ihr bis jetzt gut, die Blutungen haben 
aufgehört. Ich fürchte, sie wird die Blutungen wiederbekommen. 

Nun, dieser Fall soll Ihnen beweisen, dass der vaginalen Operation 
doch auch grosse Nachtheile anhängen, und das sind Bolche Nachtheile, 
die ganz besonders bei der Operation der Tubengravidität in Betracht 
kommen. Auch dass die vaginale Operation schneller ginge als die 
Laparotomie, ist nicht der Fall. Ich erinnere mich z. B. aus dem 
vorigen Jahre eines Falles, den ich in extremis operirt habe. Hier war 
literweise Blut in der Bauchhöhle, nachdem ein acutes Platzen des 
Fruchtsackes stattgefunden hatte. Ich machte die Operation per laparo- 
tomiam, entfernte die Adnexe beiderseits, und die ganze Operation 
dauerte ungefähr 18 Minuten. Wird z. B. in solchen Fällen vaginal 
operirt, und ergiebt sich dann, dass man auf diesem Wege nicht weiter 
kommt, so dass man noch die Laparotomie anschliessen muss, so gehen 
die Patienten sicher zu Grunde. Der Zweck also der heutigen Demon¬ 
stration ist, Ihnen zu rathen, ganz besonders bei Tubengravidität nicht 
die vaginale Methode zu wählen, sondern immer die alte und sichere 
Methode, die ventrale Laparotomie, anzuwenden. 

Hr. Gluck: Reaectlon und Exstirpation des Larjnx (mit 
Krankendemonstrationen). (Der Vortrag erscheint unter den Originalien 
dieser Wochenschrift.) 

Vorsitzender: Ich wollte darauf aufmerksam machen, dass wir 
jetzt in Gefahr stehen, im Beginn des neuen Jahres wieder in die Me¬ 
thode der Demonstrationen zu kommen, die wir im alten Jahre gehabt 


haben. Ich möchte dagegen bemerken: Jeder von Ihnen kann zu jeder 
Zeit einen wirklichen Vortrag anraelden, welcher dann auf die Tages¬ 
ordnung gestellt wird, so dass alle Mitglieder im Voraus erfahren, um 
was es sich handeln soll; dann kann sich Jeder darauf vorbereiten. 
Jetzt verlieren wir soviel Zeit mit vorläufigen, vor der Tagesordnung 
erfolgenden Mittheilungen, dass zuletzt die angesetzten Discussionen, 
und was danach auf der Tagesordnung steht, nicht mehr erledigt werden 
können. Das ist doch entschieden ein Missstand, und ich dächte, Sie 
müssten sich daran gewöhnen können, in dieser Beziehung eine gewisse 
Nachsicht gegen die anderen Gollegen zu üben, die sich zu Vorträgen 
gemeldet haben, und die bei dem jetzigen Verfahren, wie z. B. der 
nächst angemeldete „Vortragende“ mehrere Monate hinter einander 
immer wieder zurückgeschoben werden. 

Wir kämen nun zur Wahl der neuen Ausschussmitglieder. 

Es ist uns jedoch ein Missgeschick passirt, das ich nicht entschul¬ 
digen will. Die Wahl ist nämlich dadurch zweifelhaft geworden, dass 
Ihnen eine Liste übergeben worden ist, wo unter den 27 Vorgeschlagenen 
2 Todte sich befinden. Die Liste enthält also eigentlich nur 25 Namen. 
Wir müssen anerkennen, dass unter diesen Umständen die Forderung, 
welche das Statut stellt, nicht erfüllt worden ist. Nun befinden wir uns 
aber leider in einer anderen Pression. Heute über, acht Tage ist des 
Kaisers Geburtstag. Wir können also keine Sitzung halten. Wir würden 
daher bis in den Februar mit einer neuen Ausschusswahl warten müssen. 
Wir geben unter diesen Umständen anheim, ob Sie trotz der defecten 
Liste heute die Wahl vollziehen wollen. (Rufe: Ja!) Ich muss dann 
fragen, ob irgend Jemand widerspricht, denn wenn Einer widerspräche, 
so müsste jedenfalls die Sache vertagt werden. Ich frage also, ob Je¬ 
mand widerspricht? — Das ist nicht der Fall. Dann will ich die Wahl 
sogleich vornehmen lassen und ersuche die Herren Patschko wsky und 
Selberg, das Nöthige in die Hand zu nehmen. 

Tagesordnung. 

Discussion über den Vortrag des Herrn Senator: Zur Kenntnlss 
der Osteomalacie and der Organtherapie. 

Hr. Landau: Wenn ich Herrn Senator richtig verstanden habe, 
so kam es ihm nicht sowohl darauf an, an der Hand des einen Falles 
uns ein Heilmittel gegen die Osteomalacie an die Hand zu geben, als 
zu beweisen, dass das Oophorin den Stoffwechsel beeinflusst, mithin auch 
in dieser Beziehung zeigt, dass es kein indifferentes Mittel ist. Be¬ 
kanntlich ist bei der Osteomalacie in letzter Zeit eigentlich in entgegen¬ 
gesetzter Weise, und zwar mit grösserem Glück vorgegangen worden, 
indem gerade nach der durch Fehling empfohlenen Castration, also 
nach der Entfernung der Eierstöcke die Osteomalacie heilte. Vielfache 
Beobachtungen nach ihm zeigten in der That, dass die Osteomalacie, 
welche als schwere Stoffwechselerkrankung aufzufassen ist, zwar auch 
nach Darreichung von Roborantien, Phosphor — Leberthran, Soolbäder, 
oder auch nach blosser kräftiger Diät heilen kann, aber niemals mit der 
relativ grossen Sicherheit, als wenn man die Eierstöcke entfernt. Wenn 
nun von Herrn Senator gerade in entgegengesetzter Weise mit dem 
entgegengesetzten Mittel, nämlich mit Zuführung von Eierstocksubstanz 
eine Heilung versucht worden ist, so ist dieses Bestreben aus analogen 
Erfahrungen in der Medicin durchaus verständlich. Wir wissen, dass ganz 
entgegengesetzte Mittel unter Umständen dieselbe Wirkung haben. Wird 
doch in analoger Weise Heilung mit Verabreichung des betreffenden Or¬ 
ganes erzielt, sowohl bei dem Zustande, wo das Organ entfernt ist, als 
wenn es geradezu in hypertrophischer Form vorhanden ist. Ich er¬ 
innere daran, dass Schilddrüse gegen die Cachexia strumipriva, ebenso 
wie bei der Basedow'schen Krankheit, mit gleichem guten Erfolge ge¬ 
reicht wird. Ich darf vielleicht auch bei dieser Gelegenheit daran er¬ 
innern, dass die Zeit nicht weit zurück liegt, in der über die Dar¬ 
reichung von SchilddrUsensubstanz ebenso unklare Vorstellungen, über 
ihre Heilkraft ein ebenso skeptischer Argwohn herrschte, als jetzt, wo 
wir rein empirisch Eierstocksubstanz bei ganz differenter Erkrankung, 
wie wir glauben, mit Erfolg reichen. In bemerkenswerther Weise 
scheinen die Untersuchungen, welche Senator, und italienische Forscher 
vor ihm, an Thieren angestellt haben, uns einigermaassen diese rätsel¬ 
hafte Wirkung zu erklären, nämlich durch die Ergebnisse bezüglich des 
Umsatzes im Stoffwechsel, welcher durch die Phosphorsäureausscheidung 
gekennzeichnet wird. Nach jenen Versuchen soll nämlich der Gehalt an 
Phosphorsäure nach der Castration sinken, während umgekehrt nach Dar¬ 
reichung von Eierstockssubstanz die Phosphorsäureausscheidung steigt, 
ein Verhalten, welches es erklärt, dass die Eierstockzufuhr, welche die 
Phosphorsäure vermehrt, einen besseren Knochenaufbau bedingt. 

Vermuthungen über die Art der Wirkung der Eierstockssubstanz zu 
äussern, hat vor Anstellung grosser Versuchsreihen keinen Zweck; die 
Empirie ist hier der Wissenschaft, ähnlich wie bei der Malaria und Syphilis 
mit dem Chinin und Quecksilber, so auch mit dem Thyreojodin und Oophorin 
vorausgeeilt. Ich freue mich, bei dieser Gelegenheit constatiren zu 
können, dass auch Herr Senator die zuerst von mir an einem grösseren 
Beobachtungsmaterial constatirte günstige Wirkung bei nervösen Be¬ 
schwerden Castrirter und Climakterischer bestätigt hat. Unangenehme 
Erscheinungen sind seit meiner Publication bei der Darreichung dieses 
Mittels nicht beobachtet worden; im Gegentheil konnte, von nur wenigen 
Misserfolgen abgesehen, fortdauernd die günstige Wirkung des Oophorins 
bei dem von mir seiner Zeit ausführlich beschriebenen Symptomen- 
complex, der heissen Wallungen, aufsteigenden Hitze, Angstgefühl etc., 
beobachtet werden. Die eigentlich wirksame Substanz aus dem ge¬ 
trockneten Eierstocksstroma in ähnlicher Weise zu isoliren, wie dies 


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No. 6. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Bau mann mit dem Thyreojodin geglückt ist, ist uns bis jetzt nicht ge¬ 
lungen. Wollen wir Bicher gehen, so reichen wir immer noch das 
Oophorin in Dosen von 3 mal tilglich 3 Tabletten von 0,3—0,5 Trocken¬ 
substanz. Für sehr wesentlich halte ich es, ein sicheres Präparat (also 
Eierstöcke weder von kranken, noch von zu jungen oder zu alten 
Thieren) anzuwenden, wie es bisher von Dr. Freund hier aus frischen 
Präparaten hergestellt und von diesem unter dem Namen Oophorin- 
tabletten in den Handel gebracht ist. 

Es wäre sehr erwünscht, wenn auch sonst Collegen, welche das 
Mittel angewandt haben, ihre Erfahrungen mittheilten. Ein Einzelner 
ist bei der Schwierigkeit der Beobachtung kaum im Stande, zu einem 
vollkommenen Schluss zu kommen, und wenn auch die Fälle, welche 
Andere beobachtet haben, vereinzelt sind, so sind vereinzelte genau 
beobachtete Fülle immer noch besser, als eine Statistik über eine grosse 
Reihe, welche man klinisch nicht genügend beherrscht hat. 

Hr. Ca'-pari: Im Aufträge von Herrn Prof. Zuntz habe ich Ihnen 
einige Mittheilungen zu machen in Bezug auf den Vortrag des Herrn 
Geheimraths Senator. Zunächst möchte ich auf die Bemerkung des¬ 
selben eingehen, dass bisher ausser den Veröffentlichungen von Stilling 
und v. Me ring keine Versuche mit Säurefütterung mit positivem Er¬ 
folge gemacht worden sind. In dem Laboratorium von Herrn Prof. 
Zuntz sind bereits seit mehreren Jahren Versuche mit Oxalsäure ge¬ 
macht worden, einer Substanz, welche in dieser Beziehung noch keine 
Beachtung bisher gefunden hat, und zwar ergab sich bei Kaninchen, 
dass selbst wenn die Oxalsäure durch einen Alkalizusatz abgestumpft 
resp. neutralisirt war, frühere oder spätere Zeit, etwa nach 2 Monaten, 
stets erhebliche Knochenveränderungen sich zeigten. Diese charakterisirten 
sich hauptsächlich in einer abnormen Brüchigkeit des Knochensystems. 
Der histologische Befund entspricht allerdings nach der Beurtheilung 
anerkannter pathologischer Anatomen nicht dem Befunde, wie wir ihn 
bei der Osteomalacie des Menschen zu sehen in der Lage sind. Bei 
Schafen dagegen waren derartige Versuche absolut negativ, und zwar 
ist das dadurch zu erklären, dass bei Wiederkäuern bereits in den Vor¬ 
mägen die Oxalsäure vollständig durch Vergährung zerstört wird. Diese 
Zerstörung scheint sich aber erBt im Laufe der Zeit bis zu einem ge¬ 
nügenden Grade zu entwickeln. Es zeigte sich nur dann ein genügender 
Grad der Vergährung im Pansen der frisch geschlachteten Thiere, wenn 
dieselben bereits seit einigen Wochen Futter mit Oxalsäurezusatz er¬ 
halten hatten. 

Herr S. von Nathusius hat quantitative Untersuchungen über die 
Kalkeinnahme und die Kalkausgabe bei einem jungen Schafbock gemacht. 
Wurde nun diesem Thiere 20 g Oxalsäure täglich gegeben, welche halb 
mit Natrium neutralisirt war, so ergab sich, dass die Menge desjenigen 
Kalkes, welcher für den Organismus verwendet wurde, auf 0,039 g pro 
Tag reducirt wurde. Bekamen sie aber 20 g Oxalsäure ohne Alkali¬ 
zusatz, so wurde nicht nur sämmtlicher Kalk ausgescbieden, welcher 
aufgenommen wurde, sondern noch im Durchschnitt täglich 0,117 g 
mehr. Bekamen die Thiere 20 g Oxalsäure mit 10 g kohlensanrem 
Kalk, so erreichte trotz der grossen Menge der Kalkzufuhr dennoch die 
zurückbehaltene Menge des Kalkes nicht die Höhe, wie beim normalen 
Thier, sondern blieb etwa um die Hälfte zurück. Es waren im Durch¬ 
schnitt 0,505. Dagegen waren die Untersuchungen mit Milchsäure voll¬ 
ständig resultatlos. Wenn man dem Thiere Milchsäure gab, so war die 
Kalkausscheidung ungefähr dieselbe, wie beim normalen Thier. 

Noch deutlicher waren die Resultate meiner Untersuchungen bei 
einem Hunde. ■) Wenn der Hund bei einem kalkarmen, aber sonst aus¬ 
reichenden Futter gehalten wurde und dann mit Oxalsäurezusatz ernährt 
wurde, bo stieg die Kalkausscheidung durch Harn und Koth 
bis auf das Zehnfache an. 

Bei jungen Schweinen wnrde eine Reihe qualitativer Versuche ge¬ 
macht. Wenn sie Oxalsäure bekamen, enthielt der Urin erhebliche 
Mengen Calciumoxalat und ebenso wie der Koth im Ganzen sehr viel 
mehr Kalksalze als normal. Der Urin, welcher normal frei von Phos¬ 
phorsäure war, enthielt dieselbe bei Oxalsäurefütterung reichlich. 

Wie hochgradig die Veränderungen der Knochen bei den heran- 
wachsenden Schweinen sind, wollen Sie aus der Betrachtung der Becken 
zweier Schweine ersehen, von denen das eine mit Oxalsäure gefüttert, 
das andere das entsprechende Controlthier ist. 

Bezugnehmend ferner auf die Angabe des Herrn Geheimraths 
Senator, dass über die Untersuchungen der Herren Stilling und 
v. Me ring bisher nur eine kurze Mittheilung vorläge, glaubte ich, dass 
es wohl von Interesse wäre, wenn die Herren ein mikroskopisches Prä¬ 
parat besichtigen wollten, das diesen Untersuchungen entstammt und das 
Herr Professor Stilling die Güte hatte, uns seiner Zeit zuzusenden. 

Hr. Zuntz: Wenn die Herren diese beiden Becken betrachten 
wollen, so werden sie sehen, dass das Oxalsäurethier ein in allen 
Dimensionen stark verengtes Becken hat, namentlich aber ein Becken, 
an dem man sehr deutlich die Wirkung des Drucks erkennen kann, 
der von Seiten der Last des Körpers, die sich auf die Oberschenkel¬ 
köpfe stützt, geübt wird, in dem Sinne, dass das Becken in dieser 
Richtung verengt ist. Ich glaube, es bedarf gar keiner Erläuterung 
dieser Präparate. — Ein Theil der von Herrn Caspari mitgetheilten 


1) Vergl. Caspari: Ueber chronische Oxalsäurevergiftung. Leip¬ 
ziger Inaug. Disaert. 1885. 


Ergebnisse ist in der Zeitschrift für die Rttbenzuckerindustrie des Deut¬ 
schen Reiches, Jahrg. 1894, 95 u. 96 von mir kurz veröffentlicht. 

Hr. R. Virchow: Ich wollte mir erlauben, ein paar Bemerkungen 
in Bezug auf die Frage der Osteomalacie zu machen. Es ist seit langer 
Zeit bekannt, dass das, was man kurzweg unter dem Namen „Oateo- 
malacie“ zusammenfasst, sich sehr verschieden darstellt, sowohl anato¬ 
misch, als auch ätiologisch und im Zusammenhang mit anderen 
Krankheitsvorgängen. Es ist mir deshalb immer zweifelhaft ge¬ 
wesen, ob man berechtigt ist, die Osteomalacie wie eine Einheit zu 
behandeln. Diese Frage wird, glaube ich, jedem, der sich die verachie- 
denen Formen der Osteomalacie ansieht, sehr nahe treten. Ala ich, 
noch in meiner Würzburger Zeit, meine Arbeit über die Rachitis aus¬ 
führte, habe ich auch eine Reihe von Mittheilungen über die Osteomalacie 
gegeben *)• Namentlich habe ich damals einen schüchternen Versuch 
gemacht, die Einteilung der verschiedenen Arten der Osteomalacie nach 
dem Aussehen der Schnittfläche der Knochen zu bestimmen. Ich unter¬ 
schied eine gelbe Malacie, eine gallertige Malacie und eine rotbe Malacie. 
Nun kann ich gleich hinzufügen: die rothe Malacie ist natürlich immer 
eine hyperämische. Sie kann auch gelegentlich einmal hämor¬ 
rhagisch sein; aber zunächst ist sie hyperämisch. Damit zeigt sie 
schon, dass sie in das Gebiet der irritativen Veränderungen hineingehört; 
sie trägt auch schon im Leben den Charakter eines entzündlichen 
Processes. Es handelt sich immerhin um eine Art von Entzündung. 

Ganz verschieden davon ist die gelbe Form, wie wir sie am meisten 
bei alten Leuten sehen, die bekannte Osteomalacia senilis, wie sie 
namentlich an den Rippen so oft auftritt und die Brüchigkeit der Rippen 
und auch anderer Theile des Thorax bedingt, aber sie kommt in ähn¬ 
licher Weise auch an den Extremitäten vor, zuweilen in dem Maasse, 
dass, wenn man einen Röhrenknochen der unteren Extremitäten zwischen 
den Fingern zusammendrückt, er in der That nachgiebt. Nun, bei 
dieser gelben Form ist eben keine Hyperämie vorhanden, kein Zeichen 
von irgend einer speciflschen Reizung, die der entzündlichen sich an¬ 
nähern könnte. Dagegen sehen wir, dass sich Fettgewebe in immer 
reichlicherer Menge entwickelt, weshalb man zu einer gewissen Zeit 
diese Form schlankweg eine fettige Degeneration genannt bat. Dass 
diese tettige Degeneration nicht identisch sein kann mit der rothen 
Osteomalacie, das braucht man wohl nicht weiter auseinanderzusetzen. 
Es sind offenbar zwei ganz verschiedene Dinge. 

Was endlich die gallertige Form, die ich damals etwas genauer be¬ 
schrieben habe, anlangt, so hat sie in Beziehung auf die Geschichte der 
Osteomalacie in sofern ein besonderes Interesse, als dieselbe Substanz, 
von der Herr Senator neulich sprach, und die durch Bence Jones 
im Harn nachgewiesen wurde — dieses eigentümliche Albuminat, das 
ganz andere Coagulationsverhältnisse darbietet, wie die gewöhnlichen 
Albuminate — sich auch in den Knochen selbst vorfindet, und zwar 
eben in der Gallerte, welche die inueren Höhlen der Knochen erfüllt. 
Diese Gallerte, die auf den ersten Blick ganz so aussiebt, wie da« be¬ 
kannte Schleimgewebe, welches durch atrophische Zustände aus Fett¬ 
gewebe entsteht, unterscheidet sich eben dadurch, dass sie ein solches 
sonderbares Albuminat enthält. Es ist ja darüber nachher vielfach ver¬ 
handelt worden. Es hat mancherlei Namen bekommen, bei dem einen 
Gelehrten so, bei dem anderen anders — darauf kommt es hier nicht an. Die 
Hauptsache ist, dass hier ein chemischer Körper erscheint, der sonst im 
Knochen nicht vorhanden ist, der aber hier in ziemlich grossen Quanti¬ 
täten sich findet. Wenn derselbe gelegentlich auch in die Secrete über¬ 
geht, so ist das ein Zeichen, dass es sich um einen fortdauernden oder 
länger andauerndeu Umsetzungsprocess, um ein Stoffwechselprodukt im 
Innern der Knochen, handelt Dieser Körper kommt aber weder bei der 
gelben, noch bei der rothen Atrophie vor; er findet sich eben nur in 
den gallertigen Formen, die man im Grossen und Ganzen immerhin als 
atrophische bezeichnen kann. 

Nun möchte ich hervorheben, dass im gewöhnlichen Gange der 
Dinge bei keiner dieser Osteomalacien sich eine räumliche Verkleinerung 
der Knochen einstellt, — ich meine, durch einen spontanen Fortgang 
des Processes. Wenn die Knochen äusserlich sich verkleinern, so ge¬ 
schieht es eben durch äusseren Druck, dem sie nicht Widerstand leisten 
können, der die äusseren Schichten zusammenpresst, häufig unter wirk¬ 
lichen Einbrüchen, der also eiu Zeichen der fortschreitenden Brüchigkeit 
(Fragilitas) ist. Aber an sich, in der Natur der Malacie, liegt keine 
Verkleinerung des Umfanges, nur eine des Inhalts unter Erhaltung des 
Umfanges. Dagegen tritt ein Schwund knöcherner Theile ein. Nun, 
dieser Schwund muss ersetzt werden — es kann kein leerer Raum ent¬ 
stehen — und dieser Ersatz erfolgt nicht immer auf dieselbe Weise, 
sondern er geschieht gelegentlich dadurch, dass sich da neues Fettgewebe 
entwickelt, ein andermal dadurch, dass sich Gallerte einstellt, ein drittes 
Mal dadurch, dass sich entzündliche Processe unter Wucherung der 
Zellen, durch Proliferation entwickeln. 

Das sind die äusseren Verhältnisse, die ich vorweg schicken musste, 
und ich meine, dass dabei eine 8eite der Betrachtung in den Vorder¬ 
grund tritt, die bei der gewöhnlichen Betrachtung eigentlich ganz elimi- 
nirt ist. Denn wenn man immer die Frage stellt: welche Säure ist es. 
welche die Kalksalze dem Knochen entzieht? — so sollte man meinen, 
es müsste weiter nichts übrig bleiben, als entkalkter Knochen, der aber 
im Uebrigen seine Beschaffenheit behält. Das thut er aber nicht. Es 


1) Mein Archiv 1852, IV, 8. 307; 1858, V, 8. 491. 


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8. Februar 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


127 


ist nicht ein bloss entkalkter Knochen, sondern es ist dieselbe Differenz, 
wie sie auch in der Rachitis bei näherer Untersuchung sich herausstellt, 
die man dort auch für denselben Vorgang hielt, für einen blossen 
Entkalkungsprocess. Durch meine Untersuchungen hat sich jedoch 
herausgestellt, dass die Rachitis wesentlich solche Theile des Knochens 
betrifft, die noch gar nicht Knochen sind, sondern die erst Knochen 
werden wollen, also die werdenden Theile, die wachsenden Theile, wäh¬ 
rend die fertigen Theile nicht gerade frei bleiben, aber doch auf ganz 
untergeordnete Weise verändert werden. Bei der Osteomalacie handelt 
es sich umgekehrt um einen Process, der den fertigen Knochen betrifft. 
Denn wenn wir absehen von den Ausnahmefällen der Osteomalacie, wie 
sie beim Fötus Vorkommen sollen, den fötalen Formen und den ganz 
frühen, so erweist es sich jedesmal, dass das eben eine Täuschung ist. 
Die Osteomalacie unterscheidet sich meiner Meinung nach ganz wesent¬ 
lich dadurch von der Rachitis, dass sie fertige Knochen, wirkliches, fer¬ 
tiges Knochengewebe trifft und dass dieses fertige Knocheugewebe aller¬ 
dings zu einem grossen Theil entkalkt wird. 

Das Entkalken findet aber unter sehr verschiedenen Umständen 
statt. Ich darf wohl erwähnen denjenigen Fall, wobei es am massen¬ 
haftesten auftritt und die grössten Resultate liefert: das ist der Fall, 
den ich vor Jahren unter dem Namen der Kalkmetastasen beschrieben 
habe, wo aus den Knochen massenhaft Kalk aufgenommen wird und 
nachher in sonderbarer Weise in die Schleimhaut des Magens und des 
Darms, namentlich aber in die Lungenkubstanz abgesetzt wird, so dass 
grosse, umfangreiche Bezirke dieser Organe vollkommen verkalken. 
Dabei tritt dann auch ein starker Absatz in den Nieren auf, wie das 
jetzt wohl allgemein bekannt ist. Ich will nur daran erinnern, dass bei 
den neueren Discussionen über die Sublimatvergiftung die Frage ganz 
in den Vordergrund getreten ist, in wieweit der Kalk, der in den Nieren 
sich als eine Art von diagnostischem Zeichen findet, durch die Einwir¬ 
kung des Quecksilbers aus den Knochen frei geworden ist, dort also 
eine acute Auflösung stattgefunden hat. Nichtsdestoweniger ist diese 
Auflösung nicht etwa eine einfache Osteomalacie; im Gegentheil, sie 
kann davon bestimmt unterschieden werden. 

Ganz verschieden gestalten sich die Dinge, wenn wir die Osteo¬ 
malacie einordnen in die Reihe derjenigen allgemeinen Processe, durch 
welche der Kranke zunächst betroffen wird, und nach denen wir eben 
die Form der Krankheit bestimmen. Da greifen die Fragen zu sehr 
weiten Dimensionen aus. Wer sich z. B. für die sehr schwierige An¬ 
gelegenheit der perniciösen Anämie interessirt, der wird auch 
wissen, wie gross und schwer die Veränderungen sind, die dabei in den 
Knochen auftreten. Gerade da sehen wir nicht selten eine Art von 
rother Malacie zu Stande kommen, die in weitester Ausdehnung die ver¬ 
schiedensten Knochengebiete umfasst. Mit diesen Erscheinungen der 
perniciösen Anämie oder in geringerer Stärke auch der sog. spontanen 
Anämie hängen zweifellos in einem gewissen Sinne zusammen die 
puerperalen Formen, die zahlreiche Analogien damit darbieten, und 
die auch, gerade wie die perniciöse Anämie, vorzugsweise häufig 
bei jugendlichen Personen weiblichen Geschlechts Vorkommen. Es ist 
bis jetzt nicht möglich gewesen, für alle diese Verhältnisse eine genaue 
Uebersicht aller localen Veränderungen herzustellen, aus dem einfachen 
Grunde, weil, wie Ihnen allen bekannt ist, es fast gar keine Gegend 
giebt, in der man über menschliche Leichen ganz frei verfügen kann. 
Untersuchungen dieser Art würden eigentlich erfordern, dass man die 
gesammten Knochen einer Leiche in Stücke zerschnitte und feststellte, 
was daran verändert ist. 8o sind wir immer auf Bruchstücke 
angewiesen. Wir nehmen einen oder den anderen Knochen heraus, be¬ 
trachten ihn, und Beben uns von da aus um, ob nicht wo anders auch 
noch etwas sitzt. Aber eine wirkliche wissenschaftliche Grundlage für 
die Betrachtung dieser Fälle liegt nicht vor. Nur das eine ist unzweifel¬ 
haft, dass derjenige Theil, der bei diesen Veränderungen zuerst betroffen 
wird, nicht das Knochengewebe ist, sondern das Mark. Es sind wesent¬ 
lich primäre Erkrankungen im Mark; erst nachher participirt daran das 
Knochengewebe selbst (die Tela ossea) und es können dann recht aus¬ 
gesprochene Formen von Malacie sich daran anschliessen. Wir befinden 
uns, wie ich weise, in einem Stadium, wo die Knochen gerade auf dem 
Gebiete der pathologisch-anatomischen Untersuchungen ein sehr allge¬ 
meines Interesse gefunden haben und an vielen Orten durchforscht werden. 
Es haben sich erst neuerlich Beziehungen herausgestellt zwischen den 
verschiedenen Abschnitten des Skelets. 8ie werden nächstens eine Ar¬ 
beit in meinem Archiv sehen, wo ein Schüler des Herrn Hanau Unter¬ 
suchungen bei puerperalen Fällen gemacht hat, in wieweit z. B. das 
Vorkommen des puerperalen Osteophyts mit malacischen Processen an¬ 
derer Theile des Skelets zusammentrifft, — kleine Resultate vorläufig, 
auf sehr wenig umfangreiche Untersuchungen begründet, aber doch be- 
merkenswerth durch die Genauigkeit ihrer Ausführung. Das Weitere 
wird erst in nächster Zeit gemacht werden müssen, nnd ich selbst bin 
daher fern davon, Ihnen eine fertige Theorie vorzulegen. Wohl aber 
möchte ich wenigstens das Eine heute schon thun, dass ich Sie darauf 
aufmerksam mache, dass es, wenigstens nach meiner Auffassung, ein 
Fehler ist, wenn man die ganze Frage der Osteomalacie nnr auf das 
Knochengewebe bezieht, und wenn man alle Untersuchungen so anslegt, 
wie wenn es sich nur darum handelte, festzustellen: warum verlieren 
die Knochen die Kalksalze? Das ist ein Punkt, der auf die mannich- 
faltigste Weise sich erklärt. Es giebt Formen der Knochenentzündung, 
der Ostitis, wie man seit langer Zeit weiss, bei denen eine Osteoporose 
eintritt, und bei denen nach nnd nach immer mehr Knochensubstanz 
schwindet, um endlich wucherndes Mark an der Stelle erscheinen zu 


lassen. So werden wir uns wohl daran gewöhnen müssen, ein paar 
Kategorien der Osteomalacie von einander zu trennen. Ich meine zu¬ 
nächst diejenigen, bei denen in Wirklichkeit — was ich gar nicht 
leugnen will — Knochengewebe primär afficirt wird durch irgend eine 
Schädlichkeit, die im Körper verbreitet ist — das mag eine Säure sein. 
Dann aber bleibt eine andere Kategorie, — nnd die halte ich für die 
grössere, — wo das Mark früher afficirt |wird nnd die anderen Theile 
sich erst secundär umgestalten. 

Was die Säuren anbetrifft, so habe ich von jeher darauf aufmerksam 
gemacht, dass, um zu begreifen, wie Kalksalze im Organismus aufgelöst 
werden, wir keine exceptionellen Säuren gebrauchen. Dazu genügt 
schon die gemeine Säure, die wir jeden Augenblick zur Disposition 
haben, nämlich die Kohlensäure, die ja im Blut in genügender 
Menge vorhanden ist, und die bekanntermaassen genügt, um, bei immer 
neuer Production, beträchtliche Quantitäten von Kalksalzen aufzulösen. 
Die Schwierigkeit für die Erklärung liegt nur darin, dass zweifellos das 
normale Knochengewebe eine besondere Befähigung hat, die Kalksalze 
festzuhalten, sie gewissermaassen zn schützen vor den Angriffen der¬ 
jenigen Substanzen, welche darauf einwirken könnten, also z. B. auch 
vor der Kohlensäure. Diese Fixirung der Kalksalze ist ein Haupt¬ 
phänomen in dem ganzen Vorgänge der Ossification. Sobald aber die 
Knochen diese Fähigkeit einbüssen, dann schwindet auch der Kalk. 

Ich habe schon während meiner Würzburger Zeit eine Reihe von 
Fällen der Osteomalacie gesammelt und publicirt, in denen der primäre 
Vorgang sich zweifellos an neurotische Zustände anknüpfte, wo allerlei 
primäre Erscheinungen im Nervenapparat nachznweisen waren, auf 
welche dann die fortschreitende Malacie folgte.') Nun, da ist es 
nach meiner Meinung sehr wahrscheinlich, dass die neurotische Störung 
die Fähigkeit des Knochengewebes, jene Fixirung der Kalksalze fortzu¬ 
setzen, geschwächt hat. Aber ich bin weit entfernt davon, dieselbe Er¬ 
klärung auf alle anderen Fälle von Osteomalacie anwenden zu wollen. 
Da wird eine grosse und sehr genaue Sonderung eintreten müssen. 
Dann werden wir wohl mit der Zeit dahinter kommen, das Geheimniss 
dieser sehr sonderbaren und sehr complicirten Störung etwas mehr auf¬ 
zuhellen. — 

Hr. Senator: Was die Bemerkungen des Herrn Landau be¬ 
trifft über den Zweck, den ich mit der Darreichung des Oophorins ver¬ 
folgte, so habe ich es allerdings in der Absicht gegeben, die Osteo¬ 
malacie, wenn möglich dadurch zn heilen, und zwar auf Grund der 
Theorie von Fehling, wonach es ja nahe liegt, an Stelle der kranken 
oder nicht normal functionircnden Ovarien Präparate gesunder Ovarien 
zu geben. Dass aber in meinem Falle das Oophorin die Osteomalacie 
geheilt hätte, kann ich nicht behaupten. Allerdings ist eine unverkenn¬ 
bare subjective Besserung eingetreten und auch eine objective insofern, 
als gewisse Fnnctionsstörnngen der Patientin nachliessen. Die Patientin 
wurde von Beschwerden fast ganz frei und konnte infolgedessen gehen 
und stehen und andere Bewegungen ausführen, an denen sie vorher 
durch Schmerz oder Schwäche verhindert war. Ich habe aber aus¬ 
drücklich bemerkt, dass ich diesen Erfolg der Verbesserung der^ hygieni¬ 
schen Verhältnisse in erster Linie zusebreibe, und dass aus einer ein¬ 
zigen Beobachtung eine solche therapeutische Wirkung eines Präparates 
nicht erschlossen werden könnte. Ich habe ferner hervorgehoben, dass 
die Besserung um so auffallender war, als die Kalkausscheidung dabei 
in ganz auffallender Weise zunahm, woraus au schliessen wäre — und 
ich freue mich, in den Worten des berufensten Beurtheilers, unseres ver¬ 
ehrten Vorsitzenden, eine Bestätigung dessen zu finden —, dass man 
die Osteomalacie nicht als eine blosse Knochenerkrankung ansehen 
könne, sondern wie das in neuerer Zeit überhaupt schon geschehen ist, 
als eine allgemeine Stoffwechselaffection, bei der noch andere Organe 
mitbetheiligt sind, namentlich auch die Muskeln und Nerven. Auf die 
Erkrankung der Muskeln hat unter Anderen Friedreich hingewiesen, 
auf die Betheiligung der Nerven in neuerer Zeit Köppen. Wenn das 
Oophorin aber wirklich bei der Osteomalacie einen Nutzen hat, so frägt 
es sich nob, ob es auch in allen Fällen von Osteomalacie sich hülfreich 
erweisen wird, weil die Krankheit, wenngleich allerdings sehr selten, 
ja auch bei Männern vorkommt. Da kann ja von einer abnormen 
Function der Ovarien nicht die Rede sein: man müsste denn annehmen, 
dass irgend ein anderes Organ bei Männern dieselbe Function in Bezug 
auf den Stoffwechsel hat, wie die Ovarien beim Weibe, und dass die 
Ovarialpräparate diese Function ersetzen können. Diese Ansicht wird 
noch gestützt durch die Ausführungen unseres Herrn Vorsitzenden, dass 
unter Osteomalacie verschiedene Zustände zusammengefasst werden. 
Und auch aus den Versuchen, die Osteomalacie durch Zufuhr von ver¬ 
schiedenen 8äuren oder durch Kalkentziehung in der Nahrung hervorzu¬ 
rufen, geht es hervor, dass es verschiedene Arten von Knochenerweichung 
giebt. Insofern sind die Versuche des Herrn Zuntz ja äusserst dankens- 
werth, denn es ist ihm zweifellos gelungen, wenigstens bei 'gewissen 
Thieren, durch Säurezufuhr Knochenerweichung zu erzeugen, welche 
ganz dieselben Deformitäten zur Folge hatte, wie die Osteomalacie des 
Weibes, aber die histologischen Veränderungen waren dabei^doch wieder 
andere. 

Dass ich die Versuche des Herrn Zuntz nicht erwähnt und nicht 
gekannt habe, werden Sie wohl entschuldbar finden, sie sind, wie ich 


1) Untersuchungen über die Entwickelung des Schädelgewebes. 
Berlin 1857, S. 110. 


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128 


Na. 6. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


höre, in einem landwirtschaftlichen Journal veröffentlicht, das von 
Medicinern wohl wenig gelesen wird. 

Ich bin bei meinem Vortrag, um die mir angemessene Zeit nicht 
zu überschreiten, nicht näher darauf eingegangen, das9 der Stoffwechsel- 
zustand, in den unsere Patientin, trotz ihrer subjectiven Besserung, 
durch die Darreichung des Thyradens und des Oophorins gerietb, in 
hohem Grade demjenigen des Hungerzustandes glich. Unsere Patientin 
hat Nahrung zu sich genommen, aber unter dem Einfluss des Thyradens 
und besonders des Oophorins hat sie ganz die gleichen Veränderungen 
gezeigt, wie diejenigen, die wir seiner Zeit — Herr Zuntz war ja in 
hervorragender Weise an diesen Untersuchungen betheiligt — bei Cetti 
und Breithaupt, und wie sie Luciani bei dem bekannten llnngcr- 
künstler Succi beobachtet hat, ganz besonders darin, dass auch in der 
Hungerperiode die Ausfuhr des Kalks und zwar im Harn und Koth sehr 
stark und sogar gesteigert war. Cetti, der diese Erscheinungen am 
meisten darbot, hat am 3. und 4. Hungertage mehr, und am 9., dem 
vorletzten Hungertage, noch eben soviel Kalk ausgeschieden, wie am 
letzten Esstage, ein Beweis, dass beim Hungernden auch das Knochen¬ 
system sich sehr entschieden betheiligt, entgegen den früheren Ansichten, 
wonach die. Knochen etwas ganz Stabiles darstellen sollte. Eben solche 
Veränderungen also brachten bei fortdauernder Nahrungszufuhr die 
Organpräparate, namentlich das Oophorin in dem mitgetheilten Fall 
hervor. 


Aerztlicher Verein zn Hamburg. 

Sitzung vom 19. Januar 1897. 

Vorsitzender: Herr Kumpf. 

Hr. E. Fraenkel bespricht die Widal’sche Keaction zur Serum¬ 
diagnostik des Typhus, die durch Lichtheim, Breuer, Stern 
u. A. vielfach Bestätigung erfahren hat. Er zeigt dieselbe an einer Anzahl 
aufgestellter Mikroskope und bestätigt hiermit die Mittheilungen Widal's. 
Diese Beobachtungen sind praktisch von grösster Wichtigkeit. Sie ge- 
Btatten nicht nnr die Diagnose des Typhus abdom. in klinisch zweifel¬ 
haften Fällen, man kann auch umgekehrt feststellen, ob die in das 
Serum eingeimpften Bacterien Typhus- oder Colibacillen oder anders¬ 
artige Mikroorganismen sind, je nach dem Ausfall der Keaction. Die¬ 
selbe erfolgt in der Regel prompt, nnr in seltenen Fällen nach 10 bis 
15 Minuten. 

Hr. Proehownik demonstrirt das Präparat eines puerperalen, 
Reste der Placenta enthaltenden Ute r u s mit zahlreichen grossen Myomen, 
von denen eines verjaucht war. Es war in diesem Falle die supra- 
vagioale Amputation des Uterus nothwendig geworden. Das Präparat 
verdient besonderes Interesse, weil die Entfernung des Beptisch puer¬ 
peralen Uterus nur in seltenen Ausnahmefällen indicirt ist. Zweitens 
demonstrirt er Präparate eines Falles von papillärem Ovarialkystom mit 
zahlreichen secundären Knoten auf dem Peritoneum parietale, gleich¬ 
zeitig bestand Gravidität. 

Hr. Jollasse demonstrirt die Präparate eines 19J. Mädcheus, das 
am 13. XII. 90 ins Krankenhaus kam und angab, seit 14 Tagen mit 
Stichen in der linken Seite und Kurzathmigkeit erkrankt zu sein. Die 
bei der ersten Untersuchung der Schwerkranken auf Pleuritis exsudat. 
gestellte Diagnose wurde am anderen Tage zweifelhaft durch eine aus¬ 
führlichere Anamnese, welche auf ein vor einiger Zeit tiberstandenes 
Magenleidcn lautete. Es wurde nunmehr, obwohl sich sichere physi¬ 
kalische Symptome nicht beibringen Hessen, die Diagnose auf subphren. 
Abscess gestellt. Probepunction im neunten Intercostalraum in der 
Scapularlinle links ergab an circumscripter Stelle fötiden Eiter. 24. XII. 
Resection der neunten und zehnten Kippe in der Axillarlinie. Pleura frei 
von Eiter. Incision in das sich vorwölbende Zwerchfell Hess in eine 
doppeltfaustgrosse Höhle gelangen, die mit Eiter und FibringerinnBeln 
erfüllt war. Die Wandung der Höhle war von Milz und Zwerchfell 
begrenzt. Darauf Besserung des Zustandes für mehrere Tage. Erneuter 
Anstieg der Temperatur. Revision der Wundhöhle, Lösung frisch ge¬ 
bildeter Adhäsionen, die den Eiter zurückhielten. Darauf schnelle 
Besserung, völlig normale Temperatur, sehr guter Allgemeinzustand. 
3 Tage später Bronchopneumonia dextra und nach weiteren 4 Tagen 
Exitus letalis. Die Autopsie ergab ausser 2 kleinen bronchopneumon. 
Herden ein vertheiltes Ulcus in der Mitte der kleinen Curvatur des 
Magens, Verwachsungen mit der Unterfläche des linken Leberlappens 
und dem Zwerchfell. Theilweise Verwachsung der vergrösserten Milz 
mit der Thoraxwandnng. Die so gebildete collabirte Abscesshöhle hing 
nicht mehr direkt mit der Geschwürsnarbe des Magens zusammen, son¬ 
dern war von derselben durch die bestehenden Adhäsionen getrennt. 

Hr. Hardt stellt einen 18j. jungen Mann vor, der sich in die 
rechte Schläfe geschossen hatte. Die Verletzung ist geheilt. Jetzt auf¬ 
genommene Aktinogramme lassen deutlich den Sitz der Kugel erkennen. 
Dieselbe befindet sich zwischen den beiden Sehnerven vor ihrem Ein¬ 
tritt in die Orbitae, peripher vom Chiasma, in der Sattelgrube. 

Hr. He8s stellt einen 30jähr. Arbeiter vor, der vor 6 Jahren ein 
Rissigwerden der Nägel der Fiisse, vor 3 / 4 Jahren auch der Fingernägel 
bemerkte. Es handelt sich um einen typischen Fall von Onychogry* 


phosis. Vor 13 Jahren Dnrchschneidung des rechten N. medianus. Im 
Gebiete dieses Nerven trat die Erkrankung der Nägel zuletzt auf. H. fasst 
den vorliegenden Fall als Trophoncurose anf und nimmt eine centrale 
Entstehung an, ohne über den Sitz des in Frage kommenden Cei.troms 
nähere Angaben zn machen. 

Zweitens stellt er einen 51jährigen Kranken mit Blepharospasmus 
nictitans der rechten Seite vor. Patient beschuldigte einen starken 
Luftzug als Ursache seines Leidens. Sonstige centrale Störungen be¬ 
standen nicht. Häufig gelang es durch Druck anf den dritten Proc. 
transversns cervicalis diesen Krampf auszulösen. Gelegentlich breitete 
er sich auf den unteren Facialisast aus. Es kam dann zu einer Er¬ 
schwerung der 8prache. Der Krampf besserte sich unter der einge¬ 
leiteten galvanischen Behandlung, kehrte aber nach einer psychischen 
Alteration wieder. 

Hr. Peltesohn berichtet über zwei Fälle extragenitaler Lues. 
In dem erstcren befand sich der Primäraffect an der Conjnnctiva bulbi 
eines 8jährigen Mädchens. In dem andern schien die Lues durch Ver¬ 
letzung des rechten Zeigefingers mittelst eines Eisensplitters übertragen 
zu sein, doch wurde diese Eintrittspforte durch die weitere Beobachtang 
zweifelhaft. 

Zweitens stellt er ein Kind vor mit Aniridia totalis. Von der 
Iris ist nnr ein kleiner Ciliartheil erhalten. P. hebt die Neigung zur 
Cataraetbildung und zum Glaukom in derartigen Fällen hervor. 

Hr. Rnmpel hält den angekündigten Vortrag: „Ueber idio¬ 
pathische Oesophaguserweiterungen.“ Die Erweiterungen des 
Oesophagus werden unterschieden in diffuse und partielle. Die letzteren 
als Pulsions- und Tractionsdivertikel bekannt, bevorzugen dem Sitze 
nach bestimmte Stellen des Oesophagus. R. zeigt eine Anzahl ent¬ 
sprechender anatom. Präparate. 

Grundverschieden hiervon sind die diffusen Erweiterungen der 
Speiseröhre; dieselben sind zunächst spindelförmig nnd kommen bei 
Stenosen der verschiedensten Art der Speiseröhre zur Beobachtung; 
daneben giebt es sog. idiopathische Erweiterungen, bei denen keine 
nachweisbare Stenose besteht, die ätiologisch häufig unaufgeklärt sind 
und zumeist erst auf dem Sectionstisch erkannt werden. Die Diagnose 
einer idiopathischen Oesophaguserweiterung während des Lebens wurde 
bisher nicht gestellt, in einzelnen Fällen nnr vermnthet. 

Nach Schilderung zweier selbstbeobachteter Fälle — in dem einen 
handelte es sich um eine mit der Diagnose Garcinom aulgenommene 
Frau, bei der sich später eine Oesophaguserweiterung von 12 cm Um¬ 
fang fand, in dem anderen um einen 53jährigen für hysterisch gehaltenen 
Schauspieler — stellt der Vortragende einen 25Jährigen jungen Mann 
vor, der nach einer schweren Pneumonie magenleidend geworden war 
und alles erbrach. Er hatte Schmerzen beim Schlucken und bot das 
Bild unstillbaren nervösen Erbrechens. 

Bei Einführung des Schlundrohres wurden zunächst 2*0—300 ccm 
schwach alkalischer Flüssigkeit gewonnen. ^Dieselbe konnte, da das 
Magenrohr nur etwa 28 cm von der Zahnreihe eingetübrt war, nicht 
dem Magen entstammen. Liess man eine schwachblaue wässerige Lack¬ 
muslösung einfiiessen, so schlng die Farbe nicht nm und cs liess sich 
ohne Weiteres die gesammte eingefilbrte Flüssigkeitsmenge wieder ge¬ 
winnen. Weitere Versuche ergaben mit Sicherheit, dass die ausge¬ 
heberten Flüssigkeitsmengen nicht dem Magen entstammten, denn 
gewöhnlich gelang es dem Patienten nach einigen Versuchen, bei denen 
er selbst die eingeflihrte Sonde vor- nnd rückwärts bewegte, mit der 
Sonde in den Magen zu gelangen. Der dann ansgeheberte 8peisebrei 
hatte eine deutlich saure Keaction und enthielt freie HCl. Es konnte 
nun eine Ausspülung des Magens selbst vorgenommen werden. Liess 
man die Magensonde so liegen, dass die Fenster derselben sich nach 
dem Lumen des Magens zu öffneten, so gelang es mit Sicherheit, neben 
der Sonde noch ein dünneres Schlundrohr einzufübren und den Oeso¬ 
phagus selbst auszuspülen; auch jetzt konnte die gesammte Menge ein¬ 
geflossener schwachblauer Lackmuslösung ausgehebert werden, ohne dass 
ein Farbenumschlag erfolgte. — Nach diesen Versuchen liess sich noch 
daran denken, dass vielleicht eine seitliche divertikelartige Aussackung 
des unteren Oesophagusabschnittes bestände. Diesen Einwand wies der 
Vortragende durch einen weiteren Versuch zurück, indem er zeigte, dass 
bei Einführung einer mehrfach gefensterten Sonde in den Magen, so 
dass also einige Sondenfenster noch oberhalb der Cardia lagen, eine 
isolirte Ausspülung des Oesophagus durch ein dünneres Schlundrohr 
nicht mehr möglich war. Vielmehr floss jetzt die in den Oesophagus 
eingeführte Flüssigkeit in den Magen ab. Es musste mithin eine 
diffuse Erweiterung des unteren Oesophagusabschnittes angenommen 
werden. 

Da ln ähnlichen Fällen die anatomische Untersuchung weder eine 
Erklärung durch ein abnorm enges Foramen oesophag. im Zwerchfell, 
noch durch eine Erkrankung der Oesophagnsmusculatur zulässt, liegt es 
nahe, an eine krampfartige Verengerung des untersten Theiles des 
Oesophagus als Ursache des Leidens zu denken. Bemerkungen über 
congenitale Erweiterungen der Speiseröhre und über die eventuell ein¬ 
zuschlagende chirurgische Therapie de9 Leidens beschlossen den Vortrag. 

L. 


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8. Februar 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


129 


VIII. Historisch-geographische Bemerkungen 
über die Beulenpest 

Von 

Dr. J. Pagel. 

Angesichts der Thatsache, dass in jüngster Zeit die indische Beulen¬ 
pest, jene uralte, ebenso in ihren Ursachen räthselhafte, wie im Verlauf 
mörderische Krankheit, wiederum eine epidemische Ausbreitung gewonnen 
hat, dürfte ein kurzer orientirender Ueberblick über die Geschichte und 
Geographie dieser Affeetion den meisten Collegen vielleicht nicht ganz 
unwillkommen sein. Selbstverständlich kann ich in diesem, auf Wunsch 
der verehrlichen Redaction niedergpschriebenen Essay nur compilatori- 
sches Buch- oder besser gesagt Bücherwissen geben, da ich die Beulen¬ 
pest aus eigener Anschauung nicht kennen gelernt habe. Es ergeht mir 
in dieser Beziehung nicht besser, wie in Bezug auf tropische Malaria 
meinem berühmten, heute vor 8 Jahren bestatteten Lehrer August 
Hirsch, dem weltbekannten Verfasser des klassischen Handbuchs der 
historisch-geographischen Pathologie, der sich gerade für die Krankheit, 
deren Kenntniss seinen Forschungen so mannigfache Bereicherung ver¬ 
dankte, auf dem internationalen Congress von 1890 selbst als einen 
„ex libris doctus vir“ bezeichnen musste. Bezüglich der Pest freilich 
war er so glücklieh gewesen, sie aus eigener Anschauung kennen zu 
lernen, als er im Februar 1879 zusammen mit Sommerbrodt den 
definitiven Auftrag von der preussischen Regierung zu einer Forschungs¬ 
reise nach dem russischen Gouvernement Astrachan bezw. Wetljanka 
erhielt, wo damals eine Epidemie von Beulenpest, die letzte europäische, 
herrschte, über deren Beobachtungsergebnisse er in dieser Zeitschrift 
(1879, No. 80—38), sowie in einer selbstständig erschienenen Schrift 
(Berlin 1880) berichtete. — Ich brauche wohl nicht hervorzuheben, dass 
man in den ältesten Zeiten im Allgemeinen jede, mit dem Charakter 
einer Seuche einhergehende und bösartig verlaufende bezw. mit rapider 
Mortalität ausgestattete Krankheit als Pest zu bezeichnen pflegte. Von 
solchen „Pesten“ ist die alte Geschichte reich durchsetzt und die bezüg¬ 
liche Literatur bringt eine fast erdrückende Fülle von Berichten darüber. 
Hinzuweisen ist namentlich auf die jedem Gebildeten geläufige, von 
Thucydides in klassischer, aber doch nicht genügender Form beschrie¬ 
bene Atheniensische Pest (um 430 v. Chr.); denn die competentesten 
Autoren sind heute noch nicht über die Natur dieser Krankheit einig, 
die in divergirendstor Weise (als Blattern, Ergotismus, Petechialtyphus, 
Gelbfieber, Beulenpest event. in Complication mit Lues etc. etc.) inter- 
pretirt worden ist. Bäche von Tinte sind buchstäblich um dieser Frage 
halber geflossen. Nicht viel besser steht es mit der Pest des Antonin 
oder Galen (um 165 p. Chr.) und der etwa 100 Jahre später fallenden 
Pest des Cyprian, benannt nach ihrem aus der Kirchengeschichte be¬ 
kannten Berichterstatter, sowie einigen ähnlichen langjährigen und weit¬ 
verbreiteten, theilweise mit Blattern identificirten, aber theilweise noch 
räthselhaften Epidemien. Im Folgenden soll nur von der genuien, 
Beulen- oder Bubonenpest xar' die Rede sein, dieser merk¬ 

würdigen, hauptsächlich durch die Complication mit schmerzhafter und 
rasch in Eiterung übergehender Anschwellung einer der inguinalen, 
cruralen, axillären oder cervicalen resp. submaxillären Lymphdrüsen 
characterisirten, epidemischen Krankheit. Ihre eigentliche Heimath ist 
der Orient, speciell „Indien“ (daher auch „indische Beulenpest“ geheissen), 
wo sie bisher mit winzigen Ausnahmen wohl noch nie gänzlich erloschen 
war, sondern fast stets mehr oder weniger endemisch existirte. Leider 
ist aber diese Affeetion nicht auf ihren Ursprungsheerd beschränkt ge¬ 
blieben, sondern wie bekannt, auch in Europa ein nicht seltener und 
unheimlicher Gast gewesen. Die ältesten sicheren, auf Bubonenpest zn 
beziehenden Nachrichten finden wir bei Rufus von Ephesus, einem Arzt 
und Schriftsteller des ersten nachchristlichen Jahrhunderts. Er selbst 
bat sie, wie es scheint, auch nicht persönlich kennen gelernt, sondern 
liefert die Beschreibung auf Grund von Berichten einiger Vorgänger. 
Die bezüglichen Stellen des Ruius sind uns bei Oribasius, dem be¬ 
kannten grossen Compilator der byzantinischen Periode (825—403 n. Chr.) 
erhalten geblieben, und es geht daraus mit Bestimmtheit hervor, dass 
die Complication mit Bubonen beobachtet worden ist. „Sie (seil, die 
früheren Berichterstatter Dioskorides und Posidonius) sagten aber, 
dass sich zu derselben hitziges Fieber, Schmerz und Aufregung des 
ganzen Körpers, Geistesverwirrung und Ausbruch grosser und nicht 
in Eiterung übergehender Bubonen hinzugesellen, nicht bloss an 
den gewöhnlichen Stellen, sondern auch an den Kniekehlen und in der 
Armbeuge, obschon an diesen Stellen sonst niemals solche Entzündungs- 
Geschwüre vorkämen etc.“ Rufus ist geneigt, ein von Hippocrates 
bereits geschildertes buboartiges Leiden mit dieser Affeetion zusammen 
zu werfen. Er glaubt, dass sie besonders in Sumpfgegenden vor¬ 
kommt. Jedenfalls ist aus seinen übrigen Angaben mit Sicherheit 
zu entnehmen, dass die Pest bereits 300 n. Chr. in Libyen, Aegypten 
und Syrien auftrat. Noch bestimmter lässt sich als Bubonenpest die 
Kette der um 581 580 n. Chr. fallenden Seuchen ansprechen, derjenigen 
epidemiologischen Ereignisse, welche wir gewöhnlich als Pest des 
Justinian zu bezeichnen pflegen. Es ist unmöglich, im Rahmen dieser 
Zeilen ausführlicher auf eine Schilderung der im Uebrigeu, hauptsächlich 
von den Historikern Evagrius, Agathias und Procop gut beschrie¬ 
benen Pestepidemien einzugehen, deren Geschichte in Haeser's grossem 
Werk (Th. III) einen ganzen Druckbogen (p. 37—53) füllt. Auch hier 
ist der Nachweis mit ziemlicher Sicherheit zu führen, dass in dem Com- 


plex der Erscheinungen, die auch andersartige Krankheiten betrafen, die 
begleitenden „Carbunkeln“ die besondere Rolle spielen. Hier ist auch 
zum ersten Male in den vorliegenden Urkunden von einer Invasion in 
Europa die Rede, da den Hanptsitz der Justinianischen Pest Constantinopel 
bildet. In der Folgezeit schweigen die Chroniken von der eigentlichen 
Beulenpest bis zum 18. Jahrhundert, wo der berüchtigte „schwarze Tod“ 
sich über Europa ausbreitete, der, wie bekannt, die grässlichsten Folgen 
in politischer und socialer Beziehung nach sich zog und förmlich eine 
Auflösung aller bestehenden Verhältnisse, selbst der innigsten Familien¬ 
bande, eine sittliche und gesellschaftliche Verwahrlosung im wörtlichsten 
Sinne bewirkte. Jedermann kennt seine Schilderung aus Boccaccio’s 
Dekamerone. Weniger bekannt ist, dass wir auch eine Reihe von 
wissenschaftlichen Beschreibungen dieser entsetzlichen und mörderischen 
Seuche und zwar auch von Aerzten selbst (sogar in Gedichtform) aus 
denjenigen Ländern besitzen, wo die Krankheit jedesmal besonders ver¬ 
breitet war. Beiläufig bemerkt, hat sie kein Land in Europa verschont 
und nachweislich, nachdem sie vom Orient (mindestens an der Ostgrenze 
von Europa) ausgegangen war, innerhalb zweier Jahrzehnte die Bevölke¬ 
rung buchstäblich decimirt, so dass es de facto an Kirchhöfen zur 
Unterbringung der Todten mangelte. An der Spitze der betreffenden 
Schilderer steht der bekannte grosse Chirurg des Mittelalters Guy de 
Chauliac (in der Auvergne um 1300 geboren, u. A. Leibarzt des in 
Avignon lebenden Papstes Clemens). In seinem berühmten 1363 ab- 
gefassten und „Inventorium s. collcctorium artis chirurgicalis“ betitelten 
Lehrbuch, das sich als Schulbuch, als „Guidon“ (d. h. Führer seil, der 
Chirurgie par excellence) grossen Ansehens bis zu Pare’s Wirksamkeit 
erfreute, und zwar in Tr. II Doctr. II Cap. 5 unter der Rubrik Aposte- 
mata pectoris bringt er eine längere „Transgressio de mortalitate“ und 
giebt hier eine unverkennbare Beschreibung des schwarzen Todes nach 
Verlauf, Symptomatologie etc., die literaturhistorisehe Berühmtheit ge- 
niesst und noch heute lesenswerth ist. Wir entnehmen, daraus, dass 
die Krankheit mit schweren Affeetionen der Athmungsorgane resp. der 
Lunge complicirt war; es handelte sich offenbar um einen acuten ent¬ 
zündlichen Proce88 mit Verflüssigung des Gewebes. Hauptsächlichste 
Begleitsymptome waren heftiges Fieber, Irrereden, Husten mit blutigem 
Auswurf; d»*r Verlauf war ein rapider; die Kranken gingen innerhalb 
24—28 Stunden zu Grunde, nachdem sich zu dem Lungenleiden auch 
Drüsengeschwülste, Carbunkel, hinzugeselt hatten. In einer späteren 
Zeit der Epidemie, als der Charakter ein milderer geworden war, bil¬ 
deten die Lymphdrüsenschwellungen das Hanptsymptom und die Lungen¬ 
erscheinungen traten zurück. — Beiläufig mag hier ein vielverbreiteter 
historischer Irrthum corrigirt werden, dass die berüchtigten Juden¬ 
verfolgungen, Gei8slcrfahrten und ähnliche psychische Auswüchse 
eine Folge des schwarzen Todes gewesen sind. Der hiesige Historiker 
Prof. Robert Hoeniger hat in seiner schönen Studie („Der schwarze 
Tod in Deutschland.“ Berlin 1881, Grosser) den Nachweis geführt, dass 
die genannten psychischen Erscheinungen der somatischen Epidemie vor¬ 
aufgegangen sind. Die beste qnellenmässige Beschreibung verdanken 
wir dem Berliner Medicohistoriker Justus Friedrich Carl Hecker 
(in seinen bekannten, von A. Hirsch, 1865. Hirschwald, gesammelten 
Abhandlungen „Die Volkskrankheiten des Mittelalters“) —, doch sind 
seitdem noch einige weitere Urkunden entdeckt worden. Wie jede 
öffentliche Calamität, hat auch diese ihre guten Seiten gehabt; sie hat 
den Aerzten jener Zeit die Impotenz ihres Wissens und Könnens zu Ge- 
müthe geführt, sie wieder zu frischer Naturbeobachtung am Kranken¬ 
bette selbst aufgerüttelt und vor allen Dingen nicht zum wenigsten dazu 
beigetragen, dass sich die Geister allmählig auch von der verhängniss- 
vollen Macht der Scholastik emancipirten. — Auch in den folgenden 
Jahrhunderten ist Europa von Pestepidemien nicht verschont geblieben. 
Reich an Berichten darüber ist besonders die 8euchenchronik des 14. 
und 15. Jahrhnnderts. Doch ist einerseits der Charakter des Leidens 
selbst ein milderer, andererseits sind unzweifelhaft auch andere, schwere 
Volksseuchen mit den Schilderungen untermischt worden, so dass sich 
aus den epidemiologischen Mittheilungen nicht recht der nosologische 
Charakter sondern und namentlich die Frage sich nicht mit Sicherheit 
entscheiden lässt, wie weit hierbei die eigentliche Beulenpest eine Rolle 
gespielt hat. Eine Nominirung der einzelnen, hierbei betheiligten Länder 
erübrigt sich ans dem einfachen Grunde, weil bei der noch lange in 
Europa heimischen Pest kein Land ausgenommen ist. Ich verweise im 
Uebrigen die weiterer Notizen bedürftigen Collegen auf die Lectiire auch 
der neuesten Seuchenchronik von Lersch (Berlin 1896, Karger). Wäh¬ 
rend des 16. Jahrhunderts, sagt A. Hirsch in seinem Handbuch, I, 
p. 852, bildete die Beulenpest auf dem europäischen Continent eine 
stehende Krankheitsform, so dass kaum ein Jahr verfloss, wo nicht die 
Seuche in mehr oder weniger epidemischer Verbreitung vorkam, und 
von Land zu Land fortschreitend, bald einen pandemischen 
Charakter annahm. In den ersten zwei Dritteln des 17. Jahrhunderts 
sind die Verhältnisse noch keineswegs gebessert; vielmehr erfolgt ein 
allmähliges Erlöschen des epidemischen Charakters erst gegen Ausgang 
des 17. Jahrhunderts. Doch kommen auch in der Folgezeit, speciell zu 
Anfang des 18. Jahrhunderts, ab und zu immer noch einzelne kleine 
Ausbrüche von „Pestepidemien“ vor; entschieden handelt es sich aber 
dabei nicht mehr um bösartige, rapid verlaufende Formen, wenn auch 
die Sterblichkeit an sich keineswegs gering ist. Solche Pestjahre, in 
denen die Krankheit besonders wfithet, werden von den Chronisten für 
die verschiedensten Städte, u. A. auch für Berlin, genau verzeichnet. 
Eine Aufzählung im Einzelnen gehört nicht hierher. Sicher sind fol¬ 
gende Thatsachcn, die man als wesentlichen Kern aus dem ganzen WuRt 


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130 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT 


No. 6. 


von Berichten berausschälen kann: erstlich, dass nur die verlotterten 
hygienischen Verhältnisse, sociale Misere aller Art, Verdummung des 
Volkes durch Pfaffen- und Junkerwirthschaft, durch Aberglauben und 
Mysticismus, der relativ tiefe Stand der Heilkunde, Kriegsereignisse etc. 
der Seuche in Europa einen so günstigen Nährboden bereitet haben, — 
zweitens, dass von allen Ländern Europas am frühesten die skandinavi¬ 
schen verschont geblieben sind, drittens, dass bis auf die kleine Rekru- 
deseenz in Astrachan im Winter von 1878 79 in Europa überhaupt die 
Epidemie seit 1841 erloschen ist, endlich viertens, dass w Je durchsich¬ 
tiger sich die Verbreitungswege der Seuche der Forschung darstellen, 
um 80 bestimmter die Türkei als der fast alleinige Aus¬ 
gangspunkt eines jeden Seuchenznges sich für Europa her¬ 
ausstellt“ (Hirsch 1. c. p. 854). 

Auf afrikanischem Boden bildet besonders Egypten den wesent¬ 
lichsten Ursprungsherd der Epidemien. Am wichtigeten und interessante¬ 
sten ist für die Geschichte der Krankheit Asien geworden. Hier sind 
nacheinander Syrien, Kleinasien, Armenien, Persien etc. als Hauptschau¬ 
platz beschuldigt resp. in Anspruch genommen worden, bis in jüngster 
Zeit erst die Aufmerksamkeit auf die centralen Gebiete Ostasiens bin- 
gelenkt und zur vollsten Evidenz nachgewiesen ist, dass hier in der 
Ebene des Hindostan, an den südlichen Abhängen des Himalaya, seit 
uralter Zeit — genau lässt sich der Termin allerdings nicht flxiren — 
ein autochthoner Pestherd besteht, den man wohl in gewisser Beziehung 
nicht fehlgeht, auch als causa primitiva für die übrigen inner- und 
ansserasiatiseben Epidemien in Anspruch zu nehmen. Der Spruch ab 
Oriente lux könnte also auch der Moditication ab Oriente pestis Platz 
machen. 

Damit sind wir wieder zu dem Ausgangspurkt unserer Betrachtung 
zurückgekehrt, die ich für heute schliessen will. Eine Schilderung aller 
der unzähligen prophylaetischen und therapeutischen Maassregeln, die 
gegen diese Krankheit im Laufe der Jahrhunderte meist ohne jeden 
Erfolg erprobt sind, sowie der übrigen die Pest betreffenden Verhält¬ 
nisse, der Nosologie und Symptomatologie im Einzelnen etc. gehört nicht 
zu meiner Aufgabe. 

Berlin, am 1. Februar 1897. 


IX. Literarische Notizen. 

— Herrn. Eichhorst, Handbuch der speciellen Patho¬ 
logie und Therapie. IV. Bd., V. Aufl. 

Der jüngst erschienene Band des bekannten und in dieser Wochen¬ 
schrift wiederholt nachdrücklichst empfohlenen Handbuches behandelt die 
Krankheiten des Blutes, des Stoffwechsels und die Infectionskrankheiten. 
Sowohl der Text, als auch die Abbildungen haben wiederum eine erheb¬ 
liche Vermehrung zu verzeichnen, die Klarheit und Uebersichtlichkeit 
der Darstellung, die Sorgfalt der Bearbeitung und das Geschick, mit 
welchem der Verf. abgerundete Krankhcitsbilder zu geben und doch auf 
die Lücken unseres Wissens aufmerksam zu machen weiss, sind die 
selben wie früher. 

— Von der — in unserer Wochenschrift wiederholt rühmend be¬ 
sprochenen Publication: Ergebnisse der Anatomie und Ent- 
wickelungsgescbicbte, berausgegeben von Merkel und Bonnet, 
(Wiesbaden, F. Bergmann) liegt der Jahrgang 1895 vor. Derselbe umfasst 
folgende Capitel: A. Anatomie: I. Technik, von C. Weigert; II. Bildung 
rother Blutzellen, von Diese; III. Endigung sensibler Nerven, von Kallius; 
IV. Knochen, Bänder, Muskeln, von K. v. Bardeleben; V. Respirations¬ 
apparat, von Merkel; VI. Gehörapparat, von Barth; VII. Geruchsorgan, 
von Stieda; VIII. Hirnfarchen und Hirnwindungen, von Waldeyer; 
IX. Topographie der Anatomie, von Merkel; X. Zellen, von Flemming; 
XI Regeneration und Devolution, von Barfurth; XII. Italienische Biblio¬ 
graphie, von Romiti; XIII. Bericht über die russische Litteratur, von 
Stieda. B. Entwickelungsgeschichte: I. Reifung und Befruchtung des 
Wirbelthieres, von Sobotta; II. Entwickelungsgeschichte des Kopfes, von 
Kupffer; III. Ontogenie und Phylogenie von Haar und Feder, von Keibel. 
Das sehr schön ausgestattete, auch mit zahlreichen Abbildungen verse¬ 
hene Werk bildet eine willkommene Ergänzung der eigentlichen „Jahres¬ 
berichte“ für alle, die in diesen Gebieten arbeiten oder sich orientiren 
wollen. 

— Aus der chirurgischen Abtheilung und der chirurgischen Klinik 
des Spitals zu Basel wird der Jahresbericht pro 1895 von den 
Herren Prof. 8ocin und DDr. Christ, Bräuninger und Hägeier 
erstattet. Ohne auf den Inhalt einzugehen, sei nur angegeben, dass 
179 Aethernarkosen, 159 Chloroformnarkosen und 42 Bromätbylnarkosen 
gegeben wurden. Sowohl bei Aetber, wie bei Chloroform erfolgte je ein 
Todesfall, letzterer bei einem jungen Manne während des Redressements 
eines Caput obstipum. Mehrmals traten nach Aethernarkosen Pneu¬ 
monien und Bronchitiden auf. Im Verlauf der Bromätbylnarkosen er¬ 
eigneten sich keine Zwischentälle. Auch ca. 1100 derartige Narkosen, 
die in der Poliklinik ausgeführt wurden, verliefen durchaus glatt. Die 
8chleich'sche Infiltrationsanästhesie wurde 2 Monate lang durchgeführt, 
aber trotz ihrer grossen Vortheile wieder aufgegeben, weil sie zu viel 
Zeit in Anspruch nahm. Es wurden dann wieder 1 proc. Cocainlßsungen 
benutzt. 


— Meyer’s Conversationslexicon, V. Aufl., ist Jetzt bis zum 
14. Bande vorgeschritten, welcher die Buchstaben P und R umfasst. 
Soweit hier und in den vorhergehenden Bänden medicinische Stichwörter 
in Frage kommen, können wir das günstige Urtheil, welches wir nach 
dem Erscheinen der ersten Bände in dieser Wochenschrift ausgesprochen 
haben, nur wiederholen und demgemäss die Erwerbung des monumen¬ 
talen Werkes bestens befürworten. 


X. Praktische Notizen. 

Thcrapeitiseke« ■■ i laUxieatiaaea. 

Auf das Vorkommen von Lungenembolien bei Injection un¬ 
löslicher Quecksilberpräparate hat zuerst im Jahre 1888 
E. Lesser aufmerksam gemacht, und für diese Fälle die Erklärung 
gegeben, dass hier die Injectionsfliissigkeit wohl in Mnskelvenen gerathen 
sein müsse. Aehnliche Fälle sind dann von anderen Autoren, Watra- 
szewski, Quincke, Lindström, Oedmannsson, ßlaschko mit- 
getheilt und zum Theil wenigstens analog gedeutet worden. Nach einer 
Zusammenstellung von Möller (Stockholm) betrug die Anzahl der bisher 
bekannten Fälle der Art 27; genannter Autor fügt aus seiner eigenen 
Praxis 28 neue Fälle hinzu, bei denen im Ganzen 4 mal Lungencompli- 
cationen eintraten — in 8,9 pt’t. seiner Fälle oder bei jedem 11. Pa¬ 
tienten. Möller machte die Injection intramuskulär mit essigsanrem 
Thymolquecksilber (Merck). Eine Reihe von Thierexperimenten be¬ 
stätigte ihm die erwähnte Lesser’sche Deutung. Er erkennt demgemäss 
an, dass die intramuskuläre Injection „mit bedenklichen Gefahren ver¬ 
bunden ist“ und schlägt vor, dieselbe, da die Anwendung unlöslicher 
Quecksilberverbindungen im Uebrigen anderen Anwendungsmethoden 
überlegen sei, wieder zu einer subcutanen Injectionsmethode zurück¬ 
zukehren. (Arch. f. Dcrm. XXXVII, 8.) 


R. Koch und Petruschky haben die Frage der Streptokokken¬ 
impfungen und ihrer therapeutischen Verwerthbarkeit für den Mensehen 
in einer grösseren Versuchsreihe in Angriff genommen und gelangen 
dabei zu folgenden Schlüssen: Zunächst zeigte sich, dass für Kaninchen 
hochgradig virulente Streptokokken für den Menschen nicht pathogen 
sind; die mit solchen Culturen dargestellte „Antistreptokokkensera“ 
erzeugte demgemäss auch keine Immunität, wenn man mit ihm Menschen 
vorbehandelte, die später einer Impfung mit wirksamen, von reinen 
Eiterungfprocessen an Menschen gewonnenen Streptokokken unterworfen 
wurden; Erysipelstreptokokken erzeugen nicht immer bei anderen Men¬ 
schen wieder Erysipel, verschiedene Menschen verhalten sich denselben 
Streptokokken gegenüber durchaus verschieden; auch das Ueberstehen 
leichter Erysipele schützt nicht gegen eine Erysipelinfection. — Der 
therapeutische Einfluss mehrfacher Streptokokkeninfection auf das Car- 
cinom kann nicht geleugnet werden, „doch ist derselbe im Verbältniss 
zu dem eintretenden Rückgang der Körperkräfte zu gering, um eine 
völlige Heilung des Carcinoms hoffen zu lassen“. (Archiv für Hygiene 
XXIII, 8.) _ 


Zur Behandlung der Haemoptoe empfiehlt Dr. Capitan (Med. 
mod., Sept. 96) neben anderen Maassnahmen die sofortige subcutane oder 
besser intramusculäre Injection folgender Lösung: 


Ergotini Yvon 

5.0 

Morph, mur. 

0,04 

Antipyrin 

1,50 

Spartein sulf. 

0,20 

Atropin sulf. 

0,003 

Aqua dest. ad volum. 

10 ccm. 


Wiederholung der Injection halbstündlich, bei drohender Gefahr 
viertelstündlich (bis zu 4 oder 5 Pravazspritzen). Falls Patient trinken 
kann, stündlich oder auch halbstündlich je 1 Esslöffel von folgender 
Lösung: 

Ergotini Bonjean 2,0 

Acidi gallici 2,0 

Syr. terebinth. 0,50 

F. I. a. sol. 120 gr. 

Ferner, wenn möglich, Application zahlreicher trockener Schröpf¬ 
köpfe oder — örtlich oder entfernt — Eisbeutel oder Heisawassercom- 
pressen. Sodann, je nach der Indication, Opium und Morphium in 
grösseren Dosen oder aber tonisirende Mittel. Etwas später, wenn 
nöthig, Ipecacuanba oder Tartar, stiblatus. (Citirt nach Bulletin general 
de Therapeutique, 15. Jan 97.) 


Ueber die Anwendung des Heilserums bei der Diph¬ 
therie berichten Hermann M. Biggs und Arthur B. Guerard 
(Medical News, 26. December 1896) in einem resümirenden Artikel, der 
sowohl die unter Aufsicht des städtischen Gesundheitsamtes iu New-York 
gewonnenen Erfahrungen als auch ein ausserordentlich umfangreiches 
Material aus allen Ländern zu Grunde liegt. Ihre Schlüsse lauten: 
1. Das Heilserum hat dort, wo es allgemein angewandt wurde, die Diph¬ 
therie-Sterblichkeit wenigstens um die Hälfte vermindert. 2. Es übt eine 
ausgesprochen gutartige Wirkung auf den Verlauf der Krankheit; es ver¬ 
kürzt und mildert sie. 3. Je früher der Beginn der Behandlung, umso 


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8. Februar 180?. 


HER LIN EU KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


101 


besser die Resultate. Wenn entsprechende Dosen in den ersten 48 Stun¬ 
den gegeben werden, geht die Sterblichkteit nicht über 5 pCt. hinaus. 

4. Diphtherie - Heilserum ist ein Specificum gegen echte Diphtherie 
(Löffler-Bacillen-Diphtherie). Weniger wirksam bei Misch-Infectionen, 
übt es jedoch auch bei diesen einen entschieden günstigen Einfluss aus. 

5. Es ist nicht nötbig, mit der Behandlung bis zur bacteriologischen 

Bestätigung der Diagnose zu warten. Vielmehr ist in jedem Falle ver¬ 
dächtiger „membranöser“ Angina, besonders bei Kindern, eine mittlere 
Heilsernmdose sofort zu geben und eventuell zu wiederholen, wenn es 
der weitere Verlauf des Falles erheischt. 6. Diphtherie-Heilserum übt in 
den gewöhnlich angewandten Dosen keine bedenklichen Nebenwirkungen 
aus. (Ausschläge z. B. sind bedeutungslos im Vergleich zu der Gefahr 
der Krankheit.) Es schädigt nicht Nieren, Herz und das Nervensystem. 
Albuminurie, Herzschwäche und postdiphtherische Lähmungen kann es 
nicht gänzlich verhindern, da die Wirkung des Diphtherie-Toxins sich ja 
bereits vor Beginn der Behandlung entfaltet. Doch ist Grund genug zu 
der Annahme, dass die weitere Wirkung des Diphtherie-Toxins durch 
ausreichende Dosen verhindert werden kann. 7. Der durch imrnuni- 
sirende Dosen verliehene Schutz währt kurze Zeit, 8—4 Wochen — 
falls die Zahl der antitoxischen Einheit gross genug war. 8ehr gehalt¬ 
reiches Serum, wo es nur in kleinen Mengen erforderlich ist, ist selbst 
für die kleinsten Kinder ganz unschädlich. 8. Diphtherie-Heilserum, 
wenn auch kein Specificum gegen alle beim Menschen vorkommenden 
Diphtberieformen, ist doch weitaus das beste Mittel für die Diphtherie 
behandlung. _ 

G. W. Spencer (Philadelphia) erprobte in weiteren 24 Fällen 
das Eucainum hydrochlor. als localeB Anästheticum. S. rühmt 
die schnelle und sichere Wirkung des Mittels, und betont besonders 
im Gegensatz zum Cocain die Gefahrlosigkeit der Anwendung. 
Gebraucht wurden gewöhnlich 2 Drachmen (ca. 7,5 gr), selten 8 
einer 5proc. Lösung, die weder auf die Respiration noch auf 
die Circulation irgend einen ungünstigen Einfluss ausübteo. Die 
Dauer der Anästhesie betrug etwa 20 Minuten, die Zeit bis zum 
Eintritt derselben 5 Minuten. Unter anderem wandte S. das Eucain 
bei 8 Tracheotomien mit vorzüglichem Erfolge an. (The medical and 
snrgical Reporter, Nov. 28., 1896.) 


A. v. ZajontschowBki hat bacteriologische Untersuchungen 
über die Silbergaze nach Dr. B. Credo (Centralblatt f. Chirurgie, 
No. 3, 1897) angestellt und kommt zu folgendem Resultate: 

1. die Silbergaze (sowohl weiss wie grau) erweist in sich die 
Anwesenheit der verschiedensten Bacterienarten— ist also nicht 
aseptisch; 

2. sie ist nicht bactericid; sie schwächt nur die Wachsthums¬ 
energie der Bacterien, und das nur im Anfang; 

3. vom bacteriologischen Standpunkte aus muss man der in Sub¬ 

limatlösung (1:2000) aufbewahrten Jodoformgaze vor 
der 8ilbergaze den Vorzug geben. Lr. 


Eine Reihe von wirksamen therapeutischen Eingriffen bei Erkran¬ 
kungen der hinteren Harnwege waren bisher durch die gleichzeitig be¬ 
dingten oft recht erheblichen Schmerzen und Kraropfzustände recht un¬ 
angenehm beeinträchtigt. Ab und zu veröffentlichte Empfehlungen, wie 
Kölners, einige Zeit vor dem Eingriff, Natr. bicarbonic. theelöffelweise 
zu geben u. a. erwiesen sich als nicht genügend wirksam. 

In dem Centralblatt für die Krankheiten der Harn- und Sexualorgane 
(Bd. VIII, No. l) empfiehlt Schar ff-Stettin einige Mittel zur „Erzeu¬ 
gung von Analgesie in dem hinteren Harnorgan.“ 

Die sogleich zu erwähnenden Medikamente werden nicht in der 
viel weniger wirksamen Form der Suppositionen, sondern in wässeriger 
Lösung und zwar per rectum applicirt mittels einer ca. 5 gr fassenden 
Oidmann'schen Spritze. Die Form des wässerigen Klysmas bietet der 
Resorption durch die Rectalschleimhaut die besten Chancen und die 
Kleinheit der Dosis ist der Erhaltung eines hohen endosmotischen Aequi- 
valents der 8alzlösung günstig. Bei acuter Urethrocyatitis, quälendem 
Tenesmus, Krämpfen des Sphincter intern, mit dem bekannten Symptom 
des Anspressens weniger Bluttropfen, ebenso auch bei acuten Entzün¬ 
dungen der Vorsteherdrüse und der Nebenhoden kommen folgende Lö- 
bungen zur Anwendung. 


Morphin, mur. 

0,3 

Atropin, snlf. 

0,01 

Aqu. dest. 

100,0 

Extr. Opii 

1,6 

Extr. Belladonn. 

0,5 

Aqn. dest. 

100,0 


Von beiden wird eine Oidmannspritze ins Rectum gespritzt. Die 
Wirkung tritt nach 10—15 Minuten ein. Besonders die erstere Lösung 
hat neben der rein schmerzlindernden auch noch des Atropinzusatzes 
wegen krampfstillende Wirkung. 

Handelt es sich um gleichzeitig fieberhafte Zustände so thut folgende 
Lösung gute Dienste: 

Anti py rin 

Natr. salicyl. i,ä 10,0 

Aqu. dest. 100,0 

Will man die reflectorischen Wirkungen der Mastdarmmuskulatur, 
die durch ein Gefühl leichten Brennens, hervorgerufen durch das Anti- 


pyrin Wirkung auf die Mastdarmschleimhaut, vermeiden, so setzt man 
der Lösung noch 1,0 Cocain zu. Mit letzterer Lösung, zur Hälfte ver¬ 
dünnt, kann sich der Patient bei besonders schmerzhaften mit Fieber 
verbundene Epididymitis und Prostatitis 3mal tägl. eine Einspritzung 
machen, wodurch die sonst höchst qualvollen Zustände ganz ausseror¬ 
dentlich erleichtert werden. Ref. hat sich seit etwa einem halben Jahr 
in zahlreichen Fällen von der Richtigkeit der Angaben Scharff’s immer 
wieder überzeugen können und glaubt sie als eine werthvolle Bezeich¬ 
nung der Therapie aufs Wärmste empfehlen zu dürfen. 

Ernst R. W. Frank. 


Diagnostisches. 

Diagnostischer und therapeutischer Werth der Lumbal- 
punction. Druckbestimmung mit Quecksilbermanometer. Von 
M. Wilms. (Augusta-Hospital in Cöln. Prof. Leichtenstern). 

W. berichtet über die Ergebnisse von 30 Lumbalpunctionen, 
die an 23 Kranken mit verschiedensten Affectionen vorgenommen 
wurden. An Stelle der von Strauss (München) dringend empfohlenen 
Chloroformnarkose verwandte W. mit bestem Erfolge die Anästhe- 
sirung mittelst Schleich'scher Hautinfiltration. In 4 Fällen 
(mit 6 Punctionen) lag Meningitis cerebrosp. epid. vor, in 5 Fällen 
(mit 6 Punctionen) Mening. tuberc , in 3 Fällen „Pseudomenin¬ 
gitis“ bei Infectionskrankheiten. 9 Fälle betrafen verschie¬ 
denerlei Erkrankungen, u. A. Urämie, Delirium tremens, 
Lues cerebri, Tumor cerebri. Oftmals konnte W. therapeu¬ 
tische Erfolge, wenn auch vorübergehender Natur, verzeichnen — 
Aufhellung des benommenen Sensoriums, Beruhigung des Kranken, 
Nachlassen der Kopfschmerzen, des Erbrechens. 

Was die optische Beschaffenheit des Punctats betrifft, so 
ergab sich unter 6 Punctionen bei epidemischer Meningitis 
5mal trübes und eitriges, lmal (Punction schon am 2. Krankheits¬ 
tage) vollkommen klares Fluidum, unter 6 Punctionen bei 
tuberculöser Meningitis 5mal klares, lmal deutlich ge¬ 
trübtes Serum. Bacteriologisch fand W. bei epidemischer 
Meningitis in 3 Fällen von 4 den Diplococcus intracellularis, 
bei tuberculöBer Meningitis in 5 Fällen nur lmal Tuberkel¬ 
bacillen (im Gegensatz zu einigen Anderen, die in 80pCt. (und mehr) 
ihrer Fälle Tuberkelbacillen nachweisen konnten). Den Eiweissgehalt 
des Punctata fand W. nicht erhöht bei den mit „Pseudomenin¬ 
gitis“ einhergehenden Affectionen, wie Pneumonia fibrin., Typhus, 
Sepsis, Lues, ebenso wenig wie bei Hirntumoren, während bei 
letzteren Quincke und Ricken 8,25, 6,0 und 7,0*/t« Ei weiss fanden. 

Von besonderem Interesse sind die Druckbestimmungen, die 
W., abweichend von Quincke u. A., mittelst Hg-Manometers (Be¬ 
schreibung und Abbildung s. im Original) ausführte. Der normale 
Druck liegt nach W. bei 10 mm Hg(nach Quincke bei 8—5 mm Hg). 

Bei der diagnostischen Verwerthung des Befundes nicht ausser Acht 
zu lassen sind eine Reihe von Factoren, die den cerebrospinalen Druck, 
bisweilen erheblich, beeinflussen, z. B. Lage oder Stellung des Kranken, 
Haltung des Kopfes, Schreien, Athmung u. A. m. Die Athmungs- 
schwankungen — bei ruhiger Respiration — betragen 2—6mm. 
Eine weit grössere Bedeutung hat die Untersuchung der PulsationB- 
schwankungen, die für die Diagnose von Aneurysmen (z. B. der 
Basilararterie) oder von blutreichen Tumoren wohl in Betracht 
kommen könnte (so fand W. bei einem Angiosarkora des Corpus 
Striatum eine Pulsationsschwankung von 7 mm und später sogar von 
12 mm gegenüber normalen Durchschnittswerthen von 1—2mm). 
Andererseits ist auch der Mangel spinaler Drucksteigerung — 
manometrisch festgestellt — bei gleichzeitig vorhandenen klini¬ 
schen Symptomen erhöhten intracraniellen Druckes dia¬ 
gnostisch höchst werthvoll. Als ein Zeichen gestörter Communication 
zwischen cerebralen und spinalen Subarachnoidalränmen erleichtert er 
die Localdiagnose bei Tumoren der hinteren Schädelgrube, 
bei basalen Exsudatmassen, bei Tuberkeln und Abscessen im 
Kleinhirn. (Tumor cerebelli-Wilms — Fälle von Quincke und von 
F. Strauss.) 

Was schliesslich die Menge des Ausgeflossenen betrifft, so ist 
sie durchaus nicht proportional dem Drucke. Bei cerebro¬ 
spinaler Meningitis wurden lmal 100 ccm mit gutem Erfolge ab¬ 
gelassen. Im Uebrigen betragen die Exsudatmengen bei Mening. 
tubercul. und epidem. 60, 85, 80, 25 ccm; bei den nicht ent¬ 
zündlichen Affectionen schwankten sie 5 und 20 ccm. (Münch, med. 
Wochenschr. No. 3, 1897.) 


Von den sich stetig mehrenden Mittheilungen über Diagnose in¬ 
nerer Krankheiten mittelst Röntgen-Strahlen, erwähnen wir 
wir noch zwei in der Wiener Gesellschaft der Aerzte vorgestellte Fälle 
von J. Wassermann (srs der Klinik v. Schrötter). Im ersten Fall 
wurde eine nahe der vorderen Brustwand gelegene Caverne des 
rechten unteren Lungenlappens radioskopisch gefunden, die der 
percutorischen Untersuchung ursprünglich entgangen war. Es zeigte 
sich innerhalb einer dunklen Partie (entspr. verdichtetem Lungengewebe 
resp pleuritischen Schwarten) ein sehr heller Fleck und zwar auch 
bei Durchleuchtung von vorn nach hinten, während vom 
Rücken ans percntorisch und anscnltatorisch absolut nichts 
nachzweisen war, was auf eine Caverne schliessen liess. Auf Grund 


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132 


HERMXEK KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. G. 


dieser Beobachtang erhofft W. filr Fälle central gelegener Lnngen- 
Cavernen oder AbscesBe werthvolle localdiagnostische Aufschlüsse 
von der Durchleuchtang des Thorax. 

Auch im zweiten Fall, einem Aneurysma der Aorta thoracica 
— bei gewöhnlicher Untersuchung an der vorderen Brustwand, keine 
deutliche Pulsation — erhielt man radioskopisch ein weit klareres Bild 
von Form und Grösse als percutorisch. Die Pulsation war deutlich zu 
erkennen, nicht nur am Aneurysma selbst, sondern auch — bei Durch¬ 
leuchtung von vorn nach hinten — an einem längs der Wirbelsäule ab¬ 
wärts sich erstreckenden Schatten, entsprechend der mächtig erweiterten 
Aorta. Bei Verdacht auf Aneurysma oder Tumor im Thorax- 
raum könnte hiernach die Anwendung der X-Strahlen in doppelter Be¬ 
ziehung von Nutzen sein. Sie würden einerseits bei kleinen, percu¬ 
torisch nicht nachweisbaren Aneurysmen die Erweiterung 
der Aorta direct erkennen lassen, andererseits durch die deutlich 
sichtbare Pulsation die Differentialdiagnose zwischen Tu¬ 
mor und Aneurysma erleichtern. (Wiener klinische Wochenschrift 
No. 4, 1897.) 


Die experimentelle Diagnose des Rotzes stellte Gabriel 
Roux (Societö nationale de Medecine de Lyon, 28. Dec. 93) mit Hülfe 
des von Strauss 1889 angegebenen Verfahrens. 

Der R. zur Untersuchung übersandte Eiter entstammte einem sub- 
cutanen Abscesse, der sich zugleich mit einer Anzahl ähnlicher, bezw. 
intramusculärer Abscesse bei einem 3 Wochen zuvor erkrankten 44 j ähr. 
Manne entwickelt hatte. Hohes Fieber, Typhusbild. Wenige Tage vor 
dem Tode Pusteleruption auf den Gliedmassen nnd im Pharynx, Broncho¬ 
pneumonie einer Seite, erysipelartige Anschwellung im Gesicht. All das 
hatte bereits intra vitam die Diagnose „Rotz“ sehr wahrscheinlich ge¬ 
macht. 

Roux ging nun auf zwiefache Weise vor: 1. brachte er mittelst 
Pravazspritze etwa ccm des suspecten Eiters in die Peritoneal¬ 
höhle eines grossen, männlichen Meerschweinchens, 2. legte er 
Kartoffelculturen an (Brüttemperatur 37° C.). Bereits nach 
24 Stunden bestätigte sowohl der Thierversuch, wie das Kartoffel ver¬ 
fahren in unzweideutiger Weise die klinische Diagnose. Während das 
Meerschweinchen bei erhöhter Mastdarmtemperatur die charak¬ 
teristische, sehr schmerzhafte Anschwellung beider Hoden auf¬ 
wies, zeigten sich auf der Kartoffel die bekannten bernstein¬ 
gelben Golonien, die sich mikroskopisch als Schütz-Löffler'sche 
Bacillen erwiesen. 

Ein Eitertröpfchen, 8 Tage nach der Impfung auB den Hoden des 
Versuchsthieres gewonnen, ergab — auf Kartoffel — wiederum die 
classische Cultur des Rotzbacillus. Lr. 


XI. Tagesgeschichtliche Notizen. 

Berlin. In der Sitzung der Berliner medicin. Gesellschaft 
am 3. d. M. hielt Herr Simons den angeküudigten Vortrag über mecha¬ 
nische intrauterine Therapie; an der Discussion nahmen die Herren 
R. Virchow, L. Landau, Czempin, Falk, Schönheimer, Gott¬ 
schalk theil. Herr Ben da besprach und demonstrirte zwei Fälle von 
Cholesteatom des Gehirns. Nach der Tagesordnung demonstirte 
Herr W. Lewy einen Patienten, der in sehr typischer Weise die Knochen¬ 
erkrankung der Perlmutterarbeiter darbot. 

— In der Sitzung der Berliner Dermatologischen Gesell¬ 
schaft am 2. Februar stellte Herr Loewenstcin vor der Tagesord¬ 
nung einen Fall von weitverbreitetem Lichen ruber planus und von 
Icterus im Frühstadium der Lues vor. HerrBruhns demonstrirte zwei 
Kranke mit spätsyphilitischer Erkrankung der Zunge und Herr Max 
Joseph einen Fall von weit ausgebreiteter Hauttuberculose, welcher 
vielleicht als Mischinfection von Lues und Tuberculose aufzufassen ist. 
Herr Rona (a. G.) hielt einen Vortrag über Urticaria mit Pigmentbil¬ 
dung und demonstrirte dazu mikroskopische Präparate. Herr Meissner 
sprach unter Demonstration gut gelungener Experimente über Kataphorese 
der Haut und Herr Oestreicher gleichzeitig mit Vorstellung von zwei 
Kranken über laryngeale und tracheale Lues. 

— Professor v. Nencki in St. Petersburg begeht am 8. Febr. sein 
25 jähriges Docentenjubiläum. Derselbe hat sich 1882 in Bonn habilitirt. 

— Den Privatdocenten Dr. G. K lern per er, bis vor Kurzem Assistent 
an der Klinik des Herrn Geh. Rath v. Leyden, und Dr. Th. Rosen¬ 
heim, früher Assistent an der Klinik des Herrn Geh. Rath Senator, ist 
der Titel als Professor verliehen worden. 

— Aus London kommt die Trauerkunde, dass Sir Thomas Spencer 
Wells im Alter von 79 Jahren verstorben ist. Seine Verdienste um 
die Entwickelung der operativen Gynäkologie sichern ihm für alle Zeiten 
einen hervorragenden Platz in der Geschichte der Medicin. Spencer 
W'ells nahm noch am letzten Congress der Deutschen Gesellschaft für 
Chirurgie, deren langjähriges Ehrenmitglied er war, in voller Frische 
theil, und war hier Gegenstand zahlreicher Ovationen. 

— Die zur Feier des Stiftungstages der Kaiser Wilhelm-Akademie 


gehaltene Rede Feber Marion Sims und seine Verdienste um 
die Chirurgie von R. Olshausen ist im Verlage von Hirschvrald 
hier erschienen. 

— Gegen die von Seiten der Staatsregierung beabsichtigte Umge- 
gcstaltung des Diensteinkommens der Professoren, wonach 
in Zukunft ein Theil der eine gewisse Summe überschreitenden Collegien- 
gelder einem besonderen der Verwaltung des Ministeriums unterstehendem 
Fonds zugewiesen werden soll, hat jetzt auch Rector und Senat der 
Universität Berlin, nach dem Vorgänge der Universität Halle, in 
einer Petition an das preussische Abgeordnetenhaus Stellung genommen. 

Ohne sich einer auf den bisherigen Grundlagen aufgebauten zweck¬ 
mässigen Verbesserung der Gehälter und des Honorarwesens verschliessen 
zu wollen, glauben Rector und Senat, das Recht auf den Honorarbezug 
nicht antasten lassen zu dürfen, weil dadurch das Gedeihen der Uni¬ 
versität für die Zukunft in Frage gestellt und statt unabhängiger Lehrer 
der Wissenschaft eine Kategorie mehr weniger abhängigen Beamten ge¬ 
schaffen werde. 

„Nur unabhängige Vertreter der Wissenschaft, deren Berufserfüllung 
nicht in reinem Beamtenthum aufgeht, vermögen tiefen und nachhaltigen 
Einfluss auf das gesammte geistige Volksleben zu gewinnen. Dass solche 
Männer an den staatlichen Universitäten wirken konnten und von deren 
Lehrstühlen aus gerade auch in den Wissenszweigen, die sich am un¬ 
mittelbarsten mit dem öffentlichen Leben berühren, für ihre Ueberzeupingen 
einzustehen vermochten, hat sich im Laufe der deutschen Geschichte 
vielfach als ein Segen erwiesen. Sie haben ihre freie Kraft und ihren 
selbsterrungenen Einfluss auf das geistige Leben erfolgreich in den Dienst 
des Deutschen Staates gestellt und sich in schweren Zeiten zugleich als 
8tützen der geschichtlich gewordenen Ordnung und als Träger des fort¬ 
schreitenden nationalen Gedankens bewährt. Professoren, die in die ge¬ 
wöhnliche Beamtenstellung versetzt würden, könnten dem Gemeinwesen 
ähnliche Dienste nicht leisten. Sie könnten für den Staat brauchbare 
Werkzeuge sein, nicht aber ihm eine in der Wissenschaft begründete 
selbstständige Macht zur Verfügung stellen. Die deutschen Universitäten 
würden — ein Blick auf das Ausland macht dies nur zu wahrscheinlich 
— an ihrer hohen Bedeutung für das nationale Leben Einbusse erleiden. 
Der Einfluss aber, den die freie Macht des Wissens übt, würde auf ganz 
anders geartete Kreise übergehen. Der Staat würde dabei schwerlich 
gewinnen.“ 

— Die durch den Gesetzentwurf über die ärztliche Ehrengerichts¬ 
barkeit beabsichtigte Ausnahmestellung der beamteten Aerzte hat 
bei der Wahl der Vorstandsmitglieder zur westpreussischen Aerzte- 
kammer zu einem Conflikt geführt: zum Vorsitzenden ist dort Kreis- 
physikus Dr. Wodtke-Thorn gewählt worden. Die Danziger 
Mitglieder hatten sich vorher gegen die Wahl eines beamteten Arztes 
zum Vorsitzenden erklärt und lehnten daraufhin ihrerseits eine etwa auf 
sic fallende Wahl in den Vorstand ab. 


XII. Amtliche Mittheilungen. 

Personalia. 

Auszeichnungen: Charakter als Geheimer Medicinalrath: 
dem Leibarzt Ihrer Maje-tät der Kaiserin und Königin, Generalarzt 
II. Kl. ä ia suite des Sanitätscorps, Dr. med. Zunker in Berlin. 

Rother Adler-Orden III. Kl. m. d. Schl.: dem Reg.- und Geh. 
Med.-Rath Nath in Stettin. 

Rother Adler-Orden IV. Kl.: dem Stabsarzt Dr. Zelle in 
Berlin. 

Ernennungen: der Kreis-Physikus Sanitätsrath Dr. Telke in Zuellichau 
zum Regierungs- und Medicinalrath. Derselbe ist der Königl. Regie¬ 
rung zu Cöln überwiesen worden. 

Versetzungen: dem Physikus des Kreises Danzig-Niederung, Dr. 
Steger in Danzig, ist die Mitverwaltung des Physikats des Stadt¬ 
kreises übertragen worden. Der Kreis-Physikus Sanitätsrath Dr. Siehe 
in Calau ist in den Kreis Züllichau-Schwiebus versetzt worden. 

Niederlassungen: die Aerzte Thedieck in Duelmen, Dr. Leine¬ 
weber in Bottrop, Dr. Klein in Recklinghausen, Dr. Gramann in 
Gronan, Dr. Hell wig in Hildesheim, Dr. Pincus in Cöln, Dr.Grouven 
in Bonn. 

Verzogen sind: die Aerzte Dr. Bergschneider von Leipzig nach 
Ibbenbüren. Dr. Uhle von Lippborg nach 8oest, 8tabsarzt Miethke 
von Wesel nach Hildesheim, Dr. Koester von Salzhemmendorf nach 
Elbingerode, Dr. Dettmar von Ilarzburg nach Lauterberg i. H., Dr. 
Bartels von Gronan in's Ausland, Dr. Röhrs von Hildenheim nach 
Gartow, Dr. Becker von Hildesheim nach Bochum, Dr. Fricke 
von Hildeslieim nach Bromberg, Dr. Hoppe von Elbingerode nach 
Ilm, Dr. Schauen von Schwetz nach Conradstein, Dr. Braune 
von Conradstein nach Schwetz, Dr. Zitzke von Stettin nach Jeszewo, 
Maj von Kieferstaedtel nach Friedeck, Rosenbaum von Friedeck, 
Dr. Frese von Wahn. 

Gestorben ist: der Geheime Sanitätsrath Dr. Julius Diesterweg 
in Wiesbaden. 


Für die Kedaction verantwortlich Och. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald, Lütaowplatz 5. 


Verlag und Eigenthum von August Hirschwald in Berlin. — Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin. 


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Dl« Berliner Klinisch« Wochenschrift erscheint jeden 
Montag ln der Stärke von i bis 3 Bogen gr. 4. — 
Preis vierteljährlich 6 Merk. Bestellungen nehmen 
eile Buchhandlungen und Postanstalten an. 


BERLINER 


Einsendungen wolle man portofrei an die Redactlon 
(W. LQtxowplats No. 5 ptr.) oder an die Verlags¬ 
buchhandlung von August Hirschwald ln Berlin 
N.W. Unter den Linden No. 68, adresslren. 



Organ für practische" Aerzte. 


Mit Berücksichtigung der preussischen Medicinalverwaltung und Medicinalgesetzgebung 

nach amtlichen Hittheilungen. 


Redaction: 

Geh. Med.-Ralh Prof. Dr. C. A. Ewald und Prof. Dr. C. Posner. 


Expedition; 

August Hirschwald, Verlagsbuchhandlung in Berlin. 


Montag, den 15 . Februar 1897 . 0 \g m 7# 


Vierunddreissigster Jahrgang. 


INHALT. 


I. Aus der psychiatrischen und Nervenklinik in Halle. E. Hitzig: 
lieber einen durch Strabismus und andere Augensymptome aus¬ 
gezeichneten Fall von Hysterie. 

II. V. Babes und Nanu: Ein Fall von Myosarkom des Dünndarms. 

III. E. v. Koziczkowsky: Beitrag zur Aetiologie der Magenneurosen. 

IV. 8enator: Zur Kenntnis» der Osteomalacie and der Organotherapie. 
(Schluss.) 

V. Kritiken und Referate. Baas: Geschichtliche Entwickelnng 
des ärztlichen Standes und der medicinischen Wissenschaften. 
(Ref. Biedert.) — Boden: Ein Fall von Spontan-Heilung einer 
Blasen-Scheiden-Fistel. (Ref. Schiller.) r . 


I. Aus der psychiatrischen und Nervenklinik in Halle. 

Ueber einen durch Strabismus und andere 
Augensymptome ausgezeichneten Fall von 
Hysterie. 

Von 

Prof. E. Hitzig, in Halle. 

Während Gesicbtsfeldbeschränkungen und andere Ermüdungs¬ 
erscheinungen der Retina zu den gewöhnlichsten Erscheinungen 
der Hysterie gehören, kommen Motilitätsstörungen der Augen¬ 
muskeln bei dieser Krankheit verhältnissmässig selten vor. Ja, 
die Seltenheit dieser Fälle ist so gross, dass noch ein Streit 
darüber bestehen kann, ob es Lähmungen der Augenmuskeln 
überhaupt gäbe und nicht vielmehr die bisher als Lähmungen 
beschriebenen Fälle nur verkannte Contracturcn gewesen seien. 

Nonne und Beselin 1 ) haben in einer verdienstlichen Arbeit 
ganz neuerdings das vorhandene casnistische Material zusammen¬ 
gestellt und kritisch erörtert, sodass ich von einer wiederholten 
Heranziehung desselben füglich absehen kann. Dagegen recht¬ 
fertigt sich die Veröffentlichung des nachstehenden Falles nicht 
nur durch die Seltenheit der fraglichen Fälle an sich, wie denn 
ein gleicher Fall meines Wissens in der Literatur überhaupt nicht 
existirt, sondern auch durch einige besondere Umstände, auf die 
ich alsbald zu sprechen kommen werde. 

Albert N., 86 Jahr, Handarbeiter, Pole, wurde am 16. September 
1895 in die Klinik aufgenommen. Am 13. d. M. sei er in selbstmörde¬ 
rischer Absicht in die Unstrnt gegangen. Die im Laufe der Beobachtung 
theils von dem Kranken, theils von seiner Frau erhobene Anamnese 
ergab Folgendes: 

Im Jahre 1883 habe er als 8oldat in Rastatt an einer Angenent- 

1) Nonne und Beselin: Ueber Contractnr und Lähmnngsznstände 
der exterioren und interioren Augen-Mnskeln bei Hysterie. Sep.-Abdr. 
aus Festschr. des ärztl. Vereins zq Hamburg, 1896. 


VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Berliner me- 
dicinische Gesellschaft. 8'imon»: Mechanische Intranterintherapie. 
— Gesellschaft der Charite-Aerzte. Müller-Kannberg: Demon¬ 
stration von Röntgenbilder. Gluck: Septische Phlegmone. Strauss: 
Beeinflussung der Ausscheidung der Harnsäure und der Alloxur- 
basen. Tilmann: Torsionsfracturen des Oberschenkels. — Verein 
für innere Medicin. Litten: Phonendoskop, v. Leyden: Gono¬ 
kokken. Karewski: Perityphlitis bei Kindern. 

VII. Literarische Notizen. — VIII. Praktische Notizen. 

IX. Tagesgeschichtliche Notizen. 

X. Amtliche Mittheilungen. 


Zündung mit Röthung und Schmerzen, welche vier Wochen lang im 
Lazareth mit Bleiwasserumschlägen und Höllensteinätzungen behandelt 
wurde, gelitten. Obwohl dann die Augen wieder gut gewesen seien, 
sei er doch vom Militär entlassen worden. Seitdem will er zuweilen an 
Erscheinungen von Conjunctivalkatarrh, angeblich mit Doppeltsehen, ge¬ 
litten haben, welche sich aber jedesmal nach 1—2 Tagen ohne Be¬ 
handlung wieder verloren. 

Nach Angabe der Frau im Juni, nach eigener Angabe im August 
1895 eines Morgens um 7 Uhr hieb er sich mit der 8ense in das linke 
Bein. Er arbeitete zunächst noch eine Viertelstunde lang weiter, bis 
er matt wurde und nun seinen ganzen Stiefelschaft voll Blut gelaufen 
fand. Dies machte einen tiefen psychischen Eindruck auf ihn. Er er¬ 
schrak heftig, konnte nicht weiter arbeiten, fror, kam mühsam nach 
Hause. Dort musste er sich zu Bett legen, es war ihm „schlecht aufs 
Herz“, er war sehr traurig und konnte zwei Stunden lang kein Wort 
sprechen. Nachdem die Wunde per primam geheilt war, sagte die 
Frau: „Jede Wunde muss doch eitern, wenn das nicht eitert, dann 
kannst Du noch lange warten, dann kriegst Du es noch in die Knochen 
anderswohin.“ Der Kranke glaubte dies, blieb deshalb zu Bett und 
bekam nach einer Woche eine „Angenentzündung“: die Augen wurden 
roth, es brannte und schnitt in denselben und er konnte die Lider nicht 
richtig anfraachen, wenn sie anch nicht ganz heruntergefallen waren. 
Schon vom ersten Tage dieser Krankheit an behandelte der Arzt das 
Innere der Lider mit dem Höllensteinstift und verschrieb Tropfen und 
eine 8albe. Alles dieses half aber nichts, ebenso wenig wie zweimal 
drei Blategel aaf jede Kopfseite. Vielmehr trat nach drei Wochen 
Doppeltseben und nach ferneren zwei Wochen vollkommene Ptosis ein, 
sodass er gar nichts mehr sehen konnte. Während dieser Zeit hatten 
sich die Angäpfel ganz nach unten und innen gedreht. So blieb es den 
ganzen Winter 1895/96 und anch den Sommer 1896. Im Uebrigen war 
er während dieser Zeit geistig nicht weiter alterirt; als aber im Sep¬ 
tember 1896 zwei seiner bis dahin abwesenden Kinder nach Hause 
kamen nnd er sie nicht sehen konnte, wurde er niedergeschlagen und 
traurig und ärgerte sich darüber, dass er nichts verdienen könne. Als 
ihm dann der Arzt auch noch gesagt hätte, ihm sei nicht mehr zn helfen, 
beging er den Snicidversuch. An diesem Tage habe er übrigens schon 
vorher etwas „dumm“ gesprochen. In den nächsten zwei Tagen und 
Nächten war er tobsüchtig, so dass zwei Männer ihn bewachen mussten. 

Vor dem Unfälle hat er bis zu 1 Liter und mehr Schnaps per 
Woche getrunken, nach demselben nnr selten unbedeutende Mengen. 

Nach dem Unfall bezog P. 13 Wochen lang Krankengeld, dann 
10,30 Mk. per Woche Invalidenrente, woher, weiss er nicht. Als er 
klagte, dass er damit nicht aaskommen könne, bekam er von der Ge¬ 
meinde bezw. von seinem Herrn 3,50 Mk. wöchentlich Zulage. Ein 
Streitverfahren über Rentenansprüche schwebt nicht. 


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No. 7. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Status präsens: 16. September 1896. 

Psychisch: Im Aufnahmezimmor apathisch, seufzt zuweilen und 
sagt: „Pauline.“ Nachher bleibt er ruhig zu Rett, ist gut orientirt, 
mittlerer Stimmung und spricht geordnet. Erst will er mit seinen beiden 
Kindern nach Polen haben gehen wollen, unter Beinen Landslenten 
hätte er mehr verdienen können, die Kinder hätten ihn führen sollen. 
Nachher giebt er zu, dass er wegen Nahrungssorgen habe in’s Wasser 
gehen wollen; die Kinder habe er mitgenommen, damit seine Frau 
weniger Sorge hätte. 

Körperlich: Grosser, kräftig gebauter Mann. Am ganzen Körper 
zerstreut frische, kleine Risse und grössere Wunden, die durch die bei 
dem Herausziehen aus dem Wasser verwendeten Haken verursacht sein 
sollen. An der Aussenseite des linken Oberschenkels zwischen Condylus 
ext. und Capit. fibul. eine lineäre, unempfindliche Narbe. Vollkom¬ 
mene beiderseitige Ptosis; beide Augen sind sehr stark 
nach innen und unten rotirt und aus dieser Stellung nach keiner 
Richtung hin abzulcnken; vielmehr dreht P. den Kopf, wenn er etwas 
fixiren soll. Ueber den Zustand der Pupillen fehlen Notizen. Passend 
vorgehaltene Gegenstände erkennt er regelmässig. Ophtalmoskopische 
Untersuchung unmöglich. (Fig. I.) 

! Figur I. 






Sensibilität: Berührungen und Durchstechen der Haut mit einer 
Nadel werden am linken Rein und rechten Arm nicht empfunden; die 
Schmerzempflnduug ist am ganzen Körper herabgesetzt; anderweitige 
Sensibilitätsstörungen bestehen nicht, insbesondere fehlen auch Points. 

Anderweitige wesentliche Anomalien fehlen. 

Verlauf: 17. IX. Stimmung ruhig und zufrieden; kann die Lider 
etwas bewegen. 

18. IX. Kann die Lider öffnen, die Augen frei bewegen und zählt 
Finger auf 6 m Entfernung. 

27. IX. Bis heute normal. Heute verdriesslich, habe Schmerzen 
im linken Auge und deswegen die ganze Nacht nicht schlafen können. 
Doppelseitige Ptosis. 

28. IX. Beide Augen wieder nach innen und unten convergirt; 
Diplopie; Schneiden in den Augen. 

29. IX. Das linke Bein und der rechte Arm seien gefühllos. Ob- 
jectiver Befund dort entsprechend. 

30. IX. Tastsinn an der linken Gesichtshälfte, der linken Rumpf¬ 
hälfte und dem linkeu Bein, sowie dem rechten Arm aufgehoben, im 
Uebrigen normal. Schmerzempflnduug am linken Bein und rechtem Arm 
aufgehoben; an der linken Gesichts- und Rumpf hälfte mehr weniger 
herabgesetzt. 

10. X. Patient hat inzwischen zeitweise über Schmerzen in den 
anästhetischen Gliedern und im Kopf geklagt und das Sehvermögen hat 
allmählich abgenommen. Heute kann er die vorgehaltene Hand 
nicht sehen. Lichtreflex normal. 

12. X. Heute gehoben. Bei leichtem Einstechen in die Conjnnctiva 
Zunahme der Gonvergenz nach innen unten. 

15. X. Schmerzen in den Augen. Beide Lider vollständig ge¬ 
schlossen. 

28. X. Sehr deprimirt, will Bterben, weil es ihm zu lange dauert. 

Eine gestern in der Augenklinik durch Herrn Collegen v. Hippel 
vorgenommene Untersuchung ergab folgendes Resultat: Krampfhafte 
Contraction des Rectus internus und Rectus inferior beiderseits; starke 
Verengerung der Pupillen, die selbst bei intensiver Beleuchtung kaum 
reagieren; fast vollständige Ptosis, sodass eine willkürliche Oeffnung der 
Lidspalten, selbst bei starker Contraction des Frontalis dem Patienten 
nicht gelingt; angeblich völlige Amaurose. Während der eingeleiteten 
Narkose begannen die Augen sich schon nach wenigen Zügen Chloro¬ 
form nach allen Richtungen hin zu bewegen, die Pupillen erweiterten 
sich vorübergehend etwas über die Norm und reagirten ganz prompt 
auf Licht. Nach dem Erwachen öffnete er die Lider spontan, flxirte 
und erkannte vorgehaltene Gegenstände richtig. Druckschrift wollte er 
zwar anfangs nicht lesen können, las sie aber dann erst mit schwachen 
Convexgläsern, nachher aber auch nach unbemerkter Entfernung der¬ 


selben. Die ophtalmoskopische Untersuchung ergab einen normalen 
Hintergrund. 

Als Pat aus der Augenklinik zurückkehrte, bot er genau denselben 
Befund, wie bei seinem Fortgehen. 

2. XI. Der Tastsinn ist am ganzen Körper erloschen; die Schmerz- 
empflndung verhält sich wie früher. (Fig. Ha u. b.) 

7. XI. Die grobe Kraft lat in den analgischen Extremitäten etwas 
herabgesetzt. Geschmack: süss schmeckt Pat. überhaupt nicht, aaner, 
salzig und bitter nur rechts, links gar nicht. Geruch: fehlt links für 
Moschus, Kampher. Asa fütida etc.: Ol. sinapis wird beiderseits wahr¬ 
genommen. 

Figur Ha und b. 

a b 



Die schrafflrten Partien sind analgetisch. Tactile Sensibilität am ganzen 
Körper erloschen. 


Kurze klinische Vorstellung: Der Augenbefund wurde, 
wie zuletzt geschildert, demonstrirt, also vollkommene Ptosis, 
Drehung beider Augen nach unten und innen, sodass die Pupille 
im innem Augenwinkel verschwand, contrahirte, lichtstarre Pu¬ 
pillen und angeblich vollkommene Amaurose. Ich hob bei dieser 
Gelegenheit hervor, dass die Augenbrauen keineswegs tiefer als 
normal ständen und dass die Lider keine Fältelung zeigten, wie 
dies nach Cliarcot unter der Annahme eines Krampfes des 
Orbicularis hätte zutreffen sollen, sowie dass auch das untere 
Lid keineswegs in die Höhe gezogen war, wie dies bei einem 
Krampf, der übrigens die Lidspalte ganz schloss, hätte der Fall 
sein müssen. Auch Hessen sich die herabgesunkenen Lider wider¬ 
standslos erheben. 

Sensibilität etc. unverändert. 

Dem Kranken war vorher schon längere Zeit hindurch ver¬ 
sichert worden, dass er bei der klinischen Vorstellung geheilt 
werden würde und dass die bis dahin eingeleitete Cur (Pil. 
Altheae) nur zur Vorbereitung diene. Das Gleiche wurde in der 
Klinik in suggestiver Absicht mit Nachdruck wiederholt. Darauf 
theilte ich in gleicher Absicht mit, dem Kranken würde nun¬ 
mehr der elektrische Strom so durch den Kopf geleitet werden, 
dass er davon nach rechts gezogen würde, dabei würde sich das 
rechte Auge öffnen; dann würde er einen Schlag bekommen und 
nach links gezogen werden, worauf sich das linke Auge öffnen 
würde. Damit sei er dann geheilt und bekäme auch die Seh¬ 
kraft wieder. Er wurde darauf in der angegebenen Weise erst 
mit der Anode rechts, dann mit der Anode Hnks durch die Ohren 
galvanisirt, wobei sich die Augen etwa ein Drittel bis ein Halb 
öffneten und dann mit der Bemerkung, er sei nun geheilt, entlassen. 

Abends waren alle Anomalien am Sehorgan verschwunden. 


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15. Februar 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


135 


10. XI. Sehorgan unverändert gut. Die Sensibilitätsstörungen sind 
in den letzten Tagen fast gänzlich verschwunden, es besteht nur noch 
leichte Hypalgesie am linken Bein und rechten Arm. Ein Versuch, Pat. 
zu hypnotisiren, sowie ihm im Wachen totale Hemianästhesie zu sugge- 
riren. misslingt. Geruch und Geschmack noch halbseitig gestört. Hör- 
fahigkeit war bisher nicht untersucht worden. Pat. wollte heute 
weder C noch C4 vor dem linken Ohre hören, wenn das rechte 
Ohr zugehalten war; dieselben auf den Kopf aufgesetzten Stimmgabeln 
will er (bei offenen Ohren) nur auf dem rechten Ohre hören. 

11. XI. Nochmalige klinische Vorstellung und Besprechung 
des Falles. Ausser einer leichten Hypalgesie, einer Geruchs- 
Störung auf dem linken Nasenloch und einer scheinbaren Hör¬ 
störung auf dem linken Ohre nichts Abnormes mehr. In letzterer 
Beziehung erwies sich, dass Patient die Stimmgabel weder vor 
dem linken Ohre noch durch Kopfknochenleitung, wenn das 
rechte Ohr geschlossen war, überhaupt hören wollte. War das 
rechte Ohr offen, so hörte er sowohl durch Luft-, als durch 
Kopfknochenleitung, aber nur auf dem rechten Ohre. 

Auf einige wesentliche Punkte aus dem klinischen Vortrag, 
insbesondere die Frage der Simulation und die Frage des Zu¬ 
sammen treffens von Krampf- und Lähmungserscheinungen werde 
ich weiter unten zurückkommen. 

12. XI. Deprimirt; hat Heissen im rechten Ohr und hört darauf 
schlechter. 

13. XI. Schmerzen im rechten Schulterblatt, Schulter- und Brust¬ 
gegend ; jetzt zahlreiche Points dort, in der Mammal- und Unterbauch¬ 
gegend. Hört angeblich gar nichts. Auf meine Frage: „Hören Sie nur 
nicht Deutsch oder auch nicht Polnisch?“ sagt er aber: „Herrt sich nix 
Deitsch und herrt sich nix Polnisch.“ Als ich ihm dann auf polnisch 
sagte: „Stecken Sie die Zunge heraus“, fuhr sie sofort heraus. Ich 
sagte darauf, es sei nicht gefährlich mit der Hörstörung, sie werde bald 
verschwunden sein. Abends sagte der Patient, er habe tüchtig geschwitzt 
und höre jetzt wieder ganz gut. Thatsächlich hörte er auch links wie 
rechts. 

19. XI. In jeder Beziehung, auch was Sensibilität und Sinnesorgane 
angeht, ohne Anomalien. 

22. XI. Etwas deprimirt, Strabismus convergens links. Die ver- 
ordneten kalten Tauchbäder taugen ihm nichts. 

24. XI. Der Strabismus besteht fort, nichtsdestoweniger will er das 
früher vorhandene Doppelsehen nicht mehr haben. 

25. XI. Strabismus verschwunden. 

27. XI. Hochgradige doppelseitige, eoncentrische Gesichtsfeld- 
beschränkung. (Fig. lila u. b.) 

8. XII. Bisher normal. Nachmittags Klagen über Schmerzen in 
den Augen, liegt zu Bett, reagirt nicht, hat die Augen geschlossen, die 
Bulbi stehen ihm wie früher ganz nach unten und innen rotirt, so dass 
die Pupillen nicht zu sehen sind. Die passiv erhobenen Extremitäten 
fallen schlaff herunter. An seinem Bette wird angeordnet, dass die 
Wärter sich nicht um ihn bekümmern, ihm auch nicht zu essen anbieten 
und am anderen Morgen kein Tauchbad geben sollen. 

9. XII. Spontan aufgestanden, ganz freundlich, Augen bis auf ge¬ 
ringe Einwärtsstellung des linken Auges normal. Weiss von seinem 
gestrigen Zustande nichts. 

11. XII. Tauchbad. Nachher deprimirt, er könne die Tauchbäder 
nicht vertragen, bekomme danach Erbrechen und Schmerzen in den 
Augen. Lider etwas hängend, bei der Aufforderung 'zu tixiren starker 
beiderseitiger Strabismus convergens, Doppelbilder; keine Deviation nach 
unten. Die Tauchbäder werden eingestellt, dafür kalte Abreibungen und 
Franklinisation. 

14. XII. Strabismus rechts etwas zurückgegangen, links in früherer 
Stärke. Sobald man Patient genauer betrachtet, oder ihn zum Fixiren 
auffordert, wird der Strabismus stärker; das linke Auge macht dann nicht 
die geringste Excursion. steht bei stark verengter, reactionsloser Pupille 
ganz nach innen rotirt, während die etwas weitere rechte Pupille deut¬ 
lich reagirt. Glaubt Patient die Aufmerksamkeit von sich abgewendet, 
so bewegt er die Augen entschieden freier. Klagen über Schmerzen in 
den Augen und Schlaflosigkeit. Das kalte Wasser sei an Allem schuld. 

19. XII. Beweglichkeit der Bulbi bisher schwankend; heute beide 
in gerader Richtung flxirt; Myosis. Wünscht zu rauchen, das habe seinen 
Augen immer gut gethan. 

21. XII. Heute wieder Alles normal. 

22. XII. Bei der Gesichtsfeld-Prüfung in der Augenklinik schwankt 
dessen Breite zwischen 3,5 und 9°. 

4. I. 97. Nochmalige perimetrische l'ntersuchung in der Augen¬ 
klinik, diesmal durch Herrn Collegen von Hippel persönlich. Nachdem 
derselbe dem Pat. suggerirt hatte, dass er heute sehr gut sehen würde, 
war das Gesichtsfeld nahezu normal, S = 1. 

9. I. Bisher kein Itecidiv. Pat. hatte zwar seither immer auf der 
Abtheilung geholfen, war aber nicht dazu zu bewegen gewesen, sich im 
Kesselhaus mit Kohlenschippen zu beschäftigen; das habe er nicht ge¬ 
lernt, dazu sei er viel zu schwach u. s. w. Nachdem ihm aber gesagt 
worden war, der Maschinenmeister habe sehr gute Cigarren und würde 


Figur III a und b. 

a 


X 




210 


— weiss; - • - • grün; .... rotli. 

ihm jedenfalls alle Tage eine geben, hilft er seit dem 4. d. M. beim 
Kohlenschippen sehr fleissig. Seine demnächstige Entlassung ist in Aus¬ 
sicht genommen. (20. I. ohne Krankheitssymptome entlassen.) 

Der vorstehend beschriebene Fall bietet unbestreitbar das 
Krankheitsbild einer typischen, traumatischen Neurose in 
der Form der Hysterie. 1 ) Ich will auf die zwecklose Dis- 
cussion der Frage, ob es eine traumatische Neurose giebt oder 
nicht, nicht näher eingehen. Dass die Hysterie eine Neurose ist, 
hat noch niemand bezweifelt und dass sie in Folge eines körper¬ 
lichen oder psychischen Trauma entstehen kann, ja sogar über¬ 
aus häufig entsteht, ist ebenso sicher gestellt. Ebenso wenig 
ist aber jemals bestritten worden, dass das Trauma auch andere 
Neurosen, typische oder Mischformen produziren kann. Ich halte 
also die gewählte Bezeichnung der Krankheit für unanfechtbar. 

Die Krankheit enstand hier vielleicht nicht so sehr als direkte 


1) Vgl. auch: E. Hitzig, Schlafattacken und hypnotische Suggestion. 
Diese Wochensehr., 1892, No. 38, und derselbe, On Attacks of Lethargy 
and on hypuotic Suggestion. Brain: Spring—Summer, 1893. 

1 * 


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No. 7. 


BERLIN KR KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


13<> 

Folge der anscheinend wenig schmerzhaften Verletzung selbst. 
Die eigentliche Ursache scheint vielmehr in dem Schreck gelegen 
zu haben, den der Kranke empfand, als er der grossen Menge 
von Blut, welches sich in seinen Stiefel ergossen hatte, ansichtig 
wurde; und die Wirkung dieses Schrecks mag dadurch ver- 
grö8sert worden sein, dass er ein durch chronischen Alkohol¬ 
genuss habituell und durch den starken Blutverlust accidentell 
geschwächtes Nervensystem hat. 

Als Hysterie characterisirt sich das Leiden durch das auf 
suggestiven Einflüssen beruhende plötzliche Eintreten und das 
ebenso plötzliche Verschwinden der Krankheitserscheinungen; 
durch die eigentümliche Verteilung und Begrenzung der sen¬ 
siblen und sensuellen Störungen; durch die Gesichtsfeld- 
beschränkung; durch die anderweitigen, eigentümlichen Störungen 
am Sehapparat und durch die labile Gemüthslage. 

Wenn sich nun die hauptsächlichsten Symptome des Leidens 
hier auf die Augen localisirten, so ist dies auf suggestive 
Einflüsse, die bei dem überaus suggestiblen Kranken wirksam 
wurden, zurUckzuführen. Der Fall ist sogar wegen der klaren 
Einsicht, die er in den Mechanismus des Zustandekommens hy¬ 
sterischer Symptome gewährt, besonders interessant. Die Ehe¬ 
frau des N. hatte ihn bereits darauf vorbereitet, dass er es noch 
* anderswohin“ bekommen würde; er blieb desshalb auch zu Bett ? 
in Erwartung der Dinge, die da kommen würden. Nun hatte 
er früher wiederholt en Augenentzündung gelitten, seine Auf¬ 
merksamkeit war daher auf die Augen gerichtet, und so bekam 
er denn richtig alsbald Augenschmerzen. Ob es nöthig war, dass 
dieselben ärztlicherseits, und zwar angeblich schon vom 1. Tage 
an, mit dem Höllensteinstift behandelt wurden, mag dahin ge¬ 
stellt bleiben. In der Klinik hat der Kranke oft genug über 
Augenschmerzen geklagt, ohne dass gleichzeitig irgend welche 
Veränderungen an der Conjunctiva wahrnehmbar waren. Jeden¬ 
falls diente die eingeschlagene Behandlungsmethode noch weiter 
dazu, den Kranken in der Ueberzeugung zu bestärken, dass er 
sich durch seine Verletzung ein Augenleiden zugezogen habe. 

Aehnliche suggestive Einflüsse haben sich in der Folge auch 
noch nach allen Richtungen hin bemerklich gemacht. Ungeachtet 
der langen Dauer seiner Krankheit hatte er bei seinem Eintritt 
in die Klinik nur eine wenig umfangreiche Anaesthesie; nachdem 
er aber einige Male darauf hin untersucht worden war, hatte 
sich dieselbe zu einer hochgradigen und typischen Form heraus¬ 
gebildet. Etwas ganz ähnliches war rücksichtlich der Gesichts¬ 
feldbeschränkung zu constatiren. Bei der ersten Untersuchung 
am 27. November war dieselbe zwar hochgradig, aber immerhin 
nicht maximal; bei einer zweiten Untersuchung in der Augen¬ 
klinik am 22. December war sie aber maximal, sodass die Breite 
des Gesichtsfeldes zwischen 8 und 9 0 schwankte und es auffallend 
erschien, dass sich P. bei einem so engen Gesichtsfelde überhaupt 
im Raume orientiren konnte. 

Am Curiosesten war aber seine Reaction auf die Hörprüfun¬ 
gen. Es kann nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, dass P. jeder¬ 
zeit auf beiden Ohren gut hat hören können; denn er beantwortete 
an ihn gerichtete Fragen und führte gegebene Befehle aus. 
Wenn er nun nichtsdestoweniger behauptete, sei es auf dem einen 
Ohre, sei es bei Verschluss eines Ohres, sei es durch die Kopf- 
knocheuleitung oder überhaupt nicht hören zu können, so wird 
doch niemand glauben wollen, dass er seine Krankheit oder auch 
nur dieses Symptom simulirte. Der Kranke hatte gar keine Ver¬ 
anlassung, zusimuliren; er hatte keinerlei Vortheil von der Simulation 
zu erwarten; ja, er war im Gegentheil in Folge seiner durch die 
Krankheit bedingten Arbeitsunfähigkeit und durch die Nothlage 
seiner Familie derart in Verzweiflung geraten, dass er einen höchst 
ernsthaften Selbstmordversuch machte. Er glaubte indessen, weil 
er wiederholt auf seine Ilörfahigkeit untersucht wurde, dass er 


wirklich nicht hören könne und ich bin überzeugt, dass dieser 
Glaube sich in die Wirklichkeit übersetzt haben würde, wenn 
ich die Stimmgabel-Untersuchungen mit dem Kranken fortgesetzt 
hätte, anstatt ihm zu sagen, es habe weiter nichts zu bedeuten. 

Genau derselbe suggestive Einfluss auf die Production und das 
Verschwinden der einzelnen hysterischen Symptome Hess sich auch 
bei den therapeutischen Maassnahmen verfolgen. Kaum war 
der Kranke in die Klinik aufgenommen und gründlich untersucht 
worden, so war mit einem Male Alles, wie so oft in solchen 
Fällen, verschwunden; nachdem aber dann nicht alsbald etwas 
ernstliches für ihn geschah, traten alle Erscheinungen wieder 
auf. Sie verschwanden wieder ebenso plötzlich in Folge der 
suggestiven Galvanisation, und erschienen von Neuen, als der 
Kranke sich einbildete, die hydropathischen Proceduren seien 
ihm schädlich, ja, er fing sogar noch an zu erbrechen, sobald 
man etwas Aehnliches mit ihm vornahm etc. 

Die Summe aller dieser Erfahrungen schliesst eine sehr ernste 
Mahnung zur Vorsicht bei der Imputation von Simulation 
in sich. Wir haben es nur zu oft erlebt, dass Unfallverletzte 
auf Grund viel geringerer Indizien als „freche Simulanten“ oder 
mit noch viel härteren Ausdrücken bezeichnet worden sind. 
Aeusserliche Motive, durch die das pathologische Verhalten des 
Kranken in letzter Linie bestimmt wurde, lagen wie in jenen 
Fällen, so auch hier, vor; nur erschienen hier eben, neben anderen, 
solche Krankheitserscheinungen, wie Pupillarkrampf, einseitiges 
und doppelseitiges Schielen, die man auch beim besten Willen 
nicht simuliren kann. Man kann nicht oft und laut genug sagen, 
dass es den, allerdings täglich seltener werdenden Fanatikern der 
Simulation an jeder Kenntniss der hier in Betracht kommenden, 
freilich auch mancher anderen, krankhaften Seelenzustände fehlt. 

Die Hauptsumme der Krankheitssymptome zeigte 
sich in diesem Falle an den Augen. Betroffen waren die 
Retina, die innern und äussem Augenmuskeln und der Trige¬ 
minus. Denn der Kranke litt neben Schmerzen in den Augen 
an mehr weniger hochgradiger Gesichtsfeldbeschränkung und 
an Amblyopie, vielleicht zeitweise an Amaurose, an einseitigem 
und doppelseitigem Strabismus convergens und endlich an Ver¬ 
engerung und Starrheit der Pupillen. 

Ein Zweifel darüber, dass ein Theil dieser Symptome auf 
Reizzuständen beruhte, kann nicht bestehen. Besonders die 
Art des Schielens, daneben sein wiederholtes plötzliches Ver¬ 
schwinden, theils unter dem Einflüsse des Chloroforms, theils 
unter suggestiven Einflüssen beweist, dass es sich dabei nicht 
um Lähmungen, sondern lediglich um einen Krampf handeln 
konnte; das Gleiche gilt von der Myosis. Eine ganz andere 
Frage ist es aber, ob alle Erscheinungen am Muskelapparat als 
Reizzustände aufzufassen sind, oder ob sich nicht dabei auch 
Lähmungszustände geltend machten, eine Frage, die in frü¬ 
heren Fällen nicht nur nicht entschieden, sondern meines Erach¬ 
tens auch von irrthümlichen Voraussetzungen aus beantwortet 
worden ist. 

Charcot hatte bekanntlich die Lehre aufgestellt, dass 
die bei der Hysterie vorkommenden Anomalien der Innerva¬ 
tion des Facialis zwar Lähmungen Vortäuschen könnten, aber 
thatsächlich keine Lähmungen der scheinbar befallenen, sondern 
Krämpfe der anderen Seite seien. Dieser, auch auf die motori¬ 
schen Innervationsstörungen der Zunge und des Auges ausge¬ 
dehnten Lehre hatte er noch im Jahre 1888‘) mit den Worten: 
„So lange man mir nicht bewiesen haben wird, dass die Facia- 
lislähmungen der Hysterischen keine Hemispasmen sind, werde 
ich in meiner Negation beharren, allerdings bereit, mich in dem 
Fall zu ergeben, dass die Facialislähmung, deren Vorkommen 


1) Charcot, Le<;ons du mardi, T. I, p. 299. 


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15. Februar 1897. 


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bei der Hysterie ich ira Augenblick bestreite, gut und gehörig 
nachgewiesen wird“, erneuten Ausdruck gegeben. 

Charcot') hat aber selbst bereits wenige Jahre später 
(1891) das Vorkommen dieser damals von ihm geleugneten Fa- 
eialislähmung zugeben müssen. 

Vorangegangen waren ihm in jener Lehre Todd, Hasse, 
Althaus und Weir Mitchell; gefolgt sind ihm darin, neben 
seinen Schülern auch die meisten anderen Autoren. Indessen 
berührt uns diese, für die motorischen Kopfnerven im Allge¬ 
meinen aufgestellte Lehre hier nur insoweit, als sie die motori¬ 
schen Nerven des Auges angeht. 

Von den Schülern Charcot'8 hat meines Wissens zuletzt 
(Jilles de la Tourette’) im Jahre 1891, also in demselben 
Jahre, aus welchem die letzterwähnte Arbeit Charcot’s stammt, 
die hierher gehörigen Fragen ausführlich besprochen. Nach 
einer Analyse des vorhandenen casuistischen Materials gelangt 
er zu folgendem Schlüsse: „Wir schliessen aus dieser langen 
Discussion, dass die Muskeln des Sehapparats, gerade wie die 
anderen Muskeln des Gesichts, in dem Grade von Contracturen 
befallen werden, dass man sich fragen muss, ob man das Vor¬ 
kommen ihrer Lähmung zulassen soll. Wenn diese — neben 
den fast constanten Phänomenen von Ambliyopie, welche sie mit 
den Contracturen theilen — existiren, sind sie noch häufiger als 
die organischen Lähmungen von seeundären Contracturen be¬ 
gleitet; sie sind übrigens associirt und sehr häufig alterairend“. 

Vorher discutirt dieser Autor einige interessante Beobach¬ 
tungen von Ballet, Bristowe, Raymond und Parinaud, 
aus denen hervorgeht, „dass die Ophtalmoplegia externa der 
Hysterischen eigentümliche Charaktere darbietet, welche erlau¬ 
ben würden, sie von dem nämlichen Syraptomencomplex orga¬ 
nischer Natur zu unterscheiden. Diese würden hauptsächlich 
in dem Verlust der intentionellen, willkürlichen Bewegungen bei 
Erhaltung der nicht bewussten Bewegungen bestehen. Mau könnte 
also, sagen die Herren Raymond und König, aus diesem 
Grunde eine wahre Lähmung der Muskeln nicht zulassen“. 

Beschäftigen wir uns zuerst mit diesem letzteren Punkt, so 
finden wir, dass sich bei unserem Fall etwas ganz ähnliches in 
Innervationsgebieten zeigte, welche nicht von Lähmung, sondern 
von Krampf heimgesucht waren; im Uebrigen ist es richtig, 
dass sich auf diese Weise organische von functioneilen Störungen 
unterscheiden lassen. Man erinnert sich, dass unser Kranker 
zeitweise das Symptom einseitigen convergenten Schielens mit 
Pupillarverengerung und Fixation des Auges in der abnormen 
Stellung zeigte, sobald man ihn beobachtete, während er das 
Auge verhältnissmässig gut bewegen konnte, sobald seine Auf¬ 
merksamkeit abgelenkt war. Da nun die Affection seiner Augen¬ 
muskeln unzweifelhaft als ein Krampfzustand aufzufassen war, 
so ist es wohl nicht angäugig, nur diese zeitliche und quantita¬ 
tive Modification seines convergenten Schielens als Lähmungs¬ 
erscheinung zu deuten. Folgerecht würde man dann aber, wenn 
man den gleichen Gedankengang, wie die genannten Autoren 
verfolgen wollte, schliessen müssen, dass auch dieser Krampf 
kein wahrer Krampf der Muskeln gewesen sei. Ja, es würde 
gar nicht schwer fallen, das gleiche Raisonnement auf fast alle 
hysterischen Zustände, mindestens auf die im Gebiete der moto¬ 
rischen, sensiblen und sensuellen Nerven vorkommenden auszu¬ 
dehnen. Zweckmässig wäre dies nicht. Die Art und Weise, in 
der die hysterischen Symptome auftreten, ist eben ganz allge¬ 
mein von- ihrer Entstehung aus krankhaften, psychischen Ein¬ 
flüssen abhängig, so dass ich keinen diagnostischen Vortheil darin 

1) Charcot, Caa d'hystt-rie maaculine. Arch. de Neurol. T. XXII, 
p. 15. 

2) Gilles de la Tourette, Traite de rhyaterlc, p. 382—432. 
Paris 18!» 1. 


erblicken kann, aus der grossen Menge der Bewegungsstörungen 
eine einzelne, kleine Gruppe herauszugreifen, um diese dem Gros 
der anderweitigen Lähmungszustände oder der anderweitigen hy¬ 
sterischen Zustände überhaupt als falsche gegenüberzustellen. 

Mir hat es den Anschein erweckt, als ob diese Auffassung 
und Auedrucksweise wesentlich unter dem Eindrücke der Lehre, 
dass hysterische Lähmungen der Kopfnerven nicht vorkämen, 
entstanden sei, indem man so die doctrinäre Formel mit dem 
thatsächlichen Befunde zu vereinigen glaubte. Wenn sich nun 
aber die ganze Lehre, nicht nur was den Facialis, sondern auch 
was die Augennerven angeht, als hinfällig erweist, so fällt auch 
dieser Anlass, den Dingen Zwang anzuthun, fort. Thatsächlich 
kann es aber keinem Zweifel mehr unterliegen, dass auch hy¬ 
sterische Lähmungen aller einzelnen Theile des optischen Bewe¬ 
gungsapparates, wenn schon viel seltener als Spasmen desselben, 
wirklich Vorkommen. Nonne und Beselin (a. a. 0.) haben 
dies neuerdings in 5 Fällen für alle möglichen exterioren und 
interioren Muskeln nachgewiesen. Sie fanden zweimal Sphinc- 
teren- und Convergenzlähmung, einmal Convergenz- und Diver¬ 
genzlähmung bei divergirendera Strabismus und Herabsetzung 
des Sehvermögens, einmal Lähmung des Obliquus inferior der 
einen, später des Obliquus superior der audera Seite und end¬ 
lich einmal Lähmung des einen Rectus inferior, dem dann der 
andere Rectus superior folgte. Indessen w r aren schon früher 
einzelne unbestreitbare Fälle von Lähmung bekannt, die die ge¬ 
nannten Autoren anführen. Ausser diesen giebt es aber noch 
eine grössere Anzahl von Fällen von Herabsinken des oberen 
Lides, welche sicher als Lähmungszustände aufgefasst werden 
müssen, zum Theil auch ursprünglich so aufgefasst waren, die 
dann aber unter dem Drucke der Autorität Charcot’s als 
Krampfzustände gedeutet wuirden. 

Dieser hatte als differential-diagnostische Merkmale zwischen 
Lähmung und Krampf das Tieferstehen der Augenbraue, das 
Vorhandensein von Fältelung des oberen Lides und einen grös¬ 
seren Widerstand bei passiver Erhebung des letzteren, sowie 
die vollkommene Bedeckung des Randes des unteren Lides durch 
das obere bezeichnet. Wenn wir uns zunächst unseren Kranken 
auf diese Frage hin ansehen, so fällt uns an der Photographie 
ein Zeichen auf, welches mir mindestens ebenso wichtig, als die 
Charcot'schen Merkmale erscheint. Man sieht nämlich an 
der Photographie, welche zu einer Zeit aufgenoramen ist, als 
die Augenrauskelalfection und mit ihr die Ptosis gerade einmal 
auf ihrem Höhepunkt war, dass der obere Rand des unteren 
Lides eine leicht nach unten convexe Linie bildet, während diese 
Linie bei jeder willkürlichen oder spastischen Contraction des 
Orbicularis palpebrarum eine gerade ausmacht. Auch die C’har- 
cot’sehen Zeichen fehlten bei unserem Kranken gänzlich, wie 
denn der Totaleindruck der Ptosis ein absolut anderer war, als 
derjenige, den man bei dem ja durchaus nicht seltenen blepharo- 
spastischen Lidverschluss erhält. Traf dies Alles schon während 
der Zeit der vollständigen Ptosis zu, so erhielt man den Ein¬ 
druck der Lähmung in noch viel höherem Grade dann, wenn 
das obere Lid bei gleichzeitigem partiellen Krampf eines oder 
beider Interni nur wenig herabhing. Aehnliche Zustände, wie 
dieser Letztere, finden sich auch sonst in der Literatur; insbe¬ 
sondere gehört auch der oben erwähnte bei Gilles de la Tou¬ 
rette eitirte Fall von Raymond und König hierher. Beide 
Lider waren bei diesem Falle zu drei Viertel geschlossen und 
die Bulbi gesenkt. Diese Autoren sprechen den Fall denn auch 
als Ophtalmoplegie an. 

Hiernach scheint es mir ganz sicher, dass die hy¬ 
sterische Ptosi8 unter durchaus ähnlichen Umständen 
wie die übrigen motorischen Innervationsstörungen 
der Kopfnerven, nämlich in der Regel auf Grund eines 

2 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 7. 


Iteizungszustandes, aber in seltenen Fällen doch als 
Zeichen einer Lähmung zu Stande kommt. 

Wenn ich nun in dem Vorstehenden die Innervationsstö¬ 
rungen der willkürlichen Muskeln des Bulbus sowie des Sphincter 
pupillae als spastischer, diejenige des Levator palpebrae jedoch 
als paralytischer Natur bezeichnete, so gerathe ich damit in 
einen nicht unwichtigen, principiellen Gegensatz zu Nonne und 
Beselin. Diese Autoren meinen nämlich, dass die nicht selten 
Überaus grosse Schwierigkeit einer differentiellen Diagnose zwi¬ 
schen Lähmung und Krampf der Augenmuskeln dort nicht exi- 
stire, „wo eine Ciliarneuralgie, ein nachweisbarer Accomodations- 
krampf auf die Natur der Ablenkung des Bulbus hinweist“ (a. 
a. 0. S. 12) und sie erläutern diese Ansicht mit den Worten, 
„dass von den räumlich und dem Wesen nach so nahe liegenden 
Gebieten des Oculomotorius das eine sich in dauerndem Zustande 
der Parese, das andere im Spasmus befindet, durfte nur geringe 
Wahrscheinlichkeit fUr sich haben“ (a. a. 0. 31). 

Ich will dahingestellt sein lassen, ob die corticalen Inner¬ 
vationsgebiete der externen Augenmuskeln, des Sphincter und 
des Levator palpebrae wirklich räumlich so benachbart liegen; 
denn es kommt nicht hierauf, sondern lediglich auf die klini¬ 
schen Thatsachen an, und diese beweisen eben, dass in dem 
einen Innervationsbezirke des Oculomotorius, dem des Levator 
sehr wohl ein Minus an motorischer Energie bestehen kann, 
während sich in anderen Innervationsbezirken des gleichen Ner¬ 
ven ein Plus von motorischer Energie bemerklich macht. Derartige 
Combinationen von Reizungs- und Lähmungserscheinungen bilden 
ja Überhaupt ein Characteristicum schwerer Fälle von Hysterie. 
Hyperästhesien und Anästhesien, motorische Krämpfe und Läh¬ 
mungen vereinigen sich fast regelmässig zur Bildung des typi¬ 
schen Krankheitsbildes und so sahen wir ja auch in unserem Falle, 
dass sich neben den Contracturen der Augenmuskeln, ganz ab¬ 
gesehen von der Parese des Levator, Lähmungserscheinungen in 
der Innervation der Retina, sowie der sensiblen Innervation des 
Kopfes, des Rumpfes und der Extremitäten vorfanden. 

Jedenfalls liefert diese Beobachtung wieder einen neuen Be¬ 
weis für die alte Wahrheit, dass der Kliniker vorsichtiger handelt, 
wenn er das Vorkommen dieser oder jener Erscheinung nicht 
bestreitet, sondern sich auf die Aeusserung, sie sei bisher seines 
Wissens nicht beobachtet worden, beschränkt; wenn irgendwo, 
dann gilt dies aber von der Hysterie. 


II. Ein Fall von Hyosarkom des Dünndarms. 

Von 

Prof. V. Babes und Dr. Nanu (Bucarest). 

Das DUnndarmsarkom ist so selten, dass ein von uns beob¬ 
achteter Fall wohl verdiente, mitgetheilt zu werden, auch wenn 
die Art desselben nicht noch unser specielles Interesse bean¬ 
spruchen würde. Aus der sehr detaillirten Arbeit Adelung's 
aus Rostock (Centralblatt für Chirurgie, XIX, 30, 1802) ist er¬ 
sichtlich, dass bis nun in der ganzen Literatur blos 11 gut 
beobachtete und mit Sicherheit diagnosticirte Fälle von DUnn¬ 
darmsarkom existiren. Diesen fügt Madelung 3 neue durch 
Autopsie bestätigte Fälle bei. Im Jahre 1804 publicirte Stern 
(Berl. klin. Wochenschr. 35, 1804) einen in der Literatur ein¬ 
zigen Fall von angeborenem Angiosarkom bei einem ausgetragenen, 
gut entwickelten, und 4 Tage nach der Geburt unter Zeichen 
von Darmocclusion verstorbenen Kinde. In unserem Falle han¬ 
delt es sich aber um eine bisher nicht beobachtete Form von 
Myosarkom des Darmes, welches auch vom Standpunkt der Histo- 
genese dieser vielfach angezweifelten Geschwulstart unser Inter¬ 
esse beansprucht. Bevor wir einige Reflexionen Uber unseren 


Fall machen, geben wir zuerst kurz die Krankengeschichte des¬ 
selben wieder. 

Der 30jährige N. M. wurde am 14. August 1895 auf die Abtheilung 
eines von uns Beiden im Spitale „Philantropia“ aufgenommen. Von 
Seiten der Heredität Anden wir nichts Bemerkenswerthes. Vater und 
Mutter des Pat. starben in hohem Alter und seiner Erinneruog nach litt 
der Vater 2 mal an Malaria. Einzelne seiner Verwandten sind ihm gut 
bekannt und dieselben sollen stets gesund gewesen sein, doch hätte er sie 
schon längere Zeit nicht gesehen. Die anderen Verwandten kennt er nicht. 

Er selbst Uberstand Blattern, von denen einzelne sichtbare Narben 
zurückgeblieben sind. Er machte weder Diphtherie noch ßcharlach 
durch, noch machte sich je Skrophulose an ihm bemerkbar. Wir finden 
bei ihm keine Zeichen von Lues. Er treibt keinen Missbrauch mit 
Alkoholicis. Er litt öfter an Malaria und bat von Zeit zu Zeit 8chmerzen 
in den Gelenken bei Umschlag der Witterung. 

Vor ungefähr 1'/, Monaten wurde er von einem Frostschaper be¬ 
fallen, zu dem Bich allgemeines Unbehagen und Appetitlosigkeit gesellte. 
Nach 2 Tagen, bei Fortbestehen dieser Symptome, empfand er geringe 
Schmerzen in der 1. Flanke, welche in das ganze Abdomen und in den 
Anfangstheil der unteren Extremitäten ausstrahlten. Er beachtete im 
Anfänge die 8chmerzen nur wenig, bis er eines Tages im Closet einen 
Stuhl trotz grosser Anstrengung nicht absetzen konnte. (Der Kranke 
weiss nicht genau anzugeben, nach wie viel Tagen seit dem ersten Auf¬ 
treten der Schmerzen die Con $ tipation anftrat.) Der Patient war ge¬ 
zwungen, von Zeit zu Zeit ein Purgativ zu nehmen. Dennoch konnte 
er bis vor 2 Wochen seiner Beschäftigung naebgehen, zu welcher Zeit 
die 8chmerzen bedeutend stärker wurden und er bemerkte, dass eine 
leichte Diarrhöe an Stelle der bisherigen Obstipation trat. Er hatte 
4—5 weiche Stühle. Da die Schmerzen von Tag zu Tag an Intensität 
Zunahmen, entschloss er sieb zum Eintritt in's Spital und wurde vor 
einer Woche auf die Abtheilung des Dr. Florea Teodorescu aufgenom¬ 
men, wo er 3 Tage blieb, und von wo er mit der Diagnose: Tumor abdo¬ 
minalis auf unsere chirurgische Abtheilung am 14. August transferirt wurde. 

Status praesens. Patient ist von mittlerer Grösse, und giebt 
an, vor dem Beginne der Erkrankung bedeutend stärker, wohlgebaut 
nnd fett gewesen und jetzt sehr abgemagert zu sein. Die Hautdecken 
sind blass, trocken und gelb, das Fettpolster ist wenig entwickelt. Die 
Bindehaut ist subicterisch gefärbt. Die Temperatur war am ersten Tage 
37,8°. Die Zunge ist trocken. Der Kranke klagt über spontane 
Schmerzen in der 1. Bauchseite, welche auf Druck zunehmen. Bei der 
Palpation der 1. Bauchseite fühlt man einen bühnereigrossen, gleich¬ 
mäßig ovoiden, beweglichen und auf Druck schmerzhaften Tumor. Die 
Drüsen der Leistengegend sind vergrössert. Appetitlosigkeit. Er hat 
4—5 weiche, nach seinen Aussagen nicht blutige 8ttihle. Kein Husten. 
Von Seiten der anderen Eingeweide keine Abnormitäten. In den ersten 
Tagen wird ihm Jodkali 10:800 Aqu. verabreicht und ausserdem 
werden ihm Priessnitzumschläge und Quecksilbersalbe aufs Abdomen 
applicirt. Zwei Tage nach Eintritt auf unsere Abtheilung hatte er Kr- 
brechen und erhielt Pot. Rivieri 150,0 mit Cocain 0,1. Da die 8cbmersen 
und die Schwäche immer mehr Zunahmen, wurde die Vornahme der 
Operation am 22. August beschlossen. An diesem Tage wurde ihm ein 
Bad und ein Purgativ verabreicht. Einige Tage zuvor bekam er Naphthol 
mit Salol. Am 22. August wurde die Resection des Darmes ausgeführt. 
In Chloroformnarkose wurde der Bauchschnitt unterhalb des Nabels in 
der Medianlinie gemacht. Nach Eröffnung des Abdomens wird der 
Tumor vorgezogen. Derselbe war 2 faustgross und befand sich innerhalb 
einer Dünndarmschlinge und war gleichzeitig adhärent an einer zweiten 
Dünndarmschlinge. Da diese Adhärenz locker war, so wird eine 
Richelotpince angelegt, durchschnitten und unterbunden. Auf jeder Seite 
des Tumors wurden nun je 6 Richelotpinces am Darm angelegt und 
dieser innerhalb der peripherwärts liegenden Pinces durchschnitten, wäh¬ 
rend mit 5proc. Carbolsäure betupft wird. Es werden Ligaturen am 
Mesenterium angelegt und hierauf durchschneidet man, auf diese Weise 
den Tumor völlig excidirend; man legt dann bämostatische Pinces auf 
die Schnittfläche des Mesenteriums und unterbindet. Man nähert die 
Darmschlingen, Läht das Mesenterium bis an den Darm und vereinigt 
dann die Schnittenden des Darmes durch Lembert'sche Nähte: eine 
seromusculär und die andere interserös. Das Abdomen wird hierauf ge¬ 
schlossen und ein Verband angelegt. 4 Tage nach der Operation hatte 
Pat. fast unstillbares Erbrechen, wogegen man ihm Pot. Riv. und Eis¬ 
pillen verabreichte. 7 Tage nach der Operation wurden die Nähte ent¬ 
fernt. Die Wunde war per priraara geheilt. Er bekam Milch und am 
5. Tage ein Purgativ. Am 81. August musste die Abtheilung wegen 
Vornahme von Reparaturen geschlossen werden und obwohl der Kranke 
fast vollkommen geheilt war, wurde ihm Bettruhe empfohlen und er wurde 
auf die I. chirurgische Abtheilung transferirt. Am 2. Sept. hatte er neuer¬ 
dings Erbrechen, welches auf Pot. Rivieri wich. Nach einigen Tagen 
(10. Sept.) verlässt der Pat. anscheinend vollkommen geheilt das Spital. 

Mikroskopischer Befund des Tumors. 

Weder an der Oberfläche des grossen Tumors, noch in der 
Mitte desselben lässt sich die Anwesenheit von Drüsenepithelien 
constatiren. In der Mitte des Tumors sieht man eine Schicht 
von sehr grossen, intensiver gefärbten Zellen, welche durch eine 
gleichmässig hyaline Lamelle — vielleicht ein Rest der Basal- 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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merabran — abgegrenzt ist. Nach dieser Schicht folgt das Ge¬ 
webe des Tumors, in welchem man hyperämische und grössten- 
theils mit grossen runden, theils mono-, theils polvnucleären 
Zellen verstopfte Gefässe sieht. Hier ist der Tumor zusammen¬ 
gesetzt aus runden Zellen, welche oft durch ihre Vertheilung 
von unten nach oben ziehende Colonnen bilden. Diese Reihen 
sind durch Spuren eines bindegewebigen Gerüstes von eiuander 
getrennt. Hier sind die Zellen ziemlich blass, mit blassem Kern, 
während an der seitlichen Peripherie des Tumors weit abstehende 
Drüsenshläuche wieder erscheinen und der Tumor eine grössere 
Vitalität zeigt, indem die Zellen einen oft in Karyokinese be¬ 
findlichen und intensiver gefärbten Kern besitzen; und hier kann 
man die Anordnung der runden Zellen mit grossem Kern in 
Reihen oder Säulen sehen, als ob die Zellen von der Proliferation 
längerer Formationen (etwa der Muskelzellen) herstammen 
würden. An der Peripherie des Haupttumors sieht man einzelne 
in Karyokinese befindliche Muskelzellen. Obwohl der Tumor 
die ganze Dicke der Darmwand einnimmt, scheint er dennoch 
nur vom Muskelgewebe auszugehen. 

Der Tumor besitzt eine Kapsel, dessen Bindegewebe reich 
ist an embryonalen Zellen. Neben dem Haupttumor sieht man 
kleine Theile des Neoplasmas, welche die Muskelscheide nicht 
überschritten haben, wie dies in Fig. 1 deutlich zu erkennen 
ist, von derselben Structur mit zahlreichen in Karyokinese be¬ 
findlichen Zellen. Der muskuläre Charakter ist aber deutlich 
ausgesprochen in den Anfangsstellen des Tumors, welche sich 
in dem strialen Antheil der Muskel trabekel befinden. Hier sieht 
man die Gefässe erweitert, erfüllt mit proliferirendem Endothel 
und umgeben von zellreichera Gewebe. Die nahegelegenen 
Muskelzellen zeigen eine lebhafte Wucherung, sind grösser, ihre 
contractile Substanz ist besser tingirbar, ebenso wie ihre Kerne, 
von denen einzelne Karyomitose zeigen. 

Andere kleinere Herde zeigen Wucherung von in Karyo¬ 
kinese begriffenen Muskelzellen m*. An anderen Orten kann man 
die Bildung einiger kleiner Reihen von nucleären Massen beob¬ 
achten, welche den Raum je einer Muskelzelle einnehmen (siehe 
Fig. 2.). 

Diese ganze, specielle Anordnung ist so charakteristisch, 
dass der Tumor als von der Proliferation von Muskelzellen 
herstammend angesehen werden kann. Wenn wir das rasche 
Wachsen des Neoplasma und die definitive Form der Zellen des 
Tumors betrachten, können wir diesen direct als Myosarkom be¬ 
zeichnen, im Sinne einer Umwandlung von Muskelzellen in sar- 
komatöse Zellen. 

In diesem Fall von durch deu mikroskopischen Befund er¬ 
wiesenem Dünndarmsarkom sieht man zum Theil auch das von 
anderen Autoren beschriebene Bild, doch verdienen einzelne 
Details besonders hervorgehoben zu werden. Ebenso wie in 
den Fällen von Madelung, Baltzer (Archiv f. kl. Chirurg. 45, 
1892), Pick (Prager med. Wochenschr. 1884) etc. etc. handelt 
es sich in unserem Falle um ein im 4. Lebensdecennium stehen¬ 
des Individuum, welcher Umstand gewissermaassen ein differen¬ 
tialdiagnostisches Moment gegen Dlinndarmcarcinom abgeben 
könnte, das gewöhnlich in einem vorgeschrittenen Lebensalter 
aufzutreten pflegt. Die meisten Fälle, in denen chirurgisch 
intervenirt wurde, haben rasch tödtlich geendigt wegen der auf¬ 
getretenen Metastasen. Madelung schliesst aus seinen Fällen 
sogar, dass beim Dünndarmsarkom jede chirurgische Intervention 
Überflüssig und aussichtslos sei wegen des frühen Auftretens von 
Metastasen. Obwohl in unserem Falle das Operationsresultat so 
gut als möglich war, würden wir nach den anderen, in der Lite¬ 
ratur verzeichneten Fällen und wegen der in so kurzer Zeit 
(IV 2 Monate) vorgeschrittenen Consumption des Kranken glauben, 
dass dieser Tumor eine besondere Tendenz zur Generalisirung 


Figur 1. 



Der peripherische Theil des Tumors bei geringer Vergrösserung. 
Färbung mit Hämotoxylin und Eosin. Links sieht man den Tumor die 
Macosa, Submucosa und Muscularis einnehmend; an den abschüssigen 
Theilen erkennt man noch Epithel, Drüsen und erweiterte Gefässe. 
Rechts (muc) ist die Mucosa normal oder nur wenig verändert, dann 
kommt die Submucosa mit erweiterten Gefäasen; m ist die Muskelschicht, 
die in ganz charakteristischer Art verändert ist. Man sieht nämlich 
inmitten der Muskeltrabekel eine dunklere Färbung, indem in diesem 
Theile der Tumor sich entwickelt; so hat sich bei t ein kleiner Tumor 
innerhalb des Muskelgewebes gebildet und in der Umgebung sieht man 
die Verdickung der Muskelschicht. 8 die kaum veränderte 8erosa. 


Figur 2. 



Ein Theil des Centrums eines Muskeltrabekels mit dem Beginne der 
neoplastischen Wucherung. Vergrösserung 300. Färbung mit Hämatoxylin. 
Die Muskelzellen sind arm an färbbaren Kernen (m); aber in einigen 
Punkten, ln der Umgebung der Gefässe, schwellen sie an, werden kürzer 
und bekommen einige grosse und gutgefärbte Kerne (m 1 ). Hier consta- 
tirt man anch mehrere reine Muskelzellen mit in Karyokinese befind¬ 
lichen Kernen (m*). In der Umgebung einiger kleiner Gefässe sieht man 
auch eine umschriebene Infiltration mit grossen und polynucleären Leuko- 
cyten (1). Das Endothel der Gefässe selbst ist ein wenig geschwellt (e). 

hat. Aus der Literatur geht hervor, dass die Evolution des 
Dünndarm8arkom8 in •/«—1 Jahre vor sich geht. In unserem 
Falle scheint die Evolution rascher vor sich gegangen zu sein, 
denn der Zustand, in welchem der Kranke bei seiner Aufnahme 
auf unsere Abtheilung sich befand, gestattet uns nicht, anzu¬ 
nehmen, dass er noch ca. ein Jahr hätte leben können. 

Ueber die Bildung von Metastasen haben wir keine Kennt- 
niss. Die unbedeutenden localen Störungen im Vergleiche zur 
allgemeinen Alteration des Organismus lässt uns zwar an eine 
besondere Tendenz zur frühzeitigen Metastasenbildung denken, 
was das therapeutische Resultat illusorisch machen dürfte, 

2 * 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


andererseits haben wir aber etwa 1 Jahr nach der Operation er¬ 
fahren, dass der Operirte sich wohl befindet. 

Unser Fall bietet noch etwas Bemerkenswcrthes vom ana¬ 
tomischen Standpunkte aus. ln sämmtlichen bis nun publicirten 
Fällen war der ursprüngliche Sitz des Sarcoms in der Mucosa 
oder Submucosa und die Muscularis wurde erst secundär vom 
Tumor ergriffen, der immer die Serosa respektirt 1 ). In unserem 
Falle sieht man deutlich, dass wir es mit einer primären sarco- 
matüsen Umwandlung der Muskelzellen zu thun haben, was ein 
anatomisches Unicum darstellt. 


III. Beitrag zur Aetiologie der Magenneurosen. 

Von 

Dr. Engen von Kozlczkowsky 

Arzt an der Dr. von Sohlem’sehen Privatklinik für Magen-, Darm- und 
Stoffwechselerkranknngen in Bad Kissingen. 

Bis vor ca. 15 Jahren wurde noch der grösste Theil der 
krankhaften Processe des Magens als Magenkatarrh diagnosticirt 
und behandelt. Eine Einschränkung dieses Begriffes seit jener 
Zeit verdanken w r ir v. Leube, der die Diagnose des nervösen 
Magenleidens zu stellen lehrte und mit dessen genauer Erkennt¬ 
nis auch das wirkliche Bestehen als ein Leiden sui generis be¬ 
gründete. Je mehr seitdem unsere Kenntnisse Uber den Ablauf 
des gesunden und krankhaften Verdauungsvorganges im Magen 
erweitert wurden, um so mehr wurde die Diagnose der organi¬ 
schen und 8pecicll der katarrhalischen Magenerkrankungen ein¬ 
geschränkt, und nahm zu die Zahl derjenigen, die als nervöse 
Magenleiden erkannt wurden. Dass hierzu vor allem die neueren 
Untersuchungsmethoden beigetragen haben, die sowohl der che¬ 
mischen als auch der motorischen und resorptiven Seite der 
Magenfunction Rechnung tragen, und welcher Art dieselben sind, 
das weiter zu erörtern, gehört nicht in den Rahmen meiner Arbeit. 
In derselben beabsichtige ich vorzugsweise den Kreisder ätiolo¬ 
gischen Momente fUr die Magenneurosen zu erweitern, und zwar 
auf Kosten derjenigen Air die katarrhalischen Magenerkrankungen. 

Wenn wir in den älteren und auch neueren Lehrbüchern 
der inneren Medicin und speciell in denjenigen, die die Ver¬ 
dauungsvorgänge behandeln, die Aetiologie der Erkrankungen 
des Digestionstractus durchsehen, dann werden wir wohl fast 
durchweg finden, dass unter denjenigen schädlichen Einflüssen, 
die vorzugsweise den Magenkatarrh im Gefolge haben, der Al¬ 
kohol steht und weiter, dass fast als einziger Krankheitszustand 
im Magen nach erhöhtem Genuss von Alkohol und Nicotin so¬ 
wie den beiden alkaloidhaltigen Getränken, dem Kaffee und 
Thee, der katarrhalische beschrieben wird. Ja es ist diese An¬ 
sicht bis auf den heutigen Tag sowohl in Aerzte- wie in Laien¬ 
kreisen so eingewurzelt, dass Magenstörungen, die durch genannte 
Ursachen hervorgerufen sind, einfach als katarrhalischer Natur 
angenommen werden, weil noch dazu jene bekannte Trias: Druck, 
Völlegefühl und Aufstossen als Hauptbeschwerde vom Kranken 
angegeben wird, die doch aber Keiner mehr als für den Katarrh 
pathognomoni8ch erachten sollte, nachdem sie bei den verschieden¬ 
artigsten Magenerkrankungen, die wir heute unterscheiden, mehr 
oder weniger ausgesprochen zur Beobachtung gelangt. 

1) Eben während des Druckes dieser Mittheilung halten wir Ge¬ 
legenheit, bei einem Kinde ein makroskopisch ähnliches Dünndarmsarkom 
zu beobachten, dessen mikroskopische Untersuchung aber deutlich er¬ 
kennen liess, wie dasselbe aus kleinen Rundzellen gebildet, von der 
Mucosa ausgehend sich zwischen die Muskelbündel erstreckt, welch 
letztere homogen und blass, keineswegs zellreich erscheinen, nur an der 
Grenze zwischen Muskelgewebe und Sarkom erkennt man einzelne in 
Wucherung begriffene Muskelzellen. 


Ich bin weit davon entfernt, dem Geist der jüngsten Zeit 
entsprechend, auf Grund vereinzelter abweichender Beobachtungen 
sogleich eine ganz neue Theorie aufzustellen und das auf Grund 
zahlreicher, jahrelanger Erfahrungen als bestehend Anerkannte 
kurzweg umzuwerfen, ich will den obengenannten Einwirkungen 
auf die Magenschleimhaut nicht im Geringsten als Folgeerschei¬ 
nung den katarrhalischen Zustand absprechen, ebensowenig 
möchte ich aber dieses als sozusagen einzige Magenaffection 
betrachtet wissen, die durch dieselben hervorgerufen wird, da 
ich wiederholt in den letzten 4 Jahren, in denen ich an der 
Dr. von Schlern’schen Privatklinik als Arzt thätig bin, reine 
Magenneurosen nach erhöhtem und längere Zeit fortgesetztem 
Genuss vou Alkohol und Taback und auch von Kaffee und Thee 
gesehen habe. 

Die erste diesbezügliche Aufmerksamkeit wurde dadurch 
erweckt, dass Kranke, die nach ihrer eigenen oder ihres Arztes 
Angabe durch abusus Spiritus aut tabaeci sich einen „Magen¬ 
katarrh“ zugezogen hatten, zur Beseitigung desselben eine Brun¬ 
nenkur in Kissingen begonnen oder bereits durchgemacht hatten, 
jedoch keinerlei Besserung sondern sogar Erhöhung der Be¬ 
schwerden, besonders des Druckes und der Säureempfindung, zu 
verzeichnen hatten. Mit solchen und ähnlichen Aufzählungen 
ihrer Klagen kamen wiederholt Patienten in die obige Klinik, 
um sich dort „ihres Magenkatarrhs wegen“ untersuchen zu lassen. 
Gewisse Bedenken musste man jedesmal von vomeherein gegen 
genannte Diagnose liegen, da es ja allgemein bekannt ist, mit 
welch’ hervorragendem Erfolge Kranke mit wirklich katarrha¬ 
lischer Magenaffection kochsalzhaltige Wässer und speciell den 
Kissinger Rakoczv trinken und getrunken haben. Die genauere 
Untersuchung ergab denn auch in den betreffenden Fällen stets 
eine erhebliche Uebersäuerung des Magensaftes, durch HCl be¬ 
dingt, bei völlig erhaltener motorischer Kraft und bei normaler 
Kesorptionsfähigkeit des Magens, so dass die Beschwerden, die 
die Kranken belästigten, ihre Verschlimmerung durch den koch- 
salzhaltigen Brunnen erfahren hatten und erfahren mussten. 
Denn nicht ein Mal, solidem hundert Mal kann man es hier 
beobachten, dass Kranke, deren drüsiger Apparat, welcher der 
Magensaftsecretion vorsteht, unter der Wirkung von secretori- 
schen Nerven steht, die in einem ausgesprochenen Erregungs¬ 
zustände sich befinden, d. h. — und hierauf möchte ich beson¬ 
ders Gewicht legen — deren Magensaft andauernd das 
deutliche Bild der Hyperchlorhydrie bietet, gleichgiltig, 
ob ein organisches oder ein nervöses Leiden zu Grunde liegt, 
bei Genuss chlornatriumhaltigen Wassers sowohl in kleinen 
als in grossen Mengen, ausser Uber Erhöhung ihrer sonstigen 
Symptome vor allem Uber Erhöhung der Säureempfindungen 
klagen, die, wie es ja von den verschiedensten Seiten untersucht 
und anerkannt und auch in obiger Klinik zur Genüge beobachtet 
und festgestellt ist, auf wirklicher Erhöhung der Chlor¬ 
wassers to ff säureproduc tion beruht. 

Nachdem ich so den Magenerkrankungen, die nach eigener 
Angabe der Kranken oder deren Aerzte durch erhöhten Genuss 
von Alkohol, Taback, Kaffee und Thee hervorgerufen waren, 
besondere Aufmerksamkeit entgegeubrachte, konnte ich zu wieder¬ 
holten Malen im Laufe der letzten 4 Jahre beobachten, dass 
durch genannte Einwirkungen auf die Magenschleimhaut sowohl 
katarrhalische Erkrankungen als auch reine Secretionsneurosen 
und zwar mit ausgesprochener Hyperacidität hervorgerufen wer¬ 
den können. 

Die nachfolgenden Fälle, die ich mit kurzer Angabe der 
ursächlichen Momente und der Hauptbeschwerden von Seiten 
der Verdauungsorgane dargestellt habe, sind nicht einmal, sondern 
wiederholt von mir untersucht worden sowohl auf ihre moto¬ 
rische Kraft und Resorptionsfähigkeit • als auch auf ihre Secre- 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


15. Feb ruar 189 7. 

tionsverhältnisse im Magen und boten stets dasselbe Bild der 
reinen Secretionsneurose. 

Leider fehlt mir eine Aufzeichnung der Krankengeschichten 
für die ersten diesbezüglichen Fälle, die zur Consultation kamen. 

Betreffs der Untersuchnngsmethoden, die ja allgemein be¬ 
kannt sind, möchte ich nur erwähnen, dass die Expression des 
Magensaftes stets 3 Stunden nach dem bereits durch v. Sohlern 
veröffentlichten Probemittagsmahl stattfand. 

I. Herr St. aus S. 47 Jahre alt. Von Seiten der Verdauungsorgane 
nie Beschwerden, bis vor wenigen Jahren Neigung zur Hartleibigkeit 
sich einstellte. Seit 3 Jahren lebt Patient in Australien, wo er gegen 
seine frühere Gewohnheit grosse Mengen schweren Bieres trank. Sehr 
bald stellten sich Erbrechen und Durchfall ein, die sich häufig wieder¬ 
holten. Die Lebensweise wurde trotzdem fortgesetzt. Seit einem Jahre 
klagt Patient über starke Säureempfindung und Aufstossen von Luft in 
grossen Mengen nach den Mahlzeiten. Ausserdem trat in derselben Zeit 
Druck in der Lebergegend auf. 

Status praesens: Geschmackrein, Appetit beeinträchtigt. Schmer¬ 
zen in der Magengegend nie empfunden. Nie Haematemesis, nie Melaena. 
Säureempflndung und reichliches Autstossen, oft mehrere Stunden an¬ 
dauernd, sind auch jetzt die Hauptbeschwerden. Linker Leberlappen 
vergrö8sert und druckempfindlich. 

1) 6 Stunden nach dem Mittagsmahl ist der Magen völlig leer. 

2) Resorptionsfähigkeit ist normal. 

3) Congo und Günzburg zeigen sehr intensive Farbenreaction; or¬ 
ganische Säuren fehlen; Koblebydratverdauung ist geordnet. Allgemein¬ 
salzsäure nach Braun; 0.48 pCt. 

II. Herr B. aus H. 38 Jahre alt. War stets gesund, bis vor l'/'j 
Jahren Beschwerden von Seite des Magens auftraten, die in Druck, 
Sänregefühl und Hochkommen von saurem 8peisebrei bestanden haben 
sollen. Abusus spiriti soll die Ursache damals gewesen sein, allein in 
der Absicht die Beschwerden zu bekämpfen, sollen fernerhin noch grössere 
Mengen alkoholischer Getränke genossen worden sein. 

8tatns praesenB: Appetit gut; Säuregefühl und Hochkommen von 
saurem Speisebrei bestehen auch jetzt noch. Besonders belästigend sind 
Druck und Spannung in der Magengegend, die bald nach den Mahlzeiten 
eintreten nnd mehrere Stunden andauern. Schmerz fehlt. Nie Haema¬ 
temesis, nie Melaena. Neigung zur Diarrhoe. 

1) 6 Stunden nach dem Mittagsmahl ist der Magen leer. 

2) Resorptionsfähigkeit normal. 

3) Congo und Günzburg zeigen sehr intensive Farbenresection; or¬ 
ganische Säuren fehlen. Allgemeinsalzsäure nach Braun: 0,45 pCt. 

III. Herr K. aus D. Seit 15 Jahren besteht Obstipation. 1887 
will Patient nach dem Genuss kalten Bieres in reichlichen Mengen einen 
„Magenkatarrh“ acquirirt haben, der dann, wie er selbst äussert, durch 
fortgesetztes Biertrinken chronisch wurde. 

1888 Kissinger Rakoczy ohne Erfolg getrunken. 

1889 nach längerem Gebrauch von Carlsbader Salz Besseruug der 
Beschwerden, die jedoch nicht anhielt. Die darauf begonnene Ulcuscnr 
nach v. Leube brachte zwar auch Besserung aber keine Heilung. 

Brennen und Hitzegefühl in der Magengegend, Vollsein und Span¬ 
nung nach den Mahlzeiten waren die Hauptbeschwerden. 

Status praesens: Appetit nicht befriedigend; Schmerzen in der 
Magengegend fehlen; die obigen Beschwerden bestehen auch jetzt noch 
in derselben Weise. Nie Haematemesis, nie Melaena. 

1) 6 Stunden nach dem Mittagsmahl ist der Magen leer. 

2) Resorptionsfähigkeit völlig erhalten. 

3) Günzburg und Tropäolin geben sehr intensive HCl-Reactionen; 
organische Säuren fehlen. Allgemeinsalzsäure nach Brau: 0,44 pCt. 

IV. Herr N. aus M. 67 Jahre alt. Eine „Magenschwäche“ will 
Patient schon seit vielen Jahren haben, er giebt zu, Potator zu sein. 
Seit ca. 4 Jahren bestehen Druck, Vollsein und Säuregefühl nach den 
Mahlzeiten und dauern mehrere 8tunden an. Erhebliche Gewichtsab¬ 
nahme, in dem letzten Jahre anhaltende Zunahme. 

Status praesens: Appetit mittelmässig; bitterer Geschmack im 
Munde. Schmerzen sowie Druckempflndlichkeit in der Magengegend. 
Nie Haematemesis, nie Malaena. In letzter Zeit 2—3 Stunden post 
coenam Druck, Vollsein, Aufstossen von Luft und Sänregefühl. 

1) Spülung 6 8tunden p. c. enthält keine Speisereste. 

2) Resorptionsfähigkeit erhalten. 

3) Congo, Günzburg, Tropäolin geben intensive HCl-Reactionen; or¬ 
ganische Säuren fehlen. Kohlehydratverdauung beeinträchtigt. Allgemein- 
salzsäu-ie nach Braun: 0,50 pCt. 

V. Herr St. aus M. 28 Jahre alt. Stets gesunde Verdauungsorgane, 
bis vor 3 Jahren nach Genuss sehr grosser Quantitäten Bieres Magen¬ 
beschwerden anftraten, die sich besonders nach den Mahlzeiten als 
Sänregefühl und*Uebelkeit bemerkbar machten. Pat. ist seit Jahren 
starker Biertrinker. 

Status praesens: Geschmack rein, Neigung zu Uebelkeit. Häufig 
besteht Kopfschmerz über die ganze Stirngegend ausdehnend. Tremor 
linguae. 

Besonders nach dem Essen tritt häufig Sodbrennen auf. Wieder¬ 
holt wird Wasser und Galle erbrochen, nie Blut, nie Melaena. Neigung 
zur Diarrhoe; linker Leberlappen ist vergrössert und druckempfindlich. 

1) Der Magen enthält 6 Stunden post coenam keine Speisereste. 


141 


2) Congo, Günzburg, Tropäolin zeigen intensive HCl-Reacttonen; or¬ 
ganische Säuren fehlen. Kohlehydratverdauung geordnet. 

VI. Herr A. aus B. 52 Jahre alt. Seit 24 Jahren bestehen Magen¬ 
beschwerden, die sich damals als Druck äusserten und jetzt in erhöhtem 
Maasse bestehen. Pat. hat stets viel Bier getrunken und führt auch 
sein Magenleiden darauf zurück. Neigung zur Obstipation. 

Status praesens: Geschmack schlecht, Trockenheit im Munde. 
Einige Stunden nach dem Essenn tritt Druck in der Magengegend ein, 
der 1—2 Stunden andauert und sich oft bis zu Schmerzen steigert. Nie 
Haematemesis, nie Melaena; sehr geringe Druckempflndlichkeit der 
Magengegend. 

1) 6 Stunden post coenam ist der Magen leer. 

2) Resorptionsfähigkeit nicht beeinträchtigt. 

3) Congo, Tropäolin, Günzburg; intensive HCl-Reactionen; organische 
Säuren fehlen. Allgemeinsalzsäure nach Braun: 0,34 pCt. 

VII. Herr v. H. aus B. War stets gesund, bis vor 8 Jahren nach 
Genuss kalten Bieres Druck in der Magengegend auftrat, der auch heute 
noch besteht. Pat. ist starker Biertrinker. In dem letzten Jahre trat 
sehr häufig Erbrechen ein und zwar 1 Stunde nach dem Frühstück und 
2 Stunden nach dem Mittagsmahl; Druck, Unbehagen und Säuregefühl 
gehen demselben voraus. Zuweilen wird das Erbrechen auch durch Einnahme 
von Natron bicarbonicum hervorgernfen. Blut war nie im Erbrochenen. 

Status praesens: Geschmack rein, Appetit wechselnd. Schmer¬ 
zen in der Magengegend fehlen. Neigung zu Obstipation. Dieselben 
Beschwerden, wie zuletzt geschildet, bestehen auch heute noch. Der 
Magen ist auf Druck nirgends empfindlich. 

1) Spülung 6 Stunden post coenam ist klar; sie wurde an einem 
Tage gemacht, an dem nicht erbrochen wurde. 

2) Normale Resorptionsfähigkeit. 

3) Congo, Günzburg, Tropäolin, zeigen intensive Farbenreactionen; 
organische Säuren fehlen. Allgemeinsalzsäure nach Braun: 0,43 pCt. 

VIII. Herr L. aus Z. War stets gesund, bis sich vor 5 Jahren 
Magenbeschwerden einstellten, die auf den Genuss zu vielen Bieres zu¬ 
rückgeführt werden und sich hauptsächlich als Druck äusserten. In sei¬ 
ner Eigenschaft als Gastwirth nahm Pat. täglich grosse Mengen desselben 
zn sich, so dass sich auch die Beschwerden von Jahr zu Jahr steigerten. 
Appetitsstörungen, starker anhaltender Druck und Säuregefühl nach den 
Mahlzeiten sind die Hauptklagen. Stuhlgang geregelt. 

1) Spülung 6 Stunden post coenam enthält keine Speisereste. 

2) Resorptionsfähigkeit normal. 

3) Günzburg und Tropäolin sehr intensive HCl-Reactionen; orga¬ 
nische Säuren fehlen. Allgemeinsalzsäure nach Braun: 0,43 pCt. 

IX. Herr v. M. aus St. 44 Jahre alt. Ausser vorübergehender Nei¬ 
gung zur Obstipation hatte Pat. keinerlei Beschwerden von Seiten der 
Verdauungsorgane. Nach Aussage seines Arztes nimmt er in den letz¬ 
ten Jahren grosse Mengen Alkohol zu sich. Seit 2 Jahren bestehen 
Appetitsstörungen und Unbehagen in der Magengegend. 

Lebergrenze überragt um Fingerbreite den Rippenbogen. 

1) Spülung 6 Stunden post coenam klar. 

2) Congo, Tropäolin, Günzburg, zeigen intensive HCl-Reactionen; 
organische Säuren fehlen. 

Nach 3 wöchentlicher, erfolgreicher klinischer Behandlung verfiel Pat. 
eines Tages in seine alte Lebensweise, trank grosse Mengen Rothwein 
und Champagner und klagte darauf wieder über erhöhte Beschwerden. 
Die darauf stattgehabte Untersuchung ergab: 

1) Der Magen war ß Stunden post coenam leer. 

2) Allgemeinsalzäure nach Braun: 0,42 pCt. Organische Säuren fehlen. 

X. Herr St. aus M. 27 Jahre alt, Student. War stets gesund; extra- 
vagirte in den verflossenen Studienjahren sehr stark in Baccho. Seit 
2 Jahren bestehen Magen- und Darmstörungen, die sich zuerst in Appe¬ 
titsstörungen und Diarrhoen bemerkbar machten; bald darauf gesellte 
sich häufiger Vomitus und heftiges Brennen im Magen und in der Speise¬ 
röhre hinzu. 

Status prasens: Geschmack schlecht; Appetit sehr wechselnd. 
Nach dem Essen belästigen sehr bald Völlegefühl, Sodbrennen, Aufstossen 
von Luft, das zuweilen saure Speisen mit hochwirft. 

Schmerzen fehlen. Nie Haematemesis, nie Melaena. 

1) Spülung 6 Stunden post coenam frei von Speiseresten. 

2) Resorptionsfähigkeit normal. 

3) Congo, Tropäolin, Günzburg — intensive Farbenreactionen; or¬ 
ganische Säuren — fehlen. Allgemeinsalzsäure nach Braun: 0,86 pCt. 

XI. Herr B. aus B. 55 Jahre alt; als Ursache seiner Verdauungs¬ 
beschwerden giebt Pat. selbst starken Albusus spiriti an. — Die ersten 
Beschwerden zeigten sich schon vor 26 Jahren nach Genuss reichlicher 
Mengen kalten Bieres als Druck und Schmerz; hartnäckige Obstipation. — 

Status praesens: Geschmack rein, Appetit nicht befriedigend; 
Völlegefühl und Sänregefühl nach dem Essen. — Schmerzen in der 
Magengegend in letzter Zeit weniger. — Pat. trank seiner Darmträgheit 
wegen Rakoczy und Soole, wodurch er jedoch seine Magenbeschwerden 
bedeutend erhöhte. — 

1) Spülung 6 Stunden post coenam frei von Speiseresten. — 

2) Resorptionsfähigkeit normal. 

3) Congo, Tropaeolin, Günzburg — zeigen sehr intensive HCl-Re- 
action — organische Säuren fehlen. — 

XII. Herr O. aus B. 56 Jahre alt, Cigarrenhändler. — Als Kind 
schwächlich; 1870 Typhus durchgemacht. Seit 3 Jahren bestehen Magen¬ 
beschwerden, die auf Uebermaass im Trinken und Rauchen zurückgeführt 
werden. Gerade in den letzten Jahren will er besonders viel und stark 

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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 7. 


geraucht haben. 2—3 Stunden nach dem Essen stellen sich Druck, 
Unbehagen und Säuregefühl ein. 

Gewichtsabnahme erheblich. Schmerzen fehlen; Erbrechen stellte 
sich vor Kurzem zum ersten Male nach Genuss eines Glases „Saalewein“ 
ein. Geschmack rein, Appetit gut. 

1) Spülung 6 Stunden post coenam klar. 

2) Resorptionsfähigkeit erhalten. 

3) Congo, Günzburg, Tropaeolin — intensive Farbenreactionen. 
Organische Säuren fehlen. 

AllgemeinBalzsäure nach Brauu: 0,37 pCt. 

XIII. Herr M. aus D. Pat. reisst viel, isst unregelmässig, raucht 
vor allem sehr viel und stark, wodurch auch die Beschwerden seit 2 Jahren 
hervorgerufen sein sollen. Aufgetriebensein, Spannung, Druck und Säure- 
gefiihl hauptsächlich bald nach dem Mittagessen und Nachts. Aufstossen 
von Luft sehr quälend. 8chmerzen und Erbrechen fehlen. 

1) Spülung 6 Stunden post coenam klar. 

2) Congo, Günzburg, Tropaeolin — intensive IICl-Reactionen 

Allgemeinsalzsäure nach Braun: 0,44 pCt. Organische Säuren fehlen. 

XIV. nerr D. aus R. 38 Jahre alt; Pat. klagt, dass er durch zu 
vieles und zu starkes Rauchen sich den Magen verdorben habe. Seit 
längerer Zeit treten bald nach Tisch Vollsein und Brennen in der Magen¬ 
gegend auf. Schlechter Geschmack nüchtern und nach dem Essen. 
Appetit befriedigend. 

1) Spülung 6 Stunden post coenam enthält keine Speisereste, wohl 
aber Speichel. 

2) Resorptionsfähigkeit normal. 

3) Congo, Günzburg, Tropaeolin — intensive HCl-Reactionen. Or¬ 
ganische Säuren — fehlen. 

Allgemeinsalzsäure nach Braun: 0,47 pCt. 

XV. Herr C. aus D. 38 Jahre alt. War stets gesund bis vor 2 Jahren 
Magenbeschwerden auftraten, die Patient auf reichlichen Genuss sehr 
starken Kaffees zurückführt. Zuerst bestand nur Druck, später auch 
Hitzegefühl und leise Schmerzhaftigkeit im Magen nach dem Essen. 
Nach Gebrauch kleiner Mengen Schnaps werden genannte Beschwerden 
sehr erhöht. Gewichtsabnahme. Erbrechen fehlt ebenso Melaena. Ge¬ 
schmack rein, Appetit gut, Neiguug zur Diarrhoe. 

1) Spülung G Stunden post coenam klar. 

2) Resorptionsfähigkeit normal. 

3) Congo, Giinzbung, Tropaeolin — sehr intensive HCl-Reactionen. 
Organische Säuren — fehlen. Erythrodextrin nachweisbar. 

Allgemeinsalzsäure nach Braun: 0,36 pCt. 

XVI. Herr H. aus T. 46 Jahre alt, Theehändler. War stets ge¬ 
sund bis vor 16 Jahren Druck in der Magengegend und Aufstossen von 
Luft nach der Mahlzeit sich einstellten. Genannte Beschwerden sollen 
im Anschluss an reichlichen Genuss der verschiedenartigsten Theesorten 
aufgetreten sein, wozu Patient in seinem Berufe genöthigt war. Da er 
seine Theeproben weiter fortsetzen musste, erhöhten sich auch von Jahr 
zu Jahr seine Beschwerden. 

8tatus präsens: Geschmack rein, Appetit gut oft HcisBhunger. 
Sehr bald nach Tisch tritt starkes Völlegefühl auf, circa 2 Stunden darauf 
Druck und Aufstossen von Luft in grossen Mengen, wodurch oft sehr 
intensiv saurer Speichelbrei mithochkommt. Schmerzen fehlen. 

1) Spülung 6 Stunden post coenam klar. 

2) Resorptionsfähigkeit normal. 

3) Congo, Günzburg, Tropaeolin — sehr intensive HCl-Reactionen. 
Organische Säuren — fehlen. 

Allgemeinsalzsäure nach Braun: 0,42 pCt. 

Aus diesen kurz geschilderten Fällen, in denen wir es doch 
ohne Zweifel mit reinen Neurosen zu thun haben, sehen wir, dass 
genannte schädliche Einwirkungen auf die Magenschleimhaut in 
den verschiedensten Altersklassan, auch wenn sie lange Zeit hin¬ 
durch stattgefnuden haben, keine katarrhalische Affection zur 
Folge haben brauchen. Ja wir sehen weiter, dass wir es mit 
Neurosen zu thun haben, die alle das deutliche Bild der Hyper- 
aciditaet bieten, deren Säuregrad oft das Doppelte der physio¬ 
logischen Grenze erreicht. Wiederholte Controlluntersuchungen 
an kurz aufeinanderfolgenden Tagen und in grösseren Zwischen¬ 
räumen, wie ich sie bei Neurosen, um groben lrrtümern zu ent¬ 
gehen, für unbedingt nothwendig halte, deren specielle Befunde, 
um nicht mit Zahlen zu ermüden, ich nicht weiter hinzugefügt 
habe, ergaben ferner, dass wir es nicht, wie es so häufig bei 
Neurosen und besonders bei denen auf neurasthenischer Basis 
der Fall ist, mit Schwankungen in der Secretionssphäre zu thun 
haben — aus dem irritativen in den depressiven Zustand und 
umgekehrt — sondern mit Neurosen, bei denen die secretorischen 
Nerven für die Magensaftsecretion stets während der Verdauung 
sich im ausgesprochenen Reizzustande befinden. 

Leider habe ich nur in vereinzelten der obigen Fälle die 
Expression bei nüchternem Magen gemacht, fand jedoch bei keinem 


dieser grössere Mengen wirksamen Magensaftes vor. Den Ge 
danken an eine Hypersecretio continua möchte ich sowohl de>' 
halb als nach der ganzen Art und dem Verlauf der Krankheit^ 
erscheinungen von der Hand weisen. Ich kann mich auch nich 
dazu verstehen, eine Gastritis acida, wie in letzterer Zeit ver 
einzelt die Diagnose für solche Magenerkrankungen nach abusu: 
spiriti aut tabaeci lautete, die mit ausgesprochener Hvperaciditae 
einhergingen, zu diagnosticiren, daicherstensbeieinemMagenleiden 
das ich mit der Diagnose „Gastritis“ sei der Zusatz, welcher es 
wolle, belege unbedingt einen entzündlichen Process verlange, dei 
seinerseits wieder vor allem mit Störung in der motorischen Function 
dann auch mit solcher in der Secretion und Resorption einhergeht 
zweitens eine wirklich erhöhte Schleimproduction, die ich in allen 
unsem Fällen vermisste, denn geringe Vennehrung desSchleimes ist. 
wie ja bekannt, diagnostisch gar nicht zu verwerthen, da sowohl 
der Schleimgehalt des Magens als solcher ein wechselnder ist und 
zweitens eine stricte Grenze, von welcher ab der Schleimgehalt 
als pathologisch anzusehen ist, kaum gezogen werden kann. Es 
könnte mir hierauf in dem Punkte „die motorische Kraft betreffend" 
erwidert werden, dass cs auch Gastritiden giebt, bei denen sich 
dieselbe noch als intact zeigt, allein dieses sind doch thatsächlieh 
so grosse Seltenheiten, dass man sie differential-diagnostisch nicht 
in Betracht ziehen darf. — Was nun den Symptomencomplex 
unserer Krankheitsfälle betrifft, so konnte er bei einzelnen der¬ 
selben. zumal man noch dazu die Aetiologie erfuhr, zu der Diag¬ 
nose „Gastritis“ verleiten, wie es ja auch der Fall war. Wir 
sehen aber daraus immer wieder, dass wir für die Gastritis 
ebensowenig wie es für die Neurosen mit Hyperaciditaet der 
Fall ist, Symptome haben, die pathognomonisch sind, wesshalb 
wir auch immer wieder dazu aufgefordert werden, zur richtigen 
Erkenntnis eines Magenleidens neben allen andern Untersuchungen 
auch die motorische Seite stets genau zu prüfen. — Wesshalb 
nun durch genannte Schädlichkeiten einestheils Gastriden andem- 
theils reine Secretionsneurosen hervorgerufen werden, das genau 
zu entscheiden, steht ausser dem Bereich unseres Wissens. Be¬ 
kannt ist es ja, dass die Empfindlichkeit der Magenschleimhaut 
von Fall zu Fall schwankt, bekannt, dass es so glücklich orga- 
nisirte Verdauungswerkzeuge giebt, die trotz einer Summe von 
Schädlichkeiten, die ihnen lange Zeit hindurch zugefUhrt werden, 
ohne jegliche Störung bleiben, dass ferner Grossstädter nach einer 
an Festmahlen reichen Wintersaison sich durch dieselben sowohl 
Gastritiden als auch Neurosen zuziehen können, dass nach den 
neuesten Mittheilungen Fleischer’s der Alcohol- und Nicotin¬ 
missbrauch auch die nervöse Dyspepsie im Sinne von Leubes 
in einigen Fällen zur Folge gehabt hat, bekannt kurz durch die 
verschiedenartigsten Beobachtungen, dass die Schleimhaut des 
Magens auf dieselben Reize individuell in verschiedener Wei>e 
reagirt. So müssen wir denn auch nach dem oben mitgetheilten 
als Folgeerscheinungen nach erhöhtem und längere Zeit fort¬ 
gesetzten Genuss von Alcohol — und zwar bezieht sich 
die Beobachtung fast ausschliesslich auf die diluirten 
nicht auf die stark concentrirten alcoholischen Ge¬ 
tränke, — ferner von Nicotin, Kaffee und Thee ausser dem 
catarrhalisclien auch den rein neurotischen Zustand gelten lassen. 
Bei unseren Fällen sind wir weiter zu der Annahme berechtigt, 
dass die Epithelschicht derMagenschleimhant trotz der andauernden 
Reize widerstandsfähig geblieben ist, dagegen die in derselben 
an den Ausfilhrungsgängen der Drüsen Schläuche, mündenden se¬ 
cretorischen Nervenendigungen, auf deren Vorhandensein wir ja 
mit gutem Grunde aus einer Reihe physiologischer Beobachtungen 
schliessen, in einem chronischen Reizzustand versetzt wurden, 
in dem sie auf den normalen physiologischen Reiz der Nahrung 
mit einer abnorm reichlichen Secretion antworteten. — 


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15. Februar 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


143 


IV. Zur Kenntniss der Osteomalacie und der 
Organotherapie. 

Von 

Prof. H. Senator. 

(Nach einem am 13. Januar 1897 in der Berliner medicinischen Gesell¬ 
schaft gehaltenen Vortrag.) 

(8chluss.) 

Trotz der erheblichen Gewichtsschwankungen in den vier 
ersten Perioden und namentlich der Gewichtsverluste in der 
Thyraden- und Oophorinperiode, besserte sich, wie ich schon sagte, 
das Befinden der Pat. zusehends, indem ihre subjectiven Be¬ 
schwerden, die Schmerzen und das Schwächegefühl, stetig sich 
verminderten, was sich objectiv durch die Verbesserung in den 
Bewegungen, im Stehen und Gehen kundgab und auch auf die 
GemUthsstimmung der Kranken einen unverkennbar günstigen 
Einfluss ausübte. Ich bin weit davon entfernt, diese Besserung 
etwa auf die therapeutische Behandlung, auf die Darreichung 
von Thyraden oder Oophorin, zu schieben. Ein einziger Fall 
würde schon an und für sich nicht viel beweisen, dann aber 
halte ich auf Grund der anderweitigen Erfahrungen die Ver¬ 
besserung der hygienischen Verhältnisse für viel wichtiger. 
Zweifellos befand sich die Patientin in der Charite in viel günstigeren 
Ernährungs- und sonstigen hygienischen Verhältnissen, zumal in 
Bezug auf den Schlafraum und die Wohnung, als in ihrer 
Heimatb. Wie wichtig die hygienischen Verhältnisse für die 
Besserung und Heilung der Osteomalacie sind, das haben ja 
namentlich die ausserordentlich dankenswerten Beobachtungen 
des älteren Winkel gezeigt, der es durch seine unausgesetzten 
Bemühungen um die Verbesserung der hygienischen Verhältnisse 
in seinem Wirkungskreis, in Gummersbach und der weiteren 
Umgebung, dahin gebracht hat, dass die früher dort endemische 
Osteomalacie jetzt zu einer verhältnissmässig seltenen Krankheit 
geworden ist. 

Die Besserung, trotz abnehmenden Körpergewichts, wird 
noch auffallender, wenn man die StoftWechselveränderungen 
näher in's Auge fasst. Denn die Kranke gab während der 
organotherapeutischen Behandlung mehr Stickstoff aus, verlor 
also an Fleisch, und, was noch bemerkenswerter ist, die Kalk¬ 
abgabe nahm während der ganzen Zeit der fortschreitenden 
Besserung nicht ab, sondern nahm sogar in der letzten, der 
Oophorinperiode, sehr erheblich zu. Die Kalkausfuhr im 
Koth und Harn zusammen (denn der Harnkalk allein giebt, 
wie ich vorher schon bemerkt habe, keinen genügenden Auf¬ 
schluss) betrug in I 1,539 gr, II 1,463, IV 2,194. Eine ähnliche, 
allerdings nicht ganz beweisende Beobachtung machte Fehling, 
indem er 14 Tage nach der Porro-Operation bei erheblicher 
Besserung des Befindens die Kalkausfuhr im Ham doppelt so 
hoch fand, als vorher (bei gleicher Ernährung)! Leider ist 
aber hier der Kalkgehalt der Fäces nicht bestimmt, auf den es doch 
besonders ankommt. S. Neumann (s. oben), der den Kalk im 
Ham und Koth bestimmte, fand bei fortschreitender Krankheit 
die Menge desselben nicht wesentlich verändert, dagegen in der 
Besserung vermindert. In der ersten Periode wurde etwas 
weniger von dem mit der Nahrung eingefUhrten Kalk zurück- 
behalten, als in der zweiten, doch aber wurde in dieser zweiten 
Periode, in der Besserung, im Verhältniss zur Zufuhr von Kalk 
mehr ausgeschieden, als vorher. Noch liegt eine Angabe von 
v. Limb eck (s. oben) vor, wonach bei fortschreitender Osteo¬ 
malacie täglich nur etwa die Hälfte des eingefUhrten Kalks im 
Ham und Koth wieder erschien, nämlich von 2,9649 gr nur 
1,412 gr. 

Die Ausfuhr der Phosphor säure im Ham ging in unserer 


Beobachtung hier derjenigen des Kalks einigermaassen parallel, 
sie nahm auch im Ganzen zu, am meisten allerdings während 
der Thyradenperiode, während die höchste Kalkausfuhr in die 
Oophorinperiode fiel. S. Neumann fand die Phosphorsäure¬ 
ausfuhr im Ham und Koth während der Verschlimmerung ausser¬ 
ordentlich hoch, sehr viel höher als in der Nahrung, nämlich 
in 7 Tagen 43,46 gr Ausfuhr bei 27,28 Zufuhr, dagegen in der 
Besserung sehr viel niedriger, nämlich bezw. 15,45 und 29,93 gr. 
Aehnlich verhielt sich in seiner Beobachtung die Magnesia. 

Jedenfalls geht aus unserer Beobachtung hervor, dass auch 
ohne Abnahme der Kalkausfuhr eine Besserung der 
Osteomalacie eintreten kann. Dadurch ist das Räthsel der 
Krankheit natürlich statt leichter eher schwieriger geworden. 
Nur soviel ist klar, dass die Auflösung der Knochensalze nicht 
das ganze Wesen der Krankheit ausmachen kann, und dass viel¬ 
mehr, wie in neuerer Zeit immer mehr anerkannt wird, die 
Osteomalacie eine allgemeine Stoffwechselerkrankung ist, von 
welcher die Knochenerweichung nur ein für uns charakterisches 
Symptom bildet. Dass z. B. auch die Muskeln in hervorragender 
Weise an der Erkrankung betheiligt sind, darauf haben schon 
Friedberg 1 ) und Friedreich 3 ) hingewiesen und auf die Be¬ 
theiligung des Nervensystems M. Koppen 3 ). 

Die auffallende Zunahme der Kalkausfuhr zumal in der 
Oophorinperiode legte den Verdacht nahe, dass vielleicht das 
Präparat selbst reich an Kalk wäre, indess haben wir uns 
durch Untersuchung der Oophoriontabletten überzeugt, dass sie 
eine kaum nachweisbare Spur Kalk enthielten. Aber auch das 
sonstige Verhalten der Ilambestandtheile, des Stickstoffs und 
der Phosphorsäure sprach gegen eine einseitige, etwa von der 
Kranken heimlich in’s Werk gesetzte Zufuhr irgend eines Kalk¬ 
präparates, abgesehen davon, dass kein ersichtlicher Grund dazu 
für die Kranke vorlag nnd sie, wenngleich sie nicht unter stren¬ 
ger Clausur stand, doch die ganze Zeit ihres Aufenthalts hindurch 
nicht ohne Beobachtung blieb. 

Eher hätte man die Zunahme der genannten festen Harn- 
bestandtheile auf die Steigerung der Diurese schieben, d. h. als 
eine Folge der besseren Ausspülung des Körpers betrachten 
können, allein dazu war die Zunahme doch zu gross. Die Wir¬ 
kungen der stärkeren Durchspülung des Körpers und der stärke¬ 
ren Hamfluth, die wir sonst kennen, reichen bei Weitem nicht 
an die hier beobachteten Veränderungen hinan. 

Dagegen zeigen die hier beobachteten Stoffwechselverände¬ 
rungen eine überraschende Aehnlichkeit mit den während des 
Hungcrns (bei ungehinderter Wasserzufuhr) beobachteten, wie sie 
in den Versuchen an Cetti und Breithaupt 4 ) und Succi’) 
sich zu erkennen gaben. Namentlich, was uns hier ja besonders 
interessirt, der Phosphat- und speciell der Kalkstoffwechsel 
verhalten sich danach im Hunger so, wie bei unserer nicht hun¬ 
gernden Patientin unter dem Einfluss des Thyradens und Oophorins. 
Hier wie dort findet eine Abschmelzung von Knochen¬ 
substanz statt. Cetti namentlich schied in den ersten vier 
Hungertagen durclmittlich mehr und am 9 Hungertage noch 
eben so viel CaO aus, als am letzten Esstage und ähnlich ver¬ 
hält es sich mit der P 2 0 5 . 

Dass auch eine starke Abschmelzung stickstoffhaltigen 
Körpermaterials bei unserer Patientin, ebenso wie im Hunger 
stattfand, lehren die mitgetlieilten Zahlen ohne Weiteres, ein 

1) Pathologie und Therapie der Muskellähmung. Weimar 1858 
S. 275. 

2) Ueber progressive Muskelatrophie etc. Berlin 1893. S. 346. 

3) Areh. f. Psychiatrie, XXII, 1891, S. 739. 

4) S. Virchow’s Archiv, Bd. 131, Suppl. 

5) Luciani, Das Hungern. Uebers. von M. O. Frankel. Ham¬ 
burg und Leipzig 1890. 


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144 


No. 7. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Unterschied besteht nur darin, dass unsere Patientin bei der 
fortdauernden Zufuhr von N in der Nahrung bei dem Gebrauch 
jener Präparate absolut mehr N ausschied, als vorher, während 
es beim Hunger umgekehrt ist. Beim Kalk, dessen Zufuhr in 
der Nahrung schon sehr gering ist, kommt dieser Unterschied 
nicht so zum Ausdruck'). 

Dass vermehrte Stickstoff ausscheidung als Ausdruck einer 
gesteigerten Eiweisszersetzung, dass ferner auch Vermehrung der 
Alloxurkörper im Ham und Steigerung der Diurese Folgen 
der Zufuhr von Schilddrüse oder Sehilddrüsenpräparaten 
sind, haben die zahlreichen der Neuzeit angehörigen Untersu¬ 
chungen darüber dargethan. Ueber das Verhalten der Kalk- 
ausscheidung dabei waren bisher, meines Wissens, keine An¬ 
gaben gemacht worden. Die oben angeführten Untersuchungen 
mit Thyraden zeigen, dass auch sie dadurch gesteigert wird, 
oder wenigstens gesteigert werden kann. Vielleicht ist die einige 
Mal nach Zufuhr von Sehilddrüsenpräparaten beobachteten Stei¬ 
gerung der P 2 0 5 -Ausscheidung auch theilweise auf eine gestei¬ 
gerte Abschmelzung der Knochen zu beziehen. 

Vom Oophorin, überhaupt von Eierstockspräparaten 
waren derartige Einwirkungen auf den Stoffwechsel bisher nicht 
bekannt, wohl deshalb, weil bisher Untersuchungen darüber nicht 
angestellt sind. Nur die von L. Landau angegebene günstige 
Beeinflussung gewisser nervöser Beschwerden im Climacterium 
ist mehrfach bestätigt und auch ich kann mich auf Grund eige¬ 
ner Erfahrungen dieser Empfehlung durchaus anschliessen, ob¬ 
wohl ich mir bewusst bin, wie schwer die Beurtheilung thera¬ 
peutischer Eingriffe gerade bei derartigen Beschwerden ist. 

Die anderweitigen in dem obigen Fall beobachteten Wir¬ 
kungen des Oophorin, die Zunahme der Diurese, der Stickstoff¬ 
ausscheidung u. s. w. habe ich noch anderweitig geprüft: 

In verschiedenen Fällen von Wassersucht, in Folge von 
chronischer Nephritis, oder von nicht compensirten Herzfehlern 
und bei Ascites trat eine deutliche diuretische Wirkung nur 
einige Mal, am meisten in einem Falle chronischer Nephritis 
hervor, während das Mittel in anderen Fällen theils ganz ver¬ 
sagte, theils von zweifelhafter Wirkung war. 

Die vermehrte Stickstoffausscheidung nach dem Ge¬ 
brauch des Oophorins konnte ich in einigen darauf hin unter¬ 
suchten Fällen nachweisen, namentlich in 2 Fällen von Basedow¬ 
scher Krankheit, wo ich das Präparat aus nahe liegenden Gründen 
versuchsweise anw'andte — beiläufig ohne deutlichen objectiv 
erkennbaren Erfolg. Doch war die Steigerung der Stickstoff¬ 
ausscheidung nicht in allen Fällen gleich stark, ein Mal nur 
eben angedeutet; ein anderes Mal sehr beträchtlich. 

Die Kalkausscheidung in Harn und Koth war in dem 
einen Fall von M. Basedowii, wo darauf untersucht wurde, eben¬ 
falls, wie in dem oben mitgetheilten Fall, wenn auch nicht in 
so hohem Grade, gesteigert. 

Die Ausscheidung des Alloxurstickstoffes zeigte sich sehr 
wechselnd, wie das ja auch in anderen Fällen beobachtet ist 
und zum Theil wohl von den Mängeln der zu ihrem Nachweis 
dienenden Methode herrühren mag. — 

Ein abschliessendes Urtheil Uber die Stoffwechsel veränderungen, 
die das Oophorin, oder gar die Eierstockspräparate überhaupt her¬ 
vorbringen, zu gewinnen, dazu müssen selbstverständlich viel mehr 
Untersuchungen noch angestellt werden, möglichst von ver¬ 
schiedenen Seiten, wobei es auch darauf ankommen wird, ob 
die verschiedenen Präparate gleichwerthig sind und ob auch ein 
und dasselbe Präparat immer von derselben Zusammensetzung 


1) In Betreff der Phosphorsäure können wir den Vergleich mit dem 
Hungern nicht machen, da wir deren Ausfuhr im Koth nicht berück¬ 
sichtigt haben. 


oder Beschaffenheit ist. Immerhin scheint das von mir benutzte 
Oophorin eine den Sehilddrüsenpräparaten ähnliche, nur, viel¬ 
leicht mit Ausnahme des Kalkstoffwechsels, wohl etwas mildere 
Wirkung zu haben, was sich auch darin kundgab, dass es in 
allen meinen Beobachtungen (im Ganzen habe ich es in 18 Fällen 
einschliesslich der Fälle mit climacterischen Beschwerden an¬ 
gewandt) sehr gut vertragen wurde und keine jener üblen Neben¬ 
wirkungen (Herzklopfen. Pulsbeschleunigung, Albuminurie etc.) 
hatte, wie sie Schilddrüsenpräparate auch bei vorsichtigem Ge¬ 
brauch wohl zeigen. Auch die Toleranz für Zucker schien durch 
das Oophorin nicht herabgesetzt ‘zu werden, weder wurde da¬ 
durch eine alimentäre Glycosurie erzeugt, noch eine schon 
vorhandene gesteigert. 

Somit glaube, ich das Oophorin zu weiteren therapeutischen, 
wie experimentellen Untersuchungen empfehlen zu können. 


V. Kritiken und Referate. 

J. H. Baas: Die geschichtliche Entwickelung des ärztlichen 

Standes und der medicinischen Wissenschaften. Berlin 1896. 

Wreden. XI und 480 Seiten. 

Anstatt der allmählich banal gewordenen Wendung, mit der man 
öfters freundliche Besprechungen schliesst: „dasB dies Buch in keiner 
Bibliothek fehlen sollte“, beginne ich damit, zu sagen, jeder Arzt, der 
etwas auf seinen Stand hält, sollte sich mit vorliegender Darstellung der 
„geschichtlichen Entwickelung“ dieses Standes vertraut machen. Er wird 
dann einen würdigen und erhebenden Begriff von der Rolle, die »ein 
Stand in der Geschichte der Menschheit gespielt hat, bekommen, ein er¬ 
hebendes Gefühl dafür, dass kein Schritt von dem Menschengeist gemacht 
wurde ohne Mitwirkung der Naturforscher und Aerzte, dass dies um so 
ausgedehnter der Fall war, je mächtiger jene Schritte wurden, und dass 
deshalb in Zukunft unser Antheil an der Geschichte des Menschen immer 
maassgebender werden muss. 

Wenn der Mann der Wissenschaft und der Praxis nach der Last 
des Tages auch einmal ein Ruhen auf diesen Lorbeeren seines Standes 
sich gönnen soll, so wird er es um so lieber thun, wo es ihm, wie hier, 
in der angenehmen Form einer geradezu interessanten, oft pikanten 
Unterhaltung ermöglicht wird, welche der umfassenden allgemeinen Bil¬ 
dung und erstaunlichen Beherrschung nicht bloss der medicinischen, son¬ 
dern der gesammten Geschichte und Literatur seitens des Verfassers wie 
spielend gelingt. Nur mässig ward stellenweise dieser Genuss getrübt 
durch eine starke Schachtelung von Sätzen mit übertriebener Anwendung 
von Klammern, womit — manchmal, wie wir uns durch probeweise Auf¬ 
lösung der Sätze überzeugten, ohne unbedingte Nöthigung — nach ge¬ 
drängter Fülle in knapper Kürze gestrebt wurde ‘). 

Der leise Schatten verschwindet den packenden Bildern gegenüber, 
die in allen wichtigen Epochen die Darstellung der jeweiligen Lage der 
Bevölkerung und ihrer geistigen Verfassung und der damit innig ver¬ 
webten Herausbildung der ärztlichen und Natur-WissenBchaften liefert. 
Nach den interessanten Hypothesen über den Urzustand, an der Hand 
der Reiseberichte über die jetzige Medicin bei den rohen Völkerschaften, 
die man sich noch in jenem Zustand denken kann, nach dem Vorüber- 
streifen an den Nebenvölkern — welch’ glänzende Darstellung des grie¬ 
chischen Geistes, der uns aus vorderasiatischen, egyptischen, vielleicht 
auch altindischen Anfängen den zwei Jahrtausende vorhaltenden Unter¬ 
bau zur Weltmedicin lieferte! Ans der Masse des lebendig vor uns tre¬ 
tenden Volkes beginnt dann hier, in für das ganze Buch charakteristischer 
Weise, die Hauptpersönlichkeit dieser Epoche sich hervorzuheben, als 
tragende Säule oder vielmehr als Typus für sein Zeitalter und dessen 
erreichte Höhe, Hippokrates II., der Grosse. Er führt aus der reli¬ 
giösen und mystischen Medicin die Aerzte zu der Erkenntniss, dass „ein 
Jedes natürlich zugeht“ und „diese befreiende That gehört ihm und den 
Griechen allein“, so sehr sie auch im Uebrigen jetzt mehr, als man 
früher gewohnt war, mit Recht auf die 8chultern ihrer Vorgänger ge¬ 
stellt werden. 

In ähnlicher Weise ziehen in schwächeren, wie in bedeutungs¬ 
volleren Phasen der Geschichte die Träger derselben, die zweiten Rangs 
um diejenigen, welche der ganzen Periode ihren Stempel aufdrücken, 
gruppirt, an uns vorüber, nach dem klassischen des Hippokrates das 
erste und dann das zweite alexandrinische (griechisch-römische) Zeitalter, 
in dem der eklektische Polyhistor und realistische (anatomisch-physiolo¬ 
gische) Beobachter G alen als geistiger Herrscher für lange Jahrhunderte 
aufsteigt — vor, neben und nach ihm die Asklepiaden Celsus, Dios- 
korides, Aretaios, und meine persönliche Schwärmerei: Soranos. 
ferner der Sarde Oreibasios, der mit seinem Sammelwerk das Alter- 


1) Dem Bedürfnis nach eingehenderer Belehrung über Einzelheiten 
kommt des Verfassers „Grundriss der Geschichte der Medicin“, Stuttgart 
1876, und dessen zweite (englische) Ausgabe nach. 


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15. Februar 1807 


IlEKMtfKR KLINISCHE WOCHENSCHRIFT 


145 


tbum abschliesst. An diesen letzten Aehrenleser sehliesst sich das ganze 
retrospective Mittelalter, das von den Früheren lernt, um das Gelernte in 
Uebersetzung und Auslegung weiter zu lehren, den Zeitgenossen und Nach¬ 
folgern, sei es in den Büchern der Araber, sei es in den Klöstern und 
nachher in den aufblühenden Hochschulen Italiens und Stidfrankreiclis. 
Auch dieser diirrestcn Zeit der wissenschaftlichen Entwickelang weiss 
das Buch dankenswertesten Stoff für den Leser zu entringen, indem es 
wie in jeder früheren und späteren, mit besonderem Eingehen auf die 
feinsten Einzelheiten eine anschauliche Schilderung giebt des allgemeinen 
(ich gestehe, dass ich dabei auf S. 128 selbst gelernt habe, was „trivial“ 
ursprünglich bedeutet) und medicinischen Unterrichts, der Verhältnisse 
der Aerzte und ärztlichen Praxis, einschl. Apotheker und sonstiges ärzt¬ 
liches Hülfspersonal — bis im 15. Jahrhundert die Scholastik abgelöst 
wird von dem Humanismus der Renaissance auch in der Medicin. Von 
den Bearbeitern der Alten zu den Alten zurückgekehrt, gelangt man auf 
diesem Weg wieder zu deren Vorbild: der Natur, dem wahren Object 
unserer Wissenschaft. 

In das nun anhebende kritische, beobachtende 16. Jahrhundert führt 
uns eine vorzügliche Einleitung, die in reichen and satten Farben zeigt, 
wie das Thun and Treiben der Völker, angeregt durch die Entdeckung 
der Buchdruckerkunst und der zweiten Erdhälfte, auf allen Gebieten 
sieh belebt, das Geistesleben dann unter der befreienden Wirkung der 
Reformation nnd des kopernikanischen Weltsystems, ebenso wie durch 
den Uebergang des Unterrichts in die Hände der weltlichen Macht, sich 
in selbstständiger Weise zu belhätigen anfängt. „Die Studien blühen, 
die Geister erwachen.“ „Die Medicin .... ward .... zum zweiten 
Male eine exoterische und freie. Dazu trug schon die erste neuzeitliche 
Theorie das Ihrige bei.“ 

In diesem letzten Satz liegt der Grund für die hohe Werthschätzung, 
die Verf. dem Paracelsus angedeihen lässt, und die vielleicht sonst 
durch den sachlichen Inhalt der, selbst an neuere populäre Marktschreier 
(Kneipp und Consorten) erinnernden, Lehre und Art desselben nicht 
völlig gerechtfertigt ist. Theophrast Bombast von Hohenheim ist 
ihm der Grundstein des neuen selbstständigen Denkens in der Medicin. 
Ja mit seinen Sätzen: „Erfahrung ist Wissenschaft“ und „Perscrutaraini 
naturas rerum“ kann er in der That als der providentielle Mann gelten, 
der den Inhalt der Wissenschaft und den Weg, den sie zu gehen hat, 
nicht bloss vorausbezeichnete, sondern auch zuerst betrat. Und man 
mag zugeben, dass Baas den Angelpunkt richtig erkannt hat, wenn er 
ihn in diesem Manne sieht, dem er „Wider- und grössten Klarsinn, In¬ 
tuition und Thatkraft voll Boden- und Zeitgeruch“ zuschreibt und den 
er „fest gegründet in seines Volkes Art“ sieht, „eine echt deutsche Ge¬ 
stalt des grössten deutschen Jahrhunderts“. 

So werden wir über die Erscheinungen des Theophrast und 
Ambroise Pare’s hinweg in das 17. Jahrhundert geführt, in welchem 
jene Einkehr zur Beobachtung, zur Natur, den gewaltigen Ausbruch von 
Entdeckungen auf allen Gebieten der Naturwissenschaft bringt, in deren 
Mitte Harvey mit dem Blutkreislauf und der Entwickelung des thieri- 
schen Lebens steht, wo die auf anatomischer und experimenteller Grund¬ 
lage neugeschaffene Physiologie, die von dem grossen Deutschen Kepler, 
dem Italiener Galilei ausgehende, dem „englischen Genossen beider“, 
Newton, weitergebildete Optik und Physik, das Mikroskop des hollän¬ 
dischen Jansen ihren Triumphzug in der Naturwissenschaft beginnen. 
Schon in diesem Jahrhundert ist es nicht mehr möglich die vielen 
Grossen neben den Grössten in ihrem Zusammenhang mit dem Fortgang 
der Wissenschaft zu betrachten, noch viel weniger, wenn vom folgenden 
Jahrhundert ab der Strom sich immer breiter fort ergiesst. 

Breiter wird er in den Anstalten des Unterrichts in der Masse von 
Schülern und Lehrern, deren Thun und Treiben sich wieder im Buche 
vor unseren Augen entwickelt, verbreitert noch djirch den beginnenden 
praktisch-klinischen Unterricht, der, nachdem er schon Mitte des vorigen 
Jahrhunderts in poliklinischer Form in Leyden begonnen hatte, zuerst 
1754 durch van Swieten in Wien in stationärer Klinik eingeführt 
wurde. Neben dem klinischen war die Entwickelung des anatomischen 
Unterrichts und der normalen, wie pathologischen Anatomie ein Charak- 
teristicum der beobachtenden Medicin dieses Jahrhunderts, Fortschritte 
mit sich führend, deren Benutzung die französische Chirurgie ihren allen 
anderen vorausgehenden Aufschwung und ihre frühzeitige Befreiung von 
der stumpfsinnigen Missachtung seitens medicinischer Perrücken verdankt. 
So heben sich denn aus der Darstellung dieses Zeitabschnittes über so 
viele bedeutende Mitarbeiter als überragende Grössen besonders diejeni¬ 
gen Männer heraus, die ihre Schlüsse auf die schärfsten und allseitigsten 
Beobachtungen des Objectes der Krankheiten, des menschlichen Körpers 
und seiner Veränderungen, stützen, Bichat, Morgagni am Todten, 
Auenbrugger am Lebenden, an den sich in unserem Jahrhundert 
Corvisart, Laennec, Skoda reihen, während jenen Rokitansky 
folgte und Schwann-Virchow durch Hinausführung der Beobachtung 
auf die Zelle einen dauernden Abschluss gaben. Denn die Einbildung, 
dass die Antitoxine im Blut einen humoralpathologischen Umsturz dieser 
Lehre herbeiführen, wird durch die einfache Ueberlegung zunichte ge¬ 
macht, dass diese im Blutstrora gelösten Stoffe sicher von Zellen des 
Körpers herrühren, die den angreifenden Zellen der, Krankheitsgifte pro- 
ducirenden, Mikroorganismen durch Erzeugung jener Gegengifte antworten. 

Mit dem Hinweis auf die Lehre vom Kampf der von aussen ein¬ 
dringenden Zellen gegen die des Körpers, als festgestelltes Wesen bereits 
eines grossen Theils der Krankheiten, nnd einem kurzen Blick auf das 
Kind unseres Jahrhunderts, die Hygiene, sehliesst das Buch. Wir hätten 
uns noch Mancherlei notirt, müssen es aber mit Rücksicht auf den 


Raum unterdrücken, uns auf das Wichtigste beschränkend: Wir hätten 
gewünscht oder vielmehr wir wünschen noch, dass der Verf. die grosse 
Kraft, die er auf die früheren Jahrhunderte unserer Wissenschaft ver¬ 
wandt, noch einmal zusammennehme, um der Darstellung der Vergangen¬ 
heit eine ebenbürtige Darstellung, die die Gegenwart bearbeitet, folgen 
zu lassen. Die vereinzelten Strahlen, die er in unser Jahrhundert 
hineinschiessen lässt, machen das um so weniger überflüssig, als sie 
manchmal fehl gehen, in weniger Wesentlichem, indem sie z. B. den 
Streit über Einheit oder Dualismus in der Syphilis durch Auffinden der 
Tripperkokken und Syphilisbacillen für gelöst erklären, welche letztere 
keine sind und erstere nicht zur eigentlichen Syphilis gehören. In 
Wesentlicherem, indem sie in der Antitoxintherapie den Gipfel der The¬ 
rapie unseres Jahrhunderts erkennen lassen, der aber jetzt am Ende des 
Jahrhunderts noch keine nach allen Seiten gesicherte Basis hat, während 
thatsächlich die diätetische, mechanische und örtliche Therapie, die Be¬ 
handlung der Organe und Systeme mit ihren durch scharfe Untersuchung 
und hochgesteigerte Technik errungenen und gesicherten Erfolgen die 
zweite Hälfte unseres Jahrhunderts ausfüllt und ihr dauernden Nachmhm 
sichern wird. 

Doch diese Bemerkung trifft unser Buch kaum, da es in der Haupt¬ 
sache davor abschliesst, vorher aber ein so markiges und stolzes Bild 
von der Rolle giebt, die unsere Wissenschaft in der Welt gespielt hat, 
mit einem ebenso interessanten und fortwährend anregenden Bild von 
dieser Welt selbst, dass man wirklich annehmen darf, es werde viel 
und andauernd gelesen werden. Was es dann von dem innigen Zusam¬ 
menhang lehrt, den die Medicin mit allen bedeutenden Leistungen des 
menschlichen Geistes gehabt hat, und den sie und die Naturwissen¬ 
schaften ferner werden haben müssen, wird vielleicht manchem Bestreben 
ein neuer Sporn sein, die Wissenschaft von der normalen und abnormen 
Natur der Menschen und Dinge zu dem Einfluss zu bringen, den diese 
in beschämendster Weise eben nicht hat. Wie wir in der Aufsicht über 
Einrichtungen des Lebens, um die zur Zeit ein politischer Kampf spielt, 
die naturwissenschaftlichen und ärztlichen Kenner des Lebens fast nicht 
vertreten sehen, so finden wir die technischen Sachkundigen in den 
meisten Zweigen der Staatsverwaltung noch auf den wenig mögenden 
Posten der Rathgeber zurückgedrängt, die Aerzte in der Gesundheits¬ 
pflege in einem ärmlichen und leistungsunfähigen Nebenamt, dagegen die 
Vertreter formaler Wissenschaft an den leitenden Stellen. Wenn ge¬ 
schichtliche Werke, wie unseres, mit ihrer glücklichen Anlage es ver¬ 
mögen, sich ein anhängliches Publicum zu schaffen, so können auch sie 
ein starker indirekter Antrieb zur bessernden Umformung werden. 

Biedert. 


Boden, Karl: Ein Fall von Spontan-Hellung einer Blasen-Schei- 
den-Fistel. Nebst Zusammenstellung von 235 spontangeheilten 
Harn-Genital-Darm-Fisteln des Weibes. (Inaug.-Dissert.), Jena 1896. 

Nach Anführung der verschiedensten Autoren und ihrer Ansichten 
über die Möglichkeit einer Spontanheilung derartiger Fisteln schildert 
Verf. seinen Fall aus der Schnitze'sehen Klinik in Jena. Es bandelte 
sich um eine Ipara mit engem Becken, die nach 2 tägiger Geburtsdauer 
mit der Zange entbunden war, und bei der eine etwa 6 Tage p. part. 
entstandene Blasen-Scheiden-Fistel nach 2 monatlichem Bestehen spontan 
heilte. Daran sehliesst sich eine Zusammenstellung von 235 spontan- 
geheilten Fisteln der verschiedensten Genres aus der gesammten inter¬ 
nationalen Litteratur vom Jahre 1691 — 1895. 

Von diesen 235 Fällen — für 43 sind keinerlei Angaben über Ent¬ 
stehung zu finden gewesen — sind 138 auf puerperaler Basis entstanden. 
Mit dem Ausdruck „puerperaler Grundlage“ will der Verf. Bagen, dass 
die Entstehung in irgend einem Zusammenhang mit Schwangerschafts-, 
Geburts- oder Wochenbettsvorgängen steht. 

Die Fisteln entstanden in 51 Fällen bei spontanen Geburten und 
in 79 Fällen in theils manuell — theils instrumentell — besonders 
Zange — beendeten Geburten — ein gewiss beraerkenswerther Procent¬ 
satz. Verf. wendet sich dann der Aetiologie der puerperalen Fisteln zu 
und stellt hier gleichfalls die Ansichten der verschiedensten Autoren zu¬ 
sammen. Für 55 Fisteln findet Verf. als Grund „nicht puerperale Vor¬ 
gänge“, unter welchen Blasensteine, Operationscomplicationen, Pessare, 
Unfälle, Entzündungen mit Eiterbildungen im Nachbargewebe, Masturbation, 
Nothzucht zu nennen sind. Von zur Heilung angewandten therap. Mass- 
regeln — wenn solche überhaupt vorgenommen wurden — hat Verf. 
Dauerkatheter, Ausspülungen, Tamponade, Beförderung des Stuhlganges, 
zweckdienliche Lagerung der Pat. finden können. 

Bei der Heilung legten sich fast in allen Fällen die Fistelränder 
aneinander. Nur selteu, in 11 Fällen wurden die Nachbarorgane hierzu 
in Mitleidenschaft gezogen. Complicationen mit Schwangerschaft, an¬ 
deren Fisteln, parametritischen Exsudaten etc. bestanden in 55 Fällen. 
Verf. kommt unter Hinweis auf die in der Einleitung gesammelten Aus¬ 
sprüche namhafter Autoren und auf Grund seines Falles, sowie der zu¬ 
sammengestellten Casuistik zu dem Schlüsse, dass die Spontanheilung der 
Fisteln durchaus nicht selten ist, dass indessen der Vollzug der Spontan¬ 
heilung sich ganz nach der Ursache, Lage der Fistel, der Richtung ihrer 
Durchmesser, Spannung der Ränder, Dicke derselben, Grösse und Alter, 
eventuell bestehende Complicationen richtet und dass das Alter, die 
Constitution und der ganze übrige Gesundheitszustand der Kranken wie 
bei jeder Wundheilung nicht ausser Acht gelassen werden darf. 

Die Einzelheiten sind in der überaus fleissigen und übersichtlichen 
Arbeit nachzulescn. Schiller. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 7. 


VL Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. 

Berliner medicinlsche Gesellschaft. 

Sitzung vom 3. Februar 1897. 

Vorsitzender: Herr Virchow. 

Schriftführer: Herr Landau. 

Vorsitzender: In der letzten Sitzung der Aufnahmecommission 
am 20. Januar sind folgende Herren in die Gesellschaft aufgenommen: 
DDr. Bruck, von Chlapowski, Firgau, Karl Frentzel, Freu¬ 
denstein, Gallinek, Ilaase, Hurwitz, Julius Jacobsohn, 
Lesse, Petersen (Physikus), Stabei, Taendler, Wittstock, 
Wohlauer und Ziffer. 

1. Stichwahl eines Mitgliedes für den Ausschuss. 

Vorsitzender: Die Wahl, welche in der letzten Sitzung nicht 
ganz zu Ende geführt werden konnte, ist durch die Herren 8timmzähler 
so weit festgestellt worden, dass von den Anwesenden 84 Stimmen ab¬ 
abgegeben Bind, darunter 79 gütige und 5 ungültige. Die Majorität 
haben erlangt die Herren Jolly, Selberg, Fürbringer, Sieg¬ 
mund, Gerhardt, B. Fraenkel, Liebreich und Friedrich 
Körte, welche also gewählt sind. Dagegen haben die beiden nächsten 
Herren, nämlich Herr Prof. König und Herr Gcheimrath v. Leyden, 
je 35 Stimmen erhalten. Zwischen diesen beiden wird also eine Stich¬ 
wahl stattzufinden haben. 

Dieselbe wird vorgenommen. Sie liefert folgendes Ergebniss: Es 
sind abgegeben worden 82 Stimmen, darunter 2 ungiltige. Die absolute 
Majorität wäre 42. Es hat erhalten Herr König 60 Stimmen; er ist 
somit gewählt. 

Zur Aufnahme sind vorgeschlagen die Herren DDr. Alexander 
Heymann, Alexander Wolff und Adolf Schaper. 

Als Gäste sind anwesend Herr Dr. 8mins aus Riga und Fr. Dr. 
Sophia Levysohn aus New York. Ich heisse dieselben freundlich 
willkommen. 

Hr. Simons: Mechanische Intranterintheraple. (Erscheint in 
extenso an anderer Stelle.) 

Es soll in Kürze über 2jährige Erfahrungen berichtet werden, die 
Redner als Assistent der Dr. Czempin'sehen Privatklinik mit der 
mechanischen Innengebärmutterbehandlung gemacht hat. Zu Unrecht ist 
diese Methode so gut wie ganz in Bann gethan worden, da sich mit ihr 
nach mehreren Seiten hin günstige Erfolge erzielen lassen. 

Unter obiger Ueberschrift soll ad hoc verstanden sein die metho¬ 
dische Sondirung und die Stifttherapie. Im Allgemeinen besteht zwischen 
der Wirkungsweise beider Instrumente kein principieller, sondern nur 
ein gradueller Unterschied, so zwar, dass der Stift in dem bald zu er¬ 
örternden Sinne intensiver wirkt als die Sonde. In den Bereich der 
Behandlung wurden 3 Gruppen von Anomalien gezogen: 1. Entwicke¬ 
lungshemmungen des Uterus; 2. Atrophien desselben; 3. die unter den 
Namen „Col tapiroide“ oder „posthorntörmige Knickung“ der Gebär¬ 
mutter bekannte Anteflexion des Organes. 

Bei den ersten beiden Gruppen soll es sich in Abweichung von den 
älteren auf diesem Gebiete hervorgetretenen Autoren um eine durch die 
eingeführten Instrumente bewirkte wirkliche Massage des Gebärrautter- 
innern handeln, in geeigneten Fällen mit leichter manueller äusserer 
Massage des Fundus verbunden. Das hypoplastische oder atrophische 
Organ soll durch den Reiz eines eingeführten Fremdkörpers zu frischem 
Turgor, zu gesteigertem Stoffwechsel gleichsam aufgerüttelt werden. Es 
geschieht dies, von den durch jedweden in das Uterusinnere gebrachten 
Fremdkörper verursachten wehenartigen, rythraischen Contractionen ab¬ 
gesehen, vermittels einer reflectorischen Wirkung anf vasomotorische 
Centren und auf diese Weise gesteigerte Blutcongestion zu der Gebär¬ 
mutter. Ausserdem kommt aber wohl eine directe oder in- 
directe Beeinflussung sensibler Bahnen in Betracht, die sich 
geltend macht in der Richtung gegen eine, bei jenen Zuständen beinahe 
stets vorhandene Gruppe von „secundären“ Symptomen: vom Uterus 
nach Kreuz und Oberschenkel ausstrahlende Schmerzen, Druck- und 
Schweregefühl im Unterleib, allgemein nervöse Beschwerden, psychische 
Depression. Endlich ist die Wirkungsweise in manchen Fällen rein 
suggestiv. Suggestive Therapie ist unter Umständen voll berechtigt. 
Die Hauptsymptome bei allen hier in Betracht kommenden Zuständen 
sind: Amenorrhoe, Dysmenorrhoe, Sterilität. 

Bei den Gebärmutterentwickelungshemmungcn, deren Nomenclatur 
übrigens eine leider ganz verworrene ist, sind, soweit sie hier in Be¬ 
tracht kommen, zwei principiell verschiedene Arten auseinander zu 
halten: a) Uterus infantilis. Das Organ hat seine fötale Form, lange, 
derbe Cervix und dünnwandiges, kleines Corpus, beibehalten. Der Zu¬ 
stand an sich ist unheilbar, besonders wenn die Chlorose mit Hypoplasie 
der grossen Gefässe complicirt ist. Gegen die vorhin charaktcrisirten 
„secundären“ Symptome aber ist auch in diesen Fällen, wenn die Hypo¬ 
plasie des Organes nicht zu hochgradig, d. h. der Uterus nicht unter 
4 1 , 2 —5cm lang ist, methodische Sondirung zu versuchen, b) Uterus 
aplasticus oder puber. Aplasia uteri. Das Organ stellt eine 
normale, geschleclitsreife Gebärmutter en miniature dar, indem es bis 
zum Pubertätsalter in ordentlicher Weise fortgewachsen, dann aber in 
der Entwickelung stehen geblieben ist. 

Die Fälle der Gruppe b) sind relativ häufig. Bei den chlorotisehcn 
jungen Mädchen, die an Amenorrhoe oder Dysmenorrhoe leiden, findet 


man sehr oft ein auffallendes Missverhältniss zwischen der Grösse des 
apiastischen Uterus und derjenigen der Ovarien, die dabei nämlich nor¬ 
mal oder gar übernormal sein können. Dann sind die dysmenorrhoischen 
Beschwerden resp. die periodischen Schmerzen bei der Amenorrhoe be¬ 
sonders stark. In solchen Fällen genügt 3—4maliges Sondiren in der 
Woche vor dem betreffenden Termine mit leichter äusserer Massage des 
Fundus. Bei Aplasia uteri empfiehlt es sich, um eine 8tenosis canalis 
cervicis oder das häufigere durch die in ihrer fötalen Ueppigkeit er¬ 
halten gebliebenen Falten des „Arbor vitae“ gegebene Hinderniss za 
überwinden, bei der Sondirung die Portio anzuhaken. Man kann in 
Analogie mit einer von Rbinologen (Ewer, Loewenstein) gegen ent¬ 
zündliche Zustände der Nasenschleimhaut (auch Rhinitis atrophicans) an¬ 
gegebenen Methode Zitterbewegungen mit der Sonde ausfübren, am besten 
in der von Thure Brand angegebenen Weise, dass das Handgelenk 
steif gehalten wird und mit der Oberarmrauskulatnr tetanische Be¬ 
wegungen erfolgen. 

Der Stift wurde am bequemsten so eingefübrt, dass die Portio mit 
einer Hakenzange so weit wie möglich abwärts gezogen und dann der 
Stift mit der Hand eingelegt wurde. Er wird dabei oft vom Uten» 
aspirirt. Die hintere Innenwand der Gebärmutter ist nicht gefährdet, 
wenn nur der Zug an der Portio ein genügend starker ist und der Stift 
die richtige Länge hat. Diese soll 1 cm geringer Bein, als die mit der 
Sonde genau zu bestimmende Länge des Uterusinneren. Der Stift darf 
aber auch nicht zu kurz sein, damit er nicht mitsammt der „Platte“ in 
der Cervix verschwinde. Der Stift bleibt dauernd, Wochen, Monate 
hindurch liegen, auch während der Menstruation. 

Die physiologische Bewegung des Uterus darf durch den Stift nicht 
im Geringsten beeinträchtigt werden. Zur Stützung des Stiftes von der 
Scheide aus erwies sich das „Schalenpessar“ als nicht sonderlich ge¬ 
eignet, auch das vielfach erprobte „ Achter“pessar genügte nicht unseren 
Ansprüchen, in erster Linie gewährleistete es nicht die Freiheit der 
physiologischen Uterusbowegungen; es wurden deshalb Celluloidpessare 
verwendet, die im oberen Drittel mehrere Querstäbe aufwiesen, anf 
welchen ruhend, die Stiflplatte ln der Richtung der Frontalachse, wie 
der Sagittalachse des Körpers hin und her gleiten kann. Als Contra- 
indication für die Anwendung von Sonde und Stift haben aente nnd sub¬ 
acute Entzündungen des Uterus, sowie, allgemein ausgedrückt, Er¬ 
krankungen der Annexe und des breiten Mutterbanden zu gelten. Eine 
leichte chronische Parametritis kann nicht als eine stricte Contraindi- 
cation imponiren. Bei virginalen Verhältnissen ist natürlich stets der 
Stift, allermeist aber nicht die 8onde unmöglich. 

Zu den oben erwähnten Begleitsymptomen von Aplasia uteri kommen 
bei verheiratbeten Personen noch „Dyspareunia“ und „mangelnde Libido 
in coitu“ hinzu, Zustände, welche ebenfalls durch die mechanische Intra¬ 
uterintherapie in günstigem Sinne beeinflusst werden. Von den mit dem 
Stifte behandelten Atrophien seien hier besondere diejenigen hervor- 
gehoben, die aus einer schleichenden, chronischen indurirenden Metritis 
entstanden, sehr leicht das Bild einer Aplasie vortäuschen, zumal man 
sie bei ganz gesunden, blühenden Frauen antrifft. In der Aetiologie 
dieser Gebärmutteratrophie, resp. der secundär indurirenden Metritis 
scheinen Masturbation, sowie häufiger „Coitus interruptus“ eine Rolle 
zu spielen. 

Die Prognose, auch in Bezug auf den Erfolg unserer Methode ist 
günstiger bei Atrophien als bei der Aplasie. Interessant wäre die 
Beantwortung der Frage, ob ein von Hause aus aplastischer Uterus 
leichter als ein normaler Gefahr liefe, in der geschlechtsreifen Zeit io 
Atrophie zu verfallen, oder auch frühzeitiger als jener in das climac- 
terische Stadium eintrete. 

Bei der unter 3. erwähnten Gruppe von Fällen mit pathologischer 
Anteflexio kam der Stift in Anwendung lediglich unter dem alten Prin¬ 
cipe, die Falschkrümmnng des Uterus zu corrigiren, das Organ zu 
strecken. Die hier in Betracht kommende Art der Anteflexio uteri mit 
der konischen, lang ausgezogenen Portio (Col tapiroide) nnd dem 
fest darüber liegenden, meist hypertrophischen Corpus Ist relativ häafig 
(in der Czempin'sehen Poliklinik z. B. im ersten Halbjahre 1896 über 
1 pCt. aller Fälle). Die Beseitigung der bei dieser Anomalie regel¬ 
mässig auftretenden Beschwerden (Amenorrhoe, Dysmenorrhoe während 
der ganzen Dauer der Blutung anhaltend allgemeine Schmerzen, Ver¬ 
stimmung etc.) durch den Intrauterinstift war ausnahmslos eine schnelle 
und vollständige. In einzelnen Fällen tra'en allerdings nach Herausnahme 
des Stiftes mit der allmählich sich wieder ausbildenden spitzwinkeligen 
Vorwärtskrümmung, bald wieder den früheren ähnliche Beschwerden anf. 
In Richtung gegen die bei diesen Fällen constante Sterilität empfiehlt ea 
sich, zunächst eine Discission der Cervix zu machen (am besten 2 seit¬ 
liche Einschnitte und einen medianen in der hinteren Lippe), und einige 
Wochen später das Intrauterinpessar zu appliciren. 

In der zuletzt besprochenen Gruppe von Fällen waren die Erfolge 
unserer Methode ausgezeichnete, schwankend und nicht gleicbmässig gute 
waren sie bei den wichtigeren beiden ersten Classen von Anomalien- 
Aber gleichwohl dürfte besonders in der poliklinischen Praxis, in welcher 
man nicht einmal eine genügende allgemein roburirende Therapie in der 
Lage ist, durchzufiihren, eine nicht umständliche, local anzuwendende 
Methode willkommen und in jedem Falle eines Versuches werth »ein. 
In der Privatpraxis werden die Erfolge dieser Methode, da sie im Ver¬ 
ein mit den verschiedensten anderen therapeutischen Bestrebungen 
(Electrisiren, speciell Franklinisation, Allgemeinmassage, Orthopädie. 
Milchcnren, Radfahren etc.) zur Anwendung kommen kann, sicherlich 
noch bessere sein. 


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15. Februar 1807. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


147 


Hr. E. Virchow: Ich möchte nur eine kleine Bemerkung in Bezug 
auf die Terminologie des Herrn Vorredners machen. Er hat wiederholt 
von einem Col tapiroYde gesprochen. Auch ich habe mich einmal damit 
beschäftigt') und glaube da gefunden zu haben, dass das mit Knickungen 
an sich gar nichts zu thun hat, vorausgesetzt, dass man das Wort in 
dem 8inne nimmt, wie es von Ri cord erfunden worden ist, wo doch 
eine Art von Rüsselbildung am Uterushalse bezeichnet werden sollte, 
die eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Rüssel eines Tapirs darbietet. 
Derartige Dinge sind uach unserem gewöhnlichen Sprachgebrauch Po¬ 
lypen, man könnte sagen rüssel förrai ge Polypen. Ich habe nicht 
den mindesten Zweifel, dass die Fälle, die schon vor mir beschrieben 
worden sind und diejenigen, die ich selber beschrieben habe, wirkliche 
Neubildungen waren, aus der Wand des Uterus hervorgewachsen, und 
zwar von der inneren Fläche der Portio. Dass das an sich etwas mit 
Knickung zu thun hat, bezweifle ich. Ich will nicht leugnen, dass es 
mit Knickungen zusammen Vorkommen mag, oder dass es sogar eine 
Knickung begünstigt. Aber dass die Knickung selber weder eine Tapir¬ 
form hervorbringt, noch die Tapirforra eine Knickung, das halte ich für 
ganz ausgemacht. Das Wesentliche ist dabei nach meiner Meinung, 
dass die innere Fläche der Portio, in erster Linie die Schleimhautfläche 
mit der ganzen Eigenthümlichkeit ihrer Bildung, mit allen den Krypten 
und Lacunen und Hervorragungen, die sie besitzt, sich auf der inneren 
Seite des Polypen wieder findet. Dadurch eben entsteht der eigentüm¬ 
liche Gegensatz zwischen der äusseren Seite des Polypen, die glatt ist, 
und der Innenfläche, welche tiefe Lacunen besitzt, wie eine Tonsille. 
Es ist ursprünglich eine Form des Ektropion cervicale (Tyler Smith). 
Die innere Fläche des Collum ist nach aussen vorgewölbt, aber zuerst 
nur an einer kleinen 8telle. Diese kleine Stelle wuchert dann und 
bringt ihre ganze Einrichtung mit nach aussen. Das ist, nach meiner 
Auffassung wenigstens, das Col de tapir. Ich beBtreite also, wenn der 
Herr College etwas Anderes meint, dass man das dann anch so nennen 
dürfte. Aber, wie gesagt, ich will gar nicht in Abrede stellen, dass ein 
rüsselförmtger Polyp mit Anteflexion oder Retroflexion zusammen Vor¬ 
kommen kann. Nur glaube ich nicht, dass diese Zustände an sich mit 
einander so Zusammenhängen, dass man einfach sagen kann: Col de 
tapir ist eine Flexion, eine Knickung. 

Hr. Landau: Es würde zu weit führen, wenn ich auf alle stritti¬ 
gen Punkte im Vortrage eingehen wollte; in pathoiogisch-anatomischer 
Beziehung erwähne ich nur ausser dem eben erwähnten Col. tapyroid, 
die neu von dem Vortragenden constmirte chronisch indurirende zur 
Atrophie führende Metritis, die Atrophia uteri lipomatosa, welche er wie 
so vieles Andere mit dem intrauterinen Stift zu behandeln vorschlägt. 
Ich will auf die eigenthtimlichen die vermeintliche Heilung erklärenden 
pathologischen Vorstellungen des Vortr. nicht eingehen und nur im Wesent¬ 
lichen die rein klinische Seite der Frage berühren. Dass die Sonde hie 
und da mit Nutzen angewandt werden kann, ist bekannt; insbesondere 
ist ihre Anwendung bei der Sterilität meist eine viel werthvollere als 
die zur Hebung derselben vorgeschlagene blutige Discission. Jedem 
Praktiker sind Fälle begegnet, in welchen sogar schon durch einmalige 
8ondirung das gewünschte Ziel erreicht wurde. Es wäre also gewiss 
unangebracht, die intrauterine Verwendung der Sonde überhaupt zu per- 
horresciren, insbesondere da, wo man die Absicht hat, mechanisch zu 
dehnen oder aus diagnostischen Gründen, die Lage, die Richtung, die 
Empfindlichkeit des Gebärmuttercanals zu erfahren; etwaige Rauhigkeiten 
an der Innenfläche festzustellen etc. Durchaus verwerflich aber ist die 
zu Reizzwecken vorgeschlagene Massirung der Uternsinnenfläche mit der 
8onde, znmal in der von dem Vortragenden angegebenen Tendenz den 
Turgor des Uterus zu wecken, ihn zum Wachsthum anzuregen oder gar 
die mangelnde Libido sexualis hervorzurufen. Noch mehr aber als die Em¬ 
pfehlung der Sonde für diese Zwecke fordert die Fülle der Indicationen, 
welche der Herr Vortragende der Anwendung des intrauterinen Stifte 
giebt, dazu heraus, diese Vorschläge in dieser hochansehnlichen Ver¬ 
sammlung nicht stillschweigend passiren zu lassen. Von meinem Stand¬ 
punkt und nach meinen Erfahrungen wenigstens würde ich es nicht für 
gewissenhaft halten, es durch Schweigen mitzuverschulden, dass viel¬ 
leicht den armen Frauen mit der neuen Empfehlung dieses alten 
Mittels neues Leid zugefügt wird. Sie werden sich erinnern, dass der 
Streit um den intrauterinen Stift Ende der ISO er und Anfang der 70 er 
Jahre ein sehr lebhafter war, dass aber schliesslich nach vielen Beob¬ 
achtungen das allgemeine Urtbeil sich dahin bildete, dass der Nutzen 
des intrauterinen 8tiftes ein illusorischer, der Schaden und die Ge¬ 
fahr desselben sehr grosse sind. Man hatte zwar gefunden — und 
das bat ja der Vortragende bestätigt — dass man bei einer Anzahl von 
Frauen den Intrauterinstift, ohne dass sie an Leib und Leben Schaden 
nehmen, einführen kann. Man hat sich aber niemals davon überzeugen 
können, dass der Intranterinstift etwa eine Atrophie oder Aplasie corri- 
giren kann. Ueber die Erfolge bei der mangelnden Libido sexualis 
haben wir aus früherer Zeit keine Erfahrungen, wenigstens blieben da¬ 
mals die Frauen, welche über mangelnde Libido sexualis klagten, von 
der Einführung intrauteriner Instrumente oder masBirender Sondirungen 
verschont. Bei den anderen Zuständen aber, bei denen man den Stift 
anwandte, fand man, dass er nicht nur nichts half, sondern direct scha¬ 
dete. Gewiss beobachtet man bei der Aplasie, dass der Uterus dicker 
und Btärker wird. Aber wenn man genau untersucht und nach dem 


1) Mein Archiv 1854, VII, S. 164, Taf. II, Fig. 5-6. 


Grunde hiervon forschte, so zeigt sich, dass durch den starken Reiz des 
Stiftes und durch consecutive Entzündung eine Metritis entsteht, welche 
dem Unkundigen ein Wachsthum eines vorher apiastischen Uterus Vor¬ 
täuschen kann. Aber nicht selten trat Perimetritis und Parametritis auf 
und während man vorher einen kleinen infantilen Uterus fühlte, fühlte 
man später einen grossen Uterus, der aber nicht ein normaler, sondern 
ein kranker Uterus war. Diese Erfahrungen sind besonders gewonnen 
bei der Anwendung des Stiftes bei Retroflexio und Anteflexio, welche 
letztere Lageveränderung damals viel häufiger als krankhafter Zustand 
diagnosticirt wurde, als jetzt. Ueberhaupt haben wir mit dem Intra¬ 
uterinstift genau dieselben Erfahrungen gemacht, die wir jetzt noch bei 
anderen intrauterinen Eingriffen machen, bei der Einführung von Quell- 
meisseln etc. Hier und da entwickelte sich ein Abscess, hier und da 
eine Salpingitis, eine Pyosalpinx duplex und hier und da ging auch die 
eine oder andere Frau zu Grunde. Ich möchte daher dringend davor 
warnen, in der Breite und Ausdehnung auf diese gröbste aller intra¬ 
uterinen Behandlungsweisen etwa wieder zurückkommen zu wollen, wie 
dies der Vortragende empfohlen hat. Ich wiederhole: es mag ja viel¬ 
leicht einzelne Fälle geben, in denen der Uterus tolerant ist, in denen 
die Befürchtung nicht besteht, dass pathogene Keime nach der Applica¬ 
tion des Stiftes in den Genitalcanal gelangen können, in denen man 
hier und da einen anteflectirten oder auch retroflectirten Uterus mit dem 
Intrauterinstift behandeln kann. Aber in der Breite und Ausdehnung 
und insbesondere bei der Reihe von pathologisch-anatomischen Zuständen, 
welche gar nicht einmal ein distinctes Krankheitsbild geben, ihn anzu¬ 
wenden, wie der Herr Vortragende es haben wollte, würde ich für ver¬ 
derblich halten. 

Allerdings, die Gynäkologie hat Fortschritte gemacht seit 25 Jahren, 
und man kann hier und da leicht versucht sein, und es geschieht ja 
auch in einzelnen Fällen mit Glück, ein altes Mittel, welches wir früher 
mit unseren nicht aseptischen Händen, mit wenig Erfolg ausgeübt haben, 
jetzt wieder anzuwenden. Aber es wird nimmermehr gelingen, mit 
Sicherheit zu verhüten, dass pathogene Keime nach der noch so asep¬ 
tischen Einführung des Intrauterinstiftes von der Vagina her in Action 
treten. Auch können wir nicht immer mit der gerade hier so wün- 
schenswerthen Sicherheit ausschliessen, dass bereits Kokken in der Sal¬ 
pinx vorhanden sind oder ein Pelvio-Peritonitis mit leicht aufflackernden 
Keimen besteht. Alsdann werden Sie erleben, dass auch in Folge dieser 
Art von ärztlicher Behandlung eine neue Reihe von Frauen an Becken- 
abscessen erkranken werden, welche sich an die mit Chlorzink etc. 
intrauterin behandelten anschliessen. Allerdings, ein Palliativmittel 
existirte gegen den Intrauterinstift schon seiner Zeit in den 60 er und 
70 er Jahren, das auch heute noch manche mit dem intrauterinen Stift 
behandelte Frau beschützen wird. Das war nämlich erstens die Schwie¬ 
rigkeit seiner Anwendung, die Empfindlichkeit der meisten Frauen gegen 
seine Application, die Schmerzen, die der Stift verursachte und endlich 
der Umstand, dass wie schon Spiegelberg zeigte, der intrauterine 
Stift den Weg aus der Körperhöhle von selbst herausfand und bis unter¬ 
halb des inneren Muttermundes herausrutschte, woselbst er als relativ 
unschädlicher Körper im Collum Bitzen blieb und seine günstigen sug¬ 
gestiven Wirkungen hervorrufen konnte. 

Hr.Czempin: Herr Landau bemängelte die Schädlichkeit, die der 
Intrauterinstift herbeiführen kann. Er machte darauf aufmerksam, dass 
vor einer Reihe von Jahren oder vielleicht in der Mitte dieses Jahr¬ 
hunderts Schädlichkeiten beobachtet worden sind von Seiten des Intra¬ 
uterinstiftes, dass nach seiner Anwendung der Uterus verdickt gefunden 
wurde, Perimetritis, Parametritis und Beckenabscesse entstanden seien. 
Unsere Erfahrung hat das Gegentheil gelehrt. Ich kann so versichern, 
dass bei vorsichtiger Anwendung, erstens bei vorsichtiger Auswahl der 
Fälle und zweitens bei antiseptischem Verfahren derartige Schädlich¬ 
keiten nicht eintreten. Wir haben ja dieses Verfahren sehr viel ange¬ 
wendet und schliesslich müssten wir doch auch schlechte Erfahrungen 
damit gemacht haben, wie das Gros aller älteren Gynäkologen über 
solche Erfahrungen verfügte. Zunächst ist es natürlich, dass man Frauen, 
welche chronische Entzündungen des Beckens haben, der Tuben, der 
Ligamente, nicht intrauterin behandelt, abgesehen vom Intrauterinstift. 
Das A nnd O der nicht operativen Gynäkologie ist, den Uterus in Ruhe 
zu lassen, sobald er chronisch erkrankt ist oder seine Anhänge chronisch 
erkrankt sind. Das wird jedem Studenten in der Gynäkologie gelehrt 
und es ist selbstverständlich, dass wir solche Uteri nicht behandeln. Da 
erlebt man allerdings derartige Zustände. Das weitere A und O der 
Behandlung ist, dass die Behandlung eine antiseptische sein muss, und 
heute, wo wir über Antisepsis und Asepsis verfügen, versichere ich Sie, 
und ich weiss, dass auch hervorragende Gynäkologen derselben Ansicht 
sind, dass man einen Intranterinstift ohne Schädlichkeit anwenden kann 
— ich betone zunächst: ohne Schädlickheit. Auf Grund der vielen Er¬ 
fahrungen, die ich gesammelt habe, betone ich aber, dass man den Intra¬ 
uterinstift nicht nur ohne Schädlichkeit, sondern auch mit Nutzen an¬ 
wenden kann. Seine Anwendung wird uns geradezu aufgezwungen. Es 
ist unbedingt nöthig, dass wir ein Mittel haben, um diejenigen Dys¬ 
menorrhöen, welche aus der mangelhaften Entwickelung des Uterus 
stammen, zu behandeln. Die Auskratzungen heilen die Frauen nicht. 
Ein ausgezeichnetes Mittel ist bekanntlich die methodische Sondirung. 
Das ist nicht nur von uns, sondern von vielen anderen modernen Gynä¬ 
kologen betont worden. Diese methodische Sondirung hört aber auf zu 
nützen, sobald sie nicht mehr angewandt wird. Sie hilft ein, zwei, drei 
Monate. Wenn man die Frauen nicht mehr sondirt — und das ist eine 
lästige Sache, die Frauen so oft zu diesem Zweck zu bestellen — dann 


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No. 7. 


148 


hören die Erfolge auf. Deswegen haben wir den Intrauterinstift filr 
solche Fälle versucht und seine Erfolge hierbei waren gnte. 

Was die Indication betrifft, so habe ich den Intrauterinstift ange¬ 
wandt bei Aplasieen des Uterus und ferner bei Atrophieen und nament¬ 
lich solchen Atrophieen, welche mit vorzeitiger Amenorrhöe oder Dys¬ 
menorrhöe einhergehen. Ueber die Libido sexualis habe ich keine Er¬ 
fahrungen gesammelt. Wegen der Sterilität allein habe ich ihn nie 
angewandt. 

Ich wiederhole also noch einmal, dass bei vorsichtiger Auswahl der 
Fälle und bei antiseptischen Maassnahmen absolut nichts zu fürchten 
ist, im Gegentheil, Nutzen von der Behandlung zu erwarten ist. Nicht 
ausser Acht zu lassen ist, dass der Intrauterinstift seit seiner ersten An¬ 
wendung niemals, wie Herr Landau anzunehmen scheint, völlig ver¬ 
lassen worden ist. In England und Amerika ist er noch heute ausser¬ 
ordentlich viel im Gebrauch. In Deutschland ist er lediglich für die 
Behandlung der Lageveränderungen des Uterus obsolet geworden und 
das wohl nicht mit Unrecht, da hier üble Folgen eher zu befürchten sind. 

Hr. Falk: Ich freue mich, dass Herr Czcmpin die Indicationen, 
welche Herr Simons aufstellte, eingeschränkt hat. Herr Simons hat 
nämlich genau das Entgegengesetzte behauptet von dem, was Herr 
Czempin gesagt hat. Herr Simons meint, man kann auch bei chro¬ 
nischen Entzündungen des Beckenbindegewebes — der Parametritis — 
ohne Schaden für die Patientinnen eine derartige Stift- und Intrauterin- 
Behandlung vornehmen. Herr Czempin sagt: das A und O ist, in der¬ 
artigen Fällen nichts zu thun; und daB A und O ist es in der That. 
Weiter sagt aber auch Herr Czempin: das A und O bei der intra¬ 
uterinen Behandlung ist es, nur antiseptisch vorzugehen. Ich glaube 
wohl, dass man einen aseptischen Stift in den Uterus einführen kann, 
aber ihn wochen- und eventuell monatelang aseptisch im Uterus lassen, 
das glaube ich, hat noch Niemand fertig gebracht. Jede Intrauterin- 
Therapie kann schädlich wirken. Um so eher aber wird sie schädlich 
sein können, wenn sie bei Mädchen vorgenommen wird, bei denen bisher 
wenig Schädlichkeiten auf die Genitalien einwirkten also bei Virgines. 
Die Fälle, wo nach Einführung einer harmlosen Sonde eine Salpingitis 
entsteht, sind gar nicht so selten. Die Warnung, die Herr Landau 
gegen diese Intrauterin-Therapie ausgesprochen hat, verdient daher volle 
Beachtung. Allein bei Sterilität in Folge einer Stenosis des Orificium 
internum oder Externum uteri ist Sondenbehandlung erforderlich, in allen 
anderen Fällen aber ist sie schwerlich indicirt. 

Hr. Gottschalk: Ich gehöre zu Denjenigen, die des Intrauterin- 
Stiftes sich nicht bedienen. Ich bin in allen derartigen Fällen, wo die 
methodische Sondirung nicht mehr ausreichte, und eine Localbehandlung 
angezeigt war, mit der electrolytischen Sonde ausgekommen. Mit dem 
galvanischen bezw. faradogalvanischen Strom können Sie nicht bloss 
vorübergehend eine Stenose beseitigen und eine Amenorrhöe, sondern 
dauernde Heilung von Uterusatrophie herbeiführen. 

Ich kann mir auch nicht denken, dass man ungestraft während der 
Periode einen solchen Intrauterin-Stift tragen lassen darf. 

Speciell möchte ich mich noch gegen eine Indication wenden, welche 
der Vortragende für die intrauterine Stiftbehandlung aufgestellt hat, 
nämlich die Lactationsatrophie. Die Lactationsatrophie ist eine physio¬ 
logische Erscheinung bei der stillenden Frau; sie ist eigentlich gar 
keine Atrophie, sondern eine Superinvolution eines bis dahin normal aus¬ 
gebildeten und gesunden Uterus unter dem Reize des Stillungsgeschäfts. 
Diese Form der Atrophie geht mit geringen Ausnahmen von selbst 
zurück, sobald man die Frau absetzen lässt. Also gegen physiologische 
Zustände solche immerhin .sehr zweischneidige Mittel anwenden zu 
wollen, halte ich doch für mehr als gewagt. 

Hr. Schönheim er: Ich glaube, das, was über die Schädlichkeit 
dieser intrauterinen Therapie hier ausgeführt, und Bchon in früheren 
Zeiten erprobt worden ist, ist im Allgemeinen zwingend vorgebracht 
worden. Aber ich muss sagen, dass dem eigentlich nichts gegenüber¬ 
steht, was den Nutzen der Therapie beweist. Der Herr Vortragende 
meinte, er wolle unB mit Krankengeschichten nicht langweilen. Ich 
halte es aber .gerade für das Wesentliche, dass solche beigebracht 
werden, um diesen Nutzen zu beweisen. Es soll znnächst dadurch con- 
statirt worden sein, dass die Beschwerden geschwunden sind. Ja, ich 
glaube, mit den Beschwerden ist das eine ganz eigenartige Sache. 
Gerade in dieser Beziehung thut, wie der Herr Vertragende auch schon 
selber ansgeführt hat, die Suggestion ausserordentlich viel zur Sache und 
ich muss sagen, die Beschwerden beseitigt man bei derartigen Zuständen, 
wenigstens auf einige Zeit, bei ausserordentlich vielen Behandlungsweisen, 
welcher Art sie auch immer sind. In dieser Beziehung war es für mich 
ja belehrend, zu hören, dass bei vielen Frauen, so lange der Stift lag, 
die Beschwerden verschwunden waren, und sowie er fortgenommen 
wurde, die Beschwerden wieder eingetreten sind. Gerade dieses Moment 
spricht doch in hohem Maasse für Suggestion. 

Zweitens meint Herr Simons, der Uterus ist grösser geworden. 
Das ist ja bei einem derartigen Reizzustande, den man ausübt, etwas 
ganz Gewöhnliches. Aber das würde mir noch lange nicht beweisen, 
dass der Uterus auch gesund ist. 

Ferner aber muss ich sagen, dass ich ja auch diese Zustände recht 
häutig zu Gesicht hukomme, speciell in der poliklinischen Praxis. Aber 
diese Frauen kommen in den allermeisten Eällen nicht zu mir wegen 
der Beschwerden, selbstverständlich auch nicht deshalb, weil der Uterus 


zu klein ist, sondern die meisten kommen zu mir in die Behandlunj 
wegen Sterilität, und wie die Sterilität durch diese intrauterine Behänd 
lung beeinflusst wird, darüber habe ich eigentlich nichts gehört. Da: 
würde mir am meisten noch beweisend sein, dass das Organ, das lang 
jährig steril war, nun plötzlich gesund geworden ist. Beweisend würde: 
mir ein oder zwei Fälle, die dafür angeführt werden, freilich auch nich 
sein. Denn das kann man mitunter ja, wie schon gesagt worden ist 
mit einer einzigen Sondirung erreichen, dass nun Gravidität eintritt 
Auch ist man gerade bei den hypoplastischen Formen mancherle 
Täuschungen unterworfen, indem man Uteri, die man nach bimanuellei 
und Sondenuntersuchung für zu klein hielt, gravid werden sieht, zun 
besten Beweiss, dass es sich um eine echte Hypoplasie nicht gehandelt hat 

Man kann auch den nothwendigen Reizzustand durch ther apeutischc 
Eingriffe erreichen, die nicht so gefährlicher Natur zu sein brauchen 
nämlich durch die traditionellen Mittel, wie heisse Ausspülungen, Sitz¬ 
bäder und nicht zulefzt die bimanuelle Massage. Man kann durch dies« 
Behandlung häufig in gewiss ungefährlicher Weise eine bessere Er¬ 
nährung des Organes, eine bessere Blutzirculation erreichen, und ich 
meine doch, in solchen Fällen würde das doch hundertmal mehr zu 
empfehlen sein, als die geschilderte immerhin recht gefährliche Therapie. 

Hr. Simons (Schlusswort): Auf die verschiedenen Ein wände war 
ich von vornherein gefasst. Wenn man es heutzutage unternimmt, eine 
Therapie, wenn auch modifleirt, wieder zu empfehlen, die als abgethan 
gilt — diesen Ausdruck können Sie finden in dem letzten Frommel- 
schen Jahresberichte — so läuft man natürlich Gefahr, auf Widerstand 
zu stossen. Aber ich glaube, gerade in den letzten Decennien, seitdem 
wir vermöge der Einführung der Antisepsis, ja auch in anderen medici- 
nischen Disciplinen wunderbare Erfolge erlebt haben, ist diese Therapie 
über Gebühr vernachlässigt worden, und den Discussionserörterungcn 
zu Trotz muss ich nach unseren Erfahrungen dabei bleiben, dass bis zu 
einem gewissen Grade eine Rehabilition dieser Behandlungsmethoden ihre 
Berechtigung habe. 

Um zunächst den einzelnen Herren zu erwidern, so bin ich natür¬ 
lich dem Herrn Vorsitzenden sehr dankbar, dass er einen, übrigens all¬ 
gemein gewordenen Irrthum in der Nomenclatur hervorgehoben hat. Ich 
meinte natürlich nicht das, was, wie es scheint, ursprünglich unter 
Col tapiroide verstanden worden ist, sondern ich sprach von derjenigen 
Form der pathologischen Antcflexio, welche wir mit der Bezeichnung 
„posthornförmige Knickung des Uterus“ belegen und die mit Ectropio- 
nirung, Schleimhautfaltung etc. nichts zu thun hat. Im Gegentheil, es 
handelt sich dabei um ein glattes konisches Organ, welches aber in der 
gynäkologischen Spezialliteratur gegenwärtig den Namen „Col tapiroide' 
trägt. 

Was die Einwände des Herrn Landau angeht, so haben wir 
niemals in Folge des Stiftes und auch nicht durch methodische Son¬ 
dirung eine Peri- oder Parametritis auftreten sehen. Ich will hier damit 
zugleich den Ein wand des Herrn Falk widerlegen, dass ich mit Herrn 
Dr. Czempin nicht in Uebereinstimmung wäre hinsichtlich der durch 
Erkrankung der Annexe und des Parametriums gegebenen Contraindi- 
cation. Ich wollte nur sagen, dass, wenn einmal mir aus bestimmten 
Gründen die Innengebärmutterbehandlung thatsächlich indicirt erscheint, 
eine leichte chronische Parametritis mich nicht abhalten würde, jene 
anzuwenden. 

Herr Landau hob dann, wie auch verschiedene andere Herren 
hervor, dass Abscesse, Pyosalpingitiden entstanden sind u. s. w. .1» 
früher, als wir nicht verstanden, unsere Hände, die Sonde und den Stift 
zu desinficiren, war selbstverständlich die Gefahr dieser schlimmen 
Folgeerscheinungen eine grosse. Aber bei peinlicher Beobachtung der 
Antisepsis sind diese sicherlich zu vermeiden, wie dies mein früherer 
verehrter Herr Chef bereits hervorgehoben hat. 8peciell in den Fällen, 
die Herr Falk charakterisirte, in denen nach der einmaligen Ein¬ 
führung der Sonde eine Pyosalpinx entstanden sei, ist es für mich sicher, 
dass eben mit der einmaligen Einführung der Sonde in den Uterus 
pathogene Keime hineingetragen sind, die eine Pyosalpinx verursacht 
haben. 

Ueber die Electrolyae, die Herr Gottschalk anwendet, habe ich 
leider keine Erfahrungen. Ich habe aber hervorgehoben, dass sie von 
französischer Seite besonders empfohlen wird, und ich glaube auch, dass 
sie gute Wirkungen hat. 

Dass die Periode während der Innenlage des Stiftes keine Störung 
erleide, kann ich Herrn Gottschalk ausdrücklich versichern. Ich 
glaube, Herr Czempin hat es in der ersten Zeit der Anwendung des 
Stiftes auch nicht gewagt, denselben auch während der Menstruation 
liegen zu lassen. Später geschah dies in allen Fällen und niemals 
haben wir irgendwelche Störungen gesehen. 

Dass die Lactationsatrophie in mässigen Grenzen ein physiologischer 
Zustand sei, ist ganz klar. Ich habe auch ausdrücklich hervorgehoben, 
dass die Auwendung der Sonde reap. des Stiftes dann zu empfehlen sei. 
wenn dieser Zustand einmal länger als gewöhnlich auf die Spontanheilung 
warten lässt. 

Herr Landau bemängelte dann noch den Ausdruck Atropliiae lipo- 
matosa. Atrophia lipomatosa habe ich nicht gesagt. Dieser Ausdruck 
war natürlich nur der Kürze halber gewählt. Ungeachtet unserer Un¬ 
kenntnis über den inneren Zusammenhang zwischen einer allgemeinen 
Lipomatose und der Atrophie des Uterus müssen wir doch die Tbat- 
sache anerkennen, dass viele sehr fette, im Uebrigen gesunde Frauen 
an Atrophie der Gebärmutter leiden. 


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15. Februar 1807. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


140 


Herrn Collegen Schönheimer erwidere ich, dass seine Bemer¬ 
kungen über den von mir zugestandenen Mangel einer Dauerheilung 
sich nur auf die Fälle von pathologischer Anteflexio beziehen können, 
deren Typus ich hier angezeichnet habe. So lange der Stift lag, waren 
hier die Beschwerden verschwunden, um in manchen Fällen sich dann 
allmählich wieder einzustellen. Es ist das anch ganz natürlich, denn 
wenn ich den Stift einlege, streckt sich das Organ in ganz ausgiebiger 
Weise und die physikalischen Störungen sind dadurch beseitigt. 

(Schluss folgt.) 


Gesellschaft der Charit^-Aerzte. 

Sitzung vom 28. Juli 1896. 

Vorsitzender: Herr Senator. 

Vor der Tagesordnung. 

Hr. Mflller-Kannberg: Demonstration von Röntgenbildern: Ich 

lege Ihnen hier Röntgenaufnahmen des Herrn Stabsarzt Behrendsen von 
der Kaiser Wilhelm-Akademie vor. Ich möchte daran anknüpfen, dass 
Herr Stabsarzt Tilmann vor einem Jahre hier eine Costa colli be¬ 
sprochen und damals angegeben hat, dass eine verhältnissmässig geringe 
Anzahl — er hat 26 Fälle aufflnden können — zur Beobachtung und 
Veröffentlichung gekommen sind. Ich hatte diese Patientin, 21 Jahre 
alt, wegen Beschwerden des Halses, die syphilitischer Natur sind, auf¬ 
genommen. Es ist auch einer der selteneren Fälle. Ich glaube, dass 
sich Lata auf den Stimmbändern derselben gezeigt haben. Da sich hier 
eine Geschwulst, die knochenhart war, in der Gegend des Ansatzes der 
8caleni an der linken 8eite zeigte, liess ich eine Röntgenaufnahme 
machen, da ich in der Chirurgie nicht so erfahren war, dass ich nach 
dem Gefühl die Diagnose auf eine Halsrippe ohne Weiteres sicherstellen 
konnte. Ich bin nachher durch die Aufnahme dieser Partie durch Herrn 
Stabsarzt Behrendsen und durch dasjenige, was ich darüber durch¬ 
gelesen habe, zu der Ansicht gekommen, dass es sich hier nur um eine 
Halsrippe handelt. Die Patientin selbst giebt an, dass sie diese schon 
seit ihrer Geburt habe und auch ihre Mutter dieselbe Knochenbärte an 
der Stelle zeigt. Leider kann ich sie heute Abend nicht vorstellen, 
weil sie sich etwas ungeberdig zeigt. 

Vortragender zeigt ferner eine Röntgenaufnahme von einem haken¬ 
förmigen Auswuchs am Oberarm, dann eine Ossifikation zwischen Ober- 
und Unterschenkel, die nach einer Kniegelenksauschabung durch Herrn 
Geheimrath König erreicht worden ist, und wo man deutlich die Kno¬ 
chenbrücke zwischen den beiden Partien sieht. Ausserdem legt Vor¬ 
tragender noch Aufnahmen von Händen von Säuglingen vor nach einer 
syphilitischen Cur und ohne syphilitische Cur. Er bemerkt dazu: Wir 
können nach diesen wenigen Aufnahmen nicht sagen, ob sich auch bei 
Säuglingen, die noch keine sichtbaren äusseren Zeichen aufweisen, ein 
Urtheil bilden lässt. Ich hoffe aber, dass sich im Laufe der Zeit das 
Material zusammenstellen lassen wird, und möchte die Herren auffordern, 
wenn sie Wesentliches dazu beitragen können, doch bei Herrn Stabsarzt 
Behrendsen von der Kaiser Wilhelm-Akademie Aufnahmen machen 
zu lass8en. 

Vortragender zeigt zum Schluss noch eine recht hübsch gelungene 
Photographie seiner Hand. 

Hr. GJnck demonstrirt einen Patienten, bei dem er wegen einer 
bepttachen Phlegmone des Armes and der Schalter ausgedehnte 
Resectionen der thrombotischen Venenbezirke vorgenommen hat. (Ist als 
Vortrag in No. 88 vom 17. September 1896 der Deutschen medicinischen 
Wochenschrift erschienen.) 

Hr. Strange: Ueber die Beeinflngsnng der Ausscheidung der 
HarnsBnre and der Alloxnrbasen durch die Extraktivstoffe deg 
Fleisches. Vortragender führt an der Hand einer Reihe von Stoff¬ 
wechseluntersuchungen den Nachweis, dass die Harnsäureausscheidung 
des Menschen durch grosse Dosen (50 gr pro die) Liebigs Fleischextract 
erbeblich gesteigert wird und sieht als Grund für diese Erscheinung den 
Gehalt des Fleischextracts an Nucleinabkömmlingen (Xanthin, Carnin etc.) 
an. Ueber die Beeinflussung der Alloxurbasenausscheidung durch Fleiseh- 
extractdarreichung giebt Vortragender kein bestimmtes Urtheil ab, da 
ihm die mit dem Krüger-WulflTsehen Verfahren erhaltenen Werthe in 
ihrer Bedeutung noch nicht in allen Fällen klargestellt zu sein scheinen. 
Immerhin glaubt Vortragender, den Genuss des Fleisches solchen Indi¬ 
viduen, bei welchen eine Verminderung des Harnsäuregehaltes des Urins 
anzustreben ist, nicht ganz verbieten zu sollen, da die für gewöhnlich in 
den Körper eingeführten Mengen von Fleischextract bedeutend geringer 
«und, als die in den Versuchen angewandten Fleischextractdosen, doch 
hält er es für wünschenswerth, in der Auswahl und Zubereitung eiweiss¬ 
haltiger Nahrung darauf zu achten, dass möglichst wenig Extractivstoffe 
eingeführt werden. 8o zieht er in der Diät der genannten Patienten 
gekochtes Fleisch dem gebratenen vor und sucht die extractivstoffreichen 
Saugen möglichst zu meiden. (Der Vortrag ist in dieser Wochenschrift 
1896, No. 32, ausführlich veröffentlicht.) 

Hr. Senator: Ich möchte Herrn Strauss veranlassen, sich noch 
über einige Punkte zu äussern. Bei den Versuchen, die ich ja selbst mit 
habe verfolgen können, ist mir aufgefallen, dass noch verschiedene an¬ 
dere Stoffe im Harn an Menge zugenommen haben, und namentlich in 
dem Versuche, den Herr Strauss hier im Einzelnen vorgeführt hat, 
zeigt Bich aufs Deutlichste: 1. eine erhebliche Zunahme der Chlor- 
natriumausscheidung. Diese ist ja sehr leicht verständlich. Das 


Liebig'sche Fleischextract enthält sehr viel Chlornatrinm, welches also 
einfach resorbirt wird und in den Urin übergeht. Zum Theil mag viel¬ 
leicht auch die gesteigerte Diurese etwas zur Vermehrung beitragen. 
Dann 2. hat die Stickstoffausscheidung im Allgemeinen auch beträcht¬ 
lich zugenommen, in der Vorperiode waren 6 gr, dagegen in der eigent¬ 
lichen Extractivperiode 12 gr, die nachher wieder in der Nachperiode 
absinken, allerdings nicht auf die geringen Werthe, die sie vorher ge¬ 
habt haben. Endlich 3. ist noch eine Zunahme der Phosphorsäure, und 
zwar auch eine sehr beträchtliche von durchschnittlich 0,9 auf 2—3 gr. 
Ich möchte Herrn 8trauss bitten, sich darüber zu äussern; auch dar¬ 
über, ob die Phosphorsäurewerthe vielleicht dadurch bedingt sind, dass 
ira Liebig’schen Fleischextract viel Phosphorsäure enthalten ist — das 
ist wohl anzunehmen — in der Form von phosphorsaurem Kali, oder 
ob es vielleicht im Zusammenhang steht mit der vermehrten Stickstoff- 
aus8cheidung, mit dem gesteigerten Eiweisszerfall. 

Hr. 8trau88: Ich möchte auf die Auffordernng von Herrn Geheim¬ 
rath Senator meinen Ausführungen noch hinzufügen, dass die Mehr¬ 
ausscheidung, sowohl des Chlornatriums als der Phosphorsäure auch 
nach meiner Auffassung wesentlich auf Rechnung der Einführung des 
Fleischextractes zu setzen ist. Wenn in der Extractperiode des einen 
Falles gegenüber der Vorperiode auch eine Steigerung des gesammten 
Stickstofles zu constatiren ist, so muss ich zunächst bemerken, 
dass ein grosser Theil der Mehrausfuhr des Gesammtstickstoffes durch 
die Mehreinfuhr von Stickstoff bedingt ist. Denn 50 gr Fleischextract 
enthalten nach den verschiedenen Analysen etwa 3—5 gr Stickstoff und 
die Resorption des Fleischextracts war in dem vorliegenden Fall eine 
sehr gute. Immerhin wäre dann noch eine Mehrausfuhr von ca. 2—3 gr 
Stickstoff in der Vorperiode der Erklärung bedürftig. Bezüglich dieses 
Punktes muss ich darauf hinweisen, dass in dem vorliegenden Fall die 
Werthe des Gesammt-N des Urins der Vorperiode im Vergleich zur 
Nahrungszufuhr auffallend klein sind, und dass die Differenz der Stick¬ 
stoff werthe deB l'rins der Extractperiode gegenüber denjenigen der Nach¬ 
periode nicht grösser ist als der Mehrzufuhr von N entspricht. Uebri- 
gens habe ich so erhebliche Differenzen in der N-Ausscheidung nur 
in diesem einen Fall, nicht aber in den anderen Fällen beobach¬ 
ten können, so dass ich nicht glaube, dass dieses Verhalten ein gesetz- 
mässiges ist. Dass auch die Steigerung der Diurese für das Zustande¬ 
kommen der Erscheinung mit verantwortlich gemacht werden kann, hat 
bereits Herr Geheimrath Senator betont. Es ist andererseits aber auch 
möglich, dass grosse Dosen Fleischextract in einzelnen Fällen die Fähig¬ 
keit besitzen, die Stickstoffaasfuhr durch Steigerung des Eiweisszerfalls 
zu erhöhen. Es könnte auf diesem Wege dann auch ein Theil der 
Mehrausfuhr der Phosphorsäure erklärt werden. Man kann hieran des¬ 
halb denken, weil ein anderes Organextract, das Thyreoidextract, diese 
Eigenschaft in ausgesprochenem Maasse besitzt. Ob Unregelmässigkeiten 
der Stickstoffelimination in diesem Falle Vorgelegen haben, für die ich 
einen Grund nicht habe aufflnden können, entzieht sich meiner Beurthei- 
lung. Dass in dem vorliegenden Fall die Mehrausfuhr von Harnsäure 
nicht durch einen erhöhten Zertall von aus dem Körper stammendem 
Nucleineiweiss, sondern durch Stoffe bedingt ist, welche durch das 
Fleischextract eingeführt wurden, beweist u. A. ein Vergleich der Harn- 
säurewerthe, welche am letzten Tag der Nachperiode dieses Falles und 
an den 3 Tagen der Extractperiode erzielt wurden. Die Werthe für 
Gesammt-N sind an diesen Tagen nahezu gleich, dagegen ist der Werth 
für Harnsäure in der Extractperiode bedeutend grösser als an dem ent¬ 
sprechenden Tag der extraetfreien Zeit. Dabei lässt sich für die betref¬ 
fenden Extracttage die gute Resorption des Extracts durch die Erhöhung 
der Phosphorsäurewerthe sehr deutlich nacliweisen, die so bedeutend ist, 
dass sie nicht ausschliesslich auf einen Zerfall von Kerneiweiss bezogen 
werden kann. Ich bin Herrn Geheimrath Senator sehr dankbar, dass 
er mich veranlasst hat, auf diesen Punkt hier noch näher einzugehen, 
denn das durch individuelle Eigenthümlichkeiten bedingte besondere 
Verhalten der Gesammt-N-Ausscheidung dieses Falles wird erst durch 
eine ausführliche Besprechung der in Betracht kommenden Verhältnisse 
in seiner Bedeutung klar und giebt erst unter Berücksichtigung dieser 
Verhältnisse eine Stütze ab für die Beweiskraft der von mir aus der 
Betrachtung der übrigen 3 bezw. 4 Fälle gezogenen Schlüsse, die dahin 
gehen, dass durch Zufuhr grosser Dosen ^50 gr) von Fleischextract die 
Menge der im Urin erscheinenden Harnsäure erhöht wird. 

Hr. Tilmnnn: Ueber Torsionsfractnren des Oberschenkels. 
(Der Vortrag ist in No. 35, 1896, abgedruckt.) 

Hr. Jolly: Ich möchte nur anschliessen an das, was der Herr Vor¬ 
tragende zuletzt gesagt hat, an seine interessanten Untersuchungen, die 
in der That von grosser Bedeutung für die Lehre von der Tabes sind. 
Es ist durchaus richtig, dass diese Arthropathieen und die Knochen¬ 
veränderungen häufig in Fällen gefanden werden, in denen noch kaum 
irgend etwas von anderen tabischen Symptomen vorhanden ist. 

Ich möchte aber noch auf eine andere Frage kurz eingehen oder 
vielmehr mir eine Frage darüber erlauben; wir kennen eine zweite 
Räckenmarkerkrankung, die auch häufig trophische Veränderungen und 
Knochenfracturen herbeiführt, das ist die Syringomyelie: ob nicht viel¬ 
leicht Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass in einzelnen der Fälle 
die der Herr Redner untersucht hat, Erscheinungen dieser Krankheit 
vorhanden waren. Es sind spontane Fracturen, unter Anderem an den 
oberen Extremitäten, zuweilen dabei beobachtet worden. 

Hr. Tilmann: Die Leute gaben selbst an, vollständig gesund zu 
sein und wurden ja, da die Fälle damals besonderes Interesse erregten, 
zum Theil von Geheiinrath Bardcleben und von Prof. Köhler, zum 


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150 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 7. 


Theil von mir selbst sehr genauen Untersuchungen unterzogen. Die 
beiden Fälle von 1888 und 1891 habe ich nicht untersucht. Ich war 
damals nicht anf der Klinik, habe aber den Status in dem Journal ge¬ 
funden, und mich noch persönlich bei Professor Albert Köhler erkun¬ 
digt. Ich glaube deshalb berechtigt zu sein, aozonehmen, dass die 
Leute damals gesund waren, wie ja auch daraus hervorgeht, dass z. B. 
der 19jährige Mann sich zur Untersuchung als Soldat stellte, also sich 
jedenfalls gesund gefühlt hat. 

Hr. J o 11 y: Dann eine zweite Frage: wie es sich mit syphilitischen 
Veränderungen verhält, ob nicht etwas von syphilitischen Knochenver¬ 
änderungen da hervorgetreten ist? 

Hr. Tilmann: Es waren alles ältere Knochen. (Herr Jolly: Keine 
syphilitischen?) Ja, die syphilitische Periostitis setzt ja eine Verhärtung 
des Knochens, eine Steigerung der Widerstandsfähigkeit des Knochens 
voraus. Nur das Knochengumma würde ja eine stärkere Knochen¬ 
brüchigkeit bedingen, und ein solcher Fall ist mir nicht vorgekommen. 

Hr. Jolly: Es ist gerade bezüglich der tabischen Veränderungen 
neuerdings öfters darauf hingewiesen worden, dass sie möglicherweise 
auf der gemeinsamen Aetiologie der Syphilis beruhen. 

Hr. Tilmann: Der eine hat vor 15 Jahren an Syphilis gelitten, 
war aber dann 14 Jahre ganz gesund gewesen, hat auch keine Be¬ 
schwerden gehabt. 


Verein für innere Medlcln. 

Sitzung vom 1. Februar 1897. 

Vor der Tagesordnung. 

Hr. Litten demonstrirt die von Aufrecht (Magdeburg) construirte 
einfache Nachbildung des Bi an ch i'sehen Phonendoscopea, welches 
den Vorzug haben soll, die am Thorax hörbaren Töne und Geräusche 
deutlicher wahrnehmbar zu machen und die einzelnen Organe mittelst 
der sog. Frictionsmethode von einander abzugrenzen, so z. B. auch die 
wirklichen, absoluten Grenzen des Herzens und seiner einzelnen Ab¬ 
schnitte. L. kann die günstigen Angaben Aufrecht’s nicht bestätigen. 
Die Herzpercussion wird durch diesen Apparat nicht verbessert. Die 
Abschwäcbung der Geräusche ist nun durch den verschiedenen Grad der 
Spannung der Haut bedingt. Auch beim Emphysem lassen sich die 
wahren Herzgrenzen mittelst dieses Apparates nicht ermitteln. Das 
Frictionsgeräusch ist über Lunge und Herz dasselbe. 

Hr. t. Leyden demonstrirt Präparate von Gonokokken aus einem 
Kniegelenk. Die Pat. hatte eine Gonitis gonorrhoica, ohne dass bei ihr 
eine Gonorrhoe nachweisbar war. Durch Punction wurde aus dem Ge¬ 
lenk eine trübe, nicht eitrige zellenreiche Flüssigkeit entleert, in welcher 
sich typisch gelagerte Gonokokken fanden. Eine Cultur derselben ist 
nicht gelnngen. Im Anschluss an diese Demonstration giebt v. L. eine 
Uebersicht über die bisher bekannt gewordenen Gonokokken-Metastasen 
in inneren Organen. 8eine anfangs viel bezweifelte Mittheilung über 
den Befund von Gonokokken auf dem Endocard ist in letzter Zeit mehr¬ 
fach bestätigt worden, so dass v. L. sich genöthigt sieht, sich die Prio¬ 
rität dieser Entdeckung zu wahren. Es muss jetzt als erwiesen gelten, 
dass der Gonococcus Bich auf dem Wege der Blutbahn in anderen Ge¬ 
weben festsetzen kann. Er ist in Gelenken, Sehnenscheiden, in AbBcessen, 
und auf dem Endocard, in dem letzten von einer ganzen Reihe von 
Autoren festgestellt worden. 

Hr. Karewski: Ueber Peritjphlltie bei Kindern. (Der Vortrag 
wurde in der 8itzung vom 4. Januar begonnen.) 

Ueber die Therapie der Perityphlitis sind die Meinungen trotz aller 
Discussionen noch sehr getheilt, namentlich aber bei Kindern. 8ie ist 
durchaus nicht so häufig, als vielfach angegeben wird. Sonnenburg 
hatte unter 180 Fällen 88 Kinder = 30 pCt., Rotter 10 pCt., Län¬ 
derer 8 pCt., Israel 25 pCt., Karewski 40 pCt. In den Kinder¬ 
krankenhäusern wird dagegen durchgehende die Perityphlitis sehr selten 
beobachtet, offenbar weil sie daselbst nicht operativ behandelt wird. 
Die Annahme, dass die Perityphlitis bei Kindern vielleicht so leicht ver¬ 
läuft, dass sie meist gar nicht zur ärztlichen Kenntniss kommt, wird da¬ 
durch widerlegt, dass sie auch in den Polikliniken für Kinderkrankheiten 
nur äusserst selten beobachtet wird, die Mortalität der operirten Fälle 
aber eine recht beträchtliche ist. Wahrscheinlich ist auch manche Peri¬ 
tonitis ursprünglich eine Perityphlitis gewesen. Rotter hatte bei Kin¬ 
dern 66 pCt., Israel 55 pCt., Länderer 25 pCt., Karewski selbst 
47 pCt. Mortalität. Nur Sonnenburg hat bei Kindern dieselbe niedrige 
Mortalität von 8 pCt. wie bei Erwachsenen. Die Verschiedenheiten werden 
leichter verständlich, wenn man die Fälle nicht nur statistisch betrachtet, 
sondern nach ihrer Art fragt. Es kommt darauf an, wie die Fälle 
waren, die operirt wurden. Die Perityphlitis ist keine einheitliche Er¬ 
krankung, sondern in verschiedene Gruppen zu sondern. Nach Rotter 
ist für die Praxis am zweckmässigsten die Scheidung in circumscripta 
und diffuse Fälle. Erstere geben 2,5 pCt., letztere 66 pCt. Mortalität, 
beide zusammen 8,9 pCt. Bei Sonnenburg ist unter 31 circumscripten 
Fällen kein Todesfall, unter 7 diffusen 48 pCt. Mortalität. Die ersteren 
kommen im Allgemeinen viel seltener zu den Operateuren. Unter 147 
Fällen, die K. zusammengCBtellt hat, waren 84 circnmscript, 55 diffus. 
Bei Kindern ist die letztere Form viel häufiger als bei Erwachsenen. 
Oft werden sie erst moribund zur Operation gebracht. Die besten Er¬ 
folge liefert aber nur die Frühoperation. Als die schwersten und aus¬ 
sichtslosen Fälle sind diejenigen zu betrachten, bei denen die Perforation 


des Processus vermiformis eine acute Eitervergiftung hervorruft. Der 
Exitus tritt nach wenigen Stunden ein. Vortragender theilt einen Fall 
aus seiner Erfahrung mit. Die Perityphlitis wird im Anfang oft ver¬ 
kannt, zuweilen fälschlicher Weise als eine Dyspepsie u. dgl. angesehen. 
Manchmal nimmt sie auch in Folge unrichtiger Behandlung einen 
schlechten Verlauf, z. B. nach hohen Eingiessungen und Abführmitteln, 
die zuweilen nach vorangegangener Opiumbehandlung zu früh gegeben 
werden. Dadurch wird leicht eine Peritonitis erzeugt. Deshalb soll 
man Jede verdächtige 8tuhlverstopfung von vornherein nicht mit Abführ¬ 
mitteln, sondern mit Opium behandeln. Manchmal fehlen im Krankheits¬ 
bilde der Perityphlitis wichtige 8ymptome, z. B. das Erbrechen. Bei 
Kindern können auch die schlimmsten Fälle noch gut werden, die Ope¬ 
ration ist zuweilen in der äussersten Noth noch von Erfolg und deshalb 
auch bei diffuser Peritonitis trotz deren schlechter Prognose noch be¬ 
rechtigt. Bei der Perityphlitis muss man bereit sein, jeden Augenblick 
operativ einzugreifen wegen der Gefahr der Perforation des Abscesses 
nnd weitergehender Eiterungen. Auch der Durchbruch ins Rectnm hat 
Gefahr wegen des Rückflusses des Kothea, ebenso die Perforation in die 
Blase. Manche anscheinend gutartig verlaufenden Fälle verschlimmern 
sich plötzlich nnd enden letal oder führen zum Siechthum dadurch, dass 
die liegen gebliebenen Eiterreste zu progredienten, vom ursprünglichen 
Herde weit abliegenden Erkrankungen führen oder speciflsche Krank¬ 
heitserreger am Locus affectionis zurückgeblieben sind: Tuberculose und 
Actinomycose. Für diese beiden Arten der Perityphlitis theilt Vortragender 
einige von ihm beobachtete Fälle mit. Eine Anzahl der Fälle von 
tuberculöser Peritonitis ist auf den Wurmfortsatz zurückzuflihren. Eine 
rechtzeitig versäumte Operation kann deshalb nach längerer Zeit noch 
einen unglücklichen Ausgang zur Folge haben. Das operative Verfahren 
ist bei Kindern nicht anders als bei Erwachsenen. Die Stelle für die 
Incision ist je nach Lage des Abscesses zu wählen. Zumeist wird sich 
der Sonnen bürg'sehe Schnitt empfehlen. Die Reinigung der Bauch¬ 
höhle ist auf das geringste Maass zu beschränken. Denn die Irrigation 
verbreitet die Keime. Die von Baginsky vorgeschlagene Resection des 
Netzes ist ganz unberechtigt, bringt niemals Nutzen, ist meist lebens¬ 
gefährlich. Die Entfernung des Wurmfortsatzes ist dann auzurathen, 
wenn er im Gesichtsfeld liegt, aber es ist gefährlich, nach ihm zwischen 
den verklebten Darmschlingen zu suchen. Die Resection des Processus 
vermiformis vermag Recidive, die auch bei Kindern Vorkommen, zu ver¬ 
hüten. Die Punction des Abscesses sowohl zu diagnostischen wie zu 
therapeutischen Zwecken ist zu verwerfen. Für erstere ist sie nicht 
nöthig, für letztere nicht ausreichend. Die Punction kann leicht die 
Perforation des Darmes nach sich ziehen. Namentlich darf auf der 
Punctionsnadel nicht die Incision gemacht werden. Hauptsache ist die 
frühzeitige Diagnose. Man muss event. die Untersuchung per rectum zu 
Hülfe nehmen, welche zuweilen eine Resistenz in der Ileocoecalgegend 
mit Sicherheit feststellen lässt. Die ersten Erscheinungen einer Peri¬ 
typhlitis sind zuweilen rein dyspeptische, in anderen Fällen Blaseu- 
beschwerden. Ein plötzlicher Bauchschmerz mit Darmerscheinuugen ist 
immer als eine ernste Erkrankung aufzufassen. Alle Klystiere und Ab¬ 
führmittel sind so lange auszusetzen, bis eine Perityphlitis nnd Peritonitis 
ausgeschlossen werden können. Die Operation soll nicht frühzeitig, aber 
rechtzeitig gemacht werden. Mit der conservativen Therapie muss man 
aufhören, wenn das Exsudat nicht kleiner wird, das Fieber nicht zurtick- 
geht, die Reizerscheinungen nicht nachlassen, sondern vielmehr sich 
steigern. Lieber einmal zu oft, als einmal zu wenig operiren. Die Ge¬ 
fahren der unterlassenen Operation sind im Vergleich zu einer überflüs¬ 
sigen sehr gross. Bei Erscheinungen der diffusen Peritonitis kann man 
zuweilen das Vorübergehen des Shoks abwarten, ehe man operativ 
eingreift. 

(Die Discussion wird vertagt.) A. 


VII. Literarische Notizen. 

— Baumgarten und Tangl, Jahresbericht über die Fort¬ 
schritte in der Lehre von den pathogenen Mikroorganismen, 
umfassend Bacterien, Pilze und Protozoen. X. Jahrgang. 
1894. Bruhn, Braunschweig. Von diesem Jahresbericht, welcher durch 
seine grosse Zuverlässigkeit und durch das umfassende in demselben 
verarbeitete Material, welches allmählich einen geradezu schrecken¬ 
erregenden Umfang annimmt, auf das Beste bekannt ist, liegt der Be¬ 
richt pro 1894 vor. Derjenige von 1895 ist nahezu vollständig fertig 
und wird noch im Sommersemester 1897 herausgegeben. An dem Be¬ 
richt betheiligen sich nicht weniger wie 88 Sonderreferenten, meistens 
Gelehrte von anerkanntem Rufe. Die Unentbehrlichkeit dieses Berichtes 
für Jeden, der sich mit bacteriologiscben Arbeiten beschäftigt, ist ausser 
Frage. 

— Kisch, Baineotherapeutisches Lexicon für praktische 
Aerzte. Lief. 7—15. Urban & Schwarzenberg. Die 7.—15. (Schluss- 
Lieferung enthält wesentlich ein Verzeichniss und kurze Charakteristik 
der bekannteren Curorte der mitteleuropäischen Länder. Zu gleicher 
Zeit ist der Schluss der klinischen Balneo- und Hydrotherapie betr. die 
Badecuren bei 8yphilis, Arthritis, Rachitis, Rheumatismus etc. und die 
specielle Balneologie der Mineralwässer, Moor- und Schlammbäder, 
Schwefelwässer, Seebäder etc. gegeben. 


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15. Februar 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


151 


VIII. Praktische Notizen. 

Diagnostisches. 

Weiteres zur Widal’sehen Serumdiagnostik des Ty¬ 
phus abdominalis. 

F. Pick — Klinik Pribrara Prag — (Wiener klinische Wochen¬ 
schrift No. 4, 1897) empfiehlt, um die Anwendung des W.’schen Ver¬ 
fahrens auch dem practischen Arste au ermöglichen, neben der 
gewöhnlichen Methode eine Modiflcation mittelst angetrockneten 
Iilutes. 

„Et werden 1—3 Tropfen des frisch entnommenen Blutes auf einem 
daumenbreiten Streifen gewöhnlichen, geleimten Papieres aufgefangen 
und dann, vor Verunreinigung geschützt, trocknen gelassen. Nach 24 
bis 48 Stunden ist das Blut meist ganz fest eingetrocknet. Zur Unter¬ 
suchung wird dann ein Tropfen destillirten Wassers auf den Blutfleck 
gebracht und nach mehrere Minuten langem Einwirken die so erhaltene 
Flüssigkeit mit 1—5 Tropfen der Bouilloncultur gemischt und mikrosko¬ 
pisch untersucht“ 

Die Resultate der Reaction waren stets analog den mit dem 
gewöhnlichen Verfahren gewonnenen. Ein schwerwiegender Man¬ 
gel der Trockenmetbode liegt darin, dass sich ein bestimmtes Mengen¬ 
verhältnis zwischen Serum und Bouilloncultur in exacter Weise nicht 
herstellen lässt. 

P. betont, was bereits Qruber ausgesprochen hat, dass die ag- 
glutinirende Wirkung keine — im strengsten Sinne — specifische 
Eigenschaft des Serums der Typhuskranken ist, sondern in gewissem 
Grade — bei entsprechender Versuchsanordnung — auch dem Serum 
Gesunder resp. an anderen Affectionen Leideuder zukommt. 

Du Mesnil de Rochemont — Krankenhaus Altona — (Münch, 
medicin. Wochenschr. No. 5, 1897) findet — im Gegensatz zu Anderen 
— dass die mikroskopische Reaction niemals allein, sondern 
nur gleichzeitig mit positivem makroskopischen Befund dia¬ 
gnostisch verwerthbar ist. Zur Erlangung eines sicheren Resultats 
muss nach D. stets eine 8cala von verschiedenen Verdün¬ 
nungen angewendet werden. Verdünnung von 1:10 und selbst von 
1: 20 ist nach D. nicht beweisend. Erst bei 1 :25 und darüber sichert 
ein positiver Befund die Diagnose „Typhus“. 

Was die Dauer der Reaction betrifft, so fand sie D. noch in 
der 8., 4. uund 7. Woche der Reconvalescenz. nicht mehr bei 2 Patien¬ 
ten, die vor 1 Jahr Typhus durchgemacht hatten. Die Prognose des 
Falles hängt vielleicht in gewisser Weise mit der Stärke der Reac¬ 
tion zusammen. In 2 sehr schweren Fällen (pos. Reaction bei 
1:80 resp. 1:120) trat ausserordentlich schnelle Entfieberung ein. Ver¬ 
zettelte leichte Fälle mit niedrigem Fieber und langer Krankheitsdauer 
zeigten höchstens eine Reaction von 1:50 bis 1:60. 

D. sowie Pick erkennen die W.'sche Reaction als ein werth¬ 
volles Hülfsmittel für die Typhusdiagnostik an. 

In der Sociöte medicale des Hopitaux (22. Jan. 97) berichtet 
M. Ferrand über einen Fall von schwerer Septicämie nach Finger¬ 
verletzung — bei der Autopsie keinerlei Zeichen von Typhus; 
Impfung mit dem Milzsaft ergiebt nur Streptokokken, — der an¬ 
fänglich negative, später, bei wiederholten Versuchen, positive 
Widal’sche Reaction ergab. 

Widal erklärt den Befund für exceptionell und glaubt, dass 
man die Reaction in diesem Falle nicht mit den nöthigen Cautelen 
angestellt habe. 


Einen Beitrag zur Diagnostik ulcerativer Darmprocesse 
bilden die von F. Chvostek und E. Stromayr in der II. med. Klinik 
su Wien (Neusser) angestellten Versuche über alimentäre Albu¬ 
in osurie. Dieselben ergaben: 

„Bei normalen Individuen und Individuen, deren Schleimhaut des 
„Darmes keine schweren Laesionen, wie Ulcerationen etc. aufweisst, 
„gelingt es nicht, auf Zufuhr grosser Quantitäten von Albumose in der 
„Nahrung, Albumosen im Harne nachzuweisen. 

„Sind ulcerative Processe des Darmes vorhanden, so kann es zur 
„Ausscheidung von Albumose kommen. Nur das Vorhandensein von 
„alimentärer Albumosurie wäre als beweisend anzusehen. Ein negativer 
„Befund kann nicht gegen das Vorhandensein von ulcerativen Processen 
„verwendet werden. (Wiener klin. Wochenschr. No. 47, 1896.) 


Tkertpeatisehes and Inteiieatieaen. 

Ueber die Beeinflussung des Stoffwechsels durch Hypo- 
physis- und Thyreoideapräparate stellte A. Schiff Versuche an, 
die Folgendes ergaben: 

I. Verabreichung von Hypophysistabletten hatte keinen 
Einfluss auf den Stoffwechsel eines jungen, kräftigen 
Mannes; bei demselben blieb auch ein bei Myxödem sehr 
wirksames Thyrojodin wirkungslos. 

In zwei anderen Fällen (Akromegalie und älterer Mann) 
erfolgte unter Hypophysisverabreichung eine sehr hoch¬ 
gradige Steigerung der Gesammt-P,O s -Au8scheidung, so 
zwar, dass die früher leicht positive PjOj-Bilanz stark 
negativ wurde. Das Verhalten der N-Ausscheidung beweist, dass die 


Steigerung der P,O s -Au8Bcheidung nicht auf gesteigerten 
Eiweisszerfall zurückzuführen ist. 

Die Substanz der Hypophysis bewirkt also gesteigerten 
Zerfall eines sehr phosphorreichen und relativ N-armen 
Gewebes. Es ist schwer zu entscheiden, um welches Gewebe eB sich 
dabei handelt. Es wäre vielleicht an das Knochengewebe zu denken. 
(Abnormes Knochenwachsthum bei Akromegalie als Ausdruck einer 
Hypofunction der Hypophysis? s. Marie.) 

II. Auch die Verabreichung von Thyreoideatabletten 
führt neben einer beträchtlichen Steigerung der N-Aus- 
scheidung zu einer relativ sehr bedeutenden Steigerung der 
P 2 O s -Ausscheidung; auch der Schilddrüsensubstanz scheint 
also neben ihrem Einfluss auf den Ei weisszerfall noch ein 
besonderer Einfluss auf den Zerfall eines Pj0 3 -reichen Ge¬ 
webes znzukommen. 

III. Baumann’sches Thyrojodin wirkte bei einem Akromegaliker 
mit Myxödemsymptomen sehr energisch auf den verlangsamten Stoff¬ 
wechsel. 

Aus 2 der S.’schen Versuche folgt aber, dass eine quantitative 
physiologische Aequivalenz zwischen gleichen Mengen von 
Thyrojodin und Drüsensubstanz (in Tablettenform) nicht 
besteht. Letztere wirkte nicht nur in kleiner Dosis ener¬ 
gisch, wo erstere in grossen Dosen nur zu geringer Er¬ 
höhung des Stoffwechsels geführt hatte, sondern es ergaben 
sogar Tabletten eine sehr starke Reaction, wo sehr grosse 
Thyrojodindosen überhaupt völlig wirkungslos geblieben 
waren. 

Endlich scheint die Wirksamkeit der Thyrojodinpräparate gleicher 
Provenienz (Bayer), soweit sich aus einem Versuch schliessen lässt, 
keine ganz gleichmässige zu sein. Dieser Umstand würde vielleicht die 
Verschiedenheit der mit Thyrojodin bei thyreoidectomirten Thieren er¬ 
zielten Erfolge zu erklären geeignet sein (Notkin, Banmann). 
(Zeitschr. f. klin. Med., Bd. 32, Suppl.-Heft.) 


Fraipont (Ann. de la 8oci6t6 m6d. chir. de Liege, Juni 96) ver¬ 
suchte das Ferripyrin in 63 gynäkologischen Fällen als Hämo¬ 
st aticum und Adstringens. Bei chronischer Endometritis fand F. 
sehr schnelles Nachlassen der Leukorrhoe, Tendenz zur Heilung der 
Erosionen und in * der Fälle — nach 6—10 wöchentlicher Behandlung 

— Rückkehr der Blutungen zum normalen Menstruationatypus. 

Bei Blutungen in Folge Myom oder (inoperabelem) Carcinom be¬ 
währte sich Ferripyrin wenig oder gar nicht. Applicirt wurde das 
Mittel — 20proc. wässr. Lösung — nicht mit der Braun'sehen Spritze 

— wegen allzu grosser Schmerzhaftigkeit der Injectionen — sondern 
mittelst eines mit Watte armlrten Aetxmittelträgers. Selten gebrauchte 
F. das Ferripyrin in Pulverform pure. 

Eine calmirende, schmerzstillende Wirkung wurde nicht beobachtet. 


Ein Gemisch von Jodoform und Calomel zu gleichen 
Theilen verwendet Sprengel (Braunschweig) seit Jahren zum Ein* 
streuen und Einreiben in solche Wunden, die entweder ihrer Natur 
nach zur Zersetzung neigen oder welche von anhaftenden pa¬ 
thologischen Massen nicht völlig befreit werden können. Es 
handelte sich hauptsächlich 1. um Tracheotomieen, 2. um die wegen 
Knochen- und Gelenktuberculose gemachten Eingriffe. Bei 1. war der 
Wundverlauf ausnahmslos ein günstiger; nie kam es zu diphtherischer 
Wunderkrankung. Bei 2. erwies sich die S.’sche Aetzmischung dadurch 
als besonders vortheilhaft, dass sie die feste Verklebung des Tampons 
mit der Wundfläche verhinderte; es konnte daher — im Gegensatz zu 
der Bonst meist sehr schmerzhaften Manipulation der Tamponentfernung 
— die Gaze nach der gewöhnlichen Zeit von 3—4 Tagen ohne alle 
Schwierigkeit und ohne den geringsten Schmerz aus der Wunde gehoben 
werden. 

Irgend welche toxischen Erscheinungen von Seiten des in der Wunde 
sich entwickelnden Hydrargyruro bijodatum wurden nicht beobachtet, 
selbst nicht bei Anwendung der grössten Menge des Aetzmittels (4 1 /, gr). 

Auch in Form von Stäbchen und Kügelchen (hergestelt mit Cacao- 
butter) wurde das Mittel in Fisteln und Höhlenwunden ohne jeden 
Nachtheil eingeführt. (Centralblatt f. Chirurgie No. 5, 1897.) 


G. Scognamiglio (Neapel) wandte das Tannalbin als Darm¬ 
adstringens bei acuter und chronischer Enteritis catarrhalis 
in 18Fällen und bei Tuberculosis intestinalis in 7 Fällen mit bestem 
Erfolge an. Das Mittel brachte die mit den üblichen Antidiarrhoicis lange 
vergeblich behandelten quälenden Durchfälle schon nach kurzer Zeit zu 
dauerndem Verschwinden. Dosis pro die 2—5 gr. Dauer der Anwendung 
bei Enteritis catarrhalis 2—9 Tage, bei Tuberculosis intestinalis 10 bis 
15 Tage. Ueble Nebenwirkungen traten niemals auf. Das Tannalbin 
ist nach S. unbedingt an die Spitze der bis jetzt in Anwendung gezoge¬ 
nen Darmadstringentien, einschliesslich des Wismuths, zu stellen. Auch 
in Fällen von Albuminurie (u. a. bei acuter Nephritis) will 8. das 
Tannalbin wirksam befunden haben. (Wiener med. Blätter No. 2, 1897.) 

Lr. 


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152 


No. 7. 


HEKLIXEK KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


IX. Tagesgeschichtliche Notizen. 

— Berlin. In der Sitzung der Berliner medicin. Gesellschaft 
am 10. d. M. hielt Herr Dr. Kirchner als Gast den angekündigten 
Vortrag über die Könerkrankheit, zur Discussion sprach Herr Hirsch¬ 
berg. 

— In der Sitzung der Gesellschaft der Charite-Aerzte vom 
11. d. M. sprach Herr Kolle über specifische Blutbefunde bei Typhus, 
im besonderen über die sog. „Widal’sche Rcaction“. (Disc.: Herr Bus- 
8eniu8.) Herr Burchardt stellte eine Anzahl von Patienten vor, 
und zwar erstens solche mit interstitieller, luetischer Keratitis und ver¬ 
schiedenen Zahnveränderungen, sodann einige mittelst Chinin, tannic- mit 
bemerkenswerthem Erfolg behandelte Trachomfälle. Endlich trug Herr 
St rau ss über rheumatische Muskelschwielen vor. (Disc. Herr Wegener.) 

— Zu dirigirenden Aerzten des städtischen Krankenhauses in Char¬ 
lottenburg sind für die innere Station Stabsarzt Dr. Grawitz und für 
die äussere Prof. Dr. Hildebrand gewählt worden. 

— Der diesjährige Chirurgencongress wird vom 21.—24. April 
in Berlin stattfinden; für den ersten, zweiten und dritten Sitzungstag 
sind folgende Gegenstände auf die Tagesordnung gesetzt: 1. Die chirur¬ 
gische Behandlung des Magengeschwürs (Ref. v. Leube und Mikulicz); 

2. Die Bedeutung der Röntgenstrahlen für die Chirurgie (Ref. Kümmell); 

3. Die operative Behandlung der Prostatahypertrophie (Ref. Helferich). 
Auf Wunsch maassgebender Mitglieder wird die weitere Besprechung 
der operativen Behandlung der angeborenen Hüftverrenkung von der 
Tagesordnung dieses Congresses ausgeschlossen, da erst weitere Erfah¬ 
rungen gesammelt werden sollen. 

— Der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheits¬ 
pflege hält seine diesjährige Jahresversammlung vom 14.—17. Septbr. 
in Karlsruhe ab. Folgende Themata sollen zur Verhandlung kommen: 
1. Der augenblickliche Stand der Wohnungsdesinfection. 2. Die Be¬ 
kämpfung des Alkoholismus. 3. Die Nahrungsmittelfälschung und ihre 
Bekämpfung. 4. Die Vorzüge der Schulgebäudeanlagen im Pavillon¬ 
system für die Aussenbezirke der Städte. 5. Vortheile und Nachtheile 
der getrennten Abführung der Meteorwässer bei der Canalisation grosser 
Städte. (5. Die Verbreitung der Infectionskrankbeiten in Badeorten und 
Sommerfrischen und die Maassregeln zum Schutze der Bewohner und 
Besucher solcher Orte. 

— Die elfte Versammlung der Anatomischen Gesellschaft 
wird in Gent, 24.—27. April 1897, unter dem Vorsitz des Herrn Geh.- 
Itath Prof. Dr. Waldeyer stattfinden. Die Vorträge und Demonstra¬ 
tionen müssen spätestens 8 Tage vor Beginn der Versammlung beim 
Schriftführer (Prof. K. v. Bar de leben, Jena) angemeldet werden. 

— Die XVIII. öffentliche Versammlung der Bai neologischen Ge¬ 
sellschaft zu Berlin wird am Donnerstag, den 11. März, eröffnet 
werden. Abends 6 Uhr wird Herr Lassar seine dermatologischen Pro- 
jectionsbilder im Hörsaale, Karlstr. 19, demonstriren. Abends 8 Uhr: 
Vortrag des Herrn Neisser-Breslau: Die Syphilisbehandlung und 
Balneotherapie. Freitag, den 12. März, Vormittags 11 Uhr: Besich¬ 
tigung des Hygieneinstituts und des Hygienemuseums, Klosterstr. 36, 
unter gefälliger Führung des Herrn Rubner. Aus der Tages-Ordnnng 
der Sitzungen ist hervorzuheben: Herr Goldstein-Berlin: Ueber die 
Einwirkung der Kathodenstrahlen. Herr Hansemann-Berlin: Ueber 
Heilung und Heilbarkeit mit Demonstrationen. Herr Eulenburg- 
Berlin: Ueber Bewegungstherapie bei Gehirn- und Rückenmarks¬ 
krankheiten. Herr Joseph-Landeck: Beitrag zur Symptomatologie 
der Neurasthenie. Herr Mendelsohn-Berlin: Zur Behandlung der 
Nieren- und Blasensteine durch Mineralwässer. Herr Stifler- 
Steben: Untersuchungen über die Wirkung künstlicher Bäder. Herr 
Liebreich-Berlin: Ueber Mineralwasserfüllung behufs analytischer 

Untersuchungen. Herr Im mel mann -Berlin: Der gegenwärtige 

Stand der Behandlung von Erkrankungen der Athmungsorgane 
mittelst verdichteter und verdünnter Luft. Herr Fischer-Arosa: Die 
Wirkung der klimatischen Factoren der Höhencurorte unter einem neuen 
Gesichtspunkte. Herr Schuster-Nauheim: Ueber Palpation der Bauch¬ 
organe im warmen Vollbade. Herr Immelmann-Berlin: Ueber den 
therapeutischen Werth von Lignosulflt-Inhalationen. Herr Lenn6- 
Neuenahr: Ueber künstliche und natürliche Mineralwässer. Herr 

Winternitz-Wien: Hydrotherapie der Basedow’schen Erkrankungs¬ 
formen. Herr Strasser-Wien: Diabetes und Hydrotherapie, u. A. m. 

— Herrn Dr. L. Rehn, Frankfurt a. M., Oberarzt an der chirurgi¬ 
schen Abtheilung des dortigen Krankenhauses, ist der Titel Professor 
verliehen worden. 

— Die Sterbekasse Berliner Aerzte (Bureau Adlerstr. 12) hat 
ihren 3. Rechnungsabschluss pro 1896 herausgegeben, dem wir folgende 
Daten, welche von allgemeinem Interesse für die betheiligten Kreise 
sein dürften, entnehmen. 

Die Einnahme betrug 2298 Mk. 25 Pf. (und zwar für Eintrittsgelder 
und Beiträge 1898 Mk., an Zinsen von Effecten 400 Mk. 25 Pf.), der 
eine Ausgabe von 994 Mk. 77 Pf. (für Verwaltungskosten, 100 Mk. 
Sterbegeld und 640 Mk. Stempelgebühr für eine Schenkungsurkunde) 
gegenübersteht. — Der erste Todesfall seit dem Bestehen der Kasse ist 
erst im Januar 1896 eingetreten und sind, da der betr. Arzt im März 
1894 beigetreten war, 100 Mk. zur Auszahlung gelangt. 

Der Baarbestand am 1. Januar 1897 betrug 690,82 Mk., der 
Effectenbestand bei der Reichsbank dagegen 18500 Mk. Nominal. 


Diesem Bestände sind an Einnahmen pro 1897 für laufende Mitglieder- 
bciträge jetzt schon wieder 1900 Mk. hinzu getreten. Die Mitgliederzahl 
betrug am 31. Decbr. 1895 151, am 31. Decbr. 1896 159 (darunter 
2 Ehrenmitglieder), dazu kommen 4 im Januar dieses Jahre« Neuge¬ 
meldete. — An Zuwendungen hat die Kasse bisher erhalten vom Rechts¬ 
schutz-Verein Berliner Aerzte 8000 Mk. und von einzelnen Aerzten 
zusammen 965 Mk. 81 Pf. 

Der Eintritt von Aerzten, welche in Berlin und Umgebung wohnen, 
ist bis zum 60. Lebensjahre gestattet und haben die Mitglieder einen 
nach dem Lebensalter bemessenen Beitrag, welcher sich zwischen 8 bis 
25 Mk. bewegt, zu entrichten. Der einmal normirto Beitrag wird nicht 
erhöht, auch wenn das Mitglied in eine höhere Altersstufe aufgerückt 
ist. Das Sterbegeld beträgt vorerst 300 Mk. Ehrenmitglieder können 
diejenigen Aerzte werden, welche einen 'einmaligen Beitrag von minde¬ 
stens 300 Mk. zahlen. Die Sterbekasse steht unter Staatsaufsicht und 
hat Corporationsrechte. 

— Ueber das Yersin’sche Pestserum und seine Erfolge gab 
Roux in der Sitzung der Pariser Academie de Medecine am 26. Jannar 
einen zusammenfassenden Bericht, den wir, obwohl die Tbatsacben früher 
schon mitgetheilt sind, hier nochmals erwähnen. Danach hat Tersin 
bisher 26 Personen mit seinem Serum behandelt, 24 genasen nach In- 
jectionen von 40—60 ccm, meist nach wenigen Stunden bis Tagen, 
2 starben; bei dem Einen war die Injection erst am 5. Krankheitstage 
gemacht, der andere war von vornherein ein sehr schwerer Fall. Da 
sonst die Pest eine Mortalität von 80 pCt. hat, glaubt Roux, trots der 
kleinen Zahl der Fälle, an der Wirksamkeit des Serums nicht zweifeln 
zu dürfen. Yersin selbst giebt in der Januar-Nummer der Annales de 
Tlnstitut Pasteur weitere Mittheilungen, namentlich über seine Thier¬ 
experimente (successive Immunisirung von Pferden mit Reinculturen des 
Pestbacillus, Prüfung des Serums an Mäusen). Das Problem der Pest¬ 
behandlung erklärt Y. durch seine Versuche für gelöst, die einzige Auf¬ 
gabe ist jetzt die Herstellung grösserer Mengen des Serums. 


X. Amtliche Mittheilungen. 

FerMnalia. 

Auszeichnungen: Charakter als Geheimer Sanitätsrath: die 
Sanitätsräthe Dr. Junge in Berlin und Dr. Lindau in Thorn. 

Charakter als Sanitätsrath: die Aerzte Dr. Gericke, Dr. 
Schroeder, Dr. Paterna, Dr. Settegast, Dr. Gustav Riedel, 
Dr. Werner, Dr. Engel, Dr. Weitling und Dr. Benicke in 
Berlin, Dr. Hermkes, Dr. Keimer und Dr. Groos in Düsseldorf, 
Dr. Ahrens in Drochtersen, Dr. Tüetel in 8cbwerte, Dr. Fuhlrott 
in Remscheid, Dr. Krieg in Merseburg, Dr. Lodemann in Hameln, 
Dr. Kaempf in Magdeburg, Dr. Uechtritz in Oebisfelde, Dr. Ger¬ 
stein in Dortmund. 

Niederlassungen: die Aerzte Kozielski in Rogasen, Dr. Babucke 
in Sassen, Dr. Bier, Dr. Göppert, Dr. Gutheil, Dr. Lenthe, Dr. 
Ludwig Meyer, Dr. Rosen, Dr. Rothschild und Dr. Schmeden. 
in Berlin, Dr. Hartmann in Hemelingen, Dr. Daacke in Altenbrach, 
Dr. Fischer in Finsterwalde, Dr. Schuttes in Nordhausen. 

Verzogen sind: die Aerzte Dr. Born von Jena nach Tucbeband, Dr. 
Bethge von Berlin nach Kriescht, Dr. Nonnig von Giehichenstein 
nach Wiesbaden, Dr. Langheinrich von Wippra nach Mansfeld, 
Stabsarzt Dr. Grueder von Spandau nach Annaburg, Dr. Neumann 
von Hannover nach Annaburg, Dr. Weissenstein von Uder, Dr. 
Foerstemann von Berlin nach Nordhausen, Walbaum von Barg- 
damm nach Scheessel, Dr. Sch wabe von Gartow nach Hirschbergi.Schl., 
Röhrs von Hildesheim nach Gartow, Dr. Wrege von Schnackenborg 
nach Rüdersdorf-Kalkberge, Dr. Theben von Telgte nach Scbnacken- 
burg, Dr. Haber kan d von Danzig nach Tapiau, Stabsarzt Dr. W e b e r 
von Königsberg i. Pr. nach Metz, Dr. Wicherkiewicz von Danzig 
nach Posen, Dr. 8cbubert von Kirberg nach Rawitsch, Wende von 
Königsberg i. Pr. nach Posen; nach Berlin: Dr. Bracht von Not¬ 
tuln, Dr. Ehrenfried von Colonie Grunewald, Dr. Friedenheim 
von München, Dr. Georg Friedländer von Spandau. 

Gestorben sind: die Aerzte Geh. Sanitätsrath Dr. Doebbelin in Berlin, 
Dr. Weineck in Tucheband. 


■fkannlaaehancrn. 

Die mit einem jährlichen Gehalt von 900 M. verbundene, durch Tod 
erledigte Kreis-Physikatsstelle des Kreises Mohrungen soll wieder be¬ 
setzt werden. Geeignete Bewerber fordere ich auf, sich unter Ein¬ 
reichung der erforderlichen Zeugnisse und eines Lebenslaufes bis zum 
15. März d. J. bei mir zn melden. 

Königsberg, den 31. Jannar 1897. 

Der Regierungs-Präsident. 


Die Kreiswundarztstelle des Kreises Wittlich ist neu zu besetzen. 
Bewerber um dieselbe wollen sich innerhalb vier Wochen unter Ein¬ 
reichung der vorgeschriebenen Zeugnisse und eines Lebenslaufes bei mir 
melden. 

Trier, den 30. Januar 1897. 

Der Regierungs-Präsident. 


Für die Redaction verantwortlich Och. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald, LütsowplaU 5. 


Verlag und Eigenthum von August Hirschwald in Berlin. — Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin. 


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Oie BekUnrr Klinische Wochenschrift erscheint jeden "T\ | ~fl % f fl Kinsenduugcn wolle ra«n portofrei an die Redaclloh 

Montag ln der Stärke von 2 bis S Bogen gr. 4. — Ij ' 1 9 I I % Ij ' B 9 (W. LQtcowplati No. & ptr.) oder an die Verlags- 

Preis vierteljährlich 6 Mark. Bestellungen nehmen I J P j Big W P i l | buchhandlung von August Hirschwald in Berllu 

alle Buchhandlungen und Postanstalten an. If lJl lj lJI * M A M mJ N.W. Unter den Linden No. 68, adressiren. 



Organ für practische Aerzte. 

Mit Berücksichtigung der preussischen Medicinalverwaltung und Medicinalgesetzgebung 

nach amtlichen Mittheilungen. 

Redaction: Expedition: 

Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald und Prof. Dr. C. Posner. August Hirschwald, Verlagsbuchhandlung in Berlin. 


Montag, den 22. Februar 1897. 8. 


Vierunddreissigster Jahrgang. 


INHAL T. 


I. O. Vicrordt: Zur Klinik der Diphtherie und der diphtheroiden 
Anginen. 

II. O. Israel: Ueber den Tod der Zelle. 

III. Aus Dr. Abel’s Privat-Frauenklinik zu Berlin. Abel: Ergotinol 
(Vosswinckel) als Ersatz für Ergotin. 

IV. K. Bornstein: Ueber Fleischeraatzinittel. 

V. Kritiken und Referate. Davy: Physiologie der Kohlenhydrate; 
Opel: Lehrbuch der vergleichenden mikroskopischen Anatomie der 
Wirbelthiere. (Kef. Ewald.) — Lewin: Lehrbuch der Toxikologie. 
(Ref. Husemann.) — Determann: Migräne; Flechsig: Die 
Grenzen geistiger Gesundheit und Krankheit; Jaquet: Abstinenz¬ 
frage; Rubinstein: Hamlet als Neurastheniker. (Ref. Lewald ) 

VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Berliner me- 
dicinische Gesellschaft. Ben da: Cholesteatom des Gehirns. Levy: 


I. Zur Klinik der Diphtherie und der diphthe¬ 
roiden Anginen. 

Von 

Prof. Dr. 0. Vierordt 

Director der medicinischen Poliklinik in Heidelberg. 

Nachdem seit einigen Jahren in aller Welt die bacteriolo- 
gisehe Untersuchung der Raelienerkrankungen geiibt wird, er¬ 
wächst für alle diejenigen, welche gewisse Bacterien rückhaltlos 
als die Erreger bestimmter Anginaformen anerkennen, die Pflicht, 
hieraus für die Klinik die Consequenzen zu ziehen, d. h. vor 
Allem die klinische Eintheilung und Beurtheilung dieser Erkran¬ 
kungen den bacteriologischen Befunden unterzuordneu. Es war 
zu erwarten, dass es hiebei zu einer Umformung mancher bisher 
bestehenden Anschauung kommen werde. Im Vordergrund des 
Interesses stand von vorne herein aus wissenschaftlichen sowohl 
als practischen Gründen die Diphtherie. 

Was umgeformt werden musste, das war die Gruppirung, 
Begriffsbestimmung und Bezeichnung der Anginen, je nachdem 
sie als durch den Löftlerbacillus erzeugt anzusehen sind oder 
nicht. Daran schliesst sich fllr den Kliniker die sofortige weitere 
Aufgabe der Diflerentialdiagnose der so getrennten Formen und 
insbesondere auch die Frage, ob die neu unterschiedenen Angi¬ 
nen sich ohne den umständlichen bacteriologischen Versuch kli¬ 
nisch auseinanderhalten Hessen, d. h. ob es gelingen werde, den 
Anginaformen ihre bacterielle Natur ohne weitere Hilfsmittel an¬ 
zusehen oder nicht. Zu diesem letzteren Punkt seien ein paar 
allgemeine Bemerkungen gestattet. 

Zn der Diagnose mit den möglichst einfachen Mitteln 
zu gelangen, wird immer das bewusste Ziel der Klinik bleiben 
müssen; so selbstverständlich das erscheinen mag, es muss doch 
heutzutage aus besonderen Gründen immer wieder betont werden. 


Knochenerkrankungen der Perlmutterdrechsler. Kirchner: Be¬ 
kämpfung der Körnerkrankheit — Verein für innere Medicin. 
Ewald, Karewski, Marcuse, Stadelmann, Rosen heim, 
Ileymann: Demonstrationen. Discussion über Karewski: Peri¬ 
typhlitis bei Kindern.— Gesellschaft der Charite-Aerzte. Jolly: 
Muskelatrophie. Burchardt: Körnerkrankheit. Strauss: llyper- 
seeretio ventriculi. — Aerztlicher Verein zu Hamburg. Saen- 
ger, Urban, Wiesinger, Kümmell, Grüneberg, Len- 
hartz: Demonstrationen. Discussion über Rumpel: Idiopathische 
Oesophaguserweiterungen. 

VII. Wiener Brief. — VIII. Die freie Arztwahl in Wien. 

IX. Literarische Notizen. — X. Praktische Notizen. 

XI. Tagesgeschichtliche Notizen. 

XII. Amtliche Mittheilungen. 


Ich habe früher hiefür einzutreten versucht') und ich linde, man 
muss Sahli dankbar sein, dass er diesen Grundsatz in der Frage 
der Diphtheriediagnose kürzlich energisch hervorgehoben hat 2 ). 
Wir sollen die einfachsten Mittel anstreben, nicht nur aus dem 
rein practischen Gesichtspunkt, dass viele Aerzte keine Zeit und 
keine Hilfsmittel zu complicirteren Verfahren haben, sondern, 
weil wir überhaupt die Diagnose so viel als irgend möglich am 
Kranken seihst zu vollenden suchen müssen. Je weniger der 
Arzt Mikroskop und Reagensglas nöthig hat, je mehr er dafür 
am Krankenbett bleibt, desto mehr wird er diejenige Umsicht 
bewahren, mit der allein er die Wirkungen einer krankmachen¬ 
den Schädlichkeit auf seinen Patienten übersehen kann, mit der 
allein er zu individualisireu vermag. Die chemische Reaction 
und das Mikroskop, sie lehren in oft unübertrefflich klarerWeise 
die Krankheitsform bestimmen, allein zur Beurtheilung des Einzel¬ 
falles genügen sie nicht; wir aber wollen nicht Krankheitsformen 
behandeln, sondern Kranke. 

Insbesondere sind es die bacteriologischen Untersuchungen 
welche zwar nicht bei allen, aber doch bei der Mehrzahl von uns 
Aerzten den ätiologischen Schematismus fördern, indem sie das 
Interesse für die umsichtige Gesammtbeurtheilung des Einzel¬ 
falles mindern. Es wäre daher im Sinne des klinischen Den¬ 
kens ein hohes Ziel, an der Hand der bestimmten Aufschlüsse, 
welche die Bacteriologie uns Uber die Natur mancher infectiösen 
Krankheit giebt, deren klinische Kenutniss so zu verfeinern, 
dass wir die Diagnose später wieder ohne Präparat und 
ohne Platte machen könnten. Nichts wäre beispielsweise er¬ 
freulicher, als wenn die sichere und scharfe Diagnose der 
Lungentuberculose aus dem Sputum, wie dieselbe nun seit bald 
15 Jahren geübt wird, uns zu einer so vervollkommnten Beur- 


1) Diagnostik d. inneren Krankheiten. Vorrede z. 1. Aufl. 1888. 
‘2) Correspondenzbl. f. Schweizer Aerzte 1895. 


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No. n. 


BERLINER KLINISCHE \VO(’HENs<llRlFT. 


_ m 

theilung des Brust- und Allgemeinbefundes der Lungenkranken 
geführt hätte, dass wir in Zukunft der Sputumuntersuchung wie¬ 
der entbehren könnten. Die Sorgfalt der ßrustuntersuchuug und 
der individuellen Beurtheilung des einzelnen Patienten als eines 
Ganzen würde nur gewinnen, wenn das Schlagwort: „er hat Ba¬ 
cillen“ aufhören würde, das Alpha und leider oft auch das 
Omega der ärztlichen Ucberlegung zu sein. 

Das kann man unter Anderem auch auf die Anginen an¬ 
wenden; auch hier könnte die Befreiung von der bacteriologi- 
schen Untersuchung uns Kliniker nur fördern, um so mehr, da 
es sich hier vielfach um rasch ansteckende und so sich verbrei¬ 
tende Krankheiten handelt, deren Diagnose nicht durch zeit¬ 
raubende Verfahren aufgehalten werden sollte. 

Die Sache hat nun aber freilich auch eine andere Seite : indem 
wir darnach streben, unsere Kräfte am Krankenbett selbst zu¬ 
sammenzuhalten, müssen wir uns denn doch der Grenzen unseres 
Wissens und Könnens bewusst bleiben, und wir dürfen die um¬ 
ständlicheren Methoden nicht als entbehrlich bezeichnen, bevor 
wir wirklich auch ohne sie exact zu sein gelernt haben, auch 
wenn diesen Methoden alle die Unannehmlichkeiten anhaften, 
von denen vorhin die Rede war. 

Die bacteriologische Diagnostik der Diphtherie hat nicht in 
dem Maasse wie z. B. die der Tuberculose die Unannehmlich¬ 
keit, dass sie der umsichtigen Beurtheilung des Gesammt- 
bildes Abbruch thut, denn das Krankheitsbild ist bei diesem 
Leiden rascher überblickt und auch nicht so chamäleonartig 
wechselnd, wie z. B. das der Lungentuberculose, es ist, wenn 
man will, in Wirklichkeit schematischer. Hier liegt vielmehr 
der hauptsächliche Nachtheil in etwas Anderem: in der ausser¬ 
ordentlichen Umständlichkeit des bacteriologischen Verfahrens. 
Denn bekanntlich führt die mikroskopische Untersuchung allein 
hier nur in einem kleinen Theil der Fälle und nur für den be¬ 
sonders Geübten zum Ziel, und meist ist das Plattenverfahren 
nöthig. Ausserhalb der Krankenhäuser, in denen selbst übrigens 
bei starkem Andrang von Diphtherie das Verfahren nur mühsam 
durchgeführt werden kann, — und ausserhalb der grösseren 
Städte, in denen sich besondere bacteriologische Anstalten ren- 
tiren, wird deshalb die bacteriologische Diagnose der Diphtherie 
so gut wie nicht durchführbar sein. Damit müssen wir rechnen> 
und wir haben hier daher ganz besonderen Grund, die Difte“ 
rentialdiagnose ohne bacteriologische Hilfsmittel nach Möglich¬ 
keit zu verfeinern. Darin stimme ich mit Sahli und Anderen 
völlig überein; es frägt sich nur, wie weit wir hier bisher ge¬ 
kommen sind. Die aus der Berner Klinik stammende Arbeit 
von D euch er ist ohne Zweifel diejenige, welche am weitesten 
in der Betonung der Möglichkeit der Diphtheriediagnose mit 
blossem Auge geht; wenn man aber das liest, was D. als die 
charakteristischen Eigenschaften der Rachendiphtherie bezeichnet, 
so muss man sich sagen: so weit waren wir kurz vor der Löffler- 
schen Entdeckung auch, nachdem damals gerade eine Reihe von 
Autoren, vor allen Anderen Heubner, sich um die schärfere 
klinische Definirung der Bretonneau’sehen Diphtherie verdient 
gemacht hatten. Demnach würde uns die ganze klinische Schu¬ 
lung, welche auf den bacteriologischen Befunden fusst, nicht 
weiter gebracht haben. Hiermit steht das Hauptergebuiss dieser 
(im Uebrigen vortrefflichen) Arbeit, wornach die bacteriologische 
Diagnose im Allgemeinen bei der Diphtherie entbehrlich sei, 
nach meinem Dafürhalten nicht ganz in Einklang. 


Der Diphtheriebacillus wird bekanntlich ausser bei membra- 
nösen auch noch bei andersartigen Anginen getroffen, und zwar 
in einem Theil dieser Fälle unter Umständen, welche seine Rolle 
als Erreger der Angina als zweifellos erscheinen lassen; es gilt, 
fcstzustellcn, ob diese nicht - membranösen bacillären Anginen 


nach der Häufigkeit ihres Vorkommens eine erhebliche Bedeu¬ 
tung haben, und wie sie von gutartigeren Anginen unterschieden 
werden können. Umgekehrt giebt es. ausser dem Scharlach- 
diphtheroid, noch andersartige diphtherieartig aussehende Angi¬ 
nen, welche nicht bacillär und dementsprechend auch gutartig 
sind: aueji von diesen wissen wir nach einer Reihe von deut¬ 
schen und insbesondere auch französischen Arbeiten kaum mehr, 
als dass sie eben Vorkommen. Hier ist noch ein reiches Feld 
des Studiums. 

Ich glaube, auf Grund meiner Erfahrungen, welche sich auf 
über 3ÜOO sämmtlich mit Plattenverfahren controlirte Fälle beziehen, 
unsere Kenntnisse in den angedeuteten Richtungen etwas erwei¬ 
tern zu können. Meine Mittheilungen werden sich im Wesent¬ 
lichen beschränken auf nicht membranöse, aber durch den Löftfer- 
hacillus verursachte Anginen, und ferner auf solche Anginen, 
welche diphtheroid aussehen, indess den Löftierbacillus ver¬ 
missen lassen. Bei der ersten Classe galt es, Täuschungen 
durch nicht pathogene „Pseudodiphtheriebacillen“ oder „aviru- 
lente Diphtheriebacillen“ zu vermeiden: wie das geschehen ist, 
wird unten erörtert werden. 

Als Nährboden für die Cultureu wurde fast ausschliesslich 
der Deycke’sehe Alkalialbumiuatagar verwandt, der, besonders, 
wenn man Merabrantheilchen oder Pfropfe auf frisch erstarrten 
Platten ausstreicht, vorhandene Bacillen nach unserer Erfah¬ 
rung mit grösster l’räcision zur Entwickelung bringt. Er muss 
allerdings sehr sorgfältig hergestellt sein. 

I. Die bacillär befundenen Rachenaffectionen. 

Die Schilderung der Befunde bei unzweifelhafter membra- 
nöser Angina mit einer Membranbildung, welche die Tonsillen¬ 
grenze überschreitet, soll hier bei Seite bleiben. Bekanntlich 
machen diese Formen nur gelegentlich diagnostische Schwierig¬ 
keiten gegenüber dem Scliarlachdiphtheroid, worauf hier nicht 
eingegangen werden kann. 

Die rein tonsillare membranöse Diphtherie mit 
Bacillenbefund stellte sich in der Mehrzahl der Fälle so dar, 
dass entweder ein grosser, derber festhaftender weisslicher Be¬ 
lag die ganze Tonsillaroberffäehe bedeckte, oder kleine getrennte 
inselförmige Belege auftraten, welche zum Theil oder vorwiegend 
an erhabenen Stellen der Tonsillen sassen, grauweisse Farbe 
zeigten und entweder ziemlich fest oder aber auch lockerer auf 
dem Tonsillargewebe hafteten; bei Wegnahme oder nach Spon- 
tanabstossung eines solchen inselförmigen Belags kam gar nicht 
selten ein richtiger weisslicher oder auch gelblicher lacunärer 
Pfropf zum Vorschein. Auch nach der Abstossung confluirter, 
die ganze Tonsillaroberffäehe bedeckender Beläge erschienen 
mehrfach lacunäre Pröpfe, die zuweilen im Gegensatz zur Farbe 
des abgestossenen Belags gelblichweiss waren. — Nach der 
Wegnahme festhaftender Beläge erschien die Schleimhaut in der 
bekannten Weise leicht blutend, aber nicht ulcerirt. 

Typische lacunäre Angina, d. h. Tonsillarangina mit 
gelblichen oder gelbweissen, in der Tiefe der Lacunen sitzenden, 
leicht ausdrUckbaren oder ausziehbaren Conglomeraten von breiiger 
Consistenz, haben wir überhaupt im Laufe dieser zwei Jahre 
nicht allzu selten mit dem Befund von Bacillen auf den Platten 
vergesellschaftet gesehen. Da diesen Befunden erhebliche 
Bedeutung beizumessen ist, so mussten die Beobachtungen 
nach verschiedenen Gesichtspunkten gesichtet werden. Einmal 
sollen hier diejenigen Fälle bei Seite bleiben, in denen lacunäre 
Pfröpfe, wenn auch von der ganz typischen Beschaffenheit, 
d. li. tietsitzend, gelblich, weich und leicht ausdrückbar, nur als 
nebensächlicher Befund bei ausgesprochener Diphtherie vorkamen. 
Ferner aber galt es, unter den Lacunaranginen mit Bacillen¬ 
befund diejenigen auszuschalten, bei denen es sich möglicher- 


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22. Februar 1H97. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


weise um Pseudodiphthcriebacillen bezw. um avirulente Lüffler- 
bacillen handelte. Dies ist dadurcli geschehen, dass nur Anginen 
mit massenhaftem Wachsthum von Racillenculturen auf der Platte, 
bezw. solche mit virulenten Bacillen, und ferner solche Anginen 
verwerthet sind, welche sich (neben dem Bacillenwachsthum) im 
weiteren Verlauf durch Entwicklung unzweifelhafter membranöser 
Diphtherie, oder durch Complication mit Larynxcroup oder 
echten diphtheritischen Lähmungen als bacillär im strengen 
Sinne erwiesen. — Die noch immer offene Frage, ob es eine 
selbstständige Gattung, bezw. Gattungen von Pseudodiphtherie¬ 
bacillen giebt, bleibt auf diese Weise ganz unberührt. 

Derart einwandfreie Fälle von vollkommen typischer Lacu- 
narangina, verursacht durch den Löffler'sehen Diphtheriebacillus, 
bleiben dann acht, welche wir kurz skizziren: 

1. 3V,jähr. Mädchen H. St., 3. VII. 95 anfgenommen mit den Er¬ 
scheinungen einer sehr grossen Ovarialcyste (später operirt: congenitale 
Lymphcyste). Bei der Aufnahme fiel Köthung des Rachens auf. 

6. VII. 95. Abends 89,2. Diffuse catarrhalische Angina; in einer 
Krypte der rechten Tonsille ein typischer lacunärer Pfropf. 

7. VII. Mehrere Pfropfe rechts; massiges Fieber, geringe Driisen- 
schwellung. 

8. VII. Auf der rechten Tonsille ein kleiner Belag, ein eben¬ 
solcher links. 

9. VII. Belag beiderseits etwas ausgebreiteter, aber auf die Ton¬ 
sillen beschränkt. Temp. 39,0—89,5. Seruminjection. 

10. VII. Belag rechts verschwunden, nunmehr aber wieder mehrere 
graugelbe typische Pfropfe in Lacunen sitzend. Temperatur fiel zur 
Norm. Rasche Reinigung, Heilung. 

Die Deycke-Platte, am 7. angelegt, ergab am 8. reichliche Culturen 
von Diphtheriebacillen. 

2. 2'/Jähriges Mädchen, M. Z. 16. V. 95 aufgenommen: Coxitis; 
leichte Röthung und Schwellung im Rachen. 

17. V. Stärkere catarrhalische Angina; tieberlos. 

18. V. Temp. früh 39,1. Rechts in einer Lacune ein stecknadel¬ 
kopfgrosser graugelber Pfropf. Abends Temp. 89,9. Auch links ein 
typischer Pfropf, entnommen zur bacteriologischen Untersuchung. 

20. V. Heute ein Belag von diphtheritischem Charakter, punkt¬ 
förmig, gelblichweiss. aber an vorragenden Stellen der Tonsillen, und an 
einer Stelle auf den Gaumenbogen übergreifend. — Heilserum. — ln den 
folgenden Tagen geringe Ausbreitung, dann Reinigung. Temperaturabfall, 
aber in der Reconvaleseenz diphtheritische Lähmung (Gaumen, Abducens 
sin.; Mangel der Patellarreflexe). 

Deyke-Platte vom 18. V.: Löfflerbacillen. 

8. 5jähr. Mädchen E. Sch. 5. IX. 95 aufgenommen wegen „Mandel¬ 
entzündung“. Soll Bchon öfter Halsentzündung gehabt haben. Temp. 
88,0 bis (Abends) 38,6. Chronisch hypertrophische Tonsillen. In beiden 
Mandeln stecknadelkopfgrosse gelblichweisse weiche Pfropfe, in den 
Lacunen sitzend. Abends ein linsengrosser etwas derber Belag auf der 
Uvula. Geringe Drüsenschwellung. Heilserum. 

6. IX. 95. Beläge auf den Mandeln. Temp. 37,9—38,7. 

Durch mehrere Tage das Bild der Diphtherie mit iniissig schweren 
Allgemeinerscheinungen. 

Am 11. IX., nach Abstossung der Beläge, erscheinen wieder einige 
typische lacunare Pfropfe. 

Deycke-l'latte vom 5. zeigte am 6. Culturen von Löftlerbacillen. 

4. 2 1 /,jähriger Junge C. R. Aufgenommen 25. 111. 95 wegen 
CarieB genu. 

3. V. 96. Angina eatarrhalis. 

5. V. Temp. 38,0—39,3. Die linke Tonsille zeigt drei ganz harm¬ 
los aussehende, in den Lacunen sitzende, gelbweisse Pfropfe, völlig das 
Bild der lacunaren Angina. 

6. V. Pfropfe sehen lockerer, d. h. weniger eompakt aus; sonst: Gl. 

Deycke-Platte vom 5. ist positiv! Heilserum. 

7. V. Beiderseits grauweisse Beläge, welche auf die vorderen 
Gaumenbogen übergreifen, von diphtheritischem Aussehen. Temp. nor¬ 
mal. Rasche Reinigung in der Folge. 

5. 12jühriger Junge J. R. Aufgenommen 18. XII. 94 mit typischer, 
ausgebreiteter Rachendiphtherie. Platte ergab Reinculturen von Bacillen. 
Rückgang, am 21. kein Belag mehr (Heilserum). 

24. XII. Ein ausgesprochen lacunares Recidiv von zweitägiger 
Dauer. Bacillen. 

6. 17jähriges Mädchen, 6. VII. 95, am 3. Krankheitstag mit typi¬ 
scher lacunarer Angina, beiderseits mehreren gelblichen, tief in den 
Lacunen sitzenden, leicht ausdrückbaren Pröpfchen zur Beobachtung ge¬ 
kommen. 

Deycke-Platte ergab nur massenhafte Bacilleneulturen. Massiges 
Fieber, starke Beschwerden, mittelstarke Driisenschwellung. Rascher 
Rückgang. (Heilserum). 

7. lOjähriger Junge A. H. (Consult.) 24. X. 94 erkrankt mit Hals¬ 
schmerz ohne Fieber. 

25. X. Abends Temp. 39; typische einfache lacunare Angina. 

26. X. Früh Temp. 39,8. Lacunare gelbliche Pfropfe mit theil- 


155 

weise etwas Ausbreitung auf der Tonsillaroberfläche, nur auf den Tonsillen. 
Massige Röthung, keine Driisenschwellung. Heilserum. 

Platte: massenhafte Bacillen, fast ausschliesslich. Die Rachen- 
affection ging in den nächsten Tagen rasch zurück. 

8. 5jähriges Mädchen E. O. (Ein Bruder am Tage vorher wegen 
typischer bacillärer Diphtherie aufgenommen.) Erkrankung 1. I. 1897 
mit Fieber, Kopf- und Ilalsschmerz. Aufgenommen 2. I. 1897: Mittel- 
schwer; beide Tonsillen stark geschwollen und bedeckt mit Pfropfen, 
welche in der Tiefe der Lacunen sitzen, von gelbweisser Farbe, auf¬ 
fallend leicht herausgehend. Leichte Driisenschwellung. Vorsichthalber 
wegen Erkrankung des Bruders Heilserum. 

3. I. Pfropfe links geschwunden, nur noch rechts drei, typisch 
lacunar, ohne jede Beimischung von Eigentümlichkeiten diphtheritischer 
Beläge. Rasche Reinigung dann. 

Platte: grosse Massen von Culturen des LöfTlerbacillus. Bouillnn- 
cultur tödtete ein Meerschweinchen in 48 St. Typisch geschwollene 
Nebennieren, ein paar Ilämorrhagien an der Impfstelle, kein Pleura¬ 
exsudat. 

Diese Beobachtungen zeigen in unwiderleglicher Weise, wie 
nicht nur im Beginn der bacillären Angina, sondern auch in 
deren Verlauf eine in jeder Beziehung typische lacunare Ton¬ 
sillitis vorhanden sein kann. Weder ihre Farbe, noch ihr Sitz, 
noch ihre Consistenz, noch endlich die Festigkeit ihres llaftens 
liess diese Pfropfe von denen der harmlosen landläufigen Er¬ 
krankung unterscheiden. 

Dieses Bild bestand zumeist zu Beginn der Erkrankung, 
und zwar für 1—3 Tage, um dann der ausgesprochenen diphthe¬ 
ritischen Membranbildung Platz zu machen. Es stellte sich aber 
gelegentlich auch nach Abstossung von Membranen ein, und in 
diesem Falle kann man sich vielleicht vorstellen, dass unter der 
die Lacunen deckenden und abschliessenden Membran der stets 
in den Lacunen enthaltene Schmutz von Mundbacterien durch 
Stagnation Gewebsreiz und Eiterung erzeugte. — Wie aber 
aus No. G und 8 ersichtlich, kann eine bacilläre Lacunar- 
angina sogar im ganzen Verlauf rein lacunär bleiben. 

Nicht ohne Interesse ist dabei, dass mehrmals der bacillären, 
und zwar erst lacunären, schliesslich diphtheritischen Angina ein 
rein katarrhalisches Vorstadium von 1 —2 Tagen voraufging. 

Was das übrige Krankheitsbild betrifft, so Hessen diese 
durch bacilläre Infection erzeugten Lacunaranginen weder ört¬ 
liche, noch irgendwelche Allgemeinerscheinungen erkennen, welche 
zur Diflerentialdiagnose gegen gewöhnliche Lacunarangina hätten 
verwerthet werden können. Aus diesem Grunde sind auch die 
obigen kurzen Skizzen der Krankheitsbilder so unvollständig ge¬ 
halten. 

Welcher Werth ist dieser kleinen Beobachtungsreihe von 

acht Fällen unter 300 beizumessen? Ich bin geneigt, ihn 

nicht gering anzuschlagen und zwar aus folgendem Grunde: 
Derartige Krankheitsbilder kommen in den Kliniken unverhält- 
nissmässig selten zu Gesicht, weil diesen die Patienten gewöhn¬ 
lich erst zugeführt werden, wenn eine Angina deutlich diphthe- 
ritisch, meist sogar erst, wenn sie zur schweren Diphtherie ge¬ 
worden bezw. mit Croup complicirt ist. Es sind viel mehr die 

Collegen in der Praxis, welche diese Kranken sehen; diese iiuless 
sind in einem grossen Theil dieser Fälle nicht in der Lage, ein 
sicheres Urtheil zu fällen, ob es sich um Diphtherie handelt oder 
nicht, und dies um so weniger, da es ja doch ein zweifellos 
richtiger Schulsatz ist, dass auch die gewöhnliche Lacunarangina 
belagartiger Ausbreitung auf der Tonsillaroberfläche fähig ist, 
und diese Beläge sind von den diphtheritischen häufig nur durch 
den bacteriologischen Befund zu unterscheiden. 

Seltenere Bilder der bacillären Diphtherie. Mehr¬ 
mals habe ich auf mässig geschwollenen Tonsillen lacunäre 
Pfropfe gesehen, von denen aus rundliche, etwa linsengrosse, 
typisch diphtherisch aussehende, festhaftende Membranen sich 
wie platte Nagelköpfe auf die Tonsillaroberfläche fortpflanzten, 
derart, dass man an Nagelculturen erinnert wurde; dies Verhalten 
wurde deutlich, wenn man die dem Nagelkopf entsprechende 

1 * 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 8. 


i:>r» 


Membran mit der Pincette entfernte. Ferner beginnt die ba- 
cilläre Diphtherie zuweilen bei noch nicht geschwollenen Ton¬ 
sillen in deren obersten oder untersten Theilen; beide Male sind 
die kleinen Membranen ausgesprochen tief, selbst gleichsam ver¬ 
borgen liegend. Endlich kann man hier bei den den Larvnx- 
croup begleitenden Anginen kaum bemerkbare weisse Schleier 
haben; dies letztere durfte aber allgemein bekannt sein, ebenso 
wie es bekannt ist, dass beim Larynxcroup katarrhalische An¬ 
ginen Vorkommen, welche virulente Bacillen liefern, — was nicht 
Wunder nimmt, da Roux auf der normalen bezw. einfach ge- 
rötheten Schleimhaut in der Umgebung einer Rachenmembran 
virulente Bacillen gefunden hat. 

Schliesslich kann nun auch diejenige Form der Angina, 
welche Manche als necrotische Tonsillitis bezeichnen, und 
welche oft einseitig auftritt, auf bacillärer Infection beruhen, wie 
uns neulich die Erkrankung eines unserer Assistenten belehrte; 
nicht nur der Eintritt der Erkrankung kurz nach Uebernahme 
der Diphtheriestation und der massenhafte Bacillenbefund auf 
der Platte, sondern eine nachträgliche, ziemlich derbe Membran¬ 
bildung im Nasenrachenranm erwies den bacillären Charakter 
dieser Angina „necrotica“. 

II. Diphtheroid ohne Bacillen. 

Anginen von diphtherischem Charakter ohne Bacillenwachs- 
thura auf der Platte haben wir, vom Scharlach abgesehen, etwa 
15 gesehen. Keine derselben griff auf Nase oder Kehlkopf 
Uber, die Mehrzahl aber überschritt die Tonsillen nach dem 
Gaumen oder Rachen zu. Nachkommende Lähmungen wurden 
nicht beobachtet. Vollends gaben die begleitenden allgemeinen 
und örtlichen Erscheinungen keinerlei bestimmten Anhalt zur 
Diflerenzirung dieser Anginen. Einige derselben konnte man im 
Verdacht des Scharlachs haben, weil zu Beginn Erbrechen auf¬ 
trat, gelatinös-schmierige Beläge und ein etwas stärkeres diffuses 
Gaumenerythem bestanden, und weil auf den Platten Strepto¬ 
kokken wuchsen. Was die bacteriologischen Befunde desGenaueren 
betrifft, so ist leider einige Male nur die Abwesenheit von 
Löffler-Bacillen notirt; in den anderen Fällen fanden sich meist 
Streptokokken, aber auch Staphylokokken, und einmal ein nicht 
näher bezeichneter Diplococcus. 

Diese Anginen waren sämmtlich derart, dass sie weder nach 
den örtlichen, noch nach Allgemeinerscheinungen von der ba¬ 
cillären und auch von Scharlachdiphtherie unterschieden werden 
konnten. 

Ein besonderes diagnostisches Interesse scheint mir unter 
diesen Formen die recidivirende diphtheroide Angina 
ohne Bacillenbefund zu haben. 

Es giebt bekanntlich Personen, und zwar sowohl Erwachsene, 
als Kinder, welche an häufigen, d. h. alljährlich und öfter 
wiederkehrenden Anfällen von „Halsbräune“ leiden. Vor der 
Entdeckung des Löffler-Bacillus war mir mehrfach aufgefallen, 
dass diese recidivirenden Anginen zuweilen den ausgesprochenen 
Charakter der Diphtherie, übrigens meist der auf die Tonsillen 
beschränkten, trugen, wiewohl deren häufige Wiederkehr hiermit 
einigermaas8en in Widerspruch zu stehen schien. Es lag des¬ 
halb nahe, diese Anginen nicht als echt diphtheritische anzu- 
seheu, um so mehr, da sie, soweit meine Erfahrungen reichen, 
nie zu schwerer Rachendiphtherie, Croup u. s. w., und auch 
nie zu weiteren Infectionen in den betreffenden Familien führten. 

Seit der Einführung der bacteriologischen Untersuchung habe 
ich nur 3 solcher Beobachtungen exact durchführen können, und 
zwar eine bei einer Erwachsenen, zwei bei Kindern. Hier die 
kurzen Skizzen der Fälle: 

1. Fran v. R., 22 J., zart, anämisch, vielfach recidivircndc Anginen. 

10. 2. 1696 mässige Haisechmerzen, etwas Fieber, nur beiläufig 
gelegentlich einer Consultation in der Familie erwähnt. 


Allgemeinbefinden kaum gestört. Spar Drtlsenschwellung. 

Im Rachen chronisch-hypertrophische Tonsillen nnd ein exquisit 
diphtherischer Befund: beiderseits je eine doppellinsengrosse derbe:, 
grauweisse, die Kuppen der Tonsillen einnehmende, festhaftende Mem- 
ran. Keinerlei Zeichen von Scharlach. 

Verlauf ganz leicht; örtlich kein weiteres Fortschreiten. Nach zwei 
Tagen normal. 

Platte vom Abend des 10.: wenige Streptokokken, keine Cultur von 
Löfflerbacillen. 

2. K. W., 5'/,jähr. Junge. Hat schon oft Halsentzündung gehabt: 
ausserdem früher Rhachitis, Masern, Lungenentzündung. 

Seit 2 Tagen Kopf- und Halsweh, Erbrechen. 

15. 10 1895 wegen „Diphtherie“ aufgenommen. 

Leichtkrank, im Rachen ziemliche Schwellung, confluirender Belag 
auf beiden Tonsillen, links stärker, fast rein weiss, membranös, fest¬ 
haftend. — Drüsen kaum geschwollen. 

Nichts von Scarlatina. 

16. 10. Temperatur bis 40,0. Belag nahm aber ab, war am 

17. 10. abgestossen bei normaler Temperatur. 

Hinterher die Tonsillen hypertrophisch, zerklüftet. 

Platte vom 15.: keine Löfflerbacillen. 

8. J. B., 4 3 / 4 J- Mädchen. 1894 „Anfall von Diphtherie“. 

1895, am 23. Jannar wieder erkrankt mit Fieber, Schluckbeschwer¬ 
den, „Pfröpfen“ anf den Tonsillen. 

I. Aufnahme 27. 1. 95; mittelschwer, Temp.-Max. 89,8. 

Tonsillen etwas geschwollen, stark zerklüftet, beiderseits inselför¬ 
miger, exquisit dipbtheritischer Belag, links stärker, nichts von 
Pfröpfen. Mässige Drüsenschwellung. 

28. 1. Munter, Belag links geringer, rechts Btärker. Temperatur- 
Maximum 39,0. 

30. 1. Fieberlos. Früh Beläge weg, Abends zwei frische schner- 
weisse, ausgesprochen diphtheritisch aussehende, Beläge auf den Tonsillen. 

Dann rasche Reinigung. 

Platten bei zweimaliger Entnahme aus dem Rachen keine Bacillen. 

II. Aufnahme 20. 5. 95. Seit vier Tagen Halsschmerzen. 

Höchst veidächtig aussehender Rachenbefund. Beiderseits auf den 
unteren Partien der vergrösserten Tonsillen graue diffuse Beläge. Die 
Tonsillen nicht überschreitend, festhaftend; keine Spur von lacunären 
Pfröpfen. Temperatur 39,0; keinerlei Scharlachsymptome, auch ira 
Verlauf. 

21. 5. Rachen unverändert. 

23. 5. Nur noch anf der linken Tonsille ein 20-pfennigstückgrosser 
derber weisser Belag. Allg.-Bef. normal. 

26. 5. Normaler Befund. 

Platte vom 20. 5. keine Bacillen. 

Aus diesen Beobachtungen geht hervor, dass in der That 
recidivirende Anginen Vorkommen, welche den Charakter einer 
im llebrigen meist leichten Diphtherie tragen, ohne durch 
Diphtheriebacillen hervorgerufen zu sein. Möglich übrigens, dass 
es sich hier im anatomischen Sinne nicht um Diphtherie, son¬ 
dern nur um einen Croup (Diphtheritis superficialis nach neuerer 
Bezeichnung) handelt. Es liegt dann die Annahme nahe, 
dass bei manchen Personen nach mehrfachen Anginen eine 
örtliche Disposition der Gaumenschleimhant besteht, bei leichten 
entzündlichen bezw. bacteritischen, aber nicht bacillären Einwir¬ 
kungen ihr Epithel im Zustand der Coagulationsnecrose abzu* 
stossen und eine (’roupmembran zu produciren. 

III. Necrotische Anginen mit dem Befund von 
Staphylokokken. 

Staphylococcus pyogenes fand sich mehrfach als neben¬ 
sächlich erscheinender Begleiter von Löffierbacillen oder Strepto¬ 
kokken auf den Platten. In zwei zeitlich nicht weit auseinander¬ 
liegenden Beobachtungen aber handelte es sich um ein weit 
überwiegendes Staphylokokkenwachsthum und gleichzeitig um so 
eigenthümliche, mit einander übereinstimmende Anginen, dass 
dieselben hier erwähnt werden müssen, und sei es auch nur, 
um zur Mittheilung etwaiger ähnlicher Beobachtungen zu ver¬ 
anlassen. 

1. J. D., 3jähriger Junge. Aufgenommen 25. November 1894. Es 
bandelte sieh um einen äusserst schweren Abdominaltyphus, bei dem kurz 
nach der Aufnahme vorübergehend Soorwncherungen am Gaumen und 
im Munde anflraten; dieselben waren am 8. December vollkommen 
beseitigt. 

Vom 6. December ab bildete sich am weichen Gaumen eine scharf 
begrenzte gelbeitrige Verfärbung aus, innerhalb deren die Schleimhaut 
rasch in wenigen Tagen necrotisirte, derart, dass links der Uvula ein 
querer rhagadenarliger Defect von etwa 1 cm Länge parallel dem Rande 


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22. Februar 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


des Gaumensegels verlief. Derselbe war von graugelb verfärbter neero- 
tisch aussehender Schleimhaut umgeben. Foetor ex ore. Von Neuem 
trat katarrhalische Stomalitis auf, aber von Soor war keine Rede. 

Diese Angina ging parallel den typhösen Erscheinungen und spcciell 
dem Fieber zurück; am 15. Deceraber bestand noch eine gereinigte, 
scharfe Vertiefung; Ende December entsprach derselben eine querver¬ 
laufende feine strichförmige Narbe. Langdauernde Reconvalescenz, Ab¬ 
gang Ende Januar 1895. 

Plattcnculturen ergaben Staphylococc. aureus und albus, daneben 
nur wenige gleichgültige Culturen. 

2. F. W., Hjähr. Junge. Aufgenommen am 22. October 1891. Con¬ 
genitale Chorea-Athetose, Idiotie. (In autopsia: dißuse Sderose des Hirns 
und Rückenmarks.) 

Der Junge bekam am 17. Dec. Schlnckbeschwerden, ohne Fieber. 

Es fand sich eine leichte diffuse erythematöse Angina und einige 
tleckwcise necrotisch-eitrig verfärbte Stellen an den Oberflächen der 
Tonsillen und am weichen Gaumen. 

18. 12. Rechts am weichen Gaumen nahe dem Rande ein ober¬ 
flächlicher scharf begrenzter Substanzverlust, oval, bohnengross, mit grau- 
weisslich belegtem Grund. An Tonsillen und Uvula zarte grauweisse 
Verfärbung. — Heiserkeit und etwas bellender Husten. — Temperatur- 
Maxiraum 88,3. 

Platte vom 17. ergab lediglich Staphylokokken. 

Der Rachen schien sich in der Folge etwas zu reinigen, das Ulcus 
verkleinerte sich. Dagegen trat jetzt eine tiefe quere, rechts von der 
Uvulawurzel zu dem erwähnten Ulcus verlaufende Rhagade auf, und das 
Ganze sah dem Befund im vorhererwähnten Fall ausserordentlich ähn¬ 
lich. Massige Drüsenschwellung, geringe Schluckstörung: kein bellender 
Husten mehr. • - Temperatur normal. 

Nach eiuigen Tagen vertiefte sich der Spalt derart, dass die Uvula 
nur mehr an einer schmalen Brücke, dein linken Rand ihrer Basis ent¬ 
sprechend, herabhing. 

Von da ab aber trat unter sorgfältigen Ausspritzungen mit Borax¬ 
lösung langsam Heilung ein, und am 15. Januar 1895 war der Rachen¬ 
befund bis auf Narbenbildung an der Basis der Uvula normal. 

Später Verfall, und Exitus am 1(5. Februar 1895. 

Diese beiden Fälle sind mit grosser Vorsicht aufzufassen, 
da insbesondere leider keine Prüfung der Virulenz der Staphylo¬ 
kokken stattgefunden hat, und da ferner die Rachenbefunde, so 
weit meine Kenntniss reicht, ganz ausserhalb der bisher bekannt 
gewordenen stehen. Dieselben sollten hier nur ihre Stelle finden 
für den Fall, dass Andere Aehnliehes gesehen haben oder in 
Zukunft sehen werden. 


Die mitgetheilten Beobachtungen haben mir zunächst den 
unumstösslichen Beweis geliefert, dass die durch den Löffler¬ 
bacillus verursachte Rachendiphtherie in lacunärer Form auf- 
treten kann, und dass diese bacilläre Lacunarangina, zum min- 
mindesten als 1—3 tägiges Uebergangsstadium vor der Bildung 
grober Membranen, nicht allzu selten ist. 

Diese Thatsache drängt zunächst zur endlichen Erledigung 
einer rein formalen Frage, nämlich derjenigen einer klaren 
Namengebung für die bacillären Anginen, und zwar einer 
solchen, in welche die lacunäre Form derselben einbezogen 
werden kann. Die einfachste und passendste Lösung dieser 
Frage ist die, dass man den Ausdruck Rachendiphtherie aus¬ 
schliesslich auf die bacillären Formen beschränkt, aber auch auf 
alle diese Formen ausdehnt; die bacilläre Lacunarangina wäre 
demnach als „lacunäre Diphtherie“ zu bezeichnen. Diese Be¬ 
zeichnungsweise geräth bekanntermaassen in Widerspruch mit den 
pathologisch-anatomischen Definitionen; allein was zunächst die 
lacunären Anginen auf bacillärer Basis betrifft, so hoffe ich 
demnächst den Nachweis zu führen, dass selbst da, wo das 
blosse Auge nur typische Pfropfe erblickt, in den betreffenden 
Lacunen neben den Pfropfen Epithelverlust der Schleimhaut und 
eine feine membranöse Auskleidung besteht. Was aber die von 
uns Klinikern geforderte Beschränkung des Ausdrucks „Diph¬ 
therie“ auf die bacillären Formen betrifft, so sollte dieselbe 
endlich allerseits acceptirt werden, weil dies die einzig mögliche 
Lösung darstellt, und weil der Ausdruck „ Diphtheritis “ 
bekanntlich von Bretonncau, der Ausdruck „Diphtherie“ 
von Trousseau stammt, die beide Kliniker waren, und die kli¬ 
nische Bezeichnung auf diejenige geschlossene als solche über¬ 


157 


tragbare Infectionskrankheit anwandten, welche durchaus nichts 
anderes als die bacilläre Rachendiphtherie ist. 

Für die membranösen nicht-bacillären Anginen passt ganz 
vortrefflich die meines Wissens zuerst von Heubner vorge- 
schlagene Bezeichnung: „Diphtheroid“. Wir haben dann ein 
Scharlachdiphtheroid und, wie ein Theil der mitgetheilten Beob¬ 
achtungen zeigt, ausserdem noch andere, nicht-scarlatinöse Diph- 
theroide, für welche die bestimmte, besonders ätiologische Um¬ 
schreibung noch fehlt, also auch noch keine bestimmten Namen 
gegeben werden können. 

Für die einfache Lacunarangina kann der Ausdruck Angina 
bezw. Tonsillitis lacunaris, wenn man will mit dem Zusatz 
simplex, verbleiben. 

Was nun die diagnostische Scheidung dieser Zustände 
betrifft, so ist von hauptsächlichem Belang die Unterscheidung der 
Lacunarangina von der inselförmigen und von der lacunären 
Diphtherie, und die Unterscheidung dieser letzteren von den 
diphtheroiden Anginen. Nur hierauf sei es gestattet, noch ein¬ 
mal zusammenfassend zurückzukommen. 

Der typische Befund der leichten bezw. beginnenden Ton- 
sillardiphtherie ist der von kleinen inselförmigen, grauen oder 
weisslichen Membranen, auf vorspringenden Stellen der Tonsillen 
meist fest, zuweilen auch locker aufsitzend. Dieser Befund er¬ 
laubt aber nur eine unsichere Differentialdiagnose: einmal gegen 
das Scharlachdiphtheroid, welches in einzelnen Fällen genau 
ebenso aussieht, fast stets aber durch die sonstigen sclarlatinösen 
Symptome richtig erkannt wird; — sodann gegen gutartige 
Diphtheroide, unter welchen diejenigen bei häufig recidivirenden 
Anginen besondere Beachtung verdienen. 

Ueberschreiten die diphtheritischen Tonsillarbelege, entweder 
einzeln, oder nachdem mehrere confluirt sind, die Tonsillenober¬ 
fläche, so geschieht das meist zuerst zungenförmig nach dem 
Gaumenbogeu, oder die gegenüberliegende Uvulaseite zeigt einen 
saumartigen Belag. Dies Verhalten spricht mit nahezu völliger 
Sicherheit für echte Diphtherie. 

Zuweilen aber beginnt die Diphtherie wie eine typische Lacu¬ 
narangina mit tief in Lacunen sitzenden rundlichen (auch unregel¬ 
mässig gestalteten) gelblichen Pfropfen, die oft genug leicht 
herausgehen. Fast stets treten aber nach 1—3 Tagen auf¬ 
sitzende graue Membranen auf, welche sich zuweilen nadelkopf¬ 
artig von den Lacunen aus ausbreiten. Ausserdem kann aber 
auch im weiteren Verlauf eine diphtheritisch erkrankte Tonsille nach 
soeben abgestossener Membran das ganz typische Bild der einfachen 
lacunären Angina darbieten. — Umgekehrt kann es, wie hier einge¬ 
schaltet werden muss, Vorkommen, dass sich bei der einfachen 
Lacunartonsillitis von den Pfropfen aus ein Belag auf der Tonsille 
ausbreitet, der indess durch lockere, käsig-bröckeligeConsistenz und 
gelbliche Farbe dem geübten Auge als nicht-diphtheritisch auffällt. 

In zweifelhaften Fällen sprechen Kehlkopfcroup und Nasen¬ 
diphtherie für echte Diphtherie, und natürlich Scharlachsym¬ 
ptome für Scharlach. Sonst giebt es nach dem heutigen 
Stand unseres Wissens ausserhalb des Rachens selbst 
keine Erscheinung, welche für die Differentialdia- 
gnosc frischer Fälle entscheidend wäre: nicht das 
Verhalten der Drüsen, nicht das des Urins, nicht dasjenige des 
Fiebers. 

Aus dem Vorstehenden ergiebt sich die praktische Regel, dass 
man sich auf die Harmlosigkeit der Angina lacunaris 
nicht allzu fest verlassen kann, und dass man gut thut,Kinder 
von derartigen Kranken unter allen Umständen fernzukalten; dass 
man aber zur Zeit des Herrschens einer Diphtherieepidemie jede 
Lacunarangina, mindestens in den ersten Krankheitstagen, sehr 
argwöhnisch betrachten soll, — doppelt argwöhnisch natürlich, 
wenn die Möglichkeit einer bacillären lnfection naheliegt, also 

2 


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158 


No. 8. 


BER LI NEU K LI NI SCI 1E WOCIIEXSCI1II l FT. 


wenn z. B. der Träger einer inficirten Familie oder einem in- 
ficirten Hause angehört. 

Weiter aber ist ersichtlich, dass wir, wo es möglich ist, 
vorläufig an der bacteriologischen Durchführung der 
Diagnose festhalten müssen; — wo es möglich! Denn 
ultra posse nemo tenetur. 

Jedenfalls aber ist zu wünschen, dass die inspectorische Diph¬ 
theriediagnose überall nach möglichst gleichen Grundsätzen ge- 
handhabt werde; dies ist bis vor Kurzem in Deutschland keines¬ 
wegs der Fall gewesen, wie Schreiber dieser Zeilen durch mehr¬ 
fachen Ortswechsel belehrt worden ist. Im Allgemeinen wird es ja 
nicht schaden, wenn ein Weniges zuviel Diphtherie diagnosticirt 
wird, während der umgekehrte Fehler sehr bedenklich ist; das 
möge man besonders mit Rücksicht auf zweifelhafte Lacunar- 
anginen beachten. Nur in einer Beziehung kann die Ver¬ 
wechselung harmloser Anginen mit Diphtherie Unheil stiften und 
sie hat es schon im reichsten Maasse gethan: bei der Beur- 
theilung nämlich der Wirkung der Heilmittel. Kein College 
sollte in Zukunft therapeutische Erfolge bei Diphtherie publi- 
ciren, ohne bacteriologisch untersucht zu haben. 


II. Ueber den Tod der Zelle. 

Von 

Prof. Dr. 0. Israel, Berlin. 

Vortrag gehalten in den Sitzungen der Gesellschaft der Charitc-Aerzte 
am 17. December 189G und 21. Januar 185*7. 

I. 

Der Arzt, dessen Aufgabe es ist, das Leben zu erhalten, 
hat mit dem Tode nicht gern zu thun und verlässt die Stätte, 
sobald der gefürchtete Gast sich eingestellt hat. Deshalb schulde 
ich zunächst den Anwesenden Dank, weil sie sich durch das 
gewählte Thema nicht abschrecken Hessen und nicht der Be¬ 
fürchtung gewichen sind, dass es sich hier um Dinge handeln 
würde, die gar so weit von den Fragen der ärztlichen Praxis 
ablägen, und deren Erörterung vor Berufsgenossen, die eminent 
practische Ziele verfolgen, ein Missbrauch Ihrer Geduld wäre. 
So weit ich auch auf andere Gebiete der Naturforschung Uber¬ 
zugreifen genöthigt bin, so hoffe ich dennoch, Ihnen auch davon 
eine Vorstellung geben zu können, wie nahe die Fragen des 
Zelltodes selbst die alltägliche physiologische und pathologische 
Wahrnehmung und das ärzliche Handeln angehen. 

In einem Vortrage Uber den Tod der Gewebe 1 ), anfangs 
1803, kam ich zu dem Ergebniss, „dass wohl nur die verglei¬ 
chend-pathologische Betrachtung der Todeserscheinungen an 
niederen Lebewesen, welche grosse, wenig differenzirte Zellen 
und einfache Gewebe haben, die aber immerhin Masse genug 
besitzen, um auch verhältnissmässig groben experimentellen Ein¬ 
griffen zugänglich zu sein, die Aussicht gäben, uns dem Problem, 
des Sterbens, wie dem des Lebens, das damit zugleich ange¬ 
griffen wird, mehr zu nähern, so dass, wenn auch zunächst nur 
für Theilersclieinungen, ein physikalisch-chemisches Verständnis 
gewonnen werde“. Die eigenen Erfahrungen, welche mich ver- 
anlassten, damals diese Hoffnung auszusprechen, waren so¬ 
wohl an pflanzlichen wie ihierischen Objecten gewonnen und 
sind seitdem durch recht verschiedenartige Untersuchungen er¬ 
weitert worden, von denen ich nur einige Bruchstücke, die zu 
einem gewissen Abschlüsse kamen, publicirt habe 2 ); den grösse¬ 


1) Diese Wocbenschr. 1894, No. 11. 

2) Biologische Studien mit Rücksicht auf die Pathologie. I und II. 
Virchow's Arch. Bd. 141, p. 209. 


ren Theil aber so weit zu fördern, wie ich es für wllnschens- 
werth hielt, gestattete mir meine durch dienstliche Obliegenheiten 
dauernd in hohem Maasse besetzte Zeit nicht. Dennoch glaube 
ich, jetzt soweit gekommen zu sein, um wenigstens einige 
einheitliche Grundzüge der auf der Grenze der Physiologie 
und Pathologie stehenden Thanatologie der Zelle, wie ich 
dies Gebiet kurz bezeichnen möchte, Ihnen vorzufUhren. 

Die Wichtigkeit genauer Kenntniss des sterbenden und tod- 
ten Organismus bedarf keiner Erörterung, sobald wir uns ver¬ 
gegenwärtigen, dass die sichersten Feststellungen über die Ana¬ 
tomie sowie zur Physiologie und Pathologie des menschlichen 
Körpers an todten Theilen gewonnen sind, und jeder Arzt die 
ersten Grundlagen seines Wissens und Könnens an der Leiche 
gewinnt. Dies gilt nicht nur für die makroskopische, sondern 
in bedeutendstem Maasse auch für die mikroskopische Untersu¬ 
chung. Die werthvollen Beiträge von Kayserling und Ger¬ 
mer 1 ) zu einer exacten Erforschung des Einflusses der üblichen 
Conservirungsmittel zeigen eine der Richtungen, in denen eine 
Vertiefung unserer Kenntnisse besonders erwünscht ist. 

In dem vorher erwähnten Vortrage konnte ich auch darauf 
hinweisen, dass entsprechend dem cellular-pathologischen Ge¬ 
dankengange, von dem kein Mediciner sich ungestraft emanc-i- 
piren kann, so gut wie kein Botaniker und Zoologe sich jetzt 
noch gegen die Zelltheorie auflehnen darf, die biologischen 
Fragen mit der Zelle anfangen und auf hören. Soweit die Cellu- 
larpathologie aber ausgebaut ist, nicht nur durch vielfache 
Bausteine, die speciell zu diesem Zwecke oder als Nebenbefunde 
durch zahlreiche Forscher geliefert wurden, so kann doch 
nicht verkannt werden, dass noch manche Cella des grossen 
Gebändes des inneren Ausbaues harrt, und dass gerade von dem, 
was im Hinblick auf die Cellularpathologie als die Pathologie 
der Zelle bezeichnet werden muss, über die gröbsten Merkmale 
ihrer äusseren Erscheinung und ihres Chemismus hinaus nur erst 
wenig bekannt ist. Dagegen hat die bessere Kenntniss der morpho¬ 
logischen und biologischen Verhältnisse der normalen Zelle die 
Fragestellung bezüglich der pathologischen Vorgänge erfolgreich 
vermehrt und vertieft. 

So ist eine ungenügende Einsicht in die beim Sterben der 
Zelle eintretenden Erscheinungen eine Lücke, welche am dringend¬ 
sten der Ausfüllung bedarf. Der vergleichende Weg mit der 
Möglichkeit, für die verschiedenen Fragestellungen die geeignet¬ 
sten Objecte herauszufinden und durch entsprechende Combina- 
tionen den Antheil der einzelnen Factoren an der Gesammter- 
scheinung zu ermitteln, erscheint hierbei dem Studium hoch 
differenzirter, in complicirten Zusammenhängen vereinigter Zellen 
von höheren Wirbelthieren im Allgemeinen vorzuziehen. Damit 
will ich aber nicht behaupten, dass nicht für andere Fragen die 
Vereinigung aller vitalen Functionen in einer Zelle oder zellen- 
werthigem Elemente wiederum Schwierigkeiten schaffen könnte, 
die durch zweckmässige Venwendung höher differenzirter, func- 
tionell weniger vielseitiger Zellen eher zu lösen wären. 

Lebendige Substanz, die zu Tode gekommen ist, fin¬ 
det sich in der einfachsten Form in Organismen mit nacktem, 
formlosen Protoplasma. Nichts ist leichter als die Beobachtung 
solcher Lebewesen unter ungünstigen Bedingungen, die ihre Exi¬ 
stenz auf die Dauer unmöglich machen; aber dennoch muss die 
Frage nach ihrem Sterben mit einiger Vorsicht aufgefasst wer¬ 
den, und die Ergebnisse dürfen vor Allem nicht unzweckmässig 
verallgemeinert werden. 

Vergegenwärtigen wir uns das Plasmodium eines 
Myxomyceten, welches unter geeigneten Massnahmen sich 
bequemt hat, seine Ausbreitung auf einem Deckglase so vor- 


1) Virchow's Archiv, Bd. 138, S. 79. 


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159 


zunehmen, dass bei mittlerer Vergrösserung seine Strömun¬ 
gen gut zu sehen sind, oder ein Rhizopod von beträchtlicher 
Grösse, wie die I’elomyxa, so sehen wir nach künstlichen Ver¬ 
letzungen die Protoplasmamasse an den entstandenen Wunden 
jederseits kleine Ballen hyalinen Protoplasmas, selbstverständlich 
auch alle andersartigen Einschlüsse, von sich abstossen, und so 
gewissermassen eine Reinigung der Wundränder durch vollstän¬ 
dige Ablösung der todten Theile entstehen'). In ausgedehntem 
Maasse hat Verworn derartige Erscheinungen beobachtet und 
in seiner Arbeit mit dem Titel: „Der körnige Zerfall — ein 
Beitrag zur Physiologie des Todes“ 1 2 3 4 5 ) wegen der grossen Ver¬ 
breitung der Erscheinungen angenommen, dass es sich um eine 
Form der Nekrobiose handle, die „unter gewissen Bedingungen“ 
bei aller lebendigen Substanz auftreten könne. Auf die „gewis¬ 
sen Bedingungen“ will der verdiente Physiolog jedenfalls ein 
erhebliches Gewicht gelegt wissen, denn zweifellos erscheint 
todtes Protoplasma unter anderen Bedingungen ganz anders. 
So bildet aus der verletzten Sprossachse von Caulerpa in das 
umgebende Meerwasser zugleich mit dem Zellsaft austretendes 
Protoplasma sofort zusammenhängende Klumpen von sehr zufäl¬ 
ligen Formen, ohne einen körnigen Zerfall im groben Sinne zu 
zeigen. Kommt auf den Schnitträndern der Blätter und Rhizome 
die lebendige Substanz mit der Aussenwelt, in diesem Falle mit 
dem Meerwasser in Berührung, so geht sie, je nach der architec- 
tonischen Anordnung in verschiedener Tiefe, in einen todten Zu¬ 
stand Uber, der wiederum die Merkmale der Gerinnung aufs un¬ 
verkennbarste aufweist*). Die Anordnung der lebendigen 
Substanz so wie die Todesursache sind Bedingungen, 
welche die Toderscheinungen sowohl hinsichtlich 
ihrer morphologischen wie physikalisch-chemischen 
Eigenschaften in weitem Umfange beeinflussen, und 
es muss bei allen Untersuchungen Uber die Physio¬ 
logie des Todes das veranlassende Moment in erster 
Linie berücksichtigt werden, sowohl wie es beim natür¬ 
lichen Sterben, als auch im Experiment znr Geltung kommt. 

Experimentelle Erfahrungen Uber den Tod niederer Orga¬ 
nismen liegen in grosser Menge vor. Da aber bisher keine 
besondere Rücksicht auf die grosse Bedeutung des den Tod 
auslösenden Factors genommen wurde, so sind in den meisten 
Fällen sehr gewaltsame Eingriffe gemacht, zumal die Frage nach 
der Art des Sterbens dabei selten gestellt worden war. So sind 
elektrische Inductionsschläge, beispielsweise auch die relativ dün¬ 
nen Salzlösungen, welche Loew und Bokorny*) sowie Andere 
anwandten, sehr grobe Mittel, welche den beim natürlichen 
Sterben zur Wirkung kommenden Noxen nur ausnahmsweise zur 
Seite gestellt werden können. Nur etwa Blitzschlag und andere 
gewaltsame Todesursachen wirken mit annähernder Brutalität. 
Tödtungen niederer Organismen, die dem natürlichen Sterben 
sich nähern, lassen sich nur durch so wirksame Gifte erzeugen, 
dass das zur Lösung der tödtlichen Substanz benutzte Wasser 
weder physikalisch noch grob-chemisch verändert erscheint, aber 
dennoch genug der wirksamen Substanz enthält, um den Tod der 
Lebewesen berbeizuführen. Einen gangbaren Weg dieser Art zeigt 
die hinterlassene Untersuchung von Naegeli’s: „Ueber die oligo¬ 
dynamischen Erscheinungen an lebenden Zellen“, herausgegeben 
von 8. Schwendener 4 ). v. Naegeli fand, dass kurze Zeit mit 

1) 0. Israel, Ueber eine eigenartige Contractionserscheinung an 
Pelomyxa palustris (Greeff). Archiv f. mikroskop. Anatomie. Bd. 44. 
S. 229 f. 

2) Pflüger's Archiv. Bd. 63. 8. 253 f. 

3) Virchow’s Archiv. Bd. 141, 8. 213. 

4) Pflüger’s Archiv, Bd. 25, 8. 160 ff. 

5) Neue Denkschriften der allg. Schweiz. Ges. f. d. ges. Naturwiss. 
Bd. XXXIII, Abth. 1. 


gewissen Metallen, insbesondere Kupfer, in Berührung gewesenes 
Wasser für Spirogyra, eine Fadenalge, in hohem Maasse giftig 
war, und zwar traten Erscheinungen an den Zellen auf, die von den¬ 
jenigen bei der Anwendung chemischer Gifte sowie beim natür¬ 
lichen Tode, der in Culturen leicht zu beobachten ist, ganz 
verschieden sind. Auf die interessanten Ergebnisse dieser Unter¬ 
suchung kann ich hier nicht im einzelnen eingehen. Die Fest¬ 
stellungen von Naegeli’s sind von Cramer 1 ) bestätigt und in 
einigen Punkten ergänzt worden. In einer jetzt im Druck be¬ 
findlichen Arbeit 5 ), bei der ich mich der ausdauernden und ge¬ 
schickten Mitwirkung des Herrn Dr. Th. Kling mann zu er¬ 
freuen hatte, sind die biologischen Erscheinungen und die 
Bedingungen der oligodynamischen Einwirkung einer weiteren 
Prüfung unterworfen, und, neben Fadenalgen, auch an anderen 
Lebewesen studirt worden. Aus den, wie mir scheint, sehr inter¬ 
essanten physikalisch-chemischen, wie biologischen Ergebnissen 
möchte ich einige für die uns jetzt beschäftigende Frage wich¬ 
tige Theile hervorheben. Zunächst ergab es sich, dass die 
oligodynamischen Erscheinungen an den Spirogyren 
Wirkungen eines nur in sehr geringer Menge im Was¬ 
ser vorhandenen, aber auch in dieser Quantität noch 
tödtlichen Giftes sind, und dass sich continuirliche 
Uebergänge zu diesen oligodynamischen Wirkungen 
sowohl von der Seite mehr concentrirter wie von der¬ 
jenigen noch mehr verdünnter Gifte her finden. Dabei 
ergab sich ferner, dass auch noch starke Verdünnungen de3 
oligodynamischen Kupferwassers tödtliche Wirkung haben, wenn¬ 
gleich die letztere sehr viel langsamer eintritt, als dies bei den 
oligodynamischen Erscheinungen der Fall ist. 

In jener Untersuchung konnten wir weiter nachweisen, dass das 
Wesen der oligodynamischen Erscheinungen an Spirogyren auf 
einer Plasmoschise beruht, die dazu führt, dass der Protoplasma¬ 
schlauch sich in zwei Theile sondert, von denen der äussere an 
der Zellenmembran haften bleibt und feinkörnig erscheint, wäh¬ 
rend der innere Xntheil mit den Chlorophyllbändern sich um 
den Kern der Zelle herum mehr oder weniger zusammenballt. 
Die verschiedenen Arten von Spirogyra zeigen Abweichungen in 
der besonderen Form dieser Veränderung und namentlich be¬ 
züglich ihres zeitlichen Eintritts, der übrigens bei den verschie¬ 
denen Exemplaren einer jeden Art grosse Constanz aufweist, sodass 
sich eine bestimmte Reihenfolge der Empfindlichkeit der Arten 
aufstellen lässt. Auf die wahrscheinliche Ursache dieser Unter¬ 
schiede möchte ich jedoch heute noch nicht eingehen. 

Von der den Botanikern schon lange und gut bekannten Plas¬ 
molyse unterscheidet sich die Plasmoschise vollständig. Das 
wird um so deutlicher, als, oft erst viele Stunden nach dem Auf¬ 
treten der Plasmoschise eine Ablösung des an der Membran 
haftenden Theiles des Protoplasten sich ausbildet, die anatomisch 
der Plasmolyse entspricht. Letztere kommt hier höchst wahr¬ 
scheinlich durch eine nachträgliche Schrumpfung des todten 
Eiweisses zu Stande. Die Mitwirkung von Diffusionsvorgängen 
erscheint sowohl hier wie bei der vorausgegangenen Plasmoschise 
ausgeschlossen, da in Folge der unregelmässigen Trennungsflächen 
sowohl der äussere wie der innere Protoplastantheil keine continuir- 
lichen Säcke darstellen, sondern allenfalls als zerrissene, durch¬ 
löcherte Schläuche angesehen werden können, während geschlossene 
Membranen garnicht vorhanden sind; ganz anders bei der normalen, 
wie bei der anomalen Plasmolyse; bei dieser weist schon das Auf¬ 
treten von Vacuolen auf den vollständigen Zusammenhang des 
Protoplasten hin. Wir haben deshalb die hier vorliegende 


1) Ibid. 8. 45. 

2) Inzwisclieu erschienen in Virchow’s Archiv, Bd. 147, S. 293 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. H. 


_ 1(50 

nachträgliche Veränderung als „cadaveröse Plasmo¬ 
lyse“, die auch in der Natur weit verbreitet ist, von den 
bekannten Formen der Plasmolyse, welche unter Umständen 
nicht einmal das Leben der Pflanze ausschliessen, scharf trennen 
zu mllssen geglaubt. 

Wie an den Spirogyren, so treten auch an anderen niederen 
Organismen sehr evidente Erscheinungen auf. Bacteriaceen, 
die in Kupferwasser zu (irunde gehen, lassen keine Fär¬ 
bung der Geissein nach den gewohnten Methoden zu, während 
die Controlen tiugirt werden. Es ist das nur zu erklären, wenn 
sie etwa, was nicht wahrscheinlich ist, zerfallen, oder wenn sie 
zurückgezogen werden, was nach den Erfahrungen Uber das 
Verhalten der Geissein an anderen bewimperten Organismen eher 
angenommen werden kann. Rhizopoden sowie C'iliaten sterben 
in Kupferwasser gleichfalls. Das formlose Protoplasma der Rhi¬ 
zopoden zieht alle Pseudopodien ein und nimmt, soweit es die 
nicht contractilen Bestandtheile gestatten, eine mehr oder weniger 
reguläre Kugelgestalt an; bei den Ciliaten und Flagellaten 
treten gleichfalls dauernde Sislirung der Protoplasmabewegung 
Lähmung und Verkürzung oder Zurückziehung der Geissein und 
Wimperhäärchen ein, jedoch wurde nur selten bei bestimmten 
Formen eine Trennung des Protoplasten von der zarten Mem¬ 
bran beobachtet, ein Vorgang, welcher der Plasmoschise in der 
Spirogyrenzelle analog ist. Ich habe geglaubt, die lähmungsähn¬ 
liche Todeserscheinung am einfachsten als „paralytische 
CadaVerstellung“ bezeichnen zu können. Was sich nun fUr 
die Beurtheiluug dieser Beobachtu igen als wichtig erweist, das 
ist die Erfahrung, dass die gleichen Zustände .'bei den 
verschiedenen Organismen wie durch Kupfe rwasser^ 
so auch durch manche andere Metalle, giftige Salze 
und durch dUnne Lösungen von Anilinfarben sich er¬ 
zielen lassen und uns oft auch als ein natürliches Vor- 
kommniss begegnen. 

Ich will hier nicht Einzelheiten wiederholen, die in der erwähn¬ 
ten Arbeit niedergelegt sind. Herr College Klingmann hat sich die 
Mühe gemacht, einige Objecte vorzubereiten, welche Ihnen die durch 
Kupferwasser erzeugte Veränderung zeigen. Wir sehen hier neben 
einer gesunden Spirogyra plasmoschistische Zustände, sowie an 
einem bereits heute früh in das Kupferwasser gebrachten Algen¬ 
faden die secundäre Schrumpfung, die cadaveröse Plasmolyse. 
In einem Exemplar ist eine grosse Zahl regelmässig im Proto¬ 
plasma verteilter Kölner durch Neutralroth intensiv gefärbt, 
während der Protoplast, durchweg feinkörnig getrübt, ohne jede 
Bewegung todt daliegt; es ist aber nur an einzelnen Zellen eine 
auf kleine Bezirke beschränkte Plasmoschise eingetreten. Zum 
Vergleich ist dann noch eine Nitella mit dem lebhaft strömen¬ 
den, reichlichen Protoplasma neben einem durch Kupferwasser 
getödteten Exemplar aufgestellt, an dem wohl das Fehlen jeder 
Bewegung, aber keine Deformation des Protoplasten zu er¬ 
kennen ist. 

Die unter den Mikroskopen aufgestellten Objecte mussten 
vorbereitet werden, weil 5—15 Minuten und länger (das ist bei 
den verschiedenen Arten der Algen sehr wechselnd) bis zum 
Eintritt der Abweichungen nöthig sind. Ich bin aber im Stande, 
hier unter den Augen wenigstens einiger Beobachter die gleiche 
Veränderung augenblicklich hervorzurufen, wenn ich durch einen 
Spirogyrafaden einige Inductionsschläge des du Bois-Reymond- 
schen Schlittenapparates durchgehen lasse. Nach Schluss des 
Vortrages will ich das Experiment mehrere Male derart aus¬ 
führen, dass einmal bei einem Abstande von 8 cm, das andere 
Mal bei ganz eingeschobener secundärer Spirale die Ströme 
3—4 Secunden^ einwirken. Sie werden dann sehen, wie die 
Plasmoschise bei grösserem Abstande an allen Zellen in wenig 
Secunden eintritt, bei geringerem Abstande vorwiegend nur an 


dem Theile des Fadens, der, etwa in der Mitte gelegen, von den 
Elektroden am weitesten entfernt ist, während die übrigen Zellen 
nichts von Protoplasmaspaltung und Zurückziehung ]der Chloro¬ 
phyllbänder, wohl aber einige andere Zeichen des plötzlichen 
Todes, vorzugsweise am Kern, erkennen lassen. Durch die De¬ 
formation der Plasmoschise pflegen die Kerne so verdeckt zu 
werden, dass selten etwas von ihnen an den durch oligodynami¬ 
sches Kupferwasser plasmoschisirtcn Spirogyren wahrzunehmen 
ist. Sie gestatten, dass ich Ihnen ein während der Beobachtung 
dictirtes Protocoll eines solchen Versuchs vorlese: „Spiro¬ 
gyra crassa mit quer gestelltem, im optischen Querschnitt 
oblongen Kern. Grosses, ganz homogenes Kemkörperchen. Die 
Kernsubstanz gleichfalls hyalin. In den Protoplasmafäden viele 
Gypskrystalle. Inductionsstrom, 8cm Abstand. 1 Secunde 
nach Schliessung fängt der Kern an, sich aufzublähen, die recht¬ 
eckige Begrenzung wird kreisförmig. Zwischen der unregel¬ 
mässig contrahirten Kernsubstanz und der jetzt deutlich sichtbar 
werdenden Kernmembran bildet sich eine breite Spalte, die sich 
mit Zunahme des Kerndurchmessers vergrössert. Zugleich er¬ 
scheint die Kemsubstanz feinkörnig getrübt. Das Kernkörper¬ 
chen, grobkörnig, enthält zwei central gelegene grössere Körner, 
die leicht röthlich schimmern. 1 ) Gleichzeitig zieht sich in der 
darauf folgenden Secunde die Kerntasche mit den Krystallen von 
dem Kern zurück und bildet in grösserem Abstande eine schlaffe, 
vielfach durchbrochene Hülle. 2 ) Die gleichzeitig abgelösten 
Protoplasmafäden verkürzt und schlaff, z. Th. in der Mitte zer¬ 
rissen, wie die Reste der Kerntasche unregelmässig geformt, 
feinkörnig. Nach 5 Secunden löst sich in dem mittleren Theil 
der Längsausdehnung der Protoplasmaschlauch mit den Chloro¬ 
phyllbändern und zieht sich um die Kernstelle hemm zusammen, 
reguläre Plasmoschise, die feinkörnige Plasmahaut an der Membran 
fest sitzend. — Die Besichtigung des ganzen Fadens ergiebt an 
allen Zellen plasmoschistische Deformation. In vielen beschränkt 
sich die Spaltung des Schlauches, dessen zarte Reste an der 
Membran in allen Zellen sichtbar sind, nicht auf die Umgebung 
der Kerngegend, sondern erstreckt sich Uber die ganze Circum- 
ferenz der Zelle. In einzelnen Zellen sind die Kerne unverdeckt, 
und man sieht, dass sie kugelig, pyrenolytisch sind.“ — Ich 
brauche diesen Ausdruck wohl nicht zu erläutern, da er sich 
nach der voraufgegangenen Beschreibung von selbst erklärt, er 
ist dem Worte „plasmolytisch“ nachgebildet. 

Bei zusammengeschobenen Spiralen des Schlittens sind die 
Veränderungen meistens, wie erwähnt, an einem kleinen Theile 
die gleichen, wie die directe Beobachtung und die nachherige 
Durchsicht der Präparate ergiebt. An der Mehrzahl der Zellen 
bleibt aber die tiefgreifende Deformation aus, nur liegen 
die Chlorophyllbänder nicht ganz gleichmässig; die Abstände 
zwischen je zweien werden etwas geringer und zwischen den 
benachbarten Windungen dementsprechend ein wenig weiter. 
Der Kern ist infolge dieser Verschiebung trotz feinkörniger 
Trübung des gesammten Protoplasmaschlauches gewöhnlich sehr 
leicht einzustellen. Er liegt fast überall excentriach, vielfach 
der Wand völlig an. Die Protoplasmafäden sind zerrissen, 
schlaff, oft mit der Kerntasche zusaramengeballt, immer aber, in¬ 
folge ihrer feinen Trübung, von dem klaren Zellsaft sehr deutlich zu 
unterscheiden. Die Kerne sind in allen Zellen pyrenolysirt. 
Erst nachdem ich diese Versuche angestellt hatte, kam mir die 
schöne Arbeit von Klemm 3 ) in die Hände, welche die Degene- 

1) In anderen Versuchen 8 ZerfalUkömer, bisweilen auch nur ein 
grösseres Korn von gleichem Aussehen. 

2) In vielen Versuchen als ein ziemlich regelmässiger Kreis er¬ 
scheinend, dem der Kern excentrisch anliegt. In anderen Zellen liegt 
der Kern ganz ausserhalb dieser losen Hülle. 

3) Pringsheim’s Jahrb. f. wiss. Bot., Bd. XXVIII, S. G27 f. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


161 


rationserscheinungeil an Zellen behandelt, in der der Autor eine 
ähnliche Einwirkung des elektrischen Stromes auf die Zellen 
von Wurzelhaaren verschiedener Phanerogamen beschreibt. Es 
findet sich iu der Arbeit Manches, mit dem das sehr wohl in 
Einklang zu bringen ist, was ich noch bezüglich der Erklärung 
der beobachteten Erscheinungen anftlhren möchte, obschon die 
von Klemm angewandten Giftdosen durchweg sehr viel grössere 
gewesen sind. 

Die durch starke Schläge erfolgende Tödtung von Zellen 
weicht, wie wir sahen, sehr erheblich ab von derjenigen, welche 
durch oligodynamisches Wasser veranlasst wird, was sich durch 
die differenten Erscheinungsformen kundgielq, sie stimmt aber 
auffällig liberein mit gewissen Formen des natürlichen 
Todes und mit demjenigen Verhalten, welches wir an den 
Spirogyren beobachteten, die in stark verdünntes oligo¬ 
dynamisches Wasser gebracht wurden, sowie mit der Subli- 
raatwirkuug in Lösungen, die erheblich unter 1:1000000 
liegen, llei diesem Lösungsverhältniss wurde noch Plasmoschie 
analog den oligodynamischen Erscheinungen beobachtet. Geht 
man noch weiter mit dem Zusatze normalen Wassers zu oligo¬ 
dynamischem, so sterben bei einem Verhältnis von 1 Theil Kupfer¬ 
wasser zu 130—150 Theilen neutralen Wassers die Spirogyren viel 
langsamer, erst im Verlauf von 24 Stunden, und ändern ihre Form 
gamicht merklich, nur der todte Kern ist in seinem Innern total 
de8truirt. Diese Form zeigt bezüglich der geringen Abweichung 
eine gewisse Uebereinstimmung mit dem Verhalten einiger der 
niedrigsten Protisten, die in oligodynamischem Wasser und in 
Anilinfarben ebenso wie die Bacteriaceen, abgesehen von den 
erwähnten Störungen an den Geissein, keine besondere Aende- 
rung erkennen Hessen. Die bei den stärksten Verdünnungen 
auftretende Form ist eine, w'elche beim natürlichen Tode ganz 
vorzugsweise beobachtet wird, wie Sie auf den Photogrammen 
erkennen werden, welche sowohl oligodynamische Erscheinungen 
darstellen, die ich vor 4 Jahren bei Behandlung von Spirogyren 
mit kohlensaurem Wasser erhielt, als auch jene geringfügigen Ver¬ 
änderungen. Ich möchte hier bemerken, dass ich jene Aufnahmen 
bei einer Untersuchung machte, die zeitlich vor der Publication 
von v. Naegeli’s Arbeit liegt, und heute möchte ich deshalb 
nicht mehr die Kohlensäure des Wassers, wie auf den Bildern 
notirt ist, sondern, nach v. Naegeli’s Nachweis und eigenen 
Versuchen mit Kohlensäure, die Schuld an den schweren Störungen 
der Spirogyrenstructur lediglich dem benutzten destillirten Wasser 
zuschreiben. Ich will hier nicht weiter auf die verschiedenen 
Einzelheiten eingehen, welche Herr College Klingmann und 
ich in gemeinschaftlicher Arbeit ermittelt haben, und ebenso 
bezüglich der auffälligen Beobachtungen Uber das Verhalten des 
destillirten Wassers diejenigen Herren, welche sich für diese 
Seite der Versuche interessiren, auf die Publication in Virchow’s 
Archiv verweisen. 

So Vieles nun auch noch fehlt, um in jeder Hinsicht die 
einzelnen Erscheinungen vollends zu klären, namentlich auch die 
kleineren Unterschiede je nach der Art der angewandten Chemi¬ 
kalien und der Versuchsobjecte, bezüglich deren wir uns mög¬ 
lichster Variation beflissen, so lässt sich doch eine, wohl im 
Wesentlichen zutreffende Theorie schon jetzt daraus ableiten. 

(Schluss folgt.) 


III. Aus Dr. Abel's Privat-Frauenklinik zu Berlin. 

Ergotinol (Vosswinckel) als Ersatz für Ergotin. 

Von 

Dr. Abel. 

Auf dem internationalen Gynäkologen-Congress in Brüssel 
1892 lenkte Gottschalk die Aufmerksamkeit auf ein neues von 


Dr. Vosswinckel-Berlin dargestelltes Ergotin-Präparat, den 
Liquor Ammonii ergotinici-Vosswinckel, jetzt kurz Ergotinol ge¬ 
nannt. Seit circa drei Jahren habe ich ausgiebige Versuche mit 
diesem Präparate angestellt. Dieselben haben zu so guten Re¬ 
sultaten geführt, dass ich deren Veröffentlichung für hinreichend 
gerechtfertigt halte, da dieses Präparat bisher wenig oder gar 
nicht bekannt ist. 

Die Darstellung des Ergotinols ist, wie mir Herr Dr. Voss- 
wiuckel freundlichst mitgetlieilt hat, folgende: Gepulvertes und 
entöltes Mutterkorn wird mit Wasser erschöpft. Die erhaltenen 
Auszüge werden mit Säuren versetzt und der Hydrolyse unter¬ 
worfen. Sodann wird die Säure abgestumpft und die alkoho¬ 
lische Gährung umgeleitet. Nachdem diese beendet, wird das 
Produkt der Dialyse unterworfen und soweit eingeengt, dass 
1 ccm Ergotinol 0,5 gr Extr. Secal. cornut. (Ph. Germanica) 
entspricht. 

Der grosse Vortheil, welchen das Ergotinol den übrigen 
Ergotinpräparaten gegenüber gewährt, ist seine leichte Dosirnng, 
seine prompte Wirkung und ganz besondere seine grosse Dauer¬ 
haftigkeit. Gerade das letztere wird bei den übrigen Ergotin- 
Präparaten nur zu sehr vermisst. Sobald dieselben nur kurze 
Zeit stehen, sind sie nicht mehr zu benutzen, da unter Um¬ 
ständen die subcutane Injection eines alten Ergotinpräparates 
gefährlich werden kann. Es ist dies ein Uebelstand, welchen 
besondere der praktische Arzt empfindet, wenn er nicht so häufig 
Gelegenheit hat, Injectionen mit Ergotin zu machen. Vom 
Ergotinol habe ich, nachdem das Präparat ein Jahr lang ge¬ 
standen hatte, Injectionen mit demselben guten Erfolge gemacht, 
wie am ersten Tage. Man giebt eine Pravaz’sche Spritze voll 
von dem käuflichen Präparat. Selbst bei fortgesetztem Gebrauch 
hatte ich nie Gelegenheit eine schlechte Nebenwirkung zu beob¬ 
achten. Das einzig Unangenehme ist die grosse Schmerzhaftig¬ 
keit, welche die Injection verursacht. Diesem Uebelstande habe 
ich indessen dadurch abgeholfen, dass ich minimale Dosen 
Morphium, resp. Cocain zu dem Präparate hinzusetzen Hess. 
Durch diesen Zusatz ist die Injection verhältnissmässig wenig 
schmerzhaft, ohne dass die Wirkung des Präparates in irgend 
einer Weise dadurch beeinträchtigt wird. 

Die Anwendung ist dieselbe, wie die des Ergotins. Das 
Ergutinol wird also hauptsächlich bei acuten Blutungen Verwen¬ 
dung finden, so bei Blutungen post abortum oder post partum, 
bei starken Menorrhagieen, auch bei Metrorrhagieen welche plötz¬ 
lich ohne sogleich erkennbare Ursache auftreten. Mehr als 2 ccm 
pro die habe ich nie gegeben. 

Eine fernere Anwendung des Ergotinols ist bei Blutungen in 
Folge von Myomen. Es braucht ja nicht erst besonders hervor¬ 
gehoben zu werden, in wie hervorragender Weise die Blutungen 
bei Myomen durch Ergotin beeinflusst werden; genau dieselbe 
Wirkung kommt dem Ergotinol zu. 

Gerade im letzten Jahre hatte ich zu wiederholten Malen 
Gelegenheit, Patientinnen mit diesem Mittel zu behandeln, welche 
infolge von Myomblutungen ziemlich hochgradig] ausgeblutet 
waren. Hier machte ich zur Zeit der Menses täglich, 8 Tage 
lang, je eine Injection; dann wöchentlich zweimal. In allen 
Fällen wurden die Blutungen wesentlich beeinflusst, in zwei 
Fällen war eine geradezu frappirende Wirkung zu constatiren. 
Die Kranken, bei welchen die menstruellen, sehr starken Blu¬ 
tungen in den letzten Jahren immer gegen 14 Tage dauerten 
bei nur sehr kurzen blutfreien Intervallen, menstruirten nach ca. 
30 Spritzen 6—7 Tage lang mit bedeutend geringerem Blutver¬ 
lust und normaler Zwischenpause. Dass die Kranken sich bei 
so erheblicher Einschränkung der Blutverluste verhältnissmässig 
schnell erholten, bedarf wohl kaum der Erwähnung. Es wird 
nun immer wieder behauptet, dass das Ergotin einen direkten, 

3 


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162 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 8. 


verkleinernden Einfluss auf das Myom ausUbt. Ich habe etwas 
Derartiges nie beobachten können. Wohl aber konnte ich in 
dem einen von den oben genannten Fällen, welchen ich klinisch 
behandelt habe, mit Sicherheit feststellen, dass die Geschwulst, 
welche in der Menopause den Nabel nicht erreichte, zur Zeit 
des Eintrittes der menstruellen Blutung bis zwei Finger ober¬ 
halb des Nabels wuchs und sich auch nach den Seiten hin 
massiger anfUhlte. Nach Aufhören der Blutung verkleinerte sich 
der Tumor wieder auf seine ursprüngliche Grösse. Es ist nun 
sehr wohl möglich, dass dieser I'nterschied in der Grösse kurz 
vor und nach der Menstruation zu dem Irrthum Veranlassung 
gegeben hat, als ob der Tumor durch die Wirkung des Ergo- 
tins sich verkleinert hätte. Erklärlich ist dieser Irrthum, wenn 
die erste Untersuchung kurz vor Eintritt der Menstruation, die 
letzte Untersuchung, nach Beendigung der sogenannten Ergotin- 
cur aber bald nach der Menstruation stattgefuuden hat. Die 
Unterschiede in der Grösse des Tumors sind eben ausschliess¬ 
lich durch die verschiedene BlutfUlle desselben bedingt. Dass 
spontane Verkleinerungen von Myomen thatsächlich Vorkommen, 
insbesondere nach dem völligen Aufhören der Menstruation, soll 
damit natürlich nicht in Abrede gestellt werden. 

Resumire ich kurz, so kann ich das Ergotinol den Collegen 
sehr warm empfehlen, da es dieselbe Wirkung wie das Ergotin 
hat, ohne dessen unangenehme Eigenschaften und die sich daraus 
ergebenden Nebenwirkungen. 


IV. Ueber Fleischersatzmittel. 1 ) 

Von 

Dr. Karl Bornstein, 

Bad Landeck in Schlesien und Florenz. 

l'eber die Nothwendigkeit von Nährpräparaten herrscht 
heutzutage kein Zweifel mehr und jeder Praktiker unterschreibt 
wohl ohne Weiteres die Worte Ewald’s, 2 * ) der jene Zubereitungen 
für „unentbehrlich“ hielt, welche man als Nährpräparate be¬ 
zeichnet. 

Diese haben dort einzutreten, wo die Ernährung mit den 
sonstigen Mitteln schwierig oder unmöglich ist. 

Schon lange sucht man nach Ersatzmittel für Fleisch, das 
sonst beliebteste und vorzügliche verdauliche Eiweissnährmittel, 
dessen Darreichung bei vielen pathologischen Zuständen aus ver¬ 
schiedenen Gründen unterbleiben muss. 

Hierher gehören alle diejenigen Zustände, wo zur Ernährung 
des Menschen nur flüssige Nahrungsmittel verwendet werden 
können (Strictur des Oesophagus und Pylorus, Ulcus rotundura, 
Typhus abdominalis, nach Operationen etc.), bei welchen durch 
einen mechanischen Insnit von Seiten der Nahrung eine Schädi¬ 
gung des Patienten zu befürchten ist. 

In anderen Fällen verweigern die Patienten aus Widerwillen 
(Ileconvalescenz, Anaemie und Chlorose etc.) oder Furcht vor 
Schmerz (Gastralgien), oder in Fieberphantasien die Aufnahme 
von Fleisch. 

In sehr vielen Fällen kommt es wieder darauf an, bei 
chronischen und erschöpfenden Zuständen durch eine möglichst 
concentrirte, leichtest verdauliche und schmackhafte Ernährung 


1) Zum Theil nach einem am 15. Mai 1896 in der Medicinischen 
Section der schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur in Breslau 
gehaltenen Vortrag. 

2) Munk - Uffelmann - Ewald: Ernährung des gesunden und 

kranken Menschen. 3. Auflage 1895, S. 410. Wien und Leipzig, Urban 

und Schwarzenberg. 


dem Körperverfall einerseits vorzubeugen, andererseits ftlr eine 
für eine Stärkung und Vermehrung des Bestandes zu sorgen. 

Das einzige Nahrungsmittel, welches man in solchen Fällen 
verwenden kann, ist die Milch. Die Schwierigkeiten, welche 
einer ausgiebigen Ernährung des erwachsenen Menschen mit 
Milch entgegenstehen, brauchen wohl nicht erörtert zn werden. 

Als Fleischersatzmittel pflegt man dann die bekannten 
Albumosepeptonpräparate, speciell das Liebig-Kemmerich- 
sche und Denayer'sche, oder die mit viel Reklame auf den 
Markt geworfene sehr theuere Somatose, ein Albumosengemisch, 
in Anwendung zu ziehen. 

Bei der Verwendung von Peptonpräparaten hat man sich 
aber gegenwärtig zu halten, dass die Absicht, von der man über¬ 
haupt zu ihrer Herstellung für diätetische Zwecke schritt, ur¬ 
sprünglich nicht denjenigen Indicationen entsprach, die soeben 
angedeutet wurden. 

Man empfahl die Peptone, weil man glaubte, dass durch die 
Zufuhr von verdautem Eiweiss dem Darmkanal ein Theil der 
Verdauungsarbeit abgenommen würde, man nahm an, dass die 
per os eingeführten Peptone besser und leichter vom Darme 
resorbirt würden, als die genuinen Eiweisskörper. 

Ueberblickt man die zahlreichen experimentellen Unter¬ 
suchungen am Thier und an Menschen, so ergiebt sich als Re¬ 
sultat, dass man bei Menschen mit gesundem Magendarmkanal 
höchstens zwei Drittel') der Eiweisskörper durch Peptone er¬ 
setzen kann, überschreitet man diese Grenze, so treten bei allen 
Peptonpräparaten Störungen der Darmfunctionen ein, die sich 
im Auftreten von Diarrhoen bemerkbar machen — bei vielen 
Menschen treten diese schon bei bedeutend geringeren Mengen 
auf —, und sofort eine schlechtere Ausnützung des Eiweisses znr 
Folge haben. 

Die Darmstörungen beruhen nicht nur auf dem Salzgehalte 
der Peptonpräparate, sondern auch auf der reizenden Wirkung, 
welche die Peptone als solche auf die Darmschleimhaut aus- 
Uben. 

Es könnte dies im ersten Augenblicke wunderbar erscheinen, 
da bei der normalen Verdauung doch stets Peptone im Darra- 
kanale entstehen und resorbirt werden. 

Mit Recht weist aber Neumeister 1 ) darauf hin, dass bei 
der normalen Verdauung die Peptone in dem Maasse, als sie 
entstehen, auch resorbirt werden; nie hat die Darmschleimhaut 
zu einer Zeit so grosse Peptonmengen zu bewältigen, wie nach 
der Einführung künstlicher Peptonpräparate. 

Wenn aber bei der Ernährung mit Peptonen nicht nur nicht 
mehr geleistet wird, als bei der Darreichung von reinen Ei weiss¬ 
körpern, sondern sogar Störungen der Darmfunctionen zu be¬ 
fürchten sind, dann sieht man nicht ein, welchen Sinn die Ver¬ 
wendung von Peptonen als diätetische Präparate überhaupt hat. 
Es ist dann offenbar einfacher und vernünftiger, möglichst reine, 
unveränderte Eiweissstoffe darzustellen, die für die Zwecke 
der Diätetik geeignet sind und sich als Fleischersatzmittel völlig 
verwenden lassen. 

Ein solcher Eiweissstoff ist das Casein, auf dessen Bedeutung 
für die Zwecke der Ernährung gleichzeitig von E. Salkowski'} 
und F. Röhmann 4 ) hingewiesen wurde. 

1) Otto Deiters: Ueber die Ernährung mit Albumosepepton; 
C. v. Noorden's Beiträge zur Lehre vom Stoffwechsel. Berlin. 
1892, S. 47. 

2) 11. Neumeistcr: lieber Somatose und Albumosenpräparate im 
Allgemeinen. Deutsche med. Wochenschrift 1893, No. 36. 

3) E. Salkowski: Ueber Anwendung des Caseins zu Ernährungs¬ 
zwecken. Berliner klinische Wochenschrift 1894, No. 47.) 

4) F. Röhmann: Ueber einige salzartige Verbindungen des Caseins 
und ihre Verwendung; ebenda 1895, No. 24. 


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22. Februar 1807. 


B KR LIN KR KLINISCHK WOCHENSCHRIFT. 


163 


Das Casein selbst ist zwar in Wasser unlöslich; es bildet 
aber mit Alkalien leicht lösliche salzige Verbindungen. 

Die Natriumverbindung des Casein wird unter der Bezeich¬ 
nung Nutrose von den Farbwerken vorm. Meister, Lucius und 
BrUning in Höchst a. M. in den Handel gebracht. 

Mit diesen Präparaten hat auch R. Struve 1 ) unter Leitung 
C. v. Noorden's in Frankfurt a. M. eine Reihe von Versuchen 
an Menschen angestellt, welche in Uebereinstimmung mit den 
von G. Marcuse 2 ) am Hunde ausgeflihrten Stoffwechsel versuchen 
zeigten, dass die Nutrose auch im menschlichen Darme ganz 
vorzüglich resorbirt wird und im weiten Umfange das Fleisch 
der Nahrung zu ersetzen im Stande ist. 

Mir schien es von Interesse, direkt und unter genau den¬ 
selben Bedingungen das Verhalten der Nutrose mit einigen der 
zur Zeit am meisten verwendeten Albumosepeptonpräparaten zu 
vergleichen, und zwar mit dem Liebig-Kemmerich’schen Fleisch¬ 
pepton, das unter der Controle von Pettenkofer und Voit 
hergestellt wird, und der Somatose. 

Diese Versuche führte ich an mir selbst, zum Theil 
(Versuchsreihe A) im chemischen Laboratorium des physiologi¬ 
schen Institus zu Breslau, zum Theil (Versuchsreihe B und C) 
im Zusammenhänge mit anderen Untersuchungen im Laboratorium 
des Herrn Dr. G. Rosenfeld in Breslau aus. 

Die Nahrung bestand in der ersten 20tägigen Versuchs¬ 
reihe (A) flir den ganzen Tag aus 250 gr mageren Hackfleisch 
(3,32 pCt. N) bez. aus 150 gr Fleisch und Mengen von Nutrose 
(14,35 pCt. N) oder Pepton (10,8 pCt. N), welche in Bezug au^ 
ihrem N-Gehalt 100 gr Fleisch gleichwertig waren, 250 gr Zwie¬ 
back (1,3 pCt. N), 125 gr Butter, 50 gr Zucker, 150 gr Aepfel 
(0,07 pCt N), 3 Tassen Kaffee 3 ) und etwa 800 ccm Wasser. 
Fleisch und Zwieback wurden fllr die ganze Reihe abgewogen, 
das Fleisch in Büchsen sterilisirt aufbewahrt. 

Die Methodik der Untersuchung war die übliche: Stickstoff wurde 
nach Kjeldahl bestimmt, der Koth der einzelnen Periode wird durch 
Kohle abgegrenzt. Der täglich entleerte Koth wird mit einer bestimmten 
Menge verdünnter Schwefelsäure verrieben und zunächst lichttrocken 
gemacht; in einem Theile der Substanz wird der noch vorhandene 
Wassergehalt bestimmt. Die Harnmengen sind abgerundet auf das Vo¬ 
lumen, von welchem 5 ccm zur Kjeldahlbestimmung entnommen werden; 
in Wirklichkeit waren sie etwas geringer. — 

Vergleichen wir den Stickstoffgehalt des Kotlies in den ver¬ 
schiedenen Perioden mit dem N-Gehalt der gesammten einge¬ 
führten Nahrung, so finden wir für die Ausnutzung folgende 
Werthe (s. auch Tabelle A.). 

Der Nahrungsstickstoff wird ausgenutzt: 

In Fleischperiode I zu 84 pCt. In Nutroseperiode I 87,5 pCt. 
n tt II - 84,24 „In „ II 86,84 „ 

„ „ III , H4 , In Peptonperiode 82,89 „ 

Die Unterschiede sind geringe; sie deuten aber zum min¬ 
desten darauf hin, dass die Nutrose besser als Fleisch, das Pepton 
aber schlechter ausgenutzt wird, und dies bereits, wenn kaum 
ein Drittel des gesammten Stickstoffbedarfs durch 
Pepton ersetzt ist. 

Bei der Bilanz (s. Bemerkungen in Tabelle A.), die sich 
beim Vergleich der gesammten N-Kinnahme und N-Ausgabe zeigt, 
müsste die durch Haut und Haare ausgeschiedene N-Menge noch 
in Betracht gezogen werden, so dass sich die -f- Bilanz in Wirk¬ 
lichkeit etwas geringer stellt und in der Peptonperiode die Bilanz 
negativ wird. Nehmen wir dann für die Fleichperioden Stick¬ 
stoffgleichgewicht an, dann hat in Nutroseperiode I eine N-Re- 
tention, von Fleischeinsatz stattgefunden; in der 3tägigen Pepton¬ 
periode dagegen giebt der Körper etwas von seinem Bestände ab. 

1) R. Stüve: Klinische und experimentelle Untersuchungen über 
einige neuere Nährpräparate. Berl. klin. Wochenschrift 189G, No. 20. 

2) G. Marcuse: Der Nährwerth des Caseins. Pflüger’« Archiv 1896. 

6) N in Kaffee wurde nicht berücksichtigt. 


Versuchsreihe A. 


1 

2 

3 

4 

5 

6 

7 

8 
9 

10 

11 

12 

13 

14 

15 1 

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16 

17 

181 
I 

19 






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ccm 

er 

gr 

gr 

7. 

I. Fleisch- 

1000 

9,0 , 




perlode 

1200 

9,156t 




250 gr Fleisch 

1200 

9,0 f 

29,1 

1,88 

84 

etc. 

1000 

8,12 ' 




1. Nutrose- 

1300 

9,1 




perlode 





150 gr Fleisch 
-f 23 gr Nu- 

1200 

8,32 

24,87 

1,46 

87,5 

trose etc. 

1100 

8,28 




11. Fleisch- 

1200 8,295 j 




perlode = I. 

1200 8,695) 

28,5 

1,85 

84,24 

8. oben. 

1300 9,64 ' 

1 




II. Nutroge- 

1300 9,33 \ 




Periode = I. 

1000 9,1 > 

24,8 

1,55 

86,84 

s. oben. 

1000 9,135' 

1 





1 

1000 8,82 , 




111. Fleisch- 






Periode 

1000 9.275) 

28,45 

1,885 

84 





1200 9,24 ' 




Pepton- 

1000 8,925 i 




perlode 

150 gr Fleisch 

1000 

10,1 | 

27,78 

2,01 

82,89 

+ 32 gr 
Pepton 

1000 

9,5 





Bemerkungen. 


Tägliche 

N-Aufn.i.d. 

Nahrg. = ll,65grN 
Ausscheidg. 
in Harn u. 

Koth 10,7 „ „ 
Bilanz -j- 0,95 
Einnahme 

prodie = ll,65grN 
Ausgabe in 
Harn und 

Koth = 10, 03 „ „ 
Bilanz + l,62p.d. 
Einnahme 
prodie = ll,65grN 
Ausgabe in 
Ham und 

Koth = 10,71 „ „ 
Bilanz -|- 0,94 grN 
Einnahme 
prodie= ll,65grN 
Ausgabe in 
Koth = 10, 74 „ „ 
Bilanz -f 0,91 
Einnahme 
pro die = 11,65 grN 
Ansgabe in 
Harn und 

Koth =11,0 ^ 
Bilanz + 0,61 
Einnahme 
pro die = 11,65 grN 
Ausgabe in 
Ham nnd 

Koth = 11,52 „ „ 
Bilanz-J-0,18grN 


Die Bilanzen sind für den Tag (ohne Abrechnung des in¬ 
sensiblen Verlustes durch Haut und Haare): 

In Fleischperiode I -J- 0,95 in Nutroseperiode I -f- 1,62 

„ n II + 0,94 „ „ II + 0,91 

„ „ III -f- 0,61 „ Peptonperiode 0,13 

Der Nährwerth der Nutrose ist also mindestens 
derselbe, ja besser wie der des Fleisches; der Nähr¬ 
werth des Liebig-Kemmerich’schen Fleischpeptons 
unter denselben Versuchsbedingungen in Folge der 
schlechten Resorbirbarkeit ein geringerer als der von 
Fleisch und Nutrose. 

Noch auffallender werden diese Unterschiede, wenn die Ge- 
sammtmenge des Fleisches ein Mal durch Nutrose, das andere 
Mal durch ein Albumosengemisch ersetzt wird. Als letzteres 
wählte ich die Somatose, welche sich vor dem Liebig’schen 
Peptone durch ihren bei weitem besseren Geschmack auszeichnet. 

Den Versuch stellte ich wieder an mir selbst an, genau in 
der oben beschriebenen Weise, nur dass ich ausser der erwähnten 
Nahrungsmenge noch 25 gr t’hokolade zu mir nahm. Fleisch = 
3,285 pCt. N, Zwieback = 1,35 pCt. N, Nutrose = 13,28 pCt., 
Somatose = 13pCt. 

Die Ausnutzung des Stickstoffs der Nahrung war in diesen 
Versuchen weniger gut, als in der ersten Versuchsreihe; der 
Grund hierfür ist nicht mit Sicherheit anzugeben. 

In Fleischpcriode II, war sie die Folge einer geringen Imli- 

8 * 


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Versuchsreihe B. 


104 


BKRL1NKU KLINIK 'HK W< M’lIEXSt ’IIRI FT. 


No. 8. 


cg 

Art der 

Harn- ■ 
menge 

N Im 
Harn 

Koth¬ 
menge | 

N im 
Koth 

j £ 

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Bemerkungen 

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Nahrung 




die 



pro 

die 

pro 

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1) 

I. Fleisch- 

930 

10,28 ; 

\ • | 



N-Einnahme 


periode 





prodie=ll,9 gr 


250 gr 
Fleisch 

1045 | 

9,6,6 

>31,55 

2,2 

81,7 

N-Ausgabc 
im Harn u. 


etc. 






Koth = 12,03 gr 

8/ 


1100 

9,58 

) 



Bilanz p.d. — 0,13 



Vom 4.—G. Versuchstage nehme ich zu anderen Zwecken Harnstoff. 


7 1 

8| 

II. Fleisch-! 

895 

1 


1 


Einn. ■= 11,9 gr N 

periode ! 


1 9,6 

39,0 

: 2,71 

77,5 

Ausg. = 12,3 „ „ 

= I. 

705 

J 




Bilanz — 0.4 gr N 

9 ) 

Nutrose- 

periode 

650 

9,21 

j 



Einn. = 11,9 gr N 

10 

61,5 gr 

850 

10,65 

26,67 

1,63 

85 

Au?g. = 11.81 „ . 

Nutrose 

Bilanz -+- 0,09 gr N 


etc. 



\ 



lll 


1010 

10,18 

1 





,1 Ein Normalfleischtag; wegen der Schwierigkeit der Kothabgrenzung 
■| für einen Tag und weil unwichtig, nicht ausgeführt. 



Somatose- 

Periode 

62,5 gr 

Somatose 

etc. 


1130 


625 


6,56 \ 

> 81,5 6,94 42,2 

6,19 ) | 


Einn. = 11,9 gr 
Ansg. =13,31 „ 
Bilanz — 1,41 gr 


gestion, die durch einen fllr andere Zwecke erfolgten Genuss von 
Harnstoff bedingt war; die Ausnutzung des Stickstoffs betrügt 
nur 77,5 pCt. 

In der darauf folgenden Nutroscperiode steigt sie auf H5 pCt. 

Obgleich also der Darm vorher nicht vollkommen in Ord¬ 
nung war, ist selbst bei völligem Ersätze des Fleisches 
durch Nutrose die Ausnutzung eine sehr gute. Dem¬ 
entsprechend ist auch die Stickstoffbilanz in den Nutrosetagen 
günstiger, als in den Fleischtagen; — 0,13 und — 0,4 zu 0,00. 

Ganz andere gestaltet sich das Bild in der Somatoseperiode. 

Von dem leicht löslichen und gut schmeckenden Präparate 
werden an zwei aufeinanderfolgenden Tagen je 62,5 gr, ent¬ 
sprechend 250 gr Fleisch, zur Hälfte Mittags und Abends ge¬ 
nommen. Nachts 2 Uhr erfolgt die erste diarrhoische Entleerung, 
welcher innerhalb der nächsten 32 Stunden noch sechs, weit 
schlimmere folgten. — Eine Fortsetzung des Versuches war un¬ 
möglich und auch unnöthig. 

Von dem eingeführten Stickstoff“ werden nur 42,2 pCt. re- 
sorbirt; in der colossalen Kothmenge finden wir mehr als die 
Hälfte wieder. 

Der Körper blisst täglich von seinem eigenen Stickstoff“ noch 
1,41 gr ein, er arbeitet mit bedeutender Unterbilanz. 

Diese Beobachtung steht in vollem Einklänge mit den Er¬ 
fahrungen anderer. Ich begnüge mich damit, auf die diesbezüg¬ 
lichen Ausführungen E. Salkowski’s 1 ) hinzuweisen: B I)ie mangel¬ 
hafte Resorbirbarkeit der Somatose und ihre Eigenschaft, dünn¬ 
flüssige Darmentlerrungen hervorzurufen, schliesst eine wirksame 
Ernährung mit derselben aus . . 

Geringere Mengen von Somatose — 3 mal täglich je einen 
Kaffeelöffel — sollen ja gut, eine Zeit lang wenigstens, vertragen 
werden; für eine auch nur einigermaassen „wirksame Ernährung“ 
reichen sie bei weitem nicht aus; Somatose ist kein Fleisch- 

1) Deutsche med. Wochenschrift, No. 15. 


ersatzmittel im Sinne des Wortes, nach Ausspruch selbst vieler 
Lobredner des Präparates mehr ein Stomachicum. 

Gelegentlich eines gemeinsamen Beitrages zu seinen Harn- 
säurearbeiten stellte ich auf Veranlassung des (’ollegen Rosen¬ 
feld auch einen Versuch Uber den Nährwerth des Aleuro- 
nats an. 

In der zum Vergleich dienenden Flcischperiode nehme ich 
dieselben Nahrungsmittel, wie in den früheren Versuchen; nur 
war das Fleisch diesmal nicht gehackt, sondern gemahlen. Sein 
N-Gchalt beträgt 3,6 p(‘t., der des Zwiebacks 1,7 pCt.; Aleuronat 
hat 14,7 pCt. N. Die gesammte Fleischmenge wird 3 Tage lang 
durch Aleuronat ersetzt. 


Versuchsreihe C. 


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Fleisch- 

1020^ 

10,46 

\ 



Einnahme 

I 



/ 



pro die= 18,35 grX 

2 > 

periode 

250 gr Fleisch 

920 

10,42 

> 22,5 
i 

1,65 

CD 

00 

Ausgabe in 

Harn nnd 

1 

etc. 






Koth . . 12,18 „ . 

8/ 


800 

1 

10,71 

) 



Bilanz -f- l,17grN 


Aleuronat- 

perlode 

61,5 gr 
Aleuronat etc. 


11035 11,88 
1000 11.2 >25,3 

I 

1210 11,3 


1,77 | 8»!,9 


Einnahme = 13,35 
Aufgabe = 13.23 
Bilanz -f- 6,12 


Das Ergebniss ist ein für das Aleuronat nicht ungünstiges. 
Es wird völlig resorbirt; Störungen von Seiten des Darmes treten 
nicht auf. Die Ausnutzung des Stickstoffes im Darme ist an¬ 
nähernd dieselbe, wie beim Fleisch. Jedoch zeigt sich bei der 
Bilanz in beiden Perioden ein bedeutender Unterschied. Die 
-f- Bilanz, die in der Fleischperiode 1,17 gr N pro die 
beträgt, sinkt bei Ersatz des Fleisches durch Aleuro¬ 
nat auf 0,12. Nach diesem Versuche wäre also der Nährwertli 
des Aleuronates trotz seiner guten Resorption im Darme geringer 
als der des Fleisches und der Nutrose, ein Schluss, der erst 
noch durch weitere Versuche bestätigt werden muss. In den 
Aleuronattagen lebte ich rein vegetarisch! 

Auf Grund meiner verschiedenen Versuche kann ich be¬ 
haupten, dass die Nutrose ein in jeder Beziehung ge¬ 
eignetes Fleischersatzmittel ist. Ein weisses Pulver von 
appetitlichem Aussehen, geruchlos und fast geschmacklos, leicht 
löslich in Wasser, und — eine sehr ins Gewicht fallende Eigen¬ 
schaft — nicht theuer, lässt sich die Nutrose in der verschieden¬ 
sten Form darreichen. 

Sie wird im Darme vortrefflich ausgenutzt und hat im Stoff¬ 
wechsel denselben Werth wie die Eiweissstofte des Fleisches: 
sie wird selbst in grösseren Mengen anstandslos genommen und 
vertragen, im Gegensatz zu Pepton und Somatose, die wegen 
ihrer darmreizenden Wirkung in selbst kleineren Mengen auch 
vom gesunden Magendarmtractus nicht vertragen werden. 

Beachtenswert erscheint mir zum Schluss noch das Ver¬ 
halten der Kothraengen bei Darreichung verschiedener Eiweiss¬ 
präparate. 

Vergleichen wir die Kothmenge in den einzelnen Versuchs¬ 
reihen, jt., B. und C., so finden wir: 

Versuchsreihe A., Koth pro die. 

Fleischperiode I 29,1 gr Nutroseperiode I 24,87 gr 
?! II 28,5 „ „ II 24,3 „ 

„ III 28,45 „ Pep ton periode 27,78 „ 


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22. Februar 1897. 


berliner klinische Wochenschrift. 


n»r> 


Versuchsreihe B. 

Fleischperiode I 31,55 Nutroseperiode 26,(57 

„ II 89,0 Somatoseperiode 81,5 

Versuchsreihe C. 

Fleischperiode 22,53 gr A1 euronatpcriode 25,3 gr; 
in Versuchsreihe A. und B. war das Fleisch gehackt, in Reihe C. 
gemahlen. 

Die Kothmenge ist bei gemahlenem bezw. geschabtem 
Fleische geringer als bei gehacktem, bedeutend kleiner bei Dar¬ 
reichung von Nutrose als bei Hackfleisch; bei nicht gehacktem 
wäre der Unterschied vermuthlich noch grösser; ähnlich der 
Nutrose verhält sich auch das Aleuronat; die schlechten Eigen¬ 
schaften der Albumosen und Peptone zeigen sich auch in den 
grösseren Kothmengen. 

Die Darreichung der Nutrose erscheint hiernach auch in den¬ 
jenigen Fällen zweckmässig, wo es dem Arzte darauf ankommt, die 
Bildung grösserer Kothmengen möglichst hintanzuhalten, bei ge¬ 
wissen Atonien des Darms, bei ulcerösen Processen, vor und 
nach Operationen speciell in der Dammgegend. 


V. Kritiken und Referate. 

F. W. Pavy: Die Physiologie der Kohlenhydrate. Ihre Verwen¬ 
dung als Nahrangsmittel and ihr Verh&ltniss zar Diabetes. 

Uebersetzt von Dr. C. Grube, Arzt in Neuenahr. Leipzig und 

Wien, F. Deuticke. 1895. 257 S. gr. 8. 

Der bekannte englische Arzt und Forscher Pavy hat vor Kurzem 
seine durch Jahre lange Forschungen über das Wesen des Diabetes ge¬ 
sammelten Erfahrungen und Ansichten in einer Monographie „Die Physio¬ 
logie der Kohlehydrate, ihre Verwendung als Nahrungsmittel und ihr 
Verhältnis zum Diabetes“ zusammengefasst, die von Dr. Grube in 
Neuenahr, welcher längere Zeit in dem Pavy'sehen Laboratorium be¬ 
schäftigt war, übersetzt worden ist. Das Werk ist mit einer Anzahl 
wohlgelungener Photogramme ausgestattet und die Ucbersetzung zeich¬ 
net sich durch Correctheit und Fluss der Sprache aus. Pavy ist es be¬ 
kanntlich gelungen, aus Eiweiss ein Product abzuspalten, welches Kupfer¬ 
oxyd reducirt und aus dem sich Osazonkrystalle darstellen lassen und 
zwar ist ihm dies sowohl durch Einwirkung starker Säuren, als wie 
durch Wirkung von proteolytischen Fermenten gelungen. Bekannt sind 
seine Versuche über das Verhalten des Zuckers im Pfortadergebiet und 
über die sogen, glykogenetische Function der Leber. Neu ist der von 
ihm geführte Nachweis, dass die Kohlenhydrate bereits in den Darm¬ 
zotten eine tiefgreifende Veränderung erleiden, indem sie nicht in Zucker 
(oder Glykogen), sondern in Fett umgewandelt werden. Wenn fastende 
Thierc Mehl als Futter erhalten, so lassen sich durch Behandlung mit 
Ueberosmiumsäure reichliche Mengen von Fett in den Darmzotten nach- 
weisen, ja man kann direct sehen, dass die Darmepithelien mit Fett¬ 
tröpfchen gefällt sind. Aach der Leber soll nach Pavy eine solche fett¬ 
bildende Eigenschaft zukommen. Erst wenn das fettbildende Vermögen 
von Darm und Leber der Menge der eingeführten Kohlenhydrate nicht 
mehr gewachsen ist, kommt es zu einer Ablagerung von Glykogen in 
der Leber, die also nicht die normale Quelle des Zuckers ist, vielmehr 
wie eine Barriere den Zucker am Uebergang in den grossen Kreislauf 
verhindert und den durch die Pfortader ihr zuströmenden Zucker in 
andere Substanzen verwandelt. Das Glykogen wird nicht, wie es die 
Theorie von Bernard verlangt, in Zucker übergeführt und in den grossen 
Kreislauf gegeben, sondern wird durch Anlagerung von N zu einem Pro¬ 
teid, einem ei weissartigen Körper, aus dem sich event. aufs Neue Fett 
und ein N-haltiger Rest abspalten. Pavy konnte nämlich sowohl durch 
Fällung als durch Fermentwirkung aus dem Eiweiss einen dem thieri- 
schen Gummi Landwehr's ähnlichen oder vielleicht damit identischen 
Körper abspalten, der mit verdünnter Schwefelsäure behandelt die 
Phenylhydrazinreaction gab. Er scheint anzunehmen, — ein directer Be¬ 
weis findet sich nicht, — dass auch das Umgekehrte, d. h. die Synthese 
von Kohlenhydraten zu Proteiden statthat. Er stützt sich ferner auf 
eine grosse Zahl von Versuchen, aus denen hervorgeht, dass die Leber 
unmittelbar nach dem Tode nicht mehr Zucker, wie jedes andere Organ 
hat, dass das arterielle Blut nicht reicher an Zucker, wie das venöse 
Blut iBt, während der Gehalt des Pfortaderblutes zwar mit der Nahrung 
wechselt, aber bei den Hungertbieren nicht wesentlich von dem Leber¬ 
venenblut differirt. Endlich wird jede Quantität Zucker, die dem venösen 
System zugeführt wird, prompt durch die Nieren ausgeschieden, und 
eine Toleranz des Organismus für Zucker bis zu 1 gr pro Kilo Körper¬ 
gewicht, wie sie Bernard annahm, existirt nicht. 


Opel: Lehrbach der vergleichenden mikroskopischen Anatomie 
der Wirbeithicre. I. Theil: Der Magen. 548 Seiten, gr. 8. 
Mit 377 Textbbild. und 5 lithogr. Tafeln. Verlag: Fischer, Jena. 

1893. 

Das vorliegende Werk, die Frucht jahrelanger und emsigster Arbeit, 
ist zweifelsohne eine ganz hervorragende Leistung auf dem Gebiete der 
vergleichenden Anatomie, wie eine solche unseres Wissens in gleicher 
Ausführlichkeit nicht existirt und seit dem bekannten Lehrbuche von 
Franz Leydig auch nicht versucht worden ist. Aber das letztere ist 
an Umfang und Vertiefung gar nicht mit dem Opel'sehen Werke zu 
vergleichen, und es wird der Lebensarbeit eifrigsten Schaffens bedürfen, 
um das letztere zu Ende zu bringen. Denn der vorliegende umfängliche 
I. Band beschäftigt sich nur mit einem einzigen Organe, dem Magen, cs 
bleibt also noch genug für eine stattliche Folge weiterer Publicationen 
übrig. 

Verf. verfolgt die Entwickelung und Gestaltung des Magens, nach¬ 
dem er zunächst in eingehendster Weise den Bauplan des Wirbelthier¬ 
magens erörtert, durch die gesammte Wirbelthierreihe, wobei dann die 
Literatur in ausgiebigster Weise berücksichtigt und durch eigene Unter¬ 
suchungen des Verf. ergänzt wird. Soweit es das vorhandene Material 
zulässt, wird auch überall gleichzeitig mit dem anatomischen das physio¬ 
logische Verhalten erörtert. Zahlreiche ausgezeichnete Abbildungen sind 
als Holzschnitte und lithogr. Tafeln dem Werke beigegeben. 

Es ist hier nicht der Ort und auch nicht unseres Amtes, auf die 
speciell anatomisehe Leistung des Verfassers einzugehen. Darüber möge 
sich der Leser in den Fachzeitschriften ein Urtheil suchen. Aber das 
darf anstandslos gesagt werden, dass dass Opel'sche Werk eine Leistung 
wissenschaftlichen Fleisses und wissenschaftlicher Gründlichkeit ist, wie 
sie hervorragender kaum gedacht werden kann, und dass der Leser viel¬ 
fältige Belehrung und Anregung daraus schöpfen wird. 

Ewald. 


L. Lewin: Lehrbach der Toxikologie. Zweite vollständig neu¬ 
bearbeitete Auflage. Wien und Leipzig, Urban & Schwarzenberg. 
1897. 509 Seiten in gr. 8. Mit 7 Holzschnitten und einer Tafel. 

Eine äusserst willkommene und werthvolle Gabe, die das neue 
Jahr den Freunden der Toxikologie bietet, ist die zweite Auflage des 
Lewin'sehen Lehrbuches der Giftlehre. Man hoffte in den Kreisen, 
in denen dies Werk sich eingebürgert hatte, schon lange darauf, dass 
der Verfasser sich entschlossen möge, dieses den Anforderungen, welche 
die Erweiterung der Wissenschaft forderte, gemäss umzuarbeiten. Wer 
die erste Auflage mit der gegenwärtigen vergleicht, wird bei den enormen 
Fortschritten, welche die Toxikologie in den seit dem Erscheinen ver¬ 
flossenen zwölf Jahren gemacht hat, sich darüber wundern, dass es mög¬ 
lich war, den enormen Zuwachs von toxikologischen Thatsachen in das 
Werk so hineinzuarbeiten, dass der Umfang der neuen Auflage den der 
alten nur um drei Bogen übertrifft. Man hätte glauben sollen, dass 
allein jene neuen Gifte, welche in Folge der grossen Entwickelung der 
modernen Chemie in den Laboratorien und Fabriken Intoxicationen von 
Arbeitern oder in Folge ihrer Verwendung als Arzneimittel Medicinal- 
vergiftungen der verschiedensten Art hervorgerufen haben, eine über das 
Maas» von 50 Seiten hinausgehenden Raum beanspruchen müssten. In¬ 
dessen ist es dem Verfasser durch concise Fassung und Vermeidung von 
Abschweifungen gelungen, nicht allein diese, sondern alles was Nennens¬ 
wertes auf dem ganzen Gebiete der Giftlehre in neuerer Zeit geschehen 
ist, für das Werk in einer Weise zu verwerthen, dass dieses vollständig 
dem gegenwärtigen Standpunkte des Wissens entspricht. Das Neueste 
auf dem Gebiete des chemischen Nachweises, die Ergebnisse neuerer ex¬ 
perimenteller Forschungen über die physiologische Wirkung altbekannter 
und neu introducirter toxischer Stoffe, |die Resultate der Beobachtungen 
über Vergiftungen bei Menschen, die Studien über Baeteriengifte, die ja 
vollständig der neuesten Zeitperiode angehören, diejenigen über Immuoi- 
simng, die ja in den letzten beiden Jahren für die Behandlung der Ver¬ 
giftungen durch Schlangenbiss überraschende praktische Bedeutung ge¬ 
wonnen haben, — alles dieses findet der Leser in einer Weise be¬ 
sprochen, dass es für denjenigen, dem es um die Erlangung bestimmter 
Kenntnisse zu tbun ist, vollständig genügt. 

Nicht allein für diesen hat der Verfasser gesorgt, sondern auch für 
den, der über einzelne Materien sich genau orientiren und informiren 
will, indem er am Fusse des Textes die wichtigsten Arbeiten verzeichnet, 
in denen die auf jene bezüglichen Verhältnisse ausführlicher besprochen 
werden. Sehr dankend anzuerkennen ist dabei, dass diese literarischen 
Angaben auch über die Zeitperiode der zwei oder drei letzten Lustren 
hinausgehen, auf welche sich der Citatenschatz mancher medicinischer 
Bücher neuesten Datums beschränkt. Wie die gesammte Medicin, ist 
auch die Toxikologie nicht von heute und manches, was heute als etwas 
Neues hingestellt wird, war schon vor 50 Jahren und früher bekannt. 

Uebersieht mau den ganzen reichhaltigen Inhalt des Lehrbuches, so 
wird man dem Verfasser nicht die Berechtigung zu dem Ausspruche, dass 
sein Werk den vollständigsten Ucberblick über das toxikologische Material 
liefere, absprechen können. Man wird beim Aufschlagen des ausführ¬ 
lichen Registers weder eine chemische Substanz, noch eine Pflanze, noch 
ein Thier, das von toxikologischem Interesse ist, vergeblich suchen. Da¬ 
her wird Lewin’s Werk auch keineswegs dem Pharmakologen und dem 
Arzte, sondern auch dem Naturhistoriker, insbesondere dem Chemiker, 
Botaniker und Zoologen von hervorragendem Interesse sein. 

Die Anordnung des Stoffes ist im wesentlichen dieselbe geblieben, 


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16(5 


Ko. 8. 


IttillLIKKll KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


wenn auch die einzelnen grösseren Abschnitte zum Theil neue Be¬ 
nennungen bekommen haben. So ist der Name -chemische, organische. 
Gifte“ durch „Kohlenstoffverbindungen“, die Benennung -Fäulnissgifte" 
durch -metabolische Gifte“ verdrängt. Wir können uns über die Bei¬ 
behaltung des Systems nur anerkennend aussprechen, weil es einerseits 
mit der Intention des Verfassers, auch über den Kreis der Aerzte hinaus 
Belehrung zu gewähren, am besten harmonirt, und weil es ein solches 
ist, das nicht, wie ein consequent durchgefiihrtes toxikodynamisches 
System, den Leser nöthigt, sich die Kenntniss eines Giftes stückweise 
aus verschiedenen Stellen des Buches zusammenzusuchen. 

Th. IIusemann-Göttingen. 


Determann: Casnistlsi her Beitrag zur Kenntniss der Migräne. 

Deutsche med. Wochensclir. 1896, No. 10 u. 11. 

Verfasser berichtet eingehend über einen 40jährigen, hereditär nicht 
belasteten Patienten, welcher seit seinem IG. Lebensjahre an Migräne 
leidet. Die ersten Anfälle begannen mit dem Auftreten von dunklen 
oder farbigen Kreisen vor den Angen und darauf folgendem heftigen 
Kopfschmerz. Sehstörung wie Kopfschmerz pflegten doppelseitig zu sein, 
nachdem eine Seite damit begonnen hatte; selten blieb die eine Seite 
die allein leidende. 1893 trat zuerst halbseitig, später auch beiderseits 
Kribbeln auf. Seit 1894 gesellte sich zu den Anfällen eine rein moto¬ 
rische Aphasie bei erhaltenem Sprachverständniss und Agraphie. (Zu 
bemerken wäre, dass späterhin dauernd eine leichte Sprachstörung be¬ 
stand.) Als ferneres Symptom bei dem Kranken wären motorische 
Schwächeerecheinungen zu erwähnen, welche bei schweren Anfällen in 
den oberen Extremitäten auftraten. Zeitweise trat beim Anfall Schwindel 
auf. Der Kranke will zwar nie gestürzt, aber im höchsten Grade un¬ 
sicher gewesen sein. Das Bewusstsein war dabei stets erhalten. Ein¬ 
mal zeigte sich nach Auf hören des eigentlichen Anfalles, nachdem Patient 
schon mehrere Stunden geruht hatte, Erbrechen und Fieber. Während 
desselben bestand ein Verwirrungszustand und das erste Mal an ihn an¬ 
schliessend Illusionen und Hallucinationcn bei vcrhültnissmässig klarem 
Bewusstsein. Erscheinungen von Seiten des Verdauungscanals. ab¬ 
gesehen von dem einmaligen Erbrechen, traten nicht auf; ebenso Ständen 
die vasomotorischen Symptome im Hintergründe. — Coitus, sowie mehr 
als 2 tägige Stuhlverstopfung konnten ziemlich sicher einen Anfall her- 
vorrufen. 

Zur Erklärung des Symptomencomplexes erscheint dem Verfasser 
die Idee einer localen Angioneurose in grossen Gebieten der Hirnrinde 
am fasslichsten, besonders die eines localen Angiospasmus, der in ver¬ 
schiedener Intensität in den verschiedenen Kindenstelien auftrete, und 
dementsprechend Ausfalls- oder Reizungserscheinungen machte. 

Entweder wäre die abnorme Ansammlung von Stoffwechselproductcn 
wegen ungenügender Wegschaffung und dadurch Reizung der normalen 
Gefässnerven anzunehmen oder eine abnorme Reizbarkeit des Gofäss- 
nervensystems an bestimmten Stellen und Reizung zu abnormer Thätig- 
keit schon durch normaler Weise vorhandene Stoffwechselproducte; 
beides würde nur bei gewisser Ansammlung von Zeit zu Zeit zu einer 
Krankheitserscheinung führen. 

Bei der Behandlung will Verfasser einen guten Erfolg mit der An¬ 
wendung von Arsen gehabt haben; während des Anfalls wandte er 
„manchmal mit ganz schlagendem Erfolge“ Funkendurchströmung der 
Influenzmaschine an. 


Flethsig: Die Grenzen geistiger Gesundheit und Krankheit. 

Leipzig 189G. 

F. beleuchtet in dieser Festrede einige Grenzgebiete der Geistes¬ 
krankheiten in gemeinverständlicher Weise. Er geht davon aus, dass 
das frühere Bestreben, die krankhaften Geisteszustände durch Vermitt¬ 
lung der Philosophie zu erforschen, jetzt dem Wunsche Platz machen 
müsse, jede geistige Erscheinung, ob normal oder krankhaft, auf That- 
sachen der körperlichen Organisation, auf körperliche Vorgänge zurück- 
zuffihren. „Die Lehre vom Hirnbau hat in den letzten Jahren so grosse 
Fortschritte gemacht, dass wir uns mit Riesenschritten dem Ziel nähern, 
den Ansatz zur Berechnung der menschlichen Seele zu finden.“ Als 
Momente, die auf die Beschaffenheit des Gehirns erheblichen Einfluss 
haben, nennt F. die ererbte Constitution, die Alkohol Wirkung u. a. m. 
Er kommt dann zum eigentlichen Thema und erörtert kurz den Queru¬ 
lantenwahnsinn, wobei er die bekannte Thatsache hervorbebt, dass nur 
ein Theil der Querulanten zu den mit fixen Wahnvorstellungen Be¬ 
hafteten gehört; ein anderer Theil zeige nicht intellectuelle Anomalien, 
sondern Carakterfebler und man kann bei ihnen in der Regel angeborene 
oder erworbene Belastung und zahlreiche kleinere in Summa potentiell 
einer Psychose durchaus gleichwertige Abweichungen feststellen. F. 
geht dann auf die Frage nach dem Gewohnheits-Verbrecher über; er 
negirt die Existenz des Delinquente nato, behauptet aber, dass es unter 
den Gewohnheits-Verbrechern eine gewisse Anzahl giebt, welche Ab¬ 
weichungen des Hirnbaues zeigen und zwar ursprüngliche angeborene 
Bildungsanomalien, Abweichungen in der Form der Gehirnoberfläche, in 
der Anordnung seiner Windungen, in den Proportionen seiner Tlieile. 
Meist sind diejenigen Hirntheile schlecht entwickelt, die F. als Asso¬ 
ciationsorgane , als geistige Centren, als Deukorgane bezeichnet hat; 
daraus erklärt er die so häufige intellectuelle Inferiorität. Doch muss 
zur Erklärung des Gewohnheitsverbrechers noch auf einen nicht anato¬ 
mischen, sondern chemischen Factor im Gehirn zurückgegriffen werden 
(Keimanlage, Milieu, körperliche Einflüsse). F. betrachtet nun die Wir¬ 


kung des gewohnheitsmässigen Gebrauchs von Narcoticis (Morphium, 
Alkohol in concentrirter Form) auf den Charakter; sie heben vorüber¬ 
gehend oder dauernd das Schmerzgefühl auf; da letzteres nun nach ihm 
ein fundamentaler moralischer Factor ist, so schädigen alle Narcotica 
die moralischen Gefühle, wenn sie gewohnheitsmässig genommen werden. 
Den Schlüssel zu dieser Thatsache liefert die Hirnanatomie, die nach 
F. zeigt, dass es gewissermaassen ein Charaktercentrum, ein Hanptorgan 
des Charakters im Gehirn giebt. Dasselbe deckt sich mit der „Körper- 
fiihlsphäre der Hirnrinde", in der der Körper mit allen Beinen Trieben, 
seinen Bedürfnissen, seinem Kraftvorrathe, seinen Schmerzen u. s. w. 
sich selbst zum Bewusstsein kommt. Von der Erregbarkeit dieses Hirn- 
theils hängt es nach F. in erster Linie ab, ob die Triebe roh oder zart 
ins Bewusstsein treten und fast ein jeder Körpertheil hat auf dieses 
Centrum Einfluss. Der Charakter ist eine Resultircnde des Gesammt- 
körpers. der Intelleet ist in der Hauptsache nur von einzelnen Hirn- 
theilen abhängig und zwar von anderen Theiien, als der Charakter; 
deshalb sind Intelleet und Charakter bis zu einem gewissen Grade un¬ 
abhängig von einander. In den Charaktercentren haben auch die Epi¬ 
lepsie und die Hysterie ihren Hauptausgangspnnkt; häufig wiederholte 
Hypnosen schädigen dies Centrum. Und andererseits findet man Stnmpf- 
heit der sittlichen Gefühle auch bei Individuen, welche durch eine hohe 
intellectuelle Begabung sich auszeichnen. — Zum Schluss geht der Autor 
auf Lombroso's Lehre vom Genie ein, bezeichnet sie als einen funda¬ 
mentalen Irrthum und erklärt, dass das Genie stets gepaart ist mit einem 
besonderen Bau, einer besonderen Organisation des Gehirns; die Genialen 
zeigen eine besondere Entwickelungshöho der geistigen Organe des Ge¬ 
hirns und zwar behauptet F., dass das geistige Centrum der hinteren 
Scheitelgegend sich bei allen wahrhaft genialen Männern, deren Hirn bis 
jetzt untersucht worden ist, durch eine besondere starke Ausbildung aus¬ 
zeichnet; es zeigt nach ihm das wissenschaftliche Genie andere 
Verhältnisse des Hirnbaue*, als das künstlerische. Somit ist nicht allein 
die Reizbarkeit bei dem Gehirn des Genialen eine andere, wie bei dem 
gesunden mittleren Menschen, sondern erstercs ist auch reicher gegliedert. 
Die Aehnliehkeit zwischen den geistigen Gebilden des Wahnsinns und 
der genialen Production ist eine ganz oberflächliche und es liegt somit 
kein Grund vor, die Kräfte, die im Genie zur Entfaltung gelangen, dem 
Wesen nach mit denen Ceisteskranker zu identificiren. Da nun der 
Mensch sich aus der Thierwelt emporgehoben hat, durch die fort¬ 
schreitende Vcrgrösserung seiner geistigen Centren, ist die noch über das 
Mittel hinausragende Grösse der Denkorganc bei Genialen ein Beweis 
dafür, dass hier die Natur den Aulauf nimmt zur Weiterbildung des 
Menschengeschlechts über seine gegenwärtige Entwickelungshöhe hinaus. 
Das Genie ist nicht Entartung nach abwärts, sondern Fortschritt zn 
einem höherem Typus, ganz in der Richtung der aufwärts streben¬ 
den Entwickelung in der Reihe der Geschöpfe — und daher kommt 
wohl unsere ahnungsvolle Ehrfurcht von den wirklichen Heroen des 
Geistes. 

Jaqoet: Die Stellnngsnahme des Arztes zur Abstinenz frage. 

Basel 189G. 

Verf. behandelt zunächst die Folgen des Alkoholmissbrauches und 
bespricht dann eingehend, auf Versuche am eigenen Körper gestützt, 
den Einfluss eines niässigen Alkpholgenusses auf den Menschen, wobei 
er zu dem Resultate kommt, dass Alkohol in richtigen Mengen genossen, 
keine nachweisbar schädliche Wirkung auf den Organismus ausübt; 
seiner Ansicht nach dürfte eine Dosis von 50—GO gr in 24 Stunden in 
Form von Wein oder Bier (U/s Liter Bier oder 0,6 Liter Wein unge¬ 
fähr) schadlos vertragen werden können. Was nun die Stellungnahme 
des Arztes zur Abstinenzfrage, zur Frage der völligen Enthaltung von 
geistigen Getränken anbetrifft, so haben nach J. die Aerzte keine Ver¬ 
anlassung, die Bestrebungen der Anhänger eines staatlichen Verbotes 
des Wein- und Bierverkaufes zu unterstützen; ein solches Verbot war 
in der Schweiz (J. ist Docent in Basel) in Aussicht genommen. Dennoch 
kann der Arzt der für ihn zweifellos vorhandenen moralischen Ver¬ 
pflichtung, sich an der Bekämpfung des Alkoholismus activ zu betheiligen, 
recht gut genügen, vor allen Dingen durch Vorsicht beim Verordnen 
alkoholischer Getränke, durch gänzliches Vermeiden der Wein-Ordination 
bei kleinen Kindern (Demme), durch Beitritt zu Vereinen, die, wie 
der Deutsche Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke, an 
den gesunden Menschenverstand appeliren und von ihren Mitgliedern 
nichts fordern, was für sie mit einer Entbehrung verbunden wäre; so 
wird der Arzt auch ohne selbst total enthaltsam zu sein, seiner Pflicht 
zur Bekämpfung des Alkoholmissbrauches genügen können. 


Fr. Rnblnsteln: Hamlet als Neurastheniker. Leipzig 1896. 

Eine Polemik gegen die von Rosner aufgestelite Behauptung. 
Shakespeare habe im Hamlet die nervöse Erschöpfung in ihren Ur¬ 
sachen und ihrer Entwicklung geschildert, und zwar habe er seine Fähig¬ 
keit zur Analyse neuropathologischer Figuren aus Erfahrungen am eigenen 
Leibe und an der eigenen Psyche geschöpft. Doch kommt den Dar¬ 
legungen des Verfassers neben der negativen Polemik auch der positive 
Werth einer kurzen ästhetischen Würdigung des Dramas und seines 
Helden zu. 

Lewald (Kowanüwko). 


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22. Februar 1807. 


REH LI X ER KLINISCH E WOCFIEXSCII RIFT 


167 


VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. 

Berliner medlcinische Gesellschaft. 

Sitzung vom 3. Februar 1897. 

(Schluss.) 

Hr. C. Bendä: Zwei Fälle yon Cholesteatom des Gehirns. 
Als ich vor ungefähr r ’,' 4 Jahren einen Fall von Cholesteatom des Gehirns 
zeigte, bat ich um die Erlaubniss, noch einmal auf den Fall zurück¬ 
kommen zu dürfen, wenn ich die mikroskopische Untersuchung vorge¬ 
nommen habe. Inzwischen hat ein glücklicher Zufall mir noch einen 
zweiten dieser seltenen Erkrankungsfälle in die Hände gespielt, und ich 
kann also meine Beobachtungen an zwei derartigen Fällen mittheilen. 

Was das Klinische dieser beiden Fälle anbetrifft, so kann ich mich 
darüber sehr kurz fassen. Sie wissen, dass die Fälle von Cholesteatom 
eine immens geringe praktische Bedeutung haben. Die Erkrankung ent¬ 
wickelt sich so unendlich langsam, und die Symptome sind so ausser¬ 
ordentlich unsichere, dass in den meisten Krankheitsfällen keine be¬ 
stimmten Anzeichen für eine Tumorbildung im Gehirn und jedenfalls 
keine bestimmten Anhaltspunkte für die Art der Tumorbildung vorhanden 
sind. Das belegen auch meine beiden Fälle, von denen der eine, schon 
damals besprochen, auf der I. inneren Abtheilung des Krankenhauses am 
Urban (Ref. A. Fränkel) einige Tage beobachtet wurde; der andere 
ist mir aus der Privatpraxis der Herren Pompetzki und Löhlein 
zur Sectlon überwiesen; diesen drei Herren verdanke ich auch die Daten 
der Krankengeschichten. Die beiden Patientinnen waren die erste im 
Alter von 4 G, die andere im Alter von 45 Jahren. Bei beiden lässt 
sich die erste Andeutung einer Gehirnerkranknng sehr lange, das eine 
Mal auf 20, das andere Mal auf 15 Jahre zurück verfolgen. In letzterem 
Falle prävalirte eine linksseitige Trigeminus-Neuralgie derartig, dass 
man sich entschloss, eine Resection des Ganglion Gasseri vorzunehmen, 
die von Herrn F. Krause in Altona ausgeführt wurde. Der Verlauf 
nach der Operation war zuerst ein guter, die Patientin konnte nach 
14 Tagen das Bett verlassen. Alsdann trat Secretion in der Wunde 
auf, Druckerscheinnngen. Man öffnete die Wunde in Befürchtung einer 
Eiterung. Obgleich diese nicht eintrat, ging der Verfall der Kräfte — 
es war eine fettreiche Dame — sehr schnell vor sich, und 4 Wochen 
nach der Operation trat der Tod ein. In dem früheren Falle hatten 
sieh, wie ich hier etwas genauer als das erste Mal erwähne, seit zwei 
Jahren Schwächeznstände in den Extremitäten der linken Seite ent¬ 
wickelt. Bei der Aufnahme im Krankenhause bestanden Paresen und 
Paraesthesien der linken Extremitäten, starke Herabsetzung der motori¬ 
schen Kraft, Muskelatrophie beiderseits, links stärker als rechts. Ge¬ 
ringe Veränderung der Sensibilität, lebhafte Reflexe. Von Seiten der 
Hirnnerven nur leichte Schluck- und Sprachstörungen, Stellung dt8 
Zäpfchens nach links. Allgemeine Schwäche (nicht eigentliche Somnolenz, 
wie ich früher irrthümlich aegegeben hatte), leichte Ataxie (vielleicht 
auch nur Schwächeerscheinung), Rückenschmerzen, Bronchialkatarrh, der 
Tod trat sechs Tage nach der Aufnahme ins Krankenhaus ein. 

Ich habe Ihnen nun das eine Präparat, welches ich Ihnen schon vor 
s / t Jahren gezeigt habe, jetzt in etwas zerschnittenem Zustande wieder 
mitgebracht, um die innere Structur da zu zeigen, ausserdem einige 
Durchschnitte durch den zweiten Tumor. Zu dem zweiten Tumor lege 
ich noch eine von Frl. Paula Günther angefertigte Zeichnung vor. 
Die damals schon besprochene Geschwulst hatte sich ausschliesslich in 
der linken Kleinhimhemisphäre entwickelt und diese beinahe ganz zer¬ 
stört. In dem zweiten Fall bestand eine viel ausgebreitetere Geschwulst¬ 
bildung. Die Hauptmasse der Geschwulst sass hier hinter Chiasma 
nervosum opticornm. Sie hatte Hypophyse und Infundibulum zerstört 
und war in den dritten Hirnventrikel eingebrochen. Seitlich davon dringt 
ein grosser Knoten in den rechten Scbläfenlappen ein. Dahinter kommen 
flachere Ausbreitungen in der Arachnoidea des Pons, die nach seiner 
Oberseite herurogreifen, ferner mehrere Knoten, die in die Kleinhirn¬ 
hemisphäre einbrechen. Bei dem einen dieser beiden Fälle, dem jetzt 
zuletzt besprochenen, wurde die übrige 8ection nicht ausgeführt. In dem 
anderen Falle, den ich damals besprochen habe, erinnere ich noch, dass 
ich eine starke Myocarditis, Fragmentatio Myoearditis vorfand, und dass 
ausserdem ein Echinococcus in der Lunge gefunden wurde, der auch 
einige Symptome gemacht hat. 

Das Hauptinteresse bei dieser Geschwulstbildung ist, wie Sie sehen, 
das theoretische Interesse, und ich bitte Sie also um Ihre Geduld, wenn 
ich Sie hier von den Fragen der praktischen Mediein etwas abführe und 
einige der theoretischen Fragen behandle, die sich an diese höchst 
merkwürdigen und so sehr selten zur Beobachtung kommenden Fälle 
anknüpfen. 

Unsere Kenntniss über diese Geschwülste basirt auf der Arbeit 
unseres verehrten Vorsitzenden Herrn Virchow aus dem Jahre 1855 
über Cholesteatome. Ich kann an die einzelnen Punkte dieser Arbeit 
anknüpfen, nm Ihnen meine weiteren Untersuchungen zu entwickeln. 
Herr Virchow hatte vor allen Dingen klargestellt, dass es sich um 
cystenähnliche Geschwülste handle, von denen die Hauptmasse nur den 
Cysteninhalt darstellt, der von einer ziemlich schmalen Cystenwand ein¬ 
gebaut wird. Herr Virchow hat den Vergleich dieser Geschwülste mit 
dem Milium, dem Atheromen und dem Cancroiden durchgeführt und 
namentlich darauf Gewicht gelegt, dass es sich hier um epidermoidalc 
Bildungen handelt. Gerade dieser Punkt ist nun von den Nachunter¬ 
suchern vielfach angegriffen worden. Ein einziger Autor, Franke, hat 


sieh voll und ganz auf diesen Standpunkt gestellt und den Namen Epi¬ 
dermoide für die Cholesteatome vorgeschlagen, während andere Autoren 
zum Theil von theoretischen Speculationen über die Genese der Ge¬ 
schwülste ausgehend, die epidermoidale Structur derselben in Abrede 
stellen. 

Namentlich hat der letzte Autor in diesem Gebiet, Herr Beneke 
in Braunschweig, den Nachweis zu führen gesucht, dass es sich in einem 
Theil der Fälle nicht um Epidermiszellen, sondern nm Endothelien han¬ 
delt. Dieser Nachweis muss als vollständig misslungen betrachtet 
werden. Herr Beneke ging davon aus, dass man durch Versilberung 
der Zellgrenzen die Unterschiede zwischen Epithelien und Endothelien 
nachweisen könne, und da er eine Structur fand, die er als charakte¬ 
ristisch für Endothelien ansah, glaubte er die Endothelnatur der Chole¬ 
steatomzellen bewiesen zu haben. Herr Beneke hat sich erstens geirrt, 
wenn er behauptet, dass die Silbergrenzen, die man an Endothelien 
nachweisen kann, immer glatte Linien darstellen. Auch an Mesenterial- 
endothelien sicht man bisweilen eine sehr schöne zackige und ununter¬ 
brochene Grenzlinien bei Versilberung auf. Ich kann Ihnen Präparate 
vom vorderen Cornealepithel zeigen, die ausserordentlich scharfe Silber¬ 
linien erkennen lassen. Aus diesem Grunde halte ich den Schluss, dass 
die Cholesteatomelemente Endothelien sind, weil sie glatte Versilberungs¬ 
linien zeigen, nicht für stichhaltig. 

Ich habe nun die modernsten Methoden, die wir als Nachweis für 
Epidermis betrachten können, auf meine Geschwulst anzuwenden ge¬ 
sucht. Ich kann eigentlich lagen, dass die Identität mit Epidermis bei 
allen Methoden eine so vollständige ist, dass ich, wenn ich Ihnen meine 
Zeichnungen und meine Präparate vorlege, mehr fürchte, dass Sie mir 
nicht glauben, dass dieselben meinen Gehirngeschwülsten entstamme, als 
dass Sie daran zweifeln werden, dass es Epidermiselemente sind. Es 
i81 mir gelungen, in der zelligen Kapsel der Geschwulst¬ 
cysten sämmtliche Schichten der normalen Epidermis nach¬ 
zuweisen. Die unterste Lage, das Stratum cylindricum, ist meist 
ebenso schlecht ausgebildet, wie wir das auch bei Atheromen sehr häutig 
sehen. Die Zellen sind oft stark abgeplattet und unregelmässig. Da¬ 
gegen sieht man stellenweise ziemlich reichlich sehr schöne Kernfiguren, 
die ausschliesslich auf diese untere Schicht beschränkt sind. Dann ist 
mir, glaube ich, soweit ich die Literatur kenne, zum ersten Mal der 
Nachweis geglückt, dass auch in den Cholesteatomen nächstfolgenden, 
dem Rete Malpighii entsprechenden Zelllagen, jene Intercellularbrücken, 
die entsprechenden Zelllagen, die sogen. Riff- und Stachelzellen kenn¬ 
zeichnen, in typischer Weise zur Ausbildung kommen. Ich habe das 
Stratum spinosum in beiden Fällen allerdings nur immer stellenweise 
nachweisen können. Ich habe eine solche Stelle eingestellt und lasse 
die zugehörige Zeichnung herumgehen, die ich selbst möglichst natur¬ 
getreu angefertigt habe. Sie müssen sich vergegenwärtigen, dass diese 
feinen Stacheln nur bei scharfer Einstellung der Zollgrenzen klar liegen 
und bei schiefer oder Flächenansicht etwas verschwimmen. Dann ist 
mit ziemlicher Regelmässigkeit in unserer Geschwulst das Stratum gra- 
nulosura vorhanden, die bekannte Schicht, die Zellen mit diesen merk¬ 
würdigen Körnern und Schollen, die als Eleidin oder Kerato-Hyalin be¬ 
zeichnet werden, gefüllt sind. Diese Körner zeichnen sich namentlich 
durch ihre starke Affinität zu den kemfärbenden Mitteln aus. Schliess¬ 
lich ist der Punkt, auf den Virchow hauptsächlich seine Diagnose 
basirte, die Identität der abgestossenen Zellplatten auch nachzuweisen. 
Einerseits giebt die jetzt von Ernst empfohlene Gram’sche Methode, 
die als specifisch für Hornzellen gelten soll, diese Reaction auch bei 
den Cholesteatomzellen. Das gleiche Resultat giebt eine Reaction, die 
ich selbst gefunden habe und hiermit bekannt mache: Mit meinemEisen- 
Hämatoxylin sind sowohl die Elemente der Hornschicht der äusseren 
Haut, wie auch die Plättchen und Lamellen des Cysteninhalts und der 
innersten Balgschichten des Cholesteatoms intensiv schwarz färbbar. 
Ein Stratum pellucidam ist meistens nicht ausgebildet; das sind wir aber 
auch an der Epidermis gewöhnt. Trotzdem habe ich doch einzelne 
Stellen gefunden, bei denen man auch diese Schicht nachweisen kann. 
Also ich glaube, an der Identität der Cholesteatommembrane mit Epi¬ 
dermis ist wohl nach meinen Präparaten nicht mehr zu zweifeln. 

Wir kommen nun zu dem zweiten Punkt, mit dem Virchow 
unsere Kenntniss dieses Gebietes bereichert hat, und das- betrifft ihr 
Wachsthum und ihre pathologische Classification. Ich habe schon 
darauf aufmerksam gemacht, dass er über den cystischen Charakter 
derselben hervorgehoben hat. Zugleich hat er gewisse Analogien mit 
Cancroiden erkannt, indem er den Nachweis führte, dass auch sie sich 
ähnlich aus Zellzapfen weiter ausbreiten, wie wir das bei den Can¬ 
croiden kennen. Diese Zellzapfen sind auf den Schnittpräparaten, die 
ich vorwiegend zu meinen Untersuchungen benutzt habe, selten, aber 
da, wo sie zu sehen sind, sind sie ausserordentlich klar. Ich habe einen 
solchen sehr breiten Zellzapfen hier ebenfalls gezeichnet, in dem eine 
massige Auswucherung der Epithelschicht in einen Subarachnoidalraum 
hinein vorzuliegen scheint. Häufig findet man auch nur schmale Zapfen 
mit abgeplatteten Zellen. In einzelnen Zellzapfen findet man, wie 
auch Herr Virchow schon beschrieben hat, die verschiedenen Stadien 
der eigentlichen Cholesteatombildung, nämlich die Einleitung der Horn¬ 
bildung, der Hornabschuppung und der Cystenbildung. 

Hier ergiebt sich, wie ich auch ie einem Präparate demonstrire, die 
vollständige Identität dieses Vorganges mit der Perlenbildung in Can¬ 
croiden, und in anderen atypischen Epidermiswucherungen, entgegen dem 
Milium und Atherom, wo diese Schichtung in einem präformirten Hohl¬ 
raume statt findet. 


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IM 11KRL1XKR KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. No. 8. 


Noch in anderer Beziehung kann ich diese Aehnlichkeit mit dem 
Cancroid erweitern. Bei den bisherigen Untersuchern dieser Geschwülste 
war die Ansicht durchaus verbreitet, dass die Neubildung Bich aus¬ 
schliesslich in der Arachnoidea ausbreite, und wenn auch bei Einigen 
ein Eindringen in die Oberfläche des Gehirns und die Hirnböhlen bereits 
mitgetbcilt wurde, so hat man stets in diesem Process mehr eine Druck¬ 
atrophie. als eine eigentliche Einwucherung gesehen. Ich glaube nun, 
dass ich sowohl an meinen makroskopischen Präparaten, wie an den 
mikroskopischen vollständig der Nachweis führen kann, dass diese Ge¬ 
schwülste thatsächlich auch in die Gchirnsubstanz ganz nach Art maligner 
Geschwülste einwachsen können. Sie vermehren sich, wie das der 
frühere Autor durchaus bestätigen kann, hauptsächlich innerhalb der 
Arachnoidea; aber einzelne Stellen habe ich wenigstens iD dem einen 
Falle bei sorgfältiger Untersuchung Rchon gefunden, wo ich einen Ein¬ 
bruch in die Gehirnsubstanz selbst feststellen muss. Ich habe hier einen 
Mikrotomschnitt aus dem Schläfenlappen des zweiten Falles für eine 
makroskopische Demonstration in einer Art zubereitet, die ich zuerst 
von Herrn A. Hartmann hier gesehen habe. Er ist mit meiner Eisen- 
haematoxylinmethode gefärbt, und auf eine Mattglasplatte montirt, wobei 
durch die sehr differente Schwarzfärbung die einzelnen Gewebe auf das 
Schönste makroskopisch oder bei Lupenvergrösserung erkennbar werden. 
Sie erkennen hier den Querschnitt durch zwei Rindenwindungen, die 
einer solchen Cholesteatombildung benachbart sind, nnd man sieht, dass 
hier an der tiefsten Stelle das Cholesteatom bis dicht an das Marklager 
der einen Windung vorgedrungen ist, und von hier nach der Oberfläche 
hin in treppenförmigen Buchten zurücktritt. Makroskopisch wie mikro¬ 
skopisch sind hier nur Defecte aber keine nennenswerten Verschmäle¬ 
rungen oder Verwerfungen der Rindenschicht erkennbar. Wie es scheint, 
dasB ein solcher Airosion nicht bei einer Druekatrophie, sondern nur 
bei eigentlicher Einwucherung zu Stande kommen kann. Andererseits 
spricht allerdings die geringe Gewebsreaction für die. grosse Langsam¬ 
keit des Vorganges. 

Was nun die primäre Entstehungsstelle der Cholesteatome betrifft, 
so bin ich allerdings da auch nicht über die Hypothesen hinausgekom¬ 
men. Es handelt sich in beiden Fällen wirklich ausschliesslich um 
innerhalb des Dural- und des Arachnoidalsackes gelegene Neubildungen 
des Gehirns. Es ist hier nicht etwa ein Einbruch einer epidermidalen 
Neubildung, etwa eines Ohrcholcstatomen erfolgt. Es sind also zuerst 
die antoehthonen Gewebe jenes Territoriums als Ausgangsstätte in Frage 
zu bringen. Herr Virchow leitet die primäre Entstehung aus einer 
Metaplasie von Bindegewebszellen ab, und setzt dadurch die Geschwülste 
in eine weite Parallele zu den Caneroiden, wie er die Cancroide damals 
auffasste. Mit der Wandlung unserer Anschauungen über die Natur der 
Cancroide, die hauptsächlich auf Grund der Thiersch-Waldeyer’schen 
Krebslehie eingetreten ist, hat man sich auch bemüht, von den Chole¬ 
steatomen eine andere Entstehungsweise anzunehmen, und nach einem 
primären Epithel gesucht, von welchem diese Bildungen ihren Ausgang 
nehmen sollen. Dabei sind natürlich die verschiedensten Theorien zu 
Tage getreten. Erstens ist die nie versagende Keimversprengungstheorie 
reichlich ansgenützt worden. Man hat den Ausgangspunkt in Epidermis- 
keimen gesucht, die bei der entwickelungsgcschichtlichen Entstehung des 
Gehirns und seiner Häute in diese hineingerathen sein sollen, und war 
nur im Zweifel, ob diese Versprengung, wie Bonorden annimmt, bei 
Abschnürung der Hypophyse nach Franke bei Entstehung des Medullar- 
rohrs zu Stande gekommen ist. Ich kann hier auf die Keimverspren¬ 
gungstheorie weder im Allgemeinen noch im Besonderen weiter eingehen. 
Ich gestehe ihre Zulässigkeit, Boweit sie oft den einzigen Nothbehelf 
giebt, schon zu, kann aber nicht finden, dass diese Hypothese gerade 
für die Entstehung der Cholesteatome eine befriedigende Lösung giebt. 
Der Ausgang von der Hypophysentasche würde meinem ersten Fall nicht 
entsprechen. Für die Heranziehung der Entstehungsgeschichte des Me- 
dnllarrohres zur Erklärung der Cholesteatomen sollte maD als thatsäch- 
liche Voraussetzung erwarten, dass die Cholesteatome sich vorwiegend 
in der hinteren Verschlusslinic des Centralnervensystems entwickeln, also 
in den Ventrikeldecken, in der Längsspalte der Grosshirnhemisphären, 
auf der Oberseite der Medulla oblongata, in der hinteren Spalte der Me- 
dulla Bpinalis, und hier im Prädilectionsgebiet der Spina bifida besonders 
gedeihen. Das ist aber nicht im Geringsten der Fall. Sie entwickeln 
sich gerade mit Vorliebe an der Basis des Gehirns. Die Metaplasie von 
Endothelien oder Perithelien der Araehnoidalräume hier anzunehmen, ist 
ziierst Eberth, dann Gläser, Beneke bestrebt gewesen. Ich glaube 
aber, dass für diese Speculation die Verkennung des Charakters der 
Cholesteatomzellen die Grundlage gegeben hat, und dass, sobald die 
reine Epidermisnatur festgestellt ist, auch die Versuche, sie von Endo¬ 
thelzellen abzuleiten, weniger Bestechendes haben. 

Man würde hier eine weitgehende Metaplasie annehmen müssen, 
wie sie gerade wohl die Anhänger der Endotheltheorie perhorresciren, 
die die Endotheltheorie wohl gerade zur Hülfe gerufen haben, um der 
Metaplasie von Gehirnelementen aus dem Wege zu gehen. Ich persön¬ 
lich neige mich der Hypothese zu. obgleich der empirische Nachweis 
für erste wohl nicht zu bringen ist, dass doch das am nächsten liegende 
Muttergewebe der Neubildung immer das Höhlenepithel des Central- 
nervensystems in weitestem Sinne wä'-e. Also ich meine jenen ganzen 
Epithelzug, der im Centralnervensystem von der Entwickelung des Me- 
dullarrohres übrig bleibt, den wir in der Medulla als Centralcanal, im 
Gehirn als Ventrikelepithel wiederfinden, der sich ins Auge als Retina¬ 
epithel und als Irisepithel verfolgen lässt. Einen Fall giebt es in der 
Literatur, bei dem man bereits auf dieses Epithel zuriiekgegriffen hat, 


und das ist ein Fall von Chiari, der sich mitten in der Medulla ent¬ 
wickelt hat, und wo kaum eine andere Deutung geblieben ist, als dass 
diese Geschwulst von dem Centralcanalepithel ausgegangen ist. 

Ich glaube, also, dass man auch für die Fälle, die bisher vorliegen, 
zu dieser Theorie wohl zurückgreifen kann. Man braucht sich allerdings 
nicht ganz an die Grenze des ausgebildeten eigentlichen Höhlenepithels 
zu halten. Erstens wissen wir, dass in der Decke des dritten, sowie 
des vierten Ventrikels ausgebreitete Bezirke sind, in denen dieses ur¬ 
sprüngliche Medullarrohrepithel mit den Zotten der Plexns choroides sehr 
weit unter die Arachnoidea gewuchert ist. Namentlich in der Umgebung 
der Medulla oblongata und des Pons findet man bis in die Nachbarschaft 
der basalen Arterien Zotten, die dem Plexus choroides des vierten Ven¬ 
trikels zuzurechnen sind, und die somit Medullarepitbel führen. Endlich 
sind, soweit überhaupt Neuropliagewebe reicht, atypische Inseln dieses 
Epithels denkbar, und von Herrn 8troebe neuerdings wiiklich auch 
gefunden. Wie weitgehende Metaplasien dieses Epithels noch möglich 
sind, haben gerade neuere Untersuchungen gezeigt. 

Ich verweise auf die geradezu verblüffende Entdeckung Erik 
Müller’s, dessen Präparate wir bei dem letzten Anatomcneongress 
hier gesehen haben, dass bei Amphibien nach Zerstörung der Krystall- 
linse, eines anderen Abkömmlings des Ectoderms, die Regeneration von 
dem Irisepithel, dem entfernten Abkömmlung des Medullarrohrepithels, 
retablirt wird. Diese sehr merkwürdige Entdeckung giebt mir auch 
daher noch den Muth, meine Hypothese dahin auszusprechen, dass wir 
sehr wohl alle diese epidermodalen Neubildungen des Gehirns von dem 
Medullarrohrepithel ableiten können, welches ja selbst ein direkter Ab¬ 
kömmling des Ectoblasten ist. Wir wissen ausserdem durch die schönen 
Untersuchungen von Herrn Posner, dass gerade die epidermidale Meta¬ 
plasie eine weit verbreitete Eigenschaft aller Körperepithelien ist. Herr 
Posner hat darauf hingewiesen, dass sowohl Theile des inneren Keim¬ 
blatts, wie der Magen von niederen Säugethieren, der Respirationstractus 
des Menschen, als Theile des mittleren Keimblatts — er hat hier die 
Vagina genannt, man wird vielleicht an dieser Stelle lieber das Ovariura 
und den Hoden setzen dürfen — diese Metaplasie zeigen. Diese Mög¬ 
lichkeit ist also für das Hirnhöhlenepithel, welches mit der Epidermis 
genetisch nahe verwandt ist, gewiss nicht a limine abznweisen. Bei 
dem weit vorgeschrittenen Zustande der Geschwülste, so wie sie meist 
zur Beobachtung kommen, kann man kaum darauf rechnen, den posi¬ 
tiven Nachweis zu erbringen. Ich habe in dem einen Fall, wo, wie Sie 
auf der Zeichnung sehen, der dritte Ventrikel von diesen Wucherungen 
ausgefüllt ist, Theile der Ventrikelwand sehr sorgfältig untersucht. Hier 
ist aber überall die Wandstructur durch die Geschwulst und durch Ent¬ 
zündung so verändert, dass ich zu keinem sicheren Resultat kam. 
Einen kleinen Anhalt finde ich nur an sonderbaren Epithelgängen, die 
direkt unter der Cholesteatomepidermis liegen, und mit dieser zusammen¬ 
zuhängen scheinen, aber durch ihre regelmässigen kubischen Zellen 
weniger wuchernden Cholesteatomzapfen, als kleinen Divertikeln der 
Ventrikelwand gleichen. Ich möchte mich hierüber aber noch nicht 
endgültig äussern. 

Meine Untersuchungen bestätigen also das Hauptcrgebniss Virchow’s, 
die Auffassung des Cholesteatoms als eines proliferirenden Cystoids von 
epidermidalem Typus. Als Ausgangspunkt vermuthe ich eine Metaplasie 
des Ilimhöhlenepithels. — 

Hr. W. Levy: Schon vor einigen Jahren theilte ich Ihnen in dieser 
Gesellschaft mit, dass ich die charakteristischen Knochenerkrankangen 
der Perlmutterdrechsler, welche nach den Angaben Gussenbaner's 
nnd anderer Beobachter nur in Wien Vorkommen sollten, auch hier in 
Berlin beobachtet habe und ich stellte Ihnen damals einige Kranke vor. 
Seit dieser Zeit ist, so viel ich bei flüchtiger Durchsicht der Literatur 
sehen konnte, über diese Erkrankung nicht wieder berichtet, jedenfalls 
kein solcher Fall hier vorgestellt worden. 

Ich glaubte deshalb, dass es nicht ohne Interesse wäre, wenn ich 
Ihnen diesen Patienten heut vorstelle, zumal da die Erkrankung noch 
ziemlich frisch und das Krankheitsbild ein recht typisches ist. 

Schon von Weitem erkennen Sie, dass der linke Oberarm in seinem 
unteren Abschnitt geschwollen ist.: Am unteren Ende des Humerus hat 
sich hier unter heftigen Schmerzen und ohne erhebliche Temperatur¬ 
steigerung eine beträchtliche Knochenverdickung entwickelt. Erkrankt 
ist — und das ist fiir die Knochenerkrankungen der Perlrautterdrechsler 
charakteristisch — die Diaphyse, und zwar in demjenigen Abschnitt, 
welcher an die Epiphyse grenzt. Die Epiphyse ist anscheinend nicht 
wesentlich verändert. 

Nach meinen Erfahrungen, die mit denen anderer Beobachter iiber- 
einstimmen, bilden sich diese Knochenverdickungen allmählich zurück; 
bei den <5 Patienten, welche ich behandelte, kam es nie zur Sequester¬ 
bildung. 

Die Krankheit hat abgesehen von ihrem gewerbehygienischen Inter¬ 
esse noch eine theoretische Bedeutung. Gussenbauer nahm an, dass 
der Staub, welcher beim Zerschneiden der Huscheln entsteht, von den 
Arbeitern eingeathmet wird; dass er in den Lungen seinen Kalkgehalt 
verliert — denn die Muschelschalen bestehen im Wesentlichen aus 
95 pCt. kohlensaurem Kalk und 5 pCt. einer organischen Grnndsubstanz, 
“dem Conchyolin — und dass diese Conchyolinschollen in die Blutbahn 
gelangen und schliesslich in den Diaphysen der langen Röhrenknochen 
an der Epiphysengrenze abgelagert werden. Bei seinen Versuchsthieren, 
die Gussenbauer Monate lang Muschelstaub einathmen Hess, wies er 
diese entkalkten Muschelstückchcn im Lungenparenchym nach. Aber 


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BEULINKU KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


1G9 


Terein für innere Medleln. 

Sitzung vom 15. Februar 1897. 


i n. Februar 18!)?. 


diese Hypothese steht trotzdem auf schwanken Füssen. Denn experi¬ 
mentell konnte er die charakteristischen Knochenerkrankungen nicht er¬ 
zeugen. 

Ich habe schon früher darauf hingewiesen, dass bei Untersuchungen 
über die Ursachen der Perlmutterkrankheit nicht allein der Staub der 
Muschelschalen zu berücksichtigen sei. Viel bedenklicher schien mir der 
Schlamm, welcher beim Schleifen in die Tröge der Schleifsteine fällt 
und hier im Wasser Monate lang fault. 

Auf die maschinellen Einrichtungen dieser Schleifsteine, die ich vor 
Jahren in dieser Gesellschaft eingehend erörterte, will ich jetzt nicht 
wieder eingehen. Erwähnen will ich nur, dass die Schleifsteine, welche 
senkrecht stehen und sich gegen den Schleifer hin drehen, diesen 
Schlamm, welcher die faulenden Reste aller derjenigen thierischen und 
pflanzlichen Organismen enthält, die sich so zahlreich anf den Schalen 
unserer Meeresbewohnenden ansiedeln — dass die Schleifsteine diesen 
fanlenden Schlamm beständig aufwühlen und in das Gesicht der Schleifer 
spritzen. Deshalb hielt ich nicht die Drechsler, sondern die Schleifer 
in den Perlmutterwerkstätten in erster Linie für die Gefährdeten — und 
auch dieser Mann ist seit 8 Jahren Schleifer, seit 9 Monaten schleift er 
ununterbrochen. 

Ich machte früher Versuche, durch subcutane Injectionen dieser 
Schlammmassen bei jungen Kaninchen diese Knochenkrankheit experi¬ 
mentell zu erzeugen — freilich ohne Erfolg. 

Vielleicht giebt die heutige Vorstellung dieses Kranken die Anregung, 
dass die Untersuchungen über die Aetiologie dieser interessanten Knochen¬ 
krankheit wieder aufgenoramen werden. 


Sitzung vom 10. Februar 1897. 

Vorsitzender: Herr Virchow. 

Schriftführer: Herr Landau. 

Vorsitzender: Wir haben als Gast heute unter uns ausser 

Herrn Dr. Kirchner, der nachher einen Vortrag halten wird, und 
den ich besonders freudig begrüsse, Herrn Dr. Wilhelm Pachner 
aus Marienbad. 

Dann wollte ich noch eine kleine Bemerkung voranschicken. Ich 
bedauere, dass ich 8ie zuweilen mit meinen persönlichen Angelegenheiten 
behelligen muss. Aber da ich an einer etwas exponirten Stelle stehe, 
passirt mir von Zeit zu Zeit etwas, was auf die Gesellschaft Reibst ein 
böses Schlaglicht werfen würde, wenn ich es unwidersprochen liesse. Es 
liegt vor mir eine hiesige Zeitung, eine grosse sogar, die sich mit dem 
Namen der „Deutschen“ ziert; dieselbe meldet, es werde ihr aus ärzt¬ 
lichen Kreisen mitgetheilt, dass ich neulich im Abgeordnetenhanse eine 
Rede gehalten habe, in welcher ich den Beweis geliefert habe, wie 
„rückständig auch in wissenschaftlicher Beziehung“ ich geworden sei. 
Es bezieht Bich das auf den Bacillus der Maul- und Klauenseuche, den 
ich mir erlaubt habe, vorläufig zu den noch nicht erwiesenen „Erregern“ 
zu rechnen, und der in der agrarischen Debatte des Landtages neulich 
eine grosse Rolle spielte, denn jeder Agrarier erschien mit mindestens 
einem Bacillus in der Toga. 

Die Thatsache ist richtig, dass ich vorläufig bezweifelt habe, ob der 
Bacillus schon nachgewiesen sei: ich will aber auch constatiren, dass 
ich mir besondere Mühe gegeben hatte, vorher die mir zugänglichen 
Sachverständigen über diesen Punkt zu Rathe zu ziehen, und ich kann 
versichern, dass die ersten Autoritäten der Thierarzneischule und des 
Institutes für Infectionskrankheiten auch noch nicht von der Existenz 
dieses Bacillus überzeugt sind. Derselbe ist, wie die betreffende Zeitung 
mittheilt, in No. 6 der Deutschen medicinischen Wochenschrift be¬ 
schrieben. Das ist für sie der Beweis, dass ich „rückständig“ geworden 
bin. Die betreffende Mittheilung war mir bekannt, als ich mich auf 
die fragliche Debatte vorbereitete, und das eben war der Grund, 
weshalb ich mir noch besondere Aufklärung bei denjenigen Instituten 
suchte, die besonders berufen sind, sich mit solchen Fragen zu be¬ 
schäftigen. Erst nachdem ich da versichert war, dass der Bacillus noch 
auf schwachen Füssen steht, erlaubte ich mir die Bemerkung, es sei 
richtiger, wenn man ihn vorläufig noch nicht in die parlamentarischen 
Debatten einführte. — 

Dann habe ich noch eine sehr trübselige Nachricht mitzutheilen, die 
Sie vielleicht noch nicht alle kennen. Unser vielverehrter Vorkämpfer 
anf dem Gebiete der operativen Gynäkologie, Sir Spencer Wells, 
ist gestorben. 8ie erinnern sich wohl, dass er noch bei Gelegenheit des 
letzten Chirurgencongresses hier in diesem Saale anwesend war. Hier 
hängt auch sein Bild. Sein leutseliges, freundliches und immer hülf- 
reiches Wesen hat ihm Freunde auf allen Seiten erworben, und für uns 
wird in der That London sehr verwaist erscheinen, wenn er nicht mehr 
da ist. Ich darf bitten, dass Sie sich zur Erinnerung an diesen grossen 
Mann von Ihren Plätzen erheben. (Geschieht.) 

Dann habe ich noch anzuzeigen, dass die Mitglieder, welche in den 
Ausschuss gewählt sind, sämratlich die Wahl angenommen haben. — 

Ich ertheile das Wort Herrn Kirchner, der uns die ihm gegen¬ 
wärtig in seiner neuen Stellung im Cultusministerium zugehenden Nach¬ 
richten über die Körnerkrankheit mittheilen will. 

Tagesordnung. 

Hr. Kirchner a. G.: Die Bekämpfung der KÖrnerkrankhelt 
(Trachom) in Pretusen. (Der Vortrag wird unter den Originalien 
dieser Wochenschrift veröffentlicht.) 


Vor der Tagesordnung. 

Hr. Ewald demonstrirt 1) das Präparat eines ungewöhnlich grossen 
Leberabscesses, der im Anschluss an alte dysenterische Darmgeschwüre 
sich entwickelt hatte bei einem 81jährigen Steuermann, der 2'/ 2 Jahr 
in den Tropen gelebt und dort Wechselfleber bekommen hatte, geheilt 
nach Deutschland zurückgekehrt war, hier aber mit hohem Fieber er¬ 
krankte. Es liess sich anfangs keine Ursache desselben entdecken. 
Milztumor bestand nicht, die Untersuchung des Stuhlgangs untergab nach 
keiner Richtung hin etwas Abnormes. Erst nach wiederholten Versuchen 
förderte die Leberpunction Eiter zu Tage. Der Kranke wurde öperirt, 
starb aber Tags darauf in Collaps. Bemerkenswerth ist, dass die dysen¬ 
terischen Darmgeschwüre sich durch Nichts verrathen haben. 

2) das Präparat eines intogngceptionirten Darmdivei tlkels, mit 
gleichzeitiger Stenose und Perforation des Darmes, wie es bisher in 
der Literatur noch nicht beschrieben worden ist. Es stammt von 
einer 42jährigen Dame, welche im Juli 1895 auf der Badereise plötz¬ 
lich mit heftigen Magenkrämpfen erkrankte. Es bestand mehrere Tage 
Stuhlverhaltung und Erbrechen von dünnen, hellgelblichen Massen. Im 
Anschluss daran entwickelte sich eine starke Gelbsucht. Nach mehreren 
Tagen erfolgte mit der spontanen Stuhlentleerung plötzliche Heilung. 
Seit dieser Zeit hat die Patientin wiederholt und in den letzten Monaten 
immer häufiger und häufiger derartige Anfälle gehabt. Bei der Unter¬ 
suchung waren die Därme als aufgetriebene in lebhaftester Peristaltik 
begriffene armsdicke Wülste zu fühlen und zu sehen, deren Palpationen 
lautes Succnssionsgeräusch hervorrief. Vortr. stellte die Diagnose auf 
eine Stenose des Darmes. Vor Kurzem ist die Patientin in einem 
erneuten Anfall plötzlich verstorben. Es wurde der Durchbruch eines 
Gallensteins als Ursache des Todes vermuthet, im Uebrigen entzünd¬ 
liche Verklebung um den Dickdarm als Ursache der Verengerung des¬ 
selben angenommen. Bei der Section ergaben sich ganz abnorme Ver¬ 
hältnisse. Ein Meckel’sches Divertikel war wie ein Handschuhflnger 
in den Darm hineingegangen und in dieses war von aussen her das 
Mesenterium hineingestülpt. An dieser Stelle war gleichzeitig eine ste- 
nosirende Darmentzündung, die eine kaum bleistiftdicke Passage frei 
liess. Im Centrum des entzündlichen Processes, welcher die Stenose 
des Darms hervorgerufen hatte, lag die Perforationsöffnung, von der aus 
es zu einer diffusen eitrigen Peritonitis gekommen war. Eine Operation 
war verweigert worden. 

Hr. Karewski stellt zunächst eine missverständliche Aeusserung in 
seinem Vortrage richtig, welche sich auf den Standpunkt des Herrn 
Baginsky zur Frage der operativen Behandlung der Perityphlitis 
bezieht. B. sagt in seinem Lehrbuch wörtlich: „Dem gegenüber rathe 
ich, die Operation bei schon eingetretener diffuser Peritonitis zu unter¬ 
lassen. Sie gestaltet sich, wenn sie die radicale Entleerung des Elters 
und die Abtragung des entzündeten Netzes u. s. w. in sich schliesst, zu 
einer der schrecklichsten Vivisectionen.“ Weiterhin demonstrirt Hr. 
Karewski ein Kind, das nach einer Perityphlitis einen noch jetzt aus 
einer Fistel am Nabel ständig eiternden Absess zurückbehalten hat. 

Hr. W. Marcuse: Zur Unterscheidung der verschiedenen Eisen- 
chloridreactlonen im Harn (Salicylsäure, Antipyrin, Phenacetin, Acet- 
essigsäure, Phenole u. s. w.) empfiehlt sich folgendes Verfahren: Man 
versetzt den Harn mit Eisenchlorid, schwächt die entstandene rothe Farbe 
durch einige Tropfen Salzsäure und schüttelt mit Aether wenig durch. 
Sofort tritt die Eigenfarbe des Harns auf. Dieses Verhalten kommt aber 
nur der Salicylsäure zu, deren Erkennung dadurch gesichert ist Durch 
Zusatz eines Tropfens Säure lässt sich auch die Empfindlichkeit der 
Jodjodkaliumreaction bis auf 1:50000 steigern, die in Verbindung mit 
der Eisenchloridreaction das Antipyrin durch einen reichlich rothen 
Niederschlag anzeigt. Durch diese combinirte Reaction kann man sich 
auch gegen die Simulation des Phloridindiabetes schützen. 

Hr. Stadelmann demonstrirt ein junges Mädchen mit Insnfflcienz 
und Stenose des Mitralis], welches bei der Aufnahme ins Kranken¬ 
haus Herzgrenzen von ganz enormer Ausdehnung, sowohl nach rechts wie 
nach links darbot. 8ie waren die Zeichen einer acuten Herzdilata¬ 
tion infolge vorangegangener Ueberanstrengung durch schwere körper¬ 
liche Arbeit. Unter Ruhe und Digitalis sind die Grenzen der Herz¬ 
dämpfung in kurzer Zeit sehr erheblich zurückgegangen. 

Hr. Hosenbein! legt das Präparat einer Chylosryste von einem 
Kinde vor, das unter den Erscheinungen der Perityphlitis erkrankt und 
längere Zeit ärztlich behandelt war. Eine chirurgische Behandlung war 
verweigert worden. Das Kind ging unter den Erscheinungen der 
schweren Incarceration zu Grunde. Bei der Section fand sich ein aus 
drei Mesenterialcysten gebildeter Volvulus. 

Hr. P. Heymann demonstrirt einen Gallenstein von 10 gr Schwere, 
welcher von einer Dame unter Ileuserscheinungen entleert worden ist, 
nachdem vor kaum einem Jahre ein noch grösserer Stein auf die gleiche 
Weise abgegangen war. 

DiscusBion zu dem Vortrage des Herrn Karewski t Ueber Peri¬ 
typhlitis bei Kindern. 

Hr. Renvers: In drei Jahren hat er 184 Fälle von Perityphlitis 
gesehen, davon 47 zur Operation überwiesen. Von den übrigen 87 sind 
8 gestorben und zwar in den ersten 24 Stunden. Von den 47 Operirten 
sind 10 gestorben. Davon hatten 5 schon erhebliche Complicationen 
(multiple Abscesse, Gangrän, allgemeine Peritonitis), die übrigen waren 
aber noch circumscript. Klinisch waren die bei der Operation gefundenen 


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No. 8. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Cotnplicationen nicht festzuBtellen gewesen. 5)0 pCt. der Fälle von 
eitriger Peritonitis, wenn man von den puerperal u. dgl. entstandenen 
absieht, beruhen auf vorausgegangener Perityphlitis. In 16 pCt. der 
Fälle konnte R. mehr als dreimalige Recidive der Perityphlitis fest¬ 
stellen. Gerade diese sind es, welche häufig zu Complicationen und Tod 
führen. Wenn eine peritonitisehe Reizung vorhanden ist, soll man vor¬ 
läufig nicht operiren, weil in der Hälfte der Fälle die Bauchhöhle er¬ 
öffnet werden muss und deshalb die Gefahr einer allgemeinen Peritonitis 
droht. Das Bestehen derselben verschlechtert nach R.'s Erfahrungen die 
Aussichten der Operation. Die Kothstauung spielt eine grosse Rolle 
in dem klinischen Krankheitsbilde der P., nach ihrer Beseitigung 
schwindet zuweilen mit der abnehmenden Dämpfung die peritoni- 
tische Reizung. Die Kothstauung ist erst eine Folge der Peri¬ 
typhlitis. Das Wort Appendicitis hat grosse Verwirrung gestiftet. Im 
Proc. vermif. können mannigfache Veränderungen vorhanden sein ohne 
Spur von Perityphlitis. Diese tritt erst ein, wenn auch die nmgebende 
Serosa an dem Entzündungsprocess betheiligt wird. Solange das Secret 
frei in den Darm hinein kann, kommt es nicht zu einer Perityphlitis. 
R. unterscheidet zwei Formen derselben: P. Simplex und purulenta. 
Letztere ist Anfangs stets circumscript. Sie kann sicher spontan aus¬ 
heilen, aber es gehen meist Wochen und Monate darüber hin, während 
die Operation sie schnell heilt. 

Hr. Baginsky hat bei 2900 Erkrankungen im Kaiser Friedrich- 
Kinderkrankenhaus 26 Fälle von Perityphlitis gesehen, davon sind 19 
ohne Operation geheilt, 2 ohne Operation, 4 nach derselben gestorben. 
Redner giebt nun eine Schilderung des Verlaufes der Erkrankung bei 
Kindern, deren Diagnose erst beim Eintritt der den allgemeinen dyspepti¬ 
schen Erscheinungen folgenden acuten Symptomen eine sichere wird. 
Trotz der Aussichtslosigkeit der Operation tritt zuweilen noch spontane 
Heilung ein, wie denn unerwartete Wendungen des Krankheitsbildes bei 
Kindern nicht selten sind. Mit der internen Behandlung der Perityphlitis 
macht man, so lange sie nicht ausserordentlich schwer ist, verhältniss- 
mässig gute Erfahrungen. Aber man darf deshalb nicht im Allgemeinen 
bis zum Aeussersten warten. Es ist zweckmässig, sobald eine circum¬ 
scripta Dämpfung, Schmerzen, Fieber, Abscessbildung vorhanden sind, 
zur Operation zu rathen, indess sie niemals bei diffuser Peritonitis vor¬ 
zunehmen. 

Hr. Fürbringer hat in 10 Jahren 889 Fälle von Perityphlitis ge¬ 
sehen. Darunter 54 Kinder mit 2 Todesfällen an Peritonitis. Von den 
übrigen sind 88 glatt geheilt, 8 gebessert resp. nngeheilt, 6 zur Ope¬ 
ration überwiesen. In der Privatpraxis sind F. über die Hälfte ge¬ 
storben. Eine bo scharfe Trennung verschiedener Formen der Peri¬ 
typhlitis, wie Herr Renvers, vermag F. um so weniger zu machen, je 
grösser seine Erfahrungen werden. Unter den 38 Bpontan geheilten 
Fällen waren sicher nicht wenige mit Eiterbildung. Die unbedingte 
chirurgische Behandlung der Perityphlitis, wie sie neuerdings z. B. von 
Fowler in London gefordert wird, ist nicht anzuerkennen. Die 
Punktion des Eiters ist für diagnostische Zwecke unter Umständen sehr 
werthvoll, wo trotz der Verwerthung aller Symptome die sichere Er¬ 
kennung eines Abscesses nicht möglich ist. Wenn sie vorsichtig ge¬ 
macht wird, hat sie keine Gefahren. Eher als eine Peritonitis ist eine 
Hautphlegmone zu fürchten. 

Hr. Sonnen bürg hat 37mal Perityphlitis bei Kindern beobachtet, 
6 davon sind gestorben. 17 wurden im ersten Anfall operirt, der mit 
schweren Erscheinungen eingesetzt hatte. Es wurde auch Eiter ge¬ 
funden. Die leichteren Attaquen werden oft übersehen. Wenn der An¬ 
fall beseitigt ist, ist die Krankheit noch nicht geheilt. Wir haben daher 
jetzt noch gar nicht eine Statistik der Perityphlitis, sondern nur eine 
solche der Anfälle. Wenn ein Anfall auch schon mehrere Jahre über¬ 
standen ist, ist die Krankheit noch nicht bestimmt als geheilt zu er¬ 
achten. Nach einigen Jahren kommt unzweifelhaft ein neuer Anfall. 
Die Statistik der Anfälle hat eine Mortalität von 8 bis 10 pCt., die der 
Krankheit 20 pCt. 8. selbst hat 18 bis 19 pCt. Todesfälle zu ver¬ 
zeichnen. Das Bind diejenigen Fälle, welche schon mit Complicationen 
(multiple und pyämische AbBcesse, Empyeme, diffuse Peritonitis u. a. m.) 
in Behandlung kommen. Sobald die Diagnose einer eitrigen Perityphlitis 
gestellt ist, muss das Heilbestreben der Natur durch das Messer unterstützt 
werden. Denn die Spontanheilung ist unvollständig. Der Chirurg heilt 
nicht nur den Anfall, sondern die Krankheit definitiv. Eine Ausnahme 
machen die gangränösen Formen der Perityphlitis. Sie sind gerade bei 
Kindern häufig, sind anfangs nicht sicher zu diagnosticiren, treten zu 
allen Formen und Stadien der Perityphlitis hinzu und verlaufen trotz 
der Operation in wenigen Tagen letal. In Anbetracht der Gefahr, dass 
eine gangränöse Perityphlitis vorliegen könnte, soll man eher einmal zu 
viel als zu wenig operiren. 

Hr. Heubner: Herr Sonnenburg hat die Prognose der Peri¬ 
typhlitis zu ernst geschildert. Sie kann, auch bei Kindern, sicher voll¬ 
ständig heilen. Kleinwächter in Breslau hat durch genaues Nach¬ 
fragen bei den früheren Patienten 24 pCt. Recidive festgestellt. Die 
dauernde Heilung ist oft genug zu constatiren. Bei Kindern wird viel¬ 
leicht zu selten an Perityphlitis gedacht. Sie tritt zuweilen auch ohne 
Leibschmerzen auf. H. räth deshalb auch lieber Opium zu geben, da 
Abführmittel leicht schaden. Auch bei Kindern ist der Punkt, von dem 
die Affection ausgeht, durch die circnmscripte Schmerzhaftigkeit zuweilen 
genau festzustellcn. In Bezug auf die Therapie muss der alte Satz im 
Allgemeinen gelten: Ubi pus, ibi evacua. Die Indication zu einem ope¬ 
rativen Eingriff ist gerade in den Fällen, die plötzlich eine schlimme 
Wendung nehmen, schwer zu stellen. Ein englischer Chirurg hat un¬ 


längst darauf aufmerksam gemacht, dass die Fälle, in denen keine Ge¬ 
schwulst nachweisbar ist, prognostisch ungünstig sind. Bei diesen räth 
II. zur sofortigen Operation. Das Fieber ist dabei Nebensache. 

Hr. Fürbringer betont Herrn 8onnenburg gegenüber, dass die 
geheilten Kinder sicher ohne Recidiv geblieben sind, da sie seit Jahren 
nicht wieder in die Behandlung gekommen sind. 

Hr. Karewski (Schlusswort): Die Statistiken der Chirurgen sind 
schlechter, weil sie nur die schwersten Fälle zur Behandlung bekommen. 
Bemerkenswerth ist die allseitig anerkannte Thatsache, dass die Peri¬ 
typhlitis bei Kindern Prodromi hat, welche die Diagnose einige Tage 
lang erschweren kann. Den Ausdruck Appendicitis hält K. im Gegen¬ 
satz zu Herrn Renvers geradezu für klärend. Die Operation bei 
diffuser eitriger Peritonitis lässt sich rechtfertigen, weil sie an sich eine 
absolut ungünstige Prognose giebt. A. 


Gesellschaft der Charlt4-Aerzte. 

Sitzung vom 29. October 1896. 

Der Vorsitzende, Herr Sch aper, begriisst als Gast Herrn Geheim¬ 
rath Schmidtmann aus dem Cultusmioisterinm. 

Hr. Jolly: Demonstration eines Falles von Muskel&trophle nach 
Unfallverletzung. 

Der jetzt 34 Jahre alte Patient gerieth im Jahre 1882 mit dem 
linken Arm in eine Maschine, durch welche ihm derselbe fast voUständig 
ausgerissen wurde. Nachträgliche Exarticulation im Schultcrgelenk. In 
der Folgezeit schwere Arbeit ausschliesslich mit dem sehr muskulösen 
rechten Arm bewältigt. Ein Jahr später Atrophie der rechten Schulter¬ 
muskulatur, die jetzt einen erheblichen Grad erreicht hat. Fibrilläre 
Zuckungen und Entartungsreaction im Deltoideus und anderen Muskeln. 
Dazu Verminderung der Sensibilität für Schmerz im Bereich des rechten 
Arms und der rechten Gesichtshälfte. — Es ergiebt sich, dass der Pa¬ 
tient ausserdem an einer Atrophie des rechten Beines leidet, welche von 
einer in den ersten Kinderjahren Uberstandenen Poliomyelitis zurück¬ 
geblieben ist, ferner an einer durch Fractur in der Kindheit entstandenen 
Verkrümmung des linken Fusses. — Der Vortragende nimmt an, da*a 
durch die spinale Kinderlähmung eine Krankheitsdisposition im Rücken¬ 
mark zurückgeblieben sei, welche bei der functionellen Ueberanstrengung 
des rechten Arms zur Degeneration in dem betreffenden Vordeihorn und 
zu davon abhängiger Muskelatrophie führte. Zu denken wäre auch an 
eine Blutung im Cervicalmark, bedingt durch die mit dem Unfall ver¬ 
bundene Zerrung des linken Plexus cervicalis. Es wäre daan die Sensi¬ 
bilitätsstörung der rechten Seite alB abhängig von der Hämatomyelie 
zu denken. Doch bleibe es fraglich, ob nicht eine functionelle Compli- 
cation vorliege. -- Es wird schliesslich darauf bingewiesen, dass der 
Unfall noch vor die Zeit der Unfallgesetzgebung gefallen sei und dass 
der Verletzte deshalb keine Rente erhalten habe. In Folge dieses 
Mangels und der dadurch bedingten Ueberanstrengung sei es zur Muskel¬ 
atrophie gekommen. Andererseits fehlten aber auch die psychischen 
Erscheinungen der sogenannten traumatischen Neurose, die in vielen 
Fällen durch den Kampf um die Rente herbeigeführt würden. 

Vorsitzender: Wir haben inzwischen die Freude, unser jüngstes 
Mitglied heute Abend unter uns zu sehen, Herrn Prof. LeBaer, den ich 
hiermit in unser Vesammlung willkommen heisse. Ich möchte nur die 
Bitte an diesen Gruss knüpfen, dass er in ähnlicher Weise wie seine 
verehrten Vorgänger, die wir auch heute unter uns zu sehen die Freude 
haben, sich an unseren Sitzungen thätig betheiligen möge. 

Hr. Bnrchardt: Ueber die Körnerkrankheit der Lid-Bindehant 
des Mengehen. 

Meine Herren! Unter den epidemischen Krankheiten hat die Körner¬ 
krankheit der Augen dasselbe Schicksal gehabt, wie die Syphilis. Sie ist 
unendlich alt, aber sie bat erst in einer verhältnissmässig jungen Zeit 
die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt und ist eben zu dem geworden, 
was sie heutzutage ist: eine sehr weit verbreitete Krankheit, die nament¬ 
lich auch in den Armeen, ganz besonders in der russischen, grosse Ver¬ 
wüstungen anrichtet. Die Krankheit wirkt dadurch so sehr zerstörend, 
dass sie einmal eine Schrumpfung der Bindehaut der Lider zur Folge 
hat, deren weitere Folgen Einwärtskehrung der Lidränder, Trichiasis 
und Entzündung der Hornhaut sind, dass aber auch andererseits Er¬ 
krankungen der Hornhaut als eine direkte Theilerecheinung der Körner¬ 
krankheit auftreten, indem derselbe Process, der in der Tiefe der Binde¬ 
haut von statten geht, sich dann auch zwischen dem Epithel der Horn¬ 
haut und der Bowmann’schen Haut ausbreitet. 

Es ist begreiflich, dass bei der grossen Ausdehnung der Krankheit 
man sich die allergrösste Mühe seit langer Zeit gegeben hat, das Con- 
tagium kennen zu lernen. Man hat eine Zeit lang geglaubt, dass es 
sich durch den Staub in der Luft verbreite, bis man später zu der An¬ 
sicht gekommen ist, dass es doch mehr durch direkten Contact, durch 
die Waschgeräthe, Handtücher u. s. w. seine Hanptverbreitung findet; 
bisweilen ja auch durch unmittelbare Berührung eines Individuums mit 
dem anderen. Als die Bacteriologie mehr in den Vordergrund trat, 
haben dann von bacteriologischer Seite viele eingehende Untersuchungen 
stattgefunden, und es haben mehrere Untersucher ein ßacterium oder 
einen Coccus zu finden geglaubt, der die Ursache der Krankheit wäre. 
Es ist sogar einmal ein gröberer Fadenpilz, der die Krankheit veran¬ 
lassen sollte, beschrieben worden. Aber alle diese Befunde haben sich 


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22. Februar 1897. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


nicht bestätigt; es ist wenigstens bis jetzt darüber nichts weniger als 
eine Einigkeit erzielt. 

Ich habe nun geglaubt, dass man doch auf andere Weise vielleicht 
der Sache noch näher treten könnte, da es auf der Hand liegt, dass der 
Ansteckungsstoff, um zu den kleinen Geschwülsten, die im Bindegewebe 
der Bindehant stecken, zu gelangen, doch das Epithel durchsetzen muss, 
and dass man daher vielleicht im Epithel etwas finden könnte. Ich 
glaube nun wirklich, im Epithel Dinge gefunden zu haben, die wohl 
nicht durch Kokken oder Bacterien oder Pilze hervorgerufen sein können. 
Die Sache ist ja an und für sich nicht ohne Vorgang. Wir kennen seit 
einer grossen Reihe von Jahren eine Krankheit, die in der Haut vor¬ 
kommt und bei der ebenfalls Dinge sich vorflnden, die nicht von pflanz¬ 
lichen Mikrorganismen abhängig sind und sich ohne erhebliche Entzün¬ 
dung aus eigenartigen Keimen entwickeln. Das ist das Molluscum con¬ 
tagiosum. Ich möchte um die Erlaubnis bitten, einen Excurs darüber 
zu machen. 

Das Molluscum contagiosum ist seit langer Zeit bekannt. Von 
Vircbow wird es, glaube ich, im 83. Bande seines Archivs selbst be¬ 
schrieben, und er erwähnt dabei, dass der Name zuerst von Viltan 
1817 gebraucht worden ist. Leider ist die Ausgabe von Viltan’s Werk 
von 1817 nicht in meinem Besitz; ich kann Ihnen nur eine spätere Auf¬ 
lage zeigen vom Jahre 1830. Da soll hier die obere Zeichnung, Tafel 2, 
ein Molluscum contagiosum darstcllen. Wenn man es näher ansiebt, so 
ist es offenbar, dass der grösste Theil der vielen Geschwülste nicht 
Molluscum contagiosum, sondern Cutis pendula ist, und dass nur einzelne 
Stellen darin als Molluscum contagiosum angesproehen werden können. 
Aus der Geschichtserzählung, die im Text gegeben ist, geht aller¬ 
dings hervor, dass wohl mit Wahrscheinlichkeit eine Infection mit Mol¬ 
luscum contagiosum stattgefunden hat, allerdings bei einer Person, 
die ausserdem noch ein anderes Molluscum (Cutis pendula) beherbergt. 
Virchow hat das sehr grosse Verdienst sich erworben, dass er als 
Kriterium für das Vorhandensein des Molluscum contagiosum die 
sogenannten Molluskenkörper beschrieben hat. Die kleinen Geschwülste 
kommen in den verschiedenen Theilen der Körperoberfläche vor, viel¬ 
leicht am häufigsten in der Nähe der Augen, dann in der Umgebung 
der Genitalien. Die Geschwülste bilden flache, fast entzündungslose Er¬ 
hebungen, die in der Mitte eine kleine Delle zeigen. Virchow erwähnt 
ausdrücklich, dass er bisweilen in diesen Dellen noch ein Härchen gesehen 
hat. Wenn man auf diese Geschwülste von zwei Seiten her drückt, so springt 
eine lappige Geschwulst heraus, die eine gewisse Aehnlichkeit mit spitzen 
Condylomen hat. Virchowbeschreibt dann den ganzen Bau der Geschwülste. 
Die Geschwülste sind zum Theil aus sehr vielen Lappen zusammengesetzt. 
Die einzelnen Lappen sind in der Weise mit Epithel ausgefüllt, dass am 
Rande fast wandlose, an ihren Kernen gut erkennbare Cylinderzellen 
stehen. Dann folgt eine Schicht von Zellen, die mehr unregelmässig 
gestaltet sind und neben dem Kern einzelne kleine Körner enthalten. 
Dann folgen in einer weiteren Schicht Zellen, in denen der Kern durch 
die grösser gewordenen Körner schon offenbar sehr ins Gedränge ge¬ 
kommen ist. Dann kommen endlich Zellen, in denen man einen Kern 
nicht mehr wahrnimmt, und die von den zur vollen Grösse heraDge- 
wachsenen Körnern (Molluskumkörpern) ausgefüllt sind. 

Virchow hat 1—4 Molluskumkörper in der einzelnen Zelle gefun¬ 
den. In der Regel giebt es 2—3. Durch diese Molluskumkörper wer¬ 
den die Epithelzellen selbst zum Schrumpfen gebracht. Weiterhin nach 
dem Au8führungsgange zu findet man in der Kegel nnr ein Haufenwerk 
von solchen Epithelzellen, die zu einem dünnen Gerüst atrophirt sind, 
und in den Höhlen und Gruben der geschrumpften Zellen die Molluskum¬ 
körper. Zum Theil liegen diese auch frei. Ich habe hier 2 Photogra¬ 
phien mitgebracht, die mir mein früh verstorbener Freund, Prof. Beneke 
in Königsberg, im Jahre 1867 gefertigt. Dies ist ein Schnitt, der senk¬ 
recht durch den Ausfiihrungsgang geht. Dies ist von einem anderen 
Molluscum ein Schnitt, der quer geht. Sie sehen daran die Structur 
sehr deutlich. Namentlich auf der zweiten Photographie treten die 
Molluscumkörper als kleine helle, scharf umschriebene Körner deutlich 
hervor. Molluscnmkörper machen den Eindruck solider Körper. Sie 
haben weder eine Membran, die man unterscheiden kann, noch einen 
Kern. Sie sind etwas höckerig und uneben, in der Tiefe feinkörnig und 
sind im Ganzen genommen, gegen Reagentien sehr widerstandsfähig. 
Diese Dinger nnn scheinen auch die Ansteckung vermitteln zu können. 
Es ist vielfach bestritten worden, dasB die Krankheit ansteckend ist, ob¬ 
gleich man in Familien Endemieen dieser Krankheit beobachtet hat, die 
offenbar von einem Familienmitgliede auf andere übertragen wurde. Es 
ist aber dann schon von Paterson — ich habe leider nicht ermitteln 
können, wann; jedenfalls muss das sehr früh gewesen sein, schon um 
das Jahr 1840 herum — eine Reihe Impfungen mit Molluscum vorge¬ 
nommen worden. Dann hat Gustav Retzius in einer Arbeit vom Jahre 
1872 (Deutsche Klinik 28. 1. 1872) beschrieben, dass er eine Reihe 
von Impfungen gemacht habe, die erfolglos waren. Endlich hat er im 
März (wahrscheinlich 1871) eine Impfung auf seiner eigenen Brust vor¬ 
genommen. Er hat sich Molluscummasse auf die Brust gebracht, ein 
Uhrglas darüber gelegt und nach einiger Zeit hat er dann angenommen, 
dass der Versuch missrathen sei. Aber im Sommer des Jahres, also 
ungefähr nach 3—4 Monaten, hat er auf seiner Brust einen Comedo ge¬ 
sehen. Als er diesen näher untersuchte, hat er Molluscumkörper gefun- 
funden. Er hat also ein wirkliches Molluscum contagiosum bei sich er¬ 
zeugt und damit den sicheren Beweis geliefert, dass Mollnscum conta¬ 
giosum wirklich contagiös äst. Das Molluscum contagiosum wird von 
Virchow als von den Haarbälgen ausgegangen betrachtet. Andere Be¬ 


obachter, namentlich Lukomsky, der in Virchow’s Archiv (Band 65, 
p. 145—153) eine anatomische Beschreibung des Molucnms liefert, neh¬ 
men an, dass es aus dem Rete Malpighii hervorgehe, und dass es sich 
um ein Wachsen der Retezellen handele, die durch Wanderzellen in- 
fleirt seien. 

Neben der Geschichte des Molluscums läuft eine andere mehr 
an die Charitö geknüpfte Geschichte, die Lehre vom subcutanen Con¬ 
dylom betrifft. Dies ist von Kluge und Fritze schon ums Jahr 1804 
gekannt worden. Sie haben diese Geschwülste als Tubercula porcella- 
nea syphilitica bezeichnet; weil diese namentlich in der Nähe der 
Genitalien vorkamen. Später ist die 8ache von Hauck weiter 
untersucht worden, und Hauck hat den Kluge dann davon überzeugt, 
dass er (Hauck) Recht gehabt habe, die Sache als subcutane Condy¬ 
lome zu bezeichnen. Sowohl im Introitus vaginae als besonders auf der 
äusseren Haut ist das subcutane Condylom beobachtet worden. Wenn 
man dasselbe seitlich zusammendrückte, so riss die Haut dicht neben 
der kleinen Oeffnung oder von dieser aus auf, und es sprang bei stär¬ 
kerem Druck die kleine Geschwulst hervor, die für ein spitzes Condylom 
von Hauck gehalten wurde. Er nahm an, dass das subcutane Condylom 
Bich in einem Drüsenbalge entwickele und bei einer gewissen Grösse 
die Haut örtlich vorwölbe. Er hat dann auch gleich angegeben, dass 
man die Sache ziemlich einfach curiren könne, indem man die Geschwulst 
auspresse und das Condylom mit den Fingernägeln abkneife. Allenfalls 
könne man mit dem Höllensteinstift dann noch die kleine RiBSstelle be¬ 
tupfen. Virchow erwähnt in seinem Buch über die Geschwülste im 
ersten Bande das subcutane Condylom auch und ist, wie es scheint, an¬ 
nähernd der Ansicht von Hauck gewesen. 

Herr Geheimrath Lewin hat schon früh darauf aufmerksam gemacht, 
dass das Molluscum contagiosum und das subcutane Condylom sich ausser¬ 
ordentlich ähnlich sehen. Es ist schade, dass er nicht auch noch einen 
Schritt weiter gegangen ist. Diesen weiteren Schritt hat nachher Oskar 
Simon gethan, der hier 19. 5. 1876 in der Physiologischen Gesellschaft 
die Identität dieser beiden Geschwulstarten nachgewiesen hatt indem er 
in beiden Molluscumkörper zeigte und auf diese Weise nun den Streit 
oder die Differenz ganz und gar auflöste. 

Ich habe diese Sache erwähnt, weil ich in der Epithelschicht, welche 
die Trachomkörner in der Bindehaut bedeckt, nun ganz ähnliche Dinge 
gefunden habe, welche man im Molluscum contagiosum und im suben- 
tanen Condylom sieht. In dem Mikroskop dort liegt ein Präparat, von 
dem die Zeichnung herrührt, die ich herumgeben will. Man bemerkt 
da zwischen den Epithelien, die sich durch ihren gewöhnlichen Kern er¬ 
kennen lassen, grössere Körper, die gerade wie die Molluscumkörper, 
keine Membran zu haben schoinen, die etwas körnige Masse darstellen, 
keinen Kern besitzen und zum Theil zu zweien, zum Theil zu vieren, 
zum Theil auch nur einzeln in der Masse liegen. An der einen Stelle, 
die gerade unter dem Mikroskop eingestellt ist, sind zwei solche Tra¬ 
chomkörper, die sich unmittelbar berühren, von einer doppelten Contur 
umgrenzt; dicht daneben liegen 4 solche Körper, die auch von einer 
doppelten Linie eingefasst sind. 

Ich habe dann die Geschwulstmassc selbt, die in den Körnern ent¬ 
halten ist, und die oft als aus Leucocyten sich zusammensetzend be¬ 
schrieben ist, auch untersucht und bin erstaunt gewesen, dass man da 
von Leucocyten gesprochen hat. Auf der linken Seite der Zeichnung, 
die ich eben umhergegeben habe, sind diese Körper abgezeichnet, und 
zwar bei derselben Vergrösserung 1 :300, die ich durchweg festgehalten 
habe. Man sieht auf den ersten Blick, dass diese kleinen Dinger, die 
die Geschwulstmnsse bilden, sehr viel kleiner sind, als das sonst bei 
gewöhnlichen Leucocyten der Fall zu sein scheint. Ich schätze die 
Grösse etwa auf °/, 8n mm, also so klein, wie man sonst Eiterkörper¬ 
chen oder dergleichen niemals sieht. Auch habe ich in diesen 
Dingen keine Kerne wahrnehmen können. Sie Bind auch nicht rund, 
sondern mehr unregelmässig conturirt. Indes will ich darauf kein sehr 
grosses Gewicht legen. Ich glaube überhaupt nicht, dass diese Dinge 
etwas ganz Absonderliches sind, sondern ich glaube, dass das nur 
durch die Reizung der durch das Epithel hindurchwandernden oder 
hindurchwachsenden Organismen hervorgerufen wird. Ich möchte 
in Abweichung von Dem, was in den Handbüchern sich vortindet, 
bestimmt behaupten, dass mitunter diese Anhäufungen von sog. 
Rundzellen, nicht durch eine Schicht vom Bindegewebe von dem 
Epithel getrennt sind, sondern dass sie bisweilen gauzunmittelbar an 
das Epithel grenzen, so dass auch nicht eine Spur anderen Gewebes 
dazwischen liegt. 

Was nnn die Trachomkörper weiter anlangt, so ist mir die grosse 
Aehnlichkeit mit den Molluscumkörpern sehr aufgefallen. Durchschnittlich 
sind die Molluscurakörper, die ich auf der rechten 8eite der Zeichnung 
dargestellt habe, erheblich grösser, als die Körper, die ich im Epithel 
gefunden habe. Aber es giebt Uebergänge. Es kommen Molluscumkörper 
vor, die kleiner sind, als die grösseren Trachomkörper. 

Ich möchte mich nur noch vermuthungsweise darüber aussprechen, 
wofür ich die Sache halte. Ich kann vorläufig kein bestimmtes Urtheäl 
abgeben, weil die Versuche, die ich angestellt habe, zu keinem Resul¬ 
tate geführt haben und vielleicht auch in längerer Zeit zu keinem Re¬ 
sultate führen werden. Ich hatte vorhin schon erwähnt, dass bei den 
Impfversuchen durch Retzius es 3—4 Monate gedauert hat, ehe über¬ 
haupt der Samen, den er auf seine Brust gebracht hatte, angegangen ist. 
Ich habe nun bei zwei Kranken, die contagiöse Augenentzündung hatten, 
direkt von ihren eigenen Follikeln genommen und habe die zerriebenen 
Follikel auf den Oberarm fest eingerieben, darüber etwas sterile Lein- 


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No. 8. 


172 BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


wand befestigt und bo die Sache einige Tage lang tragen lassen. Bis 
jetzt ist bei der einen Kranken — die andere ist inzwischen aus der 
Charite entlassen — nichts angegangen, und ich fürchte, da auch Retzius 
eine ganze Reihe von vergeblichen Impfungen vorgenommen hat, dass 
Erfolg sich nicht bald einstellen wird. Indess wird vielleicht mein heu¬ 
tiger Vortrag dazu den Anstoss geben, dass diese Versuche von anderen 
Beobachtern vorgenommen werden, und es kann ja der Eine sowie der 
Andere dann das Glück haben, den Zusammenhang nachzuweisen. Zweifel¬ 
haft ist bis jetzt die Sache nach dieser Richtung hin. Ich kann nicht 
mit Sicherheit behaupten, dass die Molluscumkörper mit den Trachom- 
körpern identisch sind. Indess glaube ich, dass immerhin das Aufflnden 
der Trachomkörper einen gewissen Anhaltspunkt nach anderen Richtun¬ 
gen hin gewähren wird. Sie wissen, dass das Trachom oder die Con¬ 
junctivitis follicularis, vielfach io zwei verschiedenen Krankheiten ge¬ 
spalten wird. Man unterscheidet die Anhänger der einen Richtung als 
Dualisten, die der anderen als Unisten. Die Einen halten diese körnigen 
Degenerationen der Bindehaut (abgesehen von denen, die durch Atropin 
oder Eserin oder ähnliche Augenwässer auf der Bindehaut hervorgebracht 
werden) alle für gleichartig, also für Erscheinungen der ansteckenden 
Körnerkrankheit, die unter Umständen die schweren Erkrankungen der 
Hornhaut nach sich ziehen kann. Die Dualisten dagegen meinen, dass 
von dieser eigentlichen Körnerkrankheit ein Catarrhus follicularis abzu¬ 
trennen sei, der bei den 8ehulendemien, Kasernenendemien u. s. w. viel¬ 
fach vorkäme, der aber immer gutartig verliefe. Wie gesagt, die An¬ 
sichten sind sehr getheilt. Ich glaube nun, dass der Befund, den ich 
hier gezeigt habe, den Weg weist, auf dem man unter allen Umständen 
sich darüber klar werden kann, ob es sich um eine echte Körnerkrank- 
heit oder nur um einen Katarrh mit höckriger Beschaffenheit der Schleim¬ 
haut handelt. Dann glaube ich auch, dass für die Therapie die Sache 
nicht unfruchtbar sein wird. Sie wissen, dass die Therapie früher we¬ 
sentlich darin bestand, dass man jahrelang einen solchen Patienten durch 
Aetzungen mit Kupferstiften eiendete, dass diese Therapie in neuerer 
Zeit sich dahin geändert hat, dass die kranke Bindehaut in noch ein¬ 
greifenderer Weise behandelt wird. Die Bindehaut ist mit Bronzebürsten 
bearbeitet, oder auch mit starken Sublimatlösungen so abgerieben wor¬ 
den, dass mitunter ausgedehnte Narben entstanden sind. Ab und zu 
sind nach Berlin Patienten gekommen, denen die Uebergangsfalten und 
Belbst die Thränendrüsen ausgeschnitten waren, und bei denen dann 
dicht neben den Narben die Follikel doch wieder in grösster Reich¬ 
haltigkeit sich entwickelt hatten, so dass also absolnt keine Heilung 
erzielt war. Vielfach ist die Methode der Heilung durch die Knapp’sche 
Rollpincette im Gebrauch, eine Methode, die nichts anderes gegen sich 
hat, als dass man mit der Rollpincette nicht überall hin gelangt. Ich 
habe sehr gute Erfolge, wie ich glaube, damit erzielt, dass ich die ein¬ 
zelnen Follikel mit dem in eine sehr spitze Schlinge auslaufenden Gal¬ 
vanokauter ausgebrannt habe. Ich glaube den guten Erfolg mit meinen 
jetzigen mikroskopischen Befunden in Einklang bringen zu können, weil 
ich annehme, dass die Trachomkrörper sich vorwiegend an solchen 
Stellen fluden, an denen Follikel vorhanden sind. Denn die Trachom¬ 
körper bewirken nach meiner Ansicht durch örtlichen Reiz die Entste¬ 
hung der Follikel. Darum glaube ich, dass diese Follikel das Anzei¬ 
chen werden können, an welcher Stelle man im Epithel die Mikropara¬ 
siten zu suchen hat, die man zerstören will. Ich gehe also in alle ein¬ 
zelnen Follikel mit dem Galvanokauter ein, und ich habe in manchen 
Fällen über 400 Follikel in einem Bindehautsack zerstört, ohne dass 
dabei bisher eine irgenwie erhebliche Verkleinerung der Biudehautfläche 
resultirt ist. Man Bieht späterhin — ich habe die Patienten noch nach 
einer grösseren Reihe vou Jahren öfter gesehen — wohl eine etwas 
stumpfe aber keine verkleinerte Bindehautfläche und keineswegs etwa 
gar eine Verminderung der Beweglichkeit des Auges. Der Eingriff ist 
also verhältnissmässig harmlos. Natürlich muss man nach dem Aus¬ 
brennen dafür sorgen, dass der Bindehautsack möglichst aseptisch ge¬ 
halten wird. Ich verwende dazu mit Vorliebe Lösungen von schwefel- 
saurem Kupferoxyd 1: 1000 und pulvere dann ein Antiseptikum ein, 
jetzt gewöhnlich Thioform. Das wird täglich ein- bis dreimal gemacht. 
Die Anwendung des Galvanokauters wird zweckmässig etwa alle 14 Tage 
wiederholt. Dabei heilt die Krankheit verhälnissmässig günstig und 
rasch ab. Ich glaube nun, dass das. was ich hier gezeigt habe, wesent¬ 
lich dadurch nutzbar sein wird, dass man die Differentialdiagnose, die 
bo lange streitig gewesen ist, in der Praxis nunmehr wird machen können. 

Hr. Lewin: Eine kleine persönliche Bemerkung. Ich hoffe, dass 
es nicht auf persönliche Eitelkeit geschoben wird; es soll nur zur histo¬ 
rischen Constatirung dienen. Lange vor Simon, viele Decennien, habe 
ich in einer Discussion mit Virchow die Identität des Molluscum con¬ 
tagiosum mit den subcutanen Akuminaten behauptet — also ich glaube, 
einige Zeit vor Simon. 

Es ist gewiss sehr geistreich, was uns Herr Burchardt vorgetragen 
hat. Aber ich möchte einzelne Punkte nur berühren. Ich habe dieses 
Molluscum contagiosum acuminatum vorzüglich in den Talgdrüsen ge- 
fundej und in den Haarbälgen, so dass man genau die Conturen sowohl, 
als auch die mikroskopische Beschaffenheit nachweisen konnte. An an¬ 
deren Stellen, wo sich auch ganz ähnliche Erscheinungen, wie bei der 
Conjunctiva zeigen, d. i. ist in der Harnröhre bei der secundären Go¬ 
norrhoe; wenn sie einige Zeit besteht, finden Sie regelmässig kleine 
trachomatüse Bildungen, und sic haben mich sehr interesBirt und ich 
habe sie vielfach untersucht und habe gefunden, dass das, was eben bis 
jetzt vom Trachom der Conjunctiva der Fall war, auch hier der Fall 
war, eine Ansammlung von Lymplioidzcllen. Aber es wäre ja möglich, 


dass man später oder bei grösserer Aufmerksamkeit auch findet, wju 
Herr Burchardt sagt. 

In Bezug der Impfung habe ich selbst bei mir zu verschiedener 
Zeiten Versuche gemacht auf dem linken Arm, weil mein Princip war 
während meiner langjährigen Thätigkeit nie ein Experiment an einen 
Anderen zu machen, auch wenn er es zugiebt, weil er die Folgen dock 
nicht übersehen kann; Folgen, die oft traurig genug waren, vorzüglich 
bei Impfung mit Ulcera. Also ich habe es bei mir gemacht und io 
keinem Falle einen Erfolg gesehen. Aber das schliesst nicht im Ge¬ 
ringsten aus, dass Erfolge, die Andere haben, von Werth sind. Denn 
ein positiver Erfolg ist mehr werth, als zwanzig negative. 

Hr. Hirschberg: M. H.! Ich will nicht das Wort ergreifen zu 
dem eigentlichen Gegenstände — denn die Untersuchungen sind neu nnd 
müssen erst weiter geprüft werden —; auch nicht zu der Frage des 
Trachom, denn Sie wissen, dass darüber ganze Bibliotheken geschrieben 
sind. Ich möchte nur anknüpfen an eine Bemerkung des verehrten 
Herrn Vorredners, damit nicht zufällig etwa unbeabsichtigt ein Missver¬ 
ständnis verursacht werde; nämlich das nach meiner Ansicht verhäng¬ 
nisvolle Missverständnis, dass die Körnerkrankheit ätiologisch Zusam¬ 
menhänge mit dem Augentripper. Das hat ja im Anfang unseres Jahr¬ 
hunderts in den Heeren so schlimme Verwüstungen angerichtet, das« 
man die beiden Krankheiten noch nicht zu unterscheiden im Stande war. 
Diese beiden Krankheiten haben gar nichts miteinander zu thun (Herr 
Lewin: Das habe ich auch nicht behauptet!) — gewiss nicht. Nein: 
aber ich wollte auch eben bei Anderen das Missverständnis* nicht auf- 
kommen lassen. Wenn man tausende von Fällen von Augentripper, wie 
man sie bei den kleinen Kindern beobachten kann, verfolgt, so sieht 
man niemals einen einzigen Fall der Körnerkrankheit daraus entstehen. 
Niemals sieht man auch, dass ein Fall von primärer Körnerkrankheit 
übergeht in Angentripper, es sei denn •— ich habe solche Fälle gesehen 
•— dass der Mensch einen acuten Tripper der Gcschlechtstheile erwirbt 
und ihn auf das Trachom der Augen auf impft. Das ist wohl ganz klar. 
Diese Verwechselung zwischen den beiden grundverschiedenen Krank¬ 
heiten möchte ich nicht hier neu aufkommen lassen, zumal die öster¬ 
reichische Schule immer noch dazu beiträgt, indem sie das Trachom als 
chronische Blennorrhoe bezeichnet, was ja entschieden falsch ist. Das 
Trachom sondert so gut wie gar nichts ab. Ich komme jetzt gerade 
von einer Untersuchung aus Ost- und West-Preussen und habe viele 
Hunderte von Trachomfällen hinter einander gesehen. Da war äusser- 
lich kaum bei einem einzigen Falle etwas von Schleimabsonderung zu 
sehen, geschweige denn jemals ein Eiterfluss. Wenn man sich gewöhnt, 
nach meiner etwas pedantischen Weise, immer die Sache recht einfach 
deutsch zu benennen, dann kann man auch gar nicht in die Verlegen¬ 
heit kommen, eine nicht absondernde Körnelung der Bindehaut als chro¬ 
nischen Eiterstrom zu bezeichnen, weil weder Eiter da ist, noch ein 
Strom. 

Hr. Burchardt: Ich will nur noch bemerken, dass ich selbstver¬ 
ständlich auch der Ansicht bin, dass die Körnerkrankheit des Auges mit 
dem Tripper direkt nichts zu thun hat. Nichtsdestoweniger habe ich 
vor einiger Zeit schon den Herrn Collegen Bieck auf der Frauenabthei¬ 
lung gebeten, darauf zu fahnden, ob ich nicht durch seine Güte vielleicht 
einmal einige Körner aus der Vagina bekommen kann, um diese eben 
auch in derselben Weise zu untersuchen, wie ich die Körner aus der 
Lidbindehaut des Auges untersucht habe. Ich möchte noch nachtragen, 
dass unter dem einen Mikroskop ein Quetschpräparat liegt, welches aus 
einem Follikel hergestellt ist. Ich habe denselben kräftig zwischen 
zwei Objectträgern zerdrückt, dann getrocknet, durch die Flamme ge¬ 
zogen und mit Methylenblau gefärbt, und dabei hat sich der Befund er¬ 
geben, der dort unter dem Mikroskop zu sehen ist. Dieser Befund ist 
ein sehr eigenthiimlicher. Es sind eine Menge von blau gefärbten, meist 
ovalen oder runden, scharf begrenzten Körpern da, deren Entstehung ich 
nicht zu erklären vermag. Ich habe aber solche Präparate nur dann 
entstehen sehen, wenn ich bei der Körnerkrankheit die Körner zer¬ 
quetschte. Bei anderen Affectionen, z. B. bei Phlyktänen des Auges, 
habe ich nie etwas Aehnliches zu sehen bekommen. Ich war von der 
Idee ausgegangen, es müssten hier wohl Rundzellen sein, wie man die¬ 
selben bei Untersuchung des Eiters des Augentrippers zu sehen gewöhnt 
ist. Davon ist aber keine 8pur zu bemerken gewesen. Ein einziges 
Mal habe ich eine vereinzelte Rundzelle gefunden, aber sonst immer 
nur die glatten, ovalen Körper, wie sie dort im Präparat zu sehen sind. 
Vielleicht kann diese Art und Weise der Untersuchung auch zur 
schnellen Diagnose benutzt werden. Man kann solch ein Präparat in 
4 bis 5 Minuten fertig haben. 

Hr. Straass: Demonstration eines Falles von Hypersecretio con* 
tinna chronica ventrlculi. 

Der demonstrirte Patient zeigt neben den ausgeprägten Erscheinungen 
des chronischen Magensaftflusses eine Gastroptose, Bowie anamnestisch 
eine Angabe über Bluterbrechen. Das im nüchternen Zustand aus 
dem Magen entnommene Secret enthält kaum sichtbare Rückstände von 
Ingestis, welche der Magen Verdauung nicht zugänglich sind, beträgt an 
Menge gegen 200 ccm, hat ein speciflsches Gewicht von 1006, zeigt 
Linksdrehung, giebt keine Tromm er’sehe Probe, ebenso keine Verfär¬ 
bung bei Zusatz von Jodlösung, zeigt einen geringen Phosphatgehalt, 
eine hohe Acidität mit einem hohen Werth für freie HCl. Der unfiltrirte 
mit Zucker angesetzte Inhalt gährt im Brutofen nicht. Vortragender 
demonstrirt mikroskopische Präparate von verdauten und unverdauten 
Brüdchen, bei welch letzteren sich durch Triacidfärbung ein aus Eiweiss 
bestehendes Bindegerüst nachweisen läsBt, in dessen Maschen die Amylura- 


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22. Februar 1H07. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


körnchen liegen and bringt damit den Nachweis, dass die feine Zertheilung 
der durch Kauen nur mangelhaft zerkleinerten Bissen des Brödchens, 
die sog. „Amylorrhexis“, eine Function des Magensaftes ist, wie er es be¬ 
reits früher durch Verdauungsversnche gezeigt hat. Der Speichel hat 
mit diesem Zerlegungaprocess nichts zu thun. Zahlreiche freie, zum 
Theil in Schleim eingebettete Zellkerne, die im Ausgeheberten des be¬ 
treffenden Falles sich fanden, werden im mikroskopischen Präparat ge¬ 
zeigt, ebenso lange, aus kurzen, dünnen, scharfkantigen Bacillen 
bestehende Schnüre. Im Uebrigen ist das mikroskopische Bild des 
Mageninhalts auffallend mikrobenarra. Vortragender definirt das Wesen 
des chronischen Magensaftflusses als ein Missverhältnis zwischen Ab¬ 
sonderung und Abfuhr von Magensecret und ist der Meinung, dass man 
jedenfalls für diejenigen Fälle, in welchen fast reines Secret ohne deutlich 
erkennbare Beimengungen von im Magen nicht verdaulichen Rückständen 
ausgehebert wird, an einem abnormep Reizzustand der Magenwand fest- 
halten muss, während in anderen Fällen, wo grobe Motilitätsstörungen 
nachweisbar sind, das Bild verwischt ist und man nicht genau entschei¬ 
den kann, was auf Kosten der Hypersecretion und was auf Kosten der 
Secretretention zu setzen ist. Dass die in einem früheren Fall vom 
Vortragenden gleichfalls beobachtete Gastroptose in dem demonstrirten 
Falle die Motilität nicht in hohem Grade beeinträchtigt hatte, ergab sich 
daraus, dass nach einer abendlichen Verabreichung von 1 Esslöffel 
(’orinthen sich am nächsten Morgen nur einige Corinthenkcme im Aus¬ 
geheberten vorfanden. Das beim Patienten vorhandene Ulcus ventriculi 
kann sowohl primär als secundär sein. Die Coincidenz von Ulcus und Hyper¬ 
secretion ist auch nach den Beobachtungen des Vortragenden häufig. Der 
Zusammenhang beider ist noch nicht in eindeutiger Weise zu erklären. 

Hr. Senator: Ich weiss nicht genau, ob Herr Strauss erwähnt 
hat, dass in dem geringfügigen Sediment dieses Secrets aus dem nüch¬ 
ternen Magen sich auch Blutkörperchen fanden. Dies macht es doch 
wahrscheinlich, dass das Magengeschwür, an dem der Patient ja früher 
gelitten hat, auch jetzt noch nicht ganz geheilt ist. Ueber den Zusam¬ 
menhang hat ja Herr Strauss selbst sich schon ausgelassen. 


Aerxtlicher Verein zn Hamburg. 

Sitzung vom 2. Februar 1897. 

Vorsitzender: Herr Kümmell. 

Hr. Saenger demonstrirt ein l'/jjähriges Kind mit Hydrorhachis 
und Spina bifida, welches im 5. Monat operirt wurde. Der Sack hat 
sich wesentlich zarückgebildet. Der gleichzeitig bestehende Hydrocephalus 
ist geringer geworden. Es besteht gegenwärtig noch eine schlafie Para¬ 
parese der Beine und Incontinentia urinae. Auffallend ist die übrige 
gute Entwickelung des Kindes, namentlich hinsichtlich des intellectuellen 
Zustandes. Hr. S. weist auf die erfolgreiche operative Behandlung ähn¬ 
licher Fälle hin. — 

Zweitens stellt er ein 28jähriges Mädchen mit M. Basedowii vor, 
bei demselben war im September 1895 die Strumectomie ausgeführt 
worden. Ganz vorübergehende Besserung der gesteigerten Herzaction; 
sonst keinerlei Nachlass weder der objectiven, noch der subjectiven 
Zeichen des Basedow (ev. steht eine ausführlichere Publication des 
Falles bevor). Hr. 8. bittet die Herren Chirurgen, ihre operativ behan¬ 
delten Fälle von M. Basedowii in ärztlichen Vereinen vorzustellen, da¬ 
mit die dauernden Erfolge constatirt werden können. 

Hr. Kümmell bringt in Anregung, die operirten Fälle zu sammeln 
und später vorzustellen. 

Hr. Urban stellt einen Fall von Actinomykose des linken 
Kieferwinkels vor, der erst vor 6—8 Wochen begonnen hat, und 
hebt besonders die Wichtigkeit der frühzeitigen sicheren Diagnose her¬ 
vor, da von dieser das Schicksal der Kranken in hohem Grade abhängt. 
Die klinischen Symptome genügen zur Diagnose allein nicht. Sie muss 
stets bestätigt werden durch den anatomischen Nachweis der pathogno- 
monischen Actinomyceskörner und die mikroskopische Untersuchung. 
Die Kranke wird seit 14 Tagen versuchsweise mit .Jodkalium in steigen¬ 
der Dosis behandelt. Die Krankheit bat seitdem anscheinend keine 
Fortschritte gemacht. 

Hr. Wiesinger stellt einen jungen Mann vor, dem durch Eisen- 
bahnverletznng die rechte Fusssohle zum grössten Theil abgerissen 
war. Für dieselbe wurde durch einen gestielten Lappen aus dem linken 
Oberschenkel ein Ersatz geschaffen und dadurch die Function des Fusses 
vollkommen wieder hergestellt. 

Zweitens stellt er einen Mann mit einem linksseitigen Ohrenleiden 
vor, der plötzlich mit den Erscheinungen einer cerebellaren Affection er¬ 
krankt war (Nystagmus, Ataxie, Schwindel, Kopfschmerz), so dass nach 
Ansicht der Neurologen die Diagnose auf einen cerebellaren Abscess prä- 
cisirt werden musste. Die daraufhin vorgenommene Eröffnung und 
Punction der 1. Kleinhirnberaisphäre ergab 2 Pravaz’sche Spritzen 
dunklen, Ilämatoidinkrystalle enthaltenden Blutes. Nach der Operation 
allmähliches Verschwinden aller Krankheitssymptome. 

Hr. Kümmell führt eine 28jährige Patientin vor, bei welcher ein 
congenitaler Klumpfass auf unblutigem Wege geheilt wurde. Von 
der blutigen Operation derartiger Fälle ist man mehr und mehr zurück¬ 
gekommen, orthopädische Maassnabmen sind mehr in den Vordergrund 
getreten. Bisher beschränkte man die Anwendung dieser Methoden nur 
auf jugendliche Individuen, es verdient daher der vorgestellte Fall einer 


173 


auf unblutigem Wege geheilten erwachsenen Person besonderes Interesse. 
Gleichzeitig demonstrirt er den von Lorenz angegebenen Apparat zur 
Correction des Kluropfnsses. 

Zweitens zeigt K. das auf operativem Wege gewonnene Präparat 
einer Intussusception des Colon descendens von einem 36 jährigen Manne. 

Hr. Grüneberg stellt ein Ende November 1890 geborenes, sehr 
dürftig entwickeltes Mädchen vor mit einem Uber faustgrossen con¬ 
genitalen Sacraltumor. Ein Zusammenhang der Geschwulst mit der 
Cerebrospinalhöhle liess sich nicht nachweisen, wohl aber wechselte seine 
Spannung unter dem Einfluss der Bauchparese. Mit Wahrscheinlichkeit 
handelte es sich um eine parasitäre Neubildung (Foetus in Foetu). 

Hr. Lenhartz demonstrirt einen über Mannskopf grossen operativ 
gewonnenen Abdominaltumor von einer 32jährigen Frau. Vom 

1. Hypochondrium ging die Neubildung aus, Bie nahm die ganze linke 
Seite des Abdomens ein und reichte nach rechts bis in die Mamillar- 
linie. Der Tumor, den man ganz nach rechts hinüberdrängen konnte, 
war sehr beweglich, ballotirte zwischen den Fingern, er fühlte sich derb, 
dabei prall elastisch an, so dass von vornherein an eine cystöse Ge¬ 
schwulst gedacht wurde, vielleicht an einen Echinococcus, dessen Aus¬ 
gangspunkt zweifelhaft war. Die zuerst vorgenommene Probepunction 
ergab 10 ccm einer stark hämorrhagisch gefärbsen, dabei sehr eiweiss¬ 
reichen Flüssigkeit, in der sich weder Echinokokkenbestandtheile, noch 
andere diagnostisch verwerthbare Elemente nachweisen Hessen. Bei der 

2. Punction fanden sich cylindrische Gebilde, die mit Fetttröpfchen be¬ 
setzt waren, dazwischen scholliges Blutpigment. Nach diesem Befunde 
konnte es sich nur um eine Geschwulst der linken Niere handeln. 

Die Diagnose wurde durch die Operation bestätigt, insofern es sich 
um einen enormen cystischen Tumor handelte, in dessen Wand sich der 
stark in die Länge gezogene atrophische Rest der 1. Niere befand. Ueber 
die eigentliche Natur des Tumors muss die weitere anatomische Unter¬ 
suchung Aufschluss geben. Klinisch handelt es sich um einen völlig 
vereinzelt dastehenden Befund, insofern Formelemente dnreh die Punction 
gefunden wurden, die nur in der Niere vorgebildet sein konnten. 

Hr. Ludwig betont die Wichtigkeit des frühen Erkennens einer 
Miterkrankung des Labyrinths bei acuter Entzündung des Mittelohres, 
wie sie hier jetzt besonders bei Influenza häufig ist. Diese Wichtigkeit 
liegt darin, dass die Therapie nach Ablauf von 6 Wochen seit Beginn 
der Krankheit absolut machtlos ist, während sie im 8tande ist, um so 
vollkommener das Gehör wieder herzustellen, je früher sie eingeleitet 
wird. L. demonstrirt die Hörprüfung mittelst Stimmgabeln, welche zu 
obiger Diagnose unerlässlich ist. Die Therapie besteht in einer Schwitz- 
cur (durch Pilocarpininjectionen!) und energische BlutenfZiehungen auf 
dem Warzenfortsatz (Henrteloup!). 

Discussion über den Vortrag des Herrn Rumpel: Ueber idio¬ 
pathische Oeso phagu s er weite rangen. 

Hr. Jaffä sah einen Fall von Oesophaguserweiterung, der mit dem 
des Vortragenden Aehnliehkeit hat. Es handelte sich um einen 52jähr., 
in den letzten Jahren nervösen Kaufmann mit einer starken Kyphoskoliose, 
bei dem die Diagnose zwischen nervöser Dyspepsie nnd carcinomatöser(?) 
Stenose der Cardia schwankte. Bei der Autopsie zeigte Bich der Proc. 
xiphoideus hakenförmig nach innen gekrümmt und einem besonders pro¬ 
minenten unteren Brustwirbel genähert, hierdurch war die Cardia ab¬ 
geplattet, der untere Theil des Oesophagus maass ca. 11 cm Umfang. 
Es handelte sich also um einen Fall von Oesophaguserweiterung, der 
eine Mittelstellung einnimmt zwischen den idiopathischen und secun- 
dären Dilatationen, wie Bie sie nach Verätzung, Carcinom etc. zur Beob¬ 
achtung kommen. — Therapeutisch empfiehlt sich vielleicht ein mehr¬ 
tägiges Liegenlassen der Schlundsonde im Oesophagus, wodurch Chartres 
Symonds gute Resultate erzielte, oder es würde event. nach Anlegung 
einer Magenflstel die retrograde Sondirung der Cardia zu versuchen sein. 

Hr. Kümmell: Im vorliegenden Falle würde man wahrscheinlich 
zum Ziele gelangen, wenn man eine Magenflstel anlegte und von da aus 
dilatirte. 8ollte dies nicht gelingen, so müsste man versuchen, den 
Oesophagus hernnterzuziehen (was von der Leiche unschwer gelingt) und 
in die Cardia einzupflanzen. 

Hr. Wiesinger glaubt, dass bei dem vorliegenden ausgebildeten 
Krankheitsbilde die krampfhaften Erscheinungen allein nicht die Ur¬ 
sache für diese absolute Stenose sein können, sondern dass hierzu noch 
mechanische Hindernisse als Ursache mit herangezogen werden müssen. 
Sobald die Dilatation des Oesophagus einen gewissen Grad erreicht hat, 
müssen analog dem bekannten Koch'schen Experimenten, in welchen er 
den Darm partiell stenosirte und trotzdem beim Eingiesscn von Wasser 
von oben her, eine absolute Stenose erhielt, mechanische Momente mit 
in Thätigkeit treten. Krampfhafte Zustände der Cardia mögen das pri¬ 
märe sein, jetzt stehen die mechanischen Hindernisse im Vordergrund. 

Bei der Annahme eines krampfhaften Verschlusses liegt es thera¬ 
peutisch am nächsten, forcirt zu dilatiren, da dadurch nach Analogie 
an anderen Osticn des Körpers die Neigung zu diesem Krampf aufge¬ 
hoben wird. 

Ein grösserer chirurgischer Eingriff ist bei dem guten Allgemein¬ 
zustande, und so lange der Kranke sich selbt bougirt und die Nahrungs¬ 
aufnahme eine genügende ist, zur Zeit nicht am Platze. 

Hr. Lenhartz schliesst sich der Deutung des Vortragenden an. 
Entgegen den Ausführungen des Herrn Wiesinger bemerkt er, dass 
ein absolutes Hinderniss für die Jngesta wie für die Sonde von oben 
her nicht bestehen können, da es dem Kranken, wenn auch erst nach 
einigen vergeblichen Versuchen, doch Btets gelinge, mit dem Schlundrohr 
in den Magen zu gelangen. Das primäre sei der krampfhafte Verschluss 


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174 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 8. 


der Cardia, der durch den Reiz der im erweiterten Oesophagus weilen¬ 
den Jngesta stets von Neuem angeregt werde. 

Bezüglich der Therapie riith L suggestiv vorzugehen. In zweiter 
Linie empfiehlt er eine dauernde Dehnung der Cardia mittels Hohl- 
bougies nach Leyden-Renvcrs vorzunehmen. Diese Hohlbougies 
können selbst Monate lang ohne schädliche Folgen liegen bleiben. 
Es ist dann mit Sicherheit ein Zuriickgehen der Oesopbaguserweiterung 
zu erwarten, analog dem Zurückgehen der Magenerweiterung bei besei¬ 
tigter Pylorusstenose. Dringend ist von einem chirurgischen Eingriff 
abzurathen. 

Hr. Rumpf empfiehlt zur Behandlung des vorgestellten Falles auch 
die Leyden-Renvers'sche Dauersonde. 

Hr. Kümraell glaubt, dass die Einführung der Leyden -Ren vers- 
schen Hohlbougies zumal an einem so tiefen Punkte nicht ohne Schwierig¬ 
keit gelingt. 

Hr. Lenhartz: Die Einführung der Hohlbougies gelingt auch an 
so liefen Stellen mit einiger Uebung sehr leicht. 

Hr. Rumpel hat bei carcinomatösen Stenosen des Oesophagus mit 
dem Hohlbougies keine ermunternden Resultate gehabt, ist bereit aber 
hier einen Versuch zu machen. — Die Differenzen in der Auffassung 
der Entwickelung des Leidens mit Herrn Wiesinger hält Ii. nicht fiir 
wesentliche. Dass ein gewisser Klappenverschluss mit in Betracht 
kommt, will er nicht in Abrede stellen. Man kann aber damit nicht er¬ 
klären, dass dieser Verschluss bei Einführung einer festen Sonde in 
den Magen bestehen bleibt. Auch würde der Kranke beim Bestehen 
eines Klappenverschlusses nicht die Sonde selbst in den Magen ein- 
fübren können. 

Für eipen klappenartigen Verschluss liegen die Verhältnisse noch 
in sofern besonders günstig, als der erweiterte Oesophagus einen spirali¬ 
gen, in unterem Abschnitt in die linke Pleura sich vorwölbenden Ver¬ 
lauf zeigt. 

Zum Schluss demonstrirt R. wohlgelungene Aktinogramme des Falles 
bei Füllung des Oesophagus mit 5proc. Bismuth. subnitr. Lösung und 
bei Einführung von mit Schrotkörnern gefüllten Gummisonden. 

Hr. Sa enger schlägt vor, falls es sich in K.'a Falle wirklich um 
einen functioneilen bezw. hysterischen Krampf des unteren Oesophagus- 
abschnittes handelt, vermittelst des galvanischen ev. faradischen Stromes 
eine örtliche Behandlung einzuleiten. Aut dem Gebiete spastischer 
Krämpfe zeigt die Elekrotherapie ihre besten Erfolge. 


VII. Wiener Brief. 

Wien, Anfang Februar. 

Au8 den mcdicinischen Vereinen. 

IC. Pick. Gelbsucht. — Ilrau n, Hcrxbcwcjiutig. — Hoch.lieg», Fremilkörporextriirtioii 

— Kolischcr. Kiitlieterismiw der Urctcrcn. — Sc Ii 1 o .1 n g o r, Vciiciipliiiioiuuic. — 
Manna berg. Hlclintoxicatioii. — rilmnnn. Circulare Darmnaht. — Krau». Aul- 

kfirpor des T\plius: Kaninclienseuche. — Schiff, Filmogcn. — Herr, O-teomalaci-'. 

Dr. Ernst Pick erklärte in einem vor der Gesellschaft der Aerzte 
gehaltenen Vortrage den bisher gangbaren Anschauungen über das 
Wesen der Gelbsucht den Krieg und vertrat seinen Standpunkt mit 
mehr Temperament als mit exactem Beweismaterial. 

P. spricht der mechanischen Erklärung für das Zustandekommen der 
einzelnen Icterusformen jede Geltung ab und sucht die Ursache der 
Gelbsucht in der Leber selbst, als der Bildungsstätte der Galle, und 
zwar in Störungen der Zellfunction. 

Die secernirende Leberzelle treibt ihr Secret nicht gleichmässig 
nach allen Richtungen hin; sie presst die Galle nur in die engen Gallen- 
capillaren, den Harnstoff und den Zucker in das Blut. Diese feine 
Function kann Störungen erleiden, welche darin bestehen, dass ein 
grösserer oder geringerer Theil der Galle die präcise Richtung nicht ein¬ 
hält, sondern abseits von der gewöhnlichen Bahn den Zelllcib verlässt. 
Es kommt dann nur ein Theil der Galle in die Gallcncapillaren, das 
Uebrige in die Lymphspalten. Den höchsten Grad wird die Secretions- 
störung erreicht haben, „wenn der Zelle in einer Art von Delire de 
cellule das 8ecret gleichmässig aus dem Leibe quillt und sie sich wie 
ein gereizter Tintenfisch mit einer Wolke von Secret umgiebt“. Auch 
bei geringer Störung wird die Galle durch die Lymphwege in das Blut 
kommen und Icterus erzeugen. 

Diese Functionsstörung bezeichnet P. mit dem Ausdruck: „Para¬ 
cholie“. Ihre Ursachen können sein: 1. Abnorme Erregung der Secretions- 
nerven der Leber (nervöse Paracholie); 2. im Blute kreisende giftige 
Stoffe (toxische Paracholie). 

Die letzteren können sein: Intoxications-, Autointoxications- nnd In- 
fections-Paracholien. Den Gallensteinicterus rechnet P. zu den nervösen 
Paracholien. Den Icterus neonatorum rechnet er zu den Autointoxications- 
Paracholien; die wichtigste infectiöse Form ist der katarrhalische Icterus. 

— Die Theorien des Vortr. blieben nicht ohne Widerspruch. — 

Einen weiteren Beitrag zum Studium der Herzbewegung lieferte 
Dr. Braun, indem er durch kinetographische Aufnahme des 
blossgelegten Thierherzens mit einem Apparate, der 25—30 Bilder in 
der Secunde liefert, möglichst viele Zwischenformen der einzelnen Herz¬ 
evolutionen zur Anschauung brachte. — 


In einem Falle von drohendem Verblutungstod nach eine 
verschluckten Fremdkörper gelang es Hocheneggr, einen ve 
schluckten, im retroösophagealen Raum eingekeilten Hühnerknochen a; 
operativem Wege zu entfernen. Für die Diagnose von Freradkorp« 
im Oesophagus, welche der Untersuchung durch Bougie und Oesophag 
skop entgehen, eröffnet die Untersuchung mit dem Röntgen "seht 
Verfahren nach Leichenversuchen H.’s eine werthvolle Hülfe. — 

Kol i sch er empfiehlt nach Beobachtungen an der Frauenklini 
Schauta’s die Sondirung resp. Katheterisirung der Uretere 
bei Nierensteincoliken. Diese Untersuchungsmethode kommt zi 
nächst als differentialdiagnostisches Hülfsmittel gegenüber solche 
Fällen in Betracht, welche unter dem Bilde einer inneren Incarceratio 
verlaufen; das Anstosscn der in den Ureter eingeführten Sonde an di 
eingekeilte Concrement giebt ein charakteristisches Gefühl und gestatti 
die sichere Diagnose der Nierencolik. Nach der therapeutische 
Seite kommen in Betracht: 1. die Möglichkeit, einen Stein in das Nierei 
becken znrückzuschieben, 2. die Lockerung eines aus kleinen Coi 
crementen zusammengebackenen Pfropfes, 8. das Herableiten eines Coi 
crementes in die Blase. 

In einem Falle von Nierensteincolik gelang es K. durch Sondirun 
des Ureters auf ein Concrement zu stossen; nach Injection von 3 g 
Vaselinöl in den Ureter entleerte die Kranke in kurzer Zeit untc 
völliger Erleichterung einen erbsengrossen Stein. — 

Ueber eigenartige Venen phänomene berichtete H. Sc hie 
singer. Er beobachtete bei oberflächlichen Hautvenen einen eigentbüni 
liehen Wechsel in dem Verhalten der Wand, welche den Gedanken a> 
abnorme Contractionszustände derselben nahelegen. Die Venen sind ai 
manchen Tagen als starre Stränge fühl- nnd sichtbar, während sie zi 
einer anderen Zeit wieder collabiren. Dieser Wechsel lässt sich ancl 
durch thermische und elektrische Reize provociren. Die histologisch« 
Untersuchung eines excidirten Venenstückes ergab normale Leistung 
intacte Beschaffenheit der Wand und des begleitenden Hautnerven. — 

J. Mannaberg demonstrirte 2 Kranke mit Hirnnervenlähmung 
bei Bleiintoxication. In dem ersten Falle handelt es sich um eir 
25jährigcs Mädchen, welches unter heftigen Kopfschmerzen, Schwindel 
Erbrechen, Appetitlosigkeit und hartnäckiger Obstipation an der Klinili 
Nothnagel's zur Aufnahme kam. Es trat Sehschwäche, Doppeltsehen 
Lagophthalmus am rechten Auge, und Ameisenlaufen am ganzen Körpei 
hinzu. Der rechte Facialis zeigte später Lähmung in allen Aesten, ei 
bestand unerträglicher Kopfschmerz, Nackensteifigkeit, Neuritis optica 
beiderseits, taumelnder Gang. Allmählich entwickelte sich am rechten 
Auge totale Oculomotoriuslähmung, rechtsseitiger Gcsicbtsschmerz, Druck- 
empfindlichkeit der Trigeminusäste. Wegen des Bleisaumes am Zahn¬ 
fleische und hartnäckiger, unter Bauchschmerzen einhergehenden Obsti¬ 
pation wird Jodnatrium (2—4,Ogr pro die) verordnet, worauf alle Sym¬ 
ptome bis auf Reste der bestandenen Oculomotoriuslähmung schwinden. 
Diesen einen Gehirntumor imitirenden Symptomencomplex bezieht M. anl 
eine Polyneuritis cerebralis satumina. — In der Discussion führte 
Chvostek einen Fall aD, wo durch die Volumzunahme des Gehirns in 
Folge des bei chronischer Bleivergiftung sich entwickelnden Hirnödems 
Drucklähmungen der Hirnnerven gefunden wurden. — 

Bei der Resection eines Coecaltumors verwendete Emerich UI1- 
mann eine Methode der cireulären Darmnaht, die er folgendermaassen 
ausführte: Nach Abtragung des kranken Darmstückes am Ileum nnd 
am Colon führte er am Ileum gegenüber dem Mesenterialansatze einen 
Längsschnitt. Hierauf wurde das Ileum in sich invertirt, das Colon 
hineingezogen und in den inneren Darmtheil eine vor der Operation zn- 
geschnitzte, in der Mitte durchbohrte gelbe Rübe, welche in der Mitte 
eine Sehnenfurche trägt, gesteckt nnd beide Därme über die gelbe Rübe 
mittelst eines Catgutfadens abgeschnürt. Die Rübe hielt dann so fest, 
dass U. mit grosser Kraftanstrengung nicht im Stande war, sie von 
ihrem Platze zu verrücken. Dann wurde der Darm in die normale 
Lage gebracht und die Längswunde mit einigen Nähten geschlossen. — 

Dr. Rudolf Kraus machte die Mittheilung, dass es ihm gelungen 
sei, das Vorhandensein der Antikörper des Typhusbacillus in 
der Milch einer mit Typhusbacillen immunisirten Ziege mit Hülfe der 
Methoden von Pfeiffer und Gruber nachzuweisen. — Weiter berichtet 
er über den Nachweis eines bestimmt cliarakterisirten Bacillus als Er¬ 
reger einer influenzaartigen Kaninchenseuche, die mit Rhinitis, 
eitriger Bronchitis, Bronchopneumonien und Pleuritis einhergeht. Dieser 
Bacillus unterscheidet sich durch typisches Wachsthum auf Kartoffel von 
dem von Beck bei der Brustseuche der Kaninchen beschriebenen Ba¬ 
cillus. — 

Im Wr. med. Club hielt Doc. Schiff einen Vortrag über ein von 
ihm hergestelltes Präparat: Filmogen. Dasselbe ist eine Lösung von 
Nitrocellulose in Aceton in verschiedenen Procentverhältnissen mit 
Zusatz eines fetten Oeles um das Häutchen, welches durch das Ver¬ 
dunsten des Acetons gebildet wird, geschmeidig und reizlos zu machen. 
Durch den Zusatz von verschiedenen Medicamenten: Theer, Chrysarobin, 
Jodoform, Resorcin etc. zum Filmogen kann dasselbe in der Dermatol¬ 
therapie vielfältig Anwendung finden. Das Häutchen, das nach dem 
Aufpinseln sich bildet, ist nur in Aether oder Alkohol löslich. — 

Im Anschlüsse an einen von Doc. Dr. Herz demonstrirten Fall 
von nichtpuerperaler Osteomalacie bei einer Frau wurden in der 
Debatte mehrere für die Osteomalaciefrage wichtige Momente hervor¬ 
gehoben. Bei der Besprechung der Phosphortherapie wurde fast über¬ 
einstimmend betont, dass die ursprünglich von Sternberg empfohlenen 
hohen Phosphorgaben überflüssig und gefährlich seien. Latzko und 


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‘22. Februar 185*?. 


175 


fcKULltf Kit KLIN ISCI I K WOCllFNSClltllFT. 


Singer erwähnen einen Fall von Osteomalacie, wo es unter der vor¬ 
geschriebenen, lange durcbgeführten Phosphorbehandlung zu Vergiftunga- 
erscheinungen, Degeneration des Herzmuskels und Hirnhämorrhagie kam. 


VIII. Die freie Arztwahl in Wien. 

In Wien hat am' 9. d. M. eine allgemeine AerzteVersamm¬ 
lung stattgefunden, die sich, nach eingehenden Keferaten der Herren 
Pr. Josef Scholz und Docent Dr. M. Herz auf das Entschiedenste 
für die freie Arztwahl erklärte; die einstimmig genehmigte Resolution 
fordert weiter eine Reform des Krankenkassengesetzes in folgenden 
Punkten: a) der freiwillige Beitritt zu den Krankenkassen ist aufzuheben; 
b) die Versiclinrungapflieht von Personen mit mehr als 800 Gulden ist 
ebenfalls aufzuheben; c) die Quote der Reservefonds von derzeit 20 pCt. 
des Gesammteinkommens ist herabzusetzen; d) den Aerztekammern 
soll in allen wesentlichen Punkten eine Einflussnahme auf die Kranken¬ 
kassen gesetzlich gewährleistet werden. Von der unter den Wiener 
Aerzten herrschenden Stimmung giebt folgender Brief unseres Bericht¬ 
erstatters ein deutliches Bild: 

Wien, 14. Februar 1897. 

Nach langem Stumpfsinn ist endlich die Wiener Aerzteschaft er¬ 
wacht, um über die Kettung vor dem drohenden Untergang zu sinnen. 
Es ist längst schon kein Geheimniss mehr, dass die Erwerbsverhältnisse 
der praktischen Aerzte in stetem Rückgänge nun auf ein Niveau gc- 
rathen sind, dass eine Proletarisirung grosser Aerztemassen das Schreck¬ 
bild der nächsten Zukunft ist. Was daran Schuld trägt, ist bald gesagt. 
Die Zahl der Aerzte ist in den letzten Decennien immer gestiegen, ihre 
Anhäufung in den grossen Städten ist erdrückend, während grosse 
Territorien am flachen Lande, wo dem Arzte statt Brod Steine geboten 
werden, gänzlich der ärztlichen Hülfe entrathen. Seit dem Kranken¬ 
kassengesetz hat die Pauschalirung der ärztlichen Leistung Lohn und 
Arbeit in ein scharfes Missverhältniss gebracht, und die Aerzte, die auf 
das System der Unterbietung willig eingegangen sind, haben hier einen 
Zustand beschämendster Erniedrigung geschaffen. 

Jetzt kam der letzte Schlag — die Meisterkrankenkasse und 
damit eine weitere Einengung des ärztlichen Erwerbsgebietes. Während 
schon bisher 40 pCt. der GesammlbeTÖlkerong Oesterreichs durch 
die Kassenärzte monopolisirt, der allgemeinen Praxis entzogen waren — 
und darunter befanden sich Personen, deren Einkommen das ihres Arztes 
um ein Vielfaches übertrifft — ist durch die Einbeziehung der Meister 
in die obligatorische Krankenversicherung ein guter Theil des solventen 
Mittelstandes, bei dem bisher der Arzt sein Brod fand, vom allgemeinen 
Wettbewerb ausgeschlossen. Die Behörden und gesetzgebenden Körper¬ 
schaften, bei denen bisher die Aerzte schüchtern um Abhülfe baten, 
hörten nichts oder sie wollten nicht hören. Dass aber bei der Kranken¬ 
versicherung zumeist die Aerzte die Kosten bezahlt haben, dies ziffermässig 
und in meisterhafter Rede dargelegt za haben, ist das Verdienst des einen 
der Referenten in der am 9. d. M. stattgehabten Versammlung, Doc. Dr. 
Herz. Im Jahre 1894 ist der Reservefonds der Krankenkassen auf 
11 Millionen Gulden gestiegen, so dass er nahezu die Höhe der 
jährlichen Einkünfte erreicht. Von 3570000 fl, die in Wien eingezahlt 
wurden, blieb ein ersparter Rest von 453000 fl. Die Medicamente 
kosteten 259433 fl, die Spitalskosten beliefen Bich auf 253789 fl. Die 
Verwaltungskosten betrugen 354713 fl, Aerzte, Chefärzte sammt der 
Controle kosteten uur 329080 fl. „Wo da der Reservefonds gespart 
wurde, springt in die Augen.“ Die Krankenkassen sind keine Spar¬ 
kassen, sie sind nicht dazu da, um grosse Reserven anzubäufen. Um 
wie viel besser alle diese Verhältnisse bei der freien Arztwahl, 
unter Voraussetzung einer menschenwürdigen Entlohnung der ärztlichen 
Leistung, sich gestalten würden, das einem reiclisdeutschen Leserkreis 
darzulegen, halte ich für überflüssig. Ist man doch in Deutschland seit 
Jahren schon darüber einig, dass die freie Arztwahl als Compensation für die 
Schäden der Krankenkasseninstitution eine unabweisliche Forderung sei. Und 
was bei uns noch vielfach als Utopie angesehen wird, hat sich in vielen 
Städteu Deutschlands schon bewährt. Die Aerzte selbst, die als 
Sklaven in dem Joche des Krankenkassenfrohndienstes seufzen, rufen 
nach der freien Arztwahl Aber auch der direct interessirte Theil, die 
Arbeiter, haben allen Grund, das jetzige 8ystem als ein verwerfliches 
abzuschütteln. Statt der Behandlung war vielfach eine Scheinbehand¬ 
lung an der Tagesordnung, weil — ohne den Fähigkeiten der Kassen¬ 
ärzte nahezutreten — ein wirkliches Eingehen auf die Klagen des Kranken 
dem wie ein Lastthier überhäuften Arzte physisch unmöglich war. So 
sehen sich die Kassenmitglieder um ihren eigentlichen Zweck, die Er¬ 
langung wirksamer ärztlicher Hilfe, in der Regel betrogen, und die Kasse 
zahlt ein Pluss an Spitalskosten, da der Arzt in seinem und im Inter¬ 
esse des Kranken Bein Material mehr als nothwendig an die Spitäler 
abstösst. 

Der Kranke und auch der ärmste Kranke hat aber ein Recht auf 
den Arzt seines Vertrauens, den Arzt seiner Wahl und wenn der arbei¬ 
tenden Bevölkerung einmal alle diese Dinge so recht aufdämmern wer¬ 
den, dann wird sie mit dem jetzigen System gewaltsam aufräumen. 

Es ist nun recht, dass besonnene Männer sich nicht gescheut haben, 
die Lage des Aerztestandcs einmal auch mit dem Hinweise auf die selbst¬ 
verschuldeten Schäden bloszulegen. Wie ein Mann hat sich die Aerzte- 
scliaft Wien’s gegen diese unwürdigen Zustände aufgebäumt, wie ein 


Mann ist sie entschlossen, endlich sich selbst den Weg der Rettung zu 
erkämpfen. Organisation gegen Organisation, Ring gegen Ring! Sowie 
in manchen anderen Städten, wird auch in Wien die Meisterkranken¬ 
kasse boycottirt, die freie Arztwahl und eine bessere Honorirung verlangt 
und durch eine hoffentlich erreichbare Erweiterung der Disciplinargewalt 
der Kammer der Aerztestand in die Möglichkeit versetzt werden, sich 
vor den Feinden aus seiner eigenen Mitte zu schützen. 


IX. Literarische Notizen. 

— Die Z ahnverderb niss und ihre Verhütung vom Zahn¬ 
arzt Fenchel. 260 Abbildungen. Voss, Hamburg. 1896. Von dem 
Nutzen und der Nothwendigkeit einer rationellen Zahnpflege ist die heutige 
Medicin mehr wie je überzeugt. Dieselbe soll mit der Pflege der Zähne 
bei den Kindern anfangen und hierfür in den weiten Kreisen des Volkes 
Interesse und Verständniss zu fördern, ist der Zweck vorliegenden Schrift- 
chens, welches in gemeinverständlicher Form und durch gute Abbildungen 
illustrirt das Wichtigste über Entwickelung und Pflege der Zähne beibringt. 

— Die diätetische Behandlung der Magen-Darmerkran¬ 
kungen. Von Dr. C. Wegele. 2. Auflage. Gust. Fischer, Jena. 1896. 
Dass dem Verf. schon nach einer so kurzen Zeit von 3 Jahren Gelegen¬ 
heit geboten wird, eine neue Auflage der I. Hälfte seiner „Therapie der 
Verdauungskrankheiten“ zu veranstalten, beweist am besten, dass die 
vom Verf. gewählte Behandlung des Themas sich nach jeder Richtung 
hin bewährt hat. Der Verf. hat in der Neubearbeitung überall den 
Fortschritten der Wissenschaft Rechnung getragen und die einzelnen 
Capitel der ersten Auflage durch ausgiebige Verwerthung der neueren 
Arbeiten vermehrt und verbessert. 

— Von Dr. Kirstein's Buch „Autoskopie des Larynx und 
der Trachea“ ist jetzt eine englische Uebersetzung durch Dr. M. 
Thorncr in Cincinnati erschienen, welche, wie der Uebersetzer sagt, 
in Wahrheit eine zweite vermehrte und vielfach verbesserte Auflage 
darstellt. Der Uebersetzer, ein namhafter amerikanischer Specialist, 
bezeichnet die Autoskopie des Kehlkopfes als die wichtigste Bereiche¬ 
rung unserer technischen Hülfsmittel, welche seit der Entdeckung des 
Laryngoskops durch Garcia gemacht sei. 

— Guyon’s berühmte klinische Vorlesungen über die Krank¬ 
heiten der Harnwege sind, nach der 3. Auflage von Dr. Oscar 
Kraus in Carlsbad und Doc. Dr. Otto Zuckerkandl in Wien über¬ 
setzt. (Wien, Alfred Hoelder.) Bisher liegt Band I vor, die functio- 
nellen Symptome und die pathologischen Veränderungen des Harns um¬ 
fassend. Nach Erscheinen des vollständigen Werkes werden wir ein¬ 
gehender auf dasselbe zurückkomraen. 

— Nach knapp einjähriger Pause ist Henoch's Lehrbuch der 
Kinderkrankheiten in neuer (der neunten) Auflage erschienen (Berlin, 
A. Hirschwald). Alle Verehrer des Meisters werden auch aus dieser 
neuen Auflage mit Freuden den Eindruck gewinnen, dass er in seiner 
Zurückgezogenheit keineswegs nur ein „Otium“ cum dignitate geniesst, 
vielmehr in alter Weise, mit Theilnahme und Kritik, die Entwickelung der 
Kinderheilkunde verfolgt und zu klassischem Ausdruck bringt. 

— Kirchner’s Grundriss der Militär-Gesundheitspflege 
(Braunschweig, Harald Bruhn) liegt nunmehr in 15 Lieferungen abge¬ 
schlossen vor: eine ungemein fleissige, übersichtliche Darstellung aller, 
auf die Hygiene und die Erkrankungen der Armee bezüglichen Dinge. 


X. Praktische Notizen. 

Diagnostisches. 

Die Mittheilungen über den Werth der Widal’scheu Reaction 
fliessen jetzt ausserordentlich reichlich. Insbesondere erhebt sich jetzt 
die Frage, ob auch bei anderen Infectionen Aehnliches zu beobachten 
ist. Eine lebhafte Discussion hierüber fand in der Soci6t6 de biologie 
am 30. Januar d. J. statt: 

Versuche von J. Nicolas (Lyon) an Diphtherie-Kindern, die theils 
mit, theils ohne Heilserum behandelt wurden, ergaben: Agglutinirende 
Wirkung kommt nicht zu dem Serum der nicht serotherapeutisch be¬ 
handelten Kinder. Ausserordentlich deutliche agglutinirende Wirkung 
hingegen (auf junge Culturen des Diphtheriebacillus) übt das Serum der 
serotherapeutisch behandelten Kinder aus. Die agglutinirende Reaction 
tritt auf am Tage nach der Heilserum-Injection; sie findet sich nicht 
mehr nach 6 Wochen. 

Arnoing sah deutlich agglutinirende Wirkung des Serums von 
Thieren, die pneumonie-immun gemacht waren, gegenüber den Culturen 
des Pneumobacillus. 

Widal berichtet über neuere Versuche, die ergaben, dass das 
Serum der Typhuskranken auch agglutinirend wirkt auf die Culturen von 
Typhusbacillcn, die durch Hitze oder chemische Agentien abgetödtet 
siud (Formol). 

Re non weist auf eine bereits von Widal erwähnte Fehlerquelle 
hin, die in der Anwendung nicht mehr ganz jnnger Culturen liegt. In 
mehrtägigen und selbst in eintägigen Culturen kommt cs leicht znr spon¬ 
tanen Entwickelung von Anhäufungen (pseudo-amas), die den charaktc- 


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No. 8. 


UEUMXKll KLINISCHE WOCHKKscHUlET. 


17 »> 


ristischen Haufen sehr ähnlich sind, und infolgedessen zu diagnostischen 
Irrthümern — wie in einem Falle von R. — führen können. Es i*«t 
daher unbedingt erforderlich, stets die zu verwendende Oultur mikro¬ 
skopisch zu untersuchen, bevor man das suspecte Serum hinzufügt. 


„Ausnahme von der Widal'schen Regel.“ (Societe medi¬ 
cal e des llopitaux, 22. Januar 1897.) 

Ferrand kommt auf den bereits mitgetheilten Fall (vgl. vor. 
Nummer) zurück und erwähnt die Mittheilung eines Österreich. Autors, 
der über deutliche Widal-Reaction bei einer Meningitis tuber- 
culosa (durch Autopsie bestätigt) berichtet. Wenn Widal in seinem 
(F.'s) Falle einen Controlversuch vermisse mit einer der Leiche ent¬ 
nommenen, in der erforderlichen Weise flltrirten, serösen Flüssigkeit, so 
büsse ja bekanntlich ein solches Filtrat die agglutinirende Wirkung ganz 
oder theilweise ein. 

Widal behält sich vor, auf den von F. angezogenen Fall (Mening. 
tuberc.) an anderer Stelle einzugehen. Da das Filtrat z. B. von peri- 
cardialem Serum die agglutinirende Kraft, wenn auch in vermindertem 
Maasse, doch jedenfalls bewahre, so hätte F. in seinem eigenen Falle 
den Controlversuch bei der Autopsie durchaus nicht unterlassen dürfen. 


Therapeatisehei and Inlaxieatianea. 

W. Schattenmann (Städt. Krankenhaus Frankfurt a. M., 
Dermatol. Abth. Jlerxheimer) erprobte das neue Antisepticum 
Tranmatol mit gleich günstigem Resultate, wie zuvor bereits einige 
chirurgische und ophthalmologische Beobachter (Bilhaut, Picque und 
Pürier, Berger). Von Sch.’s 178 Fällen wurden 75 ausschliesslich 
mit Tr. behandelt. Darunter waren 9 Ulcera mollia, 29 syphilitische Er¬ 
krankungen aller Stadien, 21 Hauterkrankungen (Balanitis, Intertrigo, 
Ekzeme), 16 Fälle chirurgischer Natur. Angewandt wurde das Mittel 
als reines Pulver, als Gaze, Vaselin, Glycerin, Crayon, besonders oft als 
Collodium, ferner als 5—lOproc. Tr.-Zinkpaste, lOproc. Tr.-Lanolin- 
Vaselin und 10—öOproc. Tr.-Chloroform. „Wegen seiner Geruchlosig¬ 
keit, seiner Ungiftigkeit, der Reizlosigkeit und wegen seiner guten anti¬ 
septischen Eigenschaften verdient das Traumatol in den Arzneischatz 
aufgenommen zu werden und als Ersatzmittel ähnlicher Präparate Ver¬ 
wendung zu finden.“ (Therap. Monatshefte No. 2, 1897.) 

Lcpine berichtet, im Anschluss an frühere Mittheilungen, über 
weitere Versuche mit Pyramidon. Die Giftigkeit des Mittels ist 
grösser als die des Antipyrins. Intravenöse P.-Injection tüdtet 
einen Hund bereits in einer Dosis von 0,001 auf 1 kgr Thier 
(respiratorische Lähmung). (SociiMö nationale de Mcdecine de 
Lyon, 25. Jan. 97.) 


W. W. King berichtet über einen Fall von tödtlichcr Carbol- 
säurevergiftnng. Exitus etwa l 1 /, Stunden nach der Aufnahme 
von ca. l‘/ t Unzen (= 45 gr) reiner Carbolsäure. (Pat., Potator, glaubte 
Spiritus vor sich zu haben.) K. hebt besonders das völlige Versagen 
des als Emeticum angewandten Apomorphins hervor. Trotz sofortiger 
zweimaliger subcctaner Injection (binnen 5 Minuten) von je 6 mgr 
Apom. mur. erfolgte kein Erbrechen. Den gleichen Misserfolg hatte K. 
früher bei einer ChloralVergiftung zu verzeichnen. (Kein Erbrechen trotz 
3 Injectionen von je 6 mgr Apom. mur.) 

K. hält das Apomorphin für ein unzuverlässiges und besonders 
bei neurotischen Vergiftungen, wenn ein stuporöser Zustand eingetreten, 
völlig werthloses Mittel. Er warnt davor, kostbare Zeit mit dem Ab¬ 
warten des emetischen Effectes zu verlieren. Vielmehr ist sofort 
eine Magenausspülung vorzunehmen, die oft nach kurzer Zeit in Folge 
tonischer Muskelstarre — wie im vorliegenden Falle — nicht mehr 
ausführbar ist. (Medical Record, 30. Jan. 97.) 

Syrup. Ipecacuanha nicht nur bei Kindern, sondern auch bei 
Erwachsenen empfiehlt A. Espagne (Nouveau Montpellier Medical 
No. 5, 1897). 

Das Mittel hat folgende Zusammensetzung: 

Extr. Ipecac. 10 gr 
Alkoh. (;\ 60) 80 „ 

Aqu. destill. 340 „ 

Sach, albi 630 „ 

Von diesem Syr. Ipec. sind für ein Kind von 3—6 Jahren als 
Brechmittel 20—30 gr zu verordnen (event. mit Zusatz von 0,1—0,15gr 
Plv. Ipecac.). 

E. empfiehlt ferner folgende expectorirende Mixtur: 

Syr. Ipecacuanli.8—10 gr 

Syr. de Tolu. 22—20 „ 

Kal. brom. I „ 

Alkoh. (Bongoüt) s. Rum (St. James) 20 „ 

Aqu. tiliae.ad 120 „ 

2 stündlich 1 Esslöffel. 

E. fand diese Mixtur wirksam bei der Bronchitis aller Altersklassen, 
insbesondere aber bei der Brochitis der Greise, die mit Be¬ 


klemmungen, Brustschmerzen und allgemeinem Kräfteverfall einhergeht. 
Erbrechen tritt nie ein, bisweilen ein geringer Grad von Nausea. der 
zur Erleichterung der Expectoration beiträgt. 

Bei Kindern vermindert man die Menge des Syr. Ipecac. bis anf 
5gr, die des Kal. brom. bis auf 0,5 gr, die Menge des Kums in ent¬ 
sprechender Weise. 

Um gleichzeitig diaphoretisch zu wirken, fügt man der Mixtnr 
einige Gramm Spirit. Minderer! bei. Lr. 


XI. Tagesgeschichtliche Notizen. 

Berlin, Seitens der deutschen Reichsregierung wird eine Expedition 
zur Erforschung der Pest nach Bombay dirigirt. Herr Prof. Pfeiffer 
vom Institut für Infectionskrankheiten, Prof. Gaffky and Dr. Sticker 
aus Giessen, Dr. Dieudonnö vom kaiserl. Gesundheitsamt gehen von 
Berlin aus am 19. d. M. mit weitgehenden Vollmachten auf unbestimmte 
Dauer direct dorthin; Robert Koch wird sich, nach Abschluss seiner 
Aufgaben in Südafrika, möglicherweise mit ihnen vereinigen. Zweck 
der Expedition ist eine möglichst weitgehende Erforschung des biologi¬ 
schen Charactcrs des Pestbacillus, sowie der Epidemiologie der Pest 
speciell auch der Immunisirung mit dem Yersin’schen Serum. — Die 
internationale Pestconferenz ist am 15. d. M. in Venedig zusammengetreteo. 

— In der letzten Sitzung der Berliner me dicini a eben Ge¬ 
sellschaft landen Demonstrationen der Herren Bidder, Behrend and 
Abel statt. In der Tagesordnung hielt Herr Albu den angekündigten 
Vortrag über die Einwirkung des sportlichen Radfahrens auf Herz and 
Nieren; an der Discussion betheiligten sich die Herren R. Virchow. 
Mackenrodt, 0. Rosenthal und P. Abraham. 

— Herr Prof. Dr. Wern icke in Marburg ist zum Extraordinarius 
daselbst ernannt. 

— Der Director der Ohren- und Kehlkopfklinik in Rostock, Professor 
Körner, wurde zum ordentlichen Honorar-Professor befördert. 

— Ara Sonntag d. 21. d. M. feiert Herr Prof. Winternitz-Wien 
sein 40 jähriges Doctorjubiläum: die Hufeland’sche Gesellschaft zu Berlin 
lässt ihm zu diesem Tage eine kunstvoll ausgefübrte Adresse überreichen. 

— Der von Hermann Weber in London gestiftete „Weber- 
Parkes-Preis“ (150 Pfd. und eine Medaille) wird in diesem Jahr zam 
ersten Male zur Vertheilung kommen. Die Preisaufgabe lautet: „The 
raeans. prophylactic or curative, deemed by the author, to have valoe in 
the eontrol of tuberculosis, special regard being had to their applicatioo 
to human tuberculosis“. Aerzte aller Länder sind zur Bewerbung xu¬ 
gelassen, die Arbeiten müssen dem Royal College of Physicians bis zum 
1. Juni d. J. eingereicht sein. 


XII. Amtliche Mittheilungen. 

PerMnalia. 

Auszeichnungen: Rother Adler-Orden IV. Kl.: dem Stabsarzt 
a. D. Dr. Friedrich in Mainz, dem Sanitätsrath Kantonalarzt Bo¬ 
st etter in Brumath (Eisass). 

Persische goldene Medaille für Wissenschaft: dem Ge- 
sandtschaftsarzt bei der Gesandtschaft in Teheran Stabsarzt Dr. Oskar 
M u eller. 

Prädikat als Professor: den Privatdocenten in der medicini- 
schen Fakultät Dr. Klemperer und Dr. Rosenbeim in Berlin and 
dem Oberarzt am städt. Krankenhause Dr. Rehn in Frankfurt a. M. 

Ernennung: der prakt. Arzt Dr. Gottschalk in Liebenau zum Kreia- 
Physikus des Kreises Calan. 

Niederlassungen: die Aerzte Dr. Schlafke in Greifswald, Stro- 
mann in Jemgum, Tamm in Königsberg i. Pr., Dr. Goetz in Worm- 
ditt, Dr. Gälisch in Aschersleben, Dr. Bansi in Kolmar i. Pr., Dr. 
Fonrobert, Dr. Pickard und Dr. Arthur Heimann in Frank¬ 
furt a. M., Dr. Gruetter in Runkel, Dr. Kleinschmidt in Hoechst. 

Verzogen sind: nach Berlin: die Aerzte Dr. Glücksmann von 
Strassburg i. E., Dr. Josephsohn von Königsberg i. Pr., Mühsam 
von Zobten am Berge, Dr. Seegelken von Lesnm, Zondek von 
Brandenburg a. H.; Dr. Grabowski von Frankfurt a. M. nach Wies¬ 
baden, Dr. Petersen von Altona nach Frankfurt a. M., Kien von 
Allendorf nach Klein-Schwalbach, Dr. Nonnig von Giebichenstein 
nach Wiesbaden, Dr. Apfelstedt von Wiesbaden. Dr. Runge von 
8tettin nach Königsberg i. Pr., 8prunk von Insterburg nach Königs¬ 
berg i. Pr., Kranz von Königsberg i. Pr. nach Marienbnrg, Dr. 
Lehnerdt von Königsberg i. Pr. nach Bladiau, Dr. Flach von Carls- 
hof bei Rastenburg nach Suderode, Dr. Schober von Insterburg nach 
Tapiau, Dr. Gatzen von Garzweiler nach Birkesdorf bei Dueren, 
Dr. Flatau von Wangerin nach Berlin, Dr. Jacobi von Schildberg 
nach Wangerin. 

Gestorben sind: die Aerzte Dr. Wilhelms in Dueren, Dr. Rohn in 
Mohrungen, Kreis-Physikus a. D. Sanitätsrath Dr. Ziehe in Gerdauen. 
Dr. Schuetz in Uchtspringe, Geheimer Sanitätsrath Dr. Diester¬ 
weg in Wiesbaden. 


Für die Redactlon verantwortlich Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald, Lütaowplaü S. 


Verlag und Eigenthum von August Ilirscbwald in Berlin. — Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin. 


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BERLINER 


Die Berliner Klinische Wochenschrift erscheint jeden 
Montag ln der Sttrke von J bis S Bogen gr. 4. — 
Preis vierteljährlich 6 Mark. Bestellungen nehmen 
alle Buchhandlungen und Postanstalten an. 


Rinsendungen wolle man portofrei an die Redartion 
(W. LQtsowplats No. 5 ptr.) oder an die Verlags¬ 
buchhandlung von August Hlrschuald In Berlin 
N.W. Unter den Linden No. 68. adressireu. 



Organ für practische Aerzte. 


Mit Berücksichtigung der preussischen Medicinalverwaltung und Medicinalgesetzgebung 

nach amtlichen Mittheilungen. 


Redact io n: 

Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald und Prof. Dr. C. Posner. 


Expedition: 

August Hirschwald, Verlagsbuchhandlung in Berlin. 


Montag, den 1. März 1897. 


M 9 . 


Vierunddreissigster Jahrgang. 


INHALT. 


I. Fr. Schultze: Tetanie und Psychose. 

II. M. Kirchner: Die Bekämpfung der Körnerkrankheit (Trachom) 
in Preussen. 

III. A. Loewy und P. F. Richter: Die Heilkraft des Fiebers. 

IV. 0. Israel: lieber den Tod der Zelle. (Schluss.) 

V. Kritiken und Referate. Hildebrandt: Jahresbericht über 
die Fortschritte auf dem Gebiete der Chirurgie. (Ref. Körte.) — 
Däiber: Mikroskopie der Harnsedimente; Gyorkovechky: Pa¬ 
thologie und Therapie der männlichen Impotenz. (Ref. Posner.) 
— Schenk: Embryologie; Hertwig: Entwickelungsgeschichte; 
Bergh: Allgemeine Embryologie. 

VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Berliner me- 
dicinische Gesellschaft. Bidder: Doppelfehlgeburt. Behrend: 
Syphilis. Albu: Die Wirkungen körperlicher Ueberanstrengungen 


I. Tetanie und Psychose. 

Von 

Prof. Dr. Fr. Schnitze, 

Dircctor der med. Klinik und Poliklinik in Bonn. 

Beziehungen zwischen echter Tetanie und Psychosen sind 
in unanfechtbarer Weise zuerst von v. Frankl-Hoch wart in 
Wien aufgedeckt worden. Er sah in drei Fällen im Verlaufe 
der Tetanie und zwar mit der Stärke derselben auf- und ab- 
schwellend Erregungszustände mit Angstgefühlen und „hallu- 
cinatorischer Verworrenheit“. Zuerst kamen gewöhnlich 
die typischen Krämpfe und alsdann die starken psychischen 
Verkehrtheiten, welche die Aufnahme in die psychiatrische Klinik 
nothwendig machte. Einer solcher Kranken schrie fortwährend, 
zertrümmerte Scheiben, behauptete vor dem Arzte kniend, beim 
Herrgott zu sein, tanzte dann wieder singend herum, starrte eine 
zeitlang ins Weite und verfiel dann von neuem in Unruhe. Auch 
bei anderen Kranken mit Tetanie sah v. Frankl-Hochwart 
Erregnngs- und Verstimmongszustände, in einem Falle trat bei 
jahrelangem Bestehen der Tetanie Characterveränderung auf, so 
dass die Erkrankte, eine verheirathete Frau, streitsüchtig wurde 
und ihrem Manne sogar aus geringfügiger Veranlassung ein Messer 
nachwarf. (v. Frankl-Hochwart: „Die Tetanie“. 1891, 
S. 70—74.) Sodann hat Hochhaus in Kiel vor kurzem Uber 
einen Fall berichtet, der allerdings mit Epilepsie, Syringomyelie 
and Neuritis optica, also zum Theile mit groben anatomischen 
Veränderangen complicirt war. Ausser gelegentlicher Benommen¬ 
heit nach epileptischen Anfüllen war Unruhe, Aufgeregtheit, 
Bettflucht vorhanden; die Kranke schlug um sich, glaubte, man 
wolle sie vergiften und verweigerte die Nahrung. Dieser Zustand 
dauerte anfallsweise, mit immer seltener werdenden freien Inter¬ 
vallen etwa 4 Wochen hindurch, bis zu dem plötzlich eintreten¬ 


beim Radfahren. — Hufeland'sche Gesellschaft. Loewy: Die 
Heilkraft des Fiebers. — Verein für innere Medicin. Ben da: 
Das primäre Careinom der Pleura. Bernhard: Schrumpfnieren 
im Kindesalter. — Gesellschaft für Geburtshülfe und Gynäkologie 
zu Berlin. Spener, Bröse, Emanuel, Müllerheim: De¬ 
monstrationen. Fliess: Dysmenorrhoe und Wehenschmerz. — 
Aerztlicher Verein zu München. Sendtner: Krankenstuhl. La¬ 
ll usen: Lähmung durch Blitzschlag, v. Ziemssen: Volksheil¬ 
stätte in Planegg. Seitz: Errichtung einer bacteriologischen 
Centralstation. — Physikalisch-medicinische Gesellschaft zu Würz¬ 
burg. Hoffa: Intra partum erworbene Unterschenkelfractur. 

VII. G. Meyer: Ein Verband- und Instrumentenkasten für Aerzte. 

VIII. Praktische Notizen. 

IX. Tagesgeschichtliche Notizen. — X. Amtliche Mittheilungen. 


den Tode an; sowohl epileptische Krämpfe, als Tctanieanfälle 
bestanden während der ganzen Zeit. 

Ich selbst sah ebenfalls einen Kranken, welcher zugleich an 
Dipsomanie, epileptischen Insulten und an Tetanie litt, über 
welchen ich bereits in der Deutschen Zeitschrift für Nervenheil¬ 
kunde berichtet habe (Bd. VII, S. 992 ft'.). Auch dieser Kranke 
litt zeitweilig während des Bestehens von Tetanie an starker 
hallucinatorischer Verworrenheit, so dass er aus der hiesigen 
medicinischen Klinik in die Provinziai-Irrenanstalt hierselbst 
verbracht werden musste. Ausserdem waren auch früher melan¬ 
cholische Zustände mit Selbstmordversuchen vorhanden gewesen. 
Im Laufe dieses Jahres beobachtete ich nun einen weiteren Fall 
von Tetanie bei einem 16jährigen Mädchen aus Bonn, bei 
welchem sich unter unseren Augen während des Zunehmens der 
Tetanie acute psychische Erregungszustände entwickelten. 

Das junge Mädchen stammte aus nervengesunder Familie, soweit in 
Erfahrung gebracht werden konnte. Wenigstens sind die Eltern am 
Leben nnd gesund. Das Kind selbst ging bei normaler körperlicher 
Entwickelung mit dem 6. Lebensjahre zur Schule und hat die Schule 
bis auf kurze Unterbrechungen durch unbekannte leichte Krankheits- 
zostände bis zum 14. Lebensjahr regelmässig besucht. Sie scheint aber 
von früh an in mässigem Grade schwachsinnig gewesen zu sein. Später 
hat sie dann nur Stundenarbeit gethan und leichten Dienst gehabt. 

Schon seit einem Jahre vor ihrer am 30. Januar 1896 erfolgten 
Aufnahme in die medicinische Klinik bemerkte die Kranke schmerz¬ 
hafte, anfallsweise auftretende Beugungen der Hände, Unterarme. 
Füsse und Zehen. Diese Krampfzustände haben seit der Weihnachtszeit 
an Stärke und Häufigkeit zugeuommen; besonders in den letzten Tagen. 

Die Untersuchung ergab gracilen Körperbau, leichte, aber deut¬ 
liche Struma, und den gewöhnlichen Befund einer ausgeprägten 
Tetanie: Stark erhöhte mechanische Erregbarkeit der Facialis- 
zweige beim Beklopfen und beim Bestreichen der seitlichen Gesiehts- 
gegend; ebenso mechanische Uebererregbarkeit der N. radiales, ulnares 
und peronei. Beklopfen des Muse, frontales zeigt wie gewöhnlich keine 
Erregbarkeitssteigerung der Musculatur ')• Der Muskel ist im Gegenthcil 

1) In neueren Arbeiten über Tetanie findet eich immer häufiger die 
Angabe, dass eine Erhöhung der direkten Muskelerregbarkeit etwas Ge¬ 
wöhnliches oder gar Charakteristisches für die Tetanie sei (z. B. hei 


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178 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


sehr schwach erregbar. Trousseau’sches Phänomen deutlich vorhanden. 
Starke Erhöhung der elektrischen Erregbarkeit. In den ersten Wochen 
ihres Aufenthaltes in der Klinik fast täglich spontan eintretende schmerz¬ 
hafte typische Krämpfe. Dagegen fehlen deutliche Krämpfe bei starken 
gewollten Muskelzusammenziehungen, z. B. beim Faustschluss. Auch 
längeres Offenhalten des Mundes ohne Krampferscheinungen in den 
mundöffnenden Muskeln; ebenso wenig tritt beim Augenschluss, der 
allerdings nur wenig kräftig ausgeführt wird, tonischer Krampf des Or- 
bicularis palpebrarum auf. Die Sensibilität zeigt, soweit sich das 
bei dem eigentümlichen psychischen Verhalten der Kranken feststellen 
liess, keine wesentlichen Veränderungen. Die Patellarreflexe sind bald 
normal, bald schwächer; Achillessehnenreflexe vorhanden, dagegen fehlen 
Radius- und Tricepsreflex. Die Fusssohlenreflexe beiderseits lebhaft; 
Bauchdeckenreflexe normal; ebenso der Rachenreflex. Der Magen zeigte 
zuerst leichte Störungen seiner Motilität und Herabsetzung der Acidität; 
später besserte sich das. Ectasie und Ulcus nicht nachweisbar. Ver¬ 
dauung gut; im Allgemeinen gute Zunahme des Körpergewichtes. Die 
Stuhlentleerungen enthielten im Anfänge etwas Schleimbeiraengungen, 
aber keine Parasiten oder Parasiteneier. 

Auffallend war das psychische Verhalten der Kranken. 8ie 
zeigte zuerst ein mehr scheues Wesen, begreift nur langsam, was man 
von ihr will, entsprechend ihrer geringeren Intelligenz, wurde dann aber 
später kindisch ungezogen gegen ihre Umgebung. Sie wehrt sich gegen 
Kämmen und Waschen, kratzt und beisst ihre Mitpatienten, lacht ohne 
besonderen Qrund, läuft im Zimmer herum, stört fortdauernd. Schliess¬ 
lich wird sie so aufgeregt und unerträglich, dass Ende Mai die Ueber- 
führung in die Provinzial-Irrenanstalt hierselbst nothwendig wurde. Dort 
blieb sie vom 80. Mai bis zum 81. Juli 1896 und bot im Wesentlichen 
das Bild einer leichten maniakalischen Erregung. Herrn Collegen 
Ernst Schnitze verdanke ich über den Aufenthalt der Kranken in der 
Irrenanstalt folgende Notizen: Sie lachte ohne äusseren Anlass häutig 
ganz plötzlich laut los, schnellte beim Aufbören dieses fast krampf¬ 
artigen Lachens mit ihrem Körper nach hinten oder nach einer Seite, 
war stets vergnügt und heiter, mit allem zufrieden, verlangte wenig nach 
Hause, zeigte keine Lust zur Arbeit und fand alles, was sich in ihrer 
Umgebung ereignete, höchst komisch und lächerlich. Im Laufe des 
Monats Juli beruhigte sie sich, war vorübergehend sogar sehr still, ar¬ 
beitete fleissig, schrieb geordnete Briefe nach Hause, nahm körperlich 
za und konnte an dem genannten Termine wieder nach Hause entlassen 
werden. 

Nach ihrer Entlassung aus der Irrenanstalt war das psychische Ver¬ 
halten wechselnd; zeitweise besteht starke Erregung, zu anderen Zeiten 
beschäftigt sich die Kranke leidlich fleissig im Haushalte bei ihrer 
Mutter. In der Kleidung ist sie sehr lüderlich, wäscht sich nar ge¬ 
zwungen, ist aber in Bezug auf Stuhl- und Harnentleerung reinlich. Das 
geistige Verhalten ist dasselbe wie nach der Entlassung aus der psychia¬ 
trischen Klinik. Spontane Krämpfe bestehen nicht mehr; die Uebererreg- 
barkeit des Facialis ist noch vorhanden, aber nicht mehr so stark als 
früher; das Trousseau’sche Phänomen konnte nicht mehr deutlich er¬ 
zeugt werden. 

Elie ich zur Besprechung des etwaigen Zusammenhanges 
der beiden krankhaften Symptomenbilder, der Tetanie einerseits 
und der psychischen Störung andererseits übergehe, muss noch 
erwähnt werden, dass es sich hier um die gleiche Kranke han¬ 
delt, bei welcher ich Versuche mit der Anwendung von Jod¬ 
kalium, Thyreoidin und Jodothyrin (Thyrojodin) anstellte und 
Uber welche ich auf dem Congresse für innere Medicin 1896 in 
der Discussion Uber die therapeutische Anwendung der Schild- 
drUsenpräparate berichtete (Verh. des Congresses S. 151). Es 
hatte weder das Jodkalium noch das Thyreoidin einen irgendwie 
erkennbaren Einfluss auf die Tetanie, dagegen trat nach der 
Darreichung des Thyrojodin (Baumann) eine Steigerung der 
Krampfzustände ein, die sich gelegentlich mit Bewusstlosig¬ 
keit und mit Reactionslosigkeit der Pupillen verbanden. Zu 
der Verschlimmerung der Tetanie gesellte sich eine erhebliche 
Herabsetzung des Körpergewichtes, welche 8 Tage nach dem 


Sarbo, von welchem die Steigerung der mechanischen Muskelerregbar¬ 
keit gar „Erb-Symptom“ genannt wird, Deutsche Zeitschr. f. Nerven¬ 
heilkunde, Bd. VIII, S. 243). Es ist das nicht richtig. Prüft man 
besonders an dem Nervenast für den Muse, frontalis und am M. frontalis 
selbst die mechanische Erregbarkeit, so findet man diejenige des Facialis- 
astes erhöht, diejenige des breit dem Knochen aufliegenden Muskels 
normal. Wenn man an anderen Muskeln diese Verhältnisse untersucht, 
so ist der Unterschied zwischen der erhöhten Nervenerregbarkeit und 
derjenigen des Muskels undeutlicher, weil man schwieriger vermeiden 
kann, zugleich grössere Nervenäste bei der Beklopfung der Muskeln 
mitzutreffen. 


No. 0. 

Weglassen des Mittels zum grossen Theile wieder ausgeglichen 
wurde. Wir gaben dann noch einmal eine Woche lang Thy¬ 
reoidin (Merk) ohne sichtbare Beeinflussung der Tetanie und 
des Gesammtzustandes. Einige Tage nachher traten dann aber 
einerseits die geschilderten Zustände von maniakalischer Er¬ 
regung hervor, und zwar zunächst das laute unmotivirte Lachen, 
andererseits Krämpfe, die jetzt als hysterisch aufgefasst werden 
mussten. Die Kranke wirft sich wild umher, macht unregel¬ 
mässige Zuckungen, liegt in der Stellung des Are en cercle da 
u. 8. w. Dabei war aber das Bewusstsein und die Lichtreaction 
der Pupillen erhalten. 

In den nächsten Tagen läuft sie ganz unsinnig durch die 
Krankensäle und in die Privatzimmer, oder singt bei dem 
Herumlaufen fortdauernd und lässt sich durch kein Zureden in 
ihrem Treiben stören. Zwischendurch kamen in diesen Tagen 
auch wieder eigentliche Tetanieanfälle vor, aber seltener als zur 
Zeit der Thyrojodindarreichung oder vorher; auch das Facialis- 
phänomen, welches merkwürdigerweise bald nach der Einverlei¬ 
bung des Mittels völlig verschwunden war, ist schwächer ge¬ 
worden. Das Trousseau’sche Phänomen tritt 1—2 Minuten 
nach dem Beginne des Druckes auf die Art. brachiales ein. Die 
schweren hysterischen Anfälle verschwanden. Durch die Dar¬ 
reichung von Brom, Opium oder Sulfonal wurde zeitweilige Be¬ 
ruhigung erzielt; indessen blieb die maniakalische Erregung im 
Ganzen doch eine solche, dass ein Zusammensein mit anderen 
Kranken, die sie fortdauernd störte, unmöglich und die L'eber- 
fUhrung in die Irrenanstalt Ende Mai nothwendig wurde. 

Was nun die Beziehungen dieser und ähnlicher Psychosen 
zu der Tetanie betrifft, so kann man der Meinung sein, dass es 
sich um ein bloss' zufälliges Zusammentreffen beider Zustände 
handelt, oder man kann glauben, dass die Tetanie gleich anderen 
Erkrankungen nur eine Gelegenheitsursache für den Ausbruch 
der Psychose darstelle, oder endlich m^n kann annehmen, dass 
ein engerer Zusammenhang in der Art bestehe, dass die eigent¬ 
liche Ursache für die Tetanie zugleich die Ursache liir die 
Psychose sei. Die Möglichkeit, dass umgekehrt durch die 
Psychose eine Tetanie herbeigefUhrt werde, kann als ausge¬ 
schlossen gelten. Gegen die erstgenannte Annahme spricht vor¬ 
nehmlich der Umstand, dass in den bisher mitgetheilten Fällen 
nicht jede beliebige Art von psychischer Störung sich mit der 
Tetanie verband, sondern dass es sich im Wesentlichen stets 
um Erregungszustände abnormer Art dabei handelte, also 
um Manie oder Hallucinationen oder hallucinatorische Verwor¬ 
renheit, nicht aber um vorwiegende oder von vornherein ein¬ 
tretende Depressionen und Melancholien, wenn auch gelegentlich 
nach dem Ablaufe der Erregungszustände, gewissermaassen als 
Keaction auf dieselben, solche Verstimmungszustände und Er¬ 
müdungen sich vorübergehend einfanden. Es waren somit ganz 
entsprechend dem Wesen der Tetanie, das doch in dauernden 
Erregbarkeitssteigerungen innerhalb gewisser motorischer und 
sensibler Neurone zu suchen ist, auch zugleich Erregbarkeits¬ 
steigerungen in denjenigen Theilen der Nervensubstanz vorhan¬ 
den, welche in erster Linie den psychischen Functionen dienen. 
Wir wissen ja nun freilich nicht, welche Ursachen dieser Erreg¬ 
barkeitserhöhung zu Grunde liegen, sogar nicht einmal mit Be¬ 
stimmtheit, ob es sich um eine einzige oder ob um mehrere 
handelt. Aber darüber ist Einigung vorhanden, dass es sich 
um Einwirkung gewisser chemischer Substanzen auf das Nerven¬ 
system handelt, mögen sich diese nun bei abnormer Schild- 
drUsenthätigkeit entwickeln, wie in vielen Fällen, oder sonstwie 
im Körper entstehen. Es ist darum eine recht plausible 
Annahme, dass in schweren Fällen von Tetanie und besonders 
auch bei Disponirten, wie in unserem Falle, das schädigende 
chemische Agens einmal ausser den gewöhnlich betroffenen 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


170 


_1. Mürz 1897. 

melir peripheren Neuronen fUr Motilität, Sensibilität und höhere 
Sinnesorgane auch die centralen und centralsten treffen kann. 

Diese Annahme erhält dadurch eine weitere starke Stütze, 
dass sich in den bisher beobachteten Fällen stets zuerst die 
Tetanie einstellte und dann erst die psychische Erregung nach¬ 
folgte, und dass weiterhin sich mit dem Nachlassen der ersteren 
Erkrankung auch eine Verringerung und ein Auf hören der letz¬ 
teren verband. Eine solche Verknüpfung der Erscheinungen 
kann nicht auf einem Zufalle beruhen. 

Für unseren Fall kommt noch hinzu, dass gerade nach der 
Einführung der als specifisch angesehenen chemischen Substanz 
der Schilddrüse, nämlich des Thyrojodin, bei einer ohnehin mit 
massiger Struma behafteten Person, sowohl eine Steigerung der 
Krämpfe, als auch eine pathologische Erregbarkeitssteigerung 
innerhalb gewisser, mit den psychischen Functionen in näherer 
Verbindung stehender Gehirntheile eintrat, die letztere Verände¬ 
rung allerdings später als die erstere. 

Schliesslich sei daran erinnert, dass auch bei einer anderen 
vom Gehirne ausgehenden Krampferkrankung, nämlich bei der 
Epilepsie, welche z. B. bei Urämie sicher durch abnorme 
chemische Vorgänge in den Säften und im Gehirn hervorgebracht 
wird, Erhöhungen der mechanischen Erregbarkeit peripherer 
Nerven Vorkommen, wenn auch keine eigentlichen Tetaniekrämpfe 
entstehen, und dass weiterhin sich zur eigentlichen Tetanie gar 
nicht so selten echte epileptische Anfälle hinzugesellen, wie 
ich das aus eigener Erfahrung bestätigen konnte. 

Auch in unserem Falle waren ausser den später eingetre¬ 
tenen hysterischen Anfällen zur Zeit der schwersten Erkrankung 
an Tetanie und an Psychose epileptische, oder wenn man lieber 
will, eclamptische Anfälle vorhanden gewesen, die sich später 
nicht wiederholten. Warum freilich in einem Theile der Fälle 
von Tetanie Eclampsie entsteht, in dem anderen viel geringeren 
Theile dagegen psychische Erregungszustände der geschilderten 
Art, entzieht sich noch der näheren Erkenntniss. 

Jedenfalls wird man aber, ganz ähnlich, wie das bereits 
bei der Chorea minor und dem Morbus Basedowii geschehen ist, 
auch der Untersuchung auf psychische Veränderungen bei der 
Tetanie, und zwar besonders bei den schweren Fällen dieser 
Erkrankung grössere Aufmerksamkeit schenken müssen und nicht 
gut von der Anschauung ausgehen können, dass es sich dabei 
um ein zufälliges Accidens handelt. 


II. Die Bekämpfung der Körnerkrankheit 
(Trachom) in Preussen. 

Von 

Oberstabsarzt Professor Dr. M. Kirchner in Berlin. 

(Vortrag, gehalten in der Berliner medicinischen Gesellschaft.) 

M. H.! Bei den grossen Volkskraukheiten, deren Bekämpfung 
die dankbare, aber zugleich schwierige Aufgabe der wissenschaft¬ 
lichen Hygiene und der öffentlichen Gesundheitspflege ist, denken 
wir in erster Linie an die grossen Volksseuchen, welche verheerend 
über unsere Länder dahinziehend, Tausende und Abertausende 
dahinraffen: an die Cholera, die in diesem Jahrhundert sechs 
grosse und verderbliche Wanderzüge angetreten hat; an die 
Pest, die namentlich im Mittelalter so grosse Verheerungen an¬ 
richtete, in neuerer Zeit schon fast vergessen war und für uns 
als Unschädlich angesehen wurde, jetzt aber aufs Neue mit 
drohendem Finger an unsere Pforten anpocht; an den Typhus, 
der jahraus, jahrein in grossen Districten unseres Vaterlandes 
seine Opfer fordert. — Schon weniger denken wir dabei an ge¬ 


wisse chrönische Krankheiten, obwohl sie gleicherweise ver¬ 
heerend wirken: z. B. den Aussatz, der noch immer über 
einen grossen Theil des Erdballs verbreitet ist; vor allem die 
Tuberculose, die schleichend jahraus, jahrein Hunderttausende 
von blühenden Menschenleben dahinrafft. Ganz und gar nicht 
aber pflegen wir bei den grossen Volkskrankheiten an solche 
Krankheiten zu denken, die still und gewissermaassen unbeob¬ 
achtet ihr Wesen treiben, zwar nicht gerade viel Menschenleben 
dahinraffen, aber doch deswegen grosse Bedeutung haben, weil 
sie die Erwerbsfähigkeit der Bevölkerung beeinträchtigen, das 
Leben und das Glück ganzer Familien zerstören, ja schliesslich 
die Wehrfähigkeit unseres Vaterlandes untergraben. Eine dieser 
Krankheiten, auf die ich mir erlauben möchte, Ihre Aufmerk¬ 
samkeit zu lenken, weil sie gerade in unserem engeren preussi- 
schen Vaterlande eine ausserordentlich unheilvolle Rolle spielt, 
ist die Körnerkrankheit oder Granulöse oder das Trachom 
oder die egyptische Augenkrankheit oder die Ophthal¬ 
mia militaris, wie man sie wohl noch in Erinnerung an frühere 
Zeiten, wo man sie hauptsächlich als einen Bewohner der Ka¬ 
sernen kannte, zu nennen gewohnt ist. Wir hier im Mittelpunkte 
Deutschlands wissen kaum, welche Verbreitung diese Krankheit 
in den östlichen Bezirken unseres Vaterlandes besitzt. Wir 
haben keine Ahnung davon, welche wirthschaftliche Bedeutung 
sie hat, ja, welche Verheerungen sie in jenen Gegenden an¬ 
richtet. Die Gegenden, um die es sich hauptsächlich handelt, 
sind die östlichen Provinzen, namentlich Ostpreussen, West- 
preussen, Posen, Oberschlesien; dann auch einzelne Gebiete im 
mittleren und westlichen Theile unseres Vaterlandes, z. B. am 
Rhein und im Eichsfelde. Hier allerdings tritt die Krankheit 
zurück gegenüber der ungeahnt grossen, ja colossalen Ausdeh¬ 
nung, welche sie in den östlichen Provinzen erlangt hat. 

Ueber die Geschichte dieser Krankheit will ich mich kurz 
fassen, Weil ich hoffe, dass von berufener Seite Ihnen hierüber 
Genaueres mitgetheilt werden wird. Es ist Ihnen gewiss be¬ 
kannt, dass die Krankheit schon lange in Europa geherrscht, 
eine stärkere Verbreitung aber erst seit Ende des vorigen Jahr¬ 
hunderts gefunden hat. Man bezeichnet das Jahr 1798 gewisser¬ 
maassen als den Ausgangspunkt dieser trachomreicheren Epoche; 
damals wurde die französische Armee unter Bonaparte in Egypten 
von der Krankheit derart befallen, dass die ganze 32 000 Mann 
starke Armee fast völlig durchseucht wurde. Es ist Ihnen wohl 
weiter bekannt, dass diese Krankheit sich von den Franzosen 
auf ihre Gegner, die Engländer, und auf ihre Verbündeten, die 
Italiener, verbreitete. Diese Armeen brachten die Krankheit mit 
sich in ihre Heimathländer, die Engländer nach Malta, Genua, 
Gibraltar, nach England selbst, die Italiener nach Sicilien, Elba, 
Vicenza, Padua, Parma, Reggio, Mantua und verschiedenen an¬ 
deren Orten Italiens. Die Krankheit begann 1808 in Spanien, 
im zweiten Decennium unseres Jahrhunderts sich in Deutschland 
zu verbreiten, erzeugte Epidemien 1813 im York’schen Corps, 
1814 in Holland und Belgien, 1818 in Mainz, erschien bald in 
Russland in grosser Ausdehnung, 1823 in Kronstadt, 1832 in 
Petersburg. Wir dürfen wohl sagen, dass seit den 40 er bis 
50er Jahren dieses Jahrhunderts die Krankheit in dem grössten 
Theile unseres europäischen Continents verbreitet war. Seit der 
Mitte des Jahrhunderts ging die Krankheit dann unter Umstän¬ 
den, die nicht näher zu eruiren sind, wieder zurück; beschränkte 
sich immer mehr auf bestimmte Herde, welche sich namentlich 
in Russland, Belgien, Ungarn und dem Osten unseres preussi- 
schen Vaterlandes befinden. 

Für die Verbreitung der Krankheit in der Civilbevölkerung 
giebt einen guten Anhalt das, was wir in den statistischen Sa¬ 
nitätsberichten des preussischen Heeres finden. Nimmt man den 
Durchschnitt der Fälle von contagiöser Augenkrankheit, welche 

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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 9. 


180 

in der preussischen und der deutschen Armee jährlich im Zeit¬ 
raum von 1873—1889 vorgekommen sind, so haben wir, auf 
100 000 der Iststärke berechnet, im I. Armeecorps, also in 
Preussen, 20!»9 Fälle, im II. Armeecorps in Pommern 1649, im 
V. Armeecorps in Posen 1031, im VI. Armeecorps in Schlesien 
750, im X. Armeecorps in Hannover 368, im IX. Armeecorps 
in Schleswig-Holstein 245, im XIV. Armeecorps in Baden 234, 
im III. Armeecorps in Brandenburg 204; die anderen Armee¬ 
corps sind erheblich weniger betheiligt. Ich will nur einige 
Zahlen herausgreifen: im XI. Armeecorps, Hessen-Nassau, 153, 
im XV. Armeecorps, Reichslande, 117; Bayern, Württemberg, 
Sachsen sind fast vollkommen frei. Sie sehen also, auch die 
Statistik unserer Armee ergiebt, dass die Krankheit hauptsäch¬ 
lich verbreitet ist in Ostpreussen, Posen, Westpreussen, Ober- 
schlesicn und dann auch im Eichsfelde. 

Die General-Sanitätsberichte der Regierungs-Medicinalräthe 
gewähren uns auch einen werthvollen Blick in die Verbreitung, 
welche die Granulöse in den einzelnen Provinzen annimmt. Es 
ergiebt sich aus diesen Berichten, dass die Krankheit in den 
befallenen Provinzen nicht gleichmässig vorkommt; es sind nicht 
immer dieselben Kreise, welche Jahr ftlr Jahr befallen werden; 
in dem einen Jahr trat dieser, in dem anderen Jahr jener Kreis 
stärker hervor. Im Allgemeinen aber gewinnt man den Ein¬ 
druck. dass die Krankheit ziemlich gleichmässig über die ganze 
Provinz verbreitet ist und sich nur hier und da stärker bemerk¬ 
bar macht durch Verhältnisse, auf die ich gleich näher eingehen 
werde. Die Kreise, die am stärksten befallen sind, sind in Ost¬ 
preussen Johannisburg, Sensburg, Insterburg, Pillkallen, Lyck, 
Tilsit, Heydekrug, Ragnit; in Westpreussen Könitz, Strasburg; 
in Schlesien Regierungsbezirk Oppeln; in Posen, wo die Krank¬ 
heit beinahe ebenso verbreitet zu sein scheint, wie in Ost- und 
Westpreussen, namentlich die Kreise Neutomischel, Jarotschin, 
PosemOst, Kosten und Schildburg. Es sind also namentlich 
diejenigen Theile unseres engeren Vaterlandes, welche an die 
Nachbarländer Russland und Oesterreich-Ungarn grenzen. Das 
ist kein Zufall. Wir wissen aus den Berichten unserer Consuln, 
dass auch in Russland das Trachom ganz ausserordentlich ver¬ 
breitet ist, und neuere Untersuchungen haben ergeben, dass in 
Ungarn vier grosse Trachomherde vorhanden sind, auf die ich 
später mir noch erlauben werde zurückzukommen. 

In der Armee hat das Trachom in den letzten Jahren eine 
auffallende Abnahme erfahren. Hatten wir noch im Jahre 1867 
von 100 OCX) der Kopfstärke durchschnittlich 3230 Fälle, so 
haben wir im Jahre 1888 89 nur noch 200 gehabt, also eine 
Abnahme, die wirklich ausserordentlich ist und der Heeres¬ 
verwaltung zur Ehre gereicht. Man darf hieraus aber nicht 
schliessen, dass die Krankheit auch in der Civilbevülkerung ab¬ 
genommen hat; es ist leider das Gegentheil der Fall gewesen, 
und die Gründe dafür werde ich gleich besprechen. 

Man fragt sich unwillkürlich, wie ist es möglich, dass heut¬ 
zutage, wo so viel auf Gesundheitspflege gegeben wird, wo die 
ärztliche Kunst sich immer weiter vervollkommnet hat, eine 
derartige Krankheit, die ja gewissermaassen offen zu Tage liegt, 
die man nur anzugreifen braucht, um sie zu beseitigen, immer 
noch eine derartige Verbreitung haben kann? Die Gründe dafür 
sind verschiedener und iu erster Linie wirthschaftlicher Art. Es 
kann keinem Zweifel unterliegen, dass unsere östlichen Provinzen 
sich in einer traurigen wirtschaftlichen Lage befinden. Nir¬ 
gendwo ist der durchschnittliche Erwerb der Bevölkerung ein 
so geringer, nirgendwo walten so unhygienische Verhältnisse in 
Bezug auf Wohnung, Kleidung, Ernährung, persönliche Sauber¬ 
keit u. s. w. ob, wie in Ostpreussen und Posen. In den meisten 
Ortschaften — das geht zur Genüge aus den Berichten der 
Medicinalbcamten hervor — finden wir niedrige Hütten mit 


einem Fussboden aus Lehmschlag, mit kleinen und niedriger 
Fenstern, mit Betten, die der Zahl der Bewohner nicht ent 
sprechen — Familien von 10—12 Köpfen drängen sich vielfact 
in 2—3 Betten zusammen ohne Unterschied des Geschlechtes 
auf Reinlichkeit wird wenig gegeben; der Besitz eines eigener 
Handtuches, einer eigenen Waschschüssel für jedes Familiengliec 
bildet die Ausnahme, ein regelmässiges Waschen ist nicht üblich 
— Verhältnisse, wie man sie sich kaum geeigneter denken kann 
um einen Ansteckungskeim, der in diese engen Hütten hinein 
getragen wird, zu conserviren und weiter zu übertragen. Vor 
Denjenigen, welche jene Gegenden aus eigenem Angenscheii 
kennen, wird hervorgehoben, wie schmutzig die meisten Kindei 
sind, welche in die Schule kommen. Im Posenschen gehört et 
zur Tagesordnung, dass die ganze Familie in einem einziger 
Wohnraum zusammengedrängt ist, den sie häufig noch mit ihren 
Ferkeln und Hühnern theilt, und in welchem Schmutz nnd Un¬ 
rath heimisch ist. Es kommt noch Eins hinzu, wodurch die 
wirtschaftliche Lage der Bevölkerung sich noch bedrängter ge¬ 
staltet. Der Alkoholismus ist in unserem Vaterlande am stärk¬ 
sten verbreitet in den östlichen Provinzen, wo das Anlegen eines 
grossen Theiles des Wochenlohnes in Schnaps zur Tagesordnung 
gehört, nnd die Zahl der Säufer in Folge dessen ausserordent¬ 
lich gross ist. Ferner giebt es in jener Gegend so gut wie gar 
keine Fabriken. Die Leute sind nur auf landwirtschaftliche 
Arbeiten angewiesen, welche natürlich nur im Frühjahr, Sommer 
und Herbst stattfinden, während im Winter die Bevölkerung un¬ 
tätig in ihren Wohnungen sitzt. Haben sie sich nicht etwas 
gespart, so verfallen sie in Not, sind nicht in der Lage, ihre 
Wohnungen genügend zu heizen und zu lüften, im Falle von 
Krankheiten sich ärztliche Hülfe zu verschaffen und überhaupt 
ihre Verhältnisse hygienisch zu gestalten. 

Man hat sich vielfach darüber gestritten, ob die Körner¬ 
krankheit ansteckend ist oder nicht, wie es ja merkwürdiger 
Weise noch immer Aerzte giebt, die bezweifeln, dass der Aus¬ 
satz, die Cholera, die Pest u. s. w. ansteckend seien. Allein 
eben so wenig wie bei diesen Seuchen, ist es zweifelhaft, dass 
die Körnerkrankheit eine der ansteckendsten Krankheiten ist, 
die es giebt. Freilich verhält sie sich nicht zu jeder Zeit gleich. 
Es giebt Stadien, in welchen sie nicht oder nur wenig ansteckend 
ist, wenn nämlich keine Secretion stattfindet, oder wenn es schon 
zur Schrumpfung gekommen, wenn also die Krankheit gewisser¬ 
maassen abgelaufen ist, kurz also, wo die Krankheitserreger, die 
wir zwar noch nicht kennen aber präsumiren müssen, in einem 
Zustande sich befinden, in welchem sie nicht auf Andere über¬ 
tragen werden können. Die Ansteckungsfähigkeit der Körner¬ 
krankheit wird durch mancherlei epidemiologische Beobachtungen 
bewiesen. Kaum eine Krankheit ist in dem Grade Familien¬ 
krankheit wie das Trachom. Wenn man in einer Schule eine 
Anzahl von trachomatösen Kindern findet und sich dann die 
Mühe giebt, in die betreffenden Familien zu gehen, dann findet 
man zuweilen alle, jedenfalls einen Theil der übrigen Familien¬ 
mitglieder gleichfalls trachomatös erkrankt. Diese Ansteckungs¬ 
fähigkeit des Trachoms geht auch aus den Berichten unserer 
Sanitätsbeamten hervor. Es ist eine traurige Thatsache, auf die 
neuerdings namentlich Herr Geheimrath v. Hippel in Halle 
aufmerksam gemacht hat, dass das Trachom in unserem Vater- 
landc durch solche Arbeiter verbreitet wird, welche alljährlich 
für längere oder kürzere Zeit, namentlich während der Erndte, 
in andere Gegenden gehen, um dort Beschäftigung zu suchen. 
Es ist eine offenkundige Thatsache, dass die Emdtearbeiter, 
welche in unsere östlichen Provinzen aus Russland kommen, das 
Trachom mitbringen. Aus dem Osten findet ein regelmässiger 
Zug von Arbeitern nach dem Westen statt, aus Posen und 
Schlesien nach Sachsen, nach Hannover, nach dem Rheinlande. 


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1. März 1807. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Ueberall, wo diese Arbeiter sich einstellen, stellt sich mit ihnen 
das Trachom ein. Mir schwebt besonders eine Epidemie in der 
höheren Töchterschule in Demmin vor; bei der Nachforschung 
nach der Ursache stellte sich heraus, dass die Krankheit in die 
Schule eingeschleppt war von der Tochter eines Gutsbesitzers 
aus der Nachbarschaft. Als man weiter nachfragte, zeigte sich, 
dass Erndtearbeiter aus Posen, welche auf dem Gute beschäftigt 
waren, dieses Kind angesteckt hatten, und dass von da aus die 
Schule angesteckt worden war. So also wird die Krankheit, 
wenn sie in ihrer Heimath in den östlichen Provinzen sich weiter 
in der Weise, wie es jetzt geschieht, erhält, zu einer Gefahr 
nicht nur für jene Provinzen, sondern fUr unser ganzes deut¬ 
sches Vaterland. Die Herde des Trachoms häufen und ver- 
grüssem sich, und wenn nichts zu ihrer Beseitigung geschieht, 
müssen wir fUrchten, dass die Krankheit sich allmählich im 
ganzen deutschen Vaterlande einbUrgert. 

Ich hatte vorhin erwähnt, dass unsere Nachbarn ganz be¬ 
sonders vom Trachom heimgesucht worden sind. Die russischen 
Verhältnisse sind in der Beziehung äusserst trübe. In Polen 
und den russischen Ostseeprovinzen ist das Trachom sehr ver¬ 
breitet, doch stehen mir genaue Zahlenangaben darüber nicht 
zur Verfügung. 

Etwas genauer möchte ich auf die Verhältnisse in Ungarn 
eingehen. Dort hat die Staatsregierung erkannt, dass im allge¬ 
meinen Landesinteresse gegen das Trachom etwas geschehen 
muss, und einen eigenen Trachominspector für das ganze Land 
angestellt, dessen Untersuchungen wir dankenswerthe Mit¬ 
theilungen verdanken. Dieser Inspector, Dr. Feuer in Budapest, 
hat gefunden, dass, wie ich bereits vorhin erwähnte, in Ungarn 
4 Herde des Trachoms vorhanden sind. Der eine liegt in dem 
sandigen aber trockenen und sumpflosen Tieflande zwischen 
Donau und Theiss von Duna Vesze bis Weisskirchen; in einem 
Theil dieses Bezirks, im Torontaler Comitat, fand Feuer-1883 
unter einer Bevölkerung von 95000 Menschen 5 pCt. vom Trachom 
befallen. Es ist die alte Militärgrenze, in der das Trachom seit 
Jahrzehnten heimisch ist. Ein zweiter Herd liegt nördlich nicht 
weit von der Grenze von österreichisch Schlesien im Neutraer 
Comitat, ein dritter Herd in der westlichen Ecke von Ungarn 
im Zalaer Comitat, der hauptsächlich von Wenden bewohnt ist, 
und endlich ein vierter in Siebenbürgen, dort, wo unsere deut¬ 
schen Mitbürger sich niedergelassen haben, im Klausenburger, 
Csiker und Haromsjeker Comitat. Feuer schätzt die Zahl der 
Trachomatösen in Ungarn auf 30000, eine wahrhaft erschreckende 
Zahl. Ausserordentlich interessant und hygienisch wichtig ist 
die Bemerkung von Feuer, dass auch dort die Freizügigkeit 
der Arbeiter die Krankheit verbreitet. Der ursprüngliche Herd 
ist der südliche zwischen Donau und Theiss. Dort befindet 
sich eine verhältnissmässig wohlhabende Bevölkerung; dorthin 
ziehen von Norden, Westen und Osten aus den drei anderen Ge¬ 
genden, welche ich als Trachomheerde erwähnte, Jahr aus, Jahr 
ein Arbeiter, um sich an der Emdte in jenem reichen Lande zu 
betheiligen. Das Trachom, welches jetzt in ihrer Heimath 
herrscht, stammt aus jenem grossen Herde zwischen Donau 
und Theiss, von wo es immer auf’s Neue eingeschleppt wird, 
wenn die Erndtearbeiter in ihre Heimath zurückkehren — Grund 
genug, dieser Thatsache volle Aufmerksamkeit zuzuweuden und 
den Weg dieser Verbreitung der Krankheit nach Möglichkeit zu 
verstopfen Denn, m. H., die Schädigungen, welche das Trachom 
erzeugt, und die ich bisher nur kurz angedeutet habe, sind in 
der That ganz ausserordentlich grosse. Lassen Sie mich mit 
einigen Worten hierauf eingehen. 

Diese Schädigungen finden hauptsächlich nach drei 
Richtungen hin statt. Erstens leidet darunter die geistige 
Ausbildung der Bevölkerung. Das Trachom kommt meisten - 


lHi_ 

llieils zu unserer Kenntniss durch Schulepidemien, welche häufig 
so schwer sind, dass die Hälfte der Schule, ja die ganze Schule 
vom Trachom befallen wird. Bei einer Epidemie im Seminar 
in Ragnit wurden nicht allein fast sämratliche Schüler, sondern 
auch der Director, die Lehrer und deren Familien vom Trachom 
befallen, und musste der Unterricht Monate lang geschlossen 
werden. Schulschluss für Wochen oder Monate kommt in den 
befallenen Orten häufig vor; in anderen Fällen beschränkt man 
sich darauf, die schwer erkrankten Kinder vom Unterricht aus- 
zuschliessen; aber bei der ausserordentlichen Langsamkeit der 
Heilung, bei dem grossen Widerstande, welchen das Trachom 
allen Heilungsbestrebungen entgegensetzt, bleiben die Kinder so 
oder so lange Zeit hindurch ohne Unterweisung. Die Folge 
davon ist, dass die Ausbildung der Kinder merklich leidet. In 
keinem Theile unseres preussischen Vaterlandes haben wir so 
viele Analphabeten als in den östlichen Provinzen. Wahrhaft 
erschreckend sind die Zahlen, welche uns mitgetheilt werden. 
In der evangelischen Schule in Xions in Posen fand mau z. B. 
80 pCt. der Schüler an Trachom erkrankt. Herr Geheimrath 
Hirschberg, welcher im Auftrag des Herrn Cultusministers die 
Provinzen Ost- und Westpreussen bereist hat, fand in einigen 
Dorfschulen 31, 38, 48 pCt. sämmtlicher Schüler an Augenent¬ 
zündung erkrankt. In Stadtschulen war das Verhältnis ein 
etwas besseres, aber immerhin gab es Schulen, wo er 25, 26, 
selbst 36 pCt. der Schüler an Augenentzündung erkrankt fand. 
Sie sehen, ui. H., zu welchen Schädigungen das führen muss. 
In die Schule muss jedes Kind gehen, aus der Schule nimmt es 
den Ansteckungskeim mit und bringt ihn in die Familien; in 
den Familien wird er fortgezüchtet, auf gesunde Kinder über¬ 
tragen, von diesen wieder in die Schule zurückgebracht, ein 
circulus vitiosus der schlimmsten Art, welcher dringend der Ab¬ 
stellung bedarf. 

Die zweite Richtung, in welcher das Trachom sich schädlich 
erweist, ist die Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit, 
welche die Kranken erleiden. Freilich ist nicht zu leugnen, dass 
die Krankheit sich in den ersten Monaten, manchmal in den 
ersten Jahren nicht gerade besonders störend geltend macht. 
Häufig genug findet man bei der Untersuchung Leute, die ob¬ 
wohl sie von gar nicht so leichtem Trachom befallen sind, 
sich nicht einmal krank fühlen; sie gehen ruhig ihrer Beschäfti¬ 
gung nach, werden also in ihrem Erwerbe nicht weiter behin¬ 
dert. Im Laufe der Zeit kommt es aber in jedem Falle zu 
schweren Schädigungen. Acute Eiterungen stellen sich ein, 
welche schmerzhaft siud und die Arbeitsfähigkeit herabsetzen, 
allmählich stellt sich Schrumpfung der Bindehaut ein, es kommt 
zu Trichiasis, zu Distichiasis, häufig zu ernsten Störungen in 
der Ernährung der Hornhaut; die Hornhaut trübt sich, das Seh¬ 
vermögen nimmt ab, es kommt wohl gar zu Panophthalmie und 
zur völligen Blindheit. Dass dadurch die Erwerbsfähigkeit leiden 
muss, liegt auf der Hand. Bei Untersuchung ganzer Ortschaften, 
wie sie verschiedentlich ausgefllhrt worden sind, findet man nicht 
Wenige, die infolge des Trachoms erblindet sind, und eine er¬ 
schreckend grosse Zahl von solchen, die durch das Trachom in 
ihrer Erwerbsfähigkeit derart herabgesetzt worden siud, dass 
sie der öffentlichen Wohlthätigkeit anheim fallen. Haben wir es 
ohnehin schon zu thun mit einer Bevölkerung, welche von Hause 
aus arm ist, und wird diese noch von Trachom befallen, dann 
ist sie wohl berechtigt, den Muth zu verlieren, wenn sie nur 
aus eigenen Mitteln sich gegen die Krankheit schützen soll. 

Die dritte Richtung, in welcher das Trachom sich schädlich 
gezeigt hat, ist diejenige, welche ihm eigentlich seinen Namen 
Ophthalmia militaris verschafft hat, und derentwegen die 
Krankheit am meisten bekannt geworden ist, das ist ihre Ver¬ 
breitung in der Armee und ihr Einfluss auf die Wehrkraft 

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No. 9. 


182 BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


der Nation. Ich habe darauf hingewiesen, dass das Trachom 
in der Armee in den letzten Jahren entschieden abgenommen 
hat. Es fragt sich, aus welchen Gründen das geschehen ist. 
Ein Grund dafür ist der, dass bei der Musterung und Aushebung 
streng verfahren wird. Es sind hierfür im Jahre 1893 bestimmte, 
vom Kriegsministerium und den Givilbehördcn vereinbarte Diree- 
tiven erlassen worden. Es werden nämlich die jungen Militär¬ 
pflichtigen, welche trachomkrank gefunden werden, in den ersten 
beiden Jahren ihrer Stellungspflicht auf ein Jahr zurückgestellt, 
im dritten Pflichtjahre aber, wenn sie schwer trachomkrank sind, 
ausgemustert, wenn sie dagegen verhältnissmässig leicht erkrankt 
sind, eingestellt und behandelt. Sie sehen, die Armee schützt 
sich, sie nimmt die wirklich Kranken möglichst wenig auf; mit 
Recht. Denn wir brauchen ein Heer, welches im Stande ist, 
unser Vaterland zu vertheidigen, wozu die Kranken nicht im 
Stande sind. Und man wird diese Kranken um so weniger 
gern cinstellen, als die Zahl derer, die gesund sind, genügt, um 
unseren Bedarf zu decken. Allein im Regierungsbezirk Gum¬ 
binnen sind in den Jahren 1889—91 durchschnittlich jährlich 
322 Wehrpflichtige wegen Trachoms zurückgestellt worden. In 
demselben Regierungsbezirk betrug die Zahl in den Jahren 1891 
bis 1894 durchschnittlich jährlich 244 Mann. Die Zahl der¬ 
jenigen aber, die wegen Trachoms der CivilbehÖrdc zur Beob¬ 
achtung überwiesen worden sind, betrug in den Jahren 1889—91 
in demselben Regierungsbezirk durchschnittlich jährlich 490, 
in den Jahren 1892—94 sogar 709, also mehr als ein Bataillon. 
Nun stellen Sie sich vor, es bräche ein Krieg aus, stellen Sie 
sich vor, dieser Krieg wäre unglücklich, unsere reguläre Armee 
reichte nicht aus, wir wären genöthigt, die Landwehr einzuziehen 
oder gar an den Landsturm zu appelliren. Dann würden wir 
in den östlichen Provinzen unter diesem Landsturm eine er¬ 
schreckend grosse Zahl von Trachomatösen finden, vielleicht 
ganze Regimenter haben, die vom Trachom befallen wären. 
Stellen Sie sich vor, diese Regimenter würden nach dem Westen 
unseres Vaterlandes zurückgeworfen: dann wäre die Gefahr vor¬ 
handen, dass sie die Krankheit auf die Civilbevölkerung gesunder 
Gegenden übertrügen. Nicht allein unsere Wehrfähigkeit, son¬ 
dern das Wohl des Volkes überhaupt wäre durch die Verbrei¬ 
tung des Trachoms dann auf das Schwerste gefährdet. 

(Schluss folgt.) 


III. Die Heilkraft des Fiebers. 1 ) 

Von 

Dr. A. Löwjr und Dr. P. F. Richter. 

Privatdocent an der Universität Assistent an der III. med. Klinik. 

In allen Entwickelungsstadien der Medicin ist dem Symptomen- 
complex, den wir mit dem Namen „Fieber“ bezeichnen, eine 
besondere Beachtung geschenkt worden, hat doch das Fieber in 
früheren Jahrhunderten im Mittelpunkte der allgemein-pathologi¬ 
schen Betrachtungen gestanden. Das kann nicht Wunder nehmen, 
wenn wir sehen, wie sehr das Fieber das ganze Krankheitsbild 
beeinflusst und wie seine Wirkung auf den Gesammtorganismus 
schon dem oberflächlichen Blicke deutlich wird. 

Ueber das Wesen und den Begriff des Fiebers sind aller¬ 
dings trotz aller Fortschritte im Einzelnen unsere Kenntnisse 
noch fast so lückenhaft wie vor Jahrtausenden. Die verschieden¬ 
sten Anschauungen darüber haben in bunter Mannigfaltigkeit 
gewechselt und in der Geschichte der Wandlungen der Fieber- 

1) Nach einem von A. Lüwy in der Sitzung der Ilufeland'schcn 
Gesellschaft vom 11. Juni 1896 gehaltenen Vortrage. 


lehre spiegelt sich fast der Entwickelungsgang der gesammten 
Medicin wieder. Aber „wie der ruhende Pol in der Erschei¬ 
nungen Flucht“ kehrt die Anschauung Uber eine Seite des Fiebers 
bei den Vertretern der verschiedensten Schulen und Richtungen, 
vom Alterthum bis in die neueste Zeit hinein, trotz aller sonsti¬ 
gen Divergenz der Lehrmeinungen immer wieder, nämlich die 
Uber die Bedeutung des Fiebers für den Verlauf der 
Krankheit. 

Wenn auch seine schädlichen Folgen für den Gesammt¬ 
organismus nicht verkannt werden, so sind es doch nur wenige 
Autoren, die sie in den Vordergrund stellen; für die meisten ist 
das Fieber der Ausdruck einer für den Organismus heilsamen 
Reaction gegenüber der krankmachenden Noxe, eine von den 
Schutz- und Abwehrmaassregeln, Uber die er verfügt 

Eine historische Darstellung der Lehre von den salutären 
Eigenschaften des Fiebers ist an dieser Stelle nicht beabsichtigt; 
sie findet sich in unserer ausführlichen Publikation in Virchow’s 
Archiv Bd. 145. Hier sei nur erwähnt, dass diese Anschauung 
schon im Alterthum einen breiten Raum einnimmt. Sie durch¬ 
dringt als allgemeiner Grundgedanke die Hippocratischen 
Lehren vom Wesen der Krankheit und ihrer Heilung; sie findet 
sich bestimmter ausgesprochen bei Asclepiades, Palladius, 
Aetius. Ja, sie verdichtet sich sogar bis zu therapeutischen 
Vorschlägen, wie bei Rufus von Ephesus, der das Fieber für 
ein Heilmittel erklärt, von dem zu wünschen wäre, dass man es 
künstlich erzeugen könnte. 

Ueberspringen wir ein Jahrtausend, so sehen wir, wie ener¬ 
gisch Sydenham die Heilkraft des Fiebers vertritt; ihm schliesst 
sich Hermann Boerhave an, und auch in Deutschland wird 
die Lehre rasch beifällig aufgenommen und findet in Stahl 
einen weit Uber das Ziel hinausschiessenden, in Hofmann einen 
gemässigten Interpreten. 

Noch in unserem Jahrhundert spielt sie, um von anderen 
weniger bekannten Namen zu schweigen, in Schönlein's Schriften 
eine grosse Rolle. 

Aber allmählich tritt die Frage nach dem Heilwerthe des 
Fiebers zurück und zwar um so mehr, je mehr die naturwissen¬ 
schaftliche Betrachtungsweise in der Medicin die Oberhand ge¬ 
winnt, welcher derlei teleologische Anschauungen verpönt er¬ 
scheinen. Dafür drängen sich Fragen nach der Ursache des 
Fiebers, nach seinem Sitz, nach seinen Wirkungen auf den Ge¬ 
sammtorganismus in den Vordergrund und diese sind es auch, 
welche der experimentellen Forschung, als dieselbe begann, sich 
mit der Fieberfrage zu beschäftigen, die Richtung vorzeichnen. 
Man studirte zunächst die Folgen, die das charakteristischste, 
spezifische Fiebersymptom, nämlich die Ueberhitzung, auf den 
Organismus im Allgemeinen und die einzelnen Organe im Be¬ 
sonderen hatte. Sie wissen, dass diese Experimente ein so auf¬ 
fälliges Ergebniss hatten, dass man auf Grund derselben zu 
einer der bisherigen diametral entgegengesetzten Auffassung kam 
und ira Gegensätze zu früher nunmehr die deletären Folgen, 
die Gefahren des Fiebers, betonte. Die natürliche Conse- 
quenz daraus war die Forderung, das Fieber in jedem Falle zu 
bekämpfen, und diese Forderung, von autoritativer Seite ausge¬ 
sprochen und anscheinend beweiskräftig gestützt, setzte sich bald 
in die That um und übte auf das praktische Handeln der Aerzte 
weitgehenden Einfluss aus. 

Sie wissen weiter, dass das Resultat der ausgedehnten An¬ 
wendung antipyretischer Mittel, wie sie nunmehr stattfand, 
durchaus nicht immer zur Stütze der vorhin erwähnten Experi¬ 
mente dienen konnte. Mit Antipyreticis behandelte Kranke 
zeigten durchaus keinen rascheren und leichteren Verlauf als da, 
wo das Fieber nicht sofort bekämpft und ein mehr exspektatives 
Verfahren eingeschlagen wurde. Nachprüfungen der Experimente, 


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1. März 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


189 


auf denen die Lehre von der Gefährlichkeit des Fiebers sicher 
basirt zu sein schien, ergaben des Weiteren, dass die Gefahr, so¬ 
weit man sie wenigstens der reinen Ueberhitzung zugeschrieben 
hatte, erheblich Überschätzt worden war, und dass der bei weitem 
grössere Schaden für den Organismus durch die Infection, 
nicht durch die Höhe des Temperaturgrades erwuchs. 

Wie sehr der Standpunkt der Antipyrese um jeden Preis 
augenblicklich aufgegeben ist, und welcher Einfluss der alten 
Ansicht von dem Heilwerth des Fiebers auch flir das therapeu¬ 
tische Handeln wieder eingeräumt wird, das zeigen die Ver¬ 
handlungen der Congresse filr innere Medicin von 1885 und be¬ 
sonders von diesem Jahre (Käst). 

Wenn wir nun statt speculativ-naturphilosophischer Gründe, 
mit denen die Aerzte des Alterthums und des Mittelalters sich 
begnügten, nach exacten Beweisen für die Anschauung suchen, 
die dem Fieber eine gewisse Heilkraft vindicirt, so ist zunächst 
einleuchtend, dass die klinische Erfahrung, so grosses Gewicht 
ihr beigelegt werden muss, doch allein dafür nicht entscheidend 
ist. Denn die Verhältnisse am kranken Menschen sind zu com- 
plicirt und vieldeutig, die Individualität des einzelnen spielt eine 
zu grosse Rolle, als dass die blosse statistische Vergleichung 
der Resultate antipyretischer und exspektativer Behandlung allein 
beweiskräftig wäre. 

Hier muss nun das Thierexperiment einsetzen, das Experi¬ 
ment, das die natürlichen Vorgänge, so weit als möglich, nach¬ 
ahmt: das heisst, es muss ein dem fieberhaften analoger oder 
wenigstens möglichst ähnlicher Prozess erzeugt, nach seiner Er¬ 
zeugung eine bacterielle Infection gesetzt und nun nachgesehen 
werden, welche Abweichungen ihr Ablauf zeigt gegenüber einer 
gleichen Infection bei normal temperirten Controlthieren. 

Wenn wir in der Literatur Umschau halten, so sehen wir, 
dass diese zur Entscheidung einer Jahrtausende alten Frage so 
naheliegende Versuchsanordnung nur wenig benutzt ist, und 
überdies nicht in befriedigender Weise. 

Walter, Rovighi, Filehne sind die einzigen, 1 ) welche 
sich experimentell damit beschäftigt haben. Sie erhitzten ihre 
Versuchsthiere künstlich durch Einsetzen in einen Wärmeschrank, 
inficirten sie und verglichen nunmehr den Ablauf der Infection 
mit dem bei nicht erhitzten, mit der gleichen Dosis geimpften Con¬ 
trolthieren. Sie sahen sämmtlich die erhitzten Thiere besser der 
Infection Stand halten als die Controlthiere. 

Aber was die Beweiskraft dieser Versuche für die Frage, 
die sie entscheiden sollen, abschwächt, das ist der Umstand, 
dass die Körpertemperaturerhöhung durch künstliche Ueberhitzung 
nicht mit der fieberhaften Steigerung der Eigenwärme ohne 
Weiteres in Vergleich gesetzt werden kann. Die erwähnten 
Experimentatoren hatten eine durch die hohe Aussentempera'ur 
erzwungene Wärmestauung vor sich, bei der die Verhältnisse 
der Wärmeökonomie des Thieres, speciell die Wärmevertheilung 
und die Wärmeabgabe ganz anders sich verhalten, als im Fieber. 
Dabei ist die Wärmeregulation unverändert; der Organismus 
sucht mit allen Mitteln seine Körpertemperatur normal zu er¬ 
halten, während er im Fieber einer Erhöhung derselben zu¬ 
strebt 

Wir suchten daher eine Versuchsanordnung, die eher er¬ 
laubt, die dabei geschaffenen Verhältnisse mit denen im Fieber 
in Parallele zu bringen und wählten den sogenannten Wärme¬ 
stich. Bekanntlich gelingt es durch Verletzung einer bestimmten 

1) Ueber interessante Versuche, welche von anderen Gesichts¬ 
punkten die Frage von der Heilkraft des FieberB beleuchten, hat Käst 
auf dem letzten Congresse flir innere Medicin berichtet; sie liegen in 
authentischer Publication bisher nicht vor und mussten desshalb ausser 
Acht gelassen werden. Alle weiteren Citate finden sich in unserer oben 
erwähnten Abhandlung. 


Stelle im Corpus Striatum bei Kaninchen, Hunden, auch Pferden, 
einen Symptomencomplex zu erzielen, der in der Hauptsache 
dem Fieber gleicht: Es entsteht eine mehr weniger hohe Steige¬ 
rung der Körperwärme, die mehr oder minder lange anhält; 
man findet bei den Thieren gesteigerten Ei weisszerfall und er¬ 
höhten Gaswecbsel. Der Eindruck, den die Thiere dabei machen, 
ist durchaus nicht der Kranker; sie sind munter, fressen, so dass 
ihrZustand nicht mit dem bei infectiösen Fiebern, wohl aber mit dem 
aseptischen Fieber Volkmann’s verglichen werden kann. Dass 
daneben Unterschiede obwalten, soll, weil mehr theoretisch 
interessant als für unsere Versuche von praktischer Bedeutung, 
hier unberücksichtigt bleiben. 

Weiterhin war nun nöthig, ein geeignetes inficirendes Material 
zu wählen, d. h. ein solches, das eine gleichmässige, sichere 
bei gewissen Dosen genügend schnell tödtliche Wirkung ent¬ 
faltet, und sich in seiner Virulenz wenigstens für einige Zeit 
constant erhält. Nach vielfachen Vorversuchen fanden wir als 
die für unsere Zwecke geeignetsten Infectionserreger Pneumo¬ 
kokken, Hühncrcholera, Schweinerothlauf. Ausserdem 
stellten wir einige Versuche mit Diphtheriegift an; in diesen 
handelt es sich also nicht um Infectionen, sondern um Intoxi- 
cationen. 

Der Modus procedendi war nun derart, dass wir zunächst 
an einem Controlthier — unsere Versuche sind ausnahmslos an 
Kaninchen angestellt — die minimale tödtliche Dosis feststellten. 
Benutzt wurden dabei stets, um quantitativ genaue Vergleichs- 
werthe zu haben, Bouillonculturen. Sodann wurden ein oder 
mehrere Thiere trepanirt, der Hirnstich gemacht, und wenn die 
Temperaturmessung ergab, dass der Effect des Hirnstiches bereits 
eingetreten, d. h. die Temperatur auf 41 0 und mehr gestiegen 
war, Impfung mit der gefundenen tödtlichen Minimaldosis oder 
einem Multiplum derselben vorgenommen. Genaue Messungen 
der Körperwärme orientirten uns dann Uber den Ablauf der 
Infection sowohl bei den Control- als den trepanirten Thieren. 

Es ist nicht unsere Absicht, an dieser Stelle auf Details 
einzugehen; wir verweisen bezüglich derselben auf unsere aus¬ 
führlichere Mittheilung. 

Wir möchten nur das allgemeine Ergebniss unserer Ver¬ 
suche hervorheben und dasselbe ist, dass alle Thiere, bei 
denen die Impfung vorgenommen wurde, als sie schon 
infolge des Wärmestiches eine beträchtlich erhöhte 
Körpertemperatur hatten, länger lebten, als die Con¬ 
trolthiere; eine Anzahl Uberstand sogar die Infection 
und blieb am Leben. 

Die besten Resultate erzielten wir bei Pneumonie, nicht ganz 
so gut, aber doch immerhin noch recht prägnant waren sie bei 
Schweinerothlauf und Diphteriegift; der geringste Erfolg wurde 
bei Hühnercholera erreicht. Die Lebensverlängerungen betrugen 
bei den mit Pneumokokken geimpften Thieren zwischen 1 und 

3 Tagen; in zwei Versuchen überlebten die trepanirten Thiere 
die Infection, welche einmal mit einfacher, im zweiten Falle mit 

4 fach tödtlicher Dosis erfolgt war. Dabei war besonders inter¬ 
essant, dass diese beiden Thiere ein 7 tägiges continuirliches 
hohes Fieber durchmachten, welches dann unter die Norm her¬ 
abging — also ein der menschlichen Pneumonie ganz ähnlicher 
Verlauf! 

In den Versuchen mit Schweinerothlauf betrug die 
Lebensverlängerung der trepanirten Thiere 3—4 Tage im Ver¬ 
gleich zu den Controlthieren; ein Thier Uberstand die Infection. 

Die Versuche mit Hühnercholera boten, wie schon er¬ 
wähnt, wenig markante Ergebnisse. Allerdings waren die ver¬ 
wendeten Culturen derart virulent, dass bereits ‘/io„oo mg einer 
Bouilloncultur in 15—16 Stunden sicher tödtete und es uns 
nicht gelang, die minimale tödtliche Dosis zu ermitteln. 

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184 


No. 9. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Endlich Diphtheriegift: Die Lebensverlängerungen be¬ 
trugen zwischen 24 Stunden und 3 Tagen; einmal Überlebte das 
trepanirte Thier. 

Ziehen wir das Facit aus den hier nur in Kürze mitge- 
theilten Versuchen, so haben wir durch die künstliche Steigerung 
der Eigenwärme bis zu Temperaturgraden, wie sie beim Fieber 
nur selten Vorkommen, in keinem Falle geschadet, in allen ge¬ 
nützt. Wir haben in der grossen Mehrzahl der Fälle mehr oder 
minder beträchtliche Lebensverlängerungen erzielt; wir haben in 
einer kleineren Anzahl unsere Versuchsthiere dauernd geheilt. 
Beides beweist den günstigen Effect der Temperaturerhöhung 
sogar a fortiori; denn unseren Controlthieren gegenüber haben 
die trepanirten Thiere einen doppelten Eingriff durchgemacht: 
Infection und Trepanation, und sind so naturgemäss um Vieles 
mehr geschwächt worden als erstere. 

Es sind somit die mitgetheilten Resultate der alten Lehre 
von einer „Heilkraft“ des Fiebers durchaus günstig, und, soweit 
durch das Experiment möglich, erscheint diese durch die Ge¬ 
schichte der Medicin sich hinziehende Streitfrage in positivem 
Sinne entschieden. 

Wir sagen, soweit möglich. Denn immerhin kann man uns 
den Einwand machen, dass das, was wir künstlich erzengten, 
kein Fieber im strengeren Sinne des Wortes ist. Aber wir 
können bis heut keine erschöpfende Definition des Fiebere geben, 
und müssen uns begnügen, es bei unseren Experimenten in den 
hauptsächlichsten Erscheinungen nachgeahmt zu haben. 

Mit der Feststellung der Thatsache von einer günstigen 
Wirkung der Temperaturerhöhung drängt sich die Frage auf, 
wodurch dieselbe wohl ihre günstige Wirkung entfaltet. Ihre 
exacte Beantwortung stösst jedoch noch auf soviel Schwierig¬ 
keiten dass wir, um uns nicht in Hypothesen zu verlieren, uns 
auf kurze Andeutungen beschränken wollen. Soviel steht fest, 
dass auf Pneumokokken und, wie wir uns überzeugten, auch auf 
Diphtheriegift, die erhöhte Temperatur als solche derart 
virulcnzabschwächend wirkt, dass das Moment wohl hauptsäch¬ 
lich in Betracht kommt. Wo dies nicht der Fall ist, wie bei 
Hühnereholera und Schweinerothlauf, liegt es nahe, an Aende- 
rungen im Ablauf der Stoffwechselvorgänge, zu denken, die für 
den fieberhaften Process mit Sicherheit festgestellt sind, und 
die durch Aenderungen des Nährbodens auch das Wachsthum 
und Leben der Bacterien beeinflussen müssen. 

Wichtiger als derartige theoretische Betrachtungen erscheint 
die Frage, welche praktische Bedeutung den festgestellten That- 
sachen innewohnt und welche Consequenzen für die Therapie 
sich daraus ableiten lassen. 

Von vornherein muss dabei aber betont werden, dass unsere 
Versuche nur ein Analogon bilden für acute, infectiöse, cyklisch 
ablaufende, hoch fieberhafte Erkrankungen, dass dagegen für chro¬ 
nische Affectionen mit zeitweiligen, unregelmässigen Temperatur¬ 
steigerungen — praktisch ist das wichtigste Beispiel die Phthise 
— aus ihnen kein Schluss abgeleitet werden kann. 

Würde diese Störung, die in der gesteigerten Körperwärme 
am auffälligsten in die Erscheinung tritt, der Schwere der In¬ 
fection parallel gehen, so würde der Grad der Körpertempe- 
ratureteigerung immer das werthvollst eund prognostisch wichtigste 
Merkmal des Fiebere sein. 

So ist es aber in Wirklichkeit nicht; es besteht zwischen 
beiden kein Parallelismus; es giebt, wie Sie wissen, sehr schwere 
Infectionen, die überhaupt fast fieberlos verlaufen; es giebt 
andere, die wenn sie auch in der Majorität der Fälle erhebliche 
Steigerungen der Körpertemperatur machen, doch mitunter die¬ 
selben vermissen lassen. 

Die Ursachen dafür sind verschieden: die erste Infections- 
gruppe tangirt wohl überhaupt nur wenig die- wärmcregelnden 


Centren; bei der zweiten kann es sich darum handeln, dass die 
Apparate, die der Wärmeregulation dienen, in den betreffen¬ 
den Einzelfällen wenig empfindlich sind, ihre ReactionsfUhigkeit 
gering ist; oder aber die Infection setzt von vornherein so 
schwer ein, dass sie, übermaximal erregt, gelähmt werden. 

Umgekehrt braucht sehr hohes Fieber nicht der Ausdruck 
schwerer Infection zu sein; die Wärmeregulirungsapparate sprechen 
eben nur abnorm leicht an, sind sehr leicht erregbar. 

Die Fieber höhe verliert bei dieser Betrachtung viel von 
ihrer praktischen Bedeutung, und wenn wir sie unter Umständen 
bekämpfen, so thun wir es nicht, weil wir ihr als einem Symptom 
zu viel Gewicht beimessen, sondern weil wir damit auch einer 
Reihe anderer Indicationen gerecht werden. 

Denn auch wer auf Grund der vorstehenden Versuche und Dar¬ 
legungen eine schablonenmässige Antipyrese, die aus der blossen 
Höhe des Temperaturgrades die Indication für ihr Eingreifen ent¬ 
nimmt, und die Fieberbekämpfung um jeden Preis in den Vorder¬ 
grund stellt, unnütz, unter Umständen sogar für schädlich erachtet, 
wird darum nicht auf die Anwendung antipyretischer Mittel zu ver¬ 
zichten brauchen. Sind doch unsere gebräuchlichen chemischen 
Antipyretica nicht nur Antithermica, sondern sie wirken gleich¬ 
zeitig in anderer Weise, als Nervina und als Tonica. Bei der 
erheblichen Beeinflussung, die gerade das Centralnervensystem in 
fieberhaften Infectionskrankheiten erfährt, werden wir von ihrer 
Eigenschaft, beruhigend zu wirken, oft Gebrauch machen mlissen. 

Ausser ihnen gehören aber in den Kreis antipyretischer 
Heilmethoden auch solche, die von den obigen Darlegungen 
weniger berührt werden. Das sind in erster Reihe naturgemäss 
diejenigen, die mit der symptomatischen Bekämpfung des Fiebers 
auch die seiner Ursachen verbinden, spezifisch wirken. Chinin 
bei der Malaria, Natron salicylicum beim Gelenkrheumatismus 
sind bis jetzt leider die einzigen Repräsentanten dieser Gruppe. 

Nächstdem ist es, die — so zu sagen mechanische 
Antipyrese, die Hydrotherapie, der auch unbeschadet der Ueber- 
zeugung von einer Heilkraft des Fiebere, das Wort geredet 
werden kann. Der Werth der antithermischen Wirkung der 
hydriatischen Behandlung steht erst in zweiter Linie; in erster 
kommt ihr anregender Einfluss auf das gesammte Centralnerven¬ 
system, auf Cirkulation und Respiration in Betracht, wie es sich 
in besondere eklatanter Weise beim Typhus, weniger de itlich 
allerdings in andern Infectionskrankheiten ausspricht. In der 
arteficiellen Hyperleukocytose, die der Kältereiz erregt, kann 
ausserdem, neueren Anschauungen entsprechend, ein wichtiges 
Moment für die Bekämpfung der Infection gefunden werden. 

Wir möchten also nicht missverstanden werden: Trotzdem 
wir auf Grund unserer Experimente dem Fieber eine gewisse 
heilende Kraft vindiciren, stehen wir durchaus nicht auf dem 
Standpunkte, als ob jedes Fieber ein noli me tangere und ein 
therapeutischer Nihilismus ihm gegenüber berechtigt wäre. Und 
wenn Pharmakologen und Chemiker sich bemühen, den alten er¬ 
probten fieberbekämpfenden Mitteln immer neue an die Seite zu 
setzen, so sehen wir darin durchaus keinen Schaden, sofern es 
nur gelingt, solche zu finden, deren unerwünschte Nebenwirkungen 
zurücktreten, deren beruhigende Wirkung auf das Centralnerven¬ 
system auch in kleinen Gaben schon eine zuverlässige ist. Nur 
eine erfolgreichere Ausbildung der causalen Therapie, als wir 
sie augenblicklich besitzen, könnte dergleichen Bestrebungen den 
Boden entziehen. Umgekehrt wäre es aber vielleicht eine 
dankenswerthe Aufgabe, statt fortgesetzt nach antipyretischen, 
vielmehr nach pyretischen Mitteln zu forschen, d. h. nach 
solchen, die die Temperatur künstlich steigern, um damit die 
von uns im Experimente erwiesenen Heilwirkungen des Fiebers 
in geeigneten Fällen hervorrufen zu können. Bis jetzt ist leider 
das Suchen nach solchen Mitteln, wie es iin Alterthum als thco- 


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1. Mürz 1807. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


retisches Postulat angedeutet (Rufus von Ephesus), ueuer- 
dings von Fi lehne praktisch in Angriff genommen worden 
ist, noch erfolglos geblieben. 


IV. Ueber den Tod der Zelle. 

Von 

Prof. Dr. 0. Israel, Berlin. 

Vortrag gehalten in den Sitzungen der Gesellschaft der Charitr-Aerzte 
am 17. December 1896 und 21. Januar 1897. 

(Schluss.) 

II. 

Zu einem theoretischen Verständnis der geschilderten wechsel- 
vollen Erscheinungen können wir gelangen, indem wir zu den 
erörterten Versuchen noch die bekannte Wirkung stärkerer, die 
Organstructur mehr oder weniger vollständig fixirender, Gerinnung 
machender Lösungen herbeiziehen. Es zeigt sich dann eine Reihe 
von Uebergängen, die sich thcils aus den verschiedenartigen Beob¬ 
achtungen construiren lässt, wie in den Versuchen mit Metallen, 
theils, wie bei Spirogyren mittels der Sublimatlösungen direct 
hergestellt werden kann. Nehmen wir abgestufte Lösungen dieser 
Substanz, so ergiebt sich, dass Lösungen Uber 1:100000 noch 
vollständige Starre bewirken, während unter dieser Grenze, etwa 
bei 1:500000, regelmässig „oligodynamische“ Zustände sich aus¬ 
bilden. Unter 1:1000000 beschränkt sich, wie bereits erwähnt, 
die Plasmoschise auf geringfügige Störungen, wie Fadenzer- 
reisBungen und Kernverschiebungen, während bei 1:5000000 
Überhaupt keine Veränderungen innerhalb der ersten 24 Stunden 
zu sehen sind. Auch die Strömung ist in diesem Falle zunächst 
noch sichtbar. Erst nach 2—3 Tagen treten eigenthümliche, 
am zweckmässigsten wohl als Atrophie zu bezeichnende Ab¬ 
weichungen ein, die allmählich zum Tode führen. Wir haben 
hierüber keine ausreichenden Erfahrungen an verschiedenen 
Arten von Spirogyra gewinnen können. Nach Allem ist es 
wahrscheinlich, dass das Verhalten, besonders hinsichtlich des 
zeitlichen Eintritts, bei den einzelnen Arten unter einander etwas 
abweicht, ohne indessen aus dem Rahmen der geschilderten Ab¬ 
stufungen zu fallen. 

Es geht also zunächst aus den erörterten Beobachtungen 
hervor, dass, wie es ja auch nach den Erfahrungen an höher 
organisirten Lebewesen nicht anders zu erwarten war, die Er¬ 
scheinung der getödteten lebendigen .Substanz eine wechselnde 
ist, je nach den angewandten Tödtungsmitleln, wie man ja auch 
einen Menschen mit Keulenschlägen oder mit einem Tropfen 
Blausäure vom Leben zum Tode befördern kann und einen dem¬ 
entsprechend verschiedenen Befund hat. Wie die Intoxicationen 
durch Alkalien andere Erscheinungen an den von ihnen direct 
berührten Organen hervorrufen, als diejenigen, welche durch 
Säuren bewirkt wurden, so differiren bei ihnen auch die 
Erscheinungen des Zelltodes. Was aber für die Bcurtheilung patho¬ 
logischer Zustände an den Zellen vor Allem als wichtig hervor¬ 
gehoben werden muss, das ist die gesetzmässige ReihenJ- 
folge der Erscheinungen nach dem Quantitätsverhält¬ 
nisse des zur Wirkung kommenden Agens. Besonders 
einleuchtend ist dies bezüglich derjenigen Substanzen, welche die 
als Eiweisskörper zusammengefassten Bestandteile der lebenden 
Zellen zur Gerinnung bringen. Ruft beispielsweise das Snblimat 
in starken Lösungen eine Gerinnung aller Th eile hervor, 
die zu einer Fixirung im histologischen Sinne führt, so 
sind dünnere Lösungen nicht mehr imstande, alle Be¬ 
standteile zur Gerinnung zu bringen, bis die dünn¬ 
sten Lösungen wohl noch körnige Ausfüllungen be- 


185 _ 

wirken, aber sonst keine nennenswerte Veränderung 
des Protoplasten hervorzubringen vermögen. 

DieB wird auch deutlich, wenn wir den anderen Factor ins 
Auge fassen, der an dem wechselvollen Bilde, das uns die Spiro¬ 
gyren bieten, betheiligt ist, und vorzugsweise auffällig bei den 
sog. oligodynamischen Erscheinungen uns entgegentritt: die Ver¬ 
schiebung der einzelnen Structurelemente des Protoplasten gegen 
einander. Wir haben bereits gesehen, dass wir eine primäre 
und eine secundäre Stnictuneränderung trennen müssen, die erste 
eine directe Todeserscheinung, die andere eine cadaveröse 
Veränderung. Zwei Möglichkeiten liegen für das Zustande¬ 
kommen der primären Todeserscheinung vor. Die eine Mög¬ 
lichkeit ist die, dass wir es hier zu thun haben mit einer 
Contraction der dureh äussere Einwirkungen er¬ 
regten lebendigen Substanz, die als letzte Lebens¬ 
äusserung zu der, vornehmlich durch Kühne und Vcr- 
worn als eine sehr verbreitete Todeserscheinung des form¬ 
losen Protoplasma nachgewiesenen Kugel bi 1 düng führt. 
Das Bestreben des sterbenden Protoplasma, Kugelgestalt an¬ 
zunehmen, dürfte wohl durch die vielfachen Arbeiten Vcrworns 
zu allgemeiner Anerkennung gelangt sein, und es unterliegt wohl 
keinen Zweifel, dass sie die Folge einer contractorischen Erregung 
ist. Diese würde sich unter Einwirkung von Giften an Spirogyra in 
einem Umfange äussem, wie er unter normalen Verhalten, d. h. 
bei der regulären Circulation des Protoplasma, nicht beobachtet 
wird. Daher die weit gehende Verwerfung der Chlorophyllbänder, 
die totale Deformation des Protoplasmaschlauches und daher 
auch seine Zerreissung, die Plasmoschise. Es lohnt wohl, einen 
Blick auf die speciellen Verhältnisse dieses Vorganges zu werfen: 
Die giftige Substanz durchdringt die Cellulosemembran, indem 
allmählich immer mehr davon zur Wirkung kommt. Zunächst 
dringt in die äusseren Schichten des Protoplasmaschlauches in 
der Zeiteinheit nur sehr wenig von der giftigen Substanz ein. 
Wie bei verdünntem oligodynamischen Kupferwasser, so löst sich 
hier und da an einzelnen oder auch an allen Protoplasmafäden, 
unserer vorläufigen Annahme nach, eine Contraction aus und führt 
auch wohl zum Zerreissen der Kemtasche und in Folge dessen 
zur wandständigen Anordnung der Kerne. Ist die Verdünnung nun 
stärker, so wirkt das in geringster Menge verfügbare Gift noch 
langsamer; dann bleibt überhaupt jede Zusamraenziehung aus 
und eine merkbare Formverändung ist an der Zelle, abgesehen 
von der vorher beschriebenen Pyrenolyse nicht zu constatiren. Dies 
konnten wir auch an Protozoen mit Membranen bemerken; es ist 
der Zustand, den ich als paralytische Cadaverstellung bezeichnet 
habe. Nimmt aber, bei der Anwendung stärkerer Giftlösungen, 
die Quantität des die Zellmembran durchdringenden Giftes schneller 
zu, so löst sich im gegebenen Zeitpunkt eine agonale Contraction 
aus, die zu umfangreicherer Zerstörung der Zellstruktur führt. 
Jedoch schon vorher ist das Leben in der äussersten Protoplasma¬ 
lage, die der Giftwirkung zunächst exponirt ist, erloschen. Wäre 
dies nicht der Fall, so würde sie sich an der auffälligen Ver¬ 
schiebung der inneren Abschnitte betheiligen müssen, denn ihre 
zäh-flüssige Beschaffenheit würde sie nicht hindern, gleich der 
inneren Lage und den Plasmasträngen sich unregelmässig zu¬ 
sammenziehen, einzureissen und von der Zellmembran mehr oder 
weniger vollständig sich abzulösen; in Folge der unausbleiblichen 
Trennung ihres Zusammenhanges müsste dies ebenso wie bei 
den inneren Theilen augenblicklich erfolgen. Statt dessen bleibt 
sie, im Gegensatz zu den Vorgängen bei der Plasmolyse, an der 
Membran haften, bei manchen Arten noch durch feine Fäden 
mit dem retrahirten Theile in Verbindung. Jede Strömung ist in 
den Verbindungsfäden erloschen, deren feinere Struktur sich nicht 
von derjenigen des wandständigen Theiles unterscheidet. Dass 
eine solche Trennung erfolgen konnte, ist aber nur denkbar unter 

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186 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 9. 


der Voraussetzung einer festeren Consistenz der wandständigen 
Lage. Sie hat in Folge der intensiven Giftwirkung, die ohne 
einen zur Auslösung der Contraction genügenden Reiz, oder zu 
schnell vor sich ging, ihre Verschieblichkeit, die vielleicht von 
vorne herein etwas geringer ist als die der centralen Theile, 
ganz eingebüsst. Sie konnte unter dem Zuge der durch das Gift 
erregten centralen Theile nicht mehr eine Lage Veränderung er¬ 
leiden, sondern blieb, erstarrt, an der Wand haften, während 
die noch contractilen Theile mit einer letzten Lebensäusserung 
sich von ihr ablösen und mit den Chromatophoren zusammen¬ 
ballen. Sie haben damit die Todesstellung erreicht, welche, zwar 
von der Kugelform ziemlich weit entfernt, aber das Bestreben, 
den möglich kleinsten Raum einzunehmen, nicht verkennen lässt. 
Die complicirte Struktur der Spirogyrazellen hindert die völlige 
Erreichung der Kugelform, wie Sie aus den Abbildungen ersehen 
werden. Weniger jedoch als die complicirt gebauten Spirogyren 
bleiben andere pflanzliche Protisten hinter der Kugelform zurück; 
sie wird theils vollständig erreicht, theils bildet sich eine eiförmige 
Zusammenziehung des todten Protoplasten innerhalb der cylindri- 
schen Membranen von Cladophora und den Syphoneen, Vaucheria 
und Caulerpa. In ihren Rhizomen wird die Zusammenballung 
als natürliches Vorkommniss häufig angetroffen. Auf dem Photo¬ 
gramm von Brvopsis sehen Sie in grossem Umfange die gleiche 
Erscheinung, die überhaupt bei allen pflanzlichen Zellen mit 
protoplasmatischem Inhalt eine sehr verbreitete Todeserscheinung 
ist, nur bietet das natürliche Vorkommen nicht die sichere 
Möglichkeit, wie das Experiment, die primären Produkte der 
tödtlichen Noxen von der nachträglichen cadaverösen Plasmolyse 
zu unterscheiden. 

Bevor ich mich der zweiten Möglichkeit der Erklärung 
unserer Deformationen zuwende, möchte ich mir noch ein paar 
Worte erlauben Uber die Verbreitung der Kugel form an 
todten Zellen der Metazoen, insbesondere auch des Menschen. 
Es ist bekannt, dasB die Leukocyten des weissen wie des rothen 
Blutes lebhafte Contractilität zeigen, und dass die Kugelform, in 
der sie post mortem zur Beobachtung kommen, ihrer beson¬ 
deren Todesform entspricht. Es wird in der menschlichen 
Pathologie nur zu häufig vergessen, dass die sichtbarste Lebens¬ 
äusserung dieser Zellen in amöboider Bewegung besteht, dass 
beständig Formveränderungen, Aussenden und Zurückziehen von 
Pseudopodien stattfinden, und dass nur etwa vorübergehende 
Lähmungen, ebenso wie der Tod, die Kugelform veranlassen. 
Ist auch der Charakter der Bewegungen ein wechselnder 
nach den äusseren Bedingungen, verhalten sich beispielsweise 
die Leukocytencontractionen des Frosches anders bei der Emi¬ 
gration im Cohnheim*sehen Versuch, als etwa ira Empyem der 
vorderen Augenkammer, dessen Zellen wir im hängenden Tropfen 
beobachten, so ist doch der Formwechsel eine vitale Grund¬ 
erscheinung derselben. Die Verschiebung der feinen Körner des 
Zellkörpers ist das Correlat der Formveränderung, und sie darf 
nicht mit der bekannten Brown’sehen Molecularbewegung ver¬ 
wechselt werden, die bei allen Beobachtungen von todtem Proto¬ 
plasma gelegentlich constatirt wird; sie wird nicht selten in 
menschlichen Eiterkörperchen schon gleich nach der Entnahme der 
Zellen aus dem lebenden Körper in indifferenter Kochsalzlösung 
beobachtet, ebenso begegnet uns auch an Schleimkörperchen, im 
Leichenblut, wie an Kömerzellen verschiedenen Ursprungs dieses 
Tanzen von Eiweiss- oder Fettkörachen. Es verräth bei diesen 
Elementen immer die Zellleiche. Allerdings ist es innerhalb 
der Zellen auch nur möglich, wenn die Grundsubstanz nicht, wie 
es zunächst unter diesen Verhältnissen immer der Fall ist, ihre 
Verschieblichkeit eingebüsst hat, sondern theilweise bereits wieder 
erweicht, und zwar in einen flüssigeren Zustand Ubergegangen 
ist, als sie je zuvor besessen hat, oder wenn Flüssigkeit inner¬ 


halb der Zelle zu einer Vacuole abgesondert ist. Es wäre se 
auffällig, wenn sich dies bei den Hämamöben der Malar 
und der Beri-Beri anders verhalten sollte, und Glogner 
der verdiente Erforscher der Beri-Beri, ist möglicherweise ein 
Täuschung verfallen, wenn er an Hämamöben aus dem Milzsaf 
von Beri-Beri-Kranken, die das auch von anderen Beobachte] 
gesehene, einem Mückenschwarm ähnliche Tanzen der Pigmen 
kömer aufweisen, Sporulationsvorgänge wahrgenommen habe 
will. Nur wenn sich das Pigment in präformirten Vacuolen b 
fände, was schon an sich nicht wahrscheinlich ist, wäre ilu 
Bewegung erklärlich. Herr College Glogner hatte bei sein« 
letzten Anwesenheit in Europa die Freundlichkeit, mir sei 
schöne Präparate von Beri-Beri vorzulegen. Was ich aber a 
diesen, sowie an den ausgezeichneten Malariaobjecten des Herr 
Stabsarztes Ziemann und dem reichen Malariamaterial gesehe 
habe, das ich der Güte des Herrn Collegen A. Plehn verdankt 
spricht nicht für eine präformirte Erscheinung, sondern fli 
eine cadaveröse Erweichung der lebenden Substanz innerhaf 
der festeren kugelförmigen Oberfläche. Dass sich solche Zu 
stände an todten Zellen auch im lebenden Körper ausbildei 
können, braucht nicht noch erst bewiesen zu werden. 

Kehren wir jetzt zu unseren Pflanzenzellen zurück, so sehei 
wir als zweite Möglichkeit zur Erklärung der Plasmoschisi 
die plötzliche Entstehung und Ausgleichung osmo¬ 
tischer Spannung in Folge von durch das Gift be 
wirkten Zersetzungen. Dass in gewissem Umfange ancl 
neben der letzten, der agonalen Contraction solche Diffusious 
deformationen entstehen können, zeigt sich an den durch elek¬ 
trischen Schlag hervorgerufenen, mit den toxisch erzeugten über¬ 
einstimmenden Kernveränderungen. Handelt es sich hier doch 
zweifellos um eine im Falle der elektrischen Tödtung augen¬ 
blicklich eintretende katalytische Veränderung. Findet die Zer¬ 
störung der Spirogyren-Architektur nicht in dem angenommenen 
Umfange durch contractorische Erregung in Folge des chemischen 
Reizes statt, sondern sind es thatsächlich, in überwiegendem Maasse 
oder gar ausschliesslich, physikalische Störungen, welche durch die 
Zersetzung hervorgerufen werden, so würde das bezüglich der 
Auffassung der beobachteten plasmoschistischen Trennung nichts 
ändern; eine solche ist, wie ich vorher ausgeführt habe, nur 
möglich bei imgleichartiger Consistenz und wechselnder C-ohäsion 
in den verschiedenen Abschnitten des Protoplasten. Zu ent¬ 
scheiden, welcher von beiden Modi für die Störung der Structur 
verantwortlich gemacht werden muss, und in welchem Umfange 
sie etwa beide neben einander bestehen, ist auf Grund der bis¬ 
herigen Erfahrungen nicht möglich; dazu bedarf es noch vielfacher 
molecular-physikalischer und chemischer Ermittelungen, von 
denen bisher nur erst wenig vorhanden ist. 

Verlassen wir jetzt die primäre Aenderung, welche wir an 
den Spirogyren und zum Theil auch an anderen niederen Lebe¬ 
wesen kennen gelernt haben, so ist auch die cadaveröse 
Plasmolyse der Ausdruck einer in der organischen Natur weit 
verbreiteten Erscheinung, nämlich einer Contraction des todten 
Eiweisses des Protoplasten, die, welcher Protoplasmatheorie der 
Einzelne auch im Speciellen huldigen mag, dennoch von der im Tode 
fest gewordenen hyalinen Grundmasse der lebendigen Substanz aus¬ 
gehend gedacht werden mnss. Ich brauche wohl nicht vorher 
noch besonders hervorzuheben, dass ich weit davon entfernt bin, 
das flüssige Protoplasma lebender Pflanzenzellen und thierischer 
Protisten sowie gewisser Zellen der Metazoen mit dem Zell¬ 
körper weiter entwickelter thierischer Zellen irgendwie zu 
identificiren. Ein grosser Theil der letzteren weist lebend ein 
Consistenzverhältniss auf, welches etwa demjenigen des todten 


1) Virchow’s Archiv, Bd. 141, S. 404 f. 


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1. März 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Protoplasma entspricht, also von vornherein keine unbegrenzte 
Verschieblichkeit seiner Theile besitzt, insbesondere nach dem 
Eintritt des Todes. Das todte Protistenprotoplasma ist jedoch 
ebenso wie die Grundsubstanz der höher entwickelten Zellen, 
trotz der sonstigen Unterschiede, albuminöBer Natur. An der 
fester gewordenen hyalinen Grundmasse des gestorbenen Proto¬ 
plasma geht eine Zusammenziehung vor sich, die nicht mehr 
die Folge eines Reizes, sondern eine cadaveröse Veränderung 
ist und dazu führt, die eingeschlossene, chemisch nicht an 
sie gebundene Flüssigkeit auszupressen. Bei den Spirogyren 
zeigen die starre Form, die Falten und Risse der auf Berührung 
des Objectes im Zellsaft flottirenden Protoplasmalamellen deut¬ 
lich, dass eine Schrumpfung eingetreten ist, die zum Einreissen 
des anfangs noch wandständigen Theiles und zu seiner Ablösung 
geführt hat. Der Eintritt dieser Erscheinungen ist selbst von 
den verschiedenen Bedingungen abhäugig, unter denen sich die 
Zellleiber befinden, und sie kann beispielsweise nicht entstehen 
an Zellen, die durch dünne Alkalien getödtet wurden, und deren 
Beschaffenheit von vornherein die Möglichkeit einer solchen Ver¬ 
änderung ausschliesst. Ebenso tritt sie auch nicht an allen 
Zellen ein, die in höher organisirten Lebewesen innerhalb des 
weiter lebenden Körpers gestorben sind, aber recht häufig, ja 
weit überwiegend wird sie in solchen Fällen, auch an Menschen, 
beobachtet und findet ihren Ausdruck in der Inspissation ne¬ 
krotischer Gewebe, die Virchow der Erweichung derselben 
gegenüber gestellt hat. Am Gesammtgewebe wie an den Zellen 
zeigt sich hier, was wir an den Zellen der niederen Organismen 
im Einzelnen beobachten konnten. Einigen wichtigen Einzel¬ 
heiten dieses Vorganges an höher differenzirten Zellen konnte 
ich bei meinen Untersuchungen Uber die anämische Nekrose der 
Nierenepithelien Q nachgehen und hervorheben, dass dem Kern- 
schwnnd der Zellen ein Zellkörperschwund parallel gehe, welcher 
durch VerluBt von wasserlöslichen Substanzen bewirkt wird. Ferner 
konnte ich darauf hinweisen, dass man sicH die Altmann’sche 
Granula, aus deren Verschwinden ich im Wesentlichen den Körper¬ 
schwund der Zellen ableitete, nicht als feste Körnchen, sondern 
als flüssige Gebilde vorzustellen habe. Durch die wichtigen 
Arbeiten von A. Fischer 1 2 ) ist das Verhalten flüssiger Proto- 
plasmaeinschlüsse gegenüber den Fixationsmethoden weiter auf¬ 
geklärt worden, und es lässt sich annehmen, dass eine grosse 
Menge der sog. albuminösen Zellkörner aus Lösungen be¬ 
steht, welche die Grundsubstanz der Zellen nicht zu imbi- 
biren vermögen, sondern in dieselbe gewissermaassen inflltrirt 
sind. Sie sind auch mit dem flüssigen Protoplasma demnach 
nicht mischbar. Die Eigenschaft der hohen Verschieblichkeit, 
welche das Protoplasma der wenig differenzirten Zellen gegen¬ 
über der lebenden Substanz der entwickelteren Formen aus¬ 
zeichnet, ist es, welche die Erklärung abgiebt für das Auf¬ 
treten der primären Todeserscheinung, die wir bei 
den Zellen der Metazoen mit Ausnahme der Leukocyten 
vermissen. Das schliesst aber selbstverständlich nicht aus, 
dass in den cadaverösen Veränderungen bei beiden 
übereinstimmende Eigenschaften zu Tage treten. 

Nur ein Element des menschlichen Körpers kann, wie ich 
schon erwähnt habe, zu den Rhizopoden direkt in einen Vergleich 
gesetzt werden, und dieses ist gewissermaassen ein durch die 
lange Entwickelung hinübergerettetes atavistisches Ueberbleibsel: 
die amöboiden Leukocyten. Sie zeigen denn auch in Bezug auf 
die Todeserscheinungen eine weitgehende Uebereinstimmung mit 


1) Virchow’s Archiv, Bd. 123, S. 330. 

2) Zur Kritik der Fixirungsmethoden und Granula. Anatom. Anz. 
1894, 8. 678 f., und Neue Beiträge zur Kritik der Fixirungsmethoden. 
Ibid. 1895, S. 7G9 f. 


187_ 

ihrem phylogenetischen Paradigma. Aufhören der Contractionen, 
Kugelform, und unter bestimmten Bedingungen auch die nach¬ 
trägliche cadaveröse Schrumpfung, insbesondere bei der sogen, 
käsigen Umwandlung, lassen deutlich erkennen, dass das todte 
Eiweiss auch in ihnen die gleichen Grundeigenschaften aufweist, 
welche wir an ganz anders gearteten, selbstständigen Organismen 
kennen gelernt haben. 

Ganz allgemein ist daher festzustellen, dass beim Sterben 
die lebendige Substanz fester wird. Irgend ein Theil 
ihres Bestandes verliert immer die hohe Verschieblichkeit, 
welche das lebende contractile Protoplasma auszeichnet, nur 
steht dieser Antheil weit zurück hinter demjenigen, der bei¬ 
spielsweise durch starke Säuren ausgefällt wird und histologische 
Fixirung bewirkt. Bei den Erscheinungen des natürlichen Todes, 
wie sie auch durch die sehr dünnen Gifte hervorgerufen werden, 
ist die todte Substanz anfangs noch eine so wasserhaltige wie 
im Leben, später aber wird dieses Wasser mit den in ihm ge¬ 
lösten Körpern rein mechanisch ausgetrieben, und hierin stim¬ 
men, wie gesagt, die Erscheinungen der cadaverösen Plasmolyse 
der Spirogyren und Protisten, der häufigste Zustand, in dem 
uns in der Natur todte pflanzliche und thierische Zellen be¬ 
gegnen, mit der Inspissation, die in der menschlichen Patho¬ 
logie so viele Vorkommnisse von Nekrose charakterisirt, überein. 
Wenn auch Virchow diese Bezeichnung ganz wesentlich im 
makroskopischen Sinne gebraucht hat, so handelt es sich bei 
der Inspissation thatsächlich um eine Eindichtung, die, wie es 
jetzt wohl hinlänglich bewiesen ist, auch in dem feineren Bau 
der Zellsubstanz zu deutlichem Ausdruck kommt. Dass sie in ihren 
Einzelheiten, namentlich bezüglich des chemischen Charakters 
der betroffenen Theile, wie auch bezüglich der Ausdehnung der 
Gerinnungserscheinungen so grosse Abweichungen je nach der 
Eigenart der Zellen und des tödtenden Agens aufweisen muss, 
liegt auf der Hand. 

Die physikalisch-chemischen Verhältnisse der Zellen bieten 
noch ein sehr weites Feld für die Forschung, welches des Abbaues 
dringend bedarf, und nicht weniger die Pathologie, als auch die 
normale Biologie zu fördern geeignet ist. Bei der Vergleichung 
dürfte es aber in diesem Falle wohl oft der richtigere Weg sein, 
nicht, wie dies bisher meist geschieht, im Reiche der 
Lebewesen von oben hinunter, sondern von unten 
herauf zu gehen, von den einfach gebauten selbstständigen, 
zu den höheren, selbst wenn es zunächst scheinen könnte, als ob 
es sich hierbei mehr um raüssige Gelehrsamkeit handeln möchte, 
als um praktisch wichtige Untersuchungen. Ohne ausreichende 
Kenntnisse der physikalischen und chemischen Eigenschaften 
der niederen Organismen ist eine sichere Grundlage für die bio¬ 
logische und pathologische Erforschung höherer Lebewesen nicht 
zu erreichen. 

Ein weiteres Ergebnis unserer Untersuchungen liegt aber 
auch in dem Einblick, welchen wir bezüglich der hohen Em¬ 
pfindlichkeit der lebenden Substanz gegenüber schäd¬ 
lichen Einwirkungen gethan haben. Glaubte v. Naegeli 
angesichts der minimalen Quantitäten von Kupfer, welche er auf 
Spirogyra einwirken sah, dass es sich nicht um den chemischen 
Effect gelösten Kupfers handeln könnte, sondern dass es eine 
neue, bisher unbekannte Kraft sein müsse, welche sich in den 
tiefen Stömngen der pflanzlichen Struktur äusserte, so ist es 
noch überraschender, dass selbst noch eine Lösung, die nur 1:150 
des von Naegeli angewandten Kupfers enthält, genügt, um die 
Spirogyren zu töten. Allerdings entsteht die chemische Zersetzung 
des Protoplasmas, welche durch das Kupfer hervorgerufen wird, 
langsamer, aber es ist doch die Menge des Kupfers, welches in 
der Zeiteinheit auf die Lebewesen einwirken kann, eine noch 
viel geringere als in den oligodynamischen Versuchen. 


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No. 9. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Darf uns dies Wunder nehmen? Gewiss nicht! Sehen wir 
doch keine lebendige Substanz irgend einer Art mit derjenigen 
anderer Arten, ja sogar anderer Individuen derselben Art völlig 
Ubereinstimmen, obschon sie die wesentlichen Eigenschaften mit 
ihnen gemein hat, und sehen wir nicht, dass sie vielfach durch 
liusserst geringfügige Reize dauernd oder vorübergehend beeinflusst 
wird, Unsere Riechhäärchen, den Cilien der Bacteriaceen und 
Schwärmsporen und der Protozoen nahe verwandt, erfahren eine 
chemische Veränderung ihrer Substanz, wenn wir durch ein Zimmer 
gehen, durch das längere Zeit vorher ein Körnchen Moschus hin¬ 
durchgetragen worden ist der noch geringere Stoss der Lichtwellen 
erzeugt in der lebenden Substanz unserer Retinaelemcnte eine Be¬ 
wegung, die ebenso wie die minimalen Einwirkungen auf unsere 
übrigen Siunesendorgane wiederum lebendige Substanz, in den 
Nerven, in Erregung versetzt, die ihrerseits im centralen Nerven¬ 
system neue Einwirkungen hervorruft. Sind wir auch erat im 
Anfänge einer Erforschung der materiellen Aenderungen, welche 
hier Vorgehen, so darf doch wohl die Hoffnung ausgesprochen 
werden, dass auch hier die vergleichende Morphologie, Chemie und 
Physik, ausgehend von den am tiefsten stehenden Apparaten, 
zu einem weiter eindringenden Verständnis führen wird. Zeigt 
doch schon die pathologische Anatomie der Nervenzellen höherer 
Lebewesen, dass sich in ihrer Struktur im Laufe der krankhaften 
Processe nachweisbar manches ändert. Aber es muss auch 
betont werden, dass die bisher an niederen Orga¬ 
nismen gebräuchlichen experimentellen Eingriffe eben¬ 
so wie die an höheren Thieren zum Studium der Zell¬ 
physiologie angewandten Reize geradezu brutal sind, 
und dass zur Erforschung physiologischer und patho¬ 
logischer Vorgänge adäquate Reize nothwendig sind. 

Aeusserst dünne Giftlösungen, welche nur minimale Giftmengen 
in Action treten lassen, müssen vor Allem untersucht werden. Die 
zum Theil sehr verbreiteten pflanzlichen Giftstoffe wie diejenigen 
der Bacterien dürften zunächst in dieser Hinsicht ein grosses 
Interesse bieten. Herr College Klingmann ist bereits seit eini¬ 
ger Zeit mit derartigen Versuchen beschäftigt. Dann dürften 
auch der Phosphor in gleicher Hinsicht, ebenso das Arsen 
und andere schädliche Substanzen in dünnsten Lösungen zu 
untersuchen sein. Meine auf die letzteren bezüglichen \ ersuche 
sind noch nicht weit genug vorgeschritten, um sagen zu können, 
dass wir in diesen Methoden Mittel haben, um auch gering¬ 
fügige, für die Individuen nicht einmal tötliche Schädigungen 
hervorzubringen, wie sie uns in der Natur als Krankheiten be¬ 
gegnen, wenn es auch nach den Erfahrungen mit den tödtlichen 
Lösungen zweifellos erscheint, dass wie sich dies bei der Subli¬ 
matlösung von 1 : 5000000 bereits gezeigt hat, es mit geeigne¬ 
ten Stoffen gelingen muss, wirkliche Krankheiten an den selbst¬ 
ständigen Zellen der Protisten zu erzeugen. Die grössere Deut¬ 
lichkeit mit der sie, im Vergleich zu den nur für bestimmte 
Functionen eingestellten Zellen höherer Organismen, ihr Wohl¬ 
befinden und ihre üble Lage verrathen, ist ein Vorzug und An¬ 
lass genug, sich ihnen mehr zuzuwenden, als dies bisher 
geschehen ist. 

Die Ueberzeugung von der Geringfügigkeit der Reize, 
welche an der einzelnen Zelle reactive Vorgänge auslösen, 
dürfte noch nicht so weit verbreitet sein, wie sie es verdient. 
Mit voller Klarheit ist sie, soweit ich mich darüber orientiren 
konnte, nur von Hugo Schulz in seinem Artikel: „Aufgabe 
und Ziel der modernen Therapie“») ausgesprochen worden. Der 
Cellularpathologie will dieser Autor ihre Consequenz in der 
Cellulartherapie geben. Bis eine solche aber in zielbewusstem 
Vorgehen möglich ist, dazu muss die vergleichende Pathologie 


1) Deutsche med. Wochensehr. 1890, No. 1—4. 


der Zelle noch weit mehr ausgebaut werden. Dann unterliegt 
es aber auch wohl keinem Zweifel, dass auf diesem Wege die 
Vereinigung der jüngsten, scheinbar gegensätzlichen humoralen 
Erfahrungen mit der Cellularpathologie möglich ist und erfolgen 
muss, sobald die Grundlagen dafür geschaffen sind. 


V. Kritiken und Referate. 

Jahresbericht über die Fortschritte auf dem Gebiet« der Chi. 
rnrgle. Herausgegeben and redigirt von Prof. Dr. Hildebraidt. 
I. Jahrgang. Bericht über das Jahr 1895. Verlag von Bergmann. 
Wiesbaden 1896. 

Der immer gewaltiger anschwellende Umfang der chirurgischen 
Tagesliteratur erschwert das Uebersehen derselben dem Einzelnen immer 
mehr und ruft das Bediirfniss nach geeigneten zusammenfassenden Ueber- 
sichten hervor. Diesem Bedürfnis ist der vorliegende, einen stattlichen 
Band von 1815 Seiten bildende Bericht entsprungen. Der Herausgeber 
hat eine grosse Keihe von Fachgenossen des In- and Auslandes zur Mit¬ 
arbeit herangezogen, um möglichste Vollständigkeit zu erzielen. Das in 
dem Erstlingsjahrgange Gebotene ist sehr gut und wird dem Werke 
unter den wissenschaftlich arbeitenden Chirurgen gewiss viele Freunde 
verschaffen. Die Berichterstattung ist entsprechend dem grösseren Raume 
eine vollständigere und ausführlichere als in den bisher bekannten Jahres¬ 
berichten. Von den wichtigeren Arbeiten sind zum grössten Theil vor¬ 
treffliche Auszüge gegeben, welche ein klares Bild über den Inhalt ver¬ 
schaffen. Wünschens werth wäre es, wenn von den vielen casuistischen 
Mittheilungen, die im Texte keine Erwähnung Anden konnten, in der 
Literaturübersicht ein ganz kurzer, mit wenigen Worten zu gebender 
Auszug des oder der mitgetheilten Fälle klein gedruckt angeführt würde. 
Derjenige, welcher sich für das betreffende Gebiet interessirt, kann 
daraus sofort übersehen, ob er die betreffende Arbeit im Original anf- 
suchen soll oder nicht. — Im Allgemeinen ist zn betonen, dass die 
grosse und schwere Aufgabe dem Herausgeber und seinen Mitarbeitern 
vortrefflich gelungen ist. Die Fachgenossen werden das Werk sicherlich 
als eine werthvolle Unterstützung für literarische Arbeit mit Freuden 
begrüssen. W. Körte. 


Halber: Mikroekople der Harnsedimente. Mit 106 Abbildungen 
auf 53 Tafeln. Wiesbaden, Bergmann. 1896. (12,60 M.) 

Seitdem die „klinische Mikroskopie“ sich Bürgerrecht verschafft hat, 
ist sic sowohl im Ganzen, wie in ihren wichtigsten Einzelheiten Gegen¬ 
stand vielfacher Bearbeitung und Darstellung gewesen. Insbesondere 
sind die Harnsedimente immer von neuem beschrieben und abgebildet 
worden. Die neueste Pnblication der Art, Daiber’s Atlas, darf als eine 
besonders gelungene Wiedergabe alles Wissenswerthen bezeichnet werden. 
Die krystallinischen wie die organisirten 8edimdnte sind in sehr cha¬ 
rakteristischen Typen dargestellt; man wird keine wichtige Form ver¬ 
missen, überall vielmehr die geschickte Auswahl wie die sehr sorgsame, 
treue Ausführung der Zeichnungen anerkennen, bei denen nur hin und 
wieder etwas weniger matte Töne zu wünschen wären. Der vortrefflich 
ausgestattete, reichhaltige Atlas verdient lebhafte Empfehlung und weite 
Verbreitung um so mehr, als auch der begleitende, erklärende Text in 
knapper Form und wiinschenswerther Vollständigkeit über Vorkommen 
bezw. Darstellung der einzelnen Sedimentbildner orientirt. 


Gyorkovechky: Pathologie und Therapie der männlichen Im¬ 
potenz. Wien und Leipzig, Urban & Schwarzenberg. 1836. 
II. AuA. 

Wenn der Verfasser dieses kleinen Werkes die neue Auflage mit 
den Worten einleitet, dass in den 7 Jahren seit Erscheinen der ersten 
Ausgabe „der behandelte Gegenstand theoretisch und praktisch recht 
wenige Fortschritte gemacht hat“, so wird man ihm nur sehr bedingungs¬ 
weise, und höchstens soweit es die Therapie der Impotenz betrifft, bei- 
pflichten wollen. Der Einblick in die geschlechtlichen Functionen des 
Mannes aber, ihre Physiologie und Pathologie, hat sich doch inzwischen 
ungemein erweitert und vertieft. Freilich ist von dieser Erweiterung 
unserer Kenntnisse in sein Buch nicht allzuviel übergegangen; die aus¬ 
gezeichneten Forschungen Ftirbringer’s, der durch seine eingehenden 
Untersuchungen eigentlich erst den Boden zu einer wissenschaftlichen 
Auffassung des Gegenstandes geschaffen hat, spiegeln sich hier ebenso¬ 
wenig ab, wie z. B. Eulenburg’s klinisch-neurologische Krankheitsschilde¬ 
rungen. Das Buch will allerdings wohl auch mit den erschöpfenden Dar¬ 
stellungen namentlich der beiden genannten Autoren nicht concurriren- 
es enthält wesentlich eine, etwas subjectiv gefärbte und ziemlich lasci' 
geschriebene, wie es scheint aber auf eigene zahlreiche Beobachtungen ge¬ 
gründete, skizzenhafte Darstellung, aus der immerhin, wer sich einen fluch¬ 
tigen Einblick verschaffen will, mancherlei lernen und manchen praktischen 
Anhaltspunkt für die Beurtheilung der Einzelfälle entnehmen wird. 

Posner. 


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1. März 189?. 


189 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


8. L. Schenk: Lehrbuch der Embryologie des Menschen nnd 
der Wirhelthiere. Zweite vollständig umgearbeitete und ver¬ 
mehrte Anflage mit 518 Abbildungen. Wilhelm Braumüller, Wien 
und Leipzig, 1896. Preis 16,00 Mk. 

Die erste Auflage dieses Werkes erschien im Jahre 1874, so dass 
zwischen den beiden Auflagen ein Zeitraum von 22 Jahren liegt. In 
dieser Zeit sind auf dem Gebiete der Entwickelungsgeschichte viele und 
neue Entdeckungen gemacht, neue Theorien sind aufgetaucht und wieder 
begraben worden, die Entwickelungsgeschichte der niederen Thiere ist 
in ausgiebiger Weise bearbeitet worden und die experimentellen Unter- 
sucbungsmethoden haben eine neue Richtung geschaffen, die sogenannte 
Entwickelungsmeehanik, wobei auch die natnrphilosophische Richtung 
von Weissmann nicht vergessen werden darf. Während nun in den 
Werken von Hertwig und Bergh, welche weiter unten besprochen 
werden, alle diese neuen Zweige berücksichtigt werden, finden wir bei 
Schenk nur eine Reihe von Angaben über die Entwickelung der wirbel¬ 
losen Thiere. Wenn man nun auch verschiedener Meinung darüber sein 
kann, in einem Lehrhuch die angeführten Gebiete zu behandeln — wenn¬ 
gleich es auch für den Anfänger wünschenswerth ist, über diese Gebiete 
einiges zu erfahren — so muss es doch als ein Mangel bezeichnet 
werden, dass die neuere Literatur gar zu kurz wegkommt. Um ein 
Beispiel zu erwähnen, so hat Ref. in dem Capitel über Mesoderment¬ 
wickelung vergeblich nach dem Namen von C. Rabl gesucht, dessen 
Theorie des Mesoderms berechtigtes Aufsehen erregt und verdiente An¬ 
erkennung gefunden hat. Es kann mithin nicht Wunder nehmen, wenn 
die längst als unrichtig nachgewiesene Anschauung vorgetragen wird, es 
entstünde das Mesoderm der Knochenfische aus „einer körnigen Proto¬ 
plasmamasse, in welcher verschiedene 8tadien karyokinetischer Kern¬ 
formationen liegen“. Bei der speciellen Entwickelungsgeschichte wäre 
die Wiedergabe der plastischen Reconstructionen über die Entwickelungs¬ 
zustände der einzelnen Organe, welche wir ja in vorzüglicher Ausführung 
besitzen, dringend zu wünschen. 


0. Hertwig: Lehrbuch der Enswlckelungsgeschichte des Menschen 
nnd der Wlrbelthiere. Fünfte tbeilweise umgearbeitete Auflage, 
mit 384 Abbildungen im Text und 2 lithographischen Tafeln. 
Verlag von Gustav Fischer, Jena, 1896. 

Dem vorher referirten Lebrbuche gegenüber werden in diesem die 
meisten neueren Arbeiten berücksichtigt, soweit sie zu den Anschauungen 
des Verfassers passen. Dadurch gewinnt die Darstellung ein einheitliches 
Gepräge und trägt den neueren Fortschritten Rechnung. Freilich konnte 
dies, wie der Verfasser in der Vorrede besonders betont, nicht überall 
in gleichem Maasse geschehen und der freundliche Leser wird gebeten, 
wohlwollend zu berücksichtigen, dass eine neue Anschauung erst durch 
fortgesetzte bestätigende und erweiternde Untersuchungen sich allgemeine 
Geltung verschaffen müsste und dass nicht jedes Neuere das Bessere sei. 
Viele Abschnitte sind ergänzt beziehungsweise umgearbeitet worden. 
Ganz neu hinzugekommen ist ein Abschnitt über „Experimente und 
Theorien über die Bedeutung der erstgebildeten Fnrchungszellen und 
einzelner Abschnitte des Eies für die Organbildung des Embryo“. 

Soviel über die Aenderung innerhalb der neuen Auflage des Lehr¬ 
buches, welches trotz mancher Mängel immer noch das beste Lehrbuch 
der Entwickelungsgeschichte für Studirende ist, welches wir besitzen. 


R. L. Bergh: Vorlesungen Aber Allgemeine Embryologie. Mit 

126 Figuren im Text. Wiesbaden. Verlag von C. W. Kreidel. 

1895. 

In seiner Art ausgezeichnet und eine Fundgrube für allerlei inter¬ 
essante Daten aus der allgemeinen Entwickelung der Wirbelthiere und 
der Wirbellosen, welche man sonst aus der Literatur mühsam zusammen- 
suchen muss, ist vorliegendes Werk. Der Verfasser steht zwar hinsicht¬ 
lich einiger Fragen auf einem sehr skeptischen Standpunkt; so in Bezug 
auf die Homologie der Gastrulaformen bei Wirbelthieren und Wirbellosen 
sowie in Bezug auf die Mesodermtheorie von C. Rabl, doch ist aus der 
ganzen Behandlung der Fragen zu ersehen, dass der Autor ohne vor¬ 
gefasste Meinung an den Stoff herangetreten ist und sich ernst bemüht 
hat, das Richtige zu finden. Die Anordnung des Stoffes ist die durch 
den Gang der Entwickelung gegebene: Befruchtung, Furchung, Keim¬ 
blätter u. s. w. In allen diesen Abschnitten, sowie in den folgenden 
über die experimentellen Untersuchungen hinsichtlich der Bedeutung der 
ersten Furchungszellen, in den Abschnitten über Resorption und Regene¬ 
ration und über die Beziehung der Embryologie zur Descendenzlehre ist 
das Für und Wieder sorgfältig erwogen. Den Schluss de9 Buches bildet 
ein kurzer Abriss der Geschichte der Embryologie und Anleitungen zu 
einigen Beobachtungen und Versuchen embryologische Gegenstände be¬ 
treffend. 

Alles in Allem sind die „Vorlesungen“ von Bergh eine werthvolle 
Bereicherung unserer Lehrmittel. 


VI. Verhandlungen Ärztlicher Gesellschaften. 

Berliner medlcinische Gesellschaft. 

Sitzung vom 17. Februar 1897. 

Vorsitzender: Herr Virchow. 

Schriftführer: Herr Hahn. 

Der Vorsitzende hegrüsst als Gäste die Herren Kappeyne van 
de Capelle aus dem Haag und Me es au9 Rotterdam. 

Vor der Tagesordnung. 

1. Hr. A Bidder: Ein seltenes und, wie mir scheint, auch recht 
merkwürdiges Präparat einer Doppelfehlgeburt möchte ich Ihnen vor¬ 
legen. Es stammt von einer 35jährigen, zum letzten Male Ende No¬ 
vember vorigen Jahres menstruirten Frau, die wegen drohenden Abortes 
und hoch fiebernd am 1. II. 1897 das Krankenhaus in Britz aufgesucht 
hatte. Als sie gleich nach ihrer Ankunft auf den Untersuchungstisch 
gelegt worden war, fand sich zwischen ihren Schenkeln ein Foetus, den 
ich Ihnen hier zeige. Er scheint wohlgebildet zu Bein, hat schon deut¬ 
lich erkennbare männliche Geschlechtstheile, misst vom Scheitel bis zur 
Steissbeinspitze etwa 6 cm und dürfte also etwa dem vierten Schwau- 
gerschaftsmonat entsprechen. Als nun mein zweiter Assistent, Herr Dr. 
Mohr, in meiner Gegenwart zum Zwecke der Placentalösung den 
Finger in den Uterus geschoben hatte, fiel ihm alsbald neben einigen 
Blutgerinnseln eine Blase in die Hand. Sie war grösstentheils so dünn¬ 
häutig und hatte einen so klaren, röthlich-gelben, flüssigen Inhalt, dass 
man in ihr sogleich einen ganz kleinen, blassen Embryo frei schwimmen 
sehen konnte. Es ist kaum 17 mm lang und hat 4 noch kolbig-kurze 
Extremitäten, an denen von Fingern und Zehen noch keine Spur zu 
sehen ist. Er ist also wohl erst 4—5 Wochen alt. Die umhüllende 
Blase — das Amnion — ist fast G cm lang und 5 cm breit und zeigte 
an ihrer äusseren Fläche einige dickere, flache, blutreiche Stellen. Von 


Embryo 2 

in der Amnionblase; die dunkler ge¬ 
haltenen Stellen sollen das dickere 
blutreiche Gewebe der Blase an¬ 
deuten; von einer Stelle oben 'ragt 
der kurze Nabelstrang in die Blase. 

einer dieser Stellen ausgehend ragt frei in das Innere ein etwa 1 cm 
langer solider Stiel, ohne Zweifel der Nabelstrang, von dem der kleine 
Embryo abgerissen ist. Der stark eiweisshaltige Inhalt der Blase wurde 
durch Einstich mit der Pravaz’schen Spritze entleert und durch schwache 
Chromsäurelösung ersetzt, an deren Stelle endlich am nächsten Tage 
Alkohol eingespritzt wurde. Die mit Fäden zugebundenen Stichöffnungen 
sehen Sie hier. — Ich werde jetzt das Amnion aufschneiden und Ihnen 
den Inhalt vorlegen. Zwei einfache Bleistiftskizzen der Embryonen, von 
denen die zweite den kleinen Embryo noch in der Blase liegend zeigen 
soll, erlaube ich mir zur Erläuterung hinzuzufügen. Endlich reiche ich 
Ihnen noch die Placenta, an der nur ganz kleine, nachträglich aus dem 
Uterus geholte Stücke fehlen. — Aus dem Vorleben der Patientin habe 
ich noch mitzutheilen, dass sie im 20. Lebensjahre heirathete und in 
den seitdem vergangenen 15 Jahren 12 mal — einschliesslich den vor¬ 
liegenden Fall — schwanger wurde. 7 mal abortirte sie dabei und nur 
5 Kinder, die noch leben, trug sie aus. Sie hebt hervor, dass sie auch 
bei den letzteren stets bis zur Hälfte der Schwangerschaft regelmässig 
menstruirte, so dass sie nie recht wusste, ob nnd wie lange sie schon 
schwanger sei. Der vor der gestern erfolgten Entlassung der Kranken 
untersuchte Uterus zeigte niihts Abnormes. 

Wie ist dieser Fall nun autzufassen? Handelt es sich um zwei 
gleicbalterige Embryonen, von denen der eine nur in der Entwickelung 
zurückgeblieben resp. frühzeitig abgestorben ist, wofür unter Anderem 
der offenbar vorhandene Hydrops des Amnion sprechen würde? Oder 
liegt vielleicht eine Superfoetation vor? Ich wage es natürlicher Weise, 
nicht zu entscheiden und kann nur die anwesenden Herren Pathologen 
und Geburtshelfer um Meinungsäusserung bitten. Wohl weiss ich, dass 
die Gynäkologen die Existenz einer Superfoetation für nicht erwiesen 



Embryo 1. 



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No. 0. 


100 BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


halten. Darnm war mir das Referat der Arbeit eines Amerikaners 
Bailley um so auffälliger, das im letzten Hefte des Centralblattes für 
Gynäkologie (1897, No. 6) enthalten ist. Der Autor will einen Fall 
beobachtet haben, der nicht anders als durch Annahme einer Super- 
foetation zu erklären sei. 

Discussion. 

Hr. R. Virchow: Wenn ich mir erlauben darf, ein paar Worte zu 
sagen, so möchte ich zunächst bemerken, dass, so viel ich erkennen 
kann, die beiden Foetus an derselben Placenta sitzen. Es ist neben 
dem grösseren Eisack eine besondere Blase vorhanden, in der offenbar der 
kleinere gesteckt haben wird, da dieselbe gross genug ist, um das kleinere 
Ei aufznnehmen, aber beide Eihäute (Blasen) sitzen auf einer und der¬ 
selben Placenta. Das schliesBt wohl aus, dass irgend eine spätere Be¬ 
fruchtung stattgefunden hat, es setzt vielmehr voraus, dass die Um¬ 
hüllung beider Eier ungefähr gleichzeitig erfolgt ist. Eine Superfoetatio 
möchte ich also entschieden ausscblicssen. An sich erscheint die Frage, 
ob der kleine Embryo ebenso alt ist, wie der grosse, schwierig. Aber 
eB giebt Fälle, wo der eine Foetus durch den anderen stark zur Seite 
geschoben oder durch hydropische Anschwellungen des zweiten Eies in 
seiner Entwickelung gehemmt ist. Ich würde mich auch hier für diese 
zweite Alternative aussprechen, dass es sich um einen atrophischen Zu¬ 
stand des kleinen Embryo handelt. 

Hr. L. Landau: In der That ist bisher ein einwandsfreier Fall von 
Superfoetatio noch nicht beschrieben worden. Dass auch der vorliegende 
Fall nicht dazu gehört, folgt ohne Weiteres daraus, dass beide Foetus 
eine gemeinsame Placenta haben. Aber auch in denjenigen Fällen, in 
denen zwei Placenten gefunden werden, und in denen in ganz extremer 
Weise die beiden Zwillingsembryonen in der Grösse differiren, ist die 
Annahme, dass eine verschiedene Entwickelung zweier gleichzeitig an¬ 
gelegter Früchte stattgefunden hat, die natürlichere und richtige. Ein 
extremes Beispiel hierfür haben wir bei den Zwillingsfrüchten, bei 
welchen neben einem vollkommen auegetragenen Foetus ein wegen 
seiner Kleinheit und Dünnheit Foetus papyraceus genannter, geboren 
wird. Sie sind beide gleichzeitig angelegt; der eine Foetus hat sich 
aber anf Kosten des andern ernährt. Ja, es sind weiter Fälle beschrie¬ 
ben worden, wo ein Zwillingsfötus im vierten Monat gestorben ist und 
entweder liegen geblieben ist bis zum natürlichen Ende der Schwanger¬ 
schaft, so dass nachher zwei scheinbar im Alter ganz differente Foeten 
geboren worden sind, oder aber es ist der eine Foetus im vierten Monat 
ausgestos8en worden und am Ende der Gravidität der andere lebens¬ 
kräftiger geboren worden. Bis jetzt sind diese und andere Fälle, welche 
scheinbar für eine Superfoetatio sprechen, auf eine ungezwungenere und 
natürlichere Weise so erklärt worden, dass die beiden Zwillinge ver¬ 
schieden ernährt worden sind, und so hat das offenbar auch in dem 
Falle des Herrn Bidder stattgefunden. 

Hr. R. Virchow: Ich wollte nur noch bemerken, dass zu der Gat¬ 
tung des Foetus papyraceus dieser Embryo auch nicht gerechnet werden 
kann, weil er ganz frei in seiner Blase schwimmt und keine Spur von 
Compression darbietet. Papyraceus heisst ein Foetus deshalb, weil er 
aussieht, wie wenn er in einem Herbarium gelegen hätte und seine ver¬ 
schiedenen Theile platt an einander gedrückt seien. 

2. Hr. Behrend stellt einen Fall von Syphilis vor, der mehrere 
an sich verschiedene und für sich seltene Formen der Syphiliserkrankung 
neben einander vereint zeigt. Es bandelt sich um 21 jährige unver¬ 
heiratete Frauensperson, die seit 10 Wochen erkrankt und unbehandelt 
eine erstmalige Syphiliseruption fast an der ganzen Körperoberfläche 
zeigt; und zwar: 

1. am Nacken, sowie an beiden Schultern und um den Nabel herum 
braunrothe Flecke, welche teilweise grünlich-gelb verfärbt sind und 
den Charakter älterer hämorrhagischer Flecken zeigen; 

2. stecknadelkopfgrosse, spitze, an der Kuppe mit kleinen Schüpp¬ 
chen bedeckte Knötchen von braunroter Farbe, die an den Follikel¬ 
mündungen localisirt, an der Brust, am Sternum und an den oberen 
Partien des Abomens isolirt, an den unteren Theilen des Abdomen so¬ 
wie in der Lendengegend und an den Clunes dicht gedrängt stehen; 

8. Ringe banfkorngrosser Papeln wie bei Syphilis-Recidiven im 
Nacken localisirt. 

Daneben bestehen breite Condylome an den Genitalien, Papeln und 
Pigraentflecke, wahrscheinlich hämorrhagischer Natur, an der Stirn, 
Papeln auf der von Haaren stark gelichteten Kopfhaut. 

Mit Rücksicht auf die hämorrhagischen Flecke, weist der Vor¬ 
tragende darauf hin, dass diese Form von ihm zuerst (1877) beschrieben, 
ihr Vorkommen lange Zeit bestritten worden, jetzt aber allgemein aner¬ 
kannt worden sei, so dass er alB der erste Beobachter derselben von 
machen Autoren, wie Neumann, Finger u. A. überhaupt gar nicht 
erwähnt wurde. Der vorliegende Fall zeichnet sich noch ganz beson¬ 
ders dadurch aus, dass er eine erwachsene Person betrifft, bei welchen 
die Syphilis haemorrhagica sonst nur ausnahmsweise vorkommt. (Der 
Fall wird in extenso in der Deutschen med. Wochenschrift veröffentlicht 
werden.) 

Tagesordnung. 

1. Hr. Albu: Die Wirkungen körperlicher Ueberau strengungen 
beim Radfahren. (Der Vortrag wird mit der Discussion in nächster 
Nummer veröffentlicht.) 


Hufeland’sche Gesellschaft. 

Sitzung vom 11. Juni 1896. 

Vorsitzender: Herr Liebreich. 

Schriftführer: Herr Mendelsohn. 

Tagesordnung. 

Hr. A. Loewy: Die Heilkraft des Fiebers. (Nach gemeinscha 
lieh mit Dr. P. F. Richter ausgeführten Untersuchungen.) (Der V 
trag ist unter den Originalien dieser Nummer abgedruckt.) 

Discussion. 

Hr. Jacob: Herr Loewy hat die Gründe ganz kurz gestreift, a 
denen er glaubt, dass das Fieber auf experimentell erzeugte Infectioi 
krankheiten einen günstigen Einfluss ausübe. Er hat für eine Tem| 
raturerhöhung durch den Hirnstich gesprochen und auf die Stoffwechs 
Verhältnisse hingewiesen, die jedenfalls beim Fieber mehr oder minc 
Veränderungen aufweisen. Nun entsteht aber die Frage, in welch 
Weise sich die Thiere zur Leukocytose verhalten. In der Blutcirculati 
werden erhebliche Veränderungen hervorgerufen; gerade das Verhältn 
der Leukocyten ist in dem letzten Jahrzehnt beim Fieber eingehe 
gewürdigt; wir wissen, dass bei fieberhaften Krankheiten, speciell t 
Pneumonie, die Fälle günstig verlaufen, bei denen man bis zur Krit 
eine starke Vermehrung der Lenkocyten beobachtet hat, und ich bin : 
der Ueberzeugung gekommen, dass der Frage der Vermehrung d 
weissen Blutkörperchen ein grosses Gewicht beizulegen ist. Ich hai 
durch verschiedene Substanzen eine Veränderung der Leukocyten hervc 
gerufen, eine Vermehrung oder Verminderung, und zwar mit Pneumon 
und Milzbrand; doch habe ich in verschiedenen Stadien der Infecti« 
dieser Thiere einen besonderen Einfluss des Fiebers nicht beobacht« 
können. Die Thiere, bei denen ich erst eine starke Vermehrung d 
Leukocyten bervorgerufen hatte, und die ich dann inficirt hatte, sii 
sämmtlich am Leben geblieben, zum Theil kaum erkrankt, doch habt 
sich bei diesen Thieren irgend welche nennenBwerthen Temperaturunte 
schiede nicht wahrnehmen lassen. Diese Thiere boten einen merl 
würdigen, dem menschlichen Krankheitsbilde ähnlichen SymptomencompU 
in Bezug auf das Fieber dar, indem sie, wie ein an Pneumonie erkrankt« 
Mensch, das eigenthümliche Bild der Krise zeigten und dann unter AI 
fall der Temperatur bis 96® und 85,5® zu Grunde gingen. Es ist all 
der hohe Werth der Leukocyten in den Vordergrund zu stellen; wes 
es gelingt, auch bei menschlichen Infectionskrankheiten durch Injectk 
solcher die Leukocytose fördernden Substanzen, wie durch Albumos« 
Nuclein u. s. w., die Zahl der Leukocyten zu vermehren, wäre ei 
grosser Vortheil geboten. 

Hr. P. F. Richter: Was die Bemerkungen von Herrn Jacob b< 
trifft, so freue ich mich, dass er jetzt bestätigt, was wir bebanptt 
haben und was gelegentlich einer Kritik unserer Arbeit und bei ein« 
Discussion im Vereine für innere Medicin von Herrn Goldscheide 
bestritten wurde, dass die Hyperleukocytose einen günstigen Effect at 
den Verlauf acuter Infectionskrankheiten bat Wir haben bereits i 
unseren vorläufigen Mittheilungen unter dem Titel „Ueber den Einflua 
von Fieber und Leukocytose auf den Verlauf von Infectionskrankheiteu 
darauf hingewiesen, dass der Organismus eine Reihe von Schutzmittel 
hat, von denen eines die Leukocytose, ein anderes das Fieber ist, un 
haben hervorgehoben, dass wir mit Spermin, Nuclein, Pilocarpin, d. 1 
Hyperleukocytose erregenden Mitteln u. s. w. Erfolge erzielt haben. 

Was die Verbindung der beiden Momente betrifft, ob ausser de 
Teroperatursteigerung in unseren Versuchen auch eine etwaige Hypei 
leukocytose in Betracht kommt, so haben wir uns natürlich auch dies 
Frage vorgelegt, ob bei unseren Thieren Hyperleukocytose vorhande 
war. Die Versuche in der Beziehung haben geschwankt und ich glaub 
daher nicht, dass bei den trepanirten Thieren der Hyperleukocytose eii 
besonders wirksamer Einfluss zugesprochen werden kann. Welche Ein 
flüsse wir für die wirksamen halten, das ist in unserer ausführliche! 
Arbeit in Virchow’s Archiv ansgiebig erörtert. 

Hr. Loewy: Mit der Hühnercholeracultur waren wir in eine 
schwierigen Lage. Wir konnten nur ausserordentlich stark virulent 
Culturen erhalten. '/,*„<>• mgr genügte, ein Kaninchen zu tödten. E 
mag sein, dass bei weniger virulenten Culturen ein besserer Erfolg er 
zielt worden wäre. Ich möchte weiter noch bemerken, dass auch icl 
die Hyperleukocytose nicht für das maassgebende Moment ansehe. Di 
Hyperleukocytose bei unseren trepanirten Thieren war jedenfalls nich 
so gross, wie in den Versuchen mit Spermin, Nuclein u. s. w. 

Hr. Liebreich: Die Frage ist noch nicht abgeschlossen um 
Herr Loewy hält sie ja auch selbst nicht dafür. Ich möchte nur con 
statiren, dass er schliesslich auch gegen die Anwendung der Antipyretic 
nichts einzuwenden hatte. Auch haben wohl, bei allen Respect vor de; 
historischen Thatsachen, Hippocrates und andere, wenn sie gesagt habet 
dass das Fieber eine Heilwirkung besitze, dies von ihrem philosophische: 
Standpunkt aus gethan; wir aber müssen naturwissenschaftlich urtheiler 
Ans den geringen Erfahrungen, die ich auf diesem Gebiete habe, un 
aus den Beobachtungen, die ich gemacht habe heraus muss ich doc 
sagen, dass die Temperaturabnahme einen ausserordentlichen Einflos 
auf den Verlauf der Krankheit zeigt. Deshalb versucht man auch di 
Temperatur durch Alkohol und ähnlich wirkende Dinge herabzusetzec 
Seit Todd hat diese Behänd]ungsweise so viele Nachfolger und solche: 
Erfolg gefunden, dass man beim Typhus wohl immer versuchen wirc 
die Temperatur berabzusetzen. Bei allem Vertrauen zu den Versuche: 
des Herrn Vortragenden möchte ich doch nicht, dass, wenn ich ar 


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1. März 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


191 


Typhus erkrankte, mir nun einer Pyretica gäbe; ich erinnere nur daran, 
wie beim Typhus, wo eine grosse Unruhe der Kranken sich bemächtigt, 
durch die Antipyretica eine Beruhigung des SenBoriums mit erreicht und 
der Krankheit dadurch ein milderer Verlauf gegeben wird. Bei aller 
Verehrung für theoretische Untersuchungen muss darum wohl ein Schluss 
auf die Praxis noch unterbleiben; denn man kann nicht aut der einen 
Seite Pyretica empfehlen und auf der anderen Seite Antipyretica zu¬ 
lassen, das ist eigentlich etwas unversöhnliches — entweder das eine 
oder das andere! Auch giebt der Wärmestich nicht das wirkliche Bild des 
vollen Fiebers, sondern nnr das Bild einer Temperaturerhöhung des 
Körpers; und gegenüber Krankheitsursachen, die bei Thieren erzeugt 
werden, sind wir Menschen von ungemein subtileren Dingen abhängig. 
Gleichwohl sind die Untersuchungen des Herrn Loewy sehr interessant, 
weil sie ins volle Leben der therapeutischen Praxis hineingreifen. 

Hr. Loewy: Ich habe schon bemerkt, dass der Wärmestich nicht 
bloss die Körpertemperatnr steigert, sondern noch einige andere Erschei¬ 
nungen, die man beim Fieber beobachtet, hervorruft, bo den Eiweiss¬ 
zerfall und die Erhöhung des Gaswechsels. Wenn man die Thiere be¬ 
trachtet, so machen sie nicht einen kranken Eindruck. Sie fressen und 
sind mobil. Sie verhalten sich wie Menschen, die an aseptischem Fieber 
leiden. Das Wort „aseptisches Fieber“ wirft eigentlich Bchon unsere 
bisherigen Lehren vom Fieber um. Wenn man aber von aseptischem 
Fieber spricht, so kann man auch den von uns erzielten Effect als Fieber 
bezeichnen. 

Hr. Hildebrandt: Die Temperaturen sind hauptsächlich für die 
Praxis wichtig. Ich halte das Fieber für eine Reaction des Organismus 
gegen die eingedrungene Noxe und je stärker der Organismus ist, je 
leichter wird er die Noxe, überwinden; je schwächer er ist, je vorsichtiger 
muss die Behandlung sein und müssen die das Fieber herabdrückenden 
Mittel abgewogen werden, je nachdem ob die Herzthätigkeit oder das 
Gehirn mehr angegriffen ist. Wollte man bei Typhus Salicyl geben, so würde 
die Herzthätigkeit sehr herunter kommen und man nimmt daher Alkohol. 
Bei Pneomonie wieder würde man sich hüten, Alkohol zu geben. Aber 
immer ist die Temperatur maassgebend für die Behandlung. Durch das 
Niederdrücken des Fiebers wird die Krankheit selbst nicht beseitigt. 
Die Mittel müssen verschieden sein, je nachdem der Organismus kräftig 
und die Herzthätigkeit gut ist oder nicht. 

Hr. Fürst: Bei Menschen gewinnen wir ein ähnliches Krankheits¬ 
bild. Wenn z. B. jemand einen hohen Halswirbelbruch erleidet, so ist 
das thermische Centrum in Mitleidenschaft gezogen, die Körpertemperatur 
ist erhöht, und wenn hier eine frische Entzündung dazu kommt, Pneu¬ 
monie oder Erysipel etc., so ist nicht zu bemerken, dass diese nun 
milder verläuft. Aehnliche Constellationen ergeben Bich bei chronischer 
Meningitis, wo man vermuthen muss, dass das Wärmecentrum mit er¬ 
krankt ist. Man hat nicht beobachtet, dass solche Mache fieberhafte Er¬ 
krankungen anders verlaufen, als wenn die primäre Affection des Wärme¬ 
centrums fehlt. 


Verein für innere Medlcln. 

Sitzung vom 22. Februar 1897. 

Hr. C. Benda: Ueber das primäre Carcinom der Pleura. 

Einem 54jährigen Arbeiter, der seit etwa einem Jahre brustkrank 
war, wurde im Krankenhause Bethanien ein Exsudat von 8 Litern Menge 
aus der linken Pleurahöhle abgelassen. Die Punction mnsste danach 
noch 16 mal wiederholt werden. Das Excudat blieb immer klar. Auf 
der chirurgischen Abtheilung im Krankenhause am Urban wurde dann 
später die Kesection einer Rippe vorgenommen und dabei eine Geschwulst 
auf der Pleura festgestellt. Das Exsudat ergänzte sich trotzdem immer 
von Neuem, es traten Fieber und pyämische Symptome auf und vier 
Wochen nach der Operation erfolgte der Tod. Die unmittelbare Todes¬ 
ursache war eine Vereiterung des Exsudates, die zu metastatischen Ab- 
scessen in Nieren und llant geführt hatte. Zahlreiche einzelne kleine 
Knoten waren ziemlich gleichmässig über die linksseitige Pleura pulmon , 
cost. und diaphragm. ausgebreitet, die jüngsten hatten die Form spitzer 
Condylome. Nur an wenigen Stellen war die Pleura noch normal. Viel¬ 
fach bestanden difTuse Verdichtungen und gröbere Netzzeichnungen auf 
derselben. Die mikroskopische Untersuchung ergab ein Stroma und 
Zellen von epitheloidem Charakter, die in zwei verschiedenen Anord¬ 
nungen zu einander sich befanden. An der Oberfläche war eine ausser¬ 
ordentlich reiche Zottenbildung, die mit einem meist einschichtigen 
Cylinderepithel bekleidet war. Das 8troma war von Bindegewebe mit 
Blutgefässen gebildet. In der Tiefe befanden sich die Zellen in drüsen- 
oder cystenförmiger Anordnung und das Stroma hatte theilweis den Cha¬ 
rakter von Granulations- oder Schleimgewebe. Der bemerkenswertheste 
Befund aber war, dass an einigen Stellen das Oberflächenendothel der 
Pleura continuirlich in die Geschwolstmasse überging. Für die allgemein 
pathologische Bedeutung des Falles ist dies gerade von besonderer Be¬ 
deutung. Nach Virchow’s Theorie ist die Entwickelung eines Carci¬ 
noma auf der Pleura nichts Abnormes. Durch Thiersch und Waldeyer 
sind aber unsere Anschauungen über die Pathogenese des Carcinoma 
vollständig umgestaltet worden. Danach werden die Carcinomelemente 
im Allgemeinen nur von Oberflächen- oder Drüsenepithelien abgeleitet, 
und nach dieser Auffassung können die Knochen und serösen Höhlen 
nicht der Sitz echter Carcinome werden. Dagegen hat sich mannig¬ 


facher Widerspruch erhoben, namentlich durch E. Wagner, der neben 
Epithelcarcinomen auch Endothelcarcinome und Bindegewebscarcinome 
annahm; die Carcinome in den serösen Höhlen gingen von den Endo- 
thelien aus. Weiterhin wurde die Lehre von den Geschwülsten dann 
beeinflusst durch die His’sche Hypothese, dass die Endothelien als 
Produkte der Binnenhöhlen des Körpers aufzufassen seien. Aber diese 
ist auch als unzutreffend erwiesen. Für die Peritonealhöhle ist z. B. 
der so gefasste BegTiff des Endothels nicht aufrecht zu erhalten. Mor¬ 
phologisch unterscheiden sich auch die Endothelien der Blut- und 
Lympbgefässe nicht von den übrigen. Orth, Ziegler, Seliger, 
Hansemann haben sich dahin ausgesprochen, dass man die Ge¬ 
schwülste der serösen Höhlen von den Endothelioroen trennen und als 
echte Carcinome betrachten müsse. Durch den vom Vortragenden be¬ 
richteten Fall ist diese theoretische Voraussetzung aber zum ersten Mal 
erwiesen. Er stellt eine vom Oberflächenendothel der Pleura ausgehende 
Geschwulstbildung dar, welche als Carcinom vollständig charakterisirt 
ist. Seitdem E. Wagner die Endothelien der Pleura mit denen der 
Lympbgefässe vollständig identifleirt hat, wird allgemein die Veränderung 
der letzteren schon als maassgebend erachtet. Das führt aber zu Irrungen. 
Es sind z. B. die secundären Pleuracarcinome, die aut dem Wege der 
Lympbgefässe entstanden sind, mit Unrecht zu dieser Gruppe gerechnet 
worden. Wieweit die Endothelien der Lympbgefässe betheiligt sind, ist 
überhaupt noch nicht sichergestellt. Als speciflsche Merkmale für das 
primäre Pleuracarcinom Bind zu betrachten: massenhafte Eruptionen der 
Geschwulstknoten (multiple primäre Invasionen) und das Fehlen der 
Metastasen (auch nicht in den geschwollenen Lymphdrüsen). 

Hr. A. Fraenkel hat 1890 bei einem 42jährigen Manne ein links¬ 
seitiges Exsudat beobachtet, das sich bei der Punction als rein blutig 
erwies. Nach Entleerung keine Erleichterung, sondern sogar vermehrte 
Beschwerden. Die Punction musste wiederholt werden. Die mikrosko¬ 
pische Untersuchung des Exsudates ergab polyforme epithelartige Zellen, 
zum Theil in Verfettung begriffen, auch mit Vacuolen. Daraufhin wurde 
die Diagnose auf Lungencarcinom mit Betheiligung der Pleura gestellt. 
Bei der Section fanden sich diffuse Schwarten in der Pleura mit gruben¬ 
förmigen Vertiefungen und leistenförmigen Vorsprüngen: Endothelcarcinom 
der Pleura. Seitdem hat F. noch einige andere Fälle der Art gesehen. 
In dem einen war das Exsudat anfangs gleichfalls für ein tuberculöses 
gehalten worden. In zwei Fällen war die Pleura nicht diffus verdickt, 
sondern warzenförmig. Mikroskopischer Befund: In der fibrös verdickten 
GrundBubstanz zahllose Hohlräume, welche mit cubischen, epithelartigen 
Zellen gefüllt sind, ausserdem Stränge aus soliden Zellen. Die Wuche¬ 
rung geht von den Endothelien der Lymphgefässe aus, Vortragender hält 
deshalb die Bezeichnung Lymphangitis prolifera für am meisten zu¬ 
treffend. Beim Carcinom sind solche diffusen Erkrankungen sehr selten. 
KHnisefe scheint für das primäre Pleurearcinom 1) der ausserordentliche 
Blutreichthum des Exsudates characteristisch zu sein, der aber auch 
fehlen kann, 2) die erhöhten Beschwerden nach der Punction infolge der 
mangelnden Entfaltung der Lungen und der fortdauernden, sogar ver¬ 
mehrten Zerrung derselben durch die veränderte Pleura. 

Hr. Litten führt einen vor 28 Jahren beobachteten Fall zum Be¬ 
weise dafür an, dass rein blutige Pleuraexsudate auch Vorkommen, wo 
sowohl Tuberculose wie Carcinom ausgeschlossen ist. Es handelte sich 
um ein ganz acut entstandenes, so schnell angewachsenes Exsudat, dass 
am selben Tage noch die Punction nothwendig wurde. 

Hr. Schwalbe: Die Steigerung der Schmerzen nach der Punction 
findet sich auch bei Lungen- und Mediastinaltumorcn. 

Hr. Benda (Schlusswort): Multiple primäre Wucherungen kommen 
auch im Magen vor, der Ausgangspunkt von einer Stelle ist nicht 
characteristisch für Carcinom, sondern vielmehr die Einwanderung einer 
fremden Zellenart von der Oberfläche in die Tiefe. Wenn die Lymph- 
gefässzellen wuchern, ist das weder für Entzündung noch für Carcinom 
characteristisch. Das sind Endotheliome. 

Hr. L. Bernhardt Ueber Schrumpfnleren lm Kinde galt er. 
Nach längeren Ausführungen über die pathologische Anatomie der 
8chrumpfniere berichtet Vortragender über folgende Beobachtungen: 
14jähriger Knabe mit Lungenphthisis entleerte einen Eiweissharn mit 
Cylindern und Epithelien. Bei der Section fand sich in der rechten 
Niere eine typische Schrumptung (mikroskopisch: concentrische Binde- 
gewebslagen um die verödeten Glomeruli), in der linken derselbe Pro- 
cess im Beginn. Bei einem dreijährigen Knaben, der an Masern 
gestorben, fand sich als zufälliger Nebenbefund eine einseitige Schrumpf¬ 
niere. In einem nur klinisch beobachteten Falle war die Diagnose auf 
Schrumpfniere mit Amyloid gestellt worden. Es handelte sich um einen 
7 jährigen Knaben mit deutlichen Zeichen congenitaler Lues. Herzhyper¬ 
trophie bestand nicht. Die Schrumpfniere der Kinder unterscheidet sich 
wenig von der der Erwachsenen. Die ersten Erscheinungen sind häufig 
Polyurie, Polydipsie, Enuresis u. a. m., oft aber ganz unbestimmt. Der 
Symptomencomplex ist inconstant. Herzhypertrophie häufig. Von ätio¬ 
logischen Momenten kommen nur das Atherom der Gefässe und Lues in 
Betracht. Vortragender berichtet schliesslich noch über mehrere Fälle 
von chronischer acyclischer Albuminurie im Anschluss an Scarlatina 
ohne erhebliche Störungen des Allgemeinbefindens, die anscheinend in 
Schrumpfnieren übergehen. 

Hr. Fürbringer hat unlängst bei zwei ganz jungen Geschwistern 
typische Schrumptnieren gefunden. Die Granularatrophie kommt familiär 
vor, zuweilen schon im zartesten Alter beginnend. Aetiologie ist un¬ 
bekannt. Die Fälle von einseitiger Schrumpfhiere sind davon scharf 
zu trennen, sie sind fast stets auf Steine zurückzuführen. 


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192 


No. 9. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Hr. Strauss: Es giebt auch cyclische Albuminurien, welche für die 
Diagnose der Schrtunpfnieren benutzt werden können; sie entwickeln 
sich z. B. Jahre nach überstandenen Infectionskrankkeiten bei Kindern, 
und sind dadurch ausgezeichnet, dass dabei hyaline Cylinder, mit Kör¬ 
nern besetzt, in grösserer Zahl im Harnsediment als sonst sich finden. 
Das Allgemeinbefinden ist wenig gestört Man muss den Urin vorzugs¬ 
weise vormittags untersuchen, da der Nachtharn ganz eiweissfrei sein 
kann. Auch bei abklingender Scharlachnephritis stellt sich zuweilen das 
Bild der cyclischen Albuminurie ein. 

Hr. Litten: Auch bei Schrumpfnieren der Erwachsenen ist der 
Nachtharn oft frei, während sich nach einigen Morgenstunden Eiweiss 
findet. 

Hr. Bernhard: Einseitige Schrumpfniere kommt auch ohne Stein¬ 
bildung vor. In den von ihm zuletzt mitgetheilten Fällen handelt es 
Bich nicht um cyclische Albuminurien, sondern um Eiweissausscheidungen 
in ganz unregelmässigen, auch grösseren, Zwischenräumen ohne jede 
Ursache. A. 


Gesellschaft fllr Geburtshilfe und Gynlkologie zu Berlin. 

Sitzung vom 11. December 1896. 

Vorsitzender: Herr Martin; 

Schriftführer: Herr Winter. 

I. Demonstration von Präparaten. 

Hr. Spener zeigt eine Verbesserung des Corsets. 

In 2 Richtungen bewegen sich die Verbesserungsvorsebliige: 

1. Jedes Corset soll nach Maass des Körpers gemacht werden, ohne 
extreme Ausarbeitung des Tailleneinschnittes. Die fabrikmässige Her¬ 
stellung der Corsets müsste aufhören. 

2. Die Röcke sollen von den Schultern getragen werden. Dazu 
dienen a) breite Achselbänder, die durch Schnürung abnehmbar sind und 
b) lange bewegliche Schilippen, die vom oberen Rande des Corsets vom 
Ansatzpunkt der Achselbänder ausgehen und in Nabelhöhe endigen, wo 
an Knöpfen die Kleider des Unterkörpers hängen. Die Schluppen gehen 
in der Taille durch eine Schlinge, damit sie nicht abstehen. Weil aber 
der Trägerapparat: Achselbänder und Schluppen, die Mamma drücken 
würde, sind c) Hohleinlagen für die Brust erforderlich. 

Die Wirkung der „Trägercorsets“ ist, dass die Röcke tief in 
Nabel- und Hüfthöhe hängen und die Taille frei bleibt. Der Träger¬ 
apparat kann auch an älteren Corsetformen angebracht werden. (Be¬ 
zugsquelle: Corsetfabrik Heinrich Hoffmann, Kommandantenstr. 77—7‘J, 
Berlin 8W.) 

Hr. Bröse zeigt ein mikroskopisches Präparat der Schleimhaut des 
in der letzten Sitzung demonstrirten Uterus; es handelt sich um fungöse 
interstitielle Endometritis. 

Hr. Emanuel demonstrirt mikroskopische Präparate von 
einem in Form eines Knotens aufgetretenen Tumor des unteren Gebär¬ 
mutterabschnittes; nach Anordnung der die Geschwulst fast ausschliess¬ 
lich zusammensetzenden, polymorphen Zellen, dem Fehlen jeder alveo¬ 
laren Anordnung, sowie dem Vorhandensein zahlreicher protoplasmatischer 
Riesenzellen hält E. den Tumor für ein Sarkom, dessen Erscheinen an 
dieser Stelle und in dieser Form als sehr selten zu bezeichnen ist. 

Hr. MUUerheim demonstrirt ein Präparat der weiblichen Genital¬ 
organe, das sich durch auffallend starke Arteriosklerose der Gefässe 
auszeichnet. Es sind nicht nur die Arteriae spermaticae und uterinae 
in ihrer ganzen Ausdehnung verkalkt, sondern auch die kleinsten Ge¬ 
fässe auf den Blättern des Ligamentum latum. Am stärksten sind die 
Arterien des Uterus befallen, in dem die äusserste Muskelschicht un¬ 
mittelbar unter dem Peritoneum ein dichtes Netz verkalkter Gefässe 
zeigt. Diese reichliche Verkalkung reicht in der Muskulatur bis zur 
Gegend des inneren Muttermundes herab. An mehreren Stellen durch¬ 
ziehen kleine sklerotische Gefässe das Myometrium quer bis zur Schleim- 
hautschicht, so dass das Organ fast einem lnjectionspräparate gleicht. 

Dieser Befund ist um so bemerkenswerther, als sich am Herzen 
und anderen Prädilectionsstellen der Arteriosklerose auffalend wenig 
Zeichen dieser Getässerkrankung vorfanden. 

Die Pat., welcher das Präparat entstammt, war an Tuberculose des 
Peritoneums gestorben. 

Hr. Fliess (als Gast): Dysmenorrhoe und Wehenschmerz. 

Unter denjenigen Dysmenorrhöen, bei denen der Schmerz den Ein¬ 
tritt der uterinen Blutung überdauert, ist die grosse Mehrzahl von der 
Nase abhängig. Das darf nicht Wunder nehmen, denn die Nase zeigt 
regelmässige Veränderungen während der Menstruation: Schwellung, ge¬ 
steigerte Empfindlichkeit auf Sondenberührung, Neigung zur Blutung, 
cyanotische Färbung. Diese Veränderungen treten ganz besonders an 
den unteren Muscheln und den Tubercula septi auf, die desshalb Genital¬ 
stellen der Nase xar* sxo/ijv heissen sollten. 

Pathologische Beschaffenheit dieser Stellen bedingt die nasale Form 
der Dysmenorrhoe. Dies wird bewiesen dadurch, dass 

1. durch Cocainisirung der Genitalstellen der dysmenorrhoische An¬ 
fall für die Dauer der Cocainwirkung aufgehoben wird, 

2. dass die Verätzung dieser 8tellen die Wiederkehr der Dysme¬ 
norrhoe dauernd oder für lange Zeit verhindert. 

Pathologisch geworden sein können die Genitalstellen entweder 
durch Infectionskrankheiten, welche auch die Nase betreffen (Scharlach, 
Diphtherie, Influenza), oder dadurch, dass in den ersten Jahren nach 


der Pubertät die Congestion in der Nase, die streng regelmässig zu den 
Kalenderzeiten der Menstruation erscheint, nicht ihren normalen Ablauf 
durch den rechtzeitigen Eintritt der uterinen Blutung gefunden hat 

Dieser letztere Fall wiederholt sich in der Schwangerschaft. Wäh¬ 
rend derselben ruht der Menstruationsprocess keineswegs, sondern fährt 
fort, zu den Kalenderzeiten der Menses die periodischen Veränderungen 
in der Nase zu erzeugen. Dieselben finden aber keinen Ablauf durch 
die uterine Blutung. Sämmtliche periodischen Antriebe snmmiren sich 
während der Schwangerschaft und führen endlich die grosse Menstruation 
— den Entbindungsvorgang herbei. Derselbe hat alle Merkmale der 
Menstruation, auch die typischen nasalen Zeichen. Er kann deshalb 
auch mit nasaler Dysmenorrhoe in der gesteigerten Form des „echten 
Webenschmerzes“ vergesellschaftet sein. Der echte Wehenschmerz tritt 
bereits in der Eröffnungsperiode auf, ist durchaus nicht bei allen Frauen 
vorhanden, strahlt vom Kreuz in die Hypogastrien aus und ist, ebenso 
wie die gewöhnliche nasale Dysmenorrhoe von den Genitalstellen der 
Nase her durch den Cocain versuch zu bannen. Man darf den „echten 
Wehenschmerz“ nicht mit dem Schmerz über der Symphyse, oder gar mit 
den Sterns- und vaginalen Schmerzen verwechseln, die lediglich localer 
Natur und ganz unabhängig von der Nase sind. . 

Die vollkommene Analogie zwischen Menstruations- und Ent¬ 
bindungsvorgang lässt sich auch bis in die zeitlichen Verhältnisse beider 
nachweisen. Wo die Schwangerschaftsdauer vom gewöhnlichen Men- 
struationstypus (10mal 28 Tage) abweicht, kann man darthun, dass diese 
Abweichung unter dem Einfluss desselben Gesetzes steht, das auch die 
sogenannte unregelmässige Menstruation beherrscht: des Perioden¬ 
gesetzes, welches für die gesammte organische Welt fundamentale 
Bedeutung hat. Auf die Erläuterung dieses Gesetzes muss das kurze 
Referat verzichten. 

Discussion. Hr. (Hahausen: Die interessanten Mittheilungen 
des Herrn Fliess über den Zusammenhang des Menstruations Vorganges 
mit Veränderungen an der Nasenschleimhaut müssen baldigst nach¬ 
geprüft werden. Ueber den letzten Abschnitt des Vortrages, die an 
23 tägige und 28 tägige Perioden gebundenen Vorgänge wagt O- kein 
Urtheil, hält aber ein Spiel des Zufalls für möglich, wenn sich nicht in 
allen Fällen solche Perioden herausstellen. 

Hr. A. Martin frägt, ob diese Cocainisirung nach den Beobach¬ 
tungen des Herrn Vortr. einen Einfluss auf die zeitliche Entwicklung und 
die Energie der Uteruscontractionen ausübe? Für diesen Fall könnte 
man damit zu einer Zeit Schmerzen lindern, in der die Verwendung 
des Chloroforms auf Bedenken stösst. nämlich in der 1. Gebartsperiode. 

Hr. Olshausen fässt die Sache so auf, dass zwar nicht die durch 
den Druck der Weichtheile bedingten 8chmerzen, wohl aber der eigent¬ 
liche Wehenschmerz durch die Cocainisirung der Nase günstig beein¬ 
flusst werden soll. Dass der Wehenschmers sich wesentlich nach vorher 
dagewesener Dysmenorrhoe richtet, ist ihm unwahrscheinlich, da wir 
auch andere Momente kennen, welche auf die Intensität des Welt¬ 
schmerzes von Einfluss sind, wie z. B. die Rigidität des unteren Gebär¬ 
mutterabschnittes. 

Hr. Fliess (Schlusswort) hält Herrn Olshausen gegenüber daran 
fest, dass der „echte Wehenschmerz“ nicht durch die Beschaffenheit der 
Weichtheile bedingt, sondern lediglich von der Nase abhängig sei, von 
der aus er ja auch durch den Cocainversuch beseitigt werde. Herrn 
Martin gegenüber bemerkt der Vortr., dass die Eröffnungsperiode bei 
der Geburt nur in den Fällen schmerzlos durch Naseneocainisirung ge¬ 
macht werden könne, wo der echte Wehenschmerz der einzige Peiniger 
sei. Wo Stei88- oder Symphysenschmerz in den Vordergrund treten, 
nützt natürlich die Naseneocainisirung nichts. 

Unter menstruellen Veränderungen während der Gravidität versteht 
der Vortr. nicht, wie Herr Olshausen meinte, den Ovulationsprocess, 
sondern die typischen Nasenveränderungen zu den Menstruationszeiten. 

Dass das Periodengesetz auf Täuschung durch den Zufall beruhe, 
bestreitet der Vortr. im Hinweis auf die grosse Zahl der von ihm ge¬ 
machten, einwandsfreien Beobachtungen. 


Aerztlicher Verein za München. 

Sitzung vom 3. Februar 1897. 

1. Hr. Sendtner: Demonstration eines von ihm construirten 
Krankenstuhls. Derselbe ist eine Combination von Hängematte und 
Lehnstuhl und besteht aus einem eisernen Rahmen, an dessen Peripherie 
ein Netz aufgespannt ist. Der Oberkörper liegt leicht erhöht, Knie- und 
Hüftgelenke sind leicht gebeugt. Das Gewicht des Stuhles beträgt 
ca. 15 kg. 1 ) 

2. Hr. Lahusen: Lähmung durch Blitzschlag — Heilung. 
Demonstration eines Patienten, welcher am 5. Mai 95 von einem schweren 
Blitzschlag getroffen wurde. Am 26. August 96 trat Patient bei Hrn. L. 
in Behandlung. Damals bestand Lähmung des linken Armes, das linke 
Bein konnte ebenfalls nicht bewegt werden nnd wurde, wie ein schlechter 
Stelzfus8 nachgeschleift. Auch bestand eine ziemlich bedeutende psychi¬ 
sche Depression. Durch starke locale faradische Bäder und Galvani¬ 
sation des Rückenmarks wurde Patient nach 3 Monaten wieder voll* 


1) Der Krankenstnhl ist zum Preise von 25 Mk. bei Ruf, München, 
Christophstr. 9, zu beziehen. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


193 


1. März 1897. 


ständig arbeitsfähig. L. spricht die Vermuthnng aas, dass dieses Ver¬ 
fahren auch für Apoplektiker eventuell von Vortheil sein könnte. 

8. Hr. v. Ziemssen: Mittheilung über die Volksbeilstätte in 
PI an egg. Z. demonstrirt zunächst verschiedene Pläne and Grundrisse 
zu der neu zu errichtenden Volksheilstätte, zu welcher am 5. November 
der Grundstein gelegt wurde. Dieselbe wird zunächst Räume für 81 
Betten enthalten, kann jedoch später leicht auf 120 Betten erweitert 
werden. Da alle derartige Anstalten die Milch selbst beschaffen, wird 
ein 8tall für 12 Kühe eingerichtet. Das übrige an Nahrungsroittetn 
wird durch die umliegenden Dörfer geliefert Eine Wasserleitung steht 
zwar von Leichstetten aus in Aussicht, doch ist dies noch ziemlich un¬ 
sicher, daher wird das Wasser einstweilen aus dem Boden bezogen und 
hat sich eine diesbezügliche Probe auch als vortrefflich erwiessen. 
Ausserdem werden Dampfheizung und electrisches Licht eingerichtet. 
Die Kosten werden incl. Einrichtung ca. 500000 Mk. betragen. 

In der Discussion theilt Hr. May einiges über Tuberculosestatistik 
für Bayern mit. M. bemerkt, dass etwa der dritte Theil aller auf das 
15. bis 60. Lebensjahr treffenden Todesfälle Tuberculose zur Ursache 
hat. Vom Jahre 1889—93 waren von 706846 Todesfällen, 90055 durch 
Tuberculose veranlasst, also 11,84 pUt. Zwischen dem 15. und 60. 
Lebensjahre beträgt diese Zahl aber 87,15 pCt. 70 pCt. aller Tuber- 
culosetodesfälle fallen zwischen das 15. bis 60. Lebensjahr. Während 
für Bayern das Procentverbältniss 11,84 ist, beträgt die Ziffer für die 
Tuberculosetodesfälle für Oberbayarn 10,81 pCt. M. bemerkt, dass in 
Deutscblaed bereits 20 derartige Volksheilstätten für Tuberculose, theils 
fertig, theils im Bau begriffen seien und betont sehr die Nothwendigkeit 
und Wichtigkeit der Errichtung einer derartigen Anstalt. 

Hr. Theilhaber glaubt den Befund von May, dass nächst der 
Tuberculose nicht etwa maligne Neubildungen, sondern Altersschwäche 
die Hauptursache der Todesfälle abäben, dadurch erklären zu können, 
dass eben auf dem Lande die Todesursache meist nicht näher eruirt und 
dafür dann Altersschwäche angegeben wird. 

4. Hr. Seitz: Antrag betr. Errichtung einer bacteriologischen 
Centralstation. S. erachtet es fiir ein sehr nothwendiges Bedürfnis* 
für die hiesigen Aerzte, dass ihnen zur Ausführung einer bacteriologischen 
Untersuchung ein derartiges Laboratorium zur Verfügung steht. In einer 
Reihe von 8tädten bestehe bereits eine derartige Einrichtung und in 
Newyork seien im ersten Jahre in einer zu diesem Zwecke errichteten 
Anstalt 5611 Fälle von Rachenerkrankung bacteriologisch untersucht 
worden. Eine jedem Arzte zugängige Stelle, wo in kürzester Frist 
solche Untersuchungen ausgeführt werden, eine Anstalt, die entweder an 
die Universität oder an ein Krankenhaus angegliedert ist, wäre doch für 
die meisten Aerzte sehr wünschenswert!). Das betreffende Institut 
müsste natürlich für die Untersuchungen kein zu hohes Entgelt fordern 
und für die ärmere Bevölkerung unentgeltlich arbeiten ; es müsste mög¬ 
lichst central gelegen, von 8 Uhr Früh bis 8 Uhr Abend geöffnet sein, 
sterile Gläser etc. stets vorräthig haben und dürfte nur Aerzten zugäng¬ 
lich sein. Es wäre natürlich sehr zu wünschen, dass von 8eiten der 
Stadt ein Zuschuss geleistet würde. 

DiscuBsion. 

Hr. v. Ziemssen befürwortet die Errichtung einer bacteriologischen 
Centralstation auf's Wärmste und betont, dass es Bich bei einer der¬ 
artigen Anstalt um eine Pflicht, nicht um eine Gefälligkeit handeln 
müsste, die betreffende Untersuchung auszuführen, v. Z. frägt den Redner, 
an welchen Universitätsstädten ein solches Institut an die Universität 
angegliedert sei. 

Hr. Seitz: In Königsberg und in Breslau. 

Der Vorsitzende, Hr. Seydel, lässt dann den Antrag, dass sich der 
Verein mit der Errichtung einer bacteriologischen Centralstation einver¬ 
standen erklärt, verlesen. 

Hr. Gossmann spricht die Ansicht aus, dass ein praktisches Be- 
dürfniss für Errichtung einer derartigen Anstalt nicht bestehe, da man 
z. B. Diphtherie schon klinisch genügend sicher zu diagnosticiren 
vermöge. 

Hr. Weiss betont, das zwar schon mehrere Privatlaboratorien hier 
beständen, dass es jedoch besser sei, wenn sich die Aerzte in dieser 
Beziehung selbständig stellen würden; die einleitenden 8chritte zur Er¬ 
richtung einer bacteriologischen Centralstation müssten aber einer Com¬ 
mission anvertraut werden, auch wäre es vielleicht zweckmässig, wenn 
der Verein selbst einen Zuschuss leisten würde. 

Hr. Spatz glaubt, dass es keineswegs Sache des Vereins sei, hier¬ 
für einen Zuschuss zu leisten; für die Kosten sollen die reicheren Kranken 
selbst, für die ärmeren solle der Magistrat aufkommen. 

Hr. Weiss: Die Preise für die Untersuchungen sollten jedenfalls 
niedrig gestellt und die Untersuchungen durch Aerzte geleitet werden. 

Hr. v. Ziemssen glaubt, dass eine derartige Anstalt jedenfalls 
schwierig sein werde in der Einrichtung, schwierig im Betrieb und 
schwierig in der Controle und hält es auch für angezeigt, wenn der 
Verein einen Zuschuss leisten würde. 

Der Vorsitzende, Hr. Seydel, beauftragt dann zur Prüfung dieser 
Angelegenheit eine Commission, bestehend ans den Herren v. Ziemssen, 
Büchner, Seitz und Weiss. v. 8. 


Phjslkallsch-medlclnlsche Gesellschaft ca WQrzbnrg. 

Sitzung vom 14. Januar 1897. 

Hr. Hoffa demonstrirt einen Fall von intra partum erwor¬ 
bene Unterschenk elfractur. 

Nach einer Zusammenstellung von v. Büngner Anden sich etwa 
10 Fälle in der Literatur, die alle das Charakteristische haben, dass sie 
nicht durch knöchernen Callus, sondern durch eine schlaffe Pseudartbrose 
geheilt sind und dass alle Operationen, die auf Beseitigung dieser 
Pseudarthrose gerichtet waren, bisher keinen Erfolg hatten. Die Ur¬ 
sachen liegen in einer starken Atrophie der Bntcbenden, welche das 
nöthige Material zur Knochenbildung nicht liefern. Der Fall, den Vor¬ 
tragender demonstrirt, gleicht den bisher beschriebenen fast in jedem 
Punkte. Es handelt sich um einen 14jährigen Jungen, der ohne Kunst- 
hülfe geboren wurde, so dass die Fractur durch Anstemmen des 
Unterschenkels gegen den Beckenring bei der Anstreibungsperiode ent¬ 
standen sein muss. Die Fractur wurde sofort nach der Geburt constatirt 
und mit Gypsverbänden, jedoch ohne Erfolg, behandelt. Die Pseud¬ 
arthrose findet sich bei dem demonstrirten Patienten im unteren Drittel 
des rechten Unterschenkels, ungefähr handbreit über dem Fassgelenk. 
Das obere Fibulaende ist etwa 2 Querfinger breit länger als das betref¬ 
fende Tibiaende. Beide Bruchenden, sowie die oberen als die unteren 
Fragmente laufen sehr spitz aus. Die letzteren stehen in einem nach 
hinten offenen Winkel zu den oberen Enden. Die gesammte Musculatur 
des rechten Beines ist im Vergleich zu der des linken atrophisch. Die 
Verkürzung des rechten Unterschenkels beträgt 18 cm, auch wird der 
rechte Fuss von dem linken an Länge um 5 cm übertroffen. Der Vor¬ 
tragende demonstrirt von ihm nach dem Röntgen'sehen Verfahren 
gefertigte Bilder, welche die Dislocation der Fragmente und die hoch¬ 
gradige Atrophie derselben sehr gut veranschaulichen. Kahn. 


VIL Ein Verband- und Instrumentenkasten zur 
ersten Versorgung und zum weiteren Gebrauch 
für Aerzte. 

Von 

Dr. George Meyer-Berlin. 

Den meisten bisher angegebenen Verband- und Rettungskästen haften 
l'ebelstände an, indem dieselben theils zu viel theils zu wenig 
oder nicht zweckmässige Gegenstände und Geräthschaftcn für erste Ver¬ 
sorgung enthalten oder zu schwer und zu gross und aus diesem Grunde 
zu wenig handlich sind. Die Beschreibung eines Kastens, welcher nach 
meinen Angaben von der Firma H. Windler-Berlin (Dorotheenstr. 8) 
hergestellt worden, dürfte daher den Facbgenossen wohl willkommen sein, 
da seine Zusammensetzung den Arzt in den Stand setzt, jederzeit bei Un¬ 
glücksfällen und gefahrdrohenden Zuständen (mit Ausnahme von geburts- 
hülflichen Operationen) wirksam einzugreifen. Zum Gebrauch für Aerzte 
ist besonders in den letzten Jahren eine beträchtliche Anzahl von Kästen 
und Taschen für geburtshülfliche Zwecke angegeben worden, welche 
fast alle nach den Grundsätzen der Asepsis hergestellt sind. Die zum 
Gebrauch bei Unglücksfällen vorhandenen Verbandkästen sind meistens 
zur Anwendung für Laien vorgesehen und nicht immer so eingerichtet, 
dass von Asepsis oder Antisepsis bei ihrem Gebrauch die Rede sein 
könnte. Bei Unglücksfällen, welche sich auf der Strasse, in Fabriken, 
Wohnungen ereignen, sind häufig die gesetzten Wunden und Verletzungen 
derartig verunreinigt, dass vor allen Dingen eine antiseptische Bear¬ 
beitung der verletzten Tbeile und ihrer gesunden Umgebung stattflnden 
muss. Eine solche ist mit dem Inhalt der gebräuchlichsten Verband¬ 
kästen recht schwierig durchführbar, wenigstens wenn der Inhalt häu¬ 
figer benutzt werden soll, da die im geschlossenen Zustande gut in den 
Kasten passenden mit Verbandstoffen gefüllten Packete, wenn sie ein¬ 
mal eröffnet waren, sich kaum wieder so schliessen lassen, dass sie 
ordnungsmässig wieder im Kasten verpackt werden können, wodurch 
eine saubere Entnahme der übrig bleibenden Vorräthe kaum möglich ist. 

Der von mir angegebene Kasten, welcher nach Art eines kleinen 
Koffers geschlossen werden kann, zerfällt in 5 Abtheilungen, von denen 
zwei in den beiden Deckelstücken untergebracht sind, während drei sich 
im eigentlichen Mittelraum in einem besonderen herausnehmbaren Rahmen 
befinden. Die ernte Deckelabthcilung enthält eine flache Schale zur 
Aufnahme von desinfleirenden und anderen Flüssigkeiten, in derselben 
eine Segeltuchtasche mit beliebig verstellbaren Bändern für Instrumente; 
ferner ist auf dieser Seite ein Mundsperrer und eine Chloroformmaske 
befestigt. In der anderen Deckelhälfte sind zwei Hartgummikästen b und 
c angebracht, deren einer elastische Katheter und Bougies, deren anderer 
einen Magenschlauch und Schlauch zur künstlichen Blutleere enthält. 
Büchse a birgt eine Handbürste, ausserdem Bind hier Nagelreiniger und 
Rasirmesser eingefügt. 

Der Hanptrahmen ist federnd im Kasten befestigt und zur leich¬ 
teren Reinigung herausnehmbar. In seinen drei Abtheilungen befinden 
sich Binden, Watte und Gaze und die zur Reinigung, Desinfcction u. s. w. 
erforderlichen Hülfsmittel. 

Die Oambricbinden sind in Nickelinbücbsen i und k aufbewahrt, 
welche an beiden Enden mit durchlochten Deckeln versehen sind, so 
dass sie nach Benutzung wieder gefüllt und sterilisirt werden können; 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 9. 



an ihrem einen Ende befindet sich eine bestimmte Menge steriler Ver- 1 
bandgaze; die Gaze- und Gipsbinden werden nicht sterilisirt, daher in 
gewöhnlichen Metallbücbsen g und h aufbewahrt. Die Watte steht in 
kleinen sterilisirten Päckchen dd und in Bindenform e zur Verfügung; 
von der aufgerollten Jodoformgaze braucht nur die für den betreffenden 
Verband nothwendige Menge jedesmal abgeschnitten zu werden. Ein 
Päckchen Mosetig-Batist oder zwei dreieckige Tücher, sowie Heftpflaster 
vervollständigen die Ausrüstung des zweiten Faches. 

In der dritten Abtheilung sind Aether. Terpentin, Liquor ferri 
sesquichlorati, Alkohol, flüssige Seife, Lysol, Sublimatpastillen, Morphium¬ 
tabletten (in Gaben von 0,01) zur Selbstanfertigung von Morphiumlösungen, 
Jodoformstreupulver, Boroglycerinlanolin (Brandwunden) angeordnet. 

Zwischen dem Mittelrahmen und den Deckeltheilen sind Papp- und 
Spahnscbienen eingelegt. Seide und Catgut befindet sich in besonderen 
Glasflaschen mit Gummistöpselverschluss. 

Das Instrumentarium ist so gewählt, dass den häufigsten Vorkomm¬ 
nissen der Praxis Rechnung getragen ist; es sind ausser den genannten 
Werkzeugen Scheeren, Pc an'sehe Pineetten, Messer, Nadelhalter, 
Nadeln (in Metallbehälter 1 zum Sterilisiren), 8perrhaken und Canüle 
zur Tracheotomie, ferner Mundsperrer und Chloroformmaske vorhanden. 

Da wohl jeder Arzt eine Unterhautspritze beständig zur Anwendung 
bei sich trägt, ist dieselbe nicht besonders erwähnt. Dieselbe äst natür¬ 
lich auch leicht in dem Kasten unterzubringen. 

Der Kasten enthält die am häufigsten in der ärztlichen Praxis an¬ 
gewendeten Instrumente, so dass derselbe in der Behausung des Arztes 
zum Gebrauche in der Sprechstunde u. s. w. benutzt werden kann. Nach 
jeder Anwendung wird sein Inhalt ergänzt, so dass der Kasten für den 
Fall der Benutzung ausser dem Hause stets sofort gebrauchsfähig ist 
und den Arzt in den Stand stetzt, auch ohne dass er vorher weiss, aus 
welchem Grunde seine Hülfe augerufen wird, bei den meisten Vorkomm¬ 
nissen der Praxis gut gerüstet zur Stelle za erscheinen. Es ist dies 
sowohl auf dem Lande, wo die erforderlichen Ilülfsmittel oft schwierig 
zu beschaffen, als auch in der Stadt von Bedeutung, da besonders Nachts 
mit der Besorgung fiir den Fall nothwendiger Gerätschaften häufig viel 
Zeit verloren geht. 

Die Anordnung der Verbandstoffe ermöglicht es, stets nur die im 
Einzclfalle nothwendige Menge zu benutzen, ohne die übrigen Vorräthe 
irgendwie zu berühren und dadurch der Verunreinigung auszusetzen. Der 
übrige Inhalt des Kastens kann verwendet werden, ohne dass die Ver¬ 
bandstoffe herausgenommen oder aus ihren Hüllen entfernt zu werden 
brauchen. Die Auswahl der Instrumente, sowie der Chemikalien kann 
nach dem Ermessen des Arztes abgeändert werden. 

Der Kasten ist in allen seinen Theilen leicht und ausgiebig zu 
reinigen und zu desinfleiren. 

Da die betreffenden Instrumente und anderen Gerätschaften auch 
für den Gebrauch im Hause des Arztes bestimmt sind, ist nur eine ein¬ 
malige Anschaffung fiir den Arzt erforderlich, so dass Aerztc, welche 
bereits eingerichtet sind, sich nur den Kasten mit Gefässen zu besorgen 
haben, in welchem sie dann die in ihrem Besitze befindlichen Instrumente 
u. h. w. unterbringen. 

Der Kasten ist bereits in der Berliner Gewerbe-Ausstellung 1806 in 
der Abtheilung ärztlicher Instrumente ausgestellt gewesen. 


VIII. Praktische Notizen. 

Therapeutisches nid Intaxieationei. 

Jodvasogene innerlich gegen Arteriosklerose. Vorläufige 
Mittheilung von Dr. Hugo Kleist, Oberstabsarzt I. Kl. a. D., Berlin. 

Die innerliche Verabfolgung von Jod in Form von Jodkali-Lösungen 
muss bekanntlich oft vorzeitig ausgesetzt werden, weil das Präparat 


schlecht vertragen wird. Von der Annahme ausgehend, dass 
der zweiten Componente, dem Kali, die Hauptschuld an den 
unerwünschten Nebenwirkungen zuzumessen sei, versuchte ich. 
nach der wiederholten Wahrnehmung, dass die von anderer 
Seite empfohlene Jodtinktur, innerlich gleichviel in welchem 
Vehikel, in welcher Verdünnung gebraucht, nach kurzer Zeit 
Magenkatarrh erzeugte in einer Anzahl von einschlägigen 
Krankheitsfällen Jodvasogene, jene Lösung von Jod in mit 
Sauerstoff imprägnirten Kohlenwasserstoffen, welche letztere 
die schnelle und vollständige Resorption der darin emnlgirten 
Medikamente bewirken sollen, in innerlicher Verwendung. 

Nach mehrwöchentlichen Gebrauch von 8 bis 10 bis 
12 Tropfen einer 0% Lösung, in den ersten 8 Tagen ’/, Stunde 
nach den 3 Hauptmahlzeiten, später nüchtern vor denselben 
mit einigen Löffeln Wasser oder Wein verdünnt als Schüttel¬ 
mixtur eingenommen, habe ich wiederholt die folgenden gleichen 
Erfolge erzielt. 

Die nach Arteriosklerose sich früher oder später, auch 
bei intakten Herzklappen einstellenden Herzbeschwerden. 
Engbrüstigkeit, Orthopnoe, Tachykardie, abwechselnd mit 
Arvthmie, verschwinden regelmässig nach 14tägigem Gebrauch 
des Jodvasogens, und die Geräusche über den Herzklappen, die 
häufig Aortenstenose und Insufflciens der Mitralis Vortäuschen 
wurden allmählich leiser, ohne indess ganz zu verschwinden. Ebenso 
nahm der Eiweissgehalt des Urins bei der Form der auf Arterio¬ 
sklerose (nach Senator) beruhenden chronischen Nierenentzündung regel¬ 
mässig ab, verschwand zeitweise ganz, kehrte allerdings nach längerem 
Aussetzen des Mittels, namentlich nach grösserer Anstrengung, wieder, 
war aber immer durch Jodvasogene auf geringer Höhe, durchschnittlich 
>/ 4 bis 1 3 p. mille, zu halten. Nach diesen Beobachtungen nahm ich 
nicht Anstand, Jodvasogene, zumal da es in allen Fällen gut vertragen 
wurde, stets den Appetit anregte, die Verdauung beförderte, und da auch 
nach seinem längeren Gebrauch keine der sonstigen unerwünschten 
störenden Nebenwirkungen eintreten, an Stelle des bisher üblichen Jod¬ 
kali in Fällen von zweifelhafter oder ausgesprochener secundärer, be¬ 
züglich tertiärer Lues anzuwenden. Obige Erfahrungen veröffentliche 
ich hier, um weitere ärztliche Kreise zur Prüfung derselben auf ihre 
Richtigkeit anzuregen. 

Freilich will ich nicht verhehlen, dass in einem Falle, in welchen 
Jodvasogene mit Unterbrechungen viele Monate hindurch gebraucht worden 
war, sich später bei gleichzeitig vorhandenem intermittirendem Diabetes 
mellitus, ein zur Nekrose tendirender, das Leben gefährdender Karbunkel 
einstellte, der sehr umfangreiche Excisionen (im Nacken und HinterkopO 
mit grossen Transplantationen nothwendig machte. Auch in diesem 
Falle, für den ich das „post“ nicht als „propter“ gelten lassen möchte 
— der Leidende war ich selbst — hat später Jodvasogene die wohl 
durch die grosse Blutleere gesteigerte, nahezu unerträgliche, mit l'heyne- 
Stokes’schem Athmungsrythmus einhergehende Arvthmie des Pulses und 
Schwäche des Herzens nach 8 tägigem Gebrauch prompt beseitigt. 

Schliesslich füge ich noch hinzu, dass ich, um der Wirkung sicher 
zu sein, mir frische, absolut reine, bis zuletzt in gleicher Lösung ver¬ 
bleibende Präparate aus der chemischen Fabrik in Köln von nerrn 
Klever selbst habe senden lassen. — 

F. Ahlfeld (Marburg) empfiehlt aufs Neue die Heisswasser- 
Alkoholdcsinfection der Hände für die geburtshülfliche 
Praxis und ihre Einführung in die allgemeine Praxis. A. hat 
sich durch fortgesetzte klinische und bacterielle Prüfung von der 
Sicherheit und leichten Ausführbarkeit seiner Methode über¬ 
zeugt. 

Er unterscheidet eine „einfache“ von einer „verschärften“ 
Handreinigung. Erstere geschieht folgendermaassen (D. med. Wochensehr. 
1895, No. 51): „Nach Kürzung, Glättung und Reinigung der Nägel er¬ 
folgt eine 3 Minuten dauernde Waschung der Hände in sehr warmem 
„Wasser mit Seife, unter Benutzung einer Bürste oder auch ohne diese. 
„Abspülung der Hand in klarem Wasser. Abreiben der Hand, ganz be¬ 
sonders aber des Fingers, der zur Untersuchung benutzt werden soll, 
„in 96proc. Alkohol mit handgrossen Flanellläppchen. Es ist durch 
„geeignete drehende und stopfende Bewegung des zu sterilisirenden 
„Fingers Sorge zu tragen, dass der Alkohol unter den Nagelfalz ein- 
„dringe. Der so sterilisirte Finger nimmt nun, ohne mit etwas be¬ 
strichen zu werden, die Untersuchung vor.“ 

Bei der verschärften Untersuchung müssen in gleicherweise 
sämmtliche Finger resp. auch Hand und Arm behandelt werden. 

A. weist die gegen sein Verfahren erhobenen Einwände zurück und 
bespricht des Näheren (s. Orig.) die Ausführung desselben, wie er es in 
die Praxis der Hebamme eingeflihrt zu sehen wünscht, beschreibt 
dabei einige zu diesem Zwecke erforderliche Aenderungen bezw. Er¬ 
gänzungen des Inhalts der Marburger Hebammentasche. Der Preis 
des neuen Verfahrens ist ein mässiger, besonders bei Anwendung von 
denatnrirtem (mittelst 0,5 proc. 01. Tereb.) Spiritus. (L>. 
med. Wochenschr. No. 8, 1897.) 


II. Thomson vergleicht die verschiedenen Methoden der An¬ 
wendung von Kochsalzlösung bei acuten Blutverlusten und 
empfiehlt angelegentlich die intravenöse Infusion, die schnell und 
sicher auszuführen ist. Wenn Gefahr im Verzüge, bei extremer 
Anämie infolge sehr grosser Blutverluste, erfolgt die Resorption 


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1. Miirz 18B7. 


HHRLINKil KLINISCH!*) WOCHENSCHRIFT. 


105 


aus dem subcutanen Gewebe meistens za langsam oder überhaupt nicht 
mehr. Das Gleiche gilt für das Rectum, welches oftmals das infundirte 
Wasser, wegen Sphincterlähmung, nicht mehr zurückzuhalten vermag. 

Nach Th. ist zur intravenösen Infusion meistens mehr als 
1 Liter Flüssigkeit erforderlich. Einen Zusatz von Alkali oder 
Zucker zur physiologischen (0,6 proc.) Kochsalzlösung hält er für über¬ 
flüssig Der Infusion vorauszuschicken ist natürlich Injection von 
Campher, Autotransfusion, reichliche Zufuhr von Wärme und, 
wenn möglich, von Flüssigkeit per os und per rectum. Eventuell 
gewinnt man dureh die Infusion so viel Zeit, um die Vorkehrungen zu 
einer Bluttransfusion zu treffen. (8t. Petersb. med. Wochenschr., 
20. (8.) Febr. 1897.) _ 


Sevestre (Höpital des Enfants malades) zieht eine Parallele 
zwischen der Tracheotomie und der Intubation beim Croup uud 
kommt zu dem Resultat, dass, von bestimmten Fällen abgesehen, die 
Intubation die Hauptmethode des operativen Eingreifens 
beim Croup ist. Jedoch ist sie nur zulässig, wenn der Operirte 
unter dauernder und unmittelbarer Aufsicht eines mit dem 
Verfahren vertrauten Arztes bleiben kann (also in der Hospitals¬ 
praxis). S. erwähnt, dass in den beiden Pariser Kinderkrankenhäusern 
seit 2 Jahren die Intubation die Regel, die Tracheotomie die Aus¬ 
nahme bildet. (Bulletin gtaöral de Therapeutique, 15. Febr.) 

Gaetano Vinci (Pharmakol. Institut Berlin) hat weitere 
Versuche über die Wirkung des Eucains auf das Thier- und 
Menschenauge angestellt. Sie bestätigen seine früheren Angaben, 
sowie die günstigen klinischen Berichte von Berger, Deneffe und 
Caster. Im Gegensatz zu Votiert, Best und WUstefeld, die zu 
concentrirte Lösungen und viel zu grosse Dosen gaben, erklärt V., dass 
Versuche mit 2—3proc. Lösungen (selbst bis zu 16 Tropfen gegeben) 
niemals eine schädliche Wirkung des Mittels auf die Cornea erkennen 
Hessen. „Das Eucain ist weniger giftig als das Cocain, weniger gefähr¬ 
lich für die Cornea, macht keine Pupillenerweiterung und keine Accomo- 
dationsstörungen, ruft nicht eine oft unerwünschte Ischämie hervor. Es 
hat ferner — im Gegensatz zum Cocain — eine leichte antibacterielle 
Wirkung. Besonders wichtig ist, dass Eucainlösungen behufs Sterilisation 
gekocht werden können, ohne schädliche Substanzen zu bilden. Von 
Bedeutung ist schliesslich sein billiger Preis.“ (Therap. Monatsh. 
No. 2, 1897.) _ 

Zur Behandlung der Migräne mit Bromkalium hat Fuchs 
(Gaz. hebdom. de med. et de ebir,, 27. 8ept. 96) eine etwas complicirte 
und sicher nicht ganz unbedenkliche Methode angegeben. 

Die Bromtberapie ist vorzugsweise indicirt bei der ophtbalmi- 
schen und ophthalmoplegischen Migräne. Besonders wichtig ist hierbei der 
Gebrauch progressiv steigender und fallender Dosen des Brom¬ 
kaliums resp. der 8 Bromsalze. Die Grösse der Dose schwankt je nach 
dem Alter der Patienten, der Häufigkeit und Intensität der Anfülle, dem 
Charakter derselben und je nach der Idiosynkrasie der Patienten gegen¬ 
über dem Mittel. Man giebt, progressiv steigend, Tagesdosen von 4, 5, 
6 gr und mehr, jede dieser Dosen je eine Woche lang. Der Eintritt 
leichter Intoxications-Erscheinungen (Benommenheit, Schlafheigung u. s. w.) 
zeigt an, dass die wirksame Dose erreicht ist. Man behält dieselbe 
(z. B. 6 gr) eine Woche lang bei, geht dann herab auf 5 gr (wiederum 
eine Woche lang), dann auf 4 gr (dcsgl. eine Woche lang), um darauf 
wieder auf 5 gr, dann auf 6 gr zu steigen, dann wieder herabzugehen 
u. 8. w. u. s. w. 

Nach 1 — l */* monatlicher Behandlung lässt die Häufigkeit und Inten¬ 
sität der Anfälle nach. Haben sie aufgehört, so ist die wirksame Dosis 
wenigstens noch ein Jahr lang beizubehalten. Die progressive Vermin¬ 
derung der Dosen muss über den Zeitraum eines Jahres hin ausgedehnt 
werden. 

Behuts Erleichterung der Ausscheidung des Mittels ist zu empfehlen: 
Reichlicher Milchgenuss (täglich 1—1'/» Liter. Gebrauch milder Pur- 
gantien (8—10 gr Magn. sulf.). Nützlich sind ferner Seifenbäder. 

Bei gastr. Störungen fügt man zum Bromsalz eine kleine Salolgabe 
(0,1 Salol zu Igr K. br.); Akneeruptionen sind Morgens und Abends 
mit Borsäure zu bepudern. 

Die Zeit des Einnehmens hat dem Zeitpunkt des (voraussichtlichen) 
Eintritts der Anfälle zu entsprechen. */a der Dose sind 2—3 8tunden 
vor diesem Zeitpunkt einzunehmen. 

Bromsalz muss immer stark verdünnt eingenommen werden. Ins¬ 
besondere ist die Lösung (L Esslöffel = 1 gr) stets in Milch zu nehmen. 


E. Webster berichtet über einen Fall von sehr schwerer Anti- 
pyrin-Vergiftung — mit günstigem Ausgang — bei einem 19jährigen 
anämischen Mädchen. Patientin nimmt wegen Kopfschmerzen: Anti- 
pyrin 0,3, Kal. brom. 0,42, Spir. ammon. comp. 3,75, Aqu. ad 80. 
Bereits nach 10—15 Minuten schwerste Intoxicationssymp- 
tome: Kalter Schauer, schwere, schnappende Athmung, Anschwellung 
des Gesichts (bes. Augengegend), die ganze Körperoberfläche, wie beim 
Scharlach, mit hellem, rothen Ausschlag bedeckt. Temp. in axili. 36,1. 
Puls 50, stark intermittirend. Zunge trocken. Lippen cyanotisch. Trotz 
sofortiger Application von Wärme, Alkohol (Whisky), Strychnin mit 
Digitalis, blieb der bedrohliche Zustand ca. 8 Stunden bestehen. Ath¬ 
mung zeitweise so schlecht, dass W. zur künstlichen Respiration schrei¬ 
ten wollte. Nach 4 weiteren Stunden subjective Besserung, Exanthem 


blasser, noch mässige Schwellung der Augenpartie. Nach etwa 24 Stun¬ 
den, abgesehen von einer gewissen Schwäche, Wohlbefinden. Tags 
darauf Wiederaufnahme der gewohnten Arbeit. Gänzliches Verschwinden 
des Ausschlags nach 30 Stunden. (The Lancet, 80. Jan. 1897.) Lr. 


In einem Sonderabdruck aus Band V. der historischen Studien aus 
dem pharmakologischen Institute der Kaiserlichen Universität Dorpat 
(Tausch & Grosse, Halle a. S. 1896) empfiehlt Robert die Einführung 
des russischen Nationalgetränks Kwass für Westeuropa. Kwass ist 
eine durch gleichzeitige saure und alkoholische Gährung aus Mehl oder 
Brot oder Malz mit oder ohne Zusatz von Zucker bereitetes alkohol¬ 
armes und hopfenfreies Getränk, dem meist Pfefferminze als Gewürz 
hinzugesetzt wird. Die Darstellungsweise ist an verschiedenen Orten 
sehr variirend. In dem Anhang der Schrift werden zahlreiche Recepte 
dafür mitgetheilt. Robert giebt auch eine ausführliche Geschichte 
dieses Getränkes, das erheblich älter als das Bier ist. Es wird in Russ¬ 
land sowohl in der Hütte des Bauern, wie an der Hoftafel getrunken, 
sowohl zur Stillung des Durstes, wie als Genussmittel. Der Vorzug des 
Kwass besteht darin, dass ihm die gefährlichen Wirkungen des Alkohols 
fehlen. Ob er aber auch der deutschen Zunge so munden wird, wie 
der Blavischen? A. 


DiagMstisekes. 

In einer der letzten Sitzungen der Berliner Medicinischen Gesell¬ 
schaft hatte unter Berufung auf seine Bemerkungen im Abgeordnetenhaus 
R. Virchow einige Aeusserungen in Betreff des sog. Bacillus der Maul¬ 
und Klauenseuche gethan, ln denen er dessen spezifische Bedeutung in 
Zweifel zog. (Vergl. vor. No. d. Wochenschr.) Nunmehr erhebt auch, gestützt 
auf eigene Untersuchungen, C. Fränkel (Halle) gewichtige Bedenken gegen 
die spezifische Bedeutung des Siegel’schen Bacillus der Maul- un|d 
Klauenseuche (vergl. Bussenius und Siegel, D. med. Wochenschr. 
No. 5 undöd.J.). In etwa 80 ganz frischen Fällen, die er gelegentlich 
einer Epizootie in der Nähe von Halle untersuchte, gelang es F. nur zwei 
Mal, den S.’schen Bacillus nachzuweisen, das eine Mal in der Milch, das 
andere Mal im Dickdarmschleim einer kranken Kuh. Besonders auffallend 
war es, dass gerade da, wo es glückte, aus uneröffneten Blasen den 
Inhalt in unbedingt einwandstreier Weise zu gewinnen, — was 
bei der Ungeberdigkeit der Thiere nur zu oft misslang — dass gerade 
in diesen Fällen sämmtliche angelegten Culturen auf allen 
verwendeten Nährböden völlig steril blieben. 

Konnten B. und S. den S.’schen Bacillus auch bei einer ganzen 
Anzahl erkrankter Menschen und namentlich Thieren nachweisen, im 
Blute, im Speichel, im Gcschwürssecret u. s. w., so gelang dieser Nach¬ 
weis doch keineswegs in allen Fällen. Andererseits fanden zahl¬ 
reiche zuverlässige Beobachter den S.’schen Bacillus überhaupt nicht, 
trotzdem sie gleiche Methoden und gleiche Substrate wie B. und S. an¬ 
wandten. 

F. kann sich daher des Verdachts nicht erwehren, dass der 
8iegel’8che Bacillus nur ein secundärer Mikroorganismus, 
nicht der eigentliche Erreger der Maul- und Klauenseuche ist. In ähn¬ 
licher Weise erging es einst dem Staphylococcus pyogenes aureus, der 
in Folge seines fast regelmässigen Vorkommens in den Pockenpustcln, 
neben anderen Kokken s. Zt. von einigen Forschern als der spezifische 
Erreger der Variola angesehen wurde. 

Der S.’sche Bacillus — ein Vertreter der weit verbreiteten Coli- 
gruppe — ist nur schwer aus den Culturen gänzlich auszuscheiden, 
zumal bei einem Verfahren, wie es B. und S. anwandten, der Uebcr- 
tragung des Ausgangsmaterials unmittelbar in Bouillonröhrchen. 

Angesichts der gelungenen Uebertragungen, die B. und S. 
— wenigstens bei Verfütterung frischer Bouillonculturen (auf 
3 Kälber und 1 8chwein) — zu verzeichnen hatten, erinnert F. wiederum 
an das Beispiel der Variola bezw. der Vaccine. Auch hier waren 
mit Hülfe künstlicher Culturen Uebertragungen auf empfängliche Thiere 
zu Stande gekommen, jedoch nur dadurch, dass ausser den nicht spezi¬ 
fischen Bacterien auch Spuren des eigentlichen — noch unbekannten — 
Infectionsstoffes verimpft worden waren, die an den Händen oder 
Kleidern der Experimentatoren, den Wandungen der benutzten Stallungen 
u. s. w. gehaftet hatten. Eine derartige Möglichkeit hält F. auch im 
vorliegenden Falle für nicht ganz ausgeschlossen. Die Versuche erfolgten 
zur Zeit und im Gebiete einer ausgebreiteten Seuche, so dass die Gefahr 
einer unbeabsichtigten, spontanen Infection der Versuchsthicre immerhin 
vorhanden war. Auch konnten B. und S. selbst das Contagium, das 
auch durch gesunde Menschen übertragen werden kann, gegen ihren 
Willen den Versuchsthieren mitgetheilt haben. Erst dann ist der 
Siegel’sche Bacillus als der Erreger der Maul- und Klauen¬ 
seuche sicher festgestellt, wenn man mit Hülfe seiner Culturen 
die Krankheit auch in völlig seuchenfreier Zeit und Gegend, in 
bis dahin unbenutzten Ställen und durch die Hand völlig unver¬ 
dächtiger Untersucher erzeugen kann. „Derartige Experimente 
sind gewiss möglich, auch ehe noch die jetzt im Etat geforderte besondere 
Anstalt zur Erforschung der Maul- und Klauenseuche ins Leben getreten ist 
und würden sogar für das Schicksal der letzteren von erheblicher Be¬ 
deutung sein.“ (Hygienische Rundschau No. 4, 1897.) 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 9. 


19(5 


Auf das gemeinschaftliche Vorkommen von Tabes dorsalis und 
Wanderniere lenkt Habel nach Beobachtungen auf Eichhorst’s 
Klinik die Aufmerksamkeit. Bei 68 seit dem Jahre 1885 aufgenommenen 
Tabesfällen (-14 Männer, 24 Frauen) fand sich 6 mal Wanderniere, nnd 
zwar nur bei Frauen; da sonst in Zürich nur bei 1 pCt. der aufgenom¬ 
menen Frauen Wanderniere beobachtet ist, glaubt Verf. einen ätiologi¬ 
schen Zusammenhang annehmen zu dürfen. (Cbl. f. inn. Med. 7.) 


M. Morillo. La scroreaction et le scrodiagnostic (These 
de la Faculte de Paris), stellt folgende Sätze auf: 

„Beim Typhus sichert positiver und deutlicher Ausfall derReaction 
die Diagnose. Negativer Befund spricht mit grösster Wahrscheinlichkeit 
gegen die Diagnose „Typhus“ (Widal).“ 

Bei der colibacillären Infection besitzt das colibacilläre Serum 
die agglutinirende Kraft. 

„Die Serodiagnostik behält ihren Werth, auch wenn man die (Sero-) 
Reaciion nicht als eine ausschliesslich qualitative, sondern als eine gra¬ 
duell bemessene, nur quantitative ansieht.“ 

„Bei der Cholera hat das Choleraserum, bei der Diphtherie das 
Antidiphtherieserum agglutinirende Kraft.“ 

„Auch auf die übrigen Infectionen wird diese serodiagnostische 
Methode zweifellos anwendbar sein.“ 

„Die Natur der agglutinirenden Substanz ist uns unbekannt. 

Lr. 


IX. Tagesgeschichtliche Notizen. 

Berlin. In der Sitzung der Berliner medicinischen Gesell¬ 
schaft am 24. d. M. stellte vor der Tagesordnung Herr Jacusiel 
einen Fall von Schwellungen der Lymphdrüsen, Milz und 
Leber vor; zur Discussion sprachen Herr Ewald und Herr 

R. Virchow. Letzterer demonstrirte Präparate von Tapir-Form 
der Portio vaginalis. Herr B. Fraenkel besprach einen eigentüm¬ 
lichen Fall von Perichondritis laryngea nnd zeigte das ana¬ 
tomische Präparat; Herr Litten zeigte Röntgenbilder eines Falles 
von Trommelschlägel-Fingern bei angeborenem Herzfehler; Herr 
W. Lewy besprach, an der Hand eines Falles das Vorkommen von 
Lösung des Nerv, ulnaris am Condyl. int. mit und ohne Ver¬ 
letzungen. Endlich hielt Herr Ko 11 e vom Institut für Infectionskrankheiten 
den aogekündigten Vortrag über die Pest, der unter Zuhilfenahme zahl¬ 
reicher mikroskopischer Präparate und Projectionsbilder das Verhalten 
des Pestbacillus beim Kranken, in der Cultur nnd im Thierversuch 
klarlegte. 

— In der Sitzung der Gesellschaft der Charite-Aerzte am 
25. d. M. demonstrirte Herr Huber mikroskopische Präparate des Meningo- 
coccus intracellularis im Spinal-Eiter sowie im Nasen-Sekret eines Falles 
von epidemischer Genickstarre, Herr Kolle zeigte nochmals die sog. 
Widal’sche Reaktion. Herr Gerhardt stellte sodann verschiedene 
Kranke vor, und zeigte zuerst einen Fall von Triplegie, wahrscheinlich 
auf luetischer Basis beruhend, darauf eine Quecksilbervergiftung mit 
allgemeinem Intentionszittern und fasste im Anschluss daran seine Er¬ 
fahrungen über die Aetiologie der multiplen Sclerose zusammen, endlich 
einen Patienten, bei dem er die Wahrscheinlichkeits-Diagnose auf Akro¬ 
megalie entwickelte. (Discussion die Herren Jolly und Gerhardt). 
Endlich hielt Herr Blumenthal einen Vortrag über Zucker abspaltende 
Körper im Organismus, in welchem er über den ihm gelungenen Nach¬ 
weis der Zersetzung von Nucleo-Albuminen der verschiedensten Körper¬ 
organen in Pento9en berichtete. (Discussion die Herrn Klemperer und 
Blumenthal.) 

— Die Sitzung der Berlin-Br andenburgischen Aerztekammer 
am 20. d. M. wurde im wesentlichen durch ein Referat des Herrn 

S. Alexander über die Novelle zum Unfallversicherungsgesetz ausgefüllt. 
Die Kammer genehmigte mit geringen Aenderungen die Thesen und An¬ 
träge des Referenten, ln denen die Forderung freier Arztwahl auch für 
die Unfallkranken, einer einheitlichen, gesetzlichen Regelung der ver¬ 
schiedenen Versicherungsformen, sowie erhöhter Mitwirkung der Aerzte bei 
Vorbereitung und Durchführung der betr. Gesetze gestellt und im Ein¬ 
zelnen ausgefiihrt waren. 

— Der nächste deutsche Aerztetag soll am 10. u. 11. September 
d. J. in Eisenach stattfinden. Bei dieser Gelegenheit wird das Graf- 
Richter-Denkmal enthüllt werden. Auf der Tagesordnung stehen die 
Stellung der Aerzte zur Gewerbe-Ordnung (Ref. Lent) und die 
Schnlarztfrage (Ref. Thiersch). 

— In Bezug auf Koch’s Forschungen über die Rinderpest 
wird im Brit. med. Joura. mitgetheilt, dass derselbe diesmal von der 
gewöhnlichen Methode der bacteriologischen Untersuchung abgewichen 
ist, und die Frage von der rein praktischen 8eite angefasst hat. Ge¬ 
stützt auf die Erfolge der Serumtherapie hat er direkt hiernach die 
Behandlung und Immunisirung in Angriff genommen; es ist gelungen, 
durch Einspritzung von Blut erkrankter Thiere die Krankheit mit einer 
Incubationsperiode von 8—5 Tagen typisch zu erzeugen, und auf ähn¬ 
liche Weise, durch Abschwächungsverfahren, mildere, zur Immunisirung 


ausreichende Erkrankungsformen hervorzubringen. Weiter fand sich, 
dass Merinoschafe, Angora- und Kapziegen nach Injection von Rinder¬ 
pestblut eine modifleirte Krankheit acquiriren, die ebenfalls übertragbar 
ist. Experimente der Art sollen auf alle, für die Verbreitung der Seuche 
in Betracht kommenden Thiere — Antilopen, Esel, Manlthiere, Hunde 
n. s. w. — ausgedehnt werden. Koch glaubt, innerhalb 14 Tagen eine 
wirksame Immunisirung hervorzubringen, und hofft mit seinen Me¬ 
thoden die Rinderpest binnen Kurzem ans der Welt zu schaffen. Der 
Krankheitserreger ist bisher nicht gefunden. 

— Neueren Nachrichten zufolge scheint die Pest in Bombay 
ihren Höhepunkt überschritten zu haben; namentlich sollen die Bezirke, 
in denen die Krankheit zuerst auftrat, jetzt fast seuebenfrei sein. Die 
Ge8aramtziffer der Pesttodesfälle von Ende September bis 19. Januar 
wird auf 9835 angegeben. Wie es scheint, werden Jetzt grössere Ver¬ 
suche mit dem Haffkine’sehen prophylaktischen Serum angestellt, 
mit dem namentlich auch mehrere dortige Aerzte sich haben impfen 
lassen. 

— Dr. Unnas dermatologische Preisaufgabe für das Jahr 
1897 lautet: Es soll untersucht werden, ob und inwieweit alle bisher 
angegebenen speciflschen Färbungen des Elastins auch Elac in zu färben 
vermögen. Die Bewerbung ist unbeschränkt. Die Arbeit ist bis Anfang 
December 1897 bei der Verlagsbuchhandlung Leopold Voss in Hamburg, 
Hohe Bleichen 34, einzureichen. Der Preis beträgt M. 800.—. Genaue 
Bedingungen und Mittheilungen über die Preisaufgabe 1897 sind von 
obengenannter Verlagsbuchhandlung zu beziehen. 


X. Amtliche Mittheilungen. 

Peraenalla. 

Auszeichnungen: Rother Adler-Orden IV. Kl.: dem ao. Pro¬ 
fessor Geheimen Medicinalrath Dr. Hirschberg in Berlin; dem 
Sanitätsrath Dr. BesBel in Berlin, dem Geheimen Sanitätsratb Dr. 
Strahl in Kreuznach. 

Ritterkreuz des Grossherzogl. Mecklenb.-Schwerinschen 
Greifenordens: dem Sanitätsrath Dr. Weltz in Wernigerode. 

Officierkreuz des Französischen Ordens der Ehren¬ 
legion: dem o. Professor Geheimen Medicinalrath Dr. Liebreich 
in Berlin. 

Ernennung: der bisherige Privatdocent, Stabsarzt Professor Dr. Erich 
Wern icke in Berlin zum ao. Professor in der medicinischen Fakultät 
der Universität zu Marburg. 

Versetzung: dem Kreis-Physikus des Kreises Ziegenrück, Sanitätsrath 
Dr. PI an ge in gleicher Eigenschaft in den Kreis Stendal. 

Niederlassungen: die Aerzte Dr. Schmalowski in Insterburg, Dr. 
Boehnke in Loetzen, Dr. Peter Meyer in Tilsit, Sonneborn in 
Hamm (Siegkreis), Knüsli in Enkirch, Huebner in Lueben, Dr. 
Eberstein und Dr. Hulisch in Hoerde, Dr. Trappe in Mahlsdorf. 

Verzogen sind: die Aerzte Joh. Gust. Meyer von Berlin nach 
Spandau, Fr icke von Stettin nach Spandau, Vos Winkel von Greiffen- 
berg nach Tangermünde, Herzberg von Lehnin nach Lunow, Dr. 
Breustedt von Berlin nach Spandau, Dr. Morgenstern von Dip¬ 
poldiswalde nach Wriezen, Dr. Sklarek von Berlin nach Dalldorf. 
Dr. Schulte von Herne nach Viersen, Dr. Struck von Hoffiitedde 
nach Datteln, Dr. Eggebrecht von Osterfeld nach Frintropp, Schäfer 
von Drensteinfurt, Dr. Ruland von Herten, Dr. Leineweber von 
Münster i. W. nach Bottrop, Dr. Suess von Stadtlohn, Bruegge- 
mann von Kettwig nach Coblenz, Dr. Burghart von Osnabrück nach 
Andernach, Dr. Strauss von Berlin nach Wetzlar, Dr. Duenges 
von Neuwied nach Mewe, Ass.-A. Dr. Kirstein von Lyck nach 
Königsberg i.Pr., Dr. Schmidt von Erlangen nach Tilsit, Dr. Burow 
von Tilsit nach Nürnberg, Dr. Bahr von Krascbnitz nach Canners- 
dorf bei Hirachberg, Dr. Buchwald von Filehne nach Görlitz, Dr. 
Hartung von Dresden nach Görlitz, Dr. Greitner von Gilzenberg 
nach Görlitz, Rau von Pr.-Friedland nach Herrndorf, Ober-Stabsant 
Dr. Heyne von Kosel nach Glogau, Stabsarzt Dr. Brecht von Glogsu 
nach Berlin, Dr. Pol lack von Glogau nach Berlin, Heinrich Cohn 
von Herrndorf, Dr. Seil von Görlitz nach Posen, Dr. Lentze von 
Görlitz nach Lauban, Dr. Theurich von Görlitz nach Moritsdorf, 
Dr. Rieh. Schmidt von Hecklingen nach Gernrode. 

Gestorben sind: die Aerzte Sanitätsrath Dr. Brekenfeld in Wriezen, 
Kreis-Physikus Dr. Rohn in Mohrungen. 


Die Stelle des Oberamts-Physikus zu Haigerloch, mit welcher in 
widerruflicher Weise die Verwaltung der Oberamts-Wundarztstelle des 
Bezirks Hechingen verbunden ist, wird zum 1. k. Mts. frei. Bewerber 
wollen ihre Meldungen unter Beifügung der Approbation, des Fähigkeits¬ 
zeugnisses zur Physikatsstelle und eines Lebenslaufes innerhalb 4 Wochen 
einreichen. 

Sigmaringen, den 18. Februar 1897. 

Der Regierungs-Präsident 

Für die Redaction verantwortlich Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald, LütaowpiaU i- 


Verlag und Eigenthum von August Hirschwald in Berlin. — Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin. 


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BERLIN Kli 


Die Berliner Klinische Wochenschrift crscbelnt jeden 
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Einsendungen wolle man portofrei an die Redactlon 
(W. LQtsow-pIati No. S ptr.) oder an die Verlags¬ 
buchhandlung von August Hirschwald ln Berlin 
N.W. Unter den Linden No. 68, adresalren. 



Mit Berücksichtigung der preussischen Medicinalverwaltung und Medicinalgesetzgebung 

nach amtlichen Mittheilungen. 


Redaction: 

Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. Ä. Ewald und Prof. Dr. C. Posner. 


Expedition: 

iogust Hirschwald, Verlagsbuchhandlung io Berlin. 


Montag, den 8. März 1897. 


M 10 . 


Viernnddreissigster Jahrgang. 


INHALT. 


I. J. Hirschberg: Ueber die Körnerkrankheit in Ost- und West- 
preussen. 

II. Aus dem Institut für Hygiene und Bacteriologie der Universität 
Strassbarg. S. Wolf: Ein Beitrag zur Aetiologie der circum- 
acripten Meningitis. 

III. A. Albu: Die Wirkungen körperlicher Ueberanstrengungen beim 
Radfahren. 

IV. M. Kirchner: Die Bekämpfung der Körnerkrankheit (Trachom) 
in Prenssen. (Schluss.) 

V. Kritiken und Referate. Veit: Eklampsie; Knapp: Eklampsie; 
Diihrssen: Kaiserschnitt; Klein: Gonorrhoe. (Ref. Schiller.) — 
Dornblöth: Neurasthenie; Jolly: Epilepsie; Scholz: Irren¬ 
pflege. (Ref. Lewald.) — Berger: Vereinsvresen. (Ref. Pagel.) 

VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Berliner me¬ 


I. Ueber die Körnerkrankheit in Ost- und West- 

preussen. 

Von 

J. Hirschberg. 

Nach einem in der Berliner medicin. Gesellschaft gehaltenen Vortrag. 

M. II. Mit Freuden begrüsse ich, dass Herr College Kirch¬ 
ner es unternommen, die wichtige Frage von der Bekämpfung 
der Körnerkrankheit in Preussen im Schoosse unsrer, der 
grössten ärztlichen Gesellschaft Deutschlands, zu erörtern, und 
zwar von dem umfassenden Standpunkt des Hygienikers aus, 
so dass Sie nicht zu befurchten brauchen, von Kleinigkeiten und 
Nebensachen zu hören, die mehr den sogenannten Specialisten, 
den Augenarzt, interessiren. Aber so bedeutsam auch das Forum 
ist, vor dem die Erörterung stattfindet, so wenig ist gerade in 
Berlin der praktische Arzt in den Stand gesetzt, die fragliche 
Körnerkrankheit des Auges durch eigne Beobachtung kennen 
zu lernen. Sogar die Augenärzte Berlins sehen diese Krankheit 
hauptsächlich an Ortsfremden, aus den Provinzen Posen, Ost- 
und West-Preussen, aus Russland, Polen, den sUdslavischen und 
den Morgen-Ländern. Es ist natürlich nicht so, wie etwa mit der 
Lepra, dass die Krankheit bei den Einwohnern der Stadt Berlin 
oder der Provinz Brandenburg gar nicht vorkommt; aber bei 
den meisten Einheimischen, sowohl Kindern als auch Er- 
wachsnen, welche in meine Sprechstunde kommen mit der An¬ 
gabe, dasB sie an ägyptischer AugenentzUndung leiden oder 
gelitten haben, finde ich doch nur, dass sie an einer falschen 
Diagnose leiden und ausserdem noch gelegentlich an einem ein¬ 
fachen oder Bläschenkatarrh der Bindehaut. Und wenn bei uns 
ein eifriger, aber noch nicht sehr erfahrener Jünger des Aescu- 
lap den Schreckensruf ausgestossen hat, dass in einer unsrer 
Gemcindeschulcn die ägyptische AugenentzUndung ausgebrochen 


dicinische Gesellschaft. Albu: Ueberanstrengungen beim Radfahren. 
Abel: Elephantiasis. — Gesellschaft derCharitä-Aerzte. Heubner, 
Bnssenius: Demonstrationen. Huber: Tropische Hämaturie.— 
Gesellschaft für Psychiatrie. Remak: Aphasie. Schuster: Hy¬ 
sterie. Bloch, Edel: Demonstrationen. — Verein der Aerzte zu 
Stettin. Scbnchardt: Lipom. Bnschan: Historisches. Neisser: 
Diphtherie. — Phys.-med. Gesellschaft zn Wtirzburg. Borst: Ex¬ 
sudation und Degeneration. — Aerztlicher Verein zu Hamburg. 
Arning, Peltesobn, Graff, Sndeck, Lindemann, Gleiss, 
Plnder, Prochownik: Demonstrationen. 

VII. R. Kossmann: Zur Behandlung des Catgut. 

VIII. M. Saenger: Zur Therapie der genuinen Ozaena. 

IX. Literarische Notizen. — X. Praktische Notizen. 

XI. Tagesgeschichtliche Notizen. — XII. Amtliche Mittheüungen. 


sei, so habe ich wenigstens in den Fällen, wo die städtische 
Schulbehörde mich mit der Prüfung betraute, durch eigenhändige 
und eigenäugige Untersuchung einmal von 800 Schülern, einmal 
von 140 Schülern mich überzeugen können, dass von endemischer 
oder epidemischer Körnerkrankheit in der Schnle gar keine Rede 
war, sondern, dass jedes Mal nur ein einziger Fall leicht granu¬ 
lärer Erkrankung vorgefunden wurde. Allerdings zwei That- 
sachen bitte ich wohl zu beachten: 1. Leichte, absolut un¬ 
schädliche Bläschenkatarrhe kommen auch in unsren Schulen, 
selbst in den Gymnasien, in starker Verbreitung vor. 2. Kleine 
Endemien von wirklicher Körnerkrankheit können in geschlos¬ 
senen Anstalten, in Waisen- oder Irrenhäusern, durch Einschlep¬ 
pung von auswärts, bei gemeinschaftlichem Gebrauch des Wasch¬ 
wassers und der Handtücher, auch in der Mark Brandenburg 
entstehen. Das habe ich selber beobachtet und behandelt. 

Immerhin liegt die Sache so, dass in Berlin der tüchtigste 
und beschäftigste praktische Arzt aus eigener Erfahrung, ohne 
Zuhilfenahme der Literatur, nicht die Ueberzeugung gewinnen 
kann, dass die Körnerkrankheit des Auges zu den wich¬ 
tigsten und verbreitetsten Volkskrankheiten gehört, wie 
etwa die Tnberculose, natürlich mit der Maassgabe, dass die letz¬ 
tere vorzeitigen Tod bewirkt, die erstere nur die Gebrauchs¬ 
fähigkeit des Sehorgans beeinträchtigt oder Sehstörung verur¬ 
sacht. Es ist aber gerade die Körnerkrankheit, welche in 
hervorragender Weise die Blindenziffer der verschiedenen 
Völker sowie der Bevölkerungsgruppen innerhalb desselben Volkes 
beeinflusst. 

Die Körnerkrankheit nimmt auch eine sehr ehrwürdige Stelle 
ein in der Literatur der Heilkimde. Sie wird erwähnt in dem 
ältestenBuch, das wir überhaupt besitzen, in dem Papyrus Ebers, 
das etwa vor 3400 Jahren niedergeschrieben ist, ferner in der 
wunderbaren Sammlung, die den Namen des Vaters der Heil¬ 
kunde, des Hippokrates, führt. Die in der hippokratischen 


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No. 10. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Schrift von der Sehkraft beschriebenen Heilverfahren (1. das 
Abreiben, 2. das Ausschneiden,) spielen eine grosse Rolle unter 
den neuesten therapeutischen Entdeckungen unsrer Tage. Celsus 
hat eine erkennbare Beschreibung der Kömerkrankheit geliefert. 

Die späteren Griechen, wie Galen, Aetius, Paulus, Joannes, 
haben, gestützt auf Severus, eine so getreue Schilderung der 
Körnerkrankheit uns hinterlassen, dass ich sie allen späteren 
Beschreibungen, die vor dem ersten Drittel unsres Jahrhunderts 
erschienen sind, vorziehen möchte. 

Bei meinen Bemühungen, die geographische Verkei¬ 
lung der Körnerkrankheit auf einer Erdkarte zu verzeichnen, 
kam ich natürlich auf die Frage, ob der gegenwärtige Zustand 
in geschichtlicher Zeit immer bestanden hat, oder ob früher 
in verschiedenen Gegenden der Erdoberfläche eine andere Ver¬ 
keilung der Körnerkrankheit vorherrschte. Die Lösung solcher 
geschichtlicher Fragen bietet ganz erhebliche Schwierigkeiten 
dar. Sie muss aber versucht werden, um die praktisch wich¬ 
tige Frage zu entscheiden, ob und wann in unsere Provinzen 
die Körnerkrankheit eingeschleppt worden ist. 

Sicher ist im alten Aegypten vor mehr als 3400 Jahren 
das Triefauge (hetatf), eine Folge der Körnerkrankheit, viel¬ 
leicht auch die Körner selbst, von Aerzten beobachtet und be¬ 
handelt worden. Aber nicht der Schatten eines Beweises ist 
dafür zu erbringen, dass schon zu den Zeiten der Pharaonen, 
Ptolemäer, Caesaren der trostlose Zustand der Körnerkrankheit 
vorhanden gewiesen, den heutzutage jeder aufmerksame Beob¬ 
achter dort findet und den bereits 1580 n. Chr. Prosper Alpinus 
vorfand, der erste europäisch gebildete Arzt, der im Beginn 
der Neuzeit Aegypten's Boden betrat und Land und Leute be¬ 
schrieben hat. Die Aegypter galten im Alterthum für die ge¬ 
sundesten Menschen; mit dem Beginn des Mittelalters hat sich 
vieles geändert in Aegypten. 

Bei den alten Griechen war die Kömerkrankheit weit 
mehr verbreitet als unterschätzend die Schulmeinung annimmt. 
Bei den alten Römern war die Kömerkrankheit etwas ge¬ 
wöhnliches und bekanntes. Die Araber des Mittelalters be¬ 
schrieben die Körnerkrankheit nach griechischen Mustern; sie 
fügten allerdings etwas eigenes hinzu, das Hornhautfell (Sebel, 
Pannus). Die abendländischen Schriftsteller des Mittelalters, 
welche aus den arabischen schöpften, lieferten so undeutliche 
Beschreibungen, dass wir das damalige Vorkommen der Kömer¬ 
krankheit in Süd- und Mitteleuropa nur eben vermuthen können. 
Gelegentlich erwähnt ein Augenarzt, der sowohl im Morgen- wie 
im Abendland prakticirt hat, dass im Morgenland die Krankheit 
weit häufiger sei. 

Nach dem sogenannten Wiedererwachen der Wissenschaften 
finden wir theils kürzere Erwähnungen, theils grössere Be¬ 
schreibungen der Kömerkrankheit, aus Citaten der Alten und 
der Araber zusammengekleistert. 

Es ist ebenso bekanut, wie seltsam, dass am Ende des vori¬ 
gen Jahrhunderts, vor Bonaparte’s Zug nach Aegypten (1708), 
die besten Beobachter nur geringe Aufmerksamkeit der Kömer¬ 
krankheit zugewendet haben. Sie ist aber von Beer in Wien 
1792 ganz unzweideutig geschildert worden. 

Der Name der ägyptischen Augenentzündung kommt 
im Alterthum und im Mittelalter nicht vor; aber seit dem Jahre 
1800 erscheint derselbe, an die biblischen Plagen Aegyptens er¬ 
innernd, in allen europäischen Sprachen. Europäische 
Aerzte fanden, dass die Kömerkrankheit in Aegypten eine un¬ 
geheure Verbreitung gewonnen hat. Es ist allgemein bekannt, 
dass die französischen Truppen Bonaparte's, welche 1798 die 
Mameluken besiegten, zu Tausenden von der Augenentzündung 
befallen wurden; ebenso ihre damaligen Freunde, die Italiener, 
und ihre Gegner, die Engländer; dass die Augenentzündung von 


den heimkehrenden Truppen nach Frankreich, Italien, England 
verpflanzt wurde: dass während der Befreiungskriege 1813 bis 
1815 die preussischen, österreichischen, russischen Truppen und 
nach den Kriegen die Besatzungen in Mainz, in Belgien, in 
Klagenfurt, die Flottenmannschaften in Schweden und Norwegen 
furchtbar daran litten; und dass die Augenkrankheit von den 
Soldaten auf die bürgerliche Bevölkerung überging und nicht 
ausgerottet werden konnte. Hierüber sind ganze Bibliotheken 
geschrieben worden, ohne dass es gelang, vollständige Aufklä¬ 
rung zu schaffen. 

Nachdem man schon im ersten Drittel unsres Jahrhunderts 
erkannt, dass die Kömerkrankheit nur irrthümlich für ein ganz 
neues Leiden gehalten worden, musste man die dogmatischen 
Streitigkeiten Uber den ägyptischen oder europäischen Ursprung 
der Krankheit aufgeben und die Frage dahin zuspitzen: Ist das 
Trachom im Verlauf und in Folge der napoleonischen Kriege, 
die ja allerdings seit den Kreuzzügen und den Völkerwanderungen 
die grössten Menschenmassen durch Europa’s Länder hin¬ 
durch bewegt haben, in Gegenden verschleppt worden, die 
vorher völlig frei davon gewesen? 

Für einzelne Kreise am Niederrhein ist diese Einschlep¬ 
pung positiv bewiesen durch die Aktenstücke Uber die 
contagiöse Augenentzündung, welche das preussische Ministerium 
des Unterrichts, geistlicher und Medizinal-Angelegenheiten im 
Jahre 1822 veröffentlicht hat. 

Leider wird das Ergebniss dadurch getrübt, dass man da¬ 
mals Kömerkrankheit und Eiterfluss der Augen zusam¬ 
mengeworfen. 

Aber das scheint mir unerwiesen und unrichtig, dass 
die Kömerkrankheit in ganz Europa, wie wir sie jetzt vor¬ 
finden, lediglich abhänge von der Einschleppung aus Aegypten, 
bezw. von den Soldaten, welche die Feldzüge 1798—1815 mit¬ 
gemacht haben. 

Berücksichtigen wir die vorzüglichen Beschreibungen aus 
dem klassischen Alterthum, die auf die Mittelmeerländer sich 
beziehen; so ist es heute vielleicht in den 3 südlichen Halbinseln 
Europa’s mit der Kömerkrankheit ebenso bestellt, wie etwa vor 
2tXX) Jahren, oder etwas schlimmer; in Spanien und Portugal 
durch den in dieser Hinsicht schädlichen Einfluss der Araber, 
die ja aus Nord-Afrika dorthin gekommen; in Süd-Italien wie 
in der Peloponnes durch die heutzutage geringere Cultur und 
Hygiene. 

Nach Mittel- und Nord-Europa könnte die Körnerkrank¬ 
heit durch die Heere im Anfang unsres Jahrhunderts verschleppt 
sein. Für Belgien und den Niederrhein ist das zum Theil er¬ 
wiesen. Auch für gewisse Theile von Frankreich. Für England 
wird die Kömerkrankheit von Vetch und Adams auf die Rück¬ 
kehr aus Aegypten zurückgeftlhrt. 

Aber die ungeheure Verbreitung der Kömerkrankheit in 
den Weichsel-Niederungen, in den russischen Ostseepro¬ 
vinzen und im europäischen Russland überhaupt kann man für 
so jung doch nicht ansehen. 

Uebrigens zogen 1812 die Franzosen ziemlich, wenn auch 
nicht ganz, trachomfrei nach Russland. Als dann 1813 zuerst 
die preussischen Truppen vorrückten, brachten York’s Sol¬ 
daten die Kömerkrankheit mit! 

Das scheint denn doch dafür zu sprechen, dass im eigent¬ 
lichen Russland und in den Ostseeprovinzen, vielleicht auch in 
den preussischen, die Krankheit schon vor dem Einfall der 
Franzosen geherrscht hat. 

Solange nicht obligatorischer Schulunterricht und allgemeine 
Wehrpflicht eingeführt sind, braucht die chronische Körnerkrank¬ 
heit, zumal in einer ackerbauenden Bevölkerung, nicht sonder¬ 
liches Aufsehen zu machen. 


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8. Marz 1807. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Bei uns in Mittel-Deutschland kommt die Körnerkrankheit 
nur selten und vereinzelt vor. 

Dass die Körnerkrankheit in Berlin sich nicht verbreitet, 
trotz regelmässiger Einschleppung von Einzelfällen, kann durch 
das Zusammenwirken günstiger Lage- und Hygiene-Verhältnisse 
erklärt werden. An der Einschleppung einzelner Fälle kann 
gar nicht gezweifelt werden. Es giebt in Berlin wohl mehr 
Ostpreussen, als in einer der Städte, deren Schulen ich unter¬ 
sucht habe, wie Lyck oder Gumbinnen. Vor Kurzem gelangto 
wegen Augenverletzung ein aus Ostpreussen gebürtiger Arbeiter 
in meine Behandlung, der hier im 2. Garde-Regiment gedient 
und dann 18 Jahre hier gelebt hatte. Seine Bindehäute zeigten 
die deutlichen Spuren des abgelaufenen Trachom. Seine Frau 
und seine Kinder, die ich sofort kommen Hess, hatten ganz ge¬ 
sunde Augen. Aber immun sind die Berliner natürlich nicht. 
Eine Bürgersfrau kam kürzlich zu mir mit subacuter Körner¬ 
krankheit an ihren beiden Augen; sie hatte es von dem Besuch 
einer Verwandten aus Oesterreich, von der es ihr bekannt war, 
dass sie an ägyptischer Augenentzündung litt, der sie aber doch 
den gemeinschaftlichen Gebrauch des Waschbeckens und der 
Handtücher gestattete. 

Allerdings fehlt es auch in Mittel-Deutschland nicht an ver¬ 
einzelten, umschriebenen Herden der Körnerkrankheit. Ich nenne 
nur den Kreis Heiligenstadt, wo Prof. Schmidt-Rimpler 
5 pCt. Trachom bei den Dorfschülern gefunden. Aber häufiger 
wird die Krankheit erst in den Grenzprovinzen, den westlichen 
sowohl als auch namentlich den östlichen. Die Ziffern, die das 
beweisen, sind allerdings nicht absolute, die aus der Untersu¬ 
chung der ganzen Bevölkerung sich ergeben, solche giebt es 
noch nicht, sondern nur relative; sie geben die Zahl der Kömer¬ 
kranken, die unter je 1000 Augenkranken in grösseren Augen¬ 
heilanstalten der verschiedenen Bezirke gefunden worden sind. 
Ich habe für meine Bearbeitung der Geographie des Trachom 
sehr viele Statistiken aus den verschiedensten Gegenden er¬ 
halten, wofür ich den betreffenden Collegen zu grossem Danke 
verpflichtet bin, will Sie aber heute mit einer Analyse dieser 
Beobachtungen nicht behelligen, sondern Ihnen nur ganz kurz 
im Lapidarstyl einige Hauptzahlen unterbreiten. 

In Berlin kommen bei mir etwa 14 Trachomfälle auf 
1000 Augenkranke, 1 ) davon sind noch dazu die meisten nicht 
aus Berlin oder der Provinz Brandenburg. Dagegen kommen in 
Bonn 110 auf 1000 Augeukranke, in Posen 150, in Königsberg 
270 bis 400. 

Vom Ausland nenne ich nur die folgenden Zahlen: Belgien 
in der Provinz Limburg 278, Warschau 300, Dorpat 500. 

Ueberhaupt möchte ich das Ausland nur so weit berühren, 
um einen annähernden Vergleich mit Deutschland zu ermöglichen. 

Frankreich und England sind ähnlich daran, wie Deutsch¬ 
land, dass nämlich einige Bezirke stark an Kömerkrankheit 
leiden, Oesterreich schlimmer durch Ungarn, Russland weit 
schlimmer, ebenso auch die drei südlichen Halbinseln Europa’s. 

1) 1870—1877 zählte ich unter 21140 Kranken 846 mit Trachom 
oder 38: 1000. Meine Zahl ist kleiner geworden, weil nicht mehr so 
viele Russen (namentlich ärmere) nach Berlin kommen. Im Jahre 1893 
hatte ich unter 1206 Privatkranken 12 Fälle von Kömerkrankheit. Bei 
dreien fehlt die Angabe der Heimatb, 2 sind aus Berlin, 1 aus Potsdam, 
1 aus Galizien, 3 ans Russland, 1 aus Rumänien, 1 aus Spanien. — 
Im Jahre 1894 hatte ich unter 7781 poliklinischen Kranken 120 Fälle 
von Kömerkrankheit, das sind 16: 1000. Von diesen 120 Fällen waren 
45 aus Berlin und der Provinz Brandenburg, darunter einige unsicher; 
aus den Provinzen Ost- and West-Preussen 29, aus der Provinz Posen 10, 
Provinz Schlesien 8, Provinz und Königreich Sachsen 3, Provinz West- 
phalen 1, Lothringen 1; aus Russland 10, aus Oesterreich 2, Däne¬ 
mark 2, England 1, Amerika 1, Palaestina 1. 


HM) 

Algier, Tunis, Aegypten, Syrien sind durchseucht von der 
Krankheit, w'ohl auch Arabien, sicher Persien. In Ostindien fand 
ich die Krankheit in Bombay stärker als in Calcutta (100 gegen 
60). In Ceylon fehlt sie trotz der Hitze. In Canton steigt die 
Ziffer auf 700, in Tokyo beträgt sie noch 140. Die mongoli¬ 
schen Völker sowie die malaischen (z. B. auf Java) leiden nicht 
minder an der Körnerkrankheit, als die semitischen. Die Neger 
sind ziemlich frei davon. Nach Australien ist die Körnerkrank¬ 
heit eingeschleppt wie nach Amerika. In Nordamerika leiden 
daran besondere die eingewanderten Iren und Skandinavier. In 
Südamerika ist Brasilien stark behaftet. 

Die ältere Ansicht, dass Hitze und Staub zur Verbreitung 
der Krankheit beitrage, ist unhaltbar geworden, seitdem man 
durch Reisen genauere Kenntnisse gewonnen. Aber ein ursäch¬ 
liches Moment ist für Europa zu betonen: Die Kömerkrankheit 
ist am meisten verbreitet in gewissen Flussniederungen, Sumpf-, 
Landsee- und Moor-Gegenden, sowie an flachen Meeresküsten; 
die Krankheit fehlt oberhalb 600 m Erhebung über den Meeres¬ 
spiegel. Die Schweiz und Tyrol sind frei. Am schlimmsten mit 
ist Finnland behaftet. Unser Masuren ist in der Anordnung der 
Landseen Finnland einigermaassen ähnlich. Es ist nicht unmög¬ 
lich, dass der Erreger der Körnerkrankheit, den wir noch nicht 
kennen, in stehenden Gewässern sich verbreitet. 

Was nun die Körnerkrankheit in Ost- und West-Preussen 
anlangt und zunächst ihren Charakter, so ist das genau die¬ 
selbe Krankheit, wie sie vereinzelt bei uns und gehäuft in süd¬ 
lichen Gegenden, z. B. in Aegypten, vorkommt. 

Die Kömerkrankheit ist in 1‘reussen, wie im Orient, meist 
ein chronisches Leiden, das entweder gar keine oder doch nur 
geringe Beschwerden verursacht, namentlich bei anspruchslosen, 
nicht mit feiner Arbeit beschäftigten Menschen. In einer grossen 
Anzahl von Fällen heilt es aus, ohne sehr bedenkliche Folge¬ 
zustände zu hinterlassen. Aber in dem Rest der Fälle, einer 
immerhin beträchtlichen Quote (vielleicht 30 pCt.), kommt cs 
zum Homhautfell mit Trübung des durchsichtigen Lichtfenstere, 
also mit Sehstörung, mit Behinderung, ja Aufhebung der Er¬ 
werbsfähigkeit. 

Wegen dieser Gefährdung der befallenen Augen und wegen 
der Ansteckungsgefahr muss die Krankheit- ärztlich behandelt 
werden. 

Was ferner ihre Verbreitung in den beiden preussischen 
Provinzen anlangt, so ist sie daselbst durchaus nicht eine neue 
Erscheinung. Sie besteht dort auch nicht erst seit ein bis zwei 
Menschenaltem, sondern wahrscheinlich seit Jahrhunderten. Ob 
sie im Gefolge der napoleonischen Kriege vermehrt und verstärkt 
aufgetreten, ist schwer zu sagen. 

Ausdrücklich muss hervorgehoben werden, dass von einer 
frischen, vollends acuten Epidemie der Kömerkrankheit nirgends 
etwas zu bemerken war. Namentlich gilt dies von Könitz, wo 
wegen angeblich epidemischer Kömerkrankheit im vorigen Herbst, 
kurz vor meiner Ankunft, die Schulen geschlossen^ worden. Ich 
fand daselbst weder acuten Anfang der Augenkrankheit noch 
acute Fälle, noch die Zahl oder Schwere der Fälle abweichend 
von dem, was wir kurz zuvor in andern Städten des benach¬ 
barten Ostpreussen beobachtet hatten. 

Die vorhandenen chronischen Fälle waren eben nur gerade 
zu grösserer Beachtung gelangt. 

(Schluss folgt.) 


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No. 10. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


II. Aus dem Institut für Hygiene und Baeteriologie 
der Universität Strassburg. 

Ein Beitrag zur Aetiologie der circumscripten 
Meningitis. 

Von 

Dr. SIdney Wolf, Assistenzarzt. 

Im Hinblick auf die noch immer herrschende Meinungsver¬ 
schiedenheit betreffs der Aetiologie der Meningitis sei es mir ge¬ 
stattet, in der KUrze Uber einen Fall zu berichten, der an der 
hiesigen chirurgischen Klinik zur Operation kam. 

Es handelte sich um einen 84jährigen, verheiratheten, kinderlosen 
Mann, der mit 10 Jahren eine Lungenaflfection durchgemacht hat, die 
nach einer Cur in Görbersdorf aasgeheilt sein soll. In den letzten 
7 Jahren traten des Oefteren Schmerzen im rechten Ohr auf, welche 
schliesslich im August 1896 den Patienten veranlasaten, sich in ärztliche 
Behandlung zn begeben. Nach Paracente.se des rechten Trommelfells 
hörten die zeitweise sehr heftigen Beschwerden im Ohr und in der 
rechten Schädelhälfte auf, so dass Patient in den 8tand gesetzt wurde, 
sein Geschäft, welches er zeitweise vollkommen hatte aufgeben müssen, 
wieder aufzunehmen. Ende September 1890 traten von Neuem rechts¬ 
seitige Kopfschmerzen auf, weiche den Patienten zwangen, sich wiederum 
ärztlicher Fürsorge anzuvertrauen. Das ganze Gebahren des Mannes 
machte einen ausgesprochen nenrasthenischen Eindruck; unter verschieden¬ 
artigen Klagen spielen unbestimmte Kopfschmerzen die Hanptrolle. Die 
von Herrn Dr. Lobstein ausgeführte objective Untersuchung ergab eine 
leicht entzündliche Köthung des rechten Trommelfells; die durch mehr¬ 
malige Paracentese in demselben entstandenen Oeffnungen waren ge¬ 
schlossen; Secretion bestand nicht. Der rechte Warzenfortsatz war auf 
Druck unempfindlich; Flüstersprache wurde auf 0 Meter Entfernung deut¬ 
lich verstanden. Ausserdem wurde eine leichte Khinitis chronica atrophi¬ 
cans constatirt. Der Augenhintergrund war normal. — In den der Unter¬ 
suchung folgenden Tagen besserte sich das Befinden des Kranken ohne 
Anwendung einer besonderen Medication. Mitte October jedoch traten 
die Kopfschmerzen wiederum auf; Symptome von Seiten des Gehirns 
waren nicht vorhanden; Patient hat kein Fieber, sein Puls ist normal, die 
Pupillarreaction bietet keine Abnormitäten; jedoch klagt er über an¬ 
haltende Appetitlosigkeit. Zur Linderung der subjectiven Beschwerden 
erhält er täglich 0,008 Morphium subcutan. 

Am 11. November 1896 tritt ein heftiger Schüttelfrost auf. 

Am 12. November abendliche Temperatursteigerung anf 39,“» die 
aber in den nächsten Tagen wieder auf 87,5® abfällt. 

Am 14. November beginnt der Puls langsam zu werden und Binkt 
in seiner Frequenz auf 60 herab. Die Kopfschmerzen nehmen allmählich 
an Intensität zu; die Fieberlosigkeit und die Verlangsamung des Pulses 
halten an. 

Am 20. November erfolgt des Abends ein apoplektischer Insult, der 
eine linksseitige Hemiplegie und eine Sprachstörung bedingt; die Be¬ 
sinnung kehrt nach Verlauf einer Stunde zurück. 

Am 21. November erfolgt die Aufnahme in die chirurgische Klinik. 

Status praesens. Patient ist comatös und reagirt nur auf ener¬ 
gisches Anreden. Die linksseitigen Extremitäten sind vollständig ge¬ 
lähmt, ebenso der linke Facialis. Die linke Pupille ist erweitert. Der 
Urin muss durch den Katheter abgenommen werden. Mehrmaliges Er¬ 
brechen. 

Am Mittag desselben Tages wird von Herrn Professor Madelang 
(dem ich an dieser Stelle meinen besten Dank für die Ueberlassung der 
Krankengeschichte aussprechen möchte) der rechte Schläfenlappen durch 
osteoplastische Resection freigelegt. Die Dura über demselben ist prall 
gespannt nnd geröthet und zeigt überall deutliche Pulsation. Nach 
Spaltung der harten Hirnhaut entleert sich ca. ein Theelöffel voll gelb¬ 
lichen, dickflüssigen Eiters, welcher zwischen den stark byperämischen 
Gyris gelagert war; derselbe wird in einem sterilen Reagcnsglase auf¬ 
gefangen und zur bacteriologischen Untersuchung verwandt. Mehrfache 
mit dem Messer ausgefiihrte Punctionen der freigelegten Gehirnsubstanz 
ergeben keinen weiteren Eiter. — Der Haut-Knochenlappen wird re- 
ponirt und die Wunde mit Jodoformdocht drainirt. 

Etwa eine Stunde nach der Operation ist Patient bei Besinnung, 
äussert sich in richtiger Weise über seinen Zustand und erkennt Per¬ 
sonen. Am Abend des 21. XI. tritt unter Temperaturabfall auf 30,5“ 
tiefes Coma auf. Zum ersten Male stellen sich heftige, die ganze linke 
Körperhälfte erschütternde Krämpfe ein, welche sich in Zwischenräumen 
von 3—10 Minuten wiederholen. Unter Andauern derselben erfolgt am 
22. XI. Abends (Temperatur 88—89") im Coma der Tod. 

Sectionsprotocoll (Privatdocent Dr. M. B. Schmidt) vom 
21. XI. An der rechten Seite des Kopfes befindet sich in der Schläfen¬ 
gegend eine halbkreisförmige, frisch vernähte Wunde, welcher eine eben 
solche im knöchernen^Schädeldaccb entspricht, so dass sich ein Lappen 
präsentirt, der nur leicht mit der Dura verklebt ist und sich nach unten 
schlagen lässt. Unterhalb desselben trägt die Dura einen Spalt, von 
welchem sich nach aufwärts bis fast zum medialen Rande der Hemi¬ 
sphäre ein etwa handtellergrosser Herd zwischen Dnra und Pia erstreckt, 


der aus fibrinös-eitrigen Auflagerungen besteht Durch dieselben ist di 
Oberfläche des Gehirns etwas concav eingedrückt; im Centrum die« 
Eindrückung verläuft eine strangformig verdickte Piavene, die einen gelt 
lieh durchscheinenden Thrombus enthält. Dicht unterhalb de» Dura 
Bpaltes tritt sie auf die Innenfläche der letzteren über und müudet a 
der Uebergang8stelle des Sinus transversus in den 8inus sigmoideur i 
denselben ein. Sie ist ebenso wie der ganze 8inus vom Foramen je 
gulare bis zum Confluens sinuum von einem festen, der Wand innig ai 
liegenden, graurothen Thrombus eingenommen, in welchem sich ein 
centrale eitrige Einschmelzung findet, die sich röhrenförmig dnreh de 
Verlauf deB ganzen 8inus hin erstreckt. Die übrigen venösen Sinus sin 
frei. Ausserhalb des eben beschriebenen Eiterherdes ist an der rechte 
Hemisphäre nur an vereinzelten Sulcis eine geringe, eitrige Infiltratio 
der weichen Häute vorhanden; letztere sind leicht abzulösen und hafte 
nur an einer der thrombosirten Piavene entsprechenden Stelle fester ai 
Hier liegt unter ihnen ein kleiner, oberflächlicher Abscess in der Hin 
Substanz; im Uebrigen sind in derselben weder Abscesse, noch sonstig 
Herde oder Blutungen makroskopisch wahrnehmbar. Die Ventrikel sin 
normal. — Beide Felsenbeine sind in gleicher Weise ausgebildet un 
verdickt; vor allem sind die Ränder der Knochen stark gewnlstet, wi 
auch die Begrenzungen der in demselben befindlichen Oeffnungen. Nac 
dem Aufsägen der rechten Paukenhöhle zeigt sich der Knochen sehr compa« 
und verdickt, besonders das Tegmen tympani. In den Zellen des Processu 
mastoideus liegt etwas lockeres, weissliches Gewebe, das sich bei der nrikn 
skopischen Untersuchung als Granulationsgewebe mit reichlichen Körnchet 
zellen erweist. Vereiterung des Mittelohres ist nicht vorhanden; beid 
Venae jugulares sind frei. 

In der Spitze des linken Oberlappens der Lunge sind schiefrig 
Schwielen, zum Theil mit centralen, trockenen, käsigen Einlagerung?! 
Geringes beiderseitiges Emphysem. Im rechten Unterlappen frisch 
katarrhalische Pneumonie; im linken Unterlappen vereinzelte lobulär 
Herde. — Leichter Grad von Fettlebcr. In den übrigen Organen nicht 
Abnormes. 

Pathologisch-anatomische Diagnose. Alter Thrombus it 
rechten Sinus transversus und einer in denselben einmündenden Piaven 
mit centraler Erweichung; circumscripte eitrige Pacby- und Lepto 
meningitis im Bereich der thrombosirten Vene; chronische Otitis medi 
und chronische Entzündung des Processus mastoidens dexter; frisch 
katarrhalische Pneumonie; chronische käsige und schiefrige Herde. 

Bactcriologische Untersuchung des Eiters. In den Aus 
Strichpräparaten, welche theils mit Methylenblau, theils mit Carbolfuchsii 
gefärbt wurden, zeigten sich in ziemlich bedeutender Menge Ianzett 
förmige Kokken, welche meist zu zweien gelagert und von einem Ho 
umgeben waren; Kettenbildung war nicht zn beobachten. Nach de 
Johne'sehen Methode, mit wässriger Gentianavioletlösung tingirt, könnt 
die Kapsel in der schönsten Weise sichtbar gemacht werden. Di 
Gram'sehe Färbung fiel positiv aus. Auf Gelatineplatten, die bei *22 
gehalten wurden, war kein Wachsthum zu constatiren. Auf Agarstrich 
platten und auf schräg erstarrtem Blutserum gingen sehr kleine, thau 
tropfenähnliche Colonien auf, die nicht zu einem Belage zusammen 
flössen, In Bouillon leichte, aber deutliche Trübung. — 

1 ccm einer Aufschwemmung des Eiters in Bouillon wurde einer 
Kaninchen subcutan injicirt; dasselbe ging nach 48 Stunden zu Grunde 
ebenso starben zwei Mäuse, denen je 4 und ’/i ccm unter die Rücken 
haut gebracht wurde, nach 86 und 82 Stunden. Im Blute fanden sic 
bei diesen Thieren wiederum die typischen Kokken, welche wohl mi 
Recht als Pneumococcus Fraenkel angesprochen werden dürfen. Di 
vom Herzblut angelegten und 24 Stunden bei 87® belassenen Bouillon 
culturen wurden wiederum Kaninchen unter die Haut eingespritzt, uo 
diese gingen erst nach 3—4mal 24 Stunden ein mit Pneumokokken 
befund im Blute. 

Es handelte sich also schon von vornherein um schwacl 
Yirulente Pneumokokken, die an ihrer Pathogenität trotz Thiei 
passage, sofortiger Ueberimpfung in Bouillon und Uebertraguni 
auf ein neues Thier weitere Einbusse erlitten. Die Eingang? 
pforte scheint im vorliegenden Falle zweifelsohne das Ohr ge 
wesen zu sein, wo eine Otitis media inscenirt wurde; von doi 
aus wird eine allmähliche Einwanderung in die Schädelhöhl 
stattgefunden haben, welche zu einer Pachy- und Leptomeningiti 
geführt hat. Besonders beachtenswert scheint mir der chronisch 
Verlauf und vor Allem das Circumscriptbleiben des meningit 
sehen Processes zu sein. Beides lässt sich ungezwungen an 
der geringen Virulenz der Pneumokken herleiten, wie sie durc 
den Thierversuch bestätigt wurde. 

Unter 174 Fällen, welche ich aus der Literatur zusaramei 
stellen konnte, war nur ein einziger (1), bei welchem es sich ui 
eine circumscripte Meningitis in Verbindung mit einer Encephalit 
und positivem Pneumokokkenbefunde handelt. Ueber dem linke 
Scheitellappen und einem Theil des linken Uinterhauptlapper 
waren hierbei Dura und Pia von einem spärlichen fibrinösen b 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


201 


_ 8 - März 1897. 

sero-fibrinösen Exsudat durchsetzt, während sie im Uebrigen an 
der Convexität nur eine schwache Trübung, an der Basis aber 
gar keine Veränderung zeigten. Die Rinde des linken Scheitel¬ 
lappens war an einigen Stellen erweicht und von punktförmigen 
Blutungen durchsetzt. Die Ventrikel waren erweitert und ent¬ 
hielten eine serös-eitrige Flüssigkeit. In der rechten Kiefer¬ 
höhle submucöses Oedem; die übrigen Nebenhöhlen und die 
Paukenhöhle sind frei. — Der Oberlappen der rechten Lunge 
ist mit der Pleura verwachsen, in seinen hinteren Theilen ver¬ 
dichtet, von Bindegewebsstreifen durchzogen und luftleer. Es 
handelt sich um eine abgelaufene Pleuropneumonie, die in diesem 
Falle wegen ihres Alters als Ausgangspunkt der Meningitis nicht 
angesehen werden kann — 

Nach Arbeiten von Weichselbaum (2), Gold Schmidt (3), 
Jäger (4), Netter (5), Scherer (6), Heubner (7), Fttr- 
bringer(8), Petersen (9) fand sich in (10 Fällen der Diplo- 
coccus intracellularis (Meningococcus) Weichselbaum. Besonders 
Jäger machte zuerst nachdrücklich darauf aufmerksam, dass 
dieser Mikroorganismus sehr leicht übersehen wird; seiner An¬ 
sicht nach ist er als der Erreger der genuinen Cerebrospinal- 
meningitis zu betrachten, während der Pneuraokokkenbefund von 
ihm in der Mehrzahl der Fälle als Folge einer Secundärinfection 
angesehen wird. Trotzdem wir es nun in unserem Falle nicht 
mit einer genuinen Cerebrospinalmeningitis, sondern nur mit einer 
umschriebenen Entzündung zu thun hatten, so richteten wir 
dennoch unser Augenmerk ganz besonders auf den Meningo¬ 
coccus. Aber weder in den Ausstrichpräparaten des Eiters, noch 
in den Culturen gelang es uns, denselben zu Gesicht zu be¬ 
kommen; denn erstens konnten keine Semmelformen gefunden 
werden, zweitens lagen die Kokken weder innerhalb der Zellen, 
noch innerhalb der Zellkerne, wie es für den Diplococcus intra¬ 
cellularis charakteristisch ist; drittens fand lebhaftes Wachs¬ 
thum in Bouillon statt. Die Gram’sche Färbung kann als aus¬ 
schlaggebend nicht erachtet werden, da sie nach Weichsel" 
bäum negativ, nach den Angaben von Jäger positiv ausfallen 
soll. Von differentialdiagnostischer Bedeutung ist aber die sub- 
cutane Iufection, welche in unserem Falle den Tod der Thiere 
ohne Ausnahme herbeifUhrte, während der Intracellularis bei 
dieser Art der Einverleibung nicht pathogen wirkt. — 

Im Zusammenhalt mit den vielfach in der Literatur vor¬ 
handenen Angaben Uber Pneuraokokkenbefund bei Meningitis 
scheint mir daher dieser Mikroorganismus dennoch häufig als der 
eigentliche und ursprüngliche Erreger jeder Art von Entzündung 
der Gehirnhäute angesehen werden zu dürfen. Die Procentzahl, 
welche sich zur Zeit der Jäger'sehen Publication auf 60—70pCt. 
Pneumokokkenbefunde stellt, hat sich nach meiner Berechnung 
auf 44,25 pCt. ermässigt, während der Befund von Diplococcus 
intracellularis auf 34,48 pCt. (unter 174 Fällen!) gestiegen ist. 
3 Fälle von Cerebrospinalmeningitis, welche Privatdocent Dr. 
E. Levv in Strassburg zu untersuchen Gelegenheit hatte, die 
aber nicht in der Literatur verzeichnet sind, ergaben ebenfalls 
ausschliesslich Pneumokokken. Die Ubrigbleibenden 21,27 pCt. 
vertheilen sich folgendermaassen: 

Staphylokokken [Netter (10), Le Gendre (11), Mir- 
coli (12), Kirchner (13), Panienski (14)] 6 Fälle = 3,45 pCt. 

Streptokokken [Neumann (15), Nett er (5), Bonorae(lG), 
Ilanot (17), Beck (18), Maleschini (19)] 14 Fälle = 8,05 pCt. 

Bac. pneumoniae Friedlaender[Netter(5) u. Mills(20)] 
2 Fälle = 1,15 pCt. 

Bac. typhi [Adenot(21), Kamen (22), Stühlen (23), 
Daddi (24)] 5 Fälle = 2,87 pCt. 

Der von Neumann-Schäffer beschriebene Bacillus 
[Neumann-Schäffer (15), Roux (25), Netter (5)] 3 Fälle = 
1,72 pCt. 


Andere Bacterien (B. coli, Pyogenes foetidus, Aerogenes 
meningitidis, Mallei) [Seitz (26), Mircoli (12), Tedeschi (27)] 
5 Fälle = 2,87 pCt. 

Kein B a c i 11 e n b e f u n d [Neumann - Schäffer (15), 
Roux (25)] 2 Fälle = 1,15 pCt. 

Aus diesen Angaben darf nun wohl mit einiger Berechtigung 
der Schluss gezogen werden, dass sowohl der Pneumococcus 
Fraenkel, als auch der Diplococcus intracellularis Weichselbaum 
als Haupterreger der Cerebrospinalmeningitiden anzusehen sind, 
während in einer bei Weitem geringeren Anzahl von Fällen auch 
anderen Mikroorganismen und unter diesen speciell den Eiter¬ 
erregern eine ätiologische Rolle zugeschrieben werden muss. Bei 
der circumscripten Entzündung der Hirnhäute ist bisher nur der 
Fraenkel'sche Pneumococcus nachgewiesen worden. — Der 
Gedanke einer einheitlichen bacillären Aetiologie, welche nur 
durch Secundärinfection verdeckt wird, scheint mir nach allem 
Angeführten nicht statthaft zu sein. 

Wenn zum Schluss noch einige Worte Uber die Entstehungs¬ 
art der Meningitis gesagt werden sollen,' so wird man mit 
Netter (28) eine Allgemeininfection auf dem Blutwege trennen 
von einer localen Infection, welche ihren Ausgang von den 
der Schädelhöhle benachbarten Regionen nimmt. Im ersteren 
selteneren Falle (Bozzolo (29)) muss das Blut, welches das 
schädigende Agens enthält, im Hirn und in den Hirnhäuten Ver¬ 
hältnisse antreffen, welche einer Ansiedelung der betreffenden 
Mikroorganismen günstig sind; als solche begünstigende Momente 
sind aufzufassen: Geisteskrankheiten, Alkoholismus, Tumoren, 
Erweichungsherde etc. Die weitaus grössere Zahl von Menin¬ 
gitiden entsteht aber auf die zweite Art und Weise, indem die 
in der Nase und ihren Nebenhöhlen im Rachen, in der Pauken¬ 
höhle oder im Labyrinth befindlichen Bacterien von dort aus 
ihren Weg in’s Schädelinnere nehmen. Eine der am häufigsten 
vorkomraenden Infectionsmöglichkeiten, die auch in unserem 
Falle stattgefunden zu haben scheint, besteht darin, dass vom 
Rachen aus eine Wanderung der Mikroorganismen durch die 
Tuba Eustachii in die Paukenhöhle und von dort aus in die 
Schädelhöhle vor sich geht. Die so häufig auftretenden post¬ 
pneumonischen Meningitiden werden zum Theil auf dem Blut¬ 
wege, zum grösseren Theil aber auf einer der oben angeführten 
Bahnen von einem localen Infectionsherd aus zu Stande kommen. 
Ob die in unserem Falle erst post mortem diagnosticirte frische 
Pneumonie als ein Weiterschreiten der Pneumokokkeninvasion 
anzusehen ist, hat nicht entschieden werden können. 


Literatur. 

1) Weich sei bäum, Ueber seltenere Local Hationen des pneumoni¬ 
schen Virus. Wiener klin. Wochenschr. 1888, No. 28, 29, 81, 82. — 
2) Weichselbaum, Ueber die Aetiologie der acuten Meningitis cerebro¬ 
spinalis. Fortschr. d. Med. 1887, No. 18, 19. — 8) Goldschmidt, 
Ein Beitrag zur Aetiologie der Meningitis cerebrospinalis. Centralbl. f. 
Bacteriol., Bd. II, No. 22. — 4) Jäger, Zur Aetiologie der Meningitis 
cerebrospinalis epidemica. Zeitschr. f. Hygiene u. Infectionskrankh., 
Bd. 19, H. 2, pag. 851 ff. — 5) Netter, Recherches sur les menin- 
gites suppuröes. La France m6d. 1889, No. 64. — 6) Scherer, Zur 
Diagnose der epidemischen Cerebrospinalmeningitis. Centralbl. f. Bacteriol., 
Bd. 17, No. 13. — 7) Heubner, Beobachtungen und Versuche über den 
Meningococcus intracellularis. Jahrb. f. Kinderkrankh., N. F., Bd. 43, 
H. 1. — 8) Fürbringer, Tödtliche Cerebrospinalmeningitis und acute 
Gonorrhoe. Deutsche med. Wochenschr. 1896, No. 27. — 9) Petersen» 
Zur Epidemiologie der epidemischen Genickstarre. Deutsche med. 
Wochenschr. 1896, No. 86. — 10) Netter, Mittheilung in der Sitzung 
der Society m£dicale deshopitaux vom 22. Juli 1892. — 11) Le Gendre 
et Beausennat, Infection staphylococciqnes. Semaine med. 1892, 
No. 38. — 12) Mircoli, Nuove conoscenze sulIa etiologia delle menin- 
giti cerebrospinali. Estratto della Gazetta degli ospedali 1891, No. 88. 

2 


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202 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 10. 


— 13) Kirchner, Ein Fall von schnell tödtlich verlaufender eitriger 
Meningitis nach Otitis media. Berl. klin Wochenschr. 1893, No. 23. — 
14) Panienski, Die Epidemie der Genickstarre in der Garnison Karls¬ 
ruhe während des Winters 1892—93. Deutsche militärärztl. Zeitschr. 
1895, H. 8, 9. — 15) Neumann-Schäffer, Zur Aetiologie der eitrigen 
Meningitis. Virchow’s Arch., Bd. 109, pag. 477—493. — 16) Bonome, 
Zur Aetiologie der Meningitis cerebrospinalis epidemica. Ziegler’s Bei¬ 
träge, Bd. 8, H. 3. — 17) Han'ot et Luzet, Note sur le purpura 
ä streptocoques au cours de la mäningite ceröbrospinale streptococcienne. 
Archive de mödecine experimentale et d'anatomie pathologique 1890, 
No. 6. — 18) Beck, Ueber eine durch Streptokokken hervorgerufene 
Meningitis. Zeitschr. f. Hyg. n. Infectionskrankh., Bd. 15, pag. 859. — 
19) Maleschini, Contributo allo Studio etiologico delle meningitide. Lo 
Sperimentale 1894, H. 4. — 20) Mills, Mcningite ä pneumocoques. 
Journal de mödecine de Bruxelles 1892, No. 29. — 2 t) Ade not, Re- 
cherches bacteriologiques sur un cas de meningite microbienne. Ar- 
chives de medecine experimentale et d’anatomie pathologique 1889, 
No. 5. Idem, Mäningite anormale due probablement au bacille typhique. 
Lyon medical 1889, No. 34, 36. — 22) Kamen, Zur Aetiologie der 
Typhuscompllcationen. Internat, klin. Rundschan 1890, No. 8, 4. — 
23) Quincke u. Stühlen, Zur Pathologie des Abdominaltyphus. Berl. 
klin. Wochenschr. 1894, No. 15. — 24) Daddi, Un caso di meningite 
da bacillo tiflco. Lo Sperimentale 1894, No. 7. — 25) Roux, Sur les 
microorganismes de la meningite spinale. Lyon medical 1888, No. 29. 

— 26) Seitz, Toxinaemia cerebrospinalis, Bacteriaemia cerebri, Menin¬ 
gitis serosa, Hydrocephalus acutus. Correspondenzbl. f. Schweizer Aerzte 
1895. — 27) Tedeschi, Beitrag zum Studium der Rotzmeningitis. 
Virchow's Arch., Bd. 130, pag. 361. — 28) Netter, De la meningite 
due aux pneumocoques. Extrait des Archives generales de medecine. 
Paris 1887. — 29) Bozzolo, La batterioscopia quäle criterio dia- 
gnostico della meningite cerebrospinale. Riforma medica 1889, No. 45. 


III. Die Wirkungen körperlicher Ueberanstren- 
gungen beim Radfahren. 1 ) 

Von 

Dr. Albert Alba. 

M. H.! Während im Ausland, namentlich in Amerika, seit 
Jahren eine ziemlich umfangreiche medicinische Litteratur Uber 
das Radfahren besteht, ist in Deutschland das ärztliche Inter¬ 
esse im Allgemeinen für diesen Sport bis vor Kurzem ein recht 
geringes gewesen. Einzelne darauf bezügliche Veröffentlichungen, 
die zum Theil recht bemerkenswerthe Mittheilungen brachten, 
haben nicht die Beachtung weiterer ärztlicher Kreise gefunden. 
Was bisher in der Kenntniss der physiologischen und patholo¬ 
gischen Wirkungen des Radfahrens, namentlich auf Grund der 
Beobachtungen und Studien im Ausland gewonnen ist, hat Herr 
Mendelssohn in einem im Verein fUr innere Medicin im An¬ 
fang v. J. erstatteten Referat 2 ) erschöpfend dargestellt. Wenn 
ich heute wieder dieses Thema zum Gegenstand einer Bespre¬ 
chung mache, so dürften verschiedene Momente diesen Versuch 
wohl zur Genüge rechtfertigen. Gerade in der Zwischenzeit hat 
der Radfahrsport in Deutschland eine ganz colossale Ausdehnung 
gewonnen, und der Mehrzahl der Aerzte hat sich wohl schon 
Gelegenheit geboten, Erfahrungen Uber die Wirkungen des Rad¬ 
fahrens zu machen. Ich habe während des letzten Jahres eine 
grössere Summe von Erfahrungen auf diesem Gebiete sammeln 
können. Einige zufällige Beobachtungen bei Gesunden und 
Kranken (Neurasthenikern, Fettleibigen, chronisch Obstipirten 
u. a.), denen ich das Radfahren als Heilmittel empfohlen hatte, 
gaben mir Veranlassung, Untersuchungen Uber die physiologischen 


1) Vortrag gehalten in der Berliner medicinischen Gesellschaft. 

2) Deutsche medic. Wochenschr. 1896. 


Wirkungen dieser Sportübungen anzustellen. An der grossen 
Menge der sog. Sonntagsfahrer lassen sich solche Untersuchungen 
aber nur sehr schwer exact anstellen resp. richtige Schluss¬ 
folgerungen aus ihnen ziehen, weil bei ihnen die körperlichen 
Leistungen zu ungleichmässig sind, um genau gemessen werden 
zu können. Ich bin deshalb an die systematische Untersuchung 
einer grossen Zahl von Wettrennfahrern auf der Fahrradbahn 
in Halensee gegangen, und habe dabei Beobachtungen gemacht, 
wie sie von anderer Seite bisher noch nicht mitgetheilt worden 
sind, das bisher gewonnene Bild von dem Einfluss dieses Sports 
auf den Organismus noch wesentlich vervollständigen und die 
Aufmerksamkeit der Aerzte meines Erachtens im hohen Maasse 
verdienen. 

In dem Radfahren, wie es auf der Rennbahn getrieben wird, 
bietet sich dieser Sport in einer excessiv gesteigerten Form dar. 
Er erfordert die äusserste Kraftanstrengung oder mit anderen 
Worten eine * maximale Muskelarbeit“. George Kolb, ein 
Sportsraann und Mediciner zugleich, der vor einigen Jahren ein 
ebenso lehrreiches, wie interessantes Buch unter dem Titel „Bei¬ 
träge zur Physiologie maximaler Muskelarbeit, besonders des 
modernen Sports“,') veröffentlicht und darin seine Untersuchungen 
an trainirten Ruderern mitgetheilt hat, zieht in den Kreis seiner 
Betrachtungen überhaupt nur solche maximalen Arbeitsleistungen, 
weil sie allein den Sport, wenigstens nach Kolbe’s Definition 
desselben („der Sport liegt nur im Training und Rennsattel“), 
ausmachen. 

Ich glaube durch meine Beobachtungen beweisen zu können, 
dass, nach diesem Maassstab gemessen, der moderne Sport, wie 
ihn Kolb und mit ihm leider in der Neuzeit viele Sportsmänner 
verstehen, vom gesundheitlichen Standpunkt aus eine ganz andere 
Beurtheilung erfahren muss, als ihm bisher gewöhnlich zu Theil ge¬ 
worden ist. In dem Lobe und der Empfehlung einer solchen 
äussersten Kraftanstrengung, wie sie in der „maximalen Arbeits¬ 
leistung“ zum Ausdruck kommt, als gesundheitsförderndem Mittel 
kann ich nämlich mit Kolb ganz und gar nicht Ubereinstimmen, 
vielmehr muss ich mit Nachdruck auf die Gesundheitsschäd¬ 
lichkeit eben dieser exorbitant gesteigerten Muskel¬ 
arbeit hinweisen. 

Ich habe meine Untersuchungen an zwölf Radfahrern vor¬ 
genommen, bei den meisten zu wiederholten Malen, und zwar in 
der Weise, dass ich die Fahrer vor und nach jeder Tour auf der 
Rennbahn, deren Dauer vou 5—15, auch 30 Minuten und darüber 
schwankte, in Bezug auf den physikalischen Befund am Herzen, 
die Athmung, die Pulsbeschaffenheit und den Harn untersuchte. 
Vorausgeschickt sei, dass ich nach keiner dieser Richtungen hin 
einen bestimmten Typus festzustellen vermochte, vielmehr mach¬ 
ten sich viele individuelle Abweichungen bemerkbar, die wohl 
hauptsächlich auf zwei Factoren zurückzuführen sind: einmal auf 
die lauge Dauer der Trainirung, mit anderen Worten: den Grad 
der Angewöhnung an die ausserordentliche Kraftanstrengung, 
noch mehr aber wohl auf die verschiedene Widerstandsfähigkeit 
der Einzelnen. Durch diese Variationen verlieren indess die in 
der Mehrzahl der Fälle in verschiedener Stärke beobachteten 
Erscheinungen nichts von ihrer allgemeinen pathologischen Be¬ 
deutung. 

Die Einwirkungen des Radfahrens auf den Organismus, die 
ich beobachtete, lassen sich in zwei Gruppen trennen: die eine 
betrifft das Herz, die andere die Nieren. Was zunächst das 
Herz betrifft, so ist schon von anderen Autoren früher hervor¬ 
gehoben worden, dass auf die übermässige Inanspruchnahme des 
Herzens die Athemnoth zurückzuführen ist, welche beim Rad¬ 
fahren eintritt. Es handelt sich in der That um eine exquisite 


1) Berlin, A. Braun & Co., ohne Jahreszahl. 


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8. März 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


203 


cardialeDyspnoe, deren Zeichen auch beim trainirtesten Fahrer 
noch immer in geringem Maasse sichtbar sind. Die übermässige 
Inanspruchnahme des Herzens kann man aber bei Rennfahrern 
nach jeder Tour auch mit den Hülfsmitteln der physikalischen 
Diagnostik exact nachweisen. Ich habe folgende Befunde er¬ 
heben können: In der Hegend des Spitzenstosses, namentlich 
aber in der Regio epigastrica ist eine sehr lebhafte Pulsation 
sichtbar, die namentlich an letzterer Stelle auch bei dem ge¬ 
übtesten Fahrer nie zu vermissen ist. Das Herz schlägt mit 
einem ungemein kräftigen Ictus an die Brustwand, so dass die¬ 
selbe zuweilen sogar sicht- und fühlbar erschüttert. Die Schlag¬ 
folge des Herzens ist erheblich vermehrt, znweilen leicht un¬ 
regelmässig. Der Spitzenstoss des Herzens wird verbreitert, 
hebend und ist sowohl nach aussen um 1—2 Fingerbreite, als 
nach unten um einen bis zwei Intercostalräume verlagert. Die 
Grenzen der Herzdämpfung verschieben sich nach links und unten 
um eben dieselben Maasse, in einzelnen Fällen allerdings weniger, 
fast gar nicht, in anderen dagegen aber um so stärker. Der 
Grad der Trainirung ist dafür nicht maassgebend. So habe ich 
gerade bei einem unserer ältesten Rennfahrer, der, obwohl noch 
heute in vorzüglicher Condition, doch schon von jüngeren Kräften 
überholt ist, eine Verbreiterung der Herzdämpfung nach links 
bis zu Dreifingerbreite ausserhalb der Mammillarlinie mit gleich¬ 
zeitiger Verlagerung des Spitzenstosses nach unten bis in den 
7. Intercostalraum beobachtet. Nach rechts hin fand ich die 
Herzdämpfung nur in wenigen Fällen verbreitert und dann nicht 
mehr als um etwa Daumenbreite. Auf das Auffällige dieses letzteren 
Befundes komme ich weiterhin noch näher zu sprechen. Ich will 
zunächst weiter noch die auscultatorischen Phänomene erwähnen: 
Die Herzschläge klingen polternd ans Ohr, der zweite Pulmonal¬ 
ton ist verstärkt, regelmässiger aber und erheblicher noch der 
zweite Aortenton. Schliesslich habe ich noch bei einem Rad¬ 
fahrer mehrfach ein leichtes systolisches Geräusch nach der 
Fahrt auftreten hören, das in der Ruhe fehlte. 

M. H.! Wie sind diese Befunde zu deuten? Ich glaube, 
dass es keinem Zweifel unterliegen kann, dass wir es hier mit 
Zuständen acuter Dilatation des Herzens, hervorgerufen 
durch Ueberanstrengung desselben, zu thun haben. Die physi¬ 
kalischen Befunde lassen keine andere Deutung zu. Es wäre 
Optimismus, die beschriebenen Veränderungen als den Ausdruck 
der Entfaltung des Herzens innerhalb der Grenzen seiner physiolo¬ 
gischen Dehnnngsfähigkeit zu betrachten. Denn in den Fällen, in 
denen eine hochgradige Erweiterung der Ventrikel sich nachweisen 
liess, fehlten auch niemals die Folgeerscheinungen für den 
gesammten Kreislauf. Nach excessiv forcirten Fahrten von selbst 
zuweilen nur fünf Minuten Dauer liess sich ein ungemein frequenter, 
kleiner und weicher, bei einzelnen sogar fast fadenförmiger, oft 
unregelmässiger Puls constatiren. Die Athemfrequenz betrug 
48—64, Lippen und Gesicht waren cyanotisch, der Allgemein¬ 
zustand kam einem Collaps schon sehr nahe. Nur der energische 
Wille und die Macht der Gewohnheit vermag die bis aufs 
Aeusserste Erschöpften noch aufrecht zu halten. 

Die beschriebenen Veränderungen am Herzen sind keine 
specifischen Schädigungen des Radfahrers, sondern die Wir¬ 
kungen excessiv gesteigerter Thätigkeit des Herzmuskels, wie 
sie nach übermässigen körperlichen Anstrengungen der ver¬ 
schiedensten Art Vorkommen, wenn auch glücklicher Weise recht 
gelten und nicht in so hohen Graden. 

Das Zustandekommen acuter Herzdehnungen durch über¬ 
mässig gesteigerte Muskelthätigkeit ist seit längerer Zeit be¬ 
kannt. Thum'), 0. Fraentzel 2 ) u.A. haben sie bei Soldaten 

1) Ermüdung des Herzmuskels etc. Wien. med. Wochenschr. 1868. 

2) Ueber die Entstehung von Hypertrophie und Dilatation der Herz¬ 
ventrikel durch Kriegsstrapazen. 


nach langen und forcirten Märschen festgestellt. Ferner sind 
sie nach sehr anstrengenden Bergsteigungen, nach schweren Ge¬ 
burten u. a. m. beobachtet worden. 

Zuntz und Schumburg 1 ) haben solche Herzdehnungen bei 
Versuchspersonen, welche sie unter starker Belastung mit Gepäck 
mehrstündige Märsche ausführen Hessen, experimentell erzeugt. 
Sie haben allerdings vorzugsweise Erweiterungen des rechten 
Ventrikels festgestellt, in einem Falle auch eine solche des 
linken um 2 cm. Diese Beobachtungen stimmen nicht voll¬ 
ständig mit den meinigen überein. Theoretisch ist nämlich in 
That in erster Reihe die Erweiterung des rechten Ventrikels 
gefordert, in sofern durch die bei angestrengter Muskelthätigkeit 
zunächst eintretende Förderung des venösen Blutkreislaufes 
zuerst eine Stauung des Blutes im rechten Herzen hervorgerufen 
wird, welche dann auch bald zu einer abnormen Füllung des 
linken Ventrikels führen kann. Vielleicht ist die Ursache der 
Differenz der Beobachtungen darin zu suchen, dass beim Wett¬ 
radfahren, das sicherlich die excessivste aller körperlichen 
Ueberanstrengungen, wenigstens von Seiten des Herzens, dar¬ 
stellt, von vornherein eine ausserordentliche Blutdrucksteigerung 
erfolgt, welche zur Anfüllung aller arteriellen Gefässe und Be¬ 
schleunigung des Blutstroms in denselben führt. Die Blutdruck¬ 
steigerung macht sich klinisch in dem ungemein verstärkten 
Herzschlag und der Verstärkung der Gefässtöne, namentlich des 
zweiten Aortentones kenntlich. Die primäre Blutdrucksteigerung 
im arteriellen Gefässsystem führt von vornherein dem linken 
Ventrikel eine übermässige Blutmenge zu 2 ), welche seine Wan¬ 
dungen dehnt. Der Ventrikel macht sehr kräftige und vermehrte 
Contractionen, um seinen Inhalt zu entleeren, aber er vermag 
der Arbeit nur theilweis Herr zu werden, und so kommt es 
denn bei Fortdauer der Anstrengung in Folge der beginnenden 
Erschlaffung des Herzmuskels bald zu einer secundären Blut¬ 
druckerniedrigung, die eine recht beträchtliche werden kann. 

In neuerer Zeit sind Beobachtungen acuter Herzdehnungen 
häufiger bekannt geworden, nachdem einerseits das Krankheits¬ 
bild der idiopathischen Herzhypertrophie erkannt und studirt 
worden ist, andererseits die Unfallgesetzgebung uns auf derartige 
Folgezustände körperlicher Arbeit hat genauer achten lassen. 
O. Fraentzel hat in seinem bekannten Werke Uber die Herz¬ 
krankheiten») Fälle acuter Herzdilatation mitgetheilt, von denen 
freilich einer nicht als ein reiner Fall dieser Art zu betrachten 
ist, weil er einen Arbeiter betraf, der höchstwahrscheinlich zuvor 
schon ein in Folge von Potatorium und jahrelanger schwerer 
Arbeit hypertrophirtes Herz besass. Ein gleicher Fall, wo eine 
acute Herzdilatation sich auf ein schon idiopathisch vergrössertes 
Herz gleichsam aufpfropfte, hat v. Leyden in seiner klassischen 
Arbeit „Ueber die Herzkrankheiten in Folge von Ueberanstren¬ 
gung“ *) mitgetheilt. Es war deshalb eine Zeit lang zweifelhaft ge¬ 
worden, ob eine acute Dilatation bei einem zuvor gesunden Herzen 
überhaupt vorkommt. Schott 5 ) hat die Frage experimentell zu ent¬ 
scheiden versucht; es ist ihm gelungen bei kräftigen Männern, die 
er bis zur Erschöpfung der Kräfte mit einander ringen liess, in der 
That die Zeichen einer Dehnung der Herzmuskeln zu constatiren, 
in einem Falle sogar in ganz excessiver Weise. 

Gleichsam experimentell erzeugte acute Dilatationen stellen 
die Veränderungen am Herzen der Wettradfahrer dar. Dem 
Zusammenschnuren des Leibes in Schott’s Versuchen kommt 
bei den Radfahrern die Compression des Bauches gleich, die sie 

1) Deutsche militärärztliche Zeitschrift 1895. 

2) In ähnlichem Sinne hat Herr Zuntz selbst die Differenz unserer 
Versuchsergebnisse unlängst erklärt. 

3) Vorlesungen über die Krankheiten des Herzens. Berlin 1889. 

4) Zeitschrift f. klin. Med., Bd. XI. 

5) Congress für innere Medicin 1890. 

2 * 


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204 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 10. 


durch das Vornliberbeugen des Oberkörpers erzeugen, das oft 
bis zum rechten Winkel geht. Leichtere Grade der Herzdeh¬ 
nungen kommen viel häufiger vor, als sie ärztlicherseits festge¬ 
stellt werden, weil sie einmal keine sehr erheblichen Beschwerden 
zu machen brauchen, zweitens auch nach mehr oder minder 
kurzer Zeit voriibergehen, ohne schädliche Folgen zu hinter¬ 
lassen. So beruhigt dürfen wir aber den Herzdilatationen der 
Radfahrer nicht gegenüberstehen. Wohl habe ich feststellen 
können, dass dieselben meist nach mehreren Stunden nicht mehr 
nachweisbar sind. Der allmähliche Nachlass ihrer Erscheinungen 
zieht sich bei den Einzelnen bald mehr, bald weniger lange hin, 
aber wir müssen bedenken, dass bei den Radfahrern, die den 
Wettsport pflegen, oder häufig sehr andauernde und anstren¬ 
gende Touren, z. B. bergauf machen, diese Ueberdehnungen des 
Herzmuskels Jahr aus Jahr ein täglich, zuweilen sogar mehrmals 
an einem Tage, erzeugt werden. Wir haben es also gewisser- 
maassen mit anfallsweise auftretenden, „paroxysmalen Herz¬ 
muskeldehnungen“ zu thun, die in ihrem Symptomenbild auf ein 
Haar den spontan auftretenden Fällen dieser Art gleichen, die 
in der Literatur mehrfach beschrieben, in der letzten Zeit be¬ 
sonders von Martins 1 2 ) scharf analysirt worden sind. Martius 
betont, dass die Tachycardie, welche eines der hervorstechend¬ 
sten Symptome im Krankheitsbilde ist, nicht, wie man früher 
glaubte, ein Symptom der Vaguslähmung sei, sondern dass sie 
vielmehr erst die secundäre Folge der Dehnung des Herzmuskels 
ist, der krampfhaft vermehrte Contractionen macht, um die über¬ 
mässig gefüllten Ventrikel zu entleeren. Wie schon zuvor 
Hochhaus*), so berichtet auch Martius Uber einen solchen 
Fall von paroxysmaler Herzmuskeldehnung mit Tachycardie, der 
in Folge von körperlicher Ueberanstrengung entstanden ist. 
Martius führt diese auch in erster Reihe als ätiologisches Mo¬ 
ment für das Leiden auf. Diese Affection unterscheidet sich 
von dem bei den Radfahrern beobachteten Zustand nur durch einige 
unwesentliche Momente: nämlich dass letzterer bei ihnen nicht 
spontan in der Ruhe eintritt, sondein immer erst in Folge des 
durch übermässige Muskelthätigkeit abnorm gesteigerten Blut¬ 
drucks, dass die subjectiven Erscheinungen bei den Radfahrern 
in Folge der Angewöhnung sehr gering sind oder ganz zurück- 
treten, und schliesslich die Herzdehnnngen mit dem Aufhören 
der Ursache nicht so blitzartig verschwinden wie bei der spon¬ 
tanen paroxysmalen Herzmuskeldehnung. Ich konnte die Zeichen 
hochgradiger Herzdilatation mit ihren charakteristischen Folgen 
für den Puls und Blutdruck bei einem Fahrer am Nachmittag 
noch constatiren, als er sich zu einer Wiederholung des vor¬ 
mittäglichen überaus angestrengten Trainings anschickte. Die 
unmittelbar deletären Folgen der jedesmaligen Dilatation werden 
nur dadurch aufgehalten, dass diese Herzen schon auf den ab¬ 
normen Zustand gleichsam eingestellt sind. Aber auf die Dauer 
verfehlen sie ihre Einwirkung sicherlich nicht. Die Dilatation 
muss eine dauernde werden und die Hypertrophie der Herzwan¬ 
dungen ihr schliesslich folgen. 3 ) Dass das nicht nur ein theore¬ 
tisches Raisonnement ist, ist dadurch erwiesen, dass ich bei 
zweien dieser Rennfahrer in der That auch ausserhalb ihrer 
Berufsthätigkeit eine Herzhypertrophie gefunden habe, welche 
als con8tanter Befund anzuseheu ist. Bei dem einen gingen die 
Ilerzgrenzen 2 Finger breit Uber die linke Mammillarlinie hinaus, 
der Spitzenstoss des Herzens war in dieser Linie im G. Inter- 
costalraum; beim anderen war die Herzhypertrophie noch nicht 
so weit vorgeschritten; freilich war er auch einige Jahre weniger 


1) Die Tachycardie. Stuttgart 1895. 

2) Deutsches Archiv f. klin. Med. 1893. Bd. 51. 

3) Bei Rennpferden ist wiederholt eine Ilerzhypertrophie gefunden 

worden. 


im Training und in der Berufsthätigkeit, als der erstere, und 
schien überhaupt erheblich widerstandsfähiger. Bei dem ereteren 
dieser beiden Rennfahrer habe ich auch in der Ruhe eine Puls¬ 
frequenz von DG constatiren können, die man wohl als eine 
Folgeerscheinung der l'eberreizung des Herzens betrachten muss. 
Die scheinbare Gesundheit dieser Männer darf uns nicht Uber 
die über ihnen schwebende Gefahr täuschen. Der pathologische 
Zustand ihres Herzens kann in jedem Moment einen krankhaften 
auslösen. In dem Krankheitsbilde der idiopathischen Herzhyper¬ 
trophie kennen wir ein langjähriges latentes Stadium, während 
dessen durch irgend einen an sich ganz geringfügigen Anlass, 
durch ein Trauma oder eine plötzliche Ueberanstrengung, die 
Compensationsstörung des Herzens unerwartet eintreten kann. 
Das chionisch überanstrengte Herz wird plötzlich insufficient 
und vermag sich oft gar nicht oder nur theilweise wieder zu 
erholen. Die Hypertrophie des Herzmuskels ist nicht dem 
hypertrophischen Extremitätenmuskel z. B. des Turners ver¬ 
gleichbar, sondern immer nur ein Hlilfsmittel des Organismus, 
um den erschwerten Circulationsverhältnissen das Gleichgewicht 
zu halten. Wie ein überdehntes Gummiband bei häufigem Ge¬ 
brauch seine Elasticität verliert oder schliesslich reisst, so wird 
auch das hypertrophische und dilatirte Herz schliesslich erlah¬ 
men. Das ist die Gefahr von Seiten des Herzens, die beim 
übermässig betriebenen Radfahrersport droht! 

Ich komme nun zu den Einwirkungen auf die Nieren. 

Bei allen untersuchten Fahrern habe ich nach jeder ein¬ 
zelnen Tour das Auftreten von Eiweiss im Ilarn constatiren 
können, meist allerdings nur in Spuren oder geringen Mengen, 
in einigen Fällen aber stets bis zu * pro Mille. Die Albuminurie 
ist wie die Ilerzdelmung nach mehreren Stunden wieder ver¬ 
schwunden. . 

Wie ist dieses Auftreten von Eiweiss im Ham za deuten? 
Handelt es sich um eine sog. physiologische Albuminurie oder 
um irgend eine Form der Nephritis, und wodurch kommt die 
Eiweissabscheidung in den Nieren zu Stande? 

Das Auftreten von Albuminurie nach körperlichen Ueber- 
anstrengungen ist seit längerer Zeit bekannt. Am genauesten 
hat Leube 1 ) den Einfluss der Muskelthätigkeit auf ihr Zustande¬ 
kommen geprüft. Er konnte z. B. bei Soldaten nach Märschen 
in IGpCt. Eiweisshamen feststellen. Unsere Anschauungen Uber 
diese Form der physiologischen Albuminurie sind dann durch 
Senator’) noch wesentlich geklärt worden. Beobachtungen 
dieser Art sind dann auch noch vielfach von Anderen, z. B. von 
Teissier 8 ) nach Dauermärschen gemacht worden. Aufrecht 4 ) 
sah bei Frauen unmittelbar nach der Geburt Albuminurie auftreten. 
Auch nach epileptischen Anfällen ist sie constatirt worden. Bei 
Sportübungen und zwar bei Ruderern ist sie meines Wissens 
zuerst von Kolb") beobachtet worden, und zwar sagt er dar¬ 
über Folgendes: „Am Anfang des Trainings fand ich wirklich 
mehrmals zum Theil nicht geringe Mengen Albumin. Aber nach 
etwa 8 Tagen war alles Eiweiss spurlos verschwunden, und ich 
habe es niemals mehr während des ganzen Trainings gefunden.“ 
Für trainirte Radfahrer trifft diese Beobachtung nicht zu, denn 
ich habe die Albuminurie auch bei den seit vielen Jahren 
trainirten Fahrern beobachtet, bei dem einen mehr, beim anderen 
weniger. 

In der Zeit, seit ich mit meinen Untersuchungen beschäftigt 
und diesen Vortrag für die Gesellschaft hier angekündigt habe, 


1) Virchow’s Archiv, Bd. 72. 1878. 

2) Die Albuminurie. Berlin, 1890. 

3) Sem. med. 1894, S. 567. 

4) Centralbl. f. kl. Med. 1893, No. 22. 

5) 1. c. 


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8. März 1807. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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sind nun inzwischen gleiche Beobachtungen, wie ich sie gemacht, 
von zwei anderen Seiten veröffentlicht worden, v. Stalewsky 
in Freiburg hat nach einer ganz kurzen Mittheilung von Eschle ') 
bei mehreren Radfahrern, die ausgedehnte Fahrten in schnellem 
Tempo gemacht hatten, Eiweiss im Ham danach beobachtet. 
Ausführlicher und werthvoller ist die Mittheilung von Müller 5 ) 
(Würzburg), der ebenso regelmässig wie ich Albuminurie bei 
Radfahrern feststellte. 

Wie ist das Zustandekommen dieser Albuminurie zu er¬ 
klären? Am nächsten liegt die Annahme, dass es sich um eine 
Folge der Stauung handelt. Die excessiv gesteigerte Muskel- 
thätigkeit bewirkt eine Beförderung der allgemeinen Venen- 
circulation, die wie im Herzen, so auch in den Nieren eine Blut¬ 
stauung erzeugt. Dennoch verdient eine zweite Theorie wohl 
noch erwogen zu werden, nämlich dass es sich um eine toxische 
Albuminurie handelt. Diese Annahme hat z. B. Teissier 
für die nach forcirten Märschen von ihm bei 1 2 * , 3 der Fälle 
beobachtete Albuminurie gemacht und darin gerade ihre Ge¬ 
fährlichkeit erblickt. Die auf die Nieren schädlich einwirken¬ 
den Toxine hätten wir in den in vermehrter Menge zur 
Ausscheidung kommenden Stoflwechselproducten, wie etwa Oxal¬ 
säure, Harnsäure, Alloxurbasen u. s. w. zu suchen. That- 
8ächlich habe ich mehrfach im Sediment dieser Harne auffällig 
zahlreiche Harnsäurekrystalle gefunden. Diese toxische resp. 
autotoxische Albuminurie fände ihr Analogon in der nach der 
Verdauung auftretenden Eiweissausscheidung im Harn*), in der 
Albuminurie nach Genuss eiweissreicher Nahrungsmittel wie 
Eier und grösserer Mengen alkoholischer Getränke und anderer 
reizender Nahrungs- und Genussmittel, auf welch’ letztere als 
Ursache chronischer Nephritiden Penzoldt 4 ) besonders auf¬ 
merksam gemacht hat. 

Ein gewichtiges Moment zur Entscheidung der Frage, ob 
Stauungs- oder toxische Albuminurie, giebt zu Gunsten der 
letzteren, wenn auch nicht zweifellos beweisend, das Ergebniss 
der mikroskopischen Untersuchung der Harne, ln etwa der 
Hälfte meiner Untersuchungen fand ich mehr oder minder zahl¬ 
reiche hyaline und granulirte (Minder im Sediment der Haine. 
Viel regelmässiger und reichlicher fand sie noch Müller, der 
auch Nierenepithelien sah. Bei Stauungsnieren ist ein der¬ 
artiger Sedimentbefund sehr selten. Müller, dessen Versuchs¬ 
personen länger dauernde Fahrten als die meinigen machten, 
giebt an, dass das mikroskopische Bild des Hamsediraents so 
war, wie man es bei schwerer parenchymatöser Nephritis zu 
sehen gewohnt ist. Um so überraschender war es mir, dass 
Müller schliesslich doch zu der Annahme gelangt, dass es sich 
um physiologische Albuminurien handelt. 

Für die Annahme einer solchen könnte höchstens die kurze 
Dauer und die vorübergehende Natur der Albuminurie geltend 
gemacht werden. Dagegen aber sprechen verschiedene ge¬ 
wichtige Umstände: 1. Die meist gleichzeitig vorhandene Ver¬ 
änderung am Herzen. Denn Senator sagt ausdrücklich, dass 
das erste Erforderniss zur Annahme einer physiologischen Albu¬ 
minurie die Abwesenheit jedes krankhaften Zustandes im Körper 
ist. Dagegen spricht 2. auch der zuweilen schon beträchtliche 
Eiweissgehalt, der in meinen Fällen bis zu \ pro Mille stieg, in 
Müller’s Beobachtungen anscheinend nicht geringer (quantitative 
Angaben hat er nicht gemacht) war. Dagegen spricht schliess¬ 
lich 3. vor allem der mikroskopische Befund des Sediments. 
Denn das Auftreten von Harncylindern macht jede Albuminurie 

1) Therap. Monatsh. 1896, August. 

2) Münch, med. Wochenschr. 1896, Deccmbcr. 

8) Cf. Senator, Die Albuminurie. 

4) Münch, med. Wochenschr. 1898, No. 42. 


zu einer pathologischen. Bei der Albuminurie nach anders¬ 
artigen Muskelanstrengungen hat man bisher das Auftreten von 
Harncylindern und Niereneleraenten nicht beobachtet. Offenbar 
wirkt das forcirte Radfahren eben deletärer. Vielleicht werden 
wir aber auch auf Grund dieser neueren Erfahrungen unsere 
Anschauungen Uber die sog. physiologische Albu¬ 
minurie wieder umgestalten müssen. Kann eine Albu¬ 
minurie, die infolge übermässiger Muskelanstrengung, also nicht 
unter normalen Bedingungen auftritt, überhaupt noch als eine 
physiologische bezeichnet werden? Liegt nicht vielleicht doch 
in vielen Fällen von scheinbar physiologischer Albuminurie eines 
jener obeu erwähnten ätiologischen Momente vor, die wir als Ur¬ 
sache von vorübergehender Eiweissausscheidung im Ham kennen 
gelernt haben? Werden nicht manche Fälle von sog. physiologischer 
Albuminurie ausscheiden, wenn das Harnsediment frisch mit der 
Centrifuge untersucht wird? Alle diese Fragen gehen eigentlich 
Uber den Rahmen meines Themas hinaus, ich wollte sie hier 
nur angeregt haben. 

Wir können die Albuminurie, die nach angestrengten Rad¬ 
fahrtouren auftritt, gleich der Herzdehnung, vielleicht am besten 
als „paroxysmale“ bezeichnen, sie steht daher jedenfalls der sog. 
„cyclischen“ Albuminurie (Pavy) nahe, die ja, wie Senator 
hervorgehoben, gamicht eine wirklich cyclische ist, sondern 
immer nur nach Einwirkung ein und derselben Ursache wieder 
hervortritt. Diese cyclische oder paroxysmale Albuminurie wird 
neuerdings wohl fast allgemein als das Zeichen einer chroni¬ 
schen, schleichenden Nephritis betrachtet, und in diesem Sinne 
bin ich auch die Albuminurie bei Wettradfahrern aufzufassen 
durchaus geneigt. Wenn die Nieren Jahre lang immer wieder 
in so heftiger Weise gereizt werden, dann wird nicht nur der 
fortwährende Verlust von Körpereiweiss den Ernährungszustand 
des Organismus beeinträchtigen, sondern die Nieren selbst werden 
auch in immer stärkeren Substanzverlust gerathen. Oft gehen 
lange Jahre darüber hin, ehe die manifesten Zeichen einer 
latenten chronischen Nephritis auftreten. Im Verlaufe der 
Schrumpfniere giebt es lange Zeiträume, während deren der 
Ham eiweissfrei ist. Es ergiebt sich aus diesen Betrachtungen 
in consequenter Weise die Schlussfolgerung: Ebenso wie wir 
ein Arzneimittel verwerfen oder in seiner Dosis herabsetzen, so¬ 
bald wir nach Gebrauch desselben Albuminurie auftreten sehen, 
müssen wir ihr Erscheinen als eine Contraindication Air das 
übermässige Betreiben einer Muskelübung, eines Sports, ansehen. 
In der Schädigung der Nieren sehe ich deshalb die zweite 
dauernde Gefahr des Radfahrersports, wenn er übermässig be¬ 
trieben wird. Wenn wir bedenken, dass die Schäden für Herz 
und Nieren sich combiniren müssen, können wir vor jeder über¬ 
mässigen Anstrengung beim Radfahren gamicht dringend genug 
warnen. 

Zum Schluss, m. H., noch einige allgemeine Bemerkungen 
über den gesundheitlichen Werth der „maximalen Muskelarbeit“; 
die der Training als gesundheitförderndes Mittel anstrebt. Wie 
jeder Sportsman, hält sich auch der trainirte Radfahrer für ein 
Muster körperlicher Kraft und strotzender Gesundheit. Für den 
objectiven Beobachter fehlen ihm freilich fast alle Zeichen dafür. 
Ohne den fast typischen Habitus des trainirten Radfahrers hier 
näher schildern zu wollen, soll nur der fast vollständige 
Schwund des Fettpolsters hervorgehoben werden. Die beim 
Radfahren angestrengten Muskeln, in erster Reihe die Streck¬ 
muskeln des Oberschenkels und die Beugemusculatur des Unter¬ 
schenkels und, was von anderer Seite meines Wissens bisher 
noch nicht hervorgehoben worden ist, die Peronei, sie imponiren 
dem Auge als colossal hypertrophirte, brettharte Wülste, deren 
Ursprung und Ansatzpunkt so genau erkennbar sind, als wenn 
sie mit dem anatomischen Messer herauspräparirt wären, ln 

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206 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 10. 


dieser exquisiten Weise werden die Muskeln eben nur sichtbar, 
weil jedes Fettläppchen unter der Haut und zwischen den Mus¬ 
keln geschwunden ist — ein Folgezustand, den ich nicht gerade 
als einen besonderen Vortheil betrachten kann. Denn das Fett¬ 
polster ist ein werthvoller Schutz gegen die verschiedensten 
Schädlichkeiten, die auf den Organismus einwirken können. 

Der Training zum Wettsport muss in praxi um so deletärer 
wirken, als er meist in einem so jugendlichen Alter begonnen 
wird, in dem die körperliche Entwickelung noch garnicht abge¬ 
schlossen ist. Gerade dem Herzen droht dadurch am ehesten 
eine dauernde Gefahr. 

Von anderen hygienischen Momenten, die auf die Gesund¬ 
heit der Wettfahrer schädigend einwirken, will ich hier nur noch 
die unregelmässige Lebensweise und Lebensführung hervorheben: 
Excesse in alcoholicis et venere gehören nicht zu den Selten¬ 
heiten, wie denn Überhaupt der Training nicht entfernt mit der 
Strenge und Gewissenhaftigkeit gehandhabt wird, wie z. B. beim 
Rudersport. Ferner lässt die Ernährung viel zu wllnschen übrig, 
indem sie auf die übermässigen Anforderungen des Trainings 
gar keine Rücksicht nimmt. 

M. H.! Ich bitte das, was ich Uber die Wirkungen des 
Radwettsportes gesagt habe, nicht auf das Radfahren im Allge¬ 
meinen zu übertragen. Das nach Dauer und Tempo der 
Fahrt in vernunftgemässen Grenzen geübte Radfahren 
hat nicht nur wohlthuende Folgen für den gesunden 
Körper, sondern auch mannigfache heilkräftige Wir¬ 
kungen für den kranken Organimus. Wir Aerzte haben 
die Aufgabe, darüber zu wachen, dass der Segen dieses modernen 
Sports nicht in sein Gegentheil umschlägt. Da wir dieses Heil¬ 
mittel nicht genau dosiren können, werden wir gut thun, difc 
Grenzen für die Ausübung dieses Sports eher etwas zu eng als 
zu weit zu ziehen. 


IV. Die Bekämpfung der Körnerkrankheit 
(Trachom) in Preussen. 

Von 

Oberstabsarzt Professor Dr. M. Kirchner in Berlin. 

(Vortrag, gehalten in der Berliner medicinischen Gesellschaft.) 

(Schluss.) 

Es ist also durchaus nicht übertrieben, wenn man behauptet, 
dass die granulöse Augenentzündung eine Calamität für ihre 
engere Heimath und eine Gefahr für unsere ganze Monarchie 
ist. Es kommt darauf an, Mittel zu finden, energisch gegen 
dieses Uebel vorzugehen. Es fragt sich, was soll man thun? 

Ich habe mir bereits erlaubt, darauf hinzuweisen, dass die 
•Bevölkerung durchschnittlich arm und nicht in der Lage ist, 
regelmässig ärztliche Hülfe zu suchen. In den östlichen Pro¬ 
vinzen sind die Aerzte noch verhältnissmässig dünn gesäet. Um 
sie zu consultiren, müssen die Kranken oft Meilen weit reisen. 
Mit dem Besuch des Arztes sind nicht nur die Consultation, die 
Ausgabe für den Apotheker, die Arzneien, sondern häufig weite 
Wege Uber Land verbunden, durch welche die Leute gezwungen 
sind, ihre Arbeit aufzugeben und auf Verdienst zu verzichten. 
Trifft das den Ernährer der Familie, so erheischt das Opfer, 
welche den Bestand der Familie gefährden. Nun ist es ja klar, 
dass in solchen Fällen die Gemeinde eingreifen muss, und häufig 
hat sie es in ausgiebiger Weise gethan. Allein was von den 
Einzelnen gilt, gilt von den Gemeinden in den östlichen Pro¬ 
vinzen in demselben Grade. Dieselben sind kaum leistungs¬ 
fähiger als der Einzelne. Ich möchte hier an eine Thatsache 


erinnern, die viel zu wenig in unserem Gedächtniss ist und her¬ 
vorgehoben zu werden verdient. Im Anfang unseres Jahrhunderts 
hatten die östlichen Provinzen furchtbar zu leiden unter dem 
Druck der französischen Besatzung und Kriegscontributionen zu 
zahlen, welche ihre Leistungsfähigkeit bedeutend überschritten. 
Sie mussten eine drückende Schuldenlast auf sich nehmen, an 
deren Verzinsung und Amortisation sie jetzt noch schwer zu 
tragen haben. Dass unter diesen Umständen die Kreise, die 
Provinzialverbände in unserem Osten verhältnissmässig wenig 
leistungsfähig sind, liegt auf der Hand. Trotzdem haben die 
Gemeinden und Kreise schon ausserordentlich viel gethan und 
theilweise für ihre Verhältnisse ausserordentlich namhafte Summen 
für die Bekämpfung des Trachoms gezahlt. Allein der Kreis 
Johannisburg hat mehrmals 5000 Mk. dafür ausgegeben. Man 
hat Aerzte gegen Remuneration angenommen, polikinische Sprech¬ 
stunden eingerichtet, diejenigen Kranken, welche einer operativen 
Behandlung bedurften, auf öffentliche Kosten in die Universitäts¬ 
klinik in Königsberg geschickt, regelmässige Schüleruntersuch- 
ungen vorgenommen, ist aus der Schule in die Familien gegangen, 
um so gewissermaassen die Krankheit in ihrem eigenen Hause 
aufzusuchen. Aber alles das erwies sich als unzulänglich gegen¬ 
über der Ausbreitung der Krankheit, schliesslich sind die ört¬ 
lichen Behörden gegenüber der Grösse der Aufgabe erlahmt und 
haben sich mit der Bitte um Hülfe an den Staat gewendet. 

Der Ruhm, zuerst von Staatswegen gegen das Trachom 
energisch vorgegangen zu sein, gebührt unserem Nachbarlande 
Ungarn. Ich erwähnte bereits, dass Ungarn 1883 einen eigenen 
Trachom in spector angestellt hat, welcher die Bekämpfung 
des Trachoms vollständig organisirte; in verschiedene Bezirke 
wurden Trachoraärzte entsandt, bisher deren 25; an mehreren 
Orten Krankenhäuser für das Trachom gegründet, bisher deren 
drei; es wurden Fortbildungscurse eingerichtet, in welchen die 
praktischen Aerzte in der Bekämpfung und in der Behandlung 
des Trachoms unterwiesen werden. Bei uns ist es bisher so 
ziemlich bei der Selbsthülfe geblieben. Allerdings hat der 
Cultusminister in Erkenntniss der Schwere dieses Uebelstandes 
schon namhafte Summen angewiesen und im Jahre 1895 für 
Ost- und Westpreussen 16255, im Jahre 1896 23224 Mk. ge¬ 
zahlt. Allein diese Summen sind gegenüber der Grösse des 
Nothstandes viel zu gering, wenn auch gross im Verhältnis zu 
der Kleinheit des Fonds, der dem Cultusminister für derartige 
Zwecke zur Verfügung steht. 

Im Juni v. J. fand in Königsberg unter dem Vorsitz des 
Herrn Ministerialdirectors Dr. von Bartsch eine Conferenz 
statt, an welcher ausser den obersten Verwaltungsbeamten der 
Provinz mehrere namhafte Augenärzte theilnahmen. Dort wurde 
die Ueberzeugung gewonnen, dass es die höchste Zeit sei, ener¬ 
gisch gegen die Krankheit vorzugehen, nicht nur mit halben 
und unzulänglichen Maassregeln wie bisher, sondere planmässig 
und womöglich auf der ganzen Linie. Es wurden hervorragende 
Augenärzte in die Haupttrachomherde gesandt, um ein Bild von 
der Verbreitung der Krankheit zu gewinnen, imd diese Herren 
bestätigten, dass wir bis jetzt auch nicht annähernd ein Bild 
von der Verbreitung der Krankheit in den Provinzen gehabt 
haben. Am 14. Deccmber v. J. fand eine zweite Conferenz hier 
im Cultusministerium statt, welche sich auf Grund jener Er¬ 
hebungen an Ort und Stelle mit dem, was nun zu geschehen 
habe, beschäftigte und zu einer Reihe von Vorschlägen führte, 
die ich Ihnen kurz mittheilen möchte. Im Wesentlichen hat uns 
das vorgeschwebt, was in Ungarn sich bewährt hat. 

In erster Linie hält man es für nöthig, eigene Trachom¬ 
krankenhäuser zu gründen. Dahin führte vor allen Dingen 
die Beobachtung, dass es nicht möglich ist, in unseren gewöhn¬ 
lichen Krankenhäusern Uebertragungen des Trachoms auf andere 


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8. März 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Kranke mit Sicherheit zu verhüten. Wiederholt und noch in 
neuester Zeit ist es in der Universitäts-Augenklinik in Königs¬ 
berg vorgekommen, dass Kranke mit einfachen Augenleiden 
sich in der Klinik selbst Trachom geholt haben. Die Zustände 
unserer Augenklinik in Königsberg sind nicht besonders glänzend; 
sie ist alt, hat nur 47 Betten für gewöhnliche Kranke, während 
regelmässig weit Uber 100 Kranke Hülfe begehren. Diese 
bringt man in sogenannten Dependenzen unter, d. h. in ge¬ 
wöhnlichen Miethshäusern, in denen die Kranken gegen 1 Mk. 
pro Kopf und Tag Pflege und Unterkunft finden und von wo 
aus sie gewissermaassen poliklinisch behandelt werden. Diese 
Dependenzen sind, wie Herr Geheimrath Spinola schon im 
vorigen Jahre feststellen konnte, zum Theil derart unhygienisch, 
eng, schlecht ventilirt, dass sie auf den Namen eines Kranken¬ 
hauses keinen Anspruch machen können. Um die Trachom¬ 
kranken zu isoliren, um die Uebertragung auf andere Kranke zu 
verhüten, um den Trachomkranken Verhältnisse zu sichern, in 
denen sie nach hygienischen Grundsätzen behandelt werden, 
muss die Augenklinik in Königsberg entsprechend vergrössert 
werden. Damit ist aber der Zweck eines solchen Trachom¬ 
krankenhauses nicht erschöpft. Wir sind wohl alle der Ansicht, 
dass das Trachom durch einen belebten Krankheitskeim 
erzeugt wird. Die Bacteriologen haben sich redlich abgemüht, 
diesen Krankheitskeim zu entdecken, und schon verschiedene 
derartige Krankheitskeime beschrieben, den richtigen haben wir 
iedoch noch nicht gefunden. Es kommt aber Alles darauf an, 
dass er gefunden wird; denn wenn wir ihn erst haben, dann 
werden wir auch die Wege kennen lernen, auf denen er sich 
verbreitet, imd die Mittel, durch welche wir ihn vernichten 
können. 

Auch bezüglich der Behandlung sind die Ansichten noch 
getheilt. Die Einen empfehlen in der Mehrzahl der Fälle die 
geschwollene Uebergangsfalte der Bindehaut herauszuschneiden, 
eventuell unter theilweiser Mitnahme des Knorpels, Andere be¬ 
gnügen sich damit, die Trachomkörner herauszuquetschen, wieder 
Andere ziehen es vor, mit scharfen Mitteln, namentlich Sublimat, 
die Augenbindehaut abzureiben, Andere sind noch zarter in der 
Behandlungsweise: sie machen Einträufelungen. Was das Rich¬ 
tige ist, muss erst noch gefunden werden, und dazu sollen gleich¬ 
falls derartige Krankenhäuser dienen. 

Derartige Krankenhäuser zu gründen, ist allerdings wesent¬ 
lich Sache des Geldes; das Geld wird schwer dafür zu haben 
sein. Fürs erste geht man damit um, eine eigene Trachom¬ 
abtheilung in Königsberg zu gründen. Vielleicht gelingt es 
später die Mittel zu finden, noch an anderen Orten, z. B. Danzig, 
Insterburg oder Lyck ähnliche Trachomkrankenhäuser zu er¬ 
richten im engen Anschluss an schon bestehende Krankenan¬ 
stalten. 

Das Zweite, was als nothwendig erkannt worden ist, ist 
eine Verbreitung einer gleichmässigen und gründlichen Kenntniss 
des Trachoms unter womöglich allen Aerzten der Provinz. 
Diejenigen Collegen, welche in Königsberg studiren, haben 
dort ausgiebige Gelegenheit, das Trachom kennen zu lernen. 
Alle diejenigen aber, welche an westlichen Universitäten stu¬ 
diren, haben das Trachom ja nur ganz ausnahmsweise zu 
sehen bekommen. Werden sie in die östlichen Provinzen 
verschlagen, so stehen sie der Krankheit vollkommen fremd 
gegenüber, sind nicht in der Lage, die Fälle rechtzeitig zu er¬ 
kennen und halten häufig Fälle für Trachom, die es gar nicht 
sind, und umgekehrt. Dass etwas derartiges nicht selten ist, 
sehen wir bei den Aushebungen. Unsere Militärärzte haben 
natürlich die Aufgabe, unsere Armee möglichst vor Trachom 
zu sichern; die gestellungspflichtigen Soldaten aber haben viel¬ 
fach das Bestreben, ein Augenleiden zu verschlimmern oder vor- 


207 

zutäuschen. Die Folge davon ist, dass an den Musterungs- und 
Aushebungsterminen durch die Militärärzte mehr Trachomkranke 
gefunden werden, als nachher bei der Kontrolle der Verdächtigen 
durch die Civilärzte. Das kommt theils daher, dass der Civil- 
arzt, der hauptsächlich auf Heilung der Krankheit sein Bestreben 
lenkt, vielfach die Fälle milder beurtheilt, als der Militärarzt; 
theils wohl auch daher, dass die Verschlimmerungen, die sich 
manche der Wehrpflichtigen vor dem Musterungstermin künst¬ 
lich oder durch äussere Umstände zugezogen haben, nachher 
bald wieder verschwunden sind. Eine Gleichraässigkeit in der 
Auffassung der Krankheit ist jedenfalls trotz aller Directiven 
unter den verschiedenen Aerzten nicht vorhanden. Diese aber 
muss womöglich geschaffen werden, und zwar auch aus folgen¬ 
dem Grunde. Es ist dringend nothwendig, dass die Bekämpfung 
in den befallenen Gegenden möglichst decentralisirt wird; dass 
womöglich in jedem Kreise, in jeder Stadt, ein Arzt vorhanden 
ist, welcher in der Lage ist, ein Trachom zu erkennen und 
richtig zu behandeln. 

Zu diesem Zweck sollen nach dem Vorbilde von Ungarn 
Fortbildungscurse eingerichtet wnrden, in denen zunächst die 
beamteten, dann aber womöglich auch sämmtliche nicht beamtete 
Aerzte in der Erkrankung und Behandlung der Körnerkrankheit 
unterwiesen werden. Nach dem Gutachten verschiedener her¬ 
vorragender Augenärzte genügt hierzu eine verhältnissmässig 
kurze Zeit, 14 Tage bis 3 Wochen, um die Herren soweit zu 
informiren, dass sie sogar Operationen machen können. Der¬ 
artige Curse sollen zunächst in Königsberg, dann vielleicht auch 
in Danzig und Insterburg eingerichtet, und die Aerzte, die an 
diesen Cursen theilnehmen, auch die nicht beamteten, so gestellt 
werden, dass sie für diese Zeit ihre Praxis aufgeben können, 
d. h. sie sollen Tagegelder und Reisekosten erhalten. Man darf 
wohl annehmen, dass sie unter diesen Umständen gern an den 
Cursen theilnehmen und mit dem Pfunde des Wissens, welches 
sie dort erworben, in ihrer Heimath zum Segen derselben wu¬ 
chern werden. 

Das Wichtigste aber ist, dass womöglich sämmtliche, jeden¬ 
falls aber die unbemittelten Kranken unentgeltlich behan¬ 
delt werden, und zwar nicht nur im Krankenhause, sondern 
auch ambulatorisch. Der unbemittelte Mann ist nicht in der 
Lage, die Kosten für Arzt und arzneiliche Behandlung zu tragen. 
Die Folge davon ist, dass er sich der Behandlung entzieht, dass 
er die leichten Fälle schwer werden lässt, dass er die Krank¬ 
heit auf seine Familienmitglieder überträgt. Ja, es ist sogar 
angeregt worden, man solle die unbemittelten Leute nicht nur 
umsonst behandeln, sondern ihnen auch noch eine Entschädigung 
für die versäumte Arbeit geben. Ob dies möglich ist, stelle ich 
dahin. Jedenfalls muss erstrebt werden, dass die Kranken so¬ 
wohl im Krankenhause selbst als in den einzelnen Orten unent¬ 
geltlich behandelt werden. In allen Kreisstädten und einer An¬ 
zahl von kleineren Orten werden Polikliniken einzurichten sein; 
man wird einige Zimmer miethen, ein Vorzimmer und ein Be¬ 
handlungszimmer; die nöthige Anzahl von Aerzten gewinnen, die 
sich der Behandlung unterwerfen; dafür sorgen, dass regelmässig 
poliklinische Sprechstunden abgehalten werden, in denen die 
Kranken unentgeltlich behandelt und mit freier Arznei versehen 
werden. 

Grosser Werth wird von allen Aerzten, die in Ost- und 
Westpreussen thätig sind, darauf gelegt, dass sich an der Be¬ 
handlung der Kranken nicht nur die Aerzte betheiligen, sondern 
dass man ein Hilfspersonal heranziehen soll, welches den 
Aerzten hilfreich zur Hand geht und die kleinen Handreichungen, 
die bei der Behandlung von Augenkrankheiten nöthig sind, über¬ 
nimmt. Hierbei haben sich an verschiedenen Orten die Volks¬ 
schullehrer ausserordentlich anstellig und willig gezeigt, und 

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No. 10. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


man hat in einer ganzen Reihe von Orten gute Erfolge erzielt, 
damit, dass man die Volksschullehrer gegen eine Remuneration 
veranlasste, die Nachbehandlung der Körnerkranken zu Über¬ 
nehmen. Freilich wird von mancher Seite eingewendet, dass 
man auf diese Weise Kurpfuscher heranzieht, dass die Volks¬ 
schullehrer vielfach nicht in der Lage sind, Augenwässer, die 
man ihnen in die Hand giebt, steril zu halten; dass sie nicht in 
der Lage sind, die Fälle zu unterscheiden, und daher, zumal, 
wenn sie mit ungereinigten Pinseln arbeiten, unter Umständen 
von einem trachomkranken Auge die Krankheit auf ein Auge 
mit gewöhnlichem Bindehautkatarrh übertragen können. Diesen 
Bedenken darf man sich nicht verschliessen. Aber gegenüber 
der geringen Zahl der Aerzte, gegenüber den weiten Entfernun¬ 
gen in den östlichen Provinzen, gengenüber der Nothwendigkeit 
eines häufigen, zuweilen täglichen oder mehrmals täglichen Ein¬ 
wirkens können wir derartige Hilfe nicht entbehren, und man 
wird durch gedruckte Anweisungen oder mündliche Belehrungen 
die Lehrer und andere Personen, die sich dafür eignen, dahin 
bringen müssen, dass sie die Gefahren, die ihre Ungeschicklich¬ 
keit nach sich ziehen kann, kennen und vermeiden lernen. Unter 
dieser Reserve dürfen wir die Mithilfe der Lehrer und ähnlicher 
Personen wohl unbedenklich in Anspruch nehmen. 

Ausserordentlicher Werth aber ist auf eine regelmässige 
Untersuchung der Schüler zu legen. Abgesehen vom Mili¬ 
tär, ist die Krankheit ja am verbreitetsten unter den Schülern. 
Das ist nicht so zu verstehen, dass die Schüler für Trachom 
besonders disponirt wären; vielmehr kommen die Erkrankungen 
der Schüler stets sofort zur Kenntniss der Behörden, während 
diejenigen der Erwachsenen sich derselben meistens entziehen. 
Die Schule ist die Handhabe, an der wir das Trachom am 
sichersten in Angriff nehmen können. Nun ist es ja ausser¬ 
ordentlich schwierig, die 1200 Schulen, die allein im Regierungs¬ 
bezirk Gumbinnen vorhanden sind, regelmässig zu untersuchen. 
Dazu genügt ein Augenarzt sicher nicht, selbst mehrere Aerzte 
reichen dafür nicht aus. Die Frage der Schulärzte, die so viel 
umstritten ist, wird hier wieder lebendig, und es fragt sich, ob 
man nicht in gewissen Bezirken eigene Aerzte für regelmässige 
Schuluntersuchungen anstellen soll, welche die Schüler bei ihrem 
Eintritt in die Schule und nachher etwa alle halbe Jahre zu 
untersuchen hätten. Sie hätten regelmässige Listen Uber die 
Schüler zu führen, ein Augenmerk auf die hygienischen Verhält¬ 
nisse der Schulgebäude zu richten und Vorschläge zur Abhilfe 
von Uebelständen zu machen. Diese Verhältnisse sind zum Theil 
trostlose. Viele Schulen in den östlichen Provinzen sind enge, 
schlecht gelüftete Locale, viel zu klein für die Anzahl von Schü¬ 
lern, welche in denselben zusammengepfercht sind, ausgerüstet 
mit schlechten Subsellien, ungenügend erleuchtet, ungenügend ge¬ 
reinigt; und in diesen Schulzimmern, die häufig schlecht geheizt 
und ventilirt sind, müssen die Schüler stunden- und tagelang 
sitzen und können also wohl die Krankheit weiter übertragen. 

Schwierig ist die Frage, wie man sich bezüglich des 
Schlusses von Schulen verhalten soll. Ohne Weiteres ge¬ 
schlossen können die Schulen nicht werden, wenn Epidemien 
ausbrechen. Man wird sich dahin einigen müssen, dass ein der¬ 
artiger Schulschluss nur dann stattfindet, wenn eine grosse An¬ 
zahl von Schülern mit secernirendem Trachom vorhanden ist, 
während vereinzelte Schwerkranke von der Theilnahrae am Unter¬ 
richt auszuschliessen, Leichtkranke aber nur gesondert zu 
setzen sind. 

Eine wichtige Frage ist auch diejenige, was man thun kann, 
um die Verbreitung der Krankheit von den Trachomherden aus 
nach den übrigen Provinzen zu verhüten. Wenn es vorkommt, 
dass in einer gut situirten Familie durch einen Arbeiter oder 
eine Dienstmagd die Krankheit eingeschleppt wird, so zeigt dies, 


dass es nothwendig ist, denjenigen Personen, welche mit der Krank¬ 
heit behaftet, in eine andere Familie eintreten, die Aufmerksam¬ 
keit zuzuwenden. Es fragt sich, wie weit es möglich ist, Ar¬ 
beiter, welche aus den östlichen Provinzen nach den westlichen 
kommen und dort beschäftigt werden, officiell zu Untersuchungen 
zu zwingen und anzuhalten, Gesundheitsatteste beizubringen. Es 
fragt sich, in wie weit es angängig ist, Personen wie Guts¬ 
besitzern, Fabrikbesitzern u. s. w., welche Arbeiter aus ver¬ 
seuchten Gegenden beschäftigen, aufzuerlegen, dass sie auf die 
Lagerung, Verpflegung, gute Haltung ihrer Arbeiter Aufmerksam¬ 
keit verwenden, und dass man ihnen die Genehmigung zur Be¬ 
schäftigung derartiger Arbeiter nur unter gewissen Bedingungen 
ertheilt. Wir haben leider noch kein Reichsseuchengesetz und 
sind immer noch gezwungen, uns mit dem Regulativ vom 
8. August 1885 zu behelfen. In diesem Regulativ ist von der 
Granulöse eigentlich nur in so weit die Rede, als die Armee 
dabei betheiligt ist. Wir können damit eigentlich nichts an¬ 
fangen. Es wird versucht werden müssen, hier durch Polizei¬ 
verordnungen etwas Brauchbares zu erreichen. Die Gefahr ist so 
dringend, dass Abhlllfe geschaffen werden muss. 

Eine weitere Frage ist diejenige, ob es möglich ist, durch 
öffentliche Belehrung gegen die Krankheit etwas auszu¬ 
richten. Sie wird ja bekanntlich durch den eitrigen Schleim, 
der von den Bindehäuten abgesondert wird, übertragen. Dieser 
Schleim wird nicht etwa in der Weise verbreitet, dass er resp. 
die Krankheitskeirae durch die Luft fliegen, sondern er wird 
übertragen durch die Finger, z. B. auf die Thürklinken, welche 
nachher Gesunde anfassen, auf Schemel und Stühle, auf welche 
sich nachher Gesunde setzen, an die Waschschüssel, aus welcher 
sich Andere waschen, an das Handtuch, au welchem sich Andere 
abtrocknen. Die Wege der Uebertragüng liegen offen zu Tage 
und sollten leicht zu verlegen sein, sobald darauf die Aufmerk¬ 
samkeit hingelenkt würde. Man könnte sich also etwas davon 
versprechen, wenn die Bevölkerung durch Belehrung darauf hin¬ 
gewiesen würde. Allein die Erfahrung hat gezeigt, dass der¬ 
artige Belehrungen häufig im Stiche lassen. Gedruckte Be¬ 
lehrungen liest der gemeine Mann nicht, und wenn man derartige 
Sachen in Form von Plakaten machen wollte, die man an Bahn¬ 
höfen, Standesämtern, Kirchen, Schulen u. s. w. anschlüge, so 
würden sie wohl anfangs gelesen, sehr bald aber als etwas Ge¬ 
wöhnliches betrachtet und zuletzt kaum noch eines Blickes ge¬ 
würdigt werden. Derartige Belehrungen sind dagegen nicht ohne 
Werth, wenn sie mündlich geschehen von Personen, die ein ge¬ 
wisses Ansehen bei der Bevölkerung gemessen, z. B. Pfarrern, 
Lehrern, Gutsbesitzern, Standesbeamten u. s. w. Man darf 
sich wohl etwas davon versprechen, dass man populär gehaltene 
Belehrungen auf öffentliche Kosten drucken lässt, angesehenen 
Personen Ubergiebt, um dieselben gelegentlich zum Gegenstand 
der Besprechung mit der Bevölkerung zu machen. Eine solche 
Belehrung wird im Cultusministerium unter Mitwirkung nam¬ 
hafter Augenärzte ausgearbeitet werden. 

WUnschenswerth, aber ausserordentlich schwierig zu erreichen 
ist ferner Eins, was uns für den Augenblick vollständig fehlt, 
nämlich eine einigermaassen zuverlässige Statistik. Wie ver¬ 
breitet die Augenkrankheit ist, erfahren wir nur durch die Unter¬ 
suchungen der Militärpflichtigen und durch Schuluntersuchungen. 
Könnte man, wie es in Ungarn durch Feuer in verschiedenen 
Orten und in Ostpreussen durch Geheimrath Hirschberg in 
zwei Dörfern geschehen ist, die gesammte Bevölkerung unter¬ 
suchen, dann könnte man allerdings ein einigermaassen sicheres 
Urtheil Uber die Verbreitung des Trachoms bekommen. Aber 
zunächst fehlt uns die gesetzliche Handhabe dazu, die Bevölke¬ 
rung zu derartigen Untersuchungen zu zwingen. Die Leute 
müssen sich freiwillig dazu hergeben, und man wird versuchen 


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8. Mürz 1897. 


209 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


müssen, wie weit es möglich ist, auf diesem Wege zu einer 
ordentlichen Statistik zu gelangen. Die Anzeigepflicht, welche 
in Ostpreussen obligatorisch gemacht worden ist, hat hierzu sich 
nicht als ausreichend erwiesen. 

Was vor Allem nöthig ist, ist die Anstellung von 
Aerzten, die die Bekämpfung des Trachoms zu ihrer Lebens¬ 
aufgabe machen, von sogenannten „Trachomärzten“. In jedem 
der befallenen Regierungsbezirke wäre mindestens einer erforder¬ 
lich, der dem Regierungspräsidenten durch Rath und That an 
die Hand gehen, die Trachomcurse abhalten, dem Trachom¬ 
krankenhaus vorstehen, die zweckmässige Bekämpfung der 
Krankheit leiten und sämmtliche Fäden in seiner Hand ver¬ 
einigen sollte. Ohne solche Trachomärzte fallen alle Maass¬ 
regeln gegen die Körnerkrankheit ins Wasser. 

Vor allen Dingen aber dürfen wir uns in der Bekämpfung 
des Trachoms auf die Provinzen Ost- und Westpreussen nicht 
beschränken. Posen ist fast ebenso stark befallen wie Ost- und 
Westpreussen; wir haben einen grossen Herd im Regierungs¬ 
bezirk Oppeln, das Eichsfeld und ein Theil der Rheinprovinz 
ist schwer von Trachom durchseucht. Die Sachsengänger, die 
Arbeiter, die von Osten nach Westen, von Westen nach Osten 
ziehen, sind fortwährend beschäftigt, die Krankheit weiter zu 
übertragen. Es ist daher nöthig, dass dem Trachom auch im 
übrigen preussischen und womöglich im ganzen deutschen Vater¬ 
lande die Aufmerksamkeit zugewendet wird. Wenn in dieser 
Weise, zunächst schrittweise, allmählich immer energischer gegen 
diese Krankheit vorgegangen wird, dann darf man hoffen, dass 
etwas Erkleckliches zu Stande kommt. Zunächst sind im preussi¬ 
schen Etat für das nächste Jahr 75 000 Mark zur Bekämpfung 
der Granulöse angemeldet worden, eine Summe, die allerdings 
gegenüber der Schwere der Krankheit bescheiden ist, aber 
hoffentlich in den nächsten Jahren wieder im Etat erscheinen 
wird. Nach dem Urtheil Derjenigen, welche die Verhältnisse 
kennen, sind freilich Hunderttausende, ja Millionen nöthig, um 
die Krankheit erfolgreich zu bekämpfen. 

Ich glaube, m. H., Sie haben sich aus meinen Ausführungen 
überzeugt, dass diese Krankheit, welche im Verborgenen ihre 
Verheerungen anrichtet, von der wir verhältnissmässig wenig 
wissen, für die befallenen Gegenden eine colossale Gefahr ist; 
dass die geistige Ausbildung der Bevölkerung in unseren öst¬ 
lichen Provinzen, ihre ErwerbsfUhigkeit, ihr ganzer wirtschaft¬ 
licher Stand schwer dadurch beeinflusst wird. Ich glaube, Sie 
haben eingesehen, dass auch unsere Wehrfähigkeit darunter 
leidet. Sie werden mir zugeben, dass es hohe Zeit ist, hier¬ 
gegen vorzugehen, und wir dürfen hoffen, dass das, was geplant 
ist, wirklich von dem gehofften Erfolge gekrönt sein wird. 

Es bleibt mir nur noch übrig, der hohen Versammlung und 
insbesondere dem geehrten Herrn Vorsitzenden meinen Dank dafür 
auszusprechen, dass Sie mir als Gast verstattet haben, vor Ihnen 
diese Ausführungen zu machen. 


V. Kritiken und Referate. 

J. Veit: Ueber die Behandlung der Eklampsie. Festschrift für 
Carl Rage, Berlin 1896. 

Verf. hat über vorstehendes Thema auf dem diesjährigen Zweiten 
internationalen Gynäkologencongress za Genf referirt. Dem Referate 
liegt das Material von 25 Kliniken zu Grunde. In der Auffassung der 
Eklampsie nnd ihrer Behandlungsweise giebt es im Grossen und Ganzen 
zwei verschiedene Standpunkte: 

Die eine Partei betrachtet die eklamptischen Anfälle als Symptome 
einer vorhandenen Krankheit auf unbekannter Basis, richtet ihre Therapie 
nur gegen diese Symptome und entbindet nur dann, wenn es ohne Ge¬ 
fahr für die Mutter möglich ist. Die andere Partei erblickt in der 
Eklampsie an und für sich eine Anzeige zur sofortigen gewaltsamen 


Entbindung — Kaiserschnitt oder vaginale Eingriffe — nnd will durch 
die Operation die Krankheit beseitigen. 

Verf. vergleicht nun an zwei Beispielen — den Ergebnissen der 
Leipziger und Bonner Klinik, welch beide die geschilderten zwei Stand¬ 
punkte repräsentiren — die Erfolge der operativen und nichtoperativen 
Therapie. Er kommt dabei zu dem Schlüsse, dass die letztere bis jetzt 
die besten Erfolge aufzuweisen hat. Ebensowenig wie der Vergleich 
dieser beiden Kliniken das operative Verfahren befürwortet, ebensowenig 
spricht das Vergleichsergebniss der übrigen 23 Kliniken fiir Einschlagung 
des operativen Verfahrens: Eine -Verbesserung der Mortalitätsziffer ver¬ 
glichen mit der Häufigkeit der Operationen hat sich nicht ergeben. Die 
schon früher betonte Thatsache, dass die Mortalität unter den von 
Eklampsie befallenen Mehrgebärenden grösser ist als unter Erstgebären¬ 
den hat sich auch hier wieder ergeben. 

Veit kommt endlich zu dem Schlüsse, dass zurZeit eine rationelle 
Therapie bei der völlig dunklen Pathologie der Eklampsie noch nicht 
möglich ist: Die active Methode hat bis jetzt noch nicht die guten Re¬ 
sultate aufzuweisen vermocht, die nach den verschiedenen Berichten zu 
erwarten gewesen wären. Die Behandlung mit hohen Morphiumdosen 
weist die besten Erfolge auf. Neben dem Morphium dürfte wohl eine 
schonende, nicht forcirte Entbindung das Zweckmässigste sein, ohne dass 
dabei zu übersehen ist, das eine grosse Anzahl von Fällen bei jeder 
Behandlung zur Genesung zu kommen scheinen. Der Aderlass ist bis 
jetzt zu wenig erprobt, um Sicheres darüber sagen zu können. 

Ludwig Knapp: Klinische Beobachtungen über Eklampsie. 

Berlin, bei S. Karger. 

Die Arbeit enthält eine statistische Zusammenstellung von 32 im 
Laufe von 4 1 /, Jahren in der Rosthorn’schen Klinik beobachteten und 
behandelten Fälle von Eklampsie. Der Verf. unterzieht die Frage der 
Eklampsie nach den verschiedensten Richtungen im Vergleiche mit den 
Resultaten von 6—8 anderen Statistiken einer eingehenden Bearbeitung. 
Einige Aufmerksamkeit verdienende Punkte seien hier kurz angedeutet. 

Das Vorkommen der Eklampsie betr. überwog auch hier die Zahl 
der Erstgebärenden. Die grösste Zahl der Unfälle ereignete sich wäh¬ 
rend der Geburt und nicht a. p. resp. p. p. Ebenso bestätigt Verf. die 
von den meisten Autoren gefundene Thatsache, dass Eklampsie ohne 
Veränderung der Niere resp. des Harns ausserordentlich selten gefunden 
wird. Aub dem Harnbefunde irgend einen prognostischen Schluss zu 
ziehen, hält Verfasser nicht für gerechtfertigt. Die Mortalitätsziffer der 
Mütter wie der Kinder in diesen 22 Fällen ist eine ausserordentlich 
geringe. Auffallend gross war dagegen das Auftreten von Psychosen im 
Wochenbette. Der Einfluss der operativen Beendigung der Geburt war 
in der überaus grössten Mehrzahl ein äusserst günstiger. Was die 
Therapie im Allgemeinen anlangte, sogalt hier der Grundsatz: möglichst 
rasch aber schonend zu entbinden. Doch musste in einzelnen Fällen 
eine rein symptomatische Behandlung Platz greifen. Hier fanden in 
erster Linie Narcotica (Chloroform, Chloral, Morphium) Verwendung. 
Dann protrahirte warme Bader, feuchte Einpackungen, reichliche Fliissig- 
keitszufuhr, Kochsalztransfusionen und als nicht zu unterschätzendes 
Moment öftere reichliche Stuhlentleerungen , worauf der Verf. ausdrück¬ 
lich aufmerksam macht, endlich Venaesectio. In der Arbeit wird der 
Leser noch manches Interressante und manche Anregung finden. 


A. Dührssen: Der vaginale Kaiserschnitt. Berlin, bei S. Karger. 

Das Werk enthält neben einigen einleitenden und geschichtlichen 
Bemerkungen die Beschreibung der Technik und Indicationsstellung der 
vorstehenden Operation. Bei der Technik handelt es sich nach Frei¬ 
präparirung des unteren Uterinsegmentes ohne Eröffnung des Peritoneums 
um eine sagittale Spaltung der hinteren und vorderen Cervixwand bis 
über den inneren Muttermund mit nachfolgender Wendung eventuell 
Zange und Extraction des KindeB. Was die Indicationen angeht, so 
spricht sich Verf. eingehend über Folgendes aus: Carcinoma cervicis. 
Myom des Cervix und unteren Uterinsegmentes. Rigidität des ganzen 
Cervix, Stenosen des Cervix und der benachbarten Scheidenpartien. 
Partielle sackförmige Erweiterung des unteren Gebärmutter-Abschnittes, 
endlich die verschiedenen übrigen, das Leben der Mutter bedrohenden 
Allgemeinerkrankungen und der bevorstehende Tod der Mutter. Die 
Einzelheiten müssen im Original nachgelesen werden. 

Gustav Klein: Die Gonorrhoe des Weibes. Für die Praxis dar- 
gestellt. Berlin, bei S. Karger. 

Unter diesem Titel hat Verf. in seinem aus einem allgemeinen und 
speciellen Theile bestehenden Werke alles, was über den heutigen Stand 
der weiblichen Gonorrhoe bekannt resp. unbekannt ist, übersichtlich zu¬ 
sammengestellt. In dem allgemeinen Theile geht Verf. von der Ge¬ 
schichte der Gonorrhoe resp. des Gonococcus aus, bespricht dann die 
Bacteriologie und Diagnose der Gonorrhoe. Er berührt des Weiteren 
die verschiedenen Gebiete wie Metastasen der Gonorrhoe, Latenz der 
Gonorrhoe, Mischinfection, die verschiedenen Arten von Uebertragung, 
das noch dunkle Gebiet der Prädisposition, um sich dann den praktisch 
so wichtigen, indessen noch nicht erledigten Fragen wie Verantwortlich¬ 
keit des Kranken, Verbreitung von Ansteckung, wann dürfen Inficirte 
heirathen, Berufsgeheimniss des Arztes, Gonorrhoe in der Ehe zuzuwen¬ 
den. Am Schlüsse des allgemeinen Theiles bespricht Verf. im Grossen 
die Allgeraeinerscheinungen, Prognose, sowie Behandlung der acuten und 
chronischen Gonorrhoe. 


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No. 10. 


210 BERLIN KR KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Im speciellen Theile geht Verfasser systematisch die Pathologie und 
Therapie des gonorrhoisch erkrankten weiblichen Genital tractus durch 
und berührt dabei so ziemlich alle vorgeschlagenen und im Gebrauche 
befindlichen Behandlungsmethoden von der Urethritis angefangen bis 
zur Pelveoperitonitis hinauf. Namentlich nach dieser Richtung erfüllt 
das Werk seinen Zweck in ausgezeichneter Weise. 

Schiller. 


DornblBth: Nervöse Anlage und Neurasthenie. Leipzig 1896. 

Das circa 150 Seiten grosse Heft bildet den ersten Thell einer vom 
Verfasser projectirten „Klinik der Neurosen für den praktischen Arzt“. 
Es werden in klarer und gedrängter Weise zunächst die Erscheinungen 
der nervösen Anlage, ihre Entwicklung in der Kindheit, ihre Beziehungen 
zum Alkoholismus und Morphinismus dargestellt und dann eine Theorie 
derselben versucht, sowie ihr Wesen und ihre Ursachen besprochen; ihre 
Verhütung und die Behandlung der einmal vorhandenen bilden den 
Schluss des ersten Abschnittes. Der zweite giebt eine Darstellung der 
Neurasthenie in kurzer, doch, wie es scheint, nichts Wesentliches über* 
gehender, systematischer Gruppirung. Dem Zwecke des Buches ent¬ 
sprechend, ist besonders der Therapie ein breiter Raum in der Erörte¬ 
rung eingeräumt. Das Buch kann dem Praktiker, der so viel von 
neurasthenischen Kranken um Rath gefragt wird, zur Lectüre und An¬ 
schaffung warm empfohlen werden. 


Jollj: Traumatische Epilepsie und Ihre Behandlung. Charite- 
Annalen, XX. Jahrgang. 

Zwei ausführliche Krankengeschichten, aus welchen hervorgeht, wie 
vorsichtig man bei der ßeurtheilung der Operationserfolge bei Epilep¬ 
tikern sein muss. Wenn man die vor einiger Zeit so hochgehenden 
Erwartungen mit den thatsächlich erreichten dauernden Erfolgen ver¬ 
gleicht, so muss man bekennen — so führt der Autor aus —, dass ein 
starkes Missverhältniss besteht. Die in der Literatur niedergelegten 
Fälle, in welchen wegen Epilepsie mit dauerndem Erfolge operirt wurde, 
sind zunächst solche mit unmittelbarer chirurgischer Indication. Die Er¬ 
fahrung lehrt, dass in solchen Fällen nicht selten mit Beseitigung des 
von den Krankheitsherden ausgehenden Reizes die Epilepsie schwindet; 
auch dies gilt freilich lange nicht ausnahmslos. Handelt es sich dagegen 
um alte Knochenveränderungen und um alte Narben im Gehirn, so ist 
der Erfolg der Operation viel zweifelhafter. Günstige Wirkungen auf 
die Epilepsie treten auch dann häufig ein, sie sind aber in der Mehrzahl 
der Fälle nur vorübergehende. Die Anfälle bleiben zunächst Monate 
lang ans, in einzelnen Fällen auch noch beträchtlich länger, schliesslich 
aber setzen sie zunächst vereinzelt, dann immer häufiger ein und das 
Leiden nimmt wieder seine ursprüngliche Gestalt an. Solche temporäre 
Erfolge wurden nun aber auch wiederholt in solchen Fällen erzielt, in 
welchen trotz mehr oder weniger wahrscheinlicher traumatischer Ent¬ 
stehung gar keine Herde im Gehirn gefunden wurden. Es ist nicht 
klar, in welcher Weise die günstige Wirkung dieser „Lüftung“ des Ge¬ 
hirns zu erklären ist. Es spricht die vorübergehende Art des Erfolges 
in solchen Fällen und in gleicher Weise in solchen, wo Narben aus der 
Rinde ausgeschnitten wurden, für die Richtigkeit der von Jolly schon 
früher vertretenen Ansicht, dass nämlich die epileptische Veränderung, 
d. h. der ZuBtand des Gehirns, welcher die habituelle Wiederkehr von 
Krämpfen bedingt, nicht an die Oertlichkeit gebunden ist, von welcher 
ursprünglich der Reiz zu ihrer Entstehung ausgegangen ist. 


Scholz: Ueber die Beform der Irrenpflege. Leipzig 1896. 

Der Verfasser macht eine Reihe von Vorschlägen, aus denen nach¬ 
stehend einige herausgehoben werden: Aenderung und Verbesserung 
der staatlichen Aufsicht, erleichterte Aufnahme und erleichterte Ent¬ 
lassung, bessere pecuniäre Stellung der Anstaltsärzte, Vermehrung der 
Anstalten, stärkere Heranziehung der freien Verpflegungsformen (Colonie- 
und Familienpflege), psychiatrische Ausbildung der praktischen Aerzte, 
Belassung der geisteskranken Verbrecher in den Strafanstalten oder 
Schaffung besonderer Einrichtungen für sie, Abschaffung von „Tob- 
zellen“, Bildung von Pflege-(Schwestern-)Beruf8geno8senschaften znr Re- 
krutirung des Pflegepersonals u. s. w. Wenn Ref. auch nicht mit 
Allem, was Verf. vorschlägt, einverstanden ist, so sei doch dankbar an¬ 
erkannt, dass die kleine Schrift (77 Seiten) eine Fülle von Anregungen 
enthält. 

Lewald (Kowanowko). 


Geschieht« des ärztlichen'Tereinswesens ln Deutschland. Von 
Dr. Heinrich Berger, Kgl. Kreisphysikns in Neustadt a. Rbge. 
(Hannover). Frankfurt a. M. 1896. Alt. gr. 8. 69 pp- 
Vorliegende Arbeit hat hauptsächlich die historische Darstellung der 
Standesvereine znm Zweck im Gegensatz zur bekannten Schrift des ver¬ 
storbenen '_Ed. Graf, welche auch die wissenschaftlichen Associationen 
umfasste. Ursprünglich für eine Zeitschrift bestimmt wuchs B.'erger’s 
Material derartig an Umfang, dass es Bich zur Journalpublication nicht 
mehr eignete. Die Monographie verdient wegen der Beigabe einiger, 
bisher nur schwer zugänglicher Documente und wegen ihrer Tendenz 
volle Anerkennung. Als Supplement zu älteren Arbeiten über medicinische 


Vereinsgeschichte ist sie nicht ohne Werth. Dieser würde erhöht worden 
sein, wenn Verf. uns im Anhänge mit einer Zusammenstellung des 
litterarischen Quellenmaterials bedacht hätte. Pagel. 


VL Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. 

Berliner medicinische Gesellschaft. 

Sitzung vom 17. Februar 1897. 

(Schluss.) 

Discussion über den Vortrag des Herrn Alba: Die Wirkungen 
körperlicher Veberanstrengangen heim Radfahren. 

Hr. Patschkowski: In Betreff des Eiweisses, das bei dem über¬ 
triebenen Radfahren sich stets finden soll, möchte ich Ihnen Folgendes 
mittheilen: Ich selbst bin Radfahrer and habe leider das Radfahren zu¬ 
weilen übertrieben, in dem Maasse übertrieben, dass z. B. durch Schweiss- 
verlust der Urin einen hohen Grad der Concentration erreichte; aber 
selbst in diesem concentrirten Urin habe ich bei wiederholten Unter¬ 
suchungen niemals Eiweiss gefunden. 8o schätzenswerth die Warnung 
vor dem Uebertreiben im Radfahren ist, so liegt doch die Gefahr nahe, 
dass leicht diese Warnung übertrieben werden kann, und es kann nicht 
genug darauf aufmerksam gemacht werden, dass ein vernunftgemässes 
Radfahren nicht nur gesunden Leuten gut bekommt, sondern dass ver¬ 
schiedene Kankheitszustände dadurch auch günstig beeinflusst werden 
können. Ich selbst habe bei nervösen Frauen beobachtet, dass ihr Ge¬ 
sundheitszustand sich nach zweckmässig geregeltem Radfahren in über¬ 
raschender Weise besserte. Ich könnte noch verschiedene andere Indi- 
cationen nennen, aber Sie selbst haben ja darin auch jetzt genügende 
Beobachtungen gemacht, und meine Worte bezwecken nur, davor zu 
warnen, das man nicht das Kind mit dem Bade ausschttttet. 

Was aber die Ueberanstrengung jugendlicher Herzen bei Ueber- 
treibung des Sports anbetrifft, so glaube ich, ist es gewiss Pflicht der 
Aerzte, hierauf in den Familien immer wieder and wieder aufmerksam 
zu machen. Es trifft das nicht bloss auf das Radfahren zu, sondern 
ganz besonders auch in Betreff des Röderns. Es ist schade, dass unsere 
Jugend, die einen guten Anlauf nahm, in Betreff der körperlichen 
Uebung, wie sie sich bei dem Rudern findet, jetzt etwas in dem Nutzen, 
den das Rudern bringt, beeinträchtigt wird durch das Wettrudern, 
welches jährlich stattflndet. Es kommen hierbei doch recht grosse 
Ueberanstrengungen vor, und ich meine, dass diese bei dem noch nicht 
entwickelten jugendlichen Herzen noch viel ernster aufzufassen sind als 
bei dem widerstandsfähigeren älteren. Ich habe nach längerem Rudern 
Ueberanstrengungen des Herzens beobachtet, die nicht bloss augenblick¬ 
lich da waren und nicht bloss einen Tag, deren Wirkung ich nach einer 
Ueberanstrengung monatelang habe beobachten können bei Leuten, deren 
Gesundheitszustand ich vorher ganz genau kannte, und die ich auch 
dauernd im Auge behalten habe. Bei vorsichtigem Verhalten hat sich 
dann allerdings der Zustand nach Moneten vollständig wieder gebessert. 
Immerhin aber muss ich doch sagen, dass es ausserordentlich wichtig 
ist, hierauf zu achten und immer wieder und wieder daranf aufmerksam 
zu machen. 

Hr. Mackenrodt: Ich habe den Radfabrsport, sowie überhaupt 
Leibesübungen seit vielen Jahren, Bchon seit dem Anfang seiner Ein¬ 
führung bei uns in Deutschland, gepflegt, und ich habe auf dem Rad, 
glaube ich, nicht ganz gewöhnliche Leistungen vollbracht. Ich bin 
durch die Ebenen Deutschlands und Oesterreichs gezogen, um Land und 
Leute kennen zu lernen, bin über den Harz, den Thüringer Wald, das 
Riesengebirge und die Alpen gefahren und die ganze Fülle körperlichen 
und geistigen Behagens bei diesen Touren genossen; ich will damit nur 
sagen, dass ich mir über den Radsport auch ein Urtheil erlauben darf. 
Es liegt ja jbei dem Arzt nahe, dass er, zumal wenn Debatten über 
Schädigungen eines solchen Sportes auftauchen, auch versucht, an sich 
selbst diese Frage zu beantworten; und so weit man das auf einer Tour 
kann, habe ich das auch zeitweise gethan. Es kann sich das selbst¬ 
verständlich nur allenfalls auf die Untersuchung des eigenen Herzens 
erstrecken, die ich nicht für sehr werthvoll halte, dann aber auf die 
Urinuntersuchung. Ich habe auch constatirt, das nach forcirten Fahrten 
gelegentlich, besonders wenn die Ernährung mehr eine mangelhafte 
gewesen ist, Eiweiss in minimalen Spuren auftritt. Ein Mikroskop habe 
ich nicht in der Tasche gehabt. Ob andere Elemente noch im Urin 
gewesen sind, kann ich nicht bestätigen. Aber Eins kann ich bestätigen, 
dass mir diese Anstrengungen ausserordentlich genützt aber gar nichts 
geschadet haben. 

Nun, ich will gar nicht auf die medicinische Bedeutung des Rad¬ 
fahrens bei allgemeinen Leiden eingehen; das will ich den inneren 
Aerzten überlassen. Ich möchte hier nur einige Punkte herausgreifen, 
die vielleicht für den Gynäkologen und für denjenigen Hausarzt, welcher 
als Berather in der Familie durch die weiblichen Mitglieder heran¬ 
gezogen wird, von Bedeutung sein können. Bei der Chlorose, also doch 
bei der Krankheit, bei welcher der Circulationsapparat der jungen 
Mädchen ganz auffällige Veränderungen zeigt, habe ich constatirt, dass 
in Folge des Radfahrens ohne jede innere Therapie, lediglich bei einer 


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8. März 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


211 


zweckmässigen Ernährung, ganz auffällig schnell sich die Symptome 
verloren haben, dass Mädchen, die nicht in der Lage waren, eine Treppe 
zu steigen, ohne in grosse Athemnoth zu kommen, nachher schon nach 
4 Wochen ganz anders über körperliche Leistungen verfügen konnten. 
Bei örtlichen Erkrankungen des Uterus haben Klienten von mir theils 
mit meinem Rath, theils gegen meine Genehmigung sich diesem Sport 
hingegeben, nnd ich bin dann in der Lage gewesen zu constatiren, wie 
das Resultat dieser Versuche gewesen ist. Bei den chronisch entzünd¬ 
lichen Zuständen des Uterus, der Adnexe, sofern keine Lageveränderung 
vorhanden ist, bei denen aber eine profuse Menstruation als Begleit¬ 
erscheinung des Uebels Jahre lang manchmal constatirt war, habe ich 
zu meiner höchsten Verwunderung, während ich eine excessive Zunahme 
der Congestionen zu diesen Theilen erwarten musste, constatiren müssen, 
dass die abnormen Blutungen ganz normal und regelmässig geworden 
sind. Dazn kommen auch einige Fälle, wo kleine Myome in der 
Wand des Uterus mir die Veranlassung boten, das Radfahren zu unter¬ 
sagen. Die Patienten haben es dennoch gethan, und wieder zu meiner 
höchsten Verwunderung habe ich constatirt, dass auch in diesen Fällen 
die Menstruation eine regelmässige geworden ist. Es liegt nahe, sich zu 
überlegen, wie denn das möglich ist, und ich möchte, um zur Bache 
ganz kurz mich zu fassen, anf die Versuche von Thure Brandt hin- 
weisen, die wir bei dieser Gelegenheit nicht übergehen können, der 
durch passive und active Bewegung der Beckenmusculatur ganz ähnliche 
Beobachtungen gemacht hat, wie wir sie Gelegenheit gehabt haben, bei 
unseren Kranken zu machen. 

Nun, das Wesen der Sache beruht darin, glaube ich, dass durch 
die starke Inanspruchnahme der Oberschenkel- nnd Beckenmusculatur 
beim Radfahren durch die nothwendige stärkere Blutzufuhr zu den 
arbeitenden Muskeln eine Entlastung der inneren Organe Btattflndet. Ich 
kann mir wenigstens das nicht anders erklären, will aber dabei natür¬ 
lich nur eine Ansicht ausgesprochen haben. Wenn es sich aber um 
eine Verlagerung der Genitalien handelt, besonders der Ovarien — dazu 
rechne ich auch den ganz einfachen Ovarialprolaps — so ist den 
Patienten das Radfahren ganz ausserordentlich schlecht bekommen. Zu 
den gewöhnlichen Erscheinungen haben sich wiederholt Blutungen ge¬ 
sellt, sowie eine Zunahme der Schmerzen. Prolabirte Ovarien, die ich 
längere Zeit und bei wiederholten Untersuchungen mobil im Becken 
gefunden hatte, fand ich nachher flxirt, und es ist mir zweimal der Fall 
vorgekommen, dass ich nach monatelangen vergeblichen Versuchen, der 
Beschwerden und Schmerzen Herr zu werden, dann diese collabirten 
und flxirten Ovarien, die direkt im Douglas lagen, durch Eröffnung des 
Douglas entfernen musste. Die Erscheinungen sind darauf ver¬ 
schwanden. 

Eine andere lästige Plage unserer kranken Frauen ist ja, wie Sie 
wissen, die Obstipation. Ich weiss wiederum nicht, wie es zu erklären 
ist, dass schon nach wenigen Wochen, nachdem die Uebung doch, wie 
das bei Anfängern in der Regel der Fall zu sein pflegt, in ganz 
schwachen Grenzen begonnen war, dennoch die Obstipation sich gehoben 
und ganz regelmässige Verdauung sich eingestellt hat. Bei nervösen 
Kranken, zumal bei solchen, welche durch ihre Nervosität auch einen 
gewissen Grad von psychischer Schwäche schliesslich erworben hatten, 
was ja nicht selten ist, — bei solchen Frauen dürfte auch noch von 
einem anderen Gesichtspunkte aus diese Leibesübung von Vortbeil sein, 
insofern, als sie durch die Nothwendigkeit, ihr Rad vorwärts zu 
bewegen, auf den Weg zu achten, wenn anders sie nicht stürzen wollen, 
mehr an Selbständigkeit und gewisse Energie gewöhnt werden. Ich 
will aber damit auch eben nur eine gelegentliche Beobachtung zum 
Ausdruck bringen. 

Nun, im Ganzen glaube ich, dass wir keine zu grosse Zurückhaltung 
der Empfehlung dieses Sportes zu beobachten haben. Es wird nicht 
gleich Jeder, dem wir das Radfahren anrathen, zum Rennfahrer werden 
oder solche Touren machen, dass er sich dadurch krank macht. Im 
Allgemeinen überwiegt doch der Nutzen ganz bedeutend, und zwar in 
einer Weise, dass wir, glaube ich, kaum in der Lage sind, ihn durch 
andere, weder medicinische noch auch mechanische Mittel in gleicher 
Weise erreichen zu können. 

Hr. O. Rosenthal: Ich möchte ganz kurz einen hierher gehörigen 
interessanten Fall erwähnen. Es ist das derselbe, den ich vor einigen 
Wochen im Verein für innere Medicin vorgestellt habe, und bei welchem 
sich eine Myocarditis syphilitica — es handelte sich nämlich um einen 
Luetiker — im Anschluss an übermässiges Radfahren entwickelt hat. 
Die Krankengeschichte ist kurz folgende: Es handelt sich um einen 
kräftigen, jungen Mann, der körperliche Anstrengungungen, Dienst bei 
der Artillerie, sowie praktische Thätigkeit in der Lehrschmiede ohne 
irgend welche Schädigung des Herzens überstanden hat. Derselbe zog 
sich vor 8 /< Jahren Syphilis zu und machte unter meiner Behandlung 
mehrfache Curen durch. Im August des vorigen Jahres ging er in seine 
Heimath und gab sich eitrigst dem Radfahrsport hin. Er machte mehr¬ 
mals die Woche hindurch sehr anstrengende Touren, unter anderem fuhr 
er an einem Tage über 100 km, von Schweidnitz nach Breslau, inner¬ 
halb 10 Stunden, mit sehr geringfügigen Ruhepausen und nahm auch an 
diesem Tage reichliche Alkoholika zu sich. Kurze Zeit darauf begann 
er über ein Btarkes Oppressionsgefühl und Anfälle von Herzklopfen und 
Athemnoth, die auch des Nachts auftraten, zu klagen. In diesem Zu¬ 
stande kehrte der Patient zurück. Bei der Untersuchung stellte sich 
heraus, dass die Herzaction sehr arrytbmisch und sehr beschleunigt war. 
Zu gleicher Zeit bestand ein zweiter verstärkter Pulmonalarterienton und 


auch der zweite Aortenton war klappend. Die Herzdämpfung schien mir 
ein klein wenig nach rechts vergrössert zu sein; es bestanden also die 
Erscheinungen einer Myocarditis. Während ich den Patienten beob¬ 
achtete, trat noch deutlich ein systolisches Geräusch an der Pulmonalis 
hinzu, das nach tiefen Inspirationen besonders deutlich zu hören war 
und zeitweise war der erste Ton an der Aorta ebenfalls nicht ganz rein. 
Ich hatte den Fall aufgefasst als einen Fall von Myocarditis syphilitica, 
die sich im Anschluss an übermässiges Radfahren entwickelt hatte. 
Diese Beobachtung gehört in das Capitel Reiznng und Syphilis insofern, 
als der Herzmuskel auf die übermässige Anstrengung, während der noch 
bestehenden syphilitischen Infection durch das Auftreten einer speciflschen 
Entzündung geantwortet hat. Eine Erscheinung, die wir fast täglich zu 
beobachten Gelegenheit haben, besteht darin, dass bei Syphilitikern 
Traumen speciflische Erscheinungen hervorrufen können resp. im Stande 
sind, die Natur syphilitischer Exantheme zu verändern. Um Ihnen hier¬ 
für nur einige Beispiele kurz anzuführen, so sehen wir, dass ein Syphili¬ 
tiker, welcher ein Trauma gegen sein Schienbein erleidet unter Um¬ 
ständen eine mehr oder weniger schwere Periostitis der Tibia davon 
tragen kann. Bei syphilitischen Rauchern sehen wir, dass sie Plaques 
im Mnnde bekommen. Der Einfluss von Se- oder Excreten bewirkt, 
dass Papeln zu nässen beginnen oder sich in Ulcerationen umwandeln. 
Kurzum, es mögen diese wenigen Beispiele genügen, um die Thatsache 
zu erhärten, dass die Reizung dazu beiträgt bei Syphilitikern unter Um¬ 
ständen gewisse speciflsche Erscheinungen hervorrufen. Selbstverständ¬ 
lich muss nicht jedes Trauma bei einem Syphilitiker eine speciflsche 
Erscheinung auslösen. 

In diesem Falle, den ich Ihnen soeben angeführt habe, ist der Herz¬ 
muskel dasjenige Organ, welches durch das Trauma welches in über¬ 
mässigen Radfahren bestand, getroffen worden. Die Lehre, die hieraus 
zu ziehen ist, besteht darin, dass Syphilitikern sehr starke körperliche 
Anstrengungen, in specie übermässiges Radfahren zu vermeiden haben. 

Hr. R. Virchow: Ich möchte eine kleine Bemerkung machen. Es 
scheint mir, dass die Frage, welche hier angeschnitten ist, — wie man 
jetzt sagt, — doch etwas umfangreicher und mit genauer Beobachtung 
in die Hand genommen werden müsste. Herr Albu hat mit Recht 
darauf hingewiesen, wie verschieden die Haltung des Trainers ist. Der 
Eine sitzt im rechten Winkel gebogen, der Andere ziemlich gerade. 
Es kann unmöglich gleicbgiltig sein, in welcher Stellung jemand diese 
Aktion betreibt. Wenn man sich nur einigermaassen vergegenwärtigt, 
dass bei einer so stark vorgebeugten Haltung ein erheblicher Druck 
auf die Vena cava inferior ausgeübt wird, dass also starke Rückstauungen 
in den Unterleibsorganen eintreten müssen, die anf die Nieren speciell 
sehr stark einwirken können, so kann man sich wohl vorstellen, dass 
nicht bloss die Arbeit, welche geleistet wird, sondern auch die besondere 
Stellung, in der sie ausgeführt wird, einen erheblichen Einfluss hat. 

Es hat sich unter den Radfahrern allmählich ein recht auffälliger 
Gegensatz entwickelt. Ich erinnere mich sehr lebhaft, wie ich im 
vorigen Jahre, als ich aus Italien kam, wo ich lauter solche rechtwinklig 
gekrümmte Trainers gesehen hatte, die mit grosser Heftigkeit über die 
Wege hinfuhren, — plötzlich, als ich mich der deutschen Grenze näherte, 
mir eine immer grösser werdende Zahl von gerade sitzenden Radfahrern 
entgegenkam, die mir Behr imponirten. Unwillkürlich trat mir der Ge¬ 
danke entgegen, eine solche gerade und stramme Haltung müsste doch 
eine andere Wirkung haben, als wenn man eben fortwährend in einer 
vorgebeugten Stellung sitzt Nun würde es ja ein leichtes sein, da9S die 
Herren Collegen bei ihren Untersuchungen über diesen Gegenstand auch 
feststellten, wie die Leute das Radfahren betreiben, und ich glaube, es 
würde vielleicht von grosser Erheblichkeit sein, wenn für die Zukunft in 
die allgemeine Lehre über das Radfahren auch die Frage mit auf¬ 
genommen würde, wie man sitzen muss. Das darf nicht dem Zufall des 
Einzelnen überlassen werden. 

In Beziehung auf die theoretischen Erörterungen, die an diese 
Untersuchungen angeknüpft werden, schien es mir, als ob heutzutage 
der arteriellen Hyperämie für die Nieren gar nicht mehr eine Be¬ 
deutung beigelegt werde. Unsere jüngeren Collegen sprechen immer 
nur von Stauung und von irgend welchen toxischen Erscheinungen. Aber 
dass es auch eine arterielle Hyperämie giebt, und dass diese so stark 
werden kann, dass dadurch Albuminurie herbeigeführt wird, das scheint 
beinahe ganz vergessen zu sein. Gerade in einem solchen Falle, wo 
Sie eine solche energische Thätigkeit des Herzens finden, läge es doch 
sehr nahe, auch die arterielle Fluxion mit in den Krei9 der Betrach¬ 
tungen zu ziehen. — 

Hr. P. Abraham: Ueber die Haltung des Radfahrers wollte ich nur 
einige Worte auf die Anregung unseres Herrn Vorsitzenden sagen, dass 
bei denjenigen Radlern, die langsam wie wir gewöhnlich, fahren, die 
grade Haltung jedenfalls diejenige ist, die am allermeisten eingenommen 
wird, und die jedenfalls die beste ist. Ob aber bei den Rennfahrern, 
bei denen es hauptsächlich darauf ankommt, mit grosser Schnelligkeit 
die Luft zu durchschneiden, die grade und natürliche Haltung einzuführen 
ist, oder ob es überhaupt möglich ist, dass diese sie einnehmen, darüber, 
glaube ich, kann man sehr zweifelhaft sein; und es wird wohl kaum 
möglich sein, dass sie dieselbe Schnelligkeit erreichen, wenn sie in voll¬ 
kommen grader Haltung fahren. Ausserdem ist auch das 8ystem des 
Rades dabei von einiger Wichtigkeit. 

Ich wollte dann noch hinzufügen, dass doch eine Dosirung des Rad¬ 
fahrens nötbig ist. Die Vergleichung der Taschenuhr und des Kilometer¬ 
messers zusammen ermöglichen eine ganz gute Dosirung des Radfahrens. 


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212 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. No. 10. 


Hr. Albu (Schlusswort): Ich freue mich, dass Herr Geheimrath 
Virchow gerade den springenden Punkt in den Fragen, wann der Rad¬ 
sport schädlich wirkt, hier hervorgehoben hat. In der That ist das¬ 
jenige, was Einem Bofort in die Augen fällt, wenn man auf die Renn¬ 
bahn kommt, die senkrechte Abknickung des Oberkörpers, und darin 
liegt zweifellos eine der hauptsächlichsten Ursachen der Schädlichkeit 
dieser Art des Sports. Aber darauf möchte ich doch nachträglich hin- 
weisen — das habe ich in hundertfacher Erfahrung kennen gelernt —, 
dass nicht nur der Rennfahrer, sondern Jeder, wenn er über sein ge¬ 
wohntes Maass das Tempo seiner Fahrt beschleunigt, gezwungen ist, 
den Oberkörper zu beugen. Geschieht das auch nicht gerade bis zum 
rechten Winkel, so geschieht es doch in so beträchtlichem Grade, dass 
Störungen der Blutcirculation leicht eiutreten können. 

Im Uebrigen kam es mir nur darauf an, darauf hinzuweisen, dass 
eben dieser Sport ohne jedes Maasshalten nicht geübt werden darf, dass 
er Gefahren haben kann; und ich kann aus der Praxis berichten, dass 
er solche gelegentlich auch bei nicht trainirten Fahrern nach sich zieht. 
Bei keinem Sport kommen so leicht und so häufig Uebertreibungen vor, 
wie beim Radfahren. Wenn — das möchte ich Herrn Mackenrodt 
gegenüber betonen — das Eiweiss nach der Fahrt verschwindet, so ist 
das kein Beweis, dass die Nieren intact geblieben sind. Wir wissen 
z. It., dass die Nephritis nach Scharlach oft nach Jahren erst zum mani¬ 
festen Ausbruch kommt. Ich muss deshalb an meiner Ansicht festhallen, 
dass sich sehr oft wiederholende Eiweissausscheidung für die Nieren 
eine Gefahr bedingt. 

Nach der Tagesordnung. 

Hr. Abel: Ich erlaube mir hier ein Präparat zu demonstriren, 
welches man nicht gerade sehr häufig zu sehen Gelegenheit hat. Es 
handelt sich um eine Elephantiasis an den äusseren Genitalien, höchst¬ 
wahrscheinlich von der Clitoris ausgehend. Ich sage höchstwahrschein¬ 
lich, weil man mit absoluter Sicherheit dies nicht sagen kounte. Denn 
die ganze übrige Vulva war total von Carcinom zerfressen, welches einen 
Theil der Scheidenwand stark infiltrirt hatte. Ausserdem bestand eine 
Mastdarmscheidenfistel. An eine radicale Operation dieses Carcinoms 
war natürlich nicht zu denken, und ich habe auch die Elephantiasis nnr 
entfernt, weil sie die Frau, welche dieselbe angeblich schon 12 Jahre 
mit sich herumträgt, bei ihrer Arbeit — sie ist immer noch arbeitsfähig, 
ist jetzt 62 Jahre alt — behindert hat. Dieser Tumor, den ich hier 
zeige, ist so, dass er die Frau beim Gehen, beim Liegen etc. genirt hat, 
uud darum bat sie darum, dass derselbe entfernt wird. 


Gesellschaft der Charite-Aerzte. 

Sitzung vom 12. November 1890. 

Vorsitzendet: Herr Schaper, später Herr Senator. 

Vor der Tagesordnung. 

nr. Heubner: M. H., ich wollte mir die Erlaubniss erbitten, vor 
der Tagesordnung Ihnen eine kleine Kranke aus meiner Privatpraxis vor¬ 
stellen zn dürfen, welche an sich ein interessantes Krankheitsbild dar- 
bictet, wegen deren ich mir aber auch bei den Herren chirurgischen 
Collegen einen Rath holen möchte. Es handelt sich um ein, wie Sie 
sehen, ganz munteres kleines Mädchen, dem Sie nicht die AfTectio gravis 
ansehen, die Sie gleich an demselben wahrnehraen werden. Das Kind 
ist erkrankt an einer Nierenblutung im Mai 1890. Das war das erste 
Symptom einer Erkrankung gewesen, welches übrigens nicht lange 
dauerte, wenige Tage, und welches auf einen Fall zurückgeführt wurde, 
den das Kind mit dem Kopf vornüber auf den Leib gethan hatte. Die 
Eltern gingen danach mit dem Kind aufs Land hier in der Nähe von 
Berlin. Hier fiel die Kleine wieder aus einer Hängematte nicht, sehr 
hoch auf die Erde. Dieses Mal, im Juli, klagte sie eine Zeit lang nach 
dem Fall über recht erhebliche Schmerzen im Leibe und bekam zum 
zweiten Male eine Blutung aus den narnorganen und dieses Mal auch 
Fieber, das sich ungefähr über 14 Tage erstreckte. Die Temperatur 
war von der Mutter gemessen, es handelte sich um mässige Febricitationen. 
Als ich das Kind am 9. Juli zum ersten Male sah, war ich über die 
Diagnose noch nicht vollständig im Klaren. Es war eine ziemlich er¬ 
hebliche Schmerzhaftigkeit des Leibes vorhanden und eine so starke 
Spannung, dass es schwierig war, eine genaue Palpation auszuführen, 
so dass ich eigentlich vermuthete, es könne sich um eine peritonitische 
Affection handeln, verbunden vielleicht mit einer Hydronephrose, viel¬ 
leicht im Anschluss an eine solche oder dergleichen. Soviel war zu 
constatiren, dass eine erhebliche Anschwellung in der linken Seite des 
Leibes vorhanden war, und von dieser Anschwellung ging eine Art Strang 
aus, hinüber nach dem Nabel zu. Ich Hess die Kleine Bettruhe halten, 
sie wurde mit kleinen Dosen Opium behandelt, unter diesem mehr 
exspectativen Verfahren verloren sich Fieber und subjective Beschwerden 
ziemlich rasch. Als sie. im August, alBO wieder einen Monat später zu 
mir kam, war wieder eine Blutung eingetreten, aber sonst war im Grossen 
und Ganzen das Befinden recht leidlich gewesen. Auch diese dritte 
Attacke ging vorbei, ohne lange Beschwerden zu hinterlaBsen, und da¬ 
nach hat sich die kleine Patientin im August, September, October, diese 
ganzen drei Monate, ausgezeichnet befunden. Sie ist herumgesprungen, 
hat guten Appetit gehabt und gar keine Erscheinungen eines schwereren 
Leidens gezeigt,* bis sie jetzt, und diesmal ohne Trauma, am 4. No¬ 


vember, vor ungefähr 8 Tagen, wieder eine Blutung bekam, die ich nun 
selbst constatiren konnte. Ich hatte den Urin einmal im Intervall unter¬ 
sucht und vollkommen normal gefunden. Er hatte damals eine Tagesmenge 
von 1200 ccm, normales specifisches Gewicht, das Sediment bestand 
in nichts weiter als der gewöhnlichen Schleimwolke, keine Spor von 
Eiweiss, keine Spur von Blut, von Blutfarbstoff u. s. w. Der bei der 
4. Blutung gelassene Urin bot die Erscheinungen einer reinen Blutung 
dar. Es war keine Spur von sonstigen Nierenbestandtbeilen drin, weder 
irgend welche erhebliche Mengen von Epithelien, noch mehr Leuko- 
cyten, als an sich dem Blutgehalt entsprochen hätte, noch Cylinder, 
noch irgend etwas Anderes. 

Sie werden nun gleich bemerken, dass bei unserer kleinen Patientin 
eine ganz bedeutende Anomalie im Leibe vorhanden ist. Sie bemerken 
an dem jetzt entkleideten und horizontal gelagerten Kinde, dass eine 
ziemlich erhebliche Auftreibung des Leibes vorhanden ist. Dieselbe war, 
wie Sie gehört haben, schon im Anfang vorhanden und ist seit meiner 
ersten Untersuchung gewachsen. Der Umfang des Leibes hat sich um 
4—5 cm in allen Höhen vergrössert. Dabei ist aber bemerkenswert!!, 
dass die obere Circumferenz im Epigastrium nicht so stark gewachsen 
ist, wie die mittlere und untere, so dass daraus wohl zu schliessen ist, 
dass keine gleichmässige Vergrösserung des Leibes eingetreten ist, 
sondern eine partielle. 

Ich glaube jetzt fast nicht mehr zweifelhaft sein zn dürfen, worum 
es sich handelt. Es ist durch den Nachlass der anfänglich vorhandenen 
allgemeinen Spannung viel deutlicher geworden, dass es sich um eine 
Geschwulst handelt. Sie tritt in der Ausdehnung, die ich jetzt um¬ 
zeichnet habe, unter dem linken Thoraxrande bis fast zum Nabel vor 
und geht hier in eine Art Strang oder knollenartiges Gebilde über. 
Dieser Fortsatz machte mich Anfangs ein wenig irre und binderte mich, 
gleich von vornherein einen Tumor der Niere anzunehmen. In der Um¬ 
gebung dieses Fortsatzes des grossen Tumors nach unten und oben ist 
tympanitischer 8chall. Wenn man aber an diese Stelle, wo tympaniti- 
schcr Schall sich findet, zufühlt, so fühlt man diesen Strang, der an der 
Bauchwand anliegt, in continuirlichem Zusammenhang mit dem grossen 
Tumor nach links stehen, fühlt aber ausserdem, dass dieser Strang nach 
der Tiefe zu in weitere Tumorgruppen übergeht, die von Darmschlingen 
bedeckt sind. Er ist also theils intra-, theils retroperitoneal. Die Unter¬ 
suchung mittelst Darmaufblähung konnte ich in der Sprechstunde bei 
dem ängstlichen Kinde nicht wohl anstellen. Trotzdem glaube ich aber 
nach der jetzigen Untersuchung, dass es sich doch um einen Tumor ‘der 
Niere handelt. Wenn man die Untersuchung nach hinten fortsetzt, so 
überzeugt man sich, dass die Dämpfung uno continuo bis an die Wirbel¬ 
säule reicht, und dass in der Nierengegend eine starke und ausgebreitete 
Dämpfung sich findet. Betrachten 8ie nun die Gesammtmasse des 
Tumors, soweit sie zugänglich, so überzeugen Sie sich, dass auch die 
Gestalt des Tumors einer vergrösserten Niere entspricht. Also ich 
glaube, es ist kaum ein Zweifel. Ich bin aber sehr bereit, wenn die 
Herren Collegen ihre Meinung auch äussern wollen über diesen Fall, 
mich belehren zu lassen. Der Verlanf, namentlich die grosse Euphorie 
zwischen den Blutungen könnte vielleicht dagegen angeführt werden, 
eine so grosse Geschwulst, die man doch dann als maligne ansprechen 
müsste, auf die Niere beziehen zu dürfen. Aber unerhört ist das doch 
wohl nicht, und wie sollte man die Blutungen auf andere Weise er¬ 
klären. 

Das Besondere in dem Falle ist also einmal die eigenthiimliche Con- 
figuration und zweitens die völlige Euphorie angesichts des gewaltigen 
Umfanges, den der Tumor angenommen hat. Im Anschluss daran möchte 
ich die Frage an die Herren richten, ob Sie der Meinung sind, dass sich 
vielleicht mit einem operativen Eingriff noch etwas leisten lässt. Das 
ist die Sache, um die es sich hauptsächlich handelt. Natürlich, es ist 
bis jetzt immer schwer gewesen, überhaupt daran zu rühren, weil das 
subjective Befinden so gut ist. Nichtsdestoweniger aber ist doch ein 
gewisses Wachsthum des Tumors eingetreten. 

Hr. Senator: Ich bin auch der Meinung, obgleich alle dia¬ 
gnostischen Hülfsmittel noch nicht erschöpft sind, dass es sich um einen 
Nierentumor handelt, und zwar, glaube ich, kann man, da hier nur noch 
die angeborene Cystenniere in Betracht kommen könnte, diese aber fast 
immer doppelseitig ist, ein Sarkom der Niere mit grosser Wahrschein¬ 
lichkeit annehmen, nicht blos wegen der Conflguration der Geschwulst 
und der Hämaturie, sondern weil diese Geschwulst der Niere bekannt¬ 
lich im Kindesalter am häufigsten auftritt. Ich würde zu einer Probe- 
incision rathen, die ja jetzt ganz ungefährlich ist, und die kann Ja dann 
nicht blos über die Diagnose entscheiden, sondern eventuell auch noch 
für einen therapeutischen Eingriff benutzt werden. In dem Falle müsste 
natürlich erst noch festgestellt werden, dass die andere Niere normal 
functionirt. Das ist ja wahrscheinlich, da in der Zwischenzeit der Urin 
keine Abnormität zeigt. Aber es müsste doch noch cystoskopisch und 
ureteroskopisch ganz sicher festgestellt werden. 

Hr. Heubner: Ich habe einmal bei einem Erwachsenen einen 
Tumor, der etwa im Vcrhältniss die Hälfte der Grösse des vorliegenden 
hatte, operiren lassen. Die Operation verlief damals, wo allerdings die 
Technik noch nicht so entwickelt war, wie heute, nicht glücklich. Aber 
andererseits finde ich in der Literatur eine ganze Reihe von glücklich 
operirten grossen Sarkomen bei Kindern. Es wäre mir interessant, zu 
hören, ob Sie in diesem Falle die Operation für rathsam halten. An 
Cystenniere habe ich auch gedacht; aber ich glaube, dagegen spricht 
das constante progressive Wachsthum des Leibesumfanges. 

Vorsitzender Hr. Schaper: Meine Herren, wir haben aeit unserer 


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8. März 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


213 


letzten Versammlung das Unglück gehabt, unser ältestes Mitglied, den 
früheren Director der Klinik für Geschlechts- nnd Hautkrankheiten, Geh. 
Medicinalrath nnd Professor Dr. Georg Lewin durch einen jähen Tod 
za verlieren. Noch vor 14 Tagen hat er unter uns geweilt und sich in 
der ihm eigenen heiteren Weise an unseren Verhandlungen betheiligt, 
and nichts schien darauf zu deuten, dass wir ihn so schnell verlieren 
würden. Um so schmerzlicher sind wir berührt worden, als sich wenige 
Tage nach unserer letzten Sitzung die Nachricht von seinem plötzlichen 
Tode verbreitete. Unsere Trauer um den Verlust wird ja gewiss da- 
durch gemildert, dass wir ihn in der That nur glücklich preisen können, 
dass er nach einem so langen, arbeitsvollen, aber auch von Erfolgen 
reich gekrönten Leben, in welchem er fast Alles, was er erstrebt und 
erhofft hatte, erreicht hat, wieder aus neuen Untersuchungen, Forschungen 
und Arbeiten ahnungslos und schmerzlos abberufen wurde. 

Welche Bedeutung seine Arbeiten für die Wissenschaft haben, da9 
werden wir sogleich aus berufenerem Munde vernehmen. Mir kommt 
es aber zu, besonders hervorzuheben, dass wir den Heimgegangenen 
immer in dankbarer Erinnerung behalten werden; denn er war eines 
nnserer eifrigsten Mitglieder, welches keine Sitzung versäumte, ohne 
durch dringende Gründe dazu genüthigt zu sein. 

Ich habe mir die Ehre gegeben, im Namen der Gesellschaft bei 
der Begrftbnissfeier einen Kranz zu überreichen, und dafür, sowie für 
die zahlreichen Beweise von Tbeilnahme haben die Wittwe des Ver¬ 
storbenen, Frau Geheimrath Lewin, und der Sohn mich gebeten, der 
Gesellschaft ihren warm empfundenen Dank auszusprechen, was ich 
hiermit thun will. Um auch äusserlich dem ehrenden Andenken, welches 
wir dem Heimgegangenen bewahren werden, Ausdruck zu geben, bitte 
ich die Versammelten, sich von ihren Plätzen zu erheben. (Geschieht.) 

Hr. Lesser: Zum Gedächtniss Georg Lewin's. (Siebe diese 
Wochenschrift 1896, No. 46.) 

Hr. Bussenius: Demonstration von Präparaten. 

M. H.! Ich erlaube mir, Ihnen zwei Präparate vorzulegen, die einiges 
Interesse beanspruchen dürften. Das erste dieser Präparate Btammt von 
einer am 1. November dieses Jahres auf der III. medicinischen Klinik 
verstorbenen 48jäbrigen Arbeiterfrau. Der sehr langen Vorgeschichte 
entnehme ich nur das hier Interessirende: 

Hereditäre Belastung liegt nicht vor. — Als Kind stets gesund und 
kräftig. 1878 verheirathet. Der Ehe entstammt ein gesundes Kind. 
1882 will sie vom Ehemann mit Lues inficirt sein. Darnach ein Abort. 
Ihre letzte Krankheit, der sie erlag, begann 1889, also vor 7 Jahren, 
mit eigenthümlichen brennenden, stechenden Schmerzen in der Brust. 
Beim Hasten nähme* die Schmerzen zu. Seit 1889 ist sie mit kurzen 
Pausen Gast der verschiedenen Berliner Krankenhäuser. Im Mai 1896 
wurde sie auf die III. raedicinische Klinik aufgenommen. Die Klagen 
bestehen in Schmerzen in Bru9t und Rücken, Husten, Heiserkeit, Be- 
klemmungsgefühl, das sich gelegentlich zu Angstanfällen steigert. 

Wir fanden, eine leidlich kräftige Frau, multiple Lymphdrttsen- 
schwellungen. Mehrere kleinere st/ahlige Narben an der Stirn und in 
der Rachenhöhle. Kehlkopf zeigt das vollendete Bild der linksseitigen 
Recurrenslähmung. Manubrium sterni mit den Knorpel ansätzen der beiden 
zweiten Rippen war vorgewölbt. Lebhafte Pulsation des II. rechten 
Intercostalraums. Dagegen fühlt der ins Jugulum gelegte Finger keine 
deutliche Pulsation. 

Der vorgewölbte Theil ergiebt bei der Beklopfang Dämpfung. Man 
hört hier wie über der Aorta einen unreinen 1. Ton und ein diastolisches 
Geräusch. — Ebenso über der Herzspitze. Spitzenstoss etwas nach links 
aussen und unten gerückt. 

Die Lungen zeigen bei normalem Klopfschall katarrhalische Ge¬ 
räusche. An beiden Art. radialis war der Pals gleichzeitig. — Puls¬ 
welle sehr niedrig. 

Die Behandlung bestand in absoluter Bettruhe, Darreichung von 
Jodkali, dauernder Lagerung einer Eisblase auf das Maubrium sterni. 

Ueber den Krankheitsverlauf ist nicht viel zu sagen. Bis auf 
Bruststiche und gelegentlich in beide Arme ausstrahlende Schmerzen 
ging es der Patientin erträglich. Bei Bettruhe schwand das Beklem- 
mungsgefühl. Appetit war stets gut Dar Körpergewicht erhöhte sich 
von 92 Pfund bei der Aufnahme auf 105 Pfund wenige Tage vor dem 
Tode. 

Am 1. November war sie den ganzen Tag über in zufriedener Stim¬ 
mung — ass mit Appetit. — Abends 9 Uhr ruft sie plötzlich: „Schnell! 
Eis!" Ein breiter Blutstrom stürzt aus ihrem Mund. Wenige Minuten 
später tritt der Exitus ein. 

Das der Leiche von Herrn Jürgens entnommene Präparat sehen 
Sie hier: Von der Vorderwand des aufsteigenden Bogens der Aorta geht 
ein über hübnereigrosser 8ack nach vorn ab. Seine Vorderwand wird 
durch das theilweise schon usurirte Sternum gebildet. Der Arcus aortae 
selbst ist in toto beträchtlich diladrt. Da, wo die absteigende Aorta 
beginnt, geht von der Gefässhinterwand ein etwas kleinerer aneurysma- 
tischer Sack ab, der mit dem Gefäss nur durch eine etwa kleinfinger- 
dicke Oeffnung communicirt. Dieser letztere Sack hat die vordere 
Oesophaguswand gedrückt und etwas eingestülpt. Diese Druckstelle, die 
natürlich durch das Schlucken fester Speisen steter Reizung ausgesetzt 
war, ist geborsten und durch die breite Oeffnung fast augenblickliche 
Verblutung erfolgt. 

Das zweite Präparat entstammt einer noch jetzt lebenden Patientin. 
Es stellt eine 22 cm lange häutige Röhre von grauer Farbe mit einzelnen 
schwarzrothen Flecken dar, an deren unterem Ende man deutlich die 
Erweiterung zum Magenmund sehen kann. Das häutige Gebilde wurde 


von einer Kranken am 10. Tage nach einer Vergiftung mit Seifenlauge 
herausgewürgt. Es stellt die verätzte Oesophagusschleimhaut dar. (Da 
der Krankheitsfall noch nicht abgelaufen ist, soll der Vortrag über dieses 
bei einer Laugenvergiftung überaus merkwürdige Präparat seiner Zeit 
in extenso veröffentlicht werden.) 

Hr. Senator: Ich habe mich auch in der Literatur umgesehen und 
habe wohl Fälle von sogenannter Oesophagitis crouposa gefunden, aber 
keine, wo nach einer Laugenvergiftung, also nach einer Oesophagitis 
corrosiva, eine solche Membran, die einen Abguss von vielleicht der 
Hälfte des Oesophagus darstellt, ausgeworfen wurde, und mit der ge¬ 
wöhnlichen Vorstellung, von der ja Herr Stabsarzt Bussenius schon 
gesprochen hat, wonach bei Vergiftungen mit Kalilauge die Gewebe in 
eine schmierige Masse verwandelt worden, ist die Abstossung einer so 
derben, dicken Membran schwer zu verstehen. 

Hr. Haber (ausserhalb der Tagesordnung): Ueber einen Fall von 
tropischer Hämaturie, bedingt dareh Dlstomum haematobium. 

Meine Herren, gestatten Sie mir, einen Patienten vorzustellen mit 
einer Krankheit, die sich einerseits anschliesst an den Fall von Häma¬ 
turie bei Nierensarkom, den Herr Geheimrath Heubner soeben be¬ 
sprochen hat, andererseits an die Demonstration, die Herr Pfeiffer in 
der Sitzung dieser Gesellschaft am 18. Juni er. gemacht hat. In dieser 
wie in meinem Fall handelt es sich um den Befund von seltenen Para¬ 
siten bei unseren fremden Gästen aus der Berliner Gewerbeausstellung. 
Während aber damals zahlreiche, anscheinend relativ harmlose Schma¬ 
rotzer im Darmcanal von Negern aus der Colonialausstellung nachge¬ 
wiesen wurden 1 ), liegt hier eine ernste Erkrankung durch Entozoen in 
den Harnwegen bei einem Araber vor, nämlich tropische Hämaturie, be¬ 
dingt durch Distomum haemotobium Bilharz. 

Der Patient 2 ) ist, wie wir durch die liebenswürdigen Dolmetschdienste 
eines türkischen Collegen wissen, ein 25 jähriger Araber S.H., der aus Djidda 
in der Nähe von Mekka stammt und in der Specialausstellung Kairo en- 
gagirt war. Von dort wurde er am 26. October er. auf die erste medicinische 
Klinik des Herrn Geheirarath von Leyden aufgenommen, da er an Ge¬ 
lenkrheumatismus erkrankt war. Sein rechtes Handgelenk war stark 
geschwollen und schmerzhaft, auch einige Fingergelenke empfindlich, der 
Handrücken ödematös; auch die Halswirbelsänle war bei Bewegungen 
schmerzhaft, speciell der Dornfortsatz des 6. Halswirbels druckempfind¬ 
lich; Temperatur 88,6* C. Ausserdem bestand eine Schwellung des 
Mittelfingers der linken Hand, welche bald als ein Panaritium erkannt 
wurde, nach Incision etwas serösen Eiter entleerte und inzwischen glatt 
geheilt ist. Auch der Gelenkrheumatismus besserte sich in den ersten 
8 Tagen erheblich, ebenso ein gleichzeitig vorhandener Kehlkopf-, 
Luftröhren- und Bronchialkatarrh; Patient war in voller ReconvalescenS, 
als er am 6. November, also am lt. Tage nach seiner Aufnahme, plötz¬ 
lich Blut in seinem Urin bemerkte und dadurch sehr beunruhigt und 
deprimlrt wurde. An seinen äusseren Genitalien (rechtsseitige Hydrocele, 
linksseitiger Kryptorchismus) konnte eine Quelle für die Blutung nicht 
entdeckt werden. Der Blutgebalt war anfangs nur gering, steigerte sich 
aber in den nächsten Tagen so erheblich, dass am 8. und 9. die ganze 
Urinmenge (1400—2300 ccm) aus reinem Blut zu bestehen schien. Darin 
fanden sich lange, zum Theil etwas entfärbte Blutgerinnsel, deren Ent¬ 
leerung durch die Harnröhre dem Patienten hochgradigste Schmerzanfälle 
verursachte; dazu kam ein dauernd sehr quälender Harndrang, der ihm 
den Schlaf raubte, da er alle paar Minuten unter grossen Schmerzen 
einige Blutstropfen auspressen musste. Während dieser Zeit erreichte 
die Körpertemperatur nur einmal 38* C. Nach ein paar Tagen besserte 
sich der ZuBtand, der Blutgehalt des Harns nahm vom 11. an deutlich 
ab, und war am 17. ganz verschwunden, dagegen blieben die Erschei¬ 
nungen eines intensiven KatarrhB der Harnwege (sehr reichliches Eiter¬ 
sediment) bestehen und besserten Bich nur langsam, noch nach 8 Wochen 
zeigte der Urin einen geringen schleimig-eitrigen Bodensatz. Inzwischen 
waren die übrigen Krankheitserscheinungen ganz gehellt, Patient fühlte 
sich wohl und wünschte seine Entlassung. Als ihm davon abgeredet 
wurde, bekam er, was psychologisch vielleicht interessant ist, er, der 
vorher geradezu das Muster eines ruhigen, bescheidenen, für alles rührend 
dankbaren Patienten gewesen war, wahre Wuthanfälle, zog sich nackend 
aus, drohte sich mit einem Messer die Kehle abzuschneiden und das 
Wartepersonal anzugreifen, und musste desshalb plötzlich am 7. XII. 
in noch nicht völlig geheiltem Zustande entlassen werden. 

Was nun die Aetiologie dieser ganz unerwarteten und eigenthüm¬ 
lichen Hämatnrie anlangt, so habe ich gleich mein Augenmerk auf eine 
parasitäre Ursache gelenkt und schon am ersten Tage ihres Bestehens 
im Harasediment ein einziges, aber ganz typisches Ei von Distomum 
haematobium gefunden. In den nächsten Tagen waren diese Eier etwas 
reichlicher, sodass fast ln jedem Sedimentpräparat 1—2 naebgewiesen 
werden konnten, auch in dem eitrigen Bodensatz nach dem Aufhören 
der Hämaturie fanden sie sich noch wiederholt und wurden nur bei den 
letzten Untersuchungen nach etwa 4 Wochen vermisst. Ich halte den 
Befund dieser Parasiten-Eier für interessant genug, nm ihn in den auf¬ 
gestellten Mikroskopen Ihnen zu demonstriren, da, soviel ich weiss, seit 
dem Jahre 1891, wo Nitze in der Berliner medicinischen Gesellschaft 
am 28. Januar Distomum-Eier aus dem Urin eines Missionar-Sohnes ans 


1) Die betreffenden Untersuchungen sind inzwischen durch eine 
Arbeit von Zinn und Jacoby aus der II. medicinischen Klinik er¬ 
weitert worden. (Berl. klin. Wochenschr. 1896, No. 86.) 

2) Die Krankengeschichte ist bei der Correctur bis zur Entlassung 
der Patienten ergänzt worden. 


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214 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 10. 


Afrika demonstrirte, kein ähnlicher Fall hier in Berlin beobachtet ist. 
Auch den Eiern entschlüpfte Embryonen wurden von mir gefunden, und 
zwar in länger aufbewahrtem Urin nur in todtem Zustande, lebend und 
lebhaft sich bewegend nnr dann, wenn das Hamsediment mit reinem 
Wasser ausgewaschen war, und auch dann nur für wenige Stunden. 
Genau localisirt werden konnte der Sit* der Parasiten in den Harn¬ 
wegen unseres Patienten nicht, da ganz typische Bestandteile in dem 
Eitersediment (s. B. Cylinder aus den Nieren) fehlten, doch glaube ich 
aus dem Befund bestimmter Epithelzellen schliessen zu dürfen, dass 
Nierenbecken und Ureter vorwiegend betheiligt waren. 

Das Distomum haematobium wurde bekanntlich im Jahre 1851 
von Bilharz in Aegypten entdeckt, seine Verbreitung als Parasit beim 
Menschen ist in Nord- wie auch in Südafrika eine grosse; schon in dem 
nämlichen Jahre fand es Griesinger bei 863 Sectionen in 32,2 pCt. 
der Fälle, auch Virchow konnte sich von der Häufigkeit des Vor¬ 
kommens an den Professoren und Studirenden der medicinlschen Schule 
in Kairo überzeugen. 

Distomum haematobium gehört zur Klasse der Saugwürmer (Trema- 
toden) und ist im Gegensatz zu den meisten dieser Ordnung, welche 
fast immer Zwitter sind, wie z. B. der Leberegel, getrennten Geschlechtes; 
Männchen und Weibchen leben stets paarweise vereint, indem das erstere, 
welches breiter und kürzer (12—14 mm lang) ist, das letztere (16—18 mm 
lang) zwischen seinen rinnenförmig umgeschlagenen Seitenrändern in 
einem sogenannten Canalis gynaecophorus beherbergt. Die Eier sind 
sehr charakteristisch, 0,12 mm lang, länglich oval, mit einem endstän¬ 
digen und einem seitlichen Sporn (letzterer wird, wie auch in dem vor¬ 
liegenden Falle, bei den im Urin gefundenen Eiern oft vermisst). Die 
Entwickelungsge8chicbte des Thieres in den verschiedenen Stadien ist, 
wie für die meisten Arten der Gattung, noch nicht festgestellt; von 
Sonsino werden Krustaceen, theils auch Insecten, als die Zwischen- 
wirthe angesehen. Die Infection des Menschen geschieht mit grösster 
Wahrscheinlichkeit vom Darmcanal aus, namentlich durch Genuss ver¬ 
schmutzten Nilwassers. Von hier gelangen die Würmer in das Venen¬ 
gebiet, namentlich der Pfortader, Mesenterial- und Milzvenen und vor 
allem in die Schleimhautvenen von Mastdarm, Blase, Ureter und Nieren¬ 
becken. Letztere werden dann ganz vollgepfropft gefunden von den 
Würmern und ihren Eiern. Dadurch entstehen dann Blutungen, Ent¬ 
zündungen, Geschwürsbildungen oder auch polypöse Wucherungen bis zu 
Fingerlänge (Virchow). Letztere werden oft von Harnsäure völlig 
inkrustirt und können zu Steinbildung in der Blase oder Stenosirungen 
des Ureters durch sandige Platten aus Harngries mit massenhaften 
DiBtomum-Eiern im Innern führen. — Die Krankheit kann durch 
secundäre Pyelitis und Nephritis, andererseits nach oft wiederholten 
Blutungen durch Anämie und Marasmus zum Tode führen; in der grossen 
Mehrzahl der Fälle aber wird sie viele Jahre lang ohne dauernde 
schwere Gesundheitsstörung ertragen. 

So war es bisher auch in diesem Falle: Wie wir durch den türki¬ 
schen Arzt, der sich mit dem Patient verständigen kann, erfahren haben, 
hat Patient schon vor etwa 4 Jahren in seiner Heimath an Hämaturie 
gelitten; seither aber war er vollkommen gesund und ist erst jetzt 
wieder erkrankt. Also 4 Jahre lang muss er di) Parasiten Bymptomlos 
beherbergt haben. Als Ursache des erneuten Auftretens der Hämaturie 
sieht er selbst fortgesetzte Erkältungen an. Sie besinnen sich vielleicht, 
meine Herren, in der Specialausstellung Kairo einen baumlangen Neger 
gesehen zu haben, welcher nur mit einem grossen Lendenschurz bekleidet 
war, durch eine Art von Bauchtanz die daran befestigten Klappern 
in Bewegung setzte und dabei selbst herumtanzte. Das ist unser 
Patient (er ist 1,92 m gross!). Er beklagt sich nun darüber, dass er 
trotz der regnerischen Witterung während des ganzen letzten Sommers 
vom Director gezwungen wurde, seine Vorführungen stets mit nackten 
Füssen zu machen und führt darauf Bein Leiden zurück. Aerztlicherseits 
erscheint mir ein derartiger Zusammenhang wohl annehmbar, indem 
durch die dauernde Einwirkung der kalten Nässe auf seine nackten 
FüsBe ein Blasenkatarrh und dadurch wieder eine Reizung seiner bis 
dahin latenten Distomum-Parasiten erzeugt wurde. — 

Ueber die Therapie des Leidens sind die Angaben in der Literatur 
spärlich. In dem neuesten Handbuch über Nierenkrankheiten von 
Senator wird von der Verordnung von Anthelminticis ein Erfolg nicht 
erwartet; auch wir haben hier von deren Anwendung abgesehen, viel¬ 
mehr den Hauptwerth auf die Allgemeinbehandlung, Bettruhe, Diät, 
warme Bäder etc. gelegt; innerlich hat Patient Sterisol und, als davon 
ein deutlicher Nutzen nicht bemerkt wurde, später Salol erhalten. Wie 
schon erwähnt, war er bei seiner Entlassung fast ganz geheilt. 

Hr. 8enator: Ich möchte mir zunächst die Frage erlauben: wie 
das Sterisol angewandt worden ist, innerlich oder als Einspritzung? 
(Herr Huber: Innerlich.) 

Ich habe in meinem Buch über Nierenkrankheiten den Gebrauch 
von Arthelminticis bei dieser Form von Hämaturie als anscheinend 
nutzlos bezeichnet, da ich eigene Erfahrungen darüber nicht habe. Dabei 
habe ich eigentlich nur an den innerlichen Gebrauch gedacht, der ja für 
die Krankheiten der Nieren besonders in Betracht kommt. Wenn da¬ 
gegen die Distomen vorzugsweise in den Harn wegen ihren Sitz haben, 
wie hier, so könnte man doch vielleicht daran denken, ob nicht durch 
Einspritzungen in die Blase und, was Jetzt ja auch geübt wird, in die 
Ureteren bis zum Becken hinauf ein Erfolg zu erzielen wäre. 

Hr. Huber: Von einer localen Behandlung der Hamwege wurde in 
dem vorgestellten Fall deshalb Abstand genommen, weil der Sitz der 
Affection bei dem Mangel jeder Druckempfindlichkeit etc. nicht mit 


Sicherheit bestimmt werden konnte und die mikroskopische Untersuchung 
des 8ediments es nur wahrscheinlich machte, dass die Quelle der Blutung, 
der Sitz der Parasiten, vor allem in den Harnleitern und Nierenbecken 
zu suchen war. — Nachtragen möchte ich noch, dass ich Gelegenheit 
hatte, mit mehreren türkischen Aerzten zu sprechen; diese gaben an, 
dass in der Türkei 8 an ton in gegen die Krankheit angewandt wird und 
dass sie selbst verschiedene Fälle erfolgreich damit behandelt haben. 
Hier haben wir es, wie gesagt, nicht mehr gebraucht, weil auch so eine 
fortschreitende Besserung eintrat. 


Berliner Gesellschaft für Psychiatrie and Nervenkrankheiten. 

Sitzung vom 14. December 1896. 

Vorsitzender: Herr Jolly. 

Schriftführer: Herr Bernhardt. 

Als Gäste sind anwesend Dr. Langenbartels und Dr. Bruck 
aus Nanheim. 

Vor der Tagesordnung. 

Hr. Remak stellt einen Fall von typischen Mitbewegungen der 
rechten Oberextremltlt bei Aphasie vor. Eine 64jährige Frau mit 
partieller, wesentlich motorischer Aphasie und Paraphasie und Coordina- 
tionsstörungen der rechten Hand und Lagegefüblsstörungen derselben, 
zeigt besonders beim Sprechen, aber auch bei sonstigen Bewegungen des 
Mundes nnd der Zunge regelmässig als Mitbewegungen automatische 
Gesticulationen, indem zunächst die beiden ersten Finger gestreckt und 
gespreizt werden, dann der Ellenbogen abwechselnd gebeugt und ge¬ 
streckt wird und schliesslich auch Hebe- und fast choreatische Dreh¬ 
bewegungen der rechten 8chulter auftreten. Von besonderem Interesse 
erscheint, dass bei der Innervation des Sprachcentruros die Mitbewe¬ 
gungen in der Reihenfolge auftreten, in welcher die motorischen Centren 
der einzelnen Giiedabschnitte von unten nach aufwärts in der vorderen 
Centralwindung angeordnet sein sollen. 

(Der Vortrag ist im Neurologischen Centralblatt 1897, No. 2, aus¬ 
führlich veröffentlicht.) 

In der Discussion macht Herr Schuster darauf aufmerksam, dass 
Kinder beim Schreiben Bewegungen mit dem Munde machen. 

Auch Herr Koenig hat bei Aphasiscben Bewegungen im rechten 
Arm beobachtet und Schüttelbewegungen im linken Arm. 

Hr. Jolly macht darauf aufmerksam, dass Aehnliches auch bei 
Paralytikern gesehen werde, .überhaupt überall da, wo der Einfluss des 
Grosshirns herabgesetzt sei. 

Hr. P. Schuster demonstrirt eine 23jährige Patientin aus Professor 
Mendel’s Klinik. Es handelt sich um eine Person, deren Mutter 
raehreremals geisteskrank gewesen ist, und welche selbst deutliche, be¬ 
sonders psychische Kennzeichen der Hjsterte bot. Dieselbe war 1891 
wegen eines Empyem der Highmorshöhle operirt und im Jahre 
1894 von Körte wegen Verdacht auf Hirnabscess (Kopfschmerzen, 
Taumelgang, Fieber) trepanirt worden. Der vermuthete Abscess wurde 
damals jedoch nicht gefunden. Der Zustand der Patientin besserte Bich 
Jedoch. Juli 1895 wurde von Bardeleben, der von der Anamnese 
nichts wusste, wegen heftiger Kopfschmerzen, Parese dor linken Körper¬ 
hälfte, Röthung der alten Operationsnarbe wiederum eine Trepanation 
vorgenommen und dabei eine ca. 7 cm lange Stopfnadel im Gehirn ge¬ 
funden. Eiter trat nicht zu Tage. Die Lähmungserscheinungen und die 
übrigen Symptome besserten sich rasch, als man nach Anhören der von 
der Mutter berichteten Anamnese erkannte, dass es sich nm Hysterie 
handelte nnd die Behandlung dementsprechend umgeändert hatte. 

Als Patientin Ende des Monats October in die Klinik des Professor 
Mendel kam, war von der berichteten Vorgeschichte nichts bekannt. 
Aus der Patientin, die einen schwer benommenen Eindruck machte, 
konnte nur eruirt werden, dass sie (das bestätigte die grosse Operations¬ 
narbe auf der rechten Kopfbälfte) mehrmals operirt worden sei; die 
Krankheit ferner, wegen der sie auf die Station des Vortragenden kam, 
habe plötzlich vor einigen Tagen mit Zuckungen in der linken Gesichts¬ 
und Körperseite und mit Verlust der Sprache für diese Zeit begonnen. 
Sie habe stark „geröchelt und geschrieen“. 

Patientin machte einen schwerkranken Eindruck bei der Aufnahme 
und hatte einen Taumelgang wie bei einer Kleinhirnataxie. An den 
Pupillen nnd Angengrund war nichts Abnormes. Der rechte Mundwinkel 
hing herab; die nur träge uud schwach zum Vorschein gebrachte Zungen¬ 
spitze zeigte nach links. Schlucken war fast unmöglich; die Sprache 
klang bulbär. Die Temperaturmessung zeigte Fieber. Das rechte 
Scheitelbein war sehr druckempfindlich und es wurden lebhafte Kopf¬ 
schmerzen geklagt. Schliesslich war der linke Arm und das linke Bein 
paretisch. Im Laufe der ersten Tage wurden mehrere, den beschrie¬ 
benen ähnliche Krampfanfälle beobachtet, ferner Delirien, die besonders 
Nachts auftraten, und grosse Unruhe. Sonst blieb der Zustand wie bei 
der Aufnahme. Es wurde die Diagnose auf eine Herderkrankung event. 
Abscess im Gehirn — Pons und vielleicht auch noch Cortex — gestellt 
Die Diagnose konnte durch die schmerzhafte Trepanationsnarbe nur be¬ 
festigt werden. Nach kurzer Zeit kamen uns aber Zweifel an der Rich¬ 
tigkeit der Diagnose, da die Intensität der Symptome sehr wechselte, 
und da der Puls nie der Höhe des Fiebers entsprechend beschleunigt 
war. Wir Hessen uns in Folge dessen die Acten der Patientin aus der 
Charite kommen und erfuhren nun erst die ganze oben mitgetbeilte Vor- 


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8. März 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


21B 


geschieht«. Wir controlirten die Patientin nun etwas genauer und er¬ 
lebten die Freude, schnell sämmtliche so alarmirende Symptome zurück¬ 
gehen zu sehen. Die Anfälle blieben weg, ebenso die Delirien und das 
Fieber. Einmal war Vortragender in der Lage die kurz vorher von der 
Wärterin auf 38* bestimmte Temperatur unmittelbar darauf in der 
Achselhühle 37° und in der Scheide 37,6° zu finden. 

Das Schlucken und die Sprache stellten sich völlig wieder her und 
Patientin nahm in wenigen Wochen 12 Pfund an Gewicht zu. Jetzt 
zeigte die Patientin nur noch von allen früheren Symptomen eine ge¬ 
ringe Schwäche im linken Arm, eine Abweichung der Zunge nach links 
(Zungencontractur), eine Parese des Gaumens von demselben Charakter 
und eine starke Hypästbesie des Pharynx bei normalem Larynx. Ausser¬ 
dem int die Sensibilität auf der linken Seite herabgesetzt. Vortragender 
zweifelt nicht an der hysterischen Natur der bei der Aufnahme so alar- 
mirend aussehenden Symptome. 

Nach Herrn Remak wäre der hier vorhandene Hemispasmns lingual, 
allein schon für Hysterie beweisend gewesen: nach Herrn Schuster 
aber hat die Patientin anfangs die Zunge überhaupt nicht vorgebracht. 

Hr. Bloch stellt einen 18jährigen Knaben aus Prof. Mendel's 
Poliklinik vor. Vater des Patienten ist an progressiver Paralyse ge¬ 
storben, hat seine Ehefrau kurz nach der Hochzeit syphilitisch infleirt. 
Dieselbe abortirte zunächst zweimal, dann wurde Patient und nach ihm 
noch drei Kinder geboren, alle mit Symptomen hereditärer 8yphilia 
(Pemphigus etc.), die durch Schmiercur zum Schwinden gebracht wurden. 
Geschwister des Patienten zur Zeit gesund. Patient selbst entwickelte 
sich zunächst körperlich und geistig normal; im 9. Lebensjahre fing er 
an schlechter zu lernen und blieb in der Schule zurück, ohne aber direkt 
als schwachsinnig bezeichnet werden zu können. Schon im 5. Lebens¬ 
jahre wurde Erweiterung der linken Pupille constatirt, im 8. Lebens¬ 
jahre trat Incontinentia vesicae auf und zwar bei Tage mindestens so 
häufig, als bei Nacht. Seit dem vorigen Sommer typische epileptische 
Krämpfe; keine Aequivalente. 

Objectiv: Beiderseits Mydriasis, linke Pupille > r.; reflectorische 
Starre bei Lichteinfall, Convergenzreaction erhalten, zeitweise Andeutung 
einer Ptosis links; Augenbewegungen und übrige Hirnnerven frei. Oph¬ 
thalmoskopischer Befund (Prof. Hirschberg) normal. Romberg'sches 
Symptom vorhanden, doch nicht constant. Motilität und Sensibilität der 
Arme intact. An den Unterschenkeln fleckweise Hypalgesie. Links 
Patellarrefiex fehlt, rechts vorhanden. Incontinentia vesicae. Es han¬ 
delt sich also um eine Reibe tabischer Symptome bei einem hereditär 
syphilitischen Kinde, das ausserdem an Epilepsie leidet. Die Möglich¬ 
keit, dasB es sich um eine sich langsam entwickelnde Tabes handelt, ist 
jedenfalls nicht von der Hand zu weisen. 

Discnssion. 

Hr. Oppenheim: Ich freue mich, dass Herr Bloch die Diagnose 
Tabes dorsalis hier wenigstens mit einiger Reserve gestellt hat. Mir 
scheint das durchaus erforderlich zu sein angesichts der Thatsache, dass 
meines Wissens der anatomische Nachweis einer infantilen Tabes noch 
nicht erbracht ist. Der einzige verwerthbare Fall, der von Siemer¬ 
lin g, zeigte bei der Obduction eine ganz diffuse syphilitische Erkran¬ 
kung des Gehirns und Rückenmarks, besonders Gnramositäten etc. 

Ich selbst habe auch in mehreren Fällen bei Kindern tabische 
Symptome conBtatiren können und zwar zweimal bei Kindern, die von 
syphilitischen Eltern stammten. Es handelte sich um Pupillenstarre, 
Westphal'sches Zeichen, einmal, soweit ich mich erinnere, um Seh- 
nervenatropbie. Die Diagnose Tabes wagte ich jedoch nicht zu stellen. 

Ich würde aber meinen Einwand fallen lassen, wenn der Herr Vor¬ 
tragende mir einen Fall nennen könnte, in welchem die Tabes anato¬ 
misch festgestellt ist, oder auch nur einen solchen, in welchem der 
weitere Verlauf, die Progression gezeigt hätte, dass es sich wirklich um 
echte Tabes handelte. 

Nach Herrn Koenig hängen sowohl die Epilepsie wie die anderen 
Symptome von der Lues ab. 

Hr. Mendel behandelt zur Zeit eine 24jährige Frau, welche seit 
ihrem 12. Jahre an Tabes leidet (Lues der Mutter). Der Verlauf war 
typisch: nach der Sehnervenerkranknng haben sich allmählich alle an¬ 
deren Symptome von Tabes hinzugeBellt 

Die Annahme des Herrn Gumpertz, dass man es hier bei der 
Abnahme der Intelligenz und dem Beginn mit Epilepsie und progressiver 
Paralyse zu thun habe, weist Herr Mendel zurück. 

Nach Herrn Jolly handelte es sich wahrscheinlich um eine diffuse 
Erkrankung des Centralnervensystems. 

Nach Herrn Bloch ist in der Literatur ein Fall von Gombault 
und Mailet vorhanden, bei welchem sich eine allerdings nicht ganz 
typische Hinterstrangsklerose vorfand. Progressive Paralyse sei auszu- 
scbliessen: obgleich die ersten Symptome schon vor länger als 8 Jahren 
beobachtet worden waren, habe nie Sprachstörung bestanden. Durch 
die bisherige Behandlung sei die Krankheit im Wesentlichen nicht 
beeinflusst worden. 

Hr. Edel: Demonstration ron Röntgenphotographien bei Akro¬ 
megalie. (Der Vortrag wird ausführlich in dieser Wochenschrift ver¬ 
öffentlicht werden.) 

Discussion. 

Hr. Oppenheim: Da der Herr Vortragende sich nicht auf das 
Thema Akromegalie beschränkt hat, sondern auch auf die Anwendung 
des Röntgen’Bcben Verfahrens zur Durchleuchtung des Kopfes einge¬ 
gangen ist, möchte ich Ihnen über einige einschlägige eigene Erfahrungen 
dieser Art berichten. 


Ich habe mir auch grosse Mühe gegeben, die Röntgen'sehe Ent¬ 
deckung für die Diagnostik der Hirnkrankheiten fruchtbar zu machen. 
Ich hatte mich dabei der Mitarbeiterschaft des leider zu früh verstor¬ 
benen Professor Buka zu erfreuen und möchte Gelegenheit nehmen, 
hervorzuheben, mit welchem Eifer, welcher Freudigkeit und Uneigen- 
ntitzigkeit dieser an den Untersuchungen Theil genommen hat. 

Wir brachten zunächst kleine und grosse Tumoren verschiedener 
Art in den hohlen Schädel, und Sie erkennen an diesen Photographien, 
dass sie bei Anwendung des Röntgen'sehen Verfahrens mit grösster 
Deutlichkeit hervortreten. Dann gingen wir einen Schritt weiter und 
legten in den Hohlschädel ein (gehärtetes) Gehirn, nnd auch das kam 
deutlich zum Vorschein. Endlich gelang es uns auch Tumoren, die wir 
dem Gehirn anlegten und mit ihm in den Schädel brachten, in einer 
gut erkannten Weise auf dem Schirme und in den Photographien her¬ 
vortreten zu lassen (die Photographien werden demonstrirt). 

Obgleich wir nun auch die Methode bei einer grossen Anzahl von 
kranken Individuen, die nach meiner Diagnose an Hirntumor und an¬ 
deren organischen Hirnkrankbeiten litten, versuchten, war das Resultat 
doch ein durchaus negatives. 

Wir wollten gerade dazu übergehen, den Kopf einer Leiche zunächst 
im natürlichen Zustande, dann nach Einführung von Geschwulsttheilen 
zu durchleuchten, als mein Mitarbeiter aus dem Leben schied. 

Wenn unsere Versuche am Lebenden auch noch ganz resultatlos 
geblieben sind, möchte ich mich doch der Hoffnung hingeben, dass bei 
Vervollkommnung der Methodik anch für die Diagnostik der Hira- 
geschwülste aus dieser Entdeckung noch etwas gewonnen wird. 

Hr. Jolly bemerkt, dass sich in einem von ihm untersuchten Fall 
von Splitterfraktur des Schläfenbeines mit den bisher gebräuchlichen 
Apparaten nichts deutlich habe erkennen lassen. 


Wissenschaftlicher Verein der Aerzte zu Stettin. 

Sitzung vom 5. Januar 1897. 

Vorsitzender: Herr Freund. 

Schriftführer: Herr Binner. 

I. Hr. Schuchardt stellt einen 38jährigen Kaufmann mit sym¬ 
metrischen diffusen Lipomen vor. Patient litt vor 4 Jahren 
8 Wochen lang an Influenza. Als er genesen war und seine ge¬ 
wöhnlichen Kleider anzog, fiel ihm auf, dass sie zu eng waren, und 
zwar bemerkte er zuerst an beiden Armen und am Kinn die Fett¬ 
anhäufung; dann wurde das Genick, die Gesässgegend, zuletzt (seit 
1 Jahre) die Beine ergriffen. Vor 8 Jahren hatte Pat. wiederum In¬ 
fluenza, verbunden mit Kopfrose, die zur Abscessbildung am Hinter¬ 
kopfe führte. Diesmal war der Fettansatz von der Erkrankung nicht 
beeinflusst. Seit * , Jahre ist kein Fortschritt der Fettentwickelung mehr 
bemerkt worden. Seit Mai 1896 hat sich ein Nabelbruch gebildet, 
der öfters austrat und zur Aufnahme des Patienten in die chirurgische 
Abtheilung des Krankenhauses und zur RadicalOperation des Bruches 
führte. Ausserdem wurde Thyrojodin (3mal täglich 0,8) verabreicht 
nnd dadurch eine Gewichtsabnahme von 20 Pfund innerhalb 
10 Tagen erzielt. Die Lipome wurden, namentlich an den Armen, 
entschieden etwas kleiner und weicher und die Spannung der Haut 
über denselben, wie Pat. selbst angab, geringer. 

Wie die Figur zeigt, (b. umst.) ist die Fettanhäufung durchaus symme¬ 
trisch und betrifft namentlich in monströser Weise die Oberarme (Pat. muss 
sich besonders angefertigter Kleidungsstücke bedienen), die Oberschenkel 
und das Gesäss, in geringerem Grade den Bauch, den Hals und Brust 
und Rücken. Auch die weniger auffällig erkrankten Körpertheile, z. B. 
die Vorderarme, zeigen eine deutliche Hypertrophie des subcutanen Fettes. 
Von der Polysarcie unterscheidet sich die Krankheit dadurch, dass die 
Fettansamrolung lediglich auf die Subcutis beschränkt ist, während das 
intramusculäre Bindegewebe, das Eingeweidefett (Darm, Nieren, Herz 
u. s. w.) in keiner Weise vermehrt ist. Dass dies auch bei dem vor¬ 
gestellten Patienten wahrscheinlich der Fall ist, lässt sich daraus 
schliessen, dass er trotz der unförmlichen Fettbildung verhältnissmässig 
rüstig und beweglich ist und eigentlich nur durch die Lipome der Ober¬ 
arme einigermaassen genirt wird. Dagegen ist bei ihm seit der Krank¬ 
heit eine gewisse allgemeine Schwäche und Zurückgehen seiner geistigen 
Leistungsfähigkeit eingetreten, die ihn auch veranlasst haben, sein Ge¬ 
schäft aufzugeben. Besondere nervöse Störungen bestehen nicht. Herz- 
thätigkeit normal. Kein Abnsus spirituosorum. 

Gegenüber den als autonome Geschwulstbildungen sich dar¬ 
stellenden Lipomen zeigt sich die Fettanhäufung hier fast überall ohne 
bestimmte Grenze in das normale subcutane Fettgewebe übergehend. 
Jedoch kommen an manchen Stellen auch wirkliche circumscripte 
Lipome vor, z. B. an der BruBt des Patienten 2 hühnereigrosse Ge¬ 
schwülste. 

Vortr. ist geneigt, ähnlich wie Küster und Israel, für die meinten 
Fälle von symmetrischer diffuser Lipombildung nervöse Einflüsse 
verantwortlich zu machen. Er hat mehrere ähnliche Fälle beobachtet, 
in denen es bei schwer hysterischen sowie ganz fettarmen Personen 
zur raschen Entwickelung hochgradiger, oft schmerzhafter symmetri¬ 
scher Lipome gekommen war. Bei einer 31jährigen unverheirateten 
Dame, die durch hysterisches Brechen sehr stark in ihrer Ernährung 
herabgekommen war, entwickelten sich im Laufe von wenigen Monaten 
namentlich am Banche und den Hüften unförmliche Anhäufungen von 


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216 BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. No. 10. 


Fettgewebe, die ihre Figur in hohem Maasse entstellten und sie sogar 
in den Verdacht der Gravidität brachten. Ja sie wurde von anderer 
Seite auf einen abdominellen Tumor in Narkose untersucht. Es handelte 
sich aber um weiter nichts als diffuse Lipombildungen in beiden seit¬ 
lichen und Unterbauchgegenden, sowie in den Giutaeal- und Lenden¬ 
gegenden. In diesem Falle entfernte Vortr. in 2 Sitzungen die mehrere 
Kilo schweren Fettmassen operativ, das BauchYett von einem vom Nabel 
bis zur Symphyse reichenden Medianschnitte, das Lendenfett durch sehr 
lange Längsschnitte zu beiden Seiten der Hüfte. Mit dem kosmetischen 
Resultate war die Kranke ausserordentlich zufrieden. Ein Recldiv ist 
nicht eingetreten. In anderen Fällen, z. B. bei diffuser Lipombildung 
am Nacken, hat Vortr. nach ähnlichen Operationen zuweilen Recidive 
erlebt, die zu nachmaliger Entfernung der subcutanen Fettmassen Ver¬ 
anlassung gaben. Jedoch war das Recidiv dann nicht in der Narbe, 
ähnlich wie ein veritables Geschwulstrecidiv aufgetreten, sondern da, wo 
man bei der ersten Operation mit der Ausräumung des subcutanen Fettes 
Halt gemacht hatte. Es empfiehlt sich deshalb, hierin immer möglichst 
weit zu gehen, znraal erfahrungsgemäss selbst eine sehr weite Unter¬ 
minirung der Haut von einem einzigen grossen Schnitte ans sehr gut 
vertragen wird. 

II. Hr. Bnschan sprach Uber „ Medicinisches aus dem An¬ 
fänge des 18. Jahrhunderts“. Einigen, aus den Jahren 1716—1720 
stammenden, jüngst in der Kirchenbibliothek von St. Jacobi aufgefundenen 
Jahrgängen der „Stettiner ordinären Postzeitung“, von deren Existenz 
man bisher keine Ahnung hatte, entnimmt der Redner eine ganze Reihe 
interessanter medicinisch-culturgeschichtlicher Notizen, die sich auf die 
damaligen — Zeit der Türkenkriege — Gesundheits- und Sterblichkeits- 
Verhältnisse, die Diagnose der Krankheiten und deren Behandlung, die 
sociale Stellung der Aerzte n. a. m. beziehen. Das interessanteste Stück 
ist ein dem Jahrgang 1716 beigegebenes „dienstliches Memorial“, in 
dem der bekannte Dr. Johann Andreas Eysenbarth aus Magde¬ 
burg auf 4 Seiten seine Titel und Wundercuren aufzählt, wobei er auch 
zwei von ihm herausgeschnittene Blasensteine von 12 und 14 Loth in 
flgura wiedergiebt, seinen „balsamischen Haupt-, Augen- und Gedäcbt- 
nisB-Spiritu8“, Bowie seine „Tinctura contra calculum et morbum scor- 
buticum“ stark „recommandiret“ und seine Ankunft in Stettin von Star- 
gardt aus anzeigt. 

III. Hr. Neisser: Einrichtung einer Diphtherie-Unter¬ 
suchungsstation für die Aerzte Stettins. 

Vortr. hat sich überzeugt, dass auch hier ein Bedürfnis der Aerzte 
nach möglichst sicherer bacteriologischer Diphtheriediagnose besteht. 
Auf seinen Antrag haben ihm die städtischen Behörden in dankens¬ 
werter Weise die Einrichtung einer Untersucbungsstation für diesen 
Zweck im städtischen Krankenhause bewilligt. 

Der Betrieb derselben wird genau nach dem Muster des Breslauer 
Kgl. Hygien. Instituts erfolgen. Durch die Güte des Directors desselben, 


Herrn Geh.-Rath Flügge, fand auch Herr Assistenzart Kahnert, der 
die hiesigen Untersuchungen übernehmen wird, Gelegenheit, die Technik 
der Untersuchungen und die Einrichtungen der dortigen Station persön¬ 
lich kennen zu lernen. Ebenfalls von Breslau bezogen wurden die 
kleinen zur Untersuchung nötigen Apparate, deren einen Vortr. demon- 
strirt. In einem starken Glasröhrchen befindet sich, im Korken be¬ 
festigt, ein Metallstäbchen, dessen freies Ende eine feste Watte¬ 
umwicklung trägt. Dieser kleine Apparat ist sterilisirt und steckt in 
einem gut Bchliessenden Holzkästchen. In einem Hanfcouvert einge¬ 
schlossen und mit der Adresse der Station versehen werden solche Appa¬ 
rate in allen hiesigen Apoteken vorrätig Bein und den Aerzten kosten¬ 
los zur Verfügung stehen. Ebenso werden die Apotheken die von den 
Aerzten zur Probeentahme benutzten Röhrchen entgegennehmen, sie 
werden telephonisch die Station vom Eingang eines solchen Röhrchens 
benachrichtigen und dieses wird sodann durch den Boten des Kranken¬ 
hauses abgeholt werden, Auch die Mitteilung des Resultats der Unter¬ 
suchung wird von der Station aus, wo es telephonisch nicht angängig 
ist, durch Boten besorgt werden. 

Ueber die Technik der Untersuchungen in der Station selbst wird 
später ausführlich berichtet werden. Vortr. bemerkt noch, dass die 
Station ausschliesslich für den Verkehr mit den Aerzten bestimmt ist. 
Sie wird am 15. Januar in Tbätigkeit treten. 

Der Vorsitzende spricht dem Redner und dessen Assistenten, Dr. 
Kahnert, vor allem auch dem Herrn Bürgermeister Giesebrecht für 
die eifrige Förderung dieser wichtigen Einrichtung den Dank der Ver¬ 
sammlung aus. 


Physikalisch medlcinlsche Gesellschaft za Würzburg. 

Sitzung vom 28. Januar 1897. 

Hr. BorBt: Fibrinöse Exsudation und fibrinoide De¬ 
generation. 

Nach kurzen einleitenden Bemerkungen über den durch die Arbeiten 
Neumann's in der. Frage der fibrinösen Entzündung hervorge¬ 
rufenen wissenschaftlichen Streit geht der Vortragende auf seine eigenen 
Untersuchungen ein, die sich hauptsächlich auf die fibrinösen und fibri¬ 
nös-eitrigen Entzündungen der serösen Häute beziehen. 

Die Betrachtung einer grossen Reihe von älteren Präparaten bringt 
ihn zu der Ansicht, dass das histologische Bild bei den in Rede stehen¬ 
den Entzündungsprocessen nicht immer das Gleiche ist; bald tritt ein 
aus echten Fibrinfasermassen gebildetes Exsudat an der Oberfläche der 
serösen Häute hervor, wobei erhaltene Endothelien nicht mit Sicherheit 
von ihm erkannt werden konnten und die Grenze gegen das Serosa¬ 
gewebe sehr deutlich und meist scharf ausgeprägt war; bald treten da¬ 
gegen hyaline Bänder und Schollen, parallel gerichtet oder knorrig 
gewunden hervor, während echtes Fibrin eine untergeordnete Rolle 
spielt. Hiebei ist der Uebergang in das unterhalb gelegene Serosage¬ 
webe ein allmählicher und undeutlich begrenzter. Zwischen diesen zwei 
Extremen kommen Uebergangsformen vor. 

Eingehendere Studien konnte Borst an ganz frischen Pleuri¬ 
tiden im Anschluss an Masernpneumonieen anstellen. Makrosko¬ 
pisch war in diesen Fällen weder eine Exsudation in die Pleurahöhle 
noch irgend etwas von Auflagerungen auf derSerosa zu constatiren. Es zeigt 
sich bei der mikroskopischen Untersuchung des mit besonderer Rück¬ 
sicht auf die Erhaltung des Endothelbelages entnommenen Materials neben 
völlig in den Hintergrund tretenden exsudativen, fibrinösen Vorgängen 
eine typische fibrinoide Degeneration der oberflächlichen Bindegewebs- 
schichten der Serosa. Die Endothelien war oberhalb der gequollenen 
Bindegewebsfasern reichlich erhalten und der Uebergang in die Tiefe 
war ein allmählicher, ja es Hess sich die continuirllche Fortsetzung der 
gequollenen hyalinen Bänder in normale Bindegewebsfasern nacliweisen. 
Vortragender macht auf das inconstante Verhalten der durch die „fibri¬ 
noide Degeneration“ des Bindegewebes gelieferten Producte gegenüber 
der Weigert'schen Fibrinfärbung aufmerksam. Eb trat meist keine in- 
tentive Blaufärbung durch die Anilingentianaviolettlösung ein, sondern 
bald eine graublaue, meist aber röthlich-violette Farbe; überhaupt tin- 
girten sich die hyalinen Massen sehr unregelmässig und fleckig im Ge¬ 
gensatz zu den echten Fibrinfasern. 

Vortragender unternahm ferner, um Studien an ganz frischen Ent¬ 
zündungen der serösen Häute machen zu können, eine Reihe von Ex¬ 
perimenten. Zuerst wurden Meerschweichen-Injectionen von Bouilloncul- 
turen von Streptokokken in die Bauchhöhle gemacht und der Zustand 
des Peritoneums nach 20—24 Stunden, innerhalb welcher der Tod ein¬ 
zutreten pflegte, mikroskopisch untersucht. Die umfangreichen „Beläge“ 
der Leber z. B. entwickelten sich in diesen Fällen folgendermassen: 
Mit dem Zugrundegehen des Endothels, in das reichlich Kokken er¬ 
wanderten, bildete sich eine massenhafte Infiltration des Serosagewebes, 
insbesondere der Saftspalten desselben mit Leucocyten ans; diese er¬ 
reichte bald einen so hohen Grad, dass mit einem Homogenwerden der 
oberflächlichen Bindegewebsschicht der Serosa die Ablösung dieser inner¬ 
halb einer ad maximnm inflltrirten und erweiterten Saftspalte erfolgte. 
Derselbe Process wiederholte sich an den tiefer liegenden Bindegewebs- 
schichten; es war dadurch an einzelnen Stellen bereits das Lcberparen- 
chym erreicht und durch eine Art dissecirender Eiterung eine Lockerung 
der Leberzellen angebahnt. So entstanden geschichtete Massen „Auf- 



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8. März 181*7. 


berliner klinische wociiknscii rift. 


217 


lagerangen“, die aber durch Degeneration der Serosa selbst gebildet 
waren. Aach hier keine typische Reaction gegenüber der Weigert’schen 
Fibrinfärbung; es wurde Fibrin überhaupt bei diesem Entzündungsprocess 
nicht gebildet. In einer zweiten Reihe von Experimenten erzeugte 
Vortragender einen milderen Reiz am Peritoneum durch 3 malige Injec- 
tion einer Jodjodkalilösung (1:2:300) in den Peritonealsack von Meer¬ 
schweinchen. Auch hier war eine mikroskopisch typische „fibrinoide“ 
Degeneration der oberflächlichsten Bindegewcbsschichten der Serosa nach- 
zaweisen. Das atypische Verhalten zur Weigert’schen Färbung trat 
auch diesmal wieder hervor, bei positiver Pikrocarminreaction, wie in 
den bereits geschilderten Fällen. 

Vortragender glaubt auf Grund seiner Befunde die Ansicht ausspre¬ 
chen zu dürfen, dass es thatsächlich fibrinöse Entzündungen der serösen 
Häute giebt, bei denen, auch zu Beginn der Erkrankung, der Process 
hauptsächlich in einer Quellung und Degeneration der oberflächlichen 
Bindegewebsschichten der Serosa besteht, während, fibrinöse Ex- 
sudationsproeesse dabei ganz in den Hintergrund treten. Auf der 
anderen Seite gäbe es aber auch Entzündungen von vorwiegend exsuda¬ 
tivem Charakter. Man müsse die beiden Vorgänge, Exsudation von 
Fibrin und Degeneration der Bindegewebsfasern auseinander halten, aber 
betonen, dass dem letzteren Process bei den Entzündungen der serösen 
Häute ein bei Weitem grössere Bedeutung zukommen, als man bisher 
anzunehmen geneigt war. Welcher Art die Degeneration des Bindege¬ 
webes sei, ob hyalin oder „fibrinoid“ lässt Vortragender unentschieden, 
weist jedoch auf den Unterschied hin, der in Bezug auf die Weigert’sche 
Fibrinreaction zwischen echtem Fibrin und den Producten der fibrinoiden 
Degeneration besteht. Kahn. 


Aerztlicher Verein zn Hamborg. 

Sitzung vom 16. Februar 1897. 

Vorsitzender: Herr Kü min eil. 

Hr. Arning stellt ein 16jähriges Mädchen vor mit Pemphigus 
malignus. Die Malignität gründet sich: 1. Auf das Erscheinen von 
Pemphigusblasen auf den sichtbaren Schleimhäuten. 2. Darauf, dass die 
Blasen nicht zurückgehen, sondern eine Wucherung des Papillarkörpers 
eintritt. 8. Auf die leichte Vulnerabilität der Haut. — Diese von Neu¬ 
mann und Neisser bervorgehobenen Momente treffen im vorliegenden 
Falle zusammen. 

Die Anamnese bietet sonst nichts Besonderes. Sommer 1896 er¬ 
krankte das Mädchen zuerst mit Blasenbildung an den Wangen, dann 
weiter an Armen und Brust. 

Die Therapie besteht in grossen Dosen Chinin, daneben kleinere 
Dosee Arsen und Eisen. 

Zweitens demonstrirt er einen bei einer nervenkranken und im An¬ 
schluss an ein Wochenbett gcmiithlich stark deprimirten Dame schnell 
entstandenen Weichselzopf. Die Verfilzung der Haare schien durch 
nervöse Einflüsse hervorgerufen zu sein. 

Hr. Peltesohn stellt einen Kranken vor mit angeborener, 
doppelseitiger Verlagerung der Linse. Letztere ist beiderseits 
nach rechtB, oben und vorn gerückt. Der Linsenrand ist von der Iris 
zum Theil unbedeckt, und frei sichtbar. Von Interesse ist es, wie der 
Kranke das deutliche 8ehen in der Nähe und Feme ermöglicht. Von 
einer Operation räth der Vortragende z. Z. ab. 

Hr. Gr aff stellt einen Kranken vor mit operativ (durch Rippenre- 
section) geheiltem linksseitigem Pyopneumothorax. Der Kranke 
wurde 4 mal operirt. Im Ganzen wurden 1,60 cm Rippenlänge resecirt. 
Der Kranke befindet sich wohlkommen wohl und will den Versuch 
machen, seine Arbeit wieder aufzunehmen. Zweitens stellt er einen der 
Irrenanstalt Friedrichsberg entstammenden paranoischen Kranken vor, 
der zeitweise das Bestreben hatte, Fremdkörper zu verschlucken. Aus 
diesem Grunde war schon einmal eine Laparotomie nothwendig geworden. 
November 96 erkrankte Pat. von Neuem mit Leibschmerzen, Stuhlver- 
stopfung und Schmerzen beim Wasserlassen. Unter dem rechten Rippen¬ 
bogen befand sich ein faustgrosser Tumor. Bei der Incision fand sich 
ein Convolut festverklebter DUnndarmschlingen. In einer derselben be¬ 
fand sich eine 12 cm lange Nadel. 

Hr. Sudeck stellt einen Fall vor von Aneurysma arteriovenosum 
des 1. Oberschenkels unterhalb des Adductorenschlitzes, das nach einer 
Stichverletzung vor 8 Jahren (mittels eines Fleischermessers) sich all¬ 
mählich entwickelt hatte. Es besteht ein deutlich fühlbares Schwirren 
über dem aneurysmatischen Sack. Ein starkes Sausen ist nicht nur 
über der Geschwulst sondern auch über der peripher bis zu den Malle- 
olen und central bis in die Gegend des Nabels hin hörbar. 

Bezüglich der Operation wäre es das ideale, da9 Aneurysma zu ex- 
stirpiren und Arterien und Venen wand durch Naht zu schliessen. Wird 
die Unterbindung der Gefässe erforderlich, so ist der Eintritt peripherer 
Ggngrän nicht mit Sicherheit zu vermeiden. 

Hr. Lindemann demonstrirt Röntgenbilder, welche die Lage des 
Magens demonstriren. In die Schlnndsonde wurde dünner Kupferdraht 
eingeftihrt. Die Sonde biegt sich, wie die Bilder zeigen, bogenförmig 
an der grossen Curvatur um. Die Lage des Magens erwies sich in 
einem Falle nervöser Dyspepsie normal, in einem zweiten lag eine Dila- 
tatio ventriculi vor. Ein Versuch, auch die Lage des Colons durch 
Einführung eines mit Kupferdraht armirten Darmrohres kenutlich zu 


machen, misslang zuerst, da das Rohr sich in der Ampulle des Rectums 
aufrollte. In einem weiteren Versuche Hess sich das Darmrohr bis zur 
Flexura sigraoidea einfiihren. 

Hr. Gleiss demonstrirt einen operativ entfernten sarkomatös degene- 
rirten Hoden (Ruudzellensarkom). Es handelte sich um einen 65jähr. 
Kranken mit doppelseitigem Kryptorchismus. Pat. hatte seit Langem 
ein doppelseitiges Bruchband getragen. 

Hr. Pluder stellt einen 70jähr. Kranken vor mit beginnendem 
Carcinom des r. Stimmbandes. Im November 1896 war nur eine 
harte, muldenförmige, pachydermische Verdickung des r. 8timmbandes 
zu constatiren. Der Process ist jetzt bis zur vorderen Commissur und 
bis zu den Proc. vocales vorgeschritten. 

Die Diagnose des Carcinoms gründet sich auf den Sitz, die Ein¬ 
seitigkeit und das schnelle Wachsthum des Processes. 

Hr. Prochownik zeigt Präparate eines disseminirten Bauch¬ 
fellechinococcus. Klinisch schien es sich um langsam wachsende 
Myome zu handeln. Bei der Operation zeigte sich eine Reihe Echino¬ 
kokken im kleinen Becken, eine grössere Blase befand sich zwischen 
Uterus und Harnblase. Als Ausgangspunkt fand sich bei der Operation 
ein Echinococcus der Unterfläche des 1. Leberlappens. 


VII. Zur Behandlung des Catgut. 

Von 

R. Kossmann, Berlin. 

In No. 2 dieses Jahrganges hat Schäffer nochmals meine Methode, 
das Catgut durch Formalin zu sterilitiren, angegriffen. Ich würde gern 
auf eine Fortsetzung der Debatte verzichten, wenn nicht das rein sach¬ 
liche Interesse an der Herstellung eines zuverlässigen resorbibelen Naht¬ 
materials allgemein so lebhaft empfuuden würde. 

Schäffer bleibt dabei, die gelegentlich einmal beobachtete Milz- 
brandinfection durch Catgut lege uns Aerzten die Verpflichtung auf, 
unser gesammtes Catgut einem Verfahren zu unterwerfen, das, wenn 
auch umständlich und gegenüber den gewöhnlichen Eitererregern viel¬ 
leicht überflüssig, dafür gegenüber den Milzbrandsporen besonders wirksam 
sei. Er meint, wenn mir jener einzige Fall in meiner Praxis vorge¬ 
kommen wäre, so würde ich darüber nicht anders denken, als er. 

Dem gegenüber muss ich nochmals auf das Bestimmteste erklären, 
dass ich bei meiner abweichenden Ansicht bleibe. Wir müssen uns 
unbedingt bezüglich der Milzbrandfreiheit unseres Catgut auf den Fabri¬ 
kanten verlassen und zwar schon deshalb, weil wir durch die von uns 
Belbst vorgenommene Sterilitirung des Rohcatgut den von Schäffer 
beabsichtigten Zweck garniebt erreichen könnten. Wir würden stets 
Gefahr laufen, bei der Handhabung des Rohcatgut unsere eigenen Finger 
mit Milzbranddauersporen zu infleiren, und da wir unsere Hände doch 
nicht auch in Sublimat-Alkohol kochen können, so würde unseren Pa¬ 
tienten mit der Abkochung des milzbrandhaltigen Nahtmaterials wenig 
genützt sein. Ich sage: wir müssen uns auf den Fabrikanten ver¬ 
lassen; ich füge aber hinzu, dass wir es auch können, sofern wir uns 
au das Fabrikat einer angesehenen Firma halten. Ich habe mich, um 
diesen Punkt klar zu stellen, an den Fabrikanten der bekannten „Marke 
Wiessner“ gewandt, und dieser hat mir erklärt, dass sein Catgut aus¬ 
schliesslich aus Därmen hergestellt wird, die er von dem Berliner Vieh- 
und Schlachthof erhalte. Darauf habe ich eine Anfrage an den städtischen 
Schlachthof-Inspector Herrn Feierabend gerichtet, und dieser hatte 
die Güte, mir folgende Auskunft zu ertheilen: 

„Ihr heutiges Schreiben erlaube ich mir dahin zu beantworten, dass 
mir in meiner thierärztlichen Praxis und in meinem Amt, als Polizei- 
Thierarzt von 1876—1881 und als Schlachthof-Inspector von 1881 bis 
zur Zeit, kein Fall bekannt geworden ist, dass milzbrandkrankes Vieh 
der veterinärpolizeilichen Aufsicht auf dem Vieh- und Schlacbthofe ent¬ 
gangen ist, so dass Theile davon zum Consum oder zur industriellen 
Verarbeitung gelangen konnten. Ich vertrete daher dieselbe Ansicht, 
dass unsere Veterinärpolizei und die städtische Fleischschau uns vor 
einer solchen Gefahr ausreichend schützen.“ 

Zugleich übersandte mir der Herr Inspector die No. 28 des Ver- 
waltungsberichtB des Magistrats zu Berlin für die Zeit vom 
1. April 1895 bis 31. März 1896, enthaltend den Bericht über den 
städtischen Vieh- und Schlachthof, aus dem Bich (cf. p. 6 und 8) ergiebt, 
dass unter 610298 am Viehmarkt aufgetriebenen Schafen ein einziges 
wegen Milzbrand beanstandet worden ist, und dass unter den 379659 
geschlachteten keines milzbrandkrank befunden wurde. 

Sollte die in Obigem ausgedrückte Sicherheit jedoch nicht als ge¬ 
nügend angesehen werden, so könnten wir ja auch auf die Verwendung 
des Schafdarms verzichten, und das Catgut aus Därmen gegen Milzbrand 
immuner Thiere, z. B. des nundes, wohl auch des Schweines, hersteilen 
lassen. Das würde immer noch dem Schäffer'sehen Sterilitirangsver- 
fahren vorzuziehen sein. 

Uebrigens muss ich nochmals ausdrücklich hervorheben, dass ich 
auf diese Frage nur deshalb wieder ausführlich eingegangen bin, weil 
der Milzbrandbacillus der einzige für unsere Praxis allenfalls in Betracht 
kommende Bacillus ist, der so resistente Sporen bildet, und weil man 
gerade im Hinblick auf ihn beweisen kann, dass ein Schutz gegen solche 


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218 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 10. 


niemals durch unsere antiseptischen oder aseptischen Methoden, sondern 
nur durch die Veterinärhygieine geschaffen werden kann. Hinsichtlich 
meines Formalin-Verfahrens aber hat der Einwand Scbäffer’s gar 
keine Bedeutung, denn dieser Autor bat ja selbst nachgewiessen, dass 
das Formalin in etwas stärkerer Concentration und etwas längerer Ein¬ 
wirkung, als ich ursprünglich vorgeschlagen hatte, auch die resistentesten 
Sporen tödtet. Seine Behauptung, dass das Material bei solcher Be¬ 
handlung brüchig werde, habe ich bereits als irrthümlich nachgewiesen. 
Ich denke auch, dass es ungerecht wäre, mir das Verdienst um die 
Einführung des Formalinverfahrens etwa deshalb absprechen zu wollen, 
weil ich die Ansicht vertrete, dass die schwächeren Coneentrationen 
und die kürzere Einwirkung für praktische Bedürfnisse genügen. 
Ich habe natürlich gamichts dagegen, wenn Diejenigen, die auch noch 
gegen den Milzbrandbacillns im Catgut zu Felde ziehen wollen, eine 
stärkere Concentration des Formalins etwas länger, als ich es vorge¬ 
schlagen habe, einwirken lassen, und ich denke, man wird auch ein 
solches Verfahren immer noch als das von mir eingeführte zu bezeichnen 
schuldig sein. 

Doch Schäffer hält die Prüfung der Sterilitationsmethoden auf 
ihre Wirksamkeit gegen Milzbrandsporen nicht nur deshalb für noth- 
wendig, weil er den Milzbrand fürchtet, sondern er meint, da die Fett- 
und Eiweisshülle, die die Kokken bei ihrem natürlichen Vorkommen 
häufig umhüllt, dem Antiseptikum oft unberechenbaren Widerstand leiste, 
so verwende man allgemein einen „ausserordentlichen Ueberschuss an 
desinfectoriscber Kraft“. Man müsse also, das ist seine Schlussfolgerung, 
jedes Disinfectionsverfahren auf Milzbrandsporen oder selbst auf seinen 
Kartoffelbacillus prüfen, um einer ausreichenden Einwirkung auf die 
gewöhnlichen Eitererreger sicher zu sein. Diese Schlussfolgerung nun 
ist meines Erachtens so unrichtig, wie möglich; denn die Wirkung einer 
chemischen Substanz auf die Bacterien selbst steht in keinem rationellen 
Verhältniss zu ihrer Wirkung auf Fett und Eiweiss. Es ist sehr wohl 
denkbar, dass ein Antiseptikum schon in grösster Verdünnung auf die 
resistenteBten Sporen sicher vernichtend wirkt, wo sie sich ausserhalb 
eines schützenden Mediums befinden, dass es dagegen Fett oder Eiweiss 
überhaupt nicht durchdringt. Umgekehrt aber besitzen andere Anti- 
septica die Fähigkeit, Fett oder Eiweiss zu durchdringen, in so hohem 
Grade, dass es für ihre Wirksamkeit ganz gleichgültig ist, ob die Bac¬ 
terien eine Fett- oder Eiweisshülle besitzen oder nicht. Das Letztere 
trifft für das Formaldehyd erfahrungsgemäss zu. Wir sehen, dass selbst 
in grösseren Stücken zusammengesetzter thierischer Gewebe, wenn man 
diese frisch in Formaldehydlösung geworfen hat, die Kerntheilungsfiguren 
bis in beträchtliche Tiefe flxirt sind; das Formaldehyd hat also die 
Zellkerne mitten in ihrer normalen Lebensthätigkeit gleichsam blitzartig 
abgetödtet. Gerade diese Wirkung des Formaldehyds, die von anderer 
8eite bereits festgestellt war, brachte mich auf den Gedanken, es für 
die Sterilitirung des Catgut zu verwenden, und es stellte sich auch als¬ 
bald heraus, dass es für den Erfolg ganz gleichgültig war, ob man das 
Catgut zuvor entfettet hatte, oder nicht. 

Unter solchen Umständen ist Scbäffer’s Urtheil, dass meine 
Methode einen Rückschritt darstelle, nicht zu begreifen. Er begründet 
sie mit der Behauptung, dass alle chemischen kalt einwirkenden Anti- 
septica gegenüber dem kochenden Wasser minderwerthig seien. Dass 
diese Behauptung den Thatsachen direct widerspricht, hat er selbst be¬ 
wiesen, denn er hat gezeigt, dass das Formalin auch die resistentesten 
Sporen tödtet, und hat bestätigt, dass das kochende Wasser dies nicht 
vermag. Vollends ist mir nicht verständlich, wie er in seinem Ver¬ 
fahren gegenüber dem meinen einen Fortschritt von der Antiseptik 
zur Aseptik finden kann. Der principielle Unterschied zwischen Anti¬ 
septik und Aseptik besteht doch, nach der conventioneilen Bedeutung 
dieser KnnstauBdrücke, nicht darin, dass die eine kalt und die andere 
heiss ist, sondern darin, dass bei dem sogenannten antiseptischen 
Verfahren Hände oder Instrumente oder Verband- und Nahtmaterial mit 
antibacteriellen Chemikalien benetzt oder durchtränkt sind, während sie 
bei dem sogenannten aseptischen Verfahren im Augenblick der An¬ 
wendung von solchen Chemikalien rein sein müssen. Daher entspricht 
mein Formalin-Catgut, aus dem das Formaldehyd nach kurzer Ein¬ 
wirkung völlig wieder ausgewaschen ist, den strengsten Forderungen der 
Aseptik, das Schäffer'sehe dagegen nicht, da es zur Zeit der Ver¬ 
wendung mit Sublimat und Alkohol getränkt ist. 

Schliesslich noch ein paar Worte über einige minder wichtige Ein¬ 
wände, die Schäffer erhebt, und die ich nur zurückweisen muss, um 
nicht den Verdacht einer unberechtigten Krittelei an dem Verfahren 
meines Opponenten auf mir sitzen zu lassen. 

Da Schäffer bei Empfehlung seiner Methode deren Einfachheit 
und Wohlfeilheit gerühmt hatte, hatte ich in meinem Artikel zur Ver¬ 
teidigung meines Verfahrens, das ja unter allen Umständen viel ein¬ 
facher und wohlfeiler ist, darauf hingewiesen, dass man zur Herstellung 
des Schäffer’schen Sublimat-Alkohol-Gemisches Aräometer und 
Waage nöthig habe, und das9 der erforderliche Apparat zwar nur 15 M. 
koste, aber bei seiner Zerbrechlichkeit in Kliniken mit flottem Betriebe 
öfters erneuert oder ergänzt werden müsse. Auf letztere Bemerkung er¬ 
widert nun Schäffer: „der Vorwurf, dass man Glasgcfässe nicht un¬ 
gestraft auf die Erde werfen kann, treffe auch diejenigen, in denen ich 
mein Catgut aufbewahrte“. Abgesehen nun davon, dass dies vermutb¬ 
lich nicht einmal richtig Ist, — probirt habe ich es noch nicht —, habe 
ich von „auf die Erde werfen“ garnichts gesagt und auch nicht daran 
gedacht. Schäffer's Apparat besteht aus einem gläsernen „System von 
2 kugelförmigen und einer glockenförmigen Ausbuchtung, die durch Glas¬ 


röhren mit einander verbunden sind.“ Schon ein unversehenes An¬ 
streifen mit der Hand oder dem Ellenbogen oder ein AnstosBen beim 
Fortstellen des Apparates kann diesem „System“ ein trauriges Ende be¬ 
reiten. 

Dass man zum Abmessen von 0,5 g Sublimat keine Waage 
nöthig habe, kann Schäffer doch nur in dem Sinne meinen, als man 
sich das Sublimat schon in abgewogenen Päckchen kaufen kann; dies 
will ich ihm gern zugestehen. Dasselbe gilt natürlich auch bezüglich des 
Aräometers; wenn man sich auf den des Apothekers verlassen will, 
so braucht man selber keinen. Immerhin will ich Schäffer darauf 
aufmerksam machen, dass der offlcinelle Spiritus nicht 90, sondern 
90—91,2 Volumprocente enthalten soll, und dasB der aus GrosB- 
destillationen bezogene angeblich 95 proc. noch grössere Differenzen 
(meiBt einen höheren Gehalt) aufweist, die Schäffer vernachlässigt. Er 
bringt nun ferner eine mathematische Formel, um uns zu lehren, wie 
wir uns aus dem 95proc. Spiritus den erforderlichen 85proc. ohne An¬ 
wendung eines Aräometers, lediglich mit einem Maasscylinder, herstellen 
können. Die Formel ist richtig, und er hat mit ihrer Hülfe auch 
richtig berechnet, dass man ca. 90 Volnmtheile 95 proc. Alkohols braucht, 
um 100 Volumtheile 85 proc. zu erhalten. Wenn er aber fortfährt, man 
müsste nun 10 Volumtheile Wasser dazusetzen, so irrt er sich sehr; bei 
solcher unvollständigen Kenntniss der Grundlagen der Alkoholometrie 
thäte er doch wohl besser, sich des Aräometers zu bedienen. Er wird 
dann feststellen können, dass die dem Laien sehr nahe liegende An¬ 
nahme, dass 90 -f- 10 — 100 sein müsse, für die Volumina differenter 
Substanzen und insbesondere für die Mischung von Alkohol und Wasser 
nicht gilt, dass er vielmehr 90 Theile 95proc. Alkohols mit ca. 
12 Theilen Wasser mischen muss, um 100 Theile 85proc. Alkohols zu 
erhalten. Dies beruht auf der Contraction der Mischung. 

Da dies nur durch eine ziemlich umständliche Rechnung mit Hülfe 
empirisch festgestellter Tabellen gefunden werden kann, so werden die 
Collegen wohl meinen Hinweis auf den Alkohometer, der doch auch zur 
Erleichterung der Sache erfunden worden ist, für völlig berechtigt 
halten. 


VIII. Zur Therapie der genuinen Ozaena. 

Eine Entgegnung 

Von 

Dr. M. Saenger 

Arzt für Hals- und Nasenleiden in Magdeburg. 

In einem in dieser Wochenschrift am 18. Januar d. J. publicirten Auf¬ 
satz: „Zur Therapie der genuinen Ozaena“ folgert F. Bruch aus einer 
bei der unrichtigen Anwendung der Gottstein'schen Tamponade zu 
machenden Beobachtung die Zwecklosigkeit der von mir 1 ) und Kafe- 
mann’) empfohlenen Methode der Ozaenabehandlung. Diese Folgerung 
ist durchaus unberechtigt. 

Erstens ist die Prämisse für eine solche Folgerung ganz ungeeignet. 
Denn die Beobachtung, an die er die Letztere knüpft, macht man bei 
falscher Anwendung des Gottstein’schen Verfahrens nur gelegentlich, 
nicht stets 3 ). Zweitens darf man aber doch nicht Bchlechtweg, wie dies 
B. thut, die fehlerhaft ausgeffihrte Gottstein'sche Tamponade mit dem 
richtig ausgeführten von K. und mir empfohlenen Verfahren, speciell mit 
der von mir angegebenen alternirenden Tamponade der Nasenlöcher 
identifleiren. Wer etwa die letztere Behandlungsmethode in einigen 
Fällen richtig ansgeführt bat, so z. B. nur dann angewandt bat, wenn 
durch den Verschluss eines der beiden Nasenlöcher, dem oder der in 
Frage kommenden Kranken nicht die Möglichkeit benommen wurde, 
noch bei geschlossenem Munde zu atbmen, wird wissen, dass in der 
vorn verschlossenen Nasenhöhle — in den hierher gehörigen Fällen — 
regelmässig ein wesentlihher Nachlass der Borkenbildung eintritt. 

Auch dass Herr Bruck mit der Anwendung der von mir em¬ 
pfohlenen Ozaenabehandlung insbesondere mit meinem Nasenobturator 
nur geringe Erfolge erzielt hat, ist noch kein Beweis für die Werthlosig- 
keit dieser Behandlungsmethode. Mein Nasenobturator hat allerdings 
einen sehr empfindlichen, seine allgemeine Verwendung erschwerenden 
Mangel. Seine Anwendung ist etwas schwierig, schwieriger als es den 
Anschein hat und als ich anfangs selbst glaubte. Ist aber das Instru¬ 
mentchen, was gar leicht geschehen kann, fehlerhaft zurechtgeschnitten 4 ), 
so ist es leicht erklärlich, wenn seine Wirkung etwa nur eben so gross 
ist, wie diejenige, die der von ihm auf die Theile des Naaeneingaogs, 
mit denen er in Berührung gebracht worden, ausgeübte mechanische Reiz 
zur Folge hat. In dieser Weise erklärt nämlich B. die Wirkung der 
von mir — und Kafemann — empfohlenen Ozaenabehandlung. Diese 
Erklärungsweise, mit der B. diese beiden Behandlungsmethoden ganz 
besonders zu discreditiren meint, ist so naheliegend, dass sie nicht gut 


1) Therapeut. Monatshefte 1894, Heft 10 und Wien. med. Presse 
1895, No. 39. (Vortrag gehalten auf der 67. Naturforscherversammlung.) 

2) Archiv für Laryngologie, Bd. III. 

3) vergl. den Bruck'sehen Aufsatz. 

4) vergl. meine bereits citirten Arbeiten, sowie die Gebrauchsan¬ 
weisung des bei H. Middendorf in Magdeburg käuflichen Instrumentchens. 


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211 ) 


8. März 1807. BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


weder mir noch auch K. entgangen sein könnte. Ich habe aber durch 
genaue Controlversuche, die ich als selbstverständlich in meinen bishe¬ 
rigen Publicationen über den Gegenstand nicht erwähnte, festgestellt, 
dass eine derartige Erklärungsweise vollkommen falsch ist. 

Herr B. mag es mir also nicht übel nehmen, wenn ich die nega¬ 
tiven Resuliate, die er mit meiner Art der Ozaenabehandlung erzielt hat, 
auf eine fehlerhafte Anwendung derselben zurückfuhre. Ausserdem 
möchte ich namentlich angesichts seiner theoretischen Voreingenommen¬ 
heit bezweifeln, ob die Zahl der Ozaenafälle, die er nach meiner Me¬ 
thode behandelt hat, genügend gross war, um ihm ein abschliessendes 
Urtheil über dieselbe zu gestatten. 

Ich betrachte es als eine sehr hoch anzuschlagende günstige Neben¬ 
wirkung meines Verfahrens, dasB es bessere Anfeuchtung und Erwärmung 
der InBpirationsluft bewirkt. B. will dieselbe günstige Nebenwirkung 
seinem Verfahren vindiciren und zwar aus folgenden Gründen: 
Durch die Einführung seines Mullstreifens in die Nasenhöhlen soll die 
Geschwindigkeit des dieselben passirenden Inspirationsstroms herabge¬ 
setzt werden. Klaren physikalischen Gesetzen zufolge wird die Ge¬ 
schwindigkeit des Inspirations- nnd Exspirationsstroms bei gleichbleibender 
Energie der Athmung vermehrt. Die von den Wattetarapons Gottstein's 
oder dem Mullstreifen B.’s, also von schlechten Wärmeleitern bedeckte 
Nasenschleimhaut soll besonders geeignet sein, zur Wärmeabgabe an die 
Inspirationsluft. B. wird einwenden, dass er nicht die ganze Schleim¬ 
haut bedeckt haben will. Aber dann setzt er sich ja selbst in Wider¬ 
spruch mit seiner oben angeführten Anschauung, „dass die Borkenbildung 
nur so weit hintangehalten werde, als der Tampon mit der Schleimhaut 
in Berührung kommt“. 


IX. Literarische Notizen. 

— Im Verlage von I. F. Lehmann in München sind erschienen 
„Neurologische Wandtafeln zum Gebrauch beim klinischen, 
anatomischen und physiologischen Unterricht“ berausgegeben 
von Prof. A. Strümpell in Erlangen nnd Dr. Chr. Jakob in Bam¬ 
berg. Die in achtfachen Farbendruck ausgeführten Tafeln haben eine 
Grösse von 80:100 cm und 160:220 cm. Auf ihnen sind alle beim 
Unterricht wichtigen neurologischen, anatomischen und physiologischen 
Verhältnisse berücksichtigt worden. Bei den symmetrisch ausgeführten 
Tafeln ist die linke Bildhälfte die getreue Wiedergabe eines Original¬ 
präparats, während die rechte Hälfte in schematischer Weise die Be¬ 
zeichnungen und die wichtigsten Neuronverbindungen aufweist. Die Be¬ 
nennungen in den Tafeln sind durchweg lateinisch. — Die einzelnen 
Tafeln stellen dar: 1. Aeussere Oberfläche der linken Grosshirnhemisphäre. 
2. Mediane Fläche derselben. 8. Gebörbasis mit Nerven. 4. Frontal¬ 
schnitt durch das Gehirn. 5. Horizontalschnitt durch das Gehirn. 
6. Frontalschnitt durch die Vierhflgel-Gegend. 7. Frontalschnitt durch 
die Brücke. 8. Querschnitt durch die Medulla oblongata. 9. Hirnstamm 
mit schematischer Einziehung der Nervenkerne etc. 10. Rückenmarks¬ 
querschnitte. 11. Uebersicht der wichtigsten motorischen und sensorischen 
Bahnen. 12. Abgrenzung in Bedeutung der Rückenmarkssegmente. 
18. Verbreitungsbezirke der sensiblen Hautnerven und electrischc Reiz¬ 
punkte für Nerven und Muskeln. 

Um die Anschaffung der für den neurologischen Unterricht sehr nütz¬ 
lichen und wertbvolien Tafeln möglichst zu erleichtern, ist der Preis ver- 
hältnissmässig niedrig gestellt. Er beträgt für das ganze Werk nur 50 Mark. 

— Von K. Grube in Neuenahr ist soeben (A. Hirschwald, 1897) 
eine „Allgemeine und specielle Balneotherapie mit Berücksichtigung 
der Klimatotherapie“ erschienen, die sich von den übrigen baineothera¬ 
peutischen Handbüchern in zweierlei Richtung unterscheidet: einmal in¬ 
dem durch sehr sorgsame, eigene Untersuchungen des Verfassers viele, 
namentlich den Stoffwechsel betreffende Wirkungen der Quellen neu 
geprüft und somit genauere Vorstellungen über deren Heilkraft gewonnen 
wurden. Weiter ist bei der Besprechung der einzelnen Badeorte ein 
entscheidender Werth auf deren hygienische Verhältnisse (Canali- 
sation, Trinkwasser etc.) gelegt worden, so dass die lexicalische Aufzäh¬ 
lung der einzelnen Curorte — so knapp sie im Uebrigen gehalten ist — 
doch gerade in Bezng auf diesen wichtigen Punkt dem praktischen Arzte 
gute Handhaben bei der Auswahl giebt. 

— Hansemann'! Diagnostik der bösartigen Geschwülste 
behandelt das, Pathologen wie Chirurgen in gleicher Weise interessirende 
Thema, auf Grund umfassender, höchst sorgsamer eigener 8tudien, die 
durch zahlreiche, neuefAbbildungen illustrirt werden. (Berlin, Hirschwald, 
1897.) Wir können hier nur auf die wichtige Monographie auftnerksam 
machen, und müssen uns deren eingehende Besprechung Vorbehalten. 

— Der Stuttgarter ärztliche Verein hat zur Feier seines 25jähr. 
Bestehens eine Anzahl „medicinischer Abhandlungen“ als Fest¬ 
schrift unter Redaction von Dr. Deahna herausgegeben, die nicht we¬ 
niger als 86 einzelne Beiträge enthält. Der Band wird durch Nach¬ 
richten über den Verein selbst und seine Geschichte eingeleitet. Aus 
der Zahl der Arbeiten heben wir u. a. diejenigen der Ehrenmitglieder 
des Vereins: Berlin-Rostock (Ueber eine eigenthümliche Form von Stra¬ 
bismus convergens bei Myopie), Fehling-Halle (Hundert Fälle vaginaler 
Ausrottung der Gebärmutter), Schl eich-Tübingen (Zum Wesen des 
Frühjahrskatarrhs), Fischer-Constanz (Ueber elektromotorische Allo- 
chirie) hervor. 


— Von dem von Veit herausgegebenen Handbuch der Gynä¬ 
kologie — über dessen ersten Band wir vor Kurzem eingehend be¬ 
richtet haben — ist soeben der zweite Band erschienen (Wiesbaden, 
Bergmann). Derselbe enthält folgende Beiträge: Fritsch, Die Krank¬ 
heiten der weiblichen Blase; Viertel, Physikalische Untersuchungs- 
metboden der Blase; Doederlein, Die Entzündungen der Gebärmutter; 
Derselbe, Atrophia uteri; Gebhard, Anatomie und Histologie der 
Myome; Veit, Aetiologie, Symptomatologie, Diagnostik, Prognose der 
Myome; Schaeffer, Die elektrische Behandlung der Uterusmyome; 
Veit, Die palliative Behandlung und die vaginalen Operationen der 
Uterusmyome; Olshausen, Die abdominalen Myomoperationen; Der¬ 
selbe, Myom und Schwangerschaft. 


X. Praktische Notizen. 

Diagatstisehes. 

Peters (Deutsche medicinische Wochenschrift No. 9) erörtert 
das Verhältniss der Xerosebacillen zu den Diphtheriebacillen. 
Verfasser hat Versnche angestellt mit 16 verschiedenen Cul- 
turen von diphtherieähnlichen Mikroorganismen, und zwar stammten 
diese von 6 Fällen von Halsdiphtherie, von 8 Fällen von einem 
endemisch auftretenden impetiginüsen Ekzem des Gesichts, von zwei 
Fällen von recidivirender Conj. granulosa, von 1 Fall von Xerosis con¬ 
junctivae, von 1 Fall von Conj. crouposa, von 1 Fall von Pseudodiphtherie 
der Nase und von 1 Fall aus gesundem Rachen. Die Versuche wurden 
angestellt auf schräg erstarrtem Agar, an Stichculturen in Gelatine, auf 
gekochten Eiern, auf Blutserum, in Bouillon. Die Culturen boten wohl 
bei den verschiedenen Bacillen Unterschiede dar, die jedoch nicht aus¬ 
reichten, um die verschiedenen diphtherieähnlichen Bacillen exaxt von 
einander zu unterscheiden. Wenn auch bei der Prüfung der alkalischen 
Reaction der Bouillon sich zeigte, dass die virulenten Sorten stärker 
sauer reagirten, als die nicht virulenten, so konnte auch hieraus doch 
kein grundlegender Unterschied construirt werden. Ein solcher ist erst 
gegeben durch den Thierversuch, indem Culturen mit echten Diphtherie¬ 
bacillen auf Meerschweinchen verimpft, bei diesen die für Diphtherie 
charakteristischen Veränderungen im Pleuraraum, an den Nebennieren etc. 
erkennen lassen. Es handelt sich also bei den Xerose-, Pseudodiphtherie- 
und den Diphtheriebacillen zunächst nm Unterschiede der Virulenz; die 
Frage aber, ob sie als verschiedene Arten von Mikroorganismen auzn- 
sehen sind oder nur in der Virulenz wechselnde Glieder einer Familie sind, 
hält Peters noch nicht für spruchreif. Indem Peters dann weiter auf 
die Frage eingeht, welche klinische Bedeutung die Auffindung der 
virulenten Diphtheriebacillen bei der Conj. crouposa hat, tritt er im Ein¬ 
verständnis mit Uhthoff, Vossius und Schirmer fiir eine strenge 
Isolirung aller verdächtigen Pat. ein. Allerdings ist eine sichere Pro¬ 
phylaxe in der Praxis schwer durchzuführen, da der Nachweis der Viru¬ 
lenz erst nach 4 Tagen erbracht werden kann und in praxi alle ver¬ 
dächtigen Fälle bis zum Nachweis der fehlenden Virulenz unmöglich 
isolirt werden können. Dem gegenüber fällt als erleichterndes Moment 
in die Wagschale, dass nach Dr. Peters die meisten Fälle von crou- 
pöser Conj. gar nicht übertragbar sind, und dass in den meisten der 
bisher veröffentlichen Fälle von croupöser Conj. mit virulenten Bacillen 
meist nach 4—5 Tagen schon ein Umschwung zum Besseren eintrat, 
ohne dass sich Störungen des Allgemeinbefindens speciell des Nerven¬ 
systems oder Allgemeininfectionen einstellten, wie sie bei Halsdiphtherie 
so häufig sind. 


In der Sitzung der k. k. Gesellschaft der Aerztc in Wien vom 
19. Februar stellte Siegler einen Fall von Aktinomykose bei 
einer 24jährigen Frau vor, deren Krankheit vor 4 Monaten mit einem 
kleinen Knötchen an der Wange begonnen hatte. Die Frau war in 
einer Conditorei als Verkäuferin tbätig; ein Infectionsmodus Hess sich 
nicht eruiren. Bei derselben sah man in der Gegend des r. Kiefer¬ 
winkels eine ca. kindshandgrosse geröthete, nur wenig prominirende 
Stelle von höckriger Oberfläche, die durch zahlreiche isolirte, etwa steck¬ 
nadelkopfgrosse Knötchen bedingt war. Die klinische Diagnose wurde 
durch Ausstrichpräparate erhärtet, in denen die nach Gram gefärbten 
Aktinomykesfäden zu sehen waren. 


In der Wiener dermatologischen Gesellschaft stellte Neumann 
am 10. Februar einen 27jährigen Schuhmachergehülfen vor mit einem 
genitalen und extragenitalen syphilitischen Primäraffect. 
ErBterer sass am äusseren Vorhautblatt als halbkreuzergrosser, elevlrter, 
ulcerirter derber Knoten, letzterer über kreuzergross in der Kinnfurche 
links von der Medianlinie. Die Drüsen am Unterkieferwinkel und die 
Leistendrüsen links waren geschwollen. Die Infection war 6 Wochen 
vorher erfolgt. 


Therapeatlsehes ■ ad laUileatiaaea. 

Fox berichtet (Lancet No. VIII) über einen Fall von ulceröserEndo- 
carditis bei einem 86jährigen Mann, der mit Anti-Streptokokken¬ 
serum behandelt wurde. Er bekam im Ganzen 20 Injectionen, jede 


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No. 10. 


BKUUNKR KMNISfllK WOCIIKNSCIIUIFT. 


‘220 


ä 10 ccm. Die Wirkung war die. dass der Pat. besser schlief und sich 
auch im Allgemeinen wohler fühlte. 4 Tage nach der ersten Iojection 
wurde Blut aus seinem linken Arm auf seinen Gehalt an Streptokokken 
geprüft. Weder mikroskopisch noch in der Cultur fanden sich Strepto¬ 
kokken. 

14 Tage nach der ersten Injection starb der Pat. Die Section be¬ 
stätigte vollkommen die klinische Diagnose. Die Untersuchung der Auf¬ 
lagerungen an den Herzklappen und des Blutes nach dem Tode ergab 
zahlreiche Streptokokken. Trotz des ungünstigen Ausganges dieses 
Falles würde Fox in jedem ferneren Falle wieder den Gebrauch des 
Serums empfehlen, da nach seiner Ansicht nur von der bacteriologi- 
schen Seite aus Hülfe zu erwarten ist für diese Fälle, besonders wenn 
es gelingt, die Diagnose recht frühzeitig zu stellen. 


In der Sitzung der Socicte de Thcrapeutique vom 10. Februar 1897 
bekämpfte Vogt die Untersuchungen des Prof. Ponchet über das 
Eucain, der demselben eine gleiche Giftigkeit zuscbreibt, wie dem 
Cocain, und das Mittel ganz aus dem Arzneischatze gestrichen wissen 
will. Demgegenüber betonte Vogt, dass das Eucain ruhig in Dosen 
angewandt werden könnte, deren Anwendung beim Cocain jeden Ope¬ 
rateur besorgt machen müsste. Wenn es auch wegen seiner schwächeren 
Wirkung bei grossen Operationen nicht dieselben Vortheile böte, wie 
das Cocain, so müsste es doch als ein ganz ausserordentlich werthvolles 
Hülfsmittel für den Specialisten, insbesondere den Odontologen, Laryn- 
gologen und Ophthalmologen angesehen werden. Denn das beschränkte 
Operationsfeld dieser gestattet nicht eine solche Retraction der blutleeren 
Gewebe, wie sie durch das Cocain thatsächlich hervorgerufen wird, 
während das Eucain eine Hyperämie hervorruft und so das Operations¬ 
feld leichter kenntlich macht. 

Dem gegenüber verwies Ponchet auf einen Fall von einge¬ 
klemmter Hernie, bei dem nach Anwendung des Eucains zur localen 
Anästhesie schwere Herzstörungen sich zeigten, die erst nach 8 Stunden 
beseitigt werden konnten. — 

In der Acadtümie de Medecine theilte am 16. Februar Reclus 
die Erfahrungen mit, die er bei der Auwendung des Eucains gemacht 
hatte. Er schreibt demselben eine geringere Wirksamkeit zu als dem 
Cocain und hält dasselbe, sich auf die Erfahrungen des Prof. Ponchet 
berufend, für gleich giftig wie das Cocain. Dann sind nach seiner An¬ 
sicht als Nachtheile des Eucains anzusehen: einmal die Schmerzhaftig¬ 
keit, die es an der Stichstelle hervorrufe, dann die Hyperämie, die das 
Operationsfeld unübersichtlich mache, und zuletzt die geringere Dauer 
der Anästhesie. Nach alledem giebt auch Räclus dem Cocain den 
Vorzug vor dem Eucain. 

In der Society de Dermatologie et de Syphiligraphie stellte 
M. Danlos einen seit 2 Jahren an allgemeiner Psoriasis leidenden 
21jährigen Mann vor, der während 2 Monaten mit Arsendosen von 
88—75 egr pro die behandelt war und trotz dieser unglaublichen Menge 
keine anderen Störungen zeigte, als den Geruch des Athems nach 
Knoblauch. Unter dieser Behandlung war ohne jede weitere äussere 
Therapie fast völlige Heilung eingetreten. II. 


XI. Tagesgeschichtliche Notizen. 

Berlin. In der Sitzung der Berliner medicin. Gesellschaft 
am 3. d. M. stellte nach einer Krankendemonstration des Herrn Hauser 
Herr J. Wolff einen Patienten mit angeborener Kleinheit des Unter¬ 
kiefers und Mundsperre vor (Discussion: Herren v. Bergmann und 
Koenig). Alsdann hielt Herr Abel den angekiindigten Vortrag über 
Abortbebandlung; die Discussion wurde vertagt. 

— In der Sitzung des Vereins für innere Medicin am 
1. d. M. demonstrirten vor der Tagesordnung Herr Huber Präparate 
des Meningococcus intracellularis, Herr Goldscheider nach Nissl 
gefärbte Rückenmarksschnitte von Kaninchen, welche nach Vergiftung 
mit Malonnitrit und darauf folgender Entgiftung durch Natriumhypo- 
sulflt charakteristische Veränderungen an den Ganglienzellen zeigten. 
(Discussion: Herr v. Leyden, Herr Rothmann, Herr Goldscheider). 
Alsdann hielt Herr O. Rosenthal den angekündigten Vortrag Uber die 
therapeutische Anwendung des heissen WasserB, besonders bei Haut¬ 
krankheiten. Zur Discussion nahmen die Herren Litten, Guttmann, 
Lazarus und O. Rosenthal das Wort. 

— In der Sitzung der Hufeland’schen Gesellschaft vom 
25. Februar zeigte Herr Mankiewicz einen in der Leiche gefundenen 
Nierenstein, Herr Mendelsohn hielt den angekündigten Vortrag über 
die interne Behandlung der Nierensteinkrankheit, HerrNeuraann sprach 
über ein Uebermaass in der Säuglingsbehandlung. Discussion: die Herren 
Patschkowski, Fürst, Samter. 

— In der Sitzung der Berliner dermatologischen Gesell¬ 
schaft am 2. März stellte vor der Tagesordnung Bruck einen Kranken 
vor, dessen Diagnose er zweifelhaft liess. Zur Tagesordnung übergehend, 
demonstrirte Gerson eine Dame mit einem Hautausschlage, welcher 


sich im Anschluss an eine Erkrankung der Genitalsphäre eingestellt hatte. 
C. Ben da zeigte mikroskopische Präparate über die Darstellung des 
Keratins in einer als Atherom zu deutenden Geschwulst und Tann- 
hauser einige mikroskopische Präparate als Erläuterung zu dem in einer 
früheren Sitzung von B lasch ko vorgestellten merkwürdigen Fall einer 
Urticaria haemorrhagica. Alsdann zeigte Tannhauser einen Patienten 
mit multiplen Tumoren am Rumpfe, und Th. Mayer eine Dame mit 
einem Gummi an der Nase zusammen mit einem beginnenden Epitheliom, 
sowie ein Kind mit Lichen ruber planus und einen Knaben mit einer 
periodisch wiederkehrenden Haarverfärbung. Schliesslich hielt Schrei¬ 
ber seinen Vortrag „Zur Diagnostik der Zungenaffectionen“. 

— Die Zeit für die 69. Versammlung Deutscher Naturforscher 
und Aerztc zu Braunschweig ist, nachdem der Vorstand der Ge¬ 
sellschaft seine Zustimmung dazu ertheilt hat, endgültig auf die Tage 
vom 20.—25. September 1897 mit einer Vorversammlung am 19. Sep¬ 
tember festgesetzt. Es werden 83 wissenschaftliche Abtbeilungen gebil¬ 
det werden (gegenüber 30 Abtheilungen in Frankfurt a. M. 1896). Die 
drei neuen Abtheilungen sind: 1. Abtheilung für Anthropologie 
und Ethnologie, die in Frankfurt mit Geographie vereinigt war und 
nunmehr wieder abgetrennt wird. 2. Abtheilung für Geodäsie und 
Kartographie, die zuletzt in Wien 1891 bestanden hat und 3. Ab¬ 
theilung für wissenschaftliche Photographie, die ganz neu 
gebildet wird und wohl, als durchaus zeitgemäss, zur ständigen Einrich¬ 
tung werden dürfte. Für Mittwoch, den 22. September wird vorläufig 
eine gemeinsame Sitzung der naturwissenschaftlichen Abtheilungen unter 
Betheiligung eines Theiles der medicinischen geplant. 

— Herr Prof. Döderlein in Leipzig hat einen Ruf auf den Lehr¬ 
stuhl für Gynäkologie und Geburtshülfe in Groningen erhalten. Der 
gleiche Ruf war bereits an Prof. Winter, Oberarzt der Olshausen- 
schen Klinik hierselbst, ergangen, aber von diesem abgelehnt worden. 


XII. Amtliche Mittheilungen. 

Personal!». 

Auszeichnungen: Ritterkreuz I. Kl. des Königl. Bayerischen 
Militär-Verdienst-Ordens: dem Ober-Stabsarzt I. Kl. Dr. Lude- 
wig in Metz. 

Ehrenkommandeurkreuz des FUrstl. Hohenzollern’schen 
Haus-Ordens: dem ordentl. Professor, Geheimen Medicinalrath Dr. 
Olshausen in Berlin. 

Ehrenkreuz II. Kl. des Fürstl. Hohenzollern’schen Haus- 
Ordens: dem Professor, Geheimen Sanitätsrath Dr. Tobold in Berlin. 

Ernennungen: der bisherige Kreis-Physikus des Kreises Niederbarnim, 
Sanitätsrath Dr. Philipp in Berlin zum Regierungs- und Medicinal¬ 
rath. Derselbe ist dem Königlichen Regierungs-Präsidenten in Osna¬ 
brück überwiesen worden. Der prakt. Arzt Dr. Rudolf Schulz in 
Malapane zum Kreis-Physikus des KreiseB Niederbarnim. 

Versetzung: Kreis-Physikus Dr. Dybowski aus dem Kreise Nimptsch 
in den Kreis Strehlen. 

Niederlassungen: die Aerzte Dr. Braun in Sindorf, Funk in Ober¬ 
cassel, Dr. Brockmann in Schoenberg, Dr. Schmidt in Alt-Colziglow. 

Verzogen sind: die Aerzte Dr. Jaspersen von Kiel nach Schell- 
horner Berge, Dr. Hager von Stettin nach Wandsbeck, Dr. Bothe 
von Löhne i. W. nach Barmstedt, Dr. Petersen von Gravenstein 
nach Tondem, Dr. Erpenbeck von Haren nach Papenburg, Dr. Ru- 
land von Duisburg nach Jünkerath, Dr. Wilhelmy von Dalldorf 
nach Bonn, Dr. Schulte-Leinbeck von Canstadt nach Cöln, Dr. 
Schult von Ruwer nach Cöln, Dr. Weissheimer von Osthofen nach 
Cöln, Dr. 8chulz von Düsseldorf nach Cöln, Dr. Kranefuss von 
Verl nach Brackwede, Dr. Meyer von Münster nach Bielefeld, Dr. 
Schulte von Hannover nach Bielefeld, Dr. Zander von Langenhagen 
nach Salzderhelden, Dr. Lehmann von Dresden nach Langenhagen, 
Dr. Presch von Peine nach Hannover, Dr. Unger von Lüdenscheid 
nach Alfeld, Dr. Becker von Bochum nach Hildesheim, Dr. Mein- 
heit von Göttingen nach Dransfeld. 

Gestorben sind: die Aerzte Dr. Suessmann in Hannover, Dr. Deetz 
in Polzin, Dr.Uhlenberg in Papenburg, Dr.Niemann in Flensburg, 
Dr. Schlesiger in Romoe, Kreis-Physikus Dr. Mueller in Wittlich. 


■rkanntmachunc, 

Die Kreis-Pbyaikatsstelle des Kreises Wittlich, mit Gehalt von jähr¬ 
lich 900 M., soll wegen Ablebens besetzt werden. Bewerber wollen 
sich innerhalb 4 Wochen unter Einreichung der Zeugnisse und eines 
Lebenslaufs schriftlich bei mir melden. 

Trier, den 19. Februar 1894. 

Der Regierungs-Präsident. 


Berichtigung. 

In dem in No. 8 d. W. erschienenen Aufsatz „Zur Klinik der Diph¬ 
therie“ etc. von Vierordt muss es Seite 154, Spalte 2, Zeile 11 von 
oben anstatt 8000 vielmehr „800“ heissen. 

Für die Redactlon verantwortlich Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald, Liitzowplatz 5. 


Verlag und Eigenthum von August Hirschwald in Berlin. — Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin. 


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DU Berlin» KUniaeha Wochenschrift erachelnt Jeden "T\ II l'TV'J' ' V "Hk Y I Bln*eoduogeu woll« man portofrei an dl« Redaetlon 

Montag ln der Stirke Ton 9 bis 3 Bogen gr. 4. — lj ' 1 9 I I lj ’ 1 9 (W. LOuowplati No. 3 ptr.) oder an di« Verlags- 

Praia vierteljährlich 6 Mark. Bestellungen nehmen | \ li , I | I i I I \J |l , 1% buehhandlung von August Hirschwald ln Barlin 

alle Buchhandlungen und Postanstalten an. ■ " 1 i 1 äj M M i. H I iH N.W. Unter den Linden No. 68, adressiren. 



Organ für practische Aerzte. 


Mit Berücksichtigung der preussischen Medicinalverwaltung und Medicinalgesetzgebung 

nach amtlichen Mittheilungen. 


Redaction: 

Geh. Mcd.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald and Prof. Dr. C. Posner. 


Expedition: 

August Hirschwald, Verlagsbuchhandlung in Berlin. 

Montag, den 15. März 1897. 

M 11 . 

Yierunddreissigster Jahrgang. 


INHALT. 


I. C. Binz: Der Weingeist als arzneiliches Erregnngsmittel. 

II. Aus dem Institut für Hygiene und Bacteriologie der Kaiser Wilhelms- 
Universität Strassburg i. E. J. C. Th. Scheffer: Ueber die 
Widal’scbe Serumdiagnose des Typbus abdominalis. 

III. R. Stern: Ueber Fehlerquellen der Serodiagnostik. 

IV. Th. Rosenbeim: Ueber motorische Insufflcienz des Magens. 

V. J. Hirschberg: Ueber die Körnerkrankheit in Ost- und West- 
preussen. (Schluss.) 

VI. Kritiken und Referate. Zinn: Stoffwechseluntersuchungen; 
Holienberger: Resorbirbarkeit der Albumosen. (Ref. Ewald.) 
— Friedländer: Physikalische Heilmethoden. (Ref. Vulpius.) 


L Der Weingeist als arzneiliches Erregungs¬ 
mittel. 

Von 

C. Binz in Bonn. 

Bis zum Jahre 1869 hielten Aerzte und Laien den Wein¬ 
geist in fieberhaften Krankheiten für erhitzend, die Fieberwärme 
steigernd, und es kostete eine lange Reihe experimenteller Ar¬ 
beiten von mir und meinen Schillern, diesen alten und schäd¬ 
lichen Irrthum zu beseitigen. Heute droht ihm eine andere Ver¬ 
urteilung, nämlich die, in gefährlichen Zuständen der Schwäche 
von Herz und Athemthätigkeit, der alten Anschauung entgegen, 
als bedenklich lähmend zu gelten. 

Sogar eine Gerichtsverhandlung neuesten Datums hat sich 
mit dieser Angelegenheit befasst. Ich komme nur deshalb aut 
sie zu sprechen, weil in ihrer Darstellung') ein Ausspruch von 
mir in unrichtigem Sinne citirt ist. Es heisst dort auf S. 2: 

„Er (d. b. Dr. Hirschfeld aus Cbarlottenburg, der den Weingeist 
in jeder Form fUr Kranke unbedingt schädlich hält) berief sich u. A. 
auf Binz, Professor der Pharmakologie in Bonn, welcher schreibt: 

„Der Alkohol gehört zu jenen erregenden Agentien, welche stets den 
entsprechend weiten Aasschlag nach der entgegengesetzten Seite be¬ 
dingen. Ebenso stark wie die von ihm bedingte Erregung ist die bald 
folgende Erschlaffung des Orossbirns und Rückenmarks.“ 

Derselbe Autor (d. i. Binz) sagt an anderer Stelle: 

„Die Depression des Sensoriums und der willkürlichen Bewegung 
genügt, um den Alkohol als Erregungsmittel für viele Fälle zu ver¬ 
werfen.““ 

Diese beiden anscheinend für seine Temperenzlermeinung 
sprechenden Sätze hat Dr. Hirschfeld aus dem Zusammenhang 
herausgenommen und ihnen hierdurch einen ganz anderen Sinn 

1) Dr. Hirschfeld-Charlottenburg, Der Alkohol vor Gericht. Ab¬ 
druck aas der Internationalen Monatsschr. z. Bekämpfung der Trink¬ 
sitten. Bremerhaven u. Leipzig. 1896. 


VII. Verhandlongen ärztlicher Gesellschaften. Berliner me- 
dicinische Gesellschaft Jacuaiel: Lymphdriisengeschwulst. Fran¬ 
kel: Kehlkopfstenose durch Juxtaposition der Stimmbänder. Vir- 
chow: Tapirhals. Litten: Trommelschlägelartiger Finger und 
Zehen. Lewy: Demonstration. Kolle: Zur Bacteriologie der 
orientalischen Bealenpest. — Verein für innere Medicin. Huber: 
Meningococcus intracellularis. Goldscbeider: Structur der 
Ganglienzellen. Rosenthal: Heisses Wasser bei Hautkrankheiten. 

VIII. Praktische Notizen. 

IX. Tagesgeschichtliche Notizen. 

X. Amtliche Mittheilungen. 


gegeben, als sie darin in Wirklichkeit haben. Die Wieder¬ 
holung der ganzen Stelle aus meinem Buche *) wird das klar¬ 
legen. Hirschfeld hat, wie aus Einzelheiten seines Citates 
hervorgeht, die 1. Auflage benutzt. In der 2. lautet die Stelle 
im Wesentlichen ebenso, eher noch verschärft. Hier ist sie, 
genau nach der 1. Auflage: 

„In der letzten Vorlesung habe ich den Alkohol als Stimulans ge¬ 
schildert. Dabei ist nicht zu übersehen, dass er als diätetisches 
Stimulans nur da passt, wo keine dauernden Anstrengungen mehr ver¬ 
langt werden, sondern Ruhe innerhalb einer bestimmten Zeit eintritt. 
Der Alkohol gehört zu jenen erregenden Agentien, welche stets den ent¬ 
sprechend weiten Ausschlag des Pendels nach der entgegengesetzten 
Seite bedingen. Ebenso stark, wie die von ihm bewirkte Erregung ist, 
wird auch die bald folgende Erschlaffung des grossen Gehirns und des 
Rückenmarks sein. Wie sich Athmung und Herz in diesem zweiten 
Stadium verhalten, wurde meines Wissens genau noch nicht untersucht; 
aber wenn sie auch im Zustande besserer Tbätigkeit verharren sollten, 
so genügt doch die Depression des Sensoriums und der willkürlichen 
Bewegung, um den Alkohol als Erregungsmittel für viele Fälle zu ver¬ 
werfen. Das haben auch die Armeeverwaltungen eingesehen. In vielen 
Ländern ist der Caffee an Stelle des früheren Branntweins für Manöver- 
und Kriegsmärsche getreten; und die Feldzüge der letzten Zeit haben 
die Abänderung bewährt gefunden, Das Coffein oder Coffeol erregen, 
ohne später einzuschläfern. Unschätzbar bleibt der Alkohol dagegen als 
arzneiliches Stimulans, wenn späterer Schlaf möglich und erwünscht 
ist. Ich erinnere nur au seinen Werth bei gefährlichem Blutverlust, 
wo er oft geradezu lebensrettend wird; ebenso im Collaps aus 
acuter Erkrankung anderer Art.“ 

Es war nur nöthig, bei der Gegenüberstellung des Hirsch¬ 
fel d’schen Auszuges und meines Originals einige Wörter in 
diesem gesperrt drucken zu lassen, um dem Leser zu zeigen, 
dass jener Auszug den Sinn meiner Stelle in’s Gegentheil wendet. 
Ich verwerfe den Weingeist ausdrücklich nur als Erregungsmittel 
für den gesunden Menschen und nenne ihn als solches unschätz¬ 
bar für den Kranken. Hirschfeld bezieht einfach jenes als 

J) C. Binz, Vorlesungen über Pharmakologie. 1. Aufl., S. 372 
und 2. Aufl., S. 297. 


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90‘> 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 11. 


meiueu Ausspruch auf den Kranken und Ubergeht — ich nehme 
an, aus Flüchtigkeit — was ich als genaues Gegentheil seiner 
Ansicht hinstelle. 

Um zur Sache zu kommen, so ist es eben erforderlich, die 
Indicationen des Weingeistes für den Gesunden und für den 
Kranken scharf zn scheiden; ebenso den Reiz des Weingeistes 
einerseits auf die Organe des Denkens und der willkürlichen 
Bewegungen und andererseits auf die der willkürlichen Be¬ 
wegungen von Athmung und Kreislauf gut auseinander zu 
halten. 

Auch heute noch bin ich der Ansicht, dass die Ermüdung 
des gesunden Menschen durch Weingeist in den meisten Fällen 
mit mindestens zweifelhaftem Erfolge bekämpft wird, dass aber 
Athmung und Herz vieler Schwerkranken auf ihn in gün¬ 
stigster Weise reagiren. Aber selbst an Gesunden lässt sich, 
wenn man die richtigen mässigen Gaben zu wählen versteht, 
diese erregende Wirkung zahlenmässig nachweisen. 

ln einer Nachprüfung meiner diesbezüglichen Versuche') 
kam A. Jaquet 1 2 ) in Basel zu demselben Ergebnisse wie ich: 

„Dans cette experience, comme dans celles de Binz, l’injection in- 
travenense a «*te suivie d’une augmentation considerable de la Venti¬ 
lation pulmonaire pereistant pendant assez longtemps. Plusieurs ex- 
periences Institutes dans les niemes conditions nons ont toojours^donne 
le mCme rtsnltat.“ 

Da nun aber beim Menschen der Weg durch die Vene für 
die Beibringung des Weingeistes nicht gebräuchlich ist, sondern 
der durch den Magen, so prüfte Jaquet, ob auch von hier aus 
die erregende Wirkang auftrete. Er fand sie auch dann; aber 
von da an war seine Schlussfolge eine andere als die meinige. 
Die Magenschleimhaut der Thiere wird — so sagt er — von 
dem Weingeiste gereizt, ist gleich nach dem Tode lebhaft ge- 
röthet, und allein dieser örtliche Reiz ist die reflectorische 
Ursache der grösseren Athmungsthätigkeit. Die specifische 
Wirkung des Weingeistes besteht nur in den von ihm veran- 
lassten Erscheinungen der Lähmung; die stärkere Arbeit der 
Athmungsorgane, die er unzweifelhaft erzeugt, ist nichts als 
Reflex. 

So Jaquet. Er suchte diese Anschauung sodann in einer 
längeren und sorgfältigen Reihe von Versuchen näher zu be¬ 
gründen. Auf die Beweisführung im Einzelnen einzugehen, 
würde hier zu weit führen. Ich habe meinen Schüler Dr. C. 
Wilmanns veranlasst, die ganze Versuchsreihe Jaquet’s zu 
wiederholen, und das Ergebniss ist unter genauer Darlegung der 
Baseler Beweisführung in dem im Februar dieses Jahres aus¬ 
gegebenen Hefte von Pflüger’s Archiv f. d. ges. Physiologie, 
Bd. 60, S. 167—209 veröffentlicht. Zur deutlicheren Darstellung 
sind 24 Curven beigefügt. Allenthalben volle Uebereinstimmung 
aus ungefähr 40 Versuchen und daraus die Schlüsse: 

1. Der Weingeist in kleinen Gaben erhöht die Athemgrösse. 

2. Diese Erhöhung findet statt, gleichviel auf welche Weise 
er dem Thiere beigebracht wird. 

8. Die Erhöhung geschieht auch ohne den geringsten Ge- 
fühlsreiz auf die äusseren Gewebe oder auf die Schleim¬ 
häute. 

Wegen der grösseren Klarheit in der so viel widersprochenen 
Sache gebe ich hier zwei der Curven; die erste aus meinen Ver¬ 
suchen von 1890 stammend, aber damals nur in einfachen Zahlen 
niedergelegt, die zweite aus der jetzigen Versuchsreihe von 
C. Wilmanns. 

Figur 1 wurde von mir selbst an einem Kaninchen von 

1) C. Binz, Der Weingeist als Aizneimittcl. Centralbl. f. klin. 
Med. 1891, S. 1. 

2) A. Jaquet, Contribution s\ l’etude de l’action de l'aleool sur la 
respiralion. Archives de Pharmacodynamie 1895, 11, 107. 


1500 gr gewonnen. Der Buchstabe W bedeutet vollkommen 
schmerzloses Einspritzen von Weingeist in die Jugularvene. Der 
Weingeist war mit der dreifachen Menge lauwarmem Wasser 
verdünnt. Die drei Gaben waren: 0,2, 0,25, 0,25 ccm absoluten 
Weingeistes. 

Figur 2 wurde gewonnen des Vormittags an einem 21jährigen 
gesunden Mediciner, der nichts von dem Zwecke des Versuches 
wusste. Der Buchstabe X bedeutet jedesmal die Aufnahme eines 
Xeresweines von 15 Volumprocent Alkohol. Die Ordinaten der 
Curve besagen die Zahl der Liter Luft, die jedesmal binnen 
5 Minuten eingeathmet wurden. 

Figur 1. 

Ccm. 



MtnuUnS 10 IS 21 » 30 IIW «S fl U CI 


Die erste Aufnahme des Xeres betrug 80 ccm, die zweite 
120, die dritte 160. Also im Ganzen 350 ccm mit 54 ccm ab¬ 
absolutem Alkohol. 

Nach dem Versuche war leichte Ermüdung vorhanden. Als 
dem Mediciner jetzt der Zweck des Versuches erklärt wurde, 
war er erstaunt, zu hören, dass seine Athmung gestiegen war, 
denn er hatte den Eindruck, sie sei nach der 3. Aufnahme des 
schweren Weines oberflächlich geworden. 

Ein zweiter Versuch an einem anderen 21 jährigen Manne 
mit einer einmaligen Gabe von 150 ccm Xeres (= 22,5 ccm 
absol. Alkohol) verlief ganz ebenso. In beiden Versuchen ist 
bcmerken8werth, dass die bedeutende Steigerung der Athem¬ 
grösse anhielt, solange beobachtet wurde: einmal 2 Stunden 
10 Min. nach der Aufnahme der ersten Gabe Wein, das andere 
Mal nahezu 2 Stunden. 

Weitere Untersuchungen am Menschen, mit deren Einleitung 
ich beschäftigt bin, werden uns wohl auch über die Dauer der 
Wirkung belehren. 

Es wurde von uns ferner untersucht, ob die erregende Wir¬ 
kung des Weingeistes sich dann noch geltend mache, wenn die 


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15. März 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


223 


Athmung durch eine sie herabdrückende Gabe Morphin, einge¬ 
spritzt von der Jugularis aus, beeinflusst sei. Sie fehlte auch 
dann nicht. 

Es kommt also gar nicht darauf an, ob das Bewusstsein 
oder die willkürlichen Bewegungen eines Kranken durch den 
Weingeist erregt oder gedämpft werden, Sondern nur darauf, ob 
die unwillkürlichen Bewegungen der Athmungsorgane und des 
Herzens durch den Weingeist einen Zuwachs erfahren. Und 
deshalb sind alle Hinweise, die davon ausgehen, dass der Wein¬ 
geist das Sensorium einschläfere, oder dessen Hemmungsapparate 
ausschalte, ohne die geringste Entscheidung für seinen Werth als 
eines Stimulans anderer Organe. 

Feiner: Die Grösse der Gabe ist auch hier von hervor¬ 
ragender Bedeutung, ebenso gut wie bei anderen Stimulanzen, 
die alle durch verkehrte Dosirung zum Gifte werden statt zum 
Heilmittel. Das gilt für Aether, Campher, Strychnin, Atropin 1 ), 
für den elektrischen Strom u. s. w. in genau derselben Weise. 

Aber ausser der Gabe ist bestimmend für die Erfolge der 
Praxis die Güte der Alkoholica, die in ihr verwendet werden. 
Für den kranken Menschen soll nur das Beste gut genug sein. 
Es hängt von vielen Factoren ab, unter Anderem von der Anwe¬ 
senheit der natürlichen angenehmen Riechstoffe, die guten Weinen 
eigen sind. Einen davon, den Essigäther, habe ich eingehend 
untersuchen lassen 2 ) und wir fanden, dass kleine Mengen von 
ihm ganz in derselben Richtung wirken, wie mässige Gaben 
Weingeist. Von den anderen Estern der Methanreihe, die eben¬ 
falls in edlen Weinen vertreten sind, werde ich demnächst das 
Gleiche mittheilen können. 

Vinum generosum, so nannte die erste deutsche Pharma¬ 
kopoe von 1872 den Wein, den alle Apotheken vorräthig halten 
sollten, damit auch in der nördlichsten Gegend des Reiches der 
Arzt wenigstens an Einer Stelle einen zuverlässigen Wein haben 
könne. Das amtliche Arzneibuch von 1895 hat den Begriff von 
1872 stillschweigend beibehalten und geht schon weiter in dessen 
Festlegung. Es sagt: „Wein, das durch Gährung aus dem 
Safte der Weintraube gewonnene, nicht verfälschte Getränk“ und 
nun folgt der Hinweis auf gesetzliche Bestimmungen Uber die 
Untersuchung der Beschaffenheit des Weines. 

Die Wahl des Weines in jedem einzelnen Falle richtet sich 
ganz nach den Einzelanzeigen, ob z. B. Gerbstoff, Pflanzensäure, 
Arom oder viel Alkohol in dem zu verordnenden Getränke er¬ 
wünscht oder nachtheilig ist. In keinem Falle darf ein zu 
junger oder trüber oder mit irgend welchen Zusätzen verfälschter 
Wein am Krankenbette zur Anwendung kommen. Der Arzt muss 
unterrichtet sein Uber die Quelle, woraus er ein zuverlässiges 
Alkoholicum bezieht. Es gehört das ebenso gut zu seinen notli- 
wendigen pharmakologischen Kenntnissen, wie die Kenntniss der 
nothwendigsten und einfachen Prüfungen des Aethers oder Chloro¬ 
forms, das er einathmen lässt. 

Nirgendwo ist die Reaction gegen den Weingeist als Heil¬ 
mittel stärker als in England. Vielleicht oder wahrscheinlich 
hängt das damit zusammen, dass nirgendwo mehr gefälschte und 
unechte, dem gesunden Menschen Kopfschmerz, Uebelkeit und 
Unbehagen machende Alkoholica verkauft werden als dort. Ins¬ 
besondere gilt das für den dort so viel angewandten Brandy 
(Cognac). Wie es um dessen Echtheit steht, möge klar werden 
aus der Thatsache, dass Frankreich im Durchschnitte jährlich 
gegen 124620 Hektoliter Brandy in England einfuhrt, dass aber 
Frankreich im Durchschnitte jährlich nur gegen 25000 Hekto- 


1) C. Binz, Die Wirkung übergrosser Gaben Atropin auf die 
Atbmung. Berl. klin. Wochenscbr. 1896, No. 40. 

2) P. Krautwig, Der Essigäther als Erregungsmittel. Centralbl. 

f. klin. Med. 1898, S. 358. 


liier Weinalkohol erzeugt. 1 ) Da nun von diesen 25000 Hekto¬ 
litern ein guter Theil in seinem Ursprungslande bleibt und nach 
anderen Ländern verkauft wird, so lässt sich daraus ungefähr 
schätzen, wieviel echten Cognac England zu trinken bekommt. 

Im Uebrigen sind wir in Deutschland in Bezug auf den 
französischen Cognac nicht viel besser gestellt. Darum kann man 
sich darüber nur freuen, dass unsere Aerzte am Krankenbette 
wohl meistens die Naturweine des In- und Auslandes vorziehen. 

Der Uber ganz Grossbritannien verbreitete Whisky, aus 
Gerste bereitet, das tägliche Getränk der Kneipen und der 
Tafeln, an diesen mit Sodawasser vermischt, wird, soweit meine 
Wahrnehmung reicht, von denen, die den alten abgelagerten 
nicht bezahlen können, viel zu jung getrunken. Dass er in 
diesem giftigen Zustande nicht für kranke Menschen taugt, ist 
selbstverständlich. Das gilt auch für unseren Kornbranntwein, 
wenn er jung ist. 

„Wer gut zu individualisiren versteht, für den ist der Al¬ 
kohol als Nervinum und Tonicum ein unschätzbares Hilfsmittel; 
wer 8chematisirt, für den ist er ein zweischneidiges Schwert“, 
so die Ansicht eines unserer Kliniker 5 ). Ich füge hinzu — was 
übrigens auch an der citirten Stelle hervorgehoben ist —, dass 
dieses Individualisiren nicht nur auf den Kranken und seinen 
Zustand, sondern auch auf die Beschaffenheit des Getränkes be¬ 
zogen werden muss. 


II. Aus dein Institut für Hygiene und Baeteriologie 
der Kaiser Wilhelms-Universität Strasslmrg i. E. 

Ueber die Widal’sche Serumdiagnose des 
Typhus abdominalis 

Von 

Dr. J. C. Th. Scheffer aus Amsterdam. 

Nachdem Breuer*) in dieser Wochenschrift die Aufmerk¬ 
samkeit der deutschen Kliniker auf die WidaUsche Serum- 
reaction, als ein w'erthvolles Hülfsmittel bei der Diagnose von 
Typhus abdominalis gelenkt hatte, erschienen in kurzer Reihen¬ 
folge die Arbeiten von Stern*), Haedke 5 ), C. FraenkeP), 
du Mesnil de Rochemont"), E. FraenkeP) und Pfuhl 9 ), 
Uber dasselbe Thema. Alle diese Autoren äussem sich in sehr 
günstigem Sinne über den Werth der Methode. Stern, 
Haedke und Rochemont wiesen darauf hin, wie dies Widal 10 ) 
übrigens bereits angegeben hatte, dass, um sichere Resultate zu 
erlangen, ein bestimmtes Verhältniss vom betreffenden Serum 
zur Typhusbouillon nicht überschritten werden darf, da grössere 
Mengen von nichttyphösem Serum in gleicher Weise die Er¬ 
scheinungen der Agglutination hervorzurufen im Stande sind. 
Während Stern bei den von ihm gebrauchten Culturen ein Ver¬ 
hältniss von mindestens 1 zu 100 für nöthig hielt, um mit Siclier- 


1) Man vgl. die Einzelheiten bei E. Seil, Cognac, Rum und Arrac, 
das Material zu ihrer Darstellung u. s. w. Sonderabdruck aus den Ar¬ 
beiten des Kaiserl. Gesundheitsamtes. 1891. 

2) C. von Noorden, Die Zuckerkrankheit und ihre Behandlung. 
Berlin 1895, S. 148. 

8) Berl. klin. Wochenschrift 1896, No. 47 und 48. 

4) Centralbl. für klin. Medicin 1896, No. 49. 

5) Deutsche medicin. Wochenschrift 1896, Xo. 2. 

6) Ebenda. 1897, No. 3. 

7) Münchener medicin. Wochenschrift 1897, No. 5. 

8) Ebenda. 1897, No. 5. 

9) Centralbl. f. Bact. und Parasitenkunde, Bd. XXI, No. 2. 

10) Sem. med. 1896, S. 488. 

1 * 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 11. 


_22 4 

heit einen Schluss ziehen zu dürfen, erachtet Haedke eine Ver¬ 
dünnung von 1 zu 50 schon massgebend und erwähnt duMesnil 
de Roehemont selbst 1 zu 25 als eine brauchbare Grenze. — 
Nur Jez 1 ) ist der Meinung, dass die Serumdiagnostik kein ab¬ 
solut sicheres Verfahren sei, weil er sowohl im Serum einiger 
Gesunden, als in dem einer Person, die an einer zweifellosen, 
durch die Autopsie bestätigten Meningitis tuberculosa litt, cha¬ 
rakteristische agglutinirende Eigenschaften gefunden hatte. Da 
er aber die von ihm benutzten Quantitäten des Serums nicht 
genau angiebt, sondern nur von „einer kleinen Menge“ spricht, 
so kann seinen Ergebnissen vorläufig kein grosser Werth bei¬ 
gelegt werden. 

Durch das freundliche Entgegenkommen der Herren Prof. 
Naunyn und Prof. Kohts, hatte ich Gelegenheit mehrere 
Typhusfälle aus der hiesigen medicinischen Klinik, und aus der 
Kinderklinik serumdiagnostisch zu untersuchen. Diesen Herren 
sowohl als Herrn Prof. Förster und Privatdocenten Dr. E. Levv, 
die mich bei der Ausführung meiner Untersuchungen im Institut 
für Hygiene und Bacteriologie sehr wesentlich unterstützten, bin 
ich zu grossem Dank verpflichtet. 

Da ein endgültiges Urtheil Uber den diagnostischen Werth 
der Widal’schen Serumprobe schliesslich nur durch eine kri¬ 
tische Zusammenstellung aller Beobachtungen möglich sein wird, 
halte ich es durchaus für wünschenswert!), dass ein Jeder, 
welcher das Verfahren zu prüfen Gelegenheit hatte, seine Er¬ 
gebnisse veröffentlicht, und es sei mir deshalb gestattet, auch 
meine Erfahrungen hier kurz mitzutheilen. 

Im Ganzen kamen 21 Typhusfälle zur Untersuchung, in 
welchen allen das Resultat ausnahmslos ein positives war. Die 
angewandte Methode war meistens die zweite Modification des 
WidaUschen Verfahrens, welche auch von Breuer mit Vorliebe 
benutzt wurde, und darin besteht, dass ein sterilisirtes Bouillon¬ 
röhrchen mit einer bestimmten Serummenge beschickt, dann so¬ 
gleich mit einer Oese einer 24 ständigen Typhusagarcultur geimpft 
und in den Brutschrank bei 37 n gestellt wird. Bei positivem 
Ausfall der Reaction hat sich nach 14—18 Stunden, bisweilen 
auch schon früher, ein flockiges Depot am Boden des Reagens¬ 
glases angesammelt, während die Nährflüssigkeit ganz klar er¬ 
scheint. Bei negativem Erfolge dagegen ist die Bouillon gleich- 
mässig getrübt und hat das für Tvphusculturen charakteristische 
moirirte Aussehen angenommen, während sich am Boden des 
Röhrchens kein oder ein sehr geringes, nicht flockiges Sediment 
abgesetzt hat. 

Die mikroskopische Methode habe ich in den meisten 
Fällen ebenfalls angewandt. Dieselbe kommt mir aber als sog. 
„Augenblicksverfahren“ vor der Controle der makroskopischen 
Reaction, nicht zuverlässig genug vor, während sie nachträglich, 
zumal bei unzweideutigem positivem Ausfall der makroskopischen 
Probe, kaum mehr einen Sinn hat. 

Es stellte sich bei meinen Untersuchungen nun bald heraus 
— und zwar unabhängig von den Beobachtungen von Stern, 
Haedke und Roehemont, deren Aufsätze damals noch nicht 
veröffentlicht, oder wenigstens nicht zu meiner- Kenntniss ge¬ 
kommen waren — dass das ursprünglich von Widal angegebene 
Verhältniss von 8 Tropfen Serum zu 4 ccm Typhusbouillon, das 
ist also 1 zu 10, nicht das Richtige sein konnte, weil ich z. B. 
auch mit Serum von 2 Nichttyphösen (Vitium cordis und Tuber- 
culose), die auch nach dem, was man erfahren konnte, kernen 
Typhus durchgemacht hatten, in dieser Proportion die Aggluti- 
nirung der Typhusbacillen constatiren konnte. Die Reaction fiel 
in solchen Fällen immer negativ aus, sobald ich auf 1 zu 20 
herabging; jedoch blieb sie beim Typhusserum noch deutlich 


1) Wiener mcdicin. Wochenschrift, IG. Januar 1897. 


ausgesprochen bei einem Verhältniss von 1 zu 50, in 4 Fällen 
sogar bei einer Verdünnung von 1 zu 100. Ich habe deshalb 
in den nachfolgenden Fällen immer eine Reihe von Verdünnun¬ 
gen angelegt, und zwar in der Weise, dass 4 Bouillonröhrchen 
welche genau 5 ccm Bouillon enthielten, mit 8, 4, 2 und 1 Tropfen 
des zu untersuchenden Serums beschickt und dann weiter wie 
oben beschrieben, behandelt wurden. 

Was den Krankheitstag betrifft, an welchem die Widal- 
sche Probe angestellt wurde, so war dieser sehr verschieden 
und wechselte vom Ende der ersten Woche ab, bis weit in die 
Reconvalescenz hinein. Die Fälle, in welchen die Reaction bei 
einem Verhältniss von 1 Serum zu 100 Bouillon noch sehr schaif, 
also die agglutinirenden Eigenschaften am stärksten ausgeprägt 
waren, betrafen 2 Männer auf der Höhe eines Recidivs, einen 
Mann mit mittelschwerem Typhus am 19., und 3 Kinder am 12., 
15. und 29. Krankheitstage. Die Differenzen in der Stärke der 
Agglutinirungserscheinungen scheinen im Allgemeinen nicht von 
der Schwere des Krankheitsfalles oder von der Krankheitsdauer 
allein abzuhängen. Unter den Fällen, welche eine etwas weniger 
starke Reaction darboten, also erst beim Verhältniss von 1 Theil 
Serum zu 50 Theilen Bouillon, befanden sich mehrere, die einen 
schweren Verlauf zeigten; einer endete sogar letal. Es kommen 
in dieser Hinsicht vielleicht verschiedene andere Momente in 
Betracht, z. B. die Virulenz des Infectionserregers, die Wider¬ 
standsfähigkeit des inficirten Organismus, die Art der Verbrei¬ 
tung des Krankheitserregers im Körper etc., kurz, Factoren, die 
noch einer näheren Prüfung harren. Die von Widal ange¬ 
gebene Regel, dass die Stärke der Reaction gewöhnlich bei 
Reconvalesccnten abnimmt, fand ich in zwei meiner Fälle be¬ 
stätigt, welche am 29. resp. 30. Tage nach der Entfieberung 
erst bei einer Verdünnung von 1 zu 25, eine deutliche Reaction 
eigaben. Das scharfe Hervortreten der Agglutinirnng bei den 
Recidiven befestigt ebenfalls Widal’s Meinung, dass die Agglu¬ 
tination nicht eine Immunitäts- sondern eine Infectionsreaction 
darstellt. 

Als Beweis, welche wichtige Dienste zur Sicherstellung der 
Diagnose die Wi dal 'sehe Reaction zu leisten im Stande ist, in 
Fällen, wo die klinischen HUlfsmittel uns im Stiche lassen, er¬ 
laube ich mir, Uber 2 Fälle kurz zu berichten, deren Kranken¬ 
geschichten Herr Privatdocent Dr. Siegert die Güte hatte, mir 
mitzutheilen. 

Johann B., 1()'/ 2 Jahre alt, erkrankte am 81. I. 97 mit allgemeinen 
Schmerzen, Müdigkeit nnd Constipation, sowie angeblich beständig hohem 
Fieber und Delirien. Bei der Aufnahme am 8. II. 97 war Patient sehr 
somnolent, etwas nnrnhig und zeigte geringen Belag des Zahnfleisches 
und der Znnge. Abends ziemlich hohes Fieber. Leib eingesunken, 
kein Milztnmor, jedoch bräunliche, erbsengrosse Flecken am Abdomen, 
ähnlich abgeblassten Roseolen, die am folgenden Tage schon nicht mehr 
zu sehen waren. Kein gurrendes Geräusch, noch Schmerzen bei Druck 
in der Coecalgegend; geringe diffuse Bronchitis. Bis am 14. II. 97 un¬ 
regelmässiges, remittirendes Fieber, und hartnäckige Conatipation bei 
grosser 8omnolenz und allmählich zunehmenden meningealen Erschei¬ 
nungen: jäher Farbenwechsel des Gesichts mit intensivem Trousseau- 
schen Phänomen, kahnfbrmige Einziehung des Leibes, meningitischer 
Puls, und Lage mit hoch angezogenen Knieen, die Hände vor den 
Genitalien. Am 11. II. 97, also am 12. Krankbeitstage, entnahm ich 
mittelst einer sterilisirten Spritze etwas Blut aus einer Vene in der 
Ellbogenbenge und stellte mit dem Serum die Widal’sche Probe an, 
die ein unzweideutiges positives Resultat ergab, selbst bei einem Ver¬ 
hältniss von 1 zu 100. Zwei Tage später, also am 14. Krankheitstage 
subnormale Temperatur. Am 19. II. spontan erfolgender Stuhl; das 
Sensorium wird freier und von nun an beginnt die Reconvalescenz, die 
ganz normal verlief. 

Der Bruder dieses Knaben war 4 Wochen vorher unter 
den folgenden Erscheinungen erkrankt: 

August B., 9 Jahre alt, war angeblich gesund bis 30. XI. 96, wo 
er mit Schmerzen im Kopfe und Leibe, sowie mit Fieber erkrankte. 
Es bestand Stuhlverstopfung, die erst am 11. December mittelst Calomel 
beseitigt wurde. Bei der Aufnahme am 13. XII. war das Kind in einem 
gewissen Erregungszustand; Leib ein wenig aufgetrieben, im Allgemeinen 
etwas schmerzhaft; kein Milztumor; keine Roseolen; Puls frequent, sehr 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


225 


_15. Mürz 1897. 

klein und weich, erinnernd an Peritonitis. Abgesehen von leichter 
diffuser Bronchitis durchaus normaler Befund. Im weiteren Verlauf bot 
der Pat. Krankheitssymptome, wie sie bei tuberculöser Peritonitis oder 
Tuberculose der Mesenterialdriisen Vorkommen: hartnäckige Constipation, 
niemals 8chmerzcn, geringes remittirendes Fieber, wechselnd mit fieber¬ 
freien Tagen, ziemlich viel Indican im Harne. Von 28. XII. 96 bis 
3. I. 97 finden sich stärkere Abendexacerbationen, Morgens normale oder 
subnormale Temperaturen. Das Fieber hält an bis zum 8. I. 97, wo 
Pat. nach hohem Einlauf von Olivenöl 4 abnorme copiüse, feste Stühle 
entleert. Von nun an folgt ein bis drei Mal täglich normaler Stuhl und 
bleibt Pat. dauernd fieberfrei. Dr. Siegert bot mir die Gelegenheit, 
auch diesem Jungen am 15. II., also am 38. Tage der Reconvalescenz, 
etwas Blut zu entnehmen. Das WidaFsche Verfahren ergab auch hier 
im Verhältnis« von 1 zu 25 typische Agglutination, während bei 1 zu 50 
noch eine deutliche Andeutung der Reaction nicht zu verkennen war. 

In beiden Fällen waren also die klinischen Erscheinungen 
sehr wenig ausgesprochen. In dem ersten Fall waren eigentlich 
nur die abgeblassten RoseolaHecken, die am folgenden Tage 
schon wieder verschwunden waren, das einzige positive Typhus¬ 
symptom; es fehlten: Milztumor, typischer Fieberverlauf und 
namentlich alle Darmerscheinungen. Im zweiten Falle fehlten 
sogar auch die Roseolen und erregte das Krankheitsbild mehr 
den Verdacht auf Tuberculose des Peritoneums. Selbst wenn 
man dem Trousseau’schen Phänomen keine besondere Bedeu¬ 
tung zuerkennt, und das Auftreten der Constipation in den 
ersten Krankheitswochen des Typhus bei Kindern als ein oft 
vorkommendcs Ereigniss betrachtet, muss man gestehen, dass 
die Diagnose hier zweifelhaft erscheinen musste, bis die 
WidaFsche Reaction beide als Typhusfalle erkennen liess. — 
Bei zwei Kindern von 8',', und 3 1 /, Jahr, welche während sie 
an Typhus litten, noch dazu an bacteriologisch festgestellter 
Diphtherie erkrankten, gab die WidaFsche Probe ebenfalls ein 
unzweideutiges, positives Ergebniss bei einer Verdünnung von 
1 Theil Serum zu 100 Theilen Bouillon. Diese Mischinfection 
stört also die Reaction nicht. In zwei Fällen von reiner Diph¬ 
therie fiel sie aber deutlich negativ aus. 

Zum Schluss möchte ich noch folgenden Fall anführen als 
einen Beweis, dass eine nicht vollkommen reine Reaction als 
negativer Befund aufgefasst werden muss. 

Ein Mädchen von 4 Jahr, welches mit Diphtherie aufgenommen, 
schon seit 6 Wochen in der Kinderklinik verpflegt wurde, bekam 
diarrhöische Stühle mit mässig remittirendem Fieber. Am dritten Tage 
nach Anfang dieser Erscheinungen wurde eine WidaFsche Reaction 
vorgenommen, welche ein nicht ganz unzweideutiges Resultat darbot. 
Es hatte sich nämlich wohl ein Depot am Boden des Reagensglases 
abgesetzt, und die Bouillon war weniger getrübt als ein zu gleicher Zeit 
ohne Sernrazusatz geimpftes Controlröhrchen, aber sie war nicht ganz 
klar. Die mikroskopische Untersuchung des Sedimentes ergab auch 
wohl Iläufchenbildung, aber die Bacillen, namentlich die am Rande der 
Häufchen sich befindenden, zeigten noch einige schlängelnden Bewe¬ 
gungen. Am folgenden Tage fiel das Fieber schon wieder zur Norm 
ab, und cs verschwanden aueh die verdächtigen Stühle, so dass sicher 
nicht von einem Typhus in diesem Falle die Rede sein konnte. 

Nach allem Obengesagten muss ich also mich denjenigen 
Autoren anschliesscn, welche, so weit unsere Kenntnisse bis jetzt 
reichen, die WidaFsche Serumdiagnose, bei Berücksichtigung 
der quantitativen Verhältnisse, als ein schätzenswertes Illilfs- 
mittel bei der klinischen Diagnose des Typhus abdominalis 
ansehen. 

Nachtrag bei der Correctur. Veranlasst durch die 
eben erschienene Arbeit von Rolle: Zur Serodiagnostik des 
Typhus abdominalis, Deutsche med. Wochenschr. 1897, No. 9, 
möchte ich noch ausdrücklich erwähnen, dass ich selbstver¬ 
ständlich nur mit geeigneten, günstigen Nährböden gearbeitet 
habe (in den Controlröhrchen war immer eine deutliche Ent¬ 
wickelung zu constatiren), dass weiter unsere Typhusbacillen 
lebenskräftig und virulent waren. 


III. Ueber Fehlerquellen der Serodiagnostik. 

Van 

Dr. Richard Stern, Privatdocent iu Breslau. 

Die Untersuchungsmethode, die F. Widal in Paris Mitte 
vorigen Jahres zur Diagnose des Abdominaltyphus einführte und 
die er als Serodiagnostik bezeichnete, hat im Laufe der 
letzten Monate auch ausserhalb Frankreichs zahlreiche Nach¬ 
prüfungen erfahren. Aus Deutschland und Oesterreich liegen 
Mittheilungen von Lichtheim ') und seinem Assistenten Breuer 2 ), 
von mir*), Haedke 4 ), C. Fränkel*), Jez 6 ), F. Pick 7 ), Pfuhl 8 ), 
du Mesnil de Kochemont**), E. Fränkel 10 ) u. A. vor. Aus 
England hatte Grün bäum 11 ), der unter Gruber's Leitung unab¬ 
hängig von Widal arbeitete, über ganz ähnliche Ergebnisse 
berichtet; seitdem sind von dort, sowie auch aus Italien 12 ) und 
Nordamerika zahlreiche einschlägige Mittheilungen erschienen. 

Die ausgedehnte Literatur, die bereits Uber die Serodiagno¬ 
stik existirt, enthebt mich der Nothwendigkeit, hier noch einmal 
die Entwicklung dieses Verfahrens aus den neueren Arbeiten über 
die Wirkungsweise des Blutserums immunisirter Thicre sowie 
die von Widal selbst geübte Art des Vorgehens zu schildern. 
Fast alle Autoren stimmen darin überein, den diagnostischen 
Werth der neuen Untersuehungsmethodc anzuerkennen. Der 
grosse Eifer, mit dem dieselbe jetzt offenbar in den meisten Kli¬ 
niken und Krankenhäusern, die Uber Typhusmaterial verfügen, 
angewandt wird, zeigt am besten, wie tief das Bedürfniss nach 
einer leicht und sicher zum Ziele führenden ätiologischen Dia¬ 
gnose des Abdominaltyphus empfunden wird. Kaum bei einer 
anderen Infectionskrankheit hat die Entdeckung ihres Erregers 
für die klinische Diagnose relativ so wenig geleistet, als dies 
bis vor Kurzem trotz zahlreicher Bemühungen beim Abdominal¬ 
typhus der Fall war. Die Gründe hierfür sind zu bekannt, um 
hier noch einmal besprochen zu werden. 

Vom klinisch-diagnostischen Standpunkte aus erscheint 
die Feststellung des Abdominaltyphus durch bacteriologischc 
Untersuchung in zahlreichen Fällen kaum minder nothwendig, 
als die bactcriologische Diagnose der Diphtherie und der Cholera, 
wenn auch letztere aus rein praktischen Gründen viel wich¬ 
tiger ist. Die Unterscheidung der sogen, abortiven Fälle und 
des „Typhus levissimus“ von „fieberhaften Magendarmkatarrhen u 
ist mit Sicherheit nur auf diesem Wege möglich; und so leicht 
die Erkennung der typischen Fälle von Abdominaltyphus ist, so 
schwer kann bekanntlich die Unterscheidung von anderen Infec- 
tionskrankheiten werden, wenn entweder lediglich die Erschei¬ 
nungen schwerer Allgemein-lnfection zu constatiren sind oder 
das Ilervortreten gewisser localer Symptome (von Seiten der 
Lungen, Meningen, Nieren) die Verwechselung mit andersartigen 
Erkrankungen der betreffenden Organe nahelegt. 

1) Verein für wissenschaftliche Heilkunde zu Königsberg i. Pr. 
Sitzung am 26. October 1896. 

2) Berl. klin. Wochenschrift 1896, No. 47 u. 48. 

3) Medicinische Section der Sehles. Gesellschaft für vaterländische 
Cultur zu Breslau. Sitzung vom 6. November 1896. Centralblatt für 
innere Medicin 1896, No. 49. 

4) Deutsche med. Wochenschr. 1897, No. 2. 

5) Ibid. No. 3. 

6) Wiener med. Wochenschrift 1897, No. 3. 

7) Wiener klin. Wochenschr. 1897, No. 4. 

8) Centralblatt für Bacteriologie, Bd. XXI, No. 2, 1897. 

9) Münchener med. Wochenschrift 1897, No. 5. 

10) Ibid. 

11) Lancet, 19. September 1896. Referirt Semaine medieale 1896, 
No. 52. 

12) Vergl. Jemma, Centralblatt für innere Medicin 1897, No. 3. 
Daselbst auch weitere Literaturangaben. 

2 


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220 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 11 


Die diagnostische Bedeutung, die wir nach den bereits vor¬ 
liegenden Erfahrungen der Serodiagnostik zuschreiben dürfen, 
muss uns veranlassen, dieselbe möglichst genau zu studiren, um 
vor Täuschungen und Enttäuschungen bewahrt zu werden. Vor 
allem ist es nothwendig, die Fehlerquellen der Methode 
kennen zu lernen. 

Auf eine bemerkenswerthe Fehlerquelle habe icli bereits in 
meiner früheren Mittheilung (1. c.) aufmerksam gemacht: Es 
giebt Blutsera von Nicht-Typhuskranken, die eben¬ 
falls eine deutliche agglutinirende Wirkung auf Ty¬ 
phusbacillen ausüben und zwar in manchen Fällen 
noch in solcher Verdünnung, dass dadurch, wenn man 
sich an die ursprünglichen Vorschriften Widal’s hält, 
Täuschungen veranlasst werden können. 

Widal hat angegeben, dass man Serum und Typhuscultur 
im Verhältniss 1:10 bis 1:15 vermischen soll; er rieth, wenn 
dabei ein positives Resultat sich nicht ergäbe, auf 1 :5 herunter- 
zngehen. Da manche Sera von Nicht-Typhuskranken, die auch, 
soweit festzustellen, früher niemals an Typhus gelitten hatten, 
auf meine Culturen im Verhältniss 1 : 10, in einem Falle sogar 
noch im Verhältniss 1 :20 innerhalb der ersten Stunde einwirkten, 
so gelangte ich zu dem Resultat: es muss für jede zur Sero¬ 
diagnostik zu verwendende Typhuscultur dasjenige 
Verhältniss von Serum und Cultur festgestellt werden, 
bei dem das Serum von Nicht-Typhuskranken sicher 
wirkungslos ist. Ich habe mich inzwischen bemüht, diese 
Grenze für meine Culturen möglichst genau festzustellen. Wenn 
ich diese Untersuchungen bereits jetzt mittheile, so geschieht 
dies, weil die erwähnte Fehlerquelle für die inzwischen von 
einigen Autoren berichteten Misserfolge mit der Widal’sehen 
Methode zum Theil mit Sicherheit, zum Theil möglicherweise 
verantwortlich zu machen ist. 

Ich muss übrigens hierbei hervorheben, dass bereits Gruber 1 ), 
als er auf dem letzten Congress für innere Medicin zu Beobach¬ 
tungen Uber die agglutinirende Wirkung des Blutserums von 
Menschen, welche Typhus und Cholera überstanden haben, auf¬ 
forderte, darauf aufmerksam machte, dass auch normales Men¬ 
schenserum in 50proc. Concentration „stark agglutinirend auf 
verschiedene Bacterienarten wirkt“. Flir derartige Untersuchun¬ 
gen müsse „die Agglutinationswirkung gewissermaassen austitrirt 
werden, indem man feststellt, welche Verdünnung eben noch — 
sagen wir — binnen 1 Stunde Spuren von Verklebung bewirkt“. 

Will man quantitative Untersuchungen Uber die agglutini¬ 
rende Wirkung des Blutserums anstellen, so müssen die Bedin¬ 
gungen, unter denen dies geschieht, thunlichst genau fixirt sein: 
die Beschaffenheit der verwendeten Cultur, die Temperatur, 
bei der der Versuch angestellt wird, die Zeit, bis zu welcher 
er ausgedehnt wird, und die Merkmale, nach denen die man 
Wirkung des Serums beurtheilt. 

Alle im Folgenden mitgetheilten quantitativen Bestimmungen 
sind mit ein- und derselben Typhuscultur angestellt; doch wur¬ 
den auch Controluntersuchungen mit anderen Culturen vorge¬ 
nommen. Insbesondere war ich Dank der Freundlichkeit des 
Herrn Professor Widal in der Lage, einige mir von ihm über¬ 
sandte Culturen mit den von mir benutzten vergleichen zu 
können. Ich will gleich hier bemerken, dass sich erhebliche 
Unterschiede zwischen den verschiedenen bisher von mir unter¬ 
suchten Culturen nicht ergeben haben 2 ). 

1) Verhandlungen des XIV. Congresses für innere Medicin. Wies¬ 
baden 1896. 8. 214. 

2) Dagegen macht es ein Vergleich der nnten citirten Mittheilungen 
du Mesnil’s über die Wirkung des Serums von Nichttyphösen mit den 
hier zu gebenden'wahrscheinlich, dass seine Culturen leichter zu agglu- 
tiniren sind, als die meinigen und diejenigen Widal’s. Wenn der von 


Nicht über 20 Stunden alte Agarculturen — in letzter Zeit 
wurden meist 8—12stündige (bei 37° gezüchtet) verwendet — 
werden mit steriler Bouillon aufgeschwemmt. Dann wird ein 
Controlpräparat angefertigt, um zu constatiren, ob die Auf¬ 
schwemmung nur isolirte, gut bewegliche Bacillen enthält. 

Für absolut genaue Bestimmungen mag es wiinschenswerth sein, 
die Dichte der verwendeten Aufschwemmung stets thunlichst gleich zu 
nehmen. Bisher habe ich mich begniigt, dies annähernd zu erreichen, 
indem ich eine schräge Agarcultur je nach der Ausdehnung in 10 bis 
15 ccm Bouillon aufschwemmte; doch beabsichtige ich noch zu unter¬ 
suchen, ob eine feinere Abmessung der Dichte — die ja ohne erhebliche 
Schwierigkeit zu erreichen wäre — für praktische Zwecke von Be¬ 
lang ist. 

Nun werden die zu untersuchenden Mischungen von Blut¬ 
serum und Culturaufschwemmung hergestellt. Hierzu fand ich 
die Capillarpipette und das graduirte Glasröhrchen des Gowers- 
schen Hämoglobinometers 1 ) (durch Erhitzen im Trockenschrank 
sterilisirt) sehr geeignet. 

Zu meinen Untersuchungen benutze ich fast ausschliesslich Blut 
aus der desinfleirten und mit sterilem Wasser abgewaschenen Finger¬ 
beere. Ich halte es für einen grossen Vorzug der Widal’scben Me¬ 
thode, dass minimale Blutmengen dazu ansreichen. Auch zur An¬ 
stellung einer quantitativen Untersuchung genügt z. B. 
diejenige Serummenge, zur Noth sogar diejenige Blut¬ 
menge, welche die Maasseinheit des Gowers’scben Instru¬ 
ments darstellt, d. h. '/oo ccm. 

In letzter Zeit habe ich zur Blutentnahme gewöhnlich weitere Ca- 
pillaren (etwa ‘/i mm innerer Durchmesser) benutzt, als die dem Go¬ 
wers’schen Apparat beigegebene Capillarpipette, weil es mit ihnen 
rascher gelingt, die für Serum-Versuche nothwendige Blutmenge (min¬ 
destens V, ccm) zu gewinnen. Aus einer solchen wiederholt durch An¬ 
saugen mittelst eines Gumraiansatzes gefüllten Capillare wird das Blut 
in ein steriles Gläschen entleert; ich benutze dazu kleine, zu der Labo¬ 
ratoriums-Centrifuge passende Gläser. Ist die Gerinnung eingetreten, so 
wird der Blutkuchen von dem Glase durch einen ausgeglübten Platin¬ 
draht getrennt, worauf sich gewöhnlich sehr bald eine kleine Menge 
Serum ausscheidet (durch Centrifugiren zu beschleunigen). 

Für Versuche mit geringen Verdünnungen des Serums wird die 
Capillarpipette des Gowers’schen Apparats erst, so oft als nöthig, bis 
zu der Marke mit Typhuscultur-Aufschwemmung gelullt; dann wird die 
Pipette mit sterilem Wasser ausgewaschen und durch die Flamme ge¬ 
zogen, einmal bis zum Theilstrich mit Serum gefüllt, und dieses de* 
Cultur hinzugefügt. Will man stärkere Verdünnungen hersteilen, so 
kann man zur Abmessung der Multipla das dem Apparat beigegebene 
graduirte Röhrchen benutzen. Durch geeignete vorherige Ver¬ 
dünnung des Serums lassen sich mit einem Theilstrich 
(0,02 ccm) Serum mehrere quantitative Bestimmungen an¬ 
stellen. 

Beispiel. Es sollen die Verdünnungen 1:25, 1:50, 1:100, 
1 : 200, 1 : 400 hergestellt werden. Ein Theilstrich Serum wird mit 
4 Theilstriehen steriler Bouillon vermischt; je 1 Theilstrich des Ge¬ 
misches wird zugesetzt 

zu 4, 9, 19, 89, 79 Theilen Typhusaufschwemmung. 

Es rcsultiren dann 5, 10, 20, 40, 80 Theile Serum - Culturmischung; jede 
dieser Mischungen enthält '/ 3 Theilstrich des ursprünglichen Serums. 
Damit sind die oben angegebenen Verdünnungen erreicht. 

Die Mischungen von Serum und Cultur werden in den Brut¬ 
ofen (37°) gestellt. Bei Zimmertemperatur geht die Wirkung 
des Serums merklich langsamer vor sich. 

Nach welchem Kriterium soll nun die Wirkung des Serums 
beurtheilt werden? Wie bekannt, ist dieselbe eine zweifache: 
Einerseits lähmt wirksames Serum die Bewegung der Bacillen, 
weshalb Pfeiffer und Kolle 2 ) neuerdings die Wirkung als 
paralysirende bezeichneten, andererseits lässt es die Bacillen 
zu Häufchen zusammenkleben: agglutinirende Wirkung Gru¬ 
ber’s. Ob beide Wirkungen, die wir in dem Serum der Typhus¬ 
kranken und mancher anderer Menschen vereinigt sehen, auf 

R. Pfeiffer und W. Kolle an Cholera-Culturen erhobene Befund, 
dass dieselben durch ein- und dasselbe Serum um so stärker beein¬ 
flusst werden, Je weniger virulent sie sind, in analoger Weise auch für 
Typhus-Culturen gelten sollte, so darf man daraus auf eine geringere 
Virulenz der du Mesnil’schen Culturen scliliessen. 

1) Bezogen von den Optikern Hotz & Sohn in Bern. Herr Hotz 
stellt neuerdings den Apparat mit einigen kleinen Abänderungen spe- 
ciell für die Zwecke der Serodiagnostik her. 

2) Centralblatt für Bactcriologie, Bd. XX, No. 4/5, 189G. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


15. M ärz 1 807. 

die gleichen Stoffe zurlickzuflihren sind, ist m. E. noch nicht ent¬ 
schieden. Jedenfalls giebt es Sera, in denen deutliche Häufchen¬ 
bildung auftritt, während sich daneben noch zahlreiche bewegliche 
Bacillen vorfinden, und andererseits habe ich in starken Verdün¬ 
nungen von manchem sehr wirksamen Typhusserum und in 
geringen Verdünnungen zahlreicher normaler Sera beobachtet, 
dass eine deutliche Verlangsamung, schliesslich fast vollständige 
Aufhebung der Bewegung eintrat, ohne dass es auch bei lange 
fortgesetzter Beobachtung zur Häufchenbildung kam. Meist 
beobachtet man in massigen Verdünnungen wirksamen Serums 
zuerst eine erhebliche Verminderung der Beweglichkeit und dann 
Häufchenbildung. Da der letztere Vorgang eine qualitative 
Aenderung darstellt, so ist seine Berücksichtigung für Grenz¬ 
bestimmungen entschieden vorzuziehen. 

Bekanntlich hat Widal — in Anlehnung an die Beob¬ 
achtungen von Gruber, R. Pfeiffer u. A. an dem Serum im- 
munisirter Thiere — gleichzeitig mit der eben erwähnten mikro¬ 
skopischen Reaction auch eine makroskopische empfohlen: 
1 Theil Serum wird zu 10—15 Theilen Typhuscultur oder zu 
steriler Bouillon, die dann mit Typhuscultur geimpft wird, zu¬ 
gesetzt; Klärung des Gemisches unter gleichzeitigem Ausfallen 
eines flockigen Sediments gilt als positive Reaction. 

Von vornherein ist selbstverständlich, dass die makro¬ 
skopische Reaction lediglich auf einer Summation derjenigen 
Vorgänge beruht, die wir mikroskopisch direkt verfolgen können, 
und dass sie daher weniger empfindlich sein muss, als die 
mikroskopische Reaction. Das lässt sich auch leicht durch 
Vergleichung feststellen. Bestimmt man durch fortschreitende 
Verdünnung die Grenze der Wirkung einerseits mikroskopisch, 
andererseits makroskopisch, so findet man sie im ereteren Falle 
ganz erheblich höher gelegen als im letzteren. Kommt es nun 
auf quantitative Unterschiede an, so wird man namentlich 
für zweifelhafte Fälle diejenige Art der Beobachtung vorziehen 
müssen, welche die genauesten Resultate giebt. 

Wenn im Gegensatz hierzu einige Autoren, wie Breuer, 
Haedke, du Mesnil (1. c.) die makroskopische Reaction der 
mikroskopischen vorziehen und geradezu behaupten, man tliäte 
gut, immer das Resultat der ersteren abzuwarten, so beruht 
dies bei den beiden erstgenannten darauf, dass sie sich strict 
nach den Vorschriften Widal’s gerichtet, d. h. gewöhnlich eine 
Verdünnung des Serums von 1 : 10 angewandt haben. In einer 
derartigen Verdünnung zeigen normale Sera gar nicht selten 
mikroskopische Reaction (vergl. die unten mitgetheilte Statistik), 
während die viel unempfindlichere makroskopische Reaction von 
ihnen meist nicht gegeben wird. Uebrigens haben sowohl 
Breuer wie Haedke mit Serum von Nicht-Typhösen makro¬ 
skopisch „zweifelhafte“ oder „Pseudo-Reactionen“ beobachtet. 
Beide Autoren geben zwar an, dass der entstandene Nieder¬ 
schlag feinkörniger gewesen sei, als bei „guter“ Reaction, doch 
fügt Haedke hinzu, dass ihm ein häufiges Vorkommen dieser 
„Pseudo-Reaction“ „immerhin recht unerwünscht erscheinen 
würde.“ 

Du Mesnil sieht die mikroskopische Reaction deshalb als minder- 
werthig an, weil sie mit der makroskopischen „nicht immer“ überein¬ 
stimme. Das ist, wie oben bemerkt, sogar niemals der Fall, insofern, 
als die erstere immer in noch viel stärkeren Verdünnungen nachweisbar 
ist, als die letztere. M. hat in einem Falle die mikroskopische Reaction 
im Verhältniss 1 : 20 und 1 : 30 positiv, die makroskopische 1 : 10 
negativ ausfallen sehen. Daraufhin nahm er Typhus an. Die Section 
ergab eitrige Meningitis, ulcerirtes Magencarcinom und Enteritis folli¬ 
cularis. Nun giebt aber M. an einer anderen Stelle seiner Arbeit an, 
dass er bei einem Verhältniss 1 : 10 „oft bei den verschiedensten Krank¬ 
heiten“ makroskopisch und mikroskopisch positive Reaction gefunden 
habe, zuweilen sogar im Verhältniss 1 : 20, und gelangt schliesslich zu 
demselben Resultate, wie ich in meiner früheren Arbeit, dass man einen 
Grenzwerth aufstellen müsse, oberhalb dessen normales 8erum unwirk¬ 
sam ist. Als solchen Grenzwerth bezeichnet er für seine Cultnren bei 
makroskopischer Reaction 1 : 25. Dann muss aber nach dem oben 


227 


Gesagten der Grenzwerth bei mikroskopischer Reaction noch wesent¬ 
lich höher angesetzt werden, und das Resultat der mikroskopischen Sero¬ 
diagnostik durfte daher in dem eben angeführten Falle nicht als positiv 
angesehen werden. Nicht die mikroskopische Methode, sondern die Art 
ihrer Anwendung war an der falschen Diagnose schuld. 

Ausser der grösseren Genauigkeit hat die mikroskopische 
Methode überdies den Vorzug der Schnelligkeit: sie führt sehr 
oft innerhalb weniger Minuten, spätestens — bei Anwendung der 
von mir gewählten zeitlichen Grenze (vergl. unten) — nach zwei 
Stunden, zur Entscheidung. Dagegen bestehen hinsichtlich der 
Zeit, nach der die makroskopische Reaction deutlich ist, erheb¬ 
liche Differenzen zwischen den einzelnen Autoren: die Angaben 
schwanken zwischen 4 bis 6 und 24 Stunden. Ferner hat 
Breuer beobachtet, dass Serum-Cultur-Mischungen, die sich nach 
einigen Stunden merklich geklärt hatten, nach 24 Stunden wieder 
trübe geworden waren. Auch ich habe das in einzelnen Fällen 
beobachtet; es hängt dies damit zusammen, dass der Ausfall 
der makroskopischen Reaction noch von einer Reihe 
variabler Factoren abhängt, die von der agglutiniren- 
den Wirkung des Blutserums unabhängig sind: von der 
Wachsthumsenergie der benutzten Cultur, der Qualität der ver¬ 
wendeten Bouillon und (bei nicht zu starken Serum-Verdün¬ 
nungen) von der bactericiden Wirkung des Blutserums. 

Mehrfach wurde in Mischungen von normalem Serum und Typhus- 
Aufschwemmung im Verhältniss 1 : 20 und darunter nach einigen Stun¬ 
den keine oder nur schwache Häufcbenbildung, deutlich verringerte oder 
ganz aufgehobene Beweglichkeit, daneben aber das Auftreten amorpher 
Massen beobachtet, die möglicher Weise auf die Wirkung der schon 
längere Zeit bekannten bactericiden Eigenschaft des normalen Blut¬ 
serums zu beziehen sind. 

Dazu kommt noch, dass man zur mikroskopischen Beob¬ 
achtung auch bei quantitativer Bestimmung mit erheblich ge¬ 
ringeren Serummengen auskommt, als bei der makroskopischen, 
dass ferner bei der ersteren die Verwendung sterilen Blutes 
— dessen Gewinnung aus der Fingerbeere nicht ganz leicht ge¬ 
lingt — unnöthig ist, wenn nur die Zeit zwischen Entnahme 
und Untersuchung nicht zu lang ist, bezw. das Blut bei niedriger 
Temperatur aufbewahrt wird. Demgegenüber bleibt auf der 
anderen Seite nur der einzige Vortheil der makroskopischen 
Beobachtung, der, da die Methode ohnehin die Hülfsmittel eines 
wenn auch nur kleinen Laboratoriums voraussetzt, nicht erheb¬ 
lich in Betracht kommt. 

Der Eintritt der mikroskopisch wahrnehmbaren Häufchen¬ 
bildung ist ceteris paribus eine Function zweier Variablen: des 
Verhältnisses zwischen Serum und Cultur und der Zeit. Letz¬ 
terer Factor ist bisher von den meisten Autoren ganz neben¬ 
sächlich behandelt worden. Widal 1 ) empfahl, wenn die mikro¬ 
skopische Untersuchung nicht sofort ein sicher positives Resultat 
ergab, nach '/^ V* oder mehreren Stunden nochmals nachzusehen. 
Viele andere Autoren machen überhaupt keine näheren Angaben 
Uber die Zeit, bis zu der sie die mikroskopische Untersuchung 
ausgedehnt haben. Für quantitative Untersuchungen ist aber 
eine Fixirung dieses Zeitpunktes unbedingt nothwendig. Das 
Optimum der Wirkung wird nach meinen bisherigen Unter¬ 
suchungen frühestens nach 6—8 Stunden erreicht. 

Bei Festsetzung der zeitlichen Grenze für die quantitative 
Bestimmung wird man zu praktisch-diagnostischen Zwecken nicht 
ohne eine gewisse Willkür verfahren können, da eine Aufsuchung 
der thatsächlichen oberen Grenze, bis zu der man die Ver¬ 
dünnung des Serums treiben kann, recht zeitraubend und anderer¬ 
seits nicht nothwendig ist. Handelt es sich hier doch nicht 
darum, absolute, sondern mit einander vergleichbare Werthe zu 
bekommen. Ich habe bei den hier mitzutheilenden Unter¬ 
suchungen die zeitliche Grenze auf zwei Stunden fixirt. Die 


1) Semalnc mödicale, 29. juillet 1890 und Presse medieale, 8. aoilt 
1890. 


2 * 


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No. 11. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


228 

so erhaltenen Grenzwerthe kommen den wirklichen wesentlich 
näher, als wenn man nach Gruber 8 oben citirtem Vorschläge 
eine Stunde als Grenze annimmt. Um eine kurze Bezeichnung 
zu haben, soll in Folgendem die Agglutinations-Wirkung, wie 
sie unter den eben fixirten Bedingungen im Laufe von 2 Stunden 
eintritt, als A, bezeichnet werden; als Maass derselben gelte 
diejenige Zahl, welche die eben noch wirksame Verdünnung des 
Serums angicbt. Es bedeutet also zum Beispiel A, = 500, dass 
das betreffende Serum in der Verdünnung 1 : 500 innerhalb zwei 
Stunden noch deutlich wahrnehmbare agglutinirende Wirkung 
ausübt, in stärkeren aber nicht mehr. 

Bisher habe ich in dieser Weise — zum Theil gemeinsam 
mit den Herren Collegen Sklower und 0. Förster — das Blut 
von 70 Menschen, die nicht an Typhus litten, auch ihrer An¬ 
gabe nach früher niemals Typhus gehabt hatten, in der eben 
geschilderten Weise untersucht. Theils handelte es sich um 
völlig Gesunde oder um äussere Krankheiten, theils um Patienten 
mit verschiedenen inneren, meist Infectionskrankheiten, bei denen 
zum Theil der Verdacht auf Typhus vorlag. Es befanden sich 
darunter Fälle von Pneumonie, Meningitis, Endocarditis ulcerosa, 
Lungentuberculose, Darmkatarrh u. s. w. Eine Trennung in 
verschiedene Gruppen habe ich nicht vorgenommen, weil die 
gewonnenen Resultate irgend welche Unterschiede nach dieser 
Richtung bisher nicht ergaben. Unter jenen 70 Fällen war eine 
agglutinirende Wirkung des Blutserums innerhalb 2 Stunden 
nachweisbar 

bei lOfacher Verdünnung mit Typhuscultur 20mal, 
davon noch bei 

20facher Verdünnung mit Typhuscultur 5 mal, 
davon noch bei 

30facher Verdünnung mit Typhuscultur 2 mal in Spuren. 

Bei 40facher Verdünnung mit Typhuscultur wurde bisher in 
keinem Falle eine Wirkung beobachtet. Es gilt dies — wie 
noch einmal betont werden soll — nur für die Beobachtungsdauer 
von 2 Stunden. Dehnte ich letztere auf (>—8 Stunden aus, so 
wurden dann in einzelnen Fällen, bei denen nach 2 Stunden 
bei 30facher Verdünnung noch nichts von Häufchenbildung zu 
sehen war, selbst noch in 50facher Verdünnung Spuren davon 
sichtbar. 

In den 50 Fällen, in denen bei lOfacher Verdünnung des 
Serums nichts von Häufchenbildung zu sehen war, verhielten 
sich die Resultate bei schwächeren Verdünnungen sehr ver¬ 
schieden: in einem Theil war bei öfacher Verdünnung deutliche 
agglutinirende Wirkung zu sehen, in anderen fehlte dieselbe 
selbst bei Vermischung von gleichen Theilen Serum und Cultur. 
Eine Verminderung der Beweglichkeit der Bacillen wurde da¬ 
gegen im letzteren Falle selten vermisst. 

Bei lOfacher Verdünnung normalen Serums habe icli bisher 
niemals so grosse Bacillenhaufen entstehen sehen, wie man sie 
bei sehr wirksamem Typhusserum sich bilden sieht; doch ist 
hierin lediglich ein quantitativer Unterschied zu sehen, da oft 
auch bei minder wirksamem Typhusserum in der gleichen Ver¬ 
dünnung und ebenso bei stärkeren Verdünnungen hochwirksamer 
Typussera nur die Bildung kleinerer Häufchen beobachtet wird. 

In 2 von den 5 oben erwähnten Fällen, bei denen A, min¬ 
destens = 20 war, war die makroskopische Reaction, nach 
Widal’s Vorschrift angestellt, deutlich positiv, d. h. es trat 
innerhalb 24 Stunden eine völlige Klärung des Serumcultur- 
gemisches (1 : 10) ein. 

Der eine dieser Fälle war nicht ohne diagnostisches Interesse. Die 
47jährige Patientin wurde mit hohem Fieber und den Zeichen schwerer 
Allgemcin-Infection bei gleichzeitig bestehender Ohreiterung auf die otia- 
trische Abtheilung des Allerheiligen-Hospitals aufgenommen, ßichere 
Symptome von Meningitis fehlten zunächst. Der Ausfall der Serodiagno- 
stik wurde mit Rücksicht auf die mitgetheilten Erfahrungen als negativ 


angesehen. Der weitere Verlauf und die Section ergaben eine eitrige 
Meningitis, als deren Erreger sowohl in dem intra vitam durch Lum- 
balpunction gewonnenen fibrinös-eitrigen Exsudat als auch post mortem 
Streptokokken nachgewiesen wurden. 

(Schluss folgt.) 


IV. Ueber motorische Insufficienz des Magens. 1 ) 

Von 

Professor Dr. Th. Rosenhelm. 

Wenn ich mir gestatte, hier über motorische Insufficienz 
des Magens zu sprechen, so geschieht dies, weil ich glaube, 
dass diese Störung im Verhältniss zu denen, die den Chemismus 
betreffen, in der Praxis lange nicht genug gewürdigt wird, trotz¬ 
dem die Diagnose dieser Functionsanomalie wahrlich leicht 
genug ist. Es ist dies um so bedauerlicher, als man wohl sagen 
kann, dass die Beseitigung dieses pathologischen Zustandes ver- 
hältni8sraässig leicht und oft durch zweckentsprechende Behand¬ 
lung, sei es durch die Hülfsmittel der inneren Medicin, sei es 
auf chirurgischem Wege zu erreichen ist, während wir es bei 
den Abweichungen der Secretion von der Norm häufiger mit 
irreparablen, jeder Therapie spottenden Veränderungen zu thun 
haben. Von vornherein sind die Aerzte zu sehr geneigt, wenn 
Jemand Uber Magenbeschwerden klagt, Anomalien der Drüsen- 
thätigkeit dafür verantwottlich zu machen, und dem entsprechend 
drängt sich die medicamcntöse Behandlung unberechtigt in den 
Vordergrund, sei es, dass man, was an Magensecret fehlt, zu 
ersetzen sucht, oder einen Ueberschuss z. B. durch Alkalien un¬ 
schädlich zu machen bemüht ist. Das Verhalten der motorischen 
Function wird dabei wenig berücksichtigt, und doch kann es in 
der Hervorbringung eines bestimmten Krankheitsbildes die ent¬ 
scheidende Bedeutung kaben. Nicht damit, dass wir eine 
Gastritis, ein Ulcus diagnosticiren, ergeben sich für 
uns auch schon allemal die Grundlagen, auf die 
wir mit Aussicht auf Erfolg die Behandlung stützen 
dürfen, sondern erst wenn wir ein richtiges Bild der 
Function des Organs bei den erwähnten Krankheits¬ 
zuständen gewonnen haben, erst dann können wir 
unsere Therapie in Ansehung der individuellen Ver¬ 
hältnisse des vorliegenden Falles und je nach dem 
Grade der vorhandenen Störungen mit Nutzen specia- 
lisiren. Unsere Vorschriften werden nicht dieselben sein, wo 
es sich um eine Gastritis handelt mit geringem Salzsäuremangel, 
und um eine solche, die in Atrophie ausgegangen ist; sie 
werden nicht dieselben sein, wo diese Gastritis mit motorischer 
Insufficienz complicirt ist und wo die Bewegungsenergie normal 
ist; sie werden endlich nicht dieselben sein, wo die Schädigung 
des motorischen Apparates gering und wo sie beträchtlich ist. 

Ich begreife unter motorischer Insufficienz alle Schädigungen 
der Motilität des Magens, mögen dieselben hoch- oder gering¬ 
gradig sein, mögen sie in einem verkleinerten, oder in einem 
normal grossen, oder in einem vergrösserten (erweiterten) Organ 
bestehen. Motorische Insufficienz kann Folge und Begleitzustand 
aller sonstigen Magenaffectionen, kann das Product der mannig¬ 
fachsten Anomalien sein. Wo die auszutreibenden Speisemassen 
langsamer als normal, oder überhaupt unvollkommen in den 
Darm Ubergeführt werden und wo dabei der Magen Uber sein 
normales Maass anhaltend ausgedehnt ist, dort ist es üblich, 
von Erweiterung zu reden. Wo wir dagegen zwar die Ver¬ 
minderung der Arbeitsleistung, die motorische Störung des Or- 


1) Vortrag, gehalten in der Ilufeland'schen Gesellschaft am 19. No¬ 
vember 189ü. 


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15. Mär/ 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


229 


gans, also die Functionsanomalie erweisen können, wo aber die 
eben erwähnte anatomische Veränderung nicht feststellbar ist, 
bezeichnet man den Zustand gemeinhin als musculäre Insuf- 
ficienz, Atonie. 

Ein principieller Unterschied existirt zwischen den beiden 
hier charakterisirten Formen der motorischen Störung nicht, 
sondern höchstens ein gradueller. Das, was beiden Anomalien 
gemein ist, die gegen die Norm verminderte Leistungsfähigkeit des 
musculären Apparates ist das Wesentliche und bedingt ihre Zu¬ 
sammengehörigkeit. Das was sie in den Symptomen und im 
Verlauf von einander gelegentlich unterscheidet, ist nicht eigen¬ 
artig genug, um sie als gesonderte, für sich allein bestehende 
Krankheitsbilder gelten zu lassen. 

Eine substantielle, anatomisch nachweisbare Erkrankung 
des Muskels kann fehlen oder vorhanden sein, ebensowohl wenn 
der Magen deutlich erweitert ist, als auch wenn dem Organ die 
abnorme Dehnung abgeht. Es fehlt eben der Atonie wie der 
Ektasie eine typische anatomische Basis. Es sind beides gleich¬ 
artige Functionsstörungen, von denen die eine durch Ueber- 
dehnung complicirt ist, und demgemäss im Allgemeinen den 
schwereren Zustand, die Steigerung des Leidens, darstellt. 

Nichts ist bedenklicher, als aus der Grösse des Magens, 
wie wir sie intra vitam oder post mortem feststellen, einen 
Rückschluss auf seine Function zu machen. Es kommen Fälle 
vor, wo wir das Organ als durchaus nicht die normalen Grenzen 
überragend nachweisen und wo doch die allerschwerste Schädi¬ 
gung der Bewegungsfähigkeit besteht. Der normal grosse 
Magen kann sich z. B. in einem lähmungsartigen Zustand be¬ 
finden, weil er in der Bethätigung seiner Kraft durch breite, 
flächenhafte Verwachsungen gehemmt ist, oder das Lumen kann 
in Folge cirrhotischer Processe in der Wand klein bleiben, 
dabei sind aber die peristaltischen Antriebe während der Digestion 
minimale und es besteht beträchtliche Stagnation. Andererseits 
begegnen wir Individuen, bei denen uns die physikalische Unter¬ 
suchung ein auffallend grosses Organ erkennen lässt, ohne dass 
die Functionsprüfung eine Abweichung von der Norm darthut, 
dann haben wir es mit einem grossen Magen schlechtweg zu 
thun (Megalogastrie, Ewald, Riegel.) 

Aus dem Gesagten ergiebt sich: 

Nicht die Grösse des Magens, sondern der Grad 
seiner motorischen Leistungsfähigkeit ist für uns das 
Entscheidende, wo es sich um die Beurtheilung des hier zur 
Besprechung stehenden pathologischen Zustandes handelt, dem 
man deshalb mit gutem Grunde den alle einschlägigen Fälle be¬ 
greifenden, Nichts präjudicirenden, das Wesen der Sache treffen¬ 
den Namen motorische oder mechanische Insufficienz geben 
kann. Es ist dies die ganz allgemein passende Bezeichnung 
der Krankheit. Ektasie ist nur eine besondere Art derselben, 
sie stellt oft eine höhere Entwickelung des Leidens dar, aber sie 
umfasst durchaus nicht (s. oben) alle schweren Fälle. Dieser 
Standpunkt, der sich aus Anschauungen, wie sie zuerst von 
0. Rosenbach, Naunyn, Schreiber entwickelt worden sind, 
herausgebildet hat, erscheint mir wohlbegrlindet, ich habe ihn 
auch in der neuen Auflage meines Buches acceptirt. 

Dass die motorische Insufficienz ganz acut entstehen kann, 
ist nach vorliegenden Beobachtungen nicht zu bezweifeln. Ich 
erwähne hier als Ursache speciell das Trauma, worauf ich später 
noch näher eingehen werde. Ich habe dann jüngst 1 ) darauf auf¬ 
merksam gemacht, dass die uns hier beschäftigende Störung des 
Magens auch, wie ich das einige Male beobachtete, ganz acut 
periodisch, namentlich bei neurasthenischen Individuen und 
speciell solchen, die an Kopfschmerz (Migräne), Schwindel leiden, 

1) Krankheiten der Speiseröhre und des Magens. II. Aufl. p. 453. 


auftreten kann. Manchmal im Anschluss an einen Diätfehler, 
aber auch ohne eine solche Ursache, stellt sich und zwar meist 
morgens beim Erwachen Unbehagen in der Mageugegend, 
Wühlen, Abneigung gegen Speisen, Uebligkeitsgefühl und später 
oft Erbrechen ein. Die genaue Untersuchung im Anfall ergiebt, 
dass der nüchterne Magen noch Speisereste enthält, aber An¬ 
zeichen secretorischer Störung oder einer Ektasie sind nicht vor¬ 
handen. Nach 4—10 Tagen befindet sich der Kranke meist 
wieder ganz wohl und kann jetzt auch schwere Kost vertragen. 
Die Prostration in diesen Zuständen kann ganz beträchtlich sein; 
Kopfschmerzen sind eine häufige Begleiterscheinung. Im Anfall 
leistet eine gründliche Reinigung des Magens, wiederholte 
Douchen bei thunlichster Entziehung der Nahrung die besten 
Dienste. 

Einen typischen hierher gehörigen Fall') beobachte ich bereits 
seit 6 Jahren. Es handelt sich um einen Herrn, der zur Zeit etwa 
50 Jahre alt ist und der seit Langem an schweren Anfällen von Kopf¬ 
schmerzen mit Magenstörungen leidet, die sich früher tage- ja wochenlang 
hinzogen. In der anfallsfreien Zeit ist der Magen vollkommen normal, 
wie zahlreiche Untersuchungen gelehrt haben, dagegen lässt sich schon 
im Beginne der Attacke eine beträchtliche motorische Insutflcienz nach¬ 
weisen, so dass dann der nüchterne Magen Speisereste vom Tage vorher 
enthält; wird jetzt der Magen gereinigt und fleissig gedoucht, so ver¬ 
schwinden entweder überhaupt alle belästigenden Erscheinungen, aükch 
die von Seiten des Kopfes, oder der Anfall verläuft doch wesentlich 
milder und dauert nur kurze Zeit. Der Patient, der sich selbst auf 
diese Weise zu behandeln gelernt hat und der seine Beschäftigung wegen 
seines Leidens hatte aufgeben müssen, fühlt sich seit Jahren wieder 
arbeite- und genussfähig. 

Die Diagnose der motorischen Insufficienz ist leicht genug, 
will man sie einwandsfrei machen, so ist die Sonden- 
einführung freilich nicht zu umgehen; ganz besonders 
wo es sich um die Erkenntniss leichterer Grade des Uebels 
handelt, da kommen wir ohne den Magenschlauch nicht aus, 
denn hier fehlen die HUlfsraomente, die speciell für die Diagnose 
der Ektasie den Erfahrenen zu orientiren vermögen: Das Vor¬ 
handensein von Plätschergeräuschen unterhalb des Nabels 5 bis 
6 Stunden nach mässiger Flüssigkeitszufuhr, in der Nabelgegend 
sichtbare peristaltische und antiperistaltische Magenbeweguugen, 
das häufige Erbrechen oft sehr grosser Mengen von Ingesta, 
insbesondere von Speiseresten, die nachweislich eine Reihe von 
Tagen im Magen stagnirten. Der direkte sichere Beweis aber 
wird in allen zweifelhaften Fällen nur durch die Sondirung ge¬ 
führt. Wir erweisen die Störung der motorischen Function un¬ 
zweideutig, indem wir 7 Stunden nach einer Probemittagsmahlzeit 
den Magen durchspülen, um die Anwesenheit von Speiseresten 
festzustellen (Leube). Meist genügt es, die gleiche Procedur3Stun¬ 
den nach einem Probefrühstück vorzunehmen. In einfacherer Weise 
kann man auch oft durch Schätzung der bei der Sondirung auf 
der Höhe der Verdauung noch entfernbaren Quantitäten von 
Mageninhalt die Diagnose ermöglichen. Bei der Verwerthung 
der letzteren Methode beachte man wohl: Fliesst auffallend 
reichlich Speisebrei aus der Sonde, so ist die motorische 
Schwäche erwiesen, ist aber das nicht der Fall, so sei man mit 
dem Urtheil vorsichtig, da, wenn das eingefUhrte Instrument 
nicht gut liegt, oder sein Fenster sich verstopft, oder der Magen¬ 
inhalt sehr zähflüssig ist, nichts, oder nur sehr wenig heraus¬ 
befördert wird und doch eine Stagnation der Ingesta bestehen 
kann. Oft ist die Retention von Flüssigkeit im Magen besonders 
auffallend. Es handelt sich dann gewöhnlich um schwere 
Fälle mechanischer Insufficienz; meist besteht hier ein Hinderniss 
am Pylorus. 

Von grosser Wichtigkeit ist auch die Sondirung des 
nüchternen Magens: Finden wir in demselben erheblichere 
Rückstände von Speisen und Flüssigkeit, so haben wir es meist 
mit einer schwereren Form der Insufficienz zu thun, nur darf man 


1) Siehe Therap. Monatsh. 1892, Aug. Fall 1. 

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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 11. 


diese Stauung nicht als pathognostisch für Ektasie ansehen, denn 
auch ohne dass eine Ausweitung anatomisch nachweisbar ist, 
kann die Schädigung der Function eine ausserordentliche sein 
und sich in dem eben erwähnten Symptom zeigen. 

Mit der Diagnose der Störung der motorischen Function, 
die leicht genug ist, ist es aber nicht gethan. Wir müssen 
weiter festzustellen suchen, welches die Ursache der In- 
sufficienz im gegebenen Falle ist. Häufig wird die Ana¬ 
mnese, oder das Vorhandensein eines Tumors, oder ein ganz 
charakteristisches Verhalten der Saftsecretion die Entwickelung 
der Dinge klar erkennen lassen, in vielen Fällen aber bleibt sie 
für uns in Dunkel gehüllt. Bei vorgeschrittenem Grade der In- 
sufficienz des Magens, also namentlich auch bei ausgesprochener 
Ektasie, haben wir die Möglichkeit, dass ein anatomisches 
Hindemiss für die Fortbewegung vorliegt, das dann gewöhnlich 
am Pylorus sitzt, zu berücksichtigen. Carcinom. Ulcus und 
Perigastritis kommen hier im Wesentlichen für die Differential- 
diagnose in Betracht; bei Fehlen eines Tumors oder gar nicht 
misszuverstehender anamnestischer Daten ist ein sicheres Er¬ 
kennen dieser ursächlichen Processe oft unmöglich. Man hüte 
sich aber, leichten Herzens eine Pylorusstenose auszuschHessen, 
wie dies namentlich beim Bestehen von Superacidität und Magen¬ 
saftfluss so gern geschieht, und hier eine primäre motorische 
respective secretorische Störung anzunehmen. Man bedenke, dass 
extreme Bewegungsschwäche des Magens, also namentlich be¬ 
trächtliche Ektasie mit bedeutender Stagnation gewöhnlich die 
Folge eines anatomischen Hindernisses am Pförtner ist, nur 
selten entwickeln sich die höchsten Grade der Insufficienz all¬ 
mählich aus einfacher leichter Atonie. Für die grob mechanische 
Hemmung des Abflusses in den Darm sprechen, wo eine Ge¬ 
schwulst nicht feststellbar ist, gewisse Angaben des Kranken, 
die auf ein Uberstandenes oder noch frisches Geschwür, auf 
einen entzündlichen Vorgang am Magen oder in einem Nachbar¬ 
organe (Cholecystitis) schliessen lassen, dann die Mächtigkeit der 
sichtbaren peristaltischen und antiperistaltischen Bewegungen, 
starkes andauerndes Erbrechen, Ausbleiben functioneller 
Besserung bei systematischer Ausspülung, Fehlen von 
Galle im Mageninhalt. 

Wie schwierig die klinische Würdigung einer motorischen 
Insufficienz vom ätiologischen Standpunkte auch sein mag, 
wir müssen es uns trotzdem angelegen sein lassen, in jedem 
einzelnen Falle diesen inneren Beziehungen nachzuforschen. 
Bei der Wichtigkeit dieser Frage sei es mir gestattet, hier 
einige ursächlichliche Momente hervorzuheben, die bisher 
entweder gar nicht oder nur unvollkommen gewürdigt worden 
sind. Ich möchte hier zunächst auf den Zusammenhang ein- 
gehen, der zwischen einer mechanischen Insufficienz des Magens 
und gastrischen Krisen bei Tabes bestehen kann. Im 
Anschluss an wiederholte Paroxysmen der bezeichneten Art im 
Anfangsstadium der Tabes sah ich zweimal Schädigungen der 
motorischen Function des Magens sich entwickeln. Im ersten 
Fall war die Insufficienz ganz beträchtlich, im zweiten gering¬ 
fügig- 

Der Gymnasiallehrer G. R., 34 Jahre alt, trat am 13. Januar 1894 
in meine Behandlung. Er leidet seit Anfang 1893 an schweren Brech¬ 
anfällen mit heftigen spannenden und stechenden Schmerzen in der 
Magengegend, dabei bestand starkes Herzklopfen, schwere Angegriffen¬ 
heit, so dass der Patient sich erst in 5—6 Tagen wieder erholte. Die 
Attacken kamen alle 6—8 Wochen, in der jüngsten Zeit häufiger. Der 
letzte besonders schwere Anfall war Weihnachten 1893, seitdem hat 
Patient sich nicht recht erholen können, der Appetit ist schlechter ge¬ 
worden, 1—2 Stunden nach dem Essen tritt Drücken nnd ziehender 
Schmerz in der Magengegend auf, Stuhlgang schlecht, Abmagerung. 
Vor 6 Jahren hat Patient Lues gehabt. 

Nach dem bisherigen Verlauf und den nervösen Symptomen hatte 
Herr College Ruhemann mit Recht angenommen, dass es Bich um 
gastrische Krisen im Beginn der Tabes handelte. Augenbefand: leichte 
Occulomotoriuslähmung rechts durch Herrn Dr. G. Guttmann festge¬ 


stellt. Die Untersuchung des Magens am 13. Januar 1894 ergab, dass 
das Organ etwa 1 Finger breit unter den Nabel hernnterreicht, die 
Weiterbeförderung der Speisen beträchtlich verlangsamt ist und auch 
der nüchterne Magen Speisereste enthält. Die Secretion war normal, 
der Geruch des Mageninhaltes stechend. Mehrere Wochen fortgesetzte 
Ausspülungen bewirkten eine völlige Rückbildung der vorhandenen 
Anomalie, Patient erholte sich. Anfang Mai 1894 hatte er einen neuen 
Anfall, nach dessen Abklingen wieder eine Atonie mässigen Grades nach¬ 
weisbar war, die unter geeigneter Behandlung sich rasch verlor. Im 
Sommer machte Patient eine Schmiercur durch, die Anfälle blieben bis 
März 1895 fort, wo von Neuem eine Krise eintrat; nach nochmaliger 
Schmiercur sind sie, so viel ich weiss, nicht wiedergekehrt. 

Der zweite Fall betraf einen 40jährigen Fabrikangestellten G., der 
seit 2 Jahren an gastrischen Krisen leidet. Nur aus dem Befände an 
den Augen, den ich Herrn Geheimrath Professor Dr. Hirschberg ver¬ 
danke, war die Diagnose Tabes mit Sicherheit zu stellen. Patient kam 
am 22. Juni 1896 zu mir, nach einem besonders schweren Anfall, der 
von Appetitlosigkeit und Unbehagen im Magen gefolgt war. Derartige 
Erscheinungen waren vorübergehend auch schon nach früheren Attacken 
zurückgeblieben, diesmal erwiesen sie sich hartnäckig. Es bestand un¬ 
zweifelhafte motorische Insufficienz mässigen Grades, auch die Secretions- 
energie war herabgesetzt; nach wenigen Ausspülungen war die functio- 
nelle Störung ausgeglichen, das Allgemeinbefinden hatte sich wesentlich 
gebessert. Allein Ende Juli bekam Patient einen neuen Anfall, er blieb 
seitdem aus meiner Behandlung. 

Es ist durchaus plausibel, dass das Organ durch derartige 
schwere Brechanfälle auf’s Empfindlichste geschädigt und ge¬ 
schwächt wird und dass dann namentlich bei nicht genügender 
Schonung in Folge zu starker Belastung eine motorische Insuffi- 
cienz sich ausbildet, die nun nach dem Abklingen des eigent¬ 
lichen Anfalls Magenbeschwerden bedingt, und die es den ange¬ 
griffenen Kranken erschwert, sich zu erholen. Man wird also in 
Zukunft gut thun, wo Dyspepsie im Anschluss an eine gastrische 
Krise bestehen bleibt, auf das Vorhandensein einer Motilitäts¬ 
störung zu fahnden und mit Rücksicht auf dieselbe dann seine 
Maassnahmen zu treffen. 

Ich möchte dann zweitens hier der Bedeutung gedenken, 
die das Trauma für das Zustandekommen einer motorischen 
Insufficienz haben kann. Der Einfluss einer Verletzung auf die 
Entstehung eines Ulcus ist durch gute Beobachtungen [cfr. z. B. 
Ebstein 1 )] sichergestellt, und wir wissen, dass nicht bloss 
direkte Verletzungen des Magens eine Ulceration vom klinischen 
Charakter des runden Magengeschwürs zur Folge haben können, 
sondern auch solche, die andere Körpertheile treffen. Aehnlich 
sind auch die Beziehungen zwischen Trauma und mechanischer 
Insufficienz. Es kommen Fälle vor, wo nach einem Stoss oder 
Fall ein lähmnngsartiger Zustand des Magens entsteht, der bei 
unzweckmässigem Verhalten in Form einer schweren Insufficienz 
persistirt. Dabei ist es durchaus nicht nöthig, dass die Verletzung 
den Magen trifft, wie nachstehender Fall lehrt. 

Heleoe Sch., Dienstmädchen, 18 Jahre alt, ist stets gesund gewesen. 
Vor 8 Tagen fiel sie die Treppe herunter auf den Kopf und die linke 
Schulter, aber nicht auf den Magen. Seitdem besteht völlige Appetit¬ 
losigkeit, Druck nach jeder Mahlzeit, von Zeit zu Zeit treten Krampf¬ 
anfälle auf mit starker Brechneigung und gelegentlichem Erbrechen. 
Stuhlgang täglich einmal, reichlich, von breiiger Beschaffenheit. Periode 
regelmässig. StatuB praesens am 21. September 1895: Grosses, kräftig 
gebautes, gut genährtes Mädchen von blasser Farbe, Zunge wenig belegt, 
Druck im Epigastrium nicht besonders empfindlich, grosse Curvatur 
reicht 4 Finger breit unter den Nabel. Sehr starke motorische Störung, 
auch nüchtern enthält der Magen Speisereste. Keine Gährungen. Congo 
schwach +, Milchsäure —, Salzsäure —. Weissbrot in der Flüssigkeit 
ziemlich gut gelöst, kein übler Geruch. Während mehrwöchentlicher 
Behandlung mit Ausspülungen erhebliche Besserung der Beschwerden 
und der motorischen Function, sowie nachweisbare Verkleinerung des 
Magens. 

Im Laufe dieses Jahres habe ich noch zwei hierher ge¬ 
hörige Fälle beobachtet. Der eine betraf einen 26jährigen 
Tischlergesellen, der stets gesund gewesen war, nach der Ver¬ 
letzung (einem Stoss vor den Magen) aber Uber Magendrücken 
klagte. Ich untersuchte ihn 3 Wochen nach dem Unfall und 
fand bei dem schlanken, aber kräftig gebauten Manne eine be¬ 
deutende motorische Insufficienz bei gut erhaltener Drilsen- 

1) Deutsch. Archiv f. klin. Medicin, Bd. 54. 


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15. März 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


231 


thätigkeit. Nach zweiwöchentlicher Behandlung restitutio ad 
integrum. Sehr viel schwieriger lagen die Verhältnisse bei dem 
dritten Patienten. 

R. f 52jährigcr Spinner, hatte schon seit Jahren vorübergehend an 
Magenbescbwerden gelitten, die aber im Ganzen geringfügig gewesen 
waren und unter geeigneter medicamentöser Behandlung sich wieder ver¬ 
loren; er lebte still und vorsichtig und galt als fleissiger Arbeiter. Am 
22. Februar 1896 bekam er bei gutem Allgemeinbefinden einen schweren 
StosB von einem Kettenbaum in die linke Oberbauchgegend, 
der ihn fast besinnungslos machte. Der Schmerz war so heftig, dass er 
nach Hause geschafft werden musste. Hier wurde er nun 4 Wochen im 
Bett liegend behandelt, die heftigen Schmerzen in der linken Seite 
Hessen etwas nach, der Magen, der zuerst ausserordentlich reizbar ge¬ 
wesen war, so dass er nur wenig genoss, wurde wieder aufnahmefähiger; 
er war aber aufs Aeusserete heruntergekommen, Appetit war sehr 
schlecht, bei Körperbewegung und nach dem Essen traten Schmerzen 
in der linken Seite weniger auf, als wenn er versuchte auf der getrof¬ 
fenen Seite zu liegen. Nachdem der Patient sich mehrere Wochen in 
diesem Zustand herumgequält hatte, jede Art der medicamentösen Be¬ 
handlung sich als erfolglos erwiesen hatte, trat er Ende April d. J. in 
meine Behandlung. 

Status praesens (8. Mai): Sehr stark abgemagerter, kachektisch aus- 
sehender, kleiner Mann, die Haut trocken und runzelig, Zunge grauweiss 
belegt, Herz, Lunge und Nieren gesund. Das Abdomen ist eingesunken, 
starkes Plätschern in der Nabelgegend, obwohl Patient nüchtern ist, 
Druck im Epigastrium wenig schmerzhaft, dagegen ist die Betastung in 
der Milzgegend bis zum Kippenrand äusserst empfindlich. Der Magen 
ist beträchtlich erweitert, reicht 4 Finger breit unter den Nabel, 
Aufblähung des Magens erzeugt äusserst heftige Schmerzen in der 
ganzen linken Oberbauchgegend. Der nüchterne Magen enthält beträcht¬ 
liche Mengen widerlich riechender Speisereste vom Tage vorher, er ist 
sehr zähflüssig, scharf sauer, aber ohne freie Säure (und ohne Milch¬ 
säure); unter dem Mikroskop viel Bacterien, hier und da Hefezellen und 
Sarcine. Ich erwähne noch, dass Druck auf die Wirbelsäule nirgends 
schmerzhaft ist; versucht man es, den linken unteren Thorax¬ 
rand etwas brüsk nach oben zu zerren, so empfindet Patient 
einen heftigen Schmerz in der Tiefe; dagegen ist eine Dämpfung 
über die Grenzen, die der Milz zugehören, hinaus, an dem Hauptschmerz¬ 
herd nicht nachweisbar. 

Der Patient wird nun seit länger als fi Monaten von mir 
mit Ausspülungen, Hydrotherapie ti. s. w., behandelt; subjectiv 
flihlt er sich wesentlich besser, leichte Körperbewegung, geringe 
Quantitäten Nahrung werden ziemlich gut vertragen, der Appetit 
ist reger. Objectiv ist der Zustand wenig verändert. 
Die Körpergewichtszunahme ist eine geringe, da auch die Nah¬ 
rungsaufnahme immer noch mässig ist, die Dilatation besteht 
in demselben Umfange wie früher, der nüchterne Magen 
enthält nach wie vor Speisereste, auch die linke Seite ist immer 
noch äusserst druckempfindlich und nicht selten der Sitz spontan 
auftretender Schmerzen. Das Liegen auf der linken Seite ist 
immer noch unmöglich. Auch das Zerren am linken unteren 
Thoraxrand erzeugt denselben heftigen Schmerz in der Tiefe 
wie früher, während das Epigastrium auf Druck unempfindlich 
ist. Die Saftsecretion ist ganz allmählich normal geworden, seit 
einigen Monaten wird freie Salzsäure stets nachgewiesen. Der 
Schleimgehalt hat sich erheblich vermindert. Hefepilze und 
Sarcine sind sehr reichlich, Stäbchen etwas spärlicher als 
früher vorhanden. 

Es unterliegt kaum einem Zweifel, dass diese schwere irre¬ 
parable motorische Störung des Magens als eine Folge des 
Traumas aufzufassen ist. Das fast gänzliche Ausbleiben einer 
nachweisbaren objectiven Besserung der Function trotz zweck¬ 
entsprechender Behandlung, trotz grösster Schonung des Pa¬ 
tienten ist wohl nur so zu erklären, dass ein mechanisches 
Hinderniss für die Rückbildung besteht, das wir mit ziemlicher 
Bestimmtheit in flächenhaften Verwachsungen des Fundus ventri- 
culi mit der vorderen und seitlichen Bauchwand zu suchen 
haben: es besteht also Ectasia ventriculi und Perigastritis 
post Trauma. Man könnte nun annehmen, dass vielleicht eine 
motorische Insufficienz schon früher vorhanden war, da der Pa¬ 
tient bereits vor der Verletzung Jahre hindurch gelegentlich Uber 
Magenbeschwerden zu klagen hatte, allein, dass ein solcher 
Grad der Störung, wie wir ihn jetzt vor uns haben, schon früher 


bestanden hat, ist mit Rücksicht auf die Art des Verlaufes und 
der Symptome nicht sehr wahrscheinlich, es dürfte denn doch 
immer nur eine mässige Atonie vorhanden gewesen sein. Auch 
dann müsste zugegeben werden, dass durch das Trauma die 
leichte motorische Insufficienz in die allerschwerste Form ver¬ 
wandelt worden ist. Möglicherweise aber sind die früheren Be¬ 
schwerden durch chronische Gastritis bedingt, die mit intermitti- 
renden Beschwerden verlief und deren Existenz wir noch im 
Anfang der Erkrankung deutlich nachweisen konnten (Fehlen 
freier Salzsäure, viel Schleim). Für das Vorhandensein eines 
C'arcinom8 oder eines Ulcus in der Portio pylorica spricht nach 
Lage der Dinge nicht das Geringste. 

(Schluss folgt.) 


V. Ueber die Körnerkrankheit in Ost- und 
Westpreussen. 

Von 

J. Hirschberg. 

Nach einem in der Berliner mediein. Gesellschaft gehaltenen Vortrag. 

(Schluss.) 

Die Verbreitung der Kömerkrankheit ist in den beiden 
preussischen Provinzen eine recht erhebliche. Bei der Kürze 
der uns zugemessenen Zeit und der Nothwendigkeit, den Bericht 
möglichst rasch abzustatten, damit die zur Bekämpfung der 
Seuche nothwendigen Mittel bewilligt, und die erforderlichen 
Maassregeln sofort in’s Werk gesetzt werden, musste ich mich 
darauf beschränken, zusammen mit meinen beiden Mitarbeitern 
Herrn Privatdocent Dr. Greeff und Herrn Stabsarzt Dr. Wal¬ 
ther, Schulen, geschlossene Anstalten, Militärpflichtige, Gruppen 
von Erwachsenen in den hauptsächlich durchseuchten Kreisen zu 
prüfen; es gelang mir auch, wenigstens zwei Dörfer ganz 
durch zu untersuchen. Unsere statistischen Tabellen, welche in 
XXII Nummern ungefähr 7000 Personen umfassen, geben schon 
ein einigermaassen anschauliches Bild, obwohl sie noch sehr 
weit davon entfernt sind, eine vollständige graphische Darstel¬ 
lung der Körnerkrankheit in den beiden Provinzen zu liefern. 
Die letztere wäre nur in mehrjähriger Arbeit von einer grösseren 
Reihe von Aerzten zu leisten: es scheint wohl besser, wenn 
diese Zeit und diese Kräfte gleich mit der Heilung der Krank¬ 
heit und mit der Verhütung ihrer Weiterverbreitung betraut 
würden. 

Am wichtigsten scheint mir die Durch-Untersuchung der 
beiden Ortschaften Kalinowen und Milewen im Kreise Lyck. 

Wissenschaftliche Klarheit und praktische Verwerthbarkeit 
ist ja nur zu erzielen durch Untersuchung der ganzen Bevöl¬ 
kerung, in welcher die Kömerkrankheit Ausbreitung gewonnen. 
Aber nur spärliche Mittheilungen der Art liegen bis jetzt vor. 
Dr. Feuer, 1884 zur Prüfung der Kömerkrankheit Sü^ungaras 
von seiner Regierang entsendet, untersuchte von den 104 000 
Einwohnern des Torontaler Comitats 93 000 und fand Trachom 
bei 5000, d. i. 5 l / s pCt., darunter schweres Trachom bei 4200, 
d. i. 4*/, pCt. der Bevölkerung. Feuer fand unter jenen 5000 
Kömerkranken 200 durch Trachom völlig erblindete und 900 
erheblich sehschwache Augen. 

Wir fanden bei den etwa 1000 Einwohnern der beiden ost- 
preussischen Dörfer, aus denen übrigens keinerlei Meldung Uber 
Augenkrankheit an die Behörden gelangt war, wo vielmehr erst 
8 Wochen vor unserer Ankunft der Herr Landrath von der 
Gröben eine Stichprobe vorgenommen und zusammen mit dem 
Vertreter des Kreisphysikus eine ausgedehnte Augenkrankheit 


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232 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 11. 


entdeckt hatte, Körnerkrankheit in 10 pCt. der Bevölkerung, 
schwere und abgelaufene Körnerkrankheit in 1—2 pCt. Somit 
wäre dort in Ostpreussen die Ausdehnung der Körnerkrankheit 
eine grössere, als in SUdungarn, das fUr stark deuchseucht gilt, 
insofern in unsern Dörfern jeder zehnte Mensch an Körner¬ 
krankheit leidet, in SUdungarn jeder zwanzigste. Aber ich flihle 
mich zu der Annahme gedrungen, dass Feuer das, was wir als 
leichte Kömerkrankheit bezeichnen, gar nicht mitgezählt hat: 
sonst hätte er nicht von 5000 Trachomfällen 4200 als schwere 
bezeichnen können. Jedenfalls ist bemerkenswerther und glück¬ 
licher Weise die Schwere der Erkrankung in 'unsern beiden 
Dörfern eine weit geringere, als in SUdungarn, in sofern bei uns 
nur etwa 1—2 pCt. der Bevölkerung an schwerem, bezw. abge¬ 
laufenem Trachom leiden, nicht 4'/, pCt., wie in SUdungarn. 

Diese beiden abgerundeten Zahlen (Kömerkrankheit in 
10 pCt. der Bevölkerung, schwere und abgelaufene Kömerkrank¬ 
heit zusammen in 1—2 pCt.), die wir bei der Auszählung von 
zwei Dörfern Ostpreussens gewonnen haben, wollen wir zum 
Ausgangspunkt vergleichender Betrachtung nehmen. 

Unser Beobachtungsmaterial umfasst hauptsächlich Schul¬ 
kinder. Der Procentsatz an Trachom nimmt erheblich ab, wenn 
wir von Dorf- zu Stadt-Schulen und zu Gymnasien ansteigen. 
Der Einfluss der socialen Verhältnisse ist ausschlagsgebend fUr 
die Zahl und Schwere der Körnerkrankheit. In den Dorfschulen 
fanden wir 20—48 pCt. Trachom, 3—10 pCt. schweres. In den 
Stadtschulen fanden wir 10—15 pCt. Trachom und schweres 
1—2 pCt. In dem Gymnasium zu Lyck sinkt das Trachom bis 
auf 5 pCt., das schwere auf Null. . 

In keiner Schule Ost- und West-Preussens, die wir unter¬ 
sucht, fanden wir weniger als 5 pCt. Körnerkrankheit. 

Das ist sehr bemerkenswerth und beklagenswerth. 

Auch die Rheinlande gelten fUr durchseucht, aber die Volks¬ 
schulen zu Köln haben nur 1—2 pCt. Trachom.’ Jedenfalls sind 
die von uns ermittelten Procentsätze der Körnerkrankheit zu 
hoch für Provinzen, die dem Königreich Preussen angehören. 

Zum Schluss komme ich noch auf die in Ost- und West- 
Preussen Üblichen Verfahrungsweisen. 

Vorweg möchte ich bemerken, dass in Ost- und West- 
Preussen alle maassgebenden Persönlichkeiten mit einander 
wetteifern, die Seuche der Körnerkrankheit, die als eine 
schwere Landplage empfunden wird, nach Möglichkeit zu ver¬ 
ringern, bezw. zu beseitigen. Wenn diese Bemühungen bis 
heute leider noch nicht von wahrnehmbarem Erfolg gekrönt 
waren, so liegt dies einerseits an der völligen Unzulänglichkeit 
der Mittel, die bisher fUr diese Zwecke verwendbar waren, und 
andererseits an dem Mangel eines einheitlichen planvollen Vor¬ 
gehens. 

Ich gehe zunächst dazu Uber, die von den maassgebendeu 
Aerzten der beiden Provinzen angewendeten Heilverfahren kri¬ 
tisch zu beleuchten. Dabei wende ich mich sofort zu der wich¬ 
tigsten Frage, die alle beamteten und Krankenhausärzte, sowie 
die Herren Landräthe, Bürgermeister und auch die höchsten 
Beamten der beiden Provinzen mit am meisten beschäftigt: Ist 
die operative Ausschneidung der körnig erkrankten 
Bindehaut, wie sie jetzt so vielfach von den besten Aerzten 
der beiden Provinzen, fast mit behördlicher Sanction, geübt 
wird, das Heilmittel, mit dem die Seuche zu bekämpfen und zu 
besiegen sein wird? 

Ich kann mir nicht versagen, mit einigen Worten auf die 
Geschichte dieses Verfahrens einzugehen, zumal die neuesten 
und vollständigsten Sonderschriften in dieser Hinsicht ganz un¬ 
vollständig sind. 

Schon in der hippocratischen Sammlung wird das Aus¬ 
schneiden der granulären Verdickung empfohlen. Die späteren 


Griechen (einschliesslich des Römers Celsus) sprechen nicht 
mehr davon, so ausführlich sie auch das Schaben, Scarificiren 
der Bindehaut u. dgl. behandeln. Im Mittelalter fand das Aus¬ 
schneiden in Benevutus Graphaeus einen begeisterten An¬ 
hänger. Aber wichtiger fUr unsre Betrachtung ist die That- 
sache, dass, nachdem das Verfahren während der Kriege im 
Anfang unseres Jahrhunderts geUbt worden, der berühmte 
Philipp von Walther zu Bonn 1821 die preussische Arbeits¬ 
anstalt von Brauweiler, welche pandemisch von der Körner¬ 
krankheit durchseucht war, durch Ausschneiden der Wucherungen 
und durch hygienische Maassregeln vollkommen von der Seuche 
befreit hat. 

In der 2. Hälfte unseres Jahrhunders empfahl Galezowski 
in Paris das Ausschneiden der Umschlagsfalte gegen Körner¬ 
krankheit: unter 227 Operationen hatte er 213 Erfolge, 2 mal 
aber Verlust des Auges. 

Der Vorschlag stiess zunächst auf allgemeinen Widerspruch. 
Erst Jacobson in Königsberg und seinen Schülern Heisrath, 
Schneller, Vossius gelang es, das Misstrauen gegen die ope¬ 
rative Behandlung der Kömerkrankheit zu beseitigen. 

Jetzt wird die Ausschneidung der körnigen Bindehaut (d. h. 
der oberen Umschlagsfalte nebst einem Theil der oberen Lid- 
bindehaut, sowie der unteren Umschlagsfalte) in den Kranken¬ 
häusern von Königsberg (auch in der Universitäts-Augenklinik), 
von Danzig und den anderen grösseren Städten, ebenso in vielen 
Kreis- und Stadt-Krankenhäusern der kleineren Städte regel¬ 
mässig geübt. Die an schwerer Körnerkrankheit leidenden 
Kinder werden zur operativen Behandlung in die Krankenhäuser 
gesendet. 

Bei der Beurtheilung des Werthes dieser Ausschneidung 
kann man eines wohl behaupten, dass die Gefahr, ein Auge zu 
verlieren, verschwindend klein ist. Aber vollständig gleich Null 
möchte ich sie nicht setzen. Sodann sind geringere Schädi¬ 
gungen zu erwägen, Verwachsungen zwischen Lid und Augapfel, 
Verkrümmung der Lider u. s. w., die man ja vielfach der Ope¬ 
ration vorgeworfen und die ich hier in Berlin schon oft an 
Kranken beobachtet hatte, welche in den beiden preussischen 
oder in den russischen Ostseeprovinzen mittelst der Ausschnei¬ 
dung operirt worden waren. Ich muss gestehen, dass in der 
Ubergrossen Mehrzahl der bei unseren Untersuchungen beobach¬ 
teten Fälle das Auge den Eingriff ganz vortrefflich Uberstanden 
hatte. Aber meist war die Beobachtungszeit zu kurz. Es 
handelte sich in der Regel um Kinder, die vor 1—2 Jahren 
operirt worden waren. Was nach 20 und 40 Jahren aus diesen 
Augen werden kann, entzieht sich noch unserer Beurtheilung. 

Das schlimmste ist aber die grosse Anzahl der sog. Rück¬ 
fälle. Man untersucht ein Kind, das auf beiden Augen oben 
wie unten durch Ausschneidung operirt worden, und findet die 
ganze Innenfläche der 4 Lider, so viel Bindehaut noch vorhanden 
ist, besetzt und wie gepflastert mit dicht gestellten Körnern. Zu 
einer neuen Ausschneidung ist weder Substanz noch Zutrauen 
vorhanden. Es fragt sich, ob der Name Rückfall passt. Man 
kann ja niemals die ganze Bindehaut der beiden Lider ent¬ 
fernen, weil dies den Bestand des Augapfels gefährden würde; 
man entfernt die mächtige Wucherung der beiden Uebergangs- 
falten oder dazu noch einen daran grenzenden Streifen der 
oberen Lidbindehaut, ln der Regel bleiben Körner zurück in 
dem zurückgelassenen Theil der Lidbindehaut. Diese können 
sich wohl zurückbilden; der Organismen wird mit der geringen 
Krankheitsmasse fertig. Aber sie können auch bleibeu, sich 
vergrös8em und neue in der Nachbarschaft erzeugen, so dass 
die Krankheit von frischem zu wuchern anfängt. 

Allerdings ist es ja auch möglich, dass die durch Aus- 


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berliner klinische Wochenschrift. 


233 


15. Mä rz 1837 . 

schneiden gereinigte Bindehaut in durchseuchten Familien neu 
angesteckt wird. 

Die schlimmsten Verhältnisse fanden wir in der Schule zu 
Königsbruch bei Pillkallen, wo auch die Familien der Schul¬ 
kinder stark durchseucht waren, nämlich gegen 30 pCt. Körner¬ 
krankheit darboten. Von den 72 Schulkindern waren 15 in 
Königsberg operirt und von diesen 15 zeigten H sogenannten 
Rückfall, 3 einen schweren. 

Im ganzen fanden wir unter 135 Fällen der Ausschneidung 
71 sogenannte Rückfälle, d. i. 52 pCt. 

Gern will ich hervorheben, dass in der geschlossenen An¬ 
stalt Bethanien, dem Waisenhaus zu Meldinen bei Gumbinnen, 
der Eindruck der Operation ein günstiger war. Eine stark 
durchseuchte Anstalt war durch das Messer in glücklicher Weise 
von der Krankheit, wenn auch nicht ganz vollständig, befreit 
worden. 

Dies zeigt die neuerdings wieder ziemlich allgemein aner¬ 
kannte Feberlegenheit der chirurgischen Beseitigung 
der Körner Uber die Aetzungen und Pinslungen, besonders wenn 
eB gelingt, ein chirurgisches Verfahren festzustellen, das die 
Vortheile der Ausschneidung gewährt, aber von den gegen¬ 
wärtigen und zukünftigen Nachtheilen derselben frei bleibt. 

Dies bessere Verfahren steht nach meinen Beobach¬ 
tungen uns zur Verfügung in dem Aus quetschen der Körner. Es 
beseitigt die krankhafte Masse, lässt aber die Schleimhaut ganz 
unverkürzt; ist der Gefahr des Rückfalls nicht mehr unterworfen 
als das Ausschneiden, sondern eher etwas weniger; empfiehlt 
sich auch den Kranken und ihren Angehörigen dadurch, dass 
nicht geschnitten wird, so dass sie sich eher fügen. 

Es liegt mir aber fern, das Ausschneiden ganz verwerfen zu 
wollen, wenn es mit Auswahl der Fälle und mit Maass geübt wird. 

Beiläufig will ich bemerken, dass die nach dem Ausschneiden 
entstandenen stärkeren Rückfälle der Körnerbildung ganz passend 
mit dem Ausquetschen behandelt werden können. 

ln den weniger schweren Fällen wird vielfach das Abreiben 
mit der in Sublimatlösung (1 : 1000) getränkten Verbandwatte 
geübt. Es ist das neue Verfahren der Gebrüder Keinig, eigent¬ 
lich identisch mit dem ältesten, der sogenannten hippocratischcn 
Ophthalmoxysis. Der Grieche vor mehr als 2000 Jahren nahm 
Wolle, der Deutsche vom heutigen Tage Baumwolle zum Reiben. 
Der Grieche wählte Grünspahn zur Aetznng, der Deutsche 
Sublimat. 

Ich fand bei der Nachprüfung das Keinig’sehe Verfahren 
schmerzhafter als die übliche Anwendung des Kupferstiftes oder 
der 1 procentigen Silbernitratlösung, und gar nicht wirksamer. 
Auch Ist es unrichtig, dass das Keinig'sehe Verfahren für die 
Landpraxis sich mehr eignet, als die andern, z. B. die beiden 
eben erwähnten. Wer mit dem Auge nicht iiehtig umgehen 
kann, soll seine Hand davon lassen. In den beiden preussischen 
Provinzen war fast Niemand mit dem Keinig'sehen Verfahren 
zufrieden. Wir sahen Schulkinder, die von einem tüchtigen Arzt 
regelmässig etwa 2 Jahre mit der Abreibimg behandelt und der 
Schule entzogen, aber noch nicht geheilt waren. 

Gelingt es nicht binnen 3—4 Monaten die Körnerkrankheit 
mit Kupferstift, Silbemitratlösung u. dgl. zu beseitigen, so tritt 
das operative Verfahren in seine Rechte. 

In den leichten Fällen wird vielfach eine leichte Zink¬ 
sulfatlösung von dem Lehrer in der Schule den Schülern nach 
ärztlicher Anweisung eingeträufelt. Viele Aerzte, auch erfahrene, 
beamtete, legen grossen Werth auf diese Eipträuflungen. 

Ich kann mich dem nicht anschliessen. Es kommt nicht 
darauf an zu behandeln, sondern wirkliche Heilwirkungen aus¬ 
zuüben. Das dazu berufene Personal sind die Aerzte. Nicht¬ 
ärzte richten Schaden an. 


Solche Zinklösungen, die nicht einmal steril bereitet, ohne 
besondere Vorsicht aufgehoben, zu wiederholten Einträuflungen 
benützt werden, sind regelmässig nach kürzester Zeit verpilzt, 
wie ich schon vor 30 Jahren gefunden. Die besten Vorschriften 
des Arztes sichern nicht die richtige Ausführung seitens des 
Lehrers. Die Heilwirkung der Zinklösung auf wirkliche Körner¬ 
krankheit ist null, die Schädigung der Bindehaut möglich und 
wahrscheinlich. Endlich wird der Nichtarzt, wenn er regel¬ 
mässig viele Fälle hinter einander, darunter einfache Katarrhe 
und wirkliche Körnerkrankheit, einzuträufeln hat, doch von 
Uebertragung der Körnerkrankheit auf einfache Katarrhe sich 
nicht frei zu halten vermögen. Weit besser lässt man einfache 
und Bläschen-Katarrhe ganz unberührt, wenn es nicht möglich 
ist, dass wirkliche Sachverständige sie behandeln. 

Bei dem chronischen Verlauf der Körnerkrankheit wird man 
durch weises Zurückhalten nicht schaden, wenn nur die Unter¬ 
suchungen der Schulkinder regelmässig, z. B. alle Monate, und 
gründlich vorgenoramen werden. 

Ueber die Verhütung der Krankheit und die allgemeinen 
Maassregeln zur Bekämpfung der Seuche vermag ich den vor¬ 
trefflichen Ausführungen des Herrn Collegen Kirchner nichts 
hinzuzufügen. 


VI. Kritiken und Referate. 

1. Zinn: Ueber StofTwechselnntersuchangen mit dem Fleisch« 

pepton der Compagnie Liebig und seine praktische Verwen¬ 
dung. (Aus der Klinik des Herrn Geb.-Rath Professor Dr. 
Gerhardt in Berlin.) Münchener med. Wochenschrift 1896, 
No. 46. 

2. Uohenberger: Zur Frage der Resorbirbarkeit der Albumosen 

im Mastdarm. (Aus der med. Klinik des Herrn Professor 
v. Leube in Würzburg.) Ibid. 1896, No. 47. 

Das nach Prof. Kemmerich hergestellte Fleischpepton wird aus 
reinem Fleisch unter starker Dampfspannung hergestellt. Es enthält 
keinerlei Zusatz von Säuren, Kochsalz oder anderen 8ubatraten nnd em¬ 
pfiehlt sich schon durch seinen angenehmen Geschmack vortheilhaft zur 
Krankenernährung. Bekanntlich ist die Bezeichnung „Pepton“ für dieses 
und ähnliche Präparate nicht streng zutreffend, vielmehr handelt es sich 
um ein Albumose-Peptongemisch, in welchem die echten Peptone den 
Albumosen gegenüber stark zurücktreten. Dass dies kein Nachtheil ist, 
hat Ref. schon vor Jahren damit begründet, dass auch bei der normalen 
Eiweissverdauung im Magen Peptone nur in kleinsten Mengen gebildet 
werden und die pcptische Umwandlung der Ei weisskörper wesentlich 
auf die Albumosen beschränkt bleibt 1 ). Der Gehalt des Kemmerich- 
sehen Fleischpepton an Albumosen und Peptonen beträgt ca. 40 bis 
50 pCt. oder in N 10,85 pCt., wovon 8,0 pCt. auf Nicht-Extractiv-N und 
2,85 pCt. auf Extractivstickstoff kommen. 

Es existiren über die Verwerthbarkeit der „Peptone“ zum Ersatz 
gewisser Mengen nativen Eiweiss zahlreiche Beobachtungen, welche bis 
auf die ersten derartigen Versuche von Maly und Adamkiewicz 
zurückgehen. Sie alle haben dargethan, dass das Eiweiss in stofflicher 
Hinsicht durch Albumose-Pepton ersetzt werden kann. Nun ist aber mit 
dieser am Thierversuch, allenfalls durch einen Versuch am gesunden 
Menschen erhärteten Thatsache der Werth eines „Peptonpräparates“ für 
die Krankenbehandlung noch lange nicht dargethan. „Das schönste 
Peptonpräparat nützt nichts, wenn es nicht genommen wird“, und welche 
Zumuthungen in dieser Beziehung an den ohnehin so empfindlichen Gau¬ 
men der Kranken von strebsamen Erfindern gestellt werden, kann man 
oft genug erleben. In dieser Beziehung macht das Kemmerich’sehe 
Fleischpepton eine rühmliche Ausnahme und steht nach meinen Erfah¬ 
rungen, was Wohlgeschmack und Geruch betrifft (denn anch letzterer 
spielt eine nicht geringe Rolle dabei!), in der ersten Reihe. 

Zinn (1) hat sich nun der Mühe unterzogen, mit dem Kemmerich- 
schen Präparat (die Compagnien Liebig und Kemmerich haben „des 
langen Haders müde“, sich jetzt unter einer Firma geeinigt!) auf der 
Klinik von Gerhardt eine genaue Stoffwcchselcontrole bei gleichzei¬ 
tiger geringer Eiweisszufuhr (ca. 14 gr N. pro die) an 2 Personen anzu- 
ßtellen, von denen die eine magengesund, die andere leicht chlorotisch 
(also wohl leicht dyspeptisch) war. Dabei zeigte sich, dass das Fleisch¬ 
pepton ganz ebenso wie andere derartige Präparate, Albumose-Pcnton- 
gemische, im Stande war, das Eiweiss der Fleischperiode zu ersetzen 
bezw. neben kleinen Mengen Eiweiss verabfolgt, einen Ansatz zu be¬ 
wirken. Die Versuche wurden in der Weise angestellt, dass zunächst 


1) Ewald und Gumlich, Ueber die Bildung von Pepton im 
menschlichen Magen etc. Berl. klin. Wochenschrift 1890, No. 44. 


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No. 11. 


BERLIN ICR KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


eine Anzahl von Tagen eine bestimmte Menge Fleisch gegeben wurde, 
dann eine zweite Reihe 4 Tage umfassend, folgte, in welcher das 
Fleisch zum grössten Theil durch Pepton ersetzt wurde, und endlich in 
einer letzten Periode wiederum ausschliesslich Fleisch gegeben wurde. 
Ebenso wurde auch die Resorption in drei derartigen Versuchen, d. h. 
der Stickstoffverlust im Koth pro Tag, bestimmt. Bei der einen Ver¬ 
suchsperson wurde das Pepton besser alB das Eiweiss resorbirt, bei der 
andern war ' die Resorption des Peptons eine weniger vollkommene, als 
die des Eiwcisses. 

Ausser diesen Stoffwechselversuchen wurde das Pepton noch bei 
14 anderen Patienten in Mengen von 20—50 gr pro die verabreicht. Nie 
wurden Reizerscheinungen von Seiten des Darmcanales beobachtet und 
in allen Fällen gelang es, den Kranken, selbst wenn ihr Appetit voll¬ 
ständig darniederlag, mit Pepton, Milch und Suppen eine vollkommen 
ausreichende Eiweissmenge zuzufiihren, ja selbst Gewichtszunahmen von 
1 kgr und mehr zu erzielen. Auch der bereits von Kemmerich ermittelte 
(s. diese Wochcnschr. 1895, No. 44) günstige Einfluss auf die Beschaffenheit 
des Pulses konnte nach Einnahme grösserer Peptonmengen wiederholt beob¬ 
achtet werden. Von ganz besonderem Werth erscheint das Fleischpepton 
deshalb, nicht allein um das Eiweiss vollständig zu ersetzen, sondern auch 
als Adjuvans in kleinen Gaben neben anderweitiger Verabfolgung eiweiss¬ 
haltiger Nahrung. Hier bewährte es sich besonders bei Chlorotischen, 
Reconvalescenten und Phthisikern, bei denen der Appetit darniederlag 
und die Verdauung gestört war. Es gelang mit den oben erwähnten 
kleinen Gaben, den Appetit zu heben und die Magenbeschwerden zu be¬ 
seitigen, was vielleicht auf die durch die Extractivstoffe des Fleisches 
veranlasste stärkere Magensaftsecretion zurückzuführen ist. 

Sehr mit Recht sagt Zinn am Ende seiner Mittheilung, dass die 
äusseren Eigenschaften, Form, Geschmack, Haltbarkeit und gleichmässige 
Zusammensetzung, das Kemme rieh'sehe Fleischpepton in vortheilhafter 
Weise vor vielen anderen ähnlichen Präparaten auszeichnen. 

Die Frage der Resorbirbarkeit der Albumosen vom Mastdarm aus 
hat Kohlenberger (2) ebenfalls mit Hülfe des Kemmerich’schen 
Fleischpeptons bearbeitet. Er gab Peptonlösungcn von 10 pCt. im Klysma, 
welches etwa BO—40 ccm enthielt. Der Harn nach solchen Klysmaten 
zeigte, auf verschiedene Weise untersucht, niemals weder echte Peptone, 
noch Albumosen. Durch Untersuchung der nach Application der Klysmata 
entweder spontan oder auf Eingiessung entleerten Stühle resp. Darm¬ 
inhaltsmassen, wurde festgestellt, dass die Albumosen vollständig resor¬ 
birt wurden, denn es gelang in den betreffenden Massen nur eine 
zweifelhafte oder schwache Biuretreaction zu erhalten. K. nimmt des¬ 
halb an, dass die Albumosen vom Darm vollständig resorbirt werden 
können und mit besonderem Vortheil bei der künstlichen Ernährung 
verwerthbar sind. Ewald. 


Fricdlfinder: Beiträge zur Anwendung der physikalischen Hell* 
methoden. Verlag von Bergmann. Wiesbaden 189G. 

Die 121 Seiten umfassende Schrift ist in verschiedener Hinsicht 
interessant. Sie giebt einen zwar kurzen, aber doch inhaltreichen Ueber- 
blick über die physikalischen Heilmethoden, unter denen die vielfachen 
Formen der Wasserbehandlung von dem Schüler des Professor Winter¬ 
nitz mit besonderer Liebe geschildert werden. Eng verbunden mit diesen 
wissenschaftlichen Erörterungen — und dies macht das Buch ungemein 
anregend und lehrreich — ist die technische, bis ins Einzelnste sich ver¬ 
tiefende Beschreibung des grossartigen Augusta-Victoria-Bades zu Wies¬ 
baden, wohl des prächstigsten und vollständigsten Etablissements seiner 
Art, dessen dirigirender Arzt Verf. ist. Viele vorzügliche Abbildungen 
veranschaulichen die ebenso luxuriös ausgestatteten als praktisch an¬ 
gelegten Räume des Riesenpalastes. Vulpius-Heidelberg. 


VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. 

Berliner mediclnlsche Gesellschaft. 

Sitzung vom 24. Februar 1897. 

Vorsitzender: Herr Virchow. 

Schriftführer: nerr Landau. 

Vorsitzender: Als neue Mitglieder sind von der Aufnahme- 
Commission folgende Herren aufgenommen worden: die DDr. Ball in, 
Däubler-Tegel, Glücksmann, Göppert, Grotjahn, Immelmann, 
Junius-Dalldorf, M. Loewy, Rob. Müllerheim, Hugo Neumann, 
Pinkuss, Reiche, Strube. 

Wir haben sehr angenehme Gäste unter uns: Herrn Prof. Kisch 
aus Marienbad, Herrn Dr. Köster aus Wiesbaden, Herrn Geh.-Rath 
Prof. Moritz Schmidt aus Frankfurt, den ich besonders freudig be- 
grüsse, da er in reger Verbindung mit uns steht. 

Hr. Ewald berichtet über Eingänge für die Bibliothek 1. von 
Herrn Virchow „Das Klima von Frankfurt a. M. etc. von Herrn Ziegler 
und Herrn Dr. Walter König“; 2. von Herrn Henoch die 9. Auflage 
seiner Vorlesungen über die „Krankheiten der Kinder“; 8. von Herrn 
Blaschko: „Die Lepra im Kreise Memel“. 

Vor der Tagesordnung. 

1. Ilr. Jacuslel: Wenn ich das Krankheitsbild, welches ich Ihnen 


gleich zeigen werde, als einen interessanten Fall bezeichne, so brauche 
ich einen Ausdruck der Verlegenheit, jener Verlegenheit, welche ein 
praktischer Arzt gegenüber einer Krankheit haben kann, über deren Ur¬ 
sache und Wesen er sich nicht genügend klar ist, was zur Folge hat, 
dass seine Bemühungen zu heilen nicht festen Boden gewinnen. Mit 
dieser Erwähnung verknüpfe ich die Bitte an Sie, mit Ihrem schärferen 
Urtheil und Ihrer reicheren Erfahrung das Krankheitsbild mustern und 
mir Ihre werthvolle Meinung nicht vorenthalten zu wollen. 

Patient ist ein 28jähriger Tischler. Er stammt aus gesunder Fa¬ 
milie, seine Eltern wie seine lebenden Geschwister sind gesund; zwei 
Geschwister sind im jugendlichen Alter an Kinderkrankheiten gestorben; 
ein jüngerer Bruder, den ich vor 8 Jahren behandelte, im 16. Lebens¬ 
jahre etwa, noch Schüler, starb an Actinomycose der Organe im Thorax¬ 
raum. Meine Diagnose wurde durch die chirurgische weitere Behand¬ 
lung im Krankenhause am Urban und durch mikroskopische Unter¬ 
suchungen erhärtet. 

Der vorzustellende Patient hat in seiner Jugend Diphtherie des 
Rachens gehabt, ist im Uebrigen gesund und arbeitsfähig gewesen bis 
in sein 18. Lebensjahr hinein. Im 18. Lebensjahre fiel ihm ein Brett 
auf die linke Schulter, und gleich darauf gewahrte er eine Geschwulst¬ 
bildung in der Gegend deB linken Schlüsselbeins. Dieselbe nahm zu 
und war ein Jahr darauf, als er sich zur Heeresmusterung stellte, doch 
schon so gross, dass er, wie er mir sagte, wegen der „Fettgeschwulst“ 
an der linken Schulter vom Dienst entbunden wurde. Beschwerden 
sonderlicher Art hat er von der nun laugsam sich weiter entwickelnden 
Geschwulst nicht gehabt. Er meinte, dass er wohl hier und da Genick- 
schmerzen, auch wohl Kopfschmerzen gehabt hätte, aber sonst nichts. 
Im Jahre 1892 suchte er mich in der Sprechstunde auf, nicht, weil er 
sich krank, sondern weil er sich belästigt fühlte, um zu fragen, ob ich 
ihm etwas gegen diese Geschwulst empfehlen könnte. Die Geschwulst 
war damals so gross wie heute, sie war auch von derselben Consistenz 
ungefähr, von derselben Form, eine gelappte Geschwulst — Sie werden 
sie ja sehen. Ich schätzte sie als eine Lymphdrltoeiigescliwiilst — 
der Patient war damals recht bleich, bot aber sonst nichts Abnormes 
dar — ich verordnete ihm Arsenik in der Form von Solutio Fowleri. 
Er kam noch ein- oder zweimal wieder, hat, wie er mir jetzt erzählt, 
sich nachher die verordneten Tropfen regelmässig machen lassen und 
gebraucht und behauptet, sie wären ihm gut bekommen, und die Ge¬ 
schwulst wäre kleiner geworden. Ich muss aber bemerken, dass der 
Patient ausserordentlich gutartig ist und von allem, was man ihm ver¬ 
ordnet, erzählt, dass es ihm gut bekommen wäre. Nur schade, dass ich 
als beobachtender Arzt seine Meinung nicht theilen kann. Also ich 
finde die Geschwulst nicht kleiner als damals. So ging die Sache hin 
bis Ostern 1896, wo er bei einem Berliner Duodez-Volbeding, Harra 
Tr. St ahn — das Tr. soll wohl Doctor Vortäuschen —, „approbirter 
und vereideter praktischer Arzt, Wundarzt und Geburtshelfer“, in die 
Behandlung kam, der sich rühmte, die „sicherste und erfolgreichste Be¬ 
handlung“ u. b. w. anzuwenden. Er gab ihm — verordnete nicht, son¬ 
dern gab ihm — ein Fläschchen mit Arznei, wovon er täglich mehrmals 
einen Tropfen in lauwarmem Wasser nehmen sollte. Auch diese Be¬ 
handlungsmethode hat an der Sache nichts geändert, aber, wie gesagt, 
beschwerdenfrei blieb er bis zum December 1896. Da traten zum 
ersten Male Beschwerden ein, eine gewisse Schwäche in den Beinen. 
Er arbeitete jedoch noch bis zu Weihnachten und Hess mich erst im 
Anfang d. J. zu sich bitten. Das Bild war nun sehr verändert. Der 
Patient konnte nur mühsam aufrecht stehen, bei geschlossenen Augen 
drohte er überhaupt umzustürzen. Gehen konnte er sehr wenig oder 
nur unterstützt von anderen Menschen oder mit Hülfe des Stockes. Die 
Sehnenreflexe sind normal. Er war sehr bleich, missfarbig, die Augäpfel 
etwas hervorgedrängt, am Augenhintergrund keine Abnormitäten, die Ge¬ 
schwulst am linken Schlüsselbein von der Art, wie Sie sie sehen werden. 
Sie stellt wohl die Eingangspforte, die erste Stelle der Krankheit dar, 
so zu sagen das Festland. In ihrer Nachbarschaft finden Bich ver¬ 
sprengte Inseln von kleinen Geschwülsten in der linken Achselhöhle, auf 
dem Schulterblatt, und zwar oberhalb und unterhalb der Gräte, ferner 
in der anderen Achselhöhle und in den Leisten, im Oberbauche eine 
grosse Schwellung, die einer geschwollenen Milz, und eine grosse Schwel¬ 
lung, die der geschwollenen Leber entspricht. Appetit, Verdauung und 
Schlaf sind gut, die Geschlechtslust eine dem Alter angemessene, ebenso 
die Geschlechtstähigkeit. Ich erwähne das, weil bei Leukämie, darauf 
sah ich den Fall an, Priapismus auch erwähnt wird. Infectionskrank- 
heiten, Blutungen u. dgl., Alkoholismus, Syphilis sind auszuschliessen. 
Es bleibt nur als die einzige angebliche Ursache, vielleicht auch die 
wirkliche Ursache zurück das einmal vor 10 Jahren erlittene Trauma, 
zu dem sich allerdings eine dauernde Misshandlung der ersten befallenen 
Stelle gesellte. Er trug nämlich, wie sein Beruf es mit sich bringt, 
Bretter und dergleichen Gegenstände stets auf der linken Schulter. 

Das Bild veranlasste mich, eine Leukämie anzunehmen. Ich habe 
das Blut untersucht, allerdings in der Weise, wie man vor 25 Jahren 
zu untersuchen pflegte, auf einem alten 8chieck’schen Mikroskop, und 
ich muss sagen, dass das mikroskopische Bild sich nicht von demjenigen 
unterschied, welches ich bei gewöhnlichem, normalem Blut zu Behen 
pflege, dass also eint Vermehrung der weissen Zellen nicht gefunden 
wurde, noch eine Verminderung der rothen, noch eine Veränderung des 
Verhältnisses beider Blutzellenarten. Ich muss also eine echte Leukämie 
hier ausschliessen; und wenn mir nun auch bekannt ist, dass man in 
solchen Fällen von Pseudoleukämie spricht, so muss ich sagen, der Be¬ 
griff der Pseudolcukämie ist für mich logisch nicht recht haltbar. Ich 


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15. März 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


235 


kann mir nicht recht das Krankheitsbild so formnliren, dass ich mit ihm 
als Praktiker etwas anfangen kann, und ich weiss auch nicht einmal, 
ob es genügend sicher tat. Ich muss sagen, das kommt mir vor, als 
wenn ich mir etwas unter einem Pseudomillionär vorstellen soll; und 
wenn man weiter geht und sogar von einer Aleukämie spricht, wie die 
Formel lautet: die Pseudoleukämie ist das aleukämische Vorstadium der 
Leukämie, so muss ich sagen, selbst ins Deutsche übersetzt: die irr- 
thümlich angenommene Vermehrung der weissen Zellen des Blutes ist 
das Fehlen einer Vermehrung der weissen Zellen im Blut als Beginn 
einer wirklichen Vermehrung der weissen Zellen im Blut, so ist das für 
mein Begriffsvermögen entweder zu hoch oder zu niedrig. 

Der Urin zeigte nichts Besonderes; er ist sauer, enthält nicht Ei- 
weiss noch Zucker, ist nicht von besonderer Menge. 

Die Arseniktherapie habe ich in letzter Zeit verlassen, weil ich von 
ihr gar keinen Erfolg gesehen habe, und bin dazu übergegangen, dem 
Patienten täglich 3 Esslöffel einer 4 proc. Jodkalilösung zu geben. Wenn 
ich mich nicht täusche, so scheint das eine günstige Wirkung auszuüben. 
Fieber ist niemals vorhanden gewesen und auch jetzt nicht vorhanden. 
— Ich erwähne noch, dass von den Zehen zu den Knien aufsteigend 
Oedeme bestehen. 

Wenn ich nun ein Urtheil aussprechen darf, wofür ich die Krank¬ 
heit halte, da ich von Pseudoleukämie als sicherem Krankheitsbild ab- 
sehen möchte, so sage ich: es ist eine auf der Basis der Entzündung 
entstandene Geschwulstbildung drüsiger Organe, ausgehend von den 
Lymphdrüsen am linken Schlüsselbein und sich von da weiter verbrei¬ 
tend auf die Milz, weitergehend auf die Leber. 

Wenn Sie gestatten, will ich jetzt den Patienten zeigen. Ich habe 
über ihn vorher gesprochen, weil ich manches vor ihm nicht erwähnen 
wollte, und erneuere die Bitte an Sie, mir eventuell Ihren schätzbaren 
Rath nicht vorzuentbalten. (Folgt Demonstration.) 

Discussion. 

Hr. Ewald: So weit das bei flüchtiger Betrachtung möglich ist, 
würde ich sagen, dass ein Fall von Hodgkin'scher Krankheit vorlicgt. 
Das ist ja auch schliesslich nur ein Name, wie die Pseudoleukämie von 
Ihnen (zum Vortragenden) für einen Namen erklärt worden ist. Aber 
wir fassen Fälle dieser Art eben unter dem Namen der Hodgkin’schen 
Krankheit zusammen. Ich will jedoch bei dem Vielen, was wir noch auf 
der Tagesordnung haben, nicht des Näheren darauf eingehen. 

Hr. R. Virchow: Was Hodgkin beschrieben hat, bezieht sich 
wesentlich auf Lymphdrüsen und zwar auf eine besondere Art. von 
Hyperplasie derselben, vielleicht mit etwas Induration und entzündlichen 
Erscheinungen. Die Hauptfrage wird aber immer sein, welches die 
Natur dieser besonderen Veränderung ist. 

Ich bin nicht in der Lage, im Augenblick ein Urtheil über die uns 
vorgestellte Geschwulst auszusprechen. Es würde meiner Meinung nach 
in erster Linie wichtig sein, festzustellen, was das eigentlich ist, ob das 
wirklich nur eine hyperplastische Wucherung der Drüsen ist. Dafür ist 
die 8telle ein wenig ungewöhnlich, etwas weit hinausgeschoben nach 
dem Thorax zu, indess möglich würde es immerhin sein. Ich meine, 
es würde zweckmässig sein, portionem tumoris abzutragen und nachzu¬ 
sehen, nm was es sich handelt. 

Hr. Jacusiel: Wenn eine derartige Excision von irgend einem 
der Herren vielleicht zum Zwecke einer näheren Untersuchung des 
Tumors gewünscht wird, so glaube ich, würde ich die Erlaubniss zu der¬ 
selben erreichen können, freilich in der Wohnung des Klienten. — Das¬ 
selbe gilt für etwa beliebte Untersuchungen des Bletes. — 

2. Hr. B. Frünkel: Ich möchte Ihnen eineu Kehlkopf demonBtriren, 
der einem Patienten angehört, welchen wir seit dem Jahre 1888 in unserer 
Behandlung haben. Es wurde mir damals von meinem Freunde Moritz 
Schmidt aus Frankfurt a. M., den wir als unsern Gast heute be- 
griisst haben, überwiesen. Er hatte die Erscheinungen einer Kehl* 
kopfstenose durch Juxtaposition der Stimmbänder. Er war von 
hier nach Soden geschickt worden, vermuthlich, weil man fälschlich die 
Diagnose der Schwindsucht gestellt hatte, und dort plötzlich von Athem- 
noth befallen worden und dann in Frankfurt a. M. tracheotomirt. 
Moritz 8chmidt hatte bereits die Schrötter’sche Erweiterung an¬ 
gefangen, und wir haben dieselbe hier fortgesetzt, — ich will Sie mit 
der Krankengeschichte nicht zu lange aufhalten —, haben auch eine 
Membran gespalten, die sich im Kehlkopf fand und verschiedentliche 
Granulationen entfernen müssen, die sich am oberen Theile der Caniile 
bildeten. Der Befund war der, dass das rechte Stimmband dauernd un¬ 
beweglich in Medianstellung stand, und dass es uns auch durch die 
Sonde und durch eingelegte Intubationsrohren nicht gelang, das rechte 
Stimmband aus seiner Position zu verrücken. Das linke Stimmband 
machte eine Adductionsbewegung, indem es sich gegen das rechte an¬ 
legte, aber die Aussenbewegung war erheblich beschränkt; es ging nie 
über die Cadaverstellung hinaus. Schliesslich ist es uns durch fort¬ 
gesetzte Intubationen gelungen, den Patienten dahin zu bringen, dass er 
nicht mehr einer Canüle bedurfte, dass er vielmehr im Stande war, 
durch seinen Kehlkopf, allerdings mit Zuhülfenahme der Trachealflstel 
zu athmen. Er ist nun jüngst eines gewaltsamen Todes gestorben, und 
ich verdanke es der Güte des Obducenten, dass ich Ihnen nun den Kehl¬ 
kopf demonstriren kann. Derselbe entspricht in seinem Befunde genau 
dem, was wir im Leben diagnosticirt hatten. Wir hatten immer eine 
Per ichondritis cricoidea angenommen. Der Kehlkopf ist hinten 


aufgeschnitten, und zwar liegt der Schnitt auf der linken Seite. Ich 
habe beiderseits die Musculi cricroarytaenoidei postici abpräparirt, und 
nun kann man deutlich sehen, dass auf der rechten Seite des Kehlkopfes 
der grössere Theil der Ringknorpelplatte fehlt. Hier ist ein grosser 
Defect am Ringknorpel vorhanden, während derselbe auf der linken 
Seite noch in seinem Niveau unverändert ist. Aber derselbe ist überall 
rauh, und auch auf der linken Seite werden Sie bei genauer Betrachtung 
kleine Defecte wahrnehmen können. Das rechte Cricoarytaenoidalgelenk 
ist vollkommen ankylotisch und bo mit dem Ringknorpel verwachsen, 
dass seine Bewegung unmöglich ist. Wir haben hier also einen von 
den Fällen vor uns, wo durch eine Perichondritis cricoidea — eB han¬ 
delt sich wahrscheinlich um eine speciflsche — plötzlich nun eine Median¬ 
stellung des Stimmbandes gesetzt wird, und zwar wahrscheinlich da¬ 
durch, dass, um die Gelenke bei dem Abstossen des.nekrotischen Theils 
des Ringknorpels aus ihrer Lage kommen, dann aber auch vornehmlich, 
weil die Musculi ericoarytaenoidei postici nun ihren Ansatzpunkt ver¬ 
lieren. Dieselbe waren, wie ich hinzufügen möchte, nicht fettig de- 
generirt, sondern sahen frisch roth aus und haben auch unter dem 
Mikroskop keinen körnigen Zerfall gezeigt. 

3. Hr. R. Virchow: Ich wollte Ihnen auch eine kleine Demonstration 
machen, die sich an das anschliesst, was wir neulich hier erörtert haben 
in Bezug auf den fraglichen Tapirhals, Col de tapir. Die Herren er¬ 
innern sich, dass es sich um eine kleine Differenz mit den heutigen 
Gynäkologen handelte, indem ich darin eine Neubildung sab, während 
sie darin nichts als ein Flexionsresultat erkennen wollten. 

Ich habe zunächst ein paar Präparate aus unserer Sammlung vorzu¬ 
legen, damit wir uns verständigen über das, was mit der Bezeichnung aus¬ 
gedrückt werden soll. Dieses hier (No. 150 vom Jahre 1860) ist, glaube ich 
ein ganz mustergültiges Präparat; daran ist die Form eines Tapirrüssels 
selbst von Weitem zu sehen. Es ist von Dr. Hofmeier abgetragen 
am Collum; daran sitzt der lange Rüssel, der genügend Aehnlichkeit mit 
einem Thierrüssel hat, um mit dem Namen Col de tapir bezeichnet zu 
werden. 

Hier ist ein anderes Präparat (No. 47 vom Jahre 1862). Es ist 
der ganze Uterus; an der vorderen Lippe sitzt ein Auswuchs, der sich 
frei in die Scheide hinein erstreckt. 

Ich wäre vielleicht nicht darauf gekommen, die Sache weiter zu 
besprechen, wenn wir nicht zufällig ein frisches Präparat bekommen 
hätten, welches den Entstehungszustand dieser Polypen einigermaassen 
esläutert. In dieser Beziehung will ich nur kurz daran erinnern, dass 
die Differenz, die neulich hier hervortrat, wesentlich darin bestand, dass 
nach der gynäkologischen Ansicht gesagt wurde, es handle sich um 
Knickung. Ich habe dagegen behauptet, es handle sich in erster Linie 
um eine Inversion (Ectropium) des Orificium externum und des an- 
stossenden Theiles der Portio. Dabei ist in erster Linie freilich die 
Schleimhaut betheiligt, welche sich in eigenthümlicher Weise verdickt; 
dann aber erfolgt ein weiteres Wachsthum in den tieferen Abschnitten 
der Wand. Dadurch entsteht schliesslich eine Hervortreibung, die sich 
in der Weise darstellt, dass an der Innenfläche Schleimhaut des Collum, 
an der anderen (äusseren) Fläche Schleimhaut der Vagina liegt. So ge¬ 
schieht es, dass gelegentlich die ganze innere Fläche des Polypen die¬ 
selbe Eigentümlichkeit besitzt, wie sonst die innere Fläche des Collum. 
Man sieht Leisten und Falten, dazwischen Lacunen, welche sich in die 
Tiefe erstrecken. So entsteht an dieser Oberfläche das eigenthümlich 
lacunäre Aussehen, wodurch dieselbe eine gewisse Aehnlichkeit mit einer 
Tonsillenoberfläche bekommt. Das ist schon an diesem frischen Präparat 
— es stammt von einer Puerpera, einem etwas späteren Stadium des 
Wochenbettes — zu sehen. — 

4. Hr. Litten : Ich habe mir das Wort für eine ganz kurze Mitthei¬ 
lung erbeten, die in der Demonstration trommelgchlügelartlger Finger 
und Zehen besteht, wie sie bei verschiedenartigen Krankheiten Vor¬ 
kommen, von denen man immer behauptet, dass sie auf venöser Stauung 
beruhen. Hier ist ein 22jähriges Fräulein, welches diese Trommel- 
schlägelflnger in sehr schöner Weise zeigt; sie sind entstanden in Folge 
eines angeborenen Vitium cordis. Ich vermuthe, dass es sich um eine 
Pulmonalstenose mit offenem ductus Botalli handelt. Sie wissen, dass 
diese Trommelschlägelflnger mit der intensiven Blaufärbung nicht nur 
bei angeborenen und erworbenen Herzfehlern Vorkommen, sondern auch 
bei vielen anderen Krankheiten, von denen ich hier nur an die Tuber- 
culose erinnern will, an die fibrösen Bindegewebswucherungen in den 
Lungen, die man gewöhnlich als Cirrhosis pulmonum bezeichnet, bei 
Cavemen, Bronchiectasen und ähnlichen Zuständen. Für mich hatte die 
Frage von jeher ein Interesse, ob die Stauung, die man an der Haut so 
schön sieht und an den Weiehtheilen fühlen kann, auch auf das Skelett 
übergeht und zu Verdickungen desselben führt. Da dies in der 
vorröntgenschen Zeit schwer oder gar nicht zu constatiren war, so habe 
ich die Gelegenheit benutzt, um diese Hände hier mit Röntgen strahlen 
photographiren zu lassen; und dabei stellt sich heraus, dass von einer 
Verdickung des Skeletts, die ich eigentlich erwartet hatte, wenigstens 
so weit es die Nagelphalangen betrifft, gar nicht die Rede ist. 

In einem zweiten Fall von angeborenem Vitium cordis, der noch 
viel hochgradigere Veränderungen der Finger zeigt, den ich aber nicht 
mitbringen konnte, weil das kranke Kind zu Bette liegt, sind die Hände 
durchleuchtet worden, und dabei hat sich dasselbe Resultat ergeben, 
dass das Skelett der Finger absolut nicht betheiligt ist. 

Wenn ich nun auch wohl glaube, dass dieses die Regel sein wird, 


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230 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 11. 


so würde ich aber doch aus diesen zwei Fällen noch nicht den ver¬ 
allgemeinernden Schluss ziehen, dass es immer so ist, obgleich in diesen 
Fällen ja eigentlich die Bedingungen für eine sehr hochgradige Stauung 
so günstig sind wie nur möglich. Das Mädchen ist, was Sie bei diesem 
Licht nicht sehen können, ausserordentlich blau, so tiefblau, wie es bei 
angeborenen Herzkrankheiten nur vorkommt. Ich mache diese letztere 
Bemerkung nur, um mich dagegen zu verwahren, diese eine oder diese 
zwei Beobachtungen, die ich gemacht habe, nun für alle Fälle zu ver¬ 
allgemeinern. 

Hr. Senator: Ich kann hinzufügen, dass in der That auch in 
anderen Fällen derselbe Befund gemacht worden ist. Namentlich sind 
aus Paris Mittheilungen über Röntgenbilder von solchen kolbenförmig 
verdickten Phalangen erschienen, in denen ebenfalls sich nur die Weich- 
theile und nicht die Knochen als verdickt herausgestellt haben. Es 
scheint also in der That, wenn nicht in allen — dazu sind ja die Er¬ 
fahrungen noch zu spärlich — aber doch in der Mehrzahl der Fälle eine 
Verdickung der Knochen nicht vorzuliegen. — 

5. Hr. William Lewy: Der junge Mann, welchen ich mir erlaube, 
Ihnen vorzustellen, zeigt an seinen beiden Armen Erscheinungen, über 
welche Sic in der Literatur, wenigstens in der deutschen, nur wenige 
Angaben Anden werden. 

Er war, kurz bevor er in meine Behandlung kam, auf der Eisbahn 
ausgeglitten und hatte sich dabei die Innenseite des rechten Ellcnbogen- 
gelenks gequetscht. Ich fand seinen rechten inneren Epicondylus auf 
Druck empAndlich, sonst aber keine andere Veränderung als diejenige, 
auf welche ich jetzt Ihre Aufmerksamkeit lenken möchte. Bei jeder 
Beugung des verletzten Gelenks schnellt der Ulnamerv über den medialen 
Epicondylus bis auf seine VolarAäche und gleitet bei der Streckung 
wieder an seine normale Stelle zurück. Dieses regelmässige Hin- und 
Hergleiten des Nerven können Sie deutlich fühlen; ja Sie können cs bei 
günstiger Beleuclitnng sogar durch die Haut hindurch sehen. 

Diese abnorme Beweglichkeit des Ulnarnerven hat man nach Ver¬ 
letzungen Sm Cubitalende des Oberarmbeins beobachtet, bei denen der 
mediale Epicondylus abbrach und in fehlerhafter Stellung anheilt; man 
sah dieselbe auch nach solchen Verletzungen der Gelenkgegend, bei 
denen am Knochen keine Form Veränderung nachweisbar war. Endlich 
haben Zuckerkandl und französische Chirurgen darauf hingewiesen, 
dass sie ebenso ausgiebige Verschieblichkeit des Ulnarnerven beobachtet 
haben in Fällen, wo keine Gewalteinwirknng vorangegangen war; sie 
sind aber der Ansicht, dass diese habituelle Luxation sich sehr 
selten Ande. 

Bei der Untersuchung meines Patienten fand ich nun, dass nicht 
nur an dem verletzten rechten Arm, sondern anch an dem linken, un¬ 
verletzten der Ulnarnerv bei jeder Beugung ebenso regelmässig und 
ebenso ausgiebig aus seiner Rinne nach vorn schnellte und dass der 
Kranke davon nicht die geringste Beschwerde empAnde. Dies veran- 
lasste mich die Ellenbogengelenke von 100 Personen zu untersuchen. 
Fünf Mal fand ich dabei das habituelle Hin- und Ilcrgleiten des Ulnar¬ 
nerven und zwar: 

zwei Mal doppelseitig, 
zwei Mal rechtsseitig, 
ein Mal linksseitig. 

Diese fünf Personen stellten bestimmt in Abrede, dass sie sich am 
rechten Ellenbogengelenk verletzt hätten; sie empfanden alle keinerlei 
Beschwerde von dem habitnellen Hin- und Hergleiten ihrer Ulnarnerven, 
obwohl sie zum Theil recht schwere Arbeiten verrichten mussten. Der 
eine war Hausdiener, ein anderer Zeugschmied, der dritte Kohlenträger. 
Der einzige, der ein Trauma als Ursache angab und über Schmerzen 
klagte und zwar nur an einem Arm, obwohl die Veränderung sich an 
beiden fand, ist der von mir heute vorgestellte Kranke. 

Nach meinen Erfahrungen scheint mir daher das habituelle Ilin- 
und Hergleiten des Ulnarnerven durchaus keine so seltene Erscheinung 
zu sein, wie man bisher annahm und gewöhnlich keine Beschwerden zu 
machen. Es ist mir sehr fraglich, ob es in denjenigen Fällen, wo man 
es nach leichten Verletzungen am Ellenbogengelenk beobachtete, wirk¬ 
lich erst durch eine Gewalteinwirkung verursacht worden ist. Wohl 
begreiflich ist es freilich, dass die abnorme Beweglichkeit des Nerven, 
welche vorher keine Beschwerden verursachte, Schmerzen hervorruft, 
wenn der Epicondylus nach einer Gewalteinwirkung dmckempAndlich 
wird. In solchen Fällen wird es aber wohl nur selten nothwendig sein, 
den Nerven durch eine der vorgeschlagenen Operationsmethoden in 
seiner Rinne an der HinterAäche des medialen Epicondylus zurückzu¬ 
halten. Oft genug wird es ausreicben den verletzten Arm so lange 
ruhig zu stellen, bis die Empündlichkeit des Knochenfortsatzes ver¬ 
schwunden ist und der hin- und her gleitende Nerv wird dann vermuth- 
lich wieder eben so wenig Beschwerden verursachen wie vor der 
Gewalteinwirkung. — 

Vorsitzender: Wir kämen dann an die Mittheilungen über die 
orientalische ßubonenpest, die Herr Kolle angekündigt hat. 
Ich freue mich, dass Sie Gelegenheit haben werden, über diese brennende 
Frage sich direkt zu unterrichten. Wir waren lange Zeit nicht in der 
Lage, frische Objecte zu haben, namentlich keine Objecte, welche sich 
zu Züchtungsversuchen eigneten. Im Institut für Infectionskrankheiten 
ist jedoch schon seit einiger Zeit eine Zahl solcher Gelegenheiten ge¬ 
boten worden. Herr Kolle hat sie in der reichsten Weise benutzt. 
Ich habe seine Präparate vorher kennen gelernt und denke, wir werden 


darin in ausgedehntestem Maasse die Belehrung Anden, die wir brauchen. 
VorläuAg werden Ihnen freilich nur die wissenschaftlichen Unterlagen 
für das praktische Urtheil geboten werden; demnächst wird sich weiter 
verhandeln lassen in Bezug auf die praktischen Consequenzen. 

Hr. Kolle: Zar Bacteriologie der orientalischen Benlenpest. 

Der Vortragende führt aus, dass wir über die Aetiologie der Pest erst 
1804 Befriedigendes erfahren haben. In diesem Jahre gelang es 
Kitasato, einem Schüler R. Koch’s, welcher von der japanischen 
Regierung zur Erforschung der Pest nach Hongkong gesandt war, und 
YerBin vom Institut Pasteur, der im Aufträge der französischen Regie¬ 
rung die Pest in Hongkong studirte, unabhängig von einander den Er¬ 
reger der Pest zu Anden. Die AufAndung derselben war bei Benutzung 
der von R. Koch in die ätiologische Forschung eingeführten bacterio- 
logischen Methoden nicht schwer. Die Vorführung derselben in Präpa¬ 
raten und Photogrammen, sowie eine Besprechung dessen, was wir über 
die Biologie, der Pesterreger wissen, dürfte von Interesse für weitere 
ärztliche Kreise sein, da wir immerhin mit der Möglichkeit zu rechnen 
haben, auch in Deutschland Erkrankungen an Pest zu bekommen. Denn 
es sind erst vor Kurzem in London einige Erkrankungen an echter, 
bacteriologisch nachgewiesener Beulenpest vorgekommen. Bevor Vor¬ 
tragender über Versuche berichtet, welche er mit der Londoner Pest- 
cultur, sowie einigen Pestculturen anderweitiger Provenienz angestellt 
hat, wird über das Vorkommen der Pestbacillen innerhalb und ausser¬ 
halb des menschlichen Körpers, sowie Morphologie und Biologie das 
Wissenswerthe mitgetheilt. 

Im gefärbten Ausstricbpräparate aus Eiter, welcher die Pestbeulen 
erfüllt, sieht man mikroskopisch neben Eiterkörperchen, Zelldetritus 
und zahlreichen, meist aus Ilämorrhagien stammenden rothen Blutkörper¬ 
chen kleine, an den Enden abgerundete Bacillen in so grossen Mengen, 
dass man fast sagen kann, der ganze Buboncninhalt bestehe fast nur 
aus Bacterien. Diese kleinen, an den Polen stärker als im mittleren 
Theile gefärbten Bacillen Anden sich auch im Blute mehr oder weniger 
zahlreich und in den Organen der an Pest Verstorbenen. Wegen ihrer 
Polfärbung und ihren sonstigen biologischen Eigenschaften sind die Pest¬ 
bacillen der Gruppe der Ilühnercholerabacterien zuzuzählen. Wie die 
letzteren sind die Pestbacillen auch septikämische Bacterien und ähneln 
namentlich in ihrem Verhalten im Thierexperiment den Milzbrandbacillen. 
Schnitte durch Bubonen zeigen die Pestbacillen in grossen Mengen, 
theils frei, theils in weissen Blutkörperchen, theils in den Driisenzellen. 
Organschnittc lassen die Pcstbacillen in den Gefässen hervortreten; im 
Parenchym der Organe Anden sie sich nur da, wo Blutungen, Ecchy- 
mosen, die bei Pestleichen fast nie fehlen, stattgefunden haben. Es 
braucht nicht besonders betont zu werden, dass sich die typischen Ba¬ 
cillen bei allen Pesterkrankungsfällen Anden. 

Diese Thatsachen sind wichtig für die bacteriologische Diagnose 
der Pest, sowohl während des Lebens wie nach dem Tode. Häuüg 
wird sich dieselbe schon durch ein einziges Ausstrichpräparat aus den 
geschwollenen oder vereiterten Drüsen stellen lassen; in vielen Fällen 
auch durch Blutpräparate, in denen sich die typischen bipolar gefärbten 
Stäbchen Anden, möglich seiu. Kitasato konnte in dem aus der 
Fingerkuppe Pestkranker entnommenen Blute häuAg die Bacillen nach- 
weisen. Die Diagnose kann durch das Vorkommen von Streptokokken 
häuAg erschwert werden, worauf besonders Aoyama die Aufmerksam¬ 
keit gelenkt hat. Die Streptokokken sind Mischinfectionserreger wie bei 
Tuberculose, Diphtherie, Typhus etc. Die sicherste Unterscheidung der 
Streptokokken von den häuAg Diplokokkenform aufweisenden Pest¬ 
bacillen bietet die Gram'sche Entfärbungsmethode. Pestbacillen ent¬ 
färben sich bei Behandlung mit Gram'schcr Flüssigkeit, während die 
Streptokokken die AnilinfärAung bewahren. Sollte es aus dem mikro¬ 
skopischen Bilde, namentlich dann, wenn die Pestbacillen nicht typische, 
sondern an Diplokokken erinnernde Formen aufweisen, trotzdem nicht 
möglich sein, die Diagnose zu stellen, so würde das ZUchtungsverfahren 
heranzuziehen sein. 

Durch Züchtungsversuche lässt sich nachweisen, dass die Pest- 
bacillcn auf fast allen gebräuchlichen bacteriologischcn Nährböden 
wachsen. Die Reinculturen bieten wenig Charakteristisches dar. Die 
Gelatine wird durch die Pestbacillen nicht verAüssigt, es entstehen 
Colonien, welche Körnung zeigen, zuweilen eine Randzone mit gezackten 
Rändern, im Uebrigen aber nichts Charakteristisches aufweisen. Auf 
Agar-Agar entsteht ein weisslicher, leicht irisirender, schleimiger Belag. 
In Bouillon wachsen die Pestbacillen ähnlich wie Streptokokken. Die 
Entwicklung erfolgt gleich gut bei Zimmertemperatur wie bei 87° C. 
Sporen sind bisher bei den Pestbacillen bisher nicht beobachtet, ebenso¬ 
wenig wie Geissein. Kitasato, Yersin und Zettuow nehmen an, 
dass die Pestbacillen eine Kapsel besitzen. Zettnow hat auch Photo¬ 
gramme veröffentlicht, welche die Kapsel namentlich bei Präparaten, 
die nach Löffler’s Methode gefärbt sind, zeigen. Gegen DesinAcientien 
und Hitze sind die Pestbacillen nicht sehr widerstandsfähig, wohl aber 
gegen Austrocknung; sie vertragen mehrtägiges Antrocknen an Deck¬ 
gläschen. 

Vortragender hat diese Angaben an 4 Culturen verschiedener Pro¬ 
venienz (Hongkong, Bombay, London) geprüft und hat sie bestätigen 
können. 

Sämmtliehe 4 Culturen zeigten auch untereinander weitgehende 
Uebereinstimmung in morphologischer und biologischer Hinsicht. Dagegen 
zeigten sich bei Thierversuchen Unterschiede in der Virulenz. Bei Be¬ 
nutzung virulenter Kulturen starben Ratten und Mäuse, auch Kaninchen 


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15. März 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


237 


nach Impfang in Hautwunden innerhalb weniger Tage. Die Thiere hören 
auf zu freraen, das Haar sträubt sich, sie werden matt und sterben unter 
Zeichen der Prostration. Bei der Obduction findet man dann die Pest¬ 
bacillen in grossen Mengen im Blut und in den Organen, wie beim 
Menschen, ferner in dem Oedem, das sich in der Umgebung der Iojec- 
tionstelle entwickelt hat. Bei intraperitonealer oder intravasculärer In- 
jection der Pestbacillen tritt der Tod noch rascher, innerhalb von 24 
bis 48 Stunden ein. Bei Benutzung wenig virulenter Kulturen zur In- 
fection der VereuchBthiere entsteht bei Ratten und Meerschweinchen ein 
der menschlichen Beulenpest völlig analoges Krankheitsbild. Es ent¬ 
stehen typische Bubonen; ein 8chnitt durch einen solchen Bubo einer 
Ratte ist dort aufgestellt, Es ist ferner gelungen, durch Verfütterung 
und Inhalation von Pestreinkulturen Ratten und Mäuse pestkrank zu 
machen. 

Diese Ergebnisse des Thierexperimentes schliessen den Kreis der 
Beweismomente für die ätiologische Bedeutung der Pestbacilien, welche 
als Paradigma für die septicämischen Infectionserreger neben die Milz¬ 
brandbacillen gestellt werden können. Der Pestbubo entspricht dem 
Milzbrandcarbunkel als Localprocess. Auch fiir die Verbreitungsweise 
der Pest sind aus diesen Thierversuchen Schlüsse zu ziehen, da diesel¬ 
ben zeigen, wie gefährlich für die Verstreuung der Pestkeime Ratten 
und Mäuse werden können. Die bei Epidemien von Yersin gemachten 
Beobachtungen bestätigen dies. 

Für die Verbreitung der Pestkeime sind ausserdem die von Wrlin 
in Hongkong 1894 gemachten Beobachtungen wichtig, dass die Pestbacillen 
im Auswnrf, Speichel, Urin und Excrementen der Pestkranken sich nach- 
weisen lassen. 

Die Uebertragung der Pestkeime auf den Menschen kann auf ver¬ 
schiedene Weise erfolgen: durch Wunden, durch Risse in der Haut und 
endlich durch Stiche von Ungeziefer. Yersin wies Pestbacillen im Staub 
von Pesthäusern und bei Insecten, die Gelegenheit hatten, sich zn infl- 
ciren, nach. 

Ueber Abwehrmaassregeln gegen Pest lässt sich ein abschliessendes 
Urtheil noch nicht fällen. Doch lässt sich das sagen, dass eine wirk¬ 
same Prophylaxe mit grossen Schwierigkeiten verbunden sein wird. 

Vortragender verbreitet sich dann über die Versuche, welche die 
Pestimmunität behandeln. Yersin hat Pferde durch intravenöse Injec- 
tion steigender Mengen frischer Agar-Pestkulturen immunisirt und mit dem 
Serum immunisirter Thiere Heilversuche an pestkranken Menschen an¬ 
gestellt. Das Serum ist danach, wenn die mitgetheilten Zahlen richtig 
sind, ein Heilserum. Für pestbedrohte Länder wird sich daher die Her¬ 
stellung von Pestserum empfehlen. 

Ebenso wichtig wie die Frage des Pestserums ist diejenige nach 
Schutzimpfungen, die active Immunisirung durch Injection von abgetüd- 
teten Pestkulturen unter die Haut. Wenn die durch die Tagespresse 
verbreiteten Nachrichten zutreffend sind, hat Haffkine derartige Injec- 
tionen, welche in analoger Weise wie bei Cholera ausgeführt werden, 
bereits bei einer grossen Anzahl von Menschen vorgenommen, und zwar, 
wie Telegramme melden, mit gutem Erfolg. Da die Cholcraschutz- 
impfungen, für deren Wirksamkeit ich unzweideutige wissenschaftliche 
Kriterien, wie ich in einer früheren Arbeit mittheilte, erbringen konnte, 
sich in Indien bewährt haben, so dürfte auch die Ausführung von Schutz¬ 
impfungen gegen Pest nach Analogie der Choleraimpfungen vielleicht 
Aussicht auf Erfolg haben, Von Wichtigkeit für die Ausführung solcher 
Versuche dürfte die von mir gelegentlich der Choleraimpfungen am 
Menschen gefundene Thatsache sein, dass durch einmalige Injection ab- 
getödteter Choleraculturmasse sich im Blute der Inoculirten die von 
R. Pfeiffer entdeckten Choleraantikörper in der gleichen Menge und 
ebenso lange Zeit nach der Injection nachweisen lassen, wie nach mehr¬ 
maligen Injectionen lebender Cultur. Ich verfüge nuir auch über einige 
Thierversuche, welche aus äusseren Gründen nicht weiter fortgesetzt 
werden können, indessen schon jetzt gewisse Anhaltspunkte für die Be- 
urtheilung der Möglichkeit activer Immunisirung gegeben haben. Ich 
verfüge über fünf Ratten und vier Meerschweinchen, welche mit einer 
durch mehrstündiges Erwärmen bei 65° C. abgetödteten Pestagarcultur, 
subcutan vorbehandelt sind und 16 Tage nach der Präventivimpfung die 
subcutane Impfung mit vollvirulenter Pestcultur, ohne zu erkranken, 
überstanden haben. 

Der Mensch reagirt auf subcutane Injection abgetödteter Peatcultur- 
masse (eine Agarcultur in 2 ccm Bouillon bei 1 pCt. Phenolzusatz) mit 
localer und allgemeiner Reaction, ähnlich wie ich sie für Cholera- und 
Typhusinjectionen früher beschrieben habe. Es stellt sich Fieber, Un¬ 
behagen, Appetitlosigkeit sowie ein schmerzhaftes Infiltrat an der Injec- 
tionsstelle ein. Ich habe bei zwei Menschen mit ihrem Einverständniss 
diese Versuche unternommen. Ueber etwaige Veränderungen, welche 
sich im Blutserum der Inoculirten einstellen, kann ich bis jetzt noch 
keine Mittheilungen machen. 

Hr. R. Virchow: Bevor wir uns trennen, möchte ich den Herrn 
Redner bitten, auf einen Punkt seiner Darstellung noch einmal kurz 
zurückzukommen. Die Natur der Sache hat es mit sich ge¬ 
bracht, dass sich mehr und mehr das Interesse auf die Immonisirung 
und das Heilserum wendet, und es ist ja nicht zu bezweifeln, dass das 
in nächster Zeit so weiter gehen wird. Aber für die Verbreitung der 
Krankheit haben wir doch eine andere Frage zu behandeln, die 
uns sehr interessirt und die ich noch einmal genau präcisiren möchte. 
Das ist die Frage, wie die Eintrocknung auf die Bacillen wirkt, wie 
lange das Leben in den getrockneten Massen vorhält, und wie lange 


man befürchten muss, dass von solchen [Massen aus irgend welche 
weiteren Uebertragungen stattfinden können. Ich will nur daran er¬ 
innern, dass eine Anzahl von Geschäften bei uns schon seit Wochen 
darauf drängt, zu wissen: was kann man sterilisiren? wo liegen die 
Gefahren? wie weit ist man durch Immunisirung geschützt oder welche 
Maassregeln sind dazu nöthig? 

Hr. Ko Ile: Ich bin auf diese Frage aus folgenden Gründen nicht 
ausführlicher eingegaugen: Versuche für prophylaktische Maassnahmen, 
soweit sie sich auf den Verkehr, z. B. mit Fellen, mit Provenienzen 
anderer Art aus infleirten Ländern beziehen, sind, wenn man sie im La¬ 
boratorium anstellt, doch nur von bedingtem Werthe, da die Schlüsse 
auf die Verhältnisse, wie sie in Wirklichkeit liegen, deshalb nicht ganz 
zutreffend sind, weil man die Bedingungen, unter denen sich z. B. Felle 
u. s. w. in Schiffsräumen befinden, nicht ganz herstellen kann. Diese 
Fragen sind, so viel ich weiss, hier übrigens schon in verschiedenen 
Sitzungen von staatlicher Seite angeschnitten worden; es sind auch Ver¬ 
suche darüber im Gange, so viel ich gehört habe, und vor allen Dingen 
werden, glaube ich, also die Pestcommissionen diese Frage, welche bis 
jetzt noch nicht spruchreif ist, doch jedenfalls näher erörtern. Die 
orientirenden Versuche, welche bis jetzt in Laboratorien angestellt sind, 
beziehen sich zumeist nur auf Austrocknung der Pestbacillen an kleinen 
Gegenständen, an Deckgläschen, an Wolltasern, an Haaren und der¬ 
gleichen Sachen, die man dann leicht der Cultur unterwerfen kann, um 
nachzuseben, ob die Bactericn leben oder nicht. Aber das eine ist doch 
wohl aus diesen Versuchen ziemlich sicher zu schliessen, dass nämlich 
die Paatbacillen der Austrocknung einen erheblichen Widerstand ent¬ 
gegensetzen. Die Versuche mit Deckgläsern sind ja in sofern ziemlich 
instrnctiv, weil die Austrocknung an der Luft auf dieser dünnen Schicht 
eine ziemlich intensive ist, eine so intensive, wie sie Behr häufig unser 
gewöhnlicher Staub, der auch in die Luft kommt, wohl kaum besitzt; 
und da lassen sich nun mit Leichtigkeit nach einigen Tagen die Pest- 
bacterien, welche ausgetrocknet sind, zur Entwickelung bringen. Die 
Versuche im Grossen sind ja auch nicht ohne Gefahr, und es müsste 
dazu das Thierexperiment in ausgedehnterem Maasse herangezogen 
werden, was mit Ausnahme der Versuche, die man an Thieren macht 
zur Immunisirung, wohl wieder mit einigen Schwierigkeiten bis jetzt 
verbunden sein dürften, obgleich die Sache nicht so ängstlich ist, wie 
sie wohl auf den ersten Anschein anssieht. Es sind in Paris seit einem 
Jahre derartige Versuche doch schon im Grossen gemacht; es sind dort 
20 Pferde mit Pestculturen immunisirt worden, das Serum ist fortwäh¬ 
rend an Thieren geprüft worden, und doch ist es weder privatim noch 
amtlich bekannt geworden, dass bis jetzt eine Infection im Laboratorium 
oder bei diesen Versuchen erfolgt wäre. Es liegt hier also zum Theil 
ähnlich wie mit anderen septikämischen Erkrankungen, und es zeigt 
andererseits, dass wahrscheinlich gerade die Ratten, Mäuse, sowie das 
Ungeziefer, welches also von Mensch zu Mensch sich bewegen kann und 
direkt das Blut von einem zum anderen tragen kann, infectiös wirken 
können. Es liegen hier vielleicht die Verhältnisse ganz ähnlich, wie sie 
sich auch bei der Recurrens finden, wo doch sehr vielfach angegeben 
wird, dass gerade z. B. in Herbergen u. s. w. eine Erkrankung durch 
das Ungeziefer stattflndet. Die genauen Resultate über Versuche, welche 
für die Praxis, namentlich für den Verkehr mit Waaren u. s. w. aus 
Indien, ausschlaggebend sein dürften, werden wir jedenfalls von den 
Pestcommissionen erhalten. 

Vorsitzender: Wir befinden uns ja Alle noch in dem Stadium 
des Lernens. Ich darf daher in Ihrer Aller Namen dem Herrn Vor¬ 
tragenden herzlich danken für seine so klare Darstellung und für die 
vortrefflichen Bilder, die er uub gezeigt hat und die wohl Allen ein 
vollkommenes Bild von dem Wesen und der Natur dieser kleinen „Er¬ 
reger“ gegeben haben. 


Yerein für innere Medicin. 

Sitzung vom 1. März. 

Vor der Tagesordnung demonstrirt Hr. Haber Präparate des 
Meningococcns intracellularis, die von der mittelst Lumbalpunction 
gewonnenen Cerebrospinalflüssigkeit des ersten Falles von Meningitis 
cerebrospinalis stammen, welche in diesem Jahr in Berlin zur Beob¬ 
achtung gekommen ist. Es wurden 40 ccm einer dünnen eitrigen 
Flüssigkeit entleert, in der sich der Meningococcus in ausserordentlicher 
Menge fand. Nach zwei Tagen Hessen sich durch die Lumbalpunction 
nur wenige Tropfen Flüssigkeit entleeren, in der vereinzelte Kokken 
extracellulär lagen. Am 7. Tage Exitus. Auf dem Rückenmark dicker 
eitriger Belag, in dem nur mit Mühe Kokken zu finden waren. Im 
Verlaufe der Krankheit vermindern sie sich und treten aus den Zellen 
aus. Die Blutuntersuchung war negativ, ebenso in den bronchopncumo- 
nischen Herden und den Pleurabeschlägen, dagegen fanden sich die 
Kokken sehr reichlich im Nasensecret, das wahrscheinlich der Ausgangs¬ 
punkt der Infection ist. 

Hr. Goldscheider berichtet Uber gemeinsam mit Herrn Flatan 
gemachte Untersuchungen. Durch die Nissl’sche Färbungsmethode ist 
seit einiger Zeit ein wesentlicher Fortschritt in der Kenntnis» der 
Strnctnr der Ganglienzellen erzielt worden. Sie hat im Innern der 
Zelle eine Anzahl bisher nicht bekannter Körperchen aufgedeckt, die jetzt 
die NissPschen genannt werden. Nissl selbst, Marinesco u. A. haben 


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No. 11. 


238 _ BKRLIXKR KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


bereits mit Hülfe dieser Methode die Veränderungen der Ganglienzellen 
unter experimentell erzeugten Verhältnissen studirt. G. und F. ist es 
nun gelungen, die Wirkungen der Vergiftung und Entgiftung am Rücken¬ 
mark von Kaninchen mittelst dieses Verfahrens festzustcllen. Vergiftung 
und Entgiftung wurden nach dem Verfahren von Hegmans in Gent 
vorgenommen. Spritzt man Kaninchen Malonnitril ein, welches die 
CN-Gruppe in sich birgt, so tritt sehr schnell eine BlausäurevergiftuDg 
ein, die in 20 bis BO Minuten unter paralytischen und dyspnoischen 
Erscheinungen zum Tode führt. Spritzt man den Thieren wenige Mi¬ 
nuten zuvor Natriumhyposulflt ein, so fängt das Thier sich bald wieder 
zu regen an und genest. Offenbar kommt die Entgiftung dadurch zu 
zu Stande, dass Schwefel abgegeben und an das Cyanradikal gebunden 
wird. Zur Untersuchung des Rückenmarks wurden die Thiere durch 
Fallbeil getödtet. Bei den vergifteten Thieren fanden sich typische 
Veränderungen der Vorderhornzellen: der Aufbau des Zellinnern aus 
den parallel angeordneten Nissrschen Körperchen ist geschwunden, diese 
sind in eckige Klümpchen mit Ausbuchtungen, Auszackungen u. dergl. 
verwandelt und die Zwischenräume mit Körnchen gefüllt, die aus dem 
Zerfall der Körperchen entstanden sind. Werden die entgifteten Thiere 
19 Stunden später getödtet, so zeigen die Zellen noch gewisse Ver¬ 
änderungen der Structur, nach 71 Stunden Bind sie wieder normal. Der 
Vergiftung ähnlich wirkt die künstliche Erhitzung der Thiere im Ther¬ 
mostaten bis auf 42—44 Grad. Werden sie vor dem Absterben heraus¬ 
genommen, so sind sie schlaff, aber noch fähig, Bich zu bewegen. In 
den Vorderhornzellen des Rückenmarks ist die normale Structur ver¬ 
schwunden, an Stelle der Nissl’schen Körperchen sieht man hellbraune, 
opake, verwaschene Massen nnd einzelne Körnchen. Die ganze Zelle 
ist vergrössert, ebenso Bind die Protoplasmafortsätze geschwollen. Lässt 
man diese überhitzten Thiere längere Zeit leben, so sieht man nach 2, 
5, 8 und 25 Stunden eine stufenweis fortschreitende Rückbildung der 
Veränderungen in der Zelle, die aber keine vollkommene wird. Die 
Zellveränderungen gehen nicht dem Functionsausfall parallel. Während 
die Thiere sehr bald wieder sich erholen, nimmt die Regeneration der 
Zellen von ihren Ernährungsstörungen mehrere Tage in Anspruch. Die 
Zellveränderungen sind also nicht als anatomischer Ausdruck der Läh¬ 
mungen u. dergl. aufzufassen. Die Function der Zellen ist vielmehr 
an bisher noch unbekannte chemisch-atomistiselic Veränderungen ge¬ 
bunden. Deshalb ist auch die klinische Verwerthung solcher Befunde 
in pathologischen Fällen nur mit grosser Vorsicht zu machen. Dennoch 
ist es von Werth, dass jetzt ein Verfahren gefunden ist, mit Hülfe dessen 
die Veränderungen in den Ganglienzellen studirt werden können. 

Ilr. v. Leyden fragt, wie weit die Fortsätze der Zellen bei den 
Veränderungen betheiligt sind. 

Ilr. Rothmann fragt, ob auch Veränderungen des Kerns beob¬ 
achtet worden Bind. 

Hr. Goldscheider: Bei den überhitzten Thieren ist auch eine 
Hypertrophie der Fortsätze festgestellt worden. Die Axencylinderfort- 
sätze sind freilich für die Nissl’sche Färbung unzugänglich. Verände¬ 
rungen in den Kernen und Kernkörperchen Bind allerdings gefunden 
worden, können aber zur Zeit noch nicht sicher gedeutet werden. Bei 
der Vergiftung mit dem Malonnitril färbt sich der Kern ausserordentlich 
dunkel, gelegentlich kommt eine Verlagerung des Kernes bis an den 
Rand der Zelle vor. Bei den überhitzten Thieren erscheint dagegen 
nur das Kernkörperchen verändert, deformirt, ausgezackt. 

Hr. 0. Rosenthal: Ueber die therapeutische Anwendung des 
heissen Wassers, besonders bei Hautkrankheiten, 

Einleitend bespricht Vortragender die verschiedenen Formen, in 
denen das heisse Wasser zur Anwendung kommt: Vollbäder, Sitzbäder, 
Lokalbäder, Umschläge, Packungen, Einspritzungen u. dergl. m. Es übt 
eine Einwirkung auf das Gefässsystem und auf das Nervensystem, in 
beiden Richtungnn sowohl lokal wie allgemein. Was zunächst die Ein¬ 
wirkung auf das Gefässsystem anlangt, so kommt die Anregung der 
Hautcirculation in einer Gefässverengerung mit nachfolgender Erweite¬ 
rung zum Ausdruck. Durch die Zunahme der Ex- und Inspiration wird 
auch ein Stimulus auf die Herzthätigkeit ausgeübt. Der Puls hebt sich, 
um erst nach längerer Zeit zur Norm zurückzukehren. Die Gefäss- 
erweiterung bewirkt einen stärkeren Blutzufluss zur Haut, welcher Er¬ 
nährungsstörungen derselben zu beseitigen im Stande ist. Auch die 
morphotische und chemische Beschaffenheit des Blutes wird beeinflusst. 
Im Körperinnern tritt erst ein Sinken der Temperatur ein, später aber 
auch nach aussen eine grössere Wärmeabgabe. Auch die Hautrespiration 
nimmt zu, namentlich aber erfährt der Gesammtstoffwechsel des Körpers 
eine erhebliche Steigerung. Der Hyperämie der Haut entspricht eine 
gewisse Anämie im Centralnervensystem, das dadurch entlastet wird. 
Das heisse Wasser ist weniger ein Heilmittel, als infolge seiner mannig¬ 
fachen Wirkungen ein Unterstützungsmittel bei der Bekämpfung der ver¬ 
schiedensten Krankheitszustände: bei fieberhaften Krankheiten, zur Be¬ 
seitigung von Stasen, zur Beförderung der Resorption von Exsudaten 
u. dergl. m. Herzaffectionen an sich bieten keine Contraindicationen, 
dagegen die Gefässatheromatose. Bei Klappenfehlern und Angina pec¬ 
toris ist Vorsicht geboten. Vortragender bespricht nun eine ganze Reihe 
einzelner Indicationen aus dem Gesaramtgebiet der Medicin. Bei Menin¬ 
gitis cerebrospinalis sind wiederholt gute Erfolge beobachtet worden, 
ferner bei Oedemen in Folge von Nephritis und Emphysem. Auch bei 
Rheumatismus und Ischias ist heisse Wasseranwendung angezcigt. Heisse 
Compressen sind bei Apoplexia sanguinea angewendet worden, heisse 
Umschläge von Silex bei Conjunctivitis, heisse Stimbäder von 
ßchweningcr bei Migräne empfohlen, die sich auch dein Vortragenden 


bewährt haben. In der Behandlung der Neurasthenie concurrirt das 
heisse Wasser erfolgreich mit dem kalten. Auf chirurgischem Gebiet 
kommt es zur Anwendung zur Stillung parenchymatöser Blutungen, bei 
Blutungen in Folge von Cystitis gonorrh. u. a. m., ferner bei atonischen 
Blutungen post partum, bei mangelhafter Involntion des Uterus, bei 
Metorrhagien in Folge von Tumoren, nach intrauterinen Operationen und 
bei chronischen Entzündungen der Beckenorgane, auch zur Erregung von 
Weheu. Sitzbäder sind bei Hämorrhoidalblutungen und Beschwerden in 
der Harnentleerung zu empfehlen. In der Dermatologie war die An¬ 
wendung des Wassers unter Hebra’s Einfluss lange Zeit ganz verbannt. 
Sic ist wieder in Aufnahme gekommen zur Behandlung des Ulcus molie 
(bactericide Wirkung!), namentlich phagedänischen Schankern, in Form 
von Einspritzungen bei Gonorrhoe, ferner bei Farns, jauchigen Ulcera 
cruris, syphilitischen Ulcerationen, des Weiteren bei Eczema valvae 
(heisse Umschläge) und anderen Formen des chronischen Ekzems, 
bei universellem Pruritus, Acne vulgaris und besonders rosacea (zur Be¬ 
seitigung der Blutstagnation), bei Keloiden, Erfrierungen leichten Grades, 
schliesslich bei Psoriasis, Prurigo, Skleroderma und Lichen ruber, bei 
allen diesen Affectionen meist in Form von Lokalbädern, bei Syphilis 
beschleunigen heisse Bäder die Ausscheidung des Giftes, in Folge sind 
sie auch zu empfehlen bei Vergiftung mit Metallen wie Hg, As, Pb u. s. w. 
Die Anwendung des heissen Wassers muss stets eine individuali- 
sironde sein. 

Hr. Litten: Der Behauptung des Vortragenden gegenüber, dass das 
Schankergift bei Fiebernden nicht haftet, widerspricht eine Beobachtung 
L.’s, dass ein Recurrenskranker bei 41 Grad Temperatur den Coitus 
vollzog und dabei ein Ulcus durum acquirirte. 

Hr. G. Gutmann: Die vom Vortragenden citirten Beobachtungen 
von Silex sind von anderer Seite bereits widerlegt worden. Heisse 
Umschläge empfehlen sich im Bereich der Augenheilkunde nur bei intra- 
ocularen Erkrankungen. 

Hr. Lazarus: Wenn in Folge heisscr Wassereinwirkung das Blut 
aneh peripherisch stärker strömt, so ist damit der Eintritt einer Anämie 
im Uentralorgan noch nicht erwiesen. Die Anwendung heisser Bäder 
bei Nephritis kann leicht gefährlich werden, man beobachtet danach z. B 
Hyperämien im Augenhintergrund. 

Hr. O. Rosenthal geht noch kurz auf die Einwände der Vor¬ 
redner ein. 


VIII. Praktische Notizen. 

Diagnostisches and Casaistik. 

Als „Thorax en bäteau“ bei Syringomyelie haben P. Marie 
nnd Astie in der Socicüe medicale des Höpitaux (19. Februar) eine 
neue, charakteristische abnorme Thoraxbildung beschrieben. Sie ist 
wohl unterschieden von der sogenannten Trichterbrust, den kielförmigen, 
schnabelförmigen, rinnenförmigen Thoraxbildungen u. dergl. m. Sie ist 
gekennzeichnet durch eine ausgehöhlte Vertiefung im oberen und mitt¬ 
leren Theil der vorderen Fläche der Thorarwand, welche sich — 
genauer bestimmt — vom Jugulum sterni bis zu einer horizontalen Linie 
erstreckt, welche durch den unteren Rand der grossen Brustmuskeln 
gelegt ist, niemals geht die Vertiefung über diese Linie nach unten 
hinaus, seitlich ist sie durch die Schulterhöhen begrenzt. Die grosse 
Axe der Aushöhlung ist von oben nach unten gerichtet, so dass man an 
ihr zwei seitliche schroffe Ränder (die Flanken des Schiffes), ein oberes 
Halsende (Vordertheil) und ein unteres Bauchct.de (Ilintertheil) unter¬ 
scheiden kann, welch’ letzteres sich in sanfter Steigung wieder erhebt. 
Der Boden der Aushöhlung ist flach, leicht unregelmässig, bald links, 
bald rechts von der Medianlinie, am häufigsten einige Centimeter unter¬ 
halb des Jugulum am tiefsten stehend. Die grösste Tiefe der Aus¬ 
höhlung betrug 5V* cm. Marie und Astie haben diese Thoraxbildung 
in 4 von 10 Fällen von Syringomyelie beobachtet und halten dieselbe 
für ein diagnostisch zu verwerthendes Zeichen dieser Erkrankung. Gleich 
den anderen bei der Syringomyelie vorkommenden Knochenerkrankungen 
betrachteten sie auch diese abnorme Bildung als die Folge einer trophi- 
schen Störung. Die Brustmuskeln selbst sind nicht atrophisch, und die 
in diesen Fällen beobachtete Scoliose ist nnr die Folge der Thorax¬ 
deformation. A. 


In der Societe de Medecine de Yaux sprach Etienne (Gaz. Ilebd. 
No. 16) über die Bedeutung der Syphilis für die Aetiologie der 
Aortenaneurysmen. Auf Grund von :?46 Krankengeschichten kommt 
er zu dem Ergebniss, dass die Syphilis die Hauptrolle spiele bei der 
Entstehung der Aortenaneurysmen, denn dieselbe lässt sich etwa in 
70 pCt. der Fälle nachweisen, und ferner sei es erwiesen, dass die Sy¬ 
philis mit Vorliebe das Gefässsystem befalle, indem es seine Elasticität 
und seine Widerstandsfähigkeit herabsetze. Auffallend ist ferner, dass 
bei syphilitisch Inficirten sich Aneurysmen viel früher einstellen als in 
den übrigen Fällen, wo sieh keine Syphilis eruiren lässt, und dann hat 
man auch in manchen Fällen echtes gummöses Gewebe in der Wand 
der Aortenaneurysmen nachweisen können. Auch Spillmann ist ge¬ 
neigt, der Syphilis dieselbe Bedeutung zuzulegen, weil sich in vielen 
Fällen das Aneurysma bildet kurz nach der Infection und weil die spe- 


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15. März 1897. 


RKRL1NLII KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


cifische Behandlung oft so schnellen Rückgang der Erscheinungen her¬ 
beiführt. 

Dem gegenüber weist Bernheim darauf hin, dass man nicht be¬ 
rechtigt sei, ein Aneurysma als syphilitisch zu bezeichnen, weil das be¬ 
treffende Individuum Syphilis gehabt habe. Dies sei erst dann möglich, 
wenn man den stricten Beweis specifischer Veriinderungen in den er¬ 
krankten Gefässen erbracht habe. 

Auf Grund einer Prüfung von 10000 Temperaturkurven 
Typhuskranker verwirft Kildiorschevsky (Russische Dissertation, 
ref. Gaz. Hebdom. No. 17) das Wunderlich’sche Schema der Temperatur¬ 
kurve beim Typhus, da dieses nur selten den klinischen Thatsachen 
entspreche. Vor Allem steigt die Temperatur viel schneller als dies 
Wunderlich angegeben hat; in der Mehrzahl der Fälle zeigt die Curve 
einen schnellen Anstieg am 2. bis 8. Tag und kurz nachher Tendenz 
zum Abfall. In etwa 70—75 pCt. der Fälle hat K. beobachtet, dass 
die Temperaturkurve eine schiefe Ebene darstellt, wenn man die Gipfel¬ 
punkte miteinander verbindet, und er legt dieser Beobachtung diagno¬ 
stisch dieselbe Wichtigkeit bei wie den Roseolen, dem Typhusstuhl oder 
dem Milztnmor. 

M. N. Drouyeglasoff (ebenda) hat Untersuchungen angestellt 
über die Anwesenheit von Typhusbaci 11 en und anderer Bac- 
terien im Speichel Typhuskranker. Nur in 2 Fällen fand er 
Bacillen im Speichel, und zwar am 12. und 25. Tage der Krankheit. 
Auf Grund seiner Untersuchungen kommt Drouyeglasoff zu dem 
Schlüsse, dass der Eberth'sche Bacillus sich sehr selten im Speichel Ty- 
phuskranker findet, während sich der Staphylococcus pyogenes viel häu¬ 
figer findet; letzterer ist auch in der Mundhöhle von Personen zu treffen, 
die Typboskranke pflegen; der Streptococcus ist sehr selten bei Typhus- 
kranken anzutreffen, dagegen häufig bei gesunden Personen; das Bacterium 
coli findet sich im gleichen Verhältniss bei Typhuskranken und Gesunden. 

Aus Experimenten von Arloing ergiebt sich, dass die agglutini- 
rende Eigenschaft der Bacterien an verschiedenen Stellen des infl- 
cirten Körpers verschieden stark ausgesprochen ist. Bei Pneumo- 
kokken-Infection erwies sich die agglutinirende Kraft des Körper¬ 
blutes doppelt so Btark, wie diejenige vom Serum aus der afficirten 
Stelle in der Lunge; nach snbeutaner Impfung von Pneumokokken zeigte 
der Milzsaft gar keine agglutinirende Kraft; die stärkste Kraft zeigte 
Körperblutserura, dann folgte Serum aus der Infectionsstelle, Drüsensaft, 
Galle, Lebersaft. Nach Courmont ist bei Typhus die agglutinirende 
Kraft im Herzblut, Pleura- und Pericardialfliissigkeit zehnmal so stark, 
als in Leberblut, Milzblut und Saft der Mesenterialdrüsen; also gerade 
in den unmittelbar infleirten Organen am geringsten. (Lyon med. No. 9.) 

Die Widal'sche Reaction im Blutserum neugeborener 
Kinder typhnskranker Mütter hat Mosse (Tonlose) nach einer 
Mittheilung in der Socifite de Biologie in Paris in zwei Fällen consta- 
tiren können, freilich nicht so Btark als bei den Müttern selbst. Die 
Placenta war normal. A. 

Im Jahrbuch für Kinderheilkunde No. 4 tbeilt Steffen 5 Fälle von 
Einheilung von Kugeln im Gehirn von Kindern mit. In allen 
Fällen traten nach der Verletzung schwere Störungen auf, die je nach 
dem Sitz der Kugel verschieden waren, und in allen Fällen blieb die¬ 
selbe in grösserer oder geringerer Entfernung von der Einschussöffnung 
im Gehirn sitzen. In den meisten der angeführten Fällen ist nach länge¬ 
rer Zeit völlige Heilung eingetreten. Es verdient diese Thatsache be¬ 
sonders hervorgehoben zu werden, da Bruns die Ansicht vertritt, dasB 
wohl kaum ein Fall als sicher bekannt sei, wo bei Durchfurchung des 
Gehirns in seinem grössten Durchmesser durch eine Kugel Heilung ein¬ 
getreten sei. In 2 der von Steffen mitgetheilten Fälle trat allerdings 
nach geraumer Zeit der Tod ein, jedoch nicht in Folge der Verletzung, 
sondern einer intercurrenten Erkrankung. St. ist geneigt, die Prognose 
der Schussverletzungen des Gehirns bei Kindern besser zu stellen als 
bei Erwachsenen, weil das kindliche Gehirn eher die Folgen einer sol¬ 
chen Verletzung ausgleichen kann, da es noch in der Entwickelung be¬ 
griffen ist und möglicher Weise andere Regionen für die verletzten Bahnen 
stellvertretend eingreifen können. 


Therapeutisches «ad laUxieatioaea. 

In einem in der Soeiete de Therapeutique in Paris gehaltenen Vor¬ 
trage über die Behandlung der ChloroBe hat Huchard folgende 
Grundsätze entwickelt: Ruhe, gute Luft und Eisen sind die ersten Be¬ 
dingungen für die Heilung der Chlorose. Um die beiden ersteren gleich¬ 
zeitig zu erfüllen, darf man die Chlorotischen nicht in zu grosse Höhen 
schicken, weil sie die Gelegenheit zu anstrengenden und ermüdenden 
Bergsteigungen geben, auch die Luft dort zu seharf ist. Man soll eine 
Höhe von 800 bis 1000 Meter wählen. Das Seeklima ist contraindicirt. 
Das Eisen ist sicher ein Speciflkum bei der Chlorose, aber es wirkt 
nicht bei allen Formen derselben in der gleichen Weise. In einer Reihe 
von Fällen ist es ohne Nutzen, in anderen schädlich, in einer dritten 
Reihe sehr wirksam. Erstere sind diejenigen leichten Grade der Chlo¬ 
rose, welche bei Ruhe, passender Ernährung und Landaufenthalt heilen. 


Schädlich ist das Eisen bei den Fällen, welche mit dyspeptischen Er¬ 
scheinungen verbunden sind. Bei Abwesenheit gastrischer Erscheinungen 
ist das Eisen selbst bei schweren Fällen von Chlorose wirksam. 

A. 


Ueber den Einfluss der Milchdiät auf die Ausscheidung 
von Eiweiss im Harn bei cyclischer Albuminurie hat Keller 
(Jahrb. f. Kinderheilk. 1897, Heft I) Untersuchungen angestellt. 5 Patienten, 
die an cyclischer Albuminurie litten, erhielten eine Zeit lang nur reine 
Milchdiät, dann eine Zeit lang gemischte Diät. Es wurde regelmässig 
die Tagesraenge des Harns gemessen, das specifische Gewicht und die 
Eiweissansscheidnng nach der Methode von Liborius festgestellt. Bei 
allen diesen Fällen ergab sich, dass durch Einführung reiner Milch¬ 
ernährung weder die Eiweissausscheidung in günstigem Sinne beeinflusst, 
noch die Diurese auffallend gesteigert wurde. Auf Grund dieser Er¬ 
fahrungen glaubt Verf. bei einer cyclischen Albuminnrie vor der An¬ 
wendung von gemischter Kost, die neben Kohlehydraten auch reichlich 
Eiweiss enthält, nicht zurückschrecken zu brauchen. 


Ein neues Verfahren zur Herstellung keimfreien Trink¬ 
wassers giebt Stabsarzt Schumburg (D. med. Wochenschr. No. 10) 
an; er ist mittels desselben im Stande, innerhalb 5 Minuten sämmtliche 
Wasserbacterien und sämmtliche pathogene Keime abzutödten. Das 
Verfahren ist folgendes: Von einer „20proc. Bromlösung“ (Verf. giebt 
die Formel folgendermaassen an: Wasser 100,0, Bromkali 20,0, Brom 
20,0, was allerdings die Bezeichnung als 20proc. nicht rechtfertigt) 
werden 0,2 ccm zu einem Liter Wasser gesetzt und dadurch inner¬ 
halb 5 Minuten vollkommene Sterilisation erreicht. Zur Beseitigung 
der 0,2 ccm Bromlösung dient die gleiche Menge 9proc. Ammoniaks. 
Der Geschmack des so erhaltenen Wassers unterscheidet sich kaum 
von dem des ursprünglichen, die Farbe ist absolut klar. Auf diese 
Weise ist man im Stande, mittels 1 kgr Brom, dessen Preis 5—6 M. 
beträgt, ca. 16 000 Liter Wasser keimfrei zu machen. Verf. verspricht 
sich von diesem Verfahren Erfolge hauptsächlich bei der Wasserver¬ 
sorgung einquartierter und bivouakirender Truppen, bei der Wassersteri- 
lisirung in den Tropen, zu Zeiten von Epidemien in den einzelnen Haus¬ 
haltungen und bei der schnellen Herstellung aseptischen Wassers für 
den praktischen Arzt. 

Im Centralblatt für Chirurgie No. 8 beschäftigt sich Crede mit dem 
Aufsatz des Dr. Meyer aus dem hygienischen Institut in Zürich, der die 
Crede’schen Untersuchungen über die antiseptische Kraft der Silbersalze 
Itrol und Atrol einer Nachprüfung unterzogen und dabei eine geringere 
antiseptische Kraft derselben als Credö festgestellt hatte. Dem gegen¬ 
über betont Credö, dass, ganz abgesehen davon, dass gerade bei Prü¬ 
fungen antiseptischer Mittel in Bezug auf ihre bactericide Kraft sich 
sehr häufig die einzelnen Forscher in Bezug auf dasselbe Mittel in 
grossen Meinungsverschiedenheiten befänden, die Hauptsache doch die 
wäre, ob das Itrol ein so starkes Antisepticum darstelle, dass es allen 
Eventualitäten der Praxis gerecht werden könne. Diese Frage wird 
auch von Meyer zu Gunsten des Itrols entschieden, da es auch nach 
seinen Versuchen im Blutserum ebenso stark wirkt, wie die Krone der 
Antiseptica, das Sublimat. Wenn es in wässerigen Lösungen schwächer 
sein soll, so ist dies nach Cred6 ganz gleichgültig, da es ja in 
dieser Form bei der Wundbehandlung nur sehr wenig in Betracht kommt. 
Ferner haben die Silbersalze ausser ihrer eminenten Kraft und voll¬ 
ständigen Reizlosigkeit noch den nicht zu unterschätzenden Vortheil, dass 
sie im Gegensatz zum Sublimat und vielen anderen Antisepticis ohne 
jeden Nachtheil selbst in grossen Mengen dem Körper einverleibt werden 
können und bei ihrem Kreisen im thierischen Körper eine noch viel 
grössere Kraft entwickeln als den todten Eiweisslösungen gegenüber. 


Prof. Juillard (Rev. Medic. de la Suisse Rom. No. 2) empfiehlt 
auf Grund einer 5jährigen Beobachtung den Verzicht auf das Jodoform 
bei der Wundbehandlung und statt seiner den ausgedehnten Gebrauch 
des Dermatol. Er gebraucht dasselbe als Pulver und als Gaze. Die 
Dermatolgaze verwendet er zu antiseptischen Verbänden, zur Tamponade 
tuberculöser Höhlen, zur Behandlung von Lymphdrüseneiterungen und zur 
Nachbehandlung complicirterFracturen. Auch bei schmierigen Wundflächen, 
atonischen Geschwüren und stinkenden Höhlen sah Juillard vom Der¬ 
matol, sei es in Pulverform, sei es in Gaze angewandt, gute Erfolge; 
ferner empfiehlt er es, um Reizerscheinungen zu mildern, die durch den 
Gebrauch von Carbol, Sublimat, Jodoform oder einfachen feuchten Ver¬ 
bänden entstanden sind. Die Erfolge mit dem Dermatol schreibt Juil¬ 
lard folgenden Eigenschaften desselben zu: 1. es iat antiseptisch, 2. es 
ist aseptisch, 8. es nimmt gut Flüssigkeit auf, 4. es regt die Wund¬ 
granulation an, 5. es wirkt styptisch, 6. es ist geruchlos, reizlos und 
ungiftig. 

Lippner (Deutsche Zeitschrift für Thiermedicin, No. 6) empfiehlt 
das Resorcin zur Answaschung des Pleura- und Peritoneal- 
/aums auf Grund von Experimenten, die er an Hunden, Kaninchen und 
Ferkeln gemacht hat. Bei 5 Milzexstirpationen, 3 Nebennierenexstirpa¬ 
tionen, 4 Darmresectionen, die sämmtlich unter allen Cautelen der 
Antisepsis ausgeführt wurden, wurde das Resorcin in der Weise ange- 


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240 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 11. 


wandt, dass nach Eröffnung der Bauchhöhle des narkotisirten Thieres 
die Eingeweide mit Watte bedeckt wurden, welche mit einer 5proc., 
36—38° warmen Resorcinlösung getränkt war. In gleicher Weise wurde 
es auch in der Pleurahöhle angewandt in 3 Fällen, wo bei Ferkeln die 
N. vagi durchschnitten wurden. 

In allen Fällen bewährte es sich glänzend, verursachte nie die ge¬ 
ringste Spur einer Vergiftung, obwohl die Operationen lange dauerten 
und viel Resorcin angewandt wurde. Vor dem Carbol hat es ausserdem 
den Vorzug, dass es die Instrumente nicht angreift und völlig geruch¬ 
los ist. 


Als Abortivbehandlung des Schnupfens empfiehlt Conrtail 
Nasenirrigationen von 45—50° Wärme. Der Irrigationsstrahl soll nicht 
gegen eine der Nasenwände gerichtet sein, sondern axial strömen; ein 
Druck von 8—10 cm genügt. Auf die Zusammensetzung der Flüssigkeit 
legt der Autor kein Gewicht — es kommt lediglich auf die Höhe der 
Temperatur an. (Soc. de Thcrap., 27. Jan.). 


lieber einen Fall von Vergiftung nach dem Genuss ge¬ 
kochter Schweineleber berichtet Haan (Nederlandsch Tidschrift 
voor Geneskunde No. 6). Haan hatte diesen Fall zu begutachten. Er 
schnitt von der polizeilich conflscirten Leber mit sterilem Messer kleine 
Stückchen heraus, die er in Pepton-Hühnerfleischbouillon legte. Die 
Bouillon trübte sich innerhalb 24 Stunden. Von dieser Bonilion wurden 
Gelatineplattenculturen angelegt, auf denen sich Reinculturen von Bac- 
terinm coli entwickelten. Von 6 Ratten, die mit den ausgeschnittenen 
Stückchen gefüttert waren, starben 3, in deren Blut ebenfalls Bacterium 
coli gefunden wurde. Interessant ist es, dass in der ganzen Literatur 
ausser diesem Falle erst ein Fall veröffentlicht ist, wo im gekochten 
Schweinefleisch, das gleichfalls bei mehreren Personen Vergiftungserschei¬ 
nungen herbeigeführt hatte, Bacterium coli gefunden wurde. 


IX. Tagesgeschichtliche Notizen. 

Berlin. In der Sitzung der Berliner medicin. Gesellschaft 
am 10. d. M. stellte vor der Tagesordnung Hr. R. Kutner einen Knaben 
vor, an dem er die Zertrümmerung eines Harnröhrensteines vorgenommen 
hatte (Disc. Herr J. Israel). In der darauf folgenden Discussion über 
den Vortrag des Herrn Abel über Abortbehandlung sprachen die Herrn 
Mackenrodt und Kossmann sowie im Schlusswort der Vortragende. 
Darauf begann Herr Alb. Fraenkel seinen Vortrag über Ausgänge 
der Influenza, dessen Beendigung auf die nächste Sitzung vertagt 
werden musste. 

— In der Sitzung der Gesellschaft der Charite-Aerzte am 
11. d. M. zeigte Herr Kosscl einen Fall von Milzbrand beim Menschen, 
Herr Heubner stellte eine mit Tyreo'fdin erfolgreich behandelte Patientin 
mit Psoriasis und einen Säugling mit einem Pneumokokken-Abscess im 
Schultergelenk vor und demonstrirte die Präparate zweier Fälle von 
Sinusthrombose mit dem Befund von Pneumokokken resp. Streptokokken 
in den Thromben und der durch Lumbalpunktion gewonnenen Spinal¬ 
flüssigkeit. (Disc.: dieHerren Gerhardt, Hauser, Brieger, Heubner). 
Herr Göppert berichtete über die Ergebnisse seiner Ohrenuntersuchungen 
bei Säuglingen (Disc.: Herr Brieger), worauf Herr Kolle seinen Vor¬ 
trag über den Erreger der Pest hielt mit Demonstration von mikro¬ 
skopischen Präparaten und Lichtbildern. (Disc.: Herr Hauchecorne und 
Kolle). 

— In der Sitzung der Hu fei and’sehen Gesellschaft vom 11. d.M., 
welche von zahlreichen Mitgliedern des gegenwärtig hier tagenden 
Balneologen-Congresses besucht war, sprach Herr Professor Neisser- 
Breslau als Gast über Syphilisbehandlnng und Balneotherapie. An 
der Discussion betheiligten sich die Herren Ziegelroth, Munter, 
G. Behrend, Weiss und der Vortragende. 

— Die „Berliner allgemeine Poliklinik,“ die jetzt auf ein 25jähriges 
Bestehen zurückblicken kann, siedelt aus den alten Räumen Taubenstr. 10 
nach der Oranienburgerstr. 45 über; derselben gehören augenblicklich 
folgende Mitglieder an: Prof. Bernhardt (Nervenkrankheiten), S.-R. 
Schwabach (Ohrenkrankheiten), E. Frank nnd A. Lewin (Harn¬ 
krankheiten), P. Abraham (Kinderkrankheiten), Sturmann (Laryngo- 
logie), Salomonsohn (Augenkrankheiten). 

— In der medicinischen Facultät hiesiger Universität habilitirt sich 
für das Fach der Frauenkrankheiten Dr. Paul Strassmann, Assistent 
an der Gusserow’schen Klinik. 


X. Amtliche Mittheilungen. 

Peraonalla. 

Auszeichnungen: Rother Adler-Orden IV. KI.: dem Sanitäts¬ 
rath Dr. Heidenheim zu Wiesbaden; dem Oberamts-Physikus Sani¬ 
tätsrath Dr. Wern in Haigerloch; dem ao. Professor, Director des 
Kaiser und Kaiserin Friedrich Kinder-Krankenhauses Dr. Adolf Ba- 
ginsky in Berlin. 


Ernennungen: der Kreiswundarzt Dr. Schaefer in Schneidemühl zum 
Kreis-Pbysikus des Kreises 8orau. 

Auf die Jahre 1897 bis einschliesslich 1901 zu ausserordent¬ 
lichen Mitgliedern des Kaiserlichen Gesundheitsamts: 
Geh.Ober-Med.-Rath und Vortragenden Rath im Ministerium derMedicinal- 
Angelegenheiten Dr. Skrzeczka zu Berlin, Geh.Ober-Med.-Rath und 
vortr. Rath im Ministerium Dr. Pistor zu Berlin, Geh. Med.-Rath und 
vortr. Rath im Ministerium Dr. Schmidtmann zu Berlin, Geh. Ober- 
Reg.-Rath und vortr. Rath im Ministerium des Innern Höpker zu 
Berlin, Geh. Med.-Rath Professor Dr. Gerhardt zu Berlin, Geh. Med.- 
Rath und Director des Instituts für Infectionskrankheiten Dr. Koch 
zu Berlin, Geh. Med.-Rath und ausserordentlichen Professor Dr. 
Schweninger zu Berlin, ord. Professor Dr. Fischer zu Berlin, 
Director der hygienischen Institute Professor Dr. Rubner zu Berlin, 
Geh. Reg.-Rath Professor der Thierärztlichen Hochschule Dr. Schütz 
zu Berlin, Reg.- und Geh. Med.-Rath Professor Dr. Bockendahl zu 
Kiel, Geh.’ Med.-Rath Professor Dr. Jaffe zu Königsberg, Professor 
Dr. Wolffhügel zu Göttingen, Geh. Med.-Rath Professor Dr. Flügge 
zu Breslau, Geh. San.-Rath Director der Land-Irren-Anstalt Dr. Zinn 
zu Eberswalde, Geh. San.-Rath Dr. Le nt zu Köln, Honorar-Professor 
Dr. König zu Münster, Apothekenbesitzer Dr. Schacht zu Berlin, 
Ober-Bürgermeister Dr. Becker zu Köln am Rhein, Ober-Med.-Rath 
im Staatsministerium Dr. Grashey zu München, Geh. Rath und Ober- 
Med.-Rath Professor Dr. von Ziemssen zu München, Med.-Rath und 
Bezirksarzt Dr. Aub zu München, Landes-Thierarzt und Ober-Reg.- 
Rath Gör in g zu München, Präsident des Landes-Medicinal-Collegiums 
Dr. Günther zu Dresden, Ober-Med.-Rath Landes-Thierarzt und Pro¬ 
fessor Dr. Siedamgrotzky zu Dresden, Director der Centralstelle 
für öffentliche Gesundheitspflege Professor Dr. Renk zu Dresden, 
Director bei dem Medicinal-Collegium Dr. von Koch zu Stuttgart, 
Geh. Rath und Referent im Ministerium Dr. Battlehner zu Karls¬ 
ruhe, Geh. Ober-Reg.-Rath Dr. Ly dt in zu Baden, Geh. Ober-Med.- 
Rath Dr. Pfeiffer zu Darmstadt, Geh. Med.-Rath Professor Dr. 
Gaffky zu Giessen, Geh. Ober-Med.-Rath Professor Dr. Th. Thier¬ 
felder zu Rostock, Kommerzienrath Dr. Holtz zu Eisenach, Med.- 
Rath Dr. Reineke zu Hamburg, Ober-Ingenieur Andreas Meyer 
zu Hamburg und Geh. Med.-Rath und Med.-Referent Dr. Krieger zu 
Strassburg. 

Niederlassungen: die Aerzte Dr. Buchmann, Dr. Bencker, Dr. 
Schieck, Dr. Schantz und Dr. Appucu in Halle a. 8-, Dr. Hae- 
seler in Nebra, Dr. Pilsky in Zeitz, Dr. 8chnltes in Nordhausen, 
Dr. Axt in Mühlhausen, Dr. Iwan Bloch, Dr. Borchers, Dr. 
Hartung nnd Dr. von Klein in Berlin, Dr. Geissler in Halle &. S. 

Verzogen sind: die Aerzte Dr. Linke von Charlottenburg nach Sagan, 
Dr. Kuester von Freienwalde a. 0. nach Lueben, Dr. Zepler und 
Dr. Heermann von Sagan nach Charlottenburg, Dr. Werner von 
Grossengottern nach Mühlhausen, Dr. von Oiste von Laasphe nach 
Geestemünde, Dr. Heinrichs von Berlin nach Danzig, Dr. Wittig 
von Marienburg nach Danzig, Dr. Nenmann von Leipzig nach Danzig, 
Dr. Mierendorf von Berlin nach Danzig, Dr. Köstlin von Halle a.S. 
nach Danzig, Dr. Pohl von Breslau nach Stutthof, Dr. Braune von 
Conradstein nach Sch wetz, Dr. Scharren von Schwetz nach Conrad¬ 
stein, Dr. Kopetsch von Königsberg i. Pr. nach Elbing, Dr. Schäd¬ 
lich von Halle a. 8. nach Leipzig, Richter von Halle a. 8. nach 
Gross-Lichtenan, Dr. Steinhauer von Saarbrücken nach Halle a.S., 
Dr. Hope von München nach Halle a. 8., Dr. Thümmel von Leipzig 
nach Halle a. S., Dr. Leistikow von Halle a. S. nach Görbersdorf, 
Dr. Hornemann von Brannschweig nach Halle a. 8., Dr. Ortmann 
von Schöneberg bei Berlin nach Merseburg, Dr. Reichert von Nebra, 
Dr. Rüge von Zeitz nach Kiel; von Berlin: Dr. von Aschen nach 
Charlottenburg, Dr. Brenstedt nach Spandau, Dr. Hoffmann nach 
Charlottenburg, San.-Rath Dr. Ress nach Italien, Dr. Rindfleisch 
nach Hamburg, Dr. Rosenstein nach Lankwitz, Dr. Schroeder 
nach Hannover, Zacbenfels nach Mocker; nach Berlin: Dr. Oskar 
Bloch von Charlottenburg, Dr. Blumenthal von Würzburg, Boes 
von Mahlsdorf, Fuhrmann von Breslau, Dr. Heydemann von Greifs¬ 
wald, Dr. Lausch von Düsseldorf, Dr. Lehrich von Charlottenburg, 
Dr. Mader von Radolfzell, Dr. Menzel von Charlottenburg, Dr. 
Reizenstein von Nürnberg, Dr. Rueppel, Gen.-Arzt a. D. von 
Hamburg, Dr. Weber von Bonn und Dr. Max Pahl. 

Gestorben sind: die Aerzte Dr. Rossmy in Berlin, Dr. Rennert in 
in Halle a. 8, Geh. Sanitätsrath Dr. Wilczewski in Marienbnrg, 
Sanitätsrath Dr. Skntsch in Breslau, Hofrath Dr. Faust in Dresden. 


Bekanntmachung. 

Die mit einem Jahresgehalt von 900 M. verbundene Kreis-Physikats- 
stelle des Kreises Nimptsch ist erledigt. Befähigte Medicinalpersonen, 
welche sich um diese 8telle bewerben wollen, werden aufgefordert, sich 
unter Einreichung der Approbation, des Fähigkeitszengnisses zur Physi- 
katsstelle nebst sonstigen Zeugnissen und eines kurzen Lebenslaufs binnen 
4 Wochen bei mir zu melden. 

Breslau, den 24. Februar 1897. 

Der Regierungs-Präsident. 

Für di« Redaction verantwortlich Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald, Lütsowplatx 5. 


Verlag und Eigenthum von August Ilirschwald in Berlin. — Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin. 


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Die Beilinrr KliniHrlie Wochenschrift erscheint Jeden 
Montag in der Stärke »on 9 bis 3 Bogen gr. 4. — 
Preis vierteljährlich 6 Mark. Bestellungen nehmen 
alle Buchhandlungen und Postansialten au. 


BERLINER 


Kinsriidiiiigeii «olle man portofrei an die Kedactloti 
(W. LQtsowplatz No. i ptr.) oder an die Verlags¬ 
buchhandlung von August Hirschwald in Berlin 
N.W. Unter den Linden No. 68, adressiren. 


KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Organ für practische Aerzte. 


Mit Berücksichtigung der preussischen Medicinalverwaltung und Medicinalgesetzgebung 

nach amtlichen Mittheilungen. 

Redaction: Expedition: 

Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald und Prof. Dr. C. Posner. August Hirschwald, Verlagsbuchhandlung in Berlin. 


Montag, den 22. März 1897. 


M 12 . 


Vierunddreissigster Jahrgang. 


INHALT. 


I. F. Jolly: Ueber Unfall Verletzung nnd Muskelatrophie nebst Be¬ 
merkungen über die Unfallgesetzgcbung. 

II. Aus dem ehern. Laboratorium der I. medicinische Klinik zu Berlin. 
F. Blumenthal: Ueber Zucker abspaitende Körper im Orga¬ 
nismus. 

III. Aus der II. med. Universitätsklinik (Director Geheimrath Prof. 
Gerhardt). M. Jacobi: Ueber den Einfluss des Apentawassers 
auf den Stoffwechsel einer Fettsüchtigen. 

IV. R. Stern: Ueber Fehlerquellen der Serodiagnostik. (Schluss.) 

V. Th. Rosenbeim: Ueber motorische Insufflcienz des Magens. 

(Schluss.) 

VI. Kritiken und Referate. Reichel: Nachbehandlung nach Ope¬ 
rationen. (Ref. Frank.) — Sperck: Syphilis, Prostitution. (Ref. 
Joseph.) — Winternitz: Fremdkörper in der Scheide und 
Seheidenpcs8are. (Ref. Abel.) 


VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Hufeland'sche 
Gesellschaft. Liebreich: Demonstrationen. Rosenheim: In- 
sufficienz des Magens. — Berliner medicinische Gesellschaft. Hau¬ 
ser: Krankendemonstration. Wolff: Kieferkleinheit mit Kiefer¬ 
sperre. Abel: Abortbehandlung. — Verein für innere Medicin. 
Schott: Röntgenbilder. Burghart: Nebennierensarkom. Stern: 
Bleiinkrustation. Hirsch!aff: Blutuntersuchungen. Strauss: Gly- 
cosurie. — Verein der Aerzte in Stettin. Friedemann: Pyo- 
nephrose. Neisser: Vagoaccessoriusparalyse. Schliep: Koth- 
steine. Schnittert: Hämoglobinurie. — Physikalisch-medicinischc 
Gesellschaft zu Würzburg. Sommer: Subcutane Fettinjectionen. 

VIII. Budapester Brief. — IX. J. Michael +• 

X. A. Kirstein: Zur Autoskopie der Luftwege. 

XI. Praktische Notizen. 

XII. Tagesgeschichtliche Notizen. — XIII. Amtliche Mittheilungen. 


I. Ueber Unfallverletzung und Muskelatrophie 
nebst Bemerkungen über die Unfallgesetz- 
gebung. 

Von 

F. Jolly. 

(Nach einem in der Gesellschaft der Charitßärzte gehaltenen Vortrage 
mit Krankendemonstration.) 

Der Fall, auf welchen sich die folgenden Mittheilungen be¬ 
ziehen, ist zunächst durch eine eigentümliche Häufung von 
Unfall Verletzungen und atrophischen Zuständen ausgezeichnet, 
die bei demselben Menschen in verschiedenen Lebensaltern auf¬ 
getreten sind. Bei näherer Betrachtung lässt sich sodann eine 
interessante Beziehung verschiedener dieser Zustände zu einander 
feststellen, und endlich ergeben sich naturgemäss einige Folge¬ 
rungen in Bezug auf die Unfallgesetzgebung und deren Wirkungen. 

Wie aus der Abbildung ersichtlich, fehlt dem jetzt 34 Jahre 
alten Patienten der linke Arm vollständig. Er hat den¬ 
selben im Jahre 1882, also vor 15 Jahren, durch eine 
Maschinenverletzung verloren, nnd zwar wurde der Arm 
damals nahe dem Humeruskopf förmlich ansgerissen, so dass 
er nur noch an einer Hautbrücke hing. Der Verletzte musste 6 Stunden 
weit nach der Volkmann’schen Klinik in Halle transportirt werden, 
woselbst alsbald der noch zurückgebliebene Humeruskopf exarticulirt 
wurde; einige Zeit später musste zur Deckung der Wunde noch eine 
plastische Operation vorgenommen werden, deren Linien an dem Ver¬ 
lauf der Narben za erkennen sind. Die letzteren sind im Uebrigen 
glatt verheilt, nicht schmerzhaft, das Schulterblatt kann activ gehoben 
und gedreht werden. 

Zur Zeit dieser Verletzung bestand die Unfallversicherungs¬ 
gesetzgebung noch nicht. Nach dem Haftpflichtgesetz hätte der 
Patient allerdings Schadensersatz beanspruchen können; er 
wurde aber, wie er erzählt, von der Fabrikleitung damit be¬ 
ruhigt, dass man ihn seinen Kräften entsprechend weiter be¬ 


schäftigen werde, und als er später nach der gleich zu berich¬ 
tenden zweiten Erkrankung seine Ansprüche geltend machen 
wollte, erfuhr er, dass die Verjährungsfrist bereits abgelaufen sei. 

Diese zweite Erkrankung bestand darin, dass eine allmählich 
fortschreitende Schwäche und Atrophie der rechten 8chulter 
eintrat. Der Kranke war in jener Zeit damit beschäftigt worden, Ma- 
schinentheile zu putzen. Er musste dieselben, die oft von sehr bedeu¬ 
tendem Oewicht waren, mit seinem einen rechten Arm auf den Tisch 
heben, bin- und herwenden and oft auf weite Strecken tragen. Anfangs 
sei dies aneh ganz leicht gegangen, da er einen sehr kräftigen und 
musculösen Arm gehabt habe. Mehr und mehr aber sei derselbe in der 
Schulter abgemagert und nach Verlauf von etwa 2 Jahren nach der Ver¬ 
letzung sei die Schwäche in der Schulter so gross geworden, dass die 
Arbeit anfgegeben werden musste. Seitdem hat sich der Kranke zu¬ 
nächst durch Betreiben eines Ladengeschäftes, später durch Hausirhandel 
anf den Strassen Berlins ernährt. Seine gute Laune hat dabei keine 
Einbusse erfahren und es ist ihm immer leidlich gelungen, sich durch- 
zusch lagen. 

Die Atrophie der Schulter, die seit jener Zeit ziemlich gleich ge¬ 
blieben sein soll, betrifft, wie aus der Abbildung za ersehen ist, vor¬ 
nehmlich den Musculus deltoideus, der namentlich in seinen late¬ 
ralen Partien stark geschwunden ist. Die active Contractilität des 
Muskels ist auf ein Minimum gesunken nnd von so geringer 
Wirkung, dass der Kranke nicht im Stande ist den Arm za 
abduciren nnd zu erheben. Er vermag ihn aber (bei gut erhaltenem 
Serratus anticus major) durch eine Schlenderbewegung in die Höhe zu 
werfen und in dieser Stellung kurze Zeit festzuhalten. Das Schalter¬ 
gelenk selbst ist vollständig frei. Die faradische Erregbarkeit 
des Deltoideus ist erheblich vermindert, aber nicht er¬ 
loschen. Die galvanische Reizung ergiebt ausgesprochene 
Zuckungsträgheit. Ein zweiter Muskel, welcher in gleicher Weise 
atrophisch nnd elektrisch verändert ist, ist der rechte Snpraspinatus, 
während sowohl der Cucullaris wie der Biceps und Triceps nnd sämmt- 
liche Vorderarm- und Handmuskeln normal functioniren nnd keine 
Atrophie erkennen lassen. Auffallend ist aber, dass nicht nur im Del¬ 
toideus, sondern auch im Cucullaris, Biceps und Triceps fast 
anhaltend fibrilläre Zackungen zu bemerken sind. 

Die nähere Untersuchung des Kranken ergab nun, dass 
ausser diesen beiden Defectznständen an den oberen 
Extremitäten noch zwei weitere an den unteren nach¬ 
weisbar sind, beide aus der Kindheit des Patienten stammend. 


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242 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Man wird aber sofort weiter fragen, ob denn eine solche 
Ueberanstrengung allein genügt, um einen Muskel zur Entartung 
zu bringen, und zwar in der Form der degenerativen Atrophie, 
wie sie sich aus dem elektrischen Befunde ergiebt. Angesichts 
der vielfachen Erfahrungen Uber Arbeitsatrophien einzelner Mus¬ 
keln, welche übereinstimmend ergeben, dass in solchen Fällen 
sehr häufig ein im Allgemeinen zur Muskelerkrankung disponi- 
rendes Moment vorliegt, auf Grund dessen die locale Schädigung 
erst ihren nachtheiligen Einfluss entfaltet, wird man sich auch 
in unserem Falle nach etwaigen Anzeichen einer solchen Dis¬ 
position umsehen und diese ist in der That hier in sehr deut¬ 
licher Weise durch den in der Kindheit abgelaufenen Krank- 
hcitsprocess im Rückenmark (Poliomyelitis anterior) gegeben, 


No. V2._ 

welcher die ITrsprungsstättcn gewisser Muskefgruppen geschädigt 
hat. Allerdings sind nur an Muskeln der unteren Extremitäten 
die Folgen solcher Schädigung direkt erkennbar und es ist 
daher zunächst nur das Vorhandensein eines alten poliomyeliti- 
schen Herdes im Lendenmark erwiesen. Allein wir wissen durch 
verschiedene neuere anatomische Untersuchungen, dass bei der 
spinalen Kinderlähmung häufig neben den grösseren Herdbildun- 
gen in einzelnen Abschnitten des Rückenmarks auch an weit 
entfernten Theilcn desselben leichtere Veränderungen der grauen 
Substanz Vorkommen, welche direkt entweder gar keine oder 
nur ganz vorübergehende Lähmungen zur Folge haben. Die 
klinische Erfahrung lehrt nun, dass die von solchen RUcken- 
markstheilen aus innervirten Muskeln zuweilen im späteren 
Leben der degenerativen Atrophie verfallen, wenn ihnen unge¬ 
wöhnliche Arbeitsleistung zugemuthet wird (so namentlich in den 
kleinen Handrauskeln durch Aufstützen auf den wegen der Gch- 
schwäche nöthigen Stock oder durch Handarbeiten beim Drech¬ 
seln, Poliren, Nähen u. dcrgl.). Ob es sich dabei um weitere 
durch die functionelle l'eberreizung herbeigeführte Fortschritte 
des degenerativen Processes im Rückenmark handelt oder ob 
nur die mangelhafte Leistungsfähigkeit der defecten trophischen 
Centren für den überreizten Muskel verhängnisvoll wird, lässt 
sich vorläufig nicht entscheiden. Jedenfalls aber ist es berech¬ 
tigt, für den vorliegenden Fall die Annahme zu machen, dass 
die im Kindesalter aufgetretene lumbale Poliomyelitis 
auch eine Schwäche der cervicalen Muskelcentren 
zurückgelassen hatte, die den Eintritt der Arbeits¬ 
atrophie im späteren Alter begünstigte. 

Es liegt aber noch eine zweite Möglichkeit des Zu¬ 
sammenhangs der Atrophie mit der Verletzung vor, die 
vielleicht mit der ersten gleichzeitig in Betracht kommt. Im 
Bereiche der Schulteratrophie und noch etwas Uber ihre Grenzen 
hinaus verbreitet findet sich nämlich eine erhebliche Ab¬ 
stumpfung der Sensibilität. Es werden in diesem Bezirke 
leise Berührungen mit dem Pinsel nur mangelhaft wahrge¬ 
nommen, insbesondere aber besteht eine starke Herab¬ 
setzung der Schmerz- und namentlich der Temperatur¬ 
empfindung. Die Thermoanästhesie ist am stärksten Uber 
der Schulter ausgeprägt, erstreckt sich abwärts streifenförmig 
von der Streckseite des Oberarms und Vorderarms bis nahe zum 
Handgelenk, nach oben zu Uber den Hals bis an den Rand des 
Gesichts. 

Diese Erscheinung in Verbindung mit der Muskelatrophie 
erinnert an das Verhalten, das man bei Syringomyelie und 
bei Hämatomyelie findet als Ausdruck einer das Vorder- und 
Ilinterhorn einer Rückenmarkshälfte ergreifenden Erkrankung. 
Dass ein so brutales Trauma, wie es hier Vorgelegen hat, durch 
welches der linke Arm förmlich ausgerissen wurde, kleine Blu¬ 
tungen im Rückenmark selbst durch Zerrung vom Plexus 
brachialis aus hervorrufen konnte, wird man als möglich zugeben 
müssen. Es könnte also in der That Hämatomyelie mit 
nachfolgender Degeneration der grauen Substanz durch 
das Trauma herbeigeführt worden sein und so das bereits abnorm 
disponirte Rückenmark in doppelter Weise unter den Folgen 
der Verletzung gelitten haben. Ein Zweifel an dem Vorhanden¬ 
sein der Hämatomyelie wird nur dadurch geweckt, dass in dem 
ohnedies so complicirten Falle noch eine weitere Complica- 
tion vorliegt, die bisher nicht erwähnt wurde, nämlich die mit 
hysterischen Erscheinungen. Der Kranke hatte im ver¬ 
gangenen Sommer in Folge eines Streites mit Kameraden, die 
ihn von seinem Standort als Hausirer verdrängen wollten, einen 
Anfall von Bewusstseinsstörung mit Krämpfen, der seiner Schil¬ 
derung nach ein hysterischer gewesen zu sein scheint. Er wurde 
in diesem Anfälle in die Charite gebracht, wo er alsbald zu 



8. Der linke Fuss weicht nach aussen ab in Valgussteilung 
und zeigt eine Verdickung und Ankylose der Fusswurzel- 
knochen. Nach Angabe des Kranken rührt dies von einer Ver¬ 
letzung her, die er sich in den ersten Kinderjahren dadurch 
zuzog, dass er mit dem Fuss in einer Egge hängen blieb und denselben 
beim Umstürzen brach. Ob die völlige Unwirksamkeit und elektrische 
Unerregbarkeit des linken Tibialis anticus (alle anderen Muskeln sind 
von normaler Beschaffenheit und Er¬ 
regbarkeit) mit dieser Verletzung Zu¬ 
sammenhängen kann, muss bezweifelt 
werden. Wahrscheinlicher ist Bie eine 
Folge der etwas später aufgetretenen 
weiteren Erkrankung, durch welche 
das rechte Bein des Kranken etwa in 
seinem 4. Lebensjahre eine erhebliche 
Veränderung erlitten hat. 

4. Er hat damals, wie ihm später 
erzählt wurde, ein sogenanntes „Nerven- 
tieber“ durchgemacht, nach welchem 
die Schwäche und Atrophie des 
rechten Beius zurückblieb. Nach 
dem jetzigen Befunde kann es nicht 
zweifelhaft sein, dass es sich um eine 
acute Poliomyelitis infantilis 
gehandelt hat, in Folge deren eine 
(Jesammtatrophie des rechten Beines, 
vornehmlich im Dickendurchmesser, 
etwas aber auch im LängsdurchmesBer 
eiugetreten ist, während eine Anzahl 
von Muskeln völliger Lähmung 
undAtrophie verfallen sind. Es sind 
dies die sämmtlichen Extensoren 
desFusses und der Zehen, ebenso 
wie auch die Mm. peronei. Jede 
active Beweglichkeit in denselben fehlt 
und die elektrische Reaction ist für 
beide Stromesarten erloschen. Erhalten 
ist dagegen die Beweglichkeit und Er¬ 
regbarkeit der Flexoren, durch deren 
Action die überwiegende Spitzfussstel- 
lung des rechten Fusses bedingt wird. 

Die Oberschenkelmuskulatur rechts ist 
erhalten und wirksam, aber viel dünner 
als links, der Patellarreflex ist rechts 
erheblich abgeschwächt. Trotz der Ver¬ 
krümmung beider Füsse geht der Pa¬ 
tient ohne wesentliche Schwierigkeit, 
wobei offenbar durch die Spitzfuss- 
stellung rechts einigermaassen die Ver¬ 
kürzung des rechten Beins compensirt 
wird. 

Legt man sich nun die Frage 
vor, ob zwischen diesen vier 
zu verschiedenen Zeiten auf¬ 
getretenen Erkrankungen 
irgend eine Beziehung be¬ 
steht, so wird zunächst kein 
Zweifel darüber obwalten können, 
dass der Verlust des linken 
Armes wenigstens die indirekte Veranlassung zu der 
Atrophie der rechten Schulter gewesen ist — vermöge 
der übermässigen Anstrengungen, welche dieser Schulter, speciell 
dem Deltoideus zugemuthet wurden, um noch lohnende Arbeit 
zu erzielen. 


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22. Mär v. 1807. 


II KR LINER K LIN ISCHE WOC11ENSCIIRIFT. 


210 


sich kam und seitdem nichts Aehuliches mehr gezeigt hat. 
Wohl aber hat er seiner Angabe nach als Junge von 11 Jahren, 
also lange vor dem Unfall, einen ganz ähnlichen Anfall gehabt, 
der ebenfalls durch psychische Erregung in Folge eines Ueber- 
falls auf der Strasse zu Stande gekommen war. Es besteht 
somit die Möglichkeit, dass die Anästhesie hysterischer Natur 
ist, womit der Umstand, dass sie gerade in der Gegend der 
Atrophie aufgetreten ist, sehr wohl in Uebereinstimmung zu 
bringen wäre. Gegen die hysterische und mehr fllr die hämato- 
myelitische Anästhesie spricht nur, dass dieselbe nicht ringförmig, 
sondern streifenförmig abgegrenzt ist, also mehr der Erkrankung 
eines bestimmten RUckenmarkssegments entspricht. Indessen 
wird dieser eine Punkt in dem an diagnostischen und ätiologi¬ 
schen Fragen so reichen Falle zunächst nicht sicher entschieden 
werden können. 

Ein weiteres Interesse bietet nun der Fall in Bezug auf die 
Entstehungsweise und die Beurtheilung der Nerven¬ 
erkrankungen nach Unfall. 

Ich möchte in dieser Hinsicht zunächst zwei in gewissem 
Sinne gegensätzliche Ergebnisse hervorheben, indem ich in 
erster Linie darauf hinweise, dass der Patient, weil ihm die 
Wohlthat der Unfallrente noch nicht zu Theil werden konnte, 
zur Arbeitsleistung unter ungünstigen körperlichen Bedingungen 
genöthigt war und sich dadurch eine weitere Erkrankung (die 
Lähmung der rechten Schulter) zugezogen hat, durch die er in 
einen wesentlich hülfloseren Zustand versetzt wurde als durch 
den Unfall allein. 

Insofern also ist der Fall ein drastisches Beispiel, das den 
Segen der Unfallversicherungsgesetzgebung illustrirt, der in den 
erregten Discussionen der letzten Zeit nicht immer die gebührende 
Anerkennung gefunden haf. Dass freilich auch gewisse un¬ 
günstige Wirkungen dieser Gesetzgebung eingetreten sind, die 
sie in einzelnen Fällen geradezu als einen Fluch für die Ver¬ 
sicherten erscheinen lassen, wird Jeder zugeben, der einen tiefe¬ 
ren Einblick in das lleer der sogenannten Unfallsneurosen 
gethan hat. Man hat diese ungünstigen Wirkungen bei Erlass 
jener Gesetzgebung nicht voraussehen können, man ist aber jetzt, 
wo durch die zur Bcrathung stehende Novelle eine Ergänzung 
der letzteren in Angriff genommen ist, in der Lage, auch solche 
Aenderungen vorzunehmen, welche für die Beseitigung jener 
ungünstigen Wirkungen von Bedeutung sind. 

Es sei daher gestattet, auf diese actuelle Frage etwas näher 
einzugehen und auch in dieser Beziehung zunächst wieder den 
mitgetheilten Fall in’s Feld zu führen, aus welchem als zweites 
Ergebniss das hervorgeht, dass auch ein sehr schwerer 
Unfall, der seiner Natur nach eine starke Gemüths- 
erregung bervorrufen muss, ohne diejenigen uach- 
theiligen Folgen für die Stimmung und die gesammten 
nervösen Functionen bleiben kann, welche in so vielen 
anderen Fällen auch nach leichteren Unfällen beob¬ 
achtet werden. 

Der Zwang, Bich trotz seiner Verstümmelung durch eigene 
Arbeit durch's Leben bringen zu müssen, hat auf den Kranken 
in moralischer Beziehung sicher günstig gewirkt und ihn vor 
jener unzufriedenen, mürrischen, querulirenden und die That- 
kraft lähmenden Stimmung bewahrt, in welche wir so viele Un¬ 
fallverletzte verfallen sehen. Es bedarf für einen vorher an 
körperliche Arbeit gewöhnten Menschen, der durch einen Un¬ 
fall zu längerer Unthätigkeit genöthigt, in diesem Zustand reich¬ 
lich Zeit gefunden hat, sich mit seinen körperlichen Empfindungen 
zu beschäftigen, unter allen Umständen eines gewissen Maasses 
moralischer Kraft, um seinen geschwächten Körper wieder an 
Arbeit zu gewöhnen und die dabei auftretenden unangenehmen 


MuskelgefUhle zu überwinden. Winkt ihm die Aussicht, durch 
eine mehr oder weniger grosse Rente dieser Unannehmlichkeit 
wenigstens für längere Zeit zu entgehen, so wird naturgemäss 
sein Sinn immer mehr nach dieser Richtung gewendet, er kommt 
unwillkürlich dazu, seine Krankheit als einen unveräusserlichen 
Besitz anzusehen und die Erscheinungen derselben im Kampf 
mit den widerstrebenden Behörden immer mehr zu übertreiben. 
In diesem Verhältnis liegt der Grund, der den Neurosen der 
Versicherten so sehr den Stempel der Hartnäckigkeit und Un¬ 
verbesserlichkeit aufdrückt und ihre Prognose so wenig günstig 
erscheinen lässt, und darin wieder der Anlass, der manche 
Autoren verführt hat, in ihnen eine spezifische Krankheitsform 
zu sehen. So ist vor mehr als 30 Jahren in England, wo viel 
früher als bei uns ein Haftpflichtgesetz bestand, das besonders 
in den zahlreichen Fällen von Eisenbahnverletzungen zur Geltung 
kam, die „railway spine“ construirt worden, so später bei uns, 
wo zu dem Haftpflichtgesetz die auf viel weitere Kreise wirkende 
Unfallversicheru lg trat, die „traumatische Neurose“. In England 
ist längst und ganz besonders durch das vortreffliche im Jahre 
1885 erschienene Buch von H. W. Page die Ueberzeugung durch¬ 
gedrungen, dass die spezifischen Züge der Railway spine nicht 
durch die besondere Art des körperlichen oder psychischen 
Traumas bedingt sind, sondern durch das hartnäckige Sichver- 
senken der Verletzten in ihre Entschädigungsansprüche. In 
Deutschland kommt die gleiche Ansicht neuerdings immer mehr 
zum Durchbruch; ich nenne von den zahlreichen Veröffentlichungen 
aus den letzten Jahren, in welchen dieselbe mehr oder weniger 
bestimmt vertreten wird, nur die von F. A. Hoffmann, 
F. Schnitze, v. Strümpell, L. Bruns, Sänger. Ueberall wird 
auf Fälle hingewiesen, in welchen wie in dem vorstehend mit¬ 
getheilten bei nicht Versicherten trotz schweren Traumas keine 
schwere Neurose eingetreten ist. Die Thatsache, dass in Be¬ 
rufskreisen, welche vielen Unfällen ausgesetzt sind, in welchen 
aber das Interesse Uberwiegt, die Folgen derselben zu über¬ 
winden und die frühere Leistungsfähigkeit wieder zu gewinnen, 
jene dauernd nachtheiligen Erscheinungen zu den Seltenheiten 
gehören, ist z. B. von Bruns besonders durch den Hinweis auf 
die Reiterofficiere illustrirt worden. Mit vollem Recht ist dabei 
gerade von diesem Autor betont worden, dass nicht etwa das 
Auftreten nervöser Störungen an und für sich unter diesen Um¬ 
ständen seltener sei. Es hiesse ja auch in Wahrheit die That- 
sachen auf den Kopf stellen, wenn man behaupten wollte, dass 
die Erscheinungen aller möglichen Neurosen — von der Hysterie 
angefangen bis zu den schwersten psychischen Störungen — 
nicht auch ohne Versicherungsgesetz im Anschluss an Unfälle 
und sonstige Verletzungen auftreten könnten. Ist doch z. IL 
das Bild der traumatischen Hysterie lange vor dem Bestehen 
solcher Gesetze in mustergiltiger Weise von Brodie in seinen 
im Jahre 1837 erschienenen Vorlesungen on certain local 
nervous affections gezeichnet worden. Aber so sicher diese Zu¬ 
stände an und für sich zu Recht bestehen, so unzweifelhaft ist 
es, dass sie häufig erst durch den Kampf um Entschädigung 
und um die Rente den Charakter der Hartnäckigkeit und Ueber- 
treibung erhalten, der so viele heutzutage zu beobachtende Fälle 
auszeichnet. Es ist allerdings nicht richtig, auf die Mehrzahl 
dieser Fälle das so oft missbrauchte Wort Simulation anzu¬ 
wenden; denn um Simulation d. h. um bewusste Vortäuschung 
einer nicht vorhandenen Krankheit handelt es sich nicht, wenn 
jemand unter dem Banne der Vorstellung, kränker zu sein als 
man ihm glauben will, vorhandene Beschwerden übertreibt und 
in oft bizarrer Weise zur Darstellung bringt. Aber diese Nei¬ 
gung zur Uebertreibung ist nicht von vornherein durch die 
wirklichen Beschwerden veranlasst; sie wird erst hinzu erworben 
durch die äusseren Umstände, d. h. durch die verschiedenen 

1 * 


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No. 12. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


244 

Momente in dem nun entbrennenden Kampf um die Rente. Es 
ist überflüssig, auf die oft hervorgehobenen Einzelheiten (das Be¬ 
kanntwerden mit anderen günstig entschiedenen Fällen, die Beob¬ 
achtung zahlreicher Symptome an anderen Verletzten in den 
Krankenhäusern, der Einfluss der „Consulenten in Unfallsange¬ 
legenheiten“, welche die oft so lächerlich übertriebenen Ein¬ 
gaben verfassen u. a.) näher einzugehen. Dass unter solchen Ein¬ 
flüssen auch gelegentlich echte und nackte Simulation zu Stande 
kommt, ist durch Beispiele zur Genüge erhärtet. Namentlich die 
„Simulation des ursächlichen Zusammenhangs“, wie es Sänger 
bezeichnet, d. h. die Behauptung, dass irgend welche längst 
bestandenen Beschwerden erst durch den späteren Unfall herbei- 
geführt worden seien, wird nebst der obligaten Uebertreibung 
dieser Beschwerden wohl jedem Begutachter vorgekommen sein. 

Es ist nun nicht zu verkennen, dass auch durch 
die Art der gesetzlichen Bestimmungen und des nach 
denselben üblichen Verfahrens — nicht etwa die Simu¬ 
lation, wohl aber — die Hartnäckigkeit, Verbitterung 
und Ucbertreibungs8ucht bei den Verletzten befördert 
wird. Vor allem wirkt der Umstand ungünstig, dass nur eine 
dem Grade der Arbeitsunfähigkeit entsprechende und mit der 
Veränderung dieses Grades wechselnde Rente gewährt werden 
kann. Der Gang der Dinge ist in vielen Fällen durch endlos 
sich wiederholende Untersuchungen gekennzeichnet. Nach Ab¬ 
lauf der 13 Wochen, für welche die Krankenkasse zu sorgen 
hat, erfolgt die Entscheidung durch die Berufsgenossenschaft, ist 
der Verletzte nicht zufrieden, so wird an das Schiedsgericht 
appellirt, von diesem an das Reichsversicherungsamt. Sobald 
dann irgend ein neues, bis dahin nicht gewürdigtes Symptom 
ausfindig gemacht werden kann, Antrag auf Wiederaufnahme 
des Verfahrens, abermals Streit um die Höhe der Rente, Begut¬ 
achtung von verschiedenen Seiten. Ist Rente bewilligt, so kommt 
nach längerem oder kürzerem Intervalle die Frage, ob noch der 
gleiche Grad von Erwerbsunfähigkeit besteht; abermals Unter¬ 
suchungen, Begutachtungen, Rekurse, Obergutachten u. s. w. In 
dieser ganzen Zeit kommt der Verletzte nicht zur Ruhe und 
nicht zur Sicherheit Uber seine Zukunft. Misstrauen begegnet 
ihm auf allen Wegen, er weiss sich durch Vertrauensmänner 
der Genossenschaft überwacht und beobachtet, sucht er sich zu 
zerstreuen oder gar seine Kräfte an einer kleinen Hausarbeit zu 
üben, so riskirt er, der Bernfsgenossenschaft als Simulant de- 
nuncirt zu werden. So lebt er sich immer mehr in seine Ver¬ 
drossenheit und Willenlosigkeit hinein und befindet sich unter 
den ungünstigsten Bedingungen, um seine Krankheit zu über¬ 
winden. 

Man hat zuerst in England die Erfahrung gemacht, dass 
Leute, die seit Jahren an Railway spine gelitten hatten, nach 
dem drastischen Ausdruck von Page „unanständig rasch“ ge¬ 
sund wurden, wenn die Entschädigungsfrage zu ihren Gunsten 
und definitiv entschieden war. Soweit das Haftpflichtgesetz 
reicht, liegen auch bei uns derartige Erfahrungen vor; sie sind 
dagegen sehr selten im Bereiche der Unfallversicherungsgesetz¬ 
gebung. Der Unterschied liegt auf der Iland. Dort, wenn 
auch oft nach langem Kampf, endgültige Entscheidung und Ab¬ 
findung. Hier niemals ein Ende, sondern auch bei günstigster 
Entscheidung ein in jedem Augenblick wieder anfechtbarer 
Rentengenuss. Abhülfe würde erreicht, wenn es möglich 
wäre, in gewissen Fällen eine Kapitalabfindung an 
Stelle der Rente zu setzen, und es kann daher nur als ein 
entschiedener Fortschritt begrüsst werden, dass die Novelle zu 
den Unfallgesetzen einen Anfang in dieser Richtung macht, in¬ 
dem in § 67 bestimmt werden soll, dass bei theilweiser Er¬ 
werbsunfähigkeit an Stelle einer auf 10 oder weniger Procent 
festgestelltcn Rente auf Antrag des Versicherten eine Abfindung 


durch Kapitalzahlung erfolgen kann. In der Begründung der 
Novelle wird zu diesem Vorschlag mit Recht bemerkt, dass bei 
so kleinen Renten die Monatsbeträge derselben so gering seien, 
„dass ihnen ein wirtschaftlicher Werth für den Versicherten 
kaum beizumessen sei.“ Ohne Zweifel ist dagegen die Aus¬ 
zahlung eines kleinen Kapitals in dem Augenblick, in welchem 
der Verletzte wieder zu arbeiten beginnt, aber zunächst nur mit 
verminderter Kraft arbeiten kann, für ihn von grösster wirt¬ 
schaftlicher Bedeutung. Mit dieser wirtschaftlichen Bedeutung 
geht aber die hygienische Hand in Hand, indem durch den 
moralischen Einfluss, welchen der Wiederbeginn der Thätigkeit 
übt, und zugleich durch das Bewusstsein des Versicherten, dass ' 
er mit der einmal erhaltenen Summe endgültig abgefunden und 
nun weiterhin lediglich auf seine eigene Kraft angewiesen ist, 
eben jene Unsicherheit, jene Mischung von Befürchtung und 
Hoffnung beseitigt wird, welche wir als so nachtheilig für den 
Geisteszustand erkannt haben. 

Um diesen Zweck voll zu erreichen, wäre nur er¬ 
forderlich, dass die Kapitalabfindung nicht auf die 
Fälle der ganz kleinen Rentenansprüche beschränkt, 
sondern auch auf viel grössere Beträge ausgedehnt 
würde. Man wird einwenden, dass man dann gelegentlich durch 
den augenblicklichen Grad der Erwerbsunfähigkeit zur Auszahlung 
eines grösseren Kapitals verleitet werden könnte, als dies nach 
dem definitiven Verlauf der Krankheit schliesslich begründet er¬ 
schien. Auch wird vielleicht die Angst vor dem Simulantenthum eine 
solche Einrichtung gefährlich erscheinen lassen. Aber das eine 
wie das andere ist nicht von praktischer Bedeutung. Mit den 
Simulanten hat man in beiden Fällen zu kämpfen; ergiebt sich 
nachträglich, dass ein solcher sich widerrechtlich ein Kapital 
erschlichen hat, so kann er ebenso gut wegen Betrugs angeklagt 
werden, wie jetzt, wenn er sich eine Rente erschlichen hat. Der 
andere Fall aber, dass gelegentlich einmal ein wirklich Kranker 
etwas höher entschädigt wird, als dies seiner Krankheit ent¬ 
spricht, bewirkt keine Schädigung des Rechtsbewusstseins und 
man wird ihn gerne in den Kauf nehmen, wenn man die Er¬ 
fahrung macht, dass auf dem bezeichneten Wege eine grössere 
Zahl von langwierigen Krankheitszuständen thatsächlich geheilt 
wird und dass viele halb gebrochene Existenzen wieder dauernd 
aufgerichtet und leistungsfähig werden. Ich zweifle nicht daran, 
dass das Verfahren, wenn man erst einmal die Schlussrechnung 
stellen kann, sich auch als das wirtschaftlich vorteilhaftere 
erweisen wird. 

Ein weiterer Punkt, in welchem eine Aendening der gesetz¬ 
lichen Bestimmungen unbedingt zu befürworten ist, betrifft die 
Art und Weise, wie die Unfälle und ihre unmittel¬ 
baren Folgen festgestellt werden. Jeder, der öfter in die 
Lage kommt, Unfallsacten einzusehen und in irgend einer Phase 
der Verhandlungen (oft Jahre nach dem Unfall) ein ärztliches 
Gutachten Uber die Nachwirkungen desselben abzugeben, wird 
mit wahrem Schrecken gewahr, wie häufig Uber die directen 
Wirkungen und über die Art und Weise der durch den Unfall 
berbeigefübrten Verletzungen so gut wie gar nichts Verwerth- 
bares feststeht. Es soll z. B. entschieden werden, ob gewisse 
Klagen Uber den Kopf (Druck, Schmerz, Schwindel, Benommen¬ 
heit, Gedächtni8ssckwäche n. dgl.) Folgen eines bestimmten Un¬ 
falls sind. Der Kranke erzählt, dass er beim Fall von einem 
Gerüst, beim Sturz vom Trittbrett eines Pferdebahnwagens, beim 
Verschüttetwerden durch Erdmassen u. s. w. u. 8. w. mit dem 
Kopfe aufgeschlagen sei, oder dass ein fallendes Eisenstück, ein 
Stein, ein Hufschlag, ein an ihm vorbeistreifender Wagen ihn 
ausser an anderen Körperstellen auch am Kopfe getroffen habe. 
Wir schlagen die Unfallanzeige nach und finden mit wenigen 
Worten die Art des Unfalls angegeben (Fall vom Gerüst, vom 


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22. März 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


245 


Wagen, Einsturz von Erdmassen, Hufschlag, Herabfallen von 
schweren Körpern u. dgl.), dazu gewöhnlich noch irgend einen 
örtlichen Schmerz, über den der Kranke sofort geklagt hat. 
Kein Wort aber Uber die Art, wie er gefallen ist, in welcher 
Lage er gefunden wurde, ob Zeichen von Gehirnerschütterung 
vorhanden waren, ja ob überhaupt der Kopf irgend eine directe 
Verletzung oder Prellung erlitten haben kann. Auf den gleichen 
Mangel stossen w r ir in den Verhandlungen der Ortspolizeibehörden 
Uber die Folgen des Unfalls, die zudem in vielen Fällen erst 
spät erfolgen, erst dann, wenn sich herausstellt, dass die Krank¬ 
heit die 13 wöchentliche Carenzzeit überdauern wird. Gewöhn¬ 
lich finden sich hierbei wohl etwas ausführlichere Angaben des 
Verletzten selbst und der Augenzeugen Uber das Zustandekommen 
des Unfalles; aber das, was für das ärztliche Gutachten mass¬ 
gebend ist, die genaue Schilderung der Art und der unmittel¬ 
baren Wirkungen der Verletzung, ist auch in diesen Verhand¬ 
lungen meist nicht enthalten. Der Fehler liegt darin, dass in 
diesem Stadium ohne Mitwirkung eines Arztes verfahren wird, 
und dass auch weiter bei der berufsgenossenschaftlichen Ent¬ 
scheidung nicht etwa regelmässig ein Bericht des ersten be¬ 
handelnden Arztes eingefordert wird, sondern dass man sich 
meist mit der erst in einem späteren Stadium des Leidens vor¬ 
genommenen Untersuchung durch einen Arzt der Genossenschaft 
begnügt. Erst bei den Rekursverhandlungen tauchen dann 
weitere ärztliche Atteste auf, aber nur in der Minderzahl der¬ 
selben kann Uber den ersten Augenschein berichtet werden, der 
Verletzte ist wegen des einen oder anderen Symptoms in Be¬ 
handlung getreten, hat gelegentlich angegeben, dass dasselbe 
von einem Unfall herrühre, aber Niemand hatte Veranlassung, 
ihn etwa daraufhin erschöpfend zu untersuchen und gar den Be¬ 
fund protocollarisch festzustellen. — Etwas günstiger ist die 
Sachlage, wenn die erste Behandlung im Krankenhause statt¬ 
gefunden hat. Aber auch hier kommt es bei starker Inanspruch¬ 
nahme der Aerzte oft genug vor, dass höchstens kurze Ein¬ 
tragungen einer Diagnose stattgefunden haben und dass nach¬ 
träglich in keiner Weise mehr festzustellen ist, ob etwa eine 
nach Jahresfrist am Kopfe des Kranken gefundene Narbe von 
dem damaligen Unfall herrührt (wie er behauptet) oder von 
einer viel früheren Verletzung (wie es nach anderen Umständen 
oft wahrscheinlich ist). 

Es ist klar, dass unter solchen Verhältnissen die Begut¬ 
achtung erschwert wird und dass viele der Differenzen unter 
den einzelnen Begutachtern auf diese Unsicherheit der Grund¬ 
lagen zurückzuführen sind. Den »Schaden davon haben bald die 
Versicherten, bald die Genossenschaften zu tragen, beide zu¬ 
gleich in den Fällen, in welchen durch diese Unklarheit die 
Entscheidung verzögert und hierdurch der Gemüthszustand der 
Verletzten in der vorher besprochenen Weise nachtheilig beein¬ 
flusst wird. Es liegt also im Interesse aller Betheiligten, dass 
eine Aenderung getroffen wird, indem eine möglichst früh¬ 
zeitige und zugleich eine ärztlich sachverständige Fest¬ 
stellung Uber den Unfall erfolgt. Der ersten Forderung sucht 
die Novelle zur Unfallgesetzgebung Rechnung zu tragen, indem 
sie durch veränderte Fassung des £ 53 eine Beschleunigung der 
polizeilichen Feststellung ermöglicht. Die zweite wichtigere 
Forderung hat dagegen in dem Entwurf keine Berücksichtigung 
gefunden. Es müsste, um wirksame Abhülfe zu treffen, bestimmt 
werden, dass 1. jeder Unfallmeldung ein nach be¬ 
stimmtem Schema auszufüllendes Attest desjenigen 
Arztes beizufügen sei, welcher den Verletzten zuerst 
untersucht hat, und dass ebenso auch 2. bei der polizei¬ 
lichen Feststellung die Erhebung eines ärztlichen Be¬ 
richts Uber die bis dahin beobachteten Krankheits¬ 
erscheinungen zu erfolgen habe. In beiden Fällen müsste 


durch ausdrückliche vorgedruckte Fragen darauf hingewiesen 
werden, dass eine bestimmte Angabe darüber gewünscht wird, 
ob der Verletzte nur an einer oder mehreren Stellen seines 
Körpers durch den Unfall betroffen wurde, und von welcher Art 
und Wirkung die Verletzung der verschiedenen Körpertheile 
war. Zugleich müsste ausdrücklich gefragt werden, ob nicht 
ausserdem Reste alter Verletzungen oder früherer Krankheiten 
nachweisbar sind. 

Wenn diese letzten Bemerkungen auch nicht mehr in un¬ 
mittelbarem Zusammenhänge mit den aus dem mitgetheilten Falle 
sich ergebenden Lehren stehen, so sind sie doch aus der Er¬ 
fahrung in zahlreichen analogen Fällen geschöpft und dürften in 
dem Augenblicke, in welchem bei allen betheiligten Factoren 
das Bestreben besteht, die Unfallgesetzgebung nach Massgabe 
der gemachten Erfahrungen zu verbessern, nicht ganz ohne Be¬ 
deutung sein. 


II. Aus dem ehern. Laboratorium der I. medicinischen 
Klinik zu Berlin. 

Ueber Zucker abspaltende Körper im 
Organismus. 

Von 

Dr. Ferdinand Blnmenthal. 

Assistenten der I. medicinischen Klinik des Herrn Geheimrath v. Leyden. 

(Vortrag gehalten am 25. Februar 1897 in der Gesellschaft der Charite- 
Aerzte zu Berlin.) 

Nach der klinischen Beobachtung steht es fest, dass Zucker 
aus Eiweiss gebildet wird. Ueber die Art dieser Bildung sind 
wir aber noch ganz im Unklaren. Deshalb dürfen Unter¬ 
suchungen, welche sich mit dieser Frage beschäftigen, auch beim 
Kliniker einiges Interesse beanspruchen. Ich hoffe durch meine 
Untersuchungen einiges Neue zu dieser Frage beibringen zu 
können. Bevor ich aber meine Befunde Ihnen vortrage, möchte 
ich erst in Kürze vor Ihnen darlegen, was bisher Uber zucker- 
abspaltende Körper im Organismus bekannt ist. 

Schon lange wissen wir, dass es eiweissähnliche Körper 
giebt, die als Glycoproteide bezeichnet werden und von denen 
die Mucine für unsem Organismus von Wichtigkeit sind. Diese 
Mucinc sind phosphorfrei und zerfallen beim Kochen mit stärke¬ 
ren Säuren in Leucin, Tyrosin und Laevulinsäure [Landwehr 1 )], 
während beim Kochen mit gespannten Wasserdämpfen sich sog. 
tliierisches Gummi abspalten soll. Ueber das thicrische Gummi 
vermögen wir nichts weiter zu sagen, als dass es dem pflanz¬ 
lichen Gummi ähnelt und deshalb als Kohlehydrat betrachtet 
wird. Doch ist auch dieses nicht sicher erwiesen, da Ham¬ 
marsten 2 ) fand, dass die von ihm aus dem Mucin der Sub- 
maxillaris abgespaltene gummiähnliche Substanz stickstoffhaltig 
war. Indessen ist die Abspaltung der Laevulinsäure als Reagens 
auf eine Kohlehydratgruppe zu betrachten und ist dadurch der 
glycoside Charakter des Mucins erwiesen. Ausserdem ist von 
Müller*) ausser Laevulinsäure und thierischem Gummi eine 
nicht zu den Ketosen rechnende llexose, deren Osazon bei 198* 
schmolz, abespalten worden. Müller nannte sie Mucose. 

In dem Chondrosin C^H^NO,, einem Spaltungsproduct der 


1) Zeitschr. für phisiol. Chemie, Bd. 8 u. 9 und Pflüger’8 Arch. 
Bd. 39 u. 40. 

2) Hamm arsten, Lehrbuch für Physiologische Chemie. 1895, S. 89. 

3) Müller, Verhandlungen der naturwissenschaftl. Gesellschaft. 
Marburg 1896. Juli. 

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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 12. 


24i> 

Chondroitinschwefelsäure C ls H,,NSO,,, welche Mörner 1 ) im 
Knorpel und in der Tunica intima Aortae entdeckte, fand 
Schmiedeberg 2 ) eine alkalische Kupferoxydlösung stark redu- 
cirende Säure, welche dextiogyr ist und die bei Zerlegung mit 
Barythydrat Producte liefert, die es wahrscheinlich machen, dass 
das Chondrosin die Atomgruppen der Glykuronsäure und des 
Glukosamins enthält. 3 ) 

Aus dem Protagon einer N und P enthaltenden Substanz, die 
Liebreich im Gehirn zuerst fand, lässt sich durch Kochen mit 
verdünnten Mineralsäuren Galactose abspalten. 4 ) Ebenso liefert 
das von Kossel und Frey tag 5 6 ) aus dem Protagon isolirte 
Cerebrin, ebenso wie das Protagon behandelt, nach Thier¬ 
felder 0 ) Galactose. Aehnlich verhalten sich auch das Kerasin 
und das Enkcphalin, 7 ) welche ebenfalls Spaltungsproducte des 
Protagons sind. 

In dem Jecorin, einer von Drechsel 8 ) entdeckten N und P 
haltigen Substanz, konnte Manasse 9 ) durch Kochen mit ver¬ 
dünnter Schwefelsäure eine Kohlenhydratgruppe nachweisen. Das 
erhaltene Kohlenhydrat ist nach Manasse Traubenzucker. 
Das Jecorin findet sich in der Leber, Milz, im Muskel, im 
Gehirn und in der Nebenniere. Dieser Befund ist von beson¬ 
derem Interesse, weil hier Traubenzucker nachgewiesen wurde. 

Weiter verbreitet als die 'soeben aufgeführten Substanzen 
kommt im Organismus die Phosphorfleischsäure Siegfriede l0 11 ) 
vor. Bisher ist dieselbe im Muskel und in der Milch gefunden 
worden. Doch geht aus Andeutungen Siegfriede und seiner 
Schüler noch eine grössere Verbreitung derselben hervor. Aus 
ihrem Eisensalz, die Säure selbst ist noch nicht dargestellt, hat 
Siegfried durch Kochen mit 4proc. Salpetersäure einen redu- 
cirenden Körper abgespalten, der eine Benzoylverbindung giebt, 
Furfurol liefert und auch ein Osazon bildet. Wenn auch aus 
allem diesen die Kohlenhydratnatur des Körpers hervorleuchtet, 
so ist es doch leider Siegfried trotz verhältnissmässig grosser 
Mengen Camiferrin, die er verarbeitete, nicht gelungen, soviel 
Osazon zu erhalten, dass er den Schmelzpunkt desselben be¬ 
stimmen konnte. Es dürfte also die Phosphorfleischsäure als 
Quelle für die Zuckerbildung nur eine ganz geringe Rolle 
spielen. 

Da die Phosphorfleischsäure nach Siegfried den Nucleincn 
nahe steht, so steigert sich unser Interesse für sie als zucker- 
abspaltende Substanz, zumal auch eine der im Organismus vor¬ 
kommenden Nucleinsäuren, nämlich die Adenylsäure 
der Thymus beim Kochen mit verdünnter Säure Lacvulin- 
säure liefert. Haben auch Kossel und Neumann,“) die Ent¬ 
decker dieser Säure, das Kohlehydrat nicht selbst dargestellt, 
so ist doch mit dem Nachweis der Laevulinsäure die Anwesen- 


1) Mörner, Arch. für exper. Path. u. Pharm. Bd. 28. 

2) Schmiedeberg, Areh. für exper. Path. u. Pharm. Bd. 33. 

3) Berichtet nach IlammarBtcn, Lehrbuch der physiol. Chemie. 

1895. 

4) Thudichum, Grundzüge der anatom. und klinischen Chemie. 
1886. 

5) Zeitschrift für Physiolog. Chemie,. Bd. 17. — Vergl. auch 
W. Müller, Annal. der Chemie und Pharm., Bd. 105, der das Cerebrin 
entdeckte. 

6) Thierfeldcr, Zeitschr. für physiol. Chemie, Bd. 14. 

7) Hammarsten, Lehrbuch der physiol. Chemie, S. 352. 

8) Drechsel, Journal für prakt. Chemie, N. F. Bd. 33, 1886, 
S. 425. 

9) P. Manasse, Zeitschrift für physiol. Chemie, Bd. 20, 1895. 

10) Siegfried, Zeitschrift für physiol. Chemie, Bd. 21, 1896 und 
andere Arbeiten dieses Forschers. 

11) Kossel und Neumann, Sitzungsberichte der Königl. Prcuss. 
Akademie der Wissenschaften 1894. XVIII. 


heit einer Kohlenhydratgruppe in der Nucleinsäure der Thymus 
bewiesen. Auch Lilienfeld 1 ) giebt an, unter den Spaltungs- 
producten des Nucleohistons der Thymus ein Kohlenhydrat ge¬ 
funden zu haben. 

Gleichzeitig mit Kossel und Neu mann fand Hammarsten 2 ) 
dass auch eine Nucleineiweissverbindung im Pankreas, 
ein sogenanntes Nucleoproteid, d. h. ein Körper, der bei der 
Pepsinverdauung echtes Nuclein und beim Sieden mit verdünnter 
Säure ausser Eiweiss Xanthinbasen lieferte, eine Kohlenhydrat¬ 
gruppe enthält. Kochte er das Nucleoproteid mit 3proc. H,S0 4 
einige Stunden im Wasserbad, so erhielt er nach Neutralisation 
mit Barythydrat ein Kohlenhydrat, dessen Osazon bei 159 8 
schmolz. 

Salkowski*) hat den Befund Hammarsten’s bestätigt 
und durch Elementaranalyse des Osazons den endgültigen Be¬ 
weis gebracht, dass das erhaltene Kohlenhydrat eine Pen- 
tose war. 

Von anderen Nucleoproteiden hat Hammarsten noch von 
dem der Leber 4 ) und der Milchdrüse festgestellt, dass redu- 
cirende Körper sich daraus abspalten lassen, lieber die Natur 
dieser reducirenden Körper ist nichts bekannt. 

Indem ich Ihnen so eine Uebersicht der für den mensch¬ 
lichen Organismus in Betracht kommenden zuckerabspaltenden 
Substanzen gegeben habe, glaube ich behaupten zu können, dass 
nur das Nucleoproteid des Pankreas, sowohl wegen seiner 
verhältnissmässig grossen Menge, wegen der Kenntniss des ab¬ 
gespaltenen Kohlenhydrats und wegen der reichlicheren Zucker¬ 
bildung bei Zersetzung desselben unser Interesse in höherem 
Maasse beansprucht. Alle andern Körper, die ich eben angeführt 
sind entweder nur in so geringen Mengen im Organismus vor¬ 
handen, oder lassen nur so wenig Kohlehydrat aus sich ab¬ 
spalten, dass sie für die Zuckerbildung nur eine ganz 
untergeordnete Rolle spielen. 

Gelegentlich von Untersuchungen, die ich über diesen Gegen¬ 
stand angestellt habe, bin ich auf eine Reihe von Körpern gc- 
stossen, die alle zu derselben Gruppe gehören und welche bei 
der Zersetzung Kohlenhydrate liefern. 

Alle diese Körper waren Nucleineiweissverbin¬ 
dung en. Ohne mich an dieser Stelle auf die verschiedenartige 
Nomenclatur einzulassen, werde ich sie, da sie Nuclein und 
Albumin, wie ich nachweisen konnte, enthielten, der Einfachheit 
halber als Nucleoalbumine bezeichnen, ohne mich bei meiner an 
anderer Stelle erfolgenden ausführlichen Publication, wo ich auch 
die Untersuchungsraethoden mittheilen werde, für gebunden zu 
erachten, sie mit von anderen Autoren als Nucleoalbumine be¬ 
zeichnten Substanzen für identisch zu erklären. 

Alle folgenden von mir untersuchten eine Kohlen¬ 
hydratgruppe enthaltenden Körper wurden durch 
Kochen der Organe mit Wasser, Fällung des wässri¬ 
gen Auszugs mit verdünnter Essigsäure und darauf¬ 
folgender Behandlung mit Alkohol und Aether ge¬ 
wonnen: die Schmelze war stets phosphorreich. 

Beim Kochen mit 2—3 pCt. Salzsäure spalteten sich 
Xanthinbasen ab. 

Versetzte man eine Probe mit 1 ccm Wasser und 
4 — 5 ccm conc. HCl und einigen Körnchen Phloro- 

1) Lilienfeld, Archiv für Anat. u. Physiologie 1892, S. 550. 

2) Hammarsten, Zeitschr. f. physiol. Chemie, Bd. 19, 1894, S. 19. 

3) Salkowski, Berl. klin. Wochenschr. 1895, No. 17. 

4) Salkowski isolirte schon vor Hammarsten aus der glycogen- 
freien Leber Eiweiss enthaltende Körper, die beim Kochen mit verd. 
Säure reducirende Substanzen gaben. Centralblatt für die medicin. 
Wissenschaften, 1893, No. 52. 


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22. März 1807. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


247 


glucin, so entstaud eine prachtvolle kirschrothe 
Färbung beim Sieden, manchmal erst nach längerem 
Sieden bis 3 / 4 Min., eine Reaction, die nach Tollens 
für Pentose charakteristisch ist. 

Beim Kochen mit 2 — 3proc. Salzsäure bildete sich 
eine reducirende Substanz 1 ); aus dieser liess sich ein 
Osazon gewinnen, das seinem Verhalten und dem 
Schmelzpunkt von 153—158" nach Pentosazon war. Da¬ 
mit ist bewiesen, dass die untersuchten Substanzen 
Nucleoalbuinine, nach Hammarsten Nucleoproteide, 
waren, und dass das abgespaltene Kohlehydrat eine 
Pentose war. 

Diese Eigenschaften wurden festgestellt an Nucleineiweiss- 
verbindnngen folgender Organe, in denen bereits das Vorhanden¬ 
sein solcher Verbindungen bekannt war: Pankreas (Haramarsten, 
Salkowski); Leber (Nucleoalbumine Halliburton’s 2 ); Nucleo- 
proteid Hammarsten’s*)); Thymus (Nucleohiston Lilien¬ 
fel d’s 4 5 )); Muskel (Nucleoproteid Pekelharing’s'i). 

Es sind also, ausser dem Nucleoalbumin der Milchdrüse, 
das von mir nicht untersucht wurde, die bisher bekannten 
Nucleoalbumine des Pankreas, der Leber, der Thymus 
und der Muskulatur glycosider Natur, was bisher nur 
von dem Nucleoalbumin des Pankreas mit Sicherheit 
feststand. Das abgespaltene Kohlehydrat war, was 
mit dem Befund Hammarsten's und Salkowski’s beim Pan- 
kreasnucleoalbumin Ubereinstimmt, stets eine Pentose. 

Ausser diesen schon bekannten Nucleoalbuminen, deren 
glycoside Natur ich festgestellt habe, fand ich folgende bisher 
noch nicht isolirte Nucleoalbumine: 

1. Ein Nucleoalbumin der Thyreoidea. 

2. Ein Nucleoalbumin der Milz. 

3. Ein Nucleoalbumin der Hirnsubstanz. 

Durch Kochen mit Wasser Hessen sich aus der Thyreoidea 
und der Milz geringe Mengen von einem durch Essigsäure fäll¬ 
baren Körper gewinnen, der gleichfalls phosphorreich war 
und beim Kochen mit 2 Volumen proc. HCl Xanthinbasen 
und Pentosen abspaltete. 

Reichlicher war dieser Körper in der Hirnsubstanz vor¬ 
handen; er hatte dieselben chemischen Eigenschaften wie die 
vorigen. 

Die Rückstände der Thymus, Thyreoidea, Milz und Ilirn- 
siibstanz, welche nach Extraction dieser Organe mit heissem 
Wasser geblieben waren, lieferten beim Kochen mit concentrirter 
Salzsäure und Phloroglucin reichlich Furfurol, so dass noch die 
Anwesenheit weiterer Pentosen abspaltender Substanzen ver- 
muthet wurde. Es gelang durch Behandeln der Rückstände der 
Thyreoidea, Thymus und Hirnsubstanz mit 1 pCt. Natronlauge, 
einen Auszug zu gewinnen, aus dem mit Essigsäure etc. ein 
reichlicher Niederschlag erhalten wurde, der nach geeigneter 
Weiterbehandlung sich gleichfalls als ein Nucleoalbumin erwies, 
aus dem sich Pentosen abspalten Hessen. Aus der Milz gelang 
es mir nicht, ein weiteres Nucleoalbumin zu isoliren. 

Aus diesen Untersuchungen geht hervor, dass aus 
zahlreichen Organen Nucleoalbumine isolirt werden 
konnten, die eine Kohlehydratgruppe enthielten. Das 
abgespaltene Kohlehydrat war stets eine Pentose. 

Auffallend ist, dass stets eine Pentose und nicht Hexose, 

1) Die Reduction liess Bich fast ausschliesslich nur mit Ferricyan- 
kaliumlösung nachweisen. 

2) Halliburton, Journal of Physiol. Bd. 13, 1893. S. 801. 

3) Hammarsten, Zeitschr. f. physiol. Chemie. Bd. 19. 1894. 

4) Lilienfeld, Zeitschr. f. physiol. Chemie. Bd. 18, 1894 und 
Bd. 20, 1895. 

5) Pckelharing, Zeitschr. f. physiol. Chemie. Bd. 22, 1890. 


welche als solche im Organismus vorkommt, erhalten wurde. 
Hierzu ist zu bemerken, dass Salkowski und Jastrowitz 1 ) 
das Vorkommen von Pentose im Ham entdeckt haben. Später 
ist die Pentosurie von Salkowski’) als selbstständige Stoff¬ 
wechselanomalie an der Hand von zwei von mir*) klinisch be¬ 
schriebenen Fällen hingestellt worden. Auch wird von Capo- 
relli*) berichtet, dass Pentosen im Ham von Morphinisten Vor¬ 
kommen. Endlich fanden Külz und Vogel’’), dass manche 
Diabetiker neben Hexose Spuren von Pentose ausscheiden. Trotz¬ 
dem ist die Zahl der Fälle von reiner Pentosurie äusserst gering 
und spielt die Pentosenausscheidung gegenüber der Hexoseausfulir 
beim Diabetes gar keine Rolle. Es entsteht daraus die Frage, 
in wie weit die Abspaltung von Pentose aus dem 
Nucleoalbumin noch für andere pathologische Zucker¬ 
bildung ausser der Pentosurie herangezogen werden 
kann. Es ist natürlich möglich, dass der Organismus die Spal¬ 
tung des Nucleoalbumins anders vollzieht, als wir es im Reagens¬ 
glas gesehen haben; aber selbst wenn erst Pentose entstände, 
so könnte trotzdem auf Umwegen oder auch direkt Hexose 
daraus gebildet werden; können wir doch künstlich niedrigere 
Zuckerarteu in höher oxydirte verwandeln, wie dies von der 
Pentose und Hexose bekannt ist. 

Weiter fragt es sich, was bedeutet die Thatsache, dass alle 
bisher darauf untersuchten Nucleoalbumine eine Kohlehydrat- 
gmppe enthalten, für unsere Kenntniss von der Zuckerbildung 
im Organismus? Wir wissen, dass die Nucleoalbumine haupt¬ 
sächlich aus der Kernsubstanz der Zelle stammen. Damit ist 
bewiesen, dass die Zellkerne aller oben angeführten 
Organe eine Ei weissverbin düng enthalten, aus der 
Zucker abgespalten werden kann. Mit dem Zerfall 
eines jeden solchen Zellkerns ist also schon die Mög¬ 
lichkeit der Zuckerbildung gegeben. 

Indem ich Ihnen diese Befunde als das wichtigste Ergebniss 
meiner Untersuchungen mittheile, möchte ich noch zum Schluss 
daran die Frage knüpfen, wo haben wir uns in dem Nucleo¬ 
albumin das Vorhandensein der Kohlenhydratgruppe zu denken? 

An dem Nucleoalbumin ist betheiligt das Eiweiss und die 
Nucleinsäure. Bei der Nucleinsäure haben wir es aber nach 
den bahnbrechenden Untersuchungen von Kossel und Neu- 
mann nicht mit einer einheitlichen chemischen Substanz zu 
thun, da die einzelnen Nucleinsäuren bei der Zersetzung ver¬ 
schiedene Nucleinbasen liefern. Daher können wir auch nicht 
von Spaltungsproducten der Nucleinsäure im Allgemeinen 
sprechen, sondern wir müssen uns mit unseren Resultaten jedes¬ 
mal auf die betreffende untersuchte Nucleinsäure beschränken. 
Dies geht schon daraus hervor, dass Kossel 6 ) aus der Nuclein¬ 
säure der Hefe eine Hexose und eine Pentose abgespalten hat; 
während Kossel und Neu mann aus der Nucleinsäure der 
Thymus Laevulinsäure erhielten. Ist auch die Darstellung der 
Laevulinsäure nach Tollens als Reagens auf die Anwesenheit 
einer Kohlenhydratgruppe anzusehen, so haben doch Kossel 
und Neumann nicht das Kohlenhydrat selbst aus dieser 
Nucleinsäure dargestellt. Aus der Nucleinsäure des Lachs- oder 
Karpfenspermas und aus der Leukonucleinsäure konnte Kossel 7 ) 
kein Kohlenhydrat abspalten. Kossel und Neumann zogen 

1) Salkowski u. Jastrowitz, Centralblatt für die mediciniscben 
Wissenschaften 1892, No. 19. 

2) Salkowski, Berliner klin. Wocbenschr. 1895, No. 17. 

3) Blumenthal. Berliner klin. Wochenschr. 1895, No. 2G. 

4) Caporelli, Rivista clinica e terap. 1896, I. 

5) Külz u. Vogel, Zeitschr. für Biologie 1896. Bd. 14. 

6) A. Kossel, Du Bois’ Arch. f. Physiol. 1892. 

7) A. Kossel, Verhdl. d. Physiol. Gesellsch. zu Berlin 1892/93, 


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248 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 12. 


aus ihren Befunden den Schluss, dass auch Nucleine eine 
Quelle für die Bildung von Kohlenhydraten sind. 

Sehen wir nun aus dem Nucleoproteid des Pankrea3, als 
auch aus allen von mir untersuchten Nucleoalbuminen Zucker 
entstehen, so lässt sich mit Berücksichtigung der Befunde von 
Kossel und Neumann daraus schliessen, dass auch hier der 
Zucker aus der an den Nucleoalbuminen betheiligten 
Nucleinsäure stammt, und es lässt sich annehmen 
bei der constant gefundenen glykosiden Natur der 
im Organismus vorkommenden Nucleoalbumine, dass 
sämmtliche im Organismus vorkommende Nuclein- 
säuren Zucker und zwar Pentose abspalten lassen. 

Man könnte mir einwerfen, warum ich nicht annehme, dass 
die Pentose aus dem Eiweiss stammt. Zu dieser Annahme 
liegt kein Grund vor, da es bisher noch nicht gelungen ist, 
Pentose aus dem Eiweiss zu erhalten, was dagegen für die 
Nucleinsäure der Hefe feststeht. Auch die Abspaltung von 
Hexose oder anderen uns bekannten Kohlenhydraten aus dem 
Eiweiss ist bisher nicht geglückt. Nur soviel steht fest, dass 
Pavy 1 2 ) aus dem Eieralbumin einen reducirenden Körper er¬ 
hielt, dessen Osazon bei 185)—190 0 schmolz. Krawkow’) hat 
diesen Befund Pavy’s noch auf einige andere Eiweisskörper 
übertragen, aus denen er reducirende Substanzen abspaltete, 
deren Osazon den Schmelzpunkt bei 183—185° zeigte. Weder 
der Schmelzpunkt des von Pavy dargestellten Osazons der 
reducirenden Substanz, noch der Krawkow’s stimmen mit 
einem uns bekannten Schmelzpunkt eines Kohlenhydratsosazons 
überein. Danach ist die künstliche Abspaltung von 
Kohlenhydraten aus Eiweiss zwar wahrscheinlich, 
aber nicht bewiesen. 

Uebertrage ich nun meine Ergebnisse auf unsere Kenntniss 
von der Zuckerbildung im Organismus, so kann in allen Organen 
Zucker gebildet werden, ja wir dürfen anuehmen, dass jede 
Zelle aus einer Eiweissverbindung Zucker abspalten kann und 
zwar aus dem in ihr enthaltenen Nucleoalbumin. 


III. Aus (1er II. nied. Universitätsklinik (Direktor 
Geheimrath Prof. Gerhardt'. 

Ueber den Einfluss des Apentawassers auf den 
Stoffwechsel einer Fettsüchtigen. 

Von 

Dr. Martin Jacoby. 

Zu Beginn des Wintersemesters 1896/97 wurde ich von 
Herrn Geheimrath Gerhardt beauftragt, den Einfluss des 
Apentawassers auf den Stoffwechsel in einem geeigneten Falle 
zu prüfen. 

Eine derartige Versuchsreihe schien aus mehreren Gründen 
von Interesse zu sein. v. Noordeu 3 ) und Dapper 4 ) haben 
erst neuerdings darauf hingewiesen, dass Stoffwechselversuche 
nach modernen Gesichtspunkten nothwendig sind, um die Be¬ 
deutung der Mineralquellen für den Stoffumsatz und die Re¬ 
sorption wissenschaftlich festzustellen. Die Autoren richteten 
ihr Augenmerk zunächst auf die Kochsalzquellen und haben 
durch ausgedehnte Versuche am Krankenbett Resultate gewonnen, 
die nicht nur manchen Erfahrungen der Praxis die theoretische 
Grundlage verleihen, sondern auch dazu auffordern, viele, alt¬ 

1) Pavy, Die Physiologie der Kohlenhydrate. 1895. 

2) Krawkow, Pflüger’s Arch., Bd. 65, 1896. 

9) v. Noorden, Zeitschr. f. prakt. Aerzte 1896, No. 8. 

•1) Dapper, Zeitschr. f. klin. Med., Bd. 80, II. 3 u. 4. 


eingebürgerte Dogmen über die geeignete Diät bei Trinkeuren 
zu verlassen. 

Mit Bitterwasser liegt nach Dapper's Angabe nur ein einziger 
Versuch vor, den v. Noorden mit Hunyadiwasser bei einer an 
habitueller Obstipation leidenden Patientin ausgeführt hat. Ich 
lasse den betreffenden Passus im Wortlaut hier folgen: 

„Es handelte sieh um eine 50jäbrige Frau mit hochgradiger habi¬ 
tueller Obstipation. Vom 15.—17. April 1890 erhielt sie eine Nahrung, 
welche aus Weissbrod, geschabtem Fleisch, Milch, Butter und Salz zu¬ 
sammengesetzt war. Auf den Tag entfielen 77 gr Fett (genaue Nahrungs¬ 
analysen!). Ausserdem trank sie Morgens nüchtern je 350 ccm Hunyadi¬ 
wasser. Sie schied bei ungestörtem Allgemeinbefinden und bei leicht 
erfolgendem, aber noch gebundenem Stuhlgang pro Tag 2,98 gr Fett im 
Koth aus, entsprechend 3,87 pCt. der Aufnahme. Die Fettresorption 
war also vorzüglich. — Dieser Versuch ist von besonderer Wich¬ 
tigkeit, weil er bei einer Krankheit an gestellt wurde, 
welche sehr oft zum Gebrauch salinischer Abführmittel 
Veranlassung giebt.“ 

Neue Versuche mit Bitterwasser sind also sicherlich wlin- 
schenswerth; bis in die neueste Zeit waren jedoch derartige 
Untersuchungen unausführbar wegen der inconstanten Zusammen¬ 
setzung der in den Handel gelangenden Bitterwässer. 

In dieser Hinsicht scheint das Apentawasser günstige Ver¬ 
hältnisse darzubieten. Ich citire hier Liebreich, 1 ) der sich 
folgendermaassen auslässt: 

„Es ist schon verschiedentlich darauf bingevviesen worden, auch bei 
Gelegenheit der Mineralwässer, dass die erste Bedingung für eine zweck¬ 
mässige Therapie die Constanz des angewandten Mittels ist. Bei den 
natürlichen Mineralwässern trifft diese Forderung in hohem Maasae zu. 
Eine einzige Ausnahme von dieser Constanz unserer natürlichen Mineral¬ 
quellen bieten die Bitterwässer dar. — So ist es denn sehr freudig zu 
begrüssen, dass ein Bitterwasser „Apenta“ aus den Uj Hunyadi-Quellen 
bei Ofen einer staatlichen Controle unterworfen wird. Die Kgl. Un¬ 
garische chemische Reichsanstalt (Ministerium des Ackerbau ;s) hat diese 
Fürsorge übernommen, und so ist man in der Lage, ein Wasser zu er¬ 
halten, das von schädlichen Wildwassern, welche durch organische Sub¬ 
stanzen inficirt sind, frei ist. Bei der durch die staatliche Garantie 
gegebenen Constanz des Apentawassers wird sich das verloren gegangene 
Vertrauen für Bitterwässer diesem wichtigen therapeutischen Hülfsmittel 
wiederum zuwenden.“ 

Die constante Zusammensetzung des Apenta-Bitterwassers 
ist nach der Analyse von Prof. Lieb er mann, dem Director 


der Kgl. Ungar, chemischen Reichsanstalt, die untenstehende: 

In einem Liter wurden gefunden: 

Schwefelsaures Natrium . . . 15,4320 gr 
Schwefelsaures Magnesium . . 24,4908 „ 
Schwefelsaures Calcium . . . 1,0989 „ 

Chlornatrium. 1,8720 „ 

Doppeltkohlensaures Calcium . 0,8843 „ 

Doppeltkohlensaures Eisenoxydul 0,0189 „ 
Kieselsäure.0,0100 „ 


Spuren von Lithium und Kalium. 

Unser Versuch wurde an einer hochgradig fettsüchtigen 
Patientin ausgeführt und bietet so zugleich einen kleinen Bei¬ 
trag zur Kenntniss der Resorption der Nahrungsmittel und ihrer 
Verwerthung bei Fettsüchtigen, von Fragen, Uber die — wie 
aus v. Noorden und Dapper's Arbeiten hervorgeht — noch 
keineswegs eine ihrer Wichtigket entsprechende Zahl exacter 
Untersuchungen vorliegt. 

Zunächst werde ich einen kurzen Auszug aus der Kranken¬ 
geschichte geben: 

8 , Arbeiterfrau, 60 Jahre alt. 

Anamnese (24. X. 96). 8 Partus, davon starben 6 Kinder in den 
ersten Lebensjahren. — Vor 7 Jahren zum letzten Mal Menses, von da 
an Zunahme des Gewichtes und starke Behinderung des Gehens. — 
Seit 16 Tagen ziehende Schmerzen am ganzen Körper. 

Status. Kräftig gebaute Pat. mit überall sehr stark entwickeltem 
Fettpolster, namentlich am Abdomen und den Mammae. — Gesicht dick, 
von gesunder Farbe, wenig gedunsen. — Keine Oedeme. — An den 
Lungen nichts Besonderes.— Spitzenstoss nicht fühlbar. — Herzgrenzen: 
linker Stemalrand, Mammillarlinie, IV. Rippe. — Action regelmässig. 
Töne rein, 2. Aortenton etwas accentuirt. — Puls regelmässig, 90. — 

1) Liebreich, Therapeut. Monatsh., Juni 1896. 


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22. März 1897. BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Radialis weich. — Zunge belegt, Zähne defect, Umfang des Abdomens 
in Nabelhöhe 130 cm. — Milz nicht vergrössert, Leber schneidet mit 
dem Rippenrande ab. — Urin ohne Albumen und Saccharum. 

Unsere Patientin war während der Zeit, in der wir ihren 
Stoffwechsel studirten, ohne besondere Beschwerden und lag fast 
den ganzen Tag zu Bett. 

Der Versuch zerfiel in drei Perioden, eine 4 tägige Vor- 
und Nachperiode und eine 7 tägige Hauptperiode, während der 
die Patientin des Morgens nüchtern ein Weinglas (125 ccm) 
Apentawasser trank. In der Vor- und Nachperiode erfolgte 
täglich eine Stuhlentleerung, während der Hauptperiode zwei¬ 
mal Stuhlgang. Der Appetit war im Anfang nur massig, wurde 
während des Versuchs besser; die Kranke behauptete, dass der 
Brunnen ihr den Appetit anrege. 

Die Nahrung bestand während der Hauptperiode') und 
Nachperiode — in der Vorperiode waren die Quantitäten etwas 
andere — aus folgenden Bestandteilen’): 



N 

Fett 

Kohle¬ 

hydrate 

160 gr Rindfleisch . . . 

5.4 

1,4 


120 gr Schinken .... 

4,8 

43.2 

— 

HO gr Butter. 

0,16 

72,0 

— 

50 gr Reis. 

0,66 


44,6 

100 gr Brod. 

1,28 

1,0 

60,0 

2 Schrippen (MOgr). . . 

1,8 


88,0 

100 gr Zucker . . . - . 


— 

100,0 

3 Eier (125 gr) .... 

2,7 

13,2 

— 

1000 gr Milehcaffee . . . 

0,84 

12,0 

18,0 

1—2 Flaschen Selterwasser 


— 

— 

17,64 

14,28 

310,6 


Der Calorienwertli dieser Nahrung beträgt: 

Eiweiss . . 452,025 Calorien 

Fett . . . 1328,04 
Kohlehydrate 1273,46 „ 

3053,525 Calorien 

oder 29,79 Calorien pro Tag und Kilo Körpergewicht. 

Die Gewichtsverhältnisse der Patientin gestalteten sich wäh¬ 
rend des Versuches wie folgt: 

Am Beginn der Vorperiode . . 102,5 Kilo 

» n „ llauptperiode . 99,5 „ 

„ „ * Nachperiode . . 98,0 „ 

, Schluss „ „ . . 98,0 „ 

Ueber die Stickstoflbilanz, die Resorption der Ei weisskörper 
und des Fettes geben die folgenden 3 Tabellen Auskunft: 


I. Stickstoffbilanz. 



Durch9chnittl.j 
Einnahme | 
pro Tag 

Durchschnittliehe Tages¬ 
ausscheidung im 

Harn Koth j Gesammt 

Bilanz 

Vorperiode (4 Tage) 

14,711 gr 

13,46 

1,04 

14,50 

+ 0,20 

Hauptperiode (7 Tage) 

17,30 „ 

11,50 

2,05 

13,64 

+ 3,26 

Naehperiode (4 Tage) 

17,64 „ 

10,88 

1,00 

11,88 

+ 5,76 


1) Die im Durchschnitt wirklich in den einzelnen Perioden eon- 
sumirten N- und Fettwerthe sind aus den nächsten Tabellen zu er¬ 
sehen. 

2) Nach den zahlreichen Chariteanalysen, die mit den eigenen 
Analysen völlig übereinstimmen. 


II. Stickstoffverlust im Koth. 



In Gramm 
pro Tag 

In Procenten 
der Nahrung 
pro Tag 

Vorperiode .... 

1,0-4 

7,0 •/. 

Hauptperiode . . . 

2,05 

11,8 % 

Nachperiode . . . 

1,00 

5,7 •/• 


III. Fettverlnst im Koth. 



Durch¬ 
schnittliche 
Einnahme 
pro Tag 

Duichschnittlicher Verlust 

in Gramm l“ 

pro Tag äer Na i| r ""e 
y ^ i pro Tag 

Vorperiode. 

114,8 

4,83 

4,2 °' 0 

Hauptperiode. 

138,3 

8,75 

6.3 % 

Naehperiode. 

141,4 

8,42 

2,4 V. 


Die Resorption der stickstoffhaltigen Körper war eine aus¬ 
reichende und die Verminderung während der Hauptperiode An¬ 
gesichts der abführenden Eigenschaft des Apentawassers eine 
unerhebliche. 

Die Verwerthong des mit der Nahrung zugeführten Fettes 
war etwa so, wie wir sie bei einem Gesunden hätten erwarten 
können. Die Verminderung während der Brunnenperiode muss 
als geringfügig bezeichnet werden. 

Wie hiernach — unter Berücksichtigung der consumirten 
Nahrung und ihres Calorienwerthes — zu erwarten, war die 
Stoffzufuhr eine durchaus hinreichende. Das geht auch aus dem 
positiven Ausfall der Stickstoffbilanz hervor. 

Es ist somit in unserem Falle gelungen, eine Fettein- 
schntelzung des Körpers ohne Schädigung des Eiweissbestandes 
zu erzielen. Fügen wir noch hinzu, dass das Befinden der Pa¬ 
tientin in keiner Weise litt, so kann der Verlauf der Cur als 
ein zufriedenstellender bezeichnet werden. 


IV. Ueber Fehlerquellen der Serodiagnostik. 

Voll 

Dr. Richard Stern, Privatdocent in Breslau. 

(Schluss.) 

Vcrmuthlich verhielt es sich ähnlich in dem Falle von Jez 
(1. c.), durch den dieser die diagnostische Bedeutung der ganzen 
Methode erschüttert zu haben glaubt. Auf Grund des makro¬ 
skopischen und mikroskopischen Ergebnisses der nach Widal’s 
Vorschriften angestellten Proben wurde Typhus diagnosticirt, die 
Section ergab tuberculöse Meningitis. Da stärkere Verdünnungen 
des Serums von Jez — soviel aus seiner Mittheilung zu er¬ 
sehen — nicht angewandt wurden, lässt sich hier nicht mit 
derselben Sicherheit, wie in dem oben citirten Falle du MesniUs, 
die hier besprochene Fehlerquelle als Ursache des diagnostischen 
Misserfolges bezeichnen. Aber diese Möglichkeit liegt — 
zumal beim Vergleich mit dem eben von mir berichteten Falle — 
nahe genug, und jedenfalls kann der Fall von Jez nicht 
als Beweis gegen die Verwendbarkeit der Serodia¬ 
gnostik überhaupt gelten; er zeigt lediglich, dass die stricte 
Befolgung der ursprünglichen Widal’sehen Vorschriften mit¬ 
unter zu Fehldiagnosen führen kann. Das Gleiche gilt, wie 

3 


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‘250 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 12. 


Widal selbst vermuthet, fUr eine von Achard und Bensaude') 
mitgetlieilte Beobachtung. 

Etwas anders verhält es sich in einem jungst von Ferrand 1 ) 
veröffentlichten Falle. 

Es handelte sich um einen 20j;'ihrigen Patienten, der ein typhus¬ 
ähnliches Krankheitsbild darbot, ausserdem eine Schwellung der Achsel¬ 
drüsen in Folge einer Verletzung des linken Zeigefingers. Die Sero¬ 
diagnostik ergab anfangs ein negatives, später ein positives Resultat. 
Bei der Seetion fanden sich Zeichen schwerer Sepsis („septic^mie grave“). 
Aus der Milz wurden Streptokokken in Reincultur gezüchtet. 

Wenn die Art und Weise, wie die Serodiagnostik angestellt 
wurde, einwandsfrei war — was Widal*) bezweifelt — so ist 
der Fall dadurch bemerkenswerth, dass das Erscheinen der 
agglutinirenden Wirkung während der Krankheit beobachtet 
wurde. Ob diese Wirkung quantitativ Uber die auch bei nicht- 
typhösem Serum beobachtete hinausging, ist nicht festgestellt. 
Doch ist der Fall Ferrand’s auch sonst nicht genügend bacte- 
riologisch untersucht. Wie vorsichtig man nach dieser Richtung 
sein muss, zeigt eine interessante Beobachtung von F. Pick 
(1. c.), die ich als Gegenstück zu der Ferrand’schen hier 
anfUhre: 

Bei einer 23jährigen Frau, die 16 Tage vor der Aufnahme erkrankt 
war, constatirte man remittirendes Fieber, diffuse Bronchitis; kein Milz¬ 
tumor, keine deutliche Reseola, Stuhl angehalten. „Widal’sche Probe 
stark positiv.“ Nach 8 Tagen Tod. „Die Seetion ergab nun zunächst 
nicht den makroskopischen Befund von Typhus abdominalis, indem sich 
keinerlei typhöse Darmaffection und keine Milzschwellung 
vorfand.“ Die bacteriologische Bearbeitung des Falles aber — deren 
genauere Mittheilung von anderer Seite in Aussicht gestellt wird — 
„erwies denselben doch zweifellos alsTyphus abdominalis.“ 
Auch das Elsner’sche Verfahren, das aber erst nach der Seetion (!) zu 
einem Ergebniss führte, ergab nachträglich das Vorhandensein von Typhus- 
bacillcn im Stuhlgang. Dagegen ergab die Züchtung aus dem 
Milzsaft ein negatives Resultat. 

Vergleicht man diesen Fall mit dem vorhin angeführten 
Ferrand’s, so erscheint die Beweiskraft des letzteren doch 
recht zweifelhaft. Es könnte sich um eine Mischinfection mit 
Streptokokken und Typhusbacillen gehandelt haben. 

Ein einwandsfrei beobachteter Fall, in dem die Serodia¬ 
gnostik, unter Berücksichtigung der hier besprochenen 
Fehlerquelle angestellt, ein positives Resultat ergeben hätte, 
während später mit Sicherheit Typhus auszuschliessen gewesen 
wäre, ist meines Wissens bisher — trotz der bereits recht zahl¬ 
reichen Untersuchungen — nicht bekannt gegeben worden. 

Gegenüber den oben berichteten Erfahrungen mit nicht¬ 
typhösem Blutserum ergaben sich bei dem Serum von fast 4 ) 
allen bisher untersuchten Typhuskranken und Typhusreconvales- 
centen grössere, zum Theil ausserordentlich viel höhere Werthe 
der Agglutinationsfähigkeit (A,). Während Widal 5 6 ) ange¬ 
geben hatte, dass dieselbe bei Typhuskranken im Allgemeinen 
zwischen 1 : 00 und 1 : SO schwanke, aber ziemlich selten über 
1:100 hinausgehe, konnte ich schon in meiner früheren Mit¬ 
theilung berichten, dass das Serum von 7 Typhuskranken min¬ 
destens noch im Verhältniss von 1 : 100, zum Theil sogar noch 
in der Verdünnung 1 :1000 und 1 : 2000 wirksam war. Dies 
gilt nicht nur für meine Culturen, sondern auch für diejenigen 
Widal’s.“) Die Zahl der von mir quantitativ untersuchten 
Typhuskranken und -Reconvalesccnten ist inzwischen — dank 
dem freundlichen Entgegenkommen des Herrn Prof. Buchwald 
und des Herrn Collegen Croce — auf 11) gestiegen. 

1) Semaine medicale 1896, No. 60 und 62. 

2) Semaine niedicale 1897, No. 4. 

3) ibidem. 

1) l'eber zwei Ausnahmen wird unten berichtet werden. 

r») Presse medicale. 10. octobre 1896. 

6) Hiervon hat sich inzwischen auch Widal überzeugt, wie ich 
aus einer nach Abschluss obiger Arbeit erschienenen Mittheilung (Semaine 
medicale, 1897, No. 9) ersehe. Er beobachtete in einem Falle sogar 
noch in der Verdünnung 1 : 12000 eine Wirkung. 


Ich begnüge mich hier der Kürze halber, die bei der 
jeweiligen ersten Untersuchung gewonnenen Werthe von A, mit- 
zutheilen: 


Ai 

Zahl der 

untersuchten Fälle 

I. 1 
Woche 
(Ende) 

II. 

Woche 

III. 

j Woche 

IV. 

| Woche 

V. 

Woche 

VI. 

j Woche 

50-100 

_ 

1 

1 

_ l 

1 

2 

100 - 500 

— 

4 

1 

— ! 

1 

— 

500—1000 

1 

1 

— 

i 

— 

— 

1000—5000 

— 

— 

— 

— 

— 

1 

Sa. 

1 

6 

o 

i 

1 2 

3 


Dazu kommen vier weitere Fälle, die erst nach völligem 
Ablauf der Krankheit, zwischen Ende des zweiten und Anfang 
des dritten Monats untersucht wurden. In einem dieser Fälle 
war A 2 ca. 500, in einem zweiten ca. 1000, in den beiden 
anderen zwischen 1000 und 5000. Auch in den in obiger Ta¬ 
belle mitgetheilten Fällen ergaben sich bei späteren Unter¬ 
suchungen z. Th. erheblich höhere Werthe, als bei der ersten. 
Eine nähere Mittheilung dieser Untersuchungen würde hier zu 
weit führen und soll deshalb bei anderer Gelegenheit erfolgen. 

Nur auf zwei Ergebnisse von allgemeinerem Interesse möchte 
ich kurz cingehen. In einem sehr schwer verlaufenen Falle, in 
dem das Fieber bis in die achte Woche dauerte, war A, am 
Anfang der 9. Woche >1000, aber <[5000. Einige Tage 
später begann ein Recidiv; nach Ablauf desselben betrug A, 
ca. 5000. Der Umstand, dass trotz des hohen Agglu¬ 
tinationsvermögens des Blutserums ein Recidiv ein¬ 
trat, spricht gegen die Annahme, dass die erworbene 
Immunität gegen Abdominaltyphus zu der agglutini¬ 
renden Wirkung des Blutserums in Beziehung stehe. 
Eine ähnliche Beobachtung hat bereits Thiercelin 1 ) gemacht, 
allerdings ohne quantitative Bestimmung der Agglutinationsfähig¬ 
keit und daher ohne sichere Beweiskraft; er verwerthet sie zu 
Gunsten der von Widal ausgesprochenen Anschauung, dass es 
sich bei dem Auftreten der agglutinirenden Wirkung — richtiger 
gesagt, bei ihrer specitischen Steigerung — nicht um eine 
„reaction d’immunisation“, sondern um eine „reaction d’infec- 
tion“ handle. 

Constante Beziehungen zwischen der Stärke der Ag¬ 
glutinationsfähigkeit und der Schwere der Krankheit, 
wie sie C'atrin 2 3 ) vermuthet und zu einer Seroprognostik ver¬ 
wenden möchte, existiren nach meinen Untersuchungen nicht. 
In einzelnen Fällen lässt sich zwar derartiges constatiren. 
Von zw'ei Schwestern kam die eine mit schwerem Abdominal¬ 
typhus in das Hospital; hier betrug A, in der Mitte der zweiten 
Woche ca. 250; die andere Schwester hatte einige Tage vor 
der Aufnahme etwas Diarrhoe gehabt und sich matt gefühlt; sie 
wurde fieberfrei, mit leichter Milzvergrösserung aufgenommen; 
A 2 betrug hier, ebenfalls in der zweiten Woche, nur zwischen 
50 und 100. Demgegenüber war aber in dem einzigen tödtlich 
verlaufenen Falle, den ich bisher nach dieser Richtung unter¬ 
suchen konnte, A, im Leichenblute nur ca. 50, und andererseits 
zeigten einige zum Theil gar nicht schv/er verlaufene Fälle noch 
nach Monaten Werthe von A, über 1000. Offenbar kommen 
hier individuelle Unterschiede in der Reactionsfähigkeit ver¬ 
schiedener Menschen in Betracht. 

1) Semaine midicale 1896, No. 62. 

2) ibid. No. 52. 


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22. März 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


251 


Nach den oben angeführten Untersuchungen Uber die Wir¬ 
kungen nicht-typhösen Serums muss die Verdünnung des 

Serums für diagnostische Zwecke erheblich stärker genommen 
genommen werden, als Widal ursprünglich empfahl. (Vor 

Kurzem hat übrigens Widal selbst gelegentlich einer Discussion 
mit Achard 1 ) zugegeben, dass es für manche Fälle zweck¬ 
mässig sein könne, das Serum stärker zu verdünnen.) Für 

meine Culturen wende ich jetzt von vornherein eine 
40—50 fache Verdünnung an. Würde in einem Falle A, 
zwischen 30 und 40 liegen, so würde ich ein derartiges Resultat 
als zweifelhaft ansehen. Mag damit eine gewisse Einbusse der 
Methode an Empfindlichkeit verbunden sein, so ist doch ihre 
Zuverlässigkeit wichtiger. Uebrigens habe ich bisher in allen 
Fällen von Typhus, in denen das Ergebniss mit der ursprüng¬ 
lich von Widal angegebenen Verdünnung positiv war, A, ^>50 
gefunden. 

Die hier angegebene Verdünnungsgrenze ist natürlich inso¬ 
fern eine vorläufige, als weitere Erfahrungen mit nicht-typhösem 
Serum dazu nüthigen können, dieselbe noch weiter hinauf zu 
schieben. 

Ist einmal für eine zur Serodiagnostik zu verwendende 
Typhuscultur die nothwendige Verdünnungsgrenze ermittelt, — 
was sich in Zukunft durch Vergleich mit einer schon geprüften 
Cultur vereinfachen lässt — so bleibt im Uebrigen das Ver¬ 
fahren genau so einfach und schnell zu erledigen, wie früher. 
Oft tritt auch bei 50facher Verdünnung wirksamen Typhns- 
serums die mikroskopische Häufchenbildung innerhalb der ersten 
Minuten, meist innerhalb der ersten Stunde ein, so dass es nur 
bei sehr wenig wirksamem Serum nötbig ist, die oben für quan¬ 
titative Untersuchungen fixirte Zeit von 2 Stunden abzuwarten. 

Die eben besprochene Fehlerquelle muss in entsprechender 
Weise auch bei folgenden Modificationen der Methode berück¬ 
sichtigt werden. 

1. Die einfachste und schnellste Art, die Serodiagnostik am 
Krankenbett auszuführen, ist offenbar die: zu einer abgemessenen 
Menge Typhuscultur eine entsprechende Menge Blut direkt 
hinzuzufUgen. Benutzt man z. B. die dem Gowers’sche Apparate 
beigegebene Capillarpipette, so reicht ccm Blut aus. Die 
rothen Blutkörperchen stören bei stärkeren Verdünnungen des 
Blutes nicht, sic senken sich überdies bald nach unten oder 
können durch Centrifugiren entfernt werden. Da jedoch das 
Verhältnis zwischen dem Volumen der rothen Blutkörperchen 
und dem des Plasmas bei verschiedenen Individuen, insbesondere 
unter pathologischen Zuständen erheblich schwankt, da überdies 
bei der Entnahme aus der Fingerbeere das Blut leicht durch 
stärkeren Druck mit aus den Gewebsmaschen ausgepresstem 
Serum verdünnt werden kann, so ist bei diesem Verfahren eine 
genaue quantitative Bestimmung der Serumwirkung und daher 
auch eine genaue Fixirung der notliwendigen Verdünnungsgrenze 
nicht möglich. 

Für die Praxis ist das Verfahren trotzdem zur schnellen 
Orientirung anwendbar, wenn man bei Herstellung der Verdün¬ 
nung den höchsten, überhaupt vorkommenden Gehalt des Blutes 
an Plasma zu Grunde legt. Nach der Zusammenstellung von 
v. Limbeck’) kann das Volumen der rothen Blutkörperchen 
unter pathologischen Verhältnissen zwischen ca. 20 pCt. und ca. 
00 pCt. schwanken. Legen wir daher erstere Zahl der Berech¬ 
nung zu Grunde, so würde einer 40fachen Verdünnung des 
Plasmas eine 32 fache Verdünnung des Blutes entsprechen. Ilier- 


1) ibid. No. G2. 

2) Grundriss einer klinischen Pathologie des Blutes. II. Aufl. 180(». 

8. 185 f. 


bei nehmen wir an, dass die agglutinirende Wirkung des Plasmas 
gleich der des Serums zu setzen ist, was jedenfalls annähernd 
richtig ist. Die Empfindlichkeit dieses Verfahrens ist natur- 
gemäss etwas geringer, als bei der Verwendung von Serum, 
weil das untersuchte Blut meist erheblich ärmer an Plasma, die 
thatsächliche Verdünnung des letzteren also meist wesentlich 
stärker sein wird, als angenommen. 

2. Für die Anwendung der Serodiagnostik in der Praxis ist 
die Beobachtung Widal's von Wichtigkeit, dass die aggluti¬ 
nirende Wirkung beim Eintrocknen erhalten bleibt. Ob dies 
auch in quantitativer Hinsicht gilt, muss noch weiter unter¬ 
sucht werden; grosse Verluste scheinen nach den bisher von 
Herrn 0. Förster vorgenomraenen Bestimmungen nicht zu be¬ 
fürchten zu sein. Es wird dann also genügen, wenn der Arzt 
am Krankenbett eine kleine, aber abgemessene Menge Blut 
(z. B. mit der oben erwähnten Capillarpipette) entnimmt und an 
Glas oder Papier eintrockneu lässt. Das eingetrocknete Blut 
kann dann in das Laboratorium geschickt und in einer abge¬ 
messenen Menge Flüssigkeit (bei unsern Culturen dem ca. 30fachen 
des entnommenen Blutes) — und zwar am besten zuerst in einer 
kleinen Menge 0,Cproc. Kochsalzlösung, zu der dann die Typhus¬ 
aufschwemmung hinzugefügt wird — aufgelöst werden. Nimmt 
man auf quantitative Verhältnisse keine genügende Rücksicht, 
wie z. B. Johns ton 1 ), der die Trockenmethode bald in mög¬ 
lichst grossem Umfange praktisch zu verwenden suchte, so 
werden Misserfolge nicht zu vermeiden sein. 


Viel kürzer kann ich zwei andere Fehlerquellen der Sero¬ 
diagnostik besprechen. Die eine ist dadurch gegeben, dass ihr 
Resultat zuweilen selbst einige Wochen nach dem Beginn der 
Krankheit negativ ansfallen kann, obgleich der weitere Verlauf 
beweist, dass es sich um Abdominaltyphus gehandelt hat. 
Ausser dem in meiner früheren Mittheilung erwähnten Falle 
(negatives Ergebniss am Ende der zweiten Krankheitswoche, 
positives bei einer zwei Tage später wiederholter Untersuchung) 
habe ich noch eine analoge Erfahrung an einem klinisch 
zweifellosen Falle (Hospitalinfection, Untersuchung Mitte der 
dritten Woche) gemacht 2 ). Hier war eine spätere Untersuchung 
nicht mehr möglich. Nachträglich ersah ich aus einer ausführ¬ 
lichen Arbeit Widal’s 3 ), dass auch er in einem Falle am 
10. Krankheitstage ein negatives, am 22. ein positives Resultat 
erhalten hat. (Dazwischen wurde nicht untersucht.) Ferner 
sahen Breuer (1. c.) in einem „nicht genügend aufgeklärten“ 
Falle, — der aber doch mit grosser Wahrscheinlichkeit als 
Abdominaltyphus aufzufassen ist — und Thoinot 4 ) in einem 
sehr leicht verlaufenen Falle einen positiven Ausfall erst beim 
Recidiv eintreten. Nach solchen Befunden wird man mit 
der Möglichkeit rechnen müssen, dass in vereinzelten Fällen das 
positive Ergebniss überhaupt ausbleiben kann, und jedenfalls 
muss man Widal darin beistimmen, dass negative Resultate, 
besonders in den ersten Wochen der Krankheit, nur mit einer 
gewissen Wahrscheinlichkeit, aber durchaus nicht mit Sicherheit 
gegen die Diagnose Abdominaltyphus sprechen. Der Grad dieser 
Wahrscheinlichkeit wird sich erst übersehen lassen, wenn eine 
sehr grosse Zahl von Fällen mit einwandsfreier Methodik 
untersucht sein wird. Wie wichtig bei negativem Ergebniss und 
klinisch zweifelhaftem Verlauf die öftere Wiederholung der 
Untersuchung werden kann, lehren die zuletzt angeführten Fälle. 


1) Referirt Semaine medicale 1806, No. 54. 

2) Zwei ähnliche Beobachtungen hat soeben Kollc (Deutsche meil. 
Wochenschrift 1897 No. 9) veröffentlicht. 

3) Presse medicale, 8. Aoftt 96. 

4) Semaine medicale, 1896, No. 63. 

3* 


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No. 12. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


252 

Der wiederholte negative Ausfall der Serodiagnostik bis in 
die vierte Krankheitswoche hinein kommt immerhin in klinisch 
zweifelhaften Fällen als diagnostisch verwerthbares Moment in 
Betracht. 

Eine dritte Fehlerquelle, auf die bereits Lichtheim und 
C. Frankel hingewiesen haben, beruht darauf, dass der positive 
Ausfall der Serodiagnostik nach Ablauf der Krankheit noch 
Monate lang, zuweilen vielleicht sogar einige Jahre hindurch 
nachweisbar bleiben kann. So erwünscht dieser Umstand mit¬ 
unter für die nachträgliche Diagnose einer unklaren Erkrankung 
ist, so kann er andererseits zu Fehldiagnosen führen. Ob dies 
bereits vorgekommen ist, vermag ich nicht zu sagen. Jedenfalls 
liegt aber eine derartige Möglichkeit nahe genug, zumal da auch 
ganz leichte, als Typhen gar nicht erkannte Infectionen noch 
nach Monaten ein positives Resultat geben können. In einem 
derartigen kürzlich von mir untersuchten Falle, bei dem, als er 
nach 3 Wochen ambulanter Behandlung in die Klinik aufge- 
nomraen wurde, nur eine fieberhafte Bronchitis constatirt werden 
konnte, betrug A 2 noch im dritten Monat nach Beginn der 
Krankheit zwischen 1000 und 2000, sank allerdings bereits im 
folgenden Monat auf 200 bis 250. 

Selbst ohne dass überhaupt Krankheitserschei¬ 
nungen bemerkbar geworden sind, kann die specifische 
Blutveränderung eintreten. Offenbar giebt es, wie bereits 
C. Fränkel (1. c.) verrauthete, typhusimmune Individuen, die 
— ähnlich, wie wir dies bei Cholera und Diphtherie kennen 
gelernt haben — inficirt werden können und daher eine speci¬ 
fische Blutveränderung davontragen, ohne jedoch zu erkranken. 

In meinem Falle handelte es sich um einen 7jährigen Knaben, dessen 
Angehörige, die Eltern und 5 Geschwister im Alter von 2—IG Jahren, 
sämmtlich mit Typhus inficirt waren. Die ganze Familie lebt in einem 
Zimmer, in dem sich als Schlafstätten ein Bett und eine Wiege befinden, 
unter den denkbar ungünstigsten hygienischen Verhältnissen. Im Laufe 
einiger Wochen erkrankten die Eltern und 3 Geschwister, zum Theil 
Bohr schwer, an Typhus und wurden theils im Allerheiligen-Hospital, 
theils in der medicinischen Klinik verpflegt. Bei einigen Familienmit¬ 
gliedern verlief der Typhus unter schweren meningitischen Erschei¬ 
nungen, so dass z. B. bei dem einen der ins Allerheiligen-Hospital auf¬ 
genommenen Kinder das positive Ergebniss der Serodiagnostik von 
Ansschlag gebender Bedeutung für die klinische Diagnose war. Von 
den 3 zu Haus verbliebenen Kindern hatte eines starke Durchfälle und 
soll vorübergehend erheblich krank gewesen sein; das zweite war einige 
Tage unwohl und hatte damals dünnen Stuhl. Bei beiden handelte es 
sich zweifellos um Typhnsinfection, da noch nach mehreren Wochen A, 
ca. 500, bezw. zwischen 500 und 1000 war. Von dem oben er¬ 
wähnten 7 jährigen Knaben behaupten dagegen der Vater und die während 
seines Aufenthaltes im Krankenliause zu Hause verbliebenen älteren Ge¬ 
schwister, dass er niemals während der ganzen Zeit krank gewesen sei. 
Bei der Untersuchung ergab sich A 2 = ca. 50. Natürlich ist die Mög¬ 
lichkeit nicht auszuschliessen, dass auch bei diesem Knaben leichteste 
Krankheitserscheinungen vorübergehend dagewesen sein können. 

Soviel ist jedenfalls aus derartigen Erfahrungen zu ersehen, 
dass negative anamnestische Angaben mit Vorsicht aufzufassen sind, 
sofern überhaupt Gelegenheit zur Infection vorhanden war. Die 
leichtesten Fälle von Typhus sind in der Praxis ohne bacteriolo- 
gische (bezw. serodiagnostische) Untersuchung aus dem klinischen 
Verlaufe ebenso wenig zu diagnosticiren, als dies bei Cholera oder 
Diphtherie der Fall ist. Wenn in einem Orte, wie beispiels¬ 
weise in Breslau, jahraus, jahrein vereinzelte, ab und zu auch 
zahlreichere Typhuserkrankungen beobachtet werden, bei denen 
zum Theil eine Einschleppung von ausserhalb nicht nachweisbar 
ist, so ist es wahrscheinlich, dass auch leichtere Infectionen 
häufiger Vorkommen, als bisher angenommen wird. Die Sero¬ 
diagnostik wird hierüber grössere Klarheit schaffen; andererseits 
aber müssen offenbar gerade derartige unbemerkt oder doch un¬ 
erkannt verlaufene Typhusinfectionen bei eventuellen späteren 
anderen Erkrankungen eine weit gefährlichere Fehlerquelle 
dieser Untersuchungsmethode abgeben als sichere Typhus¬ 
erkrankungen. 

Glücklicherweise wird die Bedeutung dieser Fehlerquelle 


dadurch verringert, dass die agglutinirende Wirkung in vielen 
Fällen bereits in den ersten Monaten nach dem Ablauf der 
Krankheit rasch an Stärke abnimmt. Hierüber sind noch weitere 
Untersuchungen nothwendig. Widal hat zwar angegeben, dass 
er in einem Falle noch nach 7 Jahren ein positives Ergebniss ge 
sehen habe; doch ist dieses Resultat, da W. von quantitativen 
Bestimmungen nichts erwähnt, nach dem früher Gesagten nicht 
einwandsfrei. Ich selbst habe mehrere Fälle, in denen eine 
sichere Typhusinfection 3 Jahre oder länger zurücklag, mit 
negativem Resultat untersucht. 

Man darf übrigens vermuthen, dass genaue Messungen 
der agglutinirenden Wirkung diese zuletzt besprochene 
Fehlerquelle noch weiter einschränken werden: erheb¬ 
liche quantitative Unterschiede — Zunahme oder Abnahme — 
die sich im Laufe der Krankheit oder der Reconvalescenz er¬ 
geben, werden für eine frische Infection sprechen. 


Von den hier besprochenen drei Fehlerquellen der Serodia¬ 
gnostik beim Abdominaltyphus ist die erste durch richtige An¬ 
wendung des Verfahrens vermeidbar. Dass ein negatives Er¬ 
gebniss nicht mit Sicherheit Typhus aussschliessen lässt, gilt 
auch für diejenigen klinisch-bacteriologischen Untersuchungen, 
die den Nachweis des Infectionserregers bezwecken. Die dritte 
Fehlerquelle endlich kommt ihrer Natur nach nur für einen 
kleinen Theil aller Fälle in Betracht und kann daher den Werth 
der Methode nicht wesentlich schmälern. 


V. Ueber motorische Insufflcienz des Magens. 1 ) 

Von 

Professor Dr. Th. Rosenheim. 

(Schluss.) 

Ich brauche Ihnen nicht, m. H., noch des genaueren klar¬ 
zulegen, welche hohe praktische Bedeutung die Erkenntniss und 
richtige Beurtheilung der hier obwaltenden Verhältnisse hat. 
Meine Fälle beweisen, wie ich glaube, eine nahe ätiologische 
Beziehung zwischen Trauma und Insufflcienz; die letztere kann 
leicht sein, oder auch schwer und mit Erweiterung alsdann com- 
plicirt; sie kommt zu Stande, auch wenn das Trauma nicht 
direkt den Magen trifft, indem durch Shockwirkung ein lähmungs¬ 
artiger Zustand des Magens eintritt, der namentlich bei unzweck¬ 
mässigem Verhalten leicht dauernd werden kann. Findet eine 
unmittelbare Verletzung der Magengegend statt, so sind zwei 
Möglichkeiten gegeben, entweder die motorische Störung entsteht, 
wie soeben erwähnt, auf dem Wege der Reflexwirkung, das 
dürften gemeinhin leicht vorübergehende Schädigungen sein, oder 
aber es entwickelt sich nebenher eine Perigastritis traumatica, 
dann ist die Prognose wesentlich schlechter und dann dürfte 
schliesslich nur eine Operation eine Herstellung der Function 
ermöglichen. Ich habe auch die Absicht, bei meinem Patienten 
R. die Gastroenterostomie ausführen zu lassen. 

Warum die Shockwirkung bei einzelnen Patienten sich ge¬ 
rade in dieser Form auf den Magen äussert, vermag ich nicht 
zu sagen. Zwei von meinen Patienten waren junge, kräftige, 
absolut gesunde Menschen, bei denen keine Spur einer schweren 
Neurose nachweisbar war, die nie am Magen gelitten hatten; 
in meinem dritten Falle handelte es sich allerdings um ein 
schwächliches Individuum, bei dem schon früher Magenstörungen 
aufgetreten waren. — 


1) Vortrag, gehalten in der Ilnfeland’schen Gesellschaft am 19. No¬ 
vember 189G. 


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22. März 1897 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


253 


Endlich, m. II., möchte ich auf den Zusammenhang, der 
zwischen einer epigastrischen Hernie und motorischer In- 
sufficienz bestehen kann, Ihre Aufmerksamkeit lenken. Sie wissen, 
dass in jüngster Zeit, namentlich von chirurgischer Seite, auf 
die Hernien der Linea alba als Ursache sogenannter „unklarer 
Magenleiden“ hingewiesen worden ist. Ich nenne Ihnen hier 
die Arbeiten von Witzei'), Roth 5 ), Lindner 1 2 3 ), Niehues 4 5 ) 
Uber diesen Gegenstand, der dann auch später von Vertretern 
der inneren Medicin (Bohland 3 ), Schütz 6 )) in seiner ganzen 
Bedeutung gewürdigt worden ist. Ich spreche hier nicht von 
den grossen Hernien, die nicht gut zu übersehen sind, sondern 
von den ganz kleinen, die nur bei genauester Abtastung 
erkennbar sind und die sich durch das Vorhandensein einer 
kleineren oder grösseren, prall elastischen, namentlich im Stehen 
oder bei vornübergebeugter Haltung gut fühlbaren Fettgeschwulst 
verrathen. Entweder haben wir es hier mit dem Durchtritt 
eines kleinen präperitonealen Lipoms durch den schmalen Fascien- 
riss zu thun, oder aber in dem kleinen Bauchfelltrichter, der 
den Bruchsack bildet, hat sich Netz eingeklemmt, ist dort fest¬ 
gewachsen und wird nun durch die Spalte hindurchgepresst. 
Nach den vorhandenen subjectiven Beschwerden (Schmerzen beim 
Stehen und Gehen, namentlich auch beim Beugen und Strecken 
des Rumpfes, im Bette meist nachlassend, durch Nahrungsauf¬ 
nahme häufig verschärft, nur im Epigastrium auftretend und hier 
als Brennen, Stechen, Wühlen, seltener als Krampf empfunden, 
oder auch in entferntere Partien ausstrahlend) vermögen wir 
diese beiden Brucharten nicht zu differenciren. 

Es lag nun ausserordentlich nahe, da die Patienten mit 
epigastrischer Hernie vorzugsweise über Magenbeschwerden klagen, 
in diesen Fällen den Magen auf sein functionelles Verhalten zu 
untersuchen. Es ist dies bisher nur von Bohl and geschehen, 
der ganz summarisch und nebenher erwähnt, dass er in 4 Fällen, 
gleich 10 pCt. seiner Beobachtungen, eine Vergrösserung des 
Magens, für die andere Ursachen nicht vorhanden waren, feststellen 
konnte; Störungen der Secretionsthätigkeit des Magens fand er 
häufiger, speciell Superacidität. — Ich selbst habe in diesem 
Jahre 10 Fälle von epigastrischer Hernie, bei denen heftige 
Magenbeschwerden bestanden, genauer auf ihre Magenfunctionen 
untersucht und dreimal mehr oder weniger erhebliche 
motorische Störung constatirt. Der erste Fall betraf ein 
11 jähriges Mädchen, Olga Piepenburg; hier fühlte man in der 
Hernie ein etwa erbsengrosses, schmerzhaftes Knötchen, der Magen 
reichte bis zum Nabel, das nüchterne Organ enthielt Speisereste, 
< ’ongo. — Der zweite Patient war ein 49jähriger Kaufmann mit 
etwa bohnengrosser Hernie und enormer motorischer Störung (freie 
HCl reichlich, starke Hefegährung). Bei dem dritten Patienten 
(51 jähriger Kaufmann aus Templin) endlich bestand neben der 
Hernie ein massiger Grad motorischer Störung und eine echte 
mittelschwere Gastritis. Ich habe nun alle 3 Patienten sympto¬ 
matisch und namentlich mit Ausspülungen behandelt; in den 
beiden ersten Fällen war der Erfolg ein vorzüglicher, sie wurden 
beschwerdefrei und die motorische Insufficienz bildete sich wesent¬ 
lich zurück; im dritten Fall konnte nur eine erhebliche Besse¬ 
rung erzielt werden, für die aber Patient auch schon sehr dank¬ 
bar war, da er sich seit Jahren in einem ganz erbärmlichen 
Zustand befunden hatte. Die Hernien blieben in allen 3 Fällen 
bestehen und waren nach wie vor auf Druck schmerzhaft. 

1) lieber den medianen Bauchbruch. Volkmann’s Sammlung klin. 
Vorträge. N. F., No. 10. 

2) Archiv f. klin. Chirurgie. Bd. 42. 

3) Ueber Bauchdeckenbrüche. Berliner Klinik 1892, Heft 49. 

4) lieber Hernien der Linea alba. Berliner Klinik 1895, Heft 80. 

5) Berliner klin. Wochenschrift 1894, No. 34. 

G) Wiener klin. Wochenschrift 189G, No. 27. 


Es ist nun wohl die Frage aufzuwerfen, ob hier eine ursächliche 
Beziehung zwischen der Hernie und der motorischen Störung des 
Magens anzunehmen ist. Wenn wir uns vorstellen, dass eine der 
allernächsten Nachbarschaft des Magens augehörige Netzpartie 
im Bruche festgehalten wird, so wird dadurch ein Hinderniss 
für die Bewegung des Organs geschaffen und es kann so ganz 
allmählich sich eine motorische Insufficienz ausbilden, die dann 
ganz bestimmte Magensymptorae hervorruft, für die die Hernie 
aber nur indireet verantwortlich zu machen ist. Eine locale 
Behandlung kann hier, wenn auch vielleicht nur vorübergehend, 
die besten Erfolge aufweisen und so lange es möglich ist, solche 
Resultate mit unse;n einfachen Hülfsmitteln zu erzielen, sehe ich 
keine Veranlassung, in derartigen Fällen an die Chirurgen zu 
appelliren. Natürlich ist der so erzielte Erfolg unsicher in Be¬ 
zug auf die Dauer, auch bleibt er gewiss oft genug aus, immer¬ 
hin scheint es mir wichtig, auf die Möglichkeit einer nutz¬ 
bringenden internen Behandlung in manchen dieser Fälle hinzu¬ 
weisen, zumal die Operation doch nicht als absolut ungefährlich zu 
bezeichnen ist, und zumal Recidive (nach Witzei etwa 20 pCt.) 
durchaus nicht selten Vorkommen, wie ich das selbst gesehen 
habe. Auch diagnostisch scheint mir meine Beobachtung von 
einigem Interesse, denn sie lehrt uns ein Moment kennen, durch 
welches wir das präperitoneale Lipom vom eingeklemmten Netz¬ 
stück unter Umständen unterscheiden können. Wo motorische 
Insufficienz die Hernie complicirt, wird man hiernach 
eher geneigt sein, anzunehmen, dass Netz im Bruch¬ 
sack fixirt ist. 

Es besteht nun des Weiteren auch die Möglichkeit, dass die 
motorische Insufficienz als einfache Reflexerscheinung, gleich- 
werthig der öfter beobachteten Superacidität, bei Individuen 
auftritt, die eine Herine haben, die der Sitz unangenehmer, 
nervös machender Gefühle nnd Schmerzen ist: Ein solcher Zu¬ 
sammenhang ist für manche Fälle nicht von der Hand zu weisen. 

Man kann aber vielleicht sagen, es besteht gar keine innere 
Beziehung zwischen der epigastrischen Hernie und der motori¬ 
schen Insufficienz in unseren Fällen; wir wissen, dass die Hernien 
gelegentlich angetroffen werden, ohne je Beschwerden zu machen 
und man könnte behaupten, es handelt sich hier nur um einen 
accidentellen Befund bei Individuen mit motorischer Insufficienz, 
die sich aus irgend einem anderen Grunde entwickelt hat. Allein 
dann muss doch die Häufigkeit dieser Coincidenz, die bisher 
nicht beobachtet worden ist, ungemein auffallen, ganz abgesehen 
davon, dass in unseren Fällen eine andere einwandsfreie Ursache 
für die Insufficienz nicht sicher erwiesen ist. Vielleicht aber denkt 
Jemand daran, dass die epigastrische Hernie infolge des Magen¬ 
leidens zu Stande gekommen ist. Man darf mit Witzei an¬ 
nehmen, dass Erbrechen und auch Abmagerung nicht zu unter¬ 
schätzende ursächliche Momente für die Entstehung der Hernie 
sind. Erbrechen war aber nun in keinem von unseren Fällen 
vorhanden, und Abmagerung war nur bei dem zweiten hervor¬ 
getreten, so dass ich nicht glaube, dass für unsere Kranken eine 
derartige Beziehung construirt werden kann. 

Welcher Ansicht man nun aber auch Uber den von mir 
analysirten Zusammenhang, der ja ohne Autopsie in vivo nicht 
sicher erweisbar ist, sein mag, eins geht aus meinen Beobach¬ 
tungen unbedingt hervor: Man hüte sich, wenn Jemand, 
bei dem wir eine epigastrische Hernie nachweisen 
können, Uber Magenbeschwerden klagt, diese, wie das 
jetzt mit Vorliebe geschieht, kritiklos nur auf den 
Bauchbruch zu beziehen und ohne Weiteres ein chirur¬ 
gisches Verfahren zu empfehlen, ln solchen Fällen ist es 
unter allen Umständen rathsam, zunächst sich Uber die Functio¬ 
nen des anscheinend am meisten betheiligten Organs, des 
Magens, zu informiren, und mit Rücksicht auf den erhobenen 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 12. 


Befund seine Maassnahmen zu treffen. Erst wenn die Hülfs- 
mittel der inneren Medicin erschöpft sind, mag und muss man 
an den Chirurgen appelliren. — 

lieber das Krankheitsbild der mechanischen Insafficienz, 
das je nach dem Grade der Störung und der Art des Grund¬ 
leidens ein sehr wechselndes ist, will ich heute nichts sagen. 
Nur ein Wort Uber die Prognose im Allgemeinen, wie sic sich 
unabhängig von der Qualität des ursächlichen Pro- 
cesses gestaltet: Die Prognose quoad restitutionem ist bei den 
Fällen mit massiger functioneller Störung durchaus nicht regel¬ 
mässig günstiger als bei denen mit schwerer Schädigung der 
Muskelthätigkeit, auch wenn allemal das gleiche ätiologische 
Moment veranlassend gewirkt hat; leichte Störungen können bis¬ 
weilen sehr hartnäckig andauern, wie einem dies namentlich bei 
hochgradig nervösen Personen begegnet. Andererseits ist es oft 
erstaunlich, wie rasch eine wesentliche Besserung und Rück¬ 
bildung bei verhältnissmässig schweren Formen des Leidens 
ist. Man hüte Bich also, wenn das erste Sondirungs- 
ergebniss eine sehr beträchtliche Herabsetzung der 
motorischen Kraft ergiebt, daraus den Schluss zu 
ziehen, dass wir es mit einer schweren, langwierigen 
Form der Erkrankung nothwendig zu thun haben; und 
auch das Vorhandensein von Speiseresten im nüchter¬ 
nen Magen und das Bestehen von Gährungen beweist 
durchaus nicht immer die Schwere des Falles, schon 
nach 8—4 Ausspülungen kann sich das Bild vollständig ändern. 
Ganz besonders wird dieser Punkt zu berücksichtigen sein, wo 
wir uns Uber die operative Behandlung der motorischen Insuffi- 
cienz schlüssig zu machen haben; hier wird man selten nach 
ein- oder zweimaliger Untersuchung, sondern gewöhnlich erst 
nach mehrwöchentlicher genauer Beobachtung und nach energi¬ 
scher längerer Verwendung aller zu Gebote stehenden Heil¬ 
potenzen das Maass der Ruckbildungsfähigkeit der vorliegenden 
Störung und die Nothwendigkeit des operativen Eingriffes 
benrtheilen können. 

Und nun, meine Herren, zum Schluss einige Worte Uber die 
Behandlung der motorischen Insufficienz. Ich kann 
diesen Gegenstand hier natürlich nicht erschöpfen, aber 3 Punkte, 
die mir wichtig erscheinen und die, wie ich glaube, controvers 
sind, möchte ich doch berücksichtigen. Erstens, was die Diät 
betrifft, so wird von einer einseitigen, ausschliesslichen Verord¬ 
nung fester Kost wohl nie die Rede sein dürfen. Von entscheiden¬ 
der Bedeutung ist bei unseren Vorschriften, dass wir darauf 
achten, dass wir dem Flüssigkeitsbedllrfniss des Or¬ 
ganismus, soweit es nicht vom Munde her befriedigt wird, 
durch Zufuhr vom Mastdarm aus genügen. \\—2 Liter 
Wasser ist der mittlere tägliche Bedarf eines massig grossen 
Erwachsenen bei Körperruhe oder sehr geringer Arbeit; dieses 
Quantum können wir einverleiben, indem wir den Patienten alle 
2 Stunden Mengen von etwa 2—300 gr schluckweise in Form 
von Milch, Thee, Suppe u. s. w. nehmen lassen. Werden diese 
Quantitäten bei erheblicher Flüssigkeitsretention im Magen, 
der ja kein Wasser resorbirt, nicht in den Darm befördert, so 
mUBsen wir mit Klystieren nachhelfen. Nebenbei wird meist 
feste Nahrung häufiger am Tage in kleinen Portionen gereicht 
werden können. JUngst hat Boas 1 ) bei Besprechung der uns 
hier beschäftigenden Frage ein Schema fUr die diätetische Be¬ 
handlung aufgestellt, wonach er breiige und flüssige Kost nament¬ 
lich fUr die Fälle schwerer motorischer Insufficienz empfiehlt, 
bei denen die secretorische Function sehr darniederliegt oder 
ganz erloschen ist, während er in anderen Fällen eher geneigt 
ist, die FlUssigkeitszufuhr zu beschränken. Dieser Gesichtspunkt 


1) Thcrap. Monatshefte 1896, No. I, 2. 


ist wohl auch beachtenswerth; ich möchte aber einen anderen bei 
der Auswahl der Diät doch noch mehr berücksichtigt wissen. Ob Je¬ 
mand mit motorischer Insufficienz grössere Quantitäten Flüssigkeit 
gut verträgt, hängt meines Erachtens, abgesehen von der Energie 
der Drüsen thätigkeit, vor allem von seinem Verhalten wäh¬ 
rend und nach der Mahlzeit ab. Dünne Flüssigkeit passirt 
ceteris paribus bei Körperruhe in Rückenlage sehr viel leichter 
durch den Pylorus, als ein consistenteres Gemisch; im Gehen 
und Stehen ist die Entleerung in den Darm zweifellos erschwert, 
weil das durch die Nahrung belastete Organ stärker nach unten 
gezogen wird, und hier müssen wir uns daran erinnern, dass 
ein Teller Suppe etwa 1 Pfund wiegt, ein ziemlich grosses, den 
Appetit befriedigendes Beefsteak aber nur etwa den vierten 
Theil. Bei Patienten also, die sich schonen können, kann man 
es deshalb viel eher wagen, grössere Quantitäten Flüssigkeit zu 
reichen, als bei ambulanten, vielleicht gar noch arbeitenden 
Kranken. 

Der zweite Punkt, den ich hervorheben möchte, betrifft die 
mechanische Behandlung der motorischen Insufficienz. In 
der eben erwähnten Arbeit vertritt Boas die Ansicht, dass die 
Magcnausspülungen nur dort indicirt seien, wo wirklich eine be¬ 
trächtliche Stagnation besteht, wo also auch der nüchterne 
Magen erhebliche Reste aufweist, wo sich stärkere Gährungen 
abspielen. Für leichtere Fälle gilt ihm die Spülung als Hülfs- 
mittel, das suggestiv wirkt. Dieser Ansicht kann ich nicht bei- 
pflichtcn. Ueberall da, wo eine motorische Störung besteht, die 
Digestionsbeschwerden macht, da ist auch gemeinhin die locale 
Behandlung mit der Sonde indicirt; nur muss man sich darüber 
klar sein, was man erreichen will und danach seine Maass¬ 
nahmen treffen. In den schweren Fällen tritt die Beseitigung 
der Speisereste, die Hintanhaltung von Gährung und Zersetzung, 
als wichtigste Aufgabe in den Vordergrund, bei den leichteren 
suchen wir auf diesem Wege vor allem eine tonisirende 
Wirkung auszuüben. Hier wollen wir in erster Reihe, dass 
die Ausspülung mechanisch, chemisch und thermisch einen Reiz 
für den Nerv-Muskelapparat darstelle. Dies erzielen wir nun 
nicht, oder nur unvollkommen, wenn wir in der sonst üblichen 
Weise uns damit begnügen, warmes Wasser ein paar Mal durch 
den Magen durchlaufen zu lassen, bis cs klar wieder abfliesst, 
sondern dadurch, dass wir 1. die Douche, wie ich ') sie bereits 
früher empfohlen habe, 2. niedrig temperirtc Flüssigkeit (22 bis 
25° C.) und 3. medicamentöse Zusätze (Kochsalz, Kohlensäure 
aus einem Syphon, Abkochungen von Cortex chinae, Folia tri- 
folii libr., Lign. Quassiae, Lichen islandicus u. ähnl) verwenden. 
Behält man dieses Ziel bei der Spülung im Auge, geht man in 
dieser Weise vor, so wird man auch bei den leichteren und 
mittelschweren Fällen die Magenausspülung als das wichtigste 
therapeutische Hülfsmittel nächst der Diät erproben. 
Massage und Elektricität leisten direct für den Magen wenig, 
indirect werden sie bisweilen von Nutzen sein durch Kräftigung 
des Nervensystems und Beeinflussung der Darmthätigkeit, da¬ 
gegen sollte die Hydrotherapie in viel höherem Maasse, als 
es bisher geschieht, bei Behandlung der motorischen Insufficienz, 
namentlich der leichteren Formen, verwerthet werden. 

Drittens möchte ich noch ein Wort zur chirurgischen 
Therapie sagen. Sic kommt überall da in Betracht, wo wir 
mit den bisher erwähnten Hülfsmitteln nichts erreichen, wo die 
functionelle Störung sich nicht bessert und der Kranke aus dem 
Zustand der Unterernährung nicht herauskommt. Eine vollkommene 
Beseitigung der motorischen Insufficienz ist wohl fast immer mög¬ 
lich durch die Gastroenterostomie; man versucht dies aber 
auch oft durch ein weniger eingreifendes Verfahren, z. B. durch 


1) Thcrap. Monatshefte. 1892, No. 8. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


255 


22. März 189 7. 

Durchschneidung von Strängen und Lösung von Verwachsungen, die 
die Bewegungsfähigkeit des Magens beeinträchtigen, sein Lumen ver¬ 
engern, zu erzielen. Ich kann vor dieser ätiologischen Be¬ 
handlungsmethode nur dringend warnen, da ich bei 4 in 
dieser Art operirten Fällen nicht weniger als 3 Mal in den letzten 
Jahren eine Rückkehr der ursprünglichen Beschwerden beobachtet 
habe. Will man dann aber nachträglich noch die Gastroenterostomie 
machen lassen, so kann es kommen, dass die Verhältnisse wesent¬ 
lich ungünstiger liegen, als im Anfang und der operative Eingriff 
erschwert ist. So gestalteten sich z. B. die Dinge bei einer Patientin, 
Fräulein Knodd, bei welcher im Jahre 1890 von Herrn Geheim- 
Ratli Dr. Hahn, im Jahre 1892 von Herrn Dr. W. Levy peri- 
gastritische Stränge mit ganz vorübergehendem Nutzen durch¬ 
trennt wurden. Schliesslich wurde in diesem Jahre auf meine 
Veranlassung von Herrn Dr. Hadra die Gastroenterostomie ge¬ 
macht, die ganz ausserordentlich schwer ausführbar war, da zu 
den alten Verwachsungen nun neue von den Laparotomien 
herrührende sich hinzugesellt hatten. Der schliesslich hier er¬ 
zielte Erfolg war demgemäss in Bezug auf die Herstellung der 
motorischen Function kein vollkommener, und die Patientin ist 
nicht ganz beschwerdefrei geworden. 


VI. Kritiken und Referate. 

Paul Reichel: Lehrbuch der Nachbehandlung nach Operationen. 

In Vorlesungen filr Studirende und Aerzte, 485 Seiten mit 44 Ab¬ 
bildungen im Text. Wiesbaden 1897. Verlag von J. F. Berg¬ 
mann. 

Zu den Klagen über die jetzigen Mängel in der klinischen Aus¬ 
bildung der Mediciner, welche die Motive zu der neuen Prüfungsordnung 
beherrschen, stimmt in recht bedeutsamer Weise die Wahrnehmung, wie 
stiefmütterlich auch grade in der deutschen Fachliteratur, welche doch 
wahrhaftig sonst jegliches Lehrbedürfniss in überreichem Maasse be¬ 
friedigt, all das behandelt ist, was nicht eben im Voidergrunde der 
grossen Leitsätze der Behandlungsmethoden, im praktischen, nicht im 
wissenschaftlichen 8inne genommen, steht; die englische und französische 
Literatur verfügt längst über immer neu aufgelegte Specialdarstellungen 
des Behaudlungsdetails. Naturgemäss macht sich diese Lücke, soweit 
sie nicht auf dem Gebiet der Krankenpflege liegt, für die chirurgische 
Thätigkeit im Anschluss an Operationen besonders fühlbar, und man 
muss schon ein Verdienst des Autors darin sehen, dass er die Be¬ 
deutung derselben richtig erkannt und sie zum grossen Theil, jeden¬ 
falls mehr noch, als der technisch gehaltene Titel zu verheissen 
scheint, gedeckt hat. Allerdings ist das Thema der chirurgischen 
Nachbehandlung schon einmal vor ihm von J. Matthon behandelt 
worden, indess, unterscheiden sich beide Werke schon in ihrer ganzen 
Anlage, so wird man dem vorliegenden zuerkennen müssen, dass 
der Stoff nach ursprünglichen Gesichtspunkten und viel mehr nach der 
allgemein chirurgischen, nicht bloss technisch operativen Seite hin an¬ 
gegriffen ist. Der Inhalt theilt sich in einen allgemeinen und einen 
speciellen Abschnitt. Im ersteren sind die Vorschriften für die Wund¬ 
behandlung im Allgemeinen mit Einschluss der Wundinfectionskrank- 
heiten, ferner die Nachbehandlung nach Operationen an den einzelnen 
Körpergeweben zusammengefasst, der specielle Theil befasst sich, in 
topographischer Anordnung den einzelnen Körpergegenden folgend, mit 
all’ den Massnahmen, welche die speciellen Operationen und Operations¬ 
gruppen zur Vollendung der Heilung im Gefolge haben müssen. Nicht 
mechanisch oder schematisch werden die nothwendigen Verrichtungen 
aufgeflihrt, sondern folgerichtig entwickeln sich aus den Eigenheiten des 
Falles, je nach dem Charakter der Erkrankung, den Complieationen, die 
sich aus den topographischen Beziehungen ergeben, den speciellen Zielen 
und Zwecken der Haupt Operation u. s. f., die einzelnen Symptomenbilder 
und danach die Indicationen, welchen der nachbehandelnde Arzt nach¬ 
zugehen hat. So gewinnt er vor allen Dingen ein Verständnis für die 
Aufgaben der Nachbehandlung, als eines in vielen Fällen der Operation 
gleichwertigen Factors der Heilung. Dass der Ref. manchen guten 
Rath vermisst, welcher sich ihm hier und dort bewährt hat, Manches 
auch anders macht, das thut dem Werth des Ganzen keinen Abbruch; 
eher möchten noch einige Allgemeinbemerkungen Berücksichtigung ver¬ 
dienen, so z. B. sähe er gern eine übersichtliche Besprechung der 
mancherlei und wohlcharakterisirten Formen der psychischen Altera¬ 
tionen (Benommenheit, Delirien), deren Auftreten nach Operationen so 
oft überrascht, und deren Differentialdiagnose den Arzt vor eine für sein 
Handeln ausserordentlich verantwortungsvolle Entscheidung stellt, ob er 
einer Inanition oder einer Intoxication, Sepsis, Jodoform, Diabetes etc. 
entgegenznwirken habe, ebenso Angaben über den chemischen Nachweis 
von Intoxicationen u. ähnl. Dinge mehr. 


Das Buch wendet sich an die Studirenden, welche in der Klinik von 
den Leidensgeschichten der Patienten bäuflg kaum mehr als das Moment¬ 
bild der Operation auffangen, die Stationsassistenten, aber auch nicht 
minder an die Gesammtheit der praktischen Aerzte, welchen nicht so 
selten die alleinige Sorge für Operirte anheimfällt, und welche hier den 
besten Rathgeber finden werden. Grade bei der Natur dieses Leser¬ 
kreises wird man es dem Autor Dank wissen, dass er sich nicht ge¬ 
scheut hat, um der Genauigkeit der — übrigens äusserst gewandten — 
Darstellung willen den Umfang des Buches reichlicher zu gestalten; so 
wird auch ein scheinbares Bedenken zu einem Lobestitel für das Buch, 
der Kundige wird aber einen Theil des Dankes auch an den Verleger 
richten! Hermann Frank-Berlin. 


Oeuvres compl&tes da Dr. Edonard Löonard Sperck. Syphilis, 
Prostitution Etudes mcdicales diverses avec une pr^face du 
Dr. Lancereaux traduit du russe par les docteurs Oelsnitz et 
Kervilly. 2 Bände. Paris. Octave Doin. 1896. 20 Fr. 

Dem vor nngefähr drei Jahren verstorbenen russischen Forscher 
Sperck ist in den vorliegenden beiden Bänden ein Denkmal gesetzt, wie 
es sich schöner kein wissenschaftlicher Arbeiter wünschen kann. 8eine 
sämmtlichen zahlreichen Abhandlungen, die sich hauptsächlich mit der 
Lehre von der Syphilis und der Prostitution befassen, sind hier zusam¬ 
mengestellt und in einer vorzüglichen Uebersetzung der wissenschaftlichen 
Welt übergeben. Die beiden Uebersetzer haben sich hierdurch den Dank 
aller auf diesem Gebiete thätigen Beobachter erworben, da es den 
wenigsten wohl vergönnt ist, die Arbeiten eines Sperck in der russi¬ 
schen Sprache lesen zu können. Schon seine ersten Studien, in welchen 
ihm bei seinem Aufenthalt im östlichen Sibirien und Kamtschatka der 
Nachweis gelang, dass die angebliche Lepra dieser Länder nichts weiter 
sei als eine durch die besonderen Verhältnisse daselbst modificirte Form 
der Lues, ähnlich wie wir dies jetzt von der Lepra bei den Kabylen wissen, 
erregte wegen der sorgfältigen und eingehenden Studien Aufsehen. Kein 
Wunder, dass dieser hervorragende Forscher als späterer Leiter des 
grossen Kalinkinsky Hospitals in St. Petersburg Gelegenheit hatte, sein 
umfassendes Organisationstalent besonders in der Prophylaxe der Lucs 
in mehr als gewöhnlicher Weise zu bethätigen. 

Wir müssen es uns natürlich hier versagen, genauer auf den Inhalt 
der zahlreichen einzelnen Artikel einzugehen. Wer sich für diese Fragen 
interessirt, wird reichlich Stoff zur Belehrung und zu neuer Arbeit darin 
finden, das beste Zeugniss, welches man einem Forscher wie Sperck 
ausstellen kann. 

M. Joseph (Berlin). 


E. Winternitz: lieber Fremdkörper in der Scheide and über 
Srheidenpessarien. Verlag von Franz Pietzker-Tübingen. 89 S. 
Ladenpreis 1 Mk. 

Häufig werden Pcssarien von Aerzten eingeführt, welche die Kranken 
nachher nicht wieder entfernen lassen. Dieselben bleiben mitunter Jahre 
lang liegen und verursachen dann als Fremdkörper so schwere Störungen, 
dass sie operativ entfernt werden müssen. Es kommt zu übelriechendem 
Ausfluss, Blasen- and Mastdarmscheidenfisteln, Parametritis posterior, 
Narbenstenose der Scheide, Druckgangrän etc. Ferner gelangen Fremd¬ 
körper in die Vagina zu Abtreibungszwecken, zur Verhütung der Con- 
ception, in Folge von Sturz, durch Gewalt etc. Alle möglichen Gegen¬ 
stände werden benutzt, u. a. Rüben, Trinkgläser, Kaffeetasse, Pfeifen¬ 
kopf, Pomadentopf, Maikäfer, Nähmaschinenfadenrolle. Verf. bespricht 
ausführlich die objektiven Symptome und die mitunter in Folge der 
Veränderung (Inkrustirung) der Gegenstände erschwerte Diagnose. 
Gleichzeitige Untersuchung per rectum und vaginam rathsam. Gelingt es 
nicht den Gegenstand manuell zu entfernen, so müssen Kugel-, Korn-, 
Polypen- oder Muzeux’sche Hakenzangen zu Hilfe genommen werden. 
Stenosen müssen mit Sonden oder Laminaria gedehnt, unter Umständen 
kann eine Schoidendamraincision nothwendig werden. Hierbei bespricht 
Verf. die zweckmässigsten Pessare und deren sachgemässes Einlegen, 
wodurch spätere unangenehme Folgen vermieden werden können. Er 
empfiehlt die Schultze’schcn Celluloid-Ringe. Das Büchelchen kann 
besonders dem Praktiker zur Lektüre empfohlen werden. 

Abel. 


VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. 

Hufeland’sche Gesellschaft. 

Sitzung vom 19. November 1890. 

Vorsitzender: Herr Liebreich. 

Schriftführer. Herr Mendelsohn. 

1. Der Vorsitzende gedenkt mit warmen Worten der dahingeschie- 
denen Mitglieder, des Geheimen Sanitätsraths Dr. Hermann Ringk und 
des Geheimen Medicinalraths Professor Dr. Georg Lewin. 

2. Zum Vertreter der Hufeland’sehen Gesellschaft im Berliner 
Comit6 für den internationalen Congress in Moskau wird Herr Lieb¬ 
reich gewählt, mit dem Rechte, eventuell ein weiteres Mitglied 


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256 


No. 12. 


B EU LIN ER K LIN I SCI IE WOCIIENSCIIUIFT. 


der Gesellschaft zur Cooptation in dies Comite selbstständig vorzu- 
8clilagen. 

3. Hr. Liebreich: Vorstellung eines Knaben, der durch Can- 
tharidin von seinem Lnpns gänzlich geheilt worden ist. 

Seit der von mir eingefiilirten optischen, phaneroskopischen Methode 
sind die Ansprüche, welche man an die Heilung eines Lupusfalles macht, 
bedeutend erhöht. Lässt sich nach dieser Methode überhaupt eine Hei¬ 
lung constatiren, so ist sie auch sicher vorhanden. Dieser Fall, den ich 
vorführe und durch frühere Photographien belege, hatte nicht nur am 
Gesicht, sondern auch an den Nates einen stark entwickelten Lupus 
vulgaris, welcher bei dem Gebrauch von Cantharidin sich allmählich 
zurückbildete, und heute ist weder durch den Glasdruck noch durch den 
direkten Lichtkegel irgend eine pathologische Veränderung an dieser 
Stelle zu bemerken, mit Ausnahme einer kleinen Retraction. Da ich 
über weitere ähnliche Fälle verfüge und die Methode weiter fortgesetzt 
wird, soll im Zusammenhänge darüber später berichtet werden. 

Hr. Hansemann: Ich erlaube mir an den Herrn Vortragenden die 
Anfrage, ob bei diesem Knaben auch äusserliche Mitte angewendet 
wurden, oder ob nur innerlich Cantharidin gegeben wurde? 

Hr. Liebreich: Bei dem hier vorgestellten Falle wurde keine 
Exfoliation der Knoten vorgenommen, sondern es fand nur innerliche An¬ 
wendung des Cantharidins statt. 

4. Hr. Liebreich demonstrirt ein einfaches Verfahren, das Innere 
der Nasenhöhle mit Flüssigkeiten zu benetzen, ohne Instrumente 
dabei in Anwendung zu bringen. Das Verfahren ist in den „Therapeu¬ 
tischen Monatsheften“ eingehend geschildert. 

Hr. Lewy: Ich möchte bestätigen, dass bei der Behandlung der 
Rhinitis acuta dieses Vorgehen sehr angenehm ist. Ich habe mit Cocain 
diesen Versuch bei mir selbst gemacht und kann bezeugen, dass man 
die Erleichterung in hohem Grade verspürt. 

Hr. Katz: Es existiren kleine Zerstäuber, die dasselbe erreichen 
sollen. Diese Methode des Herrn Vortragenden habe ich noch nicht an¬ 
geführt gesehen, bis auf Zarnikow’s Vorschlag, der sich aber doch 
von des Herrn Vortragenden Methode unterscheidet; diese Zerstäuber 
werden dort angewendet, wo eine ganz geringe Quantität eines diffe¬ 
renten Mittels (Cocain) in der Nase zerstäubt werden soll. Es ist inter¬ 
essant, hier eine Methode zu haben, die in so einfacher Weise, also 
ohne Spray, die Anwendung des Medikamentes auf so weite Strecken 
der Nasenschleimbant gestattet. 

5. Hr. Tb. Rosenheim: Ueber motorische Insnfflcienz des 
Magens. (Der Vortrag ist unter den Originalien dieser Nummer er- 
erachienen.) 

Hr. Ewald theilt in Bezug auf die Bedeutung der Bauchhernien 
für Magenbeschwerden mit, dass aus seiner Abtheilung im AuguBta- 
Ilospital eine ausführliche Bearbeitung dieser Frage durch Herrn Dr. 
Kuttner in den „Grenzgebieten der Medicin“ veröffentlicht ist. Die 
motorische Insnfflcienz spielt bei diesen Zuständen eine untergeordnete 
Rolle, die Hauptsache sind die gastralgischcn Erscheinungen. In diesen 
Fällen ist die Operation häufig ausserordentlich schätzenswertb. Viele 
Patienten giebt es, die Jahre lang gelitten haben und durch die Operation 
wie mit einem Zauberschlage sofort von ihren Schmerzen erlöst worden 
sind. 

Die vom Vortragenden zuerst angeführten Fälle von periodisch 
wiederkehrenden Kopfschmerzen, Schwindel, Uebelkeit etc., gleichen den 
von Rossbach vor längerer Zeit unter dem barbarisch klingenden Namen 
Gastroxvnsis beschriebenen Zuständen. 

Mit Bezug auf die durch Trauma entstandene Insufficienz macht E. 
unter Anführung eines von ihm begutachteten Falles darauf aufmerksam, 
dass cs eine ganze Zahl von solchen Zuständen giebt, bei denen die 
Schwäche der Motilität resp. die mit ihr verbundenen anatomischen Ver¬ 
änderungen Beit geraumer Zeit bestehen aber compensirt sind und erst 
durch den Shok des Trauma's manifest werden. Wenn ausgesprochen 
wurde, dass die Gastro-Enterostomie immer die Ausspülung des Magens 
entbehrlich macht, so ist bei Fl ein er ein Fall angeführt, wo auch nach 
Gastroenterostomie die Ausspülungen weiter ausgeführt werden mussten. 
Ich glaube allerdings, in solchen Fällen ist die Operation nicht gut aus¬ 
geführt. Wo letzteres aber der Fall ist, findet auch der Uebergang in 
die Därme in ausreichender Weise statt und dazu wird doch immerhin 
eine gewisse Muskelleistung des Magens nothwendig sein, wenn sie auch 
gegen die Norm erheblich abgeschwächt sein mag. Solche Fälle, in 
denen nach der Operation alle Beschwerden fehlten, sind vom Redner 
und anderen nachgerade in grosser Zahl beobachtet, Fälle, bei denen 
man, wenn man nicht wüsste, dass sie ein grosses Carcinom im Leibe 
tragen, nicht auf den Gedanken eines so schweren Leidens kommen 
würde. 

Hr. Fürst: Ich habe mehrere Fälle von Crises gastriques mit Aus¬ 
spülungen behandelt, jedesmal ohne Erfolg, und musste aufhören, weil 
die Patienten es sich nicht mehr gefallen lassen wollten, auch habe ich 
eine motorische Insufficienz oder Ectasie dabei nie beobachtet. 

Nach Trauma kann ein Mittelglied vorhanden sein, die Shokvvirkung; 
es könnte wie bei Hysterie nach längeren Magenbeschwerden mit und 
ohne Erbrechen eine Ectasie eintreten und sich mit motorischer Insuffi¬ 
cienz verbinden, ohne die direkte Folge der Gewalteinwirkung. 

Hr. Rosenheim: Was die Unterscheidung meiner Fälle von der 
Gastroxynsis anlangt, so handelt es sich bei letzterer um schwere An¬ 
fälle von hartnäckigem Erbrechen, wo reiner Magensaft erbrochen wird, 
der Beweis der motorischen Insufficienz ist nie von Rossbach erbracht. 
Was die traumatische Entstehung der Erweiterung betrifft, so muss man 


bei der Beurthcilung derartiger Fälle vorsichtig sein, das gebe ich ohne 
Weiteres zu und das habe ich auch hervorgehoben. Aber eine einfache 
motorische Insufficienz pflegt sich, in der angegebenen Weise behandelt, 
zurückzubilden oder zu bessern. Wenn aber hier bei 6’,’ t monatlicher 
Behandlung keine Aenderung objectiv nachweisbar wird, so darf man 
wohl annehmen, dass ein mechanisches Hinderniss vorliegen müsse, und 
da ein Ulcus und Carcinom auszuschliessen sind, so bildete wohl eine 
Perigastritis das Bindeglied. 

Den Fall von Tabes habe ich mit den Herren Dr. Gutmann, 
dem Augenarzt, und Dr. RU hl mann zusammen behandelt, die Diagnose 
stand ganz fest. Der Augenbefund zeigte eine recht seitige Oculomoto¬ 
riuslähmung. Uebrigens habe ich auch nur von einem relativen Heil¬ 
erfolg der Schmiercur sprechen wollen. Was die Anfrage des Herrn 
Fürst betrifft, so gebe ich ihm Recht, dass das Zustandekommen dieser 
Störung nach Trauma auch als Shokwirkung zu Stande kommen kann. 


Berliner medicinische Gesellschaft. 

Sitzung vom 3. März 1897. 

Vorsitzender: Herr v. Bergmann. 

Schriftführer: Herr Landau. 

Vorsitzender: In Abwesenheit des ersten Vorsitzenden eröffne 
ich die Sitzung. 

Als Gäste heisse ich heute in unserer 8itzung willkommen die Col- 
legen DDr. Pöllitz (Brieg) und von Hei dl er (Marienbad). Ausge¬ 
treten aus unserer Gesellschaft ist Herr Schmilinsky wegen Verzuges 
nach Hamburg. 

Vor der Tagesordnung. 

1. Hr. Hanser demonstrirt ein 3tägiges Kind, dessen Haut am 
ganzen Rumpfe, sowie stellenweise auch am Kopfe und an den Extremi¬ 
täten eine roth- bis schwarzbraune Färbung und hier und da auch eine 
elephantiastische Verdickung aufweist; er fasst diese Abnormität als 
einen Naevns pigmentosus auf und stellt die Prognose für das Kind 
schlecht, da die veränderten Hautstellen, sehr leicht verletzlich, voraus¬ 
sichtlich bald Decubitus auftreten lassen werden. 

2. Hr. Julius Wolif: Vorstellung eines Falles von angeborener 
Kieferkleinheit mit Kiefersperre. 

Der 17jährige Patient, welchen ich Ihnen hier vorstelle, leidet an 
angeborener Kleinheit des Unterkiefers, entsprechendem Mangel der nor¬ 
malen Prominenz des Kinns und hochgradiger Kiefersperrc. 

Krankheitsfälle, wie der hier vorliegende, erregen unser Interesse 
zunächst durch ihre grosse Seltenheit, alsdann durch die Frage ihrer 
Beziehungen zu den Fällen erworbener Kiefcrkleinheit einerseits und 
zu den Fällen angeborener sog. „Agnathie“ andererseits, ferner durch 
die noch wenig aufgeklärte Frage der Betheiligung der Verhältnisse der 
Processus coronoidei solcher Fälle an dem Zustandekommen der Kiefer¬ 
sperre, endlich durch die Schwierigkeiten des Problems einer für solche 
Fälle geeigneten, in cosmetischer und functioneller Beziehung unseren 
Anforderungen genügenden Operationsmethode. 

Was zunächst die Seltenheit des Falles betrifft, so finden sich in 
der chirurgischen Literatur, wenn man von den Fällen von Agnathie und 
Mikrognathie bei Embryonen, Neugeborenen und in früher Kindheit Ver¬ 
storbenen absieht, nur wenige dem unseren analoge congenitale Fälle. 

Das Vrolik'sche Museum enthält den Schädel eines Erwachsenen mit 
der in Rede stehenden Missbildung. Vrolik’s Abbildung ist auf dieser 
Tafel reproducirt. Sie erkennen die Kleinheit des Unterkiefers, das 
weite Zurücktreten seiner Schneidezahnparthie und die charakteristische 
schräge Stellung der Ober- und Unterkieferzähne. Anderweitige Ab¬ 
normitäten Bind an dem Schädel nicht vorhanden. 

Alsdann beobachtete v. Langenbeck einen Fall bei einem 17jähr. 
Patienten, dessen Abbildung ebenfalls auf dieser Tafel reproducirt ist. 
v. Langenbeck hat in diesem Falle, durch welchen er zuerst die Auf¬ 
merksamkeit der Chirurgen auf den betreffenden Krankheitszustand hin¬ 
lenkte, die beiden Proc. coronoidei, in deren abnormer Configuration er 
die hauptsächlichste Ursache der Ankylose suchen zu müssen glaubte, 
durchgemeisselt, den Erfolg der Operation aber nicht genügend lange 
Zeit hindurch beobachten können. 

Küster beschreibt einen Fall von Unterkieferkleinhcit bei einem 
14jährigen Knaben, den er als eine durch eine Eiterung in der Schläfen¬ 
gegend 2 Jahre zuvor erworbene arthrogene Kieferklemme auffasst. Er 
bemerkt aber, dass in diesem Falle schon vor der Zeit der betreffenden 
Eiterung das Kinn auffallend weit zurückgesprungen gewesen sei, und 
es ist deshalb wahrscheinlich, dass es sich auch hier um einen congeni¬ 
talen Fall gehandelt hat. 

Endlich berichtet Rose ohne genauere Angaben, namentlich auch 
ohne Altersangabe, über zwei Fälle, in welchen er wegen „angeborener 
doppelseitiger Kiefersperre mit übermässig langen sich gegen den Joch¬ 
bogen anstemraenden Proc. coronoidei“ beide Proc. condyloidei und die 
ganzen Jochbögen resecirt hat. 

Damit ist das erschöpft, was ich in der chirurgischen Literatur über 
solche congenitalen Fälle aufzufinden vermochte. 

In Anbetracht dieser so grossen Spärlichkeit der bisherigen Beob¬ 
achtungen darf ich es als einen besonders günstigen Zufall betrachten, 
dass ich selbst die Gelegenheit gehabt habe, zwei solcher Fälle zu sehen. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


257 


22. März 1807. 


Der erste Fall betrifft eine junge Dame von 19 Jahren, deren Ge¬ 
sichtsprofil Ihnen dieser Gypsabguss meiner Klinik, und deren Gebiss 
Ihnen dieser von Herrn Zahnarzt Hahl abgenommene Gypsabguss zeigt. 
Auch hier ist eine hochgradige, das Essen sehr erschwerende Kiefersperre 
vorhanden. 

Mein zweiter Fall betrifft den hier anwesenden Patienten. Der¬ 
selbe wurde 1879 mittelst der Zange geboren; es wurde indess, wie die 
Mutter berichtet, nach der Geburt und in seinem 1. Lebensjahre nichts 
Auffälliges an seinem Unterkiefer bemerkt. Erst im zweiten Lebensjahr 
machte sich die Kleinheit und unzureichende Beweglichkeit des Unter¬ 
kiefers bemerklich. 

Die beiden Ihnen hier vorliegenden, von Herrn Hahl mit grosser 
Sorgfalt angefertigten Gypsabgiisse zeigen Ihnen die Stellung der Kiefer 
und der Zähne, der erste Abguss bei geschlossenem, der zweite bei 
möglichst weit geöffnetem Munde. 

Sie sehen, dass die Schneidezahnparthie des Unterkiefers in hohem 
Bogen viel weiter nach oben reicht, als die Backzahnparthien. 

Die Schneidezähne des Oberkiefers sind schräg nach vom und unten, 
die des Unterkiefers schräg nach vom und oben gerichtet. Die letzteren 
stehen um mehr als 1 cm zu weit nach hinten, und stossen mit ihren 
Scbneideflächen gegen die vorderste Parthie der Schleimhaut des harten 
Gaumens. Bei möglichst weit geöffnetem Munde kann man die Spitze 
des kleinen Fingers zwischen die Zähne klemmen, den Finger aber nicht 
zwischen den Zähnen hindurch in den Mund bringen. Nur die Spitze der 
Zunge vermag Pat. zwischen den Schneidezähnen, — und übrigens auch 
zwischen den rechtsseitigen, nicht aber zwischen den linksseitigen Back¬ 
zähnen — hervorznstrecken. 

Die beiden letzten Mahlzähne fehlen im Ober- uud Unterkiefer. 
Der erste Mahlzahn und die beiden Backenzähne des Ober- und Unter¬ 
kiefers stossen einigermassen richtig auf einander und zeigen namentlich 
links durch ihre schräg nach innen gerichtete Stellung die Wirkungen 
des gegenseitigen Drucks, den sie auf einander ausüben. 

Das Essen geschieht langsam und mühselig. Sein Butterbrod 
schneidet Patient in diinne lange Scheibchen, die er mittelst der Finger 
Stück für Stück zwischen den Zahnreihen hindurch in den Mund schiebt, 
um sie dann — verhältnissinässig gut — zu zerkauen. 



Im Gesichtsprofil tritt, wie in den übrigen analogen Fälleu, die Nase 
schnabelförmig hervor. Zieht man eine Linie von der Nasenspitze zum 
Kehlkopf, so fallen Ober-, Unterlippe nnd Kinn in eben diese Linie, und 
es entsteht so der Eindruck des sog. „Vogelgesichts.“ 

Die Kleinheit des Unterkiefers ist an den beiden Seiten nicht gleich 
hochgradig. Rechts ist das Corpus mandibulae schwächer entwickelt, 
als links. 

Was die Frage der Beziehungen der angeborenen Kieferkleinheit 
zur erworbenen Kieferkleinheit einerseits und zur „Agnathie“ 
andererseits betrifft, so bemerke ich darüber Folgendes: 

Die chirurgischen Beobachtungen haben ergeben, dass es neben der 
angeborenen auch eine — häufiger, als diese vorkommende — erworbene 
Kleinheit des Unterkiefers giebt. Dieselbe entsteht als Folge arthro¬ 


gener Kiefersperre, welche ihrerseits auf ein Gelenktrauma intra partum 
oder auf einen im jugendlichen Alter überstandenen Entzündungsprocess 
des Kiefergelenkcs bezw. auf pararticuläre Vernarbungen zuriiekzu- 
fiihren ist. 

In solchen Fällen entsteht durch die Kieferkleinheit dasselbe Vogel¬ 
gesicht, wie in den angeborenen Fällen. Es ist aber in den Fällen er¬ 
worbener Kieferkleinheit die Ankylose des Kiefergelenks das Primäre, 
während die Kieferkleinheit als die Folge von Inactivitätsatrophie oder 
von anderweitigen trophischen Störungen des Unterkiefers aufzufassen ist. 

In dieser Beziehung ist von besonderem Interesse der von Herrn 
v. Bergmann genau mitgetheilte und von ihm operirte Fall, in welchem 
Herr v. Bergmann annimmt, dass ein Bruch der Schädelbasis intra 
partnm, bei schwerer Zangengeburt, durch die Gelenkfläche am Schläfen¬ 
bein gegangen sei, und dass diese Fractur auch noch den Jochbogen 
niedergedrückt habe. Die Ankylose war in diesem Falle eine voll¬ 
kommen knöcherne. Die Verhältnisse des Vogelgesichts waren dieselben, 
wie in den congenitalen Fällen. 

Humphry berichtet über einen Fall von Kieferkleinheit bei einem 
2 tjährigen Manne. Die Affection war nach Abscedirungen am Kiefer 
im 3. Lebensjahre entstanden. Humphry operirte den Fall nach 
Langenbeck mittelst Dnrchmeisselung der beiden Processus coronoidei, 
und zwar, wie er angiebt, mit gutem Erfolge. 

Küster fand das Vogelgesicht in 3 Fällen, in welchen in der Kind¬ 
heit eine arthrogene Kieferklemme erworben worden war. und zwar ein¬ 
mal im 8. Jahre nach Typhus und Scharlach, einmal im 3. Jahre nach 
Diphtherie, und einmal im 6. Jahre nach Diphtherie und Scharlach. 

Dass unter Umständen die Kieferkleinheit auch noch bei Erwach¬ 
senen, die eine Ankylose des Kiefergelenks acquiriren — hier also wohl 
in Folge von Knochenschrumpfung — eintreten kann, das beweist ein 
von Herrn Koenig mitgetheilter Fall einer 27jährigen Patientin, die 
im 22. Jahre im Verlaufe eines schweren Typhus eine fast totale Kiefer- 
sperre acquirirt hatte. 

Hiernach ist es nothwendig, in Fällen, wie dem von mir vorge¬ 
stellten, jedesmal sehr sorgfältig zu prüfen, ob nicht etwa eine Ver¬ 
wechselung vorliegt, ob es sich also auch wirklich um eine congenitale 
und nicht etwa um eine durch ein Trauma intra partum oder durch 
Krankheitsprocesse der Kinderjahre erworbene Mikrognathie handelt. 

In den von mir vorhin aufgezählten 5 Fällen aus der Literatur und 
in meinen beiden eigenen Fällen scheint mir eine solche Verwechselung 
als ausgeschlossen angenommen werden zu können. Hier findet sich 
nach den bestimmten Angaben der Autoren, bezw. in meinen Fällen 
nach möglichst genauer Feststellung der Anamnese kein Anhaltspunkt 
für die Annahme einer intra oder post partum acquirirten Affection. 

Diese Fälle dürften also in der That als Fälle angeborener 
„Mikrognathie“ bezw. als Fälle geringgradiger sog. „Agnathie“ aufzu¬ 
fassen sein. 

Dass die betreffenden Fälle mit der „Agnathie“ in eine und dieselbe 
Categorie fallen, und nichts als geringere Grade dieser nicht allzu sel¬ 
tenen Missbildung darstellen, das erscheint um so einleuchtender, als 
v. Winckel neuerdings an einem verhältnissmässig sehr grossen Mate¬ 
rial von Fällen in überzeugender Weise den Nachweis geliefert hat, 
dass es überhaupt keine wirkliche Agnathie giebt, dass sich in allen 
Fällen von sog. Agnathie ein Unterkieferrudiment auftinden lässt, und 
dass somit alle Fälle von sogenannter Agnathie nichts als 
Mikrognathien sind. 

Ich komme zur Besprechung der Verhältnisse der Processus 
coronoidei in den in Rede stehenden Krankheitsfällen. 

Aus dem, was ich vorhin über den Langenbeck’schen, den 
Humphry’schen und die beiden Rose’schen Fälle berichtete, ergab es 
sich, dass bei der Kieferkleinheit mit Kiefersperre die Verhältnisse der 
Processus coronoidei von besonderer Wichtigkeit sein können. In diesen 
Fällen war nach der Angabe der betreffenden Autoren die Kiefersperre 
nicht bloss durch die Starrheit des Kiefergelenks selbst bedingt, sondern 
auch durch abnorme Conflguration der Processus coronoidei und Anstem¬ 
men derselben gegen das Os zygomaticum. 

Hierzu kommt, dass, wie ein Ihnen hier vorliegendes Schädelpräparat 
des hiesigen pathologischen Instituts (No. 2269) zeigt, welches v. Lan¬ 
genbeck genau beschrieben hat, und welches Herr Geheimrath Virchow 
mir fiir die heutige Demonstration zu überlassen die Güte hatte, eine 
Kiefersperre einzig und allein durch Verwachsung eines Proc. coro- 
noideus mit dem Jochbein entstehen kann. Das Präparat ist einst von 
Walter mit der Bezeichnung: „Ankylosis mandibulae bei einem 20jäh¬ 
rigen Manne, der nur durch Flüssigkeiten hatte ernährt werden können, 
in Folge von scrophulöser Caries in frühester Jugend“ der Sammlung 
des ehemaligen Berliner anatomischen Museums eingereiht und im 
Jahre 1805 genauer beschrieben worden, v. Langenbeck zeigte in¬ 
dess, und, wie Sie sehen, mit Recht, dass es sich nicht um Caries, son¬ 
dern um eine Fractur gehandelt hatte. Die Fractur war vom linken 
Angulus mandibulae senkrecht nach oben durch die ganze Länge des 
Proc. coronoideus gegangen. Zugleich war ein Querbruch des Proc. 
coronoideus und vielleicht auch ein Bruch des Jochbeins vorhanden ge¬ 
wesen. Der Proc. coronoideus war mit dem Os zygomaticum durch 
Knochencallus verschmolzen, und hierin allein lag die Ursache der vor¬ 
handen gewesenen Kiefersperre. Eine Kieferkleinheit zeigt das Präparat 
nicht. 

Alle diese Dinge nun zeigen, dass es sehr wünschenswert wäre, 
ehe man einen operativen Eingriff in Fällen, wie dem vorgestellten, 
unternimmt, das Verhalten der Proc. coronoidei genauer festzustellen. 


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No. 12. 


258 BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Ich hatte mir gedacht, dass es in unserem Falle vielleicht möglich wäre, 
die Verhältnisse der Proc. coronoidei durch ein Röntgenbild genauer 
festzustellen. Leider aber sind die bezüglichen von Herrn Stabsarzt 
Dr. Berendsen im Röntgenatelier der Kaiser Wilhelms-Akademie mit 
grosser Sorgfalt gütigst ausgeübten Versuche gänzlich misslungen, und 
scheint es, dass bei dem jetzigen Stande der Technik der Herstellung 
von Röntgenbildern auch weitere Versuche, scharfe Bilder der einzelnen 
Theile des Unterkiefers zu erhalten, nicht zu einem befriedigenden Re¬ 
sultate führen werden. 

Ich komme zum Schluss zur Erörterung der Frage, wie die in 
Rede stehenden Fälle zu behandeln sind. Diese Frage bezieht 
sich nicht bloss auf die congenitalen, sondern auch auf die in klinischer 
Beziehung sich meistens nicht sehr viel anders, als die congenitalen 
verhaltenden erworbenen Fälle von Kieferkleinheit mit Kiefersperre. 

Ich werde mich hinsichtlich der operativen Behandlung sehr kurz 
fassen, da ich auf diesen Gegenstand zurückzukommen gedenke, wenn 
der vorgestellte Patient operirt sein wird. 

Die Operation muss zweierlei Ziel haben, einmal in functioneller 
Beziehung die Beseitigung der Kiefersperre, und dann in kosmetischer 
Beziehung die Beseitigung des Vogelgesichts. 

Zur Beseitigung der Kiefersperre haben v. Langenbeck und 
Humphry die beiden Proc. coronoidei durchmeisselt, König, Pauly, 
Küster und Audere die Proc. condyloidei, Rose die Proc. condyloidei 
und die Jochbögen, v. Bergmann beide Proc. condyloidei und coro¬ 
noidei resecirt. 

Das letztere Verfahren, das des Herrn v. Bergmann, führte zu 
einem sehr guten Erfolge. Ein Jahr nach der Operation konnte die be¬ 
treffende Patientin, bei welcher es sich rechterseits um eine vollständige 
Synostose am Kiefergelenk gehandelt hatte, die Zahnreihen um mehr als 
3 cm von einander entfernen. In den Fällen der übrigen Operateure 
sind aber die Erfolge mehrfach recht mangelhaft gewesen. In mehreren 
Fällen trat nach der Resection der Proc. condyloidei wieder aufs Neue 
Kiefersperre ein. 

Ich habe den Plan, in meinem Falle, in welchem, wie in dem 
Langenbeck’schen, eine ganz geringe Beweglichkeit im Kiefergelenk 
vorhanden ist, mein Verfahren der Arthroly se, d.i. der Durschschneidung 
aller die Bewegung hindernden starren Kapsel- und Bänderstränge in 
ofTener Wunde, ohne Resection der Gelenkenden — ein Verfahren, über 
dessen Wirksamkeit am Ellenbogengelenk ich im vorigen Jahre Ausführ¬ 
liches publicirt habe — zu erproben ‘). 

Die Operation so einzurichten, dass sie auch noch einen kosmeti¬ 
schen Zweck erfüllt, das ist bisher nur von einem einzigen Operateur, 
und zwar von Herrn v. Bergmann, unternommen worden. Seine ausser 
der Resection der Proc. condyloidei zugleich vorgenommene Resection 
der Proc. coronoidei ermöglichte es, den Unterkiefer mit Hülfe einer 
sinnreichen, von Herrn Hahl nach Sauer'schcm Princip angefertigten 
Prothese, bei jeder KaubeweguDg nach vorn zu Betrieben, und es wurde 
in der That erreicht, dass die Schneidezähne des Unterkiefers um mehr 
als Yj cm nach vorn gerückt wurden. 

Hiernach sind weitere Versuche, entweder auf dem von Herrn 
v. Bergmann vorgezeichneten oder vielleicht auch noch auf anderem 
Wege die Beseitigung des Vogelgesichts zu erzielen, wohl gerechtfertigt. 

Vielleicht würde es möglich sein, in dem vorgestellten Falle, wenn 
die Beseitigung der Kiefersperre durch die Arthrolyse gelingen sollte, in 
einer zweiten Operation mittelst Osteoplastik den zu kleinen Bogen des 
Unterkiefers zu erweitern, und dadurch einen kosmetischen Erfolg zu er¬ 
zielen. 

Discussion. 

Hr. König: Ich bin leider beim Anfänge des Vortrages nicht hier 
gewesen. Er hätte mich vor allen Dingen in der Beziehung interessirt, 
weil ich die Frage des Angeborenseins an Herrn Wolff richten wollte. 
Diesen Fall halte ich für keinen angeborenen, sondern für einen acqui- 
rirten. Nun gebe ich ja zu: es ist sehr schwer zu constatiren. Wenn 
man aber Beobachtungen gemacht hat über frühe Erkrankung der Kiefer- 
gelenke in den ersten Lebensjahren, wenn man Beobachtungen gemacht 
hat über das, was die Osteomyelitis am Kiefergelenk macht, die merk¬ 
würdigerweise auch offenbar ziemlich häufig in den ersten Lebensjahren 
des Kindes auftritt, dann wird man, glaube ich, ziemlich zurückhaltend 


1) Nachträgliche Bemerkung bei der Correctur (17. März 
1897): Drei Tage nach der Vorstellung des Patienten in der Berliner 
medicinischen Gesellschaft, am 6. März c., habe ich bei ihm die Arthro¬ 
lyse beider Kiefergelenke vorgenommen. Die Gelenke wurden nach 
Durchschnei düng der enorm engen und straffen Kapsel und der sehr ver¬ 
kürzten und ebenso Btraffen Gelenkbänder zum Klaffen gebracht. Zu¬ 
gleich wurde beiderseits der Temporalisansatz vom Proc. coronoideus 
abgetrennt. Vom Knochen wurde weder an den Proc. con¬ 
dyloidei, noch an den Proc. coronoidei auch nur das kleinste 
Stückchen entfernt. Die Operation führte zu dem unmittelbaren 
Erfolge, dass die Kiefer sich um nahezu 3 cm von einander entfernen 
liessen. Ich vermochte meinen Daumen bei senkrecht ge¬ 
stellter Nagelfläche desselben mit Leichtigkeit bis zum 
Pharynx des Patienten zu führen. — In den ersten Tagen nach 
der Operation trat eine geringe Temperaturerhöhung ein; seit dem 
12. März aber ist Patient fieberfrei und bei bestem subjectivem Be¬ 
finden; er hat das Bette bereits verlassen. Ueber den weiteren Verlauf 
werde ich später berichten. Wolff. 


mit der weiteren Frage, was congenital und was früh acquirirt ist, and 
häufig wird ja der Fall Vorkommen, wo durch das Wachsthum an der 
Unterkieferepiphyse auch das Wachsthum des Astes vermindert wird. 
Es spricht dafür in frappanter Weise die Thatsache, dass acute Osteo¬ 
myelitis sich fast regelmässig an das Kiefergelenk anschliesst, die That¬ 
sache, dass man ganz gewiss in der Hälfte aller Fälle von aenter 
Osteomyelitis des Unterkiefers im Kindesalter am Kiefergelenk den 
Kieferkopf nebst den daran grenzenden Tbeilen auszieht, nnd dass dann 
die regelmässige Consequenz ist, dass an der betreffenden Seite der 
Kiefer im Wachsthum zurückbleibt. Dass es sich um einen solchen 
Fall hier gehandelt hat, darauf scheint mir hinzuweisen das ungleiche 
Wachsthum beider Kieferäste. Es ist ja hier auf der einen Seite der 
Kiefer offenbar mehr zurückgeblieben. Lassen wir das aber bei Seite 
— das ist ja eine Frage, die human von viel kleinerer Bedeutung ist 
—, so möchte ich doch auch ein Wort sagen in Beziehung auf die Ope¬ 
ration in diesem Falle. Ich habe mehrere, wenn ich nicht irre, 3 der¬ 
artige Patienten operirt, wie die von Herrn Wolff exemplificirten, und 
ich bin mit den Resultaten bei den Patienten sehr zufrieden gewesen. 
Nicht etwa, dass ich den Versuch gemacht hätte, auf den uns ja Herr 
Wolff hin weist — ich bin sehr gespannt, wie er ausfällt —, dass ich 
die Leidenden hätte verschönern wollen. Ich glaube, auf die Ver¬ 
schönerung kann ein solcher Mensch verzichten, es genügt, wenn er den 
Mund weit genug aufsperren lernt, um grosse Bissen hineinzubringen. 
Es sind Ernährungsstörungen, die uns bestimmen müssen, in solchen 
Fällen das Aeusserste zu thun. Ich glaube, ich biu einer von den 
Ersten, die darauf hingewiesen haben, dass man die Ankylose der 
Kieferknochen überhaupt zur Heilung bringen kann, wenn man genügend 
resecirt, das heisst, wenn man den ganzen Kieferkopf, event. auch 
noch ein Stück des Kieferhalses wegnimmt. Ich weisa auch nicht, 
warum gegen diese einwandsfreie Methode eine andere an die Stelle ge¬ 
setzt werden soll, wenn sie nur so geübt wird, wie sie von mir und ja 
auch schoD von Anderen in jener Zeit beschrieben worden ist, — wenn 
man soviel vom Gelenk wegnimmt, bis der Kiefer sich leicht 
durch Einführung einen Dilatationsinstrumentes öffnen 
lässt; dann ist es mir wenigstens bis jetzt nie vorgekommen, dass 
wieder eine Ankylose eingetreten wäre, und ich halte die Verbesserung, 
welche beispielsweise Helfer ich angegeben hat, dass man ein Stück 
Muskel zwischen beide Knochen legen soll, für vollkommen unnöthig. 
Ich kann doch reichlich ein halbes Dutzend solcher Menschen, die zum 
Theil einseitig, zum Theil doppelseitig resecirt sind, verfolgen, und 
zwar solche, die ich wiederholt von Jahr zu Jahr gesehen habe, und 
kann versichern, dass sich der Mund so weit gehalten hat, wie er durch 
die Operation hergestellt wurde. Sehr viel schwieriger ist es in den 
Fällen, die so aussehen, wie der Fall, den uns hier College Wolff vor¬ 
gestellt hat. Da genügt es nicht, dasss man den Processus condyloideus 
entfernt. Man muss den Processus condyloidens sammt dem 
Processus coronoideus breit wegnehmen. Ich habe ln einem Falle 
offenbar zunächst zu wenig weggeschlagen, in dem ersten derartigen, 
welchen ich operirt habe. Als ich hier zum zweiten Mal operirte, habe 
ich so viel weggeschlagen, dass dass sich auch hier der Kiefer so¬ 
fort breit öffnen liess, und in einem weiteren Falle operirte ich 
sofort in gleicher Weise, und in den beiden Fällen hat sich die Oeffhung 
des Kiefers gehalten. Ich glaube aber, dass es viel besser ist, dass 
man solch grosse Stücke Knochen wegschlägt, als dass man die von 
Collegen Wolff angedeutete Operation der Trennung von narbigen 
Strängen vornimmt, die reissen, wenn man die Kiefer vornimmt Was 
soll das nützen, wenn die Knochen fest verwachsen oder so in einander 
verschränkt sind, dass es nicht möglich ist, sie von einander zu trennen. 

Hr. v. Bergmann: Ich komme gerade auf die Anfänge von Herrn 
Wolff’s Auseinandersetzungen zurück. Da kann ich zunächst seiner 
Behauptung von der übergrossen Seltenheit nicht zustimmen, wäre doch 
nach dieser Behauptung der vorgestellte Fall erst der 5. von 4 vorher 
allein beobachteten. Das ist nicht der Fall, denn, wie schon Herr 
König hervorgehoben hat, zwischen den congenitalen und den erwor¬ 
benen kann kein solcher Unterschied gemacht werden, dass wir im 
Stande sind, beide ohne Weiteres und jedesmal zu unterscheiden. In 
den meisten Fällen handelt es sich gewiss — und das war der Zweck 
einer Auseinandersetzung von mir, auf die heute Herr Wolff Bezug ge¬ 
nommen hat — um Fälle, die durch Erkrankung des Kiefergelenks oder 
durch Fracturen in dem Jochbogen, ähnlich dem Fall, der ja hier vor¬ 
liegt, oder an der Schädelbasis zu Stande kommen. In meinem Falle 
war bestimmt eine Fractur mit nachfolgender knöcherner Verwachsung 
des Proc. condyl. mit dem Jochbeine vorangegangen. Ich glaube, dass 
in dem eben vorgestellten Falle auch auf der einen Seite wieder diese 
Ankylose, wie in dem vorliegenden Präparat, die Verwachsung nämlich 
des Processus coronoideus mit dem Jochbeine vorhanden ist. Die Fälle, 
die wie dieser nach der einen Seite etwas mehr Beweglichkeit zeigen, 
und bei welchen die eine Hälfte der Mandibel mehr zurückbleibt, sind, 
wie ich damals auch schon auseinandersetzte, gewiss als solche aufzu¬ 
fassen, wo eine einseitige Störung den Ausgangspunkt der ganzen De¬ 
formation gegeben hat und dann eben eine einseitige Erkrankung des 
Gelenks, oder auch der Gelenkumgebung, eine einseitige Erkrankung 
also des Processus coronoideus und seiner Verbindung mit dem Joch¬ 
bogen vorliegen. Ich glaube, die Fälle müssen alle zusammengefasst 
werden und lassen sich nicht willkürlich in congenitale und erworbene 
trennen. Wenn man nachsieht, dann ist die Zahl der in der Literatur 
beschriebenen Fälle allerdings eine sehr grosse. Habe ich doch allein, 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


250 


22. März 1897. 


nachdem ich den einen Fall, wo ich diese Ankylose fand, operirt hatte, 
wenigstens 5 oder 6 schon nachher operirt. Die Nachbehandlung dieser 
Fälle möchte ich aber doch für eine recht wichtige halten. Es ist ja 
sicher, dass, selbst wenn man Coronoidens und Condyloideus abgetrennt 
hat, nnd viel von ihnen fortgenommen hat, noch Ankylose hinterher auf- 
treten kann. Ich habe einen Fall erwähnt von einem 11- oder 
12jährigen Knaben, den ich operirt hatte, wo in der That nach einem 
Jahre wieder eine sehr starke Sperre da war. Deswegen lege ich Ge¬ 
wicht darauf, dafür allmählich za sorgen, dass auch der Unterkiefer 
weiter nach vorn rückt und dazu kann ich den Apparat von Sauer 
sehr empfehlen. Der Apparat sorgt in der That dafür, dasB auch das 
Vogelgesicht im Laufe der Zeit geringer wird. Nach Jahren — ich 
habe unseren Fall später wieder gesehen, noch ganz vor Kurzem, also etwa 
nach 6 Jahren — geschieht die Oeffnung des MundeB gerade so, wie sie 
im Anfang gleich nach der Operation gewesen ist. Das hat doch wohl 
die Nachbehandlung bewirkt, Ich glaube, dass der Sau er'sehe Apparat 
wesentlich dazu dient, durch eine ausgiebige Resection der 4 Processus 
dieses hier bereits erzielte Resnltat zu erhalten. Von der Durchtrennung 
etwaiger Narbenstränge verspreche ich mir um so weniger, als ich kein¬ 
mal in diesen Fällen feste Stränge gefunden habe. Die Störung, selbst 
wenn sie durch Osteomyelitis bedingt gewesen sein mag, hat in der 
Umgebung des Gelenks keine Contracturen hinterlassen. Die Lösung 
des Gelenks, glaube ich, wird wohl nur Misserfolg haben, denn Bclbst 
sehr ausgiebige Resectionen haben schon zu Misserfolgen, das heisst 
zum Wiederauftreten der Sperre geführt. 

Hr. Wolff: Ich bedaure, dass Herr König den grösseren Theil 
meines Vortrages nicht gehört hat. Ich habe selbst auf die Nothwendig- 
keit hingewiesen, in den Fällen von Kieferkleinbeit sehr genau darauf zu 
achten, ob es sich um einen congenitalen oder einen erworbenen Fall 
handelt. Ich hob hervor, dass die Entscheidung hierüber oft Behr 
schwierig sei, nnd dass nach sorgfältigster Prüfung der Angaben der 
Autoren — ich habe die Literatur sehr genau durchgesehen — eben 
nur in den 5 Fällen, die ich vorhin angeführt habe, und in meinen 
beiden Fällen angenommen werden kann, dass sie congenital seien. Ein 
Irrthum meinerseits wäre ja hier allerdings immer noch möglich. In- 
dess muss ich doch sagen, dass, wenn Herr König den von mir hier 
vorgestellten Fall ohne Weiteres zu den nichtcongenitalen rechnet, 
dies doch immer nur eine VermuthuDg sein kann. Ich finde in diesem 
Falle in der Anamnese und dem Befunde keinen Anhaltspunkt für die 
Annahme, dass es sich nm einen erworbenen Fall gehandelt habe. Der 
Beweis, dass hier eine Fractur oder eine Osteomyelitis oder der¬ 
gleichen mehr als Ursache der Kieferkleinheit und Kiefersperre Vorge¬ 
legen habe, kann nicht geliefert werden. 

Ich würde es keineswegs für zutreffend halten können, wenn man 
etwa das Vorkommen klinischer Fälle, die congenitalen Ursprungs sind, 
überhaupt in Zweifel ziehen wollte. Denn es giebt, wie ich erwähnte, viele 
Fälle von angeborener Mikrognathie bei Embryonen, Neugeborenen und 
bald nach der Geburt abgestorbenen Kindern. Es ist also doch wohl 
von vornherein anznnehmen, dass die Fälle geringeren Grades von 
Mikrognathie auch einmal für die Dauer lebensfähig sein werden. 

Da hier die Bemühungen in den Fällen von Kieferkleinheit und 
mangelnder Prominenz des Kinns zugleich das „Vogelgesicht“ zu ver¬ 
schönern, zurückgewiesen worden sind, so verweise ich demgegenüber 
nochmals auf Herrn v. Bergmann, dessen Bestrebungen dahin gingen, die 
Operation solcher Fälle auch in cosmetischer Beziehung erfolgreich zu 
gestalten, und ich halte diese Bestrebungen für sehr gerechtfertigt. 

Was die Erfolge der Resection der Gelenkfortsätze des Unterkiefers 
in den Fällen von Kiefersperre betrifft, so lässt es sich ans der Literatur 
nachweisen, dass diese Erfolge mehrfach sehr mangelhafte gewesen sind. 

Wenn fernerhin die betr. Resection als ein sehr einfaches Ver¬ 
fahren angesehen wird, so bemerke ich, dass die Arthrolyse ein noch 
wesentlich einfacheres Verfahren ist. Es liegt mir ja fern, von einem 
Verfahren, das ich am Kiefergelenk bisher noch nicht erprobt habe, 
für dies Gelenk mehr sagen zu wollen, als ich zu verantworten 
vermag. Es ist ganz gewiss möglich, dass das Verfahren am Kiefer¬ 
gelenk vollständig missglückt. Aber nach Analogie meiner Operationen 
am Ellenbogengelenk scheint mir doch der Versuch der Arthrolyse auch 
am Kiefergelenk gerechtfertigt zu sein. Bei der Ankylose des Ellen¬ 
bogengelenks hat die Resection des Gelenks bekanntlich meistens so 
schlechte Resultate ergeben, dass fast alle Operateure von dieser Ope¬ 
ration vollständig abgerathen haben, wohingegen die Arthrolyse des Ellen¬ 
bogengelenks in den meisten Fällen zu befriedigenden Resultaten geführt 
hat. Ob nun die Arthrolyse auch am Kiefergelenk glücken wird, das ist frei¬ 
lich eine andere Frage, die noch erst der Lösung harrt. Vielleicht wird 
die bei dem vorgestellten Patienten auszuführende Operation eine Lösung 
dieser Frage herbeiführen. 

Tagesordnung. 

Hr. Abel: lieber Abortbehsndlnng. (Der Vortrag erscheint 
unter den Originalien dieser Wochenschrift.) 


Verein für Innere Medlcin. 

Sitzung vom 15. März. 

1. Hr. Schott (Nauheim) demonstrirt Röntgenbilder von aenter 
Herzdilatation, welche bei Kindern von 12 bis 14 Jahren dadurch er¬ 
zeugt wurde, dass man sie bis zum Eintritt von Dyspnoe mit einander 
ringen liess, theilweis mit gleichzeitiger Umschnürung des Banches 
durch einen Gürtel, welche eine Compression der Bauchgefässe bewirkte. 
Für die photographische Aufnahme wurden die Mamillae durch mit 
Wachs aufgeklebte Bleiplättchen kenntlich gemacht. Es zeigt sich auf 
den Bildern eine Erweiterung der Herzgrenzen, besonders der linke 
Ventrikel hat eine mehr kugelige Form angenommen. 

Hr. Huber erwähnt, dass Zuntz und Schumburg bereits die 
gleichen Versuche mit denselben Resultaten gemacht haben. 

2. Hr. Bnrghart demonstrirt das Präparat eines grossen Neben- 
nierensarkoms, das sich bei einem Falle von Diabetes fand. Eine 
89jährige Frau war bis zum November v. J. völlig gesund, seitdem 
klagte sie über Durst, Trockenheit im Halse, ausserordentlich starke 
Schweissc. Bei der Aufnahme in die v. Leyden’sche Klinik im Fe¬ 
bruar d. J. fanden sich im Harn 8 pCt. Zucker, später sogar noch mehr, 
daneben eine Spur Eiweiss. Der Harn war sehr reichlich (täglich 
mehrere Liter), spec. Gewicht 1039—1017. Sonst fand sich bei der 
Pat. noch in der linken Oberbauchgegend ein grosser solider Tumor. 
Unter leichten Fiebererscheinungen während der letzten Lebenstage 
starb Pat. am 5. Tage des Krankenhausaufenthaltes. Kurz nach dem 
Tode wurde eine Punction des Tumors gemacht, dieselbe ergab neben 
Blutkörperchen, Cholcstearin, Detritus unzweifelhafte Geschwulstzellen. 
Bei der Autopsie fanden sich multiple Uterusmyome, eine enge Aorta, 
leichte Hypertrophie des linken Ventrikels, Perihepatitis fibrosa, Milz 
atrophisch, Nieren intakt, in der linken Nebenniere, von der nur noch 
ein Rest der Wand stand, ein im Durchmesser 20 cm grosser kugeliger 
Tumor aus 2 Cysten bestehend. Der Fall ist bisher ein Unicum. 
Wahrscheinlich bestand schon der Tumor, als der Diabetes zum Aus¬ 
bruch kam. Das Pancreas war normal. 

3. Hr. Stern stellt einen Pat. der Guttmann’schen Augenklinik 
vor, der sich selbst wegen Schmerzen im rechten Auge Umschläge mit 
Kamillen- und Bleiwasser gemacht hatte. Die Untersuchung ergab eine 
weisse Verfärbung der Gonjunct. palp. sup. et inf., pericomeale Injection 
und in der unteren Hornhauthälfte eine homogene, weisse, dichte Trü¬ 
bung. Es handelt sich um die Bleiinkragtation in einer nicht be¬ 
merkten kleinen Horahautwunde. Die Auskratzung derselben hatte 
keinen Erfolg. Zur Verhütung der zu befürchtenden Entstellung und 
Blendung wird der Fleck demnächst mit chinesischer Tusche schwarz 
gefärbt werden. 

4. Hr. Hir8cbla(f berichtet über hacteriologtache Blutunter- 
suchungen in vier septischen ErkrankuDgsfällen auf der Stadelm an n- 
schen Abtheilung im Urban-Krankenhaus: es handelt sich in den Fällen 
nm Typhus abdominalis, acute Lungentuberculose, Gesichtserysipel und 
kryptogenetische Sepsis. Es fanden sich in allen Fällen bei wieder¬ 
holter Untersuchung des Armvenenblutes in demselben Staphylokokken, 
im dritten Fall auch Streptokokken. Die Section bestätigte die Dia¬ 
gnose der Sepsis, und in den Organausstrichen fanden sich dieselben 
Bacterien. 

5. Hr. Strau88: Zur Lehre von der neurogenen nnd thyreo¬ 
genen Glycosurie. 

Vortragender theilt ans der III. med. Klinik der Charite Unter¬ 
suchungen mit über das Vorkommen der alimentären Glycosurie bei ver¬ 
schiedenen Zuständen des Nervensystems. Die Untersuchungen sind an 
350 Personen angestellt, von welchen 250 nervenkrank waren. 

Unter 39 Fällen von traumatischer Neurosen ergaben 14 = 3(5 pCt. 
ein positives Resultat. 

Unter 32 Fällen von nicht traumatischen Neurosen ergaben 4 = 
12,5 pCt. ein positives Resultat. 

Vortragender bringt das eigenartige Verhalten der traumatischen 
Neurosen mit dem Trauma in Zusammenhang. 

Von Intoxicationszuständen wurden untersucht: 

1. Der Alkoholismus bei Schnapstrinkem. 

Unter 4L Fällen von chronischem Alkoholismus zeigten 3 — 
7,3 pCt. ein positives Resnltat. 

Beim Delirium tremens fand sich unter 20 Fällen 11 mal d. h. in 
70 pCt. der Fälle ein positives Resnltat. 

In der anfallsfreien Zeit war bei diesen Personen stets ein negativer 
Ausfall des Versuchs zu beobachten. 

Drei chronische Alkoholisten zeigten im Zustand der Betrunkenheit 
ohne Delirium ein positives Resultat. 

Bei Deliranten wurde auch spontane Glycosurie wiederholt constatirt. 

2. Die Bleivergiftung. 

Unter 18 Fällen zeigten 10 = 55,5 pCt. ein positives Resultat. 

Unter den Fällen mit positivem Ausfall bestand in 6 Fällen Blei¬ 
kolik, in 2 Fällen eine Verbindung von chronischer Bleivergiftung mit 
chronischem Alkoholismus. 

Bei den Intoxicationen mit Alkohol und mit Blei neigen also die 
chronischen Formen weniger zur alimentären Glycosurie als die acuten 
Zustände im Verlauf der Vergiftung. 

Der Einfluss der Thyreoidea auf das Auftreten von Zucker im Harn 
wurde einerseits durch Untersuchung von Basedowkranken studirt, von 
welchen 3 unter 19 Fällen = 16 pCt. ein positives Ergebniss lieferten, 


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No. 12. 


2(50 BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


andererseits in der Weise geprüft, dass 15 Personen, bei welchen durch 
vorausgegangene Untersuchung das Fehlen alimentärer Glycosurie fest- 
gestellt war, Thyreoideatabletten erhielten und dann von Neuem unter 
gleichzeitiger Verabreichung von 2 Thyreoideatabletten dem Versuch der 
alimentären Glycosurie unterzogen wurden. Da nur drei und zwar durch 
Alkoholismus prädisponirte Personen einen positiven Ansfall des Ver¬ 
suches zeigten, so kommt Vortragender zu dem Schluss, dass die Gly¬ 
cosurie erzeugende Wirkung der Thyreoidea nur eine geringfügige ist. 
Sie ist aber nicht ganz in Abrede zu stellen; die Thyreoidea ist gleich¬ 
sam ein „agent provocateur“ für die Erzeugung einer Glycosurie. 

Von organischen Gehirnkrankheiten war bei 57 Fällen von progres¬ 
siver Paralyse 5 mal d. h. in 9 pCt. der Fälle ein positives Resultat 
vorhanden. 

Unter 8 Fällen von Apoplexie, von welchen 4 frisch waren, zeigten 
zwei frische Fälle einen positiven Ausfall. 

Unter 7 Fällen von Ischias zeigten 8 auf der Höhe der Schmerz¬ 
attaque ein positives Ergebniss. 

Anämie, Kachexie und Arteriosklerose haben keinen entscheidenden 
Einfluss auf das Zustandekommen der Glycosurie. 

Vortragender neigt bezüglich des Verhältnisses der alimentären 
Glycosurie zur spontanen Glycosurie einer unitaristischen Auffassung zu. 
Er hat 4 Fälle beobachtet, in welchen längere Zeit vor dem Auftreten 
einer spontanen Glycosurie constant ein positiver Ausfall des Versuchs 
der alimentären Glycosurie zu beobachten war. Aus einem einmaligen 
positiven Ausfall des Versuchs sind aber keine Schlüsse auf eine 
dauernde Herabsetzung der Assimilationsgrenze für Zucker zu ziehen, 
sondern nur aus in grösseren Zwischenräumen wiederholten Unter¬ 
suchungen mit positivem Ergebniss. A. 


Wissenschaftlicher Verein der Aerzte zu Stettin. 

Sitzung vom 2. Februar 1897. 

Vorsitzender: Herr Boysen. 

Schriftführer: Herr Freund. 

Hr. Friedemann: Ueber einen Fall von Pyonephrose und 
über das Ureterenkystoskop, mit Demonstration. 

Der Maschinist D., 27 Jahre alt, bisher stets gesund, fühlte im April 
1896 beim Heben einer schweren Last Schmerz in der linken Nieren¬ 
gegend, im Juni acquirirte er eine leichte Gonorrhoe, im Juli erlitt er 
ein neues Trauma, einen Schlag gegen die linke Nierengegend. Die 
Schmerzen steigerten sich allmählich, Anfang August bemerkte er Eiter 
im Urin. Nachdem er mehrere andere Aerzte consultirt hatte, wandte 
er sich im September an den Vortragenden. Es wurde sofort eine grosse 
Geschwulst der linken Niere constatirt, dabei sehr starker Eiterabgang 
im Urin und hektisches Fieber, Gonokokken wurden im Urin nicht ge¬ 
funden; die Untersuchung mit dem Cystoskop ergab eine fast normale 
Blasenschleimhaut. Operation am 8. October 1896: Grosser Schräg- 
schnitt parallel der 12. Rippe, aus dem geöffneten Nierensack entleeren 
Bich ca. 3 Liter stark eitrigen Urins. Der Sack ist einkämmerig, be¬ 
steht aus dem erweiterten Nierenbecken, das, wie die Beobachtung lehrte, 
einen durchgängigen Ureter besitzt, dabei ist noch reichliches Nieren¬ 
parenchym vorhanden; aus diesen Gründen wird von der Nephrectomie 
Abstand genommen. Der Verlauf war zunächst sehr günstig, Patient 
war fieberfrei, erholte sich zusehends, durch die Blase wurde ganz klarer 
Urin entleert. Die Wunde des Nierenbeckens wurde absichtlich lange 
offen gehalten, letzteres mit Bor- nnd schwachen Höllensteinlösnngen 
häufig gespült. Ehe das Drain entfernt wurde, sollte die Durchgängig¬ 
keit des linken Ureters geprüft werden. Mit dem Caspcr’schen Ureteren- 
Cystoskop wurde der Harnleiter sondirt, es floss nur sehr wenig ziemlich 
klarer Urin ab, weil in der Rückenlage des Patienten der Urin den Weg 
durch die Fistel wählte. In künftigen derartigen Fällen wird Vortragen¬ 
der gefärbte sterile Flüssigkeit durch den Katheter einspritzen, wodurch 
die Frage ja zweifellos gelöst werden müsste. Nach Entfernung des 
Drains allmälicher Schluss, seit Mitte Januar ist die Wunde gänzlich ver¬ 
heilt, der Kranke fühlt sich vollkommen gesund mit klarem Urin. Vor 
der definitiven Entlassung will Vortragender noch einmal den Ureter 
katherisiren, das Rohr bis in das Nierenbecken führen und einige Zeit 
liegen lassen, um Neuansammlung von Flüssigkeiten nicht unbemerkt zu 
lassen. Im ungünstigen Falle würde eine Behandlung des Nierenbeckens 
durch den Harnleiterkatheter versucht werden — Entleerung, Ausspülung 
etc. — ehe eine Nephrectomie vorgenommen würde. Auch in ätiologi¬ 
scher Beziehung ist der Fall interessant. Vortragender nimmt an, dass 
es durch das erste Trauma zu einer Verlagerung der Niere mit Ab¬ 
knickung des Ureters und dadurch zur Ilydronephrosenbildung gekommen 
sei, letztere sei dann wahrscheinlich in Folge der Gonorrhoe vereitert. 
Nach einem kurzen geschichtlichen Ueberblick beschreibt Vortragender 
sodann das Casper'sche Ureterencystoskop, rühmt seine Vorzüge und 
bespricht die Indicationen für die Sondirung der Harnleiter. Es wird 
dann das Instrument selbst gezeigt und seine Anwendung an dem Pa¬ 
tienten demonstrirt. 

Discussion. 

Hr. Schuchardt hat einen 39jährigen Kranken mit traumati¬ 
scher Wanderniere und Hydronephrose in Behandlung, der im 
September vorigen Jahres mit der linken Seite auf einen Bottich ge¬ 
fallen ist und darnach starke Hämaturie bekam. Es entwickelte sich 


allmählich in der linken Bauchseite eine faustgrosse, schmerzhafte, pralle 
Geschwulst, die zeitweise wieder verschwand, schliesslich aber mit 
Sicherheit als die hydroncphrotische linke Niere angesprochen wurde. 
Da angenommen wurde, dass die Hydronephrose durch eine Knickung 
des Harnleiters in Folge der Verlagerung der Niere entstanden sei, 
wurde zunächst die Fixation der Niere von einem Lumbalschnitte aus 
vorgenommen. Da jedoch die Geschwulst trotzdem erheblich zunahm, 
so wurde sie von vorn her breit eröffnet und drainirt. Der Ileiluugs- 
verlauf wurde durch eine linke Schenkelvenenthrombose vorübergehend 
gestört. Da die Nieren beckenfistel sich nicht schliessen will, so ist die 
Exstirpation der hydronephrotischen Niere in Aussicht genommen. 

Hr. Friedemann entgegnet Herrn Schuchardt, dass die Palpa¬ 
tion durchaus nicht immer genüge, um eine Erkrankung des Schwester¬ 
organs mit Sicherheit zu erkennen bezw. auszuschliessen. Gerade die 
sympathischen Miterkrankungen bei Eiterungsprocessen, bestehend in 
Eiterung oder in parenchymatöser oder amyloider Degeneration sind für 
das Resultat der Operation so oft verhängnisvoll, und diese sind durch 
Palpation nicht zu erkennen, sondern nur durch den Harnleiterkatheter. 

Hr. Neisser: Ueber Vagoaccessoriusparalyse. 

Ein jnnger Mann, bisher völlig gesund, erkrankte mit plötzlicher 
Heiserkeit und mit Schluckbeschwerden. Es findet sich eine vollkommene 
Lähmung des linken Stimmbandes, das in KadaverBtellung steht; das 
linke Gaumensegel hängt etwas herab und wird beim Anlauten nach 
rechts verzogen; es bestehen grosse Beschwerden beim Schlingen und 
häufiges Verschlucken. Völlig unbemerkt vom Patienten besteht eine 
Lähmung unu Atrophie des linken Sternocleidomastoid. nnd des linken 
M. cucullaris, mit Ausnahme seiner „mittleren Portion“ (Duchenne). 
Das Erhaltensein derselben wird durch ihr normales Verhalten gegen 
den elektrischen Strom kenntlich, während der übrige Cucullaris typische 
Entartungsreaction giebt; vor allen Dingen fehlt die „Schaukelstellung“ 
des Schulterblattes und mit ihr jede gröbere Functionsstörung. Die hier 
vorhandene Lähmung des N. accessorius ist also eine periphere und 
zwar sitzt diesebe „hoch“, höher als der Abgang des Astes für den 
Stemocleidom., höher als der Eintritt jener Ccrvica'äste in dem peri¬ 
pheren Accessoriusstamm, denen die mittlere Portion des Cucullaris ihre 
Erhaltung verdankt, wie Duchenne, Henle, Remak, Schlodtmann 
gezeigt haben. Weitere Anhaltspunkte für den Sitz der Lähmung werden 
durch die Paralyse des linken Stimmbandes, Gaumensegels etc. gegeben. 

Zwar schienen klinische Beobachtungen zu beweisen, und viele 
Kliniker sind noch heu:« dieser Ansicht, dass die Stimmbandlähmung in 
solchen Fällen ebenfalls ein Ausfallssymptom des Accessorius darstelle, 
allein die neuen anatomischen Untersuchungen von Grabower beweisen 
wohl endgiltig, dass die motorische Innervation des Kehlkopfs durch den 
Vagus erfolgt. Die Häufigkeit der gleichzeitigen Läsion beider Nerven 
muss also durch ihre anatomische Nachbarschaft erklärt werden. Dann 
sollte freilich die periphere Verletzung beider Nerven am For. jug. auch 
stets den gleichen totalen Vagusausfall herbeiführen; eine Durchsicht der 
veröffentlichten Fälle lehrt, dass dies nicht der Fall ist, dass vielmehr 
meist partielle Vaguslähmung zu Stande kam; besonders oft blieb der 
Laryngeus superior erhalten. Abgesehen von der Schwierigkeit, die 
Function des letzteren zu prüfen, liegt die Erklärung hierfür vielleicht 
im Verhalten der Vagusfasern, die oberhalb des For. jugulare als Wurzeln, 
unterhalb desselben im Plexus sich auffasern, so dess sehr wohl partielle 
Lähmungen entstehen können. 

Im vorliegenden Falle wird die Mitbetheiligung des Vagus durch 
die vorhandene Lähmung des linken Gaumensegels sowie der Pharynx¬ 
muskeln bewiesen; auch hier scheint die Sensibilität des Kehlkopfs 
(Laryng. sup.) intact; Pulsbeschleunigung ist nicht vorhanden. 

Als Ursache dqr Lähmung kommt hier weder eine Verletzung noch 
ein Tumor in Frage, wie man beim Sitz der Lähmung am For. jug. zu¬ 
nächst annehmen möchte; vielmehr weist die jahrelange Beschäftigung 
des Patienten mit Bleifarben auf eine Bleineuritis hin, obwohl andere 
Erscheinungen dieser Vergiftung fehlen. Hiernach wäre die Prognose 
nicht völlig ungünstig. 

Hr. Schliep zeigt Kothsteine in ganz ausserordentlicher Grösse 
vor, darunter einen von Kopfumfang. Diese zufällig von einem Pferde 
stammenden Präparate, haben ärztliches Interesse bei dem relativ seltenen 
Zugesichtekommen menschlicher Koprolithen. Im Anschluss hieran de¬ 
monstrirt Schliep einen Glashafen voll Steine, Nägel, Glasscherben, 
Schachfiguren etc., die einem Idioten per vias naturales abgegangen sind. 
Derselbe: Spina bifida von einem Foetus mit Wasserkopf; die mögliche 
Coincidenz kann nötigenfalls den Entschluss zur Perforation des Hydro- 
cephalus bei der Geburt erleichtern. 

Hr. Schnittert stellt einen Fall von paroxysmaler Hämo¬ 
globinurie vor. 

Es handelt sich um einen 48jährigen Mann, der hereditär an¬ 
scheinend nicht belastet ist, in seinem 20. Lebensjahre Lues dnreh- 
gemacht hat, sonst stets gesund gewesen ist. Derselbe suchte die 
innnere Abtheilung des Städtischen Krankenhauses auf, weil er seit 
Mitte December vorigen Jahres jedesmal nach Beschäftigung im Freien, 
nach starker Abkühlung der Fiisse blutig gefärbten Urin entleerte. Zu 
gleicher Zeit will er jedesmal für kurze Zeit Frost, Kopf- und Rücken¬ 
schmerzen gehabt, sowie an Appetitlosigkeit gelitten haben. Patient ist 
mässiger Potator, keine Malaria, kein Trauma. Abgesehen von einer 
Menge zusammenhängender vielgestalteter, theils glatter, theils strahliger 


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22. März 1807. 


REULINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 201 


Narben am linken Oberschenkel findet man keine Spuren einer über¬ 
standenen oder bestehenden Krankheit. Nach einigen Bemerkungen 
über Symptome, Verlauf, anatomischen Veränderungen und Aetiologie 
der paroxysmalen Hämoglobinurie bespricht Vortragender seine Versuche, 
die er an dem Kranken und mit dem Blute desselben gemacht hatj 
welche beweisen, dass in einem Theile der Erkrankung an paroxysmaler 
Hämoglobinurie das Freiwerden des Hämoglobins auf einer localen 
Einwirkung der Kälte als eines anfallauslösenden Momentes beruht, 
dass dagegen durch mechanische Einflüsse Hämoglobinaemia und 
damit Hämoglobinurie nicht erzeugt zu werden braucht, wie es 
Chvostck behauptet und durch Gewinnung von Hämoglobin aus einem 
mechanisch gereizten Finger (Abschnüren) oder durch Schütteln des ab¬ 
gelassenen Blutes für seinen Fall bewiesen hat. 

I. Dem Patienten wurde der eine Vorderarm abgeschnürt, und eine 
halbe Stunde lang in Eiswasser eingetaucht. Sodann wurde 1) aus 
dieser abgekühlten, 2) aus der nicht abgekühlten Hand Blut entnommen 
und diese Blutproben centrifugirt. Das so gewonnene Serum der ersten 
Blutprobe war stark rotb gefärbt und enthielt gelösten Blutfarbstoff, das 
der zweiten Probe wasserklar mit einem Stich ins Gelbe und ohne jeden 
Farbstoff. 

II. Aus der nicht abgekühlten Hand wurde eine zweite Probe ent¬ 
nommen und diese nach starkem Schütteln im Reagensglase centrifugirt. 
Das hierdurch erhaltene Serum war anfangs roth, nach 2 Stunden 
wasserklar. In diesem Röhrchen rührte die anfangs rothe Farbe des 
8erums nicht vom gelösten Hämoglobin her, sondern von einzelnen, aus 
der Gesammtmasse der rothen Blutkörperchen gelösten rothen Blut¬ 
körperchen, die sich nach einiger Zeit senkten. 

III. Ein Finger des Patienten wurde nur abgeschnürt, nicht abge¬ 
kühlt. Das aus diesem Finger nach einer halben Stunde gewonnene Blut 
lieferte wasserklares Serum. 

Therapeutisch wurde eine Schmiercur verordnet, die von Erfolg zu 
sein scheint, denn nach 14 tägiger Einreibung giebt der abgeschnürte 
und abgekühlte Finger kein Hämoglobin im Serum mehr. 


Phj8ikall8ch*medicinl8che Gesellschaft za WBrzbarg. 

Sitzung vom 18. Februar 1897. 

Hr. Sommer: Stoffwechselversuch mit subcutaner Fett- 
injection am Menschen. 

von Leube hat zuerst bei Verlegung der natürlichen Ernährungs¬ 
wege subcutane Fettinjectionen in Anwendung gezogen und diese Me¬ 
thode als zweckmässig klinisch erwiesen. Der Vortragende bat nun am 
gesunden Menschen über die Ausnutzung des mittelst subcutaner Injection 
einverleibten Fettes (Olivenöls) folgenden Versuch angestellt. Die Ver¬ 
suchsperson, ein 22jähriger kräftiger Mann, erhielt per os eine von 
Fetten und Kohlehydraten bis auf unvermeidliche minimale Spuren freie 
Nabrang: entfettete, gekochte Ochsenlende, harte Eier, Aepfel und 
schwarzen Kaffee. Schon am zweiten Tage dieser Ernährungsweise 
fand sich bei genauer Bestimmung des Stickstoff- und Fettgehaltes so¬ 
wohl der Ingesten als der Ausscheidungen ein bedeutendes Ueberwiegen 
der N-Ausfuhr, ein Deficit zu Ungunsten des Körpers, welches in steter 
Zunahme am 5. Versuchstage die Höhe von — 4,7809 gr N erreichte. 
Am darauffolgenden 6. Versuchstage verminderte sich das Deficit auf 
— 3,1034 gr N, d. h. um 35 pCt. des vorhergehenden Maximums. Dies 
ist als Nutzeffect von 115 gr Oel anzusehen, die am 4.—5. Tage in 
3 Portionen subcutan einverleibt worden war. Die Versuchsreihe musste 
leider an diesem 6. Tage abgebrochen werden. An den 6 Tagen wurde 
je 8mal aus einem durch Miiller’sche Ventile unter correspondirenden 
Bedingungen ausgeathmeten Luftquantum der respiratorische Quotient 
bestimmt; derselbe bot nichts charakteristisches, da injicirtes Fett nicht, 
wie eine Mahlzeit per os einen zeitlich hervortretenden Ausschlag im 
Gaswechsel bedingt, sondern als Vermehrung deB Körperbestandes an 
stickstoffsparenden Material zu betrachten ist, das in einer Nothlage, 
wie sie bei dieser Versuchsperson künstlich geschaffen wurde, allmäh¬ 
lich für den Bedarf der Wärmeökonomie des Körpers verbraucht wird, 
wie das der Versuch durch den theilweisen Ersatz des herbeigeführten 
Stickstoffdeficits beweist. 

Kahn. 


VIII. Budapester Brief. 

Anfangs März. 

Haberem: Ersatz von SchädelVnochrndcfecten. — Szlli: Mittels Magnets operirte Angon- 
Terletzungen. — K. Baumgarten: PolypaS rhotnalR — Walla: Bilateraler Hydro- 
salpinx. — K. LI eilten be rg: Fall vo • 14 jährigem Ohrenfluss. — A. Nek.im: Ele¬ 
phantiasis sypl ilitica. — Kuzmik: Gastrocnterostomosp. — Huna: Gonorrhoen recti. — 
A. Schwarz: S-lerosis multiplex. 

In den ärztlichen Kreisen bei uns herrscht ein sehr reges Leben. 
Das kleine Budapest ist in kurzer Zeit eine Grossstadt geworden. Die 
medicinischen Wissenschaften werden in prachtvollen Palästen, die, was 
architectonische Kunst anbelangt, den schönsten europäischen Instituten 
gleichstehen, gelehrt, und wenn die pathologisch-anatomischen Lehr¬ 


anstalten in dürftigen, alten Zinshäusern ihr Dasein fristen, so ist daran 
nur der Umstand schuldtragend, dass die sehr rührige Regierung noch 
keine Zeit fand, ihnen ein modernes, bequemes Heim zu bieten. — 

F,s werden aber kaum 2 Jahre vergehen und Vater Aesculap wird 
befriedigt auf seine in unserer Hauptstadt in stolzer Würde prangenden 
Tempel hcrabblicken. — 

Ueber den socialen Stand der Aerzte in Ungarn will ich ein ander¬ 
mal sprechen. — 

Die wissenschaftlichen Vereine Ungarns sind sehr tbätig. 

In der K. Gesellschaft der Aerzte berichtete Doc. Haberern über 
zwei Fälle von Ersatz des Schädelknochendefectes. Bei 
dem einen Patienten wurde der Schädelknochendefect vor 3 Jahren nach 
Müller-König ersetzt. Die transplahtirte Knochenplatte ist auch der¬ 
zeit fest und entspricht allen Erwartungen. 

Der zweite Fall bezieht sich auf einen 20jährigen Mann, bei dem 
ein vor 14 Jahren erlittener complicirter Bruch des Stirnbeines eine 
5 cm lange Narbe und, derselben entsprechend, einen kreisförmigen 
Knochendefect zurückliess; Gehirnpulsation daselbst sichtbar. Die In¬ 
telligenz des Pat. ist wesentlich herabgesetzt. Seit Jahren epileptische 
und maniakalische Anfälle. Die Operation geschah in der Weise, dass 
die Dura mater um den Stirnbeindefect herum aus ihren narbigen Ver¬ 
wachsungen befreit, die Ränder desselben aufgefrischt, der Defect selbst 
mit einer der Tibia entnommenen, mit Periost bedeckten Knochenlamelle 
gedeckt wurde, wobei das Periost gehirnwärts sah. Heilung per primam. 

Doc. Szili demonstrirte zwei mittelst Magnets operirte Augen¬ 
verletzungen. 

Im ersten Fall gerieth ein Fremdkörper zu Beginn des Monats 
April v. J. dem Patienten ins Auge. Das Auge war stark irritirt und 
schmerzhaft. Im unteren Viertel der Cornea befand sich eine Narbe, in 
welche sich die Iris schlang: in der verengten Pupille eine grau-weisse 
lädirte Linsensubstanz. Lichtgefühl, Projection des Auges gut. Hand¬ 
bewegungen schwach gesehen. 

Nach Excision des Irisstückes und Entfernung einzelner Theile des 
Stars wurde mittelst elektromagnetischer Sonde bei geringem Verlust des 
Glaskörpers in tiefer Narkose der Fremdkörper entfernt. 

Aus dem linken Auge des zweiten Patienten wurde unter ähnlichen 
Verhältnissen ein etwa 2 mm langes und breites Stahlstück entfernt. 

In beiden Fällen vortreffliche Erfolge. 

Ein seltenes Bild eines PolypuB choanalis stellte Egmont 
Baumgarten vor. 

Der vordere Theil der linken Nasenhälfte des 15jährigen Mädchens 
war frei, der hintere Theil durch ein grauliches Gebilde ausgefüllt; der 
weiche Gaumen beträchtlich nach vorwärts gerückt, aus dem Nasen¬ 
rachenraum schien ein fingerähnliches Gebilde hervor, welches bei Ent¬ 
fernung mit der kalten Schlinge sich als ein Gebilde von 6 cm Länge, 
2'/ 2 cm Breite und l'/jcm Dicke erwies. Der Stiel war sehr dünn. 
Durch dieses Gebilde wurde die Muskulatur des Gaumens derart ge¬ 
spannt, dass eine Paresis inactivitatis auftrat und Patientin nicht sprechen 
konnte. 

Dr. Walla berichtete über einen per laparotomiam entfernten 
bilateralen Hydrosalpinx. 

Der untere Theil der linksseitigen Geschwulst besteht aus einer 
kinderfaustgrossen, resistenten Partie, an die sich die mit röthlichem 
Serum gefüllte, dilatirte Tuba darmartig krümmt. Der Hohlraum des 
abdominalen Tubenabschuittes ist weit, die Wand dick. Die Tuben¬ 
schleimhaut vernichtet. In dem unter der Tuba befindlichen Tumor war 
eine nussgrosse, mit pyogener Membran versehene, dicken hässlichen 
Eiter enthaltende Höhle enthalten, deren Wand aus einem '/* cm dicken 
ovarialen Gewebe bestand. 

Der rechtsseitige Tumor ist die dilatirte und knieförmig gebogene 
Tuba, die an ihrer dicksten Partie einen Umfang von 17 cm besitzt. 

Kornel Lichtenberg hat durch die Entfernung des Hammers 
einen seit 14 Jahren bestehenden Ohrenfluss geheilt und beweist, 
dass durch dieses Eingreifen auch das Gehörvermögen des Patienten sich 
wesentlich gebessert hat. 

Einen interessanten Fall von Elephantiasis syphilitica demon¬ 
strirte Ludwig Ne kam an einem 48 jährigen Patienten, der vor 20 Jahren 
Syphilis acquirirte. — Auf der linken Lippe ist die gut entwickelte 
Macrocheilia syphilitica interessant, ferner die elephantiatiscbe Hyper¬ 
trophie der Haut des Penis und des Scrotum. Der Penis hat sich aufs 
dreifache vergrössert. — Auf eine energische antiluetische Behandlung 
weichen diese Erscheinungen, andererseits bietet sich auch Gelegenheit 
zu chirurgischem Eingreifen. — 

In der Gesellschaft der Spitalsärzte schilderte Dr. Kuzmik die an 
einer 27jährigeu Patientin wegen Pylorusstenose mit Erfolg vollzogene 
Gastroenterostomose nach Kocher. 

Die hervorgezogene Jejunumpartie wurde durch eine Mesocolonal- 
Oeffnung hinter dem Colon transversnm zum Magen genähert. Die Ver¬ 
bindung geschah mittelst Nähte, die Schleimhäute wurden separat ver¬ 
näht, was für die Sicherung des Lumens von Wichtigkeit ist. 

Dr. Röna beobachtete an einer Prostituirten die seltene Erscheinung, 
wo sich in Folge einer Gonorrhoe, recti eine Mastdarmfistel 
entwickelte. 

Der aus der Fistel gepresste Eiter zeigte stets extra- end intra¬ 
celluläre Gonokokken, sonst keine Bacterien. — 

In der Sitzung des poliklinischen Vereins führte Dr. A. Schwarz 
einen Fall von Sclerosis multiplex vor. Atrophia nervi optici beider 
Augen, atactischer Gang, auf der einen Seite Mangel des Kniereflexes, 


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2G2 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 12. 


auf der anderen ist derselbe erhöht. — Intentionales Zittern der Hände. — 
Zum Schlüsse will ich nicht unerwähnt lassen, dass die Majorität 
des ärztlichen Publicums «egen die Einführung der Kammern energisch 
Stellung nimmt, doch darüber ein andermal ausführlich. 

Hcrszky. 


IX. J. Michael f. 

Wie schon kurz gemeldet, verstarb am 6. Januar d. J. plötzlich 
mitten in seiner Thätigkeit der bekannte Laryngologe und Otologe 
.1. Michael in Hamburg. Des Morgens hatte er noch in voller 
Frische seine Sprechstunde gehalten und Bich dann nach seiner Poli¬ 
klinik im jüdischen Krankenhause begeben, wo er, trotz der eifrigsten 
Bemühungen seiner Collegen, einer plötzlich auftretenden Herzlähmuog 
erlag. 

Michael ist 48 Jahr alt geworden. Sein Drang nach naturwissen¬ 
schaftlicher Thätigkeit hatte ihn bestimmt, die juristischen Studien, denen 
er sich erst gewidmet hatte, zu verlassen und sich der Medicin zuzu¬ 
wenden. Nach dem Staatsexamen ging er nach Wien, um sein Wissen 
zu vervollkommnen, und hier war es namentlich der Einfluss von A. Po¬ 
litzer, von Urbantschitsch, von Stoerk und von Joh. Schnitzler, 
die ihn für die Otologie und Laryngologic gewannen. Bei Schnitzler 
war er längere Zeit als Assistent thätig und noch in späteren Jahren 
gedachte er gern und freudig seiner arbeitsreichen Lernzeit in Wien. 

Darauf Hess er sich in seiner Vaterstadt Hamburg als ausübender 
Specialist nieder und eine zahlreiche Clientei und eine grosse Zahl zum 
The.il sehr maassgebender Arbeiten zeugen von seiner erfolgreichen Thätig¬ 
keit. Trotzdem er im Grunde seiner Ueberzeugung dem therapeutischen 
Nihilismus ziemlich nahe stand, so hat er sich doch gerade um die Verbesse¬ 
rung der Behandlungsmethode besondere Verdienste erworben. — Er hat 
die lange Zeit sich der grössten Verbreitung erfreuende Doppelmeissel¬ 
zange für die Operation der adenoiden Vegetationen angegeben, von ihm 
stammt die erste Empfehlung einer permanenten Tamponade der Trachea, 
die Angabe eines Pharynxdilatators und viele andere therapeutische Vor¬ 
schläge. Der Physiologie der Sprache und des Gesanges hat er mehrere 
Arbeiten gewidmet auch die bekannte Monographie von Mackenzie 
über diesen Gegenstand in musterhaftes Deutsch übertragen. Von ihm 
rührt die meines Wissens erste Empfehlung der Katbodenstrahlen zu 
medicinischen Zwecken her (1881). 8ein Interesse war aber durchaus 
nicht nur von der Spccialität in Anspruch genommen, auch über zum 
Theil recht fernliegende Themata, wie z. B. über die Behandlung der 
Gebärmuttervorfälle oder des Anasarka hat er geschrieben und in der 
Therapie der Cholera wird die von ihm angegebene subcutane Infusion 
seinem Namen eiu dauerndes Gedächtniss sichern. 

Michael war eine selbstständig denkende Natur. Seine Arbeiten 
— er war ein fruchtbarer Schriftsteller — zeugen alle von eigenem 
Denken und eigener unabhängiger Benutzung einer reichen Erfahrung. 
Sehr häufig vertrat er in ihnen einen von der allgemeinen Meinung ab¬ 
weichenden Standpunkt, den er mit grossem Scharfsinn zu begründen 
wusste, so z. B. noch in seiner letzten grösseren Arbeit über die „Be¬ 
handlung der Mittelohreiterungen“. 

Collegialc Angelegenheiten umfasste er mit grosser Wärme; zahl¬ 
reiche Congresse und der Hamburger ärztliche Verein erfreuten sich 
seiner regen Theilnahme. Als der letztere kürzlich sein 80jähriges Stif¬ 
tungsfest feierte, verfasste Michael eine Geschichte desselben, in deren 
Lob Historiker und Mediciner übereinstimmen. 

Das Bild des Verstorbenen wäre nicht vollständig, wollten wir nicht 
der künstlerischen Ader gedenken, die in Michael steckte. Die Be¬ 
sucher der Ausstellung des internationalen Congresses zu Berlin werden 
sich der reichen, von seiner Hand gemalten Sammlung von Kehlkopf¬ 
bildern erinnern. — Seine von Witz und treffendem, aber nie ver¬ 
letzendem Humor erfüllten, zum Theil formvollendeten Gedichte erfreuten 
zahlreiche Vereinigungen der Fachgenossen. P. H. 


X. Zur Autoskopie der Luftwege. 

Eine thatsächiiche Berichtigung. 

Von 

A. Hirstein in Berlin. 

In der kürzlich erschienenen 2. Auflage von Moritz Schmidt's 
vortrefflichem Lehrbuche der „Krankheiten der oberen Luftwege“ findet 
sich auf S. HO eine mich betreffende total irrthümliche Darstellung. 
Es heisst da: „Wenn Kirstein in der ersten seiner bereits ziemlich 
zahlreichen Veröffentlichungen gemeint hat, dass sein Verfahren die 
ganze bisherige (Jntersucliungsmethode umwerfen würde, so hat er in 
den letzten Arbeiten bereits wesentliche Zugeständnisse zu Gunsten der 
alten Art der Untersuchung gemacht.“ — Ich habe, im Gegenthcil, vom 
allerersten Anfänge an „ausdrücklich erklärt, dass nach meiner Vorstel¬ 
lung die alte Methode auch fortan die herrschende bleiben wird, die 


eigentliche Normalmethode, mit welcher wir nach wie vor in den meisten 
Fällen der Praxis auskommen werden. Die neue Kunst will und kann 
die alte nicht aus ihrer schwer errungenen und vollberechtigten Position 
verdrängen, aber sie erweitert die Grenzen unserer diagnostischen und 
therapeutischen Herrschaft über die oberen Luftwege um ein Beträcht¬ 
liches“ (Berl. klin. Wochenschrift 1895, No. 22). Nach dieser von vorn 
herein innegehaltenen scharf präcisirten Stellungnahme konnte ich zu 
„Zugeständnissen“ niemals eine Veranlassung finden. 

Der autoskopischen Methode vergönnt das Schmidt’sche Buch zu 
verechiedentlichen Malen eine durchaus freundlich erwartungsvoll ge¬ 
stimmte Erwähnung. Somit steht es ausser Zweifel, dass die vorstehend 
corrigirtc Unrichtigkeit lediglich auf ein dem hochgeschätzten Verfasser 
untergelaufenes Versehen zurückzuführen ist. 


XI. Praktische Notizen. 

Diagnostisches und Casnistik. 

Ueber 8tein- und Griesbildung im Darmcanal hat Dieu- 
lafoy in der Academie de Mcdecine (9. März) eine Mittheilung gemacht. 
8ie sei eine häufige Begleiterscheinung der Enteritis membranacea. 
Neben Sand und Gries kommen auch echte Steine vor, die grösstentheils 
aus Kalk- und Magnesiasalzen bestehen. Sie findet sich oft, aber nicht 
ausschliesslich bei Personen mit gichtischer Diathese. Wenngleich sie 
häufig gar keine Erscheinungen machen, lösen sie zuweilen Colikanfällc 
von wechselnder Dauer aus. Nach Ablauf solcher Anfälle findet man 
öfters in den Stuhlgäugen eine mehr oder minder grosse Menge Sand 
oder Gries mit oder ohne Beimischung von Schleim. A. 

Ein infectiöses Exanthem im Anschluss an eine acute 
Enteritis membranacea hat Galliard (Socicte medicale des 
llöpitaux) bei einem 5jährigen Kinde beobachtet. Es war ein papulöses 
Exanthem, das sich allmählich über den ganzen Körper ansbreitete und 
mit Fieber einherging. Zuvor war Calomel angewendet und Darm¬ 
ausspülungen mit Borsäure gemacht worden. Der Ausschlag verschwand 
nach 9 Tagen unter Abschuppung der Haut. An einem Tage war Ei- 
weiss im Urin anwesend. In den Darmschleimhautstücken fand sich das 
Bacterium coli. Galliard hält das Erythem für die Folgeerscheinung 
einer bacillären Infection (soll wohl heissen: Intoxication? Ref), wie 
dergleichen Ausschläge auch bei Typhus und Cholera Vorkommen. In 
der Discussion schloss sich Sevestre dieser Meinung an und verwies 
darauf, dass derartige Erytheme bei Kindern nach Verdauungsstörungen 
öfter auftreten, während Le Gendre an eine Calomel Wirkung glaubt. 

A. 


Einen angeborenen Verschluss der Speiseröhre bei einem neu¬ 
geborenen Kinde beobachtete C. Kressik Bowes (British Med. Jonrn. 
No. 1888). Dieses Kind zeigte ausserdem noch andere Missbildungen. 
Seine Hände boten einen ganz ungewöhnlichen Anblick dar, indem die 
Finger sich mit Leichtigkeit bis zum Ellenbogen richten Hessen und beide 
Radii und Daumen fehlten; die Ulna war beiderseits gekrümmt und 
kürzer als normal. Das Kind starb am 13. Tage nach der Geburt, ohne 
Nahrung zu sich genommen zu haben, da dieselbe stets wieder durch 
die Nase ahfloss. Bei der Section zeigte sich, dass der obere Theil des 
Oesophagus ein cul de sac war, der sich bis oberhalb des Larynx er¬ 
streckte, und dass der untere Theil überging in die Trachea nahe ihrer 
Bifurcation. Bei der Eröffnung des Herzens zeigte sich, dass das 
Septum interventriculare nicht vollständig war, indem der obere Theil 
einen Defect zeigte. 

Dieser Fall ist in zweierlei Hinsicht interessant, einmal wegen der 
Füllung der Missbildungen, und dann wegen der verhältnissmässig langen 
Lebensdauer von 13 Tagen ohne Nahrungsaufnahme. 


Grote (Münch, med. Wochensclir. No. 10) hat in Riegel'sKlinikUnter- 
suchungen angestellt über das von Bazzi und Bianchi in die Praxis cin¬ 
geführte Phonendoskop und die Frictionsmethode, mittelst deren 
es möglich sein sollte, eine Abgrenzung verschiedener Organe, Tumoren 
und Flüssigkeiten zu erreichen, wie sie vordem nicht möglich war. Was 
die Brauchbarkeit des Phonendoskops zur Wahrnehmung auscultatorischer 
Phänomene betrifft, so misst Verf. diesem Instrument nur in 2 Fällen 
einen gewissen Werth bei, nämlich bei der Feststellung ganz schwacher 
Rasselgeräusche und Herztöne. 

Was aber die Möglichkeit betrifft, mittels des Phonendoskops die 
Grenzen einzelner Organe in exacter Weise festznstcllen, so hat G. bei 
seinen Untersuchungen festgestellt, dass der Frictionston stets in dem 
Moment auftritt, wo beim Streichen der Haut diejenige Partie derselben, 
auf welcher der Stift des Phonendoskops ruht, mitgezerrt wird. Aus 
dieser Thatsache sowie ferner daraus, dass die Untersuchung mit dem 
Instrument am Cadaver keinen Unterschied ergiebt zwischen Niere, Herz, 
Milz und Leber, schliesst Verf., dass die mittels der Frictionsmethode 
erzielten Projeetionsfiguren nur die Span nun gs Verhältnisse der 
einzelnen Hautpartien, nicht aber die Beschaffenheit und 
Grösse der darunter gelegenen Organe beurtheilen lassen. In diesem 
Sinne haben sich auch Senator und Litten ausgesprochen. 


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22. Marz 180?. 


Berliner klinische Wochenschrift. 


203 


Bei einem Manne, der 8 Wochen lang zu Demonstrationszwecken 
jedesmal 2—3 Minuten seine rechte Hand und rechten Vorderarm den 
X-Strahlcn ausgesetzt hatto, sah GilChrist (Johns Hopkins Hospital 
Bullet. No. 71) eine beträchtliche Anschwellung der exponirten Partien 
auftreteu. Zugleich stellten sich brennende nnd klopfende Schmerzen 
ein; die Haut nahm eine tiefe braune Farbe an und die Epidermis be¬ 
gann sich abzuschuppen. Die Bewegung der Hand war schmerzhaft 
und äusserst herabgesetzt, so dass Pat. dadurch arbeitsunfähig wurde. 
Die Knochen fühlten sich auf Druck weich an, ganz besonders die Car¬ 
palknochen, und die ersten Phalangen des Zeige- und Mittelfingers. Als 
Grund hierfür ergaben die aufgenommenen Photographien eine deutliche 
Periostitis und Ostitis, die ganz besonders ausgeprägt war an den ersten 
Phalangen des Zeige- und Mittelfingers und an den Metacarpal- und 
Carpalknochen. Unter geeigneter Behandlung trat völlige Heilung ein. 
G. schliesst aus dieser Beobachtung, dass die X-8trahlen eine tiefer 
greifende Wirkung haben, als bisher allgemein angenommen wurde; 
indem sie Verletzungen nicht bloss der Haut, sondern auch der 
tieferen Gewebe wie des Periosts und Knocbengewebes 
hervorrufen, die sehr ernst zu nehmen sind. 


Köstlin (Archiv f. Gyn. No. 53) hat iu 60 Fällen die Milch 
Schwangerer, Wöchnerinnen und Neugeborener untersucht und sie im 
grössten Procentsatz der Fälle keimhaltig gefunden, bei 
Schwangeren in 86 pCt., bei Wöchnerinnen in 91 p€t., bei Neuge¬ 
borenen 75 pCt. Mit sehr wenig Ausnahmen handelte es sich nur um 
Staphylokokken, vorzugsweise Staphylococcus albus. Die Einwanderung 
der Bacterien erfolgt vom Warzenhofe aus, ein Eindringen vom Blute 
aus ist bisher nicht ein wandsfrei nachgewiesen. Ebensowenig giebt 
es eine auf dem Wege der Blutbahn entstandene Mastitis. 
Auch hier erfolgt die Infection stets von aussen auf dem Wege der 
Lymphbahnen von Hautverletzungen aus und breitet sich je nach 
der Art der eingewanderten Keime verschieden • aus. Es entsteht ent¬ 
weder die gewöhnliche Form der Mastitis, bervorgerufen durch Staphylo¬ 
coccus aureus oder die viel seltenere Form des Pseudoerysipels, des 
retromammären Abscesses, verursacht durch Streptokokken. 

In der Society des Sciences medic. de Lyon stellte M. Martin das 
Herz eines 32jährigen Mannes vor (Lyon Mödical No. 10), das 960 gr 
wog und ausgezeichnet war durch eine ganz aussergewöhnliche 
Dilatation des r. Vorhofes. Das Aortenostium zeigte eine Stenose 
und Insufficienz. Zn Lebzeiten des Kranken war auf Grund einer sehr 
lebhaften Pulsation, umschriebener Dämpfung und eines systolischen Ge¬ 
räusches rechts vom Sternum die Diagnose Aortenaneurysma gestellt 
worden. Die klinischen Erscheinungen dieses Falles will M. so erklärt 
wissen, dass sich die Pulsation der Aorta dem rechten dilatirten Vorhof 
mitgetheilt hätte. II. 


Therapeutisches «ad Inttiieatiauea. 

Unter dem Einfluss der Schilddrüsentherapie sah Ilayem 
multiple Lymphome (Pseudoleukämie) zurückgehen. Es handelt sich 
nm einen Fall, in dem sich nach einer doppelseitigen, fieberhaft ver¬ 
laufenen Parotitis Schwellungen der Hals-, Nacken-, Leisten- und Achsel¬ 
höhlendrüsen entwickelten, die allmählich so stark geworden sind, dass 
der Kranke cyanotiBch und dyspnoisch wurde. Die Schwellungen sind 
diffus, ungleichmässig, an einzelnen Stellen besonders hart, an anderen 
weicher, sämmtlich vollständig schmerzlos. Die Blutunsersuchung bat 
eine Vermehrung der rothen Blutkörperchen und in geringem Maasse 
auch der weissen ergeben. Der Kranke hat Jodkali und Arsenik lange 
Zeit ohne Erfolg genommen. II. gab ihm täglich 2, später 3 Schild- 
drtisentabletten (Dosen und Dauer dieser Behandlung sind nicht näher 
angegeben). Unter dieser Behandlung hat sich eine bemerkenswerthe 
Besserung eingestellt. Die Dyspnoe ist verschwunden, die Athmung 
weniger angestrengt, die Lymphdrüscntumoren sind weicher geworden. 
(Societe medieale des IlOpitaux, 5. März.) Ein sehr ähnlicher Fall mit 
dem gleichen, allerdings nicht dauernden therapeutischen Erfolge ist vor 
Kurzem auch von Markwald (Giessen) in der „Zeitschrift für prak¬ 
tische Aerzte“ veröffentlicht worden. A. 


In der 8itzung der Societö de Therapeutique am 24. Februar hielt 
Catillon einen Vortrag über Jodothyroidin und die Schilddrüsen¬ 
präparate überhaupt, in welchem er das Baumann'sche Verfahren 
scharf kritisirte, da bei demselben zu viel Jod verloren ginge (mehr noch 
als Baumann angäbe) und an dessen Stelle das folgende empfahl: 
Digeriren der Schilddrüse mit destillirtem Wasser unter Pancreatinzusatz; 
Aaswaschen des Rückstandes mit Aether, Aufnehmen in verdünnter Natron- 
lösnng; Filtriren; Fällen mit Schwefelsäure, wiederholtes Auswaschen. 
Das Product enthält 2 pCt. Jod; es werden daraus mit Milchzucker Ta¬ 
bletten hergestellt, die auf I Gramm 3 Decimilligraram Jod enthalten. 
C. nennt dies Präparat Jodothyroidin. Untersuchungen der frischen 
Drüsen ergaben dem Verf. sehr wechselnden Jodgehalt: 0,166—1,53 ragr 
pro Gramm. — In der Discussion betonte Chassevant, dass Catillon’s 
Verfahren nicht wesentlich sich von Baumann’s zweiter Me¬ 
thode unterscheide (C. nimmt Pancreatin, B. Pepsin); den Namen 
Jodothyroidin erklärt er für überflüssig, lässt übrigens dahingestellt, ob 
wirklich die Jodverbindung das wirksame Princip darstellt. (Aus 
Catillon’s Vortrag verdient ein Passus etwas niedriger gehängt zu 


werden: „M. le Professeur Pouchet nons disait dernierement que 
lorsqu’on röpetait un procedd allemand, on ne trouvait Jamais 
les resultats indiques. Je n'ai etc plus heareux en en rdp£tant 
deux.“ Es liegt hierin eine Verunglimpfung namentlich von Bau- 
mann's Andenken, gegen die energisch Einspruch erhoben werden 
muss.) _ I*. 


Den Werth des Fleischextractes sicht v. Voit (Münchener med. 
Wochenschr. No. 9) hauptsächlich in seiner Bedeutung als Genussmittel. 
Den Versuch, ihm einen nicht unbeträchtlichen Nährwerth wegen seines 
Gehaltes an löslichen Eiweissstoffen zuzuschreiben, weist V. mit Ent¬ 
schiedenheit zurück. Denn zur Benrtheilung des Nährwerths einer Sub¬ 
stanz kommt es nicht darauf an, ob dieselbe etwas Eiweiss, Fett oder 
Stärkemehl enthält, sondern darauf, ob so viel in ihm enthalten ist und 
verzehrt wird, dass es für die Ernährung in Betracht kommt. Dies ist 
aber bei dem Fleischextract nicht der Fall, da auf die tägliche Menge 
von 5 gr Fleischextract, wie sie Kemmerich für den Erwachsenen em¬ 
pfiehlt, nur 1 gr löslicher Eiweissstoffe kommt, eine verschwindende 
Quantität gegenüber dem täglichen Bedürfnis eines Gesunden von 118 gr 
Eiweiss oder selbst eines Kranken und Geschwächten von 80 gr. 

Auch den Zusatz von Fleischmehl zum Fleischextract, wie dies beim 
Bovrilextract geschehen ist, kann V. nicht als einen Fortschritt an- 
sehen. Dieses Präparat wird neuerdings wegen seines Gehaltes an Ei¬ 
weiss als die vollkommenste Art concentrirter Nahrung angepriesen und 
ihm eine 50 mal grössere Nährkraft nachgerühmt als dem Fleischextract, 
ja es wird sogar nicht mehr als Fleischextract, sondern als Fleisch be¬ 
zeichnet. Demgegenüber weist V. nach, dass sie 5 —6 mal soviel Mine- 
ralbestandtheile enthalten, wie das Fleisch, 3—5 mal mehr Extractiv- 
stoffe und im Mittel nicht halb soviel Eiweissstoffe als das Fleisch, dass 
dagegen die gleiche Eiweissmenge im Bovril 10 —16 mal theurer ist als 
im Fleisch. Aber selbst wenn das Bovril wirklich Fleisch wäre, auch 
dann dürfte man von keinem besonderen Nährwerthe desselben reden, 
da ja dieser nicht bedingt wird durch die Gegenwart von Nahrungs¬ 
stoffen überhaupt, sondern wieviel Nahrungsstoffe enthalten sind. Nun 
kommen aber auf die Dosis von 5 gr Bovril nur 1,8 gr Eiweiss, also nur 
1 pCt. der täglich nothwendigen Eiweissmenge, ganz abgesehen davon, 
dass hier Fett und Kohlehydrate noch völlig fehlen, die doch zur 
Nahrung nicht weniger nöthig sind als Eiweiss. Aber das Fleischextract 
soll auch gar kein Nahrungsmittel sein, sondern nur ein Genussmittel, 
das Nahrhafte sollen die übrigen Speisen liefern, zu denen man es hin¬ 
zusetzt. Nach alledem bleibt es das Beste, das Fleischextract unver¬ 
ändert zu lassen, wie es Liebig dargestellt hat und jeden Zusatz von 
Nahrungsstoffen zu unterlassen, da dieselben ja doch nicht in hinreichen¬ 
der Menge zugesetzt werden könnten, um eine in Betracht kommende 
Nährwirkung ausznüben. Unbenommen jedoch kann es bleiben, das 
Fleischextract in anderer Form, etwa flüssig, darzustellcn oder es mit 
anderen Genussmitteln zu verbinden. 


Dumas (These de Paris 1897 No. 128) rühmt der Anwendung des 
unterschwefligsauren Natrons bei chron. fötider Bronchitis 
und bei Lungengangrän nach, dass es schon in kurzer Zeit den 
fötiden Geruch beseitige und die Secretion verringere. Er erapfieht es 
in Dosen von 12—16 gr pro die längere Zeit zu gebrauchen. Eine 
nachtheilige Wirkung hat D. niemals beobachtet; abgesehen davon, dass 
sich beim IJeberschreiten der täglichen Dosis von 15 gr eine abführende 
Wirkung geltend macht. Contraindicirt ist es in allen Fällen, wo Nei¬ 
gung zu Blutungen besteht und bei Phtisikern mit grossen Cavernen. 

Rp. Natr. subsulf. 15 gr ! Rp. Natr. subsulf. 10 gr 

Aq. dest. 60 gr 1 Laudanum (Sydenham) gtt. 6 

Sir. simpl. 25 gr. | Aq. dest. 180. 


Nach Dujardin-Beaumetz (Gaz. Hebd. de M6d. et de Chir. 
No. 86) ist das Aethoxycoffe’fn als ein Speciflcum gegen die Migräno 
anzusehen. Es beschleunigt die Circulation im Schädel und die Herz¬ 
action, erhöht den Blutdruck und im Zusammenhang damit die Diurese; 
ausserdem hat es eine leicht einschläfernde Wirkung; letztere kündigt 
sich durch einen geringen Schweissausbrueh auf der Stirn, den Schläfen 
und im Gesicht vorher an. Was die Dosirung anbetrifft, so wird es in 
einer Dosis von 25 egr im Beginn des Anfalles gegeben, und zwar sub- 
cutan. Diese Injectionen können bis 4mal innerhalb 24 Stunden wieder¬ 
holt werden, allerdings, wenn man zu Dosen von 75 egr—1 gr steigt, ist 
einigemal Neigung zum Erbrechen beobachtet worden. 

Rp. Aethoxycoffeln 0,8 
Natr. salicyl. 1,0 
Aq. dest. ad 10,0 
D.S. 2—3gr auf einmal zu injiciren. 

Einen Fall von Arsenvergiftnng von der Scheide aus ver¬ 
öffentlicht Haberda in der Wiener Kl. W. No. 9. Derartige Fälle 
sind äusserst selten und im Ganzen erst 5 in der Literatur publicirt. 
In unserem Falle handelte es sich um ein 23jähriges Mädchen, das in 
selbstmörderischer Absicht oder auch um einen Abort herbeizuführen, 
das Arsen genommen hatte. Was den pathologisch anatomischen Befund 
betrifft, so war es zu einer intensiven Entzündung gekommen, die nicht 
auf den Ort des dauernden Contactes zwischen Gift nnd Vaginalwand 
beschränkt blieben, sondern in Folge Abfliessens der Secrete auch die 
unteren Abschnitte der Scheide und die äusseren Genitalien ergriffen 
hatte. Im oberen Scheidentheile griff die Entzündung in die Tiefe, an 


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BKKtilNKll KUXl-SCHK WonlHXSCliKirl'. 


No. 1*1 


*2<U 


der Schleimhaut der Scheide selbst war es zu Ablagerung einer sehr 
dicken blättrigen fibrinösen Exsndatschicht gekommen. 

Im Anschluss an diesen Fall erörtert Verf. die Frage der lokalen 
Wirkung des Arsens, ob dasselbe den Aetzgiften zuzuzählen ist. Er 
führte einer Hündin Arsenikkörner in die Scheide ein, 4 Thieren wurde 
Arsen direkt in den Darm gebracht, nirgends aber ergab die mikrosko¬ 
pische Untersuchung, dass der Arsenik deu Aetzgiften zuzuzählen sei, 
die am Orte der Einwirkung durch Fällung oder Lösung des Organ- 
eiweisses zur Ertödtung des Gewebes führen. Vielmehr ist die Wirkung 
so zu erklären, dass einer durch Gefässlähmung bedingten Hyperämie 
Blutungen und entzündliche Exsudationen ins Gewebe folgen, dio dann 
secundär zurNekrose der in ihrer Ernährung beeinträchtigten Gewebe führen. 

Hergott empfiehlt als ein äusserst wirksames Antigalacticum 
den Campber in einer Dosis von 20 cgr drei Mal täglich (Gaz. Hebd. 
No. 18). In einer Anzahl von 80 Fällen sah er, wenn das Mittel drei 
Tage lang gebraucht war, fast immer eine sehr bemerkenswerthe Ver¬ 
minderung der Milchsecretion. Angeregt dieses Mittel zu gebrauchen 
wurde er durch die guten Resultate, die damit bei Kühen erzielt wurden. 


XII. Tagesgeschichtliche Notizen. 

Berlin. In der Sitzung der Berliner medicin. Gesellschaft 
am 17. d. M. hielt, nach einer Krankenvorstellung des Herrn Bruck, 
Herr Hirschberg den angekündigten Vortrag über Extraction von 
Kupfersplittern aus dem Augeninnern, unter Demonstration zweier ge¬ 
heilter Fälle (Disc. Herr Schweigger). Herr A. Fraenkel beendete 
sodann seinen, in letzter Sitzung begonnenen Vortrag über seltenere 
Ausgänge und Complicationen der Influenza. Schliesslich sprach Herr 
L. Casper über seine experimentellen Untersuchungen über die Wirkung 
der modernen Behandlungsmethoden auf die Prostata und demonstrirte 
mit Hülfe des Scioptikons zahlreiche Präparate von Thieren, an denen 
die ein- oder doppelseitige Castration bezw. Durchschneidung des Vas 
deferens geübt war oder die mit Prostaden gefüttert waren. 

— Die neue Universitätspoliklinik für Haut- und Ge¬ 
schlechtskrankheiten wird unter Leitung des Herrn Prof. E. Lesser 
am 1. April d. J. im Hause Luisenstr. 18 eröffnet werden. Sprech¬ 
stunden daselbst täglich von 11—12 Uhr (ausser SonntagsX 

— Das Deutsche Reichscomite für den XII. Internatio¬ 
nalen Congress in Moskau hielt am 17. d. M. eine Sitzung ab, in 
der Herr Virchow mittheilen konnte, dasB die, anscheinend in letzter 
Zeit aufgetauchten neuerlichen Schwierigkeiten in Bezug auf die 
Passfrage jetzt definitiv gehoben seien; es ist seitens des Kaiserlich 
russischen Auswärtigen Amtes nunmehr die Anweisung an sämmtliche 
Consulate erlassen worden, die Pässe aller Congressmitglieder und deren 
Angehörigen ohne Unterschied der Religion und ohne Zeit¬ 
besch rän kn ng hinsichtlich des Aufenthaltes in Russland 
zu visiren. Das deutsche Reichscomite hat diese Lösung der Passfrage 
vornherein als die einzig mögliche angesehen und diesen Standpunkt 
niemals verlassen. — Seitens des rassischen Organisationscomitto ist 
weiter mitgetheilt worden, dass für Damen und sonstige Angehörige 
der Congressmitglieder keine besondere Zahlungen für Karten zu leisten 
sind; doch empfieht es sich, bei der Einzahlung des Mitgliederbeitrages 
anzugeben, ob und wie viel Daraenkarten erwünscht sind, da schon vor¬ 
her Interimskarten für den Congress ausgegeben werden, auf die hin 
in Russland Reiseerleichterungen gewährt werden sollen. Die definitiven 
Karten werden erst in Moskau ausgegeben. Die Einzahlung des Beitrages 
(20 M.) geschieht für Deutschland an den Schatzmeister des Comites, 
Herrn San.-Rath Dr. Bartels, Berlin NW., Carlsbad 12/18, und zwar 
nicht mittelst Postanweisung, sondern in Brief mit beigefügter Visitenkarte; 
doch fungirt die Schatzmeisterei nur bis zum 20. Juli — spätere Mel¬ 
dungen können nicht mehr berücksichtigt werden, vielmehr müssten dann 
die Zahlungen direkt nach Moskau gehen. — Es sind inzwischen in den 
meisten deutschen Staaten nnd preussischen Provinzen Comites zur För¬ 
derung des Congresses gebildet; ein Berliner Lokalcomite soll unter 
Vorsitz des Herrn Geh. Rath Liebreich gebildet werden. 

— Die sechste Versammlung der Deutschen Otologischen 
Gesellschaft wird in diesem Jahre am 4. und 5. Jnni in Dresden 
stattflnden. Diejenigen Herren Collegen, welche Vorträge oder Demon¬ 
strationen zu halten beabsichtigen, werden gebeten, ihre Themata bis zum 
20. April d. J. an Prof. Dr. K. Bürkner, Göttingen, gelangen zu lassen. 

— Ein internationaler Congress für gerichtliche Medicin 
wird vom 2.—7. August d. J. in Brüssel stattfinden. Gcneralsecretair 
desselben ist Dr. Camille Moreau, Charleroi. 

— Dem Ohrenarzt Dr. Stacke in Erfurt ist das Prädicat Professor 
verliehen worden. 

— In Stettin verstarb Ernst Brand, der hochverdiente Begründer 
und Förderer der Hydrotherapie beim Typhus abdominalis. 

— In der Nummer vom 13. März des Brit. Med. Journ. findet sich 
der Abdruck eines Berichtes von Professor Koch an die landwirtschaft¬ 
lichen Departements der Capcolonic, aus dem wir Folgendes entnehmen: 
Nach Erwähnung der bereits von uns mitgetheilten Methode der Iramu- 
nisirang mit Blutserum berichtet Koch, dass er jetzt die Thiere mit 


Verlag und Eigenthum von August Hirschwald in 


Hülfe eines Gemisches von Serum und virulentem Rinderpestblut in dem 
Maaasc immunisiren kann, dass sie im Stande sind, eine Injection von 
20 ccm Rinderpestblut zu überste.hen, von welchem ein zehntausendstel 
Theil eine tüdtliche. Dosis ist. Die Immunität solcher Thiere dürfte 
ebenso gross sein, wie die von solchen Stücken, die Rinderpest gehabt 
haben und dann genesen sind. Ebenso genügt eine Injection mit 10 ccm 
Galle eines an Rinderpest gefallenen Thieres, um eine spätestens nach 
dem 10. Tage eintretende Immunität hervorznrnfen, die so stark ist, 
dass noch nach 4 Wochen 40 ccm Rinderpestblut ohne Schaden injicirt 
werden konnten. Koch glaubt daher, dass mit diesen beiden Methoden 
die Rinderpest ohne grosse Schwierigkeiten und in verhältnissmässig 
kurzer Zeit ausgerottet werden könnte. 

— In dem in No. 5 d. Wochschr. abgedruckten Aufsatz des Herrn 
v. Bergmann, betr. die Heranziehung der Inhaber von Privatkliniken 
zur Gewerbesteuer, war bei Besprechung der Curpfuscherei folgender 
Passus enthalten: „Wer hätte nicht die Besten der Nation nach dem 
weissen Hirsch und den Bächlein von Wörrishofen pilgern sehen?* 
Wir sind von Herrn Geh. Rath v. Bergmann zu der Erklärung autorisirt, 
dass hier eine Verwechselung insofern vorliegt, als (wie auch der Zu¬ 
sammenhang mit dem Vorhergehenden zeigt) nicht der Besitzer und Leiter 
des Sanatoriums Weisser Hirsch, Herr Dr. med. H. Lahmann, sondern 
der bekannte Dresdener — Heilkünstler Herr Goessei gemeint war. 

— Gelegentlich des in No. 9 dieser Wochenschrift veröffentlichten 
Vortrages der Herren Loewy und Richter werden wir auf eine kurze 
Publication von J. Pohl (Pincus) (diese Wochenschrift 1882; Vergl. auch 
Virch. Arch. Band 96, S. 437) bingewiesen, in welcher ebenfalls die 
Frage von der Schutzkraft des Fiebers berührt wird: Verhandlung«, 
der Berl. Med. Gesellschaft, December 1881 — Bemerkung über Herz¬ 
lähmung bei Typhus und Diphtheritis. Das Gesammtresultat der 
Versuche, über welche dort berichtet wird, lautet: „Beim Warmblüter 
ist die erhöhte (Fieber-)Temperatur innerhalb ziemlich 
weiter Grenzen ein Schutzmittel gegen die von dem Infections- 
gift drohende Lähmung des Herzens.“ 

XIII. Amtliche Mittheilungen. 

Pemnall». 

Ernennungen: der Kreis-Pbysikus Dr. Salomon in Darkehmen zum 
Regierangs- u. Medicinalrath, derselbe ist dem Regierungs-Präsidenten 
in Coblenz überwiesen worden. Der prakt. Arzt Dr. Pauli sch in 
Ostrowo zum Kreis-Physikus des Kreises Oatrowo. Der bisherige 
Privatdocent, Sanitätsrath Professor Dr. Otto von Heusinger in 
Marburg zum ausserordentlichen Professor in der medicin. Fakultät 
der dortigen Universität. 

Versetzung: Kreis-Physikus Dr. Landsberg in Ostrowo aus dem 
Kreise Ostrowo in den Kreis Pieschen. 

Prädikat als Professor: dem prakt. Arzt Dr. 8tacke in Erfurt. 
Niederlassungen: die Aerzte Dr. Gerlach in Kückenmühle bei 
Stettin, Dr. Hirsch in Bergquell-Frauendorf, Dr. Loens in Barmen, 
Dr. Kirchberg in Düsseldorf, Dr. Lange in Rüttenscheid, Dr. Mel- 
linghoff in Werden, Dr. Heinen in M.-Gladbach, Dr. Göschei in 
Atrop, Dr. Schäfer in Remscheid, Dr. Boskamp in Rath, Dr. 
Dehner in Rüttenscheid. 

Verzogen sind: die Aerzte Dr. Reinhold von Freiburg i. B. nach 
Barmen, Dr. Vögeding von Oldenburg nach Barmen, Dr. Wind¬ 
rath von Petensbung nach Barmen, Dr. Dünges von Neuwied nach 
Cleve, Dr. Karl Frank von Marburg nach Cranenburg, Dr. Ettel 
von Berlin nach Rath, Dr. Z enger ly von Bonn nach Ludenberg, 
Kiesow von Greifswald nach Gerresheim, Dr. Leppmann von Berlin 
nach Düsseldorf, Dr. Kötter von Halver nach Düsseldorf, Ass.-Arzt 
Meltzing von Schwerin nach Duisburg. Dr. Hillemann von Burt¬ 
scheid nach Duisburg, Dr. Spickenboora von Marburg nach Duis¬ 
burg, Dr. Eggebrecht von Osterode i. W. nach Frintrop, Dr. Kauf¬ 
mann von Berlin nach Essen, Dr. Wilh. Frank von St. Wendel 
nach M.-Gladbach, Dr. Werner von Andernach nach Lüttringhausen, 
Dr. Bender von Strassburg nach Langenberg, Dr. Türk von Kis- 
singen nach Oberhausen, Dr. Weitkamp von München nach Ober¬ 
hausen, Dr. Schlichthaar von Voerde nach Ruhrort, Dr. Hort¬ 
mann von Meiderich nach Ruhrort, Dr. Buschhausen von Ratiogen 
nach Cöln. Dr. Arnolds von Düsseldorf nach Cöln, Dr. Göschei 
von Duisburg nach Atrop, Dr. Miethke von Wesel nach Uildesheim, 
Dr. Schaecke von Remscheid nach Chateau-Salins, Dr. Köhler von 
Sterkrade nach Osterfeld, Dr. Ho egen von Birkesdorf nach Düren, 
Dr. Reissmann von Bergquell-Frauendorf nach Charlotten bürg, Dr. 
Frölich von Berlin nach Stettin, Dr. Schaumann von Altona nach 
Stettin, Dr. Bunge von Stettin nach Königsberg i. Pr., Dr. Hager 
von Stettin nach Wandsbeck. 

Gestorben sind: die Aerzte Dr. Straeter in Aachen, Dr. Guderley 
in Posen, Dr. Schurz in M.-Gladbach, Dr. Heidenreich in Ober¬ 
hausen, Kreis-Physikus Sanitätsrath Dr. Schruff in Neuss. 

Berichtigung. 

In der Abhandlung von C. Binz, in No. 11, muss es in der 1. Spalte, 
S. 222, Z. 8 von oben heissen: unwillkürlich statt willkürlich. 

Für die Redactlon verantwortlich Geh. Ued.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald, LQtaowplaU 5. 


Berlin. — Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin. 


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BERLINER 


Die Berliner Klinische Wochenschrift erscheint Jeden 
Montag ln der Stirke von 8 bis 3 Bogen gr. 4. — 
Preis vierteljihrllch 6 Merk. Bestellungen nehmen 
eile Buchhandlungen und Postanstalten an. 


Einsendungen wolle man portofrei an die ftedactloh 
(W. Liitzowplatz No. S ptr.) oder an die Verlags¬ 
buchhandlung von August Uirschwald in Berlin 
N.W. Unter deu Linden No. 68, adressireu. 



Organ für practische Aerzte. 


Mit Berücksichtigung der preussischen Medicinalverwaltung und Medicinalgesetzgebung 

nach amtlichen Mittheilungen. 


Redaction: 

Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald und Prof. Dr. C. Posner. 


Expedition: 

August Hirschwald, Verlagsbuchhandlung in Berlin. 


Montag, den 29. März 1897. 


M 13 . 


Vierunddreissigster Jahrgang. 


INHALT. 


I. Rumpf: lieber die Behandlung der mit Gefässverkalkung einher¬ 
gehenden Störungen der Herzthätigkeit. 

II. Ana der medicmiacben Klinik in Bonn. L. Brauer: Letal endende 
Polyneuritis bei einem mit Quecksilber behandelten Syphilitischen. 

III. M. Schüller: Extraction eines Knochenstückes aus der Speise¬ 
röhre nach vorheriger Röntgendurchleuchtung. 

IV. Abel: lieber Abortbehandlung. 

V. R. Kutner: Beitrag zur Steinbehandlnng. 

VI. Kritiken und Referate. Lange und Brückner: Krank¬ 
heiten des Kindesalters; Neumann: Oeffentlicber Kinderschutz. 
Frühwald: Mastdarm-Rhagaden und Fissuren im Kindesalter. 
(Ref. 8tadthagen.) 

VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Berliner rae- 
diciniscbe Gesellschaft. Kutner: Stein in der Harnröhre. Dis- 


L Ueber die Behandlung der mit Gefäss- 
verkalkung einhergehenden Störungen der 
Herzthätigkeit. 

Von 

Prof. Dr. Kampf in Hamburg. 

(Vortrag, gehalten im ärztlichen Verein zu Hamburg.) 

In der Behandlung chronischer Erkrankungen des Herz¬ 
muskels gilt seit alter Zeit die Erleichterung der vom 
Herzen zu leistenden Arbeit als die erste Aufgabe einer 
rationellen Therapie. Körperliche Ruhe, eine Verminderung der 
Nahrung event bis auf das geringste Maass des Nothwendigen, 
vereinzelt auch Blutentziehungen und Digitalis, bildeten den 
hauptsächlichen Schatz der Therapie. Diese Behandlungs¬ 
methoden erfuhren durch Stokes und später durch Oertel 1 ) 
eine wesentliche Bereicherung durch Einführung systematischer 
körperlicher Uebungen zur Kräftigung des Herzmuskels. Oertel 
empfahl ausserdem eine Beschränkung der FlUssigkeitszufuhr. 
Die Behandlung mit kalten, sowie mit kohlensauren Salzbädern 
zeigte weiterhin, dass auch durch periphere Reize ein günstiger 
Einfluss auf die Herzthätigkeit ausgeübt werden kann. Auch 
die medicamentöse Therapie erfuhr durch einige der Digitalis 
ähnliche, sowie harntreibende Mittel eine Bereicherung. In ausge¬ 
zeichneter Weise hat F. A. Hoff mann die Gesichtspunkte, welche 
für die Behandlung der Herzkrankheiten in Betracht kommen in 
seinen Vorlesungen Uber allgemeine Therapie zusammengestellt. 

Diese Gesichtspunkte betreffen zum Th eil auch die Entfer¬ 
nung bestimmter Schädigungen, welche das Herz treffen und zu 


1) Oertel, Verhandl. d. Congr. f. inn. Medicin. Wiesbaden 1888. 
Vcrgl. auch Hirschfcld, Deutsche med. Wochenschrift 1897, No. 7. 


cussion über Abel: Abortbehandlung. Fränkel: Ausgänge der 
Influenza. — Gesellschaft der Charitö-Aerzte. Brieger: Lepra¬ 
fälle. Buchholtz: Leprapräparate. — Aerztlicher Verein zu 
München, v. Stubenraach: Congenitaler Radiusdefect. Schech: 
Nervöser Husten. Seitz: Bacteriologische Untersuchungsanstalten. 
Brubacher: Zahnärztliche Therapie. — Aerztlicher Verein zu 
Hamburg. Unna, Wiesinger, Franke, Rumpf, Cohen, 
Fricke, Rtlder: Demonstrationen. Reineke: Pest. Dunbar: 
Pestbacillen. 

VIII. H. Davidsohn: Die Fango-Kuranstalt zu Berlin. 

IX. Guttstadt: Sonderegger f. 

X. Der Neubau der Charite. 

XI. Literarische Notizen. — XII. Praktische Notizen. 

XIII. TageBgeschichtliche Notizen. — XIV. Amtliche Mittheilungen. 


einer Erkrankung desselben führen. Denn wenn in Folge über¬ 
mässigen Biergenusses, wie wir es durch J. Baner’s und Bol- 
linger's 1 ) Arbeiten wissen, eine idiopathische Herzvergrösserung 
mit Erscheinungen von Ilerzinsufficienz entsteht, so wird die 
Entziehung des Alkohols und die Beschränkung der Flüssigkeits- 
Zufuhr gleichzeitig als eine causale Behandlung bezeichnet werden 
müssen. Auch einzelne andere ätiologische Momente finden in 
den Gesichtspunkten allgemeiner Therapie Berücksichtigung. 
Dagegen hat ein ganz wesentliches ätiologisches Moment der 
Herzmuskelerkrankungen keine therapeutische Berücksichtigung 
gefunden: die Verkalkung der Coronararterien und der 
Gefässe überhaupt. Für die Frage, ob eine günstige Beein¬ 
flussung dieser häufigen und schweren Affection möglich ist, 
möchte ich heute Ihre Aufmerksamkeit erbitten. 

Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass eine beginnende 
Herzinsufficienz durch strikte Ruhe und Beschränkung der Er¬ 
nährung mit oder ohne Digitalis häufig eine ganz überraschende 
Besserung erfährt. Unter den Nahrungsmitteln, welche zur Be¬ 
schränkung der Ernährung und für chronische Herzerkrankungen 
in Betracht kommen, steht aber nach F. A. Hoffmann die Milch 
oben an. Es kann auch keinem Zweifel unterliegen, dass die 
Beschränkung der Nahrung auf */ 4 bis höchstens 1 Liter Milch 
pro Tag neben den übrigen Anordnungen häufig ausserordentlich 
günstig wirkt. Ich verweise in dieser Beziehung auch auf Ka- 
rell*), Winternitz*), Högerstedt'), sowie Hirschberg 5 ). 

1) J. Bauer und O. Bollinger, Festschrift der med. Facultät der 
Universität München zur Feier des 50jährigen Doctor-Jubiläums des 
Herrn Geheimrath Prof. v. Pettenkofer. 

2) Arch. general de M6dicine 1866. 

8) Wiener med. Presse 1870. 

4) Zeitschr. f. klin. Med., Bd. 14. 

5) Berliner klin. Wochenschrift 1896, 17. August. 


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266 


No. 13. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Eine derartige Ernährung lässt sich indessen nur kurze Zeit 
durchfuhren. Weniger günstig gestalten sich nach meinen Er¬ 
fahrungen die Resultate der Milchdiät, wenn letztere in der zum 
Leben eben genügenden Menge von 2—3 Litern eingeführt 
wird. Abgesehen von unangenehmen Störungen der Magen¬ 
function, welche sich leicht einstellen, hatte ich häufig den Ein¬ 
druck, dass diese Diät einzelnen Patienten schlechter bekam, als 
gewöhnliche gemischte Kost. Insbesondere schienen mir Fälle 
von Ilerzinsufficienz, welche mit Verkalkung der Gefässe einher¬ 
gingen oder auf dieser beruhten, kein günstiges Object für die 
Milchdiät zu sein. Aber auch andere Formen von Herzschwäche 
befanden sich bei gemischter Kost häufig besser, als bei Milch¬ 
diät. 

Diese Erfahrungen veranlassten mich der Frage näher zu 
treten, ob die Milch überhaupt und besonders in den genannten 
Fällen, als ein geeignetes Nahrungsmittel für derartige Erkran¬ 
kungen betrachtet werden kann. Die Milch ist ein Nahrungs¬ 
mittel, welches wesentlich dem Aufbau des kindlichen Kör¬ 
pers dienen soll. Betrachten wir die Zusammensetzung derselben, 
so ergiebt sich, dass sie ganz besondere, diesen Zweck erfüllende 
Eigenschaften hat. Die Kuhmilch hat neben dem Eiweiss und 
Fett (nach König) 0,35—1,21 pCt. oder im Mittel 0,71 pCt. 
Salze. Von diesen Salzen sind aber 22,42 pCt. Kalk (CaO) und 
2,59 pCt. Magnesia. Aus diesen Werthen ergiebt sich, dass ein 
Liter Kuhmilch im Mittel 1,58 gr Kalk (CaO) oder 1,777 gr 
Kalk -j- Magnesia enthält. In einer eigenen Untersuchung fanden 
wir im Mittel von zwei Bestimmungen im Liter 1,638 CaO. 
Rechnen wir das Minimum und Maximum, so ergiebt sich, dass 
der Gehalt eines Liter Milch an Kalk -|- Magnesia zwischen 
0,825 bis 4,025 schwankt. Dieser hohe Gehalt an Kalk zeichnet, 
wie wir später sehen werden, die Milch vor vielen Nahrungs¬ 
mitteln aus. Nehmen wir nun an,> dass ein Erwachsener, im 

Bette liegend, mit 2 Litera Milch im Stoffwcchselgleichgewicht 
sich zu halten vermag, so werden ihm bei dieser Ernährungs¬ 
weise im Mittel pro Tag 3,554 gr Kalk -f- Magnesia oder 
3,16 gr Kalk zugeführt. Die Menge von 2 Litern Milch genügt 
aber in den meisten Fällen nicht. Legen wir die keineswegs 
hohen Werthe von Johannsson, Landergren, Sonden und 
Tigerstedt zu Grunde, welche als constantes Minimum 31,13 
bezw. 31,32 Calorien pro Kilo Körpergewicht fanden, so ergiebt 
sich für einen Menschen von 60 kgr ein Bedarf von 1873,8 Ca¬ 
lorien, welche durch die Nahrung gedeckt werden müssen. 

Würde die Nahrung an Milch voll ausgenutzt, so würden zur 
Deckung des Bedarfs 2665,4 ccm Milch genügen. Nun gehen 
aber nach Rubner 7,1 pCt. des Eiweisses ungenutzt fort; zur 
Deckung dieses Verlustes sind noch etwa 50 ccm Milch noth- 
wendig, so dass sich der Bedarf auf 2715 ccm Milch pro Tag 
stellt. Damit erhöht sich indessen die Einfuhr von Kalk auf 

4,289 oder diejenige von Kalk -J- Magnesia auf 4,824 gr pro 

die. Ist diese reiche Zufuhr von Kalk erwünscht oder 
gleichgültig? Man wird ein wenden können, dass die Einfuhr 
in den Darmcanal nicht gleichwcrthig mit derjenigen in den 
Körper ist, und dass die Eigenschaften der Darmwand eine Aus¬ 
wahl aus dem Inhalt des Darmcanals ermöglichen. Dabei muss 
aber berücksichtigt werden, dass der Darmcanal gleichzeitig das 
wesentlichste Ausscheidungsorgan für den Kalk ist, und dass 
bisher Werthe, welche der in der Milch eingcführten Kalkmenge 
entsprechen, im Stuhl nicht gefunden sind. Nimmt man mit den 
Ergebnissen der letzten Untersuchungen an, dass die Resorption 
des Kalkes wesentlich im Dünndarm und die Ausscheidung im 
Dickdarm stattfindet, dass weiterhin das Ausscheidungsvermögen 
ein beschränktes ist, so kann der Gedanke nicht von der Hand 
gewiesen werden, dass auch im Alter eine reichere Kalkauf¬ 


nahme durch die Nahrung stattfinden kann. F. Voit') kommt 
auf Grund seiner UntersuChungnn allerdings zu dem Resultat, 
dass die Kalkresorption des Organismus sich in engen Grenzen 
bewege. Doch ist bei den Thierversuchen zu berücksichtigen, 
dass es einstweilen völlig unmöglich ist, die im normalen Darm 
vorhandenen Bedingungen bei Operationen zu schaffen. Es wird 
deshalb erforderlich sein, diesem Punkt beim Menschen eine ein¬ 
gehende Aufmerksamkeit zu widmen und die Ausscheidung von 
Kalk bei genau bestimmter und reicher Einfuhr zu verfolgen. 

Wir haben eine derartige Bestimmung bei einem 19jährigen 
Mädchen gemacht, welches wegen Ulcus ventriculi auf Milchdiät 
gesetzt war. 

Patientin erhielt vom 9. Januar 1897 an täglich 2 Liter 
Milch und zweimal ’/j Liter Suppe. Bei dieser Diät schied sie 
in 9 Tagen im Durchschnitt pro Tag 1166 ccm Harn aus und 
hatte 3 typische Milchstühle. 

Vom 12. bis 17. schied sie 7035 ccm Harn mit 0,8316 CaO 
insgesammt aus, hatte 2 Stühle, von welchen der eine 0,4107 
CaO enthielt (der zweite keineswegs reichlichere ging verloren). 

Vom 18. bis 23. Januar schied sie pro Tag 1189 ccm Urin 
aus und hatte 2 typische Milchstuhle. Urin und Stuhl dieser 
Periode enthielten insgesammt 8,4714 gr CaO. Nach der Analyse 
der eingefUhrten Milch erhielt Patientin in dieser Zeit 19,6644 gr 
CaO per os. Da sie nur 8,4714 durch Stuhl und Urin ausschied, 
so hat in 6 Tagen eine Zurückhaltung von 11,193 gr CaO im 
Körper stattgefunden. Aber auch in den vorhergehenden Zeit¬ 
räumen muss eine beträchtliche Zurückhaltung von Kalk statt¬ 
gefunden haben. 

Aehnliche Beobachtungen, dass die Kalkausscheidung hinter 
der Einfuhr zurückbleibt, sind übrigens schon häufiger gemacht 
worden (vergl. Voit). Jedenfalls lässt sich ein stärkerer Gehalt 
der Gewebe an Kalk in einzelnen pathologischen Processen nicht 
leugnen. 

Nun könnte man sagen, dass die Ablagerung von Kalk in 
den Geweben und speciell den Gefässen nur dort statthat, wo 
anderweitige regressive Metamorphosen vorangegangen sind. 
Zum Theil ist das gewiss richtig. 

Cohn heim*) nimmt an, dass in den Geweben, in welche 
eine Kalkablagerung stattfindet, besondere Bedingungen vor¬ 
handen sein müssen. Abgesehen von abgestorbenen Massen, 
denkt er an eine Schwächung und verringerte Energie des be¬ 
treffenden Gewebes und macht auf die im Alter so häufigen 
endarteritischen und atheromatösen Veränderungen aufmerksam. 
Wir wissen aber andererseits, dass eine ausgedehnte Caries mit 
Zerfall von Knochengeweben zu metastatischer Kalkablagerang 
an verschiedenen Stellen des Körpere führen kann (Kalkmeta¬ 
stase Virchow’s*)). 

Es handelt sich hier um Processe, in welchen ein ausser¬ 
ordentlicher Reichthum des Blutes an Kalksalzen wahrscheinlich 
war. Berücksichtigen wir aber, dass im Alter nicht allein Ge- 
fässverkalkungen sehr häufig sind, sondern auch die Knorpel zu 
verknöchern Neigung haben, so kann gewiss die Frage auf¬ 
tauchen, ob nicht im Alter zeitweise oder unter vielfachen Be¬ 
dingungen eine Kalkablagerung in die Gewebe besonders leicht 
erfolgt. Es könnte diese sowohl in einem reicheren Kalkgehalt 
des Blutes ihren Grund haben, als in einer Störung des Che¬ 
mismus, welcher die Löslichkeit der Kalksalze im Blute beein¬ 
trächtigt. Jedenfalls ist der Kalkgehalt des Blutes kein 
constanter. 

Bunge 4 ) fand bei einem 25jährigen Manne in 100 Theilen 

1) F. Voit, Zeitschr. f. Biolog. Neue Folge. Bd. 11, 1892. 

2) Allg. Pathologie. 

3) Virchow’s Archiv, Bd. VIII, S. 103. IX, S. 618. 

4) Lehrbuch der phys. u. path. Chemie 1887, S. 219. 


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20. März 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


2(57 


Blut 0,0331 gr, bei einem 30jährigen Weib 0,0418 gr von 
phosphorsaurem Kalk -J- Magnesia. Bei einer Kalkbestimmung 
in dem Blute eines gesunden Neugeborenen fanden wir 0,0045 pCt. 
CaO. Bei einem 64jährigen Manne, welcher an Emphysem und 
leichter Arteriosklerose litt, fand sich in 98 gr Blut, welche 
durch Schröpf köpfe gewonnen waren, 0,00536 gr CaO oder 
0,00546 pCt.; bei einem 47jährigen kräftigen und fettreichen 
Manne, welcher nach der Operation eines eingeklemmten Leisten¬ 
bruches plötzlich gestorben war, fanden sich in 119,3 gr Blut 
aus dem Herz und den Venen 0,0081 gr CaO oder 0,0067 pC’t. 
Ausserordentlich schwierig ist es von einem atrophischen jüngeren 
Kind genügende Blutmengen zur Kalkbestimmung aus der Leiche 
zu erhalten. Wir konnten von 3 Kindern im Alter von 3 Wochen, 
8 Monaten und 2 Jahren zusammen nur 95,4 gr Blut gewinnen 
und fanden in diesem 0,0184 gr = 0,0192 pCt. CaO. 

Aehnliche Differenzen im Kalkgehalt des Blutes wurden bei 
Thieren von E. Voit 1 2 ) und später von Rey*) gefunden. Erstcrer 
constatirte bei einem einmonatlichen Thier 0,018 pCt. und bei 
einem zweimonatlichen 0,015 pCt. Kalk im Blute; dagegen fand 
sich bei zwei Hunden von 2 und 4 Monaten, welche mit kalk¬ 
armem Futter ernährt wurden, nur 0,011 und 0,012 pCt. 

Rey fand nach subcutaner resp. intravenöser Injection von 
essigsaurem Kalk Differenzen im Kalkgehalt des Blutes. Bei 
wachsenden Thieren constatirte Soxhlet 3 ), dass die Resorption 
der Kalksalze grösser war und führte diese Erscheinung auf 
eine gesteigerte Kalkabgabe des Blutes an die Gewebe zurück. 

Von diesen Gesichtspunkten aus musste der Versuch, eine 
kalkarme Nahrung anstatt einer kalkreichen bei den erwähnten 
Krankheitszuständen zu geben und so auf den Krankheitsverlauf 
einzuwirken, gewiss gerechtfertigt erscheinen. Es fragt sich 
nun, ob nicht sämmtliche Nahrungsmittel des Menschen so reich 
an Kalk sind, dass die Differenzen für die Ernährung ihre Be¬ 
deutung verlieren. 

Betrachten wir nun einen anderen Speisezettel, welchen 
F. A. Hoffmann an Stelle der Milchcur empfohlen hat: 



Albumen 

Fett 

Zucker 

Stärke 

250 gr Fleisch mit . 

. 43.5 

9.7 

_ 

_ 

3 Eier mit.... 

. 10.8 

11,7 

— 

— 

20 gr Käse mit . . 

. 0,0 

4.8 

— 

_ 

500 gr Milch mit 

. 19,5 

13,5 

09 

— 

100 gr Kartoffeln mit 

. 1,8 

— 

— 

23,7 

100 gr Brod mit. . 

. 6,5 

0,9 

— 

50,3 

Butter und Fett mit 

— 

20,0 

— 

— 


87,2 

60,2 

22 

74,0 


Dieser Speisezettel ergiebt nahezu 1200 Kalorien, während 
2 I Mich etwa 1400 Kalorien ergeben. Aber auch dieser für 
die dauernde Ernährung ungenügende Speisezettel enthält noch 
eine tägliche Einfuhr von 1,365 gr CaO. 

Ich habe es deshalb versucht, einen möglichst kalkarmen 
Speisezettel zusammenzustellen, der nicht allein die von Hoff¬ 
mann für genügend erachteten Nahrungsmengen enthält, sondern 
durch weitere kalkarme Zusätze so erhöht werden kann, 
dass das Normalbedürfniss von Kalorien nicht allein für den 
Ruhenden, sondern auch für den Arbeitenden erreicht wird. 

CaO Ca -f- Magn. 


250 gr 

Fleisch . . 

= 0,075 

oder 0,161025 

100 „ 

Brod . . . 

= 0,15 

n 0,15 

100 „ 

Fisch . . . 

= 0,04 

„ 0,073531 

100 „ 

Kartoffeln. 

= 0,03 

„ 0,0825 

100 „ 

Aepfel. . . 

= 0,02 

n 0,066867 



0,815 

0,533923 


Dieser Speisezettel enthält 93 gr Eiweiss, 14 gr Fett und 


1) Vergl. Zeitschr. f. Biologie. Neue Folge. Bd. XI, 1892. 

2) Arch. f. experim. Pathol. u. Pharmakol. Bd. 85, S. 295. 

8) Soxhlet, Erster Bericht über die Arbeiten der k. k. landwirth- 
scbaftlichen Versuchsstation in Wien 1870—1878. 


93 gr Kohlehydrate und ergiebt 892 Kalorien. Durch Zusatz 
von 100 gr Butter kann die Zahl der Kalorien auf 1700, durch 
Zusatz von 100 gr Sahne und 50 gr Zucker auf etwa 2200 er¬ 
höht werden. Aber durch diesen Speisezettel ist die Kalkeinfuhr 
fast auf den 10. Theil gegenüber der Milch, auf den 4. bis 
3. Theil gegenüber dem zweiten Speisezettel reducirt. Selbst 
wenn die Butter und Sahne ganz geringe Mengen von Kalksalzen 
enthalten sollten, ist die Verminderung der Kalkeinfuhr eine ganz 
beträchtliche. An Stelle von Aepfeln kann man auch die gleiche 
Menge grüner Bohnen, Gurke oder grüner Erbsen geben. Die 
Kalkeinfuhr ändert sich dadurch nur unbedeutend. Reich an 
Kalk sind dagegen ausser der Milch, der Käse, die Eier, Möhren, 
Savoyer Kohl. Spinat. Bezüglich des Cacao fand ich nur An¬ 
gaben über einen reklamehaft empfohlenen Nährsalzcacao, der 
in 100 gr 2,20 Kalk • enthält. Ungeschälter Reis ist ebenfalls 
kalkreich; über den geschälten fand ich keine Angaben. Es 
wird zunächst zu untersuchen sein, ob nicht eine gewisse Quan¬ 
tität von diesem als Ersatz für Kartoffeln oder Gemüse gegeben 
werden kann. 

Naturgemäss ist dieser Speisezettel noch etwas einförmig. 
Es wird aber durch weitere Untersuchungen gewiss gelingen, 
denselben recht mannigfaltig zu gestalten. 

Als weitere Frage wird sich diejenige nach geeigneten 
kalkarmen Getränken anschliessen. Für die Milch besteht der 
erwähnten Diät gegenüber der Vortheil, dass sie die nothwendige 
Flüssigkeit reichlich enthält. Indessen kann man durch destil- 
lirtes kohlensaures Wasser diesem Mangel abhelfen. Auch ge¬ 
kochtes und gekühltes Leitungs- und Brunnenwasser hat mit der 
Kohlensäure meist seinen Kalk abgegeben. In letzter Zeit habe 
ich durch einen hiesigen Sodawasserfabrikanten ein kohlensaures 
Wasser hersteilen lassen, welches ausser der Kohlensäure 0,5 gr 
Chlornatrium und 0,5 gr citronensaures Natrium im Liter ent¬ 
hält und recht schmackhaft ist. 

Es musste nun nahe liegen, diese kalkarme Ernährung in 
allen jenen Fällen zu versuchen, welche mit pathologischer 
Kalkablagerung in die Gewebe einhergehen. Bevor ich aber 
darauf eingehe, möchte ich die Frage aufwerfen, wie sich die 
regelmässige Ausscheidung von Kalk aus dem Körper verhält 
und ob uns nicht Mittel zur Verfügung stehen, die Ausscheidung 
zu beeinflussen. 

(Schluss folgt.) 


II. Aus der inedicinischen Klinik in Bonn. 

Letal endende Polyneuritis bei einem mit 
Quecksilber behandelten Syphilitischen. 1 ) 

Von 

Dr. L. Brauer, 

früherem I. Assistenzärzte der Klinik. 

Seitdem Leyden 1879 in einer Arbeit über Neuritis und 
Polyneuritis diese letztere Krankheitsform als selbstständigen 
klinisch wohl charakterisirten Typus genauer abgrenzte und dia- 
gnosticiren lehrte, sind einschlägige klinische, wie anatomische 
Beobachtungen in grosser Zahl mitgetheilt worden. 

In mannigfacher Weise sind durch diese Studien unsere 
neurologischen Kenntnisse gefördert und erweitert worden. Enger 
ist das Gebiet jener Lähmungen geworden, die man auf ganglio- 
näre Rückenmarkserkrankungen glaubte zurückführen zu dürfen. 
Der Nachweis ausgesprochener pathologischer Veränderungen 

1) Nach einem Vortrage gehalten^vor der Wanderversammlung der 
Südvvestdeutschen Neurologen und Irrenärzte in Baden-Baden 1896. 

1 * 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 13. 


_ 20S 

des peripheren Nervensystems bei den postinfectiösen Lähmungen, 
den Lähmungen nach einigen Metallintoxicationen und der Über¬ 
wiegenden Mehrzahl der sogen. Laudry'schen Paralysen Hess 
diese Lähmungen der Neuritis unterordnen, wenn auch der Streit, 
ob die Ursache dieser peripheren Nervendegeneration nicht doch 
wie dieses besonders von Erb betont wurde, in einer anatomisch 
noch nicht nachweisbaren primären Ganglienzellenerkrankung zu 
suchen sei, zu keiner Zeit ganz geruht hat. 

Bemühte man sich einerseits klinisch und zum Theil auch 
ätiologisch wohlgekannte Lähmungsformen anatomisch präciser 
zu localisiren, so suchte man andererseits nach der Aetiologie 
jener degenerativen Muskelatrophien, die einer gekannten Ur¬ 
sache entbehrten. 

Einen in dieser Hinsicht für unser diagnostisches Können 
wichtigen Schritt that wieder Leyden mit der Aufstellung der 
Polyneuritis mercurialis. 

Bei den Schwierigkeiten aber und den mannigfachen Fehler¬ 
quellen, denen gerade ätiologischen Studien unterliegen und bei 
dem grossen Einfluss, den die einer vorhandenen 
Erkrankung von uns supponirte Ursache auf unser 
therapeutisches Handeln ausllbt, erscheint es dringend 
wUnschenswerth, diese Fragen nachzuprüfen, einschlägiges Mate¬ 
rial nach Möglichkeit zu studiren und bekannt zu geben. 

Von diesem Gesichtspunkte aus sei die nachstehende Be¬ 
sprechung betrachtet: 

Anamnese: Jacob J., 24 Jahre alt, Ackerer, aus W. an der Mosel, 
stammt aus gesunder Familie; er war früher stets gesund; kein Alkoho¬ 
lismus, keine sonstige Vergiftung, keine Infectionskrankheit. 

Anfang August 1895 acquirirt er eine luetische Infcction; 
es wird dieserhalb am 18. August eine Schmierkur eingeleitet. 
Diese dauerte 5 Wochen und es wurde in den üblichen Touren täglich 
anfangs 8 gr, später 4 gr grauer Salbe eingerieben. Es trat weder 
Stomatitis noch Speichelfluss auf. 

Am letzten Tage dieser Kur (dem 16. September) bemerkte 
Patient, der tags zuvor noch völlig wohl gewesen war und thätig auf 
dem Felde mifgearbeitet hatte, des Morgens gegen 10 Uhr ein taubes 
Gefühl in den Händen. Die Hände waren dabei krampfartig geballt, 
es bestanden Zuckungen in den kleinen Handmuskeln und auf 
der Beugcscite der Unterarme. Die Arme schienen im Ganzen 
schwach, die Beine zeigten keinerlei Störungen. 

Nachmittags erklärte der Arzt diese Erscheinungen als Schwäche, 
bedingt durch die Schmierkur. 

Auf dem Heimwege vom Arzt bekam Patient Sehstörungen. Er 
Bah alles verschwommen und doppelt. Dabei bestand Unsicherheit 
im Gang, als sei er betrunken. Gegen Abend wurde er so schwach, 
dass er hinflel. Unruhiger Schlaf. 

Am anderen Tage stellte, sich dann tanbes Gefühl in den 
Beinen, Zuckungen in der Wadenmuskulatur und Unfähigkeit 
zu gehen und zn stehen ein. Lag Patient im Bett, so konnte er 
die Beine bewegen. 

Am dritten Tag trat eine articulatorische Sprachstörung 
hinzu. Patient konnte die Lippen nicht mehr spitzen, die Zunge nicht 
bewegen. Er kannte jeden Ausdruck, konnte aber viele Worte nicht 
aussprechen, da Zunge, Lippen etc. wie gelähmt waren. 

Das Schlucken war dabei sehr erschwert; Patient brachte nur 
Flüssiges herunter, verschluckte sich jedoch nicht. Zuckende Bewegun¬ 
gen im ganzen Gesicht, besonders nm die Augen und um den Mund 
herum. Keinerlei Bewusstseinstrübungen. 

So blieb cs etwa 8 Tage; dann Hessen die Zuckungen im Ge¬ 
sicht nach, jene in den kleinen Handmuskeln und in den Unterschenkeln 
hielten noch länger an; ebenso blieb die Schwäche bestehen, während 
die Sehstörnng wieder schwand. 

Zu keiner Zeit bestand Fieber, ebenso wenig Schm erzen. 

Am 24. September ging er nach Kreuznach, woselbst sich in den 
nächsten 8 Tagen sein Zustand wieder etwas verschlimmerte. Vor 
Allem trat jetzt eine Blasenschwäche auf; Patient konnte den 
Urin nicht mehr so lange halten, wie sonst. Auch hat er seitdem 
keine. Erectionen mehr. Es bestanden Schmerzen im Kreuz, 
jedoch kein Gürtelgefühl, [kein Herzklopfen, keine Athem- 
beschwerden. Er lebte dann wieder einige Tage zu Hause, trat dann 
aber am 9. October, da sieh sein Zustand ständig verschlech¬ 
terte, und sich auch von Neuem secundär-svphilitische Sym¬ 
ptome zeigten, in die Hautklinik zu Bonn, woselbst die in der Zwischen¬ 
zeit ausgesetzte Quecksilberbehandlung wiederaufgenommen 
wurde, und zwar in der Form intramusculärer Injectioncn von Hydrarg. 
salicylic. 0,02, zweimal pro Woche. 

Dabei schwanden die manifesten luetischen Symptome sehr rasch, 
doch stellte sich wieder eine weitere Verschlimmerung seines All- 


gemeinzustandes ein. Er konnte die nändc schlechter bewegen, auch 
wurde der Gang bedeutend schlechter und unsicherer. 

Patient wurde dann in die medicinische Klinik transferirt, woselbst 
nachstehender Befund erhoben wurde. 

Statns (28. X. 95): Ueber Mittelgrösse, kräftiger Knochenbau, 
starke Macies, sehr geringes Fettpolster, keine Oedeme, kein Fieber, 
keine Exantheme, keine Stomatitis, kein Speichelfluss. 

Geringe indolente Drüsenschwellungen am ganzen Körper nach¬ 
weisbar. Tonsillen leicht geröthet ohne Plaques. Indurirte Narbe am 
Penis. 

Brust- und Banchorgane sind ohne pathologischen Befund. 

Der Urin ist klar, sauer, eiweiss- und zuckerfrei. 

Die Pupillen sind gleich, mittelweit, reagiren prompt auf Licht 
und Accomodation. Kein Nystagmus, keine Augenmuskellähmungen. 

Kaumusculatur kräftig, Seitwärtsbewegungen des Unterkiefers 
ausgiebig. Unterkieferreflex ist nicht auszulösen. 

Das Gesicht erscheint im Ganzen etwas gedunsen und ausdrucks¬ 
los, Oedera jedoch nicht nachweislich. Die linke Nasolabialfalte ist 
etwas verstrichen, auch hängt der linke Mundwinkel etwas. Ein Heben 
undllerübcrziehen des Mundes nach links ist nur dann möglich, wenn Patient 
auch den rechten mittleren FacialiRast innervirt. Spitzen des Mundes 
und Aufblasen der Backen ohne Störung möglich, keine Atrophie der 
Gesichtsmuskeln, keine fibrillären Zuckungen. 

Die Sensibilität im Gesicht ist ohne nachweisbare Störung. 

Die Zunge ist nicht atrophisch, wird ohne Zittern vorgestreckt. 
Die Zähne sind leidlich gepflegt, zum Theil cariös. 

Der Gaumensegelreflex ist vorhanden. Keine Sprachstörung. 
Normaler laryngoskopischer Befund. Keine Störung seitens 
der Sinnesorgane. 

Die Musculatur des Schultergürtels functionirt kräftig, ist ohne 
Atrophie. Die accessorischen Atheramuskeln kräftig. 

An den Armen sowohl wie an den Beinen besteht in symmetri¬ 
scher Weise eine ziemlich hochgradige Parese und zwar tritt 
dieselbe an den einzelnen Muskelgruppen um so mehr hervor, je 
mehr dieselben distal gelegen sind. Die Lähmung ist eine 
schlaffe. Kein Muskel ist complet paralytisch. 

Dynamometerdruck R = 8; L = 5. Parallel der Parese geht 
eine Muskelatrophie mittleren Grades. Trophische Störungen 
an der Haut und deren Gebilden fehlen. 

Die Bewegungen sind ausgesprochen atactisch, oft ausfahrend, 
unsicher. Kein Intentionstremor, kein Tremor bei Ruhelage, keine 
cloniseben Zuckungen, keine Spasmen. 

Feinste Pinseiberührnngen werden häufig nicht percipirt und 
zwar im Allgemeinen um so weniger, je peripherer berührt wurde. 

, Spitz und stumpf werden schon an den Oberarmen und an den 
Schenkeln häufig verwechselt; an den Unterarmen upd den Unterschen¬ 
keln kann man häufig Hautfalten durchstechen, ohne dass Patient dieses 
bemerkt. Warm und kalt wird besser unterschieden, doch meint Pa¬ 
tient den Unterschied im Gesicht klarer zu empfinden, wie an den Ex¬ 
tremitäten. 

An den Fingerspitzen giebt Patient taubes Gefühl, Gefühl 
von Steifigkeit und Gedunsensein an. Eigentliche Schmerzen 
fehlen. 

Die Sehnen- und Periostreflexe fehlen. Die Patellarreflexe 
sind auch bei Anwendung der üblichen Ablenkungsversuche nicht aus- 
znlösen. Die Plantarreflcxe sind stark herabgesetzt. 

Ueberall sind in den paretischen Muskeln deutlich ziemlich grobe 
fibrilläre Zuckungen zu beobachten. 

Die palpablcn Nervenstränge, spec. die drei Hauptnerven der 
Arme und die Nervi tibialcs sind leicht druckempfindlich, stärker 
druckempfindlich ist die paretische Musculatur. Dieselbe 
giebt bei der elektrischen Prüfung partielle EaR, mit ausgesprochen 
träger Zuckung und mehr oder weniger hochgradiger Herabsetzung der 
faradischen Erregbarkeit sowohl vom Nerven, wie vom Muskel aus. 

Die Rumpfmusculatur ist im Allgemeinen geschwächt; etwa von 
der Höhe der III. Rippe an nach abwärts besteht eine leichte Ilyp- 
ästhesie. Die Bauchreflexe sind deutlich vorhanden, der Creraasterreflex 
fehlt, Hodenscfamerz ist vorhanden. 

Der Gang ist schwankend und sehr unsicher; Patient kann sich 
vor Schwäche kaum auf den Beinen halten, droht zu fallen. Bei Augen¬ 
schluss steigert sich dieses bedeutend. 

Die Sphincteren sind leicht gestört. Stellt sich Harndrang 
ein, so kann Patient den Urin nur schwer zurückhalten; auch muss er 
sehr häufig nriniren, entleert aber die Blase anscheinend ganz. 

Mässigc Obstipation. Clvsmata können zurückgehalten werden. 

Krankheitsverlauf: In den nächsten 2 Wochen zeigte sich eine leichte 
Verschlechterung, die dann zunächst einem Stillstände Platz machte. 

Während die Kraft der Arme etwas zunahm, steigerte sich die 
Schwäche der Beine bo sehr, dass Patient nicht mehr stehen konnte, 
Beim Gehen musste er von beiden Seiten gestützt werden. 

Es trat ferner Rctentio urinae auf, so dass zeitweise Katheterismus 
nöthig wurde. 

Dabei klagte Patient beständig über ein Gefühl von Steifigkeit im 
Gesicht, ohne dass sich jedoch eine deutliche Parese der mimischen 
Muskeln herausgebildet hatte. Dagegen fand sich bei einer um diese 
Zeit vorgenommenen qualitativen elektrischen Untersuchung in diesen 
Mnskeln deutliche EaR mit hochgradigster Herabsetzung der Nerven- 
und Muskelerregbarkeit selbst stärksten faradischen Strömen gegenüber. 


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29. März 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


269 


Bei der klinischen Vorstellung wurde Mitte December von 
Herrn Prof. Schul tze die Diagnose auf periphere Neuritis ge¬ 
stellt, unter Berücksichtigung der Möglichkeit einer diffasen Myelitis. 

Der Ausgang, d**n der Fall nahm, bestätigte die Diagnose. 

Die Druckschmerzhaftigkeit der Nerven und Muskeln steigerte sich; 
es bestand zeitweise deutliches Ischiasphänomen. 

Die Paresen nahmen mehr und mehr zu. 

Schon in den letzten Tagen des December zeigte sich, dass Patient 
auffallend kurzathmig ist, besonders beim Sprechen. 

Am 19. Januar 1896 stellt sich daun Mittags plötzlich ein Er- 
atickungsanfall ein. Von diesem Momente an wird Zwerchfell¬ 
lähmung constatirt. Nach 8 Tagen geht Patient an der sich hinzu¬ 
gesellenden doppelseitigen Unterlappenpneumonie zu Grunde. 

Section: Dieselbe wurde V* Stunde poBt mortem begonnen; sie 
bestätigte die beiderseitige Unterlappenpneumonie, Hess mehrere auf dem 
Querschnitte markige, blass geschwellte kleine Drüsen erkennen, ergab 
im Uebrigen nichts Erwähnenwerthes. 

Zu mikroskopischer Untersuchung wurde der Leiche ent¬ 
nommen: Gehirn, Rückenmark, einzelne Spinalganglien. Von 
peripheren Nerven: 1. rechterseits: Facialis (Ram. I und II), 
Radialis (Uber der Mitte des Humerus), Ulnaris (am Olecranon), 
Medianus (über dem Ellenbogengelenk), Ischiadicus (über dem M. 
quadriceps). 2. linkerseits: Facialis (Ram. I), Ulnaris (am Ole¬ 
cranon), Medianus (über dem Ellenbogengelenk), Radialis (über der 
Mitte des Oberarmes), Ischiadicus (über dem M. quadriceps), Pero¬ 
neus (am Capitul. flbulae). Endlich von Muskeln: M. levator 
raenti (R.), Muscul. frontal. (R. und L., mit dem Nerven prä- 
arirt), M. triceps (R. und L.), Extensorengruppe (Unterarm L.), 
M. supinator longus (R. und L.), M. ti bi all 8 antic. (It. und L.), 
M. peron. longus (L), Blasenmusculatur (am Blasenhals). 

Frisch untersucht wurden einzelne periphere Nerven. Es 
fand sich im Zupfpräparat leichte körnige Trübung. 

Zur Conservirung kamen alle Präparate zunächst für 8 Tage in 
5procent. FormalinlöBuDg, darauf in Müller’sche Flüssigkeit, 
die häufig gewechselt wurde. Hierin verblieb das Centralnervensystem 
6 Wochen, das periphere Nervensystem und die Muskeln 8 Wochen und 
länger. Die Präparate kamen darauf in steigenden Alkohol und 
wurden in Celloidin geschnitten. Gefärbt wurde nach Weigert’s 
Markscheidenmethode, nach v. Gieson, sowie mit Kern¬ 
farben. 

Die auffälligsten Veränderungen fanden sich an den peri¬ 
pheren Nerven und zwar an den verschiedenen Nerven in annähernd 
der gleichen Weise. 

Bei schwacher Vergrösserung zeigen im Weigertpräparat die Nerven 
auf dem Längsschnitte ein scheckiges Aussehen. Es finden sich die 
verschiedensten Grade der Markscheidendegeneration neben 
einander. Bei stärkerer Vergrösserung zeigt sich die Mark¬ 
scheide zum Theil ziemlich intensiv und gut gefärbt, zum 
Theil ist sie anscheinend ganz geschwunden. Dazwischen 
finden sich die mannigfachsten Uebergänge. Die Scheide er¬ 
scheint bald in gröberer, bald in feinerer unregelmässiger Körnung; bald 
ist nur ein zartes Reticulum von dunkler Färbung vorhanden, bald 
wieder besteht die Markscheide aus zahlreichen ineinander geschachtel¬ 
ten Trichterchen, entsprechend den Lantermann’schen Einkerbungen. 

Dass stellenweise etwa die Hälfte der Markscheiden fast ganz ge¬ 
schwunden ist, zeigen besonders Querschnittbilder. In diesen findet man 
häufig auch stark gequollene Markscheiden, in denen der Axencylinder 
dann meist randständig erscheint. 

Die Axencylinder selbst sind nur in geringer Zahl leicht 
gequollen, nirgends zerfallen, oder gar geschwunden. Sie sind im 
Allgemeinen an den van Giesonpräparaten deutlich zu erkennen und 
wohl erhalten. 

Eine interstitielle Kernvermehrung ist nicht in nennens- 
werther Weise vorhanden, dagegen findet sich mehrfach eine 
mässige Zunahme des Stützgewebes im Vcrhältniss zum Parenchym 
und zwar zumeist in Form einer Verdickung des Perineuriums. 

Dabei haben diese einzelnen Nervenbündel vielfach ihre normale 
rundliche Form verloren und erscheinen unregelmässig kantig. Diese 
letztere Erscheinung ist sehr auffällig und eventuell als Härtungsanomalie 
anzusehen; sie könnte Ja allerdings auch bedingt sein durch die Ver¬ 
schmälerung und den 8chwund zahlreicher Markfasern, so dass mit dem 
Schwinden des Inhaltes die Hülle faltig geworden wäre')- 

Ein deutlicher Unterschied in den beschriebenen Veränderungen je 
nach der mehr distalen oder proximalen Lage des untersuchten Nerven¬ 
abschnittes, liess sich nicht constatiren. Selbst die Nervenstränge in 
der Cauda equina boten annähernd das gleiche Bild, nur dass hier bc- 
besonders auffällig die Quellung einzelner Markscheiden zu Tage trat. 
Wohl aber fehlte hier völlig jegliche Kernvermehrung oder Stützgewebs- 
verbreiterung. 

An den Durchtrittstellen der Wurzeln durch die Dura, 
die in grösserer Zahl auf Längs- wie Querschnitten untersucht wurden, 
fand sich nichts speciell zu bemerkendes. 


1) Analoge Befunde, nur in stärkerer Ausprägung, erhob Leyden 
in 2 Fällen von Neuritis multiplex. Er beschreibt dieselben auf S. 7 
nachgenannter Arbeit: Die Entzündung der peripheren Nerven (Polyneu¬ 
ritis — Neuritis multiplex), deren Pathologie und Behandlung. Berlin, 
1888 (2 Vorträge, gehalten in der militärärztlichen Gesellschaft in Berlin). 


In den Spinalganglien fanden sich die erwähnten hochgradigen 
Veränderungen an den Markscheiden, normale Axencylinder, nicht sichtbar 
veränderte Ganglienzellen. 

Wenn auch rein sensible Nerven leider nicht präparirt wurden, 
so läsBt doch dieser Befund in Verbindung mit dem Umstande, dass in 
der Cauda sowohl, wie im peripheren Nerven die Veränderung gleich- 
mässig über die einzelnen Bündel zerstreut war, darauf schliessen, dass 
die Erkrankung die motorischen, wie die sensiblen Leitungen in etwa 
gleicher Weise betroffen hatte. 

Nirgends finden sich Veränderungen an den Gefässen. Von 
Interesse waren die Befunde am Rückenmark. Hier fanden sich 
nur Veränderungen an einzelnen Vorderhornganglienzellen, 

Während die Zellen etwa zur Hälfte das bekannte helle, nicht 
gekörnte, homogene Aussehen hatten und die anderen klare schöne For¬ 
men zeigten, Nissl’schen Bildern ähnlich gekörnt erschienen, war etwa 
jede 20. Zelle vaeuolisirt, einige Zellen waren auffallend 
schmal und einige wenige zeigten eigentbümliche, kugelige vom 
Kern unabhängige Einlagerungen, die sich nach van Gieson 
tief roth färbten. Die Deutung dieser Körper muss ich dahin gestellt 
sein lassen. 

Die Faserzüge im Rückenmark, die Stützfaserung und beson¬ 
ders die Gefässe waren, so wie es schien, normal. Die Mark¬ 
scheidenerkrankung begann erst in den extramedullären 
Wurzeln. 

Die untersuchten Gehirnabschnitte boten für die angewandten 
Färberaethoden nichs Auffallendes. 

Die Muskeln waren im Hinblick auf die klinisch ziemlich weit 
vorgeschrittene degenerative Atrophie auffallend wenig verändert. Die 
Kerne sind alleidings ziemlich reichlich vermehrt, die inter¬ 
stitiellen Faserzüge verbreitert und kernreich; stärker ver¬ 
schmälerte Muskelfasern werden aber nur selten angetroffen, 
auch ist meist die Querstreifung deutlich erhalten. 

Zwischen der fast normal functionirenden, aber EaR darbietenden 
Facialisrousculatur und den stärker paretischen Muskeln fand sich nur 
ein leichter Unterschied und zwar zu Gunsten der ersteren. Hierbei 
möchte ich aber nochmals hervorheben, dass auch keiner der Extremi¬ 
tätenmuskeln der Willkür völlig entzogen war, dass es sich vielmehr 
überall nur um, wenn auch stellenweise sehr hochgradige, Schwäche¬ 
zustände in willkürlich zu bewegenden Muskeln handelte. 

Es braucht im vorliegendem Falle auf die Berechtigung zu 
der Diagnose eine Polyneuritis wohl nicht näher eingegangen 
zu werden. Sowohl das klinische Bild, wie die anatomischen 
Veränderungen, die demselben zu Grunde liegen, sind häufig 
genug besprochen worden. 

Nur der Umstand verdient vielleicht nochmals specieller 
Betonung, dass sich in unserem Falle die anatomischen Ver¬ 
änderungen fast ausschliesslich auf die Markscheide beschränken. 

Von Interesse durfte es aber wohl sein, die bei dem vor¬ 
liegenden Fall in Frage kommenden ätiologischen Momente 
zur Sprache zu bringen. 

Die in eingehender Berücksichtigung aller jener Momente, 
die ira Stande sein sollen, gelegentlich eine Polyneuritis hervor- 
vorzurufen, aufgenommene Anamnese lässt nur 2 Schädlichkeiten 
erkennen. 

Von dem Kranken, wie von den Angehörigen desselben, 
wurde Alkoholismus, Blei- und Arsenikvergiftung, eine Infections- 
krankheit sowie echter Rheumatismus in Abrede gestellt; auch 
entsprechen ja die klinischen Erscheinungen nicht dem gewöhn¬ 
lichen Bilde bei Alkoholneuritis, oder gar der saturninen oder 
Arsenvergiftung. 

Wohl aber litt der Patient unter frischer lueti¬ 
scher Infection und wurde dieserhalb mit Quecksilber 
behandelt. 

Nach dem Stande unserer heutigen Kenntnisse kann das 
syphilitische Virus das Nervensystem in doppelter 
Weise schädigen. Es kann entweder specifisch anato¬ 
mische Veränderungen setzen oder durch Bildung chemischer 
Giftstoffe, der Toxine, eine Intoxication des Körpers lier- 
vorrufeu, die ihren Ausdruck in degenerativen Veränderungen 
des Nervensystems findet. 

In dem vorliegenden Falle ist ein auf specifisch 
luetischen Veränderungen beruhendes, peripheres 
oder centrales Nervenleiden mit Sicherheit auszu- 
schliessen. 

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270 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 13. 


Es spricht in erster Linie der anatomische Befund da¬ 
gegen, der einerseits Arterienveränderungen, andererseits charak¬ 
teristische, entzündliche oder gewebsbildende l’rocesse vermissen 
lässt. 

Die leichte Zunahme des Stützgewebes und die geringfügige 
Kernvermehrung entsprechen höchstwahrscheinlich einer Irritation 
des interstitiellen Gewebes, bedingt durch den Schwund im 
Parenchym, eine Erscheinung, die bei parenchymatöser Degene¬ 
ration auch an anderen Organen beobachtet wird und mehr 
oder weniger alle degenerativen Nervenerkrankungen zu be¬ 
gleiten pflegt. 

In zweiter Linie widerspricht das klinische Bild unseres 
Falles dem Versuch, denselben durch specifische Veränderungen 
am Nervensystem zu erklären. Die entzündlichen Neuritiden, 
die im Gefolge der Lues auftreten, die Schädigung der Nerven 
durch Gummabildung oder periostitische Wucherungen, sie sind 
nie in so ausgedehnter Weise symmetrisch Uber den 
ganzen Körper verbreitet, auch treten sie vor Allem nicht in so 
rascher Folge ein; sie können höchstens einmal wenn sie die 
Cauda ergreifen in der Form der Paraplegie eine gewisse Sym¬ 
metrie zeigen. 

Auch die von Kahler beschriebene multiple, syphili¬ 
tische Wurzelneuritis bietet ein anderes Krankheitsbild. 
Auch hier werden die einzelnen Nerven in unregelmässiger 
Folge betroffen und vor Allem sind diese Lähmungen, wie 
übrigens auch jene zuvor erwähnten luetischen Nervener¬ 
krankungen von schweren Neuralgien begleitet. 

Endlich pflegen alle diese Erkrankungsformen nicht zu 
einem Zeitpunkte einzusetzen, an welchem eine consequente 
Quecksilberbebandlung die vorhandenen syphilitischen Gewebs¬ 
veränderungen nach Möglichkeit zum Schwunde gebracht hat. 

Anders steht die Frage, wenn wir im vorliegenden 
Falle auf eine toxische Wirkung der Syphilis zurlick- 
greifen. 

Dass die Syphilis auf der Einwanderung eines allerdings 
noch nicht sicher gekannten Mikroorganismus beruht und dass 
daher auch ihre Symptome zum Theil auf eine Intoxication 
des Organismus durch von dem lebenden Virus producirte 
chemische Gifte zurück zu führen sind, wird wohl heut zu 
Tage allgemein angenommen. Viele jener Beschwerden, die das 
Eruptionsstadium der Sceundärsymptome begleiten, sind hierher 
zu rechnen; so die Kopfschmerzen, das gelegentliche Fieber, 
die depressive Stimmung, die Sensibilitätsstörungen 
(Ilypalgesien) die Fournier während des Eruptionsstadiums am 
Handrücken und an den Fingern fand, dann die Steigerung 
der Reflexerregbarkeit, die nach Finger mit den Exan¬ 
themen kommt und geht, endlich die von Lang notirten Par- 
ästhesien und vielleicht auch die gelegentlich beobachteten 
flüchtigen Paraplegien. 

(Schluss folgt.) 


III. Extraction eines Knochenstückes aus der 
Speiseröhre nach vorheriger Röntgendurch¬ 
leuchtung. 

Mitgethcilt von 

Prof. Dr. Max Schüller in Berlin. 

Am 2(5. Novbr. 96 wurde mir von Herrn Dr. K. eine ältere Dame 
zugeführt, welche vor zwei Tagen beim Essen ein Knochenstück mitge¬ 
schluckt hatte, welches nach ihrer Angaben noch in der Speiseröhre 
stecken geblieben sein sollte. Sie hatte starke Schmerzen und ver¬ 
mochte nichts zu schlucken. Selbst kleine Schlucke Flüssigkeiten verur¬ 
sachen die grössten Schmerzen. Die Nächte konnte sie nur sitzend und 


schlaflos zubringen. — Kräftige gutgenährte Frau. Hals äusserlich 
normal. Bei der Betastung einer als besonders schmerzhaft angegebenen 
Stelle auf der linken Seite, etwas unterhalb des Bingknorpels ist nur 
eine geringe Resistenz fühlbar, eine genauere lokale Bestimmung aber 
schon wegen der intensiven Schmerzhaftigkeit der Berührung unmöglich, 
Laryngoskopisch übersieht man mit grösserer Leichtigkeit den Kehlkopf¬ 
eingang, das Innere des Kehlkopfes sowie den Pharynx. Von einem 
Fremdkörper ist nichts zu bemerken; ebensowenig bei der Untersuchung 
mit dem Finger vom Munde aus, da man eben nur bis hinter die Epi¬ 
glottis reichen kann. Während ich aber mit dem linken Zeigefinger 
Zunge und Kehldeckel resp. Larynx ein wenig nach vorn schiebe, führe 
ich leicht eiue Oesophagussonde mit schmaler Olive ein und gelange 
etwas unterhalb des Kingknorpels auf einen harten Körper. Nach 
wiederholter Untersuchung scheint mir derselbe fest in der linken Wand¬ 
partie der Speiseröhre zu sitzen, entweder so, dass ein Ende frei nach 
rechts sieht, oder was wahrscheinlicher, dass auch das andere Ende sich 
an der rechten Wand anstemmt, also der Fremdkörper quer liegt. Er 
ist so fest eingekeilt, dass beim Zurückziehen der Sondenknopfes das 
KnochenstUck ein schnappendes oder schnurrendes Geräusch bemerken 
lässt, gleichsam als würde es in federnde Schwingungen versetzt. Alle 
Versuche, das Knochenstück zu inobilisiren, geschweige denn zu ent¬ 
fernen, blieben erfolglos. Deshalb schlug ich die Operation von aussen 
vor. Patientin konnte sich nicht sofort dazu entschliessen, kam aber 
am andern Morgen mit dem Entschlüsse in meine Klinik. Hier war 
alles znr Operation des Speiseröhrenschnittes von aussen bereit. Doch 
glaubte ich den Fall nicht vorübergehen zu lassen, ohne ihn der Be¬ 
leuchtung mit Röntgenstrahlen zu unterziehen. Es schien mir 
schon deshalb von Wichtigkeit, um überhaupt festznstcllen, ob ein solches 
doch immerhin relativ kleines Knochenstück in der Speiseröhre durch 
X-Strahlen nachweisbar sei, was ja bei metallischen Körpern von vorn¬ 
herein anzunehmen war. 1 ) Wenn das auch bei den Knochenstücken 
möglich war, so liess sich nicht nur der Sitz und die Lage genauer 
bestimmen, sondern vielleicht auch doch noch der Knochen mit einer 
entsprechenden Zange vom Munde aus entfernen. 

Ich nahm diese Untersuchung mit einem vorzüglichen Apparate der 
Firma Ferd. Ernecke (Berlin) vor. Wir Hessen die Röntgenstrahlen zu¬ 
nächst von der linken Seite her auf den Hals bei stark zurückgebogenem 
Kopfe einwirken, während der DurchlcuchtungsBcbirm („Projections- 
schirm 4 *) dicht gegen die rechte Kopf- und Halsseite angedrängt gehalten 
wurde. Sowie der Raum verdunkelt und der Strom in den Gang gesetzt 
war, trat sofort auf dem hellen Schirm der Unterkieferknochen in einem 
scharf begrenzten Schattennmriss sichtbar hervor. Darunter bemerkte 
man zunächst den Umriss des Zungenbeins als quer liegenden Schatten 
mit nach hinten aufwärts gebogener Spitze. Dicht darunter erschien in 
des Form eines langgestreckten umgekehrten 8 (• r ) das Durchleuchtungs¬ 
bild der Epiglottis. Der Schildknorpelplatte entsprechend war nur eine 
rundliche nicht scharf begrenzte dunkle Stelle von der Grösse etwa 
eines Zehnpfennigstückes zu erkennen, während der Ringknorpel wieder 
durch einen ziemlich gut begrenzten quer verlaufenden Schatten markirt 
wurde. Dicht unter und hinter demselben war ein dunklerer etwas 
Uber erbsengrosser zackiger Schattenfleck zu sehen. Da der 
Hals sehr kurz und fleischig war, und in Folge dessen der Schirm nicht 
tief genug herab reichte, so liess ich eine Schluckbewegung machen. 
Dabei steigt bekanntlich der Kehlkopf sammt dem Schlund in die Höhe 
und zugleich etwas nach vorn. Mit ihm wurde auch der eckige Schatten- 
fleek gehoben und dann ebenso wieder gesenkt. Er wurde beim 
Schlucken besonders deutlich, weil dabei zwischen Kehlkopf und Wirbel¬ 
säule ein dreieckiger heller Raum entsteht. Dass der Schatten dem 
Knochenstücke angehörte, wurde auch dadurch noch festgestellt, dass 
derselbe dem Schraerzpunkte entsprach, welcher bei der Betastung von 
aussen links dicht unter dem Ringknorpcl angegeben wurde. Anfänglich 
fiel mir die Kleinheit des Schattens auf, da mir bei der Sondenunter¬ 
suchung das Knochenstück wesentlich grösser vorgekommen war. Dann 
aber wurde mir klar, dass wir im Bcleuchtungsbilde den Knochen, der 
nach meiner Ansicht quer im Oesophagusanfange stecken musste, nur 
in der Verkürzung sahen. Gerade von vom oder von rückwärts 
durchleuchtet trat er ganz zurück vor dem Schattenrisse der Wirbelsäule. 
Auch von rechts aus beleuchtet war er nicht so klar zu sehen wie von 
der linken Seite aus. — Eine photographische Aufnahme liess sich nicht 
machen, da ich befürchtete, damit zu viel Zeit zu verlieren, weil ja 
immer noch die Nothwendigkeit einer Operation von aussen bestand. 
Bevor ich aber zu dieser schritt, für welche, wie schon bemerkt, alles 
vorbereitet war, machte ich noch einen Versuch; den Knochen vom 
Munde her mit einer etwas längeren, stark gebogenen Zange, einer 
Störk’sehen Larynxzange, 4 ) welche ich mir mittlerweile besorgt hatte, 
zu fassen. Ich vermochte ihn thatsächlich zu packen, fand aber, da er 
in der Mitte gefasst war, einen zu starken Widerstand, weil er sich an¬ 
scheinend auch an der rechten Wand anstemmte, während er in der 
linken sehr fest eingebohrt war. Ich rückte deshalb mit der Zange am 
Knochen, ohne ihn loszulassen, nach rechts und vermochte ihn nun unter 
vorsichtigen Zügen, während welcher sich der quergestellte Knochen 
mehr in die Richtung der fassenden Branchen drehte, herauszuziehen, 
ohne dass eine weitere Verletzung entstand. Thatsächlich hielten ihn 


1) S. J. Macintyre, Röntgenrays in laryngeal surgery. Journ. 
of Lar. 189(5, No. 5. (Refer. im Centralbl. f. Chir. 1896, No. 28.) 

2) S. K. Störk, Laryngoskopie u. Rhinoskopie in Pitha und 
Billroth, Hdb. d. allg. u. spec. Chir. III. H. 7, S. 615, Fig. 137. 


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29. Mäfö 1897. 


271 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


die Branchen am breiten nicht blutigen Ende, so dass das ursprünglich 
in der Wand steckende allein blutig benetzte Bpitze Ende frei nach 
nnten hervorragte. 

Das Knochenstück stellt sich als ein mcsserschneidrnähnliches sehr 
scharfes und spitzes Stück eines Gänseröhren-Knochen dar, genau 8,2 cm 
(also fast llang, gegenüber der Spitze 0,7 cm breit, die Seiten 
bogig. 

Ich behielt die Dame einige Tage in meiner Klinik, Hess alle 
Speisen nur per klysina geben, per os nur sterilisirtes Wasser nehmen. 
Es trat nur am ersten Abend massige Schwellung, Heiserkeit und mini¬ 
male Temperaturerhöhung ein, welche zum Verordnen von '/, g r Anti- 
pyrin veranlasste. Aussen wurden feuchte Umschläge gemacht. Im 
übrigen waren keine Beschwerden zu bemerken. Auch die Schmerzen 
beim Schlucken waren nach 4 Tagen vollkommen verschwunden, so dass 
die Dame entlassen werden konnte. 

Es war hier augenscheinlich von besonderem Vortheile für 
das Durchleuchtungsbild, dass es sich um eine ältere Dame 
handelte, bei welcher die Kehlkopfknorpel wohl schon in ver¬ 
schiedenem Grade verkalkt waren. Dadurch wurden sie um so 
besser im Bilde sichtbar. Bei Versuchen, welche ich später mit 
jüngeren Individuen anstellte, war zwar stets das Zungenbein 
gut, die Kehlkopfknorpel aber nicht annähernd gleich deutlich 
wie im eben berichteten Falle zu erkennen. Bei einem 15jähr. 
Knaben war in dem hellen Raume vor der Wirbelsäule und 
unter dem Unterkiefer hier mit deutlich erkennbaren einge¬ 
schlossenen Zahnkeiraen nur das Zungenbein klar, an Stelle der 
Theile des Kehlkopfes aber nur undeutliche lichte Schattenflecke 
zu sehen. Gleichwohl dürfte unter der Röntgendurchleuchtung 
ein steckengebliebenes Knochenstück auch bei jüngeren Indivi¬ 
duen an dem entsprechenden Schatten bemerkbar werden. Einen 
metallischen Körper würde man wahrscheinlich auch bei Durch¬ 
leuchtung des Halses von vorn oder hinten leicht wahmehmen, 
da ein solcher selbst durch die Wirbelsäule hindurch sichtbar 
sein würde. Kann man doch einen Metallstift selbst durch den 
ganzen Schädel hindurch mit der grössten Deutlichkeit sichtbar 
machen. 

Wenn auch die Durchleuchtung mit Röntgenstrahlen hier 
nicht einen so vollkommenen Aufschluss ergab, wie man ihn 
vielleicht erwarten mochte und wie ich ihn selber durch die¬ 
selbe beispielsweise in Fällen von Ankylose und Pseudarthrose, 
die ich kürzlich operirte, fand, so möchte ich doch zur Be¬ 
nützung der Durchleuchtung in analogen Fällen anregen. Ich 
bezweifle nicht, dass wir hierdurch eine Erweiterung unserer 
diagnostischen Kenntnisse wie manche interessante Anregung in 
operativer Hinsicht erfahren werden. Auch scheint mir nach 
den wenigen eigenen Untersuchungen des Halsgebietes unter 
Röntgendurchleuchtung, dass man damit auch betreffs der Phy¬ 
siologie des Schlingactes wichtige Aufschlüsse gewinnen könnte. 


IV. Ueber Abortbehandlung. 

Von 

Dr. Abel. 

(Nach einem Vorträge, gehalten in der Berliner medicinisehen Gesell¬ 
schaft am 8. März 1897.) 

Wenn ich mir erlaube, in dieser Gesellschaft Uber die Be¬ 
handlung des Abortes zu sprechen, so geschieht es, weil gerade 
der Abort eine Erkrankung ist, deren Behandlung vornehmlich 
in das Gebiet des praktischen Arztes gehört. Insbesondere sind 
es die jüngeren Collegen, welche nicht sofort, wenn es sich um 
eine derartige Erkrankung handelt, einen Specialisten hinzuziehen 
können, sondern welche darauf angewiesen sind hier selbst und 
oft unter den schwierigsten äusseren Bedingungen einzugreifen. 
Wären nun die Meinungen, wie in einem jeden Falle ein Abort 
zu behandeln ist, geklärt, so wäre es ja eigentlich überflüssig, 
dies Thema immer wieder zur Discussion zu stellen. Dem ist 
aber keineswegs so, und wenn man die Literatur der letzten 


Jahre verfolgt, so muss man in der That staunen, wie in fast 
jeder Arbeit andere Principien für die Behandlung aufgestellt 
werden. Unter dieser Unentschiedenheit der Specialisten leidet 
natürlich der Praktiker, welcher sich nach den in den Kliniken 
an einem grossen Material aufgestellten Grundsätzen richten 
will, um bei der Behandlung des Abortes sicher zu gehen. Wenn 
ich mir nun erlaube, in Folgendem ganz bestimmte Principien 
aufzustellen, so geschieht dies, nachdem ich mich an der Hand 
von Uber 200 in meiner Klinik auf das Sorgfältigste beobachte¬ 
ten Fällen von der Richtigkeit oder besser Sicherheit dieser 
Behandlungsmethode überzeugt habe. Da es mir heute nur 
darauf ankommt, Uber die Behandlung des Abortes zu sprechen, 
so unterlasse ich es, auf die Ursachen desselben, sowie auf die 
Prophylaxe hier einzugehen. Beides sind selbstverständlich 
ausserordentlich wichtige Dinge und haben bereits oft eingehende 
Bearbeitung gefunden. 

Ich trete vielmehr gleich in medias res ein. Es sind fol¬ 
gende Stadien des Abortes zu unterscheiden: 

1. der unvollkommene Abort, 

2. der drohende Abort, 

3. der vollendete Abort. 

Entgegen der gewöhnlichen Eintheilung will ich zuerst den 
unvollkommenen Abort, den sogenannten „Abortus imperfectus“, 
besprechen, weil gerade bei dieser Art am häufigsten die Hülfe 
des Arztes in Anspruch genommen wird. 

Das Krankheitsbild, welches man gewöhnlich vorfindet, ist 
kurz folgendes: 

Die Menstruation ist ein oder mehrere Male ausgeblieben, 
dann sind plötzlich aus irgend einer Ursache Blutungen aufge¬ 
treten, welche mitunter Wochen lang bestehen, bevor die Frauen 
ärztliche Hülfe in Anspruch nehmen. Ob eine Frucht beim Ein¬ 
tritt der Blutungen oder später abgegangen ist, ist in vielen 
Fällen nicht zu eruiren. Ist der Abort erst vor wenigen Stun¬ 
den erfolgt, so ist der äussere und innere Muttermund geöffnet, 
man kann die zurückgebliebene Placenta fühlen und aus der 
weichen Beschaffenheit des vergrösserten Uterus wird man mit 
Leichtigkeit die richtige Diagnose stellen. Bestehen dagegen 
die Blutungen schon lange, so ist äusserer und innerer Mutter¬ 
mund fest geschlossen, und man kann zweifelhaft sein, ob es 
sich um einen Abort oder eine andere intrauterine Erkrankung 
handelt. 

Wie soll man sich nun in solchen Fällen verhalten? Hier 
stehen sich zwei diametral entgegengesetzte Methoden gegenüber; 
die eine, welche unter allen Umständen zu Löffel und Curette 
greift und herausschabt, was von diesen Instrumenten gefasst 
wird, die andere, welche nicht im Blinden operiren will, sondern 
sich erst durch geeignete Methoden das Innere des Uterus für 
die Austastung mit dem Finger zugänglich macht. 

Die erstere Methode, welche ich von vornherein als eine 
rohe und unchirurgische bezeichnen möchte, ist leider die am 
weitesten verbreitete. Die schädlichen Folgen der Verbreitung 
solcher Methoden sind unausbleiblich. Und darum darf man 
sich auch nicht wundern, wenn fast kein Jahr vergeht, in 
welchem nicht ein Arzt wegen fahrlässiger Körperverletzung mit 
tödtlichem Ausgang, begangen bei Abortbehandlung, vor dem 
Strafrichter sich zu verantworten hat. Bedenkt man, wie auf¬ 
gelockert und mürbe die Muskulatur eines solchen Uterus ist, 
so muss schon der Geübte alle Vorsicht an wenden, um keine 
Perforationen zu machen. Aber selbst dem Geübten kaun eine 
solche passiren, und wie häufig dies geschieht, dafür legt jene 
denkwürdige Sitzung der gynäkologischen Gesellschaft 1 ) Zeugniss 


1) Sitzung der Berliner Gesellschaft für Geburtshülfe und Gynäko¬ 
logie vom 9. März 1894. 


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2?2 


Ko. 13. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


ab, bei welcher u. A. von 4 Mitgliedern vier Fälle von Perfora¬ 
tionen des Uterus, darunter drei mit tödtlichem Ausgang, mit- 
getheilt wurden. Es aber als keinen Kunstfehler zu bezeich¬ 
nen, wenn ein Arzt einen Uterus perforirt, sondern erst dann 
davon zu sprechen, wenn er die Perforation nicht sofort bemerkt, 
scheint doch etwas Sophisterei zu sein. Solche UnglUcksfälle 
werden bei dem blinden Auskratzen von schwangeren Uteris 
immer wieder Vorkommen, und es wäre förderlicher gewesen, 
wenn man schon damals diesen Auskratzungen ein energisches 
Halt zugerufen hätte. Ich bin in letzter Zeit öfter von jüngeren 
Collegen zugezogen worden, welche mit der Entfernung von 
Placentarresten nicht fertig wurden, deren ganzes gynäkologi¬ 
sches Instrumentarium in einer Kugelzange und einer Curette 
oder scharfem Löffel bestand. Es liegt eine Blutung nach Abort 
vor, -also wird ohne weitere Vorbereitung die Portio angehakt 
und ausgekratzt. Um zu beweisen, in welcher Ausdehnung das 
Auskratzen bei zurückgebliebenen Eihautresten empfohlen wird, 
bringe ich Ihnen hier ein kürzlich erschienenes Buch mit: Die 
geburtshülfliche Praxis in kurzer Darstellung von Koss- 
mann. Die Lehren, welche in diesem für den Praktiker ge¬ 
schriebenen Büchelchen Uber den Abort niedergelegt sind, sind 
bezeichnend für eine ganze Richtung. Bei der Wichtigkeit des 
Gegenstandes kann ich es mir nicht versagen, hier einige Stellen 
wörtlich zu citiren. Kossmann sagt (pag. 47 ff.): 

„In diesem Falle“ (nämlich wenn die Eihäute nicht spontan 
ausgestossen sind) „muss man die Entleerung der Gebärmutter ent¬ 
weder mit den Fingern oder mit Instrumenten vornehmen. Bei 
der Wahl kommen verschiedene Momente für und wider die An¬ 
wendung der Finger in Betracht. Zunächst ist gegen die An¬ 
wendung der Finger einzuwenden, dass deren absolut sichere 
Desinfection nicht möglich ist, und dass namentlich, wenn der 
Arzt in den letzten Tagen die Berührung von Infectionsstoffen 
nicht durchaus hat vermeiden können, die Ausräumung der Ge¬ 
bärmutter stets mit nicht unbeträchtlicher Infectionsgefahr für 
die Abortirende verbunden ist.“ 

Und ferner: 

„Immerhin wird man, wie ich glaube, mit dem Winter’schen 
Abortlöffel, wenn man nicht sehr ungeschickt und roh hantirt, 
kaum grössere Gefahr der Perforation laufen, als bei Anwen¬ 
dung der Finger; und sollte es mit Hülfe des allerdings ganz 
stumpfen Instruments nicht gelingen, alle Eihautreste zu ent¬ 
fernen, so zieht sich doch die Muskulatur der Gebärmutter 
während der Manipulation zusammen, und man wird den Eingriff 
mit der Anwendung einer recht grossen Curette abschliessen 
können, ohne dass eine Perforation zu befürchten ist.“ 

Nachdem dann die Kranke in richtiger Weise gelagert ist, 
heisst es: 

„Dann dringt man, indem man die Kugelzange mit der 
linken Hand hält, mit dem Abortlöffel in die Gebärmutterhöhle 
ein, holt zunächst alles, was gelöst in der Gebärmutter liegt, 
heraus und schabt dann systematisch die ganze innere Ober¬ 
fläche der Gebärmutter ab. . . . Ueberzeugt man sich, dass der 
Löffel nichts mehr entfernt, obwohl die Blutung noch fortdauert, 
und eine genügende Contraction der Gebärmutter noch nicht 
eingetreten ist, so greife man zur Curette.“ 

Es wird nun die Roux’sche Curette besonders empfohlen, Uber 
deren Gefährlichkeit ja zu wiederholten Malen gesprochen worden 
ist. Zum Schluss dieser Ausführungen heisst es dann noch: 

„Bemerkt man nach der Auskratzung noch eine nennens- 
werthe Blutung aus dem Muttermunde, so suche man zunächst 
durch Reiben des Gebärmutterkörpers zwischen der durch das 
vordere Scheidengewölbe eingefUhrten linken und der durch die 
Bauchdecke wirkenden rechten Hand Contractionen der Uterus¬ 
muskulatur zu bewirken. Führt dies nicht binnen weniger 


Minuten zur festen Contraction und zum Aufhören der Blutung, 
so ist anzunehmen, dass noch Eireste zurückgeblieben sind, und 
man wird mit der Ausschabung von neuem beginnen.“ 

Da haben Sie, ra. H., in ungeschminktester Darstellung jene 
verhängnisvollen Lehren, vor denen zu warnen ich mir heute 
als Aufgabe gestellt habe. Nicht genug, dass bei diesem Vor¬ 
gehen die Gefahr der Perforation eine ausserordentlich grosse, 
für weniger Geübte kaum zu vermeidende ist, wird durch dieses 
Verfahren, selbst wenn es noch so gewaltsam ausgeführt wird, 
nicht einmal immer eine völlige Entleerung der Gebärmutter be¬ 
wirkt. Oft sind Fälle in meine Behandlung gekommen, welche 
vorher zu wiederholten Malen ausgekratzt worden waren, ohne 
dass die Blutung aufgehört hätte. Bei näherer Untersuchung, 
auf welehe ich sofort zu sprechen komme, zeigte sich dann, dass 
Placentarpolypen, mitunter sogar von Fingerlänge und -Dicke, 
noch in der Uterushöhle zurückgeblieben waren. Diese waren 
von dem Löffel gar nicht gefühlt worden, geschweige dass die¬ 
selben von ihrer Grundlage lösgelöst worden wären. 

Diese Thatsachen sind für mich maassgebend ge¬ 
wesen, in keinem Falle die Curette in Anwendung zn 
ziehen, in welchem noch Placntarreste im Uterus 
vorhanden sind. Um dies festzustellen, ist es allerdings 
nöthig, in allen Fällen den Uterus so zu erweitern, dass man 
die Innenfläche mit dem Finger austasten kann. 

Was nun die Erweiterung des bereits geschlossenen Uterus 
betrifft, so giebt es ja verschiedene Mittel, welche zum Ziele 
führen. Ich wende in allen Fällen die Erweiterung mittels der 
Jodoformgaze an und halte es für ein grosses Verdienst von 
L. Landau, dieses Verfahren in die Praxis eingefUhrt zu haben.') 
Denn wenn in letzter Zeit öfter von einem Vulliet’schen Ver¬ 
fahren der Erweiterung des Uterus mittels Jodoformgaze ge¬ 
sprochen wird, so ist dies eine Verdrehung der historischen 
Thatsachen. Vulliet hatte festgestellt, dass man durch Ein¬ 
fuhren von Wattekügelchen in den Uterus diesen ad maximum 
dilatiren kann, so dass er sogar die Innenfläche desselben pho- 
tographirt hat. Dieses Verfahren, welches immer erst nach 
längerer Zeit zum Ziele führte, wäre für die Praxis ganz un¬ 
geeignet gewesen, und darum hat Landau die Wattekügelchen 
durch Jodoformgaze ersetzt und so ein Erweiterungsraittel ge¬ 
schaffen, welches jeder Praktiker ohne Schwierigkeiten anwenden 
kann. Ich selbst war zugegen, als Vulliet in der Landau- 
schen Klinik dieses sein modificirtes Verfahren sah und zugab, 
dass es toto coelo von seiner ursprünglichen Angabe ver¬ 
schieden sei. Ich kann nach meinen Erfahrungen, welche ins- 
gesararat auf nahezu 300 Fällen beruhen, diese Methode nur auf 
das Wärmste empfehlen. Wenn die Methode richtig angewendet 
wird — dies ist allerdings conditio sine qua non — so wird 
man in allen Fällen damit zum Ziele kommen, ohne die Kranke 
dadurch zu schädigen und ohne nöthig zu haben, so gefährliche 
Mittel anzuwenden, wie dies der scharfe Löffel und auch die 
Curette bei puerperalen Uteris in der Hand nicht sehr Geübter 
werden kann. In dieser meiner Auffassung von der Unschäd¬ 
lichkeit der Jodoformgazetamponade habe ich mich auch nicht 
durch die Mittheilungen von Olshausen beirren lassen, welcher 
zwar in seinem, in dieser Gesellschaft im Jahre 1894 gehaltenen 
Vortrage 2 ) die Jodoformgaze als das beste Erweiterungsmittel be¬ 
zeichnet, dasselbe aber doch nicht als gefahrlos anerkennen kann. 

Er sagt: „Ich weiss von verschiedenen Collegen, dass sie 
bei Jodoformgazetamponade letale Fälle erlebt haben; ich weiss 

J)L. Landau: Zur Erweiterung der Gebärmutter. Vortrag, 
gehalten in der Gesellschaft für Geburtshülfe und Gynäkologie am 
28. October 1887; Deutsche Medicinal-Zeitung 1887, No. 93. 

2) R. Olshausen: lieber intrauterine Behandlung, vorzugsweise 
mittelst der Curette. Berl. klin. Wochenschr. 1894, No. 50. 


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29. März 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


273 


es leider auch aus eigener Erfahrung, dass solche Fälle Vor¬ 
kommen können.“ Die Fälle, welche dann Olshausen als 
seiner Ansicht nach beweisend fllr die Infectionsgefahr der Jodo¬ 
formgaze anfllhrt, können einer scharfen Kritik nicht Stand 
halten. Den einen Fall bezeichnet er selbst als nicht ganz 
sicher, da gewisse Erscheinungen an eine letale Jodoformintoxi- 
cation denken Hessen. In dem zweiten Fall trat plötzlich Fieber 
auf und in wenigen Tagen trat der Tod ein. Es wird nichts 
davon erwähnt, dass hier irgend welche Nachforschungen ange¬ 
stellt waren, ob auch die benutzte Gaze wirklich steril war. In 
den beiden letzten Fällen waren Myome, allerdings nach wieder¬ 
holter Gazetamponade, unvollkommen entfernt worden. Man 
hatte also hier ausser mit der Gaze, mit dem Finger und wohl 
auch mit Instrumenten im Uterus manipulirt, in dem einen Falle 
war sogar, wie Olshausen selbst sagt, das Myom zerfallen — 
und da soll denn die Gaze an der Infection schuld sein! Ich 
glaube, dass hierfür in keinem der vier Fälle der Beweis er¬ 
bracht ist. Andererseits aber werden wir hierdurch darauf 
aufmerksam gemacht, was ja eigentlich selbstverständlich sein 
sollte, dass man allerdings mit der grössten Sauberkeit und den 
strengsten Anforderungen der Asepsis alle derartigen Eingriffe 
am Uterus machen muss. Die Ausräumung des Abortes ist eben 
etwas mehr als ein einfaches Zahnausziehen. Hier muss die¬ 
selbe Sauberkeit herrschen, wie bei jeder anderen grösseren 
Operation. Freilich wird diese Vorstellung in unseren jungen 
Studenten nicht erweckt, wenn sie sehen, wie hier in den grossen 
klinischen Instituten Frauen mit Blutungen nach Abort zur Sprech¬ 
stunde kommen, dort in Narkose Richtig curettirt und dann nach 
ihren oft sehr entlegenen Wohnungen zurückgeschickt werden. 
Da erhält der angehende Mediciner in der That den Eindruck, 
als handelte es sich um einen ziemlich gleichgültigen Eingriff, 
der so leicht keinen Schaden anrichten kann. Und hieraus er- 
giebt sich dann nachher in der Praxis das mitunter kaum glaub¬ 
liche Vorgeheu, wo Unglücksfälle nicht ausbleiben können. Es 
kann meines Erachtens die Ausräumung eines Abortes nicht 
schwer genug gemacht werden und nicht genug betont werden, 
wie jede einzelne Phase des Eingriffs auf das Sorgfältigste zu 
beachten ist. Dies fängt gleich mit der Vorbereitung an. 

Dass die Instrumente vor dem Eingriff in Sodalösung aus¬ 
gekocht werden müssen, gilt jetzt als ziemlich selbstverständlich. 
Ueber die Desinfection der Genitalien wird jedoch gewöhnlich 
schnell hinweg gegangen; eine Ausspülung mit einer desinfici- 
renden Flüssigkeit ohne Einführung des Speculums erscheint 
vielen völlig ausreichend. Meiner Meinung nach genügt dies 
nicht. Ich lasse vielmehr die äusseren Genitalien auf das 
Gründlichste waschen und desinficiren, halte es auch für besser, 
wenn die Schamhaare abrasirt werden, und desinficire die Scheide 
nach Einführung der Sims’schen Rinne und Platte auf das Gründ¬ 
lichste, bevor ich die vordere Muttermundslippe anhake. Eine 
solche gründliche Desinfection ist aber nicht nur durch einfache 
Ausspülung beendet, sondern erfordert eine energische Abreibung 
der Vaginalwände und der Portio mit einer desinficirenden 
Flüssigkeit. Dann benutze ich ein von mir angegebenes Specu- 
lum, welches so gebogen ist, dass beim Einfuhren der Gaze die 
äusseren Genitalien nicht berührt werden. Das Gleiche erreicht 
man auch bei Benutzung des Neugeb au er’sehen Speculums. 
Dieses letztere ist besonders in der Praxis, wenn man nicht 
genügende Assistenz hat, sehr zu empfehlen, da es sich selbst 
hält. Ich betone also, dass die wirkliche Desinfection nur auf 
dem Speculum erfolgen kann, welches meiner Ansicht nach auch 
immer eingeführt werden muss, sobald man einen intrauterinen 
Eingriff vornimmt, sei derselbe welcher Art er wolle. 

(Schluss folgt.) 


V. Beitrag zur Steinbehandlung. 

Vou 

Dr. Robert Kutner (Berlin). 

(Nach einer Demonstration in der „Berliner medicinischen Gesellschaft“.) 

M. II.! Der kleine Patient, welchen ich Ihnen hier vorstelle, 
ist mir aus der Königlichen Universitäts-Poliklinik, die er seiner 
Harnbeschwerden wegen aufsuchte, durch Herrn Professor Nasse 
freundlichst überwiesen worden; Herr Geheimrath von Berg¬ 
mann war so gütig, mir die Demonstration des Falles an 
dieser Stelle zu gestatten. 

Der 13jährige Patient hat seit dem 7. Lebensjahre Harnbeschwerden; 
dieselben bestanden vornehmlich in erschwertem Uriniren und in Schmerzen 
bei der Entleerung. Gegen Ende des 7. Lebensjahres wurde ein Anfall 
von unvollständiger Harnverhaltung beobachtet; während 2—8 Tagen 
soll der Knabe nur unter den grössten Schmerzen den Harn tropfenweise 
haben entleeren können; die ärztliche Behandlung, welche sich auf innere 
Medicamentation beschränkte, soll dann den ZuBtand gebessert haben. 
Immerhin hat Pat. seit jener Zeit die genannten Beschwerden nicht mehr 
verloren, vielmehr nahmen dieselben allmählich — besonders in den letzten 
2 Monaten — derart zu, dass der Patient selbst darauf drang, ärztliche 
Hilfe zu erhalten. Pat. konnte, wie ich ihn das erste Mal sah, nur unter 
stärkstem Pressen einen ganz dünnen Harnstrahl erzeugen; bei dem 
Uriniren hatte er eine, wenn auch erträgliche, so doch lebhafte Schmerz¬ 
empfindung in der Urethra; ganz besonders peinigte ihn aber in der letzten 
Zeit Tag und Nacht quälender Harndrang. Der Urin war flockig, aber 
klar. Ich glaubte auf Grund der Erscheinungen an das Vorhandensein 
eines Concrements in der Blase denken zu müssen und entschloss mich, 
mittelst einer Kindersonde zu untersuchen. Bei dem Versuche, dieselbe 
einzuführen, stiess ich auf festen Widerstand und ermittelte bald, dass 
derselbe einen Stein zur Ursache hatte. Auch durch äussere Palpation 
der Harnröhre Hess sich derselbe fühlen, und zwar unmittelbar vor jener 
Stelle, wo die Urethra durch Eintritt in das Becken sich der weiteren 


Pars prostatica 
Pars membranacea 
Sinus bulbi 
Pars anterior 


Betastung von aussen her entzieht d. h. kurz vor dem Sinus bulbi. Die 
Erklärung dafür, dass der Stein, statt, wie üblich, in der Pars pro- 
statica selbst oder an dem Uebergangstheile der Pars prostatica zur Pars 
membranacea in Folge der Enge der letzteren oder endlich vor der Fossa 
navicularis stecken zu bleiben, an der bezeichneten Stelle sass, war nur 
darin zu finden, dass die Pars anterior nicht die normale Weite hatte. 
Diese Annahme erwies sich später auch als richtig. Derartige Engen 
pflegen sonst meist im ersten und zweiten Lebensjahre vorzukommen, 
während das spätere Wachsthum die Anomalie wieder ausgleicht; im 
vorliegenden Fall scheint dies bislang also nicht vollkommen geschehen 
zu sein. Hierin und in der Thatsache, dass das Concrement 
an dieser für eingeklemmte Harn röhrensteine ungewöhnlichen 
Stelle sicherlich mehrere Monate, vielleicht sogar Jahre, 
gelegen hatte, ohne zu einer Harnverhaltung zu führen, liegt 
das Eigenartige des Falles, des weiteren in der Art derEnt- 
fernung des Steins. 

Behufs Extraction des Steines führte ich eine Grünfeld'sche Fremd¬ 
körperzange ein und fasste ihn, indem ich die Branchen zwischen 
Stein und Schleimhaut drängte. Als ich aber zu extrahiren begann, 
merkte ich bald, dass an eine Extraction nicht zu denken war. Nun 
versuchte ich, das Concrement mittelst der Steinsonde in die Blase zurück¬ 
zuschieben, um es dann durch eine später vorzunehmende Lithotripsie 
unschädlich zu machen. Auch dies gelang nicht; es war nicht möglich, 
den Stein weiter, als bis in den Sinus bulbi zu bringen. Ich führte darauf 
in der Narcose eine dünne, aber kräftige Mathieu'sche Zange ein, deren 
Branchen von 2 lithotriptorähnlichen Löffeln gebildet wurden und zer¬ 
trümmerte unter Anwendung stärkerer Gewalt den Stein im 
Sinus bulbi; die Fragmente entfernte ich theils durch Extraction der 
einzelnen Trüramertheilchen, theils durch eine am Schlüsse der Operation 
mit der Handspritze vorgenommene Druckirrigation der ganzen Pars 

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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 13. 


274 

anterior Urethrae (mit 4°/„ Borsäurelösung), wobei mir die bekannte 
Eigenschaft des Sphincter externus, sich bei intensivem kurzem Druck 
fest zu contrahiren. sehr zu statten kam. Die Zertrümmerung selbst war 
schwielig, was die engen Rauraverhältnisse einerseits und die Härte des 
Steinchens andererseits (es handelte sich nämlich, wie man später sah, 
um ein Oxalat) begreiflich machen. Die Schleimhaut wurde bei der 
Operation in keiner Weise verletzt oder auch nur gequetscht, denn weder 
während, noch nach der Operation trat irgend eine Blutung ein, nicht 
einmal nennenswertes Unbehagen beim Uriniren hatte der Knabe einige 
Stunden nach der Operation; auch Fiebererscheinungen fehlten gänzlich. 
Der Knabe entleerte den Harn am Nachmittage des Operationstages, 
am Abend und in der darauf folgenden Nacht ohne jede Behinderung 
oder Schmerzen; am nächsten Vormittag aber bekam er eine complete 
Harnverhaltung, und zwar in Folge einer Schwellung in der Pars anterior 
unmittelbar hinter der Fossa navicularis, vermuthlich in Folge der Dila¬ 
tation des Oriflcium externum, welche am Tage vorher behufs Ein¬ 
führung der Zangen vorgenommen werden musste. Nachdem die Blase 
mit einem elastischen, halbweichen Katheter entleert war, wurden, um 
die Schwellung der Mucosa zu beeinflussen, feuchte Einpackungen des 
ganzen Penis angewendet, und zwar mit Erfolg; am nächsten Morgen 
verliess der Knabe meine Klinik und ist seitdem von allen Beschwerden frei. 

Ohne Versuch der Extraction sogleich mit der Urethrotoraia 
externa blutig einzugreifen, um durch den Harnröhrenschnitt den 
Stein zu entfernen, erscheint in einem Falle, wie dem vorliegenden, 
abgesehen von dem längeren Krankenlager, schon deshalb nicht 
rathsara, da erfahrungsgemäss die äussere Urethrotomie in dem in 
Frage kommenden Theile der Harnröhre zuweilen zur nachträg¬ 
lichen Bildung von narbigen Stricturen Veranlassung giebt. Es 
unterliegt, wie schon erwähnt, keinem Zweifel, dass der Stein 
Monate, vielleicht Jahre lang an der bezeichneten Stelle gelegen 
hat. Höchst wahrscheinlich hat das Concreraent allmählich auch 
in der Harnröhre noch eine gewisse Grössenzunahme erfahren 
und verlegte schliesslich das ganze Lumen; wollte der Knabe 
nun uriniren, so musste er auf einer Seite des Steins die dem¬ 
selben eng anliegende Schleimhaut fortpressen, um eine Passage 
zu schaffen. Der Schmerz erklärt sich durch Berührung des 
Harns mit der stark entzündeten Schleimhaut. Der Harndrang 
war nicht wie, wenn Steine in der Pars prostatica sitzen oder 
in sie hineinragen, eine Folge des direkten Reizes der Schleim¬ 
haut, sondern vielmehr ein Resultat der unvollständigen Ent¬ 
leerung; denn da der Knabe bei jedem Uriniren übermässig 
stark pressen musste, um überhaupt etwas Ham zu entleeren, 
so erschlaffte die Kraft der Muskulatur sehr bald, und es kam, 
wie bei Stricturen, zu einer beträchtlichen Distension der hinter 
der Steinstelle gelegenen Theile der Harnröhre und Blase in 
Folge Urinanhäufung. Diese Distension war übrigens ebenso 
sicher zu constatiren, wie eine, durch die dauernde excessive 
Anstrengung beim Pressen hervorgerufene, sehr ausgebildete 
trabeculäre Hypertrophie der Blasenrauskulatur. 

Durch die Steinsonde waren weitere Concremente in der 
Blase nicht nachweisbar. Die Cystoskopie, welche versucht 
wurde, scheiterte daran, dass in Folge der erwähnten abnormen 
Enge der Pars anterior die Einführung selbst eines Kinder- 
cystoskops (Charriere No. 18) nicht möglich war. Aber auch 
ohne diesen Nachweis darf man gemäss dem günstigen Ergeb¬ 
nis der Steinsonden-Untersuchung und dem unverändert guten 
Befinden des Knaben bis heute, 4 Wochen nach der Operation, 
denselben wohl als geheilt ansehen. 

Der Fall zeigt, dass, sofern man seiner eignen manuellen 
Sicherheit trauen darf, selbst bei harten Steinen, die aus der 
Blase in die Harnröhre gelangt und durch Extraction nicht zu 
entfernen sind, sowie bei ungünstigem Sitz und unter engen 
räumlichen Verhältnissen (sogar bei Kindern), mit Vermeidung 
der Urethrotomie eine Zertrümmerung erfolgreich versucht 
werden kann. 


VI. Kritiken und Referate. 

Jöröme Lange und Max Brückner: Grandriss der Krankheiten 
des Kindesalters. Medicinische Biblothek für praktische Aerzte, 
No. 73—80. Leipzig. Verlag von C. G. Naumann. 582 S. 

Die Verfasser behandeln in der Form eines Compendiums — auf 
532 Octavseiten — das gesammte Gebiet der Kinderheilknnde, jedoch 
mit Ausnahme aller chirurgischen Krankheiten. — Es lässt sich darüber 
streiten, ob es überhaupt zweckmässig ist, einen so wichtigen Zweig der 
praktischen Medicin, — wie die Kinderheikunde ist, in dieser Form zu 
besprechen: Wir glauben, dass bei der grossen Bedeutung, welche die 
Behandlung der Kinder in der gesammten Thätigkeit des Arztes ein¬ 
nimmt, der Arzt und wohl auch der Student der Medicin oft genug das 
Bedürfnis empfinden werden, eine ausführlichere Belehrung, als sie 
Compendien bieten, zu erlangen. Und es fehlt ja nicht an guten Lehr¬ 
büchern, die, ohne zu weitschweifig zu sein, diesem Bediirftiiss nach- 
kommen. Freilich haben die Verfasser den Stoff so vertheilt, dass sie 
die praktisch wichtigen Erkrankungen — soweit es der Rahmen der 
Arbeit überhaupt gestattete — ausführlich behandeln, andere seltenere 
Vorkommnisse aber nur kurz streifen. Aber auch aus dieser — an sich 
berechtigten — ungleichmässigen Behandlung ergeben sich für den Leser 
Schwierigkeiten. Soll der Arzt, der z. B. über die diätetische Behand¬ 
lung des Diabetes im Kindesalter oder Uber die Geschwülste der Bauch¬ 
höhle sich unterrichten will, erst andere Bücher zu Ratbe ziehen, so 
wird er vorziehen, dieselben von vornherein aoznschaffen. Abgesehen 
von diesen Einwendungen allgemeiner Art möchten wir den Verfassern, 
früheren Assistenten von Heubner resp. 8oltmann das Zeugniss aus¬ 
stellen, dass sie ihre Aufgabe mit ausserordentlichem Geschick und 
grosser Sachkenntnis gelöst haben. Die gesammte neuere und neueste 
Literatur ist eingehend berücksichtigt, wenn auch die Verfasser Literatur¬ 
angaben aus dem hier löblichen Grunde der Kürze weggelassen haben. 


H. Nenmann: Oeffentlicher Kinderschatz. 7. Band. 2. Lieferung 
des Handbuchs der Hygiene; herausgegeben von Theodor Weyl. 
Jena 1896. Verlag von Gustav Fischer. 687 8. 

In dem Buche bespricht der Verfasser diejenigen Einrichtungen, 
welche der Fürsorge für das körperliche, geistige und sittliche Gedeihen 
des Kindes gewidmet sind. Gleichzeitig mit den Fortschritten der Ge¬ 
sundheitspflege auf anderen Gebieten, hat sich gerade in den letzten 
Jahrzehnten eine rege Thätigkeit zum Schutze des Kindesalters entfaltet, 
die auch schon manche erfreulichen Erfolge gezeitigt bat; wir erinnern 
hier nur an das Herabgehen der Säuglingssterblichkeit in vielen Ländern. 
Es ist daher, dem Umfange und der Bedeutung des Gegenstandes ent¬ 
sprechend, durchaus berechtigt, dass dem öffentlichen Kinderschutze ein 
eigener Band in dem Handbuche der Hygiene gewidmet ist — Ver¬ 
fasser, der bereits mehrfach mit eigenen Untersuchungen und Verbesse¬ 
rungsvorschlägen in Bezug auf die Gesundheitspflege des Kiudesalters 
hervorgetreten ist, — bat sieh der Aufgabe, dem Leser Rechenschaft zu 
geben über das bisher Erreichte und Uber die Missstände, welche noch 
der Besserung harren, mit ebensoviel Sachkunde als «'armem Interesse 
gewidmet. 

Gerade auf dem Gebiete des Kinderschutzes besteht eine ausser¬ 
ordentliche Mannigfaltigkeit der Einrichtungen, je nach Charakter und 
Sitte der Bevölkerung. Schon die Verkeilung der einzelnen Maass¬ 
nahmen unter die in Betracht kommenden drei Factoren: bürgerliche und 
kirchliche Vereinigungen, 8taat, Gemeinde, ist in den verschiedenen 
Ländern eine durchaus verschiedene. Verfasser hat unsere heimischen 
Verhältnisse in den Vordergrund gestellt, die ausländischen aber eben¬ 
falls, soweit es zweckdienlich schien, berücksichtigt. Bel der Eintheilung 
der Arbeit ist er — wie wir glauben durchaus zweckmässig — den 
einzelnen Phasen der kindlichen Entwickelung gefolgt. 

Um über den Umfang der vom Verfasser behandelten Fragen zu 
orientiren, lassen wir eine kurze Inhaltsangabe folgen: Im allgemeinen 
Theil bespricht Verfasser die socialen Verhältnisse, welche für das Ge¬ 
deihen des Kindes von Einfluss sind. Im besonderen Theil wird zu¬ 
nächst der Schutz vor, bei und nach der Geburt abgehandelt: Arbeits¬ 
schutz für Schwangere, Vorbeugung der syphilitischen Infection, Wöcb- 
nerinnenasyle, Arbeitsschutz für Wöchnerinnen. Im folgenden Capitel 
kommen dauernde und zeitweilige Verpflegung, die Alimentirung der 
Unehelichen, die Findelbäuser. Waisenanstalten, Kost- und Haltepflege. 
Ammenpflege, Krippen und Kinderbewahranstalten zur Sprache. Der 
8. Abschnitt beschäftigt sich mit der Vorbeugung der Krankheiten, der 
Fürsorge nach ihrem Eintritt; die Beschaffung guter Milch für Säuglinge, 
Feriencolonien, Vaccination, Schuleinrichtungen, Verhütung von Ge¬ 
brechen, Erziehung Gebrechlicher, Förderung gesundheitlicher Lebens¬ 
haltung sind hier u. A. abgehandelt. Den Schluss bildet: die Vorbeugung 
der Verwahrlosung und die Fürsorge nach eingetretener Verwahrlosung. 

Bei allen Besprechungen hat Verfasser als Ziel einer jeden Für¬ 
sorge für die Kinder in durchaus humaner Weise im Auge behalten, 
„dem Kinde die Eltern zu bewahren oder im Nothfall, soweit möglich, 
zu ersetzen, den Eltern die Möglichkeit zu erhöhen, ihrem Kinde den 
Segen eines Familienlebens mit reichem sittlichen und geistigen Inhalt 
zu verschaffen“. 


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29. März 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


275 


F. Frflhwald: lieber Mastdarm-Rhagaden und Fissuren im Kin¬ 
desalter. Leipzig u. Wien 1896. Verlag von Franz Deuticke. 28 S. 
In der kleinen Monographie bespricht Verf. die Aetiologie, Sympto¬ 
matologie, Differentialdiagnose, die Folgekrankheiten und die Therapie 
der Mastdarm-Rhagaden und Fissuren im Kindesalter. Die Darstellung 
folgt in den wesentlichsten Punkten den Arbeiten von Esmarch, Bokai, 
Gautier und Kjielberg. Die Broschüre verdankt ihre Entstehung der 

— wohl richtigen — Wahrnehmung des Verf.s, dass der von ihm be¬ 
handelte Gegenstand in den Lehrbüchern der Kinderkrankheiten nur 
kurz erwähnt wird; demgegenüber ist es die ausgesprochene Absicht des 
Verf.s, die Aufmerksamkeit der Aerzte auf den Zusammenhang der 
Mastdarmfissuren mit verschiedenen Krankheitserscheinungen und aut die 

— bisweilen nicht unerheblichen — Folgezustände, welche das an¬ 
scheinend unbedeutende Grundübel herbeifiihren kann, durch eine aus¬ 
führlichere Darstellung des Gegenstandes hinzulenken. 

M. Stadthagen. 


VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. 

Berliner medicinIsche Gesellschaft. 

Sitzung vom 10. März 1897. 

Vorsitzender: Herr Virchow. 

Schriftführer: Herr Landau. 

Vortitzender: Die Sitzung ist eröffnet. Wir haben als Gäste 
unter uns die Herren Bern er-Wiesbaden, Weiss-Bad Pistyan und 
Arvad Sorraann in Kurland. Ich heisse die Herren freundlich will¬ 
kommen. 

Der Herr Generalstabsarzt der Armee hat uns das neue Heft seiner 
Mittheilungen aus dem Gebiete des Militärsanitätswesens übersandt, 
speciell über die sogen. Geh-Verbände. Wir wissen, dass er unserer 
Gesellschaft bei jeder Gelegenheit gedenkt und werden ihm besonderen 
Dank dafür aussprechen. 

Heute hat sich vor der Tagesordnung ein College gemeldet, der uns 
„eine Demonstration zu machen hat“. Ich möchte bei dieser Gelegenheit 
die Bitte wiederholen, dass die Herren, welche sich für eine vor der 
Tagesordnung anzubringende Demonstration melden, auch ihr Thema 
mit anmelden. Danach richtet sich häufig die Art der zu treffenden 
Disposition. 

Vor der Tagesordnung. 

Hr. Robert Kätner stellt einen 13jährigen Knaben vor, bpi dem 
er einen Stein In der Harnröhre zertrümmert hat. (Der Vortrag ist 
unter den Originalien dieser Nummer abgedruckt.) 

D iscussion. 

Hr. Israel: 8o sehr ich anerkennen muss, dass dieser Fall gut 
abgelaufen ist, möchte ich meinen Bedenken über die Zweckmässigkeit 
der Verallgemeinerung dieser Methode Ausdruck geben. Ich würde in 
einem solchen Fall, wenn die Extraction des Steines in toto nicht mög¬ 
lich ist, die Urethrotomie für die weitaus ungefährlichste Behandlung 
halten. Bei Zertrümmerung eines Steines innerhalb der Harnröhre 
können sich Fragmente in die Harnröhre einspiessen, um so leichter, 
je härter der Stein ist. Die Harnröhre ist ein sehr empfindliches Organ 
und reagirt leicht auf solche Insulten mit entzündlicher Schwellung und 
Urinverhaltung, mit Schüttelfrösten, ja mit Pyämie. Die Bedenken, die 
der Vorredner gegen die Urethrotomie geäussert hat, muss ich nach 
meinen Erfahrungen als nicht begründet zurückweisen. Ich kenne keinen 
einzigen Fall, wo eine zweckmässig ausgeführte Urethrotomie bei vorher 
normaler Harnröhre zu einer Strictur geführt hätte. Auch ist die 
Heilungsdauer eine ausserordentlich kurze. 

Hr. Kutner: Die Gefahr einer zu befürchtenden Sepsis bei intra¬ 
urethralen (bezw. vesicalen) Operationen ist keineswegs so gross, wie 
es nach den Ausführungen des Herrn Israel vielleicht den Anschein 
baben könnte; die Furcht vor intraurethralen Eingriffen aus Besorgniss 
eine Sepsis zu erhalten, gehört der vorantiseptischen Zeit an. Zum Be¬ 
weise, dass man bei sorgsamem Vorgehen auch auf diesem Gebiete 
aseptisch operiren kann, führe ich Grosglik’s Versuche an. Gros- 
glik vermochte fast immer durch einfache Druckirrigation der Urethra 
dieselbe keimfrei zu machen. Auch eine Statistik Guyon’s ist in der¬ 
selben Richtung beweisend; er berichtet von 1000 Fällen von Urethro- 
tomia interna, wobei doch intraurethral sogar eine Wunde gesetzt wird, 
was bei Steinzertrümmerungen nicht Vorkommen braucht und soll; 
trotzdem konnte man nur bei 5 Fällen, d. h. 0,5 pCt. aller Fälle, der 
Operation selbst eine Schuld an dem unglücklichen Ausgange beimessen. 
Ebenso lehrt auch mein Fall, dass man bei strengen antiseptischen 
Cautelen keinen Grund hat, übertrieben ängstlich zu sein; der Knabe 
hat keinen Augenblick Fieber gehabt. 

Auch das Bedenken, dass Fragmente sich in die Schleimhaut ein¬ 
spiessen, scheint mir nicht gegen die von mir angewendete Methode zu 
sprechen; ich glaube nicht, dass dieser Fall eintreten kann, ebensowenig 
wie bei intravesicaler Steinzertrümmerung; ereignet es sich dennoch, so 
kann dies auch keine schlimmen Folgen nach sich ziehen; man extrahirt 
dann einfach das Fragment mit der Fremdkörperzange. Was die 
Urethrotomia externa anlangt, so sind die statistischen Angaben über 


dieselben ausserordentlich dürftig, was sich daraus erklärt, dass ein Pa¬ 
tient, der einmal von einem Chirurgen mittels Urethrotomia externa ope- 
rirt worden ist und als Nachspiel eine narbige Strictur bekommt, zu 
demselben Chirurgen sicher nicht mehr hingeht. Jedenfalls ist die 
Urethrotomia externa eine sehr schwierige und nicht ungefährliche Ope¬ 
ration (Harninfiltration), deren Nachbehandlung mindestens ein Kranken¬ 
lager von 3—4 Wochen erheischt. Infolgedessen scheiut es mir, dass 
man nicht berechtigt ist, ohne den Versuch einer Extraction — ohne 
oder mit Zertrümmerung — sogleich zur Urethrotomia externa zu 
schreiten; ich sehe nicht ein, wenn man einen Patienten in 2 Tagen 
ohne blutigen Eingriff heilen kann, warum man ihn ohne Noth einer 
Operation und einem wochenlangen Krankenlager aussetzen soll. 

Uebrigens habe ich von einer Verallgemeinerung meiner Behand¬ 
lungsmethode garnicht gesprochen; selbstverständlich wird man von Fall 
zu Fall entscheiden müssen. 

Discussion über den Vortrag des Herrn Abel: Ueber Abort« 
bebandlnng. 

Hr. Mackenrodt: Der Vortrag von Herrn Abel hat zu dem 
Thema der Behandlung des Abortes nichts Neues gebracht. Der von 
ihm beliebten Behandlung mit Jodoformgazedilatation werden viele unter 
Ihnen eine gleich grosse oder grössere Zahl glücklich verlaufener Ab¬ 
orte entgegenstellen können, die auf andere Weise behandelt sind. Die 
Wahl des zur Ausräumung anzuwenden Mittels dürfte gleichgültiger sein 
als die Art und Weise, wie diese Mittel angewendet werden. Gerade 
deswegen ist auch die Discussion über die richtige Behandlung von Ab¬ 
orten bis Jetzt nicht weitergekommen und heute durch den Abel'sehen 
Vortrag nicht bereichert worden. Einige Behauptungen Abel's können 
jedoch nicht unwidersprochen bleiben. Herr Abel hat gesagt: „Die 
Bacteriologie hat bis heute noch keinen Einfluss auf Prognose und Be¬ 
handlung des Abortes auszuüben vermocht“; ich bin ganz entgegen¬ 
gesetzter Meinung und befinde mich da in der Gesellschaft unserer her¬ 
vorragendsten Fachgenossen. Herr Abel allerdings hat ja auch hierüber 
seine persönliche Ansicht ausgesprochen und in den Erfolgen von 01 s- 
hausen z. B. eine Aufforderung zur massenhaften kritiklosen Exstir¬ 
pation septischer Uteri seitens der deutschen Operateure gefunden. Es 
ist nicht schön, wenn ein Arzt so wegwerfend über seine Collegen öffent¬ 
lich urtheilt. Die Wirkung solcher Herabsetzungen schädigt das Ansehen 
der deutschen Aerzte, aber sie fällt auf den Redner zurück. 

Gegenüber dem geringschätzenden Urtheil Abel’s über den Nutzen 
der Bacteriologie für die vorliegende Frage will ich nicht Theorien, 
sondern Thatsachen anführen. Auch in meine Klinik werden nicht 
wenige Aborte eingeliefert; wir untersuchen jeden einzelnen Fall vor 
der Behandlung bacteriologisch. legen Culturen auf den verschiedensten 
Nährböden an, untersuchen nach der Ausräumung in bestimmten Zwischen¬ 
räumen, um über die etwaigen Aenderungen des ersten bacteriologischen 
Befundes unterrichtet zu sein, und haben in dem Verlauf der Recon- 
valeacenz eine Controle über die Bedeutung des bacteriologischen Be¬ 
fundes für den betreffenden Fall. Wir haben auch Fälle von schwerstem 
Puerperalfieber zwecks genauer Beobachtung und Untersuchung auf¬ 
genommen. Diese Untersuchungen sind äusserst umständlich und zeit¬ 
raubend und bei der trüben Prognose des Puerperalfiebers nicht lohnend; 
eine Discussions-Anmerkung ist nicht der Ort sie niederzulegen. Immer¬ 
hin will ich hier 4 Fälle heranziehen, von denen 8 tödtlich verlaufen, 
1 genesen ist. Es leuchtet ein, dass die tödtlich verlaufenen Fälle die 
genaueste Untersuchung gestattee. Fälle von tödtlicher Sepsis nach Ab¬ 
orten gehören in Berlin nicht zu den Seltenheiten; desto auffallender 
ist die geringe Verarbeitung solcher Fälle zur Forschung. Ueberhaupt 
weist die Literatur nur ca. 20 genau untersuchte Fälle von tödtlicher 
puerperaler Sepsis auf, die aber mustergültig untersucht sind und als 
Basis der weiteren Forschung gelten können: 4 Fälle von Bumm, 
12 Fälle von Widal, 2 Fälle von Gärtner, 2 Fälle von Krönig. 
Fast in allen Fällen war vor der Untersuchung der Gewebe aus dem 
Uterus der Keimgehalt durch das Culturverfahren festgestellt und be¬ 
sonders der Streptococcus gezüchtet. In keinem einzigen Falle war die 
Eingangspforte der tödtlichen Infection das Collum gewesen, sondern 
stets die Placentarstelle, ausserdem in einigen Fällen das übrige Endo¬ 
metrium des Uteruskörpers. Die Verbreitung der Keime geschah auf 
dem Wege der Blutbahn durch Infection und Verschleppung der Thromben 
4 mal, der Tod erfolgte durch metastatische Abscesse resp. Nephritis 
crisa. — Die andere Art der Verbreitung erfolgte durch die Lymphbahnen 
13mal: Todesursache septische Peritonitis oder Nephritis. In 3 Fällen 
waren Lymph- und Blutgefässe in gleicher Weise betheiligt. Der Tod 
trat ein am 5.—21. Tage nach Entleerung des Uterus. In einigen Fällen 
waren die Iufectiooskeime vor der Geburt nachgewiesen im Cervixeiter, 
einmal auf einem Portiogeschwür bei Prolaps, einmal auf einem Ge¬ 
schwür der grossen Schamlippe. Von da aus war während der Ent¬ 
leerung des Uterus die Verschleppung in die Uterushöhle erfolgt. Sehr 
bemerkenswert!! ist, dass 8 mal im Uterus post mortem makroskopische 
örtliche Veränderungen fehlten; die Untersuchung aber ergab das Ein¬ 
dringen von Streptokokken in die Placentarstelle. 

Herangezogen werden müssen hier zahlreiche Untersuchungen von 
Dödcrlein, Krönig, Menge, Bumm, Vahle und zahlreichen anderen 
Autoren, welche in der Cervix gesunder Schwangerer und Wöchnerinnen 
unter anderen Keimen auch öfter Streptokokken fanden, ohne dass 
Störungen des Puerperiums eintraten. Die Keime lebten aber dann stets 
nach Art der Saprophyten im Cervixinhalt, ohne in die Gewebe einzu¬ 
dringen oder sonstige örtliche Veränderungen hervorzurufen; sie ver- 


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276 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 13. 


hielten Bich völlig passiv. Die Erklärung hierfür ist eine dreifache: 
einmal ist die Familie der Streptokokken heute eine so grosse, dass 
eine optische Unterscheidung der einzelnen Arten, deren Eigenschaften 
aber ganz ungleich sind, nicht mehr möglich ist, nur das Thierexperi¬ 
ment kann hier entscheiden. Es können also lauter gutartige Strepto¬ 
kokken gewesen sein, die vielleicht stets als Saprophyten leben; zweitens 
brauchen die Keime nicht in den Uterus verschleppt zu sein; drittens, 
oder endlich sie waren bösartig, geriethen auch in den Uterus, fanden 
aber keine Eingangspforte, weil es an geeigneten Verwundungen des 
Uterus fehlte, oder das Individuum keinen geeigneten Nährboden für die 
Entwickelung der verschleppten Keime bot. Zur Feststellung der Ma¬ 
lignität der im Cervix gefundenen Streptokokken genügt — abgesehen 
von einem durch den unglücklichen Verlauf erbrachten Beweise — weder 
die mikroskopische Feststellung, noch auch das Culturverfahren auf 
künstlichen Nährböden. Selbst hohe Temperatursteigerungen nach der 
Entleerung des Uterus beweisen noch nichts, wenngleich sie eines der 
wichtigen Kriterien sind, aber nicht für sich allein, sondern nur im Zu¬ 
sammenhang mit den anderen, deren erstes der Nachweis von notorischen 
Eitererregern überhaupt. Ausser dem Nachweis der Kokken und dem 
der Temperatursteigerung könnte nur das Thierexperiment die Malignität 
erweisen; sicherlich; aber wenn auf diesem Wege die Malignität un¬ 
zweifelhaft ist, dürften inzwischen in den schwersten Fällen auch be¬ 
reits die Kranken unrettbar verloren sein durch die inzwischen erfolgte 
Ueberschwemmung des Körpers mit den tödtlichen Keimen. Immerhin 
soll das Thierexperiment schon aus den Gründen einer streng wissen¬ 
schaftlichen Controle gemacht werden, wo es angeht. Das beste 
Kriterium des entweder saprophytischen, d. h. harmlosen oder parasi¬ 
tären, d. h. aggressiven Verhaltens der nachgewiesenen Bacterien bietet 
nun der befallene sichtbare Theil des Uteruscollum selbst, sowie die 
Gesammtreaction des Körpers auf die stattgefundene Infection. Finden 
sich geschwürige Substanzzerluste mit eiterigen Belägen am Collum oder 
in der Scheide, besteht nicht, bloss eine eiterige Entzündung im Cervix, 
sondern zeigen sich auch, abgesehen von der Eiterung, hochgradigere 
Entzündungserscheinungen der Schleimhaut mit nekrotischen Stellen, so 
ist das der Ausdruck tiefer lädirender Invasion der Keime in die Ge¬ 
webe, die auf jeden Fall höchst bedenklich sind. Dazu kommen die 
schweren klinischen Erscheinungen der Kokkeninvasion. Diese recht¬ 
zeitig in ihrer gefährlichen Bedeutung zu erkennen und zu charakteri- 
siren ist Sache der klinischen Erfahrung; hier kommt die schönste Auf¬ 
gabe der ärztlichen Kunst, rechtzeitig die richtige Diagnose zu stellen, 
ganz zur Geltung. Leider haben wir wohl alle Fälle ohne alle und 
jede sichtbaren Veränderungen am Uterus der Lebenden gesehen, wo 
aber trotzdem die ganz charakteristischen schweren klinischen Er¬ 
scheinungen deletärer Infection bestanden, an welcher die Kranken trotz 
aller Mittel schnell zu Grunde gingen. Die scharfe klinische Indi- 
vidualisirung dieser Fälle muss uns dann als einziger Wegweiser dienen. 
Was sollen wir in diesen Fällen thun, sollen wir warten bis die Kranken 
rettungslos verloren sind, und die bisher üblichen klinischen Mittel haben 
uns alle im Stich gelassen, oder sollen wir rechtzeitig den allein noch 
übrig bleibenden und zur Kettung zu versuchenden chirurgischen Weg 
betreten und den Infectionsberd im Uterus durch dessen Entfernung zu 
eliminiren versuchen. Die Ueberzeugung eines grossen Theils der her¬ 
vorragendsten Fachgenossen ist schon heute, trotz aller Misserfolge zu 
spät operirter Fälle, für die Totalexstirpation. Männer wie Ol sh aus en, 
Fritsch, B. Schulze und viele Andere haben diesen Weg mit Erfolg 
betreten, und ich finde es angesichts der grossen Erfahrungen dieser 
Männer sehr kühn, wenn Abel hier öffentlich und ohne den Schatten 
von stichhaltigen Gründen proclamirt, dass die Totalexstirpation septi¬ 
scher Uteri ungerechtfertigt sei, und dabei den billigen Einwand erhebt, 
dass diese Fälle wohl auch ohnedem wieder genesen wären. Es han¬ 
delt sich hierbei um lebensrettende Operationen, und wenn wirklich nicht 
alle Fälle durch die Operation gerettet sind, so theilt diese Operation 
nur das Schicksal vieler anderer Operationen. Auch hierin wird die 
fortschreitende Erkenntniss Wandel schaffen. 

Von meinen eigenen Erfahrungen will ich nur die vier letzten Beob¬ 
achtungen heranziehen, weil sie eine deutliche Sprache reden, mehr als 
alle theoretischen Erörterungen Bagen können. Es sind 3 Fälle von 
septischem Abort und ein Fall von Puerperalfieber nach rechtzeitiger 
spontaner Geburt. Einer dieser Fälle, ein septischer Abort, wurde nicht 
operirt, endigte aber in 8 Tagen tödtlich, in den drei anderen Fällen 
wurde die Totalexstirpation gemacht, zwei starben trotzdem, aber einer 
wurde gerettet und verlief geradezu glänzend. Die genaue Untersuchung 
dieser Fälle werde ich an anderer 8telle berichten und hier nur an¬ 
führen, dass ein Fall zu spät operirt wurde, in einem Fall aber bei der 
Operation sich die Infection der durchschnittenen Pararaetrien nicht hat 
vermeiden lassen, so dass ein rechtsseitiger Beckenbindegewebsabscess 
entstand, der 8 Tage nach der Operation in die Bauchhöhle durchbrach 
und den Tod zur Folge hatte. In dem geretteten Fall handelte es sich 
um eine mit starken Entzündungserscheinnngen während der Schwanger¬ 
schaft verlaufende Eiterung der Cervix mit Geschwürsbildung an der 
vorderen Lippe. Im dritten Monat trat der Abort ein; ich versuchte die 
durch die Eiterung drohende Gefahr durch Cauterisation der geöffneten 
Cervix zu eliminiren. 11 Tage später wurden aber die Blutungen so 
bedrohlich, dass die künstliche Entleerung des Uterus nöthig wurde, 
nachdem in der Zwischenzeit die Eiterung ganz verschwunden gewesen 
war und die Cervix sich wieder geschlossen hatte. Gleich nach der 
Entleerung traten Schüttelfröste und hohes Fieber ein, das bis zum 
dritten Tage sich stetig steigerte. Es wurde Eiweiss im Urin nachge¬ 


wiesen, die Patientin wurde von einem deliriösen Zustande befallen — 
genau so, wie wir es in allen anderen Fällen auch gesehen hatten — 
Abends 11 Uhr exstirpirte ich den septischen Uterus, der das eclatante 
Bild der septischen, mit dem alten Namen der diphtherischen Endome¬ 
tritis zeigte. Zwei Stunden später war die Temperatur normal und der 
weitere Verlauf ist ungestört geblieben. Patientin ist heute völlig ge¬ 
sund. Zur Vermeidung der Impfinfection der Parametrien habe ich die 
ganze Operation mit dem Thermokauter gemacht. Die virulenten Keime 
waren tief in das Gewebe des Uterus eingedrnngen. Angesichts der bis 
heute vorliegenden Erfahrungen kann die Berechtigung dieser zur Lebens¬ 
rettung unternommenen Operation ernstlich nicht bestritten werden, sie 
aber öffentlich wegwerfend, wie Herr Abel, zu beurtheilen, sollte sich 
Jeder hüten, der nicht durch ausreichende eigene Untersuchungen und 
Beobachtungen hierfür strikte Beweise zu erbringen in der Lage ist, 
aber andere Beweise als die bisher immer ins Feld geführten. Schliess¬ 
lich darf es nicht unterlassen werden darauf hinzuweisen, dass die von 
Herrn Abel so beliebte Cervixtamponade mit Jodoformgaze ein höchst 
bedenkliches Mittel ist, weil sie die Keime aus der Cervix in den Uterus 
verschleppt. Die kritischen und völlig einwandsfreien Erfahrungen Ols- 
hausen’s, der nach der Anwendung dieses Mittels Todesfälle von nach¬ 
folgender septischer Endometritis erlebte, sind eine ernste Mahnung und 
beweisen mehr, als das was hier Herr Abel angeführt hat. 

Vorsitzender: Ich muss darauf aufmerksam machen, dass, wenn 
wir in dieser Weise fortfahren, wir wiederum gar nicht zu unserer 
Tagesordnung kommen werden. Die Herren, welche sich zur Discussion 
melden, müssen sich an das Reglement halten. Wenn Sie sich zu 
grossen Reden vorbereiten, dann wird aus der Discussion etwas ganz 
anderes, als im Reglement vorgesehen ist. 10 Minuten sind das 
Aeusserste, was der Vorsitzende zugestehen soll. 

Hr. Kos8mann: Herr College Abel hat in seinem Vortrage über 
Abortbehandlung eine Anzahl von Sätzen aus meinem Compendium hier 
verlesen. Mein Verleger wird ihm sicherlich dafür herzlich Dank wissen; 
um so mehr Veranlassung aber habe ich, festzustellen, dass mir die Ab¬ 
sicht des Redners, über mein Buch zu sprechen, ganz unbekannt ge¬ 
blieben war. 

Wie das zum Protocoll eingereichte Manuscript des Vortrages zeigt, 
bat nun aber Herr Abel leider mein Werkchen nicht mit derjenigen 
Aufmerksamkeit gelesen, die ich wie Jeder andere Autor zu wünschen 
und zu erwarten berechtigt bin. Um die „verhängnisvollen Lehren, 
vor denen zu warnen er sich als Aufgabe gestellt hat“, zu charakteri- 
siren, hat er in seinem Vortrag wörtlich behauptet: „Es liegt eine Blu¬ 
tung nach Abort vor: also wird ohne weitere Vorbereitung die Portio 
angehakt und ansgekratzt. Man wird vielleicht einwenden, dass etwas 
Derartiges doch unmöglich gelehrt werden kann. Als Gegenbeweis 
bringe ich Ihnen hier ein kürzlich erschieneness Buch mit: „Die ge- 
burtshülfliche Praxis in kurzer Darstellung“ von Kossmann.“ 
Dies die eigenen Worte des Redners. In meinem Buche, das muss ich 
hier doch aufs Bestimmteste erklären, ist eine so „verhängnisvolle 4 *, 
richtiger gesagt, unsinnige Lehre nicht zu finden. Ich will mir nicht 
den Lapsus zu Nutze machen, dass der Redner von „Blutung nach 
Abort“ sprach, während er Blutung bei unvollständigem Abort 
meinte. Aber gerade für den Fall des unvollständigen Aborts habe ich 
auf Seite 46 meines Buches geschrieben: „Ist noch kein stinkender Aus¬ 
fluss da und der innere Muttermund noch nicht für zwei Finger durch¬ 
gängig, so werden wir zunächst in der Regel auf einen operativen Ein¬ 
griff verzichten und uns mit einer Tamponade begnügen.“ Nun folgt die 
Beschreibung der Scheidentamponade, worauf ich fortfahre: „Etwas 
schneller kommt man zum Ziele, wenn man vor der Tamponade auch 
noch antiseptisch präparirte Gaze in den Uterus selbst, bezw. in den 
Cervicalcanal einstopft; jedoch erfordert dies etwas mehr Umstände, da 
man die Vaginalportio mittelst der Kugelzange herunterziehen und eine 
ganz besonders sorgfältige Desinfection deB Operationsfeldes vorhergehen 
lassen muss. Es ist also rathsam, sich in einfachen Fällen mit der 
Scheidentaroponade zu begnügen.“ 

Angesichts solcher Sätze gestattet sich der Redner, von meinem 
Buche zu behaupten, es werde darin gelehrt, dass man bei Blutung nach 
Abort ohne weitere Vorbereitung die Portio anhaken und auskratzen 
soll!! 

In unmittelbarem Anschluss an das eben Verlesene fahre ich nun 
in meinem Buche fort: „Bei sehr geringen Eiresten oder bei sehr festem 
Haften der Eihäute nach Abfluss des Wassers unterbleibt wohl auch die 
AuBstossung, und die Tamponade führt lediglich zu einer stärkeren Er¬ 
weiterung des Muttermundes. In diesem Falle muss man die Entleerung 
der Gebärmutter* entweder mit den Fingern oder mit Instrumenten vor¬ 
nehmen.“ Von diesen beiden Sätzen hat nun der Redner den ersten 
fortgelassen, in dem zweiten aber hinter den ersten Worten: „In diesem 
Falle“ eine Parenthese eigener Fabrikation eingeschaltet: („nämlich 
wenn die Eihäute nicht ausgestossen sind“). Er hat Sie also glauben 
machen wollen, dass ich das für jeden Fall von unvollständigem Abort 
empfehle, was ich doch nur in jenen Ausnahmsfällen für nöthig erkläre, 
wo die anderen Methoden nicht zum Ziele geführt haben. 

Aber selbst flir diese Ausnahmefälle habe ich nicht, wie mir Herr 
Abel unterlegt, empfohlen, die Portio ohne weitere Vorbereitung anzu¬ 
haken und anzukratzen, sondern habe ausdrücklich die Entleerung mit 
den Fingern vor derjenigen mit Instrumenten genannt und hinzugefügt, 
bei der Wahl zwischen beiden Methoden kämen verschiedene Momente 


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29. März 189?. 


27? 


ÖEfcLlNEtt KLINISCHE WOCilENSCIlIUEl'. 


für oder wider die Anwendung der Finger in Betracht. Was ich nun 
gegen die Anwendung der Finger gesagt habe (bez. die Erhöhung der 
Infectionsgefahr) hat Ihnen der Vortragende allerdings vorgelesen; was 
ich aber im nächsten Satz fiir die Anwendung der Finger erwähnt habe 
(die Perforationsgefahr bei instrumenteller Ausräumung) hat er unter¬ 
drückt. Auch hat er Ihnen verschwiegen, dass alle die specielleren An¬ 
weisungen, die ich fiir die instrumenteile Ausräumung gegeben habe, 
und die er ihnen ebenfalls vorgelesen hat, durch die Worte eingeleitet 
sind: „wenn man eine Ausräumung mit Instrumenten vornehmen 
will“. 

Damit will ich die Abwehr der Entstellungen, die der Redner an 
meinem Werkeben vorgenommen hat, abschliessen und mich zur Kritik 
seiner eigenen Lehre wenden. Wie Sie sehen, liegt die Meinungs¬ 
verschiedenheit zwischen dem Herrn Redner und mir darin, dass er „in 
allen Fällen die Erweiterung mittelst der Jodoformgaze“ anwendet, 
während ich auch den anderen Methoden zur Beendigung des un¬ 
vollständigen Aborts je nach den Umständen ihre Berechtigung zu¬ 
erkenne. 

Von diesen anderen Methoden steht für mich in uncomplicirten 
Fällen die Scheidentamponade in erster Linie; sie ist zweifellos die un¬ 
gefährlichste und erfüllt meist den Zweck; in zweiter Linie — d. h. 
wenn erstere nicht ausreicht und Eile nicht nöthig ist — steht die 
Uterustamponade. Aber ich bin weit entfernt, diese für so harmlos zu 
halten, als Herr Abel sie hinstellt. Er selbst hat Sie an die trüben 
Erfahrungen erinnert, die eine so anerkannte Autorität, wie Olshausen, 
damit gemacht hat. Allerdings will der Redner diese nicht gelten 
lassen, weil ein stringenter Beweis dafür, dass die beobachteten Un- 
glücksfälle nur der Methode zuzuschreiben seien, nicht erbracht, auch 
wohl nicht zu erbringen ist. Aber es leuchtet ja ohne Weiteres ein, 
dass es in vielen Fällen ganz unmöglich ist, einen langen Gazestreifen 
durch den Cervicalcanal in den Uterus zu zwängen, ohne eine Masse 
Mikroorganismen oberhalb auf die Wundfläche im Cavum Uteri zu ver¬ 
schleppen. Dies gilt nicht nur, wenn die Gaze ungenügend sterilisirt ist, 
und wenn sie bei der Operation mit der Vulva, der Scheide oder mit 
anderen, nicht sterilen Gegenständen in Berührung kommt, sondern auch 
bei jedem eitrigen Cervicalkatarrh und sehr oft, wenn sich schon andere 
Personen in erlaubter oder gesetzwidriger Absicht mit dem Abort zu 
schaffen gemacht haben. Dazu kommt nun ferner der Zeitverlust bei 
der Tamponade, von dem leicht genug das Leben der Abortirenden ab- 
bängen kann. Endlich aber, da Herr Abel die Perforationsgefahr so 
sehr fürchtet, wollen wir auch nicht übersehen, dass man mit einem 
Uterusstopfer den Uterus noch viel leichter perforiren kann, wie mit 
einem Abortlöffel. Ich gestatte mir, die beiden Instrumente herumzu¬ 
reichen, damit Sie sich darüber selbst ein Urtheil bilden können. 

Nach alledem muss meines Erachtens ein gewissenhafter Arzt die 
Frage, ob Tamponiren, ob sofort Ausräumen, stets nach den concreten 
Umständen beurtheilen und entscheiden, die ich für nicht alle im Ein¬ 
zelnen erörtern kann. 

Entscheidet er sich nun für die sofortige Ausräumung, so fragt 
es sich weiter, ob er den Finger oder ob er Instrumente anwenden soll. 
Diese Frage hängt mit der ersteren — ob Tamponiren oder nicht — 
gar nicht zusammen, denn auch ohne Tamponade kann man bei unvoll¬ 
ständigem Abort den Cervicalkanal mit Dilatatorien fast immer in 
wenigen Minuten für den Finger durchgängig machen. Welche von 
beiden Methoden, die digitale oder die instrumenteile man nun anwenden 
soll, kann auch wieder nicht von einem gynäkologischen Papst ein- für 
allemal entschieden werden, sondern der gewissenhafte Arzt muss diese 
Entscheidung in jedem Einzelfalle unter Berücksichtigung aller Umstände 
selber treffen. Eine Gefahr ist mit beiden Methoden verknüpft. Im 
Allgemeinen ist die Infectionsgefahr bei der Anwendung des Fingers 
grösser, die Perforationsgefahr bei Anwendung der Instrumente. Ich 
denke aber, es wäre sehr einseitig, die Perforationsgefahr principiell 
als die grössere anzusehen. Sie ist in hohem Grade abhängig von der 
manuellen Geschicklichkeit und Uebung des Operateurs und von der 
Beobachtung gewisser Vorsichtsmaasregeln, die man leichterlernen kann. 
Herr Abel selbst hat gesagt, die Hauptgefahr liege darin, dass das 
Instrument mit Gewalt durch den inneren Muttermund gezwängt werde 
und sobald hier der Widerstand überwunden sei, plötzlich in den Uterus 
hineinfahre. Diese „Hauptgefahr“ lässt sich aber auf zweierlei Weise 
ganz sicher vermeiden: entweder indem man den inneren Muttermund 
erst mit Dilatatorien erweitert, oder indem man die Curette ganz kurz 
fasst, etwa 4—6 cm oberhalb des Endes, so dass sie auch bei plötz¬ 
lichem Eindringen nicht den Fundus uteri erreichen kann. Ebenso lehre 
ich, jeden Curettenstich so auszuführen, dass im Aufwärtsschieben die 
Cnrette ganz lose gehalten wird und beim geringsten Widerstande 
zwischen den Fingern gleitet, wogegen sie im Abwärtsziehen fest gefasst 
wird. Hat Herr Abel in über 200 Fällen keine nachtheiligen Folgen 
von der Uterustamponade gesehen, so kann ich dafür erklären, dass bei 
einer weit grösseren Zahl von Curettements, die ich ausgeführt oder 
überwacht habe, nie eine Perforation vorgekommen ist. Auch bin ich 
gar nicht so sicher, dass die Perforationen, die angeblich von geübten 
Fachgenossen gemacht worden sind, wirklich alle diesen zur Last fallen. 
Vielmehr können die Perforationen sehr wohl schon bestanden haben, 
als das Curettement vorgenommen wurde. Bei der hier in Berlin 
üblichsten Art der Provocatio abortus criminalis wird der Uterus sehr oft 
perforirt. Ich habe erst in den letzten Monaten zwei solche Fälle ge¬ 
sehen. Erwächst uns die Aufgabe, einen solchen Uterus, von dem wir 
nicht wissen, dass er perforirt ist, unmittelbar post abortum auszuräumen, 


so werden wir natürlich in die Bauchhöhle gelangen, ob wir nun den 
Finger oder die Curette anwenden. 

Wie dem auch sei: ich erkenne die Perforationsgefahr bei instru¬ 
menteller Ausräumung an. Wer aber einigermaassen Uebung in der 
Führung der Instrumente hat, wird dennoch, wenn er z. B. vor wenig 
Stunden einen Abscess mit dem Finger explorirt hat, oder einen eiterigen 
Cervicalartarrh vorfindet, auf die digitale Ausräumung verzichten und 
zum Abortlöffel greifen müssen (den übrigens, wie ich bei dieser Ge¬ 
legenheit berichtigen will, nicht Herr Winter angegeben hat). 

Sehen wir — das ist das Ergebniss dieser Erörterung — wie in 
jedem anderen Zweige der Medicin, so auch in der Abortbehandlung, 
von jedem öden Schematismus ab und bleiben wir selbstdenkende 
und indi vidualisirende Aerzte. 

Hr. Abel (Schlusswort): Ich will mich kurz fassen. Was zunächst 
die von Herrn Mackenrodt angeregte Frage betrifft, so ist zweifellos 
hier ein sehr wesentlicher Punkt berührt, und ich erkenne an, dass seine 
Untersuchungen schwierig und mühselig sind. Ich bestreite aber, dass 
ich irgend welche Bemerkung gemacht habe, dass ich diese Richtung 
nicht in ihrem vollen Werthe würdige. Ich habe nur gesagt, dass wir 
bis heute noch nicht in den Stand gesetzt sind, auf Grund 
der bacteriologischen Untersuchung einen derartigen be¬ 
deutenden Eingriff vornehmen zu können, und habe zum Be¬ 
weise dieser Ansicht die hervorragenden Versuche von Sch im me 1- 
busch hier vorgetragen. Damit, glaube ich auch, ist der Beweis ge¬ 
liefert, dass, selbst wenn man eine solche Infectionsquelle ausschaltet, 
wie es ja Schiramelbusch auch gethan hat, trotzdem die allgemeine 
Infection bereits erfolgt ist. Zweifellos aber werden nach dieser Richtung 
hin weitere bacteriologische Forschungen von Werth sein. Mir kam es * 
nur darauf an, der Verbreitung derartiger unbegründeter Operationsvor¬ 
schläge entgegen zu treten. Die Totalexstirpation aus dieser Indication 
scheint bereits in Amerika viel weiter um sich zu greifen als hier. 
Dort werden bereits viel Uteri exstirpirt, wenn Schüttelfrost nach Abort 
nnd im Wochenbett eintreten. Meine Fragestellung lautete, wann sind 
wir berechtigt dazu und wann nicht. Darauf haben auch die von Herrn 
Mackenrodt angestellten bacteriologischen Versuche keine Antwort 
gegeben. 

In einem zweiten Punkte, den ich noch beantworten.möchte, bin 
ich meines Erachtens nicht richtig verstanden worden. Nämlich es ist 
mir entgegengehalten worden, dass man mit der Tamponade des Uterus 
doch vorsichtig sein soll. Da bin ich auch dafür und habe auch bei 
Abortus imminens gesagt, dass man sich mit der Scheidentamponade 
begnügen soll. Wenn aber beim Abort schon ziemlich lange Blutungen 
bestehen, dann halte ich es nach wie vor für richtig, nicht einfach zu 
kratzen, ohne zu wissen, was im Uterus zurückgeblieben ist, sondern 
den Uterus zu erweitern und nachzusehen. Wenn Placentarreste da sind, 
dann will ich, dass allerdings die Ausräumung nnr mit dem Finger 
vorgenommen wird; denn es ist bei der Auskratzung eine absolute 
Sicherheit, dass alles entleert wird, nicht vorhanden. 

Was speciell Herr Kossman n gesagt hat, dass ich sein Buch nicht 
mit der genügenden Aufmerksamkeit gelesen und ihn falsch citirt hätte, 
so muss ich allerdings sagen, dass dies nicht der Fall ist. Ich habe 
einige mir für die vorliegende Frage nicht wesentlich erscheinende 
Stellen nicht citirt. Denn es kam mir nur darauf an, vor allen Dingen 
gegen die Auskratzung auch als Beendigung eines Abortes zu sprechen. 
Es ist richtig, dass Herr Kossmann nicht in allen Fällen einfach kratzt, 
sondern dass er in manchen Fällen conservativere Methoden empfiehlt. 
Mir kam es gerade darauf an, den Gegensatz zu zeigen zwischen der¬ 
jenigen Richtung, welche zur Beendigung des Abortes zu Curette oder 
Löffel greift und derjenigen, welche die Anwendung dieses Instrumentes 
hierbei principiell verwirft. Dass Herr Kossmann der ersteren ange¬ 
hört, haben wohl die von mir citirten Stellen zur Genüge bewiesen. 

Was schliesslich noch die Perforationsgefahr mit dem Uterusstopfer 
betrifft, so glaube ich doch nicht, dass sie so gross ist, wie die mit dem 
Löffel, insbesondere wenn man die Tamponade des Uterus in vorsichti¬ 
ger Weise mit einem geeigneten Instrument ausführt. Denn das Ende 
des Uterusstopfers ist durch die Jodoformgaze vollkommen geschützt. 
Wenn man dieselbe langsam durch den Muttermund bis zum Fundus 
vorschiebt, so ist, glaube ich, irgend welche Gefahr der Perforation hier 
nicht vorhanden. 

Tagesordnung. 

Hr. A. Fränkel: lieber Ausgänge der Influenza. 


Gesellschaft der Charitd-Aerzte. 

Sitzung vom 29. November 1896. 

Hr. Brieger: Demonstration Ton Leprafällen. (Der Vortrag 
ist unter den Originalien dieser Wochenschrift bereits veröffentlicht.) 

Hr. Buchholtz; Demonstration ron Leprapräparaten. 

Bei der leprösen Hauterkrankung bilden sich im Anschluss an die 
in die collagene Substanz eingelagerten aus Gefässen und Drüsen be¬ 
stehenden Gewebsinseln mehr weniger umfangreiche aus Zellanhäufungen 
bestehende Knoten. Dieselben bestehen in erster Linie aus Leukocyten, 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFf. 


No. 13. 


278 


verdanken daneben aber auch einer Wucherung der fixen Gewebszellen, 
insbesondere der Endothelien ihren Ursprung. Die Bacterien dringen in 
diese sämmtlichen Zellen ein, beziehungsweise werden sie von ihnen auf- 
genomraen, werden aber dort nicht verzehrt, sondern kommen vielmehr 
innerhalb der Zellen zur Wucherung. Sie bilden kleine Colonien von 
kugeliger oder ovoider, unter Umständen auch von unregelmässiger Ge¬ 
stalt. Ob eine solche Colonienbildung auch ausserhalb der Zellen er¬ 
folgt, ist zweifelhaft. Widerstandsfähig gegen die Aufnahme der Bacillen 
erweisen sieh die Muskel- und die Epitbelzelleu. Aber mit der Dauer 
der Zeit bleiben auch die ersteren von ihnen nicht verschont. Inter¬ 
essant ist es, dass die Colonien im Muskelgewebe häufig die Form der 
Kerne imitiren. Sie bilden Gruppen von stab-, linealförmiger Gestalt. 
In den Schweissdriisen sieht man kleine Kügelchen, oft zu Gruppen ver¬ 
eint, welche zweifellos zerfallene Bacillen darstellen. Später treten auch 
mehr wohlgebildete Bacillen auf. Dann verschwindet aber auch die 
charakteristische Drüsenfonn. An Stelle der typisch geformten und 
typisch gelagerten DrUsenzellen treten atypische mit Leprabacillen an- 
gefiillte Zellen aut. Die SchweiBsdrüsen gehen in den befallenen Theilen 
unter. In den eigentlichen Epidermiszellen kommt es im Allgemeinen 
nicht zu bacillärer Wucherung. Auch die hin und wieder mit Bacillen 
beladenen vereinzelten Leukocyten, welche in das Epidermislager eiu- 
dringen, verlieren bald ihre mitgeschleppten Bacillen. Nur unter be¬ 
sonderen, selten eintretenden Umständen erfolgt eine Schädigung des 
EpidermiBlagers. Während nämlich im Allgemeinen auch eine unterhalb 
der Epidermis gelegene Zone von bacillenbaltigen Zellen mehr frei bleibt 
(man sieht nur isolirte Leukocyten oder Endothelien der Papillar- 
schlingen mit Bacillen angefüllt), kann mit der Zeit auch die grosse Masse 
des Lepragewebes in breiter Colonne bis dicht an das Epithellager her¬ 
angetreten und unter ihrem Einfluss, jedenfalls an solchen Stellen sieht 
man, wie die Epithelzellen herausgebröckelt werden. In der betreffenden 
Serie meiner Präparate sind nur noch die zwei obersten Zellreihen vor¬ 
handen. Es wäre wohl nur eine Frage der Zeit gewesen, dass auch 
diese durchbrochen wären und somit sich ein lepröses Geschwür gebildet 
hätte, bekanntlich ein ziemlich seltenes Ereigniss. 

Verhältnissmässig wenig widerstandsfähig von epithelialen Bildungen 
erweisen sich nur die Haarbälge und Talgdrüsen. Allerdings kommt es 
hier zunächst nur in den tiefsten Lagen zu üppiger Wucherung. Mit 
der Abstossuug der befallenen Zellen kommen die Bacillen auch bei in- 
tacter Epidermis an die Hautoberfläche und zwar, wie sich aus der ge¬ 
schlossenen Colonieform und der kräftigen Färbbarkeit erschliessen läst, 
zweifellos häufig auch im lebenden Zustande. 

Eigenthümlich, jedenfalls ganz abweichend von anderen pathogenen 
Bacterien, ist nun das weitere Verhalten der Leprabacillen. Man findet 
keinen Zerfall des erkrankten Gewebes. Kernfragmente sind kaum vor¬ 
zufinden. Die Knoten, die sich gebildet haben, bleiben Jahre oder Jahr¬ 
zehnte bestehen. Aber ganz ohne Veränderung der Zellen verläuft der 
Process doch nicht. Abgesehen von der Vergrösserung (Schwellung) der 
Zelle und ihres Kerns, sieht man, dass die Kerne ein trüberes ver¬ 
schwommenes Aussehen erhalten. Das Cbromatin ist in geringerer 
Menge vorhanden und zeigt eine mehr gleichmässigc Verkeilung, was 
besonders bei den Leukocytenkernen mit ihrer sonst so charakteristi¬ 
schen Chromatinvcrtheilung sich auffällig bemerkbar macht. Ausserdem 
verschwinden gewisse speciflsche Zellformen, wie Drüsen- und Muskel¬ 
zellen. Es spricht Vieles dafür, dass diese zunächst nicht vollständig 
untergehen, sondern nur sich in atypische Leprazellen umwandeln. Als 
Zellveränderung muss man auch die Bildung Jener grossen, schon von 
Alters her bekannten grossen vielkernigen Zellen bezeichnen. Man 
kann sie als Riesenzellen auffassen, welche, theilweise wenigstens, nicht 
anders als durch Verschmelzung mehrerer kleinerer Zellen entstanden 
sein können. 8ofern sie noch mit Bacillen ausgestopft Bind, bieten sie 
allerdings nicht das gewöhnliche Aussehen von Riesenzellen. Anders 
aber, wenn die eingeschlossenen Bacillen mehr weniger zu Grunde ge¬ 
gangen sind. Dann siebt man Bildungen, welche von den bei der Tuber- 
culose vorkommenden Bacillen in keiner Weise Bich unterscheiden. 

Wie schon angedeutet, finden die Bacillen in den Gefässendothelien 
einen ausgezeichneten Nährboden, wie denn überhaupt nach meinen Ob¬ 
jecten (ich verfüge über Material von drei Fällen) kein Zweifel obwalten 
kann, dass die Hauptverbreitung auf dem Blutwege erfolgt. Wenn die 
Bacillen auch vorzugsweise in den Zellen gewissermassen festgenagelt 
sind, so wird sich durch Zerfall solcher Zellen auch häufig Gelegenheit 
zum Freiwerden bieten. In der That ist der Befund frei im Blute be¬ 
findlicher Bacillen in meinen Präparaten kein seltener. Ob sich aber die 
Blutuntersuchung zur Diagnose sonderlich eignet, kommt mir zweifelhaft 
vor. Unter normalen Verhältnissen dürfte es Glückssache sein, ob man 
Bacillen im Blute findet. Die umfangreiche Erkrankung der Gefässe, die 
in einer Schwellung und Wucherung der Endothelien besteht und dem¬ 
gemäss in den Arterien eine typische EndarteriitiB sein kann, führt wie 
diese auch häufig zum vollständigen Verschluss von Gefässen, zu cysten¬ 
artigen Erweiterungen von solchen, und andererseits auch zu mehr 
weniger umfangreichen Hämorrhagien mit Hämosiderinbildung. 

(Schluss folgt.) 


Aerztlleher Yerein zu München. 

Sitzung vom 17. März 1897. 

1. Hr. v. Stubenrauch demonstrirt einen Fall von congeni¬ 
talem Radiusdefect. Bei dem 11jährigen Knaben, aus gesunder 
Familie, findet sich ausser massiger Atrophie des rechten Oberarmes 
eine Verkürzung des rechten Vorderarmes und eine starke Adduction 
der Hand (Klumphand). Nur der kleine Finger zeigt etwas Beweglich¬ 
keit, die übrigen Bind steif. Die für den congenitalen Radiusdefect 
charakteristische Difformität am Handgelenk findet sich auch hier. Von 
den Handwurzelknochen fehlen, wie eine von dem Falle aufgenommene 
Röntgenphotographie zeigt, das Os multangulum majus und das Os na- 
viculare. Der Knabe wurde vor einem Jahre operirt. S. glaubt, dass 
sich in derartigen Fällen, wenn sie frühzeitig in Behandlung kommen, 
ziemlich gute Resultate erzielen lassen. 

2. Hr. Schech: Ueber nervösen Husten. 

Früher glaubte man, dass bloss Erkrankungen der Respirationsorgane 
die Ursache für Husten abgeben könnten, doch weiss man jetzt, dass 
Husten auch noch von anderen Organen ausgelöst werden kann, z. B. 
von Erkrankungen des gesammten Nervensystems. Man nennt diesen 
Husten Reflexhusten oder nervöäen Husten. Oft ist derselbe durch nichts 
unterschieden von dem gewöhnlichen Husten, oft besteht er nur in fort¬ 
währendem kurzem Hüsteln, oft aber ist er von ununterbrochener Dauer, 
von krächzendem, bellendem, pfeifendem oder schnarrendem Charakter, 
bisweilen einem Feuerwehrsignal ähnlich. Das Charakteristische ist sein 
constantes Aufhören im Schlaf und der sofortige Wiederbeginn beim 
Erwachen. Höchst auffallend ist, dass die Kranken sich sonst wohl 
befinden. Eigenthümlich ist ferner der Mangel an Secret. 

Von den Organen, von welchen der nervöse Husten aasgelöst 
werden kann, kommt vor allem Gehirn und Rückenmark in Be¬ 
tracht. Den hysterischen Husten rechnet man gleichfalls hierher. Der 
nervöse Husten tritt besonders häufig in der Pubertätszeit zwischen dem 
12. und 17. Jahre auf. 8. glaubt, dass besonders die im Pubertätsalter 
auftretende Onanie dazu Veranlassung gebe, denn bei Unterlassung der 
geschlechtlichen Reizung tritt sofort eine Beseitigung dieses Zustandes 
auf. Namentlich bei neuropathiseber Anlage kann auch Nachahmung 
sehr häufig die Ursache lür die Entstehung des nervösen Hustens ab¬ 
geben. Ebenso wie vom Gehirn und Rückenmark kann aber auch vom 
Ohr aus der Husten ausgelöst werden; z. B. beim Ausspritzen des 
äusseren Gehörganges, oft schon durch kalte Luft etc., und zwar wird 
dies bei Männern häufiger beobachtet als bei Frauen. Ferner kann der 
Reflexhusten entstehen bei Hyperästhesie der Schleimhaut der Nase, 
bei Polypen in derselben, bei Krankheiten des Nasenrachenraumes, 
durch Anwesenheit harter, in der Tiefe der' Lagunen vorhandener 
Mandelpfröpfe, Hyperplasie der Zungenfollikel, Reiznng des Laryngens 
superior und Aortenaneurysmen. 

Die Existenz eines Magen-Darmhustens ist vielfach geleugnet 
und ebenso oft anerkannt worden. Bei Palpation von Leber und Milz 
kann Reflexhusten entstehen. Meist in Begleitung anderer Erscheinungen, 
z. B. während der Menses, noch häufiger aber bei entzündlichen Affec- 
tionen der Beckenorgane finden wir den U t er ln husten ; derselbe wird 
ausgelöst z. B. durch starke Füllung der Blase, durch psychische Er¬ 
regung, Nähmaschinennähen etc. Der Uterinhusten kann auch Anlass 
zu Frühgeburten geben. Auch von der äusseren Haut kann der 
nervöse Husten ausgehen, sobald nämlich z. B. an den Weichen oder 
an den Fusssohle ein Reiz auf dieselbe ausgeübt wird. 

Durch Reizung von Sinnesorganen kann ebenfalls Husten erregt 
werden, besonders beim weiblichen Geschlecht. 

Für die Diagnose des nervösen Hustens ist es wünschenswerth, 
dass keine materiellen Veränderungen vorhanden sind. 

Viel schwieriger, als die Diagnose, ist die Auffindung derjenigen 
Stellen, von denen der Husten ausgelöst wird. Am besten ist die 
Cocainisirung der verdächtigen Stellen; trotzdem gelingt aber dadurch 
die Auffindung der hustenerregenden Stellen nicht absolut sicher. Simu¬ 
lation kann man so gut wie ausschliesBen, da es kaum ein Simulant so 
lange aushalten würde. 

Was die Prognose und Therapie betrifft, so kann man zunächst 
sagen, dass sich der Satz: cessante causa cessat effectus nirgends besser 
bestätigt als hier. Cocainisirung oder Eucainisirung des Kehlkopfs etc. 
bat meist nur geringen Erfolg. Geradezu gefährlich ist die Anwendung 
der Narcotica. Bei Kindern ist eine moralische und psychische Behand¬ 
lung sehr wichtig; man soll sie nicht müssig umherlaufen lassen. 

Discussion. Hr. Seitz: Was den Darmhnsten anlangt, so giebt 
S. zu, dass er denselben bei Entozoenerkrankung schon beobachtet habe. 
Auch S. machte die Beobachtung, dass der typische nervöse Husten sich 
im Pubertätsalter, besonders bei Mädchen, ziemlich häufig finde. 

Hr. Deuter frägt, ob nicht auch die Verlängerung der Uvula Ur¬ 
sache für den nervösen Husten sein könnte. 

Hr. Theilhaber glaubt, dass der Uterinhusten meist auf hysteri¬ 
scher Basis beruhe. 

Hr. v. Hösslin giebt an, dass die Prognose beim hysterischen 
Husten viel günstiger ist, als bei dem bei maladie de tic convulsif auf¬ 
tretenden Husten, der ausserordentlich hartnäckig sei. 

Hr. Schech ist der Ansicht, dass allerdings bei sehr langer Uvula 
(es sind Fälle bekannt, wo der Kranke auf seine Uvula gebissen hat) 
nervöser Husten ausgelöst werden kann. 

8. Hr. Seitz theilt mit, dass er an alle Orte, an welchen sich 


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20. März 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


279 


baeteriologische Untersuchungsanstalten befinden oder wo solche dem¬ 
nächst errichtet werden Bollen, geschrieben nnd dadurch erfahren habe, 
dass an all' diesen Orten die Stadt die Einrichtungskosten getragen 
habe. S. stellt deshalb den Antrag, dass zunächst der ärztliche Be- 
zirksvercin hiervon in Kenntniss gesetzt werden soll und dann beide 
Vereine eine gemeinsame Eingabe an die Stadt machen möchten. 

4. Hr. Brubacher: Ueber den heutigen Stand der zahn¬ 
ärztlichen Therapie. 

B. demoustrirt zunächst eine Röntgenphotographie eines geheilten 
Unterkiefers von einem 3ljährigen Manne, welcher vom Schlitten ge¬ 
schlendert worden war. Der Verlauf der Heilung mittels Fixations¬ 
schiene und elastischer Kappe, womit der Unterkiefer an den Oberkiefer 
angezogen wurde, war ein sehr zufriedenstellender. 

Hierauf geht B. zur Besprechung einiger neuerer therapeutischer 
Maassregeln über. Er erwähnt zunächst, dass durch Anlegung der 
Gummiplatte etc. in vielen Fällen die Sensibilität des Zahnfleisches 
etwas eingeschränkt wird. Als FUllungmaterial kam im Jahre 1840 das 
Gold zuerst in Anwendung; dasselbe wird auch heute noch zu diesem 
Zwecke als sehr gut anerkannt, da es namentlich in Form des sogen. 
KrystallgoldeB noch eine grössere Reinheit und Haltbarkeit besitzt und 
sich sehr schön an die Wände anlegt; dagegen eignet es sich zum Aufbau 
der Zähne in geringerem Grade. Ausserdem werden noch Amalgam, 
Glas, Porzellanstucke zum Ausfällen von Defecten benützt. In prophy¬ 
laktischer Beziehung kommen bei Caries Arsen und Creosot in Anwen¬ 
dung, doch kehrt meist die Wurzelhautentzündung bald wieder. 

Als Träger für künstliche Zähne wird schon seit längerer Zeit 
Kautschuk mit Vortheil verwendet. 

Zum Zwecke der Zahnerhaltung wird bei Caries der Zahn zuerst 
behutsam gereinigt, dann Arsenik auf die freiliegende Pulpa applicirt 
und dieses dann mit Wachs ohne Druck befestigt. Durch das Arsen 
wird die Pulpa in ihrer Lebensfähigkeit gestört; die Pulpa geht voll¬ 
ständig zu Grunde. Ein richtig behandelter pnlpitischer Zahn kann auf 
Jahre hinaus erhalten werden. 

In der Regel erkranken defecte Zähne an periostitischer Entzündung. 
Wenn ein pulpitiseh erkrankter Zahn drainirt wird, kommt es nicht zu 
eitriger Periostitis, wird aber ein kranker Zahn verschlossen, dann wird 
der Inhalt durchgepresst und es entsteht Periostitis. B. hat bei Hunden 
derartige Versuche angestellt. 

Wird der Canal gut gereinigt, z. B. mit Formol (bis zu 40proc. 
Lösung) und dann erst mit einem nicht zersetzungsfähigen Material ver¬ 
schlossen, z. B. mit Gold, Cement oder Guttapercha, dann kann für voll¬ 
kommene Schmerzfreiheit garantirt werden. 

B. bespricht dann noch die Anwendung der Stiftzähne, Goldkronen 
oder Goldkappen, Porzellankronen und den Brückenersatz, welch' letzterer 
aber nur in beschränkter Weise Verwendung finden könne. Ferner 
erwähnt er, dass Goldplatten noch besser als Kautschukplatten als Träger 
für künstliche Zähne zu empfehlen seien. 

Hr. Schech frägt den Vortragenden, ob vielleicht ungenügend 
plombirte Zähne nicht die Veranlassung zu Kieferhöhlenempyem geben 
könnten. 

Hr. Brubacher bestätigt diese Annahme; er ist der Ansicht, dass 
fast ausnahmslos die Aetiologie für Kieferhöhlemempyem in kranken, 
nicht corrcct plombirten Zähnen zu Buchen sei. 

Hr. Port glaubt ebenfalls, dass chronische periostitische Processe 
Veranlassung zu Eiterungen der Highmorshöhle geben können. 

v. S. 


Aerztllcher Verein zn Hamburg. 

Sitzung vom 2. März 1897. 

Vorsitzender: Herr Kümmell. 

1. Hr. Unna stellt eine für Hamburg neue Trichophytonerkran- 
kung bei 4 Kindern derselben Familie vor, erzeugt durch das vor einigen 
Jahren von Sabonraud neu beschriebene Mikrosporon Gruby. Dasselbe 
Ist bisher in Hamburg weder klinisch noch mykologisch nachgewiesen 
worden; in Paris verursacht es die hartnäckigste Pilzerkrankung der 
Kinderköpfe (60 pCt. aller Trichophytonfälle, in London vielleicht 80 pCt.), 
die stets bei Kindern von 7—10 Jahren epidemisch in Schulen und Pen¬ 
sionen auftritt nnd wegen ihrer Hartnäckigkeit von Sabouraud „La 
tondante r6belle“ genannt wird. Es ist das Verdienst von Frau Dr. 
Trachsler hier, zuerst klinisch nnd durch Züchtung einen Fall von 
Mikrosporon Gruby-Sabouraud sicher nachgewiesen zu haben. Klinisch 
zeigt der eine Knabe die für diese Affection typischen, wie mit Asche 
bestreuten runden Herde, von Bcbrautziggrauer Farbe, die sich dadurch 
von Trichophytonkreisen ausziehbar unterscheiden, dass alle Haare er¬ 
krankt sind, leicht in Massen ausziehbar und jeder Stumpf von einer 
dicken Sporenscheide umhüllt ist. Eigenthümlich ist in diesem Falle, 
dass die drei Geschwister des Knaben von demselben nicht mit Haar¬ 
kreisen, sondern mit scharf abgesetzten, rotbgeränderten im Centrum 
abheilenden Flecken der nackten Haut inficirt sind, hauptsächlich am 
Halse, aber auch an Armen und Beinen. Herr Unna stellt sodann noch 
eine an Favus erkrankte Familie vor, in welcher die Infection von der 
noch an Favns leidenden Grossmutter ausgegangen ist und sich auf drei 
Enkel aus verschiedenen Häusern übertragen hat. Die Favuserkrankun¬ 
gen der Kinder datiren seit 3—10 Jahren, ohne bisher als solche erkannt 
zu sein; sie wurden meistens für Eczeme angesehen. Vortragender 


macht auf die in allen 3 Fällen vorkommenden narbigen Atrophien der 
Kopfhaut aufmerksam, welche selbst bei Abwesenheit alter Scutula auf 
den ersten Blick die richtige Diagnose zu stellen erlauben. Die letztere 
ist übrigens durch Züchtung des Pilzes verlflcirt worden. 

Frau Dr. Trachsler, welche diese Fälle in der Poliklinik des 
Vortragenden auffand, hat bereits öfters verkannte Favusfälle beob¬ 
achtet, so dass der Favus doch hier nicht so selten ist, wie es den 
Anschein hat. 

2. Hr. Wiesinger stellt einen Fall von inoperablen Rectal- 
carcinom*vor, bei welchem nach der Witzel'schen Methode, Colostomia 
glntealis, ein Anus praeternaturalis angelegt war und zur vollen Zufrieden¬ 
heit functionirte. 

3. Hr. Franke demonstrirt 1. eine Patientin, bei der vor a / 4 Jahren 
ein Symblepharon des oberen Lides durch Einnähung eines Thiersch- 
schen Lappens nach der von ihm empfohlenen Methode operirt war. Der 
Erfolg war ein guter; 2. mehrere Patienten, welche wegen höchstgradiger 
Kurzsichtigkeit operirt sind und bespricht kurz Indicationen und Aus¬ 
führung des Verfahrens. 

4. Hr. Rumpf zeigt zwei Patienten, welche sich schon im paralyti¬ 
schen Stadium der Tabes dorsalis befunden hatten, dennoch aber die 
Gehfähigkeit insoweit wieder erlangt hatten, dass sie mit geringer Unter¬ 
stützung resp. ohne jede Hülfe durchs Zimmer gehen können. Der Ver¬ 
lauf der Krankheit war in beiden Fällen ein sehr schneller gewesen. 
Die therapeutischen Maassnahmen bei Tabes bestehen in Schmierkur, 
wenn Lues vorhergegangen ist, Faradisation und gymnastischen Uebungen. 

5. Hr. Cohen stellt die Organe eines Mannes vor, welcher an einem 
rapid gewachsenen Sarcom gelitten hat. Die Krankheit dauerte etwa 
8 1 /» Monate. Zuerst hatte Pat. über Husten geklagt, darauf entwickelte 
sich ein spindelförmiger Tumor an einer Rippe. Unter dyspeptischen 
Beschwerden trat eine rapid zunehmende Schwellung der Leber ein. Es 
bildete sich eine hämorrhagische Diathese aus, die auch zu profuser 
Epistaxis führte. Bei der Section fand sich der primäre Tumor in der 
Lunge (Rundzellensarcom) in allen Organen zahlreiche Metastasen. 

6. Hr. Fricke demonstrirt die Organe eines Kindes, welches wegen 
Bronchostenose tracheotomirt worden war. Das Hinderniss konnte 
aber in vivo nicht entfernt werden. Bei der Section — der Exitus war 
3G Stunden nach der Tracheotomie eingetreten — fand sich der linke 
Bronchus durch ein Knochenstückchen verlegt. Der Vorstellende weist 
auf die Schwierigkeit der Differentialdiagnose hin, ob Diphtherie oder 
Fremdkörper in solche Fällen die Stenose beginnt. 

7. Hr. Riider berichtet über eine Patientin, bei der er wegen 
Myom die Castration vorgenommen 'hatte. Da sich nach 5 Wochen 
wiederum Blutung einstellte, wurde ein Probecurettement ausgeführt, 
welches carcinomatüse Massen zu Tage förderte. Der Uterus wurde 
exstirpirt. Der Vortragende demonstrirt den Uterus, welcher neben 
Myomen ln der linken Tubenecke carcinomatöse Massen zeigte. 

8. Hr. Reineke berichtet über die gegenwärtige Ausbreitung der 
Pest und über die von den verschiedenen Staaten ergriffenen Abwehr- 
maassrcgeln. Im Anschluss daran führt er aus, dass der sicherste Schutz 
in guten sanitären Einrichtungen bestehe und in der raschen Unschädlich¬ 
machung der ersten Fälle. Das für diesen letzteren Zweck Nothwendige 
wird besprochen unter Hinweis darauf, dass Einschleppungen wie im 
October 1896 in London sich auch einmal in Hamburg trotz der Schiffs- 
controle ereignen können. 

9. Hr. Dun bar demonstrirt Präparate und Culturen der Pest¬ 
bacillen und theilt mit, was bisher über Morphologie, Wachsthums¬ 
eigenschaften und Tenacität der Bacillen bekannt geworden ist. 

Discussion findet nicht statt. Sch. 


VIII. Die Fango-Kuranstalt zu Berlin. 

Nebst Bemerkungen über Battaglia. 

Von 

Dr. Hngo Davidsolm (Berlin). 

Die Fango-Kuranstalt in Berlin ist errichtet worden zum Zwecke 
der Einführung des Fango von Battaglia, eines Mineralschlammes vul¬ 
kanischen Ursprunges, in unseren Arzneischatz ')• Bevor ich in den 
folgenden Zeilen eine Beschreibung der Anstalt gebe, möchte ich mich 
über den oberitalienischen Badeort Battaglia, den Ursprungsort jenes 


1) Die chemische Analyse dieses Schlammes, welche von Herrn 
Prof. Dr. Fr. Schneider in Wien vorgenommen ist und deren Resultat 
im LXIX. Bande der Sitzungsberichte der Kaiserl. Akademie der Wissen¬ 
schaften, II. Abth., Januarheft, Jahrgang 1874, niedergelegt ist, ergiebt 
Folgendes: 

100 Theile lufttrockenen Schlammes enthalten 5,14 Wasser, 94,86 
Trockensubstanz. 

100 Theile Trockensubstanz geben 89,2 Glührückstand,' 10,98 ver¬ 
brennliche Stoffe mit 3,99 löslichen Huminsubstanzen. 

inn a \ 58,64 in Säuren unlösbare, 

100 Theile Gldlmickutand j 4 , >g6 ]ö , bare verbindengen. 

Davon entfällt auf: 


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280 BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. No. 13. 


Schlammes (italienisch: Fango), sowie über dessen Herkunft und Ge¬ 
winnung mit wenigen Worten verbreiten. 

Battaglia ist ein kleiner Badeort von ca. 8000 Einwohnern an der 
Eisenbahnlinie Venedig-Rom, etwa */i Stunde südlich von Pudua am 
Russe der Monti Euganei gelegen. Dieser Gebirgsdistrict zeichnet sich 
durch seinen ganz besonderen Reichthum an warmen Quellen aus. Bei 
der Fahrt durch dieses Gelände sieht man schon vom Eisenbahnfenster 
aus an verschiedenen Stellen aus dem Erdboden Dämpfe aufsteigen. 
Diese eigenthümliche Erscheinung erklärt sich ganz einfach: die dam¬ 
pfenden Stellen entsprechen heissen Quellen, deren Wasser efne so hohe 
Temperatur hat, dass auch beim höchsten Stand der Sonne ihre Umge¬ 
bung in einen dichten, durch Wasserdampf erzeugten Nebel gehüllt ist. 
Natürlich hat man sich schon frühzeitig die Heilkraft dieser warmen 
Quellen zu Nutze gemacht; ausser Battaglia nenne ich von anderen 
Thermen in seiner Nähe noch Montegrotto, Abano, Monteortone. Alle 
diese Bäder waren schon den alten Römern sehr wohl bekannt und noch 
bis ins Mittelalter hinein kann man ihr Bestehen verfolgen; später jedoch 
geriethen sie in Verfall. Erst in neuerer Zeit wurden gerade in Battaglia 
von einer regen und energischen Badeverwaltung wieder Einrichtungen 
getroffen, um die Heilkraft der heissen Quellen und besonders des da¬ 
selbst vorhandenen Fango auszunutzen und damit den in Vergessenheit 
gerathenen Badeort wieder emporzubringen. Von derselben Badeverwal¬ 
tung ist auch der Gedanke ausgegangen, den in Battaglia im Ueberfluss 
vorhandenen Fango ins Ausland zu verschicken. 

Der Fango wird alljährlich ein Mal im Frühjahr einigen, warmes 
Thcrmalwasser enthaltenden, kleinen Seeen entnommen, welche sich im 
Parke des dem Grafen Wimpffen gehörigen Schlosses St. Elena in Bat¬ 
taglia befinden. Schon einige Monate nach der Entnahme aber hat sich 
der Schlamm wieder derartig erneuert, dass der Grund der Teiche 
wieder völlig davon bedeckt ist. Betrachtet man die Oberfläche eines 
solchen kleinen Seees, so sieht man an einigen Stellen Strudel, in welchen 
Gasbläschen aus dem Wasser emporsteigen und man kann sich — wie 
ich dies auch gethan — nach Ableitung des Seewassers davon über¬ 
zeugen, dass diese Strudel kleinen Kratern entsprechen, aus welchen mit 
dem warmen Wasser auch der Fango aus dem Erdinnern an die Ober¬ 
fläche gefördert wird. So ist die Annahme wohl berechtigt, dass in 
diesen Teichen eine wahrscheinlich unerschöpfliche Quelle dieses vulka¬ 
nischen Schlammes vorhanden ist. Durch seine Herstammung aus dem 
Erdinnern aber unterscheidet sich auch zu seinem grossen Vortheil der 
Schlamm von Battaglia sowohl von dem Schlamm seiner Nachbarorte, 
wie auch von demjenigen anderer Schlammbäder. An allen anderen 
Orten (vielleicht mit Ausnahme von Pistyän) wird bekanntlich der 
Schlamm künstlich hergestellt, wie z. B. in Abano dadurch, dass das 
heisse Thermalwasser durch einen Graben geleitet wird, von dessen 
Grunde der durch dieses Verfahren erzeugte Schlamm entnommen wird, 
in Nenndorf durch Mischung einer trockenen Erde mit dem Nenndorfer 
Schwefelwasser; diese Masse wird dann erst durch ein complicirtes sehr 
sinnreich eingerichtetes Rührwerk zerrieben. Ganz abgesehen davon, dass 
der künstlich gewonnene Schlamm viel grobkörniger ist als der von 
Battaglia und darum bei der Application dem Patienten unangenehm ist, 
wird durch dieses und ähnliche künstliche Verfahren in anderen Schlamm¬ 
bädern natürlich nur wenig Schlamm gewonnen; im Allgemeinen nur eben 
so viel, als zur Behandlung der dort in der Saison sich versammelnden 
Patienten verbraucht wird. 

Sehr interessant war es mir, den Gehalt des Fango an Bacterien 
festzustellen; a priori war ja anzunehmen, dass diese Massen, welche 
unter nicht keimfreiem Wasser liegen und später auch mit der äusseren 
Luft in Berührung kommen, Mikroorganismen enthalten würden. Zur 
bacteriologisehen Untersuchung entnahm ich an Ort und Stelle aus einem 
der geschilderten Krater mit einem Spaten eine Masse Fango, aus der 
Mitte dieser Masse füllte ich einen Theil unter möglichst aseptischen 
Cautelen in eine ausgekochte Blechbüchse, welche für den Transport 
sofort verlöthet wurde. Die hier in Berlin vorgenommene sehr ein¬ 
gehende bacteriologische Untersuchung, von welcher ich nur das Resultat 
hier mittheile, ergab auf einer Platte, auf welcher das nicht verdünnte 
Material einer mittelgrossen Platinöse verrieben war, bei Bruttemperatur 
gehalten, im Ganzen 5—10 Keime, welche nicht pathogen waren; auf 
den Platten, welche mit Verdünnungen hergestellt waren, wuchs über¬ 
haupt nichts. Die Platten wurden sowohl bei Zimmertemperatur, bei 
Bruttemperatur, als auch bei hohen Temperaturen gehalten, welche höher 
waren, als diejenige des Thcrmalwassers, in dem der Fango gelegen 
hatte; ausserdem wurde auch auf anaerobe Bacterien untersucht. Der 
Befund war der oben angegebene negative und ich glaube aus demselben 
keinen Fehlschluss zu tliun, wenn ich annehme, dass der Fango voll¬ 
kommen steril auf dem Boden jenes Teiches deponirt worden ist, und 
dass die wenigen Keime von aussen, d. h. aus der Luft, aus dem 
Wasser etc. in die Masse hineingekommen sind. Ich hebe noch ganz 
besonders hervor, dass in dem Fango nicht etwa irgend welche desin- 


Kohlensäure.9,34 

Schwefelsäure.6,65 

Kieselerde.1,14 

Eisenoxyd.9,81 

Thonerde.6,72 

Durch Ammoniak fällbare Phosphate . 1,83 

Kalk.6,05 

Magnesia.1,40 

Alkalien, als Sulfate gewogen . . . 0,94 


Erdgeschoss. 



I. Etage. 



P. = Packräume. — R. = Ruheräume. — X = Thüre. — A. = Arzt. 
— W. I. u. II. CI. = Warteraum I. u. II. Classc. — W. III. C'l. = Warte¬ 
raum III. Classe. — R. III. CI. =? Ruheraum III. Classe. — P. III. CI. = 
Packraum III. Classe. — E. = Entree. — F. = Fahrstuhl. — W. = 
Wanne. — B. = Bett. — H. tr. = Hintertreppe. — CI. f. U. = Closet f. 
Herren. — CI. f. 1). = Closet f. Damen. — F. K. — Fangoküche. — T. = 
Toiletten. — V. = Vorplatz. — II. = Hof. — W. Z. = Wärter-Zimmer. 

ficirende Substanzen enthalten sind, auf deren Einwirkung die Keimfreibeit 
zurückzuführen wäre. Wenn nun auch der Fango nicht in diesem ste¬ 
rilen Zustande auf die Haut des Patienten gebracht werden wird, son¬ 
dern natürlich, bis er zur Application gelangt, Keime aus der Umgebung, 
wie sie eben überall vorhanden Bind, aufgenommen haben wird, so ist 
das Ergebniss der bacteriologisehen Untersuchung doch sehr werthvoll 
für die Beurtheilung der Provenienz des Fango. Eine sterile Schlamm¬ 
masse kann nicht durch die Auflösung gewöhnlicher Erde in Wasser 
entstanden sein, sondern sie muss irgend einen sterilisirenden Pioccss 
durchgemacht haben; hier werden wir wohl mit Sicherheit annebmen 
können, dass es hohe Temperaturen im Erdinnern gewesen sind, welche 
noch vor der Deponirung des Fango am Boden der Teiche auf die 
Massen eingewirkt und sie keimfrei gemacht haben. 

Ueber die Indi cationen, welche die Patienten nach Battaglia 
führen, ausführlich zu sprechen, ist hier nicht der Ort. Ich will nur 
kurz erwähnen, dass in erster Reihe die ganze Zahl der rheumati¬ 
schen Erkrankungen, Gelenkrheumatismus, Gicht, Neuralgien, 
Ischias etc. sehr günstig beeinflusst werden. Ich habe aber weiter die 
Erfahrung gemacht, dass die localen Fangoapplicationen, wie sie in Bat¬ 
taglia angewandt werden, eine die Resorbtion ausserordentlich beför¬ 
dernde Wirkung haben. Es werden also für diese Behandlung nicht nur 
die rheumatischen, sondern auch, um mich ganz allgemein auszndrücken, 
alle solche Leiden geeignet sein, wo nach einer mit Exsudation 
einhergehenden Entzündung die acuten Erscheinungen be- 


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29. März 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 28t 


reita gewichen sind und die Resorption des durch die Ent¬ 
zündung gesetzten Exsudates nicht vorwärts schreitet. 
Ganz besonders werden sich die Fangoapplicationen in Fällen empfehlen, 
wo solche Vorgänge sich in der Tiefe der Körperhöhlen abspielen, wie 
z. B. im Becken, im Pleuraraum etc. 

Zur Behandlung solcher Patienten ist in dem neuerbauten Hause 
KrausenBtrasse No. 1 die Fango-Kuranstalt errichtet worden, und nimmt 
in diesem Hause das Parterre und die erste und zweite Etage ein. In den 
Parterreräumen befindet sich, wie der Grundriss veranschaulicht (Fig. 1), 
rechts neben dem Eintrittscorridor der grosse Warteraum, links die Or¬ 
dinationszimmer des Arztes. Ein Fahrstuhl steht solchen Patienten zur 
Verfügung, welchen das Treppensteigen schwer wird. Hinter dem Fahr¬ 
stuhl führt eine kleine Tbiir für den Arzt in die dritte Klasse, in 
welcher unbemittelte Patienten unentgeldlich, Kassenpatienten und minder 
bemittelte zu entsprechenden Preisen behandelt werden. Der äussere 
Eingang zu dieser Abtheilung liegt in der Mauerstrasse und führt durch 
ein kleineres Wartezimmer in einen grossen gemeinschaftlichen Ruhe- 
raum, von hier gelangt man in einen zweiten grossen Raum, in welchem 
ebenfalls gemeinschaftlich die Fango-Applicationen und Einpackungen ge¬ 
macht werden, weshalb dieser Raum Packraum genannt wird. Im Par¬ 
terre wie in jeder Etage befindet sich je eine Fangoküche; hier haben 
grosse Wasserbäder Aufstellung gefunden, durch welche der Fango, und 
zwar für jeden Patienten gesondert, in eigens für diesen Zweck ge¬ 
formten Gummi beuteln auf die für jeden Fall geeignete Temperatur er¬ 
wärmt wird. 

In der ersten Etage befindet sich die erste, in der zweiten die 
zweite Klasse der Anstalt (Fig. 2). Die beiden Klassen unterscheiden 
sich, abgesehen von der Eleganz der ganzen Einrichtung, noch dadurch, 
dass in der ersten Klasse der Patient einen Packraum und einen Ruhe- 
raum für sich allein zur Verfügung hat, während in der zweiten Klasse 
mehrere kleinere und grössere gemeinschaftliche Packräume und Ruhe¬ 
räume eingerichtet sind. Ausserdem zeigt ein Bück auf den Grundriss, 
dass wir in der ersten und zweiten Etage je zwei getrennte Abthei¬ 
lungen, eine für Frauen und eine solche für Männer haben; in der 
dritten Klasse müssen die Geschlechter zu verschiedenen Tageszeiten 
behandelt werden. 

In der dritten und vierten Etage des Hauses befindet sich, unab¬ 
hängig von der Fango-Kuranstalt, ein Pensionat. 

Die Beleuchtung des Hauses ist elektrisch. Die Heizung Central- 
wasBerbeizung; dieselbe ist in der Intensität vorgesehen, welche erfor¬ 
derlich ist, um in säramtlichen Räumen der Anstalt, besonders auch in 
den Packräumen, die dort nothwcndige hohe Temperatur zu erzielen. 


IX. Sonderegger f. 

Weit über die Grenzen seines Vaterlandes hinaus hat Sonder¬ 
egger’s Tod in St. Gallen am 20. Juni v. J. Theilnahme erregt. Mit 
ihm ist einer der begabtesten und edelsten Söhne der Schweiz dahin¬ 
gegangen, in ihm haben die Collegen in der Schweiz ihren allgemein 
verehrten Führer verloren. Auch viele Aerzte im Deutschen Reiche 
zählen zu seinen Verehrern. 1883 begrüsste ihn College Graf auf dem 
Deutschen Aerztetage in Berlin; in seiner Antwort zeigte er sich als 
einer der hervorragendsten Redner und feierte Deutschlands Leistungen 
auf dem Gebiete der Medicin und Hygiene, der inneren Freudigkeit an 
dem Berufe mit Begeisterung Ausdruck gebend. Der geistvolle Mann 
mit dem scharfgeschnittenen Gesicht und doch wohlwollenden Gesichts¬ 
ausdruck riss alle Zuhörer hin. 

Sein Vater war der Gutsverwalter des Schlösschens Grünenstein im 
St. Gallischen Rheinthale, dessen Vorfahren bereits von 1580 an in der¬ 
selben Stellung gewesen sind. Am 22. October 1825 geboren, führte S. 
als Kind ein idyllisches Leben. Seit seiner Kindheit war seine Sehn¬ 
sucht, Arzt zu werden. Von Beiner Mutter sagt S. in seinem von ihm 
selbst geschriebenen Lebenslauf: ') „Sie dachte gut von den Menschen 
nnd erzog ihre Kinder zur Achtung vor Allem, zumal vor den Unglück¬ 
lichen.“ 1845 bezog er die Universität Zürich; „demiithiger ist selten 
einer eingezogen,“ sagt er. Er war kränklich und konnte nicht einmal 
deutlich sprechen. Nach einer Diphtherie in der Kinderzeit litt er an 
einer theilweisen Lähmung der Zunge. Er hatte die Energie, das Bei¬ 
spiel von Demosthenes nachzuahmen, und erlangte dadurch, dass er 
sieben Jahre lang jeden Tag vielmal das Wort „exercitinm“ deklinirte, 
den gewünschten Erfolg. 

In Zürich blieb er sechs Semester und legte dort einen festen Grund 
für seine späteren hervorragenden Leistungen als Arzt. Alle paar Se¬ 
mester die Universität zu wechseln, erklärte er (in seinem Tagebuch) 
für schädlich, da viel Zeit und Arbeitslust dabei verloren geht; auch sei 
es eine sehr unnöthige Eitelkeit, wenn der Anfänger den Celebritäten 
nachläuft; jeder tüchtige Professor biete ihm überflüssig genug. Es 
müsse einmal geschanzt sein, lange und tapfer, bis man nur das Aller¬ 
gewöhnlichste beisammen hat. 

1848 ging S. nach Würzburg, von dort nach Wien. Die Revo¬ 
lutionszeit machte er standhaft durch und hatte reichlich Gelegenheit, 


1) Der Verstorbene hat erst 1888 seinen Lebenslauf zu schreiben 
begonnen, nachdem er eine Pneumonie glücklich überstanden batte. 


die ungeheuere Sterblichkeit an Pyämie kennen zu lernen. Mit ganzem 
Herzen hing er an Semmelweis. Auch nach Prag, dem damaligen 
Mekka des Mediciners, pilgerte er und machte dort im Sommer 1849 
eine kurze, aber heftige Choleraepidemie mit. Nachdem er noch Leipzig 
besucht hatte, begann er 1850 seine Praxis im Dorfe Balgach, obgleich 
die akademische Laufbahn sein Ideal war. 

Ueber seinen Eintritt in die Praxis erzählt er: 

„Ich bin nicht mit grossen Ansprüchen ins Leben gegangen; Nah¬ 
rung und Kleidung und etwa die Stellung eines Lehrers oder Land¬ 
pfarrers, das war alles, was ich erwartete; deshalb war ich angenehm 
überrascht, als sich mir bald manche Honorationen der Gegend, selbst 
aus dem damals noch fernen St. Gallen, anvertrauten. 

Zum Respekt haben geboren, begrüsste ich die sesshaften Collegen 
der umliegenden Orte — in Balgach war kein zweiter — mit aufrich¬ 
tiger Hochachtung, und den angesehensten derselben consultirte ich in 
jedem wichtigen Falle. Dafür entwickelte dieser hinter meinem Rücken 
einen Neid und Zorn gegen mich, der förmlich Reklame für mich machte. 
Die übrigen waren ohne Ausnahme angenehm und ehrlich. Das Ideal 
eines Arztes, dessen Bild mir auch im Alter nicht abgeblasst ist, der 
wissenschaftlich hochstehende, praktisch gewandte, grossartig wohlthätige 
und wahrhaft collegiale Mann, der beste Christ unter uns Aerzten, das 
war der alte Jude Dr. Steinach in Hohenems. Als er 1867 auf 
seinem Sterbebette lag, hat die katholische Gemeinde in der Kirche für 
ihn gebetet! Er war die oberste Instanz weit herum, nnd ein Druck 
seines Fingers hätte genügt, den jungen Sperling von Concurrenten todt 
zu machen. Er hat mich väterlich geführt und gehoben, nnd mir die 
Ehrenschuld auferlegt, später seinem Beispiele zu folgen. 
Es ist viel leichter, mit Anstand Concurrenz zu machen, als diese mit 
Anstand zu ertragen, aber ich bin überzeugt, dass bei schlechten colle- 
gialen Verhältnissen, welche immer die Kranken und die Aerzte zugleich 
schädigen, in den meisten Fällen die Alten schuld sind. Ist der junge 
College bescheiden, so verbittert man ihn; ist er unbescheiden, so macht 
man ihn hochmüthig, wenn man ihn nicht gut aufnimmt. Einzelne Un¬ 
heilbare giebt es unter Jungen und Alten; ich schlage nach langer Er¬ 
fahrung ihre Zahl zu beiläufig 2 pCt. an, und diese muss man in ihrer 
eigenen Brühe mürbe werden lassen.“ 

Von 1863 bis 1873 praktizirte er mit grossem Erfolge in Altstätten 
und siedelte dann nach St. Gallen über, wo er noch 23 Jahre lang der 
Mittelpunkt alles ärztlichen Handelns und aller sanitären Bestrebungen 
bildete. Jüngeren tüchtigen Collegen überliess er neidlos und wohl¬ 
wollend die Ausübung der Praxis und wirkte segensreich als gesuchter 
Consiliarius. In den 24 Jahren seiner Rheinthaler Praxis hat S. mehr 
als 400 grössere chirurgische, 200 gynäkologische, gegen 100 augenärzt¬ 
liche, 3 Staar-Extractionen und 540 geburtshülfliehe Operationen ausge¬ 
führt, letztere zum Theil unter erschütternden Verhältnissen, in kalten 
Kammern, bei grinsendem Mangel. Seine eigenen Worte über die Aus¬ 
übung seiner Praxis sind gewiss von allgemeinem Interesse: 

„Ohne persönliche Untersuchung habe ich nie Jemanden behandelt 
und mich immer angestrengt, meinen Klienten das Widersinnige des 
Dispensirens auf blossen Bericht hin klar zu machen. Es half aber 
nicht viel. Der Mensch hat Bedürfnisse für Unklares wie für Unver¬ 
dauliches, und ich galt einfach für sonderbar, wo ich ehrlich gewesen. 
Ich musste in meiner Medicinstube immer an den Medicinmann der 
Indianer denken. Er macht einen Heidenlärm, die Sonnenfinsterniss zu 
vertreiben, und sie vergeht auch richtig! Einen solchen Medicinmann 
will das Publikum haben, und ein solcher darf der Arzt nicht sein: da 
steckt der Haken! Ich gab Gebildeten sehr oft gar nichts, Ungebildeten 
etwas Milchzucker, den ich en gros kaufte, damit sie stille halten und 
mir nicht mit Aderlässen und Pillen den ruhigen Ablauf des Prozesses 
stören. Wo eine runde, klare Aufgabe vorlag, da verordnete ich, was 
zur Zeit gebräuchlich war. In Erfahrungssachen und auf anderer Kosten 
originell zu sein, ist eine Schlechtigkeit. Gott bewahre mich vor einem 
originellen Arzte! Ein Quidam sagt: Ich bin von keiner Schule — 
Kein Meister lebt, mit dem ich buhle — Auch bin ich weit davon ent¬ 
fernt — Dass ich von Todten was gelernt! — Er sagt, wenn ich ihn 
recht verstand: — Ich bin ein Narr auf eigne Hand.“ Dieses 
Wort von Goethe ist noch viel zu gelinde für den eitlen 
Tropf, der einen Patienten zu seinem Versuchsthier 
macht.“. 

„Mit meinen Collegen bin ich, nach meiner Meinung, immer auf 
gutem Fusse gestanden und habe mit sehr seltenen Ausnahmen nach 
dem Grundsätze gehandelt: unter vier Augen die rücksichtslose Discussion, 
vor der Welt aber vollkommene Eintracht. Warum sollen wir auch 
Streitfragen vor eine Instanz ziehen, die nichts daraus zu machen ver¬ 
mag, als einen Scandal! Wir Aerzte müssen von den Offlciren und von 
den Geistlichen Methode lernen. Wer seinen Stand schlecht macht, 
ist immer ein Narr. Andere besorgen das billiger und gefahrloser. 

Sehr gut bin ich auch überall mit meinen Patienten ausgekommen, 
und sie haben mich selten angelogen, weil sie wussten, dass ich den 
Wechsel des Arztes nicht wie ein Verbrechen behandele, sondern ihren 
freien Willen gebührend respectire. Wenn ich allwissend und allweise 
wäre, dann müsste ich dem Kranken zürnen, dass er diesen seinen Gott 
verlassen und einen Götzen geopfert. Aber ich war zufällig kein Gott 
und die andern waren keine Götzen; wozu also der Hochmuth einer be¬ 
leidigten Majestät! Ich war möglichst liebenswürdig gegen meine Ab¬ 
trünnigen und später wieder dienstbereit, wie wenn nichts vorgefallen 
wäre. Sie nahmen das in ihrer Eitelkeit für Edelmuth, während es sehr 
oft bloss Egoismus war, die stille Freude, einer Verantwortlichkeit, eines 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 13. 


282 


Jammers oder einer Mühsal losgeworden zn sein. Kein Mensch darf sich 
einbilden, dass sein Abschied überall als ein Unglück empfanden werde. 
Gegenrecht für Kranke und fürAerzte! Diese einfache nnd gesunde An¬ 
schauung lernte ich von dem feinfühlenden und gütigen Collegen Seitz, 
meinem langjährigen Freunde, dem Begründer und Förderer schöner 
kollegialer Verhältnisse zu St. Gallen.“ 

Das Urtbeil seiner Kollegen nnd seiner Kranken fasste College 
Hafftcr, Präsident des schweizerischen Centralvereins, in seiner Er¬ 
öffnungsrede zu Alten am 31. October v. J. in folgender Weise zusammen: 

„Wer ihn kannte — Patient oder College — liebte ihn; wer ihn 
näher kannte, liebte ihn mit unbedingtem Vertrauen und dem Bewusst¬ 
sein, einem Manne gegenüber zu sein, der es ernst und redlich meinte, 
hinter dessen begeisterndem und hinreissendcm Idealismus nicht nur 
höfliche und geistvolle Redewendungen, sondern zielbewusste hohe Thaten 
standen. Auch die materiellen Fragen unseres Standes beschäftigten ihn 
und — da er persönlich alle Phasen des Land- und Stadtarztes durch¬ 
gelebt — zeigte er auch dafür eine ungewöhnliche Einsicht und wohl¬ 
wollendes Interesse. Für das Selbstdispensationsrecht der Aerzte ixt er 
unerschrocken eingetreten — in der Uebcrzeugung, dass Verzicht auf 
dieses Recht dem Kranken gar keinen Vortheil bringt und für Hunderte 
von Collegen gleichbedeutend ist mit Verschlechterung der socialen 
Stellung, Vergrösserung des ärztlichen Proletariats. 

Auf diese Weise hat Sonderegger unablässig — nicht nur durch 
Schrift und Wort, sondern vor Allem durch sein Beispiel — an der Ver¬ 
vollkommnung des ärztlichen Standes gearbeitet und es namentlich treff¬ 
lich verstanden, die Jungen in Liebe und väterlicher Collegialität anzu- 
Iciten und nachzuziehen; durch den Verkehr mit den Jungen ist er Jung 
geblieben, ob ihm auch das Haupt grau wurde.“ 

Viele Jahre hindurch war er, der praktische Arzt, neben den Pro¬ 
fessoren Examinator für die ärztlichen Prüfungen zu Zürich und hatte 
zu prüfen: Heilmittellehre, gerichtliche Medicin und Hygiene. W T ie ernst 
er seine Aufgabe auffasste, geht aus seiner eigenen Aeussernng darüber 
hervor: „Es ist schwerer, gut zu examiniren, als ein gutes Examen zu 
machen. Der Examinator soll sein Fach beherrschen, den Examinanden 
ausschwärmen lassen, wohin er will, und ihn dann dort fest halten und 
nachsehen, ob er seine Sache bloss hinuntergewürgt oder ob er sie in 
Fleisch und Blut verwandelt habe. — In der Regel hat ein Durch¬ 
gefallener gar keine Ahnung von dem Schmerz, den er seinen Examinatoren 
bereitet. — Dennoch muss es sein, wenn es nicht anders geht. Alles 
laufen lassen, heisst die Liederlichkeit belohnen und schädigt die öffent¬ 
liche Sicherheit. Ich habe niemals erlebt, dass Leute, die man aus 
Barmherzigkeit hat durchschlüpfen lassen, nachher noch gelernt hätten; 
regelmässig wurden sie stille Mixturenkrämer oder lärmende Quacksalber 
oder auch — Trinker.“ 

Langsam kletterte 8. auf der Leiter der amtsärztlichen Würden 
empor; er genoss das Vertrauen der Regierung und des grossen Rathes, 
der Aerzte und der ganzen Bevölkerung in reichlichem Maasse. Zahl¬ 
reich sind die Schriften, die S. herausgegeben; die meisten waren Flug¬ 
schriften, welche hygienische oder gesetzgeberische Fragen behandelten. 
Hervorzuheben sind besonders folgende: „Fideris, Federzeichnung eines 
Arztes“ — eine nachahmenswerte Badeschrift 1866; „Die Vorposten 
der Gesundheitspflege“ 1873 — eine Sammlung meisterhaft ge¬ 
schriebener Abhandlungen, die in vier Auflagen auch bei uns grosse 
Verbreitung gefunden hat. Erbrachte das Gesetz über Lebensmittel¬ 
polizei, ein zweites über öffentliche Gesundheitspflege (1874), 
ein drittes über obligatorische Ortskrankenkassen (1884) durch, ver¬ 
fasste Gutachten überOrganisation der öffentlichen Kranken pflege, 
über den Geheimmittelmarkt, zahlreiche Sanitätsberichte über 
Physikatsbezirke und Anstalten, über Gotthardttunnel-Arbeiterwohnungen 
(1875\ über die Minenkrankheit, die Anaemie der Tunnelarbeiter, (1880) 
u. s. w. Bei der Abfassung des eidgenössischen Epidemiengesetzes (1881), 
des Gesetzes zur Versorgung der Gewohnheitstrinker (1801), des Kranken- 
nnd Unfallversicherungsgesetzes (1893), bei der Errichtung des Institutes 
für Gewerbehygiene (1890) und des eidgenössischen Gesundsheitsamtes 
(1893) war er hervorragend betheiligt. Seine letzte, warm und geist¬ 
voll geschriebene Arbeit behandelte „Tuberculose und Heilstätten für 
Brustkranke in der 8chweiz“ (1895). Manche Krankenhäuser, Spitäler 
und Asyle verdanken ihm ihre Entstehung. Zu seinen kantonalen Aemtern 
gehörte auch seit 1855 das Inspectorat von St. Pirminsberg, anfangs zn 
seinem grossen Schmerz, denn der Director war ein ganz unfähiger 
Mensch, der seine Stellung nur als politischer Treiber und Festredner 
verdient hatte. Später war ihm das Amt eine Freude, denn der Director 
Zinn 1 ), ein strammer Deutscher, „wie er im Buche steht“, war liebens¬ 
würdig gegen die Kranken, gewissenhaft in Pflege und Behandlung und 
energisch, wo es sich um Verbesserungen handelte’). 

Aeussere Ehrenbezeugungen sind ihm viel beschieden worden. Den 
grössten Werth legte er aber auf das Urtheil der Berufsgenossen 
und hielt seine Stellung als Präsident der Schweizer Aerzte-Commission 
für seine höchste Errungenschaft. Diese Commission ist ein Organisation 
der drei grossen Aerzte vereine, welche 76 Procent aller Aerzte in der 
Schweiz umfassen. 

Vor Abschluss seines reichen Lebens zog der seltene Mann folgende 
Bilanz: 

„Ich habe sehr viel Glück erlebt und fast alles ohne mein Verdienst. 


1) z. Z. Director der Provinzial-Irrenanstalt Eberswalde. 

2) S's Auspruch. 


Ich war glücklich als Arzt, allerdings nicht durch das, was ich, sondern 
durch das, was Andere geleistet. Ich habe in dem mit grosser Mühe 
erworbenen und behaupteten Parterresitze des ärztlichen Berufes ein er¬ 
hebendes Schauspiel des Cultnrlebens, ja der ärztlichen Moral an mir 
vorüberziehen sehen. Vor Allen erschien mir Ignaz Semmelweis, 
der Johann Huss unserer Jetzigen Epidemienlehre, Lister’s gemarterter 
Vorläufer, der das feste Contagium geahnt und siegreich bekämpft hat. 
Ich genieBse nach bald einem halben Jahrhundert noch ungeschwäcbt 
die Freude, die Ich empfunden, als ich die Todesfälle des Kindbettflebers 
gewaltig abnehmen sah, und als ich, ohne mit der menschlichen Träg¬ 
heit zu rechnen, auf das Verschwinden dieses Elendes hoflte. Ich durfte 
es erleben, dass die kühnsten Hoffnungen jener Zeit dann später in der 
Chirurgie und der Gynäkologie in Erfüllung gingen. Wohl mag da und 
dort unnötbig viele gynäkologische Lokalbehandlung getrieben werden, 
aber was heisst das gegenüber den vielen Frauen, die ich früher langsam 
verbluten gesehen und die man Jetzt rettet; was will das sagen gegen¬ 
über den zahlreichen Ovariengeschwülsten, die fast ausnahmslos zum 
Tode führten und die jetzt fast ausnahmslos geheilt werden. Ich habe 
jene traurige Zeit noch mit durchgelcbt und deshalb mit Jubel meine 
jungen Collegen begrüsst, die der leidenden Menschheit so Vieles be¬ 
zahlen, was ich ihr schuldig geblieben. Als ich studirte, war der 
schwarze Staar „eine Krankheit, bei der der Kranke nichts sah und der 
Arzt auch nichts.“ Während meiner Praxis erlebte ich einen grossen 
Sieg auch auf diesem Gebiete, die Entdeckung und den Gebrauch des 
Augenspiegels, später des Kehlkopfspiegels mit allen weitgehenden 
Folgen. 

Ich habe den Anfang der schmerzlosen Operationen gesehen, die 
Einführung des Aethers und des Chloroforms; ich habe es selbsthandelnd 
mit erlebt, wie die Schrecken der Chirurgie: der Schmerz, der Blutver¬ 
lust und das Wundfieber bekämpft und besiegt wurden. 

Ich gehörte zu der ersten Generation, der es beschieden war, die 
anatomische und physiologische Auffassung am Krankenbette zu ver- 
werthen und die physikalische Diagnostik zu handhaben, wobei man 
allerdings weiter kam, als bei der hergebrachten Ilufeland'sehen 
Praxis. Ich überflügelte den alten Doctor, wie ich später von dem 
modernen Chirurgen und Gynäkologen überflügelt wurde, den ich wohl 
begriff, mit dem ich aber nicht mehr concnrrenzfähig war. Alles hat 
seine Zeit. 

In den ersten Jahren meiner Praxis lernte ich die Anwcndnng des 
Thermometers am Krankenbette, sowie den wissenschaftlichen Gebrauch 
des Wassers als Heilmittel und war glücklich, anstatt des künstlerischen 
Selbstbewusstseins, das mir gänzlich fehlte, eine gute naturwissenschaft¬ 
liche Grundlage zu finden. — Als Student habe ich Rokitansky's 
Pathologie und Krasenlchre lieb gehabt und als sie begraben wurde, 
hätte ich mich an einem Fackelzuge bei der fürstlichen Leiche betheili¬ 
gen mögen. Als Arzt habe ich Virchow’s Ccllularpathologie ver¬ 
schlungen und, wenn auch leider langsam, verdaut; schliesslich ist sie 
mir doch in Fleisch und Blnt übergegangen und ich freute mich der 
besseren Erkenntniss. Mit einem gelinden Schauer habe ich noch als 
Student Schönlein's Entdeckung einer parasitären Hautkrankheit und 
Henle's Abhandlung über die auf einem Pilz beruhende Muscardine- 
seuche der Seidenwürmer kennen gelernt. Später — allerdings 30 Jahre 
später — sind die Eroberungen Schlag auf Schlag gekommen; ich ver¬ 
folgte sie mit der ängstlich frohen Spannung, wie ich 1870/71 di« 
Siegestelegramme der Deutschen verfolgte nnd dass ich die grossen 
Feldherren dieses folgenschweren, wissenschaftlichen Kampfes: Pasteur, 
Pettenkofer und Robert Koch persönlich kennen gelernt und von 
den Deutschen oftmals ihres Wohlwollens gewürdigt worden, zähle ich 
zu den Glücksfällen meines Lebens. Also gehörte auch ich zu den 
Glücklichen, die durch die Hygiene aus dem Hause der pharmaceutiscben 
Knechtschaft entronnen, nach langen Irrfahrten und nach manchem un- 
nöthigen Apisdienste das gelobte Land der Volksgesundheitspflege 
wenigstens erspähen und seine äusserete Grenze betreten durften. Ich 
will ganz gerne mein graues, oft recht unklares Hanpt zur ewigen Ruhe 
legen, denn ich bin überzeugt, dass, wenn auch nicht schon morgen, 
dennoch eine bessere Zeit anbricht, in welcher die Naturwissenschaft 
im Dienste der Humanität viel ausgiebiger arbeitet, als jetzt, und die 
Hygiene ein Stück Religion sein wird.“. 

Viele Aerzte hat er behandelt und manche sterben gesehen. Fast 
ausnahmslos haben sie Geduld im Leiden und Ergebung im Sterben 
bewiesen. Das rechnete er dem Berufe hoch an und er wünschte sehr, 
dass es sich auch bei ihm bewähren möchte. Dies ist geschehen. Mit 
„bedingungsloser Ergebung in den Willen Gottes“ ist der seltene Mann 
auch in den Tod gegangen. Die Consultation auswärtiger Professoren 
lehnte er in seiner Bescheidenheit entschieden ab und vertraute sich 
seinen Freunden Feurer und Kuhn an. Auf seinen Wunsch führten 
beide Collegen die Gastroenterostomie aus; er starb an den Folgen eines 
Carcinoms der Gallenblase, welche das Duodenum nndurebgängig ge¬ 
macht hatte. 

Sonderegger hat an Leben, Familie, Ehre und Gut viel mehr 
erreicht, als er je erwartete: denn er erwartete fast nichts. Sein Leben 
ist köstlich gewesen, denn es war Mühe und Arbeit. 

Guttstadt (Berlin). 


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29. Mürz 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


X. Der Neubau der Charitä. 

Dom preuRsischen Landtage ist am 17. d. M. seitens des Finanz- 
und Cultusministers der Entwurf eines Gesetzes betr. das Charite- 
krankcnhaus und den botanischen Garten in Berlin übersandt 
worden, in welchem nunmehr ein definitiver Plan über die oft ver¬ 
handelte Frage des Chariteumbaus aufgestellt wird. Es soll die Staats- 
regierung ermächtigt werden, Schuldverschreibungen zur Deckung eines 
Höchstbetrages von 16 Millionen Mark auszugeben, für welchen 1. für 
das Charitekrankenhaus in Berlin und die mit demselben verbun¬ 
denen Institute der Universität Berlin geeignete Gebäude herzustellen 
sind, 2. das Grundstück Luisenstr. 2, sowie das der Stadt gehörige 
Grundstück am Nordufer (bei dem projectirten vierten Städtischen 
Krankenhaus) für das Institut für Infectionskrankheiten anzu¬ 
kaufen, 3. für das Hygiene-Institut der Universität ein neues Ge¬ 
bäude zu errichten, 4. der botanische Garten und das botanische 
Institut der Universität Berlin nach der Domäne Dahlem zu verlegen 
und dort ein pharmazeutisches Institut zu erbauen ist. In der 
Begründung werden die voraussichtlichen Kosten für den Charite-Neubau 
auf 9 380 000 Mk. veranschlagt; das Grundstück Luisenstr. 2 kostet 
315 000 Mk, das am Nordufer belegene Grundstück 245 009 Mk.; der 
Neubau des Instituts für Infectionskrankheiten daselbst wird 630 000 Mk. 
erfordern. Als Kosten für die Verlegung des botanischen Gartens sind 
4 640 000 Mk., für den Neubau des pharmazeutischen Instituts 525000 Mk. 
berechnet. Es wird erwartet, dass die vorbezeichneten Kosten im 
Wesentlichen aus der Veräusserung des alten botanischen Gartens ge¬ 
deckt werden. 

Wir haben hier die finanztechnische Frage ausser Acht zu lassen 
und ebensowenig darauf einzugehen, inwieweit die letztere Berechnung 
zutreffen wird; da die 16 Millionen im Wege der Anleihe verfügbar ge¬ 
macht werden sollen, der Erlös aus dem Verkauf des botanischen 
Gartens aber demnächst auf offene Credite verrechnet werden soll, so 
ist ja der Charitö-Neubau an sich hiervon unabhängig gemacht, und 
es bleibt uns im Gegentheil nur übrig, unsere Freude und Genugthuung 
auszusprechen, dass seitens der Regierung hier Mittel und Wege vor¬ 
geschlagen werden, die im Interesse der Humanität, wie des ärztlichen 
Unterrichts gleich dringende Aufgabe mit zureichenden Mitteln zu 
lösen. 

Dem Gesetzentwurf soll ein Lageplan beigegeben werden, der 
bisher noch nicht im Druck erschienen ist; erst wenn derselbe vorliegt, 
wird man das Project im Einzelnen würdigen, und namentlich sich 
orientiren können, inwieweit es sich etwa von dem früher in dieser 
Wochenschrift mitgetheilten Plan des Herrn Generalarzt Sch aper 
unterscheidet. Für heut erwähnen wir nur, dass folgende Abtheilungen 


und Institute geplant sind: 
a) Kliniken: 

I. medicinische Klinik.mit 180 Betten, 

II. medicinische Klinik.„ 160 „ 

Chirurgische Klinik.„ 160 „ 

Chirurgische Nebenabtheilung . . . . „ 70 „ 

Geburtshülflich-gynäkologische Klinik . . * 143 „ 

Psychiatrische und Nervenklinik . . . „ 200 „ 

Kinderklinik.. 100 „ 

Klinik für Syphilis und Hautkrankheiten „ 151 „ 

Angenabtheilung.. 30 „ 

Ohrenabtheilung.* 17 * 

Hals- und Nasenklinik.* 16 „ 


zusammen 1247 Betten 
■ (gegen jetzt 1824). 

Jede Klinik ist mit Poliklinik verbunden, 
b) Institute etc. 

Pathologisches Institut. 

Hygienisches Institut. 

Geschäfts- und Wohnräume. 

Anstal tskapelle. 

Wirthschaftsränme etc. 

Weiter erwähnen wir, dass Verwaltungsgebäude und Directorial- 
wohnung neugebaut werden sollen. Neubauten erhalten ferner: 
Kinderklinik; Chirurgische Klinik; I. medicinische Klinik; 
Geburtshülflich-gynäkologische Klinik; Kapelle; Patho¬ 
logisches Institut (ein Hauptgebäude mit zwei Seitengebäuden, von 
denen das für die Sammlung bestimmte schon im Bau begriffen ist); 
Kochküche; in einem Gebäude die II. medicinische Poli¬ 
klinik, Ohrenklinik, Hals- und Nasenklinik; Psychiatrische 
und Nervenklinik. Umbauten sind folgendermaassen geplant: das 
bisherige „Sommerlazareth“ soll zur II. medicinischen Klinik um¬ 
gestaltet werden; die bisherigen Gebäude der geburtshülflich-gynäkologi- 
schen Klinik für die Syphilis- und Hautklinik; das Jetzige Hörsaal¬ 
gebäude des Infectionshauses soll zur Augenklinik umgebant werden. 

Ohne, wie gesagt, für heute auf eine kritische Besprechung dieses 
Planes cingehen zu können, müssen wir doch auf einen befremdenden 
Punkt aufmerksam machen: während sonst die Disposition der einzelnen 
Abtheilungen unverändert geblieben ist, vermissen wir eine der bisher 
bestehenden: von der III. medicinischen Klinik ist in dem 
Project mit keinem Wort die Rede! Bekanntlich dienten früher 
4 grosse Abtheilungen der Charite, die beiden Kliniken und die beiden 
Ncbenabtheiliingcn für innerlich kranke Männer und Frauen dem klini- 


283 


sehen Unterricht in der inneren Medicin. Dieselben sind dann zu den 
jetzt bestehenden drei Kliniken verschmolzen worden, deren jede sich 
des regsten Besuches erfreut. Nach dem vorliegenden Plan würde die 
dritte medicinische Klinik fortfallen, die Bettenzahl der beiden 
anderen aber nicht nur nicht vermehrt, sondern eher vermindert 
werden, so dass die Studirenden, welche sich bislang auf drei 
klinische Institute vertheilen konnten und dieselben ausgiebig in 
Anspruch nahmen, nun auf zwei Kliniken mit weniger Betten 
angewiesen sind. Beabsichtigt man nun die mit vieler Mühe durch- 
gefochtene Institution der III. med. Klinik einfach zu streichen? Soll die 
Universitätspoliklinik der Stütze einer, unter derselben Direction stehen¬ 
den klinischen Abtheilung in dem gleichen Augenblick beraubt werden, 
wo man an alle klinischen Abtheilungen Polikliniken angliedert? Oder 
soll für die Universitätspoliklinik, die ja nun auch demnächst ihre alten 
Räume verlässt, an Stelle der bisherigen dritten Klinik eine stationäre 
„Universitätsklinik“ (etwa wie die Institute in der Ziegelstrasse) treten? 
Es wäre erwünscht, hierüber bald Authentisches zu erfahren. Alles 
zielt jetzt — wie die Verhandlungen über die Prüfungsordnung erst 
jüngst gezeigt haben — darauf hin, die Unterrichtsanstalten immer mehr 
zu vervollkommnen, die praktische Ausbildung der Mediciner gerade an 
einzelnen kleineren Abtheilungen zu erleichtern. Wir würden den 
Fortfall der III. medicinischen Klinik als einen sehr bedauerlichen 
Rückschritt ansehen müssen, so grosse Hoffnungen im Uebrigen das 
Bauproject für eine glänzende Zukunft der altehrwürdigen Charite als 
Krankenhaus wie als Unterrichtsanstalt erweckt! 


XL Literarische Notizen. 

— Von dem an dieser Stelle wiederholt besprochenen Handbuch der 
Laryngologie und Rhinologie, herausg. von P. Heymann (Wien, Alfred 
Hoelder) ist bereits eine grössere Zahl van Lieferungen erschienen. 
Bd. I (Kehlkopf und Luftröhren), Bd. II (Rachen) und Bd. III (Nase) 
erscheinen gleichzeitig lieferungsweise. Im ersten Band folgen auf eine 
historische Darstellung (Heymann): Anatomie und Entwickelnngs- 
geschichte (Zucker kan dl), Histologie (Hey mann), Physiologie (R. 
Ewald), Untersuchungsmethoden (B. Fraenkel), Sectionsmethode 
(Hansemann), Allg. Aetiologie (Schech), Allg. Symptomenlehre (Ders.), 
Allg. Therapie (Stoerk), Entzündung (Krieg), Ulceration (Seifert). 
In Bd. II (Rachen) ist Anatomie von Disse, Physiologie von Einthoven, 
Untersuchungsmethode von Spiess, Allg. Semiotik und Therapie von 
Bloch, Acute Entzündung von Kronenberg, Diphtherie von Hoppe- 
Seyler, Chronische Entzündung von Chiari bearbeitet. Von Bd. III 
(Nase) liegen vor: Anatomie und Entwickelungsgeschichte (Mihalkovicz), 
Histologie (8chiefferdecker), Physiologie (Gaule), Untersuchungs¬ 
methoden (Spiess), Sectionstechnik (H a n s e m a n n), Allg. Semiotik (Bloch), 
Eiterung und Ulceration (Hajek), Acute Rhinitis (Gerber), Chronische 
Rhinitis (F. Klemperer und Krieg), Nasenscheidewand (V. Lange). 
Das rüstig fortschreitende Unternehmen verdient im vollsten Maasse die 
Aufmerksamkeit und Theilnahme der speciellen Fachgenossen wie der 
praktischen Aerzte. 

— Die uns zugegangene 4. Auflage des Reisehandbuches über die 
Riviera, von Dr. med. G seil-Fels bearbeitet, zeichnet sich von den 
Reisebüchern gewöhnlichen Stils durch die ganz besondere Berücksichti¬ 
gung der klimatischen und hygienischen Verhältnisse der gesammten für 
den gesundheitlichen Aufenthalt im Süden in Betracht kommenden klima¬ 
tischen Stationen aus. Es Bind die italienischen Seen, Bozen-Gries und 
Meran, die gesammte Riviera, Corsica und die in Betracht kommenden 
Plätze von Nordafrika (Algier) in einer, so weit wir gesehen haben, ein¬ 
gehenden und zuverlässigen, parteilos kritischen Weise besprochen, so 
dass die Erwähnung und Empfehlung dieses Führers auch an dieser 
Stelle gerechtfertigt ist und Vielen zu Dank geschehen wird. 

— Die Verhandlungen des VIII. Internat. Congresses für 
Hygiene und Demographie, der vom 1—9. September 1894 in 
Budapest stattfand, sind nunmehr vollständig erschienen. Dieselben um¬ 
fassen 7 Bände und ein Index-Heft und sind herausgegeben vom 
Seeretair des Congresses, Dr. Sigismund von Gerlöczy. 


XII. Praktische Notizen. 

Therapeutisches aad Iitaxleatlaaea. 

Bei einer Patientin, die eine Zahnplatte verschluckt hatte 
machten W. T. Bull und Walther 22 Monate später die Oeso- 
phagotomia ext. mit glücklichem Erfolge. (Med. Record, No. 10.) 
In den ersten Tagen, nachdem die Patientin das Fehlen der Platte be¬ 
merkt hatte, konnte sie nur Flüssiges gemessen, es stellte sich ausser¬ 
dem eine beträchtliche Schwellung oberhalb des Sternums ein. Dieselbe 
verschwand jedoch von selbst schon nach kurzer Zeit, ebenso wie die 
Schwierigkeiten bei der Nahrungsaufnahme. Nachdem Patientin 
19 Monate lang keinerlei Beschwerden gehabt hatte, traten wieder 


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‘284 


BERLINEU KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 13. 


Schluckbeschwerden auf, Patientin war nicht im Stande, feste Nahrung 
En gemessen; diese Beschwerden nahmen von Tag zu Tag zu, Patientin 
magerte stark ab, so dass schliesslich die Operation indicirt war. Bei 
dieser gelang es nur unter grossen Schwierigkeiten, die Platte, die im 
oberen Theil der Speiseröhre sass, zu entfernen. Vier Monate nach der 
Operation war Patientin wieder völlig hergestellt. 


Holocain als Ersatzmittel des Cocains bei Augenoperationen 
empfiehlt auf Grund seiner Erfahrungen G.Gutmann (D.Med. W., No. 11). 
Zur Anwendung gelangte eine lproc. wässerige Lösung des salzsauren 
Holocains. Die Anästhesie gelingt bei Holocaineinträufelung bereits nach 
1 — 2 Minuten, während bei Cocaineinträufelung erst nach 10 
bis 15 Minuten eine zur Ausführung von Operationen hinreichende 
Anästhesie eintritt. Ein fernerer Vorzug des Holocains vor dem Cocain 
ist, dass bei seiner Anwendung die Ernährung des Hornhautepithels 
in keiner Weise leidet, wie dies beim Cocain so oft der Fall ist. Auch 
die Pupillenerweiternng, die beim Cocain manchmal 36 Stunden 
anhält und bei Entfernung von Fremdkörpern von der Hornhaut oft von 
Nachtheil ist, findet sich beim Holocain nicht. Dagegen ist es als ein 
Nachlheil des neuen Anästheticums anzusehen, dass es nur zu Einträufe¬ 
lungen gebraucht werden kann, also nur bei Operationen am Bulbus und 
an der Conjunctiva verwendbar ist, da die durch das Thierexperiment 
nachgewiesene Giftigkeit bei subcutanen Injectionen vorläufig noch 
seine Anwendung zu subcutanen und subconjunctivalen Injectionen bei 
grösseren Operationen, z. B. an den Lidern, coutraincidiren. Ein fernerer 
Nachtheil des Holocains ist der, dass man es nur in alkalifreien Gläsern 
sterllisiren kann, weil sonst eine Trübung entsteht, die hervorgerufen 
wird durch kleine Mengen Alkali, die das Glas an das siedende Wasser 
abgiebt. Um diesen Nachtheil zu vermeiden, schlägt Gutmann vor, 
das Holocain in Porzellangefüssen vor Operationen kochen zu lassen, in 
denen es dann durchsichtig klar bliebe. 

Dolganoff (Klin. Monatsbl. für Augenheilkunde) hat bei II Kranken 
die anästhesirende Wirkung des Eucains geprüft. Etwa 2 Minuten 
nach Anwendung des Mittels trat volle Anästhesie ein, die ca. 7 bis 
8 Minuten dauerte. Das Einträufeln war sehr schmerzhaft, in 3 Fällen 
so Btark, dass die Kranken gegen wiederholtes Einträufeln protestirten. 
Die Reizerscbeinungen waren stets bedeutender als gewöhnlich bei Cocain. 

Was die Einwirkung auf die Pupille betrifft, so konnte er kanm 
einen Unterschied in der Grösse der Pupille vor und nach dem Ein¬ 
träufeln einer lproc. Eucainlösung beobachten. Auch auf die Accomo- 
dation hat das Eucain gar keine Wirkung. Wenn man aber ein durch 
wiederholtes Einträufeln eucainisirtes Auge der Atropineinwirkung unter¬ 
wirft, so sieht man die Lähmung der Accoroodation etwas schneller 
eintreten als im nicht eucainisirten Controlauge, so dass D. das Eucain 
als Antagonist des Atropins ansieht. Diese Erfahrung lässt sich 
sehr gut in Uebereinstimmung bringen mit den Experimenten Prof. 
Belljarminoff’a über die Wirkung des Eucains auf Diffusion anderer 
Massen im Inneren des Auges, wobei er fand, dass die Diffusion in die 
vordere Kammer unter Einfluss des Eucains vier bis acht Mal ener¬ 
gischer wird. 

Nach allen mit dem Eucain gemachten Erfahrungen kommt D. zu 
dem Resultat, dass Eucain keine Vorzüge vor Cocain besitzt und 
kaum je letzteres ersetzen wird. 

Petges Gabriel empfiehlt gegen die üblen Nachwirkungen 
des Jods die Aubert'sche Methode, nämlich den gleichzeitigen 
Gebrauch des Extr. Belladonnae oder des Atropins, ersteres in einer 
Dosis von 4—6 egr, letzteres von , / 2 — 1 mgr täglich. Aubert wendet 
dies Verfahren seit 10 Jahren an und hat seitdem niemals irgendwelche 
Jodintoxication beobachtet. Experimente, welche der Verf. angestellt 
hat, zeigen, dass diese Wirkung nicht dadurch zu erklären ist, dass das 
Extr. Belladonnae etwa die Elimination des Jod erleichtert; vielmehr 
möchte Verf. als Erklärung die gefässverengernden Wirkungen der 
Belladonna anBehen, die die gefässerweiternden des Jod gewissermaassen 
compensiren. (Annales de Denn.) 


Ein Patient, der schon lange Zeit an Schlaflosigkeit litt, hatte 15gr 
Sulfonal durch Einkäufen in verschiedenen Geschäften sich zu ver¬ 
schaffen gewusst, die er dann auf einmal nahm. Es trat danach Schlaf 
ein, der 72 Stunden anhielt. Als Patient nachdem ins Krankenhaus 
aufgenommen wurde, bot er das Bild eines nervösen, reizbaren und völlig 
widerstandslosen Menschen dar. Die Pupillen waren ungleich, der Urin 
enthielt grosse Mengen Zucker, ausserdem bestand ein starker Magen¬ 
katarrh. Nach einer Woche war Patient unter geeigneter Behandlung 
und Diät wieder völlig hergestellt, der Urin zuckerfrei. (Med. 
Ree. 10.) 


XIII. Tagesgeschichtliche Notizen. 

Berlin. In der Sitzung der Berliner medicinischen Gesell¬ 
schaft am 24. d. M. sprach vor der Tagesordnung Herr Mordhorst 
a. G. über Behandlung harnsaurer Concretionen (Disc. Herr Kutner). 


Es folgte der Vortrag des Herrn Freudenberg über die Behandlung 
der Prostatahypertrophie nach Bottini (Disc. Herr L. Casper), sowie 
der Vortrag des Herrn O. Katz über die diphtherische Lähmung, der 
noch nicht zu Ende geführt werden konnte. 

— In der Sitzung der Gesellschaft der Chariti-Aerzte am 
25. d. M. stellte Herr Burchardt eine Patientin mit gleichzeitiger 
Conjunctivitis gonorrhoica und follicularis vor; Herr Hauchecorne 
besprach die Pestgefahr für Europa vorwiegend vom historischen und 
kritischen Standpunkt aus; in der Discussion vertrat ihn gegenüber Herr 
Kolle die Ergebnisse der modernen Bacteriologie. Sodann trug Herr 
Richter über die Resultate seiner Untersuchungen zur Chemie des 
Blutes vor (Disc. die Herren Jacob, Michaelis, Richter). 

— Der VII. Congress der deutschen Gesellschaft für 
Gynäkologie wird dieses Jahr vom 9. bis 11. Juni in Leipzig statt- 
findeu. Als Gegenstände der Erörterung sind bestimmt worden: Retro- 
flexio uteri und Placenta praevia, für welche Referenten bereits ge¬ 
wonnen sind. Anmeldungen zu Vorträgen und Demonstrationen werden 
bis zum 15. April a. c. an den 1. Vorsitzenden erbeten. Kranke, welche 
von Gesellschaftsmitgliedern vorgestellt werden sollen, können uach vor¬ 
heriger Anmeldung in der Universitäts-Frauenklinik untergebracht werden. 
Für jede nähere Auskunft sind der 1. Vorsitzende nnd die beiden Schrift¬ 
führer (Zweifel - Leipzig, Pfannenstiel - Breslau, Sänger-Leipzig) 
bereit. 

— Die laryngologische Gesellschaft in Wien hat Hrn. Priv.-Doc. Dr. 
Paul Heymann hier zum Ehrenmitglied gewählt; bisherige Ehren¬ 
mitglieder sind B. Fraenkel, M. Schmidt, Felix Semon, Gouguen- 
heim (Paris). 

— Stabsarzt Dr. Heim in Würzburg ist zum a. o. Professor der 
Hygiene ernannt; bisher war der Lehrauftrag für Hygiene noch mit der 
Professur für Physiologie verbunden. 

— In Wien ist Priv.-Doc. Dr. Franz Chvostek zum ausserordentl. 
Professor befördert worden. 

— In No. 10 d. W. hatten wir mitgetheilt, dass Hr. Prof. Doeder¬ 
lein aus Leipzig einen Ruf nach Groningen erhalten habe, nachdem der¬ 
selbe Ruf von Hrn. Prof. Winter hier abgelehnt worden sei. Man schreibt 
uns dazu aus Groningen, die Nachricht sei in dem Sinne zu verbessern, 
dass nur Hr. Doederlein von der Facultät in Vorschlag gebracht 
worden sei. Wie uns Hr. Winter, auf unsere Anfrage hin, mittheilt, 
sind die Verhandlungen mit ihm seitens des Uni versitätscuratorium s 
geführt worden, welches nicht an die Vorschläge der Facultät gebunden 
ist; Hr. Winter war auf diese Einladung hin persönlich in Groningen an¬ 
wesend und lehnte nach genauer Einsicht in die dortigen Verhältnisse ab. 

— Der Geschäfts-Ausschuss der Berliner ärztlichen 8tandes-Vereine 
hat bei Gelegenheit der Centenarfeier der Wilhelm-Augusta-Stiflung die 
Summe von 1000 Mk. überwiesen. 

Wiesbaden. Das chemische Laboratorium des Herrn Geh. 
Hofrath Professor Dr. R. Fresenius ist während des Wintersemesters 
1896/97 von 58 Studirenden besucht worden. Assistenten waren im 
Unterrichts-Laboratorium 3 und in den Versuchsstationen (Untersuchungs- 
Laboratorium) 20 thätig. Dem bewährten Lehrkörper der Anstalt gehören 
ausser dem Director Geh. Hofrath Professor Dr. R. Fresenius noch an 
die Herren Professor Dr. H.Fresenius, Dr.W. Freseni us, Dr.E.Hintz, 
Dr. med. G. Frank, Dr. W. Lenz, Dr. L. Grünhut und Architekt 
Brahm. — Das nächste Sommersemester beginnt am 2G. April 
dieses Jahres. 


XIV. Amtliche Mittheilungen. 

Personall». 

Auszeichnungen: Rother Adler-Orden III. Kl. m. d. Schl.: dem 
Geheimen Sanitätsrath Dr. Iluellmann in Halle a. 8. 

Rother Adler-Orden IV. Kl.: dem Kreis-Physikus Geheimen 
Sanitätsrath Dr. Heilmann in Crefeld, dem Kreis-Physikus Sanitäts¬ 
rath Dr. Pogge in Stralsund. 

Die Krone zum Rothen Adler-Orden IV. Kl.: dem Arzt Dr. 
Kersting in München. 

Prädikat „Excellenz“: der ordentl. Professor Geheimer Medi- 
cinalrath Dr. von Esmarch in Kiel. 

Versetzung: der Kreis-Physikus Dr. Eschricht von Bleckede in den 
Kreis Danzig-Höhe. 

Niederlassung: der Arzt Dr. Müller in Bonn. 

Verzogen sind: die Aerzte Dr. Ligowski von Leipzig nach Garnsee, 
Dr. Berg von Weisenau nach Polch, Dr. Kisgen von Polch nach 
Elberfeld, Dr. Plinke von Revenscn nach Bleckede, Dr. Wirz 
von Ebzbach nach Mülheim a. Rbn., Dr. Heim von M.-GIadbach 
nach Rhöndorf, Dr. Dreyer von Berlin nach Cöln, Dr. Gass von 
Brühl nach Altenwald. 

Gestorben sind: die Aerzte Geheimer Sanitätsrath Dr. Herz in Bonn, 
Dr. Cohen in Honnef, Dr. Kemper in Dortmund, Kreis-Wundarzt 
Schumann in Beeskow. 


Fiir die Redactlon verantwortlich Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald, Lütiowplatz 5. 


Verlag und Eigenthum von August Hirschwald in Berlin. — Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin. 


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BERLINER 


Die Berliner Klinische Wochenschrift erscheint Jeden 
Montag in der 8tirke von t bis 3 Bogen gr. 4. — 
Preis Tiertelj&hrlich 6 Mark. Bestellungen nehmen 
alle Buchhandlungen und Postanstalten an. 


Einsendungen wolle man portofrei an die feedactloh 
(W. LQtaunplata No. 5 ptr.) oder an die Verlags¬ 
buchhandlung von August Hirschwald in Berlin 
N.W. Unter den Linden No. 68, adressiren. 



Organ für practische Aerzte. 


Mit Berücksichtigung der preussischen Medicinalverwaltung und Medicinalgesetzgebung 

nach amtlichen Mittheilungen. 

Redaction: Expedition: 

Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald und Prof. Dr. C. Posner. August Hirschwald, Verlagsbuchhandlung in Berlin. 


Montag, den 5. April 1897. 


M 14 . 


Vierunddreissigster Jahrgang. 


I N H 

I. C. Gerhardt: Pulsns paradoxus einer Seite. Ungleiche Pulszahl 
der Arniarterien. 

II. M. Mendelsohn: Zur internen Behandlung der Nierenstein¬ 
krankheit. 

III. Rumpf: Ueber die Behandlung der mit Gefässverkalkung einher¬ 
gehenden Störungen der Herztbätigkeit. (Schluss.) 

IV. Ans der medicinischen Klinik in Bonn. L. Brauer: Letal endende 
Polyneuritis bei einem mit Quecksilber behandelten Syphilitischen. 
(Schluss.) 

V. Abel: Ueber Abortbehandlung. (Schluss.) 

VI. Kritiken und Referate. Darnach: Bewegungsvorgänge am 
menschlichen Herzen. (Ref. Lewy.) Ziem an n: Blntparasiten. 
(Ref. Grawitz.) Büchner: Bedeutung der Zellproducte für den 
Chemismus der Zelle. 


I. Pulsus paradoxus einer Seite. Ungleiche 
Pulszahl der Armarterien. 

Zweite Mittheilung. 

Von 

C. Gerhardt. 

Die in No. 1 dieser Wochenschrift beschriebene Kranke, 
Karoline A., blieb noch bis zum 14. I. in der Anstalt. Die 
Pulszahlen betrugen an den Tagen vom 8. XII. bis zum Austritt: 


am 8. Herzspitze 94, 

rechte 

Radialis 

93, 

linke 

80 

TI 9- 

86 

rechte 

Carotis 

84, 

linke 

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am gleichen Tage „ 

88 

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am 10. 



Radialis 91 

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am gleichen Tage \ 

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Befinden: J 

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„ 1. Januar 

1897 

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* 12. 

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TT 

TT 

126 

112. 


Mit zwei Ausnahmen blieb also der Puls fiir den zählenden 
Finger au der linken Radialarterie um 3—24 Schläge seltener 


ALT. 

VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Berliner me- 
dicinische Gesellschaft. Bruck: Deraogement interne des Kiefer¬ 
gelenks. Hirschberg: Entfernung von Kupfersplittem aus dem 
Auge. Fränkel: Ausgänge der Influenza. Casper: Prostata- 
Hypertrophie. — Hufeland’sche Gesellschaft. Saalfeld: Primär- 
affect am Finger. Gottstein: Glutol. Casper: Chron. Gonorrhoe. 
— Phya.-med. Gesellschaft zu Würzburg. Lehmann: Zucker¬ 
bestimmung; Zähigkeit unserer Nahrungsmittel. — Verein der 
Aerzte zu Stettin. Strauch: Schwedische Heilgymnastik und 
Massage. Neisser: Meningitis serosa. Timmling: Demonstration. 

VIII. Achtzehnter Balneologencongress in Berlin. 

IX. Hochenegg: Bemerkungen. Schüller: Erwiderung. 

X. Praktische Notizen. 

XI. Tagesgeschichtliche Notizen. — XII. Amtliche Mittheilungen. 


als an der rechten. Die Kranke trat auf Verlangen gebessert 
aus. Inzwischen waren bei mehreren anderen Kranken: Hemi- 
plegischen, Herzkranken u. 8. w. ähnliche Zählungen gemacht 
worden, ohne dass einmal ein Unterschied der Zahlen sich er¬ 
geben hätte. Doch der zweite Fall sollte nicht ausbleiben. 
Wenn er auch nur sehr kurz beobachtet werden konnte, so 
lieferte er dafür ein Obductionsergebniss, das der Voraussetzung 
entsprach. 

Frau Anna H., G9 J. alt, hatte als Kind Masern, später gastrisches 
Fieber, vor zwei Jahren Lungenentzündung, vor einem Jahr Grippe; 
leidet seit längerer Zeit an Zittern der linken Hand. Seit einem An¬ 
falle von Schwindel, dann Ohnmacht, am 22. XII. 96, ist das rechte 
Bein gelähmt. Eintritt am 4. I. 97. Am 7. I. wurde bemerkt, dass 
der Puls unregelmässig und an der linken Radialarterie bedeutend kleiner 
war, als an der rechten. Bei gleichzeitiger Zählung des Pulses während 
einer Minute fand man rechts 112, links 92 Schläge. Nochmalige Zäh¬ 
lung während einer halben Minute ergab rechts 52, links 42 Schläge. 
Die Kranke war fleberlos, hatte zu der Zeit etwa 40 Athmungen, so 
dass durchschnittlich halb so viele Pulse linkerseits ausflelen, wie Atbem- 
zfige gemacht wurden. Die weitere Beobachtung, Aufnahme von Puls- 
curven u. s. w. wurde unmöglich, da noch am 7. Abends plötzlich der 
Tod eintrat. 

Die Obduction (Prof. Israel) ergab ausser einigen Erweichungs¬ 
herden im linken Seh- und Streifeuhügel frische eitrig-faseratoffige 
Pleuritis und Pericarditis. Während die Aeste der mittleren Hiraarterie 
zahlreiche Flecken und Verkalkungen zeigten, waren an der Aorta nur 
einige fettige Flecke der Intima und eine hanfkorngrosse gallertartige 
Verdickung am Abgänge der rechten Subclavia zu Anden. Die aufye- 
schnittene Subclavia hatte rechtB 2,0, links 0,8 cm Breite, die 
Carotis rechts 1,5, links 1,4. 

Die gewöhnliche Dicke der Arteria subclavia giebt Luschka zu 
9 mm an und bemerkt, dass die linke etwa ’/i mm weniger messe. — 
Somit war bei dieser Kranken ungewöhnliche Enge der linken Subclavia 
vorhanden, ob angeboren oder doch durch endarteriitische Processe ent¬ 
standen, muss unentschieden bleiben. 

Die Deutung dieses Befundes ist in Kürze die: Frische 
Pericarditis fand sich als Ursache des paradoxen Pulses, Ver¬ 
engerung der linken Art. subclavia war Ursache des Pulsus 
differens. Die Abschwfchung des arteriellen Stromes durch 


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28G 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 14. 


I’ericarditis war nur so weit gediehen, dass sie nur an der 
linken engeren Arniarterie und auch da nur bei der Hälfte der 
AthemzUge je einen Pulssclilag zum Ausfälle brachte. 

Nach diesem Befunde war es wahrscheinlich, dass man auch 
bei Gesunden durch gleichmässig andauernden Druck auf eine 
Armarterie einen Grad von Verengerung schaffen könne, der bei 
ruhigem Athmen gleichmässigen Ablauf der Pulswellen zulässt, 
bei recht tiefen Athemzügen während der Einathmung die Puls¬ 
wellen verschwinden lässt. Herr Dr. 8trübe, Assistent an 
meiner Klinik, hat sich auf meinen Wunsch hin mit dieser Frage 
beschäftigt und hat nach manchen vergeblichen Versuchen bei 
Gesunden durch andauernden Druck auf die Armarterie die Puls- 
curve so beeinflusst, dass während dieser Einathmungen die 
Wellen erloschen. Ich lege hier eine seiner Curven bei. 






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Wenn auch von vorneherein die Möglichkeit zugegeben 
werden muss, dass durch Welleninterferenz gleichfalls Verschie¬ 
denheit der Pulszahlen beider Radialarterien bedingt werden kann 
so sprechen doch die Curven, die Mainzer abbildet, sowie die 
in No. 1 dieser Wochenschrift von mir veröffentlichte keines¬ 
wegs ftlr eine solche Entstehungsweise in unseren Fällen. 


II. Zur internen Behandlung der Nierenstein¬ 
krankheit 

Von 

Dr. Martin Mendelsohn, 

Privatdocent an der Universität Berlin. 

(Vortrag, gehalten am 25. Februar 1897 in der Hufeland’schen Gesellschaft.) 

Die harnsaure Diathese ist in den letzten Jahren in viel¬ 
fachen Untersuchungen Gegenstand wissenschaftlicher Arbeit ge¬ 
wesen; und je nach den Ergebnissen der einzelnen Feststellungen 
wandte sich die Therapie dieser vielgestaltigen Affection nach 
verschiedenen Richtungen hin. Es scheint jedoch, als wenn 
man zu sehr Einzelheiten, zu sehr nebensächlichen Momenten in 
der Pathogenese hierbei gefolgt wäre, und darüber die wesent¬ 
lichen Factoren im Zustandekommen der Affection — und dem¬ 
entsprechend auch in ihrer Verhütung — aus dem Auge ver¬ 
loren hätte. Insbesondere trifft das für die Nierensteinkrankheit 
zu, welche ja allgemein noch dem unbestimmten Begriffe der 
„harnsauren Diathese“ subsummirt wird. Und so gestatten Sie 
mir vielleicht, dass ich als Thema des gern übernommenen Vor¬ 
trages für den heutigen Abend die interne Therapie der Nieren¬ 
steinkrankheit wähle, und Ihnen die Principien dieser innerlichen 
Behandlung, wie sie sich mir in vielfacher klinischer Beobach¬ 
tung als die zweckmässigsten bewährt haben, und die experi¬ 
mentellen Untersuchungen und die aus ihnen gewonnenen An¬ 
schauungen Uber die Entstehung der Affection, auf denen ich 
die Maassnahmen dieser Therapie basire, in Kurzem darlege. 

Wenn man die Aufgaben, welche der Arzt bei bestehender 
Nierensteinkrankheit sich stellt, erwägt, und die chirurgische 
Entfernung, sei es der Steine, sei es des ganzen durch sie zer¬ 
störten Organs, bei Seite lässt, so sind es noch immer zwei 
grosse, wesentlich verschiedene Ziele, welche der internen Be¬ 
handlung übrig bleiben, zwei Ziele, von denen das eine erreich¬ 
bar ist, das andere nicht. Und zwar ist es, wie ja nur natür¬ 
lich, das weitere, das grössere Ziel, das zu erreichen uns bisher 
ganz und gar versagt ist, und das, wir dürfen es uns nicht ver¬ 


hehlen, wohl auch fernerhin stets verschlossen bleiben wird: 
die Auflösung eines Concrements im Inneren des Körpers. Nichts 
erklärlicher, als der Wunsch nach solchem Können. Und nichts 
wahrscheinlicher, wenigstens für die oberflächliche Betrachtung, 
als die Möglichkeit, solche Einwirkung ausllben zu können. 
Denn, wenn wir bei den Hamsäuresteinen als dem wichtigsten 
Beispiele verweilen dürfen, es giebt eine ganze Anzahl von 
chemischen Lösungsmitteln für die Harnsäure, und nichts scheint 
einfacher, als diese, die unschädlich sind und durch den Harn 
wieder ausgeschieden werden, in den Körper einzuführen und 
ihnen die Auflösung der Steine bei ihrem Hindurchtritt durch 
die Nieren zu überlassen. Wir haben in den letzten Jahren Prä¬ 
parate kennen gelernt, wie das Piperazin und besonders das 
Lvsidin, denen ein ganz ausserordentliches Harnsäurelösungsver¬ 
mögen zukommt und die aus dieser ihrer Eigenschaft auch in 
ausgedehntem Maasse bei der Nierensteinkrankheit und bei der 
Gicht Verwendung gefunden haben. Aber ganz zu Unrecht; 
denn sie lassen den Harnsteinen gegenüber völlig im Stich. Es 
lässt sich gar nicht anders formuliren, als dass man zugiebt: 
eine Auflösung von bereits ausgefallener Harnsäure innerhalb des 
Organismus ist zur Zeit mit unseren künstlichen Hülfsmitteln ab¬ 
solut unmöglich. Und das ist auch nicht wunderbar. Denn 
wenn man sich vorstellt, wie schwer löslich selbst in ihren 
besten Lösungsmitteln die Harnsäure immer noch ist, wenn man 
die ausserordentliche Verdünnung bedenkt, welche die Arznei¬ 
körper in den Säften und im Harne erfahren, wenn man vor 
allen Dingen auch die geringe Oberfläche erwägt, welche ein 
festgefügter Harnstein einer selbst auHösenden Flüssigkeit als 
Angriffspunkt darbietet, wo er doch nur, wenn überhaupt, zum 
kleinsten Theile von ihr bespült wird, so ist diese Un¬ 
möglichkeit schon a priori sehr einleuchtend; zudem aber 
und ganz besonders verlieren alle diese Lösungsmittel, wie 
ich experimentell nachzuweisen vermochte 1 ), im Harn, durch 
die normalen Körper des Harns, ihre Lösungsfähigkeit über¬ 
haupt. Wo daher in den Nieren ein Concrement bereits sich 
gebildet hat, sind die Versuche, auf internem Wege seine 
Auflösung zu erzielen, aussichtslos. Höchstens dass angestrebt 
wird, seine Elimination in toto auf den natürlichen Wegen 
herbeizuführen. 

Ganz anders dagegen und aussichtsreicher sind die Wege, 
welche eingeschlagen werden können, um die Bildung und das 
Wachsthum der Nierensteine von vornherein zu verhüten und zu 
verhindern. Wenn man bei dem Bestreben, einen fertigen Harn¬ 
säurestein zu lösen, die Ursachen seiner Entstehung ganz ausser 
Acht lassen kann, indem man hier nur mit dem bereits vor¬ 
handenen festen Körper, dessen Auflösung in Frage steht, zu 
rechnen hat, so ist bei dem Problem der Verhütung einer Harn- 
steinbildung überhaupt die allererste Voraussetzung für ein 
wissenschaftlich begründetes Handeln, dass man klar sieht, wo¬ 
durch eine solche Harnsteinbildung zustande kommt. Nun wissen 
Sie ja, dass es hierüber beinahe ebenso viele Theorien giebt, 
als sich Bearbeiter mit dieser Frage beschäftigt haben; und 
jeder eigenen Theorie folgt natürlich eine eigene Therapie auf dem 
Fusse. Ganz besonders im Vordergründe stand lange Zeit die An¬ 
nahme einer quantitativen Anomalie, die Meinung, dass dort, wo 
er zur Ilarnsäuresteinbildung käme, Anomalien des Stoffwechsels 
und Besonderheiten der Ernährung die Ursache seien, dass im 
Ham quantitativ mehr Harnsäure, als er in Lösung zu halten 
vermag, erscheine, und dass daher diese schon innerhalb der 
Nieren ausfalle und die Hamsteinbildung hcrbeiführc. Diese 

1) Martin Mendelsohn, Die Verschiedenheit des Problems der 
der Harnsäurelösnng bei gichtischen Ablagerungen nnd bei Concrctionen 
in den Hamwcgen. Deutsche med. Wochenschr. No. 41, 1895. 


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5. April 1807. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


287 


Anschauung, welche zur Folge hatte, dass den Kranken die Ei¬ 
weissnahrung und insbesondere der Fleischgenuss sehr stark ein¬ 
geschränkt wurde, ist eine unzutreffende: die Hamsäureaus- 
scheidung im Harne ist keineswegs derart von der Nahrung 
abhängig, dass sich hierauf eine zweckmässige Therapie stutzen 
könnte, nur nucleinreiche Nahrung vermehrt die Harnsäurebildung 
und wird darum zweckmässig vermieden. Eine zweite An¬ 
schauung, welche sich wesentlich in der Therapie Geltung ver¬ 
schaffte, war sodann die, dass die Acidität des Harns an der 
Entstehung der Harnsäuresteine betheiligt sei, indem sie hier 
Überall erhöht sei und die stark saure Reaction des Harnes zur 
Abscheidung von Harnsäure und damit zur Harnsteinbildung 
flihre. Aber auch das hat keine allgemeine Geltung; vielfach ist 
die Acidität des Harns gar nicht erhöht. Nichtsdestoweniger ist 
es ohne Weiteres einleuchtend, dass eine bestimmte Harnsäure¬ 
menge in einer complicirten Lösung um so leichter in Lösung 
verharren bleibt, je mehr Alkali auf ihren Theil entfällt und 
je mehr sie daher in der Lage ist, Salze zu bilden, welche 
leichter löslich sind, als sie selber. Da von allen Harnsäure¬ 
salzen das harnsaure Lithium das am leichtesten lösliche ist, so 
hat diese Eigenschaft des Lithiumsalzes ja zu der so sehr ver¬ 
breiteten Lithiumtherapie geführt, bei der man nur immer ausser 
Acht gelassen hat, quantitative Erwägungen darüber anzustellen, 
wie geringfügig die Menge des an sich selber sehr schwer lös¬ 
lichen Lithiums ist, welche überhaupt in den Ham hineingelangt, 
und wie klein nun wiederum der Bruchtheil hiervon ist, welcher 
bei der Vertheilung des Lithiums auf alle Säuren des Harns für 
die.mit so geringer Affinität begabte Harnsäure übrig bleibt. 
Nichtsdestoweniger ist eine massvolle alkalische Therapie nicht 
von der Hand zu weisen; nur besteht hier, was deren Durch¬ 
führung sehr erschwert, die Gefahr, dass der Ham gänzlich 
alkalische Reaction erhält, und so nun zwar die Harnsäure in 
Lösung bleibt, die Erdphosphate dagegen ausfallen und ihrerseits 
nun zur Steinbildung führen können. 

Die grössten Schwierigkeiten für eine interne Behandlung 
der Nierensteinkrankheit entstanden nun aber durch eine An¬ 
schauung, welche aus den so sehr schönen Forschungen und 
Untersuchungen von Ebstein 1 ) Uber den Bau der Nierensteine 
allgemein die Oberhand gewann, die Anschauung, dass die 
Nierensteine eine specifische Krankheit per se seien, dass sie 
nicht ohne Weiteres nur aus dem Material, welches der Harn 
an sich darbietet, sich aufbauen könnten, sondern dass dazu be¬ 
sondere Bedingungen gehörten, welche, ausser dem eigentlichen 
Steinbildner, das zum Zustandekommen des Steins nöthige 
Material lieferten. Sie erinnern sich, meine Herren, dass 
es Ebstein gelungen ist, durch umfangreiche Untersuchun¬ 
gen nachzuweisen, dass ein Harnstein nicht allein nur 
aus einer Gruppirung von Krystallen besteht, sondern, dass 
ein solches Concrement sich zusammensetzt aus abwechseln¬ 
den Schichten einer eiweissartigen Substanz, welche, wenn 
Sie so wollen, wie die Schalen einer Zwiebel Uber einander 
liegen und welche der Steinbildner durchsetzt. Dieses orga¬ 
nische Gerüst des Steines, wie es der Entdecker genannt hat, 
sollte das Essentielle des Vorganges sein, der also ähnlich sich 
abspielte, wie die Ossification der Knochen: das Primäre ist die 
Bildung der weichen, eiweissartigen Substanz; das Secundäre 
deren Durchdringung und deren Festwerden durch die Krystalle 
des Steinbildners. Damit war die erste Ursache für die Affection 
in die Production dieser eiweissartigen Substanz verlegt, welche 
schon in MeckeUs 2 ) „steinbildendem Katarrh“ die wesentliche 

1) Wilhelm Ebstein, Die Natur und Behandlung der Harnsteine. 
Wiesbaden 1884. 

2) Meckel v. Hemsbach, Mikrogeologie. Berlin 1856. 


Rolle gespielt hatte; und eine wirksame Therapie hätte hier an¬ 
zusetzen gehabt. Denn war die Pathogenese der Nierensteine 
auch damit noch nicht in ihren letzten Ursachen klar gestellt, 
so ergab sich als Resultat dieser Untersuchungen doch die all¬ 
gemeine Anschauung, die Nierensteinbildung komme aus princi- 
piell anderen Anlässen zu Stande, wie sie beim einfachen Sedi- 
mentiren des Harns nach seinem Austritt aus dem Körper 
vorliegen, das Wesentliche bei der Entstehung der Affection sei 
nicht das Ausfallen des Steinbildners, sondern die Production 
dieser eiweissartigen Substanz. 

Doch auch diese Anschauung von der, wenn ich so sagen 
darf, specifischen Natur der Harnsteine kann jetzt nicht mehr 
aufrecht gehalten werden. Denn es zeigt sich nun, dass ein 
jeder Krystall eines einfachen Harasediments, ja selbst die amor¬ 
phen Sedimente des Harns die gleiche eiweissartige Substanz in 
sich bergen. Auch bei dem alltäglichen Vorgänge eines Sedi- 
mentirens des Harnes, den man im Glase stehen lässt, enthalten 
die ausgefallenen krystallisirten oder amorphen Elemente Ein¬ 
schlüsse der gleichen eiweissartigen Substanz, deren besonderes 
Vorkommen bisher als wesentlich für die eigentlichen Harnsteine 
angesehen wurde, durch deren Vorhandensein sich diese eben 
von den einfachen Harnsedimenten unterscheiden sollen. Und 
damit verliert der Vorgang der Nierensteinbildung seine speci¬ 
fische Eigenart. Im vorigen Jahre hat Moritz 1 ) darauf auf¬ 
merksam gemacht, dass diese eiweissartige Substanz in allen 
Harnsedimenten sich finde; ich hatte ähnliche Ergebnisse, wenn 
auch noch nicht in dieser Vollständigkeit, schon seit geraumer 
Zeit gewonnen, und habe seit der Publication von Moritz den 
Gegenstand noch eingehender untersucht. Es ist in der That 
zweifellos, dass dieselbe ei weissartige Substanz, welche die 
Nierensteine auszeichnet, auch in allen Harnsedimenten vorhanden 
ist. Löst man unter besonderen Vorsichtsmaassregeln, insbe¬ 
sondere hinsichtlich der Concentration des Lösungsmittels, unter 
dem Mikroskop einen einfachen Harnsäurekrystall aus dem Sedi¬ 
mente eines normalen Harns einer gesunden Person, und trifft 
man die Fürsorge mittelst geeigneter Coagulationsraittel, dass 
nicht auch die eiweissartige Substanz sich gleichzeitig löst, so 
kann man genau beobachten, wie unter der, von der Peripherie 
her unter dem Einflüsse des Lösungsmittels schwindenden Kry- 
stallmas8e ein zarter Eiweisskörper übrig bleibt, welcher die 
gleichen Conturen hat, wie der ursprüngliche Krystall, und der 
diese besonders deutlich hervortreten lässt, wenn er durch Zu¬ 
satz von Färbemitteln distincter gemacht wird. Und diese Bil¬ 
dung ist nicht etwa eine Eigentümlichkeit nur der ausgebildeten 
Krystalle, sondern sie findet sich ausnahmslos in jedem Harn¬ 
sediment, auch in demjenigen des alkalischen Harnes und in den 
amorphen Niederschlägen. 

Diese Befunde, meine Herren, deren Bedeutung ich gar nicht 
intensiv genug betonen kann, geben uns, wie ich meine, werth¬ 
volle Fingerzeige für unser therapeutisches Handeln in der 
Nierensteinkrankheit. Aus anderen Gesichtspunkten her habe 
ich in früheren Untersuchungen immer und immer wieder darauf 
hingewiesen, dass die Hauptindication für die Therapie der 
Nierensteinkrankheit nicht in dem Bestreben einer Auflösung 
der ausfallenden Materialien zu suchen sei, sondern in der mehr 
mechanischen Wirkung einer Anregung der Diurese, einer Dilui- 
rung der Körpersäfte und des Harns. Ich habe auch versucht 
nachzuweisen 2 ), dass die in der Empirie und der Praxis be- 

1) Moritz, Ueber den Einschluss von organischer Substanz in den 
krystallisirten Sedimenten des Harns, besonders denen der Harnsäure. 
Verhandlungen des Congresses für innere Medicin. Vierzehnter Congress. 
Wiesbaden 1896. 

2) Martin Mendelsohn, Die diuretische Wirkung der Lithiumsalze. 
Deutsche med. Wochenschrift, No. 41, 1895. 

1 * 


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288 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 14. 


währten therapeutischen Methoden, wie beispielsweise die 
Lithiumtherapie, nicht sowohl in ihrer Lösungsfälligkeit fUr 
Harnsäure, als in einer durch sie gesteigerten Anregung der 
Diurese ihren, durch die Erfahrung festgestellten Werth haben. 
Wenn sich nun herausstellt, dass die Nierensteinbildung gar 
nichts von besonderen Voraussetzungen verlangt, dass alles Ma¬ 
terial, welches die Steine zu ihrem Aufbau brauchen, schon im 
normalen Harn vorhanden ist, dass dieser seinen einfachen 
Sedimenten eben dieselbe Gestalt und Zusammensetzung giebt, 
wie sie auch die fertigen Nierensteine aufweisen, so ergiebt sich 
daraus, dass die Nierensteine eine im wesentlichen, wenn der 
Ausdruck gestattet ist, mechanische Krankheit sind, dass ihr 
Zustandekommen lediglich nur darauf beruht, dass eben der Ort, 
an welchem der, im übrigen nicht aussergewöhnliche Vorgang 
sich abspielt, hier noch im Inneren des Körpers liegt, mit einem 
Wort: dass es genügt, dass ein einfacher Harnsäurekrystall, wie 
er aus fast jedem Harne, den man stehen lässt, ausserhalb des 
Körpers ausfällt, an irgend einem Punkte der Harnwege stecken 
bleibt, um nun, ohne dass weitere Anomalien des Stoffwechsels 
oder Abnormitäten in den Harnwegen da wären, allmählich zu 
einem Harnsteine zu werden. Es ist ja allbekannt, wie gleich¬ 
gültige Fremdkörper der verschiedenartigsten Gestalt und Form, 
wenn sie stecken bleiben, den Kern für solche Hamsteinbildung 
abgeben; und dort, wo solche fremde Körper nicht wirksam 
sind, dürfte ein einzelner Krystall, der, wenn es das Unglück 
will, sich festfüngt, genügen, um nun die weitere Harnsteinbil¬ 
dung hervorrufen. Aus den Nieren wird der Ham continuirliclx 
abgesondert; die einzelnen Portionen, welche in geringen Zeit¬ 
intervallen durch die l'reteren nach der Blase befördert werden, 
mischen sich erst in dieser zu einem einheitlichen Ganzen, wel¬ 
ches alsdann bei den einzelnen Entleerungen mit besonderen 
Charakteren zu Tage tritt. Und ebenso wie die einzelnen Harn¬ 
portionen, aus denen sich die vierundzwanzigstündige Gesammt- 
harnmenge zusammensetzt, bei jedem einzelnen Individuum sehr 
wesentliche Differenzen aufzeigen, muss man auch annehmen, 
dass jede einzelne kleinste Harnportion, welche die Nieren 
verlässt, um zur Blase herabzuffiessen, ihre besondere Zusam¬ 
mensetzung hat; und es ist gar nicht unmöglich, dass in 
einer solchen hier und da Bedingungen obwalten, und das 
bei jedem normalen Menschen, welche in ähnlicher Weise, 
wie das beim Harnsäureinfarkt der Neugeborenen der Fall 
ist, die Harnsäure schon in den Nieren ausfallen lassen. Die 
späteren, nachfolgenden Harnmengen lösen dann wohl diese ge¬ 
ringfügigen ausgefallenen Substanzen quantitativ wieder auf, 
oder sie werden gleich zur Blase heruntergespült und finden 
dort, in deren grösserer Flüssigkeitsmenge, wieder ihre Auf¬ 
lösung. Ich kann auf diese Verhältnisse an dieser Stelle hier 
nicht des Näheren eingehen, sondern muss auf die Darstellung 
hinweisen, welche ich ihnen in meiner Bearbeitung der Krank¬ 
heiten der Nierenbecken und Ureteren in dem NothnageUschen 
Handbuch, welche demnächst erscheinen wird, gegeben habe; 
nur das möchte ich nochmals betonen, dass, welches auch immer 
die complicirten Bedingungen sein mögen, unter denen bei jedem 
Menschen die tägliche Hamsäuremenge in der täglichen Ham- 
Hüssigkeit gelöst ist, unter den vielfachen, wechselnden, kleinsten 
Harnraengen bei der Entstehung des Harns sich öfters solche 
finden müssen, welche in den ersten Anfängen der Harnwege ein 
Ausfallen der Harnsäure hervorrufen, ein Ausfallen, welches nur 
darum nicht für gewöhnlich in die Erscheinung tritt, als ja eben 
normaler Weise die vierundzwanzigstündige Gesammtharnsäure- 
raenge in der dazu gehörigen Flüssigkeit löslich ist, und das, 
was die eine oder die andere dieser kleinsten Harnmengen an 
Lösungsbedingungen zu wenig besitzt, von anderen Hammengen 
wieder ausgeglichen wird. 


Wenn es somit zuträfe, dass die Hamsteinbildung nichts 
Besonderes, nichts Specifisches ist, 'sondern nur darauf beruht, 
dass einmal ein Harnsäurekrystall in den ersten Hamwegen 
stecken bleibt, wenn zudem gewissermaassen ein jeder, auch der 
normale Mensch, der Gefahr eines solchen Ausfallens ausgesetzt 
erscheint, nur dass für gewöhnlich ein Hindurchtritt dieser 
ausserordentlich kleinen Gebilde stattfindet, die dann in der 
reichlichen Flüssigkeit der Blase bei der günstigen Temperatur, 
welche das Körperinnere bietet, sich wieder zu lösen vermögen, 
so ergiebt sich daraus für die Therapie die wichtige Schluss¬ 
folgerung, dass eine solche in erster Linie auf die Einwirkung 
von Mineralwässern zurückgreifen muss, eine Thatsache, die 
empirisch schon seit Langem ihre Bestätigung gefunden hat und 
durch diese Erörterungen hier eine neue Begründung erhält. 
Eine Mineralwasserbehandlung hat zunächst an sich schon den 
grossen Vortheil, dass sie mit einer erheblichen Flüssigkeitsauf- 
nahme verbunden ist und dass durch die entstehende Diluirung 
die Lösungsverhältnisse wesentlich günstig beeinflusst werden, 
wenn auch eine solche Verdünnung allein keineswegs ausreicht, 
das Ausfallen stets zu verhüten, wie man ja an diabetischen 
Harnen zu Behen oft die beste Gelegenheit hat. Wichtiger noch 
als diese Diluirung aber ist es, einen diuretischen Effekt 
zu erzielen. Diese Wirksamkeit muss bei der Wahl des 
Mineralwassers obenan stehen; denn, wenn eine reichliche Diurese 
erzielt wird, also eine zeitweise Ueberschwemmung der oberen 
Hamwege mit schnellsecerairtem Harn, so ist die Elimination 
kleinerer oder grösserer Gebilde dadurch erheblich gefördert 
Ich habe erst in diesen Tagen Gelegenheit gehabt, bei einer 
Dame, welche an Nierensteinen leidet, nachdem mehrere Jahre 
hindurch zwar Koliken, jedoch kein Abgang von Steinen statt¬ 
gefunden hatte, am dritten Tage nach der Einleitung einer, 
allerdings sehr reichlichen Mineralwassercur den spontanen Abgang 
von ungefähr zwei Dutzend kleiner Nierensteine zu sehen. Die 
dritte Eigenschaft, welche ausser der diluirenden und der diure¬ 
tischen Einwirkung hier ein Mineralwasser haben muss, wird 
sodann die sein müssen, dass es im mässigen Grade die Acidität 
des Harns abstumpft, ohne jedoch die Reaction zur alkalischen 
zu machen, selbst wenn es in ausreichend grossen Mengen ein- 
geführt wird; die speciell hamsäurelösende Einwirkung dagegen 
tritt so gut wie ganz in den Hintergrund. Bekanntlich werden 
hierzu eine Reihe mehr oder minder ausgesprochen alkalischer 
Mineralwässer verwendet, bei denen dann eben die Gefahr einer 
dauernd alkalischen Reaction des Harns besteht. Ich habe nun 
im letzten Jahre Gelegenheit gehabt’, das Wasser der Salvator¬ 
quelle in Eperjes in sehr ausgedehntem Maasse hier zur Anwen¬ 
dung zu bringen; Herr Schultes in Budapest hatte mir, wofür 
ich ihm Dank schulde, eine beträchtliche Quantität dieses Mineral¬ 
wassers für meine poliklinischen Kranken zur Verfügung gestellt. 
Da dieses Mineralwasser in der That, worauf schon Bamberger, 
Dittel, Ultzmann und andere hingewiesen haben, die Diurese 
anregt, wie ich in vielfachen Feststellungen ebenfalls habe con- 
statiren können, so ist es, wenn es auch dem Harne nur in sehr 
geringem Maasse direkt harnsäurelösende Eigenschaften mittheilt, 
um so eher als ein hier sehr zweckmässig zur Verwendung 
kommendes Getränk zu bezeichnen, als reichliche Mengen davon 
gegeben werden können, ohne dass der Harn alkalisch wird, 
während sein Gehalt an Lithium, an borsaurem Natron, an Kalk 
genügend dazu beiträgt, die Acidität, wo sie übermässig sein 
sollte, abzustumpfen. Ich habe es denn auch in einer grossen 
Zahl von Fällen lange Zeit hindurch angewandt und habe, so 
weit man über die complicirten Verhältnisse, wie sie bei der Nieren¬ 
steinkrankheit vorliegen, aus klinischer Beobachtung ein Urtheil 
gewinnen kann, gleichzeitig mit der dauernden Vermehrung der 
Harnmenge auch eine entsprechend günstige Einwirkung auf das 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


5. A pril 1897 . 

Allgemeinbefinden gesehen, insbesondere auch öfter den spon¬ 
tanen Abgang von Nierensteinen. Vortheile, welche ich der, fllr 
die eben entwickelten Indicationen besonders günstigen Zusammen¬ 
setzung und Wirkungsweise der Salvatorquelle zuzuschreiben 
nicht anstelle. Die interne Behandlung der Nierensteinkrankheit 
wird sich daher, meine ich, nicht ohne eine gleichzeitige reich¬ 
liche FIll8sigkeitsaufnahme und eine gleichzeitige Anregung der 
Diurese zweckmässig gestalten lassen. Da bieten also die hier 
in Betracht kommenden Mineralwässer durch ihre eigenartige 
Beschaffenheit sich als zweckmässigste Medication dar; sie in 
erster Linie anzuwenden, dürfte die Hauptaufgabe sein. Aller¬ 
dings lässt sich bei einer, so langwierige und so andauernde 
Beeinflussung erheischenden Affection, wie die Nierensteinkrank- 
lieit es ist, niemals mit einer einzelnen Medication auskommen; 
mit Maass und Vorsicht hätte die Alkalitherapie zwischendurch 
Platz zu greifen, jedoch auch diese immer nur unter gleich¬ 
zeitiger reichlicher Flüssigkeitszutuhr und ausreichender Anregung 
der Diurese. 


III. Ueber die Behandlung der mit Gefäss- 
verkalkung einhergehenden Störungen der 
Herzthätigkeit. 

Von 

Prof. Dr. Rumpf in Hamburg. 

(Vortrag, gehalten im ärztlichen Verein zu Hamburg.) 

(Schluss.) 

Aus älteren und neueren Untersuchungen (ich verweise vor 
allem auf Rey’s 1 2 3 (Arbeit aus dem Laboratorium von v.Schröder), 
wissen wir, dass die Ausscheidung des Kalks zum grössten Theil 
durch den Dickdarm statthat, während in der Regel nur 1 bis 
2 Procent durch die Nieren zur Ausscheidung kommen sollen. 
Von Wichtigkeit ist ans der Arbeit von Rev weiter, dass in 
Folge subcutaner oder intravenöser Injection von Kalksalzen der 
Kalkgehalt des Blutes eine wesentliche Erhöhung darbot. 

Im. Munk’) fand, dass bei dem Hungenersuch Cetti's die 
Kalkausscheidung am 3., 4. und 5. 1 lungertage noch um '/ 3 
grösser war als die Kalkausscheidung des letzten Esstages. An 
den nachfolgenden Esstagen wurden von den eingeführten Kalk- 
und Magnesiamengen beträchtliche Quantitäten zurückbehalten. 

Nach Hirschberg*) soll die Kalkausscheidung bei alten 
Leuten sich verringern, von Noorden 4 ) fand eine Retention von 
Kalk bei zwei Fällen von Arthritis deformans; im Harn wurden 
3,9 bis28,8pCt. des Kalks ausgeschieden. Hoppe-Seyler 5 ) 
fand bedeutende Kalkwerthe im Harn bei Menschen, welche 
lange Zeit im Bett lagen. Eine Vermehrung der Kalkausscheidung 
in Krankheiten ist mehrfach beschrieben worden. Neubauer 6 ) 
fand dieselbe bei Diabetes, Senator 7 ) bei einem Fall von 
Phthise. Auf die reiche Literatur Uber Rachitis möchte ich hier 
nicht eingehen. Wie Virchow*) kürzlich betont hat, empfiehlt 
es sich, diese Störung am werdenden Knochen nicht ohne Weiteres 
mit der vermehrten Kalkausscheidung auf eine Stufe zu stellen. 
Dieselbe kann sowohl in einer mangelnden Fälligkeit der Knochen, 

1) 1. c. , 

2) Berl. klin. Woehenschr. 1887, S. 432. 

3) Vergl. Centralbl. f. med. Wissensch. 1878, S. 90. 

4) Diese Woehenschr. 1894, S. 237. 

5) Zeitschr. f. physiol. Chemie, Bd. 15, S. 161. 

6) Neubauer u. Vogel, Analyse des Harns. 1890, S. 281. 

7) Centralbl. f. med. Wissensch. 1877, S. 857 u. f. 

8) Berl. klin. Woehenschr. 1897, S. 126. 


289 _ 

Kalksalze zu fixiren, bestehen, als in dem Mangel der Kalksalze 
in der ErnährnngsflUssigkeit. Nach Schetelig') befördert 
reichliches Wassertrinken die Resorption der Kalksalze aus dem 
Darmcanal und deren Ausscheidung durch den Harn. Das 
gleiche geschieht durch Einnehmen von Salzsäure. Soborow’) 
beobachtete bei einigen Krankheiten der Knochen Erwachsener 
eine stärkere Ausscheidung von Kalk durch den Harn. 

Eine beträchtliche Vermehrung der Kalkausscheidung erfolgt 
durch subcutane Injection von Sublimat, Calomel, Quecksilber¬ 
jodid (Salkowski*), Prevost und Frutiger 4 ), Bruck 5 ), 
Hoppe-Sey ler 6 ), während ZUlzer's und Teisser’s Angaben 
Uber eine ähnliche Einwirkung von grossen Mengen Stärke und 
von Milchsäure bestritten werden. Schon früher hatte Mar¬ 
ch and bei Rachitis eine die Norm übersteigende Menge von 
phosphorsaurem Kalk im Harn gefunden und diese auf die über¬ 
mässige Milchsäurebildung im Darm zurückgeführt. 

Weiterhin theilte Heitzmann") mit, dass die subcutane 
Injection von Milchsäure bei Thieren zu Erkrankungen der 
Knochen führe. Heiss") nahm diese Frage auf und konnte 
durch Fütterung eines Hundes mit Milchsäure, welche 10 Monate 
fortgesetzt wurde, und wobei bis zu 7—9 Gramm reiner Säure 
gegeben wurden, keine Abnahme des Kalk- oder Magnesiagehaltes 
der Knochen, des Blutes und der Muskeln finden. Die Aus¬ 
scheidung von Kalk und Magnesia durch Harn und Stuhl erwies 
sich der Einnahme durch die Nahrung völlig gleich. Eine Ent¬ 
ziehung von Kalk in dieser Zeit hatte nicht stattgefunden. 

Von Interesse ist weiter die Mittheilung von RUdel”), dass 
die Einfuhr von essigsaurem Kalk per os im Ham eine Zunahme 
der Kalkmenge um 80—126 pCt. bedingt; Verlangsamung der 
Peristaltik führte nach dem gleichen Autor zu einer Vermehrung 
der Kalkausscheidung durch den Urin, während die Einfuhr von 
phosphorsaurem Natron per os das entgegengesetzte Resultat 
hatte. 

Aus den Untersuchungen ist zunächst die Beobachtung 
Munk’s an Cetti von Interesse. Denn wenn trotz Hungerns 
die Kalkausscheidung weitergeht, so kann auch in Krankheiten 
der Körper bei minimaler Kalkeinfuhr durch fortdauernde 
stärkere Ausscheidung einen Ueberschuss an Kalk entfernen. 
Vor Kurzem haben ausserdem Zuntz 10 ), sowie dessen Schüler 
Caspari und v. Nathusius mitgetheilt, dass bei Thieren die 
Einführung von Oxalsäure von einer Kalkausscheidung gefolgt 
war, welche die Einfuhr ganz wesentlich überstieg.. Auch Er¬ 
krankungen der Knochen wurden durch längere Verabreichung 
von Oxalsäure erzielt. 

Ueberblicken wir auf Grund der vorliegenden Beobachtungen 
die Mittel, welche eine Beförderung der Kalkausscheidung 
erwarten lassen, so kam zunächst eine reichliche Diurese in 
Betracht. Allerdings glaubt Schetelig, dass die reichliche 
FlUssigkeitseinfuhr durch bessere Resorption die gesteigerte Aus¬ 
scheidung von Kalk durch den Harn hervorrufe. Doch ist diese 
Anschauung in Folge f ehlender Fäcesuntersuchungen nur eine 
Hypothese und eine weitere Prüfung demnach am Platz. Wir 
wissen ausserdem, wie günstig die gesteigerte Hamabsonderung 
bei manchen Störungen der Herzthätigkeit wirkt. Leider ist 


1) Virchow’s Archiv 82, 8. 487. 

2) Centralbl. f. med. Wissensch. 1872, No. 39. 

3) Virchow’s Archiv 37, 8. 346. 

4) Compt. rend. de l’academie des Sciences, Bd. 96, S. 263. 

5) Dissertation, Berlin 1887. 

6) Zeitschr. f. physiol. Chemie, Bd. 15, 8. 161. 

7) Journ. f. prakt. Chemie 1842, Bd. 27. 

8) Zeitschr. f. Biologie, Bd. XII, S. 151. 

9) Arch. f. exp. Path. n. Pharmak., Bd. XXX, 8. 79. 

10) Berl. klin. Woehenschr. 1897, No. 6. 

2 


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290 


No. 14. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


diese häufig schwer zu erzielen und noch schwieriger dauernd 
zu erhalten. 

Die Verabreichung der Digitalis und ihrer Präparate hat 
gewisse Contraindicationen, Calomel wirkt nicht in allen Fällen 
und kann nur kurze Zeit gegeben werden, Diuretin muss gewiss 
als eine wesentliche Bereicherung unseres Arzneischatzes be¬ 
zeichnet werden. Aber abgesehen von dem zeitweisen Versagen, 
verhindern Uebelkeit und Brechneigung bei vielen Patienten, es 
dauernd zu nehmen. Es lag nun nahe, an einige Präparate zu 
denken, welche als Diuretika in Gebrauch sind, aber kaum durch 
längere Zeiträume bei Herzaffectionen gegeben sein durften, auf 
die Alkalien und speciell auf die Natronsalze der organischen 
Säuren. 

Untersuchungen Uber die NH 3 -Ausscheidung machen es mir 
wahrscheinlich, dass der Körper in manchen acuten und chroni¬ 
schen Krankheiten an Kali und besonders an Natron verarmt 
und seinen zum Leben nothwendigen Bedarf zeitweise durch 
andere Basen deckt. 

Neben NH, konnte man auch an Kalk denken. Jedenfalls 
wiesen diese Erfahrungen auf eine reichere Verwendung der 
Alkalien hin, deren sich der Körper bei Ueberschuss reichlich 
mit Flüssigkeit entledigt. 

Von den Alkalien ist das essigsaure Kalium, besonders mit 
Digitalis vereinigt, vorwiegend im Gebrauch. Auch das Kalium 
bitartaricum ist vereinzelt empfohlen worden. Aber diese Prä¬ 
parate wurden seither höchstens in Intervallen gegeben. Es 
war nun festzustellen, ob ein länger dauernder Gebrauch bei 
den betreffenden Erkrankungen angängig ist, und ob eine an¬ 
haltende Vermehrung der Urinausscheidung dadurch erzielt 
werden kann. 

Zur Lösung dieser Frage erhielt ein 51 jähriger, an Cor 
bovinum mit Insufficienz des Herzens aufgenommener Patient, 
bei welchem innerhalb 14 Tagen dreimal der Gebrauch von 
1 Gramm Digitalis nothwendig geworden war, bei dem nächsten 
Rückgang der Urinausscheidung (5 Tage nach Aussetzen von 
Digitalis) folgendes Präparat: 

Natr. bicarbon. 

Natr. citric. ana 45,0 

Natr. chrorat. . . 10,0 
M. Divid. in pulv. acq. No. X. 

Täglich ein Pulver. 

Bei dieser Ordination stieg die Urinausscheidung dauernd 
an und betrug am 6. Tage 2250 ccm. Insgesammt schied Pa¬ 
tient in 10 Tagen 15600 ccm oder pro Tag 1560 ccm aus. 
Zum Vergleich wurde nun ein anderes Präparat gegeben, 
welches milchsaures Natron und Milchsäure enthielt. Der Ge¬ 
danke, letztere zu geben, beruhte auf der Erwägung, dass eine 
reichliche Einfuhr von Amylaceen bei Kindern besonders leicht 
das Bild der Rachitis hervorruft. Die Einfuhr grösserer Mengen 
dieser bedingt aber eine beträchtliche Bildung von Milchsäure 
als intermediären Productes des Stoffwechsels. Sind auch 
ZUlzer’s Angaben Uber die vermehrte Ausscheidung von Kalk 
auf Grund experimenteller Untersuchungen von Heiss bestritten 
worden, so lässt sich doch nicht leugnen, dass die meisten Ex¬ 
perimente den Vorgängen in der Natur nur in beschränktem 
Grade entsprechen und somit nur fUr den einzelnen Fall ver¬ 
wertbare Resultate geben. Naturgemäss wurde auch erwogen, 
ob die Verabreichung von Oxalsäure sich ermöglichen lasse. 
Allerdings lagen die l'ntersuchungsergebnisse von Zuntz und 
seinen Schülern damals noch nicht vor, aber eine gesteigerte 
Ausscheidung von Kalk durch Oxalsäure war nach anderweiten 
Befunden höchst wahrscheinlich. Indessen sah ich in Rücksicht 
auf die toxischen Wirkungen der Oxalsäure und ihrer Salze 


einstweilen von ihrer Verwendung ab, und verordnete das nach¬ 


folgende Medicament: 

Natr. carbon. 10,0 

Acid. lact. q. s. ad satur. 

Deinde adde Acid. lact. 10,0 

Syr. simpl. 10,0 

Aq. dest. ad. 200,0 


M. D. S. Täglich zu nehmen. 

Bei dieser Medication schied Patient in 10 Tagen ins¬ 
gesammt 17675 ccm Urin oder pro Tag 1767 ccm aus. Es ist 
also die Menge des ausgeschiedenen Harns in diesem 
Zeitraum noch grösser als in der vorhergehenden 
Periode. 

Ein weiterer therapeutischer Versuch wurde bei einem 
62jährigen Manne gemacht, welcher mit Herzinsufficienz bei 
Arteriosklerose und beträchtlicher Herabsetzung der Urinentlee¬ 
rung aufgenommen war. Derselbe hatte zunächst 0,6 folia di¬ 
gital. pulv. erhalten, wodurch die Urinausscheidüng in den 
nächsten Tagen auf 1000—1200 ccm gestiegen war. Als die¬ 
selbe am 6. Tage nach der Digitalisanwendnng wieder auf 800 
gefallen war, erhielt Patient die gleiche Medicin von Natrium 
lacticum und Acidum lacticum. Am 2. und 3. Tage nach täg¬ 
licher Einnahme dieser Medicin, betrug die Urinausscheidung 
nur 600 ccm, aber dann stieg dieselbe auf 1000, 1200, 1100, 
1500 und betrug sogar zweimal 2500. Insgesammt schied Pa¬ 
tient vom 4. bis 30. Tage 42 050 ccm Urin oder durchschnittlich 
per Tag 1557 ccm Urin aus. Während dieser Zeit befand sich 
Patient ausgezeichnet. Eine weitere Anwendung von Digitalis 
erwies sich in derselben nicht nothwendig. Die zeitweilige 
alkalische Reaction des Urins in beiden Fällen machte keine 
Störung. 

Bei einem weiteren Fall wurden Bestimmungen der Kalk¬ 
ausscheidung durch den Urin und Stuhl vorgenommen. Da 
die tägliche Untersuchung des Kalks im Urin und Stuhl ausser¬ 
ordentlich zeitraubend und kaum längere Zeit durchzuführen ist, 
entschloss ich mich mit meinem Assistenten, Herrn Dr. Kleine, 
Harn und Stuhl in drei-bis sechstägigen Perioden zu sammeln 
und durch Entnahme einer Probe der gut gemischten Menge, 
den gesammten Gehalt des Urins oder Stuhls von dieser Periode 
zu bestimmen. Es war durch diese Disposition möglich, die 
Kalkbestimmungen Uber einen grösseren Zeitraum auszudehnen 
und ferner konnten in Folge dieser Anordnung die zu prüfenden 
Medicamente während eines längeren Zeitraums gegeben werden. 
Es war das auch speciell deshalb erwünscht, weil einzelne Wir¬ 
kungen, wie die Diurese, häufig erst nach mehreren Tagen sich 
geltend machen. 

Der Patient war ein 58jähriger Mann, der mit den Erschei¬ 
nungen von Dyspnoe, Herzinsufficienz, Arteriosklerose und Herab¬ 
setzung der Urinausscheidung in das Neue Allgemeine Kranken¬ 
haus aufgenommen wurde. Die Untersuchung der Lungen ergab 
ausser Emphysem nichts Abnormes, die Herztöne ohne Geräusche, 
der 2. Aortenton etwas klappend, leichte Cyanose. 

Er wurde zunächst 3 Tage mit Bettruhe ohne Medicamente 
behandelt, aber auf kalkarme Diät gesetzt. Nach Ablauf von 
3 Tagen wurde mit der medicamentösen Behandlung begonnen, 
deren Art sich aus der Tabelle ergiebt. 

Die Einfuhr von CaO pro Tag schwankte zwischen 0,4 und 
0,8 gr. In der Regel wurde der letztere Werth bei weitem 
nicht erreicht (s. Tabelle 1). 

Betrachten wir das Resultat dieser Untersuchung, so ergiebt 
sich, dass Patient in den ersten drei Tagen ohne Medicament 
durch Harn und Stuhl insgesammt 2,845 oder pro Tag 0.9483 gr 
CaO ausgeschieden hat. Nach Eingabe von Natrium lacticum 
mit Acidum lacticum hebt sich die Kalkausscheidung in den 


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5. April 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


291 


Tabelle 1. 


Schmidt: Kalkausscheidung. 


Datum 

Medicamente 

4* 

ge 

pro 

Gesammt-CaO 

CaO pro die 

o 

Tag 

Ham ^ 

Stuhl 

Ham 

Stuhl 

14. 15. 16. 

0 

2 905 

968 

0,5422 

2,303 

0,1807 

0,7676 

X. 96 





17.-22. 

X. 

Natr. carb., 
Acid. lact. 

15 300 

2550 

1,8105 

6,8286 

0,3017 

1,1381 

23.-28. 

TI 

16 260 

2710 

1,9242 

6,7589 

0,3207 

1,1264 

29. X.— 


17 900 

2983 

2,3508 

4,9319 

0,3918 

0,8219 

3. XI. 




4.-9. 

0 

18 087 

3014 

2,1464 

7,1528 

0,3577 

1,1921 

XI. 





10.—16. 

0 

20 950 

2993 

2,940 

7,4857 

0,420 

1,0694 

XI.(7Tage) 




17.—22. 

0 

16 600 

2766 

1,9813 

5,5653 

0,3302 

0,9275 

XI. 




23.-28. 

XI. 

Natr. phosph. 
10,0 p. d. 

17 300 

2H83 

1,7864 

2,5009 

0,2977 

0,4168 

29. XI.— 

0 

18 800 

3133 

1,890 

4,4841 

0,8150 

0,7473 

4. XII. 




5.—10. 

XII. 

Natr. bicarb. 
citr. chlor. 

17 535 

2922 

2,0339 

5,6038 

0,3389 

0,9839 

11—16. 

0 

14 695 

2449 

1,6919 

2,5409 

0,2819 

0,4234 

XII. 




17.—22. 

0 

15 945 

2657 

1,5483 

4,8000 

0,2580 

0,8000 

XII. 




23.-28. 

XII. 

Natr. bicarb. 
citr. chlor. 

15 600 

2600 

1,4679 

4,3546 

0,2446 

0,7257 

29. XII.— 

0 

17 600 

2933 

1,4455 

4,3109 

0,2409 

0,7185 

3. I. 97 







nächsten G Tagen insgesammt auf 8,03 oder auf 1,4398 gr CaO 
pro Tag; d. h. die Kalkausscheidung steigt um 52 pCt. Ein 
ähnliches Resultat ergaben die folgenden 12 Tage, während 
welcher Zeit Patient die gleiche Medicin gebraucht. Auch ia 
der Nacbperiode ist die Kalkausscheidung hoher als zuvor und 
beträgt in den ersten G Tagen nach Aufhören der Medication 
9,3168 gr CaO, ist also noch um 65 pCt. höher als in der Vor¬ 
periode. Insgesammt werden in 30 Tagen, von welchen in der 
ersten Hälfte die Medicin gegeben wurde, 51,8704 gr CaO aus¬ 
geschieden. Setzen wir diesem Werth denjenigen der allerdings 
nur dreitägigen Vorperiode gegenüber, so ergiebt sich, dass pro 
Tag der Medication 1,4410 gr CaO gegen 0,9483 gr zuvor aus¬ 
geschieden wurde, d. h. die Erhöhung der Kalkausscheidung 
beträgt etwa 50 pCt. 

Demgegenüber sinkt die CaO-Ausscheidung in der nächsten 
Periode, in welcher phosphorsaures Natron gegeben wurde, auf 
einen Werth, wie derselbe selbst in der Vorperiode nicht vor¬ 
handen war; in den 0 Tagen der Verabreichung von phosphor- 
saurem Natron beträgt die tägliche Kalkausscheidung 0,7145 gr 
gegen 1,2577 gr in dem vorhergehenden Zeitraum. Nach Aus¬ 
setzen dieses Präparates hebt sich die Kalkausscheidung wieder, 
bleibt jedoch noch geringer als in der Periode vor Einnehmen 
des phosphorsauren Natrons (1,0623 :1,2575 gr CaO). Nachdem 
nunmehr mit der Einführung von Natrium citricum 45, Natrium 
bicarb. 45, Natr. chlorat. 10,0, den 10. Theil pro Tag, begonnen 
war, hebt sich die CaO-Ausscheidung wieder auf höhere Werthe, 
ohne jedoch diejenigen der ersten Medication zu erreichen. In 
den ersten 6 Tagen dieser Behandlung beträgt die Kalkausschei¬ 
dung pro Tag 1,2728 gr; als dann das Medicament ausgesetzt 
wurde, sinkt dieselbe wieder auf 0,7017 gr pro Tag. In der 
Folge scheint sich aber die verminderte Kalkeinfuhr bemerkbar 
zu machen, indem die Ausfuhr theils wenig Uber ein Gramm, 
theils unter ein Gramm beträgt. 

Die Resultate dieser auf die l’rin- und Stuhlausscheidung 
von 80 Tagen ausgedehnten Untersuchung dürfte gewiss nicht 


als zufällige aufzufassen sein, zumal sie auch mit RUdel's 
Untersuchungen theilweise Ubereinstimmen. Ueberraschend ist 
dabei, dass eine beträchtliche Kalkausscheidung durch 
den Stuhl andauert, obwohl eine kalkarme Nahrung 
gegeben war. Patient scheidet in 80 Tagen 95,1807 CaO 
aus. Demgegenüber beträgt die tägliche Einfuhr bei Berechnung 
des Kalkgehaltes der Nahrung nach König 0,4—0,8 gr CaO 
pro die. Es ist somit die Kalkausscheidung, unbeeinflusst von 
der Zufuhr, zunächst constant geblieben, wodurch eine nicht 
unbeträchtliche Abgabe von Kalk aus dem Körper stattgefunden 
hat. Erst 50—60 Tage nach der Herabsetzung der Kalkzufuhr 
in der Nahrung ist in sofern ein gewisses Gleichgewicht erreicht, 
als die Menge des ausgeschiedenen Kalkes sich der eingefUhrten 
nähert. Die Ausfuhr Ubertrifft aber die Einfuhr immer noch 
um eine geringe Menge. 

Die Ausscheidung erfolgte zum grösseren Theil durch den 
Darm, während durch die Nieren 26,8 pCt. ausgeschieden wur¬ 
den. Diese hohe Zahl der Kalkausscheidung durch die Nieren 
ist gegenüber den Zahlen von Rudel sehr Überraschend. Aller¬ 
dings hat von Noorden in einem Fall eine Ausscheidung von 
28,8 pCt. des Kalks durch den Harn beobachtet, allein in 
diesem betrug die gesammte Ausscheidung nur 0,85 gr. Es 
liegt gewiss nahe, unsere Befunde auf die stattgehabte Medication 
zurUckzufUhren; die Einwirkung beschränkte sich aber keines¬ 
wegs auf den Ham. Auch im Stuhl nahm mit der Medication 
die Kalkausscheidung zunächst beträchtlich zu; nur bei der Ein¬ 
fuhr von phosphorsaurem Natron ist ein beträchtlicher Rückgang 
derselben im Stuhl und Urin zu constatiren. Der Rückgang der 
Kalkausscheidung im Stuhl ist bei der Einfuhr von phosphor¬ 
saurem Natron sogar noch beträchtlicher als im Urin. Während 
in diesem die Kalkausscheidung nur um 10 pCt. sinkt, fällt 
dieselbe im Stuhl um 55 pCt., trotzdem die Nahrungszufuhr in 
dieser Zeit etwa die gleiche war. Mit dem Sistiren der Einfuhr 
von phosphorsaurem Natron steigt die Kalkausscheidung direkt 
wieder an und wird besonders im Urin sehr beträchtlich. 

Mit der Erhöhung der Kalkausscheidung durch die Nieren 
geht somit keineswegs ein Rückgang der Kalkausscheidung im 
Stuhl einher, so dass die Vermehrung der Kalkausscheidung 
durch den Urin, keineswegs auf eine stärkere Kalkresorption 
von Seiten des Darms zurückgeführt werden kann. Die Aus¬ 
scheidung des CaO durch den Harn steigt im Allgemeinen mit 
der Menge des ausgeschiedenen Urins, doch gehen die Werthe 
keineswegs parallel, da auf 17300 ccm Urin der sechstägigen 
Periode von Natrium phosphoricum-Einfuhr nur 1,7804 gr CaO pro 
Tag fallen, während 10,000 ccm der vorhergehenden Periode 1,9813 
CaO enthalten. Es mUssen somit neben der ausgeschiedenen 
FlUssigkeitsmenge auch chemische Vorgänge fUr die Kalkaus¬ 
scheidung in Betracht kommen. 

In einer weiteren Versuchsreihe bei einem anderen Patienten 
ergab sich, dass sowohl Acidum phosphoricum als Natrium sulf. 
jeweils in der Dosis von 10 gr pro die, eine Herabsetzung der 
Kalkausscheidung im Gefolge hatten. 

In einem dritten Fall, welcher an Arthritis deform, nach 
Gelenkrheumatismus litt, haben wir in ähnlicher Weise unter 
verschiedenen Bedingungen die Kalkausscheidung bestimmt (siehe 
Tabelle 2). 

In diesem Falle sehen wir, dass sowohl Milchsäure als 
Salzsäure die Kalkausscheidung durch den Harn vermehren und 
dass diese ihren höchsten Werth bei der Einfuhr von Milchsäure 
mit milchsaurem Natron erfährt. Gegenüber den vorhergehenden 
Perioden beträgt die Ausscheidung bei der letzteren Medication 
in 0 Tagen 0,0959 gr oder pro Tag 0,1159 gr CaO mehr = 
42 pCt. Auch die Ausscheidung von CaO im Stuhl ist bei 
dieser Verordnung am höchsten. Während in 24 vorhergehenden 

2 * 


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292 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Ho. 14. 


Tabelle 2. 

Rosskopf: Tägliche Einfuhr 0,5—0,8 CaO. 


Datum 

Medicamente 

a p 
e * 

pro 

Gesammt-CaO 

CaO pro die 

* X 

a> 

O 

Tag 

Harn 

Stuhl 

Harn 

Stuhl 

17.-19. 

0 

6 130 

2043 

0,8528 

_ 

0,2842 

_ 

XII. 96. 








20.—22. 

0 

5 365 

1788 

0,7760 

1,77 

0,2587 

0,59 

XII. 







30. XII. 96 
— 4. I. 97 

Solut. acid. 
lact. 

11 170 

1861 

1,9354 

— 

0,3226 

-* 

5.-9. I. 

0 

9 534 

1906 

1,5414 

5,6747 

0,3083 

1,1349 

10.—15. I. 

Solut. acid. 
hydrochl. 

11800 

1966 

1,9397 

1,3814 

0,3233 

0,2302 

16.—18. I. 

0 

6 534 

2178 

0,9742 

3,5862 

0,3247 

: 1,1952 

19.—21. I. 

0 

6 170 

2057 

0,9983 

2,288 

0.3327 

0,7626 

22.-27. I. 

Natr. lact., 
Acid. lact. 

12 200 

2033 

2,3247 | 

7,0398 

0,3874 

1,1733 

28. I.— 


11 140 

1856 

2,0485 | 

2,6076 

0,3414, 

0,4346 

2. II. 






8.-8. II. 


11280 

1854 

1,7884 ! 

6,1016 

0,298 t 

1,0169 

9.—14. II. 

0 

10 160 

1693 

1,7698 

5.5966 

0,2949 

0,9327 

15.-20. 

0 

8 810 

1435 

1,4552 

5,9662 

0,2425 

0,9443 

II. 






21.—26. 

Natr. salicyl. 

9 900 

1650 

1,1791 

4,4281 

0,1965 

0,7380 

II. 








27. II.— 


12 830 

2138 

1,4934 

6,7757 

0,2489 

1,1293 

4. III. 









Tagen (Salzsäuremedication und freie Zeit) 12,9308 gr CaO durch 
den Stuhl ausgeschieden werden = 0,5346 pro die, beträgt die 
Ausscheidung in 24 Tagen nach der Einfuhr von Milchsäure -f- 
milchsaurem Natron 21,3458 gr CaO oder 0,8894 pro die. 

In einem vierten Falle (Melancholie mit Arteriosclerose) 
liess sich nach Milchsäure keine Vermehrung der Kalkaus¬ 
scheidung erzielen. 

Es musste aber nahe liegen, auch andere Diuretica bezüg¬ 
lich ihrer Wirkung auf die Kalkausscheidung zu prüfen. Wir 
haben deshalb in einem fünften Fall, welcher die Mixtur von 
Acid. lact. mit Natr. lact. erbrach, aber Diuretin vertrug, eben¬ 
falls die CaO-Ausscheidung untersucht. Diese betrug im Urin 
und Stuhl in 12 Tagen 19,2442 gr CaO oder pro Tag 1,603. 
Da Patient nur 0,5—0,8 gr CaO einfUhrte, so fand auch bei 
Diuretingebrauch ein Kalkverlust des Körpers statt. 

Die vorstehenden Untersuchungen zeigen, dass wenigstens 
bei einzelnen Menschen die Kalkausscheidung therapeutisch 
beeinflusst werden kann und dass es gelingt, durch geringe 
Einfuhr kalkhaltiger Nahrung bei höherer Ausscheidung eine 
Verminderung des Kalkgehaltes des Körpers zu erzielen. Die 
Kalkausscheidung erfährt eine Erhöhung durch die Einfuhr von 
Salzsäure und Milchsäure. Allerdings ist die Wirkung der letz¬ 
teren keine constante. Ob und inwieweit andere organische 
Säuren günstig auf die Kalkausscheidnng bei Menschen wirken, 
bedarf noch der Untersuchung. Zunächst ist nach den Versuchen 
im Laboratorium von Zuntz an Oxalsäure zu denken; aber 
auch an Ameisensäure muss gedacht werden. Nach Senator’s 1 ) 
jüngsten Befunden kann man auch dem Oophorin einen Einfluss 
auf die Kalkausscheidung zuschreiben, indem bei einer Patientin 
mit Osteomalacie die Kalkausschcidung nach Verabreichung von 
Oophorin von 1,539 gr der Vorperiode auf 2,198 gr stieg. 
Wenn trotz dieser hohen Ausscheidung eine Besserung der 
Osteomalacie eintrat, so kann diese auch auf die Kalkretention 
in den Vorperioden zurllckgeführt werden, in welchen die Pa¬ 
tientin 1,539 gr und 1,463 gr CaO ausschied bei einer Einfuhr 
von etwa 2 gr (berechnet nach dem Kalkgehalt der eingeführten 
Nahrungsmittel). 


1) Berliner klin. Wochenschrift 1897, No. 0 und 7. 


Weiterhin erfährt die Kalkausscheidung eine Steigerung 
durch die Einfuhr von Natriumsalzen in organischer Bindung. 
Am höchsten stellt sich aber bei unseren seitherigen Unter¬ 
suchungen die Kalkausscheidung bei gleichzeitiger Einfuhr von 
milchsaurem Natrium und Milchsäure. Dabei konnte aber keines¬ 
wegs Milchsäure im Harn nachgewiesen werden. 

Es musste sich also empfehlen, zunächst dieses Präparat 
neben der Verwendung kalkarmer Diät in den Vordergrund zu 
stellen, zumal auch die Einfuhr von Milchsäure neben milch¬ 
saurem Natron gegenüber den anderweitig gebundenen Natron¬ 
salzen eine stärkere Ausscheidung von Urin im Gefolge hatte. 
Gegen die Verwendung von milchsaurem Natron und Milchsäure 
liess sich um so weniger etwas einwenden, als Schädigungen 
bei Milchsäureverabreichung bis jetzt nicht beobachtet sind. 

Ich möchte nun 3 Fälle anschliessen, welche in der betref¬ 
fenden Weise längere Zeit von mir behandelt sind. 

Fall I. Dr. R., 49.1., rec. 23. II. 95. Patient war bis vor wenigen 
Jahren im Ganzen gesund, litt hie und da an Bronchialkatarrh. Er war 
stets ein starker Esser, im Alkoholgenuss im Allgemeinen massig. 1890,91 
lange Zeit Ueberarbeitung mit wenig Schlaf, Kopfschmerzen. Erholung 
im Gebirge, doch war Patient nicht mehr so arbeitsfähig wie früher. 
Am 9. Februar plötzlich auf der Strasse Anfall von Angina pectoris, 
Schmerz in der Herzgegend mit ausstrahlenden Schmerzen in 
dem linken Arm, Kurzathmigkeit und Angstgefühl mit kaltem 
Schweiss. Der Anfall trat ganz plötzlich auf, ohne dass Einschlafen der 
Arme und Beine vorherging, und ohne dass eine iiussere Einwirkung be¬ 
schuldigt werden konnte. Patient konnte nicht weiter geben und fuhr 
nach Hause. Hier trat nach einiger Zeit Erholung ein, doch fühlte sich 
Patient krank, hatte stets leichtes Schmerzgefühl in der Mitte der Brust 
und Kurzathmigkeit. Letztere steigerte sich, sobald Patient den Versuch 
machte zu gehen. Es trat Angstgefühl hinzu und Patient musste stehen 
bleiben. 

Patient ist ein grosser Mann, Gewicht 160 Pfd. Die Farbe ist, 
nachdem Patient einige Schritte gegangen, leicht cyanotisch, leichte 
Dyspnoe, Lungen zeigen geringgradiges Emphysem, Herzdämpfung links 
bis zur Mamillarlinie, nicht über den rechten Sternalrand gehend. Herz¬ 
töne an der Herzspitze rein, 2. Pulmonalton nicht verstärkt, 2. Aortenton 
stark klappend, beide Art. radial, und temp. leicht geschlän¬ 
gelt, verdickt; der Puls beträgt 00—80 in der Minute, ist klein und 
leicht unregelmässig. Beim Umhergehen im Zimmer nimmt die Cyanose und 
die Dyspnoe zu und der Puls steigt auf 100. Leber, Magen, Milz ohne 
Anomalie, im Urin kein Eiweiss, kein Zucker: die Urinausscheidung soll 
weniger reich als früher sein. Die Verdauung ist regelmässig, doch 
muss Patient in der Nahrung sehr vorsichtig sein, da Ueberlastung des 
Magens die Kurzathmigkeit und das Druckgefiibl in der Brust vermehrt. 
Keine Oedeme, kein Ascites. 

Patient wird auf kalkarme Diät gesetzt und erhält die Mixtur von 
von Acidum lacticum. 

In den ersten 8 Tagen blieb der Zustand der gleiche, aber vom 
Ende der 2. Woche an trat eine deutliche Besserung ein. Die Be¬ 
klemmungen traten seltener auf, Patient kann wieder 5—10 Minuten 
gehen, ohne dass Angstgefühl und Beklemmung erfolgen. Bei Fortfahren 
der Behandlung unter Hinzufügen einer kalten Uebergiessung am Morgen 
sind im Juli 1895 die Anfälle verschwunden, kaum noch Druckgeflihl 
auf der Brust, jedenfalls ohne jegliche Ausstrahlung in den linken Arm. 

Nachdem Patient die Verordnungen bis zum August befolgt hatte, 
hörte er mit der Medicin auf, hielt sich aber im Ganzen an die Diät¬ 
vorschriften jedoch in weniger strenger Weise. Er war im Ganzen bis 
Ostern 1896 gesund. Dann traten nach einigen Festen mit Excesscn im 
Essen und Trinken die Beschwerden von Neuem auf. Druckgefühl in 
der Herzgegend stellte sich mit zeitweise auftretenden Schmerzanfällen, 
Ausstrahlung in den linken Arm, Kurzathmigkeit und Anfällen von 
Angst, sobald Patient 5 Minuten zu gehen versuchte. 

Bei der Untersuchung am 15. Mai 1896 fand sich wieder leichte 
Cyanose und Dyspnoe, die Herzdämpfung vergrößert, der Spitzenatoss 
etwas ausserhalb der Mamillarlinie, die Dämpfung überragte den rechten 
Sternalrand um Fingerbreite und die Mamillarlinie um ein Geringes; der 
zweite Ton an der Herzspitze und der Aorta leise, aber deutlich klappend. 
Der Puls betrug 100 und wurde bei Bewegung im Zimmer unregel¬ 
mässig. Der übrige Befund war unverändert. 

Es wurde wieder zu der früheren Behandlung zurückgekehrt, die 
Diät noch etwas strenger gestaltet und die frühere Mixtur gegeben. 
Patient erholte sich jetzt nach einigen Wochen wieder und war im Juli 
1896 so weit, dass er unbehindert und ohne Anstrengung zu gehen ver¬ 
mochte. Die Urinausscheidung war sehr reichlich. Die Herzdämpfung 
war am 10. Juli wieder normal, der Puls in der Ruhe 70, die Herz¬ 
töne lauter, aber der 2. Ton klappend, das Arterienrohr wie früher. 
Nach dreimonatlichem Nehmen der Mixtur wurde 4 Wochen ausgesetzt 
und sodann monatweise abwechselnd fortgefahren. Dabei befand sich 
Patient ausgezeichnet, etwa so wie Sommer und Herbst 1895. Bei 
einiger Beschränkung in der Arbeit war er durchaus leistungsfähig. Der 
Befund war Anfang 1897 der gleiche. 


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5. A pril 1897 . 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


293 


Fall II. Frau B. ans E., 56 Jahre, rec. Juni 1895. Pa¬ 
tientin, aus gesunder Familie stammend, hat 4 Kinder geboren, von 
welchen 2 an Tuberculose gestorben sind. (Mann tuberculös.) Infolge 
frühen Todes des Mannes und eines erwachsenen Sohnes war sie viel¬ 
fach nervös, in den letzten Jahren jedoch ganz gesund. Seit einiger 
Zeit hat sich aber schmerzhafter Druck in der Herzgegend ein¬ 
gestellt, welcher anfallsweise besonders bei Bewegungen auftrat. 

Am gestrigen Tage plötzlich beim Spaziergang Anfall von Schmerz 
in der Herzgegend, Angstgefühl, ausstrahlender Schmerz 
in der linken Schulter und im linken Arm. Der Anfall ging nach 
einigen Minuten vorüber, doch konnte Patientin nur mit Mühe das Hotel 
erreichen; seitdem dauernd leichte Kurzathmigkeit, Gefühl von Un¬ 
behagen in der Herzgegend und in der Magengrube. 

Patientin ist leicht cyanotisch, steigt nur mit Mühe die Treppe zur 

1. Etage; oben angekommen zeigt sie das Bild eines Anfalls von 
Dyspnoe mit ängstlichem Ausdruck, etwas verfallenem Gesicht. Die 
Untersuchung ergiebt einen Puls von 66 Schlägen mit zeitweiligem Aus¬ 
setzen. Nach der Beruhigung erweist sich die Herzdämpfung leicht ver- 
grössert, nach rechts den rechten Sternalrand um Fingerbreite über¬ 
ragend, links steht der Spitzenstoss in der Mamillarlinie. Die Herztöne 
an der Aorta sind stark klappend, die Radiales geschlängelt und ungleich- 
mässig verdickt, die Art. temporales ebenfalls. Die Lungen zeigen leichtes 
Emphysem, der linke Leberlappen macht den Eindruck leichter Ver- 
grösserung. Im Urin kein Eiweiss, kein Zucker; die übrigen Organe 
zeigen keine Abweichung von der Norm, keine Oedeme. 

Patientin wird auf die gleiche Diät gesetzt, wie Fall I, und erhält 
dieselbe Mixtur. Ausserdem Cur in Nauheim. 

In den nächsten Wochen trat nur wenig Besserung ein; insbesondere 
konnte Patientin in Nauheim kaum gehen, ohne dass Dyspnoe und Angst¬ 
gefühle sich einstellten. Die Zahl der Pulse betrug nach Bericht häufig 
nur 48. Indessen wurden bei strengster Befolgung der Vorschriften die 
Anfälle seltener und nach der Rückkehr in die Heimath trat eine all¬ 
mähliche Besserung ein. Als ich die Patientin ein halbes Jahr später 
sah, war der Zustand ausserordentlich günstig verändert. Patientin 
konnte ohne Beschwerden Treppen steigen, gut eine Stunde spazieren 
gehen und war seit Jahresfrist frei von jedem eigentlichen Anfall. Die 
Urinausscheidung war nach der Medicin ausserordentlich reichlich ge¬ 
worden. Die objective Untersuchung ergab normale Herzdämpfung, der 

2. Ton an der Aorta war allerdings stark klappend; die Leber zeigte 
keine Anschwellung. Die Zahl der Pulse betrug 70, die Art. radialis 
deutlich geschlängelt, aber anscheinend weniger verdickt. Zur Zeit, fast 
2 Jahre nach dem Beginn der Herzbeschwerden, geht es der Patientin 
zufriedenstellend, doch tritt bei Anstrengungen wieder Druck in der 
Herzgegend ohne eigentliche Anfälle von Angina pectoris auf. 

Fall III. Frau CI. 8. aus B., 48 Jahre, rec. 25. Februar 1896. 
Patientin leidet seit Jahren an Arthritis deformans leichteren Grades, 
woran sich die Schultergelenke, sowie die Wirbel betheiligt haben. Seit 
1892 haben sich Beschwerden von Seiten des Herzens eingestellt, An¬ 
fangs leichter Natur, dann langsam schlimmer werdend. Zunächst traten 
plötzlich aber vereinzelt Anfälle von Druck in der Herzgegend mit 
Kurzathmigkeit ein, welche Patientin verhinderten weiter zu gehen. Im 
Winter 1895/96 häuften sich die Anfälle. Dieselben traten meist bei 
Bewegungen, hie und da auch ohne diese auf. Gleichzeitig machte sich 
eine Anschwellung der Fiisse um die Knöchel bemerkbar. 

Bei der Untersuchung fanden sich die Residuen einer Arthritis der 
Schulter- und Ellenbogengelenke. Auch die Handgelenke zeigten bei 
Bewegungen Knirschen; leichtes, aber deutliches Oedem der Knöchel. 
Lungen normal, Herzdämpfung gross, aber die Norm nicht überschreitend. 
Die Herztöne waren sämmtlich ohne Geräusche, aber der 2. Ton stark 
klappend, am deutlichsten über der Aorta. Die Art. radiales waren 
beiderseits überraschend hart, atheromatö.s. der Puls selbst nicht ge¬ 
spannt, die Zahl der Pulse betrug 60—70. Im spärlichen Urin kein 
Eiweiss, kein Zucker, keine Vermehrung der Harnsäure. Unterleibs¬ 
organe ohne Befund. 

Pat. wird auf die gleiche Diät gesetzt und erhält die gleiche Me¬ 
dicin. Wenige Tage nachher beginnt die Urinausscheidung sehr reich¬ 
lich zu werden; die Anschwellung der Füsse ging zurück, das Allgemein¬ 
befinden wurde besser, die Anfälle nahmen an Zahl ab und bei Fort¬ 
gebrauch der gleichen Verordnungen schwanden diese ganz. Etwa 
ein Jahr später schreibt Patientin, dass sie sich gegenüber der gleichen 
Zeit im vorhergehenden Jahr fast als gesund bezeichnen muss. Aller¬ 
dings machen stärkere Abweichungen von der Diät und Aussetzen der 
Medicin nach einiger Zeit durch Wiederauftritt geringer Beschwerden 
sich bemerkbar. 

Bei den geschilderten drei Fällen kann es keinem Zweifel 
unterliegen, dass degencrative Processe an den Gefässcn resp. 
Verkalkungen dieser, mit schweren Störungen der Herzthätigkeit 
einhergingen. Inwieweit die Erkrankung der Gefässe auch die 
Coronararterien betraf, ist schwer zu sagen. Einzelheiten in den 
Anfällen des ersten und zweiten Falles lassen entschieden an 
eine hervorragende Betheiligung dieser denken. In allen drei 
Fällen hat aber die eingeschlagene Behandlung Erfolge zu ver¬ 
zeichnen, wie sie jedenfalls überraschend sind. Allerdings darf 
man nicht vergessen, dass das auf- und abschwankende und an 


Wechsel reiche Befinden, welches chronische Erkrankungen dar¬ 
bieten, schon häufig zu therapeutischen IrrthUmem Veranlassung 
gegeben hat. Man könnte in diesen Fällen gegen einen Irrthum 
geltend machen, dass die gleiche Behandlung mehrfach bei dem¬ 
selben Patienten den gleichen Effect gehabt hat, und die längere 
Abweichung von den Vorschriften die alten Beschwerden wieder 
hervortreten liess. Aber diese Beobachtungen können ebensogut 
durch suggestive Wirkungen sich erklären. Indessen beschränken 
sich meine klinischen Erfahrungen nicht auf die oben geschil¬ 
derten Fälle. Ich habe nur die prägnantesten und die am läng¬ 
sten beobachteten als die geeignetsten für eine Veröffentlichung 
gehalten. Ich habe aber ausserdem noch 9 Fälle mehr oder 
weniger ähnlicher Natur von den gleichen Gesichtspunkten aus 
behandelt und die Resultate waren vielfach ähnliche. Sie waren 
nicht in allen Fällen so auffallend, aber ein Einfluss der Be¬ 
handlung machte sich, wenn ich von einzelnen Complicationen 
besondere mit Nierenschrumpfung absehe, meist bemerkbar. 

Zunächst war in der Mehrzahl der Fälle eine Vermehrung 
der Urinausscheidung zu constatiren. Der günstige Einfluss 
dieser bei den betreffenden Erkrankungen ist ja so hinreichend 
bekannt, dass es überflüssig sein dürfte, die Bedeutung derselben 
hervorzuheben. Da die Wirkung der betreffenden Medication 
auf die Diurese auch durch die oben mitgetheilten chemischen 
Untersuchungen sich erwiesen hat, so fällt für diese Erscheinung 
jedenfalls der Grund eines therapeutischen Irrthums fort. Frag¬ 
lich ist es nur, ob die bei der chemischen Untersuchung des 
Urins und Stuhls gefundene Vermehrung der Kalkausscheidung 
bei verminderter Kalkeinfuhr als die Ursache der Erfolge zu 
betrachten ist. Man kann anfUhren, dass die betreffende 
Diät im ganzen keine reichliche ist und somit die Indi- 
cation einer eben genügenden Ernährung erfüllt, dass weiterhin 
eine stärkere Kalkausfuhr aus dem Körper rasch durch Resorp¬ 
tion von Kalksalzen in das Blut ausgeglichen werden kann. 
Bezüglich des letzeren Punktes sei aber erwähnt, dass eine Con- 
stanz des Blutes an Kalkgehalt jedenfalls nicht besteht, wie das 
unsere eigenen Beobachtungen ergeben haben. 

Weitere Untersuchungen sind naturgemäss erwünscht, aber 
schon jetzt liegt die Vermuthung nahe, dass der verschiedene 
Kalkgehalt des Blutes und der Gewebsflüssigkeit nicht gleich¬ 
gültig ist. Man wird auch nicht vergessen dürfen, dass nach 
den Untersuchungen von Hammarsten 1 ) die löslichen Kalk¬ 
salze des Blutes in naher Beziehung zu der Bildung des Fibrin- 
fermente8 stehen. Befördern die Kalksalze des Blutes somit die 
Gerinnung, so liegt es nahe, daran zu denken, dass sie auch 
auf die Störungsgeschwindigkeit des Blutes einen ungünstigen 
Einfluss ausUben, der um so beträchtlicher werden muss, je aus¬ 
gedehntere Kalkablagerungen in die Gef&sswand statthaben. 
Eine ganz besondere schwerwiegende Bedeutung kommt aber 
der Kalkablagerung in die Coronararterien zu, insofern dadurch 
die Zufuhr von Ernährungsmaterial zu dem Herzmuskel be¬ 
schränkt wird und dieser einer schneller oder langsamer sich 
entwickelnden Degeneration anheimfällt. Oft betreffen diese 
Kalkablagerungen nur kleine Partien der Aorta an der Abgangs¬ 
stelle der Coronararterien und im Beginn dieser, während diese 
im weiteren Verlauf keine Verengung zeigen. Hie und da sieht 
man auch ausgedehnte Verkalkung der Coronararterien mit 
weitem Gefässlumen, bei welcher klinische Erscheinungen 
dauernd oder lange Zeit gefehlt haben. Eine geringe Verengung 
an lebenswichtiger Stelle kann aber plötzlich zu einer schweren 
Störung des Herzmuskels führen. Würde es gelingen, der fort¬ 
schreitenden Verengerung der Gefässwand eine Grenze zu 
setzen, so wäre therapeutisch schon viel erreicht. Dass dieser 


1) Zeitschrift f. physiol. Chemie, Bd. XXII, Heft 4/5. 

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25 >4 


BERLINKll KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 14. 


Gedanke eine gewisse Berechtigung hat, scheint mir aus den 
obigen Beobachtungen hervorzugehen. Man w'ird gewiss nicht 
erwarten dürfen, dass die Disposition des Körpers, welche zu 
der pathologischen Kalkablagerung geführt hat, durch das ge¬ 
schilderte Vorgehen aufgehoben wird. Aber indem der Körper 
an Kalk ärmer wird, dürfte vielleicht ein Glied in der Kette 
pathologischer Vorgänge entfernt sein. Ob aber durch lang¬ 
andauernde Kalkverluste des Körpere eine Kalkablagerung in 
die Gefässe rückgängig gemacht werden kann, bedarf weiterer 
Untersuchung. Es ist ja nicht undenkbar, dass das an Kalk 
verarmende Blut seinen Bedarf wieder deckt. Dass diese 
Deckung durch Resorption von Kalk aus den Knochen erfolgen 
kann, wissen wir; aber ebenso gut ist eine Resorption aus einer 
erkrankten und kalkreichen Gefässwand denkbar. Weitere Unter¬ 
suchungen werden diese Frage gewiss klären. 

Die grössere Ausscheidung von Kalk mit dem Urin und 
Stuhl ist jedenfalls zum grösseren Theil auf die eingefUhrten 
Medikamente zurückzuführen, deren Wirkung zum Theil in einer 
stärkeren Diurese zu suchen ist. Neben der reicheren Aus¬ 
scheidung von Kalk kommt aber gewiss der verminderten Ein¬ 
fuhr der kalkarmen Nahrung ein hervorragender Antheil zu. 

Gegen eine alleinige Wirkung der Diät spricht die Beob¬ 
achtung, dass die betreffenden Kranken sich mehrfach nach 
Aussetzen der Medikation weniger wohl befanden. Das gleiche 
war bei der Verabreichung von Natrium phosphoricum, Natrium 
sulfuricum und Phosphoreäure der Fall, bei welcher die Diurese 
reichlich, die Kalkausscheidung vermindert war. Bezüglich der 
Phosphorsäure sind allerdings weitere Untersuchungen noth- 
wendig. 

Diese Beobachtungen machen Einwirkungen wahrscheinlich, 
welche in chemischen Vorgängen innerhalb des Körpere be¬ 
ruhen. Ob es sich dabei nur um eine reichere Kalkausscheidung 
handelt, ob nicht neben dieser andere uns unbekannte Vorgänge 
sich abspielen, welche durch die reiche Zufuhr von Natrium¬ 
salzen bedingt sind, w-ird weiterer Untersuchung bedürfen. 
Jedenfalls kann man durch Zusatz von Natriumsalzen eine 
grössere Menge phosphorsauren Kalkes in Lösung bringen, als 
ohne diese. Man könnte deshalb denken, dass auch im Blute 
und der Lymphe ähnliche Vorgänge sich abspielen, als deren 
Folge eine stärkere Ausscheidung durch die Nieren ermöglicht 
wird. Dass die stärkere Ausscheidung nicht etwa durch eine 
Bindung des Kalkes an Milchsäure erfolgt, bedarf wohl kaum 
besonderer Betonung. Ebensowenig wie frühere Untersucher 
konnten w r ir Milchsäure im Harn nachweisen. Diese wird im 
normalen Körper vollständig verbrannt, w f as aber nicht aus- 
schliesst, dass ihre Zersetzungsproducte eine leichtere Lösung 
von Kalk im Gefolge haben. Ob der grössere oder geringere 
Gehalt des Blutes an Natriumsalzen noch andere als den Kalk¬ 
gehalt betreffende Folgen hat, entzieht sich einstweilen der 
Kenntniss. Es wird sich auch kaum empfehlen, ohne Unter¬ 
lagen verschiedene Möglichkeiten zu erwägen. 

Alle Erfahrungen, welche Uber den Chemismus des Körpere 
gew’onnen werden, w-eisen darauf hin, dass die Vorgänge in 
diesem w'eit complicirter sind, als es die Versuche im Reagens¬ 
glase ahnen lassen. Deshalb bleibt aber gewiss die Berechti¬ 
gung bestehen, auf Grund der zeitigen Kenntnisse neue thera¬ 
peutische Wege zu gehen. 

Von diesen Gesichtspunkten aus möchte ich den Fach¬ 
genossen mein Vorgehen zur Nachprüfung empfehlen. Aber ich 
möchte davor warnen, dasselbe etw r a schematisch bei den ver¬ 
schiedensten Störungen der Herzfunction in Anwendung zu ziehen. 
Bei manchen Herzerkrankungen wird es gewiss contraindicirt 
sein; bei den mit Schrumpfniere einhergehenden schweren Stö¬ 
rungen habe ich es völlig unwirksam gefunden. Spätere Stadien 


der betreffenden Herzaffection mit völlig eingetretener Compen- 
sationsstörung dürften ebenfalls kein günstiges Resultat erwarten 
lassen. Es wird sich deshalb empfehlen, die Indication möglichst 
scharf zu präcisiren, wenn es sich um eine wissenschaftliche 
Nachprüfung handelt. Dass das Medikament nicht dauernd ge¬ 
geben werden kann, sondern schon in Rücksicht auf die Alka- 
lescenz des Urins zeitweise ausgesetzt werden muss, sei hier 
noch betont, ebenso dass vielleicht andere Diuretika in dem 
gleichen Sinne wirken. 

Auch die Diät wird mannigfache Variationen und Erweite¬ 
rungen erlauben. Als neuen Gesichtspunkt möchte ich nur noch 
einmal hervorheben, dass es sich empfiehlt, bei den er¬ 
wähnten Krankheiten nur soviel Kalk in den Körper 
einzuführen, als durch den Urin und Stuhl ausge¬ 
schieden wird. 

Bei der obigen Schilderung habe ich naturgemäss besonders 
die in der Behandlung der Herzkrankheiten neuen Gesichts¬ 
punkte hervorgehoben. Es ist aber wohl selbstverständlich, dass 
bei der Behandlung des einzelnen Falles alle Hülfsmittel der 
Therapie herangezogen werden müssen. In dieser Hinsicht be¬ 
steht die erste Aufgabe darin, dem Herzen nur so viel 
Arbeit zuzumuthen, als es zu leisten vermag. Ist es 
auch in ruhiger Körperlage und bei entsprechender Medikation 
nicht in der Lage, die ihm zufallende Arbeit dauernd zu leisten, 
so wird keine Kunst die Bedingungen für den Fortbestand des 
Lebens zu schaffen vermögen. Ist das Herz in ruhiger Körper¬ 
lage und ohne Medikamente im Stande, seine Functionen zu er¬ 
füllen, so tritt häufig eine gewisse Kräftigung ein. Leichte 
Muskelthätigkeit unter ärztlicher Controle gesteigert und 
regulirt, lässt häufig die Leistungsfähigkeit in überraschender 
Weise zunehmen. Das Maass der Arbeit, in Bewegung und 
Turnen zu finden, welchen das Herz gewachsen ist und an 
welcher es seine Kräfte stärkt, ist eine schwierige aber dank¬ 
bare Aufgabe. Dass daneben auch andere Einwirkungen, wie 
Massage, kühle Halbbäder, kohlensaure Bäder zur Unterstützung 
hcrangezogen werden können, sei ebenfalls nur kurz erwähnt. 

IV. Aus der niedieinischen Klinik in Bonn. 

Letal endende Polyneuritis bei einem mit 
Quecksilber behandelten Syphilitischen. 1 ) 

Von 

Dr. L. Brauer, 

früherem I. Assistenzärzte der Klinik. 

(Schluss.) 

Wir werden uns somit auch nicht wundern dürfen, wenn wir 
im Anschluss an die acut einsetzenden Secundäreymptome rein 
degenerative Processe am peripheren Nervensystem auftreten 
sehen, ganz analog jenen, die wir so ziemlich nach jeder In- 
fectionskrankheit zu beobachten Gelegenheit haben. 

Es ist charakteristisch für die auf solcher Basis sich 
entwickelnden Polyneuritiden, dass sie mehr oder weniger acut 
auftreten, die Extremitäten in symmetrischer Weise ergreifen, 
und meist schon sehr bald zur vollen Entwickelung gelangen, 
um nach verschieden langem Bestände relativ häufig in Heilung 
Uberzugehen. 

Ihr Beginn pflegt in eine Periode zu fallen, in der die 
ursächliche Erkrankung schon eine Zeit lang abgelaufen ist, 

1) Nach einem Vortrage gehalten vor der Wanderversammlung der 
Südwestdeutschen Neurologen und Irrenärzte in Baden-Baden 1896. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT, 


295 


_5. April 1897. 

oder jedenfalls schon ihren Höhepunkt überschritten hat. Häufig 
treten sie in Form sogen. Lan dry'scher Paralysen auf, unter 
welchem Namen sie bis vor etlichen Jahren als Krankheit sui generis 
beschrieben wurden. 

Bei diesen Formen hat man dann, betroffen durch das acute 
Auftreten dieser schweren, oft in kurzer Zeit zum Tode führen¬ 
den Erscheinungen, unter dem Eindrücke, es mit einer Intoxi- 
cation zu thun zu haben, besonders sorgsam nach einer Aetiologie 
gesucht, was diesen Fällen für die vorliegende Studie einen be¬ 
sonderen Werth verleiht. 

Es setzte der hier zu besprechende Fall so acut ein, er¬ 
reichte so bald die volle Ausbildung seiner Symptome, dass man 
ihn recht wohl der Lan dry 'sehen Form der Polyneuritis zu¬ 
reihen könnte. 

Wir sehen nun bei der Durchsicht der Literatur Uber 
Landry’sche Paralyse die Syphilis relativ häufig unter 
den möglichen ätiologischen Factoren fignriren. Unter den 
90 Fällen, die Ross und Bury 1 ) in ihrer Monographie über 
periphere Neuritis zusammenstellen, finden sich nicht weniger 
denn 8 Fälle, bei denen Lues als mögliche Ursache genannt 
wird. 

Drei dieser Fälle sind für uns ohne Belang, da sie in einem 
sehr späten Stadium der Syphilis auftraten. 

Die übrigen 5, die für die Beurtheilung des vorliegenden 
Falles von Bedeutung sind, seien hier kurz recapitulirt. 

Lan dry 1 ): Ascendirende Paralyse mit mehr oder weniger chroni¬ 
schem Verlauf, bei einem Patienten mit syphilitischer Diathese. 
Es trat rasche und complete Heilung unter antisyphilitischer Be¬ 
handlung ein. 

Bayer*): Offleier, 35 Jahre alt, vor 5 Jahren luetische Infection, 
dieserhalb vor 4 Jahren eine Schmiercur, vor 2 Jahren Sublimatpillen, 
sonst keine Hg-Behandlung. Verschiedene secundäre Symptome. Zur 
Zeit Gumma am Schädel. 

Erkrankung ohne sonstige nachweisbare Ursache an acuter ascen- 
dirender („Spinal-“) Paralyse. Schlaffe Lähmung der 4 Extremitäten 
mit Sensibilitätsstörungen an den Beinen. Blasenschwäche. 

Die Erkrankung hatte diesen Stand nach 10 Tagen erreicht. Jetzt 
wurde mit einer Schmiercur und Jodkali begonnen. Die Symptome 
blieben t 1 /» Wochen stationär, dann trat rapide Besserung ein, die nach 
ca. 2 Monaten zu completer Heilung führte. 

Jaffö 4 ): Kaufmann, 35 Jahr alt, kräftig gebaut. Vor 3 l i Jahren 
Lues. Behandlung mit Schmiercur, darauf Schwinden aller Symptome. 
Seit 6 Monaten wohl und ohne Recidiv. In letzter Zeit starke Excesse 
in venere. Auftreten einer schlaffen Lähmung der Extremitäten, Blasen¬ 
lähmung. Keine Sensibilitätsstörungen, Fehlen der Reflexe. Abnahme 
der electrischen Muskel- und Nervenerregbarkeit. Tod nach 10 Tagen 
durch Athemmuskellähraung. 

Schulz und Schnitze’): Sin 44jähriger, rüstiger Mann, von 
ruhiger Lebensweise, erkrankt 1876 an Lues, wird dieserhalb mehrere 
Monate mit Sublimatpillen behandelt. Bleibt dann völlig gesund bis 
September 1882, um welche Zeit sich in ca. 2 Wochen eine aufsteigende 
Paralyse entwickelte, die in weiteren 1'/, Monaten durch hinzutretende 
Bronchitis zum Tode führt. Die Therapie bestand in gemässigter In- 
unctionscur und Jodkali. 

Ross 6 ): Eine 21jährige, luetisch inficirte Prostituirte bekommt eine 
in 6 Tagen zum Tode führende Laudry’sche Paralyse. 

Diesen unter dem Namen Landry’s veröffentlichten Fällen 
schlies8en sich die casuistischen Mittheilungen mehrerer syrome- 

1) Ross and Bury, On peripheral Neuritis. London, Charles 
Griffin & Co. 1893. 

2) Die Mittheilung dieses Falles schliesst sich an die Daten an, die 
sich bei Ross und Bury finden. Die Originalarbeit war mir nicht zu¬ 
gängig. 

3) 0. Bayer: Heilung einer acut ascendirenden Spinalparalyse unter 
antisyphilitischer Behandlung. Archiv für Heilkunde, X. Jahrgang, pag. 
105. 1889. 

4) Jaffd: Ein Fall von Paralysis ascendens acuta. Berl. klin. 
Wochenschr. 1878, pag. 653. 

5) Schulz und Schultze: Zur Lehre von der acuten aufsteigen¬ 
den Paralyse. Archiv für Psychiatrie und Nervenheilkunde. Bd. XII, 
pag. 457. 

6) Ross: Treatisc on tlie diseases of the nervous System. 2nd. edit. 

Vol. I, pag. 905. 


frischer atrophischer Lähmungen an, die zum Theil als Poly¬ 
neuritis syphilitica bezeichnet wurden, bei denen die Lues 
jedenfalls ein wichtiges ätiologisches Moment abgab: 

Schnitze'): Bei einem 44jährigen Manne, bei dem im .Januar 
1882 eine luetische Initialsklerose constatirt war, trat Mitte Mai eine 
aufsteigende atrophische Paralyse auf, die dann im November desselben 
Jahres durch Lähmung der Respirationsorgane zum Tode führte. Der 
Patient hatte eine Schmiercur durchgemacht. Es lässt sich aus der mir 
von Herrn Prof. Schultze frenndlichst zur Verfügung gestellten Kranken¬ 
geschichte entnehmen, dass die Hg-Behandlung höchst wahrscheinlich 
schon Ende März beendet war, so dass zwischen dieser und dem ersten 
Einsetzen der Lähmungserscheinungen etwa l'/ 2 Monate liegen. 

Buzzard 5 ): Beschreibung zweier Fälle von degenerativer Paralyse 
der 4 Extremitäten, complicirt durch Paralysen im Gebiete der Hirn¬ 
nerven. Beide Fälle gelangen in etwa einem Monate zu voller Aus¬ 
bildung und gehen beide auf energische Hg- nnd Jodbehandlung in völlige 
Heilung über. Die Patienten waren syphilitisch. 

Tockwell 3 ): Der Fall, der dem Titel nach hierher zu gehören 
scheint, ist viel zu unsicher in Bezug auf die syphilitische Vor¬ 
geschichte. 

Fordyce*) sah mit dem Auftreten der ersten Secnndärsymptome 
bei einem Luetischen multiple Neuritis der Unterextreraitäten. (Parese, 
Paraesthesien, Muskelatrophie mit EaR., Fehlen der Patellarreflexe. 
Keine Störung der Blase und des Rectum.) Heilung unter Schmiercur 
und Jodkali. 

Mills 5 ) bespricht vor der American Neurological Association drei 
Fälle peripherer Neuritis mit ausgesprochener luetischer Vorgeschichte. 
Leider fehlte die Publication der genaueren Daten. 

In dem Fall, den Laschkewitsch *) mittheilt, soll die Existenz 
der Lues nicht zur Genüge erwiesen sein. 

In dem Falle Taylor’s 7 ) ist die Diagnose der Polyneuritis nicht 
genügend gesichert. 

Wir sehen somit eine nicht unbeträchtliche Casuistik auf 
einen ursächlichen Zusammenhang von Lues und acut einsetzenden, 
ausgebreiteten, symmetrischen, schlaffen Lähmungen hinweisen. 
In einer Anzahl dieser Fälle erhellt der Zusammenhang nicht 
nur einfach aus dem post hoc, vielmehr erscheint auch ex 
juvantibus ein Rückschluss auf die Syphilis als den aetio- 
logischen Factor erlaubt. 

Wir werden somit wohl nicht fehl gehen, wenn wir gestützt 
auf die vorstehenden Ueberlegungen, und auf diese Mittheilungen 
uns dahin ausprechen, dass die Ursache auch des uns vor¬ 
liegenden Falles von Polyneuritis sehr gut in einer 
toxischen Wirkung der Syphilis gesehen werden kann. 

Immerhin aber bleibt noch die Frage zu beantworten ob 
nicht auch die Quecksilbereinwirkung die Krankheit ver¬ 
ursachen konnte, da andere Ursachen, wie besonders Alcohol, 
Blei etc. sicher ausgeschlossen waren. 

Hierbei sind drei Reihen von Beobachtungen heran¬ 
zuziehen: 

1. die bisher als Polyneuritis mercurialis gedeuteten 

1) Schultze: Ueber aufsteigende atrophische Paralyse mit tödt* 
lichem Ausgange. Berl. klin. Wochenschr. 1883, pag. 593. 

2) Buzzard: 1. A case of double facial paralysis with paralysis 
of four extremities: general anaesthesia; imperfect paralysis of respira- 
tion and deglutition; paralysis of the bladder; recovery under anti- 
syphilitic treatment. Transactions Clin. Soc. London 1874, pag. 74, 
Vol. VII. und 2. A case of rapid and almost universal paralysis invol- 
ving the four extremities, both sides of paces, respiration, deglutition; 
syphilitic history; recovery. Transact. Clin. Soc. London 1880, Vol. XIII, 
pag. 180. 

3) Tuckwell: Paralysis probablie syphilitic, affectiug in rapid 
succession both legs and both arms ect. Lancet 1882, Vol. I, pag. 62. 

4) Fordyce: Peripheral Neuritis of syphilitic origin. Boston medical 
and surgical journal 1890, pag. 89. Vol. CXXIII. 

5) Mills Notes of some cases of multiple Neuritis (or Myelitis) of 
Syphilitic Origin, with liemarks on the difficulty of diagnosticating 
multiple Neuritis from some Forms of Myelitis Medical News. August 20. 
1887 und New York medical journal July. 3. 1887. 

6) Laschkewitsch Neuritis multiplex chronica luetica. Iiuss. med. 
St. Petersburg 1888. Vol. I, pag. 87. 

7) Taylor: A contribution to the study of^ multiple Neuritis of 
syphilitic origin. The New York med. Journ. 1890. Juli 5. 1890. 

3* 


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No. 14. 


berliner klinische Wochenschrift. 


__29ö 

Fälle, 2. die experimentellen Stützen dieser Diagnose, 3. die 
in gewerblichen Betrieben beobachteten Quecksilber¬ 
vergiftungen, sowie die- uncomplicirten Medicinalvergif- 
tungen. 

Als Polyneuritis mercurialis wurden nachstehende Fälle 
gedeutet: 

187 7 Ketli 1 2 ): Ein Arzt nahm in selbstmörderischer Absicht 50gr. 
einer l°/ 0 Sublimatlösung; acht Tage später, als die schwere Dysen¬ 
terie bereits überwunden schien, trat eine rasch tödtende Landry’sche 
Paralyse auf. 

1890 Forestier 5 6 ): Ein 25jähriger Mann acquirirt im December 
1888 ein Ulcus, dessen syphilitische Natur zweifelhaft erscheint. Jeden¬ 
falls nimmt er vom 15. XII. 1888 bis 7. VII. 1889 täglich Queck¬ 
silberpillen. Ende Juni Schwächegefühl in allen Gliedern, Paraesthesien 
im rechten Bein; es entwickelt sich langsam eine atrophische Lähmung 
der 4 Extremitäten. 

1893 Leyden*): Ein schlecht ernährter 23jähriger Schneider 
acquirirt im Juni 1892 Gonorrhoe und Ulcus durum. Im November 
wird der Secundärsyraptome halber eine Schmier-Cur eingeleitet, dieselbe 
dauert bis Mitte December. Drei Tage nach Beendigung der Cur treten 
Paraesthesien an den Armen und Beinen auf, Pat. wird zunehmend 
matter, der Gang wird unsicher. Am 12. II. 93 wird notirt: Reissende 
Schmerzen längs der grossen Nervenstämme in den Extremitäten. Paraes¬ 
thesien, Nervenstämme druckempfindlich, leichte Paresen; Ataxie; Fehlen 
der Sehnenreflexe; Hypaesthesie von der Mitte der Oberschenkel und 
den Ellenbogengelenken an nach abwärts. 

Am 25. Mai fast völlig geheilt entlassen. 

1894 Engel 4 ): Bei einer vor ca. 6 Monaten inficirten, secundär 
luetischen 29jährigen Frau trat nach Anwendung von 20 gr ungt. 
einer. (Schmiercur, 1 gr. pro die!) eine sich im Laute von etwa 8 Wochen 
voll ausbildende multiple Neuritis auf. 

Heilung nach etwa 2 1 /* Monaten. 

Gegen Schluss der Beobachtung wird ein Nephritis constatirt; an¬ 
fangs war schon einmal Albuminurie beobachtet worden. 

1895 Spillmann und fctienne*): 8 Fälle. 

1. Junger Mann, keine Lues. Acquirirt Gonorrhoe. Epidi- 
dymitis. Längere Zeit mit Hg behandelt. Am 10. IV. schwere Hg- 
Intoxication (Frösteln, starke Stomatitis, Diarrhoe etc.). Am 15. IV. 
sehr heftige Schmerzen in den Beinen. Am 17. IV. Lähmung aller 
Glieder. Ara 3. V. Muskelatrophie, fibrilläre Zuckungen. Die Patellar- 
reflexe. die anfangs herabgesetzt schienen, sind gesteigerte'.). 

Heilung nach 2'/, Monat. 

2. Reisender; acquirirt im Januar 1894 Lues. Starke Hg-Cur 
bringt die speciflsehen Symptome zum Schwinden. Ende Febr. heftige 
Schweisse, Schmerzen in den Beinen. Im März starke Erkältung, 
seitdem Gehstörung. Mitte Mai lebhafte Schmerzen in allen Muskeln. 
In der Klinik anfangs Besserung, später Nachschub ohne nachweisbare 
Ursache. Complete Lähmung mit hochgradiger Muskelatrophie an den 
4 Extremitäten. Nach mehreren Monaten Heilung. 

3. Stark überarbeiteter Bahn beamte r inficirt sich im Januar 95. 
Der Schanker wird anfangs nicht beachtet und erst, nachdem sich eine 
schwere Syphilis-Cachexie ausgebildet hat, wird eine Hg-Cur ein¬ 
geleitet. Nach Abschluss dieser Cur bekommt Pat. Fieber, Stomatitis, 
Diarrhoe, heftige Schmerzen in den Waden. Verminderung der Patellar- 
reflexe, leichte Albuminurie. Heilung durch Ruhe und Aussetzen der 
Behandlung. 

Den als mercuriclle Polyneuritis mehrfach citirten Fall 
Gilbert 0 ) und Nolda 7 ) übergehe ich, da es wohl kaum zu be¬ 
zweifeln ist, dass es sich bei demselben um eine Alcoholnenritis 
handelte. Der Fall ist nur in sofern sehr lehrreich, als er zeigt, 
wie skeptisch man bei der Beurtheilung der uns hier interessirenden 
aetiologischen Momente zu verfahren hat. 

Von den vorgenannten Fällen stand auschliesslich unter 
Quecksilberwirkung eigentlich nur der von Ketli berichtete 
Fall. Gleichwohl lässt sich hier noch die Frage aufwerfen, ob 

1) Ketli citirt nach Leyden a. a. 0. 

2) Forestier: Polynävrite motrice des membres d’origine mercu- 
rielle. Medäcine moderne 1890. 

8) Leyden: Ueber Polyneuritis mercurialis. Deutsche med. Wochen¬ 
schrift 1893, pag. 733. 

4) Engel: Ueber Polyneuritis mercurialis. Prager med. Wochen¬ 
schrift 1894. 

5) Spillmann und Etienne: Polyn6vrites dans l'intoxication 
hydrargyrique aigue on suleaigue. Revue deMedecinß 1895, pag. 1009 —1024. 

6) Gilbert: Pseudotabes mercurialis. Deutsche med. Wochen¬ 
schrift 1894, pag. 842. 

7) Nolda: Neurotabes alcoholica oder syphilitica oder mercurialis? 
Neurolog. Centralhlatt 1895, pag. 200. 


nicht möglicher Weise die Paralyse auch entstanden sein kann 
durch Vergiftung des Organismus mit toxischen Stoffen, 
die von dem seines Epithels zum Theil beraubten 
Darme resorbirt sein mögen. 

Von den übrigen 0 Kranken hatten 5 eine der üblichen 
Quecksilbercuren wegen frischer secundärer Syphilis durchge¬ 
macht; sie standen somit unter den gleichen Bedingungen, wie 
unser Fall und es gilt daher für dieselben auch das oben Uber 
die toxische Wirkung der Syphilis Gesagte. 

Abgesehen aber von dieser syphilitischen Infection bestand 
bei dem Patienten von Engel wahrscheinlich eine Nierener¬ 
krankung, der Patient Leyden’s war schon vorher schlecht 
ernährt und überanstrengt. Der zweite der Spillmann’sehen 
Kranken zeigte die Polyneuritis im Anschluss an eine schwere 
Erkältungschädlichkeit, der dritte dieser Kranken war vor der 
Schmiercur sehr heruntergekommen, bei ihm war die Syphilis 
vernachlässigt und war es so zu starker Kachexie gekommen. 

Der sechste dieser Fälle (No. 1 der Spillmann’schen 
Kranken) betraf einen jungen Mann, der an Gonorrhoe und 
Epididymitis litt, und dessen Gonorrhoe zur Zeit der Entstehung 
noch stark secernirte. Dass die Gonorrhoe nicht von dem Ver¬ 
dachte frei zu sprechen ist, gelegentlich zu einer Intoxication 
des Nervensystems zu führen, ergiebt sich aus den Mittheilungen 
von Engel-Reimers') und von Leyden.*) 

In klinischer Beziehung handelte es sich in den sechs 
Fällen, die nach medicamentöser Quecksilbereinwirkung beob¬ 
achtet wurden, um ziemlich typische periphere Neuritis, anschei¬ 
nend jedesmal mit degenerativer Muskelatrophie. 

Allen diesen Fällen gemeinsam ist der ziemlich unver¬ 
mittelte Beginn der Erkrankung im Anschluss an die 
Quecksilberdarreichung. Nur hierauf beruht ihre Beweis¬ 
kraft für die Annahme einer Polyneuritis mercurialis. Dass diese 
Fälle, einzeln betrachtet, aber eindeutig wären, kann man nicht 
behaupten. 

Die experimentell an Thieren erhobenen Befunde 
treten diesen klinischen Erhebungen gegenüber in den Hinter¬ 
grund. 

Von den zahlreichen experimentellen Arbeiten kommen für 
unsere Frage nur diejenigen von Letulle und von Heller in 
Betracht. 

Heller 3 ) erhielt bei Kaninchen, denen er Sublimat subcutan 
injicirt hatte, verschieden starke Lähmungen der Hinterbeine. 
Er glaubt hiermit „ein der Polyneuritis mercurialis völlig ent¬ 
sprechendes Krankheitsbild“ erzeugt zu haben. Ich kann dem 
nicht beipflichten. 

Durch das Mitgetheilte ist die Existenz einer Polyneuritis 
nicht erwiesen; man kann darnach eigentlich nur auf eine doppel¬ 
seitige Ischiadicus- resp. Cruralislähmung schliessen (und diese 
kann recht gut auf die örtliche Sublimat Wirkung bezogen 
werden!). 

Dass an einem Vorderbein bei einem kachetischen Thiere 
einmal ein Nagel ausfällt, beweist ebensowenig eine Neuritis 
daselbst, wie dieses dadurch bewiesen wird, dass ein solches 
Thier an dieser Ertremität weniger zu empfinden scheint. 

Ich selbst habe in vorsichtiger Weise bei 5 Kaninchen die 

1) Engel-Reimers: Beiträge zur Kenntniss der gonorrhoischen 
Nerven- und Rückenmarkserkrankungen. Jahrbücher des Hamburger 
Krankenhauses. II. 1892. (Autor erwähnt 2 Fälle von gonorrhoischer 
Polyneuritis.) 

2) Leyden: Ueber gonorrhoische Myelitis. Zeitschr. f. klin. Medicin. 
1892. Bd. 21, pag. 607. 

8) Heller: Experimentelle Beiträge zur Polyneuritis mercurialis 
(Leyden). Deutsch, med. Wochenschr. 1896, No. 9 und 10 (Vereins- 
bjilage). 


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5. April lßÖ*7. 


29? 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Sublimatinjectionen stets nur in die Haut eines der Hinter¬ 
schenkei gemacht und auch jedesmal nur einseitig die Ischia- 
dicuslähmung bekommen. Häufig habe ich mich dabei aber 
von der ausgedehnten nekrotisirenden Wirkung solcher Injectionen 
überzeugen können. 

Auch die zweite Mittheilung Heller’s ') ist nicht beweis¬ 
kräftiger, wenn dort auch von einem Thiere berichtet wird, bei 
welchem der N. Ischiadicus und N. cruralis einer Seite Degene¬ 
ration der Markscheiden aufwiesen, obwohl die Injectionen nur 
in die Haut der Schultergegend und des oberen Rückens gemacht 
waren. 

Am Orte der Sublimatinjectionen kommt cs sehr häufig zu 
Nekrotisirung der Haut. Damit wird eine Eingangspforte 
für eitererregende Mikroorganismen geschaffen. Nur 
zu leicht kommt es dann bei Kaninchen zu metastatischen 
Processen. Zudem werden die relativ sehr schwer vergifteten 
Thiere kachectisch und erschw'ert allein schon dieses Moment 
die Beurtheilung der eventuellen Befunde am peripherischen 
Nervensystem. 

Werthvoller ist die Arbeit Letulle’s. 2 3 ) Aus derselben 
scheint hervor zu gehen, dass eine protrahirte, tödtende Queck- 
silberintoxication an den peripheren Nerven Veränderungen 
hervorzurufen im Stande ist. Nachzuprüfen bleibt aber immerhin 
die Frage, ob diese Befunde nicht die Folge waren der jede 
protrahirte Vergiftung begleitenden Kachexie. Auch müsste, 
bevor man jene Befunde zu Rückschlüssen auf die Möglichkeit 
einer Polyneuritis mercurialis benutzen darf, nachgewiesen werden, 
dass dieselben nicht das Resultat einer primären Ganglienzellen¬ 
erkrankung waren. 

Gombault’8*) bekannte Arbeit Uber die anatomischen Be¬ 
funde bei parenchymatöser Neuritis hat besonders französische 
Forscher zu analogen Studien angeregt; durch diese ist eine 
Nevrite periaxile auch bei vielen anderen Nerven- und All¬ 
gemeinleiden erwiesen worden. 

Die Bedeutung der Letulle'sehen Arbeit liegt vor Allem 
auf dem Gebiete, dem wir in dritter Linie unsere Aufmerksam¬ 
keit zuzuwenden haben, dem der klinischen Erscheinungen 
der gewerblichen Quecksilbervergiftung. 

Le tu Ile bespricht eingehender, wie die meisten Autoren, 
die vor ihm dieses Thema bearbeiteten, die motorischen 
Paresen und Paralysen, die im Verlauf der Hg-Intoxication beob¬ 
achtet werden. 

Ich muss mich hier auf eine summarische Darstellung dieser 
Symptome beschränken. Es existirt Uber die gewerbliche Queck¬ 
silbervergiftung eine umfangreiche Literatur, in der auch die 
MedicinalVergiftungen z. Th. breite Berücksichtigung fanden. 
Von den zumeist recht kritiklosen Arbeiten der Antimercurialis- 
ten ist hierbei natürlich abzusehen. 

Es weicht das Krankheitsbild, welches man sich 
nach Allem von den Lähmungen bei Quecksilberver¬ 
gifteten zu machen hat, sehr erheblich, sowohl 
von jenen als Polyneuritis mercurialis beschriebenen 
Fällen, wie von dem hier vorliegenden Falle ab. 

Die Arbeiter, die den Dämpfen metallischen Quecksilbers 
oder verstaubten Quecksilberverbindungen ausgesetzt sind, unter¬ 
liegen zumeist chronischen Intoxicationen, doch sind dieselben 
auch häufig in acuter Weise gefährdet. Gleichwohl fanden 

1) Heller: Weitere Beiträge zur experimentellen Polyneuritis mer- 
curialis. Berl. klin. Wochenschr. 1896, pag. 380. 

2) Le tu Ile: Recherchcs cliniques et experimentales sur les para- 
lysies mercurlelles. Arch. de Physiologie, 1887, pag. 800 ff. 

3) Gombault: Contribution ä l'etude anatomique de la nevrite 
parencbymateuse subaigue et chronique. Nevrite segmentaire periaxile. 
Arch. de Neurologie, Bd. I, pag. 11 ff. u. pag. 77 ff. 


sich bei den zahlreich Vergifteten nie acute Poly¬ 
neuritiden. Die beobachteten motorischen Paresen sind zu¬ 
meist Monoplegien, sie entwickeln sich langsam in 
einem späteren Stadium der Quecksilberintoxication; betreffen 
sie ausnahmsweise mehrere Glieder, so sind sie in einer unregel¬ 
mässigen Weise vertheilt; häufig sind sie flüchtiger Natur; 
sie sollen ohne degenerative Muskelatrophie verlaufen 
und mit normalen oder gar gesteigerten Sehnenreflexen 
einhergehen. 

Lange voraus gehen ihnen die mehr oder weniger 
schweren allgemeinen Intoxicationserscheinungen, wie 
Stomatitis, Salivation, Zahnausfall, Magen-Darmstörungen, oder 
die unter dem Namen des Erethismus mercurialis bekannten 
cerebralen Erscheinungen. Zeichen psychischen Verfalles 
und allgemeiner Kachexie pflegen zu der Zeit, zu der 
sich die erwähnten motorischen Paresen zeigen, hoch¬ 
gradig ausgebildet zu sein. 

Eudlich pflegt der häufig beschriebene Tremor mer¬ 
curialis die Paresen zu begleiten, oder ihnen vorauszugehen. 
Man gewinnt vom Standpunkte klinischer Betrachtung jedenfalls 
nicht den Eindruck, als seien die im Verlaufe des gewerblichen 
Mercurialisraus sich zeigenden nervösen Symptome in ihrer 
Hauptsache durch Veränderungen am peripheren Nervensystem 
bedingt. 

Nach medicinaler Verwendung des Quecksilbers 
oder seiner Verbindungen treten leichte und selbst raittel- 
schwere Intoxicationserscheinungen nicht selten auf; sie 
sind unter der Form von Salivation, Stomatitis und event. sogar 
mässiger Diphtherie des Colon nur zu wohlgekannt; nervöse 
Symptome pflegen mit ihnen nicht einherzugehen; höchstens zeigt 
sich gelegentlich Kopfschmerz und psychische Depression. Akro- 
parästhesien, wohl die ersten und leichtesten Zeichen einer Irri¬ 
tation des peripherischen Nervensystems, begleiten sic nicht. 

Schwere, tödtlich endende Vergiftungen sind gleich¬ 
falls nicht selten. Man sieht sie zumeist nach Sublimatgenuss 
und intramuskulärer Application unlöslicher Ilg-Salze, seltener 
nach Sublimataussplllungen in gynäkologischer Praxis, oder nach 
Inunction grauer Salbe. 

Nur in einer Mittheilung fand ich Lähmungserscheinungen 
erwähnt; es sah nämlich Sackur 1 ) bei einem anämischen, aber 
kräftig gebauten Mädchen, dem beginnender Lymphangitis halber 
5 gr grauer Salbe in Ragaden der Haut eingerieben wurde, eine 
schon nach 1 Stunde einsetzende, in 5’ s Tagen zum Tode führende 
Hg-Vergiftung. In den letzten Stunden vor dem Tode trat 
„Schweregefühl in Armen und Beinen, schliesslich Lähmung der 
Extremitäten“ auf. 

Das Gesagte recapitulirend, fasse ich meine Anschauung 
Uber die Entstehungsweise der Polyncuritis in meinem Falle 
folgendermaassen zusammen: 

In dem vorliegenden Falle ist eine specifisch 
luetische, anatomisch zu erweisende Veränderung 
nicht die Ursache der Erkrankung. 

Sehr wohl möglich ist es aber, dass diese in einer 
toxischen Wirkung der Syphilis zu suchen ist. 

Dass das Quecksilber allein die Schuld an den 
vorliegenden Nervenveränderungen trägt, erscheint 
unwahrscheinlich, da einerseits die einschlägigen 
klinischen und experimentellen Beobachtungen zu 
vieldeutig sind, und da andererseits die mehr chroni¬ 
schen gewerblichen, wie die acuten, tödtlichen Queck- 


1) Sackur, Eine letal verlaufene, acute Quecksilbervergiftung, ent¬ 
standen durch Einreibung von grauer Salbe. Berl. klin. Wochenschr. 
1892, p: G18. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 14. 


_ 208 

Silbervergiftungen Krankheitsbilder liefern, die von 
unserem Falle, wie von jenen als Polyneuritis mer- 
curialis beschriebenen durchaus abweichen. 

Nicht auszuschliessen ist, dass die Quecksilber¬ 
einwirkung, indem sie die Widerstandsfähigkeit des 
Organismus herabsetzte, der anderen Schädlichkeit 
(den Syphilistoxinen) es ermöglichte, leichter, denn 
sonst, eine Polyneuritis hervorzurufen. 

Auch kann natürlich eine dritte, uns unbekannt 
gebliebene Ursache die Erkrankung veranlasst haben; 
nur sind Alkoholismus, Blei- und Arsenikeinwirkung» 
sowie echter Rheumatismus oder eine bekannte In' 
fections krank heit auszuschliessen. 

Zum Schlüsse spreche ich meinem verehrten Lehrer, Herrn 
Prof. Fr. Schultze, meinen Dank aus für die l'eberlassung 
des Materials, sowie für die Förderung bei der Bearbeitung des¬ 
selben. 


V. Ueber Abortbehandlung. 

Von 

Dr. AbeL 

(Nach einem Vortrage, gehalten in der Berliner medieinischen Gesell¬ 
schaft am 3. März 1897.) 

(Schloss.) 

Ebenso wichtig wie die Desinfection des Operationsgebietes 
ist natürlich die Sterilisation der Gaze, welche in den Uterus 
eingefUhrt werden soll. Hierzu genügt nicht die im Handel 
käufliche Jodoformgaze. Dieselbe wimmelt gewöhnlich von 
Bacterien. Und wenn bei Anwendung solcher Gaze nicht öfter 
Unglücksfälle Vorkommen, so ist dies eben ein Zeichen dafür, 
dass der Organismus mit vielen pathogenen Bacterien fertig 
wird. Ich benutze immer selbst sterilisirte Gaze. Es ist ganz 
gleichgültig, ob man einfache, hydrophile oder Jodoformgaze 
nimmt. Das ist Liebhaberei. Mit der Erweiterungsfähigkeit hat 
dies nichts zu tliun. Wer seine Gaze nicht selbst sterilisiren 
kann, benutzt entweder die in den Dührssen’sehen Büchsen 
oder in kleineren, ebenfalls sicher sterilisirten Pappschächtelchen 
vorhandene, w r ie ich Sie Ihnen hier zeige. Die letzteren haben 
den Vortheil, dass sie handlicher sind, als die grossen Büchsen. 
Allerdings enthalten sie nur die zur Uterustamponade erforder¬ 
liche Gaze, während man zur nachträglichen Scheidentamponade 
einfache käufliche Watte nehmen muss. Ich habe übrigens 
hieraus nie einen Nachtheil entstehen sehen. 

Wer so vorbereitet an die Ausstopfung des Uterus mit 
Gaze geht, wird ebenso wenig, wie ich, Misserfolge aufzuweisen 
haben. 

Die Technik ist nun folgende: Nachdem die Kranke in 
richtiger Weise in Steiss-Rückenlage gelagert ist, und nachdem 
nach Desinfection der äusseren Genitalien und der Scheide, wie oben 
angegeben, die Portio angehakt ist, orientirt man sich zuerst 
mit der Sonde über den Verlauf des Uteruskanales. So selbst¬ 
verständlich dies zu sein scheint, so muss es doch besonders 
hervorgehoben werden, da es häufig versäumt wird. Die Folge 
davon ist dann, dass man beim Einführen der Gaze leicht einer 
falschen Richtung folgt und dann natürlich nicht zum Ziele 
gelangt. 

Dieses angestrebte Ziel ist die Tamponade der ganzen 
Uterushöhle bis zum Fundus. Man nimmt die Gaze in 
ganz dünner Schicht' — die Streifen sollen nicht breiter als 
5 cm sein — auf einen sogenannten Uterusstopfer und führt 
genau in derselben Richtung, in welcher vorher die Sonde 


in die Uterushöhle glitt, die Gaze hinein. Wer den Streifen 
nur bis zum inneren Muttermund führt, kann natürlich nicht 
verlangen, dass durch solche Tamponade der Uterus nach¬ 
her erweitert oder, wie Landau in seiner ersten Publikation 
Uber diesen Gegenstand sehr treffend bemerkte, erweiterbar wird. 
Ist man mit der Gaze bis zum Fundus vorgedrungen, so muss 
man dieselbe am äusseren Muttermunde mit dem Finger fixiren, 
während man den Uterusstopfer aus der Höhle zurückzieht. 
Nunmehr fasst man mit dem Stopfer die Gaze am äusseren 
Muttermund und schiebt von hier aus wieder höher hinauf. 
Greift man, wie ich dies öfter gesehen habe, mit dem Stopfer 
eine grössere Menge Gaze und versucht diese mit Gewalt durch 
die Cervix und den inneren Muttermund hindurchzupressen, so 
wird man sich bald von der Unmöglichkeit dieses Vorgehens 
überzeugen können. Das Wichtigste bei der Ausstopfung ist 
also, nicht neue Gaze direkt hineinzuschieben, sondern durch 
Hüherschieben der bereits im Uterus befindlichen immer wieder 
neue Partieen nachzuziehen. Befolgt man diese Vorschrift, so 
wird es Jedem bei einiger Uebung gelingen, den Uterus voll¬ 
kommen auszustopfen. Man hat dann nur noch nöthig, vor die 
Portio einen Wattebausch zu legen, um die ganze Manipulation 
in wenigen Minuten zu beenden. Eine Narkose ist zum Zweck 
des Ausstopfens nie erforderlich. Sobald die Gaze eingefUhrt 
ist, soll die Patientin im Bette liegen bleiben. 

Nach 24 Stunden entfernt man die Gaze, uachdem man 
vorher wieder die äusseren Genitalien gründlich gereinigt hat 
und stellt fest, ob der innere Muttermund für den Finger durch¬ 
gängig ist. In den bei weitem meisten Fällen wird dies mög¬ 
lich sein. Man fühlt sofort, wenn man die Gaze herausge¬ 
nommen hat, dass die Uterusmuskulatur ganz nachgiebig geworden 
ist. Sollte indessen die Erweiterbarkeit noch nicht genügend 
sein, so kann man ohne Schaden noch einmal Gaze, unter den¬ 
selben Cautelen, wie beim ersten Male, einführen. Hat man 
constatirt, dass der Finger den "Widerstand des inneren Mutter¬ 
mundes sicher überwindet, so lasse ich sofort mit der Narkose 
beginnen. Ich halte es für sehr wünschenswerth, für die nun¬ 
mehr folgende digitale Ausräumung die Kranke tief zu narkoti- 
Biren, wenn anders man mit Sicherheit alle im Uterus gebliebe¬ 
nen Reste entfernen will. Die Ausräumung erfolgt dann so, dass 
man mit dem in den Uterus eingeführten Finger — ich benutze 
den Zeigefinger der linken Hand — die zurückgebliebenen Reste 
der Placenta von der Wand abschält, indem man gleichzeitig 
sich den Uterus von den Bauchdecken her, die völlig erschlafft 
sein müssen, entgegendruckt und von einem Assistenten die 
Kugelzange, welche die vordere Muttermundslippe gefasst hat, 
nach unten ziehen lässt. Auf diese Weise ist es mir ge¬ 
lungen, in allen Fällen die Placentarrcste vollkommen 
zu entfernen, ohne je hierbei die Curette oder einen 
Löffel anzuwenden. 

Nach der Ausräumung habe ich nie eine Uterusausspülung 
gemacht. Ich umwickele vielmehr die Komzange mit Watte, 
tauche diese in öproc. Carbolsäurelösung und wische damit 
energisch die Uteruswäude ab. Denn ebenso wenig, wie ich es 
für eine genügende Desinfection halte, wenn Jemand seine Hände 
von einer desinficirenden Flüssigkeit bespülen lässt, ebenso wenig 
kann ich mir denken, dass solche Ausspülung des Uterus, wie 
sie ja eigentlich gang und gebe ist, irgend einen desinficirenden 
Werth hat. Andrerseits aber ist nicht zu leugnen, dass nach 
solchen Ausspülungen schwere Erscheinungen des Collapses auf¬ 
getreten sind, ja in einigen Fällen unmittelarer Tod die Folge 
sein kann. Darum habe ich mich von den Uterusausspülungcn, 
so merkwürdig dies klingen mag, vollständig losgesagt, und habe, 
und das ist das Wichtige, nie einen Unglücksfall erlebt. Ich 
ratlie daher in Zukunft alle diese Ausspülungen zu unterlassen, 


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_ 5. April 1807. 

deren Nutzen ein zweifelhafter, deren schädliche Folgen unter 
Umständen aber sehr grosse sein können. 

Mit der Desinfection des Uterus ist der intrauterine Eingriff 
beendet. Ich mache dann nur noch eine 40° Beaumur heisse 
Ausspülung mit abgekochtem Wasser in den hinteren .Scheiden¬ 
grund und lege ein Päckchen Jodoformgaze und einen Watte¬ 
bausch vor die Portio. Gewöhnlich lasse ich dann noch eine 
Ergotininjection machen und gebe nachher noch ca. 400 gr eines 
Secaleinfuses (8:200) zweistündlich. Ich mache den Eingriff 
nie ambulatorisch, sondern lasse die Patienten danach mindestens 
5 Tage liegen. Fast in allen Fällen wird auf diese Weise ein 
Abortus imperfectus mit Sicherheit beendet und man weiss, dass 
man nichts mehr im Uterus zurückgelassen hat. Trotzdem kann 
es manchmal unmittelbar nach dem Eingriff zu einer sogenannten 
atonischen Blutung kommen. Die Uterusmuskulatur contrahirt 
sich nicht, und es ergiesst sich ein mitunter fingerdicker Blut¬ 
strahl aus dem Uterusinneren. Hört die Blutung auch nach 
einer zweiten Heisswasserirrigation nicht auf, so muss man nach 
dem Vorgänge von Dührssen die Uterushöhle mit Gaze fest 
tamponiren, was keine Schwierigkeiten macht. Es ist nur wichtig, 
die Tamponade genügend fest zu machen. Dieselbe wird nach 
24 Stunden wieder entfernt. Uebrigens habe ich eine solche 
Tamponade unter allen meinen Fällen nur zweimal nöthig ge¬ 
habt. Selbstverständlich muss man ganz sicher sein, dass man 
alle Reste aus dem Uterus entfernt hat. Hierbei möchte ich 
nur noch bemerken, dass man sich nun nicht zu denken braucht, 
dass nach der Ausräumung die Uterusinnenfläche so glatt ist, 
wie bei einem normalen Uterus. Dieselbe fühlt sich vielmehr 
an der Placentarstelle uneben an, wie dies ja auch nach der 
anatomischen Beschaffenheit nicht andere sein kann. Diese Un¬ 
ebenheit etwa noch nachträglich mit dem Löffel ausgleichen zu 
wollen, ist vollkommen überflüssig. 

Es bleibt nur noch übrig zu erwähnen, dass es sich unter 
den oben genannten Fällen nicht etwa nur um einfache Aborte 
handelte, welche fieberlos verlaufen waren. Im Gegentheil, ein 
sehr grosser Theil dieser Fälle wurde mit hohem Fieber und 
übelriechendem Ausfluss in die Klinik gebracht. Auch für diese 
Fälle gilt das oben Gesagte. Unbeschadet des übelriechenden 
Ausflusses kann man den Uterus tamponiren, um denselben dann 
am nächsten Tage von seinem verjauchten Inhalte zu befreien. 
Wie gesagt, ich habe nur Gutes von dieser Art des Vorgehens 
gesehen. Freilich könnte man einwenden, das ist alles sehr 
schön, wenn man gute klinische Einrichtungen und geschulte 
Assistenten hat. 

Der Praktiker und besonders der Landarzt hat mit ganz 
anderen und weit schwierigeren Verhältnissen zu rechnen. Ihm 
kommt es vor allen Dingen darauf an, eine Methode zu haben, 
welche schnell zum Ziele führt. Und da ist ja freilich das Aus¬ 
kratzen viel einfacher. Wenn aber dieses nur auf Kosten der 
Sicherheit angewendet werden kann, so muss man dasselbe eben 
im Interesse der Patienten aufgeben und dasjenige Verfahren 
wählen, welches zwar etwas umständlicher, dafür aber, wenn es 
genau nach der Vorschrift ausgeführt ist, gefahrlos ist. Gefahrlos 
allerdings mit der Einschränkung, als jeder Eingriff im Uterus¬ 
inneren Gefahren in sich birgt, deren Vermeidung wir nicht mit 
apodiktischer Sicherheit garantiren können. Was nun die Be¬ 
handlung im Hause der Kranken anbetrifft, so habe ich eben¬ 
falls eine grosse Reihe von Aborten im Hause ausgeräumt. 
Dabei habe ich genau dieselben Grundsätze befolgt und mir 
lieber einen doppelten Weg gemacht, als durch eine Erleichte¬ 
rung für mich die Patientin einer unsicheren Methode zu unter¬ 
werfen. Man kann die Tamponade ohne jegliche Assistenz 
machen, wünschenswerth ist es nur, eine solche für die Narkose 
zu haben. Die Lagerung der Patientin kann im Querbett ge- 


295) _ 

macht werden. Zu den Annehmlichkeiten gehört dies allerdings 
nicht. Jeder von Ihnen weiss, wie unbequem es ist, vor der 
Patientin knieend, womöglich noch bei schlechter Beleuchtung, 
im Uterus zu manipuliren. Besser ist es schon, wenn man einen 
festen Tisch zur Verfügung hat, auf welchem man die Kranke 
lagern kann. Aber auch nicht immer ist bei armen Kranken 
ein brauchbarer Tisch zur Verfügung. Ich habe mir deshalb in 
jüngster Zeit einen Tisch construirt, welchen man ohne Mühe 
mitnehmen kann. Derselbe ist von Chr. Schmidt, Lutter Nachfg., 
hier, Ziegelstr. 3, ausgeführt und hat sich mir sehr gut bewährt. 
Ich behalte mir vor, denselben Ihnen hier nächstens vorzufUhren, 
da ich heute durch äussere Gründe daran verhindert bin. Also 
auch in der Praxis ist die Methode anwendbar, und ich habe 
hier ebenso wenig wie in der Klinik einen Unglücksfall erlebt. 

Der Verlauf nach der Ausräumung ist gewöhlich so, dass 
bei nicht fieberhaften Aborten auch nach der Ausräumung keine 
Temperatursteigerungen Vorkommen. War vor der Ausräumung 
Fieber oder Schüttelfrost vorhanden, wie letzteres bei den zahl¬ 
reichen arteficiellen Aborten das Gewöhnliche ist, so tritt ge¬ 
wöhnlich auch nach der Ausräumung noch eine Temperatur¬ 
steigerung, event. ein oder mehrere Schüttelfröste mit 40—41 
Temperatur ein, um dann der normalen Temperatur Platz zu 
machen, ohne dass ein intrauteriner Eingriff nochmals vorge¬ 
nommen worden wäre. 

Hier ist der Ort auf eine Frage einzugehen, welche in letzter 
Zeit mehr in den Vordergrund zu treten scheint, das ist die 
Frage der Uterusexstirpation bei Eintritt von Fieber nach der 
Ausräumung eines Abortes oder, was hier wohl gleich mit be¬ 
sprochen werden kann, auch nach sonstigen intrauterinen Ein¬ 
griffen. 

Nach dieser Richtung hin sehr interessant sind die beiden 
Mittheilungen von Olshausen in dem bereits oben erwähnten 
Vorfrage, ln dem einen Falle war nach unvollkommener Ent¬ 
fernung eines im Fundus uteri breitbasig aufsitzenden Myoms 
die Temperatur auf 38° und in den nächsten 12 Stunden trotz 
Uterusausspülung mit Sublimat (1 : 2000) auf 40,7 0 gestiegen. 
Ein dritter Schüttelfrost folgte, und die Exstirpation des Uterus 
wurde in Ueberlegung genommen, doch hielt der günstige Puls 
von 108 Schlägen per Minute noch davon zurück. Es folgte 
unerwartet schnelle und vollständige Entfieberung, wonach die 
Kranke genas. In dem anderen Falle war die Sachlage eine 
ähnliche. Nach Entfernung des zerfallenen Myoms stieg die 
Temperatur nach vorangegangenem Schüttelfrost auf 40,7°. Sie 
fiel zwar nochmals auf 37,3°, stieg aber nach 12 Stunden schon 
wieder auf 39,3 °. Dabei war der Allgemeineindruck der der 
Sepsis. In Folge dessen machte Olshausen, 26 Stunden nach 
Entfernung des Myoms, die Uterusexstirpation. Nach dieser fiel 
die Temperatur ganz allmählich ab. Daraufhin kommt Ols¬ 
hausen zu dem Schlüsse, dass bei Fortdauer der Infection 
unter Umständen der Uterus exstirpirt werden kann und muss, 
ehe es zu spät wird. 

Rechtfertigt nun der eine glückliche Ausgang nach der 
Uterusexstirpation den von Olshausen gemachten Schluss, 
welcher von schwerwiegender Bednutung ist? Olshausen sagt, 
dass der Uterus in solchen Fällen „unter Umständen“ exstirpirt 
werden muss. Es wäre wünschenswerth, wenn von so autori¬ 
tativer Seite diese Umstände ganz genau präcisirt würden. Denn 
die Folge wird sein, dass, sobald nach einem intrauterinen Ein¬ 
griff Fieber mit Schüttelfrost eintritt, kritiklos die Uterusexstir¬ 
pation ohne weiteres vorgenommen werden wird, und zwar 
gestützt auf diesen Ausspruch von Olshausen, was sicherlich 
nicht in seiner Absicht gelegen hatte. Und ich muss in der 
That sagen, dass man hiernach der Meinung sein kann eine 
Unterlassung zu begehen, wenn man den Uterus bei Eintritt von 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 14. 


Schüttelfrost nicht sofort exstirpirt, „ehe es zu spät ist“, wie 
Olshausen sagt. Wann ist es zu spät und wann ist es zu 
früh, resp. überhaupt überflüssig? Das sind Fragen von ausser¬ 
ordentlich grosser Bedeutung. 

Wenn man sich nun die Temperaturcurvc des Olshausen- 
schen Fall ansieht, bei welcher die Temperatur ganz allmählich 
im Verlaufe von 4 Tagen von 40,7° auf 38“ herunterging, so 
muss wohl jeder Unbefangene daraus den Schluss ziehen, dass 
der operative Eingriff nicht den geringsten Einfluss auf die 
Temperatur ausgeübt hat. Bei der Ausräumung eines septischen 
Abortes tritt der Abfall der Temperatur immer kritisch ein, 
sobald der Infectionsheerd beseitigt ist. Dies hätte hier, nach¬ 
dem der ganze Uterus herausgeschnitten war, ebenfalls geschehen 
müssen. Statt dessen fällt die Temperatur ganz allmählich ab, 
wie dies oft bei infectiösen Processen im Wochenbett beobachtet 
werden kann. Ein Beweis, dass die Uterusexstirpation hier 
lebensrettend gewesen ist, ist daher meiner Meinung nach nicht 
erbracht, sondern es scheint fast näher liegend, anzunehmen, 
dass der Fall auch ohne diesen Eingriff genesen wäre. Hat 
denn nun die lokale Behandlung bei solchen Allgemeiniufectionen 
wirklich einen hervorragenden Werth? 

Auf diese Frage haben die neueren Forschungen der Bacterio- 
logie zu antworten, und da muss man allerdings sagen, dass 
durch dieselben die ursprünglichen Erwartungen, welche man an 
eine lokale Therapie gestellt hatte, nicht in Erfüllung ge¬ 
gangen sind. 

In erster Linie kommen hier die Versuche von Schimmel¬ 
busch 1 ) in Betracht. Dieselben werden auch in dem neu er¬ 
schienenen, vorzüglichen Lehrbuche der Bacteriologie des weib¬ 
lichen Genitalkanales von Menge und Krönig 2 ) bei Be¬ 
sprechung dieser Fragen herangezogen. Schimmclbusch infi- 
cirte glatte Schnittwunden bei Mäusen mit einer Reincultur von 
Milzbrand und behandelte gleich danach die Wunde mit den 
gebräuchlichen Antisepticis. In keinem Falle gelang es, die 
Mäuse zu retten. Später stellte er dieselben Versuche an mit 
sehr virulenten Streptokokken. Diese Versuche fanden durch 
eine grosse Beihe von Thierexperimenten von Reichel ihre volle 
Bestätigung. Letzterer hatte den glücklichen Gedanken, dass er 
zu seinen Versuchen die für Kaninchen weniger virulenten Kokken 
des Staphylococcus pyogenes aureus benutzte. Hierbei findet 
weniger leicht eine Allgcmeininfection des Organismus statt. In 
allen Fällen, ob desinficirt oder uicht, kam es zur lokalen sep¬ 
tischen Entzündung, in einigen Fällen zur Allgemeininfection.“ 

Dies sind für die Beurtheilung des Werthes der Lokal- 
therapic ausserordentlich wichtige Ergebnisse. Hierzu kommt 
noch eins, was Krönig sehr richtig hervorhebt. „Wir dürfen 
nämlich nicht vergessen, dass bei diesen Experimenten die Des- 
infection der Wunde begann, ehe dieselbe wirkliche Zeichen 
einer erfolgten Infection zeigte, also zu einer Zeit, wo eigentlich 
nur eine Verunreinigung der Wunde mit Bacterien, welche eine 
Wundkrankheit bedingen, vorlag. Bei der Infection des puer¬ 
peralen Endometriums mit dem Streptococcus pyogenes beginnt 
aber die lokale Behandlung erst dann, wenn eine klinisch nach¬ 
weisbare Lokalinfection, ja eine Allgemeinerscheinung der er¬ 
folgten Infection, Temperatursteigerung etc., vorhanden ist.“ 

Nach den an Wöchnerinnen von Krönig vorgenommenen 
Untersuchungen, bei welchen im Cavura uteri Streptokokken nach¬ 
gewiesen waren, ergab sich, dass es in keinem einzigen Falle 


1) Schimmelbusch: Die Desinfcction septisch inficirter Wunden. 
Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, 1893, p. 111 ff. 

2) Menge und Krönig: Bacteriologie des weiblichen Genitalkanales. 
Leipzig 1897. Verlag von Arthur Georgi (vormals Eduard Besold) II., 
p. 276 ff. 


gelang, durch eine Spülung mit Antisepticis eine Keirafreiheit 
des Cavum uteri zu erlangen. Somit kommt Krönig zu dem 
Schlüsse, dass die lokale Therapie nicht das leistet, was man 
von ihr erwartet hatte. „Was aber noch wichtiger bei der Beur¬ 
theilung des Werthes der lokalen Therapie ist, das ist die That- 
sache, dass die Endometritis streptococcica auch ohne jede 
Therapie grosse Tendenz zur Heilung hat. Nur 4 pt't. der In- 
ficirten erliegen der Infection.“ 

Danach scheint mir, nach wie vor, der Hauptwerth der 
Behandlung von puerperalen Processen in der Allgemeinbehand¬ 
lung zu liegen, und jeder nach dieser Richtung gemachte Vor¬ 
schlag müsste auf das Sorgfältigste geprüft werden. Ich erinnere 
hier an die von Hofbancr 1 ) aus der Schauta’schen Klinik 
gemachten Mittheilungen Uber die künstlich erzeugte Hyper- 
leukocytose durch Darreichung von Nuclein, nach dem Vorgänge 
von Horbaczewsky. Die damit erzielten Resultate erheischen 
jedenfalls eine sorgfältige Nachprüfung, zumal der die Therapie 
leitende Gedanke auch nach den durch die Bacteriologie ge¬ 
wonnenen Resultaten der richtigere zu sein scheint. Auch den 
Versuchen mit Antitoxinen wird weiter grösste Aufmerksamkeit 
zu schenken sein. Jedenfalls — und es kommt mir vor allen 
Dingen darauf an, dies zu betonen — sind wir nach dem heuti¬ 
gen Standpunkt der Wissenschaft nicht dazu berechtigt, in einem 
Falle, in welchem nach der Ausräumung eines Abortes Fieber 
und Schüttelfrost auftritt, ohne Weiteres den Uterus und die 
Adnexe herauszuschneiden, ob man in dem vaginalen oder 
uterinen Secrete Streptokokken nachgewiesen hat oder nicht. 

Nun, m. H., so viel Uber den Abortus imperfectus. Es er¬ 
übrigt noch kurz Uber den Abortus imminens und Uber die 
Blutungen nach Abortus perfectus zu sprechen. Das hauptsäch¬ 
lichste Symptom beim Abortus imminens sind Blutungen. Je¬ 
doch ist es eine bekannte Thatsache, dass selbst eine starke 
und lang andauernde Blutungen die Schwangerschaft nicht 
zu unterbrechen brauchen. Wenn also nicht ganz bestimmte In- 
dicationen vorliegeu, so hat man hierbei zunächst abzuwarten 
und die Kranke ruhig im Bett liegen zu lassen. Oft beruhigt 
sich auf diese Weise die Blutung sehr schnell wieder und die 
Schwangerschaft erreicht später ihr normales Ende. Man kann 
auch Extr. Ilydrastis dabei geben, da dieses Mittel bekanntlich 
blutstillend wirkt, ohne durch Erregung von Wehen den Abort 
zu beschleunigen. 

Ist nun der Abort nicht mehr aufzuhalten, sei es dass die 
Blutungen zu abundant werden oder Fieber auftritt oder son¬ 
stige Ursachen vorliegen, welche ein Eingreifen erforderlich 
machen, so kann man ebenfalls nach verschiedenen Grundsätzen 
seine Handlungsweise einrichten. In keinem Falle mache ich 
auch hier die Ausräumung mit dem Löffel, sondern erweitere, 
resp. suche durch geeignete Mittel C'ontractionen des Uterus her¬ 
vorzurufen. Das Gebräuchlichste ist die Scheidentamponade. 
Die Scheide wird erst sorgfältig gereinigt und dann mit steriler 
Gaze und Watte fest tamponirt. Bei dieser festen Scheiden¬ 
tamponade soll man nur darauf achten, dass der Urin richtig 
entleert wird, weil durch dieselbe leicht eine Harnverhaltung 
bewirkt werden kann. In vielen Fällen genügt eine solche Tam¬ 
ponade, um sowohl die Blutung zu stillen, als auch genügende 
Wehen zu erregen, welche im Stande sind, das Ei in toto aus- 
zustossen. Man findet dann hinter dem Tampon am nächsten 
Tage oder nach wiederholter Tamponade den ganzen Uterus¬ 
inhalt und den Uterus bereits wieder gut contrahirt, so dass 
man nicht nöthig hat, noch irgend welchen Eingriff vorzunehmen, 


1) Hofbauer: Zur Vervrerthung einer künstlichen Leukoeytose bei 
der Behandlung septischer Puerperalprocesse. Centralblatt für Gynäko¬ 
logie 1896, No. 17. 


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6. April 1897. 


öerLINer klinische Wochenschrift. 


nachdem man sich davon überzeugt hat, dass die Placenta auch 
vollständig war. Tritt indessen nachher noch stärkere Blutung 
auf, so soll man mit dem Finger in den Uterus eingehen, um 
zu constatiren, ob etwas zurückgeblieben ist, und dies eventuell 
digital zu entfernen. 

Nur in den Fällen, in welchen eine dringende lndication 
zur Entleerung des Uterus vorliegt, wende ich, übrigens schon 
seit vielen Jahren, auch bei Vorhandensein der Frucht die feste 
Ausstopfung des ganzen Uterus mit Jodoformgaze an. Hierdurch 
werden ausserordentlich starke Wehen hervorgerufen und in 
vielen Fällen erfolgt die Ausstossung des ganzen Uterusinhaltes 
bis 24 Stunden nach der Tamponade. Dieselbe ist, gleichgültig 
in welchem Monate der Schwangerschaft, nach denselben Grund¬ 
sätzen zu machen, wie oben angegeben ist. Nur ist auch hier 
zu beachten, dass die Tamponade fest gemacht werden muss, 
soll die erwartete Wirkung eintreten. Etwas weiter als ich in 
der Anwendung der Tamponade bei noch vorhandener Frucht 
geht Dührssen. In der Sammlung klinischer Vorträge (1895) 
berichtet er über eine neue Methode der Behandlung 
der unzeitigen Geburten, worin er in allen Fällen beim 
drohenden Abort die Uterustamponade empfiehlt und mit der¬ 
selben ausgezeichnete Resultate gehabt hat. Wenn ich auch, 
wie gesagt, diese Tamponade nur für die dringenderen Fälle 
angewendet wissen möchte, so bleibt es doch das Verdienst von 
Dührssen, als Erster in principieller Weise diese Behandlungs¬ 
methode bei drohendem Abort veröffentlicht zu haben. Auch in 
diesen Fällen rathe ich die Ausräumung der Placenta aus dem 
Uterus, wenn die Ausstossung derselben nach der Tamponade 
nicht spontan erfolgt ist, mit den Fingern vorzunehmen, was mir 
immer gelungen ist. 

Es bleibt schliesslich noch die Besprechung der Blutungen 
übrig,„welche nach vollständigem Abort auftreten. liier kann es 
sich um zweierlei handeln: entweder um eine Blutung, bedingt 
durch eine Endometritis oder bedingt durch die Entstehung einer 
bösartigen Neubildung, des sogenannten Sarcoma chorion-deciduo- 
cellulare, welches von den Chorionzotten, resp. der Decidua aus¬ 
gehend, zu einer Zerstörung der Uteruswand führt und einen 
äusserst bösartigen Charakter hat. Dass bei letzterer Diagnose 
nur die totale Exstirpation in Frage kommt, bedarf keiner 
weiteren Erwähnung. Um aber diese Diagnose zu stellen resp. 
ausschalten zu können, rathe ich in allen Fällen von solchen 
Blutungen die geschlossene Uterushöhle ebenfalls, wie vorher, 
mit Jodoformgaze zu erweitern und erst nach der Austastung 
mit dem Finger und in zweifelhaften Fällen nach mikroskopi¬ 
scher Untersuchung sich zu entscheiden, ob man eine einfache 
Abrasio anschliesst oder einen grösseren Eingriff vornehmen 
muss. Entgegen der Ansicht von Olshausen, welche er auch 
in dem oben erwähnten Vortrage hier ausgesprochen hat, dass 
für eine solche Auskratzung eine stärkere Erweiterung nicht 
nötliig wäre, empfehle ich immer die Dilatation vorauszuschicken 
und so weit zu treiben, dass man die Uterushöhle mit dem 
Finger austasten kann. Abgesehen davon, dass man auf diese 
Weise ein ungleich klareres Bild von der vorliegenden Er¬ 
krankung erhält, ist die darauf folgende Abrasio nun wirklich 
auch für den weniger Geübten ein wesentlich ungefährlicherer 
Eingriff. Denn die Hauptgefahr liegt für den Ungeübten bei der 
Einführung der Curette. Dieselbe wird bei nicht erweitertem 
Muttermunde mit Gewalt durch den inneren Muttermunde durch¬ 
gezwängt. Sobald aber dieser Widerstand überwunden ist, 
dringt das Instrument plötzlich in die weitere Uterushöhle ein 
und so kann es gleich zu Beginn, noch bevor die Auskratzung 
angefangen hat, zu einer Perforation kommen. 

Wenn ich mich also kurz resumire, so will ich durch die 
vorherige Erweiterung des Uterus mit Sicherheit feststellen, was 


30l_ 

noch im Uterus zurückgeblieben ist. Sobald wirkliche Placentar- 
reste oder Fötus und Placenta Vorhanden sind, soll principiell 
auf die Anwendung der Curette verzichtet werden. Die Ent¬ 
leerung des Uterus hat ausschliesslich mit dem Finger zu ge¬ 
schehen. Nur in dem Falle, in welchem die Blutung durch 
Wucherung der Schleimhaut hervorgerufen ist, soll das Curette- 
ment Anwendung finden, aber auch dies erst, nachdem man 
sich von der Beschaffenheit des Uterusinnern durch die digitale 
Austastung überzeugt hat. Man möge sich vor Allem bei der 
Behandlung eines Abortes darüber klar sein, dass man einen 
schweren Eingriff vornimmt und darum alle Cautelen beobachten 
muss, welche man sonst bei grossen Operationen beobachtet. 
Diesen Eindruck in den angehenden Medicinern . zu erwecken, 
ist aber Aufgabe der klinischen Lehrer und darum sollte drin¬ 
gend darauf gehalten werden, dass Aborte nicht ambulatorisch 
in der poliklinischen Sprechstunde behandelt werden. Aber noch 
ein Punkt möge zum Schluss erwähnt werden. Der Student soll 
nicht nur wissen, dass der Eingriff kein ungefährlicher ist, son¬ 
dern er soll auch Gelegenheit haben, diesen Eingriff selbst¬ 
ständig unter Leitung des Lehrers auszufUhren. Denn gerade 
die Behandlung des Abortes ist gewöhnlich das erste, wobei der 
praktische Arzt nachher in der Praxis selbstständig operativ 
eingreifen muss. In Wirklichkeit aber sind die Wenigsten 
während ihrer Studienzeit dazu gekommen, auch nur einmal das 
Innere eines Uterus gefühlt zu haben. Ich spreche speciell von 
den Berliner Verhältnissen. Hier muss meiner Ansicht nach ein 
Wandel im Unterricht geschaffen werden. Es muss dringend 
eine Decentralisation desselben stattfinden. Die zwei grossen 
Universitätskliniken reichen eben zu einer gründlichen Ausbildung 
auf diesem Gebiete nicht aus. Es müssen auch die übrigen 
grossen Krankenhäuser ebenfalls gynäkologisch-geburtshülfliche 
Stationen erhalten, welche in derselben Weise zum Unterricht 
benutzt werden, wie dies schon lange in Paris der Fall ist, und 
womit jetzt bei uns, wenigstens in einem Gebiete, in der patho¬ 
logischen Anatomie, der Anfang gemacht worden ist. 

Nun, m. H., vielleicht fällt diese Anregung auf fruchtbaren 
Boden. Jedenfalls hoffe ich, dass mit meinem heutigen Vortrage 
einige Klärung in der Behandlung des Abortes gebracht ist, 
insbesondere dass Sie zu der Ueberzeugung gekommen sind, 
dass man die Curette hierbei so gut wie ganz entbehren kann. 


VI. Kritiken und Referate. 

Otto Damsch; Ueber die Bewegungsvorg&nge am menschlichen 
Herzen. Untersuchungen im Anschluss an die Beobachtung des 
freiliegenden Herzens in einem Fall von angeborener Sternaispalte. 
Leipzig und Wien. Franz Deuticke, 1897. 65 Seiten, 8 Text- 

Figuren. 

Verfasser hatte Gelegenheit an dem bereits 1875 von Jahn und 
1879 von Penzoldt untersuchten Baumwollspinner Valentin Wunder 
erneute Forschungen anzustellen. Der zur Zeit der Beobachtungen des 
Verfassers 82 Jahre alte, sonst gesunde Mann besitzt eine dreiseitige, 
oben 5 cm breite, 18 cm lange Längsspalte des Sternums, deren Spitze 
in der Höhe des 4. Rippenpaares liegt. Während die durch die sich 
selbstverständlich stark ausprägenden Atembewegungen in dem Spaltraume 
zustandekommenden Erscheinungen leicht verständlich sind, sind die den 
Herzbewegungen entsprechenden schwieriger zu deuten. Man bemerkt 
im mittleren Drittel des Spaltes zunächst eine Reihe undulirender Be¬ 
wegungen, darauf folgt eine energisch einsetzende Erhärtung und 
mässige Hervorwölbung derselben Stelle, wobei deutlich eine Bewegung 
nach links oben wahrnehmbar ist; unmittelbar nach Beginn dieser Er¬ 
scheinung erfolgt im oberen Drittel des Spaltes die nach abwärts und 
links gerichtete Bewegung eines sich convex vorwölbenden Körpers, an¬ 
nähernd von der Gestalt eines Kugelsegmentes; endlich erfolgt noch etwas 
später eine schwache Vorwölbung im unteren Winkel der Spalte, worauf 
sich alsdann diese Erscheinungen in gleicher Reihenfolge wiederholen. 
Der Spitzenstoss ist äusserst schwach an normaler Stelle fühlbar. — 
Während die früheren Untersucher des Falles den pulsirenden Körper 
für die Aorta erklärten, kommt Verfasser zu dem Schlüsse, dass es sich 


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ßfiRLtNKR KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 14. 


302 


dabei um den Conus arteriosus des rechten Ventrikels handele; er stützt 
sich’ dabei auf die Lage der Stelle, wobei auf die grosse Länge der Spalte 
und die auffallende Weite der Zwischenrippenräume Rücksicht zu nehmen 
sei und auf die aufgenommenen Cardiogramme, welche an der fraglichen 
pulsirenden Prominenz im wesentlichen mit den von Ziemssen am 
rechten Ventrikel der Catharina Serafln aufgenommenen Curven Uber¬ 
einstimmen. — Verf. kommt zu dem Schlüsse, dass die zunächst fühlbaren 
undulatorischen Bewegungen der diastolischen Füllung des rechten Ven¬ 
trikels entsprechen, insoweit dieselbe in der Herzpause erfolgt; die Ver¬ 
vollständigung der Kammerffillung durch die Zusammenziehung des Vor- 
hofs bewirkt alsdann das prall werden der Wandung und die gleichzeitige 
Entfaltung des Conus arteriosus, welche letztere durch die Bewegung 
nach links oben gekennzeichnet wird. Hieran Bchliesst sich die Con- 
traction der Kammermuskulatur, als deren Wirkung die Vorwölbung 
und Bewegung des pulsirenden Körpers nach links unten anzusehen ist. 
Das verspätete Auftreten der Bewegung im unteren Winkel der Spalte 
kann damit Zusammenhängen, dass die geringere Breite der Spalte daselbst 
das Herz an seiner freien Bewegung hindert. 

Verfasser bespricht weiterhin die Bewegungen, welche das normale 
Herz in Beiner Systole vollführt. Er weist darauf hin, dass der Spitzen- 
stoss sicherlich nicht von Kräften abhänge, welche erst beim Austritt 
des Blutes durch die arteriellen Ostien wirksam werden, da er während 
der Verschlusszeit, also noch vor Austritt des Blutes erfolgt. Alle bei 
der Systole auftretenden Herzbewegungen können daher nur Folge sein 
von der Zusammenziehung der Herzmuskulatur und des dadurch auf das 
noch im Herzen selbst befindliche Blut ausgeübten Druckes, da ja diese 
Bewegungen sämmtlich mit dem Beginne der Systole, während der Ver¬ 
schlusszeit erfolgen. Die systolischen Bewegungen des freiliegenden 
Herzens kommen daher dadurch zu stände, dass das diastolisch gefüllte 
Herz eine solche Form und Lage anzunehmen strebt, dass es bei zunächst 
gleichbleibendem Inhalte eine möglichst kleine Obei fläche erreicht. Nun 
stellt das diastolisch gefüllte Herz einen Kegel dar, dessen Basis eine 
Ellipse ist, deren grosse Axe im wesentlichen transversal liegt, während 
die Ebene dieser basalen Ellipse gegen die Horizontale von vorn links 

oben nach hinten rechts unten geneigt ist; die Axe des Kegels steht 

schief zur Basis-Ebene, und zwar so dass die Spitze des Kegels nach 
links unten schaut. Die Verkleinerung der Oberfläche des Herzens führt, 
wie Verf. im einzelnen ausfiihrt, dazu, dass der schiefe, elliptische Kegel 
sich in einen geraden Kreis-Kegel umgestaltet, d. h. die sagittale Axe 
wächst, die transversale nimmt ab, und die eigentliche Kegelaxe Btellt 
sich senkrecht zur Kegelbasis; da letztere ebenfalls beweglich ist, so 
kommt es einerseits zu einer Aufrichtung der Kegelaxe, d. h. zu einer 
Bewegung der Herzspitze nach rechts oben, andererseits zu einer Drehung 
der Herzbasis in dem Sinne, dass der vordere Theil des Sulcus coro- 

narius sich senkt. Diese Drehung macht den Eindruck eines Tiefertretens 

der ganzen Kammerbasis und bedingt eine Streckung der grossen Ge¬ 
fässe. Endlich muss berücksichtigt werden, dass die Kammerscheide¬ 
wand spiralig verläuft, die Gestalt einer nach links gewundenen Schranben- 
fläche bat, indem ihr unterer Theil annähernd sagittal, ihr oberer Theil, 
der Anordnung der grossen Gefässe entsprechend, annähernd transversal 
gestellt ist. Bei der systolischen Verkürzung des Septum cordis muss 
diese spiralige Drehung verstreichen, und es muss daher zu einer Rotation 
des ganzen Herzens im Sinne des Uhrzeigers, von links nach rechts, 
kommen. Gleichzeitig kommt es natürlich dadurch zu einer Aufrollung 
der spiralig umeinander gewundenen grossen Arterien; diese Aufrollung 
sowie die schon abgeleitete Streckung der grossen Gefässe ist somit 
Folge, nicht Ursache der Herzbewegung. 

Die Einzelheiten der in dieser Weise theoretisch abzuleitenden Herz¬ 
bewegungen, sowie der Vergleich mit dem wirklich zu beobachtenden 
muss im Original nachgelesen werden. 

Bei geschlossenem Thorax werden die Herzbewegungen durch den 
Widerstand der Brustwandung vielfach aufgebalten und verändert; sie 
vollziehen sich anders bei flachem oder bei tiefem Thorax, wieder anders 
bei irgend welchem Defecte der Brustwand; bei einem solchen wird der 
unter dem Defecte liegende Herzabschnitt sich weit ausgiebiger bewegen, 
als der übrige Theil des Herzens. 

Verf. vergleicht seine Beobachtungen im Falle Wunder, in welchem 
ein Theil der Herzbasis in den Bereich des Spaltes fällt, mit seinen 
Schlussfolgerungen; und zeigt die Uebereinstimmung, bezw. die durch den 
Defect bedingten Aenderungen. 

Erwähnt sei, dass Verf. das bekanntlich von vielen Forschem an¬ 
genommene Vorhandensein einer Verharrungszeit nach Austreibung des 
Blutes mit Recht für physikalisch undenkbar erklärt. 

Ref. möchte noch bemerken, dass ihm die Analyse der systolischen 
Herzbewegungen, wie sie Verf. entwickelt, noch nicht ganz vollständig 
zu sein scheint, indem nichts darüber gesagt wird, ob die beträchtliche 
Verschiedenheit des Druckes, mit welchem sich die beiden Herzhälften 
zusammenziehen, Antheil an den Herzbewegungen, insbesondere an der 
Rotation, hat. Es ist fraglich, ob dieser Druckunterschied ebenso wie die 
Differenz in der Stärke der Wandung irgend Einfluss hat, es bedarf doch 
aber wohl der Untersuchung, ob ein solcher Einfluss besteht oder nicht. 
Endlich dürften gerade solche Fälle, wie sie vom Verf. beobachtet werden 
konnten, mittelst der Untersuchung mit dem Röntgen’schen Verfahren 
— Verf. hat seine Beobachtung vor dessen Entdeckung gemacht — zu 
sehr bemerkenswerthen Aufschlüssen führen. 

Benno Lewy (Berlin). 


H. Ziemann: Ceber Blutparasiten bei heimischer und tropischer 
Malaria. Centralbl. f. Bacteriol. u. Parasitenk. 1896. No. 18/19. 

Die vorliegende Arbeit stellt einen der wichtigsten Beiträge zur 
Parasitologie der Malariakrankheiten aus der letzten Zeit dar. Ziemann 
hatte sowohl in Kamerun, wie hier im Marinelazareth zu Lehe reich¬ 
liche Gelegenheit, an Europäern und Schwarzen Blutuntersuchungen von 
Malariaerkrankungen vorzunehmen und seine, äusserst subtil gefärbten 
Präparate, welche der Verfasser auf der vorjährigen Naturforscher- 
Versammlung in Frankfurt a. M. demonstrlrte, gehören nach des Refe¬ 
renten Ueberzeugung zu dem Besten, was auf diesem Gebiete geleistet 
worden ist Vorzüglich hat die Anwendung eines neutralen Farbstoff- 
gemisches von Eosin und Methylenblau in ganz ausgezeichneter Weise 
die Structur des Kernes der Malaria-Parasiten und Theilungsflgnren des¬ 
selben hervortreten lassen, von deren Klarheit sich Referent durch 
Augenschein selbst überzeugt hat. 

Ziemann kommt auf Grund dieser Untersuchungen zu dem Er¬ 
gebnis, dass die Zelltheilung der heimischen sogenannten 
Tertianparasiteu eine karyokinetische ist. Das Dasein der die 
8porulation erreichenden heimischen Tertianparasiten ist an die rothen 
Blutzellen gebunden. Freie pigmentirte Formen mit Kern und Kern¬ 
körper sind selten und verdanken ihr extraglobuläres Dasein voraus¬ 
sichtlich entweder einer Auswanderung aus den rothen Blutsellen oder 
mechanischen Insulten, zur Sporulation scheinen sie nicht zu kommen. 

Mit Recht macht der Verfasser darauf aufmerksam, dass man die 
Entwickelung der Parasiten keineswegs in bo schematicher Weise er¬ 
warten darf, wie man es nach den Schilderungen mancher, besonders 
italienischer Forscher glauben könnte. Auf die vielen Details, welche 
der Verfasser über die Entwickelung der verschiedenen Parasitenarten 
giebt, kann hier nicht näher eingegangen werden, dieselben müssen dem 
Bpecialstudium empfohlen werden. Interessant Bind die praktischen 
Beobachtungen über die prophylactische Wirkung des Chinins in Fieber¬ 
gegenden, sowie die Bedeutung, welche nach des Verfassers Ansicht 
systematische Blutuntersuchungen in solchen Gegenden besitzen. Er- 
wähnenswerth sind ferner die Angaben über die Wirksamkeit intra¬ 
muskulärer Injectionen von Chinin, bimuratic. 0,5—2,0 gr, welche der 
Verfasser als sehr empfehlenswerth rühmt. 

E. Grawitz. 


H. Büchner: Die Bedeutung der actiren löslichen Zellproducte 
für den Chemismus der Zelle. (Münchener Medicin. Wochen¬ 
schrift No. 12.) 

H. Buchner's Bruder, E. Büchner, ist es gelungen, durch 
mechanische Zerreibung und nachheriges Auspressen bei einem Druck 
von 4—500 Atmosphären aus niederen Pilzen, insbesondere Hefezellen, 
unveränderten Zellsaft zu gewinnen. 

An diesem aus Hefezellen gewonnenen, von lebenden Zellen 
ganz freien Presssaft hat E. Büchner durch exacte Versuche ge¬ 
zeigt, dass er im Stande ist alkoholische Gährung zu bewirken d. h. 
also gährungsfähigen Zucker in Alkohol und Kohlensäure zu spalten. 
Es ist dies eine Thatsache von hoher physiologischer Bedeutung, denn 
nach ihr kann die von Helmholtz, Pasteur und Naegeli vertretene 
Ansicht, dass die lebende Hefezelle selbst als Erreger der Gähr- 
wirkung anzusehen sei, nicht mehr zu Recht bestehen, vielmehr muss 
die Gährwirkung ausgehen von einer im plasmatischen Zellsaft gelösten 
Substanz. Diese Substanz, als Zymose bezeichnet, deren Erzeugung 
ja zweifellos auf das structurirte Protoplasma zurückzuführen ist, ist 
einmal gebildet, von letzterem unabhängig in der Wirkung. Der 
Gährungsvorgang wird nun durch die Zymose bewirkt entweder aus¬ 
schliesslich innerhalb der Zellmembran, was in Anbetracht der dann er¬ 
forderlichen raschen Diffusion von Zucker, Alkohol und Kohlensäure nicht 
unmöglich, aber wenig wahrscheinlich ist oder die Zymose wird, was für 
wahrscheinlicher gehalten werden muss, von den lebenden Hefezellen 
ausgeschieden und der Gährungsvorgang erfolgt dann unmittelbar aussen 
an der Peripherie der Hefezelle. In Einklang hiermit stehen einige 
Analogien auf dem Gebiet der pathogenen Bacterien. Schon im Jahre 
1893 hatte H. Büchner festgestellt, dass das Toxalbumin des Tetanus¬ 
bacillus nicht ein Gährproduct sei, das ausserhalb der Bacterienzelle 
gebildet werde, sondern dass es seinen Ursprung nur h<tben könne im 
Zellinhalt der Tetanusbacillen selbst; und auch für das Diphtheriegift 
hat Kossel in neuester Zeit den Beweis gebracht, dass auch dieses ur¬ 
sprünglich in den Bacillen enthalten und als ein Ausscheidungsproduct 
der letzteren zu betrachten ist. H. 


VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. 

Berliner medlclnlsche Gesellschaft. 

Sitzung vom 10. März 1897. 

Vorsitzender: Herr Virchow. 

Schriftführer: Herr Hahn. 

Das Protokoll wird verlesen. 

Hr. H. Lewandowski (zum Protokoll): Herr Mackenrodt hat 
in seinem letzten Vortrag augenscheinlich über einen Fall aus meiner 
Praxis berichtet. Er hat von einer Frau, bei der er die Exstirpation 
des Uterus gemacht hat mitgcthcilt, dass sie während der Schwangerschaft 


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5. April 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


303 


Blutungen gehabt hat. Ich will nur constatiren, dass in dem gedruckten 
Bericht diese Mittheilung nicht mehr steht. Es ist für mich nicht un¬ 
erheblich, das hier festzustellen. 

Vorsitzender: Sonst ist kein Einwand erhoben worden; ich erkläre 
das Protokoll für genehmigt. 

Vorsitzender: Wir haben heute mehrere Gäste aus dem Aus¬ 
lande unter uns: Herren DDr. 8traschnow, Fellner (Franzensbad), 
Alexander Witort (Kowno), Kogan (Petersburg), Kuthe von hier, 
Langerhans (Leipzig). Ich heisse Bämmtliche Herren freundlich will¬ 
kommen. 

Die Aufnahmecommission hat in ihrer letzten Sitzung die Herren 
DDr. Alexander, Heymann, Mühsam, Pick, Weber, Wolf und 
Zielcke als Mitglieder aufgenommen. 

Der Vorsitzende bespricht die neuesten Meldungen über den inter¬ 
nationalen medicinischen Congress in Moskau. 

Ich habe heute zu berichten über den, wie ich hoffe, endgiltigen 
Abschluss der Verhandlungen wegen unserer Theilnahme am Moskauer 
Congress, die sich so lange hingezogen haben. Ich will Sie nicht mit 
den Einzelheiten behelligen, sondern nur erklären, dass die Störungen, 
welche wir erlebt haben, hauptsächlich darin beruhten, dass die russi¬ 
schen Consulate nicht vollkommen in Kenntniss gesetzt waren von den 
Entschliessungen, welche in Petersburg gefasst waren, und dass in Folge 
dessen die ersteren daran festhielten, dass andersgläubige Collegen nur 
14 Tage vor, bis 14 Tage nach dem Congress in Russland verbleiben 
dürften. Ich habe dagegen sofort protestirt und die Gründe auBeinander- 
gesetzt, welche nicht bloss in Bezug auf unsere Auffassung, sondern 
noch mehr in Bezug auf die Gesammtstellung des Congresses in Betracht 
kämen. Ich bin jetzt in der glücklichen Lage mittheilen zu können, 
dass alle Anstände beseitigt sind. 

Eb ist uns von dem Moskauer Comite unter dem 27. Februar die 
Mittheilung zugegangen, dass es im Besitze des officiellen Circulare sei, 
welches von dem Director des Departements für die inneren Angelegen¬ 
heiten im Auswärtigen Amte in Petersburg erlassen worden Ist, laut 
welchem die Reise aller Congressmitglieder und deren Angehörigen ohne 
jegliche Beschränkung hinsichtlich ihrer Religion und ohne Zeitbeschrän¬ 
kung für ihren Aufenthalt in Russland gestattet wird. Sie werden 
hoffentlich mit mir einverstanden sein, dass damit alle billigen An¬ 
sprüche, die wir erbeben konnten, ihre Erledigung gefunden haben. Ich 
freue mich, constatiren zu können, dass das Moskauer Comite in allen 
Stadien immer bereit gewesen ist, unsere Stellung mit zu vertheidigen. 

Zusätzlich habe ich hinzuznfügen, dass in Folge einer von hier nach 
Moskau gerichteten Anfrage, ob Damen einen Beitrag zum Congress 
zahlen müssen, roitgetheilt ist, dass Damen und Familienangehörige von 
jeder Zahlung frei sind. 

Wir haben daher in unserem hiesigen Comite beschlossen, nunmehr 
den definitiven Aufruf au die deutschen Collegen ergehen zu lassen und 
sie zu ersuchen, möglichst bald ihre Entschlüsse in Bezug auf die Reise 
zu fassen. Es hat sich dabei herausgestellt, dass, wenn wir unsere 
früher ertbeilte Zusage erfüllen sollen, auch als Vermittler für die Geld¬ 
beiträge zu dienen, wir eine gewisse Einschränkung einführen müssen: 
wir haben unseren Herrn Schatzmeister das Zugeständnis gemacht, dass 
er nur bis zum 20. Juli verpflichtet sein soll, diese Vermittelung zu 
besorgen. Ich möchte also alle deutschen Collegen bitten, dass sie vor 
diesem Termin ihre Entschlüsse mittheilen. Sie würden dann von hier 
aus zunächst Interimskarten bekommen, welche von dem Moskauer 
Comitä ausgestellt sind, aber erst an Ort und Stelle gegen die eigent¬ 
lichen Karten umgetauscht werden. Die Zahlung an unseren Schatz¬ 
meister Herrn San.-Rath Dr. M. Bartels muss jedoch vorausgehen. 

Ich hoffe, dass Sie damit alles Wesentliche, was in den uns zuge¬ 
gangenen Schriftstücken enthalten ist, erfahren haben. 

Wir haben dann nur noch den Wunsch, den ich hier öffentlich 
mittheilen kann, dass nun auch für Berlin ein specielles Comite gebildet 
wird; ich denke, die hiesigen ärztlichen Vereine werden in der Lage 
sein, ein solches herzustellen. — 

Vor der Tagesordnung ist noch gemeldet Herr Bruck. 

Hr. A. Bruck: Die Patientin, für welche ich Ihre Aufmerksamkeit 
wenige Minuten erbitte, ein 20jähriges Mädchen, stelle ich Ihnen vor, 
nicht etwa, weil sie als Specimen einer seltenen Krankheitsform gelten 
könnte, sondern weil sie eine eigenthümliche, vielleicht gar nicht einmal 
seltene Krankbeitserecheinung in excessivem Grade zeigt, und weil sie 
für manchen von Ihnen ein gewisses differential-diagnostisches Interesse 
bieten dürfte. 

Als ich sie vor wenigen Tagen zum ersten Male sah, gab sie an, 
seit etwa 2—8 Monaten von einem geradezu unerträglichen, ebenso 
lästigen wie störenden lauten Knacken im linken Ohre behelligt zu sein, 
und zwar beim Kauen, wie bei jedem Versuch, den Mund zu öffnen. 
Beim Sprechen, fügte sie hinzu, höre sie dasselbe nicht, wohl aber fühle 
sie es. Ausserdem klagte sie über allerlei abnorme Sensationen im 
linken Ohre, lästiges Jucken, ein Gefühl von Spannung und gelegent¬ 
liche schmerzhafte Stiche. A priori hätte man an eine Ohrenaffection 
denken können — nnd in diesem Sinne äusserte sich der erste sie be¬ 
handelnde Arzt — allein die Untersuchung ergab nichts davon. Bei 
der Besichtigung des äusseren Gehörgangs fand sich derselbe zum grossen 
Tbeil mit halb flüssigem, halb geronnenem Blute angefüllt, wie sich 
bald berausstellte, eine Folge der gerade bei Frauen leider so ver¬ 
breiteten Unsitte, mit einer Haarnadel im Gehörgang herumzubohren. 
Das Gehörvermögen erwies sich als intact, subjective Geräusche fehlten, 


und der Trommelbefund ergab nichts Besonderes. Bei genauerer Nach¬ 
forschung stellte sich dann heraus, dass das Knacken nicht im, sondern 
vor dem linken Ohre, in der Gegend des linken Kiefergelenks verspürt 
wurde. Deratige ungenaue oder falsche Localisirungen seitens der Pa¬ 
tienten bieten ja nichts Ungewöhnliches; während meiner Thätigkeit 
in der Baginsky’schen Poliklinik habe ich selbst eine Reihe von ein¬ 
seitigen Kiefergelenks-Neurosen beobachtet und auch publicirt, die ganz 
unter dem Bilde einer Ohrenerkrankung verliefen. 

Im vorliegenden Falle ergab nun die Anamnese, dass die Patientin 
zur Beseitigung der lästigen Empfindungen im Ohr den Mund häufig 
krampfhaft weit öffnete. Bei einem solchen forcirten Versuch spürte 
sie plötzlich einen heftigen stechenden Schmerz in der Gegend des linken 
Ohres, dazu einen lauten Knall, und war alsbald einige Augenblicke 
ausser Stande, den Mund zu schliessen. Erst nach mehrfachen krampf¬ 
haften Versuchen gelang es ihr, die Kiefersperre zu überwinden. Seit¬ 
dem hütete sie sich vor ähnlichen gefährlichen Exercitien, spürte aber 
seitdem jenes Knacken. Dasselbe war so laut, dass es auch von ihrer 
Umgebung gehört wurde, was sie vielfach zum Gegenstand des Spottes 
machte und sie veranlasste, die Speisen unvollkommen gekaut herunter¬ 
zuschlucken. Eine Folge davon sind die seit einigen Wochen bestehen¬ 
den Verdauungsstörungen, Magendruck und Obstipation. Sie selbst hat 
beim Essen das Gefühl, als ob sie Knochen „knabbere.“ 

Gegenwärtig ist Patientin — wie 8ie sehen — im Stande, den 
Mund ungehindert zu öffnen nnd zu schliessen; doch hütet sie sich aus 
begreiflicher Besorgniss vor excessiven Excureionen. Das Knacken ist 
bei hinreichender Stille deutlich wahrnehmbar; die Herren in der Nähe 
und auf den ersten Bänken werden es deutlich hören. Ich selbst habe 
es zeitweilig auf 10 und mehr Meter weit gehört. Uebt man mit der 
Fingerkuppe einen mässig starken Druck auf das Kiefergelenk in der 
Richtung nach oben und medianwärts aus, so verschwindet es. Es 
zeigt das vielleicht den Weg an, wie man, von einem Eingriff abge¬ 
sehen, dem Uebel beikommen kann — etwa durch Construction einer 
um den Kopf greifenden federnden Pelotte, welche die Patientin — so¬ 
weit sie den Mund nicht zum Kauen braucht — ständig tragen müsste. 

Wenn ich noch mit einigen Worten die Pathogenese des Processes 
streifen darf, so handelt es sich, nach der Anamnese und dem Befund, 
um einen Vorgang pathologischer Natur, wie er unter physiologischen 
oder nahezu physiologischen Verhältnissen auch an anderen Gelenken 
sich findet. Vielleicht hat schon der eine oder der andere von Ihnen 
ein crepitirendes Geräusch beim Beugen und Strecken des Knies wahr¬ 
genommen; ob es jemals so deutlich — auch für die Umgebung — wahr¬ 
nehmbar war, weiss ich allerdings nicht. Am nächsten dürfte der hier 
zu Grunde liegende Process wohl dem neuerdingB am Kniegelenk als 
Derangement interne beschriebenen Krankheitsbilde stehen, bei dem es 
sich — wie die Operation ergeben hat — um eine Zerreissung oder Ab- 
reissung des intraarticulären Semilnnarknorpels, des Meniscus, handelte 
— Fälle, wie sie mehrfach z. B. von Prof. Israel im Jahre 1894, be¬ 
schrieben worden sind. Wenn ich von der Verschwommenheit der 
klinischen Bezeichnung absehe, würde ich annehmen, dass es sich hier 
um eine Art Derangement interne des linken Kiefergelenks handelt, 
bei welchem durch Abreissung der intraarticulären knorpligen Band¬ 
scheibe eine direkte Verschiebung der gegenüberliegenden Knochentheile, 
des Tuberculum articulare und des Unterkieferfortsatzes, gegen einander 
stattflndet, die dann jenes laute knackende Geräusch verursacht. 

Tagesordnung. 

1. Hr. J. Hirschberg: Ueber Entfernung von Kupfersplittern 
aus dem Augengrunde. Mit Krankenvorstellung. (Wird unter den 
Originalien dieser Wochenschrift erscheinen.) 

Discussion. 

Hr. Schweigger: Bereits im Jahre 1863 (Archiv f. Opbtalmologic, 
Bd. IX) hat v. Gräfe eine Abhandlung veröffentlicht über Extraction 
von Fremdkörpern aus dem Glaskörper. Er kommt dabei auch auf die 
Kupfersplitter zu sprechen und erwähnt, dass sie durch ihre chemische 
Wirkung gefährlich werden. Auch das führt v. Gräfe bereits an, dass 
unter solchen Umständen manchmal der eingedrungene Fremdkörper sich 
an einer cigenthümlichen klumpigen Glaskörpertrübung erkennen lässt. 
Er machte zur Extraction einen Schnitt mit dem 8taarmesser etwas vor 
dem Aequator des Auges und suchte dann den Fremdkörper zu fassen. 
Auch darauf hat v. Gräfe schon aufmerksam gemacht, dass Fremdkörper 
dieser Art, die dicht hinter der Linse sitzen, am besten entfernt werden 
durch die Extraction der Linse mit Irideetomie, um auf diese Weise den 
Weg zu dem Fremdkörper zu bahnen. Im Allgemeinen ist es ja natür¬ 
lich immer, wünschenswerth, Fremdkörper zu entfernen, wenn sie zu 
fassen sind. Aber es ist doch zu bemerken, dass die Verletzungen 
schwerer Natur sind. Ich habe Fälle gesehen, wo Eisenspitter extrahirt 
wurden, und im Laufe der Zeit trat dann doch Erblindung ein. 

2. Hr. A. Fraenkel: Ueber einige Ausgänge nnd Complicationen 
der Influenza. (Schluss.) (Wird unter den Originalien dieser Wochen¬ 
schrift erscheinen.) 

3. Hr. L. Casper: Experimentelle Untersuchungen Uber die 
Prostala, mit Rücksicht auf die modernen Behandlungsmethoden 
der Prosl ata-Hypertrophie. (Wird unter den Originalien dieser 
Wochenschrift erscheinen.) 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. No. 14. 


Hufeland’sche Gesellschaft. 

Sitzung vom 17. December 1896. 

Vorsitzender: Herr Liebreich. 

Schriftführer: Herr Patschkowski. 

1. Hr. Saalfeld: S) politischer Primäraffeet am Finger. 

Gestatten Sie mir, in aller Kürze einen 36 Jahre alten Patienten 

vorzustellen, der einen Primäraffeet an einer etwas ungewöhnlichen 
Stelle, nämlich am Finger, acquirirt hat und zwar, wie er meint, von 
einem an Syphilis leidenden Hausgenossen. Vor ungefähr 8 Wochen 
wurde die Infection am Finger vom Patienten bemerkt, er ging erst vor 
zwei ein halb Wochen zu einem Arzte, der ihn mit Argentumsalbe be¬ 
handelte ; er kam vor vier Tagen zu mir, als ein Exanthem auftrat. Die 
l’rimäraffecte an den Händen sind selten und treten meist nur bei Aerzten 
und Hebammen auf; dies geht unter anderem aus der grossen Zusammen¬ 
stellung von Bulkley hervor. 

Es ist bei Primäraffecten an den Fingern meist der Fall, dass die 
consensuellen Bubonen in der Achselhöhle sind und nicht in der Cubital- 
gegend. Ich glaubte nun, dass ich hier eine Ausnahme vor mir hätte, 
weil ein colossaler Bubo in der linken Armbeuge besteht; meine An¬ 
nahme war aber nicht richtig, da auch in der rechten Ellenbeuge eine 
sehr stark geschwollene Drüse und ausserdem auch in der linken Achsel¬ 
höhle eine solche besteht. Gewöhnlich sitzen die Primäraffecte am 
Finger, mehr am Nagel, hier dagegen sitzt er auf der Dorsalseite der 
Mittelphalanx. Das Geschwür ist nicht gerade sehr hart; Patient zeigt 
ausserdem noch andere Zeichen der secundären Lues, speciell ein sehr 
ausgeprägtes maculöses Exanthem. 

Ich möchte bei dieser Gelegenheit noch auf die Ansteckungsgefahr 
hinweisen, der die Haus- und Arbeitsgenossen ausgosetzt waren in der 
Zeit, wo Patient über den Charakter der Erkrankung noch nicht orientirt 
war. Ich erwähne noch, dass ich gegenwärtig ein Kind von vier Jahren 
behandele, das einen Primäraffeet an der Lippe hat. Der Vater hat die 
Syphilis auf seine Frau übertragen, letztere kam mit frischer Syphilis 
zu mir und stellte mir das Kind mit dem Primäraffeet an der Lippe 
und Roseola vor. Der Vater ist nicht zu bewegen, Bich behandeln zu 
lassen und wird nun wahrscheinlich alle übrigen fünf Kinder auch in- 
fleiren. 

Hr. W'anjura: Ich wollte nur kurz bemerken, ich habe selber eine 
solche Primäraffection gehabt; es erfolgte eine Anschwellung der Cubital- 
drüsen, nicht der Achseldrüsen. 

Hr. Cohn: Auch ich hatte mir an der linken Hand einen harten 
Schanker in Folge einer Abschürfung am linken Mittelfinger bei einer 
Entbindung zugezogen; am dritten Tage danach bekam ich eine kleine 
Wunde; nach drei Wochen stellte sich Schanker heraus. Ich fuhr in 
meiner Angst zu Bärensprung nach Berlin, der behandelte mich damals 
noch mit Zittmann’schem Decoct und einer Schmiercur. Ich heirathetc 
nach vier Jahren nnd bekam gesunde Kinder und Enkel. 

2. Hr. A. Gottstein: Experimente mit Glntol. 

Das von Schleich in die Wundbehandlung eingeführte Glu toi ist 
gepulverte Formalingelatine. Diese von Hauser entdeckte chemische 
Verbindung von Gelatine und Formaldehyd, in getrocknetem Zustande 
hornartig, ist in warmem Wasser, Alkalien und Säuren unlöslich. 
Schleich fand, dass die Körperzellen, namentlich die Eiterzellen, diesen 
Körper unter Abspaltung von Formaldehyd auflösten, und wandte ihn 
daraufhin zur Wundbehandlung mit bestem Erfolg, namentlich bei pro¬ 
gredienten Eiterungen, an; er stellte die Theorie auf, dass die Körper¬ 
zellen aus dem an sich indifferenten Glutol continuirlich in mikroskopi¬ 
schen Mengen das antiseptische Formaldehyd abspalteten. Wir fanden 
weiter, dass auch Fermente, wie Pepsin, das Glutol auflösten. 

Nun hat Claassen jüngst behauptet, dass Glutol überhaupt keine 
chemische Verbindung, sondern eine Gerinnungsmodification der Gelatine 
sei, welcher wechselnde Mengen Paraform mechanisch anhafteten. Diese 
Behauptung ist falsch, wie wir mit der fuchsinschwefligen Säure als 
Reagens auf Formaldehyd nachweisen konnten. Wenn man Fuchsin 
in einer wässerigen Lösung von schwefliger Säure löst, so erhält man 
eine gelbe Flüssigkeit, die sich bei Zusatz geringer Mengen freien 
Formaldehyds roth bis violett färbt. Wir benutzten eine von 
Professor Merlin g durch sein besonderes Verfahren von jeder 
Spur frei anhaftenden Paraforms sicher befreites Glutolpräparat. 
Dasselbe giebt, in Wasser aufgeschwemmt, ebenso in Alkalien oder 
Säuren, bei Behandlung mit dem Reagens, selbst nach Tagen, keine 
Spur von Rothfärbung. Wenn man dieses Glutol aber durch Pepsin¬ 
salzsäure zur Lösung bringt, so tritt in dieser sofort bei Zusatz des 
Reagens die Rothfärbung ein; weder Pepsin, noch reine Gelatine geben 
diese Reaction. Glutol ist also eine feste Verbindung von Gelatine und 
Formaldehyd, welche weder durch 8äuren noch durch Alkalien, wohl 
aber durch Pepsin gelöst wird und dann Formaldehyd abspaltet. 

Mischt man nun Glutol mit Eiterkörperchen und fiiltrirt die Flüssig¬ 
keit, so tritt im Filtrat ebenfalls die genannte Formaldebydreaction ein. 
Dadurch ist die Schleich’sche Theorie bewiesen, dass das Glutol von 
den Körperzellen unter Abspaltung des antiseptischen Formaldehyds zer¬ 
legt wird. Glutol unterscheidet sich dadurch principiell von den bis¬ 
herigen Antiscpticis, welche entweder als solche schon in grösseren 
Mengen mit der Wunde in Contact gebracht werden oder durch die 
Wundsecrete in grösseren Mengen abgespalten werden. 

Nun hat Claassen sich diese Schleich’sche Theorie angeeignet 
nnd durch Verbindung von Amylen mit Formaldehyd in dem Amyloform 


eine Substanz hergestellt, welcher er die gleichen Eigenschaften zuroisst. 
Nun sagt Claassen selbst, dass dieses Amyloform schon durch Säuren 
und Alkalien gespalten werde. Und tbatsächlich tritt, wenn man 
Amyloform mit fuchsin-schwefliger Säure behandelt, sofort eine intensive 
Rothfärbung ein, während Glutol diese Reaction nicht giebt. Amyloform 
unterscheidet sich also in nichts von der bisher bekannten Antisepticis, 
welche, an sich indifferent, schon durch das alkalische Wundsecret den 
wirksamen Bestandteil in grösseren Mengen abgeben. 

S. Hr. Casper: Aufgaben und Erfo ge bei der Rehandlnng der 
chronischen Gonorrhoe. (Der Vortrag erscheint unter den Originalien 
dieser Wochenschrift.) 

Hr. Mendelsohn theilt einige von ihm beobachtete Fälle, von 
Herzaffectionen bei Gonorrhoe mit, die sämmtlich gut ansgingen, obwohl 
bei einzelnen die klinischen Erscheinungen schwere und anscheinend 
gefahrdrohende waren. Allerdings war die Herzaffection stets sorgsam 
und ausreichend lange behandelt worden. 

Hr. Kutner spricht über nicht-gonorrhoische Urethritis. 

Hr. Bruck (Nauheim) erwähnt im Anschluss an die Mittheilungen 
von Herrn Mendelsohn Fälle von Herzerkrankungen bei und nach 
Gonorrhoe. 


Physikalisch medlcinlsche Gesellschaft za Wflrzbarg. 

Sitzung vom 11. März 1897. 

Hr. Lehmann: 1. Uebereine neue Modification der Zucker¬ 
bestimmung für die Praxis. 

Es handelte sich um eine Modiflcation der quantitativen Zucker¬ 
bestimmung nach All ihn, die, mit Vermeidung der Wägung des durch den 
Zucker ausgefällten Kupferoxyduls, das nicht ausgefä lte Kupfer durch 
Titrirung bestimmt. Statt nach A. durch ein Asbestfilter flltrirt Lehmann 
durch ein schwedisches Doppelfllter, wäscht das Filter mit gekochtem 
Wasser bis auf 250cbcm Flüssigkeit aus, säuert an. fügt Jodkali hinzu 
und bestimmt das freiwerdende Jod nach der üblichen Methode mit 
Natriumhyposulflt. Die Methode ist sehr genau und hat vor dcrAllihn- 
schcn den Vortheil dass sie für die Ausführung nur kurze Zeit (20 bis 
25 Minuten) erfordert. 

2. Untersuchungen über die Zähigkeit unsrer Nahrungs¬ 
mittel und ihre Ursachen. 

Lehmann bediente sich zu seinen Untersuchungen, eines von ihm 
konstruirten Apparates, der im wesentlichen aus einer Zange besteht, 
deren Schneiden angeschärft senkrecht gegen einander wirken und bei 
einer Belastung mit einem bestimmten Gewichte befähigt sind, zwischen 
sich gebrachte Gegenstände von bestimmter Dicke zu durchschneiden. 
Das in jedem Falle erforderliche Bclastungsgewicht konnte, wenn nun 
die durchschnitteneu Gegenstände inhaltsgleiche Schnittflächen hatten, 
als Gradmesser für die Zähigkeit derselben angesehen werden. Zur 
Untersuchung wurde zunächst Muskeltleisch von verschiedenen Körper¬ 
stellen desselben Thieres verwandt, speciell der Muscul. ileo-psoas 

— das Filet — und ein unter der Flankenhaut gelegener, besonders 
zäher HantmuBkel, cutaneus roaximus. Setzt man die Zähigkeit des Filets 

— die bei 5 verschiedenen Rindern nur in ganz geringen Grenzen 
schwankend gefunden wurde — gleich 1 — so erwies sich der oben 
bezeichnete Hautmuskel constant als 2,0 mal so zäh, beim Kalb verhalten 
sich die bezüglichen Zahlen wie 1:4,2; besonders auffällig war nun das 
Verhältniss der gekochten Muskeln. Während Filet seine Zähigkeit so 
gut wie gar nicht nach mehrstündigem Kochen änderte, sank die ur¬ 
sprüngliche 2,6 mal grössere Zähigkeit des Hautmuskels bis fast auf die¬ 
jenige des Filets herab. Als Ursache dieses merkwürdigen Verhaltens 
wurde der verschiedene Bindegewcbsgehalt beider Muskeln erkannt, ein 
Verhalten, das auch mikroskopisch nachgewiesen wurde. Beiin Kochen 
wird das Bindegewebe in der Durchschneidung im keinen Widerstand 
entgegensetzenden Leim übergefiihrt. Es musste deshalb der bindegewebs- 
reichere Hautmuskel in weit höherem Maasse durch Kochen an Zähigkeit 
verlieren als das Filet. 

Die Leimanalyse der beiden Muskeln ergab, dass der Leimgehalt 
nnd folglich auch der Bindegeweb^gehalt des Filets und Hautmuskels im 
Verhätniss ihrer Zähigkeit stehen. Als weiterer Beweis hierfür wurde 
festgestelt, dass die lediglich aus Bindesubstanz bestehende Sehne ihre 
Zähigkeit durch Kochen fast vollständig verliert. An andern Schlacbt- 
thieren und Organen angestellte Versuche ergeben ähnliche Resultate. 
Bei dem wegen seiner Zartheit als Reconvalescentenspeise beliebten 
Kalbshirn sowie der Thymusdrüse, wurden Werthe ermittelt, die */ 40 der 
Filetzahlen betragen. Kahn. 


Wissenschaftlicher Yerein der Aerztc zu Stettin. 

Sitzung vom 2. März 1897. 

Vorsitzender: Herr Schleich. 

Schriftlührer: Herr Freund. 

1. Hr. Strauch: Ueber schwedische Heilgymnastik und 
Massage. 

Nach einigen einleitenden Bemerkungen über die geschichtliche Ent¬ 
wickelung der schwedischen Heilgymnastik und Massage giebt der Vor¬ 
tragende zunächst eine Schilderung des von P. H. Ling gegründeten 


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5. April 1807._BERLINER KLINIS CHE WOCHENSCHRIFT. 


Königl. gymnastischen Central-Institutes zu Stockholm. Daselbst werden 
in dreijährigen Cursen männliche und weibliche Eleven von Aerzten und 
geprüften Gymnastiklehrern (Laien) in der pädagogischen und Heil¬ 
gymnastik ausgebildet. Die Zulassung erfolgt auf Grund des Keifezeug¬ 
nisses eines schwedischen Gymnasiums, jedoch nur in sehr beschränkter 
Anzahl — männliche jedes Jahr 12, weibliche Eleven alle zwei Jahre 
je 20. — Die Curse umfassen zugleich ein ausreichendes Studium der 
Anatomie und Physiologie des Menschen, mit praktischen Uebungen an 
der Leiche. Was die Technik der schwedischen Heilgymnastik anlangt, 
so zerfällt diese in „Stellungen“ und „Bewegungen“, und zwar „active“, 
„passive“ und Widerstandsbewegungen, und endlich die von Metzger 
in genialer Weise vervollkommnete Massage mit ihren hinlänglich be¬ 
kannten Handgriffen. — Weiter geht Strauch auf die hauptsächlichsten 
Indicationen (Ur die Anwendung der schwedischen Heilgymnastik ein mit 
Weglassung der spcciell fiir den Chirurgen in Betracht kommenden bei 
mechanischen Functionsstörungen. Es sind da besonders zu erwähnen 
die Behandlung von Herzfehlern und Circulationsstörungen, namentlich 
im Pfortadergebiet, chronische Obstipation, chronischer Rheumatismus 
and Neuralgien, von welchen namentlich die Ischias ein dankbares Feld 
für die Anwendung der Massage ist. Was die Thure-Brand'sche 
Massage der weiblichen Geschlechtsorgane anlangt, so ist man in 
Schweden selbst von ihr ziemlich zurückgekommen und beschränkt sich 
ihre Anwtndung fast lediglich auf die Behandlung von perimetrischen 
Exsudaten. Mit der Bitte, das hervorragende therapeutische Hülfsmittel, 
welches wir in der schwedischen Heilgymnastik besitzen, nicht weiter 
ungebildeten Laien zu überlassen und damit auf Kosten uaseres Standes 
Curpfuscherei und die sogenannte Naturhcilmethode gross zu ziehen, 
achliesst der Vortragende. 

2. Hr. Neisser: Ueber Meningitis BeroBa. 

Unter diesem Namen lehrte Quincke eine Gruppe von Erkran¬ 
kungen kennen, deren Symptome eine eitrige oder tuberculöse Meningitis 
vermuthen lassen, während ihre chronische Form alle Erscheinungen 
eines Hirntumors vorzutäuschen pflegt. Auch ist es unzweifelhaft, dass 
sich unter den „geheilten“ Fällen acuter Meningitis, meniugealer Rei¬ 
zung etc. solche seröse Meningitiden verbergen können; ebenso Bieber 
gilt dies von manchem „geheilten“ Hirntumor, besonders von jenen, die 
mit rascher Einbusse des Sehvermögens stationär geworden oder „ge¬ 
heilt“ sind. Eine einigermaassen sichere Diagnose dieser Affectionen ist 
wohl erst seit Einführung der Lumbalpunction möglich. Während wir 
bei der Autopsie nur eine Vermehrung der Cerebrospinalflüssigkeit Anden, 
zeigt uns die Lumbalpunction den oft gesteigerten Druck, sowie Ver¬ 
änderungen der Flüssigkeit selbst an, die bei dem hier vorgestellten 
Falle besonders lehrreich sind. 

Derselbe gehört nach der Quincke'sehen Eintheilung zu den chro¬ 
nischen Fällen mit acuter Exacerbation. Von der 28jährigen Patientin 
ist anamnestisch nur zu erwähnen, dass sie 1889 Lues erworben hat, 
die sachgemäss behandelt wurde und niemals wieder Symptome machte. 
1891 erkrankte sie ziemlich plötzlich mit heftigen Kopfschmerzen und 
Erbrechen; auch Krämpfe und Unbesinnlichkeit sollen bestanden haben; 
indessen wurde sie anscheinend wieder gesund, um im nächsten Jahre 
in gleicher Weise und heftiger zu erkranken. Damals bildete sich im 
Laufe weniger Wochen totale beiderseitige Blindheit mit Opticusatrophie 
aus. Im Uebrigen erholte sich Patientin wieder vollständig. 8ie kam 
ins Siechenhaus und von dort im Jahre 1895 mit einem gleichen Anfall 
in Krankenhausbeobacbtung. Starke Benommenheit, Nackenstarre, hef¬ 
tige, nicht localisirte Kopfschmerzen, Erbrechen wurden hier festgestellt. 
Fieber fehlte völlig, Herdsymptome von seiten der Hirnnerven des¬ 
gleichen. 

Die erste Lumbalpunction ergab einen sehr hohen Druck = 5 cm 
Hg (gegenüber höchstens 1 cm normal an unserem Apparat), vollkommen 
klare Flüssigkeit, vermehrten Eiweissgehalt (über 1 pM.) und Bildung 
eines spinnewebigen Gerinnsels beim ruhigen Stehen. Ausge¬ 
zeichnet war der therapeutische Erfolg dieser Lumbalpunction: schon 
am gleichen Tage wurde Patientin schmerzfrei und nach Erledigung 
einer Schmiercur wurde sie ins Siechenhaus zurückverlegt. Sie blieb 
ein halbes Jahr ganz wohlauf, kam dann aber wieder in einem ähnlichen 
Zustande ins Krankenhaus. Neben den früheren Symptomen wurde dies¬ 
mal eine Parese des rechten Facialis beobachtet. 

Die zweite Lumbalpunction ergab den enormen Druck von 6 cm 
Hg (einen höheren Werth haben wir niemals gefunden), 2 pM. Albumen 
und Gerinnselbildung wie früher. 

Der therapeutische Erfolg war diesmal zwar wieder ganz ausge¬ 
sprochen, er hielt aber nur einige Tage an, so dass wir mehrmals zur 
Punction schreiten mussten; danach ging der Zustand mehr allmählich 
ins normale Wohlbefinden über. 

Die Deutung dieses Krankheitsbildes als einer chronisch verlaufenden 
exacerbirenden Meningitis serosa hat, wenn man die Quincke’schen 
Fälle kennt, keine Schwierigkeiten; als recht charakteristisch mag die 
schnelle Erblindung durch Opticusatrophie hervorgehoben werden, die 
bei der chronischen Form häufig Bcbon in frühen Stadien beobachtet 
wird. 

Ebenso eindeutig und wichtig sind die Resultate der Lumbal¬ 
punction: sie giebt nicht nur die enorme Druckerhöhung an, sondern sie 
weist auch durch die veränderte Beschaffenheit der Flüssigkeit auf die 
entzündliche Natur des Processes hin. 

Die Gruppe der serösen Meningitiden ist ja durch Qnincke selbst 
nm eine Anzahl Fälle bereichert worden, in denen die entzündliche Natur 
des Processes als ganz unwahrscheinlich angesehen werden muss. Um 


so mehr wird man auf die Merkmale Werth legen müssen, die uns eine 
entzündliche von einer nicht entzündlichen Lumbalflüssigkeit unterscheiden 
lassen. Der erhöhte Albumengehalt ist ein solches Merkmal, aber die 
Geringfügigkeit der absoluten Mengen, die hier in Frage kommen, er¬ 
schwert die Beurtheilung. 

Der vorliegende Fall weist aber mit Nachdruck darauf hin, dass 
man ein anderes Merkmal nicht vernachlässigen sollte, auf das Licht¬ 
heim, besonders bei den tuberculösen Meningitiden, hingewiesen hat: 
die Gerinnselbildung bei ruhig Btehenden Reagensgläschen. Quincke 
selbst scheint sich bei seinen Fällen von Menigitis serosa dieses Mittels 
bisher nicht bedient zu haben. Und doch scheint es in keinem Falle 
vorzukommen, wo entzündliche Veränderungen fehlen, während es z. B. 
bei säramtliclien Fällen von tuberculöser Meningitis, die ich gesehen 
habe, aufs deutlichste zu erkennen war. Auch im vorliegenden Falle 
möchte die entzündliche Natur der Meningitis serosa durch diese Ge¬ 
rinnselbildung bewiesen sein. 

Einen rechten Gegensatz hierzu bildet die Cerebrospinalflüssigkeit 
einer Chlorotischen, die an unerträglichem Kopfschmerz mit leichter 
Nackenstarre litt. Bei sehr starker Druckerhöhung (5 cm Hg) und 
strahlartigcm Ausspritzen der Cerebrospinalflüssigkeit wurden weder 
mehr als Spuren Albumen noch irgend welche Gerinnselbildung gefunden 
— also ein seröser Meningealerguss nicht entzündlichen Charakters. 
Nebenbei bemerkt war der Erfolg dieser von Lenhartz bei Chloroti¬ 
schen empfohlenen Lumbalpunction ein äusBerst schlechter; ob und wie¬ 
viel Flüssigkeit im gegebenen Falle abgelassen werden muss, nm günstig 
zu wirken, darüber fehlt eben noch jeder Anhalt. 

Was schliesslich die Ursache der Meningitis serosa bei unserer Pa¬ 
tientin betrifft, so käme zunächst die anamnestisch festgestellte Lues in 
Frage. Beweise für den ursächlichen Zusammenhang sind jedoch nicht 
zu erbringen; weder hat dieselbe irgend welche andere Symptome ge¬ 
macht, noch hatten Schmiercuren einen überzeugenden Einfluss auf den 
Verlauf; auch ist bisher eine Meningitis serosa noch niemals mit Sicher¬ 
heit auf Lues zurUckgefiihrt worden. Andere ätiologische Momente sind 
ebenfalls nicht bekannt, es muss also dahingestellt bleiben, welche 
Krankheitsursache Vorgelegen hat. 

8. Hr. Timmling stellt Präprate und Curven vor: 1. Doppel¬ 
seitigen Pyosalpinx combinirt mit linksseitiger Ovarialcyste und 
2. linksseitigen Pyosalpynx combinirt mit Ovarialabscess der¬ 
selben Seite. 

Sämmtliche Präparate veranschaulichen die grosse Leistungsfähigkeit 
der Kaiserling’schen Fixirungs- resp. Conservirungsmethode. 

Der erste Fall ist durch vaginale (Dührssen), der zweite durch 
ventrale Coeliotomie operirt. 

Die Curven beider Fälle, deren Vergleich sehr lehrreich ist, weisen 
in den ersten 8 resp. 2 Tagen Temperatursteigerungen bis 38,2 auf. 

In beiden Fällen Heilung nach 2 resp. 3 Wochen. 

Timmling empfiehlt für geeignete Fälle aufs wärmste die 
Dührssen'sche vaginale Coeliotomie. 

8. Den Aetzschorf, welcher als ein reichlich fingerdickes, apfel¬ 
sinenschalenartiges Gebilde, aus der mit energischstem Ecrasement und 
consecutiver Chlorzinkätzpastc behandelten Höhle eines inoperablen 
Cervixcarcinoms extrahirt wurde. 

Nach der Extraction resultirte eine gut granulirende, im übrigen 
glatte Wundhöhle. 


VIII. Achtzehnter Balneologen-Congress 
zu Berlin. 

An Stelle des durch Krankheit am Erscheinen verhinderten Geheim¬ 
raths Liebreich eröffnete in der üblichen Weise Herr Prof. Winter¬ 
nitz den Congress und widmete dem vor einigen Tagen in Stettin ver¬ 
storbenen Begründer der wissenschaftlichen Wasserheilkunde, Herrn Dr. 
Ernst Brand, einen warmen Nachruf. Hierauf erstattete Herr Brock 
den Bericht über das verflossene Vereinsjahr, aus welchem wir hervor¬ 
heben, dass 5 Mitglieder gestorben, 3 ausgetreten, dagegen 34 neu hin¬ 
zugetreten sind. — Zum Vorsitzenden wurde Herr Liebreich, zu stell¬ 
vertretenden Vorsitzenden die Herren Winternitz, Schliep und 
Thilenius und zum üeneralsecretair Herr Brock gewählt. Hierauf 
trat die Versammlung in die Tagesordnung ein. 

Den ersten Vortrag hielt Herr Winternitz-Wien: Die Hydro¬ 
therapie der Basedow’schen Erkrankungsformen. Redner 
entwickelt zunächst die verschiededen vollkommenen und unvollkommenen 
Formen des Morbus Basedowii und vindicirt bei der Entstehung der 
ersteren dem Nervensbok und den excessiven sexuellen Erregungen und 
Gemiithsaffecten eine grosse Bedeutung. Die Schilddrüsenerkrankung ist 
dabei meist eine secundäre. Sodann analysirt er die einzelnen Symptome 
der Erkraukung und geht auf die Unterschiede von anderen mit ähn¬ 
lichen Symptomen einhergehenden Krankheiten ein. Die Erscheinungen 
am Herzen, der Exophthalmus, die Struma, die Nervenaffectionen und 
die schweren 8toffwechselstörungen werden durebgegangen und gezeigt, 
dass alle durch hydriatische, mechanische und diätetische Eingriffe beein¬ 
flussbar sind. Nachdem W. gewissermassen ein nach Individualität und 
vorliegender Form sehr variables, individualisirendes Bild der hydriatl- 
schen Behandlung entwickelt und dargethan hat, dass er fast in allen 


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No. 14. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Fällen Besserungen, ja oft Heilungen gesehen, sucht er zu ergründen, 
wodurch diese doch scheinbar nur symptomatische Therapie so über¬ 
raschend günstige Resultate bewirken könne. Er findet diese Begrün¬ 
dung in der durch ihn erwiesenen gesteigerten intraorganen und inter¬ 
cellularen Oxydation durch die Hydrotherapie, die, wie bei allen schweren 
Stoffwechselstörungen nnd Antointoxicationen und Intoxicationen durch 
Leukocytose und Leukolyse, Erhöhung der Alkalescenz des Blutes nnd 
Steigerung der Ausscheidungen, die wahrscheinlich auch bei dieser 
Krankheit im Körper angehäuften giftigen, zur Ausscheidung bestimmten, 
im Körper zurückgehaltenen Zerfallsproducte des Stoffwechsels und un¬ 
vollständig oxydirte Substanzen löslich macht und zur Ausscheidung 
bringt. Die Hydrotherapie des Morbus Basedowii muss daher als eine 
wahre Entgiftungstherapie bezeichnet werden. Redner schliesst mit 
einem Appell an die Klinik, * der laut an ihre Thore klopfenden Hydro¬ 
therapie endlich Einlass zu gewähren. 

An der Discussion über diesen Vortrag betheiligen sich die Herren 
Schott, Sarason, Gräupner, Munter, Wegele und der Vor¬ 
tragende. 

Hr. Lindemann-Helgoland: Ueber die Heilwirkung des 
Seebades bei Magenkranken. Redner betont, dass man oft einem 
Vorurtheile gegen das Seebad bei Magenkranken begegne, dass dies aber 
zum Theil veranlasst werde durch unzweckraässiges Verhalten an der 
See, wobei entweder Diätfebler oder Fehler in der Kleidung gemacht 
werden. Auf Grund eigener Versuche über die Reizwirkung der Seeluft 
auf die Haut bebt L. als erstes Gebot hervor, Bich möglichst warm an 
der See zu kleiden, zumal während der ersten Zeit des Aufenthalts. 
Unter dieser Vorsicht ertragen auch kleine Kinder das Nordseebad sehr 
gut. Diese Reizwirkung kann nun aber ErschlaffungszuBtände in vielen 
Organen, so auch im Magen-Darmcanal bessern. Mehr noch geschieht 
dies durch das kalte Seebad, welches mächtig tonisirend auf die inneren 
Organe, namentlich auf das Herz und die Circulationsverhältnisse wirkt, 
wie es die verschiedenen Pulscurven vor und nach dem Seeaufenthalt 
erkennen lassen. L. hat nun Untersuchungen über die kräftigende Wir¬ 
kung des Seebades und des Seeaufenthalts auf die Magenthätigkeit ge¬ 
macht und gefunden, dass alle Functionen des Magens, die resorptive, 
die motorische und secretoriBCbe, in Helgoland stark angeregt werden. 
Bei den meisten organischen Magenaffectionen, speciell denen mit Reiz- 
und Erregungszuständen der Magenschleipihaut ist das Seebad contra- 
indicirt. Indicirt ist es bei Erscblaffungszuständen des Magens und 
Darms, sodann bei Gastroptosen, die oft mit Atonie verbunden sind; 
hauptsächlich aber bei den meisten functioneilen Magenkrankheiten, den 
Magenneurosen, speciell der nervösen Dyspepsie. Das Höhenklima, das 
oft neben dem 8eebad bei Magenneurosen in Frage kommt, ist kein so 
kräftiges Tonicum, zumal hier ein Aequivalent für die Seebäder fehlt. 

— Redner bespricht alsdann an der Hand von ausführlichen Kranken¬ 
geschichten Beine günstigen Erfahrungen an Magenkranken in Helgoland. 

— Allerdings ist eine strenge ärztliche Controle an der See nothwendig, 
da die veränderte, ungewohnte Lebensweise, der gesteigerte Appetit Vor¬ 
sicht erheischt. 

An der Discussion nahmen Theil die Herren Weidenbaum, 
Pariser und Lindemann. 

Hr. Keller (Rheinfelden): Die Menstruation und ihre Be¬ 
deutung für Curproceduren. Die Untersuchungen des Vortragenden 
haben Folgendes ergeben: Die Menstruation übt einen ganz bestimmten 
und unbestreitbaren Einfluss auf die Ernährung aus. Dieser Einfluss 
charakterisirt sich für die normale und genügend starke Menstruation 
durch eine Verminderung des Gesammtstickstoffes, des Harnstoffes, des 
Extractivstickstoffes und zum Theil der Harnsäure, sowie durch eine 
Vermehrung des Oxydationscoefflcienten der stickstoffhaltigen Körper. 
Wenn die Periode schwach und ungenügend ist, so zeigt sich die Ver¬ 
minderung erst in der postmenstruellen Zeit. Die Menstruation ist dem¬ 
nach von einer Verminderung der Verbrennung der Eiweisskörper be¬ 
gleitet. Die grösste Intensität des Lebensprocesses zeigt sich bei 
normaler Periode unmittelbar vor Eintritt derselben. Da das Baden 
während der normalen Periode keinen besondere Vortheile bringen kann, 
dagegen die auf die prämenstruelle Steigerung aller Lebensprocesse 
folgende Ruhe und Tendenz zur Ausgleichung während der Periode 
stören würde, so darf mit Recht der Rath gegeben werden, die Cur für 
einige Tage auszusetzen, auch schon in Anbetracht der somatischen wie 
psychischen Ermüdung und Gereiztheit. DieB gilt besonders für die 
Soolbadcur und Massage, weniger für die Hydrotherapie. Die Fort¬ 
setzung der Cur ist bei Amenorrhoe aus lokalen wie allgemeinen Ur¬ 
sachen fast durchweg anzurathen; allgemeine Regeln giebt es nicht. 
Meistens sind kühle Proceduren vorzuziehen; doch sind manchmal heisse 
Fussdouchen, schottische Douchen auf die Kreuzgegend von Nutzen, ver¬ 
einzelt auch starke heisse Soolbäder. Bei Menorrhagie ist die Fort¬ 
setzung der Cur nach ungenügender Rückbildung des Uterus nach Geburt 
oder Abortus oft nützlich, ebenso bei Menorrhagie in Folge von Chlorose. 
Die kalten Proceduren haben im Allgemeinen auch hier den Vorzug vor 
den warmen. Strengste Individualisirung ist nöthig. Bei der nervösen 
Dysmenorrhoe ist die Fortsetzung der Cur oft von Vortheil. Indifferente 
Temperaturen sind hier angezeigt. Gravidität verlangt die Soolbadcur 
bei schwächlichen anämischen Frauen, die wiederholt abortirt oder nicht 
lebensfähige Früchte geboren haben. 

Hr. Hansemann (Berlin): Ueber Heilung und Heilbarkeit. 
Der Vortragende beschränkt sich auf diejenigen Erkrankungsvorgänge, 
deren Heilungsmöglichkeit oder Unmöglichkeit von den anatomischen 
Veränderungen abzuleiten ist. — Es kommen erstens in Betracht Ober¬ 


flächenerkrankungen: Katarrhe, Entzündungen der serösen Häute, dann 
auch besonders die fibrinöse Pneumonie; alsdann Erkrankungen mit 
Defect, deren Heilung abhängig ist von der Ausdehnung des Defects 
und der Regenerationsfähigkeit der Gewebe. Diphtheritische und typhöse 
Geschwüre können mit ReBtitutio ad integrum heilen, da sie regenerations¬ 
fähige Gewebe betreffen. In der Musculatur und den meisten inneren 
Organen heilen Defecte nur mit Narbenbildung. Endlich kann Heilung 
durch Compensation eintreten und zwar durch compensatorische Hyper¬ 
plasie z. B. bei compensirten Herzfehlern, Nierenexstirpation und Leber- 
defecten oder durch functioneile Compensation oder besser Substitution 
z. B. wenn bei partiellen Lähmungen oder Defecten andere Theile ein- 
springen. Für die inneren Organe kommt die Substitution so gut wie 
gar nicht in Betracht. — Ferner sind zu erwähnen die Erkrankungen 
mit Wucherungen und man muB8 hier wieder unterscheiden Wucherungen 
mit Bildung eines transitorischen Gewebes (8yphilis, Tuberculose, In- 
fectionsgeschwülste überhaupt), wobei Heilung mit Narbenbildung und 
Wucherungen mit Bildung eines Dauergewebes, z. B. Arteriosklerose, 
Lebercirrhose, primäre Scbrumpfniere, Carniflcation der Lunge, Pankreas¬ 
diabetes, Akromegalie, Myositis ossifleans etc., wobei Heilung ausge¬ 
schlossen und nur ein Stillstand zu erstreben ist. Endlich sind noch zu 
bezeichnen Wucherungen ohne physiologischen Abschluss (Tumoren, 
speciell die malignen), deren Heilung nur durch Exstirpation möglich ist. 

An der Discussion betheiligen sich die Herren Weisz, Schott, 
Frey, Hansemann. 

Hr. Lahusen-Brunnthal in München: Schlaf und Schlaf¬ 
losigkeit. Nachdem Redner auf die grosse Lücke hingewiesen hat, 
die im Universitätsstudium und in sämmtlicben Lehrbüchern durch ein 
mehr oder weniger vollständiges Uebergehen des 8chlafes vorhanden 
sei, charakterisirt er den Schlaf nicht als ein Auf hören der Körper¬ 
functionen, vergleichbar dem Tode, sondern als eine Function des sprudeln¬ 
den Lebens, die ein volles Drittel unseres Lebens ausfülle. Der Schlaf 
ist ein Aufhören der willkürlichen Leistungen bei unveränderter Fort¬ 
dauer der unwillkürlichen Functionen des Körpers. -Das Zustandekommen 
des Schlafes wird dadurch bewirkt, dass sieh im Centralorgan durch 
dessen Leistung ein Autotoxin bildet, welches ähnlich wie ein Narkoticum 
lähmend auf die Nervenorgane wirkt und einen Stoff der regressiven 
Metamorphose bildet, der nun in der Ruhe in den Stoffwechsel zurück- 
geführt und durch diesen ausgeschieden wird. Auf die Pathologie des 
Schlafes übergehend, schildert L. zunächst den Traum als nicht patho¬ 
logisch, sondern als ein physiologisches Anhängsel zum 8ehlaf, ein Er- 
waebnngsphänomen. Die Schlaflosigkeit betrachtet er als eine Neurasthenie 
eigener Art, als eine Nervenerschöpfung, die zur allgemeinen Neurasthenie 
entweder direct führt oder auf dem Umwege, dass der Kranke zu Alkohol, 
Brom, Morphium etc. greift. Sie kann sich zur Locbophobie steigern. 
Mehr als die Hälfte der Neurasthenien kommt auf Rechnung der Schlaf¬ 
losigkeit. L. unterscheidet eine acute und eine chronische Form der¬ 
selben. Die acute ist von guter Prognose und leicht heilbar. Die 
chronische hat eine zweifelhafte Prognose und kommt in drei Formen 
vor. Die eine Form als scheinbar geringes Schlafbedürfnis überhaupt, 
das den Körper allmählich, aber um so sicherer abnützt und Neurasthenie 
erzeugt; die zweite, bei der der Kranke viele Stunden gebraucht, um 
trotz aller Erscheinungen der Müdigkeit einzuschlafen, sich mit Gedanken 
quält und im Bette herumwälzt, oft bis zum frühen Morgen. Das ist 
die schwerste Form, die bis zu absoluter Schlaflosigkeit sich steigern 
kann, und die unter allen Umständen einer schweren Nervenerkrankung 
gleich zu achten ist. Die dritte Form charakterisirt sich dadurch, dass 
der Kranke zwar gleich einschläft, aber nach einigen Stunden wieder 
erwacht, wachend längere oder kürzere Zeit zubringt, um dann einem 
zweiten Schlummer zu verfallen. Sie nähert sich mehr und mehr der 
Norm und kann in diese übergehen. Bezüglich der Therapie will L. 
Medicamente nur für die acute Form gelten lassen. Bei der chronischen 
Form räth er neben der selbstverständlichen Schaffung günstiger allge¬ 
meiner und persönlicher Verhältnisse die Evacuirung des Kranken in 
einen stillen Curort und hier die Anwendung folgender Mittel: Neptuns¬ 
gürtel, Wadenbinden, prolongirte körperwarme Bäder, kalte Abklatschungen 
vor dem Schlafengehen, Massage des Rückens und Application der electri- 
schen Douche. 

An der Discussion betheiligen sich die Herren Munter, Eulen¬ 
burg und der Vortragende. 

Brock. 


(Fortsetzung folgt.) 


IX. Bemerkungen 

zu Prof. Dr. Max Schüller's Artikel: „Extraction eines Knochenstückes 
aus der Speiseröhre nach vorheriger Röntgendurchleuchtung“. 

Von 

Prof. Dr. J. Hochenegg in Wien. 

Jeder Leser dieses Artikels wird den Eindruck haben, dass der Autor 
desselben der Meinung ist, dass noch niemals vor ihm wegen Fremdkörper 
der Speiseröhre Röntgendurchleuchtung vorgenommen wurden. 

Dementgegen verweise ich auf meinen am 4. Deeember 1896 in der 
k. k. Gesellschaft der Aerzte in Wien gehaltenen Vortrag: „Drohender 


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herliner klinische Wochenschrift. 


307 


5._Aprlt 1897. 


Verblutungstod nach verschlucktem Fremdkörper“ (siehe Wiener klinische 
Wochenschrift 1896 No. 51), in welchem ich vorschlng statt der für den 
Patienten immerhin peinlichen Oesophagoskopie lieber die Röntgen¬ 
durchleuchtung vorzunehmen, und ich illustrirte die Ausführbarkeit meines 
Vorschlages durch Abbildungen von 3 mittelst Röntgen strahlen gewonnenen 
photographischen Cadaveraufnahmcn, betreffend: einen im Oesophagus 
eingekeilten Hiihner-Kalbsknochen und eines Gebisses (die Abbildungen 
sind in meiner Publication wiedergegeben). 

Weiter schlug ich in diesem Aufsatze vor, die Extraction der durch 
Durchleuchtung extrahirten Fremdkörper, unter Controle mittelst des 
Durchleuchtungsbildes vorzunehmen und schmeichelte mir durch diesen 
Vorschlag als erster die therapeutische Verwendbarkeit der bisher 
nur zu diagnostischen Zwecken angestellten Durchleuchtungen angeregt 
zu haben. 

Schon sehr bald hatte ich Gelegenheit meinen Vorschlag am Lebenden 
praktisch zu erproben, in dem ich durch regelmässig angestellte Durch¬ 
leuchtungen die Wanderung eines verschluckten markstückgrossen Münze 
durch den ganzen Verdauungstract eines 3jährigen Kindes verfolgen und 
controliren konnte. Auch hierüber wurde in irasern Sitzungen berichtet 
(siehe Wiener klinische Wochenschrift 1897 No. 2). 

Seither hat sich die Durchleuchtung des Oesophagus bei Verdacht 
auf Fremdkörper als der Sondirung und der Oesophagoskopie vollständig 
ebenbürtiges Verfahren auf meiner Abtheilung vollkommen eingebürgert. 


Hierzu habe ich zu bemerken: 1. dass mein Fall vom 26. November 
1896 datirt, Herrn Hochenegg's Mittheilung vom December 1896; 
2. dass ich auf Macintyre’s Arbeit hinwies, über welche im Cenlral- 
blatt für Chirurgie No. 28, am 11. Juli 1896 berichtet wurde (Leichen¬ 
versuche und Beobachtung am Lebenden); 3. dass mir erst jetzt Herrn 
II.’s Artikel bekannt geworden ist. 

Berlin, 2. April 1897. 

Prof. M. Schüller. 


X. Praktische Notizen. 

DiagMathehes and Casaislik. 

In der Hälfte von 8 daraufhin untersuchten Fällen von Enuresis 
diurna ist es Nicolaysen gelungen, im Urin Reinculturen von 
Bacillen zu züchten (D. med. Wochenschr. No. 13), die alle für den 
Colibacillus angegebenen morphologischen und culturellen Eigenschaften 
zeigten (Entfärbung nach Gram, Milchcoagulation, Indolreaction): neben 
diesen fanden sich keine oder nur vereinzelte Rundzellen, wobei der 
Urin nicht dccomponirt war. N. ist auf diesen Befund hin geneigt, 
eine gewisse Beziehung der Incontinenz zu dieser Bacteriurie anzu¬ 
nehmen; auf welche Weise diese aufzufassen ist, ist allerdings noch 
nicht genügend klargestellt. Auf Grund dieser Beobachtung schlägt N. 
vor, nach dem Beispiel von Krogins den krankhaften Zustand mit 
antiseptiseben Blasenausspülungen zu behandeln. Unter dieser Behand¬ 
lung Bah Verf. in einigen Fällen Besserung der Incontinenz eintreten; 
allerdings fanden sich trotzdem noch fortwährend Bacillen im Urin; 
gleichzeitig war den Patienten geboten worden, jede Stunde zu uriniren 
um eine Ueberfüllung der Blase zu vermeiden. 

Einen Fall von chronischer Conjunctivitis, herbeigeführt 
durch den Friedl änder’schen Pneumobacillus beobachtete 
Eyre bei einem 60jährigen Manne (The Lancet 8838). Der Beweis 
warde erbracht durch die mikroskopische Untersuchung der aufgelagerten 
Pseudomembranen, die zahlreiche ovale Bacillen ergab, die zu Zweien 
angeordnet waren, allerdings Kapseln nicht deutlich erkennen Hessen, 
dagegen waren irgend welche anderen Mikroorganismen nicht naebzu- 
weisen. Auch die bacteriologische Untersuchung, die mit den Pseudo¬ 
membranen und dem Secret des Conjunctivalsackes auf Agar, Blutserum, 
Kartoffeln und Gelatine vorgenommen wurde, ergab die für den Fried- 
1 änder’schen Bacillus charakteristischen Verhältnissen. 


Cantrell (The Med. and. Surgical Report. 2086) berichtet über 
einige Fälle von Psoriasis, die im Anschluss an Hautverletzung 
entstanden waren. Dass ein gewisser Zusammenhang bestand zwischen 
dieser und der Psoriasis, geht daraus hervor, das die ersten Er¬ 
scheinungen der Krankheit an der verletzten Stelle auf¬ 
traten und sich weiter entwickelten. Verf. theilt 3 Fälle mit; im ersten 
Falle hatte die Psoriasis am Oberarm begonnen, wo der Pat. einen 
Messerstich erhalten hatte, im zweiten am Oberschenkel, wohin der 
Pat. einen Hammerschlag erhalten hatte, und im dritten Falle hatte 
sich die Psoriasis im Anschluss an eine Impfung entwickelt. 


Tberapeatisehes «ad InUxieatianen. 

Der früheren Behandlung der Pneumonie durch Ader¬ 
lass redet Amidon das Wort (Medical News 18). Denn nach seiner 


Auffassung des Wesens der Pneumonie wird die mechanische Störung, 
die durch Ueberlastnng des Lungenkreislaufes herbeigeführt wird, in den 
letzten Jahren viel zu wenig berücksichtigt. Da diese aber das Wesent¬ 
lichste ist, so kann man sich auch nur von einer Methode Erfolg ver¬ 
sprechen, die dieser Ueberfüllung des Lungenkreislaufes und der daraus 
resultirenden Schwäche des r. Herzens wirksam entgegenzutreten ver¬ 
mag, und dies ist nur der Aderlass; die diaphoretische, die diuretische, 
die laxirende Behandlung hält er für zu unsicher in ihrem Erfolge. 
Wesentlich bestärkt in Beiner Auffassung wurde Verf. durch 2 Krank¬ 
heitsbeobachtungen, wo einmal im Verlaufe der Pneumonie nach einem 
starken Bluthusten, das andere Mal nach einer starken Nasenblutung 
auffallend schnelle Heilung eintrat. Auch die Statistik der Mortalität 
im Hospital New York spricht zu seinen Gunsten, denn während dieselbe 
in den Jahren 1834—1870 bei der alten Behandlung im Durchschnitt 
24 pCt. betrug, stieg sie von 1870—1895 unter der neuen exspectativen 
Methode auf 35 pCt. im Durchschnitt. 


Einen Fall von schwerer Dermatitis nach äusserlicher 
Application von Terpentinöl znm Zwecke der Massage beob¬ 
achtete Thomson (Petersb. Med. W. No. 10) bei einer 21jährigen Pa¬ 
tientin, die sich eine Fussverstauchung zugezogen hatte und deshalb auf 
ärztlichen Rath durch eine Masseuse massirt wurde. Da der Pat. je¬ 
doch die Eingriffe der Masseuse zu gering erschienen, so nahm sie 
eigenhändig eine gründliche tägliche Massage des Sprunggelenks mit 
Terpentinöl vor. Es trat danach eine intensive Röthung und Schwellung 
des Fusses und Unterschenkels bis zum Knie auf, auf dem Dorsum 
pedis zeigten sich mehrere markstückgrosse Blasen. Unter geeigneter 
Behandlung trat nach mehreren Wochen völlige Restitutio ad in¬ 
tegrum ein. 


Eine aussergewöhnliche Urobilinurie sah Rolleston auf- 
treten nach dem 3 maligen Gebrauch von je 20 Gran Trional (Brit. 
Med. Journ. 1889). Es handelte sich um eine 57jährige Patientin, die 
schon 2 Jahre an Gelbsucht und Herzerweiterung litt, jedoch enthielt 
der Urin keinen Gallenfarbstoff und kein Albumen. Nach der dritt- 
maligen Anwendung des Trionals nahm der Urin eine ausgeprägte Orange¬ 
färbung an, die spektroskopische Untersuchung wies mit Sicherheit Uro¬ 
bilin nach. Auch nach Aussetzung des Trionals zeigte der Urin wäh¬ 
rend der nächsten Tage dieselbe Veränderung; nach 4 Tagen trat unter 
Delirien der Tod ein. Die Section ergab keine Lebercirrhose, wohl aber 
eine Muskatnussleber. Verf. ist der Ansicht, dass die Gelbsucht, an der 
Pat. litt, schon von Anfang an durch das Urobilin bedingt war, dass 
aber die excessive Urobilinurie erst auf den Gebrauch des Trionals zu- 
1 rückzuführen sei. 


Bei einem 28jährigen Manne hatte Darabseth (The Lancet) Ge¬ 
legenheit, einige ungewöhnliche Nachwirkungen einer Strychnin¬ 
vergiftung zu beobachten. Der betreffende Patient war im October 
1892 durch 20 Gran Strychnin vergiftet worden, hatte jedoch unter ge¬ 
eigneter Behandlung die acute Vergiftung gut überstanden. Erst 2‘/i Jahr 
Bpäter stellten sich wieder Zeichen einer Strychnin-Intoxication ein: Pat. 
bekam reissende Schmerzen in den oberen und unteren Extremitäten, 
daselbst traten auch Zuckungen auf, ebenso wie in der Gesichtsmusku¬ 
latur. Der Deltoideus und die tiefen Nacken- und RUckenmuskeln waren 
fest contrahirt, so dass sie sich hart anfühlten. Die Untersuchung des 
Nervensystems liess ein Hirn- oder Rückenmarksleiden ausschüessen. 
Belladonna, Gelsemium, Physostygmin, Chloral, Brom hatten kaum Ein¬ 
fluss auf die Besserung des Zustandes, so dass Patient Bchon nach 
kurzem Gebrauch ihre Weiteranwendung verweigerte. Unter einer 
roborirenden Behandlung Hessen die Spasmen und Krämpfe allmählich 
nach, und etwa 5 Monate nach Auftreten der ersten Erscheinungen war 
Patient wieder im Stande, ohne jede Schwierigkeit seiner Beschäftigung 
nachzugehen. 


XI. Tagesgeschichtliche Notizen. 

Berlin. Dass auf dem Koch’schen Institut andauernde Versuche 
über Verbesserung des Tuberculins stattfinden, war eine allseitig 
bekannte Thatsache; einiges hierüber hatte z. B. vor Kurzem Spengler 
in Davos in seiner Brochüre „über Tuberculinbehandlung“ mitgetheilt. 
Die jüngste Nummer der Deutschen med. Wochenschrift enthält aus der 
Feder Koch’s nähere Angaben über diese Mittel, speciell Uber ein 
durch Zerreiben trockener Culturen und Centrifugiren einer von ihnen 
hergestellten wässrigen Aufschwemmung gewonnenes Präparat (T. O.) 
sowie über eine durch wiederholtes Centrifugiren erhaltene, also T. R. 
bezeichnete Flüssigkeit. Das T. 0. soll dem alten Tuberculin in seiner 
Wirkung noch nahestehen, das T. R. hingegen vor allen Dingen im- 
muniBirende Eigenschaften besitzen. Koch empfiehlt das Mittel zur 
Behandlung der Frühformen, mit scharfer Begrenzung auf solche Fälle, 
in denen noch keine Mischinfection mit Streptokokken anzunehmen ist, 


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308 BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. No. 14. 


die also noch fieberfrei sind; ebenso soll Lupus danach deutliche Besse¬ 
rungen aufweisen. Von „Heilungen“ spricht K. vorläufig noch nicht. 
Eine stürmische „Reaction“ wie beim Tuberculin finde nicht statt — 
daher sollen auch alle beängstigenden Nebenwirkungen fehlen; aus dem¬ 
selben Grunde bleibt auch für diagnostische Zwecke das alte Tuberculin 
reservirt. 

Selbstverständlich werden auch diesmal die Angaben Koch's, 
die bisher ohne detaillirte Krankengeschichten und Berichte über 
Thierexperimente vorliegen, ausgedehnte und vorurtheilslose Nach¬ 
prüfung erfahren. Uebertriebene Hoffnungen zu erwecken und etwa 
ähnliche Stürme wie vor 6 Jahren zu entfesseln, sind sie nicht angethan, 
— Inhalt und Form der Darstellung zeigen die grösste Zurückhaltung. 
Um so bedenklicher Bticht von dieser vom Verfasser selbst beobachteten 
Vorsicht die aufdringliche Art ab, mit der wiederum tagelang vor 
dem Erscheinen der Arbeit in der betr. Fachzeitschrift das Publikum 
durch Zeitungsartikel alarmirt werden sollte; soweit wir übersehen 
können, bat die Mehrzahl der Tagesblätter kühle Reserve in 'der Benr- 
theilung beobachtet und die vorläufigen, durch den officiösen Draht ver¬ 
breiteten Artikel — die bezeichnender Weise in der Mittheilung gipfelten, 
dass die Höchster Farbwerke mit Herstellung der neuen Präparate be¬ 
traut sind — haben diesmal nicht jenen kritiklosen Enthusiasmus hervor¬ 
gerufen, dessen Ueberschwang leider im Jahre 1890 einen um so 
schwereren Rückschlag erfuhr. 

— In der Sitzung der Berliner medicinischen Gesellschaft 
am 1. d. M. fanden vor der Tagesordnung Demonstrationen der Herren 
Holz und Zondek statt. Es folgte der Schluss von Herrn Katz’s Vor¬ 
trag über diphtherische Lähmungen; an der Discussion nahmen die Herren 
A. Baginsky, Hirschberg, Remak, Senator, Gutmann, B. 
Fraenkel, Arnheim, Rosin, M. Rothmann theil. 

— In der Sitzung des Vereins für innere Medicin am 
29. März demonstrirte vor der Tagesordnung Hr. Michaelis aus der 
v. Leyden’schen Klinik Diplokokken als Erreger der epidemischen 
"Parotitis, Hr. Gräupner (Nauheim) einen Apparat für die Bewegungs¬ 
therapie bei chronischen Rückenmarks- und Cerebralleiden, Hr. Sieg¬ 
heim berichtete über einen in vivo diagnosticirten Fall von Endocarditis 
gonorrhoica. In der Tagesordnung hielt Hr. Flatau zunächst den an¬ 
gekündigten Vortrag über Veränderungen des menschlichen Rückenmarks 
nach Wegfall grösserer Gliedmassen, dann wurde in die Discussion des 
in voriger Sitzung gehaltenen Vortrages des Hm. Strauss Uber neuro¬ 
gene und thyreogene Glykosurie eingetreten. Es betheiligten sich 
daran die Herren Jastrowitz, Burghart, Albu und StrausB. 

— Dem Prosector des städt. Krankenhauses am Friedrichsbain, 
Priv.-Doc. Dr. D. Hansemann ist der Professortitel verliehen worden. 

— Vor etwas mehr als Jahresfrist batten wir, gelegentlich einer . 
Besprechung der IIüpeden’sehen Bemerkungen über die Medicinal- 
reform darauf hingewiesen, dass diese Frage für Preussen nur auf dem 
Wege einer organischen Gesetzgebung zu lösen sei, durch welche 
alle für das öffentliche Gesundheitswesen in Betracht kommenden Fac- 
toren, von den Gemeindeorganen aufwärts bis zur höchsten Spitze, in 
einen lebendigen Zusammenhang gebracht werden. Wiederholt ist seit¬ 
her von diesen Dingen die Rede gewesen, und namentlich bei jeder 
Etatsberathung, wenn die kärglichen Gehälter der Physici zur Sprache 
kamen, der Wunsch nach endlicher Regelung der, seit so vielen Jahren 
schwebenden Frage geäussert worden. Mit Freuden darf man jetzt an¬ 
erkennen, dass die Staatsregierung nunmehr im Begriff steht, ihr Ver¬ 
sprechen einzulösen. Die Tageszeitungen haben bereits gemeldet, dass 
der Cultusminister eine Commission zur Begutachtung der Frage einbe- 
.rufen hat — der von Aerzten Virchow, Lent, Wallichs, Kruse, 
Becher, Langerhans, Martius angehören — und schon verlauten 
gewisse Hauptthesen, über welche berathen werden soll; soweit sich aus 
den vorliegenden Nachrichten erkennen lässt, bewegen sich die Vor¬ 
schläge in der That in der oben angedeuteten Richtung einer einheit¬ 
lichen, organischen Regelung und bezwecken vor Allem die Ablösung 
der kreisärztlichen Thätigkeit von der gerichtsärztlichen; der 
Kreisarzt würde ganz und gar seiner eigentlichen Bestimmung sich 
widmen und als wesentlichster Factor der hygienischen Gesetzgebung 
und Executive fungiren können; seine Stellung würde die eines „voli- 
besoldeten“ unmittelbaren Staatsbeamten werden. Desgleichen soll eine 
Organisation der einzelnen Instanzen in der Art durchgeführt werden, 
dass Ortsgesundheitsräthe, Kreisgesundheitsräthe, bezw. 
Bezirksgesundheitsräthe eingesetzt werden. Die Provinzen sollen 
UnterBUchungBStationen für hygienische und bacteriologische Zwecke 
errichten. Die Medicinaleollegien sollen in Wegfall kommen. 

Wir werden hoffentlich bald Gelegenheit haben, über die Einzel¬ 
heiten des Planes Näheres mitzutheilen. Namentlich darf man gespannt 
sein, wie die einzelnen Gesundheitsräthe eingesetzt und das Feld ihrer 
.Thätigkeit abgegrenzt sein wird. Wir gehen wohl nicht fehl mit der 
Annahme, dass man auch den praktischen Aerzten selber hierbei 
eine Mitwirkung gewähren, und etwa den Aerztekammern durch 
Entsendung von Mitgliedern in die Bezirksgesundheitsräthe eine active 
Theilnahme sichern wird. 

— Zur Errichtung eines Denkmals für Johannes Müller, welches 
in der Geburtsstadt des grossen Physiologen, Coblenz, in nächster Nähe 
des Hauses, in welchem Johannes Müller geboren wurde, errichtet 
werden soll, hat sich ein Ausschuss gebildet, welchem hervorragende 


und bekannte Männer aus den verschiedensten Theilen unseres Vater¬ 
landes angehören. Es wird beabsichtigt die Fertigstellung dieses Denk¬ 
mals derart zu beschleunigen, dass seine Enthüllung spätestens zur bevor¬ 
stehenden hundertjährigen Geburtstagsfeier Müller’s stattfinden kann. 

Die gewaltige Bedeutung und das in seiner Art nie wieder erreichte 
umfassende Arbeitsgebiet des einzigen Mannes, der alle zeitgenössischen 
Forscher um Haupteslänge an Genialität, Scharfsinn und Beobachtungs¬ 
gabe überragte, bedarf keiner besonderen Begründung. 

Auch für die praktische Medicin ist sein 8chaffen durch die Ver¬ 
tiefung und Erweiterung, die ihm die physiologische Wissenschaft zu 
verdanken hat, von unschätzbarem Werthe gewesen. So hoffen wir 
denn, dass der Aufruf in den weitesten ärztlichen Kreisen freudigen 
Wiederhall finden wird und bemerken nur, dass etwaige Beiträge an 
die Redaction dieser Wochenschrift oder an das Bankhaus L. Selig¬ 
mann in Coblenz zu senden sind. 

— Das Kaiser und Kaiserin Friedrich-Kinderkranken¬ 
haus in Berlin erstattet soeben seinen 6. Bericht über die Zeit vom 
1. Januar bis 31. December 1896. Wir entnehmen demselben, dass 
eine Vergrösserung des Grundstücks durch Erwerbung eines unbe¬ 
bauten Landstreifens an der Südgrenze stattgefunden hat, wodurch die 
räumlichen Verhältnisse sich wesentlich verbessert haben. Eine neue 
Baracke (Stiftung der Herren Liebermann) konnte zu Beginn des Jahres 
eröffnet werden. Der Bettenbestand beträgt jetzt 223 (bei stärkster 
Belegung 238). Eine empfindliche Lücke stellte sich in Betreff der Auf¬ 
nahme von Säuglingen heraus; die Säuglingsmortalität ist eine hohe, eine 
Vermehrung der Säuglingsabtheilung „könnte nicht verantwortet werden, 
ohne dass eine bei der jetzigen Einrichtung der Anstalt unmögliche 
Vermehrung und Verbesserung des Wartepersonals herbeigeführt würde“. 
Die Anstaltsdirektion selbst hat den Magistiat anf die Mangelhaftigkeit 
der für kranke Säuglinge in Berlin bestehenden Einrichtungen hinge¬ 
wiesen (Virchow hat die Sache auch in der Stadtverordnetenversamm¬ 
lung zur Sprache gebracht); der Bericht betont, dass das Krankenhaus 
selber nicht ohne Weiteres in der Lage sei, durch Neubauten eine 
grössere Abtheilung für Säuglinge herzustellen — „die Anregung müsste 
vielmehr von den städtischen Behörden ausgehen“ — hoffentlich wird 
dies Wort nicht ungehört verhallen! — Wir heben aus dem Bericht noch 
die Diphtheriestatistik heraus: die Zahl der nach Anwendung von Heil¬ 
serum genesenen Fälle ist eine noch grössere, als in den Vorjahren: 
sie betrug 1894 = 16,63, 1895 = 11,2, 1896 = 9 pCt. Bei Scharlach 
hat das Antistreptokokken-Serum „den erhofften Erfolg nicht erbracht.“ 


XII. Amtliche Mittheilungen. 

Perasnalla. 

Auszeichnungen: Charakter als Medicinalrath: dem Medicinal- 
Assessor bei dem Kgl. Medicinal-Collegium der Provinz Ostpreussen, 
gerichtl. Stadtphysikus und ao. Professor Dr. Seydel in Königs¬ 
berg l. Pr. 

Erhebung in den Adelstand: der Leibarzt Sr. Majestät des 
Kaisers und Königs, Generalarzt I. Kl., Professor Dr. Leuthold, 
Corpsarzt des Garde-Corps in Berlin. 

Ernennung: der prakt. Arzt Dr. Hartisch in Czempin zum Kreis¬ 
wundarzt des Kreises Kolmar i. P. mit Wohnsitz in Schneidemühl. 

Prädikat als „Professor“: dem Priv.-Doc. Dr. Hansemann 
in Berlin. 

Niederlassungen: die Aerzte Dr. Wiegandt in Ostcrwieck, Dr. 
Jaeschke in Grottkau, Dr. Rostoski in Ruppertshain, Dr. Koch 
in Wiesbaden, Eugen Loewy in Neisse. 

Verzogen sind: die Aerzte Dr. Breilmann von Ahlen, Dr. Theben 
von Telgte, Schäfer von Drensteinfurt nach Telgte, Kraenzle von 
Oberrad nach Stuttgart, Dr. Nolte von 8chierstein nach Wiesbaden, 
Dr. Guggenheim von Frankfurt a. M. nach Berlin, Dr. Melde von 
Alsheim nach Friedrichsthal, Dr. Sartorius von Strassburg i. E. nach 
Sulzbach, Dr. Gass von Brühl nach Altenwald, Dr. Wiehage von 
Malstatt-Burbach nach Dortmund, Mai von Kieferstädtl, Dr. Grittner 
von Grottkau nach Leobschütz, Dr. Streckenbach von BeuthenO.-Schl. 
nach Tamowitz, Dr. Irrgang von Ober-Kühschmalz nach Quaritz, 
Dr. Wongtschowski von Biskupitz nach Lublinitz, Stern von 
Aken a. E. nach Darmstadt, Dr. von Gusnar von Barby nach 
Schweina i. Thür., Dr. Bernstein von Osterwieck nach Berlin, Dr. 
Beese von Unseburg nach Neuhaldensleben, Dr. Neuberg von Sar¬ 
stedt nach Magdeburg, Dr. Steiner von Erlangen nach Magdeburg. 

Gestorben ist: Sanitätsrath Dr. Bernhardt Gordan in Berlin. 


■ekanntMaehuB|. 

Zum 1. April d. J. wird die Kreis-Physikatsstelle zu Langensalza 
frei. Gehalt 900 M. jährlich. Bewerber wollen Bich unter Vorlage eines 
Lebenslaufs und der Qualiflcations-Atteste binnen 4 Wochen bei mir 
melden. 

Erfurt, den 25. März 1897. 

Der Regierungs-Präsident. 

Für die Redaction verantwortlich Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald, LiRxowplata 5. 


Verlag und Eigenthum von August Hirschwald in Berlin. — Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin. 


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t>U Beiliu« Klinische Wochenschrift erscheint Jeden 
Montag in der Stärk« von 9 bis S Bogen gr. 4. — 
Preis vierteljährlich 6 Mark. Bestellungen nehmen 
alle Buchhandlungen und Postanstalten an. 


BERLINER 


Einsendungen »olle man portofrei an die Redactlon 
(W. Liluowplat* No. 5 ptr.) oder an die Verlags¬ 
buchhandlung von August Hirschwald in Berliu 
N.W. Unter den Linden No. 68, adresslren. 



Organ für practische Aerzte. 


Mit Berücksichtigung der preussischen Medicinalverwaltung und Medieinalgesetzgebung 

nach amtlichen Mittheilungen. 

Redaction: Expedition: 

Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald und Prof. Dr. C. Posner. August Hirschwald, Verlagsbuchhandlung in Berlin. 


Montag, den 12. April 1897. 


M 15. 


Vieninddreissigster Jahrgang. 


INHALT. 


I. Aus der inneren Abtheilung des städtischen Krankenhauses am 
Urban in Berlin. A. Fraenkel: Ueber einige Complicationen 
and Aasgänge der Influenza. 

II. J. Hirschberg: Ueber Entfernung von Kupfer-Splitteru aas dem 
Aagengrande. 

III. L. Casper: Aufgaben und Erfolge bei der Behandlung der chro¬ 
nischen Gonorrhoe. 

IV. A. Freudenberg: Die galvanokaustiscbe Radicalbehandlung der 
Prostatahypertrophie nach Bottini. 

V. H. Büchner: Zu Koch's Mittheiiung über neue Toberculinpräparate. 

VI. Kritiken and Referate. Koch: Neue Tuberculinpräparate. 


I. Aus der inneren Abtheilung des städtischen Kranken¬ 
hauses am Urban in Berlin. 

Ueber einige Complicationen und Ausgänge 
der Influenza. 

Nebst Bemerkungen Uber putride und interlobäre 
Pleuritis. 1 ) 

Von 

Prof. A. Fraenkel. 

M. H.! Die in den letzten Wochen sich häufenden Influenza¬ 
erkrankungen in unserer Stadt veranlassen mich, Ihnen Uber 
einige Erfahrungen anf diesem Gebiete, welche ich theils gerade 
jetzt, theils in den letzten Jahren zu machen Gelegenheit hatte, 
zu berichten. Dieselben stellen Beiträge zu den eigenartigen 
Complicationen und Ausgängen dieser Erkrankung dar, welche, 
wie Ihnen ja zur GenUge bekannt, so wesentlich das Interesse 
an derselben erhöhen. Der erste der von mir in der diesmaligen 
Epidemie beobachteten Fälle kam am Ende der eisten November¬ 
woche vorigen Jahres zur Aufnahme auf meine Abtheilung. Er 
betraf ein 24jährigcs Mädchen, welches, nachdem sie im Sep¬ 
tember einen recidivirenden Gelenkrheumatismus durchgemacht 
hatte, im October von Neuem fieberhaft erkrankt war. Beim 
Eintritt in das Hospital bot Patientin das Bild einer schwer 
Kranken mit hohem Fieber, unregelmässigem, sehr beschleunigtem 
Pulse (130—140 in der Minute), starker Dyspnoe und erd¬ 
farbenem Colorit des Gesichtes. Auswurf fehlte, dagegen be¬ 
stand Uber dem Unterlappen der rechten Lunge Dämpfung und 
an verschiedenen Stellen des Thorax kleinblasige Rasselgeräusche. 
Ich dachte anfänglich an Miliartuberculose oder an eine septische 


1) Vortrag, gehalten in der med. Gesellschaft am 10. März 1897. 


VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Berliner me- 
dicinische Gesellschaft. Baginsky: Präparate von Barlow’scber 
Krankheit. Mordhorst: Harnsaure Concremente. Frenden¬ 
berg: Radicalbehandlung der Prostatahypertrophie. — Verein für 
innere Mediciu. Michaelis: Mumps. Gräupner: Gangraecha- 
nismns. Siegheim: Endocarditis gonorrhoica; Demonstration. 
Flat au: Veränderungen des menschlichen Rückenmarks. Dis- 
cussion über StrausB: Zur Lehre von der neurogenen und thy¬ 
reogenen Glykosurie. 

VIII. Praktische Notizen. — IX. Tagesgeschichtliche Notizen. 

X. Amtliche Mittheiiungen. 


Infection. Schon am 3. Tage erfolgte der Exitus und die Section 
ergab du Vorliegen einer Iafluenzapneumonie, in deren 
Herden sowohl in Abstrichpräparaten, wie auf mikroskopischen 
Schnitten die typischen Bacillen in reichlichster Menge gefunden 
wurden. Das Blut hatte sich zu Lebzeiten als bacterienfrei er¬ 
wiesen. 

Während im December vorigen und im Januar dieses Jahres 
die Zahl der Grippefälle auf meiner Abtheilung eine spärliche 
war, haben sich alsdann, wie schon erwähnt, seit der zweiten 
Hälfte des Februar die Influenzaerkrankungen gemehrt; doch ent¬ 
sprechen die Aufnahmen im Krankenhause, wie ich aus eigener 
Beobachtung in der Privatpraxis aussagen kann, nicht im Ent¬ 
ferntesten der grossen Menge von Erkrankungen in der Stadt. 

Meine heutigen Auseinandersetzungen beziehen sich 1. auf 
die zuweilen im Gefolge von Influenza auftretende jauchige 
Pleuritis, 2. auf einige am Gefässapparat auftretende Com¬ 
plicationen. Von den Ausgängen, welche die Influenzapneumonie 
nimmt, habe ich des einen bereits vor 2 Jahren bei Gelegenheit 
meines Vortrages Uber subacut verlaufende indurirende 
Lungenentzündungen 1 ) in dieser Gesellschaft Erwähnung ge- 
than. Ich bemerkte damals, dass, ebenso wie die gewöhnliche 
fibrinöse Pneumonie, auch die Influenzapneumonie gelegentlich, 
statt in Lösung Uberzugehen, einen mehr chronischen Verlauf 
nimmt, unter der gleichzeitigen Entwickelung von Erscheinungen, 
die auf eine Schrumpfung der Lunge hinweisen. Die Kenntnis» 
solcher Fälle ist deshalb von Bedeutung, weil sie leicht zu 
Verwechslungen mit Tuberculose Veranlassung geben, in¬ 
dem nicht blos das Fieber, sondern auch die physicalischen Er- 


1) A. Fraenkel, Klinische und anatomische Mittheiiungen Uber in- 
durative Lungenentzündung. Deutsche med. Wochensehr. 189 r >, No. II, 
p. 178- 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 15. 


scheinungen, Schallabschwächung wie Rasselgeräusche, lange Zeit 
bestehen bleiben. Doch ist dieser Ausgang verhältnissmässig 
selten; etwas häufiger ist der auch praktisch sehr viel 
wichtigere Uebergang in Lungengangrän. In der be¬ 
kannten, von v. Leyden und S. Guttmann herausgegebenen 
Sammelforschung Uber Influenza findet sich derselbe (»mal auf- 
gefUhrt; leider fehlen in ihm genauere Angaben Uber die absolute 
Zahl der Fälle von Influenzapncumonie, so dass man Uber das 
procentische Verhältnis im Unklaren bleibt. Es haben aber 
ausserdem noch verschiedentliche Aerzte Uber diesbezügliche 
Beobachtungen berichtet; ich führe n. A. Kundrat, Dräsche, 
Leichtenstern und vor Allem Rhyner an. Auch einzelne 
Mittheilungen Uber einfachen Lungenabscess im Gefolge von In¬ 
fluenza liegen vor. Will man diese Ausgangsweisen der Krank¬ 
heit ordentlich wUrdigen, so muss man sich die anatomischen 
Eigentümlichkeiten der Influenzapneumonie klar machen. 

Die Influenzapneumonie stellt eine der charakteristisch¬ 
sten Formen der Bronchopneumonie dar. Der entzündliche Pro- 
cess breitet sich bei ihr von den Bronchien auf die Alveolar¬ 
gänge und die Alveolen selbst aus. Macht man die mikro¬ 
skopische Untersuchung der Lunge, so sieht man die Hohlräume 
dieser sämmtlichen Gebilde in dichtester Weise von Eiter¬ 
körperchen erfüllt und zwar nahezu ausschliesslich von solchen. 
In den Bronchien ist ihre Anhäufung eine so reichliche, dass sie, 
wie R. Pfeiffer dies sehr anschaulich schildert und ich auf 
Grund eigener Wahrnehmung bestätigen kann, nicht nur zwischen 
das Cylinderepithel eindringen, sondern dieses stellenweise sogar 
in seinem ganzen Zusammenhänge von der Unterlage abheben, 
so dass es gewissermaassen in dem eitrigen Inhalte des Lumens 
schwimmt. Ebenso dicht ist ist die Aneinanderlagerung der 
Lymphkörperchen in vielen der zugehörigen Alveolen, und da 
gleichzeitig das interstitielle Bindegewebe, namentlich das in 
der Umgebung der Bronchien befindliche, vielfach ebenfalls mit 
Rundzellen infiltrirt ist, so gewinnt man oft beim Anblicken der 
mikroskopischen Bilder den Eindruck, als ob der Process bereits 
bis zur eitrigen Einschmelzung vorgeschritten sei. Thatsächlich 
kommt es auch dazu in einem grossen Theil der letal ver¬ 
laufenen Fälle. — Ausser den Lymphkörperchen enthält der 
Alveoleninhalt wenig andere Bestandtheile; vor Allem fällt der 
fast vollständige Mangel an Fibrin auf, welches bei den meisten 
anderen Formen der Bronchopneumonie, namentlich wenn man 
die Weigert’sclie Fibrinfärbungsmethode zu Hülfe nimmt, sich 
unschwer, wenngleich in erheblich geringerer Menge wie bei 
der genuinen, i. e. lobären fibrinösen Pneumonie nachweisen 
lässt. Diese Abwesenheit des Fibrins ist die Ursache, weswegen 
die lobulären Infiltrate bei der Betrachtung mit unbewaffnetem 
Auge meist eine auffallend glatte Beschaffenheit darbieten, wäh¬ 
rend andererseits aus der verhältnissmässig geringfügigen oder 
ebenfalls völlig fehlenden Beimengung rother Blutkörperchen sich 
die mehr eiterartige Beschaffenheit des Auswurfs erklärt. Rost¬ 
farbene Sputa werden bekanntlich bei der typischen Influenza¬ 
pneumonie nur selten angetroffen; manche Autoren leugnen so¬ 
gar ihr Vorkommen bei derselben und sind geneigt, da, wo sie 
auftreten, eine Mischinfection mit anderen Mikroorganismen, 
namentlich mit dem Pneumococcus anzunehmen. Diese An¬ 
schauung vertritt u. A. Leichtenstern 1 ) in seiner vor nicht 
langer Zeit erschienenen trefflichen Monographie. Ob sie absolut 
richtig ist, lasse ich dahingestellt, ebenso wie es mir fraglich 
erscheint, ob die Abweichungen, welche das anatomische Bild 
von dem eben geschilderten in nicht wenigen Fällen darbietet, 
allemal auf denselben Umstand zuiilckgefUhrt werden dürfen. In 


1) Leichtenstern, Influenza und Dengue in Nothnagels spec. 
Path. u. Therapie, Bd. IV, 2. Th., 1. Abth., Wien 1896. 


diesen nicht ganz typischen Fällen sieht man nämlich neben den 
beschriebenen mehr grau gefärbten Herden mit nahezu glatter 
Schnittfläche solche von rötherer Färbung und körniger Be¬ 
schaffenheit, welche schon durch den letzteren Umstand einen 
gewissen Reichthum des Infiltrates an Fibrin verrathen. 

Birch-Hirschfeld ') sowohl wie Leichtenstern*) sprechen 
direct von einer Verbindung mit fibrinöser Pneumonie, welche 
letztere nach ihnen nicht blos in Form lobärer, sondern auch in 
Gestalt lobulärer Infiltrate die reine Influenzapneumonie kora- 
pliciren könne. Der Process in der Lunge gewinnt durch das 
Dazwischentreten dieser eben erwähnten Entzündungsherde oft¬ 
mals ein buntscheckiges Gepräge. Ich selbst leugne die häufige 
Mischinfection der Influenzapneumonie durch Pneumokokken in 
keiner Weise und stimme den genannten Autoren auch darin bei, 
dass das Hinzutreten von lobären Infiltrationen, welche klinisch 
unter dem Bilde der gewöhnlichen fibrinösen Pneumonie ver¬ 
laufen, häufig auf einer solchen Mischinfection beruht, fUr deren 
Entwickelung die voraufgegangene Influenza gewissermaassen 
den Boden vorbereitete. Aber meine Auffassung von der speci- 
fischen Wirkungsweise der Influenzabacillen geht doch nicht so 
weit, dass ich mich ohne Weiteres zu dem Schlüsse bequemen 
möchte, dass allemal, wo wir in der Lunge eine mehr körnige 
Beschaffenheit der Herde, d. h. Fibrinreichthum derselben an¬ 
treffen, oder wo die Patienten im Verlaufe einer Influenzapneu¬ 
monie rostfarbene Sputa auswerfen, nun auch eine Betheiligung 
von Pneumokokken vorliegen müsse. Es ist a priori nicht 
abzusehen, warum der Influenzabacillus gelegentlich 
nicht auch fibrinöse Exsudation bewirken könne. Zur 
Aufstellung der gegentheiligen Behauptung bedarf es noch 
vorerst einer grossen Zahl ein wandsfreier, d. h. mit allen 
Cautelen vorgenommener klinisch-anatomischer Untersuchungen, 
welche vor der Hand fehlen. Auch der mikroskopischen Durch¬ 
musterung des Sputums möchte ich nur dann einen’maassgeben- 
den Einfluss auf die Entscheidung dieser Präge .beimessen, Weilü 
in einschlägigen Fällen wirklich ein massenhaftes Auftreten von 
Pneumokokken in dem Auswurf nachgewiesen ist. Jedenfalls 
liegen mir Fälle von Influenzapneumonie mit rostfarbenem Aus¬ 
wurf vor, bei welchen der letztere die charakteristischen Stäb¬ 
chen nahezu in Reincultur enthielt. Andererseits kann ich nicht 
umhin, gerade auf Grund meiner in diesem Jahre gemachten 
Beobachtungen die Thatsache von Neuem in Erinnerung zu 
bringen, dass zur Zeit der herrschenden Influenza nicht 
selten eine Häufung genuiner Pneumonien stattfindet, 
welche in gar keinen direkten Beziehungen zu der 
Influenza stehen. Wir haben dieselbe namentlich auch wieder 
in den letzten Wochen beobachtet und uns durch genaue mikro¬ 
skopische Untersuchungen davon Überzeugt, dass es sich in den 
betreffenden Fällen durchaus um Reininfectionen mit dem ge¬ 
wöhnlichen Pneumonierreger, dem lanzettförmigen Diplococcus 
handelt. 

Kehren wir nunmehr zu dem Ausgang in Lungengangrän 
bei Influenza zurück. Wie Sie gehört haben, kann eine massen¬ 
hafte Leukocyteninfiltration des Lungengewebes zur wirklichen 
Schmelzung der Infiltrate führen. Diese vollzieht sich ent¬ 
weder in Form multipler Herde oder sie bildet sich nur an 
wenigen oder selbst einer einzigen Stelle aus und erzeugt an 
dieser dafür mitunter einen um so grösseren Substanzverlust. 
Ich habe Fälle gesehen, in denen die hepatisirte Lunge in 
weitester Ausdehnung von zahllosen kleinen hanfkom- bis erbsen¬ 
grossen Erweichungsherden durchsetzt war, so dass ein Anblick 


1) Birch-Hirschfeld, Lehrbuch d. spec. path. Anatomie, 4. Anfl., 
p. 515. 

2) Leichtenstern 1. c., p. 98 n. 99. 


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12. April 1807. 


BERLIN KR KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


311 


entstanden war, als wenn an allen diesen Stellen mit einem Loch¬ 
eisen Defecte herausgeschlagen worden wären. Heutzutage, wo 
vielfach die Neigung besteht, jede Abweichung von dem gewöhn¬ 
lichen Verlaufe auf Mischinfectionen zuriickzuflihren, wird viel¬ 
leicht Mancher gewillt sein, auch diese Einschmelzungen als durch 
Mitbetheiligung von Staphylo- oder Streptokokken bedingt anzu¬ 
sehen. Wir wissen aber, dass auch andere Mikroorganismen, wie der 
Typhusbacillns, der Tuberkelbacillus, welchen fUr gewöhnlich 
die Fähigkeit, Eiterungen zu erzeugen, abgeht, diese Eigenschaft 
gelegentlich doch entwickeln. Beim Influenzabacillus wird uns 
ein solches Verhalten am wenigsten überraschen dürfen, da der¬ 
selbe schon unter gewöhnlichen Verhältnissen einen eitrigen 
Katarrh unterhält und die diesem zu Grunde liegende Leuko- 
cyteneinwanderung sich gar nicht selten auf die tieferen, binde¬ 
gewebigen Abschnitte des Lungenparenchyms fortpflanzt. Da¬ 
gegen ist es begreiflich, dass, wenn unter dem Einfluss jener 
leukocytären Infiltration bereits wirkliche Vereiterung des Lungen¬ 
gewebes stattgehabt hat, nunmehr in die so entstandenen Ab- 
scesse auch andere Mikroorganismen mit Leichtigkeit einwandern 
und sich in ihnen vermehren können. Befinden sich die Eiterherde 
in der Nähe der Lungenoberfläche, so liegt nichts näher, als dass 
dieselben in die Pleurahöhle durchbrechen und zu plötzlicher 
Entstehung eines Pneumothorax Veranlassung geben. 
Dieses Vorkommniss ist verschiedentlich beobachtet worden, so 
von Dräsche, Mosler, Fürbringer, Kundrat. In einem 
von Albu 1 ) berichteten Falle hatte sich im Anschluss an eine 
rechtsseitige Influenzapneumonie zunächst ein serös-fibrinöses Ex¬ 
sudat derselben Seite, sowie Pericarditis entwickelt. Plötzlich 
— am 12. Tage der Erkrankung — traten ohne merkliche Zu¬ 
nahme der subjectiven Beschwerden Erscheinungen eines rechts¬ 
seitigen Pneumothorax auf. Die Punction ergab nunmehr ein 
eitriges geruchloses Exsudat, welches Streptokokken enthielt. 
Hier muss es sich offenbar um den plötzlichen nekrotischen 
Zerfall eines peripher, i. e. dicht unter der Pleura belegenen 
Infiltrationsherdes gehandelt haben. In anderen Fällen fehlen 
die Erscheinungen des Pneumothorax oder sie treten zum min¬ 
desten in den Hintergrund, während ihnen gegenüber die Sym¬ 
ptome der putriden Pleuritis das Krankheitsbild beherrschen. 
Das war bei mehreren meiner Patienten der Fall, aus deren 
Zahl ich die Krankengeschichte zweier alsbald berichten werde, 
und ereignet sich allemal, wenn der Erweichungsherd vor seiner 
Entleerung in das Cavum pleurae durch Hineingelangen von 
Fäulnisserregem gangränöse Beschaffenheit angenommen hat. 

In der Influenzaepidemie des Jahres 1891/92, d. h. also 
derjenigen, welche dem ein Jahr zuvor etattgehabten grossen 
Seuchenzuge folgte, wurden auf meiner Abtheilung 272 Influenza¬ 
kranke behandelt. Von diesen Kranken boten 80, d. h. 22 pCt., 
die Erscheinungen der Influenzapneumonie. Sechsmal wurde 
klinisch der Ausgang in Lungengangrän constatirt, 
einmal unter gleichzeitiger Entstehung eines Pneumothorax. Das 
würde also besagen, dass etwa 7,5 pCt. der Fälle von 
Influenzapneumonie diesen Ausgang nehmen, jedenfalls, 
wie Sie sehen, ein weit grösserer Satz, als ihn die gewöhnliche 
fibrinöse Pneumonie darbietet. 

Es sind nun zwei Punkte, auf die ich mir gestatte, Ihre 
Aufmerksamkeit im Besonderen zu lenken. Erstens: die mit¬ 
unter geradezu erstaunliche Schnelligkeit, mit der 
sich die Lungengangrän und die von ihr abhängigen 
Folgezustände, der Durchbruch in die Pleurahöhle 
mit secundärer putrider Pleuritis entwickeln. Zwei¬ 
tens: die Eigenart der Symptome, welche den Eintritt 

1) Albo, Zur Kenntniss der Influenzapneumonien. Deutsche med. 
Wochenschrift 1894, No. 7, S. 150. 


der letzteren Complication ankündigen und nicht selten 
die Wahrscheinlichkeitsdiagnose schon gestatten, bevor überhaupt 
die Lungengangrän manifest geworden, ja bevor selbst die den 
endgültigen Ausschlag gebende Probepunction ausgeführt worden 
ist. Auf den ersten Punkt hat bereits Rhyner') hingewiesen. 
In einem seiner Fälle, welcher eine 26jährige Frau betraf, 
wurden am 6. Tage nach Beginn der Erkrankung die Symptome 
einer rechtsseitigen Unterlappenpneumonie entdeckt; am Abend 
desselben Tages machte sich Foetor der Exspirationsluft be¬ 
merkbar und am folgenden Tage entleerte die Patientin beim 
Arbeiten reichliche Mengen putriden Sputums. Obzwar es kaum 
zweifelhaft ist, dass die Pneumonie schon einige Tage zuvor 
eingesetzt hatte, und nur wegen ihres centralen Sitzes nicht 
nachweisbar war, so muss doch immerhin die Einschmelzung 
des Infiltrates sich mit grosser Rapidität vollzogen haben. Im 
zweiten Falle trat am 12., im dritten am 20. Tage Pneumo¬ 
thorax auf. Dem letzteren nähert sich in Bezug auf das zeit¬ 
liche Verhalten die, eine 36jährige Patientin betreffende Beob¬ 
achtung Drasche’s; die Erkrankung hatte am 23. December 
1889 begonnen, und am 9. Januar 1890, also am 17. Tage nach 
dem Beginn, war der Durchbruch in die Pleurahöhle unter den 
Symptomen des Pneumothorax erfolgt, dem die Patientin schon 
nach wenigen Stunden erlag. Auch in den beiden von mir nun¬ 
mehr zu berichtenden Fällen von putrider Pleuritis im Gefolge 
von Influenzapneumonie ereignete sich dieser Ausgang ganz 
plötzlich und — wenigstens in dem einen — auffallend früh. 

Der erste betraf einen 25jährigen kräftigen jungen Mann, welcher 
anf der Reise von Stockholm nach Berlin begriffen, in Hamburg am 
9. März 1895 an Influenza erkrankt war, trotzdem jedoch die Reise 
hierher nicht unterbrochen hatte, und mit Fieber und heftigen öchmerzen 
in der rechten Brusthälfte in Berlin ankam, so dass er sofort das Bett 
aufzusnehen gezwungen war. Der Auswurf war bräunlich mit einem 
Stich ins Rostfarbene. Ich sah den Patienten zum ersten Mal mit dem 
ihn behandelnden Herrn Collegen Perl am 11. März. Es bestand hinten 
rechts unten bis zum Angulus scapulae Dämpfung, innerhalb deren das 
Athemgeräueh abgeschwächt war, während an den meisten Übrigen 
Stellen beider Thoraxhälften grobe Rasselgeräusche hörbar waren. Die 
Kurzathraigkeit war beträchtlich, die Druckempfindlichkeit der 
hinteren Intercostalräume im Dämpfungsbezirke ausser- 
gewöhnlich stark. Am 14. März, i. e. am 5. Tage nach Beginn 
der Erkrankung, wurde unterhalb des Angulus scap. dextr. eine 
Probepunction gemacht, welche stinkenden Eiter zu Tage för¬ 
derte. Die Operation des Empyems mit Resection der 8. Rippe geschah 
am nächstfolgenden Tage durch Herrn Collegen Körte, worauf die Tem¬ 
peratur sofort abflel, um nach Verlauf einiger Tage einem subnormalen 
Verhalten Platz zu machen. — 

Im zweiten Falle handelte es sich um einen 37jährigen hiesigen 
Collegen. Derselbe, gleichfalls ein kräftiger Mann, batte bereits Anfang 
1896 eine schwere Influenza (bronchitische Form mit vorwiegender Lo- 
calisation der Erscheinungen auf der linken Thoraxhälfte) durchgemacht, 
von der er sich nur langsam erholte. Erst nach längerem Landaufent¬ 
halt während des Sommers war das Befinden wiederum völlig normal 
geworden. Am 17. November desselben Jahres erkrankte Patient von 
Neuem an Influenza, und wieder war der Hauptsitz der Erscheinungen 
auf der linken Seite. Die Temperatur erreichte in maximo 39,7° C., 
fiel aber schon am 22. XI. zur Norm ab, worauf ein solches Wohl¬ 
befinden eintrat, dass Patient bereits am 23. wieder ausging und in den 
folgenden Tagen seine Praxis besorgte. In der Nacht vom 30. November 
bis 1. December wurde er, nachdem er noch um 1 Uhr wachgewesen 
war und keinerlei Krankheitsgefühl verspürt hatte, gegen Morgen von 
lebhaften linksseitigen Brustschmerzen befallen. Trotzdem machte er am 
Vormittage Krankenbesuche, bis die Schmerzen so unerträglich wurden, 
dass er beim Gehen alle paar Schritt stehen bleiben musste. Am 
3. December sah ich den Patienten zum ersten Male in Gemeinschaft 
mit Herrn Collegen Assmann. Er hatte 48 Stunden ausserhalb des 
Bettes wegen der Heftigkeit der Bruststiche auf dem Stuhle sitzend zu¬ 
gebracht, und wagte kaum eine tiefe Inspiration zu machen. Die Zahl 
der ganz oberflächlichen Athemzüge betrug einige vierzig. Das Gesicht 
war cyanotisch, Puls über 120, Temperatur 38,1 0 C.; selbst leiseste 
Berührung der linksseitigen Intercostalräume erregte so lebhafte Schmerz¬ 
äusserung, wie man sie sonst bei Pleuritis nur in ganz seltenen Fällen 
wahrzunehmen Gelegenheit hat. Bei der Untersuchung fiel 
sofort die beträchtliche Verschiebung des Herzens nach 
rechts auf, indem dasselbe den rechten Sternalrand um 3 cm 

1) Rhyner, Lungengangrän nach Influenza. Münchener med. 
Wochenschrift 1895, No. 9 u. 10. 


1 * 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 15. 


überragte. Dabei bestand links ansBen von der Herzdämpfnng auffal¬ 
lend lauter und hoher tympanitischer Schall, welcher weiter abwärts in 
die Schallzone des völlig erhaltenen halbmondförmigen Raumes 
überging. In der unteren Hälfte der linken 8eitenwand war der Per¬ 
cussionschall mässig gedämpft, in verstärktem Maasse dagegen hinten 
links vom Angulus scapulae ab. Man hörte innerhalb dieses Bezirks 
abgeschwächtes Athmen und sparsames, grobblasiges, klingendes Rasseln; 
Fremitus daselbst nahezu aufgehoben. An allen übrigen Stellen des 
Thorax Pfeifen und Schnurren. Reichliches, vorwiegend schleimiges, 
aber vollkmmen geruchloses 8putum. Die Vermuthung, dass es 
sich um Durchbruch eines in eitrige Schmelzung übegegangenen Ent¬ 
zündungsheerdes und sehr wahrscheinlich daran anschliessende jauchige 
Pleuritis handele, wurde trotz mangelnder eindeutiger Symptome von 
Pneumothorax sofort ausgesprochen. Der stark sedimentircnde 
Harn enthielt mindestens 9,0*/oo Albuinen. In den nächsten 
Tagen bewegte sich die Temperatur zwischen 88,5 und 88,9° C., das 
Sputum behielt seine geruchlose Beschaffenheit. Eine am 5. December 
im 8. und 9. Intercostalraum hinten links, an verschiedenen Stellen aus¬ 
geführte Probepunction war ergebnislos. 8o blieb der Zustand unter 
Ermässigung der Schmerzen nnd Fortdauer des Fiebers, welches Morgens 
wenig über 88° betrug, des Abends aber meist sich auf 88,6—39° C. 
erhob, stationär, bis zur Nacht vom 13. zum 14. December, in welcher 
Patient unter unaufhörlichem Husten ca. 1'/, Liter eines 
aashaft stinkenden dünnen Eiters auswarf. Am Vormittag des¬ 
selben Tages wurde die. Probepunction in Gemeinschaft mit Herrn Col- 
legen Koerte wiederholt, und zwar zunächst beim Einstechen der Nadel 
in den 8. Intercostalraum mit demselben negativen Resultat, wie das 
erste Mal. Erst alB man dicht neben dem Angulus scapulae im siebenten 
Intercostalraum vorging, erschien Eiter von derselben stinkenden Be¬ 
schaffenheit wie das ausgeworfene Sputum. Die Radicaloperation mit 
Resection eines Stückes des hinteren Theiles der 8. Rippe wurde am 
15. December ausgeführt. Hierbei zeigte sich, dass der linke untere 
Lungenlappen von der 8. Rippe ab, also dicht unterhalb der 
Eröffnungsstelle der Pleura fest mit der hinteren unteren 
und seitlichen Brustwand verlöthet war, so dass man die die In¬ 
terlobärspalte begrenzende obere Fläche desselben in weiter Ansdehnung 
übersehen konnte, während die Empyemböhle sich nach auf- und einwärts 
erstreckte. Schon vom nächsten Tage ab war der Patient fieberfrei und 
schwand die Putrescenz des 8putums sowie der Eiweiss- 
gehalt des Harns völlig. Die Genesung erfolgte, wie im vorher¬ 
gehenden Falle, ohne weiteren Zwischenfall. 

(Schluss folgt.) 


II. Ueber Entfernung von Kupfer-Splittern aus 
dem Augengrunde. 

Von 

J. Hirschberg. 

■ (Nach einem in der Berliner med. Gesellschaft gehaltenen Vortrag.) 

M. H.! In den meisten Fällen, wo ein Fremdkörper in 
die Tiefe des Auges eindringt, handelt es sich um Eisen- 
Splitter und um Verletzung bei der Arbeit. Die Behandlung 
dieser Fälle ist in den letzten 16 Jahren durch Zuhilfenahme 
des Electromagneten zu einer grossen Sicherheit gediehen. In 
den 12 Fällen z. B., die im Jahre 1896 mit Eisen-Splittern im 
Augen-Innern zu mir kamen, wurde jedes Mal sofort ohne 
Nebenverletzung der Splitter entfernt 1 ). 

Die Ausziehung der Eisen-Splitter ist aber nicht blos werth¬ 
voll an sich, sondern sie hat uns auch Muth gemacht und den 
Weg gebahnt 2 ) zur Entfernung von andern Metall-Splittern, 
die dem Magneten nicht folgen. 


1) Wenn auch in 2 Fällen der übergrosse Fremdkörper das Auge 
hei der Verletzung bereits derartig zerfetzt hatte, dass es nicht erhalten 
werden konnte; so ist doch in 3 schweren Fällen der Splitter aus Glas¬ 
körper oder Netzhaut mit völliger Erhaltung der Sehkraft herausgezogen 
worden. 

2) Ich betone die Wichtigkeit des von mir 1879 angegebenen meri- 

dionalen Schnitts hinter dem Ciliarkörper. A. v. Graefe’s Aequatorial- 
sebnitt „mit Auspressen des Glaskörpers nach Belieben“ (Arch. f. 0. 

IX, 2, 81, 1868) liefert kein bleibendes Sehvermögen. Gerade bei der 

Entfernung von Fremdkörpern kommt alles darauf an, wie es ge¬ 

macht wird. 


Hier kommen zunächst die Kupfer-Splitter in Betracht. 
Bei diesen handelt es sich seltner um Verletzung bei der Arbeit, 
meistens um Explosion von ZUndhtltchen. Die Kupfer-Splitter 
sind nicht blos schwerer zu holen, einmal weil sie wirklich 
mit einer Zange gepackt werden müssen, sodann wegen ihrer 
oft winzigen Kleinheit; -sondern sie sind auch weit gefähr¬ 
licher, als die Eisen Splitter. 

Schon der Thierversuch lehrt 1 ), dass Kupfer-Splitter, 
keimfrei in’s Augen-Innere eingebracht, weit regelmässiger, als 
Eisen, Eiterung bedingen. Kupfer in der Vorderkammer bewirkt 
Eiterung, in der Linse wird es gut vertragen, im Glaskörper 
macht es Netzhautablösung, oder Eiterung, wenn der Splitter 
dom Augengrund aufliegt. 

Hiermit stimmt die klinische Erfahrung am Menschen 
Uberein. Eisen-Splitter heilen öfters im Augengrund reizlos ein, 
Kupfer-Splitter überaus selten. 

Auf dem internationalen ophthalmologischen Congress zu 
Edinburgh 2 ) im Jahre 1894, wo Leber Uber Angenverletzung 
durch Kupfer-Splitter sprach, hatten nur zwei Beobachter über 
reizlos in der Netzhaut eingekapselte Kupfer-Splitter 3 ) zu be¬ 
richten, während ich selber wohl ein Paar Dutzend reizlos im 
Augengrund eingeheilter Eisen-Splitter beobachtet habe. Doch 
verdient angemerkt zu werden, dass manchmal früher, manchmal 
erst nach vielen Jahren, die Sehkraft des verletzten Auges doch 
noch durch den eingeheilten Metall-Splitter verloren geht. 

Ein Kupfer-Splitter im Innern eines Auges bewirkt sogar 
gelegentlich sympathische Erblindung des zweiten Auges, 
wie schon 1835 v. Ammon, einer der ersten Besehreiber der 
sympathischen Augenentzündung, in seiner preisgekrönten Ab¬ 
handlung Uber die Iritis nachgewiesen 4 * ). 

Wegen dieser Gefahr wird meist der Augapfel, welcher 
den Zündhut-Splitter beherbergt und stärkere Entzündungserschei- 
nungen darbietet, operativ entfernt, um das zweite Auge sicher 
zu stellen. Leber 6 ) hat neuerdings die Ansicht aufgestellt, dass 
sympathische Entzündung des zweiten Auges nur dann folgen 
könne, wenn bei der Verletzung des ersten Auges mit dem 
Splitter auch pathogene Keime in’s Innere eingedrungen waren; 
nicht aber, wenn (wie gewöhnlich bei explosiven Verletzungen) 
der Splitter aseptisch in’s Auge gedrungen ist, und die folgende 
Entzündung und Eiterung nur chemisch durch die Anwesenheit 
des Kupfer-Splitters bedingt sein kann. Mag man diese Ansicht 
annehmen oder nicht, jedenfalls sind Leb er’s Erfolge ermuthi- 
gend. In 25 Fällen von Kupfer-Splittern im Augen-Innem ist 
ihm die Entfernung 7 Mal nicht geglückt, 18 Mal gelungen. 
Drei Mal musste zwar nachträglich doch der Augapfel heraus¬ 
geschnitten werden. Von den 15 gelungenen Fällen aber wurde 

1) Vgl. Leber, Die Entstehung der Entzündung. Leipzig 1891. 

2) Centralbl. f. Angenheilk. 1894, S. 276 u. 414. 

3) Vgl. auch den Fall von Goldzieher, Centralbl. f. Augenheilk. 
1875, Jan.-Heft. 

4) Schon vor 23 Jahren habe ich gezeigt, dass v. Ammon 1835 
wohl zuerst die sympathische Iritis beschrieben (Arch. f. Aug. V, 1). 
Mackenzie hat in der ersten Auflage seines Lehrbuchs (London 1880, 
S. 480) nur den folgenden Satz: We sometimes meet with severe sym- 
pathetic ophthalmia in the eye wich has not received the injury. Die 
Lehrbücher thäten gut, dies endlich zu berücksichtigen. Andeutungen 
Uber sympathische Augenentzündung finden wir schon im vorigen Jahr¬ 
hundert. Vgl. Plenk, Augenkrankbeiten. Wien 1778, S. 806: Eitrige 
Verdunklung des Glaskörpers (Glaucoma purulentum). . . . Diese Krank¬ 
heit ist unheilbar, und wenn man das kranke Auge nicht ausrottet, so 
greift sie auch das andre, noch gesunde Auge an. — Der Begriff <xv/i- 
rStftsia stammt aus Galen (de loc. aff. I, 3; Kühn VIII, 91), der Name 
ophthalmia sympathica im weiteren Sinne findet sich schon bei Beer 
(Augenkr. I, 453, 1813) und bei Himly (I, 404, 1817). 

5) Centralbl. f. Augenheilk. 1894, S. 276 u. 444. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


313 


_12. April 1H07 : 

7 Mal nur die Uussere Fonn de.s Augapfels, 8 Mal auch noch 
ein gewisses Sehvermögen, von 1 ' (;0 bis */,, erhalten. 

Ich selber habe im Jahre 1894 Uber meine bisherigen Beob¬ 
achtungen, nämlich Uber 10 eigne Fälle von Kupfer-Splittern be¬ 
richtet 1 ), und im Jahre 1890 2 ) mein erster Assistent Herr Dr. 
Kuthe Uber 2 Fälle von Messing-Splittern, die er durch die 
Eingangsöffnung glücklich herausgezogen hat; der eine Fall war 
besondere wichtig, da er volle Sehkraft lieferte, und das andre 
Auge des Arbeiters seit 21 Jahren durch Steinwurf unbrauchbar 
geworden. 

Heute bin ich in der Lage, Ihnen zwei neue Fälle vorzu¬ 
stellen, wo durch glückliche Entfernung eines ZUndhut-Splittere 
aus der Tiefe des Auges die Enucleation vermieden werden 
konnte, und ein Rest von Sehkraft erhalten blieb. 

Die erste Bedingung zum Gelingen solcher Operationen 
ist die genaue Diagnose des Fremdkörper-Sitzes. Rönt¬ 
gen's Schattenbilder können hier nichts nutzen; man muss den 
Splitter sehen oder wenigstens den Weg, der gerade zu ihm 
hinfiihrt. Denn das Auge kann man nicht umdrehen wie einen 
Handschuh und das Augen-Innere auch nicht mit dem einge- 
fUhrten Finger abtasten, wie die aufgeschnittene Harnblase. 

Die zweite Bedingung ist ein richtiger Operations¬ 
plan, welcher der Besonderheit des Falles angepasst und unter 
tiefer Betäubung des Kranken, sowie unter strengster Asepsie 
durchgefUhrt werden muss. 

1. Der 29jährige Ziegler H. S. von auswärts zog sich am 26. XII. 
96 beim Gewehr-l’utzen eine Verletzung des rechten Auges zu, durch 
ein platzende» Kupfer-Zündhütchen. Sein Arzt erklärte ihm sehr richtig, 
dass sogar das zweite, nicht verletzte Auge mit in Gefahr schwebe, und 
sandte ihn in eine AugenheilanRtalt. Dort wurde ihm der dringende 
Rath gegeben, sofort das verletzte Auge entfernen zu lassen. 
Dazu konnte er sich nicht entschlossen und reiste wieder nach Hause. 
Der Zustand des verletzten Auges besserte sich angeblich ein wenig, 
aber von Mitte Januar ab wurde es erheblich schlimmer. Am 28. Jan. 
kam er zu mir. Ich fand das verletzte Auge stark gereizt, rings um 
die Hornhaut geröthet. .Im- äusseren unteren, Quadranten der Hornhaut, 
dicht unter der Horizontalen, Ritzt eine schmale Narbe, 6trichförmig, von 
knapp 2 mm Länge; dicht dahinter ein entsprechender Spalt in der 
Iris-Wurzel. Die Pupille ist rund und durch Atropin-Einträufelung nicht 
ein Mal auf mittlere Weite zu bringen. Die, Linse durchsichtig. Hinter 
derselben schläfenwärts. vor dem Strablcn-Kürper und dem vordersten 
Theil der Aderhaut, haftet am Augengrund eine in den Glaskörperraum 
klumpig hervorragende, bläulich-weisse Masse, in der man einen kupfrig- 
glänzenden, schmalen, senkrecht verlaufenden Streifen entdeckt. Es ist 
dies der vordere Rand des im Augengrund eingepflanzten und von der 
entzündlichen Wucherung überdeckten Knpfer-Splitters. Man erkennt 
den letzteren sowohl im umgekehrten Bilde (mit -)- 2") wie auch im 
aufrechten, und auch wenn man über den Rand des BeleuchtungRspiegels 
fortblickt. Der Sehnerveneintritt ist nur ganz verschwommen, mehr an¬ 
deutungsweise. zu sehen, der Glaskörper im Ganzen getrübt. Das Auge 
erkennt die Zahl der Finger auf 4 Fuss, das Gesichtsfeld ist von der 
Nasenseite her etwas eingeengt (gegen 40°). Das andere Auge ist ge¬ 
sund. Da bereits 88 Tage seit der Verletzung verstrichen waren, 
ohne dass cs zu einer allgemeinen Vereiterung des Augeninnern gekom¬ 
men; so musste man annehmen, dass der eingedrungene Fremdkörper 
aseptisch, d. h. frei von Eiter-Kokken, gewesen, was ja auch bei 
solchen Explosionen die Regel bildet, wenn die Eingangswunde klein 
war und rasch sich wieder geschlossen hat. Somit musste der Versuch 
gemacht werden, daB Auge zu erhalten und dtn Fremdkörper heraus- 
zuziehen. Zunächst wurden Einträuflungen von Atropin nnd Cocain an¬ 
geordnet. Aber es traten so unerträgliche nächtliche Schmerzen ein, 
dass der Kranke trotz Morphium und Chloralhydrat nicht im Bett bleiben 
konnte. Auch zeigte sich Faserstoff-Ausschwitzung im unteren Theil 
der Pupille, wie gewöhnlich bei schweren Entzündungen der Aderhant 
und des Glaskörpers. Deshalb schritt ich bereits am 1. Februar zur 
Operation. Der dem Alkohol ergebene Patient erhielt zuerst eine Mor¬ 
phium-Einspritzung, dann 25 gr Chloroform nach dem Tropf-Verfahren, 
gegen Schluss auch reichliche Coeain-Einträuflungen auf die Augapfel-Ober¬ 
fläche. Die Betäubung war ganz tief, was für diese Operationen 
unbedingt geboten scheint, und durchaus befriedigend. Die Operation 
wurde genau nach dem vorher aufgestellten Plan ausgeführt und dauerte 
etwa 4Secunden. Oberhalb des oberen Randes vom äusseren geraden 
Angenmuskel, etwa 5 mm schläfenwärts vom Hornhautrand beginnend, 
wurde durch die Augenhäute mit der Lanze ein wagerechter Schnitt von 
6 mm angelegt und die Lanze bis in den Glaskörper vorgestossen. So- 

1) Deutsche med. Wochenschrift 1894, No. 14. 

2) Centralbl. f. Augenheilk. 1896, Octoberheft. 


fort wurde die geriefte Kapselpincette gespreizt in diesen Schnitt ein¬ 
geführt, gerade nach unten geschoben, geschlossen und wieder heraus¬ 
geführt. Beim ersten Griff war der Fremdkörper herausbefördert. Die 
Bindehautwunde wurde durch eine gekochte Seidennaht geschlossen. 
Glaskörper wurde überhaupt nicht sichtbar, da die Betäubung genügend 
tief, und der linienförmige Schnitt nicht zu klein war. 

Der Schmerz war wie fortgeblasen. Der Kranke schlief gut 
in der folgenden Nacht. Am folgenden Tage war die Pupille von selber 
ganz frei von der Ausschwitzung geworden, was ich auch nach früheren 
Erfahrungen erwartet hatte, die Hornhaut ganz klar. Im Glaskörper war 
Blut sichtbar. Das ist ja selbstverständlich, wenn man einen solchen 
Fremdkörper ans der Einpflanzung in der Aderhaut herauszieht. Das 
Auge zählte bald die Finger und zeigte richtige Projection. Der Kupfer- 
Splitter ist dünn, 3 mm lang, 1 '/* mm breit. Nach 3 Wochen sah das 
Auge äusserlich fast wie ein gesundes aus. Der Kranke war nicht länger 
zu halten und reiste nach Hause. 

10. III. 97 kehrte er wieder. Das Auge hatte sich noch wesentlich 
gebessert, zählte Finger auf 3 Fuss und zeigte eine nur mässige Ge- 
sichtsfeldbeschränkung, nasenwärts. (i. 30°, o. 80°, a. 80°, u. 60“). Die 
Kapsel des Fremdkörpers ist mit dem Augenspiegel noch sichtbar, wie 
wohl verkleinert, Blut noch im Glaskörper vorhanden, die Spannung nor¬ 
mal. Es sind heute 45 Tage seit der Operation verstrichen. Der Erfolg 
kann als ein bleibender betrachtet werden. 

Die Sehkraft ist langsam, aber stetig in Zunahme begriffen. 18. III. 97 
erkannte das verletzte Auge die Schriftprobe Schneller No. 7,5 in 6 Zoll 
Entfernung. 

2. Noch merkwürdiger und schwieriger war der zweite Fall. 

Am 3. XII. 96 wurde der 13jährige F. M. von auswärts zur Auf¬ 
nahme gebracht. Das rechte Auge sollte vor 8 Wochen einen Stock¬ 
schlag erlitten haben. Es sah nur Finger auf 2 Fuss (S = Vi«o)> bei 
allseitiger Gesichtsfeld Verengerung (o. 80°, a. 50°, u. 40°, i. 40*). Das 
Auge war stark gereizt, rings um die Hornhaut geröthet, die letztere 
zart rauchig getrübt, die Regenbogenhaut entzündet, am Boden der 
Vorderkammer eine kleiner Eiterabsetzung. Glaskörper getrübt. Augen¬ 
hintergrund nicht sichtbar, Spannung herabgesetzt. Dabei war keine 
Spur einer Verletzungsnarbe nachzuweisen. Ich sagte dem Knaben auf 
den Kopf zu, dass er mit Zündhütchen gespielt; er leugnete hart¬ 
näckig. Aber 2 Tage später erhielt ich von dem Vater ein Schreiben 
des Inhalts, dass meine Annahme thatsächlich begründet sei, dass der 
Knabe wirklich mit Zündhütchen gespielt hatte und dabei zu Schaden 
gekommen war, aber aus Furcht vor Strafe das Unglück verhehlt hatte. 

Unter Atropin-Einträuflung und Aufenthalt im Dunkeln besserte 
sich das Auge erheblich, ja fast wunderbar. Die Sehkraft stieg von 
’/ioo auf ’/si das Gesichtsfeld wurde fast normal. 

Das Auge war reizlos, zeigte eine kleine Verwachsung des unteren 
Pupillarrandes, mässige Glaskörperflocken und jene Schwellung des 
Sehnerveneintritts mit Erweiterung der Netzhautvenen, die wir öfters 
bei durchbohrenden Verletzungen des Augapfels als Fern Wirkung beob¬ 
achten. Ich zeigte, den Knaben mehreren, namentlich auch englisch 
redenden Aerzten, als Beispiel der Thatsache, dasR man nicht zu schnell 
die Entfernung des verletzten Augapfels vornehmen sollte. Der Knabe 
wurde zu seinen hiesigen Verwandten entlassen und blieb in Beob¬ 
achtung. Aber 5. II. 97. also etwa 12 Wochen nach der Verletzung, 
fand ich das Auge wieder gereizt nnd nahm den Knaben von Neuem auf. 
Eine grüngelbe Masse von halbkreisförmiger Begrenzung mit einem 
oberen rundlichen Fortsatz wuchs vom unteren Theil des Strahlenkörpers 
dicht hinter der Linse empor bis zn deren hinterem Scheitel. Offenbar 
war aber auch die hinterste Schicht der Linse selber in flacher Lage 
mit getrübt. Ich hatte solche umschriebene Eiterzellen-Einwanderung in 
die hinteren Linsenschichten schon früher bei Verletzungen des Aug¬ 
apfels mit Eindringen von Fremdkörpern beobachtet und sah in unserem 
Fall (mit der Lupe hinter dem Angenspiegel) das Anwachsen dieser 
Linsentrübung, indem am oberen Rand erst durchsichtige Blasen, wie 
Myelin-Tropfen, sich bildeten, die dann nach kurzer Zeit in weisse Trü¬ 
bungsmasse sich umwandelten. Ausserdem war bei erweiterter Pupille 
gerade oberhalb deB unteren Linsenrandes ein Trübungs- 
Schlauch zu entdecken, der die Linse von vorn nach hinten durch¬ 
setzte. Fremdkörper nicht sichtbar, aber hinter dem unteren Linsen- 
Rand im Strahlenkörper anzunehmen. 

Das Auge muss jetzt operirt werden, sonst ist es verloren, 
da ich bei früheren Fällen der Art dann plötzlich mit einem Schlage die 
allgemeine Vereiterung des Augen-Innern eintreten sah. 

Am 9. II. 97 vollführte ich zuerst unter Chloroform-Betäubung eine 
breite Pupillenbildung nach unten. Die Hoffnung, danach den Fremd¬ 
körper zu Gesicht zu bekommen, erfüllte sich nicht. 6 Tage später, 
15. II. 97, schritt ich zur Haupt-Operation. Unter Chloroform-Betäubung 
wurde ein Lappenschnitt am unteren Hornhautrand angelegt, ungefähr 
'/V ihres Umfangs umfassend, dann mit der Fliete ein //förmiger Schnitt 
durch Kapsel und Vorderschicht der Linse geführt, und zwar der wage¬ 
rechte Schenkel oberhalb des vorderen Linsenscheitels; endlich mit ge¬ 
spreizter Kapselpincette auf die neugebildete Eitermasse vorgedrungen. 
Nach 3 maligem Fassen war der Fremdkörper nicht gekommen. Jetzt 
trat ich hinter den Kranken und führte die Kapselpincette, mit der Con- 
cavität nach vorn, genau nach unten vom unteren Linsenscheite] auf den 
Strahlenkörper zn und holte augenblicklich den Kupfer-Splitter. Der 
Splitter ist ganz dünn und schwarz von chemischer Veränderung mit 
Rückwirkung auf die lebende Substanz, fast 3 mm lang, kaum 1 mm breit. 


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No. 15. 


BERLINER KLINISCHE WOCIIENSOIIR1FT. 


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Auf Entfernung der Linse wird verzichtet, da dabei Glaskörperver¬ 
lust zu befürchten stand. 

Die Heilung der Wunde erfolgte absolut reizlos. Der Augapfel 
zeigt noch herabgesetzte Spannung. Die Pupille ist durch Linsentrübung 
versperrt, aber Lichtschein und Projection erhalten, so dass gute Aus¬ 
sicht vorhanden ist, später durch eine einfache Operation die Pupille zu 
eröffnen und dem Auge einige Sehkraft wieder zu geben. 

81 Tage sind Beit der operativen Entfernung des Fremdkörpers 
verstrichen. — 81. III. 97 mit reizlosem Auge entlassen, Spannung 
besser. 


III. Aufgaben und Erfolge bei der Behandlung 
der chronischen Gonorrhoe 1 ). 

Von 

Dr. Leopold Casper, Privatdocent an der Universität. 

Meine Herren, wenn Sie erwarten, dass ich Ihnen heute ein 
Allheilmittel oder Überhaupt ein neues Heilmittel fUr die Be¬ 
handlung der Gonorrhoe bringe, so wird Sie mein Vortrag ent¬ 
täuschen. Das ist nicht meine Absicht. Sind wir doch in den 
letzten Jahren mit Präparaten überschüttet worden, denen allen 
gemeinsam ist, dass sie nicht gehalten haben, was man von 
ihnen zufolge der sie empfehlenden Publicationen erwarten 
durfte. Die Behandlung der Gonorrhoe ist trotz der grossen 
Zahl hervorragender „Antigonorrhoica“ so schwierig wie früher. 

Die Schwierigkeit beruht aber nicht darauf, dass uns die 
richtigen oder wirksamen Mittel fehlen, sondern sie hat ihren 
Grand zum Theil in der Complicirtheit der anatomischen Ver¬ 
hältnisse, zum Theil darin, dass die Mittel nicht sachgemäss an¬ 
gewendet werden. Die Gonorrhoe ist kein einheitliches Krank¬ 
heitsbild und kein einheitlicher Krankheitsprocess mit denselben 
Erscheinungen, denselben Localisationen u. s. w. Daher kann 
auch nicht ein und dasselbe Präparat, ein und dieselbe Methode 
für alle Fälle und für alle Stadien desselben Falles passen. 

Die rationelle Therapie der Gonorrhoe hat zur Voraus¬ 
setzung eine genaue Analysirang des Krankheitsprocesses, aus 
der sich die verschiedenen Jndicationen, die wir zu erfüllen 
haben, ergeben. 

Es ist das Verdienst Janet’s, dessen Name in letzter Zeit 
im Zusammenhang mit der Gonorrhoe vielfach genannt worden 
ist, zuerst ein System, eine gewisse Ratio in den Wirrwarr der 
Gonorrhoe-Therapeutik gebracht zu haben. Ich lege seine Aus¬ 
führungen, die man im Allgemeinen als zutreffend bezeichnen 
muss, verbunden mit meinen eigenen Erfahrungen, den folgenden 
Betrachtungen zu Grunde. 

Seit geraumer Zeit wird darauf aufmerksam gemacht, dass 
die Harnröhre sich, anatomisch und physiologisch be¬ 
trachtet, in zwei Theile sondert, die vordere und die 
hintere, dass die letztere durch den Compressor partis raembr. 
derart abgeschlossen ist, dass eine eiugespritzte Flüssigkeit nur 
bis zum Bulbus vordringt. Die grosse Mehrzahl aller chroni¬ 
schen Gonorrhoen sind nun posteriores; daher leuchtet es ein, 
dass eine mit einer gewöhnlichen Spritze eingebrachte Lösung 
unwirksam sein muss, da sie gar nicht an den Locus morbi 
gelangt. 

Mit dem Namen Gonorrhoe werden oft Katarrhe der Harn¬ 
röhre bezeichnet, die diesen Namen nicht verdienen. Gonorrhoe 
bezeichnet nur den Katarrh, bei welchem wir die typischen, 
wohlcharakterisirten Gonokokken finden. 

Davon ist noch zu sondern die Urethritis siraplex, oder, 
wie wir sie nennen wollen, bacterica, bei der zwar keine 

1) Vortrag, gehalten in der Ilufeland’schen Gesellschaft am 17. De- 
cembcr 1896. 


Gonokokken, wohl aber eine grosse Menge anderer Mikroorga¬ 
nismen in dem Urethralsecret vorhanden sind. Von diesen hat 
man neben den gewöhnlichen Eitererregern eine ganze Reihe 
gezüchtet und glaubt sie als Ursache des Katarrhs ansehen zu 
dürfen. Sicheres steht hierüber nicht fest, doch ist es wahr¬ 
scheinlich, dass es ausser den Gonokokken noch andere Mikroben 
giebt, die einen Katarrh erzeugen oder einen vorhandenen unter¬ 
halten. Die Urethritis simplex kann nämlich primär, d. h. in 
einer noch nicht gonorrhoisch inficirt gewesenen Urethra auf* 
treten oder gleichzeitig mit der Gonorrhoe einsetzen und be¬ 
stehen oder endlich diese überdauern. 

Zuweilen findet man am Orificium cutan. ein Secret, das, 
unter dem Mikroskop betrachtet, aus reinen Pilzrasen ver¬ 
schiedener Mikroorganismen besteht. Zellen fehlen ganz oder 
sind nur verschwindend wenig vorhanden. Solche Fälle nennen 
wir dann Bacteriorrhoe. Sie sind zu vergleichen mit der 
Balanitis und thatsächlich oft eine Folge des unsauber gehal¬ 
tenen Membrum8. 

Ausserdem giebt es aber auch aseptische Katarrhe, 
wie wir diejenigen bezeichnen, bei welchen das sich präsenti- 
rende Secret frei von allen Mikroorganismen ist und nur ans 
Rund- und Epithelzellen besteht. Solche Katarrhe entstehen 
durch Trauma, sei es mechanischer oder chemischer Natur, oder 
sie bleiben nach ausgebeilten Gonorrhoen zurück. 

Es bedarf keiner Ausführung, dass es für die Behandlung 
wichtig ist, diese verschiedenen Arten der Urethritis zu unter¬ 
scheiden. Für die Gonokokken passen diese, für die gewöhn¬ 
lichen Eitererreger andere Medicamente, für die aseptischen 
Katarrhe wieder sind Antiseptica werthlos, dagegen die Adstrin- 
gentien indicirt. 

Häufig imponirt die Exacerbation einer alten Gonorrhoe 
als frische. Man behandelt sie als solche, d. h. man lässt die 
Kranken einfach spritzen; der Ausfluss verschwindet bald wieder, 
und die Kranken glauben sich geheilt, bis bei der nächsten Ge¬ 
legenheit die Eitersecretion von Neuem ausbricht. Dadurch wird 
der Process nur verschleppt. Deshalb ist es durchaus noth- 
wendig, unterscheiden zu können, ob es sich um einen frischen 
oder alten Fall handelt. 

Von nicht minder grosser Bedeutung für die anzuwendende 
Therapie ist die Frage, ob wir es mit einem oberflächlichen 
oder mit einem tiefer gehenden Process zu thun haben. 
Die Urethritiden beginnen in der Mucosa, alle, besonders aber 
die gonorrhoischen haben die Neigung, sich in die Tiefe fortzu¬ 
pflanzen. Wir wissen aus mikroskopischen Präparaten, dass 
sich Infiltrationsherde in die Submucosa, ja bis in das Corpus 
caveraosum erstrecken. Das sind diejenigen Fälle, die in ihren 
extremen Graden zur Strictur führen. Ehe sie aber als Strictur 
in die Erscheinung treten, nennt man sie infiltrirende Go¬ 
norrhoen. Der Tiefenprocess kann von jedem Punkt der Ober¬ 
fläche ausgehen, gern aber nimmt er von den in der Urethra 
vorhandenen Littr6’schen Drüsen und den Morgagni’schen 
Lacunen seinen Ausgang. 

Diese Betrachtung mahnt uns daran, dass wir auch dem 
Umstand, ob wir es mit einem diffusen oder circum- 
scripten Process zu thun haben, hinsichtlich der Therapie 
Rechnung tragen müssen. Ist der gonorrhoische Process bis auf 
einige infiltrirte Lacunen ausgeheilt, dann wird eine streng loca- 
lisirte Therapie bessere Dienste leisten, als wenn wir unsere 
Mittel auf die gesammte, zum grössten Theil gesunde Harn¬ 
röhrenschleimhaut vertheilen. 

Endlich spielen versteckte, in den Nachbardrüsen der 
Harnröhre gelegene gonorrhoische Herde bei der Be¬ 
handlung eine grosse Rolle. Ich erinnere an Fälle, in denen 
jede Sccretion auf Monate, ja auf Jahre verschwunden ist, bis 


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12. April 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


plötzlich durch irgend eine Gelegenheitsursache ohne neue In- 
fection ein scheinbar frischer Tripper ausbricht. Das sind die 
fUr die Infection gefährlichsten Casus; denn die Kranken glauben 
sich gesund und sind auch wohl als solche von ihren Aerzten 
mit der Erlaubnis zur Ehe entlassen worden. Geht man 
solchen Fällen auf den Grund, so findet man häufig, dass eine 
chronische Prostatitis besteht und in dem aus der Prostata 
ausgedrllckten Saft zahlreiche Eiterzellen und zuweilen sogar 
Gonokokken nachweisbar sind. Das Gleiche gilt von den 
Cowper’sehen Drüsen. Bekannter und offenkundiger ist die 
Schädlichkeit eines versteckten Nachbarherdes bei den peri- 
oder para-urethralen gonorrhoisch inficirten Gängen. 
So lange der Kranke spritzt und der Gang verklebt ist, fehlt 
die Secretion; hört er auf zu injiciren, so inficirt der peri¬ 
urethrale Gang die l'rethra von Neuem. 

Vergegenwärtigt man sich in dieser Weise die Vielgestaltig¬ 
keit der Gonorrhoe, dann wird es einem klar, dass eine The¬ 
rapie, die in allen Fällen immer ein und dasselbe Mittel als 
Panacee anpreist, wirkungslos bleiben muss. Bei der Behandlung 
dieses Morbus atrox heisst es bald dieser, bald jener Indication 
genügen; es gilt Ursache, Sitz, Dauer, Art des Processes, 
die Ausdehnung desselben, die Mikroorganismen und die 
iuxta-urethralen Herde zu berücksichtigen. Und darin liegt 
das Geheimniss der erfolgreichen Gonorrhoebehandlung. 

Dieselbe kann man eintheilen in die chemischen und 
mechanischen Methoden und in diejenigen, welche gleich¬ 
zeitig nach beiden Richtungen hin wirken. 

Die chemischen Methoden bestehen in Einbringung von 
wässerigen Lösungen oder Salbenarten in die Urethra. Die 
wässerigen Lösungen werden mit der gewöhnlichen Tripper¬ 
spritze eingeführt oder durch einen Katheter oder vermittelst 
eines gläsernen Ansatzstückes aus einem Irrigator in verhältniss- 
mässig dünner Concentration oder durch geknöpfte Katheter von 
enger Lichtung tropfenweis in starker Concentration eingelassen, 
oder sie werden auch auf endoskopischem Wege streng localisirt 
angewendet. In gleicher Weise kann man unter Leitung des 
Auges mit dem Galvanokauter, der Elektrolyse oder sogar mit 
dem scharfen Löffel arbeiten. Die Salben werden in Form von 
Urethralstäbchen gebracht und als solche eingeführt oder durch 
besonders construirte Spritzen in die Urethra eingespritzt oder 
auf Sonden geschmiert und die bestrichenen Sonden in die Harn¬ 
röhre eingelegt. Letzteres bildet den Uebergang zu den com- 
binirt chemisch-mechanisch wirkenden Methoden. Rein 
mechanisch wirken das Einlegen von glatten Sonden und die 
Dilatatoren. Wie die Salbensonden gleichzeitig mechanisch und 
chemisch, so wirken auch die Spüldilatatoren, mit denen man 
die Urethra dehnen und während der Dehnung bespülen kann. 

Von allen diesen Methoden ist es nur nothwendig, einige 
zu beschreiben. Die Durchspülungsmethode wird so aus- 
geführt, dass man einen dünnen, geknöpften französischen Seiden¬ 
katheter, mit Glycerin bestrichen, so weit in die Urethra 
vorschiebt, dass sein Auge unmittelbar hinter dem Bulbus liegt. 
Spritzt man jetzt Flüssigkeit mit einer Handspritze durch den 
Katheter, so läuft dieselbe, die hintere Harnröhre ausdehnend 
und an allen ihren Theilen berieselnd, in die Blase. Nachdem 
etwa 200 gr durebgespritzt worden sind, zieht man den Katheter 
etwas zurück, so dass der Knopf im Bulbus liegt, und spritzt 
nun von Neuem die geeignete Lösung durch, indem man gleich¬ 
zeitig zeitweis durch Fingerdruck die Hamröhrenmündung um 
den Katheter herum verschliesst. Das bezweckt eine möglichst 
starke Ausdehnung der Urethra anterior, so dass die Lösung in 
alle Falten, Buchten und Drüsengänge hineinläuft. Als Lösung 
benutze ich Kal. perman. von 1 :5000 bis 1 : 1000 herab (die 
unterste Grenze, die nur in Ausnahraefällen angewendet wird, 


815 

ist 1 : 500), Arg. nitr. 1 : 5000 bis 1 : 500 herab, Sublimat 
1 :20 000 bis 1 : 6000 herab, Zinc. sulf. und Zinc. hypermang. 
von 1 :5000 bis 1 :1000 herab. Diese Solutionen, so weit sie 
durch die hintere Harnröhre in die Blase laufen, haben Körper¬ 
temperatur; die für die vordere Urethra sind gut warm bis 
heiss. 

Der Sache nach dasselbe sind die jetzt ganz besonders 
modern gewordenen Janet’schen Spülungen, die eigentlich 
Diday’sche genannt werden müssen, da sie Diday zuerst 
empfohlen hat. Dieselben Lösungen, die vorher genannt worden 
sind, werden durch einen verschieden hoch stellbaren Irrigator 
in die Harnröhre eingelassen. Zuerst */ 2 Liter in die vordere, 
dann '/«— 1 /z Liter in die hintere Harnröhre. An den Schlauch 
wird ein konisches Glasrohr angesetzt, das bei Bespülung der 
vorderen Harnröhre so weit eingeschoben wird, dass die Flüssig¬ 
keit zum Herauslaufen neben dem Rohr Platz findet. Behufs 
Spülung der hinteren Harnröhre wird die Glascanüle fest an das 
Oriticium cutau. augepresst. Der Irrigator wird höher gestellt, 
etwa 1—1 */, m, und in wechselnd langer Zeit öffnet sich der 
Compressor partis membranaceae urethrae, worauf alsbald die 
Flüssigkeit in die Urethra posterior und von dort in die Blase 
gelangt. Die Methode unterscheidet sich von der vorigen ledig¬ 
lich durch den stärkeren, länger anhaltenden und gleiclimässi- 
geren Druck. Sie ist zuweilen schmerzhaft und deshalb schwer 
anwendbar. 

Von der endoskopischen Behandlung ist nur in ganz 
wenigen Fällen, in denjenigen nämlich, in welchen der Process 
streng circumscript ist, Erfolg zu erhoffen. In diesen kann man 
mittelst eines Endoskopes die afficirten Stellen mit Arg. nitr. 
1—5 pCt. oder Chlorzink oder dem Galvanokauter ätzen oder 
zerstören. 

Ausserordentliche Verbreitung fanden und grosser Beliebtheit 
erfreuen sich noch heute die sogenannten Guyon’sehen In¬ 
stillationen, die gestatten, concentrirte Lösungen tropfenweise 
an jede Stelle der Harnröhre zu bringen. An eine etwa 10 gr 
fassende Spritze setzt man mittetet einer Hartgummicanüle einen 
langen geknöpften Katheter, welcher, nachdem die Flüssigkeit 
bis zum Knopf gebracht ist, bis zum Sphincter vesicae eingeführt 
wird. Nun bringt man untef gleichmässigem Zurückziehen des 
Katheters durch Umdrehung des Hebels die Flüssigkeit tropfen¬ 
weis zum Austreten. Man beginnt am Blasenhals, will man die 
Urethra posterior, am Bulbus, will man die Urethra anterior 
ätzen. Zuweilen geht der Knopf des Katheters nicht Uber den 
Bulbus, wiewohl keine Strictur vorliegt. Es ist dies eine Folge 
krampfhafter Contraction des Compressor. Für solche Fälle 
eignet sich der Ultzmann’sche silberne Capillarkatheter, der 
die Lösung auch tropfenweis austreten lässt und dessen Ein¬ 
führung stets gelingt. Fast immer werden mit diesem Instru¬ 
ment Arg. nitr. - Lösungen in '/*—2proc. Concentration benutzt. 

Die Salben in Gestalt der Antrophore oder Urethral¬ 
stäbchen sind nicht ganz zu verachten. Es giebt Fälle, in 
welchen die geschilderten Methoden der Spülung absolut nicht 
vertragen werden oder in welchen äussere Umstände den Kran¬ 
ken verhindern, sich denselben zu unterwerfen. Da kann man 
ihnen die Antrophore, bereitet aus Zink 0,1 pCt., Thallin 2 pCt., 
Arg. nitr. 0,1—1 pCt., in die Hand geben, die sie selbst ein- 
führen lernen. Die Medicamente sind auf einer Spirale mit 
Gummi aufgebracht oder in Cacaobutter einverleibt, welche bei 
Körpertemperatur schmilzt. Man weise den Kranken aber streng 
an, jedesmal vor der Einführung Harn zu lassen. Die Einver¬ 
leibung von Salben durch besondere Salbenspritze (Tomma- 
soli, Isaac) hat sich nicht einbürgem können. Ich glaube 
auch nicht, dass sic irgend einen nennenswerthen Erfolg zu ver¬ 
zeichnen hat. 

2 * 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


_sie 

Von den mechanisch wirkenden Methoden ist die älteste die 
Einlegung von glatten Metallsonden, die besonders von 
Ultzmann gelibt wlirde. Man fuhrt dieselben in die Blase und 
lässt sie längere Zeit, bis zu '/ 4 Stunde, liegen. Sie sollen 
gleichsam eine Massage der Harnröhre bewirken, die Infiltrate 
in den tieferen Schichten coraprimiren und dadurch zur Resorp¬ 
tion bringen. 

Der Umstand, dass der Meatus externus oft so eng ist, dass 
man nur dünne Sonden einlegen kann, welche eine genügende 
Compression nicht bewirken können, veranlasste Oberländer, 
Dilatatoren zu construiren, die geschlossen eingeführt und 
nach der Einführung aus einander geschraubt werden. Sie 
dehnen die Harnröhre, ähnlich wie ein Handschuhweiter die 
Handschuhfinger. Vor der Anwendung werden sie mit einem 
Gummiüberzug versehen, damit die beiden Branchen beim Zu¬ 
sammenschrauben nicht Schleimhaut zwischen sich fassen. Koll- 
mann construirte Dilatatoren, die die Harnröhren wand nach vier 
Richtungen ausdehnen. 

l’m die mechanische und chemische Wirkung gleichzeitig 
zur Anwendung zu bringen, überzog Unna die glatte Metall¬ 
sonde mit einer Arg. nitr. (2 pCt.)-Cacaobuttermasse, welche in 
der Harnröhre abschmolz. Ich liess in die Metallsonde Rinnen 
einfraisen, um Arg. nitr. (2 pCt.)-Lanolinsalbe in diese hinein- 
znschmieren, und so die Salben sicherer in die Urethra zu 
bringen (cannellirte Sonde). 

Lohnstein construirte Spüldilatatoren, welche die Harn¬ 
röhre dilatiren und gleichzeitig die Spülung derselben mit den 
verschiedensten wässerigen Lösungen ermöglichen. 

Diese zahlreichen Methoden der Behandlung, die wir be¬ 
sitzen, gilt es nun, richtig zu verwerthen. Für die eine Form 
und für das eine Stadium passt diese, für die andere Form, ein 
späteres Stadium ist jene angezeigt. Man kann die Aufgaben, 
die uns die Behandlung der chronischen Gonorrhoe stellt, mit 
Jan et folgendei’raaassen präcisiren. Es gilt: 

1. die Gonokokken zu beseitigen, 

2. die gleichzeitig vorhandenen oder im Anschluss 
an die Gonorrhoe zurückbleibenden anderen pa¬ 
thogenen Mikroorganismen zu entfernen, 

3. den Katarrh zum Schwiriden zu bringen, 

4. circumscripte Herde auszuheilen, 

5. Infiltrationen fortzuschaffen, 

6. alle peri-, para- oder iuxta-urethralen Herde zu 
zerstören. 

Der ersten Aufgabe können, sobald die Gonorrhoe nur im 
vorderen Theil sitzt, die gewöhnlichen Einspritzungen mit den 
bekannten bactericiden Medicamenten genügen. Allein meist 
handelt es sich um eine Gonorrhoea anterior und posterior, 
selbst wenn die posterior mit unseren beschränkten diagnosti¬ 
schen Hülfsraitteln nicht nachzuweisen ist. Und auch im vor¬ 
deren Hamröhrenantheil wohnen die Gonokokken so tief im Ge¬ 
webe, dass man zu energischeren Mitteln greifen muss. Als 
solche können sowohl die Durchspülungen mit dem Katheter 
oder nach der Jan et’sehen Methode gelten. Als bestes Gono¬ 
kokken tödtendes Mittel muss das Thallin, das Kal. perman. 
und Arg. nitr.') genannt werden. Doch ist das wirklich nicht 
die Hauptsache, ob man dieses oder jenes der zahllosen empfoh¬ 
lenen Injectionsmittel nimmt. Fast alle tödten die Gonokokken, 
und wenn sie in der Behandlung ohne Erfolg bleiben, so liegt 
der Grund darin, dass sie gar nicht zu den Gonokokken hin¬ 
gelangen. Daher meint Janet, nicht die Wahl der Gonokokken 
tödtenden Mittel ist wichtig, sondern den Nährboden, auf dem 


1) Von der gerühmten Wirkung des Argcntamin nnd Argonin habe 
ich mich nicht überzeugen können. 


Noj5^ 

sie gedeihen, d. h. die Urethralmucosa so umzuge3talten, dass 
sie in diesem zu Grunde gehen, und das will er durch seine 
hohen Eingiessungen erreichen. Thatsächlich wirken dieselben 
nach dieser Richtung hin ganz ausgezeichnet. Werden sie nicht 
vertragen oder sind sie zu schmerzhaft, so möge man die Durch¬ 
spülung mit dem Katheter anwenden, wobei man den Druck 
vermöge der Ilandspritzc beliebig steigern kann. Niemals aber 
wende man solche Druckspülung bei Btärker eitriger Secretion 
an, da die Gefahr, die inficirenden Keime noch tiefer zu treiben, 
zu fürchten ist. In solchen Fällen lasse man erst einige Tage 
gewöhnliche Kal. per.- oder Thallin-Einspritzungen vornehmen. 
Dann kommen die Druckeingiessungen, die täglich, oder bei 
starken Schmerzen jeden zweiten Tag vorgenommen werden. 
Noch muss ich vor zu starker Druckanwendung warnen, da 
Rupturen der Blase, starke Blutungen bei Kal. per.-Eingiessungen 
und tagelang dauernde Harnverhaltungen beobachtet worden 
sind. 

Die gleichen Gesichtspunkte walten ob bei den nicht gonor¬ 
rhoischen Katarrhen oder bei denjenigen, bei welchen neben 
Gonokokken noch viele andere Krankheitserreger vorhanden 
sind, bei der Urethritis simplex oder bacterica und bei der 
Bacteriorrhoe. Wir machen die Spülung durch den Katheter 
oder nach Janet. doch verwenden wir statt Kal. per. Sublimat, 
oder wir wechseln mit beiden ab. Besonderer Werth ist auf 
die Reinigung der Glans penis zu legen, die die Kranken mehr¬ 
mals täglich mit den gleichen Lösungen vornehmen müssen, da 
eine sich immer wiederholende lnfection der Urethralschleimhaut 
von dem Präputialsecret aus sehr wahrscheinlich ist. 

Steht der Katarrh im Vordergrund des Krankheitsbildes, 
d. h. sieht man in den Absonderungen, sei es Secret am Orifi- 
ciura cutan. oder in Gestalt von Ilarnfilamenten wenig oder gar 
keine Mikroorganismen, wohl aber viel Rundzellen, gemischt mit 
Schleimfäden und Epithelien, dann ist es das Arg. nitr. und die 
obigen Adstringentien, zu denen wir rceurriren. Wir machen 
Harnröhrenspülungen mit dem Katheter oder nach Janet mit 
Lösungen von Arg. nitr. 1 : 5000 bis 1 :500, mit Zinc. sulfur. 
1 : 3000 bis 1 : 300, mit Zinc. hypermang. 1 : 5000 bis 1 : 500. 
Je nach dem Sitz des Katarrhs reichen dieselben bis zur Blase 
oder nur bis zum Bulbus urethrae. 

Passen diese Behandlungsarten mehr für die diffusen 
Formen, so ist für die selteneren circumscripten Formen 
die urethroskopische Methode angezeigt. Hat man nacli- 
weisen können, dass die Harnröhre im Grossen und Ganzen 
gesund sei, dass dagegen einzelne Stellen, z. B. Lacunen und 
Drüsen afficirt sind, was sich durch Vergrösserung des Lumens, 
Aufgeworfensein und dunkelrothe bis schwarze Verfärbung ihres 
Randes kennzeichnet (glanduläre und periglanduläre Urethritis), 
oder sitzt an einer bestimmten Stelle eine granulöse Wucherung 
(Urethritis granulosa), dann bringt man mit einem Wattetupfer 
durch das Urethroskop starke Arg.-Lösungen (bis zu 20 pCt.) 
oder Cupr. sulf. (bis zu 10 pCt.) oder auch Chlorzink in starker 
Verdünnung (bis zu 1 pCt.) in geringer Menge auf diese Punkte 
und nimmt so eine strenge localisirte Aetzung vor. In den sel¬ 
tensten Fällen war es nothwendig, mit dem Galvanokauter eine 
Zerstörung der afficirten Theile vorzunebmen. Im Allgemeinen 
ist dieser Methode ein geringer Werth beizumessen. Nur wenige 
Fälle giebt es, in denen die Veränderungen auf einzelne Stellen 
beschränkt sind; in anderen scheinen solche auffindbare Ver¬ 
änderungen die Ursache des fortbestehenden Katarrhs zu sein, 
während man sich nach Beseitigung derselben überzeugt, dass 
es viel tiefer liegende, an der Oberfläche gar nicht erkennbare 
Processe sind, welche das Fortbestehen der Secretion ver¬ 
anlassen. 

Diese Infiltrate — deren richtige Würdigung ein Verdienst 


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12. April 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


317 


Oberländerfs ist — zu bekämpfen und zu beseitigen, ist die 
Vorbedingung fUr die Heilung zahlreicher Fälle von Gonorrhoe. 
Was nlltzt es, an die Oberfläche wässerige Lösungen und Salben 
heranzubringen, wenn in der Submucosa ein Proliferations- und 
Eraigrationsprocess von weissen Zellen vor sich geht, deren End¬ 
resultat die Strictur, deren unmittelbarer Ausdruck die eitrige 
Secretion ist? Solche Infiltrate können Gonokokken beherbergen, 
aber auch ohne dieselben fortbestehen. Oft bleiben sie Monate 
in denselben latent. Im Secret findet man niemals Gonokokken, 
so dass man gonokokkenfreie Katarrhe vor sich zu haben glaubt, 
bis sie plötzlich nach einer Gelegenheitsursache wieder vorhan¬ 
den sind. Solche Infiltrationen pflegen sich erst bei länger be¬ 
stehender Gonorrhoe auszubilden; man findet sie aber auch 
schon nach Verlauf von drei Monaten. Verhältnissmässig rasch 
entwickeln sich oberflächliche SchleimhautbrUcken (brides), die 
der Lieblingssitz der Gonokokkennester sind, da sie weder durch 
den Harn nach aussen befördert, noch durch die nicht an sie 
herangelangenden InjectionsflUssigkeiten zerstört werden. 

Hier muss die Therapie eine corabinirt mechanisch - 
chemische sein. Die mechanische muss die Infiltrate 
zum Schwinden, zur Resorption zu bringen suchen, die 
chemische muss den concomittirenden Katarrh und die 
etwa vorhandenen Mikroorganismen beseitigen. Wir 
en-eichen das in leichten Fällen durch Einlegen von Sonden in 
wachsender Stärke, soweit die Grösse des Orificiums es gestattet. 
Zweckmässig wird man da canellirte, mit Arg.-Salbe bestrichene 
Sonden wählen, diese jeden zweiten Tag einführen, während an 
den Zwischentagen sich der Kranke selbst bactericide Lösungen, 
wie Kali per. oder Resorcin einspritzt. In schwereren Fällen 
benutze man die Oberländer’schen oder Kollmann’schen 
Dehninstrumente oder die von Lohnstein. Es giebt solche für 
die Urethra anterior und posterior. Man dehne langsam und 
vorsichtig, steige in jeder Sitzung nicht mehr als um 1, höch¬ 
stens 2 mm. Die Dehnungen dürfen nur ein- bis zweimal die 
Woche vorgenommen werden. In den Zwischenzeiten macht 
sich der Kranke Injectionen mit den üblichen Lösungen, oder 
man applicirt ihm die Jan et 'sehen Spülungen. Die Metall- 
sondeneinführung wie die Dehnung setzen eine Entzündung, die 
ein Verbreiten und Aufflackern des gonorrhoischen Processes be¬ 
fürchten lassen. Diese hintanzuhalten, dienen die Spülungen. 
Da die mechanischen Verfahren oft schmerzhaft sind, so kann 
man die Harnröhrenschleimhaut vorher unempfindlich machen 
(' j Tripperspritze von 2proc. Cocain- oder l'/,proc. Eucain- 
Lösung gut verrieben). Sind Brides vorhanden, so müssen die¬ 
selben gespalten werden. 

Wie aber können wir diagnosticiren, ob ein solches Infiltrat 
besteht? Diese Frage bleibt noch zu beantworten. Ist die 
Zelleinlagerung in der Wand der Urethra so stark, dass da¬ 
durch die Lichtung der Harnröhre erheblich verringert wird, 
dann fühlt man dieselbe deutlich beim Eingehen mit einem 
Bougie ä boule und noch besser beim Herausziehen desselben. 
Man verwendet dazu solche mit Knöpfen von Charrifere 16—25. 
Ist die Infiltration zu gering, um wahrgenommen zu werden, 
dann greift das Urethroskop helfend ein. Eine blasse, matte 
Farbe, Abgeschwächtsein des typischen Glanzes, Verstrichensein 
der normalen Falten, fleckige rothe Stellen statt der röthlichen 
Streifen, eine sichtbare Härte oder Unelasticität der Trichter¬ 
wand im endoskopischen Bilde gestatten die Diagnose. Endlich 
wird man nicht fehlgehen, auch wenn solche Veränderungen 
nicht wahrnehmbar sind, in Fällen, in denen trotz Anwendung 
aller zu Gebote stehenden sonstigen Mittel kein Erfolg eintritt, 
aus der langen Dauer des Processes auf eine in der Entwicke¬ 
lung begriffene Infiltration zu schliessen. Es ist ganz natürlich, 
dass die ersten Anfänge dieses Processes, der sich in der Tiefe 


abspielt, an der Oberfläche noch nicht wahrgenommen werden 
können. 

Ueberflüssig, ja schädlich ist es, verhältnissmässig junge 
Fälle derart zu behandeln. Gonorrhoen, deren Beginn etwa 
2—6 Monate zurückliegt, erfahren durch diese Behandlung meist 
eine Verschlechterung. Für diese an der Oberfläche haftenden 
Katarrhe haben die Guyon’schen Instillationen oft einen 
geradezu erstaunlichen Erfolg. Man sieht manchmal, nach we¬ 
nigen Einträufelungen das Secret verschwinden und dauernd 
fortbleiben. Oefter sind 10—20 solcher Instillationen nothwendig. 
Ich wende niemals stärkere als 2proc. Arg. nitr.-Lösungen an, 
applicire sie nur jeden Uebertag, lasse an dem dazwischen lie¬ 
genden Tage die gebräuchlichen Einspritzungen vornehmen und 
gehe in allen Fällen, in denen ich nicht absolut sicher bin, dass 
nur eine Gonorrhoea ant. vorliegt, mit dem Knopf des Katheters 
bis zum Sphincter vesicae. Anfangs stellt sich Harndrang und 
gesteigerte Secretion ein, die aber nach einigen Stunden, spä¬ 
testens am folgenden Tage, nachlässt. Den Schmerz bei der 
Einführung lindere man durch vorheriges Cocainisiren. 

Endlich bleibt noch eine Indication zu erfüllen, der allzu wenig 
Aufmerksamkeit geschenkt wird, d. i. das Aufsuchen und Be¬ 
seitigen peri-, para- und iuxtaurethraler Herde. Es ist 
darauf hingewiesen worden, dass sie häufig die Ursache der immer 
wiederkehrenden Recidive sind. Periurethrale Gänge, die para¬ 
urethralen Cowper'schen Drüsen und vor allem die Prostata 
sind die Schlupfwinkel der Monate und Jahre lang dort latent 
bleibenden Gonokokken, oder die Stätten, in denen der an eine 
Gonorrhoe sich anschliessende Katarrh haften bleibt. Leider 
sind sie schwer zur Ausheilung zu bringen. Die periurethralen 
Gänge muss- man exstirpiren oder ausbrennen, die Cowper- 
schen Drüsen soll man auf einer in die Harnröhre eingeführten 
Sonde wiederholt auspressen, und die Prostata muss lange Zeit 
und energisch massirt w-erden. Ob eine Prostatitis den Harn¬ 
röhrenkatarrh coraplicirt oder nicht, diese Frage ist schwierig 
zu entscheiden. Nachdem die Harnröhre durch Spülen gereinigt 
worden ist, exprimire man die Prostata und untersuche das 
Secret. In wenigen Fällen wird man Gonokokken, in mehreren 
zahlreiche Puszellen finden. Die Palpation lässt uns oft im 
Stich; denn es kann eine Prostatitis bestehen, ohne dass sie 
vom Rectum aus palpabel wäre. Meine therapeutischen Erfolge 
in der Behandlung der chronischen Gonorrhoe haben sich ge¬ 
bessert, seitdem ich in hartnäckigen, zu Recidiven neigenden 
Fällen auch ohne den objectiv erbrachten Beweis einer bestehen¬ 
den Prostatitis die Prostata massiren lasse. Die Massage wird 
täglich oder alle zwei Tage auf 2—5 Minuten von einem Mas¬ 
seur ausgeübt. Dabei muss sich das Prostatasecret, sei es in 
die Blase oder nach aussen, entleeren. Schmerzhaft pflegt das 
nur bei den ersten paar Malen zu sein. Es versteht sich von 
selbst, dass gleichzeitig die übrigen Methoden, je nach der vor¬ 
liegenden Indication, sei es Instillation oder Spülung oder Deh¬ 
nung angewendet werden müssen. 

Diese Regel gilt auch ganz allgemein. Wir werden in dem 
gegebenen Falle nicht nur diese oder jene Methode an wenden, 
sondern wir werden, nachdem wir die Krankheit studirt und 
nach den dargelegten Gesichtspunkten analysirt haben, eine com- 
binirte Therapie einschlagen. Wir werden oft genöthigt sein, 
Dehnung mit Instillation und Spülung abwechseln zu lassen und 
die Prostatamassage damit zu verbinden. Oft werden auch be¬ 
handlungsfreie Pausen angezeigt sein, um der gepeinigten Harn¬ 
röhre Ruhe zu lassen. 

Wenn wir so verfahren, dann ist auch die Behandlung der 
chronischen Gonorrhoe zwar schwierig und langwierig, aber nicht 
so arm an Erfolgen, wie vielfach angenommen wird. Was 
nennen wir aber Erfolg, oder, mit anderen Worten, wann ist 

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318 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 15. 


eine Gonorrhoe als geheilt zu betrachten? Das ist ein Punkt, 
über den die grösste Unklarheit herrscht. 

Das Ideal ist, dass jede Secretion dauernd aufgehört hat. 
Nun, das ist in allen Fällen nicht zu erreichen. Aber ich meine, 
es ist auch nicht unbedingt nothwendig, dass es erreicht werde. 
Ich kenne Patienten, deren Harnröhre seit vielen Jahren etwas 
Secret producirt, sei es, dass sich eine Spur farbloser Flüssig¬ 
keit an der äusseren Harnröhrenmündung oder dass es sich als 
Filamente im Harn zeigt. Untersucht man diese Absonderung, 
so besteht sie aus Schleimfäden mit eingestreuten Epithelien und 
einigen Rundzellen; Bacterien fehlen ganz. Zu hunderten habe 
ich solche Patienten heirathen lassen, ohne je eine Infection zu 
sehen. Das ist ein völlig aseptischer Katarrh. Nur muss man 
fordern, dass er durch irgend welche Reizwirkung nicht eitrig 
werde oder sich gar in einen bacterien- oder gonokokkenhaltigen 
umwandele. Ist das der Fall, dann war es auch vorher kein 
aseptischer Katarrh. 

Nun ist es richtig, dass mit diesem Zustand, den ich durch¬ 
aus nicht mehr krankhaft nenne und der sich einfach daraus 
erklärt, dass die AusfUhrungsgänge der urethralen Schleimdrüsen 
durch den vorangegangenen Process ihre Elasticität derart ver¬ 
loren haben, dass ihr Secret an die Oberfläche abfliesst, — dass 
mit diesem Zustand die Patienten oft nicht befriedigt sind. Sie 
sehen den Bonjourtropfen, und so lange dies der Fall ist, halten 
sie sich für krank und neigen zur Melancholie. Und doch ist 
es ganz falsch, aus dem Morgentropfen irgend welche Schlüsse 
ziehen zu wollen. Während der Nacht haben die jungen Leute 
häufig Erectionen, bei welchen schon im normalen Zustande aus 
den Schleim- und Cowper'sehen Drüsen Secret ausgepresst 
wird, das zwar selten als Tropfen erscheint, aber das Orificium 
verklebt oder, durch den Harnstrahl aufgerollt, als Tripper- 
fädchen imponirt. Es ist wünschenswerth, dass viele ärztliche 
Kreise sich diese Auschauung, die ich auch in den neuesten von 
Kraus und Zuckerkaudl herausgegebenen Guyon’schen Vor¬ 
lesungen ausgesprochen finde, zu eigen machen. Nicht der 
Morgenharn ist deshalb maassgebend, sondern der Tagharn, 
der nach etwa sechsstündiger Pause aufzufangen und zu prüfen ist. 
In diesem wird man die Fäden oft vermissen, die im Morgen¬ 
harn nach gleicher Dauer erscheinen. Und selbst wenn asep¬ 
tische Schleimrädchen vorhanden sein sollten, so sind diese 
harmlos und zu vernachlässigen. Oft handelt es sich um zu¬ 
sammengeballte Epithelschuppeu, die in ihrer Bedeutung der Ab¬ 
schuppung der äusseren Haut gleich zu achten sind. 

Solche Fälle, die auf diesem Punkt stationär bleiben, soll 
man nicht weiter behandeln, sonst begünstigt man das Entstehen 
der sexuellen Neurasthenie. Man mache den Kranken klar, dass 
sie geheilt sind, und scheue auch nicht davor zurück, im Noth- 
falle jede weitere Behandlung in energischer Weise abzulehnen. 

Leider giebt es aber noch wirklich unheilbare Fälle, solche, 
in denen die Gonokokken immer von Zeit zu Zeit wieder auf- 
treten, ohne dass eine neue Infection erfolgt wäre, Fälle, in 
denen das ganze besprochene Rüstzeug unserer Therapie versagt. 
Glücklicherweise sind dieselben recht selten. 


IV. Die galvanokaustische Radicalbehandlung 
der Prostatahypertrophie nach Bottini. 

Von 

Dr. A. Freudenberg in Berlin. 

(Nach einem in der Berliner medicinischen Gesellschaft am 24. März 1897 
gehaltenen Vortrage.) 

Wer den häufig unerträglichen Zustand vieler an den Katheter 
gefesselter Prostatiker kennt, und gesehen, wie solche Kranke 


— sei es durch Schwierigkeiten beim Katheterismus, Blutungen, 
falsche Wege, sei es durch zur Pyelonephritis führende ascen- 
dirende Infection — von vielfacher Lebensgefahr bedroht sind: 
wer ausserdem weiss, dass die Prostatahypertrophie zu den 
häufigsten Krankheiten des hohen Mannesalters gehört, der wird 
es begreifen, dass immer von Neuem Versuche gemacht sind, 
diese Unglücklichen vom Katheter zu befreien, und ihnen zu 
einer normalen ßlasenfunction zu verhelfen. 

Diese Versuche sind von der einfachen Aetzung der Pars 
prostatica, Dehnung und Incision des Blasenhalses, Injectionen 
in das Gewebe der Prostata, Electrolyse bis zu den grossen und 
ganz grossen Eingriffen der Unterbindung beider Iliacae intemae, 
der AuB8chneidung, Ausschälung und Ausbrennung von Prostata- 
theilen von Harnröhre, Mastdarm, Damm und Bauchdecken aus, 
ja bis zur Exstirpation der ganzen Prostata gegangen. Die 
kleinen Eingriffe, auch sie nicht immer ohne Gefahr, 
haben sich als erfolglos, die grossen, auch sie häufig ohne 
Erfolg, haben sich als zu gefährlich erwiesen, und so konnte 
noch 1888 Guyon den Ausspruch thun: 

„Le traitement radical de l’hypertrophie de la prostate 
n'existe pas et ne saurait exister“, 1 ) 
und selbst ein so operationsfreudiger Vorkämpfer radicalen Vor¬ 
gehens wie Mc. Gill musste im Jahre 1890 einen Aufsatz Uber 
die „suprapubische Prostatektomie“ mit den resignirten Worten 
beginnen: 

„Operationen an der Prostata soll man nur dann vor¬ 
nehmen, wenn die gewöhnlichen Behandlungsmethoden nicht 
durchführbar sind, oder sich als erfolglos erwiesen haben.“ 2 ) 

Ich will auf die genannten Behandlungsmethoden hier nicht 
eingehen, ebenso wenig wie auf die inzwischen modern gewor¬ 
denen Operationen der Castration und der Samenleiterdurchschnei- 
dung, — Verfahren, von denen ich für meine Person vermuthe, 
dass sie, wenigstens als Normalmethoden, bald derselben 
Vergessenheit anheimfallen werden, welcher schon jetzt die einst 
vielgepriesene Castratio muliebris bei Uterusmyomen angehört. 

Das Verfahren der Radicalbehandlung der Prostatahypertrophie, 
welches den Gegenstand dieser Mittheilung bildet, und welches 
trotz 22jäliriger glänzender Erfolge seines Erfinders bisher nur 
wenig Beachtung gefunden, ist noch weniger gefährlich als 
die Castration und die Resection der Samenleiter, 
dabei wesentlich zuverlässiger in seinem Erfolge und 
frei von den unangenehmen Nebenwirkungen jener. 
Es stammt von dem italienischen Professor der Chirurgie Bot¬ 
tini, und verfolgt das Ziel einer galvanokaustischen Zerstörung 
resp. Spaltung der den Urinabfluss hindernden Prostatapartien per 
vias naturales. Den ersten Plan dazu entwickelte Bottini 
im Jahre 1874; s ) die erste Operation wurde am 26. Octbr. 1875 
ausgeführt; die erste Veröffentlichung in deutscher Sprache, 
bereits mit 5 erfolgreich operirten Fällen, erschien 1877 in 
Langenbeck’s Archiv. 4 ) Seitdem hat B. unermüdlich Instrumen¬ 
tarium wie Technik der Operation vervollkommnet und immer 
von Neuem, an der Hand beweiskräftiger Fälle, die Aufmerk¬ 
samkeit auf den Gegenstand zu lenken versucht. 5 ) 

1) Le^ons cliniques sur les affections chirnrg. de la vessie et de la 
prostate. Paris 1888, p. 606. 

2) Intern. Centralbl. f. d. Pbysiol. und Pathol. der Harn- u. Sexual¬ 
organe. Bd. I, p. 247. 

3) Im „Galvani“ 1874, Heft 10. Derselbe Aufsatz erschien später 
in ausführlicher Bearbeitung in der zweiten Auflage von B.’s Lehrbuch: 
„La galvanocaustica nella pratica chirurgica“. Milano 1876. 

4) Archiv f. klin. Chirurgie Bd. XXI, 1877, p. 1—24. 

5) Die neueste ausführliche Arbeit Bottini’s über den Gegen¬ 
stand findet sich im 1. Heft 1897 des „Archiv f. klin. Chirurgie“ (vorher 
in italienischer Sprache veröffentlicht in „La Clinica chirurgica“, 31. Juli 
1896, Heft 7, p. 281). 


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12. April 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 310 


Das Instrumentarium besteht, abgesehen von der Elek- 
tricitätsquelle, aus zwei Instrumenten, dem „Cauterizzatore 
prostatico“ (s. Figur 1) und dem „Incisore prostatico“ 
(s. Fig. 2). Beides sind katheterförmige Instrumente von mitt¬ 
lerem Kaliber mit kurzem, beinahe rechtwinklig abgebogenem 
Schnabel. Der „Cauterizzatore“ trägt dicht am Schnabel eine 
2—2} cm lange, auf einem Porzellanplättchen aufliegende, durch 
den electrischen Strom zum Glühen zu bringende Platinplatte. 
Der „Incisore“ (als dessen Vorläufer wohl der Mercier’sche Inci- 
seur bezeichnet werden kann), besteht — nicht unähnlich einem 

Figur 1. Figur 2. 




Lithotriptor — aus einem männlichen und einem weiblichen 
Arme; der männliche trägt als Schnabel ein ca. 15; cm hohes 
Platinmesser, welches aus der Nische des weiblichen Schnabels 
durch die Drehung einer Archimedischen Schraube heraustritt. 
Line am peripheren Theile des Schaftes angebrachte Skala ge¬ 
stattet, den Weg des Messers bis auf Millimeter genau abzu- 
lesen. Beide Instrumente zeigen ausserdem am Schaft die Ein- 
und Ausflussröhrchen einer Kühlvorrichtung, durch welche 
man aus einem Irrigator Wasser bis zur Spitze des Instrumentes 


Figur 8. 



und zurück circuliren lassen kann, — eine seit 1K82 1 ) ange¬ 
brachte Verbesserung von grösster Wichtigk eit, weil 
nur dadurch Harnröhre und Blase vor unbeabsichtig¬ 
ten Verbrennungen sicher gestellt werden. Diese Wasser¬ 
kühlung functionirt so exact, dass man, auch wenn die Platin- 
theile in intensivster Hitze erglühen, den Finger unmittelbar 
daneben auf den Schaft oder Schnabel legen kann, ohne ihn 
auch nur warm zu fühlen. 

Die Wirkung des Kauterisator ist mehr eine galvano¬ 
kaustische Zerstörung, die des Incisor eine galvanokaustische 
Spaltung der den Urinabfluss hindernden Partien. Während 
Bottini im Anfänge ganz vorzugsweise den Kauterisator an¬ 
wendete, weil er von dem Incisor eine zu starke Reaction 
befürchtete, hat er auf Grund fortschreitender Erfah¬ 
rung jenes Instrument immer mehr verlassen und in 
den letzten Jahren ausschliessliesslich den Incisor 
für die Behandlung der Prostatahypertrophie verwendet. 
Auch meine Operationen sind mit dem Incisor ausgeführt. 

Die Technik der Operation ist die denkbar einfachste. 
Vorausgeschickt sollte ihr meines Erachtens möglichst eine 
kystoskopische Untersuchung werden, schon um nicht 
durch übersehene Blasensteine bei der Nachbehandlung Schwierig¬ 
keiten zu haben. Eine Narkose ist niemals erforderlich. 
Eine einfache Injection von ca. 5 gr einer 1 proc. 
Cocainlösung in die Harnröhre, die man etwa 5 Minuten 
drin lässt und von der man einen Theil durch streichende Be¬ 
wegungen am Damme in die pars posterior urethrae bringen 
kann, genügt, um die Operation so gut wie schmerzlos 
zu gestalten. 2 ) Auch ohne Cocain hat Bottini übrigens 

1) Tansini: Modiflcazioni del Prof. Bottini di propri atromenti 
per la canterizzazione e ineisione termogalvanica della proatata. Gazz. 
degli oap. Milano 1882, III., 771; deutsch: Wien. med. Blätter 1888, 
VI., 221. 

2) In meinem letzten Falle habe ich die Operation unmittelbar 
an die Kystoakopic angcschloaaen, wobei sich eine erneute Cocainiairung 
erübrigt. 


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320 


No. 15. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


bei seinen Operationen nur beim Scliliessen und Oeffnen des 
Stromes einen momentanen Schmerz auftreten sehen. 

Vor dem Einfuhren des Instrumentes wird die Blase voll¬ 
ständig entleert, weil, wie sich herausgestcllt, so die Wirkung 
des Kauters eine intensivere ist. Nachdem das Instrument, von 
dessen tadellosem Functioniren man sich noch einmal 
tiberzeugt, nach den gewöhnlichen Regeln des Katheterismus 
in die Blase eingeftthrt, wird der Schnabel nach der Richtung 
gedreht, in welcher man brennen will. Man setzt die Wasser¬ 
kühlung in Gang 1 ), hakt durch Anziehen des Instruments die 
Prostata so fest als möglich an, wobei man die richtige Lage 
des Instruments durch den in den Mastdarm eingefUhrten Finger 
controliren kann, und schliesst den electrischen Strom; den 
Rheostaten hat man vorher so eingestellt, dass der Kauter 
intensiv rothgltlliend, aber noch nicht weissglUhend 
wird, da nur bei Rothgluth die hämostatische Wirkung 
sichergestellt ist. Operirt man mit dem Incisor, so wartet 
man etwa 15 Secunden, damit das Messer die nöthige Gluth 
bekommt; dann lässt man durch Drehen des Rades das Platin¬ 
messer langsam aus seiner Nische heranstreten und in die 
Prostata dringen, wobei das in die Nähe der Blase gebrachte 
Ohr deutlich das Zischen der Verbrennung hört. Fühlt man bei 
der Drehung des Rades stärkeren Widerstand, so steigert man 
den Strom; geht das Rad zu leicht, so schwächt man ihn in ge¬ 
eigneter Weise ab. Hat der Schnitt die gewünschte Länge erreicht, 
so schiebt man das Messer wieder durch umgekehrte Drehung 
des Rades in seine Nische zurück, wobei man zweckmässig 
den Strom etwas steigert. Will man nur eine Furche mit 
dem Instrumente brennen, so unterbricht man jetzt den Strom, 
zieht das Instrument vorsichtig zurück, — und die Operation ist 
vollendet. Wllnschenswerth ist es aber, nach den Erfahrungen 
Bottini’s, mehrere Spaltungen in verschiedenen Rich¬ 
tungen vorzunelimen. Ich selbst habe in meinen Fällen 
stets drei Spaltungen gemacht: je eine nach Rectum und 
Symphyse zu, und eine seitliche in der Richtung der grössten 
seitlichen Prominenz. — Die Dauer der Operation beträgt, je 
nach der Zahl und Länge der Spaltungen, etwa \\—5 Minuten. 

Die Beschwerden der Patienten bei und nach der Ope¬ 
ration sind ausserordentlich unbedeutend. Zwei meiner 
Patienten versicherten mir ausdrücklich, dass die Operation ihnen 
weniger weh gethan, als die vorausgegangene Kystoskopie; ein 
anderer gab dasselbe in Bezug auf die Untersuchung mit der 
Steinsonde an. Ein College Musatti 2 ), den Bottini ohne Co¬ 
cain operirt, fand die Procedur weniger schmerzhaft, als die 
Aetzung der Pars prostatica mit Höllenstein. Ein wenig Brennen 
beim Beginn des Urinlassens, das ist alles, worüber in der Regel 
in der nächsten Zeit auf Befragen geklagt wird. Man kann 
die Patienten häufig schon am ersten oder zweiten Tage nach 
der Operation aufstehen lassen; zum Versuch des Uriuirens 
dürfen sie das sofort. Teraperatursteigerung von irgend 
welcher Bedeutung pflegt auf die Operation nicht zu folgen. 
Die Blutung ist meist eine minimale, so dass mitunter schon 
in der nächsten Nacht makroskopisch blutfreier Urin entleert 
wird. Bottini selbst hat niemals eine stärkere Blutung ge¬ 
sehen. Kümmell 3 ) sah einmal nach Operation mit dem Kaute- 
risator eine starke Blutung dadurch entstehen, dass der Patient 

1) Dieselbe darf während der ganzen Operation niemals versagen. 
Ich habe es deshalb für zweckmässig gefunden, bei der Operation immer 
Jemanden anssschliesslich mit der Ueberwachung der Wasserkühlung zn 
betrauen. 

2) Bericht über eine durch thermogalvanische Kauterisation geheilte 
Prostatahypertrophie. Centralbl. f. Chirurgie 1885, p. 495. 

3) Die operative Heilung der Prostatahypertrophie. Berliner Klinik, 
August 1895, p. 8. 


sich den Verweilkatheter (Metallkatheter?) eigenmächtig ent¬ 
fernte; es wurde zur Stillung der Blutung die Sectio alta gemacht, 
und Patient ging wenige Tage danach zu Grunde. Ich selbst 
habe in einem meiner Fälle (Fall 3) eine Nachblutung gesehen, 
welche nach dreitägigem Bestände auf Einlegen eines Jaques- 
Patent-Verweilkatheters sofort stand, und welche später durch 
das Abgehen eines grösseren Prostatastuckes ihre Aufklärung 
fand. Das kugelsegmentförmige, an Grösse und Gestalt etwa 
einer der Fläche nach halbirten Mandel entsprechende Stück 
war offenbar von einer bestehenden zapfenförmigen Prominenz 
des rechten Seitenlappens glatt abgeschnitten worden — übrigens 
ein Vorkommniss, das meines Wissens sonst nicht beobachtet ist. 

Von sonstigen üblen Zufällen ist nur bekannt, dass 
Czerny') einmal eine Verbiegung des Platinmessers erlebte, 
wodurch die Entfernung des Instruments aus der Blase „etwas 
erschwert“ wurde. Der Unfall trat offenbar als Folge nicht ge¬ 
nügender Glühwirkung ein, weil Czerny sich bei seinen 
Operationen der bekanntlich recht inconstanten Tauch¬ 
batterie bediente. Ich selbst habe bei meinen Operationen die, 
bis jetzt sich vorzüglich bewährende, von Bottini angegebene 
Accumulatorenbatterie (s. Fig. 3) benutzt, mit der ich meine erste 
Operation ohne frische Ladung — so, wie die Batterie von Mai¬ 
land kam — ausführen konnte. Jedenfalls sollte man an 
die Operation nur mit einer ganz zuverlässigen, d. li. 
genügend starken, absolut constanten, und durch 
Rheostat genau regulirbaren Elektricitätsquelle heran¬ 
geh en. 

Der Erfolg der Operation tritt bei dem Kauterisator in 
der Regel erst nach Abstossung der Brandschorfe, mitunter 
selbst erst nach 30 Tagen ein, bei dem Incisor hingegen 
fast unmittelbar. Selbst HOjährige, seit Jahr und Tag 
vollständig an den Katheter gebundene Patienten 
fangen häufig schon wenige Stunden nach der Opera¬ 
tion an, selbstständig zu uriniren. 

Dementsprechend besteht die Nachbehandlung in der 
Regel auch nur beim Kauterisator aus regelmässigem Kathete¬ 
rismus, — die Einlegung eines Verweilkatheters empfiehlt Bottini 
neuerdings ausdrücklich nicht, und der oben erwähnte Todes¬ 
fall KümmelUs spricht auch nicht zu Gunsten derselben. Im 
Uebrigen Blasenausspülungen bei bestehender Cvstitis, und event. 
Strychninpräparate, kühle Blasendouchen und Elektricität zur An¬ 
regung des Detrusor! Natürlich gewinnt die Blase nur allmählich 
ihre volle Fähigkeit zur Urinentleerung wieder. 

Es hat nicht an theoretischen Einwendungen gegen 
die Operation gefehlt. Man hat ihr vorgeworfen: dass sie zu 
gefährlich sei 2 ); — dass sie nur in Ausnahmefällen nützen 
könne, weil man nur durch den „Finger in der Blase“ oder 
durch das Auge sich ein genaues Urtheil Uber den Zustand 
der Prostata bilden könne 3 ); — endlich dass die getrennten 
Partien wahrscheinlich bald wieder zusammenwachsen und so 
die Beschwerden wiederkehren würden 3 ). Der erste Einwand 
wird durch die Statistik widerlegt. Bottini hat in Uber 
80 Fällen nur 2 Todesfälle gehabt, eine gewiss minimale 
Mortalitätsziffer bei einer Operation, die fast ausschliesslich an 
alten und gebrechlichen Patienten ausgefUhrt wird, — und 

1) lieber die Castration bei Prostatahypertrophie. Deutsche med. 
Wochenschrift 1896, No. 16. 16. April, p. 243. 

2) Webb, Operative Procedures in hypertrophy of the prostate. 
Med. News, Jan. 1889, p. 70. — McGill, Verhandl. des X. internat. 
med. Congresses, Berlin 1890, Abtheil. VII, p. 95. — Und Andere. 

3) McGill, 8. vorige Anmerkung. — Bruce Clark, ibidem. 

4) Nitze, Zur galvanokaustischen Behandlung der Prostatahyper¬ 
trophie. Centralbl. für die Krankh. der Harn- und Sexualorgane, 1897, 
Bd. VIII, p. 171. 


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l^Aprll 189?. 


BERLINER, KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


321 


diese beiden Todesfälle fallen Instrumenten zur Last, 
welche noch nicht die Verbesserung der Wasserküh¬ 
lung hatten. Auf den Incisor scheint überhaupt kein 
Todesfall zu kommen. Der zweite Einwand war bereits zur 
Zeit, als er erhoben wurde, durch die Nitze’sche Kystoskopie 
beseitigt. Was endlich den dritten Einwand betrifft, so hindert 
schon die Urinentleerung, die bei jeder Miction die getrennten 
Flächen noch weiter aus einander drängt, eine Wiederverwach¬ 
sung, und in gleichem Sinne wirkt möglicherweise auch der 
Tonus des Sphincter internus, dessen centrale Fasern bei der 
Operation durchschnitten werden. Im l'ebrigen entscheidet 
auch hier die Erfahrung: Bottini hat in 22jähriger 
Ausübung der Operation niemals ein Recidiv erlebt. 

Praktische Nachprüfungen der Methode liegen leider 
nur in geringem Umfange vor. Bruce Clark 1 ), der anschei¬ 
nend nur den Kauterisator benutzte, hatte in einem 
Falle einen beträchtlichen Erfolg („considerable success“), „der 
Patient lebt noch, und urinirt ohne Schwierigkeit und ohne den 
Katheter zu brauchen“, aber er hatte „nie wieder“ („never 
since“) ein gleiches Resultat. Vielleicht hat er nicht genügend 
starke Glühhitze angewendet, da er selbst angiebt, sein Strom 
wäre viel schwächer gewesen, als der Bottini'8 („the current, 
which I employed, was a much weaker one“). Jedenfalls wird 
man in der Annahme nicht fehl gehen, dass dies „nie wieder“ 
nicht allzu viel Fälle umfasst. Kümmell hat „eine Anzahl von 
Prostatahypertrophien mit Urinretention“ mit dem Kauterisator 
operirt und „kann mit den Erfolgen recht zufrieden sein“*). 
Czerny 1 ) hat „5 bis 6mal“ den Incisor angewendet, und trotz¬ 
dem er nur mit einer Tauchbatterie arbeitete, „niemals einen 
Nachtheil, aber in der Mehrzahl der Fälle wesentliche Besse¬ 
rung in Betreff der spontanen Urinentleerung oder doch der 
leichteren Einführung des Katheters herbeigefUhrt“. Er muss 
sagen, dass diese Operation „mehr Beachtung verdient, als sie 
bisher .gefunden-eu.-haben... .. 

Bottini selbst konnte bereits 1890 *) Uber 57 Fälle mit 43 
guten Erfolgen (32 Heilungen, 11 Besserungen) = 75$ pCt. be¬ 
richten. Seitdem haben sich durch die Verbesserungen im In¬ 
strumentarium und in der Technik, insbesondere den Ersatz 
des Kauterisators durch den Incisor, seine Erfolge so 
gesteigert, dass in weiteren 23 Fällen seiner Klinik 
überhaupt kaum ein Misserfolg zu verzeichnen war*). 

Ich selbst habe bisher 5 Fälle mit dem Incisor operirt, 
mit 6 Operationen, da ich in dem ersten Falle — was auch 
Bottini gelegentlich thun musste — der ersten Sitzung mit un¬ 
zureichendem Erfolg nach 6 Tagen eine zweite nachgeschickt 
habe. Die Krankengeschichten sind kurz folgende: 

1. Jul. Graehl 8 ), 81 J., Buchhändler — Emphysem, chron. Bron¬ 
chitis, Arteriosklerose; äusserst decrepide 7 )» seit ca. 8 Wochen voll- 

1) Verhandlungen des X. internat. med. Congresses. Berlin 1890, 
Abtheil. VII, p. 95/96. Discussion zu einem Vortrage Bottini’s. 

2) 1. c. 

3) Uebcr die Castration bei Prostatahypertrophie. Deutsche med. 
Wochenschrift, 16. April 1896, No. 16, p. 243. 

4) Ueber radicale Behandlung der auf Hypertrophie der Prostata 
beruhenden Ischurie. Verhandl. des X. internat. med. Congresses, Berlin 
1890, Abtheil. VII, p. 95. 

5) Briefliche Mittheilung seines I. Assistenten Herrn Dr. Marconi. 

6) Diesen Fall, wie den folgenden, verdanke ich der Güte des Herrn 
Prof. Rinne, auf dessen Abtheilung im Elisabeth-Krankenhaus ich beide, 
ebenso wie Fall 5 operirt habe. Ich bin ihm dafür zu lebhaftem Dank 
verpflichtet, ebenso seinem Assistenten Herrn Dr. Drewitz für sorg¬ 
fältige Nachbehandlung und Mitbeobachtung der Kranken. 

7) Sowohl bei diesem, wie bei dem folgenden Patienten, war der 
Zustand ein so miserabler, dass zunächst Bedenken bestanden, die 
Kranken überhaupt einer Operation zu unterziehen. Die Erwägung, dass 
die Kranken ohne dieselbe sicher und bald verloren wären, gab den 
Ausschlag zu Gunsten der Operation. 


ständig an das Bett gefesselt. Seit mindestens 8 Jahren Harn¬ 
beschwerden. Seit ca. 8 Wochen complete Urinretention. Unwillkür¬ 
licher tropfenweiser Urinabgang trotz regelmässigem Katheterismus. 
Starke Cystitis. Prostata hart, knollig, nach dem Mastdarm nur mässig 
vorspringend, aber oberes Ende nicht zu erreichen. Kystoskopie ergiebt 
hochgradige Trabekelblase, am Oriflc. int. allseitig bucklige Hervor¬ 
wölbungen, nach hinten ein fast gebirgiges Bild bietend. Durch regel¬ 
mässige Borsäureausspülungen, später Verweilkatheter, keine Besserung. 
Operation am 14. XI. 96. 3 Schnitte: nach hinten und links 8,2cm 
lang, nach vorn D/jCm. II. Sitzung 20. XI. 96. Schnitt nach hinten 
und rechts je 3,2 cm, nach vorn 2 cm lang. In der Nacht vom 24. zum 
25. — also 10 Tage nach der ersten, 4 Tage nach der zweiten Operation — 
Beginn der spontanen Urinentleerung, zunächst nur tropfenweis. Am 2. XII. 
bereits spontane Entleerung von 260 ccm Urin auf einmal. Besserung 
schreitet dann rapide fort. Resultat: Urinirt 6—7mal in 24 Stunden, 
Urin nur ganz wenig trübe, Katheter wird seit 6. III. gar nicht mehr ge¬ 
braucht, Residualurin zuletzt fast null,’ Enuresis besteht nicht mehr. 
Der früher aufgegebene Patient hat trotz seiner 81 Jahre 
vom 25. XII. 96 bis 20. III. 97 über 28*/, Pfund zugenommen 
und i81 fast ein Bild blühender Gesundheit geworden. 

2. Rob. Lücke, 67 J., früher Briefträger. Aeusserst abgemagert 
und seit Wochen an das Bett gefesselt. Häufig Fieber, oft von mehr¬ 
tägiger Dauer, bis 89,6. Seit mehreren Jahren häufiger Urindrang. Seit 
über 1 Jahr Enuresis, sowohl am Tage wie Nachts. Seit ca. 5 Monaten 
complete Urinretention. Einführung des Katheters macht häufig 
Schwierigkeiten. Regelmässige, Monate lang fortgesetzte Blasenaus¬ 
spülungen und Argent. nitric.-Instillationen, wie Folia uvae ursi, Fachinger, 
Wildunger ohne Erfolg. Urin mehlsuppenartig, übelriechend, auf dem 
Boden sammelt sich stets eine Uber Gentimeter dicke Schicht zähen, 
grünen Eiters. Starker Verdacht auf chron. Pyelitis. Prostata 
nach dem Mastdarm zu nicht verdickt, weich, oberes Ende nicht zu er¬ 
reichen. Kystoskopie ergiebt mässige Trabekelblase, vielfach stark 
mit Eiterauflagerungen bedeckt; Wulstungen am Oriflc. intern, nach 
hinten und rechts stark, nach vorn und links nur. gering (wesentlich 
mittlerer Lappen!). 17. XI. 96. Operaltion: 2 Schnitte je 8,2cm 
lang, nach hinten und rechts, 1 Schnitt halb so lang nach vorn. Be¬ 
reits 4 Stunden nach der Operation Spontanentleerung von 
12 ccm Urin, am anderen Morgen bereits Quantitäten von 120ccm. Re¬ 
sultat: Urinirt 7—9mal in 24 Stunden. Urintrübung wesentlich 
geringer, von wechselnder Stärke. Wird deswegen noch alle 8 Tage 
einmal ausgespült, das Einzige, was ihn an sein früheros „Ka¬ 
theterleben“ erinnert. Enuresis besteht nur noch Nachts, so dass 
er eine Ente vorlegt; auch da scheint sie aber geringer zu werden. 
Residualurin betrug zuletzt 47, 39 und 55 ccm, ist noch andauernd 
in der Abnahme begriffen, wie die folgende Tabelle beweist. Pa- 
tif.ji.U Jiat ,yom ( Momente der Operation niemals wieder er¬ 
höhte Temperatur gehabt. Allgemeinbefinden wesentlich 
gehoben, obwohl der Verdacht auf chron. Pyelitis in¬ 
zwischen bei weiterer Beobachtung zur Sicherheit ge¬ 
worden. 

Tabelle des Residualurins nach lOtägigem Durchschnitt. 


9. 

Januar bis 

18. Januar: 

159,1 

ccm 

19. 

fl 

* 

28. 

A 

136,1 

* 

29. 

„ 

fl 

7. 

Febr.: 

126,5 

fl 

8. 

Febr. 

n 

17. 

fl 

92,9 

! n 

18. 

fl 

« 

27. 

. fl 

88,1 

fl 

28. 

n 

A 

9. 

März: 

87,7 

fl 

10. 

März 

fl 

19. 


65,9 

fl 

20. 

n 

fl 

29. 

ft 

65,2 

fl 


3. Anton Securins, 63 J., Rentier. Vor 10 Jahren zuerst, seitdem 
häufig „Blasenkatarrh“. Seit October 1896 starke Urintrübung und sehr 
viel Harndrang, seit 4 Wochen so stark, dass er, — wie zahlenmäßig 
festgestellt wird, — in 24 Stunden 60—70mal Urin lässt. Blasen¬ 
ausspülungen ohne jeden Erfolg, Blase fasst nur 85 bis höch¬ 
stens (einmal!) 83 ccm. Residualurin dementsprechend nur gering 
(24—68 ccm), aber starke, bröcklige Eitermassen enthaltend. Patient stark 
abgemagert, trockene borkige Zunge, kein Appetit, schlechter Geschmack, 
brennender Durst, Polyurie. Prostata gut Borsdorfer Apfel gross, 
rechts mehr als links. Steinsonde fühlt an der rechten Seite 
des Orific. int. deutlich einen ca. wallnussgrossen, zapfen¬ 
artigen, glatten Vorsprung der Prostata; starke Trabekel. 
Operation am 20.1. 97: Schnitt nach hinten 2,5cm lang, nach vom 
und rechts je 2 cm lang. Am Beginn des dritten Tages Nachblutung, 
die, ohne irgend welche bedrohliche Erscheinungen gemacht zu haben, 
nach 8 tägigem Bestände auf Verweilkatheter sofort steht. Wechselndes 
Befinden in Bezug auf Urinentleerung, bis in der Nacht vom 8.—9. II. 
das früher geschilderte Prostatastück abgeht. Seitdem schnell fort¬ 
schreitende Besserung. Urinirt jetzt nur 8—10mal in 24 Stunden, Urin 
wesentlich besser, bessert sich noch andauernd. Residualurin 18—24 ccm. 
Hat an Gewicht zugenommen (vom 10. III. bis 81. III.: 4 Pfund!), 
guten Appetit, reine Zunge, keinen Durst. 

4. Waske, 68 J., früher Eisenbahnarbeiter, Patient von Dr. Ant. Hei- 
mann. Seit 8 Jahren Harnbeschwerden, seit5Monaten complete Urin¬ 
retention. Bei Beginn derselben bestanden ziemlich starke Oedeme der 
Beine, die sich nach Beginn des regelmässigen Katheterismus allmählich 
verloren. Im Sitzen und Liegen starke Enuresis. Seit December 1896 
Blasenkatarrh, der mit Borsäureaussptilungen gebessert wird. Prostata • 
von der Grösse eines mittleren Borsdorfer Apfels, hart, glatt, rechts etwas 


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Ko. 15. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


322 


grösser als links. Blasenwandung oberhalb der Prostata stark verdickt 
zu fühlen. Operation 2. III. 97: 3 Schnitte von je 2'/ t cm Länge 
nach hinten, rechts und vorn. Bereits 3 Stunden nach der Ope¬ 
ration lässt der Patient spontan 111 ccm Urin, darauf Portionen 
von 108, 185 und Abends 271 ccm auf einmal! Katheter wird 
die ersten 15 Tage überhaupt nicht eingeführt; seitdem täg¬ 
lich einmal, nur zur Behandlung des noch bestehenden Katarrhs. Enu¬ 
resis vom Momente der Operation nicht wieder aufgetreten. 
Residualurin beträgt noch 58—103 ccm, ist deutlich in der Abnahme 
begriffen. Appetitlosigkeit und quälender Durst wenige Tage 
nach der Operation verschwanden. 

5. Adolf Krüger, 71 J., früher Restaurateur, Patient von Dr. Bertram. 
Seit vielen Jahren häufiger Urindrang undSchmerzen beim Uriniren, seitMitte 
vorigen Jahres stärker geworden. Seit December 1896 gezwungen zu ka- 
theterisiren; in der letzten Zeit 3 mal täglich. Katheterisirt er nicht, so muss 
er alle 20—30 Minuten mit Schmerzen uriniren. Auch so lässt er noch ca. 
alle Stunde Urin. Residualurin schwankt zwischen 60 und (einmal) 
400, im Durchschnitt 80—100. Urin nur wenig trübe. Prostata von der 
Grösse einer kleinen Apfelsine, knollig, hart. 12. III. 97: Kysto- 
skopie ergiebt hochgradigste Trabekel blase, nach oben ein fast hasel¬ 
nussgrosses Divertikel, ausgesprochene Wulstungen rings um das Oriflc. 
int., besonders hinten und rechts vorn. — Unmittelbar darauf Operation: 
3 Schnitte von je 2 , /,cm Länge nach hinten, rechts und vorn. Pa¬ 
tient hat bis jetzt (7. IV.) noch nicht wieder den Katheter 
gebraucht, hat bereits Mictionspausen von 7 und 7V 4 Stunden 
gehabt, urinirt schon jetzt nur 7—9mal in 24 Stunden. All¬ 
gemeinbefinden wesentlich besser. Gewichtszunahme vom Ope¬ 
rationstage bis 2. IV. (8 Wochen) = 5'/j Pfund! 

Fassen wir die Resultate zusammen, so haben wir drei 
Kranke (Fall 1, 2, 4), die seit Monaten an completer Urin¬ 
retention litten; zwei (Fall 3 und 5), bei denen die quälende 
Häufigkeit des Harndranges im Vordergründe stand. Von den 
drei ersteren fing einer 10 resp. 4 Tage, die beiden anderen 
3 und 4 Stunden nach der Operation an, wieder spon¬ 
tan zu uriniren. Die bestandene Enuresis ist bei Zweien 
ganz verschwunden, bei einem auf die Nacht beschränkt. Alle 
sind den Katheter zum Zwecke der Urinentleerung los geworden. 
Bei der zweiten Gruppe zeigte sich eine ganz eklatante und 
unzweifelhafte günstige Wirkung auf den Urindrang. Das All¬ 
gemeinbefinden Aller hat sich in geradezu ausgezeichneter 
Weise gehoben. Die beiden ersten Fälle kann man wohl als 
direkt durch die Operation gerettet bezeichnen. 

Das sind Erfolge, die man ohne Uebertreibung als be- 
merkenswerthe bezeichnen darf! Es sind freilich nur 5 Fälle, 
an denen sie gewonnen sind, und es ist selbstverständlich, dass 
eine so geringe Zahl nicht genügt, um Uber eine Operations¬ 
methode ein abschliessendes Urtheil zu gewinnen. Aber 
diese kleine Zahl von Erfolgen gewinnt Werth dadurch, 
dass ihnen kein einziger Misserfolg gegenübersteht; 
dass sie Ubereinstimmen mit den in 22jähriger Er¬ 
fahrung erreichten glänzenden Resultaten Bottini’s; 
dass sie sich endlich anschliessen den günstigen Ur- 
theilen, welche KUramell und Czerny — trotz unvoll- 
kommneren Instrumentariums — Uber die Operationsmethode 
gewonnen haben. 

Und darum habe ich mich für berechtigt gehalten, schon 
jetzt diese 5 Fälle mitzutheilen, um — in einer Zeit, wo die 
Hochfluth der Castrationen und der Resectionen der Samenleiter 
noch immer im Steigen begriffen zu sein scheint — die Auf¬ 
merksamkeit auf die Bottini’sche Operation zu lenken. 


V. Zu Robert Koch’s Mittheilung über neue 
Tuberculinpräparate. 

Vo« 

Hans Büchner in München. 

Nach dem Satze: qui tacet, consentire videtur — sehe ich 
mich anlässlich Koch’s neuester Mittheilung zu einigen Be¬ 
merkungen in historischer und methodischer Beziehung ver¬ 
anlasst. 


Die erste Frage, die sich Jedem zunächst aufdrängt, ob das 
neue Tuberculin mehr leisten wird, als das frühere, muss — ob¬ 
wohl Koch jetzt die fieberhaften Mischinfectionen als der Be¬ 
handlung unzugänglich erklärt und diesmal nur von „Besse¬ 
rungen“, nicht mehr von einem „Heilmittel“ spricht, — wohl 
bejaht werden. Der Grund hierfür liegt in der ganz ver¬ 
schiedenen Gewinnungsweise und Natur des alten und neuen 
Tuberculins. Während das frühere Tuberculin eine durch Er¬ 
hitzen aus Bacillenculturen gewonnene Lösung nicht-specifi- 
seher Albumosen (Kühne) gewesen war, besteht das neuere 
Tuberculin aus den unveränderten specifischen Inhalts¬ 
stoffen des Tuberkelbacillus. Freilich war sich Koch selbst 
Uber diese Dinge am wenigsten klar, da erst durch meinen 
Schüler Fr. Römer und dann durch mich nachgewiesen werden 
musste, dass dem früheren Tuberculin Specifität fehlte, weshalb 
dessen Wirkung völlig durch die Proteine resp. Albumosen nicht- 
specifischer Bacterien ersetzt werden kann. 1 ) Demgemäss er¬ 
zeugte das frühere Tuberculin fieberhafte und entzündliche 
Reactionen (Albumosengehalt), während das jetzige Präparat 
keine nennenswerthen Reactionen auslöst. Mit dem neuen Tuber¬ 
culin kann eine specifische Immunisirung erhofft werden, 
während eine solche mit dem früheren Präparat, das keine oder 
nahezu keine specifischen Stoffe enthielt, trotz Koch’s damaliger 
Behauptung ganz unmöglich war. Die Frage bleibt also nur: 
wie gelangte Koch zur Herstellung seines neuen besseren Tuber¬ 
culins ? 

Nach seiner Darstellung führten ihn misslungene Versuche 
einer Extraction mit Natronlauge auf die Idee, die Tuberkel¬ 
bacillen selbst mechanisch zu zertrümmern, um auf diese Weise 
deren unveränderte Inhaltßstoffe direct zugänglich zu machen. 
Obwohl nicht bezweifelt werden soll, dass Koch, dem Wort¬ 
laut seiner Mittheilung entsprechend, diese Idee selbstständig 
gefasst hat, so ist doch zu erwähnen, dass meine „Unter¬ 
suchungen über pyogene Stoffe in der Bacterienzelle“ 
von 1890 die Fachgenossen zuerst auf das Vorkommen wirk¬ 
samer Stoffe im Innern dieser kleinsten Zellen überhaupt auf¬ 
merksam gemacht haben. Hierdurch angeregt gelangte dann 
mein Bruder Eduard Büchner (z. Z. ao. Prof, der Chemie an 
der Universität Tübingen) 1893 dahin, Bacterienzellen durch 
Zerreiben mechanisch zu zertrümmern, um die Inhaltsstoffe 
unverändert zu gewinnen. Dieses Verfahren wurde auf seine 
Veranlassung von den Farbwerken vorm. Meister, Lucius und 
Brüning, Höchst a. M., dem Kaiserl. Patentamt in Vorlage ge¬ 
bracht, von diesem öffentlich ausgelegt, der Patentan¬ 
spruch jedoch schliesslich abgelehnt. Wäre das Patent damals 
ertheilt worden, so hätte sich Koch, der jetzt im Wesentlichen 
das gleiche Verfahren anwendet, 2 ) dadurch zwar nicht an der 
wissenschaftlichen Verfolgung seiner Arbeiten, wohl aber an der 
anderweitigen Verwerthung derselben behindert gesehen. 

Durch jenen äusseren Misserfolg wurden unsere Arbeiten in 


1) F. Römer, Tuberculinreaction durch Bacterienextracte. Wiener 
klin. Wochenschr. 1891, No. 45. — H. Büchner, Tuberculinreaction 
durch ProteYne nicht-speciflscher Bacterien. Münch, med. Wochenschr. 
1891, No. 49. 

2) Allerdings behauptet Koch: „Alles Zerreiben und Zerquetschen 
mit oder ohne Zusätze von harten pulverförmigen Massen liess die 
Tuberkelbacillen unverändert“, weshalb er zum Zerreiben getrock¬ 
neter Culturen überging. Allein diese Angaben Koch’s sind experi¬ 
mentell unrichtig; es muss nur die Intensität und Dauer des Zerreibens 
entsprechend gesteigert werden, je kleiner und widerstandsfähiger die 
mikroskopischen Zellen sind, mit denen man zu thun hat Ucbrigens 
ist die vorgängige Trocknung als werthvolles Hülfsmittel für Extraction 
von ßacterieninhalts8toffen in meiner oben citirten Arbeit von 1891 be¬ 
reits ausdiiieklieli angegeben. 


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12. April 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


323 


der genannten Richtung indess nicht endgültig unterbrochen. 
Nachdem es uns längst feststand, dass die Gewinnung der un¬ 
veränderten Inhaltsstoffe der Zellen der niederen Pilze ein grosses 
wissenschaftliches und auch praktisches Interesse besitzt, wurde 
nach einer weiteren Verbesserung der 1893 er Methode gesucht, 
die uns noch nicht als das erstrebenswerthe Ideal erschien. 
Eine solche wesentliche Verbesserung wurde in der That ge¬ 
funden in der vorgängigen Zerreibung der Zellen mit nach¬ 
folgender Auspressung der zerriebenen Zellen bei einem Druck 
von 4—500 Atmosphären. Dieses neue Verfahren wurde in 
seiner Anwendung auf Bierhefezellen von Eduard Büchner 
bereits im Januar laufenden Jahres publicirt, 1 ) wobei die Uebcrlegen- 
heit der neuen Methode gegenüber allen bisherigen sofort durch 
die wichtige Entdeckung der Gährung bewirkenden Zymase zu 
Tage trat. Gleichzeitig wurde auch, wie in dieser ersten Publi- 
cation Uber Zymase bereits erwähnt ist, im hygienischen Institut 
München das neue Verfahren zur Gewinnung von Zellsäften aus 
Bacterien in Anwendung gebracht. Diese Versuche werden nach 
einer neuerlichen Mittheilung von mir 2 ) durch die Herren M. 
Hahn und Bulling zur Zeit auch bei Tuberkelbacillen zum 
Zweck specifischer Immunisirung mittels des aus letzteren ge¬ 
wonnenen Zellsaftes durcbgeführt. 

Da bei Koch’s Verfahren die lebenden Tuberkelbacillen 
zuerst getrocknet, dann fein zerrieben und hierauf mit 
Wasser behufs Wiederauflösung der wirksamen Stoffe be¬ 
handelt werden müssen, so ist dieses Verfahren umständ¬ 
licher, chemisch eingreifender und ausserdem für den 
Darsteller des Präparats weit gefährlicher als das unsrige, 
bei dem die lebenden Tuberkelbacillen in feuchtem Zustand 
mit Kieselguhr und feinem Sand zerrieben und in feuchtem, 
d. h. nicht stäubendem Zustand direct ausgepresst werden. 
Thatsächlich kommt bei Herstellung unseres Präparates nur 
mechanische Action in Betracht, während die von Koch an¬ 
geordnete Trocknung und Wiederauflösung durch Wasser bei 
labilen Zellsubstanzen auch chemisch verändernd wirken kann. 

Nach alledem klingt es sehr merkwürdig, wenn Koch am 
Schluss seiner neuesten Mittheilung sagt, er „glaube mit Be¬ 
stimmtheit behaupten zu können, dass weitere Verbesserungen 
der Präparate selbst nicht mehr zu erwarten sind,“ und: „Etwas 
Besseres lässt sich in dieser Art nicht darstellen und was über¬ 
haupt mit Tuberkelculturen zu erreichen ist, das muss mit diesen 
Präparaten zu erreichen sein.“ Solange die immunisirende Wir¬ 
kung der von uns hergestellten Presssäfte aus Tuberkelbacillen 
nicht erprobt ist — wozu bisher noch, bei der langsam ver¬ 
laufenden Infection die erforderliche Zeitdauer mangelte — so¬ 
lange müssen die vorstehenden Behauptungen Koch’s zum min¬ 
desten als verfrüht bezeichnet werden. 


1) Ber. d. D. chem. Ges. XXX. S- 117. — R. Koch datirt seine 
neueste Mittheilung, die am 1. April 1897 in der Deutschen medicin. 
Wochenschrift erschien, vom 14. November 1896. Ein solches Zurüok- 
datiren ist, wenn es vom Autor selbst ausgeht und soferne daraus 
Prioritätsansprüche abgeleitet werden sollen, unzulässig. Oder sollte 
wirklich die Redaction, entgegen dem Wunsche Koch’s, seit dem 
14. November vorigen Jahres nicht in der Lage gewesen sein, das 
Mannscript zu veröffentlichen? 

2) Vortrag in der morphologisch-physiologischen Gesellschaft zu 
München am 16. März 1. J. über „die Bedeutung der activen löslichen 
Zellproducte für den Chemismus der Zelle.“ (Ref. in vor. No. dieser 
Wochenschrift.) Dieser Vortrag erschien am 28. März in No. 12 der 
Münchener med. Wochenschrift; sechs Tage darauf erfolgte in den poli¬ 
tischen Tagesblättern die telegraphische Ankündigung des, drei Tage 
später erst in der Deutschen med. Wochenschrift erscheinenden Artikels 
von Koch, der 4 1 /* Monate im Pult der Redaction geschlummert hatte. 


VI. Kritiken und Referate. 

Robert Kochs Ueber neue Tabercullnpräparate. Deutsche med. 

Wochenschrift 1897, No. 14. 

Wir haben bereits in der vorigen Nummer dieser Wochenschrift 
Koch’s neue Mittheilungen über Tuberculinpräparate kurz erwähnt und 
ihren Hauptinhalt skizzirt. Bei der Bedeutsamkeit der Fragen in wissen¬ 
schaftlicher wie praktischer Hinsicht wollen wir an dieser Stelle noch 
einmal den Gedankengang der Arbeit in seinen wesentlichen Zügen re- 
produciren. 

Koch geht davon aus, dass die Anwendung von Bacterien und ihren 
Produkten zu Heil- und Schutzzwecken immer auf eine Art von Immu¬ 
nisirung herauskomme. Immunität kann auf verschiedene Weise er¬ 
zeugt werden; z. B. bei Tetanus durch Schutz gegen das speciflsche 
Tetanusgift — bei Typhus und Cholera gegen die Bacterien selber 
(erstere Form durch Ehrlich als „Giftfestigkeit“ abgegrenzt); das Ideal 
einer Immunisirung bestände im Schutz gegen diese beiden Arten von 
Schädigung. Bei Tuberculose scheinen die Chancen für Immunisirung 
von vornherein ungünstig: ein Mensch leidet jahrelang an Tuberculose 
und ist keineswegs gegen neue Invasionen immun, — er kann geheilt 
sein und ist nicht geschützt, sondern eher noch empfänglicher. Dennoch 
glaubt Koch Andeutungen von echter Immunisirung sowohl beim Ver¬ 
lauf der acuten Miliartuberculose, wie in gewissen Stadien der Impf- 
tuberculose beim Meerschweinchen zu finden, in denen die Bacterien 
selber verschwinden — leider zu spät, als dass der Vorgang des bacte- 
riellen Impfschutzes noch für den Organismus von Nutzen sein könnte. 
Das Streben muss dahin gerichtet sein, solche Immunität schon in einem 
früheren Stadium herbeizuführen. Es scheint, dass gerade die allge¬ 
meine Ueberschwemmung des Körpers mit Bacterien die Vorbedin¬ 
gung ist; bei gewöhnlicher Tuberculose — z. B. bei Lungenschwind¬ 
sucht etc. — handelt es sich nur um mehr locale Processe, bei denen 
die Bacterien abgestossen und gar nicht resorbirt werden. Die günsti¬ 
geren Bedingungen durch den Thierversuch nachzuahmen, missglückt, da 
auch hier immer eine locale Eiternng, nicht aber die erwünschte Verbrei¬ 
tung durch den ganzen Körper und die Wechselwirkung mit den lebenden 
Geweben eintritt. 

Waren also unveränderte Tuberkelbacillen für diese Versuche 
nicht zu brauchen, so versuchte K. dieselben durch chemische Ein¬ 
griffe resorbirbar zu machen: Behandlung mit verdünnten Mineral¬ 
säuren, wie mit Alkalien machen zwar die Bacillen resorbirbar — eine 
Immunisirung trat aber nicht ein. Es wurde nun versucht, die wirk¬ 
samen Bestandteile aus den Bacterien zu extrahiren, — auf diesem 
Wege ergab sich, bei Anwendung des Glycerins, die Auffindung des 
Tuberculins, welches, durch Auslösung charakteristischer Reactionen 
ein werthvolles diagnostisches Hülfsmittel, — namentlich auch gegenüber 
der Perlsucht — bilde. K. erklärt bei dieser Gelegenheit, dass er nie 
bei den diagnostischen Einspritzungen das gefürchtete „Mobilmachen der 
Tuberkelbacillen“ gesehen habe und erklärt diese Anschauung als 
„thörichtes Vorurtheil“. — Die fortgesetzte Behandlung mit Tuberculin 
führt zu einer Gewöhnung, — einer Immunisirung, aber nur zu einer 
Giftfestigkeit, nicht zu einem Schutz gegenüber den Bacillen selber. Es 
erlöschen die Reactionen, ehe die Heilung beendet ist, es treten Recidive 
auf, die wieder auf Tuberculin reagiren. 

Daher blieb der Wunsch nach Gewinnung echter, bacteriell-immuni- 
sirender Stoffe bestehen. Zunächst gewann Koch durch Extraction 
mit Vio Normalnatronlauge ein alkalisches Extract (TA); dasselbe 
gab ähnliche, etwas kürzer dauernde Reactionen, wie das Tuberculin, 
die Reactionsfähigkeit blieb länger erhalten, die Erfolge waren bestän¬ 
diger. In praxi aber ergab sich als unangenehme Wirkung das Ent¬ 
stehen von Abscessen, bedingt durch Gehalt des Präparats an todten 
Tuberkelbacillen; machte man das Präparat durch Filtriren durch Thon¬ 
zellen bacillenfrei, so näherte es sich in seiner Wirkung dem gewöhn¬ 
lichen Tuberculin, so dass K. deshalb und wegen der besseren Haltbar¬ 
keit letzterem wieder den Vorzug gab. 

Das Vorkommen der toten Bacillen in den erwähnten Abscessen 
illustrirte von neuem die Schwierigkeit, dieselben im Körper zur Re¬ 
sorption zu bringen. K. ging daher dazu über, die Bacillen mechanisch 
soweit zu zertrümmern, dass sie besser angreifbar für die resor- 
birenden Stellen des Körpers wurden; vor allem handelt es sich dabei 
um Vernichtnng der Fettsäure-Schicht im Bacillenkörper. Nach mehr¬ 
fachen Versuchen gelang dies durch Verarbeiten getrockneter Culturen 
im Achatmörser mit Achatpistill; die so gewonnene Substanz wurde mit 
destilirtem Wasser aufgenommen und centrifugirt; es blieb eine obere, 
weiss opalescirende klare Schicht (TO), die keine färbbaren Bacillen mehr 
enthielt, und ein schlammiger Bodensatz, der wieder getrocknet, im 
Mörser verarbeitet, aufgenommen und centrifugirt wurde — auf diese 
Weise wurde die gesammte Masse der Cultur in eine Reihe klarer 
Flüssigkeiten verwandelt; die zweite und folgenden Flüssigkeiten waren 
nicht mehr zu unterscheiden — sie führen den gemeinsamen Namen TR. 
Beide Präparate sind völlig ohne Abscessbildung resorbirbar. Wei¬ 
tere Versuche ergaben, dass TO die im Glycerin löslichen Theile der 
Bacillen, TR die unlöslichen umfasst — daher ist denn auch die Wirkung 
von TO der des alten Tuberculins, wie der des TA sehr ähnlich, während 
TR entschieden immunisirend wirkt. Bei seiner Anwendung sind Re¬ 
actionen nicht nöthig, nur muss man sich bemühen, den Kranken so 
schnell als möglich, aber auch mit möglichster Schonung gegen grössere 
Dosen des Mittels unempfänglich zu machen. Das TR umfasst alles, 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 15. 


was an immunisirenden Substanzen im Tuberkelbacillus enthalten ist — 
ein gegen TR immunisirter Mensch reagirt auch nicht mehr gegen grosse 
Dosen von Tuberculin oder TO. 

Zur Darstellung des Mittels sollen nur hochvirulente Culturen ver¬ 
arbeitet werden; sie allein liefern wirksame Präparate. 

Anwendung und Dosirung ist einfach: die Injcctionen werden wie 
bei Tuberculin gemacht, die Flüssigkeit enthält im Ccm 10 mgr fester 
Substanz und ist durch physiologische Kochsalzlösung für den Gebrauch 
zu verdünnen; man beginnt mit oo rag; die Einspritzungen werden 
jeden zweiten Tag unternommen, die Dosis so langsam gesteigert, dass 
höhere Temperatursteigerungen möglichst vermieden werden. K. ist in 
der Regel bis 20 mgr gestiegen. 

K. berichtet, dass er mit diesen Präparaten Meerschweinchen 
derartig immunisirt habe, dass sie wiederholte Impfungen 
mit virulenten Culturen ertragen haben, ohne inficirt zu 
werden — die Impfstellen verschwanden spurlos, die benachbarten Drüsen 
veränderten sich nicht, Bacillen wurden nicht gefunden. Die Inmunisirung 
erfordert eine gewisse Zeit, erst 2—3 Wochen nach Application grösserer 
Dosen ist sie vollendet. 

K. betont dann mit besonderem Nachdruck, dass nur Kranke in den 
Anfangsstadien und ohne complicirende Miscliinfectionen der specitischen 
Behandlung zugänglich sind. Bei geeigneten Kranken namentlich bei 
Lupösen habe er mit den Mitteln eine Besserung erzielt, welche viel 
weiter gehe, als die mit den gewöhnlichen Tuberculin und mit TA er¬ 
zielten Erfolge; von „Heilung“ zu sprechen, hält er für verfrüht. Stür¬ 
mische Reaction blieb aus; beängstigende Nebensymptome desgleichen; 
besonders in die Augen fallend war der Einfluss auf die Temperatur- 
curve, deren zackige Linie sich ausglich und in eine fast gestreckte, 
dicht unter 87“ verlaufende Linie überging. 

Am Schluss theiltK.mit, dass auch Versuche zu Serumgewinnung 
mittelst TO und TR im Gange sind und lässt die Frage offen, ob deren 
Anwendung etwa besser oder schneller zum Ziel führen werde; Ver¬ 
besserungen der Präparate selber hält er für ausgeschlossen — „was 
überhaupt mit Tuberkelculturen zu erreichen ist, muss mit diesen Prä¬ 
paraten zu erreichen sein.“ 


VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. 

Berliner medlclnlsche Gesellschaft. 

Sitzung vom 24. März 1897. 

Vorsitzender: Herr Senator, später Herr Virchow. 

Schriftführer: Herr Landau. 

Vorsitzender: Wir haben als Gast unter uns Herrn Dr. P. Heinze 
aus Leipzig, den ich im Namen der Gesellschaft begrüsse. 

Zur Aufnahme sind vorgeschlagen Herr Dr. Paul Kühler und 
Herr Dr. Herzog. 

Sodann habe ich Ihnen Mittheilung zu machen von einer Einladung, 
welche von der Soci6t6 royale de mödicine publique et de topographie 
medicale Belgique an unsere Gesellschaft ergangen ist zur Theilnahme 
an einem vom 9. bis 14. August in Brüssel tagenden Congress, der sich 
hauptsächlich mit hygienischen Fragen beschäftigen wird. 

Vor der Tagesordnung. 

Hr. A. Baglnsky: Demonstration von anatomischen Präparaten 
eines Falles von Barlow’scher Krankheit. 

Sie werden sich vielleicht noch erinnern, dass ich vor nicht allzu 
langer Zeit (Sitzung vom 6. Februar 1895) hier ein an Barlow’scher 
Krankheit leidendes Kind vorgestellt habe. Während dasselbe in relativ 
kurzer Frist glücklich zur Heilung kam, bin ich leider in der Lage 
Ihnen heut die anatomischen Präparate von einem der Krankheit erlege¬ 
nen Kinde zu demonstriren. Das Kind starb trotz der sorgsamsten 
Pflege im Kaiser und Kaiserin Friedrich-Kinderkrankenhause, nachdem 
eine Zeit lang der Verlauf anscheinend sehr günstig Bich gestaltet hatte. 

Das 10 Monate alte Kind kam am 2. Februar d. J. in unsere Be¬ 
handlung, nachdem es bereits seit dem 14. Januar anderweitig ärztlich 
behandelt worden war. Das Kind ist bis zum 3. Monat mit Kuhmilch, 
und seither mit Lahmann's vegetabilischer Milch ernährt worden, 
welche nach Soxhlet gekocht, ihm verabreicht wurde. Mit dem 
6. Monat brachen die ersten Zähne dnreh; im 5. Monat soll das Kind 
Varicella gehabt haben. Seit dem December 1890 wird eine Schwellung 
des linken Beines beobachtet und seither sind auch allmählich andere 
Glieder von der Schwellung betroffen worden. 

Das Kind ist bei der Aufnahme gut genährt, ist von recht bleichem 
Aussehen und bei der geringsten Berührung der unteren Extremitäten so 
empfindlich, dass es laut aufkrei-cht. Körperlänge G8 cm. Kopfumfang 
41 cm. Grosse Fontanelle 3 : 2*/, cm. Gesicht wie leicht gedunsen. 
Während am Thorax und den Organen des Unterleibes irgend besondere 
krankhafte Veränderungen nicht auffallen, beobachtet man an den 
Unterextremitäten Folgendes: Beide Schenkel werden in den Knieen 
flectirt gehalten. Der leiseste Versuch einer Streckung wird von ängst¬ 
lichstem und kreischendem Geschrei des Kindes begleitet, so dass davon 
Abstand genommen werden muss. An beiden Oberschenkeln fühlt man 
geschwollene, prall inflltrirte Weichtheile, und soweit dies durch dieselben 


möglich erscheint, insbesondere nach den Knieen, auch eine erhebliche 
und feste Verdickung der Knochen der Schenkel. So erscheinen die 
unteren Drittel der Oberschenkel sehr erheblich geschwollen und ver¬ 
dickt. Die gleiche Schwellung und Verdickung fühlt man an dem Kopf 
der Tibia beiderseits und an den Weichtheilen der Unterschenkel. Die 
Schwellung erstreckt sich hier beiderseits zjemlich prall, aber nach ab¬ 
wärts doch ein wenig nachgiebiger bis auf die Fussrücken. Im Ganzen 
ist die Geschwulst am linken Schenkel mehr ausgesprochen als am 
rechten. Die Schmerzhaftigkeit ist beiderseits nahezu die gleiche und 
ist ganz ausserordentlich. 

Im Uebrigen zeigt das Kind keinerlei ausgesprochene Zeichen von 
Rachitis; vielleicht eine geringe Verdickung der Epiphysen der Rippen. 
An den Armen ist eine Schwellung der Diaphysen und Epiphysen eben¬ 
falls nicht nachweisbar; die Betastung scheint indeBS auch hier einiger- 
maassen schmerzhaft zu sein. 

* £ ! £ I 2 

Das Kind hat je 2 obere und untere Schneidezähne - ! —.-= - 

j a | a | 2. 

Das Zahnfleisch des Oberkiefers ist über den beiden Schneidezähnen 
dick gewulstet, dunkelblauroth hämorrhagisch durchscheinend; dem gegen¬ 
über die Mundschleimhaut und Rachenschleimhaut blass. 

Keine Drü«enschwellungen. Leber und Milz nicht vergrössert. 
Temperatur 38,2° C-, 108 P., 60 Resp. 

Es handelte sich nach diesem Befunde um die charakteristischen, 
dem Barlow'schen Symptomencomplex zukommenden Veränderungen. 

Danach wurde die Ordination getroffen: Darreichung frischer, ein¬ 
fach abgekochter, nicht streng sterilisirter Kuhmilch; geringe Mengen 
von Apfelsinensaft oder Citronensaft, auch zum Betupfen des Zahnfleisches, 
Eigelb, etwas Wein und 3 mal täglich einen Theelöffel frischer Bierhefe. 

Der Verlauf liess sich bei dieser Behandlung im Ganzen recht 
günstig an. Das Allgemeinbefinden sehr gut. Die Schmerzhaftigkeit 
liess in den nächsten Tagen wesentlich nach, und auch die Schwellongen 
der unteren Unterextremitäten wurden geringer, insbesondere auch die 
pralle Infiltration der Weichtheile, so dass nunmehr desto leichter con- 
statirt werden konnte, dass die Schwellung sich wesentlich auf die Dia¬ 
physen und Epiphysen der Ober- und Unterschenkelknochcn erstreckte. 
Auch das Zahnfleisch wurde etwas blasser und begann abzuschwellen. 

Die Temperatur bewegte sich zwischen 37,5—88,5° C., war also 
ganz mässig fieberhaft. Das Kind magerte ein wenig ab von 8 kgr bis 
7,520. Die Blutuntersuchung ergab aip 13. Februar 5 000 000 rothe 
Blutkörperchen, 20 000 weisse Blutkörperchen, Verhältnis 1 : 280. 

Keine wesentlichen nachweisbaren Abweichungen im Aussehen und 
Verhalten von rothen und weissen Blutkörperchen. 

Auch im Harn niemals etwas Krankhaftes — insbesondere kein 
Zucker, kein Eiweiss, keine Diazoreaction. 

Vom 12. Februar begann die Temperatur langsam aber stetig zu 
steigen 38,5; am 13. 38,7; am 15. 39,Ö°C.— Entsprechend 148 Pulse; 
45 Resp. — Zeitweilig Erbrechen. 

Schwellung und Schmerzhaftigkeit ist an der rechten Extremität 
fast völlig zurückgegangen, auch der linke Unterschenkel ist abgeschwollen, 
nur das linke Kniegelenk bleibt dick, prall inflltrirt, schmerzhaft bei 
leichtester Berührung. Die Schwellung erstreckt sich am linken Ober¬ 
schenkel aufwärts bis zur Mitte des Femur, und ebenso nach abwärts 
über den Kopf der Tibia hinweg bis zur Mitte des Unterschenkels. 

Die stete Zunahme des Fiebers am 18. 40,4° C. und der drohende 
Kräfteverfall liess bei mir den Gedanken aufkommen, durch Entleerung 
des noch an dem rechten Oberschenkel als bestehend supponirten, sub¬ 
periostalen Blutergusses den fieberhaften Process zu sistiren, nachdem 
ich in einem meiner früheren Beobachtungsfälle das gleiche beobachtet 
hatte; in demselben hatte die von Herrn Collegen Julius Wolff voll¬ 
zogene Entleerung der ergossenen Blutmasse einen sehr wesentlich gün¬ 
stigen Einfluss auf den Verlauf der Krankheit geübt. 

Es wurde also vom Herrn Collegen Gluck am linken Oberschenkel 
bis auf den Knochen incidirt; indess ohne dass es zur Entleerung von 
grösseren Blutmassen oder Gerinnsel kam, vielmehr zeigten sich in der 
Tiefe lockere, wie nekrotische Knochenlamellen, von welchen behutsam 
einige kleine Stückchen, die ich Ihnen hier vorlegen kann (Demon¬ 
stration), abgelöst wurden. Sie können erkennen, dass es sich um 
Knochenscheibchen von etwa l /i—1 mm Dicke handelt, welche nach oben 
eine glatte, normalem Knochen entsprechende Fläche zeigen, während 
sie an unterer Fläche mit dunkelbraunen, augenscheinlich blutigen 
Massen bedeckt sind. Man gewann aus diesen operativ entfernten 
kleinen Knochenstückchen den Eindruck, als handle es sich, ähnlich wie 
beim Cephalaematom der Kinder um subperiostale Knochenschalenbildnng 
oberhalb eines hämorrhagischen Ergusses zwischen Knochenhaut und 
Knochen. 

Leider liess sich der Verfall des Kindes durch die Operation nicht 
auf halten. Dasselbe starb am 18. Februar. 

Die Section ergab in den wesentlichen Dingen folgenden Befund. 
Am Skelett keine irgendwie ausgesprochene Rachitis. Die Rippcn- 
epiphysen nicht verdickt, wenigstens nicht irgend erheblich. Die Ossi- 
fleationszone scharf begrenzt. Das Knochenmark tief dunkelroth, augen¬ 
scheinlich blutig durchtränkt. In den Lungen zerstreute bronehopneu- 
matische Heerde. Das Herz von gewöhnlicher Grösse, gut contrahirt. 
Der Herzmuskel makroskopisch nicht wesentlich verändert. 

Pleura und Pericard intact. 

Milz 6,7 : 4,5 : 1,5. Gew. 18 gr. Oberfläche glatt, glänzend. Farbe 
der Pulpa rothbraun. Follikel nicht auffallend vermehrt. Consistenz 
der Pulpa normal. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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12. April 1897. 


Leber 190 gr. 14 : 9 : 5. Oberfläche glatt. Consistenz mässig. 
Zeichnung gut erhalten. Blutgehalt sehr gering. 

Der Darmcanal bietet nichts Abnormes. — Derselbe ist im Ganzen 
blass, die Peyer’schen Plaques treten nicht auffällig hervor. — Die Or¬ 
gane liegen hier zur Ansicht vor. (Demonstration.) 

Von Knochen wurden genauer diejenigen der linken Unterextremität 
untersucht; die höchst sonderbare Beschaffenheit derselben ist mit der 
hauptsächlichste Grund, um deswillen ich Ihnen von dem Fall Kcnntniss 
zu geben mir erlaubt habe. Sie können, wie in wenigen der bisher 
publicirten Fälle, einen Einblick in die Veränderungen gewinnen, welche 
dem von Barlow beschriebenen Syraptomencomplex entsprechen. Das 
Präparat, welches ich hier vorlcge, ist das untere Drittel des Femur und 
der oberen Epiphyse der Tibia mit dem noch nicht eröffneten Kniegelenk. 
Am wichtigsten ist der Befund an dem untersten Stück der Diaphyse 
des Femur und Sie sehen hier die eigentliche Femurdiaphyse bis zur 
Epiphyse von einer Art Kapsel umgeben, welche augenscheinlich an 
seiner Innenschicht mit Knochenmassen versehen, aus dem verdickten 
Periost und einer dunkelbraunen hämorrhagischen Masse gebildet wird. 
Die hämorrhagische Masse ist eingeschlossen von einer etwa '/*—1 mm 
dicken Knochenschaale, welche vom Periost her gebildet ist. Je weiter 
nach der Mitte der Dyaphyse zu, desto dünner wird Knochenschaale und 
Bluterguss, während nach der unteren Epiphyse des Femur zu das Ganze 
eine verdickte Auftreibung bildet. So liegt also der an sich intacte 
Knochen in einer hämorrhagischen Hülle, die selbst wieder vom Periost 
her ossiflcirt ist. Gelegentlich der Operation sind von dieser neu¬ 
gebildeten Knochenschaale jene kleinen Stückchen entfernt worden, die 
ich Gelegenheit genommen habe, vorhin zu zeigen. 

Man kann also behaupten, dass es sich bei der Barlow’schen Krank¬ 
heit thatsächlich um Bubperiostale Blutungen handelt, die genau, wie 
Kepbahämatom der Kinder leicht vom Periost her zur Ossiflcation ge¬ 
führt werden. 

Die mikroskopische Untersuchung der einzelnen Organe bat mit 
Ausnahme mässiger Verfettung insbesondere der Leber und der Nieren, 
und katarrhalischer Veränderungen des Darmtractus, ein besonderes Er- 
gebniss nicht gehabt. Das Knochenmark zeigt sich nur besonders blut¬ 
reich, reich an Erythrocyten, sonst finden sich ganz normale Markzellen, 
nur geringe Verfettung, auch wenig blutkörperchenhaltige Zellen, und 
sehr spärlich Pigraentzcllen. Endlich hat auch die bacteriologische 
Untersuchung des Blutes und des Knochenmarkes kein Ergebniss gehabt. 

Wenn auf solche Weise der Krankheitsfall leider wieder nichts 
Wesentliches dazu beitragen hilft, das Wesen der so dunklen Krankheit 
aufzubelien, so ist er doch nach der Richtung hin zunächst einer Demon¬ 
stration hier wohl werth gewesen, weil Sie an den Präparaten die bei 
denselben gesetzte anatomische Läsion sich zur Anschauung bringen 
können, — Aber auch theoretisch hat der Fall noch das besondere In¬ 
teresse, dass er, wie ich glaube, definitiv dazu geeignet ist, die von 
manchen Autoren immer noch supponirte directe Beziehung der Rachitis 
zur Barlow’schen Krankheit in ernste Frage zu stellen. Einmal bot 
das Kind thatsächlich keine irgendwie erheblichen Zeichen von Rachitis, 
wenigstens nicht im Entferntesten entsprechend der Schwere und Eigen¬ 
artigkeit des Krankheitsverlaufes, sodann aber belehrt uns die rapid vor¬ 
geschrittene subperiostale Ossiflcation der Blutergüsse am Femur, dass 
man von einer etwa der Rachitis entsprechenden Minderwertigkeit der 
Knochenbildung nicht sprechen kann. So ergiebt sich also aus diesem 
Falle, dass es sich um eine Krankheit sui generis handelt, die den scor- 
butischen Affectionen zum mindesten weit näher steht, als der Rachitis. 
Aetiologisch ist auch in diesem Falle wiederum, wie es scheint, die be¬ 
sondere Beziehung zur Ernährung hervorgetreten. Auch hier wieder ist 
ein künstliches Nährpräparat — dieses Mal die Lahmann’sche Milch, 
längere Zeit in Gebrauch gewesen. Freilich ist dieselbe dem Kinde nach 
der Abkochung im Soxhletapparat, also steril gemacht, verabreicht 
worden, und so muss dahingestellt bleiben, wie der Causalnexus zwischen 
Ernäbrnng8art und Erkrankung sich gestaltet hat. Aber immerhin ist 
auch in diesem Falle das eigenartige Zusammentreffen höchst bemerkens- 
werth und in der Praxis wohl zu berücksichtigen. 

Was endlich das Therapeutische betrifft, so hat neben dem Ge¬ 
brauch von frischer, nicht sterilisirter Kuhmilch, Eigelb etc., die Ver¬ 
wendung von frischer Bierhefe in den ersten Tagen seines Aufenthaltes 
im Krankenhause dem Kinde sichtlich gut getban, wie sich in der fort¬ 
schreitenden Abschwellung der Glieder und Abnahme der Schmerzhaftig¬ 
keit kund tbat. Leider scheint die Malignität des Processes am linken 
Kniegelenk die Ausheilung verhindert zu haben. — Was speciell den 
Gebrauch der Hefe betrifft, so dürfte der Nucleingehalt derselben das 
eigentliche Heilprincip in der Hefe darstellen, weil damit eine Zuführung 
von reichlichen Mengen organisch gebundener Phosphorsäure gewähr¬ 
leistet ist, was nach den neuesten Untersuchungen auf diesem Gebiete 
sicher als bedeutsam erscheint. — Ich muss aber betonen, dass die Hefe 
sehr frisch und frei von saurer Gährung sein muss, weil sie nur so von 
dem kindlichen Darmcanal gut vertragen wird. 

Discussion. 

Hr. Senator: Die Präparate scheinen mir von grosser Bedeutung 
zur Lösung der von Herrn Baginsky schon angedenteten Frage nach 
dem Verhältniss der Barlow’schen Krankheit und der Rachitis. Ich 
war immer der Meinung, erstens dass das, was man als Barlow’sche 
Krankheit beschrieben hat, nichts weiter ist, als eine schwere Anämie 
mit hämorrhagischer Disposition, von der häufig Rachitische befallen 
werden, die aber mit der Rachitis gar keinen Zusammenhang hat, und 


zweitens dass man als „acute Rachitis“ diesen Zustand mit einem anderen 
zusammengeworfen hat, der gar nichts damit zu thun hat. 

Wenigstens war in den Fällen, die von mir und Anderen beschrieben 
worden sind und ganz acut mit Gelenkschwellungen, wie bei einer 
Rachitis, verliefen, von einer hämorrhagischen Diathese und scorbutischen 
Erscheinungen nichts vorhanden. Allerdings fehlt, worauf ich bei meiner 
Mittheilung in v. Ziemssen's Specieller Pathologie schon hingewiesen 
habe, die anatomische Untersuchung der Knochen und der Beweis, dass 
es wirklich die für Rachitis charakteristischen Veränderungen Vorlagen 
und nicht etwa andersartige Schwellungen. 

Hr. Mordhorst (a. G.): Man glaubt allgemein, dass harusaure 
Concremente von keinem Mittel gelöst werden können. Meine Erfah¬ 
rung hat jedoch gezeigt, dass jeder alkalische, nicht zu viele Kalksalze 
enthaltende Urin im Stande ist, harnsaure Concremente aufzulösen. 
Einige Präparate sollen das demonstriren. Wie man zu der Ansicht ge¬ 
kommen ist, dass die Steine nicht gelöst werden können, das hat wohl 
seinen Grund in folgender Thatsache. Hängt man einen Stein in einem 
alkalischen Urin auf, dann fängt sofort die Lösung des Steins an. Ist 
die Lösung sehr stark alkalisch, dann geht die Lösung so schnell vor 
sich, dass die gelösten Theile sich nicht mittelst Diffusion in der ganzen 
Flüssigkeit vertheilen. Die gelösten Salze bleiben vielmehr in der Um¬ 
gebung des Steins. Wenn man solche Steinchen unter das Mikroskop 
legt, sieht man sofort das Stroma auf den Rändern hervortreten, und 
das Stroma vergrössert sich selbstverständlich, je länger das Concrement 
in dem alkalischen Harn bleibt. Aus dem Stroma aber löst sich eine 
andere organische Substanz ab, die sich, in Verbindung mit dem Natron 
dann wie eine Borke um den ganzen Stein legt. Auf diese Weise kann 
das lösende Medium, das Natron, an den 8tein selbst nicht herankommen, 
und er wird nicht gelöst. Dieser letztere Vorgang stellt sich im mikro¬ 
skopischen Bilde in folgender Weise dar: Es bilden sich bei der Lösung 
ringsum kleine Kügelchen; diese Kügelchen bestehen aus harnsaurem 
Natron. Wird der Urin nicht erneut, dann schiessen von diesen Kügel¬ 
chen Krystalle von Harnsäure heraus, und nun ist der ganze Stein in 
einer solchen Schicht von saurem harnsaurem Natron eingehüllt. Wird 
aber der Urin sehr häaflg erneuert, dann lösen sich die Kügelchen auf 
und vertheilen sich in der ganzen Flüssigkeit, der Urin kann heran¬ 
kommen und löst dann auf diese Weise den ganzen Stein auf. Ich habe 
verschiedene Präparate, wo das so aussieht (Zeichnung). Das Stroma ist 
von Pigment durchsetzt und der kleine Rest von dem Stein ist zurück¬ 
geblieben. Ein anderes Präparat sieht so aus (Zeichnung). Das sind 
Kugelnrate. In jedem alkalischen Urin finden sich, wenn der Urin 
etwas verdunstet, immer solche Urate. Sie können sehr gross werden, 
z. B. 50 bis 100mal grösser, als weisse Blutkörper. Man sieht das in 
jedem alkalischen Urin. Ich kann es Ihnen auch oben demonstriren. 
Es ist einerlei, welches Mittel man braucht, um den Urin alkalisch zu 
machen. Nur darf das Mineralwasser nicht zu viel Kalksalze enthalten, 
weil die Kalksalze die Lösung der organischen Substanz verhindern, und 
wenn sich erst eine 8chicht, wie sie oben geschildert ist, gebildet hat, 
dann kann selbstverständlich der Urin nicht mehr herankommen und 
den Stein lösen. 

Hr. Kutner: Ich möchte nur Herrn Mordhorst fragen, ob er 
irgend einen Fall anfdhren kann, wo er beim Lebenden eine derartige 
Auflösung eines 8teins, in der Blase oder anderswo, beobachtet hat. 
Ich bestreite diese Möglichkeit, entsprechend den durchweg negativen 
Ergebnissen der einschlägigen Versuche und den die praktische Seite der 
Frage betreffenden Angaben der Literatur. Der Nachweis einer solchen 
Auflösung, z. B. eines Blasensteins, wäre überaus leicht zu führen, wenn 
man nämlich vor Gebrauch des Mineralwassers kystoskopisch das Con¬ 
crement sieht und später, nach dem Gebrauch, ebenfalls mittelst Kysto- 
skopie, feststellt, dass es verschwunden ist. Wenn also ein solcher Fall 
vorliegt, würden mir die Mittheilungen von Herrn Mordhorst sehr 
interessant sein, wenn aber nicht, dann haben seine ganzen Ausführungen 
nur den fragwürdigen Werth von theoretischen Hypothesen. 

Hr. Mordborst: Theoretisch ist die Sache nicht. Ich habe eine 
ganze Reihe von Fällen, die beweisen, dass kleinere Concremente gelöst 
werden, wenn ein stark alkalisches Wasser gebraucht wird. Aber ich 
habe auch Fälle gehabt und Fälle gesehen, wo grosse Steine — d. h. 
sehr grosse Steine sind es nicht gewesen, vielleicht Steine von L—2 mm 
— jedenfalls aufgelöst worden sind. Der erste Fall, den ich behandelte, 
betraf einen Herrn von Wiesbaden. Derselbe litt seit vielen Jahren an 
Harnsteinen und war mehrmals dem Tode nahe. Ich gab ihm das 
Wiesbadener Gichtwasser zu trinken. Er entleerte jeden Tag grosse 
Mengen von Harnsteinen, sowohl grössere, wie kleinere, und nachdem 
er angefangen hatte, zu trinken, wurden die Steine, dia er entleerte, 
immer kleiner, so dass gar kein Zweifel vorhanden ist, dass sie durch 
Benutzung des Gichtwassers kleiner wurden, indem sie zum Tbeil ge¬ 
löst wurden. Ein anderer Fall war mit dem Generalarzt X.; derselbe 
hatte mir mitgetheilt, dass er an sehr starken Nierenkoliken gelitten 
hatte, dass nach dem Gebrauche des Gichtwassers diese Nierenkoliken 
vollständig aufgehört haben und die Steine, die früher sehr gross waren, 
sehr klein wurden. 

Hr. Kutner: Bei den von Herrn Mordhorst angeführten Fällen 
handelte es sich ohne Zweifel lediglich um den Abgang grösserer und 
kleinerer Steinchen infolge der stark vermehrten Diurese, wie wir es 


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No. 15. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


bei dem reichlichen Gebrauch aller möglicher, selbst ganz indifferenter, 
Mineralwässer, häufig zu beobachten Gelegenheit haben; die erheblich 
grössere Harnfluth schwemmt einfach mechanisch die Concremente von 
ihrer Ablagerungsstelle — Nierenbecken, Recessus der Blasenwand (z. B. 
infolge trabeculärer Hypertrophie, beginnender Prostatahypertrophie) oder 
dergl. — hinweg und bringt sie nach aussen; für die Behauptung einer 
„Auflösung“ aber beweisen die Fälle selbstverständlich gamichts. 

Hr. A. Frendenberg: Die galranocansttsche Radlcalbehand- 
lang der Prostatahypertrophie nach Rottini. (Der Vortrag ist unter 
den Originalien dieser Nummer abgedruckt.) 

Discnssion. 

Hr. L. Casper: Es ist zunächst erfreulich, dass man der Prostata* 
Hypertrophie, dieser wirklichen Crux senectutis so zu Leibe geht, wie 
es jetzt geschieht, nnd besonders berührt es mich angenehm, dass dem 
armen Bottini, der sich seit 20 Jahren oder länger bemüht, seine 
Methode einzuführen, nun endlich Nachahmer entstehen. Ich selbst habe 
allerdings keine Erfahrungen über die Operation, da ich sie nicht ein ein¬ 
ziges Mal angewandt habe, will auch nur über die Art der Beurthoilung 
Einiges sagen, weil ich aus den Fällen, die Herr College Freuden¬ 
berg angeführt hat, nicht die Ueberzeugung von dem Effect dieser Ope¬ 
ration habe gewinnen können. Es ist nämlich die Beurtheilung des 
Effectes der Therapie gerade bei der Prostata-Hypertrophie ausserordent¬ 
lich schwierig, wie ich das vor 8 Tagen, soweit es die Zeit erlaubte, 
anzudeuten Gelegenheit hatte. Dass ein unmittelbarer Einfluss der Ope¬ 
ration stattflndet, das ist Ja wohl nach den Krankengeschichten, die 
Herr Freudenberg angeführt hat, sicher. Aber mit diesem unmittel¬ 
baren Effect ist es nicht geschehen. Es kommen nämlich derartige 
Besserungen, wie sie Herr Freudenberg von so alten Herren an¬ 
gegeben hat, ohne jede Behandlung vor, und da ist es denn begreilicher 
Weise schwierig, wenn die Fälle nicht ganz genau geprüft sind, zu 
sagen, ob das auf Rechnung dar Operation zu setzen ist, oder nicht. 
Einen Fall, der das besonders markant beweist, will ich mir erlauben 
ganz kurz mitzutheilen. Derselbe betrifft einen alten Herrn von hoch in 
den Siebzigern, den ich vor etwa 14 Tagen im Aerztecurse vorstellte, 
der seit Monaten eine complette Retentio urinae hatte and sehr herunter¬ 
gekommen war. Ich schlug damals vor, bei diesem Patienten die Re- 
section der Vasa deferentia zu versuchen. Aeussere Umstände verhin¬ 
derten dies. 8 Tage darauf, als ieh den Kranken wieder vorstellte, war 
seine Retentio urinae gehoben und er konnte selbstständig Harn lassen. 
Der Residualharn betrug etwa 250 gr. Nun führte ich die Resection 
der Vasa deferentia aus, und siehe da, am zweiten Tage, darauf betrug 
sein Residualharn etwa nur noch 40 gr. Ich bemerkte damals: Hätte 
man die Resection der Vasa deferentia in diesem Falle gleich bei Be¬ 
ginn der completten Harnverhaltung ausgeführt, so würde auch hier 
wahrscheinlich der 8chluss gemacht worden sein, dass die Operation als 
solche diese complette Harnretention beseitigt hätte. Also der Umstand 
der Beseitigung der Harnverhaltung allein genügt nicht zur Beur¬ 
theilung. 

Damit will ich nicht sagen, dass ich nicht an den Effect der Ope¬ 
ration glaube, sondern im Gegentheil: ich erhoffe einen solchen. Aber 
ich bin der Ansicht, dass eine lange Zeit der Beobachtung des Kranken 
vor der Operation stattflnden muss, ehe man zu einem Urtheil darüber 
gelangen kann, ob der eingetretene Effect nachher auf Rechnung der 
Operation zu setzen ist, oder nicht. Das einzige Maass für die Prüfung 
bei diesen Fällen bietet die Kraft der Blase, das Quantum des Harnes, 
das zurückbleibt, nachdem der Kranke versucht hat, seinen Harn zu 
entleeren. Das ist der einzige Maassstab, den wir haben. Nun ändert 
sich der Residualharn ausserordentlich sowohl beim Katheterismus, als 
auch ohne denselben. Nur wenn man also die Menge des Residualharns 
sehr lange, vielleicht Monate hindurch, geprüft hat, um sagen zu können: 
diese Blase hat einen Minus, einen Defect von so und so viel, erst dann 
kann man nachher schliessen, ob sich die Kraft der Blase gehoben hat. 
Nun weise ich nicht, wie lange Herr Freudenberg vorher diese Fälle 
beobachtet hat. Das hat er nicht mitgetheilt. Ferner würde ich ihn 
bitten, von diesen Fällen anzngeben, wie sich der Residnalharn nun¬ 
mehr bei diesen Herren verändert hat. Das hat er bei 4 seiner Pa¬ 
tienten unterlassen. 

Also nicht etwa, als ob ich nicht an den Effect glaube, — sondern 
ich will nur sagen: es ist kein stringenter Beweis des Erfolges dieser 
Operation durch diese Mittheilungen geliefert. Wir kommen weit 
schneller zur Klarheit, wenn diese Art der Untersuchung und der Be¬ 
trachtung, wie ich sie skizzirt habe, bei der Behandlung dieser Kranken 
zum Maassstab genommen wird. 

Hr. A. Freudenberg: Ich kann selbstverständlich hier Kranken¬ 
geschichten nicht so ausführlich mittheilen, wie ich beabsichtige, sie im 
Druck zu veröffentlichen. Wenn Sie die Krankengeschichten aber lesen 
werden, so werden Sie scheu, dass allen den Postulaten, die Herr 
Casper aufgestellt hat, in vollstem Maasse gerecht geworden 
ist. Die Kranken sind alle lange Zeit vorher beobachtet worden, und 
cs hat sich eben berausgeBtellt, dass sie trotz Wochen- und monatelang 
vorhergegangener Ausspülungen, Instillationen, Behandlung mit inneren 
Mitteln — ich rede besonders von den dreien, die eine vollständige 
Retention hatten, und die ja am meisten beweisen, — nicht wieder 
zum Uriniren gebracht wurden. Zwei von ihnen hatten 5 Monate ab¬ 
solut complette Urinretention, sie entleerten keinen Tropfen freiwillig, 
und sie waren behandelt worden in der Weise, wie ich cs eben ge¬ 


schildert habe. Bei dem andern .bestand die complette Urinretention 
seit 8 Wochen, — nnd alle diese Patienten haben, wie 8ie vorhin 
gehört haben, wieder die Fähigkeit erlangt, spontan zu uriniren, der 
eine allerdings erst 4 resp. 10 Tage nach der Operation, die beiden 
anderen aber 3 resp. 4 Stunden nach der galvanokaustischen 
Incision. Da noch einen Zufall anzunehmen, das, glaube ich, ist doch 
nicht angängig. Aber ich habe ja vorhin schon gesagt: ich recurrire 
gar nicht allein auf meine Operationen. Solche Erfolge, wie ich sie 
Ihnen eben hier vorgetragen habe, hat Bottini in einer ganz 
grossen Zahl veröffentlicht. 8ie sind so glänzend, dass sie ihm 
für gewöhnlich einfach nicht geglanbt werden. Aber sie sind vor¬ 
handen, wie ich mich bei der Nachprüfung in meinen Fällen über¬ 
zeugt habe! 

Was den Residualurin betrifft, so habe ich schon erwähnt, dass 
er bei einem der 8 Patienten, die ich mitgebracht habe — es sind die 
8 zuerst Operirten — fast gleich Null ist. Bei dem dritten beträgt er 
19—28 ccm — er ist immer noch im Sinken begriffen —, und bei dem 
zweiten habe ich erst heute ihn gemessen. Da hat er 55 ccm betragen. 
Auch hier ist er immer noch im 8inken, und als ich dem Patienten neu¬ 
lich eine klare Flüssigkeit (Borsäurelösung) einspritze, da hat er schon 
noch weniger, nämlich nur 85 ccm Residuum gehabt. 

Zur Charakteristik deB miserablen Zustandes der beiden ersten Pa¬ 
tienten will ich übrigens noch hervorheben, dass Herr Prof. Rinne, 
dem ich sie verdanke, mir ausdrücklich und spontan vor ein paar Tagen 
erklärte, er sei überzeugt, dass diese beiden Patienten ohne die 
Operation nicht mehr unter den Lebenden wären. 


Verein für Innere Medlctn. 

Sitznng vom 29. März 1897. 

Vor der Tagesordnung. 

1. Hr. Michaelis berichtet über bacteriologische Untersuchungen, 
die er gemeinsam mit Herrn Bein in einer Reibe von Mumpsfällen ge¬ 
macht hat. Schon im Vorjahr hat Herr v. Leyden gelegentlich die 
Beobachtung des Vorkommens einer bestimmten Diplokokkenart ira Secret 
der Parotis, das durch Katheterisation des Dnct. Stenonianus gewonnen 
war, gemacht. Bei der diesjährigen grösseren Parotitisepidemie in 
Berlin konnte dieser Befand bereits in 5 Fällen erhoben werden. Es 
ist ein mikroskopisch und durch die. Cultur wohl charakterisirtes Bac- 
terium, das als Erreger des Humps angesprochen werden darf. Der 
Diplococcus, der in Form, Lagerung in den Zellen und Verhalten gegen 
Farbstoffe, dem Gonococcus sehr ähnlich ist, und mit Eigenbewegnng 
ausgestattet iRt, findet sich auch im Eiter der abecedirton Parotis. Er 
wächst auf den gewöhnlichen Nährböden, auch auf Ascitesflüssigkeit und 
Milch, die er gerinnen macht Uebertragungsversucbe aufThiere hatten 
keinen Erfolg, auch nicht bei directer Einspritzung in Parotis und Hoden. 
Der Coceus besitzt eine sehr geringe Virulenz. 

2. Hr. Gräupner (Nauheim) demonstrirt einen von ihm construirten 
Apparat, der zur Einübung des Gangmechanlsmut bei Gehstörnngen 
infolge chronischer Gehirn- und Rückenmarksleiden dienen soll. Das 
Princip desselben beruht auf der praktischen Ausnutzung des Einflusses 
des Gehörs auf den Ablauf der Coordinationsbewegungen. Jeder Schritt 
des Kranken wird durch das Anschlägen eines elektrischen Läutewerkes 
markirt. 

Discnssion. 

Hr. v. Leyden betrachtet den Apparat als eine brauchbare Unter¬ 
stützung in dei von ihm eingeführten sog. Compensationstherapie, welche 
den schädlichen Einfluss des Sensibilitätsverlnstes ausgleichen soll. Man 
erreicht damit besonders bei der Tabes mehr als mit dem Merkur, deren 
Wirkung wesentlich auf Illusion beruhe. Der Zusammenhang zwischen 
dem inneren Ohr und den Coordinationsbewegungen ist noch nicht auf¬ 
geklärt. 

Hr. Gräupner nimmt zur Erklärung dieses Zusammenhanges auf 
den Vortrag des Prof. Ewald (Strassburg) auf der Frankfurter Natur- 
forscherversammlung 1896 Bezng, der durch das Experiment nachgewiesen 
hat, dass nach Zerstörung der Labyrinthe die coordinirten Bewegungen 
fortfallen. Die durch die Schwingungen des Trommelfells in Bewegung 
gesetzte Endolymphe des Labyrinths löst vielleicht direct Coordinations- 
vorgänge in den Muskeln aus. 

Hr. Goldscheider: Bei der Regulirung des Muskeltonns spielt 
der N. acusticus gar keine Rolle. In dieser Beziehung hätte der Vor¬ 
redner die Ewald’schen Versuche missverstanden. Der Werth des von 
ihm construirten Apparates könnte vielmehr nur darauf beruhen, dass 
der Zeitsinn den Ablauf der motorischen Impulse beeinflusst. Uebrigens 
werden mit Hülfe des Apparates wohl die Beine in bestimmtem Ryth¬ 
mus gesetzt werden können, aber das Schwanken der Ataktischen wird 
nicht verhütet. 

8. Hr. Siegheim berichtet über einen Fall von Endocardltis 
gonorrhoica. Im Juni vorigen Jahres erkrankte eine Frau unter täg¬ 
lich sich wiederholendem Schüttelfrost, sie sah schwer leidend aus, an 
der Herzspitze ein systolisches Geräusch. Die Natur der vermntbeten 
Endocarditis ulcerosa fand ihre nähere Erklärung durch das Geständnis* 
des Ehemanns, dass er vor einiger Zeit eine frische Gonorrhoe acqnirirt 
und danach Umgang mit seiner Frau gepflogen habe. Der weitere Krank¬ 
heitsverlauf war fortdauernd fieberhaft, es trat u. a. Milzschwellung nnd 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


327 


12. A pril 1897. 


Blnt- nnd Eiweisshamen anf, die Athemnoth wurde immer stärker. Naeh 
etwa 6 wöchentlicher Krankheit erfolgte nnter den Erscheinungen des 
Lungenödems der Tod. Die Autopsie ergab eine Endocarditis prolifer. 
ulcerosa. In den Auflagerungen konnten typische Gonokokken nach- 
gewiesen werden, intra vitam waren sie im Armvenenblut nicht vor¬ 
handen. 

Weiterhin legt Hr. Siegheim eine verschluckt gewesene Zahnplatte 
vor, die nach Verordnung der Billroth'schen Kartoffelcur und Ricinusöl 
per anum abgegangen ist. 

4. Hr. E. Flatau: Ueber Veränderungen des menschlichen 
Rückenmarks nach Wegfall grösserer Gliedmassen. 

Die Untersuchungen von Vulpian, v. Leyden, Homen, Mari- 
nesco u. a. haben gezeigt, dass wenn ein grösserer Zeitraum zwischen 
der Amputation und dem Tod verflossen ist, eine Verschmälerung der 
weissen und der grauen Substanz in der entsprechenden Rückenmarks¬ 
höbe eintritt. Vortr. berichtet über die Veränderungen des Rückenmarks, 
die kurze Zeit nach der Amputation eintreten, und bespricht einzeln das 
motorische und das sensible Gebiet. In der motorischen Sphäre zeigten 
die Experimente von Nissl, Marinesco und dem Vortr., dass das 
Waller’sche Gesetz nicht ganz aufrecht erhalten sollte, weil die trauma¬ 
tische Läsion eines peripherischen motorischen Hirnnerven auch Alteration 
in der Zelle und im centralen Stumpf des Neurons verursacht. Vortr. 
fand in 2 Fällen von frischer Amputation deutliche Veränderungen der 
Vorderhomzellen in den entsprechenden Rückenmarksgeweben. Im 1. Fall 
(aus der I. medicin. Klinik) trat infolge von Pneumonie Thrombose der 
beiden Art. femorales ein, die zur Gangrän der beiden Beine führte. 
Amputation. Tod 8 Wochen nach der Thrombose. Im 2. Fall (aus der 
Abtheilung von Prof. Goldscheider im Moabiter Krankenhause) war 
das linke Bein amputirt und ausserdem wurde von Prof. Goldscheider 
die Diagnose eines Tumors der Cauda equina (sattelförmige Anästhesie 
im Gebite des Anus, Rectum, Scrotum, Penis) gestellt und durch die 
Scction bestätigt, Der Tod trat 3 Monate nach der Amputation ein. 
In den beiden Fällen waren die Vorderhornzellen im Lumbosacralmark 
deutlich verändert, indem dieselben hypervoluminös und abgerundet 
waren, *inen feinkörnigen Zerfall der Ni Barschen Zellkörperchen und 
Wandstellung des Kerns zeigten. Im 2. Fall fand man im oberen 
Lumbalmark die veränderten Zellen nur auf der Seite der Amputation, 
im Sacralmark dagegen auf beiden Seiten (der Tumor drückte auf 
sämmtliche Sacralwurzeln). Vortr. verweist auf die Differenz der 
Alterationen der Zellen nach Amputationen und, wie die Unter¬ 
suchungen von Goldscheider und dem Vortr. zeigten, nach Einwirkung 
von Malonnitril und hoher Temperatur. Im 2. Fall waren die intra- 
medullären vorderen Wurzeln stark degenerirt (Marchi’sche Methode). 

ln der sensiblen Sphäre stellt die Spinalganglienzelle mit ihrer 
peripherischen sensiblen Faser einerseits und der hinteren Wurzel und 
Hinterstrugfaser • andererseits da» peripherische sensible Neuron dar. 
Während man bis jetzt dachte, dass eine traumatische Läsion der peri¬ 
pherischen sensiblen Nervenfaser das Spinalganglion nicht überschreiten 
könne, zeigten die Untersuchungen von Lugano, dass die Spinal¬ 
ganglienzellen dabei alterirt werden. Redlich fand 5—10 Wochen nach 
Amputation bei Meerschweinchen Degeneration der hinteren Wurzeln 
und die Einstrahlung derselben in die Hinterstränge, und Darksche- 
witsch veröffentlichte neuerdings eine grössere Arbeit, in welcher das¬ 
selbe mit Sicherheit constatirt worden ist. In dem 2. Fall konnte 
Vortr. ausser der Degeneration der Hinterstränge, die vom Druck des 
Tumors auf die Sacralwurzeln herstammt, auch eine andere im mittleren 
und oberen Lnmbalmark nur auf der Amputationsseite constatiren. Es 
war die Wurzeleintrittszelle degenerirt und besonders deutlich die sogen. 
Reflexcollatcrales. Alle diese Thatsachen stehen in einer gewissen Be¬ 
ziehung zu den Tabestbeorien. Im Gegensatz zu P. Marie, welcher 
den Ausgangspunkt der Tabes in den Spinalganglien sehen wollte, meinte 
v. Leyden, dass eher die peripherischen sensiblen Nerven den Aus¬ 
gangspunkt des Processes darstellen. Die oben gestellten Thatsachen 
deuten auf die Möglichkeit der Ausbreitung der Degeneration von der 
Peripherie aus auf das gesammte sensible Neuron hin. Die modernen 
Untersuchungsmethoden gewähren uns somit einen tieferen Einblick in 
daa Wesen der pathologischen Processe im Gebiete des Centralnerven¬ 
systems. (Die Discussion wird vertagt.) 

Tagesordnung. 

5. Discussion zu dem Vortrage des Hrn. Strauss: Zur Lehre 
▼ob der neurogenen nnd thyreogenen Glykosurie. 

Hr. Jastrowitz: Für die Annahme des Vortr., dass die alimen¬ 
täre Glykosurie ein Vorbote der spontanen sei, fehlt es an Unterlagen. 
Im Gegentheil ist Redner in der Lage, über einen Fall zu berichten, in 
dem unter Fleischdiät der Zucker (6 pCt.) aus dem Harn des Kranken 
verschwand und dann später erst nach mehrfach wiederholter Ueber- 
fütterung mit Amylaceen hervorgerufen werden konnte. Die alimentäre 
Glykosurie hat J. wiederholt bei Cachexien verschiedenen Ursprungs 
festgestellt, ferner auch bei Apoplexien, wo sie auch spontan vorüber¬ 
gehend auftritt. Bei Deliranten kommt sie sehr häufig vor. Zu den 
vom Vortr. erwähnten Intoxicationen sind noch die acute und chronische 
Morphiumvergiftung hinzuzufügen. Bei Paralytikern ist die Glykosurie 
selten, häufiger bei Psychosen, besonders Melancholie. Der Diabetes 
tritt zuweilen in der Descendenz alternirend mit Psychosen und Neu¬ 
rosen anf. 

Hr. Bnrghart: Zur Erzeugung der alimentären Glykosurie em¬ 
pfiehl sich statt des Traubenzuckers, der oft erbrochen wird, der Rohr¬ 
zucker. 


Hr. Albu hat das Auftreten der alimentären Glykosurie bei Ge¬ 
sunden und bei Kranken mit traumatischer Neurose, functioneilen Nerven¬ 
krankheiten, diffusen Lebererkrankungen und Schrumpfniere in einer 
grösseren Zahl von Fällen geprüft. Sie ist im Allgemeinen doch selten. 
Das Zustandekommen derselben scheint von individueller Disposition ab¬ 
hängig zu sein, deren Ursache noch ganz unerfindlich ist. Bei trauma¬ 
tischen Neurosen und functioneilen Nervenkrankheiten, wie Hysterie, be¬ 
sitzt die alimentäre Glykosurie keine allgemein gültige diagnostische und 
prognostische Bedeutung, der negative Ausfall des Versuchs kommt auch 
bei schweren und ganz typischen Fällen dieser Erkrankungen vor. Die 
Verabreichung von Amylaceen ist nicht gleichwertig mit der Darreichung 
des Traubenzuckers. Die Frage der alimentären Glykosurie ist noch 
nicht endgültig gelöst. 

Hr. Strauss: Um mittelst Stärkemehl eine alimentäre Glykosurie 
zu erzeugen, braucht man 400—500 gr. Nur der Traubenzucker ist dem 
Blutzucker adäquat. Was die von Herrn Jastrowitz aufgeworfene 
Frage der quantitativen Zuckerausscheidung betrifft, so wird regelmässig 
von 100 gr nur 1 gr wieder ausgeschieden. Bei Cachectiscben hat St. 
niemals einen positiven Ausfall des Versuches beobachtet, dagegen ein¬ 
mal bei Schrumpfniere. 


VIII. Praktische Notizen. 

Ditgatstisehes aad Cuaistik. 

Bei einem 25jährigen Mann beobachtete Lejars einen Fall von 
Cholecystitis, der hervorgerufen war durch eine Infection mit dem 
Bacillus coli. Der Patient litt schon seit 2 Jahren an beständig 
wiederkehrenden Gallensteinkoliken, die immer heftiger wurden. Es 
wurde deshalb die Cholecystotomie gemacht und die Gallenblase drainirt. 
Steine fanden sich weder in der Blase noch in den grossen Gallengängen. 
Die im Verlauf der Operation aus der Gallenblase gewonnene Galle 
wurde bacteriologisch untersucht und ergab den Bacillus coli sehr reich¬ 
lich. Einen Monat später, als der Zustand des Patienten sich bedeutend 
gebessert hatte, ergab die bacteriologische Untersuchung den Bacillus 
coli in bedeutend geringerer Menge, und die ca. 14 Tage nach der 
letzten vorgenommene Untersuchung ergab nur ganz vereinzelte, schlecht 
charakterisirte Mikroben. Der Patient wurde völlig geheilt entlassen. 
(Gaz. Hebdom. No. 24.) 

Merkten (Gaz. Hebdom. No. 24) hat 3 Fälle von Appendicitis 
beobachtet, die Im Verlauf oder Gefolge der Influenza auftraten. 
In allen 3 Fällen handelte es sich um Kinder, bei denen eine familiäre 
Prädisposition zu Erkrankungen des Wurmfortsatzes bestand. M. will 
daher die beiden Erkrankungen nicht als zufällig neben einander be¬ 
stehende aufgefasst wissen, sondern bringt sie in einen gewissen Zu¬ 
sammenhang, indem er annimmt, dass im Verlauf solcher Krankheiten 
eine erhöhte Virulenz der gewöhnlichen Mikrc Organismen des Darmes 
eintritt bei Personen, die prädisponirt sind zu Erkrankungen des Wurm¬ 
fortsatzes. 

Ueber den Gebrauch der agglutinirenden Wirkung vom 
menschlichen Serum für die Diagnose des Abdominaltyphus 
hat Grünbaum schon lange bevor Widal seine Befände veröffent¬ 
lichte, systematische Untersuchungen angestellt (Münch. Med. W. 13). 
ln sämmtlichen daraufhin untersuchten Fällen fand er, dass das Serum 
der Typhuskranken mindestens 82fach verdünnt, d. h. in ca. 8proc. 
Lösung angewandt werden konnte, ohne seine deutliche agglutinirende 
Wirkung auf Typhusbacillen bei einer Einwirkung von 80 Minuten ein- 
zubüssen. Dagegen zeigte sich keine einzige Serumprobe anderer 
Herkunft wirksam, wenn die Verdünnung über das 16fache hinaus¬ 
ging. Er empfiehlt daher auf Grund seiner Beobachtungen das Serum 
zu diagnostischen Zweckeu immer in ca. SSfacher Verdünnung oder 
3proc. Lösung anzuwenden. _ 


van Oordt(Münch.Med.Wochenschr. 18) hat ebenfalls Untersuchungen 
angestellt über die Serodiagnostik des Typhus abdominalis mittelst 
des Widal'schen Verfahrens. Im Wesentlichen stimmen die Resultate, 
die er erhielt, mit den schon allgemein bekannten überein. Als Verein¬ 
fachung der Methode empfiehlt er die Verwendung von Formolculturen, 
wie sie Widal und Sicard vor Kurzem demonstrirten: Auf 100—150 
Tropfen einer 12 ständigen Typhusbacillencultur wird ein Tröpfchen For- 
mols zugesetzt; die so abgetödtete Cnltur unterschied sich noch nach 
einer Woche kaum wesentlich von einer lebenden gl eich alter igen Bouillon- 
cultur; beide Arten der Reactionen fielen nun so deutlich aus wie bei 
lebenden Culturen. Interessant ist unter den vom Verf. veröffentlichten 
Fällen ganz besonders derjenige, wo die genaueste klinische, anatomische 
und bacteriologische Diagnose Typhus abdominalis mit Sicherheit 
ausschliessen liess, wo die Section eine ulceröse Endocarditis und 
eitrige Cerebrospinalmeningitis ergab und doch deutliche positive Reac- 
tion noch bei 1 :40 vorhanden war. Verf. schliesst aus diesem Falle, 
dass eine absolute differentialdiagnostische Bedeutung gerade 
bei zweifelhaften Erkrankungen mit meningitischen Symptomen, der 
Reaction bei Verdünnung des Serums von 1 :40 nicht beizumessen sei, 


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328 


RERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 16. 


wodurch freilich die klinisch praktische Bedeutung des Widal’schen Ver¬ 
fahrens nicht im Geringsten geschmälert wird. 


Therapeatisehes aad Intaxieatioaea. 

Bottin (Hygien. Randschau No. 7) hat Untersuchungen angestellt 
über die desinflcirende Kraft des Sanatols. Dasselbe kennzeichnet 
sieh als ein Gemenge von Schwefelsäure und durch diese aufgeschlossenen 
phenolartigen Körpern. Das Resultat seiner Untersuchungen war, dass 
das Sanatol in wässeriger Mischung ein kräftiges Desinflciens darstellt, 
das in lproc. Verdünnung schon in 1 Minute alle angewandten Mikro¬ 
organismen tödtete und ferner, dass es rascher vernichtete als das 
Phenol. Uebertroffen wird das Sanatol vom reinen Phenol insofern, als 
Milzbrandsporen von dem letzteren in 5proc. Lösung binnen 12 Tagen, 
von einer gleich starken Sanatollösung noch nicht nach 23 Tagen ver¬ 
nichtet wurden. Ferner entfaltete das Sanatol in den Bouillonmischungen 
eine bemerkenswertb schwächere Wirkung und stand sogar bei den 
Staphylokokken und Typbusbacillen hinter dem Phenol bedeutend zu¬ 
rück. Zusammenfassend möchte Verf. das Sanatol als »in kräftiges 
Desinfectionsmittel bezeichnen, welches seiner stark sauren Eigenschaften 
halber freilich nur für die Zwecke der groben Oberflächendesin- 
fection oder für ähnliche Aufgaben — 8putum, Fäces — Ver¬ 
wendung finden kann. _ 


Popper demonstrirte in der Wiener Dermatol. Gesellschaft einen 
Fall von Syphilis maligna praecox durch Jodothyrin geheilt 
wurde (W. Klin. W. 13). Im Anfang war die Pat. mit Dec. Sarsaparillae, 
dann mit Jod, später mit grossen Jodkalidosen behandelt worden, unter 
dieser Behandlung, ebenso wie unter der Quecksilbertherapie war wohl 
Besserung eingetreten, es traten jedoch stets wieder neue Nachschübe 
ein. Erst nach Verabreichung von Jodothyrin und grauen Pillen trat 
völlige Heilung ein. Die Patientin erhielt vom l. December 1895 bis 
4. Januar 1897 44 gr Jodothyrin, vom 4. Januar an wurde wegen einer 
fieberhaften Erkrankung 10 Tage die Therapie sistirt, dann erhielt die 
Kranke vom 14. Januar bis 8. März 101 gr Jodothyrin, daneben 108 Stück 
graue Pillen, die Gewichtsabnahme betrug jeden 4. Tag 30—50 dkgr. 


In der Gesellschaft der Aerzte in Wien vom 26. März (W. Klin. 
Wochenscbr. 13) stellte Lorenz 5 junge Damen vor, bei denen das 
Problem gelöst wurde, das knöchern ankylotische und in patho¬ 
logischer Stellung fixirte Hüftgelenk in eine Pseudarthrose 
überzuführen, die genügende Festigkeit mit ausreichender Beweglichkeit 
verbindet. Lorenz hatte in diesen Fällen ebenso wie noch 6 anderen 
statt der bisher geübten eingreifenden Operationen die völlig harmlose 
und subcutan ausführbare Osteotomie der knöchernen Anwachsungsstelle 
des oberen Femurrandes am Becken ausgeführt und dies als Osteo¬ 
tomie pelvitrochanterica bezeichnet. Unter diesen Fällen ist nur 
ein einziges Mal Recidiv eingetreten und zwar, weil eine entsprechende 
Nachbehandlung nicht möglich war, in den anderen 10 Fällen wurde 
unter entsprechender Nachbehandlung eine Pseudarthrose erzielt, welche 
mit einer Beweglichkeit»von 80—40 0 im Sinne der Beugung und 
Streckung eine genügende Festigkeit verband. — In der Acad£mie de 
Mßdecinc sprach am 23. März Iloffa über seine Methode der Be¬ 
handlung der angeborenen Hüftgelenksluxation, die bekannt¬ 
lich darin besteht, auf operativem Wege dem Femurkopf einen festen 
Stützpunkt zu schaffen mit möglichster Schonung des Muskelapparats. 
Unter 44 operirten Fällen trat nicht ein einziges Mal Recidiv auf, nur 
in 2 Fällen waren die Bewegungen etwas beschränkt. Das günstigste 
Alter zur Operation ist zwischen dem 3. und 8. Lebensjahr, später 
macht die Reposition des Femurkopfes zu grosse Schwierigkeiten. Die 
Dauer der Behandlung beträgt für die einseitige Luxation inclusive Gym¬ 
nastik und Massage 4 Monate, für die doppelseitige 6 Monate. 


In 2 Fällen von puerperaler Eklampsie sah Appleby (Boston 
Journal 11) nach dem Gebrauch von Guajakol auffallend schnelle 
Heilung eintreten. Im ersten Falle war wegen der Krämpfe die 
Frau mittels Forceps entbunden worden; nach Auf hören der Chloroform¬ 
anästhesie traten von Neuem Btarke Krämpfe auf; nachdem jedoch 40 
bis 50 Tropfen Guajakol auf die Bauchhaut geträufelt und dort sanft 
verrieben waren, hörten innerhalb 5 Minuten die Krämpfe auf unter 
reichlichem SchweiBsausbruch. 

Im 2. Falle traten nach Geburt der Placenta die Krämpfe auf, und 
zwar in einer solchen Heftigkeit, wie sie Appleby trotz einer 80jähri- 
gen Thätigkeit noch nicht gesehen hatte. Das Guajakol wurde ebenso 
applicirt wie im vorigen Fall und ausserdem Morphium subcutan ge¬ 
geben. In weniger als einer Stunde hörten auch hier die Krämpfe auf. 
Beide Pat. blieben dauernd geheilt. 

Malot (These de la Facultc de Paris) hat bei Neuralgien, Schmerz¬ 
punkten, Hyperästhesien in 20 Fällen das Guajakolchloroform 
subcutan angewandt. In allen Fällen schwanden nach der Anwendung 
die Schmerzen schnell, allerdings traten später öfters Recidive ein. 


IX. Tagesgeschichtliche Notizen. 

Berlin. In der Sitzung des Vereins für innere Medicin am 
5. April fand die Generalversammlung statt. Der bisherige Vorstand 
wurde wiedergewählt, die Geschäftscommission durch fünf Neuwahlen 
ergänzt. Die gedruckfen Vorschläge betreffs der Veröffentlichung der 
im Vereine gehaltenen Vorträge wurden en bloc angenommen. Vor der 
Tagesordnung berichtete Hr. Magnus-Levy über einen Fall von 
Acromegalie, bei dessen Autopsie sich ein Tumor der Hypophysis fand, 
dann demonstrirte Hr. Levy-Dorn stereoskopische. Röntgenbilder. Da¬ 
nach hielt Hr. P. Rosenberg den angekündigten Vortrag über die Ver¬ 
wendung von Formaldehydpräparaten zur Conservirung, Desinfection und 
Behandlung von Infectionskrankheiten. In der Behr lebhaft bewegten 
Discussion, die noch nicht zu Ende geführt wurde, nahmen die Herren 
H. Aronson, Burghart und Karewski das Wort gegen die Aus¬ 
führungen des Redners. 

— In Strassburg ist Dr.Ern st Levy zum ausserordentlichen Profeisor 
ernannt worden. 

— Prof. Hildebrandt hat die auf ihn gefallene Wahl zum chirur¬ 
gischen Oberarzt am Charlottenburger Krankenhaus nicht angenommen; 
an seine Stelle ist nun Prof. Bessel-Hagen erwählt. 

— Priv.-Doc. Dr. Jacobj in Strassburg ist an das Kaiserliche 
Gesundheitsamt berufen. 

— Seitens der meisten Sectionen des Moskauer Intern ationalen 
Congresses werden jetzt die Programme mitgetheilt. In der Ab¬ 
theilung für innere Medicin sind folgende Referate angemeldet; 
Klinische Classification der Nephritisformen (v. Leyden, Brault); 
Pathogenese der chronischen Nephritis (Senator); Ueber das Wesen 
der Chlorose (Charrin, Gilbert, E. Grawitz); Malaria und Malaria¬ 
parasiten (Celli, Ssacharow), Klinische Formen der Lebercirrhose 
(Gilbert, Chauffart, Litten); Pathogenese der Fettleibigkeit 
(Le Gendre); Nervöse Dyspepsie (Rosenheim). Von den sehr zahl¬ 
reichen übrigen, bisher gemeldeten Vorträgen erwähnen wir: Rosen¬ 
stein, Febris hepatica; Rosenbach, Zusammenhang nervöser Zu¬ 
stände mit Herzerkrankungen; Ebstein, Pathogenese der Harnsteine etc. 

In der Abtheilung für allgemeine Pathologie und pathologische Ana¬ 
tomie werden referiren: Hueppe, Ueber die Constanz der Species der 
pathogenen Mikroben vom botanischen und klinischen Standpunkt; Le- 
pine und Minkowsky, Ueber die Entstehung der verschiedenen 
Formen des Diabetes; Cornil, Ueber die pathologische Physiologie der 
Thrombosen und intravenösen Gerinnungen; Brissaud, A. Ewald, 
Gley, Ueber die physiologische Pathologie des Myxödems; Bohring 
und Bouchard, Ueber Immunität; Stricker und Klemensiewicz, 
Ueber Entzündung. 


X. Amtliche Mittheilungen. 

Fenonalla. 

Auszeichnungen: Rother Adler-Orden IV. Kl.: dem Geh. San.- 
Rath Dr. Schwarz in Wandsbeck. 

Ernennungen: der Medicinal-Assessor bei dem Kgl. Medicinal-Collegium 
der Provinz Sachsen, Medicinal-Rath Dr. Schattenberg in Magde¬ 
burg zum Mitglied dieses Collegiums; der Director der Hebammcn- 
Lebranstalt Dr. Dahlmann in Magdeburg zum Medicinal-Assessor 
des Kgl. Medicinal-Colleginms der Provinz Sachsen; der Priv.-Doc. Dr. 
Ernst Levy in 8trassburg i. E. ist zum ao. Professor in der raed. 
Fakultät der Kaiser Wilhelms-Universität daselbst ernannt worden. 

Niederlassungen: die Aerzte Dr. Bahre in Rabber, Dr. Herschel 
in Erfurt, Amol dt in Birkenhof, Kr. Fischbausen, Dr. Will in Ratze- 
buhr, Dr. Deichert in Göttingen, Dr. Reifenstubl in Osterwald, 
Dr. Hoopmann in Siedenburg, Dr. Steckmetz in Rendsburg. 

Verzogen sind: die Aerzte Dr. Kattein von Schönberg nach Gaarden, 
Dr. Lautenbach von Oldenburg i. H. nach Schönberg, Dr. Gott¬ 
schalk von Liebenau nach Kalau, Dr. Ulrich von Siedenburg nach 
Liebenau, Dr. Georg Müller von Göttingen, Dr. Neugebauer von 
Lauenburg nach Conradstein, Dr. Enke von Rostock nach Lauenburg, 
Dr. Millitzer von Jena nach Erfurt, Dr. Schlegel von Erfurt, Dr. 
Reich von Königsberg 1. Pr. nach Tilsit, Dr. Albert Kirstein von 
Lyck nach Königsberg 1. Pr., Kumm von Danzig nach Königsberg i. Pr., 
Sprunk von Königsberg i. Pr. nach Insterburg, Dr. Eduard Kir¬ 
stein von Schwarzort nach Liebstadt, Dr. Scheffer von Allenberg 
nach Königsberg i. Pr., Dr. Haberkant von Tapiau nach Carlshof 
bei Kastenburg, Dr. Gosse von Bartenstein nach Seeburg, Dr. Dietrich 
von Elbing nach Biscbofstein. 

Gestorben sind: die Aerzte Dr. Lucks in Rendsburg, Dr. Weber in 
Kiel, Ober-Stabsarzt a. D. Dr. Heller in Breslau, Hofarzt a. D. Geh. 
San.-Rath Dr. Nolte in Charlottenburg, Dr. Axmann in Erfurt, Dr. 
Küchenmeister in Alt-Scherbitz, Geh. San.-Rath Dr. Velten in 
Bonn, Ass.-Arzt Dr. 8alraann in Strassburg i. E., Gen.-Arzt a. D. 
Dr. Fischer in Fürstenwalde, Stabsarzt a. D. Dr. Ernst in Dresden. 

Filr die Redactlon verantwortlich Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald, LQUowplaU S. 


Verlag und Eigenthum von August Ilirschwald in Berlin. — Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin. 


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Die Berliner Kllnleche Wochenschrift erscheint Jeden 
Montag in der Stirke von 3 bis 3 Bogen gr. 4. — 
Preis vierteljährlich 6 Mark. Bestellungen nehmen 
alle Buchhandlungen und Postanstaiten an. 


BERLINER 


Einsendungen wolle man portofrei an die Redaction 
(W. LQtzowplats No. 5 pir.) oder an die Verlags¬ 
buchhandlung von August Uirschwald In Berlin 
N.W. Unter den Linden No. 68, adressiren. 



Organ für practische Aerzte. 


Mit Berücksichtigung der preussischen Medicinalverwaltung und Medicinalgesetzgebung 

nach amtlichen Mittheilungen. 


Redaction: 

Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald and Prof. Dr. C. Posner. 


Expedition: 

Aagust Hirschwald, Verlagsbuchhandlung in Berlin. 


Montag, den 19. April 1897. M 16. Vierunddreißsigster Jahrgang. 


INHALT. 


I. A. Neisser: Syphilisbehandlung und Balneotherapie. 

II. W. Stoeltzner: Ein neuer Fall von epidemischer Cerebrospinal- 
meningitis. 

III. Aus der chirurgischen Universitätsklinik in Halle a. d. S. (Dir.: 
Prof. Dr. v. Bramann). L. Wullstein: Ueber Aufnahmen des 
Rumpfes durch Röntgenstrablen. 

IV. Aus der inneren Abtheilung des städtischen Krankenhauses am 
Urban in Berlin. A. Fraenkel: Ueber einige Complicationen 
und Ausgänge der Influenza. (Schluss.) 

V. Kritiken und Referate. Hammerschlag: Mageucarcinom. 
(Ref. Kuttner.) Edinger: Nervöse Centralorgane des Menschen 
und der Thiere. (Ref. Bethe.) Carossa: Behandlung des Kind- 
bettflebers; Dfihrssen: Fortschrittein der Geburtshülfe; Dührs- 
sen: Koeliotomie und Adnexoperationen; Dührssen: Anteflxatio 
uteri; Edebohls: The Iudications for ventral flxation of the 


L Syphilisbehandlung und Balneotherapie. 

Von 

Prof. A. Neisser in Breslau. 

(Vortrag, gehalten am 13. März in der Hufeland’schen Gesellschaft 

zu Berlin.) 

Wenn man sich überlegt, wie oft im Laufe des letzten Jahr¬ 
zehntes anf allen nationalen und internationalen Special-Congressen 
und Aerzteveraammlungen die „Syphilisbehandlung“ besprochen 
wurde, so könnte man meinen, es wäre da ein ganz neues Heil¬ 
mittel gefunden worden, dessen Einführung in die Therapie und 
dessen Verwendungsweise discutirt wurde. Und doch ist gerade 
das Gegentheil der Fall; immer wieder und immer mehr wird 
die Lehre betont, dass wir nur ein einziges Heilmittel der 
Syphilis gegenüber besitzen: das Quecksilber, und mit grösster 
Entschiedenheit wird die Resultatlosigkeit aller Versuche, an 
Stelle des Quecksilbers irgend ein anderes Medicament oder 
irgend eine neue „natürliche“ Heilmethode einzuführen, betont. 
Selbst die theoretisch so aussichtsvolle Serumtherapie ist zur 
Zeit noch ohne jede praktische Bedeutung. 

Und doch haben wir durch alle die zahlreichen Erörte¬ 
rungen Uber Luesbehandlung einen grossen segensreichen Fort¬ 
schritt zu verzeichnen, indem wir verbesserte Methoden der 
Quecksilberbehandlung kennen gelernt, indem wir entsprechend 
der wachsenden Erkenntniss, wie vielgestaltig der Einfluss 
der Syphilis auf den menschlichen Organismus sein könne, 
die Frage, ob nicht eine viel energischere und sorgsamere 
Syphilisbehandlung nothwendig sei, vertieft und demgemäss 
neue Principien für den ganzen Behandlungsplan aufgestellt 
haben. 

Speciell die Eingangs aufgestellte Anschauung, dass das 
Quecksilber das einzige uns bekannte Heilmittel gegen die 


uterus; Noble: Suspensio uteri with reference to its influence 
upon pregnancy and iabor; Noble: Drainage versus radical Ope¬ 
ration in the treatment of large pelvic abscesses. (Ref. Abel.) 
Beaucamp: Hebammeu-Wesen. (Ref. Abegg.) 

VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Gesellschaft 
der Charit6-Aerzte. Hauchecorne: Rachitis und Syphilis. — 
Verein für innere Medicin. Magnus Levy: Acromegalie. Levy- 
Dorn: Röntgenbilder. Rosenberg: Behandlung der Intections- 
krankheiten. — Aerztlicher Verein zu Hamburg. Jessen, Aly, 
Lenbartz, Unna, Wiesinger: Demonstrationen. Lenhartz: 
Varicellen bei Erwachsenen. 

VII. Achtzehnter Balneologen-Congress zu Berlin. (Fortsetzung.) 

VIII. F. Bruck: Zur Therapie der genuinen Ozaena. 

IX. Literarische Notizen. — X. Praktische Notizen. 

XI. Tagesgeschichtlichc Notizen. — XII. Amtliche Mittheilungen. 


Syphilis sei, möehte ich zuspitzen auf den Satz: das Queck¬ 
silber — und nur dieses — wirkt auf das Syphilis¬ 
virus selbst und ist das einzige Mittel, welches den 
Verlauf der Krankheit beeinflussen kann. Selbstver¬ 
ständlich hat es auch einen Heiletfect auf die durch das Syphilis¬ 
gift geschaffenen Krankheitsproducte und auf die von den Syphilis¬ 
toxinen herrührenden Symptome. Das sind aber Heilwirkungen, 
welche andere Mittel, speciell das Jod und seine Salze auch in 
gewisser Weise erzielen können. Das Quecksilber allein trifft 
das Virus resp. die von uns supponirten Mikroorganismen der 
Syphilis. 

Eine Stütze für diese Behauptung Anden wir in der allseitig 
als feststehend anerkannten Einwirkung des Quecksilbers auf 
die Vererbungsfähigkeit der Krankheit. Die Syphilis wird auf 
die Frucht übertragen, selbst wenn nirgends Syphilis-Neubil¬ 
dungen im Körper, speciell in den Generationsorganen nach¬ 
weisbar sind. Beseitigung der Vererbungsfähigkeit heisst also 
nicht Beseitigung von Syphilisproducten, sondern des Syphils- 
giftes selbst, dauernd oder vorübergehend. 

Ein weiterer Anhaltspunkt für die Behauptung, dass das 
Quecksilber das Syphilisvirus selbst angreift, ist die Thatsache, 
dass der Verlauf der Krankheit eminent günstig beeinflusst wird, 
wenn der Patient auch nur ein einziges Mal im Beginne 
seiner Erkrankung einer energischen Mercurbehandlung unter¬ 
worfen wird. Daher der colossale Gegensatz des Syphilisver¬ 
laufes in unseren Districten, wo verhältnissmässig wenig Syphi¬ 
litiker unbehandelt bleiben, gegenüber dem Verlauf in denjenigen 
Ländern und Bezirken, in denen keine mercurielle Behandlung 
stattfindet. Acceptiren wir diese Beweisführung, so resultiren 
meiner Ueberzeugung nach noch eine ganze Menge anderer For¬ 
derungen aus derselben. 

Einmal werden wir in keinem Stadium der Erkrankung auf 


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eine Quecksilberbehandlung verzichten können, auch nicht im 
tertiären Stadium, da auch die tertiären Producte unserer An¬ 
sicht nach durch Syphilismikroorganismen erzeugt werden. Vor¬ 
handene tertiäre Processe werden zwar durch eine Jodbehand¬ 
lung beseitigt, Recidiven kann aber nur Hg, nicht Jodtherapie 
Vorbeugen. 

Wichtiger aber ist die zweite Folgerung: wir werden in- 
ficirte Menschen auch dann und so lange Zeit mit Quecksilber 
zu behandeln haben, als wir Grund zu der Annahme haben, 
dass das Syphilisvirus sich in ihrem Organismus aufhalte, mögen 
Symptome den directen Beweis fllr die Existenz des Virus geben 
oder mag das Virus latent, ohne sichtbare Producte zu schaffen, 
irgendwo im Körper deponirt sein. Der therapeutische Ausdruck 
dieser letzteren Anschauung istdiechronisch-intermittirende 
Syphilisbehandlung, welche Fournier gelehrt und zu deren 
energischem Verfechter ich mich seit mehr als 15 Jahren ge¬ 
macht habe. 

Mag man aber diesen Standpunkt acceptiren oder nicht, 
jedenfalls haben alle unsere weiteren Betrachtungen Uber die 
Syphilisbehandlung auszugehen von dem Satze: Ohne Quecksilber 
giebt es keine gute Syphilisbehandlung. Daraus aber folgt nicht, 
dass wir nicht neben und ausser derselben alles zu Hülfe nähmen, 
was eine schnellere und sichere Heilung unserer Kranken herbei- 
fUhren könnte. 

In erster Reihe sind hier zu nennen die Jodpräparate; 
denn in gewisser Weise stellen auch sie ein specitisches Heil¬ 
mittel dar. Freilich habe ich mich nicht Überzeugen können, 
dass das Jod in frühen Stadien der Krankheit wirksam oder gar 
nothwendig sei. Ich halte es fUr einen wirklichen Heilfactor 
nur bei tertiären Processen und verzichte fa6t immer bei der 
secundären FrUhperiode auf seine, wie mir scheint, überflüssige 
Anwendung. 

Doch muss ich hier einige wichtige Einschränkungen machen: 

Erstens kennen wir auch in der FrUhperiode und zwar schon 
in den ersten (Incubations-) Monaten nach der Infection (ge¬ 
wöhnlich sehr schmerzhafte) Symptome, welche wahrscheinlich 
periostaler Natur sind und sehr häufig in bemerkenswerther 
Weise auf Jodkali reagiren. 

Ferner werden die als „Syphilis maligna“ bezeichneten 
ulcerösen Frühformen oft von Jodalkalien gut beeinflusst, wäh¬ 
rend sie von mercurieller Behandlung meist eher eine Ver¬ 
schlechterung erfahren. 

Viel wichtiger aber ist, dass bei gewissen Frühformen die 
Jodkalibehandlung nie weggelassen werden sollte, nämlich 
bei allen syphilitischen Processen in denjenigen Organen, welche 
unserer direkten Untersuchung durch Inspection nicht zugänglich 
sind. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben uns gelehrt, 
wie häufig schon in den ersten Jahren nach der Ansteckung 
tertiäre Processe (auf Haut, Schleimhaut, Knochen etc.) sich ent¬ 
wickeln. Wir müssen demgemäss überall, wo wir durch genaue 
Untersuchung die tertiäre Natur eines syphilitischen Processes 
nicht au8schlie8sen können, die Möglichkeit, dass ein solcher 
vorhanden sei, in Erwägung ziehen und die therapeutische Regel 
ab leiten, in solchen Fällen auch stets neben dem Quecksilber 
das „tertiäre“ Heilmittel, das Jod, zu Hülfe zu nehmen. Je be¬ 
deutsamer das Organ ist, in welchem der syphilitische Process 
sich localisirt hat, um so weniger werden wir etwas unterlassen 
dürfen, was zur Beseitigung der Erkrankung beitragen könnte. 
Gewiss wird in manchen Hirnluesfällen, welche im Laufe des 
1., 2. oder 3. Jahres auftreten, der an den Gehirnarterien, an 
den Meningen sich abspielende Process secundärer papulöser 
Natur sein, also auf Quecksilber allein reagiren und die An¬ 
wendung des Jods ganz überflüssig erscheinen lassen. Wer 
aber weiss, ob dieser Process wirklich rein secundärer, papu¬ 


löser Natur ist und nicht vielleicht schon ein tertiärer, zum 
gummösen Zerfall tendirender? Der Arzt wird sich in solchen 
Fällen auf theoretische Speculationen nicht einlassen dürfen; er 
muss und wird thun, was er irgend kann, das heisst; Queck¬ 
silber und Jod, um allen Möglichkeiten gerecht zu werden, in 
Anwendung ziehen. 

Mit diesem Gedankengange aber, meine Herren, kommen 
wir auch zu unserem eigentlichen Capitel, zur Besprechung der 
Rolle, welche die Balneotherapie — natürlich 'm weitesten Sinne 
des Wortes — bei der Syphilisbehandlung spielt. Leugne ich 
auch strictissime, dass eine hydriatrische Behandlung irgend 
welcher Art einen Ersatz bieten könne für Quecksilber imd 
auch für Jod, so stehe ich doch andererseits auf dem Stand¬ 
punkte, dass es ein unverzeihlicher Fehler wäre, wollten w r ir 
als Aerzte nicht jede Methode, welche zur Beseitigung der 
Krankheit nützlich und förderlich sein könnte, in Anwendung 
ziehen, und ich glaube allerdings, dass nach dieser Richtung hin 
die Balneotherapie eine ganz hervorragende Stelle 
in der Syphilisbehandlung einnehmen müsse. 

Gestatten Sie mir, ehe ich weiter gehe, noch eine Zwischen¬ 
frage: ist denn wirklich die hydriatrische Behandlung absolut gar 
nicht im Stande, allein für sich, auch ohne Quecksilber und Jod 
der Syphiliskrankheit beizukommen? Freilich die Syphilis-Mikro¬ 
organismen selbst abzutödten, dazu wird sie nicht im Stande 
sein. Wissen wir denn aber, ob das Quecksilber eine derartig 
directe bactericide Einwirkung hat? Besteht nicht vielleicht die 
ganze Ilg Heilwirkung darin, dass nur die Zellen des Organismus 
in ihrer natürlichen Widerstandsfähigkeit gesteigert, zur Pro¬ 
duction antivirulenter und antitoxischer Substanzen angeregt 
werden? Und besteht nicht die Möglichkeit, dass hydrothera¬ 
peutische l’roceduren und Bäder diesen selben Effect auf die 
Körperzellen ausüben? Mit solchen Möglichkeiten aber, meine 
Herren, dürfen wir in der Praxis nicht rechnen lind wir haben 
desshalb immer nur, wenn wir von Balneotherapie und Syphilis¬ 
behandlung sprechen, zu erörtern, wie weit die Balneo¬ 
therapie die Heilwirkung des Quecksilbers unterstützen 
könne 1 ). 

Direkt „specifische“ Bäder irgend welcher Art giebt es also 
nicht. Natürliche quecksilberhaltige Bäder existiren unseres 
Wissens nicht; aber selbst wenn sie vorhanden wären, würden 
sie, wie ich glaube, ebenso wenig eine Quecksilberbehandlung 
ersetzen können, wie die jodhaltigen Bäder die auf andere Weise 
mögliche Jodbehandlung ersetzen können 2 ). Normale Haut re- 


1) Eine zusammenhängende Behandlung der Frage giebt Mauriac 
in seinem Werke: Traitement de la Syphilis. Paris 1896, pag. 840 bis 
379; ferner Elsenberg, Die Behandlung der Syphilis. Wiener Klinik 
1891, August—September, pag. 273; ferner Pick, Behandlung nnd Pro¬ 
phylaxe der Syphilis in Pentzoldt-Stintzing’s Handbuch der speciellen 
Therapie, Bd. VI, 10. Abth., p. 179; ferner W. White in „System of 
Genito-urinary Diseases etc.“, Tora II: Syphilogy, pag. 785; ferner 
Robert W. Taylor, Path. and treatm. of vener. dis. Philadelphia 1895, 
pag. 863 und 908; ferner Schwimmer, Die Grundlinien der heutigen 
Syphilistherapie. (1888, Hamburg bei Leop. Voss), pag. 98—104. 

2) Gegen die Anschauung, dass die Jodquellen entsprechend ihrem 
minimalen Jodgehalt zum Zweck der Jodbebandlung kaum in Betracht 
kämen, wird neuerdings lebhaft Widerspruch erhoben, besonders mit 
dem Hinweis auf den minimalen und doch so wirkungsvollen Jodgehalt 
des Baumann’sehen Tbyrojodin. Mit Franz C. Müller (Monatsschr. 
für prakt. Balneol.) citire ich Harnack (Münch, med. Wochenschr. 1895, 
9, pag. 198): „Dadurch gewinnen aber auch die in den Gemengen von 
Salzlösungen, in den natürlichen Mineralwässern enthaltenen 
kleinen Quantitäten gewisser Elemente (resp. Jonen), wie z. B. gerade 
des Jodes, eine ganz andere Bedeutung, und der von Seite der Prak¬ 
tiker so oft urgirte Satz, dass die Anwesenheit selbst so kleiner Mengen 
für die arzneiliche Wirkung eines Mineralwassers von Wichtigkeit sei, 


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sorbirt im Wasser gelöste Substanzen nicht, es müsste denn sein, 
dass durch sehr lange Dauer des Bades schliesslich eine Quel¬ 
lung der Hornschichten und damit eine minimale Resorption er¬ 
möglicht würde. 

Von der Mitbenutzung elektrischer Kataphorese, welche 
sowohl im Zweizellen-, wie im Einzellenbade im Stande ist, 
Sublimat wie Jod in reichlicher Menge aus dem Badewasser in 
den Körper zu führen, brauche ich an dieser Stelle nur kurz 
Erwähnung thun. Doch will ich die Bedeutung dieser Behand¬ 
lungsmethode keineswegs als gering hinstellen; gewiss wird es 
Fälle geben, in denen die Combination des Badens und der 
elektrischen Behandlung mit specifischer Quecksilber- und Jod¬ 
therapie in der Form des Bades als die zweckmässigste und 
bequemste erscheinen wird, wobei ich der Fälle, in denen man 
gleichsam heimlich voreingenommene Kranke behandeln will, gar 
nicht gedenke. 

DasB quecksilber- und jodhaltige Bäder bei reichlichen sy¬ 
philitischen Eruptionen als lokal wirksame Heilprozeduren auf¬ 
zufassen sind, ist selbstverständlich; speciell bei verbreiteten 
ulcerösen Processen werden (namentlich protrahirte) Bäder aus¬ 
gezeichnetes leisten. Je zahlreicher die Krankheitsprocesse, 
namentlich Ulcerationen, auf der Haut vorhanden sind, desto 
reichlicher wird auch eine Resorption möglich sein; um so mehr 
wird dann ein quecksilber- und jodhaltiges Bad zu einer der 
Allgemeinbehandlung dienenden Methode. 

Gehen wir nun zu der Frage Uber, wie weit Bäder die 
Quecksilberbehandlung beeinflussen können, so haben 
wir hier drei Punkte zu betrachten: 

1. Wird die Einverleibung des Quecksilbers in den Or¬ 
ganismus in irgend einer Weise gefördert durch Bäder? 

2. Wird die Wirksamkeit des im Organismus betindlicben 
Quecksilbers auf das Virus in irgend einer Weise beeinflusst 
durch baineotherapeutische Maassnahmen? 

3. Erfährt die Art und Schnelligkeit der Ausscheidung 
des Quecksilbers irgend eine Einwirkung? 

Die erste Frage kommt naturgemäss nur in Betracht bei 
der Einreibungscur — sie allein ist eine cutane Methode der 
Quecksilberbehandlung -- und sie kann auch beantwortet werden, 
w r enn man sich klar wird Uber den Modus, wie bei einer Ein¬ 
reibungscur das Quecksilber in den Körper eindringt. Fassen 
wir alle die diesbezüglichen Untersuchungen Uber diesen Gegen¬ 
stand zusammen, so haben wir da mit zwei Factoren zu rechnen, 

1. mit denjenigen Quecksilberkügelchen, welche beim Ein¬ 
reibungsact mechanisch zwischen die allerobersten Horn- 
zellscbichten und in die Mündungen der Follikel eingepresst 
werden. Letztere werden dann mehr oder weniger chemisch 
verarbeitet und allmählich zur Resorption gebracht. Eine 
Resorption der in der obersten Hornschichtlage vertheilten 
Quecksilberkügelchen muss als ausgeschlossen gelten, 

2. kommt in Betracht all das auf der Hautoberfläche ver¬ 
strichene, daselbst liegen bleibende oder mit der Hant- 
oberfläche (in der Wäsche) in näherer Berührung befind¬ 
liche Quecksilber, welches unter dem Einfluss der Körper¬ 
wärme verdunstet und durch Eindringen dieses Dunstes in 
den Körper auf dem Wege der Lungen- und Hautathmung 
eine Wirksamkeit entfaltet. 

Welcher der beiden Factoren der wichtigere ist, soll hier 
erörtert werden; ich glaube, dass die Verdunstung den wesent¬ 
lichsten Antheil an der Wirkung einer Inunctionscur darstellt 


kann von der Theorie nicht mehr bestritten werden.“ — Nach F. C. 
Müller hat man denjenigen Quellen den Vorzug zu geben, die das Jod 
concentrirt und möglichst kochsalzfrei enthalten (Salzbrunn, Heilbrunn, 
Halle, Königsdorff). 


und jedenfalls steht fest, wie Welander besonders nachdrücklich 
betont hat, dass auch ohne jede mechanische Einreibung, das 
einfache Ueberstreichen von Quecksilbersalbe genügt, um 
kräftige Quecksilber- und schöne Heilwirkung zu erzielen. 

Diese Thatsachen lassen es von vornherein natürlich er¬ 
scheinen, dass jede die Hautoberfläche betreffende Maassnahme, 
welche die Menge des zur Verdunstung gelangenden Quecksilbers 
vermindert, auch eine Herabsetzung der ganzen Einreibungscur 
zur Folge haben muss, mag man die Menge und Bedeutung des 
in die Follikel hineingelangten Hg für noch so erheblichlich er¬ 
achten. Jedes Abwischen, Abbaden, Abseifen, Abtrocknen be¬ 
seitigt unzählige Quecksilberkügelchen, welche, sonst noch Tage 
lang auf der Haut liegen bleibend, resorptionsfähigen Dunst 
liefern können; und je häufiger natürlich derartige Badeproceduren 
vorgenommen werden, desto grösser ist diese der Einreibung 
entgegenwirkende Einwirkung. 

Kann man aber diesen Schaden nicht wieder gut machen? 
Sicherlich ist man dazu imStande, indem man die Inunctionscur 
selbst kräftiger gestaltet. Dazu ist nothwendig, nicht nur die 
bei einer Einreibung zur Verwendung kommende Menge von 
Quecksilbersalbe zu erhöhen, sondern vielmehr die Grösse der 
Fläche, welche berieben wird, zu steigern. Sechs Gramm, welche ich 
auf einem Arm verreibe, erzeugen zwar eine kräftigere Wirkung 
als wie drei Gramm: aber die Wirkung wird ungleich kräftiger 
werden, wenn ich diese sechs Gramm auf zwei Armen verreibe. 
Das heisst: man wird immer im Stande sein, die durch Balneo- 
Therapie hervorgebrachte Gegenwirkung zu compensiren durch 
Vergrösserung der Dosen, namentlich durch Vergrösserung der 
Einreibungsflächen. 

Man wird natürlich um so mehr darauf Bedacht nehmen 
müssen, je schädigender gewisse Bäder bei einer Einreibungscur 
sich geltend machen, und das sind namentlich die Schwefel¬ 
bäder. Es besteht, meine Herren, nicht der geringste Zweifel 
darüber, dass die in einem Bade enthaltenen Schwefelsalze, be¬ 
sonders der Schwefelwasserstoff, jedes Quecksilberkügelchen, 
welches er erreichen kann, verwandelt in unlösliches, das heisst: 
absolut unwirksames Schwefelquecksilber. Bade ich 
also einen Patienten, während einer Einreibungscur täglich in 
Schwefelwasser, so mache ich jeden Tag einen grossen Theil 
des Quecksilbennetalles unwirksam, während es ohne Schwefel¬ 
bad noch tagelang nachwirken würde. 1 ) Am leichtesten kann 
man sich von diesen Verhältnissen überzeugen, wenn man einen 
Patienten eine Schmiercur mit weisser Präcipitatsalbe machen 
lässt, ohne ihn baden zu lassen. Setzen sie ihn dann am Ende 
eines Cyclus in ein Schwefelbad, so wird der ganze Körper 
total schwarz; das heisst: auch noch von der ersten Einreibung, 
welche 5 bis 8 Tage vorher gemacht worden ist, ist noch so 
viel Quecksilber auf der Hautoberfläche vorhanden, dass noch 
eine sehr deutliche Schwarzfärbung zu Stande kommt. 

1) Einen analogen Standpunkt vertritt Finger (Ueber die modernen 
Bestrebungen in der Sypbilistherapie mit besonderer Berücksichtigung 
des Heilwerths der Schwefelthermen, Wien. med. Presse 1895. 21 u. ff.): 
bei Combination von Scbwefelbadecuren nnd Hg hätte das zu verwendende 
Mercur — intern oder subcutan dem Organismus einverleibt zu werden. 
Dagegen würde die gleichzeitige externe Application, die Combination 
von Schwefelbadecuren mit Einreibungen contraindicirt erscheinen und 
hätte in diesem Falle die Scbwefelbadecur stets nachher nicht aber 
gleichzeitig durcbgefübrt zu werden. Vergl. besonders die Arbeit von 
Elsenberg: die Frage der gleichzeitigen Behandlung der Syphilis mit 
grauer Salbe und Schwefelbädern. (Gazeta lekarska 1898, 17—20). E. 
berichtet zugleich über briefliche Mittheilongen, die er von Bulkley, 
Doyon, Elliot, Finger, Fontan, Fournier, Janovsky, Kaposi, 
Leloir, Neumann, Schwimmer, Taylor, Rosner, Zarewicz 
und Neisser erhalten hat. (Siehe bei Grabowski: Archiv 1895, pag. 
200 u. ff. Band XXXI.) 

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No. 16. 


Ebenso kann man sich auf dem Wege des Thierexperimentes 
überzeugen — ausführliche Mittheilungen darüber werden dem¬ 
nächst aus meiner Klinik publicirt werden — dass (in gewissen 
Grenzen gehaltene) Einreibungsproceduren, welche sonst unfehl¬ 
bar letale Quecksilbervergiftungen nach sich ziehen, unschädlich 
werden, wenn man die Thiere einer Behandlung mit Schwefel¬ 
bädern unterwirft. 

Es ist zwar von Grabowski 1 ) die Behauptung aufgestellt 
worden, dass auch Schwefelquecksilber vom Organismus verar¬ 
beitet würde; demgegenüber muss ich nach zahlreichen wieder¬ 
holten Versuchen die absolute Unwirksamkeit des Schwefelqueck¬ 
silbers betonen. Man kann Thieren jede beliebige Dosis dieses 
Salzes injiciren, ohne den geringsten Effect zu erzielen. 

Vermindert also wird die Wirkung einer Hg-Einreibung 
durch nachträgliches Schwefelbaden, aber nicht ganz beseitigt. 2 ) 

Nun war aber von manchen Seiten behauptet worden, dass 
der Salzgehalt vieler Bäder die Aufnahmefähigkeit der Haut 
bei Einreibungscuren steigere. Doch kann ich mir davon kein 
rechtes Bild machen, namentlich wenn ich an eine Quecksilber¬ 
salbe, also eine fettige Substanz, die auf die durch das Salz¬ 
bad etwas aufgequollene Hornsckiclit applicirt wird, denke.*) 
Bei Verreibung einer Quecksilberseife könnte es schon eher zu 
Stande kommen, dass auch in tiefere Lagen der gequollenen 
Hornschicht Quecksilberkügelchen hineingerieben und für spätere 
Verarbeitung zurückgehalten würden. Bei sehr lange protrahir- 
ten Salzbädern käme vielleicht auch in Betracht die Möglich¬ 
keit, 4 ) dass das Kochsalz des Badewassers mit dem metallischen 
Quecksilber sich verbände zu löslichem, resorbirbaren Queck¬ 
silberchloridchlornatrium und dass etwas davon zur Resorption 
gelangt. Aber jeder, meine Herren, wird zugeben müssen, dass 
das Factoren von solch minimaler Bedeutung sind, dass man sie 
als wirkliche Heilfactoren irgend einem Kranken, der eine Ein- 
reibungscur gebrauchen soll, nicht als dringend nothwendig an’s 
Herz legen könnte. 

Kurz, wir kommen immer wieder auf den einen Satz zurück : 

1) Grabowski’s (Archiv f. Dermal. XXXI p. 187, Beitrag zur 
Frage über den gleichzeitigen Gebrauch der Schwefelbäder und der 
Inunctionscur nebst experimentellen Untersuchungen) erste Schlusstbese 
lautet: „Das unter dem Einfluss des in den Schwefelbädern enthaltenen 
Schwefelwasserstoffs sich nach den Einreibungen bildende Quccksilber- 
snlfid gelangt zur Resorption, und in einer Einreibungssalbe oder sub- 
cutan in einer Emulsion intramusculär eingespritzt, bat es dieselbe speci- 
flsche Wirkung wie die Inunctioncn mit der grauen Salbe, oder wie 
Calomel und das gelbe Hg-Oxydulat in die Musculatur eingespritzt. 

2) Freilich wird man die Schwefelwirkung in den meisten natür¬ 
lichen Schwefelbädern nicht allzuhoch anschlagen dürfen. O. Zicmssen 
(Heilung der constit. Syphilis, Leipzig 1891, pag. 2 t) giebt an, dass da9 
in der Tiefe der Aachener Kaiserquelle geschöpfte Wasser zwar 0,095 gr 
Schwefelnatrium auf 10000 Thcrmalwasser enthalte, dass aber das 
28° R. warme, zum Bade fertige Wasser nur noch 0,00468 Schwefel¬ 
natrium aufweise, d. h. dass ein ganzes Vollbad den minimalen Gehalt 
von 0,1872 gr 8-Na enthielte. 

3) Letzel (Curen und Heilerfolge bei Lues im Bade Tölz-Kranken¬ 
heil, 1890, pag. 7) glaubt durch Wägen der nach Einreibungen wieder 
entfernbaren Salbenmcnge mit und ohne Bäder festgestellt zu haben, 
dass die gleiche Hantpartie nach 10 Bädern bis zu 0,5 Ung. ein. mehr 
anfnehraen konnte, als vorher. Der Natrongehalt der Krankenheilcr 
Bäder verseift die Hautfette und löst die verhornten Epidermisschollen; 
so werden die Mündungen der Schweiss- und Talgdrüsen freigelegt und 
die Einreibungen sehr begünstigt. 

4) Vollmer (Monatsh. f. prakt. Dcrm. XXIII, p. 560) meint, dass 
der sicher vorhandene grössere Widerstand des Organismus gegen hohe 
Ilg-Doscn auch darauf beruhen mag, dass sich der Ueberschuss von 
Chlor (von dem in die oberen Hautschichten eingedrungenen CINa) mit 
Hg zu Calomel verbindet, der auch energisch wirksamen, aber den Pa¬ 
tienten viel zuträglicheren Hg-Verbindung. 


Badeproceduren und Einreibungscuren sind eigentlich nach ent¬ 
gegengesetzter Richtung wirkende Potenzen. Diese Thatsache 
weiss man auch seit jeher, aber man drückt sich anders aus und 
verkündet, wie ungleich besser unendlich grosse Dosen von 
grauer Salbe ohne sonstige Schädigungen in Combination mit 
Schwefel- 1 ) und anderen Bädern 2 ) zur Anwendung gelangen 
können. Das heisst aber in Wirklichkeit nichts anderes, als 
dass man die Steigerung der Dosis ruhig riskiren kann, weil es 
sich nur um eine scheinbare Vermehrung der nutzbringenden, 
bei der Einreibungscur zur Verwendung gelangenden Salbe 
handelt und für uns Praktiker folgt daraus durchaus nicht, wie 
schon gesagt, principiell auf die Verbindung von Einreibungs¬ 
curen mit Schwefelbädern, Salzbädern etc. zu verzichten. Nicht 
alles in Salbenform auf die Körperoberfläche gebrachtes Queck¬ 
silber wird durch die Bäder mechanisch beseitigt oder chemisch 
unwirksam gemacht; ferner ist man durch Steigerung der nach 
jedem Bade zur Verwendung gelangenden Dosis von ungt. cinereum 
und der Vergrösserung der Einreibungsflächen im Stande, das 
durch das Bad gesetzte Deficit zu ergänzen und schliesslich 
dürfen wir nicht vergessen der Heilfactoren, welche liegen 
in der Einwirkung der Badeproceduren auf die Wirk¬ 
samkeit des bereits im Organismus befindlichen Queck¬ 
silbers auf das Syphilisgift, auf den Syphilisprocess. 

Doch mache ich kein Hehl daraus, dass ich, wenn irgend 
möglich, die Combination von Balneo-Therapie und Queck¬ 
silberbehandlung durchzuführen suche mit Zuhülfenahme der 
Quecksilberinjectionsmethode. Da ist — ebenso wie bei 
interner Hg-Behandlung — von einer Herabminderung der zur 
Verwendung gelangenden Quccksilberraenge durch das Bad natür¬ 
lich keine Rede. Hier wird in voller Weise nur der Einfluss 
der baineotherapeutischen Methode auf den Organismus, auf die 
Möglichkeit durch das Quecksilber der Syphilis beizukommen in 
Betracht zu ziehen sein. 

Bei diesem Punkte nun kann ich mich recht kurz fassen; 
denn hier befinden wir uns leider vollständig auf dem Boden 
der Hypothese. Wir wissen zwar, dass durch Schwefel-, Sool- 
und andere Bäder, wesentlich aber unter der Einwirkung hoher 
Temperaturen 3 ) (in gleicher Weise bei Schwitz-, Wasser- oder 

1) Kurz erwähnt sei, dass die Schwefelbäder auch kochsalzhaltig 
sind, dass also auch dieser Factor besonders in Rechnung zu ziehen ist. 
0. Ziemssen (Die Heilung der constitutionellen Syph., Leipzig, 1891) 
geht sogar so weit, dem 8chwefel- (resp. SH,-) Gehalt jede, jedenfalls 
jede nützliche Bedeutung abzu9prechen: „Was dagegen jene Thermen 
zur Unterstützung merkurieller Curen Gutes leisten, beruht auf dem 
Gehalt von CINa“, und zwar „kann man die Tagesdose steigern im Ver- 
hältniss zum CINa-Gehalt. Aachen mit 2,64 °/ 00 CINa gestattet eine 
Tagesdose von 1,5—2,0 Hg, (5—6 gr 33°/ 0 Salbe), Wiesbaden mit 
6,63 r /'oo dagegen 10—15 gr 50 pCt. Ung. einer. 

2) Ganz besonders ist in letzter Zeit E. Vollmer (Syphilis nnd 
Soolbäder, Monatsh. f. pract. Dermat. 1896. XXIII. 11) für die Anwen¬ 
dung der Soolbäder eingetreten. Von den Thatsachen ausgehend 1. dass 
ein kräftiges (3 proc.) Soolbad deutlich diuretisch und Stoffwechsel ver¬ 
mehrend wirkt, 2. dass nach Mansuroff, Pawloff, Schwimmer ge¬ 
steigerter CINa-Gehalt der Nahrung gesteigerte Hg-Ausscheidung nach 
sich zieht, empfleht er die „in den modernen Soolbädern vereinigte 
Trink- und Badecur.“ — Soolbäder machen schwächliche Patienten 
fähig, starke Hg-Curen zu vertragen. 8oolbäder sind sehr oft geeigne¬ 
tere Schwitz- und Badeproceduren als Dampfbäder, Pilocapin etc. — 
Schliesslich supponirt er einen (osmotischen) centrifugalen Secretions- 
strora, der der Elimirung des Syphilisgiftes günstig ist, und eine speci- 
flschc Einwirkung auf die Lymphdrüsen, die Depots des Virus. — 
Uebrigens gedenkt auch Mauriac der Ausscheidung der Toxine durch 
den Schweiss. 

3) Ueber die Anwendung und den Nutzen heisser Bäder jeder Art 
liegen einige bei Tarnowsky in Petersburg gemachte Arbeiten (Bo- 
rowsky 1889, Kalasknikoff 1889 u. A.) vor. Die Wirksamkeit des 


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19. April 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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Luftbädern) mächtige Einflüsse auf den Stoffwechsel erzielt 
werden können. Es ist auch sicher anzunehmen, dass die Aus¬ 
scheidung des Quecksilbers aus dem Organismus durch derartige 
Proceduren angeregt und vermehrt wird. Wie weit aber diese 
Potenzen die Heilkraft des Quecksilbers bei der Syphilistherapie 
befördern, davon können wir uns nur ganz allgemeine Vor¬ 
stellungen machen. Es ist denkbar, dass irgend welche Depots 
von latentem Syphilisgift oder Verbindungen des Syphilisgiftes 
mit den Körpersäften und Körperzellen durch Badeproceduren 
gelockert und frei gemacht werden, derart, dass sie nur einer 
Quecksilberbehandlung zugänglich resp. zugänglicher gemacht 
werden. 

(8cblnss folgt.) 


II. Ein neuer Fall von epidemischer Cerebrospi¬ 
nalmeningitis. 

Mit Nachweis des Meningococcus intracellularis 
Weichselbaum-Jaeger in der durch Lumbalpunction 
gewonnenen Spinalflüssigkeit. 

Von 

Dr. W. Stoeltxner in Berlin, 

Volontärassistenten der Universitätsklinik für Kinderkrankheiten. 

(Dir.: Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Henbner.) 

Am 10. I. 1897 wurde ich zu der 2'/,jährigen Kutscherstochter 
Anna Z. gerufen. Seit einigen Wochen Vergesslichkeit und vermin¬ 
derter Appetit Seit dem 9. I. häufiges Erbrechen. Pat. ist apathisch, 
schreit auf bei Berührung, greift fortwährend nach dem Kopf. Puls 
regelmässig, Temperatur im Rectum 87,7*. Auf Nackenstarre wird 
leider nicht untersucht. 

Behandelt wird das Kind bereits von anderer Seite; ich bin nur ge¬ 
rufen worden, weil der betreffende Arzt nicht zu erreichen war. 

Am 6. II. werde ich wieder consultirt. In der Zwischenzeit hat 
hartnäckige* Erbrechen bestanden, desgleichen ein v,Krampf*, der nach 
der Beschreibung der Mutter als Nackenstarre anzusprechen ist. Der 
behandelnde Arzt hat die Krankheit für eine Gehirnhautentzündung er¬ 
klärt. Seit dem 1. II. hat eine Behandlung nicht mehr stattgefunden, 
weil die Eltern die Hoffnung auf Heilung aufgegeben haben. 

Ich treffe das Kind am 6. II. in traurigem Zustande an. Es iBt 
erschreckend abgemagert, ist sehr unruhig, bricht fortwährend. Die 
Untersuchung der inneren Organe ergiebt normale Verhältnisse. Auf 
Nackenstarre wird sorgfältig untersucht; ich kann jedoch nichts davon 
wahrnehmen. 

Ein erheblich anderes Bild bietet sich mir dar, als ich das Kind 
am 8. II. wieder besuche. Ich finde hochgradige Nackenstarre, tief ein- 
gezogenen Leib, grosse Schmerzhaftigkeit bei jeder Berührung, insbe¬ 
sondere eine ausserordentliche Druckempflndlichkeit längs der Wirbel¬ 
säule. Sensorium frei. Temperatur 87,6*. Keine Betheiligung der 
Hirnnerven. 

Am Nachmittag desselben Tages nehme ich die Lumbalpunction 
vor. Es entleert sich eine stark getrübte Flüssigkeit. Wie die mikro¬ 
skopische Untersuchung ergiebt, ist die Trübung verursacht durch die 
Anwesenheit sehr zahlreicher Eiterkörperchen. 

Am 9. II. ist das Kind viel ruhiger, bricht nicht mehr, trinkt gut. 
Die Nackenstarre ist deutlich, aber weit geringer als am 8. II. 

In den nächsten Tagen dauern Nackenstarre, Erbrechen, Schmerz¬ 
haftigkeit in wechselnder Intensität fort. 

Vom 11. II. an deutliche Wendung zum Bessern. Patientin versucht 
an diesem Tage zum ersten Mal, sich im Bett aufzurichten, ist vom 12. 
an frei von Erbrechen und Nackenstarre. Lebhafter Appetit 

So schreitet die Besserung in erfreulicher Weise fort Am 17. II. 
finde ich in der Krankengeschichte notirt: Temperatur normal; Puls 124, 
regelmässig. LuLgen und Ohren frei. Am 18. wird das Kind zum 
ersten Male einige 8tunden aus dem Bett genommen. Am 19. spielt es 


Hg im Körper und die Ausscheidung auB demselben sollen sehr erheb¬ 
lich gesteigert werden. Auch Baelz berichtet nach seinen in Kusatun 
(Japan) gemachten Erfahrungen über die erstaunlichen Erfolge heisser 
Bäder, welche alle Heissluft- und Dampfbäder voll ersetzen könnten. 
Die Kranken baden daselbst 4—5 Mal täglich in ca. 60—64* heissem 
Wasser, das freie Salz- und Schwefelsäure enthält. (Siehe Penzoldt- 
Stintzing's Handb. d. ges. Therapie, V. Band, VIII. Abth. p. 209). — 
Vergl. ferner die Berichte der amerikanischen Autoren (Fordy ce> 
White, Taylor) Uber die Hot springs of Arkansas. 


wie früher in der Stube herum; an die überBtandene schwere Erkran¬ 
kung erinnert nur noch die Blässe und der, wenngleich schon gehobene, 
so doch noch immer sehr dürftige Ernährungszustand. 

Die Behandlung bestand vom 8. II. bis zum 18 II. in der Anwen¬ 
dung heisser Bäder (3 mal täglich), ferner, so lange das Erbrechen an¬ 
hielt, in möglichster Ernährung per rectum. Die Bäder haben mir einen 
günstigen Eindruck hinterlassen. Dass der AuBgang in Heilung auf ihre 
Rechnung zu setzen sei, wage ich freilich nicht anzunehmen; die vom 
6. II. an beobachteten Schwankungen in der Intensität der Symptome 
machen es mir vielmehr wahrscheinlich, dass die Krankheit schon vor 
Beginn der Behandlung zur Besserung hinneigte. Aus demselben Grunde 
ist auch die am 8. II. gemachte Lumbalpunction mit dem guten Befinden 
am nächsten Tage nicht in sicheren Zusammenhang zu bringen. 

Dass die Krankengeschichte nicht ausführlicher ist, dass ich 
insbesondere nicht regelmässig die Körperwärme gemessen und 
den Puls untersucht habe, kann ich wohl damit entschuldigen, 
dass ich das Kind wegen seiner grossen Schmerzhaftigkeit so 
wenig wie möglich angerührt habe, zumal ich ursprünglich nicht 
die Absicht hatte, den Fall zu veröffentlichen. 

Ich komme zur Diagnose. Es wurde Nackenstarre, einge- 
zogener Leib, hartnäckiges Erbrechen beobachtet; also deutliche 
Symptome von Meningitis. Die Lumbalpunction forderte ein 
durch zahlreiche Eiterkörperchen getrübtes Exsudat zu Tage; 
es lag also eine eitrige Meningitis vor. Aber welche Form? 
Es giebt nur eine Art von eitriger Meningitis, die 33 Tage 
(9. 1. bis 11. 2.) dauern und schliesslich in Heilnng ausgehen 
kann: die epidemische Cerebrospinalmeningids. Dass es um 
diese sich gehandelt hat, darauf weist auch die Ausbildung der 
einzelnen Symptome hin: das Vorwalten der sensiblen Reiz¬ 
erscheinungen, die geringe Beeinträchtigung des Sensoriums, die 
wenigstens zeitweise sehr hochgradige Nackenstarre. 


Da die Frage nach dem specifischen Erreger der epidemi¬ 
schen Cerebrospinalmeningitis zur Zeit lebhaft discutirt wird, 
wollte ich die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, auch den 
vorliegenden Fall bacteriologisch zu untersuchen. Nur zu diesem 
Zweck nahm ich am 8. 2., als ich aus den Symptomen und der 
Dauer der Krankheit die Diagnose bereits gestellt hatte, die 
Lumbalpunction vor. 

Ich fertigte von der Spinalflüssigkeit 4 Deckglaspräparate 
an. Das Suchen nach Microorganismen erforderte Geduld. In 
2 Präparaten fand ich nichts davon; in den beiden anderen sah 
ich unter den zahlreichen Eiterzellen einige wenige, die in ihrem 
Inneren je 3 bis 6 Paare von Diplokokken beherbergten. Diese 
Diplokokken hatten die Form von Gonokokken und lagen wie 
diese mit den Breitseiten an einander. 

Ich war in der glücklichen Lage, im Laboratorium der 
Kinderklinik die Züchtung dieser Kokken anschliessen zu 
können. Ich verfuhr in der Weise, dass ich mit je 5 Oesen 
der Spinalflüssigkeit das Condenswasser zweier Agarröhrchen 
inficirte, die letzteren für 12 Stunden in den Brutschrank stellte, 
dann durch Neigen das Condenswasser Uber die Agaroberfläche 
vertheilte und nunmehr die Gläschen in den Brutschrank zurück- 
stellte. Nach 24 Standen hatten sich in beiden Röhrchen in 
Reincultur zahlreiche runde, graue, saftig glänzende Colonien 
entwickelt In den der Cultur entnommenen mikroskopischen 
Präparaten wiederum die mit den Breitseiten an einander liegen¬ 
den, Gonokokken ähnlichen Diplokokken. Da wo die Kokken¬ 
paare in Ketten sich an einander reihten, lag der die beiden 
Individuen eines Paares trennende Spalt stets in der Längsaxe 
der Kette. 

Die Form und räumliche Anordnung, die Lage innerhalb 
der Eiterzellen, das Aussehen der Culturen, alle diese Eigen¬ 
tümlichkeiten im Verein, erweisen den gefundenen Coccus als 
den Meningococcus intracellularis Weichselbaum-Jaeger. 

Die Deckglaspräparate und Culturen sah auch der Assistent 
des Laboratoriums der Kinderklinik, Herr Dr. Finkeistein, 

2 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 16. 


334 

der gelegentlich der eingehenden an der Klinik in dieser Rich¬ 
tung angestellten Untersuchungen ') ausgedehnte Erfahrungen Uber 
den Meningococcus gesammelt hat. Er bestätigte mir, dass es 
sich um den letztgenannten Mikroben handele. 

Bekanntlich ist es gelungen, durch künstliche Infection der 
Meningen mit dem Weichselbaum-Jaeger’schen Coccus eine Cere¬ 
brospinalmeningitis bei solchen Thierarten zu erzeugen, welche 
auch spontan von Epidemien dieser Krankheit befallen werden. 
Demnach wUrde, wenn bei der menschlichen Cerebrospinalmenin¬ 
gitis wieder und wieder der Meningococcus gefunden werden 
sollte, dieses Bacteriura in der That als der Erreger der Krank¬ 
heit angesehen werden mUssen. 

Für die nächste Zeit werden die Bestrebungen dahin zu 
gehen haben, ein möglichst grosses Beobachtungsmaterial Uber 
das Vorkommen des Meningococcus zu sammeln; und zur Förde¬ 
rung dieses Werkes wird es, wie ich glaube, in wünschens- 
werther Weise beitragen, wenn auch vereinzelte Erfahrungen 
mitgetheilt werden. 


111. Aus der chirurgischen Universitätsklinik in 
Halle a. d. S. (Dir.: Prof. Dr. v. Bramann). 

Ueber Aufnahmen des Rumpfes durch 
Röntgenstrahlen. 

Von 

Dr. L. Wöllstein, Assistenzarzt an der Klinik. 

Nicht viel mehr als ein Jahr ist vergangen — es war im 
December 1895 — seit Prof. Röntgen seine erste Mittheilung 
Uber eine neue Art von Strahlen in der physikalisch-medicinischen 
Gesellschaft zu WUrzburg machte. Seitdem sind in den ver¬ 
schiedenen medicinischen Zeitschriften eine Fülle von Publica- 
tionen Uber die erfolgreiche, praktische Anwendung der X-Strahlen 
in der Medicin und speciell in der Chirurgie erschienen. Die 
meisten Autoren haben die Diagnose und Pathologie chirurgi¬ 
scher Erkrankungen der Extremitäten zum Gegenstände ihrer 
Untersuchungen gemacht; diejenigen aber, welche sich näher 
mit der Skiagraphie des Rumpfes beschäftigt haben, sind dabei 
auf derartige Schwierigkeiten gestossen, dass sie auf neue Ver¬ 
fahren gesonnen haben, so z. B. Levy-Dorn 5 ), welcher em¬ 
pfohlen hat, „die lichtempfindlichen, fluorescirenden Theile in 
einzelne Körperhöhlen mittelst Instrumente einzufUhren, welche 
den Kehlkopfspiegeln ähnlich gebaut sind, die aber statt des 
Spiegels eine kleine lichtempfindliche Platte tragen“. 

Diese allgemein anerkannten Schwierigkeiten sind uns Ver¬ 
anlassung, im Folgenden zunächst Uber die bei den Rumpf- 
aufhahmen angewandte Methode kurz zu berichten. Die Technik 
hat in den letzten Monaten nur geringere Fortschritte gemacht; 
wir haben in dieser Zeit, nachdem uns zuletzt noch Buka 1 2 3 ) die 
rechten Wege gewiesen, im Wesentlichen das Vorhandene nur 
besser anwenden und ausnutzen gelernt. 

Wir arbeiten mit einem Ruhmkorff’schen Funkeninductor 
von 25 cm Funkenlänge, welcher auf 15—20 cm Funkenlänge 
ausgenutzt wird, bei durchschnittlich 8 Ampöre Stromstärke und 
20 Volt Spannung. Im Allgemeinen werden von uns hoch 
evaeuirte Röhren mit grosser Kugel bevorzugt, welche wir 

1) S. hauptsächlich: Heubner, Beobachtungen und Versuche Uber 
den Meningococcus intracellularis Weichsel bäum- Jaeger. Jahrb. f. 
Kinderheilk., N. F. Bd. 43, H. 1, 1896. 

2) Deutsche med. Wochenschrift 1897, No. 1. 

3) Buka, Röntgenstrahlen von hoher Intensität. Deutsche med. 

Wochenschrift 1896, No. 45. 


durchschnittlich 50—60 cm von der Platte entfernen; bei diesem 
Abstand sind die perspectivischen Verzerrungen belanglos. Den 
Strom erhalten wir aus einer Accuraulatorenbatterie. Wir wen¬ 
den jetzt ausschliesslich den Quecksilberunterbrecher an, und 
zwar sowohl bei photographischen Aufnahmen, als auch bei De¬ 
monstrationen auf dem Schirm und reguliren den Unterbrecher 
so, dass wir ungefähr 200—250 Unterbrechungen in der Minute 
haben und die einzelnen Unterbrechungen möglichst scharf sind. 
Erst nachdem wir so bei tadelloser Beschaffenheit der Röhre die 
Intensität des Lichtes auf dem BariumplatincyanUrschirm geprüft 
haben, gehen wir zur Aufnahme selbst Uber. 

Am meisten verwenden wir Platten von Westendorp und 
Wehner; auch die von Schleussner und die Lumifere’schen 
gaben gute Resultate; die nach Thomas Sandell hergestellten 
und fUr Röntgen-Aufnahmen besonders empfohlenen, dreifach ge¬ 
gossenen Platten haben einen besonderen Vortheil nicht. Zum 
Entwickeln kann jeder hart arbeitende Entwickler benutzt wer¬ 
den; wir gebrauchen jetzt eine Combination von Hydrochinon 
und Eikonogen; aber auch Rodinal und Metol bewähren sich; 
bei allen aber ist ein Bromkalizusatz dringend anzurathen. Ein 
Säurezusatz zum Fixirbad giebt den Bildern grössere Klarheit 
und Brillanz; häufig ist eine nachträgliche Verstärkung zweck¬ 
mässig. 

Bei diesem Verfahren haben wir eine Exposition von 15 Mi¬ 
nuten selbst bei Thorax- und Beckenaufnahmen von Erwachsenen 
immer als ausreichend befunden. Wenn von Anderen behauptet 
ist, dass Ueberlichtungen bei Aufnahmen mit X-Strahlen nicht 
vorkämen, so mUssen wir leider gestehen, dass weniger günstige 
Resultate von uns häufig mit Bestimmtheit auf Ueberlichtung 
zurUckgefUhrt werden mussten. 

Schädlichkeiten fUr die Haut — Dermatitis und Alopecie — 
wie Leppin 1 ), Fuchs 5 ), Marcuse 3 ), Sehrwald 4 ) und neuer¬ 
dings noch Weyraouth Reid 5 ), GilChrist 6 ) (Zusammenstellung 
von 23 Fällen aus der Literatur) und Förster 7 ) beschrieben 
haben und wie auch wir sie bei zwei Patienten sahen, welche 
wir zur Aufsuchung einer Kugel im Schädel resp. Thorax im 
Herbst vorigen Jahres mehrmals an einem Tage |—1 Stunde 
bei geringem Iiöhreuabstande den Strahlen aussetzten, sind bei 
dem oben erwähnten Röhrenabstand und der kurzen Expositions¬ 
zeit ausgeschlossen. 

Die ersten beiden Bilder (Fig. 1 u. 2> zeigen, was durch-Röntgen- 
Strahlen am Rumpfe eines Erwachsenen — es siüd die Aufnahmen eine» 
37 jährigen. mehr als mittelgrossen Mannes — zur Anschauung gebracht 
werden kann. An der- Fig. 1 sind ausser dem Schultergürtel (Scapula, 
Spina scapulae, Proc. coracoideus, Cavitas glenoidalis, Clavicula, Caput 
humeri mit dem Tuberculum majus:) und dem Oberarm mit Ellenbogen¬ 
gelenk, die einzelnen Wirbel mit den Zwischenwirbelscheiben sowie die 
■Gelenkverbindungen zwischen den Rippen und den Querfortsätzen der 
Wirbel selbst da, wo der Schatten des Herzens dieselben überlagert, 
aufs deutlichste zu erkennen. Fig. 2 zeigt mit grossrr Schärfe an dem 
Kreuzbein die Foraraina sacralia, den Hiatus sacralis und die beiden 
Knochenleisten, welche ihn begrenzen und als Fortsetzung der Crista 
sacralis media schliesslich als Cornua sacralia auslaufen. Aber auch die 
straffen Bänder, 'welche das Kreuzbein überziehen, sind sichtbar; sie 
geben ddr Begrenzung der Foramina sacralia eine gewisse Abrundung 
und ziehen in bogenförmigen Linien von der Mitte zum äusseren Rande 
de« Kreuzbeins hin. Die einzelnen Wirbel des Kreuzbeins und des 
Steissbeins sind in ihren Körpern und Verbindungen wohl differenzirbar. 
Man sieht das Ligamentum spinoso-sarrtun und tuberoso-sacrum fächer¬ 
förmig an den Außenseiten de» Kreuzbeins beginnen, sich brückenförraig 
nach ihren Insertionsstellen herüber schlagen, dort wieder fächerförmig 
ausstrahlen und so dass Foramcn ischiadicum majus und minus begrenzen. 
Die Gelenkverbindungen zwischen Kreuzbein, und Darmbeinschaufeln, 

1) Deutsche med. Wochenschrift 1896, No. 28. 

2) Deutsche med. Wochenschrift 1896, No. 85. 

3) Deutsche med. Wochenschrift 1896, No. 30. 

4) Deutsche med. Wochenschrift 1896, No. 4L. • • ■ 

5) Seotiah med. and surg. Journal, Febr. 1897. 

6) Bulletin of the Johns Hopkins Hospital, Febr. 1897. 

7) Deutsche med. Wochenschrift 1897, No. 7. .. 


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19. April 18 97. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


335 


Figur 1. 



Figur 2. 



die Synchondrosen, die Darmbeinschaufeln selbst mit ihren einzelnen 
Theilen, das Os ischii und pubis, das Foramen obturatum, die Symphyse, 
das Acetabulnm, der Schenkelhals, der Trochanter major 1 ) und minor 
ebenso die Femnrdiaphyse mit ihrer nach unten an Dicke zunehmenden 
Corticalis kommen klar zur Erscheinung. Von den das Becken umgeben¬ 
den Weichtheilen, Muskeln, 8crotum, I'enis etc. markirt sich die Glans 
penis als kompaktere Masse ganz besonders. 

Im Juli v. J. bezeichnete Vulpius 2 ) es vorläufig noch als 
milssige Phantasie, die Umwandlung der Spongiosastructur unter 
dem Einfluss veränderter Function in ihrer Genese verfolgen 

1) Bei Fig. 2 ist es störend, dass bei der Aufnahme die Hände 
neben den Oberschenkeln gelegen haben nnd sich die Schatten der 
Danmen mit denen der Oberschenkelknochen zum Theil decken, 

2) Deutsche med. WoChenschr. 1896, No. 30. 


und so die Wplff’schen Gesetze der Transforma¬ 
tion am Lebenden studiren zu können. 

Schon kurze Zeit danach (im October v. J.) 
konnte Wolff 1 ) selbst nach einem von dem nor¬ 
malen Fuss eines 40 jährigen Mannes gewonnenen 
Aktinogramm die innere Architectur des Calcaneus 
in ihren feinsten Einzelheiten beschreiben. Gocht 2 ) ; 
hat den architeetonischen Bau der Knochen da- ’ 
durch zur Anschauung gebracht, dass er frische • 
Knochen ganz oder in der Mitte durohsägt oder j 
in 5—7 mm dicke Scheiben zerlegt, aktinographirt' 
und so Bilder erhalten hat, welche ebenso gut, wie. 
die von Julius Wolff in seinem Werke „Das Ge¬ 
setz der Transformation der Knochen“ abgebildeten 
sein sollen. 

Uns liegen mehrere Skiagramme von Platt- 
ftlssen, KlumpfUssen, Spitzfuss und reinem Hohl-, 
fuss von Erwachsenen vor, welche nicht nur die 
Form, sondern auch die Structur der einzelnen 
Knochen mit staunenswerther Deutlichkeit er- , 
kennen lassen. Aber auch an den photographi- ; 
sehen Platten — schon weniger deutlich an den ; 
Abzllgen — des Rumpfes, von welchen Fig. 1 und 2 
Reproductionen sind, sieht man an dem Acromion 
und dem Proc.^coracoideus die Knochenbälkchen 
parallel zu einander im Wesentlichen der Längsachse der betreffen¬ 
den Knochen folgen. Auch an der Darmbeinschaufel ergeben sich 
fllr die Knochenstmctur relativ einfache Verhältnisse. Hier kann 
man hauptsächlich drei Systeme von Knoehenbäüochen unter-! 
scheiden, welche in mehr oder weniger flachem Bogen dem Ver¬ 
lauf der Crista resp. des vorderen oder hinteren Randes der 
Darmbeinschaufel folgen. Da, wo die einzelnen Systeme einander - 
treffen — Uber dem Acetabulum ist das besonders deutlich — 
kreuzen sie sich netzförmig unter einem mehr oder weniger 
spitzen Winkel. 

Auf die Erfolge, welche sich für die Erforschung der Brust- 
organc durch Röntgenstrahlen ergeben haben, wollen wir, da sie 
zumeist in das Gebiet der internen Medicin gehören und uns 
eigene Erfahrungen vollständig fehlen, nicht näher eingehen, 
sondern verweisen in dieser Beziehung auf das zusammenfassende 
Referat von Levy-Dorn 3 ). Normale Lungen sind für X-Strahlen; 
durchgängig; der Herzschatten aber ist auf jedem Aktinogramm 
so deutlich, dass von der Norm abweichende Verhältnisse der 
Lage, Grösse oder Gestalt an diesem Organ unschwer zu er¬ 
kennen sein werden. Dasselbe lässt sich unter den Bauch¬ 
organen auch von der Leber, Milz 4 ) (auf Fig. 1 sieht man die 
Milz unmittelbar unter dem Zwerchfell resp. der Herzspitze f 
liegen und die unteren Intercostalräume einnehmen) und zumeist 
auch von den Nieren sagen; es gelang uns, die Lage der 
Wanderniere einer älteren Frau leicht zu bestimmen. 

Der Magen, Darm und die Blase lassen sich dagegen wegen 
ihres zu gleichen Absorptionsvermögens nicht von einander diffe- 
renziren. Wenn Pöch s ) behauptet, einzelne Darmschlingen von 
einander abgegrenzt, ja sogar die Haustra des Dickdarms ge¬ 
sehen zu haben, so müssen wir das um so mehr anzweifeln, als 


1) Deutsche med. Wochenschr. 1896, No. 40. 

2) Deutsche med. Wochenschr. 1897, No. 10. 

3) Deutsche med. Wochenschr. 1897, No. 8. 

4) Viele der beschriebenen Details, wie die Architectur der Knochen 
etc., Bind leider auf diesen und auch den folgenden Figuren nicht 
sichtbar; sie sind bei der Reproduction (Verkleinerung u.“s. w.) verloren 

I gegangen. 

| 5) Münchener med. Wochenschr. 1897, No. 8. 

2 * 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 16. 


Figur 8. 



er gleichzeitig angiebt, dass er bei derselben Aufnahme die 
Nieren dagegen nicht gesehen habe. Ein Pylorus- und ein Colon- 
carcinom haben uns zwar ganz diffus ausstrahlende Schatten er¬ 
geben, doch waren die Grenzen derselben so wenig deutlich, 
dass sich irgend welche Schlüsse auf Umfang oder Sitz daraus 
nicht ziehen Hessen. 


Becher 1 ) hat behauptet, den Magen und Darm durch Auf¬ 
blasen mit Luft sichtbar gemacht zu haben; die von uns in 
dieser Weise angestellten Versuche haben stets zu einem nega¬ 
tiven Resultat geführt. Vor einigen Monaten wurde uns ein un¬ 
gefähr lOjähriger Knabe (Fig. 3) zur Untersuchung zugeführt mit 
der Angabe, dass derselbe alle genossenen Speisen schon nach 
kurzer Zeit wieder ausbreche, und dass bei wiederholten Unter¬ 
suchungen von anderer Seite die Wahrscheinlichkeitsdiagnose 
„Oesophagusdivertikel“ gestellt sei. 

Zur Darstellung dieses Divertikels resp., wenn ein solches nicht 
vorhanden wäre, des Magens lösten wir 5 gr Wismnth, von dem uns 
bekannt war, dass es flir X-Strahlen schwer durchgängig sei, in einem 
Glas Wasser gut auf und gaben dem Knaben dasselbe za trinken. 
Nach ungefähr 15 Minuten wurde die Aufnahme gemacht; dieselbe er¬ 
gab im Verlauf des Oesophagus nichts Abnormes, dagegen an der Stelle 
des Magens einen Schatten nicht ganz von der Tiefe des Leberschattens, 
welcher nach links und rechts in den Schatten der Milz resp. Leber 
ohne scharfe Grenzen überging, nach unten aber in der Höhe der Mitte 
des B. Lendenwirbels sich in leichtem, nach unten convexen Bogen 
scharf abgrenzte. ,Das Wismuth wurde, um dem Knaben die Unannehm¬ 
lichkeiten einer längeren Stuhl veratopfang zu ersparen, durch Aus- 
pumpen des Magens wieder entfernt. Zu einer guten Aufnahme ist es 
noth wendig, dass das Wismuth vollständig gelöst ist, und dass es nicht 
unmittelbar vor der Exposition genommen wiid. 

Nach der Casuistik entdeckten, allerdings noch in dem in der 
Höhe des Halses gelegenen Theile des Oesophagus, wie Levy- 
Dorn 2 ) berichtet, P6an und Raw bei Kindern verschluckte 
Münzen; White konnte auf Grund eines Skiagramms ein Metall- 
sternchen operativ vom Magen her herausbefördern; Miller und 
Reid fanden ein verschlucktes Gebiss von 6 Zähnen in der 
Höhe des sechsten und siebenten Intercostalraums; Pöch sah 
einen Tapeziernagel in der Lunge, Levy-Dorn selbst eine 
Revoiverkugel in der linken Brustseite eines Erwachsenen ausser¬ 
halb des Thorax. Wirbelsäule, Abdomen und Becken, sagt 
Levy-Dorn weiter, sind in der Fremdkörpercasuistik stief¬ 
mütterlich behandelt. In The Lancet, S. 1832, wird erwähnt, 
dass es gelang die Lage eines Murphyknopfes im Abdomen zu 
entdecken und endlich konnte Pöch*) eine Photographie zeigen, 
welche von einen Knaben herrührte, der eine sogenannte „Brod- 
marke“ (ein geldstückartiges, dünnes Blech) geschluckt hatte; 
bei der Durchleuchtung sah man, wie der Fremdkörper tägtich 
im Darm weiter rückte. Wir selbst konnten bei einem Er¬ 
wachsenen zwei und bei einem anderen Erwachsenen ebenso wie 
bei einem Knaben je eine Revolverkugel im Thorax nachweisen. 
Erst vor wenigen Tagen hatten wir noch Gelegenheit bei einem 
16jährigen, äusserst kräftig entwickelten Mädchen eine Haar¬ 
nadel, welche sie sich bei der Onanie im October v. J. durch 
die Harnröhre in die Harnblase geschoben hatte, in ihrer Lage 
zu bestimmen; dieselbe lag quer; der Bogen und die freien 
Enden derselben waren wohl von einander zu unterscheiden. 

Von enormer Wichtigkeit für die Chirurgie wäre es, wenn 
wir Concretionen, vor allem in den Gallenwegen und in der 
Blase nachweisen könnten; leiderhaben alle derartigen Versuche 
auch uns stets negative Resultate ergeben. Auf dem Aktino- 
gramm des Beckens eines Patienten, bei dem durch die Stein¬ 
sonde und die Cystoskopie ein Blasenstein mit aller Bestimmt¬ 
heit nachgewiesen war, konnten wir zwar einen etwas dunkleren, 
diffusen Schatten hinter der oberen Hälfte des rechten absteigenden 
Schambeinastes eben wahrnehmen, doch würden wir, wären wir 
nicht durch die anderen Untersuchungsmethoden darauf hinge¬ 
wiesen, denselben nie als Blasenstein gedeutet haben. Die Gallen¬ 
steine haben nach unseren Untersuchungen ein Absorptionsver¬ 
mögen für Röntgenstrahlen, welches dem des Glases fast gleich 
ist; nur die scharfen Ränder der facettirten Steine und die 

1) Deutsche med. Wochenschr. 1896, No. 27. 

2) Deutache'medicinische Wochenschrift 1897, No. 8. 

8) Münchener mediciniache Wochenschrift 1897, No. 8. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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geschichteten Steine zeigen da, wo sie Pigmentkalk enthalten, 
nämlich in ihrem Centrum und in einer schmalen Rindenzone 
eine grössere Undurchlässigkeit. Trotzdem besteht selbst fllr 
die letztere Art von Steinen bei dem heutigen Stand der Tech¬ 
nik keine Aussicht dieselben im Körper des Erwachsenen aktino- 
graphiren zu können. 

Die Geburtshtilfe hat zur Feststellung von Beckendeformi¬ 
täten von der Skiapraphie noch keinen ausgedehnteren Gebrauch 
gemacht und doch lassen sich dieselben leicht erkennen, wie 
Figur 4 (rachitisches Becken bei linksseitiger congenitaler HUft- 
gelenksluxation) und Figur 5 (schiefes Becken bei alter Schenkel- 
halsfractur) darthun. 

Auf die Wichtigkeit der Röntgenaufnahmen bei den con¬ 
genitalen Hüftgelenksverrenkungen haben Wolff 1 2 ), Zenker’) 
und Andere schon mehrfach hingewiesen; die Diagnose zwar 
wird hier zumeist keine Schwierigkeiten machen, aber für die 
Wahl des einzuschlagenden Heilverfahrens kann das Skiagramm 
ev. maassgebend und ausschlaggebend werden, denn wir erhalten 
durch dasselbe auf die einfachste Weise vollständigen Aufschluss 
Uber die Verhältnisse des Kopfes und der Pfanne; wir werden, 
wenn wir so ungüstige Verhältnisse der Pfanne wie an dem in 
Figur 4 dargestellten Aktinogramm des Beckens eines 10jährigen 
Mädchens vorfinden, die unblutige Reposition zwar versuchen, 
aber wenn die Fixirung des Kopfes in der Pfanne Schwierig¬ 
keiten macht, bald zur blutigen Einrenkung schreiten. Und 
wenn die Phänomene bei der unblutigen Einrenkung auch noch 
so deutlich sein mögen, so wird doch jeder Chirurg gern das 
einfache Mittel benutzen, um sich von dem Gelingen oder Miss¬ 
lingen der Einrenkung zu überzeugen. Denn so sicher wir auch 
den Kopf in der Mitte zwischen Spina und Symphyse nach voll¬ 
zogener Einrenkung zu fühlen glauben, wir können Irrthömem 
bei der Dicke der Muskulatur immerhin unterworfen sein. So 
deutlich das Ueberspringen des wohl ausgebildeten Kopfes über 
einen hohen Pfannenrand auch hör- und fühlbar ist, ein Gleiten 
des Kopfes Uber einen sich glättenden Kapselwulst oder Uber 
das durch chronisch entzündliche Processe veränderte, ausge¬ 
zogene Lig. teres kann ein ähnliches geringeres Geräusch hervor- 
rufen, wie das Uebergleiten eines ganz rudimentären, conisch 
zugespitzten Kopfes Uber einen flachen Pfannenrand in die rudi¬ 
mentäre Pfanne. Deshalb machen wir in unserer Klinik prin- 
cipiell von jeder Hüftgelenksluxation nicht nur Aufnahmen vor 
und nach der Einrenkung, sondern selbst bei jedem Verband¬ 
wechsel. Und häufig haben wir uns dann veranlasst gesehen, 
den neuen Verband — wir nehmen Verbandwechsel häufiger 
vor, als es Lorenz empfohlen hat — in geringerer Aussen- 
rotation, ja womöglich mit einer gewissen Innenrotation anzu¬ 
legen, um auf diese Weise den Kopf der Pfanne zu nähern. 

Dass wir durch die Skiagraphie selbst Fracturen des Schenkel¬ 
halses des Beckens und der Wirbelsäule in frischem oder älterem 
Zustande leicht zu diagnosticiren vermögen, wird jedem nach 
Betrachtung von Figur 1 und 2 ohne weiteres klar sein. Ge¬ 
rade bei Begutachtungen solcher Leute, welche vor Jahren 
Beckenfracturen erlitten hatten, haben uns die Aktinogramme 

wesentliche Dienste geleistet. 

Sehr interessante Ergebnisse in differential-diagnostischer 
Beziehung lieferten uns die folgenden Beckenaufnahmen (Figur 5 
und 6). 


Fia. 5 stellt das Becken eines 38jährigen Mannes dar; er wollte 
vor 19 Jahren ein Trauma erlitten haben nnd seitdem krank sein. 
Vach der Anamnese und nach dem objectiven Befund mussten wir an¬ 
nehmen. dass es sich damals um eine vielleicht durch das Trauma be¬ 
dingte tuberculöse Coxitis gehandelt habe, welche zur pathologischen 


1) Deutsche med. Wochenschrift 1896, No. 40. 

2) Deutsche med. Wochenschrift 1897, No. 2. 


Figur 5. 



Figur 0. 



Luxation geführt hatte. Fig. 5 dagegen lässt mit absoluter Sicherheit 
eine Fractur des Schenkelhalses erkennen. Der Kopf, conisch zugespitzt, 
sitzt an normaler Stelle; der Schenkelhals ist an der Stelle der Fractur 
fast rechtwinklig abgeknickt, an der convexen Seite der Abknickung 
sitzt wie ein Höcker ein enormer Callus auf. An dem Becken selbst 
sind secundäre Deformitäten eingetreten. Ob die Formveränderungen 
am Kopf sich nach dem Gesetze der Transformation bei den veränderten 
statischen Verhältnissen eingestellt haben oder ob dieselben nicht durch 
eine nach dem Trauma hinzugetretenc, nun aber längst ausgeheilte 
Coxitis bedingt sind, müssen wir allerdings auch jetzt noch unent¬ 
schieden lassen. 

Fig. 6 zeigt das Becken eines 18jährigen jungen Menschen mit 
linksseitiger Coxa vara; hier lag zwar nach dem objectiven Befund diese 
Diagnose, am nächsten, aber immerhin war die Möglichkeit einer Knochen¬ 
cyste im Schenkelhals nicht ganz ausznschliessen. Während der 
Schenkelhals auf der rechten Seite, gerade verlaufend, unter normalem 
Winkel zum Schaft des Femur steht, hat er auf der kranken Seite einen 
deutlich bogenförmigen Verlauf. Der Gelenkknorpel ist an Beinern Rande 
übermässig gewuchert und hängt pilzartig über den proximalen Theil 
des Schenkelhalses über. 

Bei Fig. 7 handelt es sich um rechtsseitige tuberculöse Coxitis mit 
pathologischer Luxation, Tuberculöse der Darmbeinschaufel und tuber- 
cnlösen Veränderungen der Weichtheile in der Gegend des Schenkel¬ 
halses und der oberen Theile des Oberschenkels bei einem 19jährigen 

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338 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 16. 


Figur 7. 



jungen Menschen. Der Fall ist deshalb besonders interessant, weil uns 
inzwischen die Section Gelegenheit gab, uns von der Richtigkeit des 
Skiagramms zu überzeugen. Von der Pfanne war nichts mehr sichtbar, 
sie war vollständig mit schwieligen, tuberculösen Massen ausgefüllt; der 
Schenkelhals mit dem fast vollständig nekrotischen Reste des Kopfes 
stand auf der Darmbeinschaufel. Um den Schenkelhals waren die 
Weichtheile zum Theil ganz schwielig fibrös verändert, zum Theil durch 
eingedickte Massen ersetzt, welche erst nach unten etwas weicheren 
Platz machten. Die Darmbeinschaufel zeigte frischere tuberculöse Ver¬ 
änderungen; hier ist nach der vorliegenden photographischen Platte die 
Knochenstructur vollständig verloren gegangen, dieselbe ist nur noch an 
einer schmalen Zone des vorderen und hinteren Randes erkennbar. Im 


Röntgenbilde erscheint die Tuberculöse sum Theil als wolkiger, zum 
Theil als gleicbmässig diffuser Schatten.*) 

Dass man auch die kleinsten tuberculösen Herde durch 
X-Strahlen bildlich darstellen kann, geht aus Fig. 8 hervor. 

Es ist die Lendenwirbelsäule eines 10jährigen Knaben, dessen 
zweiter, dritter und vierter Lendenwirbel deutlich nach hinten hervor- 
stehen; der dritte Lendenwirbel ist auf Druck noch ganz wenig schmerz¬ 
haft; die Diagnose ist „fast ausgeheilte Tuberculöse im 2.—4. Lenden¬ 
wirbel.“ Im zweiten und vierten Lendenwirbel sind noch eben gegen die 
gesunde Peripherie der Wirbel sich abhebende bohnengrosse 8ehatten 
sichtbar, während im dritten die für Tuberculöse charakteristische wolkige 
Trübung noch besteht. 

Noch kleinere ungefähr linsengrosse, multiple tuberculöse Herde 
konnten wir in der sehr stark kyphoskoliotischen Brustwirbelsäule eines 
18jährigen Mädchens feststellen; an der Wirbelsäule und an den Rippen 
waren hier die für hochgradige Kyphoskoliose typischen Deformitäten 
deutlich zu erkennen. 

Die enorme Entwickelung der Technik hat der Skiagraphie 
in kaum mehr als einem Jahre schon einen festen Platz unter 
den diagnostischen HUlfsmitteln der Medicin und speciell der 
Chirurgie verschafft. Was vor einigen Monaten noch fUr mtissige 
Phantasien gehalten wurde — es ist erreicht. Hoffen wir, dass 
in Bälde auch für die Pathologie und Therapie der Organe der 
Brust- und Bauchhöhle noch erheblichere Vortheile aus der Ent¬ 
deckung der neuen Strahlen erwachsen mögen. 


. Aus der inneren Abtheilung des städt. Kranken¬ 
hauses am Urban in Berlin. 

Ueber einige Complicationen und Ausgänge 
der Influenza. 

Nebst Bemerkungen Uber putride und interlobäre 
Pleuritis. 2 ) 

Von 

Prof. A. Fraenkel. 

(Schluss.) 

Während sich Uber den Zeitpunkt der Entstehunng 
der putriden Pleuritis bei dem ersten Kranken ein ganz 
sicheres Urtheil nicht abgeben lässt und nur so viel mit Bestimmt¬ 
heit gesagt werden kann, dass derselbe in die ersten fUnf 
Tage nach Beginn der Erkrankung fallen muss, war der 
Eintritt dieses Ereignisses bei dem zweiten Patienten durch die 
Besonderheit der begleitenden Symptome aufs schärfste gekenn¬ 
zeichnet. Die Perforation des Lungenherdes in die Pleura er¬ 
folgte hier am 14. Tage nach Einsetzen der Influenza. Sie 
kündigte sich durch Schmerzen an, welche vom Beginn ihres 
Erscheinens an von einer solchen Heftigkeit waren, dass sie 
nicht wohl auf das Hinzutreten einer einfachen Pleuritis be¬ 
zogen werden konnte, sondern vielmehr an eine besondere Ur¬ 
sache und Form derselben gedacht werden musste. Dazu kam 
die beträchtliche Verschiebung des Herzens nach rechts, welche 
gleichfalls einen besonderen Grund haben musste. Da nach dem 
Percussionsergebniss ein kaum mehr als mittelgrosses Pleura¬ 
exsudat vorlag, nach aussen und unten von der Herzdämpfung 
aber eine Zone lauten tympanitischen Schalls sich befand, so 
war es nur zu natürlich, dass ich anfänglich an eine Gasent¬ 
wicklung aus dem Exsudat oder an Lufteintritt in dife Pleura¬ 
höhle von den Bronchien aus als Ursache jener aussergewöhn- 
lichen Herz Verschiebung dachte. Doch liess sich weder Metall- 

1) Zwei Skiagramme von tuberculöser Coxitis, das eine ebenfalls 
mit pathologischer Luxation konnte auch Gocht in der Octobersitzung 
des Hamburger ärztlichen Vereins demonstriren. Deutsche mediciniscbe 
Wochenschrift 1897, No. 2. 

2) Vortrag, gehalten in der med. Gesellschaft am 10. März 1897. 



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Gegründet 1840. 

* 

Vergrössert und 
renovirt 

1891 und 1896/97. 

♦ 

SAISON 
15. Min—1. D#cbr. 


►ie Anstalt bietet durch ihre Lage und 
Einrichtungen ihren Insassen die An¬ 
nehmlichkeiten eines ruhigen, behaglichen Aufent¬ 
haltes. Zur Krankenbehandlung entnimmt sie ihre 
Hülfsmittel dem Gesammtgebiete der wissenschaftlichen Medizin; ihre 
Specialität besteht in der Pflege rationeller Ernährung und diä¬ 
tetischer Kuren, in der methodischen Anwendung des Wasserheil- 
verfahrene (Methode Winternitz), verschiedenster medikamentöser 
Bäder, der Massage, Elektricität, der Bewegrung:- und Heil- 
grymnastik. Trinkkuren unter Heranziehung erprobter Mineralwässer. 
Unterstützend wirken die günstigen klimatischen Verhältnisse Liebensteins. 
Freiluft- und Terrainkuren. Die beschränkte Patientenzahl sichert 
die Möglichkeit eingehender ärztlicher Ueberwachung des einzelnen Falles. 
Psychische Behandlung:. Den individuellen Verhältnissen des Patienten 
angepasst kommen die genannten Heilfaktoren einzeln oder combinirt zur 
Anwendung. Das Leben in der Anstalt, durch die Hausordnung geregelt, 
schliesst Störungen jeglicher Art aus und sichert den gewonnenen Heil¬ 
erfolg, indem es die Grundlage einer ferneren rationellen Lebensweise schafft. 

Indicationen: Zur Behandlung kommen die funktionellen und orga¬ 
nischen Nervenleiden, nervöse Störungen mit vorwiegender Bitheiligung 
einzelner Organe (Herz, Magen, Darm etc.), Herzkrankheiten, Luftröhren¬ 
katarrh, Asthma, beginnende Tuberkulose, Verdauungsstörungen, rheuma¬ 
tische Erkrankungen, Blutarmuth, Bleichsucht, Menstruationsstörungen; 
Schwächezustände und verzögerte Rekonvalescenz nach erschöpfenden 
Krankheiten und schweren Operationen. Abhärtung bei Empfindlichkeit 
gegen Witterungseinflüsse etc. etc. Geisteskranke werden nicht aufgenommen. 

Preise: 8—12 Mark täglich für Wohnung, Verpflegung, ärztliche 
Behandlung, sämmtliche Procedurcn des Wasserheilverfahrens, heilgymna¬ 
stische und Massagebehandlung. Besonders berechnet werden die erste 
Consultation mit 10 M., die von den Aerzten selbst ausgeführte Massage, 
die elektrischen Sitzungen, die elektrischen Bäder: Zuschlag je 1 M.. die Zu- 
thaten zu den Sool-, Fichtennadel-, kohlensauren, Stahlbädern: Zuschlag je 
0.50 M., die Moor- und Sandbäder: Zuschlag 2 M. Besonders berechnet 
werden auch Medikamente und Getränke. Begleitende, nicht kurgebrauchendc 
Personen zahlen bei Benutzung desselben Zimmers M. 5.50, Diener etc. 

M 3 _ pro Tag. Liebenstein, in reizender Gegend des Thüringer Waldes 

gelegen, ist Bahnstation der Werrabahn. — Ein hausärztlicher Bericht ist 
erwünscht. — Ausführliche Prospekte und jede gewünschte Auskunft durch 

die Aerzte Dr. paUeS) Dr . Knecht. 

Besitzer. 






C. aciittü l iwit« 


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Mint imimii 




























Das Badehaus der Anstalt. 



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19. A pril 1897._ BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. _ 339 


klang bei der Auscultations-Percussion nachweisen, noch gelang 
selbst in den späteren Tagen, als die Schraerzempfindlichkeit 
bei dem Patienten nachgelassen hatte, so dass er einigermaassen 
bewegt werden konnte, jemals die Feststellung eines Suc- 
cnssionsgerftaschs. Trotzdem blieb der Gesammteindruck des 
Krankheitsbildes ein solcher, dass ich, und zwar mit einer 
gewissen Zuversicht, an der gleich zu Anfang gestellten Dia¬ 
gnose eines jauchigen Exsudates festhielt. Besonders trug hierzu 
die Ueberlegung bei, dass die Plötzlichkeit des Einsetzens der 
Erscheinungen nach einer mehrtägigen Pause relativen Wohl¬ 
befindens des Patienten sich ungezwungen aus der Annahme 
eines in der vorher geschilderten Weise erweichten und in bran¬ 
digen Zerfall Ubergegangenen Infiltrationsherdes in der Nähe 
der Lungenoberfläche erklären Hess, ebenso wie die arrodirende 
Einwirkung des gangränösen Eiters auf das an und für sich so 
empfindliche Rippenfell die Schmerzhaftigkeit des Processes be¬ 
greiflich machte. Selbst der negative Ausfall der ersten Probe- 
punction vermochte mich in dieser Auffassung nicht irre zu 
machen. Dieselbe wurde durch den weiteren Verlauf der Krank¬ 
heit bestätigt, nur mit der Einschränkung, dass die Verschiebung 
des Herzens auf einer anderen Ursache beruhte, als der von mir 
zu Anfang angenommenen, nämlich dem gleich noch eingehender 
zu besprechenden interlobären Sitz des Exsudates. Jeden¬ 
falls darf der Fall als eine Bestätigung des alten Er¬ 
fahrungssatzes angesehen werden, dass man bei einer 
Pleuritis, die plötzlich mit besonderen Erscheinungen, 
namentlich mit aussergewöhnlicher Schmerzhaftigkeit 
einsetzt, immer zunächst an eine besondere Ursache 
derselben denken soll. 

Drei weitere Umstände erhöhen das Interesse der Beob¬ 
achtung. Zunächst der Mangel jeglicher Putrescenz des 
Auswurfes bis zu dem Augenblick des Durchbruches 
des jauchigen Exsudates in die Bronchien, sodann der 
eigenthtimliche Sitz des letzteren und drittens das Verhalten 
des Harns. Den ersten Punkt habe ich bereits in einer vor 
einer längeren Reihe von Jahren erschienenen Publication Uber 
putride Pleuritis 1 ) erörtert. Ich bemerkte damals, dass das 
Fehlen der die Gangraena pulmonum auszeichnenden Sputa in 
analogen Fällen, wie der hier beobachtete, darauf zurückzu- 
ftlhren sei, dass der betreffende Brandherd durch die reactive 
Entzttndong des umgebenden Lungenparenchyms eine Art von 
Abkapselung gegen den Bronchialbaum erfahre. Der Abschluss 
wird um so vollständiger, je schneller durch das hinzutretende 
Pleuraexsudat die benachbarten Bronchien comprimirt werden. 
Erst wenn durch den fortschreitenden Zerfall auch die Wandun¬ 
gen dieser mit in den Zerstörungsprocess hineingezogen werden, 
vollzieht sich die Oeffnung des Brandherdes in den Bronchial¬ 
baum. Derselbe Umstand, d. h. der zunächst stattfindende Ver¬ 
schluss der Luftröhrenäste durch feste Exsudatmassen und deren 
Compression bewirkt wohl auch, dass — wenigstens in der 
ersten Zeit — in solchen Fällen kein Luftaustritt in die Pleura¬ 
höhl« stattfindet und dass somit die Erscheinungen des 
Pneumothorax fehlen. 

Was den zweiten Punkt, den eigentümlichen Sitz des 
Exsudates in unserem Falle anlangt, so handelte es sich, 
wie die unmittelbare Betrachtung der Exsudathöhle nach deren 
Eröffnung bei der Operation zeigte, um einen vorwiegend inter- 
lobären Sitz der Eiteransammlung. Die sogenannten inter¬ 
lobären Pleuraergüsse treten in zwei Formen auf. Bei der 
einen befindet sich die Flüssigkeit vollkommen abgeschlossen in 
der Spalte zwischen zwei Lungenlappen und berührt an keiner 

1) A. Fraenkel, Zar Lehre von der putriden Pleuritis. Diese 
-Wochenschrift 1879, No 17. 


Stelle die Brustwand, bezw. die Pleura costalis. Es können dies 
naturgeinäss keine sehr umfänglichen Ergüsse sein. Sind sie von 
eitriger Beschaffenheit und brechen sie schliesslich in die Bron¬ 
chien durch, so liegt die Verwechslung mit Lungenabsccss nahe; 
doch sind diese Fälle überhaupt nur selten. Bei weitem häufiger 
ist diejenige Form der interlobären Pleuritis, bei welcher zwar 
auch das Exsudat, und zwar zum grössten Theil in der die 
Lappen trennenden Spalte belegen ist, zugleich jedoch der Pleura 
parietalis der seitlichen Brustwand in mehr oder weniger grosser 
Ausdehnung anliegt, so dass, wenn man sich einen Frontalschnitt 
durch dasselbe gelegt denkt, der Erguss eine keilförmige, mit 
der Spitze nach innen, mit der Basis dagegen nach aussen ge¬ 
richtete Gestalt darbieten würde. Hier handelt es sich meist 
um weit grössere Flüssigkeitsansammlungen, die schon desshalb 
eine besondere praktische Bedeutung haben, weil sie zu erhebe 
licher Compression der Lunge und beträchtlicher Dislocation der 
Nachbarorgane, besonders des Herzens Veranlassung geben können. 
Bedingung für die Entstehung einer solchen Absackung 
des Exsudates ist allemal, dass die beiden Pleura¬ 
blätter in der Umgebung der Interlobärspalte fest mit 
einander verlöthet sind. Befindet sich der Erguss auf der 
linken Seite, so sind die Erscheinungen besonders charak¬ 
teristisch. Es fällt zumeist der Umstand auf, dass der halb¬ 
mondförmige Raum vollkommen oder nahezu voll¬ 
ständig erhalten ist. Oberhalb desselben und nach aussen 
von der Herzdämpfung besteht, wenn, wie in unserem Falle, der 
untere Theil des linken Oberlappens nicht zu stark comprimirt 
ist, in Folge der Erschlaffung seines Parenchyms ebenfalls tym- 
panitischer Schall. Andere Male dagegen, und zwar bei stärkerer 
Zusammendrückung der Lunge sind die an das Herz links an¬ 
grenzenden Partien der Vorder wand bis in die Seitenwand hinein 
gedämpft, so dass eine einigermaassen sichere Abgrenzung der 
Herzdämpfung nach dieser Richtung unmöglich ist. Der mittlere 
Theil der linken Seitenwand selbst, ebenso wie die untere Hälfte 
der Hinterwand, geben gleichfalls gedämpften Schall, was be¬ 
greiflich ist, da an ersterer Stelle sich gewöhnlich Exsudat, an 
letzterer comprimirte Lunge befindet. Während nun an den 
vorderen oberen Partien der betreffenden Thoraxhälfte lauter 
Percussionsschall besteht, und auch die hintere Dämpfung, wie 
bemerkt, von nur massiger Ausdehnung ist, erweist sich ganz 
im Gegensatz dazu das Herz auf das Beträchtlichste 
nach rechts verschoben, so dass seine Grenze den rechten 
Stemalrand unter Umständen um 3, ja selbst um 4 cm oder 
noch mehr überschreitet. Dadurch können sehr eigentümliche 
Configurationen der Dämpfungsverhältnisse an der Vorderwand 
des Thorax herauskommen, welche gelegentlich auch zu Irr- 
thümern in der Diagnose führen. So drängte sich in einem der 
von mir noch in jüngster Zeit beobachteten Fälle, in welchem 
die linksseitige obere Dämpfungsgrenze steil von der Höhe des 
dritten Rippenknorpels neben dem Sternum zur linken Seiten- 
und Hinterwand abfiel, im ersten Augenblick der Eindruck eines 
Tumor pulmonis auf, wofür auch die begleitenden Symptome 
(blutiger Auswurf, Stridor), auf welche ich hier nicht näher ein- 
gehen will, zu sprechen schienen. Nachdem durch Punction in 
der linken Seitenwand anderthalb Liter Flüssigkeit entleert 
waren, zeigten sich die physikalischen Verhältnisse wie ver¬ 
wandelt. Das stark dislocirte Herz nahm wieder seine normale 
Lage ein, so dass es sich percutorisch nach allen Richtungen 
leicht abgrenzen liess, während die Dämpfung Uber den Lungen 
allerorts eine so vollständige Aufhellung erfahren hatte, wie man 
sie nach der Entleerung grösserer Pleuraergüsse von gewöhn¬ 
lichem Sitz nur selten zu beobachten Gelegenheit hat. Auch 
die vordem enorme, wohl zum grössten Theil durch die Ver¬ 
drängung und Compression des Herzens bedingte Athemnoth war 

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340 

fast ganz verschwunden. Es bedarf keiner Auseinandersetzung, 
wie diese ausserordentliche Verschiebung des Herzens, welche 
auch in unserem vorhin beschriebenen Falle von putridem Em¬ 
pyem das klinische Bild in so auffallender Weise beeinflusste, 
zu Stande kommt. Indem das zwischen den Lungenlappen be- 
legene und stark gespannte Exsudat durch die umgebenden Ver¬ 
wachsungen beider Pleurablätter verhindert ist, sich nach unten 
oder oben frei auszubreiten, überträgt es seinen Druck vor¬ 
wiegend auf das leicht bewegliche Herz. Auch die Ergebnisse 
der Auscultation sind eigenthümlich. Wie bei einem gewöhn¬ 
lichen, d. h. in seiner Ausbreitung in keiner Weise beschränkten 
pleuritischen Ergüsse, hört man Uber der Dämpfung in der 
unteren Hälfte der Hinterwand entweder gar kein Athemgeräusch 
oder ein ganz unbestimmtes, leises; zugleich ist der Fremitus 
an dieser Stelle erloschen oder verringert. Das erklärt sich aus 
der Compression des der Brust Wand adhärenten Unterlappens, 
welche so beträchtlich sein kann, dass die Lichtungen seiner 
Bronchien vollständig verschlossen werden. Wiederum können 
daraus IrrthUmer für die Beurtheilung der wahren Ursache des 
physikalischen Befundes erwachsen, indem man bei ungenügen¬ 
der Berücksichtigung der übrigen Erscheinungen leicht zu der 
Annahme verleitet wird, dass an der genannten Stelle Flüssig- 
keitsansaramlung besteht. Macht man in dieser Voraussetzung 
daselbst die Probepunction, so fällt dieselbe natürlich negativ 
aus. Nur in der Seitenwand oder hoch oben an der Hinter¬ 
wand, in dichter Nachbarschaft des Angulus scapulae, wo sich 
der untere Rand der auseindergedrängten Interlobulärspalte be¬ 
findet, gelingt es, das Exsudat zu fassen, und auch an dieser 
Stelle liegt es der Thoraxwand oft nur in beschränkter 
Ausdehnung an, so dass der Ort, wo mit Erfolg punctirt 
werden kann, erst gesucht werden muss. Bei den rechts¬ 
seitigen Exsudaten sind die Verhältnisse in Folge des Vorhan¬ 
denseins einer durch den Mittellappen bedingten doppelten Inter¬ 
lobärspalte etwas complicirter, lassen sich jedoch auch hier 
leicht construiren, wenn man erwägt, dass die obere Spalte vom 
in der Gegend des unteren Randes der 4. Rippe bis zum Sternum 
verläuft und mit der unteren hinten in der Axillarlinie des 
4. Intercostalrauraes zusammentrifft 1 ). Ich habe im Laufe der 
Jahre eine ganze Anzahl solcher vorwiegend interlobär be- 
legener Pleuritiden beobachtet und auch bei nicht wenigen der¬ 
selben auf Grund der im Vorhergehenden entwickelten Symptome 
schon vor der Punction die richtige Diagnose gestellt. Handelt 
es sich um Empyeme, und sind dieselben zugleich mehrkammerig, 
so ist für den Operateur die Lage ebenfalls mit Schwierigkeiten 
verknüpft. Er ist gezwungen, die einzelnen Kammern, deren 
am meisten nach hinten belegene sich gewöhnlich in schräger 
Richtung nach aufwärts unter die Gegend des Schulterblattes er¬ 
streckt, nach einander aufzusüchen und zu eröffnen. 

Der dritte erwähnenswerthe Umstand aus der Ge¬ 
schichte unseres Kranken betrifft das Verhalten des Harns. 
Von dem Augenblick des Durchbruches des Brandherdes in die 
Pleurahöhle bis zum Tage der Operation enthielt derselbe be¬ 
trächtliche Mengen von Eiweiss. Diese schwanden spurlos 
nach der Entleerung des Exsudates, ein Beweis, dass die der 
Albuminurie zu Grunde liegende Nierenreizung lediglich Folge 
der Resorption putrider Substanzen in’s Blut war, mit einem 
Worte, dass es sich um eine toxische Form von Ne¬ 
phritis handelte. 

Schliesslich noch ein Wort Uber die Prognose der im Ge¬ 
folge von Influenza auftretenden jauchigen Empyeme. In den 
beiden von mir hier mitgetheilten Fällen heilten dieselben nach 


1) Einen diesbezüglichen Fall hat Dr. Gerhardt in dieser Wochen¬ 
schrift, Jahrg. 1898, No. 83, pag. 790, mitgetheilt. 


No. 16 . 

der Operation anstandslos aus. Ein so günstiger Verlauf ist 
jedoch keineswegs allemal und nur dann zu erwarten, wenn ein 
einziger Gangränherd vorliegt, der in das Cavnm pleurae per- 
forirt ist. Da, wie erwähnt, die Einschmelzungen der entzünd¬ 
lichen Infiltrate bei Influenza häufig multiple sind, so sind auch 
die Eiteransammlungen in der Pleura bei voraufgegangenen par¬ 
tiellen Verlöthungen der letzteren zuweilen mehrfache; ja dieselben 
können so zahlreich sein, dass es gar nicht möglich ist, sie alle 
aufzufinden und dem Messer zugänglich zu machen. Dazn 
kommen die Gefahren, mit welchen die Vereiterung der Lunge 
an sich verknüpft ist, so dass es nicht überraschen kann, wenn 
manche der Patienten schliesslich unter den Erscheinungen fort¬ 
schreitender Sepsis zu Grunde gehen. 


Mannigfach sind, wie bekannt, die Gefahren und Com- 
plicationen, welche den Influenzakranken von Seiten 
des Circulationsapparates drohen. Abgesehen von der 
Herzschwäche, welche sich in vielen Fällen schon vom Beginn 
der Erkrankung an in beunruhigender Weise bemerkbar macht, 
kommen die verschiedensten anderen Erscheinungen, wie ausser- 
gewöhnliche Pulsbeschleunigungen oder Verlangsamungen, Arhyth¬ 
mien, plötzliche Herzparalysen, Anfälle von Angina pectoris, Gefäss- 
thrombosen u. dgl. zur Beobachtung. Es empfiehlt sich, diese Com- 
plicationen in z weiGruppen zu sondern, nämlich die auf der Höhe 
der Krankheit' also in der Regel bei noch bestehendem Fieber, 
und zweitens die als Folgesymptome, i. e. nach Ablauf der 
acuten Periode auftretenden, zu sondern. Allerdings ist zuzu¬ 
geben, dass jede der soeben aufgeflihrten Störungen sowohl als 
Früh- wie als Spät-Symptome zur Beobachtung gelangen kann. 
Vielfach ist darauf die Beschaffenheit und der Zustand, in wel¬ 
chen Herz und Getässe sich vor dem Beginne der Erkrankung 
befanden, von Einfluss. Patienten, welche beispielsweise an einem 
älteren Klappenfehler oder an Arteriesclerose leiden, können 
schon in den ersten Tagen der Influenza von schweren cardial- 
asthmatischen Zufällen oder von Angina pectoris heimgesucht 
werden oder unter dem Einfluss der durch die Krankheit er¬ 
zeugten Herzschwäche eine Embolie davontrageh. Aus der Reihe 
der von mir selbst beobachteten Folgesymptome erlaube ich mir 
hier drei aufzuführen. 

1. Bei einer Anzahl namentlich jüngerer Individuen trat 
nach Ablauf der eigentlichen Influenzaerscheinungen Arhythmie 
auf, welche wochenlang trotz Bettruhe andauerte. Zum Theil 
war dieselbe von deutlichen Intermissionen des Pulsschlages be¬ 
gleitet. Solange die Patienten die horizontale Lage einnahmen, 
waren subjective Beschwerden damit nicht verbunden; selbst das 
Aussetzen des Pulses wurde kaum empfunden. Nur bei Bewe¬ 
gungen machte sich das Gefühl von Herzklopfen bemerkbar. Die 
Frequenz des Pulses war bei einigen der Kranken in auffallen¬ 
der Weise verringert, bis auf einige 50 Schläge in der Minute, 
bei anderen im Gegentheil gesteigert, in einem Falle bis auf 
150 in der Minute. Herzdämpfung und -Töne zeigten, abge¬ 
sehen von einer etwas dumpfen Beschaffenheit der letzteren, 
meist keine Abweichung von der Norm. Nur in zwei Fällen, 
die junge Leute im Alter von 14 und 15 Jahren betrafen, war 
nicht bloss der Spitzenstoss erheblich verstärkt und die Herz¬ 
dämpfung etwas nach rechts verbreitet, sondern auch in der 
ganzen Regio cordis ein auffallend lautes und rauhes systolisches 
Geräusch wahrnehmbar. Nach längerer Schonung der Kranken, 
insbesondere Bettruhe, gingen diese Erscheinungen völlig zurück. 
Ob wir es hier mit einem rein nervösen Symptom, einer Toxin¬ 
wirkung der Influenza, oder leichteren myokarditischen Ver¬ 
änderungen zu thun haben, möchte ich als eine offene Frage 
ansehen. Jedenfalls scheint es mir, trotz des günstigen Aus¬ 
ganges der beobachteten Fälle, nach den unliebsamen Erfahrun- 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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19. April 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


341 


gen, die man bei anderen Infectionskrankheiten, namentlich 
Diphtherie, Erysipel, Typhus unter Umständen machen kann, 
geboten, derartigen Patienten jede stärkere Muskelanstren¬ 
gung zu untersagen und sie bei guter Ernährung, eventuell 
auch massigem Weingenuss, so lange im Bette zu halten, bis die 
Herzaction wieder eine durchaus normale geworden ist. 

2. Auf das nicht allzuseltene Vorkommen arterieller Gefäss- 
thrombosen bei Influenza ist schon von verschiedenen Seiten, 
hier in Berlin namentlich von v. Leyden 1 ), Gerhardt und 
Senator hingewiesen worden. In der Sammelforschung über 
die Epidemie von 1889/üO finden sich allein 8 Fälle aufgeführt; 
5 davon betrafen die Art. poplitaea, nur einer die Art. brachialis. 
Seitdem bat sich die Zahl der bekannt gewordenen vermehrt. 
Doppelseitige Gangrän der Unterextremitäten, desgleichen einen 
Fall von Thrombose der Arteria brachialis beschrieb 
Cathomas 1 ). Die letztere Arterie war auch in den späteren 
Beobachtungen von v. Leyden, Keller und Stevensohn be¬ 
troffen. Wie Litten in dem Bericht der Sammelforschung her¬ 
vorhebt, scheinen diese Thrombosen vornehmlich in der Recon- 
valescenz vorzukommen; doch bemerkt bereits v. Leyden, dass 
der Gefässverschluss sich mitunter auch in den ersten Tagen 
der Erkrankung, wo also kaum von einer „marantischen“ Throm¬ 
bose die Rede sein kann, ereignet. Ich selbst verfüge Uber drei 
Beobachtungen, von denen eine die Art. brachialis, die zweite 
die Iliaoa externa und die dritte die Art. centralis retinae betrifft. 

Fall I. 69jährige Frau, welche, nachdem sie Bich schon Beit sechs 
Wochen matt und leidend gefühlt hatte, am 6. December 1898 von einem 
heftigen Schüttelfrost befallen wird und drei Tage später das Kranken¬ 
haus am Urban aufsucbt. Hiersellmt wurden die Erscheinungen eines 
diffusen Bronchokatarrhs nebst leichter Milzschwellung und geringfügiger 
Albuminurie constatirt. Der schleimig eitrige Auswurf enthielt 
vonBacterien fast ausschliesslich Influenzabacillen, welche 
aus demselben in Reincultur gezüchtet wurden. Das Herz 
und die übrigen Organe waren normal, die Radialarterien leicht ge¬ 
schlängelt, aber nicht besonders hart. Im Gegensatz zu dem verhält- 
nissmässig geringen objectiven Befund stand die grosse Mattigkeit der 
Kranken. Die am ersten Tage des Hospitalaufenthalts 89" C. betragende 
Temperatur fiel schon am folgenden zur Norm ab, stieg aber vom vierten 
(18. XII.) ab wieder an und erreichte am 5. und 6. Tage 88,8 bezw. 88,6® C. 
In der dem letzten Tage folgenden Nacht vom 15. zum 16. XII. hatte 
Pat. das Gefühl des Prickelns und Absterbens in beiden Armen und 
war am 16. XII. Abends schliesslich nicht mehr im Stande, 
den rechten Arm zu bewegen, ebenso wie die Sensibilität 
desselben vollständig aufgehoben war. Dabei war der rechte 
Radialpuls nicht mehr fühlbar und die ganze Extremität, beson¬ 
ders die Hand fühlte sich kühl an; letztere erschien auch etwas cyano- 
tisch. Temp. am 16. XII. Abends 87,4° C., Klage über Btarke Kopf¬ 
schmerzen, Uebelkeit und Erbrechen. Am nächsten Morgen Schwindel¬ 
gefühl und erhebliche Mattigkeit, Temp. 86,0, Ab 87,4® C. Linker Arm 
völlig beweglich mit erhaltener Sensibilität; auch der rechte kann wieder 
bewegt werden, wenngleich viel langsamer und schwerer als der linke. 
Ebenso hat sich die Sensibilität desselben wieder hergestellt, so dass 
selbst Pinselberührungen gefühlt werden, wogegen Nadelstiche nicht ganz 
so schmerzhaft empfunden werden wie rechts. Während der Puls an 
der linken Radialis von durchaus normaler Beschaffenheit ist und 108 
leidlich kräftige Schläge aufweist, fehlt er nicht bloss an der rechten, 
Bondern auch an der zugehörigen Cubital- und Brachialarterie. In der 
Axillararterie dieser Seite fühlt man einen harten, etwas 
schmerzhaften und etwa 1,5 cm langen Thrombus. Die Nerven- 
stämme im Sulcus bicipitalis int. sind druckempfindlich, elektrische Erreg¬ 
barkeit sämmtlicher Nerven und Muskeln des rechten Armes normal. In 
den folgenden Tagen empfindet Pat. in der rechten Hand noch immer 
leichtes Prickeln und bleibt die grobe Kraft der Extremität herabgesetzt, 
der Puls unfühlbar. Temperatur vom 19. XII. ab dauernd normal. Am 
22. XII. Schmerzen im linken Bein und am 24. XII. die Erscheinungen 
der Thrombose der Vena femoralis sin. Vom 8. I. ab beginnt 
die linke Unterextremität wieder abzuschwellen, aber erst am 17. I. 
wird der rechte Radialpuis wieder fühlbar; wenige Tage später 
ist auch in der motorischen Kraft des Armes kein Unterschied gegen¬ 
über links mehr wahrzunehmen, während der Puls bis zu der am 10. III. 
erfolgenden Entlassung noch immer erheblich schwächer als links ist. 
Herzdämpfung und Töne zeigten während der ganzen Beobachtungsdauer 
keine Abweichung von der Norm. 

1) v. Leyden, Ueber einen Fall von Arterientbrombose nach In¬ 
fluenza. Charite-Annalen. XVII. Jahrg. 1892. S. 127. 

2) Cathomas, Ueber plötzlichen Gefässverschluss bei Influenza, 
Münchener medic. Wochenschr. 1885. No. 27. 


Fall II betrifft einen 42jährigen Herrn aus der PrivatpraxiB, der schon 
seit Jahren an ziemlich weit vorgeschrittener Phthisis pulmonum litt, 
trotzdem jedoch noch immer seiner Beschäftigung als Kaufmann nachzu¬ 
gehen vermochte. Im März 1894 erkrankte Pat. an Influenza und wurde 
etwa 8 Tage später von heftigen Schmerzen in der rechten Unterextre¬ 
mität befallen. Als ich den Kranken kurze Zeit darauf sah, war der 
rechte Cruralpuls nicht mehr fühlbar und die ganze Extremität livid ver¬ 
färbt, dabei eiskalt, gefühl- und nahezu bewegungslos, keine Thrombose 
der Vena femoralis, kein Oedem des Beines. 8ehr schnell traten nun¬ 
mehr unter Fortdauer der ausserordentlich starken Schmerzen die Er¬ 
scheinungen eines von den Zehen nach aufwärts sich erstreckenden 
Brandes hinzu, unter welchen der Tod wenige Tage später erfolgte. Die 
Section wurde nicht ausgeführt, doch bandelte es sich augenscheinlich 
um eine Thrombose der Arteria iliaca externa dextra. 

Fall III endlich wurde erst vor wenigen Wochen von mir beob¬ 
achtet. Der 52jährige Patient erkrankte in der Nacht vom 18. zum 
14. Februar 1897 unter Frösteln und Stichen in der linken Seite. Es 
trat alsbald' eine leichte Dämpfung über dem unteren Theile der linken 
Hinterwand zu Tage, woselbst kleinblasiges Rasseln hörbar war, wäh¬ 
rend rechts nur ganz spärliche katarrhalische Geräusche bestanden. Das 
Allgemeinbefinden war ziemlich stark beeinträchtigt, Temp. zwischen 39,0 
und 89,8° C. schwankend, Puls 90 —100. Am Nachmittag des drit¬ 
ten Tages bemerkte Patient ganz plötzlich, dass er auf dem 
rechten Auge nicht ordentlich sehen könne und kaum 10 
Minuten später war er auf demselben vollständig blind. Die 
genaueste Untersuchung des Herzens liess an demselben keine Anomalie 
erkennen, ebenso war das Nervensystem intact, der Harn eiweissfrei. 
Ophthalmoskopisch zeigte sich am nächsten Tage im rechten Augen¬ 
hintergrund ein Befund, wie er für die Embolie der Art. centralis retinae 
charakteristisch ist, d. h. Krblassung der Papille, auffallende Schmalheit 
der Gefässe, die Fovea centralis in Form eines kirschrothen Fleckes 
hervortretend, keine Blutung. Rechte Pupille etwas weiter als die linke, 
reagirt bei directem Lichteinfall nicht, dagegen consensuell bei Beleuch¬ 
tung des linken Auges. Acht Tage später wurde Pat. noch von einer 
Thrombose der rechten Schenkelvene befallen. Das Sehvermögen auf 
dem rechten Auge blieb erloschen. 

Embolie der Arteria centralis retinae ist als Corapli- 
cation bezw. Folgesymptom von Influenza mehrfach beschrieben 
worden. In einzelnen der betreffenden Fälle lagen oflenbar ältere 
Herzklappenfehlcr vor; ein solcher wird von Litten in der 
Saramelforschung aufgeführt. Andere Male aber ist die Ent¬ 
stehungsweise, in Anbetracht des Umstandes, dass Herz und Gefäss- 
apparat keine sonstigen Anomalien aufwiesen, unklar. Hier liegt 
es nahe, wie bei unserem Patienten, nicht an eine Embolie, 
sondern eine Thrombose des »Stammes der Arterie zu denken, 
welche letztere dieselben subjectiven und objectiven Erscheinungen 
machen muss wie erstere. Diese Annahme hat um so mehr für 
sich, als es gar nicht abzusehen ist, warum nicht die Central¬ 
arterie der Netzhaut im Gefolge von Influenza gelegentlich ebenso 
thrombo8iren soll, wie andere Körperarterien. Elin Fall von 
direkter „Trombose der Retinalarterie“ ist von Dujardin be¬ 
schrieben; leider konnte ich mir das Original der Mittheilung 
nicht zugänglich machen. 

Bezüglich der Frage, wie das Zustandekommen der Arterien¬ 
thrombose iui Gefolge von Infectionskrankheiten zu erklären sei, 
befinden wir uns noch immer im Unklaren. Dass die Auffassung 
derselben als „maranthische“ Thrombose nicht zulässig ist, wird 
Niemand bezweifeln, und habe ich im Vorhergehenden schon 
kurz erwähnt, wie wenig dieselbe mit der Thatsache vereinbar 
ist, dass der Gefässverschluss mitunter schon in den 
allerersten Tagen der Erkrankung, wo von einem erheb¬ 
lichen Darniederliegen der Circulation noch gar nicht die Rede 
ist, sich vollzieht, v. Leyden ist geneigt, den Vorgang mit dem 
Zerfall weisser Blutkörperchen, welche zur Entstehung von Blut¬ 
plättchen Veranlassung geben, in Verbindung zn bringen. Dass 
diese Gebilde an der Erzeugung der weissen Thromben einen 
wesentlichen Antheil haben, gilt heut zu Tage als feststehend. 
Doch ist damit die Entstehung der Arterien-Thrombose noch 
keineswegs genügend erklärt, da nicht abzusehen ist, warum die 
Blutplättchen nur an bestimmten Stellen der Gefässwand an¬ 
haften sollen, an anderen nicht. Alles weist vielmehr darauf hin, 
dass wir es mit Gefässwandveränderungen zu thun haben, welche 
in direkter Abhängigkeit zu der Infection bezw. Intoxication des 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 16. 


342 

Organismus stehen. In der That sprechen einige französiche 
Autoren von einer „Arterite grippale“. Ebensolche Veränderungen 
der Intima dürften den auch zuweilen schon in einem frühen 
Stadium der Influenza auftretenden Venenthrombosen zu 
Grunde liegen, welche letzteren in den soeben von mir mitge- 
theilten drei Fällen bemerkenswertlier Weise zweimal hinzu¬ 
traten. Kuskow 1 ) glaubt, dass es sich um Alterationen des Ge- 
fäasendothels handele. Jedenfalls bleibt es einer weiteren For¬ 
schung Vorbehalten, dieses noch dunkle Gebiet aufzuklären. 

3. An den soeben mitgetheilten Vorgang der Arterienthrom- 
bose schliesst sich das Vorkommen ausgesprochener Arterien¬ 
wanderkrankungen nach Influenza an. Schon Curschmann hat 
darauf hingewiesen, dass letztere nach seinen Erfahrungen unter 
Umständen die Entwicklung von Arteriosklerose begünstige. 
Im Winter des Jahres 1892/93 machte ich eine Beobachtung, 
welche die Beziehung beider Erkrankungen zu bestätigen 
scheint. Ein 52jähriger College unserer Stadt, welcher im De- 
cember eine mässig heftige Influenza durchgemacht, sich von 
derselben aber wieder vollständig erholt hatte, wurde einige 
Wochen später plötzlich von den schwersten Anfällen von 
Angina pectoris befallen, ohne dass zuvor besondere Erschei¬ 
nungen seitens des Circulationsapparates bestanden hatten. 
Nichts wies bei dem Patienten auf allgemeine Arteriosklerose 
hin. Die Arterienspannung war eher geringer als normal, die 
Herzdämpfung nicht verbreitert, nur an der Spitze hörte man ein 
hauchendes systolisches Geräusch. In kurzen Intervallen folgte 
ein stenocardischer Anfall dem anderen, und zwar mit einer 
Heftigkeit, wie ich sie sonst selten gesehen habe. Jeder Anfall 
war zudem von ödematösem Auswurf begleitet. Dabei sah Pat. 
in der anfallsfreien Zeit verhältnissmässig gut aus. Hydrops und 
Albuminurie fehlten während des im Ganzen dreimonatlichen 
Krankheitsverlaufs. Sehr bald stellten sich jedoch Arhythmie 
und die Zeichen einer, wenngleich in massigem Grade fort¬ 
schreitenden Dilatation des linken Ventrikels ein. Schliesslich 
trat der Tod durch Herzparalyse in einem Anfall ein. In An¬ 
betracht der fehlenden allgemeinen Arteriosklerose diagnosticirte 
ich circumscripte sklerotische Veränderungen im Anfangstheil 
der aufsteigenden Aorta, deren Sitz wahrscheinlich in der un¬ 
mittelbaren Umgebung der Coronararterienostien sich befand. 
Die Ursache des Gefässleidens kann, wie bemerkt, sehr wohl 
mit der voraufgegangenen Influenza in Zusammenhang gestanden 
haben. 


V. Kritiken und Referate. 

A. Hammerschlag: Unterau*bongen Aber das Magencarclnoin. 

Verlag 8. Karger, Berlin 1896. 

Der Verf. hat an einem grossen Krankenmaterial eingehende Unter¬ 
suchungen angestellt über das Verhalten der motorischen und secretori- 
schen Function des Magens beim Carcinom desselben und über die histo¬ 
logischen Veränderungen der von dem Neoplasma nicht ergriffenen 
Schleimhaut. Indem der Verf. in der vorliegenden Schrift das Resultat 
dieser Untersuchungen mittheilt, bespricht er gleichzeitig die praktische 
Verwerthung des erhobenen Befundes für die Diagnose des Magencarci- 
noms und besonders für die Frühdiagnose desselben. Die Arbeit des 
Verf.s um fasst naturgemäss zwei Theile. 

In dem ersten Theile, der auch eine Tabelle der beobachteten 
Krankheitsfälle enthält, giebt der Verf. eine Ucbersicbt über die bei 
seinen Untersuchungen in Anwendung gekommenen Reactionen. Dabei 
verdient hervorgehoben zu werden, dass Hammerschlag zur Beur¬ 
teilung der Milchsäurefrage die Anwendung des Ewald'sehen Probe- 
frühstücks und die Uffel mann'sehe Rcaction für vollkommen ausreichend 
hält. Eine besondere Beachtung hat der Verf. der Eiweissverdauung 
zugewendet, zur Bestimmung der Grosse derselben benutzte Hammer¬ 
schlag seine auf der Naturforscher-Versammlung 1894 angegebene Me¬ 
thode. 


1) Kuskow: Zur pathologischen Anatomie der Grippe. Virchow’s 
Archiv, Bd. 189, p. 406. 


Bezüglich der einzelnen klinischen Symptome kommt der Verf. zu 
folgenden Schlüssen: es leidet beim Magencarcinom die Motilität schon 
relativ frühzeitig, früher wie -bei Magenkatarrhen, die Störung derselben 
schreitet oft sehr rasch fort; in dem Verhalten des Salzsäuredefieits kann 
man kein differentialdiagnostisches Merkmal erblicken zwischen Carcinom 
und Katarrh des Magens; eine hochgradige Verminderung des Peptoni- 
sationsvermügens weist auf eine schwere Erkrankung hin und ist pro¬ 
gnostisch ungünstig; aber diese Verminderung der Eiweissverdauungskraft 
ist nicht charakteristisch für das Magencarcinom, da sie auch bei 
Atrophien der Magenschleimhaut und gelegentlich bei langdauernden 
chronischen Katarrhen vorkommt. Der Nachweis intensiver Milcbsäure- 
bildung im Magen beansprucht eine grosse diagnostische Bedeutung für 
das Megencarcinom, ist aber ebenfalls nicht absolut charakteristisch für 
dasselbe. Zur Bildung von Milchsäure hält Hammerschlag drei 
Factoren für nothwendig: Fehlen, resp. starke Abnahme der freien HCl, 
hochgradige Verminderung der Fermente und motorische In- 
suffleienz. 

Die Entwickelung der einzelnen 8ymptome des Magencarcinoms er¬ 
folgt zuweilen langsam, zuweilen rasch; es leidet zuerst die 8alzsäure- 
secretion, dann tritt Störung der Pepsinabsonderung ein, als letztes 
Symptom entwickelt sich meist erst Milchsäuregährung. In seltenen 
Fällen tritt Bildung von Milchsäure und Abnahme der Fermente als 
Frühsymptom des Magencarcinoms auf. Carcinome, bei denen auch in 
einem vorgeschrittenen Stadium des Chemismus normal bleibt, sind ge¬ 
wöhnlich aus einem Ulcus hervorgegangen, dagegen kann andererseits 
auch beim Ulcus carcinomatos. hochgradige Verminderung der Secretion 
und Milchsäurebildung Vorkommen. 

Im Schluss des ersten Theiles bespricht Hammerschlag dann 
noch die differentialdiagnostischen Momente, welche in Frage kommen 
bei der Ueberlegung, ob Carcinom oder eine andere Magenerkrankung 
vorligt. 

Der zweite Theil der Arbeit beschäftigt sich mit den anatomischen 
Veränderungen der Magenschleimhaut; diese Untersuchungen beanspruchen 
ein ganz besonderes Interesse deswegen, weil sie von Fällen herstammen, 
bei denen der Chemismus des Magens vorher genau untersucht worden 
war und weil sie au kleinen frischen Stückchen ausgeführt wurden, 
die Hammerschlag bei Vornahme von Gastroenterostomien und Pylorua- 
resectionen erhalten hatte. 

Als Resultat der Untersuchungen von Hammerschlag ergiebt sich, 
dass eine vollständige Uebereinstimmung zwischen chemischem und histo¬ 
logischem Befunde besteht. Bei Carcinomen mit normaler Secretion zeigt 
die Schleimhaut ein normales Bild oder die beim Ulcus rotund. gewöhn¬ 
lich vorkommenden Veränderungen; bei Carcinomen des Magens mit 
hochgradig verminderter Secretion und Milchsäurebildung, gleichgiltig 
ob das Carcinom sich aus einem Ulcus entwickelt hat oder oder nicht, 
findet man Veränderungen der Magenschleimhaut, die im wesentlichen 
in einem herdweisen Schwund der Labdrüsen bestehen. Interessant ist 
schliesslich noch die Beobachtung deB Verfassers, dass bei allen Pro¬ 
cessen, welche zur Atrophie der Labdrüsen führen, eosinophile Zellen 
in der Magenschleimhaut sich ansammeln können. 

Die Untersuchunge des Vert.s sind mit grossem Flelsse ausgeführt; 
die Schlüsse, welche aus den einzelnen Beobachtongen gezogen werden, 
verrathen überall den erfahrenen und überlegten Kliniker; es kann des¬ 
wegen die Lectüre der vorliegenden Schrift dringend empfohlen werden. 

L. Kuttner. 


Edlnger, Ludwig: Vorlesungen über den Ban der nervösen 
Centralorgane des Menschen und der Thlere. Für Aerzte 
und Studirende. Fünfte stark vermehrte Auflage. Mit 258 Ab- 
büdungen. Leipzig, Verlag von F. C. W. Vogel. 1896. 

Die neue erweiterte Ausgabe des bekannten Ed in ger 1 sehen Buches 
wird von allen Sölten mit grosser Freude begrüsst werden, da sie znm 
ersten Mal ein Gebiet in zusammenfaBsender Form behandelt, welches 
bis jetzt noch nie im Zusammenhang bearbeitet worden ist: die ver¬ 
gleichende Anatomie des Centralnervensystems. Es ist diese 
Arbeit um so werthvoller, da der Verfasser eine der ersten Autoritäten 
auf dem Gebiete der vergleichenden Gehirnanatomie ist und als einer 
der ersten Begründer dieser Wissenschaft die ganze Entwicklung der¬ 
selben verfolgt hat. Aus dem einen Kapitel, welches in der vorigen 
(vierten) Auflage die vergleichende Gehirnanatomie behandelt, ist ein 
grosser Abschnitt von mehr als 100 Seiten geworden. Dabei sind die 
übrigen Theile der früheren Auflagen, die historische nnd histologisch¬ 
physiologische Einleitung und die Beschreibung der Formverhältnisse des 
menschlichen Gehirns und Rückenmarks, beibehalten und besonders 
dieser letzte Theil wesentlich erweitert worden. Wie in den früheren 
Auflagen ist der Stoff auf eine Anzahl von Vorlesungen (25 gegen 18 
der vierten Auflage) vertheilt. Ueber den didactischen Werth dieser 
directen Anrede des Lesenden lässt sich streiten. 

In der ersten Vorlesung wird die historische Entwicklung der Lehre 
vom Nervensystem gegeben und darin gezeigt, wie sich unsere Kenntniss 
Hand in Hand mit der Vervollkommnung der Methoden vermehrt hat. 
In der zweiten Vorlesung erläutert der Verfasser an der Hand von Ab¬ 
bildungen die Formbestandtheile des Nervensystems. Hier wird bei der 
Besprechung der in den Nerven verlaufenden Fibrillen die Erwähnung 
der Arbeiten des ungarischen Forschers Apathy vermisst, die überhaupt 
vielfach von der wissenschaftlichen Welt mit Stillschweigen übergangen 
werden. In der dritten Vorlesung geht der Verfasser zu dem über, was 


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19. AprilJ897. BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT._343 


wir über die physiologische Function der nervösen Elemente nur Zeit 
wissen oder glauben, und erläutert an der Hand einiger Schemata die 
Hypothese vom Zustandekommen der einfachen nnd complicirten Reflexe. 

In den nächsten neun Vorlesungen ist die vergleichende Anatomie 
der Centralorgane bearbeitet. Es wird in klarer Weise dargestellt, was 
sich Uebereinstimmendes im Aufbau des Centralnervensystems von den 
Fischen herauf bis zu den Sängern findet, welche Theile und Bahnen 
im Lauf der Phylogenese neu hinzutreten und wie sich die einzelnen 
nervösen Organe Je nach der Function abändern, vergrössern oder ver¬ 
schwinden. 

Nur durch die ausgedehnten eigenen Erfahrungen an Vertretern 
aller Klassen der Vertebraten war es dem Verfasser möglich, diese 
schwierige Aufgabe, für die jede Vorarbeit fehlte, in so glänzender Weise 
zu lösen. Einige Unklarheiten im Ausdruck werden sich in einer späte¬ 
ren Auflage vermeiden lassen. 

Die letzten dreizehn Vorlesungen sind hauptsächlich dem Bau des 
menschlichen Gehirns und Rückenmarks gewidmet, wobei häufig zum 
Vergleich andere Säugethiere herangezogen werden. Dieser Theil ist 
durch eine grössere Anzahl neuer Abbildungen besonders von makro¬ 
skopischen Gehirnschnitten bereichert, welche dem praktischen Mediciner 
von grossem Werth sein werden. An vielen Stellen ist auch die Be¬ 
zugnahme auf pathologische und physiologische Erfahrungen vermehrt 
worden. 

Die alten und vielen neuen Abbildungen des Buches, welche zum 
grössten Theil aus der bewährten Hand des Verfassers stammen, sind 
vorzüglich und auch die übrige Ausstattung ist sehr anerkennenswerth; 
dabei ist der Preis verhältnissmässig gering. 

Der Anhang der früheren Auflagen, in dem die gebräuchlichen 
Methoden beschrieben wurden, ist diesmal fortgeblieben. Hinweise auf 
die Titel der herangezogenen Arbeiten anderer Autoren fehlen leider. 
Ich glaube, dass Manchem damit gedient wäre. Die Autorennamen sind 
häufig durch Komata oder Gedankenstriche vom übrigen Satze abgetrennt 
in die Sätze eingeschaltet. Das Einschliessen derselben in Klammern 
am Ende des Satzes ist nach der Meinung des Referenten für das Auge 
des Lesenden weniger störend. Einige Abbildungen sind wohl beim Satz 
von der Stelle, wo sie eigentlich hingehörten, an andere Stellen gesetzt 
worden, trotzdem auf der betreffenden Seite Platz vorhanden ist. So 
sollte z. B. die Figur 84 auf Seite 63 sein und die Figur 39 auf 
Seite 64. 

Einem Jeden, der sich für die Anatomie des Centralnervensystems 
interessirt oder sich über die vergleichende Anatomie desselben eine gute 
Kenntniss verschaffen will, kann die neue Auflage des Edinger'schen 
Buches nur auf's Wärmste empfohlen werden. 

Bethe. 


fiynäkaUglsehfs. 

K. Car ossa : Eine neue Methode der Behandlnng des Kindbett- 
flebers mit durchschlagendster Wirkung. München. Seitz & 
Schauer. 

Verf. will nicht bei den traurigen Fällen von Puerperalfieber die 
Flinte ins Korn werfen, 

„Um es am Ende geh'n zu lassen, 

Wie’s Gott gefällt“, 

sondern will die Axt an die Wurzel des Uebels legen. 

Das Mittel, welches er anwenden will und dessen desinflcirende 
Kraft zur Genüge bekannt ist, ist der Alkohol. Derselbe erscheint dem 
Verf. für den oben genannten Zweck nicht nur durch seine chemischen, 
sondern auch durch seine physikalischen Eigenschaften besonders brauch¬ 
bar zu sein. 

Die Methode der Anwendung ist folgende: „Man führt einen Uterin¬ 
katheter tief in die Gebärmutter ein, tamponirt den Uterus mit hydro¬ 
philer Gaze aus (es ist auch eine ziemlich geringe Menge der Gaze 
vollkommen ausreichend und eine feste Vollstopfung gar nicht nötbig, 
wie bei Blutungen; im Gegentheil ist es besser, nicht übervoll zu 
stopfen); befestigt an den Katheter einen Gummischlauch, in dessen 
peripheres Ende ein Trichter gesteckt wird. Durch diesen Trichter 
giesst man anfangs mit grosser Langsamkeit (damit sich die Nerven der 
Schleimhaut an den neuen Reiz gewöhnen) 25volumprocentige Alkohol¬ 
lösung (es genügt unter Umständen, wenn der Krankheitsprocess keine 
besondere Besorgniss erregt, auch eine 20- und weniger procentige Lö¬ 
sung, und je nach Umständen kann man auch eine höher procentige 
nehmen, wenn es der Kranken nicht zu stark ist, und dies ist nicht 
leicht der Fall). Diese Eingiessung wiederholt man stündlich Tag und 
Nacht, jedesmal zwei bis drei Esslöffel.“ 

Ich habe die Methode hier genau beschrieben, weil damit jedenfalls 
ein ganz neuer Gedanke für die Behandlnng angeregt ist. Ueber alles 
weitere verweise ich auf das sehr lesenswerthe Original. Zu bedauern 
ist nur, dass der Verf. nicht die durch diese Methode geheilten Fälle 
aufführt. Denn bo lange dies nicht geschieht, dürfte der im Titel ange¬ 
kündigte „durchschlagendste Erfolg“ nur ein theoretischer bleiben! 

A. Dührssen: Ueber chirurgische Fortschritte in der Gebnrts- 
hülfe. Sammlung klinischer Vorträge. Neue Folge. No. 160. 

D. berichtet über die grossen chirurgischen Erfolge, welche in den 
letzten Jahren auch in der Geburtshülfc erreicht worden sind. Es ist 
bekannt, dass D. selbst an der Ausbildung und Verbreitung neuer chi¬ 
rurgischer Operationen, welche in dieses Gebiet gehören, grossen Antheil 


hat. Wenn D. sagt: „Ich vertrete den Satz, nur dann die Geburt ope¬ 
rativ zu beenden, falls Lebensgefahr für Mutter oder Kind eintritt, diese 
Gefahr durch nichtoperative Maassnahmen nicht zu beseitigen ist“, so 
kann man bei dem heutigen Standpunkt der Chirurgie diesen Satz nur 
unterschreiben. Leider aber wird diese von D. geforderte stricte Indi- 
cationsstellung in der Praxis nicht genügend innegehalten und hat dazu 
beigetragen, die schon an und für sich zu vielen Eingriffe in der Ge¬ 
burtshülfe nur noch zu vermehren, nicht immer zum Nutzen der Pa¬ 
tienten. Denn wenn D. auch sehr bestimmt sagt: „Die Sepsis haben 
wir aber doch heut zu Tage zu vermeiden gelernt“, bo kommen doch 
leider auch jetzt noch genügend zahlreiche Sepsisfälle vor. Ist dies 
schon in den Kliniken mit ihrem grossen Apparat der Fall, um wie viel 
mehr in der Praxis, wo der Arzt oft unter den erbärmlichsten Verhält¬ 
nissen operiren muss. Betreffs der Einzelheiten, von denen besonders 
die Anwendung des Kolpeurynters den praktischen Aerzten empfohlen 
sei, verweise ich auf das sehr interessante und lehrreiche Original. 


A. Dührssen: Ueber vaginale Koeliotomle nnd conservatlre va¬ 
ginale Adnexoperationen. Verhandlungen der deutschen Gesell¬ 
schaft für Gynäkologie 1895. 

D. berichtet über die von ihm eingeführte vaginale Koeliotomie, 
mittelst welcher es ihm gelungen ist, per vaginam Tumoren zu entfernen, 
welche vordem nur durch ventrale Laparotomie entfernt werden konnten. 
Folgende Indicationen stellt D. für die vaginale Methode auf: 

1. Bei beweglichen Ovarien, beweglichen cystischen Ovarialtumoren 
oder Tubenschwellungen, bei denen die Tuben nicht mit ihrer Umgebung 
verwachsen sind. 

2. Bei flxirten Ovarien, Tuben- und Ovarialsäcken nur dann, wenn 
diese Gebilde im Douglas flxirt sind, sich also von den seitlichen Becken¬ 
wandungen gut abgrenzen lassen. 

Contraindicirt ist die Operation: 

1. Bei schweren perimetrischen Verwachsungen der Beckenorgane, 
bei welchen Tuben und Ovarien überhaupt nicht palpirbar sind. 

2. Bei chronischer Oo- und Perioophoritis, bei welcher das Ovarium 
unmittelbar an der seitlichen Beckenwand festhaftet. 

8. Bei grösseren Adnextumoren, welche innig mit der seitlichen 
Beckenwand Zusammenhängen und ohne Narkosenuntersuchung dem Un¬ 
geübten häufig ein einfaches parametritisches Exsudat Vortäuschen. 

D. fügt selbst hinzu, dass vor der Vornahme einer vaginalen 
Koeliotomie alles auch für eine ventrale Koeliotomie in Bereitschaft zu 
setzen ist 

Nach Ansicht des Ref. ist der Hauptnachtheil der Operationsmethode, 
abgesehen von ihrer Unzulänglichkeit bei Verwachsungen, die häufige 
Beendigung durch die Vaginoflxation. Es treten nämlich dann später 
dieselben Uebelstände auf, welche dazu geführt haben, die Vaginoflxation 
sehr schnell wieder von der Bildfläche verschwinden zu lassen. Auch 
die Unannehmlichkeiten während der Operation werden wohl bald dazu 
führen, dass diese Methode, der bei ihrem Erscheinen wieder von den 
verschiedensten Seiten zugejnbelt wird, nur für eine sehr beschränkte 
Anzahl von Fällen Anwendung finden wird. 

A. Dührssen: Ueber vaginale Anteflxatio nterl. Centralblatt für 

Gynäkologie 1896, No. 22. 

George M. Edebohls, A. M , M. D., New-York: The Indlcatlons 
for ventral Fixation of the Uterus. 

Charles P. Noble, M. D., Philadelphia: Snspenslo nterl with refe- 
rence to its lnflnence npon pregnanor and labor. 

D. empfiehlt in oben genannter Arbeit, nachdem die Vaginoflxation 
nun endgiltig abgethan zu sein scheint, die intraperitoneale Vesicofixation 
gegen Retroflexio uteri. Die Zeichnung auf 8eite 9 des Separatabdruckes 
soll diese Modiflcation der Operation plausibler erscheinen lassen. Dem 
Ref. will es jedoch scheinen, als ob die thatsächlichen Verhältnisse nach 
der Operation nicht ganz so schön ausfallen, wie auf dieser schema¬ 
tischen Zeichnung. Im Ganzen wäre dringend zu wünschen, dass der¬ 
artige neue Operationen erst besser geprüft werden, bevor sie der 
Oeffentlichkeit übergeben werden. Es erscheint Ref. nicht ausgeschlossen, 
sogar wahrscheinlich, dass die Vesicofixation dasselbe Fiasco erleben 
wird, wie die Vaginoflxation. 

Edebohls. welcher die Vaginoflxation ebenfalls, wie Ref., für ab¬ 
gethan hält, will dieselbe höchstens noch in Fällen anwenden, in welchen 
eine etwaige spätere Schwangerschaft ausgeschlossen ist Auch die 
ventrale Fixation soll nnr, wenn unvermeidlich, angewendet werden, 
falls die Möglichkeit einer späteren Schwangerschaft vorliegt. Dieselbe 
ist niemals bei uncomplicirter Retroflexio indicirt. Als Adjuvans kommt 
die Ventroflxation bei Prolapsus uteri nnd vaginae in Betracht. Da¬ 
gegen ist dieselbe indicirt bei allen Koeliotomien, bei welchen die An¬ 
nexe entfernt, der Uterus aber zurückgelassen worden ist. Was die 
Nomenclatur betrifft, so hält Verf. nur den Namen „Ventri-flxura uteri“ 
für gerechtfertigt. 

Noble endlich wägt in klarer Darstellung die Vortheile und Nach¬ 
theile der Ventroflxation gegen einander ab und kommt zu dem Schluss, 
dass auch die ventrale Fixation zu Gunsten der Alexander'sehen 
Operation, d. h. der Verkürzung der runden Mutterbänder, zu ver¬ 
lassen sei. — 

Verfolgt man die Literatur über diesen Gegenstand und sieht, wie 
in der einen Arbeit immer wieder die Ansichten der vorhergehenden 
Arbeit widerlegt werden, so kommt man nothgedrnngen zu ‘dem Schluss, 
dass man mit [der Empfehlung von Operationen gegen die Retroflexio 


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344 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 16. 


nteri weit Aber das Ziel hinausgeschossen ist. Man wird eben, wenn 
die Gemfither sich wieder einigermaassen beruhigt haben werden, zu den 
orthopädischen Behandlungsmethoden zurückkehren nnd nur die aller- 
schwersten und hartnäckigsten Fälle durch Operation zu heilen suchen. 


Charles P. Noble, M. D., Philadelphia: Drainage versag radical 
Operation in the treatment of large pelvic abscesses. Jour¬ 
nal of the American Medical Association. 8. August 1896. 

N. empfiehlt in dem kleinen Vortrag die Spaltung und Drainage 
von grossen Reckenabscessen gegenüber der Radiealoperation. 8eine 
Erfahrungen gründen sich anf nur 8 Fälle, welche sehr günstig verliefen. 
Hier in Deutschland steht man längst auf dem Standpunkt, solche Ab- 
scesse, wie sie der Verf. beschreibt, von der Scheide oder von den 
Bauchdecken aus. je nach Lage des Abscesses, zu incldiren und zu drai- 
niren. Man verfolgt eben damit das Princip: Ubi pus, ibi evacua! Die 
sogenannte Radiealoperation soll doch nur bei ganz veralteten und auf 
andere Weise nicht heilbaren Fällen Anwendung finden. 

Abel. 


Beancamp (Aachen): Ueber Hebammen- nnd WBrterinnen-Wesen. 

Cöln a. Rh. Verlagsanstalt. 

Verf. erkennt die Verbesserung an, welche in Folge der Ministerial- 
Erlasse, des neuen Hebammenlehrbuchs für Preussen, der Hebammen- 
Vereine, der Hebammen Zeitung, vielfach auch einer zeitgemänseren Taxe 
bereits bemerkbar ist. Viel bleibt noch zu wünschen. B. spricht sich, 
sehr mit Recht für den neunmonatlichen Lehrcursus aus, der bisher nur 
an drei Orten gilt, an allen anderen zwischen B 1 ', bis zu 8 Monaten dauert. 
Auf jede Schülerin sollten mindestens 5 Geburten fallen. Die Ausbildung 
der Hebammen sollte nur den Provinzial-Anstalten überlassen sein, was 
eingehend begründet wird. Der Nutzen wird hervorgehoben, welchen 
die Betheiligung der Provinz-Anstalts-Directoren für die Nachprüfungen 
gewährt, und erweiterte Berechtigung für die Examinatoren gefordert. — 
Ferner empfiehlt B. für die Wochenbettpflegerinnen secbsmonatliche 
Lehrzeit in einer Entbindungsanstalt, sodann Scblussprüfung in Gegen¬ 
wart des Kreisphysikus, unter dessen Aufsicht diese Pflegerinnen ver¬ 
bleiben sollen. Dies soll letztere an Uebertretung ihrer Befugnisse ver¬ 
hindern, zumal ihnen in solchen Fällen das PrüfUngszeugniss wieder ent¬ 
zogen würde, welches sie von den Pfhscherinnen unterscheidet. Schliesslich 
stellt B. folgende, wohlbegründete Forderungen auf. Für die Hebammen 
sollte gesetzlich der neunmonatlicbe Lehrcursus vorgeschrieben sein. Auf 
jede Hebamme sollten wenigstens 5 Geburten kommen, also die Schulen, 
deren Material dazu nicht ausreicht, geschlossen werden. Die Hebammen- 
Schulcn sollten ausschliesslich von der Provinzial-Verwaltungbestimmt, 
und ihr geburtshilfliches Material ausschliesslich für die Hebammen- 
Schülerinnen verwendet werden, endlich die Kreisphysiker berechtigt Bein, 
Hebammen zwangsweise der Provinz-Lehranstalt zu Nachcursen zu 
überweisen, den Hebammen für kleinere Vergehen Geldstrafe aufzuerlegen. 

Diese Vorschläge sind an einigen Orten bereits erfüllt; für die übrigen 
aber wäre es sehr zu wünschen, dass der Inhalt des empfehlenswerthen 
Schriftchens Seitens der zuständigen Behörden die verdiente Würdigung 
fände. Abegg-Danzig. 


VL Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. 

Gesellschaft der Charltd-Aente. 

Sitzung vom 29. November 1896. 

(Schluss.) 

Hr. Hauchecorne: Rachitis and Syphilis and die Richitls der 
Thiere. (Referat.) 

Immer wieder wird behauptet, die Rachitis sei zurückzuführen auf 
Lues der Eltern, und wird aus klinischen, histologischen etc. Gründen 
die Unrichtigkeit dieser Hypothese bestritten. Wie 1880 ein hiesiger 
hervorragender Kliniker die Rachitis für abgeschwächte hereditäre Lues 
erklärte, so taucht diese Behauptung immer wieder anf. Par rot und 
Gibert schrieben: „II est bien probable, qne tous Ies rachitiques sont 
syphilitiques“ und „le rachitisme ne reconnait pas d’autre cause, que la 
syphilis hireditaire“, Vierordt führt unter Anderem als Gründe gegen 
die Richtigkeit dieser Hypothese an: „Man darf diese Lehre bereits als 
völlig verlassen ansehen. Unter den schlagendsten Gründen Bteht obenan 
die völlige Incongruenz der Verbreitung von Rachitis und Syphilis, es 
kommt dazu, dass man die Eltern Rachitischer nach deren Geburt hat 
Syphilis acquiriren sehen, dass früher Rachitische selber nicht vor 
Syphilis beschützt sind (Comby, Fournier, Carin, Iscovesco)“. Im 
Frühling dieses Jahres demonstrirte Herr Geheimrath Heubner in 
dieser Gesellschaft an der histologischen Verschiedenheit der Knochen¬ 
erkrankung bei Rachitis und Lues hereditaria den Unterschied beider 
Krankheitsprocesse. Ich halte nun eine derartige Discussion über die 
ätiologischen Beziehungen beider Krankheiten im Gibert-Parrot’schen 
Sinne als einfach für unbegreiflich aus folgenden Gründen: Zunächst 
scheint mir die hereditäre Syphilis im Verhältnis zu der so - erschrecken¬ 
den Häufigkeit der Rachitis glüchlicherweise doch nicht so verbreitet, 
ln der Kinderpoliklinik der Königlichen Charite waren in den 4 Jahren 
vom 1. IV. 1888—81. III. 1892 und vom 1. IV. 1892—81. 111. 1898 
in Behandlung 18 017 Kinder. Davon waren als rachitisch notirt 2591; 


106 Kinder hatten Lues hereditaria. Da nun die 18 017 Kinder das ge- 
sammte Kindesalter bis zum vollendeten 16. Lebensjahr umfassen, die 
Rachitis sich meist nur in den ersten Lebensjahren bemerkbar macht 
oder, besser gesagt, in der Poliklinik meist nur bei Kindern unter 8, 
höchstens 4 Jahren, auf Rachitis untersucht wurde, auch meist nur bei 
Kindern unter 2—8 Jahren als Diagnose notirt wurde, wenn die Krank¬ 
heit hochgradig entwickelt war, respective wegen Complicationen nach 
ihr gefahndet ward, so ist die Zahl der wirklich rachitischen Kinder 
unendlich viel grösser. Ich bemerke, dass ich die Zahl derselben in 
Berlin auf 90—98pCt. aller Kinder schätze, zu welchem Resultat ja 
auch andere Autoren gekommen sind. Dagegen hatten von den 18 017 
Kindern nur 106 = 1,228 pCt. Lues hereditaria. Also ist der Procent¬ 
satz der Fälle von erblicher Syphilis doch zu gering, als dass man be¬ 
haupten könnte, dass für 90—97 pCt. aller Kinder diese Krankheit als 
die alleinige Ursache ihrer Rachitis angenommen werden müsste, ab¬ 
gesehen davon, dass die Syphilis auch nicht im Entferntesten so ver¬ 
breitet ist, um eine solche Annahme zu rechtferligen. Sodann sah ich 
Rachitis eintreten bei Kindern, deren Eltern nie syphilitisch waren, 
deren Vater absolut intact die Ehe einging. 

Ferner hat es Rachitis bei dem Vorhandensein der dazu disponiren- 
den Ursachen wohl immer gegeben. Wohl der älteste Mensch in Deutsch¬ 
land, dessen Skelett bekannt ist, war der Neanderthalmensch ans der 
Neanderthalhöhle bei Düsseldorf am Rhein. An seinem 8kelett, und 
zwar am RadiuR, Ulna und Femur, konnte Herr Geheimrath Virchow 
rachitische Verkrümmungen nachweisen. Manche Autoren erklären den 
Neanderthalmenschen für nicht so alt, Andere wieder für gleich alt, wie 
die Funde von Engis, Chauvaux, Cro Magnon und anderen Orten. Pro¬ 
fessor Fuhlrott berechnete fdr das 8kelett ein Alter von 200 000 bis 
800 000 Jahren. Auch an anderen prähistorischen Knochenfunden 
wollen Autoren, z. B. Pruner Bey, rachitische Veränderungen ge¬ 
funden haben. Hirsch berichtet, dass die Aerzte des Alterthnms, 
Mittelalters, speciell die Araber, diese Krankheit gekannt haben, wie 
auch französische, spanische, niederländische Aerzte des Mittelalters von 
einer bei Kindern vorkoromenden Atrophie mit Auftreibung der Gelenke 
sprechen. Daher Hirsch die Krankheit für so alt erklärt, als die mit 
der Verfeinerung der Cnltur nnd Sitte entwickelten Schattenseiten des 
gesellschaftlichen Lebens, resp. deren Einfluss auf die Gestaltung des 
physiologischen Verhaltens der Völker. Also die Rachitis ist eine uralte 
Krankheit. 

Dagegen ist die Syphilis wahrscheinlich nach der Entdeckung 
Amerikas von Columbus und seinen Gerührten, resp. den von ihnen 
mitgebrachten Indianern beiderlei Geschlechts, von der Insel Hispaniola, 
dem heutigen Hayti, nach Palos und Barcelona ln 8panien eingeschleppt 
worden bei der Rückkehr von ihrer ersten welthistorischen Entdeckungs¬ 
reise. Ich verweise auf die Arbeit von Prof. Binz in No. 44 der Deut¬ 
schen medicinischen Wochenschrift vom 2. November 1893. Hier führt 
derselbe alle Quellen von Zeitgenossen desColumbus an, welche diese 
Einschleppung der Krankheit aus Amerika, wo sie nach Aussage der 
Indianer ureinheimisch war, berichten. 

Dasselbe berichtete Anfangs dieses Jahres die von Dr. Kurt 
Stünzner herausgegebene Schrift des Monardes, eines Arztes aus 
Sevilla und Zeitgenossen des Cortez und der Pizarros „über die Arznei¬ 
mittel Amerikas“. Auch die neuerdings gemachten Funde aus alten 
Gräbern scheinen dasselbe Resultat zu ergeben. Marquis deNadaillac 
berichtet ausführlich in seinem von Schlösser und 8eler übersetzten 
Werke „Die ersten Menschen und die prähistorischen Zeiten mit beson¬ 
derer Berücksichtigung der Urbewohner Amerikas“, dass zahlreiche von 
Jones aus den Stone Graves in Tennessee ausgegrabenen Knochen un¬ 
verkennbare Spuren syphilitischer Affection zeigten, ebenso Knochen aus 
den MoundB von Jowa, Illinois, vom Rock River und von Nash-ville ln 
Kentucky. Broca constatirte die Krankheit an einem Schädel aus den 
Paraderos von Patagonien. Auch andere sprachliche etc. Quellen, be¬ 
richtet Marquis de Nadaillac, beweinen die Urheimatb der 8yphilis 
in Amerika, in Mexico, Centralamerika, in Peru. Herr Geheimrath 
Virchow wies in seinem Vortrage „Beitrag zur Geschichte der Lues“ 
darauf hin, dass, wenn er auch die Berichte über diese Knochenbefunde 
nicht für absolut unanfechtbar halten kann, er doch die Autoreu für 
glaubwürdig erklärt und, dasB diese Funde um bo merkwürdiger sind, 
als ln der alten Welt aus alten Gräbern keine derartigen Knochen seines 
Wissens notirt sind, z. B. nie ein syphilitischer Knochen in einem Hünen¬ 
grab gefunden wurde. Also in Amerika ist höchstwahrscheinlich die 
Lues ureinheimisch, bei uns aber wohl bestimmt nicht. Bestimmt ur¬ 
einheimisch ist bei uns aber dagegen die RachitiB. 

Der Hauptbeweis gegen den Zusammenhang zwischen Syphilis und 
Rachitis, welcher Jede Debatte hierüber hinfällig und gänzlich über¬ 
flüssig macht, ist die Rachitis der Thiere. Dass dieses von den Aerzten 
stets nicht beachtet wurde, ist mir ein vollkommenes Räthsel. Mir war 
schon als Student Ende der 70er Jahre die Rachitis der Thiere wohl- 
bekannt. Warum findet man hierüber nichts in unseren Lehrbüchern? 
Und wunderbarer Weise erregte es wiederholt das Erstaunen meiner 
Bekannten, wenn ich sagte, auch die Thiere haben ebenso Rachitis, 
wie wir. Wozu daher überhaupt eine Debatte über die Möglichkeit 
und Unmöglichkeit, dass die Rachitis von Lues der Eltern stamme. 
Diese Krankheit ist beim Menschen nur eine Ursache, welche durch 
Erzeugung einer dyscrasischen Blutdegeneration zu allen den vielen 
anderen hinzutritt, die gemeinsam bei Tbieren und Menschen die Rachitis 
erzeugen. 

Und, wie verbreitet ist dagegen in der Thierwelt die Rachitis! Als 


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19. April 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


345 


fleiaslger Besucher des hiesigen zoologischen Gartens hatte ich reichliche 
Gelegenheit, zahlreiche Generationen von theils jung importirten, theils 
im Garten geborenen Thieren daselbst auf wachsen zu sehen, und wie¬ 
viele davon waren rachitisch! Wieviele junge Affen, Raubthiere, Löwen, 
Tiger. Jaguare sowohl wie Baren und Wölfe, Hunde, Wildschweinarten 
etc. hatten rachitische Knochen und gingen an dieser Krankheit zu 
Grande. Bei der Aufzucht von Giraffen bilden Rachitis und Osteomalacie 
Haupterschwemisse. Herr Dr. Heck, der Director des hiesigen zoo¬ 
logischen Gartens, hatte die Güte, anf meine Anfrage mir freundlichst 
mitzutheilen, dass ihm nnd seinen Collegen, den Directoren der anderen 
Thiergärten, die Rachitis ein Haupthinderniss sei zur Aufzucht oben ge¬ 
nannter Arten. Eine Erklärung für das Zustandekommen der Krankheit 
konnte mir Herr Director Heck nicht geben. Kein Mittel der Züchtung 
resp. Ernährung gäbe 8chutz. Ich vermuthe hier als Hauptursache die 
Gefangenschaft als solche, die Versetzung der Thiere in Lebensverhält¬ 
nisse, welche den Ansprüchen des Naturbedürfnisses nicht entsprechen. 
Anstatt in der Freiheit in reiner Luft aufzuwachsen, wo sie Sonne und 
Schatten nach Belieben aufsuchen können, wo unbeschränkte Bewegungs¬ 
gelegenheit und Nahrungsauswahl eine kräftige Knochen- und Muskel- 
entwickelung bewirken, wo sie unter solchen Bedingungen nach dem 
Naturgesetz Bich fortpflanzen konnten, sind sie dazu verurtbeilt, in engen 
Zwingern, meist in dnnkelfeuchten und kalten Käfigen aufzuwachsen, 
auf Commando zu fressen und zu trinken, die verpestete Luft der Käfige 
einzuathmen. Jede Bewegung fehlt. Wer kennt ihren Geraüthszustand, 
Kummer nnd tödtliche Langeweile etc.? So verkümmern sie an Skelett, 
Grösse, an Leib und Seele, und ihre in diesen Verhältnissen gezeugte 
Nachkommenschaft vererbt und verstärkt die traurigen Folgen dieser 
Entartung bei sich und auf ihre Jungen. 

Auch bei den wilden Thieren, z B. Höhlenthieren, findet sich ge¬ 
wiss oft Rachitis, wie z. B. der unter Baumwurzeln lebende Jaguar, 
dazu neigen soll. Die erkrankten Individuen gehen aber leicht zu 
Grunde. Daher man solche Thiere, resp. deren Knochen so schwer 
findet. Herr Prof. Nehring sprach die Anschauung aus, dass die eigen¬ 
tümliche Gestalt des Dachshundes sich durch ererbte Rachitis gebildet 
habe. Eduard Hahn schreibt dasselbe in seinem Anfang dieses Jahres 
erschienenen Buche „Die Hausthiere“. Nun, dann könnte man ja auch 
annebmen, da«s bei der Entwickelung der auffälligen Krummbeinigkeit 
und Kurzbeinigkeit der Höhlenthiere, z. B. der krummbeinigen Hyänen, 
der Dachs- und Marderarten etc. neben der natürlichen Anpassung rachi¬ 
tische Vererbung roitwirkte. 

Bei den Haustieren spielt nun die Rachitis eine höchst wichtige 
Rolle und erschwert dem Landwirth die Aufzucht unendlich. Die 
Rachitis ist verbreitet bei Fohlen, Kälbern, Hunden, Katzen, Ziegen, 
Schafen, Schweinen, Kaninchen, bei Hühnern, besonders den schwereren 
Rassen, seltener bei Gänsen, Enten und Tauben. Als Rachitis congenita 
kommt die Krankheit vor bei Hunden. Kälbern, Schweinen, Fohlen und 
Lämmern. Die ganz allgemeine Rachitis befällt mdlst nur ganz Junge 
Thiere; mit Erkrankung sämmtlicher Rumpf- und Extremitätenknochen 
oder einzelner Knochengruppen älterer Thiere. Sie kann aber noch auf- 
treten, solange das Knochenwachsthum dauert. So wurde ihr Beginn 
beobachtet bei halbjährigen 8cbafen, Rindern, Schweinen. Letztere er¬ 
kranken oft noch, wenn sie schon halb ausgewachsen sind und gehen 
dann noch an der Krankheit zu Grunde. 

Die Veränderungen am Skelett sind bei den Thieren die gleichen, 
wie bei dem Menschen, dieselben Schädelveränderungen doppelte Glieder, 
Rosenkranz, Pectus carinatum. Das Gewicht des Körpers und Muskel- 
zng verursachen Verkrümmungen der Wirbelsäule, der Diaphysen der 
Röhrenknochen, Infractionen und Fracturen der letzteren. Das Becken 
wird verkleinert, verkrümmt, woraus später oft Geburtshindernisse er¬ 
wachsen. Die Knochen werden plump, besonders an den Gelenkenden 
und den Anbeftungsstellen der Bänder. Muskeln und Sehnen, und da¬ 
durch missgestaltet. Die rachitischen Veränderungen können sich in 
späterer Zeit ausgleicben, indem von verschont gebliebenen Theilen des 
Knorpels das Knochenwachsthum in regelrechter Weise nachträglich er¬ 
folgt nnd die gewneherten Periostschichten allmählich ossifleiren. Bei zu 
schneller Verknöcherung der unreifen Knorpel- und Osteofdgewebe bleiben 
die Knochen kleiner und kürzer. 

Die pathologisch-histologischen und histochemischen Veränderungen 
sind die gleichen, wie bei der Rachitis der Kinder. An dem durch 
Muskelzug gereizten Periost stellt sich Periostitis mit Zellenwncherung 
ein. Wichtig ist die histologische Unterscheidung zwischen der Knochen¬ 
brüchigkeit, der Osteomalacie und der Knochen weiche, der Rachitis. Bei 
ersterer ist die kalkfreie Zone entkalktes altes Knochengewebe, der 
kalkhaltige Theil der Knochenbalken ist theils alter, theils neuer 
Knochen. 

Ueber das Wesen der Rachitis haben die Thierpathologen die 
mannigfachsten Theorien, analog denjenigen über die Rachitis der Kinder. 
Nach Ellenberger fand man zum Theil als Ursache Mangel der 
Nahrung an Kalksalzen und Phosphorsäure. Man nimmt auch an mangel¬ 
hafte Ausnutzung der Kalksalze der Nahrung bei dem starken Ver¬ 
brauch während des Wachsthums. Die ungenügende Ausnutzung könne 
in Erkrankungen der Verdauung«- und Respirationsorgane oder in Er¬ 
krankung der osteoblastischen Zellen ihren Grund finden. Andererseits 
hat man die Ursache der Rachitis auch in einem Uebermaass von Milch¬ 
säure gesucht, auch Kohlensäurevermehrung im Blute ward beschuldigt. 
Man suchte die Ursache auch in einem unrichtigen Verhältnisse des 
Kaliums und Natriums und des Phosphorsäure- und Chlorgehaltes in der 
Nahrung. Ueberwiegen der Kalisalze und des Phosphors in der^Nahrung 


bedingen mangelhafte Ausnutzung der Natronsalze und des Chlors. In¬ 
folgedessen träte zu wenig 8alzsäure im Magen auf, weswegen die Ver¬ 
dauung beeinträchtigt werde, und die Kalksalze ungenügend gelöst und 
nicht transportfähig würden. Alle diese Theorien, auch fiir die Menschen 
aufgestellt, werden von den Einen angenommen, den Anderen verworfen. 
Mir scheint für die Entstehung der Rachitis eine Hypothese sehr be¬ 
merkenswert!), welche Roloff für die, Osteomalacie aufstellt: „Eine 
„vermehrte Ausscheidung der Kalksalze kann dadurch zu Stande kommen, 
„dass das im Uebrigen normal beschaffene Blut eine Verarmung an 
„Kalksalzen erfährt und dadurch befähigt und veranlasst wird, letztere 
„aus den Knochen auszulösen. In dieser Weise kann eine vermehrte 
„Abscheidung von Kalksalzen aus den Knochen ohne krankhaft ge¬ 
steigerte Ausfuhr aus dem Körper stattflnden. Diese Art der 
„vermehrten Abscheidung fällt mit verminderter Zufuhr zusammen in 
„analoger Weise, wie bei normalem Stoffverbrauch im Körper das Fett- 
„gewebe bei unzureichender Ernährung einen Theil seines Fettes ver¬ 
liert.“ 

Ueber speciell bei der Rachitis beobachtete Bluterkrankungen konnte 
ich nur die Erfahrung finden, dass dieser Krankheit eine Verminderung 
der Blutsalze zu Grunde liegt (Max Roll, Ueber Bluterkrankungen der 
Thiere). Nach dem, was über die Entwickelung von Oligocythämie, 
Leukocytose, Verminderung des Eiweissgehaltes des Blutes bei Er¬ 
krankungen der Thiere bekannt ist, muss man darauf schliessen, dass 
auch die Rachitis der Thiere. genau wie bei Kindern, eine Bluterkrankung 
mit Entwickelung von Oligocytose, Leukocytose, Eiweissverarmung 
schliessen kann. Die als Grundlage beobachtete Verarmung des Blutes 
an Kalksalzen spricht für eine tiefe Erkrankung des Blutes und der blut¬ 
bildenden Organe. Röll theilt die Bluterkrankungen der Thiere ein 
„in primäre und secundäre Dyskrasien. Zu den „primären Dyskrasien“ 
„rechnet er jene Bluterkrankungen, bei welchen eine von aussen wir¬ 
kende Schädlichkeit unmittelbar in dem Blute Veränderungen bewirkt, 
„infolge welcher sich dann Störungen gewisser Organe entwickeln. 
„Hierzu sind unter Anderem die Veränderungen zu rechnen, welche das 
„Blut durch zu mangelhafte Zufuhr gewisser zur Erhaltung seiner nor¬ 
malen Mischung nothwendiger Stoffe erleidet.“ 

„Die Entstehung der viel häufigeren „secundären Dyskrasien“ ist 
„von der Aufnahme dem Blute fremdartiger Stoffe aus einem bereits er¬ 
krankten Gewebe, von der Zurückhaltung der znr Ausscheidung be¬ 
stimmten Stoffe im Blute oder von der Wiederaufnahme in das Blut 
„abhängig. Durch eine fortdauernde Zufuhr solcher 8toffe von dem 
„Krankheitsherde aus wird die einmal entstandene Dyskrasie unter¬ 
halten und zu Erkrankungen in anderen Organen Anlass geben; mit 
„dem Aufhören der Zufuhr erlischt häufig auch die Dyskrasie, indem die 
„abnormen 8toffe im Blute umgewandelt und der Ausscheidung zugeführt 
„werden.“ 

Haupterscheinung der Rachitis ist Verarmung der Knochen an Kalk¬ 
salzen. Man beschuldigte eine Erkrankang der Verdannngsorgane, wo¬ 
durch diese die Fähigkeit verlieren, die Kalksalze der Nahrung in ge¬ 
nügender Weise zu assimiliren. Auch die Resorption der anderen 
Nahrungsmittel und somit das Wachsthnm ist bei Verdauungskrankheiten 
behindert. Diese Theorie ist längst widerlegt. Die Rachitis wird hier¬ 
durch nur in ihrer Entwickelung begünstigt. Auch zu reichliche Fütterung 
war beschuldigt. In manchen Fällen mag sie zur Entwickelung von 
Verdauungskrankheiten führen; aber nicht reichliche Fütterung erregt 
die Krankheit, sondern Ernährung mit Futter von unzureichender Zu¬ 
sammensetzung. Das Knochenwachsthum ist gerade in der ersten Zeit 
nach der Geburt sehr rege, also um so mehr Erdsalze sind erforderlich. 
Viel Nährstoffe bedingen starkes Wachsthum, sowohl vorher als nachher. 
Sind also die Nahrungsstoffe im richtigen chemischen Verhältnisse, schafft 
mangelhaftes Quantum nur verringerte Grössenzunahme. Ist nicht genug 
kalkhaltige Substanz vorhanden, und geht auch in den Knochen, wie in 
den Weichtheilen, die. Neubildung der weichen Theile lebhaft von 
Statten, ohne dass hinreichend Kalk zur nachfolgenden Verhärtung vor¬ 
handen ist. so ist ein krankhafter Zustand gegeben. Das Wachsthum 
des weichen Knochengewebes ist nm so lebhafter, je mehr Bildungs¬ 
material zugeführt wird und der weiche Knochen wird um so eher ge¬ 
reizt, je schwerer die Körperlast ist und je kräftiger die Muskeln 
wirken. Demnach kann bei gleichem relativem Missverhältnis der 
Nährstoffe eine grosse Quantität derselben nachtheiliger wirken als eine 
kleine. 

Die Rachitis der Thiere findet sich besonders bei unzweckmässiger 
Ernährung. Darreichung von kalkarmem Futter. Am meisten verbreitet 
ist die Krankheit auf kalkarmem Niederungsboden, anf Torf- und Moor¬ 
boden, kalkarmem Sandboden, phosphorsäurearmem humosem Sande, auf 
schwer aufzuschliessenden Bodenarten, besonders bei Dürre, wie auf 
Muschelkalk, buntem Sandstein, Granit, Gneis; also bei Fütterung mit 
kalkarmem Heu oder Grünfütter. Dementsprechend ist die Krankheit in 
verschiedenen Jahren verschieden häufig, je nach den Regennieder¬ 
schlägen. Je mehr durch deren Ausbleiben Dürre eintritt, um so kümmer¬ 
licher entwickelt sich die Pflanzenwelt, um so weniger vermag dieselbe, 
besonders aus phosphorsäure- und kalkarmem oder schwer aufschliess- 
barem Boden die anorganischen Bestandteile in sich aufkunehmen, wie 
das Jahr 1893 mit seinem aussergewöhnlich trockenen 8ommer in Deutsch¬ 
land eine schwere Epidemie von Osteomalacie und Rachitis mit unge¬ 
heuren Viehverlusten im folgenden Winterhalbjahr 1893/94 zur Folge hatte. 

Ebenso entwickelt sich Rachitis ganz besonders durch Fütterung 
mit kalkarmen Knollenfrüchten, Rüben, Kartoffeln (die auch sehr phosphor- 
säurearm sind), Küchenabfällen, Schlempe, Biertrebern etc., so dass mit 


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346 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 16. 


gutem Rechte Bezirksarzt Utz In Villingen darauf hinwies, dass die 
Rachitis bei Ferkeln vorwiegend nach guten Kartoffelernten zum Durch¬ 
bruch kommt 

Ebenso beobachtete man Verhütung resp. Heilung von Rachitis durch 
Fütterung mit kalkreichem Heu und Grünfutter. 

Auch schlechtes „Beifutter“ befördert die Rachitis, so Mehltränke, 
Hafer, schlechtes Heu und andere kalkarme Nahrung. Die Jungen 
werden dadurch veranlasst, weniger zu saugen, geniessen also um so 
weniger die nahrhafte Muttermilch. Oder, wenn durch das Beifutter 
Verdauungsstörungen, namentlich Diarrhoe, erzeugt werden, können die 
jungen Thiere die Nahrungsstoffe, wie früher berichtet, nicht mehr ge¬ 
nügend im Darm assimiliren, gehen auch an den Dannkatarrhen leicht 
zu Grunde. Auch durch kalkarmes Trinkwasser sah man Rachitis ent¬ 
stehen, umgekehrt durch kalkreiches ausheilen. 

Ferner gelang es Charrin und Gley (Semaine m£dicale No. XI 
vom 26. Februar 1896, Rachitisme exp^rimentall nachzuweisen, dass 
12 Junge Kaninchen von mit Tuberculose inflcirten Eltern geworfen, hier¬ 
durch mehr weniger, zum Theil in sehr hohem Grade Rachitis ihres 
ganzen Skelettes neben im Uebrigen sehr mangelhafter Körperentwicke¬ 
lung erkrankten. Die Verfasser weisen aus diesem Resultat mit Recht 
darauf hin, welche Rolle die Gifte pathogener Mikroben spielen, indem 
sie, im Körper der Eltern befindlich, bei der Nachkommenschaft Rachitis 
erzeugen und erklären sie so die Rolle der Syphilis. 

Sodann beobachtete man die merkwürdige Erfahrung, dasB gerade 
bei sogenannten veredelten hochgezüchteten Rassen und auch bei ge¬ 
kreuzten Rassen sich Rachitis einstellt, so bei den grossen Rassehunden, 
den deutschen Doggen, den modernen veredelten Pferde-, Schaf-, Schweine- 
und Rindviehrassen. Roloff erklärt dies so, dass die verschiedenen 
Rassen je nach dem Klima, in welchem sie sich allmählich entwickelten, 
verschiedene histologische und chemische Eigenthümlichkeiten ihrer 
Knochengewebe erhielten; Höhenrassen haben feste, harte, gracile 
Knochen, Nierungsrassen dicke, plumpe, schwammige, grosszellige 
Knochen. Nur sind die verschiedenen Rassen verschieden in Bezug auf 
das Vermögen, die Kalksalze in ihren Knochen festzuhalten, haben ihre 
Eigenthümlichkeiten auch entwickelt unter verschiedenen Ernährungs¬ 
bedingungen. Zusammensetzung der Nährpflanzen, Wasser, Klima etc. 
Kein Wunder, dass sich üble Folgen herausstellen bei Versetzung in 
ihnen feindliche Leb^nsbedingungen, in ein fremdes Klima. Besonders 
ist auch so die üble Folge der Rassenkreuzung erklärlich. Sind doch 
schliesslich die veredelten Rassen Kunstproducte in gewissem Sinne, 
vom Menschen gezüchtet in einseitiger Richtung, ans Nützlichkeitsgründen 
im Gegensatz zur widerstrebenden Natur, gegen alle Principien des 
Naturgesetzes der natürlichen Auslese unter dem Einflüsse des Klimas. 
Alle Thiere, welche diese nicht ertragen können, gehen in der Freiheit 
zu Grunde, resp. ihre Nachkommen, wenn sie sich nicht durch natürliche 
Auslese den an sie gestellten Anforderungen anpassen, nach diesen sich 
umformen können, was die Thierzüchter dogeneriren nennen. Dazu 
kommt die Aufzucht im Stallklima. Sehr viele Haustbiere sind Stuben¬ 
bewohner im schlimmsten Sinne des Wortes, degenerirte 8tubenkliraa- 
geschöpfe. Zur Unterstützung dieser meiner Ansicht führe ich zum 
Schlüsse an eine Arbeit von Prof. Stockfeld in Kopenhagen, betitelt: 
„Die Knochenweiche bei Ferkeln und Laufschweinen“. Es wird be¬ 
sprochen eine fast epidemische Verbreitung der Rachitis unter Ferkeln 
und Laufschweinen auf Fünen, Langeland, Bomholm, in Jütland und 
Nordschleswig. Nach Besprechung aller Möglichkeiten der Entstehung 
der Krankheit bei den mit Kraftfutter, Gerste, Buttermilch, süsser und 
saurer Milch etc. gefütterten Schweinen kommt Stock fei d zu dem Re¬ 
sultat. Er fand als Ursache der Rachitis unzweckmässige Zucht, Pflege 
und Behandlung der Ferkel, die Benutzung von Zuchtthieren mit Anlage 
zur Rachitis, die Aufzucht in engen und somit überfüllten Räumen mit 
Betonfassböden. Die Ferkel konnten sich nicht genug bewegen, nicht 
wühlen. Die schlechte Ventilation verpestet die Luft. Auf dem kalten 
Betonfussboden erkälten sich die Ferkel, bekommen Magendarmkatarrhe. 
Also die Hauptursache ist unzweckmässige Wahl der Zuchtthiere und 
Treibhauspflege. Man verwendet jetzt leider zur Zucht feiner gebaute 
Schweine und Stallpflege. Die Jungscbweine wachsen unter den ge¬ 
nannten Schädlichkeiten auf, kommen nicht mehr auf die Brache, wo sie 
wühlen und Würmer, Larven und andere animalische Nahrung dabei sich 
suchen können. Diese Schweine haben weiche, leicht zerbrechliche 
Knochen, deren Ferkel aber werden bei ungeeigneter Pflege leicht rachi¬ 
tisch. Die Beseitigung dieser Krankheit ist nur möglich durch Aufzucht 
mit kräftigen Weideschweinen. Die Ställe müssen eine Lagerstätte aus 
Dielen haben mit dicker Strohschütte zum Warmhalten. Muttersau, 
Jungschweine und Ferkel müssen, sobald die Witterung es irgend er¬ 
laubt, auf die Weide geschickt werden. 

Dieses Beispiel beweist, dass die Rachitis bei jungen Thieren ent¬ 
steht durch Aufzucht unter nicht naturgemässen Bedingungen, wenn sie, 
anstatt im Freien aufzuwachsen, wo sie ihrem Naturtriebe entsprechend 
sich bewege» und ihre Nahrung aufsuchen können, in der verpesteten 
Luft enger, feuchtkalter, überfüllter Käfige aufwachsen, wo sie auch eine 
kräftigste Nahrung bei sorgsamer Auswahl der Zuchtthiere nicht vor 
der Erkrankung schützt. Die Fortpflanzung durch auf diesem Wege 
degenerirte Individuen und weitere Zucht unter denselben Bedingungen 
vererbt dann die Anlage zur rachitischen Erkrankung. Also ist die 
Rachitis eine Degenerationserscheinnng. 

In der folgenden Tabelle habe ich noch einmal kurz die bisher be¬ 
kannten Ursachen der Rachitis zusammengestellt nach der Theorie von 
Prof. Max Röll's primären und secundären Blutdyskrasien. 


Ursachen der Rachitis der Thiere. 

Zusammengestellt nach der Theorie von Herrn Prof. Max Röll über 
primäre und secundäre Blutdyskrasien. 


A. Ererbte Rachitis. 
Primäre Dyskrasie . . . 

" „ . . . 

n n . . . 

« n • 

Primäre und secundäre Dys¬ 
krasie 


Primäre und secundäre Dys¬ 
krasie 


Secundäre Dyskrasie . . . 


n » 

Primäre und secundäre Dys¬ 
krasie 


Primäre u. secund. Dyskrasie 

Primäre und secundäre Dys¬ 
krasie 

Primäre und secundäre Dys¬ 
krasie 


I. Ererbte Ursachen der Rachitis. 

1. Das Mutterthier ernährt sich während 
der Tragezeit mit kalkarmer Nahrung. 

2. Das Mutterthier trinkt während der 
Tragezeit kalkarmes Wasser. 

3. Das Mutterthier ernährt sich während 
des Säugens mit kalkarmer Nahrung. 

4. Das Mutterthier trinkt während des 
Säugens kalkarmes Wasser. 

5. Das Mutterthier lebt während der 
Tragezeit in einem ungesunden dun- 
kelen, feuchtkalten, schlecht gelüfteten 
Stall, nährt Bich schlecht und gebiert 
das Junge unter diesen schädlichen 
Einflüssen. (Beispiel: Winterlaramnng, 
Stallschweine. Gegenstück: Sommer- 
lammung, Weidesehweine.) 

6. Das Mutterthier säugtdas Junge unt. den 
sub 5 genannten Lebensverhältnissen. 

II. Die Eltern sind selbst schon 
degenerirt. 

1. Durch erbliche, infolge der sub I 1—6 
aufgezäblten Schädlichkeiten entstan¬ 
denen Rachitis. 

2. Durch Krankheitsdyskrasie (z. B. Tnber- 
culose). 

3. Durch Leben unter den sub I 1—5 ge¬ 
nannten Schädlichkeiten. 

4. Durch Leben in einem ungünstigen 
Klima, resp. durch menschliche Will¬ 
kür, aus Nützlichkeitsgründen, dem 
Naturgesetz der natürlichen Auslese 
entgegengesetzt, uragezüchtet. 

5. Durch Rassenkreuzung. 

III. Die Rasse ist schon degenerirt. 

1. Durch die sub I 1—6 angeführten 
Schädlichkeiten. 

2. Durch die sub II l—5 angeführten 
Schädlichkeiten. 


B. Erworbene Rachitis. 


Primäre Dyskrasie 


Tt * • . . 

Primäre u. secund. Dyskrasie 
Primäre Dyskrasie . . . 


n n ... 

Primäre und secundäre Dys¬ 
krasie 


Primäre Dyskrasie . . . 

Ti V ... 


Yl 1) 


Primäre und secundäre Dys¬ 
krasie 

Primäre und secundäre Dys¬ 
krasie • 

Primäre Dyskrasie . . . 

* n • 


Erworbene Ursachen der Rachitis. 

I. Durch Einfluss ungeeigneter 
N ahrung. 

1. Durch Einfluss der Muttermilch. 

a) Saugen bei Mutter mit kalk- und ei¬ 
weissarmer Milch. 

b) Saugen bei Mutter mit subjectiv nicht 
bekömmlicher Milch. 

c) Saugen b. Mutter mit Neigung zu Rachit. 

2. Durch Einfluss der Amme. 

a) Saugen bei Amme mit kalk- und ei¬ 
weissarmer Milch. 

b) Saugen bei Amme mit subjectiv nicht 
bekömmlicher Milch. 

c) Saugen bei Amme mit Neigung zu 
Rachitis. 

8. Durch Einfluss anderweitiger 
N ahrung. 

a) Grossfüttern mit kalkarmer Milch. 

b) Ungeeignetes kalk- u. phosphorsäure¬ 
armes Beifutter, Mehltränke etc. beim 
Säugen, resp. Grossziehen mit Milch. 

c) Ernährung auf schlechten Weiden 
mit kalkarmem Gras, mit kalkarmem 
Heu, Grünfutter oder Knollenfrüchten, 
Kartoffeln, Rüben. Küchenabfällen, 
Schlempe, Biertrebern etc. 

d) Kalkarmes Trinkwasser. 

4. Durch Erkrankung der Ver- 
dauungsorgane. 

a) Dnrch saure Nahrung erzeugt. 

b) Durch schlechtes Beifutter, Mehl¬ 
tränke etc. erzeugt. 

c) Durch Erkältung, z. B. im feucht¬ 
kalten Stall, auf Steinfussboden. 

5. Durch Krankbeitsdyskrasien, 
z. B. Tuberculose. 

6. Dnrch Einflüsse der Umgebung. 

a) Aufwachsen in der verpesteten Luft 
dunkler, schmutziger, feuchtkalter oder 
schlecht gelüfteter Ställe. 

b) Mangel an naturgemässer Bewegung¬ 
en Gelegenheit zur Erkältung in Ställen 

mit kaltem Fussboden. 


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19. April 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


347 


Ich habe mich sehr lange bei der Rachitis der Thiere aufgehalten. 
Ich hielt es aber für wichtig, hierüber ausführlich au berichten nach den 
mir erreichbar gewesenen Literaturquellen, da diese Thatsachen und 
Beobachtungen den Menschenärzten meist unbekannt sind. Sehr viele 
Analogien Anden sich mit den Ursachen der menschlichen Rachitis und 
Vieles ist in unseren Lehrbüchern in dieser Weise gar nicht mitgetheilt. 
Somit werden vielleicht meine Mittheilungen Anregung geben zur Wciter- 
torschung über die unaufgeklärten Ursachen der Krankheit und Ent¬ 
deckung derselben durch Beobachtung bei Thieren. Nur durch den Thier¬ 
versuch wird, wenn überhaupt, die Natur der Rachitis sich aufklären 
lassen. 

In einer demnächst erscheinenden Arbeit werde ich meine An¬ 
sichten und Schlussfolgerungen über die Rachitis des Menschen den 
Herren Collegen vorlegen und in dieser Arbeit obigen Vortrag wieder¬ 
holen, meine Vergleiche mit den Analysen der menschlichen Rachitis, 
meine Schlussfolgerungen für diese aus den Erfahrungen der Thierärzte 
aussprechen. 


Verein für innere Hedlcln. 

8itzung vom 5. April 1897. 

1. Hr. Magnus Lery legt die Präparate eines Falles von Vi-romegaiie 
vor, die von einer älteren Frau stammen, die nach mehrmonatlichem Kranken- 
lichera Krankenlager an Nephritis zu Grunde gegangen ist. An der 
Hypophysis fand sich ein maligner Tumor von über Wallnussgrösse. Eine 
Thymus war nicht vorhanden. Im Anschluss an diesen Fall erinnert 
Vortr. an die mannigfachen Aehnlichkeiten zwischen der Acromegalie 
und dem Morbus Basedowii sowohl im klinischen Bilde (gesteigerter 
Appetit, starke Schweisse, Polydipsie und Polyurie u. s. w.) wie in den 
Stoflwechselveränderungen. In beiden Erkrankungen ist der Stoffumsatz, 
an der Intensität des Gaswechsels gemessen, Uber die Norm gesteigert 
und Glycosurie kommt spontan wie alimentär vor. Hier wie dort han¬ 
delt 6B sich wahrscheinlich um anomale Drüsenfunctionen. 

Hr. A. Fraenkel: Bei der Pat. sind therapeutisch Hypophysis¬ 
tabletten in Anwendung gebracht worden. Es war danach eine Ab¬ 
nahme der Unförmigkeit der Finger zu constatiren. Auf Grund der 
neueren experimentellen Untersuchungen von Schiff u. A. ist eine 
analoge Function der Hypophysis und Thyreoidea sehr wahrscheinlich. 

2. Hr. I.ery - Dorn demonstrirt stereoskopische Röntgeubilder, 
welche die Gegenstände nach allen Dimensionen zu betrachten gestatten 
und dadurch z. B. die Bestimmung der Lage von Fremdkörpern er¬ 
leichtern. 

8. Hr. P. Rosenberg: Eine neue Methode der Bebandinng der 
Infectionskrankheiten, mit kurzer Besprechung einer neuen Me¬ 
thode der Conserrirung und der Deslnfection. 

Die Methode besteht in der Verwendung von Formaldehyd in methyl- 
alkolischer Lösung. Diese Art der Lösung des Formaldehyd ist von 
Wichtigkeit für seine Wirksamkeit; es unterscheide sich dadurch von 
dem wässrigen Formalin, wie auch Jodkali und Jodtinctur in ihrer Wir¬ 
kung sich unterscheiden. Formalin und die alkoholischen Formaldehyd¬ 
präparate (Holzin, Holzinol, Steriform) haben andere chemisch-physika¬ 
lische Eigenschaften. Bezüglich der Verwendung des F. zur Conservirung 
sind die Versuche noch nicht abgeschlossen. Jedenfalls aber seien die 
Einwände, die gegen die Nahrungsmittelconservimng mittelst F. gemacht 
worden sind, unberechtigt. Das Fleisch wird nicht, wie behauptet, stein¬ 
hart, denn das F. dringt nicht bis in die tieferen Muskelschichten. Vor 
dem Austrocknen wird es durch einen Gelatineüberzug geschützt. 
Weiterhin demonstrirt Vortr. den von ihm construirten kleinen Des- 
infeetionsapparat, mit dem er zunächst festgestellt hat, dass in einem 
desinflcirten Zimmer offen stehen gelassene Nährböden steril blieben, 
ferner Milzbrand-, Typhus- und Diphtheriebacillen, die an Seidenfäden 
angetrocknet waren, abgetödtet wurden, auch Keime, die in Kleidern, 
Daunen und Rosshaaren verborgen waren, abstarben, auch bei mehr¬ 
facher Einwickelung in Seidenstoffe, Flanell u. dergl. m. Die Desinfec- 
tionsversuche sind in der Kaiser Wilhelms-Academie nacbgeprüft und 
bestätigt worden. Mit der Wirksamkeit des Holzin kann sich keine 
andere Methode der Desinfection vergleichen. Die negativen Resultate 
anderer Autoren sind auf Versuchsfehler zurückzuführen. Gegen die 
innerliche Verabreichung des F. ist bisher immer die starke Aetzwirkung 
eingewendet worden. Vortr. hat es selbst genommen und vielen Kranken 
in den letzten sechs Monaten lange Zeit hindurch ohne jede Schädigung 
des Organismus gegeben. Selbst grössere Mengen sind ungiftig. Nach 
Einnahme des F. zeigt der Harn bacterientödtende Eigenschaften. Es 
muss also eine bactericide Substanz ins Blut übergegangen sein. Die 
frühere Angabe des Vortr., dass der Silberspiegel (Reduction von Arg. nitr.) 
die Existenz des F. im Harn beweise, Bei irrthümlich gewesen, da durch 
diese Methode auch andere reducirende Körper nacbgewiesen werden. 
Jetzt ist aber durch Dr. Leppin, Chemiker an der Kaiser Wilhelms- 
Academie eine neue Formaldehyd anzeigende Reaction gefunden worden, 
welche es noch in einer Verdünnung von 1 zu 10 Millionen nachweist. 
Dadurch ist der Uebergang des F. in den Harn zur Evidenz erwiesen. 
Die Misserfolge Anderer bei der internen Verabreichung sind auf zu ge¬ 
ringe Dosen zurückzuführen. Bei Maul- und Klauenseuche wurden über 
4 gr täglich den Thieren gegeben, schwer erkrankte Thiere bekamen 
bald wieder die Fresslust und nahmen an Gewicht zu. Bei Menschen 
hat R. das Formaldehyd bei Tuberculose, Erysipel und Diphtherie an¬ 


gewendet. Die Phthisiker wurden Anfangs mit Holzinoldämpfen be¬ 
handelt — die einzige Methode, um Medicamente in die tieferen Luft¬ 
wege hineinzubringen —, später bekamen sie Steriform innerlich. Das 
Fieber ging zurück, das Allgemeinbefinden wurde dauernd ein gutes, 
dementsprechend besserten sich die objectiven Veränderungen auf den 
Lungen. Die Patienten können oberflächlich athmen, was namentlich 
für die Nacht von Vortheil ist. Im Sputum ist ausnahmslos ein Zerfall 
der ßacterien zu constatiren, schliesslich gerinnt das Protoplasma in 
denselben. (Demonstration mittelst Projectionsbilder.) Weiterhin zeigt 
Vortr. einen Apparat zur Sterilisation von Instrumenten und Verband¬ 
stoffen mittelst Holzin innerhalb 15 Minuten. Mit einem Messer, das 
zur Incision einer Phlegmone benutzt und dann in diesem Apparat des- 
inficirt war, hat R., ohne es abzuwischen, ein Ganglion operirt und da¬ 
nach einen aseptischen Wundverlauf erreicht. Das Steriform besteht 
aus 5 pCt. Formaldehyd, 10 pCt. Chlorammonium, Milchzucker und 20 pCt. 
Pepton. 8ein Gebrauch bei Infectionskrankheiten verhindert schwere 
allgemeine 8epsls. 

Discnssion. 

Hr. H. Aronson will aus den durchweg zum Widerspruch heraus¬ 
fordernden Ausführungen des Vortr. nur einige Punkte herausgreifen. Die 
vom Vortr. zusammengesetzten Formaldehydpräparate sind keine neuen che¬ 
mischen Körper. Die Lösung in Methylalkohol giebt dem F. keine neuen 
Eigenschaften. Der Vergleich mit Jodkali und Jodtinctur ist hinfällig. 
Die Desinfectionsversuche des Vortr. sind gar nicht zu controliren, da 
er keine genauen Zahlenangaben gemacht hat. Dass das F. bei inner¬ 
licher Darreichung in den Harn übergeht, hat A. selbst schon vor 
mehreren Jahren mittelst fuchsin-schwefliger Säure nachgewiesen. Die 
klinischen Beobachtungen des Vortr. Bind ausserordentlich dürftig. Die 
Wirksamkeit bei Tuberculose hätte erst am Thier bewiesen werden 
müssen, A. selbst hat vor Jahren vergebliche Versuche in dieser Hin¬ 
sicht gemacht. Die temperaturherabsetzende Wirkung des F. z. B. bei 
Erysipel hätte an der Hand von Curven demonstrirt werden müssen. 
Der körnige Zerfall der Tuberkelbacillen, wie überhaupt Veränderungen 
in der Färbbarkeit derselben beweisen garnichts. Das Steriform ist ein 
ganz uncontrolirbares Gemisch von Substanzen. Die Maul- und Klauen¬ 
seuche heilt meist spontan. 

Hr. Burghart: Auf der Leyden'sehen Klinik sind von sämmt- 
lichen Assistenten Versuche mit Holzinol und 8terisol gemacht worden, 
von allen aber mit Entrüstung wieder aufgegeben worden. Es sind 
scheussliche Präparate, die von den Meisten schlecht vertragen werden, 
eine temperaturherabsetzende Wirkung nicht haben, vielmehr die Wider¬ 
standsfähigkeit des Kranken brechen und bei längerem Gebrauch collaps- 
ähnliche Zustände hervorrufen. Fiebernde Phthisiker, die mit Sterisol 
behandelt werden, kommen früher ins Grab. Auch bei Diphtherie und 
Erysipel hat das Mittel keinerei gute Wirkung. * 

Hr. Karewski erhebt Einspruch gegen die Schlussfolgerung, die 
der Vortr. aus dem Verlauf der von ihm berichteten Operation gezogen 
hat. Bei der Zimmerdesinfection reizt das F. alle Schleimhäute, so 
dass man sich in seiner Atmosphäre gamicht aufhalten kann, Wunden 
reizt es gleichfalls stark. Für therapeutische Versuche ist das F. voll¬ 
kommen unbrauchbar. 

Hr. P. Rosenberg sucht die Einwände der Vorredner zu wider¬ 
legen und verweist auf seine demnächst erscheinende ausführlichere Publi- 
cation. Das 8terisol hat er wieder aufgegeben und verwendet statt 
dessen das Steriform, das absolut geschmacklos ist. Die Wirksamkeit 
dieses Mittels bei Erysipel ist dadurch erwiesen, dass keiner der damit 
behandelten Fälle länger als 5 Tage gefiebert hat. 


Aerztlicher Verein zn Hamborg. 

Sitzung vom 80. März 1897. 

Vorsitzender: Herr Dr. Kümmell. 

Hr. Jessen stellt eine Kranke vor, bei der seit 4 Monaten diph¬ 
therische ProcesBe im Rachen bestehen. Anfang December 1890 
erkrankte die Patientin zuerst mit Belag auf dem rechten Gaumenbogen. 
Es wurden virulente Lö ff 1 er'sehe Bacillen nachgewiesen. Die diphthe¬ 
rischen Processe sind jetzt noch nicht aus dem Rachen verschwunden, 
allmählich ist es zu hyperplastiscben Processen an der Rachenscbleim¬ 
haut gekommen. Es handelt sich um einen jener seltenen Fälle, die 
als prolongirte Diphtherie bezeichnet werden. Locale, medicamentöse 
und Serumbehandlung waren ohne Erfolg. 

Hr. Aly demonstrirt ein durch Nephrectomie gewonnenes 
Nierenpräparat. Es handelte sich um eine durch Steinbildung ent¬ 
standene linksseitige eitrige Pyelonephritis. Von besonderem Interesse 
ist, dass es mit Hülfe des Rose'sehen Verfahrens sicher gelaDg, sich 
von dem gesunden Zustande der rechten Niere zu überzeugen. Man 
konnte deutlich aus dem rechten Ureter den Harn in rhythmischem 
Strahl vollkommen klar hervorquellen sehen. Die Untersuchung des¬ 
selben ergab nichts Abnormes. Aus dem linken Ureter entleerte sich 
tropfenweise Eiter. Die exstirpirte Niere war von Narbengewebe durch¬ 
setzt, das noch herdweise frischere Entzündungsherde neben mehreren 
älteren über haselnusBgrossen Abscessen zeigte. Functionsfähiges Pa¬ 
renchym enthielt die exstirpirte Niere nicht. 

Hr. Lenhartz stellt einen Fall von geheilter Perforationsperi¬ 
tonitis vor, die Bich bei einem 25jährigen Mädchen im Anschluss an 


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348 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT, 


No. 16. 


ein Magengeschwür entwickelt hatte. Die Heilung glaubt Herr L. zum 
guten Theile der eingescblagenen Behandlung zuschreiben zu dürfen, die 
ihm für ähnliche Fälle nachahmungswerth erscheint. Vortragender ging 
von der Idee aus, dass in erster Linie die völlige Ruhestellung des 
ganzen Magendarmcanales geboten und daher die Einführung selbst ge¬ 
ringfügiger Mengen durch Mund oder After streng zu vermeiden sei. — 
Diese völlige Entziehung ist aber nur dann durchführbar, wenn man für 
die genügende Gefäss- und Herzfüllung sorgt, zumal in einem Falle, 
wie dem vorgestellten, wo Facies hippocratica und unfühlbarer Radial¬ 
puls vorhanden waren. Herr L. verordnete daher ausser der absoluten 
Enthaltung jeglicher Nahrungszufuhr grosse Dosen Opium und 2—3mal 
wiederholte subcutane Infusionen von physiologischer Kochsalzlösung, 
die in Einzelmengen von 300—500 ccm gegeben wurden. Es wurde 
nicht nur das Leben erhalten, sondern auch das Durstgefühl völlig ge¬ 
stillt oder verhindert, und eine bemerkenswerthe Diurese unterhalten, 
die jedenfalls bei der Ausscheidung übler, bei der Peritonitis stets ver¬ 
mehrter Giftkörper bedeutungsvoll ist. 8 Tage lang erhielt die Kranke 
nur Kochsalzwasser, in den folgenden noch einige Infusionen (im Ganzen 
16 700 ccm) neben anderen Flüssigkeiten. — Ein subphrenischer Abscess, 
der sich links ausgebildet hatte, liess bei der Probepunction sowohl im 
Epigastrium, wie in der linken Seite stinkenden Eiter wahrnehmen. 
Durch die wenig ausgiebige Incision und Drainage im VIII. Intercostal- 
raume, die eine zarte Narbe hinterlassen hat, wurde genügender Abfluss 
und völlige Heilung erzielt. Die Kranke hat dann vorübergehend noch 
eine leichte Herderkrankung in der Gegend des Typhlon dargeboten, die 
aber ohne Eiterung ablief. Dann folgte gleichmässig fortschreitende 
Genesung. Das Gewicht der Kranken hat von 38 auf 50 kgr zuge¬ 
nommen. 

Hr. Unna zeigt einen neuen wasserlöslichen Firniss, der aus 
Traganth und überhitzter Gelatine besteht und den Zusatz der verschie¬ 
densten Arzneistoffe selbst in grösseren Mengen gestattet (u. a. Salicyl- 
säure bis zu 30 pCt.). Diese Firnisse sind äusserst leicht und fein ver- 
streichbar, sie trocknen leicht, gestatten eine saubere Anwendung und 
sind sehr billig. — Ferner zeigt er eine Anzahl Pflastermulle, wobei es 
sein Bestreben war, sie hautfarbener zu gestalten, als sie jetzt sind. Es 
gelang dieB, indem auf die mit einer dünnen Schicht vulcanisirten Kaut¬ 
schuks überzogenen Stoffe das Medicament mit Zusatz eines Harzes aus¬ 
gebreitet wurde. 

Hr. Wiesinger bespricht eine von Jonnesko angegebene Modi- 
fleation in der Technik der Anwendung des Murphy’sehen KnopfeB, 
welche bestimmt ist, gewisse technische Mängel der früheren Anwendung 
zu beseitigen. Die von Jonnesko zunächst nur an einer Anzahl von 
Hunden erprobte Methode, ist vom Vortragenden auch beim Menschen 
als zweckmässig befunden worden. Das Eingehen mit den Fingern in 
den Magen resp. Darm, um den Knopf zu schliessen, könnte vom streng 
antiseptischen Standpunkte aus, Anstoss erregen; jedoch lässt sich dieser 
Nachtheil leicht ausgleichen, indem man diese Compression einem Assi¬ 
stenten überlässt. 

Hr. Lenhartz hält den angekündigten Vortrag über Varicellen 
bei Erwachsenen. 

Vortragender giebt zunächst eine kurze Uebersicht über die in 
Lehrbüchern und sonstigen Veröffentlichungen niedergelegtcn Ansichten 
betreffs des Vorkommens der Windpocken bei Erwachsenen und betont, 
dass sich bisher wohl alle maassgebenden Autoren darüber in vernei¬ 
nendem Sinne ausgesprochen haben. Während Henoch und Für¬ 
bringer ausdrücklich hervorheben, dass sie selbst niemals Varicellen 
bei Erwachsenen gesehen hätten, und Jürgensen den Rath ertheilt, 
alle derartigen Fälle jenseits der Pubertät als Pocken anzusehen und 
zu behandeln, sieht Senator gleich Thomas die Immunität der Er¬ 
wachsenen gegen Varicellen geradezu als differential diagnostisches 
Zeichen an. In den Lehrbüchern wird die Frage meist umgangen. Nur 
von E. Li pp fand L. 5 Fälle erwähnt, die bei Erwachsenen beobachtet 
wurden. 

Bei dieser Sachlage erscheinen die Beobachtungen des Vortragenden 
von besonderem Interesse. Er berichtet über 8 Fälle, worunter 4 Er¬ 
wachsene. Wichtig ist der Umstand, dass einer von diesen sicher mit 
der Erkrankung bei 8 Kindern zusammenhängt. Die übrigen 3 Beob¬ 
achtungen bei den Erwachsenen kamen unabhängig von einander vor. 

Sämmtliche Erwachsene zeigten ein Exanthem, das über den ganzen 
Körper verbreitet war, bei zweien auch die Schleimhäute betraf, und 
alle Charaktere eines Pockenausschlages darbot: Pusteln mit stark ge- 
röthetem Hofe und Borkenbildung. 

Bei allen Kranken gingen 2—4 tägige Prodrome voraus und war 
Fieber vorhanden; alle klagten über Kopf- und Kreuzschmerzen. Bei 
dem ersten Fall, den L. sah und der sicher mit der Erkrankung dreier 
Kinder zusammenhing, trat in der Nacht vom 5.-6. Krankheitstage 
plötzlich von Neuem hohes, mit Schüttelfrost eingeleitetes Fieber auf, 
das 24 Stunden anhielt. 

Alle Erwachsenen zeigten ziemlich starke Schwellung der Leisten¬ 
drüsen und drei deutlichen, fühlbaren Milztumor. Zwei machten einen 
schwerkranken Eindruck und waren absolut unfähig, ausser Bett zu sein; 
die anderen ebenfalls sichtlich angegriffen und bettlägerig. 

Bei 3 Erwachsenen blieben an vielen Stellen gerippte und gekörnte 
Narben zurück. 

Die Differentialdiagnose blieb in allen Fällen äusserst schwierig und 
zum Theil der Willkür überlassen; indess glaubt Vortragender, dass es 
sich wohl bei allen seinen Fällen um Varicellen gehandelt hat. Nicht 
die Art des Ausschlags, nicht der Verlauf und der allgemeine Krank¬ 


heitseindruck können diagnostisch helfen — es ist lediglich die Berück¬ 
sichtigung der Irapfverhältnisse. 

Die erste Kranke war infleirt von 2 Knaben, di6 vor 4 bezw. 
6 Jahren erfolgreich geimpft waren und in 18 tägigem Zwischenraum 
nach einander erkrankten. Die Frau war selbst nicht wiedergeimpft. 
Ei erkrankte aber auch ihr l 1 /, jähriges Kind, das wenige Monate zuvor 
erfolgreich geimpft war, und was wohl mit am wichtigsten ist, sie selbst 
wurde unmittelbar nach Ablauf ihrer eigenen Krankheit mit Erfolg ge¬ 
impft. Weitere Erkrankungen der Umgebung blieben aus. Die Mutter 
der ersten beiden Knaben aber wurde ebenfalls erfolgreich geimpft 
Unter diesen Umständen ist man wohl berechtigt, die Blattern auszu- 
schliessen und Windpocken anzunehraen. 

Nicht ganz so klar liegen die Verhältnisse bei den anderen Erwach¬ 
senen. Wohl aber spricht die Thatsacbe für die Varicellendiagnose, dass 
ein Arzt und eine Pflegerin, die mit dem einen Kranken in Berührung 
kamen und erst 3 bezw. 6 Tage später geimpft wurden, deutliche Impf¬ 
pusteln zeigten, trotz ihrer Empfänglichkeit also nicht angesteckt wurden. 

Nachdem Vortragender noch den Standpunkt der Unitarier und die 
bemerkenswerthe Beobachtung Hochsinger’s berührt hatte, bespricht 
er noch die Möglichkeit durch den Impfversuch beim Kalb solche frag¬ 
lichen Fälle zu klären. Leider verspricht er sich nicht viel davon, da 
bisher fast alle derartigen Thierversuche mit sicherer Pockenlymphe 
fehlgescblagen sind. 

Betreffs der Prophylaxe scheint es dem Vortragenden geboten, alle 
sporadischen Fälle bei Erwachsenen als Pockenfälle zu behandeln und 
die dementsprechenden Vorkehrungen (Absonderung, Impfung der Um¬ 
gebung) zu treffen. 

Hr. Rumpel hat eine grössere Reihe Pockenkranker gesehen. Er 
erwähnt besonders einen russischen Auswanderertrupp, bei dem gleich¬ 
zeitig Variola, Variolois, Varicellen und Masern vorkamen. 

Es ist unmöglich aus der Form des Exanthems die Diagnose zu 
stellen. Als differentielles Merkmal betont R., dass mehrtägige Prodrome 
bei den Varicellen nicht Vorkommen. Den ersten Fall des Vortra¬ 
genden würde R. als Variola anseben, wegen der vorhandenen Prodrome. 
Er erwähnt eine Beobachtung, nach der ein an echter Variola leidender 
Kranker von seiner prophylaktisch geimpften Frau täglich Besuch em¬ 
pfing. Am 14. Tage erkrankte die Frau mit Schüttelfrost, Fieber voz 
40°. Das Fieber fiel am 42. Tage ab. Es kamen nur ca. 4 Pusteln 
im Gesicht und auf dem behaarten Kopfe zur Entwickelung. Der Fall 
wurde als Variolois betrachtet. So leicht er war, hatte er doch schwere 
Prodrome. 

Hr. Voigt: Nach dem Exanthem kann man die Fälle nicht unter¬ 
scheiden. Wichtig sind die Prodrome, ferner das Eiterfieber, das bei 
Variola nie ganz fehlt, und der charakteristische Geruch der Pocken. 

Der Versuch vom Kranken auf Kälber abzuimpfen, kommt fast 
immer zu spät, und es gelingt nur ausnahmsweise Variola in Vaccine 
urazuwandeln. Die Fälle von Hochsinger sind vielleicht Mischfllle 
von Variola und Varicellen gewesen. 

Hr. Unna: Bei Erwachsenen kommen keine Varicellen vor. Es ist 
leichter, anzunehmen, dass sich die Variola in allen Stufen abschwächt, 
als dass der Charakter der Varicellen ein ernsterer wird. Er würde die 
Fälle des Vortragenden als Pocken ansehen. 

Hr. Bülau fragt, ob die erste Kranke später Eiterfleber gehabt 
habe. Die Prodrome Bind schwer bei Variola. Im Allgemeinen sind 
die Variolapusteln im gleichen Entwickelungsstadium. 

Auch Masern kommen bei Erwachsenen vor, aber sie treten danu 
heftiger auf als bei Kindern. 

Er möchte die Fälle des Herrn L. als Varicellenfälle von besonderer 
Schwere ansehen. 

Hr. Lenhartz dankt für die lebhafte Discussion. Die Schwierig¬ 
keiten bestehen aber fort. Die anfänglich erwähnte Dame wurde nach¬ 
träglich geimpft, es hat sich nur eine Pustel entwickelt. Der sie be¬ 
handelnde Arzt impfte sich am zweiten Tage, nachdem er die Frau in 
Behandlung genommen hatte, mit Erfolg. 

Dass die Varicellen keine Prodrome hatten, bezweifelt Herr L., sie 
können sogar recht heftig auftreten. 

Andererseits darf man bei mildestem Verlaufe der Krankheit Va¬ 
riolois nicht ausschliessen, wie der von Herrn Rumpel erwähnte Fall 
beweist. L. 


VII. Achtzehnter Balneologen-Congress 
zu Berlin. 

(Fortsetzung.) 

Hr. Eulenburg-Berlin: Ueber Bewegungstherapie bei Ge* 
hirn- und Rückenmarkskrankheiten. Der Vortragende weist 
darauf hin, dass immer mächtiger und nnwiderstehlicher die Strömung 
anwächst, die auf eine bessere Unterweisung der Mediciner in den so¬ 
genannten physikalischen Heilmethoden und auf deren ausgedehntere 
Verwerthung in der ärztlichen Praxis hindrängt In erster Reihe be¬ 
ziehen sich diese Bestrebungen auf die Hydrotherapie, zu deren Gunsten 
auch schon Manches erreicht ist; dagegen wird die Bewegungstherapie 
— Kinesiotherapie —, d. h. Heilgymnastik und Massage noch bei Weitem 


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19. April 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


349 


sicht ihrem vollen Werthe nach gewürdigt und muss sich besonders auf 
den einzelnen Gebieten der inneren Uedicin, z. B. dem der Herzkrank¬ 
heiten, unter grossen Schwierigkeiten und Kämpfen nach und nach durch¬ 
setzen. Noch mehr gilt dies auf dem Gebiete der Nervenkrankheiten. 
Allerdings wird es jct*t zur Methode, Neurasthenische an den Zand er¬ 
sehen Apparaten Oben und allerlei mehr oder minder unzweckmässigen 
Sport treiben zu lassen; dagegen wird die Anwendung der Kinesiotherapie 
bei den schwereren organischen Gehirn- nnd Rückenmarkskrankheiten 
noch viel zn wenig beachtet, obgleich auch hier bei zweckentsprechen¬ 
der und vorsichtiger Behandlung oft schöne Resultate zu erwarten sind, 
wie £. selbst schon in der heilgymnastischen Austalt seines Vaters vor 
mehreren Decennien gesehen hat. Redner verbreitet sich im Einzelnen 
über die Anwendung der Kinesiotherapie bei Circulationsstörungen in 
der Schädelböhle — Gehirnhyperämien und Anämien — und bei zu 
fürchtender Gehirnblutung, sowie bei den nach Blutungen nnd nach 
anderweitigen Gebirnerkrankungen so häufig zurückbleibenden einseitigen 
Lähmungen, bei denen in der Regel nur ein Theil der Muskeln an¬ 
dauernd und vollständig gelähmt ist, während die übrigen ihre Function 
entweder von vornherein bewahren oder bald wieder erlangen. Bei den 
sieb hieraus ergebenden Störungen des Muskelgleichgewichts kann eine 
zweckentsprechende Bewegungstherapie besonderen Nutzen stiften, nament¬ 
lich, weil in den sogenannten Widerstandsbewegungen der schwedischen 
Heilgymnastik ein vorzügliches Mittel zu Gebote steht zur Betätigung 
einzelner Muskeln und Muskelgruppen ohne gleichzeitige Heranziehung 
der Antagonisten. E. verbreitet sich weiter über die von ihm schon 
längst geübte, neuerdings durch Frenkel als Compensationstherapie be¬ 
kannt gewordene Behandlung der Coordinationsstörungen, wie sie nament¬ 
lich bei Tabes dorsalis Vorkommen, und schloss mit einem Appell an 
die Aerzte, sich mit den leitenden Principien und der Technik der Be¬ 
wegungstherapie besser vertraut zu machen, wozu freilich eine geeignete 
Anleitung in unmittelbarem Anschluss an den klinischen Unterricht er¬ 
forderlich sein würde. 

An der lebhaften Discussion betheiligen sich dieHerren Kisch, Schott, 
Jacob, Gräupner, Frey, Kalischer, Winternitz, Euienburg. 

Hr. Kraus-Kaltenleutgeben: Albuminurie und Hydrotherapie. 
Die Albuminurie als solche bildet im Allgemeinen keine Gegenanzeige 
für die Hydrotherapie im weiteren Sinne des Wortes, es entscheidet 
vielmehr der diesem Symptom zu Grunde Hegende pathologische Zustand 
der Nieren, inwieweit hydriatische Eingriffe zulässig sind. Bei febriler 
Albuminurie sind selbst bei Anwesenheit von Formelementen aus der 
Niere kühle Bäder zulässig, wenn die schweren Allgemeinerscheinungen 
einer intensiven Infection eine derartige die Wehrkraft des Organismus, 
den Blutaustausch innerhalb der Niere und die Diurese fördernde The¬ 
rapie erfordern. Ueber die Wahl des Kältegrades entscheidet die 
Reactionsfähigkeit des Individuums. — Bei acuter und subacuter paren¬ 
chymatöser Nephritis auf toxischer oder postinfectiöser Basis, ferner bei 
der Nephritis a frigore bewähren sich heisse Bäder in allen Formen, 
um durch Anregung der Wasserausscheidung durch die Haut die ent¬ 
zündete Niere zu entlasten, während die strenge Milchdiät vom hygie¬ 
nisch-diätetischen Gesichtspunkte aus der möglichst tbunlichen Schonung 
des erkrankten Organs entspricht. Beim Uebergang dieser Formen in 
einen chronischen Zustand lässt sich vom theoretischen und erfahrungs- 
gemässeu Standpunkte gegen die eventuelle Anwendung von warmen 
Proceduren nichts einwenden, wenn der Entzündungsprocess stillsteht 
und die Nieren sich in einem Zustande relativer CompenBation befinden 
und gewisse begleitende Krankheitserscheinungen eine derartige Behand¬ 
lung indiciren, wobei jedoch eine peinliche UeberwachuDg des Kranken 
geboten ist. Am allerwenigsten erregt es Bedenken, bei vorhandener 
primärer Schrumpfniere eine hydriatische Behandlung im weiteren 8inne 
des Wortes einzuleiten, insbesondere in den Fällen, welche wie die 
Gichtniere und die arteriosklerotische Niere auf Störungen des Gesaromt- 
organismus zurückzuführen sind. Redner glaubt sogar durch günstige 
Beeinflussung vorhandener Stoffwechselstörungen, durch Besserung der 
Circulationsverbältnisse etc. bis zu einem gewissen Grade den Forde¬ 
rungen einer Indicatio cansalis entgegenzukommen. — Stauungsalbuminurie 
ist, weil kein Entzündungssymptom vorhanden, keine Gegenanzeige für 
vorsichtige Kälteappllcation, welche bei richtiger Anwendung in vielen 
Fällen von Compensationsstörungen grossen Nutzen leistet. HerzBchläuche 
und kühle Waschungen bewähren sich durch ihre stimulirende Wirkung 
oft in den verzweifelsten Fällen und ergänzen in glücklicher Weise die 
Heilwirkung der Digitalis. Im Allgemeinen entscheidet die Erfahrung 
und die Analyse des zugrundeliegenden pathologischen Processes, inwie¬ 
weit bei der vorhandenen Albuminurie die hydriatische Behandlung an¬ 
gewandt werden darf. 

An der DiscuBsion betheiligen sich die Herren Keller, Albu, 
Munter, Kraus. 

Hr. Joseph-Landeck: Beitrag zur Symptomatologie der 
Neurasthenie. Die Symptome der Neurasthenie müssen in zwei 
Gruppen gelheilt werden, in constante und wesentliche und ferner in 
temporäre oder accessorische. Erstere bilden das eigentliche Krankheits- 
bild und die Symptomen-Trias: Schwäche, Schmerzen und Schlaflosig¬ 
keit. Die Schwäche ist entweder eine motorische oder eine psychische, 
welche letztere sich als Gedächtnisschwäche, gedrückte Stimmung und 
verminderte intellectuelle Leistung kundgiebt. Die Schmerzen sind 
neuralgiforme und befallen den ganzen Körper in ganz unregelmässiger 
Weise, sie kommen anfallsweise und intermittiren Tage und Wochen. 
Die Schlaflosigkeit ist keine ganz vollständige, sondern charakterisirt 
sich durch wilde Träume und geringe Intensität, so dass die Kranken 


sehr leicht erwachen. Die inconstanten Symptome werden auf allen 
Gebieten des Nervensystems ausgelöst und gehen und verschwinden und 
fehlen auch ganz. 

Hr. Vollmer-Kreuznach: Chlorcalcium und seine Ver¬ 
wendbarkeit in Bädern und Trink wässern. Der Vortragende 
berichtet über Untersuchungen Uber den Einfluss der stark chlorcalcium¬ 
haltigen Kreuznacher .Mutterlaugenbäder auf den Stoffwechsel. An der 
Hand von Tabellen, die über die Urinmenge, das speciflsche Gewicht, 
den Durchschnittsgehalt an Chlor und Kalk innerhalb 24 Stunden im 
Harne von SO jährigen, gesunden Männern, welche Kreuznacher Bädern 
und zur Controle auch Süsswasserbädern ausgesetzt wurden, Aufschluss 
gaben, legte er dar, dass beim Baden in Süsswasser nicht nur der Chlor¬ 
gehalt des Harns um ein Beträchtliches sinkt, sondern auch der Kalk¬ 
gehalt; dass dagegen bei warmen Mutterlaugenbädern sowohl die Chlor- 
al8 die Kalkproduction um ein Bedeutendes steigt. Es ist an diesen 
beiden Harnbestandtheilen leicht darzulegen, dass in der That den Sool- 
bädern und speciell den chlorcalciumhaltigen Kreuznacher Mntterlaugen- 
bädern ein grosser Einfluss auf den Stoffwechsel zugeschrieben werden 
muss. V. ist geneigt, gerade dem Chlorcalcium, dessen stark wasser¬ 
anziehende Eigenschaften bekannt sind, einen besonderen und thera¬ 
peutisch zu verwerthenden Einfluss zuzuweisen. Die Untersuchungen 
machten eine Resorption von Kalkbestandtheilen durch die Haut un¬ 
wahrscheinlich. Die Steigerung der Salzproduction wird auf reflectori- 
schem Wege durch die Hautnerven bedingt. 

An der Discussion betheiligen Bich die Herren Lindemann, 
Wegele, 8chott, Frey, Vollmer. 

Hr. Weise-Pistyan: Zur Frage der Arthritis deformans. 
Vortragender kommt auf GruDd der Literatur und seiner im Schwefel¬ 
schlammbad Pistyan in Oberungarn gemachten Erfahrungen zu dem 
Schlüsse, dass es praktisch nicht möglich sei, die Formen der soge¬ 
nannten Arthritis deformans mit unbekannter Aetiologie vom chronischen 
Gelenkrheumatismus zu trennen. Aetiologisch ist ja kein positives, 
differentialdiagnoslisches Moment bekannt; klinisch kann man weder auf 
Grund der äusseren Formen der Deformationen, noch auf Grund sonstiger 
Ereignisse im Verlaufe der Krankheit einen sicheren Unterschied zwischen 
chronischem Gelenkrheumatismus und Arthritis deformans erkennen. Die 
totale Ankylose, deren Mangel nach der Ansicht vieler Chirurgen für 
die Arthritis deformans geradezu charakteristisch ist, ist auch beim 
chronischen Gelenkrheumatismus ausserordentlich selten und wenn vor¬ 
handen, meist aus dem aenten Stadium herrührend. Die Argumente für 
die neuropathische Selbstständigkeit der Arthritis deformans sind unzu¬ 
länglich; auch die vielbetonte Symmetrie der Gelenkaffectionen hat für 
eine nervöse Basis eben so wenig Beweisendes, als eine gleichzeitige 
Affection anderer paariger Organe. Au« den Ausführungen der Ana¬ 
tomen gehr ferner hervor, dass sich auch die Knorpel- und Knochenver¬ 
änderungen nicht als kategorisches Dogma für Arthritis deformans und 
gegen chronischen Gelenkrheumatismus aufstellen lassen. Auch in der 
prognostischen Aussage liegt kein principieller Unterschied. W. betont, 
dass es bei deformierenden Gelenkerkrankungen oft noch in schweren 
Fällen gelingt, mit Hülfe von Schwefelschlammbädern nebst anderen 
Curproceduren wesentliche Besserungen zu erzielen. 

Hr. Wegeie-Königsbom: Ueber den Werth der chemischen 
Untersuchung der Magen Verdauung für die Diagnostik nnd 
Therapie der Magen- und Darm erkrankungen. Redner erörtert 
zunächst die Ursachen, aus denen sich in manchen Kreisen eine Unter¬ 
schätzung der chemischen Untersuchungsmethoden entwickelt hat und 
sucht die Unhaltbarkeit dieser Anschauung darzulegen. Wenn auch bei 
motorischer Insufflcienz des Magens die Wiederherstellung der Motilität 
auf mechanischem oder chirurgischem Wege für die Ernährung das 
wichtigste Moment ist, so ermöglicht doch eine gleichzeitigesorgfältige 
Untersuchung der Secretionsverhältnisse mit ziemlicher Wahrscheinlich¬ 
keit die Differentialdiagnose zwischen benigner und maligner Ursache 
des Leidens und ist besonders für die frühzeitige Krebsdiagnose und 
eventuelle Krebsheilung auf chirurgischem Wege von Werth. Aber 
auch für die mechanische Behandlung der Motilitätsstörungen muss wegen 
der antiseptischen und antaciden Zusätze zum Spülwasser, der Verord¬ 
nung von antaciden Medicamenten, der Regelung der Diät und Anpassung 
der letzteren an den Verdanungsbefund der voraus gegangenen Fest¬ 
stellung der gesteigerten Saftsecretion eine gewisse Bedeutung zuge¬ 
sprochen werden. Die günstige Wirkung einer den Befund der Saft¬ 
secretion des Magens berücksichtigenden Diagnostik und Therapie er¬ 
streckt sich aber auch auf die Darmverdauung, indem Beseitigung der 
Hyperacidität und Magenatonie auch günstig auf die fast immer damit 
verbundene Darmatonie zu wirken pflegt. Noch werthvoller ist der Nach¬ 
weis des Zusammenhangs chronischer Diarrhöen und Anacidität des 
Magens, indem für entsprechende Diätverordnung, Mineralwassergebrauch 
und Salzsäuremedication der schädliche Einfluss der Salzsänreinsufficienz 
paralysirt werden kann. Auch die nervöse Dyspepsie kann nur durch 
Ausschluss eines organischen Magenleidens diagnosticirt werden, da die 
begleitenden, nervösen Allgemeinerscheinungen auch als Folge der Unter¬ 
ernährung anftreten können. Die Gastralgien Anämischer und Chloroti- 
scher sind sehr häutig mit Hyperacidität verbunden und erfordern dann 
keine Salzsäuremedication. Die chemischen Untersuchungsmethoden sind 
daher von grossem Werth, wenn sie natürlich auch nur in Verbindung 
mit der Untersuchung der übrigen Magenfunctionen und der anderen 
Körperorgane zu verwerthen sind. 

An der Discussion betheiligen sich die Herren Lindemann, Pa¬ 
riser, Wegele. 


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350 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCITRIFf. 


No. 16. 


Hr. A. Baginsky-Berlin: Zur Hygiene der Bassinbäder. 
Redner hat schon im vorigen Jahre über die Verhältnisse der ßassin- 
bäder mit besonderer Berücksichtigung der Berliner Anstalten in dem 
Verein für öffentliche Gesundheitspflege gesprochen. Seitdem hat er die 
damals begonnenen Untersuchungen im Laufe des Sommers mit Unter¬ 
stützung seines Assistenten im Kaiser nnd Kaiserin Friedrich-Kinder¬ 
krankenhaus, Dr. Sommerfeld, fortgesetzt. — Dieselben waren im 
Wesentlichen darauf gerichtet, zu prüfen, inwieweit das Wasser durch 
Badebenutzung von Mikroorganismen verunreinigt wird. Es stellte sich 
bei diesen Untersuchungen zunächst das überraschende Resultat heraus, 
dass, wenn dem Bassin einer sonst überaus sorgfältig geleiteten Anstalt 
das nahezu keimfreie, aus Tiefbrunnen entommene Wasser zugelcitet 
wird, dasselbe schon vor der Benutzung durch Badende im Bassin mit 
Keimen nnd zwar solchen pathogener Natur verunreinigt wird. Es sind 
also die Bassins mit den gewöhnlichen Mitteln und unter den gewöhn¬ 
lichen Verhältnissen nicht hinlänglich zu reinigen. Die weiteren Unter¬ 
suchungen ergaben alsdann eine mit der Zahl der Badenden und derZeitdauer 
der Verwendung des Badewassers steigende Verunreinigung durch Keime, 
darunter besonders B. coli, aber auch Proteus vulgaris, Kokken und Hefe¬ 
formen. Das Verhältniss wurde einigermaassen dadurch verbessert, dass 
das Badewasser stetig durch neues bis zu einem gewissen Grade ersetzt 
wird, indess ist auch hier die Zunahme der Keime nicht unbeträchtlich. 
B. will mit der Studie nur die Anregung zu weiteren Untersuchungen 
auf diesem Gebiete gegeben haben. Die Badeärzte, die Badedirectionen 
und in grösseren Städten die Sanitätsbehörden werden über die Verhält¬ 
nisse der Badeanstalten zu wachen haben. Im Uebrigen verweist 
Redner bezüglich der nothwendigen Verbesserungen auf den Bchon früher 
gehaltenen, in Brochürenform erschienenen Vortrag. 

An der Discussion betheiligen sich die Herren Kisch, Weisz, 
Fellner, Joseph, Lindemann, Siebelt, Römpler, Martini, 
Schliep, Baginsky. 

Hr. Immelmann-Berlin: Der gegenwärtige Stand der 
Behandlung der AthmungHorgane mittelst verdichteter und 
verdünnter Luft. Die Pneumatotherapie bezweckt durch künstliche 
Veränderung der Dichtigkeit der Athmungsluft heilend auf die Er¬ 
krankungen der Athmungsorgane einzuwirken. Diese Veränderung, die 
in Verdichtung und Verdünnung besteht, kann entweder auf den ganzen 
Körper einwirken — in den pneumatischen Cabinetten — oder nur local 
auf die Athmungsorgane mittelst der sogenannten transportablen pneu¬ 
matischen Apparate. Nur diese letzteren will Redner' der näheren Be¬ 
sprechung unterziehen. — Die jetzt angewendeten Apparate haben den 
Vortheil, dass man während der Sitzung Verdichtung und Verdünnung 
der Luft beliebig verändern kann, so dass jeder unvermittelte Uebergang 
vermieden wird. — Die Wirkung der Einathmung von comprimirtcr Luft 
ist zunächst eine mechanische, indem sie Thorax und Lungen erweitert 
nnd die In- und Exspirationskraft steigert. Man kann sich durch die 
Auscnitation während der Sitzung davon überzeugen, dass Lungenbezirke, 
die sich früher nicht an der Athmung betheiligten, dies jetzt thun. 
Durch diese Vergrössernng der Athemflächc findet alsdann eine vermehrte 
Sauerstoffaufnahme statt, die wiederum eine Aufbesserung der Consti¬ 
tution des Patienten zur Folge hat. Endlich wirkt sie durch den Druck 
auf die Schleimhäute antihyperämisch und antikatarrhalisch. — Die Aus- 
athraung in verdünnte Luft bewirkt Vermehrung der Athmungsluft, 
Wiederherstellung der Elasticität, Verkleinerung der Lunge, Zunahme 
der vitalen Capacität und der Exspirationskraft. — Dass das Zwerchfell 
bei Lungenblähuog während der Ausathmung in verdünnte Luft 3—6 cm 
sfeigt, kann man sehen, wenn man einen Emphysematiker mit Röntgen¬ 
strahlen durchleuchtet. — Aus den angeführten Wirkungen ergiebt sich 
das Anwendungsgebiet der Pneumatotherapie von selbst. Die Einathmung 
von comprimirter Luft wird dort angewendet, wo die Athmung schwach, 
wenig ergiebig, die Lungen sich nicht gehörig entfalten können, und wo 
die Schleimhäute katarrhalisch affleirt sind; mithin bei schlecht ent- 
entwickeltem Brustkorb als Prophylacticum gegen Spitzenkatarrh, bei 
Residuen abgelaufener Pleuritiden, bei Verengerung des Kehlkopfs und 
der Luftröhre, bei chronischem Bronchialkatarrh und dem häufig damit 
verbnndenen Asthma. — Die Ausathmung in verdünnte Luft ist ein 
Specificum gegen Emphysem, das im Anfangsstadium zu heilen, in vor¬ 
geschrittenen Fällen zu bessern ist. — Bei den Erkrankungen, bei denen 
es sich um mehrere der genannten Zustände handelt, wird die alter- 
nirende Methode angewendet, die darin besteht, dass einer Inspiration 
von comprimirter Luft sogleich eine Exspiration in verdünnte Luit folgt. 
Contraindicirt ist die Pneumatotherapie dort, wo es sich um Neigung zu 
Lungenblutungen, Gehirnapoplcxic, Schwäche des Herzmuskels und acuten 
Entzündungsprocessen handelt. 

An der Discussion betheiligen sich die Herren Brügelmann, 
Lazarus, Kleist, Marcuse, Immelmann. 

Hr. MendelBohn-Berlin: Zur Behandlung der Nieren- und 
Blasensteine durch Mineralwässer. Man bat sich viel Mühe 
gegeben, Mittel aufzufinden, welche Harnsäure und Harnsäuresteine auf¬ 
zulösen vermögen. Aber alle diese Lösungsmittel für Harnsäure, welche 
sich im Reagensglase vortrefflich bewähren, versagen im Organismus bei 
Anwesenheit von Harn. Die Wirksamkeit der harnsäurelösenden Mittel, 
welche ja nicht zu leugnen ist, beruht auf deren harntreibende Wirkung. 
Auch die Mineralwässer wirken nur dadurch, dass sie den Organismus 
reichlich durchspülen und die Diurese vermehren. 

An der Discussion betheiligen Bich die Herren Winternitz, Frey, 
Gans, Mendelsohn. 

Hr. Stifler-Steben: Untersuchungen über die Wirkung 


künstlicher Bäder. Während die Hydrotherapie wesentlich Inner¬ 
vationstherapie ist, handelt es sich bei der Bäderbehandlung am mecha¬ 
nische, statische und um dynamische, reflectoriscbe Beeinflussung der 
Blutbahn. Der Vortragende hat auf dem 16. Balneologencongresse 
typische Wirkungen qualitativ verschiedener Bäder nachgewiesen und 
zeigt in vergleichender Untersuchung künstlicher Bäder folgendes durch 
Einzelversuche erwiesenes Ergebniss. Künstliche Bäder hätten den 
natürlichen Heilbädern gleiche Wirkung, wenn erstere annähernd die¬ 
selbe Stärke, dieselbe technische Vollkommenheit hätten; dies ist aber 
für künstliche Bäder schwer erreichbar. Die anerkannt besten künst¬ 
lichen kohlenaauren Bäder nach Lippert ynd Keller erreichen nicht 
den Werth der natürlichen kohlensauren Bäder von Stehen, Schwalbach, 
Franzensbad etc., sie lassen sich nicht genau dosiren, können aber 
immerhin als Heilbäder gelten. Acrztlich und technisch sind jedoch die 
S an dow'sehen und Quagl io'sehen kohlensauren Bäder zu beanstanden, 
deren Kohlensäuregebalt minderwerthig, unzuverlässlich and Neben¬ 
wirkungen erzeugend ist; beide reagiren ausser im Momente höchster, 
schnell vorübergehender Kohlensäureentwickelung stark alkalisch. Da¬ 
durch entsteht eine den natürlichen Bädern entgegengesetzte Wirkung, 
nämlich unberechenbare Irritation zumal bei der plötzlichen Entladung 
von Kohlensäure, auch secundäre Depressionserscheinungen. — Mattoni's 
Moorsalzbad und Moorlaugenbad, als künstliches Surrogat dea Moorbades, 
haben nicht im Entferntesten eine Aebnlichkeit mit der Moorbadewirkung 
aufzuweisen. — Die Wirkung des Salzbades als künstliche Badeform ist 
gleich den Soolbädem, nur abhängig von seiner Concentration. Der 
bleibende Werth der hydroelektrischen Bäder besteht in ihrer Vielseitig¬ 
keit und Exactheit. — Die künstlichen Bäder sind, auch bei liberalster 
Auffassung, nur in sehr beschränkter Weise ein Ersatz für natürliche 
Bäder. Die technischen, öconomischen und hygienischen Schwierigkeiten 
werden vom ärztlichen Standpunkte aus nur einen aushülfsweisen Ge¬ 
brauch, keinen curgemässen zulassen. Die vollwerthigen künstlichen 
Bäder erfordern, wenn curgemässc Anwendung stattfinden soll, auch eine 
ärztliche Specialbehandlkng. 

An der Discussion betheiligen sich die Herren Winternitz, 
Sarason, Siebelt, Fellner, Stifter. 

Hr. Schubert-Wiesbaden: Der Einfluss der Aderlass¬ 
behandlung auf Hautkrankheiten und mikroskopische Bl ut- 
befunde bei denselben. Der Vortragende hat 19 veraltete Fälle 
von Hautkrankheiten, meist Ekzem, dann auch Furunculosis, Psoriasis 
etc. mit Aderlass behandelt. Von diesen wurden 3 dauernd geheilt. 
Besonders bei Furunculosis ist die Wirkung stets schnell, augenschein¬ 
lich und gründlich. Dyes berichtet einen Fall, der eine 30jährige 
Dame betraf, welche 17 Jahre an allgemeinem, nässendem Ekzem ge¬ 
litten, das jeglicher Therapie getrotzt hatte. Schon nach dem ersten 
Aderlass trocknete das Ekzem ein, 4 Wochen nach dem dritten Ader¬ 
lass war die Patientin geheilt. — Wie bei anderen Leiden, fand Sch. 
auch bei Hautkrankheiten bei der mikroskopischen Untersuchung des 
Aderlassblutes eine Vermehrung bis zu 80 pCt. der weissen Zellen. Er 
erklärt dieses massenhafte Vorkommen derselben im Aderlassblnte nach 
seinem Bchon früher dargelegten Gesetze der Blutvertheilung, wonach 
sich diese Zellen in den Capillaren am oberflächlichsten und zahlreich¬ 
sten vorfinden, daher zuerst mit dem Blute erscheinen, durch ihr zahl¬ 
reiches Vorkommen aber einen günstigen Nährboden für Mikroorganismen 
bilden, die dann die Hautkrankheiten hervorrufen. Mit den wiederholten 
Aderlässen wird das Blut immer ärmer an diesen weissen Zellen, bis 
sie schliesslich ganz schwinden. Sch. fand auch sonst bei seinen zahl¬ 
reichen Aderlässen, dass auf dieselben gewissermaassen eine Regene¬ 
ration der Haut erfolgte, eine auffällige gute Färbung und Reinheit der¬ 
selben sich bemerkbar machte. 

An der Discussion betheiligen sich die Herren Vollmer und 
Schubert. 

Hr. 8iebelt-Flinsberg: Zur Kenntniss des Winterklimas 
in den Curorten deB Schlesischen Gebirges. Der Vortragende 
weist an geeigneten Beispielen nach, dass das Winterklima im Schlesi¬ 
schen Gebirge mit Unrecht in üblem Rufe stebt. Eine Tabelle der in 
FlinBberg in den Wintermonaten der letzten 10 Jahre beobachteten 
Temperatur lässt erkennen, dass die Minima nur selten Temperaturen 
bis zu — 20 0 C. erreichen, und dass die mittleren Temperaturen nur 
geringen Schwankungen unterworfen sind. Auch die Beobachtung der 
Bewölkung glebt günstige Verhältnisse. Die Zahl der trüben Tage 
schwankt in 10 Jahren zwischen 28 und 43 für 212 Wintertage. Redner 
glaubt, dass man das Winterklima des Schlesischen Gebirges ganz gut 
therapeutisch verwerthen kann nnd führt einige Fälle an, die in Flins- 
berg mit gutem Erfolge überwinterten. Um die Wirkung zu unterstützen, 
empfiehlt 8. die vorsichtige Ausführung def verschiedenen Formen des 
Wintersports, Schlittenfahrt, Schneeschuhlauf etc. — Der Aufenthalt im 
Winterklima des Schlesischen Gebirges ist angezeigt in allen Fällen von 
nervöser Schwäche ohne Zusammenhang mit Erkrankung innerer Or¬ 
gane; bei Anämischen, Skrophulösen und Malariakranken: bei Kranken, 
die sich im Nachstadium adhäsiver Pleuritis befinden, und bei Fett¬ 
sucht, sofern nicht gröbere Störungen der Hcrzthätigkeit vorhanden sind. 
Auch zur Erstarkung und Abhärtung für Kinder bietet der Winterauf¬ 
enthalt im Gebirge eine günstige Gelegenheit. 

An der Discussion betheiligen sich die Herren Goldschmidt, 
Putzar und Siebelt. Brock. 

(Schluss folgt) 


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19. April 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


351 


VIII. Zur Therapie der genuinen Ozaena. 

Erwiderung auf Dr. M. Saenger’a Entgegnung in No. 10 dieser 
Wochenschrift. 

Von 

Dr. Franz Brock-Berlin. 

Dass der von Sa enger zur Behandlung der Ozaena empfohlene 
Watteverschluss eines der beiden Nasenlöcher völlig identisch ist mit 
der fehlerhaft ausgeführten Gottstein’schen Tamponade, bei welcher 
die Watte nicht weit genug nach hinten reicht, geht aus 8.’s eigener 
Beschreibung, wo er von der „von vom verschlossenen, einen blind 
endigenden Canal darstellenden“ Nasenhöhle spricht, deutlich hervor. 
Ausserdem enthält ein in meiner Arbeit (No. 3 dieser Wochenschrift) 
erwähnter Fall die vernichtendste Kritik der 8.'sehen Methode. Die¬ 
selbe wurde selbstverständlich nur angewandt, wenn die nicht verstopfte 
Seite zur Nasenathmung vollkommen ausreichend war. 

Der obigem Verfahren gleichwerthige, auf demselben Princip wie 
dieses aufgebaute Nasenobturator muss daher ebenfalls abgelehnt werden, 
es müsste denn sein, dass S. dem letzteren ganz bestimmte, nur diesem 
immanente Wirkungen vindicirt. 

8. hat ferner meine Arbeit sehr oberflächlich gelesen, wenn er nur 
im Hinblick darauf, dass der von mir eingeführte Mullstreifen das Nasen¬ 
lumen verengt, ohne Weiteres behauptet, dass hierdurch die Schnellig¬ 
keit des Inspirationsstromes vermehrt werden müsste. Denn 8. hat über¬ 
sehen, dass durch die Anwesenheit des Streifens in der Nasenhöhle der 
dieselbe passirende Luftstrom auch einen beträchtlichen Widerstand 
erfährt, und dass ich auf diesen Widerstand die Herabsetzung der 
Stromgeschwindigkeit zurückgeführt habe. Denn die letztere ist bei 
gleichbleibender Energie der Athmung umgekehrt proportional den zu 
überwindenden Widerständen. 

Endlich bestreitet 8., dass die von dem lockeren Mullstreifcn, einem 
schlechten Wärmeleiter, bedeckte Nasenschleirohaut geeignet sei zur 
Wärmeabgabe an die Inspirationsluft, und sagt: „Bruck wird einwenden, 
dass er nicht die ganze Schleimhaut bedeckt haben will. Aber dann 
setzt er sich ja selbst in Widerspruch mit seiner Anschauung. ,dass die 
Borkenbildung nur so weit hintangehalten werde, als der Tampon mit 
der Schleimhaut in Berührung kommt 1 .“ Diesen Widerspruch construirt 
S. dadurch, dass er einen Satz meiner Arbeit aus dem Zusammenhänge 
reisst. Dieser eben citirte Passus bezieht sich nämlich auf Fälle, in 
denen grosse Strecken der degfenerirten Schleimhaut vom Tampon nicht 
getroffen werden. Anders aber bei dem Mullstreifen, der sich über die 
ganze Nasenhöhle von vorn nach hinten — soweit sie erkrankt 
ist — erstreckt. Dass hierbei wegen der zu erhalteiiden Nasenathmung 
innerhalb der vom Streifen locker bedeckten Nasenpartie, gleichsam von 
diesem eingeschlossen, relativ sehr kleine Stellen frei bleiben, wider¬ 
spricht nicht der obigen Anschauung. Denn auch an diesen Stellen 
lässt der Reiz des unmittelbar daneben befindlichen Mullstreifens eine 
Secreteintrocknung nicht aufkommen. 


IX. Literarische Notizen. 

— Aus Franz Deutickes Verlag in Wien sind als Neuheiten zu 
registriren: Laker, Die Anwendung der Massage bei den Erkrankungen 
der Athmungsorgane — eine umfassende Darstellung der wesentlich vom 
Verfasser selbst eingeführten Behandlungsmethoden; Rauschberg und 
Hajos, Neue Beiträge zur Psychologie des hysterischen Geisteszustandes; 
Foch, Versuch einer rationellen Behandlung des Kropfes (Struma\ zu 
dem Verfasser die parenchymatöse Injection V* —lproc. Carbollösung 
empfiehlt. 

— Von der von Liebreich herausgegebenen „Encyklopädie 
der Therapie“ (Berlin, Hirschwald) liegt nunmehr bereits die I. Ab¬ 
theilung des zweiten Bandes vor, in der wiederum alle, von uns bereits 
gekennzeichneten Vorzüge des wissenschaftlich wie praktisch gleich 
werthvollen Werkes zur Geltung kommen. Wir enthalten uns hier einer 
Hervorhebung einzelner Artikel; nur sei wiederum als ein Beispiel für 
die sorgsame Gliederung des Stoffes und das ausgesprochene Bemühen 
nach unparteiischer Behandlung auf die Arbeiten über Diphtherie auf¬ 
merksam gemacht Dies schwierige, und jetzt so besonders umstrittene 
Gebiet ist folgendermaassen vertheilt: Diphtherie anatomisch (Hanse¬ 
mann), Diphtherie klinisch (Oertel), Diphtherie epidemiologisch 
(.Gottstein), Diphtberiebacillus (Derselbe), Diphtherieheilserumthe¬ 
rapie (Drews). 

— Die letzterschienenen Lieferungen von Nothnagel's Specieller 
Pathologie und Therapie enthalten: v. Noorden, die Bleichsucht (VIII, 8) 
und von Frankl-Hochwart Die nervösen Erkrankungen des Ge¬ 
schmacks und Geruchs; die Tetanie (IX, 2.). 


X. Praktische Notizen. 

DiagatstUehes and Casaistlk. 

Lockwood (Medical Ruord 14) berichtet über einen Fall von 
Ruhr bei einem 22jährigen Manne, als deren Erreger durch die mikro¬ 
skopische Untersuchung mit Sicherheit die Amoeba coli nachgewiesen 
werden konnte. Unter geeigneter diätetischer Behandlung und unter 
Application von Klystiren aus Chinin bisulfuricura trat in kurzer 
Zeit völlige Heilung ein. Im Anschluss an diesen Fall betont L. die 
Wichtigkeit des Unterscheidens dieser Form der Dysenterie von den 
anderen, ferner die Wichtigkeit der mikroskopischen Stuhlunter¬ 
suchung in allen Fällen von hartnäckiger Diarrhoe; denn 
nur so ist es möglich diese Form der Dysenterie früh zu erkennen und 
durch eine geeignete Behandlung zu verhindern, dass die Krank¬ 
heitserreger in das submucöse Gewebe wandern, wo sie einer Be¬ 
handlung nicht mehr zugänglich sind und zu Leberabscessen Veran¬ 
lassung geben können. Die geeignete Behandlung besteht an der Appli¬ 
cation von Klystiren aus Chinin bisulfuricum. Von Wichtigkeit ist es 
ferner noch in solchen Fällen auch nach eingetretener Heilung von Zeit 
zu Zeit den Stuhl wieder mikroskopisch zu untersuchen, da öfters Re- 
cidive beobachtet sind. 


Im Centralblatt für Innere Medicin (No. 14) tritt Hofmann der 
hauptsächlich durch C. Schmidt’s Arbeit unter den Aerzten ziemlich 
verbreiteten Ansicht entgegen, dass der Harn bei Osteomalacie 
Milchsäure enthalte und dass durch frühzeitige Feststellung dieses 
Vorkommens der beginnende Process diagnosticirt werden könne. Er 
hat in zwei ziemlich weit fortgeschrittenen Fällen von Osteomalacie 
den Harn auf Milchsäure untersucht, und obwohl in beiden Fällen 
hinreichend grosse Mengen Urin in Arbeit genommen wurden, ist doch 
in keinem von beiden der Nachweis der Milchsäure gelungen. 


Therapeutisches «ad Iataxleatleaea. 

In der Sitzung der Society de Therapeutique vom 24. März be¬ 
richtete Dalchö über eine eigenthümliche Idiosynkrasie einer 
Zuckerkranken gegen das Coffein. Es handelte sich um eine 66 jährige 
Frau, die schon lange an Diabetes litt. Bei derselben trat nach und 
nach unter hohen Temperatursteigerungen eine Verschlechterung des Zu¬ 
standes ein, der auf eine secundäre Pneumonie zurückgeführt wurde. 
Die Kranke bekam Coffein subcutan vier Mal pro die, jede 
Dose 25 cgr. Am nächsten Tage klagte Patientin über starke Kopf¬ 
schmerzen, Magendruck, Haut- und Muskelhyperästhesien, war sehr ge¬ 
schwätzig und delirirte, so dass man ein beginnendes Coma diabeticum 
dfagnosticirte. Am folgenden Tage jedoch, nachdem Patientin weitere 
Coffeininjectionen verweigert hatte, waren alle cerebralen und 
gastrischen Störungen verschwunden. Im weiteren Verlauf der 
Krankheit stellte es sich nun heraus, dass die Temperatursteigerungen 
und die Störungen im Respirationstractus bedingt waren durch eine 
Tuberculose. Die plötzlichen cerebralen und gastrischen Störungen, die 
sich nun wieder zeigten, und ein Coma diabeticum vorgetäuscht hatten, 
ist D. geneigt, auf Rechnung des Coffein zu setzen und auf eine 
medicamentöse Idiosynkrasie der Patientin zurückzuführen. Die Erklä¬ 
rung solcher Idiosynkrasien sucht D. in dem Nervensystem, da es 
sich in den von ihm beobachteten Fällen meistens nm neuropathi- 
sehe Individuen gehandelt hatte; und auch in unserem Falle han¬ 
delte es sich um eine Pat., die seit der Pubertät an hysterischen An¬ 
fällen litt. 


Als neuestes Product der Organtherapie, das wir der Voll¬ 
ständigkeit halber nicht unerwähnt lassen wollen, wird der LungenBaft 
von Brun et empfohlen. (Gaz. Hebdom. No. 26.) Derselbe wird folgen- 
dermaassen gewonnen: das Lungengewebe wird mit sterilisirten Instru¬ 
menten so fein wie möglich vertheilt, 20 gr des so erhaltenen Gewebes 
werden '/» Stunde lang nach Zusatz von 60 gr Glycerin raacerirt, 
dieser Masse setzt man 120 gr 6terilisirtes Wasser zu, dann wird das 
ganze wieder macerirt und flltrirt; die so erhaltene Flüssigkeit wird 
dann für 48 Stunden einer Temperatur von 35* ausgesetzt, um zu Beben, 
ob nicht irgend welche Trübung noch entsteht. Bleibt das Präparat 
klar, so ist es für den Gebrauch fertig. Eb ist äusserst arm an auf¬ 
gelösten Substanzen: an organischen Bestandtheilen enthält es nur 
0,55 gr pro Liter, an mineralischen 0,50; trotzdem entfaltet es eine 
äusserst intensive Wirkung, wie sich dies durch physiologische That- 
sachen erhärten lässt Setzt man 5 Ccm des Präparates zu 2 Tropfen 
einer reinen Staphylokokken- oder Streptokokkencultur, so bleibt diese 
steril. Meerschweinchen, die längere Zeit mit Injectionen von 1—5 Ccm 
behandelt wurden, zeigten eine auffallende Besserung des Ernährungs¬ 
zustandes und Gewichtszunahme, das gleiche Resultat wurde auch bei 
der Einführung per os beobachtet; während bei letzterer sich irgend 
welche Einmischung auf die Temperatur meist beobachten Hess, zeigte 
sich bei ersterer ein auffallender Temperaturanstieg, der sein Maximum 
2 Stunden nach der Injection erreichte. Was seine therapeutische Ver¬ 
wendung betrifft, so empfiehlt es Brunet auf Grund experimenteller 
Erfahrungen als ein Unterstützungsmittel in der Behandlung 
der Phthise. Im ganzen verfügt er über 11 Beobachtungen, die 
sich auf Fälle von Magenemphysem, chronischer Bronchitis, 
Tuberculose und Bronchialfistel beziehen. In allen Fällen 


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352 


Berliner klinische Wochenschrift. 


No. 16. 


wurde eine sehr schnelle und sehr bedeutende Abnahme der 
Expectoration beobachtet; auch die sonstigen Beschwerden 
wurden wesentlich gelindert. Die Frage, wie man sich diese 
Wirkung zu erklären habe, hält Verf. vorläufig noch nicht für spruch¬ 
reif; es bedarf dazu erst eines eingehenden Studiums der ver¬ 
schiedenen Substanzen, aus denen der Lungensaft besteht und über 
die wir sowohl physiologisch wie chemisch so gut wie gar nichts wissen. 


Johnson (Medical News 12) kann der durch Moore empfohlenen 
Behandlung der Opium vergiftung durch Kalium hypermang. nach 
seinen Erfahrungen nicht das Wort reden. Bei innerlichem Gebrauch 
vermag es ja allerdings das Opium, das im Magen zurückbleibt, wir¬ 
kungslos zu machen, hat aber keinen Einfluss auf das schon in die Cir- 
culation übergegangene. Nun mag es theoretisch ja allerdings richtig 
Bein, dass man durch subcutane Injectionen von Kal. hyperm. 
dieses in die Circulation Ubergegangene Opium zerstören kann, wie dies 
von Moore angegeben wird, aber aus praktischen Gründen räth J. 
von dieser Art der Anwendung dringend ab, denn er sah mit 
Ausnahme eines Falles stetB eine beträchtliche locale Entzün¬ 
dung an der Injectionsstelle entstehen und im Zusammenhang damit 
die Temperatur ansteigen. In einem Falle trat trotz der subcutanen 
Injection der Tod ein, und in den übrigen von ihm beobachteten Fällen 
konnte sich J. des Eindruckes nicht erwehren, als ob die Heilung auch 
ohne die Anwendung des Kal. hyperm. eingetreten wäre, jedenfalls war 
der ganze Verlauf der Vergiftung trotz der Anwendung des Mittels 
kein wesentlich abgekürzterer als sonst. 


Nach dem Gebrauch von nur 80cgr Antipyrin sah Duchenne 
(Gaz. hebdom. No. 24) bei einer Patientin folgende Erscheinungen 
eintreten: Uebelkeit, Mattigkeit, Schnupfen, Jucken an den Extremi¬ 
täten und der Vulva, ferner Erytheme und Bläschenausschlag. Die Er¬ 
scheinungen hielten 15 Tage an. — Einen ähnlichen Fall beobachtete 
Lyson bei einer 82jährigen Frau. Nur trat nach dem Gebrauch von 
lgr Antipyrin ein ausgesprochen bullöses Exanthem im Gesicht, 
an den Knien und Ellenbogen auf, ferner zeigte sich Bläschenbildung 
auf der Zunge und Mundschleimhaut. 


XI. Tagesgeschichtliche Notizen. 

Berlin. In der Sitzung des Vereins für innere Medicin am 
12. April demonBtriite vor der Tagesordnung Hr. Schwarz Präparate von 
Meningokokken, Hr. Blumenthal berichtete über einen Typhusfall, in 
dem die Widal’sche Keaction fehlte, Ilr. Benda legte zwei Präparate von 
verschluckten Fremdkörpern vor. In der Discussion zu dem vor 14 Tagen 
gehaltenen Vortrage des Hr. Flatau nahmen die Hrn. Goldscheider, 
v. Leyden und Flatau das Wort. Als dann hielt Hr. Albu den an¬ 
gekündigten Vortrag über „Ernährung und Darmfäulniss“. An der Dis¬ 
cussion betheiligten sich die Hrn. Blumenthal, Rosenheim, Jacob 
und Albu. 

— Seitens der Leitung des XII. Internationalen medicinischen 
Congresses werden jetzt die Reise-Erleichterungen mitgetheilt; 
dieselben sind für Russland weitgehendster Natur: die Reise von der 
Grenze bis Moskau und zurück ist unentgeltlich (Angaben, ob hierbei 
die Wege beliebig zu wählen sind, fehlen vorläufig); ausserdem ge¬ 
währen die französischen, italienischen und ungarischen Bahnen, sowie 
verschiedene Dampfscbiffgesellschaften erhebliche Ermässigungen. 

— Tagesordnungen einzelner Sectionen beim Moskauer Congress: 
Chirurgie. Referate haben übernommen: Braatz (Königsberg), 
Therapie der infleirten Wunden; v. Bergmann, Himchirurgie bei 
Tumor cerebri und Jackson’scher Epilepsie; Tuffier (Paris), Lungen¬ 
chirurgie; Czerny, Therapie der krebsigen Stricturen des Oesophagus, 
Pylorus und Rectum; Ollier, Blennorrhagische und syphilitische Gelenk- 
affectionen; Dollinger (Pest), Verbände und Prothesen bei tuberculöser 
Gelenkerkrankung. Ausserdem steht das Thema: Serotherapie der 
malignen Tumoren zur Discussion. Von einzelnen Mittheilungen er¬ 
wähnen wir Credö, Silberwundbehandlung; Lorenz, Unblutige Re¬ 
position der congenitalen Hüftgelenkluxation; Zabludowsky, Massage¬ 
therapie; Senn, Bauchchirurgie; Bottini, Prostatahypertrophie. 

Neurologie und Psychiatrie: 1. Nervenkrankheiten. Pathologie 
der Nervenzellen: Ref. van Gehuchten; Vorträge: Dana (New- 
York), van Gieson (New-York); Pathogenese und Anatomie der Syringo¬ 
myelie: Ref. Schnitze (Bonn), Schlesinger (Wien); Vortrag: Minor 
(Moskau); Pathogenese und Behandlung der Tabes: Ref. Obersteiner 
(Wien), Piorret (Lyon), Erb (Heidelberg), Grasset (Montpellier); 
Vorträge: Althaus (London), Benedikt (Wien), Darkschewitsch 
(Kasan), Borgherini (Padua), Eulenburg (Berlin), Benedikt (Wien), 
Frenkel (Heiden), Rafchline (Paris), Hirschberg (Paris). Ferner 
ist eine gemeinsame Sitzung mit der Section für Chirurge über die Frage 
der Hirnchirurgie in Aussicht genommen, in der ausser den oben ge¬ 
nannten Herren Oppenheim, Sachs und Voisin sprechen werden. 
2. Geisteskrankheiten. Zwangsvorstellungen und fixe Ideen: Ref. Pitres 
(Bordeaux), R6gis (Bordeaux); Vortrag: Shaw (Liverpool); Progressive 
Paralyse: Ref. 0. Binswanger (Jena); Vorträge: Althaus (London), 


Homen (Ilelsingfors), Muratow (London); Hypnotismus und Suggestion: 
Ref. Bernheim (Nancy); Vorträge: Tokorwsky (Moskau), Robert¬ 
son (Glasgow), Gorodichzi (Paris). 

— Herr Dr. Kolle vom Institut für Infectionskrankheiten begiebt 
sich mit zunächst ljährigem Urlaub nach der Capcolonie, um im Auf¬ 
träge der Capregierung dort Studien über Lepra und Rinderpest zu machen 
und hygienisch-bacteriologische Beobachtungsstationen zu organisiren. 

— Die vierte Versammlung süddeutscher Laryngologen 
wird am 2. Pfingstfeiertage, den 7. Juni in Heidelberg stattflnden. An¬ 
meldungen an Dr. Hedderich, 2. Schriftführer, Augsburg, Maxstr. 22. 

— Die diesjährige Versammlung südwestdeutscher Neuro¬ 
logen und Irrenärzte wird am 22. und 28. Mai in Baden-Baden 
stattfinden. Geschäftsführer: Prof. Erb (Heidelberg) und Director 
Fischer (Pforzheim). 

— Der Rechtsschutzverein Berliner Aerzte hat seinen 
27. Rechnungflschluss pro 1896 herausgegen, dem wir folgendes entnehmen: 

Die Einnahmen des Vereinsbureaus pro 1896 betrugen 16 088,53 

Die Ausgaben „ „ „ „ 12 748.25 

so dass ein Gewinn von Rmk 3835,28 

erzielt wurde. 

Die Activa betragen 31912,68 Mk., denen 7706,47 Mk. Passiva 
gegenüberstehen, so dass der Ueberschuss der Activa 24206,16 Mk. beträgt. 

Im Jahre 1896 waren einzuziehen 14883 Liquidationen im Betrage 

von Mk. 211872,85 

davon sind bis 31./12. 96 eingegangen für 5414 

Liquidationen „ 115739,52 

In geschäftlicher Behandlung verblieben 4581 

Liquidationen im Betrage von „ 22 635,24 

Die Mitgliederzahl betrug am 31./12. 95 — 491, am 81./12. 96 — 550. 


XII. Amtliche Mittheilungen. 

PerMnalla. 

Auszeichnungen: Ritterkreuz I. Kl. des Königl. Sächsischen 
Albrechts-Ordens: dem Priv.-Doc. Dr. Nitze in Berlin. 

Ritterkreuz des Ordens der Königl. Italienischen Krone: 
dem Sanitätsrath Dr. Seechi in Berlin, z. Zt. in San Remo. 

Ritterkreuz des Königl. Schwedischen Nordstern-Ordens: 
dem o. Professor Dr. Finkler in Bonn. 

Kommandeurkreuz des Königl. Japanischen Verdienst- 
Ordens der aufgehenden Sonne: dem Genefalftrzf I. Kl. Dr. 
GrosBheim in Berlin. 

Charakter als Sanitätsrath: dem Kreis-Physikns a. D. Dr. 
Schacht in Friedrichstadt, Reg.-Bez. Schleswig. 

Ernennung: der Kreis-Physikus Dr. Deneke in Flensburg ist zam 
Regierungs- und Medicinal-Rath ernannt worden. Derselbe ist dem 
Kgl. Regierungs-Präsidenten zu Stralsund überwiesen worden. 

Niederlassungen: die Aerzte Dr. Schlenke in Cornelimünster, Dr. 
Blenkenstein, Dr. Feldmann und Dr. Moll in Charlottenburg, 
Dr. Hamburger, Dr. Klein, Dr. Lipschütz und Dr. Heinr. 
Meyer in Berlin, Dr. SuszcynBki in Posen. 

Verzogen sind von Berlin: die Aerzte Dr. Bayer nach Mannheim, Dr. 
Dreyer nach Cöln, Dr. Gockel nach Aachen, Dr. Hartung nach Herms¬ 
dorf b. Goldberg, Dr. Eugen Herzfeld und Dr. Herzog nach Char¬ 
lottenburg, Dr. M. Jacobsohn nach Posen, Dr. Joseph und Dr. Georg 
Lewin nach Charlottenburg, Dr. Loewenstein nach Elberfeld, Dr. 
Pogorzelski nach Friedrichshagen, Dr. Salzburg nach Dresden, 
Dr. Schindler nach Greifenberg. Dr. Schoenfeld nach Friedenau, 
Dr. 8teffahny nach Schoeneberg und Dr. Zoepffel ' nach Char¬ 
lottenburg; ausserdem: Dr. Genneper, Dr. Quentin und Dr. Max 
Wolff; nach Berin: Dr. Echtermeyer von Potsdam, Dr. Hor- 
witz von Crefeld, Dr. Loh mann von BUckeburg, Meiner von Kiel, 
Dr. Menzel von Erfurt, Dr. Merk von Strassburg 1. E, Ob.-St.-A. 
a. D. Dr. Müller-Kypke von Charlottenburg, Dr. Neustadt von 
Schrimm, Parow von Greifswald, Dr. Re iss mann von Bergquell- 
Frauendorf bei Stettin, Dr. Ritter von Dresden, Dr. Roestel von 
Charlottenburg, Dr. Rosenbaum von Friedeck, Dr. Roth von Bam¬ 
berg, Dr. Schneller von Lüderitz, Sold an von Charlottenburg, Dr. 
Trautmann von München, Dr. Ziegelroth von Dresden und Dr. 
Sally Kalischer; Dr. Schlichthaar von Neustadt-Gödens nach 
Vörde, Dr. Szczepinski von Rehden nach Inowrazlaw, Crohn von 
Breslau nach Treraessen, Grunwald von Bockschütz nach Orchowo, 
Dr. Gockel von Berlin nach Aachen. 


Bekanntmachung 

Das Kreisphysikat des Regierungsbezirkes Schleswig mit dem Wohn¬ 
sitze Friedrichstadt ist frei geworden. Gehalt 900 M. jährlich ohne 
Pensionsberechtigung. Bewerbungsgesuche sind unter Beifügung des Be¬ 
fähigungsnachweises und eines Lebenslaufes innerhalb 4 Wochen bei mir 
einzureichen. 

Schleswig, den 5. April 1897. 

Der Regierungs-Präsident. 

Für die Redactlon verantwortlich Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald, Lütaowplau i. 


Verlag und Eigenthum von August Hirschwald in Berlin. — Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin. 


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BERLINER 


DI« Berliner Klinische Wochenschrift erscheint Jeden 
Monug in der St&rke von 9 bis 3 Bogen gr. 4. — 
Preis vierteljährlich 6 Mark. Bestellungen nehmen 
alle Buchhandlungen und Postanstalten an. 


Einsendungen wolle man portofrei an die Redactlon 
(W. LQtsowplats No. 5 ptr.) oder an die Verlags¬ 
buchhandlung von August Hirschwald ln Berlin 
N.W. Unter den Linden No. 66, adressiren. 



Mit Berücksichtigung der preussischen Medicinalverwaltung und Medicinalgesetzgebung 

nach amtlichen Mittheilungen. 


Redaction: 

Geh. Med.-Rath Prof. Dr. 0. A. Ewald und Prof. Dr. C. Posuer. 


Expedition: 

August Ilirschwald, Verlagsbuchhandlung in Berlin. 


Montag, den 26. April 1897. M 17. 


Vieninddreissigster Jahrgang. 


I N H 

I. Aus dem chem. Laboratorium des Patholog. Instituts zu Berlin. 
£. Salkowski: Ueber den Nachweis des Peptons (Albumosen) 
im Harn nnd die Darstellung des Urobilins. 

II. Aus dem Institut für Hygiene und Bacteriologie der Universität 
Strassburg, Professor Dr. J. Förster. H. Bruns: Ueber die 
Fähigkeit des Pneumococcus Fränkel, locale Eiterungen zu er¬ 
zeugen. 

III. Kittel: Ueber llratablagerungen in der Fnsssohle, ihre Entstehung 
nnd Behandlung. 

IV. A. Neisser: Syphilisbehandlnng und Balneotherapie. (Schluss.) 

V. Kritiken und Referate. E. und Ed. Hitzig: Kostordnung 


I. Aus dem chem. Laboratorium des Patholog. Instituts 

zu Berlin. 

Ueber den Nachweis des Peptons (Albumosen) 
im Harn und die Darstellung des Urobilins. 

Von 

Prof. E. Salkowski. 

Vor einigen Jahren habe ich ein schnell ausführbares Ver¬ 
fahren zum Nachweis von Pepton bezw. Albumosen im Harn 
beschrieben,') welches im Wesentlichen darin besteht, dass man 
ca. 50 ccm Ham — es genügt auch erheblich weniger — mit 
einigen Tropfen Salzsäure ansäuert, mit Phosphorwolframsäure 
ausfällt, den Niederschlag durch Erwärmen verdichtet, mit Wasser 
abspUlt, 2 ) dann in verdünnter Natronlauge löst und mit der 
Lösung, nachdem sie durch Erwärmen und Schütteln möglichst 
entfärbt ist, die Biuretreaction anstellt. 

Dieses Verfahren ist von Senator, 3 ) Leick, 4 ) und Robit- 
schek*) geprüft und günstig beurtheilt worden, um so mehr 
liegt es mir am Herzen, auf eine Fehlerquelle hinzuweisen, auf 
welche ich im Lauf der Zeit aufmerksam geworden bin. 

1) Central bl. f. d. med. W. 1894, No. 7. 

2) oder, wenn dieses nicht gut gelingt — was vorkommt — abfiltrirt 
und etwas auswäscht. 

3) Deutsche med. Wocbenschr. 1895, No. 14. 

4) Deutsch, med. Wocbenschr. 1896, No. 2. Leick hat vielfach 
zur Auflösung des Phosphorwolframsäure-Niederschlages stärkere Natron¬ 
lauge nöthig gefunden, als ich ursprünglich angegeben habe. Es kommt 
auf die Concentration nicht viel an, ich verfahre meistens so, dass ich 
den in Wasser befindlichen Niederschlag direkt durch tropfenweisen Zu¬ 
satz von Natronlauge (ca. 1,16 spec. Gew.) löse. 

5) Prag. med. Wochenschr. 1896, Nc 11. 


ALT. 

der psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Halle-Witten¬ 
berg. (Ref. Ewald.) Albert: Specielle Chirurgie. (Ref. Lindner.) 
Edel: Versorgung verletzten und invalide gewordenen Irrenwart¬ 
personals. (Ref. Falkenberg.) 

VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Freie Ver¬ 
einigung der Chirurgen Berlins, de Ruyter: Nasenplastik. 
Kühler: Theorie der Geschosswirkung. 

VII. 26. Congress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. 

VIII. Baineologen Congress. — IX. Praktische Notizen. 

X. Tagesgeschichtliche Notizen. 

XI. Amtliche Mittheilungen. 


Es war mir wiederholt aufgefallen, dass urobilinreiche 
Harne — grösstentheils von Pneumonikern stammend, aber auch 
andere — bei Anstellung der Trommer’schen Probe sich anfangs, 
d. h. nach den ersten Tropfen Kupfersulfatlösung, violett färbten. 
Nach meinem Verfahren geprüft, enthielten diese Harne anschei¬ 
nend reichlich Albumosen. Das coustante Zusammentreffen der 
Albumosen-Reaction mit Urobilingehalt machte mich indessen doch 
stutzig und rief den Verdacht wach, dass die Reaction nicht von 
Albumosen, sondern entweder von Urobilin selbst oder irgend 
einem das Urobilin regelmässig begleitenden Körper abbängen 
möchte. 

Der Verdacht, dass die Albumosenreaction durch Urobilin 
vorgetäuscht sein könnte, verstärkte sich durch die spectroskopische 
Untersuchung, welche in den betreffenden Proben (d. h. den 
scheinbaren Alburaosereactionen nach Fällung mit Phosphor¬ 
wolframsäure) regelmässig einen, wenn auch nicht scharf be¬ 
grenzten, Urobilinstreifen erkennen Hess. Dass dieser Streifen 
oft nur verschwommen oder wenigstens nicht gut begrenzt war, 
konnte sich recht wohl daraus erklären, dass mit Natronlauge 
versetzte Urobilinlösungen überhaupt nur einen sehr schwachen 
Absorptionsstreifen geben. 

Zur weiteren Prüfung der Frage, ob hier Albumose oder 
Urobilin vorliege, wurde eine Reihe von Versuchen angestellt. 

Da nach Jaffe Urobilin durch basisches Bleiacetat gefällt 
wird, so wurden zunächst Proben der verdächtigen Harne mit 
Bleiessig gefällt, filtrirt, der Niederschlag ausgewaschen und so¬ 
wohl Filtrat als Niederschlag weiter untersucht. Das Filtrat 
(ohne die Waschwässer) wurde mit Salzsäure angesäuert, vom 
Chlorblei abfiltrirt, das Filtrat vom Chlorblei mit Phosphor¬ 
wolframsäure gefällt. Der pulverige weisse Niederschlag, welcher 
beim Erwärmen nicht zusammensinterte, gab mit Natronlauge 
und etwas Kupfersulfat oder Fehling’scher Lösung keine Biuret- 


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354 


No. 17. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


reaction. Dagegen wurde dieselbe aus dem Bleiniederschlage 
erhalten, als dieser mit Salzsäure behandelt, die Lösung vom 
Chlorblei abfiltirt, mit Phosphorwolframsäure gefällt und der 
Niederschlag geprüft wurde. Die Lösung zeigte den Absorptions¬ 
streifen des Urobilins, wenn auch nur schwach ausgebildet. Auch 
dieses Verhalten sprach dafllr, dass die Biuretreaction von 
Urobilin abhing und nicht von Albumosen; indessen ist es, wie 
sich später ergab und weiter unten ausgefUhrt werden soll, nicht 
ganz beweisend, weil unter Umständen auch die Albumosen durch 
bas. Bleiacetat gefällt werden. 

Weiterhin wurden Proben des fraglichen Harns von 25 bis 
50 ccm nach einem früher von mir angegebenen Verfahren mit 
reinem alkoholfreien Aether sanft durchgeschüttelt, der Aether- 
auszug verdunstet. Die Lösung des Rückstandes in alkalischem 
Wasser gab mit einigen Tropfen verdünnter Kupfersulfatlösung 
Biuretreaction und zeigt schwachen Absorptionsstreifen. 

Wenn es nach alledem auch sehr wahrscheinlich war, dass 
die Biuretreaction in der That von Urobilin herrührte und nicht 
von Albumosen, so erschien es doch wünschenswert!!, Urobilin 
selbst in möglichst reiner Form darzustellen und an diesem das 
Verhalten zu Natronlauge und Kupfersulfat zu prüfen. 

Die Reindarstellung des Urobilins ist bisher nicht völlig ge¬ 
lungen. Von den Methoden, welche annähernd dazu führen, 
scheidet das eine, die Sättigung des Harns mit Ammoniurasulfat 
nach Mehu, für den vorliegenden Zweck von vornherein aus. 
Abgesehen davon, dass es bei grösseren Harnmengen einen 
enormen Aufwand von Ammoniumsulfat erfordert, liegt bei dem¬ 
selben die Gefahr nahe, dass das erhaltene Product mit Eiweiss 
oder eiweissartigen Körpern verunreinigt ist, welche hier ganz 
besonders zu vermeiden sind. Ausserdem ist es bei diesem Ver¬ 
fahren nicht möglich, dass Urobilin von anhängendem Ammonium- 
sulfat zu befreien, welches die Biuretreaction des Urobilins 
eventuell ebenso stören könnte, wie die des Peptons, wenn 
auch dieser Einfluss vielleicht durch Anwendung sehr grosser 
Quantitäten Natronlauge ausgeschlossen werden könnte. Ich 
habe mich deshalb des Verfahrens von Jaffe bedient, haupt¬ 
sächlich aber versucht, mif Hülfe der Phosphorwolframsäurefällung 
zu einem reineren Farbstoff zu gelangen. 

Das nach manchen Versuchen schliesslich von mir befolgte 
Verfahren zur Darstellung des Urobilins ist folgendes: 

Stark urobilinhaltiger Harn wird, wie es Jaffe für den 
Nachweis im normalen Harn angegeben hat, mit basischem Blei¬ 
acetat’) ausgefällt, der Niederschlag abfiltirt, gut ausgewaschen, 
dann noch feucht vom Filter genommen, in der Reibschale mit 
Salzsäure von ca. 1,12 spec. Gew. verrieben (auf 1 Liter Harn ca. 
100 ccm Salzsäure), die Mischung am anderen Tage filtrirt, das 
Filtrat mit Phosphorwolframsäure gefällt, der Niederschlag 
wiederholt durch Decantiren unter Zusatz von etwas Schwefcl- 
sänre, dann auf den Filter fast ganz chlorfrei gewaschen (ver¬ 
säumt man den Zusatz von Schwefelsäure, so kann es sich 
ereignen, dass der Niederschlag sich grösstcntheils auflöst; 
manchmal wurde auch nur durch Decantiren gewaschen). Der 
Niederschlag wird vom Filter genommen resp. in ein Becherglas 
gespritzt und unter Zusatz von Natronlauge gelöst, die braun¬ 
gelb gefärbte Lösung zur Entfernung der Phosphorwolframsäure 
und Schwefelsäure mit Cblorbaryum versetzt, so lange noch ein 
Niederschlag entsteht, auf dem Wasserbad erhitzt. Die Lösung 
darf nicht zu concentrirt sein, sonst reisst der phosphorwolfram¬ 
saure Baryt zuviel Farbstoff mit, ein Verlust ist in jedem Falle 
unvermeidlich. Das Filtrat von phosphorwolframsaurem und 
schwefelsaurem Baryt wird mit Salzsäure angesäuert und bis 
zum nächsten Tage stehen gelassen. Es bildet sich ein Nieder- 


1) Man kann auch neutrales Bleiacetat nehmen. 


schlag, welcher oft nicht unerheblich Urobilin enthält, der Haupt¬ 
sache nach aber braune Farbstoffe, die theils präformirt sind, 
theils aus dem leicht veränderlichen Urobilin entstanden sein 
mögen. Die von diesem Niederschlage abfiltrirte saure Lösung 
wird nun mit etwa dem gleichen Volumen Chloroform geschüttelt, 
nachdem man sie vorher mit dem halben Volumen Alkohol ver¬ 
setzt hat. Der Alkoholzusatz ist nothwendig, ohne diesen nimmt 
das Chloroform nur äusserst wenig Farbstoff anf. Die abgetrennte 
Chloroformlösung, in welche das Urobilin fast vollständig über¬ 
geht, während andere Farbstoffe in der sauren wässrigen Lösung 
bleiben, wird, um sie von geringen Mengen anhaftender Salz¬ 
säure zu befreien, mit alkoholhaltigem Wasser geschüttelt. Es 
ist nicht zweckmässig, hierzu Wasser allein zu nehmen, da unter 
Umständen beim Schütteln der Chloroformlösung mit Wasser der 
grösste Theil des Urobilins aus der Chloroformlösung in das 
Wasser übergehen kann. Verluste durch Uebergehen von Uro¬ 
bilin in die wässrige Lösung und durch Ausscheidung in Form 
häutiger Fetzen sind ohnehin nicht zu vermeiden. Beim Ab- 
destilliren des Chloroformauszuges, dessen ursprünglich gelbrothc 
Farbe beim Ausschütteln mit Wasser in rein Gelb Ubergegangen 
war, Verdunsten und nochmaligem Lösen in Chloroform etc er¬ 
hält man das Urobilin in Form einer glänzenden, rothbraunen 
(in dünnen Schichten rothen) lackartigen, sehr spröden Masse mit 
grünem Reflex, welche, aus der Schale abgelöst, ein dunkel¬ 
braunes, glitzerndes Pulver bildet.') 

Das so dargestellte Urobilin stimmt in seinen Eigenschaften 
mit dem Jaffe’sehen Urobilin vollständig überein, abweichend 
finde ich nur das physikalische Verhalten — das nach Jaffe 
dargestellte Präparat hatte immer eine etwas weiche Beschaffen¬ 
heit — und das Verhalten zu Aether. Während das Präparat 
von Jaffe in Aether, wenigstens theilweise, löslich ist, erwies 
sich das meinige in Aether, auch in siedendem, so gut wie un¬ 
löslich. Vielleicht hängt dieses von einer etwas grösseren Rein¬ 
heit meines Präparates ab. 

Von den Eigenschaften sei noch das Verhalten der Essig¬ 
ätherlösung erwähnt. Beim Schütteln derselben mit Wasser färbt 
sich das Wasser stark gelb und zeigt starke Absorption des 
ganzen blauen und violetten Theils des Spectrums. Beim Ver¬ 
dünnen der Lösung hellt sich das Spectrum bis auf den Ab¬ 
sorptionsstreifen auf. Scheinbar ist also hier das Urobilin im 
Wasser gelöst, thatsächlicli aber ist diese Lösung wahrscheinlich 
so zu erklären, dass der Essigäther nicht unbeträchtlich in Wasser 
löslich ist und eine gewisse Quantität des Farbstoffs mitnimmt. 
Es handelt sich also nicht um eine Lösung von Urobilin in 
Wasser, sondern um eine solche in einer Mischung bezw. Lösung 
von Essigäther in Wasser. Mit Natronlauge alkalisirt zeigt diese 
Lösung, wie alle alkalischen Lösungen des Urobilins, nur sehr 
schwache Absorptionserscheinungen. Auf Zusatz von Chlorzink 
tritt intensive grüne Fluorescenz ein und die Lösung zeigt spectro- 
skopisch einen starken gut begrenzten Absorptionsstreifen. 

Ich kann nun nicht verhehlen, dass das beschriebene Dar¬ 
stellungsverfahren mancherlei zu wünschen übrig lässt: regel¬ 
mässig ist die Ausbeute gering, ja in manchen Fällen treten 
sogar sehr grosse Verluste ein, sodass die Ausbeute fast minimal 
zu nennen ist, ohne dass sich die Ursache hiervon stets mit 
Sicherheit erkennen lässt. Wenn ich dasselbe doch neben dem 
Jaffe'sehen benutzte, so geschah dieses, weil es mir wllnschens- 
werth erschien, das Urobilin noch auf einem zweiten Wege dar¬ 
zustellen, welcher von dem von Jaffe für urobilinreiche 
Harne benutzten nicht unwesentlich abweicht. Offenbar ist die 


1) Der grüne Reflex ist nicht immer wahrznnehmen. — Ich habe 
auch versucht, den Harn direkt mit Phosphorwolframsäure zu fällen, je¬ 
doch scheint das erhaltene Urobilin weniger rein zu sein. 


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26. April 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


355 


Garantie fUr die chemische Individualität und Reinheit einer Sub¬ 
stanz grösser, wenn man sie mit denselben Eigenschaften auf 
verschiedenen Wegen gewinnt. Dies ist besonders wichtig bei 
Körpern, welche nicht krystallisirbar und nur in verhältnissmässig 
beschränkter Quantität zu erhalten sind, sodass die Elementar¬ 
zusammensetzung nicht festgestellt werden kann. Für viele 
Farbstoffe des Thierkörpers liegen die Verhältnisse ganz ähnlich, 
wenn auch nicht ganz so ungünstig, wie für die Fermente und 
Toxine: die chemische Untersuchung scheitert an den zu geringen 
Quantitäten, in denen sie mit den gebräuchlichen HUlfsmitteln 
stets nur darstellbar sind. Selbst in den Fällen, in denen uns 
die Wege zur Darstellung genau bekannt sind, scheitert die Aus¬ 
führung an den zu grossen Kosten. Das ist der eine Grund, 
weshalb ich ausser dem Jaffe'sehen Verfahren noch einen 
zweiten Weg zur Darstellung einschlug; der zweite ist, dass 
mir mein Präparat, wenn man aus den physikalischen Eigen¬ 
schaften Rückschlüsse machen darf, reiner erschien, wie das 
nach dem ursprünglichen Jaffe’schen Verfahren dargestellte. 

Die fällende Wirkung der Phosphorwolframsäure ist übri¬ 
gens eine rein mechanische, das Urobilin an sich ist dadurch 
nicht fällbar. Verdünnt man die alkoholische Lösung des nach 
obigem Verfahren dargestellten Urobilins mit Wasser und säuert 
mit Salzsäure an, so entsteht selbst in Lösungen von so erheb¬ 
liche Concentration, das3 sie den ganzen blauen und violetten 
Theil des Spectrums absorbiren, bei Zusatz von Phosphor¬ 
wolframsäure kein Niederschlag. Nur wenn die Urobilinlösung 
Substanzen enthält, welche an sich durch Phosphorwolframsäure 
fällbar sind, wird es bei der Bildung des Niederschlages mecha¬ 
nisch mit niedergerissen. 

Löst man nun eine Spur des auf dem angegebenen Wege 
dargestellten Urobilins in verdünnter Natronlauge und setzt ver¬ 
dünnte Kupfersulfatlösung oder verdünnte Fehling’sche Lösung 
hinzu, so färbt sich die ursprünglich rein gelbe Lösung rosa bis 
rothviolett. Die Reaction gleicht am meisten der des wahren 
Peptons, vielleicht ist selbst in dieser noch etwas mehr Violett vor¬ 
handen, wie beim Urobilin. Dieser Unterschied kommt für den 
Harn aber nicht in Betracht und kann nicht etwa zur Unter¬ 
scheidung von Albumose benutzt werden, da man sich, wie 
Huppert 1 ) mit Recht bemerkt, bei der Untersuchung des Harns 
auf Pepton resp. Albumosen wegen der Eigenfärbung der unter¬ 
suchten Lösung, mit einer rothen, selbst gelbrothen Färbung der 
Lösung zufrieden geben, diese als beweisend betrachten muss. 
— Prüft man die alkalische Lösung spectroskopisch, so kann 
man leicht feststellen, dass der Absorptionsstreifen nach Zusatz 
von Kupfersulfat stärker wird, ohne indessen jemals so scharf 
begrenzt zu sein, wie nach Zusatz von Chlorzink. Versetzt man 
normalen Harn mit soviel einer alkoholischen Lösung von Uro¬ 
bilin, dass die spectroskopische Untersuchung einen starken und 
gut begrenzten Absorptionsstreifen ergiebt, so giebt derselbe 
sowohl direkt mit Natronlauge + Kupfersulfat (oder Fehling’scher 
Lösung) Biuretreaction, als auch nach vorgängiger Fällung mit 
Phosphorwolframsäure. 

Da Uber die quantitativen Verhältnisse des Urobilins bisher 
nichts bekannt ist, so füge ich hier noch einige hierauf bezüg¬ 
liche Beobachtungen an. 

0,0074 g Urobilin durch Verdunsten einer Chloroformlösung 
im Wasserbad erhalten, wurden in 100 ccm Alkohol gelöst. Die 
Lösung, welche demnach 0,0070 pCt. enthielt, zeigte bei der 
sprectroskopischen Untersuchung einen ausserordentlich starken 
und schwarzen Absorptionsstreifen. 

Dieselbe Lösung, von welcher bei der spektroskopischen 
Untersuchung nichts verloren war — das gebrauchte Reagens- 


1) Analyse des Harns. 1890. S. 26. 


glas wurde mit Alkohol ausgespült — wurde durch Eindampfen 
auf dem Wasserbad auf 25 ccm reducirt. Diese Lösung enthielt 
also 0,0296 oder rund 0,03 pCt. Eine mit Wasser auf das 
Zehnfache verdünnte Lösung, welche also 0,003 pCt. enthält, 
zeigte folgendes Verhalten. Die spektroskopische Untersuchung 
ergiebt einen ziemlich starken Absorptionsstreifen, welcher bei 
Zusatz von Natronlauge verschwindet. Bei Zusatz von Kupfer¬ 
sulfat wird die alkalische Lösung schwach rosenroth und giebt 
einen undeutlich begrenzten Streifen. Bei Zusatz von Chlorzink 
wird die alkalische Lösung intensiv rosenroth, mit starker 
grüner Fluorescenz, zeigt den charakteristischen Streifen. Da 
sich die Beobachtung an 5 ccm Flüssigkeit gut anstellen lässt, 
so ist also 0,15 mgr oder rund */ 7 mgr Urobilin in alkalisch 


wässeriger Lösung (bei einem Gehalt derselben von 


1 


33 000 


an 


seinen physikalischen Eigenschaften bei Zusatz von Chlorzink 
noch gut erkennbar. 

Stellt man diese Verdünnung mit Harn her (also 0,003 pCt. 
Urobilin), so zeigt ein solcher Harn noch einen schwachen Ab¬ 
sorptionsstreifen, aber bei der Fällung mit Phosphorwolframsäure 
kaum noch eine scheinbare Biuretreaction'), jedenfalls dürfte 
dieses die äusserste Grenze sein, während das Urobilin durch 
die eigentliche Urobilinreaction, namentlich durch die nach Zu¬ 
satz von Ammoniak und Chlorzink eintretende grüne Fluorescenz 
noch leicht direkt erkennbar ist. Es ist also keineswegs die 
Fällung mit Phosphorwolframsäure etc. als eine neue für die 
Erkennung des Urobilins verwendbare Reaction anzusehen. 

Dass auch in Auszügen von Faeces die Biuretreaction unab¬ 
hängig von ihrem Gehalt an Albumosen auftreten kann, davon 
kann man sich am einfachsten überzeugen, wenn man einen 
alkoholischen, unter Zusatz von ein wenig Salzsäure hergestellten 
Auszug aus Faeces mit dem gleichen Volumen Wasser verdünnt 
und mit Aether schüttelt. Das Urobilin geht unter diesen Um¬ 
ständen — wenn auch nicht vollständig — in den Aether über. 
Der beim Verdunsten der Aetherlösung bleibende Rückstand giebt 
mit verdünnter Natronlauge und Kupfersulfat Biuretreaction. 
Besser noch fällt dieselbe aus, wenn man den Rückstand mit 
schwachem Alkohol extrahirt, den Auszug ansäuert und mit 
Chloroform schüttelt u. s. w. Von Albumosen kann in diesen 
Lösungen nicht die Rede sein. Der grosse Gehalt der Faeces 
an Urobilin führt in Anbetracht des Umstandes, dass zur Dar¬ 
stellung von Urobilin geeigneter Harn nicht jederzeit zur Ver¬ 
fügung steht, ausserdem die Ausbeute gering ist, naturgemäss 
immer wieder zu dem Versuch, zur Reindarstellung des Urobilins 
von den Faeces auszugehen. Nach einigen Vorversuchen, die 
ich angestellt habe, erscheint die Benutzung dieses Materials 
nicht aussichtslos, die Frage ist jedoch noch nicht abgeschlossen. 

Um zu resümiren, so steht es also fest, dass das Urobilin 
Biuretreaction giebt und dass der Gehalt des Harns daran zur 
Verwechselung mit Albumose führen kann, da das Urobilin aus 
dem Harn durch Phosphorwolframsäure fällbar ist. 

Es erhebt sich nun noch eine Reihe von Fragen, welche in 
Folgendem kurz beantwortet werden sollen: 1. Geben auch 
andere Harnfarbstoffe scheinbare Albumosereaction? 2. Giebt 
jeder urobilinhaltige Harn Albumosereaction? 3. Unter welchen 
Umständen ist die fälschliche Annahme von Albumose zu be¬ 
fürchten? 4. Wie verfährt man, um bei starkem Urobilingehalt 
Albumose nachzuweisen ? 


1) In allen zweifelhaften Fällen empfleht es sich, die Probe einige 
Zeit stehen za lassen, ehe man sich darüber entscheidet, ob sie als 
positiv oder negativ aufzufassen sei, ferner, sie zu flltriren, namentlich 
bei Anwendung von Kupfersulfatlösung. Dies gilt auch für den Nach¬ 
weis der Albumosen. 


1 * 


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356 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 17. 


1. Bezüglich der ersten Frage wurde icterischer Ham, sehr 
concentrirter dunkelgefärbter normaler Ham, endlich noch sehr 
dunkel, bräunlich gefärbter pathologischer Ham, dessen Farbstoff 
auf keinen der bekannten Farbstoffe zurückgeführt werden 
konnte, untersucht, und zwar einerseits direkt, andererseits 
Proben von je 50 ccm durch Fällung mit Phosphorwolframsäure. 
Das Resultat war in allen Fällen ein gänzlich negatives. Ebenso 
geben lebhaft rosenroth gefärbte Fiebersedimente in alkalischer 
Lösung keine Biuretreaction. Die Gefahr, dass noch andere 
Farbstoffe ausser dem Urobilin Alburaose Vortäuschen könnten, 
liegt also zunächst nicht vor. 

2. Wenn dem Urobilin Biuretreaction zukommt, so sollte 
man erwarten, dass jeder genügend urobilinhaltigc Ham sowohl 
direkt, als auch nach Fällung mit Phosphorwolframsäure Biuret¬ 
reaction giebt. Thatsächlicli ist dieses aber nicht immer der 
Fall. Die Verhältnisse liegen bei pathologischen Harnen nicht 
so einfach, wie bei normalen, mit Urobilin versetzten Hamen. 
Man findet gamicht so selten Harne, welche trotz starken, ja 
selbst reichlichen Urobilingehaltes — darunter verstehe ich solche 
Harne, welche bei der direkten spektroskopischen Untersuchung 
einen wohl ausgebildeten schwarzen »Streifen erkennen lassen 
— weder direkt, noch nach Fällung mit Phosphorwolfram¬ 
säure Biuretreaction geben. Dies kann davon herrühren, 
dass der Harn ausser Urobilin noch in erheblicher Quantität 
andere dunkele, gleichfalls durch Phosphorwolframsäure fällbare 
Farbstoffe enthält, welche bei Anstellung der Biuretreaction die 
Violettfärbung verdecken. Man kann sich in der That leicht 
davon überzeugen, dass solche Farbstoffe in den urobilinreichen 
Fieberharnen in geringerer Quantität vielleicht stets, mitunter 
in sehr grosser Quantität enthalten sind, w'enn man zu einem 
normalen Ham so viel alkoholische Urobilinlösung hinzusetzt, 
dass sein Urobilingehalt — beurtheilt nach der Intensität des 
Streifens — ebenso gross ist, wie der des zum Vergleich heran¬ 
gezogenen Fieberharns. Es ergiebt sich dann stets, dass die 
Farbe des Fieberharns dunkler, mitunter sehr bedeutend dunkler 
ist, wie die des mit Urobilin versetzten Harns, häufig ist auch die 
Farbennüance eine andere. Solche Harne, welche trotz starken 
Urobilingehalts keine Biuretreaction geben, sind gamicht so 
selten. Zufällig sind sie unter den ersten Fällen, welche meine 
Aufmerksamkeit erregten, nicht vertreten gewesen. Die ersten 
Ausnahmsfälle machten mich erklärlicherweise an der Deutung 
der scheinbaren Albumosereaction einigermaassen irre, bis sich 
der Zusammenhang in befriedigender Weise auf klärte. 

Ich gelange endlich zur Beantwortung der Frage, unter 
welchen Umständen das zum Nachweis der Albumose angegebene 
Verfahren nicht mehr als beweiskräftig anzusehen ist, und wie 
man in solchen Fällen zu Werke gehen soll. 

Nach meinen Erfahrungen an pathologischen und an mit 
Urobilin (in alkoholischer Lösung) versetzten Hamen ist eine 
Verwechselung von Alburaose und Urobilin nur dann zu be¬ 
fürchten, wenn der Ham bei der direkten spektroskopischen 
Untersuchung einen w: hl ausgebildeten Streifen zeigt. Die Ent¬ 
scheidung darüber wird freilich immer einigermaassen subjectiv 
bleiben. Man wird in solchen Fällen auch an der fertigen 
Biuretprobe (nach vorgängiger Ausfällung mit Phosphorwolfram¬ 
säure) einen, wenn auch nur schwachen und schlecht begrenzten 
Absorptionsstreifen finden. 

Die Feststellung eines Gehaltes an Albumosen in urobilin¬ 
reichem Ham ist nun anscheinend sehr einfach. Urobilin wird 
durch basisches Bleiacetat völlig ausgefällt, Albumosen sind — 
mindestens in der hier in Betracht kommenden Concentration — 
nicht fällbar, also müsste es, so sollte man meinen, genügen, den 
Ham mit Bleiessig zu fällen und das Filtrat zur weiteren Unter¬ 


suchung zu benutzen. Allein im Ham verhält sich die Sache 
leider nicht so einfach. 

Zu den Versuchen dienten normale, mit Urobilin versetzte 
und pathologische urobilinreiche Harne, welche mit kleinen 
Quantitäten eines Gemisches gleicher Theile primärer und secun- 
därer Albumose versetzt waren: 0,02 auf 100 ccm Harn. Den 
klinischen Zwecken entsprechend, wurden die Versuche nur an 
kleinen Quantitäten — 10 bis 40 ccm — Ham ausgeflihrt. Ver¬ 
sucht wurde die Ausfällung mit basisch essigsaurem Blei, mit 
neutralem essigsaurem Blei, die Entfärbung mit Kohle und die 
AusschUttelung des Urobilins mit Amylalkohol nach vorgängigem 
Ansäuern mit einigen Tropfen Salzsäure. 

Durch basisch essigsaures Blei wird allerdings das Urobilin 
vollständig gefällt und unschädlich gemacht, oder es geht auch 
ein mehr oder weniger erheblicher Theil der Albumose in den 
Bleiniederschlag Uber und entzieht sich dem Nachweis, die 
Reaction fällt also auch in normalem, mit Albumose versetztem 
Harn unter allen Umständen schwächer aus, als ohne vorgängige 
Ausfällung mit Bleiessig. 

Im Wesentlichen dasselbe gilt von der Fällung mit neu¬ 
tralem Bleiacetat. Dasselbe fällt, obwohl es als Mittel zur Fäl¬ 
lung des Urobilins aus Harn in der Regel nicht benutzt wird, 
das Urobilin bis auf unbedeutende Reste, welche nicht in Be¬ 
tracht kommen, aus, aber es reisst ebenso wie das basische 
Bleiacetat Albumosen mit. Le ick (1. c.) hat bei seinen Unter¬ 
suchungen regelmässig den Ham zum Zweck der Entfärbung mit 
neutralem Bleiacetat gefällt und das Filtrat zur Untersuchung 
auf Albumose benützt. Man kann danach wohl annehmen, dass 
seine positiven Angaben Uber das Vorkommen von Albumose 
auch da, wo sie urobilinreiche, z. B. Fieberharne betreffen, zu 
Recht bestehen, trotzdem auf das Urobilin noch nicht speciell 
Rücksicht genommen werden konnte. Nicht ganz so sicher bin 
ich hinsichtlich seiner negativen Angaben. Im Allgemeinen 
halte ich es für besser, den Ham direkt mit Phosphorwolfram¬ 
säure zu fällen, nicht allein weil dieses einfacher ist, sondern 
auch weil die Reaction bei Anwendung von basischem oder neu¬ 
tralem Bleiacetat bei Gegenwart sehr kleiner Quantitäten Albu¬ 
mose wohl einmal versagen kann. Allerdings muss ich zugeben, 
dass ohne Anwendung von Bleiacetat gelegentlich die Anstellung 
der Reaction unmöglich ist wegen der zu starken Färbung der 
Flüssigkeit, zu welcher das Kupfersulfat hinzugesetzt werden soll. 

Um diesen störenden Einfluss des Farbstoffes möglichst ge¬ 
ring zu machen, stelle ich in der Regel die Probe nur an sehr 
kleinen Quantitäten — 10 bis 15 ccm — Ham an, und zwar 
im Reagensglas. Die Biuretreaction ist dabei allerdings immer 
nur sehr blass, dafür aber die Färbung reiner. Nimmt man ca. 
50 ccm, so ist die Färbung weit intensiver, aber wegen der 
grösseren Menge Hamfarbstoff weniger charakteristisch; ich gebe 
indessen bereitwillig zu, dass hier dem subjectiven Ermessen ein 
grosser Spielraum gelassen ist. 

Auch die beiden anderen versuchten Wege, die Entfärbung 
des Harns mit Kohle und Ausschütteln des angesäuerten Harns 
mit Amylalkohol, sind von dem Fehler, dass dabei Albumose 
verloren geht, nicht frei. 

Was die Entfärbung des Harns mit Kohle betrifft, so absor- 
birt dieselbe um so weniger Albumose, je kürzere Zeit sie mit 
dem Ham in Berührung bleibt. Um in dieser kurzen Zeit eine 
einigermaassen vollständige Entfärbung zu bewirken, muss man 
eine sehr gut wirksame Kohle verwenden (von H. Flemming 
in Kalk bei Köln). Um nichts zu versäumen, habe ich auch 
grössere Quantitäten Ham — 400 bis 500 ccm — nach dem 
ursprünglichen Verfahren von Hofmeister verarbeitet, ohne da¬ 
mit weiter zu kommen, als mit kleinen Mengen nach meinem 
Verfahren. 


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357 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


23, A pril 1897. 

Ob es gelingt, auf einem anderen Wege, unter Verzicht- 
leistung auf die Anwendung der Phosphorwolframsäure, zu einem 
voll befriedigenden Resultat zu gelangen, mllssen noch weitere 
Versuche lehren. 

FUr die freundliche Auswahl und Ueberlassung geeigneten 
Materials bin ich Herrn Dr. II. Strauss, Oberarzt an der III. 
medic. Klinik des Herrn Geh. Med.-Rath Prof. Senator zu leb¬ 
haftem Dank verpflichtet. 


II. Aus dem Institut für Hygiene und Bacteriologie 
der Universität Strassburg, Professor Dr. J. Förster. 

Ueber die Fähigkeit des Pneumococcus Fränkel, 
locale Eiterungen zu erzeugen. 

Von 

Dr. med. Hajo Brnos, Assistenten des Instituts. 

Fllr eine Reihe von localisirten Entzündungen ist schon seit 
langer Zeit der Diplococcus pneumoniae Fränkel als ätiologische 
Grundlage bekannt; jedoch ist es nur in beschränktem Maasse 
gelungen, an Thieren durch Einverleibung der Pneumokokken 
die gleichen Processe hervorzurufen. Es liegt dies unzweifelhaft 
daran, dass Kaninchen und Mäuse wenigstens gegen diese Bac- 
terien weniger widerstandsfähig sind, als die Menschen; diese 
Thiere gehen selbst nach Einspritzung minimaler Mengen so 
schnell an der sich entwickelnden Pneumokokkensepsis zu Grunde, 
dass es gar nicht erst zur Bildung von localisirten Erkrankungen 
kommt. So gelingt es nur bei sehr günstig liegenden Versuchs¬ 
bedingungen, durch Inhalation eine Pneumokokkenpneumonie 
herbeizufUhren. Eine Endocarditis zu erzeugen, ist andererseits 
nur möglich, wenn man nach dem Vorgang von 0. Rosenbach 1 ), 
vorher durch gewaltsame Zerstörung der Klappensegel dem 
Eindringen der Pneumokokken günstige Verhältnisse schafft. 
Eine Ausnahme von den gewöhnlichen Versuchstieren bilden in 
dieser Beziehung die Meerschweinchen, die, wie schon A. Fränkel 
in seiner ersten Publication Uber Pneumokokken 2 3 ) angiebt, nur 
bei Einverleibung von grösseren Mengen der Microorganismen 
constant zu Grunde gehen, dann aber auch meistens unter dem 
Bilde einer Allgemeininfection. Iudessen ist es Boulay*) ge¬ 
lungen, bei diesen Thieren jedesmal Peritonitis zu erzeugen, 
wenn er die Pneumokokken zugleich mit einem festen Material, 
z. B. Blut oder Gelatine ins Peritoneum brachte. Um so inter¬ 
essanter war mir also der Befund von Pneumokokken in dem 
peritoniti8chen Exsudat von Meerschweinchen, die mit mensch¬ 
lichem Sputum intraperitoneal geimpft waren. Dieses Sputum, 
das Herr Professor Madelung die Gute hatte, dem Institute 
zur Untersuchung zu übersenden, stammte von einem Manne, der 
an einer hartnäckigen chronischen Bronchitis mit starker 
Bronchorrhoe litt, und enthielt mikroskopisch neben anderen 
Bacterien auch zahlreiche Pneumokokken. Dieser Befund konnte 
bei verschiedenen Untersuchungen mehrere Monate hindurch er¬ 
hoben werden, und ich '^möchte gleich jetzt hervorhebeu, dass 
auch bei wiederholter PrUfung nach Monaten noch die Bacterien 
stets die gleiche Virulenz und dieselbe lokal pyogene Wirkung, 
von der ich später ausführlich sprechen werde, besassen. Zwei 
mit je V, ccm Sputum intraperitoneal geimpfte Meerschweinchen 

1) Archiv für experimentelle Pathologie, Bd. X. 

2) Zeitschrift fiir klinische Medicin, Bd. X und XI. Bacteriologischc 
Mittheilungen nnd Beiträge zur Lehre von den Mikroorganismen der 
genuinen croupösen. Pneumonie. 

3) Bonlay: Des affections ä pneumococques independantes de la 
pneumonie franche These. Paris 1891, Steinbeil. 


waren am zweiten und dritten Tage zu Grunde gegangen: es 
zeigte sich als Todesursache eine starke eitrig-fibrinöse Perito¬ 
nitis. In dem Exsudat Hessen sich ungeheure Mengen von 
Diplokokken, im Milzsaft und im Herzblut im Vergleich dazu 
nur sehr spärliche nachweisen. Die Identität dieser Diplokokken 
mit den Fränkel’schen Pneumokokken wurde nun durch folgende 
Kriterien bestimmt: die Gestalt der Kokken, die oft zu zweit, 
manchmal auch in Ketten zu 4, G oder 8 aneinanderlagen, war 
länglich, oft lanzettförmig: sie lagen stets ausserhalb der Eiter¬ 
körperchen. Im Thierkörper Hessen sich jedesmal mit leichter 
MUhe durch Färben mit Carbolfuchsinlösung, Entfärben in 2proc. 
Essigsäure während 10—20 Secunden und Einlegen in Wasser') 
deutlich Kapseln zur Darstellung bringen. Namentlich das Be¬ 
trachten der in Wasser Hegenden Präparate liess die Kapseln 
in deutlichster Weise zur Anschauung kommen. Bei Kettenbil¬ 
dung verhielten sich die Kapseln so, dass entweder die ganze 
Kette durch eine einzige Kapsel umschlossen wurde, oder aber 
jedes Paar fUr sich eine besondere Kapsel besass. Endlich 
blieben die Diplokokken sowohl in Reinculturen, wie im thieri- 
seben Material bei Anwendung der Gram’schen Färbemethode 
tingirt. Auch culturell zeigten die Bacterien dieselben Eigen¬ 
schaften, wie die FränkeUsehen Pneumokokken; auf Glycerin¬ 
agar und Blutserum wuchsen sie in kleinen wasserhellen 
Colonien, in Bouillon entstand Trübung. Dagegen möchte ich 
besonders hervorheben, dass auch auf Gelatine bei 24—25° ein 
deutliches Wachsthum stattfand, und dass es gelang, wenn die 
Bacterien alle 2 oder 3 Tage Uberimpft wurden, sie durch vier 
Generationen zu züchten. 

Es wurden nun mit dem peritonitischen Exsudate der Meer¬ 
schweinchen, das die beschriebenen Bacterien in Reincultur in 
grösster Menge enthielt, 3 Meerschweinchen mit je 1 ccm wieder 
intraperitoneal geimpft. Zwei starben .am zweiten, eins am 
dritten Tage, alle drei wieder unter den Zeichen einer fibrinös- 
eitrigen Peritonitis. Es gelang bei allen Thieren, ausser im 
Peritonealexsudat, wo die Bacterien wieder in colossalen Mengen 
vorhanden waren, auch in der Milz und im Herzblut Pneumo¬ 
kokken nachzuweisen. Weiter wurden iutraperitoneal mit Ex¬ 
sudat geimpft je ein Meerschweinchen mit 0,5 und 0,3 und ein 
Kaninchen mit 0,5, dazu ein Kaninchen subcutan ebenfalls mit 
0,5. Wieder gingen sämmtliche Thiere nach 2—4 Tagen zu 
Grunde, das zuletzt erwähnte Kaninchen an der typischen 
Pneumokokkensepsis mit Bacterienbefund in Leber, Milz, Herz¬ 
blut, die anderen Thiere an Peritonitis; doch Hessen sich bei 
den beiden Meerschweinchen diesmal nur im Exsudat Pneumo¬ 
kokken nachweisen. In Herzblut und Milz fehlte der Befund. 
Bei dem subcutan geimpften Thier war ausserdem an der Impf¬ 
stelle ein starkes Oedem aufgetreten, in diesem wieder zahlreiche 
Pneumokokken. Auch Reinculturen erwiesen sich in gleicher 
Weise infectiös; es starben zwei Meerschweinchen mit 1,0 und 
0,5 einer 24stUndigeu Bouilloncultur, die ihnen intraperitoneal 
beigebracht waren, nach 1 und 2 Tagen, ebenso zwei Kaninchen 
mit 0,5 und ein Meerschweinchen mit 0,3 subcutan an den 
gleichen Erscheinungen, wie die früher erwähnten Thiere. Bei 
dem ersten Meerschweinchen, bei dem die Krankheit nur 24 
Stunden etwa gedauert hatte, wurden in den Organen und im 
Herzblut die Bacterien vermisst. 

Wir haben hier das Bemerkenswerthe, dass bei einfacher 
intraperitonealer Einverleibung einer Reincultur von Pneumokokken 
fibrinös-eitrige Peritonitis auftrat, ohne dass wie in den Boulay- 
seben Experimenten es nöthig war, fremde, schwer resorbirbare 
Substanzen den Mikroorganismen beizufUgen. Es ist also hierdurch 


1) Jobne’sche Kapselfärbung, Zeitschrift flir Thiermedicln und 
vergleichende Pathologie, Bd. 19, 8. 244. 


2 


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358 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 17. 


gezeigt, dass der Pneumococcus unter Umständen allein lokale 
eitrige Processe, in unserem Falle Peritonitis in Scene zu setzen 
vermag. Die ersten Befunde, dass durch die Injection von 
Sputum oder auch des Peritonalexsudats eine Peritonitis ent¬ 
standen ist, sind ja mit den Boulay’sehen Thierversuchen ohne 
weiteres in Einklang zu bringen, da ja auch bei ihnen die 
Pneumokokken gewissermaassen mit einer umhüllenden Schicht 
umgeben sind, die es verhindert, dass sie leicht resorbirt werden, 
in die Circulation gelangen und so Allgemeininfection hervor- 
rufen. Allerdings möchte ich hier noch bemerken, dass auch 
bei Injection von Sputum, welches Pneumokokken enthält, eine 
lokale Pneuraokokkeneiterung nur ausnahmsweise wohl in die 
Erscheinung tritt; denn sonst wäre dieser Befund in der Literatur 
wohl verzeichnet. Auch weiss ich durch mündliche Mittheilung 
von Herrn Professor E. Levy, dass er bei zahlreichen (Uber 100), 
zu anderen Zwecken (Tuberculose-Diagnose) erfolgten intra¬ 
peritonealen Sputumeinverleibungen bei Meerschweinchen niemals 
bis zu obigem Befund eine derartige Pneumokokkenperitonitis 
erzielt hat. 

Da wir nun also einen Pneumococcus in Händen hatten, der 
bei starker Virulenz für Kaninchen und Meerschweinchen im 
Thierexperiment locale Eiterung erzeugte, lag der Versuch nahe, 
mit demselben experimentell auch Meningitis zu erzielen. Nach 
einer kürzlich aus dem hiesigen Institut von Sidney Wolf 1 ) 
veröffentlichten Zusammenstellung ist neben dem Diplococcus 
intracellularis Weichselbaum der Pneumococcus Fränkel der 
häufigste Erreger der Meningitis. Es wurde zunächst wieder 
an Meerschweinchen der Versuch gemacht; der Schädel wurde 
bei zwei Thieren freigelegt, darauf aus der rechten Hälfte des 
Hinierkopfes ein etwa 5 Pfennigstück grosses Knochenstückchen 
mit dem Trepan herausgebohrt, dann ihnen subdural mit einer 
gebogenen Pravaznadel 1,0 und 0,5 eine AufschwemrauDg einer 
24stündigen Agarcultur in ca. 3 ccm Bouillon beigebracht. Beide 
Thiere zeigten kurz nach der Operation ausser taumelndem 
Gang keine Besonderheiten. Ara anderen Morgen (nach etwa 
18 Stunden) war das erste todt, das andere starb 3 Stunden 
später. Bei der Section zeigten sich in Milz und Herzblut keine 
Pneumokokken, die Meningen waren besonders an der Schädel¬ 
basis stark getrübt und enthielten sowohl im Bereiche des Gross¬ 
hirns, wie im Bereiche der ganzen Medulla spinalis bis zum 
Lumbalraark hinunter zahlreiche Pneumokokken. Eine Bildung 
von Eiter hatte jedoch in der kurzen Zeit noch nicht statt¬ 
gefunden. Derselbe Versuch wurde nun an Hunden wiederholt; 
am 16. Februar wurde in gleicher Weise bei einem grösseren 
und einem kleineren Hunde in Aethemarkose aus dem frei¬ 
gelegten Occiput ein Knochenstückchen mit dem Trepan ent¬ 
fernt, ohne die Dura zu verletzen. Unter die freiliegende Dura 
wurde dem grösseren Thier 0,5, dem kleineren 0,3 einer gleichen 
Aufschwemmung einer 24stündigen Agarcultur in etwa 3 ccm 
Bouillon applicirt. Beide Thiere zeigten kurze Zeit nach der 
Operation, nachdem die Wirkung der Narkose vorüber war, 
keinerlei Störung, liefen herum, bellten, nahmen Speise zu sich. 
Ara folgenden Tage war jedoch bereits der erste schwer krank, 
lag vollständig apathisch in seinem Käfig, schrie und heulte 
fortwährend. Am Morgen des 18. Februar ging er zu Grande. 
Der zweite, bei dem die Krankheit langsam zur Entwickelung 
kam, starb am 19. II., etwa 2 1 /, Tage nach der Operation. Bei 
beiden Thieren fanden sich wieder in Milz und Herzblut weder 
mikroskopisch noch culturell Pneumokokken, dann wurden durch 
Aufmeisselung des Schädels und des Wirbelcanals Gehirn und 
Rückenmark in toto herausgenommen, und da zeigte es, dass es 


1) Sidney Wolf, Ein Beitrag zur Aetiologie der circumscripten 
Meningitis. Berl. klin. Wochenschr. 1897, No. 10, S. 200. 


hier in beiden Fällen zur deutlichen Meningitis mit Bildung von 
Eiter gekommen war. Namentlich in dem zweiten Falle, dev 
einen Tag länger gelebt hatte, war die Eiterbildung so aus¬ 
gesprochen, wie man sie bei menschlicher Meningitis zu sehen 
bekommt. Der Eiter sass besonders wieder an der Schädelbasis 
und im Bereich des Rücken- und Lendenmarks und enthielt 
neben zahlreichen Eiterkörperchen sehr viele, mit deutlichen 
Kapseln versehene, stets ausserhalb der Zellen liegende Pneumo¬ 
kokken. 

Derartige Versuche, Meningitis zu erzeugen, hat, wie mir 
nachträglich bekannt wurde, bereits Netter') in Paris bei 
Kaninchen angestellt. Einem Thiere wurden subdural auf die 
Grosshirnrinde, einem in der Gegend des Bulbus und einem in 
der Höhe der letzten 3 Lumbalwirbel Pneumokokken injicirt. 
Er bekam im ersten Falle cerebrale Meningitis mit einem blass- 
röthlichen Exsudat, das zahlreiche Pneumokokken enthielt wäh¬ 
rend die spinalen Meningen unversehrt blieben; beim zweiten 
und dritten Thier entstand Cerebrospinalmeningitis mit leicht 
hämorrhagischem Exsudat. Ausserdem erzeugte er bei einem 
vierten Kaninchen nach vorhergehender Cauterisation einer 
kleinen Fläche der Grosshirnrinde durch intrapulmonale Injection 
von Pneumokokken eine Meningitis. Bei säramtlichen 4 Thieren 
war Allgemeininfection vorhanden. Netter bemerkt ferner, dass 
A. Fränkel ohne Erfolg versucht hat, im Thierexperiment 
Meningitis zu erzeugen, dagegen seien Foa und Bordoni 
Uffreduzzi glücklicher gewesen. Meine Versuche mit Menin¬ 
gitis zeichnen sich dadurch aus, dass sie bei Thieren unter¬ 
nommen sind, die nicht besonders empfänglich sind für Pneumo¬ 
kokken, und bei denen es dämm auch nicht zu einer Allgemein¬ 
infection gekommen ist. 

Bezüglich des Ursprungs meiner Bacterien möchte ich noch 
darauf hinweisen, dass wir Uber ähnliche Erkrankungen in der 
Umgebung unseres Patienten nichts in Erfahrung bringen konnten. 
Immerhin aber weist das constante Vorhandensein derartiger 
Bacterien im Sputum einer Person durch Monate hindurch dar¬ 
auf hin, dass die Gelegenheit für die Verbreitung dieser Mikro¬ 
organismen und durch sie hervorgerufene Infectionen eine ausser¬ 
ordentlich grosse ist. Ob es sich nun hier um eine Varietät 
der häufig im Mundspeichel vorkommenden avirnlenten Pneumo¬ 
kokken gehandelt hat, die durch irgend welche besonderen Um¬ 
stände ihre Virulenz und local pyogenen Eigenschaften bekommen 
haben, diese Frage muss eine offene bleiben. 

Zum Schluss erübrigt mir noch, den Herren Professoren 
J. Förster und E. Levy für die Anregung zu dieser Arbeit, 
sowie für den mir ertheilten Rath und thatkräftige Unterstützung 
meinen herzlichsten Dank abzustatten. 


III. Ueber Uratablagerungen in der Fusssohle, 
ihre Entstehung und Behandlung. 

(Irreguläre Gicht?) 

Von 

Dr. Kittel -Franzenabad. 

Zwischen der Aponeurose des Fusses und dem Knochen¬ 
gerüste desselben entstehen zuweilen Ablagerungen, die beim 
Druck dem Kranken derartige Schmerzen verursachen, dass er 
schliesslich das Gehen ganz aufgeben muss. Die Anamnese er- 
giebt meistens keine genügende Auskunft; die Untersuchung des 
Fusses — besonders im Anfangstadium der Erkrankung — be- 

1) Netter, De la mthiingite duc au pneumococque. Paris 1887. 


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26. April 

.friedigt nocb weniger. Auf Grund meiner langjährigen Er¬ 
fahrungen, die ich in dieser Beziehung gesammelt habe, bin ich 
zu der Ueberzeugung gekommen, dass diese Functionsstöruugen 
des Fusses — deren Ursachen, Wirkungen und Folgen — vom 
Arzte nicht immer richtig erkannt werden und infolgedessen 
nicht die Würdigung gefunden haben, die sie verdienen. — Diese 
Ablagerungen erstrecken sich nicht allein auf die Basis des Ge¬ 
wölbes — die Aponeurose —, sondern sie füllen das Gewölbe 
selbst aus und zwar am stärksten dort, wo der Widerstand am 
schwächsten ist: an der inneren knochenfreien Wand des Ge¬ 
wölbes. 

Die Ablagerungen sind nun von verschiedener Consistenz; 
sie durchlaufen die ganze Phase von der einfachen, sammtartigen, 
kaum fühlbaren Sandform an bis zu den festen, steinartigen Ge¬ 
bilden. Es ist natürlich, dass an den Stellen, an denen es zu 
festen Ablagerungen kommt, dieselben kleinere oder grössere 
Depots bilden; letztere müssen unabweislich eine Verschiebung, 
eine Verdrängung der im Gewölbe aufgebauten Formelemente 
herbeifuhren; sie müssen folgerichtig einen Druck erzeugen und 
dieser Druck bewirkt Schmerzen, und die Schmerzen sind um so 
empfindlicher, je grösser der Raum ist, den die Ablagerungen 
einnehmen und je härter letztere geworden sind. Diese Con- 
cremente sind nicht das Werk eines Augenblickes, sondern sie 
sind langsam entstanden, fast schleichend, so dass die Anfänge 
dieses Processes selten erkannt, selten beobachtet werden können. 
Erst in einem späteren Stadium der Entwickelung kommt der 
Kranke allmählich zu der Ueberzeugung, dass es mit seinen 
Füssen nicht „ganz richtig“ sei; er bemerkt, dass er nicht mehr 
so sicher auftreten könne wie früher; unbestimmte Schmerzen 
befallen ihn auf seinen Spaziergängen, namentlich aber beim 
Treppensteigen; das Gehen wird ihm immer lästiger und an¬ 
strengender; das Fii8sgelenk wird steif; die Beine schwellen in¬ 
folge der Anstrengung an; er wird schliesslich bettlägerig. — 
In dieser Zeit ist der Process bereits beendet; bedient .sich der 
Patient erst einmal der Krücken, um überhaupt vorwärts zu 
kommen, dann haben wir es mit festen, harten Gebilden zu 
thun; denn Concremente von einer weichen, noch zerdrückbaren 
Consistenz werden den Fuss in seiner Function allerdings er¬ 
heblich beeinträchtigen, aber der Kranke ist in seinen Geh¬ 
bewegungen noch nicht auffallend behindert, obwohl diese 
Thätigkeit bisweilen schon unter grossen Schmerzen ausgeführt 
wird. Diese Schmerzen sind ferner noch nicht constant; sie 
cessiren je nach Lage und Verschiebbarkeit der Concremente; 
gewinnen indessen die letzteren die Form von festen, harten 
Gebilden, wodurch sie auch an Ausdehnung gewinnen, dann 
wird für die Dauer sowohl das Gehen wie das Stehen eine Un¬ 
möglichkeit; der Druck wird ein zu grosser, der Kranke kann 
die Summe der daraus resultirenden Schmerzen nicht ertragen; 
er greift zu HUlfsmitteln; er bedient sich Anfangs des Stockes, 
dann der Krücken, oder er muss geführt werden — bis auch 
diese HUlfsmittel versagen; dies ist der Zeitpunkt, in dem der 
Kranke — vollkommen hülflos — zu einer Unthätigkeit ver- 
urtheilt wird, die Wochen, Monate, — ja Jahre lang dauern 
kann. — 

In den von mir behandelten Fällen trat als ätiologisches 
Moment beständig ein und derselbe Factor auf, der die Grund¬ 
lage für die Erkrankung bildete, nämlich Circulationsstörungen, 
die auf Erkältungen, resp. lang andauernde Durchnässungen zu- 
rückzuführen sind. Alle jene Momente nun, welche die Cir- 
culation innerhalb eines Theiles schwer schädigen und zu einer 
Aufhebung der Blutströmung führen, können Gewebsnekrose zur 
Folge haben. Die Kälte wirkt ja contraliirend auf die Blut¬ 
gefässe im Allgemeinen 'so~ lange als der Eindruck der Kälte 
dauert; je länger also ein Körper der Kälte resp. der Durch- 


359 

nässung ausgesetzt ist, desto nachhaltiger wird die dadurch be¬ 
dingte Anämie des betroffenen Theiles werden. Je grösser das 
Terrain ist, welches von der Kälte getroffen worden, desto 
grösser ist also stets die dislocirte Blutmenge; dieselbe kann 
bei starker Erkältung der unteren Extremitäten, durch längeren 
Aufenthalt im kalten Wasser eine sehr erhebliche sein. Die 
dislocirte Blutmenge fehlt nun ihrem bisherigen Körpertheil; 
das betreffende Gewebe verfällt durch die andauernde Anämie 
der Nekrose (Ziegler). Aber nicht nur vollständige Aufhebung 
der Circulation, auch temporäre Aufhebung derselben, die eine 
gewisse Zeit überdauert, führt den Tod des betroffenen Gewebes 
herbei. Der Gewebstod erfolgt dabei meist nicht rapid, sondern 
allmählich, so dass der Process mehr den Character einer fort¬ 
schreitenden Degeneration trägt. — 

In den Säften circuliren die Urate in Form der neutralen 
hamsauren Verbindungen (Ebstein). Das gesunde Gewebe 
wird dadurch in keiner Weise alterirt, denn die Harnsäure ist 
ja ein Product des menschlichen Stoffwechsels. Ist jedoch der 
pathologische Zustand (Nekrose oder Nekrobiose) einmal ein¬ 
getreten, dann ändert die in den Geweben circulirende Harn¬ 
säure ihre flüssige Form; sie tritt gleichsam aus dem flüssigen 
Aggregatzustande in einen festen Uber; die Gewebe, die nekro¬ 
tisch geworden sind oder sich noch im Zustande des Nekroti- 
sirens befinden, werden nicht mehr von flüssiger Harnsäure 
durchtränkt, sondern dieselbe Uberkommt eine gewisse chemische 
Affinität zu dem veränderten Gewebe und zwar tritt sie in Form 
von hamsauren Crystallen im nekrotischen Gewebe auf, die nun, 
was Grösse und Ausdehnung anbetrifft, vollkommen abhäDgig 
sind von dem Umfange des nekrotischen Gewebes. Ob nun 
dabei, wie v. Noorden behauptet, die Hamsäurcablagerung ein 
durch die Gegenwart eines besonderen örtlich thätigen Fermentes 
angeregter Vorgang und vollkommen unabhängig von der Menge 
und dem Verhalten der an anderen Stellen des Körpers gebil¬ 
deten Harnsäure sei, oder ob nach Kleraperer die chemische 
Verwandtschaft der Harnsäure zum nekrotischen Gewebe grösser 
sei als zum Blutserum, bleibt vorläufig eine offene Frage. — 
Während Klemperer behauptet, die Harnsäure krystallisire 
nicht aus dem Blut in das nekrotische Gewebe aus, sondern das 
nekrotische Gewebe reisst die Harnsäure an sich, — bestreitet 
v. Noorden auf das Entschiedenste einen ursächlichen Zu¬ 
sammenhang zwischen Harnsäure und Nekrose. — Wo so viele 
Hypothesen concurriren, schadet eine neue nichts (v. Noorden). 
Nach dem heutigen »Stande der Wissenschaft zu schliessen, ist 
die Nekrotisirung der primäre, das Auskrystallisiren der Urate 
der secundäre Vorgang und zwar muss, bevor letzteres stattfindet, 
die Ernährungsstörung die vorgeschrittensten Grade erreicht 
haben; das Gewebe muss alle Symptome des vollkommenen Ab¬ 
gestorbenseins zeigen (Ebstein). Ist die Ernährungsstörung 
keine vollständige, befindet sich also das Gewebe noch im 
Stadium des Nekrotisirens, da kann von einer Auskrystallisation 
der Urate nicht die Rede sein; es kann sich dort allerdings die 
Harnsäure ablagern, aber nicht in Form von Krystallen; sie ist 
dort nur gebunden; daher findet man auch neben vollkommen 
festen, harten Gebilden, die auf Druck äusserst schmerzhaft 
sind (nekrotisches auskrystallisirtes Gewebe) Partien, die weich 
und zerdrückbar sind und fast keine oder nur geringe Schmerzen 
verursachen (nekrotisirendes Gewebe). — 

Dass diese Concremente in den Füssen das Krankheitsbild 
nicht abschliessen, ist klar; es finden sich daneben stets andere 
pathologische Erscheinungen. Steifheit des Fussgelenkes ist 
wohl als unmittelbare Folge anzusehen; ausserdem finden wir 
Ankylosen der Gelenke, sowohl der oberen wie der unteren Ex¬ 
tremitäten, ebenso Difformitäten und Auftreibungen der Gelenke 
speciell der Hände und in den meisten Fällen Augenentzündungen. 

2 * 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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No. 17. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


_ 3G0 

— Störungen des Digestionsapparates haben sich anamnestisch 
nicht nachweisen lassen; ebenso ist die Function der Niere stets 
eine normale gewesen. — 

Es ist schwer, fUr diese Art der Erkrankung den richtigen 
Namen zu finden; es ist nicht Rheumatismus, es ist auch keine 
ausgesprochene Gicht, vielleicht eher eine Mischform'— eine 
rheumatische Gicht —, wiewohl diese Benennung selbst vieles 
vermuthen lässt, aber nichts beweist. Es scheint mir immer 
noch die Ansicht von Garrod die plausibelste zu sein, diese 
Krankheitsform als irreguläre Gicht zu bezeichnen, welche von ver¬ 
schiedenen Autoren als atonische, anomal localisirte, schleichende 
oder als Gicht ausser den Gelenken angeführt wird. — Ein ent¬ 
schiedener Gegner dieser Ansicht ist ja Ebstein, der nur 
2 Formen der Gicht anerkennt; a) die primäre Gelenkgicht, 
b) die primäre Nierengicht, während Garrod die reguläre und 
die irreguläre Gicht annimmt. — 

Die Behandlung der Hamsäureconcremente ist wohl so alt 
wie die Medicin selbst. Es hat keinen Zweck, sich darüber des 
Näheren auszulassen; jedes Jahrhundert, ja jedes Jahrzehnt 
brachte ein Specificum dafür — es wurde stets verworfen. — 
Billig ist es indess, auf die neueren Heilmittel hinzuweisen; ich er¬ 
wähne hier das Piperazin, das Lysidin, das Uricedin. Beachtung 
verdienen auch die Versuche Biesenthal’s mit Lithium car- 
bonicum, Natrium phosphoricum und Natrium boracicum; ausser 
diesen Mitteln werden noch Natron salicylicum, Antipyrin, Anti- 
febrin, Phenacetin und Colchicumpräparate in Anwendung ge¬ 
zogen. lieber die Wirkungsweise aller dieser alkalischen Mittel 
weiss man indessen nichts Bestimmtes anzugeben. Eine sehr 
beliebte Form zur Einführung der Alkalien ist im Allgemeinen 
die der Mineralwässer geworden und unter diesen dominiren die 
Heilwässer von Wiesbaden. Man geht von der Ansicht aus, dass 
die Einführung grösserer Wassermengen die Durchspülung der 
Gewebe herbeiführe, wodurch die Urate in Lösung gebracht und 
ihre Ausscheidung erleichtert werde. Das bleibt vorläufig’’.in¬ 
dessen immer noch ein frommer Wunsch: man muss den geist¬ 
reichen Auseinandersetzungen Klemperer’s beipflichten, wenn 
er sagt: „die nekrotischen Partien binden die Harnsäure so fest, 
dass kein Lösungsmittel sie zu befreien vermag. Wenn die 
Affinität zwischen Nekrose und Harnsäure geringer wird, ver¬ 
mag das Blutserum selbst die letztere aus den Geweben auszu¬ 
spülen 11 . — Ausserdem muss man sich vor Uebcrtreibungen 
hüten; man ist zu leicht geneigt, grosse Flüssigkeitsmengen auf¬ 
zunehmen; diese Uebertreibung führt zu Störungen der Ver¬ 
dauungsorgane und des Circulationsapparates. — 

Auf gleiche Höhe wie das Wiesbadener Gichtwasser werden 
auch die Wiesbadener Thermalwasserbäder gestellt. Dr. E. 
Pfeiffer sagt: „Wir müssen in den Wiesbadener Kochbrunnen¬ 
bädern ein ganz hervorragendes und durch seine lange Nach¬ 
wirkung sich auszeiclmendes Heilmittel gegen die liarnsaure 
Diathese erblicken, wie das auch die jahrhundertelange Erfahrung 
bestätigt. ~~ Die Badecur muss indessen Uber mehrere Wochen 
mit täglich wiederholten 4 ständigen Bädern fortgesetzt werden.“ 
Indessen giebt er zugleich der Möglichkeit Raum, dass auch ge¬ 
wöhnliche, einfache warme Süsswasserbäder denselben Einfluss 
auf die harnsaure Diathese haben können. — Difficile est, sa- 
tiram non scribere! — Unter meinen angeführten Fällen befinden 
sich 3 Patienten, die wiederholt in Wiesbaden waren; einer von 
ihnen war sogar 5 mal in Wiesbaden, ohne einen dauernden Er¬ 
folg dort'erzielt zu haben. — Sie leugnen alle nicht, eine vor¬ 
übergehende Besserung erreicht zu haben, die Monate lang an¬ 
gehalten hatte, aber dann verwischten sich die guten Eindrücke 
und das alte Leiden trat wieder um so deutlicher hervor. — 
Was von Wiesbaden gesagt ist, gilt im Allgemeinen auch von 
den Wildbädern. Gewiss haben alle diese Bäder ihre zuweilen 


wunderthätige Wirkung — ich bin weit entfernt, irgend ein Bad • 
zu schmälern —, aber man darf niemals ein Bad als das einzig 
gesund machende erklären; denn selbst in Wiesbaden tappt man 
im Dunkeln herum, „man würde sonst nicht erst das 20. Bad 
als den günstigsten Moment betrachten, um die für die dia¬ 
gnostische Entscheidung, ob Gicht oder ein anderes Leiden vor¬ 
liegt, wuchtige und entscheidende Bestimmung vorzunehmen“. — 
Da mm all’ diese Mittel einen dauernden Erfolg ausschliessen, 
habe ich bei Betrachtung entsprechender Fälle und bei genauer 
Untersuchung derselben in Erwägung gezogen, ob hier nicht 
mechanische Mittel einen besseren Dienst] leisten würden. Die 
Exploration der Fusssohlen, sowohl der Gesunden wie der 
Kranken ergab denn auch ein überraschendes Resultat. Ich fand 
in den kranken Fusssohlen Ablagerungen in ihrer ganzen Ab¬ 
stufung von der feinen Griesform an bis zu festen, harten Ge¬ 
bilden. Die Stellen, die weich waren und sich leicht zerdrücken 
liessen, waren bei Druck schmerzlos, dagegen empfand der 
Kranke bei Druck auf die harten Partien einen stechenden 
Schmerz, genau denselben Schmerz, den ihm das Gehen verur¬ 
sachte oder das Auftreten auf harte Gegenstände. Der Sitz der 
harten Concremente ist meistens auf das Gew’ölbe beschränkt 
und auf die knochenfreie innere Wand desselben, während die 
Griesform auf die ganze Basis zertreut ist. Die Gelenke der 
grossen Zehe wie auch der übrigen Zehen sind frei, beweglich, 
dagegen ist eine Steifheit des Sprunggelenkes — eine Incrusta- 
tion — stets zu constatiren gewesen. Es muss also der Process 
in der Weise sich entwickeln, dass in Folge plötzlicher Insulte 
oder periodisch wiederkehrender schädlicher Einflüsse auf die 
Ernährung der betroffenen Gewebe Störungen cintreten, die zu 
Degenerationen führen; dieselben können nun unmittelbar Nekrose 
oder in milderer Form Nekrobiose zur Folge haben. Es handelt 
sich nun darum, diese Concremente aus dem Wege zu schaffen; 
die leichteren (Gries ) Formen, die dem Zustande des Nekroti- 
sirens entsprechen, schwinden bald und leicht unter dem Druck 
einer gelinde ausgeführten Massage. Viel mehr Schwierigkeiten 
bereitet die Entfernung der harten, festen Gebilde, der nekroti¬ 
schen Partien. Die Anwendung eines zu kräftigen Druckes ver¬ 
ursacht stets immense Schmerzen, welche dem Patienten zu ver¬ 
meiden das Interesse des Arztes sein soll. Diese Art der 
Massage, vor allem Kenntniss der anatomischen Verhältnisse er¬ 
fordernd, darf niemals von Laien ausgefllhrt werden, sie würde 
keine guten Resultate zeitigen, abgesehen von den überflüssigen 
Schmerzen, die nebenbei dem Kranken verursacht würden — 
andererseits wird von Seiten des Behandelten viel Ausdauer und 
Geduld verlangt, die auch gerne entgegengebracht werden, 
sobald sich nur die ersten Erfolge zeigen. — Die Erklärung für 
die grossen Schmerzen dürfte wohl darin zu suchen sein, dass 
die nekrotischen Partien ringsum von Uratkrystallen im wahren 
Sinne des Wortes starren; die scharfen, spitzen Krystallnadeln 
sind es, die das Nachbargewebe bei jedem Anlasse damit spiessen 
und so den heftigen Schmerz hervorrufen. Gelingt es nun, ein 
derartiges Depot zu sprengen, dann ist die Zertrümmerung der 
gesprengten Massen eine leichte Arbeit und für den Kranken 
keine so schmerzhafte Procedur mehr; es kommt aber vor, dass 
derartige Gebilde sich absolut nicht sprengen lassen, sei es, dass 
sie wirklich zu hart geworden sind, sei es, dass ihre Lage und 
schwere Zugänglichkeit dieses Manipuliren vereiteln. In solchem 
Falle muss man sich darauf beschränken, die krystallisirte Masse 
gleichsam ihrer Waffen zu berauben; man muss die Krystall¬ 
nadeln durch geschicktes Massiren entfernen, sodann die rauhen 
Flächen glätten, abschleifen, poliren; die einmal geglättete Fläche 
weist keine Krystallnadeln mehr auf — eine Thatsache, von der 
mich zu überzeugen ich Gelegenheit hatte. Ausserdem wird 
durch dieses Abglätten und Poliren das Volumen der Concre- 


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26. April 169 ^4 

mente bedeutend verringert, ja derart verringert, dass die Pa¬ 
tienten die Existenz derselben nicht mehr vermuthen; ich habe 
selbst nach Jaliren dieselben glatten Flächen vorgefunden, ohne 
dass sie den Patienten in irgend welcher Weise mehr belästigen 
würden. — Bei der Untersuchung gesunder Fälle habe ich die 
Wahrnehmung gemacht, dass die Fusssohlen zuweilen mit Ab¬ 
lagerungen von feiner Sandform wie besäet waren, ohne dass die 
Inhaber dieser Füsse Uber irgend welche Beschwerden zu klagen 
hätten. 

Diese Thatsache bestärkt mich in meiner Behauptung, dass 
die Ablagerung eine eumulative sei, dass sich Degenerations- 
processe ohne wesentliche Nachtheile für den Organismus so 
lange entwickeln können, als es zu keinem vollständigem Ge- 
webstode kommt; erst der Eintritt der Nekrose zeigt uns das 
Bild in seiner ganzen pathologischen Bedeutung. 

Als einziges Unterstützungsmittel bei meiner Arbeit dienten 
mir die Moorbäder, sowohl local angewendet wie auch als Voll¬ 
bäder. Ich muss gestehen, dass mein Erfolg vielleicht nicht 
ein so überraschender, nicht ein so glänzender geworden wäre, 
wenn ich mich dieser kräftigen Bäder nicht bedient hätte. Ein 
besseres Resorptionsmittel kann ich mir nicht wünschen; ob die 
Resorption der zerdrückten und zertrümmerten Massen ebenso 
leicht und ebenso schnell vor sich gegangen wäre ohne Beihülfe 
der Moorbäder — diese Frage wage ich nicht zu bejahen. — Dicke 
Moorbäder, deren Temperatur 30° und darüber betrug, von 
halbstündiger Dauer, sodann locale Fussbäder von Moorerde, 
deren Temperatur 35 0 lt. und darüber betrug von ebenso langer 
Dauer habe ich in solchen Fällen verordnet und wurden diese 
Bäder von den Patienten stets gut vertragen. 

Es gereicht mir zu meiner inneren Befriedigung, die Genug- 
thung zu haben, Kranke, die jahrelang Bäder ihrer Leiden wegen 
aufgesucht haben, ohne dort einen Erfolg gefunden zu haben, 
von diesen ihren Leiden nun dauernd geheilt zu sehen. 

Zum Schluss gestatte ich mir, vier typische Fälle anzu- 
führen, deren Krankheitsgeschichte und Verlauf meinen Ausein¬ 
andersetzungen als Illustration dienen mögen. 

1. Fall. Herr A. S., 45 Jahre alt, war bis zum Jahre 1883 voll¬ 
kommen gesund. Im Frühjahre 1883 hat in Folge Hochwasser sein 
Haus unter Wasser gestanden; Pat. hat 2 Tage lang in dem eiskalten 
Wasser gearbeitet, um dasselbe aus dem Keller herauszupumpen. Bald 
darauf empfand er im ganzen Körper Schmerzen, vorzugsweise aber in 
den Füssen; er blieb mehrere Monate zu Bett; die Schmerzen in den 
Gelenken hatten in dieser Zeit ein wenig nachgelassen, dagegen zeigte 
sich fast in allen Gelenken Steifigkeit und das Unvermögen, mit den 
Füssen aufzutreten; jeder Gehversuch verursachte ihm grosse Schmerzen. 
Dieser Zustand dauerte bis zum Jahre 1885; da alle angewandten Mittel 
ohne Erfolg blieben, schickte ihn sein Hausarzt nach Franzensbad. Der 
sonst kräftig gebaute Patient wurde aus dem Eisenbahncoupe gehoben; 
er war nicht im Stande, zu gehen; er bediente sich der Krücken. Die 
Untersuchung ergab: in beiden Fusssohlen mehrere harte Ablagerungen, 
die auf Druck grossen Schmerz verursachten. Die Fussgelenke steif, 
ebenso das Kniegelenk. An den oberen Extremitäten beiderseits Steifig¬ 
keit der Handgelenke. Im Uebrigen der Organismus gesund. Nach 
einer 7wöchentlichen Cur verliess Patient Franzensbad wie neugeboren; 
die 8teiflgkeit in sämmtlichen erkrankten Gelenken ist verschwunden, 
ebenso die Concremente in den Füssen. Patient kann wieder gehen wie 
früher. Im Laufe des nächsten Winters theilte er mir mit, dass er bereits 
flott getanzt habe und froh sei, seiner gewohnten Beschäftigung wieder 
nachgehen können zu dürfen. 3 Jahre später war sein guter Zustand 
unverändert. 

2. Fall. Frau J. R., 49 Jahre alt, war bis zum Jahre 1877 ge¬ 
sund. (Ihre Mutter soll an Verdickungen der Gelenke gelitten haben.) 
Im Herbst 1877 zog sich Patientin eine starke Erkältung der Hände 
nnd Füsse zu. Bereits nach einigen Tagen stellten sich heftige Schmerzen 
in den Gelenken der oberen und unteren Extremitäten ein. Es wurden 
Schröpfköpfe ordinirt; hierauf für kurze Zeit Besserung. Bald aber 
kehrten die Schmerzen wieder. (Einreibungen, innerlich Salicyl.) 
Die Krankheit wurde damals vom Arzte für knotigen Rheumatismus er¬ 
klärt. Da keine Besserung eintrat, wurde Patientin 1878 nach Nauheim 
geschickt. Vorübergehender Erfolg. Patientin hatte zeitweise so heftige 
Schmerzen, dass sie sich manchmal nicht rühren durfte; das Gehen war 
äusserst schmerzhaft, der Gebrauch der Hände aufgehoben. 1879 Aufent¬ 


halt in Rom und Neapel. Patientin fühlte sich dort relativ wohl. Aus¬ 
gang des Winters 1880 neuerliche starke Erkältung; die alten Erschei¬ 
nungen traten jetzt, um so heftiger hervor. 1881 und 1882 Badecur in 
Teplitz (Moorbäder), einige Zeit danach ging es recht leidlich. 1883 
Badecur in Oeynhausen; 1884 in Cranz, 1885 in Marienbad (Moorbäder). 
Der Zustand blieb mit zeitweise relativen Besserungen derselbe. Im 
October 1885 zog Patientin in. eine feuchte Wohnung, die, wie sie selber 
sagt, für ihr Leiden verhängnissvoll wurde, denn von da ab verschlim¬ 
merte sich ihr Leiden rapide. Die Steifigkeiten, bis dahin mässigen 
Grades, nahmen immer mehr und mehr zu; Patientin konnte allein 
Nichts mehr verrichten; das Gehen wurde fast ganz anfgehoben, die 
Schmerzen wurden dabei unerträglich — Patientin war hülflos wie ein 
Kind geworden. Hierauf 1886 eine Cur in Wiesbaden; 1887 und 1888 
in Muskau (Moorbäder). In den Jahren 1886 — 1888 wurde ausserdem 
eine Jodcur verordnet und in der Zwischenzeit zu Hause 8oolbäder. 
1889 kam die Patientin nach Franzensbad. Der damalige Zustand war 
ein geradezu trauriger. Patientin konnte sich ohne Stütze absolut nicht 
von der Stelle rühren; sie brauchte beständig Jemanden um sich, der 
sie führte, fütterte, ihr die Toilette besorgte etc. — Die Untersuchung 
ergab: In beiden Füssen harte Ablagerungen sowie Steifigkeiten der 
Fussgelenke; Knie frei; Steifigkeit sämmtlicher Gelenke der oberen Ex¬ 
tremitäten. Difformitäten und Auftreibungen der Gelenkenden an der 
Hand; ausserdem seit 1888 eine, Augenentzündung, die allen angewandten 
Mitteln zum Trotz nicht weichen wollte. — Nach 8wöchentlicher Be¬ 
handlung ist Patientin wiederhergestellt worden; seitdem befindet sie 
sich wieder im Besitze ihrer früheren Kräfte. Heute — im Jahre 1897 
— ist von ihrer schweren Krankheit Nichts übrig geblieben, wie eine 
geringe Difformität der einen Hand. 

3. Fall. Herr E. H., 45 Jahre alt, zog sich im Winter 1881 nach 
einem Balle eine starke Erkältung der unteren Extremitäten sowie eine 
Blasenentzündung zu. Es wurden warme Vollbäder verordnet; das 
Blasenleiden wurde behoben; indessen klagte Patient über heftige 
Schmerzen in den Knieen und Füssen; er lag damals lange Zeit zu Bett. 
In der Zeit von 1883—1885 wechselte Patient 4 Mal seine Wohnung 
wegen zu grosser Feuchtigkeit und Nässe. Die Schmerzen blieben in 
dieser Zeit stationär, das Gehen war. wenn auch schmerzhaft, so doch 
immerhin noch möglich. Im Jahre 1886 brach Patient durch eine Eis¬ 
decke ein und blieb ziemlich laDge in dem eiskalten Elemente, bevor er 
herausgezogen wurde. Seit diesem Ereignisse war Patient eigentlich 
beständig ans Bett gefesselt; das Gehen wurde ihm zur Unmöglichkeit; 
Hand- und Fussgelenke befiel Steifigkeit; der geringste Versuch die 
Gliedmaassen zu bewegen, verursachte ihm Schmerzen, so dass Patient 
sich gezwungen sah, in vollkommener Apathie zu verharren. Dazu trat 
vollständige Steifigkeit des linken Schultergelenkes und im Verlauf der 
Krankheit eine Augenentzündung hinzu. — Auf Anrathen der Aerzte be¬ 
suchte Patient nach einander im Jahre 1887, 1888, 1889, 1890 nnd 
1891 Wiesbaden. Der Erfolg war nach jeder Cur da, aber stets nur 
für kurze Zeit. Im Jahre 1892 wurde Patient nach Aachen geschickt; 
im Jahre 1893 kam Patient nach Franzensbad. Er konnte damals ohne 
Beihülfe das Eisenbahncoup^ nicht verlassen; die Bewegungen waren fast 
ganz aufgehoben. Die Untersuchung ergab: In beiden Füssen grosse 
harte Concremente, die auf Druck äusserst schmerzhaft sind. Steifigkeit 
der Fussgelenke; Ablagerungen im rechten Kniegelenk; Steifigkeit des 
linken Schultergelenkes und fast vollkommener Schwund der Musculatur. 
(Der Arm wurde monatelang wegen der Schmerzen in einer Binde ge¬ 
tragen.) Patient verliess nach 7 wöchentlicher Cur Franzenbad, voll¬ 
kommen wiederhergestellt. Seitdem ist er stets gesund geblieben; von 
seinem ausgezeichneten Befinden konnte ich mich in diesem Winter 
selber überzeugen. 

4. Fall. Frau H. W., 38 Jahre alt, war bis zum Jahre 1892 ge¬ 
sund. In diesem Jahre machte sie die Wahrnehmung, dass ihr das 
Gehen schwer werde, dass sie beim Gehen, namentlich beim Treppen¬ 
steigen, Schmerzen in den Füssen empfinde, dass sie deswegen ihre 
Spaziergänge unterbrechen müsse. Späterhin fing sie an zu hinken und 
musste das Gehen schliesslich der Schmerzen wegen fast ganz aufgeben. 
Ein zu Rathe gezogener Arzt schob die Ursache auf ihre unzweckmässige 
Fussbekleidung (Pat. trug recht hohe Absätze); es wurden ganz niedrige 
Schuhe mit dicken, breiten Sohlen empfohlen; nach kurzer Zeit trat 
jedoch derselbe Zustand wieder ein. Pat. wurde hierauf nach Wies¬ 
baden 1893 und 189 t geschickt. Stets eine Besserung. 1895 kam Pat. 
nach Franzensbad. Sie klagte damals über dieselben Erscheinungen und 
über ein brennendes, stechendes Gefühl in den Füssen, namentlich Nachts, 
so dass sie schlaflose Nächte zubringen musste. Die Untersuchung ergab 
Concremente in beiden Füssen, mässige Steifheit der Fussgelenke. Sonst 
war objectiv Nichts nachzuweisen; ebenso wenig ergab die Anamnese 
etwas Positives. Nach 6 wöchentlicher Behandlung konnte Patientin 
wieder gehen wie früher und hat sie seit der Zeit keine Schmerzen mehr 
wahrgenommen. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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IV. Syphilisbehandlung und Balneotherapie. 

Von 

Prof. A. Ncisser in Breslau. 

(Vortrag, gehalten am 13. März in der Hufeland'schen Gesellschaft 

zu Berlin.) 

(Schluss.) 

Es ist möglich, dass das Quecksilber unter dem Einfluss 
von, den Organismus aufrllhrcnden Methoden, sicherer überall 
zur Einwirkung gelangt. Aber, meine Herren, alle diese Mög¬ 
lichkeiten sind nichts wie Redensarten, bei denen sich jeder 
nach seiner Neigung sehr viel oder auch gar nichts denken 
kann. Und so wenig ich den, wenn ich so sagen darf, direct 
fördernden Einfluss balneologischer Behandlung bei der Queck¬ 
silberbehandlung ganz leugnen möchte, so muss man doch zu¬ 
geben, dass man ihn nicht beweisen und Niemanden eines Irr- 
thume8 überfuhren kann, wenn er behauptet: Gewiss, ich erkenne 
die ausgezeichneten Resultate, welche man in allen möglichen 
Bädern bei der Behandlung Syphilitischer erzielt, vollkommen 
an. Das hat aber nichts zu thun mit irgend einer besonderen 
Wirkung grade von Bädern, nichts mit dem chemischen Ge¬ 
halt, nichts mit der Temperatur, sondern nur damit, dass in 
Badeorten die äusseren Bedingungen JUr eine Syphilisbehandlung 
denkbar günstig sind, dass daselbst alle allgemein roborirenden 
und psychischen Factoren vorhanden sind, welche zur Wieder¬ 
herstellung des Kranken von eminentestem Nutzen sind und 
dass daselbst die Quecksilbertherapie in sachverständigster Weise 
ausgeübt wird unter äusseren Verhältnissen, welche die Queck¬ 
silberbehandlung einerseits möglichst energisch durchzuführen ge¬ 
statten, andererseits dieselbe aller störenden und unzweckmässigen 
Nebenwirkungen entkleiden. Ohne Bäder würden diese Badeort¬ 
behandlungen sicherlich das Gleiche leisten. Liegt darin, meine 
Herren, eine Herabminderung der Bedeutung balneologischer Be¬ 
handlung hei der Syphilisbchandlung? Meiner Ansicht nach ganz 
und gar nicht! Die Bedeutung gründlicher, möglichst energi¬ 
scher und doch mit Sicherheit unschädlicher Quecksilberbehand¬ 
lung ist eine so ungeheuer grosse, dass ihre Nothwendigkeit und 
die Möglichkeit, eine solche gute Quecksilberbehandlung bequem 
durchfuhren zu können, gar nicht genug betont werden kann. 
Leider ist bei uns die Quecksilberbehandlung — trotz' der An¬ 
erkennung, dass das Quecksilber nothwendig bei der Syphilis¬ 
behandlung sei — in einen sehr bedauernswerthen, recht argen 
Schlendrian gerathen. Die allermeisten Aerzte begnügen sich 
damit, irgend eine Anzahl — leider meist eine viel zu geringe 
Zahl von Einreibungen zu verordnen, ohne sich und dem Pa¬ 
tienten klar zu machen, dass eine Einrcibungscur nur unter 
ganz gewissen Bedingungen thatsächlich wirksam sein 
könne. Wenn ich, meine Herren, eine Stube warm machen will, 
da genügt cs doch nicht, dass ich einem vielleicht nicht einmal 
mit der Technik des Heizens vertrauten Menschen anordne, er 
solle Feuer im Ofen machen. Wenn ich nicht die Menge der 
nothwendigen Heizung ins richtige VerhältniSs zur Grösse und 
Lage des Zimmers bringe, wenn ich Thüren und Fenster be¬ 
liebig offen stehen lasse, dann wird die Stube doch nicht warm 
werden. Wenn ich nur „graue Salbe“ verschreibe und noch 
dazu ohne Garantie dafür, dass das Einreiben sorgfältig und 
regelmässig geschieht, wenn ich nicht bedenke, wie sehr die 
Wirkung der Einreibung abhängig ist von allen die Verdunstung 
und die Aufnahme des Quecksilberdunstes beeinflussenden 
Factoren, da habe ich natürlich auch keinen Erfolg zu erwarten. 
Kurz, eine Quecksilbervergiftung ist nicht en bagatelle zu be¬ 
trachten. Entsprechend der Bedeutung der Syphilis, muss auch 
für eine sehr ernsthaft und mit grösster Sorgfalt durchzuführende 
Behandlung gesorgt werden, und je mehr man das thut, um so 


weniger wird man die Balneotherapie mit allen ihren viel¬ 
gestaltigen nutzbringenden Factoren entbehren wollen. Ich, 
meine Herren, schicke, wenn es irgend geht, jeden meiner Pa¬ 
tienten in einen Badeort oder eine Heilanstalt, wenn es sich nm 
eine irgendwie wichtige Quecksilberbehandlnng handelt und cora- 
binire dann hydro- und baineotherapeutische Curen jeder Art 
mit der raercuriellen. Jedenfalls suche ich Jeden seiner tät¬ 
lichen Beschäftigung, seinen Berufsverpflichtungen, den Unregel¬ 
mässigkeiten des täglichen Lebens zu entreissen. Natürlich 
kann man bei den „milderen Zwischencuren“, besonders mit Zn- 
hülfenahme der Injectionstherapie, weniger streng sein. Sie er¬ 
innern sich, dass ich mich gleich Eingangs als einen überzeugten 
Anhänger der chronisch intermittirenden Syphilisbehand¬ 
lung bekannte: dass ich demgemäss bei jedem Patienten 6 bis 
8mal wiederholte Quecksilbercuren im Laufe der ersten 3 bis 
4 Jahre nach der Infection durchznsetzen trachte. Selbstver¬ 
ständlich wird nicht jede dieser Curen in gleichmässig inten¬ 
siver Weise als „Hauptcur“ durchzuführen sein; aber wenn ich 
es durchsetzen kann, so führe ich, wie gesagt, nicht nur die 
erste Behandlung, welche bekanntermaassen ja die allerwichtigste 
ist, sondern auch noch 2 oder 3 andere Curen (jedes Jahr eine), 
so gut und energisch, wie irgend möglich, und am liebsten mit 
Zuhülfenahme der Hvdrobalneotherapie aus. 

Einen besonderen Werth der Bäderbehandlung, speciell der 
Schwefel- und Salzbäder hatte man darin gesucht, dass das 
Quecksilber schneller aus dem Körper wieder aus¬ 
geschieden würde. Die Behauptung scheint den Thatsachen 
zu entsprechen. Man hat den Beweis erbringen können, dass 
nicht nur bei gleichzeitiger Anwendung von Bäder- und 
Quecksilberbehandlung eine reichliche, vielleicht gesteigerte 
Ausscheidung des Hg stattfinde, sondern dass auch eine Neu¬ 
ausscheidung von Quecksilber durch Bäder angeregt werde, 
nachdem dieselbe anscheinend schon cessirt hat. 

Was den letzteren Punkt anbetrifft, so will ich nicht ver¬ 
hehlen, dass ich im Zweifel bin, ob wirklich bei denjenigen 
Curmcthoden (Einreibungen, Injectionen löslicher Salze, interne 
Therapie), wo von vornherein eine gleichraässige Vertheilung 
des Quecksilbers im Organismus zu Stande kommt, Theile des 
Metalles im Organismus zurückbehalten werden, und dass es erst 
künstlicher Mittel bedürfe, um dieselben wieder zur Ausscheidung 
zu bringen. Ganz anders liegt es natürlich, wenn bei Injection 
unlöslicher Salze, besonders aber von Ubergrossen Mengen 
grauen Oels, das heisst also metallischen suspendirten Queck¬ 
silbers die Injectionsmasse zur Bildung eines localen entzünd¬ 
lichen Infiltration8inantels Anlass giebt. Hin und wieder wan¬ 
delt sich dieses entzündliche Infiltrat in eine fest organisirte 
Bindegewebskapsel um, welche nun allerdings beliebig lange 
Zeit hindurch das centrale Quecksilber wie einen Fremdkörper 
abschliessen kann. Treten nun Umstände ein, — und dazu ge¬ 
hören auch kräftige baineotherapeutische Maassnahmen — 
welche diese Abkapselung durch Beseitigung des entzündlichen 
Mantels aufheben, so kommt natürlich eine weitere Verarbeitung 
des Quecksilbers und damit bisweilen eine recht foudroyante 
Nachwirkung (mit schwerer Stomatitis und Enteritis) zu Stande. 

Sehen wir aber von diesen mehr zufälligen Erscheinungen 
ab, so glaube ich, dass wir im Allgemeinen eine continuirliche, 
durch Darm und Niere vor sich gehende Quecksilberausscheidung 
bei allen Curen annehmen müssen. Die Grösse und Schnellig¬ 
keit der Ausscheidung freilich ist eine sehr wechselnde, je nach 
der Art und Weise und nach der Schnelligkeit, mit welcher bei 
den verschiedenen Methoden und bei den verschiedenen zur In¬ 
jection benützten Salzen das Quecksilber in die Körpersäfte 
ein tritt. 

Ich möchte speciell darauf hinweisen, dass gerade nach 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


363 


26. 

dieser Richtung hin die verschiedenen unlöslichen Salze sehr 
auffällige Differenzen darbieten, so dass es durchaus nicht gleich¬ 
gültig ist, welches derselben — Salicyl- oder Thymolquecksilber, 
oder Calomel, oder Hydrargyrum oxydatum flavura, oder Ol. 
einer. — zur Anwendung gelangt. 

Vergleicht man nun mit Berücksichtigung dieser Resorptions¬ 
und Ausscheidungsverhältnisse den Heilwerth der verschiedenen 
Präparate, so kommt man zu dem Schluss, dass diejenigen, 
welche schnell zur Resorption gelangen, zwar schnell auf 
vorhandene Syphilisprocesse einwirken, dass sie aber ent¬ 
sprechend ihrer schnellen Ausscheidung keinen nachhaltigen 
Einfluss auf den Syphilisprocess gewinnen. 

Damit kann es aber als ein sehr fraglicher Vortheil er¬ 
scheinen, mit der Quecksilbercur Methoden zu combiniren, welche 
eine möglichst schleunige Befreiung des Organismus vom Medi- 
cament mit sich bringen. 

Freilich wird man auch hier leicht die schleunige Abfuhr 
durch gesteigerte Zufuhr ersetzen können, so dass bei einer 
combinirten Quecksilber- und Bädercur im selben Zeitraum ver- 
hältnissmässig grosse Massen Quecksilbers durch den Organismus 
hindurchgetrieben werden und vielleicht ist solches Vorgehen 
nützlicher, als wenn man — ohne Badecur — überhaupt weniger 
Quecksilber zur Einwirkung gelangen lässt. 

Auch die Frage, ob man für möglichst schnelle totale Aus¬ 
scheidung oder nicht lieber für gewisse Remanenz des Queck¬ 
silbers nach Beendigung einer Hg-Cur sorgen solle, kann in 
ganz verschiedener Weise beantwortet werden. 

Nützlich wird eine möglichst schnelle Befreiung des Or¬ 
ganismus vom Quecksilber sein, wenn irgend welche Erscheinungen 
mercurieller Cachexie oder localisirter Hydrargyrose vorliegen. 
Nützlich kann ein solches Vorgehen erscheinen, wenn man den 
Körper, der durch Gewöhnung an Quecksilber auch für die Heil¬ 
wirkung desselben unempfänglich und unempfindlich geworden 
ist, wieder für eine neue Cur (welche wegen sehr hartnäckiger 
Symptome vielleicht nothwendig ist) vorbereiten will. 

Schädlich aber kann ein solches Vorgehen erscheinen, 
wenn man eine möglichst protrahirte Einwirkung des Heilmittels 
auf das vielleicht latente Syphilisvirus ins Auge fasst. Wird 
man dann nicht lieber ein längeres Verweilen des Hg im Or¬ 
ganismus wünschen? Freilich muss ich dabei an die Möglich¬ 
keit erinnern, dass auch hier vielleicht unter dem Einfluss der 
Balneotherapie das lebhafter circulirende Quecksilber besser 
zur Wirksamkeit gelangt, und dass das entsprechend frei ge¬ 
machte Virus der Einwirkung des Hg zugänglicher ist, als wenn 
es irgendwo an Zellen und Säfte gebunden daliegt. 

Sie sehen, meine Herren, dass unzählige Möglichkeiten vor¬ 
liegen, welche bei der Combination der mercuriellen mit der 
balneologischen Behandlung in Betracht zu ziehen sind. Eine 
bestimmte Regel, wie man sich verhalten soll, giebt es nicht 
und so wird derjenige die besten Heilresultate erzielen, der 
genaue Specialkenntnisse Uber das Wesen und die Wirksam¬ 
keit der verschiedenen mercuriellen Methoden und der Ein¬ 
wirkung des Quecksilbers verbindet mit allgemein ärzt¬ 
lichem Wissen. Ob sich dann ein solcher Arzt Specialarzt 
nennt oder nicht, dürfte wohl gleichgültig sein. Man ist ein 
schlechter Specialarzt, wenn man wirklich ein krasser „Specialist“ 
ist; man ist aber auch ein schlechter „praktischer Arzt“, wenn 
man nicht Uber ein grosses Maass specialistischer Kenntnisse 
verfügt. Gerade bei den venerischen Krankheiten sollte dieser 
letztere Standpunkt erreicht werden; denn die venerischen Krank¬ 
heiten, mit ihrer ungeheuren Verbreitung und bei der Einfach¬ 
heit des technischen, zur Behandlung nothwendigen Apparates, 
sollten die Domäne jedes Arztes sein. Gerade deshalb aber 
sollte auf unseren Universitäten den Specialkliniken meines 


Faches ein grösseres Feld der Thätigkeit .eingeräumt werden, 
damit eben alle Aerzte von vornherein in diesem Zweige 
der Mcdicin genügend specialistisch ausgebildet in die Praris 
treten! — 

Gestatten Sie mir nun noch einige einzelne Punkte nachzu¬ 
holen. 

Es ist die Frage aufgeworfen worden, ob die verschie¬ 
denen Bäder gleichwerthig und in allen Stadien der 
Krankheit anwendbar seien. Meiner Ansicht nach ist das der 
Fall. So weit ich mich habe überzeugen können, haben alle 
meine Kranken, in welchem Stadium der Syphilis sie sich auch 
befanden, nur Vortheil von energischen, in irgend welchem Bade 
gemachten Curen gehabt. Die Auswahl des Badeortes habe ich 
im Grossen und Ganzen dabei der Neigung meiner Patienten 
selbst überlassen, vorausgesetzt dass sich in dem gewählten Orte 
ein College befand, auf den ich mich als Arzt und Specialarzt 
vollkommen verlassen konnte. 

Manche Autoren aber warnen davor, Syphilitiker im Früh- 
stadium, namentlich mit frischen Eruptionsformen in Schwefel¬ 
bäder zu schicken, z. B. Mauriac. Er fürchtet eine Ver¬ 
schlechterung der Symptome und eventuell eine Provocation 
neuer. In erster Reihe, meine Herren, bin ich von der Richtig¬ 
keit dieser Behauptung nicht überzeugt. Ich habe mich niemals 
von ungünstiger, noch von „provocatorischer“ Wirkung der Bäder 
im Frühstadium überzeugen können. Aber selbst wenn die pro- 
vocatorische Wirkung häufig durch Schwefelbäder zu Stande 
käme, wäre das denn ein Nachtheil? Mir scheint, dass die 
genaue Kenntniss, dass thatsächlich noch actives Syphilisgift 
vorhanden ist, nur nützlich sein kann. Diese Erkenntniss ist 
doch zweifellos die sicherste Basis für richtiges ärztliches Handeln, 
das heisst für Wiederholung einer sonst vielleicht für überflüssig 
gehaltenen Cur. Wer freilich, wie ich, überzeugter Vertreter 
der chronisch-intermittirenden Behandlung ist, hat solche 
Alarmsignale nicht nothwendig: denn wir verordnen die Wieder¬ 
holung der Quecksilbercur auch ohne Symptome, so lange wir 
nach allgemeiner Erfahrung Grund haben, einen Menschen noch 
für syphilisvirushaltig zu erklären. Wer aber durchaus auf dem 
symptomatischen Standpunkte verharrt, der wird nur zu Gunsten 
seiner Patienten durch neue Symptome — seien sie auch künst¬ 
lich provocirt — zu erneuter Behandlung Anlass finden. 

Ich kann hier mit wenigen Worten den Werth oder rich¬ 
tiger die Bedeutungslosigkeit der Schwefelbäder als 
Prüfstein für eingetretene Gesundung besprechen. Es ist zwar 
kein Zweifel, dass hin und wieder in späteren Jahren nach der 
Infection latente Syphilis durch Bäder w'ieder provocirt 
wird und Erscheinungen setzt. Es besteht aber, soviel ich 
weiss, Einstimmigkeit darüber, dass dieser Erfolg der Schwefel¬ 
bäder ein so unregelmässiger und unsicherer ist, dass er bei 
negativem Ausfall keinesfalls diagnostisch verwerthet 
werden darf. Wer Erscheinungen bekommt, ist zwar sicher 
noch krank; wer aber keine aufweist, ist deshalb noch nicht 
wirklich gesund. — 

Aerztlich würde ich im gegebenen Falle auch diese Mög¬ 
lichkeit, Uber den Gesundheitszustand eines Kranken ins Klare 
zu kommen, ausnützen, aber natürlich stets mit der auch dem 
Kranken ausführlich dargelegten Reserve, dass nur der positive 
Befund von Bedeutung sei. 

Ich sagte oben, dass eine wesentliche Differenz zwischen 
den verschiedenen Badeorten für unsere Zwecke der Syphilis¬ 
behandlung nicht vorhanden sei. Eine Einschränkung muss dieser 
Satz erfahren, sobald es sich bei dem Patienten neben der 
Syphilis um irgend welche Krankheitszustände handelt, welche 
erfahrungsgemäss an bestimmten Orten durch bestimmte Quali¬ 
täten der Bäder und Quellen besonders günstig beeinflusst werden. 


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364 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 17. 


Es ist das selbstverständlich, weil naturgemäss die Combination 
der Syphilis mit anderen Krankheiten und die Möglichkeit, dass 
sie sich gegenseitig verschlechtern, therapeutisch berücksichtigt 
werden müssen. Liegt also bei dem Syphilitiker ein Diabetes, 
eine Nephritis, schwere Mal aria, Scrophulo-Tuberculose, 
Gicht u. s. w. u. s. w. vor, so werde ich selbstredend die — ja 
allerorts von einem gut unterrichteten Arzt gut durchführbare — 
Quecksilberbehandlung an demjenigen Ort durchführen lassen, 
welcher für die complicirende Krankheit die besten Heilfactoren 
gewährt. Wie häufig erlebt man, dass Lueserscheinungen bei 
einem Diabetiker sehr schlecht verlaufen, nicht abheilen, zerfallen 
und gangränös werden, durch eine Quecksilberbehandlung erst 
recht schlecht beeinflusst werden, während bei entsprechender 
Behandlung des Diabetes die Quecksilbercur die glänzendsten 
Erfolge aufweist! Bei einem Nephritiker — es war fraglich, 
ob die Nephritis die Folge oder nur eine Combination in der 
Lues darstellte — verschlechterten Quecksilbercuren die Nieren¬ 
erscheinungen, wie das Allgemeinbefinden in sehr erheblicher 
Weise; glänzend war sofort der Erfolg der mercuriellen Be¬ 
handlung, als ein längerer Aufenthalt in Aegypten günstige, 
speciell den Nieren zu Gute kommende Bedingungen schuf. 

Schliesslich kommt in manchen Badeorten in Betracht die 
Bedeutung der Trinkeuren. Der Schwefelgehalt solcher 
Wässer kann als ein günstiger Factor zur Verhütung mercurieller 
Enteritis betrachtet werden. Von Kochsalz wissen wir, dass 
reichliche Zufuhr desselben sowohl die Verarbeitung des ein¬ 
geführten Hg, wie die Diurese, die Quecksilberausscheidung und 
den Stoffwechselumsatz begünstigt. Jedenfalls wird man auch 
von dieser Unterstützung der mercuriellen Behandlung, wo es 
angängig ist, Gebrauch machen. — 

Damit, meine Herren, bin ich am Schluss meiner Ausführungen 
angelangt. Wie weit es mir gelungen ist, Ihre Zufriedenheit zu 
erwerben, weiss ich nicht. Eigentlich hoffe ich, in meiner Un¬ 
bescheidenheit, dass es bei Ihnen Allen der Fall ist, habe ich 
doch Ihnen Allen, mögen Sie nun Baineologen oder Specialisten 
oder praktische Aerzte sein, nur angenehmes gesagt. Aber 
meine Herren, ich konnte es mit gutem Gewissen thun. Es ist 
ganz und gar meine Ueberzeugung: dass die Syphilisbehandlung 
sehr viel ernsthafter, als es gemeinhin geschieht, gehandhabt 
werden muss, und dass dazu die Zusammenfassuug aller 
zur Verfügung stehenden Heilmethoden, besonders auch 
der Balneotherapie, unentbehrlich ist. 

Unzufrieden ist aber jedenfalls Einer in diesem Saale; das 
bin ich selbst. Denn da ich Ihnen nichts Neues zu sagen wusste 
und wohl auch kaum dazu iu der Lage war, weiss ich nicht 
ob ich nicht Ihre Zeit allzulange in Anspruch genommen habe. 
Um so mehr danke ich Ihnen für die grosse Freundlichkeit, mit 
der Sie mich angehört, und ich danke dem verehrten Vorsitzenden 
dieser ehrwürdigen Hu fei and’sehen Gesellschaft für die gütige 
und ehrenvolle Aufforderung, gerade an diesem Abend, dem Vor¬ 
abend des balneologischen Congresses, vor Ihnen sprechen 
zu dürfen. — 


V. Kritiken und Referate. 

Die Kostordnung der psychiatrischen und Nervenklinik der 
Universität Halle-Wittenberg. Für Aerzte und Verwaltunga- 
beamte herausgegeben und erläutert von E. und Ed. Hitzig in 
Halle a. S. Jena, G. Fächer 1897. 

Stellen wir gleich an die Spitze dieses Referates, dass die Verfasser 
ihre Aufgabe, eine auf rationelle Basis gegründete Kostordnung für 
eine Krankenanstalt zu entwerfen, nicht nur in ausgezeichneter Weise 
gelöst haben, sondern dass die Bearbeitung derselben von ihnen in einer 
ebenso originellen wie durch gründliche Beherrschung der in Betracht 
kommenden Fragen ausgezeichneten Weise geschehen ist. 


Die Verfasser haben sich bei der Frage der Kostbestimmung für 
das von ihnen geleitete Krankenhaus, in welchem 3 verschiedene Ver¬ 
pflegungsgruppen zu berücksichtigen waren, in der besonders günstigen 
Lage befunden, dass sie dieselbe ohne Beschränkung oder Beeinflussung 
von ausssen ganz und gar nach ihren eigenen Erfahrungen und Ueber- 
zeugungen einrichten konnten. Wenn sie auch mit vollkommenem 
Recht aussprechen, dass jede Kostordnung nur das wirklich Noth- 
wendige. nichts Complicirtes und Unnützes enthalten soll, so stellen 
sie andererseits mit eben demselben Recht an die Spitze ihrer 
Erörterungen, dass die Kost nicht nur eine ausreichende, sondern so 
eingerichtet sein soll, dass sie nach Möglichkeit durch Abwechslung und 
Schmackhaftigkeit dem Wohlbefinden und Behagen der Anstaltsinsassen 
dient, und nichts falscher wäre, als eine übel angebrachte Fiscalität. 
Selbstverständlich stellten sich diese Aufgaben etwas anders für die 
verschiedenen Verpflegungsgruppen, denn während bei Abmessung der 
Kost der drilten Speiseklassen das Hauptgewicht darauf zu legen ist, 
dass die Kost hei rationeller Verpflegung innerhalb der Grenzen des 
Nothwendigen bleibt, so tritt bei der Verpflegung der besser situirten 
Kranken und der Aerzte noch die Aufgabe hinzu, in der Kost eine 
reichere Abwechselung und einen gewissen Luxus obwalten zu lassen. 
Ein ganz besonderes Gewicht musste aber bei der Aufstellung sämmt- 
lieher Kostordnimgen auf eine alle öconmischen Verhältnisse und sonsti¬ 
gen Vortheile aut's Beste ausnutzende Speiseordnung gelegt werden. 

Die „Kostordnung“ gewinnt auch dadurch ein allgemeines Interesse, 
dass sie die Verpflegung für die verschiedenen Klassen, 3., 2. und 1. Klasse 
von Kranken, für die Aerzte und das Personal gesondert bespricht und 
im Anhänge einen Speiseetat für körperlich Kranke bringt. Hierdurch 
wird auch dem Bediirfniss weiterer Kreise entsprochen und besonders 
den Assistenzärztt n, die sich in der Regel sehr wenig bei Diätverord¬ 
nungen zu helfen wissen, eine Handhabe gegeben. 

Die Verf. haben ein Prinzip ihren Untersuchungen zu Grunde ge¬ 
legt, welches bisher in dieser Weise nicht angewendet worden ist. Sie 
nahmen nämlich die täglich zuzubilligende Menge von animalischem 
Eiweiss und Fett nach fremden und eigenen Erfahrungen als gegeben 
an (ca. 119 gr Eiweiss und 56 gr Fett) und stellten sich zunächst die 
Frage, wie gross ist unter diesen Umständen der Bedarf an Brod und den 
vorwiegend aus Kohlehydraten zusammengesetzten Nahrungsmitteln. Die 
Beantwortung die.-er Frage wurde so ausgeführt, dass den Verpflegten unter 
Berücksichtigung gewisser zur Controle nöthigen Vorsichtsmaassregeln ein 
Ueberschuss an Brod und Gemüse zur Verfügung gestellt und der Ver¬ 
brauch bestimmt wurde. Umgekehrt ergab sieh dann annähernd, ob die 
angewandten Fleisch- und Fettmengen ausreichend waren. Wäre dies 
nicht der Fall, so hätte sich der Verbrauch an Kohlehydraten weit über 
den anderweitig erfahrungsgemäss festgestellten Durchschnittswert!! er¬ 
heben müssen. Dasselbe gilt mutatis mutandis auch von dem Eiweiss¬ 
und Fettverbrauch. Von den üblichen Stoffweehselversuchen, d. h. Be¬ 
stimmungen der Stickstofl-Einnahme und -Ausgabe, der CO,-Ausscheidung 
etc. konnten die Verf. auf diese Weise ganz absehen und sich auf ein¬ 
fache Wägungen und genaue Controle des jeweilig Verabfolgten und 
Verzehrten beschränken. 

Darnach ordnet sich der Inhalt des Buches in folgende Kapitel: 
1. ein Ueberblick über die Physiologie der Ernährung, 2. eine Studie 
über den Bedarf an Brod und Gemüsen. 8. eine solche über den Bedarf 
an Fleisch. Es folgt 4. die Besprechung der Beköstigung der 
3. Speiseklasse, 5. der Beköstigung der 1. und 2. Speiseklasse und der 
Aerzte, 6. werden die Kosten besprochen und 7. das Speiseregulativ und 
der Speiseetat angereiht. 

Das erste (im Buch zweite) Kapitel giebt eine kurze, allgemein 
verständlich gehaltene Darstellung der Physiologie der Ernährung, in 
welcher der Eiweiss-, Fett- und Kohlehydratbedarf des Körpers resp. 
sein Calorienbedürfniss erklärt wird und die geltenden Anschauungen 
dargelegt werden. Wir können uns mit den darin niedergelegten An¬ 
sichten in jeder Weise einverstanden erklären. 

Die nun folgenden Untersuchungen über den Verbrauch von Brod. 
Gemüse und von Fleisch (2 und 3) sind mit ausserordentlicher Sorgfalt 
gemacht, und der Verbrauch einzelner Personen an den verschiedenen 
injFrage kommenden Nahrungsmitteln ist genau festgestellt worden. Es 
ergaben sich dabei zunächst auffallende und sehr starke individuelle 
Verschiedenheiten, so dass z B. der Verbrauch der Wärter an Brod 
bei dem einen über 1 Kilo, bei einem anderen nur 120 gr per Tag war, 
dass ferner im Ganzen die Frauen auffallend viel weniger verbrauchten 
als die Männer, z. B. im Durchschnitt 1 Kilo Wärter 5,2 gr, 1 Kilo 
Wärterin nur 2.8 gr pro Tag consumirte. Im Allgemeinen hat sich der 
Consum auf 386,9 bezw. 196,4 gr pro Tag gestellt, so dass eine Brod- 
portion von 500 gr p. T. (125 gr Weissbrod und 375 gr Graubrod) jeden¬ 
falls ausreichend sein würde, das Bedürfnis an Brod zu decken. Ver¬ 
schiedener Umstände wegen ist es aber nicht praktisch, einzelne 
abgewogene Brodportionen zu vertheilen, vielmehr hat es sich als am 
zweckmässigsten herausgestellt, den Verpflegten so viel Brod zu geben, 
wie sie essen wollen, dasselbe aber für die ganze Abtheilung gemein¬ 
schaftlich, je nach dem augenblicklichen Bedarf austheilen zu lassen. 
Als mittlerer Satz für den Durchschnittsbedarf des männlichen und 
weiblichen Personals kann dabei ein Werth von 275 gr Brod p. T. 
angesetzt werden, der eher zu hoch als zu niedrig geschätzt ist. Was 
das Fleisch betrifft, so wird zunächst die Frage seines Nährwerthes 
sowohl in Bezug auf die Beschaffenheit des vom Lieferanten abgegebenen 
Fleisches als seine Zusammensetzung etc. erörtert. Es finden sich dem¬ 
gemäss ausführliche Bestimmungen des Gehaltes des gelieferten Fleisches 


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BERLIKEU KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


305 


20. ApnUÖ^V 


an Knochen, des Gewichtvcrlustes beim Kochen und beim Braten, woraus 
der Fett- und Eiweissgehalt desselben ermittelt werden kann. Höchst 
bemerkenswert!! Bind dabei die enormen Differerenzen, die das Fleisch 
bei der Zubereitung erleidet, die sich beim Kochfleisch zwischen 9,5 
und 39,G, beim Braten zwischen 9,7 und 38.5 pCt. bewegen. Dies 
hängt von dem mehr minder gleich-innigen Zusammentreffen verschiede¬ 
ner Umstände, d. h. dem Gehalt des käuflichen Fleisches an Muskel¬ 
fleisch, Fett, Knochen, dem Alter des Thieres und der Kochdauer ab. 
Hierbei zeigte sich, dass der Nährwerth des käuflichen Fleisches von 
Voit etwas höher, und sein Fettgehalt etwas Geringer angegeben ist, 
als es sich nach den Bestimmungen der Verfasser herausstellt, welche 
den Eiweissgebalt von 200 gr Fleisch auf rund 3*2.8 gr, an Fett 
auf 25 gr feststellen. Was nun die Verköstigung der dritten Klasse, für 
welche ausführliche Speisezettel angegeben werden, betrifft, so wird 
darin die Eiweisszufuhr auf 128,9 gr p. T., die tägliche Fettzufuhr 
auf rund 85,5 gr und die von Kohlehydraten auf 425 gr beziffert, wobei 
zu bemerken ist, dass der wirkliche Verbrauch an Eiweiss nur 110,2 gr 
und an Kohlehydrate nur 325 gr beträgt, also um ea. 18 resp. 100 gr 
hinter dem Etat zurückbleibt. Da das Durchschnittsgewicht eines Kranken 
der 8. Klasse ca. 61 kgr ist, so stellt sich der Bedarf an Kohlehydraten 
pro Kilo auf 5,3 gr, wahrend sich nach Voit 7,1 gr ergeben. Auch der 
Brennwerth des Fleisches liegt mit 184 Ca. dem höher gefundenen Fett¬ 
gehalt entsprechend um ein Erhebliches höher, als bisher angenommen wurde 
( 119 ). Der Brennwerth der in diesem Speiseetat gegebenen Verpflegung 
berechnet sich darnach auf 3067,1 Ca. Er steigt bei den Kranken der 
1. und 2. Klasse resp. der Kost der Aerzte auf 1608,1 bezw. 5547,1 Ca., 
ist also sehr reichlich bemessen. Die Verf. lassen diesen Unter¬ 
suchungen, deren Resultate im Original ausführlich dargelegt und unseres 
Erachtens auch beweiskräftig begründet werden, eine Besprechung der 
Kosten der Bespeisung und endlich ein ausführliches Speiseregulativ und 
Etat folgen. Auf diese Dinge im Speciellcn einzugehen, ist hier nicht 
der Ort, es sei aber ganz besonders darauf hingewiesen, dass der Leser 
sowohl hier als ganz besonders in den ersten Kapiteln eine Fülle von 
praktischen, auf eine langjährige Krankenhauserfahrung gegründeten 
Winken und Vorschlägen findet, die, wie bereits Eingangs gesagt, das 
Hitzig'sehe Buch, ganz abgesehen von den wichtigen ernährungs¬ 
physiologischen Resultaten, welche sieh darin finden, zu einem unent¬ 
behrlichen Rathgeber für alle diejenigen, die sich mit einschlägigen 
Fragen zu beschäftigen haben, macht. Man sieht, wie viel wichtige 
Ergebnisse auch ohne weitschichtige Stoffwechseluntersuehungen eine 
die praktischen Verhältnisse vorurteilsfrei in Betracht ziehende Er¬ 
mittelung zeitigen kann. Ewald. 


E. Albert: Lehrbuch der speiiellen Chirurgie. 5. umgearbeitete 
Aull, des Lehrbuchs der Chirurgie und Operationslehre. I. Band. 
Wien, Urban & Schwarzenberg. 1897. 

Das bekannte Lehrbuch des hervorragenden Wiener Chirurgen er¬ 
scheint hier unter anderem Titel und in total veränderter Form: aus den 
vier Bänden sind zwei geworden, von denen der erste, vorliegende, Band 
die Krankheiten des Kopfes, Halses, der Wirbelsäule, der Brust und des 
Arms umfasst; die Form der Vorlesungen ist aufgegeben und die ge¬ 
wöhnliche Lchrbuchsform gewählt. Uns ist das Albert’sehe Lehrbuch 
in 3einer früheren Gestalt sehr werth gewesen und wir haben öfters mit 
grossem Vergnügen die anregenden Voiträge über dieses und jenes Capitel 
wieder gelesen, wir geben aber gern zu, dass für das Bedürfnis des 
Studirenden und des praktischen Arztes, der sich überein Thema orientiren 
will, die Jetzt gewählte Form vielleicht die bessere und praktischere ist. 
Zahlreiche vorzügliche Abbildungen, vielfach nach eigenen Beobachtungen 
des Verf. gezeichnet, dienen der Erläuterung des Texts, der alle bekannten 
Vorzüge der Albert’schen Schreibweise aufweist. Wir sind überzeugt, 
dass das vorzügliche Lehrbuch auch in dem neuen Kleide sehr viele 
Freunde finden und Vielen ein werthvoller Führer für die Praxis sein wird. 

II. Lindner-Berlin. 


M. Edel: Ueber Versorgung verletzten und invalide gewordenen 

Irrenwartpersonals. (Aus der städtischen Irrenanstalt zu Dall¬ 
dorf.) Sep. Abd. aus Arch. f. Unfallhlkde. Bd. I. 

Die Zusammenstellung und ausführliche Besprechung einer Reihe von 
"Unfällen bei dem in der städtischen Irrenanstalt zu Dalldorf angestellten 
Wartepersonal, wie sie Edel in seiner Arbeit giebt, weist von neuem 
eindringlich auf die mannigfachen Gefahren hin, denen das Personal in 
seinem schweren und verantwortungsvollen Berufe ausgesetzt ist. Wenn 
auch anzuerkennen ist, dass bei den in Dalldorf vorgekommenen Unglücks¬ 
fällen sowohl die Verwaltung der Anstalt als auch der Magistrat von 
Berlin in liberaler Weise für die in ihrer Erwerbsfähigkeit beschränkten 
Personen nach Kräften gesorgt haben, so werden wir doch dem Verf. darin 
beistimmen, dass es aus mehr als einem Grunde besser sei, wenn dem 
Im Dienst beschädigten Irrenwartpersonal ein rechtsverbindlicher 
Anspruch auf eine entsprechende Entschädigung eingeräumt würde. Da 
zur Zeit eine derartige gesetzliche Verpflichtung nicht besteht, schlägt 
Edel vor, das Unfallversicherungsgesetz auf das Irrenwartpersonal aus¬ 
zudehnen und zwar in Bezug auf dessen gesammte Thätigkeit. Er plaidirt 
ferner dafür, dass dem Personal nach bestimmter nicht zu lange zu be¬ 
inessender Dienstzeit, wenn es durch langwierige Krankheit oder durch 
allgemeine Abspannung invalide geworden sei, rechtlicher Anspruch auf 
Versorgung zustehen solle. Diese Versorgung müsse zunächst durch die 


Anwartschaft auf anderweitige Beschäftigungen gewährt werden, so lange 
noch die Fähigkeit bestände, diese auszufüllen; erst bei Erwerbsunfähigkeit 
auch für andere Stellungen käme die Zusicherung * einer Pension in 
Frage. Falkenberg. 


VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. 

Freie Vereinigung der Chirurgen Berlins. 

Sitzung vom 9. November 1896. 

Vorsitzender: Herr Rudolph Köhler. 

Schriftführer: Herr Langen buch. 

Vor der Tagesordnung. 

I. Hr. de Ruyter: Nasenplastik. 

M. H., ich möchte Ihnen einen Patienten zeigen, bei dem ich zur 
Verbesserung einer Sattelnase ein Stück decalcinirten Knochen unter die 
Haut eingeschoben habe. Ich wollte Ihnen nur den Patienten im jetzigen 
Stadium vorstellen und betrachte keineswegs das erzielte Resultat als 
definitives oder besonders ideales. Es sind verschiedene Verbesserungen 
möglich. Es ist erstlich das Stückchen Knochen, was ich eingeführt 
habe, aus nicht so gutem Material genommen, wie es zu beschaffen ist. 
Man wird gut thun, das Knochenstück genau dem Defect entsprechend 
zu modelliren. Man wird andererseits die Plastik, die liier* hinzugefügt 
ist, verbessern können. Ein spitzwinkliger Lappen ist aus der Wange 
geschnitten und gegen seine Basis hingezogen. Durch direkte Vereini¬ 
gung des Defectes in der Wange, ist so viel Material an Haut gewonnen, 
dass sich das Knochenstück bequem einlegen liess. Die Photographien 
des Patienten vor der Operation sind leider nicht gut ausgefallen. Ich 
möchte aber hier einen Gypsausguss zeigen, um einen Vergleich zu 
geben, wie Patient vorher ausgesehen hat und jetzt. Wenn man ver¬ 
gleicht, glaube ich, darf man wohl das Resultat als eine wesentliche 
Correctur ansehen, die nebenbei die Folge einer sehr bequemen und 
einfachen Operation ist. Ein dem implantirten Knochenstück genau nach 
Grösse und Form entsprechendes zeige ich hier vor. Es ist jetzt etwa 
vier Wochen her seit der Operation, und der Patient hat — nach acht 
Tagen war alles primär geheilt — gar keine Beschwerden während der 
Zeit gehabt. 

II. Hr. Rndolpli Köhler: Zur Theorie der Geschosswirkung. 

(Mit Demonstrationen.) 1. Ein bisher wenig beachteter Factor bei der 
Geschosswirkung. 2. Die Theorie des Stosses. 3. Neue Erklärung der 
sogenannten Explosivwirkung der Geschosse. 4. Entstehungsmechanismus 
der radialen und circulären Spalten um die Schussöffnungen und die 
Mechanik der Zertrümmerung des Zieles. (Der Vortrag bildet in aus¬ 
führlicher Begründung seiner Thesen und in erweiterter Form das 
VI. Capitel des in diesen Tagen bei Otto Enslin, Berlin, erschienenen 
Lehrbuchs der allgemeinen Kriegschirurgie des Vortragenden. Die nach¬ 
folgenden Zeilen sind ein von Herrn Dr. Sarfert verfasstes Excerpt 
des genannten Capitels.) 

Die Wirkung des modernen Geschosses im Ernstfälle ist noch nicht 
erprobt, wenigstens nicht in nennenswerthem Grade; nur in kleinen 
aussereuropäischen Kriegen ist das neue Gewehr bisher benutzt und über 
seine Wirkung haben wir keine ganz zuverlässigen Berichte. Jedenfalls 
muss nach unseren Betrachtungen über Ballistik die Wirkung des neuen 
Gewehres eine andere sein, als die Wirkung der in den letzten euro¬ 
päischen Kriegen, also auch in unserem Feldzuge 1870/71 gebrauchten 
Gewehre. Das lehren auch die zufälligen oder absichtlichen Verletzungen, 
welche das neue Gewehr bisher bei uns hervorrief, lehren auch die Er¬ 
fahrungen, welche man bei Unterdrückung von Arbeiteraufständen in 
Oesterreich gemacht hat. 

Fachmänner nehmen an, dass sich seit unserem letzten Feldzuge 
die Wirkung des Gewehrs auf das lebende Ziel verzehnfacht und^die 
Kraft des schweren Geschützes um das Vier- bis Fünffache vermehrt 
habe. 

Die Wirkung des Geschosses auf ein Ziel, hängt ab von seiner 
lebendigen Kraft und von seiner Beschaffenheit, sowie von der Wider¬ 
standskraft des Zieles. 

Die Arbeitsleistung, die Bewegungsenergie des Projectils wird nach 
physikalischen Gepflogenheiten durch Meterkilogramme ausgedrückt. Um 
sich eine Vorstellung von der Kraft oder Bewegungsenergie zu machen, 
welche durch eine gegebene Anzahl von Meterkilogrammen repräsentirt 
wird, ist es nützlich, sich zu vergegenwärtigen, dass die Kraft eines 
Pferdes auf 75 mkg geschätzt wird, d. h. ein Pferd ist im Stande (jedoch 
nur auf (kurze Zeit) ein Gewicht von 75 kg in einer Sekunde einen 
Meter hoch zu heben. Dies vorausgeschickt, beträgt die Arbeitsleistung 
unseres^heutigen Infanteriegeschosses nach einer Flugweite von 


100 

m 

239 mkg. 

1000 m 

53 mkg. 

200 

n 

186 „ 

1100 „ 

49 „ 

300 

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145 * 

1200 „ 

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400 

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113 * 

1300 „ 

42 n 

500 

T> 

90 „ 

2000 „ 

23 „ 


Die Arbeitsleistung des Geschosses nimmt daher zunächst schnell, 
mit zunehmender Entfernung weniger schnell, ab. 

Es ist also ziemlich gleichgültig, ob Jemand auf 1900 oder 2000 ra 
Entfernung verwundet wird, anders aber gestaltet sieh die Verwundung, 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 17. 


wenn sie das eine Mal auf 100, das andere Mal auf 200 m Entfernung 
des Schützen vom Ziel erfolgt. 

Um die Kraft in ihrer ganzen Grösse zu einer sichtbaren Aeusserung 
aufs Ziel zu bringen, muss das . Geschoss in Letzterem stecken bleiben. 

Diese Thatsache wird bei Würdigung der Schussresultate viel zu 
wenig beachtet; es kommt also nicht nur auf die Grösse der lebendigen 
Kraft des Geschosses an, sondern auch auf die Zeit, während welcher 
es im Ziele wirkt. 

Durchbohrt ein Geschoss ein Ziel und trifft ein zweites, in welchem 
es stecken bleibt, so kann der Fall eintreten, dass das erste Ziel, trotz¬ 
dem es mit grösserer Kraft getroffen wurde, viel weniger Zerstörung auf¬ 
weist, als das zweite, da das Geschoss nur einen kleinen Brucbtheil 
einer Sekunde in ihm verweilte, während es im zweiten Zeit hatte, 
seine ganze noch übrige Bewegungsenergie auf das Ziel zu übertragen. 

Wenn zwei Geschosse ferner gleiche lebendige Kraft haben, so wird 
das mit grösserem Querschnitt, da es mehr Widerstand im Ziele findet, 
länger im Ziele bleiben, als das andere, es muss deshalb auch grössere 
Zerstörungen anrichten. Ein im Ziele selbst Bich stauchendes Geschoss 
wird daher auch mehr lebendige Kraft aufs Ziel abgeben, als ein sich 
nicht stauchendes. 

Das Hartbleigeschoss staucht sich leicht, weniger leicht das Kupfer¬ 
mantelgeschoss, das Compoundgeschoss so gut wie garnicht. 

Hieraus erklärt sich auf die einfachste Weise die scheinbar para¬ 
doxe Thatsache, dass das neue sich nicht stauchende Mantelgeschoss 
(wenn es nicht etwa in Querstellung eindringt) bei Schädelschüssen der 
Selbstmörder trotz seiner grösseren lebendigen Kraft nicht so gewaltige 
Zerstörungen hervorruft, als das früher im Gehirn sich stauchende Weich¬ 
bleigeschoss, erklärt sich auch die auffallende Beobachtung, dass das 
neue Mantelgeschoss bis auf fünfzig Meter Entfernung im Allgemeinen 
die gleichen Zerstörungen des Schädels hervorruft und erst von 100 m 
ab eine gewisse Abnahme der Schädelzerstörung eintritt, trotzdem seine 
lebendige Kiaft doch gerade in der ersten Zeit seines Fluges rapide 
abnimmt. 

Die Mantelgeschosse erleiden bei Nachschüssen oft nur geringfügige 
Veränderung ihrer Gestalt, während sie selbst aut grosse Entfernung hin 
zuweilen noch ein Ziel zersplittern, sodass die Grösse der Deformation 
kein Maassstab für die Entfernung des Schützen vom Ziel ist. 

Die Wirkung vom Ziel bängt ferner ab von den physikalischen 
Eigenschaften des Geschossmaterials. 

Trifft ein Zündnadelgeschoss und ein Mantelgeschoss, beide mit 
gleicher lebendiger Kraft begabt und von gleicher Form auf ein ganz 
gleiches Ziel, z. B. auf einen Eichblock so durchbohrt das Mantelgeschoss 
bei einer gewissen Grösse der lebendigen Kraft noch den Block, während 
das Zündnadelgeschoss in ihm stecken bleibt. 

Da die Wirkung des Geschosses auf ein Ziel nicht in einem ein¬ 
maligen Stosse desselben gegen dieses, sondern in einer unendlichen 
Anzahl sich immer wiederholender Stösse der Moleküle gegeneinander 
(und zwar in gleicher Weise im Ziel wie im Geschoss) besteht, so be¬ 
wirken die Schwingungen im Geschoss eine äusserlich wahrnehmbare 
Deformation desselben, wenn das Kohäsionsverraögcn der Moleküle des 
Geschosses ein geringes, wie beim Ziindnadelgeschoss, das Ziel aber ein 
festes, wie der Eichenblock ist. Ein Geschoss, das sich deformirt, ver- 
grössert seinen Querschnitt, hierdurch wird der Widerstand des Zieles 
vermehrt; demnach muss das schwerer sich deformirende Mantelgeschoss 
bei gleicher lebendiger Kraft auf das gleiche Ziel abgefeuert, eine andere 
Wirkung ausüben, als das seine Gestalt nicht verändernde Bleigeschoss 
des Zündnadelgewehres. Naturgemäss ist auch die äussere Form des 
Geschosses mitbestimmend für diese Wirkung. Andererseits ist das 
Wiederstandsvermögen des getroffenen Körpers um so grösser, je spe- 
ciflsch schwerer er ist, wozu noch der Grad der Elasticität des Zieles 
kommt. (Ein speciflsch schwerer Körper z. B. kann leichter vom Ge¬ 
schoss durch drungen werden, als ein speciflsch leichterer, wenn der 
letztere, z. B. wie Gummi eine grosse elastische Kraft besitzt.) 

Es ist nützlich, bei der Kraftübertragung durch Stoss sich die Kraft 
als eine begrenzte gerade Linie vorzustellen, deren Anfangspunkt den 
Angriffspunkt der Kraft, deren Länge die Intensität, deren Richtung die 
Richtung der erzeugten Bewegung repräsentirt. Auch das Ziel denken 
wir uns als eine gerade Linie, welche aus hintereinanderliegenden, durch 
den Aether getrennten kleinsten Theilen besteht. Das an der Spitze 
der angreifenden Linie befindliche Molekül trifft auf das erste Molekül 
des Zieles, ihm einen Stoss in der Richtung der angreifenden Linie ver¬ 
setzend. Dieses stösst das angreifende zurück, prallt gegen das zweite, 
dasselbe gleichfalls in Bewegung setzend, dieses gegen das dritte u. s. w. 
Aber alle diese Moleküle waren in der Ruhelage, und um sie in Be¬ 
wegung zu setzen, musste ihre Trägheit überwunden werden; dadurch 
wird Kraft verbraucht und so vermindert sich von Molekül zu Molekül 
die Schnelligkeit ihrer Bewegung, bis die Kraft erschöpft und der Ruhe¬ 
zustand wieder eintritt, die Wirkung des Stosses des ersten Moleküls 
der angreifenden Linie ist vorüber. 

Aber nicht nur das erste Molekül der angreifenden Linie war mit 
vorwärtsdrängender Kraft begabt, sondern die folgenden gleichfalls — 
es folgt also unmittelbar nach dem ersten Stosse, ehe die Wirkung des¬ 
selben vorüber ist, ein zweiter von der angreifenden Linie ausgehender; 
in unmessbar kleinen Zeitintervallen wird den bereits in der Stossrich- 
tung sich bewegenden Molekülen durch neue Stösse immer neue Bewe¬ 
gung mitgetheilt, immer von neuem Rückstösse durch das Beharrungs¬ 
vermögen der Tlieile hervorrufend. In der tausendfältigen 
Wiederholung dieser molekularen Stösse und Rückstösse 


liegt das Charakteristische des Vorganges. Es entsteht mit¬ 
hin ein Hin- und Herschwingen der Moleküle in longitudinaler Richtung, 
abwechselnd Verdichtung und Verdünnung ihrer Zwischenräume dadurch 
erzeugend, dass das erste Molekül sich zunächst dem zweiten nähert, 
dann aber in seiner Vorwärtsbewegung gehemmt wird, einen Rückstoss 
erhellt, der an Kraft dem Anprall gleich ist, während das in Ruhe be¬ 
findliche zweite sich nunmehr entfernt. Einen solchen Vorgang nennt 
man eine longitudinale Welle. 

Ein Beispiel von derart aufgespeicherter, vorwärtsdrängender Kraft 
eines in einem labilen Medium befindlichen Körpers ist das in der 
Luft dahinsausende Projectil, welches durch die Pulvergase in Bewegung 
gesetzt ist und durch dessen Schwerpunkt die Resultante aller vor- und 
rückwärts laufenden Schwingungen geht, das Geschoss zu einer fort¬ 
währenden Vor- und RUckwärtsbewegung, also zu Stössen zwingend. 8o 
beweist auch die Geschosswirkung die Richtigkeit des Satzes, dass das 
ganze mechanische Naturgetriebe sich in Schwingungen (und Rotationen) 
vollzieht und auf dem Dualismus von Wirkungen und Gegenwirkung 
beruht. 

Die longitudinalen Schwingungen im Ziel in der Flugrichtung des 
Geschosses lassen sich sowohl bei Körpern, welche wir für wenig oder 
garnicht elastisch ansehen, wie bei sehr elastischen in gleicher Weise 
schön demonstriren. Wird ein Kanonenrohr von einem Geschoss an 
seiner Mündung getroffen, so ist unter Umständen an dieser keine oder 
doch nur eine sehr geringfügige Verletzung zu sehen, aber das Rohr, 
das im Uebrigen makroskopisch wenigstens ganz unversehrt geblieben 
ist, wirft seine Schwanztraube ab. Ein weiterer Versuch zeigt die 
longitudinalen Schwingungen besonders schlagend. 

Schiesst man auf Sandsteinplatten, so beobachtet man zuweilen, 
dass die getroffene Platte am Auftreffpunkt keine wesentliche Verände¬ 
rung zeigt, während auf der garnicht vom Geschoss berührten hinteren 
Seite der Platte relativ grosse flache Kegel abfliegen, währen die Mitte 
der Platte scheinbar wenigstens ganz intact bleibt. Wenn ein Geschoss 
mit erlahmender Kraft die Tabula externa des Schädels trifft, so braucht 
diese letztere gar keine Veränderungen zu zeigen und doch findet sich 
ein Theil der Tabula interna abgesprengt. — Sehr schön lassen sich 
die longitudinalen Stosswellen bei sehr elastischen Körpern an der 
Mariotte'schen Percussionsmaschine studiren. — 

Es findet jedoch nicht nur ein longitudinales Hin- und Ilerschwingen 
der in der Flugrichtung des Geschosses liegenden Theile statt, sondern 
auch ein Schwingen von Theilen, welche mehr oder weniger senkrecht 
zu der Flugrichtnng Bich befinden, also ein transversales Schwingen. 

Die durch das Geschoss zur Seite gedrängten Moleküle haben im 
Beginn ihrer seitlichen Verschiebung das Bestreben, ihrem ersten Impulse 
der Bewegung in der Flugrichtung des Geschosses zu felgen. Die 
Hauptfortleitung - ihres Stosses würde also nicht senkrecht zur Flugbahn 
des Geschosses erfolgen, sondern, da die senkrecht zur Flugbahn ste¬ 
henden Moleküle in einem homogenen Ziele dem Ausweichen zur Seite 
an sich gleichen Widerstand leisten, als die in der Flugbahn liegenden, 
nach dem Parallelogramm der Kräfte in einer Linie, welche sich zwi¬ 
schen der Achse und dem Perpentikel der Flugbahn hält, d. li. die 
Fortpflanzung der Schwingungen erfolgt vornehmlich in Kegelmantclform, 
bei welcher Basis des Kegels dem Ausschuss zugewandt ist. 

Die Seitenscbwingungen erfolgen aber auch bei entsprechend grosser 
Kraft des Geschosses nach allen anderen Richtungen, z. B. senkrecht 
zur Flugbahn, ja der Richtung der Flugbahn entgegengesetzt. Man kann . 
diese Erscheinungen studiren, wenn man das Zielobject aus gleichartigen 
Theilen, deren jeder für sich einen festen Körper bildet, bestehen lässt, 
z. B. aus mit Marmorkugeln gefüllten Blechbüchsen oder mit Kiesel¬ 
steinen gefüllten Gelassen. Die Blechbüchsen zeigen bei grösster Ge¬ 
schwindigkeit des Geschosses nach allen Seiten, auch nach der Ein¬ 
schussseite hin „humpenförmige Ausbuchtungen“ der Blechwand und die 
Marmorkugeln „gallensteinartige Abplattungen“ (n. Kocher). 

Ein Stoss durch feste Körper pflanzt sich leichter und auf weitere 
Entfernung fort, als durch flüssige, da die Kraft bei letzteren in gleicher 
Intensität sich nach allen Seiten hin fortpflanzt (was bei den ersteren 
nicht der Fall ist), wodurch die Intensität und Fernwirkung des Stosses 
abgeschwächt wird. 

Weshalb fallt der Mensch nicht sofort um, wenn er durch einen 
Granatsplitter, dem eine grosse lebendige Kraft inne wohnt, getroffen 
wird, wohl aber eine gleichgestaltete und gleichgrosse trockene Holz¬ 
puppe? Offenbar weil der menschliche Körper zum grossen Theil aus 
den Stoss schlecht leitenden wasserreichen ganz verschieden gebauten 
Geweben besteht. Ein schwerer Lastwagen, welcher über feuchten, un- 
gepflasterten Boden dahinrollt, pflanzt die durch ihn verursachten Schwin¬ 
gungen der Erde nicht bis zu den nahegelegenen Häusern fort, wohl 
aber, wenn der Boden fest gepflastert ist oder Frost hat. 

Ein classisches Beispiel für die enorme Kraftmenge, welche leicht 
aneinander verschiebbare Körper durch Reibung verzehren, ist der Sand, 
besonders grobkörniger. Geschosse mit grösster lebendiger Kraft bleiben 
nach kurzem Fluge im Sande stecken. 

Ein Schijss auf einen mit trockenem Sande (oder trockenem Gyps- 
pulver, Sägemehl) gefüllten Schädel führt nur relativ geringtügige Zer¬ 
störungen der Kapsel herbei. 

Die Theilchen des Wassers sind gleichfalls labil, und es könnte die 
Frage entstehen, ob beim Eindringen eines Geschosses in Wasser durch 
das Aneinanderschieben von Milliarden von Wassertheilchen gleichwie 
beim Sande soviel Energie verloren ginge, dass das Geschoss bald in 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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seinem Finge erlahme. Dieser schnelle Energieverlast des Geschosses 
im Wasser ist allerdings Thatsache. 

Das moderne Geschoss dringt mit einer Kraft von mehr als 200 mkg 
in das Wasser ein und kommt doch nach wenigen Metern Flug zur Ruhe, 
es ist nicht im Stande, ein in dem Wasser befindliches leichtes Draht¬ 
netz auf 140 cm Entfernung zu durchschlagen. Aber dieser Energie¬ 
verlust beruht nicht auf Reibung. 

Denn füllen wir Wasser in ein rings geschlossenes GefiUs ein 
und Jagen ein mit grosser Kraft begabtes Geschoss durch das Wasser 
hindurch, so zersprengt das Wasser die Hülle in unzählige Theile und 
zwar nach allen Richtungen. 

Wie sind die eigenartigen Schussverletzungen des menschlichen 
Körpers, welche dem eben erwähnten Experiment entsprechen, und 
welche man mit dem Namen der Explosivschtisse belegte, zu er¬ 
klären? 

Falsch ist die Anschauung, dass die Rotation des Geschosses und 
Beine Centrifugalkraft sie verursache, ebenso andere Ansichten, welche 
die Erklärung im Luftdrucke, Erwärmung und Deformation des Ge¬ 
schosses suchen. 

Viele Jahre führte man mit einem gewissen Erfolg jene auffallenden 
Zerstörungen auf hydraulischen Druck zurück. Das Princip des hydrau¬ 
lischen Druckes im physikalischen Sinne bestehlt bekanntlich darin, dass 
das Wasser in einem geschlossenen Hohlraum einen empfangenen Druck 
nach allen Seiten hin auf beliebige Entfernung in gleicher Stärke fort¬ 
pflanzt und als Prototyp eines hydraulischen Vorganges sieht man die 
hydraulische Presse, die Wirkung des hydraulischen Stempels an. 

Der hydraulische Druck im Sinne hydraulischer Pressung kann aber 
niemals durch eine in unmessbar kleiner Zeit wirkende Gewalt auf eine 
mit Flüssigkeit gefüllte, allseitig geschlossene Kapsel zu Stande kommen, 
auch nicht im ersten Moment des Eindringens, Bondern dadurch, dass 
dieser Druck so lange wirkt, bis die im Wasser erzeugten Schwingungen 
und Gegenschwingungen in der geschlossenen Kapsel ins Gleichgewicht 
kommen. 

Wäre die Theorie der Anhänger des hydraulischen Druckes im Sinne 
hydraulischer Pressung richtig, so würde ein nur den 3000. Theil einer 
Sekunde dauernder Druck auf das Wasser einer mit einem Reservoir 
von einem Kubikmeter Inhalt communicirenden kleinen Röhre genügen, 
um einen allseitig gleichen Druck auf die Wandungen des grossen Ge- 
fässes auszuüben. Das ist ganz unmöglich, denn dazu gehört mehr Zeit; 
ehe der Druck die Wandungen der Kapsel erreicht hat, hat sich die 
Energie der Welle durch das Beharrungsvermögen der Wassertheilchen, 
welches der Stosswelle entgegenwirkt, erschöpft. 

Aber auch der hydraulische Druck im anderen Sinne, welcher vor¬ 
nehmlich auf dem Begriffe der Raumbeengung basirt, kann nicht zur 
Erklärung der gewaltigen Zerstörungen: welche Explosivschüsse her- 
vorrufen, herangezogen werden. Denn wir haben dieselben Explosiv¬ 
erscheinungen auch beim trepanirten Schädel, also auch wenn die Kapsel 
mit dem flüssigen Inhalt nicht allseitig geschlossen ist, wo von einer 
Raumbewegung durch die Kapsel keine Rede sein kann. 

Wesshalb zerrissen die Wandungen des offenen Schädels, da das 
Wasser doch Ranm genug zum Ausweichen hatte? 

Wie ist es möglich, dass Wasser, welches gegen einen festen Körper 
andrängt, diesen zerstört? 

Die wildbewegte See zerstört die eisernen Schiffsplanken, die mit 
"Wasser geladene Pistole zerschmettert den Schädel des Selbstmörders. 
Was ist der Grund? 

Wirkt eine intensive Gewalt plötzlich auf Wasser und sucht das¬ 
selbe zu verdrängen, so haben die Wassertheilchen nicht die nothwendige 
Zeit zum Ausweichen, die Labilität der kleinsten Theile kann 
Bich nicht bethätigen; die Stosswelle geht demzufolge in solchem Falle 
durch das Wasser wie durch einen festen incompressiblen 
Körper, nur ungleich schneller und intensiver, da es einen so homo¬ 
genen Körper wie Wasser nicht weiter giebt. 

Aber nicht nur die Plötzlichkeit der Gewalteinwirkung kann diesen 
Zustand bervorrufen, auch der zweite Factor der lebendigen Kraft eines 
bewegten Körpers, die Masse kann dasselbe bewirken, wenn dieselbe 
mit grossem Querschnitt angreift. Wenn Jemand beim Sprung ins 
Wasser aus bedeutender Höhe mit dem Rücken oder dem Unterleib 
platt aufs Wasser schlägt, so sind die Theile des Wassers, welche der 
Mitte der auftreffenden Fläche entsprechen, weniger in der Lage, aus- 
weichen zu können, als die seitlich getroffenen; die Mitte der Auftreff¬ 
fläche wirkt dem fallenden Körper gegenüber gleichsam als feste Masse 
und kann an dieser Stelle schwere Verletzungen des Körpers hervor- 
rufen, die Wassertheilchen befinden sich bei diesem Vorgänge in einem 
ähnlichen Zustande, wie die fest in einem Bleehgefäss eingepresstc Marmor¬ 
kugeln, die nicht mehr ein aus leicht aneinander verschiebbaren Theilen 
bestehendes Conglomerat von Kugeln darstellen, Bondern durch ihr Ein¬ 
gepresstsein die leichte Verrückbarkeit ihrer Theile verloren haben, so- 
dass sich die Stosswelle wie durch einen massiven Körper auch durch 
sie fortpflanzt. 

Eine Veränderung des Aggregatznstandes des Wassers 
tritt selbstredend bei dem eben er wähn ten Vorgan ge ebenso 
wenig ein, wie die Marmorkugeln durch ihr Eingepresstsein 
zu einem massiven Marmorblock werden. 

Wie die Labilität der Wassertheilchen mehr und mehr abnimmt, 
je schneller die angreifende Gewalt wirkt, zeigt folgender Versuch: 
Schienst man auf ein im Wasser befindliches, nicht allzu tief unter 
dessen Oberfläche liegendes Brett mit einer Pistole, deren Geschoss 


geringe lebendige Kraft hat, so durchfliegt das Geschoss das Wasser und 
durchbohrt das Brett; die Wassertheilchen hatten Zeit ausznweichen. 
Vergrössert man die lebendige Kraft deB Geschosses, z. B. durch Ver¬ 
mehrung der Pulverladung, so dringt zwar das Geschoss in das Wasser 
ein, durchschlägt aber das Brett nicht mehr; bei allergrösster Ge¬ 
schwindigkeit zersplittert es schon beim Anfrreffen. 

Durch dieses Experiment wird uns in klassischer Weise vor Augen 
geführt, wie die Labilität der Wassertheilchen mit zunehmender Geschoss¬ 
geschwindigkeit immer weniger zur Geltung kommt, wie ihr Beharrungs¬ 
vermögen immer mehr in die Erscheinung tritt, bis dasselbe zu einer 
solchen Grösse heran wächst, dass es die Cohäsionskraft des Bleies ver¬ 
nichtet. 

Als Schlussfolgerung ergiebt sich: 

Die Explosivschüsse des Schädels beruhen auf keil¬ 
förmiger Zerstörung durch ein mit sehr hoher Geschwindig¬ 
keit begabtes Geschoss; ermöglicht wird dieser Vorgang dadurch, 
dass gegenüber der Geschwindigkeit des Geschossfluges (dass Geschoss 
durchsetzt den Schädel in dem 3., 4. oder 5. tausendsten Theil einer 
Sekunde) die Wassertheilchen des Schädelinbalts ihre Labilität nicht 
bethätigen können. 

Durch diese Annahme erklären sich alle Erscheinungen, welche 
Explosivschüsse des Schädels hervorbringen, in ungewungener Weise; 
nicht aber durch die Annahme des hydraulischen Druckes, auch nicht 
durch die neueste, von den Herren Kurl bäum und Schjerning ver¬ 
tretene Theorie der hydrodynamischen Druckwirkung. 

Dieser Theorie liegt folgende Anschauung zu Grunde: 

„Die dem Geschoss zunächst liegenden Wassertheilchen erhalten eine 
Geschwindigkeit, welche von derselben Grössenordnnng ist, wie die Ge- 
Bcbossgeschwindigkeit und die Theilchen übertragen die Geschossgeschwin- 
digkeit weiter auf die ihnen benachbarten Wassertheilchen und so fort, 
sodass eine ziemlich grosse Wassermenge eine ausserordentliche Ge¬ 
schwindigkeit erhält, Die Arbeitsleistung eines Geschosses besteht also 
wesentlich in der Abgabe seiner Geschwindigkeit auf das umgebende 
Wasser und zwar an eine ziemlich umfangreiche Wasserzone.“ 

Diese Theorie nimmt weiter an, dass zunächst sich Einschuss- und 
Ausschussloch bilden, welche beide, worauf das Werk der Medicinal- 
abtheilung als eine typische Erscheinung wiederholt hinweist, radiale, 
vom Schusslocb ausgehende und circuläre, dasselbe umkreisende 
Spalten als Ausdruck der Wirkung des Geschosses erkennen lassen; 
erst wenn dass Geschoss den Schädel verlassen hat, erfolgt die 
Zerstörung des übrigen Schädels durch hydrodynamische Druck¬ 
wirkung. Wir haben also bereits, ehe diese Wirkung in die Erschei¬ 
nung tritt, zwei mehr oder weniger grosse Oeffnungen im Schädel. 
Nun aber steht fest, dass der Inhalt des Schädels bei Explosivschüssen 
unter einem Druck steht, der zuweilen 40 Atmosphären überschreitet 
und noch relativ dadurch vermehrt wird, als am Einschassloche wegen 
der hinter dem Geschosse vorhandenen Luftverdünnung ein negativer 
Druck herrscht. Diesen Druck müssen wir unter allen Umständen mit 
in Rechnung ziehen. Es ist undenkbar, dass dieser ungeheure, durch 
das Manometer nachgewiesene Druck nicht schon im Augenblick, in 
welchem der Geschossboden das Einschussloch passirt hat, die nicht 
compressible Flüssigkeit aus dem Ei'nschussloch herausströmen lassen 
sollte, da jede unter einem Druck stehende Flüssigkeit immer nach der 
8eite des geringsten Widerstandes ausweicht; geschieht dies aber — 
und das muss geschehen, wenn die Theilchen des Wassers ihre Labi¬ 
lität bethätigen können, so kann von einer Weiterleitung von lebendiger 
Kraft durch Geschwindigkeitsübertragung auf die Innenwand der Schädel¬ 
kapsel nicht mehr die Rede sein und noch viel weniger, wenn gar schon 
zwei Oeffnungen vor dem Eintreten dieser Wirkung vorhanden sind. 

Gegen die hydrodynamische Theorie dürften vielleicht auch die 
eignen Worte ihrer Begründer sprechen: 

„Während die leeren Bleigefässe glatt durchschlagen werden., 

zeigen dagegen die mit Wasser und vielleicht noch mehr die mit Kleister 
gefüllten Gefässe eine nach allen Seiten hin von innen nach aussen auf¬ 
trete Druckwirkung.“ Man sollte doch annehmen, dass das Anstürmen 
der Wassermassen leichter in einen mit Wasser als mit Kleister ge¬ 
füllten Gefässe vor sich ginge, dass die Zerstörungen im ersteren Falle 
viel hochgradiger sein müssten, denn die zähen Bestandteile des Kleisters 
müssen die vorwärts drängenden Wassermassen aufhalten und die Kraft 
der Stosswelle abschwächen. 

Ist denn eine vorübergehende Veränderung in dem physikalischen 
Verhalten des Wassers so wunderbar? 

Man vergegenwärtige sich z. B. den Vorgang der Flüssigmachung 
der Kohlensäure, des Sauerstoffs und Stickstoffs durch Druck und 
Temperaturänderungen. Wird Wasser durch Abkühlung zu einem festen 
Körper, warum soll es nicht unter einem enormen Drucke oder bei grosser 
Schnelligkeit einer Gewaltwirkung in einen Zustand hineingerathen, in 
welchem vorübergehend das leichte Ausweichungsvermögen seiner Theile 
sich nicht bethätigen kann, ohne dass hierdurch sein Aggregatzustand 
sich ändert? Nehmen doch die Physiker an, dass die glühenden 
Gase der Sonne durch den Druck, welche die Anziehung der unge¬ 
heuren Masse der Sonne auf Bie ausiibt, dichter sind, als die festen 
Bestandtheile unserer Erde, ohne doch ihren Aggregatzustand zu 
ändern. Würde man die Geschossgeschwindigkeit so steigern können, 
dass auch die dem Wasser gegenüber viel labilere Luft, z. B. die, 
weiche sich zwischen den Sandkörnchen befindet, ihre Labilität nicht 
äussern kann, so würde ein mit trockenem Sand gefüllter Schädel ebenso 
auseinandergesprengt werden, wie ein mit feuchtem Sand gefüllter. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 17. 


Im Jahre 1894 schrieb du Bois-Reymond (Sohn des Physiologen 
d. B.) folgendes: „Wir haben gesehen, dass wir keine scharf begrenzte 
Definition für die Aggregatzustände aufstellen können. Ein Stück 
Flaschenpech oder Siegelack zerfliesst, wenn es lange einem gleich- 
massigen Drucke ausgesetzt ist nnd zerspringt in scharfkantige Splitter, 
wenn man durch einen Hammerschlag eine Wirkung darauf auBÜbt, die 
in Kilogrammen gemessen, vielleicht nur einen kleinen Theil des zuerst 
langsam ansgeübten Druckes darstellt.“ 

Der Siegelack bildet also ein Beispiel eines allem Anschein nach 
festen Körpers, der sich aber als flüssiger entpuppt, sobald wir nur 
langsam genug auf ihn einwirken. Dass sich Eis ähnlich verhält, be¬ 
weist die allgemein bekannte Eigenschaft der Gletscher.“ 

Wenn wir die Gesehosspräparate betrachten, sei es, dass es sich 
um sogenannten Explosionscbüsse handelt oder nicht, immer tritt uns 
ein bestimmter Typus in der Art der Zerstörung des Ziels entgegen. 

Von den Schussöffhungen aus, vom Einschuss wie vom Ausschuss, 
aber auch vom 8chusscanal aus, zieht eine mehr oder weniger grosse 
Anzahl von radialen Spalten in die Gewebe hinein; wir sehen ferner 
bei vielen Schusspräpraten mehr oder weniger unterbrochene circuläre 
Streifen die Schussöflnungen umkreisen. Die Medicinalabtheilung hat 
besonders auf diese typischen Spaltbildungen aufmerksam gemacht. 

Welche Ursache liegt diesem immer wiederkehrenden Typus zu 
Grunde? 

Eine Erklärung dieser Erscheinung ist noch nicht gegeben, und doch 
ist der Entstehungsmechanismus derselben ein überaus einfacher, ebenso 
wie auch die Mechanik der vollständigen Zertrümmerung des Zieles ein 
einfacher Vorgang ist. 

Jedes Geschoss dringt keilförmig ins Ziel ein, nicht nur unser 
modernes mit seiner abgerundeten Spitze, sondern auch die früher ge¬ 
bräuchliche Rundkugel. Niemals kommt ob vor, dass das Geschoss so¬ 
fort mit seinem grössten Querschnitt, also nicht keilförmig, in’s Ziel 
tritt, selbst bei einem Querschläger nicht. Es kommt mithin unter allen 
Umständen bei jeder Art Ziel die Keilwirkung zur Geltung, also das 
Princip der schiefen Ebene, deren Eigentümlichkeit darin besteht, 
dass ein grosser Theil der lebendigen Kraft nicht in der 8towichtnng, 
sondern seitlich verbraucht wird. Die Art und Grösse der Keilwirkung 
selbst hängt von der mehr oder weniger ausgeprägten Keilform des Ge¬ 
schosses ab; das moderne Geschoss wirkt wie ein vorn abgerundeter 
Keil. 

Denken wir uns das Ziel aus einer Reihe hinter einander befind¬ 
licher kreisförmiger Scheiben von gleicher Grösse und Form bestehend. 

Nur selten freilich hat das Ziel eine solche Gestalt; häufig hat es 
z. B. einen röhrenförmigen Bau, wie bei Diaphysen. Um die Schuss¬ 
wirkung auf solche Körper zu zergliedern, müssen wir uns das Ziel 
nicht nur aus hintereinanderliegenden kreisförmigen Scheiben bestehend 
vorstellen, sondern zugleich aus übereinander liegenden. Dieselben 
Gesetze, nach welchen die Veränderungen des Zieles in seiner 
Verticalebene vor sich gehen, gelten auch für die Zerstörungen des 
Zieles in seiner Horizontalebene; aber der Angriffspunkt der Kraft 
ist ein anderer, in dem einen Falle liegt er mehr oder weniger 
im Centrum der Scheibe, im anderen an seiner Peripherie. Deshalb 
muss der jeweilige Bau des Ziels auf das Schussresultat grossen Ein¬ 
fluss ausüben. Werden z. B. bei den Röhrenknochen jene horizontal 
liegenden 8cheiben durch die Gewalt des Geschosses von vorn nach 
hinten zusammengedruckt und ihr Querdurchmesser (von rechts nach 
links) durch diesen Mechanismus über die Gebühr ausgedehnt, so tritt 
eine Znsammenhangstrennung (Fissuren) ein, welche mit dem direct 
durch das Geschoss verursachten Zusammenhangstrennungen in keinerlei 
Verbindung zu stehen braucht. 

Es genügt, die Wirkung des Keiles auf die erste Scheibe zu er¬ 
läutern, da in jeder folgenden sich derselbe Process abspielt. 

Das keilförmige Geschoss soll genau senkrecht in die Mitte der 
8cheibe eindringen, welche wir uns, um das Veratändniss zu erleichtern, 
aus einer Reihe von Kreisen — nehmen wir, wie bei einer Schützen- 
scheibe, deren 11 an — umgeben voratellen. Der keilförmige Bau des 
Geschosses bedingt, dass bereits im ersten Augenblicke in’s Ziel ein 
starker Seitendruck im Sinne seitlicher Verschiebung auf die Wandungen 
des Schusscanals ausgeübt wird, der sich mit dem Vorrücken des Ge¬ 
schosses steigert; hierdurch wird jeder einzelne der gedachten Ringe er¬ 
weitert. 

Ring 6 z. B. nimmt jetzt den Platz ein, den zuvor der grössere 
Ring No. 5 einnahm; da aber die Zahl seiner Moleküle nicht zugenommen 
hat, müssen dieselben auseinander gezerrt werden; sie entfernen sich 
also von einander.:{.Ist die Cohäsionskraft der Moleküle genügend gross 
oder bandelt es sich um einen sehr elastischen Körper, so verändern die 
Ringe nicht ihr Aussehen; im entgegengesetzten Falle tritt eine 
Trennung an einer oder an mehreren Stellen des Ringes auf. 

Die stärkste Zerrung hat der unmittelbar um das Geschoss befind¬ 
liche Ring des Zieles zu erleiden, hier müssen sich mithin die Trennungen, 
die Sprünge zuerst zeigen; der Riss steht dabei radial zur Geschoss¬ 
achse. 

Zugleich hiermit geht aber auch eine Compression der Moleküle in 
der Richtung der kleinen Kreise zu den grösseren der Scheibe vor sich. 
Die Compression 'erfolgt stossweise, eine Wellenbewegung in den 
festen Theilen erzeugend, wie ein Stein, der in’s Wasser geworfen vom 
Punkte des Eindringens eine solche in’s Wasser hervorruft. Je grösser 
der Stein ist, d. h. Je grösser die Masse und die Schnelligkeit, mit 
welcher er in’s Wasser geworfen wird, um so stärker auch die Rück- 


stösse. Das zeigt sich äusserlich in der Höhe der Wasserwellen, die 
schliesslich durch Raumbeengung so hoch werden können, dass der Zu¬ 
sammenhang der Wassertheilchen auf dem Höhenkamm der Welle ver¬ 
nichtet wird und das Wasser in die Höhe spritzt. In ähnlicher Weise ver¬ 
läuft die Wellenbewegung in festen incompressibeln Körpern, wenn wir eie 
natürlich auch nicht mit unseren Augen erkennen können. Ist die Gewalt 
eines Geschosses eine grosse, ist auch der Widerstand gross, so kann auch 
hier auf der Höhe der Welle, auf welcher die grösste Verdichtung der 
Moleküle stattflndet, derart, dass nicht Raum genug für sie vorhanden 
ist, eine Zusammenhangstrennung stattfinden, welche dann naturgemäsa 
nicht radial zur Flugbahn des Geschosses steht, sondern wie bei der 
Wasserwelle circulär sein, den Eingang des Schusscanals umkreisen 
muss. Dass die circulären Fissuren auf Wellenbewegungen der be¬ 
schriebenen Art zurückzuführen sind, kann man an der Art der Zer¬ 
störung des Zieles in unzweideutiger Weise erkennen. 

Nicht nur bei unelastischen Körpern sehen wir die radial nnd 
kreisförmig den Einschuss umgebenen Spalten; auch bei elastischen, ganz 
gleich, ob sie fest oder weich sind, ob es sich um Leber, Haut oder 
Knochen handelt, sind solche zuweilen deutlich zu erkennen. Ein Bei¬ 
spiel einer schönen radialen und circulären Spaltung sehr elastischer 
Körper zeigen z. B. Schüsse auf Gummiplatten. 

Ist die Kraft des Geschosses gross genug, um es durch’s Ziel zu 
treiben, so müssen auch beim Ausschuss die Zeichen der Heilwirkung 
radiale und circuläre Spalten sich bilden. Dies finden wir in der That 
bei sehr vielen Schusspräparaten. So zeigen sich radiale und circuläre 
Fissuren an der Ausschussseite bei Sandsteinplatten und Eisenplatten in 
gleicher Deutlichkeit, wie beim Schädel. Nach dem eben Erörterten 
versteht es sich von selbst, was wir schon früher andeuteten, dass auch 
von den Wandungen des Schusscanals aus radiale Spalten sich bilden 
können. Spalten dieser Art treffen wir namentlich in fest weichen Ge¬ 
weben, Leber, Niere und dergleichen an, in welchen sie unter der Form 
von mehr oder weniger senkrecht zur Achse des 8chusscanals stehenden 
Gewebseinrissen auftreten, während sie in sehr elastischen oder sehr 
corapressiblen weniger deutlich in die Erscheinung treten. 

Die durch die Fissuren hervorgebrachten Zeichnungen fallen um so 
regelmässiger aus, je homogener das Ziel ist, und wenn wir letzteres als 
ein grösseres Ganzes betrachten, je mehr die Flugbahn des Geschosses 
sich der mathematischen Mittellinie des Zieles nähert. Absolute Regel¬ 
mässigkeit und Symmetrie der Spaltungen können wir beim lebenden 
Ziel wegen der Ungleichartigkeit seiner Zusammensetzung nicht er¬ 
warten, doch finden wir nicht selten bei Schüssen, welche ziemlich 
genau die Mitte des Schädels durchsetzen, eine deutliche Symmetrie der 
Spaltbildung. 

Von grossem Interesse ist in dieser Beziehung die durch Keil¬ 
wirkung des Geschosses hervorgerufene typische Spaltbildung bei den 
Diaphysenschüssen, welche die bekannte 8chmetterlingsfractur darstellt, 
noch interessanter aber die Thatsache, dass auch zahlreiche kleinere 
Splitter dieser Fractur, jeder für sich, oft dieselbe Figur erkennen lassen 
(Kocher), ein classischer Beweis dafür, dass cs sich bei der Geschoss¬ 
wirkung um eine sich fortdauernd wiederholende Wirkung desselben 
Mechanismus der Zerstörung handeln muss und dieser immer gleiche 
Mechanismus liegt in der Wiederholung der Stösse. 

Sehr schön können wir beide Arten von Zerstörungen, die das Ge¬ 
schoss hervorruft, die radial verlaufenden und die circulären bei Schüssen 
auf den menschlichen Schädel erkennen, doch auch, wie erwähnt, bei 
Schüssen auf Gummiplatten, also bei spröden, wie bei sehr elastischen 
Zielen, bei festen oder weniger festen (Weichtheile), am besten studiren 
wir sie an den Schüssen von Glasplatten. Wir erkennen zu gleicher 
Zeit bei Betrachtung solcher Schusspräparate, dass mit Zunahme der 
Geschwindigkeit des Geschosses die radialen Sprünge sich mehren, die 
concentrischen immer näher aneinanderrücken; wie tlie Theilchen, die 
sie begrenzen, immer kleiner werden, bis wir sie mit unserem Ange 
nicht mehr unterscheiden können, d. h. die Zertrümmerung voll¬ 
endet ist. 

Nicht die radiale Spalte allein zertrümmert ein Ziel, ebenso wenig 
wie dies der Schnitt eines Messers vermag, auch nicht die circuläre 
Spalte allein, sondern erst die Verbindung beider behufs Umkreisung 
eines kleinsten Partikclchens vollendet die Zermalmung. Auch der 
Mechanismus der Zertrümmerung eines Körpers oder Körpertheiies, sei 
es, dass er belebt ist oder nicht, sei es, dass es sich um weiche oder 
harte Theile handelt, durch die stumpfen Gewalten des Friedens geht 
nach denselben Gesetzen, wie die Zerstörung des Zieles durch das Ge¬ 
schoss vor sich geht. 

Jede angreifende Kraft setzt sich zusammen aus Masse und Be¬ 
wegung gleichwie beim Geschoss; je nachdem der eine oder der andere 
Factor der wichtigste ist, wird sich zwar der Effect der Wirkung anders 
gestalten können, aber die Mechanik der Zerstörung vollzieht sich in 
dem einen wie in dem anderen Falle in derselben Weise. 

* Geringe Geschwindigkeit und grosse Masse, grosse Geschwindigkeit 
und kleine Masse, sie zermalmen auf gleiche Weise das Angriffsobject 
Bewegung und Masse auf der einen Seite, Raum- und Zeitbewegung auf 
der anderen, das sind die Factoren, welche die Zertrümmerung jedes 
Körpers bewirken, deren einfache Mechanik nus die Betrachtung der 
Geschosswirkung lehrte. 

(Schluss folgt.) 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


369 


26. April 189 % _ 

VIL 26. Congress der Deutschen Gesellschaft 
für Chirurgie. 

Vom 21. — 24. April. 

Referent Engen Cohn. 

I. Tag. 21. April. 

Hr. Bruns-Tübingen eröffnet mit einigen einleitenden Worten die 
erste Sitzung und gedenkt der verstorbenen Ehren- resp. Mitglieder 
8ir Spencer Wells, Schmidt-Leipzig, Max Müller-Cöln, Ehren¬ 
berg-Barmen, v. Frey-Prag, Schmidt-Stettin, Michael-Hamburg, 
Jacobi-Dresden, Schrader-Posen, sowie des Dr. Velten, welcher 
der Gesellschaft letztwillig ein Legat von 100 000 Mk. vermacht hat. 

Hr. v. Leube-Würzburg: Chirurgische Behandlung des 
Magengeschwürs. Bei der Behandlung des Magengeschwürs muss zu¬ 
nächst mit den Erfahningen des inneren Klinikers gerechnet werden. Ob 
und wann die chirurgische Behandlung eintritt, ist erst nach eingehender 
Berathung zwischen dem inneren Kliniker und dem Chirurgen zu ent¬ 
scheiden. Die chirurgische Behandlung des Magengeschwürs kommt nur 
selten und ausnahmsweise in Frage; allein die Erfahrung, die die Re¬ 
sultate aus einem grösseren Material berücksichtigt, muss die seltene In- 
dication zur Operation feststellen. Die Erfahrungen des Vortragenden 
erstrecken sich auf über 1000 Fälle in den letzten 10 Jahren. Die Be¬ 
handlung war stets eine interne und bestand ausschliesslich in Bettruhe, 
heissen Kataplasmen, Karlsbader Wasser und einer genau geregelten 
Diät. Allerdings giebt nur die minutiöseste Befolgung der aufgestellten 
Regeln ein gutes Resultat. Die Bettruhe erstreckt sich mindestens auf 
10 Tage, die Breiumschläge müssen so heiss sein, wie Patient nur irgend 
verträgt. Um die sich bildenden Brandblasen vor Eiterungen zu schützen, 
wird die Haut mit Sublimat vorher abgewaschen, dann mit Borwachs be¬ 
strichen. Die Kataplasmen dürfen erst '/ 4 Jahr nach der letzten Magen¬ 
blutung angewandt werden. Sie werden alle 10 Minuten gewechselt und 
nach 10 Tagen durch Priessnitz-Umschläge ersetzt. Die Schmerzen ver¬ 
schwinden gewöhnlich schon nach 5 Tagen, wo nicht, werden die Brei¬ 
umschläge weitere 5 Tage gemacht. Hierauf folgen 8 Wochen Priess¬ 
nitz-Umschläge und ist besonders zu beachten, dass der Magen keinen 
Druck erleidet; das Corset ist zu verbieten. Patient trägt eine Flanell¬ 
binde nnd muss nach dem Essen liegen. Von Karlsbader Wasser muss 
1 lt Liter lauwarm täglich genommen werden, nie zu heiss oder zu kalt. 
Als Getränk empfiehlt sich Selters, von Arznei event. Natr. bicarbon. 
Opium wird nie angewandt. Gegen die Verstopfung empfiehlt sich Ge¬ 
brauch von Karlsbader Salz. Die Diät ist streng zu regeln; die Kost¬ 
ordnung ist allgemein bekannt und verzichtet L. darauf näher einzu- 
ftehen. io Tage wird I. Kost, 7 Tage II. Kost, 5 Tage III. Kost, dann 
IV. Kost gereicht. Von der 5. Woche ist Wein gestattet, von der 
8. Woche ab sind alle Speisen in mässiger Menge erlaubt. Wird von 
der I. Kost Milch nicht vertragen, so wird die Milch weggelassen, nicht 
etwa etwas aus der II. Kost antecipirt. Nichts darf beliebig geändert 
werden, nur durch das Zusammenwirken aller drei Factoren werden die 
Erfolge erzielt. Die Diagnose des Magengeschwürs ist nicht stets sicher 
zu stellen. Bei Fällen mit Magenblutung — nach des Vortragenden 
Material 46 pCt. — ist die Diagnose ausser Zweifel; ob Fälle ohne 
Blutung als Magengeschwür aufzufassen sind, muss dem Einzelnen über¬ 
lassen bleiben. Zweifellos verlaufen eine Anzahl von Fällen ohne 
Blutung und bieten bessere Chancen für die Heilung. Nimmt man nur 
die Fälle mit Blutung, so sind von des Vortragenden 195 Fällen nur 
8 gestorben = 4 pCt., während sonst 13 pCt. Mortalität angegeben wird. 
Von den 424 Spitalpatienten heilten 814 = 74pCt. nach 4 wöchentlicher 
Cur, 93 = 21 pCt. besserten sich, 10 = 2,4 pCt. starben, 7 — 1,6 pCt. 
blieben nngeheilt. In 4 pCt. Hessen die Heilmethoden also im Stich. 

Kann die Chirurgie bessere Resultate erzielen? Vortr. glaubt, dass 
in 75—96 pCt. der Fälle die chirurgische Behandlung überhaupt nicht in 
Frage kommt, da sie durch innere Mittel geheilt sind. In 21pCt. der 
Fälle würde die chirurgische Behandlung erst in Frage kommen, wenn 
auch die Wiederholung der Cur Erfolge nicht erzielte, da häufig Fälle 
erst durch eine II. oder III. Cur genesen. Von der Behandlung mit 
Wismut verspricht sich Vortr. nicht viel, gab es allerdings bloss in 
kleinen Dosen. 

Indicationen zur Operation sind nach L.'s Ansicht 

1. Blutungen. Eine absolute Indication zur Operation geben die¬ 
jenigen Fälle, wo die Blutungen zwar an sich nicht profus aber in 
kleinen Schieben sich oft wiederholen und die Patientin völlig entkräften. 
Weder das Vorhandensein von verschiedenen kleinen Geschwüren, wo 
der Erfolg von vornherein zweifelhafter erscheint, noch das Bestehen 
einer Gastroektasie bietet eine Contraindication zur Operation, da bei 
letzterer die Zersetzung des Mageninhaltes die Heilung des Geschwürs 
bintanhält. Schwieriger ist die Frage bei profasen durch Arrosion 
grösserer Gefässe entstehenden Blutungen. Die Blutung kann so reich¬ 
lich sein, dass ein chirurgischer Eingriff zu spät kommt, wenn auch 
diese Fälle ungemein selten sind, und L. nicht 1 pCt. zu verzeichnen 
hat. Oft erholen sich die Patienten nach einer einmaligen Blutung voll¬ 
ständig. Profase Blutungen sind nur dann chirurgisch anzugreifen, wenn 
sie sich in rascher Folge wiederholen und ist hier von Fall zu Fall 
nach dem Pols und Kräftezustand die Entscheidung zu fällen. Vor der 
Laparotomie die Lage des Geschwürs zu bestimmen ist fast nie möglich. 
Vortr. warnt davor, ans der Localisation des Schmerzes einen Schluss 
auf die Lage des Geschwürs zu ziehen, auch die allgemeine Annahme, 


dasB die Geschwüre durch die Bauchdecken zu fühlen seien, kann er 
nicht bestätigen. Nur zweimal war es ihm möglich und wohl überhaupt 
nur bei callös verdickten Rändern. 

2. Schmerzen und Erbrechen, ein supponirter Pyloruskrampf ver¬ 
hindern die Heilung des Geschwürs. Nach L. muss auch hier stets erst 
eine strenge Cur vorangehen, die Symptome verschwinden oft schon 
nach 5 Tagen. Erst wenn die Wiederholung der Cur, wenn auch die 
künstliche Ernährung per rectum — durch die es annähernd gelingt 
1800—2000 Kalorien dem Körper zuzufUgen — fehl schlägt, ist die 
Gastroenterostomie indicirt. Die 8chmerzen, die durch die constante 
Salzsäureabscheidung auch bei leerem Magen während der künstlichen 
Ernährung auftreten, lassen sich durch kleine Gaben Natr. bicarbonic. 
beseitigen. 

3. Perigastritis in Folge von Verwachsungen. Auch hier ist stets 
erst die interne Behandlung vorzunehmen. Die Diagnose von Ver¬ 
wachsungen ist meist unzulänglich, nur selten gelingt es, sie durch die 
Bauchdecken durchzufühlen, stärkere Bewegungen des Magens können 
aber dieselben heftigen Schmerzen hervorrnfen wie ein mit der Umge¬ 
bung verwachsener Ulcus. Ohne Weiteres ist indess die Probelaparo¬ 
tomie indicirt bei einem fühlbaren Tumor (Verdacht auf Carcinom), dann 
bei subphrenischen oder sonstigen mit dem Ulcus in Zusammenhang 
stehenden Abscessen. Bei Verwachsungen des Geschwürs, bei Ein¬ 
heilungen von Nerven in die Narbe und dadurch bedingten Schmerzen 
gelingt es in den meisten Fällen durch eine neue Ulcuscur die Schmerzen 
zu beseitigen. 

4. Perforation des Geschwürs in die Banchhöhle. 

Bei diesem seltenen Ausgang sind die Chancen für die Heilung ohne 
Operation äusserst gering. V. sah selbst nur in 2 Fällen Heilung nnd 
ist solche wohl nur möglich, wenn die Perforation erfolgte bei leerem 
Magen. Die Laparotomie ist in diesen Fällen möglichst früh indicirt, 
noch in den ersten 10 Stunden nach dem Durchbruch. Ob sofort oder 
erst nach Ablauf des ersten Shoks operirt werden soll, ob der Patient 
das Plus von Reiz, das durch die Operation dem Shok noch zugefiihrt 
wird, aushalten kann, muss von Fall zu Fall entschieden werden. Ob 
prophylaktisch die Laparotomie zu machen wäre in zur Perforation ten- 
direnden Fällen ist eine theoretische Frage. Die Perforation auch nur 
mit Wahrscheinlichkeit vorauszusehen ist unmöglich. Die Steigerung des 
8chraerzes ist nicht zu verwertben, eher ein peritoneales Reibegeräusch 
an der Schmerzstelle, doch ist das wohl nie in praxi beobachtet. Der 
Durchbruch erfolgt immer überraschend. Eisbeutel, Opium, absolute 
Ruhe und Abstinenz sind dann die Therapie. 

Zum Schluss fasst L. die Indicationen, die ein chirurgisches Ein¬ 
greifen erfordern, wie folgt zusammen: 

1. Magenblutungen a) absolut bei kleineren oft sich wiederholenden 
Schüben, die den Patienten durch Inanition herunterbringen, b) relativ 
bei profusen Blutungen, sofern es nicht bei einmaliger Blutung bleibt. 

2. Heftige Schmerzen und Erbrechen, wenn nach wiederholten 
strengen Curen kein Erfolg zu verzeichnen ist, die Inanition nach und 
nach fortschreitet. 

3. Perigastritis, Abscessbildung, a) absolut bei AbscesBen und Tu¬ 
moren entzündlicher Art, b) relativ auch wenn Verwachsungen nicht 
direkt fühlbar sind nach erfolgloser innerer Therapie. 

4. Perforation des Ulcus. Die Laparotomie ist möglichst früh, wenn 
thunlich, sobald der erste Shok vorüber ist, zu machen. Eine Operation 
wegen drohender Perforation ist nicht indicirt, man beschränke sich auf 
Ruhe, Eis und absolute Abstinenz, da die Chancen unendlich günstiger 
sind, wenn ein leerer, als wenn. ein mit Speisebrei gefüllter Magen 
perforirt. 

Trotz der guten Resultate der inneren Therapie wird es immer eine 
Anzahl Fälle geben, wo nur eine gemeinsame Berathung des Internisten 
und Chirurgen zum Ziele führt und nur ein zielbewusstes Handeln des 
Chirurgen den Patienten retten kann. 

Hr. Mikulicz-Breslau giebt einen Ueberblick über die Methoden 
der Operation und ihre Indicationen und resumirt letztere in folgenden 
Sätzen: 

„Die Operation ist indicirt, auch bei nicht complicirtem Magen¬ 
geschwür 

1. wenn das Leben des Kranken direkt oder indirekt bedroht wird 
durch Blutung, Perforation, Inanition; 

2. wenn eine consequente innere Behandlung keinen oder nur einen 
kurz dauernden Erfolg hatte und dem Kranken durch die Beschwerden 
der Lebensgenuss erheblich geschmälert wird.“ (Der Vortrag wird in 
extenso in dieser Wochenschrift publicirt werden.) 

Discussion. 

Hr. Körte räth bezüglich der Operation bei profusen Blutungen die 
ausserordentlichste Zurückhaltung. In einem seiner Fälle hatte das 
blutende Geschwür links von der Wirbelsäule auf das Pankreas über¬ 
gegriffen und schliesslich die Art. lienalis arrodirt; im anderen Fall war 
die Blutung aus einem Ast der Art. pancreatica-duodenal. erfolgt, der 
sehr versteckt unter dem linken Leberlappen lag. 

Hr. Löbker-Bochum: 1. Contraindication der Pyloroplastik: Hoch¬ 
gradige Magenerweiterung. 

2. Bezüglich des Mechanismus der falschen Circulation des Magen- 
und Darminhaltes nach Gastroenterostomie verweist er auf seine Aus¬ 
führungen auf dem Congress von 1895, welche mit der M.’schen Ansicht 
übereinstimmt. 

3. Bei Magengeschwüren, welche in den Pankreaskopf eingedrungen 
sind, da der KräftczuBtand des Kranken dies erlaubte, die Freilegung des 


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370 BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. No. 17. 


Geschwür», Occlusion des Magens und Duodenums, die Gastroenterostomie, 
schliesslich Excision des erkrankten MagenstUckes zwischen den beiden 
Occlusionsnäbten und Tamponade des Pankreaskopfes unter Offenhaltung 
der Bauchhöhle mit Erfolg ansgefiihrt. 

Hr. Rosenheim will einen kurzen Beitrag zur Indications- 
stellung vom internen Standpunkte geben weil er doch etwas 
über den Rahmen hinauszugehen geneigt ist, den Herr v. Leube 
abgesteckt hat. Darüber besteht ja kein Zweifel, dass das 
Leubc'sche Verfahren das souveräne ist bei der überwiegenden 
Mehrzahl der Fälle von Ulcus, und es ist unbedingt nöthig, dass, wenn 
man Erfolge erzielen will, alle die Heilpotenzen zur Wirksamkeit kom¬ 
men müssen, auf die Herr Leube Werth legt. R. unterscheidet scharf 
bei der Indicationsstellung für den operativen Eingriff das uncomplicirte 
und das complicirte Ulcus. Zu den Complicationen, die hier in Betracht 
kommen, rechnet er das Carcinom, die Perigastritis, die moto¬ 
rische Insufficienz des Magens. Das uncomplicirte Ulcus wird nur 
ganz ausnahmsweise, z. B. bei hartnäckigen Blutungen, chirurgische Be¬ 
handlung erfordern, die erwähnten Complicationen aber verhältnissmässig 
oft; und dies gilt in grösserem Umfange als es angegeben wurde, gerade 
von der motorischen Insufficienz bei Ulcus. Dass die schwersten Grade 
derselben (Ectasien mit starker Gährung) eine Indication abgeben, ist 
allgemein anerkannt. Es kommen aber auch leichtere Störungen dieser 
Art vor, die mit den gewöhnlichen Hilfsmitteln nicht zurückgehen, die 
die Beschwerden der Patienten und den Bestand des Ulcus unterhalten 
und die vor das chirurgische Forum gehören. R. hat bei mehreren 
solcher Fälle die Gastroenterostomie ausführen lassen und andauernde 
Erfolge gesehen, wo die internen Methoden immer nur einen vorüber¬ 
gehenden Nutzen hatten. Namentlich wird man sich zur Operation ent- 
schliesscn müssen, wo die Patienten sich nicht schonen können, sondern 
genöthigt sind Tür ihren Unterhalt zu arbeiten. 

Hr. Alsberg-Hamburg berichtet über einen Fall, in dem er den 
Magen geöffnet, das mit dem Pancreas verwachsene Ulcus aus Furcht 
vor starker Blutung nicht resecirte, es vielmehr schloss durch eine fort¬ 
laufende Serosanaht. Pat. ist jetzt 5 ! /j Monate beschwerdefrei und hat 
22 Pfd. an Gewicht zugenommen. 

Hr. Braun-Göttingen nähte, als bei Lösung von Adhäsionen der 
Magen einriss und jede Naht infolge Infiltration der Magenwände ein- 
schnitt, ein Stück Netz in einiger Entfernung über die Oeffnung mit 
gutem Erfolge. 

Hr. Körte-Berlin: Weiterer Bericht über die chirurgische 
Behandlung der diffusen Bauchfellentzündung. 

Vom Juni 1890 bis 81. März 1897 wurden behandelt 99 Fälle von 
allgemeiner Peritonitis, bedingt durch Erkrankung innerer 
Organe. 

Peritonitis nach Verletzungen, gangränöse Hernien und innere Ein¬ 
klemmungen sind nicht mit eingerechnet, weil bei diesen die Indication 
zu chirurgischem Eingreifen feststeht. 

Puerperale Septicämie, carcinomatöse, tuberkulöse und chronische 
Peritonitis Bind ebenfalls gesondert zu betrachten. 

71 Fälle wurden operirt, davon 25 geheilt = 35,2 pCt. 4G gestorben. 

28 „ ,, nicht „ „ 6 B = 21,4 „ 22 

Es wurden von der Operation ausgeschlossen: 

1. solche, bei denen der Allgemeinzustand keine Hoffnung auf 
Herstellung zuliess (alle gestorben); 

2. solche, bei denen kein eitriges Exsudat nachweisbar war, und 
wo das Allgemeinbefinden die Möglichkeit der Heilung ohne 
Eingriff zuliess (darunter die 6 Geheilten). 

Ein Vergleich der Resultate bei den Operirten und Nichtoperirten 
ist daher nicht zulässig. 

Die Diagnose ist nach den bekannten klinischen Symptomen zu 
stellen. 

Verwechselung mit Ileus: Diffuse Druckempflndlichkeit und 
Fehlen von Darmbewegungen oder deren Geräuschen spricht mit Wahr¬ 
scheinlichkeit für Peritonitis. 

Peritonitiden mit überwiegenden allgemeinen Intoxications- 
erscheinungen bei geringer örtlicher Entzündung sind nicht zur Ope¬ 
ration geeignet. 

Geeignet für chirurgisches Eingreifen ist dagegen: die 
jauchig-eitrige, die rein eitrige, serös- oder fibrinös-eitrige 
Peritonitis. 

Der nächste Zweck der Operation ist Entleerung des Exsuda¬ 
tes und damit Hinderung weiterer Infection. 

Entlastung der Bauchhöhle von hohem Druck, Freimachen der 
Darmthätigkeit, Circulation und Athmung. 

Bereits erfolgte Infection kann nicht mehr direct beeinflusst werden. 

Der Eingriff ist möglichst schnell und möglichst wenig an¬ 
greifend zu machen. Die Hauptsache ist, dass das eitrige Exsudat weg¬ 
geschafft wird, durch Spülen mit heissem sterilen Wasser oder Austupfen. 
Der Anwendung von Antisepticis ist zu widerrathen. 

Verschluss der Perforationsöffnung ist nothwendig bei Magen- und 
hoher Dannperforation, sonst ist Drainage und Tamponade genügend, 
falls die kranke Stelle nicht leicht und ohne weiteren Eingriff erreichbar ist. 

Mehrfache Gegenincisionen wurden in letzter Zeit nicht mehr 
angelegt. 

Für die Nachbehandlung kommt in Betracht: Hebung des 
Kräftezustandes (subcutan Analeptica, rectal Eingiessungen, intra¬ 
venöse Kochsalzinfusion), Magenausspülungen, Darmausspülun- 
gen; Opium ist nicht weiter zu geben, sondern bei Schmerzen Morphium. 


Nicht selten sind weitere Incisionen nöthig, besonders bei der pro¬ 
gredienten fibrinös-eitrigen Form. 

Zuweilen bilden sich Kothfisteln, die ein Wasserbad erfordern. 
Bauchbrüche in der Narbe. 

Uebersicht über die operirten Fälle von Peritonitis. Das 
Exsudat war bei den meisten Fällen (41) ein eitrig-jauchiges (geheilt 
10, gestorben 31), bei 22 Fällen eitrig bezw. Berös-eitrig (geheilt 10, 
gestorben 12), bei 5 fibrinös-eitrig (geheilt 2, gestorben 3). 2mal 
Mischformen (2 geheilt). Bei 1 Patienten, welcher geheilt wurde, fand 
sich neben diffuser Entzündung und eitrigem Belag der Serosa wenig 
flüssiges Exsudat. Der Kranke bot sehr schwere, sich steigernde Er¬ 
scheinungen von Peritonitis dar, genas nach der Operation. 

Bakteriologische Untersuchung wies in der Regel ein Ge¬ 
misch von Bakterien nach. Kokken und Darmbacillen, besonders Bacte- 
rium coli. 

Ausgangspunkt war: Perforation des Wurmfortsatzes 
34 (ges. 13; gest. 21). Dreimal wurde bei den Geheilten der Wurmfort¬ 
satz primär exstirpirt, dreimal in späterer Zeit. Bei den tödtlich enden¬ 
den Fällen 4 mal der Processus vermiformis exstirpirt. 

Perforation des Magens oder Duodenums. 6 Fälle (2 ges. 
5 gest.) sämmtliche Fälle kamen zu spät zur Operation', über 
24 Stunden bis mehrere Tage post perforat., in sehr schwerem Zu¬ 
stande. Diagnose Magenperforation liess sich nicht stellen. Eine Kranke 
heilte unter Tamponade und multiplen Incisionen, es lag fibrinös eitrige 
Peritonitis vor, bei den anderen bestand eitriges Exsudat von fadem Ge¬ 
ruch, einmal war freies Gas in der Bauchhöhle. Die Perforationen 
wurden nicht aufgefunden. Der Sitz des Geschwüres wurde bei der 
Section 3 mal an der Vorderwand, 2 mal an der Hinterwand des Magens 
gefunden; Bei zwei Fällen multiple Geschwüre. 

Wichtigkeit der Diagnose, Aufsuchen der Perforation 
und Naht derselben. 

Darmperforation war Gmal die Ursache, die Kranken kamen 
alle zu spät in Behandlung, es waren stets 24 Stunden seit der Perfo¬ 
ration verstrichen (6 gestorben). 4 Fälle von eitriger Peritonitis nach 
Reposition von Hernien ohne deren Verletzung gelangten nach der 
Operation zur Heilung. In dem Exsudate fanden sich dreimal Coccen 
und Bacter. coli. 

Von den we iblichen Genitalien ging die Peritonitis in 14 Fällen 
aus (3 ges. 11 gest.) Meist war Pyosalpinx die Ursache, 2 mal Ovarial- 
abscess, lmal Uterusruptur (artificiell, die Erkrankung schliesBt 
sich 4 mal an vorausgegangenen Abort an. 

In einem Falle war Gallenblasenentzündung die Ursache. 
(Gestorben). 

Bei 6 Kranken (4 ges. 2 gest.) liess sich die Ursache für die Bauch¬ 
fellentzündung nicht mit Sicherheit feststellen. 

Die Prognose der Operation bei der allgemeinen Peritonitis mit 
Exsudat ist keine absolut schlechte, wenngleich die Prognose im Einzel¬ 
falle schwer zu stellen ist. Alter, Kräftezustand, Dauer des Bestehens 
der Krankheit, und der Grad der bereits eingetretenen Infection sind 
von Wichtigkeit. 

Sobald ein eitriges Exsudat nachgewiesen werden kann, soll 
man bei noch leidlichem Allgemeinenbefinden versuchen, durch Ablassen 
desselben die Peritonitis zum Stehen zu bringen, da die Aussichten ohne 
dem sehr schlechte sind. 

Relativ am besten ist die Prognose bei der häufigsten Form, 
nämlich bei der vom Wurmfortsätze ausgehenden allgemeinen Peritonitis. 

Bei den grösseren Perforationen der Eingeweide ist die Pro¬ 
gnose des Eingriffes davon abhängig, ob die Patienten bald nach der 
Perforation zur Behandlung kommen. Die Naht der Perforationsöffnung 
ist beim Magen und Duodenum auf jeden Fall zu versuchen, beim 
Darm nur dann, wenn sie leicht zu finden ist. 

Die Peritonitiden, welche ohne grössere Perforation von Ent¬ 
zündungen der Eingeweide aus entstehen sind prognostisch günstiger. 

(Fortsetzung folgt.) 


VIII. Achtzehnter Balneologen-Congress 
zu Berlin. 

(Schluss.) 

Hr. Schuster-Nauheim: Ueber Palpation der Bauchorgane 
im warmen Bade. Diese Untersuchungsmethode ist bisher noch nicht 
genügond beachtet bei Feststellung der abdominellen Erkrankungen, ob¬ 
gleich dieselbe vielen Aerzten schon bekannt und von v. Chlapowski 
auf dem Balneologen-Congress von 1892 besprochen worden ist. — 
Untersucht man einen Patienten im warmen Vollbade, so fällt es auf, 
sobald man die Hand auf die Baucbwand legt und einen leichten Druck 
mit den Fingern auf dieselbe ausübt, dass die Spannung der Bauch¬ 
decken bis auf ein Minimum reducirt wird. Durch diese Entspannung 
ist es möglich, nicht allein die sonst leicht zugängigen, sondern auch 
die tiefer gelegenen Organe und krankhaften Veränderungen des Ab¬ 
domens ausserordentlich leicht zu palpiren. Dabei ist die Untersuchung 
nahezu schmerzlos. Die Herabminderung der Empfindlichkeit und Er¬ 
schlaffung der Bauch wand ist darauf zurückzuführen, dass die Reflexe 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


371 


20. AprW 

im Bado \\erabg*’ pe 'zt werden und durch den Druck der Wassersäule 
der intraabdominelle Druck wesentlich vermindert wird. — Um die Pal¬ 
pation möglichst zu erleichtern, muss der Patient im Bade mit hoch- 
gestellten Knien liegen. Soll der intraabdominelle Druck möglichst 
herabgesetzt werden, so ist eine reichliche Füllung der Badewanne 
nüthig und um die bimanuclle Untersuchung bei gynäkologischen Fällen 
bequemer ausführen zu können, ist ein Hochstellen der Wanne oder die. 
Anbringung eines Bettlakens in derselben, wie es Lennhoff angegeben 
hat, zweckmässig. — Diese Untersuchungsmethode bietet auch deshalb 
einen grossen Vortheil, weil dadurch in manchen Fällen die Narkose 
nnnöthig wird. — Bei ausserordentlich empfindlichen Patienten und im 
acuten Stadium entzündlicher Processe ist das Resultat dieser Unter- 
snchungsraetbode manchmal ein negatives. — Anzuwenden ist die Pal¬ 
pation im warmen Bade, wenn es sich um Geschwulstbildungen oder 
palpirbarc Vcrgrösserungen der Bauchorganc, um entzündliche Processe 
nach Ablauf des acutesten Stadiums, um Aneurysma der Aorta descen- 
dens und endlich um Verlagerungen einzelner Organe handelt. 

An der Discussion betheiligen sich die Herren Lenne, Immcl- 
mann, Schuster. 

Hr. 8. Munter-Berlin: Was leistet die Hydrotherapie bei 
der Behandlung der Syphilis? Die irrige Ansicht, dass durch 
Hydrotherapie Syphilis geheilt werden könne, ist dadurch entstanden, 
dass die Hvdrotherapeuten den weichen und harten Schanker identi- 
ficirten und dass sie Quecksilber-Intoxicationen und Cachexien für syphi¬ 
litische Erscheinungen hielten. Eine unbehandelte secundäre oder 
tertiäre Syphilis ist durch die reine Wasserbehandlung nicht heilbar. 
Dagegen bietet die Hydrotherapie ein vorzügliches Unterstützungsmittel 
der Quecksilber- und Jodbehandlung. Der Vortheil einer Combination 
der Wasserbehandlung mit Quecksilber für das secundäre und mit Jod 
für das tertiäre Stadium zeigt sich dadurch, dass nur geringere Queck¬ 
silber- und Joddosen zur Behandlung nöthig sind, dass seltener Queck¬ 
silber- und Jodintoxicationen auftreten, dass eine schnellere Aufsaugung, 
bessere Wirkung und gleichmässigere Ausscheidung stattfindet. Ausser¬ 
dem schützt die Combination mit hydriatischen Maassnahmen vor den 
bei Quecksilberbehandlung so leicht auftretenden Erkältungen und pro¬ 
fusen Schweissen. Redner schildert nun die hydriatischen Proceduren, 
welche er im secundären und tertiären Stadium der Syphilis vornimmt. 

An der Discussion bet heiligt sich ausser dem Vortragenden Hr. 
Frey. 

Hr. Lenn£-Neuenahr: Uebcr künstliche und natürliche 
Salzlösungen. Der Vortragende weist auf die zunehmende Verord¬ 
nung der künstlichen Salze seitens der Aerzte hin und wirft die Frage 
auf, ob dieses Vorgehen berechtigt ist, ob die künstlichen Salzlösungen 
mindestens das Gleiche leisten, wie die natürlichen, wie die Heilquellen. 
Die Frage muss verneint werden trotz der gegentheiligen Ansicht 
Leichtenstern’s, Dornbliith's etc. Der Hauptvorwurf bleibt die 
Auffassung, dass die minimalen Mengen der Bestandteile, wie sie in 
den Heilquellen vorhanden sind, keine pharmakodynamische Wirkung 
haben können. Der Vorwurf ist nicht haltbar, denn diese Wirkung ist 
da, sie muss anerkannt werden und wird auch tatsächlich anerkannt, 
wie ja die Verordnung der Sandow’schen Salze ergiebt, welche der 
Qucllenanalyse entsprechend zusammengesetzt Bind und deren Wirkung 
ia unbestritten sein soll. Dass minimale Mengen in den natürlichen 
Wässern eine Wirkung entfalten, zeigen die sogenannten indifferenten 
Quellen, welche bei einem Gehalte von 4,5 fester Bestandteile auf 
100 000 Wasser die deletäre Wirkung des destillirten Wassers auf- 
heben, das beweist das gewöhnliche Trinkwasser, welches bei einem 
Gehalte von 1,6 Magnesia 4- Kalksalze auf 10 000 Wasser als hart be¬ 
zeichnet wird und eine nachtheilige Wirkung auf den Organismus aus¬ 
übt, das beweisen die Schwefel- und Eisenwässer, welche zum Theil 
einen Gehalt an Eisen von 1:230 000 besitzen. Wirken aber solche 
minimalen Mengen, dann kann man unmöglich die künstlichen Salze und 
natürlichen Heilquellen bezüglich ihrer Wirkungen in eine Parallele 
stellen, denn die Sandow’schen Salze z. B. enthalten nur wenige der 
in den Quellen enthaltenen Bestandteile und namentlich fehlen gerade 
die wichtigsten Stoffe, wie Arsen, Eisen etc., deren Wirkung Niemand 
anzweifclt, welche aber zum Theil schon ans technischen Gründen dem 
Kunstproducte nicht hinzugefügt werden können, abgesehen davon, dass 
es überhaupt nicht möglich ist, die Bestandteile der Quelle genau 
nachzuahmen, da ja die Analysen durchaus nicht das wahre Bild der 
Zusammensetzung wiederspiegeln. Es ist wunderbar, dass diese Re¬ 
flexionen seitens der Aerzte ganz unbeachtet bleiben und dass dieselben 
gewissermassen unter der Suggestionswirkung des Billigkeitsgedankens, 
der Wohlfeilheit der 8alze denselben auch dieselbe Wirkung zusprechen. 
Salze sind angebracht, wenn man eine bestimmte arzneiliche Wirkung, 
z. B. eine abführende, hervorrufen will; soll aber eine Trinkenr ver¬ 
ordnet werden, dann können nur die betreffenden Quellen in Betracht 
kommen, da dieselben eine Reihe von Stoffen enthalten, welche den 
Salzen mangeln, die aber für die Gesammtwirkung auf den kranken Or¬ 
ganismus unentbehrlich sind. 

An der Discussion beteiligen ßich die Herren Putzar und LennA 

Hr. Ziegelrotb-Berlin: Ueber die Bedeutung der Lehre 
von den Autotoxinen für die wissenschaftliche Hydrotherapie. 
Seit Brand und Winternitz sucht die Hydrotherapie ihre empirischen 
Erfolge wissenschaftlich zu begründen. Die Lehre von den Autotoxinen 
erscheint hierfür sehr fördernd. Bouchard’s Theorie knüpft an die 
Thätigkeit der lebendigen Zelle, bedeutet einen reichen Ausbau der 
Cellularpathologie. Die Thätigkeit der lebendigen Zelle ist in letzter 


Linie eine Oxydation organischer Substanzen, deren hoch zusammen¬ 
gesetztes Molekül in einfachere Verbindungen mit relativem Sauerstoff¬ 
gleichgewicht übergeht. Neben den Endproducten des organischen Stoff¬ 
wechsels entstehen oft eine sehr grosse Zahl intermediärer Stoffe. 
Autointoxicationen entstehen nach Bonchard, wenn die Ausscheidung 
der Stoffwechselproducte nicht glatt erfolgt oder wenn durch mangel¬ 
hafte cellulare Oxydation zn viel intermediäre Stoffe gebildet werden. 
In beiden Fällen kommt es zu einer Anhäufung von Zerfallsproducten, 
der Körper wird mit mehr oder minder giftigen Autotoxinen geladen. 
Meist handelt es sich dabei um eine Art Säurevergiftung; Blut, Gewebe, 
Säfte verlieren ihre normale Alkalescenz und die Zellen können nur in 
alkalischen Medien normal functioniren und besonders Krankheitserregern 
widerstehen. Ausserdem sind nach Bouchard die meisten chronischen 
Krankheiten, wie Gicht, Diabetes, Rheuma, Asthma, Neuralgien, Neur¬ 
asthenie etc. direct auf Autotoxine zurückzuführen. Allerdings haftet 
der ganzen Lehre noch viel Hypothetisches an, die physiologische Chemie 
hat da noch ein grosses Arbeitsfeld. Aber soviel steht fest, dass wir 
es mit einer der geistvollsten Theorien zu thun haben, die je in der 
Pathologie aufgestellt sind, die vor Allem gestattet, eine grosse Reihe 
von Einzelerscheinungen einheitlich zusammenzufassen und namentlich 
das Wesen der „dyskrasischen“ Krankheiten und das der Disposition 
vem Verständnis näher bringt. Auch die Hydrotherapie verdankt dieser 
Theorie • brauchbare Erklärungen für ihre Erfolge. Durch die ver¬ 
schiedensten Wasseranwendungen kann zunächst die Ausscheidung von 
Autotoxinen durch Niere, Darm und Lunge befördert werden. Nament¬ 
lich aber wird das arg vernachlässigte Hautorgan, das ein Ausscheidungs¬ 
organ allerersten Ranges ist, zu normaler oder erhöhter Ausscheidungs¬ 
arbeit gebracht. Zweitens wird durch die meisten Wasseranwendungen 
die cellulare Oxydationsarbeit erhöht und dadurch können Autotoxine 
verbrannt und in die ausscheidbare Modiücation übergefiihrt werden. 
Als wirksamstes Oxydationsmittel erweist sich das Heissluftkastenbad, 
das eine Art von Febris therapeutica zu erzeugen scheint. Zum Schluss 
macht Redner darauf aufmerksam, dass der moderne Hydrotherapeut 
längst aufgehört hat. ein einseitiger Wasser- oder gar Kaltwasserfanatiker 
zu sein. Massage, Gymnastik, Sport, individualistisch dosirt, Regelung 
der Diät im weitesten Sinne sind seine wirksamsten Bundesgenossen. 

An der Discussion betheiligen sich die Herren Putzar, Albu, 
Munter, Kantorowicz, Ziegelroth. 

Hr. Wiederhold-Wilhelmshöhe: Beitrag zur Therapie der 
Neurasthenie. Der Vortragende berichtet über sehr günstige Erfolge, 
die er mit der Einathraung von comprimirtem Sauerstoff bei Neurasthenie 
gemacht hat, und sucht dies wissenschaftlich zu erklären. 

An den Sitzungen des Balneologen-Congresses haben nach der ge¬ 
führten Präsenzliste 151 Aerzte theilgenommcn. 

Brock. 


IX. Praktische Notizen. 

ftiagMstisehes and Casaistik. 

Ueber Pylorusstenosen infolge narbiger Verwachsungen 
des Magens mit Leber und Gallenblase berichten Tuffier und 
Marchais in der Revue de Chirurgie (Februar 1897). In den beiden 
beobachteten Fällen bestanden seit vielen Jahren hartnäckige Ver¬ 
dauungsbeschwerden mannigfacher Art, in einem Falle auch Lebercoliken. 
Nachdem eine Magenerweiterung festgestellt war, wurde zur Operation 
geschritten und zwar mittelst Laparotomie in der Medianlinie. Im ersten 
Fall fand sich eine dicke, feste Narbenmasse von der Gallenblase bis 
zum Duodenum gehend. Da sie ohne Verletzung der Organe nicht 
durchtrennt werden konnte, wurde die Gastroenterostomie gemacht. {Pat. 
ging an einer Blutung zu Grunde. Im zweiten Fall war ein Ulcus am 
Pylorus der Ausgangspunkt fiir eine diffuse Verdickung desselben ge¬ 
wesen. Nach der Gastroenterostomie besserte sich der Zustand des 
Patienten erheblich. Tuffier und Marchais empfehlen die Ausfüh¬ 
rung der Laparotomie in Fällen von ausgedehnter Magendilatation in 
Folge von vermuthlichen Verwachsungen mit der Gallenblase. Sie ge¬ 
stattet dann immer noch die Anschliessung einer speciellen Operation, 
sei es die Gastroenterotomie, sei es die Cholecystotomie. A. 


Ueber chronischen Icterus bei anscheinend Gesunden 
wurden in der Soci£tö mödicale des höpitaux mehrere Fälle berichtet. 
Le Gendre stellte einen Mann vor, der seit 12 Jahren icterisch ist, 
ausser einer geringen Magendilation, die zeitweilig dyspeptische Be¬ 
schwerden macht, aber ganz gesund erscheint. Galliard erzählte von 
einem Arzt, der seit 25 Jahren Icterus hat, ohne sich krank zu fühlen. 
Er vermuthet die Ursache in einer Verengerung der Gallengängc. 
Debove hat auch einen Arzt gekannt, der 20 Jahre bis zu seinem Tode 
icterisch war. Hayem hält diesen Icterus für einen hämatogenen. 

A. 


Ziemke hat in sämmtlichen daraufhin untersuchten Typhusfällen 
die Serumreaction in der von Widal angegebenen Verdünnung von 
1 : 10 mit positivem Erfolge angewandt (D. med. W. 15). Von 
28 nicht typhösen Kranken gaben 22 negative Resultate. Die übrigen 
6 Fälle dagegen Malaria, Meningitis tnberculosa, Phthisis 


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372 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 17. 


pulm., Polyarthritis acuta, Hysterie, Rheumat. chron.) 
zeigten in der Wirkung ihres Serums auf die Typhusbacillen 
eine deutliche Uebereinstimung mit derjenigen des Typhus¬ 
serums, so dass ein Unterschied von der echten Typhus- 
serumreaction unmöglich zu erkennen war. Z. kommt daher 
zu dem Schluss, dass das Widal'sche Verfahren in der von Widal 
angegebenen Verdünnung des Serums von 1 : 10 als ein absolut sicheres 
und zuverlässiges diagnostisches Merkmal zur Erkennung des 
Typhus jedenfalls nicht bezeichnet werden kann, da es ja Fälle giebt, 
in denen auch das Serum Nichttyphöser die Reaction in gleicher Klar¬ 
heit und Schärfe zu liefern vermag wie das Typhusserum. Ob ein Ver¬ 
dünnungsgrad für das Typhussserum zu finden ist, bei welchem dasselbe 
auf die Typbusbacillen noch in allen Fällen eine paralysirende Wirkung 
zu entfalten vermag, während die Sera Nichttyphöser dieselbe bereits 
durchgehends verloren haben, müssen weitere Untersuchungen lehren. 
Auch als eine specifische Reaction kann Z. die Widal'sche Re¬ 
action nicht bezeichnen, da nach seinen wie Courmont’s und Vedel’s 
Untersuchungen das Typhusscrum in gleichen Dosen wie auf Typbus¬ 
bacillen auch auf Bacterium coli paralysirend wirkt. 

Verf. kommt mithin zu dem Schluss, dass die Serumreaction hin¬ 
sichtlich ihrer Zuverlässigkeit keine Vortheile bietet zur Dia¬ 
gnose des Typhus vor anderen feinen Hülfsmitteln wie 
Hyperleukocytose und Diazoreaction, dass sie aber ebenso wie 
diese in Verbindung mit anderen diagnostischen Merkmalen eine werth- 
volle Stütze der klinischen Diagnose des Abdominal¬ 
typhus ist. _ 


Therapeutisches «ad lataxieatiaaea. 

Unter Behandlung mit CitronenBäure sah Müller (Therap. 
Monatshefte 4) ein Unterschenkelgeschwür, das bisher jedweder 
Therapie getrotzt hatte, auffallend schnell in Heilung übergehen. 
Die Wunde wurde täglich 2 mal mit dem reinen Saft einer Citrone 
geätzt und zwischendurch Umschläge mit einer Lösung von 1 :20 ge¬ 
macht. Auch bei mehreren anderen Wunden beobachtete M. unter der 
Behandlung mit Citronensäure und Citronenwasser dasselbe günstige Re¬ 
sultat. _ 


Ueber die therapeutische Verwendbarkeit des Airols 
in der dermatologischen Praxis spricht sich Lublonitz (Archiv 
für Dermatologie und Syphilis II.) äusserst günstig aus. Er hat 
dasselbe auf der Pick’chen Klinik in zahlreichen Fällen von Initial¬ 
sklerosen exulcerirtcn Papeln, gummösen Ulcera, speciflschen Ulcera, 
Bubonen und Verbrennungen und auch bei der Wundbehandlung stets 
mit gleich gutem Erfolge angewandt, den er hauptsächlich zu¬ 
schreibt dem Einfluss des Ariols auf die Secretion der Wunde 
und deren Granulationsbildung. Er bezeichnet nach seinen Er¬ 
fahrungen das Airol als ein Antisepticum, das völlig ausreicht für 
gewöhnlich; bedarf man jedoch einer energischen antiseptischen Wir¬ 
kung, so wird man doch wohl zum Jodoform zurückgreifen müssen; 
da nun das Airol ein ausgezeichnetes Adstringens darstellt, ferner durch¬ 
aus geruchlos und sehr billig ist, so wird es sicherlich einen dauern¬ 
den Platz im Arzneischatze erringen und auch bewahren, 
wenn es auch das Jodoform ganz zu verdrängen nicht im Stande 
sein wird. 


Zur Wundbehandlung empfiehlt Majewski (Centralblatt für 
Chirurgie No. 14) eine 25proc. Hydrargyrura flavum Salbe (25,0 
Hydrarg. oxyd. flav. 100,0 Vaseline.) Er hat dieselbe seit 1896 bei 
allen Riss-, Quetsch-, Schuss- und Bisswunden angewendet, die von An¬ 
fang als inficirt angenommen wurden, ferner bei Panaritien, Geschwüren 
und Phlegmonen. Sobald der Kranke am zweiten oder dritten Tage in 
Behandlung kam, gelang es stets die beginnende Eiterung bei Zellgewebs¬ 
entzündung zu coupiren, wobei sich die Wirksamkeit der Methode derart 
präcis erwies, dass nicht nur die allgemeine Infection, sondern auch die 
localen Entzündungserscheinungeu • rapid zurückgingen. Irgend welche 
Sublimatintoxicationen oder Ekzeme hat M. nie beobachtet, was noch 
auf die vorsichtige Anwendung der Salbe zurückzuführen sein würde. 
Dieselbe wird auf eine sterilisirte Gaze dünn aufgetragen und die Wunde 
mit derselben in einer einfachen Lage derart bedeckt, dass auf die ge¬ 
sunde Haut nichts zu liegen kommt und die Salbe die Wundränder nicht 
überragt. Auch bei tuberculösen localen Herden und bei Lymph¬ 
drüsenvereiterungen sah M. von diesem Mittel gute Erfolge, natür¬ 
lich war vorher der Erkrankungsherd eliminirt worden; dann wurde 
ausgekratzt und tamponirt mit einem Bausch aus Sublimatgaze, dessen 
oberste Schicht die aufgetragene Salbe bildete. Ganz besonders empfiehlt 
M. seine Wundbehandlungsmethode für die Kriegschirurgie. 


X. Tagesgeschichtliche Notizen. 

Berlin. Der 26. Chirurgencongress ist am 21. d. M. unter dem 
Vorsitze P. v. Bruns eröffnet worden. Die diesjährigen Verhandlungen sind 
in der Weise gegliedert worden, dass drei grosse Themata mit einleiten¬ 


den Referaten Hauptgegenstände der Tagesordnung an den ersten drei 
Vormittagen bilden, während die sehr zahlreichen Einzelmittheilungen 
tbeils im Zusammenhang mit denselben erledigt werden, theils in den 
freien Sitzungszeiten vorgebracht werden sollen. Die Themata selber 
sind diesmal nicht so ganz ausschliesslich chirurgischer Art, vielmehr, 
ein bezeichnender und gewiss erfreulicher Vorgang, wesentlich den sog. 
Grenzgebieten entnommen. Namentlich gilt dies für die erste Nummer 
der Tagesordnung, die operative Behandlung des Magengeschwürs, 
über die ein innerer Kliniker — von Leube — und ein Chirurg — Miku¬ 
licz die einleitenden Vorträge hielten; beide Redner hoben hervor, wie 
dringend nothwendig das Zusammenwirken innerer und äusserer Medicin 
auf diesem und dem ganzen Gebiet der Magendarmchirurgie überhaupt 
sei, und wir dürfen hier eine neue Bestätigung unserer oft vertretenen 
Ansicht erblicken, dass in Zukunft die combinirten Sitzungen der ver¬ 
schiedenen Sectionen der Naturforschergesellschaft dankbare Aufgaben 
finden werden, deren Lösnng sie noch über das Niveau der speciellcn 
Fachversammlungen erheben kann. Fast das Gleiche dürfte für das 
Thema der Prost atahypertrophie und ihrer operativen Therapie gelten 
welches auch nicht einseitig chirurgisch, sondern durch Zusammenwirken, 
der verschiedensten Zweige der praktischen Medicin behandelt werden 
kann; und ebenso beginnt ja auch die jüngste Errungenschaft der medi- 
cinischen Diagnostik, die Durchstrahlung der Körpers mit Roentgen- 
strahlen alle medicinischen Disciplinen gleichmässig zu interessiren, 
wie denn auch die in erstaunlicher Fülle und Schönheit dem Congress 
vorgelegten Röntgenbilder der Herren Kümmell, Krause, v. Bramann, 
Stechow, Oberst u. A. nicht nur streng chirurgische Themata be¬ 
trafen, sondern auch anderweite Anomalien (Veränderungen am Herzen 
und an den grossen Gefässen etc.) darstellten. Zweifellos werden 
gerade durch den hier hervorgehobenen Umstand die Verhandlungen 
des diesjährigen Congrcsses eine besondere Wichtigkeit und Bedeutung 
gewinnen. 

— Prof. Poppert in Giessen ist als Nachfolger Bessel-Hagena 
an das Krankenhaus in Worms berufen. 

— Der russische Kaiser hat das Protectorat über den Internatio¬ 
nale n m edicinischen Congress in Moskau übernommen. Die neulich 
mitgetheilte Anordnung, dass alle Congressmitglieder freie Fahrt auf den 
russischen Bahnen nach Moskau und zurück geniessen sollen, ist auf seinen 
speciellen Befehl erfolgt. Mittheilungen über die näheren Modalitäten 
der Reise sollen demnächst ergehen. 


XI. Amtliche Mittheilungen. 

Personall». 

Auszeichnungen: Rother Adler-Orden IV. Kl.: dem Geheimen 
Sanitätsrath Dr. Hirsch in Charlottenburg. 

Ernennung: der bisherige Priv.-Doc. Dr. Münster in Königsberg!. Pr. 
zum ausserordentl. Professor in der medicin. Fakultät daselbst. 

Niederlassungen: die Aerzte Dr. Goldammer in Evingsen, Dr. 
Wiehage in Dortmund, Dr. Rceploeg in Somborn, Dr. Weiden- 
mueller in Marburg, Dr. Salditt in Soden-Stolzenberg, Dr. Koehler 
in Wietzendorf, Dr. Wiedemann in Hersfeld, Dr. Vittinghoff in 
Marburg, Dr. Weltz, Dr. Lilienstein und Dr. Siegel in Frank¬ 
furt a. M., Dr. Frank in Battenberg, Dr. Levy in Magdeburg, 
Dr. Meyer in Aken, Dr. Körte in Barby, Jacobi in Grosswanzer, Dr. 
Lewinsohn in Bredow, Ehrckc in Torgelow, Herzberg in Lunow, 
Dr. Schindler in Greiffenberg N.-M., Dr. Grunert in Rathenow. 

Verzogen sind: die Aerzte Dr. Hirschfeld von 8pandau nach Fürstlich 
Drehna bei Luckau, Dr. Wrege von Schnackenburg nach Rüdersdorf, 
Dr. Michaelis von Rhinow nach Rathenow, Dr. Schellmann von 
Reinbeck nach Potsdam, Gen.-Arzt a. D. Dr. Pflugmacber von 
Brandenburg nach Potsdam, Dr. Gabcke von Berlin nach Potsdam, 
Dr. Echtermeyer von Potsdam nach Berlin, Dr. Scharenberg 
von Potsdam nach Berlin, Ass.-A. Dr. Duerdoth von Swinemünde 
nach Magdeburg, Dr. Scheffler von Swinemünde nach Berlin, Dr. 
Haeckel von Jena nach Stettin, Dr. Stadtfeld von RUdesheim nach 
Winkel, Dr. Krem er von Limburg nach Michelbach, Dr. Minor von 
Michelbach, Dr. Keil ermann von Falkenstein nach Cassel, Dr. 
Spiegel von Hohenhonncf nach Ruppertsheim, Dr. Spormann von 
Neschenrode nach Wiesbaden, Dr. Lommatzsch von Leipzig nach 
Wiesbaden, Dr. Nottbeck von Marburg nach Dresden, Holzmann 
von Marburg nach Homberg, Prof. Dr. Hess von Leipzig nach Mar¬ 
burg, Dr. Treutier von Leipzig nach Marburg, Dr. Reistemeyer 
von Salzschlirf nach München, Dr. Schneider von Hannover nach 
Fulda, Dr. Klein von Ulmbach nach Soden-Stolzenberg, Dr. Diewitz 
von Hersfeld, Dr. Zuschlag von Hamburg nach Marburg, San.-Rath 
Dr. Ge mm el von Posen nach Marburg; von Marburg: Dr. Gersten¬ 
berg nach Berlin, Dr. Ebers von Meran, Dr. Wickel nach Tübingen, 
Dr. Dollken nach Leipzig, Dr. Wegeli nach Danzig, Dr. Wieting 
nach Bonn und Dr. Hildebrandt nach Hamburg. 

Gestorben sind: die Aerzte Dr. Hilde b ran dt in Heringen, Dr. 
Münzer in Torgelow. 

Vakante Stelle: das Physikat des Kreises Ziegenrück. 


Für die Redactlon verantwortlich Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald, Lütxowplata 5. 


Verlag und Eigenthum von August Hirschwald in Berlin. — Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin. 


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DltBwUwt* 1 * Stlrkl Woche “»«hrift ertchelm jeden 
Montag ln A« - i!_ h , T? n 3 b,< s Bogen gr. 4. — 
Frei» 'rlenelj»» 1 V. 6 «»rk. Bestellungen nehmen 
alle Buchh* ndlui 'gen und Poiunstalten an. 


BERLINER 


Einsendungen «olle man portofrei an die Kedartlon 
(W. Lötiowplati No. 5 ptr.) oder an die Verlags¬ 
buchhandlung von August Hlr8ch«ald In Berlin 
N.W. Unter den Linden No. 68. adresslren. 



Organ für practische Aerzte. 


Mit Berücksichtigung der preussischen Medicinalverwaltung und Medicinalgesetzgebung 

nach amtlichen Mittheilungen. 


Redaction: 

Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald und Prof. Dr. C. Posner. 


Expedition: 

August Hirschwald, Verlagsbuchhandlung in Berlin. 


Montag, den 3. Mai 1897. 


M 18 . 


Vieninddreissigster Jahrgang. 


I N H 

I. Moeli: Weitere Mittheilungen über die Pupillen-Reaction. 

II. Fr. Neu mann: Chronische Ilerzinsufficienz, deren Behandlung 
nach eigener Beobachtung. 

III. Aus Dr. G. Gutmann’s Augenklinik. E. Stern: Drei Fälle von 
Tätowirung der Hornhaut. 

IV. Aus der königl. Hautklinik des Herrn Geheimen Med.-Käthes Pro¬ 
fessor Dr. Neisser in Breslau. Steinschneider: Eidotteragar, 
ein Gonokokken-Nährboden. 

V. Wilhelm Heerlein: Ueber die Wirkung der Sanguinalpillen 
bei Chlorose und verschiedenartigen Anämien. 

VI. Kritiken und Referate. Wind scheid: Neuropathologie und 
Gynäkologie; Webster: Ektopische Schwangerschaft; Fränkel: 
Tagesfragen der operativen Gynäkologie. (Ref. Abel.) Sachs: 
Lehrbuch der Nervenkrankheiten des Kindesalters. 


1. Weitere Mitteilungen über die Pupillen- 
Reaction. 

Von 

Professor Moeli. 

(Nach einem am 18. März im Berliner psychiatr. Verein gehaltenen 

Vortrage.) 

Vor 12 Jahren habe ich das Ergebniss von Beobachtungen 
über die Pupillenreaction an einem nicht unbeträchtlichen Ma¬ 
teriale von Geistes- und Nervenkranken mitgetheilt 1 ). 

Heute kann ich, nachdem von Herrn Siemerling erst auf 
der letzten Jahresversammlung der deutschen Irrenärzte ein aus¬ 
führliches Referat Uber diesen Gegenstand erstattet ist 2 ), von 
einer Besprechung der Frage in allen Richtungen absehen, zu¬ 
mal in den seit meiner zweiten Arbeit Uber diesen Gegenstand 
erfolgten Veröffentlichungen von meinen klinischen Beobachtungen 
•wesentlich Abweichendes nicht mitgetheilt worden ist. 

Dagegen möchte ich vorzugsweise einige Punkte berühren, 
welche von besonderem, wenn gleich mehr theoretischem, Inter¬ 
esse sind. Zunächst wende ich mich noch einmal kurz znr 
Pupillenstarre (Pst.) bei progr. Paral. 

Unter mehr als 3640 in den letzten 3—4 Jahren in meine 
Beobachtung getretenen psychisch Kranken befanden sich 390 
männliche und 143 weibliche (533) zweifellose Paralysen. 

Das W. Z. war häußger mit Fehlen der P. R. verbunden, 
als es bei gesteigertem oder normalem K. Ph. der Fall war. 
Eine besondere Abweichung von den früheren Zahlen ergab sich 
nicht 3 ). 

1) Archiv f. Psychol. n. Nervenkrankh. 1885, Bd. 18, II. 1. 

2) Diese Wochenschrift 1896, No. 44. 

8) Ich spreche dabei wie immer nur von isolirter doppelseitiger 
Lichtstarre. Einer etwaigen Myosis ist bei der Feststellung der Iris- 


A L T. 

VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Berliner me- 
dicinische Gesellschaft. Holz: Syphilitischer Affect der linken 
Tonsille. Zondek: C’arcinom des Oesophagus. Katz: Diphthe¬ 
rische Lähmung. — Freie Vereinigung der Chirurgen Berlins. 
Discussion über Köhler: Theorie der Geschosswirkung. — Verein 
für innere Medicin. Schwarz: Meningokokken. Blumenthal: 
Widal’sche Reaction. Benda: Fremdkörper in den Luftwegen. 
Flat au: Veränderungen des Rückenmarks. Albu: Ernährung 
und Darmfäulniss. 

VIII. 26. Congress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. (Fort¬ 
setzung.) 

IX. Praktische Notizen. 

X. Tagesgescbichtliche Notizen. 

XI. Amtliche Mittheilungen. 

Dagegen lege ich, wie schon früher (a. a. 0., S. 29 Anm.), 

darauf Gewicht, dass in der Regel bei den (7) Fällen nur 
einseitig aufgehobener oder sehr beeinträchtigter L. R. auf 
demselben Auge auch die indirekte L. R. sehr vermindert oder 
aufgehoben war. 

Diese Thatsache ist seit meinem Hinweise im Jahre 1885 
wiederholt bestätigt worden. Möbius 1 ) fand einen solchen Fall 
bei Tabes — seitdem ist das Verhalten von neuropathologischer 
Seite von Redlich*), Kornfeld und Bikeles 3 ), Oebecke*) 
und llillenberg 3 ) hervorgehoben worden. Von Augenärzten 
hat Heddäus R ) Fälle allerdings nicht ganz reiner isolirter ein¬ 
seitiger reflectorischer Starre beschrieben. Weiterhin theilte 
Seggel’) einen ebensolchen mit; neuerdings wurden ausser 
anderen Mittheilungen 3 Fälle einseitiger reflectorischer Pupillen¬ 
starre von Schanz 8 ) veröffentlicht, auf andere wird von diesen 

bewegung ebenso wie sonstigen Abweichungen am Auge stets Rechnung 
getragen, worauf ich noch zurückkorame. Leichte Entrnndungen kommen 
bei erhaltener L. R. vor. Bei Feststellung der Fälle haben die an 
hiesiger Anstalt thätigen Collegen stets mitgewirkt. Für die Controle 
unserer Befunde bei der ophthalmoskopischen Prüfung sind wir in der 
Mehrzahl Herrn Priv.-Doc. Dr. Greef, für einzelne Herrn Priv.-Doc. 
Dr. Axenfeld und Herrn Dr. Höltzke zu Danke verpflichtet. CV steht 
im folgenden für die accommodative (Converg.) Verengung. LsL für 
Starre bei Lichteinfall. WZ. = Westphal’sches Zeichen (Fehlen des 
Kniephänomens). 

1) Centralbl. fiir Nervenheilk. etc. 1888, 23. 

2) Redlich, Neurol. Centralbl. 1892, 807. 

3) Kornfeld u. Bikeles, Jahrb. f. Psychiatr., Bd. 11, 809. 

4) Oebecke, Zeitschr. f. Psych. 50/60. 

5) Hillenberg, Neurol. Centralbl. 95, 859. 

6) Berl. klin. Wochenschr. 1888. Arch. f. Augenheilk., Bd. 25. 

7) Archiv f. Augenheilk., Bd. 24, 8. 234. 

8) Archiv f. Augenheilk., Bd. 31. 1895. S. 261. Auf Vollständig¬ 
keit sollen die Citate keinen Ansprach machen. 


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374 


HERLlNER KLINISCHE WOCHEN SCHRIET. 


No. 18. 


Autoren verwiesen. Namentlich von Heddäus sind ausführliche 
Erwägungen an diese Beobachtungen geknlipft. 

Ich muss hierbei etwas länger verweilen. 

Seit lauger Zeit hat man bekanntlich den Sitz der Störung 
bei Aufhebung der L. R. in das Vei bindungsstück zwischen 
sensiblem und motorischem Schenkel des Reflexbogens verlegen 
zu müssen geglaubt. Dabei ist es gleichgültig, ob der Bogen, 
wie bestimmt anzunehmen, zusammengesetzt ist (d. h. dass 
zwischen den Opticusauffaserungen und dem motorischen Neuron 
sich noch mindestens eine Zelle mit Verbindungsfasern einschiebt). 
Grund für die Annahme des Sitzes der Störung nicht im moto¬ 
rischen Schenkel war die Erwägung, dass durch die vorhandene 
Pupillarbewegung bei Convergenz der Sehaxen und Accomodation 
die centrifugale Bahn im Oculomotorius sich als frei erwiese. 

Es ist hierbei die Voraussetzung gemacht, dass der Reiz, 
der bei Convergenz der Sehaxen eintritt, dieselbe Bedeutung für 
die Pupillenbewegung habe, wie die durch Lichteinfall auf die 
Retina reflectorisch erzeugte Erregung. 

Allerdings wird nun verschiedentlich der bei Accomodation 
eintretenden Veränderung des Blutgehalts der Iris 1 ) ein Antheil 
an der Verengerung der Pupille zugeschrieben. 

Dass die bei Convergenz eintretende Pupillenveränderung 
in erster Linie physikalisch vermittelt oder bedingt sei, ist 
aber nicht anzunehmen — abgesehen von anderen Gründen — 
wegen des Wegfalls derselben bei älteren Fällen von Tabes, wo 
eine Aenderung des Zustandes am Auge selbst und der Accomo¬ 
dation nicht erweisbar ist 2 ). 

Es ist zwar bei peripherischem Sitze der Veränderung ein Frei¬ 
bleiben einzelner Zweige des III gar nicht selten 3 4 ), aber diese ja 
auch bei VII und im Peronäus uns öfter entgegentretende Tbat- 
Bache ist mit der etwaigen Verschiedenheit der Leitung derselben 
Faser für verschieden entstehende Reize nicht zu verwechseln. 

Wenn nun in vereinzelten Fällen nach einer ausgebreiteteren 
zweifellos peripherischen (Wurzel- oder Stamm-) Lähmung des 
Oculomotorius eiue Aufhebung der Pupillenverengerung als ein¬ 
ziges Zeichen zurückbleibt, so betrifft sie doch meist Lichteinfall 
und Convergenz. 

Nur ganz ausnahmsweise Anden sich Fälle isolirter Licht¬ 
starre nach Rückgang von Störungen im III. Sowohl meine 
Beobachtungen 1 ), als die Oppenheim’s 5 ) betrafen Fälle von 
Lues. Weiter hat dann Uhthoff 6 ) diese Fragen auch an einem 
grossen augenärztlichen Materiale geprüft und auch hier nach 


1) Der Einfluss vasomotorischer Erregung (Rougct, Schüler u. A.) 
auf die Weite der Pupille neben der direkten Dilatation ist anerkannt. 
— Auch Dogiel macht neuerdings darauf aufmerksam, dass die Ver¬ 
änderungen ira Oefässkaliber der Chorioidea und Retina von Einfluss 
auf die Pupillenerscheinungen sein können. 

2) Der Umstand, dass (Langendorff) das Oanglion ciliare in die 
Bahn der Irisinnervation eingeschaltet ist, dürfte für die Frage nicht 
von Bedeutung sein. Das Reflexcentrum im Oanglion ciliare selbst zu 
suchen, wird kaum angehen. Marina (Multiple Augenmuskellähmungen, 
1896, 850) hält es allerdings für möglich, dass bei Unterbrechung in den 
Ciliarnerven nur die L. R. leide, weil die C. V. auf einer mit der Ac- 
commodation verbundenen Reflexhemmung für die erweiternden Apparate 
beruhe. Falle letztere weg, so bewirke die physiologische Contractions- 
fähigkeit noch eine Art passiver Verengerung der Pupille. 

3) Uhthoff: Die bei Syphilis des Centralnervensystems vor¬ 
kommenden Augenstörungen Leipzig, Engelmann 1894, S. 268 hebt 
besonders hervor, dass auih bei basaler doppelseitiger III-Erkrankung 
eigenthümliche partielle ganz symmetrische Lähmungen eiuzelner Aeste 
Vorkommen, die als associirte oder auch nucleäre Lähmungen imponiren 
können. 

4) a. a. 0. 8. 13. 

5) Charite-Annalen 1885. 854. 

6) Uhthoff, Bcrl. klin. Wochenschr. 1886, No. 8. 


Rückgang von Lähmungen (vielleicht auch Nuclearlähmungen) 
die C. V. neben der P.R. betheiligt gefunden. Ich werde aber weitere 
Beobachtungen früher an Lues Erkrankter anführen, in welchen 
eine seit Jahren beiderseits vorhandene Lichtstarre niemals mit Stö¬ 
rung der C. V., Accomodation und Bewegung des Auges sich ver¬ 
bunden hat. Die isolirte doppelseitige Lichtstarre dieser Art 
aber schien mir das wichtigste Vorkommnis zu sein, weil die 
einseitige Affection die nach Augenmuskellähmung zurück- 
bleibt, in diagnostischer Hinsicht weniger Schwierigkeiten 
macht. 

Nachdem ich inzwischen durch noch viel längere Zeit hin¬ 
durch das Bestehen doppelseitiger isolirter Lichtstarre ohne weitere 
Erkrankung des Nervensystem — abgesehen von der Psychose — 
nach früherer Syphilis unzweifelhaft festgestellt habe, kann ich 
der Vorstellung eines peripherischen Sitzes für das Symptom 
unter diesen Umständen nicht für alle Fälle zustimmen. Man 
wird zugeben, dass sich diese Erscheinung mit anderen Sym¬ 
ptomen im III Gebiet verbinden kann, ohne in derselben Weise 
verursacht worden zu sein. 

Dem vielfach bewährten Interesse des HerrnCollegen Uhthoff 
für diese Frage verdanke ich noch die Mittheilung, dass er in 
einigen aber nicht zur Section gekommenen Beobachtungen nur 
die L. R. nicht die CV bei peripherischem Sitze der Lähmungs¬ 
ursache aufgehoben fand. Eine Kranke hatte Erscheinungen 
einer Ponsaffection, das andere Mal bestand eine traumatische 
peripherische Oculomotoriuslähmung. In beiden Fällen kehrte 
mit Freiwerden der inneren Augenbewegungen nur die CV. nicht 
die L. R. zurück. Es handelt sich hier anscheinend nicht um 
Lues oder Tabes. 

Ob durch weitere Beobachtung ein Beweis gegeben wird, 
dafür, dass eine Leitungsunterbrechung peripherisch vom moto¬ 
rischen Kerne nur für den Reiz bei Lichteinfall wirksam 
sei, bleibt dahingestellt. — 

Nun ist neuerdings von Heddäus eine wichtige Hypothese 
Uber den Sitz des Leidens bei der reflectorischer Pupillenstarre 
mitgetheilt worden, welche an die einseitige LR. anknüpft. H. 
nimmt an, dass der Ramus iridis III sich aus zwei Wurzeln zu- 
8ammen8ctze, einer aus dem Sphincterkerne und einer aus dem 
Accom.-Keme. Es würden also drei Faserbündelchen oder Kem- 
abschnitte für die Ciliarnerven getrennt erkranken können. 

a. ein Kemblindel für Lichtreiz. 

b. ein bei Accom. thätiges für den Sphincter. 

c. eines für die Accom. 

Die Anwendung dieser Hypothese wird von Seggel (Arch. 
für Augenheilkunde 1395 Bd. 31, 74) für einen seiner Fälle ein¬ 
seitiger Lichtstarre bestritten, weil Myosis damit verbunden war. 

Ich möchte bei der Wichtigkeit dieser Frage bemerken, dass 
unter 28 äusseren Augenmuskellähmungen, welche in der oben 
erwähnten Krankenzahl gefunden wurden (leichte Ptosis oder 
Schwäche in einer Richtung sind nicht mitgezählt) in folgenden 
20 Fällen die Pupillen wesentlich betheiligt waren 1 ). 

1. J., 45 J. Progr. Paral. Lues nicht bekannt. Vor 1 '/* Jahren 
Störung der Augenbewegung rechts, Beschränkung nach oben und innen. 
Pup. r. >. L. Pup. ein wenig verengt. L. R. fehlt beiderseits, dagegen 
ist C. V. links vollkommen gut wahrnehmbar. Acc. frei. Seit l 1 /* 
Jahren derselbe Zustand. Papillen etwas blass? (Greeff). 

2. 8., 44 J. P. P. Lues. Links Lähmung in allen Zweigen. L. R. 
und C. V. fehlen beiderseits. Acc. nicht zu prüfen. W. Z. 

3. D., 49 J. P. P. Lues. Linkerseits Lähmung Bämmtlicher 
äusseren III Zweige, am wenigsten im Sup. — VI. nicht sicher be¬ 
theiligt. R. Auge nicht sicher beeinträchtigt. L. R. und C. V. fehlt 
beiderseits. Pup. r. > , später = und normal, weiterhin auch Sup. ganz 


1) Ein hiesiger Fall von Boedeker, Arch. f. Psychiatr. 27. 811. 
(Alkohol) ist in dieser Richtung nicht ganz aufgeklärt. (Starke My- 
ose). 8 Kranke mit einseitig. Ophthalmopl. int. ohne Betheiligung der 
äusseren Muskeln seien nur der Vollständigkeit wegen noch erwähnt. 


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gelähmt. W* Tod nach 2'/,jähriger Beobachtung. Hirn-Gew. 1280. 
Atrophie im Kerngebiet III. und zwar beiderseits erheblich entwickelt. 

4. II., 41 J. P. P. r. Auge unvollständige Lähmung in den äusse¬ 
ren III Zweigen und in VI. Pup. 1. > r. beiderseits L. R. und C. V. 
fehlend. Tod nach G Wochen. II. G. 1210. 

5. N., 48 J. P. P. r. Auge alle äusseren III gelähmt, am wenig¬ 
sten Sup. — Pap. vielleicht etwas abgeblasst. (Höltzke.) R. Pup. 
etwas erweitert, ohne L. R. — C. V. nicht zu prüfen. L. Bewegungen 
im Ganzen frei, 1. Pup. etwa» enger. L. R. fehlt, C. V. erhalten. W. Z. 
Tod nach 2 Monaten. H. G. 1280. Deutliche Atrophie des r. IIIStam¬ 
mes. Beiderseitige Veränderung der Kerne. Degen, der Hstr. 

6. P., 46 J. P. P. unvollständige III Lähmung beiderseits, r. all¬ 
mählich bis auf Ptosis erheblich zurückgehend. R. Pup. leicht erweitert, 
Accomodationsschwäche. L. R. und C. V. beiderseits fehlend. W. Z. 

7. R., 55 J. Unvollständige Lähmung links, deutlich auch nach 
aussen. L. R. fehlt beiderseits. C. V. erhalten beiderseits. Weiterhin 
W. Z. Tod nach 7 Monaten. Nervenstämme makroskopisch normal. 
H. G. 1330. 

8. W., 46 J. P. P. Lues. Vorübergehend rechts». Ptosis und 
Schwäche des intr., links». VI. Lähmung. Mässige Myosis. Pup. r. > 1. 
L. R. fehlt beiderseits. R, C. deutlich, die linke bleibt dabei enger. 
Acc. gut. Bei der Wiederaufnahme nach 9 Mont. Augenbewegung frei, 
sonst Status idem. W. Z. — 

9. B., 42 J. Zweimal aufgenommen. Lues vor 18 Jahren. Aus¬ 
gesprochene Tabes seit 6 Jahren. L. Pup. >. L. R. fehlt beider¬ 
seits. C. V. mehrere Jahre hindurch bloss 1. fehlend, hier auch Acc.- 
Lähmung. A. H. normal. (Höltzke.) Chronische Paranoia-Peroneus¬ 
lähmung, bis zum Tod bleibt C. V. recht gut. II. G. 1455. 

10. B., 38 J. Im 28. Jahre eins. W. Z. — Gute L. R. — Vor 

7 Jahren W. Z. beiderseits, damals L. R. r. vorhanden, 1. direkt und 
indirekt.? Bei lelztcr Aufnahme Lähmung des intern, links, Ptosis. 
R. Pup. > L. R. fehlt beiderseits. C. V. r. ?, 1. deuGicb. Demenz 
ohne Sprachstörung etc. Tod nach 2 Jahren (13jährige Beobachtung) 
H. G. 1807. Degeneration der H-stränge. (.Tabes mit Psychose lang¬ 
samen Verlaufs.) 

11. 8., 36 J. Zwei mal aufgenommen. Lues cerebralis. Links. Aral. 
L. R. und C. V. nicht nachzuweisen resp. zu prüfen, nur isolirt kann 
das r. Auge etwas nach innen gebracht werden. K. Ph. einseitig kaum 
nachweisbar. A. H. frei. Demenz mit Anfällen von Verwirrtheit. 

12. B., 58 J. Lues cerebralis. Seit 1‘ , Jahren mehrfache Läh¬ 
mung der äusseren Augenmusk. L. aller äusseren III Muskeln bis auf 
inferior. L. Pup. direkt und indirekt ohne L. R. C. V. unmöglich. R. 
Auge wenig betheiligt. Chorioiditis beiderseits. A. H. normal. Leb¬ 
hafte K. Ph. 

13. A., 47 J. Früher Lues. 1891 Ami., sicher auch VI Lähmung 1. 
Bei Aufnahme L. R. beider». 0. — C. V. r. gut, 1. schlechter. — 
Längere Zeit entlassen. Nach Rückkunft dasselbe Verhalten dec Pup. 
Keine deutliche Aral. mehr. 

14. H., 40 J. Früher Lues. Seit '/ 2 Jahr wegen SehBtörung be¬ 
handelt, Lähmung des rect. sup. und obl. inf. beiderseits. Damals L R. 
gut. S. 3 I s . Hier: Lähmung auch des VI r. Verwaschene Papillen- 
Grenzen. Neuritische Atrophie (Greeff.) L. R. fehlt beiderseits. C. V. 
nicht zu prüfen. Acc. (nach dem Lesen) anscheinend nicht betheiligt. (?) 
Zunehmende Verwirrtheit. Unregelmässige Lähmung der Beine. Tod 
nach 15 Monaten. Luische Neubildungen im 1. Sehhügel, den Vier¬ 
hügeln und Pons. H. G. 1260. 

15. W., 46 J. Zweimal aufgenommen. Vor 12 Jahren Lues, vor 

8 Jahren rechtss. Schlaganfall. Ami. r. namentlich nach oben und unten. 
R. Pup. ohne L. R. dir. u. indir. n. ohne C. V., 1. völlig frei. Mässige 
Demenz. Nach Schmiercur äussere Lähmung etwas besser, sonst un¬ 
verändert. 

16. H. 47 J. Lues. 3 mal aufgenommen. Vor 4 Jahren III. Läh¬ 
mung 1. (int) 1. Pup. < r. L. R. fehlt beiderseits, C. V. 1. sehr schwach. 
Acc. beeinträchtigt. In SJähriger Beobachtung, C. V. nur 1. ?, r. stets 
gut Aeussere Augenmusk. jetzt frei, atrophische Verfärbung der Pap., 
besonders r. 

17. K. 38 J. 2 mal aufgenommen. Vor 4 Jahren Doppelsehen, 
Lähmung des r. Auges, vorübergehende rechtsseitige Lähmung von Arm 
und Bein. — Bei Aufnahme verwirrt, Lähmung der r. Augenmuskel 
(auch nach aussen', nimmt hier zu. R. Pupille auf L. bewegungslos, C. V. 
fehlt; 1. Schwäche, namentlich im VI. Energische Schmiercur, wenig 
Besserung. Von Entlassung nach 3 Monaten zurück. Parese beider 
Beine, 1. W. Z., beiderseits Ami., jedoch bei dem benommenen Zustande 
die Bewegung im Einzelnen und die 0. nicht genau festzustellen. L. R. 
fehlt jedenfalls jetzt beiderseits. — Tod nach 3 Wochen. — Mehrfache 
Herde, schwielige Verdickung beider III., Geschwulstbildung der Meningen. 
H. G. 1885. 

18. T. 45 J. Vor 24 Jahren Lues, später Alkoholismus, Demenz 
mit Verwirrtheitszuständen. Hysterische Anfälle. Vorübergehende Läh¬ 
mung. Von Anfang doppelseitige Ophthalmopl. int. mit Aufhebung der 
Accom. Ptosis und Schwäche der Bewegungen, besonders r. Pap. etwas 
»chmutzig-roth, doch nicht sicher pathologisch. (Axenfeld.) Eigenthüm- 
liehe Zuckungen ohne Bewusstseinsverlust. Nach 14 Monaten Pup. wie 
früher starr auf L. und C , äussere Bewegung fast frei. — A. 11. normal. 
(Greeff.) Tod einige Monate später unter gehäuften Krampfanfällen. 
H. G. 1087. — Die Zellen sowohl der Rinde als zum Theil der Vorder¬ 
hörner de» Lendenmarks erscheinen kleinkörnig — wie bestäubt. 

19. R. 42 J. Vor 17 Jahren Lues. Jetzt abnorme Alkoholwirkung, 


375 


(kein regelmässiger Potator). L. R. und C. V. einseitig, 1. fehlend, 
Schwäche beider interni, nach 6 Tagen entlassen. 

20. G. 45 J. 2 mal hier aufgenommen. — Lnes wahrscheinlich, 
Potus sicher. Lähmung der äusseren III. Zweige r. — Es wird festgestellt, 
dass G. vor 10 Jahren an Del. trem. behandelt und ein Jahr später 
irrthümlich al» Paralyse angesehen worden ist. Vor 4 Jahren r. fehlende 
R. auf L. bei erhaltener C. V. Seitdem wiederholt derselbe Befund con- 
statirt. Jetzt r. direkt nnd indirekt ohne L. R., C. V. gut. A. H. normal. 
Mässige Besserung der Augenbewegung, doch bleibt das r. nach oben 
deutlich zurück. Von Entlassung nach 17 Monaten zurück, ganz der¬ 
selbe Befund. Von neuem entlassen. Jetzt noch geringes Zurückbleiben 
zumeist nach o, Pup. =, L. R. 1. normal, r. direkt und indirekt o. 
C. V. beiderseits deutlich, die r. wird dabei eher enger als die 1. 

In 8 weiteren Fällen von Lähmung der Augenmuskeln unter 
der angeführten Krankenzahl blieben die Pup. ganz unbetheiligt. 
(Auf die Kranken, welche nach Lues immer nur Aufhebung der 
L. R. zeigten, komme ich noch zurück.) 

Diese 20 Fälle zeigen, wie sich offenbar die Veränderungen 
verbinden können. No. 1 bis 8 sind progr. Paralysen (4mal 
Lues feststehend). In 2., 3., 4. und G. fehlt beiderseits L. R. 
und C. V. In 1., 5., 7. und 8. L. R. fehlend. Dabei ist im 
Falle 1 C. V. nur auf der Seite aufgehoben, wo eine Ver¬ 
änderung im III. anzunehmen ist: Im Fall 7 und 8 ist C. V. 
beiderseits trotz Störung in einem Theile der äusseren Muskeln 
vorhanden. In 5 einseitig C. V. sicher — andere Seite nicht 
zu prüfen. Die Untersuchung ergab hier wie in 3 doppelseitige 
Erkrankung der Kernregion. Nicht weniger als 5mal fehlt das 
Kph. ohne weitere Erscheinungen von Tabes. 

In Fall 9 (ausgesprochene Tabes) trat Störung der C. V. 
wiederum nur auf dem Auge mit III. Erkrankung auf, desgl. in 
10 (deutl. Degener. der H-Stränge), isolirte Starre auf Licht be¬ 
stand beide Male auf dem freien Auge. 

Die Fälle 11 bis 19 haben zweifellos (20 wahrscheinlich) 
luische Vorgeschichte. In 3 von den 9 Fällen war die C. nicht 
zu prüfen. Die 0. V. fehlte unter den übrigen 6 fünfmal und 
zwar war 2 mal auch die Lichtstarre nur einseitig (15 und 19). 
lmal bestand (18) doppels. Ophthalmopl. interna. In IG fehlte 
nach einer Erkrankung im III. Gebiet nur auf dieser Seite die 
C. V. völlig. 

Einseitiges Fehlen der L. R. direct und consensuell bei und 
nach wesentlichem Rückgänge einer Lähmung der äusseren 
Augenmuskeln mit völlig erhaltener C. V. bietet nur Fall 20. 
Lues ist hier nicht sicher. Bei meinen früheren Kranken mit 
Lues war die isolirt zurückbleibende Lichtstarre doppelseitig. 
Alexander hebt die Einseitigkeit der nicht selten bei Lues 
vorkomraenden, Licht- und Convergenzverengerung betreffendeu 
Störung hervor. Jedenfalls sehen wir in den obigen Fällen oft 
die C. V. bei doppelseitiger Lichtstarre nur auf der Seite fehlen, 
wo auch andere Erscheinungen im III. vorhanden sind oder 
waren. 

Ich glaube danach, dass man die Hypothese von Heddäus 
Uber den Sitz der Unterbrechung bei isolirter Lichtstarre nicht 
allgemein als gesichert betrachten darf. Vor allem, die, wenn 
ich so sagen darf, Selbstständigkeit der Aufhebung der L. R. 
erscheint von Bedeutung. Unzweifelhaft ist zwar bei Lues meist 
die C. V. mit der L. R. aufgehoben. Aber wir wissen auch, 
dass hier eine Erkrankung des Nervenstamm es sehr häufig ist, 
ja Uhthoff 1 ) sagt geradezu, dass bei doppelseitiger Affection 
des III. der Sitz der Veränderung anatomisch durchweg basal 
gefunden sei. Auch die sehr häufige Betheiligung anderer an 
der Basis verlaufender Nerven weist auf diesen Sitz der Er¬ 
krankung hin. Unter Uhthoff’s 100 Fällen von Gehirnsyphilis 
waren G9 Augenmuskellähmungen und nur 14mal Erscheinungen 
an den Pupillen vorhanden. Nur ausnahmsweise bei Syphilis 
sehen wir mit einer verbreiteten Affection einer Seite auf der 
anderen eine isolirte Lichtstarre sich verbinden, so Fall 20 

1) A. a. O. S. 146 u. 807. 

1 * 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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376 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 18. 


(Syphilis wahrscheinlich), wo bei Rückgang des einseitigen Lei¬ 
dens blos die Lichtstarre weiter besteht, während die Pupille 
sich auf C. mehr verengt, als die der anderen Seite'). Auch im 
ersten der von Schanz 1 2 ) mitgetheilten Fälle von einseitiger iso- 
lirter Lichtstarre waren die Augenbewegungen im Wesent¬ 
lichen frei. 

Auch wo nach Lnes eine doppelseitige isolirte Lichtstarre 
während vieljähriger Beobachtung besteht, habe ich bisher nur 
einmal den Hinzutritt einer Lähmung im übrigen III. Gebiete 
beobachtet. 

(Schloss folgt.) 


n. Chronische Herzinsufflcienz, deren Behand¬ 
lung nach eigener Beobachtung. 

Von 

Dr. Fr. Nenm&nn (Badenweiler). 

Seit Jahren habe ich Gelegenheit, Kranke mit schwerster 
Herzinsufflcienz zu behandeln und sehe, dass auch in fast hoff¬ 
nungslosen Fällen durch eine geeignete Verbindung von arznei¬ 
lichen, mechanischen und diätetischen Maassnahmen ausserordent¬ 
lich viel zur Erleichterung und beschränkter Wiederherstellung 
solcher Kranker geschehen kann. 

Obwohl das Verfahren, das sich mir auf Grund der Beob¬ 
achtungen eigentlich aufgedrängt hat, im Wesentlichen mit 
einfachen Mitteln arbeitet, so lege ich doch das Hauptgewicht 
auf die Combination im ärztlichen Vorgehen. 

Die in Rede stehenden Fälle sind die Folge der verschiedensten 
Herzerkrankungen und haben dadurch, dass es sich in letzter 
Linie um einen abgenützten und versagenden Herzmuskel han¬ 
delt, im klinischen Bilde viel Gemeinsames und manche Aehn- 
lichkeit. Die betreffenden ursprünglichen Erkrankungen sind 
meistens erstens lange bestehende Klappenfehler, deren Compen- 
sation, oder wie man moderner sagt, Accomodation, nach langem 
Wohlbefinden des Patienten die hohen Aufgaben, welche die 
Erkrankung an das Herz stellt, nicht mehr zu bewältigen ver¬ 
mögen ; ferner die Schlussstadien der sogenannten idiopathischen 
Herzhypertrophie, der Hypertrophie bei chronischen Nieren¬ 
erkrankungen, speciell der interstitiellen Form; die Schluss¬ 
stadien von mehr oder weniger latent verlaufenen Pericardial- 
verwachsungen; die chronischen Herzmuskelerkrankungen und 
Degenerationen bei Sklerose der Herzgefässe, besonders als 
Altersherz. Dieser Reihe beizuzählen ist ferner das Fettherz 
im späteren Verlaufe der Erkrankung, sei es, dass dabei der 
Herzmuskel durch Alter, Anstrengung oder Alkohol degenerirt 
ist, sei es, dass solche Patienten unzweckmässige Entfettungs- 
curen durchgemacht haben. Abgesehen von den Stenosen der 
Klappen des linken und rechten Herzens, werden ja Klappen¬ 
fehler unter halbwegs günstigen Lebensbedingungen gut ertragen. 

In beschränkterem Maasse gilt ja das auch von recht un¬ 
günstigen Zuständen, wie manchen Formen der Herzbeutel¬ 
verwachsung. 

Ich kenne aus eigener Praxis Fälle von schweren Klappen¬ 
fehlern, die theils nach meiner eigenen Beobachtung, thcils nach 
der Anamnese 20, 30, 40 Jahre bestehen, ohne dem Träger 
schwere Störungen zu bereiten. Habe ich doch im Verlaufe 

1) Sollte dies dadurch bedingt sein, dass die mit Verengerung der 
Pupille einhergehende Verminderung des Lichteinfalls, wobei sich ge- 
wisserraassen latent die Pupille erweitert, auf der für den Lichtreiz 
unempfindlichen Seite wegfällt? Auch einseitig oder doppelseitig myo- 
tische Pupillen werden nicht selten bei Accomm. auffallend eng. 

2) A. a. O. 


dieses Sommers eine Frau behandelt, die bis vor einem Jahre 
ihre Mitralinsufficienz seit B7 Jahren, sie ist heute 72, ohne jede 
Störung durchs Leben getragen hat; und dabei stammen die 
Inhaber solcher Herzerkrankungen bei weitem nicht immer aus 
dem Ringe der oberen Zehntausend, sondern haben sich zum 
guten Theile hart durchs Leben zu schlagen, vielfach unter 
grosser körperlicher Anstrengung. Die Praxis hat mich gelehrt, 
dass bei Leuten, die einfach und geordnet leben, ohne 
jemals Abstinenzler gewesen zu sein, das Herz schwere 
Circulationshindernisse, sei es im Herzen selbst oder in der 
Peripherie, ausserordentlich lange, ohne Hemmung der 
Thätigkeit und eines massigen Lebensgenusses, überwindet. 
Erst dann, wenn der Herzmuskel selbst in verschiedener Form 
erkrankt, macht sich in der Mehrzahl der Fälle die schon längst 
bestehende Erschwerung des Blutkreislaufes bemerklich. In dem 
Krankheitsbilde, das durch die Leistungsunfähigkeit des Herzens 
bedingt wird, treten verschiedene Symptome verschieden hervor. 
Die Cyanose ist lange keines der schwersten und deutet auf 
Störung im kleinen und grossen Kreisläufe hin, am meisten bei 
Mitralfehlern oder bei solchen Formen von Fettherz, die gleich¬ 
zeitig mit Erkrankungen der Lunge, besonders Emphysem und 
chronischen Katarrhen vielfach ursächlich verbunden sind. 

Im Allgemeinen finde ich, dass, wer am Rande seiner Herz¬ 
kraft steht, in all den bezeichneten langsam entstandenen Zu¬ 
ständen nicht den Eindruck einer BlutüberfUlle macht (Plethora). 

Solche Patienten sind meistens mager und blass, auch bei 
mühsamem Ringen nach Athem bleibt die Blässe bestehen und 
ist nur manchmal an den Fingernägeln, Lippen mit fahl gelb¬ 
bläulicher Färbung verbunden und vermischt. Es stimmt dazu 
auch die Thatsache, dass chronisch Herzkranke mit degeneri- 
rendem Herzmuskel häufig abmagern. 

Um die Gesichtspunkte, die mich in der Behandlung leiteten, 
anschaulicher zu machen, mögen einige Krankheitsbilder folgen. 

1. Ich werde zu eiuem Geistlichen von auswärts gerufen und finde ihn 
am Rande des Bettes mit herabhängenden Beinen sitzen, die Arme 
stemmen sich abstehend nach rückwärts; der Rumpf vorgebeugt, der 
Kopf bald gegen die Brust gesenkt, bald rückwärts gestreckt, je nach¬ 
dem der Patient in keuchender Athmung leichter Luft erhalten kann. 
Puls ganz arhythmisch klein, hart; die beim ersten Besuch natürlich 
ungenaue, später exacte Untersuchung ergiebt raässiges Emphysem und 
leichte Verbreiterung der Herzdämpfung bis znr Mitte des Brnstbeins 
und zur linken Brustwarze. Herzstoss schwach an der fünften Rippe in 
der Mammillarlinie zu fühlen; die Herztöne sind so onregelmässig und 
ungleichmäs8ig und dabei im Wechsel so schwach zu hören, dass eine 
exacte Diagnose bezüglich eigentlicher Klappenerkrankungen nicht mög¬ 
lich ist. Später war jeder Klappenfehler auszuschliessen. Der sehr 
blasse Kranke kann kaum antworten; die Frau ergänzt die Angaben, 
woraus hervorgeht, dass der früher ganz gesunde, magere, geordnet und 
mässig lebende Mann sich stets über seinen Beruf hinaus bemüht und 
angestrengt und Schweres erlebt hat. Seit einigen Jahren allmählich 
Athembeschwerden, Schwächegefühl, Unfähigkeit anhaltend zu sprechen, 
zu predigen. Gestörter Schlaf, Treppensteigen mit äusserater Anstren¬ 
gung. Ich erfuhr, dass seit Monaten wegen der schlechten Nächte und 
Unmöglichkeit, im Bett zu bleiben, Morphium und Trional reichlich zur 
Anwendung kamen. Patient schloss seine wenigen Mittheilungen mit 
der Bemerkung: 

„So, jetzt boU ich mich erholen, und mein Doctor hat mir obendrein 
auch noch gesagt, ich solle Bergsteigen, das werde mir gut thun.“ 

Ich fand geringe Urinmenge, kein Eiweiss, leichtes Oedem der 
Knöchel. 

2. Herr H. hat sich nach einem früher sehr thätigen Leben, dem auch 
die Aufregungen der Speculation nicht fremd waren, seit zehn Jahren 
zurückgezogen und diese Jahre nach Aeusserung seines Sohnes bei sehr 
guter Kost, aber sehr geringem Alkoholgenusse meist auf dem 
Sofa verbracht, dabei wurde er im besten Wohlgefühle sehr dick und 
berief deshalb eine „Autorität“. Es wurde ihm, da er und die Familie 
Fettherz befürchteten, versichert, nach dem objectiven Befunde sei das 
Herz wohl etwas fett, aber völlig gesund, die Nieren in Ordnung. Die 
Verordnung bestand in dem Rathe, mehr Bewegung in grosser Höhe zu 
machen und nach einem steigenden Plane längere Zeit Jodkali zu 
nehmen. Das Jodkali wurde sehr schlecht ertragen, trotzdem längere 
Zeit fortgesetzt, bis Patient es, nnd zwar gegen den Rath des betreffen¬ 
den Arztes, aufgab. Die inzwischen eingetretene Gewichtsabnahme 
setzte sich fort, auch nachdem Jodkali nicht mehr genommen wurde 
und zwar bis zu einem Gewichtsverluste von 31 Pfund. Patient wurde 


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3. Ma\ V 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


377 


«ehr elend, der Puls wurde unregelmässig klein; Puls und Herzthätigkeit 
entsprechen der anämischen Hautfarbe. Gehen und Treppensteigen 
wurden unmöglich, die Unterschenkel schwollen an, das Athmen fiel 
auch in der Ruhe schwer, und vor Beklemmung konnte Patient häuflg 
Nachts nicht im Bette bleiben und machte nicht nur seiner Familie, 
sondern auch seinen späteren Aerzten, Besuchern und Freunden den 
Eindruck eines verlorenen Mannes. Der Schlaf ist sehr gestört, un¬ 
ruhig; im Liegen kommen Beklemmungsanfälle und trotzdem machen 
wieder die geringsten Bewegungen eng, so dass Patient überhaupt zu 
längerem ungestörtem Tiefathraen nie gelangen kann. Das Steigen auf 
sehr bequemen Treppen in der behaglichen Wohnung ist ganz unmög¬ 
lich, wenn er direkte Herzschwäche und Erstickungsanfälle vermeiden 
will. Urinmenge gering, Urineiweiss zuckerfrei; Oedem der Beine bis 
über die Kniee. Die Herzdämpfung ist bis gegen den rechten Normalrand 
nnd gegen die Brustwarze links ausgedehnt; doch wie das in solchen 
Fällen häuflg der Fall ist, gelingt es auch hier nicht, eine schul- 
mäsBig klare Dämpfungsfigur heraus zu percutiren, vielmehr 
kommt es bei wiederholten Untersuchungen zu häutigen Schwankungen 
im Bilde der Herzgrösse. 

3. Frau X. stammt aus einer Familie, in der verschiedene Mitglieder 
bei geregeltem Leben und sehr guten äusseren Verhältnissen, verhält- 
nissmässig früh an verschiedenen Herzaffectionen erkrankten und starben. 
Sie selbst war immer thätig, sehr mässig, macht den Eindruck einer fast 
ascetischen Persönlichkeit. 

Patientin ist gross, mager, Hautfarbe gelblich blass, nicht cyanotisch 
und leidet seit mehr als einem Jahre an zunehmender Beklemmung, 
Gefühlen von starkem Herzklopfen, von Unregelmässigkeit der Herz¬ 
thätigkeit und von der Empfindung des Aussehens. Selbst das An¬ 
kleiden mit Hülfe Anderer, das Gehen aus einem Zimmer in das andere, 
das Bettgehen veranlasst die allerpeinlichsten Zufälle mit kaum fühl¬ 
barem, vollständig regellosem Pulse. Gleichzeitig ist die Herzthätigkeit 
abwechselnd pochend, bald nicht fühlbar. Die Herztöne sind in ihrer 
Folge nicht bestimmt zu unterscheiden und in völligem Durcheinander. 

Die Herzdämpfung ist sehr wenig nach rechts und nach links ver- 
breiteit und nur nach längerem Suchen ist es ab und zu möglich ein, 
auch von anderen Aerzten wahrgenommenes systolisches Geräusch, an 
der Herzspitze wahrzunehmen, ohne dass früher ein ausgesprochener 
Klappenfehler constatirt worden wäre. 

4. Frau N. hat bis zum 72. Jahre eine Mitialinsufficienz, welche als 
Folge eines im 15. Jahr überstandenen Gelenkrheumatismus stets auf- 
gefasst worden war, bis vor einem Jahre gut ertragen. Seither zu¬ 
nehmende Beklemmung, fast stets stärker oder geringer quälender 
Bronchialkatarrh; im Winter 35 linksseitige raässige Pleuritis. In der 
Zeit seit der letzten Erkrankung zunehmende Beklemmungsqual, schlechte 
Nächte, weshalb ständig Morphium und Trional genommen werden 
musste. Digitalis wurde angeblich nicht mehr ertragen und war nutzlos. 
Patientin macht den Eindruck einer Sterbenden. Die geringsten, auch 
passiven Bewegungen veranlassen äusserste Beklemmungszufälle, Sprechen 
ist beinahe unmöglich. Das Liegen im Bett ist ebenfalls vollkommen 
□nthunlich. Die Patientin sitzt mit tief vorgebeugtem Rumpf und den 
Kopf in die Brust eingedrückt da. Hautfarbe tief blassgelb, der Puls 
klein, kaum fühlbar, unregelmässig. Die Herzthätigkeit vollkommen 
gestört, das später leicht wahrnehmbare Geräusch ist nicht zu consta- 
tiren, die Herzdämpfung nur wenig verbreitert. Die Beine sind schlaff, 
ödematös, der Urin sehr spärlich, etwas eiweisshaltig. 

Solche Typen in Verbindung mit sklerotischen Processen, 
als Folgen von Fettherz, als Ausdruck einer gestörten Compen- 
sation sehe ich in reichlicher Anzahl. Dass die Behandlung 
solcher Zustände schwierig ist, dass man bei drohendem Er¬ 
löschen der Herzkraft das ärztliche Vorgehen nicht mit Gym¬ 
nastik und Steigen, also mit einem Ansprüche an nicht vorhandene 
Kräfte beginnen kann, ist selbstredend. 

In einer beinahe dogmatischen Form haben sich zwei Be¬ 
handlungsweisen chronischer Herzerkrankungen in den letzten 
zwei Jahrzehnten dem ärztlichen Handeln zur Verfügung gestellt 
und das allgemeine Interesse auch des grossen Publikums in 
Anspruch genommen. Es sind die von Oertel in glänzender 
Weise eingefllhrten Terraincuren, in Verbindung mit einer Diät, 
die Flüssigkeiten thunlickst ausschliesst und andererseits der 
Gebrauch kohlensäurehaltiger Soolbäder. Wenn es auch schwer 
ist, sich dem Anreiz solcher Hülfsmittel zu entziehen und die 
Dinge an der Hand nüchterner Beobachtung sich zurecht zu 
legen, so muss man doch gestehen, dass nach der heute vor¬ 
handenen Klärung die beiden Verfahren in freilich beschränktem j 
Umfange und mit kritischer ärztlicher Auswahl segensreich 
wirken. Dagegen fallen entschieden die oben skizzirten Cate- 
gorien chronischer Herzinsufficienz nicht in den Bereich dieser 
Methoden. Es ist nur zu bedauern, dass der in Laienkreisen 
verbreitete, moderne Hang jedes neue Verfahren zu verallge¬ 


meinern und „wild“ anzuwenden, in jeder Beziehung zu Schädi¬ 
gungen führen muss. 

Auch hier gilt es für den Arzt, sich nicht unter den 
Terrorismus einer neuen Meinung blindlings zu 
stellen, sondern den einzelnen Fall und seine Bedingungen zu 
studiren und demnach einen bestimmten Curplan einzuleiten, 
selbst auf die Gefahr hin, nicht immer als auf der Höhe des 
Neuesten stehend zu erscheinen. Wenn ein Patient der skizzir¬ 
ten Typen meine Hülfe in Anspruch nimmt, so bin ich wie wohl 
jeder Arzt vor eine nächste und eine fernere Aufgabe gestellt. 
In unseren Fällen besteht die nächste Aufgabe darin, den mo¬ 
mentan quälenden Zustand zu erleichtern, den dringendsten Be¬ 
schwerden etwas abzuhelfen und dann die Zeit einer erträglichen 
Besserung zu Maassnahmen zu benützen, die eben in nachhaltiger 
Weise bestimmt sein sollen, einen Zustand relativer Besserung 
oder sogar eine Art Heilung herbeizufUhren, wenn der Patient 
sich anhaltend schonen kann und will. 

Unter den in Frage kommenden Mitteln ist und bleibt vor¬ 
aussichtlich das Wichtigste immer die Digitalis und zwar selbst 
dann, wenn wir vom Patienten erfahren, er habe es in der und 
jener Form und zwar erfolglos genommen. Ueber die Digitalis 
sind ja schon Bände verschrieben w'orden. Im Laufe meiner 
ärztlichen Praxis sollte sie bald nur bei Mitralfehlern angewen¬ 
det wnrden, während sie aus verschiedenen Gründen bei Aorta¬ 
fehlern nichts nützen eventuell sogar schaden sollte. Von 
anderer Seite wurde später gerade ihre überwiegende Zulässigkeit 
und Nützlichkeit bei Aortenfehlern betont. Mir scheint der 
Schwerpunkt der Digitaliswirkung hauptsächlich in der zweifel¬ 
losen Wirkung anf den Herzmuskel zu liegen. Ich erinnere mich 
Anfang der 80er Jahre eine Arbeit von Leyden gelesen zu 
haben, wonach besonders bei dem geschwächten Fettherz hohe 
Gaben von Digitalis Empfehlung fanden. Ich habe seither, 
wenn ich unter solchen Verhältnissen Digitalis verordnet habe, 
mir zur Maassregel gemacht, starke Dosen, aber nur kurze 
Zeit zu verabreichen und dieses Mittel nach längerer oder 
kürzerer Pause zu wiederholen. Ich verordne stets bei sehr 
gesunder Herzkraft ein Infus von 1 auf 100 unserer sehr kräf¬ 
tigen und wirksamen Schwarzwalddigitalis und lasse so in Zeit 
von 4—5 Tagen 3—4 gr verbrauchen. 

Ist der Zustand einigermaassen besser, sind die Be¬ 
klemmungserscheinungen erleichtert, streiche ich ohne Weiteres 
die bisher genommene Narkotica, wobei die Patienten ausnahms¬ 
los zufrieden sind. Ich weiss wohl, dass gerade an einem Cur- 
orte dem Arzte der Reiz der Neuheit zu Hülfe kommt, anderer¬ 
seits wird freilich dieser günstige psychische Factor wieder 
dadurch ausgeglichen, dass der neue Arzt sich unter schweren 
Verhältnissen in das Vertrauen des Patienten einzufükren hat. 
Ein Mittel, das ich gerne unter bestimmten Voraussetzungen mit 
der Digitalis verbinde, ist das Jodkali oder vielmehr das Jod¬ 
natrium. Es ist noch nicht lange her, dass man diese Mittel in 
die Behandlung der Herzerkrankungen eingefUhrt hat, speciell 
der Herzerkrankungen, welche mit, oder als Folge 
sklerotischer Processe an den Herzgefässen auftreten. 
In Frankreich, woher ja diese Medication stammt, ist dieselbe 
auch in Laienkreisen sehr bekannt. So hat mir eine auf „der 
Höhe“ stehende Pariserin vor Kurzem gesagt: „Vous m’ordonnerez 
sans doute le jodure de potassium; c’est fort k la mode k Paris 
danB les maladies de coeur.“ Non, Madame, war meine Ant¬ 
wort, denn es handelte sich bei ihr nicht um Lues oder Sklerose, 
sondern um rein nervöse Störung. Es ist natürlich nicht die 
Aufgabe dieser Arbeit, den Zusammenhang dieser schwerver¬ 
ständlichen Wirkung theoretisch zu begründen. Mir scheint in 
diesem Falle auf Grund glücklicher Beobachtung die Praxis der 
Theorie, wie so oft — nicht nur in der Medicin — vorangegangen 

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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 18. 


zu sein. Thatsache ist, dass in Fällen von sklerotischer 
Herzdegeneration die genannten Jodpräparate günstig auf die 
Hebung der Herzkraft, der Urinabsonderung, auf die Qualität des 
Pulses und auf die peinlichen Bekleramungsempfindungen wirken. 
Wie wohlbekannt, besteht zur Zeit eine grosse Neigung, da, wo 
Jodpräparate wirken, stets Syphilis als Ursache des betreffenden 
Krankheitszustandes anzunehmen. Mir scheint das besonders 
bei unserm Gegenstände zu weit gegangen. Ich habe günstige 
Jodnatriumwirkung auf das Ilerz gesehen, wo auch nicht der 
leiseste Anhalt ftlr die Annahme einer alten luetischen Ansteckung 
vorhanden war. — Dagegen habe ich ebenso bestimmt beob¬ 
achtet, dass, wo bei degenerirtem Fettherz und geringem Her¬ 
vortreten der sklerotischen Processe die genannten Jodpräparate 
gegeben werden, dieselben nicht nur versagen, sondern 
den Zustand verschlimmern. Ara liebsten verordne ich 
Jodkali oder Natrium in etwa 3procentiger Lösung und lasse 
die Einzeldosen in Milch nehmen. Da Digitalis und Jodpräpa¬ 
rate gleich widerwärtig zu nehmen sind, so kam mir der 
Gedanke, die beiden Mittel zusammen zu verordnen, 
das heisst das Jodpräparat in dem Infus gelöst, darzureichen. 
Ich lasse also, und damit fängt häufig meine Behandlung solcher 
Fälle an, von einem Digitalisinfuse 1,5 auf 150, 3—5gr Jod¬ 
natrium lösen und stündlich einen Esslöffel geben, am besten mit 
Milch. Nach 24—36 Stunden athmet der Patient leichter, der 
Urin wird reichlicher; meistens lasse ich die Dose wiederholen, 
um den günstigen Effect für eine Reihe von Tagen dauernd zu 
machen und setze dann aus. Mit der Wirkung des Mittels 
wächst das Vertrauen des Kranken und es macht keine Schwierig¬ 
keit, diesen zu überreden, gerne auf die bisher genommenen 
Schlaf- und Beruhigungsraittel zu verzichten. Von den sonstigen 
Herzmitteln habe ich unter so schweren Verhältnissen bei Weitem 
nicht den Eindruck zuverlässiger Wirkung gewinnen können, wie 
von der Digitalis. Früher wenigstens konnte ich mich von einem 
günstigen Einflüsse der in Deutschland üblichen Strophantus- 
präparate nicht überzeugen; den verflossenen Sommer habe 
ich jedoch ein französisches Strophantuspräparat kennen gelernt, 
welches sich in Pillen sehr angenehm nimmt und ohne den 
Magen zu verderben oder das Gefühl von Herzelend nach sich 
zu ziehen, wie sonst oft die hierländischen Präparate, das ferner 
den Puls verlangsamt und kräftigt, den Blutdruck hebt und ohne 
Nebenwirkung einige Tage, zwar in geringer Menge, d. h. 
1—4 Pillen täglich, fortgenommen werden kann. Bei schweren 
Zuständen von Herzinsufficienz hatte ich von den übrigen Mitteln, 
das Coffein nicht ausgenommen, den bestimmten Eindruck, dass 
man mit ihnen nur Zeit verliert und dem Patienten, dessen Ver¬ 
trauen zu gewinnen so nothwendig ist, nur Veranlassung zu 
Zweifeln in den Werth einer inneren Medication giebt. Wenn 
die schwersten Schwäche- und Beklemmungserscheinungen ge¬ 
hoben sind, und ab und zu sich ängstliche, unbehagliche Em¬ 
pfindungen einstellen, so sieht man vom Nitroglycerin, am besten 
in Tablettenforra, einen günstigen Einfluss und zwar ist es 
praktisch, mehrmals am Tage 2—3 solcher Tabletten, wie auch 
Schott angiebt, nehmen zu lassen. Wenn die Kranken in 
ihrem Kräftezustande sich gehoben haben und die Magenver¬ 
dauung es zulässt, so empfiehlt es sich, passende Eisenpräparate 
zur Verwendung zu bringen. Es ist natürlich nicht die Aufgabe, 
hier all’ die einschlägigen Gesichtspunkte zu besprechen. Auch 
die Auswahl eines geeigneten Eisenpräparates hängt von der 
persönlichen ärztlichen Erfahrung und gewonnenen Eindrücken 
ab. Ich bin auch hier meinem Grundsätze treu geblieben, nach 
eingehender Prüfung dem von mir Erprobten treu zu bleiben 
und nicht heute das und morgen jenes zu verordnen. Unter den 
verschiedenen Eisenpräparaten benutze ich hauptsächlich zwei, 
es ist dies das Ferrum citricura effervescens und das Ferratin. 


Ersteres lasse ich in einem gewöhnlichen säuern, mit Wasser 
verdünntem Weisswein sich auf lösen, was ganz gut schmeckt, 
das andere wird unter Milch oder Fleischbrühe gemengt und so 
getrunken. Da das Mittel bei der ganzen Behandlung des in- 
sufficienten Herzens nur ein Glied ist, so lässt sicht mit wissen¬ 
schaftlicher Schärfe bestimmen, welcher Antheil an der Besserung 
demselben gutgeschrieben werden muss. Ich gestehe aber, dass 
ich häufig den Eindruck habe, dass gerade diese Mittel auf die 
Hebung des Appetits und damit auch der Blutbereitung und all¬ 
gemeinen Kräftigung sehr günstig wirken. Statt der genannten 
Mittel kann man auch solchen Patienten dsn Gebrauch von 
Stahlwässern empfehlen, Uber deren Auswahl natürlich die nähere 
Bekanntschaft mit einem derselben entscheidet. Speciell Gutes 
habe ich von unseren heimischen Stahlbrunnen Rippoldsau und 
denen des Renchthals, Griesbach, Petersthal etc., gesehen. Die 
Vorbedingung dafür ist die schon oben skizzirte für den Ge¬ 
brauch von Eisenpräparaten überhaupt. 

(Schloss folgt.) 


III. Aus Dr. G. Gutmann’s Augenklinik. 

Drei Fälle von Tätowierung der Hornhaut. 1 ) 

Von 

Dr. E. Stern, I. Assistenzarzt. 

Seitdem Hirschberg 1891 2 ) die Vortheile der Hornhaut¬ 
färbung besonders hervorgehoben und gleichzeitig die gesamte 
Literatur Uber diesen Gegenstand zusammengestellt hat, sind im 
ganzen nur wenig Publicationen Uber dieses gewiss dankbare 
Verfahren erschienen. Es sind allerdings andere neue Behandlungs¬ 
methoden, welche besondere eine Aufhellung der Hornhauttrübungen 
bezwecken, von verschiedenen Seiten empfohlen worden, aber 
weder die Behandlung mit chemischen Agentien, speciell mit 
vegetabilischen Säuren*), noch die Scarification der Leucome*), 
noch die wiederholt empfohlene elektrische Behandlung 4 )*) 7 ) 
scheinen bis jetzt wenigstens eine allgemeine Verbreitung gefunden 
zu haben. 

Ueber Tätowierung haben in den letzten Jahren berichtet 
Landau 8 ) und Neuburger 9 ) und auch diese beiden Autoren 
empfehlen wieder von neuem dieses Verfahren wegen der damit 
erzielten guten Erfolge. Diese Erfolge liegen bekanntlich nach 
drei Richtungen hin; erstens Beseitigung der Entstellung, welche 
durch den Ilornliautfleck bedingt wird. Dieses Factum ist aller¬ 
dings von ganz verschiedener Wichtigkeit je nach der Lage des 
einzelnen Falles und je nach der sozialen Stellung des betreffenden 
Patienten, aber sicherlich niemals zu unterschätzen. In zweiter 
Linie kommt die Verminderung der Blendung, ein Umstand, der 
zwar für jeden von Bedeutung, von ganz besonder Wichtigkeit 
für diejenigen ist, welche gezwungen sind, bei künstlicher greller 

1) Nach einer Demonstration in der Berl. Ophth. Ges. 18. III. 1897. 

2) Hirschberg: Hornhautfärbung gegen Pupillenbildnng. Deutsche 
Med. Wochenschrift 1891. 

8) 8imi: Macche della Cornea. Bollet. d’ocul. XIV. p. 1. 

4) Tamancheff: Neuere Ansichten über die Leucome. Wiener 
klin. Wochenschrift 1894. No. 87. 

5) Noischewski: Ueber Behandlung der Augenerkrankungen mit 
Hydroelectricität. WeBtnik ophth. XI p. 76. 

6) Dennis: Corneal opacities. Annal. of Ophth. and. Otologie. 
1894. January. 

7) Stevenson: Treatment of corneal opacities by electrolysis. 
British. Med. Journ. 1896. p. 826. 

8) Landau: Hornbautfärbung zur Verbesserung der Sehschärfe. 
Centralbl. f. pr. A. 1895. p. 10. 

9) Neuburger: Münchener med. Wochenschrift. 1896. No. 15. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


379 


3. Mai 


.nej£L 


Figur 1. 


Beleuchtung °^ er vor dem Feuer zu arbeiten und dabei kein 
Schutzglas gebrauchen können oder dürfen. Drittens und das 
ist wohl das Wichtigste, kommt in Betracht die Besserung der 
Sehschärfe. Man hat schliesslich, und das wäre der vierte 
Punkt, für die Tätowierung in Anspruch genommen, dass dadurch 
die Widerstandsfähigkeit der Narben erhöht werde, aber darüber 
scheinen die Ansichten vorläufig noch getheilt zu sein. Die Er¬ 
klärung für den zweiten und dritten Punkt, Verminderung der 
Blendung und Besserung der Sehschärfe, ist bereits längt ge¬ 
geben und von Hirschberg') gewissermaassen experimentell be¬ 
gründet worden.Es handelt sich dabei um Zerstreuung des Lichts 
durch Homliautflecke, wenn dieselben ganz oder theilweise 
durchscheinend sind. Wird nun ein solcher Fleck gefärbt und 
damit der Lichteintritt durch diesen Bezirk der Hornhaut ganz 
ausgeschlossen, so fällt die Sehstörung fort. 

In unseren drei Fällen, deren Krankengeschichte ich kurz 
folgen lassen will, war die Pupille so durch die Hornhauttrübungen 
verlegt, dass man von einer alleinigen Tätowierung nichts er¬ 
warten konnte; es musste vorher erst eine neue Pupille gebildet 
werden; nach Ablauf einer gewissen Zeit nach der Iridectomie 
wurde dann die Tätowierung angeschlossen. 

Fall 1. Arbeiter A. M. 54 J. Rechtes Auge dichte Maculae Com. 
praepup. nach ulcus Corneae in Folge Verletzung; das Geschwür war 
anderswo durch Galvanocaustik zur Heilung gebracht worden; occlusio 
und seclusio pupillae fere totalis; nach Mydriasis wurden oben und nasal 
zwei kleine Bezirke schwarzen Pupillargebiets sichtbar; Sehkraft: Finger in 
*/ 4 Meter gezählt Iridectomie nach innen; Sehkraft: Finger in 2'/* M. 
gezählt; nach der Tätowierung: Sehkraft= , / s ; mit +4,0 Schweigger 0,8 
in 15 cm gelesen. Linkes Auge: Dichte weisse Trübung innen unten im 
Pupillargebiet; oberhalb derselben durchscheinende Flecke, die bis Uber 
die obere Grenze des Pupillargebiets hinausragen; gleichfalls Residuen 
eines durch Galvanocaustik geheilten Ulcus corneae. Iris frei, Ophthal¬ 
moskopisch normal, Sehkraft mit — 2,0 Cylinder — Axe horizontal = 

mit +- 6,0 Schw. 0,45 in 15 cm gelesen. Nach der Tätowierung 
mit + 1,0 Cylinder — Axe vertical S=*/ l0 ; mit +4,0 Schw. 0,45 in 
18 cm gelesen. 

Fall 2. Hausdiener A. W. 40 J. Linkes Auge: Unten aussen dichte 
grau weisse vascularisirte Hornhauttrübung, ungefähr ein Drittel der ge- 
sammten Hornhaut einnehmend und die Pupille nahezu verdeckend. Die 
Trübung war vor einem Jahre nach einer im Anschluss an Herpes zoster 
frontalis entstandenen Keratitis zurückgeblieben. Ophthalmoskopisch|normal, 
Tension normal. Sehkraft=*/ 4 ? Iridectomie nach innen oben; nachher 
S= 1 / 1 ? Tätowierung; nachher mit — 1,25 D S= 3 / 4 ? Schw. 0,5 in 
80 cm gelesen. 

Fall 8. Heizer K. B. 80 J. Rechtes Auge: Pupillargebiet und 
innerer unterer Quadrant der Hornhaut eingenommen von einer dichten 
scharfrandigen Trübung; innen unten kleines Leucoma adhärens. Als 
Ursache war hier eine Verletzung durch heisses Glas vorhergegangen, 
welche ein eitriges Geschwür zur Folge hatte; dieses war durch Galvano¬ 
caustik zur Heilung gebracht worden. Sehkraft; Finger in Meter ge¬ 
zählt; Schw. 1,25 in 6 cm gelesen. Nach Mydriasis: Ohthalmoskopisch 
normal; Tension normal. Iridectomie nach oben: nachher mit—1,25 D, 
8 = '/,; Schw. 1,2 in 6 cm gelesen. Tätowierung; nachher mit — 2,5 D, 
8=7, Schw. 0,5 in 10 cm gelesen. Nebenstehende Zeichnungen ver¬ 
anschaulichen das Bild des Auges, 1. vor der Behandlung, 2. nach der 
Iridectomie, 3. nach der Tätowierung. 

Wir sehen also in allen drei Fällen dass die Sehschärfe 
zunächst durch die Iridectomie gebessert, dann aber durch die 
darauf folgende Tätowierung noch weiter gehoben wurde und 
zwar z. T. ganz erheblich. Es kommt hinzu, dass alle drei 
Patienten nach ihrer Angabe durch Licht nach der Tätowierung 
bedeutend weniger geblendet wurden, als vorher. 

Was die Technik betrifft, so war dieselbe die übliche, nämlich 
schräge Stichelung mit dem Nadelbündel und Verreibung der 
Tusche mit dem Spatel. Andere Methoden der Tätowierung 
sind von Baiardi 2 ), Liebrecht“) und Germann 4 ) angegeben 

1) Hirschberg: Ueber 8ehstörung durch Lichtzerstreuung. Central¬ 
blatt f. p. A. p. 294. 

2) Baiardi: Neue Tätowierungsmethode für Hornhautflecke. 18. 
ital. ophth. Congr. in Palermo 1892. 

8) Lebrecht: Eine neue Art der Tätowierung am Auge. Münch, 
med. Wochenschr. 1898 No. 84. 

4) Germann: Ueber eine neue Methode zur Färbung von Hornhaut- 
ßt Petersburger med. Wochenschr. 1895 No. 50 



Lenkora 


Vorher. 


Figur 2. 



Coloboma operit. Lenkern 

Nach der Iridectomie. 


Figur 8. 



Tätow. Leukom 

Nach der Tätowierung. 


worden, Uber welche mir eigene Erfahrung nicht zu Gebote steht. 
Theoretisch betrachtet scheint es jedoch, als ob keine Methode 
so einfach sei als wie die Stichelung, und als ob man mit keiner 
anderen so ausgiebig färben könne. Um die Hornhautflecke 
isolirt und genau zu treffen, hat Herr Dr. Gutmann in einem 
Fall das Hauptareal des Flecks mit dem Nadelbündel gestichelt, 
den Rand aber mit der Schöler’schen Hohlnadel und zwar unter 
der Lupe, bei seitlicher Beleuchtung. 

Es ist mir eine angenehme Pflicht, meinem hochverehrten 
Chef, Herrn Dr. Gutmann für die Anregung zu dieser Arbeit 
und die Ueberlassung des Materials meinen besten Dank aus¬ 
zusprechen; Herrn Collegen Löwenstamm bin ich für die An¬ 
fertigung der Zeichnungen zu grossem Dank verpflichtet. 


IV. Aus der königl. Hautklinik des Herrn Geheimen 
Med.-Rathes Professor Dr. Neisser in Breslau. 

Eidotteragar, ein Gonokokken-Nährboden. 

Vorläufige Mittheilung 

von 

Dr. Steinschneider in Franzensbad. 

Meine durch ein Jahrzehnt eifrig fortgesetzten Bemühungen, 
einen leicht herzustellenden Gonokokken-Nährboden ausfindig zu 
machen, haben mich zu der Thatsache geführt, dass Gono- 

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No. 18. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


kokken auf einem Gemenge von Agar und Eidotter 
wachsen. 

Ich habe zu meinen Versuchen den Dotter zunächst aus 
Kiebitzeiern, in weiterer Folge aus Hühnereiern steril entnommen, 
mit der doppelten Menge sterilen Wassers gemengt, davon einen 
Theil mit zwei Theilen 2proc. Agar gemischt, in Röhrchen ge¬ 
gossen und schräg zum Erstarren gebracht, darauf mit Gono¬ 
kokken aus sicheren Reinculturen beschickt. Die nach 24 bis 
48 Stunden bei 37° ziemlich reichlich angegangenen Culturen glichen 
makroskopisch Gonokokken-Reinculturen. Präparate davon zeigten 
charakteristische, oft zu vieren liegende Diplokokken, welche 
sich nach Gram nicht färbten. Auf Serumagar übertragen, 
entwickelten sie sich zu charakteristischen Gonokokkenculturen, 
auf einfaches Agar übertragen, gingen sie nicht an. 

Leider aber ist dieser Nährboden mit einem Cardinaifehler 
behaftet, er ist undurchsichtig, was die Differenzirung der Co- 
lonien, speciell bei der zu diagnostischen Zwecken vorgenom¬ 
menen Anlage von ersten Culturen, erschwert. Diesen Fehler 
habe ich auf mannigfache Weise zu tilgen mich bemüht. Durch 
Zusatz von 10 pCt. Aetzkalilösung, später durch Zusatz einer 
20 proc. Lösung von Dinatriumphosphat bin ich diesem Ziele 
näher gekommen. Zuletzt habe ich einen wesentlich durch¬ 
sichtigeren Nährboden auf folgende Weise hergestellt: 

Ein Eidotter wurde mit der dreifachen Menge sterilen 
Wassers durch tüchtiges Schütteln vennengt. Von dieser Mi¬ 
schung wurden 20 gr mit 10 gr einer 20 proc. Dinatriumphosphat- 
lösung versetzt, hierzu die dreifache Menge, also 00 gr 2bis 
3 proc. Agar gethan, in Röhrchen gegossen und schräg zum Er¬ 
starren gebracht. Der so hergcstellte Nährboden hat die intensiv 
gelbe Farbe verloren, gleicht in der Farbe gewöhnlichem Agar, 
ist jedoch noch nicht ganz durchsichtig. Immerhin kann man 
darauf wachsende Culturen auf der spiegelnden Oberfläche leichter 
sehen und erkennen, als auf dem nicht geklärten Eidotteragar. 
Die Gonokokken gelangen darauf zum Wachsthum, 
ob man nun gonokokkenhaltigen Eiter oder Partikelchen einer 
Keincultur ausstreiche, nur ist das Wachsthum spärlicher 
als auf Serumagar oder nicht geklärtem Dotteragar. 

So unvollkommen diese Methode nun auch noch ist, so ist, 
meine ich, damit doch der Weg gezeigt, auf welchem man durch 
weitere Versuche zur Gewinnung eines leicht herzustellenden, 
tadellosen Nährbodens gelangen kann. Da es mir leider jetzt 
an Zeit zu diesen Versuchen fehlt, so glaubte ich, diesen Bericht 
über die bisherigen Ergebnisse meiner Untersuchungen veröffent¬ 
lichen zu sollen. 


V. Ueber die Wirkung der Sanguinalpillen 
bei Chlorose und verschiedenartigen Anämien. 

Von 

Dr. Wilhelm Heerlein, 
prakt. Arzt zu Bonn-Poppelsdorf. 

Zu keiner andern Zeit ist der Arzneimittelmarkt durch eine solche 
Hochfluth neuer Präparate überschwemmt worden, wie gerade in den 
letzten Jahren. Kaum eine Woche geht ins Land, in welcher nicht in 
der einen oder der anderen Fach- oder Zeitschrift irgend ein neues 
Heilmittel angepriesen wird. Und kein Theilgebiet wiederum der ganzen 
Arzneimittelkunde — ausgenommen vielleicht das der Antipyretica und 
Antineuralgica — weist eine solche Fülle und eine solche Auswahl 
neuer Präparate auf wie dasjenige, welches die Mittel umfasst, die dazu 
dienen, den durch Krankheit geschwächten und zerrütteten Organismus 
durch Einwirkung auf die Blutbildung und das Blutleben wieder zu 
kräftigen und neu zu beleben. Wie leicht fiir den Praktiker ans solcher 
Menge zu nehmen, aber wie schwer, das Richtige zu wählen, das Mittel 
zu treffen, welches die gehegten Erwartungen bestätigt und daB hält, 
was die Etikette verspricht. Dem praktischen Arzte ist es nicht mög¬ 
lich, ein jedes neue Heilmittel auf Beine Brauchbarkeit und Wirksamkeit 


hin zu prüfen, er wendet das Mittel an, von welchem die Beobachtungen 
Anderer Güte und Wirkung gewährleisten. 

Unter den Arzneien, welche in neuerer Zeit als heilkräftig bei 
Schwächezuständen, bei Anämie, Chlorose u. s. w. empfohlen wurden, 
kam vor wenigen Jahren ein Präparat unter dem Titel Pilul 2 e 
Sanguinali Krewel in den Handel. Auf Veranlassung des Herrn 
Prof. Finkler habe ich dies Präparat in der ihm unterstellten Inneren 
Station des Friedrich-Wilbelm-Hospitals in Anwendung gebracht und auf 
seinen thatsächlichen Werth geprüft. 

Die Pilulae Sanguinali Krewel unterscheiden sich von andern 
Eisenpräparaten vorzüglich dadnrch, dass sie Eisen und auch das viel 
energischer wirkende Mangan in derjenigen organischen Verbindung ent¬ 
halten, wie sie der Lebensprocess selbst im thierischen Organismus auf- 
bant, als reines Hämoglobin. Damit ist einmal eine möglichst grosse 
Resorptionsfähigkeit erreicht und anders eine überaus leichte Verdaulich¬ 
keit des Pillen bedingt. Sie sollen ausserdem in energischer Weise 
einen anregenden Einfluss auf den Appetit ausüben. Als weiteren Vorzug 
rühmt der Prospect den Gehalt an sämmtlichen im Blute vorkomroenden 
Mineralsalzen in natürlicher Form. Angesichts der Thatsache, dass die 
Salze an der Bildung verschiedener Organsysteme des menschlichen 
Körpers in hervorragendem Maasse betheiligt sind, dass ferner die 
Diffusion, durch welche die Nahrungsaufnahme der Elementarorganismen 
unseres Körpers, der Zellen, geschieht, nicht unwesentlich durch die 
nicht unwesentlich durch die Blutsalze beeinflusst wird, ist auch der 
Vortheil der Sanguinalpillen gerade durch ihren Gehalt an Blutmineral- 
salzen nicht zu verkennen. Als dritten Hauptbestandteil weisen die 
Pilulae Sanguinali endlich noch frisch peptonisirtes Muskelalbumin auf, 
welches neben seinem realen Werthe als Nährsubstanz noch durch 
energische Anregung der Secretion der Magendrüsen und der Darm¬ 
peristaltik appetiterregend wirken soll. 

Die procentuarische Zusammensetzung des Sanguinals entspricht 
genau der des normalen Blutes 

Hämoglobin 10 pCt., 

Natürliche Blutsalze 46 pCt., 

Peptonisirtes Muskelalbumin 44 pCt., 
und zwar soll eine jede der Sanguinalpillen die wirksamen Bestandteile 
von 5 gr Blut enthalten. 

Noch wird von den Fabrikanten die absolute Bacterienfreiheit ihres 
Präparates hervorgehoben. 

Einen weitgehenderen und bedeutsameren Vorzug aber sehe ich in 
der Art der Dispensirung, nämlich in Form dragirter Pillen. 

Was die Einnahme der Pillen angeht, so habe ich bei meinen sämmt¬ 
lichen Patienten beobachtet, dass sie die Pillen gern und ohne jeden 
Anflug des Unangenehmen oder gar mit Widerwillen nahmen. Die 
Pillen lassen im Munde einen leicht süsslichen Geschmack zurück, 
welcher von der Zuckerhülle herrührt; die Eigenart des Geschmackes 
des eigentlich wirksamen Präparates wird völlig verdeckt. In diesem 
Punkte geht das Sanguinal weit über die anderen Eisenmittel, welche in 
Pulverform oder in Gestalt von Tincturen, Liqueuren oder Weinen ein¬ 
genommen werden. Allen diesen haftet immer der mehr oder weniger 
unangenehme Geschmack des wirkenden Princips an. Mit den Sanguinal¬ 
pillen könnte man höchstens bei solchen Patienten in Verlegenheit 
kommen, welche nicht im Stande sind, Arzneimittel in Pillenform zu 
nehmen. Es ist nicht rätblich, die Pillenmasse in zerstossenem Zustande 
ohne ein Geschmackscorrigens oder eine den Geschmack verdeckende 
Hülle zu geben. Dem Sanguinal haftet nämlich ein bittcrsalziger, 
brenzlicher Geschmack an, welcher noch eine Zeit lang auf der Zunge 
nachwirkt. Es empfiehlt sich daher, die zerstossenen Pillen etweder in 
einer Oblatenhülle nehmen zu lassen, oder aber sie in einer den etwas 
unangenehmen Geschmack abstumpfenden und verdeckenden Flüssigkeit 
zu geben. Ich habe bei meinen Kranken die verschiedensten Flüssig¬ 
keiten durchprobirt und habe gefunden, dass Wasser, Milch, Kaffee, 
Thee (sogar Pfefferminzthee, nicht im Stande sind, dem Sanguinal seinen 
eigenthümlichen Geschmack zu nehmen, namentlich Wasser und Milch 
eignen sich nicht zu corrigirenden Mitteln. Sehr wohl anwendbar 
dagegen sind alle Spirituosen; schon in Rothwein ist Sanguinal sehr gut 
einnehmbar und ganz aufgehoben und verdeckt wird die Eigenheit seines 
Geschmackes durch Cognac und namentlich durch Rum. 

Um die Wirkung des Sanguinals in allen seinen Theilen zu erproben, 
habe ich dasselbe bei verschiedenen Erkrankungen zu verschiedener Zeit 
und in verschiedener Dosirung gegeben. Die Krankheiten waren fast 
ausschliesslich solche, bei welchen eine Regeneration des Blutsaftes 
wünschenswerth und nothwendig erschien. Sanguinal wurde gegeben bei 
Chlorose und Anämie, sowie Zuständen von Kräfteabnahme und Kräfte¬ 
verfall, die theils durch voraufgehende Organerkrankungen (Nephritis, 
chronische Typhlitis und Perityphlitis, Phthise), theils durch Neurasthenie 
und verwandte Krankheiten bedingt waren. Dabei habe ich das Mittel 
bald vor bald nach dem Essen nehmen, habe bald eine grössere, bald 
eine kleinere Menge Sanguinal einführen lassen. Ich habe beobachtet, 
dass die Pilulae Sanguinali sowohl vor wie nach dem Essen gut ver¬ 
tragen werden, dass sie keinerlei Störungen der Magen- und Darmver¬ 
dauung herbeifUhren und auch keine allzustrcnge Diät im Gegensatz zu 
vielen anderen Eisenmitteln erfordern. Am zweckmässigstnn will mir 
die Gabe vor dem Essen und zwar etwa eine Stunde vor dem Essen 
erscheinen, weil mir in vielen Fällen zu erkennen Gelegenheit war, dass 
die Pillen einen entschieden Appetit anregenden Einfluss ausübten. 

Was die Grösse des täglichen Pillen Verbrauchs angeht, so bin ich 
in den meisten Fällen auf 8—10 Pillen pro Tag gestiegen, in der ersten 


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S. Mal _ BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 381 


Zeit meiner Versuche allmählich, mit 3X1 Pille anfangend nnd in be¬ 
stimmten Zwischenräumen steigend; späterhin habe ich ohne jedweden 
schädigenden Einfluss auf Magen und Darm gleich mit der Dosis von 
8X3 Pillen pro Tag begonnen. 

Es scheint nicht zweckdienlich, die sämmtlichen Krankengeschichten 
im Einzelnen durchzuführen, da es diesen Bericht über das Gewollte 
verlängern und durch seine Einförmigkeit nur ermüdend auf den Leser 
einwirken würde. Ich begnüge mich deshalb, meine Erfahrungen im 
Ganzen mitzutheilen und nur hier und da einen Auszug aus einer oder 
der anderen Krankengeschichte zu geben. 

Die prompteste und beste Wirkung des Sanguinals habe ich bei 
Chlorose beobachtet. Es ist dies auch völlig in der Natur der Sache 
begründet. Wir müssen bei der Chlorose eine das Blutleben und die 
Blutbildung unmittelbar nnd direkt schädigende Krankheitsursache an¬ 
nehmen. Ob die blotbereitenden Organe ungenügend oder fehlerhaft 
arbeiten, aus welchem Grunde dies geschieht, ob andere Ursachen be- 
* stehen, dies alles ist noch völlig unbekannt. Eine ausgesprochene und 
erkennbare Organerkrankung ist jedenfalls nicht vorhanden. Hier sind 
also alle Mittel angebracht, welche auf das Blutleben und die Blut¬ 
bildung günstig einwirken; und hier ist der Hauptwirkungskreis für das 
Sanguinal. Im Vergleiche mit den früher im Friedrich-Wilhelm-Hospitale 
zu meiner Assistentenzeit angewandten Eisenmitteln habe ich gefunden, 
dass bei sonst gleicher Diät Sanguinal entschieden prompter und auch 
schneller wirkt. Sämratliche Erscheinungen der Chlorose bilden sich in 
kürzerer oder längerer Zeit — je nach der Schwere der Erkrankung — 
zurück. Interessant erscheinen mir einige schwerere Fälle, welche ich 
hier kurz mittheile. 

H. B., 2G Jahre alt, Dienstmädchen. Patientin fand am 4. Januar 
1894 Aufnahme in das Friedrich-Wilhelm-Hospital. Sie war vor zwei 
Monaten mit starkem Herzklopfen, ausserdem mit Husten und Heiserkeit 
erkrankt. Kopfschmerzen, Schwindel, Uebelkeit waren vorhanden. 
Abendliche Anschwellungen der Füsse und Beine traten ein. Patientin 
war während der 2 Monate ärztlich behandelt worden. Sie hat in 
früheren Jahren schon mehrmals an Chlorose gelitten. Bei der Auf¬ 
nahme in das Hospital klagte Patientin über Kopfschmerzen, allgemeine 
Ermattung und Abspannung, Uebelkeit, Schwindel und abendliche An¬ 
schwellungen der Fiisse und Beine. Patientin war sehr anämisch, Haut 
und Schleimhäute sehr blass. Ueber der Lunge kein anormaler Befund. 
Das Herz war nicht vergrössert. Die Herztöne an der Spitze nicht 
völlig rein, Uber dem Sternum und links von demselben ein leises 
systolisches Geräusch. Im Harn kein Albumen. Bei entsprechender Diät 
und Bettruhe erhält Patientin Blaud'sche Pillen. Bis zum 19. I. 94 
keine sonderliche Aenderung. Vom 19. ab werden Saoguinalpillen ge¬ 
geben. Nach 10 Tagen waren die subjectiven Beschwerden bedeutend 
verringert, der Appetit halte sich gebessert, abendliche Anschwellungen 
traten nicht mehr ein, die Geräusche über dem Herzen waren ver¬ 
schwunden. Am 5. II. wurde Patientin als arbeitsfähig entlassen. 

M. J., Fabrikarbeiterin, 17 Jahre alt, in das Hospital aufgenomraen 
am 21. III. 94. Klagt seit längerer Zeit über starke, anhaltende Kopf¬ 
schmerzen, Müdigkeit und Abgeschlagenheit, Unregelmässigkeit im Stuhl¬ 
gang. Die Untersuchung ergab: Haut und Schleimhäute 6ehr blass. 
Lungenbefund normal. Ueber dem Herzen, namentlich über der Herz¬ 
spitze ist ein deutliches systolisches blasendes Geräusch zu hören. 
Regelung der Diät, Bettruhe. Innerlich Tct. ferr. pom. mit Tct. amar. 
Bis zum 5. IV. keine wesentliche Aenderung. Vom 5. IV. ab Sanguinal- 
pillen und zwar zunächst dreimal täglich eine Pille. Schon am 11. IV. 
war eine Minderung der subjectiven Beschwerden zu constatiren. Doch 
waren alle Beschwerden noch vorhanden. Mit der Pillenanzahl wurde 
alle 2 Tage um eine gestiegen. Seit dem 25. IV. war keine Unregel¬ 
mässigkeit im Stuhlgang mehr vorhanden. Mattigkeit war noch da und 
ab und zu Kopfschmerzen. Das systolische Geräusch hatte an Stärke 
abgenommen. 20. V. Ausser selten auftretenden geringen Kopfschmerzen 
keine subjectiven Beschwerden mehr. Objectiv nichts mehr nach¬ 
weisbar. 

D. K., 25 Jahre alt. Klagt seit einiger Zeit über Kopfschmerzen, 
namentlich ein ausgesprochenes Hitzegefübl im Kopf, den Händen und 
Füssen, Müdigkeit und Abgeschlagenheit, Herzklopfen. Alle Symptome 
steigerten sich in den letzten Tagen derart, dass Patientin nicht mehr 
im Stande war, auch nur leichtere Arbeiten zu verrichten. Sie kam 
anfangs Februar in Behandlung. Die Gesichtsfarbe der Patientin 
wechselte, bald Blässe, bald Röthe. Die Schleimhäute, namentlich die 
Schleimhaut der Augenlider und des Mundes, waren sehr blass. An der 
Herzspitze war ein starkes sausendes Geräusch zu hören. Es war das 
ausgesprochene Bild einer starken Chlorose. An den Organen war nichts 
Abnormes nachweisbar. Neben der Allgemeinbehandlung wurde sofort die 
Sanguinalcur eingeschlagen. Es wurde mit dreimal zwei Pillen begonnen 
und nach kurzer Zeit auf dreimal drei Pillen gestiegen. Schon nach 
einer Woche trat Besserung ein und im Laufe eines Monates war Pa¬ 
tientin soweit wieder hergestellt, dass sie ihren schweren Dienst wieder 
aufnehmen konnte. Sämmtliche Symptome der hochgradigen Chlorose 
hatten sich zurückgebildet, die Schleimhäute zeigten Röthe und gute 
Injection, der Kopfschmerz, die Ermattung waren vorüber, ein Geräusch 
am Herzen nicht mehr nachweisbar. Gerade bei dieser Patientin habe 
ich die stark appetitanregende Eigenschaft des Sanguinals recht kennen 
gelernt. Schon nach der ersten Woche hob sich der Appetit zusehends 
und Patientin erklärte oft ohne Befragen, dass sie nach Einnahme der 
Pillen immer regen Appetit verspüre. Nach Jahresfrist kam dieselbe Pa¬ 
tientin, welche nach Aufhören der Beschwerden die Pillen nicht mehr 


genommen hatte, mit gleichen Beschwerden, jedoch in weit geringerem 
Maasse, abermals in Behandlung. Auch diesmal gab die Sanguinalcur 
die gewünschte und erwartete Wirkung. 

Einen ähnlichen Erfolg des Sanguinals wie bei Chlorose habe ich 
bei denjenigen Anämien und Schwächezuständen gesehen, welche 
durch Organerkrankungen bedingt waren. Auch hier wirkte das Sanguinal 
durch Regeneration des Blutes bessernd auf das Allgemeinbefinden durch 
Hebung der Kräfte nnd des Ernährungszustandes ein. Es ist klar, dass 
die Wirkung nicht so schnell eintrat wie bei der Chlorose, denn in 
manchen Fällen, in vielen sogar, gelingt es nicht, den Urkeim der 
Krankheit zu entfernen, aber immerhin ist es uns doch gegeben, die 
schlimmsten Folgen, Ermattung und Siechthum, hintanzuhalten, oder 
wenigstens an schneller Entwickelung zu hindern. Die 8anguinalpillen 
müssen in diesen Fällen längere Zeit angewandt werden, ehe die deut¬ 
liche Wirkung eintritt, aber diese erfolgt fast stets. 

Bei einigen Fällen von Nephritis hat sich mir das Mittel sehr gut 
bewährt. Ich berichte die Krankengeschichten im Auszug. 

A. S., 15 Jahre alt. Seit einem Jahr an Nephritis krank. Kommt 
mit Oedem der Extremitäten, des Gesichts, des Halses, Ascit ins 
Hospital. Die Athembeschwerden sind gering, der Appetit ist schlecht. 
Im Harn reichlich Albumen und Cilinder. Das Herz mässig vergrössert, 
Puls frequent, über 100 in der Minute, schwach. Kein Fieber. Harn¬ 
menge anfangs etwa 1000 ccm oder wenig darüber. Therapie: Digitalis 
und Bäder. Nach 14 Tagen Sanguinalpillen, welche aber nach eiuigen 
Tagen anhaltender Diarrhoeen halber wieder ausgesetzt wurden. Wie 
sich späterhin herausstellte, waren die Diarrhoeen nicht durch die 
Sangninalpillen bedingt, sie traten auch bei anderen Arzneimitteln oder 
vielmehr ganz unabhängig von den Mitteln ein. Die Harnmenge hatte 
inzwischen zugenommen, die Oedeme waren geringer geworden, zum 
Theil schon ganz geschwunden. Versuchsweise wurde noch Liq. ferr. 
sesquichlor. und späterhin Tct. ferr. pom. mit Tct. amar. angewandt, 
ohne den Allgemeinzustand zu bessern, die Kräfte zu heben. Jetzt 
wurde abermals zum Sanguinal gegriffen, welches auch seine Wirkung 
nicht versagte. Der Appetit wurde angeregt, die Verdauung regelte 
sich, das Herz wurde kräftiger, die Pulszahl ging herab. Nach fünf¬ 
wöchentlichem regelmässigen Sanguinalverbrauch (ausser Bädern ab und 
zu wurde keine Medication getroffen) konnte Patientin entlassen werden 
befreit von ihren subjectiven Leiden; doch war freilich im Harne immer 
noch eine geringe Menge Eiweiss nachweisbar. Patientin hat, wie sie 
mir späterhin (7 Wochen nach ihrer Entlassung aus dem Hospitale) 
mittheilte, noch 3 Gläser der Sanguinalpillen genommen; es geht ihr 
„recht gut, sie isst leden Tag tüchtig und ist kräftiger geworden“. Ich 
habe ihr gerathen, die Pillen noch eine Zeit lang fortzunehmen. Wie 
sie mir mittheilt, enthält der Harn noch 0,6 pCt. Eiweiss. 

Frau B., 32 Jahre, wird an einer acuten Nephritis erkrankt, in das 
Hospital aufgenommen. Mit Bädern, Fol. uv. urs., Salzsäure wurde sie 
behandelt ohne eine merkliche Besserung des Kräftezustandes zu er¬ 
zielen. Nach 10 Tagen wurde anstatt der Salzsäure Sanguinal gegeben 
und zwar sofort dreimal drei Pillen täglich. Seit der Zeit deutliche 
Besserung des Appetits und bald auch des Allgemeinbefindens und der 
Kräfte. Patientin konnte nach 3 Wochen als geheilt entlassen werden. 

Meine Erfahrung über Sangninalwirkung bei durch Phthise bedingten 
Kräfteverfall ist anher gering, da ich durch Anwendung dieses Mittels 
andere therapeutische Maassnahmen, welche wir im Hospitale versuchs¬ 
weise bei Phthise getroffen hatten, in ihrer Wirkung nicht trüben wollte. 
Auffallend aber fand ich die appetiterregende Kraft der Pillen in einem 
Fall von Phthise, bei welchem ich aus verschiedenen Gründen die durch¬ 
geführte Tuberculininjectionscur unterbrechen musste und den Patienten 
mit Sanguinal, und zwar in der Verbindung des Sanguinals mit Gugjacol 
behandelte. Schon nach wenig Tagen hob sich der Appetit und das 
Allgemeinbefinden in hohem Grade, nnd ich neige zu der Ansicht, die 
durch meine früheren Erfahrungen bestätigt wird, dass diese Wirkung 
viel mehr auf Kosten des Sanguinals denn des Guajacols zu setzen sei. 
Der Ansicht, die allgemeine Besserung sei durch Aussetzen der Tuber- 
culinbehandlung erfolgt, kann ich nicht Raum geben, da Patient sich 
während dieser Cur stetig wohler gefühlt und eine Kräftezunahme auch 
hierbei erfolgt war. 

Die in letzter Zeit begonnenen Versuchsreihen mit Guajacol- 
Sanguinal (dargestellt auf Anregung Prof. Finkler’s) und mit 
Kreosot-Sanguinal sind noch nicht sowoit gediehen, um hierüber 
einen endgültigen Bericht geben zu können, Jedoch will mir aus den 
wenigen mit diesen Präparaten behandelten Fällen dünken, dass eine 
weitere Prüfung wohl angebracht und auch weiteren Kreisen anzurathen 
sei. Ich erachte eine Verbindung des Sanguinals gerade mit diesen 
Mitteln für eine überaus günstige und werthvolle, da die Erkrankungen, 
gegen welche Guajacol und Kreosot angewandt werden, fast durch¬ 
gängig mit einer Herabsetzung der Gesammternährung und einer mangel¬ 
haften Blutbildung einhergehen und eine Hebung des Allgemeinbefindens 
gleicher Zeit mit einer energischen Einwirkung auf den Urgrund der 
Krankheit wohl die günstigsten Resultate erzielen muss. 

Einen so deutlichen und in die Augen fallenden Erfolg des 
Sanguinals wie bei den vorbesprochenen Krankheitsbildern habe ich bei 
der durch Neurasthenie oder verwandte Krankheiten bedingten 
Abnahme d*r Kräfte nicht constatiren können. Wohl habe ich in den 
beiden von mir mit Sanguinal behandelten Fällen eine Stärkung der 
Herzkraft beobachtet, doch lässt sich die volle Wirkung einmal deshalb 
nicht erzielen und klar erkennen, weil die Variation der subjectiven 
Beschwerden öfters eine andere Medication nebenher nöthig macht, 

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382 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 18. 


anders auch, weil mit den Klagen der Patienten öfters der objective 
Befand nicht in Einklang zu bringen ist. Ich halte es für berechtigt, 
auch in diesen Fällen das Sanguinal unentwegt weiter anzuwenden, 
auch wenn der Erfolg nicht gleich in den ersten Tagen sich zu er¬ 
kennen giebt. 

Um zu untersuchen, ob die gemachten klinischen Erfahrungen 
gleicher Zeit eine Bestätigung durch den mikroskopischen Befund er¬ 
hielten, habe ich in zwei Fällen des öfteren Blutproben entnommen und 
die rothen Blutkörperchen auf ihre Anzahl, Gestalt und Farbe hin unter¬ 
sucht. Es handelte sich um zwei ganz ▼erschiedene Erkrankungen; 
einmal um eine sehr stark ausgeprägte ChloroBe, das andere Mal um 
eine secundäre Anämie nach Anchylostomum duodenale. 

Nach dem jetzigen Stand der Wissenschaft war nicht zu erwarten, 
dass bei der ChloroBe eine Verminderung der Anzahl der rothen Blut¬ 
körperchen constatirt werden würde. Die gegenteilige Ansicht, nämlich 
dass die Chlorose, wenigstens die schwereren Krankheitsfälle derselben, 
oder wie Laache sich ausdrückt die „Chlorose xar 'iGorf*,“ Btets mit 
einer Verminderung der rothen Elemente des Blutes einhergehe, 
wurde früher von Welker, Duncan, Sörensen, Laache vertreten. 
Diese Frage ist jedoch im letzten Jahrzehnt und zwar wohl hauptsäch¬ 
lich durch Graeber in anderer Weise gelöst. Er trennt scharf die 
Fälle reiner Chlorose, welche keine Verminderung der rothen Blut¬ 
körperchen aufweisen, von solchen nicht reiner Chlorose, bei denen die 
Anzahl der rothen Blutelemente zum Theil bedeutend herabgemindert ist. 
Bei diesen Letzteren handelt es sich aber entweder um secundäre Anämien 
oder um Chlorosen, die durch irgend welche andere complicirenden Organ¬ 
erkrankungen oder durch Störungen in der Ernährung in Anämien sich ge¬ 
wandelt haben. Sein Hauptbefund war, dass „bei der echten Chlorose 
die Blutkörperchenzahl sich im Bereich des Normalen bewegt.“ Diese 
Ansicht bat späterhin anderweitige Vertreter und Bestätiger gefunden. 

Bei dem von mir zur Untersuchung benutzten Falle handelte es 
sich um eine reine Chlorose stärksten Grades. E. S., 24 Jahre alt, 
Dienstmädchen, wurde Ende December 94 in das Friedrich-Wilhelm- 
Hospital aufgenommen. Patientin klagte Uber allgemeine Mattigkeit und 
Müdigkeit, öftere Kopfschmerzen, Unlust und Unfähigkeit zu jeder 
schwereren Arbeit, abendliches Anschwellen der Füsse, Herzklopfen. 
Der Appetit war sehr schlecht, der Stuhlgang regelmässig. Die Men¬ 
struation trat früher alle 4 Wochen ein und dauerte 8 Tage an. In 
den letzten Monaten vor der Aufnahme in das Hospital menstruirte Pa¬ 
tientin alle 6 Wochen ebenfalls mit achttägiger Dauer. — Der objective 
Befand ergab starke Blässe der Haut und der sichtbaren Schleimhäute, 
Oedem an den Füssen. Am Herzen war ein deutliches systolisches 
blasendes Geräusch zn hören. — Als Therapie erhielt Patientin Sauguinal- 
pillen und zwar zunächst dreimal täglich eine, späterhin dreimal täglich 
zwei und von dem Tage meiner ersten mikroskopischen Blutuntersuchung 
ab 10 Sangninalpillen täglich. 

Die erste Blutuntersuchung machte ich am 23. Januar 1895 und 
zwar mit Hülfe des Thoma-Zeiss'sehen Zählapparates. Ich luge hier 
gleich ein, dass die Zählungen stets zur selben Tageszeit gemacht und 
stets 200 Felder der Kammer gezählt wurden. Nach Abzählung von 
200 Feldern erhielt ich als Zahl der rothen Blutkörperchen in einem 
Cubikmillimeter 5180 000. Es war ein mannigfach gestaltetes Bild, 
welches ich im Mikroskop erblickte. Die Gestalt der rothen Blutkörper¬ 
chen war ausserordentlich verschieden. Grosse Blutkörperchen wechselten 
ab mit kleinen; zwischen Makro- und Mikrocyten lagen Poikilocyten 
der verschiedensten Formen. Die Farbe der Zellen war blassgelb. 
Nach 14 Tagen wiederholte ich die Zählung, fand jetzt als Anzahl der 
rothen Blutkörperchen in einem Cubikmillimeter 5 052 000. Abweichend 
von den bei der vorigen Zählung constatirten Verschiedenheiten in Grösse 
nnd Gestalt der einzelnen Blutzellen konnte ich jetzt nur mehr grössere 
und kleinere Blutzellen scheiden, jedoch war der Unterschied lange nicht 
mehr so in die Augen fallend, wie bei der ersten Untersuchung. Poi¬ 
kilocyten waren nur spärlich vorhanden. Die Farbe der Zellen hatte 
sich nur wenig geändert. Das Resultat der dritten Zählung — 3 Wochen 
nach der zweiten — war 4 542 000 rothe Blutkörperchen auf 1 emm 
Blnt. Wie im normalen Blute, zeigten sich nur geringe Abweichungen 
der einzelnen Zellen in Gestalt und Grösse. Auch die Farbe war nur 
wenig blasser als die der normalen rothen Blutkörperchen. (Ich benutzte zum 
vergleichenden Versuch eine Probe meines eigenen Blutes. Eine genaue 
Hämoglobinbestimmung konnte ich leider nicht ausführen, da mir hierzu 
die nöthigen Instrumente nicht zu Gebote standen.) Interessant bei dem 
Vergleich der 3 Zählungen ist, dass mit der Rückbildung des Blutes zur 
Norm die Zahl der rothen Blutkörperchen sich allmählich verminderte, 
dabei aber die Gestalt und Grösse, sowie auch die Färbung der ein¬ 
zelnen Zellen eine grössere Regelmässigkeit annahmen. Ueberhaupt 
entspricht ja auch die Zahl der letzten Untersuchung eher dem normalen 
als die der vorhergehenden. — Dem mikroskopischen Befunde ent¬ 
sprechend waren auch die subjectiven und objectiven Krankheitssym¬ 
ptome znrückgegangen. Kopfschmerz nnd Mattigkeit sind verschwunden 
und von der Patientin selbst wird ein reger, guter Appetit hervorgehoben. 
Die Blässe der Haut und der Schleimhäute hat einer gesunden Farbe 
nnd zarten Röthung Platz gemacht, das Herzklopfen, das systolische Ge¬ 
räusch an der Herzspitze hat anfgehört, Anschwellungen der Füsse sind 
nicht mehr nachzuweisen. Die Menstruation trat erst nach einer 2 monat¬ 
lichen Pause wieder ein. 

Der zweite von mir mikroskopisch untersuchte Fall betraf, wie 
schon vorbemerkt, eine durch Anchylostomum duodenale bedingte secun- 
däre Anämie. J. S., 34 Jahre alt, wurde am 24. Januar 1895 in das 


HoBpital aufgenommen. Patient hat früher als Ziegelbäcker gearbeitet. 
Er erkrankte im Juni 1894 unter den Symptomen Mattigkeit, Leib- 
schmerzen, Durchfälle; wurde zunächst 12 Wochen im Elberfelder 
Krankenhause behandelt. 4 Wochen nach seiner Entlassung erkrankte 
er abermals unter den gleichen Symptomen. Er befand sich dann 
6 Wochen im Kaiserswerter Krankenhause in Pflege. Er wurde dort 
„wegen Blutarmuth durch Eingeweidewürmer (Anchylostomnm duodenale)“ 
behandelt. Parasiteneier wurden im Stuhlgang nach Abgang von etwa 
300 Würmern nicht mehr gefunden. Patient hat während der 6 Wochen 
12 Pfund an Gewicht zugenomraen. Bei Beiner Aufnahme in das üospital 
klagte Patient über Schwäche und Athemnoth beim Gehen. Appetit 
nnd Stuhlgang waren in Ordnung, Herzklopfen nicht vorhanden. Oefters 
trat Anschwellung der Füsse und Beine auf. Starke Anämie der Haut 
und der sichtbaren Schleimhäute. Gesicht etwas gedunsen, Farbe gelb¬ 
lich. An der Herzspitze ein leichtes systolisches Geräusch, sonst kein 
objectiver Befund. Eier von Anchylostomum duodenale konnten (nach 
Calomeleinnahme) diesseits im Stuhle nicht mehr nachgewiesen werden. * 
Pat. erhielt zunächst Pil. Bland., später — nach der ersten mikroskopi¬ 
schen Untersuchung — Sanguinalpillen und zwar täglich 10 Pillen. Die 
am 1. Februar vorgenommene Zählung ergab das Resultat: 8 044 000 
rothe Blutkörperchen in 1 emm Blut. Die Zellen waren regelmässig 
aber noch blasser in der Färbung, wie die der vorerwähnten Chlorose. Eine 
Woche später zählte ich 3268000 und nach abermals 8 Tagen 8934000. Im 
Vergleich mit der Farbe meines eigenen Blutes war auch bei der letzten Zäh¬ 
lung immerhin eine deutliche Hellerfärbung noch vorhanden. Weitere 
Zählungen konnte ich nicht mehr vornehmen, da Patient, der Bich völlig 
wohl fühlte nnd auch thatsächlich ein bedeutend besseres Aussehen auf¬ 
wies, bald darauf auf sein eigenes Verlangen hin entlassen wurde. Die 
Anschwellungen an den Füssen waren in der letzten Zeit nicht mehr 
aufgetreten, das systolische Geräusch an der Herzspitze nicht mehr nach¬ 
weisbar. 

Die mikroskopische Untersuchung hat in etwa die gemachten klini¬ 
schen Erfahrungen der Sanguinaltherapie bestätigt. Die auffallende Ver¬ 
minderung der rothen Blutkörperchen bei der Chlorose nach Aufnahme 
der Pillen wurde vollauf durch die regelmässigere Gestaltung nnd bessere 
Färbung der einzelnen Zellen aufgewogen. Bei dem 2. Fall, der seeun- 
dären Anämie, spricht die Vermehrung der Blutkörperchen für sich 
selbst. 

Ich fasse zum Schlüsse noch einmal die Eigenschaften der San¬ 
guinalpillen in Kürze zusammen, wie ich dieselben durch persönliche 
Erfahrung kennen gelernt habe. Die Sangninalpillen werden von 
den Patienten durchweg gern genommen, da dieselben höchstens einen 
leicht süsslichen Geschmack, durch die Umhüllung bedingt, im Munde 
zurücklassen. Sie gewährleisten infolge ihrer Zusammensetzung eine 
grosse Resorptionsfähigkeit, sind leicht verdaulich und gut 
verträglich. Nie habe ich in allen von mir beobachteten Fällen 
irgend welche Magen- oder Darmbeschwerden nach Einnahme der Pillen, 
mag diese vor oder nach der Mahlzeit erfolgt sein, gesehen. Sie wirken 
im Gegentheil sehr appetitanregend und sind aus diesem Grunde <ür 
die Hebung des Allgemeinbefindens nnd Stärkung der Kräfte ein gutes 
Mittel, noch mehr aber weil sie direct, wie auch die mikroskopische 
Untersuchung des Blutes nachweist, durch Aufbesserung der Blut¬ 
verhältnisse wirken und diese Wirkung bei ihnen prompter and 
schneller eintritt, wie bei den mir bekannten anderen Eisenmitteln. Das 
Sanguinal ist daher für den weitgehendsten Gebrauch zu empfehlen, vor 
allem bei Chlorose, dann aber auch bei allen Krankheiten, welche mit 
einer Verschlechterung der Blutmischung und einer Herabsetzung des 
Kräftezustandes einhergehen. 


VI. Kritiken und Referate. 

Franz Windscheid (Leipzig): Neuropathologie nnd Gynäkologie. 
Eine kritische Zusammenstellung ihrer physiologischen und 
pathologischen Beziehungen. Berlin 1897. S. Karger. Laden¬ 
preis 3 M. 127 Seiten. 

Die Wechselbeziehungen zwischen Genitalleiden und allgemeinen 
nervösen Erkrankungen haben von je her eine grosse Rolle in der Gy¬ 
näkologie gespielt. Leider sind und werden diese Beziehungen nur zu 
häufig nicht genügend beachtet. Dies führt dann dazu, dass oft Organe 
fortgenommen werden, welche nur scheinbar der Sitz der Erkrankung 
sind, während es sich in Wirklichkeit um allgemeine Nervenerkrankungen 
handelt. Es ist darum höchst verdienstvoll von Windscheid gewesen, 
diese ausserordentlich schwierige Materie in so objectiver und klarer 
Weise zur Darstellung zu bringen, wie er es in dem vorliegenden Buche 
gethan hat. Wenn man daraus sieht, wie schon die normalen Functionen 
des Weibes — Menstruation und Gravidität — einen enormen Einfluss 
auf nervöse Erkrankungen haben können, um wie viel mehr, wenn es 
sich um pathologische Verhältnisse handelt. 

Warum Verf. unter Amenorrhoe nur das Auf hören der schon nor¬ 
maler Weise vorhanden gewesenen Menstruation verstanden wissen will, 
ist mir nicht recht klar. Denn die Gynäkologen bezeichnen doch als 
amenorrhoisch auch solche Frauen, welche niemals die Menstruation ge¬ 
habt haben. Auch bei diesen stellen sich oft hochgradige nervöse Be¬ 
schwerden heraus. Zu den Beobachtungen über Amenorrhoe bei Ver- 


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3. Mal 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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giftungen möchte Ref. sich erlauben, noch eine eigene Beobachtung 
hinzuzufiigen, deren Vorkommen, wie es scheint, bisher nicht bekannt 
ist. Nach einer einmaligen acuten Atropinvergiftung trat bei einer schon 
vordem hysterischen Frau, welche aber immer an starken Blutungen ge¬ 
litten hatte, Amenorrhoe auf. Es entwickelten sich im weiteren Verlauf 
schwere nervöse Erscheinungen. Die Menstruation ist nicht wieder¬ 
gekehrt, obschon der Beginn der Erkrankung gegen 6 Jahre zurückliegt. 
Vielleicht führt diese Bemerkung dazu, nach dieser Richtung hin weitere 
Nachforschungen anzustellen. Was die Schlussbemerkungen des Herrn 
Verfassers über die Beziehungen zwischen der Therapie der weiblichen 
Genitalien und Erkrankungen des Nervensystems betriflt, so können wir 
denselben nur voll und ganz zustimmen. Mögen nur die von Wind¬ 
scheid mitgetheilten Thatsachen in recht weite Kreise der Gynäkologen 
und der praktischen Aerzte dringen; dann wird hoffentlich die vielfach 
betriebene Polypragmasie, wie sie sich in dem Pinseln der Portio, in 
der operativen Behandlung vieler Fälle von Retroflexio Uteri u. a. breit 
macht, immer mehr an Boden verlieren. 

Darum kann die Lectüre des vorliegenden Buches, auf dessen 
weitere Einzelheiten bei der enormen Fülle des Stoffes hier nicht näher 
eingegangen werden kann, den Facbgenossen und den praktischen 
Aerzten nicht warm genug empfohlen werden. 


J. Clarence Webster, B. A., F. R. C. P., Edinburgh: Die ekto¬ 
pische Schwangerschaft. Ihre Aetiologie, Classification, 
Embrjologie, Symptomatologie, Diagnose und Therapie. 
Deutsch von Dr. Arnold Eiermann, Frankfurt a. M. Berlin 
1896. S. Karger. Mit 15 Abbildungen im Text und 22 lithogra- 
phirten Tafeln. 220 Seiten. Ladenpreis 10 M. 

Wohl selten hat eine Erkrankung in verhältnissmässig kurzer Zeit 
nach jeder Richtung hin eine so ausgiebige Bearbeitung gefunden, wie 
die ektopische Schwangerschaft. Bis vor zwei Decennien wenig bekannt, 
gehört diese Anomalie jetzt, ich möchte fast sagen zu den täglichen 
Vorkommnissen der grossen gynäkologischen Kliniken und ist in ihren 
Einzelheiten so genau studirt, dass nunmehr ein bestimmter Abschluss 
erreicht ist. Es war darum sehr an der Zeit, die zahlreich zerstreuten 
Arbeiten in einer Monographie zu sammeln, zumal wenn man noch so 
viele eigene Erfahrungen in theoretischer und praktischer Beziehung 
hinzufügen konnte, wie dies Webster bei dem grossen Material der 
Edinburger Klinik thun konnte. Die Arbeit ist ausgezeichnet und ver¬ 
dient von jedem Fachgenossen Btudirt zu werden. Da nicht einem jeden 
die englische Sprache geläufig ist, so ist die von Eiermann besorgte 
deutsche Uebersetzung besonders freudig zu begrüssen, zumal dieselbe 
sich sehr fliessend liest, ohne darum von dem englischen Original abge¬ 
wichen zu sein. Die in der deutschen Ausgabe alphabetisch zusammen¬ 
gestellte Literaturangabe erleichtert das Nachschlagen der Literatur 
wesentlich. Im Einzelnen möchte ich auf das sehr interessante Capitel 
der Geschichte der ektopischen Schwangerschaft, sowie auf die ent¬ 
wickelungsgeschichtlichen Daten hinweisen. Beides ist vorzüglich dar¬ 
gestellt. Bei der Besprechung der Ruptur einer Tubenschwangerschaft 
in die Bauchhöhle, begleitet von acuten Symptomen in Folge Blutver¬ 
lustes, Shock etc., wäre doch eine grössere Ausführlichkeit am Platze 
gewesen, insbesondere hätte auch die unter Umständen mit Erfolg 
durchzuführende conservative Behandlung eine eingehende Besprechung 
erfahren müssen. Es wäre wünschenswerth, wenn dies bei einer neuen 
Auflage des Buches, das sich nach Ansicht des Ref. bald viele Freunde 
erwerben wird, berücksichtigt würde. Bei dem ungemein häufigen Vor¬ 
kommen der ektopisehen Schwangerschaft sollte sich auch der praktische 
Arzt mit den Einzelheiten dieser Erkrankung vertraut machen, und wir 
können auch ihm dieses Werk bestens empfehlen. Die Ausstattung ist 
vortrefflich; die im Text befindlichen Holzschnitte lassen mitunter an 
Deutlichkeit zu wünschen übrig und sollten bei der zweiten Auflage 
durch andere ersetzt werden. 


Ernst FrSnkel (Breslau): Tagesfragen der operativen Gynäkologie. 
Beobachtungen nnd Ergebnisse der operativen Thätlgkeit in 
den Jahren 1893—1890. Wien und Leipzig. Urban und 

Schwarzenberg. 1896. 180 Seiten. Ladenpreis 3 M. 

Wenn F. in dem Vorwort sagt, dass seine Zahlen zu klein sind, 
um nach irgend einer Richtung beweiskräftig zu sein, so muss dem ent¬ 
gegengehalten werden, dass nicht immer die grosse Zahl der Operationen 
das Ausschlaggebende ist, sondern die objective, kritische Beurtheilung 
dieses oder jenes Verfahrens. Und gerade nach dieser Richtung hin ist 
das vorliegende, von dem auf reiche Erfahrung zurückblickenden und 
von Beinen anderen Arbeiten her rühmlichst bekannten Breslauer Gynä¬ 
kologen verfasste Werk ein äusserst werthvoller Beitrag zu den augen¬ 
blicklich schwebenden Tagesfragen der operativen Gynäkologie. In 
klarer Darstellung werden die Hauptoperationen an der Hand der von 
F. in den letzten Jahren operirten Fälle besprochen. Die weise Mässi- 
gung, welche sich der Verf. beim Operiren auferlegt, ergiebt sich be¬ 
sonders aus der Zahl der Adnexoperationen und der gegen Retroflexio 
ausgeführten Operationen. Wenn Verf. sagt (pag. 31): „Man ist oft 
erstaunt, bis faustgrosse, ein- und doppelseitige Tumoren, sei es nach 
geduldiger, wochenlanger Behandlung, sei es, dass die Patienten Monate 
und Jahre lang nicht zur Untersuchung gekommen waren, ohne jeden 
Eingriff verschwinden gesehen zu haben“, so kann Ref. diesem Aus¬ 
spruche nur voll und ganz beistimmen. Man muss nur wünschen, dass 
die Tbatsache dieses spontanen Zurückganges, selbst grosser Adnex¬ 


tumoren in immer weitere Kreise dringen möge, damit auch der Prak¬ 
tiker daraus sieht, dass nicht immer gleich zum Messer gegriffen zu 
werden braucht. Auch das über die Abortbehandlung Gesagte ist in 
hohem Grade beherzigenswerth. 

Nur mit einer im Vorwort ausgesprochenen Ansicht des Verf. kann 
sich Ref. nicht einverstanden erklären. Dort heisst es: „Eine Privat¬ 
anstalt kann und soll nicht neue Methoden ausprobiren; ihr gebietet sich 
von selbst ein vorsichtiger Eklekticismus.“ Allerdings sollten die neuen 
Methoden in erster Linie von den grossen Kliniken ausgehen. Betrachten 
wir aber die Entwickelung der modernen Gynäkologie, so muss man ge¬ 
stehen, dass die Anregung zu den meisten neueren operativen Eingriffen, 
welche bahnbrechend und für die Behandlung vieler gynäkologischer Er¬ 
krankungen vollkommen umwälzend geworden sind, gerade aus Privat¬ 
kliniken hervorgegangen sind. 

Abel. 


B. Sachs (Professor der Nervenheilkunde an der New York Polyclinic): 
Lehrbach der Nervenkrankheiten des Kindesalters. Für Aerzte 
und Studirende. Ins Deutsche übertragen von Dr. B. Onuf- 
Onufrowicz. Mit 126 Abbildungen und 1 lithogr. Tafel. 
Leipzig u. Wien 1897. 

Das in englischer Sprache vor 2 Jahren erschienene Lehrbuch der 
Nervenkrankheiten des Kindesalters von Sachs liegt jetzt in einer aus¬ 
gezeichneten deutschen Uebersetzung vor. Als Einleitung zu den Krank¬ 
heiten des Rückenmarks und des Gehirns ist eine kurze Beschreibung 
der anatomischen Verhältnisse an der Hand von Abbildungen gegeben 
(Capitel 14 und 25). Auch die physiologischen Verhältnisse sind hier 
referirt, so die Lehre von den Grosshirncentren. Die verschiedenen 
Theorien der Aphasie sind ausführlich auseinandergesetzt. 

Bei der Behandlung des Stoffes sind nicht nur die Neurosen und 
Psychosen, welche dem Kindesalter eigenthümlich sind, berücksichtigt, 
sondern auch die Krankheiten des Nervensystems, welche in allen Lebens¬ 
altern auftreten (syphilitische Affectionen, Meningitis, Manie u. s. w.), 
sind herangezogen. 

In der Einleitung werden die Untersuchungsmethoden besprochen 
(Schädelmessung, Prüfung von Gewicht, Gehör und Sensibilität). Hier 
findet sich auch eine ausführliche, übersichtliche Tabelle der Functionen 
und Innervirung der einzelnen Muskeln mit Angabe der Krankheiten, 
bei denen diese Muskeln gewöhnlich affleirt sind, daneben die bekannten 
Abbildungen der motorischen Punkte und des Ausbreitungsgebietes der 
sensiblen Nerven. 

Im ersten Theil werden die allgemeinen Nervenkrankheiten behan¬ 
delt (Eklampsie, Epilepsie, Hysterie, Chorea, Tetanus, Tetanie, Mi¬ 
gräne u. s. w.). 

Der zweite Theil beschäftigt sich mit den organischen Erkrankungen 
des Nervensystems. Zuerst werden die Krankheiten der peripheren 
Nerven (Geburtslähmung, Bell'sche Lähmung, multiple Neuritis), dann 
die Krankheiten des Rückenmarks (spinale Kinderlähmung, acute Myelitis 
u. 8. w.) besprochen. Hier findet sich auch (Capitel 14) eine tabella¬ 
rische Zusammenstellung der Localisation der Muskeln in den einzelnen 
Rückenmarkssegmenten und der zugehörigen Reflexe. In den letzten 
10 Capiteln sind die Krankheiten des Gehirns behandelt (Hydrocephalus, 
cerebrale Kinderlähmung, Tumoren, Abscesse, Missbildungen, Psychosen 
u. 8. w.). 

Im Anhang werden einige therapeutische Bemerkungen gegeben. 

Die Darstellung ist knapp und verständlich; die einzelnen Krank¬ 
heitsbilder werden durch eine grosse Anzahl guter photographischer 
Aufnahmen veranschaulicht. Auch auf die pathologisch-anatomischen 
Verhältnisse wird vielfach eingegangen. Die Aussstattung ist gut. 

—e. 


VIL Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. 

Berliner medlcinlache Gesellschaft. 

Sitzung vom 31. März 1897. 

Vorsitzender: Herr Senator. 

Schriftführer: Herr Hahn. 

Es ist an die Gesellschaft ein Schreiben eingegangen von dem enge¬ 
ren Ausschuss für Errichtung eines Johannes Müller-Denkmals, worin ge¬ 
beten wird, den Aufruf, von dem hier zwei Exemplare für die Mitglieder 
vorliegen, zu vertheilen, mit der Bitte, sich an den Denkmalsbeiträgen 
zu betfaeiligen. 

Hr. B. Fraenkel: Ich möchte in Anregung bringen, ob es nicht 
angezeigt wäre, auch aus unserer Kasse für dieses Denkmal etwas zu 
geben. Ich glaube, dass die Aeltercn unter uns Niemandem so zu Dank 
verpflichtet Bind, wie gerade diesem hochverdienten Forscher. Es han¬ 
delt sich also nicht allein darum, dass man die wissenschaftliche Bedeu¬ 
tung desselben im Allgemeinen ehrt, sondern auch die Verdienste um 
eine ganze Reihe von Männern, die hier in der Gesellschaft noch thä- 
tig sind. 

8 * 


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384 BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. No. 18. 


Vorsitzender: Der Vorstand wird über diesen Antrag das Nähere 
beratben. Indessen hindert das nicht, dass Einzelne sich an der Samm¬ 
lung schon jetzt betheiligen. Die Liste wird bei Herrn Anders ausge¬ 
legt werden. 

Vor der Tagesordnung. 

Hr. B. Holz: Ich wollte mir erlauben, an diesem Patienten, aller¬ 
dings mit aller Reserve für die Diagnose, einen Fall von primärem 
syphilitischen Affect der linken Tonsille vorzustellen. Auf der linken 
Tonsille ist ein grosses, speckiges Geschwür mit stark infiltrirtem Rande 
und ausserdem eine sehr geringe Infiltration der linken Halsdrüsen zu 
sehen. Sonstige syphilitische Erscheinungen am Körper sind nicht zu 
beobachten, insbesondere nicht eine Narbe am Penis. 

Hr. Zondek: Ich erlaube mir, Ihnen ein Präparat zu demonstriren, 
das in mehrfacher Hinsicht von grossem Interesse ist. Es handelt sich 
nm ein Carcinom des Oesophagus bei einer 27jährigen Frau, welche 
am 13. December v. J. ins Krankenhaus kam. Sie hatte seit 5 Monaten 
Schlingbeschwerden, konnte zunächst nur breiige, dann nur flüssige Spei¬ 
sen gemessen. Vor 2 Monaten war eine vorübergehende Besse¬ 
rung eingetreten, nachdem ihr Arzt eine Sondirung der Speiseröhre vor¬ 
genommen; seitdem hatte aber die Patientin andauernd unter Btarkem 
Husten mit übelriechendem, zuweilen blutig gefärbten Auswurf zu leiden. 
Bald war auch eine Steigerung der Schlingbeschwerden eingetreten, und 
die letzten 3 Wochen vor ihrer Aufnahme konnte die Pat. keinen Tropfen 
Wasser herunterbringen. Am 21. Dec. nahm mein Chef, Herr Professor 
Israel, die Operation vor; es wurde die Gastrostomie nach der Witze 1- 
schen Methode ausgeführt. Die Operation verlief glücklich, der Wund- 
verlanf war regelrecht, und nach einigen Tagen konnte die Pat. das Bett 
verlassen. Die Operation brachte der Frau, die doch die Malignität ihres 
Leidens nicht zn beurtheilen vermochte und lediglich die Gefahren der 
Verhungerung gefürchtet hatte, eine grosse psychische Beruhigung, welche 
sich noch steigerte, als sie in den letzten Tagen des Januar, nachdem 
sie 6 Pfd. an Körpergewicht gewonnen, nicht allein flüssige, sondern 
auch feste Speisen per os gemessen konnte. Es war jedoch klar, dass 
diese Besserung nur eine scheinbare und nur auf den Zerfall des Tumors 
zurückzuführen war. Dieser für die Pat. überaus hoffnungsvolle Zustand 
hielt auch nur einige Tage an, nnd die Pat. war wieder auf die aus¬ 
schliessliche Ernährung durch die Magenfistel angewiesen. Vor 4 Tagen 
trat nun unter denselben Erscheinungen wie bei einem perforirenden 
Aortenaneurysma der Exitus ein; sie bekam plötzlich eine starke Blutung, 
das Blut strömte aus Mund nnd Nase hervor, and in wenigen Augen¬ 
blicken ging die Frau zu Grunde. 

Sie sehen hier am Oesophagus, in der Höhe der Bifurcation, ein 
etwa handtellergrosses, in Zerfall begriffenes Carcinom, das nicht allein 
auf die unteren Lappen der beiden Langen übergegriffen und hier zur 
Gangrän geführt hat, sondern auch in die Aorta hineingewuchert ist. 
Man sieht hier einen kleinen, etwa pfennigstückgrossen, wandständigen 
Thrombus, neben dem ein kleines Loch vorhanden ist, durch welches die 
tödtliche Blutung erfolgte. Das Präparat bietet auch noch insofern ein 
besonderes Interesse, als man hier einen Magen sieht, an welchem drei 
Monat vor dem Tode der Pat. die Gastrostomie nach der Witzel’schen 
Methode au9geführt worden ist. 

Tagesordnung. 

Hr. 0. Katz: Ueber die diphtherische Lähmung (Schluss). (Der 
Vortrag wird anderweitig pnblicirt werden.) 

D iscussion. 

Hr. A. Baginsky: Die Präparate liegen Ihnen vor, und ich kann 
zu den anatomischen Ausführungen des Herrn Dr. Katz nichts weiter 
hinzufügen. Die Zukunft wird lehren, in wie weit die hier vorgebrachten 
Thatsachen sich bestätigen werden. Mir liegt daran, zu dem Klinischen 
noch ein paar Worte zu sagen. Zunächst scheint es sich herauszustellen, 
dass die Fälle von Lähmung mit deletärem Verlauf, welche jetzt Vor¬ 
kommen, in der weitaus grössten Anzahl solche Kinder betreffen, die spät 
in die 8erumbehandlung eintreten. Fast alle sind erst am 4., 5. Tage 
mit Serum behandelt worden, soda98 man den Eindruck gewinnt, wie 
wenn das Toxin Zeit genug gehabt hätte, das Nervensystem deletär zu 
beeinflussen. 

Dann möchte ich bemerken, dass in der letzten Zeit in der Dar¬ 
stellung der diphtherischen Lähmungen insofern eine gewisse Verwirrung 
anfängt Platz zu greifen, als man gewisse Lähmungen, die ganz entschie¬ 
den nicht in directer Linie von Erkrankungen des Nervensystems aus¬ 
gehen, zusammenwirft mit den ursprünglich als diphtherische Lähmungen 
bezelchneten und von primären Veränderungen des Nervensystems abhän¬ 
gigen Lähmungen. Es sind dies die Hemiplegien. Man hat in der letzten 
Zeit angefangen, diesen Fällen besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. 
Es handelt sich bei den hemiplegischen Lähmungen aber in der Regel 
entweder um Blutungen in der Gegend des Corpus Striatum, oder um 
embolische Processe, und das sind natürlich ganz andere Dinge, als diese 
degenerativen Veränderungen am Nervensystem, wie Sie sie hier dar¬ 
gestellt erhalten haben. Ich glaube, dass man zwischen diesen hemi- 
plegischen Lähmungen und den eigentlich diphtherischen ganz scharf 
unterscheiden muss, wenn man nicht zu Verwirrungen kommen will. 

Endlich möchte ich noch zu dem einen Fall, den Herr Katz 
hier vorgefilbrt hat, eine bemerkenswerthe klinische Thatsache hinzu¬ 
fügen. Es handelte sich hier um ein 5 Jahre altes Kind (Gomanski). 
Bei diesem Kinde stellte sich im Verlaufe der sehr schweren Lähmung, 
die auch zum Tode führte, die Thatsache heraus, dass eine ganz unüber¬ 


windliche Obstipation bestand. In der Leiche fand man dementsprechend 
eine sehr beträchtliche Ansammlung von Faecesmassen. Es handelte 
sich mit höchster Wahrscheinlichkeit um eine vollkommene Lähmung 
des Darmtractus, eine vollständige Sistirung der Peristaltik, wie ich 
sie früher noch nie gesehen habe, und wie sie auch bei den diphtherischen 
Lähmungen meines Wissens bis jetzt nicht bekannt gegeben ist. Sie wissen, 
wie ausserordentlich schwierig zu erklären die physiologischen Verhält¬ 
nisse der Peristaltik sind, und wie die Studien über dieselbe bisher keines¬ 
wegs zu einem befriedigenden Abschluss gelangt sind. Ich habe nun den 
Eindruck gewonnen, als handle es sich hier um eine totale Lähmung des 
Darmtractus, wahrscheinlich als Effect einer VaguslähmuDg, weil der 
Vagus als derjenige Nerv bezeichnet wird, auf dessen Bahnen die moto¬ 
rischen Impulse dem Darmkanal zufliessen. Ich möchte diese klinische 
Thatsache hier erwähnen, nachdem ich in einer früheren Arbeit') ziem¬ 
lich ausgiebig über die etwas verwickelten Verhältnisse der diphtherischen 
Lähmung bei Kindern schon Mittheilung gemacht habe. 

Ich möchte endlich erwähnen, dass die als Zwerchfelllähmung be¬ 
schriebenen Formen, welche mit voller Aphonie, klanglosem, heiserem, 
aphonischem Husten, ausgesprochen thoracalem Athracn und ausserordent¬ 
lich erschwerter Athmung einhergehen, wenn sie auch glücklicherweise 
selten Vorkommen, sich doch in einer gewissen Reihe von Fällen sicher 
beobachten lassen. Ich erwähne dies, weil die Thatsache, ob Bpeciell 
die Zwerchfellslähmungen zur Beobachtung kommen, auch mehrfach in 
der Literatur angezweifelt worden ist. Aber ich glaube, es kann nicht 
bezweifelt werden, dass bei ausgebreiteten Lähmungen auch die des 
Zwerchfells zu constatiren sind. An den Präparaten des Zwerchfells, 
welche hier vorliegen, sind so schwere Degenerationen des Muskels za 
erkennen, dass man wohl begreifen kann, wie derartige Lähmungen zu 
Stande kommen. 

Hr. 0. Israel: Ich möchte die Gelegenheit benutzen, im Anschluss 
an die schönen Präparate von Herrn Collegen Katz eine kleine 
histologische Bemerkung zu machen. Herr Katz fürchtete, wie dies 
auch in gleicher Weise in der Arbeit von Zappert ausgesprochen ist, 
dass durch kadaveröse Einwirkungen Fettmetamorphose entstanden sein 
könnte. So viel ich weiss, beruht diese Ansicht auf einer sehr bekannten 
Arbeit von Hauser, der in aseptisch auf bewahrten Organstücken Fett¬ 
metamorphose noch etwa 10—20 Tage nach dem Tode eintreten sah. 
Seit Jahren mit vergleichend-cytologischen Untersuchungen beschäftigt, 
habe ich bezüglich der Fettmetamorphose stets gewisse Bedenken ge¬ 
habt gegen einen cadaverösen Process, der seinem ganzen Chemismus 
nach nicht verständlich wäre. Ich habe dann vergleichende anatomische 
Untersuchungen bezüglich dieser Frage angcstellt, habe die Experimente 
von Hauser wiederholt, und da dies leider schon mehrere Jahre her 
ist, ohne dass ich Gelegenheit gefunden habe, diese Arbeiten für die 
Publication abzuschliessen, so möchte ich doch jetzt die Gelegenheit be¬ 
nutzen, um festzustellen, dass die Annahme einer cadaverösen Fettmeta¬ 
morphose wohl auf einem Irrthnm beruht. Ich habe 3—5 Wochen lang, 
länger noch als Hauser, Organe von Kaninchen aufgehoben und habe 
nie Fettmetamorphose constatiren können, sobald ich mich nicht, wie 
Hauser, lediglich auf den Augenschein und die Anwendung von Alkohol 
und Aethcr beschränkte, sondern andere Reagentien, und unter diesen 
Osmiumsäure anwandte. In der That tritt in den Organen, die bei Kör¬ 
pertemperatur aseptisch aufbewahrt werden, allmählich eine sehr starke 
körnige Trübung auf, die namentlich in den Nierenepithelien eine recht 
grosse Aehnlichkeit mit Befunden von Fettmetamorphose hat, welche mit 
albuminöser Körnung combinirt ist. Allein die Körnung löst sich optisch 
auf Zusatz von Essigsäure wie von dünner Natronlauge ohne Rest, ein 
Beweis, dass eine Umwandlung von Zellbestandtheilen in 
Fett nicht eingetreten ist. Mit F1 emming’scher Lösung fixirte 
Stücke zeigen nicht ein Körnchen, welches durch die Osmium¬ 
säure geschwärzt wäre, und es ist daher nothwendig, auf die 
Annahme einer „cadaverösen Fettmetamorphose“ unter den 
Bedingungen der Asepsis zu verzichten. 

Hr. Hirschberg: Die interessanten Mittheilungen des Herrn Vor¬ 
tragenden geben mir Veranlassung zu einer kurzen Bemerkung über die 
nach Diphtherie im Gebiet des Sehorgans vorkommenden Lähmungen, 
welche bekanntermaassen hauptsächlich den die Accommodation be¬ 
herrschenden Ast des Angenbewegungsnerven betreffen. Die Erkrankung 
wird gemeinhin als post-diphtherische Accommodationslähmnng 
bezeichnet und ist durchaus nicht selten: 250 Fälle sind aus meinen 
KrankentagebUchern über 12 Jahre von zwei meiner Assistenten 1 ) zu¬ 
sammengestellt worden. 

Wir haben diese Lähmung stets als eine nucleäre aufgefasst. 
Stets werden beide Augen befallen 3 ). Nie ist die Pupille mit gelähmt*). 
Stets erfolgt die Accommodationslähmung, d. h. die Unfähigkeit, feine 
Druckschrift ohne Sammelglas zu lesen, nach Heilung der Diphtherie, 
etwa 2 bis 8 (im Mittel 4) Wochen nach dem Beginn der letzteren; 

1) Archiv für Kinderheilkunde. Bd. XVII. 

2) Vgl. B. Remak, Centralbl. f. A. 1886, Juniheft, und A. Moll, 
ebendas. 1896, Januarheft. 

8) Eine wirkliche Ausnahme kam nicht vor, nur eine scheinbare, 
wo rechts Ueber-, links Kurzsichtigkeit bestand, links also Sehstörung 
für die Nähe fehlte. 

4) Unter 150 Fällen war 4 Mal die Pupille weit und träge reagi- 
rend, aber nicht gelähmt. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


385 




dauert einige ( etWa 4) Wochen nnd heilt jede» Mal von selber. 
Deshalb verordne ich ausser guter Pflege, Schonung, Ruhebrille nichts 
weiter als höchstens Jodeisensyrup und halte alle stärkeren Heilmittel 
für überflüssig und fehlerhaft. Ich habe noch nie einen ungeheilten Fall 
gesehen, — wenn ich absehe von den seltnen Fällen, welche durch 
Hinzutreten von Athmungslähmung leider tödlich endigen. 

Im ganzen ist die post-diphtherische Accomraodationslähmung doch 
eine recht typische Erkrankung. 

Allerdings steht der Grad der Accommodationslähmung nicht im 
graden Verhältnis» zur Schwere der ursächlichen Diphtherie. Wenig¬ 
stens folgt gelegentlich starke Accommodationslähmung auf leichte Hals¬ 
erkrankung. 

Meist ist die Accommodationslähmung begleitet von Lähmung des 
weichen Gaumens und des 8chlundes, gelegentlich auch vom Fehlen der 
Kniezuckung und von Erscheinungen leichter Ataxie. Lähmung der 
beiden äusseren Augenmuskeln (Abducenten) wurde in 10 pCt. 
aller Fälle (also an etwa 25 Kranken) nachgewiesen, ausserdem noch 
4 Mal einseitige leichte Abducenslähmung. Oculomotoriuslähmung, welche 
die äusseren Augenmuskeln betraf, kam in den 250 Fällen nur 2 Mal 
vor, einmal als einseitiger Lidfall (Ptosis), einmal als doppelseitige Läh¬ 
mung fast aller äusseren Augenmuskeln, auch der von den Abducenten 
versorgten. (Augenlähme, Ophthalmoplegia externa.) Der letztge¬ 
nannte Fall, den ich gemeinschaftlich mit meinem Freund Mendel 
beobachtete, endigte tödtlich; Mendel fand Blutungen in den Nerven¬ 
kernen und entzündliche Veränderungen in den Wurzeln des Oculomot., 
Abduc.,, Vagus und Hypoglossus. 

tyer Sehnerv war in keinem der 250 Fälle mitbetheiligt. 
Wen’i eine scheinbare Trübung des Sehnerveneintritts vorlag, war dies 
Bteti eine physiologische, wie sie bei den übersichtigen Kindern vor- 
krmait; wenn die Sehschärfe nicht vollkommen war, lag Astigmatismus 
vor, der durch Cylindergläser, meist in befriedigender Weise, ausge¬ 
glichen werden konnte *). Von den letzten 150 Fällen wiesen 140 eine 
manifeste Uebersicbtigkeit auf, was sich einerseits aus dem überwiegend 
übersichtigen Bau des Kinder-Auges erklärt, andrerseits aus der That- 
sache, dass die stärker übersichtigen Kinder durch die Accommodations¬ 
lähmung mehr gestört werden. Kinder mit deutlicher Kurzsichtigkeit 
(von etwa 8 D und darüber, d. h. mit einem Fernpunktsabstand von 
18 Zoll oder 30 cm und noch weniger) kommen niemals wegen post- 
diphtheritischer Accommodationslähmung, obwohl sie doch durch ihre 
Kurzsichtigkeit gegen die Diphtherie nicht gefeit sind, da sie selbst bei 
vollständiger Accommodationslähmung immer noch gewöhnliche Druck¬ 
schrift bequem zu lesen im Stande sind, somit keine Beschwerden fühlen 
nnd nicht merken, dass eine neue Krankheit nach der Halsdiphtherie sie 
befallen hat. 

Hr. G. Gutmann: Ich möchte zweier Fälle aus meinem poliklini¬ 
schen Material gedenken, das eine grosse Reihe von Accommodations- 
paresen nach Diphtherie aufweist, in welchen Accommodationsparese mit 
beiderseitiger Abducensparese zusammen auftrat. In beiden Fällen war 
ausgesprochene Ataxie vorhanden und die Patellarreflexe fehlten. Das 
Nervensystem wurde in dem einen Falle von Prof. Mendel, in dem 
anderen von Dr. Ruhemann untersucht. Auch ich habe, wie wohl die 
meisten Ophthalmologen, die Accommodationsparese stets für eine nu- 
cleäre Lähmung gehalten. 

Hr. Ros in: Vor */< Jahren etwa habe ich nachgewiesen, dass der 
Leib der Ganglienzellen des erwachsenen Menschen im normalen Zu¬ 
stande zu einem wesentlichen Theile gefüllt ist mit einer fein gekörnten 
Substanz, welche sich durch Osmiumsäure schwarz färbt. Dieselbe ist 
auch im frischen Zustande nicht ganz ungefärbt, sondern von hellgelber 
Farbe, ist besonders auch von Obersteiner und Pilcz genauer unter¬ 
sucht, und früher mit „Pigment“ bezeichnet worden. Aus gewissen, hier 
nicht näher zu erörternden Gründen habe ich annehmen zu müssen ge¬ 
glaubt, dass dieses früher mit „Pigment“ bezeichnete feinkörnige Sub¬ 
strat als eine Fettsubstanz zu charakterisiren ist. Diese Substanz findet 
sich in jeder normalen Ganglienzelle des Erwachsenen, zum Theil ln 
colossaler Masse, so dass drei Viertel des ganzen Leibes vollgepfropft 
sind, wenn man mit Osmiumsäure färbt, mit ganz schwarzen Körnchen. 
Ich habe nun weiterhin gefunden, dass der Neugeborene niemals diese 
Körnchen hat, ebenso wenig wie irgend ein Thier, weder ein grosses 
nöch kleines. Es müssen also diese Körnchen ein specifischer Bestand- 
theil der Nervenzelle des herangewachsenen Menschen sein. 

Nun giebt es aber natürlich einen Uebergang zu diesem Befunde 
beim Erwachsenen. Während der Neugeborene die Körnchen gar nicht, 
der Erwachsene aber sie in grossen Mengen hat, so treten dieselben, 
wie ich ebenfalls gezeigt habe, nach und nach in steigender Menge von 
der Kindheit an in den Nervenzellen auf. In dem 1. und 2. Lebens¬ 
jahre findet man sie nur in sehr geringen Mengen. Aber schon im 5. 
bis 10. Lebensjahre finden sie sich deutlich, wenn auch spärlich an Zahl. 
Im Pubertätsalter sind sie sehr reichlich entwickelt und schon nahezu 
in der gleichen Anordnung und fast so stark vorhanden, wie später beim 
Erwachsenen. 

Hier ist nun ein sehr distinct gefärbtes Ganglienzellenpräparat auf¬ 
gestellt, welches gerade solche feine schwarzen Körnchen enthält, die 


1) Niemals wurde in einem solchen Falle Einengung des Gesichts¬ 
felds, Dunkelfieck (Scotoma), Vergrösserung des blinden Fleckes nach¬ 
gewiesen, was doch bei wirklicher Entzündung des Sehnervenkopfes zu 
erwarten war. 


an Gestalt und Figur genau diesen Körnchen gleichen, welche ich be¬ 
schrieben habe. Herr Katz hat diese Körnchen, übrigens ohne auf 
meine Untersuchungen Bezug zu nehmen, für Fett angesprochen. Ich 
stimme dem natürlich vollkommen bei; ich glaube ebenfalls, dass es sich 
um Fettkörnchen handelt; allein um diese Fettkörnchen, die normaler 
Weise bei jedem Menschen Vorkommen. Es liegt also nicht fettige 
Degeneration vor, sondern es handelt sich um normale Bestandteile der 
Ganglienzellen, welche bei dem 5 Jahre alten Kinde bereits deutlich, 
wenn auch sehr spärlich entwickelt sind. 

Man könnte mir nun einwenden, dass es ja nicht nachgewiesen ist, 
da ich doch stets mit Material von an Krankheiten Gestorbenen arbeiten 
mnsste, ob es sich nicht vielleicht doch um pathologische Verfettungen 
bei meinen Untersuchungen, nicht um normale Befunde handelt. Nun, 
wie ich schon früher ausführte nnd erörtert habe, dagegen schützt mich 
die grosse Zahl meiner Untersuchungen, die ich an den verschieden¬ 
artigsten Fällen vorgenommen habe, sowie die absolute Regelmässigkeit 
des Befundes, wovon es niemals eine Ausnahme giebt. Ich habe an 
60 Rückenmarke darauf hin untersucht von Patienten, die an den aller¬ 
verschiedensten Krankheiten gestorben sind, und so oft ich mit der 
Marchi’sehen Osmiummethode färbte, fand ich diese Körnchen immer 
wieder. Und nicht bloss ich, Bondern alle Beobachter, die nach der 
Marchi’sehen Methode färbten, bestätigen den Befund. 

Die von Herrn Katz als Verfettung angesprochenen und hier de- 
monstrirten Bestandteile in den Ganglienzellen sind also ganz normale 
Bestandteile derselben nnd nicht geeignet, einen Einfluss des diphtheri¬ 
schen Processes zu demonstriren. 

Hr. Remak: Es steht mir nicht zu, über die Dignität dieser ana¬ 
tomischen Veränderungen etwas auszusagen für die Erklärung der 
Störungen. Ich möchte aber doch bemerken, dass in den Ausführungen 
des Herrn Vortragenden einige wesentliche Punkte übergangen worden 
sind. Es liegen nämlich experimentelle Untersuchungen vor von 
Stscherbak, welcher, wie Löffler, Roux und Yersin n. A. nach¬ 
gewiesen hat, dass man bei Thieren durch Impfung mit Diphtherietoxin 
Lähmungen erzeugen kann. Er hat nun u. a. auch ausgedehnte Ver¬ 
änderungen an den Ganglienzellen des Rückenmarks gefunden, aber er¬ 
mittelt, dass diese Degenerationen Lähmungen nicht bewirken, sondern 
Lähmungen nur eintraten, wenn gleichzeitig eine peripherische Nerven¬ 
degeneration vorhanden war, und um so stärker, je stärker diese ent¬ 
wickelt war. Dem stehen nun allerdings wieder andere pathologisch¬ 
anatomische Untersuchungen aus neuer Zeit gegenüber, bei welchen nur 
centrale Veränderungen gefunden worden sind und keine peripherischen, 
von Bikeles und ganz neuerdings von Rosenblath. Die Frage der 
Entstehung diphtherischer Lähmung schwankt immer hin und her. Bald 
ist sie peripherisch, bald ist sie central, und ich glaube, dass die Beob¬ 
achtungen, die hier mitgetheilt sind, so interessant sie auch sind, doch 
die Frage nicht wesentlich fördern werden, weil es sich nicht um diph¬ 
therische Lähmungen handelt, wie sie sich gewöhnlich darstellen. Es 
waren doch wohl aussergewöhnlich schwere Fälle, wo Kinder gar nicht 
wieder aufkamen, wo eine schwere Vergiftung des Nervensystems an¬ 
zunehmen war, und wo man also dementsprechend auch sehr bedeutende 
parenchymatöse Veränderungen der Ganglien und der Nervenfasern ge¬ 
funden hat. Das ist aber nicht der gewöhnliche Verlauf. Die klinische 
Beobachtung zeigt, dass in der Regel die Diphtherie erst abheilt, die 
Kinder womöglich schon wieder in die Schule gegangen sind und nun 
schleichend auch nach einem Intervall von 8 Tagen oder mehr das Kind 
anfängt, Flüssigkeiten durch die Nase zu regurgitiren beim Trinken, 
nasal zu sprechen, dann dem Neurologen zugeführt wird, welcher Gaumen¬ 
segellähmung feststellt und, wie ich jetzt auf Grund eines ziemlich 
reichen Materials von gewiss 100 Fällen sagen kann, etwa in der Hälfte 
der Fälle findet, dass dass die Kniephänomene bereits fehlen oder noch 
später verloren gehen, es kann damit Ataxie eintreten, sie braucht aber 
nicht einzutreten — Dinge, die vor Jahren gleichzeitig von Bernhardt 
und mir ausführlich verfolgt sind. Bernhardt hat seine Beobachtungen 
in Virchow’s Archiv, ich die meinigen kurz zuvor in einer Discussion 
dieser Gesellschaft über einen Vortrag des Herrn Mendel veröffent¬ 
licht l ). 

Nun handelt es sich mehr darum, was diesen Fällen zu Grnnde 
liegt, als den schweren tödtlichen Fällen mit Zwerchfell- und Herz¬ 
lähmung. Ist hier nach der v. Leyden’schen Hypothese lediglich eine 
peripherische Neuritis vorhanden, oder handelt es sich um centrale Ver¬ 
änderungen? Solche Fälle heilen in der Regel, müssten also gelegent¬ 
lich einmal abgefangen werden, um es kurz auszudrücken, wenn sie aus 
anderen Gründen sterben. 

Vom rein klinischen Standpunkt muss ich aber doch sagen, dass, 
da in der Regel die Lähmung im Gaumensegel einsetzt, in den Gaumen¬ 
muskeln ausgiebige myositische Veränderungen von Hochhaus und 
anderen anatomisch gefunden sind, und hier klinisch Entartungsreaction 
und Sensibilitätsstörungen beobachtet sind, man zunächst den Eindruck 
einer in unmittelbaren Continuität entstandenen peripherischen Lähmung 
hat. Ich erinnere auch an die Beobachtung — der Autor 1 ) ist mir augen¬ 
blicklich nicht gegenwärtig —, dass von einer diphtherischen Nabel¬ 
wunde aus eine Bauchmuskellähmung eintrat. (Zuruf: Meyer!) Also 


1) Diese Wochenschrift 1885, No. 18, p. 203 und,Verhandlungen der 
Berl. med. Ges. 1884/85 I, pag. 95. 

2) Nachträgliche Anmerkung. Kussmaul’s Beobachtung von P. 
Meyer citirt. 


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No. 18 . 


38(1 BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


wahrscheinlich wird die Wahrheit auch hier in der Mitte liegen, dass 
ein Toxin zuerst das peripherische Nervensystem oder vielleicht auch 
gleichzeitig entsprechende Partien in den Centralorganen trifft. Es ist 
wahrscheinlich nicht richtig, zu sagen, dass die Lähmung nur uucleär 
oder nur peripherisch sein kann. Ich werde wohl von dem Verdachte 
frei sein, dass ich mich allzu sehr für die peripherische Pathogenese be¬ 
geistere, da ich nach anderer Richtung hin, wie Ihnen vielleicht bekannt 
sein wird, nämlich für die ebenfalls streitige Pathogenese der Blei- 
lähmungen ja vor Jahren schon den Standpunkt vertreten habe, dass sie 
centraler Natur sind. Wenn nun auch die klinische Beobachtung in der 
Kegel dafür spricht, dass zunächst eine peripherische Lähmung eintritt, 
so ist andererseits nicht zu zweifeln, dass bei schwerer Vergiftung, so¬ 
gleich das gesammte Nervensystem ergriffen wird, und es dann zu aus¬ 
gedehnteren Veränderungen kommt. 

Noch eins sei bemerkt. Es ist hier von Neuronerkrankung die Rede 
gewesen, von Erkrankung des ersten motorischen Neurons. Man muss 
doch aber zugeben, dass die diphtherischen Lähmungen in der Regel 
nicht dem Bilde der amyotropliisehen Neuritis oder Poliomyelitis ent¬ 
sprechen. Nur ausserordentlich selten kommt es an den Extremitäten 
zu schwerer Muskelatropbie. In der Kegel beobachtet man nur Ataxie, 
mit ganz leichten Sensibilitätsstörungen, Fehlen der Kniephänomene und 
dabei ganz gut erhaltene Ernährung der betreffenden Muskeln ohne Ent- 
artungsreaction. Ich weiss, dass sie von v. Ziemssen u. A. gefunden 
ist. Sie ist aber an den Extremitäten selten. Also hier ist eigentlich 
nicht eine Erkrankung des motorischen, sondern eher des ersten sen¬ 
siblen Nerons wahrscheinlich. Man kann streiten, ob die Ataxie bedingt 
ist durch Erkrankungen der peripherischen sensiblen Nerven, oder der 
hinteren Wurzeln oder der Wurzeleintrittszonen. Alles das wäre mög¬ 
lich, ebenso dass das Kniephänomen schwindet durch eine der erwähnten 
Localisationen in der Höhe seines Retlexbogens im Lendenmark. Dass 
es schwindet durch Erkrankung des Nervus cruralis selbst, dafür 
spricht die klinische Beobachtung eigentlich nicht, da, so sehr ich mich 
auch bemüht habe, bei Fehlen des Kniephänomens eine deutliche Herab¬ 
setzung der elektrischen Erregbarkeit des Nerven oder Entartungsreaction 
der Muskulatur zu finden, dies fehlgeschlagen ist, sondern es vielmehr 
immer den Eindruck machte, dass die Sache sich ebenso verhält, wie bei 
der Tabes. 

Hr. Senator: Ich möchte mich den Bemerkungen des Herrn Remak 
durchaus anschliessen, namentlich erstens in Bezug darauf, dass aus den 
hier demonstrirten überaus vorzüglichen Präparaten nicht mit solcher Be¬ 
stimmtheit wie der Herr Vortragende es gethan hat, geschlossen werden 
darf, dass bei diphtherischen Lähmungen es sich niemals um periphe¬ 
rische Affeetionen, um Neuritis handle. Herr Remak hat schon ganz 
mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass man aus dem Befunde bei 
so schweren Fällen nichts auf die leichteren Fälle schliessen darf. Denn 
dass in so schweren Fällen auch das centrale Nervensystem ergriffen 
werden kann, ist bekannt. Der Herr Vortragende hat auch die klinischen 
Erscheinungen für seine Ansicht geltend gemacht. Zunächst kann ich ihm 
darin nicht beistimmen, dass die diphtherische Lähmung keinen be¬ 
stimmten Typus haben soll und gewöhnlich nicht im Pharynx beginne. 
Wenn, wie er angeführt hat, unter 80 Fällen 8 mal der Patellarrefiex 
vorher gefehlt hat, so spricht das doch nicht gerade für seine Ansicht, 
denn in drei Viertel waren ja vorher die Ganmensegellähmungen vorhanden. 
Dass besonders die Schluckstörungen so früh auffallen, hat Herr Katz 
daraus erklärt, dass sensible und motorische Functionen zugleich be¬ 
troffen werden. Nun, das trifft bei sehr vielen Reflexbewegungen zu¬ 
sammen. Das findet sich z. B. auch bei der Blase, aber bei der diph¬ 
therischen Lähmung wird trotzdem die Blase nur ganz ausnamsweise 
betroffen. Endlich, dass die diphtherischen Lähmungen meistens, 
Ausnahmen kommen auch davon vor, symmetrisch auftreten, halte ich 
auch für keinen Beweis gegen ihre peripherische Natur. Wir wissen, 
dass Neuritiden, die nicht aus örtlichen Ursachen, sondern aus allge¬ 
meinen infectiösen Ursachen entstehen doch durchaus symmetrisch ver¬ 
laufen. Uebrigens kann die Frage, ob peripher oder central, jetzt 
nicht mehr mit der Schärfe gestellt werden, wie damals, wo ich den 
von Herrn Katz erwähnten Vortrag hielt, vor 28 Jahren. Denn es 
ist jetzt bekannt, dass eine und dieselbe Schädlichkeit die verschiedenen 
Abschnitte des Nervensystems gleichzeitig oder nacheinander befallen 
kann. Hiernach also scheint mir die Frage durchaus nicht in dem 
Sinne entschieden, dass die diphtherische Lähmung immer eine cen¬ 
trale und niemals eine peripherische sei und die klinischen That- 
sachen sprechen nicht dagegen, dass es sich in dem grössten Theil der 
Fälle um peripherische Neuritiden handelt. 

Hr. Max Roth mann: Die Mar chi 'sehe Methode, so werthvoll sie 
zur Erforschung der Pathologie des Centralnervensystems ist, darf nur unter 
Beobachtung aller Kautelen verwandt werden. Die Erfinder der Methode, 
Marchi undMyeri haben in ungemein mühsamen Controlversuchen die 
Methode als eine wissenschaftlich brauchbare festgestellt. Ich betone 
das hier besonders deshalb, weil der Vortragende unter andern Rücken¬ 
markspräparate mit „ringförmiger Degeneration“ von Markfasern aufge¬ 
stellt hat. Es sind dass Nervenfaserquerschnitte, die nun in der Peri¬ 
pherie eine schwärzliche Färbung erkennen lassen. Solche Fasern finden 
sich nun aber in jedem Marc hi-Präparat von normalen Rückenmark 
und sind daher in keiner Weise als pathologischer Befund aufzufassen. 
Als erkrankt ist eine Markfaser nach der Marchi’schen Methode nur 
dann zu bezeichnen, wenn sie in Quer- und Längsschnitt eine über das 


ganze Gebiet des Markmantels sich erstreckende Schwarzfärbung er¬ 
kennen lässt. Ein Ausserachtlassen dieser Thatsache muss nothwendig 
zu Irrthiimem führen. 

Hr. A. Baginsky: Ich bitte um Verzeihung, wenn ich noch ein¬ 
mal das Wort nehme. Wir können von Seiten unseres Krankenhauses 
den Herren nur dankbar sein für die Kritik, die an die Präparate ge¬ 
wandt wird. Es wird für uns der Anlass nein und für Herrn Katz ge¬ 
wiss ebenso, die Untersuchung weiter und mit grösstem Eifer fortzusetzen. 

Ich möchte nur betonen, dass, wie ich glaube, Herr Katz hier in 
dem Sinne vielleicht etwas missverstanden wurde, dass er nicht etwa 
nur und ausschliesslich das Vorkommen von centralen Veränderungen 
bei den diphtherischen Lähmungen betonen wollte. Es liegt vielmehr die 
Ursache dafür, dass er den Schwerpunkt seiner Darstellung gerade auf 
die centralen Veränderungen legte, wohl in der historischen Ent¬ 
wicklung der Frage gerade in unserem Hospital. Es hat schon 
einer meiner früheren Assistenten, Herr Arnheim (Archiv für Kinder¬ 
heilkunde Bd. 13) eine Studie über die Erkrankungen des Nervensystems 
bei diphtherischen Lähmungen gemacht und er hat gerade die Verände¬ 
rungen in den peripheren Nerven, wie ich glaube, in sehr interessanter 
Weise klargelegt. 

Herrn Katz kam es unter solchen Verhältnissen wohl darauf an, nun¬ 
mehr vorzugsweise die centralen Veränderungen zu studiren und ihnen 
zur Anschauung zu bringen. In diesem Sinne bitte ich die Sache nur 
aitzusehen, und Herr Katz wird wahrscheinlich mit mir übereinstimmen, 
dass seine Darstellung so gedeutet werden soll. In der That erscheint 
mir Herrn Katz's Arbeit als eine wesentliche und vortreffliche 
Fortführung der früheren, allerdings unter Anwendung anderer und wie 
es scheint, besserer Methoden. Wir werden Ihrer Kritik gegenüber 
gewiss bemüht sein, die unsrige noch schärfer nach allen Richtungen hin 
walten zu lassen. 

Dies vorausgeschickt, kann ich nunmehr des Weiteren, den Einwand, 
den Herr Remak gemacht hat, nicht ohne Erwiderung lassen. Wenn 
Herr Remak davon spricht, dass die von Herrn Katz geschilderten 
und untersuchten nicht klinische Fälle von diphtherischer Lähmung sind, 
so kann ich darauf nur erwidern, dass ein derartiger Einwand völlig un¬ 
zutreffend ist; vielmehr hat man es hier mit den echtesten und eigent¬ 
lichen diphtherischen Lähmungen zu thun. 

Die postdiphtherischen Lähmnngen, die Herr Remak poliklinisch 
zu sehen bekommt, sind freilich nur solche, bei denen leichtere Formen 
von Diphtherie vorangegangen sind. Bei derartigen Fällen kommt es 
wohl sogar vielfach vor, dass die vorangegangene diphtherische Er¬ 
krankung übersehen worden und dieselbe erst aus der Lähmung recon- 
struirt worden ist. 

Die Kinder gehen mit ihrer Diphtherie umher oder haben nur ein 
oder zwei Tage unter leichten Fieberzufäilen mit kaum bemerkter localer 
Afteotion verbracht; diese sind es, die in die ambulante Sprechstunde 
des Neuropathologen mit der Nervenlähmung kommen. Man darf doch 
aber nicht etwa behaupten wollen, dass diese der leichtesten Form der 
Diphtherie entsprechenden Lähmungen die eigentlichen, und die von uns 
beobachteten schweren Formen nicht die echten diphteriseben Lähmungen 
wären. Es hiesse dies die ganze Sache klinisch geradezu auf den Kopf 
stellen. Das Verhältnis liegt vielmehr so, dass wir im Krankenhause 
in der Lage sind, die ganze Entwicklung diphtherischer Lähmungen vor 
Augen zu haben, von Tag zu Tag dieselbe zu verfolgen und scharf 
zu beobachten. Ich kann ja nicht an dieser 8telle im Rahmen der 
Discussion die mannigfachen Typen dieser Entwicklung zu schildern unter¬ 
nehmen und will nur Folgendes hervorheben. Bei den schwersten, unter 
dem Einfluss der Scrumtherapie jetzt kaum noch zur Beobachtung 
kommenden Fällen, sieht man Frühlähmungen schwerster Art, am 
Gaumensegel beginnend und lapid zu Lähmungen der Respiration und 
der Herzens vorschreitend. Gerade bei diesen schrecklichen Formen habe 
ich den deletären Einfluss der früher vielfach angewendeten Strychnin- 
injectionen erkannt und seither dieselben verworfen. Diese Fälle sind 
nun allerdings die gefährlichsten, und am raschesten tödtlich ver¬ 
laufenden. 

Von da an giebt es natürlich eine ganze Reihe von Abstufungen, 
und je nach der Schwere der diphtherischen Erkrankung kommen 
dann auch solche Fälle vor, wie Herr Remak sie geschildert hat. Aber 
ich kann nicht zugeben, dass bei Fällen, wie sie hier vorliegen, in denen 
man von Tag zu Tag die Lähmung gleichsam systematisch vorschreiten 
sieht, in denen also auf die Gaumensegellähmung Ausfall der Patellar- 
reflexe und dann weiterschreitend Lähmungen der Muskeln der Extre¬ 
mitäten, des Stammes, der Nackenmusculatur eintraten bis schliesslich zum 
Ausgang Lähmung des Zwerchfells und des Herzenz erschienen, Zweifel 
ausgesprochen werden, als ob sie nicht die eingentlichen diphtherischen 
Lähmungen wären. Dies gerade sind die diphtherischen Lähmungen. 
Es ist ja gewiss, dass die leichteren Fälle den Neuropathologen viel 
häufiger zukommen, und ebenso auch den Ophthalmologen, dass die 
schwersten Formen beider Gruppen den specialistischen Aerzten unbe¬ 
kannt bleiben oder zum mindesten ungewöhnlich erscheinen. — Ara 
kindlichen Krankenbette, zumal bei einem so grossen und wechselvollen 
Material, wie in unserem Krankenhausc, kommen nun freilich die 
schwersten neben den leichteren Lähmungen vor, und glücklicherweise 
auch die letzteren häufig genug. Diese leichteren Fälle heilen denn 
auch zumeist ohne Störung, sie können begreiflicherweise nicht zum 
Gegenstände anatomischer Studien werden, sie sind deshalb auch hier 
nicht zum Gegenstände der Erörterung genommen worden. 


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3. Mal 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


387 


Hr. B. F* a ®nkel: Nur wenige Worte über die Gaumensegel- 
lähmungen. D ,e diphtherische Lähmung macht sich immer oder wenig¬ 
stens in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle zunächst am Gaumen¬ 
segel oder durch Aufhebung des Patellarreflexes beraerklish. Dann tritt 
in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle die Accomodationalähmung 
hinzu. Das ist doch, meine ich, ein deutlicher Typus. Aus solchen 
Fällen können sich nun die allerschwersten Formen entwickeln, und ich 
stimme Herrn Baginsky bei, wenn er diese allerschwersten Formen 
ebenso zu den postdiphtherischen Lähmungen rechnet. 

Bei der Velumläbmnng kann man nicht nur von einem Schluck- 
hinderniss sprechen. Denn man kann ja die Velumläbmung auf das 
Deutlichste sehen. Namentlich, wenn man die Patienten phoniren lässt, 
so sieht man, dass bei dem gewollten Act des Sprechens das Velum un¬ 
beweglich hängen bleibt. Ich möchte aber bemerken, dass im Gegen¬ 
satz zu der Aecomodationsparese es eine einseitige Velumlähmung giebt. 
Ich habe sie zu wiederholten Malen gesehen. Ebenso kommt es vor, 
dass die Velumlähmungen persistent bleiben, dass sie nicht wieder 
heilen. Auch das habe ich gesehen. Nun ist es doch ganz unzweifel¬ 
haft, dass man hier nicht mit dem Herrn Vortragenden an einen Reflex¬ 
vorgang denken kann. Denn sonst würde man das schlaffe Herabhängen 
des Velums auch in der Ruhelage ja nicht wahrnehmen können. 

Das häufige Befallenwerden des Velum palatinum kann nicht ver¬ 
wertet werden als Beweis für die Theorie der peripheren Lähmung. 
Denn derselbe Gang der postdiphtherischen Lähmung findet sich auch 
dann, wenn die Diphtherie nicht zunächst im Pharynx begonnen hat, 
wenn man es also mit einem Fall zu thun hat, der z. B. im Kehlkopf 
oder in der Nase begonnen hat, wo vielleicht der Pharynx ganz frei- 
geblieben ist. Ebenso kommt eine postdiphtherische Lähmung, die am 
Velum beginnt, dann vor, wenn eB sich um Wunddiphtherie handelt. 
Ich habe das selbst nicht beobachtet, aber es ist in der Literatur glaub¬ 
würdig niederlegt. 

Hr. Remak: Es ist mir natürlich nicht eingefallen, zu sagen, dass 
die hier aus der Baginsky'sehen Abtheilung beschriebenen Lähmungs¬ 
zustände keine diphtherischen Lähmungen waren. Selbstverständlich 
waren es schwere diphtherische Lähmungen, und dasss schwere Ver¬ 
giftungen schwere Veränderungen im Nervensystem machen, das wissen 
wir ohnedies. Ich habe nur bemerken wollen, dass wir dadurch noch 
nichts darüber erfahren, wie sich die Dinge bei den typischen Lähmungen 
darstellen würden, und darin werden mir alle Neuropathologen bei- 
stimmen, dass ein derartiges typisches Krankheitsbild besteht, wie ich 
es kurz geschildert habe, nicht theoretisch, sondern auf Grund einer 
grossen Erfahrung. 

Was nun das Schwinden des Kniephänomens betrifft, so habe ich 
meinerseits wiederholt Fälle von diphtheritischer Gaumensegellähmung 
gesehen, die mit lebhaftem Kniephänomen kamen, und wo erst unter 
der Beobachtung das Kniephänomen zuweilen erst einseitig, dann 
doppelseitig schwand und daun nach 2 oder B Monaten ebenso wieder 
kam; wie dies ja auch von Bernhardt bereits ausführlich beschrieben 
ist. Das Fehlen des Kniephänomens ist aber viel bedeutungsvoller, wenn 
es erst spät bei ambulanten, schon wieder gehenden Patienten beobachtet 
wird, während bei bettlägerigen Kranken vielleicht kurz vor dem tödt- 
lichen Ausgange dieser Befund, wenn er nicht wiederholt controlirt 
werden konnte, nur mit Vorsicht gedeutet werden sollte, weil wir bei 
Schwerkranken aller Art häutig Schwankungen des Kniephänomens 
beobachten. 

Hr. Senator: Ich möchte nur mit Rücksicht auf die Bemerkung 
des Herrn B. Fr aenkel, dass bei der diphtherischen Lähmung immer 
das Gaumensegel zuerst ergriffen wird, auch wenn die Eingangspforte 
der Diphtherie oder der örtlichen diphtherischen Processe entfernter vom 
Rachen statfgefunden hat, bemerken, dass das kein Beweis gegen die 
peripherische Natur ist. Das sehen wir auch bei anderen toxischen 
Lähmungen, dass mit Vorliebe gewisse peripherische Nervenbezirke er¬ 
griffen werden. Die Bleilähmung z. B. ist ja ein charakteristischer Be¬ 
weis dafür und die wird, wie Sie ja von Herrn Remak gehört haben, 
von vielen noch mit guten Gründen für peripherisch gehalten. Die 
typische BleilähmuDg bildet sich aus, auch wenn das Blei auf ganz 
verschiedenen Wegen in den Körper gelangt. 

Hr. Fraenkel: Ich meinte so, das Befallenwerden des Gaumen¬ 
segels kann nicht als Beweis für die periphere Lähmung verwertliet 
werden. Man kann sich ja denken, weil die Diphtherie meist im 
Pharynx sitzt, so ist es eine periphere Lähmung, wenn das Gaumen¬ 
segel zuerst befallen wird. 

Hr. Arnheim: Ich wollte nur kurz noch einmal auf die Resultate 
meiner Untersuchungen zurückkoramen, die ich im Aufträge von Herrn 
Baginsky vor längerer Zeit anzustellen Gelegenheit hatte. Es war ein 
grösseres Material und meine Untersuchungen, die sich im Wesentlichen 
auf die Untersuchung der peripherischen Nerven, aber auch des Rücken¬ 
marks erstreckten — ich habe in zwei Fällen das Rückenmark in Serien¬ 
schnitte zerlegt und bis zur Medulla oblongata untersucht — ergaben im 
Grossen und Ganzen eigentlich nur an den peripherischen Nerven 
gröbere Veränderungen. Nun will ich allerdings nicht behaupten, dass 
nicht vielleicht die mangelhafte Methodik damals daran schuld war, dass 
feinere Veränderungen an den Zellen des Rückenmarks nicht aufgefunden 
werden konnten. Jedenfalls habe ich an Wcigert’schen Schnittpräpa¬ 
raten Degencrationserscheinungen und Ausfall von Faserbahnen nicht 


finden können, sodass mir auch jetzt noch zweifelhaft erscheint, ob man 
in den meisten Fällen von einer Neuronerkrankung zu sprechen berech¬ 
tigt ist. Die peripherischen Nerven, besonders Vagus und Phrenicus, 
dagegen waren zum grossen Thcil so hochgradig degenerirt, dass sich 
meines Erachtens ein Exitus schon aus diesen Erscheinungen erklären 
lässt. Ich wollte bloss darauf zurückkommen, weil auch die voran¬ 
gegangenen Redner, insbesondere Herr Senator, mit Recht 
betont haben, dass es sich nicht immer um centrale Erkrankungen zu 
handeln braucht, sondern dass wenigstens in den leichteren Fällen jeden¬ 
falls die peripherische Erkrankung die Hauptsache ist, was sich auch 
aus dem klinischen Befunde leicht erklären lässt, denn sonst würde nicht 
eine so grosse Anzahl von Lähmungen zur Restitution kommen. Zum 
Schluss will ich noch bemerken, dass auch der anatomische Nachweis 

— es sind solche Fälle von Ziemsscn und Eichhorst beschrieben 
worden — erbracht ist, dass das Fehlen des Patellarreflexes nicht un¬ 
bedingt auf einer centralen Erkrankung des Cruralis gegeben ist, zum 
Ausfall des Kniephänomens führt. 

Ilr. Katz (Schlusswort): Ich werde möglichst kurz sein. Auf alle 
die klinischen Einwendungen zu antworten, halte ich hier nicht für an¬ 
gebracht. Das würde ein endloses Hin- und Herdiscutiren geben, ob 
peripher oder central. Mir war es darum zu thun, den Versuch zu 
machen, Ihnen anatomisch nachzuweisen, dass es sich in erster Linie 
um eine centrale Atfection handelt. Aber ich kann doch nicht ganz 
umhin, auf einige klinische Punkte nock kurz einzugehen. 

Zunächst möchte ich noch einmal hervorheben, dass auch klinisch 
ich die Affection einheitlich als centrale auffasse. Ich kann darin keine 
Einschränkung machen. Herrn Remak ist schon von Herrn 
Baginsky geantwortet worden und ich möchte noch weiter hinzufügen, 
dass der Uebergang von der einfachen diphtherischen Lähmung, sagen 
wir einmal, der mit dem Symptome der Gaumensegellähmung allein, 

— die übrigens meist zuerst beim Sprechen zu bemerken ist und nicht 
zuerst bei der Inspection durch das llerabhängen des Velums auffällt; 
das letztere ist schon eine schwerere Erkrankung nach unseren Beob¬ 
achtungen, die sich meist oft später einstellt, — oder von der Form 
wo das Fehlen des Patellarreflexes als einziges Symptom auffällt bis zu 
den schwersten diphtherischen Lähmungen, wie in unserem Fall 1 oder 
Fall Hansemann durch zahllose Mittelglieder ein unbestreitbarer ist. 
Ein Symptom schlicsst an das andere an. Wenn man über eine grosse 
Anzahl von Fällen verfügt, so kann man die continuirliche Reihe hier 
mühelos aufstellen. Nur die Klinik kann darüber entscheiden, nicht die 
Polikinik, wie Herr Remak sagt. Im Gegentheil! Die Poliklinik 
bekommt bloss Bruchstücke des Ganzen zu sehen und bewegt sich unter 
Umständen in grossen Irrthümern. Nur die Klinik ist hier in erster 
Linie berechtigt, ihr Urtheil abzugeben. 

Ich möchte darin weiter noch bemerken, dass wir ja glücklicher 
Weise eben nur in der Lage sind, die schweren Fälle zur Section zu 
bekommen. Wir können doch nicht discutiren, was bei den leichteren 
Fällen vorhanden sein mag. Ich kann bloss sagen: klinisch ist der 
Uebergang von den leichteren zu den schwereren Fällen in die Augen 
springend und die schweren Fälle kommen zur anatomischen Unter¬ 
suchung. Also ich kann nicht künstlich Gegensätze zwischen leichten 
und schweren Fällen construiren, wenn ich klinische l'ebergänge habe. 

Bei der Bleilähmung, die Herr Senator anführte, neigt sich 
doch jetzt auch, soweit ich orientirt bin, die Auffassung der centralen 
Störung zu. 

Bla8enlühmungcn sind auch beschrieben worden; wir selbst haben — 
das nebenbei bemerkt — im vergangenen Jahre zufällig eine Lähmung 
des Sphincter ani im Kinderkrankenhause gehabt, wie ich heute bei 
Durchlesung der Protocolle gesehen habe. 

Nun, diese klinischen Einwendungen sind ja eigentlich für meine 
anatomische Arbeit hier — ge.tatten Sie mir den Ausdruck — neben¬ 
sächlicher Natur. Aber ich habe zwei wirkliche Einwände zu wider¬ 
legen, nämlich die Einwände des Herrn Rothmann und des Herrn 
Ros in. Ich weiss nicht, ob Herr Rothmann das vorige Mal da war, 
er hat sich heute eine beliebige Stelle aus dem mikroskopischen Präpa¬ 
rate herausgenommen und sagte: das ist normal. Nein, das ist schwer 
krank! Das Einzelne ist in der That normal, oder, um mich vorsichtiger 
auszudrücken, kommt vielmehr im normalen Marke vor, das wissen wir 
längst, aber hier entscheidet die Menge der im Zerfall begriffenen Fasern. 
Wenn Herr Rothmann das danebenstehende Präparat mit der schwachen 
Vergrösserung vergleicht und sich dann noch einmal äussert, wird er 
vielleicht sagen: das ist doch nicht normal. Das Urtheil ist hier etwas 
schnell abgegeben! Ich kann in die so sehr feinen anatomischen Details 
nicht vor einer grösseren Versammlung eingehen — so weit es unum¬ 
gänglich nothwendig war, that ich es in der letzten Sitzung — sondern 
Ihnen bloss die Hauptmomente vorführen. Hier finden Sie einen enormen 
Procentsatz von kranken Fasern, und in jedem normalen Rückenmark 
finden Sie einzelne im Zerfall befindliche Fasern. Des Weiteren möchte 
ich doch noch ein Mal hervorheben, auch im Hinblick auf Herrn Roth- 
mann’s Aeusserung, dass es doch nicht bloss völlig gesunde und total 
zerstörte Fasern giebt, sondern dass doch dazwischen noch allerhand 
Mittelglieder liegen und gerade auf diese Zwischenstufen kam es mir bei 
meiner Darstellung an. Ich bemerke noch einmal, die völlig zer¬ 
störte Faser kam mir nirgends zu Gesichte in den unzähligen Präpa¬ 
raten, die ich darauf hin durchsah. Dass sie in späteren Stadien zu 
finden sein wird, bezweifele ich keinen Augenblick, in unseren Fällen 
findet sie sich nicht. Ich wiederhole noch ein Mal, dass ich keineswegs 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 18. 


388 


die Faserveränderungen als ungemein schwer hingestellt habe, im Gegen- 
theil, mehrere Male in der vorigen Sitzung darauf aufmerksam machte, 
dass ich die Veränderungen an der Faser als leichtere hinstelle, als 
Störungen in erster Linie trophischer Natur, die sich nur durch die Ver¬ 
änderungen in dem Markmantel kenntlich machen. 

Die Einwände des Herrn Rosin Bind unstreitbar die wichtigeren. 
Ich habe mein besonderes Augenmerk auf diese Fettkömchen gerichtet, 
gerade im Hinblick auf Herrn Ros in’ s wichtige Arbeiten über diesen 
Gegenstand. Ich muss sagen, dass in unserem Falle dieses Verhältnis 
doch ein ganz aussergewöhnliches ist. Die Reihe, die Herr Rosin con- 
struirt hat, von der Entstehung dieser Körnchen von der frühen Jugend 
bis in das Bpäte Alter hinein, kann ich bis jetzt noch nicht voll aner¬ 
kennen. Ich habe bei Erwachsenen allerdings keine genügenden Unter¬ 
suchungen. Bei Kindern habe ich mich jedoch überzeugt, dass es nicht 
in dieser typischen Weise sich zeige. Die Grenze zwischen dem Nor¬ 
malen und Pathologischen ist hier schwer zu ziehen, das ist un¬ 
zweifelhaft; aber nach der ganzen Verbreitung der Fettkörnchen in 
unseren Fällen, besonders Fall I., ihrer ungemeinen Anhäufung in den 
Zellen und auch im Hinblick auf alle die anderen schweren Zellenver¬ 
änderungen, die ich Ihnen in der letzten Sitzung vorführte, glaube ich, 
dass wir es in diesen Fällen mit kranken Zellen zu thun haben. Auf 
das mehr polare Auftreten der Körnchen des Herrn Ros in erlaubte 
ich mir in der vorigen Sitzung aufmerksam zu machen. 


Freie Vereinigung der Chirurgen Berlins. 

Sitzung vom 9. November 1896. 

(Schluss.) 

Discussion über den Vortrag des Herrn Budolph Köhler: Zur 
Theorie der Geschosswirkung. 

nr. Kurlbaum: Ich möchte mich nur gegen einen Pnnkt des Vor¬ 
trages wenden, gegen die Theorie der Schusswirkung auf mit Flüssig¬ 
keit gefüllte Gefässe, und zwar vom physikalischen Standpunkt aus. 

Herr Köhler stellt eine neue Theorie auf und verwirft zwei frühere, 
die eine mit Recht, die andere mit Unrecht. 

Die erste Theorie, die den Stempel der Unmöglichkeit an der 
Stirn trägt, ist die Theorie der hydraulischen Pressung. Unmöglich ist 
sie, weil die Schusswirkung auf offene Gefässe genau die gleiche ist, wie 
die auf allseitig geschlossene. In einem offenen Gefäss kann aber von 
einer hydraulischen Pressung gar nicht die Rede sein. Diese unmögliche 
Theorie war bis zum Erscheinen des Werkes der Medicinalabtheilung 
eine sehr verbreitete. 

Die zweite Theorie, und zwar die, welche von dem Werke der 
Medicinalabtheilung vertreten wird, ist die Theorie der hydrodynamischen 
Druckwirkung, sie beruht auf den einfachsten Gesetzen der Mechanik. 
Das Geschoss trifft auf eine Flüssigkeit und verdrängt dieselbe. Da die 
Geschwindigkeit des Geschosses eine grosse ist, so muss auch die Flüs¬ 
sigkeit mit grosser Geschwindigkeit ausweichen. Die Flüssigkeit in der 
nächsten Nähe des Geschosses erhält also eine grosse Geschwindigkeit 
und damit eine grosse lebendige Kraft. Mit dieser lebendigen Kraft 
fliegt sie gegen die umgebenden Theile immer nach der Seite des ge¬ 
ringsten Widerstandes ausweichend. 

Diese Ueberlegung ist so einfach, dass sie nicht den Namen einer 
Theorie zu beanspruchen braucht. Sie steht im Einklang mit allen 
Schusswirkungen auf Gefässe, die mit Flüssigkeit gefüllt waren. Rechnet 
man nach dieser Vorstellung aus, wie viel lebendige Kraft ein Geschoss 
im Wasser an das Wasser abgeben muss, so folgt daraus, dass das 
Geschoss Modell 88 überhaupt nicht einen Weg im Wasser zurücklegen 
kann, der grösser als 1,5 m ist. Ein Resultat, welches wieder mit der 
Erfahrung übereinstimmt und den grossen Widerstand im Wasser erklärt. 
Es findet sich also in der Theorie kein Widerspruch. Herr Köhler 
will aber diese Theorie durch eine andere, nach seiner Meinung bessere, 
neue, ersetzen. 

Den Beweis, dass die frühere Theorie falsch ist, hat Herr Köhler 
nicht erbracht, nach meiner Meinung, weil er auch nicht erbracht 
werden kann. Dagegen hat Herr Köhler eine neue Theorie aufgestellt; 
er sagt, die Flüssigkeit verhält sich dem Geschoss gegenüber wie ein 
fester Körper, d. h. er bekommt für diese kurze Zeit eine Eigenschaft 
eines festen Körpers. Diesen Fundamentalsatz der von Herrn Köhler 
aufgestellten Theorie, dass das Wasser gleichsam ein fester Körper wird, 
müssen wir näher untersuchen. 

Herr Köhler hat diesen Satz nach Betrachtung der Objecte, auf 
welche geschossen ist, aufgestellt. Er meint, feste Körper und Flüssig¬ 
keiten verhalten sich Geschossen gegenüber vollkommen gleich. Das ist 
nun eine specielle Ansicht von Herrn Köhler. Andere Herren und ich, 
die wir die Schiessversuche angestellt haben, deren Objecte hier vor¬ 
liegen, sind der entgegengesetzten Meinung, wir glauben, dass in der 
Wirkung der Geschosse auf Flüssigkeiten und feste Körper ein sehr 
grosser Unterschied ist. 

Herr Köhler weicht einer Definition des festen Körpers aus; daher 
leidet die ganze Behauptung an einer Verschwommenheit, und es muss 
sofort gefragt werden: „Wie welcher feste Körper verhält sich das 
Wasser?“ Schiesst man gegen ein 8tück Marmor von geeigneten Di¬ 
mensionen, so fliegt es in tausend Stücke. Schiesst man gegen einen 
Holzklotz, so entsteht ein Schusscanal, dessen Querschnitt kleiner ist, 


als der des Geschosses. Schiesst man gegen einen Bleiklotz, so entsteht 
ein Loch, dessen Querschnitt leicht mehr als das zehnfache des Geschoss- 
querschnitts beträgt, während das Geschoss den inneren Wandbelag des 
Loches ohne Ausschuss bildet. Das Einschussloch hat nach aussen, 
d. h. der Flugrichtung des Geschosses entgegengesetzt, umgebogene 
Ränder. 

Sehen wir aber einmal ab von allen medicinischen und physikali¬ 
schen Thatsachen, und betrachten wir die Argumentation des Herrn 
Köhler rein vom Gesichtspunkte der logischen Schlussfolgerung aus, so 
zeigt sich Folgendes: Herr Köhler behauptet, die Wirkung der Ge¬ 
schosse auf Flüssigkeiten ist genau dieselbe, wie die auf feste Körper. 
Eine Behauptung, die nicht richtig ist, die wir aber für diesen Fall als 
richtig annehmen wollen. Nun schliesst Herr Köhler, folglich wird die 
Flüssigkeit für diesen Moment quasi ein fester Körper, er erhält eine 
Eigenschaft eines festen Körpers, seine Theile erhalten eine starre Ver¬ 
bindung. Diese Art der Schlussfolgerung von der gleichen Wirkung auf 
die gleiche Ursache hat natürlich nicht die geringste Aehnlichkeit mit 
einem Beweise, sondern sie ist einfach ein Wahrscheinlichkeitsschiuss, 
und in diesem Fall ein Schluss mit ausserordentlich geringer Wahr¬ 
scheinlichkeit. 

Meine Herren! Sie haben also die Wahl zwischen einer Theorie, 
die sich auf den einfachsten physikalischen Gesetzen aufbaut and einer 
Theorie, deren einzige Stütze eine unbewiesene Hypothese bildet. 

Die Heranziehung der Thatsache, dass Eis durch Druck flüssig 
werden kann, als 8tütze für die Hypothese des Herrn Köhler ist eine 
sehr unglückliche. Drückt man auf Eis, so bringt man die Moleküle des 
Eises einander näher, ein Umstand, der eintreten muss, wenn Eis zu 
Wasser werden soll, welches ja ein kleineres Volumen einnimmt. Drückt 
man nun auf Wasser, so bringt man die Moleküle noch näher an ein¬ 
ander. Wie soll nun das Wasser zu Eis werden, welches doch einen 
grösseren Abstand der Moleküle braucht? Aber vielleicht nimmt Herr 
Köhler an, dass es noch einen anderen festen Aggregatzustand des 
Wassers giebt, den wir nicht kennen und bei dem die Moleküle einen 
noch kleineren Abstand haben. Er stützt also entweder die eine Hypo¬ 
these durch eine neue, zu diesem Zweck angefertigte, oder es ist ein 
Widerspruch in seiner Vorstellung. 

Es ist nach dem zweistündigen Vortrag des Herrn Köhler keine 
Zeit mehr, auf Alles, was ich für unzutreffend halte, einzugehen. Ich 
verwahre mich daher dagegen, dass ich mit allem übrigen Physikalischen 
einverstanden wäre. 

Hr. Schjerning: Als in den Jahren 1898 und 1894 unsere Schiess¬ 
versuche im Aufträge des Kriegsministeriums zur Durchführung kamen, 
da war es in erster Reihe, wie dies auch in dem von uns erstatteten 
Bericht wiederholt hervorgehoben ist, das Bestreben, alle die Verletzun¬ 
gen kennen zu lernen und zur Darstellung zu bringen, die in einem 
zukünftigen Kriege dem Militärarzt vor Augen kommen. Erst in zweiter 
Reihe sollten auch, soweit angängig, die theoretischen Fragen der 
Schusswirkung mit zur Erörterung kommen. Demgemäss haben wir 
unser Material so gebildet, dass aus allen Distanzen bis 2000 m von 
den verschiedensten Objecten Schusspräparate, mit vollen Ladungen be¬ 
schossen, vorhanden sind. 

Aber so umfangreich und mannigfaltig danach unsere Sammlung im 
Allgemeinen ist, so kann sie doch nicht ausreichend erscheinen, um alle 
möglichen theoretischen Fragen an ihr zur Entscheidung zu bringen. 
Wir haben jedenfalls nur diejenigen theoretischen Schlüsse aus unserem 
Material gezogen, die nach sorgfältigster Prüfung und in Rücksichtnahme 
auf alle vorhandenen entsprechenden Präparate berechtigt erschienen. 

Herr Köhler hat seine physikalisch von Herrn Kurlbaum als un¬ 
haltbar gekennzeichnete neue Theorie, nach welcher Wasser unter einem 
kurzen, sehr starken Druck, wie ihn das Geschoss liefert, in einer unge¬ 
wissen Zone um die Dmekangriffspunkte herum, und ebenso das ganze 
Gehirn vermöge seines Wassergehaltes auf unbestimmte Zeit zu einer 
festen Masse erstarren soll, eigentlich nur auf ein einziges unserer 
Schädelschusspräparate gestützt, nämlich auf einen Schädel, welcher, mit 
geronnenem, ziemlich festen Wachs erfüllt, beschossen war. Gerade 
dieses Präparat aber ist nach unserer Ansicht im Stande, den wesent¬ 
lichen Unterschied so recht in die Augen springen zu lassen, welchen 
die Füllung des Schädels mit Flüssigkeit und mit fester homogener 
Masse für die Geschosswirkung bedingt. 

Wir sehen beim Schuss auf die mit WasBer gefüllten Schädel die 
ganze Schädelkapsel gleichmässig in verhältnissmässig kleine sehr zahl¬ 
reiche Bruchplatten zersprengt, deren begrenzende Sprunglinien im All¬ 
gemeinen die vom Ein- und Ausschuss her beherrschten conceutrisch- 
circulären und radiären Grundrichtungen sind. Bei dem mit Wachs 
erfüllt beschossenen Schädel ist der radiäre und circuläre Sprungverlauf 
ganz offenbar und deutlich sichtbar gestört, indem die sofort in der Um¬ 
gebung des Einschusses und längs des ganzen Schusscanals aua dem 
Wachsgehirn in grossen, zusammenhängenden keilförmigen Stücken aus¬ 
gesprengten Bruchmassen, mit der vom Geschoss direkt empfangenen 
Beschleunigung und Richtung, gegen die Schädeldecke gepresst oder (weil 
stellenweise ein Abstand von 1—2—8 mm zwischen Innenwand der 
Schädeldecke und Oberfläche des Wachsgehirns, in Folge der Contraction 
der Wachsausgussmasse beim Erstarren, vorhanden ist) geschleudert, aus 
der Schädeldecke Bruchstücke „ausstanzen“, deren concave Innenflächen 
den convexen Flächen der Oberfläche der Wachsbruchstücke congTuent 
sind. Ein solches Wachskeilstück ist vermuthlich auch vor dem Geschoss 
her in der Richtung der Flugbahn gegen die Schädelkapsel gepresst 
worden, bevor das Geschoss dieselbe zur Ausschussformirung berühren 


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konnte, nnd bat dort seine Form ansgestanzt und fortgeschleudert, so 
dass das GeschO®* den 8chädel durch eine fertig Vorgefundene Lücke 
verlies9. 

Wenn das Gehirn vermöge seines Wassergehalts, wie Herr Köhler 
meint, unter der Geschosswirkung zur starren Masse würde, so würden 
wir am Vollschädel ebenso irreguläre Zersprengungen der Schädelkapsel 
finden, wie an dem wachserfüllten Schädel. 

Auch lehrt ein Blick auf unsere mit Wasser gefüllten beschossenen 
Bleigefässe, die nach vorn und nach den Seiten und hinten ausgebeult 
sind, dasB wir es dabei niemals mit der Heilwirkung eines festen Kör¬ 
pers zu thun haben können. Noch vieles Hesse sich gegen die neue 
Theorie und gegen manches der sonstigen Ausführungen des Herrn Vor¬ 
tragenden anführen; die Zeit ist zu weit vorgeschritten, um ausführlich 
werden zu können. 

M. H.! Wir haben in unserem Bericht gesagt, dass bei Schüssen 
auf mit Wasser gefüllte Gefäase kein hydraulischer Druck entsteht, son¬ 
dern dass wir es mit einem Druck zu thun haben, der durch Flüssigkeits- 
massen hervorgerufen ist, welche mit grosser Geschwindigkeit gegen ihre 
Umgebung andringen. 

Wir haben dies hydrodynamische Druckwirkung genannt und haben 
bewiesen, dass bei einem mit Wasser gefüllten Schädel, bei allen mit 
freier Flüssigkeit erfüllten Körpern, Hohlräuraen, wie Herz, Magen, Blase, 
grosse Gefässstärame. die gleichen Verhältnisse obwalten; dass ver¬ 
gleichsweise ähnliche Verhältnisse vorliegen bei dem gehirnerfüllten 
Schädel mit dem Grade der Abweichungen, mit welchem die Gewebs- 
consistenz des frischen normalen Gehirns von einer freien Flüssigkeit 
abweicht. Wir haben uns nicht verhehlt, dass die durch den schnell 
eintretenden Fäulnissprocess breiartig erweichten oder die durch Injec- 
tionen mit Flüssigkeit überlasteten Gehirne, wie wir sie beim Beschluss 
natargemäss meist zur Verfügung hatten, die Bedingungen für das Auf¬ 
treten hydrodynamischer Druckwirkung zweifellos bei weitem mehr 
darbieteu, als das normale frische Gehirn, und dass in letzterem ver¬ 
möge seiner festweichen Gewebsconsistenz vielleicht mehr die Schuss¬ 
wirkung auf halb elastische, halb compressible Gewebe (s. S. 473/474 
des Schiesswerks) zur Geltung komme. Damit stimmt das Auftreten von 
Kissen in der Gehirnsubstanz, radiär zum Schusskanal stehend, überein. 

Herr Koehler legt uns die Anschauung unter, dass die ganze 
Sprengung der Schädelkapsel bei einem mit Wasser erfüllten Schädel 
vom Schädelinhalt aus durch hydrodynamische Druckwirkung erfolge. 
Wir verwahren uns ausdrücklich gegen eine solche Auffassung, für die 
sich an keiner Stelle des Schiesswerkes ein Anhaltspunkt findet. Wir 
haben deutlich gesagt (z. B. Seite 440 des Schiesswerkes), dass die auf¬ 
tretenden Sprengungen und Zerreissungen, welche wir wiederholt als 
radiäre und circuläre Sprünge beschrieben haben, ihren Ausgangspunkt 
vom Einschuss- nnd vom Ausschussloch nehmen. 

Die hydrodynamische Druckwirkung im Schädelkapsel- 
Inhalt, — vorausgesetzt, dass dieser die Grundbedingungen für erstere 
darbietet, — und die Sprengung der Schädelkapsel Belbst durch 
die Heilwirkung des Geschosses (sowohl in der Einschussplatte, 
wie in der Ausschussplatte) sind zwei ganz selbstständige, von 
einander zunächst ganz unabhängige physikalische Vor¬ 
gänge. Sie haben primär nur die Entstehungsursache, nämlich die 
lebendige Kraft des Geschosses, gemeinsam, deren Kichtungslinien im 
festen wie im flüssigen Widerstande durch die Kegelkeilform der Ge- 
schosspitze bestimmt sind; sie verlaufen dann getrennt von einander, jeder 
in seinem Ursprungsgebiet und begegnen sich schliesslich an den Be¬ 
rührungsstellen ihrer Gebiete, so dass secundär ihre Wirkungen ver¬ 
mengt, ihre Kraftleistungen ln gewissem Sinne addirt erscheinen. An 
diesen Berührungsstellen ist die zeitliche Aufeinanderfolge der 
beiden Componenten zu berücksichtigen, die im Allgemeinen als ausser¬ 
ordentlich kurz anzusehen ist.') 

Die Ausschuss-Heilwirkung bildet den Beschluss der Schädelver¬ 
letzung; Bie wird nur durch das Geschoss selbst, unabhängig von der 
Einschuss-Keilwirkung und von der hydrodynamischen Druckwirkung 
gesetzt und fasst theoretisch die innere Schädelkapselfläche zeitlich später 
an, als die hydrodynamische Druchwirkung. 

Die hydrodynamische Druckwirkung wirkt gegen das Schädeldach 
als wellenförmig ablaufender Flächendruck gegen eine Fläche. Die 
Keil Wirkung wirkt im Schädeldach selbst fortgeleitet in scharfen Kraft¬ 
linien, welche in ihrem theils radiären, theils circulär-concentrischen 
Verlauf, leicht durch die physikalischen Gesetze der Heilwirkung über¬ 
haupt zu construiren bezw. zu erklären sind und bestimmend für die 
Formen des Schädelkapselbruchs sind. Die hydrodynamische Druck¬ 
wirkung sprengt die durch die am Ein- und Ausschuss zur Erscheinung 
gekommene Heilwirkung präformirten Bruchstücke centrifugal ausein¬ 
ander, schleudert sie weg, reiset bestehende oder sich bildende Sprünge 
weiter und länger und verändert ihren Verlauf meist nach der örtlichen 
Beschaffenheit der Schädelkapsel. 


1) Die Keilwirkung greift im Einschuss und in dessen unmittelbarer 
Umgebung an der inneren Schädelkapsel sicher früher an, als hydro¬ 
dynamische Druckwirkung. Ob sich in weiteren concentrischen Ab- 
etänden vom Einschuss dieser zeitliche Abstand verringert, oder = 0 
wird, oder vielleicht vermehrt, wird von der Leitungsfähigkeit der 
Widerstände für die Kraftwellen in beiden Parallel Vorgängen und bei der 
hydrodynamischen Druckwirkung besonders von der Weglänge, welchen 
die hydrodynamische Druckwirkung vom Schusskanal bis zur Schädel¬ 
kapsel zurückzulegen hat, abhängen. 


Inwieweit die Fortleitung der vom Geschoss erregten intracraniellen 
bezw. intracerebralen Druckwelle im normalen Gehirn bis zur Schädel¬ 
kapsel durch den Festigkeitsgrad des Gewebes beeinflusst, verlangsamt, 
abgeschwächt wird, wie sich dabei die Hirnmasse selbst nach ihrer 
Elasticität, ihrem Zusammenhang verhält, sind Fragen, die zur Zeit be¬ 
friedigend noch nicht beantwortet sind. 

Die Keil Wirkung in der leeren Schädelkapsel wirkt nicht sprengend, 
weil die freie Schädelwand die Druckschwingungen ausserordentlich 
schnell auf ihre Gesammtfläche vertheilt und mittelst ihrer Elasticität 
erträgt. Diese Elasticität der Schädelkapsel kommt am gefüllten Schädel 
— verhältnissmässig gleich ob mit Wasser, mit Gehirn oder mit festen 
Massen gefüllt — gar nicht oder sehr abgeschwächt znr Geltung, die 
Schwingungsmöglichkeit wird durch die allseitig stetige Anlagerung an 
die Wandungen aufgehoben. Bei Füllungen des Schädels, welche com- 
primirbar sind und dadurch Schwingungen gestatten (trockene oder wenig 
feuchte Sägespäne), springt der beschossene Schädel nicht. 

Hr. Nicolai: M. H. Von dem russischen Militärarzt Dr. Thiele 
wurden Versuche angestellt, welcher Antheil an der Sprengwirkung, die 
man beim Schiessen auf Vollschädel in der Mehrzahl der Fälle erhält, 
der Schädelwand und welcher Antheil dem Hirne selbst zuzuschreiben 
ist. Er schoss zu diesem Zweck auf trepanirte Schädel und suchte in 
die Trepanationsöffnung selbst hincinzutreffen, so dass also das Geschoss 
ohne vorher die Schädel wand zu zertrümmern, unmittelbar in die Hirn¬ 
masse einschlug. 

Es gelang Thiele sechs mal auf 30 Schritt die Trepanationsöffnung 
mehr oder weniger genau zu treffen. In allen 6 Fällen entstand ein 
glatter Schusskanal, etwas gTösser als das Kaliber, welcher sich gegen 
den Ausschuss trichterförmig erweiterte und nur dann Ausweitungen und 
Zerreissungen zeigte, wenn Knochensplitter mit in den Schusskanal hin¬ 
eingerissen waren, welche durch ihre lebendige Kraft diese Zerreissungen 
veranlasst hatten. 

Am Ausschuss selbst war der Schädel in grösserer oder geringerer 
Ausdehnung zertrümmert, die hinausgeschleuderte Hirnmasse fand sich 
an der hinter dem Ziel aufgestellten Anffangebohle als mehr oder 
weniger kreisförmiger Spritzfleck angeklebt, in der Mitte der Einschlag 
des Geschosses. Aus der Trepanationsöffnung, in rückwärtiger Richtung, 
war nicht eine Spur von Schädelinhalt herausgetreten. 

Hieraus geht hervor, dass das Geschoss, wenn es nicht erst die 
Schädelwand zu zertrümmern hat, also unbehindert in die Hirnmasse 
eintritt, bei der Verminderung seiner Geschwindigkeit lebendige Kraft 
an die Hirnmasse abgiebt, welche hierdurch in eine kegelförmige Wellen¬ 
bewegung in der Richtung der Flugbahn versetzt wird, wie der Herr 
Vortragende es uns erklärt hat. Dieser wellenförmige Stoss der Hirn¬ 
masse trägt beim Ausschuss, nachdem das Geschoss die hintere Schädel¬ 
wand durchschlagen hat, zur weiteren Zertrümmerung derselben bei und 
durch die hier anschlagende Stosswclle entstehen dabei die Längs- und 
Ringspalten, wie der Herr Vortragende es gezeigt hat. [Hiermit möchte 
ich mich noch gegen die Ausführungen des Herrn Dr. Kurlbaum 
wenden, welcher sagte, dass der hydrodynamische Druck die Flüssigkeit 
nach allen 8eiten gleichmässig verdrängen müsse. Sollte dieser Fall 
hier anwendbar sein, so müsste auch Hirnmasse dnreh die Trepanations¬ 
öffnung, in rückwärtiger Richtung austreten. Dies ist aber nicht beob¬ 
achtet worden. Die Flüssigkeitswelle bewegt sich in der Richtung der 
Flugbahn, strahlenförmig in Kegelform divergirend, wie dies das ScbiesBen 
auf mit Wasser gefüllte Blechbüchsen in der Längsachse des Cylinders 
beweist. (Herr Schjerning zeigt cylindrische Bleitöpfe, welche mit 
Wasser gefüllt, in der Querachse beschossen sind nnd an denen der 
rückwärts ausgebördelte Rand der Einschussöffnung beweist, dass Flüssig¬ 
keit ausgetreten ist.)] 

Redner fährt fort: Diese Wirkung ist dem Einflüsse der Wandung 
zuzuschieben. Sie wäre ausgeblieben, wenn das Geschoss, ohne erst die 
Cylinderwand durchschlagen zu müssen, in die Flüssigkeit eindringen 
konnte. 

Es handelt sich eben nicht um einen hydrodynamischen Druck, 
sondern um eine Wellenbewegung in einer bestimmten Richtung. 

Was die longitudinalen und radiären Sprünge anbelangt, so kann 
man dieselben an einem Ei, dessen Spitze man eindrückt, sehr schön 
beobachten. 

Hr. Rud. Köhler: Es ist selbstverständlich, dass niemals ein Schuss 
auf einen mit Wachs gefüllten Schädel gleiche Zerstörungen anrichten 
kann, als ein Schuss auf einen mit Wasser gefüllten. Giesst man einen 
Schädel mit Wachs aus, so entsteht zwischen Hirnschale and Wachs 
durch das Zusammenziehen der letzteren ein Zwischenraum, der die 
StoBSwelle, die vom Innern des Schädels kommt, unterbricht und ab¬ 
schwächt. 

Herrn Dr. Knrlbauih gegenüber möchte ich bemerken, dass ich 
nicht behauptet habe, Kleister sei ein fester Körper, sondern ich sagte, 
das die Resultate der Schüsse auf mit Kleister gefüllte Schädel gegen 
die Richtigkeit der hydrodynamischen Theorie sprechen. Letzteres er¬ 
klärt die Zersprengung des Schädels durch die Schnelligkeit der an¬ 
stürmenden Wassermassen. Wäre diese Theorie richtig, so konnten 
Schüsse auf mit Kleister gefüllte Schädel nicht ebensolche, ja sogar 
stärkere Zerstörungen hervorrufen, als Schüsse auf mit Wasser gefüllte, 
wie dies in der That constatirt ist. 

Wenn ich noch einmal zusammenfassen darf, m. H., worauf sich 
meine Deductionen in diesem Punkte gegründet haben und weshalb ich 
nicht annehme, dass hydrodynamische Wirkung die Explosivschüsse 
hervorrufen, so ist es Folgendes: wir sehen häufig Explosivschüsse am 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 18. 


Schädel, bei welchen wir nichts weiter finden, als die durch Heil¬ 
wirkung entstandenen radialen und circulären Fissuren. Ich habe Ihnen 
solche Schädel gezeigt. Wir sehen aber auch die Heilwirkung im Ge¬ 
hirne selbst, denn auch des Gehirn zeigt vom Schusskanal ausgehende 
radiäre Spalten, welche, wie ich in meinem Vortrage bewiesen habe, 
auf Heilwirkung zurückzuführen sind. Es würde schwer halten, diese 
vom Schusskanal des Gehirns ausgehende Spalten durch das schnelle 
Anstürmen von Wassermassen erklären zu wollen. 

Genau dieselben Zerstörungen, m. H., die wir am Schädel sehen, 
finden wir auch an den DiaphyBen, wie ich schon betont habe, bei beiden 
muss derselbe Mechanismus der Zerstörung obwalten. Allen Forschern 
hat sich das immer wieder aufgedrängt, so dass man nach einer gemein¬ 
schaftlichen Ursache für die Zerstörungen an beiden suchte und sie irr- 
thümlicher Weise in der Hydraulik zu finden glaubte. Ich glaube kaum, 
dass man die explosiven Erscheinungen bei Diaphysenschüssen auf hydro¬ 
dynamische Druckwirkung zurückführen kann. Bei den Diaphysen¬ 
schüssen ist sicher Heilwirkung die Ursache und derelbe Mechanismus 
der die Diaphyaen zerstört, zerstört anch den Schädel. Ich halte daher 
vollkommen meine Ansicht Uber die Art der Entstehung der Explosiv¬ 
schüsse aufrecht. 

(Nachträgliche Bemerkung. Die ausführlichere Begründung 
der vorgetragenen Theorie bringt mein soeben im Verlage von Otto 
Enslin, Berlin, erschienenes Lehrbnch der allgemeinen Kriegschirurgie. 
Es handelt sich nach meiner Theorie gar nicht darum, dass das Wasser 
einem schnellfliegenden Geschosse gegenüber zu einem festen Körper 
„erstarrt“, d. h. ein fester Körper wird, mithin seinen Aggregatzustand 
ändert, sondern darum, dass die Labilität der Wassertheilchen in der 
kurzen Spanne Zeit, welche ein Geschoss braucht, um einen mit Wasser 
gefüllten Schädel zu durchsetzen (in dem fünftausendsten Theil einer 
Secunde), nicht zur Geltung kommt. Dass sich dies in der That so 
verhält, beweist der erwähnte Pistolenversuch. Kann die Labilität der 
Wassertheilchen ln der unendlich kurzen Zeit der Wirkung des Ge¬ 
schosses sich nicht bethätigen, so verläuft die Stosswelle auch durch 
Wasser, wie durch einen festen Körper, der zugleich incompres- 
sibel ist. Die Entgegnungen der Herren Kurlbanm und Schjerning 
gehen daher von falschen Voraussetzungen aus. Ich habe wohl selbst 
bei meinem Vortrage durch nicht immer präcise Wahl meiner Worte zu 
dieser Auffassung Veranlassung gegeben, zumal erst nach und nach die 
richtige Vorstellung in mir selbst gereift ist. 


Verein für innere Hedicln. 

Sitzung vom 12. April 1897. 

1. Hr. Schwarz legt mikroskopische Präparate von Meningokokken, 
von zwei Fällen von epidemischer Genickstarre im städtischen Kranken¬ 
hause Friedrichshain stammend, vor, die sich in der mittelst Lumbal- 
punction gewonnenen Spinalflüssigkeit fanden und die Diagnose gesichert 
haben. In beiden Fällen war die Zahl der Bacterien gering, der Ver¬ 
lauf der Erkrankung günstig. 

2. Hr. Blumenthal berichtet über das Ausbleiben der WidaPschen 
Reaction bei einem sicheren Typhusfall. Bei der 21jährigen Kranken¬ 
wärterin waren Bämmtliche Erscheinungen des Typhus vorhanden. Am 
12. Tage der Erkrankung wurde Blut mittelst Schröpfköpfen von der 
Brust entnommen, in einer Verdünnung von 1 za 5 war die Reaction 
zweifelhaft, bei 1 zu 10 vollkommen negattv. Am 21. Tage der Er¬ 
krankung wurde Blnt aus der Armvene entnommen. Die Reaction fiel 
wieder negativ aus. Am 27. Tage war die Kranke entflebert. Am 29. 
Tage (also erst in der Reconvalescenz) gelang die Probe. Dadurch ist 
auf Grund der Untersuchungen von Pfeiffer and Gruber der Beweis, 
dass es sich wirklich um einen Typhns gehandelt hat, erbracht. 

Discussion. 

Hr. v. Leyden bestätigt die Richtigkeit der Typhusdiagnose. 

Hr. Stadelmann hat auch die Widal'sche Reaction in einem 
Typhusfall vermisst, der durch die Section sicher gestellt ist. Auch 
prognostisch sei aus dem Aasbleiben der Reaction nur mit Vorsicht ein 
Schluss za ziehen. 

Hr. Fürbringer hat gleichfalls einen Typhusfall ohne Widal’sche 
Reaction beobachtet. 

8. Hr. Bend« berichtet über Fremdkörper in den Luftwegen: 
1) einen in der Trunkenheit verschluckten Rollmops, 2) ein grosses 
dreieckiges Knochenstück, das mit seiner Spitzseite in der Wand 
des linken Hauptbronchus fest eingekeilt sass. Pat. hatte es vor 
8 Jahren beim eiligen Essen verschlackt, hatte seitdem an chronischen 
Katarrhen gelitten und war siech geworden. Er kam mit einem links¬ 
seitigen Empyem im Krankenhaus am Urban zur Aufnahme und ging 
im Collaps zu Grunde. Bei der Autopsie ergab sich eine Hepatisation 
der linken Lunge, ausserdem Bronchectasieen und eine Abscesshöhle, 
welche in die Pleura perforirt war. 

Discussion. 

Hr. Stadelmann: Es war klinisch ein Pyopneumothorax festge¬ 
stellt worden, dessen Ursache nicht ersichtlich war. 


Hr. A. Fraenkel macht auf die ausgedehnte indurative Pneumonie 
in der Lunge aufmerksam, die bei Fremdkörperaspiration bänfig vor¬ 
kommt. 

Hr. Gerhardt: Bei einem älteren Manne waren wegen Kopf¬ 
schmerz und Stauungspapille Verdacht auf einen Hirntumor entstanden. 
Ein plötzlicher Erstickungsanfall machte die Tracheotomie nothweodig. 
Danach hastete Pat. ein ungewöhnlich grosses Stück Fleisch aus, die 
Stauungspapille verschwand. Patient war geheilt. 

Hr. Fürbringer: Einem angetrunkenen Studenten war ein grosses 
Stück Fleisch im Kehlkopf stecken geblieben. Es trat sofortiger Tod 
ein. Derartige Zufälle sind nicht selten. 

4. Discussion zu dem Vortrage des Herrn E. Flatau: lieber Ter* 
Inderungen des menschlichen Rückenmarks nach Wegfall grösserer 
Gliedmassen. 

Hr. Goldscheider: Der vom Vortragenden erwähnte Fall von 
seiner Abtheilung hatte klinisches Interesse. Es war die Diagnose aof 
einen Tumor der Cauda eqaina und zwar der ventralen Wurzeln gestellt 
worden in Folge der Compressionserscheinungen: Lähmung der Blase, 
Anästhesie der Genitalien, des Dammes und der Anusgegend. An dem 
erhaltenen Bein war der Patellarrcflex vorhanden, der Achillessehnen- 
reflex dagegen fehlte. — Beraerkenswerth ist die secundäre Degeneration 
der Reflexcollateralen im Anschluss an die Amputation. Das hat seinen 
naturgemäßen Grund. Diejenigen Neurone degeneriren am leichtesten, 
welche am wenigsten Verbindung mit den anderen haben. Die Ganglien¬ 
zellen können sich nur durch Zuführung von Reizen in ihrer Constitution 
erhalten. Wenn nun ein Bein amputirt ist, so bekommen die Refiex- 
collateralen gar keine Reize mehr und degeneriren darum. 

Hr. v. Leyden: Die Untersuchungen des Vortragenden sind von 
Interesse mit Rücksicht auf die Frage der Entstehung der Tabes dorsalis. 
Nach P. Marie müssen deren Ursachen in einer Erkrankung der Spinal¬ 
ganglien gesucht werden. Demgegenüber hat v. L. an dem peripheren 
Ursprung der Affection festgehalten. Bei der Tabes sind in sensiblen 
rein motorischen peripheren Nerven häufig degenerative Processe ge¬ 
funden worden. Dieselben machen ihren Einfluss auch auf die centralen 
Ganglienzellen geltend, wenn die Unterbrechung der Leitung lange Zeit 
besteht. Beim Fortfall der peripheren Reize wird schliesslich auch die 
Integrität der Ganglienzellen aufgehoben. Für diese Verbindung der 
beiden Theorien der Tabes wird durch die Untersuchung des Vortr. 
eine Stütze gebracht. 

Hr. Oppenheim fragt, warum alsdann nicht die Polyneuritis in 
Tabes übergeht, mit der sie weder klinische noch anatomische Erschei¬ 
nungen gemein hat. V» eiterhin wirft O. die Frage auf, ob das vom Vor¬ 
tragenden angewendeten Marchi'schen Färbungsverfahren immer nnr 
pathologische Verhältnisse zeigt; denn die dazu verwendete Osmium- 
säure färbt auch das normale Nervenmark. Die Methode stellt gewisse 
Degenerationszustände dar, welche durch kein anderes Verfahren nach¬ 
gewiesen werden können. Auch im Centralnervensystem Gesunder finden 
sich dieselben Veränderungen, die man nach der geltenden Auffassung 
als pathologisch erachten kann. 

Hr. v. Leyden: Die Polynenritis ist eine acute oder subacute 
Affection, die fast immer in Heilung übergeht. Die Spinalganglienzellen 
werden dabei garnicht in Mitleidenschaft gezogen. 

Hr. Goldscheider hat zwei Fälle von chronischer Polyneuritis 
beobachtet, die „taboide“ Veränderungen am Rückenmark zeigten. Der 
Uebergang der Degeneration auf das Rückenmark kann statihaben, wenn 
die Bedingungen dazu gegeben sind. Es sind noch nicht viel Fälle nach 
dieser Richtung hin untersucht worden. 

Hr. Flatau (Schlusswort) weist die Einwände Oppenheim’« 
gegen die Marchi'sche Methode als unbegründet zurück. 

5. Hr. Alba: Ernährung and DarmfSulniss. 

Alle Versuche, die Darmfäulniss durch innerlich zu verabreichende 
Arzneimittel, die sogen. Darmantiseptica oder Darmdesinficientien zu beein¬ 
flussen, sind bisher gescheitert. Vortragender hat in früheren Arbeiten nach¬ 
gewiesen, dass es unmöglich ist, auf diese Weise die Darmfäulniss zu unter¬ 
drücken. Am nachhaltigsten lässt sich dieselbe immer noch dnreh Laxantien 
beschränken, welche die grosse Masse deB fäulnissfähigen Darminhalte« 
fortschaffen. In neuerer Zeit ist nun der Gedanke aufgetaucht, die Darm¬ 
fäulniss durch eine Asepsis des Darmkanals hintenanzuhalten. 
Vortragender übt Kritik an diesem Begriff, der nichts Anderes als eine 
Phrase darstelle. Denn im Sinne der Franzosen, die diesen Begriff auf¬ 
gestellt haben (8oci6t6 de therapeutique, 1895), gelingt es weder durch 
die ausgiebigste Darmentleerung noch durch die gründlichste Enteroclyse 
den Darm keimfrei und den Harn frei von den resorbirten Fäulnisspro- 
dnkten zu machen. Vortragender hat nun in einer neuen Reihe von 
Versuchen, über die zum Theil bereits Dr. Eisenstädt in seiner jüngst 
erschienenen Inauguraldissertation eine protokollarische Uebersicht gegeben 
hat, festzustellen gesucht: 1) wie weit die Einführung einer sterilisirtcu 
Nahrung, die nach Stern und Suckdorf die Zahl der Keime in 
den Fäces vermindert, die Darmfäulniss herabzusetzen vermag; 2. die 
Milchdiät nach den Angaben der Franzosen eine Asepsis des Danncanals 
hervorzurufen vermag. Als Maassstab für die Beurtheilung der Intensität der 
Darmfäulniss wurde die Bestimmung der gepaarten und präformirten 
Schwefelsäuren nach der Baumann’BChen Methode gewählt, obwohl 
diese nur nach einer, allerdings der hauptsächlichsten Richtung der Darm¬ 
fäulniss hin (EiweisBfäulniss) Aufschluss gewährt. Der Quotient der beiden 
Arten der Schwefelsäure wird mit Unrecht vielfach noch als ausschlaggebend 
betrachtet; er ist es nur bo lange, als die Nahrung im Versuch sich 
immer gleich bleibt. Die Bildung der Menge der aromatischen Fäulnis»- 


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3. Mai • 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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Produkte wird toehr durch die absolute Zahl der gepaarten Schwefel¬ 
säuren gekennzeichnet. Bei den Versuchen mit sterilisirter Nahrung 
ergab sich durchaus keine Verminderung der Dannfäulniss im Vergleich 
mit der Controlnahrung. Auch dabei zeigen sich die bekannten Schwan¬ 
kungen der Werthe in den breiten Grenzen, die zum Theil sich auch 
hier wiederum von anderen Factoren, namentlich dem Verhalten der 
Kothentleerung, abhängig zeigten. Rohe und gekochte Milch unter¬ 
scheiden sich in Bezug auf die Stärke der Dannfäulniss nicht. Nach 
vorangegangener gründlicher Darmentleerung führt eine sterilisirte Nah¬ 
rung allerdings zu einer Verminderung derselben. Diese Ernährungs¬ 
weise lässt sich aber in praxi gar nicht durchführen, am wenigsten bei 
den acuten Darminfectionen. Reine Milchdiät setzt die Eiweissfäulniss 
im Darm ganz erheblich herab; dieser günstige Einfluss wird aber durch 
Zusatz anderer Nahrungsmittel sofort geringer. Kohlehydrate machen 
davon keine Ausnahme. Dass in der Milch also nicht der Kohlehydrat- 
Gehalt wirksam ist, wurde noch besonders dadurch bewiesen, dass eine Er¬ 
nährung mit reichlicher vorwiegend kohlehydrathaltiger Kost die Eiweiss¬ 
fäulniss im Darm nicht wesentlich herabzusetzen vermag. Dass in der Milch 
nicht das Eiweiss und das Fett die die Dannfäulniss beeinflussenden 
Factoren sind, ist schon früher durch Hirschler und durch Schmitz 
erwiesen. Es bleibt also nur der Milchzucker übrig. Von Hirschler 
wurde seine Dannfäulniss beschränkende Wirkung als eine Eigenschaft 
eines Kohlehydrates gedeutet, von Rovighi wurde sie auf die Abspal¬ 
tung der Milchsäure zurückgeführt Erstere Annahme ist durch die Ver¬ 
suche des Vortragenden widerlegt. Nach seiner Ansicht kann der 
Milchzucker die besagte Wirkung entweder durch seine laxirende Eigen¬ 
schaft zu Stande bringen, die ja bekannt ist und anch therapeutisch 
ausgenutzt wird oder aber als naturgemässes Darmantisepticum, wie ihm 
kein arzneiliches an die Seite zu stellen ist. Denn er dringt mit dem 
Eiweiss und Fett der Milch bis in die untersten Theile des Darms, 
bleibt beständig im innigsten Contact mit dem Darminhalt, gelangt in 
die Lymphwege des Darmes, auch zur Resorption und spaltet auf diesem 
ganzen Wege die stark desinfleirende Eigenschaften besitzende Milch¬ 
säure ununterbrochen ab. Aber auch diese Wirkung des Milchzuckers 
resp. der Milchsäure bietet keine Sicherheit für die Unterdrückung oder 
auch nur Herabsetzung der Darrafäulniss, weil diese gleichzeitig durch 
verschiedene Factoren beeinflusst wird; das ist zunächst die Zusammen¬ 
setzung der Nahrung, wobei Grösse und Häufigkeit der Mahlzeiten [in 
Betracht kommen, ferner die jeweiligen Verhältnisse der Resorption im 
Darm, die Ausgiebigkeit und Art der Darmentleerung, in letzterer Reihe 
erst der Keimgehalt des Darminbaltes. Keinem dieser einzelnen Fac¬ 
toren geht die Dannfäulniss parallel, keiner Diätform entspricht eine 
bestimmte Stärke der Eiweissfäulniss, da der Einfluss eines Nahrungs¬ 
mittels leicht durch ein anderes aufgehoben wird. Jedenfalls hat der 
Gedanke an eine arzneiliche Darmdesinfection jede Grundlage verloren. 
Die Ueberschwemmung des Arzneimarktes mit sogenannten Darmdes- 
infleientien ist nur geeignet, die Arzneitherapie bei kritisch Denkenden in 
Misskredit zu bringen. 

Hr. Blnmenthal hat bei eigenen Untersuchungen früher gefunden, 
dass Bacterien in der Regel keine Eiweisszersetzung in der Milch her- 
vorrufen können, weil der Milchzucker die Eiweisskörper vor der Zer¬ 
setzung schützt Erst wenn man die ans der Gährung des Milchzuckers 
entstandenen Sänren immer wieder nentralisirt, kommt es zur Fäulniss 
der Eiweisskörper. Die Bacterien greifen in der Milch zuerst die Kohle¬ 
hydrate an. Das Casein selbst ist dabei fäulnissfähig. Die Grösse der 
Milchzersetzung im Darm kann also nach der Menge der Producte der 
Eiweissfäulniss nicht gemessen werden. Bei der Zersetzung der Milch 
bilden sich vorwiegend Alkohol, flüchtige und nicht flüchtige Fettsäuren, 
die weiter verbrannt werden. Die Intensität der Dannfäulniss kann 
auch nicht nach der Zahl der Bacterien im Darm bestimmt werden. B. 
hat früher gezeigt, das unter dem Einfluss des Alkalis die auf künst¬ 
lichen Nährböden gezüchteten Bact. coli in der Zahl sehr schwankten, 
dem entsprechend auch die Menge ihrer StofTwechselproducte. In Milch, 
in der die Diphtberiebacilien gut wachsen, findet nur eine geringe Toxin¬ 
bildung statt, die Bich aber nach Feinberg’s Untersuchungen ohne 
Vermehrung der Bacterienzahl künstlich steigern lässt. 

Hr. Rosenheim: Das Casein der Milch unterscheide sich von 
anderen Eiweisskörpern dadurch, dass es der Fäulniss mehr Widerstand 
leistet. Die Empfehlung der Laxantien und der Milch alB der besten 
Darmdesinficientien lasse sich nicht allgemein durchführen, ihre Anwen¬ 
dung verbietet sich bei manchen Krankheitszuständen. Die arzneilichen 
Antiseptica leisten oft gute Dienste, wenn sie in geeigneten Fällen an¬ 
gewendet werden. 

Hr. Jacob erwähnt die neuen Thierversuche von Thierfeldcr 
und Nutall, wonach die VerdauungsVorgänge im Magendarmkanal ohne 
Mitwirkung von Bacterien vor sich gehen. Trotz deren Abwesenheit 
haben sich aromatische Fäulnissproducte im Harm gefunden. 

Hr. Albu: Die letzterwähnten Versuche stehen bisher noch im 
Widerspruch zn allen bisherigen Anschauungen, dass die Eiweisszer- 
setznng im Darm durch die Thätigkeit von Bacterien bedingt ist, wenn 
auch deren Menge für die Intensität der Dannfäulniss nicht von Belang 
oder nichj entscheidend ist. Beim menschlichen Säugling beginnen die 
Verdauungsprocesse kaum früher als die Einwanderung der Bacterien in 
den Magendarmkanal. Diese Frage ist also noch nicht spruchreif. Das 
reine Milchcasein unterscheidet sich nach vorliegenden Versuchen nicht 
von anderen Eiweisskörpern hinsichtlich des Verhaltens gegen Fäulniss. 
Vortr. hat die Darmdesinfection garnicht für praktische Zwecke empfohlen, 
sie hat nur wissenschaftliches Interesse. Die arzneilichen Antiseptica 


sind in praxi wohl immer entbehrlich. Dass die Dannfäulniss nicht 
dnreh die Eiweissfäulniss allein erschöpft wird, hat Vortr. selbst hervor¬ 
gehoben. Nichtsdestoweniger ist die Beschränkung der letzteren doch 
das hauptsächlichste Ziel bei derartigen Untersuchungen, weil sie einen 
grossen Theil der Zersetzungsprocesse ausmacht. 


VIIL 26. Congress der Deutschen Gesellschaft 
für Chirurgie. 

Vom 21. —24. April. 

Referent Engen Cohn. 

I. Tag. 21. April. 

(Fortsetzung.) 

Discnssion über den Vortrag des Herrn Körte: Weiterer Be¬ 
richt über die chirurgische Behandlnng der diffusen Bauch¬ 
fellentzündung. 

Hr. Koenig hebt im Anschluss an die Mittheilung eines von ihm 
operirten Falles hervor, dass in den meisten Fällen von Peritonitis, aus¬ 
gehend von der Perforation des Wurmfortsatzes, es sich nicht um allge¬ 
meine Peritonitiden, sondern um eine Reihe kleinerer Herde, Abkapse¬ 
lungen handele, derart, dass eine Partie des Bauches immer noch gesund 
bleibe, Peritonitiden, die nicht als diffuse bezeichnet werden dürfen. Er 
räth, in solchen Fällen die Bauchwunde, die er diesmal seitlich vom 
Nabel bis zur Darmbeingrube anlegte, offen zu lassen. Mit dem Stand¬ 
punkt Körte's, eine septische Peritonitis nicht zu operiren, ist er nicht 
einverstanden. 

Hr. Sonnenburg hebt die Schwierigkeit der Diagnose hervor. 
Peritonitische Reizung bei Wurmfortsatzaffectionen macht ein ähnliches 
Bild, schwer ist oft ein Exsndat nachzuweisen, schwer ob eine abgekap- 
selte oder diffuse Flüssigkeitsansammlung vorliegt. Wie Koenig em¬ 
pfiehlt, lässt er die Bauchwunde stets offen und legt den Schnitt immer 
in die rechte 8eite. Die Entleerung des Exsudats erfolgt besser als bei 
medianem Schnitt. Vor allem ist man sicher, dass nicht intacte Theile 
der Bauchhöhle eröffnet werden, wobei dann die Infection rapide vor¬ 
wärts schreitet. Zuweilen genesen Fälle, in denen die Operation als 
aussichtslos abgelehnt wurde. 

Hr. Israel sucht bei diffuser Peritonitis die Schädlichkeit des Ex¬ 
sudates dadurch zu eliminiren, dass er den Druck der Bauchdecken auf 
ein Minimum reducirt durch einen langen Kreuzschnitt. Die Wunde 
bleibt offen. Bei wirklichen diffusen, nicht aus einer Reihe abgekap¬ 
selter Herde bestehenden Peritonitiden hat er viel günstigere Resultate 
als früher. 

Hr. Marwedel-Heidelberg: Klinische Erfahrungen über den 
Werth deB Mnrphyknopfes. 

Auf dem vorigen Congress berichtete Czerny über 11 mit dem 
Murpbyknopf behandelte Fälle. Seitdem Bind in der Czerny- 
schen Klinik 55 Operationen mit dem Murphyknopf ausgeführt 
worden, 85 mal wurde die Anastomose zwischen Magen und Darm, 
9mal zwischen Gallenblase und Darm, in den übrigen Fällen 
nur zwischen dem Darm hergestellt. 29 mal gaben carcinomatöse 
Stenosen die Indication. 81 mal wurde die Gastroenterostomie nach 
Hacker ausgeführt. In keinem der 85 Fälle von Gastroenterostomie 
war ein übler Ausgang durch den Knopf bedingt, es genasen 28. Der 
günstige Ausgang ist bei einigen Fällen sicher auf Rechnung der Kürze 
der Operationsdauer zu setzen. Nur in 2 Fällen war anfangs etwas Re¬ 
gurgitation des Darminhaltes in den Magen vorhanden. Der Abgang des 
Knopfes erfolgte frühestens am 8. Tage, am spätesten nach 45 Tagen, 
meist nach 12—14 Tagen. Der Knopf geht wohl öfter ab, als man an¬ 
zunehmen geneigt ist, sind die Kranken ausserhalb des 8pitales, dann 
hört die Controle auf. Von den an den Gallenwegen operirten 8 Fällen 
starb einer, die beiden anderen wurden geheilt, bei dem einen ist jetzt, 
4 V 2 Monate nach der Operation der Knopf noch nicht abgegangen. Von 
6 Fällen von Darmgangrän wurden 8 geheilt. Ein Nachtheil ist, dass 
bei kleinen Crnralhernien die Wunde znr Laparotomiewunde bei Anwen¬ 
dung des Knopfes erweitert werden muss. In 8 Fällen versagte der 
Knopf und trat Exitus nach Perforationsperitonitis ein. In diesen das 
Coecum und Colon betreffenden Fällen verhinderte einmal die Dicke der 
Darmwandung das feste Schliessen des Knopfes, oder der Knopf passte 
nicht central in das Lumen des Darms hinein, so dass ein Ende durch 
die Naht verschlossen wurde. In solchen Fällen wird man in Zukunft 
die Vereinigung von der Seite her nach v. Frey und Brunn auszuführen 
haben. Was die Resultate anlangt, so bestanden nach 828 Knopfopera¬ 
tionen, die Brentano znsammenstellte, nur 8mal narbige Verengerungen. 
Die Technik will erlernt sein, die Oeffnung für das Einschieben des 
Knopfes ist nicht zn gross anzulegen. Hüten muss man sich vor schlechten 
Fabrikaten von Knöpfen, die im Handel sind. Murphy’s Meinung, dass 
die Verstärkung des Knopfes durch die Naht unnöthig, ja gefährlich sei, 
theilt M. 

Hr. Heidenhain-Greifswald hält den Murphyknopf nur für einen 
Nothbehelf. 

Hr. Felix Franke-Braunschweig demonstrirt ein grosses Adenom 
des Magens von einem 37jähr. Manne. Es bestand Abmagerung, Appe- 


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392 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 18. 


titlosigkeit, Verzögerung der Verdauung, Fehlen der Salzsäure; Milch¬ 
säure war stets nachweisbar, Krebskachexie, Erbrechen fehlten. Er em¬ 
pfiehlt bei heruntergekommenen Patienten zunächst durch eine Gastro¬ 
enterostomie die Beschwerden zu beseitigen, den Ernährungsstand zu 
heben, dann erst nach etlichen Tagen die Geschwulst zu reseciren. 

Hr. L. Heidenhain: Beiträge zur Pathologie undTherapie 
des acuten Darmverschlusses. 

Die Grundlage zu meinen Ausführungen bilden 93 Fälle, welche in 
den letzten 6'/t Jahren in der Greifswalder chirurgischen Klinik be¬ 
handelt wurden. Eingeschlossen in die Betrachtung sind aus praktischen 
Gründen die Fälle chronischer Darmstenose mit acutem oder Bubacutem 
Ausgange; ausgeschlossen ist primäre Peritonitis mit secundären Ileus- 
symptomen. 

Um mit dem Neuen zu beginnen, so haben wir in den letzten Jahren 
die Erfahrung gemacht, dass ein vollkommener und anscheinend unüber¬ 
windlicher Darmverschiüss durch eine einfache functioneile Störung 
der Fortbewegung des Darminhaltes nnd zwar durch eine spastische oder 
tonische Contractur grosser Darmabschnitte, durch einen anscheinenden 
wahren Enterospasmus bedingt sein kann. Abnorme, die Passage 
des Darminhaltes störende Contraction der Darmwand sahen wir zum 
ersten Mal vor einigen Jahren als Nebenbefund bei einer Enterostomie 
wegen tiefen Dickdarmverschlusses. Die Section des nach einigen Tagen 
an hypostatischer Pneumonie verstorbenen Kranken zeigte eine hoch¬ 
gelegene Nabenstenose des Rectum. Bei der Operation dieses Falles 
trat mir sofort mit Eröffnung des Leibes eine ad maximura geblähte 
Dünndarmschlinge entgegen, welche unmittelbar in einen grösseren, voll¬ 
kommen leeren und contrahirten Darmabschnitt überging, ohne dass an 
der Grenze der beiden irgend ein Hinderniss bestanden hätte. 

Zwei unserer Fälle scheinen mir klar zu beweisen, dass in 
Folge irgend welcher Reizzustände im Unterleib ein vollkom¬ 
mener Darmverschiüss entstehen kann, der rein functioneller Natur ist. 
In den berichteten Fällen hat es sich dem Operationsbefunde nach 
um einen Enterospasmus eines grösseren Darmabschnittes gehandelt. Der 
Vorgang ist wahrscheinlich ein reflectorischcr. In unserem ersten Falle 
hat der durch den Volvulus gesetzte Reiz, in dem Miller’schen die 
Dünndarmeinklemmung, im dritten Falle vielleicht der 8pulwurm die 
Veranlassung zu der reflectorischen Contractur der Darmmuskulatur ge¬ 
geben. Wenigstens sehe ich keine andere wahrscheinliche Erklärung 
dieser merkwürdigen Beobachtungen. 

Auffallend war die niedrige Pulsfrequenz in unserem Volvulusfalle. 
Ein Puls von 51 bei einer Rectaltemperatur von 88,5 ist doch etwas 
durchaus ungewöhnlichel, zumal bei einem Menschen mit acutem Darm¬ 
verschluss, der doch im Allgemeinen einen erhöhten Puls hat, und dieser 
niedrige Puls hielt während der ganzen Dauer der Erkrankung an. Die 
Vermuthung, dass eine reflectorische Vagusreizung mit im Spiele sei, ist 
naheliegend. 

Fälle von anscheinend rein functionellem, zum Theile gewiss re- 
flectorisch entstandenem Darmverschluss finden sich in der Literatur 
nicht allzu selten berichtet. Selbst wenn man die mitgetheilten Beob¬ 
achtungen sehr kritisch betrachtet, so bleiben doch eine Anzahl von 
Ihnen übrig, welche mit aller Wahrscheinlichkeit vollkommene Analoga 
der eben mitgetheilten sind und geeignet die Hypothese von der func- 
tionelien Natur mancher Fälle von Darmverschluss zu stützen. Vor 
allen gehören hierher die seltenen aber gut beglaubigten Fälle eines 
typischen „Ileus“ in Folge von Torsion des Stieles eines 
Ovarialtumors oder von Einklemmung eines Leistenhodens. 

Hiernach entseht die Frage, wie viele Fälle einer functionellen 
Störung des Laufes der Darmcontenta Bich unter den durch innere 
Therapie geheilten Fällen von Heus verbergen mögen. 

Suche ich vom Standpunkte meiner eigenen, freilich beschränkten 
Erfahrung und einer sorgfältigen Verfolgung der Literatur die Frage zu 
beantworten, was für Formen von acutem Darmverschiüss unter innerer 
Behandlung zur Heilung gelangen können, so komme ich zu folgenden 
Ergebnissen. Von einfachen Koprostaaen sehe ich ab; allein das ist 
wohl gewiss, dass unter diesem Bilde vielfach Fälle von tiefen Stricturen 
sich verstecken, Carcinome, Narbenstricturen oder äussere Compression 
des Colon durch alte peritonitische Stränge, wie ich letzteres in einem 
sehr charakteristischen Falle gesehen habe. Demnächst sind innerlicher 
Behandlung zugänglich die zahlreichen Fälle unvollkommener Stenosen 
des Dünndarmes durch alte peritonitische Processe, circulare Umschnü¬ 
rung, winklige Abknickung und multiple Verwachsungen benachbarter 
Schlingen untereinander. Derartige Hindernisse sind ungemein häufig: 
bei 80 Operationen haben wir sie 7 Mal gesehen. Dass eine einzige 
gründliche Magenausspülung in solchen Fällen die überfüllte zufuhrende 
Schlinge zu entführen vermag, und dass nun bei sorgfältiger Diät Ge¬ 
nesung eintreten kann, ist nicht zu bezweifeln. 

Demnächst Bind Verlegungen des Darmes durch Gallensteine 
und andere Fremdkörper innerer Therapie zugängig. Körte hat 
darauf aufmerksam gemacht, dass Gallensteineinklemmung vielfach unter 
dem Bilde eines acuten mit Darmläsion einhergehenden Ileus verläuft, 
so dass die Diagnose auf innere Einklemmung oder Achsendrehung ge¬ 
stellt wird. Auch hier zeigt sich wieder, dass aus der Plötzlichkeit des 
Auftretens und der Heftigkeit der Erscheinungen ein sicherer Schluss 
auf die Natur des Hindernisses nicht zu ziehen ist, dass manches für 
eine innere Einklemmung angesehen werden kann, was keine solche ist. 

Dass in seltenen Fällen einmal eine Invagination durch Ein¬ 
blasung von Luft oder hohe Eingiessung gehoben wird, ist bekannt, 
ebenso aber, dass bei Weitem die meisten Fälle von Darmeinschiebungen 


dem Chirurgen übergeben werden mussten, oder gestorben sind. Dass 
ein Volvulus desSromanum von 180 Grad gelegentlich im aller¬ 
ersten Stadium der Erkrankung durch eine hohe Eingiessung oder Luft- 
einblasung gehoben werden kann, will ich zugeben. Ich habe einen 
beweisenden Fall gesehen (recidivirender Darmverschluss, Operation, 
Heilung). Ist aber die Umdrehung eine vollkommene, 270 bis 860 Grad, 
so kann bei einer Eingiessung unmöglich Wasser in die abgeschlossene 
Schlinge eindringen, denn der Abschluss an der Umdrehungsstelle ist ein 
vollkommener. Wer bei Operationen die Umdrehungsstelle öfter unter 
den Fingern gehabt hat, ist hiervon fest überzeugt. Ueberdies wird 
eine Drehung der Schlinge durchaus unmöglich mit dem Augenblick, wo 
Aufblähung der Schlinge auftritt. 

Danach bleibt von allen Möglichkeiten eines acuten Darmverschlnsses 
nur noch die innere Einklemmung irgend welcher Art übrig. Dass 
eine solche durch innere Therapie zur Heilung kommen könne, erscheint 
mir völlig unglaublich, wenn auch diese Meinung von hervorragenden 
Medicinern, wie Chirurgen ausgesprochen worden ist. Mir ist nicht be¬ 
kannt, dass Je spontane Lösung einer äusseren Einklemmung gesehen 
wurde. 

Fragen wir nun, was sind es für Fälle gewesen, welche bei 
zuwartendera Verhalten genasen, so sind wir bisher auf reine 
Hypothesen angewiesen, wenigstens für die grösste Mehrzahl der Beob¬ 
achtungen, denn nach Ablauf der Erkrankung bleibt die Ursache der¬ 
selben gewöhnlich dunkel. Eine Möglichkeit, dass wir in der Erkennt¬ 
nis einen Schritt vorwärts thun. ist nur dann gegeben, wenn interne 
Kliniker mit einem grossen Material Nachforschungen darüber 
anstellen, was im Laufe der Zeit aus den Kranken gewor¬ 
den ist, die sie geheilt entliessen. Dann wird sich herausstellen, 
dass in vielen Fällen die Heilung nicht von Dauer gewesen ist, dass die 
Kranken in einem zweiten oder dritten Anfalle zu Grunde gingen, hier 
und da wird sich auch die eigentliche Grundkrankheit ermitteln lassen. 
Es wird sich vermuthlich zeigen, dass anatomische Veränderungen, 
welche einen blutigen Eingriff nothwendig machen, häufiger sind, als 
die internen Kliniker bisher glauben. Vielleicht bekommen wir damit 
auch einen Anhalt dafür, wie häufig Fälle von rein functionellem Darm¬ 
verschluss sind. Ich erhoffe von solchen Nachforschungen einen wesent¬ 
lichen Fortschritt unserer diagnostischen Kenntnisse, auch eine Besserung 
der noch sehr unsicheren therapeutischen Indicationen. 

Der knapp zugemessenen Zeit halber will ich von den Indicationen 
zur Operation nicht reden. 

Fast ausnahmslos sind wir darauf ausgegangen, das Hindern iss 
zu finden, ln einer Anzahl unserer Fälle war der Ort desselben schon 
vor Eröffnung des Leibes so sicher bestimmt, dass es nach derselben 
nur eines Griffes bedurfte, um es zu finden. Weise man nichts über den 
Sitz des Hindernisses, so soll man zuerst die Bruchpforten von innen 
abtasten. Wir haben 2 Mal äussere Brüche gefunden in Fällen, in 
denen von aussen nichts zu erkennen war (interstitieller Leistenbrnch 
und sehr kleiner Schenkelbruch, beide bei Frauen). Im Allgemeinen ist 
auf die Abtastung der Bauchhöhle im Dunklen nicht viel Werth zu 
legen, namentlich dann, wenn die Dünndärme stark gefüllt sind. Findet 
man bei blindem Abtasten das Hinderniss wirklich, so ist da9 ein glück¬ 
licher Zufall. Es ist ganz ungemein schwer, allein nach dem Gefühl 
zu entscheiden, was man unter den Fingern hat. 

Falls sich bei der Oeffnung des Peritoneum stark gefüllte Dünn- 
darmschlingen in die Wunde drängen, ist es ganz zweckmässig, nach 
dem Vorschläge von Greig Smith die stärkst geblähte Schlinge aus¬ 
treten zu lassen. Man sieht dann gelegentlich, dass der eine Schenkel 
der Schlinge sich schnell aus der Bauchhöhle entwickelt, während der 
andere in derselben fixirt bleibt. Zieht man nur diese letztere an, so 
kommt man öfter sofort auf das Hinderniss. Der Kunstgriff rechnet da¬ 
mit, dass die stärkst gefüllte Schlinge oben auf zu liegen pflegt und 
entweder die eingeklemmte selbst ist oder die zum Hinderniss führende. 
Missglückt dieser Handgriff, so ist man, wenn der Dickdarm leer ist, 
darauf angewiesen, entweder den Dünndarm systematisch abzusuehen, 
oder den Bauchschnitt zu vergrössern und nach Kümmell zu eventriren. 

Bei 2 erwachsenen Kranken haben wir vollkommen eventrirt, bei 
einem 10jährigen Mädchen etwa 1 Meter. Alle 3 sind genesen. Bei 
Erwachsenen haben wir 1 Meter Darm häufig ausgepackt. 

Ueber die Behandlung des gefundenen Hindernisses zu sprechen, 
wäre in unserer Sitzung nicht am Platze. Sind Sie doch alle mit den 
mancherlei Schwierigkeiten und Techniken wohl vertraut. Nur eine 
Bemerkung Uber Behandlung von Dünndarmstenosen möchte ich nicht 
unterdrücken. Oefter ist eine Lösung der Stenose nicht möglich und 
Anlegung einer Enteroanastomose der einzige Ausweg. Bei sehr ver¬ 
fallenen Kranken wird man zunächst eine Enterostomie oberhalb an- 
legen müssen und die Beseitigung des Hindernisses auf eine zweite Ope¬ 
ration verschieben. Allein dadurch können grosse Schwierigkeiten ent¬ 
stehen. Die Btark geblähten und entzündeten zuführenden Schlingen 
können schon innerhalb 14 Tagen so feste Verwachsungen untereinander 
und mit den anliegenden Schlingen eingehen, dass eine Trennung der¬ 
selben fast unmöglich ist. 

Gestatten es also die Verhältnisse, so ist es besser, die Entero¬ 
anastomose sofort auszuführen. Den Murphyknopf darf man bei der¬ 
selben nicht verwenden. Wir haben es 2 mal gethan, thun es aber nicht 
wieder, da der Knopf für mehrere Tage die Passage des Darminhaltes 
vollkommen hinderte; nicht einmal Winde gingen ab. Dass die beiden 
Kranken mit dem Leben davon gekommen sind, verdanken sie wohl nur 
dem Umstande, dass vor Anlegung der Enteroanastomose der zu- 


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3. Mal 1 «Sft • 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


393 


führende Dari* 1 ^ürch einen Einschnitt gründlich entleert 
worden war. 

Ich komme damit auf den Punkt, der mir bei der Behandlung des 
acuten Dannverschlusses fast der wichtigste au sein scheint. Ich bin 
der festen Ueberzeugung und habe darauf vor Kurzem schon einmal hin¬ 
gedeutet, dass die grösste Mehrzahl der Leute, welche an einem Darm¬ 
verschluss zu Grunde gehen, nicht stirbt an primärer Peritonitis, sondern 
an der Ueberfüllung der Därme und deren Folgen. Diese wirkt wohl 
auf doppelte Weise. Einmal entsteht durch die Resorption der stagniren- 
den und faulenden Inhaltmassen eine Vergiftung, eine Toxinämie. Ein 
grosser Theil des schweren Bildes allgemeinen Verfalls mag auf diese 
zarückzufUhren sein. Zum zweiten wird durch die Ueberfüllung der 
Därme die Herzarbeit aufs schwerste geschädigt. Wir Bind in den 
letzten anderthalb Jahren so vorgegangen, dass wir bei starker Füllung 
der Därme dieselben schon aut dem Operationstische durch Einschnitt 
von Gas und möglichst grossen Inhaltsmengen entleerten; der Einschnitt 
wurde vernäht und der Darm reponirt. Ausserdem erhielten alle 
Kranken, auch die eben genannten, sofort nach dem Erwachen aus der 
Narkose schwarzen Caffee mit Ricinusöl. Dass das Abführmittel er¬ 
brochen wurde, ist uns nicht begegnet, wahrscheinlich eine Folge unserer 
ausgiebigen Magenausspülungen vor der Operation. Die Wirkung des 
Abführmittels ist eine ausgezeichnete. In der Regel entleeren sich 
massenhafte, oft aashaft stinkende 8tühle, und damit wird der Leib 
weich, das Allgemeinbefinden gut. Der glatte Verlauf ist oft meine Ver¬ 
wunderung gewesen. Es sind so in den letzten 18 Monaten 18 Kranke 
behandelt, von denen nur 4 gestorben sind, alles unrettbare Fälle, 
worüber später das Nähere. 

Bei starker Blutung sehen wir die Eröffnung und Ent¬ 
leerung des Darmes Inter Operationen! nicht mehr als dira necessitas, 
nicht als einen gefährlichen, sondern als einen nothwendigen und 
lebensrettenden Eingriff an. Die Infectionsgefahr ist heut zu 
Tage nur noch eine sehr geringe. 

In welchen Fällen man den Darm auf dem Tische entleeren soll, 
in welchen anderen ein Abführmittel bald nach dem Erwachen aus der 
Narkose zu geben genügt, ist schwer anzugeben. Ich glaube ziemlich 
das Richtige zu treffen, wenn ich sage, je schwerer der Fall, je schlechter 
das Allgemeinbefinden, je stärker die Injection und Entzündung der Btark 
geblähten Därme, je näher der Darm dem Zustande völliger Lähmung 
ist, desto nothwendiger ist die schleunige Entleerung durch Einschnitt. 
Sehen wir von der Allgemeinvergiftung und der Schwächung der Herz¬ 
kraft durch die andauernde Ueberfüllung der Därme ab, bo glaube ich, 
dass die schleunige Entleerung in vielen Fällen das einzige 
Mittel ist, die drohende Darmlähmung aufzuhalten und die 
Möglichkeit zur Erholung der motorischen Function des Darmes zu 
schaffen. Erholt sich diese, so ist die Gefahr, dass sich eine Peritonitis 
entwickele, nach meiner Auffassung eine bedeutend geringere geworden. 
Die allgemeine Bauchfellentzündung, an welcher nicht nur die Kranken 
mit einer Einklemmung, sondern auch die mit einer Enterostenose zu 
Grande gehen, ist doch sicherlich die Folge des Durchwanderns zahl¬ 
reicher Darmbacterien durch die Wandung der geblähten und ent- 
zündeteu Schlingen. Dauert der Verschluss längere Zeit an, so ist der 
AsciteB oft sehr bedeutend. Diese stagnirende Flüssigkeit ist ein recht 
bedenklicher Bauchhöhleninhalt. Wird sie infolge des Wiedererwachens 
einer regelrechten Darmthätigkeit bald aufgesogen und fortgeschafft, so 
können wohl etliche Bacterien, welche schon die Darmwandungen durch- 
drangen oder bei der Operation in die Bauchhöhle gelangten, unschäd¬ 
lich bleiben. Hält eine ungenügende Darmthätigkeit auch nach der Ope¬ 
ration noch an, wird deshalb der Ascites nicht aufgesogen, so bildet er 
die Brutstätte, in welcher sich die Bacterien ansiedeln und vermehren. 
Peritonitis ist die Folge. Durch unsere sonsiigen Erfahrungen über die 
Bedeutung stagnirender Flüssigkeiten im Bauchraume für die Entstehung 
von Peritonitis und durch die allgemeine Annahme, dass die Aufsaugung 
von Flüssigkeiten aus der Bauchhöhle wesentlich von einer regelrechten 
Darmthätigkeit abbänge, ist, wie ich meine, jene Annahme gut ge¬ 
stützt. 

Hr. Küttner-Tübingen demonstrirt ein Präparat von Darmstenose 
durch Einstülpung eines Dünndarmdivertikels und ein Präparat viel¬ 
facher carcinomatöser Darmstrictnren. 

II. Tag. 

Hr. Kümmell-Hamburg: Die Bedeutung der Röntgen’schen 
Strahlen für die Chirurgie. 

Die lange Dauer der Expositionszeit bei dem ursprünglichen R.'sehen 
Verfahren schien anfangs einer ausgedehnte Verwendung desselben in 
der Chirurgie hinderlich zu sein. Zahlreiche technische Fortschritte 
haben die hauptsächlichen Uebelstände verbessert, so dasB die Röntgen- 
Photographie und -Durchleuchtung jetzt ein unentbehrliches diagnostisches 
HUlfsmittel für den Chirurgen geworden ist. 

Am frühesten und eingehendsten wurden die Röntgen'sehen 8trahlen 
zur Feststellung des Sitzes von Fremdkörpern, Metall oder Glas benutzt. 
Bald ist man weiter fortgeschritten und hat Projectile im Oberschenkel, 
Thorax und Kopf nachgewiesen und kaum wird sich ein schattengeben¬ 
der Fremdkörper in irgend einer Partie des Körpers, wenn er nicht zu 
klein ist, vor den alles durchdringenden Strahlen verbergen können, ohne 
auf die Platte sichtbar zu werden. Die operative Entfernung der durch 
das Schattenbild nachgewiesenen Fremdkörper, vor allen der dünnen 
Nadeln, hat auf mehrfache Schwierigkeiten gestossen. Diese werden 
wesentlich vermindert, wenn man den Sitz des betreffenden Fremdkörpers 


von zwei verschiedenen Ebenen aus feststellt. Ausser der Aufnahme in 
zwei verschiedenen Ebenen scheint die Herstellung stereoskopischer 
Bilder von Levy-Dorn dasselbe Ziel in praktischerWeise zu erreichen. 

Der Nachweis von Projectilen im Kopf ist durch die Methode mehr¬ 
fach gelungen und konnte therapeutisch verwerthet werden. Ebenso ge¬ 
lingt es, Fremdkörper in den Luftwegen und im Oesophagus, sowie die 
Lage der Trachealkanüle leicht festzustellen. 

Auch Dilatationen des Oesophagus gelingt es, dem Auge in ihrer 
ganzen Ausdehnung anschaulich zu machen. Die Erweiterung wurde 
dadurch auf die Platte sichtbar gemacht, dass dieselbe mit einer con- 
centrirten Wismuthlösung angefüllt wurde. 

Magendilatationen hat man vielfach durch eingeführte, mit Metall¬ 
drähten, Spirale, Schrot oder dergl. gefüllten Sonden, welche sich der 
grossen Curvatur anlegten, festzustellen gesuchi. Es lassen sich auf 
diese Weise rechs deutliche Bilder erzielen. 

Von den den Darm durchwandernden Fremdkörpern interessiren uns 
Chirurgen ausser zufällig eingedrungenen u. a. der jetzt vielfach ange¬ 
wandte Murphy'sehe Knopf. Ich halte es für nicht praktisch, un¬ 
wichtig, diesen zu Heilzwecken eingeführten Fremdkörper auf Beinen 
Wanderungen zu verfolgen und sichere Auskunft über seinen Verbleib 
zu erhalten. In den Fällen, in denen wir den Knopf nicht nachweisen 
konnten, war derselbe mit Bestimmtheit entleert, einer einigermaassen 
guten Aufnahme kann er nicht entgehen. 

Was die im Körper gebildeten Fremdkörper, die pathologischen Con- 
ereationen anbetrifft, so ist der Nachweis von Gallensteinen ausgeschlossen. 
Es gelingt nicht einmal experimentell, an einer ausgeschnittenen, mit 
Cholestearinsteinen gefüllten Gallenblase Schattenbilder derselben hervor¬ 
zubringen, während Blasensteine in dieselbe eingelegt, deutlich Zeichnung 
zu Tage treten lassen. Die Untersuchungen von Neusser und Petersen 
stellten ebenfalls fest, dass Cholestearinsteine sich als leicht, Phosphat- 
und Uratsteine sich als schwer durchgängig für Röntgen'sehe Strahlen 
erwiesen. Für die Diagnose der Gallensteine scheint also der Natur der 
Steine nach die Durchstrahlung nicht mit Erfolg verwandt werden za 
können. 

Dagegen gelingt es, wie Sie aus diesem Bilde ersehen können, 
Blasensteine mit grosser Deutlichkeit zu erkennen. 

Nach einigen Fehlversuchen ist uns auch der Nachweis von Nieren¬ 
steinen gelungen, was als eine wichtige diagnostische Errungenschaft zu 
bezeichnen sein dürfte, da es gewiss von Werth ist, die nach den klini¬ 
schen Symptomen gestellte Diagnose eines Nierenbeckensteines durch 
das Auge mit Sicherheit bestätigt zu finden. 

Was nun die Erkrankung der Knochen anbetrifft, bo bilden vor 
Allem die Frakturen das Gebiet, auf dem die praktische Anwendung 
der Röntgen’schen Strahlen zuerst ihre Triumphe feierte. Wir haben 
Gelegenheit gehabt, Aufnahmen von den meisten der vorkommenden 
Frakturen, mit Ausnahme des Kopfes, der Wirbelsäule und des Sternums 
zu machen. Ob es uns gelingen wird, Schädelfrakturen deutlich auf der 
Platte nachzuweisen, möchte ich vorläufig bezweifeln, bei Wirbelfrak¬ 
turen, welche wir in letzter Zeit zufällig nicht in Behandlung bekamen, 
erschien es mir nach den zu anderen Zwecken gemachten Aufnahmen 
als sehr wahrscheinlich. Auch sind bereits von anderer Seite Disloca- 
tionen bei Halswirbelbrüchen constatirt. Es gelingt uns die nach be¬ 
kannten sonstigen Symptomen und Untersuchungsmethoden gestellte Dia¬ 
gnose zu sichern und in ihrer Genauigkeit zu vervollständigen und ohne 
schmerzhafte Manipulationen und ohne Narkose einen unzweideutigen 
Aufschluss über die Art der Knochenverletzung zu erhalten. 

Sehen wir ab von der Bedeutung anschaulicher, den Verhältnissen 
genau entsprechender Bilder zu Demonstrationszwecken, so ist der 
Werth Röntgen’scher Strahlen für die Therapie, für die Controle einer 
tadellosen Heilung ein unschätzbarer. Wie mancher sich der unter¬ 
suchenden Hand, dem Auge und dem Messband als gut geheilt oder als 
correct eingerichteter, darstellender Bruch ergab sich im Schattenbild 
als mit Dislocation geheilt oder als sehr ungenügend corrigirt. 

Man sollte in keinem irgendwie zweifelhaften Falle die kleine Mühe 
der Aufnahme, welche niemals schadet, scheuen, um sich von dem richti¬ 
gen Stande der Fractur überzeugen, dann wird zweifellos der Heilungs¬ 
verlauf ein rascher und die vielen sich an Knochenbrüchen anschliessen¬ 
den lange andauernden Besserungen geringer werden. Fast stets be¬ 
ruhen diese, wie wir uns erst durch die Auftaahme überzeugen konnten, 
aus mit mehr oder weniger starken Dislocationen geheilten Fracturen, 
aus Absprengung kleiner Knochentheile und dergl. welches durch Pal¬ 
pation nacbznweisen allerdings unmöglich war. 

Auch anscheinend ideal geheilte ältere Brüche weisen beider Durch¬ 
leuchtung Dislocationen auf und wirklich tadellos geheilte Fracturen 
waren ein immerhin recht seltener Befund. Auch Mnskelinterpositionen 
und dadurch bedingte Pseudarthrosen muss man durch die Strahlen er¬ 
kennen können. 

Dass Luxationen der verschiedensten Art besonders die mit Fracturen 
combinirten, oft so schwer zu diagnosticirenden sowie speciell die Ge¬ 
lenkbrüche mit ihren oft starken Blutergüssen ein besonders dankbares 
Feld für eine sichere Diagnose und darauf beharrenden geeigneten The¬ 
rapie abgeben, braucht kaum besonders erwähnt zu werden. 

Durch kein anderes diagnostisches Hülfsmittel zu ersetzen ist die 
neue Art der Untersuchung für diejenigen seltenen Fracturen, welche 
überhaupt auf keine andere Art auch nicht durch die Narcose zu er¬ 
kennen sind, welche als Distorsionen oder schwere Contusionen behandelt 
werden und langdauernde Beschwerden in ihrem Gefolge haben. 

Dass tür das neue Gebiet unserer Wissenschaft, das Schmerzens- 


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894 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 18. 


kind unseres Berufs, die Unfallheilkunde in der Anwendnng der Röntgen¬ 
achen Strahlen ein grosser Fortschritt an bezeugen ist, kann ich wohl 
als allgemein anerkannt bezeichnen. Dass die Bernfsgenossenschaften 
einen ausgiebigen Gebrauch davon machen würden, zumal auch Laien 
dadurch in den Stand gesetzt sind sich vielfach ein annäherndes Bild 
von der Art der Verletzung zumachen, war vorauszusehen. Oberst 
und Dumerstry haben bereits auf die Bedeutung hingewiesen. Wir 
sind vielfach in der Lage gewesen, ein Unrecht an Patienten wieder 
gut zu machen, welche als 8imulanten oder Uebertreiber bei dem fehlen¬ 
den Nachweis objectiver Veränderungen angesehen wurden. Die Röntgen- 
schen Strahlen Hessen ihn durch Knochenrisse, durch Absprengung von 
Knochentheilen und dergl. hervorgerufene Klagen als wohlbegründet er¬ 
scheinen. 

Einen sehr ausgiebigen Gebrauch haben wir von der Röntgen’schen 
Durchstrahlung bei den congenitalen Hüftgelenksluxationen gemacht. 

Wir haben seitdem eine grosse Anzahl congenitaler Luxationen in 
allen uns vorgekommenen Lebensaltern vor und nach der Reposition in 
und ausserhalb deB Gypsverbandes durchleuchtet und sind dadurch zu 
der Ueberzeugung gekommen, dass die Röntgen’sche Durchleuchtung uns 
allein mit Sicherheit in den Stand setzt die Beschaffenheit der Pfanne 
und des Schenkelhalses kennen zu lernen und danach unsere operativen 
Maassnahmen zu treffen, dass sie allein uns mit voller Bestimmtheit, die 
jede Discussion ausschliesst, angiebt, ob die Reposition gelungen ist, oder 
nicht. Wir sind da oft zu sehr überraschenden Resultaten gelangt, die ver- 
muthete nnd klinisch festgestellte Reposition, welche mit dem characte- 
ristischen Geräusch begleitet war hatte in Wirklichkeit nicht stattgefunden, 
weil vielfach gar keine Pfanne vorhanden war aber nur eine schwache 
Andeutung einer solchen, oder weil der Kopf entweder nicht reponirt war, 
oder wieder bereits eine andere Stelluug angenommen hatte. 

Recht interessant erscheint uns die Differentialdiagnose zwischen 
Cong. Luxation und Cora vara. 

Wie in der Hüfte, so lassen Bich natürlich noch leichter in den an¬ 
deren Gelenken krankhafte Veränderungen nachweisen. 

Wir erkennen arthritische Veränderungen, freie Gelenkkörper, in 
das Gelenk injicirte Jodoformenulsion, welches bekanntlich besonders un¬ 
durchlässig für Strahlen ist, sowie tuberculöse oder ähnliche krankhafte 
Veränderungen, knöcherne nnd bindegewebige Ankylosen, sowie die Unter¬ 
schiede zwischen tranmatischen und pathologischen Processen, einige 
Photographien mögen das Gesagte veranschaulichen. 

Syphilitische, tuberculöse und osteomyelitische Verdickungen und 
Auflagerungen der grossen nnd kleinen Röhrenknochen sind unschwer 
auf der photographischen Platte zu erkennen, ebenso können wir die 
allmählich zunehmende Knochenneubildung durch OBteomelitis zerstörter 
und ausgeschlossener Knochen schrittweise verfolgen. 

Auf Erkennung einzelner durch Typhus, Tuberculöse oder sonstiger 
Ursachen entstandener Knochenheerde habe ich schon im vorigen Jahre auf¬ 
merksam gemacht. Im Allgemeines kann man annehmen, dass je dicker 
der Knochen und je kleiner der Herd um so schwieriger die Wiedergabe 
auf der Platte sein wird. Immerhin haben wir eine Reihe durch Typhus 
und Tuberculöse erzeugter Herde uns sichtbar gemacht und operativ ent¬ 
fernt. Einen einigermaassen grossen Knochenabsccss der Tibia wird 
man nach meinem Dafürhalten sicher erkennen. 

Von Geschwülsten treten die den Knochen aufsitzenden Sarkome 
deutlich auf der Platte zu Tage, und wenn man auch durch Palpation 
ihr Vorhandensein mit Sicherheit erkennen kann, so ist das doch nicht 
unwichtig, die Tiefe ihres Eindringens in den Knochen zu erkennen. 
Weit wichtiger ist der von König zuerst erbrachte Nachweis einer im 
Innern des Knochens central gelegenen Neubildung. 

Auch die Wirbelsäule und der Thorax geben jetzt, wie 8ie sich an 
diesen Bildern überzeugen können, recht deutliche Zeichnungen, die bei 
einigermassen gelungener Aufnahme krankhafte Veränderungen erkennen 
lassen. Wir können fast sämmtlichc Wirbel, besonders gut die Hais¬ 
und Lendenwirbelsäule erkennen. Tuberculöse Processe documentiren 
sich oft als wolkige Trübungen, oft als deutlich zu erkennende Herde. 

Wenn es auch mehr in das Gebiet der inneren Medicin gehört, so 
ist doch auch für den operirenden Chirurgen das Vorhandensein von 
verkalkten Blutgefässen wichtig zu wissen. 

Von den Bauchorganen sieht man leicht die Leber, auch die Schatten 
der Niere sind zuweilen andeutungsweise zu sehen. Der leere Darm 
eines Fötus ist hier in seinen Windungen sehr deutlich zu Beben, beim 
Erwachsenen tritt Magen und Darm nicht hervor, dicke Kothmassen 
heben sich oft deutlich hervor, besonders an der Leiche, wie Sie auf 
einigen Bildern sehen können. Tumoren der Bauch- und Brusthöhle 
haben bis jetzt wenig positive Resultate gegeben. 

M. H.! Ich habe in meinen bisherigen Ausführungen nur auf die 
photographische Platte Bezug genommen und den Fluorescenzschirra 
nicht erwähnt. Leider sind die mit demselben erzielten Fortschritte 
noch keine derartigen, dass wir daran denken können, die weit empfind¬ 
licheren photographischen Platten zu entbehren. 

Was die therapeutische Wirkung der Röntgen’schen Strahlen anbe¬ 
trifft, so haben wir eine sehr günstige Einwirkung derselben auf den 
Lupus des Gesichts durch längere Einwirkung — täglicher Sitzung von 
ca. 1 8tunde, längere Zeit fortgesetzt — gesehen. Die Zerstörung der 
Haut ist dabei eine sehr starke und man thut gut, die gesunde Haut 
durch Bleiblech zu schützen. 

Wenn wir aber auf die Fortschritte zurückblicken, welche im Laufe 
eines Jahres, seit unserer letztjährigen Versammlung gemacht wurden, 
so sind wir gewiss zu der Annahme berechtigt, dass wir noch nicht am 


Ziele des Erreichbaren angelangt sind und dass wir wohl hoffen dürfen 
in vereinter Arbeit mit Hülfe der neuen Strahlen Licht in die bisher 
dunklen normalen Theile und pathologischen Gebilde des menschlichen 
Körpers zu bringen. 

Hr. Hoffa-Würzburg macht vor Allem auf die hohe Bedeutung der 
Röntgenphotographie für die Erkennung und Behandlung der 
Deformitäten aufmerksam. Er zeigt zunächst ausgezeichnet gelungene 
Photographien von Skoliosen. An den Bildern giebt sich nicht nur der 
Grad der Deformität zu erkennen, sondern es lässt sich durch das 
Röntgenbild gleichzeitig auch der Werth der eingeschlagenen Therapie 
erkennen. So vermag Hoffa die Bilder zu zeigen, welche erkennen 
lassen, dass es mittelst seines kürzlich in der Berliner klinischen Wochen¬ 
schrift geschilderten Verfahrens wirklich gelingt, eine Heilung der Skoliose 
zu erzielen. 

Hoffa demonstrirt dann ferner eine ganze Serie von Röntgenphoto¬ 
graphien, die von blutig operirten angeborenen Hüftgelenk¬ 
verrenkungen stammen. Die Bilder, die theils von einseitig, theils 
von doppelseitig operirten Fällen stammen, lassen auf das Deutlichste 
erkennen, dass die Schenkelköpfe sehr fest und gut in den neugebildeten 
Pfannen sitzen, so dass es oft schwer hält, anf den ersten Blick zu ent¬ 
scheiden, welches die operirte Seite ist und welches die gesunde. 

Die Bilder, die von Ilüftluxationen stammen, die nach der Loren z- 
schen Methode unblutig operirt wurden, zeigen dagegen, dass aus¬ 
nahmslos der Schenkelkopf nicht in der Pfanne geblieben, sondern 
nach vorn und oben gerichtet ist. Der Schenkelhals steht dabei nicht 
frontal, wie er stehen sollte, sondern sagital. 

Des Weiteren demonstrirt Hoffa eine grosse Reihe von Bildern, 
die von Beckendeformitäten, tuberculöser Goxitis, Spondy¬ 
litis, Klumpfüssen, angeborenen Fracturen, Genu valgum 
vor und nach der Osteotomie n. s. w. stammen. 

Von grossem theoretischem Interesse sind die von Hoffa vorge¬ 
zeigten Bilder, welche die innere Architectur der Knochen und 
die Bewegungen der Gelenke anschaulich machen. 

Hr. Joachim s thal- Berlin: Was die Frage der Bedeutung der Röntgen¬ 
bilder für die genaue Erforschung und Messung der Skoliosen anlangt, 
so stimmt J. im Grossen und Ganzen demjenigen zu, was Herr Iloffa 
auseinandergesetzt bat. Wir empfinden es als einen grossen Ucbelstand 
bei den bisher üblichen Messvorrichtungen, so vortrefflich dieselben auch 
sonst construirt sind, dass die Kranken während der Dauer der Messung, 
die beispielsweise bei Zander’s Apparat in den Händen eines geübten 
Arztes 4—5, bei dem Sch ul thess'sehen sogar noch länger währt, in 
merkbarer Weise in sich zusammensinken. Es erscheint demnach nicht 
wunderbar, dass selbst der gewandteste Beobachter bei zwei direct nach 
einander oder an zwei verschiedenen Tagen vorgenommenen Unter¬ 
suchungen durchaus verschiedene Messbilder erhält. 

Auch die Photographie, resp. das von Oehler vorgeschlagene Ver¬ 
fahren der Photographie mit Einschaltung eines Fadennetzes sind nicht 
frei von diesem Uebelstand. 

Diesen Schwierigkeiten hilft das Röntgenbild nun_dadurch ab, dass 
wir bei seiner Herstellung gewohnt sind, die Kranken in der die Maskel- 
thätigkeit erübrigenden Rückenlage zu durchstrahlen und ihnen so eine 
Stellung zu geben, die sich bei Wiederbenutzung derselben event. beson¬ 
ders hergestellten Lagevorrichtung viel sicherer in gleicher Weise wie¬ 
derholen und eine Veränderung durch Muskelthätigkeit mit grösserer Be¬ 
stimmtheit ausschliessen lässt, als die aufrechte Haltung. 

Die Orientirung auf den Röntgenbildern des skoliotischcn Rumpfes 
wird nun wesentlich erleichtert durch Einschaltung eineB Faden¬ 
netzes mit Zahleneintheilung. Man stellt sich ein solches, wie Sie es 
hier auf meinen Bildern sehen, zweckentsprechend dadurch her, dass man 
auf das fertig copirte Bild der Verkrümmung vor dem Fixiren desselben 
noch von einer ein für allemal zu diesem Zweck präparirten, lichtempfind¬ 
lichen Platte ein in (juadratcentimeter eingetheiltes Liniennetz copirt und 
erst dann das Bild fixirt. 

J. macht sodann noch einige Bemerkungen über die Röntgenbilder 
angeborener Verbildungen. Das Verfahren besitzt hier zunächst eine sehr 
hohe wissenschaftliche Bedeutung, indem es uns in den Stand setzt, un¬ 
sere klinischen Beobachtungen in Bezug auf die Erforschung der Gestal¬ 
tung, Zahl und Articulationsverhältnisse der einzelnen Knochen mit den 
rein anatomischen concurriren zn lassen. J. hatte diese Frage an der 
Hand einer Reihe von Bildern schon auf der Naturforscher-Versammlung 
zu Frankfurt einer Erwägung unterzogen, und dabei besonders auf eine 
27jährige Patientin hingewiesen, bei der die Skiagramme in dem ver¬ 
kürzten Zeigefinger beiderseits 4 Glieder ergaben, ein Befund, der vorher 
nur einmal von Leloucq an der Leiche gemacht worden war. Die 
plausibelste Erklärung bot ihm damals die Annahme, dass es sich um 
eine frühzeitige Ablösung der Epiphyse der ersten Phalanx von der Dia- 
physe mit selbstständiger Weiterentwickelung beider Knochen gehandelt 
habe. J. hatte nun vor Kurzem Gelegenheit, die 21jährige Schwester 
dieser Patientin zu untersuchen; hier fand sich, obgleich auf beiden 
Seiten die Zeigefinger gleichmässig verkürzt waren, nur auf der linken 
Seite die Vierzahl der Glieder, während rechts die Spaltung der 1. Pha¬ 
lanx ausgeblieben war — eine Thatsache, die bei der gleichen Länge 
beider Finger wohl mit der seiner Zeit gegebenen Erklärung nicht in 
Einklang zu bringen ist. 

Indem J. in Bezug auf eine Reihe weiterer Details auf die Photo¬ 
graphien hinweist, die er herumgiebt, bringt er noch eine diesbezügliche 
Beobachtung kurz zur Sprache, weil derselben eine gewisse praktische 
Bedeutung zukommt. 


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ÖRRUNER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


395 


H. "Mai \%fl 


Vor der Op® r ^ ,0 n einer doppelseitigen Syndactilie des Mittel- und 
Ringfingers bei einem ‘/ 4 Jahr alten Kinde erschien es J. erwünscht, 
einen Einblick in die knöchernen Theile der Hand zu gewinnen. l>a 
indess die Photographien so kleiner Kinder einmal wegen der Unruhe 
derselben, weiterhin wegen der grossen Ausdehnung der knorpligen 
Theile schwer zu benutzen sind, so begnügte sich J. mit der Durch¬ 
forschung der in gleicher Weise verbildeten Hände des Vaters. Hierbei 
ergab sich nun folgendes eigentümliche Verhalten: Der 3. Metacarpus 
spaltete sich an der Grenze seines mittleren und unteren Drittels gabel¬ 
förmig, und die beiden so entstehenden Zinken articulirten nun einerseits 
mit der 1. Phalanx des Mittel-, andererseits mit derjenigen des Ring¬ 
fingers, mit welcher letzteren noch ein besonderer 4. atrophischer Mittel¬ 
handknochen in Verbindung trat. In Berücksichtigung dieses Verhaltens 
Hess Bich bei den analog gestalteten Händen des Kindes eine sonst leicht 
mögliche Gelenkverletzung vermeiden. 

J. demonstrirt ausserdem die Bilder einer grossen Reihe frischer, 
gut und schlecht geheilter Brüche. 

Hr. Oberst-Halle verlangt, wenn durch Röntgenbilder eine Knochen- 
bruchtheilung ohne Verschiebung bewiesen werden soll, Photogramme 
von den verschiedensten Seiten. 

Hr. 8echow-Berlin demonstrirt ebenfalls eine Reihe Röntgen¬ 
photogramme und spricht über die Wichtigkeit der Methode für mili¬ 
tärische Zwecke n. A. bei Rekruteneinstellungen nnd Abschätzung von 
Invalidenansprüchen. 

Hr. Riedel-Jena erwähnt, dass erst das Röntgenbild zeige, dass 
die mit Keilexcision und Verschiebung des oberen Fragmentes bei Genu 
valgum erreichten Resultate nnr bei Kindern zufriedenstellend sind, dass 
bei Erwachsenen der Mac Ewen'sche Vorsprung an der Innenseite nicht 
fortfalle, dem Abgleiten des oberen Fragmentes durch Einfügen einer 
Metallplatte vorgebeugt werden müsse. 

Hr. Löbk er- Bochum konnte in einem ansgeheilten Falle von 
complicirter Rippenfractur mit Empyem, der von allen Gutachtern als 
Simulant angesehen und dem die Unfallrente verkürzt wurde mittelst 
des Röntgenbildes nachweisen, dass die eine Zwerchfellhälfte völlig still 
stand, also eine schwere functionelle Störung zurückgeblieben war. 

Hr. Levy-Dorn: Da die Röntgenbilder Projectionen auf eine 
Fläche darstellen, die Fläche nur zwei, der Raum aber drei Dimensionen 
besitzt, sind mindestens zwei Bilder nöthig, wenn man mit Hülfe der 
X-Strahlen die räumliche Lage eines Körpers bestimmen will. Es be¬ 
darf daher einer besonderen Methodik, um die Bilder in geeigneter 
■Weise zu verknüpfen. 

Redner geht die bisher üblichen Methoden kurz durch und beschreibt 
■dann, auf welche Weise er jetzt die Schwierigkeiten zu beseitigen sucht. 

Die eine Methode eignet sich nur für dünne Körpertheile, wie die 
Hand. Man bringt den zu untersuchenden Tbeil an den Schirm, beob¬ 
achtet, bis der Fremdkörper, der Knochensplitter etc. gefunden, bewegt 
die Hand bin und her, indem man auf die gegenseitige Lage von Fremd¬ 
körper und benachbarten Knochen achtet. Nach den Gesetzen der Pro¬ 
jectionen müssen diejenigen Theile, welche der Strahlenquelle näher 
liegen, scheinbar grössere Bewegung auf der strahlenempfindlichen Platte 
machen, als die entfernteren, daher tritt eine entsprechende gegenseitige 
Verschiebung der Theile gegen einander ein, aus welcher der Schluss 
über ihre Lage (ob z. B. dorsalwärts oder volarwärts von den Hand¬ 
knochen) ohne Weiteres gezogen werden kann. Die ganze Manipulation 
lässt sich in sehr kurzer Zeit ausführen. 

Für umfangreichere Körpertheile eignet sich mehr die zweite Me¬ 
thode. Sie beruht auf der Thatsache, dass alle Theile, welche im Ge¬ 
biete derselben Strahlen liegen, sich auf dem Bilde decken. Man kann 
daher umgekehrt, wenn man deckende Theile beobachtet, schliessen, 
dass dieselben von denselben Strahlen getroffen werden, und da diese 
geradlinig verlaufen, weiterhin sagen, dass jene auf derselben Linie sich 
befinden. 

Le vy-Dorn geht nun in folgender Weise vor: Er bringt eine 
Metallmarke um die Körperoberfläche herum, bis sie sich mit dem 
Fremdkörper im Bilde deckt, und verfährt mit einer zweiten Metallmarke 
auf der anderen Seite des Körpers in gleicher Weise. Auf der Verbin¬ 
dungslinie beider Marken liegt das gesuchte Object. 

Nachdem die Versuchsperson eine andere Stellung eingenommen, 
wird wieder wie oben verfahren, und so eine zweite Linie bestimmt, auf 
der das Object liegt. Der Schnittpunkt beider Linien ist dann die ge¬ 
suchte Lage. 

Um das erhaltene Resultat auf Papier zu bringen, bringe man einen 
biegsamen Draht in der Höhe der Metallmarken um den Körper, be¬ 
zeichne daran die Stellen, an denen sich Draht und Metallstücke treffen, 
nehme den Draht ab, ohne seine Form zu ändern, umschreibe ihn auf 
einem Stück Papier, markire die Stellen, wo die Metallstücke lagen und 
ziehe endlich die gedachten Linien. Der Vorzug der Methode besteht 
darin, dass sie die Rechnung erspart, die Beziehung einer ganzen Anzahl 
Punkte zu dem gesuchten angiebt, und dass keine bestimmte Lage für 
das Object, den Schirm etc. vorgeschrieben ist. Es ist nur wünschens¬ 
wert^ dass Fremdkörper etc. und Rohr ungefähr auf derselben Hori¬ 
zontalebene zu liegen kommen. Aber auch wenn dies nicht möglich ist, 
lässt sich die Methode verwenden. 

Um gute Uebersichtsbilder zu erhalten, hat Redner eine Reihe 
Stereoskopbilder hergestellt. Er demonstrirt eine Hand mit Nadel in 
der Hohlhand, eine dislocirt geheilte Radialisfraktur, ein tubercnlöses 
Ellbogengelenk, einen Brustkorb mit seitlicher und kypbotischer Verkrüm¬ 


mung der Wirbelsäule u. s. w., und bespricht kurz die Herstellungsweise 
solcher Bilder. Die Stereoskopbilder versprechen grossen Vortheil bei 
schwierigeren Fallen und für das Studium. 

(Fortsetzung folgt.) 


IX. Praktische Notizen. 

•iagMstisckei id Casaistik. 

Davis (The Medical and Surgical Reporter No. 13) theilt einen 
Fall mit, wo es ihm gelungen ist, im Urin einer Patientin Trichmonas 
nachzuweisen. Dieser Fall beansprucht insofern Interesse, als man bis¬ 
her annahm, dass die Trichmonas ausserhalb des menschlichen Körpers 
gar nicht lebend anzutreffen wäre. Die Pat. selbst bot ganz un¬ 
bestimmte Symptome dar, allgemeine Schwäche, Schlaflosigkeit, Glieder¬ 
schmerzen und zeitweise asthmatische Anfälle. Erst bei der mikroskopi¬ 
schen Untersuchung des Urins, der geringe Mengen Eiweiss und Zucker 
enthielt, fand sich der obige Befund, der bei wiederholten Untersuchungen 
stets bestätigt wurde. Die im Anschluss an diesen Urinbefund vor- 
genomraene Untersuchung der Genitalien ergab, dass die Trichmonas sich 
auch sehr zahlreich in der Scheide, in der Urethra und an den äusseren 
Genitalien vorfand, ohne daselbst irgend welche localen Symptome her¬ 
vorzurufen. Der weitere Verlauf der Krankheit konnte nicht genügend 
beobachtet werden, da Verf. die Pat. später aus den Augen verlor. 


In der Peterburger med. Wochenschrift No. 14 giebt G. v. Berg¬ 
mann eine zusammenstellende Uebersicht über Fracturen und ihre 
Behandlung. Als wesentliche Punkte hebt er Folgendes hervor: 
1. Die richtige Adaption der Fragmente wird besorgt durch Extension 
und Contraextension mit sorgfältigem Stützen der Bruchenden. 2) Zeitiges 
Fortschaffen des Blutaustritles, namentlich aus den Gelenken, vor dem 
Einschienen durch Effleurage. 8. Fixation der gut adaptirten Fragmente. 
4. Zur richtigen Fixation der Fragmente ist es erforderlich, das central 
und peripher gelegene benachbarte Gelenk mit zu verbinden. 5. Die 
beginnende Muskelatrophie musB zum Theil durch Anlegen von Ver¬ 
bänden, die eine gewisse Muskelaction gestatten, oder durch rechtzeitige 
Massage bekämpft werden. 6. Eine besondere Beachtung verdienen die 
Gelenkfracturen. Um den für die Frage der Function gefährlichen Er¬ 
guss fortzuHchaffen, beginne man so früh als möglich mit Massage und 
Bewegungen. 7. Bei complicirten Fracturen sorge man für peinlichste 
Sauberkeit der Umgebung. 8. Die Nachbehandlung zur Herstellung der 
Gebrauehsflhigkeit besteht in häufigen Bädern, Massage und Gelenk¬ 
bewegungen. An grossen Krankenhäusern muss für die Anstellung von 
Masseuren aus der schwedischen Schule oder für Errichtung der Zander- 
schen Institute gesorgt werden. 


Bei einem Patienten, der seit mehreren Jahren trotz mehrfach 
ausgeführter Operationen an beständig wiederkehrendenAnschwel- 
lungen des Hodensackes und der Leistendrüsen litt, gelang ob 
Joung, die Filaria als Ursache nachzuweisen (The British Medical 60). 
Er fand dieselbe mehrfach in den operativ entfernten Drüsenpaqueten; 
eine daraufhin vorgenommene Blutuntersuchung ergab auch im Blut reich¬ 
lich die Filaria. Interessant in dem Krankheitsverlauf war es, dass 
regelmässig ca. alle 8 Monate eine Verschlimmerung des Befindens ein¬ 
trat, indem die Schwellungen der Leistendrüsen Zunahmen, indem auch 
andere Drüsen anschwollen und im Anschluss an diese Drüsenschwellungen 
sich schwere Lymphangitiden entwickelten, als deren Ursache Joung 
das Auswandern der Embryonen nachweisen konnte, das sich regel¬ 
mässig innerhalb dieser Zeit vollzog. Der Pat. starb an Erschöpfung. 
Auch post mortem konnte in den Drüsen und im Venensystem die Fi¬ 
laria nachgewiesen werden. 

Ein neues Verfahren zum Nachweis des menschlichen 
Samens giebt Johnston an im Boston Medical and Surgical No. 14. 
Er empfiehlt dazu eine Jodkalilösung von der Zusammensetzung: 
Jod 1,65, Jodkali 2,54, Wasser 80,0. Setzt man von dieser Flüssig¬ 
keit einige Tropfen zu dem verdächtigen Gegenstand, der vorher einige 
Minuten in deBtillirtem Wasser erweicht worden ist, so sieht man einen 
Niederschlag von Krystallen sich bilden, die in ihrer Beschaffen¬ 
heit sich am ehesten mit den Teich mann'sehen Harminkrystallen ver¬ 
gleichen lassen. Welcher Art diese Krystalle, sind insbesondere über ihre 
chemische Zusammensetzung lässt sich zur Zeit noch nichts Sicheres aus- 
sagen. Jedenfalls ist durch ihr Auftreten der bestimmte Beweis erbracht, 
dass es sich um nichts anderes als Samenflüssigkeit handeln kann; denn 
diese Probe hat sich bei allen anderen 8e- und Excreten des mensch¬ 
lichen Körpers, die daraufhin untersucht wurden, nie erbringen lassen. 
Mit Hülfe dieser Methode ist es in mehreren Fällen, die 2 l /t Jahre zu¬ 
rücklagen, gelungen, an verdächtigen Gegenständen den sicheren Nach¬ 
weis von Samenflüssigkeit zu erbringen. 


Ueber das Auftreten der Widal’schen Reaction bei acuter 
Miliartuberculose berichteten Meunier undGrisson in der Sociötö 
mädicale des höpitaux (2. April). Ein Öjähriges Kind bot die typischen 
Erscheinungen der Miliartuberculose dar, die auch durch die Sectlon be- 


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396 BERLINER KLINISCHE WOCItENSCHRlFT. No. 18. 


stätigt wurde. Während des KrankheitsVerlaufes wurde mehrmals eine 
positive Reaction mit dem Blutserum erzielt. Die Autoren behaupten 
aber, dass das Kind gleichzeitig auch einen Typhus gehabt habei 
Denn die Fiebercurve hätte nach einigen Tagen einen typhoiden 
Charakter angenommen und auch einige Roseolafleke wären zum Vor¬ 
schein gekommen, sonstige Erscheinungen des Typhus fehlten aber. 
Aus Milz-, Lungen- und Pleurasatt haben sich post mortem Typhusbacillen 
züchten lassen. (Dass eine Schwellung der Milz vorhanden gewesen sei, 
wird nicht angegeben und im Darm waren nur typische Tuberculose- 
geschwüre vorhanden. Ref.) Die Autoren glauben deshalb an eine 
Doppelinfection. In der Discussion bestritt Ren du die Typhusdiagnose. 
Nicht nur die klinischen, 'sondern post mortem anch die anatomischen 
Zeichen des Typhus hätten gefehlt, Man sei nicht berechtigt, auf den 
positiven Ausfall der Widal’schen Reaction und der Züchtung eines 
scheinbaren Typhusbacillus aus der Milz die Diagnose Typhus zu stützen. 
Es hätte Bich anscheinend doch nur um eine Miliartuberculose gehandelt 
Im Gegensatz zu Rendu hält Widal selbst und Chantemesse an 
der sicheren Beweiskraft der Sernmreaction fest. Ersterer siebt In 
der Reaction geradezu ein Hülfsmittel, um den echten Typbusbacillus 
von verwandten Bacterienarten zu unterscheiden. Letzterer hat die Reaction 
in 90 Typhusfällen niemals vermisst. A. 


Thertpentisches nad Inttxicatisnei. 

Das Kryofin empfiehlt Eichhorst als ein durchaus beachtens- 
und empfehlenswerthes Fiebermittel und Antinenralgicum 
(D. med. W. No. 17). Kryofin ist wie Phenacetin ein Phenetidinderivat, 
es bildet weisse geruchlose Krystalle, die keinen Geschmack besitzen 
nnd sich leicht in Pulverform nehmen lassen. Als zuverlässig wirksame 
Dosis hat sich 0,5 herauBgestellt, man erreicht damit einen Erfolg, wie 
mit 1,0 Phenacetin. Bedenkliche Nebenwirkungen wurden bis¬ 
her niemals gesehen. Durch zahlreiche Krankenbeobachtungen sucht 
E. den Beweis zu erbringen, dass das Kryofin ein Fiebermittel darstellt, 
das den bisher gebräuchlichen Antipyreticas an Wirkung und Sicherheit 
der Wirkung sich getrost an die Seite stellen kann. Auch gegen das 
Fieber der Lungenschwindsüchtigen, bei Streptokokkendiphtheroid, Menin¬ 
gitis tuberculosa und Endocarditis ulcerosa hat sich das Kryofin wirk¬ 
sam erwiesen. 

Auch die schmerzstillende Wirkung wurde untersucht, nnd in 
der That hat es Bich mehrfach als ein gutes Antineuraigicum 
bewährt. In einigen Fällen von frischer Ischias und bei einem Manne 
mit Polyneuriti« alc., der Natr. salicyl., Phenacetin, Antipyrin ohne Er¬ 
folg genommen hatte, war seine schnelle Wirkung eine verblüffende; es 
wurde zu 0,5 8 mal am Tage verordnet. 

In der Sitzung der Societe de Therapeutique am 7. April berichtete 
Dalche über eine eigenthümliebe Idiosynkrasie gegen den inner¬ 
lichen Gebrauch von Bismutum subnitricum (Bulletin general de 
Therapeutique). Ein 30 Jahre alter Pferdebahnschaffner hatte gegen 
eine gewöhnliche Sommerdiarrhoe eine Wismutmixtur eingenommen, in 
der 2—3 gr Bismut. subnitr. enthalten waren. Unmittelbar nach dem 
Gebrauch zeigte sich der ganze Körper von einer intensiven 
Röthe bedeckt, so dass Pat. den Anblick eines Scharlachkranken 
darbot. Das Erythem verschwand nach 4—5 Tagen und es zeigte 
sich danach eine starke Abschuppung, besonders an Händen und 
Füssen. Im Uebrigen war Pat. völlig gesund. DasB es sich nicht um 
ein infectiöses Erythem gehandelt haben kann, wie sie im Anschluss an 
Darmkatarrhe und gastrisches Fieber öfters beobachtet sind, geht daraus 
hervor, dass bei diesem Pat. im Verlauf von 8 Jahren schon 3mal immer 
nach dem innerlichen Gebrauch von Bism. subnitr. dieselben Erscheinungen 
sich gezeigt hatten. 


X. Tagesgeschichtliche Notizen. 

Berlin. In der Sitzung der Berliner medicin. Gesellschaft 
vom 28. IV. er. erfolgten zuerst Demonstrationen der Herren Joseph, 
Mankiewicz und Ewald. Darauf hielt Herr Sauer als Gast seinen 
Vortrag über Maltonwein. Zur Discussion sprachen die Herren Virchow, 
Ewald, Klemperer und der Vortragende. Sodann hielt Herr Gott¬ 
schalk seinen Vortrag über den Einfluss des Wochenbettes auf cystische 
Eierstock-Geschwülste. 

— Der Vortragende Rath im Ministerium der geistlichen, Unterrichts¬ 
und Medicinal-Angelegenheiten, Geh. Ober-Reg.-Rath Dr. Althoff, ist 
zum Director der ersten Abtheilung für die Unterrichts-Angelegenheiten 
in dem genannten Ministerium nnd zum Wirkl. Geh. Ober-Regierungs- 
Rath mit dem Range eines Rathes I. Kl. ernannt worden. Als sein 
Nachfolger für die Bearbeitung der Universitäts-Angelegenheiten ist der 
ordentliche Professor an der Universität Breslau, Dr. Elster, commissarisch 
in das genannte Ministerium berufen worden. 

— Die nächste Sitzung der Berlin-Brandenburger Aerzte- 
kammer wird Ende Juni stattfinden. Als wichtigster Verhandlungs¬ 
gegenstand ist der Antrag: „Die Aerztekammer hält das Ausscheiden 
der Aerzte aus der Stellung in der Gewerbeordnung, die Wiedereinfüh¬ 


rung des Curpfnschereiverbots und den Erlass einer deutschen Aerzte- 
ordnnng für nothwendig und ersucht den Ausschuss der preussischen 
Aerztekammern, in diesem Sinne bei dem Herrn Minister vorstellig zu 
werden“ auf die Tagesordnung gesetzt. 

— Nachdem Prof. Poppert-Giessen den Ruf nach Worms ab¬ 
gelehnt, übernimmt Prof. Heidenhain die Direction des dortigen 
Krankenhauses. 

— Privatdoc. Dr. Kruse in Bonn und Oberstabsarzt I. CI. Dr. 
Krocker in Berlin haben den Titel Professor erhalten. 

— Wir erfahren seitens der Farbwerke vorm. Meister Lucius & Brüning 
Höchst a. M., dass dieselben das neue Tuberculin Koch seit einiger Zeit 
in den Handel gebracht haben und auch in genügenden Mengen darstellen, 
um Bestellungen darauf prompt ansflihren zu können. Der Detailverkauf 
geschieht ausschliesslich durch die Apotheken. 

— Die Zahl der Medicin-Studirenden betrug im W r inter-Semester 
1893/97 nach dem neuesten Universitätskalender an den einzelnen Uni¬ 
versitäten: Wien 1592, München 1452, Berlin 1818, Würzburg 830, 
Dorpat (Jurjew) 824, Leipzig 717, Graz 572, Erlangen 444, Freiburg 
898, Zürich 322, Greifswald 315, Breslau 810, Strassburg 809, Bonn 2(59, 
Genf 258, Marburg 247, Kiel 244, Königsberg 237, Halle 236, Göttingen 
283, Tübingen 221, Jena 219, Bern 214, Giessen 196, Heidelberg 180, 
Basel 168, Lausanne 123, Rostock 106. 


XI. Amtliche Mittheilungen. 

Personall». 

Auszeichnungen: Commenthurkreuz II. Kl. des Königl. Würt- 
tembergischen Friedrichs-Ordens: dem Generalarzt I. Kl. Dr. 
Heinzei, Corpsarzt des XV. Armeecorps. 

Ehren-Ritterkreuz II. Kl. des Grossherzogi. Oldenburg!- 
sehen Haus- und Verdienst-Ordens des Herzogs Peter 
Friedrich Ludwig: dem Ober-Stabsarzt II. Kl. Dr. Muttray im 
Husaren-Regt. von Zieten No. 8. 

Ehrenkreuz III. Kl. des Fürstl. Lippe'schen Haus-Ordens: 
dem Ober-Stabsarzt I. Kl. Dr. Hartmann in Detmold. 

Ritterkreuz I. Kl. des Herzog!. Sachsen-Ernestinischen 
Haus-Ordens: dem prakt. Arzt und Badearzt in Bad Liebenstein 
und in San Remo, Dr. Waetzold. 

Prädikat als Professor: dem Priv.-Docenten Dr. Kruse in 
Bonn. 

Niederlassungen: die Aerzte Hollefeld in Linz a. Rhn., Dr. 
Jackenfels in Ruwer. 

Verzogen sind: die Aerzte Dr. Abt von Tübingen nach Ostrach, Dr. 
Gastreich von Malstadt-Burbach nach Castrop, Dr. Gottbrecht 
von Hüttensteinach nach Dortmund, Dr. Maas von Meggen nach 
Attendorn, Dr. Enters von Dortmund nach Braunlage, Dr. König 
von Evingsen nach Erfurt, Dr. Stadler von Castrop nach Berlin, 
Dr. Engel von Hermühlheim bei Köln, Triepke von Greifswald nach 
Ahrweiler, Dr. Fabian von Tilsit nach Trempen, Ass.-A. Dr. Sinn¬ 
huber von Gumbinnen nach Strassburg i. E., Dr. Degenkolb von 
Leipzig nach Königsberg i. Pr., Dr. Freund von Berlin nach Königs¬ 
berg i. Pr., Dr. Siehr von München nach Königsberg i. Pr., Dr. 
Kaminski von Fischhausen nach Rastenbnrg, Dr. Kalmus von 
Liebstadt nach Berlin, Dr. M. Smith von Eisleben nach Triberg i. B. 

Gestorben sind: die Aerzte Dr. Hassenstein in Trempen, Ober- 
8t.-A. a. D. Dr. Leesemann in Boppard, Dr. Ilisgen in Schweich, 
Kr.-Physikus Dr. Dyrenfurth in Bütow, Kr.-Wundarzt Dr. Wein¬ 
reich in Heiligenstadt. 


Bekanntaaehungen. 

Das Physikat des Kreises Bütow ist durch Ableben erledigt. Quali- 
ficirte Medicinalpersonen, welche sich um diese Stelle bewerben wollen, 
fordere ich auf, sich unter Einreichung ihrer Zeugnisse und eines Lebens¬ 
laufes binnen vier Wochen bei mir zu melden. 

Köslin, den 21. April 1897. 

Der Regierungs-Präsident. 


Die Physikatstelle des Kreises Neisse, mit Gehalt von jährlich 
900 M., soll zum 1. Juli d. J. anderweit besetzt werden. 

Geeignete Bewerber wollen sich unter Einreichung ihrer Approbation, 
des Fähigkeitszeugnisses zur Physikatstelle und etwaiger sonstiger Zeug¬ 
nisse, sowie ihres Lebenslaufs bis zum 15. Mai d. J. schriftlich bei mir 
melden. 

Oppeln, den 22. April 1897. 

Der Regierungs-Präsident. 


Das 5. Kreisphysikat des Regierungsbezirks Schleswig mit dem 
Wohnsitze Flensburg soll wieder besetzt werden. Gehalt 900 M. jähr¬ 
lich ohne Pensionsberechtigung. Bewerbungsgesuche sind unter Beifügung 
deB Befähigungsnachweises nnd eines Lebenslaufs innerhalb vier Wochen 
bei mir einzureicben. 

Schleswig, den 20. April 1897. 

Der Regierungs-Präsident. 


Für die Redaetion rerantwortlleh Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald, LQtiowplata 5. 


Verlag nnd Eigenthüm von August Hirschwald io Berlin. — Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin. 


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Dl« Wochenschrift erscheint Jeden 

Montag ln der Stark* von 9 bis S Bogen gr. 4. — 
Preis vierteljährlich g Mark. Bestellungen nehmen 
alle Buchhandlungen und Postanstalten an. 


BERLINER 


Einsendungen wolle man portofrei an die fiedactlon 
(W. LQtxowplats No. 5 ptr.) oder an die Verlags¬ 
buchhandlung von August Hirschwald ln Berlin 
N.W. Unter den Linden No. 68, adresslren. 


KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Organ für practische Aerzte. 


Mit Berücksichtigung der preussischen Medicinalverwaltung und Medicinalgesetzgebung 

nach amtlichen Hittheilungen. 

Redaction: Expedition: 

Geh: Med.-Ralh Prof. Dr. C. A. Ewald und Prof. Dr. C. Posoer. August Hirschwald, Verlagsbuchhandlung in Berlin. 


Montag, den 10. Mai 1897. 


M 19. 


Viemnddreissigster Jahrgang. 


INHALT. 


I. Aus dem Laboratorium der medicinisehen Klinik des Herrn Geh.- I 
Rath Käst au Breslau. Kühn au: Ueber die Bedeutung der ; 
Serodiagnostik beim Abdominaltyphus. 

II. Moeli: Weitere Mittheilungen über die Pupillen-Reaction. (Schluss.) 

III. Fr. Neumann: Chronische Herzinsnfflcienz, deren Behandlung 
nach eigener Beobachtung. (Schluss.) 

IV. Adolf Baginsky: Zur 8äuglingskrankenpflege in grossen Städten. 

V. Kritiken und Referate. Loewenfeld: Lehrbuch der ge- 

sammten Psychotherapie; Sn eil: Grundzüge der Irrenpflege; Ka¬ 
lischer: Unterricht und Erziehung Schwachbegabter und schwach¬ 
sinniger Kinder. (Ref. Lewald.) 

VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Berliner me- 
dicinische Gesellschaft. Joseph: Neue Brustklammer. Mankie- 


I. Aus dem Laboratorium der medicinisehen Klinik 
des Herrn Geh.-Rath Käst zu Breslau. 

Ueber die Bedeutung der Serodiagnostik beim 
Abdortinaltyphus. 

Von 

Dr. Kflhnaa, Assistenten der Klinik. 

Der bacteriologische Nachweis der Typhusbacillen hat sich 
bisher im Wesentlichen in zwei Richtungen bewegt. Zunächst 
war es der Darminhalt, welcher bei einer mit specifischen 
Intestinalerscheinungen einhergehenden Erkrankung a priori reiche 
Ausbeute versprach, und dessen Durchforschung sich daher 
die Aufmerksamkeit in erster Linie zuwendete. Diese Voraus¬ 
setzung hat sich bekanntlich als durchaus unzutreffend er¬ 
wiesen, vielmehr muss die Untersuchung der Dejecte auf Ty¬ 
phusbacillen als eine der schwierigsten und wenigst dankbaren 
Aufgaben der bacteriologischen Forschung angesehen werden, 
trotz zahlreicher Modificationen, welche die Technik derselben 
im Laufe der Jahre erfahren hat. An diesem Urtheil wird auch 
durch die neueste Untersuchungsmethode von Elsner unseres 
Erachtens nichts geändert, vielmehr hat dieselbe wie anderen 
Untersuchern auch uns unbefriedigende Resultate geliefert. Unter 
16 Fällen von Abdominaltyphus, in welchen auf anderem Wege 
die Diagnose — in 7 bacteriologisch — sicher gestellt war, ge¬ 
lang es nur in einem Falle, in welchem auch die alte Koch- 
sche Methode zum Ziel führte, mittels der Elsner'sehen Methode 
in den Dejecten den Typhusbacillus nachzuweisen. Den Grund 
des Misserfolges können wir nicht in technischen Fehlern unserer¬ 
seits sehen, mUssen ihn vielmehr in dem Umstande suchen, dass 
1. die Typhusbacillen selbst durch Jodkalium keineswegs unbe¬ 
einflusst bleiben, vielmehr (wie auch durch Plattenzählung con- 


wicz: Nierentuberculosc. Ewald: Carcinom der Gallenblase. — 
Aerztlicher Verein za München. Lange: Behandlung des Pott- 
schen Buckels. Tausch: Angeborene HUftluxation. Fränkel: 
Tumoren des Chorionepithels. — Wissenschaftlicher Verein der 
Aerzte zu Stettin. Schuchardt: Erweiterungsbauten. Niesei: 
Exhibitionist. Haeckel: Haematom; Sarkom. Timmling: De¬ 
monstrationen.— Verein für innere Medicin. Heubner: Meningo- 
coccus. Baginsky: Pyelonephritis. 

VII. 26. Congress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. (Fort¬ 
setzung.) 

VIII. Literarische Notizen. — IX. Praktische Notizen. 

X. Tagesgeschichtliche Notizen. 

XI. Amtliche Mittheilungen. 


statirt wurde) eine Anzahl weniger resistenter Typhuskeime da¬ 
durch nicht zur Entwicklung kommen. Dazu kommt, dass 

2. das Wachsthum der Typhusbacillen auf der Jodkaliumgela¬ 
tine keineswegs immer das „specifische“ Aussehen bietet, welches 
Elsner in seinen Versuchen beobachten konnte. Zufälligkeiten 
in der Zusammensetzung des Nährbodens spielen dabei sicher 
eine Rolle und sind die Ursache, dass wir z. B. Colibacillen 
auf der Jodkaliumgelatine züchteten, deren Colonien in ihrem 
Aussehen von den sicheren Typhusculturen nicht zu unterscheiden 
waren. Weit zuverlässiger und ergiebiger erweist sich, wenn 
wir die Punction der Milz als eine am Krankenbette unzulässige 
und keineswegs ungefährliche Methode ausser Acht lassen, die 
Untersuchung des Blutes Typhuskranker. Um ihre Ausbildung 
hat sich nach den ersten Untersuchungen des Roseolablutes durch 
Neuhauss') insbesondere R. Stern 2 ) verdient gemaebt, der 
erstmals grössere Blutmengen verwendete. Auch an unserer 
Klinik sind diese Untersuchungen seit mehreren Jahren geübt 
worden und zwar mit ziemlich günstigen Erfolg. Seit dem Be¬ 
ginn des Jahres 1895 kamen 41 Fälle vom Abdominaltyphus zur 
Untersuchung, von denen ich bei neun (also 27 pCt. der Fälle) 
den Typhusbacillus im Blut nachweisen konnte. Die Menge des 
durch percutane Punction aus der Vena mediana entnommenen 
Blutes betrug lü cm, die Anzahl der Agarplatten 20 und darüber. 
Stets entwickelten sich nur spärliche, langsam wachsende Co- 
lonieen. Der Bacillennachweis gelang uns nur ftn Stadium der 
Hyperpyrexie zur Zeit der Roseolaeruption. Jenseits derselben 
blieben selbst wiederholt vorgenommene Blutuntersuchungen ne¬ 
gativ. Auf anderem Wege gelang uns des Nachweis des Ty¬ 
phusbacillus nur selten, namentlich bei purulenten Metastasen, 


1) Berl. klin. Wochenschr. 1896, 4 und 24. 

2) Diss. von Thiemich, Deutsche med. Wochenschr. 1895. No. 84. 


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No. 19. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


BÜ8 

und zwar einmal in einem Armabscess, zweimal in Empyemeiter, 
einmal in typhösen GaumengeschwUren und einmal bei einer 
schweren mit l'yelitis und Cystitis verbundenen typhösen Ne¬ 
phritis im Harn. 

In andere durchaus neue Bahnen wurde die diagnostische 
Blutuntersuchung gelenkt durch die bekannten Untersuchungen 
von Pfeiffer, durch die er ein neues Immunitätsprincip auf¬ 
stellte, das durch eine Fülle von Forschungen und ein stattliches 
thatsächliches Material seitdem gestützt ist. Für die vorlie¬ 
gende Arbeit haben ein besonderes Interesse die Arbeiten von 
Pfeiffer und Kolle 1 2 )*), in denen der Nachweis geführt wird, 
dass in dem Blutserum von Menschen und Thiercn, welche mit 
Cholera- oder Typhusbacterien geimpft sind oder eine natürliche 
Typhus- oder Cholerainfection durchgemacht haben, Unterschiede 
zu Tage treten, welche sich in einer specifischen Einwirkung auf 
jene Bacterien kundgeben. Diese Einwirkung erfolgt in zweifacher 
Weise, im Thierkörper und im Reagensglase. Die erste, als 
„Pfeiffersche Reaction“ allgemein bekannt, entfaltet ihre Wirk¬ 
samkeit innerhalb des Thierkörpers gegenüber den lnfections- 
erregern, unter deren Einwirkung sie aufgelöst und vernichtet 
werden („lysogene“ Wirkung), die Einwirkung im Reagensglase 
— von R. Pfeiffer von vornherein betont, später von Gr über und 
Durham 3 ) näher studirt — beruht in einer augenfällig lähmenden 
8pecifischenEinwirkung(„Paralysinwirkung“) auf die in Frage kom¬ 
menden Bacterien, in Folge deren dieselben, ihrer Beweglichkeit 
beraubt, sich zu Klumpen und Flocken zusammenballen und im 
flüssigen Nährmedium zu Boden sinken. Gruber und Durham 
haben diesen Vorgang als „Agglutination“ bezeichnet und darin 
das eigentliche Princip der specifischeu Immunität gesehen, indem 
sie meinten, dass durch ihn die Hüllen der Bacterien für die 
im lebenden Organismus stets vorhandenen Schutzkörper (Alexine) 
durchgängig gemacht wurde, durch die dann die Vernichtung 
der Bacterien erfolge. Diese Vorstellung ist durch Pfeiffer und 
Kolle (1. c.) als irrig nachgewiesen worden, da die specitisch 
bactericide Wirkung des Serums durch einen Verlust der para- 
lvsirenden Kraft nicht beeinträchtigt wird. 

Aus diesen Erfahrungen eine Nutzanwendung für die prac- 
tische Diagnostik am Krankenbette gezogen zu haben, ist das Ver¬ 
dienst Widal’s; man kann indes nicht zugeben, dass er damit, 
wie er es beansprucht, in der Pathologie der Typhusinfection 
einen durchaus neuen Gesichtspunkt geschaffen hat, da ja be¬ 
kannt ist, dass die specifischen immunisatorischen Bestrebungen 
des Organismus mit dem Moment der Infection beginnen 
und recht bald in Erscheinung treten. Es ist seit dem Bekannt¬ 
werden des „WidaUschen“ Phaenomens eine so reichhaltige 
Litteratur über den vorliegenden Gegenstand erschienen, dass 
cs sich erübrigt auf die Ergebnisse derselben im Einzelnen ein¬ 
zugehen und die Erscheinung selbst ausführlich zu beschreiben. 

Die grosse Mehrzahl der Beobachter bestätigten die Behauptung 
Widal’s, dass man in der Serodiagnostik ein zuverlässiges Krite¬ 
rium für die Frühdiagnose desAbdominaltyphus besitze. Erst später 
wurden Stimmen laut, welche der Leistungsfähigkeit der von Widal 
angegebenen Methode gegenüber eine gewisse Skepsis an den Tag 
legten. Unter diesen sind namentlichstem 4 5 )undKolle*)zu nennen. 
Ersterer praecisirt in dankenswertherWeise den Begriff „Reaction“ 
und stellt zunächst die Bedingungen fest, unter denen eine quan¬ 
titative Wirkung des Serums studirt werden kann. Er verweist 

1) Zeitschr. f. Hyg. und Infectionskr. Bd. 21, Heft 2. 

2) Central bl. f. Bact. Bd. XX, No. 4—5. 

53) Verhandl. des Congr. f. inn. Med., Wiebaden 1896. 

4) Stern, Fehlerquellen der Serodiagnostik. Berliner klin. Wochen¬ 
schrift 1897, No. 11 u. 12. 

5) Kolle, Zur Serodiagnostik des Typhus abdominalis. Deutsche 
med. Wochenschrift 1897, No. 9. 


namentlich auf die Beschaffenheit der verwendeten Typhuscultur, 
auf die Temperatur, bei der die Reaction angestellt werden muss, 
auf die Zeit bis zu welcher der Versuch ausgedehnt wird, auf 
die Merkmale, nach denen man die Wirkung des Serums be- 
urtheilt. Er kommt dann auf eine Reihe von Fehlerquellen zu 
sprechen, welche der ursprünglichen WidaUschen Reaction an¬ 
haften, auf die Unzulänglichkeit der makroskopischen Reaction, 
auf das Vorhandensein stark wirksamen Normalserums, das eine 
echte Typhusreaction Vortäuschen könne. Dass bei echtem Typhus 
die Reaction sich erst spät oder gar nicht einstellt, dass endlich 
das Ueber8tehen selbst ganz leichter Typhusinfection für Monate 
eine starke paralysirende Wirkung des Serums zurücklässt, 
wird gleichfalls von ihm betont. Kolle') weist darauf hin, dass 
für das genaue quantitative Studium vor allen Dingen die Be¬ 
schaffenheit des für die Typhuscultur verwandten Närbodens und 
die Virulenz derselben in Betracht komme; drittens verlangt er 
Control versuche mit normalem Thier- und Menschenserum; er 
verlangt endlich ebenso wie vor ihm schon Stern und Andere 
die Normirung eines oberen Greuzwerthes für normales Serum 
gegenüber der verwendeten Typhuscultur. 

Die Resultate der Prüfung des Serums Typhöser sind 
äusserst interessante: Kolle giebt an, dass in zwei Fällen die 
Reaction erst in der dritten Woche auftrat zu einer Zeit, wo 
längst durch den Nachweis der Krankheiterreger die Diagnose 
gesichert war. Ferner stellen eine Anzahl von R. Pfeiffer*) an- 
gestellten Blutuntersuchungen die Leistungsfähigkeit der Methode 
selbst bei Prüfung der nachträglichen Serumdiagnose in Frage, 
indem nämlich bei einigen Blutproben Typhöser die specifische 
Paralysinwirkung ausblieb, obgleich die Sera eine starke Bpeci- 
fische Schutzwirkung im Thierkörper entfalteten. Es war also in 
diesen Seris überhaupt nicht zur Entwicklung specifischer Paraly- 
sine gekommen. Diese Resultate sind von grösster Wichtigkeit und 
vermehren die Zweifel auf die Verlässlichkeit der Serodiagnostik. 

Unsere Erfahrungen bestätigen durchaus die Angaben Kolle's und 
beziehen sich auf 7 klinisch z. T. auch bacteriologisch sicher gestellte 
Fälle von Typhus abdominalis, auf eine Reihe von Personen, welche vor 
kürzerer oder längerer Zeit Typhus überstanden hatten, anf fieberhaft 
Kranke, die früher keinen Typhus gehabt hatten und eine grosse Zahl 
von Gesunden ohne Typhoid in der Anamnese. Die Entnahme des Blutes 
geschah mittels percutaner Venenpunction, die Gewinnung des Serums 
einfach dadurch, dass die Reagensgläschen, in denen das Blut auf¬ 
gefangen worden war, schräg erstarren gelassen und dann aufgerichtet 
wurden, so dass sieh das Serum am Boden der Eprouvette ansammelte. 
Zu den Verdünnungen benutzte ich die Blutkörperchenzählpipetten von 
Zeis» (Verdünnungen 1 : 10, 1:20 und 1 : 100). Diese Methode bot 
uns zwei Vortheile, 1. gestattete sie ein cxactes, quantitatives Arbeiten, 
worauf es in erster Linie ankommt, da sich herausgestellt hat, dass der 
Vorgang der Paralysinwirkung kein specifischer ist, sondern in stärkerer 
Concentration jedem Normalserum zukommt; 2. kommt man bei unserem 
Verfahren mit ganz geringen Quantitäten des Serums aus. Auf diese 
Weise war ich im Stande, mit einer geringen Serummenge eine grosse 
Anzahl von Verdünnungen herzustcllen, um die obere Grenze der Serum¬ 
wirkungen bestimmen. Für die Verdünnungen von 1:10 bis 1:1000 und 
darüber kann man sich ohne Schwierigkeit eine Tabelle ausrechnen, 
aus der sich ergiebt, bis zu welcher Marke der Scala bei einer ge¬ 
wünschten Verdünnung Serum eingesogen werden soll. 

Da nun die Zählpipetten nur verhältnissmässig kleine Mengen von 
Flüssigkeit enthalten und es nötig ist zur Beobachtung der makrosko¬ 
pischen Vorgänge eine genügend hohe Flüssigkeitsschicht zu haben, so 
habe ich etwa bleiBtiftdicke Glasröhrchen von etwa 10 cm Länge und 
mit Wattestopfen verschlossen sterilisirt und zur Anstellung der Reaction 
verwendet. Für klinisch diagnostische Zwecke ist die Methode leicht 
und prakticabel, indem man direct Blut verwendet. Man benutzt, da es 
nöthig ist, worauf ich weiter unten noch zu sprechen kommen werde, 
eine Verdünnung von mindestens 1:50 anzuwenden, die Zählpipette für 
die Verdünnung 1:20, saugt bis zum Theilstrich 4 Blut ein, hierauf bis 
Marke 21 sterile, ans Krankenbett mitgebrachte Bouillon. Nach guter 
Durchmischung wird diese Blutbouillonmischung im Laboratorium in eine 
bleistiftdicke Eprouvette ausgeblasen und die gleiche Menge von Typhus- 
bouilloncultur zugesetzt, das Ganze in den Brutschrank gesetzt nnd nach 
2 Stunden eine Platinöse im hängenden Tropfen untersucht. Man erhält 

1) Kolle, Zur Serodiagnostik des Typhus abdominalis. Deutsche 
med. Wochenschrift 1897, No. 9. 

2) Cit. bei Kolle, Deutsche med. Wochenschrift 1897, No. 9. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


399 


_10JÄa\ 

auf diese Weise eine Verdünnung von mehr als 1:50, eine Concentration, 
in welcher selbst unser stärkst wirksames Normalserum niemals para- 
lyairende Erscheinungen zeigte. Fällt also iu dieser Verdünnung die 
Reaction deutlich positiv aus, so ist unseres Erachtens das Resultat für 
die Diagnose verwerthbar. 

Das erste Axiom bei der Prüfung der Reaction ist, wie 
schon angegeben, ein genaues quantitatives Arbeiten. Das¬ 
selbe ist abhängig von zwei Factoren: 

1. der Verdünnung, 

2. der Art der zu prüfenden Typhuscultur. 

Erste ist leicht zu erreichen, letztere aber hängt wiederum 
von einer ganzen Reihe von Variablen ab. Hierhin gehört in 
erster Linie die Concentration der Aufschwemmung. Es 
ist a priori klar, dass die Anzahl der Keime abhängig ist von 
der Güte des Nährbodens, und dass bei der Anstellung der Reaction 
ein ganz bedeutender Unterschied herauskommt, je nachdem man 
eine eben opalisirende oder eine dicke milchige Aufschwemmung 
verwendet. Aus den beigegebenen Tabellen geht hervor, dass bei 
Aufschwemmungen, die noch lange nicht diese crassen Unterschiede 
zeigten, die vielmehr makroskopisch kaum eine Differenz boten, bei 
denen aber die Individuenzahl ungleich w’ar, so erhebliche Unter¬ 
schiede zu Tage traten, dass die Reaction zuweilen doppelt und 
mehrmal so stark ausfiel bei Aufschwemmungen mit geringer als 
mit starker Concentration. Ich hielt es daher für nötliig, eine 
Methode auszuarbeiten, mittels deren es gelingt, Aufschwem¬ 
mungen gleicher Concentration herzustellen. Ich ver¬ 
wendete dazu Doppelschälchen mit einer inneren Lichtung von 
5,0 cm Durchmesser. Der Nährboden war nach allen Cautelen 
frisch bereiteter, schwach alkalischer Nähragar. Die Ober¬ 
fläche derselben wurde mit einer gleichmässigen Aufschwemmung 
frischer Typhuscultur starker Concentration Uberstrichen. Inner¬ 
halb 12—15 Stunden hat sich dann in den Doppelschälchen ein 
gleichmässer Rasen von Typhusbacillen entwickelt, welcher mit 
10 ccm steriler Bouillon aufgeschwemrat als Ausgangscultur be¬ 
nutzt wird. In unseren Versuchen kamen stets 15ständige Cnl- 
turen zur Verwendung, die bei Brutschranktemperatur von 37° 
gezüchtet waren. Ich habe durch directe Plattenzählung nacli- 
weben können, dass bei gleichmässig gutem Nährboden 
0,5 ccm der Aufschwemmung etwa (»0 Millionen Keime enthielten, 
und bin der Meinung, dass nur durch die directe Zählung oder 
durch Oesenwägung die Gleichmässigkeit der zur Prüfung ver¬ 
wendeten Culturen garantirt werden kann. Von der grössten 
Bedeutung für die exacte Beurtheilung der in Frage kommenden 
Vorgänge ist ferner das Alter der Culturen. Es ist bekannt 
und namentlich durch Gotschlich und Weigang') für Cholera 
und verwandte Vibrionen nachgewiesen, dass bereits am 2. Tage 
ein rapides Absterben von Keimen in den bei Brutschrank¬ 
temperaturen gehaltenen Culturen zu beobachten ist. Das Gleiche 
lässt sich durch Plattenzählung für den Typhus constatiren. 
Es wird also keineswegs gleichgültig sein, ob in dem einen 
Falle beispielsweise eine 15 ständige, das andere Mal eine 50- 
stündige Cultur verwendet wird. Aus den Tabellen geht zur Ge¬ 
nüge hervor, dass bei alten Culturen die Reaction in viel stärkerer 
Verdünnung eintritt als bei jungen. Ausserdem kann man sich 
leicht überzeugen, dass in älteren Culturen schon normaler Weise 
Haufenbildung und Unbeweglichkeit vieler Bacillen eintritt, eine 
Erscheinung, die zu argen Täuschungen bei Anstellung der 
mikroskopischen Reaction führen kann. Aus diesem Grunde haben 
wohl auch die Mehrzahl der Beobachter darauf hingewiesen, dass 
es vortheihaft sei, bis Anstellung der Reaction stets ein Con¬ 
trolpräparat von der verwendeten Cultur anzufertigen. 

Eine grosse Rolle spielt auch, wie von Kolle (1. c.) aus¬ 
drücklich hervorgehoben ist, die Virulenz der Cultur, wie 

1) Zeitschr. f. Hyg. n. Infectionakrankh. 1895. Bd. 30. 


ich, von Anfang an mit der Beobachtung dieses Punktes be¬ 
schäftigt, völlig bestätigen kann. In unseren Protokollen finden 
sich Beobachtungen namentlich über zwei Typhusstämme, von 
denen der eine virulent , Oese für 300 gr Meerschweinchen), 
das andere avirulent war. Die Reaction fiel ceteris paribus mit 
dem avirulenten Typhusstamm doppelt und mehr so stark aus 
als bei dem virulenten. 

Endlich, glaube ich, kommt in manchen Fällen, in denen sicher 
Typhus vorliegt, bei denen aber die specifische Reaction zu fehlen 
scheint, der Prüfung des Serums gegenüber Bacterium 
coli eine Bedeutung zu, wovon später die Rede sein wird. 

Bei den folgenden Versuchen habe ich mich stets entsprechend 
den oben angegebenen Gesichtspunkten 15 ständiger, virulenter, 
bei Brutschranktemperatur von 37 0 gezüchteter Typhusculturen 
gleicher Concentration (ca. 120 Millionen Keime im Cubikcenti- 
meter der Aufschwemmung) bedient. Es kam zunächst darauf 
an festzustellen, in welcher Verdünnung Norraalserum die ge¬ 
nannten Typhusculturaufschwemraungen beeinflusst. Bei der 
Prüfung des Serums von mehr als 50 gesunden oder an anderen 
als Typhus leidenden Personen, bei denen auch eine typhöse 
Erkrankung in der Anamnese auszuschliessen war, ergab sich, 
dass bei 41 die Cultur nur im Verhältniss von 1:3 bis 1 :5 
beeinflusst wurde. Bei 8 Fällen trat die Agglutination bei einer 
Verdünnung von 1:10 bis 1 :20, bei 4 in einer Verdünnung 
von 1 : 30, bei 3 von 1:35 bis 1 : 40, bei 1 sogar von 1 : 50 ein. 

Diese Beobachtungen decken sich mit den von anderer Seite 
(namentlich Stern) gemachten, wonach es hochwirksame Normal¬ 
sera giebt. Dieselben haben die Eigenschaft, nicht nur den 
Typhusbacillus, sondern auch die beweglichen Verwandten aus 
der Coligruppe zu beeinflussen, ja nicht nur diese, sondern auch 
ferner stehende Bacterienarten, wie die Vibrionen. Ich glaube 
also in der Prüfung gegenüber dem Bact. coli bei stark wirk¬ 
samen Seris ein Mittel in der Hand zu haben, mittels dessen 
sich entscheiden lässt, ob es sich um eine specifische Wirkung 
des Serums gegenüber Typhusculturen handelt. Werden Typhus¬ 
bacillus und Colonbacterium gleichsinnig beeinflusst, so han¬ 
delt es sich um „stark wirksames“ Normalserum, werden Typhus¬ 
culturen ungleich stärker agglutinirt als Coliculturen, so hat 
man darin die Wirkung einer „specifischen“, dem Typhusserum 
eigenen Kraft zu sehen. 

Von den 7 klinisch, z. Th. auch bacteriologisch festgestellten 
Fällen von Abdominaltyphus zeigte sich bei 5 entweder 
gleich zu Anfang oder doch im Verlauf der Krankheit ein po¬ 
sitiver Ausfall der Reaction in einer Verdünnung, die selbst die 
stärkst wirksamen Normalsera bei Weitem Ubertraf. Nament¬ 
lich sind 4 bacteriologisch sicher gestellte Fälle während der 
ganzen Zeit ihres Aufenthaltes in der Klinik genau beobachtet. 
Bei der Aufnahme in die Klinik stellte sich die Reaction ein 
wie folgt: 

Fall 1(7. Tag): 1:30, Fall II (9. Tag): 1:40, 

„ III (9. „ ): 1 :30, „ IV (17. * ): 1 : 100. 

Am 17. Krankheitstag zeigen sich die Reactionen, mit ein¬ 
ander verglichen, wie folgt: 

Fall I Fall II Fall III Fall IV 
1 : 180. 1 : ICO. 1:30 1 : 100. 

Die paralysirende Kraft nimmt vom Beginn der Krankheit 
an rasch zu und erreicht in 3 Fallen den Gipfel im Stadium 
aemes 1 ), im 4. Fall bleibt die Reaction dauernd aus oder rich¬ 
tiger gesagt, sie lässt sich aus der Prüfung an der Typhuscultur 
allein nicht erkennen. Am stärksten ausgesprochen tritt das 
Phänomen auf bei 


1) Vgl. Jemma, Centralbl. f. inn. Med. 1897, No. 3. 

1 * 


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400 


No. 10. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Fall I am 20. Tage (1 :250), 

■ II n 20. „ (1:4a)), 

* HI „ 33. f, (1 :30 ), 

* IV fi 23. ff (1:300). 

Hierauf nimmt die paralysirende Kraft ab und zwar be¬ 
trägt sie bei 

Kall I 18 Tage nach der Entfieberung 1 :100, 
n II 18 „ ff w « 1 :200, 

if HI 18 „ ff w * 1 :80, 

•n IV 18 yf if ,f . 1 :180. 

Ich habe sodann das Blutserum einer ganzen Reihe von 
Personen untersucht, welche in unserer Klinik vor kürzerer oder 
längerer Zeit Typhu8 Uberstanden hatten. Die Reaction war 
bei 3 Patienten, die 3—4 Monate nach der Erkrankung untersucht 
wurden, deutlich ausgesprochen (1:80 bis 1:100); von 5 Per¬ 
sonen (1 Jahr nach der Typhuserkrankung) zeigten nur 2 eine 
Reaction von 1 :80; von 4, die vor 2 Jahren erkrankt waren, 
nur 1 eine Reaction von 1:60; 1 Patient, der vor 7 Jahren 
einen Abdominaltyphus durchgeraacht hatte, zeigte eine Reaction 
von 1:60; bei allen übrigen konnte ich eine specifische para¬ 
lysirende Kraft des Serums nicht nachweisen. 

Ich habe bereits oben darauf hingewiesen, dass unter den 
7 Fällen von Abdominaltyphus, welche dauernd beobachtet 
wurden, bei 2 die Reaction negativ ausfiel, d. h. dass das Serum 
derselben in geringerer Verdünnung paralysirende Wirkungen aus- 
Ubte als eine Reihe nicht typhöser Sera. In dem ersten Falle 
war das Serum nur in einer Verdünnung 1 :30, im zweiten von 
1:20 wirksam, während unser wirksamstes Normalserum noch 
in einer Verdünnung von 1 :50 einen stark paralysirenden Ein¬ 
fluss zeigte. Die Sera beider Patienten zeigten beim Thier¬ 
experiment eine ausserordentlich starke Pfeiffer'sche Reaction. 
Es würden sich also diese Beobachtungen decken mit denen von 
Kolle (1. c.) und Pfeiffer (in der Kolle’schen Arbeit citirt), 
hinsichtlich derer Kolle meint, dass es sich um eine mangelnde 
oder fehlende Ausbildung der Paralysine handelt. Ich habe nun 
die Sera unserer beiden Patienten verglichen mit gleich stark 
wirksamen Normalseris und constatiren können, dass ein augen¬ 
fälliger Unterschied in der Wirkungsweise gegenüber dem Bact. 
coli besteht. Die Coliculturen wurden erst nach Anwendung 
sämmtlicher, oben erwähnter Cautelen verwandt. Es zeigte sich, 
dass die Typhussera den Colonbacillus nur in starker Concentration 
(1: 5 bis 1:10) beeinflussten, während die stark wirksamen Nor¬ 
malsera ihn nahezu ebenso stark beeinflussten, wie den Typhus¬ 
bacillus. Daraus glaube ich auch für diese Sera schliessen zu 
können, dass sie specifische paralysirende Eigenschaften hatten» 
obgleich sie nicht unerheblich hinter der durch Prüfung nicht 
typhöser, z. Th. stark wirksamer Normalsera bestimmten „oberen 
Grenze“ zurückblieben, und möchte daher für solche Sera typhus¬ 
verdächtiger Erkrankung, welche nicht von vornherein in star¬ 
ker Verdünnung wirksam sind, Vorschlägen, ihr Verhalten 
gegenüber Coliculturen zu prüfen. Ich möchte dies Verfahren 
auch deshalb namentlich empfehlen, weil bisher eine einheitliche 
„obere“ Grenze noch nicht normirt ist und uns jede neue Bear¬ 
beitung des vorliegenden Gegenstandes mit noch höher wirksamen 
Normalseris bekannt machen kann. Die obere Grenze kann bis 
jetzt nicht normirt werden, da in den meisten Veröffentlichungen 
auf die Concentration, das Alter und die Virulenz der Ausgangs- 
cultur nicht Rücksicht genommen ist, die einzelnen Angaben 
also einen Vergleich unter einander nicht zulassen. 

Was nun den Begriff der Reaction selber anlangt, so bedarf 
auch dieser einer genauen Präcision, wie sie schon von R. Stern 
gegeben ist. Ich habe, wie gesagt, stets genau gleich alte (löstün- 
dige), auf gutem Nährboden (Agar) gezüchtete, in ihrer Virulenz 
geprüfte Culturen verwendet: die Reaction wurde bei Brutschrank¬ 


temperatur (37 °) angestellt, da sie sich bei diesem Verfahren rascher 
und intensiver als bei Zimmertemperatur vollzieht. Die Prüfung 
wurde 2 Stunden nach dem Einbringen in den Brutofen angestellt. 
Die Bestimmung des oberen Grenzwerthes muss ebenfalls nach 
bestimmten, einheitlichen Criterien geschehen; hierhin gehört 
1. die Unbeweglichkeit der Bacterien, 2. die Haufenbildung. Ob 
beide in einem ursächlichen Zusammenhang stehen, ist noch nicht 
recht aufgeklärt, jedenfalls ist es nicht unwahrscheinlich, dass 
die Hautenbildung eine Folge der Unbeweglichkeit ist, da man 
ja in Culturen, die reichlich abgestorbene Individuen enthalten 
(alte Culturen, Zusatz von Desinficientien), sich leicht von der 
Häufchenbildung überzeugen kann. Freilich liegen die Verhält¬ 
nisse bei der Paralysinwirkung noch anders, da es sich ja hier 
nicht um ein Absterben, sondern um eine Lähmungserscheinung 
handelt. Erst später zeigen sich specifische Abtödtungs- und 
Degenerationserscheinungen, die sich aus einer Summation der 
bactericiden Wirkung des Serums zur Paralysirung erklären. Es 
sei mir an dieser Stelle gestattet, zu erwähnen, dass die so¬ 
genannten Schleimfäden sich sowohl gegen die Paralysin- als 
gegen die bactericide Wirkung sehr viel resistenter erwiesen als 
die gewöhnlichen Bacillen. In meinen Versuchen habe ich nicht 
die Haufenbildung, sondern die Unbeweglichkeit der Bac¬ 
terien zum Criterium für die Beurtheilung der Reaction gemacht, 
da die specifische, ursprüngliche Einwirkung wohl in dieser Er¬ 
scheinung zu sehen ist. Die Haufenbildung tritt viel früher ein, 
und es stellen sich daher meine oberen Grenzwerthe im Ganzen 
niedriger als beispielsweise die Stern’s, der die Haufenbildung 
zur Beurtheilung des Phänomens heranzog. Natürlich wird man 
gegen die obere Grenze der Reaction hin oft zweifelhaft sein 
müssen, ob es sich um einen positiven oder negativen Ausfall 
derselben handelt. Für jeden einzelnen Untersucher wird es 
daher nothwendig sein, sich bestimmte Normen für die Be¬ 
urtheilung des Phänomens zu machen. 

Aus dem Gesagten geht bereits hervor, dass wir uns zur 
Beurtheilung der Reaction durchaus für die mikroskopische 
Reaction entschieden haben, und zwar deshalb, weil sie rascher 
eintritt, zuverlässiger ist und allein genaue Grenzbestimmungen 
ermöglicht. Die makroskopische Reaction ist nur verwcrthbar 
bei stark wirksamen Seris in mittlerer Concentration. Sie bietet 
dann allerdings durch die Klärung der Bouillon und die Klumpen¬ 
bildung höchst augenfällige Kennzeichen und ist dann auch für 
den Ungeübten leicht erkennbar. In diesen Fällen entwickelt 
sich das Phänomen auch sehr rasch und ist nach etwa 1 Stunde 
vollkommen ausgesprochen, so dass es sich zu klinisch diagnosti¬ 
schen und Demonstrationszwecken unter den genannten Verhält¬ 
nissen eignen würde. Je weniger ausgesprochen indess die 
Paralysinwirkung ist, und je mehr man sich der oberen Grenze 
der „Reaction“ nähert, um so ungenauer wird das Verfahren. 
F2s kommt weder zur typischen Klumpenbildung, noch zur voll¬ 
kommenen Klärung der Bouillon, oder aber die Reaction tritt 
erst sehr spät ein und geht rasch vorüber, d. h. die Bacterien 
werden bald wieder beweglich, vermehren sich und bedingen 
eine neue Trübung des Nährmediums. Es gehört in solchen 
Fällen zur richtigen Beurtheilung eine fortgesetzte, aufmerksame 
Beobachtung und selbst dann werden Unklarheiten und Fehler¬ 
quellen nicht zu vermeiden sein. All diesen Schwierigkeiten 
entgeht man mit Hülfe der mikroskopischen Reaction. Die in 
den Protocollen enthaltenen Zahlen beziehen sich denn auch aus¬ 
schliesslich auf diese und stellen obere Grenzbestimmungen dar. 

Ich lasse nun die Tabelle folgen, welche in nuce die ge- 
8ammten Resultate der vorliegenden Arbeit enthält, und zu deren 
Erklärung es mir gestattet sei, Folgendes hinzuzufügen: 

Es sind 4 Sera, ein gewöhnliches und ein stark wirksames 
Normalserum, ein schwach und ein stark wirksames Tj’phus- 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


401 




Avirulenter Typhus. 

Obere 

Virulenter Typhus. 

Obere 


Bact. 

coli (v). 

Obere 

8 e r a. 




Grenze 



Grenze 




Grenze 


Alter 

Concentration 


Alter 

Concentration 



Alter 

Concentration 




der 

der 

Reaction. 

der 

der 

Reaction. 


der 

der 

Reaction. 


j Cultur. 

Aufschwemmung. 


Cultur. 

Aufschwemmung. 

Cultur. 

Aufschwemmung. 


Normal- 

15 

Stunden 

schwach trüb') 
stark trüb 5 ) 

1:85 

1:20 

15 Stunden 

schwach trüb 1 2 3 ) 
stark trüb 4 5 6 ) 

1: 10 
1:5 

15 

Stunden 

schwach trüb 5 ) 
stark trüb'*) 

1 : 10 

1:5 

Serum. 

50 


schwach trüb 

1 :80 

50 

schwach trüb 

1:20 

50 


schwach trüb 

1 : 15 


V 

stark trüb 

1:40 

stark trüb 

1 : 10 

" 

stark trüb 

1 : 10 

Stark 

15 


schwach trüb 

1:80 

15 

schwach trüb 

l : 50 

15 


schwach trüb 

1:40 

wirksames 

" 

stark trüb 

1 : 50 

stark trüb 

1:25 

” 

stark trüb 

1 : 20 

Normal- 

50 


schwach trüb 

1 : 120 

50 

schwach trüb 

1 :80 

50 


schwach trüb 

1:70 

Serum. 

T» 

stark trüb 

1:70 

stark trüb 

1:60 

* 

stark trüb 

1 : 50 

Schwach 

15 


Bchwach trüb 

1:40 

15 „ 

1 schwach trüb 

1:20 



schwach trüb 

1:5 

wirksames 

f» 

stark trüb 

1:25 

1 stark trüb 

1 : 10 


" 

stark trüb 

1 : 2 

Typhus- 

50 


schwach trüb 

1 : 80 

50 

schwach trüb 

1:40 

50 


schwach trüb 

1 : 10 

Serum. 

» 

stark trüb 

1:50 

stark trüb 

1 : 20 

* 

Btark trüb 

1 : 5 

Stark 

15 


schwach trüb 

1 : 250 

15 

, schwach trüb 

1 : 100 

15 


Bchwach trüb 

1:30 

wirksames 

" 

stark trüb 

1 : 150 

stark trüb 

1 : 80 

V 

stark trüb 

1 : 15 

Typhus- 

50 


schwach trüb 

1:400 

50 

'ichwach trüb 

1 : 200 

50 


schwach trüb 

1:50 

Serum. 

” 

stark trüb 

1:300 

stark trüb 

: 1:100 

r 

stark trüb 

1:35 


Serum geprüft in ihrem Verhalten gegen virulente und avirulente 
Typhus- und Coliculturen. Je nach der Verschiedenheit der 
Concentration, des Alters und der Virulenz der Culturen fällt die 
Reaction ausserordentlich verschieden aus. Ganz gewöhnliches 
Normalserum ruft bei einem avirulenten Typhus, namentlich 
wenn die Cultur nicht ganz jung ist, eine stark positive Reaction 
hervor. Stark wirksames Normalserum beeinflusst Typhusculturen 
und Coliculturen gleichsinnig stark. Schwach wirksames Typhus¬ 
serum zeigt zwar eine geringere specifische Paralysinwirkung, 
dagegen paralysirt es Bact. coli nur in stärkster Concentration. 
Stark wirksames Typhusserum zeigt eine Überaus starke Ein¬ 
wirkung anf Typhusculturen, indess nur eine schwache, wenn 
auch erkennbar gesteigerte auf Coliculturen. Letztere Erschei¬ 
nung ist keine specifische Aeusserung der paralysirenden Kraft, l 
sondern eine Steigerung der natürlichen Widerstandskraft des 
Serums, eine Erscheinung, die wir aus dem Studium der Ein¬ 
wirkung von Choleraserum auf verwandte Species bereits kennen. 
Gelegentlich könnte es wohl Vorkommen, dass ein an sich stark 
wirksames Normalserura nach Ueberstehen einer Typhusinfection 
noch stark specifische Eigenschaften annähme. Immer wtirde 
man aber dann durch das Missverhältniss zwischen der Ein¬ 
wirkung auf Typhus und Bact. coli auf den rechten Weg ge¬ 
leitet werden können. 

- Die Resultate vorliegender Arbeit sei es mir gestattet im 
Folgenden kurz zusammenzufassen: 

1. Zur richtigen ßeurtheilung der Leistungsfähigkeit der 
Serodiagnostik sind eine Reihe von Cautelen erforderlich: 

a) Die obere Grenzbestimmung der Wirksamkeit von sicher 
nicht typhösen Seren gegenüber Typhusculturen. 

b) Da die Paralysinwirkung des Typhusserums sich quali¬ 
tativ von der normalen nicht typhösen Serums nicht unter¬ 
scheidet, so ist ein richtiges Urtheil nur durch genaues 
quantitatives Arbeiten zu erzielen. Dasselbe wird ermög¬ 
licht erstens durch genaue Verdünnungen, zweitens durch 
die Berücksichtigung der Concentration, der Virulenz und 
des Alters der Typhuscultur. 

2. Die Serodiagnostik liefert in vielen Fällen von Abdominal¬ 
typhus gute Resultate. In anderen ist sie gar nicht oder doch 

1) = 120 Millionen Keime im Cubikcentimeter der Cultur. 

2) = 300 „ * * 

3) = 130 * n * 

4) = 280 „ „ * „ 

5) = 1ÖO n n n TI TT ti 

6) = 800 , « „ 


so schwach ausgeprägt, dass sie aus dem Grade der Verdünnung 
allein nicht erkennbar ist. In solchen Fällen lieferte uns die 
vergleichsweise Prüfung gegenüber dem Bact. coli 
gute Resultate. 

3. Es giebt stark wirksame Norraalsera, welche eine Typhus- 
reaction Vortäuschen. Dieselben haben die Eigenschaft, auch 
das Bact. coli gleichsinnig zu beeinflussen. 

4. Die Reihe der für eine richtige Beurtheilung der Sero¬ 
diagnostik erforderlichen Cautelen ist hiernach eine so grosse, 
dass die letztere eines genauen Laboratoriumstudiuras bedarf und 
vor der Hand in ihrer gegenwärtigen Form für die Praxis nicht 
in Betracht kommt. 


II. Weitere Mittheilungen über die Pupillen- 
Reaction. 

Von 

Professor Moell. 

(Nach einem am 13. März im Berliner psychiatr. Verein gehaltenen Vortrage.) 

(8chluss.) 

Immerhin wird man, da unter den luischen Augenmuskel - 
lähmungen Lichtstarre mit Aufhebung der C. V. und mit Acco- 
modationslähmung (Oplithalmopl. int.) einseitig nicht selten auf- 
tritt, eine partielle Erkrankung einer Seite in der von Heddäus 
vermutheten Art auch als Grundlage für isolirte Lichtstarre nicht 
abweisen können. Es brauchte sich ja nicht um Kern-, es 
könnte sich auch um Wurzellähmung handeln. Die häufigere 
Betheiligung einzelner Antheile eines Nerven tritt uns auch am 
III. bei der diphtheritisclien Lähmung bezügl. der Accomodation, 
bei Syphilis in der Ptosis entgegen, ohne dass wir deshalb 
gleichzeitige Erkrankungen anderer Aeste anders beurtheilen. 
Ich glaube daher, dass bei Lues die einseitige isolirte Licht¬ 
starre in der von Heddäus vermutheten Weise begründet sein 
kann, ohne jedoch auch hier die Möglichkeit einer (gleich¬ 
zeitigen?) anderen Entstehung — nämlich wie bei den sonstigen 
Krankheiten auszuschliessen. 

Für diese Erkrankungen nämlich scheint mir die Sache 
etwas anders zu liegen. Hier ist die längere Zeit oder im ganzen 
Verlaufe isolirt bleibende und dabei doppelseitige Licht¬ 
starre (bei Tabes und Paralyse) nicht nur ausserordentlich viel 
häufiger als alle anderen (äusseren und inneren) Angenmuskel¬ 
lähmungen, sondern sie Uberwiegt auch noch erheblich Uber die 


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402 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 19. 


mit Aufhebung der C. V. combinirte. Selbst in den oben ange¬ 
führten ersten 10 Fällen von äusseren Augenmuskellähmungen 
bei Paralyse und Tabes, also trotz Ausbreitung der Erkrankung 
im III. Gebiete, macht sich dies bemerklich. Es ist bekannt, 
dass auch bei langjährigen Tabesfällen immer noch eine grosse 
Zahl nur reflectorische Starre (doppelseitig) wahrnehmen lässt. 
Noch viel geringer aber ist die Zahl der Paralytiker, bei wel¬ 
chen (ohne sonstige Erscheinung im III. Gebiet) die Starre auf 
Licht sich mit fehlender C. V. verbindet. Weil der Zustand der 
Kranken im letzten Stadium öfter sichere Untersuchung nicht 
gestattet, sind genaue Zahlen nicht anzugeben, aber die Com- 
bination gehört bei Paralyse jedenfalls zu den Ausnahmen. Auch 
bei der meist einseitig vorkommenden Ophthalmoplegia int. tritt 
die Tabes und die Paralyse an Häufigkeit gegenüber der Syphilis 
ganz in den Hintergrund. Wohl noch viel seltener — von 
Heddäus sogar bezweifelt — ist eine isolirte Aufhebung der 
C. V., wie sie aus der Erkrankung des nicht bei L. R. thätigen 
Irisnervenkerns oder dessen Wurzel sich ergeben müsste 1 ). 

Es würde aber auch eine Mittheilung von Kornfeld und 
Bikeles 2 ) gegen die allgemeine Annahme der Erkrankung im 
Sphincterkern bei isolirter Lst. sprechen. Dass in einzelnen 
Fällen (von Paralyse!) consensuelle Reaction bei Fehlen der 
directen L. R. eintrat, Hesse sich jedenfalls eher durch eine 
Unterbrechung vor dem motorischen Abschnitte erklären. 

Mag man nun aber die Ursache des Fehlens der L. R. im 
Beginn des centrifugalen Schenkels oder im Bogen selbst suchen, 
jedenfalls bleibt auch bei Häufung der Beobachtungen Uber ein¬ 
seitigen Befund dieser Art meine frühere Folgerung aufrecht, 
dass hiernach eine doppelseitige Innervation der Pupillen vom 
Iriskerne abwärts nicht anzunehmen ist. 

Geht man von dieser Grundlage bei Ueberlegung Uber den 
Verlauf der für die L. R. der Pupille wichtigen Bahnen aus, 
so muss 

1. wegen der indirecten L. R. eine Vertheilung der optischen 
Pupillarfasem auf beide Seiten (beim Menschen) angenommen 
werden. 

2. Dass bei Tractuserkrankung noch L. R. besteht, beweist 
an sich nicht eine Halbkreuzung der Pupillarfasem im Chi- 
asma, denn es könnten (wie Bechterew u. A. annehmen) die 
Pupillarfasem nahe dem Chiasma zum III. Kerne abbiegen (unter 
weiterer Vertheilung auf beide Seiten). 

3. Wer die hemianopische Pupillenreaction bestimmt an¬ 
nimmt, muss allerdings eine Halbkreuzung ähnlich wie für die 
übrigen centripetalen Opticusfasern anerkennen. Wenn aber die 
Pupillenfasern so durch den Tractus verlaufen, würde die Er¬ 
haltung der directen L. R. von den nasalen Retinahälften bei 
Erkrankung des rechten Tractus (X in Fig. 2) eine theilweise 
Rückkreuzung der gekreuzten Fasern im weiteren Verlaufe, etwa 
in der grauen Substanz vor dem III. Kern erforderlich machen. 
Wenn dabei die heraianopt. P. R. vom 1. Auge (temporale Seite) 
aus auch conscnsuell vorhanden wäre, so müsste ebenso eine 
theilweise Kreuzung der bisher ungekreuzten Fasern angenommen 
werden. Hierüber ist in den vorhandenen Beobachtungen noch 
nicht genügendes Material vorhanden. 

Das Schema für die Pupillenbewegung würde sich dem Falle 2 
entsprechend dem von Möbius*) Fig. 1 im Falle 3 (kaum wesent- 


1) Mit Lähmung in den äusseren Muskeln kommt sie in seltenen 
Fällen vor, z. B. Fr. Scbultze (Zeitschr. f. Nervenheilk. 9, 215): 
neben Lähmung von III u. IV Pup. bei Aceom. unverändert, dagegen 
auf L. reagirend; die Annahme eines Tumors der Vierhügel bestätigte 
sich im weiteren Verlaufe nicht. 

2) A. a. O. 

9) Centralbl. f. Nervenheilk. 1888. No. 28. 


Figur 1. 

w 



lieh abweichend von dem von Magnus gegebenen) 1 ) etwa wie 
Fig. 2 darstellen. Solches Schema hat ja nur für weiteres Stu¬ 
dium der Fälle Werth. Es zeigt aber, dass das Fehlen der 
directen und indirecten L. R. eines Auges ganz gut auch aus 
einer Veränderung der optischen Pupillarfasem und zwar an 
einer Stelle erklärlich sein würde, indem (wie für die isolirte 
doppelseitige Lichtstarre beiderseits) bei z der Sitz des Leidens 
anzunehmen wäre. 

Bei Thieren besteht die indirekte L. R. nur bei unvollständiger 
Kreuzung der Optici (Steinach). Eine Verbindung zwischen den Kern- 
absebnitten des III. für die Pupillenvercngerung oder des Kerns mit jeder 
Iris ist demnach hier nicht anzunehmen. Die experimentell festgestellte 
Kreuzung (Oudden, Bregmann u. A.) eines Theils der III. Wurzel 
wird sich demnach nicht auf die Irisfasern in der Weise beziehen 
lassen, dass nur ein Theil derselben sich kreuzte. Ebenso wenig kann 
eine centrale Verbindung im Sinne der Leitung von einem III. Kern 
zum anderen für die Ciliarnerven vorausgesetzt werden. 

Für die Vögel, bei welchen eine vollständige Opticuskreuznng fest¬ 
steht, wird bei der Ente (Gehuchten) eine theilweise Kreuzung der 
III. Fasern angenommen, während Brandis (Arch. f. mikrosk. Anatom. 
44, 547) die nach Entfernung des Bulbus auffällig degenerirten Wurzel¬ 
fasern des III. (Marchi) nicht auf die andere Seite verfolgen konnte. 


1) Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. Juli 1888. Heddäus verwirft 
(a. a. O. Bd. 25) eine Kreuzung der Pupillenfasern, weil in einem Falle 
von nasaler Hemianopsie, bei welcher ein Tumor das Chiasma fast von 
einander getrennt hatte, die L. R. intact war. Abgesehen davon, dass, 
wie öfter bestätigt, bei Compression des Opticus zuweilen die Sehfähig¬ 
keit mehr leidet, als die L. R., könnte auch eine theilweise Kreuzung 
der äusseren Fasern erst hinter dem Chiasma — s. Fig. 2 — die L. R. 
in solchem Falle aufrecht erhalten. 



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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


403 


Bechterew hat Experimente bei Tauben veröffentlicht (Arch. slav. 
de Biol. 1886, 15. März), wonach bei möglichst einseitiger Verletzung 
ues 1I T Serna auf dem gegenüberliegenden Auge nur eine unbedeutende, 
auf dem gleichen Auge eine maximale Störung der Pupillenweite und 
L. R. sich fand. Durchschneidung des Tr. möglichst nahe dem Chiasma 
hebt die. L. R. auf dem gegenüberliegenden Auge auf. Diese Befunde 
würden für eine Rückkreuzung der Pupillarfasern vor der Verbindung 
mit dem Ciliarkem (bei Vögeln) sprechen. 

Erwähnen will ich noch, dass bei dem mit nicht ganz totaler Kreu¬ 
zung versehenen Kaninchen von den äusseren Muskeln eine wesenilich 
gekreuzte Innervation der Rectus superior erfährt (Gudden, Schwabe')» 
Bach 1 2 )). 

Die Lage der Kerne für die inneren Augenmuskeln konnte 
bisher durch Wegnahme der zugehörigen Muskeln nicht bestimmt 
werden (Schwabe). Die Hemmung von der Hirnrinde aus, 
welche für das III. Centrum, wie für die Apparate zur Ueber- 
tragung der Reize von den sensiblen Nerven auf die Pupille 
erwiesen ist (Braunstein) 3 ), sowie die Beziehung zu den vom 
Rückenmark ausgehenden sensiblen Erregungen, die Rieger und 
Förster 4 ) schon vor längerer Zeit hervorhoben, haben bisher 
die klinische Betrachtung nicht wesentlich beeinflusst. — 

Nach diesen Erörterungen kehre ich zum Vorkommen der 
Pupillenstarre bei den einzelnen Krankheiten zurück. Ich will 
hier nur Punkte hervorheben, die anderweitige Nachforschungen 
verdienen. 

1. Paralyse und Tabes. 

Die Combination von Kern- oder Wurzel- oder Stammläh¬ 
mung mit isolirter L.-Starre der anderen Seite zeigt für die 
letzte Beobachtungsreihe die oben gegebene kurze Uebersicht. 
Ich kann auf Grund derselben der Behauptung Fournier’s 
nicht beitreten, wonach die Augenmuskellähmungen so gut wie 
ausschliesslich der Pseudoparalysie generale syphilitique ange¬ 
hören. Nicht nur der wenig unterbrochene Verlauf, sondern 
auch der Hirnbefund bot keineswegs genügende Abweichungen, 
um den Fällen von Paralyse mit Aral, stets eine Sonderstellung 
gegenüber der Hauptmasse einräumen zu können. 

Dagegen unterliegt es auch nach der obigen Uebersicht 
keinem Zweifel, dass die Augenmuskellähmungen bei Lues eere- 
bralis mit Psychose viel häutiger sind als bei der Paralyse. 
Natürlich hat die scharfe Betonung derartiger Unterschiede nur 
in prognostischer, nicht in ätiologischer Hinsicht Bedeutung 5 ). 

Uolirte doppelseitige Starre in wahrscheinlich als Früh- 
paralyse anzusehenden Fällen. 

21. 18jähriges Mädchen. Lues bei den Eltern und dem Kinde 
selbst nicht nachweisbar, zwei Geschwister gesund, soll sich normal ent¬ 
wickelt haben. Nach einer Kopfrose epileptische Anfälle, zuerst vor 
8 Monaten, seitdem gesteigert. Rasch verblödend, unsauber, Anfälle in 
der Beobachtung seltener werdend, isolirte doppels. Lst. von Anfang an, 
Augenbewegung frei. Lebhafte Knph., Marasmus. Tod nach 7 Monaten. 

— Hochgradige, zum Theil fellartige Verdickung der Pia, starke Erwei¬ 
terung der Ventrikel, starke Atrophie des Gehirns, Rückenmark makro¬ 
skopisch ohne Befand. 

22. 17jähriges Mädchen. Erste Aufnahme am 8. VIII. 1893. Vater 
trunksüchtig. Patientin lernte in der Schule gut. Vor 2 Jahren Er¬ 
schütterung des Schädels bei schwerem Fall, jetzt verwirrt, ängstlich, 
vergesslich. Im vorigen Jahre kurze Zeit Schwindelanfälle. Das Kph. 
und Achillessph. fehlt, P. R. fehlt (ganz unbedeutende Hornhauttrübung), 
C. V. deutlich, ophthalmoskopisch stets normal. 

Wieder aufgenommen nach 10 monatlicher häuslicher Pflege. Deut¬ 
liche Demenz, kindlich vergnügt, dann abweisend, hypochondrische Ideen, 
zunehmend verblödet. 8prache — jedoch nicht charakteristisch — gestört. 

— Gestorben 19*/ 4 Jahre alt. — Gehirn hochgradig atrophisch, Häute 
getrübt, starke Erweiterung der Ventrikel. Hgew. 892. Rückenmark 
makroskopisch frei. Mikroskopisch theilweise eigenthümliche Degenera¬ 
tion in den hinteren Wurzeln des oberen Lendenmarks, nur I. voll aus¬ 
gesprochen. 


1) Neurol. Centralbl. 1896, 792. 

2) Centralbl. f. Nervenheilkunde etc. 1896, 611. 

8) Innervat. der Pupillenbewegung. Bergmann, Wiesbaden 1894. 

4) Auge und Rückenmark. Arch. f. Ophth. 27. 

5) Oebecke a. a. O., 181, fand bei Paralytikern mit (nachgewie¬ 
sener) Syphilis 7 mal häufiger Lähmungen der äusseren Augenmuskeln, 
als bei nicht nachweisbar syphilitischen. 


Fälle von Tabes mit Psychose, nicht Paralyse, befanden 
sich 32 unter dbr erwähnten Krankenzahl. Hier muss ich darauf 
aufmerksam machen, dass sie keineswegs der Mehrzahl nach 
vorgeschrittene Fälle von Tabes darstellen. Vielmehr haben wir 
eine Anzahl von Kranken hierher rechnen müssen, welche nur 
W. Z. und Lichtstarre darboten und bei denen für diese Er¬ 
scheinung in keiner Weise eine andere Erklärung (Alkoholismus, 
Senium u. A.) sich fand. Schmerzen und Parästhesien w r aren 
dabei nur ausnahmsweise und nicht charakteristisch vorhanden. 
Nachfolgend führe ich einige Fälle an, welche zeigen, wie lang¬ 
sam sich diese Erscheinungen entwickeln und wie wenig sie zum 
Fortschreiten neigen. Es ist bekannt, dass bei Tabes nicht nur 
Jahrzehnte langer Stillstand, sondern sogar ein Zurückgang der 
subjectiven Beschwerden bei unveränderter Beschaffenheit des 
Befundes am Rückenmark Vorkommen kann. Es scheint mir 
aber ein derartiges Verhalten gerade bei den zugleich psychisch 
Erkrankten relativ häufig zu sein. Ich gehe natürlich hier 
wie im Folgenden auch auf früher mitgetheilte und weiter beob¬ 
achtete Fälle ein. 

Im Jahre 1885 erwähnte ich z. B. zweier Frauen mit W. Z. 
und Lst., ohne die Fälle mit zu berechnen, weil ich damals 
nach erst zweijähriger Beobachtung Entwickelung einer Paralyse 
oder Tabes für möglich hielt 1 ). Eine davon ist jetzt nach wei¬ 
teren 12 Jahren in demselben Zustande, d. h. sie weiss nichts 
von ihrer in W. Z. und Lst. ausgesprochenen Erkrankung (früher 
Lues). 

Ich füge beispielsweise weiter an: 

28. S. Aerztlich beobachtet seit 1880, damals 36 Jahre. Früher 
Lues. Seit 1880 fehlt das W. Z. — 1885 wegen eines Erregungs¬ 
zustandes mit leichten Grössenideen unter der Diagnose „prog. Para¬ 
lyse“ aufgenommen. P. R. fehlt r., 1. spurweise. Keine deutliche 
Sensibilitätsstörung. 

Nach 7 Monaten entlassen. Zweite Aufnahme nach 4 Jahren, in¬ 
zwischen verheirathet. Deutliche psychische Schwäche, sonst geordnetes 
Verhalten. Nach 8 Monaten entlassen. 

1898 zum dritten Male aufgenommen. Albernes, theilweise reiz¬ 
bares Verhalten. Es soll inzwischen ein oder das andere Mal Inconti- 
nenz beobachtet sein. Nach einiger Zeit wieder entlassen, befindet sich 
die Kranke Jetzt wieder in einer Privatanstalt, ohne dass seit etwa 17 
Jahren ein Fortschritt des Rückenmarkleidens, Sprachstörung oder tiefere 
Demenz aufgetreten wären. 

24. M. Im 50. Jahre aufgenommen mit Diagnose „prog. Paralyse“. 
Aufregungszustand und Demenz. W. Z., L. R. fehlt. C. V. vorhanden. 
Augenhintergrund normal. Seit 8 Jahren vollkommen unverändert, bietet 
jetzt keinen stärkeren Schwachsinn oder Gedächtnissverlust. — 

Nebenbei will ich hier noch bemerken, dass bei einem 86jährigen 
Manne, der sich bereits länger in Anstaltsbehandlung befand, im Jahre 
1887 das W. Z. aufgetreten ist. Lues sehr wahrscheinlich, kein Potus, 
Diabetes n. s. w. Chronische hallucinatorische Paranoia in Demenz 
übergehend. Weitere Abweichungen sind in 10 Jahren nicht hinzu¬ 
gekommen. 

Auch zur Tabes zu rechnen ist der folgende Fall einer 
halbseitigen Gehimatrophie. 

25. R. Im 28. Lebensjahre zuerst, im Ganzen 5 Mal aufgenommen. 
Cerebrale Kinderlähmung. Wahrscheinlich früher Lues. Mitbewegung 
und geringe Athetose in den wenig atrophischen Gliedern. W. Z. 
beiders., P. R. erhalten. 5 Jahre später ist die L. R. auf dem 1. Auge 
direkt und indirekt schlecht, auf dem rechten nicht ganz frei. C. V. 
deutlich. S. * 8 . A. H. frei. — Nach 8 Monaten entlassen, kehrte R. 
im folgenden Jahre zur Anstalt zurück und wurde noch 14 Monate lang 
beobachtet. Im Laufe dieser Zeit hörte die schon beim Eintritt sehr 
undeutliche L. R. ganz auf, zuerst 1. C. V., S. und A. H. blieb normal. 
Tod im 36. Lebensjahre. Atrophie der r. Gehirnhälfte, geringe Degene¬ 
ration der Hstr. 

An die Tabes und Paralyse und ihnen nahestehende Erkran¬ 
kungen füge ich das Vorkommen von Pupillenstörung bei se¬ 
nilen Zuständen. Die mässige Myosis und schlechte Licht- 
reaction des höheren Greisenalters ist allgemein bekannt; völlige 
Lichtstarre sah ich aber nur bei 5 Kranken unter den jenseits 
des 00. Jahres Aufgenommenen der letzten Jahre (im Ganzen 471). 

Die C. V. war einmal zweifelhaft, zweimal vorhanden, fehlte 

1) a. a. 0. 515. 

2 * 


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404 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 19. 


zweimal. Nicht weniger als drei der Kranken boten zugleich 
W. Z. (Es findet sich dies bei Senilen auch ohne Pupillen¬ 
erscheinungen — 2 weitere Fälle ohne Alkoh., Diabetes etc.) 
Einer der Fälle mit Lst. und einseitigem W. Z. hatte kurz vor 
der Aufnahme schwere Influenza Uberstanden, was für das letz¬ 
tere Symptom erwähnenswerth ist. 

26. A. 72jähriger Mann. Dement, unreinlich. K. Ph. im Ver¬ 
laufe 6 wöchentlicher Beobachtung immer nur r. vorhanden. Pup. an¬ 
fänglich etwas eng, aber später ohne erhebliche Myose, ohne L. R. ge¬ 
ringe C. V. — H. Gew. 1260. Ilydrocephalus intern. Mikroskopisch in 
den Vhz. des Lendenmarks Zerfall der Granula; in den periph. Nerven 
kein erheblicher Befund. 

27. 64jährige Frau. Keine Lues nachweisbar. Bei 6 monatlicher 
Beobachtung dauernd isolirte Lst., 1. vollkommene, r. direkt und indirekt 
noch spurweise R. C. V. beiders. merklich. Kph. fehlte stets, ohne 
Sensibilitätsstörnng, Lähmung und Ataxie. — Hochgradige Hirnatrophie, 
ohne Herderkrankung. H. Gew. 962. Starke Atheromatose. Die peri¬ 
pheren Nervenzweige zeigen keine stärkeren Veränderungen. Im Lenden¬ 
mark sind die Vhz. nur mit sehr kleinen Grannla erfüllt, der Kern meist 
randständig. 

Trotz des Fehlens eines sicheren Befundes in den peripher. 
Nervenzweigen wage ich nicht, das W. Z. in diesen Fällen be¬ 
stimmt auf die undeutlichen Veränderungen im Rückenmark zu 
beziehen. 

Namentlich von Oppenheim') ist bei der Neuritis der 
Greise häufig (in 5 unter 6 Fällen) W. Z. beobachtet. Die im 
höheren Greisenalter gefundenen arteriosclerotischen Verände¬ 
rungen 2 ) des Rm. andererseits könnten vielleicht auch bei sehr 
geringer Ausprägung das so sehr empfindliche K. Ph. stören. — 
Der Hirnbefund ergab das gewöhnliche Bild, das Gewicht betrug 
im Minimum 960. Fehlen der L. R. fand sich aber auch bei 
1280 Hirngew. und ein Ueberblick Über die sonstigen Sections- 
befunde bei Senilen zeigt, dass das Symptom jedenfalls nicht im 
directen Verhältniss zum Grade der Atrophie, wie er sich in der 
Gewichtsabnahme ausdrUckt, steht. 

Herderkrankungen des Gehirns führten in 6 Fällen zur 
isolirten doppelseitigen Lst., darunter ein 22jährigcr Imbeciller 
mit epileptischen Anfällen und Schwäche einer Seite, Augen¬ 
hintergrund frei. Einmal war eine grosse Erweichung, in zwei 
Fällen atheromatose Herde vorhanden. Bei einer in früher 
Jugend aufgetretenen Hirnerkrankung (L. R. und C. V. aufge¬ 
hoben, Augenhintergrund frei, Tod im 17. Lebensjahre) bestand 
ein Tumor des Linsenkerns und der Umgebung, daher möglicher¬ 
weise zu Lues gehörig. 

Nicht sicher zu classificiren ist auch die Erkrankung eines 
50jährigen Mannes: Früher Lues, jetzt Verwirrtheit mit zahl¬ 
reichen Sinnestäuschungen. Diagnose: „Chronischer Alkoholis¬ 
mus“. Andauernde Unruhe. Collaps. Tod am 11. Tage. Hirn¬ 
gewicht 1350. — In der rechten Stirnhöhle ein grösserer Eiter¬ 
herd. Die weichen Hirnhäute im Ganzen stark getrübt, aber 
kein Eiter. Erhebliche Atheromatose. — 

Ausser den oben unter No. 11—19 (20) angeführten Kranken 
mit Lues, bei welchen neben äusserer Lähmung des Auges Pu- 
pillar-Symptome bestanden und 4 syphilitischen Lähmungen der 
Augenmuskeln ohne Störung an den Pupillen, ist noch in fünf 
Fällen dieser Untersuchungsreihe Aufhebung der L. R. beider¬ 
seits nach Vorausgehen von Lues gefunden worden, in 
welchen nie eine Abweichung im III. bestand und für Tabes 
oder Paralyse kein Anzeichen vorlag. 

Allerdings sind diese 5 Fälle nur diejenigen, in welchen das 
Vorausgehen von Lues sicher festgestellt ist, es muss frag¬ 
lich bleiben, ob von der folgenden letzten Gruppe nicht noch 
einer oder der andere hierher gehören. Die Beobachtungszeit ist 
nicht überall gleich lang. Ich lege deshalb auf die obige Zahl 


1) Diese Wochenschrift 1893, 25. 

2) van Oordt, Zeitschrift f. Nervenheilk. 8. 230. 


selbst gar kein Gewicht. Ein Fall, früher als Dem. paral. aufge¬ 
nommen, zeigt seit IG Jahren die Verändernng der L. R. ohne 
weiterem Befund bei einer nunmehr 68jährigen Person. Auch 
von den früher erwähnten Fällen kann ich für einige sicherlich 
den Hinzutritt von Paralyse und Tabes ausschliessen. Ich wieder¬ 
hole, dass nur von doppelseitiger Lst. mit erhaltener C. V. die 
Rede ist. Die Thatsache muss uns lehren, in solchen Fällen be¬ 
züglich der Erwartung einer Tabes oder Paralyse Vorsicht zu 
üben. 

Daran knüpft sich, entsprechend den Anschauungen Uber die 
Prognose bei einseitiger Ophthalm. interna 1 ), die Frage, ob mit 
isolirter Lst. nach Syphilis Behaftete später auffällig häufig psy¬ 
chisch (wenn auch nicht an Paralyse) erkranken. Das Symptom 
könnte ja, wenn auch nicht eine ganz ungünstige, so doch eine 
wichtige Bedeutung in dieser Hinsicht haben. Wenngleich die 
Beobachtungen bisher bei Psychosen gemacht sind, glaube ich 
doch zu wissen, dass Lst. auch ohne Psychose nach Lues vor¬ 
kommt. Genaueres wird sich nur durch Sammlung zahlreicher 
Beobachtungen feststellen lassen. 

Von den (7) einfachen Psychosen mit Lst. ohne sicher 
nachweisbare Lues oder sonstige Vorerkrankang bleiben 2 erst 
seit etwa einem Jahr beobachtete ausser Betracht, da ich die 
heutigen mit meinen früheren übereinstimmenden Mittheilungen 
wesentlich wegen der längeren Beobachtung einer Reihe von 
Fällen mache, 2 sind wiederholt wegen chron. Paranoia auf ge¬ 
nommen, nunmehr 2 1 / 2 und 3 Jahre beobachtet. 

Eine weitere Kranke (W.) besass im Jahre 1880 gute L. R.; 
diese fehlt seit der Aufnahme vor 2 l / 2 Jahren. Ein jetzt 50jähri- 
ger Mann (K.) ist in den letzten 7 Jahren wegen Geistesstörung 
(Manie mit vereinzelten Sinnestäuschungen) 3 mal in Anstaltsbe¬ 
handlung gekommen. Er hat früher eine Kopfverletzung ohne 
bleibende locale Veränderung erlitten. Seit 3 Jahren mindestens 
besteht isolirte Starre. Pat. hat zahlreiche Pockennarben. (Ich 
bemerke, dass auch ein bereits 1885 von mir angeführter, seit¬ 
dem fortdauernd beobachteter chronischer Geisteskranker und 
ein anderer der früher erwähnten nicht Tabiscben, Paralytischen, 
Luischen Pocken gehabt haben.) 

Zwei Fälle gehören vielleicht zu anderen Gruppen: Eine 
Kranke (Z.) hat einseitig sehr schwaches K. Ph., Achsph. fehlt. 
Eine Zeit lang bestand Peroneuslähmung auf dieser Seite. Pa¬ 
pillen abgeblasst (Greeff). Neuere Untersuchung unmöglich, der 
Fall daher sehr zweifelhaft. — Ein seit 3 Jahren beobachteter 
Beamter hat zugleich erhebliche Mvosis. 

Nicht hierher gehört ein 45 jähriger Mann, zweifelloser Alko¬ 
holist (Del. trem., epil. Anfälle), zeigt ausgesprochene temporale 
Abblassung, Fehlen der L. R. und C. V. 

Ich möchte hierzu noch eine Bemerkung Uber das Fehlen 
der L. R. bei Alkoholisten machen. 

Während nämlich das Vorkommen isolirter doppelseitiger 
Lst. nach Syphilis, ohne alle sonstigen Abweichungen vor der 
Beobachtung und im weiteren Verlaufe, das ich als ein wich¬ 
tiges Vorkommniss gegenüber der Verbindung mit anderen Stö¬ 
rungen in der Innervation des Auges s. Zt. bezeichnete, die 
Feuerprobe langjähriger Beobachtung bestanden hat, kann ich 
nicht mit gleicher Sicherheit vom Vorkommen dauernder Lst. 
bei Alkoholismus sprechen. 

Damals war mir zwar Lst. hierbei vorgekommen, aber auch 

1) Die einseitige Mydriasis mit oder ohne Acc. Lähmung gilt zwar, 
wie bereits erwähnt, als ein häufiger Vorbote von Psychosen (neuere 
Fälle Thomsen’s Zeitschr. f. Psych. 52, 894), indessen macht Klein 
(Nothnagel, Sp. Pathol. 23, 67a) darauf aufmerksam, dass in manchen 
Fällen der geiBtige Zustand dauernd normal bleibt (Uebrigens kann 
sich die Ophthalmoplegie an Häufigkeit keinenfalla mit den äusseren 
Lähmungen messen.) 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


10. Mai lg jjji 

schon aufgefallen, dass in 3 Fällen eine sehr schlechte L. R. 
sich gegenüber dem Befunde bei anderen Kranken erheblich 
besserte, einmal bis zum völligen Freiwerden.') Meine Unter¬ 
suchungen sind dann von Thorasen und Siemerling fortge¬ 
setzt worden. Ersterer fügt bei Anführung der Alkoholdemenz 
als Ursache der Lst. ein (?) hinzu. Er beschreibt sodann -) eine 
bloss Tage (?) lang dauernde Aufhebung der L. R. bei einem 
Alkohol-Epileptiker. Weiter hat Thomsen 670 Alkoholisten 
geprüft. *) Die von ihm hierbei gefundene Zahl der Ab¬ 
weichungen an den Pupillen (14) verringert sich für die iso- 
lirte doppelseitige Lst. sehr erheblich, nämlich auf 4—6, (die 
C. V. ist nicht stets angegeben), da die übrigen einseitig oder 
in Verbindung mit Störung der C. V. die Lst. boten. In zwei 
Fällen stellte sich die Anfangs ganz oder fast fehlende L. R. 
im Laufe der Beobachtung wieder her, in anderen verschwand 
eine deutliche Trägheit der L. R. einige Zeit nach dem De¬ 
lirium. 4 ) 

Ich bin aber auch für die viel wichtigere Lst. noch zu 
bemerkenswerthen Ergebnissen bei langer Beobachtung Einzelner 
gelangt. So war einmal früher eine fast vollkommene Lst. 
bei einem Alkoholisten festgestellt. Die Beobachtung erwies 
neuerdings ausserordentlich schlechte L. R. Nach Ablauf eines 
längeren hallucinatorischen Zustandes jedoch besserte sich die 
L. R. wesentlich. Untersuchung 6 Mon. später ergab annähernd 
normale Verhältnisse. 

Ein weiteres Beispiel bietet ein im März 1885 zuerst unter¬ 
suchter, damals 43jähr. Mann. Er erkrankte nach zweifellosem 
längerem Alkoholmissbrauch (Lues nicht nachweisbar) an einem 
Erregungszustand mit starren Pupillen (C. V. vorhanden), W. Z., 
etwas schwerfälligem Gang, aber ohne heftigere Schmerzen. 
Schon nach 14 Tagen war die L. R. an den leicht verengten 
Pupillen nicht ganz fehlend, dabei temporale Ablassung; nach 
4 Monaten zuerst ein schwaches K. Ph. Es bestand nach Ab¬ 
lauf der lebhaften Erregung eine erhebliche Demenz, jedoch 
ohne die sonst bei amnestischer Psychose (Korsakoff) vor¬ 
kommenden Erinnerungstäuschungen. Späterhin wurde L. R. 
noch etwas träge gefunden, sie ist auch jetzt bei fortgesetzter 
Beobachtung des seit langer Zeit entlassenen und geistig ge¬ 
wöhnlichen Anforderungen leidlich gewachsenen Kranken schwach, 
aber zweifellos. C. V. und A. B. stets frei. Aehnlich liegt ein 
zweiter seit 1884 ununterbrochen beobachteter Fall. 

Ob in der That die bei Alkoholisten in sehr seltenen Fällen 
vorkommende vollständige und länger dauernde Lst. wirklich 
stets auf Alkoholmissbrauch beruht, erscheint sonach nicht ganz 
sicher. Dass eine vorübergehende Trägheit so bedingt sei, wird 
eher zuzugeben sein. Natürlich liegt aber die Frage vor, ob die 
Grundlage, der Sitz des Leidens, hier nicht ein anderer sei, als 
bei Tabes und Paralyse. Es könnte wohl an eine peripherische 
Entstehung im centripetalen oder centrifugalen Reflexbogen ge¬ 
dacht werden. Die häufige temporale Abblassung der Papillen, 
die nicht ganz seltene Sehstörung mässigen Grades (Nebel) sind 
in der ersten Richtung zu erwähnen. In anderen Fällen wird 
Störung der C. V. und die bereits früher von mir erwähnte 
Eigenthümlichkeit, dass öfter bloss einzelne Abschnitte des Pu¬ 
pillenrings sich bewegen, bei der Häufigkeit anderweiter neuri- 
tischer Veränderungen beim Alkoholismus und zwar gerade in 
den Verzweigungen der Nerven auf den centrifugalen Schenkel 
des Reflexbogens hinweisen. 

Es findet sich unter Thomsen’s Fällen 5 ) einer der ent- 

1) Arch. f. Psych. 18. S. 19. 

2) Cbarit£-Ann. 1886. 564. 

8) Das. Bd. XI, 7 d. 8. A. 

4) 8. Anm. 8. 28. 

5) a. a. O. Seite 8, No. 6. 


405 

schieden Beachtung verdient: Bei der 2. Aufnahme wegen starken 
Del. trem. temporale Abblassung, centrales Scotom für roth und 
grün, P. R. 1. gut, r. fehlend, consensuell erhalten (Uber 
consensuelle 1. nichts gesagt). C. V. beiderseits vorhanden. So 
auch bei der 3. Aufnahme. Dies entspricht einer Betheiligung 
des Nervus opticus.') 

Vor Kurzem hat Sänger (Naturf.-Vers. zu Frankfurt) be¬ 
richtet, dass bei einzelnen Kranken mit Lst. nach längerer Er¬ 
holung im Dunkelraum L. R. wahrnehmbar wurde und zwar 
meist bei Lues, nicht bei Tabes. Man hat wohl Ursache auch 
Lst. bei Alkoholismus dieser Probe zu unterwerfen. 


III. Chronische Herzinsufficienz, deren Behand¬ 
lung nach eigener Beobachtung. 

Von 

Dr. Fr. Neamann (Badenweiler). 

(Schloss.) 

Da auf der Höhe der Herzinsufficienz der Druckunterschied 
zwischen arteriellem und venösem System sich wesentlich ver¬ 
ringert hat, der kranke und erschlaffte Herzmuskel gedehnt ist 
und nicht die Kraft hat, die der allgemeinen Circulationsgrüsse 
entsprechende Blutmenge fortzutreiben, so ergiebt sich von selbst 
die Regel bei dieser Lage der Dinge, dein Herzen möglichst 
wenig Arbeit zuzurauthen, und wir müssen infolgedessen, wie wir 
dies auch bei acuter Insufficienz nach übergrosser Anstrengung 
bei Arbeit, Bergsteigen u. 8. w. auch thun, in allererster 
Reihe für Ruhe, in einer dem Patienten angenehmen 
Lage, sorgen. Warum der Eine bei heftiger Beklemmung hoch 
sitzt, ein Anderer sich rückwärts oder vorwärts gebeugt hält, 
ein Dritter gerne auf dem Rücken oder auf der Seite beinahe 
flach liegt, ist im Einzelfalle nicht recht zu erklären. Jedenfalls 
hat der Arzt dafür zu sorgen, dass neben dem Versuche einer 
gleichzeitigen medicamentösen Regelung der Herzthätigkeit der 
Kranke in passender Lage ruhig und ohne jede An¬ 
strengung von Zeit zu Zeit so tief als möglich athmet. 
Es ist nothwendig, dass man dies dem Patienten zeigt. Es sind 
dies die ersten Anfänge einer methodischen Herzgymnastik; 
es dauert oft mehrere Tage, während deren man auf ab¬ 
solute Ruhe zu drängen hat; sobald es aber einigcrmassen 
zulässig ist, empfiehlt es sich aus psychischen Rücksichten, den 
Patienten zu massiger uud vorsichtiger Bewegung UberzufUhren. 
Es erschien mir immer am zweckmässigsten, die ersten Geh¬ 
bewegungen, im Gegensätze zu den üblichen Methoden, 
abwärts machen zu lassen, d. h. ich lasse den Patienten 
im Rollwagen, später im Fuhrwerke auf eine gewisse 
nach unserer Terrainkarte zu bestimmenden Höhe 
langsam fahren und in durchaus abgestufter Weise auf sanft 
fallenden Wegen, am liebsten im halbsonnigen Tannen¬ 
walde abwärts gehen. Die Gründe dafür sind einleuchtend 
und mögen hier kurz, durch den Vergleich zwischen dem Hinauf- 
und Hinuntergeheu, skizzirt werden. Beim Hinaufgehen auch auf 
sanft steigenden Wegen hat das insufficiente Herz Aufgaben zu 
erfüllen, wie sie dem gesunden Herzen bei schwersten Arbeiten, 
in Hast ausgeführten Gebirgstonren oder unsinnig gesteigerten 
Sportkllnsten zugemuthet werdest. Bei dem gesunden Herzen 
wächst zu Beginn solcher Uebungeu der arterielle Blutdruck, 
der Athem ist anfänglich tiefer; nach und nach aber wird bei 


1) Nach Andogsky (Arch. f. Augenheilk. 1897) finden sich in der 
Iris des Kaninchens selbst, d. h. im Verlaufe der Nerven und der 
Sphincterzone keine gangliösen Gebilde. 

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406 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 19. 


angestrengtem Steigen die Herzthätigkeit rascher, gleichzeitig 
der Athem ebenfalls schneller und damit, wenn auch sogar 
keuchend, oberflächlicher. Trotzdem die peripheren Gefässe er¬ 
weitert und lebhaft geröthet sind, kann das übermässig rasch 
arbeitende linke Herz die normale Blutmenge nicht mehr in der 
Zeit zwischen 2 Schlägen zu der Peripherie treiben, das Herz 
wird blutUberfüllt, die erschlaffte Herzwand erweitert sich, die 
Herzaction wird schwach und unregelmässig. Ganz dasselbe ; 
Bild, wenn ein insufficientes Herz beim Gehen auf ebenem Boden 1 
oder gar auf steigendem Wege zu übermässiger Leistung au¬ 
getrieben wird. Ganz anders verhält sich die Sache bei vor¬ 
sichtigem und richtig dosirtem Ilerabgehen. Das 
Athmen ist mühelos und kann wesentlich tiefer geschehen als 
beim Steigeu; infolgedessen fliesst das venöse Blut dem rechten 
Herzen leichter und reichlicher zu; die Druckdifferenz wird auf 
dieser Seite grösser. Das, wenn auch schlaffe, kranke Herz ist 
nicht angestrengt und kann infolgedessen besser, als sonst der 
Fall wäre, sein Blut aus dem liuken Ventrikel fortschaffen. In¬ 
folge des kräftigen, tieferen und müheloseren Athmens bekommt 
das Herz auch besser arterialisirtes Blut zu seiner Ernährung. 
Dazu kommt noch der grosse psychische Einfluss, wenn ein 
sonst elender, leistungsunfähiger Mensch, ohne sich zu quälen, ein 
paar Schritte machen und mit Erquickung athmen kann. Der 
Puls fühlt sich nach solchen ersten Versuchen etwas kräftiger 
an und die Herzthätigkeit hat jedenfalls für das Gefühl des 
Kranken nicht gelitten. Im Anfang lasse ich in der angegebenen 
Weise die Kranken 1—2 mal täglich 20—50, später 100 und 
mehr Schritte machen, zwischenherein den Kranken sich setzen 
und ausruhen. Auch die Höhe, zu welcher der Kranke fährt, 
muss für den Anfang sehr vorsichtig gewählt werden, da schwer 
Herzleidende oft auch im Fahren grössere Höhen¬ 
differenzen schlecht ertragen. Man beobachtet häufig, 
dass diese Art von Gehen in recht ausgedehntem MaasSe nach 
und nach ertragen wird, während die vorsichtigsten Steigever¬ 
suche erst noch kläglich scheitern. Diese von mir seit Jahren 
durchgeführte Art von Herzgymnastik, hat den Vorzug, dass sie 
zu einer Zeit das Befinden des Patienten körperlich und moralisch 
hebt, wo ihm sonstige active Bewegung direct schaden würde 
und er verdammt wäre, absolut ruhig im Zimmer oder im Freien 
herumzuliegen. Mir scheint es unbedingt räthlich, diese 
Kranken erst dann steigen zu lassen, wenn sich bei 
ihnen die Neigung und das Kraftgefühl dazu einstellt. 
Dann ist der Moment nicht nur für das Steigen, sondern auch 
für verschiedene Formen der Gymnastik gekommen, besonders 
auch für die mehr passive, maschinelle Zand er'sehe Form 
derselben. 

Es versteht sich von selbst, dass man iu der Auswahl der 
Fälle für ein actives Vorgehen überaus vorsichtig sein muss. 
Bei denjenigen Kranken, wo man die dringendsten Symptome 
der Herzschwäche überwunden hat, wie bei der Degeneration 
des idiopathisch hypertrophirten Herzmuskels oder bei Degene¬ 
ration des Herzmuskels chronisch Nierenkranker wird man mit 
der Abwendung dringender Lebensgefahr und einem leidlichen 
subjectiven Befinden sich bescheiden müssen, das bei geeigneter 
Schonung und guter ärztlicher Ueberwachuug sich auf Jahre 
ausdehnen kann. Am geeignetsten sind dagegen für Terrain- 
curen und Gymnastik nach erreichter Besserung, das insufficiente 
Fettherz, Compensationsstörungen bei Klappenfehlern und manche 
Altersformen von Herzschwäche. 

Trotz meiner ausgedehnten Bekanntschaft mit Bade- und 
Terraincurorten kenne ich keinen, der zu Terraincuren geeig¬ 
neter wäre als Badenweiler, und wenige, die ihm gleichkommen, 
ln dem 420 m hohen Parke inmitten des Orts und in dem 
unmittelbar an den Ort anstossenden Hochwalde, in letzterem 


bis zu 1170 m ansteigend, finden sich in jeder vorhandenen 
Höhenlage wohlgepflegte, sanft und stark steigende Fahr- und 
Fussw-ege in seltenem Reichthum und schönster landschaftlicher 
Auswahl mit Ruhepunkten und Sitzgelegenheiten aller Art. 

Ein wichtiges Ergänzungsmittel der geschilderten Methode 
sind geeignete Badeformen, mit denen ich beginnen lasse, 
sobald die bedrohlichsten Zustände zurückgetreten sind und man 
keine acuten Schwächeanfälle mehr zu befürchten hat. Natür¬ 
lich gilt es vor Allem, dem Kranken nicht zu schaden; wir 
müssen es vermeiden, dem kranken Herzen durch eine zu hohe 
Temperatur eine zu starke Arbeitsleistung zuzumutlien. Das 
geschwächte Herz darf nicht in die Lage kommen, in die er¬ 
hitzte Peripherie, w’O eine grosse Blutmenge sich staut, Blut 
treiben zu müssen und von dieser Peripherie den Reiz eines 
Ubererwärmten Blutes zu empfangen, weil dadurch eine zu 
rasche, zwecklose Herzthätigkeit veranlasst und der Herzmuskel 
selbst in seiner Ernährung durch die erhöhte Bluttemperatur 
geschädigt würde. Erfahrungsgemäss ertragen auch schwer 
Herzkranke hohe Badetemperaturen im Allgemeinen schlecht. 
Eine Ausnahme machen in manchen Fällen heisse Luftbäder 
(Frey). Andererseits sind Temperaturen, die zur fühlbaren 
Wärmeentziehung führen, ebenfalls zu vermeiden, da die durch 
das Kältegefühl zusammengezogenen Hautgefasse für das Herz 
einen Reiz zu erhöhter Thätigkeit, bei gleichzeitig erhöhtem 
Widerstand für den Blutabfluss nach aussen herbeifuhren, wäh¬ 
rend der Lungenkreislauf überfüllt ist. Man wird daher am 
besten thun, stärkere Wärme- und mechanische Reize 
auf die Haut zu vermeiden, die Temperatur so einzurichten, 
dass sie dem Gemeingefühl des Badenden zusagt. Natürlich 
wird die Höhe der Temperatur auch von den früheren Gewohn¬ 
heiten des Kranken, seiner Bekanntschaft mit kaltem Wasser 
abhängen und modificirt werden. Ich habe gefunden, dass im 
Allgemeinen Temperaturen von 27, 26—24° R. die geeignetsten 
sind und niemals zu unangenehmen Zufällen führen. Auch die 
Dauer des Bades wird am besten nach der Empfindung des 
Badenden bestimmt und zwar empfiehlt es sich, mit 6—8 Minuten 
anzufangen und nach und nach auf 12—15 zu steigen. Dass 
das Bad für den Patienten mit keinerlei körperlicher 
Anstrengung verbunden sein darf, versteht sich von selbst. 
In Folge dessen ist es nothwendig, dass der Patient in voll¬ 
kommener Herzruhe ins Wasser kommt, dass er beim Aus- und 
Ankleiden Hülfe hat, dass er vor und nach dem Bade, um eine 
Contraction der Hautgefässe und damit Fröstelgefühle zu ver¬ 
meiden, abgerieben wird, und nach dem Bade noch einmal eine 
längere Zeit im Bett liegen muss. Ich halte sehr darauf, dass 
das Abreiben nicht vom Patienten selbst gemacht 
wird, weil durch die nothwendigen hastigen Bewegungen die 
Herzthätigkeit in ungeeigneter Weise in Anspruch genommen 
würde. Um nicht zu ausführlich zu werden, verzichte ich auf 
eingehende, wenn auch wichtige Details der eigentlichen Bade¬ 
technik. Um herzschwachen Kranken ein solches Bad nützlich 
zu machen, ist vor Allem nothwendig, dass sie sich in einem, 
ihrem Zustande entsprechenden Medium behaglich fühlen. Unter 
den Wasseranwendungen, welche von der Natur und noch mehr 
von einer raffinirten Concurrenz dem Kranken dargeboten wer¬ 
den, wird das eigentliche Wildbad, die natürliche Therme, wenn 
auch von der Reklametrompete zur Zeit etwas Ubertönt, ihre 
geborene Stellung immer behaupten können. Die Hauptwirkung 
des Wildbades von den bezeichneten Temperaturen, liegt offen¬ 
bar in der absoluten Reizlosigkeit des Wassers. Gerade 
diese Reizlosigkeit bewirkt das für Herzkranke überaus 
grosse Wohlgefühl, dessen sich der Gequälte einmal erfreuen 
kann. Er „empfindet sein Herz nicht“, er athmet leicht, 
ruhig und tief. Untersucht man unmittelbar nach dem Bade 


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10. Mai ^897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


407 


das Herz und den Puls, so lässt sich mit Bestimmtheit fest¬ 
stellen, dass das Herz ruhiger und kräftiger arbeitet, der Puls, 
wenn auch unregelmässig, so doch in seiner Schlagfolge eine 
grössere Anzahl regelmässiger Schläge anzeigt, als vorher. Eine 
andere Erklärung der gllnstigen Wildbadwirkung auf Kranke 
unserer Categorie kann ich nicht geben, da ich mich einerseits 
jeder Mystik gegenüber — in Bade- und anderen Angelegen¬ 
heiten — durchaus ablehnend verhalte, und andererseits aus 
nüchternen physikalischen Gründen an das Circuliren geheimer, 
elektrischer Ströme in Wildwässern auch nicht glauben kann. 

Dagegen bin ich in der Lage nachzuweisen, aus unmittelbar 
nach dem Bade aufgenommenen Sphygmogrammen, dass unter 
dem Einflüsse des Bades der Herzmuskel gründlich innervirt 
wird und ruhiger, langsamer und kräftiger arbeitet. Es ist nicht 
zu verkennen, dass der Mechanismus des Abwärtsgehens und 
des Badens schliesslich in derselben Richtung arbeitet. 

Von ausserordentlicher Bedeutung für die Behandlung der 
Herzinsufficienz ist die Frage einer geeigneten Ernährung. 
Zwei Punkte sind es vor Allem, die in den letzten Jahren viel¬ 
leicht mehr als gut die ärztliche Welt beschäftigt haben und 
noch beschäftigen. Es ist dies einmal die Frage, in wie weit 
der Flüssigkeitsgenuss überhaupt nützlich, schädlich oder zu 
empfehlen sei, und zweitens die Frage von der Zulässigkeit des 
Alkoholgenusses. 

Bei der Geneigtheit, derartige Fragestellungen scheinbar 
recht exakt zu formuliren, hat man sie sofort in der Weise 
eines Lehrsatzes gefasst, und die Zulässigkeit einer flüssigen 
Nahrung und des Alkoholgenusses für Gesunde mit dem reellen 
Emährungsbedarfe Fettkranker, Gichtkranker und chronisch 
Herzkranker, verquickt. An dieser Stelle kann natürlich nur 
von der Diät für Menschen mit geschwächtem Herzen die Rede 
sein. Als Oertel sein bestechendes Buch Uber die Circnlations- 
störungen schrieb, war dasjenige, was in ärztlichen und Laien¬ 
kreisen vor Allem imponirte, die Darlegung von der Nothwen- 
digkeit einer Flüssigkeitsbeschränkung, als logische Nothwendig- 
keit seiner Annahme einer hydrämischen Plethora. Wer damals 
schon in wohlhabenden und aufgeklärten Kreisen prakticirt hat, 
wird sich mit aufrichtigem Vergnügen der Confusion und des 
Eifers erinnern, mit dem Gesunde und Kranke, Magere und 
Dicke bereit waren, auf den Genuss der Mittags- und Abend¬ 
suppe, sowie des Wassers schlankweg zu verzichten, sowie auf 
den Verkehr mit Bier zu resigniren. In der vorwürfigen Sache 
möchte ich betonen, dass im praktischen Einzelfall der Arzt 
jedenfalls am besten thut, sich in seinen Vorschriften einiger- 
maassen an die bestehenden Lebensgewohnheiten und die äusse¬ 
ren Verhältnisse des Patienten zu halten. Im allgemeinen wird 
es sich empfehlen, bei Zuständen äusserster Herzschwäche vor 
allem auf eine leicht verdauliche Nahrung, die in 
kleinen Mengen regelmässig aber häufig zu reichen 
ist, das Hauptgewicht zu legen. Gerade bei Schwerkranken 
darf sich der Arzt nicht allein von der theoretischen Erwägung 
des Nährwerthes leiten lassen, sondern hat allen Ernstes seine 
Concessionen an den Geschmack des Kranken, den er eben 
einmal studiren muss, zu machen. Wer selbst schon schwer 
krank war, weiss, wie rasch hochwerthige Fleischnahrung nach 
der Art der Beefsteake, Beeftea's dem Patienten leid werden, 
der weiss auch, dass gerade solche Patienten bei verständiger 
Alkoholbeschränkung und als Folge derselben, die Milch selbst 
in grossen Gaben, nicht nur angenehm sondern auch zuträglich 
finden. Ich wenigstens gestehe, dass ich von ansehnlichen 
Mengen Milch, einem Liter und weit darüber pro Tag, niemals 
eine Ueberschwemmung des Gefässsysteras mit Flüssigkeit oder 
eine acut dilatirende Wirkung auf die schwachen oder insuffi- 
cienten Ventrikel gesehen habe. Manche chronisch Herzkranke 


leiden sehr an Durst, der aber besonders in der warmen Jahres¬ 
zeit am besten mit kleinen, häufigen Mengen von kühler Milch, 
Sauermilch oder Milchgelee bekämpft wird. Unter denjenigen 
Reiz- und Anregungsmitteln, mit denen man zwischenherein den 
Alkohol häufig und in durchaus genügender Weise ersetzen 
kann, möchte ich nach reichlicher Erfahrung, den amerikanischen 
Fleischsaft von Valentine nennen; pur oder mit lauem Wasser 
vermischt, hilft er Uber momentane Schwächegefühle hinweg, 
und ist besonders während der Nacht und zwischen den Mahl¬ 
zeiten um so dienlicher, als er lange und leicht ertragen wird 
und bei geringer Quantität den Magen nicht belästigt. Was die 
derzeit viel umstrittene Frage des Alkohols betrifft, so bin 
ich der entschiedenen Meinung, dass die W’ahrheit 
auch hier etwa in der Mitte liegt, vielleicht eher gegen 
die Seite strenger Beschränkung. Man wird nur nützen, 
wenn man einem alten Biertrinker mit degenerirtem Fettherz das 
Bier überhaupt streicht. Ebenso bin ich der Meinung, dass man 
auch bei allen anderen Formen des insufficienten Herzens den 
Genuss des reinen Alkohols auch in der ästhetischen Form eines 
feinen Cognacs, kurzweg untersagt, wie auch den Gebrauch von 
verwandten Reizmitteln, wie starken Kaffee oder Thec und 
starken Bouquetwein. Dagegen halte ich bei diesen Formen 
den Gebrauch kleiner Dosen Champagner für sehr nützlich. 
Schon lange habe ich die Bemerkung gemacht, dass bei alten 
Leuten, die früher, ohne Abstinenzler gewesen zu sein, sehr 
massig gelebt hatten, der regelmässige Gebrauch von einem 
Achtel- oder Viertelfläschchen guten Schaumweins, besonders 
während des Vormittags gegen Schwächezustände aller Art 
— auch von Seiten der Verdauung — in der Regel zu solchen 
Zwecken mehr nützt, als das gesammte officielle Inventar der 
Apotheke. Auf diese Erfahrung gestützt, verordne ich auch 
bei Herzinsufficienz, am Vor- und Nachmittage regelmässig zu¬ 
sammen höchstens '/, Fläschchen Schaumwein. Dass diese Ver¬ 
ordnung für alle Gourmands und Schlemmer nicht gilt, versteht 
sich aus den angeführten Gesichtspunkten von selbst. Dagegen 
habe ich niemals gesehen, dass diese Medication eine abnorme 
Beschleunigung der geschwächten Herzthätigkeit zur Folge ge¬ 
habt hätte, im Gegentheil wird durch diese periodische Anre¬ 
gung meistens auch der Appetit gehoben und direkt und indirekt 
das Herz gekräftigt. In einem Falle äusserster Herzschwäche 
und unregelmässigster Herzthätigkeit bei einer achtzigjährigen 
Frau habe ich, während sonst jede Medication, ausser Digitalis 
in der besprochenen Art, verweigert wurde und der Winter das 
Ausfahren verhinderte, durch langen Genuss dieser kleinen Dosen 
von Schaumwein, eine ausserordentliche Besserung erlebt; abge¬ 
sehen davon, dass die Herzaction regelmässiger und kräftiger 
wurde, kam die Patientin so weit, ihren nicht leichten Haushalt 
wieder zu leiten und selbst gröbere körperliche Arbeiten zu ver¬ 
richten. 

Unter den Symptomen, welche den Kranken mit am meisten 
beängstigen, steht in erster Reihe die Arythmie des Pulses. 
Mir scheint dieses Symptom in verschiedenen Fällen eine sehr 
verschiedene Bedeutung zu haben. Einmal giebt es Familien, 
wie ich das auch beobachtet habe, bei denen die Unregelmässig¬ 
keit des Pulses in frühen Jahren sich zeigt, erblich ist, Jahr¬ 
zehnte besteht und in späterem Alter sogar verschwinden kann 
und zwar neben voller Gesundheit und körperlicher Leistungs¬ 
fähigkeit. In anderen Fällen besteht ohne Störung des Allge¬ 
meinbefindens Pulsunregelmässigkeit, als Ausdruck einer sich 
entwickelnden Gefässsklerose. Eine ernste Bedeutung kommt 
ihr dann erst zu, wenn als Symptome der gleichzeitigen Herz¬ 
degenerationdauernde oder anfallsweise Beklemmungen, Schwindel, 
Ohnmachtsanwandlungen und verminderte Urinsecretion sich bei¬ 
gesellen. Wie wenig ernst manchmal selbst bei hohem Alter 


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408 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 19. 


die Pulsarythmie zu nehmen ist, beweist mir ein 79jähriger 
Patient, der unter meiner und meines Vorgängers Beobachtung 
unregelmässigen, aussetzenden Puls 16 Jahre lang hatte, während 
seit 4 Jahren, ohne jede darauf gerichtete Medication das jeden¬ 
falls veränderte Herz ganz richtig arbeitet und dementsprechend 
der Puls gleich- und regelmässig geworden ist. Wenn ein in- 
sufficientes Herz, ob auch geschwächt, so doch zu einiger Leistungs¬ 
fähigkeit emporgehoben ist, dann kann man mit einfacher Be¬ 
wegung, wozu sich in der Privatpraxis mit grossem Vortheile 
die Schreber’schen Uebungen verwenden lassen, Fortschritte er¬ 
reichen. Insbesondere habe ich die Rollungen und das Kreisen 
der Arme abwechselnd einseitig oder zusammen, ferner die Ab- 
und Adduction neben gleichzeitiger Tiefathmung, erprobt. Um 
auf diesem Gebiete ohne Schaden und zum Segen des Kranken 
arbeiten zu können, muss, wie bei der maschinellen Gymnastik 
der Arzt auf die Methoden eingearbeitet sein. 

Speciell auf die Arythmie der Ilerzthätigkeit sind diese 
Maassnahmen, wenn keine Gegenindicationen vorliegen, von sehr 
gutem und auch vom Patienten wohlthätig empfundenen Ein¬ 
flüsse. Schliesslich darf nicht vergessen bleiben, dass auch bei 
so ernsten organischen Erkrankungen, wie die Herzschwäche in 
allen ihren oben geschilderten Abstufungen das psychische Mo¬ 
ment einer guten Leitung durch den Arzt, oder wie wir heute 
sagen, der Suggestion, nicht unwesentlich an den Erfolgen be¬ 
theiligt ist. 

Die vorliegende therapeutische Auseinandersetzung zeigt 
eine Verbindung von erprobten therapeutischen Eingriffen. Es 
fällt mir nicht ein, dass die beschriebenen Heilmethoden die 
einzigen sind, die zum Ziele fuhren können, aber da ich nur den 
Gang meiner eigenen ärztlichen Einwirkung mit den mir zu Ge¬ 
bote stehenden Mitteln schildern und keine Zusammenstellung 
von LesefrUchten bieten wollte, so habe ich z. B. die mir nur 
indirekt bekannten kohlensäurehaltigen Soolbäder nicht in den 
Kreis der Betrachtung eingezogen. Der Arzt muss ja froh sein, 
wenn ihm auf allen Gebieten seiner Thätigkeit möglichst viele 
Wege zur Verfügung stehen. 


IV. Zur Säuglingskrankenpflege in grossen 
Städten. 

(Mit besonderer Berücksichtigung der Berliner 
Verhältnisse.) 

Von 

Adolf Baginsky. 

In einer im Jahre 1886 erschienenen Studie 1 ) habe ich die Verhält¬ 
nisse der Säuglingsfürsorge in Berlin klargelegt und war darin gegen¬ 
über den, von Seiten eines Vertreters des romanischen Systems der 
Säuglingspflege erhobenen Anklagen, zu dem immerhin erfreulichen 
Schlüsse gelangt, dass wir in der einheimischen Säuglingspflege grosse 
und segensreiche Einrichtungen haben, welche den Vergleich mit der 
Findelhauspflege wohl auszuhalten im Stande sind. Freilich waren mir 
auf dem Wege dieser Untersuchung auch die Schäden und Mängel un¬ 
seres Systems nicht entgangen und ich habe daran eine Reihe sehr 
wesentlicher und wichtiger Verbesserungsvorschläge geknüpft. Dieselben 
bezogen sich im Wesentlichen auf die Verbesserung der Ueberwachung 
der zu verpflegenden Kinder, auf die gesteigerte Fürsorge durch Unter¬ 
stützung der hülfsbedürftigen Mütter zum Zwecke der Beförderung 
geeigneter Ernährung und auf die Einführung von Säuglingsasylen, 
weiterhin auf die Verbesserung erster Hülfeleistung und Organisation der 
weiteren Hülfe bei besonderen Vorkommnissen im Leben des Säug¬ 
lings, insbesondere bei Erkrankungen. Alles, was damals an der 
Hand statistischen Materials und der nachweislich bestehenden Ver¬ 
hältnisse von mir klar gelegt wurde, hat, so weit mir bekannt 
geworden ist, seitens der comraunalen Behörden, speciell Berlins, 
eine Berücksichtigung nicht gefunden. So ist es denn wohl auch 
gekommen, dass die Nothschreie über mangelhafte Fürsorge für die 

1) Die Kost- und Haltekinderpflege in Berlin. Braunschweig bei 
Vieweg & Sohn. 


Säuglinge nicht aufhören, sondern dass immer wieder neue Klagen 
erhoben werden. Begreiflicherweise geben sich aber die Mängel der 
Fürsorge nicht stetig und ohne Weiteres kund, oder wenn dieselben 
sich auch in der Aufhebung eines minderwerthigen Menschenmaterials 
markiren könnten, treten die Schäden nicht ohne besondere Untersuchung 
an die Oberfläche. Sie werden vielmehr erst dann kund, wenn durch 
besondere Anlässe die Aufmerksamkeit auf dieselben gelenkt wird. 
Hierzu ist nun freilich für die vorliegenden Verhältnisse nichts geeig¬ 
neter, als die Kenntnissnahme von Mängeln der Krankenpflege bei 
vorkommenden Erkrankungsfällen. Die öffentliche Aufmerksamkeit wird 
nicht erregt dadurch, dass Tausende der der öffentlichen Fürsorge 
anheim gegebenen Kinder schwächlich aufwachsen, um vielleicht nach 
Jahr und Tag der Commune vollkommen oder mehr oder weniger 
stark zur Last zu fallen, ja sie wird kaum dadurch erregt, dass die 
Sterblichkeitsziffern dieser Kinder weit über das Normale hinausgeben, 
vielmehr wird dies Alles wie ein nothwendiges Naturgesetz hingenom¬ 
men, sie wird aber sofort wach in dem Augenblicke, wo der Nothschrei 
ertönt, dass eines oder das andere Kind in den von der Commune 
unterhaltenen Krankenanstalten keine Pflege und Wartung erhalten 
konnte und elend und hülfslos zu Grunde ging. Hier beginnt das öffent¬ 
liche Gewissen sich plötzlich zu regen; — freilich meist nur in soweit, 
als es sich um den einzelnen Fall handelt, ohne dem Urgrund des Er¬ 
eignisses näher zu treten. In der jüngsten Zeit haben sich nun aller¬ 
dings derartige Erscheinungen so gehäuft, die Nothlage bei den Kranken¬ 
hausverwaltungen selbst, welche durch die Ungunst ihrer Einrichtungen 
gezwungen waren, schwer kranke Säuglinge abzuweisen, kam so wieder¬ 
holt zu öffentlicher Aussprache, dass man anfängt dem Gegenstände 
unwillkürlich mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Hierbei darf nunmehr 
den communalen Behörden grosser Städte und speciell Berlins ein Vor¬ 
wurf nur in soweit gemacht werden, als die Neigung zur Abhülfe sich 
vielleicht weniger energisch und intensiv kundgiebt, als wohl wünschen»- 
wertb wäre; dagegen sind selbst bei dem besten Willen die einschlä¬ 
gigen Verhältnisse immerhin so schwierig, die Gefahr von Missgriffen, 
welche schwierig zu repariren wären, so gross, dass man auf der an¬ 
deren Seite ein langsames Vorgehen wohl begreifen und entschuldigen 
kann. Aber gerade weil die Verhältnisse schwierige sind und weil eine 
überaus grosse Sachkenntnis» dazu gehört, hier in der nothwendig ge¬ 
botenen Neuorganisation auch das Richtige zu Bchaffen, mögen die fol¬ 
genden Ausführungen den Versuch machen die einschlägigen Verhält¬ 
nisse klar zu legen. 

Die Fürsorge für die gesunden Säuglinge kann naturgeraäss zu¬ 
nächst eine durchaus andere und weit einfachere sein, als diejenige für 
die erkrankten, und man wird verstehen können, dass man zunächst gut 
thut, die Einrichtungen für die beiden Gruppen getrennt zu behandeln. 
Freilich liegen die vielfachen Beziehungen zwischen den beiden Groppen 
auf der anderen Seite so nahe, die Möglichkeit der Erkrankung von 
Säuglingen bei fehlerhaft getroffener Verpflegung ist so leicht gegeben, 
und die Wiederkehr der erkrankt gewesenen zu den Einrichtungen für 
die Gesunden ist glücklicherweise so häufig, dass man dennoch bei den 
zu treffenden Einrichtungen dieses Verhältnis» zu berücksichtigen hat. 

Auf die Fürsorge für die gesunden, der communalen Hülfsleistung 
anheimgegebenen Säuglinge soll an dieser Stelle nur mit wenigen Worten 
eingegangen werden, und insbesondere beabsichtige ich nur nochmals 
auf diejenigen Punkte hinzuweisen, welche mir nach meiner ersten 
Studie als am meisten verbesserungsfähig und wichtig erschienen. Die 
Aufgaben der communalen Fürsorge lassen sich in zwei Sätzen zu¬ 
sammenfassen. 

1. Die Commune hat für die ihrer Pflege anheimfallenden Säuglinge 
für geeignete Pflegerinnen und Pflegestätten zu sorgen. 

2. Die Commune hat für geeignete Ueberwachung der Pflege Sorge 
zu tragen. 

In die erste Rubrik fallen alle diejenigen einzelnen Maasnahmen, 
welche aus der physiologischen Beschaffenheit des Säuglings hervorgehen 
und geboten sind, also die Fürsorge tür geeignete Nahrung (event. auch 
Ammennahrung) überhaupt und speciell die richtige Auswahl der Nah¬ 
rung für den einzelnen Säugling nach Beschaffenheit seiner körperlichen 
Anlage, sodann die Fürsorge für geeignetes Lager, Kleidung, Wohnstätte. 

Hier hat die immer wieder anftretende Forderung Berücksichtigung 
zu finden, nicht allzu engherzig auch an die als Wagnis» betrachtete 
Unterstützung der Mütter heranzutreten. 

Dass der Entwurf der hier nothwendigen Einzelbestimmungen ebenso 
wie die Ausführung derselben, speciell die Auswahl der Pfleger und die 
geeignete Anleitung derselben nicht in die Hand von Laien, Ver¬ 
waltungsbeamten etc. sondern von Bachverstäudigen Aerzten zu legen 
ist, ist eine so einfache und so selbstverständliche Forderung, dass sie 
wohl kaum der Begründung bedarf. — Gegenstand der Verwaltung ist 
nur und einzig die Beschaffung und regelmässige Vertheilung der zur 
Durchführung der Pflege nothwendigen finanziellen Mittel. 

In die zweite Rubrik fällt die von mir bo energisch vertretene For¬ 
derung der vollen Ausnutzung der schon bestehenden Gesetzgebung, d. i. 
die Ueberwachung nicht durch die Polizei allein, sondern vor Allem 
durch die Waisenpfleger bis zum Vormundrichter, unter Heranziehung der 
freien Thätigkeit von in der Pflege sachverständigen und dazu event. aus¬ 
gebildeten Frauen. Ich darf wohl bezüglich dieses ganzen Arrangements 
anf meine frühere Publication verweisen.') 


1) Mein Vorschlag geht dahin: Jedes in den Büchern der Waisen- 
räthe geführte Kind ist in den ersten 2 Lebensjahren monatlich wenig- 


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lO.Üai IW. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


In diesen beiden Punkten ist nach meiner Auffassung Alles ent¬ 
halten und erschöpft, was seitens der Commune für die gesunden Pfleg¬ 
linge zu geschehen hat. — Ihre exacte und weise Durchführung wird 
dazu beizutragen vermögen, dem Staate nicht allein ein gesundes und 
brauchbares Menscbenmaterial zu erhalten, sondern sie wird auch durch 
Krankheitsverbütung für die betreffende Commune, in welchen die 
Pfleglinge das Unterstützungsrecht besitzen in letzter Linie ganz wesent¬ 
liche finanzielle Ersparnis involviren. — Jeder ersparte Krankheitsfall, 
jede Verhütung von dauerndem Siechthum kommt der Commune selbst 
wieder zu Nutz. — Immer mehr noch aber, als nach der financlellcn 
Seite wird nach der ethischen hin der Vortheil für die Gemeinschaft zu 
Tage treten, weil das Bewusstsein und der Eindruck der Fürsorge für 
hülfslose Kinder selbst verhärtete Gemüther weit leichter und intensiver 
zur Erfüllung menschlicher Pflichten zurückzuführen vermag, als die 
weisesten und eindringlichsten Religions- und 8ittenlehren. 

Frägt man, um die bezeiebneten Vorschläge in’a Praktische zu über¬ 
setzen, nach den zur Ausführung zu bringenden Einrichtungen, so 
bedarf es begreiflicher Weise einer Centrale für die Verwaltung in 
einem besonderen Hause. — Dasselbe wird als Säuglingsasyl zu be¬ 
zeichnen sein. 

Das Säuglingsasyl zerfällt naturgemäss in 2 Hanpttheile 

1. in die Räume der Verwaltung, 

2. in die Räume für den eigentlichen Dienst der Säuglingsaufnabme 
und Ueberwachung. 

In dem ersten Theile werden Directorwohnung, Registratur, Casse 
nnd Sitzungszimmer unterzubringen sein. 

Der zweite und wichtigere Theil wird enthalten müssen: 

1. Anmelde- resp. erste Aufenthaltsräume für die der Verpflegung 
zugeffihrten Kinder; 

2. Räume für die zur Uebernahme der Pflege sich erbietenden 
Frauen; 

9. Räume für die ärztliche Untersuchung der Pflegekinder, Räume 
für den kurz vorübergehenden Aufenthalt von Hülfe suchenden 
Frauen und Kindern; 

4. die entsprechenden und nothwendigen Nebenräume wie Küche, 
Closets etc. 

Wichtig ist hierbei der Fingerzeig, dass die sub 8 angedeuteten 
Räume zwar nur wenige Betten zu enthalten brauchen, weil diese 
durchaus nur dem kurz vorübergehenden Aufenthalt zu dienen haben; 
indess müssen die Einrichtungen nach den neuesten Anforderungen der 
Wissenschaft getroffen werden. 

Dies in kurzen Zügen über die Einrichtung des Säuglingsasyls. 

Während, wie man erkennt, die Anforderungen im Ganzen einfache 
sind, die Einrichtung der Verwaltung sich leicht in die bisher bestehenden 
der Säuglingspflege einfügt, liegen die Verhältnisse wesentlich anders 
und schwieriger, sobald die Aufgabe zu erfüllen ist, flir erkrankte Säug¬ 
linge Fürsorge zu treffen. 

Auf die Bedürfnissfrage einer besonderen Fürsorge für erkrankte 
Säuglinge einzugehen, kann wohl erspart bleiben, nachdem Jahre hin¬ 
durch an der Hand der in die Oeffentlichkeit dringenden Vorkommnisse 
immer wieder die schlimmsten Nothstände sich gezeigt haben. — Es 
wäre unnütz, die statistischen Zahlen der Säuglingssterblichkeit immer 
wieder von Neuem in’s Feld zu führen. Worauf allenfalls mit Nach¬ 
druck hinzuweisen wäre d. i. die Verschlechterung des ethischen Stand¬ 
punktes unter derjenigen Bevölkerungsschicht, deren Kinder unter dem 
Mangel geeigneter Krankenpflege hiilflos und der Noth Preis gegeben zu 
Grunde gehen. — Die Mutter, welche ihr Kind, nachdem es von Kranken¬ 
haus zu Krankenhaus abgewiesen, in ihren Armen sterben sieht, wird 
niemals oder nur sehr schwierig mit den bestehenden socialen Verhält¬ 
nissen ausgesöhnt werden können. Die Gefahr, dass sie dem Ver¬ 
brecherthum in die Hände fällt und das Verbrecherthum mit einer Art 
von Berechtigungsbewusstsein cultivirt und fördert, liegt nahe genug und 
kann verstanden werden. 

Hier also liegt eine Quelle socialen Elendes und socialer Verkommen¬ 
heit, welche nicht unbeachtet bleiben darf, ganz abgesehen davon, dass 
das Preisgeben hülfloser Geschöpfe an sich mit den menschlichen Auf¬ 
gaben sich nicht vereinen lässt. 

Unter solchen Verhältnissen ist also der Frage wissenschaftlich und 
praktisch nahe zu treten, welcher Art die Fürsorge für die erkrankten 
Säuglinge sein müsse. Ohne zunächst auf die Frage einzugehen, ob die 
Einrichtung specieller Säuglingskrankenhäuser vortheilhaft und noth- 
wendig ist oder ob die Verpflegung erkrankter Säuglinge in den be¬ 
stehenden öffentlichen Krankenanstalten oder im Anschlüsse an dieselben 
stattzufinden habe, sollen zunächst die aus der Organisation und dem 
physiologischen Verhalten der Säuglinge, und ebenso der Art der das 


stens ein Mal, später alle Vierteljahr von dem Waisenrathe oder der 
ihn vertretenden Waisendame zu besuchen. Ueber den Befund der 
Pflegestelle und des Pflegekindes ist ein Fragebogen auszufüllen, und 
am Schlüsse desselben ein summarisches Urtheil (Censur) über die Pflege 
zu geben. Die ausgefüllten Fragebogen sind zunächst dem Vorsteher 
der betreffenden Waisenrathscoraraission einzureichen, welcher in allen 
schleunigen Fällen unter Mitunterscbrift des betheiligten Waisenraths¬ 
mitglieds der Commission und sachverständiger Aerzte nach Befinden 
definitive Anordnungen, die Pflege betreffend, zu treffen hat. Sämmtliche 
Berichte gelangen in noch zu bestimmenden, aus der Praxis sich weiter¬ 
hin ergebenden Zeiträumen, an den Vormundschaftsrichter. 


409 


Säuglingsalter beherrschenden Krankheitsformen, hervorgehenden Postu- 
late Erörterung finden. 

Das im Säuglingsalter stehende Kind — wir rechnen hierzu der Kürze 
wegen Kinder in den ersten 2 Lebensjahren — ist in erster Linie auf 
eine besondere Ernährungsart angewiesen. Die Frauenmilch ist für 
das erste Lebensjahr die naturgemässe Ernährungsweise und jede andere 
Ernährungsart ist immer nur ein Ersatzmittel von geringerer oder grösserer 
Werthigkeit, je weniger oder mehr dieselbe der Ernährung an der Frauen- 
brust angenähert ist. Die Adaption des Säuglings an eine andere Kost 
im zweiten Lebensjahre ist schwierig und auch hier ist mit gewissen 
Rückständigkeiten in der Anlage des kindlichen Darmtractus und der 
physiologischen Leistungen der Verdauungssekrete zu rechnen. Es wird 
also bei der Frage der Einrichtungen geeigneter Verpflegung von kranken 
8äuglingen dieser wichtigen Seite besondere Aufmerksamkeit geschenkt 
werden müssen. Die Fortschritte in der Erkenntniss der Verdauungs¬ 
vorgänge, zusammengehalten mit den Fortschritten der modernen Technik 
über die chemische und physikalische Behandlung der Thiermilch, deren 
Abkömmlinge (Fettmilch, peptonisirte Präparate etc. etc.) und der Nähr¬ 
surrogate, hat bis zu einem gewissen Grade die absolute Nothwendigkeit 
der Frauenmilchernährung eingeschränkt; völlig entbehrlich wird dieselbe 
aber niemals sein, weil notorisch eine gewisse Anzahl erkrankter Säug¬ 
linge durchaus und nur bei der Frauenmilch gedeiht. So wird also bei 
der Einrichtung von Pflegestätten für kranke Säuglinge bezüglich der 
Ernährung der Kinder nach zwei Richtungen Bedacht zu nehmen sein; 
es wird für einen Theil der Pfleglinge die Möglichkeit der Ernährung 
durch Frauen (Mütter resp. Ammen) gesichert werden müssen, für den 
andern Theil wird die nach den modernen Erfahrungen gestaltete Be¬ 
schaffung normaler Thiermilch und der der Thiermilch analogen Nähr¬ 
mittel nothwendig sein. 

Man begreift, dass die zur Durchführung dieser Forderung zu tref¬ 
fenden Einrichtungen sämmtlich einigermaassen complicirt sind. Ich habe 
mich für die Möglichkeit der Ammenbeschaffung schon früher ausge¬ 
sprochen und die Aufnahme der Ammen oder der Mütter würde eben 
nur geeignete Vorkehrungen (Schlafräume etc.) nothwendig machen. Die 
besonderen Einrichtungen für eine zweckmässige Milchversorgung even¬ 
tuell mit Sterilisirung etc. sind an sich nicht schwierig zu machen, nur 
begreift man, dass dieselben immerhin Sachkenntniss und Technik vor¬ 
aussetzen, und überdies eine dauernde, stete, sorgfältigste und sach- 
gemässeste Ueberwachung beanspruchen. 

Die zweite hervorragend wichtige physiologische Eigemthtimlickeit 
des 8äuglingsalters ist der geringe Wärmeschutz. Die Wärmeabgabe 
durch die im Verhälniss zum Körpervolumen grosse Körperoberfläche 
ist eine sehr erhebliche und die Schädigung durch Abkühluug macht 
sich ganz besonders in den ersten Lebensmonaten besonders leicht 
geltend. Es würde also nicht zu umgehen sein, für eine Reihe von 
Kindern besondere Wärmeschutzvorrichtungen zu treffen, wie dies neuer¬ 
dings vielfach durch die ursprünglich in Deutschland eingeführten, später 
in Frankreich verbesserten (Wärmewannen, Couveusen) versucht und nicht 
ohne Geschick durchgeführt worden ist. 

Aber auch da, wo ein besonderer Wärmeschutz sich nicht als 
dringend nothwendig erweist, wird in der Zumessung der Raumdimensionen, 
in der Art der Bauausführung, der Heizung und Lüftung, auf die Ab- 
küblungsneigung des SäuglingsalterB Rücksicht zu nehmen sein. That- 
sächlich hat sich nach unseren eigenen Erfahrungen die Zumessung 
grosser Höhendimensionen der Zimmer wegen der damit gegebenen 
Schwierigkeit stärkerer Durchwärmung der Räume als nicht erspriesslich 
flir den Aufenthalt kranker Säuglinge erwiesen. 

Eine dritte für die Pflege ins Gewicht fallende Besonderheit des 
Säuglingsalters ist der Mangel an Sauberkeit, die Durchnässung mit 
Harn und Beschmutzung durch Faeces, was zusammengehalten mit der 
Neigung der Kleinen, Alles an den Mund zu führen, zu den grössten 
Unzuträglichkeiten und besonderen Infectionsgefahren führt. Es bedingt 
diese Eigentümlichkeit der jüngsten Altersstufen ebenso die Notwendig¬ 
keit, ein recht grosses Pflegepersonal zu unterhalten, wie es auf der an¬ 
deren Seite sehr ausgiebige Einrichtungen für die Wäsche und Bäder 
erforderlich macht. 

Sind diese ganz allgemein gekennzeichneten physiologischen Eigen¬ 
schaften der jüngsten Altersperiode wohl dazu angethan, die Schwierig¬ 
keiten der Säuglingspflege überhaupt ins rechte Licht zu stellen, so führen 
die dem Säuglingsalter mehr oder weniger speciflsch zukommenden Er¬ 
krankungsformen überdies noch zu der Nothwendigkeit besonderer Ein¬ 
richtungen. Die Neigung zu den üblichen contagiösen Kindererkran¬ 
kungen, wie acute Exantheme, Pertussis, Diphtherie, ist im Ganzen im 
Säuglingsalter nicht so gross, dass man a priori besondere Kranken¬ 
räume für dieselben wird anzuordnen haben, ganz besonders nicht in 
solchen Städten, wo für die Unterbringung contagiös erkrankter Kinder 
an sich schon Vorsorge getroffen ist und ein Transport der wenigen Er¬ 
krankten nach diesen schon bestehenden Infectionshäusern möglich wäre. 
Nur wo dergleichen Einrichtungen überhaupt fehlen, wird man auch mit 
den eigentlichen Infectionskrankheiten zu rechnen haben, und auch dafür 
durch besondere Einrichtung von Pflegestätten Sorge tragen müssen. 
Aber abgesehen von diesen mehr für die älteren Stufen des Kindesalters 
in Frage kommenden Krankheitsformen zeichnet sich doch das früheste 
Säuglingsalter durch gewisse Krankheitsformen aus, auf welche gelegent¬ 
lich der Einrichtung der Säuglingspflegen Bedacht wird genommen wer¬ 
den müssen. 

Die Prädisposition für wohl übertragbare, epidemisch sich ver¬ 
breitende Erkrankungen des Infectionstractus, die grosse Gefahr der 


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410 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 10. 


epidemischen Verbreitung von infectiöscn Ophthalmien, von Soor, von 
Erysipel, von septischer Phlegmone und einzelnen Dermatosen, wie bei¬ 
spielsweise Pemphigus, vor allem aber das gehäufte Vorkommen von 
Lues congenita, machen es notbwendig, neben den Einrichtungen für die 
Pflege der Allgemcinkrankheiten auch Bolche für die genannten — und 
wenn für keine andere, so doch zum mindesten für Lues congenita — 
besonders zu treffen. Es würde die isolirte Pflege für diese Erkrankungs¬ 
formen kaum zu umgehen sein, und es würden bei derselben alle bisher 
in Betracht gezogenen Eigenheiten der jüngsten Altersstufen genau die¬ 
selbe Berücksichtigung erheischen, wie bei der Allgemeinpflege. 

Geht man nach der nur eben skizzenhaft gegebenen Eigenart der 
Erkrankten und der Erkrankungsformen und den daraus hervorgehenden 
Anforderungen an die Pflege nunmehr mehr direkt auf die Frage ein, 
wie wohl die Einrichtungen für eine eventuelle Pflegestätte werden zu 
trefTen sein, so wird man nnschwer zunächst zu dem Ergebniss gelangen, 
dass die ambulante Pflege in den Polikliniken, Ambulatorien etc. nur 
immer ein mangelhafter Nothbehelf sein wird und dass in denselben 
nicht allen Bedürfnissen Rechnung getragen werden kann. 

Die Pflege kranker Säuglinge in Ambulatorien und Polikliniken ist 
sicher nicht entbehrlich, sondern sie ist in jedem Falle überaus segens¬ 
reich, weil sie die ständigen Pflegestätten resp. Krankenhäuser vor der 
Ueberhäufung mit einem minder hülfsbedürftigen Krankenmaterial schützt 
und doch die Erkrankten in vielfachster Weise durch rechtzeitige Be- 
rathung und Hülfsleistung vor fortschreitender Erkrankung bewahrt. 
— Die ambulatorische Krankenbehandlung der Säuglinge trägt ganz 
ausserordentlich viel dazu bei, geeignete Anschauungen über Säuglings¬ 
pflege und über Krankheitsschutz in grosse Schichten der Bevölkerung 
zu tragen, — ganz besonders dann, wenn, wie dies jetzt häufig geschieht, 
den Müttern und Pflegerinnen Anweisungen direct in die Band gegeben 
werden. Für Berlin wäre es deshalb ganz besonders wünschenswerth, 
dass dasjenige, was von privaten Polikliniken aus nach dieser Richtung 
geschieht — ich erinnere nur an H. Neuraann’s Belehrungen in seiner 
Poliklinik, auch im Kaiser und Kaiserin Friedrich-Kinderkrankenhause 
werden dergleichen mitgegeben —, von Seiten der städtischen Anstalten 
geschähe. 

Bei alledem wird die ambulatorische Behandlung niemals ausreichen 
und thatsächlich fliesst jetzt schon den ständigen Krankenanstalten gerade 
aus den Polikliniken das Säuglingskrankenmaterial zu. 

So gelangt man also zu der Auffassung, dass eB nothwendig sei, 
ständige Anstalten einzurichten, in welchen erkrankte Säuglinge ver¬ 
pflegt werden. 

Dies vorausgesetzt, kann die Frage, ob man diese Anstalten in den 
schon bestehenden Krankenanstalten mit unterbringen soll und kann, nur 
dann entschieden werden, wenn man ganz klar das Programm einer 
Säuglingskrankenanstalt überblickt. Aus den oben angegebenen Aus¬ 
führungen geht hervor, das3 eine Säuglingskrankenanstalt aus folgenden 
einzelnen Abtheilungen sich wird zusammenzusetzen haben: 

I. Stationäre Abtheilung für nicht infectiöse Säuglinge. 


ev. vereint. 


Innere 1 a ^ Abtheilung mit Aufnahme der Mütter resp. Ammen. 
Kranke | ^ Abtheilung mit Wöchnerinnenschutzvorrichtungen 
J (Couveusen). 

AbtheUung } a ^ UD< * **) vereinigt, weil im Ganzen wohl kleiner. 

II. Abtheilung für zu isolirende resp. infectiöse Säuglinge mit Wär¬ 
terinnenwohnung. 

III. Haus für Milchbereitung (ev. Kuh- und Ziegenställe), Räume zur 
MilchsteriliBirung, ev. Bereitung von Milchmischungen, Milch¬ 
ausgabe. 

IV. Wärterinnenwohnhaus. 1 7 . . 

V. Verwaltung. — Aerztewohnungen. / ev ' verem • 

VI. Wäschehaus. — Desinfection. 

VII. Kochküche. 

VIII. Leichenhaus und wissenschaftliche Laboratorien. 

Bei diesem Hauptprogramm ist zu berücksichtigen, dass der dem 
einzelnen Kinde zuzumessende Quadratraum im Ganzen nur wenig wird 
kleiner ausfallen dürfen, als für Erwachsene oder grössere Kinder. 
Rechnet man für diese letzteren in üblicher Weise 8 qm per Bett, so 
wird man für den Säugling bei der Lebhaftigkeit seines Gasstoffwech¬ 
sels, der Btarken Perspiration und der leichten Luftverderbniss durch 
Absetzen von Urin und Fäces, kaum unter 6—7 qm pro Kopf herunter¬ 
geben dürfen. 

Es wird weiter zu verlangen sein, dass mehr als höchstens 4 Kinder 
einer einzelnen Pflegerin nicht übergeben werden dürfen, wobei in den 
Müttern und Ammen im Ganzen nur wenig Ersatz wird gefunden werden. 

Der enorme Bedarf an Wäsche wird ausserordentliche Ansprüche 
an das Waschhaus stellen und es wird aus diesem Grunde Waschhaus 
und Trockenapparat grösserer als irgendwo bisher zu bemessen sein. 

Selbstverständlich werden die üblichen Gartenanlagen etc. unent¬ 
behrlich sein. 

Dies Alles vorausgesetzt, ist es nunmehr fraglich, ob sich ein der¬ 
artiges Institut ohne Weiteres an eines der schon bestehenden Kranken¬ 
häuser — dies ganz besonders unter Berücksichtigung der Berliner 
Krankenhäuser — würde ein- oder an dasselbe anfügen lassen, selbst 
wenn man von der Ausführung besonderer Verwaltungsgebäude und des 
Leichenhauses Abstand nehmen wollte. Die Entscheidung darüber kann 
nur von den Verwaltungsbehörden im Verein mit sachverständigen Aerzten 
getroffen werden, nur darf man sich der Täuschung nicht liingeben, als 
würde dies eine leicht zu erfüllende Aufgabe sein. — Die Milchversor¬ 


gung allein für ein etwa auf 150—200 Säuglingsbetten berechnetes Säng- 
lingshospital würde der Verwaltung wesentliche Schwierigkeiten bereiten. 
Ganz abgesehen von den anderweitigen Verwaltungs- und Pflegeschwierig¬ 
keiten. Ich habe in früheren Arbeiten ausgeführt, wie schwierig die Kran¬ 
kenpflege von Kindern überhaupt in allgemeinen Krankenhäusern sich ge¬ 
staltet und gerade daraus die Nothwendigkeit specieller Kinderkranken¬ 
hauseinrichtungen hergeleitet. Bezüglich der Säuglingspflege sind diese 
Schwierigkeiten nicht minder gross und dieselben werden, wenn schon 
die Anlehnung des Säuglingshospitals an ein anderes Krankenhaus ge¬ 
plant werden sollte, noch am ehesten zu überwinden sein, wenn schon 
bestehende Kinderkrankenhäuser dazu ausersehen werden. Hier sind 
wenigstens die allgemeinen Einrichtungen schon auf das kindliche Alter 
zugeschnitten. 

Wenn bezüglich der Organisation und der Beziehungen des Säng- 
lingskrankenhauses zu dem Säuglingsasyl noch einige Andeutungen ge¬ 
geben werden sollen, so leuchtet a priori ein, dass die Fürsorge für die 
Kranken nothwendig vou der centralen Säugt ingspflegestätte beeinflusst 
werden wird. Gerade hier möchte ich gern auf frühere Ausführungen 
von Neumann 1 ) und mir verweisen. Die intensive Beaufsichtigung der 
verpflegten Säuglinge durch die Functionäre des 8äuglingsasyls muss und 
wird naturgemäß dazu führen, dass Erkrankungen frühzeitig wahr¬ 
genommen und der zuständigen Behörde im Säuglingsasyl zur Kenntniss 
gebracht wird. Von hier aus würde alsdann die Ueberweisung an das 
Säuglinkskrankenhaus zu erfolgen haben. Dies würde andererseits notb¬ 
wendig zur Folge haben, dass in dem Säuglingsasyl volle Kenntniss von 
den Vorgängen im SäuglingskrankenhauBe besteht, insbesondere dass ge¬ 
naue Kenntniss davon vorhanden ist, wieviel Betten an jedem Tage frei 
sind und belegt werden können. Dies würde von jedem einzelnen 
Säuglingskrankenhause, soviel deren auch ev. eingerichtet werden 
würden, täglich dem Säuglingsasyl gemeldet werden müssen. So wird 
es gar nicht mehr Vorkommen können, dass, wie dies leider jetzt noch 
in Berlin geschieht, erkrankte Säuglinge von Hospital zu Hospital ge¬ 
schickt werden, ohne dass ihnen geeignete Hülfe zu Theil wird. Auf 
der anderen Seite wird die Entlassung der geheilten Säuglinge aus dem 
Krankenhause so zu geschehen haben, dass die der Obhut des Säug¬ 
lingsasyls unterstehenden Kinder demselben vom Krankenhause würden 
zurückgeschickt werden. Der directe Austausch der Meinungen über die 
für das einzelne Kind nothwendige Kostpflege wird dazu führen, dem¬ 
selben einen besseren Gesundheitsschutz zu gewähren als bisher. 

Wir lassen es mit den hier nur gleichsam als Grundriss gegebenen 
Bemerkungen für heut genügen. Die gemachten Vorschläge sind 
praktisch ohne Weiteres durchführbar, und wenn nicht Alles tänscht, 
drängen die trüben Erlebnisse aus den Krankenhäusern zu einer raschen 
Lösung der Frage der Säuglingsversorgung. Berlin ist mit seinen 
hygienischen Einrichtungen anderen Grossstädten der Welt vielfach weit 
voran, möge es nicht versäumen endlich an eine bessere Lösung der 
so schwer der Commune aufliegenden Verpflichtung der Säuglingspflege 
zu gehen. 

In letzter Linie wird, wie bei allen gesundheitszweckmässigen Ein¬ 
richtungen auch hier die anscheinend grosse Geldaufwendung zur Er¬ 
sparnis und so die Erfüllung des humanen Zweckes auch zur Nützlich¬ 
keit führen. — 


V. Kritiken und Referate. 

L. Loewenfeld: Lehrbuch der gesammten Psychotherapie. Mit 
einer einleitenden Darstellung der Hauptthatsachen der medicini- 
schen Psychologie. Wiesbaden 1897. 

Ref. hielt das vorliegende, circa 260 Seiten starke Buch des be¬ 
kannten Münchener Neurologen bei Betrachtung des Titels zunächst für 
ein neues Lehrbuch der hypnotischen Behandlung; doch ist sein Inhalt 
ein weit grösserer und umfasst ein literarisch recht dürftig angebautes 
Feld, nämlich die gesammte psychische Behandlung des Kranken. Es 
dürfte wohl kaum einem Zweifel unterliegen, dass dieses füt die Praxis 
so ungemein wichtige Gebiet zur Zeit in ungebührlicher und für den ge¬ 
sammten ärztlichen Stand gefährlichen Weise (cf. den starken Zug des 
Publicnms der sog. besseren Stände zu curpfuscbenden Individuen aus 
dem Stande der Priester und der Profanen) vernachlässigt wird. Der 
Grund für die Vernachlässigung des psychischen Factors mag einerseits 
in der Schwierigkeit oder Unmöglichkeit liegen, die Behandlung des 
Kranken als Individuum, als Menschen innerhalb des Rahmens der 
Klinik zu lehren; andererseits darf nicht vergessen werden, dass der 
grösste Theil dessen, was als rationelle psychische Therapie bezeichnet 
werden kann, kaum mündlich oder durch Bücher gelehrt werden kann, 
sondern nur durch das Beispiel. Und schliesslich muss der Arzt dazu 
bereits etwas von Hause mitbringen. „Wenn Ihr’s nicht fühlt, Ihr 
werdet’s nicht erjagen.“ 

Dennoch ist das vorliegende Buch als ein recht gelungener Versuch 
zu erachten, dem jungen Arzte in der Erwerbung dieser Kenntnisse be- 
hülflich zu sein: Eine kurze Inhaltangabe wird die Richtigkeit dieser 
Behauptung erweisen können. 

1) II. Neu mann, Verhandl. des Deutschen Vereins f. üffentl. Ge¬ 
sundheitspflege 1891. 


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411 


10. Mai 1897.' BERLINER^KLINISCH E WOCHENSCHRIFT. 


Der erste Abschnitt behandelt den gegenwärtigen Stand der psychi¬ 
schen Behandlung. (L. sagt consequcnt „Psychotherapie“, doch fürchtet 
Ref., dass dieser Terminus bei den meisten Aerzten bereits durch den 
Begriff der hypnotischen Behandlung gedeckt wird.) Es unterliegt keinem 
Zweifel, sagt L. pag. 9 ff. sehr richlig, dass die jnngen Collegen, wenn 
sie mit nur einem Viertel ihrer gegenwärtigen Kenntnisse in der 
Materia medica oder auch mit geringeren Kenntnissen in einzelnen theo¬ 
retischen Fächern, dafür jedoch in Psychologie und Psychotherapie ge¬ 
schult in die Praxis träten, nicht nnr der leidenden Menschheit nngleich 
grössere Dienste zu leisten vermöchten, sondern auch selbst namentlich 
im Beginne ihrer praktischen Thätigkeit ungleich weniger Schwierig¬ 
keiten finden würden. — Der zweite Abschnitt handelt von den Haupt- 
thatsachen der medicinischen Psychologie, eingehend ist der so wichtige 
Einfluss geistiger Vorgänge auf die Entstehung und Heilung von Krank¬ 
heitszuständen besprochen. Von reicher eigener Erfahrung des Ver¬ 
fassers zeugt der die Psyche des Kranken betitelte nächste Abschnitt; 
eine Reihe treffend wahrer Bemerkungen zeigt, dass L. am Krankenbette 
und im täglichen Leben sehr scharf beobachtet hat; für junge und an¬ 
gehende Aerzte enthält dies Capitel eine Fundgrube des Wissens- und 
Beherzigenswerthen, z. B. über die Stellung der Prognose solchen 
Kranken gegenüber, die rückhaltlose Wahrheit über ihren Zustand wissen 
wollen n. s. w. Die allgemeine Psychotherapie, der der nächste Ab¬ 
schnitt gewidmet ist, verbreitet sich über eine Fülle allgemeiner Ge¬ 
sichtspunkte: die Persönlichkeit des Arztes, der Verkehr mit dem 
Kranken, die Untersuchung, die Aufklärung des Kranken über seinen 
Zustand, die Stützung des ärztlichen Ausspruches durch Anordnungen, 
die Gesunderklärung, die geistige Direction des Kranken, seine Lebens¬ 
weise, Beschäftigung, Zerstreuungen, Lecttire u. s. w. n. s. w. werden 
nach einander kurz besprochen und überall finden sich Rathschläge des 
Verfassers für junge Collegen eingestreut. Als besondere psyebo-thera- 
peutische Verfahren beleuchtet L. die psychische Gymnastik, die Sug- 
gestivbehandlung im Wachzustände und als Hypnose, die Emotionstberapie 
und die Wunderglaubens- und Gebetcuren; bei letzteren kann er sich 
anf einen gewichtigen Gewährsmann, Charcot, berufen, der bekannt¬ 
lich nicht selten Kranke nach Lourdes sandte (cf. seinen Aufsatz „La 
foi, qui gnerit.“ Deutsch vom Ref. im „Irrenfreund“ 1893). Die letzten 
80 Seiten des Buches werden von der speciellen Psychotherapie ein¬ 
genommen. Ein alphabetisches Register erleichtert die Orientirung in 
dem Buche, dem Ref. im Interesse des ärztlichen Ansehens weile Ver¬ 
breitung wünscht. 


Grundzflge der Irrenpflege. Von Snell, II. Arzt der Prov.-Heil- 
und Pflege-Anstalt zu Hildesheim. Berlin 1895. 2 Mk. 

Die Schrift hat den Zweck, jungen Aerzten, welche anfangen, sich 
mit der Behandlung Geisteskranker zu beschäftigen, einen Ueberblick 
über die wichtigsten Aufgaben zu geben, die ihnen gestellt werden; 
diesen Zweck wird sie nach Ansicht des Ref. ganz erfüllen: Sie enthält 
eine ganz kurze geschichtliche Einleitung, betont die Nothwendigkeit der 
richtigen principiellen Auffassung der Geisteskrankheit mit der bei der 
Wichtigkeit dieses Punktes erforderlichen Energie, verbreitet sich kurz, 
aber genügend über Lage, Grösse, Bauart der Anstalten, über Colonien 
und Familienpflege, bespricht die verschiedenen Abtheilungen der An¬ 
stalt und die in ihnen uns zu Gebote stehende Therapie, macht auf ein¬ 
zelne Schwierigkeiten der Pflege von Geisteskranken aufmerksam und 
zeigt uns zum Schluss die Dienstvertheilung innerhalb der Anstalt und 
die — bei uns leider noch recht dürftige — Fürsorge für geheilt Ent¬ 
lassene. — Das Büchlein sei den betreffenden Interessenten warm em¬ 
pfohlen. _ 


Was können wir für den Unterricht nnd die Erziehung unserer 
Schwachbegabten and schwachsinnigen Kinder tliun? Von 
S. Kulischer, Nervenarzt in Berlin. 1897. Berlin. 

Für die ziemlich grosse Zahl Schwachbegabter und schwachsinniger 
Kinder empfiehlt K. die Einrichtung besonderer Schulen, an denen nur 
Lehrer, die durch Curse in Idiotenanstalten die Eigenarten dieser Kinder 
kennen gelernt haben, unterrichten. An ihnen soll der theoretische Un¬ 
terricht im Grossen und Ganzen zurücktreten gegenüber der Ausbildung 
der Sinne, dem Anschauungsunterrichte, der erziehlichen Wirkung durch 
Beispiel und Belehrung und der Uebung in Handfertigkeiten und prakti¬ 
scher Geschicklichkeit. Die Aufnahme von Schülern in diesen Schulen 
soll unter Mitwirkung von Aerzten stattflnden; eine ärztliche Unter¬ 
suchung aller in Jede Schule eiutretender Kinder befürwortet K. und 
hat für diese Zwecke einen praktischen Fragebogen ausgearbeitet. 

Le wal d. 


VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. 

Berliner medlcinlsche Gesellschaft. 

Sitzung vom 28. April 1897. 

Vorsitzender: Herr Virchow. 

Schriftführer: Herr Landau. 

Vorsitzender: Wir haben eines unserer Mitglieder wieder ver¬ 
loren, Herrn Sanitätsrath Dr. Gordan, der seit 10 Jahren Mitglied 
unserer Gesellschaft gewesen ist. Ich bitte Sie, sich zur Erinnerung an 
ihn von Ihren Plätzen zu erheben. (Geschieht.) 


Nen aufgenommen sind in der Sitzung der AufnahmecommisBion 
vom 31. März die Herren DDr. Below, Beuthner, Bohn, Fischei, 
Paul Keller, Sanitätsrath NeisBer und Pollack. Ausgetreten ist 
wegen-Verzuges nach Danzig Herr Petruschky. 

Ich habe darauf aufmerksam za machen, dass nach den (nicht im 
Protocoll angeführten) Verhandlungen der vorigen Sitzung eine Liste für 
Einzeichnnngen von Beiträgen für das unserem Johannes Müller in 
Coblenz zu errichtende Denkmal von morgen ab bei Herrn Anders 
ausgelegt werden wird. Ein weiterer Beschluss des Vorstandes wird 
Vorbehalten. 

Hr. Ewald: Für die Bibliothek sind eingegangen von Herrn Geheim¬ 
rath Eulenburg: Realencyklopädie, Lieferung 121 bis 130 und von Herrn 
Loewy: Ueber den Einfluss der verdünnten Lnft und des Höhenklimas 
auf den Menschen. 

Vor der Tagesordnung. 

l. Hr. J. Joseph: Eine neue orthopädische Brustklnromer zum 
Scoliosenapparat von Hoffa und Srhede. (Der Vortrag erscheint 
unter den Originalen dieser Wochenschrift.) 

Di scussion. 

Hr. Karewski: Ob die Aenderung, die Herr Joseph an dem 
Schede'sehen Apparat angebracht hat, eine Verbesserung ist, kann ich 
nicht beurtheilen, da ich sie noch nicht benutzt habe. Aber ich glanbe, 
dass sie überflüssig ist. Der Schede’sche Apparat ist in seiner alten 
Form sehr gut brauchbar, da es gar nicht darauf ankommt, den Schulter¬ 
gürtel so fest zu fixiren, und die dadurch hervorgerufene Erpressung 
doch vielleicht nicht ohne Bedenken ist. 

Was den zweiten Theil der Demonstration des Herrn Joseph be¬ 
trifft, so ist die Methode eine ebenso alte, wie bewährte. Ich 
glaube kaum, dass Jemand, der Corsets auf Modellen macht, diese nicht 
so anfertigt, wie es Herr Joseph zeigte. Wir im jüdischen Kranken¬ 
hause speciell benutzen seit etwa 15 Jahren dasselbe Verfahren, so 
lange, wie ich dort bin. 

Hr. J. Joseph: Wenn Herr Karewski sagt, dass das Verfahren 
nicht neu sei, so kann ich nur erklären, dass es in der Literatur 
nirgends beschrieben ist. Es mag sein, dass manche Orthopäden 
es in geringerem Grade an wenden. Jedenfalls habe ich Vorbilder 
von so starken systematischen Umformungen der in ein¬ 
facher Suspension gewonnenen Gypsabgüsse von Scoliosen 
II. und III. Grades, wie ich sie hier gezeigt habe, nirgends gesehen. 

Was die zweite Aeusserung des Herrn Karewski betrifft, dass 
meine Brustklammer überflüssig sei. so kann ich nur sagen, dass der 
Autor der früheren Brustfixirung, Herr Geh. Rath Schede, 
selbst seine Brnstklammer als unzulänglich bezeichnet hat und die 
meinige an seinen Apparaten anbringen will. Einen besseren Beweis für 
die Zweckmässigkeit meiner Vorrichtung giebt es doch kaum. Herr 
Karewski sollte sich doch nicht ohne Weiteres über eine neue Vor¬ 
richtung, zumal da er keine Erfahrung über dieselbe hat, absprechend 
äussern, wenn der Autor der alten dieselbe als Verbesserung willkommen 
heisst und für eich gewinnen will. 

2. Hr. Munkiewicz: Vor 4 Wochen suchte meine Hülfe der 25jährige 
Patient B. nach, ein ausserordentlich heruntergekommener und schwäch¬ 
licher Mensch, welcher vor 18 Jahren wegen eines complicirten Bruches 
des rechten Beins im oberen Drittel des Femur amputirt worden war. 
Der Mann klagte über Schmerzen in der rechten Nierengegend, er war 
schon in mehreren Krankenhäusern behandelt worden. Er kam mit der 
ganz richtigen Diagnose einer NiereneutzUndung rechts zu mir. Die 
Symptome waren derartige, dass sich ungefähr 8 Tage lang der grosse, 
fühlbare Sack einer prall elastischen Geschwulst, welche leicht palpirbar 
war und bis zum Nabel herunterging, anfüllte, um sich dann plötzlich 
zu entleeren, worauf die Schmerzen nachliessen Während der Zeit, in 
der sich der Tumor füllte, hat der Patient fast klaren Harn mit geringem 
Eiweissgebalt entleert, hatte dagegen grosse Schmerzen. Da der Patient 
trotz sorgsamer Pflege sich nicht bessern wollte, stellte es sich als notb- 
wendig heraus, den Krankheitsherd zu entfernen, und ich habe heute 
Mittag die Exstirpation dieser Niere vorgenommen. Ich würde nicht 
wagen, sie Ihnen hier zu demonstriren, wenn es nicht ein ganz beson¬ 
ders schönes Object der tuberculösen Niere wäre und Sie nicht so be¬ 
sonders schön die Farbe daran studiren könnten. Es ist mit dem Prä¬ 
parat noch nichts weiter geschehen, als dass es auf Eis gelegt worden 
ist. Die Entfernung ist erst 4 Stunden her. Sie sehen an dem einen 
Pol einen ganz grossen Käseherd. Die Rinde ist verschmälert. In der 
Marksubstanz und auch theilweise in der Rindensubstanz sind zahlreiche 
grosse und kleine Abscesse deutlich erkennbar. Die Fettkapsel habe 
ich zum grossen Theil mit entfernen müssen. Es bot, trotzdem ich es 
gern gethan hätte, so grosse Schwierigkeiten, die Niere zu enthülsen, 
dass ich es vorziehen musste, die Kapsel mit zu entfernen. Von dem 
Patienten kann ich nur berichten, dass es] ihm bis auf Schmerzen eben 
leidlich ging — wir haben ziemlich stark comprimircn müsssen, um die 
Blutung zu stillen — und dass er jetzt Abends kein Fieber hat. 

Hr. Ewald: Ein Fall von Carclnom der Gallenblase. 

Die Frage nach der Bedeutung des Vorhandenseins der Milchsäure 
im Mageninhalt ist in der letzten Zeit wiederholt ventilirt worden und 
von der Mehrzahl der Autoren, die sich damit beschäftigt haben, in dem 
Sinne entschieden worden, dass die Milchsäure eine speciflsche Be¬ 
deutung fär die Diagnose des Carcinoms nicht hat, wenn auch zugegeben 


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412 BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. ’ No. 19. 


werden muss, dass sie in einer grossen Zahl von Fällen vorhanden ist; 

dass es sich vielmehr mit dem Vorkommen der Milchsäure genau so 

verhält, wie mit dem Fehlen der Salzsäure bei Careinom, das heisst, 

dass sie von Bedingungen abhängig ist, welche mit dem eigentlichen 

pathologischen specifischen Processe nichts zu thun haben. 

Die Hoffnungen, welche man znerst an den Nachweis der Milch¬ 
säure im Mageninhalt für die Diagnose eines Carcinoma stellte, haben 
sich als hinfällig, wenigstens in dem Maasse, wie sie Anfangs aus¬ 
gesprochen wurden, erwiesen. Nichtsdestoweniger, glaube ich, wird es 
doch von Interesse sein, wenn ich Ihnen hier das Präparat eines Falles 
zeige, in welchem diese Verhältnisse gerade mit ganz besonderer Deut¬ 
lichkeit and ohne, wie ich meine, jeden Widerspruch zu Tage getreten 
sind. Es handelte sich dabei um eine ältere Dame, eine Frau von 
61 Jahren, welche mit den Erscheinungen einer hochgradigen Magen- 
erweitcrung und leichtem Icterus auf die Abtheilung aufgenommen 
wurde, und bei welcher die Untersuchung des Mageninhalts, theils nach 
einem typischen Probefrühstück, theils der erbrochenen Massen, immer 
wieder unzweifelhaft sehr reichliches Vorhandensein von grossen Massen 
von Milchsäure im Mageninhalt bei Fehlen der Salzsäure, bei Fehlen 
der Eiweissverdauung nachgewiesen hatte. Es kann daran gar kein 
Zweifel sein. Es wurde die Frage ventilirt, was in diesem Falle die 
Ursache der Erweiterung des Magens sein möchte. Eine sichere Dia¬ 
gnose konnte bei dem Fehlen eines Tumors in keiner Weise gestellt 
werden. Indessen mussten wir die Wahrscheinlichkeitsdiagnose und 
zwar gerade mit Rücksicht auf das Vorhandensein der Milchsäure auf 
einen malignen Verschluss am Pylorus stellen, der eventuell auf die 
Gallenblase bezw. auf deu Gallengang iibergegriffen und so den Icterus 
veranlasst hatte. Die von Herrn Dr. Oestereich ausgeführte Section 
ergab nun, nachdem die Kranke an zunehmender Schwäche und unter 
leichter Benommenheit gestorben war, dass es sich um ein Careinom 
der Gallenblase handelte, und zwar ein Carcinom, welches die Blase 
vollständig zur Schrumpfung gebracht hatte, sodass sie über den unteren 
Rand der Leber gar nicht hervortrat, sondern eine feste Masse darstellte, 
welche sich etwas nach oben hin zwischen die beiden Leberlappen ein¬ 
senkt, und in welcher an einer Stelle zum Beweise dafür, dass es sich 
in der That um die Gallenblase handelt, noch ein kleiner, eichelgrosser 
Gallenstein eingelagcrt war. Dieses Carcinom war nun mit dem Duo¬ 
denum verwachsen, hatte zu einer Knickung des Duodenums, zur starken 
Stenosebildung ungefähr 6—7 cm unterhalb des Pylorus geführt, hatte 
auf die Weise den Abfluss aus dem Magen verlegt und nun eine enorme 
Erweiterung des Magens zu Stande gebracht, die 8ie hier an dem Prä¬ 
parat vor sich sehen. Die Schleimhaut des Magens ist glatt, leicht 
schiefrig verfärbt, frei von jeder Geschwulstbildung. (Demonstration.) 

Nun, hier in diesem Falle war also von einer malignen Magen¬ 
erkrankung absolut keine Rede, Es war die Milchsäurebildung vielmehr 
auf die Weist zu Stande gekommen, dass es sich, wie dies zuerst mein 
früherer Assistent, Herr Dr. Strauss, auf meiner Abtheilung nach¬ 
gewiesen hat, einfach um das Zusammentreffen von fehlender Salzsäure 
mit Stagnation des Mageninhaltes und. wie später Hammerschlag 
noch hinzngetlian hat, um eine fehlende Eiweissverdauung handelt. Es 
sind in letzter Zeit wiederholt Diagnosen auf Pyloruscarcinom gestellt 
worden, ohne dass ein Tumor palpabel war, wenn eine Magcr.erweiterung 
mit gleichzeitigem Vorhandensein von Milchsäure vorlag und ein solcher 
Fall ist ja in der letzten Zeit auch mit Glück operirt worden. Solche 
Fälle sind mir auch gelegentlich vorgekommen, leider ohne dass sie zur 
Operation gelangt wären. Sie sehen aber aus diesem Falle, wie sehr 
man sich da auch unter Umständen täuschen kann. Wenn man im vor¬ 
liegenden Falle auf das Vorhandensein der Magenerweiterung und der 
Milchsäure hin ein Carcinom am Pylorus angenommen und operirt hätte, 
so würde die Operation eines Besseren belehrt haben. Möglicherweise 
hätte man aber überhaupt die Dinge gar nicht bei der Operation so klar 
sehen können, wie das nun post mortem der Fall ist. 

Immerhin wird uns dies nicht hindern, in solchen Fällen dieser Art, 
die dem äusseren Anschein nach für einen operativen Eingriff gute 
Chancen bieten, die Operation bezw. Laparotomie auszuführen, nur soll 
man sich der Möglichkeit einer Enttäuschung stets bewusst bleiben. 

(Schluss folgt.) 


Aerztlicber Verein zn München. 

Sitzung vom 7. April 1807. 

1. Hr. Lange: Ueber operative Behandlung des Pott’schen 
Buckels nach Calot. (Mit Demonstrationen.) 

L. beschreibt das Calot’sche Verfahren und ist der Ansicht, dass 
man noch kein endgültiges Urtheil über den Werth desselben fällen 
kann. Das Redressement selbst beanspruche für den Fachmann das 
wenigste Interesse. Calot war der erste, welcher eben den Muth dazu 
besass und das Verfahren auch in G und 8 Jahre alten Fällen noch in 
Anwendung brachte. 

Zur Erläuterung werden einige Abbildungen von Fällen vor und 
nach dem Redressement demonstrirt. 

L. bespricht dann kurz die pathologische Anatomie des Gibbus, 
deren Entstehung hauptsächlich auf Tuberculose zuriiekzuführen sei. 

Kurze Zeit nach der Entstehung genügt ein einfacher Zug der 
Wirbelsäule, um wieder normale Verhältnisse herzustellen, was natürlich 
später, bei länger bestehenden Fällen, besonders wenn eine knöcherne 


Verschmelzung der einzelnen den Gibbus bildenden Wirbel stattgefunden 
hat, nicht mehr so leicht möglich ist. Der Grund, warum dieses Re¬ 
dressement nicht schon vor Calot ausgeführt wurde, war vor allem die 
Furcht vor Lähmungen. 

Die tuberculösen Massen, welche zwischen dem Knochen und der 
Dura liegen, können leicht zu ödematösen Stauungen führen und es 
wurde deshalb alles vermieden, was ein Anwachsen des Exsudates be¬ 
wirken könnte. Durch die Gewalt, mit der das Redressement ausgefuhrt 
wird, wird nun allerdings ein Anwachsen des Exsudates bewirkt, aber 
gleichzeitig wird mehr Raum geschaffen, wie Redner an einem Schema 
demonstrirte. Es wird gewissermaassen durch das Redressement ein 
Sicherheitsventil geöffnet. 

Mit der Lähmung sind aber die Gefahren dieser Methode noch nicht 
erschöpft. Bei einem der Calot’schen Kranken trat nach 4, bei einem 
anderen nach 6 Monaten ein Senkungsabsccss auf. Ferner kommt sehr 
häutig ein Wiederaufflackern der tuberculösen Entzündungen zu Stande, 
und zwar ist die Zahl der unglücklichen Ausgänge um so grösser, je 
roher und gewaltsamer das Redressement ausgeführt wird. 

Was die Behandlung nach dem Redressement anlangt, so wird durch 
Gypsverband die Wirbelsäule festgestellt. 

Ueber die Art der Anlegung dieses Verbandes spricht sich Calot 
nicht näher aus; L. musste hierüber erst eigene Erfahrungen sammeln. 
An einem Holzmodell der Wirbelsäule demonstrirte er nun das Ein¬ 
schlüssen in eine feste Schiene, sowie die Fixirung durch Zug, welch’ 
letztere Methode auch praktisch in Anwendung kommt, da durch An¬ 
legung einer Schiene das Einsinken nach vorne nicht verhütet werden 
kann. 

(Es wird ein Modell des Gypsverbandes herumgereicht.) — Beson¬ 
ders im Anfang wird der Gypsverband geradezu unerlässlich und das 
Kind muss in Folge dessen zuerst liegen. Nur so ist ein Ausbeilen des 
tuberculösen Processes zu erwarten. Man hat früher gar nicht gewusst, 
dass eine so ausgedehnte Neubildung am Wirbel möglich ist. Ausser¬ 
ordentlich günstig auf den Heilungsverlauf wirkt auch der Aufenthalt in 
einem Seebade ein. Calot’s Wirkungsstätte befindet sich in Bergues 
sur mer. Die spondylitischen Kinder kommen dort unter die denkbar 
günstigsten Verhältnissen, welche eben Gewähr leisten für die Aus¬ 
heilung des tuberculösen Processes. Unter schlimmen Bedingungen heilt 
der Process auch trotz des Redressements nicht aus. 

Für alle beginnenden Spondylitiden gilt die Regel, zunächst den 
Verband anzulegen und dann den Eltern des Kindes das Redressement 
vorzuschlagen. wobei ihnen natürlich die Gefahren nicht zu verhehlen 
sind; es werden sich trotzdem gar viele Eltern dazu herbeilassen. Das 
Redressement selbst führt L. auf einem von ihm construirten Gestell 
aus Gasrohr auf möglichst langsame und schonende Weise aus. Von der 
richtigen Schätzung der Widerstände wird es abhängen, wie weit im 
einzelnen Falle das Redressement zu treiben ist; es wäre allerdings sehr 
verhängnissvoll, wenn auf Grund der Calot’schen Mittheilungen jeder 
Gibbus auf diese Weise behandelt würde. Ausserdem weist L. noch auf 
die Schwierigkeit des Verbandes hin. 

Im Anschluss an den Vortrag wird ein Kind demonstrirt, bei welchem 
vor 4 Tagen in der chirurgischen Klinik des Herrn Prof. An ge rer das 
Redressement ausgefiihrt wurde. 

Discussion. 

Hr. Anger er hält es für sehr dankenawerth, dass der Vortragende 
das Calot’sche Verfahren einer Kritik unterzogen habe. 

In der Wahl der zu behandelnden Fälle muss man jedoch mit 
grosser Sorgfalt Vorgehen, denn es könne doch eine Reihe sehr ernster 
Störungen auftreten. Auch A. ist der Ansicht, dass, je früher ein Fall 
zur Behandlung kommt, um so besser sich der Erfolg gestaltet; A. ver¬ 
spricht sich bei schon länner bestehendem Gibbus kein besonders gutes 
Resultat. Da die Nachbehandlung G—8 Monate dauert, so glaubt A., 
dass in Folge der absoluten Immobilisirung eine Atrophie der Muskeln 
entsteht und in Folge dessen später vielleicht eine Abnahme der Trag¬ 
fähigkeit sich bemerkbar mache und ersucht den Vortragenden hierüber 
um Aufschluss. 

Hr. Lange giebt an, dass man die absolute Immobilisirung nur im 
Anfang anwende, später aber die Entlastung mittelst einer Schienen- 
construction herbeiführe und dabei die Massage in Anwendung bringen 
kann. Auch L. hält die Pflege der Muskulatur für sehr wichtig und 
befürchtet bei zu langer Immobilisirung ohne Anwendung der Massage 
ebenfalls Atrophie der Muskeln. 

Hr. Tausch: In der Erwägung dieses Umstandes, sowie auch zur 
Ermöglichung der Hautpflege, lässt T. den ersten Gypsverband nar 
8—10 Wochen liegen, dann aber wendet er den von ihm construirten 
Immobilisationsverband an, welcher Haut- und Haarpflege und sogar, 
wenn auch in geringem MaasBe, eine Kopfbewegung gestattet, ohne dabei 
die Extension der Wirbelsäule irgendwie zu schädigen. 

Hr. Brunner weist ebenfalls auf die bei allzu lange fortgesetzter 
Fixirung des Thorax eintretende Atrophie der Muskulatur hin. 

Hr. Herzog hält es ebenfalls für ein grosses Verdienst von Herrn 
Lange, dass er in kritischer Weise an das Calot’sche Verfahren 
herangetreten ist. H. glaubt an keinen besonders günstigen Erfolg, wenn 
bereits 3—4 Wirbel mehr oder weniger zerstört sind. 

nr. Ranke bespricht die ausserordentlich günstigen Verhältnisse 
in den luxuriösen Spitälern in Bergues sur mer. Eine grosse Anzahl 
tuberculöser Kinder findet dort für Monate, oft auch Jahre, Aufnahme. 

2. Hr. Tausch: Die moderne Behandlung der angeborenen 
Hüftluxationen. (Mit Demonstrationen.) 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


413 


10 . 


T. führt einige nach der unblutigen Methode von Lorenz operirte 
Fälle von Hüftloxation vor, welche zum Theil durch Röntgenphoto¬ 
graphien noch näher erläutert werden. Dann giebt T. einen Ueberblick 
Uber die neueren Heilungsbestrebungen auf diesem Gebiete. 

Die blutigen Methoden trugen viel dazu bei, Mittel und Wege zu 
finden für die unblutige Methode. Was die Anwendung der letzteren 
betrifft, so muss man bezüglich der Schraube nur sehr langsam vorgchen. 
Bei maximaler Abduction springt dann der herabgezogene Kopf hör- oder 
fühlbar in die Pfanne ein. Nun wird ein Gypsverband bezw. ein Gyps- 
corsett angelegt; letzteres trägt auch viel dazu bei, die schwankenden 
Bewegungen zu vermeiden, die sonst leicht später auftreten. Selbst¬ 
verständlich ist bei einem Kind, das monatelang mit abducirten Ober¬ 
schenkeln und flectirten Knieen gegangen ist, im Anfang das Gehen 
noch sehr ungewandt. Man muss sehr viel Geduld haben, denn in kurzer 
Zeit bildet sich keine tiefe Gelenkpfanne aus. In erster Linie werden 
wohl nnr jüngere Patienten den Segen der Reposition gemessen können, 
bei älteren Patienten, wo namentlich die Ermüdungsbeschwerden zu sehr 
in den Vordergrund treten, werden richtig angelegte Schienenverbände 
snhr oft Besserung erzielen. Es ist aber nicht unwahrscheinlich, dass 
die von der geschrumpften Kapsel gesetzten Hindernisse allmählich über¬ 
wanden werden und bessere Verhältnisse eintreten. T. betont die 
Wichtigkeit, die Kinder mit angeborener Hüftluxation so früh wie mög¬ 
lich der unblutigen Repositionsmethode zuzuführen. 

T. demonstrirte während des Vortrages mehrere Röntgenaufnahmen. 

D iscussion. 

Hr. Angerer: Wer die verschiedenen Behandlungsmethoden der 
congenitalen Hüftluxation mit erlebt hat, der wird selbstverständlich eine 
gewisse Zurückhaltung bewahren. Das Verfahren sei ja erst 2 Jahre 
alt und darum noch ein sehr junges zu nennen. An und für sich gehöre 
ja die Reposition der angeborenen Hüftluxationen mit zu den undank¬ 
barsten Aufgaben des Arztes. A. zweifelt noch, ob diese multiple Me¬ 
thode das Idealverfahren für die congenitale Hüftgelenksluxation sein 
kann. Auch A. bestätigt, dass die Resultate um so besser seien, je 
früher die Kinder in Behandlung kommen. 

Hr. Herzog glaubt, dass man wohl erst nach Jahren über die Er¬ 
folge wird urtheilen können, ob sich wirklich bei der unblutigen Methode 
von Lorenz später eine tiefe Pfanne bildet. H. sah gute Erfolge, wenn 
während der Abduction das Bein stark extendirt und hie und da noch 
aussen rotirt wurde. 

Hr. Lange hält die Pfannenbildung für nicht ganz ausgeschlossen, 
wenn nur die Kapsel zum Schwinden kommt. 

nr. Angerer glaubt, dass die Kapsel schon in jedem Falle, der 
zur Beobachtung kommt, schon fast vollkommen fest ist, da wohl kaum 
ein Kind vor dem 2. Jahre zur Behandlung gebracht wird. 

3. Hr. Fränkel: lieber maligne Tumoren des Chorion¬ 
epithels. 

Es war schon lange bekannt, dass im Anschluss an Gravidität bös¬ 
artige Geschwülste entstehen können, ßänger war der erste, welcher 
glaubte, die Betandtheile dieser Tumoren auf die Elemente der Decidua 
inaterna zurückführen zu können. 

F. hat nun aus dem Material der königlichen Universitätsfrauenklinik 
mehrere diesbezügliche Fälle einer eingehenden histologischen Unter¬ 
suchung unterzogen. 

F. fand, dass sowohl rein epitheliale Geschwülste, als auch 
solche mit Betheiligung des Bindegewebes zur Beobachtung kommen 
und kommt auf Grund seiner Untersuchungen ebenfalls zu der An¬ 
schauung, dass diese Tumoren vom Cborionepithel abstammen. 

F. erläutert an der Hand einiger Abbildungen und Präparate seine 
Ausführungen. 

Discussion. 

Hr. Sänger-Leipzig entgegnet dem Vortragenden, dass es durchaus 
nicht so absolut feststehe, dass es sich bei diesen Tumoren wirklich um 
Chorionepithel handelt. In neuester Zeit hat Johannsen sogar die An¬ 
schauung ausgesprochen, dass das Chorionepithel von der Decidua ab- 
stammt. Es ist noch nicht bewiesen, woher das Syncytium kommt und 
deshalb ist der Erklärung noch der Boden entzogen. Der Beweis für 
wirkliche Chorionepithelabstammung ist noch von Niemand erbracht. 

v. S. 


Wissenschaftlicher Yerein der Aerzte za Stettin. 

Sitzung vom 6. April 1897. 

Vorsitzender: Herr Boysen. 

Schriftführer: Herr Freund. 

I. Hr. Schuchardt spricht über die neuen Erweiterungsbauten 
der chirurgischen Abtheilung des städtischen Krankenhauses. 

II. Hr. Niesei demonstrirt einen Exhibitionisten. SSjähriger, 
erblich nur wenig belasteter Arbeiter, der über seine Kindheit nichts 
aussagen kann. Mit 17 Jahren Lungenentzündung, an der er ein Jahr 
lang laborirt haben will. Onanirt zu haben leugnet er. Seit dem 18. 
Jahre normaler, geschlechtlicher Verkehr, indess ist sein Oeschlechts- 
trieb immer schwach gewesen. Seit 5 Jahren verheiratbet; ein Kind 
starb früh an Durchfällen. In den letzten Jahren kaum noch Bc- 
dürfniss nach geschlechtlichem Umgang. Vor etwas mehr als 2 Jahren 


angeblich wegen Blutspackens und nervöser Beschwerden im Kranken¬ 
hause. Seit dieser Zeit seien nervöse Beschwerden immer stärker ge¬ 
worden: schlechter Schlaf mit Träumereien, Schwindelzufälle, Beängati- 
gungszustände mit Herzklopfen. Damals auch zum ersten Male wegen 
Exbibitionirens bestraft. „Seitdem ist es, dass ich das treiben muss!“ 
Es überkämen ihn, wann es auch sei, von Zeit zu Zeit Gedanken an 
weibliche Personen, es steige ihm dann von unten herauf warm auf, es 
flimmere ihm vor Augen, er verspüre einen Reiz am Gliede, und dann 
gehe er und entblösse sein Glied, am liebsten vor weiblichen Personen, 
meist mit nachfolgendem Samenerguss. Hinterher habe er eine klare 
Erinnerung und Reue, aber er könne nicht anders. Als er mehrere 
Male auf demselben Hofe exhibitionirt hatte, wurde er von einem 
Gensdarmen abgefasst, dem er einen geistig klaren Eindruck machte, 
und den er bat, aus der Sache nichts zu machen. 

Grosser, kräftiger Mann mit normalem Genitale. Ohrläppchen ange¬ 
wachsen, 8tirn etwas niedrig. Keine Zeichen einer Dementia paralytica 
oder einer acuten Geistesstörung. Solider, — kein Trinker —, ordent¬ 
licher, aber scheuer, hypochondrischer Mensch, der geistig den unver¬ 
kennbaren Eindruck eines Imbecillen geringen Grades macht. 

Das Vorhandensein epileptischer Aequivalente ist ausznschliessen, 
da keinerlei epileptische Antecedentien. Da auch nicht einmal Bewusst¬ 
seinstrübungen, hat auch die Annahme von epileptoiden Zuständen wenig 
für sich. Die Schwindel- und Beängstigungsznfälle sind am ungezwun¬ 
gensten auf eine seit über 2 Jahren bestehende Neurasthenie zu beziehen. 
In Folge dieser sei seine Potenz erheblich gesunken. Da indess seine 
Libido nicht ebenso gesunken sei, und seine geschlechtlichen Vorstellun¬ 
gen immer auf das weibliche Geschlecht hinwiesen, habe ihn sein 
Schwachsinn zum Exhibitionisten gemacht. Der Umstand, dass er 
gleichzeitig onanistische Manipulationen treibe, spreche dafür, dass er 
auch früher schon onanirt habe. 

Er ist vom Gericht freigesprochen worden. 

III. Hr. Haeckel stellt einen Kranken vor mit ossificirendem 
Ilaematom. Derselbe hatte vor ‘/i Jahr einen 2 Centner schweren 
Sack gehoben und dabei ein starkes Krachen im Arm gespürt. Der 
letztere schwoll sehr stark an und wurde für eine Reihe von Wochen 
in einen Gypsverband gelegt. Als der Kranke danach in unsere Beob¬ 
achtung kam, zeigte er in der Gegend der Mitte des Biceps eine fluc- 
tuirende, faustgrosse Geschwulst, welche nur als nicht resorbirter Blut- 
ergass angesprochen werden konnte. Allmählich entwickelte sich in der 
Wandung desselben eine Knochenmasse, besonders deutlich eine ca. f» cm 
lange rippenähnliche Spange, welche gegen den Humerus frei beweglich 
ist. Aufnahme mit Röntgenstrahlen ergiebt, dass diese Spange in der 
That aas Knochen besteht; der Humerus selbst ist völlig intact, so dass 
also die Deutung des Befundes als Folgen einer Fractur ausgeschlossen 
ist, ganz abgesehen davon, dass sich die Knochenspange auch unter 
unseren Augen entwickelte. Da dabei der Tumor im Ganzen allmählich 
kleiner wurde, ist ebenso eine Sarkombildung anszuschliessen. Ossiflci- 
rende Hämatome bei Erwachsenen sind äusserst selten, ebenso wie ossi- 
fleirende traumatische Aneurysmen. 

H. zeigt ferner ein frisches Präparat einer auffallenden Form 
von Sarkom. Bei einem 17jährigen jungen Manne hatte sich sehr 
rasch ein kindskopfgrosser Tumor aus dem Cavum ischiorectale ent¬ 
wickelt. Nach Durchschneidung der Haut traf man zuerst im subcutanen 
Gewebe auf eine etwa 5 cm dicke Schicht Fett, welches durchsetzt war 
von einem Gewirr bleistiftdicker, granweisser Stränge, die vielfach ge¬ 
wunden und verästelt lebhatt an das Aussehen eines Rankenneuroms er¬ 
innerten. Genauere Betrachtung ‘zeigt aber, dass diese 8tränge vielfach 
plötzlich dünn werden und in feine Gefässchen übergehen; vor Allem 
lässt sich deutlich constatiren, dass sie in der Tiefe aus der Hauptmasse 
des Tumors, der ein gewöhnliches weiches Sarkom ist, hervorgehen. Es 
scheint also, dass das Sarkom eine seiner Peripherie plexiforme Gestalt 
angenommen und sich in der Wand von Gerissen zu runden ßträngen 
entwickelt hat. 

IV. Hr. Timmling zeigt Präparate: 

I. Ein in toto ausgestossenes menschliches Ei aus dem 
Ende des 3. Monats. An dem Präparat sind alle anatomischen Einzel¬ 
heiten, vor allem die Beziehungen zwischen den einzelnen Deciduen vor¬ 
züglich zu sehen. 

2. Einen supravaginal amputirten myomatösen Uterus. Das 
Präparat wiegt 20 Pfund. Es handelt sich um ein colossales 
interstitielles Myom reap. Myome mit lymphangiektatischen Veränderungen. 

Die Kranke hatte den Tumor, welcher langsam, aber stetig ge¬ 
wachsen war, 15 Jahre mit Bich herumgetragen, und verfiel schliesslich 
dem Asthma und der Cyanose in Folge von Compression der Lungen 
seitens des Riesentumora. (Vitale Indication zur Operation) 

Nur durch einen riesigen — | Schnitt durch die Bauckdecken war 
der Tumor zu entwickeln. Klassische snpravaginale Amputation des 
myomatösen Uterus mit seinen ganz atrophischen Adnexen. 

Intraperitoneale Stumpfversorgung. 

In der ersten Hälfte des dreiwöchentlichen Krankenlagers Entleerung 
eines Abscesses durch den Cervicalcanal! 

Wunde per primam, Patientin geheilt. 


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414 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 19. 


Yereln för Innere Medlcin. 

Sitzung vom 3. Mai 1897. 

1. Ur. Heobner hat seit dem vorigen Jahre in weiteren fünf Fällen 
von epidemischer Genickstarre constant den Meningococcns in der 
Spinalflüssigkeit gefunden. Letztere war in zwei Fällen vollkommen 
klar und von der bei tnberculöser Meningitis vorkommenden Spinal¬ 
flüssigkeit nicht zu unterscheiden. Dadurch, dass also der makroskopi¬ 
sche Befund derselben nicht in jedem Falle entscheidet, wird der dia¬ 
gnostische Werth der Lumbalpunction etwas eingeschränkt. H. hat nun 
auch bei 14 anderen Erkrankungsfällcn die Spinalflüs6igkeit auf Meningo¬ 
kokken untersuchen lassen, 7 mal war es eine tuberculöse Meningitis, 
ferner chronischer Hydrocephalus, Sinusthrombose, Hirnoedem u. a. m. 
12 Mal war die Untersuchung negativ, in zwei Fällen von tuberculöser 
Meningitis aber positiv: bei zwei Kindern von 3—4 Jahren wurde am 
11. resp. 20. Krankheitstage aus der Spinalflüssigkeit der Meningococcus 
in vereinzelten Culturen gezüchtet. Für die Deutung dieses Befundes 
ist zu beachten, dass der Meningococcus anscheinend auch bei Gesunden 
ziemlich häufig vorkommt. II. hat ihn im Naseninhalt gesunder Kinder 
naebweisen können. (Demonstration.) Das eine der beiden Kinder mit 
tuberculöser Meningitis stammt aus einem Stadttheil, wo die Genickstarre 
epidemisch aufgetreten war. Es hat sich vielleicht um eine zufällige 
Einschleppung des Meningococcus gehandelt, die durch die bestehende 
tuberculöse Erkrankung der Meningen erleichtert war. Wo eine epi¬ 
demische Genickstarre herrscht, da nehmen auch alle anderen Infections- 
krankheiten, wie schon Wunderlich beobachtet hat, leicht den ihr 
zukommenden Charakter (Kopfschmerz, Nackensteifigkeit u. s. w) an. 
Eine zufällige Verunreinigung der Meningealfltissigkeit ist ausgeschlossen. 

Hr. Fürbringcr hat den Meningococcus bei tuberculöser Meningitis 
niemals gefunden und hält deshalb an den von ihm aufgestellten Satze 
fest, dass der Nachweis des Meningococcus in der Spinalflüssigkeit, 
namentlich wenn er in grösserer Menge in derselben enthalten ist, einen 
sicheren diagnostischen Werth besitzt. 

2. Hr. A, Baglnsky: Ueber Pyelonephritis Im Kindesalter. 

Ein blasses, in der Ernährung sehr heruntergekommenes Mädchen 

hatte längere Zeit hindurch Fieberattaquen vom Charakter der Intermittens. 
Dabei bestand hartnäckige Obstipation. Die Fäces waren in Membranen ein- 
gchiillt. Der Harn war klar, zeitweise wurde er trübe, enthielt Eiweiss, 
im Sediment Bruchstücke von Cylindem und reichlich Eiterzellen, dann 
war auch die Nierengegend druckempfindlich. Durch eine abführende 
Medication verschwanden die Symptome, nach kurzer Zeit aber trat ein 
Rccidiv auf, das unter der gleichen Behandlung wiederum heilte. Aehn- 
lich war ein zweiter Fall: ein Mädchen hatte seit 14 Tagen Fieber¬ 
bewegungen, dyspeptische Symptome, Obstipation, im Ilarnsediment 
fanden sich Eiter und Cylinderfragmente. Der Process zog sich bis zur 
Heilung lange Zeit hin. Zwei weitere Fälle derart hat B. in der Con- 
sultativpraxis gesehen. Kennzeichnend ist für diese Affection das 
wechselvolle Fieber, in dem subnormale Temperaturen mit hohem An¬ 
stieg derselben abwechseln und das am ehesten einer Intermittens ähnelt, 
ferner die wechselnde BeschaflTenhe.it des llarns, der bald klar ist, bald 
einen dicken Bodensatz hat. In dem frischgelassenen Harn konnte das 
Bacterium coli in Reincultur nachgewiesen werden. 

In einer zweiten Reihe von Fällen sind lang sich hinschleppende 
Diarrhoen der Kinder die Veranlassung zur Uebergreifung des Processes 
auf die harnleitenden Wege. B. hat vier Fälle dieser Art beobachtet, 
die im Gegensatz zu ersteren meist lethl enden. Beispiel: Ein sechs 
Monate altes Kind hat seit fünf Tagen Erbrechen und häufig dünne 
grüne schleimige Stuhlgänge, dazu tritt hohes Fieber und eine schmerz¬ 
hafte Anschwellung in der Nicrengegend auf, Exitus. Die 8ection er- 
giebt einen schweren Darmkatarrh, in den Nieren zerstreute Eiterherde 
von verschiedener Grösse, theilweis auch in der Rinde Bitzend und in 
Folge von Nekrose an die Oberfläche durchgebrochen. Die Affection ist 
ersichtlich vom Nierenbecken ausgegangen. Die Untersuchung der ne¬ 
krotischen und Eiterherde ergiebt die Anwesenheit von Bacterium coli, 
welches auch in Massen die Harnkanälchen anfüllt. Es handelt sich 
also um einen schweren eitrigen Zerstörungsprocess in den Nieren, der 
in Zusammenhang mit Erkrankungen des Darmtractus steht. Im Ham 
findet Bich auch bei diesen Kindern reichlich Eiter, daneben geschwänzte 
Epithelien, ferner das Bacterium coli, in den Nieren selbst neben diesem 
noch Bacterium lactis, Proteus und zuweilen auch Bacillus pyocyanens. 

Ilr. Finkeistein: Escherisch hat zuerst darauf hingewiesen, 
dass bei Kindern Blasenkatarrh sehr häufig ist. F. hat auch bei Säug¬ 
lingen häufig Affectionen der Harnwege beobachtet, sowohl primäre wie 
secundäre im Anschluss an länger dauernde Diarrhoen, in einem Falle 
z. B. eine schwere diphtherische Blasenentzündnng mit Diphtherie des 
Nierenbeckens. Es lassen sich hauptsächlich die Arten des Bact. coli 
dabei nachweisen. Die vier beobachteten Fälle betrafen ausschliesslich 
Mädchen. Während die Untersuchung der übrigen Organe garaichts 
ergab, fand sich als Ursache des plötzlich aufgetretenen hohen Fiebers 
die Nieren affection. Die Harnuntersuchung ergab Zeichen einer schweren 
Entzündung der ableitenden Harnwege. Der Ausgangspunkt derselben 
ist die Blase. 

Hr. Posner: Man muss die ascendirenden und descendirenden 
Formen der Infectionen des llarnapparates scharf unterscheiden. Die 
erste Gruppe der vom Vortragenden mitgetheilten Fälle beruht offenbar 
auf einer Infection der Nieren auf dem Wege der Blutbabn, wahrschein¬ 
lich vom Darm her. Im Anschluss an bestehende Obstipation kann sie 


besonders leicht zu Stande kommen, wie die von P. im Verein mit 
Lewin gemachten, schon früher publicirten experimentellen Unter¬ 
suchungen (Unterbindung des Darms) beweisen. 

Hr. BaginBky: Die septischen Infectionen der Nieren vom Darm 
aus sind sehr selten, viel häufiger die von ihm mitgetheilten ascendiren¬ 
den Erkrankungen. 


VII. 26. Congress der Deutschen Gesellschaft 
für Chirurgie. 

Vom 21.—24. April. 

Referent Eugen Cohn. 

II. Tag. 

(Fortsetzung.) 

Hr. Dr. Max Levy, Ingenieur der Allgemeinen Elektricitätsgesell- 
schaft hier, berichtete sodann über Verfahren zur Abkürzung der Expo¬ 
sitionszeit. Er führte aus, dass mit Hülfe der neueren Fortschritte eine 
Abkürzung der Belichtungsdauer auf etwa den 25. Theil der bisherigen 
möglich sei, ja, dass sogar ein weiterer Fortschritt zu erwarten steht. 
Um dies zu erzielen, seien auf dreierlei Gebiet Vervollkommnungen er¬ 
forderlich gewesen; einmal müssen die Röhren so evaeuirt werden, dass 
sie stärkeres Glühen des Platinblechs, ohne zu verderben, aushalten, 
weil in diesem Zustande die Strahlung etwa dreifach so wirksam ist, 
wie bei sonstiger Benutzung; der zweite Fortschritt beruht in der Her¬ 
stellung fluorescirender, praktisch brauchbarer Verstärkungsschirme, 
welche erst der Allgemeinen Elektricitätsgesellschaft gelungen sind. Die¬ 
selben sind in Verbindung mit gewöhnlichen Platten verwendbar und 
geben eine vier- bis fünffache Verstärkung; der wesentlichste Erfolg 
beruht jedoch darin, dass es geglückt ist, ein Verfahren für die Her¬ 
stellung von Trockenplatten ausfindig zu machen, welches dieselben 
gegen Röntgenstrahlen je nachdem 2, 3, 4 fach u. s. w. so empfindlich 
macht als bisher. 

Zur Demonstration der Fortschritte machte Herr Dr. Levy eine 
Brustkorb- und eine Beckenaufnahme eines Erwachsenen in dreissig bezw. 
sechzig 8ecnnden, einer Zeit, welche bisher zur Aufnahme von Händen 
etwa erforderlich war. 

Diese eminenten Fortschritte, welche man bis vor Kurzem kaum 
erhofft hat, bringen, wie der Vortragende zum 8chlusse bemerkte, eine 
grosse Reihe von Vortheilen mit sich, u. a. Zeitersparniss, Vermeidung 
jeglicher Hautentzündung bei Aufnahme stärkerer Körpertheile. Wichtig 
für Gynäkologie: Schärfere und detailreicbere Bilder, Möglichkeit der 
Verwendung kleinerer, billigerer Apparate. Für die photographischen 
Aufnahmen mit X-Strahlen scheint mit den neuesten Fortschritten eine 
neue Aera zu beginnen. 

Hr. Hofmeister-Tübingen: Der Quecksilberradunterbrecher 
zur Erzeugung von Röntgenstrahlen. 

Die Brauchbarkeit eines Stromunterbrechers zur Erzeugung 
von Röntgenstrahlen hängt ab einmal von dem Grade der Sicher¬ 
heit und Gleichmässigkeit, mit der auch bei längerem Arbeiten 
Schluss und Oeffnung des Stromes erfolgt und zweitens von der 
Schnelligkeit, mit der die Unterbrechungen sich folgen. Vor allem 
die Untersuchung mit dem Fluorescenzschirm ist in ihrer Verwerth- 
barkeit für praktisch diagnostische Zwecke von der Schnelligkeit der 
Stromunterbrechungen abhängig; jedem, der mit einem der gebräuchlichen 
Quecksilberfederunterbrecher (auch dem Foucault’sehen) gearbeitet 
hat, bleibt das flackernde Licht in unangenehmer Erinnerung, 
welches durch zu langsames Schwingen des Unterbrechers entsteht. 
Besser als durch die früheren Unterbrechersysteme werden die obigen 
Bedingungen erfüllt durch die neuerdings in den Handel gebrachten sog. 
„rotirenden Quecksilberunterbrecher“, welche aus einem kräftigen Elektro¬ 
motor bestehen, der mittelst Excenter einen Hebel in senkrechter Rich¬ 
tung verschiebt und so den an demselben befestigten Unterbrechungsstab 
abwechselnd in Quecksilber eintaucht und heraushebt. Jeder Achsen¬ 
drehung entspricht eine Unterbrechung. Diese Apparate arbeiten sicher, 
aber sie arbeiten mit einer Vergeudung von elektromotorischer Kraft, 
welche der wohl empfindet, welcher auf Accumulatorenbetrieb angewiesen 
ist. Als einen Nachtheil möchte ich auch den Preis von 150 Mark an- 
sehen. Mit sehr viel einfacheren Mitteln und dem gleichen Grade 
von Sicherheit erreiche ich den gewünschten Zweck durch Anordnung 
des Unterbrechers in Form eines auf der Achse des Elektromotors be¬ 
festigten dreistrahligen Sterns, dessen Platinspitzen bei der Um¬ 
drehung durch Quecksilber schlagen. Jede Achsendrehung liefert drei 
Unterbrechungen. Da der Apparat ganz ohne Reibung läuft, so genügt 
zum Betrieb ein kleiner einfacher Motor, der nur sehr wenig 
Strom braucht. Die Weiterleitung des Stromes geschieht durch eine auf 
der gleichen Achse montirte, in einem zweiten Quecksilbertrog laufende 
Kupferscbeibe, die Verbindung der Quecksilbertröge mit dem übrigen 
Apparat durch eintauchende Kupferbügel (genau in der gleichen Weise 
wie bei den sonst üblichen Quecksilberunterbrechern). Die getroffene 
Anordnung vermeidet die Nachtheile, welche mit der Benützung eines 
Achsenlagers für die Stromzuführung verbunden sind. Das Spritzen des 
Quecksilbers ist durch die angebrachten Deckel in einfachster Weise 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


415 


verhindert. Durch einen cingeschaltcnen Stromregulator lässt sich die 
Geschwindigkeit der Unterbrechungen zwischen 5 und 60 pro Se- 
cunde variiren, also weit über die Grenze hinaus steigern, welche 
fdr die Röntgenstrahlen gebraucht wird. Manche theoretische Bedenken, 
welche man gegen die Leistungsfähigkeit des Apparates haben könnte, 
sind durch die praktische Erprobung als grundlos erwiesen worden, der¬ 
selbe hat sich mir seit 2 Monaten tadellos bewährt. 

Hr. Hofmeister-Tübingen spricht im Anschluss deren über 
Coxa vara nach Röntgenaufnahmen. Er hofft, dass bei diesem noch 
mancher Aufklärung bedürftigen Krankheitsbilde die Röntgenphotographie 
Aufklärung schaffen werde. Er selbst hat unter 60100 chirurgischen 
Kranken die Affection 40 mal beobachtet, l’ractisch wichtig ist die Verkürzung 
der Concavität des Schenkelhalses, die Einrollung desselben nach unten 
und die dadurch bedingte Annäherung des Femurkopfes in den Trochanter 
minor. Dem entspricht nicht stets Verlängerung der oberen Seite des 
Schenkelhalses, derselbe kann in toto verkürzt sein. Das Becken er¬ 
scheint in den Skibgrammen öfter asymmetrisch, die untere Beckenapertur 
verkleinert. Die gleichzeitig vorkommenden Belastungsdifformitäten 
sind ätiologisch wichtig. Er hat 2 Fälle operirt und zwar mit Keilex- 
cision nach Kraske. Der eine Patient ist geheilt, der andere, bei dem 
wegen Eiterung später Resection des llumeruskopfes gemacht werden 
musste, nicht. In Fällen von erheblicher Kürze des Schenkelhalses ist 
die lineäre Osteotomie nach Rüdinger der Keilexcision vorzuziehen. 

Hr. Nässe-Berlin bat mit der Kraske'schen Methode keine guten 
Resultate erzielt. Er bat 5 Fälle operirt. Weder bei der lineären 
noch der keilförmigen Osteotomie ist zu erreichen, dass die Meisseldächen 
nicht wieder weit auseinanderfallen. Die extracapsuläre Osteotomie ist 
überhaupt nur möglich, wenn der Schenkelhals nicht zu stark verkürzt 
und torquirt ist. Wird aber nicht extracapsulär operirt, so wird die 
durch die Operation geschaffene anfängliche Verbesserung sehr bald durch 
die auf die Gelenkeröffnung folgenden secundären Veränderungen wieder 
aufgewogen. Für schwere Fälle passt die Resectio coxae, die allein auch 
die Schmerzen mit Sicherheit beseitigt. 

Hr. König-Berlin warnt davor, Schlüsse aus einmaliger Photo¬ 
graphie des Hüftgelenkes zu ziehen. Ausserordentlich viel kommt auf 
die Rotationsstellung des Beines an. 

Hr. Lexer-Berlin spricht über einen 13jährigen Schüler, bei dem 
die Bestimmung der Lage einer Kugel mittelst Röntgen-Strahlen grosse 
Schwierigkeiten machte. Schluck- und zunehmende Kehlkopfbeschwerden 
nach einem Schuss vor 3 Jahren in die rechte Halsseite veranlassen die 
Röntgenaufnahme. Nach dieser sass die Kugel vor der I Rippe in den 
Weichtheilen des Halses. Die Incision erreichte die Kugel nicht, erst 
die spätere Durchleuchtung von den verschiedensten Seiten, wobei die 
jedesmaligen Punkte, wo die Kugel erschien auf dem Hals markirt werden, 
zeigte die Lage der Kugel hinter dem Ouerfortsatz des I Brustwirbels 
und ermöglichte die Entfernung. 

Hr. Sonnenburg: Beiträge zur operativen Behandlung 
hochsitzender Mastdarmstricturen. 

8. macht für die operative Behandlung hochsitzender Mastdarm- 
stricturen folgenden Vorschlag. 

1. Bei ausgedehnten syphilitischen (resp. gonorrhoischen) Stric- 
turen wird der Kranke auf die Seite gelegt und wie bei der Exstirpation 
des Mastdarms so viel vom Steissbein und Kreuzbein weggenommen, bis 
die callösen, die Strictur umgebenden Massen freiliegen. Dann werden 
dicht von aussen nach innen bis in das Lumen hinein gespalten mit 
Schonung des Sphincters. Die tamponirte Wunde heilt langsam in 
Monaten aus, durch Narbenzug werden gesunde Darmtheile nach abwärts 
gezogen und das Lumen zeigt sich nach Jahren noch gut. Diese vom 
Redner als Rectotomia externa bezeichnete Operation ist in Fällen aus¬ 
zuführen, wo die Exstirpation wegen des Sitzes und der Ausdehnung 
der Strictur nicht gut ausfürbar ist. Das Verfahren ist einfach und der 
Rectotomia interna vorzuziehen. Eine nachträgliche Behandlung mit 
Bougies ist in der ersten Zeit bis zur Heilung nöthig. Letztere erfolgt 
zunächst meist mit Bildung einer kleinen Fistel (in der Mitte der Narbe). 
Diese pflegt aber nach Monaten zu schwinden. Die erste derartige 
Operation machte S. vor 6 Jahren, das Lumen des Mastdarms blieb 
jahrelang gut, seitdem methodisch in geeigneten Fällen. 

2) Bei hochsitzenden carcinomatösen Stricturcn in der Gegend 
des rectalen Endes des Flexura sigmoidea an der Basis des Kreuzbeins 
hat S. bei einem Kranken, bei dem bereits wegen des Leidens die Co- 
lotomia in der rechten Seite gemacht war, die Exstirpation der Strictur 
mit Ersatz durch ein combinirtes Verfahren gemacht. Durch die Lapa¬ 
rotomie und Trennung der parietalen Abschnitte der Peritoneums in der 
Umgebung des fast am Kreuzbein haftenden Tumors konnte derselbe 
gelockert und mobilisirt werden. Dann wurde der Kranke auf die Seite 
gelagert, der Mastdarm völlig freigelegt, am Sphincter durchschnitten 
and durch denselben soweit vorgezogen (durch allmähliges Nachhelfen 
vom Bauch aus) bis das Carcinom ausserhalb des Sphincter ani lag. 

Dann wurde der Darm abgeschnitten und am Sphincter befestigt. 
Entfernt wurden ca. 22 cm Darm. Gute, wenn auch langsame Heilung 
der grossen Wundhöhlen. (Krankenvorstellung). Die Operation erfolgte 
vor 14 Monaten (Februar 1896). Der Patient im besten Wohlsein. 

Hr. Trendelenburg-Bonn schneidet bei hochsitzenden Tumoren 
des Mastdarms, die noch etwas beweglich sind, den peritonealen Ueber- 
zug über der Geschwulst ein, löst dieselbe von der Umgebung mit dem 
Finger weit hinab bis zum Levator ani ab, schneidet das Mesocolon 
etwas ein und schiebt nun den gelockerten Tumor, den der ins Rectum 
eingeführte Finger des Assistenten abwärts zieht, nach unten. So tritt 


ein Rectalprolaps mit der Neubildung auf der Spitze ein, die Resection 
gelingt ohne Peritonealeröffnung. 

Ilr. Küster-Marburg vermeidet Mastdarmflstel und Anus praeter¬ 
naturalis, indem er die aufgegangene Wunde secundär mit Silberdraht, 
oft wiederholt näht. Ist die Mastdarmwand mit der Umgebung schon 
verklebt, löst er bie mit dem Messer. 

Auch Hr. Hofmeister-Tübingen konnte in einem Falle wie 
Trendelenburg operiren. 

Hr. Rieder-Bonn: Zur Pathologie nnd Therapie der 
Mastdarmstricturen. R- hat 17 durch Operation gewonnene Präpa¬ 
rate aus den Eppendorfer Krankenanstalten mittels der neuen Weigert- 
schen Methode zur Darstellung des elastischen Gewebes untersucht, um 
über 3 Fragen Aufklärung zu erhalten. 1. Giebt es Stricturen auf 
luetischer Basis? 2. Kann man dieselben mikroskopisch erkennen? 
3. Warum treten luetische Stricturen in so hohem Procentsatz gerade 
bei Frauen auf? Das mikroskopische Bild zeigte 1. normale Arterien, 

2. hochgradig veränderte Venen, 3. Gummata, 4. Zellinflltration, theils 
diffus, theils circumscript, in Zusammenhang mit der Venenerkiankung; 
zum Theil sind die Zellhaufen nur Venen, deren Lumen durch Binde¬ 
gewebe verschlossen ist. Diese hochgradige Erkrankung der Venen ist 
das Hervorstechendste, einmal die Ezdo-, Peri- und Mesophlbitis, doch 
Anden sich diese auch bei anderen Erkrankungen, vor allem aber die 
diffuse Venosklerose, der er eine besondere Bedeutung beilegt. Dass 
die Venen in schwerer Weise erkranken, während die Arterien lange 
Jahre verschont bleiben, fand R. bei allen syphilitischen Processen, vom 
Primäraffekt an, der nach Weigert behandelt, sich aus zellig inflltrirten, 
zellig verschlossenen Venen bestehend darstellt, bis zu den tertiären 
Veränderungen. Luetische Ulcera der hinteren Commissur sind bei 
luetischen Frauen sehr häufig. Die Venen leiten den Krankheitsprocess 
in das Beckenbindewebe fort, es entsteht die perirectale Infection und 
erst wenn die Mucosa nicht mehr geeignet ernährt wird, entsteht der 
Ulcus, das tertiäre Geschwür. R. fasst die erhaltenen Resultate dem¬ 
entsprechend zusammen: 

1. es giebt eine Strictur des Mastdarms auf luetischer Basis, 

2. sie ist mikroskopisch zu erkennen als solche, 

3. das häufige Vorkommen bei Frauen erklärt sich durch die be¬ 
sondere anatomische Beschaffenheit ihrer Unterleibsorgane. 

(Fortsetzung folgt.) 


VIII. Literarische Notizen. 

— Von dem Virchow'sehen Jahresbericht (Red.: E. Gurlt und 
C. Posner) für das Jahr 1896 liegen bereits die zwei ersten Liefe¬ 
rungen abgeschlossen vor. Die Anordnung des Berichts ist in allen 
Hauptpunkten die gleiche geblieben, nur ist einem, in neuerer Zeit immer 
mehr an Wichtigkeit gewinnenden Gebiet ein besonderer Abschnitt ein¬ 
geräumt worden, der Unfallgesetzgebung, über welche Geh. Med.- 
Rath Wiebecke-Frankfurt a. O. das Referat übernommen hat. Von 
Veränderungen im Bestände der Mitarbeiter ist zu erwähnen, dass neu 
eigetreten sind: Priv.-Doc. Dr. Loewy, der in Gemeinschaft mit Sal- 
kowski die physiologische Chemie bearbeitet; Dr. SchelIong-Königs¬ 
berg fiir Wern ich (medic. Geographie); Oberstabsarzt Dr. Langhoff 
für Villaret (Militärsanitätswesen); Oberarzt Dr. Kümmell-Hamburg 
für Koerte (chirurg. Krankheiten am Unterleibe); Prof. Lesser-Berlin 
fiir G. Lewin (Hautkrankheiten); Dr. Joachimsthal ist neben Prof. 
Wolff als Mitarbeiter für die chir. Krankheiten der Bewegungsorgane 
hinzugekommen. 

— Im Verlag von Georg Reimer hierselbst wird unter Redaction 
von A. Bettelheim in Wien ein biographisches Jahrbuch und deut¬ 
scher Nekrolog als neue Folge der biographischen Blätter erscheinen. 
Es wird gebeten, auch ohne besondere Aufforderung, geeignete hand¬ 
schriftliche and gedruckte Materialien an den Herausgeber oder die Ver¬ 
lagsbuchhandlung gelangen za lassen. 


IX. Praktische Notizen. 

Therapeatisehei Bad InUilcatiBnea. 

M. Saenger in Magdeburg empfiehlt den Gebrauch des Fluidextracts 
von Hydrastis. canadensis bei Bronchialkatarrh (Centralbl. f. inn. Med. 
17). Er rühmt dem Mittel eine bedeutende Verminderung des Hustenreizes, 
Erleichterung der Expectoration, Beeinflussung der Secretion (dünn¬ 
flüssigere, mehr schleimige Secrete statt der eitrigen), Abnahme der 
physicalisch wahrnehmbaren Erscheinungen des Bronchialkatarrhs nach. 
Speciell die beruhigende Wirkung hält er fiir nachhaltiger und im End¬ 
effect grösser, als diejenige der Opiate; die expectorirende sei der der 
anderen Expectorantien und Solventien mindestens gleich. Bei Behand¬ 
lung der Phthisiker sei man durch die Anwendung der Hydrastis. in 
Stand gesetzt, auf Opium und Morphium fast vollständig zu verzichten. 
Die Dose beträgt bei Erwachsenen 4mal täglich 20—25—30Tropfen in 
Zuckerwasser. 


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416 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. No. 19. 


Courmont theilt neue Versuche über die immunisirenden Eigen¬ 
schaften des Marmorek’scben Streptokokkenserums mit (Lyon med., 
25. Avril). Er fand zwar, im Gegensatz zu Koch und Pctruschky, 
deutlich immunisirende Wirkung gegenüber Streptokokkenculturen — 
aber, in Uebereinstimmung mit genannten Autoren nicht gegen Strepto¬ 
kokken, die aus Erysipel gezüchtet waren; im Gegentheil erlagen hier 
die vorgeimpften Thiere rascher, als die Controltbiere. Er neigt daher 
zu der Annahme, dass doch ein Artenunterschied zwischen gewöhnlichen 
und Erysipelstreptokokken bestehen möge. 


Lukasiewicz empfiehlt zur Behandlung der Syphilis intra- 
musculäre 5 proc. Sublimatinjectionen (Wiener klin. W. No. 16). 
Er hat dieselbe angewandt in 461 Fällen. Von den Primäraffecten und 
wachsenden Papeln am Genitale angefangen bis zu den schwersten Haut¬ 
exanthemen bildeten sich alle succalenten und trockenen Hauteruptionen 
unter dieser Behandlung vollkommen zurück, und zwar vollzog sich die 
Rückbildung der Lueserscbeinungen verhältnissmässig viel rascher als 
unter Anwendung der unlöslichen Präparate. Die gewöhnliche Zahl der 
Einspritzungen bei Behandlung der ersten Eruption variirte zwischen 10 
und 12. Locale Reizerscheinungen oder sonstige Nebenerscheinungen, 
wie Stomatitis, Enteritis, Albuminurie, wurden niemals beobachtet. L. 
giebt seiner Methode den Vorzug vor allen anderen in Folge der Ex- 
aetheit der Dosirung und in Folge ihrer energischen und ein¬ 
greifenden Wirkung. Vor den unlöslichen Quecksilberpräparaten 
hat sie den Vorzug einer raschen intensiven Heilwirkung und einer ge¬ 
ringeren Injectionszahl, ohne die bei jenen Präparaten vorkommende 
Gefahr einer cumulativen Wirkung infolge von Hg Ansammlung im Or¬ 
ganismus mit schubweiser Resorption darzubieten. Vor der Inunctionscur 
hat sie den Vortheil, dass sie in allen Fällen anwendbar ist, während 
erstere in zahlreichen Fällen von übermässiger 8chweissabsonderung oder 
Reizbarkeit der Haut undurchführbar oder in Fällen, wo die Hornschicht 
stark entwickelt ist, wie bei den Arbeitern, wenig wirksam ist. 


In der Wiener dermatologischen Gesellschaft demonstrirte Kaposi 
ein junges Mädchen, bei dem durch Beleuchtung mit Röntgenstrahlen 
die Haare eines ausgebreiteten Naevus pilns zum Ausfallen 
gebracht wurden (W. klin. W. No. 16). An den beleuchteten Stellen 
war nach etwa 14 Tagen eine erythematöse Entzündung aufgetreten. K. 
schreibt die Wirkung der X-Strahlen hauptsächlich den chemisch wirken¬ 
den ultravioletten Strahlen zu, die eine Hyperämie und später eine 
dauernde Parese der Gefässe veranlassen, und zwar machen die X- 
Strahlen im Gegensatz zu den Sonnenstrahlen ihre Wirkung hauptsäch¬ 
lich geltend auf die tiefliegenden Gefässe um die Haarpapillen und Talg¬ 
drüsen. Wenn diese Gefässe ihren Tonus wieder erhalten, so vermuthet 
Kaposi, dass dann auch wieder normale Haarbildung eintreten würde, 
und in der That sind bei der vorgestellten Pat. die Haare am Hinter¬ 
haupt alle nachgewachsen. 


X. Tagesgeschichtliche Notizen. 

Berlin. In der Sitzung der Berliner medicin. Gesellschaft 
am 5. d. M. machte Herr R. Virchow einige Mittheilungen über den 
XII. Internationalen med. Congress, speciell über die Erledigung der 
Passfrage, und über die Errichtung des Johannes Müller-Denkmals 
in Coblenz; eine Beitragsliste hierfür circulirte, weitere Beiträge nimmt 
Herr Anders entgegen. Herr A. Baginsky demonstrirte zwei Prä¬ 
parate — ein colossales Nierensarkom und einen Hirntumor von Kindern. 
Darauf hielt Herr Heubner den angekündigten Vortrag über Säuglings¬ 
pflege und Säuglingsasyle; zur Discussion, deren Fortsetzung vertagt 
wurde, sprach Herr H. Neumann. 

— In der Sitzung der Gesellschaft der Charitc-Aerzte vom 
6. d. M. hielt Herr Senator einen Vortrag über klimatische Curen, in 
dem er die einzelnen Factoren des Klimas in ihrer hygienischen und 
therapeutischen Bedeutung erörterte. (Disc. Herr Huber, Senator). 
Herr Jacoby und sodann Herr Blumreich berichteten über die Er¬ 
gebnisse gemeinsamer experimenteller Untersuchungen über Infections- 
krankheiten nach Milzexstirpation. (Disc. Herr Jacob, Jacoby). 

— Die Meldungen deutscher Aerzte zur Theilnahme am XII. Inter¬ 
nationalen Congress in Moskau gehen jetzt zahlreich ein. Wir 
machen nochmals darauf aufmerksam, dass die Zahlung des Mitglieder¬ 
beitrags an den Schatzmeister des Comitcs, Herrn San.-Rath Dr. Bartels, 
Berlin W., Carlsbad 12 18, alle anderweitigen Mittheilungen oder An¬ 
fragen aber an den Schriftführer, Prof. Posner, SW. Anhaltstr. 7 
zu richten sind. 

— Die vom Ministerium berufene Commission zur Berathung der 
Med icinalreform hielt dieser Tage ihre Sitzungen ab. Soviel be¬ 
kannt wird, wurde der Grundzug der Reforravorschläge, die Verbesserung 
und Erweiterung der Stellung des Kreisarztes allgemein gebilligt, wäh¬ 
rend über die Abgrenzung seiner Functionen, speciell in Bezug auf die 
gerichtliche Medicin und die Ausübung der Privatpraxis, ebenso wie über 
die Errichtung der einzelnen Instanzen, Orts-, Bezirks- und Kreisgesundheits¬ 
rath, die Meinungen getheilt waren. Es wäre sehr zu wünschen, dass 
über die geführten Verhandlungen, die ja den Ausgangspunkt weiterer 


Berathungen bilden werden, amtlich eingehend berichtet würde; die 
Frage ist wichtig genug, um ihrer Entwickelung in allen Stadien die 
öffentliche Aufmerksamkeit zuzuwenden und die Stimmen möglichst vieler 
Interessenten zu hören. 

— Zu Professoren ernannt sind die Herren Priv.-Doc. Dr. E. (Jra- 
witz, Oberarzt am Charlottenbnrger Krankenhaus; Conr. Alexander 
in Breslau; K. Schnchardt, Oberarzt am Krankenhaus zu Stettin. 

— Die österreichische PeBtcommission, die am 21. Februar in Bombay 
eingetroffen war, hat ihre Thätigkeit daselbst bereits beendet und sollte 
sich, wie die Wien. klin. Wochenschr. berichtet, am 1. Mai nach Europa 
einschiffen. Als Grund wird das Erlöschen der Pest in Bombay, sowie die 
Verminderung und Zersplitterung des Untersuchungsmaterials in Folge 
Bestehens von 4L Pesthospitälern angegeben. Von den Resultaten der 
Untersuchung wird vorläufig berichtet, dass man im Blut von Patienten 
nahezu immer, im Urin und Sputum häufig, dagegen in den Fäces nie 
Pestbacillen nachzuweisec vermochte. Es konnten 41 Sectionen gemacht 
werden, bei denen u. a. festzustellen war, dass das Virus nicht nur 
durch die Haut, sondern auch durch die Athmungsorgane einzudringen 
vermag; ob durch die Verdauungsorgane, scheint, trotz gelungener 
Fütterungsversuche an Thieren, zweifelhaft. Die Wahrnehmungen der 
Commissionsmitglieder über Behandlung bezw. Immunisirung mit Haff- 
kine’s oder Yersin’s Pestserum lauten nicht so günstig, wie nach den 
früheren französischen Mittheilungen hätte erwartet werden können. 

— Seitens des Wiener Aerztevereins war eine allgemeine Aerzte- 
versammlung einberufen, um über einen von diesem Verein eingebrachten 
Antrag zu berathen, wonach das Disciplinarrecht der Kammer sogar bis 
zur Suspendirung von der Praxis ausgedehnt werden sollte. Der An¬ 
trag wurde nach lebhafter Debatte abgelehnt. 

— Herr Dr. R. Wichmanu hat seinen Wohnsitz von Braunscbweig, 
wo er 9 Jahre lang als Nervenarzt thätig war, nach Ilmenau i. Thür, 
verlegt und hier die ärztliche Leitung der wohlbekannten Cur- und 
Wasserheilanstalt des vor einigen Jahren verstorbenen Sanitätsrathes Dr. 
Preller übernommen. 

— Auf die Gefahr hin, einem Aprilscherz Vorschub zu leisten, 
möge folgende Einsendung ihren Platz finden: 

„Der Segen der Anzeigepflicht der Aerzte bei ansteckenden Krank¬ 
heiten. — Nachdem in Ks., einer Stadt der Niederlausitz von 30 043 
Einwohner ärztlicherseits die Anzeige einiger vorgekommenen Typhus¬ 
fälle bei der Polizeiverwaltung gemacht war, sah sich auch die Be¬ 
hörde veranlasst, ihrer Pflicht getreulich nachzukommen. 8ie setzte 
daher Bofort fest, dass die Stühle vor allem desinfleirt werden müssten. 
Die wohlweise Polizei erschien denn auch mit einem Stadtarbeiter in 
der KrankenwohnuDg und waltete ihres Amtes gewissenhaft. In einem 
grossen Eimer mischte der Arbeiter Wasser und Kalk kunstgerecht zn 
einem mässig dicken, anstrichfertigen Brei zusammen und — pinselte 
damit nicht nur die Stühle, sondern auch Tische, Bcttgestelle, Spinde 
gleichmässig an. Das Protestiren der Angehörigen ob dieses weissen 
Ueberzuges ihres gesammten hölzernen Mobiliars half nichts, der Mann 
des Gesetzes waltete seines Amtes und führte seinen Auftrag auf das 
Glänzendste aus. In Kurzem strahlte das Zimmer in blendender 
Weisse. Nur ein Stuhl, den die pflegende Diaconissin für sich gerettet 
hatte, blieb von dem Pinsel verschont. Ein Segen war noch bei diesem 
Desinfectionsmanöver, dass man Abstand genommen, die Stühle etc. mit 
Chlorkalk anzupinseln. 

So glanzvolle, leuchtende Erfolge werden selten durch behördliche 
Desinfectionen erreicht werden!“ 


XI. Amtliche Mittheilungen. 

Peraonalla. 

Auszeichnungen: Kronen-Orden III. Kl.: dem Kreis-Physikus a. D. 
Dr. Seyferth in Langensalza. 

Rother Adler-Orden IV. Kl.: dem ßanitätsrath Dr. Grüner 
in Pyrmont. 

Schwerter zum Ritterkreuz I. Kl. des Herzogi. Braun¬ 
schweigischen Ordens Heinrichs des Löwen: dem Ober- 
Stabsarzt I. Kl. Dr. Spie8, Reg.-Arzt des 2. Rhein. Husaren-Regts. 
No. 9. 

Prädikat als Professor: den Privatdocenten Stabsarzt Dr. 
Ernst Grawitz in Berlin und Dr. Alexander in Breslau; dem 
Director des städtischen Krankenhauses Dr. Schuchardt in Stettin. 

Niederlassungen: die Aerzte Dr. 0 verthun in Waltrop, Dr. Floret, 
Dr. Tlioenes und Dr. Klein in Bonn, Dr. Heyse und Dr. Koppert 
in Erfurt, Dr. Keferstein in Lüneburg. 

Verzogen sind: die Aerzte Dr. Gru et er von Würzburg nach Sömmerda, 
Dr. Wetzler von Erfurt nach Augsburg, Dr. Fahrwick von Bonn 
nach Leipzig, Dr. Scholz von Bonn nach Waldbroel, Dr. Reuter 
von Cöln-Dentz nach Kalk, Dr. Fricke von Döhren nach Hannover, 
Dr. Rosenberg von Bunde nach Hannover, Dr. LUtgert von Brack- 
wede nach Gadderbaum, Dr. Kötter von Düsseldorf nach Brackwede. 

Gestorben sind: die Aerzte Dr. Succow in Neustettin, Dr. Fluegge 
in Riigenwalde, Dr. Palm in Bornbeim, Kreiswundarzt Dr. Wein¬ 
reich in Heiligenstadt, Medicinalrath Dr. Menger in Berlin. 


Für die Redaction verantwortlich Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald, Lütxowplata 5. 


Verlag und Eigenthum von August Hirschwald in Berlin. — Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin. 


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tMe BciUnri Wochenschrift erscheint jeden 

Monteg ln der *"***• von 3 bis 3 Bogen gr. 4. — 
Preis viertelJnl» T " c * 1 6 Mark. Bestellungen nehmen 
alle Buchl»* n dlungen und Postanstalten an. 


BERLINER 


Einsendungen wolle man portofrei an die Redactloh 
(W. LQtzowplatz No. 5 pur.) oder an die Verlags¬ 
buchhandlung von August Hirschwald ln Berlin 
N.W. Unter den Linden No. 68, adressiren. 


KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Organ für practische’ Aerzte. 


Mit Berücksichtigung der preussischen Medicinalverwaltung und Medicinalgesetzgebung 

nach amtlichen Mittheilungen. 

Redaction: Expedition: 

Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald und Prof. Dr. C. Posner. August Hirschwald, Verlagsbuchhandlung in Berlin. 


Montag, den 17. Mai 1897. 


M 20 . 


Vierunddreissigster Jahrgang. 


I N H 

I. D. Hansemann: lieber Akromegalie. 

II. Aas der inneren Abfheiiung des Herrn Geheimrath Ewald am 
Augusta-Hospitai in Berlin. Leop. Kuttner und Dyer: Ueber 
Gastroptose. 

III. Aus dem städt. Krankenhause in Frankfurt a. M., Abtheilung des 
Professors von Noorden. G. Herxheim er: Untersuchungen über 
die therapeutische Verwendung des Kalkbrodes. 

IV. Arnold Sack: Ueber die Multiplicität des syphilitischen Primär- 
affectes. 

V. Kritiken und Referate. Möbius: Gesichtsschwund; Oppen¬ 
heim: Syphilitische Erkrankungen des Gehirns. (Ref. Westphal.) 
Stacke: Freilegung der Mittelohrräume. (Ref. Rudloff.) 

VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Gesellschaft der 
Charite-Aerzte. Westphal: Tabes mit Herpes Zoster. Volk- 


I. Ueber Akromegalie. 

Von 

Professor D. Hansemann. 

(Vortrag gehalten in der Hufeland'schen Gesellschaft am 21. Januar 1897.) 

M. H.! Wenn ich mir erlaube, hier Uber Akromegalie zu 
reden, so muss ich zuvor bemerken, dass der Fall, auf den ich 
mich beziehen werde, zu meinem Bedauern nicht so eingehend 
untersucht werden konnte, wie es seine Wichtigkeit erfordert 
hätte. Der Grund dafUr liegt darin, dass die Anverwandten der 
Patientin jede äusserlich sichtbare Entstellung der Leiche ängst¬ 
lich vermieden sehen wollten. Es konnten daher gerade die 
peripherischen Theile, anf die es besonders angekommen wäre, 
nicht genauer anatomisch untersucht werden und ich kann Ihnen 
daher auch nur wenige Skeletttheile vorlegen. 

Der Fall betrifft eine 46jährige Frau, die unter der Diagnose Dia¬ 
betes mit Furunculose zur Section kam. Aus der Anamnese ist sehr 
wenig zu berichten. Der Vater ist sehr alt geworden, die Mutter im 
Wochenbett gestorben. Geschwister leben angeblich und sind gesund. 
Die Patientin Belbst hat mit 17 Jahren einen Typhus durchgemacht. Sie 
hat zwei Kinder geboren, von denen eines mit 18 Wochen starb. Das 
andere, eine Tochter, ist verheirathet und gesund. Ausserdem hat die 
Pat. mehrere Male abortirt. Seit 4 Jahren ist die Frau krank gewesen. 
Zuerst traten in Folge einen Schreckens Krämpfe auf. Dann stellten 
sich Polyurie, Polydipsie, Abmagerung und Schwäche ein. Sie consul- 
tirte verschiedene Aerzte, die den Diabetes bei ihr feststellten. Der 
Urin enthielt bis zu 8 pCt. Zucker, war aber zuweilen auch ganz frei 
davon. Am 14. X. 96 kam sie in's Krankenhaus am Fricdrichsbain und 
musste wegen ihrer Furunculose auf die chirurgische Abtheilung aufge¬ 
nommen werden. Der Zustand steigerte sioh bald zum Coma, in dem 
sie am 28. X. starb. 

Bei der äusseren Betrachtung der Leiche fiel sofort der ungewöhn¬ 
liche, hexenhafte Ausdruck ihres Gesichtes auf. Die Nase war weit 
vorspringend, ihre Länge 5,6 cm, die Breite 3,1 cm, die Elevation 3 cm. 
Obgleich sie wegen der ausserordentlichen Abmagenrng eher einen 
Bpitzen Eindruck machte, so fühlte sie sich doch ausserordentlich fleischig 
an. Auch das Kinn sprang stark vor, der Unterkiefer war mächtig ent¬ 
wickelt, der AlveolarfortBatz aber durch das vollständige Fehlen der 


ALT. 

mann: Anatomische Präparate. Rüge: Angeborene Pulmonal¬ 
stenose. Israel: Tod der Zelle. — Berliner raedicinische Ge¬ 
sellschaft. Sauer: Maltonwein. Gottschalk: Einfluss des 
Wochenbettes auf cystische Eierstockgeschwülste. Baginsky: 
Maligne Tumoren. Heubner: Säuglingsernährung lind Säuglings¬ 
spitäler. — Aerztlicher Verein zu Hamburg. Alsberg, Wie¬ 
singer, Pluder, Kümmell, Grünberg, Schmilinsky, Sick, 
Simraonds: Demonstrationen. 

VII. Wiener Brief. 

VIII. 26. Congress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. (Fort¬ 
setzung.) 

IX. Literarische Notizen. — X. Praktische Notizen. 

XI. Tagesgeschiohtliche Notizen. 

XII. Amtliche Mittheilungen. 


Zähne stark reducirt, so dass eine eigentliche Prognathie nicht bestand. 
Soweit sich von aussen constatiren liess, waren die Oberkieferknochen 
ohne besondere Veränderung. 

Die Hände waren von ungewöhnlichen Dimensionen, die um so 


mehr hervortraten, als die ganze Leiche nur 1,45 m 
der Messung ergaben sich folgende Zahlen: 

Läge maass. Bei 

Rechte Hand 



Länge (bis zur Spitze des Mittelfingers) 

17,0 cm: 


Breite (an der Basis der Finger) 8,5 cm; 

(an der Basis 
des Nagels) 

Daumen - Länge (von d. Handwurzel) 

12 cm; 

Umfang 6,7 cm 

Zeigefinger „ „ „ 

6,7 * 

n 5,9 „ 

Mittelfinger „ „ „ „ 

7,4 . 

n 5,7 „ 

Goldfinger „ * „ „ 

6,7 „ 

„ 5,3 n 

Kleiner Finger „ „ n 

Linke Hand: 
Länge 17 cm, Breite 8,8 cm. 

Daumen - Länge (von d. Handwurzel) 

5,5 * 

n 5,0 „ 

11,8 cm; 

Umfang 6,9 cm 

Zeigefinger „ „ „ * 

6,7 „ 

» 5,4 fl 

Mittelfinger * „ „ „ 

7,5 „ 

n 5,7 fl 

Goldfinger „ „ „ 

6,6 „ 

* 5,1 fl 

Kleiner Finger „ „ „ * 

5,4 „ 

* 4,7 fl 

Daraus geht hervor, dass die Länge der Knochen nicht ungewöhn- 

lieh ist, wohl aber die Dicke der Finger. 

Man konnte deutlich Hyper- 

ostosen durchfühlen, besonders an den Endphaiangen, 

aber auch an den 


ersten und zweiten Phalangen waren sowohl die Gelenkenden als auch 
die Mittelstücke verdickt. Trotz der allgemeinen Abmagerung war der 
Hautüberzug dick, fest und derb. Die ganze Hand machte dadurch 
einen äusserat plumpen Eindruck. Jedoch waren die Endphalangen nicht 
geradezu kolbig angeschwollen, wie man das zuweilen bei Lungen- und 
Herzkranken findet. Die Nägel waren platt, vorne sehr breit, nicht 
krallenförmig nmgebogen, spröde und rissig. 

An den Füssen fehlte eine gleiche Verdickung ganz entschieden 
und dieselben zeigten durchaus nichts Ungewöhnliches. Auch au den 
langen Röhrenknochen waren, soweit sich dies von Aussen durchfühlen 
liess, weder eine Zunahme im Umfang noch in der Länge wahrnehmbar. 
Es ist daher überflüssig, die übrigen Messungen, die ich vorgenomraen 
habe, hier wiederzugeben. 

Neben zahlreichen Furunkeln xmd subcutanen zum Theil incidirten 
Abscessen fiel es bei der äusseren Betrachtung noch auf, dass der Kopf 
tief zwischen den Schultern sass, eine Erscheinung, die herbeigeführt 
wurde durch eine starke Kyphose im oberen Theile der Rücken* 
Wirbelsäule. 


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1 


418 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Bei der Section ergaben sieh weiter noch Exostosen an den Wir¬ 
beln, flache Exostosen und allgemeine byperostatiache Verdickung am 
Becken. Besonders sass an der Innenfläche der Symphyse eine breite 
Exostose. Das Schädeldach war in allen seinen Schichten verbreitert, 
besonders Lamina interna und externa, an erstcrer befanden sich auch 
frische Osteophyten. Die Schädelbasis nahm an dieser Verdickung in 
keiner Weise Theil und die Knochen des Keil- und Siebbeins waren 
sogar ungewöhnlich dünn. 

Bei der Herausnahme des Gehirns trat an der Stelle der Hypo- 
physis ein Tumor zu Tage von 3 cm Breite, 2 cm Höhe and 2.5 cm Dicke. 
Er hatte die Gestalt der Hypophysis und liess deutlich einen vorderen 
und hinteren Abschnitt, eine rechte und linke Hälttc erkennen. Die 
Farbe war hellrosa, etwas in’s Gelbliche, die Consistenz mittelweich. 
Mit dem Gehirn war der Tumor nicht eigentlich verwachsen, sondern 
hing mit demselben nur durch den gewöhnlichen dünnen Stiel der 
Hypophisis zusammen. Es waren daher auch keine wesentlichen Druck¬ 
erscheinungen an den entsprechenden Gehirntheilen wahrzunehmen nnd 
nur die Nervi optici waren leicht platt gedrückt, ohne jedoch deutlich 
atrophisch zu sein. Der Tumor hatte sich vielmehr ganz nach unten, 
nach dem Knochen zu, entwickelt, füllte die Keilbeinhöhle aus und 
durchbrach das Rachengewölbe, ohne indessen bis durch die Haut vor¬ 
zudringen. Entsprechend dieser Entwickelung befand sich hinter dem 
Ephippiura, das nach hinten etwas zurückgebogen war, eine grosse Höhle, 
die als Lager für die Geschwulst diente. Mikroskopisch bestand die¬ 
selbe aus grossen ovoiden Zellen mit feiner Intercellularsubstanz, starker 
Fettmetamorphose, sehr spärlichem Stroma und massiger Gefässcntwicke- 
lung. In allen Theilen zeigte sich dieselbe 8tructur, da man als sarco- 
matöse Struma der Hypophysis bezeichnen müsste. 

Von den übrigen Organen interessirt noch die Schilddrüse, die etwas 
vergrössert war. Die Seitenlappen, sowie der Mittellappen enthielten 
gleichmäasig grössere und kleinere kolloide Cysten. Aehnliche Bil¬ 
dungen, wie in der Hypophysis waren nicht vorhanden. Im Rachen und 
Oesophagus mässige Soorentwickelung, Zunge nicht verdickt. In beiden 
Lungen einige kleine käsige Herde. Herz braun, atrophisch. Thymus 
nicht vorhanden. Die Leber gross und weich, getrübt. Die Nieren 
gross, blass rosagelb mit grossen blutreichen Glomerulis und zahlreichen 
Abscessen in der Rinde. Nebenniere ohne Besonderes. Geschlechts¬ 
organe bis auf einen kleinen Uteruspolyp ohne Abweichung. Das 
Pankreas war 20 cm lang, 4,5 cm breit, 1,5 cm dick, 97 gr schwer. 
Es war also nicht auffallend atrophisch und zeigte nur an der Ober¬ 
fläche einige peritonitischen Verwachsungen. Mikroskopisch fand sich 
jedoch eine sehr erhebliche Vermehrung des Bindegewebes, wie ich sie 
häufig bei Diabetes gefunden habe und für manche Formen desselben 
für charakterittisch halte (.Zeitschr. f. klin. Med. Bd. XXVI, Heft 3 u. 4). 

Endlich ist noch zu bemerken, dass- der Halssympathicus auffallend 
dick erschien und dass sich bei der mikroskopischen Untersuchung eine 
Vermehrung des Bindegewebes fand, so dass der Querschnitt etwa um 
die Hälfte vergrössert war. 

Zunächst muss ich Einiges Uber die Diagnose erwähnen* 
Sie werden sofort sehen, dass die Erscheinungen nicht der Art 
waren, dass die Diagnose sofort in die Augen springt. Ich will 
auch aufrichtig gestehen, dass ich trotz der ungewöhnlichen 
äusseren Erscheinung nicht sofort an Akromegalie dachte und 
erst darauf hingefUhrt wurde, als sich der Hypophysistumor fand. 
Ich glaube aber doch, dass man diese Diagnose mit gutem Ge¬ 
wissen stellen kann, wenn man die Vorgefundenen Veränderungen 
resumirt: Verdickung der Finger durch Hyperostosen und Ver¬ 
dickung der Cutis, Exostosen verschiedener anderer Knochen, 
sämmtlich ohne Verlängerung derselben. Verdickung des Schädel¬ 
dachs ohne Betheiligung der Schädelbasis und der Oberkiefer¬ 
knochen. Starke Prominenz der Nase und des Kinns. Kyphose. 
Bindegewebige Verdickung des Sympathicus. 

Um Uber das Entstehen der Affection etwas Näheres zu 
hören, habe ich mich an diejenigen Aerzte gewandt, in deren 
Behandlung die Patientin sich früher befand, habe jedoch wenig 
in Erfahrung gebracht, da jeder der Herren die Frau nur kurze 
Zeit unter Augen hatte, und der Diabetes mit der Furunculose 
das Krankheitsbild durchaus beherrschten. Allen war das unge¬ 
wöhnliche Gesicht der Frau aufgefallen, das sich in keiner Weise 
auf ihre Tochter vererbt hatte. Nur Herr Grossmann theilte 
mir mit, dass er auf eine Nachfrage nach dem Tode der Frau 
von einer Bekannten derselben erfahren habe, dass ihre Finger 
dicker geworden wären, was auf Gicht bezogen worden sei. 
Die Verdickung unterschied sich jedoch von Gicht ganz charak¬ 
teristisch, wie ich besonders hervorheben will und erinnerte auch 
gar nicht an Arthritis deformans. Ausserdem soll die Frau in 
letzter Zeit geschielt haben. 


No. 20 . 

M. H.! Der Fall ist insofern interessant, als er das gleich¬ 
zeitige Vorkommen einer Anzahl von Erscheinungen darbietet, 
die auch bei anderen Fällen von Akromegalie häufig gefunden 
werden, den Hypophysistumor, die Struma und den Diabetes. 
Es giebt uns das Veranlassung, zu untersuchen, wie weit diese 
Dinge in Zusammmenhang gebracht werden können, oder ob sie 
nur zufällige Combinationen sind. Es wird Ihnen bekannt sein, 
dass man verschiedene Organerkrankungen für das Auftreten der 
Akromegalie verantwortlich gemacht hat. Zuerst war das die 
Thymusdrüse, doch hat sich bei allen weiteren Fällen so wenig 
von dieser ergeben, dass man bald allgemein ganz davon abge¬ 
sehen hat. Auch die Schilddrüse hat sich nicht in den über¬ 
wiegend meisten Fällen verändert gefunden. Dagegen besteht 
ein unzweifelhaft häufiges Zusammentreffen von Akromegalie nnd 
Hypophysisveränderungen. 

Aus der Literatur habe ich 97 Fälle von, soweit sich er¬ 
kennen lässt, sicherer Akromegalie zusammengestellt und wurde 
dabei wesentlich unterstützt durch die eingehenden Arbeiten 
Arnold’s Uber diesen Gegenstand (Ziegler’s Beiträge Bd. X und 
Virchow’s Archiv, Bd. 135). Unter den 97 Fällen sind 49 so 
wenig ausführlich mitgetheilt, dass sich für die hier vorliegende 
Frage nichts daraus ergiebt. Von den übrig bleibenden 48 Fällen 
zeigten 32 Erscheinungen von Hypophysiserkrankungen. Noch 
einleuchtender wird jedoch das Verhältniss, wenn man nur die¬ 
jenigen Fälle berücksichtigt, die zur Section kamen. Es waren 
das 15 und von diesen hatten 12 Hypophysisveränderungen, 
meist Tumoren. Die drei, die jedoch keine solche Veränderungen 
aufwiesen, waren folgende: zunächst der Fall von Sarbö (Neurol. 
Centralbl. 1893), der seiner ganzen Beschreibung nach als höchst 
zweifelhaft aufgefasst werden muss und vielleicht als partieller 
Riesenwuchs mit Syphilis zu deuten ist. Der 2. ist der erste 
Fall von Arnold (1. c.), der von Manchen und besonders von 
Marie nicht als echte Akromegalie anerkannt wird. Ich muss 
jedoch sagen, dass ich die gegen den Fall vorgebrachten Gründe 
nicht als unbedingt stichhaltig betrachten kann und denselben 
einstweilen noch zur Akromegalie rechne. Marie, der den 
Standpunkt vertritt, dass nur diejenigen Fälle echte Akromegalie 
darstellten, bei denen sich eine Hypophysisveränderung findet, 
nimmt dabei entschieden keinen ganz unparteiischen Standpunkt 
ein. Der 3. Fall ist der zweite von Virchow mitgetheilte (Ber. 
der Berl. med. Ges. 1895, S. 205), wobei dieser ausdrücklich 
erwähnt, dass bei der Section keine Specialnotiz Uber das Ver¬ 
halten der Ilypophysis aufgenommen worden sei. Der erste Fall 
von Virchow (Berl. klin. Wochenschr. 1889, No. 5) ist hier 
nicht mitgerechnet, da er allgemein als zweifelhaft betrachtet 
wird und auch bei ihm finden sich keine Angaben Uber das 
Verhalte’n der Hypopbysis. 

Das Verhältniss, dass sich also zwischen Hypophysisver¬ 
änderungen und Akromegalie ergiebt, ist nun ein solches, dass 
es doch wesentlich Uber eine zufällige Combination hinausgeht 
und dass wir einen inneren Zusammenhang zwischen diesen 
beiden Erkrankungszuständen statuiren dürfen. Ich glaube zwar 
nicht, dass wir schon so weit sind, sagen zu können, wie Marie, 
Akromegalie ist diejenige Erkrankung, die durch Veränderungen 
der Hypophysis hervorgebracht wird. So können wir auch nicht 
unbedingt sagen, dass Morbus Addisonii allein durch Degene¬ 
ration der Nebenniere, Myxoedem durch Veränderung der Schild¬ 
drüse zu Stande kommt. Zu einem solchen consequenten Schluss 
fehlt uns noch die ausreichende Kenntniss der Bedingungen. Aber 
einen Zusammenhang zwischen diesen Organerkrankungen und die¬ 
sen allgemeinen Erscheinungen können wir nicht füglich leugnen. 

Wenn wir auf diesem Standpunkt stehen, so müssen wir uns 
eine Vorstellung davon bilden, wie ein solcher Zusammenhang 
zu Stande kommen kann und dürfen uns nicht begnügen mit der 


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diffusen Vorstellung, dass durch den Tumor irgend ein Ceutrum 
getroffen werde, das die Regulirung des Wachsthums besorge. 
Ich habe schon vor einigen Jahren versucht, diese Dinge auf 
eine etwas breitere Basis zu stellen, indem ich zurllckgegangen 
bin auf diejenigen Verhältnisse, die sich bei der Entwickelung 
der mehrzelligen Thiere ergeben (Studien Uber die Specificität, 
den Altruismus und die Anaplasie der Zellen. Berlin 1893). 
Dabei bin ich zu folgenden Vorstellungen gekommen, die sich 
in KUrze so zusammenfassen lassen: Die Eizelle ist potentia 
gleich dem späteren mehrzelligen Köi'per, sie bietet fUr sich 
alles Nothwendige an Nahrungsaufnahme und Abgabe. Wenn 
sie anfängt sich zu theilen, so kann man diesen Vorgang sche¬ 
matisch durch zwei verschieden grosse Kugeln darstellen. Dabei 
ist es fUr das Schema ganz gleichgültig, ob es sich zunächst um 
aequale oder inaequale Furchungen handelt, denn bei den Thieren 
mit zuerst aequaler Furchung tritt die verschiedene Differenci- 
rung der Zellen später ein, es wird also schliesslich derselbe 
Effect erzielt. Wenn also zunächst das Schema zweier ver¬ 
schieden grosser Kugeln entsteht, so wird jede derselben nicht 
mehr ein Aequivalent des ganzen Körpers sein. Jede wird für 
sich nicht mehr allein existiren können, sondern sie ist auf die 
Thätigkeit der anderen mitangewiesen. Jede wird einen Theil 
der Secretion und einen Theil der Nahrungsaufnahme besorgen 
müssen und zwischen beiden muss ein Stoffaustausch stattfinden. 
Wenn sich nun später aus den zwei Kugeln eine ganze Reihe 
entwickelt, so bleibt das gegenseitige Verhältnis immer dasselbe. 
Jede einzelne ist abhängig von allen übrigen, und alle übrigen 
von jeder einzelnen. In Wirklichkeit entspricht jeder Kugel 
unseres Schemas eine Zellgruppe, oder, wie wir gewöhnlich 
sagen, ein Organ. Diese Art der Abhängigkeit habe ich als 
Altruismus bezeichnet, indem ich einen älteren Ausdruck 
Herbert Spencers auf die Zellen Übertragen habe. Nun 
müssen aber alle diese Zellen in ihrer Gesammtheit immer wieder 
die Eizelle repräsentiren und müssen sich in einem gegenseitigen 
Gleichgewicht befinden, so dass, wenn sich in unserem Schema 
der Kugelgruppe eine Kugel in zwei verschiedene Theile theilt, 
auch an den übrigen Thellungsvorgänge vor sich gehen müssen, 
um das Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. Auf die Noth- 
wendigkeit dieser Schlussfolgerung kann hier nicht näher ein¬ 
gegangen werden und muss ich dieserhalb auf die oben citirte 
Abhandlung verweisen. Es folgt nun aber aus dieser Betrachtung 
zweierlei. Einmal muss jedes Organ eine doppelte Function 
haben, eine negative, die etwas aus dem Körper herausbringt 
und eine positive, die etwas dem Körper zuflihrt. 1 ) Zweitens 


1) Herr Albu (Allgcm. med. Ctrlzt. 1895, No. 4, S. 39), der sieh 
mit einer Kritik meiner Anschauungen befasst hat, findet die Ausdrücke 
positive und negative Function sehr ungeeignet indem er sagt: „Ref. 
kann diese Unterscheidung nicht als eine glückliche bezeichnen. Die 
Secretion des Pankreassaftes erscheint mir ebensowenig als eine negative 
Leistung eines Organs, als die Verhinderung einer Functionsstörung als 
eine positive u. s. w. u Ich muss annehmen, dass Herr Albu meine 
ZeUatudicn entweder nicht gelesen, oder nicht verstanden hat. Es 
handelt sich gar nicht darum, ob eine secernirte Flüssigkeit im Körper 
wieder Verwendung findet oder nicht, sondern zunächst nur darum, dass 
sie aus dem Körper ausgeschieden wird. Das geschieht nun mit dem 
Pankreassaft, indem er an die Oberfläche des Darms gebracht wird. 
Indem das Pankreas seinen Saft producirt, entzieht es Etwas dem übri¬ 
gen Körper. Wenn dann dieser Saft auf der Darmoberfläche chemische 
Veränderungen des Speisebreies verursacht, so hat das mit der Thätig¬ 
keit des Pankreas nichts mehr zu thun, und ist dasselbe Verhältniss, 
wie wenn ein Thier die Excremente eines anderen als Nahrungsstoff 
benutzt. Im Gegensatz dazu habe ich die andere Function eine positive 
genannt weil dadurch Etwas in den Körper hineingebracht wird, und weil 
wir noch nicht wissen (wie Herr Albu ganz richtig sagt), wie das Pankreas 
den Diabetes verhindert, und durch diesen Ausdruck nichts präsumirt wird. 


419_ 

aber muss die progressive Entwickelung eines Organs die pro¬ 
gressive Entwickelung anderer Organe zur Folge haben. Im 
Gegensatz zur compensatoriscben Hyperplasie, bei der in Folge 
Zugrundegehens eines Organs ein anderes sich vergrössert, habe 
ich diesen Vorgang als altruistische Hyperplasie bezeichnet. 

Beide Folgerungen, die sich so ergeben, lassen sich durch 
zahlreiche Beispiele aus der normalen und pathologischen Physio¬ 
logie belegen. Dass manchen Organen eine doppelte Function 
zukommt, ist seit langer Zeit bekannt. Wir wissen, dass die 
Lunge Sauerstoff in den Körper hineinbringt und Kohlensäure 
eliminirt, Die Leber ist betheiligt an der Bereitung des Harn¬ 
stoffs und des Zuckers, sie eliminirt die Galle. Das Pankreas 
eliminirt den Bauchspeichel und verhütet durch seine positive 
Thätigkeit den Diabetes (secretion interne der Franzosen). Von 
anderen Organen kennen wir bisher diese doppelte Function nicht 
oder nur ungenau. So wissen wir von den Nieren Uber die 
positive Function nur sehr wenig, während uns die negative der 
Schilddrüse und der Nebenniere ganz unbekannt ist. Die al¬ 
truistische Hyperplasie können wir besonders deutlich bei der 
Entwickelung der Geschlechtsreife verfolgen. Mit der progres¬ 
siven Entwickelung der Geschlechtstheile entwickeln sich bei der 
Frau die Mamma, beim Manne der Kehlkopf und die Bart¬ 
haare, bei beiden Geschlechtern die Scham- und Axelhaare. 
Auch sonst erfährt der Körper mancherlei Veränderungen. 
Unterbleibt aus irgend einem Grunde die Entwickelung der 
Genitalien, so fehlen auch die consecutiven Veränderungen. Ich 
habe noch vor wenigen Tagen einen Mann secirt, dessen Hoden 
mangelhaft entwickelt waren. Derselbe hatte einen Kehlkopf 
von geringer Grösse und nur sehr spärlichen Bartwuchs. 

Wenn wir daraus nun auf die Akromegalie exemplificiren, 
so kommen wir zu dem Schluss, dass dieselbe der Ausdruck 
einer altruistischen Hyperplasie sein kann, indem die Geschwulst¬ 
bildung der Hypophysis eine Vermehrung des Knochengewebes 
und des Bindegewebes an gewissen Körperstellen erzeugt. Wenn 
ein ätiologischer Zusammenhang zwischen beiden Erscheinungen 
besteht, so sehe ich hierin vorläufig allerdings die einzige Mög¬ 
lichkeit, sich eine plausibele Erklärung zu schaffen. 

Bei diesen Betrachtungen wird natürlich jeder sofort an die 
Organtherapie denken uud ich selbst habe verschiedentlich von 
der altruistischen Thätigkeit der Organe auf die Organtherapie 
hingewiesen, zuletzt bei dem Congress für innere Medicin im 
vorigen Jahre (Verhandl. des Congresses 1896, S. 145). Ich 
möchte mein Erstaunen nicht ganz unterdrücken, dass ich bei 
dieser ganzen Frage von Keinem citirt werde und kann Manchem 
den Vorwurf nicht ersparen, dass er die Organtherapie vielleicht 
in rationellerer Weise anwenden würde, als dies vielfach ge¬ 
schieht, wenn die von mir entwickelten Theorien etwas mehr 
berücksichtigt würden. Es ist aber ein eigenes Zeichen unserer 
Zeit, dass nur die bacteriologischen Theorien einen Einfluss auf 
die Praxis ausüben, während im übrigen die Empirie glaubt sich 
Uber die Theorie einfach hinwegsetzen zu können. Bei al¬ 
truistischen Atrophien ist eine Organtherapie sicher durchaus 
rationell und deshalb sehen wir deren Erfolge beim Myxoedem. 
Theoretisch würde ich mir eine Aussicht auf Erfolg auch beim 
Morbus Addisonii und bei gewissen Formen des Diabetes ver¬ 
sprechen, wenn man die richtige Form der zu verabreichenden 
Mittel gefunden hat, d. h. den in diesen Organen wirksamen 
chemischen Körper. Dagegen würde ich niemals auf die Idee 
kommen, bei der Basedowschen Krankheit eine Organtherapie 
einzuleiten, da hier in der Regel die Schilddrüse in einer Weise 
verändert ist, dass man daraus auf eine zu starke Thätigkeit der 
Drüse schliessen kann. Man w'ird also hierbei sogar unter 
Umständen das Leiden durch die Organtherapie verschlimmern 
können. Dasselbe gilt von der Akromegalie. Auch hier hat 

1 * 


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No. 20. 


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man versucht, Hypophysisextract als therapeutisches Mittel zu 
verabreichen, wie sich erwarten liess, ohne jeden Erfolg. 

Wir haben zum Schluss noch zu besprechen, wie weit 
zwischen der Struma und dem Diabetes einerseits und der Akro¬ 
megalie andererseits ein Zusammenhang gedacht werden kann. 
Was die Struma betrifft, so glaube ich, dass auf deren Vor¬ 
kommen bei Akromegalie ein zu grosses Gewicht gelegt worden 
ist. Unter den 97 von mir durchgesehenen Fällen finde ich 
20 mal eine meist nur geringe Struma verzeichnet. Ich glaube, 
dass man daraus vorläufig keinen bestimmten Schluss ziehen 
kann, und dass man abwarten muss, ob sich bei weiteren Beob¬ 
achtungen ein näherer Zusammenhang ergiebt. Einstweilen sehe 
ich dazu keine besondere Aussicht, da leichte Formen der Struma 
selbst in kropffreien Gegenden doch eine zu häufige Erscheinung 
sind, dass man dieselbe auch als zufällige Combination auf¬ 
fassen kann. 

Anders steht es jedoch mit den Diabetes. Wir wissen, dass 
es zu den Erscheinungen der Akromegalie gehört, dass sich an 
verschiedenen Stellen des Körpers bindegewebige Wucherungen 
entwickeln. Wir sehen solche in der Haut und in den Nerven 
auftreten. Nun habe ich, wie schon erwähnt (l. c.), solche 
Bindegewebswucherungen bei gewissen Formen des Diabetes 
ziemlich regelmässig gefunden und auch in den vorliegenden 
Fällen haben sich solche ergeben. Ich halte es also wohl für 
möglich, dass ein innerer Zusammenhang zwischen der Akro¬ 
megalie und dem Diabetes besteht. Unter den 97 Fällen sind 
allerdings nur 12 mit Diabetes verzeichnet, aber es sind das 
gerade solche, die mit am besten beobachtet waren. Ferner 
fällt auch in’s Gewicht, dass Diabetes doch ein weit seltener 
Zustand ist als geringe Grade von Struma und auf die Struma 
fast in allen Fällen geachtet war, der Ham aber in vielen gar- 
nicht auf Zucker untersucht wurde. Ich halte also einen solchen 
Zusammenhang wohl für möglich, möchte aber darüber hinaus 
in meiner Behauptung Dicht gehen. 


II. Aus der inneren Abtheilung des Herrn Geheini- 
rath Ewald am Augusta-Hospital in Berlin. 

Ueber Gastroptose. 

Von 

Dr. Leop. Kuttner, 

Assistenz-Arzt der med. Poliklinik am Angnsta-Hospital in Berlin und 
Dr. Dyer aus Portland, Maine in Amerika- 

Unter den Dislocationen der Baucheingeweide nehmen die 
Lageveränderungen des Magens und einzelner Darmabschnitte 
eine hervorragende Stellung ein. 

Ohne auf die geschichtliche Entwickelung der Lageanomalien 
des Magens genauer einzugehen, verdient cs doch besonders 
hervorgehoben zu werden, dass diese Umstände schon in der 
Mitte des vorigen Jahrhunderts bekannt waren. Beweisend da¬ 
für scheint eine Bemerkung Morgagni’s 1 ), der in seinem be¬ 
kannten Werke: „De sedibus et cansis morborum,“ ankuüpfend 
an eine Bemerkung seines Lehrers Valsalva, der Senkung des 
Magens Erwähnung thut. „Es handelte sich,“ so citirt Penzoldt, 
„um eine Frau, welche nachdem sie schon lange an Krämpfen 
im Bereich des Unterleibes gelitten hatte, eine Vorwölbung der 
Unterbauchgegend bekam, während die Regio epigastrica ein¬ 
sank. Ausserdem hatte sie Schmerz und Gefühl von Schwere 
im Abdomen, die Sensation, als ob alle Eingeweide aus ihrer 

1) Morgagni, De sed. et caus. morb. XXXIX, 14. Citirt bei 
Penzoldt: Die Magenerweiterung. 


Stelle gewichen seien, sowie die Wahrnehmung, dass die Speisen 
tief hinab stürzten. Der Tod erfolgte unter Abmagerung. Bei 
der Obduction fand Valsalva das, was er im Leben diagnosticirt 
hatte: nämlich einen Magen, dessen Cardiatheil sehr in die Länge 
gezogen und dessen Fundus bis vier Querfinger Uber dem Os 
pubis ins Hypogastricum hinabreichte.“ „Eine solche Abnormität,“ 
lehrt Morgagni, „kann auf zweierlei Art zu Stande kommen. 
Einmal kann eine Vergrösserung des Organs Schuld sein, wie 
er sie selbst gesehen, wie sie Moinichenius und Jodonius 
(letzterer unter dem Namen: Hydrops ventriculi) und andere (von 
uns schon erwähnte) Autoren beschrieben haben und wie sie 
schon znr Verwechslung mit Gravidität und Ascites Veranlassung 
gegeben hat. Anderereits kann aber auch der Magen ein¬ 
fach verlagert sein, indem ihn andere Organe entweder (wie 
die Leber z. B.) dahin drängen oder (wie Netz und Dünndärme) 
dahin verziehen.“ Obwohl nun die Dislocation des Magens 
schon damals bekannt und in ihrem Zusammenhänge mit Ver¬ 
dauungsstörungen richtig erkannt worden ist, ist doch das Inter¬ 
esse für diesen Gegenstand lange Zeit hindurch ein sehr be¬ 
schränktes geblieben. Auch die weitere Erwähnung bei Johann 
Friedrich Meckel 1 ) und die späteren Bemerkungen in den 
Lehrbüchern der Anatomie, dass namentlich beim weiblichen 
Ge8chlechte der Magen häufig eine verticale Stellung einnehme, 
ebenso wie der Hinweis Virchow’s 2 ) im Jahre 1853, dass in 
der Leiche häufig Lageveränderungen der BauclieiDgeweide beob¬ 
achtet werden, die auf localperitonitische Processe zurUckzufübren 
sind, haben keine oder nur eine sehr geringe Beachtung bei 
den Klinikern gefunden. Erst die Mittheilung Kussraaul’s 3 ) 
in seiner Abhandlung Uber die peristaltische Unruhe des Magens 
und besonders die Lehre Glenard’s 4 ) von der Enteroptose, 
weiter die Arbeiten von Fereol 5 ), Cuilleret 0 ), Cheron 7 ), 
Pourcelot 8 ), Dujardin Beaumetz*), Trastour 1 ") und bei 
uns in Deutschland vor allem der Vortrag Ewald’s 11 ) Uber 
Enteroptose und Wanderniere, haben die allgemeine Kenntniss 
Uber diesen Gegenstand bedeutend gefördert Immerhin haben 
die Form- und Lageveränderungen des Magens und des Dick¬ 
darms auch heute noch nicht die ihnen wegen ihrer praktischen 

1) Handbuch der menschlichen Anatomie 1815—1820. 

2) Virchow, Archiv f. pathol. Anat. u. Phys. 1858. 

3) Kussmaul, Die peristaltische Unruhe des Magens nebst Be¬ 
merkungen über Tiefstand und Erweiterung desselben; das Klatscbgeränsch 
und Galle im Magen. Volkmann’s Sammlung klinischer Vorträge, No. 181, 
1880. 

4) Glenard, Application, de la methode naturelle ä l'analyse de 
la dyspepsie nerveuse. Lyon medic. Mars 1885; Enteroptose et Neur¬ 
asthenie. Society medic. des höpitaux de Paris 1886, Mai 15; A propos 
d’un cas de neurasthenie gastrique (Enteroptose traumatique) Province 
mödic. Avril 1887; Expose soramaire du traiteroent de l’enteroptose. 
Lyon medic. Juin et Juillet 1887. De l’entöroptose, Conference facite 
ä l’böpital de Mustapha Alger, Lyon. Janv. 1889. Presse med. belg. 
Bruxelles 1889. 

5) Föreol, De l'enteroptose. Bulletin de la societe med. des 
höpitaux 5. Janv. 1887 et 12. Novembre 1888. 

6) Cuilleret, Etüde clinique sur l’enteroptose ou maladie de 

Glenard. Gazette des höpitaux 22. 8ept. 1888 et No. 105. 1889. 

7) Cheron, De l’Enteroptose. Union med. 20. Dez. 1888. 

8) Pourcelot, De l'enteroptose. Paris 1889. 

9) Dujardin Beaumetz, Neurasthenie gastrique et leur traite- 
ment. Lefons de l’höpital Cochin. In „The therapent. Gaz.“ 1890. 
15. Jan. 

10) Trastour, Les Desequilibres dn ventre, enteroptosiques et 
dilates. 8emaine medic. Septembre 7, 1887. 

11) Ewald, Ueber Enteroptose und Wanderniere. Vortrag, gehalten 
in der Sitzung der Berliner raedicinischen Gesellschaft, 12. März 1890. 
Berliner klin. Wochenschrift 1890, No. 12 u. 13. (Vergl. hierzu die 
Discussion über diesen Vortrag, ibidem 8. 345, 412, 435.) 


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Wichtigkeit gebührende Beachtung gefunden. Diese Thatsache 
ist um so auffallender, als andererseits die Lehre von der 
Wanderniere heute allgemein anerkannt wird, und doch wurde 
auch dieser Lageanomalie noch vor wenigen Jahren von ärzt¬ 
licher Seite so wenig Beachtung geschenkt, dass anerkannt fach¬ 
männische Autoritäten in der Discussion Uber den Enteroptose- 
Vortrag Ewald’s zweifelnd ihre Verwunderung darüber aus- 
sprachen, dass Kuttner in der Poliklinik des Augusta-Hospitals 
binnen 8 Monaten unter 4000 Ambulanten 100 Fälle von Wander¬ 
niere gesammelt hat. Wie erklärt sich nun die verschiedene 
Anerkennung, welche diese beiden Abnormitäten gefunden haben, 
die doch zu gleicher Zeit in dem erwähnten Vortrag von Ewald 
behandelt wurden ? Unserer Ansicht nach liegt der Grund für 
die Vernachlässigung der Gastroptose gegenüber der Ne¬ 
phroptose darin, dass zur Zeit Lageveränderungen des Magens 
fUr einen ganz gleichgültigen Befund angesehen werden, auf den 
es nicht zu achten verlohnt. Bei dieser Auffassung beruhigt 
man sich um so lieber, als die Diagnose der Magensenkung oft 
complicirtere Untersuchungsmethoden voraussetzt, zu deren An¬ 
wendung es dem beschäftigten Praktiker an Zeit fehlt. Obwohl 
nun in den letzten Jahren wiederholt in werthvollen Arbeiten 
von Curschmann'), Fleiner 2 ), Meinert 3 ), Kelling 4 ) u. A. 
das vorliegende Thema behandelt worden ist, ist doch unser 
Wissen Uber diese so häufig vorkommende Anomalie ein un¬ 
geordnetes und lückenhaftes. In der Erwägung, dass durch die 
Beobachtung eines grossen Krankenmaterials einige wichtige 
diesbezügliche Streitfragen vielleicht ihre richtige Deutung er¬ 
fahren könnten, haben wir deswegen in der Poliklinik des 
Augusta-Hospitals zu Berlin eine Reibe von eingehenden Unter¬ 
suchungen angestellt Uber die Form- und Lageveränderungen 
des Magens, Uber ihre Beziehung zu Dislocationen anderer Bauch¬ 
organe und Uber die Rückwirkung derselben auf Erkrankungen 
des GesammtorganiBmus. Bei der grossen Wichtigkeit dieses 
Gegenstandes sei es unB gestattet, auf das Resultat dieser Unter¬ 
suchungen etwas genauer einzugehen. 

Es liegt in der Natur der Sache, dass wir zu dem Capitel 
der Anatomie der Magensenkung kaum etwas Neues beibringen 
können, da wirklich werthvolle Mittheilungen in dieser Richtung 
nur von pathologischen Anatomen nach dem Ergebniss eines 
grossen Materials erwartet werden können. Immerhin scheint 
es wichtig, auf einige Punkte von grösserer Bedeutung besonders 
hinzuweisen. Zunächst ist festzuhalten, dass die Untersuchung 
an dem Lebenden bei der in Rede stehenden Krankheit erheb¬ 
lich abweichen kann von dem Leichenbefunde. In Bezug auf 
die Lage der einzelnen Magentheile ist zu erwähnen, dass die 
Cardia den festesten Punkt des Magens darstellt, während der 
Pylorus und die Regio pylorica den beweglichen, auch schon 
unter normalen Verhältnissen bei der Füllung des Magens 5 ) und 
bei der Athmung 6 ) verschieblichen Theil repräsentirt. Dement- 

1) Curschmann, Deutsches Archiv für klin. Med. Bd. 53. 1894 

2) Fleiner, Ueber die Beziehungen der Form- und Lageverände- 
rungen des Magens und des Dickdarms zu Functionsstörungen und Er¬ 
krankungen dieser Organe. Münch, med. Wochenschr. 1895, No. 42 u. folg. 

3) Meinert, Ueber einen bei gewöhnlicher Chlorose des Ent¬ 
wickelungsalters anscheinend constanten pathologisch-anatomischen Be¬ 
fund und über die klinische Bedeutung desselben. Samml. klin. Vorträge 
von Volk mann. Neue Folge 1895, 115/116. 

4) Kelling, Physikalische Untersuchung über die Druckverhältnisse 
in der Bauchhöhle sowie über die Verlagerung und Vitalcapaticität des 
Magens. Sammlung klinischer Vorträge von Volk mann. Neue Folge. 
No._144. 

5) Braun, Ueber die Beweglichkeit des Pylorüs und des Duo¬ 
denums. Dissert. Leipzig 1873. 

6) Poensgen, Die motorischen Verrichtungen des menschlichen 
Magens. Preisschrift von Strassburg. 1882. 


sprechend zeigt der Pylorustheil des Magens die häufigste und 
ausgesprochenste Verlagerung, denen der bewegliche untere und 
mittlere Schenkel des Duodenums sich anschliessen kann. Wenn 
nun aber auch die Cardia selbst kaum wesentlich verschoben 
werden kann, so kommen doch auch Verlagerungen des Cardia- 
theils des Magens vor. Denselben begegnen wir beispielsweise 
als Folge von Verdrängung durch MilzgeschwUlste (Malaria, 
Leukämie) oder in Folge von Hochstand (und UeberfUUung) der 
Flexura coli sinistra'). In der Regel sind diese Verlagerungen 
mit Senkung des Magens verbunden. Tritt in solchen Fällen 
ausserdem eine Verschiebung des Pylorus nach links ein, so 
kann der Magen die Form einer Darmschlinge — wohlverstanden 
ohne Einwirkung einer Narbencontractur — oder auch eine bis- 
quit- oder sanduhrförmige Gestalt annehmen. Derartige Formen 
sind von Kussraaul beschrieben worden und finden sich auch 
unter den von Ewald 2 ) gewonnenen Modellen von Magen, welche 
der Leiche entnommen sind. 

Infolge der Senkung des Magens werden leicht DUnndärme 
zwischen Cardia und Pylorus hineingedrängt. Längs der kleinen 
Curvatur tritt häufig das Pankreas hervor. Die Magenwände 
selbst zeigen bei Gastroptose ein sehr verschiedenes Verhalten. 
Dasselbe hängt natürlich von den begleitenden oder auch ur¬ 
sächlichen Affectionen des Magens (Dilatation des Magens, 
Pylorustumoren etc.) ab. Bald ist dieselbe in allen oder in 
mehreren ihrer Schichten verdickt, bald aber verdünnt. Einen 
charakteristischen Befund giebt es nicht. 

Zu diesen direct auf die Lageveränderung des Magens zu 
beziehenden anatomischen Veränderungen kommen häufig noch 
zahlreiche Complicationen und Nebenkrankheiten hinzu, auf die 
bei Besprechung der Symptomatologie hingewiesen werden soll. 

Als zum Thema nicht gehörig stehen wir von der Er¬ 
örterung der selteneren Verlagerungen des Magens nach oben 
und nach der Seite, welche ausführlich von Fleiner (1. c.) abge¬ 
handelt worden sind, ab und beschäftigen uns hier lediglich mit 
den Dislocationen des Magens nach unten. Will man ver¬ 
schiedene Grade der Magensenkung unterscheiden, so empfiehlt 
es sich, die totale Gastroptose, d. h. die Senkung des Magens 
in toto zu trennen von der partiellen Ptosis. Die verschiedenen 
Formen der Senkung von Magentheilen brauchen wir nicht aus¬ 
führlicher zu beschreiben, da die Verticalstellung des Magens, 
die Schlingenform desselben etc. aus Schilderungen von Kuss¬ 
maul (1. c.), Meinert*), Völker 4 ), Hertz 5 ) u. A. genügend 
bekannt sind. 

Was nun das Capitel der Aetiologie anbetrifft, so sind von 
den einzelnen Autoren verschiedene Theorien Uber die Ent¬ 
stehungsweise der Gastroptose aufgestellt worden. Nachdem die 
früher von Glenard vertretene Auffassung, nach der das Tiefer¬ 
treten des Magens auf ein Hinabsenken der schwach fixirten 
Flexura coli dextra zurückzufUhren sei, verworfen worden ist, 
macht sich in jüngster Zeit die Ansicht geltend, dass die Ent¬ 
stehungsursache der Gastroptose Folge eines in der Zwerchfell¬ 
höhle eintretenden Raummangels sei, der seinerseits durch be¬ 
stimmte Gestaltsveränderungen des Thorax und vor Allem beim 
weiblichen Geschlecht durch das Schnüren bedingt wird. Wir 


1) cf. Fleiner, Lehrbuch der Krankheiten der Verdauungsorgane. 
1. Hälfte 96, p. 208. 

2) cf. Ewald, Klinik der Verdauungskrankheiten. 93. II, p. 86. 

3) Meinert, 1. c. 

4) Völker, Die Schädlichkeit des Schnürens, eine’historische, ana¬ 
tomische, klinische und hygienische Studie. München. Dissertation. 
1893. 

5) Hertz, Abnormitäten in der Form und Lage der Bauchorgane 
bei dem erwachsenen Weibe in Folge des Schnürens und Ilängcbcra.hcs. 
Berlin 1894. 

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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 20. 


halten es für überflüssig, die viel besprochene Frage Uber die 
Einwirkungen der Thoraxform und über den Einfluss des Corsets 
auf die Entstehung der Gastroptose genauer zu erörtern. Ein¬ 
gehende Deductionen hierüber finden sich in den citirten Ar¬ 
beiten von Meinert, Fleiner, Kelling, ferner bei Stiller'), 
Dickinson 2 ) u. A. Wir können deswegen hinsichtlich dieser 
Punkte auf die genannten Autoren verweisen und wollen uns in 
Folgendem darauf beschränken, unsere eigene auf eine reiche 
Erfahrung auf diesem Gebiet begründete Ansicht Uber die Aetio- 
logic der Gastroptose wiederzugeben. 

Angeboren kommt die Gastroptose, wenn überhaupt, so 
doch sehr selten vor. Unter einer sehr grossen Anzahl von 

Kindern und Säuglingen, welche wir in den letzten beiden 
Jahren in der Poliklinik des Augusta-Hospitals methodisch in 
Bezug auf die Lage und Grösse des Magens untersucht haben 3 ), 
wurde auch nicht ein Fall von Gastroptose — wohlverstanden 
von klinisch nachweisbarer Magensenkung — angetroffen. Wir 
müssen daher annehmen, dass der Tiefstand des Magens oder 
wenigstens die ausgesprochenen Formen desselben sich für ge¬ 
wöhnlich später zu Lebzeiten des betreffenden Individiums 
allmählich entwickeln. Um die spätere Entwickelung der 

Gastroptose zu verstehen, müssen wir nothwendigerweise in erster 
Linie der Factoren gedenken, welche im Stande sind, die 

Fixation des Magens zu lockern oder aufzuheben. Theoretisch 
gedacht kommen hierbei, wie besonders Kelling (1. c.) ausführt, 
folgende Momente in Betracht: 

1. Kann der Magen nach unten gedrängt werden; als 

häufigste Veranlassung hierfür wird Schnüren angesehen, das 
durch das Corset oder das Schnürleibchen oder zn fest ge¬ 

schnürte Rockbänder resp. durch das Tragen eines Leibriemens 
hervorgebracht werden kann. 

Viel seltener kann derselbe Effect ausgelöst werden durch 
einen abnormen Tiefstand des Zwerchfells, in Folge von Pleu¬ 
ritis, Emphysema pulmon. etc.; seltener noch sind cs Tumoren 
der dem Magen benachbarten Organe (Leber, Niere, Milz), 
welche den Magen nach abwärts drücken. 

2. Kann der Magen ebenso wie andere in der oberen Ab- 
dominalhöble gelegene Organe nach unten gezerrt werden. Jede 
stärkere Belastung des Magens wird im Stande sein, einen Zug 
auszuUben auf die Magenwände und vor Allem auf die Be¬ 
festigungsbänder des Magens, je nach dem Grade der Dehnbar¬ 
keit und Nachgiebigkeit der letzteren muss derselbe früher oder 
später zum Sinken kommen. 

Fragen wir nun, welche von dei* angegebenen Ursachen 
praktisch besonders in Frage kommt, so glauben wir ebenso 
wie Kelling, dass das zweite Moment die grössere Beachtung 
verdient. In dieser Ansicht werden wir besonders bestärkt durch 
die Beobachtung, dass der Senkung des Magens häufig atonische 
Zustände desselben vorausgehen. Unter diesen Umständen bleiben 
die Speisen oft länger im Magen, besonders im Pylorusabschnitt 
desselben, liegen, als normal ist, dehnen denselben aus und 
üben einen fortgesetzten allmählichen Zug auf die Aufhänge¬ 
bänder des Magens aus. „Dadurch sinkt“, wie Kussmaul (1. c.) 
beschreibt, „der stärker belastete tiefste Pylorusabschnitt immer 
weiter herab, bis er im grossen Becken anlangt, in dessen linker 
Hälfte er sich schliesslich mit seiner weitaus grösseren Hälfte 
vertheilt. Der Pylorus und andere Magentheile werden nach¬ 
gezogen.“ Dergleichen Zustände werden um so früher eintreten, 

1) Stiller, Ueber Enteroptose im Lichte eines neuen Stigma 
nenrasthenicum. Arch. f. Verdammgskrankh. 96. 

2) Dickinson, The corsett. Questions of pressure and displace- 
ment. The New-York Med. Journ., Nov. 5, 1887. 

S) Das Kesultat der Untersuchung wird demnächst in einer ausführ¬ 
lichen Arbeit von Dr. Badt besprochen werden. 


je nachgiebiger die Magenmuskulatur und der Bandapparat des 
Magens ist; diese „individuellen Verschiedenheiten“, auf die 
Kelling bereits aufmerksam gemacht hat, hängen nach unserer 
Ansicht ab von einer in den ersten Anlagen begründeten 
Disposition. Es ist klar, dass wir die Aetiologie der Gastroptose 
nicht besprechen können, ohne ihr Verhältniss zur Enteroptose 
überhaupt zu berücksichtigen. Eine wesentliche Rolle in dem 
Capitel der Enteroptose spielt die Nephroptose, die wir häufig 
als ersten greifbaren Befund der Splanchnoptose beobachten, 
zu einer Zeit, wo unsere gebräuchlichen, nachher zu besprechen¬ 
den Methoden zum Nachweis eines beginnenden Tiefertretens 
des Magens nicht ausreichen. Wir sind überzeugt, dass in diesen 
Fällen von beweglichen Nieren häufig, wenn auch gewisser- 
maassen nur latent, schon eine Magensenkung vorhanden ist; 
ebenso wie nun eine grosse Anzahl von Autoren (Lindner 1 ), 
Drummond, Ewald, Kuttner, Stiller etc.) die Nephro¬ 
ptose für den Folgezustand einer angeborenen Anlage ansehen, 
so sind wir auch bezüglich der Gastroptose — die doch 
nur eine Theilerscheinung der Enteroptose ist — der Ansicht, 
dass es sich in den meisten Fällen dieser Anomalie um eine an¬ 
geborene Prädisposition bandelt, zu deren weiteren Entwickelung 
allerdings eine grosse Reihe von Gelegenheitsursachen beitragen. 
Alle die angegebenen schädlichen Einflüsse: Störung der Motilität 
des Magens, Schnüren, Erschlaffung der Bauchdecken durch 
häufige Geburten, schlecht eingehaltene Wochenbetten etc., 
glauben wir nur als Gelegenheitsursachen zur Entwickelung der 
Gastroptose ansprechen zu dürfen. Gewiss ist nicht zu leugnen, 
dass zuweilen die genannten Störungen an und für sich genügen 
können, eine Gastroptose zu erzeugen, in der Mehrzahl der Fälle 
aber dürfte, wie gesagt, die Annahme einer gewissen Prädis¬ 
position kaum zu umgehen sein. Zur Stütze unserer Ansicht 
schliessen wir uns ganz den Ausführungen Stiller’s an, der mit 
folgenden Worten auf den ziemlich gleichmässigen Befund hin¬ 
weist, den wir bei Leuten, die an Enteroptose leiden, beobachten 
können. 

„Wir haben vor uns“, so schreibt Stiller (1. c.), „Indivi¬ 
duen mit reizbarem, widerstandslosem, labilem Nervensystem 
kurz Neurasthenie, und in deren Rahmen besonders hervor¬ 
stechend digestive Neurasthenie. Wir sehen aber dabei einen 
constanten Organisationstypus vor uns: graciles Skelet, langen 
Thorax, zarte, schlaffe Musculatur, dürftigen oder fehlenden 
Panniculus. Dies weist alles dringend auf eine angeborene An¬ 
lage hin.“ Als weiteres wichtiges Moment zum Nachweis für 
congenitale Disposition giebt Stiller ein wahres Stigma neur- 
astbenicum oder enteroptoticum an. Bei einer grossen Anzahl 
von Patienten, die an ausgebildeter Enteroptose litten, konnte 
der Autor feststellen, dass ihre 10. Rippe mobil, d. h. gleich 
der 11. und 12. nicht knorpelig an dem Rippenbogen fixirt, 
sondern ganz frei oder bloss ligamentös an demselben schlaff 
befestigt ist. Der Nachweis dieser flnetuirenden 10. Rippe er¬ 
laubt nach Stiller den Schluss auf Enteroptose. Umgekehrt 
allerdings fand Stiller dieses Symptom, wenn auch fast immer 
bei prononcirten Fällen, so doch nicht bei jeder Enteroptose. 
Stiller fasst nun diese costa fluctuans als den höchsten Grad 
des als charakteristisch für Enteroptose geschilderten Habitus 
auf. Fehlt dieser „enteroptotische Habitus“ und lässt sich diese 
costa fluctuans nicht nachweisen, so ist man nach Stiller be¬ 
rechtigt, etwaige Enteroptose als eine erworbene Anomalie an¬ 
zusehen. Nachdem wir dieses Symptom an einem grösseren 
Material nachgeprüft haben, können wir die Beobachtung 
Stiller’s im Ganzen bestätigen; bei einer wirklich fluctuirenden 
10. Rippe fanden wir stets ausgesprochene Neurasthenie und 


1) Lindner, Ueber die Wanderniere der Frauen. 1888. 


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4*23 


partielle oder totale Enteroptose. Doch giebt es, wie dies ja 
auch Stiller hervorhebt, zahlreiche Fälle von Enteroptose, bei 
denen dieses Symptom vollständig fehlt oder so undeutlich vor¬ 
handen ist, dass man bei der Palpation nicht sicher sagen kann, 
ob die Rippe knorpelig oder bloss ligamentös mit dem Rippen¬ 
bogen verbunden ist. 

(Fortsetzung folgt.) 


III. Aus dem stäclt. Krankenhause in Frankfurt a. M., 
Abtheilung des Professors von Noorden. 

Untersuchungen über die therapeutische Ver¬ 
wendung des Kalkbrodes. 

Von 

Dr. G. Herxheimer. 

Auf dem 14. Congress für innere Medicin, Wiesbaden 18110, 
empfahl von Noorden den kohlensauren Kalk, an Stelle der 
kohlensauren Alkalimetallsalze, fllr die Behandlung der barn¬ 
sauren Nierenconcremente. Als Vorzlige der Kalkbehandlung 
erschien, dass die Acidität des Harnes vermindert, und der Ge¬ 
halt an saurem Phosphat herabgedrUckt werden, ohne die Ge¬ 
fahr des Ueberganges in alkalische Reaction. Inzwischen hat 
J. Strauss ausführliche Stoffwechselversuche Uber den Einfluss 
des kohlensauren Kalkes auf die Zusammensetzung des Harns 
veröffentlicht und weitere günstige Erfahrungen Uber den Ge¬ 
brauch des Kalkes bei Nephrolithiasis gemeldet (Zeitschrift fUr 
klin. Med., Bd. XXXI). Die wichtigsten Resultate der Unter¬ 
suchung waren folgende: 

1. Der Phosphorsäuregehalt des Harns wird vermindert. 

2. Die Verminderung entfällt hauptsächlich auf das Mono¬ 
natriumphosphat, welches bekanntlich die Ausfällung der Harn¬ 
säure begünstigt; das Dinatriumphosphat dagegen, welches die 
Harnsäure in Lösung hält, wird viel weniger vermindert. 

3. Der Harn erhält hamsäure-lösende Eigenschaft. 

4. Alkalische Reaction des Harns tritt nicht ein oder ist 
doch viel leichter zu vermeiden, als bei der Darreichung der 
Alkalimetallsalze. 

Bei den dauernd fortgesetzten therapeutischen Versuchen 
ergaben sich aber fUr die Anwendung des kohlensauren Kalkes 
(in Pulverform oder als Emulsion) einige Schwierigkeiten. 
Manchmal musste die Dosis des Kalkcarbonates sehr hoch 
steigen (bis 25 und 30 gr pro Tag), um den Harn in der ge¬ 
wünschten Weise zu beeinflussen. Während die Einen solche 
grossen Kalkmengen gut vertrugen und wochenlang ohne Nach¬ 
theil einverleibten, meldete sich bei Anderen Appetitlosigkeit 
oder Stuhlträgheit. Es war daher wUnschenswerth, eine zweck- 
mässigere Form fUr die Darreichung des Kalkes zu finden. 

Auf Veranlassung des Herrn Professors von Noorden 
stellte die Nährraittelfabrik von Otto Rademann in Bocken- 
heim-Frankfurt a. M. ein derbes Roggenbrod her, in welchem 
der Kalk eingebacken ist. Nach Ueberwindung einiger unerwar¬ 
teten technischen Schwierigkeiten gelang es, ein Brod von con- 
stanter Zusammensetzung zu gewinnen, das im fertigen Zustande 
genau 5 pCt. Calcaria carbonica enthält, und einen sehr ange¬ 
nehmen Geschmack mit grosser Haltbarkeit verbindet. Dieses 
Brod ist von der Firma 0. Rademann unter dem Namen 
„Gichtiker-Brod“ in den Handel gebracht und erfreut sich bereits 
einer grossen Beliebtheit. FUr die Herstellung des Brodes war 
die Ueberlegung maassgebend, dass es bei der ausserordentlich 
feinen Vertheilung des Kalkes im Brode gelingen dürfte, dieselbe 
Wirkung auf den Ham mit kleineren Kalkmengen zu erreichen, 
als wenn man sich der Pulverform bediente, und ferner hoffte 


man die Übrigen Nachtheile, die sich bei der Verabreichung des 
Kalkpulvers gelegentlich einstellten, zu umgehen. 

Um den Einfluss der neuen Verordnung zu prüfen, wurde 
ich von Herrn Professor von Noorden mit einem Stoffwechsel¬ 
versuch beauftragt, dem ich mich selbst um so lieber unterzog } 
weil ich dadurch in die Methoden der Stoffwechseluntersuchungen 
auf das Beste eingefUhrt wurde. 

Der Versuch dauerte 11 Tage. Vom 4. bis 8. Tage wurden 
durchschnittlich 300 gr Gproc. Kalkbrod verzehrt; am 7. Tage 
nur 250 gr, dafUr am 8. Tage 350 gr, vom 9. bis 11. Tage je 
300 gr *2proc. Kalkbrod; vom 1. bis 3. Versuchstage nahm ich 
je 300 gr Brod, welches keinen Kalk enthielt, im Uebrigen 
aber die gleiche Zusammensetzung hatte. — Die sonstige, Tag 
für Tag gleiche Nahrung bestand aus 125 gr Butter, 98—120 gr 
Eiern (abzüglich der Schale), 250 gr fettfreiera Rindfleisch (roh 
gewogen), 100 gr Wurst, 150 gr Kartoffeln, 20 gr Fromage de 
Brie, 200 gr Weintrauben, 480 ccm Thee, 1480 ccm Wasser. — 
Die Gesammtsumme der täglich aufgenommenen Trockensubstanz 
schwankte zwischen 523 und 587 gr, die Flüssigkeit zwischen 
2032 und 2077 gr (einschliesslich des Wassere der Nahrungs¬ 
mittel). 

Brod, Thee, Fleisch, Wurst, Käse wurden auf Stickstoff, 
Fleisch, Wurst, Käse auch auf Fett analysirt. FUr die Übrigen 
Nahrungsmittel sind die bekannten Durchschnittswerthe oder 
frühere Analysen des Laboratoriums zu Grunde gelegt. 

Der Harn wurde täglich auf Stickstoff, Harnsäure, Kalk, 
Gesammtphosphoreäure, Mononatriumphosphat untersucht; der 
Koth wurde in drei Portionen — entsprechend den drei Perioden 
des Versuches — abgegrenzt und diente zur Untersuchung auf 
Trockengehalt, Stickstoff, Kalk und Gesammtphosphoreäure. Der 
Koth des 8. Tages wurde gesondert analysirt. 

Ara 4. und 5. Tage ward bei der Behandlung des Urins 
ein Fehler begangen, indem ein Theil des Urins vom 5. Ver¬ 
suchstage zum Urin des 4. Versuchstages geschüttet wurde. Ich 
musste daher für jeden der beiden Tage die Durchschnittswerthe 
einsetzen, was fllr die Beurtheilung des ganzen Versuches übri¬ 
gens ohne Bedeutung ist. 

Tabelle I. 

Die Tabelle belehrt über die tägliche Aufnahme von Calcaria car¬ 
bonica, ferner über die Menge des Harns, seine Reaction und den Gehalt 
an Gesammtphosphorsäure, an Mononatrium- und Dinatriumphosphat (be¬ 
rechnet auf Phosphorsäure). Ferner ist angegeben, wie viel Procent 
der PhospborsUure als saures Phosphat (Mononatriumphosphat) im Harn 
vorhanden war; diese Werthe sind nach der Methode von Freund und 
Lieblein gewonnen. 


Versuchstag 

Perio¬ 

den 

® 1 

t® 

e 

E 

E 

a 

Mn 

Spec. Gewicht 

Reaction 

1**0, 

Mononatrium¬ 

phosphorsäure 

V 1 

§1 
a is i 

5 o | 

.5 & i 

Q O 

M • a 
& ! 

Mononatr. ph. || 

X3 

ft 

99 

o 

ja ■ 
ft 

£ 

B 

et 

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Ö 

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c 

et 

X 

a 

o 

e« 

ü 






gr ^ 

gr 

gr 

'/. ! 

gr 

1. 

1 1 

1400 

1020 

sauer 

2 408 

1.022 

1.386 

42.4 : 

0.0518 

2. 

> ohne 

1540 | 

1018 


2.618 

1.155 

1.463 

44.1 

0.0770 

8. 

j Kalk 

1380 

1020 

n 

2.553 

1.132 

1.421 

44.8 

0.0662 


\ lr * 










4. 

f J e 

1915 

1015 


1.(581 

0.694 

0.987 

39.3 

0.437 

5. 

/ 18 gr 

1915 

1013 

s*h«aeh »itr 

1.681 

0.694 

0.897 

39.3 

0.437 

6. 

1 Calc. 

' carb. 

13(50 i 

1020 

1) 

1.836 

— 

— 

- 

- 

0.663 

7. 

\ 15 gr 

, 1400 

1019 

amphoter 

1.652 

0.154 

1.498 

9.3 

0.515 

8. 

/ 21 gr 

1470 

1020 

»> 

1.485 

0.118 

1.367 

7 

.9 

0.58(5 


» III. 










9. 

Je 

| 1700 

1018 


1.929 

0.153 

1.776 

7.9 

0.586 

10. 

/ G gr 

1800 

101(5 

ulinch sinor 

2.160 

0.360 

1.800 

H5.7 

0.463 

11. 

l Calc. 

' carb. 

j 1040 

1018 

" 

1 

1.788 

[ 0.361 

1.427 

20.2 

0.325 


O * 


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424 


fcFHLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Tabelle II. (Koth.) 

Die Tabelle belehrt (Iber die Zusammensetzung des Kotbes. Berück¬ 
sichtigung fanden: das Gcsammtgewicht, der Trockengehalt, der Stick¬ 
stoff, die Phospborsüure der Kalk. 


u 

c* 


Menge 

Menge 




3 

Perioden 

frisch 

trocken 

N 

PjÖ 5 

CaO 

<V 







> 


gr 

gr 

gr 

gr 

gr 


Kalklose 

Vorperiode 

je tägl. 18 gr 
Kalkperiode 

15 gr Kalk 
21 gr Kalk 

je tägl. 6 gr 
Kalkperiode 


| 508 
= 189 

Ipro die 

1120 
= 280 
pro die 


2G8 


j G45 


148 

= 49,83 
pro die 

304 
= 7G 
pro die 


84 


\\ 170 

j=215 i}= 56,666 

Ipro diejj pro die 


5,74491 
= 1,9147 
pro die 

8,849 
= 2,21225 
pro die 

2,39064 


4,60576 
= 1,53525 
pro die 


2,597 
= 0,8658 
pro die 


8,52112 |l 35,9556 
= 2,18028 [= 8,9889 
pro die |J pro die 


2,63584 


) 6,6279 ) 5,933 \\ 

} = 2,2093 1 > = 1,978 ! [ 

j pro die J pro die ) 


9,2820 

9,6730 
= 3,224 

pro die 


Tabelle III. 

Die Tabelle giebt eine Uebersicht über die N-Bilanz während des Ver¬ 
suches und über die Harnsäureausacheidung. 



§ 




N 




tu 


N-Ein- 

N 

N 



N 

Ham- 

CO 

o 




im Ham 




'S 

C 

nähme 

im Harn 

im Kothe 


Bilanz 

säure 

E 

n 




und Koth 




> 

ü 









gr 

gr 

gr 

gr 

gr 

gr 1 

gr 

1 


1980 

16.07 

1.91 

17.98 

+ 

1.82 

0.889 

2 

— 

19.98 

16.00 

1.91 

17.91 

-+■ 

2.07 

0.949 

B 

— 

19.91 

15.15 

1.91 

17.06 

+ 

2.85 

0.912 

4 

18 

19.76 

13.98 

2.21 

16.19 

+ 

3.57 

0.803 

5 

18 

19.43 

13 98 

2 21 

1 16.19 

-f 

3.24 

0.803 

6 

18 

18 49 

16.16 

2.21 

18-37 

4- 

0.12 

0 697 

7 

15 

18.17 

16.11 

2 21 

18.32 

— 

0.15 

0.901 

8 

21 

19.71 

14.61 

2.39 

1 17.00 

-f 

2.71 

0.795 

9 

6 

19.03 

13.95 

2.21 

i 16.16 

+ 

2.87 

0.824 

10 

6 

19.79 

14.84 

2.21 

17.05 

+ 

2.72 

0.705 

11 

6 

19.64 

14.46 

2.21 

16.67 

4- 

2.97 

0.719 


Tabelle IV. 

Die Tabelle giebt eine Uebersicht über die Kalk- und Phosphor- 
säure-Bildung. Dabei ist zu bemerken, dass weder Phospborsäure noch 
Kalk in der Nahrung bestimmt wurden, mit Ausnahme des im Versuchs- 
brode enthaltenen Kalks. Im Uebrigen blieben aber Kalk und Phosphor¬ 
säure während des ganzen Versuchs in gleichen Mengen in der Nahrung 
vertreten, da ja — wie bemerkt — die Zusammensetzung der Kost von 
Tag zu Tag dieselbe war. 




! E 

£ 



ja | 

£ 

2 

1 

| 

4) 

CaO- 

Aufnahme 

e« 

i a 

6 

O 

* ! 
B 

O 

CaO in 
am u. Ko 

_ E 

*B 

*B 

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6 =» 
»-"i 

> 


o 

O 

Mn 



a 



gr 

gr 

gr 

gr 

gr 

gr 

1. 

0.43 gr in Kohle 

0.0518 

0 8658 

0.9176 

2.408 

1.5353 ! 

3.9433 

2. 

0 • 

0.0770 

0.8658 

0.9428 

2.618 

1.5353 

4 1533 

8. 

0 

0.0662 

0 8658 

0.9320 

2.553 

1 5353 

4.0883 

4. 

/0.4Sgr in Kohlet 
l4-ll.2gri.Brod/ 

0.4367 , 

8.9889 

9.4256 

1.681 

2.1303 

3.8113 

5. 

11.2 gr 

j 0.4367 

8 9889 

9.4256 

1.681 

2.1303 1 

3.8113 

6. 

11.2 gr 

j 0.6630 , 

8.9889 

9.6519 

1.836 

12.1303 | 

3.9663 

7. 


9.8 gr 

f 13-1 gr \ 

0.5150 

8.9889 

9.5039 

1.652 

2.1303 

1 

3.7823 

8. 

< 

4- 0.43 gr in > 

0.5861 

9.2820 

10.8681 

1.485 

. 2.6300 

4.1210 


1 

l Kohle J 









f 3.7 gr t 







9. 


[ 4- 0.43 gr in } 

0.5865 

3.2240 

3.8105 

1.929 

1.9780 

3.9070 



l Kohle J 







10. 

3.7 gr 

0.4626 

3.2240 

3.6866 

2.160 

1.9780 

4.1380 

11. 

3.7 gr 

0 3247 

3.2240 

1 3 5187 

1.788 

1.9780 

3.7660 


No^2ö. 

Besprechung der Resultate. 

1. Diurese. Die öfters dem Kalkgenusse zugeschriebene 
diuretische Wirkung trat bei mir nur undeutlich hervor. An 
den beiden ersten Kalktagen stieg die Harnraenge freilich um 
einige hundert Centimeter; von Belang ist der Unterschied aber 
nicht. 

2. Die Stickstoffbilanz. Als Gesammtresultat ergiebt 
sich eine ziemlich gleichmässige N-Ausscheidung; im Mittel ver¬ 
hielten sich N-Ausfuhr und N-Bilanz während der drei Perioden 
wie folgt: 



Zufuhr 
im Mittel ; 

Abgabe 
im Mittel ' 

Bilanz 

im Mittel 


gr 

gr 

gr 

Tag 1-3 . . 

19.9 

17.65 

4- 2.25 

Tag 4—8 . . 

19.1 

17.21 

4- 1.89 

Tag 9 — 11 . 

19.49 

16.63 

4- 2.46 


Innerhalb der einzelnen Perioden schwankte die N-Ausfuhr 
in gewissen Grenzen auf und nieder; dies durfte auf einer un- 
gleichmässigen Resorption der Nahrung Zusammenhängen. Die 
Tagesschwankungen sind Air uns aber gleichgiltig. Als Resultat 
ergiebt sich, dass die N-Bilanz durch die Kalkzufuhr nicht 
wesentlich beeinflusst wurde. 

3. Die Harnsäure. Die Ausscheidung der Harnsäure be¬ 
trug im Mittel 

in der ersten Periode 0,8188 gr 
» „ zweiten „ 0.7191 „ 

n * dritten „ 0.7836 „ 

Die Unterschiede sind nicht nennenswerth. Die Tages¬ 
schwankungen sind die gewöhnlich vorkommenden. J. Strauss 
hatte das gleiche Resultat. 

4. Der Kalkstoffwechsel. Neben dem in der Kost ent¬ 
haltenen und während des ganzen Versuches täglich in gleicher 
Menge einverleibten CaO nahm ich von 4—11 Versuchstagen 
insgesammt 08.4 gr CaO zu mir, davon 07.1 gr in Form von 
CaCOj und 1.3 gr in der Aschensubstanz der Kohle, die zur 
Abgrenzung des Kothes diente. 

Die Kalkausscheidung betrug an den ersten drei Tagen, in 
Harn und Koth zusammen, durchschnittlich: 0.9308 gr. Wir 
haben sie als die von der Gesammtkost abhängige zu betrachten. 
Man hätte erwarten können, dass neben der Menge von 0.9308 gr 
während der folgenden Versuchstage (4—11) der medicamentös 
einverleibte Kalk vollständig wiedererscheinen würde. Dies war 
aber nicht der Fall; vielmehr bleibt die Summe des Kalkes in 
Harn und Koth beträchtlich hinter der Kalkzufuhr zurück. Ent¬ 
weder lagen noch Reste im Darm, als die den Koth abgrenzende 
Kohle den Darm passirte, oder es hatte eine sehr bedeutende 
Kalkresorption stattgefunden. Meine Versuche geben auf diese 
interessante und nach verschiedenen Richtungen hin auch prak¬ 
tisch wichtige Frage keinen Aufschluss. Die Bilanz gestaltet 
sich Air den 4.—11. Tag wie folgt: 

Kalkzufuhr: 

CaO (als CaCO,).07.1 gr 

CaO in der Kohle.... 1.3 „ 

68.4 gr 

Kalkausgabe: 

CaO in Harn und Koth . . . 59.9 gr 
CaO, der Kost zukommend. . 7.4 w 

52.5 gr 

Es blieben also von den 08.4 gr Kalk nicht weniger als 
15.9 gr im Körper zurück. 


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425 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Die Kalkausscheidung erfolgt wie gewöhnlich zumeist durch 
den Koth und nur zu kleinem Theile durch den Ham. Die 
Ausscheidung vertheilt sich auf diese beiden Stellen wie folgt: 

Normalkost . . . imllam (5.98im Koth 1)3.02 “ „ d.Kalkes. 

Tag: 4—8 (im Mittel 

18 gr kohlens. Kalk) imllarn 7.507«) > ra Koth 92.50% d.Kalkes. 

Tag 8—11 (im Mittel 

10 gr kohlens. Kalk) im Harn 12.407«, im Koth 87.607„d. Kalkes. 
5. Die Gesammtphosphorsäure der Ausscheidungen 
blieb während der drei Perioden des Versuches annähernd gleich. 
Sie betrug im Mittel 

in der Vorperiode .... 3.99 gr, davon im IIam 2.40 gr 
in der Periode mit 18gr Kalk¬ 
carbonat .3.89 gr, davon im Ham 1.00 gr 

in der Periode mit 0 gr Kalk¬ 
carbonat .3.94 gr, davon im Harn 1.90 gr 

Dagegen sank die Phosphorsäure des Harns, während die 
Phosphorsäure im Kothe entsprechend stieg. Die Verminderung 
der Harnphosphorsäure betraf, wie sich nach den Versuchen von 
Strauss erwarten liess, im wesentlichen das Mononatrium¬ 
phosphat, während das harnsäurelösende Dinatriumphosphat nur 
wenig betroffen wurde oder sogar eine absolute Vermehrung 
erfuhr, sodass es gegenüber dem Mononatriuraphosphat stark in 
den Vordergrund trat. 

Das Dinatriumphosphat betrug in der Vorperiode im Mittel 
1,423 gr, sank in der zweiten Periode auf durchschnittlich 1,208 gr 
(d. h. auf 84,8 pCt., stieg in der dritten Periode auf durch¬ 
schnittlich 1,60 gr (d. h. auf 110,6 pCt.). 

Das Mononatriumphosphat betrug in der Vorperiode im Mittel 
1,103 gr; es sank in der zweiten Periode auf 0,415 gr im Mittel 
(d. h. auf 37,0 pCt.) und in der dritten Peride auf durchschnitt¬ 
lich 0,291 gr (d. h. 20,4 pCt.). 

Entsprechend dem Ueberwiegen des Dinatriumphosphats 
sank die Harnacidität bedeutend und erreichte schwach saure 
und sogar amphotere Reaction. 

An den beiden letzten Tagen der zweiten Periode waren 
wir mit der Kalkdosis zu hoch gegangen, denn es wurden ein¬ 
zelne Harnproben mit deutlich alkalischer Reaction entleert, 
welche Phosphate ausfallen Hessen. Als die Kalkdosis vermin¬ 
dert wurde, nahm der Urin sofort wieder eine saure Reaction 
an, während das Verhältnis zwischen Mononatriuraphosphat und 
Dinatriumphosphat ein sehr günstiges blieb. 

7. Mit der Zunahme des Dinatriumphosphats nahm der Urin 
harnsäurelösende Eigenschaften an: 

Ein Urin der Vorperiode wurde mit Harnsäure geschüttelt. 
100 ccm enthielten vor dem Schütteln 0,01904 gr Harnsäure in 
Lösung, nach dem Schütteln 0,02548 gr. — 1(X) ccm Harn lösten 
demnach 0,00044 gr Harnsäure. 

Eine Harnprobe vom 7. Tage (also mitten aus der Kalk- 
periode) enthielt in 100 ccm 0,01624 gr Harnsäure; nach dem 
Schütteln mit Harnsäure waren noch weitere 0,01708 gr Harn¬ 
säure in Lösung gegangen. Die harnsäurelösende Kraft war 
also unter dem Einflüsse des Kalkes auf das Dreifache ge¬ 
stiegen. 

Ueberblickt man die Resultate, so ergiebt sich, wie richtig 
der Gedanke war, der zur Herstellung des Kalkbrodes führte. 
Bei der feinen Verkeilung im Brod erzielte ich mit 18 gr 
Calcaria carbonica eine stärkere Beeinflussung des Urins (im 
Sinne der Besserung seiner harnsäurelösenden Eigenschaften), 
als Strauss mit 30 gr des in Pulverform dargereichten Kalk¬ 
salzes. Sogar bei der Aufnahme von nur 6 gr Calcaria carbonica 
blieben die Verhältnisse noch ebenso günstig. Auf dieses letztere 
will ich aber kein Gewicht legen, da es sich vielleicht um die 
Nachwirkung der vorhergehenden grossen Kalkdosen handelte. 


Zum Schlüsse darf ich noch einige praktische Bemerkungen 
hinzufügen, die ich Herrn Professor von Noorden verdanke. 
Die Erfahrung hat inzwischen gelehrt, dass für weitaus die 
Mehrzahl der Fälle, wo man die Harnacidität mittelst des Kalk¬ 
brodes herabdrücken will, die Aufnahme von 250 gr des öproc. 
Kalkbrodes genügt. Damit würden also 12,5 gr Calcaria carbonica 
einverleibt. Bei Innehaltung dieser Menge wurde bisher noch 
niemals der Umschlag des Urins zur alkalischen Reaction beob¬ 
achtet; nur in vereinzelten Fällen war es nothwendig, mit der 
Kalkzufuhr noch höher zu steigen, um eine deutliche Beein¬ 
flussung des Harns zu erzielen. Ferner hat sich als zweck¬ 
mässig herausgestellt, die Kalktherapie nur periodenweise zur 
Anwendung zu bringen; die Zeitdauer schwankt zwischen 5 und 
8 Wochen; dann folgt eine Unterbrechung von mindestens zwei 
Monaten, während deren keine arzneiliche Therapie stattfindet 
oder andere bewährte Methoden zur Anwendung gelangen. 

Beiläufig sei noch erwähnt, dass die Verordnung des Kalk¬ 
brodes sich auch bei manchen Formen chronischer Diarrhöen 
und vor allem bei der sog. Enteritis pseudoraembranacea auf 
das Beste bewährt hat. 

Herrn Prof, von Noorden sage ich für die Anregung zu 
dieser Arbeit und für seine Unterstützung bei Ausführung der¬ 
selben meinen besten Dank. 


IV- Ueber die Multiplicität des syphilitischen 
Primäraffectes. 

Von 

Dr. med. et phil. Arnold Sack in Heidelberg. 

In der soeben erschienenen neuen Auflage des E ich hörst- 
sehen vortrefflichen „Handbuchs der speciellen Pathologie und 
Therapie“ B. IV S. 049 heisst es wörtlich: „Sehr bezeichnend 
und bei der Difterentialdiagnose gegenüber weichem Schanker 
trefflich zu benützen ist der Umstand, dass das barte Geschwür 
fast immer einfach auftritt; nur sehr selten wird man 
mehrere Geschwüre beobachten.“ 

Dieser Passus in solcher Form reizt zum Widerspruch, da 
er geeignet ist, den Anfänger bei der Diagnose des Initialaffectes 
irrezuleiten. Das ausgezeichnete Buch von Eich hörst ist unter 
Studirenden und Aerzten sehr verbreitet, und es ist daher zu 
erwarten, dass dieser von Eichhorst so scharf pointirte differential- 
diagnostische Standpunkt sich dem Gedächtniss des Lesers ge¬ 
wiss einprägen wird. 

Die Zeiten sind schon längst vorüber, wo man in der Zahl 
der Geschwüre einen sicheren Anhaltspunkt für die Diagnose zu 
erblicken glaubte. Ri cord war es, der mit dem alten falschen 
Dogma für immer aufgeräumt hat, und seither steht es fest, dass 
unter den vielen differentialdiagnostischen Momenten, die der 
Arzt jedesmal in Erwägung ziehen muss, wenn er vor die Frage 
gestellt wird — ob Sclerose oder weicher Schanker — die Zahl 
der Geschwüre eine nur sehr untergeordnete Rolle spielt. Im 
Allgemeinen ist es wohl richtig, dass der Primäraffect in der 
Mehrzahl der Fälle vorzieht, solitär zu erscheinen, während 
die venerische Helkose nur zu häufig multipel auftritt. Man 
müsste sich aber hüten, dieser Unterscheidung eine übertriebene 
Bedeutung beizumessen, geschweige denn einen principiellcn 
Unterschied daraus zu machen, wie Eichhorst es tliut. That- 
sache ist, dass das harte Geschwür durchaus nicht „fast immer 
einfach auftritt“, gerade so wenig wie „mehrere Geschwüre nur 
sehr selten“ beobachtet werden. 

Sehen wir uns nach einer Statistik der Häufigkeit von soli¬ 
tären und multiplen Initialaffecten um, so finden wir schon im 

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No. 20. 


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Jahre 1858 in dem Buche von Ri cord Uber den Schanker 1 ) 
werthvolle Angaben Uber diesen Punkt angeführt. Es werden 
uns dort zwei Statistiken — eine von Fournier, als er noch 
Interne bei Ricord war, die andere von Clerc — mitgetheilt. 
Die von Fournier gründet sich auf 456 Fälle der Initial¬ 
syphilis, während die von Clerc nur 267 Fälle umfasst. In der 
ersten verhält sich die Zahl der einfachen zu jener der multiplen 
Primäraftecte wie 3:1(1); bei Clerc ist das Verhältnis wie das 
von 5:1. Es käme also das durchschnittliche Verhältnis etwa 
auf 7:2 heraus. Die grösste Mehrzahl unter den mehrfachen 
Sclerosen bilden die doppelten (etwa 70 pCt. der multiplen und 
18,8 pCt. aller Sclerosen Überhaupt), während die dreifachen 
schon bedeutend weniger Vorkommen (nur 4,4 pCt. aller Fälle) 
und die zahlreicheren nur ganz exceptionell auftreten. Ich weiss 
augenblicklich nicht, ob eine neuere, grössere Statistik Uber diesen 
Punkt irgendwo zu finden ist. Die Lehrbücher und Monographien 
gehen meist fluchtig darüber hinweg, betonen wohl meist das 
vorwiegende Auftreten vor solitären Sclerosen, sagen meist auch 
bei dieser Gelegenheit, dass die multiplen durchaus nicht all¬ 
zuselten Vorkommen, geben sich aber keine Mühe, das procentuale 
Verhältnis wenn auch annähernd zu bestimmen. Es mag viel¬ 
leicht daran liegen, dass dieses procentuale Verhältnis keinen 
festen Gesetzen unterworfen ist, und je nach Rassen, Zeiten, sani¬ 
tären und hygienischen Zuständen, und schliesslich auch nach allen 
möglichen Zufälligkeiten, schwankt. So habe ich aus dem Kreff- 
ting’schen Aufsatz Uber den „Chancre mixte“ 2 ) den Eindruck 
bekommen, als ob in Norwegen z. B. das Vorkommen von mul¬ 
tiplen Sclerosen an demselben Individuum noch viel häufiger ist, 
als bei uns, da unter 10 mitgetheilten Fällen von gemischtem 
Schanker nicht weniger als 8 (!) im Laufe der Zeit lauter mul¬ 
tiple Primäraftecte ergeben haben, was jedenfalls für unsere Be¬ 
griffe befremdend ist. Aber auch bei uns bewegt sich der 
Procentsatz noch immer in den von älteren Autoren angegebenen 
Grenzen. Es wäre vom praktischen Gesichtspunkte aus nicht 
ganz werthlos, eine grössere Enquete darüber anzustellen, wie 
sich in in den grossen Sammelcanälen des luetischen Materials 
— ich meine die grossen Spitäler und Polikliniken für venerische 
Krankheiten — die Zahlen verhalten. Der solitäre Typus der 
Sclerose wird durch das Ergebniss solches Recherchen gewiss 
weder umgestossen noch umgewandelt werden, doch wird es an der 
Hand der Zahlen jedem Arzt gegenwärtig werden, dass die Multi- 
plicität der Primäraftecte durchaus nichts seltenes ist und das 
ein blinder Verlass auf dieses unzuverlässige differential-diag¬ 
nostische Criterium in sehr vielen Fällen nur Gefahren birgt, in¬ 
sofern als man sich nur zu leichten Herzens entschliesst, den 
Patienten mit multiplen Ulcera, nach Heilung derselben und ohne 
die erste Incubationszeit abzuwarten, als geheilt zu entlassen. 

FUr meine Erfahrungen finde ich das von Clerc angegebene 
Verhältniss von 5:1 bestätigt. Dass aber unter den Schankem 
auch Fälle mit einem „wahren Segen von Sclerosen“ Vorkommen, 
lehrte mich eine interessante Beobachtung, die ich kürzlich gemacht 
habe und die höchstens nur dem von Ricord und Fournier 
beschriebenen Fall mit neunzehn und jenem von Mauriac mit 
sechzehn Sclerosen nachsteht. Mein Patient brachte es nur auf 
fünfzehn typische, distincte und scharfabgegrenzte Sclerosen, deren 
Entstehung und Deutung nicht uninteressant ist. 

Herr H. C. 22 J. sieht schwächlich und anämisch aus. In den 
früheren Jahren überstand er eine Reihe von schweren Erkrankungen 
(Dipbtheritis, Typhus mit schweren cerebralen Erscheinungen, Alveolar- 


1) Ricord, Le$ons sur le Chancre regidees et publiees par A. Four¬ 
nier. Paris 1858 p. 94. 

2) R. Krcffting (Christiania), lieber „Chancre mixte“ sowie eine 
Bemerkung über Finger’« Auffassung des Ulcus mollc. Monatsh. für 
prakt. Dermat. 1895 B. XXI p. 434. 


periostitis mit Eiterungen und s. w.). Der letzte Coitus erfolgte vor 
8 Tagen. Ob das Frauenzimmer krank war, weiss der Patient nicht anzu¬ 
geben. Zn jener Zeit bestand schon starkes Jucken auf dem Baucb, 
Genitalien und Schenkeln, und weiss sich Patient zu erinnern, dass einige 
winzige Kratzeffecte am Präputium auch damals schon vorhanden waren. 
— Da das Jucken in den letzten Tagen zugenommen hat nnd sich am 
Penis einige „Hautabschürfungen“ gezeigt haben, begab sieh Patient 
nach Heidelberg, um mich zu consultiren. 

Status: Blasser, schlanker Mensch mit anämischen Schleimhäuten, 
ziemlich gut entwickelter Musculatur und mässigem Fettpolster. Die 
Haut des Abdomens nnd die Gegend der Genitalien mit Kratzeffecten 
bedeckt, welche durch Scabies verursacht sind. Auf der linken Hälfte des 
Hodensacks, unterhalb der Peniswurzel, zwei kleine Substanzverlaste, 
die sich in nichts von sonstigen Excoriationen unterscheiden. Auf dem 
Dorsum penis zwei gleiche Excoriationen. Ebensoviele am freien Rand 
des Präputiums. Am Sulcus coronarius fünf hanfkorngrosse das Aussehen 
von balanitischen Erosionen zeigende Epitheldefecte. 

Diagnose: Scabies, Balanitis. 

Therapie: Einreibung mit folgender Salbe: Ung. Hg. praec. alb. 
Bals. peruv. ana. Sonst exspectativ, keine Aetzungen. Auf die balaniti- 
Bchen Erosionen Dermatol. 

Verlauf: Die Beobachtung wurde ununterbrochen 5 Wochen lang 
fortgeführt und der Pat. täglich untersucht. Die Scabies und die Ex¬ 
coriationen in 3—4 Tagen geheilt. Intercurrente Stomatitis, durch die 
weisse Priicipitatsalbe verursacht, wird rasch geheilt. Nach 4 Tagen 
sind alle wanden Stellen am Penis geheilt, bis auf die Erosionen am 
Sulcus, die unverändert fortbestehen. Nach 8 Tagen brechen einige von 
den inzwischen schon verheilten Wunden wieder auf und bilden kleine 
atonisch aussehende mit zähem, speckigem Belag bedeckte Geschwüre, 
welche die Gösse einer Erbse nicht überschreiten. Für alle Fälle werden 
die aufbrechenden Stellen mit Quecksilber-Carbolpflastermull bedeckt. 
Nach weiteren 8 Tagen, also etwa 3 Wochen nach dem letzten Coitus 
bemerkte ich die beginnende. Induration an den beiden Ulcera auf dem 
Rücken des Penis (Siehe Figur, 1 und 2), die sich unter dem Mercnrial- 



pflaster schön überhäutet hatten, dann aber nach Verlauf von weiteren 
8 Tagen (4 Wochen nach der Infection) zwei elastische, bemdknopfartige, 
runde, prominente Primäraffectc mit characteristischer Knorpelhärtc ge¬ 
bildet haben. In der 5. Woche kam die Reihe an die am Rande des 
Präputium belegenen Erosionen (3 und 4), die sich auch rasch verhärteten 
und zwei typische Sclerosen erzeugten. Die durch dieselben hervor¬ 
gebrachte Phimose gestattete zunächst keinen Einblick in den Vorhaut¬ 
sack, doch, als sie nach einigen Tagen gehoben wurde (Ende 6. Woche), 
konnte man an Stelle der pseudo-balanitischen Erosionen jetzt 6 voll¬ 
ständig getrennte Indurationen wahrnehmen nnd palpiren, die sich so 
vertheilten, dass zwei auf die Eichel (6 und 10) und vier (5, 7, 8 und 9) 
unmittelbar hinter den Sulcus coronarius zu liegen kamen. Jede In¬ 
duration war vollständig unabhängig von den benachbarten entstanden 
und waren die dazwischen liegenden Brücken nicht im geringsten indurirt. 

Inzwischen zeigten die hinter dem freien Vorhautrande wieder auf¬ 
gebrochenen Ulcera (13, 14 und 15), sowie die unterhalb der Peniswurzel 
auf der linken vorderen Scrotalfläche gelegenen Geschwüre (11 und 12) 
keine Tendenz zur Ueberhäutung. Sie vertieften sich sichtlich und blieben 
immerfort speckig belegt. Als die übrigen Indurationen schon sämmtlich 
ausgeprägte Eigenschaften der syphilitischen Initialaffecte zeigten, war 
jedes von diesen Ulcera noch von ziemlich weichem Wall umgeben. 
Erst gegen die Mitte der (5. Woche nach der Infection zeigte sich auch 
hier die charakteristische Härte, die in der Tiefe in verhärtete Lymph- 


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427 


gefässe überging. Die letzteren konnte man eine Strecke weit gut ver¬ 
folgen, — einige von ihnen sogar bis zum dorsalen Lymphstrang, welcher 
eine ausscrgewöhnliche Härte zeigte. Die Inguinaldrüsen, welche sich 
schon in der 3. Woche ziemlich vergrössert zeigten, waren gegen das Ende 
der 6. Woche zu einem brettharten indolenten Drüsenpacket, besonders auf 
der linken Seite, der die Mehrzahl der Primäralfecte entsprach, um- 
ge wandelt. 

Gegen das Ende der 6. Woche waren somit fünfzeh n distincte, scharf- 
abgegrenzte, knorpelharte Primäraffecte zu zählen. 

Der Patient verliess zu dieser Zeit Heidelberg um sich in seiner 
Heimath einer antisypbilitischen Cur zu unterwerfen. 

In dieser hier mitgetheilten merkwürdigen Beobachtung sind 
es zwei Punkte, die unser Interesse besonders in Anspruch nehmen 
müssen. Erstens, die Multiplicitiit der Geschwüre an sich, welche 
hier die monströse Zahl fünfzehn erreicht hat, und zweitens, die 
Art der Entstehung derselben. 

Die Multiplicität der Geschwüre, wie schon oben ausgefUhrt, 
ist an und für sich nichts befremdendes. Wenn wir uns des 
Bildes, das s. Z. von Ricord gebraucht wurde, bedienen und 
den Primäraffect mit den Biss eines tollen Hundes vergleichen, 
durch welchen das Gift — hier der Hundeswuth, dort der Sy¬ 
philis — in den Körper eindringt, so verstehen wir nicht, warum 
das syphilitische Gift nicht gleichzeitig an mehreren Stellen in 
den Körper eindringen könnte, gerade wie der Mensch von einem 
tollen Hund an mehreren Stellen gebissen werden kann. Es 
kommt ja schliesslich nur auf gewisse, für derartige multiple 
Infectionspforten besonders günstige Bedingungen an. In unserem 
Fall waren solche durch Scabies gegeben, weil sich die letztere hier 
vorwiegend auf den Genitalien localisirt und somit Centinuitäts- 
trennungen in der Haut des Penis und des Scrotums erzeugt 
hatte, welche für die Aufnahme des syphilitischen Giftes von 
mehreren Stellen aus ganz besonders geeignet waren. 

Doch lehrt uns der Verlauf und die Chronologie in der Ent¬ 
stehung dieses so zu sagen fünfzelinfachen Initialaffectes, dass 
die Infection nicht gut in einem und demselben Zeitpunkt über¬ 
all dort, wo sich später Primäraffecte zeigten, erfolgt sein kann. 
Wir haben gesehen, dass, während die Indurationen 1 und 2 
schon drei Wochen nach der Infection ihre syphilitische Natur 
offenbart haben, die Sclerosen 11—15 erst Ende der 6. Woche so 
recht zur Entwicklung kamen. Wenn wir auch annehmen können, 
dass verschiedene, zu gleicher Zeit eingeimpfte harte Schanker, 
je nach ihrer Localisation oder nach sonstigen uns unbekannten 
Bedingungen, nicht immer die gleiche Zeit zu ihrer Entwickelung 
brauchen, so ist die Differenz von drei Wochen doch etwas zu 
gross, um in unserem Falle eine gleichzeitige Impfung für 
alle Primäraffecte anzunehmen. Vielmehr werden wir ge- 
nöthigt, an eine nachträgliche Verimpfung und Verschleppung 
des syphilitischen Giftes von den beim fraglichen Coitus inficirten 
auf andere Stellen in der Umgebung zu denken und zu glauben. 
Dass in den darauf folgenden 10 Tagen, als die Erscheinungen 
der Scabies noch nicht beseitigt waren, ausnehmend günstige 
Bedingungen für eine solche Verimpfung Vorgelegen haben, 
braucht nicht besonders ausgeführt zu werden. 

Dies ist also der zweite interessante Punkt in unserer Beob¬ 
achtung. Es scheint aus ihr mit Sicherheit hervorzugehen, dass 
nicht nur Slmultaninfection von mehreren Läsionen aus, sondern 
auch eine Autoinoculation zu einer Zeit, wo der Organismus 
noch nicht durchseucht war, hier stattgehabt hat, was mit den 
Beobachtungen von anderen Autoren, wie Köbner, Keyes, 
Pontoppidan u. A. in voller Uebereinstimmung steht. 


V. Kritiken und Referate. 

Paal Jalins Möbius, Leipzig: Der umschriebene Gesichts- 
schwund. Mit 7 Abbildungen. Specielle Pathologie und Therapie. 
Herausgegeben von Prof. Dr. Nothnagel. XI. Band, II. Theil 
II. Abtheilung. Wien 1895. 

Itomberg hat den halbseitigen Gesiehtsscliwund zuerst beschrieben 


und als Trophoneurose bezeichnet. Durch diese Benennung, hebt M. 
hervor, ist das physiologische Interesse für diese Krankheit erweckt 
worden, welche „bis heute eine sozusagen theoretische Krankheit ge¬ 
blieben ist“, keine besondere klinische Bedeutung erlangt hat. Desto 
willkommener ist uns die vorliegende Arbeit des Verfassers, welche in 
übersichtlicher Weise das, was wir heute von dem Krankheitsbilde des 
umschriebenen Gesichtsschwundes wissen, zusammenfasst. Nach der 
Schilderung des gesammten Krankheitsverlaufes werden die einzelnen 
Symptome eingehend besprochen. Die Beschaflenheit, die Ausdehnung, 
sowie die Folgen des Hautschwundes zieht der Verfasser in den Kreis 
seiner Betrachtung und bespricht in kritischer Weise die einzelnen in 
der Literatur veröffentlichten Fälle. Besonders macht er auf „einen der 
merkwürdigsten Züge in dem Krankheitsbilde, die gewöhnlich vorhandene 
Hemiatrophie der Zunge“ aufmerksam und beantwortet die wichtige 
Frage, ob das Symptom des umschriebenen Gesichtsschwnndes allein 
vorkomme, dahin, „dass es ihm scheine, als ob in manchen Fällen der 
umschriebene Gesichtsschwnnd wirklich allein vorhanden gewesen sei; 
freilich seien die reinen Fälle selten.“ Die den Hautschwund begleiten¬ 
den Symptome von Seiten des Trigeminus, Sympathicus, sowie die ander¬ 
weitigen nervösen Erscheinungen werden in gesonderten Abschnitten er- 
öitert. Interessant und neu ist die Ansicht des Verfassers über die 
Aetiologie der Krankheit, die er folgendermaassen zusammenfasst: „Ich 
stelle mir die Sache so vor, dass der umschriebene Gesichtsschwund die 
Wirkung einer örtlichen Schädlichkeit sei, d. h. dass durch die Schleim¬ 
haut oder die Haut ein Gift eindringe, das vielleicht an Bacterien ge¬ 
bunden ist, vielleicht auch nicht, und dass dieses langsam vordringend 
die Haut zum 8chwinden bringe, soweit es sie erreicht. Die Theilnahme 
des Fettes, der Muskeln, der Knochen an dem Schwunde findet man in 
gleicher Weise bei der Sklerodermie; hier wie dort ist die Verände¬ 
rung der Haut das Primäre und jedem bleibt es freigestellt, sich den 
Zusammenhang zwischen den primären und den secundären Verände¬ 
rungen vorzustellen, wie er will.“ Energisch tritt der Verfasser der 
Ansicht, dass die Trigeminuserkrankung die Ursache des umschriebenen 
Gesichtsschwundes sei, entgegen; er meint, „dass der umschriebene Ge- 
siclitsschwund und die Trigeminusneuralgie coordinirte Wirkungen der¬ 
selben Ursache seien.“ 

Die spärlichen pathologisch anatomischen Befunde (Pissling, 
Jolly und Recklinghausen, Mendel) werden kritisch besprochen 
und schliesslich die Diagnostik, Verlauf und Prognose, sowie die Therapie 
der Krankheit kurz erörtert. 

Es ist dem Verfasser gelungen, auch denen, die keinen Fall der 
geschilderten seltenen Krankheit gesehen haben, ein anschauliches Bild 
des Leidens zu entwerfen. Seine ätiologischen Betrachtungen werden 
anregend, in den Discussionen über die trophischen Störungen des 
Nervensystems, wirken. _ 


H. Oppenheim, Berlin: Die syphilitischen Erkrankungen des 
Gehirns. Specielle Pathologie und Therapie. Herausgegeben 
von Prof. Dr. Nothnagel. IX. Band, I. Theil, III. Abtheilung, 
II. Lieferung. Wien 1896. Alfred Holder. 

Nachdem der Verfasser in der Einleitung der grossen Fortschritte 
gedacht hat, welche die Lehre von den syphilitischen Erkrankungen des 
Centralnervensystems besonders durch die Forschungen der letzten drei 
Decennien erfahren hat, wendet er sich der ätiologischen Betrachtung 
zu. Aus der Fülle der interessanten Angaben beben wir die in jüngster 
Zeit gewonnene Erfahrung, dass die syphilitischen Erkrankungen der 
nervösen Centralorgane „sehr häufig schon innerhalb des ersten Jahres 
oder selbst des ersten Halbjahres nach der Infection zur Entwickelung 
kommen,“ sowie die wichtige Thatsache hervor, „dass es nicht etwa die 
besonders schweren Formen der Syphilis sind, welche das Nervensystem 
gefährden, sondern häufig vorwiegend die milderen Erscheinungsformen 
dieser Infectionskrankheit.“ Eingehend wird die pathologische Anatomie 
und Histologie der Gehirnsyphilis besprochen. Es werden die durch die 
Syphilis erzeugten Veränderungen an den Meningen, den Gehirnnerven 
und Hirngcfässen geschildert; die Ansichten über die seit den Arbeiten 
Heubner’s in den Vordergrund des Interesses stehendenVeränderungen 
an den Gefässen werden in kritischer Weise beleuchtet; auf Grund seiner 
eigenen Erfahrungen kommt der Autor zu folgenden Schlüssen: 

„In einem grossen Theil der Fälle geht die Affection der Arterien 
von der Umgebung aus, indem eine Gummigeschwulst oder eine syphi¬ 
litische Meningitis direkt auf die Gefässwand übergreift.“ Ausserdem 
können die Gefiisse selbstständig erkranken und zwar 

1. unter dem Bilde der von Baumgarten, Marchand u. A. be¬ 
schriebenen Arteriitis, beziehungsweise Periarteriitis gummosa; 

2. in Form der von Heubner beschriebenen Endarteriitis; 

3. als Periarteriitis und Mesarteriitis mit diffuser Zellinfiltration der 
Aussenhäute und analoger oder Heubner’scher Erkrankung der Intima. 

Mit Nachdruck weist der Verfasser auf die grosse Schwierigkeit hin 
„aus den anatomischen Veränderungen einen sicheren Rückschluss auf 
die syphilitische Natur der Affection zu machen“ und führt die anatomi¬ 
schen Merkmale, welche uns in vielen eine Diagnose ermöglichen, an. 

Es wird dann das noch „recht dunkle Gebiet der Beziehungen 
zwischen Syphilis und den einfachen Entzündungen, Erweichungen und 
Atrophien“ des centralen Nervensystems in den Bereich der Betrachtung 
gezogen. Die Thatsache wird festgestellt, dass gelegentlich Entzündungs¬ 
und Erweichungsherde im Gehirn Syphilitischer gefunden werden, die 
weder auf eine Gefässerkrankung noch auf eine Neubildung zurückgeführt 
werden können. Den pathologisch anatomischen Ausführungen sind Ab- 

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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 20. 


bildungen, die tum grossen Theil nach eigenen Präparaten des Autors 
angefertigt sind, zur Erläuterung beigegeben. 

Aus der Schilderung der pathologischen Anatomie der Gehirnsyphilis 
geht hervor, „dass die Lues sehr mannigfache Veränderungen am cen¬ 
tralen Nervenapparat hervorruft, und dsss sie nicht ein bestimmtes 
Symptomenbild, sondern eine ganze Gruppe verschiedenartiger hervorbringt. 
Wir kennen kaum eine andere organische Hirnkrankheit, bei welcher 
die Functionsstürungen solchen IntensitätBschwankungen unterworfen 
wären, bei welcher das einzelne Krankheitszeichen, wie der ganze 
Symptomencomplex durch eine solche Unbeständigkeit und Beweglichkeit 
ausgezeichnet wäre.“ 

Mit diesen Worten, die der Verfasser der speciellen Symptomato¬ 
logie vorausschickt, wird prägnant die Eigentümlichkeit der verschie¬ 
denen Symptomenbilder, unter denen die Lues cerebralis auftritt, ge¬ 
kennzeichnet. Wir sind nicht im Stande, die Fülle der Krankheits- 
erscheinnngen, welche uns in übersichtlicher Weise geschildert und unter 
Zugrundelegung der Lokalisation des Krankheitsprocesses gruppirt werden, 
hier wiederzugeben, möchten nur besonders auf die vortreffliche 
Zusammenfassung der bei der Gehirnsyphilis so häufig vorkommenden 
Störungen am Auge, die mitunter noch nicht genügend gewürdigt 
werden, hinweisen. Von grossem Interesse ist die Beschreibung der 
durch die hereditäre Lues hervorgerufenen Gehimkrankheiten. 

Dem symptomatologischen folgt der diagnostische Theil, in dem der 
Autor hervorhebt, „wie notwendig es ist, dass der Arzt, der eine syphi¬ 
litische Erkrankung des centralen Nervensystems erkennen will, eine 
genaue Kenntniss der Lues in allen ihren Erscheinungen besitze.“ Die 
einzelnen für die Diagnose maassgebenden Gesichtspunkte müssen im 
Original naebgesehen werden. 

Wir machen besonders auf die differentialdiagnostischen Angaben, 
welche sich anf die Beziehungen der Lues cerebrospinalis zur multiplen 
Sklerose und Tabes beziehen, aufmerksam. 

Zum Schluss wird die Prognose und die Therapie der Gehirnsyphilis 
eingehend besprochen und die Brauchbarkeit der verschiedenen thera¬ 
peutischen Methoden sorgfältig erwogen. Die praktischen Consequenzen, 
welche der Verfasser zieht, können nicht genug beherzigt werden. 

Ueberall sehen wir in dem vorliegenden Werke, wie der Autor, auf 
dem Boden des Thatsächlichen stehend, seine eigenen ausgedehnten Er¬ 
fahrungen auf dem Gebiet der Syphilis des Centralnervensystems mit 
denen der anderen Forscher auf diesem Gebiet vereinigt und zu einem 
Ganzen zu verbinden sucht. 

Das vorliegende Werk giebt uns ein getreues Bild des Standpunktes 
unserer heutigen Kenntnisse der syphilitischen Erkrankungen des Gehirns. 

Ein ausführliches Literaturverzeichniss ist dem Buche beigegeben. 

A. Westphal. 


Ludwig Stacke, Ohrenarzt in Erfurt: Die operative Freilegung 
der Mittelohrriiumo nach Ablösung der Olirmnschel als Ra- 
dlcaloperation zur Heilung veralteter «hronisclter Mittel* 
ohreitcruugen, der Curie?, derNecrose und des Cholesteatoms 
des Schläfenbeins. Tübingen, Franz Pietzcker 1897. 

Stacke, der uns durch einen im Jahre 1890 in der Section für 
Ohrenheikunde auf dem internationalen Congress zu Berlin gehaltenen 
Vortrag mit seiner Methode der operativen Freilegung der Mittelohrräume 
bekannt machte und seitdem mehrfach über seine Erfahrungen berichtete, 
bringt in dem vorliegenden Buche die seit diesem Zeitpunkt gewonnenen 
Anschauungen sowie die mit Hülfe seiner Methode erzielten Erfolge zur 
Darstellung. Wenn das von 8eiten eines Operateurs geschieht, der als 
kritischer Beobachter bekannt ist, von dem man weiss, dass er mit 
rückhaltsloser Offenheit alles berichtet, was er erlebt, so wird man 
eine werthvolle Bereicherungung der Literatur erwarten, und in der 
That werden unsere Erwartungen im vollen Maasse erfüllt. 

Das Buch besteht aus acht Abtheilungen: 1. Allgemeines, 2. Indi- 
cationen, 8. pathologische Anatomie, 4. Operations-Methode, 5. Nach¬ 
behandlung, 6. Prognose. 7. Recidive, 8. Casuistik. 

Nachdem uns der Autor auf den ersten Seiten seines Werkes ent¬ 
wickelt hat, welche Ueberlegungen ihn zu der von ihm geübten 
Operationsmethode geführt haben, giebt er einen historischen Rückblick, 
indem er nachweist, dass seine Operation vor ihm von niemand ausge- 
führt wurde, wenn auch fast zu gleicher Zeit von verschiedenen Seiten 
(Küster, Zaufal, Jansen, Hessler) andere Methoden der radicalen 
Freilegung der Mittelohrräume angegeben wurden. Im weiteren bespricht 
Stacke die verschiedenen Operationsverfahren, wobei er den Verdiensten 
anderer Autoren volle Gerechtigkeit zu Theil werden lässt, berichtigt im 
Anschluss daran einzelne Irrthümer, die hier und da in der Literatur 
über sein Verfahren verbreitet sind und kommt schliesslich in seinen 
Darlegungen zu dem Ergebniss, dass seine Methode die universellste ist, 
da sie unter allen Umständen zum Ziele führt, auch da, wo andere 
Methoden im 8tich lassen, und zugleich die gefahrloseste, weil sie — die 
richtige Handhabung vorausgesetzt — Nebenverletzungen vermeiden lässt. 
Die Operationsmethode selbst ist durch drei Phasen des Operations¬ 
ganges characterisirt: 

1) Die Voroperation, die chirurgische Freilegung des Operations¬ 
gebietes d. h. der AussenHäche des Warzenfortsatzes, des Gehörganges 
und der Paukenhöhle hat die Ablösung der Ohrmuschel zur Voraus¬ 
setzung. Dieselbe ist, wie Stacke schon in seinen früheren Arbeiten 
rückhaltlos anerkannt, nicht von ihm erfunden, sondern bereits von 
Schwartze zur Entfernung von Fremdkörpern ausgefiihrt worden. In¬ 


dessen spaltete Schwartze den GehörgangsBchlauch nach Ablösung: der 
Ohrmuschel nur in longitudinaler Richtung, um hinter den Fremdkörper 
zu gelangen. Die quere Durcbtrennung des häutigen Gehörganges mög¬ 
lichst nahe am Trommelfell, die Heraushebung des ganzen Gehörgang- 
Rchlauches, die Abmeisselung der hintern Obern Gehörgangswand, um 
Platz zu gewinnen, die liesection des Pars epitympanica und des Annulun 
tympanicus sind dagegen Maassnahmen, welche niemand vor Stacke 
ausgefiihrt und empfohlen hat. 

Diese Voroperation, die in gleicher Weise zur Entfernung von Fremd¬ 
körpern, zur Abmeisselung von Exostosen des GehörgangeB, zur Excision 
von Hammer, Amboss und Steigbügel, zur Aufmeisselung des Labyrinths 
dient wie zur radicalen Freilegung der Mittelohrräume, wird niemand 
entbehren können, welcher einen der vorstehend bezeichneten Eingriffe 
unternehmen will, wenn er vom Gehörgang aus nicht zum Ziele kommt. 
Durch diese Voroperation die Freilegung der tiefer gelegenen Theile er¬ 
möglicht zu haben ist Stacke’s unbestreitbares Verdienst. 

2. Was die zweite Phase im Operationsgang der radicalen Freilegung 
der Mittelohrräume betrifft, so hat Stacke dieselbe sowohl von hinten, 
von dem eröffneten Antram aus, als auch vom Kuppelraum aus. also von 
innen nach aussen vorgenommen. Auch die letztere Methode ist aus¬ 
schliesslich zuerst von Stacke geübt worden, während gleichzeitig von 
andern Autoren (Küster, Zaufal, Jansen, Hessler) noch andere 
Methoden angegeben wurden, welche von Antrum ausgehen und — wie 
Stacke ausdrücklich hervorhebt — im Endeffect mit der Beinigen durch¬ 
aus gleichwerthig sind. 

3. Das dritte Stadium der Operation besteht darin, dass der häntige 
Gehörgang zur plastischen Deckung der Wundhöhle Verwendung findet. 
Auch diese Idee verdanken wir Stacke und alle Modificationen, die 
später angegeben wurden, haben Stacke’s Verfahren zum Ausgangs¬ 
punkt genommen. 

Von Interesse ist die Art und Weise, wie der Autor bei der Ope¬ 
ration des Cholesteatom s vorgeht. Auf Grund der Tbatsache, dass die 
Cholesteatomzapfen unter der Matrix in die Häversi’sehen Canälchen 
weiter wachsen, erstrebt der Autor die gründlichste Beseitigung, indem er 
mit Hülfe von Fraisen, die durch einen Electromotor getrieben werden, 
alle Unebenheiten der OperationsbÖhle glättet und dabei bis ins Gesunde 
hinein resp. bis an die Dura vordringt und auch den Facialiswulst in 
einer Weise angreift, wie er es früher mit dem Meissei nicht riskirt hat. 

Ich muss es mir versagen, auf die mannigfachen interessanten,, in 
den einzelnen Abschnitten des Buches niedergelegten Beobachtungen und 
Ausführungen, die gerade für den Fachmann werthvoll sidd, einzugehen, 
ich betone nur kurz, dass Stacke die Indicationen zur Operation streng 
stellt, dass ferner die Aufgaben der Nachbehandlung in ausführlicher 
Weise besprochen werden, und dass die Prognose als eine durchans 
günstige bezeichnet wird. Allerdings ist der grosse • Procentsatz von 
Heilungen imponirend! Von 100 Fällen wurden 94 gebeilt, 3 Todesfälle 
unabhängig von der Operation, 1 Fall blieb ungeheilt. 

Die Durchschnittsdaucr der Behandlung betrag B*/, Monate, eine 
Verhältnisszahl, deren Höhe besonders durch einige tuberculöse Er¬ 
krankungen und durch die ersten Fälle, bei welchen noch nicht ge¬ 
nügende Erfahrungen zu Gebote standen, ungünstig beeinflusst wurde. 
Im Allgemeinen verlaufen nicht allzu ungünstige Fälle innerhalb eines 
Zeitraumes von 2—2'/, Monaten. 

In der kurz angeführten Casuistik, welche genaue, für die Richtig¬ 
keit der Indicationsstellung beweiskräftige Befunde bringt und eine 
präcise Darstellung des Verlaufes, mit vielfachen epikritischen Be¬ 
merkungen giebt, wird uns eine grosse Summe interessanter Einzelheiten 
mitgetheilt. 

Alles in allem haben wir ein Werk vor uns, das wegen der Fülle 
der darin enthaltenen Thatsachcn und lehrreichen Beobachtungen dem 
Autor in den Kreisen der Fachgenossen und praktischen Aerzte lebhafte 
Anerkennung eintragen wird. 

Rudloff, Wiesbaden. 


VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. 

Gesellschaft der Charit^-Aerzte. 

Sitzung vom 10. December 1896. 

Vorsitzender: Herr Senator. 

Vor der Tagesordnung. 

Hr. A. Westphal: Ein Fall von Tabeg mit Herpes Zoster. 

Die 33 Jahre alte Patientin befindet sich seit dem 6. ds. Mts. in 
unserer Behandlung. 

Ihr Leiden begann vor 2 Jahren mit Doppeltsehen; es sollen 
nach dem Attest de3 damals behandelnden Arztes Lähmungs¬ 
erscheinungen der äusseren Augenmuskeln bestanden haben, welche nach 
einer im Frühjahr dieses Jahres eingeleitcten Schmiercur verschwanden. 
Bei einer Nachcur, welche Patientin im Juli in Aachen gebrauchte, 
trat ein acuter Erschöpfungszustand ein, der mit psychischen Verände¬ 
rungen, Verwirrtheit, Erregung und grosser Vergesslichkeit, Hand in 
Hand ging. Patientin unterbrach die Cur und befand sich dann bis 
November d. J. wohl, auch die psychischen Störungen sollen völlig 
zurückgegangen sein. 


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ll.ttat 189 ?- 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


429 


Etwa 3 Tage vor der Aufnahme in die Charite traten znm ersten 
Mal heftige, bohrende, anfallsweise auftretende Schmerzen im linken 
Bein auf, verbunden mit einer anderen Affeclion, auf die ich zurück¬ 
komme. 

Bei der Untersuchung finden wir beiderseits reflectorisehe Pupillen¬ 
starre, während die Reaction auf Aecomodation erhalten ist. Von einer 
Lähmung der äusseren Angenmusculatur ist jetzt Nichts mehr nach¬ 
weisbar. 

Die ophtalmoskopische Untersuchung ergiebt beiderseits deutliche 
Abblassung der Optici, beginnende Atrophie der Sehnerven. Die Knie¬ 
phänomene fehlen. Beim Gehen ist Nichts von Ataxie zu sehen, dagegen 
tritt beim Kniehackenversuch leichte Unsicherheit, Andeutung von Ataxie 
hervor. Das Romberg’sche Symptom ist vorhanden. Es besteht eine 
Hlasenstörung, Retentio urinae, Patientin muss katheterisirt werden. 

Schliesslich erwähne ich, dass das Symptom der Urticaria facticia 
in sehr ausgesprochener Weise vorhanden ist, sowie eine profuse Sali- 
vation (ohne Hg-Gebrauch). 

Die Symptome in ihrer Gesammtheit lassen die Diagnose Tabes 
dorsalis mit Sicherheit stellen. Der Grund, weshalb ich Ihnen die Pa¬ 
tientin zeige, ist nun eino Hautaffection, welche dieselbe in exquisiter 
Weise darbietet. Sie sehen, wie die linke Seite des Gesässes, die 
hintere 8eite des linken Oberschenkels, die hintere und äussere Fläche 
des linken Unterschenkels, der Fussrücken, die einander zugewandten 
Seiten der Zehen nnd etwas auch noch der mediale Fussrand von in 
Gruppen stehenden kleineren und grösseren Bläschen, die mit heller 
Flüssigkeit erfüllt sind, eingenommen sind. Einige Bläschen zeigen 
einen eitrig getrübten Inhalt, so dass sie kleinen Pusteln gleichen, eine 
Anzahl Bläschen ist schon geplatzt, an ihrer Stcjle finden sich Krusten 
oder röthliche kleine 8tellen. 

Wir haben es hier mit einer Herpeseruption zu thun; dieselbe ist 
kurz vor der Aufnahme in die Charite, zu gleicher Zeit mit den reissen¬ 
den Schmerzen in dem linken Bein entstanden. 

Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass dieser Herpes einem be¬ 
stimmten Hautnervengebiet angehört, nämlich fast ausschliesslich den 
Nerven, welche aus dem Plexus sacralis hervorgehen, mit Ausnahme der 
Eruption oben am Gesäss (N. cut. clun. sup. Plex. Iumbalis). 

Wir sehen, dass die Hautstellen, welche von Aesten der Lumbal¬ 
nerven versorgt werden, vordere und innere Fläche des Oberschenkels, 
innere Fläche des Unterschenkels frei von Herpeseruption sind. Die 
Lymphdrüsen sind nicht geschwollen. Die Eruption ist auf die linke 
Seite beschränkt. 

Wir haben es also mit einem Herpes zu thun, der sich dem Ver¬ 
lauf gewisser Hautnerven anschliesst, einem Herpes zoster. 

Spontan bestehen im linken Bein zeitweilig auftretende heftige 
reissende Schmerzen, die vorwiegend auf das erkrankte Gebiet des N. 
iscbiadicus beschränkt sind. Bei diesen Anfällen sind die betreffenden 
Nervenstämme sowie die unteren Partien der Wirbelsäule sehr druck¬ 
empfindlich. Deutliche objectiv nachweisbare Störungen der Sensibilität, 
des Schmerz- oder Tastgefiihls sind an den erkrankten Hautstellen nicht 
nachweisbar. Ob feinere Sensibilitätsstörungen vorhanden sind, ist bei 
dem psychischen Verhalten der Patientin, welche sehr apathisch und 
unaufmerksam ist, nicht sicher festzustellen. 

Dass der Herpes zoster auf einer nervösen Erkrankung beruht und 
zwar in einer Reihe von Fällen auf Veränderungen der Intervertebral¬ 
ganglien, ist — nach den bekannten Untersuchungen Bärensprung’s, 
(Charit»'f-Annalen 9.—11. Bd.) —, die später von Hebra, Kaposi, 
Le 8 ser und von neurologischer Seite besonders von C har cot bestätigt 
wurden, nicht zweifelhaft. Man fand in den Ganglien entzündliche Ver¬ 
änderungen, in der Regel frischere oder ältere Blutungen, Narbenbildungen 
mit mehr oder weniger vollständigem Untergang der nervösen Elemente, 
speciell der Ganglienzellen. Trotz dieser positiven Befunde steht es 
fest, dass die Erkrankung der Spinalganglien gewiss nicht in allen Fällen 
die Ursache des Zoster abgiebt, sondern dass derselbe auch durch Er¬ 
krankung peripherischer Nerven hervorgerufen werden kann; durch die 
Untersuchungen Eisenlohrs und Curschmann’s wurde festgestellt, 
dass die zum Bereich eines Zoster gehörigen Nervenstämme peri- 
neuritische Veränderungen zeigten. 

Die allermeisten Fälle von Zoster nun, welche untersucht und be¬ 
schrieben wurden, betreffen das Gebiet der Intercostalnerven, wenngleich 
auch in den verschiedensten anderen Nervengebieten, z. B. dem des 
Trigeminus, Zosteren zur Beobachtung gekommen sind. Das Vorkommen 
von Zosteren bei Erkrankungen des Centralnervensystems, wie in unserem 
Fall bei der Tabes, gehört zu den seltenen Vorkommnissen. In den 
Lehrbüchern der Rückenmarkskrankheiten') finden wir das Vorkommen 
von Herpes zoster entweder garnicht erwähnt oder die kurze Bemer¬ 
kung, dass ausser anderen Hautaffectionen, wie Pemphigus, Urticaria, 
lichenartigen Efflorescenzen, auch die Gürtelfiechte mitunter am Rumpf 
beobachtet sein soll. Charcot beschreibt in seinen Vorlesungen über 
die trophischen Störungen in Folge von Erkrankungen der Nerven, Fälle 
von Tabes, wo im Gebiet der lancinirenden Schmerzen, zugleich mit dem 


1) Anmerkung während der Correctur. In dem neuesten 
Werke von v. Leyden und Goldscheider heisst es: „Auch Herpes 
Zoster ist zuweilen bei Tabes gesehen worden; es liegt nahe, einen 
inneren Zusammenhang anzunehmen, da bei Tabes gerade das den Spinal¬ 
ganglien zugehörige Neuron erkrankt ist; immerhin ist das Vorkommen 
doch ein so seltenes, dass es sich auch um zufällige Coincidenz handeln 
kann.“ 


Auftreten derselben, Urticariaquaddeln, Herpesbläschen oder ecthymaähn- 
liche Pusteln entstanden, welche zu Ulceration führten. 

Einzelne genauer klinisch beobachtete Fälle sind mir nicht bekannt, 
doch konnte ich in der kurzen Zeit allerdings die einschlägige Literatur 
nicht vollständig durchsehen. 

Da wir wissen, dass die sensiblen Nerven häufig bei Tabes er¬ 
krankt gefunden werden, Veränderungen der Spinalganglien mitunter 
beobachtet worden sind, ihre primäre Erkrankung bei der Tabes in 
neuerer Zeit von manchen Autoren als wesentlich für die Entstehung des 
Leidens angenommen wird, könnte es vielleicht auffallend erscheinen, 
dass wir Herpes Zoster nicht häufiger bei Tabes finden. Dem möchte 
ich aber entgegenhalten, dass wir zur Zeit überhaupt noch nicht sicher 
wissen, ob wir in der Affeetion der peripherischen Nerven und der 
Spinalganglien primäre oder accessorische Veränderungen vor uns haben, 
und dann handelt es sich offenbar doch um besondere, noch nicht be¬ 
kannte Bedingungen, unter denen bei Erkrankungen der Hautnerven 
oder der Spinalganglien die uns beschäftigende Hautaffection zur Ent¬ 
stehung kommt. Unser Fall giebt uns in dieser Hinsicht keinen Auf¬ 
schluss, wir begnügen uns, auf das Vorkommen dieser Hautaffection bei 
der Tabes aufmerksam zu machen. 

Hr. Tolkmann demonstrirt anatomische Präparate, welche von 
einer Patientin herrühren, die am 7. XII. 96 auf der gynäkologischen 
Klinik der Charite aufgenommen, am 9. XII. daselbst gestorben ist. Die 
Krankheitsgeschichte ist folgende: Frau D., Arbeitersfrau, 80jährig, 
8 Partus, 1 Abortus, letzte Menses Anfang Juli d. J., fühlte sich bis 
vor 14 Tagen völlig gesund. Zu dieser Zeit trat plötzlich eine profuse 
Blutung aus den Genitalien ein, welche nach einiger Zeit nachliess, in 
geringerem Grade noch 6 Tage andauerte. Seit 6 Tagen Fieber bis 
40,0°. Seit 4 Tagen schneidende Schmerzen beim Harnlassen. — Die 
gynäkologische Untersuchung ergab, dass die vordere Muttermundslippe 
in einen apfelgrossen, höckerigen, an einigen Stellen äusserst harten, 
theilweise oberflächlich ulcerirten Tumor verwandelt ist. Hintere Mutter¬ 
mundslippe sehr kurz. Aeusserer Muttermund fast direkt nach hinten 
gerichtet, kaum für die Fingerspitze durchgängig. Im Cervixcanal fühlt 
man bröcklige Massen, an der vorderen 8cheidenwand mehrere circum- 
scripte erbsengrosse Hervorragungen. Uterus anteflectirt, stark ver- 
grössert. Stand des Fundus uteri ein Querflnger breit über dem Nabel. 
Kindliche Herztöne nicht zu hören. Temperatur 40,5°. Urin leicht ge¬ 
trübt, geringer Albumengehalt, Eiterkörperchen, verfettete Nierenbecken- 
epithelien, keine Cylinder. — Diagnose: Carcinoma uteri gravidi et 
vaginae, Pyelitis. — Am nächsten Mittag Temperatur 40,0“. Bei der 
Untersuchung in Narkose stellt es Bich heraus, dass der gesammte 
Cervixcanal in eine kaum fingerdicke, absolut starre Röhre verwandelt 
ist. Behufs Einleitung der Fehlgeburt wird die Eiblase gesprengt. 
Herabholen eines Fusses behufs Extraction der Frucht gelingt wegen 
des äusserst engen und starren inneren Muttermundes nicht. Tamponade 
des Uterus und der Scheide mit Jodoformgaze. Nach */ 2 Stunde starke 
Blutung durch die Tampons aus dem Uteruscavum. Der Muttermund 
hat sich nicht im geringsten erweitert. Daher möglichst umfangreiche 
Abtragung der carcinomatösen Massen und Ausräumung des Uterus unter 
ausgiebiger Zerstückelung der Frucht. Wegen der grossen Starrheit 
und Enge des inneren Muttermundes und des Cervixcanals ist die Aus¬ 
räumung sehr mühsam. Darauf steht die Blutung. Am Abend des 
nächsten Tages Exitus nach schnell zunehmendem Collaps. — Die Ob- 
duction ergab: Carcinoma cervicis uteri (labii anterioris) et vaginae. 
Carcinoma metastaticuin glandularum retroperitonealium. Pyelonephritis 
bacteria dextra. Hypcrplasis pulpae lienis. — Besonders hervorzuheben 
ist bei dem Fall, abgesehen von dem relativ jugendlichen Alter der Pa¬ 
tientin, der Umstand, dass ein derartig vorgeschrittenes Cervixcarcinom 
nach den bestimmten Aussagen der Patientin bis 2 Wochen vorher 
keinerlei subjective Erscheinungen gemacht hat, was auf einen äusserst 
rapiden Fortschritt der Erkrankung während der Schwangerschaft 
Bchliessen lässt, sowie das secundäre Carcinom der retroperitonealen 
Lymphdrüsen, was an sich verhältnissmässig selten ist, jedenfalls in der 
Regel erst sehr viel später aufzutreten pflegt. 

Hr. H. Rage: Demonstration eines Falles ron angeborener 
Pulmonalstenose bei einem 18jfthrigen Mädchen. 

Die Patientin, die ich Ihnen hier vorführe, ist beinahe 18 Jahre alt. 
Sie leidet Beit ihrer frühesten Kindheit an Blausucht. 

Bemerkenswerth ist, dass ihr lOjähriger Bruder, den ich zu unter¬ 
suchen Gelegenheit hatte, deutliche Erscheinungen von Mitralinsufflcienz 
zeigt. 

Mit l'/t Jahren hatte Patientin Mundfäule, mit 2 Jahren Masern. 
Sie war immer schwächlich, lernte erst mit 3 Jahren laufen und konnte 
nie mit ihren Altersgenossen spielen und herumlaufen. 

Mit 13 Jahren hat sie angeblich viel Blut gebrochen ohne ersicht¬ 
liche äussere Veranlassung. Sie hatte vorher nie gehustet, auch später 
kein Blut gespuckt. 

Patientin hat ihr Leiden, so lange sie denken kann; sie hat niemals 
ordentlich arbeiten, spielen oder tanzen können. Die Treppe kann sie 
nur langsam imter Athembeschwerden und Herzklopfen steigen. In der 
Schule war sie vom Turnunterricht dispensirt. 

Wegen zunehmender Beschwerden, besonders Herzklopfen, Athem- 
noth, Neigung zu Schwindel, Kopfschmerzen und Schwellung der Füsse 
wurde sie in die Gerhardt’sehe Klinik aufgenommen. 

Die Patientin ist gut genährt, Skelet und Muskulatur ziemlich 
kräftig. Gesicht gedunsen, Wangen cyanotisch. Lippen blauroth, dick. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 20. 


Es besteht Strabismus convergens und geringe Prominenz der Bulbi. 
Rachenorgane cyanotisch. Tonsillen verdickt. 

Die Extremitäten sind kühl; exquisite Trommelschlägelfingcr; 
ähnlich die Zehen. Nägel stark gebogen, blauroth. 

An den Lungen ist ausser Bronchitis nichts nachzuweisen. Respi¬ 
rationsfrequenz -- 28. 

Die Herzdämpfung beginnt im III. Intercostalraum, reicht links 
fingerbreit nach aussen von der Mammillarlinie, rechts 2’/? cm nach 
aussen vom rechten Stemalrande. Der Spitzenstoss ist im V. und VI. 
Intercostalraum leidlich kräftig sichtbar und fühlbar. Man fühlt systo¬ 
lisches Schwirren über der ganzen Ilerzdäropfung, am stärksten im II. 
linken Intercostalraum. Sichtbare Pulsation im II. und III. linken 
Intercostalraum. Die Herzgegend ist etwas vorgewölbt. 

Auscultation. Man hört über der ganzen Herzdämpfung ein 
langes scharfes systolisches Geräusch, folgend auf den I. Ton. Am lau¬ 
testen ist dasselbe im II. und III. linken Intercostalraum. Der II. Pul¬ 
monalton ist leise. Ucber der Aorta ist das Geräusch bedeutend leiser, 
es pflanzt sich nicht in die Carotiden fort. Man hört das systolische 
Geräusch über der ganzen linken Brusthälfte und auch im Interscapular- 
raum, links deutlicher als rechts. In linker Seitenlage tritt das systo¬ 
lische Geräusch über der Basis etwas verspätet auf. 

Der Puls ist beschleunigt, ziemlich klein, nicht sehr voll und etwas 
unregelmässig. 

Ara Halse ist leichte Venenpulsation sichtbar. 

Milz vergrössert. Sonst nichts Besonderes am Abdomen. 

Die Tagesmenge des Harns ist durchschnittlich etwas vermindert, 
das speciflsche Gewicht erhöht. Der Harn ist frei von Zucker; er giebt 
mit Essigsäure und Ferrocyankalium eine geringe Färbung. Im Sedi¬ 
ment finden sich reichlich Epithelicn aus Scheide und Blase, spärliche 
Leukocyten; keine Ilarncylindcr. 

Die von Grawitz angestellte Untersuchung des venösen Blutes 
ergab: 6,8 Millionen rothe Blutkörperchen. Quantität des Serums gering, 
das speciflsche Gewicht des Gesammtblutes beträgt 1077. 

Die Diagnose Stenose des Ostium pulmonale kann wohl 
nicht zweifelhaft sein bei der starken Verbreiterung der Herzdämpfung 
nach rechts, dem lauten systolischen Geräusche und Schwirren an der 
Pulmonalis, dem kleinen Pulse und fehlenden Carotidengeräusch, ver¬ 
bunden mit der erheblichen Blausucht. 

Ein Offenbleiben des Duct. Botalli wird nicht angenommen, weil 
der klappende II. Pulmonalton fehlt, ebenso die von Gerhardt betonte 
schmale Dämpfung oben am linken Stemalrande; endlich spricht da¬ 
gegen auch, dass sich das Geräusch nicht in die Carotiden fortsefzt. 
Dagegen kann man wohl annchmen, dass ein Defect der Kammerscheide¬ 
wand vorhanden ist, der ja bei Pulmonalstenosen mit überwiegender 
Häufigkeit gelunden worden ist. Für eine Communication beider Herz¬ 
höhlen lässt sich vielleicht die — wenn auch geringe — Verbreiterung 
nach links und der relativ kräftige Spitzenstoss verwerthen. — Man 
muss diesen Herzfehler jedenfalls für „angeboren“ halten, wegen der 
seit frühester Zeit bestehenden Blausucht und Schwäche und vielleicht 
auch wegen der Vorwölbung der Herzgegend. 

Die Patientin, die bald 18 Jahre wird, befindet sich bei Bettruhe 
leidlich wohl. Erscheinungen, die auf Tuberculose deuten könnten, 
fehlen vollständig. 

In der Literatur sind ja eine grosse Anzahl solcher Herzfehler be¬ 
schrieben, immerhin sind die Fälle erheblich seltener, wo die Patienten 
ein Alter von 18 Jahren und darüber erreichen. Gerhardt hebt her¬ 
vor, dass sich eine lange Lebensdauer öfter bei geschlossenen als bei 
offenen Fötalwegen vorflnde. 

Hr. Senator: Mit den Ausführungen des Herrn Vorredners bin ich 
fast durchweg einverstanden, namentlich auch betreffs der Diagnose. 
Man wird schon von vornherein, wenn man es mit einem angeborenen 
Herzfehler zu tliun hat — und die Anamnese spricht ja hier schon 
dafür — geneigt sein, eine Stenose der Pulmonalis anzunehmen. Denn 
von allen angeborenen Herzfehlern, mit denen das Leben längere Zeit 
verträglich ist, bildet die Pulmonalstenose etwa zwei Drittel der Fälle. 

Nur möchte ich die Herzfehler in diesem Alter nicht für gar so 
selten halten, als es nach dem Vortragenden scheint. Wir haben in der 
Poliklinik doch in jedem Semester einen Fall oder manchmal auch zwei 
Fälle von angeborener Pulmonalstenose und es sind nicht gerade Kinder 
in den ersten Lebensjahren, sondern auch Personen im Alter von der 
Pubertät an bis gegen das Ende der zwanziger Jahre, und zwar nach 
meiner Erfahrung etwas häufiger weiblichen Geschlechts. Wir haben 
vor einiger Zeit Gelegenheit gehabt, eine Patientin im Alter von 
25 Jahren mit angeborener Pulmonal- (Conus-) Stenose, die durch die 
Section bestätigt wurde, längere Zeit zu beobachten'), und ich erinnere 
mich noch zweier Fälle von Mädchen in den 20 er Jahren, diese aller¬ 
dings ohne Section. Ein Fall ist, wenn ich nicht irre, von 37 Jahren 
mitgetheilt, wohl der älteste bis jetzt beobachtete. Ich weiss aber im 
Augenblick nicht von wem die Mittheilung herrührt. 

Ilr. 0 Israel: Ueber den Tod der Zelle. (Der Vortrag ist in 
No. 8 und 9 dieser Wochenschrift veröffentlicht.) 


1) Passow in Charite-Annalen XIX, 1801. 


Berliner medicinische Gesellschaft. 

Sitzung vom 28. April 1897. 

(Schluss.) 

Tagesordnung. 

Hr. Sauer: Ueber Haitonwein. 

Discussion. 

Hr. R. Virchow: Ich habe dazu beigetragen, Ihnen diesen Vor¬ 
trag hier zu verschaffen, nachdem wiederholt in der Wissenschaftlichen 
Deputation für das Medieinalwesen auf Wunsch des Herrn Ministers 
Prüfungen des neuen Fabrikats Btattgefundcn haben und, specieU auf 
das Referat unseres berühmten Chemikers, des Prof. Fischer, in gün¬ 
stigem Sinne ausgefallen sind. Wie weit daraus Folgen für die künftige 
praktische Verwendung der Maltonweine sich ergeben werden, mag dahin¬ 
stehen. Indess schien cs mir von einiger Bedeutung za sein, dass Sie 
wenigstens geschützt sind vor Missverständnissen, wie sie vielfach in 
der Presse hervortreten, und welche nicht sowohl durch objective Beob¬ 
achtungen, als vielmehr durch allgemeine Erfahrungen aus der Geschichte 
vieler neuer Fabrikate zu häuslichen und medicinischen Zwecken ent¬ 
standen sind. Die in Betracht kommenden Objecte stehen hier, Herr 
Sauer wird die Freundlichkeit haben, sie nachher den Herren Collegen 
näher zu bringen. 

Hr. Ewald: Als mir Herr Dr. Sauer vor einer Reihe von Jahren 
die erste Mittheilung von dem soeben mitgetheilten interessanten Ver¬ 
fahren machte, und als er es nachher in die Praxis einzuführen suchte, 
habe ich keinen Anstand, genommen, dem Gegenstände einige empfehlende 
Worte mitzugeben und auf die Bedeutung dieses bisher noch nie in 
gleicher Weise benutzten Gährungsvorganges hinzuweisen. Ich habe 
schon damals gesagt — um nun auch die praktische Seite der Frage zu 
berühren —, dass mir durch die Gesellschaft, welche die Maltonweine 
herstellt, eine grössere Quantität der verschiedenen Weinsorten zur Ver¬ 
fügung stand, um sie im Augustahospital zu prüfen, und ich habe damals 
ein sehr günstiges Urtheil darüber abgeben können, — insoweit man 
überhaupt nach einer Prüfung ein Urtheil abzugeben berechtigt ist, bei 
der es sich nicht um subtile Stoffwechseluntersuchungen handelt, 
sondern einfach durch die klinische Beobachtung constatirt wurde, 
dass der Wein recht gut vertragen wird, gut schmeckt und alle die 
Eigenschaften auf das Nervensystem und die Herzthätigkeit hat, die 
wir von dem echten guten Süsswein kennen. Er hat aber, glanbe ich 
— und das hat Herr Dr. Sauer vielleicht nicht genügend hervor¬ 
gehoben —, noch einen Vorzug vor den minderen Süasweinen darin, 
dass er einmal absolut reinen Alkohol und keinen Fusel enthält, und 
zweitens dass er einen hohen Gehalt an Malzextract, an Maltose und 
an Phosphorsäure resp. phosphorsauren Salzen hat, der höher ist — 
namentlich, was also selbstverständlich den Malzextract betrifft —, als 
er sich in Süssweinen findet, und dadurch scheint mir in der That der 
diätetische Werth neben dem rein stimulirenden Werth des alkoholischen 
Getränks bei diesem Süsswein gegeben zu Bein. Ich habe wiederholt 
Gelegenheit genommen, auch in der Privatpraxis den Wein zu empfehlen: 
immer, muss ich sagen, mit gutem Erfolge. Feine Weinzungen merken 
natürlich den Unterschied zwischen einem solchen Sherry, wie er hier 
aufgestellt ist, oder Malaga und einem echten Malaga. Aber wenn Sie 
den Maltonwein nachher kosten werden und man ihnen denselben mit 
verbundenen Augen oder ohne Ihnen zu sagen, wo er herkommt, geben 
würde und Sie ihn kosten würden, so würden Sie kaum in der Lage 
sein, einen Unterschied zu erkennen. 

Hr. G. Klemperer: Ich möchte glauben, dass die Demonstration 
nicht vollständig ist, wenn nicht auch eine kritische Stimme zum Worte 
käme. Meine Einwände sollen sich übrigens gar nicht gegen den 
Maltonwein als solchen wenden. Denn ich will zugeben, dass er für 
viele Patienten von angenehmen Geschmack ist und von vielen Menschen 
ganz gern genommen wird; sondern meine Bemerkungen sollen sich 
gegen die Concurrenten der natürlichen Weine, die Maltonweine sowohl 
wie andere „Medicinalweine“ im Allgemeinen richten. Ich spreche nicht 
von dem Weintrinken der Gesunden oder auch solcher leidenden Men¬ 
schen, welche sich durch den Wein neben der 8tärkung eine gewisse 
Gaumen- und Zungenreizung verschaffen wollen. Diese mögen selbst 
entscheiden, ob sie Natur- oder Kunstwein trinken wollen; hier ist alles 
Sache des persönlichen Geschmackes and wir nehmen als Aerzte kein 
Interesse daran, ob das Publikum lieber echten Tokayer oder fabricirten 
Ungarwein oder künstlichen Malzwein trinkt. Mir kommt es aber darauf 
an, zu betonen, dass, wenn ein Wein als Krankenwein empfohlen 
wird — und der Maltonwein tritt doch mit ausserordentlicher Reklame 
als solcher auf: überall Messt man ja: Fragt Euren Arzt nach Malton¬ 
wein — also ich sage: wenn der Wein sich besonders als Krankenwein 
gerirt, dann ist doch die Hauptfrage: Was nützt er dem Kranken? 

Nun, wenn wir Schwerkranken, Typhösen, Pneumonikern, Phtisikern 
Wein verordnen, so kommt es uns hauptsächlich auf den Alkohol¬ 
gehalt an. Denn Alkohol ist ein vorzüglicher Erreger für das Herz 
und die Nerven. Der Alkoholgehalt ist die Hauptsache. Ob dieser 
Alkohol durch Menschenhand oder durch Natur in den Wein gekommen 
ist, oder wie ihn die Natur oder Kunst im Wein entwickelt hat, das ist 
für den Arzt nebensächlich, wenn nur neben dem Alkohol keine schäd¬ 
lichen Substanzen in dem Getränk enthalten Bind. Die zweite Frage 
des Arztes muss sein, wie theuer wird der Alkohol in einem Weine 


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431 


H.Ma\ lQ??!- _ BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


bezahlt? In welchem Verhältnis steht der reelle Werth des Weins 
zum Geldwerth? Beide Gesichtspunkte sind von geringer Bedeutung für 
Wohlhabende und zum Theil für Gesunde; aber für die ärmeren Leute 
— und auf diese speculiren doch hauptsächlich diese Kunstweine — 
kommen Bie in allererster Reihe in Betracht. Ich frage nun: wie 
theuer bezahlt man im Maltonwein den Alkohol? Maltonwein wird in 
a ,', Literflaschen zu 2 Mark verkauft; er enlhält durchschnittlich 20 pCt. 
Alkohol. Also bekommt der Kranke 150 gr Alkohol für 2 Mark. Die 
Nährwirkungen der im Wein enthaltenen Maltose u. s. w. sind so gering¬ 
fügig, dass sie kaum in Betracht kommen. 150 gr Alkohol kosten in 
der Apotheke, die immer noch theuer genug ist, 85 Pf. (als spiritus rectif. 
verschrieben, 85 pCt., 200 ccm 40 Pf.). Also bezahlt man die beson¬ 
deren Geschmackseigenschaften des Maltonweins mit 1,65 Mk. in jeder 
Flasche! Das ist doch wohl zu theuer! 

Ich mache dem Fabrikanten keinen Vorwurf daraus, dass er sich 
das sinnreiche Verfahren, dass der Vortragende geschildert hat, so theuer 
bezahlen lässt. Aber andererseits haben wir keine Veranlassung, nament¬ 
lich den ärmeren Klassen ein Kunstproduct zu empfehlen, dessen wesent¬ 
liche Wirkung sie sich viel billiger auf andere Weise verschaffen 
können. 

Wenn ich einem Kranken Alkohol zuführen will — ich rede haupt¬ 
sächlich von ärmeren Kranken, vor allem in der Kassenpraxis, wo das 
Verlangen nach Maltonwein sich mehrfach geltend gemacht hat, aber 
auch der weniger gut situirte Mittelstand kommt hier in Frage — dann 
thue ich sehr viel besser, anstatt dass ich künstlichen Wein verordne, 
dass ich entweder Branntwein, Kirsch, oder dergl. empfehle, oder dass 
ich aus der Apotheke eine etwa 25proc. Lösung von Alkohol mit Zusatz 
von Tct. Chinae oder Gentianae verschreibe, oder von den Patienten 
seihst eine Mischung von Alkohol in Selterwasser mit Zucker bereiten 
lasse. Man kann auf diese Weise ein durchaus angenehmes und an¬ 
regendes Getränk bereiten, das den Naturwein eben so gut und bedeu¬ 
tend billiger ersetzt als irgend ein Kunstwein. In der Charite z. B. 
wird auf den inneren Stationen sehr viel von einer 25proc. „Mixtura 
alcoholica“ Gebrauch gemacht. 

Es ist selbstverständlich, dass die Spirituswirkung den Wein nur da 
ersetzen kann, wo es auf die reelle Alkoholwirkung und den reellen 
Geldwerth ankommt. Das ist aber am Krankenbett des minder gut 
situirten Patienten der Fall, und diesem sollte der Arzt deswegen keine 
Kunstweine, auch keinen Maltonwein, empfehlen. 

Hr. Sauer (a. G.): Soweit es sich um physiologische Bestimmungen 
bandelt, bin ich als Laie auf dem Gebiet ja nicht im Stande, darauf zu 
antworten. Ich glaube aber, dass der Herr Vorredner nicht recht Rück¬ 
sicht genommen hat auf das geschmacklich Angenehme und auf diese 
Weise auch mit Nervenerregende der Weine. Eine Mischung aus Alkohol 
und Selterwasser, wie Sie gesagt haben, mag nur Wenigen angenehm 
sein. Man legt schon aus diesem Grunde gern höhere Preise an, als 
dem blossen Alkoholwerth eutsprechen. Andererseits bemerke ich, dass 
nach vielen Versuchen, die wir freilich nur als Laien gemacht haben, 
der Maltonwein, wie jeder andere gegohrene Traubenwein, nicht allein 
durch den Aethylalkohol wirken muss, sondern durch Begleitstoffe 
(Esther, Acetola, normale Alkohole, Stoffe sonst unbekannter Art) die 
ersichtlich neben der schnellen und starken Anregung ein ganz lang¬ 
sames Heruntergeben der Erregungscurven erzeugen, ohne eigentliche 
Depression, während jene Mischungen aus Industriespriten, die in Form 
von Schnäpsen u. s. w. gegeben werden, ganz anders wirken. 

Wir nennen Sie bei uns die Schnapsreaction, die auch manche 
Südweine zeigen, ein starkes Ansteigen und ein schnelles Abflauen der 
Wirkung bis za einer direkten längeren Depression. Das ist ein wunder 
Punkt solcher Gemische, der wohl, bei der Darreichung der verschie¬ 
denen Alcoholica und bei Kranken, die so empfindlich sind, beachtet 
werden muss. Darin eben liegt ja nach Meinung der Physiologen der 
Vorzug gegohrener Getränke, also echter Traubenweine und auch des 
Maltonweins vor den Kunstsüssweinen. 

Hr. Gotischalk; Ueber den Einfluss des Wochenbettes anf 
cystische Eierstocbgeschnülste. (Wird unter den Originalien dieser 
Wochenschrift erscheinen.) 


Sitzung vom 5. Mai 1807. 

Vorsitzender: Herr Virchow. 

Schriftführer: Herr Mendel. 

Vorsitzender: Es ist endlich die officielle Erledigung der russi¬ 
schen Passangelegenheit erfolgt. Wir haben ja schon mancherlei Nach¬ 
richten gehabt, aber bis heute noch keine officielle Anzeige. Nun ist 
durch unsern Unterrichtsminister an uns Abschrift eines Berichtes des 
kaiserlichen Geschäftsträgers in St. Petersburg vom 7. April ergangen, 
betreffend den im August in Moskau stattfindenden medicinischen (’on- 
gress. Dieser Bericht lautet — er ist an den Fürsten Reichskanzler 
gerichtet —: 

„Euerer Durchlaucht beehre ich mich geborsamst zu melden, dass 
einer Mittheilung der St. Petersburger Zeitung zufolge die russische 
Regierung allen Mitgliedern des internationalen Aerztecongresses, der 
bekanntlich im Sommer in Moskau stattfinden wird, gestattet hat, sich 
nicht nur zwei Wochen vor und zwei Wochen nach dem Congress, 
sondern beliebig lange in Russland aufzuhalten.“ 

Gleichzeitig ist mir von dem russischen Generalconsul hierselbst die 


Nachricht zugegangen, dass nach der Verfügung des kaiserlichen Ministe¬ 
riums des Innern die Pässe der jüdischen Aerzte, welche sich nach 
Moskau zur Betheiligung am XI. internationalen Congress zu begeben 
gedenken, auf unbeschränkte Giltigkeitsdauer visirt werden können. 

Ich möchte bitten, dass Sie sich durch die Schwierigkeiten, die 
nun überwunden sind, von dem Besuche des Congresses nicht abschrecken 
lassen. Ich habe auf meinen letzten Reisen gefunden, dass aller 
Orten Bereitwilligkeit besteht, den Congress zu besuchen, so dass aqch 
Aussicht vorhanden ist, dass er eine Bedeutung gewinnen wird. Es 
wäre daher sehr wünsebenswerth, dass Deutschland bei dieser Gelegen¬ 
heit nicht bloss würdig, sondern auch zahlreich vertreten sein möchte. 

Die zweite 8acbe, die ich zu besprechen habe, ist die, dass die 
deutsche Versammlung der Naturforscher und Aerzte in Braunschweig 
vom 2o. bis 25. September tagen wird. Es ist an mich eine ganze 
Reihe von Specialaufforderungen der einzelnen Sectionen ergangen.' Die 
Herren scheinen sehr eifrig zu sein, jedenfalls sehr entgegenkommmend, 
und ich kann meinerseits nur den Wunsch ausdrücken, dass Sie sich 
auf diese, für uns sehr bequem gelegene Naturforscherversamralung 
einigermaassen zahlreich vorbereiten möchten. 

In der vorigen Sitzung ist dem Vorstande der Auftrag geworden, 
sich zu äussern über die von Coblenz aus angeregte Errichtung eines 
Denkmals für Johannes Müller und über die Betheiligung der Gesell¬ 
schaft an der Beschaffung der dazu erforderlichen Mittel. Ich erinnere 
daran, dass schon in dieser Sitzung angekündigt worden ist, es werde 
eine Sammelliste ausgolegt werden. Diese hat seitdem ausgelegen, ich 
muss aber constatiren, dass ausser Mitgliedern des Vorstandes bis jetzt 
noch Niemand weiter unterzeichnet hat. Wir Alle waren ja ursprüng¬ 
lich nicht sehr ergriffen von dem Gedanken, dass gerade in Coblenz ein 
solches Monument errichtet werden sollte. Die meisten unserer Mit¬ 
glieder würden es lieber gesehen haben, wenn das in Berlin geschähe. 
Indessen nachdem einmal dieser Vorgang stattgefanden hat und nicht 
zurückgezogen werden kann, halten wir es doch für angethan, dass die 
Berliner Aerzte, die Johannes Müller am nächsten gestanden und ihn 
am genauesten kennen gelernt haben, sich zahlreich betheiligen. 

Wir haben eben noch die Frage berathen, in wie weit etwa eine 
Betheiligung der Gesellschaft als solcher erfolgen solle. Der Vorstand 
ist der Meinung, dass dazu der Augenblick nicht gekommen sei, um so 
weniger, als die Gesellschaft nicht in der Lage ist, einen grossen Bei¬ 
trag zu zahlen, und ein kleiner Beitrag momentan eher hinderlich als 
förderlich für die weitere Betheiligung sein würde. Wenn die Einzelnen 
wissen, dass das eine Aufgabe der Gesammtheit ist, so wird Jeder sich 
abwenden. Wir wünschen, dass das Gefühl der Dankbarkeit nicht ab- 
, geschwächt werde durch irgend einen falschen Schritt, und wir wollen 
Ihnen daher noch einmal das Ausliegen der Liste anzcigen und werden 
auch den Versuch machen, sie noch an mehrere geeignete Persönlich¬ 
keiten und Vereine gelangen zu lassen, um die Grundlage für eine 
würdige Vertretung der Hauptstadt zu schaffen. Vielleicht ist es prak¬ 
tisch, wenn ich die Liste schon gegenwärtig circuliren lasse und die 
Herren auffordere, noch in der Sitzung selbst ihre Erklärung abzngeben. 
Wir werden Ihnen späterhin über den Erfolg berichten. Es ist zugleich 
beschlossen worden, den anderen medicinischen Gesellschaften in Berlin 
davon Nachricht zu geben, dass wir diesen Schritt zu einer direkten 
Betheiligung der Aerzte thun, und wir werden ihnen anheimgeben, ob 
sie sich in ähnlicher Weise daran betheiligen wollen. Ob vielleicht 
späterhin daraus die Bildung eines besonderen Localcomites hervorgehen 
könnte, mag einer späteren Verhandlung Vorbehalten werden. 

Vor der Tagesordnung. 

Hr. A. Baginsky: Die Thatsache, dass bei kleinen Kindern maligne 
Tumoren Vorkommen, ist nicht neu, und ganz besonders ist bekannt, 
dass die Nieren vielfach Sitz von Tumoren sind, insbesondere von grossen 
Sarkomen. 

Wir haben im Verlaufe dos vorigen Jahres einen solchen Fall im 
Kinderkrankenhaus zu beobachten Gelegenheit gehabt, von dem ich mir 
erlaube, Ihnen die Präparate beute vorzulegen. Wir sind eben mit der 
Untersuchung dieses Falles fertig geworden, der mancherlei Besonder¬ 
heiten bietet. 

Es handelt sich um ein Kind von l'/j Jahren, welches früher nur 
an Brechruhr gelitten hatte, dann in der letzten Zeit etwas fieberhaft 
erkrankt war, auch etwas hustete. Das Kind wurde im Mai 1896 im 
Kaiser und Kaiserin Friedrich Kinderkrankenhause aufgenommen. Im 
Ganzen war es ein blasses, ziemlich wohl genährtes Kind, welches eine 
leichte Rachitis hatte, und welches eine höchst auffällige Auftreibung 
des Abdomen zeigte. Die ganze rechte Seite des Abdomen war stark 
vorgewölbt, die höchste Convexität der Wölbung im rechten Hypochon- 
drium. Die Palpation an dieser Stelle ergiebt, dass es sich hier um 
eine weiche, ja fast fluctuirende Masse handelt, welche besonders die 
Lebergegend einnimmt und von der Lebergegend nach unten bis in die 
Nabellinie, nach hinten fortgesetzt in die Nierengegend geht, ohne dass 
an dieser Stelle irgendwo tympanitisclier Percussionsschall vorhanden war. 
Die Palpation war nicht schmerzhaft und es war ein freies Exsudat in 
der Bauchhöhle nicht nachweisbar. Eine genaue Untersuchung des Urins 
ergab, dass der Ham nur wenig von normaler Beschaffenheit abwich. 
Es war nur ganz wenig Albumcn drin und es fanden sich überdies nur 
wenig morphotische Bestandtheile; einige Leukoevten, Epithelien; Cy- 
linder befanden sich gar nicht darin. 

Es wurde nunmehr, da das Kind fieberte, eine Probepunction ge¬ 
macht. Es war ja nicht unmöglich, weil das Ganze sich fluctuirend an- 


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432 


No. 20. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


fühlte, dass man es hier mit einer Eiteransammlung zu thun hatte. 
Indess ergab die Probepunction nichts Sicheres; einige fettig zerfallene 
Kundzellen. Da das Kind anflng zu verfallen, so musste man sich die 
Frage vorlegen, ob man nicht den Versuch machen sollte, sich genaueren 
Einblick in die Beschaffenheit des Tumors zu verschaffen, dessen Ent¬ 
fernung allerdings kaum möglich erschien. Ich bat unter solchen Ver¬ 
hältnissen Herrn Prof. Gluck, eine probatorische Incision auf der Höhe 
des Tumors zu machen. 

Wenn ich mir erlauben darf, an einer ganz kurzen Skizze die Ver¬ 
hältnisse darzulegen, so war die Sache folgendermaassen (s. Fig. 1): 
Unterhalb des Zwerchfells präsentirte sich der einen gedämpften Schall 
gebende Tumor; links davon tyropanitischer Schall, so dass man an- 
nehmen konnte, eB handle sich hier um einen Tumor, der sicher die 
Leber ergriffen hätte. Es war aber dabei schon von Hause aus voraus¬ 
gesetzt, da doch Leberlumoren bei Kindern verhältnissmässig selten 
sind, dass dieser Tumor auch mit der Niere Zusammenhänge. Dass 
beide Organe ergriffen sein mussten, war indess um deswillen so sehr 
wahrscheinlich, weil zwischen Leber- und Nierenregion kein tym- 
panitischer Percussionsschall vorhanden war, was doch sicher der Fall 
sein musste, wenn der Tumor allein den Nieren angebürtc und von 
hinten her die Leber etwa nur verdrängt hätte. Es wurde also auf 
der Höhe der Geschwulst incidirt, und man stiess auf eine Organ¬ 
masse. welche von dunkelbrauner Farbe und ziemlich blutreich war und 
sich so ausnahm, als wenn man Lebergewebe vor sich hätte. Auffallend 
war allerdings dabei, dass dieses Gewebe — wenn es Leber sein sollte 
— ausserordentlich matsch und weich war, so dass es uns immerhin 
einigermaassen zweifelhaft war, was man vor sich hatte. Mikroskopisch 
fanden sich ebenfalls wieder nur zerfallene, fettig gekörnte Rundzellen. 
Es war also mit der probatorischen Incision auch nichts für die Dia¬ 
gnose weiter gewonnen worden. Man musste dabei stehen bleiben: es 
handelte sich um einen Tumor, welcher die Niere und die Leber zu¬ 
gleich ergriffen hatte. 

Das Kind ging verhältnissmässig rasch zu Grunde, und die Section 
ergab, dass es sich um einen eolossalen Tumor, welcher zum grossen 
Theil erweichte Massen in cystoiden Ansammlungen enthielt, handelte. 
Ich habe von dem Tumor eine Photographie anfertigen lassen und er¬ 
laube mir, das photographische Bild vorzulegcn (s. Fig. 2). 

Figur 1. 


1. Tumormasse; 2. fympan. Schall; 3. Herz; 4. Zwerchfell. 
Figur 2. 


Niere. 



Die Tumormasse sehen Sie hier (Demonstration). Dieselbe wog 
fast über 1'/, Pfund. Wenn man sich den Tumor genauer ansiebt, so 
findet man die rechte Niere fast intact, und man sieht, wie aus dem 
Hilus der Niere diese grosse (Jeschwulstmasse hervorgewuchert ist. 
Die Masse war von unten her an die Leber gedrungen, hatte die Leber 
in Mitleidenschaft gezogen; das Ganze war mit der Umgebung ver¬ 
wachsen. In der fast meist hämorrhagischen braunrothen Geschwulst 
waren ziemlich viel weisse festere Stellen. 

Die mikroskopische Untersuchung ergab, dass es sich im Wesent¬ 
lichen um eine aus Spindelzellengewebe zusammengesetzte Gewebsmasse 
handelt, zum Theil auch um Kundzellengewebe, also ein Spindelzellen¬ 
sarkom, gemischt mit Kundzellen, welches augenscheinlich ausgegangen 
war vom Hilus der rechten Niere. 

Dieser Fall würde sich so im Wesentlichen anreihen an die schon 


vielfach bekannten, namentlich in letztet Zeit so sehr oft beschriebenen 
Fälle von Sarkom der Niere bei'kleinen Kindern, und er würde so »n 
sich ja vielleicht nicht gerade etwas Besonderes sein. Aber höchst 
merkwürdig gestalteten sich die Verhältnisse bei der weiteren Unter¬ 
suchung. Wir waren bei der Scction der Lunge in derselben auf einen 
eigenthümlichen härtlichen, fast wallnussgrossen Knoten gestossen, der 
ein etwas grauweisses bis gelbes Aussehen hatte, und den man ursprüng¬ 
lich als eine Tumormetastase in der Lunge ansah. Ausserdem fand man 
auch Schwellungen der Bronchialdriisen und in den Bronchialdrüsen 
gelblieh-weisse Massen. Die Auffassung lag sehr nahe, dass es 
sich hier um Sarkommassen handeln würde, wir waren nicht 
wenig erstaunt, dass wir in diesen Knoten ausgesprochen tuber- 
culöse Massen fanden. Es handelte sich um ganz charakteristische 
käsige Herde, in welchen sich Tuberkel und Tuberkelbacillen bei den 
verschiedenen Färbungen mit Sicherheit nachweisen liessen. Es handelt 
sich also hier um die immerhin etwas merkwürdige Combination dieses 
grossen und mächtigen Sarkomtumors in der Niere und an der Leber 
gleichzeitig mit tuberculösen Knoten in der Lunge. 

Da ich hier einen bemerkenswerthen Fall von Sarkom zeigen kann, 
so möchte ich gleich einen zweiten Fall von Sarkom anschliessen, 
der bei einem etwas älteren, 6'/, Jahre alten, Kinde vorkam. Das Kind 
hatte vor einigen Wochen Masern überstanden und war in das Kranken¬ 
haus gekommen mit dem Bemerken, dass es im Verlaufe der letzten 
Tage schlafsüchtig sei und auch erbrochen habe, und dass es anflng ab- 
zumagem. Da die Masern erst kurze Zeit überstanden waren, wurde 
es im Masempavillon untergebracht und dort zwar sorgfältig beobachtet, 
allerdings vielleicht nicht bezüglich der Escheinungen seitens des 
Nervensystems mit derjenigen Intensität, die ihm wohl auf der 
inneren Kinderabtheilung zu Theil geworden wäre. Die Erscheinungen, die 
das Kind bot, waren bei der doch immerhin genauen Untersuchung hef¬ 
tige Kopfschmerzen und Erbrechen. Der Puls wurde von Zeit zu Zeit 
unregelmässig und verlangsamt. Auch kam die schon von den Eltern 
angegebene eigentümliche Schlafsucht immer wieder zum Vorschein. 
Die Untersuchung, die gerade bezüglich etwa vorhandener Lähmungen 
ziemlich genau ist, liess solche nicht erkennen. Die Extremitäten waren 
frei beweglich, und mit normaler Sensibilität. Es war auch nichts nach¬ 
weisbar von Convnlsionen. Immer wieder klagte das Kind über heftige 
Kopfschmerzen, die es an verschiedenen Stellen des Kopfes bezeichnete. 
Die Untersuchung des Augenhintergrundes ergab keine ausgesprochene 
Stauungspapille. Man konnte also nur auf Grund der Kopfschmerzen, 
des unregelmässigen Pulses, der Hirndruckerscheinungen, die vorhanden 
waren, einigermaassen die Vermuthung hegen, dass es sich hier um eine 
etwas ernstere Affection des Gehirns handeln könnte, aber da weitere 
Erscheinungen, als die angegebenen allgemeinen nicht zum Vor¬ 
schein kamen, konnte man in der Diagnose nicht weiter kommen. 
Das Kind musste auf Wunsch der Eltern am 8. März entlassen werden, 
weil es eben nicht besser wurde. Es wurde uns aber schon am 19. März 
wieder und zwar nahezu moribund zugeführt; so war es, als es ge¬ 
bracht wurde, vollständig besinnungslos, litt an heftigem Erbrechen und 
hatte ausgedehnte Krämpfe mit Nackenstarre, Ungleichheit der starren 
Pupillen. Keine Facialislähmung. Die Krämpfe wiederholten sich, 
Schlag auf 8cblag, wichen auch nicht mehr und waren vorzugsweise 
tonischer Natur, so dass das Kind sich wie in tonischer Starre befand, 
mit zurückgebogenem Kopf. Die noch vorgenommene Lumbalpunction 
ergab reichlich fliessende wasserhelle Flüssigkeit. Das Kind starb noch 
am Tage der Aufnahme. — Die Section ergab einen ganz eolossalen 
Tumor des Gehirns von graurothem Aussehen, mit zahlreichen Blut¬ 
punkten und grösseren Blutergüssen, und einzelnen mit gelblichen er¬ 
weichten und zerfliessenden Massen gefüllten Cysten. Bei mikroskopi¬ 
scher Untersuchung erwies sich der Tumor — ich habe mir erlaubt, 
Präparate davon aufzustellen — zusammengesetzt aus Gliazellen, Spindel¬ 
zellen, aus Kundzellen, die sich gleichsam anschmiegen oder hervorgehen 
aas ausserordentlich weiten, zum Theil mit Thromben erfüllten Gefässen, so 
zwar, dass die Gefässwandungen auch eine eigentümliche hyaline, verdickte 
Beschaffenheit angenommen haben. Es handelt sich also augenscheinlich 
um ein Myxo-Angio-Gliosarkom, welches mit den Gefässen in Zu¬ 
sammenhang ist und vielleicht von denselben auch ausgegangen ist. Der 
Tumor ist sehr gross, er umfasst fast das ganze rechte Corpus striatura 
und den Thalamus opticus, er geht hinein in den Seitenventrikel und 
verdrängt einen Theil der Markmasse des Gehirns im Seitenventrikel. 
Er ist vorzugsweise, wie Sie sehen, der rechten Hemisphäre angehörig, 
aber er griff auch in soweit auf die linke Hemisphäre hinüber, dass er 
wenigstens einen Druck auf das Corpus Striatum auf der linken Seite 
auch ausübte. Er ist ausserordentlich blutreich. 

Wir haben eine eingehendere Untersuchung über die Ausdehnung 
der durch den Tumor gesetzten Läsion allerdings noch nicht vornehmen 
können, weil das Gehirn noch zu frisch ist. 

Das Bemerkenswerthe an diesem Falle ist aber doch jetzt schon, 
abgesehen von der Grösse des Tumors, dies, dass er, wiewohl er doch 
so gross war, keineswegs diejenigen Erscheinungen machte, die man 
sonst wohl den Tumoren, die speciell im Corpus Striatum sitzen und die 
auf den Thalamus opticus u. s. w. übergreifen, zuschreibt. Es waren 
keine charakteristischen Erscheinungen vorhanden, nur die allgemeinen 
Symptome des Hirntumors. Es war insbesondere nichts von Lähmungen 
vorhanden, während man doch ganz sicher sonst annimmt, dass sich bei 
Tumoren im Corpus Striatum Lähmungserscheinungen zeigen. Also es 
ist wiederum einer von den immerhin dunklen Fällen, wo der Tumor 
nicht sich durch besondere locale Symptome markirt hat. 



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il. Mal 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


433 


Daa ist das, was ich mir an diesen beiden Präparaten erlauben 
wollte. Ihnen za demonstriren. 

Hr. Heubner: So weit etwas aus der ebengehörten Demonstration 
dieses Präparates zu schliessen ist, kann ich es durchaus nicht wunder¬ 
bar (Inden, dass hier keine Lähmungen beobachtet worden sind. Wir 
sind doch jetzt, seit den Untersuchungen der Hirn-Physiologen während 
der letzten 20 Jahre, und besonders denjenigen der Anatomen, nament¬ 
lich Flechsig’s, in der Lage, recht genau die Orte im Grosshirn ab¬ 
zugrenzen, deren Schädigung Lähmungen hervorrufen. Gerade der im 
vorliegenden Falle von der GeschwuUtbildnng ergriffene Theil des Ge¬ 
hirns, hauptsächlich wie es scheint, der Gyrns fornicatus, gehört doch 
zu diesen motorischen Orten eben nicht. Es würde vielleicht von 
Interesse sein — ich weiss nicht, ob darüber Beobachtungen gemacht 
worden sind — festzustellen, ob gewisse Empfindungen ausgefallen sind 
oder nicht, was freilich beim Kinde in den feineren Einzelheiten 
schwierig nnd nur bei sehr geduldigen Untersuchten zu constatiren ist. 
Es liegt hier ein Theil der Ausbreitung der Körperfüblsphäre vor. 

Hr. A. Baginsky: Ich habe selbst über die Physiologie des Hirn¬ 
bezirks, welchen der Tumor einnimmt, eine Arbeit pubiieirt. Dies ist dem 
Herrn Vorredner nnbekannt. Des weiteren möchte ich hierzu nur bemerken, 
dass der Tumor so gross ist, dass auch wohl die Capsula interna — wir 
haben das noch nicht genau weiter untersuchen können — nicht ganz 
intact zu sein scheint. Wenn aber die Capsula interna mit erfasst ist, 
hätte man sicher erwarten müssen, dass auch Lähmungserscheinungen 
auftreten, sowohl specielle motorische, als auch sensible Lähmungen. 
Beiderlei Formen von Lähmungen aber waren hier nicht vorhanden. 
Die eingehende anatomische Untersuchung wird überdies noch weitere 
Aufschlüsse ergeben. Ich möchte heut nur zunächst das Präparat de- 
monstriren. 

Hr. Heubner: lieber Säuglingsernährung; nnd Säuglingsspitäler. 

(Der Vortrag erscheint nebst der Discussion in nächster Nummer dieser 
Wochenschrift.) 


Aerztlicher Verein zn Hamburg. 

Sitzung vom 18. April 1897. 

Vorsitzender: Herr Kümmell. 

Hr. Alsberg stellt einen Fall von extra- und intraperitonealer 
Blasenverletzung durch Pfählung vor. Der Patient, ein Ojähr. 
Knabe, war, während er auf einem eisernen Gitter Bass, ausgeglitten 
und hatte sich auf einen der Stäbe des Gitters aafgespiesat. Der Stab 
war an der Innenseite des rechten Oberschenkels hineingegangen, hatte 
den horizontalen Schambeinast durchbohrt und die oben erwähnte Ver¬ 
letzung hervorgerufen. Operation 25 Stunden nach der Verletzung bei 
sehon bestehender Peritonitis. Freilegung der extraperitonealen Wunde 
durch einen Schnitt parallel dem rechten Poupartischen Bande, dann 
Laparotomie, Reinigung der Bauchhöhle und Blasennaht. Heilung. 

A. stellt dann weiter einen 26jähr. Patienten vor, der durch 
einen wüthenden Ochsen aufgespiesst worden war und sofort 
ins Krankenhaus gebracht wurde. Durch eine Wunde am linken Rippen¬ 
bogen waren ungefähr 2 Meter Dünndarm, ein grosses Stück Dickdarm 
nnd das Netz vorgefallen, der Darm war unverletzt und wurde reponirt. 
Es war weiter der linke Rippenbogen total zertrümmert, mehrere ganz 
losgelöste Knorpelstücke mussten entfernt werden. Das Zwerchfell war 
an der Stelle der Verletzung durchbohrt, so dass man mit dem Finger 
in die Brusthöhle kam und das Herz fühlen konnte. Ausserdem Empfind¬ 
lichkeit in der linken Nierengegend. Urin blutig. Glatte Heilung. 

(Autoreferat.) 

Hr. Wiesinger berichtet über einen 40jäbr. Kranken, der Mitte 
März mit den Erscheinungen einer stinkenden Cystitis nnd mit 
Harnträafeln in Folge eines Blasensteins im allgem. Krankenhause 
zur Aufnahme kam. Ueber der Symphyse war ein Tumor palpabel, der 
nach dem Katbeterisircn nicht verschwand. Bei der durch Sectio alta 
vorgenommenen Eröffnung der Harnblase zeigte sich eine durch ein 
queres Septnm getheilte Harnblase, der obere Hoblraum enthielt den 
Stein. Es bandelte sich in diesem Falle um ein enormes Divertikel der 
Harnblase. Die Septa der Harnblase aus fehlerhafter embryonaler An¬ 
lage sind ausschliesslich longitudinale. 

Hr. Pluder demonstrirt einen Fall von chronischem Schleim- 
hantpemphigus der oberen Athmungswege, der bemerkenswerth 
iat durch das Fehlen der Mitbetheiligung der äusseren Haut. Auch die 
Mundschleimhaut war niemals ergriffen, sondern nur die Schleimhäute 
der Nase, des Retropharynx, Pharynx und Kehlkopfes. Gegenwärtig ist 
am auffälligsten der Kehlkopf erkrankt nnd bemerkt man hier die 
charakteristischen inselförmigen, an Aetzschorfe erinnernden, mit der 
Sonde leieht entfernbaren Flecken auf dem Kehldeckel und den Liga- 
mentis aryepiglotticis. Daneben besteht eine stärkere diffuse Schleim- 
hautinflltration dieser Parthien des Kehlkopfs und ist speciell der Kehl¬ 
deckel in einen dicken starren Zapfen umgewandelt. Diese Infiltration 
wird als ominöses Zeichen angesehen, da sie bei langsamem Fortschreiten 
leicht znr Stenosirung führen kann. Auch die Uvula ist inflltrirt und 
erscheint dadurch verdickt und verkürzt. Die Afiection besteht seit 
6 Jahren und begann an dem ovalen Theil der hinteren Rachenwand 


znerst, um von dort auf den Kehlkopf einerseits und die Nase anderer¬ 
seits fortzuschreiten. An der hinteren Racbenwand ist gegenwärtig ein 
gewisser Stillstand zu constatiren. (Aiitoreferat.) 

Hr. Kümmell stellt eine SOjähr., bereits 1895 wegen Care in om 
des Mundhöhlenbodens operirte Frau vor, bei der 1896 wegen Re- 
cidivs die 1. Hälfte des Unterkiefers entfernt werden musste nebst einem 
grossen Theile der umgebenden Weichtheile. Pat. hat eine Prothese er¬ 
halten, in Gestalt eines Gummigebisses, das auf den rechts noch er¬ 
haltenen UnterkieferaBt übergreift und so das Kauen ermöglicht. Die 
Kranke ist jetzt seit einem Jahre recidivfrei. 

Zweitens berichtet er unter gleichzeitiger Demonstration des be¬ 
treffenden Präparates über einen operativ behandelten Fall von hoch- 
sitzendem Oesophaguscarcinom. Die Operation ist nur lOmal 
gemacht worden. Ein Fall genesen. Es handelte sieh um eine 50jähr. 
Kranke, die seit Monaten an Schlingbeschwerden litt. Die Oesophago- 
tomie wurde links oberhalb der Clavicula gemacht. Es Hess Bich der 
Oesophagus 3 cm weit vorziehen. Eine Vereinigung der Oesophagus- 
mit der Pharynxmuskulatur durch Naht gelang nicht. Später wurde eine 
modificirte Renvers'sehe Dauercanüle in den oberen Theil des Oeso¬ 
phagus eingelegt, durch die die Kranke flüssige Kost zu sich nehmen 
konnte; bald stellte sich aber Stridor ein und die Kranke ging '/* Jahr 
nach der Operation an Erstickung zu Grunde. 

Hr. Grünberg demonstrirt einen von Nebel in Frankfurt a. M. 
angegebenen verstellbaren Finger-, Daumen- und Handgelenks- 
Pen delapparat. 

Hr. Schmilinsky stellt 2 Fälle vor von Ilernia mediana epi- 
gastrica. Im ersteren Falle handelte es sich um einen früher luetisch 
inficirten, äusserst dürftig genährten Mann, der ausser an Emphysem an 
einer beiderseitigen Schenkelhernie und Prolapsus ani litt. Magen¬ 
erscheinungen fehlten vollkommen. Auch im zweiten Falle, der eine 
Frau betraf, waren die Schmerzen unabhängig von der Nahrungsauf¬ 
nahme, sie waren nur beim Stehen vorhanden, während sie beim Liegen 
völlig schwanden. In beiden Fällen handelte es sich wohl um Netz- 
bez. Fetthernien. Der Vortr. beabsichtigt den ersteren Fall nach Aus¬ 
führung der von ihm vorgeschlagenen Operation wieder vorzustellen. 

Hr. Sick demonstrirt einen Echinococcus der Leber, der in 
den D. hepaticus durchgebrochen war. Die Echinococcusblasen ent¬ 
leerten sich durch die Papilla duodeni in den Darm. Zweitens zeigt er 
das Präparat eines enormen, ca. kindskopfgrossen wahren Diver¬ 
tikels der Harnblase. 

Hr. Simmonds: Ueber Formveränderungen der Luft¬ 
röhre. 

Vortr. weist darauf hin, dass man mit Hülfe des üblichen Sections- 
verfahrens keine genügende l'ebersicht über die Form und Achsen¬ 
richtung der Trachea erhält, er hat daher in den letzten Jahren in 
mbhreren Hundert Fällen Gypsabgüsse der Luftröhre vor dem Auf¬ 
schneiden derselben angefertigt. An diesen Abgüssen waren drei Gruppen 
von Deformitäten erkennbar: Verbiegungen, Verengerungen und 
Erweiterungen. Von den Verbiegungen kommt praktisch nur die 
ausserordentlich häufige Skoliose mit der Convexität nach links 
in der unteren Hälfte der Trachea in Betracht. Mit ihr verbindet s'th 
häufig eine Abplattung oder Furchenbildung auf der vorderen 
Trachealwand unterhalb der Mitte, indess kommt diese Abplattung 
auch unabhängig von der Skoliose vor. Beide sind bedingt durch 
Druck der Arteria anonyma und kommen besonders dann vor, 
wenn das Zwischengewebe zwischen Trachea und Anonyma sehr schmal 
und straff ist, wenn endlich die Anonyma sehr weit und derbwandig ist. 
Ein zweiter Gefässeindruck kommt an der linken Seite der Trachea dicht 
oberhalb des linken Bronchus durch den Druck des Aortenarcns zu 
Stande. Während in der Regel dieser Eindruck nur ein geringer ist, 
wird die Druckwirkung eine sehr hochgradige, wenn es sich nm 
Aneurysmen des Arcus handelt. An dem Abguss eines derartigen 
Falles zeigt Vortr., wie das Aneurysma die Trachea nach rechts ver¬ 
schoben, abgeplattet nnd spiralig gedreht hatte. Verengerungen der 
Trachea werden ausser durch Aneurysmen und Tumoren sehr häufig 
durch Strumen hervorgerufen ohne klinische Erscheinungen zu machen. 
Vortr. zeigt Abgüsse von Tracheen bei bilateralem, bei retropharyngealem 
bei retrosternalem und bei tiefgehendem intrathoracischen Kropf, bei 
denen je nach der Art des Kropfes Abplattung, concentrische Einengung 
oder Abplattung und Drehung der Trachea veranlasst worden war, ohne 
dass dadurch Respirationsstörungen bedingt wurden. Von den Ver¬ 
engerungen der Trachea sind bei Weitem die häufigsten die 
durch Verknöcherung der Trachealknorpel bedingten. Diese 
Verengerung nimmt stets die Säbelscheidenform an und ist 
oft ebenso beträchtlich, wie bei mächtigen Kropfbildungen. 
Die Trachea hat dabei oft bei einer Tiefe von 8 cm kaum eine Breite 
von 1 cm und da zäher Schleim noch weiter dazu beiträgt, das Lumen 
weiter einzuengen, kann diese „senile Säbelscheidentrachea“ 
zu schweren secundären Veränderungen der Luftwege nnd Lungen führen. 
Um so mehr muss es überraschen, dass die „senile Säbel¬ 
scheidentrachea“ bisher in keinem anatomischen oder 
klinischen Handbuch erwähnt worden ist. Sie kommt aus¬ 
schliesslich bei älteren Leuten mit starker Verknöcherung der Tracheal¬ 
knorpel vor und ihre Entstehung erklärt sich vielleicht dadurch, dass 
der Knorpel bei dieser Metamorphose das Bestreben hat, sich einzuengen 
und an dem schwächsten Punkt, dem vorderen Bogen, sich einbiegt. 
Einengung der Trachea in sagittaler Richtung kommt nur bei 
jüngeren Individuen mit weichen Knorpeln vor. Eine diffuse Ectasie 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 20. 


434 


der Trachea ist durchaus nicht, wie die Lehrbücher angeben, dem Alter 
eigentümlich. Alte Leute haben weit häufiger verengte, wie diffus er¬ 
weiterte Tracheen. Diffuse Ectasie kommt in allen Altersstufen vor und 
ist unabhängig von pathologischen Veränderungen der Luftwege; cir- 
cumBcripte Ausbuchtungen der hinteren Wand sind dagegen öfter 
bei älteren Leuten mit dünnen Tracheaiwandungen anzutreffen, nehmen 
indess sehr selten einen hohen Grad an. Zum Schluss legt Vortr. eine 
Reihe von Trachealabgüssen verschiedener Altersstufen vor. 

(Autoreferat.) 

Discussion. 

Hr. Lochte weist auf den modellirenden Einfluss hin, den die 
Nachbarorgane auf die Trachea ausüben, und fragt nach dem Einfluss 
der Thymusdrüsen. Beim Asthma thymicum ist es als eine noch offene 
Frage zu betrachten, ob der Druck der hyperplastisclien Thymusdrüse 
auf die Trachea den oft plötzlicli unter den Erscheinungen der Erstickung 
eintretenden Tod bei Kindern hinreichend erklärt. Es giebt Fälle, in 
denen eine Compression der Trachea beobachtet wurde. Vielleicht ist 
die Methode des Herrn Vortr. geeignet, die Fälle zu klären und die 
Compression der Trachea zu studiren. 

Hr. Lenhartz weist darauf hin, dass durch acute Katarrhe sich 
das Lumen der senilen Säbelscheidentrachea noch weiterhin verengern 
kann und somit der Ausbildung des Lungenemphysems Vorschub geleistet 
wird. Ferner erklärt sich der bei älteren Leuten häufig zu beobach¬ 
tende Stridor ungezwungen durch die Verengerung der Luftröhre. 

Von besonderem Interesse erscheint die Druckwirkung der Art. 
anonyma auf die Trachea. L. erwähnt einen von Cohn he im secirten 
Fall, in dem es sich um ein geringfügiges Aneurysma der Art. anonyma 
handelte. Die durch den Druck der Art. anonyma bereits physiologisch 
vorhandene Verengerung der Trachea war in diesem Fall gesteigert und 
obwohl grobanatomisch nicht hochgradig, doch, wie der stark vorhanden 
gewesene Stridor bewies, klinisch bedeutungsvoll. 

Hr. Voigt bemerkt, es Hesse sich das Zustandekommen der senilen 
Säbelscheidentrachea vielleicht aus den Druckdifferenzen der atmosphäri¬ 
schen Luft auf die inneren und äusseren Flächen der Trachea er¬ 
klären. 

Hr. Unna möchte verschiedene Wachsthumsgeschwindigkeiten ver¬ 
schiedener Gewebsabschnitte der Trachea zur Erklärung der Säbel¬ 
scheidenform heranzichen. 

Hr. Simmonds: Eine genügende Erklärung für das Entstehen der 
senilen Säbelscheidentrachea ist schwer zu finden und ist nur unter Vor¬ 
aussetzung der freilich unbewiesenen Annahme zu geben, dass der 
Trachealknorpel bei der Verknöcherung das Bestreben habe, sich einzn- 
engen. Für den Nachweis der Druckwirkung hypertiophischer Thymus¬ 
drüsen auf die Trachea konnte die Anfertigung von Abgüssen nicht ver- 
werthet werden, da nach Herausnahme der Trachea aus der Leiche der 
Gegendruck des Sternum fortfällt. Aus demselben Grunde ist auch die 
von Weigert für solche Fälle vorgeschlagene Methode, einen Quer¬ 
schnitt durch die Trachea anzulegen, nicht ausreichend. Am richtigsten 
wäre cs, vor Eröffnung des Thorax die Luftröhre von einer Tracheal- 
flstel aus auszugiesBen. L. 


VII. Wiener Brief. 

Wien, Ende April 1897. 

Schur, VcrdauuiiRslcukocytos«. — K n öpf el m acher, Feit im Saugtinx^altcr. — » Fr i ich, 
l’neiinuiturie.— It'lle und B e r g m e i« t c r, F.xlrag-'iiilale luilialsrlcroso — M n n n a !> e r fr. 
Bleivergiftung. — Weins, Pilzvergiftung. — v. Uasch, Binaurales Stethoskop. — Jollen, 
Ummeter. — Hera und Hiebei, Thermopalpatiou. — Kutin, Theorie den Schielen«. — 
Fischer, Soor der weiblichen Genitalien. 

Ueber Verdauungsleukocytose und ihr Verhältniss zur 
Resorption bei der Verdauung machte Dr. Schur, nach Ver¬ 
suchen, die er gemeinsam mit Dr. Burian unternommen hatte, in der 
Gesellschaft der Aerzte Mittheilungen. 

Er stellte zunächst fest, dass die Leukocytose in der Verdauung 
sehr unregelmässig sei, sowohl nach der Häufigkeit als nach der Dauer 
und dem Zeitpunkte des Eintrittes, so dass ihr ein diagnostischer Werth 
nicht zukomme. Die Frage des Verhältnisses der Verdauungsleukocytose 
zur Resorption bespricht 8chur von der Theorie Hofmeister’s aus¬ 
gehend, nach welcher den Lyrophzellen des Darmes die Function zu¬ 
kommt, Albumosen in Eiweiss zurückzuverwandeln und dieses dann in 
die Organe zu transportiren. Durch N-BeBtimmungen im Harne konnte 
naebgewiesen werden, dass zwar die Verdauung regelmässig mit einer 
erhöhten N-Ausscheidung einhergehe, dass diese aber nicht immer einer 
gleichmässigen Leukocytensteigerung entspreche. Man könne deshalb 
aus dem Mangel einer Verdauungsleukocytose niemals auf eine schlechte 
oder mangelnde Resorption schliessen. Schur kommt zu dem Schlosse, 
dass die Ansicht Hofmeister’s nicht aufrecht zu erhalten sei, doch 
müsse gleichwohl dem Lymphdrüsenapparat des Darmes die wichtige 
Rolle eines Schutzorganes gegen eindringende Schädlichkeiten für den 
Organismus zugewiesen werden. 

Einer sehr bemerkenswerthen Mittheilung von W. Knöpfelmacher 
verdanken wir die Kenntniss von Untersuchungen über das Fett im 
Säuglingsalter und das Fettsclerem. Das eigenthümliche Erstarren 
der Haut und des Unterhautzellgewebes, welches in Folge stärkeren 
Temperaturabfalls und grösserer Flüssigkeitsverluste auftritt, kommt nur 


im Säuglingsalter vor. Da auch bei Erwachsenen die provocirenden 
Ursachen in gewissen Krankheiten auftreten, so muss dem Säuglingsfett 
eine besondere Beschaffenheit zukommen, welche das Erstarren ermög¬ 
licht. Das wurde schon von Langer nachgewiesen, welcher zeigte, 
dass das Fett um so flüssiger ist, je höher der Oelsäuregehalt derselben 
ist. Knöpfelmacher hat nun den Oelsäuregehalt kindlicher Fette 
ermittelt und gefunden, dass derselbe beim Neugeborenen 43 pCt., beim 
älteren Kinde resp. Erwachsenen 65 pCt. beträgt, ferner dass das Fett 
des Säuglings allmählich immer Ölsäurereicher wird, and bereits za Ende 
des 1. Lebensjahres der quantitativen Zusammensetzung des Erwachsenen 
gleichkommt. Je ölsäurereicher das Fett ist, desto schwerer erstarrt es 
bei niedriger Temperatur. Damit bringt es Knöpfelmacher in Zu¬ 
sammenhang, dass sich ein Fettsclerem nach 2 Monaten nur sehr selten, 
nach 6 Monaten gar nicht mehr entwickeln kann. Beim Fettsclerem 
sind Scrotum, Penis und, wie Knöpfelmacher sah, auch Palma und 
Planta vom Erstarren verschont. Für erstere Gebilde erklärt sich dies 
aus dem Mangel an Fett, für die Planta hat Knöpfelmacher gezeigt, 
dass hier das Fett bei weitem ölsäurereicher ist als am übrigen Körper. 
Bei der Untersuchung des Uautfettes zweier 7 Wochen alter Kinder, 
von welchen das eine abgemagert, das andere gut genährt war, fand 
Knöpfelmacher, dass das abgemagerte Kind ein consistenteres Fett 
hatte als das gut genährte. 

Aehnliche Beobachtungen liegen für Thiere bereits von Zuntz vor. 

Ueber einen Fall von Pneumaturie und Soor der Harnblase 
berichtet Prof. v. Frisch. Eine vorher gesunde Frau klagt seit 8 Tagen 
Uber Harnbeschwerden. Der Harn war trüb, enthielt hanfkorngrosse, 
weisse Körner mit oberflächlichen Luftblasen; am Schlüsse des Kathe¬ 
terismus entwich unter einem lauten Geräusche Luft. Der Harn enthielt 
4 pCt. Zucker. Bei der cystoskopischen Untersuchung fand Frisch in 
der Gegend der Ureterenmündungen dieselben weisslichen Körner, wie 
im Harne, ausserdem die Blasenschleimhaut stellenweise geröthet. Die 
Körner bestanden aus dichten Pilzmycelien, welche als dem Soor an- 
gehörig bestimmt wurden. Ueber den Ausgangspunkt der Infectlon kann 
Frisch keine Angabe machen. 

Im Anschlüsse daran machte Dr. Brik die Mittheilung, dass er 
einen Fall beobachtet habe, in welchem Soor auf die Blasenschleimhaut 
dadurch übertragen wurde, dass der an Rachensoor leidende Patient die 
Gewohnheit hatte, den Katheter, den er selbst einführte, vorher einzu- 
speichelo. 

Ueber seltene Fälle von extragenitaler syphilitischer Initial- 
sclerose berichteten Rille und Prof. Bergmeister. Der erstere 
demonstrirte einen Fall mit Primäraffect an der behaarten Kopfhant und 
weiter ein Individuum mit contemporalem genitalem nnd extragenitalem 
Primäraffect am Kinn. 

Bergmeister erwähnt eine Beobachtung von extragenitaler Primär., 
sclerose am oberen Augenlid. 

Mannaberg demonstrirt einen Fall von Neuritis im Bereiche 
beider unteren Extremitäten, welche auf Bleivergiftung zurückzuführen 
war. Die bezüglich der Aetiologie dieser Intoxication eingeleiteten Er¬ 
hebungen haben ergeben, dass ausser dem vorgestellten Patienten noch 
6 weitere Familienmitglieder Zeichen der Intoxication zeigten. Dieselbe 
wurde in allen Fällen, durch den Genuss von Paprika hervorgerufeu, 
welcher mit Bleizusatz, Minium, verfälscht war. 

Im Wiener medicinischen Club sprach Dr. H. Weiss über Pilz¬ 
vergiftungen. Er schickte seinen Ausführungen eine genane Be¬ 
schreibung der essbaren und giftigen Pilze, sowie der physiologischen 
Wirkung der Giftpilze voraus und knüpfe an die selbstbeobachtete 
Casuistik dieser Vergiftungen an. Am häufigsten sind die Vergiftungen 
mit zersetzten essbaren Schwämmen. Sie ähneln den Wurst-, Käse-, 
Fisch- und Fleischvergiftungen und werden durch Fäulnissproducte der 
Eiweisskörper hervorgerufen. In einem einschlägigen Falle, der an 
Schrötter’s Klink zur Beobachtung kam, traten Augenmuskel- 
lähmungen auf, welche sonst nur bei Fleisch- und Wurstvergiftungen 
Vorkommen. 

Im selben Verein demonstrirte Prof. v. Basch ein von ihm ange¬ 
gebenes, von Castagna in Wien angefertigtes binaurales Stetho¬ 
skop. Bei demselben dient die etwas modificirte Marey'sehe Trommel 
als Schallübertrager; zwei in dieselbe eingefügte Hörschläuche, die in 
die äusseren Gehörgänge eingeführt werden, vermitteln die Wahrnehmung 
der Töne resp. Geräusche. Mit diesem Trommel Stethoskop wird die 
Wahrnehmung von Tönen und Geräuschen, welche der Auscultation 
mittels des gewöhnlichen Stethoskops entgehen, verstärkt nnd deutlicher 
gemacht. 

Ein neues Urometer für geringe Harnmengen demonstrirte 
Dr. II. Jolle s. Das Princip des Instrumentes beruht darauf, dass die 
Scala nur von 1000 bis 1010 reicht, wodurch das Instrument sehr klein 
wird und sehr wenig Flüssigkeit benöthigt. Das höhere spec. Gewicht 
wird durch Auflegen von centriseh durchlöcherten Metallscheiben auf den 
Apparat ermittelt. 

Einen Apparat zur Ermittelung der Thermopalpation de¬ 
monstrirte Doc. Dr. Herz. Derselbe besteht aus zwei hohlen Metall- 
pelotten, welche auf die zu messenden Hautstellen aufgesetzt werden. 
Die in denselben enthaltene Luft steht mit je einem Schenkel eines 
U förmigen gekrümmten und mit Alkohol gefüllten Thermometerrohres in 
Verbindung. Der Bogen des U-Rohres communicirt mit einem offenen 
Alkoholreservoir. Auf der Seite der erwärmten Pelotte sinkt das Alkohol¬ 
niveau tiefer. Dem Apparate ist eine empirisch graduirte Scala bei¬ 
gegeben. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


435 


17. Mai 


Ueber Untersuchungen mit diesem Apparate berichtet Dr. Hiebei. 
Er konnte überstimmend mit Hellner ein constantes Verhalten der 
Temperatur über dem Herzen und der Lunge nicht nachweisen. Die 
Leber zeigt sich im Gegensätze zn den Behauptungen Benczur's und 
Jona's wärmer als die Longe. Im Vergleiche zum Herzen war die 
Leber meist das kältere Organ. Bei frisch seröser Pleuritis ist Uber 
dem Exsudate die Temperatur höher, bei alter tuberculöser Pleuritis mit 
Schwartenbildung jedoch niedriger als auf der gesunden Seite. Pneu¬ 
monien zwischen dem 5. und 7. Krankheitstage (Hepatisationsstadium) 
zeigen niedrigere Temperatur (Differenz bis zu 0,8° C.). Bei 2 Fällen 
von Seropneumothorax war die erkrankte Seite um 1° nnd 2,7° kälter 
als die gesunde Seite. Zwei parametrane Exsudate waren wärmer als 
die correspondirende gesunde Körperregion, Der Vortragende stellt eine 
eingehende Untersnchungsreihe über Tuberculose in Aussicht. 

In einem ausführlichen interessanten Vortrage legte Dr. Karl Kunn 
eine nene Theorie des Schielens dar. Er bezeichnete zuerst die 
Angabe, dass dass der Strabismus concomitans meist erst bei lernenden 
Kindern auftrete, als unrichtig und führte seine Entstehung auf das erste 
Lebensjahr zurück. Diese Beobachtung stimmt mit der Theorie überein, 
nach welcher das Schielen sich auf Grundlage angeborener oder früh¬ 
zeitig erworbener abnormer mechanischer Verhältnisse entwickelt. Die 
functioneil vortheilhafteste Stellung der Augen, die Parallelstellung der 
Sehachsen im Muskelgleichgewichte, kommt dann zu Stande, wenn die 
primäre Stellung den Muskelverhältnissen (Ansatzverhältniss, Elasticität 
und Länge) diesen functioneilen Anforderungen vollkommen entspricht. 
Gewöhnlich ist die Parallelstellung der Bulbi das Product einer Action 
des Individuums, die dann zu Stande kommt, wenn die mechanischen 
Verhältnisse den binoculären Sehact ermöglichen. Sind jedoch die 
letzteren so ungünstig, dass der binoculäre Sehact nicht zu Stande 
kommen kann, dann tritt Strabismus ein. Die optischen Verhältnisse 
spielen dabei nur eine sehr geringe Rolle, denn nur so erklärt es sieb, 
dass Menschen, die aut beiden Augen gleiche normale Sehschärfe haben, 
schielen können, und wieder andere, deren Sehschärfe aus irgend welchen 
Gründen einseitig derart herabgesetzt ist, dass ein binoculärer Sehact 
nicht zu Stande kommen kann, nicht schielen müssen. Die mechani¬ 
schen Verhältnisse werden bedingt durch die Orbita, die Grösse des 
Bulbus, die Länge, Dicke der Muskeln nnd durch ihre Ansatzverhältnisse, 
sowie durch das Verhältniss zwischen Orbita und Grösse des Bulbus. 
Auf Grundlage dieser Theorie erörtert Kunn alle hier einschlägigen 
Mäglichkeiten. 

Ueber Soor des weiblichen Genitales hielt Dr. J. Fischer 
einen Vortrag. Er schildert auf Grund der Beobachtung von 4 Fällen 
von Soor das klinische Bild dieser Erkrankung. Die Vulva erscheint 
mit glänzenden weissen Flocken iib.’rsät, die sich vom geschwellten 
dunkelrothen Grunde scharf abheben. Die kleinen Labien sind in toto 
geschwellt, die Inguinaldrüsen meist intact. Die Pilzrasen wuchern meist 
in die Vagina hinein, es besteht Ausfluss. Die Pilzflocken sind schwer 
abhebbar, unter dem Mikroskop ist das Bild der Mycelien deutlich zu 
erkennen. Subjetciv klagen die Patientinnen über heftiges Jucken, 
Beissen, vermehrtes Wännegefühl in der Scheide. Der 8oor kann durch 
Infection bei der gynäkologischen Untersuchung übertragen werden. Die 
Annahme, dass Soorkeime einen häufigen oder gar conBtanten Refund 
der Scheidensecrete darstcllcn sollen, widerlegte Fischer durch syste¬ 
matische Untersuchungen. Zur Behandlung empfiehlt er energische 
Localbehandlung mit Kalium hypermanganicum. —t— 


VIII. 26. Congress der Deutschen Gesellschaft 
für Chirurgie. 

Vom 21.—24. April. 

Referent Eugen Cohn. 

II. Tag. 

(Fortsetzung.) 

Hr. L. Rehn-Frankfurt a. M.: Ueber penetrirende Herz- 
wunden und Herznaht. 

M. H.! Penetrirende Herzwunden sind seltenere Ereignisse und die 
Erfahrungen des einzelnen Arztes bei diesen Fällen gering. Es ist klar, 
dass eine weite Eröffnung der Herzhöhlen den sofortigen Tod im Gefolge 
hat. Kleine Wunden gestatten bekanntlich eine mehr oder minder lange 
Lebensdauer nnd sind sehr wohl einer Behandlung zugängig. Es ist 
durch spätere Section festgestellt, dass selbst bei complicirten Verletzungen 
eine spontane Heilung zu Stande kommen kann. Ein genaues Studium 
‘der Casuistik ist sehr lehrreich. Wir könnten auf Grund des zusammen- 
getragenen Materials versuchen, je nach Sitz und Grösse der Herzwunde 
prognostische Schlüsse zu ziehen, wenn es nicht einzelne Beobachtungen 
gäbe, nach welchen einer geringfügigen Verletzung sofortiger Herzstill¬ 
stand folgte. Die Fälle sind ebenso selten, als Shok-Erscheinungen 
bei einem Trauma des Herzens häufig sind. 

Für den plötzlichen Herzstillstand nach geringfügigen Verletzungen 
giebt eB nur eine Erklärung. Es handelt sich um Reflexwirkungen. 

Für das richtige Verständniss der Vorgänge, welche sich nach der 
Verletzung der Herzhöhle abspielen, ist es nothwendig, von allen Com- 


plicationen abzuschen, nnd das Verhalten des Herzmuskels zu betrachten. 
Die Structur des Muskels und seine functionellen Eigenschaften lassen 
auf Besonderheiten schliessen. 

Dr. Bode hat auf meine Veranlassung in dem physiologischen In¬ 
stitut des Herrn Geh. Rath Landois verschiedene Versuche angestellt. 
Ich will nur kurz anführen, dass eine leichte Berührung des Kaninchen¬ 
herzens keinen Einfluss auf die Herzthätigkeit erkennen lässt. Ein 
stärkerer Druck bewirkt Arythmie. Das Anstechen des Herzmuskels 
ruft meist einen kurzen Herzstillstand hervor, dann folgt eine be¬ 
schleunigte und arythmische Herzaction. Kleine Wunden haben wenig 
Neigung zum Klaffen, grössere klaffen, in welcher Richtung man anch 
die Muskelfasern durchtrennen mag. 

Weiterhin war es mir von Interesse, etwas Genaueres über die 
Blutung aus dem Herzen zu erfahren. Die klinische Erfahrung lehrt, 
dass in dem Moment der Herzeröffnung eine heftige Blutung stattflndet. 
Weitaus am gelährlichsten bezügl. der Blutung ist die Verletzung der 
Vorhöfe. Bei mittelgrossen Wunden blutet es reichlicher aus dem rechten 
als aus dem linken Ventrikel. Dies Verhalten erklärt sich aus der ver¬ 
schiedenen Dicke der Muskulatur. Es ist im höchsten Grade bemerkens- 
werth, dass kleine Wunden der Herzkammern bald aufhören zu bluten. 
Dabei ist nicht in erster Linie eine Gcrinnselbildung anzunehmen, son¬ 
dern eine Anpassung des Herzmuskels an die Schädigung, so dass weder 
im Zustande der Conlraction, noch in der Erschlaffung Blut austritt. 
Diese durch das Experiment erwiesene Thatsache ist sehr wohl geeignet, 
uns eine Erklärung für die Heilnng mancher penetrirender Herzwunden 
zu geben. 

Prüfen wir nun das Krankheitsbild der penetrirenden Herzwunde. 
Der Verletzte stürzt blutüberströmt zusammen. Wieviel dabei auf Rech¬ 
nung des Shoks, wieviel auf Rechnung der Circulationsstörung zu setzen 
ist, ist schwer zu sagen. Soviel ist gewiss, dass Herzwunden, welche 
den Austritt einer grösseren Blutmenge gestatten, unbedingt und sofort 
sehr schwere Erscheinungen im Gefolge haben müssen. Wir finden des¬ 
halb auch die Ohnmacht, die Cyanose, den Lufihunger, wir constatiren 
einen sehr schlechten, frequenten, unregelmässigen Puls, alles Zeichen 
einer mangelhaften Herzaction und Circulation. 

Es kommt nnr darauf an, ob der Kreislauf des Blutes erhalten 
bleibt. Wir wissen, dass eine stattliche Anzahl von Herzverletzten die 
erste Blutung übersteht. Damit ist gesagt, dass die anfängliche Störung 
mehr oder minder ausgeglichen ist. Dem aufmerksamen Beobachter 
werden freilich im Verlauf die Zeichen der mühsamen Circulation nicht 
entgehen. Wir wissen aber, wodurch eine vorläufige Erholung mög¬ 
lich ist. 

In allen Krankenberichten spielt die Wiederholung der Blutung eine 
grosse Rolle. Nach meiner Beobachtung muss ich annehmen, dass der 
Charakter der Blutung sich ändern kann. Ich habe bei meinen Patienten 
eine diastolische Blutung gesehen. So würden wir eine ausgezeichnete 
Erklärung haben, warum eine wiederholte Blutung aus dem Herzen 
relativ lange Zeit ertragen wird. 

Es ist klar, wenn wir die einzelnen Herztheile für sich betrachten, 
dass eine systolische Blutung gefährlicher ist wie eine diastolische. 

Die durch die Blutung bedingte Füllung deB Herzbeutels erschwert 
die Herzaction nnd schädigt den Kreislauf. Nach den Versuchen von 
Cohn heim wird bei sehr starkem Druck im Pericard weder Systole 
noch Diastole aufgehoben. Dagegegen wird der Blutzufluss aus den 
Venae cavae gehindert und hierdurch eine Bewegung und Stillstand des 
Herzens herbeigetührt. 

Man glaubt, dass das Herz durch die Flüssigkeit von der Brust¬ 
wand abgedrängt nnd nach hinten verlagert werde. Das ist durchaus 
nicht der Fall. Selbst bei sehr praller Füllung ist das Herz nur durch 
eine dünne Flüssigkeitsschicht von der vorderen Herzbeutelwand ge¬ 
trennt. Der flüssige Inhalt liegt nach hinten und comprimirt die Lunge, 
wie ich mich bei einer Operation überzeugt habe. 

Im Grossen und Ganzen kann man sagen:’ Bei den penetrirenden 
Herzwunden entscheidet die Blutung über das Schicksal unserer Patienten. 
Erst in zweiter Linie kommt eine Infection in Betracht. Es wäre drin¬ 
gend wünschenswerth, wenn wir sofort eine sichere Diagnose der pene¬ 
trirenden Herzverletzung machen könnten. 

Man hat die Lage der äusseren Wunde zu berücksichtigen und das 
verletzende Instrument. Ich kann es nicht für verwerflich halten, die 
Richtung eines Wundcanals der Brustwand durch eine Sondirung zu be¬ 
stimmen, sofern man die nöthige Vorsicht walten lässt. 

Ergiebt die Richtung der Wunde die Möglichkeit oder Wahrschein¬ 
lichkeit einer Herzverletzung, so wird man mit Berücksichtigung der 
oben geschilderten Erscheinungen des Oefteren im Stande sein, eine 
Diagnose zn stellen. 

Recht schwierig ist die Behandlung dieser Herzwunden. 

Der Patient soll sich absolut ruhig verhalten. So vernünftig diese 
Anordnung ist, so grosse Schwierigkeiten stellen sich ihr entgegen. Der 
Pat. hat Athemnoth, quälendes Angstgefühl. Er will keine Minute ruhig 
liegen. Sehr lebhafte Empfehlung hat seit langer Zeit der Aderlass ge¬ 
funden. Er soll die Blutung zum Stillstand bringen. Ich vermisse den 
Beweis hierfür. Wir wissen, dass der Herzmuskel selbst nach kurzer 
Zeit im Stande ist, die Wunde zu verschliessen. Selbstredend gilt das 
nur für den vorher gesunden Herzmuskel. Der degenerirte Herzmuskel 
lässt selbst aus einer St ich Verletzung durch die Punktionsspritze fort 
nnd fort Blut anstreten. Wenn wir also auf eine Blutstillung hinaus 
wollen, so erscheint mir der Aderlass mindestens als ein zweifelhaftes Mittel. 

Bei der sog. Herztamponade hat Rose die Punction resp. Incision 


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436 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 20. 


des Pericards vorgeschlagen. Eine senkrecht zur Brustwand eingeführte 
Spritze muss fast mit Sicherheit das Herz verletzen. Es erscheint daher 
am Besten, wenn man mit sorgfältiger Schonung der Pleura den fünften 
linken Rippenknorpel reseeirt und den Herzbeutel blosslegt. Dann soll 
die Nadel möglichst flach eindringen. 

Die Punction hat den Vortheil, dass Lufteintritt in das Pericard ver¬ 
mieden wird. Um aber allen Inhalt zu entleeren, dazu bedarf es der 
Drainage des Pericards. Wenn möglich sollte auch diese unter Luftab¬ 
schluss vorgenommen werden. 

Es giebt aber Fälle, wo die InciBion vorzuziehen ist, sei es, dass 
Gerinnsel den Herzbeutel anfüllen, oder dass eine andauernde Blutung 
stattflndet. 

Es ist auffallend, dass man von diesem Eingriff trotz aller Empfeh¬ 
lungen so wenig hört. Dieser Umstand hängt wohl eng mit folgender 
Frage zusammen: 

Was hat die Chirurgen bisher abgehalten, den altbewährten Grundsatz 
der dirccten Blutstillung auf die Verletzungen des Herzens zu übertragen? 

Es sind ohne Zweifel recht gewichtige Bedenken, welche die Chir¬ 
urgen vor einer Naht am Herzen zurückschrecken Hessen. 

Die Vorstellung einer Blutung aus dem Herzen hat gewiss Manchen 
abgehalten, gegebenen Falls das Herz freizulegen. Die Blutung kann 
allerdings, wie ich aus Erfahrung weiss, furchtbar sein. Allein diese 
Fälle erliegen in kürzester Frist. Jeder Eingriff kommt zu spät. Die 
sich In Stunden und Tagen abspielenden Verletzungen liegen günstiger. 

Weiterhin war es zweifelhaft, ob man überhaupt an dem stürmisch 
arbeitenden Herzen eine Naht anlegen könne. Diese Frage ist ohne 
Weiteres zu bejahen. Die Naht ist schwierig, aber die Schwlerigkeiteu 
flind zu überwinden. Endlich das gewichtigste Bedenken! Man hat das 
Herz freigelegt und findet eine Blutung, welche nicht zugänglich gemacht 
werden kann. 

Wir haben aber zu erwägen, dass die meisten Herzverletzungen 
durch Gewalten entstehen, welche von vorn kommen. Sofern es sich 
also nicht um Durchbohrungen des HerzenB handelt, werden wir Ver¬ 
letzungen zu erwarten haben, welche von vorn zugänglich sind, welche 
bei Systole.oder Diastole nach vorn zu liegen kommen. 

Das führt uns zu der Frage, welche Herztheile genügend freigelegt 
werden können. 

Die Vorderwand des rechten Ventrikels sowie einen grossen Theil 
des linken Ventrikels kann man durch temporäre Resection der 5., event. 
noch der 4. Rippe ohne Schwierigkeit zu Gesicht bringen. Durch Re¬ 
section der 8. und 4. rechten Rippe, event. mit Wegnahme eines Stücks 
vom Brustbein ist dem rechten Vorhof beizukommen. Am Schwierigsten 
ist der linke Vorhof freizulegen, indem nur die Spitze des linken Herz¬ 
ohres nach vorn liegt. 

Es ist immerhin schon ein recht ansehnlicher Abschnitt des Herzens 
zugänglich und gerade derjenige, welcher am meisten verletzt wird. 

Die Frage der Herznaht ist neuerdings von italienischen Chirurgen 
in Angriff genommen worden. 

Vortragender berichtet über einen von ihm operirten Fall. Ein 
22jähr. Mann erhielt am 7. Sept. 1896 einen Messerstich in die linke 
Brust und wurde in desolatem Zustande mit äusserster Dyspnoe, Cya- 
nose, fast pulslos und über und über mit Blut bedeckt ins Spital ge¬ 
bracht. Es fand sich eine kleine Wunde im linken 4. Intercostalraum. 
Die Herzdämpfung nach rechts verbreitert. Töne rein. Am nächsten 
Tage war das Befinden etwas besser, doch hatte sich die Dämpfung stark 
vergrößert. Am 9. Sept. eine entschiedene Verschlechterung, kleiner 
Puls, 76 Respirationen. Zunahme der Dämpfung, Pat. machte den Ein¬ 
druck eines Sterbenden. Operation: Incision der Pleura im 4. Inter¬ 
costalraum nnter Durchtrennung der 5. Rippe. Der Herzbeutel wird frei¬ 
gelegt und die kleine Wunde etwas erweitert. Nach Eröffnung des Peri- 
cardiums sieht man trotz der gewaltigen Blutung eine ca. l‘/j cm grosse 
Wunde des rechten Ventrikels. Während der Systole trat kein Blut aus 
und gelang es durch Fingerdruck ohne Beeinträchtigung der Herzaction 
die Wunde zu comprimiren. R. entschloss sich zur Naht und legte drei 
Seidcn8uturen (stets in der Diastole) an, durch die die Blutung vollkom¬ 
men stand. 

Die Pleura wurde durch Kochsalzlösung ausgespüit, Herzbeutel und 
Pleura durch Jodoformmull tamponirt. Unmittelbar nach der Operation 
wurde Puls und Athmung besser. Der Wdndverlauf wurde durch eine 
eitrige Pleuritis complicirt, die eine weitere Oeffnung der Pleura nöthig 
machte. Das Pericard blieb ohne Infection. Mit Ausnahme einer sehr 
lebhaften Herzaction ist das Befinden des Patienten, der vorgestellt wird, 
ein gutes. 

Discussion. 

Hr. Bardenheuer-Köln erzählt einen Fall, in dem man eine Ver¬ 
letzung des Zwerchfells vermuthete, die Pleura cröffnete, aber keine 
Wunde fand. Als der Patient nach 14 Tagen starb, fand sich das Pro- 
jecfil im Vorhof des rechten Herzens. 

Hr. Sen dl er-Magdeburg berichtet über einen Herzschuss mit Aus¬ 
gang in Heilung. Es fand sich ein Ilämopericard, aber kein Anzeichen 
einer Mitbetheiligung der Pleura; jenes nahm am nächsten Tag noch 
colossal zu, der Kranke war pulslos, von kaltem Schweiss bedeckt. 8. 
operirte nicht, der Puls stellte sich wieder ein, der Erguss nahm ab, 
der Kranke gesundete. Er räth, solche Kranke noch Monate lang vor 
Anstrengungen zu bewahren, da noch lange nach geheilten Herzver- 
ietzungen der Tod ganz plötzlich durch Herzruptur eintreten könne. 

Hr. Lanenstein-Ilamburg meint, man müsse hier ganz individua- 
lisiren; bei exspectativer Therapie sehe man manche Schüsse heilen. 


Hr. Riedel-Jena theilt einen Fall mit, wo er nach einem Revolver- 
schtisa das linksseitige Empyem operirte, und erst nach 10 Tagen 
Dyspnoe, Vergrösserung der Herzdämpfung auftrat. Es fand sieb in 
dem enorm verdickten Herzbeutel ein mit Fibrin verklebtes Loch. Der 
Herzbeutel wurde eröffnet, blutiger Eiter entleert, doch war im aelben 
Moment durch die eindringende Luft die ganze Flüssigkeit zu gisc-hti- 
schem Schaum geschlagen. Es war zunächst nichts mehr za machen. 
Ein Tampon wurde eingelegt, der Kranke ging zu Grunde. 

Hr. Rehn-Frankfurt: Die Aspiration des Herzbeutels hört auf, wenn 
die Pleura eröffnet ist. 

Hr. Ried er-Bonn berichtet über einen geheilten Fall won Peri- 
cardialnaht. 

Hr. Körte-Berlin eröffnete dreimal den Herzbeutel, zweimal bei 
Empyem, einmal bei Pericardialerguss, in allen Fällen mit ungtlnstigem 
Ausgang. 

Hr. Thiem-Cottbus stellt einen 60jährigen Arbeiter vor, dem vor 
8 Jahren ein FasB Oel von 4 Centnem Gewicht gegen die rechte Hüfte 
gerollt ist und ihn gegen die Wand gepresst hat. 

Der Kranke hat darnach eine Verlängerung des rechten Beines 
zurückbehalten, die sich Vortragender, gestützt auf Röntgogramme da¬ 
durch erklärt, dass damals ein Bruch des Schenkelhalses mit Aufrichtung 
des Halses und Kopfes erfolgt ist. Dadurch kommt eine Abductions- 
stellung des Oberschenkels zu Stande, der nun mit dem Becken einen 
nach aussen offenen Winkel darstellt. Nach Analogie der gegenteiligen 
Schenkelverbiegung müsste man diese Verbiegung Coza valga traumatica 
nennen. 

3. Tag. 

Hr. Helterich-Greifswald: Die operative Behandlung der 
Prostata- Hypertrophie. 

Vor 4 Jahren machte Runlos die Castration wegen Prostata-Hyper¬ 
trophie. Dann stellte White in Philadelphia die Berechtigung der Ca- 
stration bei Prostata-Hypertrophie fest. 

Dies Verfahren hat sich in Europa, Amerika, Australien rasch ans¬ 
gebreitet. 

Dennoch besteht grosse Ungleichheit der Anschauung Uber diese 
Frage. 

Manche Chirurgen haben sich überhaupt noch nicht zu einem opera¬ 
tiven Eingriff bei Prostata-Hypertrophie entschlossen. 

Die ganze Frage lautet: Wie stellt sich die operative Chirargie zur 
Castration oder deren Ersatzoperation. Wir wollen, abgesehen von 
theoretischen Erwägungen, rein praktisch vorgehen. Es ist hervorgehoben 
worden, dass wenn aus pathologischen Gründen Doppelcastration gemacht 
wurde, ebenso bei Eunuchen, die Prostata atrophirte. 

Dieselben Resultate ergaben experimentelle Versuche (Ramm, 
Guyon etc). 

Bei einseitiger Castration kommt zweifellos einseitige Atrophie der 
Prostata vor. 

Ebenso bei congenitalem einseitigem Nierendefect. 

Anders ist aber doch die Frage: Wie verhält sich die gesunde 
Prostata gesunder Individuen bei Fortnahme des Hodens. 

Und da ist beobachtet statt Atrophie sogar Hypertrophie der Pro¬ 
stata einseitig (Israel), doppelseitig (Moses). 

Deshalb muss mit grosser Vorsicht an diese Frage gegangen werden. 

Socin hat auf dem Schweizer Aerztecongress die schwache Basi- 
rung der Anschauung betont. 8o fand er bei Ochsen nicht immer eine 
kleinere Prostata als bei Stieren. 

Wichtiger ist für uns die Frage: Welches ist der Einfluss der Ope¬ 
ration auf die kranke Prostata. Bruns hat in 83 pCt. Atrophie der 
Prostata nach der Operation, Socin in 4 /.v 

Jetzt liegen 250 Fälle für die Statistik vor. 

Durch Operation am Vas deferens hat Köhler 86 Heilungen, 15 
Besserungen, 8 Todesfälle, 113 ungebesserte gefunden. 

Die Resultate der anatomischen Untersuchung entsprechen denen 
der Experimente. 

Meist war der drüsige Theil geschrumpft, der bindegewebige mehr 
in den Vordergrund getreten. 

Beachtenswerth ist nun, dass der Verlauf der Krankheit an sich seh~ 
schwankend, ich möchte sagen capriciös ist; es kommen spontan sehr be 
deutende Besserungen vor. 

Es wäre daher erwünscht, vor der Operation den Zustand der Pro¬ 
stata genau zu bestimmen. Allerdings genügt dazu die rectale Unter¬ 
suchung allein nicht. Es müssten dazu bimanuelle und cystoskopische 
Untersuchungen vorgenommen werden, klinische Beachtung und Bestimm¬ 
ung des Residualurins vorangehen. 

Von der Castration rühmt man den Nachlass der Beschwerden, die 
Erleichterung des Catheterismus etc. Dagegen ist als Folge derselben 
schwere psychische Störung in einer grossen Anzahl von Fällen beob¬ 
achtet worden. * 

Zudem tritt die Atrophie der Prostata in unregelmässiger Weise auf. 
Trotz derselben kommt es vor, dass die Beschwerden nicht nachlassen, 
weil gerade der mittlere Lappen nicht atrophirte, auch die Schnelligkeit 
des Eintritts der Erfolge ist nicht gleichmässig. Zuweilen treten die¬ 
selben erst nach Monaten (bis zu 12 Monaten) ein. Trotzdem halte ich 
dieses späte atrophiren für eine Folge der Operation. 

Gegen die psychischen Erscheinungen haben die Franzosen „pro- 
theses testiculaires“ benutzt. 

Nach Ansicht der Franzosen (Chevalier) ist die Castration indi- 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT._437 


cirt bei der grossen weichen Hypertrophie und wenn das sexuelle Leben 
noch nicht lange überschritten ist. Im letzten Punkte ist gerade das 
Entgegengesetzte richtig. 

Als Ersatz der Castration hat man am Samenstrang operirt. Lauen¬ 
stein nnd Rodenwald haben ihn durchschnitten, L. sah danach Hoden¬ 
gangrän, Andere haben ihn unterbunden. Dies Verfahren ist heute sicher 
ersetzt durch Operation am Ductus. Diese Resection ist so einfach, dasB 
die Kranken nicht eine Stunde deswegen zu Bett liegen brauchen. Die 
möglichst ausgiebige Resection hat weder mir noch Anderen (Kümmel) 
bessere Resultate gegeben. Zur Operation muss man sich das Vas de- 
ferens mit dem Finger gut fixiren, dann kann man mittels einer 1 bis 
l'/ 4 cm langen Incbion ganz leicht einige Centimeter des Vas deferens 
excidiren. Nach oben schneide ich ab, nach unten reisse ich ab. Ob 
man genau so oder etwas anders verfährt ist wohl gleichgiltig. 

In einigen Fällen hat einseitige Ductus-Resection gute Resultate er¬ 
geben. 

In einigen Fällen hat aber auch die Ductus-Operation zu psychi¬ 
schen Schädigungen geführt. 

In mehreren Fällen, die Anfangs ungünstig schienen, ist noch nach 
längerer Zeit Erfolg eingetreten, der Catheterismus wurde erleichtert, 
wie auch die Lithotrypsie. 

Guyon sieht als Indication für Ductusoperation besonders häufige 
Epididymitis an. 

Es ist sicher, dass die meisten Fälle von Prostatahypertrophie zahl¬ 
reiche wichtige Complicationen zeigen. 

Ob diese Folge der Hypertrophie sind oder primäre Erscheinungen, 
ist für die practische Seite nebensächlich. Jedenfalls sehen wir häufig 
Hypertrophie und Follikelbildung der Blasenwand, Cystitis, Steinbildung, 
falsche Wege (vom Patienten selbst oder vom Arzt gemacht). Dazu 
kommt noch die ascendirende Entzündung der Harnwege. Mit das Wich¬ 
tigste für den Verlauf ist der Zustand der Blase. 

80 ist Prostatahypertrophie bei bestehender Urethralstrictur äusserst 
selten. 

Wir müssen nun fragen: Wie waren früher die Resultate der Be¬ 
handlung. Da lässt es sich doch nicht leugnen, dass regelmässiger, sach- 
gemässer Catheterismus doch ein sehr wirksames Mittel gegen die schwe¬ 
ren Folgen der Prostatahypertrophie. 

Selbst wenn man lange Zeit täglich die suprapubische Punction 
vornimmt, ist die Gefahr der Phlegmone gering, nur darf man dann nie 
die Blase Bich stark dehnen lassen. Dazu werden wir greifen bei 
schwerer Cystitis und andauernd undurchgängiger Urethra. 

Nun müssen wir uns wenden zu den direkten Operationen an der 
Prostata, wie sie z. B. Küster mitgetheilt hat. Da muss ich sagen, 
dass das Verfahren Bottini’s, welches Freudenberg mittheilte, wohl 
in Deutschland zu wenig beachtet worden ist. Das Wesentliche bei 
dieser Operation liegt auch an der Kürze des Krankenlagers im Gegen¬ 
satz zur Sectio alta oder Urethrotomie rectum. 

Eine sehr grosse Bedeutung hat die Operation Bier’s, die Unter¬ 
bindung der Iliaca externa, durch die er eine Reihe sehr bemerkens- 
werthe Heilungen erzielte. Ich bin nicht in der Lage, gewisse Indica- 
tionen aufzustellen. Nur gewisse Punkte will ich hervorheben. Wir 
haben an solche Operationen zu gehen, wenn der eine Zeit lang aus¬ 
geführte Katheterismus die Erscheinungen nicht zurückgehen lässt. 
Wenn ich die Operation im Ganzen nicht verwerfe, so ist der Grund 
der, dass der Prostatismus eine progrediente Krankheit ist, trotz der 
zeitweiligen Besserungen, die eintreten können. Nach der Operation 
erscheint in einer entschieden grösseren Anzahl von Fällen der Verlauf 
ein günstiger. Wenn wir bedenken, welche schweren Destructionen 
die Blasenwand schon erlitten hat, müssen wir uns wundern, wie gute 
Erfolge die Operation noch bat. Ich möchte daher die Operation 
empfehlen gerade für die schweren Fälle, in denen uns Besseres nicht 
zur Verfügung steht. Kennen wir doch auch Fälle, in denen alles 
Andere schon vergeblich versucht war, und wo die Operation Erfolg 
hatte: Fistelbildung, Prostatotomie etc. Ich halte die Ductusresection im 
Gegensatz zu manchen Franzosen für ebenso erfolgreich wie die Castra¬ 
tion. In 2 Fällen, in denen ich die Resection erfolglos sah, blieb die 
danach ausgeführte Castration gleichfalls erfolglos. 

Man darf sich aber nicht mit der Operation allein begnügen. 
Gerade wenn man operirt hat, muss Pflege und Katheterismus mit aller 
Gründlichkeit ausgeführt werden. 

Im Gegensätze zu Guyon’s Ausspruch müssen wir sagen: Es giebt 
eine radicale Behandlung der P. H. aber deshalb dürfen wir auch die 
palliative nicht vernachlässigen. 

Hr. A. Frendenberg-Berlin: Zur galvanokaustischen Radi- 
calbehandlnng der Prostatahypertrophie nach Bottini. (Die 
Ausführungen des Redners decken sich mit den in der Berliner med. 
Gesellschaft gemachten Mittheilungen, vgl. d. W. 1897, No. 15.) 

Discussion. 

Hr. Socin: Seit meiner letzten Mittheilung ist 6mal durch Burk¬ 
hard die Resection des Vas deferens unter meinen Augen ausgeführt 
worden. Auch hiernach bin ich noch der Ansicht, dass die sog. sexualen 
Operationen sehr zweifelhafte Erfolge haben. 

Ich glaube nicht, dass der Prostatiker im Sinne Guyons existirt. 
Jedoch musB man sagen, dasB die Hauptsache beim Prostatiker die 
Blasenbeschwerden sind. Man darf nicht ohne genaue Diagnose operiren. 
Diese kann man ohne Cystoskopie nicht stellen. Wir müssen den Resi¬ 
dualurin kennen und bestimmen. Von diesem gehen in vielen, mehr als 


der Hälfte der Fälle die Beschwerden auB. In 14 Tagen lassen sich in 
solchen Fällen durch Katheterismus die Kranken heilen. Eine 2. Reihe 
von Fällen ist die, wo keine Cystitis besteht, aber ein prominenter 
Mittelbogen. Wenn man hier die Blase eröffnet und den Mittelbogen 
exstirpirt, hat man glänzende Resultate. Schwieriger sind die Fälle mit 
schwerer Infection. Hilft hier nichts Anderes, so ist auch hier meiner 
Ansicht nach die directe Entfernung des Hindernisses indicirt. Um das 
Resultat einer Operation fesfzustellen, pflege ich zu fragen: Wie war 
der Strahl vorher und nachher? Wie war die Retention vorher und 
nachher? Wie war der Residualurin vorher und nachher? Die Ant¬ 
worten auf diese Fragen sind oft sehr bescheiden. 

In den meisten Fällen tritt allerdings bald nach der Operation eine 
Volumensverminderung der Prostata, vom Rectum fühlbar, auf. 

Aber es ist eine solche nie durch die Section erwiesen worden. Es 
ist also keine Atrophie, sondern nur eine „Deglutition“ im französischen 
Sinne erreicht. Diese kann man aber auch auf anderem Wege er¬ 
reichen. Also es muss genau diagnosticirt werden. 

Beim Ochsen ist die Prostata von allen Sexualorganen am wenig¬ 
sten verkleinert. Es sind bei demselben noch ebenso viel Drüsen¬ 
läppchen vorhanden, wie beim Stier, nur sind dieselben kleiner. 

Hr. Mikulicz berichtet über 50 Castrationen, 46 doppelseitige Re- 
sectionen, 6 Fälle einseitiger Castration. 

9 Castrationen sind bald gestorben. Pyelonephritis bis zu 29 Fällen 
Besserungen. In 29 Fällen Verkleinerung der Prostata. 1 mal mania- 
kalischer Zustand. 

Von den 46 fällt einer weg als tuberculos. 10 gestorben, 7 erfolg¬ 
los, in 27 Fällen Besserung der Symptome. In 10 Fällen Verkleinerung. 
In 3 Fällen Resection ohne Erfolg, nach Castration gleichfalls erfolglos. 

Hr. F. Schneider berichtet über einen Fall, in dem nach ein¬ 
maliger Punction Urininfiltration mit tödtlichem Ausgang eintrat. 

Hr. Bier-Kiel bespricht die Unterbindung des Iliacus internum. 
Dieses grosse Gefäss musste gewählt werden wegen der unregelmässigen 
Blutversorgung der Prostata. 

Im Gegensatz zu anderen Fällen ist die extraperitoneale Operation 
bei Prostatikern sehr schwer. Ich griff daher zur transperitonealen. 
Doch auch diese ist ausserordentlich schwierig. Schon die Narkose ist 
sehr schwer. Ich habe 1 Kranken an septischer Peritonitis, 2 an Pneu¬ 
monie verloren. Bei einem Kranken blieb die Operation ohne Erfolg. 
Dass sie in vielen Fällen Erfolg hat, ist zweifellos. Ich werde mit grosser 
Auswahl weiter operiren, kann die Operation aber nicht empfehlen. 

Hr. Schede: Es ist sehr merkwürdig, dass psychische Erscheinungen 
auftreten auch nach Resection der Vasa deferentia, wo doch der Kranke 
nicht das Bewusstsein hat, dass an seinen Genitalien etwas gemacht ist. 
Der Zustand hat Aehnlichkeit mit der Cachexia strumipriva. 
In einem Fall habe ich mit Erfolg Spermininjectionen gemacht. 

Hr. Müller-Aachen zeigt einen Patienten, bei dem er einen 
Tibiadefcct durch Knochenplastik gedeckt hat, und bei dem bemerkens- 
werther Weise der zur Deckung benutzte Lappen nahezu um das 
Doppelte gewaschen ist. 

Hr. v. Eiseisberg-Königsberg hat 2 gleichartige Fälle operirt. 
Einmal wurde wegen Sarcom ein etwa 12 cm langes Stück der Tibia 
resecirt- Später wurde vergeblich Implantation eines Hundeknochen ver¬ 
sucht. Daher wurde denn die Autoplastik mittels eines von oben herab¬ 
geklappten Haut-Periost-Knochenlappen vorgenommen, der Unterschenkel 
wurde fest, aber 17 Monate nach der Operation starb Patient an Sar- 
cometastase. Ebenso wurde mit Erfolg bei einem Kinde nach compli- 
cirtem Bruch operirt. Bei beiden trat Wachsthum des Lappens ein. 

Sprengel-Dresden hat einen Lappen von der Fibula in die Tibia 
nach Osteomyelitis eingeführt, jedoch nicht den erwünschten Einfluss auf 
das Wachsthum gesehen. 

Hr. König stellt ein 7jähriges Mädchen vor, welchem im Jahre 
1892 wegen Diphtherie eine Intubation gemacht wurde, das Intubations¬ 
rohr wurde erst nach langer Zeit entfernt. Dann musste aber bald eine 
Laryngotomie gemacht und ein langes biegsames Trachealrohr bis unter 
das Sternum geschoben werden. 

Versuche das Rohr zu entfernen waren stets von sofortigen schweren 
Erstickungserscheinungen gefolgt gewesen. Als der Vortragende die 
chirurgische Klinik der Charite übernahm, fand er das Kind in diesem 
Zustand vor. Er stellt es jetzt im wesentlichen geheilt vor, und will 
an demselben zeigen, welche verschiedenen chirurgischen Eingriffe not¬ 
wendig sind, um bei solchen schweren Zerstörungen der Luftröhre die 
Heilung herbeizuführen. 

Zu diesem Zweck waren 4 Operationen nöthig. Die ersten beiden 
bezweckten die Herstellung eines, wenn auch zum Theil noch vorn offenen 
trachealen Rohres. Denn die am hängenden Kopf in Narcose vorge¬ 
nommene Untersuchung hatte nachgewiesen, dass zu Grunde gegangen war. 

1. der untere Abschnitt Cart. cricoidea und ein Theil der carbil. 
thyroidea des Larynx. 

2. Das tracheale Rohr bis zum jugulum., die Caniile hatte in einem 
Granulationskanal und nur unten in das Trachea (Substernal) gesteckt. 

Bei der ersten Operation wird dieser Granulationscanal vom Kehl¬ 
kopfrest bis zum erhaltenen unteren substernalen Trachealabschnitt re¬ 
secirt, die Trachea substernal freigemacht, nach oben verzogen und mit 
dem Kehlkopfrest vernäht. Bei der 2. Operation — etwa 2 Monate 
später zeigte sich! dass noch ein etwa halb cm breiter Abstand zwischen 
Kehlkopf und Trachea geblieben war. Sie beseitigte auch diese narbige 
Zwischensubstanz und vereinigt nochmal den Kehlkopf und die Trachea. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 20. 


Jetzt kam die Heilung bis auf einen grossen vorderen Spalt in 
welchem noch die Caniile steckte zu Stande. 

Die beiden folgenden Operationen bezweckten den Verschluss dieses 
Spaltes, die erste durch einen Hautknochenlappen, welcher herumge¬ 
schlagen, hier durch flache Catgutnäthe (Wundfläche nach aussen!) 
flxirt und mit einem zweiten plastischen von der rechten Seite des 
Halses entnommenen Lappen gedeckt wurde. 

Die 4. (von den verschliessenden die 2. Operation, welche auf 
längere Zeit (l'/ t Jahre) vorgenommen wurde, verwerthete einen ge¬ 
stielten Hautperiost-Knochenlappen vom Schlüsselbein zur Deckung. Auch 
dieser Lappen wurde durch einen zweiten plastischen Lappen gedeckt. 
Das Knochenstückchen fiel nach 3 Wochen heraus, der Periostlappen 
blieb. Nach etwa 2 Monaten konnte die durch eine Tube am Stiel des 
gedachten Lappens eingefiihrte Trachealcanüle entfernt werden. Die 
Orthopädie der Luftröhre wurde durch Hustenbewegungungen gefördert 
und jetzt ist die Athmung frei. Die Stimme freilich ist entsprechend 
der Schleimhautzerstörung im Kehlkopf. 

Hr. König jr. stellt 5 Kranke vor, bei denen alte Kehlkopf- und 
Trachealdefecte gedeckt worden sind. 

Die einfache Weichtheilplastik war in diesen Fällen unmöglich, 
weil dieselbe beim Inspirium in die Trachea gesogen würde. 

Bei 2 kleineren Defeeten wurde aus dem Schildknorpel ein Haut¬ 
knochenlappen ausgeschnitten, auf den Knorpel ein Hantlappen .auf¬ 
genäht und dieser Lappen eingeheilt. 

Die übrigen Patienten hatten grössere Defecte. Einmal musste erst 
der inflltrirte Larynx eröffnet und durch Bougies gedehnt werden, später 
allmählich durch mehrere Operationen gedeckt. 

Bei dem 5. Kind war der Defect zu gross, um einen Hautpcriost- 
Knochenlappen aufzulegen. Es wurde daher gleichfalls die Trachea ge¬ 
lockert und heraufgezogen. Der Defect ist dadurch bedeutend ver¬ 
kleinert, das Kind noch in Behandlung. 

Hr. Graf-Berlin: Lieber dauernde Heilungen von Kehl- 
kopfcarcinom durch Exstirpation. 

Von 1883—9G operirte v. Bergmann wegen maligner Neubildungen 
des Laryns 48mal. Es handelte sich 47mal um Carcinom, lmal um 
ein malignes Enchondrom. Davon sind 28 Total-, 19 halbseitige und 
9 partielle Exstirpationen; der Befund war stets mikroskopisch bestätigt. 
Es handelte sich um 42 Männer und 6 Weiber im Alter 31—72 Jahren. 
Stets wurde die Tracheotomie vorausgeschickt unter Benutzung der 
Hahn'sehen Pressschwammcaniile und dann die Laryngoflssur ange¬ 
schlossen, um zunächst die Ausdehnung der Geschwulst genau feststellen 
zu können. Auf sorgfältigen Abschluss von Wunde und Pharynx einer¬ 
seits und Wunde und Trachea andererseits wurde stets grosses Gewicht 
gelegt. Bei den Totalexstirpationen wurde dies erreicht durch Ver- 
nähung der Pharynxschleimhaut, Umklappen der Epiglottis, Annähung 
der Trachea im unteren Wundwinkel und Vorschiebung zweier seitlicher 
Hautlappen. Bei der partiellen Kehlkopfexstirpation wurde dieser Ab¬ 
schluss durch eine feste Tamponade der Wunde ersetzt. Seit der con- 
sequenten Durchführung dieser Methoden ist die Zahl der an den Folgen 
der Operation Gestorbenen in den letzten Jahren erheblich geringergeworden. 

Es wurde also auf das spätere Einsetzen eines künstlichen Kehl¬ 
kopfes in den meisten Fällen verzichtet nnd nur, wenn die Flüstcr- 
sprache dem Pat. nicht genügte (in 7 Fällen), der Versuch mit dem 
Tragen eines künstlichen Kehlkopfes gemacht. 

Dauernd geheilt sind 2 Kranke mit totaler Kehlkopfexstirpation (seit 
7 und 2 J / 4 Jahren). Ausser diesen ist ein im Juli vorigen Jahres ope- 
rirter Pat. bis jetzt gesund, — ferner 4 Kranke mit halbseitiger und 
4 Kranke mit partieller Kehlkopfexstirpation. 

Es beweisen diese Zahlen, dass die wegen bösartigen Neubildungen 
ausgeführte Kehlkopfexstirpation eine durchaus berechtigte Operation ist. 
Viel bessere Resultate giebt aber die partielle Exstirpation, und um so 
günstiger Bind die Resultate, je weniger vom Kelilkopfgerüst entfernt zu 
werden braucht. Es ist also ein möglichst frühzeitiges Erkennen der 
Neubildung von grösstem Werth. 

Vortragender stellt drei der geheilten Kranken vor. 

Hr. Küster legt den Kassenbericht ab. 

Hr. IleuBner: Ueben Patell arnaht. 

Trotz glänzender von verschiedenen Operateuren erzielter Resultate 
ist die Naht der Patella zuweilen doch noch von schlechtem Erfolg. 
Daher hat die subcutane Methode der Naht ihre Berechtigung. Wäh¬ 
rend Kocher bei der percutanen Naht die Fäden auf der Kapsel 
schloss, hat Cccci vollkommen subcutan mit Silberdraht genäht. Vor¬ 
tragender hat ober- und unterhalb der Patella einen Silberdraht durch 
die Sehnen gelegt und unter der Haut geknotet. Allerdings hat 
man schon vorher in ähnlicher Weise mit Seide genäht. Zu diesem 
Zweck hat sich Vortragender eines Troicarts bedient, durch den er dann 
einen besonders weichen Silberdraht von etwa 1 cm Stärke einführt. 
Dieser Draht erträgt eine Belastung bis 90 Pfund. Deshalb kann der 
Pat. sehr früh aufstehen und Refracturen sind fast ausgeschlossen. 

Einmal hat Vortr. mit Aluminiumdraht genäht. Dieser hat den 
Vorzug, allmählich resorbirt zu werden, reisst jedoch leicht beim Zu- 
Bammendrehen. 

Zur Nachbehandlung legt Vortragender einen Gummizug von der 
Schulter aus an den Fuss, der den Fuss beim Gehen nach hinten zieht, 
so dass der Pat. genöthigt ist, bei jedem Schritt den Quadriceps stark 
zu contrahiren. 

Vortragender hat vor 14 Tagen auch bei einer alten schlecht ge¬ 
heilten Fractur das gleiche Verfahren versucht, das er durch Einlegen 


von 8 Drähten in den Quadriceps und Herabziehen der Patella durch 
Zug an den Drähten über die Rolle modifleirte. Das Verfahren reist 
die Knochenbildung stark an. Daher wird es voraussichtlich geeignet 
sein, auch bei Klaffen der 8egmente dieselben zu vereinigen. Mittels 
des Troicarts lassen sich auch an anderen Stellen Silberdrähte nähen. 

Hr. König-Berlin erkennt an, dass die Pat. des Vorredners geheilt 
sind, aber nicht, dass seine Methode eine richtige ist. 

Die Patellarfracturen sind sehr verschiedener Art. Vor Allem ist 
zu unterscheiden Rissfractur und Zertrümmerungsfracturen. 

Viele Menschen können trotz des Patellarbrnchs gehen, weil die 
anderen Insertionen der Streckmuskeln bei ihnen ausreichen. Ich nähe 
jetzt Patellarbrüche nur noch mit Catgut. Dann nähe ich das Gelenk 
zu. Ausspülen, Nähen mit Draht etc. ist nur schädlich. Ein Fehler 
der Methode des Vorredners ist der dabei entstehende starke Callus, der 
die Function des Gelenks stark stören kann. 

(Fortsetzung folgt.) 


IX. Literarische Notizen. 

— Die Londoner New Sydenham Society, die alljährlich ein oder 
zwei hervorragende ausländische Bücher ins Englische übersetzen lässt 
und an ihre zahlreichen Mitglieder ausgiebt, hat nun auch den 2. Theil 
der „Vorlesungen über Pharmakologie“ von C. Binz erscheinen 
lassen, nachdem der 1. Theil Ende 1895 erschienen war. 

— Die letzterschienenen Lieferungen von Nothnagels Specieller 
Pathologie und Therapie (Wien, Hoelder, 1897) umfassen: v. Koranyi, 
Zoonosen I (Milzbrand, Rotz, Aktinomykosis, Maul- und Klauenseuche); 
Högges, Zoonosen II (Lyssa). H. Oppenheim, Encephalitis und Hirn- 
abscess; Bernhardt, Erkrankungen der peripherischen Nerven, II. Theil. 

— Die Färbetechnik des Nervensystems wird in einer 
kleinen, sehr übersichtlichen Monographie von B. Pol lack dargestellt; 
die, aus dem I. anatomischen Institut der Berliner Universität datirte 
Arbeit ist Wald eye r und Weigert zugeeignet, (Berlin, Karger, 1897). 


X. Praktische Notizen. 

liagMstlsehes aad Casaistlk. 

Bose und Blanc haben die oft erörterte Frage, ob bei Einklem- 
mung von Hernien Bacterien in das Bruchwasser übergehen, an 
menschlichem Material und experimentell geprüft und gelangen zu dem 
Schluss, dass der Zustand des Darmepithels entscheidend hierfür ist 
(Arcb. de mid. exper. VIII. 6.). Das gesunde Dannepithel bildet eine 
unübersteigliche Schranke für Bacterien, erst nach Nekrose und Desqua¬ 
mation, namentlich aber unter dem Einfluss von Hämorrhagien, wandern 
Mikroorganismen in die Mucosa und Submucosa und, längs der Gefässe, 
durch die Darmwand hindurch aufs Peritoneum. Man findet verschiedene 
Bacterien, besonders häufig das Bacterium coli. 


Zur Entscheidung der Frage, ob ein Schanker hart oder weich ist, 
empfiehlt Aubert (Gaz. Hebd. 15. April) nicht, wie gewöhnlich mit 
zwei, sondern mit einem Finger (unidigital) zu palpiren; beim Herüber- 
streicben mit dem leicht eingefetteten Zeigefinger fühle man, namentlich 
bei vulvovaginalem Sitz, die Härteunterschiede viel deutlicher, als beim 
Zuftihlen mit zwei Fingern. 

T. R. Brown will beobachtet haben, dass bei der Trichinose 
die Zahl der eosinophilen Zellen im Blut ausserordentlich vermehrt ist 
(bis 68,2 pCt.), während die neutrophilen Zellen vermindert sind; über¬ 
haupt ist Leukocytose vorhanden (80000 im emm); Leyden 'sehe Krystalle 
sind nicht gefunden worden. Das gleiche Verbältniss der eosinophilen 
zu den neutrophilen Zellen fand sich auch in den Muskeln. Mit zu¬ 
nehmender Besserung verringerte sich die Zahl der eosinophilen Zellen. 
B. hält diese Befunde für diagnostisch wichtig. (John Hopkin’s Hosp.- 
Bull. April.) _ 

Ueber die Serodiagnostik der Cholera machten Achard und 
Bensaude in der Sociötö med. des Udpitaux Mittheilungen nach Er¬ 
fahrungen an 14 in der ägyptischen Epidemie vom vorigen Herbste er¬ 
krankten Fällen; 13 mal zeigte das untersuchte Blut die agglutinirenden 
Eigenschaften, namentlich deutlich im Beginn der Erkrankung (3. bis 
6. Tagt, die Wirkung zeigte sich bei allen Culturen, die den Pfeiffer¬ 
schen Forderungen entsprachen, (Vibrionen aus Indien, Sbangai, Ost- 
preussen, Paris 1892, Brest 1893, Guilvirein 1898, Alexandrien 1896, Con- 
stantinopel) nicht aber bei Vibrionen aus Massauah, beim Vibrio Met- 
schnikoff und Vibrio Finkler. 


Zwei Fälle von paroxysmaler Hämoglobinurie bei Ge¬ 
schwistern theilt Trumpp mit (Münch, med. Wochenschr. 4. Mai); 
es handelte sich um einen 8jährigen Knaben und dessen 5jährige 
Schwester; beide Fälle verliefen typisch, auch der Ehrlich-Boas'sche 
Versuch, durch locale Erkältung (kaltes Fussbad) den Anfall hervorzu- 


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17 . MalJ l 89 T-_BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT.__ 430 


rnfen, gelang. Es handelte sich fast zweifellos um hereditäre Syphilis, 
doch wurde bei beiden Kindern das Eintreten der Hämoglobinurie erst 
□ach Ueberstehen des Scharlach beobachtet. 


Tkerapeatisekes nd IaUileatitie». 

Zur Behandlung der Chlorose empfiehlt Blondel die Thymus- 
aubstanz (Bulletin general de Therapeutique 8). Er hat damit aller¬ 
dings .erst in einer geringen Anzahl von Fällen Erfahrungen machen 
können, hat aber in allen diesen eine auffallende nnd schnelle Heilung 
eintreten sehen. Irgend welche bedenkliche Nebenwirkungen wurden 
nicht beobachtet. Die tägliche Dosis betrug ungefähr 10 gr. 

Bl. hält die Chlorose für eine Intoxication, die herbeigeführt wird 
durch 8toffwechselproducte; diese werden zerstört durch die antitoxischen 
Eigenschaften des Thymussaftes in der Kindheit, der Ovarialsubstanz im 
späteren Alter. Wenn diese beiden Substanzen nicht zur richtigen Wir¬ 
kung gelangen können, wenn die Thymns zu früh oder überhaupt ver¬ 
schwindet und das Ovarium seine Secretion gar nicht oder zu spät, oder 
unregelmässig entwickelt, dann bilden sich Störungen im Stoffwechsel 
aus, die dann das Krankheitsbild der Chlorose hervorrufen. 


Czerny tbellt in der Münch, med. Wochenschrift (No. 16) 3 Fälle 
mit, wo nach leichten Verletzungen unter Anwendung von 
wässeriger Carbollösung (3 pCt.) Gangrän entstanden war. Da 
somit jede wässerige Carbollösung unter Umständen die Gefahr der 
Gangrän erzeugt, so empfiehlt er, dieselbe ganz von der Anwendung 
eu Umschlägen auszuschliessen und sie durch andere antiseptisebe 
Mittel, wie essigsaure Thonerde, schwache Sublimatlösungen, Borwasser, 
eu ersetzen. 

E. List in München tritt in längerer Auseinandersetzung dafür ein, 
dass die sog. Malton weine den Ansprüchen gerecht werden, die man 
nach gegenwärtiger Auffasung an „Medicinalweine“ stellen muss; sie 
haben alle Eigenschaften, die man von einem stärkenden und anregen¬ 
den Alkoholicnm verlangen muss und sind dabei frei von allen unange¬ 
nehmen Nebenwirkungen. Er giebt Analysen, wonach er im Malton¬ 
sherry bezw. -Tokayer fand: Gesammtextract 11,10 bezw. 28,07 pCt. 
Zocker als Dextrose berechnet 6,83 bezw. 19,77 pCt.; Gew.-Proc. Alkohol 
13,36, bezw. 9,91 pCt.; Stickstoff 0,075 bezw. 0,0942 pCt., Phosphor¬ 
säure 0,096 bezw. 0,1862 pCt. Charakteristisch ist also der hohe Ge¬ 
halt an Alkohol nicht nur, sondern auch an Extract und Pepton (Arch. 
f. Hyg. XXIX. 1.) 

Ueber die Wirkung des Heilserums auf die Augendiphtherfe 
berichtet Ammann ans der Zürcher Universitäts-Augenklinik (Schweizer 
Corr.-Bl. Febr.). Es handelte sich um 6 Fälle, von denen 4 mit totaler 
Erblindung des einen oder beider Augen endeten. A. formulirt auf seine 
Erfahrungen bin die Prognose in dem Satze: Wenn die Cornea einmal 
von der Entzündung ergriffen ist, sei es auch nur in Form eines kleinen 
Randulcus, bo ist die Erhaltung der Hornhaut sehr dubiös und kann, 
wie es scheint, durch die 8eruminjeetionen nicht mehr beeinflusst werden. 
Es bleibt dabei die Frage offen, ob die Cornealaffection auf den Diph¬ 
theriebacillus oder nicht vielmehr, wie auch Uhthoff annimmt, auf das 
gleichzeitige Vorkommen von Eitererregern zurückzuführen ist. 


XI. Tagesgeschichtliche Notizen. 

Berlin. In der 8itzung der Berliner medicin. Gesellschaft 
vom 11. d. M. fanden folgende Demonstrationen vor der Tagesordnung 
statt: 1. Herr Hahn, Präparat eines Mastdarmcarcinoms. 2. Herr Görges, 
ein Fall von Purpura haemorrhagica bei einem Kinde. (Discussion: 
Herren Heubner, Lassar, Görges.) 8. Herr Jakusiel, ein Prä¬ 
parat von Ho dg in'scher Krankheit. (Discnssion: Herr Virchow.) 
4. Herr Rosen he im, Demonstration von 2 Oesophaguskranken. (Dis¬ 
cussion: Herren Pariser, Grabower.) 5. Herr Mackenrodt, Prä¬ 
parate von Uterusmyomen bei Schwangerschaft. (Discussion: Herr 
J. Israel.) Darauf endete in der Tagesordnung Herr Gottschalk 
seinen Vortrag über den Einfluss des Wochenbettes auf cystische Eier¬ 
stocksgeschwülste. 

— Die wissenschaftliche Lepra-Conferenz, welche im October 
d. J. in Berlin Zusammentritt, wird sich durch die Mitarbeit hervor¬ 
ragender Fachgelehrten des In- und Auslandes auszeichnen. Die deutsche 
Reichs- und die preussische Staatsregierung haben derselben in jeder 
Beziehung Förderung zu Theil werden lassen. Alle an den Leprafragen 
betheiligten Staaten sind vom Auswärtigen Amt für die Theilnahme 
Interessirt worden. Die Sitzungen werden in dem neuerbauten Kaiser¬ 
lichen Gesundheitsamt in der Klopstockstrasse stattflnden. Daselbst 
sollen auch Präparate, Nachbildungen, karto- und bibliographische Ob¬ 
jecte zu einer Ausstellung vereinigt werden. 

— In der Sitzung der Berliner dermatologischen Gesell¬ 
schaft am 4. Mai demonstrirten vor der Tagesordnung E. Lesser ein 
Ulcus durum der Zunge und ein Leukoderma syphiliticum universale bei 
einem jungen Mädchen; Heller ein Carcinom der Zunge bei einem 
Syphilitiker; Ledermann einen Fall von Lichen ruber verrucosus; 


Blaschko einen Lichen ruber planus bei einem Manne mit manifesten 
Erscheinungen der Lues; O. Rosenthal und H. Isaac je einen Fall 
von Alopecia syphilitica. In die Tagesordnung eintretend, sprach S. Ka¬ 
lischer über syphilitische Veränderungen bei Tabes dorsalis mit Vor¬ 
stellung einer darauf bezüglichen Kranken. H. Isaac demoustrirte 
einen Kranken mit mclanotischen Tumoren, deren Untersuchung aber 
nur die Zeichen der chronischen Entzündung ergab, und schliesslich 
Pionski drei Kranke mit Hauttumoren (fissurales Angiom, multiple 
Mollusca fibrosa, welche theilweise spontan resorbirt waren, und melano- 
tisches Sarkom). 

— Priv.-Doc. Prof. E. Kaufmann in Breslau ist zum ausserordent¬ 
lichen Professor daselbst ernannt worden. 

— Dem Priv.-Doc. Dr. M. Wolters zu Bonn ist der Titel Pro¬ 
fessor verliehen worden. 

— Aus den Mittheilungen der deutschen Pest-Commission 
aus Bombay vom 9. April (D. med. Wochenschr. No. 19) entnehmen 
wir Folgendes: 

Nachdem zunächst der allmähliche Rückgang der Epidemie con- 
statirt ist, werden die klinischen Erscheinungen der drei Haupttypen der 
Pest, nämlich Drüsenpest, Pestseptikämie und Pestpneumonie 
in ihren charakteristischen Merkmalen besprochen, woraus hervor- 
zuheben ist, dass sich bei letzterer Form, die unter dem täuschenden 
Bilde einer sehr schweren croupösen Pneumonie verlaufen kann, im 
Sputum entweder der Pestbacillus allein oder mit dem Diplococcus 
lanceolatus, oder mit Streptokokken findet. Im Uebrigen gehen diese 
Darlegungen nicht über den Rahmen des Bekannten heraus. Die Pro¬ 
gnose ist bei der grossen, zwischen 50—60 pCt. der Erkrankten liegen¬ 
den Mortalität eine ungünstige. Die Septikämie ist wohl sicher, Pneu¬ 
monie zweifellos in weitaus den meisten Fällen tödtlich. Lebens¬ 
rettende Erfolge hatte keine Art der in Bombay ausgeübten The¬ 
rapie. Vorsichtige Diät und symptomatische Behandlung im weitesten 
Sinne sind am wichtigsten. Dazu kommen die entsprechenden allge¬ 
mein hygienischen und Desinfectionsmassregeln. 

Das grösste Interesse haben die Angaben über die von der Commission 
bis jetzt erhobenen anatomischen und bacteriologischen Befunde. 

In 8 F'ällen von Pestpneumonie wurden in gefärbten, aus den .er¬ 
krankten Lungenpartien hergestellten Schnitten geradezu massenhafte 
Pestbacillen gefunden, in 2 Fällen ohne Beimengung anderer Bactcrien, 
in 1 Falle neben relativ spärlichem, nesterweise vorhandenem Diplococcus 
lanceolatus. In einem jener beiden nur Pestbacillen aufweisenden Fälle 
war es garnicht bis zur ausgesprochenen entzündlichen Veränderung des 
Gewebes gekommen, die Alveolen fanden sich vielmehr ausgefüllt von 
einer grosse Massen von Pcstbacillen enthaltenden sanguinolenten Flüssig¬ 
keit (foudroyante F'orm der Lungenpest). 

In einem tödtlich verlaufenen Pestfalle konnten zahlreiche Nekrosen 
in der Leber naebgewiesen werden, welche sich in Schnitten als von 
einem dichten Walle in das gesunde Gewebe eindringender Pestbacillen 
rings umwandet herausstellten. 

In einem anderen tödtlich verlaufenen typischen Pestfalle mit zahl¬ 
reichen Blutaustritten in die Darmschleimhaut wurde das Epithel des 
Darmes intact gefunden; in den Blutgefässen und in den Blataustritten 
waren in gefärbten Schnitten sehr zahlreiche Pestbacillen nachweisbar, 
während sowohl das Gewebe selbst, als auch die F'ollikel völlig frei von 
Bacillen sich zeigten. 

In typischen septikämischen Fällen wurde die Lymphdrüsensub- 
stanz und auch das umgebende periglanduläre Gewebe dicht erfüllt mit 
erstaunlichen Mengen von Pestbacillen gefunden, ohne Beimengung 
anderer Bacterien. 

Für das richtige Verständniss der Art der Pestverbreitung, nicht 
minder aber auch für die Wahl der Bekämpfungsmassnahmen von der 
grössten Bedeutung ist die Frage, wie lange die Pestbacillen ausserhalb 
des Körpers sich lebensfähig erhalten können. Es sind daher von der 
Commission nach dieser Richtung bereits zahlreiche Versuche angestellt 
worden. Die Bacillen wurden zum Theil im Innern von Organstückchen, 
zum Theil mit den Körpersäften (z. B. mit Peritonealflüssigkeit), zum 
Theil in pestpneumonischem Sputum, zum Theil endlich in der Form 
von Reinculturen unter den verschiedensten Bedingungen, an Glas¬ 
splittern, in offenen und zugeschmolzenen Glasröhrchen, an Seidenfäden, 
auf Filtrirpapier, Baumwolle, Wolle, Tuchstückchen, Leinwand, Seiden¬ 
gewebe, eingetrocknet und nach verschieden langer Zeit auf empfäng¬ 
liche Versuchsthiere verimpft. In keinem dieser Versuche, die immer 
aufs Neue wiederholt und variiit werden sollen, ist es bisher gelungen, 
die Bacillen in trockenem Zustande länger als 7 Tage infectionsfähig 
zu erhalten; meistens waren sie schon nach 5, nicht selten schon nach 
3 Tagen abgestorben. Directes Sonnenlicht tödtete die Bacillen in 
dünner Schicht schon in einer Anzahl von Standen ab. 

In sterilem Leitungswasser haben sich die Bacillen nicht länger als 
3 Tage, in gewöhlichem Leitungswasser nur 1 Tag infectionsfähig er¬ 
halten. 

Für die Annahme irgend einer Dauerformbildung hat bis jetzt auch 
noch nicht der geringste Anhalt gefunden werden können. Nur in Rein¬ 
culturen, welche vor dem Eintrocknen und vor der Verunreinigung mit 
anderen Bacterien geschützt auf bewahrt werden, gelingt es, die Pest¬ 
bacillen längere Zeit lebensfähig zu erhalten. Aber auch hier scheint 
— unter Umständen wenigstens — eine Abschwächung der krankheits¬ 
erregenden Wirkung einzutreten. In älteren Culturen findet man oft 
auffallend zahlreiche sogenannte Involutions-, d. b. absterbende oder ab¬ 
gestorbene Formen. 


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440 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. No. 20. 


Versuche über die Empfänglichkeit verschiedener Thierspecics für 
die Infection der Pestbacillen sind im vollen Gange. Von einer und 
derselben Thierspecies erhält im allgemeinen je ein Thier 1 ccm voll¬ 
virulenter Pestbacillencultur unter die Haut injicirt, während einem 
zweiten die Pestbacillen in oberflächliche, durch Scarification künstlich 
angelegte Hautwunden eingerieben werden. Bis jetzt sind 2 Pferde, 
2 Ochsen, 2 Kühe, 2 Schafe, 2 Schweine, 2 Hunde, 2 Katzen, 2 Affen, 
1 Hahn, 2 Tauben und 2 Gänse zu diesen Versuchen benutzt. Verendet 
ist bis jetzt kein einziges von diesen Thieren, wenn sie auch zum Theil 
recht schwer erkrankten bezw. noch jetzt krank sind. Bemerkt sei, 
dass absichtlich eine sehr intensive Art der Injection gewählt wurde, 
wie sie unter natürlichen Verhältnissen kaum jemals Vorkommen dürfte. 
Einige Fütterungsversuche sollen noch angestellt werden. 

— Im Institut Pasteur zn Lille sind in den letzten zwei Jahren 
289 von tollen Hunden gebissene Personen behandelt, keine davon ist 
der Wuth erlegen, nur ein Arbeiter unterbrach seine Cur nach 6 In- 
jectionen und starb 2 Monate später an Toliwuth. Im Institut zu Algier 
wurden in der gleichen Zeit 510 Personen behandelt; 6 Personen starben 
während der Behandlung oder gleich danach. 

— Für den 15. Congress für innere Medicin ist folgendes 
Programm festgestellt worden: Dienstag, den 8. Juni. Abends von 
9 Uhr ab: Begrüssung in den Räumen des „Central-Hotels“, Friedrich¬ 
strasse 143—149. — Mittwoch, den 9. Juni. Von 9'/,—12 Uhr: Erste 
Sitzung. Eröffnung durch Herrn von Leyden (Berlin). Der chronische 
Gelenkrheumatismus und seine Behandlung. Referenten: Hr. Bäumler 
(Freiburg) und Hr. Ott (Prag-Marienbad). Discussion. Nachmittags 
von 3—5 Uhr: Zweite Sitzung. Vorträge. Abends 6 Uhr: Sitzung 
des Ausschusses im Architectenhause. (Vorberathung über Neuwahlen 
und Statutenänderung; Anträge.) — Donnerstag, den 10. Juni. Von 
9 —12 Ubr: Dritte Sitzung. Epilepsie. Referent: Hr. Unverricht 
(Magdeburg). Nachmittags von 8—5 Uhr: Vierte Sitzung. Demon¬ 
strationen. — Freitag, den 11. Juni. Von 9—12 Uhr: Fünfte Sitznng. 
Einreichung von Themata für das nächste Jahr. Ergänzungswahlen. 
Erledigung etwaiger Anträge. Morbus Basedowii. Referent: Hr. Eulen¬ 
burg (Berlin)., Discussion. Nachmittags von 3—5 Uhr: Sechste 
Sitzung. Vorträge. Abends */,6 Uhr: Sitzung des Ausschusses im 
„Zoologischen Garten“ (Aufnahme neuer Mitglieder). Abends 6 Uhr: 
Fest-Diner im „Zoologischen Garten“. — Sonnabend, den 12. Juni. 
Vormittags von 9—12 Uhr: Siebente Sitzung. Vorträge. 

Vorträge. Auf besondere Aufforderung: Hr. 0. Liebreich 
(Berlin): Die Ziele der modernen medicamentösen Therapie. Hr. Beh¬ 
ring (Marburg): Ueber experimentelle Therapie. Hr. Benedict (Wien): 
Ueber die Verwendung der Röntgenstrahlen in der inneren Medicin. Hr. 
Rieh. Ewald (Strassburg i. Eis.): Ueber die Folgen von Grosshirn¬ 
operationen an labyrinthloBen Thieren (mit Demonstration eines Hundes 
vor und nach der Grosshirnoperation). 

Angemeldet: Hr. A. Fränkel (Berlin) und Hr. C. Benda (Berlin): 
Klinische und anatomische Mittheilungen über acute Leukämie. Hr. 
v. Jak sch (Prag): Klinische Beiträge zur Kenntniss des Kohlehydrat- 
Stoffwechsels. Hr. E. v. Leyden (Berlin): Ueber die Prognose der 
RUckenmarkBkrankheiten. Hr. Martin Mendelsohn (Berlin): Die 
klinische Bedeutung der Diurese und die Hülfsmittel ihrer therapeuti¬ 
schen Beeinflussung. Hr. A. Baginsky (Berlin): Zur Pathologie und 
Pathogenese der kindlichen Sommerdiarrhöen; mit Demonstration. Hr. 
Emil Pfeiffer (Wiesbaden): Zur Aetiologie des chronischen Gelenk¬ 
rheumatismus. Hr. Rumpf (Hamburg): Neue Gesichtspunkte in der 
Behandlung chronischer Herzerkrankungen. Hr. Fiirbringer (Berlin): 
Zur Klinik der Lumbalpunction. Hr. Oppenheim (Berlin): Weitere 
Mittheilungen zur Prognose der acuten, nicht eitrigen Encephalitis. Hr. 
Jaques Mayer (Karlsbad): Diabetes mellitus im jugendlichem Alter. 
Hr. 0. Vierordt (Heidelberg): Ueber die Wirkungen des Jods bei 
Erkrankungen des Circnlationsapparates und besonders bei Angina 
pectoris. Hr. B. Laquer (Wiesbaden): Ueber die Ursachen der Ei- 
weissfäulniss im Darme bei Milchnahrung. Hr. R. Friedländer 
(Wiesbaden): Ueber Veränderungen des Blutes durch thermische Ein¬ 
flüsse. Hr. J. Jacob (Cudowa): Ergänzungen zur angiospastischen 
Herzerweiterung. Hr. Ziegelroth (Berlin): Ueber den prophylacti- 
schen Werth des periodischen Schwitzens. Hr. Kisch (Marienbad): 
Ueber Lipomatosis universalis als Folgezustand pathologischer Processe 
an den Genitalien. Hr. Litten (Berlin): Zur Pathologie des Herzens. 
Hr. Max Herz (Wien): Versuche über Kohlensäureentziehung durch 
die Haut bei Herzkranken. Hr. Quincke (Kiel): Zur Behandlung fles 
Bronchialkatarrhs. Hr. Krönig (Berlin): 1. Operative Behandlung der 
Wassersucht. 2. Die Zählung der rothen und weissen Blutkörperchen: 
Demonstration eines neuen Zählapparates. Hr. Pöhl (Petersburg): Ueber 
Sperminuin. Hr. Georg Rosenfeld (Breslau): Giebt es eine fettige 
Degeneration? Hr. Julius Ritter (Berlin): Ueber die Behandlung 
skrophulöser Kinder. Hr. Goldscheider (Berlin): Ueber die Bedeutung 
der Reize für Pathologie und Therapie im Lichte der Neurontheorie. 
Hr. Rosenheim (Berlin): Ueber Oesophagospasmus. Hr. Gans (Carls- 
bad): Diabetes und Cholelithiasis. Hr. Benedict (Wien): Ueber 
Bpecifische Behandlung des DiabeteB insipidus. Hr. Max Immelmann 
(Berlin): Reber die Bedeutung der Röntgenstrablen für die Pneumato¬ 
therapie. Hr. Paul Jacob (Berlin): Ueber Leukocytose. Hr. Diet¬ 
rich Gerhardt (Strassburg): Zur Pathogenese des Icterus. Hr. Hoch¬ 
haus (Kiel): Ueber experimentelle Myelitis. Hr. B. Fränkel (Berlin): 


Verlag and Eigenthum von August Uirschwald in 


Ueber Perichondritis cricoYdea. Hr. Lenhartz (Hamburg): Weitere Er¬ 
fahrungen mit der Lumbalpunction. Hr. ArthurHennig (Königsberg i. Pr.) : 
Ueber chronische Diphtherie. Hr. Gumprecht (Jena): Tetanie und Anto- 
intoxication. Hr. Matth cs (Jena): Zum Stoffwechsel bei Morbus Basedowii. 
Hr. Ros in (Berlin): Ueber einen eigenartigen Eiweisskörper im Urin 
bei Nephritis. Hr. C. S. Engel (Berlin): Ueber verschiedene Formen 
der Leukocythose bei Kindern. Hr. Chvostek (Wien): Thema Vorbe¬ 
halten. Hr. Friedei Pick (Wien): Zur Kenntniss der Febris hepatica 
intermittens. Hr. Gustav Singer (Wien): Ueber die Aetiologie des 
acuten Gelenkrheumatismus. Hr. F. Blum (Frankfurt): Ueber ein syn¬ 
thetisch dargestelltes Specificum. Hr. Zuntz (Berlin): Messung des 
respiratorischen Stoffwechsels beim Menschen. Hr. Ewald (Berlin): 
A. Ueber Anaemia gravis. B. Chirurgische Erfahrungen bei Magen¬ 
krankheiten. 

Demonstrationen. Hr. E. Flatan (Berlin): Experimentelle and 
pathologisch-anatomische Untersuchungen über die Rückenmarksbahnen. 
Ilr. A. Goldscheider (Berlin) und Hr. E. Flatau (Berlin): Demon¬ 
stration von Präparaten pathologisch veränderter Ganglienzellen. Hr. P. 
Berliner (Berlin): Ueber farbig-plastische Nachbildungen von Präpa¬ 
raten aus dem Gebiete der internen Pathologie und ihre Verwerthnng 
beim klinischen Unterricht. Hr. Friedei Pick (Wien): Demonstration 
von Präparaten. 

Die Sitzungen des Congresses Anden im Architektenhause, Wilhelm¬ 
strasse 92/93, statt. Das Burean befindet sich ebendaselbst. Die Räume 
des Centralhotels, Friedrichstrasse 143—149, sind für die Dauer des 
Congresses den Theilnehmern als Sammelpunkt zu geselliger Vereinigung 
reservirt; auch hat sich die Direction des Centralhotels bereit erklärt, 
den Theilnehmern am Congresse, welche dort Wohnung nehmen, eine 
Vergünstigung von 10 pCt auf den Logirpreis zu gewähren. Die mit 
dem Congresse verbundene Ausstellung von neueren ärztlichen Apparaten, 
Krankenpflege-Geräthen, Instrumenten, Präparaten u. s. w. befindet sich 
im Arcbitektenhause. 


XII. Amtliche Mittheilungen. 

Perasnalia. 

Auszeichnungen: Rother Adler-Orden IV. Kl.: dem Stabsarzt 
Dr. Hauptner in Schweidnitz. 

Komthurkreuz des Königl. Württemberg. Friedrichs- 
Orden: dem Generalarzt Dr. Heinzei in Strassburg i. E. 

Ritterkreuz I. Kl. mit Eichenlaub des Grossherzogi. 
Badischen Ordens vom Zäh ringer Löwen: dem Divisionsarzt 
Dr. Andrüe und dem Ob.-Stabsarzt Gern et in Karlsruhe, dem Ob.- 
Stabsarzt Dr. Jaeger in Rastatt. 

Ernennung: Kreiswundarzt des Kreises Ziegenrück, Dr. Thilow in 
Gefell zum Kreis-Physikus dieses Kreises. Priv.-Docent Professor Dr. 
Eduard Kaufmann zu Breslau zum ansserordentl. Professor daselbst. 
Niederlassungen: die Aerzte Dr. Frohse, Dr. 8ally Kalischer, 
Dr. Katzenstein, Dr. Lesshaft, Dr. Hugo Meyer, Dr. Schle¬ 
singer, Dr. Sonntag und Dr. Werner in Berlin. 

Verzogen sind: die Aerzte Dr. Gerdes von Danzig nach Schildesche, 
Dr. Zum Berge von Peine nach Braunschweig, Presch von Peine 
nach Hannover, Dr. Stamm von Hildesheim nach Göttingen, Dr. 
Stenzei, Ober-Stabsarzt von Dt.-Eylau nach Thom, Dr. Borchers von 
Schildesche nach Bevensen; von Berlin: Dr. Adler nach Schoeneberg, 
Dr. Albrand, Dr. Ahlfelder, Dr. Bendix, Dr. Caspari, Drewke, 
Dr.Max Edel, Dr.Kann, Dr.Lilienfeld,Dr. Neufeld und Dr.Eugen 
Weber nach Charlottenburg, Ehrke nach Torgelow, Dr. Jacob nach 
Bremen, Masurke nach Danzig, Dr. Oppenheimer nach Stuttgart, Dr. 
Richstein nach Potsdam, Dr. Schreiber nach Königsberg i. Pr., Dr. 
Stolle nach Eichberg, Dr. Werth ei m nach Wilmersdorf, Dr. Protze, 
Dr. Bungert, Dr. Rothschild, auf Reisen; nach Berlin: Dr. 
Arnheim, Dr. Brednow, Dr. Pabst, Dr. Tarrasch und Dr. 
Walbbach von Schöneberg, Dr. Paul Cohn von Breslau, Dr. Framm 
von Lübeck, Dr. Glückstein, Dr. Gurau, Dr. Jacobsthal, Dr. 
Georg Lew in und Dr. Rust von Charlottenburg, Dr. Haike von 
Mariendorf, Dr. Heinersdorf von Breslau, Dr. Jaenicke von Leipzig, 
Dr. Kalmus von Liebstadt, Dr. Lasker von Freiburg i. B., Dr. 
Marx von Nürnberg, Dr. Otterbein von Eberswalde, Dr. Starke 
von Görlitz, Dr. Scheffler von Swinemünde, Dr. Pinner von Breslau 
nach Frankfurt a. 0., Dr. Rasch von Potsdam nach Sorau, Schwarz 
von Berlin nach Kolkwitz, Dr. Degner von Wisbahr nach Költschen, 
Dr. Braeuer von Berlin nach Guben, Dr. Hartung von Frankfurt a.O. 
nach Breslau. Dr. Seile von Sorau i. L. nach Neu-Ruppin, Dr. Neu¬ 
mann von Forst i. L. nach München, Dr. Hirschfeld von Fürstlich 
Drehna nach Spandau, Dr. Bergmann von Cottbus nach Breslau, 
Dr. Howe von Hamburg nach Luckau. 

Gestorben sind: die Aerzte Dr. Gordan und Dr. Stryck in Berlin. 

D ruokfeh 1 er ber 1 chtlgnn g. 

In No. 19, Seite 410, erste Spalte, Zeile 50 von oben muss es nicht 
heissen: Wöchnerinnenschutzvorrichtung sondern Wärmeschutzvor¬ 
richtung. 


FQr die Redactlon verantwortlich Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald, LQtaowplatx 5. 


Berlin.’ — Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin. 


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Dl« "*•**>• Wochenschrift erscheint Jeden 

Mont«* ln <*•' “thrke »on > bis S Bogen gr. 4. — 
Preis ilert«U*" r Nch 6 Mark. Besteilangen nehmen 
eile Bafhhsndlangen und Postsnstelten «n. 


BERLINER 


Einsendungen wolle man portofrei an die Redactton 
(W. LOlxompIxtx No. & ptr.) oder an die Verlags¬ 
buchhandlung von August Hirschwald in Berlin 
N.W. Unter den Linden No. 68, adressireu. 



Organ für practische Aerzte. 


Mit Berücksichtigung der preussischen Medicinalverwaltung und Medicinalgesetzgebung 

nach amtlichen Mittheilungen. 


Redaction: 

Geh. Med.-Rath Prof. Dr. G. A. Ewald und Prof. Dr. C. Posner. 


Expedition: 

August Hirschwald, Verlagsbuchhandlung in Berlin. 


Montag, den 24. Mai 1897. 


M 21 . 


Vierunddreissigster Jahrgang. 


INHALT. 


I. O. Heubner: Ueber Säuglingsernährung und Säuglingsspitäler. 

II. Aus der II. medicinisehen Universitätsklinik. (Director Geheim- 
rath Gerhardt.) L. Bl um re ich und M. Jacoby: Experimentelle 
Untersuchungen über Infectionskrankheiten nach Milzexstirpaiion. 

III. Ans dem städtischen Krankenhause in Frankfurt a. M. Innere Ab- 
theilnng Prof. C. v. Noorden. F. Kraus: Die Resorption des 
Nahrung«fettes unter dem Einflüsse des Karlsbader Mineralwassers. 

IV. E. v. 8ohlern: Der Kissinger Rakoczy und seine Verwerthbar- 
kett bei Magenerkranknngen. 

V. Aus der inneren Abtbeilung des Herrn Geheimrath Ewald am 
Augusta-Hospifal in Berlin. Leop. Kuttner und Dy er: Ueber 
Gastroptose. (Fortsetzung.) 

VI. Kritiken und Referate. Cramer: Hygiene; Prausnitz: 
Grundzüge der Hygiene; Flügge: Mikroorganismen; Ohlmüller: 


L Ueber Säuglingsernährung und Säuglings¬ 
spitäler. 

Von 

0. Heubner. 1 ) 

So lange die Säuglingssterblichkeit in unserem Vaterlande 
die jetzige Höhe haben wird, so lange wird die Frage der 
Säuglingsernährung nicht von der Tagesordnung der Medicin 
verschwinden. Denn beide Fragen hängen eng zusammen. Eine 
erhöhte Wichtigkeit beanspruchen sie fllr eine Grosestadt, wie 
Berlin, wo die Fürsorge für die immer zahlreicheren der elter¬ 
lichen Pflege entbehrenden Säuglinge immer dringlicher zu einer 
ernsten Verpflichtung heranwächst, der sich das Gemeinwesen 
nicht mehr entziehen kann. 

Suchen wir den Stand der zweiten Frage, wie er sich im 
Laufe des letzten Jahrzehnts entwickelt hat, zu Überblicken, so 
stossen wir vor Allem auf eine nicht zu bezweifelnde Errungen¬ 
schaft, die an den Namen Soxhlet’s anknüpft, und die in der 
Hauptsache wieder der bacteriologischen Aera ihre Entstehung 
verdankt. Der Hinweis darauf, dass die Thiermilch nicht durch 
beliebige Verunreinigungen, durch den einfachen Einfluss der 
Wärme oder dergleichen, sondern durch vermehrungsfähige 
Keime in eine Gefahr gebracht wird, die mit jeder Stunde län¬ 
gerer Wirksamkeit jener unverhältnissmässig sich erhöht, wurde 
nach zwei Richtungen hin nutzbar gemacht. Dass der Trans¬ 
port des Produktes ein völlig reinlicher sein müsse, darauf 
hatten die Aerzte längst hingewiesen. — Aber Soxhlet zeigte, 
dass die Verunreinigung schon im Stalle vor dem Transport be¬ 
ginne und lehrte, worauf es hei der Stallhygiene in Beziehung 


1) Vortrag, gehalten am 5. Mai 18i*7 in der medic. Gesellschaft zu 
Berlin. 


Untersuchung des Wassers; Pelc und Ilucppe: Wasserversor¬ 
gung in Prag; Kraschutzki: Versorgung mit gesundem Wasser; 
Verunreinigung des Dresdener Leitungswassers; Solbrig: Hygie¬ 
nische Anforderungen an ländliche Schulen. (Ref. M. Hahn.) 

VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Berliner medi- 
cinische Gesellschaft. Discussion über Heubner: Säuglingsemäb- 
rung und Säuglingsspitäler. — Gesellschaft für Geburtshülfe und 
Gynäkologie zu Berlin. Discussion über Gessner: Physiologie der 
Nachgeburtsperiode. Winter: Cystoskopie u. Ureterkatheterismus. 

VIII. 26. Congress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. (Fort¬ 
setzung.) 

IX. Praktische Notizen. 

X. Tagesgeschichtliche Notizen. 

XI. Amtliche Mittheilungen. 


auf die Milch ankomme. So wurde erst ein wirklicher Musterstall 
möglich. Zweitens reformirte er die Behandlung des Produktes 
nach dem Transport im Haushalte. Der Gedanke, die Milch 
daheim in einzelnen trinkfertigen Portionen, wie sie den Säug- 
lingsraahlzeiten entsprechen, abzukochen und aufzubewahren, ent¬ 
sprang zwar einer vielleicht Ubergrossen Schätzung der durch 
die Luft erfolgenden Infection der Milch, hatte aber den segens¬ 
reichen Erfolg, jede einzelne Bereiterin von Säuglingsnahrung in 
viel eindringlicherer Weise zur Reinlichkeit zu erziehen, als es 
früher der Fall gewesen, gleichzeitig aber auch durch eine bis 
ins Einzelne vorgeschriebene Methodik die Ausführung der Sache 
zu erleichtern und schliesslich im Grunde zu vereinfachen. 

Spätere Einwendungen, besonders diejenigen von Flügge, 
gegen die fabrikmässige Herstellung der Bterilisirten Milch, 
haben doch an dem Wesen der ursprünglichen Soxhlet’sehen 
Vorschläge nichts geändert. Seine Methodik bezeichnet einen 
wahren und dauernden Fortschritt in der Säuglingsernährung. 

Freilich leider bisher nur für einen kleinen Bruchtheil der 
Bevölkerung. Denn die drei in dürftigen Verhältnissen sich be¬ 
findenden Viertheile derselben haben keinen Nutzen davon, weil 
sie auch die mässigen Kosten und die Zeit, welche das Ver¬ 
fahren erheischt, nicht zur Verfügung haben. Das kann der 
Grund sein, warum die Säuglingssterblichkeit in den 10 Jahren 
seit Soxhlet’s Auftreten keine wesentliche Besserung erfahren 
hat. Ganz unbeeinflusst ist aber vielleicht auch die Lage der 
Säuglinge bei den kleinen Leuten nicht geblieben, in sofern als 
die Reformen der Stallwirthscliaft doch auch einen gewissen 
Eingang in die kleinen und kleinsten Betriebe gewonnen haben, 
und so wenigstens die Gewinnung der Milch eine bessere ge¬ 
worden ist. Die gleiche absolute Höhe wie im 9. Jahrzehnt hat 
die Säuglingssterblichkeit in Berlin im letzten Decennium des 
Jahrhunderts nicht mehr erreicht, obwohl die Gressstadt doch 


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No. 21. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


442 

erheblich gewachsen ist. In Nürnberg soll, wie mir ein Col¬ 
lege berichtete, seit Einführung von gut geleiteten Mustermilch¬ 
anstalten die Säuglingssterblichkeit sogar in auffallender Weise 
zurückgegangen sein. 

In den Kreisen aber, wo die Methodik Soxhlet’s in der 
einen oder anderen Weise befolgt wird, beobachten wir ärzt¬ 
lichen Praktiker noch eine zweite Thatsache von, wie es scheint, 
allgemeiner Geltung: dass nämlich die künstliche Nahrung des 
Säuglings auf recht verschiedene Weise eingerichtet werden 
kann, ohne den Erfolg zu gefährden. Mit schwächeren und 
stärkeren Verdünnungen der Kuhmilch, mit Albumose- und So- 
matose-Milch, mit peptonisirter Milch, mit Liebig’s Suppe, mit 
Fettmilch, Pflanzenmilch u. s. w. behaupten die verschiedensten 
Autoren ein jeder die besten Erfolge zu haben. Und es muss 
auch in der That auf allen diesen Wegen oft genug gehen, 
sonst würden sie ja längst wieder verlassen sein. — Es lässt 
sich dieses wohl kaum auf eine andere Weise erklären, als dass 
der Säuglingsdarm ebenso wie derjenige des Erwachsenen mit 
sehr verschieden zusammengesetzter Nahrung fertig zu werden 
vermag, vorausgesetzt nur, dass dieselbe nicht zersetzt und 
damit giftig ist. 

Eine gewisse Analogie dazu können wir schon bei der 
natürlichen Nahrung wahrnehmen. Durchmustern wir die bis 
jetzt vorliegenden fünfzehn Beispiele von Brustkindern, deren 
Ernährung monatelang mit der Wage controlirt worden ist, so 
begegnen wir grossen individuellen Verschiedenheiten in Bezug 
auf die täglichen Quanta, welche die einzelnen Kinder aus der 
Mutterbrust bekommen — ohne dass die Resultate im Wachs¬ 
thum sich in gleich erheblicher Weise unterschieden. In Calo- 
rien ausgedrUckt, schwankt die Menge von Nahrung, die ein 
Säugling pro Kilo täglich von der Brust bekommt 
zwischen 70 und 130 Calorien! 

Dabei ist das erstere, mit viel weniger Nahrung zufriedene 
Kind um 4 Wochen älter, als das letztere. Freilich ist die 
Körperzunahme in beiden Fällen eine bedeutend verschiedene, 
aber das allgemeine Gedeihen fehlte auch im ersteren Falle 
nicht, auch hier kam das bei der Geburt 3170 gr schwere Kind 
Ende der 16. Woche auf mehr als das Durchschnittsgewicht 
(6,6 kgr). 

Und fast gleichaltrige Kinder von gleichem Gewicht können 
(z. B. Ende des ersten Monats) in ihrer täglichen Nahrungs¬ 
aufnahme um mehr als 30 Calorien pro Kilo differiren, ohne 
dass ein Unterschied im Effect bemerklich ist, ja es kann das 
spärlichere Mengen geniessende Kind sogar mehr zunehmen. 

Freilich beim künstlich genährten Säugling spielen nicht nur 
die quantitativen, sondern vor allem die qualitativen Unterschiede 
eine grosse Rolle. 

Aber bevor auf diese Rücksicht genommen wird, ist cs 
nicht ohne Interesse, einige künstliche Ernährungsmethoden mit 
der Muttermilch in Bezug auf ihren dynamischen Werth zu 
vergleichen, wobei die Begründung der Rechnung hier nicht ge¬ 
geben werden kann. 

Nehmen wir an, ein Kind tränke täglich 1 Liter Mutter¬ 
milch (was genau nur etwa fllr den 5. bis 6. Monat zutrifft, 
auch nicht bei allen Kindern), so würde es damit niedrig ge¬ 
rechnet 

620 Calorien erhalten. 

Die Kuhmilehverdünnung, wie sie bei Säuglingen im 1. und 
2. Lebensmonat noch vielfach geübt wird, z. B. nach Biedcrt’s 
Vorschlag 1 :3 Wasser, unter entsprechendem Milchzucker¬ 
zusatz, enthält aber nur 

325 Calorien im Liter. 

Wenn deshalb ein Säugling die gleichen Mengen erhalten 
soll, wie aus der Mutterbrust und nicht monströse Volumina, so 


bekommt er mit der '/ 4 Milch, auch Zuckerznsatz vorausgesetzt, 
nicht viel mehr als die Hälfte der Kraftquellen, die ihm die 
Mntterbrust gewährt. 

Wenn nun aber, wie Biedert selbst angiebt, die Kinder 
bei dieser Ernährung zunehmen und gedeihen, so weiss ich 
keine Erklärung als: entweder liefert die Mutterbrust eine un- 
nöthige Menge, also Luxus-Nahrung, oder die Kinder setzen bei 
der Ernährung mit der stark verdünnten Milch Wasser an. Das 
letzte ist das Wahrscheinlichere, da man durch Beispiele be¬ 
legen kann, dass eine Luxusproduction in der Brust der Frau 
nicht oder doch nur selten vorhanden ist. 

Die von mir gewöhnlich verordnete 2 /, Milch (ein 
Tlieil Wasser auf 2 Theile Milch -j- Milchzucker) enthält im 
Liter rund 600 Calorien. 

Hier bedarf es also jedenfalls keines höheren Volumens 
an Nahrung, um dem Kinde die gleiche Kraft zuzufUhren, wie 
die Mutterbrust. 

Der so geringen Verdünnung wird nun aber vorgeworfen, 
dass sie zu schwer sei, namentlich der Caseingehalt zu hoch. 
Das mag ausnahmsweise, bei sehr schwachen und namentlich 
bei kranken Kindern, richtig sein. Die Regel ist es aber nicht. 
In der Regel vertragen die Säuglinge schon sehr zeitig die von 
mir angewandte geringe Verdünnung unter zwei Bedingungen, 
erstens absoluter Reinlichkeit und zweitens der Beschränkung 
auf das gleiche Volumen der Nahrung, wie sie in dem ent¬ 
sprechenden Monat die Mutterbrust dem Säugling gewährt. — 
Ich habe aus meiner consiliaren Praxis 10 Beispiele gesammelt, 
wo diese Milch sogar von kranken und schwachen Kindern gut 
verdaut worden ist und zu sehr befriedigendem Gedeihen und 
Wachsen bis Ende des 1. Lebensjahres geführt hat. 

Trotzdem will ich durchaus nicht in Abrede stellen, dass 
die künstliche Nahrung des Säuglings in qualitativer Beziehung 
noch der Verbesserung fähig sei, und dass die von ernsten Ar¬ 
beitern, wie Biedert, Voltraer, Gärtner, Backhaus ange¬ 
gebenen Mischlingen der sorgfältigsten Prüfung werth seien. 

Der kalorische Werth z. B. der Gärtner’schen und der 
Backhaus’schen Milch ist annähernd derselbe wie derjenige 
der Muttermilch, von ersterer enthält der Liter etwa 612, von 
letzteren etwa 630 Kalorien. 

Aber die Prüfung und Vergleichung im Grossen begegnet 
den grössten Schwierigkeiten und bis jetzt scheinen uns aus¬ 
schlaggebende Versuchsreihen noch nicht vorhanden zu sein, 
auf Grund deren den betreffenden Milchsorten im Grossen und 
Ganzen ein wesentlicher Vorzug vor der einfachen 2 /, Ver¬ 
dünnung zukäme. Die Kosten der Ernährung stellen sich aber 
unter allen Umständen höher und deshalb kommen die bisheri¬ 
gen Verbesserungen, wenn es solche sind, gerade dem Theil der 
Bevölkerung, der sie am nöthigsten hätte, ebensowenig zu Gute 
wie die Soxhlet’sche Methodik. 

Die Schwierigkeit einer vergleichenden Prüfung von ver¬ 
schiedenen künstlichen Ernährungsmethoden beruht auf einem 
anderen Umstande, als die bisher berührten: auf der bisher 
ganz allgemein gemachten Erfahrung, dass in Säuglingsstationen 
von Krankenhäusern, in Säuglingsasylen, Krippen etc. keine 
einzige Methode der künstlichen Ernährung zu einem guten Ziele 
führt, auch — wie wir aus neuerer mehrjähriger Erfahrung jetzt 
wissen — die Soxhlct’sche Methode nicht; dass vielmehr alle 
Zusammenhäufung von Säuglingen (ohne welche vergleichende 
Versuche doch eben nicht möglich) unausbleiblich zu einer ganz 
enormen Sterblichkeit dieser kleinen Wesen bisher geführt hat. 

Bis zu einem allerdings beschränkteren Grade gilt dieses 
sogar auch bei der natürlichen Ernährung. 

Wie ist das zu erklären? 

Eine monatelang fortgesetzte Beobachtung der Ereignisse 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


auf der Säuglingsstation der Charite, welche einer meiner Schiller 
(Dr. W atjoff aus Lowetsch) In Form eines täglich Uber die Station 
geführten Tagebuches angestellt hat, hat zu dem Aufschluss ge¬ 
führt, dass innerhalb der Station Uebertragungen gewisser 
Darmkrankheiten stattfinden können. Das war zwar nicht von 
allen vorkommenden nachzuweisen, aber unbezweifelt von einer, 
der Enteritis follicularis. Ein anderer Umstand bestätigte die auf 
diese Beobachtung hin entstandene Vermuthung, dass wohl nicht 
nur die grossen grob einsetzenden und tödtlich endenden Kata¬ 
strophen, sondern auch die immer wiederkehrenden kleinen 
Schädigungen durch Uebertragung vermittelt werden. Sie geben 
sich durch die Unstetigkeit im Verlaufe der Wachsthumscurve 
zu erkennen. — Diese Unstetigkeit fiel weg, sobald der 
Säugling aus der Station entlassen nach unserer Vorschrift in 
der Einzelpflege weiter behandelt und ernährt wurde. Eine 
solche Differenz im Verhalten desselben Kindes, je nachdem 
es im Säuglingssaale oder in Einzelpflege untergebracht war, 
selbst zu beobachten, wurden wir durch eine Einrichtung in 
Stand gesetzt, die wir mit der höchst dankenswerthen Unter¬ 
stützung des städt. Waisenhauses trafen. Die Waisen Verwaltung 
gestattete uns, Kinder, die wir für geeignet hielten, an Zieh¬ 
mutter, die vom Waisenhaus gepiUft waren, zu Ubergeben und 
dabei selbst weiter zu beobachten, gleichsam als ob sie noch in 
der Charite wären. Unter 21 im Jahre 95 (2. Hälfte) und 9G 
auf diese Weise versorgten sehr elenden Kinder gelang es 10 Mal 
die Säuglinge, die eben reconvalescent, noch in sehr schwachem 
Zustande entlassen wurden, in den Händen tüchtiger Pflegerinnen 
nicht nur vorübergehend zu bessern, sondern in monatelangem 
stetigen Wachsthum Uber das Säuglingsalter hinaus zu bringen; 
eine Leistung, die uns in der Charite nie gelang. Dabei zeigte 
sich freilich, dass dieses nicht in der Hand jeder Ziehmutter ge¬ 
lang, so dass unter einer grösseren Zahl zur Verfügung stehen¬ 
der Pflegerinnen nur 2 oder 3 schliesslich übrig blieben, denen 
die guten Resultate gelangen, während die anderen fast nur 
Fehlschläge hatten. Dass dieses zu einem wesentlichen Theil 
an der grösseren Sorgsamkeit und Reinlichkeit der ersteren lag, 
ist kaum zu bezweifeln. Trotzdem haben aber auch diese be¬ 
stimmt weder besser zusammengesetzte noch reinlichere Milch 
verfüttert, als dieses in der Säuglingsabtheilung unserer Klinik 
der Fall war. Die besseren Resultate können also nur auf die 
Eliminirung gewisser Schädlichkeiten, welche in der Einzelpfiege 
fehlten, beruht haben. 

Da man nun diese Schädigungen bei der Massenverpflegung 
des Säuglings bei jeder Ernährung, schmaler wie reichlicher, 
caseinarmer und caseinreicher, fettarmer und fettreicher, bei 
Ernährung mit Milch und mit Mehl, eintreten sah, so musste 
sich doch immer wieder der Gedanke regen, dass diese Schädi¬ 
gungen ektogener Natur wären, von aussen durch Zufall in den 
Verdauungskanal hineindrängen. — Einer grossen Reihe von 
Möglichkeiten solcher Infectionen beim Bade, beim Thermorae- 
triren, beim Saugen an den Fingern war durch genaue die Einzel¬ 
heiten berücksichtigende Vorschriften ausgeschlossen. Man wurde 
immer wieder auf die nicht genügend reinliche VerfUtterung hin¬ 
gewiesen. 

Deshalb wurden die (in öproc. Borsäure liegenden) Saug- 
liUtchen und die Hände der Pflegerinnen mehrfachen bacterio- 
logischen Untersuchungen unterworfen und es ergab sich die 
im ersten Moment Überraschende Thatsache, dass nicht nur die 
Hände der Pflegerinnen (wenn sie nicht kurz vorher tüchtig ge¬ 
waschen waren), sondern auch die in Borsäure liegenden Saug- 
hütchen reichliche Mengen von lebensfähigen Colibacillen an sich 
trugen. — Daraus konnte wohl mit Recht der Schluss gezogen 
werden, dass, ebenso wie diese Bacillen so auch etwaige unbe¬ 
kannte den Entleerungen der Kinder anhaftende inficirende Stoffe 


bei der Fütterung und sonstigen Pflege durch Contactinfection 
von einem Kinde aufs andere übertragen werden können. 

Nachdem diese Erfahrung gemacht, wurden nun zwei weitere 
Verordnungen in der Säuglingsabtheilung erlassen und durch¬ 
geführt: 

1. Die Saughütchen wurden nach jedem Trinken gereinigt, 
ausgekocht und dann zwischen sterilem Verbandmaterial auf 
Glasplatten trocken aufgehoben. Sie sind seitdem so gut wie 
steril. 

2. Der Dienst der Pflegerinnen wurde völlig getrennt. Die 
eine Pflegerin hatte nur mit der Ernährung, die andere nur 
mit den Excreten zu thun. Nie durfte eine Vertretung der 
Wärterin, welche die obere Hälfte des Säuglings zu versorgen 
hatte für diejenige, die es mit der unteren zu thun hatte, und 
umgekehrt, stattfinden. — Erleichtert wurde die Durchführung 
dieser Maassregel dadurch, dass der Säuglingsstation an Stelle 
des einen Zimmers in der alten Charite eine Baracke zugewiesen 
wu-.de, die zwei schöne Räume von je 8 Säuglingsbetten enthielt. 
Für jeden dieser Räume werden zwei Wärterinnen angestellt. 
— Leider wurde aus Mangel an Hülfskräften das Princip inso¬ 
fern durchbrochen, als während der Nacht für beide Säle nur 
eine Nachtwache zu beschaffen war. 

Trotzdem aber haben sich seitdem die Verhältnisse insofern 
gebessert, als es viel öfter gelingt, eine stetige Wachsthums¬ 
curve bei einzelnen recht elenden Kindern zu erzielen und Säug¬ 
linge aus Zuständen zu retten und monatelang in die Höhe zu 
bringen, unter denen sie früher verloren gewesen wären. 

Aus den dargelegten Erfahrungen lassen sich einige Gesichts¬ 
punkte ableiten, welche für die Organisation von Säuglingsasylen 
oder Säuglingskrankenhäusern maassgebend sein dürften. 

1. Bei den grossen Schwierigkeiten, welchen die künstliche 
Ernährung bei der Massenpflege auch in Zukunft begegnen 
wird, muss vor allem darauf gesehen werden, dass diejenigen 
Säuglinge, deren Mütter physisch befähigt sind, ilire Kinder selbst 
zu nähren, diese Nahrungsquelle wenigstens während der 
ersten Monate erhalten bleibt. Das kann nur dadurch erreicht 
werden, dass ein Säuglingsasyl eine grössere Anzahl von Sälen 
hat, in welchen die Säuglinge mit ihren Müttern aufgenommen 
und eine Reihe von Wochen bis Monaten verpflegt werden. — 
Das „Kaiserliche Kinderheim“ zu Gräbschen bei Breslau liefert 
seit 14 Jahren den Beweis, dass eine solche Einrichtung ohne 
grosse Kosten durchführbar ist. 

2. Diejenige Abtheilung, welcher die Säuglinge ohne 
Mütter zugehen, wo also künstliche Ernährung stattfindet, muss 
aus einer grossen Zahl kleiner Säle bestehen mit höchstens 
4 Säuglingen auf einen Raum. Denn aus den obigen Darle¬ 
gungen geht hervor, dass die Gefahr gegenseitiger Uebertragungen 
um so grösser werden muss, je höher die Zahl der im gleichen 
Raume zusammengehäuften Kinder ist. — Für besonders schwer 
kranke Säuglinge sind Isolirräume vorzusehen. 

3. Das Pflegepersonal in der Abtheilung für künstliche Er¬ 
nährung muss ein viel zahlreicheres sein, als in anderen 
Krankenhäusern. Das Maximum der Anforderung wäre für 8 Säug¬ 
linge 3 Tageswärtcrinnen (2 für die Fütterung, 1 für die Pflege 
der „unteren Hälfte“ der Säuglinge) und 2 Nachtwärterinnen; 
also 5 Wärterinnen für 8 Säuglinge. 

4. Auch unter diesen Bedingungen dürfte das Säuglings¬ 
hospital immer nur ein Durchgangsaufenthalt für die Säuglinge 
sein: nur Heil-, keine Pflegeanstalt. Die eigentliche Auf¬ 
ziehung kann auf die Dauer mit Erfolg, soweit die bisherigen 
Erfahrungen reichen, nur in der Einzelpflege bewerkstelligt 
werden. Deshalb müsste einem Säuglingskrankenhause unter 
allen Umständen eine von den Organen des Säuglingskranken- 
hauses dauernd (unter Verwendung besonders hierzu angestellter 

1 * 


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444 

Beamten) überwachte Aussenpflege organisch angegliedert 
sein, ganz so, wie es jetzt von allen gut eingerichteten Findel¬ 
häusern ausgeübt wird. 

5. Die Kosten derartiger Säuglingskrankenhäuser werden, 
wenn die obigen Anforderungen befriedigt werden sollen, sehr 
hohe sein. Ohne sie wird aber, wenigstens so weit bis jetzt sich 
voraussehen lässt, eine Mortalität zu gewärtigen sein, welche die 
öffentliche Gesundheitspflege nicht verantworten kann. 1 2 ) 


II. Aus der II. medieinischen Universitätsklinik. 
(Director Geheimrath Gerhardt.) 

Experimentelle Untersuchungen über Infections- 
krankheiten nach Milzexstirpation 3 ). 

Von 

Dr. Ludwig Blumreich und Dr. Martin Jacoby. 

Die klinische Beobachtung hat für das Verhalten der Milz 
bei Infectionskrankheiten nur wenige, aber sehr constante Be¬ 
funde ergeben. Bekanntlich handelt cs sich bei den einzelnen 
Krankheitsformen um eine mehr oder minder erhebliche Ver- 
grös8erung des Organs. 

Zur Erklärung dieser Thatsache ist eine Reihe von Hypo¬ 
thesen aufgestellt worden, die aber noch nicht die Probe des 
Experimentes bestanden haben. Um die Bedeutung der Milz 
bei Infectionskrankheiten zu beleuchten, schien es uns das Nahe¬ 
liegendste zu sein, wenn wir das Organ exstirpirten und die 
entmilzten Thiere einmal mit Bacterien, einmal mit ihren Toxinen 
inficirten. 

Unser Plan war es dabei, zu beobachten, ob sich eine Ab¬ 
weichung im Verhalten dieser Thiere gegenüber den normalen 
constatiren Hess. Diese Versuche haben nun Resultate geliefert, 
die zuerst cigenthümlich erscheinen konnten, aber bei tieferem 
Eindringen in die Frage sich durchaus als verständlich und von 
Interesse für die Pathologie erwiesen haben. 

Im Folgenden möchten wir Ihnen daher den Gang unserer 
Untersuchungen und ihre Ergebnisse kurz mittheilen. 

Entmilzt haben wir etwas Uber 200 Meerschweinchen. 3 ) Nach 
einiger Uebung brachten wir die Mehrzahl der Thiere Uber Er¬ 
warten gut durch, so dass sie sich schnell völlig erholten, an 
Gewicht Zunahmen und zu Infectionsversuchen benutzt werden 
konnten. 

Bei unserem ersten Experiment benutzten wir Diphtherie¬ 
bacillen und ein aus derselben Cultur gewonnenes, sehr giftiges 
Toxin. Beide verdanken wir der grossen Liebenswürdigkeit des 
Collegen Blumenthal, Assistenten der I. med. Klinik. 

Wir nahmen im Ganzen 24 Thiere zu diesem Versuche, 12 
normale, 12 entmilzte. Je sechs beider Gruppen wurden dann 
mit Bacillen, beziehungsweise mit Toxin gespritzt. Diese beiden 
Categorien verhielten sich nun ganz verschieden und verlangen 
daher gesonderte Betrachtung. 

Die mit Toxin gespritzten Thiere Hessen keinen deutlichen 
Unterschied erkennen, gleichviel, ob sie entmilzt oder nicht ope- 
rirt waren, sie starben etwa nach der gleichen Frist. 

1) Anmerkung. Ausführlich finden sich die in dem Vortrage be¬ 
handelten Gegenstände dargestellt in einer gleichzeitig im Ilirsch- 
wald’schen .Verlage erscheinenden Brochüre, betitelt Säuglings- 
ernährung und Säuglingsspitäler. Berlin 1897. 

2) Vortrag, gehalten am 6. V. 97 in der Gesellschaft der Cbaritc- 
Aerzte. 

3) Die Kosten der Versuche wurden zum Theil aus Mitteln be¬ 
stritten, die wir der Stiftung der Gräfin Louise Bose verdanken. 


No. 21. 

Anders bei den mit Bacterien inficirten Thieren. Hier 
zeigte sich durchgehends die zunächst überraschende Thatsache, 
dass die entmilzten Thiere, die doch eine schwere Opera¬ 
tion durchgemacht hatten, länger der tödtlichen Bacterien- 
dosis widerstanden, als die Controltliiere. Während die 
Controlthiere durchschnittlich nach 34 1 /, Stunden starben, kamen 
die entmilzten erst nach 47 Stunden zum Exitus. 

Lassen Sie uns einen Augenblick die Mittheilung unserer 
Versuchsresultate unterbrechen und sehen, welche Angaben in 
der Literatur vorhanden sind, die hiermit irgendwie in Beziehung 
gebracht werden können. Aus dem Institut Pasteur sind zwei 
Arbeiten von Bardach, einem Schüler Metschnikoff’s, er¬ 
schienen. Bar dach hat Hunden und Kaninchen die Milz exatir- 
pirt und nach einigen Monaten Milzbrandbacillen injicirt. Von 
den operirten Thieren starb eine grössere Anzahl, während von 
den normalen nur sehr wenige und meist nur die mit geringem 
Gewicht zu Grunde gingen. 

Doch konnten Kurlow und Melnikow-Raswedenkow 
diese Angaben nicht bestätigen. Sie fanden, dass bald die ent- 
railzten, bald die normalen Thiere früher starben. Indess die 
Versuchsziffern dieser Forscher sind so klein, dass ein sicheres 
Resultat nicht zu erwarten war. Soviel aber geht auch schon 
aus ihren Protocollen hervor — worauf sie selber allerdings 
garnicht aufmerksam gemacht haben — dass die entmilzten 
Thiere nicht ganz selten später starben, ja sogar überhaupt am 
Leben blieben. 

In der Tliat konnten auch wir, als wir mit einer äusserst 
virulenten Milzbrand cultur arbeiteten, Aehnliclies beobachten. 

14 normale und 12 entmilzte Meerschweinchen starben etwa zn 
derselben Zeit, nur ein einziges entmilztes Uberstand die 
Infection. 

Ganz andere Ergebnisse hatten wir, als wir zu anderem 
Infectionsmaterial übergingen. 

Durch die Güte des Herrn Dr. Wassermann, Assistenten 
am Institut für Infectionskrankheiten, erhielten wir eine virulente 
Pyocyaneuscultur nebst einem sehr giftigen Pyocyaneustoxin, 
sowie eine hochwirksame Choleracultur. 

Während wir — um das gleich vorauszunehmen — bei der 
Spritzung mit dem Pyocyaneustoxin keinen merklichen Unter- 
schied zwischen entmilzten und normalen Thieren fanden, Hess 
sich eine auffallende Differenz zu Gunsten der ent¬ 
milzten Thiere bei der Injection der Bacterien fest¬ 
stellen. 

Wir wollen Ihnen hier nur einen kurzen Ueberblick Uber 
die Versuche geben, während die ausführlichen Daten an anderer 
Stelle niedergelegt werden sollen. 

Wir verwandten zunächst für Pyocyaneusbacillen in drei 
Einzel versuchen zusammen 15 entmilzte und 12 normale Thiere. 

Von den 12 normalen Meerschweinchen starben acht, das 
neunte war sehr schwer krank. Von den 15 entmilzten starben 
zwei, bei einem dieser beiden Thiere injicirtcn wir aus Versehen 
in eine Vene, so dass dieser Versuch ganz aus der Reihe fällt, 
die übrigen 13 blieben munter. 

Würden wir die mit der gleichen Dosis gespritzten normalen 
Thiere, die wir zu Vorversuchen benutzten, hier miteinrechnen, 
so würde das Resultat noch günstiger für die entmilzten Thiere 
ausfallen. 

Ebenso schlagend gestaltete sich das Versuchsresultat bei 
unseren Choleraversuchen. Hier stehen sich 18 entmilzte und 

15 normale Thiere in drei Einzel versuchen gegenüber. Von den 
15 normalen starben 13 und die beiden übrigen waren schwer 
krank, von den 18 entmilzten starben nur 4 gegenüber 14 Über¬ 
lebenden. 

Fassen wir die Ergebnisse dieser Versuchsreihen in Kürze 


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24. Ma't 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


445 


zusammen, so zeigt sich, dass schon der Diphtherieversuch einen 
deutlichen Unterschied zwischen normalen und entmilzten Thieren 
zu Gunsten der letzteren hervortreten liess. Ganz unverkennbar 
nach dieser Richtung lagen die Resultate bei den Pyocyaneus- 
und Choleraversuchen. Nur beim Milzbrand liegen die Verhält¬ 
nisse anders, die Aufklärung hierfür wird sich im weiteren 
Verlaufe des Vortrages noch ergeben. — Betonen wir auch 
hier noch einmal, dass diese erhöhte Widerstands¬ 
fähigkeit der entmilzten Tliiere nur gegenüber Bac- 
terien, nicht aber gegenüber Toxinen vorhanden war. 

Es war nunmehr zu entscheiden, ob diese Schutzwirkung 
erst durch die Entfernung des Organs aus dem Körper oder 
bereits durch die Ausschaltung der Milz aus der Blutbahn her¬ 
vorgerufen wird. Zu dem Zweck haben wir an 19 Thieren 
Unterbindungen der Milz vorgenommen. Hier konnten wir das 
interessante Resultat feststellen, dass die Meerschweinchen im 
Gegensatz zu der Entmilzung die Unterbindung sehr schlecht 
vertrugen. Es starben uns innerhalb kurzer Zeit nach der Ope¬ 
ration 15 Tliiere, nur 4 konnten wir zu Infectionsversuchen be¬ 
nutzen. 

Auch diese Tliiere verhielten sich wie die Entmilzten, so 
dass mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit der Schluss gestattet 
sein dürfte: „Die Entfernung der Milz aus dem Kreis¬ 
lauf ist es bereits, die den Meerschweinchen ihre er¬ 
höhte Widerstandsfähigkeit gegenüber den Infectionen 
verleiht. “ 

Es lag nahe, die Versuche nunmehr auf das Blut selbst zu 
übertragen. Wir hatten zu prüfen, ob das Blut entmilzter Thiere 
in höherem Grade es vermag, die tödtliche Wirkung der Bacte- 
rien abzuschwächen, als das Blut normaler Meerschweinchen. 

Auf die Einzelheiten der Versuchsanordnung bei diesen 
Experimenten können wir hier nicht eingehen. Wir möchten 
nur hervorheben, dass für unseren Zweck l’lattenzählungen der 
Bacterien nach der Buchner schen Methode ohne Worth ge¬ 
wesen wären, da ja die etwaige Schädigung durchaus keine 
numerische zu sein brauchte. 

Im Princip verfuhren wir folgendermaassen: Wir brachten 
Bacterien — bei diesen Versuchen wurden stets virulente Cul- 
turen von Bac. pyocyaneus benutzt — mit dem defibrinirten 
Blut theils normaler, theils entmilzter Thiere für einige Stunden 
zusammen und injicirten dann das mit Bacterien gemischte Blut 
einer Reihe von Thieren. 

Die Resultate fielen durchaus gleichmässig aus. In der 
einen Versuchsreihe, in der sehr grosse Bacterienmengcn zur 
Verwendung kamen, starben die Thiere, welche Bacterien nach 
der Passage normalen Blutes erhielten, früher als die, denen 
Bacterien eingespritzt wurden, die einen Aufenthalt im Blut ent- 
milzter Thiere durchgemacht hatten. In einer zweiten Versuchs¬ 
reihe starben alle 4 Thiere, die Bacterien aus normalem Blut 
erhalten hatten, während von den 4 Thieren, denen Bacterien 
aus Entmilzungsblut injicirt wurden, nur ein einziges starb. 

Aus diesen Versuchen glauben wir den Schluss ziehen zu 
dürfen, dass das Blut entmilzter Thiere in höherem 
Grade als normales Blut Bacterien zu schädigen 
vermag. 

Wir müssen jedoch gleich einschränkend hinzufügen, dass 
dieser Schluss zunächst nur für die von uns gewählten Versuchs¬ 
bedingungen gilt, so namentlich nur für die von uns innegehal¬ 
tene Zeit, die wir nach der Entmilzung bis zur Blutentnahme 
verstreichen Hessen und für die betreffende Bacterienart. 

Wir suchten gleichzeitig festzustelleu, ob auch Toxine durch 
das Blut entmilzter Thiere in anderer Weise beeinflusst würden, 
als durch das normale Blut. Die Versuchsanordnung war die 
gleiche. Nachdem das Pyocyaneustoxin, welches wir hierzu be¬ 


nutzten, für einige Stunden der Einwirkung des Blutes ausge¬ 
setzt worden war, wurden die Mischungen einer Thierreihe 
injicirt. Die Thiere nun, welche die Mischung von normalem 
Blut und Toxin erhalten hatten, zeigten genau das gleiche Ver¬ 
halten, wie jene, denen Blut entmilzter Thiere und Toxin 
eingespritzt worden war. Wir können also sagen, dass inner¬ 
halb unseres Versuchsmodus das Blut der entmilzten Meer¬ 
schweinchen jedenfalls eine erkennbare abschwächende Einwir¬ 
kung auf das Toxin nicht ausübte. 

Der Weg unserer weiteren Untersuchungen war durch die 
bisherigen Ergebnisse streng vorgezeichnet. Bekanntlich haben 
Loewy und Richter und in letzter Zeit namentlich Jakob 
künstlich erzeugte Infectionskrankheiten bei Thieren durch Her¬ 
stellung einer Hyperleukocytose gebessert und zum Theil sogar 
geheilt. Ferner hat Hahn 1 ) im Laboratorium von Büchner 
nachgewiesen, dass hyperleukocytotisches Blut entschieden stärker 
bactericid wirkt, als das normale. 

Was die morphologische Zusammensetzung des Blutes nach 
der Entmilzung angeht, so finden sich darüber in der Literatur 
sehr widersprechende Angaben. Einige Autoren hatten nach 
Entmilzung in den daraufhin untersuchten Fällen eine Steigerung 
der Leukocytenzahl gefunden — und nur auf diese Veränderung 
der Blutzusammensetzung wollen wir hier eingehen. Aber von 
den Angaben beziehen sich die meisten auf die Exstirpation 
pathologisch veränderter Organe, so dass sie für uns nicht in 
Betracht kommen. Auch Schulz fand bei einem Hunde und 
einem Kaninchen nach der Entmilzung llyperleukocytose, be¬ 
hauptet aber, dass diese Hyperleukocytose nur auf den Wund¬ 
reiz zurückzuführen sei. Denn er fand, im Gegensatz zu An¬ 
gaben von Tarchanoff, ebenfalls eine vorübergehende Ver¬ 
mehrung der Leukocyten nach einfacher Anlegung einer Bauch¬ 
wunde, die dann wieder geschlossen wurde. 

Bei diesen knappen und nicht übereinstimmenden Literatur¬ 
angaben konnten wir Klarheit nur auf Grund eigener Unter¬ 
suchungen erhoffen. 

Wir haben bei 10 Thieren die Zahl der Leukocyten vor 
der Entmilzung und in verschiedenen Zeitpunkten nach der 
Operation bestimmt. 14mal unter diesen 10 Fällen fanden 
wir eine sehr deutlich ausgesprochene, bis auf das 
Dreifache der ursprünglichen Zahl heraufgehende 
Steigerung der Leukocytenmenge. Bei 2 Thieren blieb 
sie aus, ja es trat sogar eine Verminderung ein. Das wird die, 
welche sich mit den Veränderungen der Leukocytenzahl beschäf¬ 
tigt haben, nicht verwundern, wenn sie hören, dass das eine 
Thier eine schwere Eiterung hatte, das andere die Milzexstirpa¬ 
tion nur 5 Tage überlebte und die geringe Leukocytenzahl 
einen Tag vor seinem Tode aufwies. Die Section ergab doppel¬ 
seitige Pneumonie. 

Stammt nun diese beträchtliche und unverkennbare Hyper¬ 
leukocytose von der Milzexstirpation her oder nur von der 
Operation als solcher, von dem Wundreiz? Wir können mit 
Sicherheit diese Frage beantworten. 

Wir haben bei 4 Thieren genau die gleiche Operation wie 
sonst ausgeführt, ohne indess die Milz zu unterbinden oder zu 
exstirpiren. Die Blutzahlen waren vor und nach den Operationen bei 
Zählungen an mehrfachen Zeitpunkten die gleichen. Also nicht 
der Wundreiz, sondern die Exstirpation der Milz ist 
es, welche die Hyperleukocytose bewirkt. 

Auch bei Thieren, denen wir die Milz unterbunden und 
nicht exstirpirt hatten, nahmen wir Zählungen der Leukocyten 
vor. Hier konnten wir von vornherein nicht so glatte Resultate 


1) Auf die Literatur genauer einzugehen, müssen wir uns für die 
ausführliche Arbeit Vorbehalten. 


2 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 21. 


44G 

erwarten. Denn, wie wir schon einmal ausgeführt haben, ertrugen 
die Thiere diese Operation sehr schlecht, wurden zum grössten 
Theil krank und starben theilweise sehr bald nach dem Ein¬ 
griff. Diese Untersuchungen siud daher noch nicht ganz abge¬ 
schlossen. In unserer ausführlichen Arbeit werden wir das 
Nähere darüber bringen. 

Drei Reihen von Erscheinungen sind es also, die wir 
nach der Milzexstirpation neben einander beobachtet haben 
und sie alle passen gut zu einander: Hyperleukocytose, Ver¬ 
stärkung der Bactericidität des Blutes, Heilung von Infections- 
krankheiten. 

Da bereits von anderer Seite auf Beziehungen zwischen ein¬ 
zelnen dieser Factoren — allerdings nicht als Folgeerscheinung 
der Milzexstirpation — hingewiesen worden ist, so halten auch 
wir uns zu folgender Auffassung berechtigt: 

Durch die Herausnahme der Milz entsteht eine 
Hyperleukocytose des Blutes, im Zusammenhang damit 
steigen die bactericiden Kräfte des Blutes und die 
Schutzkräfte des Organismus im Kampfe mit Infections- 
krankheiten. 

Somit wird auch Aufklärung dafür gegeben, dass sich der 
entmilzte Organismus der Infection gegenüber ganz andere ver¬ 
hält als der Intoxication. Einleuchtend ist nunmehr auch, dass 
bei einer Krankheit, bei der, wie bei der Diphtherie, das toxische 
Moment so sehr im Vordergrund steht, eine Schädigung der 
Bacterien nicht so viel ausmachen konnte. 

Auf der anderen Seite wird es begreiflich, dass die In¬ 
fection mit Cholerabacterien so gut überwunden wurde. Pfeiffer 
hat in verschiedenen Arbeiten darauf aufmerksam gemacht, dass 
hyperleukocytotischc Veränderungen für den Organismus ein 
wichtiges llülfsmittel gegen die Cholerainfcction werden können. 
Die interessanten Angaben Sobernhei m’s, dass man Thiere 
durch vorhergehende Injection indifferenter Bacterienculturen 
gegen die nachfolgende, an sich tödtliche Cholerainfcction 
schützen könne, • hat Pfeiffer ebenfalls auf Vermehrung der 
Leukocytenzahl zurückgeflihrt. 

Können also schon bekannte Thatsachen Uber die Leuko- 
cytose als Schutzmittel gegen die Infection zur Stütze unserer 
Deutungen hier herangezogen werden, so glauben wir anderer¬ 
seits einen neuen und werthvollen Beweis, der von einer ganz 
anderen Vereuchsanordnung ausgeht, für die Wirksamkeit der 
Hyperleukocytose gebracht zu haben. 

Auch die Schutzwirkung der Leukocyten aber hat natur- 
gemäss ihre Grenzen. Aehnlich wie Büchner bestimmte 
Schranken für die Wirksamkeit der Alexine im Blut aufgefunden 
hat, wie Pfeiffer die Wirksamkeit der Leukocyten gegen Cho¬ 
lera nur als bis zu einem bestimmten Grade vorhanden betonte? 
so können wir darauf hinweisen, dass die Leukocytenwirkung 
nach Entmilzung ihre Grenzen hat. 

Es kann uns daher nicht Wunder nehmen, dass wir beim 
Milzbrand nur so geringe Unterschiede erhalten haben. Das 
kann ja auf den verschiedensten Momenten beruhen; vielleicht, 
dass die Leukocyten speciell gegen Milzbrand nur eine geringe 
Wirksamkeit entfalten können, vielleicht auch entwickeln sich 
die Milzbrandbacillcn zu schnell im Blut, als dass die Leuko¬ 
cyten überhaupt in Action treten könnten. 

Wie die Einwirkung der vorhandenen Leukocytose auf den 
Verlauf von Infcctionskrankheiten ihre Grenzen hat, so erheben 
sich die weiteren Fragen, entsteht immer oder nur unter be¬ 
stimmten Bedingungen nach der Entmilzung Hyperleukocytose, 
wann entsteht sie und wann verschwindet sie? 

Dass sie bei unseren Versuchen, soweit nicht besondere 
pathologische Momente vorwalteten, immer entstanden ist, be¬ 
richteten wir schon. Aufzutreten scheint sie meist recht 


bald, tritt indessen gelegentlich erst nach 3—4 Tagen auf. 
Wann sie verschwindet, können wir noch nicht mit Bestimmt¬ 
heit sagen — jedenfalls war sie nach 2 und Monaten noch 
vorhanden. 

Beruhte die Schutzwirkung gegen die Infection bei unseren 
Thieren auf der nach der Entmilzung auftreteuden Hyperleuko¬ 
cytose, so musste, falls wir die Infection der Entmilzung voran¬ 
schickten, das Resultat sich ändern, ja sogar umkehren. Denn 
einmal wurden die bereits inficirten Thiere durch eine schwere 
Operation geschädigt, auf der anderen Seite konnte die Deuko- 
cytose nicht so rechtzeitig auftreten, um noch Heilwirkung zu 
entfalten. 

Das lehrt zur Evidenz ein entsprechender Versuch. Wir 
inficirten 14 Thiere mit Pyocvaneus. Einige Stunden nach der 
Infection entmilzten wir 8 von ihnen; das Resultat war 
folgendes: von den 8 entmilzten starben 6, von den 6 nicht 
entmilzten nur 2. Das Resultat hat sich also, wie erwartet, um¬ 
gekehrt. # 

Nachdem wir die Bedeutung der Hyperleukocytose nach 
der Entmilzung discutirt haben, müssen mir doch hervorheben, 
dassvorläufig noch nicht der Beweis erbracht ist, dass die 
Veränderungen des Organismus nach der Entmilzung hiermit 
völlig erechöpft sind. Es bleibt noch weiteren Untersuchungen 
Vorbehalten, festzustellen, ob nicht noch andere Verände¬ 
rungen chemischer oder morphologischer Natur hier mitbe- 
theiligt sind. 

Die spätere Forschung wird ferner noch die wichtige Frage 
zu entscheiden haben, ob eine derartige bedeutungsvolle Wir¬ 
kung nach der Exstirpation eines Organs ausschliesslich der 
Milz, resp. den lymphoiden Apparaten zukommt, oder ob wir es 
hier nur mit den Folgeerscheinungen der Exstirpation irgend 
eines wichtigen Organs zu tliun haben. 

Bisher sprechen gegen diese letztere Annahme die Versuche 
von Goldscheider und Jacob. Diese Autoren haben ja be¬ 
kanntlich nur durch Einspritzung von Extracten aus Milz, 
Knochenmark und Thymus, also den lymphoiden Organen, bei 
Thieren Hyperleukocytose erzeugen können, während die anderen 
Organextracte wirkungslos blieben. Diese Befunde sprechen 
jedenfalls für eine mehr specifische Beziehung zwischen Lymph- 
apparat und Hyperleukocytose des Blutes. 

Nach unseren bisherigen Versuchsrcsultaten ergeben sich 
auch einige nicht unwichtige Fingerzeige, welche Wege 
weitere Forschungen Uber die Pathologie der Milz einsclilagen 
könnten. 

Wie wir in der Einleitung unseres Vortrages bereits 
sagten, ist das einzig klinisch Ilcrvortretende die Anschwel¬ 
lung der Milz, die bei fast allen Infectionskrankheiten beob¬ 
achtet wurde. 

In gleicher Weise wurde bei verschiedenen Krankheitsformen 
Hyper- oder Ilypoleukocytose festgestellt. 

Haben wir durch das Experiment auf den engen Zusammen^ 
hang zwischen der Milz und der Zahl der Leukocyten im Blut 
hingewiesen, so liegt es nunmehr nahe, diesen Zusammenhang 
vom klinischen Standpunkt aus zu beleuchten und es ergeben 
sich hier folgeude Fragestellungen. Erstens wird man unter¬ 
suchen müssen, ob bei den Krankheiten, bei denen Milzschwel¬ 
lung und Hyperleukocytose resp. Hypoleukocytose vorkommt, 
diese beiden Befunde in einem bestimmten, regelmässigen Ver¬ 
hältnisse zu einander stehen und sodann, ob ebenso wie die 
Leukocytenzahl, auch die Milzschwellung- bei den einzelnen 
Krankheitsforraen für eine günstige oder ungünstige Prognose 
spricht. 


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24. Mai 1807. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 447 


III. Aus dem städtischenKrankenhausc inFrankfurt a.M. 
Innere Abtheilung Prof. C. von Noorden. 

Die Resorption des Nahrungsfettes unter dem 
Einflüsse des Karlsbader Mineralwassers. 

Ein Beitrag zur Diätetik der Karlsbader Brunnencuren 

von 

Dr. Friedrich Kraus jun., Karlsbad. 

Während wir in der einschlägigen Literatur eine Anzahl 
von Arbeiten finden, die sich mit dem Einfluss des Karlsbader 
Mineralwassers auf den menschlichen Gesammtorganismus, den 
Eiweissumsatz, die Thätigkeit des Magens und der Nieren etc., 
beschäftigen, vermissen wir Angaben Uber den Einfluss des Karls¬ 
bader Wassere auf die Ausnützung der Nahrung, speciell des 
Nahrungsfettes, fast gänzlich. Nur Seegen erwähnt einen Fett- 
ausnlltzungsvereuch in seinen „physiologisch-chemischen l'nter- 
suchungen Uber den Einfluss des (Jlaubersalzes auf einige Factoren 
des Stoffwechsels“, der, an einem Hunde angestellt, zeigte, 
dass die Fettresorption nicht gestört werde. V. Ludwig, in 
seiner gründlichen Arbeit Uber den Einfluss des Karlsbader 
Wassers auf den Stoffwechsel, berücksichtigt nur die N-Aus- 
ntltzung, die nach ihm ebenfalls ziemlich unverändert bleibt, und 
lässt die Ausnutzung des Nahrungsfettes vollkommen unberück¬ 
sichtigt. — Nur die unter dem Einflüsse Prof, von Noorden’s 
entstandenen Untersuchungen, bezüglich der Harzburger Crodo- 
quelle von J. Katz und bezüglich der Kochsalzquellen von 
Dapper, widmeten auch dieser Frage die gebührende Sorgfalt, 
einer Frage, die praktisch wegen ihres Zusammenhanges mit der 
Diätetik von eminenter Bedeutung ist. — Speciell Dapper war 
der erste, der sowohl den Einfluss auf den Stoffwechsel, die 
Ausnützung der Nahrung, als auch die verschiedenen therapeuti¬ 
schen Componenten der Kissinger und Ilomburger Mineralwässer 
in exacter Weise klinisch-experimentell untersuchte, und gestutzt 
auf seine dabei gewonnenen Erfahrungen, gegen den nicht ein¬ 
mal ungefährlichen Aberglauben, der nicht nur in Karlsbad, 
sondern auch in Kissingen und Homburg als Dogma gilt, „Fett¬ 
reiche Nahrung ist nicht curgemäss!“ energisch Stellung nahm. 
— Es wäre verlockend, auch Uber den Unfug des sogenannten 
„Curgemässen“ hier einige Worte zu verlieren, würde jedoch zu 
weit fuhren. — Das Vorurtheil gegen fettreiche Nahrung über¬ 
haupt während einer Karlsbader Trinkcur ist nicht nur von 
Aerzten durch zahlreiche populäre Schriftchen Uber den Gebrauch 
der Karlsbader Quellen unter das Laienpublikum gebracht worden, 
sondern man begegnet ihm leider auch hie und da in angesehenen 
Fachblättern. Gefährlich ist dieses Vorurtheil deshalb, weil es 
in den meisten Fällen zu Diätvorechriften fuhrt, die direkt eine 
Unterernährung des Patienten zur Folge haben mUssen, eine 
Thatsache, die sich sehr häufig ereignet. Dies durfte auch daran 
Schuld sein, dass von vielen Seiten eine Trinkcur in Karlsbad 
als „angreifend“ angesehen wird, welche Ansicht, nebenbei be¬ 
merkt, durch V. Ludwig’s Resultate gründlich widerlegt ist. 

Dapper veröffentlicht nun neben seinen Hauptversuchen 
einen Fettansnützungsversuch unter Einfluss von Karlsbader 
Sprudelsalz und zwar an einem Gesunden, mit folgendem Re¬ 
sultat (Tabelle 1): 

Während der II. Periode täglich 100 ccm Wasser -F 16 gr 
Sprudelsalz. Hiemit war einmal constatirt, dass das Karlsbader 
Wasser an für sich die Resorption des Fettes nicht beeinträchtige, 
und da andererseits Prof, von Noorden fUr eine grosse Anzahl 
von Krankheiten in Folge seiner für die heutige Diätetik grund¬ 
legenden Untersuchungen Fette da eingefUhrt hat, wo man sie 
früher mehr oder minder perliorrescirte, so war a priori kein 
Grund zu finden, warum bei einer Karlsbader Trinkcur das Fett 


Tabelle 1. 


Zeit: 

Tägliche Fetteinnahme 

Täglicher Verlust an Fett 

in gr 

durch denKoth 

in gr 

in pCt. 

des Nahrungs¬ 
fettes. 

I. Periode: 




4 Tage 

115 

1,5 

1,3 

II. Periode: 




6 Tage 

115 

2,5 

2,1 

III. Periode 




7 Tage 

115 

1,7 

1,1 


aus der Nahrung der meisten Patienten auszuschliessen sei. — 
Einer Kategorie von Curgästen war es ja zumeist erlaubt ge¬ 
blieben: den Diabetikern. 

Da es sich fUr mich darum handelte, Schlüsse fUr die Diä¬ 
tetik während einer Karlsbader Brunnencur zu ziehen, so mussten 
diese Versuche gerade an solchen Patienten durchgcführt werden, 
wie sie am häufigsten in Karlsbad zur Behandlung kommen, und 
es wurden auch die Fettmengen der Nahrung weit Uber das in 
der Praxis gebotene Maass beigefUgt, um auf Grund dieser Ver¬ 
suche unumstösslich behaupten zu können, dass fUr viele Kranke 
die Darreichung von reichlichen Fettmengen mit der Nahrung 
während der Cur nicht nur unschädlich ist, sondern in manchen 
Fällen geboten erscheint. 

Ich will nun zunächst die 3 Fälle, die ich zum Zweck des 
Studiums der Fettresorption in meine Versuche einbezogen, an- 
fuhren, um zum Schlüsse noch einige Worte darüber anzufUgen, 
welche Fette am besten zu geben seien, und will dann skizziren, 
wo eine Gegenindication gegen Darreichung fettreicher Nahrung 
besteht. 

Die Vereuchsanordnung war derart, dass jeder einzelne Ver¬ 
such mit einer Vorperiode (1) begann, der dann eine ein- oder 
zweimalige Trinkperiode folgte, an die sich in zwei Fällen noch 
eine Nachperiode anscliloss, die im dritten Falle äusserer Gründe 
halber ausficl. 

Die Nahrung wurde, wie bereits erwähnt, sehr fettreich ge¬ 
wählt, die Portionen täglich gewogen und die Nahrungsmittel 
jeder einzelnen Periode auf ihren Fettgehalt analysirt, mit Aus¬ 
nahme der Eier, deren Fettgehalt nach König berechnet wurde. 
— Die Kothgrenzcn wurden durch Holzkohle raarkirt und der 
Fettgehalt der Fäces als Aethercxtract bestimmt. 

Fall I. M. T., 47J. Schneider. — Chronischer Dannkatarrh. 

Patient war bis zu seinem 21. Lebensjahre stets gesund. Seit dieser 
Zeit habe er angeblich mit kleinen Unterbrechungen constant an Magcn- 
beschwerden gelitten, Druckgefiihl und Brennen, die sich nach dem Essen 
linderten, Stuhlgang unregelmässig. Im Jahre 1895, angeblich im An¬ 
schluss an eine Erkältung, traten Diarrhöen auf und Blasenkatarrh. Seit¬ 
her geschieht die Stuhlentleerung meist unter Schmerzen, oft mit Schleim¬ 
abgang, unregelmässig, bald besteht Durchfall, bald Verstopfung. Seit 
5 Wochen steigerten sich die Beschwerden derart, dass sich Patient in'a 
Spital aufnehmen liess. In der letzten Zeit Durchfälle, die durch Ob- 
stipantia behoben wurden. Dem Stuhl hie und da Blut beigemengt. 

In der letzten Zeit stark abegemagert. 

St. praes.: Patient gracil gebaut, abgemagert. 

Thoraxbefund: Normal. Abdomen flach, Leber, Milz, normal, nirgends 
Druckschmerzhaftigkeit. Im L. Hypogastrium einige Kothmassen durch¬ 
zutasten. Untersuchung des Djckdarmes ergiebt nichts Besonderes. 

Im Harn 0 E., 0 Z. 

Patient erhielt nun eine constante Diät, die aus Milch, Butter, Fleisch, 
Kartoffel, Eiern, Rahmkäse, Weissbrod, Hafermehl, Rothwein, Thee, Salz, 
Zucker bestand: während der II. und III. Versuchsperiode bekam er 
früh auf den nüchternen Magen erwärmten Karlsbader Mühlbrunnen, am 
ersten Tag des Versuchs 400 ccm, — und dann um je 100 ccm mehr 
bis zu 700 ccm. 

Die Resorptionsverhältnisse veranschaulicht folgende Tabelle 2. 

Man sieht, dass die Resorption grosser Mengen von Fett, über 
200 gr täglich, in der Vor- und Nachperiode (I und IV) ausgezeichnet 
war. Nicht minder gut war die Resorption in der ersten Mühlbrunnen¬ 
periode (II); dagegen stieg die Fettabgabe in der zweiten MUhlbrunnen- 
periode (111) auf das Doppelte, ohne aber geradezu schlecht zu werden, 
denn wir dürfen einen Fett Verlust von nur 8,09 pCt. noch als normal 

2 * 


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448 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 21. 


Tabelle 2. 


Zeit: 

Fettgehalt 
der Nahrung 

in gr 

Fettgehalt 

des Kolhes 

in gr 

Fettgehalt 
des Kothes 
in pCt. des 
Nahrungs¬ 
fettes. 

I. Perode (3 Tage) (Mühl- 

625,19 

27,72 

4,6 

brunnen) 




II. Periode (3 Tage) (Miihl- 

643,36 

27,32 

4,24 

brunnen) 




III. Periode (3 Tage) 

641,54 

51,93 

8,09 

(Mühlbrunnen) 




IV. Periode (3 Tage) 

645,55 

24,79 

8,84 


bezeichnen. Es ist angesichts der vortrefflichen Fettausnütznng in der 
Periode II sehr zweifelhaft, ob die Verschlechterung der Resorption in 
III auf das Karlsbader Wasser zu beziehen sei. Sie kann auch darin 
ihren Grund haben, dass in dieser Periode zwei Fiebertage (bis 39,0 C. 
lind 39,2 C.) fallen. Der Patient fieberte auch später noch öfters und 
war das Fieber von der Cystitis abhängig. Abgesehen von jenen zwei 
Fiebertagen war die Temperatur während des ganzen Ausnützungsver¬ 
suches normal. 

Der Stuhl war während der Trinkperiode breiig-geformt, und wurde 
regelmässig und mit geringeren Schmerzen als sonst abgesetzt. Der 
Appetit war stets gut und auch sonst traten von Seiten des Magens 
keinerlei subjective Beschwerden auf. Das Körpergewicht stieg während 
des Versuches von 53 kgr auf 5(5,2 kgr. 

Es wurden also in diesem Falle Fettmengen, die das Normale be¬ 
deutend überschreiten, nicht nur glänzend resorbirt, sondern auch tadellos 
vertragen, das Körpergewicht und Allgemeinbefinden gehoben. Gerade 
die beiden letzteren Umstände fordern für Kranke, die, durch chronische 
Darminfectionen heruntergekommen, in Karlsbad Heilung suchen, zur 
Darreichung von dreisten Gaben von Fett in geeigneter Form auf. 

Fall II. 38j. Hausirer. (Arthritis urica). Patient machte in seinem 
sechsten Lebensmonat eine Erkrankung durch in Folge deren Beine 
rechte untere Extremität verkürzt und gelähmt blieb (Poliomyelitis in- 
fantilis), war sonst stets gesund, bis er vor 4 Jahren einen plötzlichen 
heftigen, gichtischen Schmerzanfall im Mittelgelenk des linken Mittel¬ 
fingers durchmachte. Dieser Anfall dauerte l‘/j Tag, kehrte 1—2 mal 
jährlich zurück, später wurden auch andere Gelenke befallen. 

Momentan Schmerzen und Schwellungen in verschiedenen Gelenken 
beider Hände, weshalb Patient das Spital aufsucht. 

Lues negirt. Mässiges Potatorium. 

Im Harn 0 E., 0 Z. 

Stat. praes. Mittelgrosser Mann von schlaffer Musculatur und gut 
entwickeltem Pann. adip. Anschwellungen zu constatiren im rechten 
Kniegelenk, zweiten Phalangealgelenk des rechten Mittelfingers und des 
vierten Fingers links, in den beiden letztgenannten Gelenken keine pas¬ 
siven Bewegungen möglich. Keine Crepitation. Ein kleiner Tophus am 
äusseren Saume der rechten Ohrmuschel. (Harnsäure mikroskopisch und 
chemisch nachgewiesen.) Die Leberdämpfung überragt den Rippenbogen 
um 2 cm, der Leberrand scharf tastbar, die Lebergegend druckschmerz¬ 
haft. Sonst allenthalben normaler Befund. 

Die Diät des Patienten wurde zusammengesetzt ans Milch, Fleisch, 
Salat mit Essig und Sesamöl, Rademann's Nährtoast, Eiern, Butter, 
Haferbrei, Weissbrot, Pfeffer und Salz. 

Von einer Nachperiode musste in diesem Falle aus äusseren Grün¬ 
den abgesehen werden. Die Trinkperiode selbst dauerte 4 Tage, an 
den zwei ersten Tagen erhielt Patient früh auf nüchternen Magen je 
500 ccm warmen Karlsbader Müblbrunnen, in den folgenden Tagen Je 
GOO ccm. Die Resorption des Nahrungsfettes ist in der folgenden 
Tabelle 3 dargethan. 

Tabelle 3. 


Zeit 

Menge des 
Nahrungs¬ 
fettes 
in gr 

Fett im Koth 
in gr 

Fett im Koth 
in °/ # des 
Nahrungs¬ 
fettes 

I. Periode 3 Tage . 

582,25 

35,04 

6,01 

II. Periode 4 Tage . 

777 

25,19 

3,2 

Mühlbrunnen. 





Dieser Fall beweist einerseits, dass die Resorption des Fettes bei 
acuter Gicht nicht gestört ist, wie bereits L. Vogel nachgewiesen, an¬ 
dererseits, dass man auch bei einem Gichtiker während einer Karlsbader 
Trinkcur das Fett nicht aus Furcht vor Verdauungsstörungen aus der 
Diät ausznschalten braucht. — Das Allgemeinbefinden besserte sich 
während des Versuches, die Schmerzen nahmen angeblich ab, Ver¬ 
dauungsstörungen traten nicht auf. Der Stuhlgang war regelmässig, die 
Stühle in der Trinkperiode dünnbreiig, von normaler Farbe. 


Das Körpergewicht blieb ziemlich constant, es war 57,8 kgr zu 
Beginn des Versuches und 58 kgr zum Schlüsse desselben. 

Fall III. R. M., IG jährige Schneiderin. Ulcus ventriculi. Ob¬ 
stipation. 

Patientin hat im II. Lebensjahre Scharlach und Diphtherie über¬ 
standen, war Bonst gesund. Vor drei Monaten erkrankte Patientin mit 
Magenbeschwerden, es traten starke Schmerzen nach dem Essen auf 
und öfters Erbrechen, dem letzteren war zuweilen Blut beigemengt. Oie 
Schmerzen stets in der Magengegend localisirt. 

Seit dem 14. Lebensjahre menstruirt, meist 8 wöchentlich mehrtägig, 
öfters unregelmässig. — 8tuh!gang träge. 

Stat. praes.: Mittelkräftige, gut genährte Patientin. 

Thoraxbefund: Normal. 

Abdomen: Subjective Schmerzen unterhalb des Proc. xyph. 

Diese steigern sich nach dem EsBen, ebenso unter der eindrückenden 
Hand. Harte Scybala in der Flexura sigmoidea. 

Leber, Milz normal. Im Harn 0 E., 0 Z. 

Patientin erhielt folgende Diät: Rahm, Milch, Butter, Rademann's 
Nährtoast, Rahmkäse, Hafermehl, Eier, Cognac. Die Resorption des 
Nahrungsfettes zeigt nachfolgende Tabelle 4: 


Tabelle 4. 


Zeit 

Fett der 
Nahrung 
in gr 

Fett im Koth 
in gr 

Fett im Koth 
in ’/o des 
Nahrungs¬ 
fettes 

I. Periode 8 Tage 

681,08 

15,93 * 

2,3 

II. Periode 4 Tage 
Trinkperiode 

944,86 

29,54 

3,1 

III. Periode 3 Tage 

746,16 

12,64 

1,7 


Patientin erhielt während der II. Periode je 300, 400, GOO, 700 ccm 
Karlsbader Wasser täglich. Auch in diesem Falle wurde die Resorption 
des Fettes selbst durch die grossen Mengen des Karlsbader Wassers 
nicht gestört. Bei diesem Versuche wurde mit bestem Erfolg ein von 
Apotheker Rademann in Bockenheim verfertigter Nährtoast verwendet, 
der in 100 gr einen Nährwerth von 560 Calorien enthält, über 30 pCt. 
Fett, 20 pCt. Eiweiss, 41 pCt. Kohlenhydrate, und mit diesem hohen 
Nährwerth einen sehr angenehmen Geschmack verbindet. — Auch dieser 
Fall ist priflcipiell wichtig, da sehr viele Kranke mit Ulcus ventr. nach 
Karlsbad geschickt werden, oder eine Karlsbader Trinkcur zu Hause 
durchmachen. Bei solchen Patienten wäre es nach unseren heutigen 
Anschauungen ein grosser Fehler, ihnen eine Nahrung zu geben, die 
nicht den Calorienbedarf deckt. Dies können wir nur dann vermeiden, 
wenn wir Fett zur Deckung des Bedarfs mit heranziehen, da wir ja 
besonders in den ersten Wochen sehr reichliche Eiweiss- und Kohlen¬ 
hydrat-Nahrung mit Rücksicht auf den schonungsbedürftigen Magen ver¬ 
meiden müssen. 

Unsere Kranke vertrug die äusseret fettreiche Nahrung ohne die 
geringsten subjectiven Beschwerden, der Gebrauch des Karlsbader Was¬ 
sers wurde bei ihr nach der Nachperiode wieder auf genommen und Pa¬ 
tientin verliess nach 4 Wochen geheilt das Spital mit einer Gewichts¬ 
zunahme von 2 kgr. 

Mit diesen Versuchen soll jedoch keineswegs bewiesen wer¬ 
den, dass man allen Patienten, die eine Karlsbader Trinkcur 
durchmachen, fettreiche Nahrung geben mlisse oder dass alle 
Fette erlaubt wären. Sehr wichtig ist die Auswahl des Fettes. 
Am besten wird man Fette mit niedrigen Schmelzpnnkten wählen, 
da nach v. Noorden, Rubner, Müller die Resorptionsfähig¬ 
keit um so grösser, je niedriger der Schmelzpunkt des betreffen¬ 
den Fettes liegt. Hierher gehören die sogenannten Kuhfette, 
das Fett der Butter, des Fettkäses, des Rahmes und der Milch, 
ferner Pflanzenfette, unter denen besonders das Sesamöl hervor¬ 
zuheben ist, das auf der Abtheilung des Herrn Professor von 
Noorden viel und mit bestem Erfolg verwendet wird. Fett, 
das noch in thierischen Zellen eingeschlossen, wie Speck, fettes 
Fleisch, vermeidet man besser, weil in vielen Fällen die ver- 
verdauende Kraft fehlt, die Eiweishüllen, die das Fett um- 
Bchliessen, zu sprengen, und man schwerer die Güte und Frische 
dieser Fette als Nahrungsmittel beurtheilen kann, wie bei den 
anderen Fetten. 

Eine Gegenindication gegen die Darreichung von mässig 
reichlichen Fettmengen während einer Karlsbader Trinkcur be¬ 
steht nur dann, wenn einer jener Factoren fehlt, die zur Ver- 


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04. Mai 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


449 


dauung und Resorption des Fettes nothwendig sind. Es sind 
dies jene Fälle, in denen eine qualitative oder quantitative 
Anomalie in der Secretion der Galle oder des Bauchspeichels 
vorhanden ist, mag diese nun bloss eines oder beide Secrete 
zugleich betreffen. Fenier wird man Fett ausschliessen mllssen 
bei Erkrankung des Dünndarms. Auch in Fällen von hochgra¬ 
digster Atonie, resp. Ektasie des Magens wird man gut tliun, 
mit der Darreichung von Fett vorsichtig zu sein, wenn man 
nicht durch rechtzeitige MagenausspUlungen den Beschwerden 
vorbeugt, welche durch die Fettsäuren des gährenden, weil 
stagnirenden Mageninhaltes verursacht werden. 

Von selbst verbietet sich die Darreichung von fettreicher 
^Nahrung bei solchen Patienten, die zum Zweck einer Entfettungs- 
cur nach Karlsbad kommen, und schliesslich sind, wie überall, 
so auch hier, individuelle Idiosynkrasien zu beachten. In allen 
Fällen aber, wo keine der genannten Gegenindicationen besteht, 
wird man dadurch, dass man der Nahrung der Patienten eine 
massige Menge gut resorbirbaren Fettes beifügt, dem Patienten 
nur nützen. Man kann ihn so von der Einförmigkeit seiner 
eiweissreichen, „curgemässen“ Kost befreien und bringt ihm eine 
grosse Oaloriensumme in einer angenehmen, wohlschmeckenden 
lind nicht belästigenden Form bei; man kann auf diese Weise 
auch den schonungsbedürftigen Verdauungstract in manchen 
Fällen bedeutend von Eiweissnahrung entlasten und wird doch 
keine Unterernährung fürchten müssen, man wird im Gegentheil 
damit eine Hebung der Ernährung und des Allgemeinbefindens 
erzielen. 

Zum Schlüsse genüge ich noch einer angenehmen Pflicht, 
wenn ich Herrn Professor Dr. C. v. Noorden für die ausser¬ 
ordentliche Liebenswürdigkeit, mit der er mir nicht nur die An¬ 
regung zu vorstehenden Untersuchungen gab, sondern auch mich 
während derselben mit Rath und That unterstützte, sowie für 
die gütige Ueberlassung des Materiales meinen wärmsten Dank 
ausspreche. 

Literatur. 

Seegen, Physiol.-chem. Untersuchungen über den Einfluss des 
Glaubersalzes auf einige Factoren des Stoffwechsels. Wiener Akademie. 
Mathem.-naturw. Klasse. Bd. XLIX. — v. Noorden, Lehrbuch der 
Pathologie des Stoffwechsels, 1898. — v. Noorden, Zeitschr. für klin. 
Medicin, Bd. 17, 1890. — J. Katz, lieber den Einfluss der Harzburger 
Crodoquelle auf den Stoffwechsel im menschlichen Körper. Dissertation. 
Berlin 1894. — C. Dapper, Ueber den Einfluss der Kochsalzquellen 
(Homburg-Kissingen) auf den Stoffwechsel des Menschen und über die 
sogenannte curgemässe Diät. Zeitschr. f. klin. Medicin, Bd. 30, H. 3, 4. 
— V. Ludwig, Einfluss des Karlsbader Wassers auf den Stoffwechsel. 
Centralblatt für innere Medicin 1896, H. 45, 46. — Rubner, Fr. 
Müller, Vogel, citirt nach v. Noorden, Lehrbuch der Pathologie 
des Stoffwechsels. 


IV. Der Kissinger Rakoczy und seine Verwerth- 
barkeit bei Magenerkrankungen. 

Von 

Dr. Frhr. Edgar von Sohlern. 

Es dürfte kaum eine Meinungsverschiedenheit darüber be¬ 
stehen, dass die Wirkung einer kochsalzhaltigen Trinkquelle 
weder durch Experimente in der Retorte und am Thiere, noch 
durch solche mit reinem Kochsalz und Kochsalzlösungen an Ge¬ 
sunden und Kranken oder durch Beobachtungen, was zunächst 
nach der Einnahme der Quelle aus ihren Bestandteilen im 
Magen wird, festgestellt werden kann. 

Wollen wir also ein richtiges Bild von der Wirkung des 


Rakoczy auf Magenkranke bekommen, so müssen die Beob¬ 
achtungen auf Secretion, Motilität und Resorption durch längere 
Zeit, d. h. durch den Verlauf einer ganzen Cur, worunter ich 
aber nicht den üblich gewordenen dreiwöchentlichen Gebrauch 
. der Quelle verstanden wissen möchte, angestellt werden. Die 
so gewonnenen Resultate einer systematischen Trinkcur können 
allein volle Berücksichtigung beanspruchen. 

Aus diesen Erwägungen heraus begann ich bereits 1886 
meine Untersuchungen der Rakoczywirkung an Magenkranken, 
und zwar in der Weise, dass ich nicht mehr wie seither bei 
der Aufnahme der Kranken in meine Anstalt den Magen nur 
ausspülte, sondern auch stets eine quantitative Säurebestimmung 
machte, die dann während der Rakoczycur controlirt wurde. 
Ich dehnte dann solche Untersuchungen auch auf den Biliner 
Sauerbrunnen und den Karlsbader MUhlbrunnen aus. 

Im Jahre 1887 veröffentlichte ich in der Berliner klinischen 
Wochenschrift No. 50 zunächst 22 Beobachtungen Uber die Se- 
cretionswirkung des Rakoczy bei Gastritis chronica. Unter Zu¬ 
grundelegung dieser 22 Fälle erschien von mir 1890 in der 
St. Petersburger medicinischen Wochenschrift No. 14 und 15 
eine Serie von 59 Fällen mit Subacidität bei chronischer Gastritis 
unter dem Gebrauche von Rakoczy. Diese Arbeit ist seit Jahren 
im hiesigen Verlage von F. Weinberger unter dem Titel: „Die 
chronische Gastritis und ihre Behandlung in Bädern“ mit meiner 
Zustimmung herausgegeben und verkäuflich. 

In den nachstehenden 59, schon früher veröffentlichten Fällen 
hatte ich nun überall in den abendlichen Ausspülungen 7 Stunden 
nach dem Probemittagsmahl mehr oder weniger unverdaute 
Speisereste gefunden. Die damals üblichen Farbreactionen waren 
nur schwach oder total negativ ausgefallen, und die Säuremengen 
waren in allen Fällen unter der Norm. Ich bin mir wohl be¬ 
wusst, dass die quantitativen Säurebestimmungen nach der da¬ 
mals üblichen Methode keinen Anspruch auf absolute Genauigkeit 
machen können, glaube aber hierin keinen Grund für ihre Un¬ 
brauchbarkeit sehen zu müssen, einmal weil die Farbreactionen 
den gefundenen Werthen entsprechend bei der Rakoczycur deut¬ 
licher und intensiver wurden, und dann weil die vorher oft 
nachgewiesenen organischen Säuren geringer wurden und schwan¬ 
den. Ich war also berechtigt, eine Steigerung der HCl-Secretion 
anzunehmen. Seit 1890 bediene ich mich der auch in der 
Leube’schen Klinik eingeführten Seemann-Braun’schen Me¬ 
thode. Leider haben wir bis heute noch keine Methode für die 
Bestimmung der freien HCl, die allen Anforderungen völlig 
genügt. Es wäre eine solche dringend wünschenswerth. 

Um Zahlen von praktischer Bedeutung zu gewinnen, unter¬ 
suchte ich in grösseren Zeitintervallen, bei denen man eine 
Besserung durch das Mineralwasser zu erwarten berechtigt er¬ 
schien, denn in wenigen Tagen kann man bei einem chroni¬ 
schen Leiden keine wesentliche Besserung erwarten. Solche 
Schwankungen als Besserung oder Verschlimmerung 
deuten zu wollen, ist verfrüht. Die Controluntersuchungen 
fanden gewöhnlich nach 14 Tagen oder in der dritten Woche 
und nach 4 Wochen statt. 

Ich lasse nun die gefundenen Werthe nochmals tabellarisch 
folgen, da dieselben, weil in einem ausländischen Fachblatt er¬ 
schienen, Manchem entgangen sein werden. Die dem Praktiker 
im Originale als solche leicht auffallenden Zahlendruckfehler sind 
hier corrigirt. (Siehe Tabelle.) 

Als Normalzahlen sind die Aciditätswerthe 0,22—0,28 pCt. 
3 Stunden nach dem im Hause üblichen Probe-Mittagsmahl an¬ 
genommen. 

Es wurden naturgemäss auch Fälle ohne Erfolg beobachtet, 
wo die Erkrankung der Drüsen zu weit fortgeschritten war. 
Ich glaube hiermit die Priorität meiner Beobachtungen über 

3 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 21. 


450 







■O § 

Nummer 

Name 

Alter 

II 

31 

a * 

Nach 2 — 
Wochen 

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s 




V. 

°/o 

0/ 

/• 

1 

H. P. 

40 

0,14 

0,18 

0,23 

2 

E. H. 

15 

0,17 

0,20 

0,22 

3 

J. G. 

31 

0,19 

0,24 

0,26 

4 

0. S. 

21 

0,12 

0,19 

0,24 

5 

C. V. 

30 

0,20 

0,24 

— 

6 

F. B. 

59 

0,08 

0,15 

0,18 

7 

J. C. 

51 

0,16 

0,18 

0,23 

8 

F. K. 

19 

0,16 

0,18 

0,21 

9 

E. B. 

33 

0,15 

0,19 

— 

10 

L. P. 

42 

0,17 

0,24 

— 

11 

F. T. 

42 

0,19 

0,22 

0,23 

12 

G. B. 

35 

0,17 

0,23 

— 

13 

F. Sch. 

39 

0,16 

0,21 

0.23 

14 

H. B. 

32 

0,15 

0,22 

0,24 

15 

P. V. 

21 

0,12 

0,17 

0,21 

16 

H. P. 

25 

0,16 

0,21 

0,25 

17 

0. P. 

34 

0,19 

0,24 

— 

18 

P. G. 

16 

0,16 

0,19 

0.23 

19 

R. C. 

48 

0,16 

0,18 

— 

20 

F. K. 

42 

0,17 

0,19 

— 

21 

R. M. 

37 

0,14 

0,18 

0,21 

22 

H. M. 

32 

0,13 

0,19 

0,22 

23 

P. O. 

41 

0,13 

0,18 

0,26 

24 

Sch. 

28 

0,12 

0,13 

0,15 

25 

v. M. 

26 

0,17 

0,21 

— 

26 

C. T. 

43 

0,18 

0,23 

— 

27 

Dr. T. 

40 

0,09 

0,14 

0,23 

28 

Dr. M. 

30 

0,16 

0,19 

0,23 

29 

F. A. 

51 

0,14 

0,18 

0,24 

30 

C. G. 

54 

0,09 

0,08 

0,13 

31 

K. 

35 

0,15 

0,21 

0,26 

32 

G. 

35 

0,17 

0.20 

— 

33 

H. 

53 

0,14 

0,16 

0,20 

34 

S. 

81 

0,16 

0,19 

0,21 

35 

T. 

40 

0,18 

0,23 

0,26 

36 

K. 

32 

0,13 

0,17 

, 0,20 

37 

II. P. 

38 

0,16 

0,21 

0.26 

38 

C. H. 

52 

0,12 

0.17 

— 

39 

J. K. 

23 

0,14 

0,15 

0,22 

40 

II. M. 

63 

0,09 

— 

0,13 

41 

C. V. 

27 

0,19 

0,21 

0,26 

42 

v. II. 

38 

0,15 

0,20 

0,24 

43 

C. W. 

29 

0,15 

0,17 

0,22 

44 

C. T. 

31 

0,11 

0,14 

0,19 

45 

A. R. 

24 

0,15 

0,19 

0,24 

46 

V. K. 

26 

0,12 

0,16 

0,22 

47 

R. K. 

22 

0,16 

049 

— 

48 

M. F. 

52 

0,17 

0,20 

0.22 

49 

C. Sch. 

39 

0,13 

0,15 

— 

50 

K. F. 

45 

0,08 

0,12 

0,17 

51 

P. L. 

31 

0,15 

0,18 

0,23 

52 

F. L. 

29 

0,17 

0,19 

0,22 

53 

Sch. 

34 

0,14 

0,20 

0,25 

54 

J. S. 

30' 

0,11 

0,14 

0,16 

55 

P. P. 

26 

0,16 

0,19 

0,21 

56 

M. 

28 

0,04 

— 

0,10 

57 

C. W. 

34 

0,16 

0,2 t 

— 

58 

S. 

27 

0,15 

0,17 

0,23 

59 

L. B. 

24 

0,13 

0,15 

0,20 


die Wirkung des llakoczy auf die Secretion klargestellt zu haben, 
denn diese Untersuchungen sind zehn volle Jahre früher als die 
Dapper’sehen gemacht und veröffentlicht, 

Nach dieser Veröffentlichung, die mir die Vcrwerthbarkeit 
unserer Hauptquelle bei dem Magenkatarrh hinlänglich zu be¬ 
weisen schien, wurden ausser der quantitativen Analyse beim 
Eintritt hauptsächlich auf Wunsch der Kranken oder beim Ver¬ 
lassen der Anstalt Controluntersuchungen nach der Seemann- 
Braun’sehen Methode gemacht, wovon ich hier noch einige 
weitere anschliesse: 

1. Dr. H., Gastritis chron. bei der Aufnahme 0,10 pCt., nach 
2Va Wochen 0,23 pCt. 

2. Gr., Gastritis chron. bei der Aufnahme 0,14 pCt., nach 
4 Wochen 0,42 pCt. 


3. v. Sch., Gastritis chron. bei der Aufnahme 0,14 pCt., nach 
3 Wochen 0,28 pCt. 

4. F., Gastritis chron. bei der Aufnahme 0,07 pCt., nach 
3 Wochen 0,17 pCt. 

5. G., Gastritis chron. und Carcin. col. trans. bei der Auf¬ 
nahme 0,06, später 0,07 und in der 10. Woche 0,12 pCt. 

6. J., Gastritis chron. bei der Aufnahme 0,12, in der 4. Woche 
0,25 pCt. 

7. M., Gastritis chron. bei der Aufnahme, Anacidität in der 
4. Woche 0,12, in der 8. Woche 0,18 pCt. 

8. A., Gastritis chron. bei der Aufnahme 0,07, in der 2. Woche 
0,09 pCt. 

9. v. T., Gastritis chron. bei der Aufnahme 0,11, in der 
8. Woche 0,19 pCt. 

10. Sch., Gastritis chron. bei der Aufnahme sehr schwache 
Farbreactionen, in der 4. Woche dieselben normal. 

Im Falle 2 handelte es sich um einen hochgradigen Neur¬ 
astheniker mit starker Abmagerung. Es kann bei ihm also wohl 
auch eine rein nervöse Depression mit consecntiver Insufficienz 
der Musculatur angenommen werden, die nach gebessertem Tonus 
sich nicht nur verlor, sondern sogar einem Irritationszustand 
gleich kam. Der Rakoczy wurde deshalb ausgesetzt. In Fall 5 
konnte erst durch Eröffnung der Bauchhöhle ein Carcinom des 
Colon transvereum constatirt werden. 

Wir haben nunmehr in 69 Fällen mit anfänglicher Subaci¬ 
dität eine Steigerung der Secretion unter der Einwirkung des 
Rakoczy gesehen, und diese Reihe ist neuerdings durch Da pp er 
um acht Fälle von Anacidität und Subacidität bei Gastritis und 
gastrischen Erscheinungen vermehrt worden. Es wurde theils 
Rakoczy, theils Homburger Elisabethbrunnen dabei verordnet. 

Zu demselben Resultate gelangt Boas bei der Verwendung 
des Rakoczy. Auf Grund seiner reichen Erfahrung sagt er: 
„Geradezu typisch ist die günstige Wirkung in Fällen beginnen¬ 
der, mit IICl-Verlu8t einhergehender Gastritiden. In diesen Fällen 
wirkt der Gebrauch der Kochsalzwässer nahezu ausnahmslos in 
wenigen Wochen vortrefflich.“ 

Dass die Resultate bei sehr alten Gastritiden mit vollstän¬ 
digem Salzsäure- und Fermentmangel nicht so günstig sein 
können, ist einleuchtend. 

Es dürfte demnach nicht mehr zu bestreiten sein, dass in 
allen solchen Fällen der Rakoczy indicirt ist. 

* Aber noch eine andere, sehr wichtige Beobachtung drängte 
sich mir auf. Ich meine die Schleimverminderung im Magen bei 
dem Rakoczygenusse, die auch Ewald und Boas hervorheben. 

Es ist die Tragweite dieser Schleimverminderung noch nicht 
genügend gewürdigt worden, denn nicht nur wird durch die 
Schleimentfernung, wie dies schon Leube hervorhebt, die Re¬ 
sorption und Secretion wesentlich gebessert, sondern nach unserer 
Auffassung Uber die Entstehung des Magenschleims sind wir auch 
berechtigt dem Rakoczy eine specifisch heilende Wirkung bei 
Entzündungsprocessen der Magenschleimhaut zuzuschreiben. 

Es lag nahe, den Rakoczy auch bei Secretionsanomalien 
auf rein nervöser Basis zu verwerthen. Ich fand, um nicht mit 
weiteren Zahlenreihen zu ermüden, dass derselben in vielen 
Fällen mit normalen oder doch nicht an der oberen Grenze 
stehenden nervösen Dyspepsieen gute Dienste that. Neurosen 
mit hohen, aber immerhin die Normalgrenzen nicht über¬ 
schreitenden Salzsäurewerthen sah ich wiederholt sich ver¬ 
schlimmern. 

Bei der nervösen Anacidität oder Subacidität erfüllte der 
Rakoczy die in Bezug auf Secretionssteigerung gehegten Hoff¬ 
nungen nur in geringem Maasse. In 2 Fällen von Neurasthenia 
dyspeptica depressiva, die ich gerade zur Hand habe, wurden 
wieder vollständig normale Verhältnisse erzielt. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


451 


_24. Mai 1897. 

Dieses ungleiche Verhalten des Rakoczy bei nervösen An¬ 
aciditäten und Subaciditäten Hesse sich vielleicht so erklären: 
Die Ausscheidung des Magensaftes geschieht jedenfalls durch 
selbstständige Ceutren des Magens, welche die Secretion auf 
reflectorischem Wege vermitteln. Die Erkrankung der Nerven- 
centren ist wohl durch länger andauernde Ernährungsstörungen 
derselben bedingt. Ueber die feineren pathologischen Vorgänge 
sind wir noch sehr wenig unterrichtet. Jürgens gelang es 
bekanntermvssen schon in einer Reihe von nervösen Dyspepsien 
eine totale Degeneration des Meissnerschen und Auerbach- 
schen Plexus des Magens nachzuweisen. Die Einwirkung des 
Rakoczy könnte nun entweder zu unbedeutend oder gleich Null 
sein in manchen Fällen von Anacidität, oder die Erregbarkeit 
der Nervencentren ist zu sehr herabgesetzt oder ganz erloschen. 
Wir hätten dann in Bezug auf Secretion dieselben Umstände, wie 
bei totaler DfUsendegeneration. 

Dass die Motilität bei dieser Neurose für geraume Zeit er¬ 
halten bleibt, ist nach Fleischer und Grundzach dadurch 
möglich, dass schon der Reiz des Mageninhaltes als solcher 
allein genügt, um Magenbewegungen auszulösen, und Boas 
fuhrt die gründliche, manchmal beschleunigte Entfernung der 
Ingesta auf die von Hofmeister und Schütz nachgewiesenen 
automatischen Bewegungscentren zurück, die also hier noch 
nicht erkrankt zu denken wären. Vielleicht ist aber auch der 
Schluss des Pylorus weniger fest und der Speiseübertritt er¬ 
leichtert, oder wir haben es mit einstweilen noch unbekannten 
Ausgleichsvorrichtungen zu thun, wie Fleischer meint. 

Hiermit ist die Reihe der Magenstörungen, die vom Ra¬ 
koczy günstig beeinflusst werden können, noch nicht erschöpft. 
Auch atonische Zustände mit Subacidität auf anämischer Basis 
indiciren den Rakoczygebrauch. Durch Verbesserung des Che¬ 
mismus und Mechanismus des Magens wird hier auch dem 
Grundleiden, der Blutarmuth, gesteuert. 

Veraltete, in der Vernarbung begriffene oder torpide Ulcera 
des Magens mit Salzsäuremangel lassen auch die hiesige Quelle 
indicirt erscheinen. Es hegt diese Ansicht auch Gerhardt. 
Ich habe in einigen Fällen selbst die gute Wirkung des Ra¬ 
koczy während der Cur beobachtet. Ist auch die grosse Mehr¬ 
zahl der Magengeschwürskranken mit Hyperacidität behaftet, so 
giebt es doch auch solche mit bedeutenden Subaciditäten, dabei 
sind natürlich Verwechslungen mit Carcinom auszuschliessen. 

Beim Carcinom erweist sich der Rakoczy wirkungslos, eine 
schneller fortschreitende Verschlimmerung desselben 
aber, wie sie Manche annehmen, konnte ich nicht beob¬ 
achten. 

Schlechte Erfahrungen habe ich in mehr als 
12 Jahren in meiner Anstalt und ausserhalb in der 
Praxis mit dem Rakoczy bei Hyperaciditäten gemacht. 
Ich habe zu viele Misserfolge und Verschlimmerungen 
gesehen, als dass ich den Rakoczy in solchen Fällen 
empfehlen könnte. Ich sah sogar Magenblutungen bei Ulcus- 
kranken auftreten, die entgegen meinem Willen, ausserhalb der 
Anstalt behandelt, Rakoczy tranken und dies auch trotz meiner 
Vorstellung nicht Hessen, als sich ihre Beschwerden und nament¬ 
lich ihre Säureempfindungen von Tag zu Tag mehrten. 
Mancher Hyperacide, der sich zu einer Cur in der Anstalt aus 
irgend welchen Gründen nicht entschlossen mochte, und dem 
ich nach mehrwöchentlichem Misserfolg und Verschlechterung 
seines Znstandes rieth, nach Karlsbad zu gehen, hat dort Erfolg 
gehabt und mir gedankt, dass ich ihn bei seinem Zustand nicht 
Rakoczy weiter trinken liess. Ich bin sogar geneigt, jene Magen¬ 
kranken, die ohne genauere, innere Untersuchung von unserer 
Quelle Gebrauch machen und darauf Steigerung ihrer Beschwerden 
fühlen, und wie sie dann sagen „Kissingen nicht vertragen“ für 


Hyperacide anzusprechen. Es entspricht meinen langjährigen 
Erfahrungen nicht, wenn Dapper in seiner Abhandlung „Ueber 
den Einfluss der Kochsalzquellen (Kissingen und Homburg) auf 
den Stoffwechsel des Menschen und Uber die sogenannte cur- 
gemässe Diät“ auf Grund einiger Beobachtungen von einer 
schnellen und nachhaltigen Wirkung des Rakoczy bei 
Hyperacidität schreibt. 

Solche Kranke tragen zu Kissingens Ruhm nicht bei und 
finden dann in Karlsbad gewöhnlich, was sie hier vergebens 
suchten. Ein Universalmittel ist der Rakoczy nicht. 

Zum Beweise seiner Ansicht führt Dapper aus mehreren 
Dutzend Fällen, die er beobachtet habe, 7 Krankengeschichten 
an, die er wohl als die prägnantesten Belege für seine Idee aus¬ 
gewählt haben dürfte. 

Diese Idee ist nicht neu, denn an dem Glauben, dass ein 
und dieselbe Quelle für die heterogensten Magenleiden mit 
grösstem Nutzen verwandt werde, haben manche Leute unent¬ 
wegt festgehalten. Dass man durch verschiedene Quan¬ 
titäten der Heilquelle verschiedene Effecte erzielen kann, 
leugne ich nicht, aber Dapper hat den Rakoczy in Mengen 
bei Hyperaciden gegeben, wie wir sie bei derGastritis 
chronica zu verordnen gewohnt sind, und sie Dapper 
auch giebt. Fehlgeschlagene Fälle giebt er zu. 

Seine 7 Fälle und die Erklärung Uber das „Wie und Warum“ 
sind nicht eindeutig genug, um zu überzeugen. Ich finde darum 
keinen Anlass, mit den von mir seit Jahren angewandten alkali¬ 
schen und alkalisch-salinischen Wässern als Entsäuerungsfactoren 
zu brechen, und wenn ich diese für indicirt bei Hyperaciden 
halte, so thue ich das nicht einem Schlagwort zu Liebe, sondern 
auf Grund einer langjährigen Erfahrung, die in gleicher Weise 
Autoritäten mit mir theilen. 

Um allen Einwendungen im vornherein zu begegnen, wäre 
es wohl besser gewesen, die Hyperacidität nicht nach dem 
Probefrühstück, sondern nach einem geeigneten Probemittags¬ 
mahl zu constatiren, denn der digestive Reiz ist chemisch und 
mechanisch ein ganz verschiedener. Es ist einleuchtend, dass 
ein Magen, der nach einem Probefrühstück etwas mehr Säure 
producirt, als die geringen ihm zngeführten Eiweissmengen und 
neutralen Salze binden können, nach einem Probemittagsmahl 
die zur Umwandlung der grossen Eiweissmengen in Acidalbumin 
erforderliche Quantität HCl keineswegs zu haben braucht. 

Das ist die Ansicht Fleischer’s und auch meine. Will 
man sich also Uber eine Hyperacidität vergewissern, so ist es 
nach meiner Erfahrung am einfachsten, dies 3 Stunden nach 
Aufnahme eines Beefsteaks zu thun, das von fettfreier Lende 
genommen und in einer Maschine zerkleinert wird und in Bezug 
auf Gewicht und Zubereitungsdauer sich stets gleich bleiben 
muss. Dabei ist dem Kranken zuvor tüchtiges Durchkauen zu 
empfehlen. Die Eiweisszufuhr ist der beste und wirk¬ 
samste Reiz zur Prüfung der secretorischen Thätig- 
keit und nur einen krankhaften Ueberschuss von freier 
HCl mit intensiv rother Günzburg’scher Reaction, nicht 
aber eine gesteigerte Acidität möchte ich als Hyper¬ 
acidität aufgefasst wissen. 

Es würden sich dann die citirten Hyperaciditäten vielleicht 
anders ausnehmen, aber sie zeigen sich auch so schon als 
schwache Hyperacidiäten. Es ist eine bekannte Sache, dass 
gerade diese Neurose im Allgemeinen eine hartnäckige ist, 
dämm fällt mir in einigen Fällen die sehr schnelle Heilung 
auf, obwohl ich nicht in Abrede stellen will, dass manche Fälle 
eine grössere Heilungstendenz haben, und sich das besonders 
auf nicht schwere und nicht veraltete Fälle bezieht. Ich kann 
mich des Gedankens nicht erwehren, dass z. B. bei überarbei¬ 
teten Kranken die Ruhe in erster Linie, das Fernsein von der 


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452 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


den Geist anstrengenden und aufregenden Arbeit, dann die 
zweckmässige Diätregelung, ferner die Ausspülungen, Vermeidung 
von Unregelmässigkeiten im Essen, unter Umständen eine Mast- 
cur, das Wegfallen der Materia peccans, des starken Rauchens 
etc. etc. viel eher Heilung resp. Besserung der einzelnen Kran¬ 
ken erzielt hat, als die gegebenen Mengen Rakoczy. 

Bei den in den Citaten oft sprungweise in sehr kurzen 
Zwischenräumen von oft nur wenigen Tagen abfallenden Salz¬ 
säuremengen drängt sich mir der Gedanke auf, dass es sich um 
die bekannten, sich innerhalb ziemlich w'eiter Grenzen bewegen¬ 
den Schwankungen handelt, wie sie in ihrer Irregularität und 
öftere plötzlichem Eintreten mir wiederholt vorkamen. Ich will 
als Paradigma nur einen prägnanten Fall erwähnen. Ein Herr 
H., der nach 14tägigem Gebrauche des Rakoczy eine Verschlim¬ 
merung seines Magenleidens beobachtet hatte, kam auf Veranlas¬ 
sung eines Freundes, der in meiner Anstalt behandelt wurde, 
zu mir mit der Bitte, seinen Magen innerlich zu untersuchen. 
Die quantitative Analyse ergab 3 Stunden nach dem im Hause 
üblichen Mittagsmahl 0,42 pCt. nach Seemann-Braun, Günz- 
burg’s Reaclion intensiv hochroth. Er bat um Aufnahme in 
die Anstalt, musste aber dringender Angelegenheiten halber zu¬ 
vor noch auf 3 Tage verreisen. Bei seiner Wiederkunft fand 
ich den Kranken und seine Symptome ganz verändert und 
machte deshalb eine zweite Analyse am vierten Tage nach der 
ersten mit 0,42 pCt. Ich constatirte nun nahezu Anacidität, 
nämlich 0,036 pCt. Während zuerst die Farbreactionen sehr 
intensiv waren, fehlten sie jetzt ganz. Als Ursache musste man 
eine heftige Gemüthserschütterung annehmen, die Patient auch 
zugab. 

Der letzte Fall Dapper’s illustrirt nach meinem Dafür¬ 
halten eher das Gegentheil seiner Ansicht. Sowohl am 12. als 
am 13. December 1865 werden Hyperaciditäten von 0,3 und 
0,35 pCt. bei ihm nachgewiesen. Es werden 600 ccm Rakoczy 
verordnet. Unter kleinen Schwankungen der Aciditätswerthe ist 
nach 6 Tagen der HCl-Gehalt derselbe, wie am 13. December. 
Die Dosis Rakoczy wird um 200 ccm gesteigert. Nach 7 Tagen 
ist die Hyperacidität unbeeinflusst, ebenso am 4. Januar 1806. 
Nun wird noch ein Versuch mit der Hälfte Rakoczy gemacht 
und dieser nach 3 Tagen weggelassen. Nach Wegfall des 
Mineralwassers sehen wir die Hyperacidität auf 0,22 
und 0,20 abfallen. Die Beschwerden Hessen nach Aufgabe 
der grossen Dosis Rakoczy nach und schwanden ganz, als er in 
Wegfall kam. Der Bericht sagt noch: „Wahrscheinlich lag 
Ulcus ventriculi vor“. Soll hier das Geschwür so schnell ge¬ 
heilt sein, und die Uebersäuerung bei eingetretener Vernarbung 
sofort aufgehört haben? 

In dem einzigen veralteten Falle 1 wurde nach 3 Monaten 
Heilung erzielt. liier halte ich von rascher Hülfe zu reden, 
für unrichtig. 

Ueber die Nachhaltigkeit der Curen wird uns die Zeit 
belehren müssen, denn nach meinen Erfahrungen besteht die 
Neigung zur Ueberproduction von Säure bei solchen Kranken 
lange fort, und irgend eine Ueberanstrengung oder Gemüths- 
bewegung ist im Stande, die Neurose wieder wach zu rufen, 
nachdem sie zwei und mehr Jahre vollständig geschwunden war. 

Ich stehe mit meinen Anschauungen und Erfahrungen keines¬ 
wegs vereinzelt da und glaube vorerst noch triftige Gründe 
genug zu haben, um die seither bewährten Mineralwässer in 
solchen Fällen weiter zu gebrauchen. Es dünkt mir richtiger, 
nicht zu viel mit „unbekannten Factoren“ zu rechnen und na¬ 
mentlich zu bedenken, dass gleiche Quantitäten Rakoczy 
unmöglich geradezu umgekehrte therapeutische Wir¬ 
kungen haben können. Wird Rakoczy von Kranken mit 
Ilyperacidität ohne Beschwerden vertragen, so ist das nach mei- 


No. 21. 

ner Auffassung nur ein Beweis für eine grössere Toleranz des 
Organs, wie denn Leute mit verhältnissmässig geringem Salz- 
sätireüberechuss oft über unerträgliches Säuregefühl klagen, wäh¬ 
rend Andere mit colossaler Hyperacidität fliese subjectiv kaum 
wahmehmen. 

Bezüglich der zum Heilungszwecke benützten Mastcur sei 
mir die Bemerkung gestattet, dass ich schon 1887 bei Be¬ 
sprechung der Therapie der Neurosen des Magens in meiner 
Arbeit, die unter dem Titel: „Ueber die Bedeutung der Aciditäts¬ 
bestimmung bei Magenerkrankungen für Diagnose und Therapie“ 
in der Berliner klinischen Wochenschrift erschien, wörtlich ge¬ 
sagt habe: „Da die Verdauung in der Normalzeit verläuft, ja 
öfter eine beschleunigte ist, lässt man die Kranken in kürzeren 
Intervallen nicht zu copiöse eiweissreiche Mahlzeiten mit gleich¬ 
zeitiger Verabreichung von Fettbildnern, Reis, Kartoffelbrei, 
Macaroni etc., gemessen und gestattet auch den-Genuss der 
Butter, da sich Fettansatz bei Neurasthenikern 
äusserst günstig erweist. In besonders graven Fällen 
ist geradezu eine Mastcur indicirt.“ 

Es ist sonach der Buttergenuss bei Magenerkrankungen 
älter als man angiebt, und ich habe dieselbe, ebenso wie Sahne, 
auch Leidenden mit Ulcus, Ektasie und Gastritis gegeben, wenn 
sie die von mir für nöthig erachteten Fortschritte gemacht, na¬ 
mentlich wieder muskuläre Sufficienz erreicht hatten. 

Ein Verdienst von Noorden’s ist es, der Fettzufuhr durch 
seine Veröffentlichung eine dankenswerthe Erweiterung ver¬ 
schafft zu haben, denn man giebt jetzt grössere Mengen Butter 
als ehedem (wo übrigens das Tagesquantura schon bis 60 gr ge¬ 
kommen war), da man die vicariireude Wirkung des Darmes 
mehr zu würdigen gelernt hat. Aber auch diese hat ihre 
Grenzen. 

Auf die compensatorische Wirkung des Darmes kann man 
nur so lange bauen, sagt Strauss, als dieser ganz gesund ist. 
Bei veralteten oder tief eingewurzelten Magenleiden ist er- 
fahrungsgemäss der Dann oft und gar manchmal recht 
ausgedehnt miterkrankt. Hier muss nach meinem Dafürhalten 
erst das Grundübel gebessert werden, ehe man an die compen¬ 
satorische Kraft appellirt, denn wir werden nicht fehlgehen, 
wenn wir Wechselbeziehungen zwischen Magen- und Darm- 
secreten annehmen und wir wissen leider noch nicht, welchen 
Einfluss die einzelnen Magenleiden mit ihren verschiedenen 
Säurewerthen, Resorptions- und Motilitätsstörungen auf die Ver¬ 
dauungssäfte des Darms, die Galle, den Pankreassaft und den 
Darmdrüsensaft austiben. Störungen in diesen Wechselbeziehungen 
sind wohl öfters die Ursache, weshalb manche Kranke trotz 
gesteigerter systematischer Calorienzufuhr nicht zunehmen. 


V. Aus der inneren Abtheilung des Herrn Geheim¬ 
rath Ewald am Augusta-Hospital in Berlin. 

Ueber Gastroptose. 

Von 

Dr. Leop. Kuttner, 

Assistenz-Arzt der med. Poliklinik am Augusta-Hospital in Berlin und 
Dr. Dyer aus Portland, Maine in Amerika. 

(Fortsetzung.) 

Wenn wir uns nun im Folgenden gestatten, das Capitel der 
Aetiologie der Gastroptose von dem der Symptomatologie der¬ 
selben durch statistische Bemerkungen Uber einige wichtige 
Punkte unseres Themas zu trennen, so geschieht dies deshalb, 
weil wir glauben, dass wir uns jetzt mit Hülfe des Vorher¬ 
gehenden gewisse hierher gehörige Fragen leichter werden er- 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


453 


24. 

klären können als vorher, und andererseits deswegen, weil wir 
bei der Aufführung der Symptome, die die Senkung des Magens 
machen, auf diese Statistik werden hinweisen mllssen. Um uns 
eine Uebersicht zu verschaffen Uber das Vorkommen der Magen¬ 
senkung in den verschiedenen Altersklassen, bei den verschie¬ 
denen Geschlechtern, und zur PrUfung der Symptome dieser 
Abnormität haben wir systematisch bei je 100 Kindern, Frauen 
und Männern, die aus irgend welchem Grunde die Hülfe der 
Poliklinik in Anspruch nahmen, die Lage des Magens untersucht. 
Leider ist es nicht möglich, eine tabellarische Zusammenstellung 
Uber diese 300 von uns selbst untersuchten und mit Rücksicht 
auf Anamnese und Status genau zusammengestellten Fälle von 
Gastroptose dem Rahmen dieser Arbeit anzupassen. Wir müssen 
uns daher damit begnügen, hier nur das Wichtigste dieser Ta¬ 
bellen im Auszuge zu liefern. 

Was die Häufigkeit der Gastroptose anbetrifft, so ist es 
kaum möglich, absolute, genaue Zahlen hierfür anzufUhren, da 
ganz sicher ein grosser Theil der existirenden Magensenkungen 
wegen ihres symptomlosen Verlaufes nicht zur Untersuchung 
kommt. Doch hat entsprechend der grösseren Aufmerksamkeit, 
welche man in den letzten Jahren den Lageveränderungen der 
Bauchorgane entgegengebracht hat, die Zahl nicht nur der kli¬ 
nischen, sondern auch der pathologisch-anatomischen Beobach¬ 
tungen eine stetig wachsende Zunahme erfahren. Ohne auf ge¬ 
naue Literaturangabeu einzugehen, wollen wir nur einige Zahlen 
hervorheben, welche die anfangs herrschenden Differenzen der 
Autoren nachweisen. Nach den Mittheilungen von Krez 1 ) wur¬ 
den in der medicinischen Universitäts-Poliklinik zu WUrzburg in 
einem Zeitraum von 1'/, Jahren nur 6 Fälle von Enteroptose 
beobachtet. Kellogg 2 ) dagegen fand unter 250 sexualkranken 
Frauen 232 mal Prolaps des Magens und Darms. Von ganz 
besonderem Interesse sind die Angaben von Hertz (1. c.), nach 
dessen Untersuchungen unter 50 von ihm im Kopenliagener 
St. Johannestift secirten Weibern nur 5 mal normale oder 
annähernd normale topographische Abdominalverhältnisse ge¬ 
funden wurden, während in den übrigen Fällen visceraler Pro¬ 
laps bestand. Beachtung verdienen ferner die Zahlen Meinert’s, 
der unter 29 noch nicht einmal geschlechtsreifen Mädchen, welche 
zwecks Aufnahme in die Dienstboten-Lehranstalt zu Dresden zur 
Feststellung ihres Gesundheitszustandes von diesem Autor unter¬ 
sucht wurden, 28 mal Gastroptose constatirte. Bei unseren Unter¬ 
suchungen ergab sich folgendes Resultat: unter 300 untersuchten 
Individuen fanden sich 42 Frauen resp. Mädchen und vier 
Männer resp. Knaben mit mehr oder weniger ausgesprochener 
Gastroptose. 

Gewiss haben diese Zah\ßnangaben nur einen geringen 
Werth, in sofern die Häufigkeit des Vorkommens dieser Abnor¬ 
mität von der zufälligen Zusammensetzung des Krankenmaterials 
abhängt; doch könnten wir dieselbe bedeutend vermehren, wenn 
wir von all den zahlreichen Fällen von Gastroptose, die wir 
überhaupt gesehen haben, genaue Aufzeichnungen hätten. Jeden¬ 
falls ergiebt sich aus diesen Beobachtungen, dass das weibliche 
Geschlecht viel häufiger an dieser Affection zu leiden hat, als 
das männliche. Dieser bisher wohl von den meisten Autoren 
vertretenen Auffassung widersprechen Untersuchungen von Bial*), 
der unter 50 Personen männlichen Geschlechts, welche verschie¬ 
denen Altersklassen angehörten, 36 mal Gastroptose fand. Nach 
anserem Dafürhalten verdienen diese Zahlenwerthe, soweit durch 

1) Krez, Zur Frage der Enteroptose. Würzburger Dissertation 1892. 

2) Kellog, The influence of dress in producing the physical deca- 
dence of American women. Reprinted from transactions of Michigan 
State Medical Society 1891. 

8) Bial, Ueber den Tiefstand des Magens bei Männern. Berl. klin. 
Wochenschrift 1896, No. 50. 


dieselben das häufige Vorkommen der Dislocation des Magens 
beim männlichen Geschlecht nachgewiesen werden soll, nur eine 
beschränkte Bedeutung; denn abgesehen davon, dass Bial mög¬ 
lichst Patienten aus wählte, bei denen er das Bestehen der 
Gastroptose von vornherein vermuthen durfte, hält dieser Autor 
die bei der Aufblähung durch Luft erhaltene obere Grenze des 
Magenschalles für identisch mit dem Verlauf der kleinen Cur- 
vatur. „Das Bestehen einer Tieflagerung wurde angenommen“, 
so führt Bial aus, „wenn die kleine Curvatur überhaupt sichtbar 
zu machen war; zwischen derselben, Rippenwinkel und Leber, 
war dann der Percussionsschall verschieden vom Magenschall.“ 
Thatsächlich finden sich auch unter den 36 Gastroptosen bei 
Bial 11 Fälle, in denen die grosse Curvatur bei der Aufblähung 
des Magens in Nabelhöhe, und ausserdem 3 Fälle, in denen die¬ 
selbe dicht unter dem Nabel verlief. Die kleinere Curvatur lag 
nach Bial in diesen Fällen von Ptosis ventric. mehr oder we¬ 
niger dicht unter dem Rippenwinkel. Es fragt sich nun, ob in 
allen diesen Fällen die obere Magengrenze Bial’s zusammenfällt 
mit dem Verlauf der kleinen Curvatur. Wir glauben daran 
zweifeln zu müssen, da bekanntlich bei der Percussion die untere 
Lebergrenze durchweg viel höher gefunden wird, weil sich 
Darmschlingen Uber das Organ lagern und seine Wandständig- 
keit verringern. Nach Vierordt') ist dies besonders der Fall 
„bei der hässlichen, aber nicht krankhaften Form des Thorax, 
wenn derselbe kurz und seine untere Apertur ziemlich weit ist,“ 
ferner bei Personen mit vollem Abdomen, also bei Individuen, 
die nach Bial prädisponirt sind zur Entwickelung einer Ga¬ 
stroptose. 

Wie dem auch sein mag, jedenfalls müssen wir daran fest- 
halten, dass das weibliche Geschlecht das bei weitem grössere 
Contingent an den Dislocationen des Magens stellt. Diese Tliat- 
sache findet ihre volle Erklärung darin, dass bei den Frauen in 
Folge des Schnürens und durch die in den weiblichen Gesammt- 
organismus so tief eingreifenden Sexualvorgänge, Menstruation und 
Gravidität, die Gelegenheitsursachen zum Zustandekommen der 
Gastroptose bei weitem zahlreicher sind als beim Mann. 

Bezüglich des Lebensalters verdient hervorgehoben zu wer¬ 
den, dass Dislocationen des Magens zwar in jedem Alter Vor¬ 
kommen können, dass aber in den ersten 10 Lebensjahren ein 
derartiger Befund zu den Seltenheiten gehört. Wir sind ja 
selbstverständlich nicht in der Lage, mit Sicherheit die Ent¬ 
stehung der Gastroptose in ein bestimmtes Lebensalter zu 
verlegen, da wir ja in den einzelnen Fällen nur das Vorhanden¬ 
sein einer Magensenkung durch unsere Diagnose beweisen 
können, ohne dass wir den ersten Anfang derselben festzustcllen 
im Stande wären. In unserer Statistik kamen die meisten Fälle 
zwischen dem 15. bis 40. Jahre zur Beobachtung, d. h. in rinem 
Alter, in dem das weibliche Geschlecht am meisten denjenigen 
Schädlichkeiten ausgesetzt ist, die wir als Hülfsursachen für die 
Entstehung der Gastroptose beschrieben haben. 

Dass der Schwangerschaft und der Zahl der vorausgegan¬ 
genen Geburten auch nur die Bedeutung einer Hülfsursache zu¬ 
kommen kann, lehrt ebenfalls die Tabelle. Unter 39 Frauen 
die an Gastroptose litten, fanden sich 10, die gar nicht, 12, die 
einmal, und 17, die zu wiederholten Malen geboren hatten. 

In den Lebensverhältnissen der Betreffenden konnten wir 
nichts finden, was auf die Entwickelung einer Magensenkung 
hätte einwirken können. Besonders schwere Arbeit hatte keiner 
der Patienten verrichtet. 

Dyspeptische Beschwerden, die lediglich auf die Gastroptose 
zu beziehen waren, beobachteten wir 16 mal. In 10 Fällen, in 
denen Magensymptome vorhanden waren, waren dieselben Folgen 


1) Vierordt, Diagnostik der inneren Krankheiten 1894, S. 802. 


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No. 21. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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einer begleitenden complicirenden Magenerkrankung, ln den 
übrigen 20 Fällen bestanden keinerlei Verdauungserseheinungen. 

Das Zusammentreffen von Lage Veränderungen des Magens 
mit beweglicher Niere haben wir oft genug beobachtet. Unter 
den 42 Fällen von Gastroptose beim weiblichen Geschlecht 
waren 15 mal beide Nieren und 15 mal die rechte Niere allein 
gesunken. Die Leber war unter diesen 42 Fällen lOmal, die 
Milz 4 mal dislocirt. Bei den Männern resp. Knaben, die an 
Gastroptose litten, bestanden keine nachweisbaren Nieren-, 
Leber-, Milz-Dislocationen. 

Nach der Erörterung dieser statistischen Momente kommen 
wir zu dem Symptomen bilde, das sich uns bei der Gastro¬ 
ptose darstellt, resp. darstellen kann. Ebenso unsicher, wie die 
Ursachen der Gastroptose sind, so zweifelhaft ist der Symptomen- 
complex, welcher der Dislocation des Magens zukommt. Es ist 
sicher, dass ein Theil der Magensenkung ohne jedes Symptom 
verläuft, und oft genug hatten wir Gelegenheit, uns von der 
Richtigkeit dieser Behauptung bei Patienten zu überzeugen, die 
wegen einer vorübergehenden anderweitigen Erkrankung die 
Hülfe der Poliklinik in Anspruch nahmen, und bei denen sich 
bei eingehender Untersuchung eine mehr oder weniger ausge¬ 
sprochene Gastroptose vorfand, ohne dass die Patienten jemals 
irgend welche Anzeichen von ihrem Leiden verspürt hätten. 

Wenn nun auch zuweilen die Gastroptose symptomlos ver¬ 
läuft, so giebt sie andererseits doch oft genug Veranlassung zu 
einer grossen Reihe, theils von localen, theils von allgemeinen 
Beschwerden. Die ersteren bestehen besonders in Störungen 
des Appetits, Appetitlosigkeit oder Heisshunger, Völle und Auf- 
getriebenheit der Magengegend, Kollern im Leibe, Aufstossen, 
Sodbrennen, saurer Geschmack im Munde, Uebelkeit, Erbrechen, 
Schmerzen im Epigastrium, besonders abhängig von der Quan¬ 
tität der Speisen, Verstopfung etc. Das Auftreten membran¬ 
artiger Fetzen im Stuhlgang, das Boas') besonders hervorhebt, 
konnten wir selbst bei gleichzeitiger starker Dislocation des 
Colon transvers. verhältnissmässig nur selten beobachten. 

Fragen wir nun, worauf diese dyspeptischen Beschwerden 
beruhen, so müssen wir annehmen, dass diesem Symptoraenbilde 
häufig genug Störungen der einzelnen Magenfunctionen zu Grunde 
liegen, dass aber in anderen Fällen die genannten Krankheits¬ 
erscheinungen als rein nervöse Beschwerden zu deuten sind, die 
ihren Ursprung vielleicht in der abnormen Spannung der Bänder 
und in einer stärkeren Zerrung der Nerven finden. 

Was die Störung der Functionen betrifft, so wird am häu¬ 
figsten bei der Dislocation des Magens eine Beeinträchtigung 
der Motilität desselben angetroffen. Es ist keine Frage, dass 
durch abnorme Lage dieses Organs Gelegenheit genug gegeben 
ist zur Entwickelung einer motorischen Insufficienz. Die mecha¬ 
nischen Schwierigkeiten, welche die Fortbewegung des Magen¬ 
inhalts bei der Gastroptose aufhalten, ebenso wie „die physiolo¬ 
gischen Folgen einer einseitigen Muskeldehnung - , welche mit 
dieser Lageanomalie verbunden sind, sind sehr ausführlich, be¬ 
sonders von Huber 2 ), Fleiner und Kelling besprochen wor¬ 
den, so dass wir, um Wiederholungen zu vermeiden, bezüglich 
dieser Punkte auf diese Autoren verweisen können. Doch scheint 
es uns wichtig, auf einen Punkt aufmerksam zu machen, den wir 
bereits bei Besprechung der Aetiologie angedeutet haben. Wäh¬ 
rend nämlich die meisten Autoren geneigt sind, die Atonie resp. 
die motorische Insufficienz des Magens, die wir bei diesen Zu¬ 
ständen beobachten, als Folge der Gastroptose anzusehen, sind 
wir der Ansicht — und davon haben wir uns durch Kranken- 


1) Boas, Diagnostik und Therapie der Magenkrankheiten, 1895, 
II. Theil, S. 143. 

*2) A. Huber, Correspondenzbl. für Schweizer Aerzte 1895, No. 1. 


beobachtungen überzeugt — dass in einem Theil der Fälle eine 
abnorme Schlaffheit und Dehnbarkeit der Magenwände der Ptose 
vorausgeht, ja letztere eventuell erst veranlasst. Denn da wir 
atonische Zustände mit Vorliebe bei schwächlichen und blut¬ 
armen Leuten finden, die weiterhin vielfach an Erschlaffung der 
Bauchdecken und der Diastase der Mm. recti leiden, so ist fUr 
die Entwickelung einer Gastroptose aus einer Atouie gewiss Ge¬ 
legenheit genug geboten. 

Gegenüber den Störungen der Motilität zeigt die secreto- 
rische Function des Magens bei der Dislocation dieses Organs 
oft normale Verhältnisse. Andererseits kommt es allerdings 
häufig genug zu Veränderungen des Chemismus. Abgesehen 
davon, dass die anormale Secretion in verschiedenen Fällen von 
ursächlichen oder coincidirenden Affectionen, Pylorustumoren, 
Ulcera, Narben etc. abhängen kann, kann die durch die Lage¬ 
veränderung des Magens hervorgerufene motorische Insufficienz 
auch chemische Störungen nach sich ziehen. Diese letzteren 
können sich sowohl im Sinne einer Hyp-, als im Sinne einer 
Hyperacidität äussern. Die Atonie ist sehr häufig eine Theil- 
erscheinung eines geschwächten Körpers, und dieselben Ursachen, 
welche die Muskelthätigkeit des Magens beeinträchtigt haben, 
können die Magensaftsecretion beeinflussen und zur Verminde¬ 
rung der Salzsäuremenge führen. Eine Hypo- oder gar eine 
vollständige Achlorhydrie in solchen Fällen erlaubt deswegen, 
wie Fleiner mit Recht betont, nicht den Schluss auf schwere 
organische Veränderungen der Magenschleimhaut, sondern ist 
nur als Folgezustand der allgemeinen Schwäche und Erschlaffung 
aufzufassen. Gegenüber dieser Hypacidität besteht bei gewissen 
Fällen von Gastroptose Hyperacidität. Diese letztere ist bei 
complicirten Fällen von Magenverlagerung auf einen Ueberschuss 
von Salzsäure zu beziehen, welche durch die abnorme Reizung 
der Secretionsdrüsen in Folge des längeren Verweilens der In- 
gesta im Magen rein mechanisch hervorgernfen wird. Dauert 
dieser Reiz abnorm lange Zeit hindurch fort, so können die 
Drüsen erlahmen; die Folge davon ist, dass an Stelle der Hyper- 
chlorhydrie wiederum Hypo- resp. Achlorhydrie tritt. Dieser 
Umschlag wird sich natürlich um so früher bemerkbar machen, 
je grösser die allgemeine Körperschwäche ist. Hyperacidität, 
hervorgerufen durch Gegenwart von organischen Säuren, deutet 
nach unserer Erfahrung immer auf Complication mit Pylorus¬ 
stenose, Carcinom etc. hin. 

Zu diesen, mehr localen Symptomen gesellen sich häufig 
allgemeine nervöse Erscheinungen, mitunter sogar bilden diese 
den Hauptgegenstand der Klage und führen den Patienten in 
erster Linie zum Arzte. Störungen dieser Art beziehen sich auf 
Schwächegefühl, deprimirte, wechselnde Stimmung, auf Kopf¬ 
schmerz resp. Eingenommenheit des Kopfes, Schwindelgefllhl, 
Schwere der Glieder, kalte Füsse und Hände, Herzklopfen, 
schlechten Schlaf etc. Dass alle diese Beschwerden bei Gastro¬ 
ptose beobachtet werden, ist genügend bekannt; doch fragt es 
sich, welche Rolle die Verlagerung des Magens in der Aetiologie 
dieser nervösen Störungen spielt. Die Ursachen der weiblichen 
Nervosität — denn um diese handelt es sich ja bei unserer Be¬ 
sprechung hauptsächlich — haben ja schon vielfach ein ein¬ 
gehendes Studium erfahren. Gestützt auf zahlreiche klinisch gut 
beobachtete Fälle erbrachten eine Reihe von namhaften Autoren 
den Nachweis, dass Erkrankungen der weiblichen Genitalorgane 
in besonders hohem Grade einwirken können auf das Gesammt- 
befinden des Organismus. Von dieser Ansicht ausgehend, richtete 
man zuerst das Hauptaugenmerk auf Erkrankungen der Gebär¬ 
mutter selbst, vor allem auf Lageveränderungen derselben, 
weiterhin auf Anomalien der Portio vaginae, auf Erosionen, 
Elongationen, Stenosen der Portio etc. Nach dem Uterus waren 
es die Ovarien, denen man eine grosse Bedeutung für die Aetio- 


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24 . 


/ogie der weiblichen Nervosität zuerkannte. Weit entfernt davon, 
zu leugnen, dass eine Abhängigkeit gewisser nervöser Störungen 
beim Weibe von Erkrankungen des Sexualsystems besteht, 
brauchen wir wohl andererseits nicht erst hervorzuheben, wie 
falsch und unbegründet eine so einseitige Beurtheilung ist. Die 
grosse Zahl der zum Zwecke der Heilung von Nervosität unter¬ 
nommenen und erfolglos gebliebenen Genitaloperationen giebt 
einen klaren Beweis, dass neben den Erkrankungen des Sexual¬ 
systems noch andere Ursachen für die weibliche Nervosität be¬ 
stehen mlissen. Als solche gelten besonders Störungen der 
Darmfunctionen; es ist bekannt genug und bedarf erst keiner 
weiteren Besprechung, wie oft Nervosität — männliche ebenso 
wie weibliche — hervorgerufen wird durch habituelle < ibstipa- 
tion. Dass in diesen Fällen die Atonie des Darms wirklich von 
Einfluss auf die vorhandene Neurasthenie war, erhellt am besten 
aus dem Erfolg der gegen diese Darmerkrankungen eingeleiteten 
Therapie. 

(Schluss folgt.) 


VI. Kritiken und Referate. 

Hygiene. 

Cr am er: Hygiene. Ein kurzes Lehrbuch für Studirende und Aerzte. 

Leipzig 1896. Ambrosius Harth. Preis 6 M. 336 S. 

Die Aufgabe, ein so weites Gebiet in kurzer und dabei doch wissen¬ 
schaftlicher Form zu behandeln, ist keine leichte. Man muss dem Vert. 
unbedingt zugestehen, dass ihm die Durchführung dieser Aufgabe in dem 
grössten Theile des vorliegenden Werkes gelungen ist. Seine eigene 
reiche experimentelle Erfahrung auf vielen Gebieten der Hygiene ist 
ihm dabei zu Statten gekommen. Andererseits ist nicht zu verkennen, 
dass bei der Kürze der Darstellung einige Capitel etwas zu sehr in den 
Hintergrund treten. Statt die Hygiene der geistigen Arbeit, das Ge- 
fängnisswesen auf einer Druckseite zu behandeln, sollte man sie lieber 
ganz, fortlassen: man kann schlechterdings in solcher Kürze nichts über 
diese Gegenstände sagen, was einen nachdenkenden Leser befriedigen 
kann. Am vollständigsten und in musterhafter Klarheit abgefasst ist 
„die Ernährungslehre". Hei dem Capitel „Wohnung“ hätte die Ueber- 
tragUDg des Hausschwamms durch die Fehlbödenfüllungen Erwähnung 
verdient. Sehr zu bedauern ist es, dass bei dem heutigen Stande des 
Unterrichts die Elemente der Bacteriologie immer noch nicht wie die 
elementare Chemie als bekannt vorausgesetzt werden dürfen und daher 
auch in solchen kurzen Lehrbüchern der Hygiene eine Besprechung 
finden müssen, die bei ihrer Gedrängtheit kaum ganz richtige Vor¬ 
stellungen erwecken kann. Das vorliegende Lehrbuch dürfte zwar in 
erster Linie für Studirende geeignet sein, aber auch der praktische Arzt 
wird aus der klaren Darstellung schwieriger Capitel grossen Nutzen 
liehen können. Bezüglich der Form und Ausstattung sei bemerkt, dass 
es sich bei einer Neuauflage, welche das Buch bei seinem mässigen 
Preise und sonstigen Vorzügen zweifellos erleben wird, empfehlen dürfte, 
durch Benutzung eines reicheren Letternmaterials, durch schärfere Ab¬ 
theilungen, sowie Handsätze der Darstellung eine grössere Uebersieht- 
lichkeit zu geben. 


W. Pr au sn Hz: Grundzüge der Hygiene. 3. Auflage. München 
1896. J. F. Lehmann. 

Das Buch, das innerhalb von 5 Jahren die 3. Auflage erlebt, ist 
längst in ärztlichen und Laienkreisen eingebürgert. Die neu** Auflage 
ist eiuer sorgfältigen Durcharbeitung unterzogen und namentlich auch 
um eine Anzahl instructiver Abbildungen vermehrt worden. Auch ein 
Abschnitt über die körperliche Ausbildung der Jugend ist neu eingefügt. 
Fast möchte man die Befürchtung aussprechen, dass es allmählich zu 
einem jener stattlichen Bünde heranwächst, — die dann wieder durch 
ein kürzeres Lehrbuch ersetzt werden müssen. Zu wünschen wäre aller¬ 
dings noch, namentlich mit Rücksicht darauf, dass das Buch auch für 
technische Hochschulen bestimmt ist, eine ausführlichere Darstellung der 
Gewerbehygiene. Ferner wird bei der Fleischbeschau ein eingehender 
Hinweis auf die Entstehung der Fleischvergiftung vermisst, bei Be¬ 
sprechung des „Treppenhauses“ eine Erwähnung der hygienischen und 
materiellen Vortheile, welche eine Heizung des Treppenhauses gewährt. 
Für die Verbreitung der venerischen Krankheiten haben wir in den 
Statistiken der stehenden Heere und der Krankenkassen doch wohl ein 
genügend sicheres Material, das der Aufnahme in ein Lehrbuch der 
Hygiene würdig wäre. Die übersichtliche, gemeinverständliche und doch 
wissenschaftliche Darstellungsweise ist auch in der neuen Auflage er¬ 
halten geblieben, ebenso die solide Ausstattung, und somit ist nicht zu 
bezweifeln, dass auch die 3. Auflage die wohlverdiente Anerkennung 
und . Verbreitung ihrer Vorgänger finden wird. Das Buch kann auch 


dem praktischen Arzte, der sich über ihm fernerliegende hygienische 
Angelegenheiten rasch informiren will, nur dringend empfohlen werden. 


C. Flügge: Die Mikroorganismen mit besonderer Berücksich¬ 
tigung der Aetiologie der Infeitionskrankheiten. 2 Theile. 

3., völlig umgearbeitete Auflage, bearbeitet von P. Frosch, 

E. Gott sch lieh, W. Kolle, VV. Kruse, R. Pfeiffer. Leipzig, 

F. C. W. Vogel. 1896. Preis 36 M. 

Wenn Flügge in der Einleitung hervorhebt, dass er von der Ver¬ 
lagsbuchhandlung wiederholt um Bearbeitung einer neuen Auflage er¬ 
sucht worden sei, so hätte er hinzufügen können, dass auch in den 
Kreisen der Leser, der Fachgenossen der Wunsch nach der neuen Aus¬ 
gabe des beliebten und längst vergriffenen Buches ein ganz allgemeiner 
war. F. hat sich entschlossen, die Neubearbeitung jüngeren Collegen zu 
überlassen, aber die übersichtliche Eintheilung des Stoffes, die Voll¬ 
ständigkeit des Ganzen zeigt doch, dass der erfahrene Autor der ersten 
Auflagen die Oberleitung behalten hat. Weitaus am meisten Eigenart 
und einen gewissen Reiz der Neuheit hat der erste Theil, soweit er die 
allgemeine Morphologie und Biologie der Mikroorganismen umfasst. 
Namentlich die Abschnitte, in denen Gott sch lieh die Lebensbedin¬ 
gungen, die Lebensäusserungen der Mikroorganismen und die Gährungs- 
erregung behandelt hat, dürften auch dem Bacteriologen manches Neue 
bringen; denn der Verfasser hat sich die Mühe nicht verdrie9sen lassen, 
die gerade für dieses Gebiet in der Literatur sehr zersplitterten Angaben 
zu sammeln und daraus eine Darstellung zu bilden, wie sie wohl schon 
in Universitätsvorlesungen gegeben wurde, aber gedruckt noch nicht vor¬ 
lag und somit besonders dankbar in Fachkreisen begriisst werden wird. 
Es wäre dringend zu wünschen, dass z. B. die hier niedergelegten 
chemischen Gesichtspunkte für die Lebensäusserungen der Bacterien, die 
Gährungserregung in weite Kreise der medicinischen Forschung ein- 
dringen. Würdig reiht sich diesen Arbeiten G.’s der von W. Kruse 
verfasste Abschnitt über Krankheitserregung an. Mit seltener Objectivität 
hat K. eine zusammenhängende Darstellung dieses schwierigen Gebietes 
zu geben versucht und der Literatur aller Culturnationen eine weit¬ 
gehende Berücksichtigung zu Theil werden lassen. Gerade dieser Theil 
dürfte allerdings recht bald wieder veralten. Denn beinahe jeder Tag 
bringt hier neue literarische Erscheinungen, die in unsere Grund¬ 
anschauungen einzugreifen geeignet sind. In dem Abschnitte „über Vor¬ 
kommen und Fundorte der Mikroorganismen“ benützt R. Pfeiffer die 
Gelegenheit, die Pettenkofer'sche Theorie vom bacteriologischen 
Standpunkte in „Grund und Boden“ zu verdammen. Man kann zugeben, 
dass die experimentellen Resultate über das Verhalten der patho¬ 
genen Bacterien im Boden bis jetzt nicht zu Gunsten der P.'sehen An¬ 
sichten sprechen, man vermisst aber das offene Kingeständniss, dass wir 
über die Verbreitung, das Verhallen der pathogenen Bacterien im Boden 
unter natürlichen Verhältnissen so gut wie nichts wissen und Labora¬ 
toriumsexperimenten hier keine absolute Beweiskraft zugestanden werden 
kann. Am wenigsten dürfte im ersten Theile der von Kolle verfasste 
Abschnitt über die „l'ntersuchungsmethoden“ befriedigen. Das hier Ge¬ 
botene beschränkt sich ganz augenscheinlich auf die im Institute fiir 
Infectionskrankheiten gebräuchlichen Methoden, die an sich gewiss sehr 
zweckmässig und erprobt sind. Es hätte aber doch des ausdrücklichen 
Hinweises bedurft, dass hier nur die in dem Institute für Infections¬ 
krankheiten angewandten Methoden dargestellt werden sollen oder aber 
es hätte eben auch auf andere Methoden wenigstens hingewiesen werden 
müssen. Die auf S. 585 beschriebene „Kühlvorrichtung“ erfreut sieh 
seit langer Zeit in chemischen und medicinischen Kreisen unter dem 
Namen des Liebig'schcn Kühlers einer allgemeinen Beliebtheit. Fiir 
die chemische Verarbeitung von Massenculturen eignen sich die von 
Soxhlet für ähnliche Zwecke benützten Apparate mindestens so gut, 
wie die Prosk auer’schen. 

In dem 2. Bande hat P. Frosch die Systematik der Faden- und 
Sprosspilze selbstständig, die der Mikrokokken in Gemeinschaft mit 
Kolle bearbeitet, während R. Pfeiffer die systematische Darstellung 
der Spirillengruppe übernommen hat. Den Ilauptantheil an diesem 
Bande hat auch wieder Kruse, der die Systematik der Streptothricheen 
und Bacillen geliefert hat, sich aber insbesondere durch die systema¬ 
tische Beschreibung der Protozoen ein grosses Verdienst erworben hat. 
Die Bearbeitung dieses Capitels hat Bicher viele Schwierigkeiten geboten 
und ist von dem Verfasser in sehr giiindlicher und klarer Form durch¬ 
geführt worden. 

Das ganze Werk wird ein unentbehrliches Hiilfsmittel für den 
wissenschaftlichen Laboranten, aber auch, namentlich in seinem ersten 
Theile, eine anregende Lectiire für jeden Mediciner sein. 

W. OlilniUller: Die Untersuchung des Wassers. 2. Auflage. 

Berlin 1896. Springer. 

Schon die Thatsache, dass das vorliegende kleine Werk nach 
2 Jahren neu aufgelegt werden musste, beweist, dass es grosse Ver¬ 
breitung gefunden hat. Die Vorzüge liegen wesentlich in der sorg¬ 
fältigen Auswahl des reichlich vorhandenen Materials, die eben nur ein 
auf dem Gebiete sehr erfahrener Autor treffen kann. Namentlich das 
Capitel „Beurtheilung der Untersuchungsergebnisse“ zeigt den erfahrenen 
und daher in seinem Urtheil massvollen Praktiker, der sich von jeder 
einseitigen Uebertreibung fern hält. Die „Berücksichtigung der örtlichen 
Verhältnisse" hätte vielleicht etwas ausführlicher dargestellt werden 
können. In praktischer Beziehung dürfte es sich empfehlen, auch die 
Untersuchung der Fabrikabwässer in einem gesonderten Capitel kurz zu 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 21 . 


behandeln. Die Beschreibung der Salpetersäurebestiramung nach Schulze- 
Tie mann, die sich in vielen Laboratorien eingebürgert hat, wird man 
ungern vermissen. Der für die Wasserentnahme zur bacteriologischen 
Prüfung bestimmte Apparat vonSclavo hätte vielleicht auch Erwähnung 
verdient. Auch der neuen Auflage des Buches wird es sicher an dem 
früheren Erfolge nicht fehlen. 


J. Pelc u. F. Hueppe: Wasserversorgung in Prag und in den 
Tororten. Oesterreich. Sanitätswesen 1896, No. 86. 

Die Schilderung, welche die Verff. von den Wasserverhältnissen in 
Prag geben, ist, namentlich für den Fremden nicht gerade verlockend. 
Prag verfügt neben einigen alten Quellleitungen, die nur eine ganz 
kleine Anzahl von Häusern versorgen können, Uber eine Anzahl Brunnen, 
die das Trinkwasser liefern sollen, und eine gesonderte Nutzwasser¬ 
leitung, welche der Stadt zu wirthschaftlichen Zwecken flltrirtes Moldau¬ 
wasser zuführen soll. Die Brunnen liefern, wie sich bei eingehender 
örtlicher, chemischer und bacteriologischer Prüfung herausgestellt, zum 
grossen Theile ein zum Trinken unbrauchbares Wasser, sie stehen viel¬ 
fach in Verbindung mit Abortgruben, Canälen, liegen zum Theil auch 
im Inundationsgebiet und liefern auch nicht einmal die genügende Quan¬ 
tität. Somit wird die Nutzwasserleitung auch zum Trinken und Kochen 
in Anspruch genommen und das Nutzwasser genügt weder in qualitativer 
noch quantitativer Hinsicht. Bei Niederwasser können die Nutzwasser¬ 
werke nur arbeiten, wenn sie unmittelbar durch besondere Einlässe un- 
flltrirtes Flusswasser schöpfen. Der ungünstige Einfluss des unflltrirten 
Wassers hat sich während der Typhusepidemie 1894 statistisch nach- 
weisen lassen. Namentlich machte sich in den Kasernen, als man die 
Filtration des Trinkwassers durch Berkefeldfllter einführte, direct ein 
Rückgang der Typhusfrequenz beim Militär (verglichen mit derjenigen 
bei der Civilbevölkcrung) bemerkbar. Da weder Quell- noch Grund¬ 
wasser in ausreichender Menge zur Verfügung steht, so schlagen die 
Verff. vor, weit oberhalb der Stadt, an den St. Johannes-Stromschnellen 
Moldauwasser zu entnehmen und dasselbe durch Sandflltration und Ent¬ 
eisenung in einen für Trinken, Kochen und Nutzzwecke geeigneten 
Zustand zu versetzen. Der Arbeit ist ein reiches analytisches Material 
in Tabellenform beigegeben. 


F. Kraschutzki: Die Versorgung von kleineren Städten, Land¬ 
gemeinden und einzelnen Grundstücken mit gesundem 
Wasser. Hamburg und Leipzig 1896. Leopold Voss. Preis 80 Pf. 

Der Gedanke, welcher der Abfassung der kleinen Schrift zu Grunde 
liegt, ist, wie beinahe bei allen naturwissenschaftlichen Schriften dieses 
Verlages, ein durchaus glücklicher. Die Kenntnlss der Wege, auf denen 
man sich ein gesundes Trinkwasser verschaffen kann, wird durch Auf¬ 
sätze in wissenschaftlichen Zeitschriften, durch hygienische Lehrbücher 
nicht in weitere Kreise getragen und sie ist leider auch selbst unter 
den Landärzten wenig verbreitet. Eine auch für Laien verständliche 
Darstellung, wie die vorliegende, die sich auf die neuesten wissenschaft¬ 
lichen Anschauungen stützt, ist daher nur dankbar zu begrüssen. Wie 
nothwendig sie ist, geht u. a. aus der Thatsache hervor, dass wohl noch 
in allen hygienischen Instituten auch von beamteten Aerzten alljährlich 
einmal Weinflaschen mit Korkstopfen eingehen, deren wässriger Inhalt 
nach 48 ständiger gelinder Bebrütung auf Keimzahl oder Typhusbacillen 
untersucht werden soll. Sehr richtig bemerkt R., dass es wichtiger 
wäre, durch Untersuchung des Brunnens selbst festzustellen, ob 
Krankheitskeime in das Wasser hineingelangt sein können! Die 
chemische Untersuchung behandelt Vcrf. etwas sehr stiefmütterlich. 
Die Thatsache, dass Wasser aus verschiedenen Gesteinsarten verschiedene 
Zusammensetzung hat, die für die praktische Verwendung (Härte!) Behr 
in Betracht kommt, wird nicht hervorgehoben. Ein Wasser muss aber 
nicht nur gesund, sondern in der Regel auch technisch brauchbar sein; 
sonst müssen wir wieder zur Unterscheidung von Trink- und Nutzwasser 
zurückkehren, die sich in hygienischer Beziehung stets als schädlich er¬ 
wiesen hat. Die kleine Schrift ist klar und verständlich geschrieben. 
Sie wird sicher in weiten Kreisen Gutes wirken können. 


Ueber die mit den Hoclifluthen der Elbe eintretende Verun¬ 
reinigung des Dresdener Leitungswassers und ihre sanitäre 
Bedeutung. Vorträge, gehalten in der Gesellschaft für Natur- 
und Heilkunde zu Dresden am 28. März 1896 nebst Discussion. 

Die Stadt Dresden wird mit einem nahe der Elbe entnommenen 
Grundwasser versorgt. Aus den unabhängig von einander angestellten 
bacteriologischen Untersuchungen von Dr. Schill und Prof. Renk geht 
übereinstimmend hervor, dass der gewöhnlich minimale Keimgehalt des 
Leitung.swassers beim Eintreten von Hochwasser in der Elbe stark 
steigt und zwar beruht diese Erscheinung, wie die Untersuchungen be¬ 
weisen, auf Eindringen von Elbwasser in die Sammelbrunnen der Wasser¬ 
werke: die Bacterienarten des Leitungswassers stimmen überein mit 
denjenigen des Elbwassers. Damit ist aber auch die Möglichkeit ge¬ 
geben, das^ pathogene Keime ans der Elbe in das Leitungswasser ein- 
dringen. Meinert weist aus den Wochenberichten des statistischen 
Amtes der Stadt Dresden nach, dass nach den meisten Hochfluthen eine 
Zunahme der Kindersterblichkeit eintritt, die besonders durch Brech¬ 
durchfälle hervorgerufen wird. Auch bei älteren Kindern und Er¬ 
wachsenen zeigen sich Durchfälle in erhöhter Zahl. Diese Thatsachen 
haben den obengenannten Verein veranlasst, den Rath der Stadt Dresden 
um Abstellung der Missstände an den Wasserwerken zu ersuchen. 


Solbrig: Die hygienischen Anforderungen an ländliche Schalen. 

Nebst einem Anhang über die hygienischen Verhältnisse der länd¬ 
lichen Schulen aus 4 Kreisen des Reg.-Bez. Liegnitz. Frank¬ 
furt a. M. Johannes Alt. 1895. Preis 8 M. 

Die Dorfschulbygiene, die der Verf. im Eingänge des Büchleins 
giebt, kennzeichnet sich als eine klare, auch für Laien leicht verständ¬ 
liche Darstellung der wichtigsten hygienischen Anforderungen. Sie bringt 
nur Wohlbekanntes in schlichtem Gewände, ist aber mit Rüoksicht dar¬ 
auf, dass hygienische Kenntnisse bei unseren ländlichen Verwaltungo- 
und Schulbehörden gewöhnlich nur in sehr bescheidenem Maasse vor¬ 
handen sind, dankbar zu begrüssen. Nicht ohne Interesse sind ferner 
die Ergebnisse der Untersuchungen über Schulkrankheiten, die S. an 
906 Schulkindern im Alter von 6—14 Jahren angestellt hat. 1,2 pCL 
Knaben und 2 pCt. Mädchen litten an Ernährungsstörungen, 4,7 pCt. aller 
Kinder an Kopfschmerzen, 2,2 pCt. an Nasenbluten, 1 pCt. an Kyphose, 
1,4 pCt. an Skoliose, 4pCt an Myopie. Weitere Untersuchungsergebnisse 
hat S. dadurch erhalten, dass er Fragebogen an die Lehrer von 
248 Schulen der 4 Liegnitzer Kreise (Liegnitz. Hirschberg, Hoyers¬ 
werda, Grünberg) versandte, auf denen in ca. 100 Fragen die hygieni¬ 
schen Zustände der betreffenden Schulen behandelt wurden. Das werth- 
volle, so gesammelte Material lässt erkenpen, dass die Verhältnisse 
zwar nicht gerade ungünstig sind, aber doch noch weit hinter den An¬ 
forderungen Zurückbleiben, die in städtischen Schulen längst erfüllt sind. 
Am besten wird die Sachlage durch die Thatsache gekennzeichnet, dass 
der Luftraum in 17 pCt. der Schulen weniger als 2 cbm pro Kopf be¬ 
trug! Dabei sind natürlich Ventilationseinrichtungen höchst selten nod 
man kann sich daher nicht wundern, wenn in '/* der betreffenden 
Schulen Uber schlechte Luft geklagt wird. Nach dem Verhältnis» der 
FenBterglasfläcbe zur Bodenfläche haben 80 pCt. der Schulzimmer zu 
wenig Helligkeit. Im Ganzen darf man sagen, dass der Zustand der 
ländlichen Schulen des betreffenden Kreises zwar nicht als absolut un¬ 
gesund, aber doch auch mindestens nicht der Gesundheit förderlich zu 
bezeichnen ist. 

M. Hahn-München. 


VIL Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. 

Berliner medlcinlsche Gesellschaft. 

Sitzung vom 5. Mai 1897. 

(Schluss.) 

Discussion über den Vortrag des Heim Henbner: Ueber Säuglings- 
ernährung und Säuglingsspitäler. (Der Vortrag ist unter den Originalien 
dieser Nummer abgedmekt.) 

Hr. Hugo Neumann: Wir haben gehört, dass die Verpflegung von 
Säuglingen in Krankenhäusern vorläufig eine sehr undankbare und ge¬ 
fährliche Aufgabe ist, und wir dürfen annehmen, dass sie selbst trotz 
der eben geschilderten wesentlichen Verbesserungen nach wie vor ziem¬ 
lich gefährlich bleiben wird. Trotz der grössten Bemühungen sind die 
Kinder in den Krankenhäusern — bei uns ebenso wie in den Kliniken 
anderer bewährter Kinderärzte — einer erhöhten Mortalität durch den 
Krankenhausaufenthalt als solchen ausgesetzt. Ich meine, dass unter 
diesen Verhältnissen vor allen Dingen — nm auf unsere Berliner Ver¬ 
hältnisse einzugehen — möglichst wenig Kinder nach wie vor in ein 
Krankenhaus kommen, und diejenigen Kinder, welche gesund geworden 
sind, möglichst schnell wieder das Krankenhaus verlassen sollten. Es 
hat das Herr Heubner auch ins Werk zu setzen versucht, indem er 
Säuglinge von der Charitöabtheilung aus in eine glänzende Pflege, in 
welcher ein ganz ungewöhnlich hohes Pflegegeld gegeben wird, über¬ 
gehen lässt. Es sind das aber in der That nur verschwindend wenige 
Kinder, und es wäre der Sache nach meiner Meinung nur dann erfolg¬ 
reich näher zu treten, wenn die Pflege derjenigen Kinder, welche vor 
allen Dingen den Anspruch auf eine Krankenhausverpflegeng erbeben — 
das sind besonders die unehelichen Kinder — von vorn herein, also 
schon bevor sie der Krankenhausverpflegung bedürftig sind, in anderer 
Weise gehandhabt würde, als dies jetzt der Fall ist. Wenn man sich 
um die Verpflegung und die gesundheitlichen Verhältnisse der Halte¬ 
kinder dauernd bekümmern wollte und wenn die Krankenhauspflege nur 
einen Theil dieser allgemeinen Fürsorge darstellte — nur dann wäre es 
möglich, die Zahl der Kinder, welche eine Krankenhauspflege benöthigen, 
möglichst gering zu gestalten und andererseits die Kinder nach ihrer 
Genesung möglichst bald wieder in eine controlirte Aussenpflege über¬ 
zuführen. 

Jetzt kommen die Kinder aus den elendesten Verhältnissen in die 
Krankenhausbehandlung und, wenn sie etwa wieder entlassungsfähig 
werden, so verbrauchen die Verhandlungen betreffs der Uebernahme in 
Waisenpflege oder der Rückgabe in Haltepflege unter Umständen eine 
mehr oder weniger lange Reihe von Tagen, wahrend der nach meinen 
früheren Erfahrungen in der That das gesündeste Kind dem Kranken¬ 
hausvirus erliegen kann. Also es wäre unter allen Dingen die Forde¬ 
rung auffcustellen: Regelung der Haltekinderpflege! 

Natürlich ist die Zahl der armen ehelichen und unehelichen Kinder, 
welche nicht in Haltepfiege sind, und ebenfalls einen Anspruch auf 
Krankenhauspflege haben, eine viel grössere, aber die Haltekinder 
verdienen eine besondere Berücksichtigung, weil Bie eine 


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j&Mri jgg 7- _BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. _ 457 


kleine auserlesene Schaar darstellen, welche in hervorragendem 
Maasse der Krankheit und dem Tode ausgesetzt ist und weil 
sie einer behördlichen Fürsorge leicht und ohne zu grosse 
Kosten zugänglich gemacht werden können. Es ist ja zuzugeben, 
dass die Sterblichkeit auch der unehelichen ebenso wie der ehelichen 
Säuglinge in den letzten Jahren in Berlin abgenommen hat. Das ver¬ 
hindert aber nicht, dass die Sterblichkeit der ersteren trotzdem noch 
immer ungefähr doppelt so gross ist, als die der ehelichen. Wenn übri¬ 
gens Herr Heubner meint, dass vielleicht die Verbesserung in der Be¬ 
handlung der Milch in Berlin die kleine Besserung der Sterblichkeit im 
Säuglingsalter hervorgemfen hat, so glaube ich allerdings, dass wohl 
mindestens ebenso die Besserung der allgemeinen hygienischen Verhält¬ 
nisse, vor allen Dingen der baupolizeilichen und der marktpolizeilichen 
Verhältnisse, sowie der Wasserversorgung mitspielt, und ich glaube das 
um so eher, als sich die Besserung der Säuglingssterblichkeit nicht bloss 
in Berlin, sondern ziemlich allgemein in den grossen Städten während 
der letzten Jahre vollzogen hat. 

Wenn ich ähnliob, wie Herr Heubner, eine Krankenhauspfiege 
von Säuglingen für ein nothwendiges Uebel halte, so bleibt es doch nach 
wie vor eine Pflicht der Behörden, für die Kinder, welche nun einmal 
durchaus der Krankenbauspflege bedürftig sind, endlich in einer aus¬ 
reichenden Weise Aushülfe zu bringen, und da sind ja in der That die 
Verhältnisse in Berlin, wie 8ie wissen, ganz ausserordentlich ungünstig. 
Es sind offlciell nur 2 Krankenhäuser, welche die Säuglinge aufnehmen; 
thatsäcblich werden freilich Kinder unter besonderen Umständen auch 
noch in anderen Krankenhäusern anfgenommeu. So wurden im Jahre 
1895, bez. 1895/96 Säuglinge im Friedrichshain 114, in Moabit 85, im 
Urban 182, im Ganzen 281 verpflegt, und ausserdem im Kinderkranken¬ 
haus 600, eine bei weitem grössere Zahl, als in allen städtischen Kran¬ 
kenhäusern zusammen. Wie viel in der Charite aufgenommen worden 
sind, kann ich nicht Bagen. Es werden im Ganzen vielleicht gegen 
1000 Kinder sein, die im ganzen Jahr verpflegt sind, und diese Zahl 
würde durch Berücksichtigung anderer Krankenhäuser kaum wesentlich 
erhöht werden. Es kommt auf die genauere Zahl nicht sehr an, gegen¬ 
über der unbestreitbaren Zustände, dass häufig Kinder, welche unbedingt 
einer Krankenhausbehandlung bedürfen, abgewiesen werden. Mögen 
auch die Lebensaussichten im Fall der Aufnahme nicht gross sein, so 
verlangt doch die Humanität, dass man für eine ausreichende Verpfle¬ 
gung kranker Säuglinge Sorge trifft. 


Gesellschaft für Geburtshülfe und Gynäkologie zn Berlin. 

Sitzung vom 12. Februar 1897. 

Vorsitzender: Herr Martin. 

Schriftführer: Herr Winter. 

Hr. Martin widmet dem unlängst in Wiesbaden verstorbenen Geh. 
Sanitätsrath Dr.D ieste rweg warme Worte des Gedenkens. Diesterweg 
war seit dem Jahre 1849 Mitglied der Gesellschaft für Geburtshilfe und 
Gynäkologie und seit seiner Uebersiedelung nach Wiesbaden deren aus¬ 
wärtiges. 

Sodann gedenkt er in wehmütiger Verehrung des Todes von Sir 
Thomas Spencer Wells, der seit 1869 Ehrenmitglied der Gesellschaft 
für Geburtshilfe und Gynäkologie zu Berlin gewesen ist und der nicht 
nur durch seine weltbekannte Thätigkeit, sondern auch oft in persönlicher 
Beziehung anregend, belehrend und fördernd in der Gesellschaft ver¬ 
kehrt hat. 

Die Gesellschaft ehrt das Andenken der Beiden in der üblichen Weise. 

I. Discussion zum Vortrag des Herrn Gessner: Zur Physiologie 
der Nachgeburtsperiode. 

Hr. Glöckner hat im Jahre 1889 in dem Kreisssaale der Berliner 
Universitäts-Frauenklinik in 68 Fällen unmittelbar post partum Unter¬ 
suchungen über das 1. Stadium des Placentaraustrittes aus dem Corpus 
uteri vorgenommen und dabei in völliger Uebereinstimmung mit Herrn 
Dr. Gessner gefunden, dass die Nachgeburt weitaus am häufigsten mit 
vorangehendem „unteren Rande“ auf, in und durch den inneren Mutter¬ 
mund tritt. Ihre so überaus häufige Inversion erfolgt in der Regel erst 
unterhalb des inneren Muttermundes. Dieselbe wird hauptsächlich durch 
zu feste Adhärenz bezw. Kohärenz der kurzen Eihäute bedingt. Nur 
7 mal konnte mit Sicherheit nachgewiesen werden, dass sich die aus¬ 
tretende Nachgeburt in und durch den inneren Muttermund invertirte, 
d. h., dass nicht der „Rand“ durch den inneren Muttermund einfach herab¬ 
glitt, sondern mehr „central gelegene Placentarpartien“ sich zuerst in 
und durch den inneren Muttermund wölbten, also der Schultze’sche 
Austreibungsmechanismus stattfand. Im Uebrigen verweise ich auf meine 
diesbezügliche Veröffentlichung in der Zeitschrift für Geburtshilfe und 
Gynäkologie. 

Hr. P. Strassmann betont, dass man zwischen dem Austritt der 
Placenta aus dem Uterus und aus der Scheide zu unterscheiden 
habe. In der Scheide ändert sich die Lage des Kuchens gewiss öfter, 
da sie aus dem Uterus mit dem Rande, aus der Scheide meist mit der 
frontalen Fläche austrete. 

Dem „retroplacentaren“ Hämatom ist kein wesentlicher 
Einfluss auf den Austrittsmechanismus zuzuschreiben. Das Hämatom 
findet sich an verschiedenen Stellen je nach dem Placentarsitz. Es kann 
bisweilen in den Eihäuten vorangehen. 


Nach der Geburt ist zwischen Retraktion, dem Zusammenfallen 
des entleerten Uterus, und Kontraktion zu unterscheiden. 

8itz der Placenta und der Eihäute bestimmen die Austrittsart. 

Für die Ablösung der Placenta sind zwei Zeichen wichtig: 

1) Bei noch festhaftender Placenta fühlt man beim Aus- oder richtiger 
Abdrücken dasAbreissen der Kotyledonen deutlich, bei gelöster 
Placenta nicht. 

2) So lange die Placenta noch haftet, pflanzt sich ein leiser Druck 
mit dem Finger auf den Fundus als Fluktuationswelle bis in die 
Nabelvene fort (Nabelvenenphänomen). Das Zeichen klingt in 
10 —15 Minuten ab. Bei adhärenter Placenta ist es noch nach Stunden 
vorhanden. Besteht es deutlich, so stammt eine gleichzeitige Blutung 
nicht aus der Placentarstelle, sondern von einem Cervixriss: eben so ist 
vorausgehendes Hämatom bei Duncan'schem Mechanismus ausgeschlossen. 

Mit der Expression der Placenta ist aber auch nach dem Aufhören 
des Nabelvenenphänomen noch zu warten, bis der Kuchen tiefer ge¬ 
trieben ist. 

Hr. Czempin: Wenn Herr Gessner den Schultze’schen Modus 
der Lösung ganz negirt oder ihn für sehr selten hält gegenüber dem 
Duncan’schen, so reicht die theoretische Begründung des Herrn Gessner 
hierfür zur Beweisführung nicht aus. Es wäre nach den theoretischen 
Auseinandersetzungen und srlbst nach den angestellten Beobachtungen 
ja dann ein anderer Modus als der Duncan’sche überhaupt nicht mög¬ 
lich. Herr Glöckner hat die Sache wohl richtiger dargestellt, indem er 
auf die Art der Lösung weniger Werth legt als auf das Festhaften der 
kurzen Eihäute, durch welche physikalisch die Inversion erklärt wird. 

Man kann aber auch die Beobachtungen am Kreissbett allein ver- 
werthen, um rückwärts einen Schluss auf die Lösung der Placenta im 
Uteruskörper zu ziehen. Hierfür kommen 8 Momente in Betracht: das 
Tiefertreten der Nabelschnur, das Auftreten von Blutungen während der 
Nachgeburtswehen und der Sitz des Blutgerinnsels auf der Placenta. 
Das Tiefertreten der Nabelschnur kann durch eine unmittelbar nach 
Austritt des Kindes an der straff angezogenen Nabelschnur angebrachte 
Marke kontrollirt werden. Unmittelbar darauf sieht man in allen Fällen, in 
denen die Lösung nach Schul tze erfolgt, ein starkes Tiefertreten der 
Marke, ein Beweis der sofort nach der Ausstossung des Kindes eintretenden 
Lösung und des Tiefcrtretens des Centrums der Placenta. Dies schnelle 
Tiefertreten der Marke kann bei Fcsthaften der Hauptmasse und erst 
allmählicher Lösung der Randpartien nicht eintreten. Die Blutung während 
der Nachgeburtswehen wird stets als Zeichen der Lösung nach Duncan 
angesprochen; hier haften die Hauptmassen der Placenta, und das aus 
den unteren gelösten Randpartien fliessende Blut ergiesst sich hinter den 
kurzen Eihäuten nach aussen. Dann haften eben auch die kurzen Ei¬ 
häute nicht mehr und die nachträgliche Inversion, wie Herr Glöckner 
sie schilderte, kommt auch nicht mehr zu Stande. 

Das Blutgerinnsel, das fest aufgeheftet auf der Placenta sitzt und 
dadurch zu Stande kommt, dass das ergossene Blut nicht nach aussen 
abfliessen kann, zeigt ebenfalls klar den 8itz der ersten aufgetreteneu 
Lösung. Sitzt es auf der Hauptmasse der Nachgeburt fest, so erfolgte 
sicherlich Lösung und Austritt nach Schnitze, fehlt es, so erfolgte 
Lösung und Austritt nach Duncan. 

Die von Herrn Gessner betonte flache Gestalt des Uterus ist kein 
Dauerzustand. Wäre er es, so könnte ja niemals die Lösung der Pla¬ 
centa anders im Uterus erfolgen als nach Duncan und die Inversion 
käme dann stets erst ausserhalb des Uteruskörpers zu Stande. 

Herr Nagel ist ebenfalls der Ansicht, dass beide Lösungsvorgänge 
der Placenta Vorkommen und stimmt dem Herrn Vortr. darin bei, dass 
es hauptsächlich von dem Sitz der Placenta am Fundus oder an der 
Seiten wand des Uterus abhängig sei, ob sie sich nach Sch ul tze oder 
nach Duncan löse. 

Hr. Gessner dankt zunächst Herrn Glöckner für die ausführlichen 
Mitteilungen, die sich im Wesentlichen mit seinen Ausführungen decken. 
Dass die Insertion der Placenta und der Zeitpunkt ihrer Loslösung von 
Einfluss auf den Placentarmechanismus ist, wurde schon in dem Vortrage 
betont. 

Die Punkte, welche Herr Czempin hervorhob, Bind für. die Er¬ 
klärung der feineren Vorgänge des Placentaraustrittes nicht zu verwerten. 

Der Uterus ist in der Nachgeburtsperiode von vorn nach hinten ab¬ 
geplattet, er wird nur während der Nachwehen etwas rundlicher. Kugel¬ 
gestalt des Uterus zeigt immer eine grössere Blutansammlung im Uterus an. 

Ueber die Fluktuation in der Nabelschnur während der Nachgeburts¬ 
periode stehen G. keine eigenen Beobachtungen zur Verfügung. 

Wenn Gefrierdurchschnitte auch die Verhältnisse bei der Lebenden 
vielleicht nicht ganz wiedergeben, so werden sie uns doch immer bessere 
Aufschlüsse über diese Periode geben als alle klinischen Beobachtungen. 

II. Hr. Winter: Ueber Cystoskopie und Ureterenkathete- 
rismus beim Weibe. 

Die Cystoskopie beim Weibe ist bis jetzt von den Gynäkologen 
sehr vernalässigt worden, weil die Digitalaustastung der Blase in schweren 
Fällen für die Diagnose genügte; erst in letzter Zeit ist sie von einzelnen 
Autoren gepflegt worden. W. hat sich seit 2 Jahren eingehend mit der 
Cystoskopie und seit 1 Jahr mit dem Ureterenkatheterismus beschäftigt, 
und ist zu dem Resultat gekommen, dass diese Untersuchungsmethode 
nicht nur für Blasen- und Nierenerkranknngen bedeutungsvoll ist, sondern 
für die Gynäkologen besondere Wichtigkeit hat, weil sie bei manchen 
Genitalerkrankungen die Beziehungen zur Blase in bisher unbekannter 
Weise diagnosticiren lässt. 

Die Technik der Cystoskopie beim Weibe unterscheidet sich von 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Nö. 21. 


der beim Manne wesentlich dadurch, dass die Blase durch Anfüllung sich 
schwer zu einer Kugelgestalt ausrunden lässt; man muss desshalb mit 
dem Cystoskop in die seitlichen Taschen hineinleuchten. Diese Schwierig¬ 
keit steigert sich bei Tumoren, welche die Gestalt der Blase beeinflussen 
und den Blasenboden dislociren. Das Instrument, welches W. filr die 
Cystoskopie beim Weibe empfiehlt, ist das Nitze’sche Cystoskop I von 
ca. 21 cm Länge und 6,5 mm Dicke mit einem flach abgebogenen 
Schnabel. 

Von den Erkrankungen des Harnapparates beschreibt W. genauer 
die Schleimhautveränderungen beim Blasenkatarrh und hebt hervor, dass 
selbst bei ganz chronischen Zuständen, z. B. den gonorrhoischen, circum- 
scripte kapilläre Injektionen am Blasenboden sich fanden. 

Für die Diagnose der Fistel empfiehlt sich die Cystoskopie, ein¬ 
mal zum Nachweis kleiner Oeffhungen und der Bestimmung ihrer Lage 
zum Ureter, andererseits vor Allem zur Differentialdiagnose zwischen 
Ureter- und Blasenfistel. 

Die Diagnose der Nierenerkrankungen wird gefördert durch den 
direkten Nachweis von Blut- oder Eiteraustritt aus dem Ureter; dadurch 
kann die Diagnose auf palpatorisch noch nicht nachweisbare oder unsicher 
zu deutende Nierentumoren gesichert werden. 

Neu sind die Untersuchungen, welche sich auf die Beziehungen ge¬ 
wisser Genitalkrankheiten zur Blase richten, und sind in ähnlicher 
Weise bisher nur von Kolischer in Wien angestellt worden. Bei 
Lageveränderungen des Uterus lassen sich von der Blase aus die 
charakteristischen Gestaltsveränderungen unschwer erkennen. Bei Retro- 
positio uteri ist die Blase ziemlich ausgerundet: bei Retroflexio uteri ist 
der Blasenboden stark nach vorn gedrängt und die Ureterenmündungen 
seitlich verlagert; bei Prolapsen der Uebergang in die Cystocele deutlich 
erkennbar. 

Bei Untersuchungen von Schwangeren in den ersten Monaten fand 
W. Einstülpung der oberen Blasenwand in allen Graden durch das ver- 
grösserte Corpus uteri. in den meisten Fällen Btarke Injektion am Blasen¬ 
boden und in einzelnen Fällen Verdickungen des Ureterenwulstes. 

Achnliche Gestaltsveräaderungen beobachtet man bei Tumoren des 
Uterus nnd seiner Adnexe. 

Wichtigere Veränderungen treten auf, wenn die Blasenwand mit er¬ 
krankt, z. B. bei einem Exsudat, einer Pyosalpinx, oder wenn ein 
Carcinom sich von aussen der Blasenwand nähert. Bei Exsudaten und 
Pyosalpinxcn treten an dem Thcil der Blasenwand, welche mit diesen 
verlöthet sind, starke Faltungen, Verdickungen und ödematöse Bläschen¬ 
bildungen auf (bullöses Oedem). Solche Veränderungen gehen der Per¬ 
foration voraus; tritt dieselbe ein, so entleert sich Eiter durch eine dünne 
fistulöse Oeffnung. Bei Carcinomen sieht man ebenfalls Schwellung und 
starke Faltenbildungen an den Stellen, wo dasselbe die Blasenwand er¬ 
greift; Bläschenbildungen sind seltener. Cardnomknoten selbst treten 
sehr spät an der Blasenwand auf. W. beobachtete diese Veränderungen 
in der Blasemvand nur dann, wenn das primäre Carcinom in der vorderen 
Cervix- oder Vaginalwand sass; sie traten im Allgemeinen sehr spät auf 
bei Carcinomen, welche nicht mehr operabel waren. 

Für die Diagnose der Ausbreitung des Carcinoma auf die Blase hält 
W. die Cystoskopie im Hinblick auf diese Veränderungen für viel wich¬ 
tiger als die Palpation des Septum vesico-cervicale auf dem in die Blase 
eingeführten Katheter oder gar als Katarrh und Blasenbeschwerden. 
Letztere fanden sich in vielen Fällen nicht, wo schon die deutliche Ver¬ 
änderung der Blasen wand vorhanden war. 

Der Ureterenkatheterismus wird in Deutschland unter Zuhilfe¬ 
nahme der Cystoskope von Nitze oder Casper ausgeführt. W. hält 
diese Methode für einfacher als die direkte Endoskopie nach Howard 
Kelly undPawlik; er hat ausschliesslich das Casper'sche Instrument 
gebraucht und empfiehlt dasselbe. Die Technik des Katheterisirens ist 
fiir einen geübten Cystoskopiker einfach. 

Der Ureterenkatheterismus findet seine Anwendung: 

1) wenn das Sekret an der Niere besonders aufgefangen werden soll 
zur Diagnose einer Pyelitis oder zum Nachweis der Funktionsfähigkeit 
der anderen Niere, wenn die eine exstirpirt werden muss; 

2) als Sonde zur Prüfung der Durchgängigkeit des Ureters bei Steinen, 
Unterbindungen. Retentionstumoren der Niere und geschlossenem Ureter; 

3) zur Markirung des Ureters bei schweren Exstirpation des Uterus 
oder von Adnextumoren. 

(Der Vortag wird in der Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie 
veröffentlicht werden.) 

Die Discussiou wird vertagt. 


VIII. 26. Congress der Deutschen Gesellschaft 
für Chirurgie. 

Vom 2t.—24. April. 

Referent Eugen Cohn. 

III. Tag. 

(Fortsetzung.) 

Hr. Krönlein-Ziirich: Beiträge zur Kenntniss des Pha- 
rynxcarcinoms. 

Die Pharynxcarcinome gelten als ausserordentlich selten. Nach 
meinen Erfahrungen halte ich diese Anschauungen nicht für ganz richtig. 


Vielmehr sind sie wenigstens in Zürich und Umgegend nicht seltener 
als die Zungencarcinome. Dort habe ich 61 Pharynxcarcinome beob- 
achtet, 1 auf 15 Carcinome überhaupt. 

Die Anschauung von der Seltenheit der Pharynxcarcinome mag xum 
Theil darauf beruhen, dass man dieselben als inoperabel meist nicht zum 
Chirurgen schickt. Von den 61 Fällen betrafen 66 Männer. 5 Frauen. 

Es sind immer Plattenepithelkrebse. Die Localisation derselben 
war bisher wenig studirt. Dieselbe Ist aber von höchster Wichtigkeit 

Der Pharynx lässt sich in einen nasalen, oralen nnd laryngealen 
Theil eintheilen. Die vordere Grenäe des Oralthcils ist identisch mit 
der Begrenzungdes Isthmus faucium. Im laryngealen Theil existirt ein 
eigentlicher Hohlraum nicht. Diese Eintheilung lässt sich direct ver¬ 
wenden zur Eintheilung der Carcinome. 

Auf Grund meiner Beobachtungen sind die nasopharyngealen Risse 
ausserordentlich selten (2 von 6) und macheu besondere Symptome. Viel 
häufiger sind die orallaryngealen. Diese befinden sich fast sämmtlich im 
Sinus tonsillaris. Es ist schwer zu sagen, welches der eigentliche Aus¬ 
gangspunkt dieser Carcinome ist. 18 gingen von der seitlichen Pbarynx- 
wand aus, 10 vom Zungengrund, 2 vom Velum. Dieselben sind fast immer 
nnilateral. Doch kommen auch bilaterale vor, die wohl entweder ah 
Contactcarcinome zu betrachten sind, oder vom Velum sich nach beiden 
Seiten ausbreiteten. Der Verlauf dieser Krebse ohne Operation ist rapid, 
im Durchschnitt meiner Fälle nur 7 Monate. 

Die laryngo-pharyngealen sind gleichfalls sehr häufig. Ihr Sitz ist 
meist der 8inus pyriformis. Doch kommen auch im eigentlichen retro- 
laryngealen Raum welche vor. Diese sind meist circulär. Viel seltener 
sind Carcinome auf dem Rest der Hinterwand. 

Die Prädilectionsstellen entsprechen also genau dem Wege, den die 
Speisen nehmen, was für die Virchow'sche Anschauung, dass Insulte 
an der Aetiologie der Carcinome betheiligt sind, spricht. Auch die la¬ 
ryngealen Pharynxcarcinome haben rapiden Verlauf. 

Eine Radicaloperation der nasopharyngealen CarciBome ist noch nicht 
gemacht. Die Oropharyngealcarcinome sind die am meisten operirten. Am 
häufigsten dazu angewandt ist wohl die temporäre Resection des Unter¬ 
kiefers nach v. Langenbeck. 

Vortragender hat 15 Fälle operirt. Davon sind 10 an Recidiven 
gestorben, durchschnittlich 15 Monate nach Beginn der Erscheinungen. 

Ein Patient bekam 7 Jahre nach der Operation ein Carcinom auf 
der anderen Seite, das wohl als zweites primäres zu betrachten ist und 
dem er erlag. Zwei leben noch, der eine mit Recidiv. 

Bei laryngopharyngealen Carcinomen macht K. die Pharyngotomia 
lateralis subhyoidea. Der Schnitt beginnt am vorderen Rand des Sterno- 
cleido mastoideus und geht lanzenförmig nach vorn unter das Zungenbein, 
darf aber die Mittellinie nicht überschreiten. Dieser Schnitt liefert 
eine ausserordentlich, günstige Uebersicht. 

Von 8 so operirten Fällen starben 6 an der Operation, einer an 
Recidiv. Einer lebt noch heute nnd ist gesund. 

Von 61 Pharyngealcarcinomen konnten nur 29 überhaupt operirt 
werden. 11 starben an der Operation, 2 wurden geheilt. Alle anderen 
starben an Recidiven. Der Lebensgewinn im Vergleich mit den Nicht- 
operirten betrug 7 Monate. 

Die Operation des Pharynxcarcinoma ist demnach eine berechtigte 
Operation. 

D i s c u s s i o n. 

Hr. Küster hat einmal eine circuläre Pharynxresection gemacht. 
Danach trat eine schwere Stenose auf, die jede Ernährung unmöglich 
machte. Daher warne ich vor derartigen Operationen. Zur Vermeidung 
von 8chluckpneumonien empfiehlt sich die Tamponade des Kehlkopfs. 

Hr. Franke-Braunschweig demonstrirt einen durch Ueberpflanzung 
der Sehne des Tibialis anticus geheilten Fall von spinaler Kinder¬ 
lähmung bez. paralytischem Klumpfuss. Der Knabe läuft ohne 
Beschwerden, springt umher und rennt selbst Treppen hinunter ohne za 
stolpern. Auch in einem Falle von Radialislähmung wandte er die Sebnen- 
überpflanzung an. 

Hr. Jordan-Heidelberg: Ueber Lupus der Hände und Lympb- 
angitistuberculosa. J. berichtet über 4 von ihm beobachtete Fälle, 
wo bei einem Lupusgeschwür der Haut sich nach einigen Wochen Knoten 
am Vorder- und Oberarm entwickelten, die abscedirten. Es ergab sich 
aus dem Befund von Tuberkelbacillen im Abscesseiter, dass die Abscesse 
lymphangitischer Natur und als Producte der Tuberkelbacillen angesehen 
werden mussten. In der Literatur Hessen sich nur 13 Fälle von Tuber¬ 
kulose der Lymphgefässe finden. Danach müsste dieselbe recht selten 
sein. Dies kann daran liegen, dass entweder die Lymphgefässe gegen 
die Tuberkelbacillen besonders widerstandsfähig sind, oder dass ihr Be¬ 
fallensein von Tuberkulose sich dem Nachweis entzieht. Das Letztere 
ist wohl anzunehmen. Wir können nur oberflächliche Lymphangitiden 
nachweisen, zu ihrem Zustandekommen ist aber ein oberflächlicher Herd 
nöthig. Der Lupus ist jedoch an den Extremitäten selten, von 424 Lupus- 
fällen waren nur 24 ein Lupus des Fusses oder der Hand. Von seinen 
4 Patienten waren 2 Cigarrenarbeiter, einer Beschäftigung, bei der er¬ 
fahren gsgemäss viel Tuberkulose vorkommt, so dass dem Vortragenden 
die Erkrankung als eine Contactinfcction, eine Impftuberkulose erscheint. 

IV. Tag. 

Hr. Partsch-Breslau: Zum Ersatz des Unterkiefers nach 
Resectionen hat man unmittelbar nach der Operation Prothesen ein¬ 
zusetzen versucht. In Deutschland hat dies Verfahren keinen Anklang 
gefunden. Ein Nachtheil derselben war der Zwang, sich gleich beimOperiren 


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24. Mail???* BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 459 


nach dem Zahnarzt zu richten. Um auf die Mitwirkung desselben gleich 
bei der Operation nicht angewiesen zu sein, habe ich unmittelbar vor 
der Resection zwei Löcher in den Kiefer gebohrt und nach der Resec- 
tion ein Aluminium-Bronee-Schiene in diesen befestigt. Anfangs habe ich 
die Mundschleimhaut darüber vernäht, in einem zweiten Fall die Schiene 
gleich in den Mund gelegt. Dieselbe stört den Wundverlauf- in keiner 
Weise. Man kann die Schiene von beliebiger Grösse, wie es ira ein¬ 
zelnen Fall nöthig scheint, wählen. Ueber diese Schiene wird dann 
später die eigentliche Prothese gearbeitet. 

Vortragender stellt einen Kranken, der aut diese Weise operirt ist, vor. 

Hr. Prutz-Königsberg: Ueber Versuche zum Ersatz des 
Sphincter ani nach dem Gersuny'schen Princip. Ein sehr stö¬ 
rendes Symptom nach Amputatio recti ist die Incontinentia alvi. 

Um den verloren gegangenen Sphincter zu ersetzen, bat man zwei 
Methoden versucht: 1. durch Drehung oder Knickung des Darms einen 
Widerstand für den Koth zu schaffen; 2. durch Durchführung durch eine 
Muskellücke den Sphincter zu ersetzen. 

Am häufigsten ist nach Gersuny operirt worden. Dieses Verfahren 
ist methodisch in der Ei sei aber gesehen Klinik angewandt worden. 

Nach Wegnahme des Steissbeins und möglichst kleiner Theile des 
Kreuzbeins muss der Darm 1—2 cm unter dem Kreuzbein stumpf herab¬ 
gezogen, dann 120—270° gedreht, bis der Verschluss für den Finger 
deutlich fühlbar ist, dann wird in zwei Etagen mit Seide genäht. Da¬ 
nach sind die Kranken gewöhnlich gleich continent. 

Zuweilen entwickelt Bich ein kleiner Vorfall. Absolute Continenz 
ist nicht in allen Fällen erzielt Auch wenn die Kranken continent 
waren, haben wir eine Pelotte gegeben. Es wurde primär in 6 Fällen 
diese Drehung angelegt. Sehr wichtig ist das Verfahren, wenn nach der 
ReBection eine Fistelbleibt. Diese secundäre Drehung ist zweimal ge¬ 
macht worden. 

Hr. Riedel hat einen grossen bogenförmigen Schnitt um die hintere 
Peripherie des Anus gemacht, darauf retrahirte sich der Darm bedeutend 
nach oben. Die klaffende Wundfläche überhäutete sich und das functio¬ 
neile Resultat ist sehr gut. 

Ilr. Rehn-Frankfurt bat gleichfalls mehrmals mit Erfolg nach Ger¬ 
suny operirt. Einmal hat er den Levator ani mit zum Sphincter-Ersatz 
benutzt. 

Hr. Gersuny-Wien hebt als Nachtheil seines Verfahrens hervor, 
dass das Rectum zuweilen nicht an der gewünschten Stelle einheilt, son¬ 
dern sich retrahirt. Trotzdem sah er einmal die Drehung erhalten. Dies 
brachte Gersuny auf den Gedapken, die Drehung des Darms durch 
oberflächliche Nähte zu fixiren. 

Hr. Franke hat das Verfahren nach Resection eines syphilitischen 
Mastdarms mit gutem Erfolge verwandt. 

Hr. Küster-Marburg empfiehlt bei Lösung der circulären Naht die 
Becundäre Silbernaht 

Hr. Posner und Hr. Frank: Blasen infection durch Katheter. 
Um festzusttllen, welche Gefahr einer Blase direct durch Einführung schon 
gebrauchter und nur, wie vielfach in der Praxis üblich, mechanisch ge¬ 
reinigter Katheter droht, haben Posner und Frank eine Reihe von 
Untersuchungen augestcllt. Entgegen früheren Versuchen, die Infectio- 
sität vorwiegend künstlich inficirter Katheter vor und nach der Sterilisation 
festzustellen, entsprechen die Versuche genau den Verhältnissen der Praxis. 
Es wurden bei Cystitikern gebrauchte Katheter untersucht, die aber nach 
den allgemein üblichen Grundsätzen mechanischer Säuberung, wie Abreiben 
und Durchspülen mit 3proc. Carbolwasser u. s. w. sorgfältig behandelt 
waren. Zwischen dem letzten Gebrauch nnd der Untersuchung lag stets 
ein längerer Zwischenraum bis zu 14 Tagen. In einer grossen Anzahl 
von Fällen gelang es identisch ans dem betreffenden Urin und dem Ka¬ 
theter virulentes Bacterinm coli zu züchten. Vorversuche an ungebrauchten 
Kathetern ergaben in Analogie früherer Arbeiten nur das Vorhandensein 
harmloser Luftkeime, niemals wurden specifiscbe Entzündungserreger ge¬ 
funden. Aus den Untersuchungen folgern die Verf. die Forderung exakter 
Sterilisation der Katheter, da die mechanische Reinigung allein keine 
genügende Sicherheit bietet. 

Hr. Kntner-Berlin: Das zur Sterilisation empfohlene Formalin ist 
entschieden überschätzt. Lange Dauer ist zur Wirkung nothwendig. 
Längeres Aufheben der Instrumente in Formalin schädigt dagegen die 
Instrumente, sowohl metallische wie elastische. 

Hr. Kuttn er-Tübingen: Ueber die Ly mph gefässe der 
Zunge mit Beziehung auf die Verbreitungswege des Zungen- 
carcinoms. Die Verbesserungen der Resultate bei Operationen der 
Mammacarcinorae beruht auf der Verfolgung der Lymphbahnen, auf denen 
die Ausbreitung erfolgt. Deshalb ist die Verfolgung dieser Bahnen 
auch für andere Organe versprechend. Ich habe davon ausgehend zuerst 
die Lymphbahnen der Zunge nach dem Swoboda’sehen Verfahren unter¬ 
sucht. Die Lymphe einer Zungenhälfte fliesst nach beiden Seiten ab. 
Die Lympbgefässe bilden anf der Oberfläche ein Netzwerk, überschreiten 
die 8eitenwände senkrecht und bilden wiederum ein Netzwerk. Die 
Lymphbahnen verlaufen zu den tiefen cervicalcn und submaxillaren 
Drüsen, zum Theil aber auch direkt zu Drüsen, die tief am Hals, dicht 
über dem Sternum gelegen sind. Vom hinteren Zungentheil verlaufen 
sie zu den, in der Umgebung der Carotis gelegenen Lymphdrüsen. 

Die Hauptlymphdrüsen der Zunge sind also die submaxillaren nnd 
tiefen cervicalen. Von diesen Drüsen kann natürlich die Infection 
weitergehen. Wir müssen daher die Forderung aufstellen, bei jedem 
Zungencarcinom methodisch die Drüsen auszuräumen und zwar beiderseits. 

Ilr. Heidenhain: Die Bösartigkeit der Zungencarcinome scheint 


meist darauf zu beruhen, dass die Zungencontractionen die infleirenden 
Substanzen in die Lymphbahnen wieder befördern. 

Hr. Riedel-Jena berichtet über ein Kind mit congenitalem 
Kiemengangsfistel, das von Geburt an sehr häufige Anfälle von 
Erbrechen und Fieber zeigte. 

Als es etwa 3 Jahre war, klagte es über sein Ohr. Nach 4 tägigem 
Fieber gingen die Erscheinungen vorüber. Nach '/i «Jahr trat Anschwel¬ 
lung am Kieferwinkel ein. Bei der Operation traf man von der Fistel 
aus in einen tiefen Sack; derselbe wurde soweit als möglich exstirpirt 
und festgestellt, dass sich der Gang bis tief ins Mittelohr erstreckte. 
Nach der Operation wurde das Kind von seinen eigenartigen Anfällen 
vollkommen befreit. 

Dann stellt Herr Riedel einen Kranken mit eisenharter Ge¬ 
schwulst in der Schilddrüse vor. 

Dieselbe war innerhalb 8 Wochen entstanden. Die Radicaloperation 
war nicht möglich, es wurde ein Stück excidirt. Nach einiger Zeit kam 
Patient mit gleich grosser Anschwellung und sehr starker Dyspnoe. 
Durch eine zweite Operation wurde die Umgebung der Trachea frei¬ 
gelegt. Die Dyspnoe wurde gehoben, die Geschwulst ist seitdem kleiner 
geworden. Es kann sich also nicht um einen Tumor, sondern nur um 
eine Entzündung handeln. 

Hr. Gurlt macht Mittheilungen über die von der Gesellschaft ver¬ 
anstaltete Narkosen-Statistik, die diesmal zwei Jahre umfasst. Es 
sind im Jahre 1895/96 29 596 und im Jahre 1896/97 23 173 Fälle be¬ 
richtet. Davon sind 27 025 Chloroform-Narkosen mit 29 Todesfällen und 
19 856 Aether-Narkosen mit 3 Todesfällen. 996 Narkosen mit Billroth- 
scher Mischung, 4927 mit Aether und Chloroform, und 1489 mit Brom¬ 
äther hatten keinen Todesfall aufzuweisen. Die Verhältnisszahlen sind 
für Chloroform 1 Tod : 2039 Narkosen, Aether 1 : 5090, Billroth 
1 : 3807, Bromacethyl 1 : 5228, Aether und Chloroform 1 : 7594, Pental 
1 : 218. Das letztere Narkoticum findet sich in den Berichten der 
letzten Jahre nicht mehr, scheint daher endgültig aufgegeben zu sein. 
In den einzelnen Berichtsjahren schwankt die Mortalität beim Chloroform 
zwischen 1 : 1100 und 1 : 4200. Beim Aether zwischen 1 : 2300 und 
1 : 6700. In den ersten 3 Berichtsjahren hatte Aether überhaupt keinen 
Todesfall. Die Statistik umfasst jetzt im Ganzen 327 500 Narkosen mit 
134 Todesfällen, also 1 : 2444. Nach Chloroform sind mehrere Fälle 
von Pneumonie und parenchymatöser Nephritis beobachtet. Nach Aether 
sind mehrfach Exantheme aufgetreten. 

(Schluss folgt.) 

IX. Praktische Notizen. 

•iagustisehes «d Casaislik. 

Ueber hereditäre Schrumpfniere im frühen Kindesalter, ein sehr 
seltenes Vorkommniss, berichtet Hellendall im Archiv für Kinderheil¬ 
kunde (Bd. 22, Heft 1 und 2). Die Mutter der beiden Mädchen, bei 
welchen diese Affection beobachtet ist, leidet, wie die klinischen Sym¬ 
ptome zweifellos darthun, seit Jahren an chronischer Nephritis. Bei 
ihren Kindern ist nach dem Ergebniss der Section die Nierenaffection 
eine beiderseitige. Bemerkenswerth ist, dass in der linken Niere des 
einen Kindes kleine Chondrome gefunden werden. Aus dem hohen Grade 
der Schrumpfung der Nieren schliesst Vsrfasser, dass bei der Jugend der 
Kinder bereits im Fötalleben der Process begonnen habe. Syphilis als 
ätiologisches Moment ist mit Sicherheit auszuschliessen. 

Fischer berichtet (Münchener Medicinische Wochenschrift No. 19, 
1897) von einem glücklich abgelaufenen Fall von Melaena neona¬ 
torum. Die Aetiologie ist, wie so häufig, auch in diesem Fall nicht 
sicher zu stellen, doch glaubt Verfasser dieselbe auf eine angeborene 
transitorische Hämophilie zurückführen zu können, da die Mutter von 
Jeher eine grosse Neigung zu Blutungen gehabt haben soll. Als direkte 
Ursache des Auftretens der Blutungen bei Melaena neonatorum muss stets 
einer wenn auch kleinen Erhöhung des Blutdrucks gedacht werden. Dass 
auch eine zu späte Abnabelung eine solche zu erzeugen im Stande ist, 
führt Verf. des Näheren aus. Die von ihm eingeschlagene Therapie war 
folgende: Einige Löffel Kamillenthee als Analepticum, kalte Umschläge 
auf den Leib, Liq. ferri sesquichlor 0,5, Mucilag. Salep. 100,0 einstiind- 
stündlich ein Kaffeelöffel voll. 


Im Archiv für Dermatologie und Syphilis (Bd. 39, Heft 1) giebt 
Bloch eine Zusammenstellung der von 1880 — 1895 in der dermatologi¬ 
schen Universitätsklinik zu Prag beobachteten Fälle extragenitaler 
syphilitischer Infection. Im Ganzen wnrden 93 extragenitale Primär- 
affecte gesehen d. h. bei 4,1 pCt. aller behandelten Patienten. Die Frauen 
betheiligen sich an der extragenitalen Infection mit einer verhältnissmässig 
grösseren Zahl als die Männer. Der Sitz der Primäraffecte war: An 
den Lippen, an der Zungenspitze, an den Tonsillen, an der Bindehaut 
der Augenlider, an der Wange, am Nasenflügel, am Kinn, an der Mamma, 
an den Fingern, am Abdomen, am Perineum, am Mons Veneris. Am 
häufigsten ist die Infection per os, ihr folgt die Infection durch Stillen 
an der Brust. Mehrmals geschah die Infection durch den gemeinsamen 
Gebrauch von Essgeschirren, Waschgefässen, Handtüchern u. dgl. Der 
Verlauf der extragenital erworbenen Syphilis ist meist ein etwas längerer 
und schwererer. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 21. 


400 


In 12 Füllen von Pest fand Childe (British medical Journal, 
15. Mai 1*97) nach dem Tode fast ausschliesslich die Lungen befallen, 
in welchen enorme Mengen von Mengen von Pestbacillen nachgewiesen 
wurden, während sie in den Lymphdrüsen in nur sehr geringer Menge 
vorhanden waren. Diese Fälle sind sehr infectiös, weil das Sputum 
wahre Reinculturen von Pestbacillen enthält. Bei einem an dieser 
Affection leidenden Patienten wurde eine einfache Pneumonie diagnosti- 
cirt und damit Gelegenheit au einer uneingeschränkten Verbreitung der 
Seuche gegeben. 


Therapeutisches und lutuileatluueu. 

Llnossier und Lanois (Bulletin gäneral de Thßrapeutique 1897, 
lieft 9) kommen nach zahlreichen an Kranken angestellten Versuchen 
zu dem Ergebniss, dass die Resorption von Jod, das in Form der 
Tinctura jodi auf die Haut gepinselt ist, nur in geringen und schwan¬ 
kenden Mengen statthat. Jodoform und Jodäthyl werden dagegen von 
der gesunden Haut in grösserer Menge aufgenommen. Letzteres würde 
sich eventuell zur Anwendung empfehlen, wo man beabsichtigt, grössere 
Mengen Jod dem Organismus zuzuführen. 


An einem Eczema universale acutum erkrankte eine Frau, 
deren Mann eine mit Jodoformgaze verbundene Wunde hatte. Die 
Krankheit dauerte 4 Wochen, obwohl der Mann alsbald nach Aufbruch 
des Ekzems das Haus verliess. Bereits dreimal in ihrem Leben hatte 
die Patientin ein Jodoformekzem gehabt, darunter einmal als bei ihrer 
Tochter dieses Mittel angewendet wurde. (Dressler’s Therapeutische 
Monatshefte 1897, No. 5.) _ 


Seitdem das Sublimat in der bequemen Form der Pastillen in den 
Handel gekommen, mehren sich die Vergiftungsfälle mit dieser 
Substanz. Mogele beschreibt im Correspondenzblatt des Württembergi- 
schen ärztlichen Landesvereins (1897, No. 9) einen typisch verlaufenen 
Fall mit tödtlichem Ausgang. Pat. hatte in selbstmörderischer Absicht 
eine Sublimatpastille verschluckt. Die Section zeigte die bekannten 
klassischen Veränderungen bei Sublimatintoxication: eine heftige acute 
hämorrhagische und nekrotisch-diphtherische Entzündung des Dickdarras 
und nekrotische Herde im Bereich des Epithels der gewundenen Harn¬ 
kanälchen und Kalkinfarete der Niere. Unter den Vorkehningsmaass- 
regeln zur Prophylaxe der Sublimatvergiftungen verdient besonders die 
hervorgehoben zu werden, welche für die einzelnen Pastillen gesonderte 
schwarze Umhüllungen mit der Giftmarke anordnet. 


Als Unterstützungsmittel bei den bewährten Diätcuren gegen Hyper¬ 
acidität des Magensaftes und als Ersatz für die bisherige Therapie, die 
direkte Einführung von Alkalien in den Mageu, empfiehlt Wagner 
(Therapeutische Monatshefte 1897, No. 5) die Bergmann'schen 
Magenkautabletten, welche kleine Mengen von Magnesia ammonio- 
phosphorica und Magnesia usta enthalten. Durch das Kauen derselben 
wird der Speichel stark alkalisch und bindet so heruntergeschluckt die 
übermässige Säure des Magensaftes. Geringe Mengen von Radix Calami 
und Radix gingiberis in diesen Tabletten erhöhen gleichzeitig die Menge 
des 8peichels. H—d. 


X. Tagesgeschichtliche Notizen. 

Berlin. In der Sitzung der Berliner medicin. Gesellschaft 
am 19. d. M. machte Herr Virchow einige weitere Mittheilungen in 
Betreff deB Moskauer Congrcsses; es folgte die Discussion über Herrn 
Heubner’s Vortrag, an welchen die Herren A. Baginsky, Ritter, 
Kalischer, N. Auerbach, Moses und der Vortragende tlicilnahmen. 
Schliesslich hielt Herr Greeff den angekündigten Vortrag über Gliome 
und Pseudogliome der Retina. Die Discussion wurde vertagt. 

— In der Sitzung der Gesellschaft der Charite-Aerzte vom 
19. d. M. demonstrirt Herr Biek vor der Tagesordnung eine Reihe von 
Patienten aus der Lesser’sehen Klinik mit extragenitalem syphilitischem 
Primäraffect und bespricht im Anschluss daran die Diagnose und die 
Therapie dieser Erkrankung. Darauf schloss Herr Senator seinen ange¬ 
fangenen Vortrag über Klimatotherapie. Ferner bespricht Herr Jacob 
die in der Poliklinik der I. medicinischen Klinik von ihm beobachteten 
Erfolge bei der Lungentuberculose. Discussion: Herr Burckhart. 
Schlusswort: Herr Jacob. 

— Herr Dr. Strauss, Assistenzarzt der III. med. Klinik, hat seine 
Antrittsvorlesung als I’rivatdocent an hiesiger Universität gehalten. 

— Wie seitens des russischen Organisationscomite's für den 
Moskauer Congress mitgetlieilt wird, bezieht sich die Erlaubnis freier 
Reise in Russland nicht blos auf Rückkehr zur gleichen Grenzstation, viel¬ 
mehr kann eine mehrere russische Städte umfassende Tour gemacht werden. 
Ein Wohnungscomitc ist in Moskau in Thätigkeit, es sollen 8000 Zimmer 
(im Preise von 3—10 Frcs. pro Tag incl. I. Frühstück) bercitstehen; 
für deutsche Aerzte wird es sich wohl empfehlen, die Vermittelung des 


Reisebureaus von Carl Stangen, Berlin W., Mohrenstrasse 10, in Ansprach 
zu nehmen, welches durch einen Vertreter in Moskau passende Wohnung 
besorgt; dasselbe wird auch zweckmässige Reisepläne mit Kostenberech¬ 
nung aufstellen, die Billets besorgen u. s. w. Für die Damen der Mit¬ 
glieder, die keiner besonderen Karten bedürfen, ist ein specielles 
Damencomitö in Moskau in Thätigkeit. 

— Um die Verhandlungen der Commission zur Vorberathung 
der Medicinal-Reform webt sich allmählich ein förmlicher Sagen¬ 
kreis: jede „wohlinforrairte“ Zeitung hat einen anderen Eindruck em¬ 
pfangen, und während von der einen Seite eine abermalige Vertagung 
der ganzen Frage in Aussicht gestellt wird, herrscht auf der anderen 
ein entschiedenes Vertrauen in ein befriedigendes Ergebniss der ange¬ 
bahnten Schritte. Uns Interessirt ln der ganzen Angelegenheit zunächst 
nur ein Punkt: besteht allerseits der feste Wille, entsprechend dem ur¬ 
sprünglichen Regierungsvorschlag, eine gründliche Neuregelung des 
öffentlichen Gesundheitswesens, aufgebaut auf Organen der 
Selbstverwaltung, überwacht durch selbstständige ärztliche Beamte, vor¬ 
zunehmen? Ueber Einzelheiten in der Abgrenzung der Stellungen und 
Befugnisse der einzelnen Gesundheitsräthe wie auch des Kreisarztes wird 
sich reden lassen; dieser Schwerpunkt der Frage sollte nicht verschoben 
werden. Wir wiederholen unseren neulich schon ausgesprochenen Wunsch 
nach möglichst eingehender Veröffentlichung der gepflogenen Verhand¬ 
lungen, damit Aerzte und Publikum übersehen können, wo die Freunde 
dieser Bestrebungen sind und mit was für Gegenströmungen etwa sie zu 
kämpfen haben! 


XI. Amtliche Mittheilungen. 

Personal!». 

Auszeichnungen: Prädikat als Professor: den Privatdocenten 
Dr. Wolters in Bonn, Dr. Zumstein in Marburg. 

Niederlassungen: die Aerzte Dr. Koenig in Aldenhoven, Dr. 
Pfeiffer in Breslau, Dr. Laubinger in Kiel, Dr. Mummelthey 
in Cumlosen, Dr. Brandes iu Liebenwalde, Dr. Scbroeter in Wubl- 
garten, Dr. Schindler in Greiffenberg N.-M. 

Verzogen sind: die Aerzte Dr. Balthasar von Brannenburg (Bayern) 
nach Rathenow, Dr. Engfer von Feldberg nach Meyenburg, Dr. 
Wankel von Meyenburg nach Rixdorf, Tscheutscher von Lieben¬ 
walde nach Wilster (Holstein), Dr. Däubler von Tegel nach Berlin, 
Blaauw von Rixdorf nach Golzow, Dr. Zschirndt von Erlangen 
nach Wittenberge, Dr. Loevinsohn von Posen nach Charlotten bürg, 
Schieritz von Posen nach Nakel, Dr. Gerhardt von Owinsk nach 
Seligenstadt (Hessen), Dr. Studentkowski von Sulmierzyce nach 
Zduny, Dr. Pollak von Reichenbach nach Sulmierzyce, Dr. Tschent- 
scher von Liebenwalde nach Wilster, Dr. KUnkler von Ingenheim 
(Bayern) nach Kiel, Kleider von Tondem nach Scherrebek, Dr. Esser 
von Altona, Bargum von Hamburg nach Altona, Dr. Wiedemann 
nach Hasselfelde, Dr. Proskauer von Breslau nach Amerika, Dr. 
Strauss von Oels nach Graudenz, Dr. IIaase von Schönewalde nach 
Camenz, Dr. Koester von Halle a. S. nach Leipzig, Dr. Schwenke 
von Braunschweig nach Halle a. 8., Dr. Münnicb von Pfreind (Ober¬ 
pfalz) nach Schönewalde, Dr. Claessen von Aachen nach Berlin, 
Dr. Sebbel von Aachen, Dr. Koch von Bonn nach Aachen, Dr. 
Longinus von Blumenthal nach Wien, Dr. Gottlieb von Issum 
nach Blumenthal, Dr. Mauck von Aldenhoven, Dr. Schaule von 
Rendsburg (Oberbayern) nach Ostrach, Dr. May von Wiemelhausen 
nach Herne, Dr. Bode von Wiemelhausen nach Frankfurt a. M., Dr. 
Krabbel von Herne nach Rheydt, Dr. Richter von Hamm nach Berlin. 

Gestorben sind: die Aerzte Dr. Bergbaus in Koenigsteele, Dr. 
Dähne, Dr. Grethe und Dr. Holländer Professor in Halle a. 8., 
San.-Rath Dr. Skutsch in Breslau, Dr. Meyer in Schönwalde, Ober- 
Stabsarzt a. D. Dr. Niemeier in Posen, Kreiswundarzt Dr. Schu¬ 
mann in Beeskow. 


Bekanntmachungen. 

Die Stelle des Kreisphysikus des Kreises Templin ist durch Ableben 
erledigt. 

Mit derselben ist ausBer dem Gehalte von 900 M. eine Stellen¬ 
zulage von G00 M. verbunden. 

Bewerber wollen sich, unter Vorlegung ihrer Zeugnisse und eines 
Lebenslaufes, binnen 4 Wochen bei mir melden. 

Potsdam, den 1. Mai 1897. 

Der Königl. Regierungs-Präsident. 


Die mit einem etatsmässigen Gehalt von 900 M. und mit einer Stellen¬ 
zulage von 300 M. jährlich verbundene Kreisphysikatsstelle des Kreises 
Rheinbach ist erledigt. Bewerber wollen sich unter Beifügung eines 
Lebenslaufes und der Qualiflcations-Atteste bis zum 15. Juni d. J. schrift¬ 
lich bei mir melden. 

Köln, den 10. Mai 1897. 

Der Regierungs-Präsident. 


Für die Redactlon Terantwortlich Geh. Ued.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald, LüUowplata 5. 


Verlag und Eigenthum von August Hirschwald in Berlin. — Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin. 


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01« Btvtton Wochenschrift erscheint Jeden 

Monug In der ®“*M ron 3 bis 2 Bogen gr. 4. - 
Preis viertel)»* 1 " 1 ®' 1 6 Mark. Bestellungen nehmen 
alle Buchhsndlungen und Postanstalten an. 


BERLINER 


Einsendungen wolle man portofrei an die Redactlon 
(W. Lfitzowplats No. 2 ptr.) oder an die Verlags¬ 
buchhandlung von August Hirschwald in Berlin 
N.W. Unter den Linden No. 68, adressiren. 


KLINISCHE WOCHENSCHEHT. 


Organ für practische Aerzte. 


Mit Berücksichtigung der preussischen Medicinalverwaltung und Medicinalgesetzgebung 

nach amtlichen Hittheilungen. 

Redaction: Expedition: 

Geh. Med.-Ralh Prof. Dr. C. A. Ewald und Prof. Dr. C. Posner. August Hirschwald, Verlagsbuchhandlung io Berlin. 


Montag, den 31. Mai 1897. 


M 22. 


Vierunddreissigster Jahrgang. 


INHALT. 


I. Aus der Univereitäts-Augenklinik in Brcslan. W. Uhthoff: Ein 
Beitrag zu den Sehstörungen bei Zwergwuchs und Riesenwuchs 
resp. Akromegalie. 

II. Aus der psychiatrischen Klinik zu Strassbnrg i. E. A. Ho che: 
lieber die Luftdruckerkrankungen de« Centralnervensystems. 

III. Kempner und von Fragstein: Beitrag zur Casnistik der Hirn¬ 
tumoren mit Sectionsbefund. 

IV. Aua der inneren Abtheilung des Herrn Geheimrath Ewald am 
Augusta-IIospital in Berlin. Leop. Knttner und Dyer: Ueber 
Gastroptose. (Schluss.) 

V. Kritiken und Referate. Gradcnigo: Manifestationen der 
Hysterie am Gehörorgan; Politzer: Atlas der Beleuchtnngsbilder 
des Trommelfells. (Ref. Schwabach.) 


I. Aus der Universitäts-Augenklinik in Breslau. 

Ein Beitrag zu den Sehstörungen bei Zwerg¬ 
wuchs und Riesenwuchs resp. Akromegalie. 

Von 

Prof. W. Uüthoff. 

Im Verlaufe des letzten Jahres habe ich Gelegenheit ge¬ 
habt in Bezug auf Sehstürungen in Zusammenhang mit Wachs¬ 
thumsanomalien des Körpers einige, wie ich glaube, sehr be- 
merkenswerthe Beobachtungen zu machen. Allgemein anerkannt 
und in ihrer diagnostischen Bedeutung gewürdigt sind ja seit 
der genaueren Präcisirung des Krankheitsbildes der sogenannten 
Akromegalie durch Pierre Marie 188G („Sur deux cas d'aero- 
m^galie hypertrophie singuliere non congenitale des extreraites 
superieures, inferieures et cephalique.“ Revue de med. VI 188G) 
und weitere Mittheilungen aus den folgenden Jahren, sowie durch 
die Mittheilungen zahlreicher anderer Autoren die bei dieser 
Erkrankung vorkommenden Augenstörungen. Es soll hier nicht 
meine Aufgabe sein, auf die Literatur der Akromegaliefrage im 
Allgemeinen als auch anf die Literatur der Augenstörungen bei 
Akromegalie im Speciellen in ihrem ganzen Umfange einzugehen. 
Ich will mich darauf beschränken, unter anderen einige Arbeiten 
aus der jüngsten Zeit citircn, in denen sich die Literatur ein¬ 
gehender zusammengestellt findet, und aus welchem sich auch 
die genaueren statistischen Daten Uber die einzelnen Augenver¬ 
änderungen bei Akromegalie ergeben; so die Arbeiten von E. 
Hertel („Beziehung der Akromegalie zu Augenerkrankungen,“ 
v. Graef. Archiv f. Ophth. Bd. 41, I 18!>5), von Fr. Denti 
(„L'acromegalia rei suvi rapporti coll’organo visivo,“ Annali di 
ottalm. Bd. XXV, fase. 6, 189G) und Strzeminski („Troubles 
ocnlaires dans l’acromegalie.“ Arch. d’ophthalmol. Fevrier 1897, 


VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Berliner medi- 
cinische Gesellschaft. Hahn: Hochsitzendes Mastdarmcarcinom. 
Görges: Purpura falminans. Jacusiel: Demonstration. Rosen¬ 
heim: Sondirung der Speiseröhre im Oe.sophagoskop. Mackenrodt: 
Demonstration. Gottschalk:Einflussdes Wochenbettesaufcystische 
Eierstocksgeschwülste. — Gesellschaft für Geburtsbülfe und Gynä¬ 
kologie zu Berlin. Martin, Mackenrodt: Demonstrationen. 
Olshausen: Carcinom und Schwangerschaft. — Verein für innere 
Medicin. Brasch: Demonstration. Ruhemann: Halbseitenläh¬ 
mung. Gumpertz: Demonstration. Posner: Harnuntersuchung. 

VII. 26. Congrcss der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. (Schluss) 

VIII. TagesgeBchichtliche Notizen. 

IX. Amtliche MittheUungen. 


No. 2). Letzterer Autor fügt ausser seinen 3 Beobachtungen 
dem Hertel'sehen Literatur-Verzeicfcniss noch weitere 19 Beob¬ 
achtungen aus der neuesten Literatur hinzu, und ebenso finden 
sich bei Denti einige bei Hertel noch nicht erwähnte Fälle. 
Rechnet man mit Einschluss etlicher Beobachtungen aus der 
allerneuesten Zeit zusammen, so verfügt die Literatur doch schon 
Uber ca. 150 Fälle von Akromegalie mit Augenstörungen, die in 
einem Zeitraum von noch nicht 10 Jahren gesammelt worden 
sind. Wenn ich mir trotzdem erlaube, zwei weitere Beob¬ 
achtungen hier später kurz mitzutheilen, so geschieht es, weil 
ich glaube, dass dieselben in Bezug auf Sehstörungen, Gesichts¬ 
feldanomalien u. s. w. etwas Besonderes bieten und wohl ge¬ 
eignet sind, die früheren Befunde zu ergänzen. 

Demgegenüber sind die Mittheilungen in der Literatur Uber 
Sehstörungen und Augenveränderungen auf Grundlage von Wachs¬ 
thumshemmungen (Zwergwuchs, Cretinismus, Kachexia thyreoipriva 
und Myxoedem) bisher ausserordentlich sparsam, wie auch noch 
aus der jüngsten eingehenden monographischen Bearbeitung 
dieses Krankheitsgebietes von C. A. Ewald („Die Erkrankungen 
der Schilddrüse, Myxödem und Cretinismus,“ Spec. Pathologie 
und Therapie von Nothnagel, Bd. XXII, 1. Th. 189G) erhellt. 
Ich werde später auf die Literatur dieses Gegenstandes kurz 
eingehen und will zunächt die Geschichte eines Krankheitsfalles 
etwas ausführlicher mittheilen, den ich hierher rechnen muss, 
und der, wie ich glaube, in mancher Hinsicht neue Gesichts¬ 
punkte bietet. Es handelt sich um eine 14jährige Pa¬ 
tientin mit hochgradiger Sehstörung unter dem Bilde 
der vorgeschrittenen temporalen Hemianopsie und 
atrophischer Verfärbung der Papillen mit gleich¬ 
zeitiger Schilddrüsenatrophie und Wachsthumshera- 
mnng des Körpers seit dem 9. Lebensjahr. Polyurie, 
zeitweise Kopfschmerzen. 


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4C2 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 22. 


Am 20. XI. 90 wird das 14jährige Mädchen W. L. ans R. in der 
Klinik vorgestellt und in dieselbe anfgenoramen. 

Nach Angabe der Eltern war Patientin bis zum 9. Lebensjahr voll¬ 
kommen gesund, ja sogar ein nngewöhnlich kräftiges entwickeltes Kind. 
Um diese Zeit überstand sie eine „Lungenentzündung“, von der sie jedoch 
wieder völlig genas, nur soll seit dieser Zeit das Kind schwächlich ge¬ 
blieben sein und am auffälligsten war für Eltern und Umgebung, dass 
die körperliehe Entwickelung fast völlig sistirte. Sie soll seit jener Zeit 
so gut wie gar nicht mehr gewachsen sein, so dass sie ihrer körper¬ 
lichen Entwickelung nach auch jetzt noch ungefähr den Eindruck eines 
9—10jährigen Mädchens macht. Diese Thatsache tritt besonders mar¬ 
kant zu Tage bei einem Vergleich der Patientin mit ihrer 11 Monate 
älteren Schwester. Letztere ist ein völlig normal entwickeltes löjähriges 
Mädchen, menstruirt, von kräftigem Körperbau 1,66 cm Grösse u. 8. w., 
während unsere Patientin nur 1,81 cm gross ist. Und dabei giebt der 
Vater bestimmt an, dasH vor 5 Jahren noch unsere Patientin grösser und 
kräftiger gewesen sei als ihre ältere Schwester, und dass erst seit dem 
Ueberstehen der damaligen „Lungenentzündung“ dieses auffällige Zurück¬ 
bleiben der körperlichen Entwickelung sich geltend gemacht habe. Bei¬ 
folgende Figur 1 zeigt unsere Patientin neben einer Wärterin, welche 


Figur 1. 



Pat. W. L., 14 Jahre alt, Schilddrüsenatrophie, Wachsthumshemmung 
temporale Hemianopsie, atrophische Verfärbung der Papillen. 

die gleiche Grösse, wie die 11 Monate ältere Schwester unserer Kranken 
hatte. Seit einem Jahr hat sich vermehrtes Durstgefühl bei der Kranken 
eingestellt, starke Schweisse zeitweis. Abmagerung. Im August 1896 
mehrere Wochen lang stärkere Durchfälle, gleichzeitig stellten sich 
Kopfschmerzen ein, die namentlich in der linken Kopfhälfte besonders 
empfindlich waren, und von dieser Zeit ab begann auch das Sehvermögen 
relativ schnell abzunehmen, wie Eltern, Lehrer und Patientin selbst be¬ 
merkten, jedoch ist Uber den genauen Modus der Abnahme der Sehkraft 
keine nähere Auskunft zu erhalten. Seit 14 Tagen bestehen wieder 
häufigere und heftigere Kopfschmerzen, sowie zeitweise Neigung zum 
Erbrechen. Der jetzt consultirte Augenarzt nahm als Ursache für die 
Sehstörung ein Gehirnleiden an. 

In hereditärer Beziehung war nichts zu eruiren, die Eltern des 
Mädchens leben und sind gesund, desgleichen 5 Geschwister. Von Tuber- 
culose und Lues in der Familie nichts nachweisbar, ebenso in Bezug 
auf das Vorkommen von Struma in der Familie die Angaben negativ. 

Stat. praes.: Die in ihrer körperlichen Entwickelung ausser¬ 
ordentlich zurückgebliebene kleine Patientin wiegt zur Zeit nur 52 Pfund, 
von blasser Gesichtsfarbe, sehr geringem Panniculus adiposus, noch nicht 
menstruirt, Körperhaltung etwas vornübergebeugt, leichte Skoliose, Ge- 
sichtsausdruck im Verhältniss zur körperlichen Entwickelung etwas alt, 


aber nicht cretinistisch. Die Haut der Patientin zeigt eine eigentüm¬ 
lich zarte, gleichsam atrophische Beschaffenheit, im Gesicht Neigung 
zur Schuppenbildung, am übrigen Körper vielfach leicht rauh wie bei 
sog. Gänsehaut. Der Bescheid deB Dermatologen (Dr. Schaeffer) 
lautet: „Allgemeine Blässe und Trockenheit der Haut, mit Neigung sich 
zu schnppen, an den Extremitäten an den Beugeseiten etwas mehr aus¬ 
gesprochen als an den Streckseiten. Der Befund dürfte dem einer ganz 
leichten Ichthiosis entsprechen und die gänsehautartige Beschaffenheit 
als Lichen piloris zu bezeichnen sein.“ Weder in den Achselhöhlen noch 
an den Genitalien bisher eine Haarentwickelung vorhanden. Von einer 
Entwickelung der Brustdrüsen nichts wahrnehmbar. 

Hämoglobingehalt des Blutes (Gower'sches Hämoglobinometer) 
70 pCt., Zahl der rothen Blutkörper in 1 emm = 5200000, das Ver¬ 
hältniss der weissen zu den rothen im wesentlichen normal. 

Urin enthält weder Eiweiss noch Zucker bei wiederholten Unter¬ 
suchungen. Durchschnittliche Tagesmenge etwas vermehrt, 1800 ccm 
(mässige Polyurie), spec. Gewicht 1004—1006. Etwas vermehrtes Durat- 
gefübl, trinkt relativ viel Wasser. Appetit gering. 

Von cerebralen Erscheinungen sonst Nichts vorhanden, nur zeitweise 
mässige Kopfschmerzen, jedoch sollen dieselben früher heftiger gewesen 
sein. Einige Male tritt während der Beobachtungszeit Erbrechen ein, 
gelegentlich mit Kopfschmerzen. Schwindelerscheinungen, Benommen¬ 
heit u. s. w. fehlen, keine Herderscheinungen bis auf die Sehstörung, die 
übrigen Sinnesorgane intakt. Keine sonstigen Störungen der Motilität 
und der Sensibilität. Die Intelligenz der Patienten im Wesentlichen 
intakt. 

Mit besonderer Sorgfalt wurde versucht, über das Verhalten der 
Schilddrüse bei unserer Patientin Aufschluss zu erhalten. Es gelang mir 
nicht, dieselbe nachzuweisen. Auf meine Bitte hin batte Geh. Rath 
Mikulicz die Güte, gleichfalls eine eingehende Untersuchung in dieser 
Hinsicht vorzunehmen, die Untersuchung wurde durch die Magerkeit der 
Patientin wesentlich erleichtert. Sein Bescheid lautete: „Trachea voll¬ 
kommen entblösst, unmittelbar unter der Haut zu fühlen bis zum Jugolum. 
Von der Schilddrüse auch beim Schlucken nichts zu fühlen. Als Rudi¬ 
mente oder Rest der vielleicht früher vorhandenen Schilddrüse beider¬ 
seits in der Tiefe neben dem Ringknorpel nahe der Wirbelsäule ein 
höchstens bohnengrosses derbes mit dem Ringknorpel in Verbindung 
stehendes Knötchen zu palpiren.“ Nach diesem Untersuchungsergebniss 
liegt also eine hochgradige Degeneration der Schilddrüse mit fast völligem 
Schwund von deren Substanz vor. 

Als markantester Befund Hess sich nun in Betreff der Augen 
folgendes constatiren: 

Das linke Auge ist völlig erblindet, kein Lichtschein und ebenso 
keine Reaction der Pupille auf Lichteinfall, consensuelle Reaction 
erhalten, wenigstens bei Beleuchtung der noch sehenden Netzhauttheile 
des rechten Auges. Ophtalmoskop: Deutliche atrophische Verfärbung der 
Papille mit scharfen Grenzen und mässige Verengerung der Retinal - 
gefässe, keine Stauungserscheinungen in denselben. Die atrophische 
Verfärbung der Papille ist keine ganz vollständige, die inneren TheUe 
des Sehnerven zeigen noch Spuren von röthlichem Reflex und kontrastirt 
diese nicht ganz vollständige Atrophie der Papille etwas mit dem abso¬ 
luten Verlust des Sehens, so dass hier schon von vornherein eine weit 
retrobulbär liegende Krankheitsursahhe wahrscheinlich wurde. 

Keine Bewegungsstörung des rechten Auges, kein Exophthalmus. 

Das rechte Auge zeigt zunächst einen analogen ophthalmoskopi¬ 
schen Befund wie das linke, auch hier deutliche atrophische Verfärbung 
der Papille, scharfe Begrenzung derselben, die inneren Theile der 
Papille retlectiren noch leicht röthlich. Patientin erkennt mit diesem 
Auge Finger 1,5 m. Das Gesichtsfeld zeigt folgendes Verhalten 
(Figur 2). 

Es ist also anfangs noch ungefähr der innere obere Quadrant des 
Gesichtsfeldes erhalten, der in der verticalen scharf mit der Medianlinie 
abschneidet und in der horizontalen auch geradlinig begrenzt ist Der 
Gesichtsfelddefect überschreitet jedoch schon den Fixirpunkt und nament¬ 
lich gilt dies für die Störung .des Farbensinnes. Roth und Blau werden 
peripher noch richtig erkannt, Grün jedoch überhaupt nicht mehr (s. 
Gesichtf.). 

Im weiteren Verlauf der. Beobachtung schreitet die Sehstörung und 
damit der Verfall noch etwas weiter vor, jedoch in der Weise, dass der 
Gesichtsfeldverfall vom Fixirpunkt aus nach der Peripherie vorwärts 
geht, und zwar so, dass die letzte restirende Insel ganz an der Peri¬ 
pherie nach oben innen liegt, nur Blau wird hier noch erkannt Pat. 
zählt zuletzt noch Finger in 0,5 m und in diesem Umfang hielt sich das 
Sehen, so lange Patientin in Beobachtung war, also Monate lang. Die 
letzte Prüfung konnte Mitte Februar 1897 vorgenommen worden. Nach 
eingezogener Erkundigung soll dieser Rest des Sehens sich auch bis jetzt 
(Ende April) noch erhalten haben. 

Die Lichtreaction der Pupille ist auf diesem Auge deutlich vor¬ 
handen, bei direkter Beleuchtung der noch sehenden Netzhauttheile, lieas 
man jedoch das Licht auf die nicht sehenden inneren Netzhauttheile 
fallen, so trat fast gar keine Contraction der Pupille ein. Es bestand 
hier also ganz ausgesprochen eine Andeutung der hemianopischen Pupillen- 
reaction (Wernicke). 

Augenbewegungen auch hier sonst frei. Während der sich an¬ 
schliessenden klinischen Beobachtungszeit blieb das Allgemeinbefinden 
ziemlich unverändert. Stärkere cerebrale Erscheinungen traten nicht zu 
Tage; leichte Kopfschmerzen von Zeit zu Zeit, gelegentlich Neigung zum 
Erbrechen, mässige Polyurie waren eigentlich die einzigsten Symptome 


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4(53 



in dieser Hinsicht, abgesehen von der Sehstörung. An Körpergewicht 
verlor Patientin ca. 2 Pfund. 

Die Therapie bestand anfangs in einer Inunktionscur mit grauer 
Salbe, Verabreichung von Jodkalium, später wurden Hypophysistabletten 
(Merk, Darmstadt) gegeben, aber nicht gut von der Patientin vertragen 
und zuletzt fand ein regelmässiger Gebrauch von Thyreoidcatabletten 
statt, während dessen das Allgemeinbefinden sich etwas besserte, während 
die Sebstörung nicht dadurch beeinflusst wurde. 

ResUmire ich den Fall kurz, so handelt es sich um ein bis zum 
0. Lebensjahr völlig gesundes und normal entwickeltes Kind. Von 
dieser Zeit ab, angeblich nach einer überstandenen Lungenent¬ 
zündung, sistirt die körperliche Entwicklung des jetzt 14 jährigen 
Mädchens vollständig, so dass sie noch jetzt ihrem Habitus nach 
als ein Kind 9—10 Jahren erscheint. Die Schilddrüse ist 
bis auf kleine Rudimente fast völlig geschwunden. Die Haut 
zeigt eine eigenthümlich krankhafte Beschaffenheit (s. ob.). Von 
Myxoedem ist Nichts zu konctatiren, im Gegentheil besteht 
starke Abmagerung und eine eigenthümlich dünne und atrophische 
Beschaffenheit der Haut. Die Intelligenz ist im wesentlichen in¬ 
takt. Hierzu gesellt sich dann zuletzt eine Sehstörung unter dem 
Bilde der temporalen Hemianopsie mit absteigender Sehnerv¬ 
atrophie und hemianopischer Pupillenreaktion, die Krankheits¬ 
ursache muss in der Gegend des Chiasma liegen und besteht 
höchstwahrscheinlich in einer Anomalie der Ilypophysis ccrebri. 

Ich dachte anfangs, ob es sich hier nicht etwa um eine 
primäre Degeneration und Vergrösserung der Hypophysis handeln 
könne, die im Laufe der Zeit einerseits die Sehstörung hervor¬ 
brachte, auf der andern Seite aber auch die Ursache für die 
Wachsthumsstörung geworden, so dass hier die Hypophysis- 
Anomalie nicht zu einer Wachsthümsstörung im positivem Sinne 
(Akromegalie) sondern im negativem Sinne zu einer Wachsthums- 
Hemmung (Zwergwuchs) geführt habe. 

Bei genauerer Ueberlegung jedoch möchte ich folgende Er¬ 
klärung für die richtigere halten. Es trat bei dem Kinde in 
relativ frühem Lebensalter (9 Jahre alt) eine Degeneration und 
Atrophie der Schilddrüse ein, dieselbe gab Veranlassung zu der 
Wachsthums-Hemmung und führte secundär allmählich zu einer 
Vergrösserung und Degeneration der Hypophysis, die ihrerseits 
wieder der Anlass für die hochgradige Sehstörung in Form der 
temporalen Hemianopsie wurde. 

Es ist hier bei epikritischer Betrachtung des Falles zunächst 
die Frage zu berühren, ob bei unserer Patientin wohl die Diag¬ 
nose eine völlige Degeneration und Atrophie der Schilddrüse als 
durchaus sicher angesehen werden kann, da ja in der Literatur 
wiederholt darauf hingewiesen ist, wie schwierig gelegentlich die 
Diagnose einer Schilddrüsenatrophie am Lebenden ist, und wie 
die Autopsie die intra vitam gestellte Diagnose gelegentlich 
nicht bestätigte. In unserm Falle lagen bei der Magerkeit der 
kleinen Patientin die Verhältnisse für die Diagnose ausserordentlich 
günstig, ich habe mich auf meine eigne Untersuchung allein nicht 
verlassen, und stütze mich in dieser Hinsicht auf den ganz be¬ 


stimmten Ausspruch des Herrn Collegen Mikulicz, bei dessen 
grosser Erfahrung für mich jeder Zweifel an der Richtigkeit der 
Diagnose ausgeschlossen ist. Diese Degeneration der Thyreoidea 
kann nicht von Geburt an bestehen oder aus der allerersten 
Lebenszeit stammen, weil Patientin sich bis zu ihrem 9. Lebens¬ 
jahr vollkommen normal entwickelte. Ob die Angabe der Eltern 
zutreffend ist, dass die Affektion im Anschluss an eine „Lungen¬ 
entzündung“ entstanden ist, möchte ich dahin gestellt sein lassen, 
es ist mir nicht möglich, Uber die Aetiologie sowie die Art und 
Weise der Schilddrüsen-Degeneration etwas Näheres anzugeben, 
nur muss dieselbe eine erst im etwas vorgeschritteneren Alter 
acquirirte sein. 

Ein 2. Punkt, der hervorgehoben zu werden verdient, ist, 
dass bei unserer Patientin nicht das typische Bild des Cretinismus, 
und auch nicht das der ausgesprochenen Kachexia thyreoipriva 
resp. des Myxoedems vorlag. Die Intelligenz war relativ intakt, 
die Haut zeigt wohl eine ausgesprochene Ernährungsstörung, die 
sich aber mehr in einer atrophischen Beschaffenheit derselben 
mit Abschuppung, Lichen pilaris u. s. w. (s. ob.) zu erkennen 
giebt. Das ausserordentlich hervortretende Symptom ist die fast 
vollständige Sistirnng der körperlichen Entwicklung mit dem 
9. Lebensjahr. Es ist bekannt und in der Literatur von den 
verschiedenen Autoren (Kocher u. A.) hervorgehoben, dass bei 
dem Cretinismus resp. bei der Kachexia thyreoipriva die Intelligenz¬ 
störung sowohl wie Myxoedem auch fehlen können. Und wenn 
unser Krankheitsbild sich somit auchnicht mit dem ausgesprochenem 
Bilde des Cretinismus und des Myxoedems deckt, so haben wir 
es doch meines Erachtens mit einem verwandten Zustande hier 
zu tliun und den Schwund der Schilddrüse als Ursache dafür 
anzusehen. 

In dritter Linie wäre zu erörtern, welche Daten uns wohl 
berechtigen, die Sehstörung in Form der temporalen Hemianopsie 
in Folge einer Chiasma-Erkrankung auf eine Affection der Ilypo¬ 
physis zurückzuführen, und dieselbe mit der Degeneration der 
Schilddrüse in Zusammenhang zu bringen. 

In dieser Hinsicht sei zunächst auf die vielfachen Forschun¬ 
gen der neueren Zeit hingewiesen, welche sich mit den Wechsel¬ 
beziehungen zwischen Schilddrüse und Hypophysis beschäftigen, 
In experimenteller Beziehung sind zahlreiche und ausgiebige 
Untersuchungen angestellt worden Uber das Verhalten der Hypo¬ 
physis nach Entfernung der Schilddrüse namentlich bei jungen 
Thieren, und als ziemlich übereinstimmendes Resultat der ver¬ 
schiedenen Autoren ist zu registriren, dass mit dem Verlust der 
Schilddrüse die Hvpophysis und namentlich die vorderen Thcile 
derselben an Volumen zunehmen, so dass die Untersucher zum 
Theil geneigt sind, die Vergrösserung der Hypophysis als eine 
vikariirende anzusehen. Ich erinnere hier an die Arbeiten von 
Rogowitsch (Archives de physiologie 1888, No. 15, und 
Zieglers Beiträge zur patholog. Anat. etc., Bd. IV), Stieda 
(Ziegler’s Beitr., Bd. VII), Gley (Comptes rendus 1892, p. 66(5), 
v. Eiseisberg (Verhandl. der Deutsch. Gesellsch. f. Chirurgie 
1893, I, S. 82), Lancereaux (S6maine medicale 1893, No. 4), 
Horsley („Die Function der Schilddrüse“. Internat. Beitr. zur 
wissensch. Medicin, Berlin 1891), Moussu (Comptes rendus 1892, 
p. 976), Hofmeister (Experimentelle Untersuchungen Uber die 
Folgen des Schilddrüsenverlustes. Beiträge zur klin. Chirurgie, 
Bd. XI, Heft 2, 1894) u. A. Aus der eingehenden Arbeit des 
letzteren Autors will ich hier nur einige Sätze anführen, die mir 
gerade mit Rücksicht auf unseren Fall besonders wichtig er¬ 
scheinen und sich durchweg auch mit den Angaben der übrigen 
Autoren decken. Seite 451 sagt dieser Autor: „Myxödem konnte 
ich bei der Obduction (der operirten Kaninchen) nie constatiren, 
die Haut war eher dünn und etwas atrophisch.“ — Seite 520: 
„Bei allen im jugendlichen Alter ihrer Schilddrüsen beraubten 

1 * 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 22. 


Thieren erleidet das Knochenwachsthum, vor allem die Längen- 
zunahme, eine hochgradige Hemmung. Die Hemmung des 
Knochenwachsthums ist bedingt durch eine specifische Degene¬ 
ration der das Wachsthum vermittelnden Epiphysenknorpel.“ — 
„So mächtig ist der Ausdehnungstrieb in der kleinen Drllse 
(Hypophysis) nach der Exstirpation der Schilddrüse, dass sogar 
der wachsende Knochen sich ihm anbequemen muss; so fand ich 
bei sämmtlichen Versuchs thieren die Sella turcica entsprechend 
geräumiger als bei den Controlthieren.“ — „Der Hypophysis ce- 
rebri kommt eine der Schilddrllsenthätigkeit analoge Function 
zu, und ist sie im Stande, den Ausfall der letzteren durch 
vikariirende Hypertrophie mit der Zeit wenigstens theilweise zu 
compensiren.“ Ich will auf die Details der ausgedehnten expe¬ 
rimentellen Untersuchungen am Thier hier nicht weiter eingehen, 
aber das Endergebniss scheint mir doch durchaus sicher, dass 
die Exstirpation der Schilddrüse beim jungen Thier (und zwar 
in erster Linie bei Pflanzenfressern) zu einer Vergrösserung der 
Hypophysis führt, auch unter Berücksichtigung dessen, dass, wie 
angegeben wird, die Hypophysis beim Kaninchen schon au und 
für sich relativ gross ist und dass auch physiologisch schon die 
Grösse in gewissen Grenzen schwankt. Ob diese Hypertrophie 
der llypophysis eine compensatorische ist, möchte ich dahin gestellt 
sein lassen, zumal ja die Untersuchungen Uber die physiologische Be¬ 
deutung der Hypophysis noch in keiner Weise als abgeschlossen an¬ 
zusehen sind und hauptsächlich erst der neuesten Zeit angehören. 

Schnitzler und Ewald („Ueber das Vorkommen des 
Thyreojodins im menschlichen Körper“. Wiener klin. Wochen¬ 
schrift 1896, S. 657) fanden im Gegensatz zu Bauraann auch 
in der Hypophysissubstanz „deutliche Mengen“ von Jod und 
sind geneigt, diese Thatsache im Sinne einer vikariirenden Thä- 
tigkeit der llypophysis für die Schilddrüse zu deuten. 

Oliver und Schaefer (Journal of Physiol. XVIII, 3. 1895) 
sehen in der Hypophysis und der Glandula thyreoidea ihrer Wirkung 
nach Antipoden. Schilddrüsenextract bewiikt nach ihnen, in den 
Kreislauf gebracht, Sinken des arteriellen Blutdruckes, während 
Extract der nypophysis denselben steigert. Das Hypophysisextract 
wirkt am energischsten. 

Schiff („Ueber die Beeinflussung des Stoffwechsels durch 
llypophysis- und Thyreoideapräparate“. Zeitschr. f. klin. Med., 
Bd. XXXII, Supplementheft 1897) weist auf gewisse analoge 
Einwirkungen von Hypophysis- und Thyreoideatabletten auf den 
Stoffwechsel beim Menschen hin, beide üben neben ihrem Ein¬ 
fluss auf den Eiweisszerfall noch eine besondere Wirkung auf 
den Zerfall eines P 2 0. reichen Gewebes. 

(Schluss folgt.) 

II. Aus der psychiatrischen Klinik zu Strasshurg i. E. 

Ueber die Luftdruckerkrankungen des 
Centralnervensystems l ). 

Von 

Dr. A. Hoche, 

Privat-Docentcn und I. Assistenten der Klinik. 

Die Morbidität und Mortalität der bei Brückenbauten u. s. w. 
in Caissons unter Druckluft beschäftigten Arbeiter, die in den 
ersten Jahrzehnten der Anwendung dieser Technik eine ziemlich 
hohe war, ist allmählich, Dank einer Reihe empirisch und theo¬ 
retisch gefundener Vorsichtsmaassregeln stark herabgesetzt wor¬ 
den. Während z. B. bei dem Bau der Mississippibrücke bei 

1) Nach einem im unterelsässischen Aerzteverein gehaltenen Vor¬ 
trage mit Krankendemonstration. 


St. Louis Ende der sechziger Jahre, nach den Angaben von 
Capitain James B. Eads 1 ), von 352 Arbeitern ca. 30 lebens¬ 
gefährlich erkrankten und 12 starben, werden jetzt BrUcken- 
bauten im günstigen Falle ohne jede schwere Erkrankung der 
Betheiligten durebgeführt, und es würde dies vielleicht die 
Regel sein, wenn nicht die Gewöhnung an die Gefahr die Ar¬ 
beiter zur Vernachlässigung der Sicherheitsmaassregeln 
verführte. 

Der Bau einer neuen eisernen RheinbrUcke bei Kehl, deren 
Pfeiler auf tief versenkten Caissons ruhen, hat uns Gelegenheit 
gegeben, Erkrankungsfülle bei Arbeitern klinisch zu beobachten, 
Uber die ich nachstehend mit Erlaubnis von Herrn Hofrath 
Fürstner einige Mittheilungen machen will. (Ueber die bei dem 
Bau der alten Kehler RheinbrUcke an den Caissonarbeitem ge¬ 
machten Beobachtungen giebt Bucquoy 2 ) Auskunft.) 

Die Technik des Baues war die jetzt allgemein übliche. 
Eiserne, unten offene Caissons von grossen Dimensionen werden 
auf den Grund des Flusses versenkt; durch Einpumpen von Luft 
wird das Wasser aus denselben verdrängt und Raum geschaffen 
für die Arbeiter, die den Kies des Flussgrundes herausbefördern 
und damit ein immer tieferes Einsinken des Caissons bewirken. 
Auf dessen oberer Fläche ruht der steinerne Pfeiler, an dem 
während des Tiefertretens des Caissons immer weiter gebaut 
wird, so dass an dem Mauerwerk ständig Uber der Wasserfläche 
gearbeitet wird. J)urch das Mauerwerk hindurch fuhrt nun in 
den Caisson der eiserne Einsteigeschacht, dessen oberstes Ende 
eine luftdicht abschliessbare eiserne Kammer bildet, dio 4 bis 
G Mann aufnehmen kann. Beim Beginn der Arbeit, die in 
Schichten von je 8 Stunden eingetheilt ist, treten die Arbeiter 
zunächst in diese Kammer, in welcher der Druck allmählich auf 
die Höhe gebracht wird, die in dem Caisson herrscht; sie wer¬ 
den „eingeschleust“; nach Verlassen des Caissons verbleiben 
sie wiederum in der Kammer, aus der durch eine Oeffnung von 
5—8 mm Lumen die gepresste Luft langsam entweicht, bis der 
hohe Druck auf den Atmosphärendruck langsam heruntergegangen 
ist; die Arbeiter werden so „ausgeschleust“. 

Zur Zeit der beiden zu schildernden Erkrankungen betrug 
der Druck in den Caissons 2| Atmosphären; die Arbeiter be¬ 
fanden sich 25 m unter der Wasseroberfläche des Rheins. 

Nach den Vorschriften der Bauleitung soll auf je einen 
Meter Wasserdruck eine Minute „Ausschleusen“ kommen, so dass 
zur Zeit dieses hohen Druckes 25 Minuten langes Verweilen in 
der Schleusenkammer entsprechend gewesen wäre; diese Zeit ist 
aber wohl niemals eingehalten worden. Der Vorarbeiter besorgt 
das Oeffnen der betreffenden Vorrichtungen; die Leute sind be¬ 
greiflicherweise ungeduldig nach achtstündigem Verweilen auf 
dem Flussboden, und so hat man zugestandenermaassen damals, 
als der eine und als der andere erkrankte, den l’ebergang in 
den gewöhnlichen Atmosphärendruck in 7—8 Minuten voll¬ 
zogen. 

Irgend eine sonstige Betriebsstörung hat an den fraglichen 
Tagen nicht stattgefunden. 

Fall I. J. W., 37 Jahre alt, früher immer gesund. Kein Ver¬ 
dacht auf Lues oder Potus. — Seit Herbst 1895 dauernd als Caisson¬ 
arbeiter beschäftigt. 

Am 10. II. 96, wenige Minuten nach dem Verlassen des Ans- 
schleuscraumes Steifigkeit im Nacken, unangenehme Sensationen im 
Kücken, Einschlafen der Fiisse, dann Schwäche der Beine und Umsinken 
unter leichter Verwirrtheit; keine Bewusstlosigkeit. Nach Hause 
getragen, lag er 3 Wochen im Bett; in den ersten Tagen Incontinenz, 
dann vorübergehende Retentio urinae. — Die Paraparese besserte sich 
rasch, so dass Patient Ende Juni 96 zu Fuss, mit Stöcken, die klinische 
Sprechstunde aufsuchen konnte. Damals wurde constatirt: leichte Parese 

1) Medical Times and Gazette 1871, II, pag. 291. 

2) Action de fair comprime sur l’cconomie humaine. These de 
Strasbourg 1861. 


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4G5 


31. Mi»-* 1 1?07. 


beider Beine mit Muskelspannungen; P. S. R. colossal gesteigert, beider¬ 
seits Dorsalclonus (links stärker); Parästhesien bei intaeter Sensibilität 
vom Nabel abwärts; schwache, aber erhaltene Hautreflexe. — Gang: 
leicht am Boden klebend; starker Schütteltremor in beiden Beinen. — 
Sonstige Anomalien fehlten. 

Im weiteren Verlaufe trat noch beträchtliche Besserung ein: die 
Parästhesien schwanden; die grobe Kraft der Beine nahm tu, so dass 
Patient jetzt wahrscheinlich ohne Stock gehen könnte, wenn er es nicht 
im Interesse seiner Unfallsrente für vortheilhaftcr hielte, den Anschein 
einer noch vorhandenen stärkeren Gehstörung aufrecht zu halten. Erhöht 
sind noch die Sehnenreflexe an beiden Beinen; es besteht also nur noch 
der 8ymptomencomplex einer leichten „spastischen Spinalparalyse“. 

Fall II. E. B., 85 Jahre, Italiener; früher nie krank, Lues und 
Potus ganz unwahrscheinlich. 

Seit langen Jahren bei Brückenbauten in Caissons beschäftigt (Ru¬ 
mänien, Frankreich), zuletzt an der Kehler Rheinbrücke. 

Im October 1896 beim Verlassen des Ausschleuseraumes resp. 
wenige Miuuten hinterher plötzlich Urindrang, Schmerzen im Rücken, 
Schwäche in den Beinen, die ihm aber noch erlaubte, mehrere Minuten 
weit zu seiner Wohnung zu gehen. Anfangs bestanden heftige Gürtel¬ 
schmerzen in Nabelhöhe und lebhafte Parästhesien in den Beinen; die¬ 
selben waren motorisch schwach, aber nicht gelähmt; dauernd seither 
Harnträufeln; keine Besserung bis zur Aufnahme in die Klinik (1. II. 97). 
Die Untersuchung ergah bei intacten inneren Organen eine mässige 
Paraparese beider Beine; Patient geht mit Stock langsam und spastisch; 
die Beine und, secundär, der ganze Rumpf gerathen beim Gehen in leb¬ 
hafte schüttelnde Bewegung. P. S. R. colossal gesteigert; beiderseits 
Dorsalclonus; starke Muskclspannungen. Haut- und Cremasterreflex er¬ 
halten; von den Bauchreflexen fehlt links der epigastrische Reflex; von 
einer Zone halb handbreit über Nabelhöhe abwärts besteht subjectiv 
verminderte Empfindlichkeit für Berührungen und Schmerzeindrücke, 
nirgends völlige Aufhebung. Der Urin läuft spontan ab, in Schüben, 
alle Viertelstunde etwa; der Stuhlgang ist angehalten. Sonstige Ano¬ 
malien fehlen, mit Ausnahme leichter Nystagmusbewegungen bei seit¬ 
lichem Fixiren. 

Eine leichte Besserung der Parese ist inzwischen eingetreten; die 
anderen Erscheinungen bestehen unverändert fort. 

Die sonstigen, bei einzelnen Individuen nach Verlassen der Caissons 
in Kehl beobachteten Erscheinungen waren die üblichen und von nur 
flüchtigem Charakter: Ohrenschmerzen, unangenehme Sensationen in 
Muskeln und Gelenken, vorübergehende Verwirrtheit nnd dergl. — alles 
Dinge, von denen, als alltäglichen Erscheinungen, von den Betheiligten 
weiter kein Wesens gemacht wird; schwere nervöse Erkrankungen sind 
ausser den zwei beschriebenen Fällen nicht vorgekommen. 

Die beiden obigen Fälle bieten— von der Aetiologie zu¬ 
nächst ganz abgesehen — das Bild der unvollkommenen Qucr- 
schnittsaffection des Dorsalmarkes, in quantitativ etwas verschie¬ 
denem Maasse; Fall I mit überwiegender Betheiligung der 
Seitenstränge, Fall II mit stärkerer Betheiligung auch der 
Hinterstränge; das jetzt noch vorhandene GürtelgefUhl weist 
darauf hin, dass dorsale hintere Wurzeln — intraspinal oder 
extraspinal — geschädigt sind, und das Fehlen des linken epi¬ 
gastrischen Reflexes giebt den Hinweis, dass der Sitz der Stö¬ 
rung im Dorsalmarke zwischen D. IV und D. VII zu suchen ist. 

Beiden Fällen gemeinsam ist die sehr lebhafte Steigerung 
der reflectorischen Erregbarkeit der unteren Extremitäten, die so 
weit ging, dass Fall I im Anfang, Fall II bis jetzt noch dauernd 
nicht auf die FUsse treten konnte, ohne dass der ganze Körper 
in — mitgetheilten — SchUtteltremor gerieth. 

Die Prognose ist keineswegs schlecht für meine Beobach¬ 
tungen; Fall I wird wahrscheinlich ganz gesund, Fall II jeden¬ 
falls noch weiter gebessert werden. 

Das Hauptinteresse liegt für beide Fälle in der Aetio¬ 
logie; es kann keinem Zweifel unterliegen, dass sie zu den 
Luftdruckerkrankungen des Centralnervensystems zu zählen 
sind, deren Pathologie zwar nicht in allen Punkten aufgeklärt 
ist, von der aber immerhin sehr viel mehr bekannt ist, als die 
auffallend knappen Angaben der Lehrbücher und Handbücher 
vermuthen lassen. Das Literaturverzeichniss der Preisarbeit von 
Howard van Renssellaer 1 ), die mir Herr Professor Gold¬ 
scheider freundlichst zur Verfügung gestellt hat, umfasst z. B. 
115 Nummern; leider entspricht der Ausdehnung nicht die Rich- 


1) Transactions of the New York state medical society, February 
1891. 


tigkeit der Angaben; es wimmelt von Fehlern in Namen und 
Zahlen. Als die beste der neueren Arbeiten zur vorliegenden 
Frage muss unstreitig die von Catsaras') (— nicht Catsaris, 
wie Renssellaer und Andere citiren —) bezeichnet werden. 
Catsaras hat an Schwaramfischem der Insel Hydra, die in 
ihren Taucherapparaten den gleichen Druckschwankungen aus¬ 
gesetzt sind, wie die Caissonarbeiter, eingehende klinische Beob¬ 
achtungen (mehrere Dutzend Fälle von cerebralen und spinalen 
Erkrankungen) anstellen können, und giebt in seiner Zusammen¬ 
stellung „unc veritable Iliade de maux“;an Hunden, die er 
unter die gleichen Bedingungen, wie die Taucher versetzte, hat 
er dann die ergänzenden anatomischen Untersuchungen ange¬ 
stellt, auf die w ir unten zurückkommen werden. Die Schwamra- 
fischer verweilen, namentlich beim Tauchen in Tiefen von 25—30m, 
kürzere Zeit unter dem hohen Druck, als die Caissonarbeiter, näm¬ 
lich '/* bis höchstens 1 '/i Stunden; daftir ist die Intensität der Druck¬ 
schwankungen in der Zeiteinheit um so grösser, da sie meist rasch 
aufsteigen und sofort den Taucbapparat verlassen; noch jetzt 
giebt es an der Insel Hydra alljährlich circa 10 Berufs-Todes¬ 
fälle bei Schwammtauchern. Diese grössere Gefährlichkeit des 
dortigen Betriebes hat bewirkt, dass Catsaras alle wesentlichen 
Erkrankungsforraen, die in der Caisson-Litteralur seit 1854 be¬ 
schrieben sind, selbst hat beobachten können: es handelt sich 
hier wie da um ganz identische klinische Bilder, die ihrerseits 
wieder mit den Thierexperimenten in grösster Uebereinstimmung 
stehen. 

Durchgehend ist die Beobachtung eines kurzen Latenz¬ 
stadiums. Nachdem das Individuum den verderblichen, zu 
raschen Uebergang von hohem Druck in den gewöhnlichen 
Atraosphärendruck vollzogen hat, ist zunächst für 2—30 Minnten 
gamichts an ihm zu bemerken; dann setzen die ersten Sym¬ 
ptome ein, die sich fast immer sehr rasch, selten erst im Laufe 
von einigen Stunden zu demjenigen vollen Complex von Er¬ 
scheinungen entwickeln, der im gegebenen Falle überhaupt zur 
Ausbildung kommt. Von den auf das Centralnervensystem 
zu beziehenden Symptomen sind einzelne eventuell von ganz 
flüchtigem Character: Verdunkelung des Gesichtsfeldes, Schwindel¬ 
empfindungen, Ohrensausen, Verwirrtheit, Erregung, aphasische 
Sprachstörungen, Bewustseinsverlust, Monoplegieen des Facialis 
oder einer Extremität, Ameisenkriechen in den Beinen u. s. w.; 
nach Minuten oder Stunden tritt oftmals schon die Ausgleichung 
wieder ein. In einfacher, quantitativer Steigerung dieser leich¬ 
testen Störungen finden wir dann cerebrale und spinale schwere 
Störungen, von denen die ersteren in der Lehrzeit der Caisson¬ 
technik vor 40 Jahren nicht selten unter den Symptomen des 
Hirndruckes (Pulsverlangsamung, Erbrechen), oder schwerer He¬ 
miplegie in kurzer Zeit den Tod herbeigeführt haben. 

Die classische Form der centralen Störung, der Zahl 
nach bei weitem die häufigste, ist aber die spinale Paraplegie, 
und zwar der unteren Extremitäten, (obgleich die oberen keines¬ 
wegs immer davon ausgeschlossen sind); unter den spinalen 
Formen wiederum treffen wir am öftesten das Bild der spasti¬ 
schen Paraplcgie des Dorsalmarkes mit oder ohne Be¬ 
theiligung der Hinterstränge, in allen Abstufungen; die beiden 
obigen Fälle gehören hierher. Seltener ist ein tabischer Sym- 
ptomencomplex, der nach dem Schwinden der anfänglichen Pa¬ 
raplegie zurückbleibt, oder spastische Monoplegie eines Beines von 
längerer Dauer. 

Für diejenigen spinalen Fälle, welche die ersten Monate 
überleben, ist die Prognose quoad vitam gut, quoad sanationem 
in einem ziemlich grossen Procentsatz nicht ungünstig; sehr 
häufig ist es, dass nach einer im übrigen vollkommenen Wieder- 


1) Archives de neurologie, Bd. 16, 17, 18, 19, 1888—1890. 

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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 22. 


Herstellung der Function der Beine als dauerndes Symptom eine 
Steigerung der reflectorischen Erregbarkeit zurUckbleibt. 

Dieser durch zahlreiche Beobachtungen gestutzten klinischen 
Pathologie steht nun eine nur ganz geringe Anzahl mikrosko¬ 
pisch gut untersuchter Fälle von RUckenmarkserkrankungen ge¬ 
genüber; zur Zeit der schweren, tödtlichen Paraplegien fehlte In¬ 
teresse und Verständniss für die feineren histologischen Ver¬ 
änderungen, nnd heute, da dies vorhanden, sind, zum Glück für 
die Arbeiter, die schweren Fälle selten geworden. Die Autopsien 
mit makroskopischem Befunde, die in nicht geringer Zahl be¬ 
schrieben sind, bringen nichts Entscheidendes bei. 

Die vorliegenden mikroskopischen Untersuchungen 
(Leyden 1 ), F. Schultze 2 ), Rensselaer 3 ), betreffen Fälle 
vom Typus der dorsalen resp. dorsolumbalen Paraplegie. Die 
Krankheitsdauer betrug 15 Tage bis 2 1 / 2 Monat; übereinstimmend 
im mikroskopischen Bilde ist das, dass jedesmal Seiten- und 
Hinterstränge des Dorsalmarkes der Sitz der Veränderungen 
waren, die in dem 3. Fall bis Dorsalis XII herabreichen; die 
graue Substanz war nur einmal mässig betheiligt; Spuren von 
Blutungen fehlten. Die Veränderungen selbst bestanden in 
lieerdweise eingesprengten Stellen mit Untergang der nervösen 
Elemente, Axencylinderquellungen, Zerfall der Fasern, Anhäufung 
von körnchentragenden Zellen verschiedener Grösse, die Leyden 
für seinen Fall nicht als eigentliche Körnchenzellen, sondern 
als Granulationszellen, vielleicht mit der Tendenz, eine Verheilung 
vorzubereiten, ansieht; daneben fanden sich in allen Fällen ent¬ 
zündliche Veränderungen, die als reactiver Vorgang gedeutet 
wurden. 

Die von Leyden beschriebenen Einrisse in die Substanz 
des Rückenmarkes (in denen die Zellen lagen) haben sich in den 
beiden späteren Fällen nicht gefunden. Die beobachteten secun- 
dären Degenerationen in auf- und absteigendem Sinne sind hier 
unwesentlich. 

Die Erklärung Leydens, wie diese Veränderungen zu Stande 
kommen sollen, hat trotz der Bedenken, die Schultze sofort 
dagegen geltend machte, in der späteren Litteratur mehrfach als 
Basis bei der Discussion der Frage gedient, und ist auch in die 
neueste Bearbeitung der RUckenmarkskranklieiten 4 ) Ubergegangen. 
Leyden schreibt 1879 (Arch. für Psycb. IX. p. 316): „Ueber die 
Vorgänge im Körper, welche aus dem schnellen Wechsel des 
atmosphärischen Druckes resultiren, und welche die angegebenen, 
oft schweren Störungen herbeiflihren, hat bereits F. Iloppe- 
Seyler im Jahre 1855 und neuerdings P. Bert sehr bemerkens- 
werthe experimentelle Untersuchungen angestellt, aus welchen 
zu entnehmen ist, dass die schnelle Entwickelung von Gas aus 
dem Blut (0) oder den Plasmaflüssigkeiten (C0 2 ) und die da¬ 
durch bewirkten Gefass- und Gewebszerreissungen als die nächste 
Ursache der meisten üblen Folgen anzuschen sind.“ Weiterhin ver¬ 
anlasst ihn dann der Mangel von Blutungen und der Befund der 
Einrisse zu der Annahme der Möglichkeit, „dass das freiwerdende 
Gas des Plasma (und zwar C0 2 ) direct ohne Gefasszerreissung 
und Blutung die Spaltung des Gewebes bedingt, dass also über¬ 
haupt keine Blutung dabei stattfindet. Jedenfalls besteht die 
Rückenmarksläsion in einer mehr oder minder ausgedehnten Zer- 
rci8sung und Spaltbildung in der Marksubstanz, welche durch 
das plötzliche Freiwerden von Gasblasen bedingt ist, und bei 
welcher eine Gefässzerreissung und Blutaustretung entweder über¬ 
haupt nicht stattfindet oder von untergeordneter Bedeutung ist.“ 


1) Arch. für Psychiatrie, Bd. IX, p. 3 IG. 

2) Virchow’s Archiv, Bd. 79, p. 124. 

3) 1. c. pag. 8. 

4) Leyden und Gol dsche ider; Nothnagels spec. Path. und The¬ 
rapie: X. Band, II. Thcil; 1897, pag 353 ff. 


Ich habe mich vergeblich bemüht, in den Originalarbeiten 
von Hoppe-Se’yler und P. Bert die Angaben zu finden, auf denen 
Leyden’8 Erklärung fusst, abgesehen von der Thatsache dea 
Freiwerdens von Gas im Blute. 

F. Hoppe 1 ) macht 1857 in seiner grundlegenden Arbeit 
„Uber den Einfluss, welchen der Wechsel des Luftdruckes auf 
das Blut ausübt“ Uber die Natur des aus dem Blute seiner Ex- 
perimentalthiere freigewordenen Gases überhaupt keine Mittheilung; 
Gefässruptur hat er nicht gesehen; die plötzlichen Todesfälle 
beim Uebcrgang in geringeren Druck erklärt er durch Ver¬ 
stopfung der Luugencapillaren mit Gasblasen ohne weitere ana¬ 
tomische Läsion. — P. Bert 2 ) hat dagegen in seinen verschiedenen 
1872, 1874 und 1878 erschienenen Mittheilungen Uber den gleichen 
Gegenstand die Zusammensetzung des freiwerdenden Gases er¬ 
örtert; er betont ausdrücklich, dass es nicht 0 oder C0 2 sondern 
N ist, was bei plötzlicher Druckminderung durch die Quantität 
des freiwerdenden Gases die verderblichen Folgen erzeugt. 

P. Bert’s erste Beobachtung war eine zufällige; der 
Apparat, in dem eine Katze unter 10 Atmosphären Druck sass, 
platzte; nach 12—15 Minuten verfiel das Thier in Convulsionen 
und wurde paraplegisch; die am gleichen Tage vorgenommene 
Section ergab eine Erweichung des Rückenmarkes, nament¬ 
lich in der Gegend des 11. und 12. Brustwirbels, ohne eine 
Spur von Blutung. — 8 Tage später, 22. 6. 1872 konnte Bert 
Uber weitere Experimente berichten und ganz kurz eine Erklärung 
der Erscheinungen geben, die noch heute, nach zahlreichen Ex¬ 
perimenten Anderer, im Principe als die einzige befriedigende 
gelten muss. Er fand bei seinen Thieren freies Gas im rechten 
Herzen, in den Venen, in den Arterien von der Aorta abdomi¬ 
nalis an, und führte aus, dass grosse Gasmengen den sofortigen 
Tod herbeifuhren, kleinere Mengen dagegen, die vom Blute fort- 
gerissen werden als feine Gasblasen in das Rückenmark gelangen, 
dort die Circulation unterbrechen und anatomisch eine Erweichung, 
klinisch eine Paraplegie erzeugen — also pathologisch ge¬ 
sprochen eine embolisch bedingte ischämische Erweichung. 
Bert hat durch eine grosse Reihe von Experimenten diese Lehre 
gestützt. Wie gross relativ die Menge des frei werdenden Gases 
sein kann, geht aus seiner Angabe hervor, dass er in dem Blute 
einer Katze 33 ccm freies Gas gefunden hat. Das der Stick¬ 
stoff das gefährliche Agens ist, geht nicht nur aus seinen posi¬ 
tiven Analysen hervor, sondern besonders schön aus der negativen 
Probe, dass Thiere, die hohem Drucke in einem stickstoffarmen 
oder stickstofffreien Gasgemenge ausgesetzt werden, den Rück¬ 
gang in niedrigen Druck durchmachen, ohne dass Gas in 
schädlichen Mengen aus ihrem Blute frei wird. — Dass, 
bei der Zusammensetzung der atmosphärischen Luft, im Blute 
nicht 0 in entsprechendem Volumen bei den Experimenten frei 
wird, liegt einmal daran, dass wie Bert nachweist, die absorbirte 
O-Meuge nicht proportional dem Drucke wächst, dann aber auch 
daran, dass die etwa freiwerdenden O-Bläschen vom Blute sehr 
bald wieder gelöst werden, ebenso wie COj-Bläschen, die ausser¬ 
dem durch die Lungen rasch wieder ausgeschieden werden. 

Entgegen Leyden’s Angaben sind also 0 und C0 2 für das 
Zustandekommen der Luftdruckerkrankungen unwesentlich. — 

Bert, der Gasblasen in der vorderen Augenkammer, bei 
einem trächtigen Thiere in der Placenta, ja im Foetus nachge¬ 
wiesen hat, macht weiter die für die Beurtheilung der mensch¬ 
lichen Rückenmarkspathologie sehr wichtige Angabe, dass er in 


1) Müllers Archiv 1857, pag. G3. 

2) Comptes rendus des seances et m6moires de la socitHe de Biologie 
V. Serie, 4 Band, 1872, pag. 179 und 185 (erschienen 1874). — Biblio- 
theque de l’Ecole des hautes Sciences, Section des Sciences naturelles, 
Tome X, 1874, Artiele 2. — La pression barometrique, Paris 1878. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


467 


einer Erweichungsstelle des Rückenmarkes noch am 4. Tage 
Gasblasen gesehen hat, die also so lange Zeit hindurch unabsorbirt 
gelegen haben und in ihrer Bedeutung als Embolus irgend einem 
sonstigen körperlichen Injectionsmaterial demnach ganz gleich- 
werthig sind. 

Auch Bert beobachtete regelmässig flir die Symptome eine 
Latenzstadium von 5—15 Minuten nach dem Uebergang aus 
hohem in niedrigen Druck. 

Spätere Experimente Anderer haben diesen Ergebnissen von 
P. Bert nichts pricipiell Neues hinzugefiigt; die oben erwähnten 
Tauchexperimente an Hunden von Catsaras haben ihre Be¬ 
deutung darin, dass die Thiere genau den gleichen Bedingungen 
ausgesetzt wurden, wie die Schwammtischer; die Resultate er¬ 
weitern z. Th. die von Bert gefundenen. 

Catsaras sah freies Gas in der CerebrospinalflUssigkeit, in 
der Art. centralis retinae; in Hirngefässen fand er Blutcoagula 
mit Gas gemischt als Thromben, und hämorrhagische Infarcte 
der Hirnsubstanz in dem Versorgungsbezirk der betreffenden 
Gefässe; auch er hat noch nach Tagen in RUckenmarksarterien 
Gasperlen nachweisen können. 

Angesichts dieser mit grösster Uebercinstimmung von ver¬ 
schiedenen Beobachtern erhobenen ganz eindeutigen Experimental¬ 
befunde ist die Lebensfähigkeit einiger anderer Theorien in der 
Frage der Luftdruckerkrankungen erstaunlich. Das wesentliche 
an diesen Theorien, die namentlich in England und Amerika noch 
Anhänger haben, ist, bei kleinen Modificationen im Einzelnen, die 
Vorstellung, dass der hohe Druck, der auf die äussere Körper¬ 
oberfläche ausgeübt wird. Zustände von RlutfUlle in den Central¬ 
organen hervorrufe, deren plötzliche Veränderung beim Aufhören 
des hohen Druckes durch „Congestion“ oder Anaemie oder sonst 
irgendwie die Nervenelemente schädigen soll; verstärkt soll diese 
Störung dadurch werden, dass Gehirn und Rückenmark in 
knöchernen Kapseln eingeschlossen seien. Diese Anschauungs¬ 
weise beruht auf physicalisch ganz falschen Voraussetzungen; 
sie vergisst, dass unser Körper bei dem allgemeinen Wasser¬ 
gehalt der Organe einem irgendwie hohen Luftdruck gegenüber 
physikalisch im wesentlichen als homogene Flüssigkeitsmenge zu 
betrachten ist, und dass daher für den relativen Druck der 
Organe untereinander — soweit sie nicht lufthaltig sind — 
der äussere Druck nicht in Betracht kommt, da er sich gleich- 
mässig durch den ganzen Körper fortpflanzt. 

Der Inhalt von Schädel und Wirbelsäule macht dabei so 
wenig eine Ausnahme wie etwa gegenüber dem galvanischen 
Strom, für den vermöge ihres Wassergehaltes und der Foramina 
die knöchernen Hüllen bekanntlich auch kein Hindemiss bilden. 
Dass der hohe Druck von 3 und mehr Atmosphären als solcher 
den Ablauf der vitalen Vorgänge im Körper, spcciell die Circu- 
lation nicht stört, wird ja am besten durch die unbehinderte 
Arbeitsfähigkeit der Caissonarbeiter bewiesen. 

Merkwürdiger Weise vertritt noch 1891 Rensselaer (1. c.) 
die Congestionstheorie. 

Eine Abzweigung derselben stellt die Anschauung dar, die 
sogar auch einige Vertreter gefunden hat, dass das Bestreben 
der elastischen gashaltigen Bauchorgane, die durch den Druck 
bedingte Volumenminderung auszugleichen, gewissermaassen wie 
ein Schröpfkopf auf das Rückenmark wirke und dadurch die 
Paralyse erzeuge. 

Gegenüber der physikalisch, experimentell und klinisch gleich¬ 
wohl begründeten Gastheorie haben diese Anschauungsweisen 
nur noch historisches Interesse. 

Die Vorgänge, die sich in dem Organismus der erkranken¬ 
den Druckluft-Arbeiter abspielen,* haben wir uns also folgender- 
maassen vorzustellen. Während des Aufenthalts in der com- 


primirten Atmosphäre wird von dem die Lungen passireudem 
Blute eine mit der Höhe des Druckes und der Dauer des Auf¬ 
enthaltes eventuell bis zur physikalischen Sättigung steigende 
Menge von Gas, hauptsächlich N, weniger 0 und CO.» absorbirt. Bei 
plötzlichem Uebcrgange in gewöhnlichen Druck, bei dem die 
gesammte Menge des Blutes und der allmälig ebenfalls ge¬ 
sättigten Körperflüssigkeiten im gleichen Momente die negative 
Druckschwankung mitmacht, wird überall Gas frei, (genau wie 
in einer geöffneten Sodaw'asserflasche) und zwar an gegebener 
Stelle in um so grösserem Quantum, je grösser dort die zu¬ 
sammenhängende Flüssigkeitsmenge ist z. B. in der Aorta. War 
der Druck, die Aufenthaltsdauer, und damit die Gasmenge gross 
genug, so tritt bei plötzlichem Wechsel wegen multipler Gas- 
embolie in Lunge, Gehirn u. s. w. bald der Tod ein; erfolgt 
der Uebergang so langsam, dass das in massigen Quantitäten 
freiwerdende Gas ohne sich anzusammeln, in den Lungen aus¬ 
geschieden werden kann, so tritt keinerlei Schädigung des Or¬ 
ganismus ein. Zwischen diesen beiden Extremen liegt die ganze 
Pathologie der Luftdruckerkrankungen, die also, dem Quantum 
nach, von rein physikalischen Bedingungen abhängig ist. 

Für die einzelnen Organe kommt Gas von zweierlei 
Herkunft als schädigendes Moment in Betracht, nämlich einmal 
das an Ort und Stelle aus den Gewebssäften frei werdende, 
dann aber, und das wohl in viel grösserem Umfange, das 
embolisch, mit dem arteriellen Blutstrom hingeführte. 

(Für das Centralnervensystem sind die in den grossen 
Venen sich entwickelnden Gasblasen gleichgültig, da diese 
grüs8tcntheils schon in den Lungen aufgehalten werden.) 

Die Art der Schädigung, die im einzelnen Falle sich 
entwickelt, hängt dann, ein gleiches Quantum Gas voraus¬ 
gesetzt, davon ab, in welche Gefässbezirke die Gasblasen ver¬ 
schleppt werden, in gleicher Weise, wie bei Injectionsversuchen 
mit irgend welchen corpusculären Elementen; zum Theil ist dies 
gewiss rein zufällig, zum Theil wird es von der anatomischen 
Anordnung der Gefässe (Abgangswinkel, Caliber der Verzwei¬ 
gungen und dem relativen GrÖssenverhältniss derselben zu den 
Gasblasen) beeinflusst. So kommt es, dass das eine Individuum 
Geleukschmerzen, das andere Muskelschmerzen, das dritte cere¬ 
brale Erscheinungen, das vierte eine spinale Aflection u. s. w. 
davonträgt. 

In den Organen selbst hängen die Folgen der Gaserabolie 
von der grösseren oder geringeren Leichtigkeit ab, mit der bei 
Verstopfung eines arteriellen Zweiges ein collateraler Kreislauf 
sich ausbilden kann; und dieser Umstand ist der einfache Grund, 
warum das Centralnervensystem mit der grossen Zahl seiner 
„Endarterien“ erfahrungsgemäss ganz besonders zu den Luft¬ 
druckerkrankungen disponirt ist. Die grosse Empfindlichkeit, 
mit der die nervösen Elemente in ihrer Function und histologi¬ 
schen Structur auf Ernährungsstörungen reagiren, sowie die 
Thatsache, dass für die Function ein vicariirendes Eintreten 
gesund gebliebener Nachbarelemente, wie in anderen Organen, 
im Centralnervensystem nicht stattfindet, macht verständlich, dass 
selbst eine für die Lunge z. B. unschädliche Menge embolisch 
verschleppter Gasblasen im RUckenmarke deutliche Störungen 
verursachen kann. 

Eine weitere Frage ist nun, warum gerade das Dorsalmark 
und hier wiederum die weisse Substanz der Seitenstränge und 
Hinterstränge der Prädilectionssitz der Luftdruckerkrankungen 
ist; (dass alle möglichen anderen cerebralen und spinalen Locali- 
sationen, spcciell völlige Querschnittserweichung bei grossen Gas¬ 
mengen ebenfalls Vorkommen, ist oben schon erwähnt). 

Dass von den Querschnittsbezirken bei Einwirkung mecha¬ 
nischer Schädlichkeiten massigen Grades die hinteren Theilc der 
Seitenstränge und die Hinterstränge oft zuerst Noth leiden, dass 

2 * 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 22. 


408 


die weisse Substanz eher erkrankt, als die graue, ist eine Er¬ 
fahrung, die man bei leichten Compressionen des Markes machen 
kann; dort wie hier besteht a priori die Wahrscheinlichkeit, dass 
von den Gefässen abhilngige Eigenthllmlichkeiten in der Intensität 
der Ernährung der Gewebselemente die Ursache dieser Erschei¬ 
nung sind. 

Bruns') hat vor Kurzem in sehr plausibler Weise die ver¬ 
schiedenen Formen der „Myelitis“ aus infcctiösen oder 
toxischen Ursachen in ihrer Verbreitungsweise auf dem Quer¬ 
schnitte mit der anatomischen Verbreitungsweise der Rticken- 
marksgefässe in Beziehung gesetzt; er stutzt sich dabei haupt¬ 
sächlich auf die neueren Untersuchungen, deren Resultate 
Kadyi 1 2 ) in einer grossen Monographie niedergelegt hat. Die 
von diesem Autor nachgewiesenen gesetzmässigen Verhältnisse in 
der feineren Anordnung der ItUckenmarksgefässe erschliessen, 
wie ich gleich zeigen will, fUr die spinalen Luftdruckerkran¬ 
kungen das Verständniss, warum in der Regel die oben ge¬ 
nannte Vertheilung der pathologischen Veränderungen und keine 
andere ein tritt. 

Kadyi beschreibt, dass die von den Artt. vertebrales, 
cervicales profundac, intercostales, lumbales u. s. w. an das 
Rückenmark herantretenden arteriellen Aestchen sich an dem¬ 
selben in 3 Tractus anordnen, einem vorderen unpaarigen, und 
den beiden „Tractus arteriosi posterolatcrales“; aus jenem dringen 
in den Sulcus anterior die Gefässe ein, die als Centralarterie 
nicht ausschliesslich, aber vorwiegend die graue Substanz ver¬ 
sorgen; ans den seitlichen Tractus entspringen die kleineren 
peripheren Arterien, welche sich in die weisse Substanz ver¬ 
zweigen; der Verbreitungsbezirk beider Gebiete deckt sich in 
seiner Grenze nicht genau mit der Grenze von grauer und weisser 
Figur; ein Drittel des Querschnittes etwa ist, in individuell 
schwankender Weise, strittiges Gebiet zwischen beiden Arterien¬ 
bezirken. 

Die von den hinteren seitlichen Tractus stammenden Arte¬ 
rien der Seitenstränge und Hinterstränge sind nun von durch¬ 
schnittlich so geringem Caliber, dass selbst die stärksten 
von ihnen mit den Centralarterien keinen Vergleich aushalten. 

Bruns leitet aus diesen Caliberverhältnissen für die Myelitis 
die Wahrscheinlichkeit ab, dass es eher Vorkommen kann, dass 
ein Gift von einer oder mehreren Central arte rien aus einzelne 
Theile der grauen Substanz, und nur diese allein, zur Entzün¬ 
dung bringen kann, als dass es ohne Betheiligung der Central¬ 
arterien in die vielen kleinen Randarterien eindringt; da es sich 
um chemische oder bacilläre Schädlichkeiten handelt, ist diese 
Erwägung gewiss zutreffend. Für die Frage der Gasembolie, 
als einer im Verhältniss zu einer Intoxication oder Infcction 
grobmechanischen Schädlichkeit liegt die Wahrscheinlichkeit 
genau umgekehrt; Gasblasen von einem bestimmten Caliber 
werden um so eher stecken bleiben, je kleiner das Lumen der 
betreffenden Arterie ist, oder, um es noch anders auszudrUcken, 
Gasblasen, die eine Randarterie sofort total verlegen, werden 
in den Centralarterien erst in späteren Verzweigungen von 
kleinem Verbreitungsbezirke aufgehalteu, so dass nur eine ge¬ 
ringe Gewebsausschaltung resultirt. 

Ich bin also der Meinung, dass es die anatomische An¬ 
ordnung der Gefässe ist, die es bei einer nicht zu grossen 
Ueberschwemmung des arteriellen Blutstromes mit Gasblasen be¬ 
wirkt, dass nur die weisse Substanz der Hinterstränge und 
Seitenstränge erkrankt; bei reichlicherer Gasbildung, wie z. B. 
bei zahlreichen Experimentalthiereu, hört diese Caliberfrage 

1) Neurolog. Centralbl. 1890; pag. 518. 

2) Ueber di«; Blutgefässe des menschlichen Rückenmarkes, Lem¬ 
berg 1889. 


der Gefässe auf, für die Auswahl von Bedeutung zu sein; es 
werden dann auch die grösseren Gefässe des Querschnittes obli- 
terirt und es resultirt die totale Querschnittserweichung. 

Auch das Vorwiegen der Erkrankung des Dorsalmarkes 
wird durch das Studium der feineren Beziehungen der Gefässe 
des Rückenmarkes dem Verständniss wenigstens näher gebracht. 

Zunächst ist das Lumen der hinteren seitlichen Arterien- 
tractus im Dorsalraarke beträchtlich kleiner, als im Halstheil 
und Lendentheil (vergl. z. B. Kadyi, Tafel I, Figur 2), so dass 
schon die eben auseinandergesetzte Calibertheorie dem Dorsal¬ 
marke eine besondere Stellung einer embolischen Schädlichkeit 
gegenüber anweisen würde; dann aber walten im Dorsaltheile 
noch andere besondere Verhältnisse ob. 

Kadyi weist nach, dass für jedes Rückenmarkssegment ur¬ 
sprünglich die gleiche Anzahl von Gefässen angelegt ist, dass 
also der einer einzelnen Arterie zur Versorgung zufallende Be¬ 
zirk um so länger ist, je mehr ihr Segment sich in die Länge 
streckt; im Dorsaltheile mit seinen grossen Entfernungen von 
Wurzel zu Wurzel finden wir also — bei dem kleinsten 
Caliber — die längsten verticalen Arterienverzwei- 
gungen, und es ist klar, dass — ceteris paribus — hier 
eine Ausschaltung einer Arterie von grösserer Bedeutung ist, 
als im Halsmarke oder im Lendentheil. Leyden weist in 
seiner ersten Arbeit, zur Erklärung der Praedisposition 
des Dorsalmarkes bei den Caissonerkrankungen darauf hin, dass 
dieser RUckenmarkstheil überhaupt weniger fest sei, leichter 
cadaverös zerfalle, sich schlechter härte u. s. w.; das ist allen 
Untersuchern bekannt; der Dorsaltheil erkrankt bei plötzlichem 
Sinken des Druckes aber nicht, weil er weniger fest ist, sondern 
diese geringere Resistenz unter verschiedenen Umständen und 
die Prädisposition bei den Luftdruckerkrankungen haben beide 
denselben Grund, der in der relativ schlechten Gcfäss- 
versorgung zu suchen ist. 

Es bleibt nun immer noch die Frage, welcher Art im histo¬ 
logischen Bilde die Vorgänge sind, die sich an das Freiwerden 
von Gasen aus dem Blute im Centralnervensysteme, speciell im 
RUckenmarke, unmittelbar anschliessen. 

Es muss dabei gesagt werden, dass die vorliegenden mikro¬ 
skopischen Untersuchungen am menschlichen RUckenmarke, von 
denen der günstigste Fall noch 15 Tage nach Beginn der Para¬ 
plegie gelebt hatte, zur Lösung dieser Frage wenig beitragen 
können; wir sahen in allen Fällen als wesentlichen Befund herd¬ 
weise angeordneten Zerfall, sogen, „reactive Entzündung“, und 
Resorptionsphänomene; (die Spaltbildung ist in ihrer Deutung 
zweifelhaft). Die Thierexperimente sind in mikroskopischer 
Hinsicht bisher nicht genügend ausgenützt worden. 

Immerhin stimmt das vorliegende zum Theil schon erwähnte 
Material von den wenige Stunden oder Tage nach dem Beginn der 
experimentell erzeugten Paraplegie u. s. w. getödteten und unter¬ 
suchten Tliiere durchaus zu den oben entwickelten Anschauungen. 

Von besonderer Bedeutung erscheint da der Nachweis der 
in den Hirngefässen gefundenen, aus Blut und Gas gemischten 
obliterirenden Coagula, sowie namentlich die Beobachtung, dass 
noch nach mehreren Tagen die Gasperlen in den Ge¬ 
fässen der erweichten Partien des Rückenmarkes 
gelegen haben. Es ist damit die mechanische Gleichwerthigkeit 
der Gasembolie mit anderen Embolien als circulationsbehindem- 
des Moment nachgewiesen. 

Dass das Gas so lange unabsorbirt bleiben kann, liegt ein¬ 
mal sicherlich an der localen Stase und Coagulation in der 
Nachbarschaft der Gasembolie, dann aber auch daran, dass es 
eben nicht 0 oder CO„ sondern N ist, der vom Blut weniger 
leicht aufgenommen und ausgeschieden wird. 


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BERLIN KR KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


3L ^aU 897. 

Für das Gewebe in dem betroffenen Verbreitungsbezirke 
hört bei dem Charakter der Rilckenmarksarterien als Endarterien 
(Kadyi) die Circulation mit dem Momente der Embolie auf; 
die nervösen Elemente verfallen dem Untergang, der sich, wie 
bekannt, zunächst als Axencylinderquellung, dann als Zerfall der 
Faser präsentirt; die übrigen Erscheinungen: Auftreten der 
Körnchenzellen, Veränderungen an den Gefäss wänden u. s. w. sind 
secundären Charakters. 

Man kennt diese Vorgänge im Rückenmark bei Paraplegien 
aus anderer Ursache, bei denen aber derselbe I’rocess der 
ischämischen Erweichung stattfindet, nämlich bei den nicht allzu 
seltenen Querschnittsaffectionen infolge von luetischer End- 
arteritis spinalis und in den seltenen Fällen von Quer¬ 
schnittserweichung bei tuberculöser Cerebrospinal¬ 
meningitis. Schon vor 10 Jahren habe ich, in einer wenig 
beachteten Arbeit 1 ) auf Grund von zwei Fällen die Querschnitts¬ 
erkrankung bei spinaler tuberculöser Meningitis von der Myelitis 
abgesondert und auf thrombotische Vorgänge infolge Gefäss¬ 
verschluss durch tuberculöse Wucherung der Wandungen zurück- 
geführt. 

Für den Effect ist es natürlich gleichgültig, ob es, wie bei 
Lues und Tuberculöse, eine Thrombose der Arterien, oder, wie 
bei den Luftdruckerkrankungen, eine Embolie ist, was die Cir¬ 
culation aufhält. 

Ich bin der Ueberzeugung, in der mich Schmaus 2 ) nicht 
wankend gemacht hat, dass auch die Rückenmarkserwei¬ 
chung bei langsamer Compression die sogenannte „Com- 
pressionsmyelitis“ zum guten Theil auf ischämische Processe 
zurückzufUhren ist; die zartwandigen Randarterieu von kleinem 
Caliber erleiden eben bei äusserem Drucke leicht eine Verlegung 
ihres Lumens und damit eine Unterbrechung der Circulation. 

Das Oedem, welchem Schmaus eine so grosse Bedeutung 
beilegt, ist bei reiner Compression, ohne fortgepflanzte Entzün¬ 
dung von aussen her, doch wohl secundär, jedenfalls kaum die 
Hauptursache der RUckenmarkserweichung. 

Die an Ort und Stelle in Rückenmarke frei werdenden Gas¬ 
blasen dürften kaum jemals in solchen Mengen auftreten, dass 
sie eine Gewebszertrümmerung herbeiführen könnten; da¬ 
gegen ist ihre Anwesenheit insofern nicht gleichgültig, als sie 
vielleicht im Stande sind, eine „innere Compression“ auf die von 
der wenig elastischen Pia umschlossenen Rückenmarkselemente 
auszuüben. — Zur weiteren Aufklärung dieser Fragen wären 
bei der Leichtigkeit, mit der, wenn einmal die Apparate be¬ 
schafft sind, die Erzeugung von Luftdruckparaplegien bei Thieren 
gelingt, weitere Untersuchungen wünschenswerth, die die Histo¬ 
logie der fraglichen Processe an einer Reihe von Thieren mit 
successive verschiedener Lebensdauer als Untersuchungsobject 
hätten. 3 ) 

Wie erklärt sich nun endlich das bei Arbeitern und Ex- 
perimentalthieren in gleicherweise beobachtete Latenzstadium? 
Ich glaube nicht, dass die von Leyden und Goldscheider 
(1. c. pag. 35» >) entwickelte Ansicht zutrifft, dass nämlich nicht 
die Verletzung der RUckenmarksubstanz oder der Gefässe un¬ 
mittelbar, sondern die entzündlichen Reactionsvorgänge die klini- 


1) Archiv für Psychiatrie, XIX pag. 224 ff. 

2) Die Compressionsmyelitis bei Caries der Wirbelsäule. Wies¬ 
baden 1890. 

3) Aninmerkung bei der Correctur: Ich erhalte soeben die 
persönliche Mittheilung, dass in Wien die Herren DDr. Heller, Mager, 
v. Sehrötter an zahlreichen experimentell decomprimirtcn Hunden 
genaue mikroskopische Untersuchungen des Centralnervensystemes ange¬ 
stellt und Nekrosen der weissen nnd grauen 8ubstanz mit subsequenter 
Höhlenbildung gefunden haben. Die Publication ihrer Ergebnisse erfolgt 
in 4 bis 5 Monaten. 


409 

sehen Erscheinungen hervorrufen; es ist ganz unwahrscheinlich, 
dass schon nach eventuell wenigen Minuten diese entzündlichen 
Vorgänge ausgebildet sein sollten. Das Latenzstadium erklärt 
sich aus zwei Gründen: erstens dauert es eine gewisse Zeit, bis 
eine Reihe von Pulsschlägen eine genügende Menge Gasblasen 
erabolisch in das Rückenmark befördert hat, und zweitens ist nicht 
im Momente der Embolie, namentlich wenn sie klein ist, sofort 
ein spinaler Function saus fall zu erwarten; die Paraplegie 
tritt ein, wenn sich eine Anzahl von ischämischen Stellen zu 
einer Querschnittsläsion von grösserer oder geringerer Intensität 
zu8ammenaddirt hat. 

Die nervösen Elemente verfallen bei Gefässverschluss schon 
nach zwei Stunden (Cohnheim) der Erweichung; länger also 
darf die Wiederabsorption frei gewordener Gasperlen nicht auf 
sich warten lassen, wenn eine ganz rasche Restitutio ad 
integrum eintreten soll; in der That finden wir in den leichtesten 
Fällen Erscheinungen, die in dieser Zeitspanne sich wieder aus- 
gleichen. Dass die Prognose auch der nicht ganz leichten Formen 
eine relativ günstige ist, liegt sicherlich an dem gasigen Charakter 
der Embolie, die immerhin sehr viel rascher zum Verschwinden 
kommt, als irgendwelche embolischen corpusculären Elemente. 

Die Fälle von Luftdruckerkrankung haben neben dem grossen 
wissenschaftlichen Interesse, welches ihnen innewohnt, in socialer 
Beziehung eine gewisse Bedeutung, nämlich in der Frage der 
Unfallentschädigung. 

Sind Caissonerkrankungen als Unfall im Sinne des Gesetzes 
aufzufassen ? 

In einem unserer Fälle ist diese Frage uns vom Reichs¬ 
versicherungsamt vorgelegt worden, und wir haben nicht ge¬ 
zögert, sie im positiven Sinne zu beantworten. 

Es ist keine Erkrankung, die, wie Bleivergiftung oder Phos¬ 
phornekrose, chronisch im Betriebe erworben wird, sondern 
eine acute, durch eine „Betriebsstörung“ entstandene Läsion, 
woran der Umstand nichts ändert, dass diese Betriebsstörung 
nur darin besteht, dass der Vorarbeiter, entgegen den Vor¬ 
schriften, zu früh den Act der Ausschleusung vornimmt. 

Wenn wir das gesammte, auf klinischem, experimentellem und 
anatomischem Wege gewonnene Material überblicken, so lassen 
sich in aller Kürze folgende Schlussergebnisse formuliren: 

Die Luftdruckerkraukungen des Centralnervensystemes be¬ 
ruhen darauf, dass bei zu raschem Uebergange vom hohen in 
niedrigeren Druck im Blute und sonstigen Gewebsflüssig¬ 
keiten Gas frei wird, und zwar vorwiegend Stickstoff, 
weniger Sauerstoff und Kohlensäure. 

Die Quantität des frei werdenden Gases bestimmt im grossen 
und ganzen die Schwere der Erkrankung. 

Das Gas wird in Bläschenform embolisch in die 
Arterien des Centralnervensystem mitgeführt, wo es 
durch Verstopfung der Endarterienäste ischämische Er¬ 
weichung erzeugt; neben diesem Vorgänge spielt die Zer- 
reissung des Gewebes durch an Ort und Stelle frei werdende 
Gasblasen eine untergeordnete Rolle. Die Vertheilung der Gas¬ 
blasen auf die einzelnen Abschnitte des Centralnervensystemes 
ist zum Theil vom Zufall abhängig; dagegen verdankt der mit 
einer gewissen Gesetzmässigkeit auftretende Haupttypus der Er¬ 
krankung, die dorsale Paraplegie, seine Entstehung gerade 
in dieser Form bestimmten gesetzmässigen Eigentüm¬ 
lichkeiten in der Anordnung der Blutgefässe des 
Rückenmarks. 

Der Umstand, dass es sich um gasförmige, immerhin leicht 
resorbirbare Emboli handelt, bedingt die relativ güngstige Pro¬ 
gnose der Luftdruckerkrankungen. 


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470 


BERLINER KLINISCIIE WOCHENSCHRIFT. 


No. 22. 


IU. Beitrag zur Casuistik der Hirntumoren mit 
Sectionsbefund. 

• Von 

Dr. Kempner, Augenarzt, und Dr. von Fragstein, Nervenarzt, 
in Wiesbaden. 

Herr Fischer, ein 62jäbriger, rüstiger Mann, früher Kunstschlosser, 
angeblich stets gesund gewesen, nie inflcirt, consnltirte mich am 9. März 
1892 wegen Sehstörungen. Anamnestisch erfuhr ich von der Wirthin 
des Patienten, dass er Anfang Februar 1892 auf der Strasse einen apo- 
plectiformen Anfall gehabt haben soll. Er wurde eines Nachmittages 
daselbst von einem seiner Bekannten bleich nnd wankend angetroffen 
ohne weiter fortkommen zu können. Nach der Ursache seines Verhaltens 
befragt, gab er keine Antwort und schien ganz verwirrt. — Er machte 
nicht den Eindruck eines Betrunkenen, wiewohl er Potator war. Als er 
hierauf von seinem Freunde unter beständigem Schwanken mühsam nach 
Hause geleitet wurde, war er ausser Stande, Jemand von seiner Um¬ 
gebung zu kennen, ebenso wenig die an ihn gerichteten Fragen über 
seinen Zustand zu beantworten. Nach einer sehr unruhigen und schlaf¬ 
losen Nacht kehrte am nächsten Tage die Sprache wieder, indess sprach 
er nur verwirrtes Zeug und wusste von dem Zufall auf der Strasse nicht 
das Mindeste. — Diese geistige Störung und Gedächtnisschwäche dauerte 
etwa 8 Tage, erst dann besserte sich langsam das Sensorium, er gab 
von nun an auf die an ihn gerichteten Fragen vernünftige Antworten, 
klagte über Kopfschmerzen und schlechtes Sehen. 

Bei der nun vorgenommenen Augenuntersuchung konnte Folgendes 

constatirt werden: S. R. = ^ E., S. L. = — E., — Pupillen von nor¬ 
maler Grösse, reagiren normal auf Lichteinfall. Der Bewegungsapparat 
der Bulbi ohne Functionsstörung. — Ophthalmoskopisch ergiebt sich 
nichts Abnormes. Gesichtsfelduntersuchung zeigt linksseitige homonyme 
verticale Hemianopsie; Harn frei von Eiweiss und Zucker. Ordination: 
Jodkalium. Patient sollte sich binnen 14 Tagen wieder zur Untersuchung 
einstellen, blieb jedoch aus und erst etwa im Verlauf eines Jahres bot 
sich Gelegenheit, ihn wiederzusehen. Vom behandelnden Collegen wurde 
Folgendes in Erfahrung gebracht: Im Sommer klagte Patient oft über inten¬ 
siven Kopfschmerz, der weder durch Ruhe beseitigt wurde, noch der mcdica- 
mentösen Behandlung weichen wollte, und der namentlich am Hinterkopf 
sich zur Unerträglichkeit steigerte. Dabei soll er ganz apathisch gegen 
seine Umgebung geworden sein und der sonst früher lebenslustige Mensch 
zeigte nicht die geringste Lebensfreude, stundenlang sasa er in seinem 
Zimmer ohne jegliche Beschäftigung vor sich hinbrütend. Beim Schreiben 
oder Lesen von Briefen zündete er bei hellem Tage fast stets eine 
Kerze an, im Glauben, er befinde sich im Finstern. Die Angst, be¬ 
stohlen zu werden, plagte ihn unaufhörlich, er untersuchte beständig die 
Schlösser der Schubladen und Thiiren, um sie auf ihre Sicherheit zu 
prüfen. Das Gedächtniss batte stark gelitten, er vergass das Nächst¬ 
liegende, während er sich auf Erlebnisse vor 30 Jahren sehr gut zu be¬ 
sinnen wusste. Auf Befragen der Wirthin, wie ihm der vor einer Viertel¬ 
stunde verspeiste Hering geschmeckt hätte, wusste er überhaupt nicht, 
einen solchen genossen zu haben. Wenn er Nachmittags ausgeben 
wollte, pflegte er 3—4 vollständige Anzüge dem Klciderschrank zu ent¬ 
nehmen, dieselben ordnungsgemäss aufs Bett neben einander zu legen, 
um einen passenden zu wählen und anzuziehen. Inzwischen setzte er 
sich auf einen 8tubl, vergass das Anziehen und das Ausgehen. Auf der 
Strasse klagte er oft bei hellem Tage über Dunkelheit, tastete mit dem 
Stock umher, um sich über seinen Weg zu vergewissern, so dass seine 
Umgebung dies Gebahren für eine fixe Idee seinerseits hielt und ihn 
für geistesgestört erklärte. Seit Anfang November stellte sich grosse 
Aufregung, Unruhe und Schwindel ein. Die Nächte waren Bchlaflos 
wegen der wiithenden Kopfschmerzen. Seit dem 6. Deccmber steigerten 
sich dieselben und waren täglich von Erbrechen, sowohl nach der Speise¬ 
aufnahme, als auch unabhängig davon, begleitet. Das Erbrechen lin¬ 
derte nicht die Kopfschmerzen. Zu diesem Symptomcncomplex gesellte 
sich von Neuem zeitweise Bewusstlosigkeit, der wieder liebte Momente 
folgten, sobald der Kopfschmerz nachgelassen hatte. Das Sehvermögen 
hat noch mehr gelitten, Patient erkennt jetzt kaum Jemand von seiner 
Umgebung. 

Der am 27. Februar 1893 aufgenommene Befund ergiebt Folgendes: 
Stupider Gesichtsausdruck. Erst nach wiederholtem Anreden und Fragen 
erhält man eine kurze Antwort. Auf wiederholtes Befragen nach etwaiger 
luetischer iDfection wird dieselbe entschieden in Abrede gestellt, auch 
lassen sich keine äusseren Anzeichen (Exanthem, Drüsenanschwellung) 
wahrnehmen. — Sowohl am Herzen, welches normale Grenzen und keine 
Aftergeräusche aufweist, als auch an den Lungen ist, wie die physi- 
calische Untersuchung ergiebt, nichts Besonderes aufzuflnden. — An den 
Augen ist äusserlich nichts Abnormes wahrnehmbar. Die Sehschärfe ist 
beiderseits auf Fingerzählen in 6—8 Fuss Entfernung reducirt. Pupillen 
beide gleich gross, von normaler Weite, zeigen normale Reaction auf 
Lichteinfall. Ophthalmoskopisch beiderseits Stauungspapille, zahlreiche 
Ilämorrhagien in der Retina und der Gegend der Macula lutea. Die 
Venen der Retina sind stark gefüllt und geschlängelt, Arterien dünn. 
Gcsichtsfeldaufnahme lässt sich nicht ausführen. — Harn frei von Ei¬ 
weiss und Zucker; Herzgrenzen und Töne normal. Das Gehen ist 
äusserst mähsam und unsicher. Patient muss geführt werden. Ataxie 


ist nicht vorhanden, dagegen Schwäche und Zittern in den Beinen. Harn 
geht oft spontan ab; Stuhlverstopfung und Meteorismus. Im Bett gross© 
Unruhe und Aufregung. Patient will oft Nachts ans dem Bett auf die 
Strasse. Unter Fortbestehen obengenannter Symptome erfolgt am 
25. März 1893 unter clonischen Krämpfen des ganzen Körpers, welche die 
ganze Nacht änhielten, der Exitus lethalis. — Die Diagnose lautete: 
Tumor (Gliom) im rechten Occipitallappen. 

Autopsie. Eine kräftig entwickelte, mit reichlichem Fettpolster 
versehene männliche Leiche, zeigt an der Rückenfläche zahlreiche Todten- 
flecke. Der Leib ist hochgradig tympanitlsch aufgetrieben. An der 
übrigen Körperfläche nichts Bemerkenswerthes. Die Lungen beider¬ 
seits an ihren Spitzen durch Adhäsionen verwaschen, zeigen nichts 
Krankhaftes. Das Herz, von mittlerer Grösse, liegt in der Ausdehnung 
eines Handtellers frei zu Tage. Im Herzbeutel etwa 20 gr einer 
klaren, leicht gelblichen Flüssigkeit, nirgends Adhäsionen zwischen Peri- 
und Epicardium, reichliches epicardiales Fett. Die Muskulatur schlaff, 
zeigt ein verwischtes Aussehen, indess sind keine gelblichen Streifungen 
wahrnehmbar. Die Klappen intact, keine Verdickungen oder frisch ent¬ 
zündliche Processe. Magen und Därme hochgradig meteoristisch auf¬ 
getrieben, sonst nichts Bemerkenswerthes. Die Magenschleimhant an 
der grossen Curvatur stark bluthaltig, im Uebrigen keine Veränderungen. 
Die Leber, von normaler Grösse, zeigt nirgends Adhäsiohen oder Ver¬ 
dickungen der Kapsel. Beim Schnitt erscheint das Gefüge derb, die 
Acini auf der Schnittfläche Behr wesentlich hervortretend, sie selbst 
zeigt eine gelbliche Färbung. Die Gallenblase durch Galle stark aus¬ 
gedehnt. — Auf den Nieren beiderseits starke Fettauflagerungen, die 
Kapsel ohne allen Substanzverlust leicht abziehbar, die Schnittfläche der 
Nieren zeigt ein verwaschenes Bild, selbst die Pyramiden lassen keine 
deutliche Zeichnung erkennen. Die Milz von normaler Beschaffenheit. 
Die Dura mater strotzend mit dunklem Blut gefüllt, ebenso die Sinus. 
Verdickungen an der Oberfläche sind nicht vorhanden, überall erscheint 
sie glatt und glänzend. Die Pia ebenfalls stark hyperämisch, auf der 
Convexität des Hirns hat sie mehr oder weniger durebgehends ein ver¬ 
wischtes trübes Aussehen, namentlich zeigt sich dies in der Nähe der 
Blutgefässe, besonders deutlich ausgeprägt. Im Verlaufe derselben be¬ 
merkte man gelblich-weisse Streifen, die bald mehr, bald weniger breit 
erschienen und sehr entwickelt in der unmittelbarsten Nähe der grossen 
und kleinen Venenstämme hervortreten, welche sich in der Scheitel¬ 
gegend in den Sinus longitudinalis entleeren. An der Pia der Basis ist 
nichts Auffallendes zu bemerken, der Circulus Willisii zeigt aus¬ 
gedehnte atheromatöse Entartungen. — Die Nerven der Hirnbasis durch¬ 
gehend von normalem Aussehen und Volumen, namentlich gilt dies auch 
vom Nerv, und Tractus opticus. Die Pia leicht und ohne jeglichen Sub- 
Btanzverlust von der Hirnoberfläche abziehbar. Das Hirn von weicher 
Consistenz, die Schnittfläche von sehr zahlreichen Blutpunkten durch¬ 
setzt. 

Bei der Herausnahme des Hirns aus der Schädelhöhle zeigt sich 
eine ziemlich bedeutende Menge einer gelblichen klaren Flüssigkeit; die 
Ventrikel, prall gespannt, entleeren beim Einschnitt ein grosses Quantum 
Flüssigkeit von derselben Beschaffenheit. 

Die Beschreibung der Herderkrankung im Gehirn, welche in Müller¬ 
scher Flüssigkeit aufbewahrt wurde, ist der Freundlichkeit des Herrn 
Medicinalrath Prof. Dr. Wernicke zu verdanken. Sie lautet folgender- 
maassen: „An der linken Hemisphäre ist die Uebergangsstelle vom 
Splenium corporis callosi in die Innenwand des Hinterhorns des Seiten¬ 
ventrikels röthlich verfärbt und von weicher Consistenz, die abgestrichene 
Flüssigkeit von dieser Stelle zeigt mikroskopisch spärliche Körnchen- 
zellcn, besonders in der Nähe von Gefässen. Das Splenium corporis 
callosi ist ebenfalls weich und zeigt denselben Farbenton, wird jedoch 
nach rechts zu intensiver und das Gewebe nimmt ein zelliges Aussehen 
an. Abgestrichene Massen von der Uebergangsstelle der Splenium in 
die Wand des rechten Hinterhorns ergeben massenhafte Körnchenzellen. 
Dieses zellenreiche Gewebe setzt sich nach aussen mehrere Centimeter 
weit in die Marksubstanz des rechten Hinterhauptlappens fort und geht 
hier in eine das Marklager ersetzende tumorartige Masse von markiger 
und etwas zelliger, reichlich von anscheinenden Gefässräumen durch¬ 
setzten Beschaffenheit über. An der vorderen Grenze dieses Tumors 
ist eine apoplectische Narbe vorhanden. Der Tumor setzt Bich in der 
rechten Hemisphäre auch in die Hakenwindung des Scbäfenlappens bis 
in die Spitze des Unterhorns des Ventrikels fort.“ 

Die mikroskopische Untersuchung des Tumors erweist denselben als 
Gliom, bestehend aus kleinen, den gewöhnlichen Kernen der Neuroglia 
ähnlichen Zellen mit reichlicher Vascularisation. 

Anatomische Diagnose: Körnige Trübung der Leber mit Fett¬ 
einlagerung, — körnige Trübung der Nieren und des Herzens, — Con- 
vexitätsmeningitis, — Atherosc der Hirngefässe, — Tumor cerebri mit 
theilweiser Erweichung. 

Fassen wir das Symptomenbild intra vitam nochmals zu¬ 
sammen, so fand es seinen Ausdruck in zum Theil sehr heftigen 
Kopfschmerzen, die ihren Sitz vorwiegend im Hinterkopf hatten, 
begleitet von wiederholtem Erbrechen, in Schwindel, Delirien, 
Gedächtnisschwäche für jllngst Erlebtes und psychischen Störungen. 
Lues wurde geleugnet und die Lungen wurden frei von tuber- 
culösen Erscheinungen befunden. Ob ein Trauma in irgend 
einer Periode seines Lebens auf den Kopf eingewirkt, konnte 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


471 



nicht ©ruirt werden, ebenso wenig Hess sich feststellen, ob eine 
hereditäre Belastung vorlag. Schon dieser Syraptomencomplex 
legte die Verrauthung nahe, dass die Wahrscheinlichkeit eines 
Hirnleidens vorlag, immerhin war cs bei fehlenden Motilitäts- 
und Sensibilitätsstörungen schwer, sich ein prägnantes Bild von 
der Natur des Leidens zu construiren. Hierfür gab indess der 
ophthalmoskopische Befund sehr werthvolle Aufschlüsse. In 
erster Linie waren es die Stauungspapillen, die Uber die Natur 
der Erkrankung zu Schlüssen berechtigten, dann aber gab das 
Vorhandensein einer linksseitigen homonymen Hemianopsie einen 
sehr wichtigen Fingerzeig für das Wesen der Affection. Frei¬ 
lich musste bei den furibunden Delirien mit den intensiven Kopf¬ 
schmerzen vor dem Exitus lethalis mit einer das Grundübel be¬ 
gleitenden Meningitis gerechnet werden, indess trat die Annahme 
eines Tumors auf Grund der ophthalmoskopischen Ergebnisse so 
sehr in den Vordergrund, dass an eine Meningitis nur nebenher 
gedacht wurde. Es drängte sich nun weiter die Frage auf, 
welcher Natur war der Tumor und wo war sein Sitz? Da Pa¬ 
tient jemals syphilitisch gewesen zu sein, hartnäckig leugnete, 
da ferner auch nirgends syphilitische Anzeichen bemerkbar 
wurden, so musste der Gedanke an ein Syphilom fallen gelassen 
werden. Ebenso wurde auch die Möglichkeit eines Tuberkels, 
da auch nach dieser Richtung hin keine feste Unterlage auf- 
gefunden werden konnte, von der Hand gewiesen. Der Wahr¬ 
scheinlichkeit am nächsten lag das Vorhandensein eines Tumors, 
welcher seine Entstehung der nervösen Stützsubstanz verdankt, 
also Gliom oder Sarkom. — Da ein apoplectiformer Anfall 
zweifellos vorhanden gewesen und die Gliome erfahrungsgemäss 
oft sehr vascularisirte Neubildungen sind, die nicht selten zu 
Blutungen Veranlassung geben, so wurde zunächst an ein Gliom 
gedacht. Schwieriger war die Frage, den Sitz des Tumors zu 
bestimmen. Ausgeschlossen war von vornherein der Sitz des¬ 
selben in oder am Nervus opticus wegen der bestehenden 
Hemianopsie. Es blieb daher nur die Möglichkeit, anzunehmen, 
denselben in den rechten Tractus opticus oder, was wohl noch 
wahrscheinlicher war, in die Sehstrahlung zwischen Tractus 
opticus und die Rinde des rechten Occipitallappens, beziehungs¬ 
weise in diese selbst zu verlegen. Wie der Sectionsbefund er¬ 
geben, hatte sich die Vermuthung bestätigt, es handelte sich in 
der That um eine frische Convexitätsmeningitis, sowie um einen 
zum Theil in Erweichung Ubergegangenen Tumor mit apoplecti- 
scher Narbe, dessen Sitz vollauf den ophthalmoskopischen Be¬ 
fund erhärtete. Auch der intra vitam erfolgte apoplectische In¬ 
sult findet seine Erklärung in dem anatomischen Substrat (Hirn¬ 
blutung mit narbiger Schrumpfung). Zu betonen wäre endlich 
noch, dass auch in unserem Falle die Herderkrankung im Balken, 
wie dies ja auch von anderen Autoren durch Autopsien erwiesen 
ist, sowohl die Motilität, als auch Sensibilität und Coordination 
•intact liess. 

IV. Aus der inneren Abtheilung des Herrn Geheim¬ 
rath Ewald am Augusta-Hospital in Berlin. 

Ueber Gastroptose. 

Von 

Dr. Leop. Kuttner, 

Asststenz-Arat der med. Poliklinik am Augnsta-Uospital in Berlin nnd 
Dr. Djer ans Portland, Maine in Amerika. 

(Schluss.) 

Ebenfalls nervös dyspeptische Erscheinungen beobachtete 
Landau 1 ) bei Vorhandensein von Wanderleber und Hängebauch 
und genau denselben Symptomencomplex von neurasthenischen 

1) Land an, Wanderleber nnd Ilungcbauch der Frauen. 1885. 


allgemeinen Erscheinungen bezog Glenard auf Entcroptose, 
und was von der Enteroptose gilt, wurde von den einzelnen 
Autoren übertragen auf die häufigsten Theilerscheinungen dieser 
Erkrankung, auf die Nephroptose und auf die Gastroptose. 

Ist es nun wirklich nöthig, oder auch nur möglich, dass die 
bestehenden Veränderungen die Ursachen der nervösen Störungen 
abgeben sollen? Absichtlich haben wir die verschiedenen Affec- 
tionen, welche von einschneidendem Einfluss anf den Nerven- 
zustand der Frauen sein sollen, hier etwas genauer zusammen¬ 
gestellt. Abnormitäten der Sexualorgane, Atonie der Därme, 
Wanderleber, Ilängebauch, Enteroptose, Nephroptose, Gastroptose, 
stehen nicht alle diese Zustände in gewissen ursächlichen Be¬ 
ziehungen zu einander, hat die Entwickelung dieser verschie¬ 
denen Anomalien nicht meist eine gemeinsame Veranlassung? 
Allen den genannten Processen zu Grunde liegt eine Erschlaffung 
der Bauchdecken, eine Lockerung des Bandapparates, an denen 
die einzelnen Organe aufgehängt sind. In Folge von Verschie¬ 
bung und Drehung der einzelnen Organe werden häufig schon 
durch einfache mechanische Vorgänge Störungen ausgelöst wer¬ 
den. Dazu kommt, dass durch Dehnung der Aufhängebänder 
ein direkter Reiz sensibler Nerven hervorgebracht wird, und dass 
ausserdem auf dem Wege des Reflexes Störungen in der Circu- 
lation der Darmgefässe, in der secretorischen Function der 
Schleimhäute und in der motorischen Thätigkeit der Musculatur 
resultiren. Durch die motorische Instifficienz in den Verdauungs¬ 
organen kommt es des weiteren, wie auch Ewald (1. c.) ausge- 
führt hat, „zu einer ungenügenden Verarbeitung des Magen- und 
Darminhaltes, zu Stauungen und Stockungen desselben an ver¬ 
schiedenen Stellen des Intestinaltractus, zur Anhäufung der Zer¬ 
setzungsprodukte der Eiweisskörper und der Stoffwechselprodukte 
der Mikroorganismen des Darmkanals, welche Zeit finden, in 
die Circulation aufgenommen zu werden und eine Autointoxication 
zu veranlassen“. 

Wir glauben, dass in den geschilderten Verhältnissen Grand 
und Gelegenheit genug zur Entwickelung nervöser Beschwerden 
gegeben ist. 

In gewissem Widerspruch zu dieser Ansicht stehen die Beob¬ 
achtungen Bial’s (1. c.), nach dessen Untersuchungen aus den 
Veränderungen der Lage des Magens wenigstens beim männ¬ 
lichen Geschlecht für die Norm keine krankhaften und lästigen 
Symptome hervorgerufen werden. Bei der grossen praktischen Be¬ 
deutung dieser Frage möge es uns gestattet sein, etwas näher 
auf die Auseinandersetzung Bial’s einzugehen. Dieser Autor 
stützt seine Ansicht auf folgende Ueberlegungen: 

Da bei einer relativ grossen Zahl seiner Kranken, die an 
Gastroptose litten, Magenbeschwerden zu keiner Zeit nachweisbar 
waren, ist es zweifelhaft, ob die Dislocation des Magens für das 
Zustandekommen etwaiger dyspeptischer Beschwerden verant¬ 
wortlich zu machen ist. „Denn“, führt Bial aus, „es ist kein 
Grund zu finden, warum fortgeschrittene Stadien eines patholo¬ 
gischen Processes ohne pathogene Folgen bleiben sollten, falls 
solche überhaupt daraus zu resultiren pflegen.“ Wir können in 
dem gegebenen Verhalten durchaus nichts sonderbares finden. 
Wir wissen aus der Pathologie anderer Organe, dass im gege¬ 
benen Falle einmal eine ganz geringe Anomalie recht bedeutende 
Wirkungen hervorbringen kann, während auf der anderen Seite 
auch die stärkste Abweichung von der Norm ohne jede locale 
Wirkung und vor allem ohne jeden Einfluss auf das Gesammt- 
befinden bleiben kann. Wir erinnern nur an Erkrankungen am 
weiblichen Genitalsystem. Wie oft kommen Fälle zur Beob¬ 
achtung, wo eine geringe Lageveränderung des Uterus zu den 
ernstesten Störungen führt, die nach Anlegung eines passenden 
Pessare sich vollkommen verlieren, und wie oft constatirt man 
andererseits schwere Genitalerkrankungen, die absolut keine Be- 

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472 


No. 22. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


schwerden machen. Und wie verhält es sich mit der beweg¬ 
lichen Niere; dieselbe veranlasst in den einzelnen Fällen sehr 
verschieden starke Erscheinungen. Oft genug ist der Befund ein 
ganz zufälliger und ein grosser Theil der bestehenden palbablen 
Nieren verläuft ohne jedes Symptom. Trotzdem wird heute 
wohl kein Praktiker mehr daran zweifeln, dass eine bewegliche 
Niere Ausgangspunkt der stärksten Beschwerden werden kann. 
Was von Uterus und Niere gilt, gilt vielleicht in noch höherem 
Grade von dem Magen; denn abgesehen davon, dass hier je 
nach der Empfindlichkeit des einzelnen Individuums ausser¬ 
ordentlich grosse Verschiedenheiten obwalten, giebt es Gründe 
genug, warum nicht jede Gastroptose nachweisbare Beschwerden 
machen muss. In ausführlicher Weise hat bereits Kolling (1. c.) 
diese Verhältnisse erörtert, und wir können hier auf diesen 
Autor verweisen, der mit Recht die Schwere der Störungen bei 
der Gastroptose abhängig macht von dem Grade der letzteren, 
von dem Verhalten der Bauchdecken, von der Lage des Pylorus, 
von der Beschaffenheit der Magenmusculatur, von der Stärke 
der Innervation und von verschiedenen anderen Momenten. 

Wenn Bial weiterhin geneigt ist, die in seinen Fällen von 
Gastroptose aufgetretenen Magensymptome nicht auf die Ver¬ 
lagerung an sich, sondern auf gleichzeitige, unabhängig von 
der Lageanomalie bestehenden Functionsstörungen des Magens 
zu beziehen, so beweist das noch nicht, dass nicht bei anderen 
Kranken die Dislocation das primäre ist, aus der sich secundär 
Functionsanomalien mit den daraus resultirenden dyspeptischen 
Beschwerden entwickeln. Die Möglichkeit einer Motilitätsbe- 
schränkung in Folge von Gastroptose — und damit wohl auch 
die einer Secretionsstörung — giebt ja Bial zu, wenn derselbe 
auch die Schwierigkeiten zu unterschätzen scheint, welche der 
Fortschaffung des Chymus durch die Senkung des Magens er¬ 
wachsen. Gewiss kann die Erschwerung der mechanischen 
Functionen durch Hypertrophie der Musculatur ausgeglichen 
werden, aber bei Leuten mit Gastroptose genügt oft eine für 
Gesunde geringfügige Mehrforderung an die Leistungsfähigkeit 
des seine Arbeit eben noch bewältigenden Magens, um die Com- 
pensation zu stören. Ferner ist cs ganz selbstverständlich, dass 
sich dyspeptische Beschwerden eines motorisch-insufficienten 
Magens steigern können, wenn zur einfachen Myasthenie noch 
eine Gastroptose hinzutritt. 

Auch der Umstand, dass es Bial gelang, in zwei Fällen, 
in denen die Magentunction völlig normal gewesen ist, die vor¬ 
handenen dyspeptischen Beschwerden ohne Rücksicht auf die 
locale Lagcanomalie, nur „durch allgemeine therapeutische Maass¬ 
nahmen, welche auf Beruhigung des neurasthenischen Gesammt- 
krankheitszustandes hinzielten“, völlig znm Verschwinden zu 
bringen, spricht nach unserm Dafürhalten absolut nicht gegen 
die Abhängigkeit der Symptome von der Dislocation des Magens. 
Zur Beurtheilung der in Krankenhäusern und Kliniken erzielten 
Resultate in Bezug auf Heilung oder Besserung von nervösen 
Beschwerden laufen gar zu leicht Täuschungen mit unter. Die 
ruhige Lage, die grosse Schonung, die Fernhaltung aller Auf¬ 
regung und Sorge, nicht zum mindesten die zweckentsprechende, 
abgemessene Nahrung kommt besonders auch für die Behand¬ 
lung der Gastroptose in Betracht, die unter den günstigen Ver¬ 
hältnissen kaum nennenswerthe Erscheinungen machen wird, so 
dass durch diese allgemeinen Maassnahmen oft auffallende Hei¬ 
lungsresultate zu Stande kommen können, die zu Hause kaum 
einige Wochen überdauern. 

Gegen die theoretischen Erörterungen Bi als sprechen aber 
vor Allem unsere praktischen Erfahrungen, nach denen durch 
die Gastroptose resp. durch die Enteroptose auch bei Männern 
ein der weiblichen Nervosität ganz äquivalenter Symptomencomplex 
hervorgerufen werden kann. Trotzdem glauben auch wir, dass 


die Gastroptose für das weibliche Geschlecht eine ernstere Er¬ 
krankung darstellt, als für das männliche. Zur Erklärung hierfür 
müssen wir im Gegensatz zu Bial einen Unterschied zwischen 
den localen Verhältnissen der beiden Geschlechter annehmen, 
denn es braucht wohl nicht erst hervorgehoben zu werden, dass 
die Veränderungen, welche der Genitalapparat bei der Frau 
während der Menstruation, während Schwangerschaft, Geburt 
und Wochenbett in Bezug auf Grösse, Lage, Blutreichthum etc. 
durchmacht, auch einen stärkeren Blutandrang zu den Abdomi¬ 
nalorganen bewirken wird, unter denen der Magen, wie aus den 
Untersuchungen Kuttner’s 1 ) hervorgeht, eine durchaus nicht 
untergeordnete Rolle spielt. Nicht selten treten deswegen auch 
beim weiblichen Geschlecht gerade zu den Menstruationsterminen 
oder genauer in den letzten Tagen vor denselben Verschlimme¬ 
rung der Beschwerden ein, die mit dem Eintritt der Blutung und 
der dadurch bewirkten Entlastung der Unterleibsorgane von der 
grösseren in ihnen angehäuften Blutmenge wesentlich nachlassen. 
Dazu kommt, dass die fortgesetzte Einwirkung der unter den 
Gelegenheitsursachen für die Gastroptose genannten Schädlich¬ 
keiten, Schnüren, Erschlaffung der Bauchdecken etc., denen doch 
besonders das weibliche Geschlecht ausgesetzt ist, zur Steige¬ 
rung der Erscheinungen bei der Frau beitragen kann. Nach 
alle dem bekennen wir uns zu der Ansicht, dass sowohl bei 
Männern als bei Frauen, allerdings mit Bevorzugung des weib¬ 
lichen Geschlechts, durch die Gastroptose bezw. durch die 
Enteroptose nervös-dyspeptische Beschwerden hervorgerufen 
werden können, zu deren Erklärung wir neben rein mechani¬ 
schen Vorgängen, wie sie durch die Dislocation der Bauch¬ 
organe geschaffen werden, die geschilderten Momente in Anspruch 
nehmen zu müssen glauben. Damit soll natürlich nicht gesagt 
sein, dass wir in der Enteroptose eine Ursache für die Neur¬ 
asthenie und Hysterie gefunden haben. Vor dieser einseitigen 
Auffassung kann nicht genug gewarnt werden; denn einerseits 
giebt es zahlreiche Fälle, in denen die Neurasthenie bei nor¬ 
malem Situs der Baucheingeweide beobachtet wird, andererseits 
gelingt es oft, neurasthenische Beschwerden zu beseitigen, ob¬ 
wohl die Dislocation der Bauchorgane unverändert weiter be¬ 
steht. Thatsache ist für uns nur, dass die durch die Senkung 
des Magens bestimmten Veränderungen genügen, um zahreiche 
functionelle Störungen auszulösen, welche dem bekannten neur¬ 
asthenischen Symptomencomplex entsprechen. Diese Auslösung 
wird natürlich ganz besonders stattfinden bei Personen mit an¬ 
geborener, ererbter oder erworbener Schwäche des Central- 
nervensvstems. 

Eine ganz eigene Ansicht Uber die Folgen der Gastroptose 
vertritt Mein er t (1. c.). Gestützt auf Untersuchungen, welche 
dieser Autor, besonders in der Dienstmädchen-Lehranstalt zu 
Dresden gemacht hat, kommt derselbe zu dem Resultat, dass 
die Gastroptose in ursächlicher Beziehung zu der in der Puber¬ 
tätszeit erworbenen Chlorose steht, und dass dieselbe eine regel¬ 
mässige Begleiterin dieser in dem Entwicklungsalter des weib¬ 
lichen Geschlechts so häufig vorkommenden Erkrankung sei. 
Diese Auffassung Meinert’s, welche auch durch Untersuchungen 
von Boudon 2 ) und Ag^ron 1 ) gestützt wird, können wir nicht 
gelten lassen, weil auch wir, ebenso wie Leo, Brüggemann, 4 ) 

1) L. Kuttner: Ueber Magenblutungen und besonders über deren 
Beziehungen zur Menstruation. Berl. klin. Wochenschr. 95, No. 7— 9 . 

2) J. Boudon: Sur une theorie pathogenique de la Chlorose. These 
de Toulose 189G. 

3) Ageron, Anämische Zustände und Gastroenteroptose. XIV. Con- 
gress für innere Medicin 189G, p. 519. 

4) Brüggemann: Ueber den Tiefstand des Magens bei Chlorose. 
Dissert. Bonn 1895. Leo: Ueber Gastroptose und Chlorose, Deutsche 
med. Wochenschr. 9G. 12. 


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*\.Ua\ 


iw. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Martina, Helzing, 1 2 ) Kelling (l. c.), Einhorn,*) ein con 
stantes Vorhandensein von Gastroptose bei Chlorose in Abrede 
stellen. Unter 15 chlorotischen Mädchen, welche wir in der 
letzten Zeit unter Zuhülfenahme aller gebräuchlichsten Unter¬ 
suchungsmethoden, Aufblähung mit Luft und CO,, electrische 
Durchleuchtung des Magens etc., auf die Lage des Magens ge¬ 
prüft haben, beobachteten wir nur 6 mal Gastroptose. Gewiss 
wird jeder, der Uber ein grösseres Krankenmaterial verfügt, zu¬ 
geben müssen, dass Gastroptose bei chlorotischen Personen oft 
zur Beobachtung kommt; aber bezüglich der Deutung dieses 
Befundes kann man doch anderer Meinung sein als Meinert. 
So glauben wir, kann man mit gutem Recht anch umgekehrt den 
Satz aufstellen; nicht die Gastroptose bewirkt die Chlorose, 
sondern das Vorhandensein der letzteren führt zur Dislocation 
des Magens. Ein unzweideutiger Beweis für diese Auffassung 
lässt sich ja ebenfalls nicht erbringen, doch sprechen verschiedene 
Momente für dieselbe. Thatsache ist jedenfalls, dass wir bei 
der Chlorose sehr häufig den Habitus finden, den wir als cha¬ 
rakteristisch für Enteroptose geschildert haben. Sicher ist ferner, 
dass wir bei Chlorotischen häufig — und zwar oft noch ehe die 
Chlorose manifest ist — Atonie des Magens beobachten. Wie 
aus unserer Besprechung Uber die Aetiologie der Gastroptose 
hervorgeht, dürften diese Momente allein schon ausreichen, einen 
Magen zu verlagern. Ohne Zweifel kommt ja auch Dislocation 


Hb-Gehalt bei normaler Lage des 




Magens 



Ilb-Gehalt bei Gastroptose. 






Name 

Alter 

Hb- 

Gehalt 

Name 

Alter 

llb- 

Gehalt 

1 

1 

Ilelene Meitzel 

12 

0' 

/o 

04 

Marie Reinartz 

11 

°/. 

08 

Minna Kalow i 

14 

05 

Charlotte Schmidt > 

14 

07 

Marie Pamp 

14 

50 

Hedwig Reinartz | 

8 

02 

Otto Kippel 

10 

85 

Hans Grosse 

14 

80 

Willy Kaumnow ' 

18 

78 

Carl Düse 

13 

89 

Frl. Kunze 

19 

83 

Frl. Haegalic 

24 

73 

Frl. Bucklow 

21 

80 

Frl. lliller 

27 

84 

Frl. Scbwolk 

27 

75 

Frl. Kahl 

25 

84 

Frl. Goldener 

20 

80 

Frl. Slaeke 

23 

83 

Frl. Fribe 

20 

85 

Frau Tateus 

23 

83 

Frau Rope 

88 

74 

Frau Preuss 

83 

08 

Frau Peilich 

! 43 

73 

Frau Kropf 

52 

08 

Frau Buger 

40 

72 

Frau Tempel 

35 

75 

Frau Redepennig 

50 

85 

Frau Vogt 

51 

79 

Frau Markgraf 

21 

73 

Frau Eggert 

33 

81 

Frau Kiolle 

45 

| 83 

Frau Bohl 

38 

81 

Frau Schlick 

30 

95 

Frau Schulze 

38 

90 

Herr Rascbke 

70 

70 

Herr Rosecka 

00 

78 

Herr Winkler 

38 

85 

Herr Müller 

38 

80 


der Verdauungsapparat bei Gastroptose erfährt, auf das Allge¬ 
meinbefinden werden wirken können. Eine eventuelle Abnahme 


des Magens bei chlorotischen Mädchen vor, bei denen absolut 
keine nachweisbaren Schädlichkeiten auf das Senken der Bauch¬ 
organe eingewirkt haben, um wieviel eher wird sich Gastroptose 
bei solchen chlorotischen Individuen entwickeln, bei denen noch 
weitere Iiülfsursachen, besonders Schnüren eine Rolle spielen. 
Ausser den im Vorhergehenden beschriebenen Symptomen der 
Gastroptose wären schliesslich noch weitere allgemeine Er¬ 
scheinungen zu erwähnen, welche von einigen Autoren der 
Dislocation des Magens zugeschrieben werden. Von Kelling 
wird ein Zusammenhang zwischen Magenlage, Hämoglobingehalt 
und Ernährungszustand vermuthet. Um hierüber eine sichere 
Aufklärung zu erhalten, haben wir an einer grösseren Zahl von 
Patienten Hb Bestimmungen vorgenommen. Zur Untersuchung 
kamen einerseits Kranke mit mehr oder weniger fortgeschrittener 
Dislocation des Magens, andererseits Personen mit normaler Lage 
der Verdauungsorgane. Abgesehen von der Senkung des Magens 
und eventuell der Nieren bei den ereteren bestanden bei beiden 


des Ilb-Gchalts bei Magensenkung findet zum Theil schon ihre 
Erklärung in der bei vielen derartigen Kranken bestehenden 
Appetitlosigkeit. Ausser der herabgesetzten Nahrungsaufnahme 
können aber noch so viel anderweitige Momente — Veränderung 
des Magensaftes, vorausgegangene Schwangerschaften, schäd¬ 
licher Einfluss des Corsetts und als Folge davon Veränderung 
der Athmung, Störung der Leberthätigkeit, Einschränkung in 
der Bewegung der Abdominalorgane etc. — die Ernährung der 
Kranken beeinträchtigen, so dass es ira gegebenen Falle nicht 
zu entscheiden ist, ob die vorhandene Abmagerung und Blut¬ 
veränderung Folgen der Gastroptose sind, oder ob nicht anderer¬ 
seits der schlechte Ernährungszustand und das ganze Krank- 
heitsbild auf eine gemeinsame Veranlassung zurückzuführen ist. 

Der ira Vorhergehenden in den wichtigsten Momenten ge¬ 
schilderte Symptomencomplex der Gastroptose ist so wenig 
charakteristisch, dass wir ein einheitliches Krankheitsbild von 
diesem Leiden zu geben nicht im Stande sind. Im Allgemeinen 


Gruppen keine nachweislichen Organveränderungen; alle consti¬ 
tutioneilen und cachectischen Krankheiten waren selbstverständ¬ 
lich ausgeschlossen. Wir lassen hier den Auszug einer grösseren 
Tabelle folgen; die gegenüberstehenden Fälle gleichen sich un¬ 
gefähr in Bezug auf Alter, Geschlecht, Ernährungszustand, Art 
der Beschwerden etc. 


möchten wir empfehlen bei dyspeptischen, hysterischen, neurasthe- 
nischen Beschwerden der Lage des Magens eine grössere Auf¬ 
merksamkeit zu schenken, als man zu thun gewohnt ist. 

Zur Diagnose einer Magensenkung bedürfen wir aber unter 
allen Umständen einer genauen objectiven Untersuchung, die sich 
im Wesentlichen auf den Nachweis der Verlagerung des Magens zu 


Wie sich aus diesen Angaben ergiebt, fauden wir Schwan¬ 
kungen des Hb-Gehaltes sowohl bei normaler Lage des Magens, 
als bei Senkung desselben, und wir stimmen Kelling deswegen 
vollständig darin bei, dass keine unmittelbare Beziehung zwischen 
Gastroptose und Blutbeschaffenheit besteht. Trotzdem aber geben 
wir gern zu, dass man besonders häufig bei Kranken, die an 
Gastroptose leiden, Abmagerung, Blässe, Welkheit der Haut und 
Verringerung des Hb-Gehaltes finden kann. In wie weit aber 
diese Erscheinungen auf die durch die Gastroptose gesetzten 
Störungen zurückzuführen sind, ist immerhin fraglich. Es unter¬ 
liegt ja keinem Zweifel, dass vor allen die Schädigungen, welche 

1) Melzing: Wiener med. Presse 95, No. 80—84. — Martius: 
Ueber die wissenschaftliche Verwerthang der Magendurchleuchtung. Cen- 
tralbl. f. inn. Med. 1895, No. 49. 

2) Einhorn: Enteroptosis, Read before the Fifth District Branch 
of the N. J. State Medical Association. May 2G. 1890. 


beziehen hat. Es liegt nicht in dem Rahmen dieser Arbeit, alle 
die zahlreichen Methoden zu erörtern, welche im Laufe der Zeit 
zur Feststellung der Grenzen des Magens in Vorschlag gebracht 
worden sind; dennoch soll aber hier nicht verabsäumt werden, 
auf einige Fragen von grösserer praktischer Bedeutung hinzu¬ 
weisen. 

Das einfachste Verfahren, sich Uber die Lage des Magens 
zu orientiren, ist die Percussion desselben. Dem percu- 
torischen Nachweis der Lage und Grösse des Magens wird von 
verschiedenen Autoren nur ein untergeordneter Werth beigelegt, 
nach unserer Erfahrung ganz mit Unrecht. Gewiss ist es richtig, 
dass es mit Hülfe der Percussion nur gelingt, den unbedeckten, 
der vorderen Bauchwand anliegenden Theil des Magens zu be¬ 
grenzen, zweifelsohne bietet die Abgrenzung des Magenschalls 
von Leber, Lunge, Milz besonders dem Ungeübten gewisse 
Schwierigkeiten, und sicher können stark entwickelter Pannic. 
adipös, und reflectorisch - contrahirte Bauchmuskeln der Per- 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 22. 


cussiou hinderlich sein; trotzdem aber können wir in der Mehr¬ 
zahl der Fälle durch diese einfache Untersuchungsmethode uns 
eine Vorstellung verschaffen Uber den Stand des Fundus, Uber 
den Verlauf der grossen Curvatur und Uber die Lage des Py- 
lorus. Es ist überflüssig, die Technik dieses Verfahrens zu be¬ 
schreiben, zum Studium desselben sei auf die bekannten Lehr¬ 
bücher der Magenkrankheiten verwiesen. Hier sei nur hervor¬ 
gehoben, dass auch wir ebenso wie Fl ein er 1 ) unsere Percusions- 
resultate, die wir am leeren Magen gewonnen haben, stets durch 
den Percussionsbefund des gefüllten Magens controliren. So 
brauchbar nun diese Methode Air praktische Zwecke auch ist, 
so hat sie doch den Nachtheil, dass sic Tins mit Ausnahme der 
Fälle, in denen der Magen stark heruntergesunken ist, ira Un¬ 
klaren lässt Uber den Stand der kleinen Curvatur. Dieser 
Schwierigkeit, uns genau Uber den Verlauf der kleinen Curvatur 
zu orientircn, begegnen wir aber nicht nur bei der einfachen 
Percussion des Magens, sondern auch bei all den anderen Me¬ 
thoden, welche zur Bestimmung der Lage und Grösse des 
Magens angegeben worden sind. Mögen wir den Magen mit 
Luft oder Kohlensäure aufblähen, wenden wir das Penzoldt- 
Dehio’sche Verfahren an, versuchen wir die Magengrenze durch 
Palpation der Sonde resp. des Magenschlauchs zu bestimmen, 
wie es Leube bezw. Boas Vorschlag. bedienen wir uns der 
percutorischen Palpation der Plätschergeräusche nach Obrast- 
zor, 2 3 ) oder der bekannten Methoden von Schreiber, Rosen¬ 
bach, He mm et er*) etc., immer zeigt sich dieselbe Unvoll¬ 
kommenheit in der Untersuchung. Alle diese Methoden gestatten 
mit grösserer oder geringerer Sicherheit und Bequemlichkeit die 
Feststellung der unteren Magengrenze, genügen aber nicht zur 
Bestimmung der oberen Magenpartie, welche unter normalen 
Verhältnissen von der Leber bedeckt ist. In Folge der Unzu¬ 
länglichkeit dieser Methode ist es deswegen unmöglich, Ptose 
des Magens im ersten Stadium durch dieselben zu erkennen; 
denn wenn wir auch Keil ing (1. c.) darin Recht geben, dass 
wir eine Gastroptose diagnosticiren, wenn das Epigastrium frei 
von Magen befunden wird, so müssen wir doch hervorheben, dass 
diese Fälle von Tiefstand schon einem vorgeschrittneren Stadium 
angehören. Bevor der Magen soweit sinkt, dass das Epigastrium 
frei von Magenschall wird, kann bereits ein Tiefertreten der 
kleinen Curvatur stattgefunden haben, dass aber für gewöhnlich 
latent bleibt, so lange die oberen Magenpartien von der Leber 
überlagert sind; der Eiufluss der Leber wird sich hier natürlich 
um so störender bemerkbar machen, je mehr dieselbe sich an 
der Senkung der Bauchorgane betheiligt, oder je mehr von dem 
Magen durch Grössenzunahme der Leber bedeckt wird. Am 
ehesten gelingt es bei solchen Zuständen nach dem von Kuttner 
und Jacobson 4 ) angegebenen Regeln die obere Magengrenze 
annähernd genau zu erkennen mit Hülfe der electrischen Durch¬ 
leuchtung des Magens, die sich uns trotz der gegentheiligen Be¬ 
hauptung verschiedener Autoren immer wieder bewährt hat. 

Abgesehen aber von diesen Anfangsstadien der Ptosis ven- 
triculi, die mehr ein theoretisches als praktisches Interesse ver¬ 
dienen, genügt zur Erkennung der ausgebildeten Magensenkung 
meist die einfache Percussiou des leeren resp. gefüllten Magens. 


1) Fl einer: Lehrbach der Krankheiten der Verdauungsorgane. 
1. Hälfte 9G, p. 220. 

2) Obrastzor: Physikalische Untersuchung des Magens und Darms. 
Deutsches Archiv für klin. Med. Bd. 43. 

3) Hemmeter: New-York. Med. Journ. Bd. 61. 25. 22. G. 95. 

4) Kuttner und Jacobson: Ueber die electrische Durchleuchtung 
des Magens und deren diagnostische Verwerthbarkeit. Berl. klin. 
Wochenschr. 1893, No. 39. — L. Kuttner: Einige Bemerkungen zur 
electrischen Durchleuchtung des Magens. Berl. klin. Wochenschr. 95, 
No. 37. 


Gelingt es nicht auf diese Weise die Magengrenze zu bestimmen, 
so empfiehlt es sich — falls keine besondere Contraindicationen 
bestehen — um günstigere Bedingungen für die Entstehung von 
Schalldifferenzen zu schaffen, den Magen mittelst Schlauch und 
Doppelballon mit Luft aufzutreiben. Dass dieses Verfahren be¬ 
deutend exacter, gefahrloser und schonender für den Patienten 
ist als die Kohlensäureaufblähung, ist bereits von Ewald aus¬ 
führlich erörtert worden. Alle anderen Methoden, welche zur 
Lagen- und Grössenbestimmung des Magens in Frage kommen, 
sind für die Praxis entbehrlich und können hier nicht berück¬ 
sichtigt werden. Das Pulsiren der Bauchaorta, welches nach 
G16nard (1. c.) bei Enteroptose in der epigastrischen Gegend 
fühlbar wird, können wir nicht als ein wesentlich diagnostisches 
Moment der Gastroptose anerkennen. Wie Ewald, Kelling 
und Andere bereits hervorgehoben haben, findet man diese Pul¬ 
sation ganz gewöhnlich bei allen möglichen Zuständen, die Ab¬ 
magerung und Schlaffheit der Bauchdecken mit sich bringen. 

Neben der physikalischen Untersuchung bedürfen wir zur 
richtigen Deutung einer Gastroptose noch der Prüfung der 
Magenfunctionen. Besonders ist es erforderlich, die motorische 
Leistungsfähigkeit des Magens festzustellen. 

Differential-diagnostische Schwierigkeiten können sich nach 
verschiedenen Richtungen hin ergeben. Am häufigsten geben zu 
Verwechslungen Veranlassung: Atonia ventric., Ectasia ventric., 
Neurasthenie gastrica, Ulcus ventric. 

Durch gewissenhafte Anwendung der angeführten exacten 
Untersuchungsmethoden dürfte die richtige Erkenntniss des vor¬ 
liegenden Falles meistens gelingen, allerdings erwachsen der 
Diagnose grosse, zuweilen unüberwindliche Schwierigkeiten, wenn 
neben der Gastroptose andere Magenerkrankungen bestehen, und 
wenn es sich darum handelt, in dem vorliegenden Fall den 
Connex von Ursache und Folge aufzudecken; denn ebenso^ wie 
einerseits gewisse Erkrankungen des Magens, Pylorusstenose etc. 
eine Gastroptose bedingen können, so kann andererseits die 
Magensenkung Veranlassung geben zu weiteren Magenaffektionen. 

Zu den wichtigsten Complicationen bezw. Nachkrankheiten 
der Gastroptose gehören, falls wir von dem häufig coincidenten 
Prolaps anderer Bauchorgane absehen: 1. Katarrh der Magen¬ 
schleimhaut, 2. Magengeschwüre, 3. Magenerweiterung. Was die 
erste Complication anbelangt, so ist es klar, dass durch den Reiz 
der Magendrüsen, der durch die die Gastroptose begleitende 
Motilitätsstörung hervorgerufen wird, Gelegenheit zur Entwicke¬ 
lung eines Magenkatarrhs gegeben ist. 

Aber auch die Entstehung von Magengeschwüren wird durch 
die Gastroptose resp. durch die diese Lageanomalie begleitenden 
Gelegenheitsursachen, das Schnüren begünstigt. Es ist verständ¬ 
lich und besonders auch von Fl einer hervorgehoben worden, 
dass durch Zug, durch Ueberdehnung oder durch Druck, welchen 
einzelne Stellen der Magenwand erleiden, locale Circulations- 
störungen geschaffen werden können, die bekanntlich einen be¬ 
deutenden Einfluss auf die Bildung von Magengeschwüren aus- 
Uben. Der Zusammenhang von Ulcus ventric. mit Gastroptose 
findet seine beste Erklärung und Bestätigung in den experimen¬ 
tellen Untersuchungen Talma’s 1 ) und in den Beobachtungen 
von Rasmussen,’) der Geschwüre an Stellen der Magenschleim¬ 
haut fand, welche dem Verlaufe einer Schnürfurche am Magen 
entsprachen. 

Der Grund schliesslich für die Ausbildung einer Ectasia 


1) Talma: Untersuchungen über Ulcus ventric. Simplex, Gastro- 
malacie und Ileus. Zeitschrift für klin. Med. 17. 1890. 

2) Rasmussen: Ueber die Magenschnürfurche und die Ursache 
des chronischen Magengeschwürs. Centralbl. f. die raedicinischen Wissen¬ 
schaften. 1887. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


ventric. im Anschluss an die Gastroptose, dürfte wohl unschwer 
darin zu suchen sein, dass durch Zerrung und Dislocation des 
Pylorustheiles resp. durch Verlagerung der Pars horizontalis des 
Duodenum eine Stenosirung des Magens bedingt werden kann, 
welche bei der schon vorhandenen motorischen Insufticienz durch 
anhaltende Zurückhaltung des Inhalts zur klassischen Dislocation 
des Magens führt. 

Wir kommen nun zur Behandlung der Gastroptose. Da 
wir nicht in der Lage sind, neue therapeutische Vorschläge für 
die Bekämpfung dieser Lageanomalie zu machen, wollen wir uns 
darauf beschränken, einige besonders wichtige Punkte hervorzu¬ 
heben, die in der Praxis oft vernachlässigt werden. Bei der 
Behandlung der Aetiologie haben wir eine Reihe von Gelegen¬ 
heitsursachen für die Entstehung der Gastroptose kennen ge¬ 
lernt. Unsere prophylactische Aufgabe besteht demnach vor 
Allem darin, das Schnüren des Corsetts, das feste Binden der 
Röcke und Beinkleider zu vermeiden. Ferner kommt es darauf 
an, alle Momente zu berücksichtigen, welche eine Erschlaffung 
der Bauchdecken veranlassen können. Unser besonderes Augen¬ 
merk haben wir deswegen zu richten auf das Verhalten der 
Frauen zur Zeit der Schwangerschaft und des Wochenbettes. 
Eingehende Vorschriften dieser Art finden wir in einer Arbeit 
Ke 11 er’8,') aus der wir als besonders wichtig folgende Einzel¬ 
heiten entnehmen. Die Aufgabe des Hausarztes soll es sein, 
dafür zu sorgen, dass die Frauen in der zweiten Hälfte der 
Schwangerschaft, ira Wochenbett und später bei Diastase der Recti 
monatelang eine Leibbinde tragen. Auch nach der Entbindung 
soll die Wöchnerin um eine gute Rückbildung der Bauchdecken 
zu ermöglichen, streng die horizontale Rückenlage enthalten- 
Vom 6. Tage an kann man die Seitenlagerung gestatten. Das 
Aufsetzen gestatte man nicht vor 8 Tagen weder zum Essen und 
Trinken noch zur Entleerung des Darms und der Blase. Der 
regelmässigen Entleerung dieser beiden Organe ist eine beson¬ 
dere Beachtung zu schenken. Nach Entfernung grosser Tumoren 
oder nach Entleerung von Ascitis sind Bauchbinden anzulegen. 

Besteht bereits Erschlaffung der Bauchdecken oder ist ein 
Hängebauch vorhanden, so werden wir durch Anlegung einer 
Binde, durch Regelung des Stuhlgangs, durch kalte Abreibungen, 
durch Massage und Faradisation der erschlafften Bauchmuskeln 
ein weiteres Fortschreiten der Dislocation verhindern können. 

Was die Therapie der Gastroptose selbst anbetrifft, so muss 
man die causale Behandlung von der symptomatischen 
scharf trennen. Die erstere hat besonders Rücksicht zu nehmen 
auf Kräftigung der Bauchdecken und auf eine Tonisirung der 
Magenmusculatur. Abgesehen von den bereits bei der Besprech¬ 
ung der Prophylaxe angeführten Gesichtspunkten, kommen, um 
dieser Indication zu genügen, zunächst allgemein roborirende, 
diätetische, gymnastische und hydriatische Maassnahmen ev. die 
Electricität in Anwendung. Ausführliche Mittheilung hierüber 
findet man in den einschlägigen Lehrbüchern. 

Von unverkennbarem Einfluss auf die Erschlaffung der 
Bauchdecken ist das Anlegen einer gut sitzenden Leibbinde. 
Der Zweck, welchen wir mit der Application einer Bandage 
gegen die Enteroptose verbinden, liegt, wie das von Landau, 
Glenard, Ewald, Kuttner, Boas, Kelling, Wegele 1 2 ) 
und anderen oft genug hervorgehoben ist, vor allem darin, die 
erschlaffte Bauchwand zu stützen oder wie Landau bezeichnend 
sich ausdrUckt „künstliche Bauchdecken“ zu bilden. In zweiter 
Linie beabsichtigt man durch die Binde die Organe zu heben, 
zu halten und zu stützen, um so die Beweglichkeit der beson¬ 
ders leicht verschieblichen Baucheingeweide zu beschränken, und 


1) Keller: Die Wanderniere der Frauen. Halle a. S. 1896. 

2) Wegele: Therapie der Verdannngskrankheiten. 2. Theil. 95. 


475_ 

um ein weiteres Herabsinken derselben zu verhüten. Die Auf¬ 
zählung der vielen Leibbinden, die Beschreibung der zahlreichen 
mit Gurten oder Pelotten verbundenen Corsetts, der Ceintures 
hypogastriques etc. gehören nicht hierher. Die Hauptsache bei 
der Verordnung einer Bandage ist, dass der Arzt individualisirt 
und je nach dem vorliegenden Falle seine Binden modificirt. 
Es giebt kaum eine Binde, welche allen Indicationen genügt, 
und es ist leicht verständlich, dass Splanchnoptose bei ausge¬ 
sprochenem Hängebauch andere Stützapparate verlangt als bei 
eingefallenem mageren Leibe mit stark hervortretenden Becken¬ 
knochen. Wenn wir nun auch in vielen Fällen von der Ban¬ 
dagenbehandlung einen recht günstigen Erfolg gesehen haben, 
so dürfen wir doch nicht verschweigen, dass zuweilen auch eine 
gut sitzende Binde nicht im Stande ist, die Beschwerden zu er¬ 
leichtern. Kranke, denen die Bandage keine Besserung verschafft, 
finden häufig die einzige Erleichterung in horizontaler RUcken- 
oder in Seitenlage. Wenn es durchführbar ist, wird man deswegen 
solchen Patienten auf eine bezw. zwei Wochen Bettruhe resp. 
Liegen auf einem entsprechenden Lager verordnen. Später sollen 
die Kranken in bequemer lockerer Kleidung eine bis zwei Stun¬ 
den nach dem Essen die Rückenlage einnehmen. 

Die medicamentöse Therapie bezweckt den Tonus der 
Magenmusculatur zu kräftigen. Dazu empfiehlt sich besonders 
das Strychnin entweder in Form des Extractes oder als Tinctur. 
Die symptomatische Behandlung wird natürlich die die Lage¬ 
anomalie begleitenden Functionsstörungen ins Auge zu fassen 
haben. Eine ganz besondere Beachtung verlangt die Regelung 
des Stuhlgangs. 

Es erübrigt noch, darauf hinzuweisen, die etwa neben der 
Gastroptose bestehenden Abnormitäten des Magens oder anderer 
Organe, besonders die des Genitalsysteras (Retroflexionen etc.) 
nach Möglichkeit zu beseitigen. 

Zum Schluss kommen wir der angenehmen Pflicht nach, 
unserem sehr verehrten Chef, Herrn Geheimrath Ewald für die 
gütige Ucberlassung des Krankenmaterials unseren Dank aus¬ 
zusprechen. 


V. Kritiken und Referate. 

G. Gradenlgo-Turin: Ueber die Manifestationen der Hjsterie am 
Gehörorgan. Klinische Vortrage ans dem Gebiete der Otologie 
and Pbaryngo-Rhinologie, heransgegcben von Dr. Hang (München). 
I. Band, 18. Heft. Jena, Gustav Fischer. 1886. 100 8. 

Verf. beabsichtigt in der vorliegenden Arbeit, den Nachweis zu 
führen, dass die hysterischen Erscheinungen im Gehörorgan, entgegen 
der Ansieht vieler Otologen und Neurologert, verhältnissmässig häufig 
sind und dass wir sie Dank der Vervollkommnung der Untereuchungs- 
methoden des Ohres in der Mehrzahl der Fälle entdecken können, auch 
wenn sie, wie cs oft der Fall ist, mit peripheren Läsionen des Gehör¬ 
organes zusammen Vorkommen. G. stützt sich bei der Bearbeitung seines 
Themas sowohl auf eigene Beobachtungen, als auch vor Allem auf zahl¬ 
reiche in der Literatur vorliegende Fälle (das Literaturverzeichnis um¬ 
fasst 868 Nummern), die als Beweis für seine Ansicht gelten sollen. 
Wenn nun auch einerseits der ausserordentliche Fleiss, den Verf. auf 
die Zusammenstellung und Bearbeitung dieser Literaturangaben verwendet 
hat, die höchste Anerkennung verdient, so ist doch andererseits nicht 
zu leugnen, dass die Uebersichtlichkeit in der Darstellung unter der 
Fülle des Materials empfindlich gelitten hat. Selbst manchem mit den 
hier behandelten Dingen einigermaassen vertrauten Fachmanne dürfte es 
schwer werden, sich aus den zahlreichen Haupt-, Neben- und Unter¬ 
abtheilungen, in welche Verf. den Stoff eingeordnet hat, zurechtznfinden, 
um wie viel weniger wird es dem praktischen Arzte, dem die Fach- 
kenntniss abgeht, für den aber gerade diese „Klinischen Vorträge“ be¬ 
stimmt sind, gelingen! Aus dem Gesagten ergiebt sich schon, dass es 
unmöglich ist, auf Einzelheiten der umfangreichen Arbeit in einem kurzen 
Referate einzugehen; eH möge deshalb hier nur hervorgehoben werden, 
dass zwar nicht alles, was Verf. als Manifestation der Hysterie vom 
Gehörorgan ansieht, einer strengen Kritik gegenüber Stand halten dürfte, 
dass aber im Grossen und Ganzen doch die charakteristischen Eigen- 
thümlichkeiten dieses so ausserordentlich verschiedenartig sich gestalten¬ 
den Krankheitsbildcs in das richtige Licht gestellt worden sind. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 22. 


Atlas der Belenchtungsbilder des Trommelfells im gesunden und 
kranken Zustande. Für Aerzte und Studirende von Dr. Adam 
Politzer, o. ö. Professor der Ohrenheilkunde in Wien. Mit 
892 chromolithographischen Trommelfellbildern und 67 in den 
Text gedruckten Abbildungen. Wien u. Leipzig, Wilh. Braumüller, 
1886. 154 S. 

Nachdem des Verf.s im Jahre 1865 erschienene Monographie: „Die 
Beleuchtungsbilder des Trommelfells im gesunden und kranken Zustande“, 
in welchem er die Resultate seiner Untersuchungen am Lebenden auf 
2 Tafeln in 24 chromolithographischen Bildern wiedergegeben hat, seit 
Jahren vergriffen ist, hat sich P. jetzt endlich, dem schon längst von 
vielen Seiten gehegten Wunsche entsprechend, entschlossen, diesem in 
seiner Art bisher unerreichten Werke ein zweites, denselben Zwecken 
dienendes, folgen zu lassen, welches bei gleicher Vollendung in der Aus¬ 
führung, an Reichhaltigkeit erstercs noch wesentlich übertrifft. In der 
Anordnung des Stoffes unterscheidet sich das neue Werk insofern wesent¬ 
lich vom älteren, als Verf. nicht, wie früher, die Krankheiten des 
Trommelfells nach den Anomalien der Durchsichtigkeit, der Farbe, der 
Wölbung und des Zusammenhangs behandelt, sondern die Befunde nach 
nach den einzelnen klinischen Krankheitsformen geschildert hat, wodurch 
eine grössere Uebersichtlichkeit erreicht werden konnte. In dem, den 
Tafeln vorausgehenden Text wird in knapper und doch sehr anschau¬ 
licher Weise zunächst die Morphologie des normalen Trommelfells 
besprochen und im Anschluss daran werden die physiologischen Eigen¬ 
schaften und die topographischen Verhältnisse zur inneren Trommel- 
höhleuwand und in einem besonderen Capitel die pathologischen Ver¬ 
änderungen am Trommelfell erörtert. Es folgen dann Anweisungen über 
die Ocularinspection des äusseren Qehörganges und des Trommelfelles, 
über die Untersuchung mittelst des pneumatischen Trichters, die intra- 
tympanale Otoscopie, denen sich eine kurze Besprechung über den Werth 
der Sondenuntersnchung anschliesst. Nachdem alsdann der normale 
Trommelfellbcfund geschildert ist, folgt der Haupttheil des ganzen Werkes, 
die Beschreibung der verschiedenen pathologischen Trommclfellbilder. 
Um das Verständnis des Textes zu erleichtern, hat Verf. noch eine 
grössere Anzahl nach der Natur gezeichneter Abbildungen pathologisch- 
anatomischer Befunde dem Werke binzugefügt. Die 14 Tafeln enthalten 
392 chromolithographische Trommelfellbilder, die von einer Schönheit 
und Naturtreue sind, wie sie bisher von keinem, gleiche oder ähnliche 
Ziele verfolgendem Werke erreicht worden sind. Wir können, nach dem 
Gesagten, nicht umhin, zu betonen, dass Verf. die Aufgabe, die er sich 
gestellt hat, dem praktischen Arzt die Erkenntniss der bei den Er¬ 
krankungen des Gehörorganes vorkommenden pathologischen Verände¬ 
rungen am Trommelfelle zu erleichtern, in der denkbar vorzüglichsten 
Weise gelöst hat. Die Ausstattung des Buches ist als eine geradezu 
splendide zu bezeichnen. 

Schwabach. 


VI. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. 

Berliner medlcintoche Gesellschaft. 

Sitzung vom 12. Mai 1897. 

Vorsitzender: Herr Virchow. 

Schriftführer: Herr Rüge. 

Vorsitzender: Geschäftlich habe ich zunächst mitzutheilen, dass 
Dr. Boeing seinen Austritt aus der Gesellschaft erklärt hat. 

Ich habe durch das Localcomite des bevorstehenden Congresses für 
innere Medicin eine Reihe von Einladungen erhalten, welche zugleich 
das Programm des Congresses bringen. Der Congress wird vom 9. bis 
12. Juni stattflnden. Mitglied kann jeder Arzt werden, der gewissen 
Modalitäten, die mitgetheilt sind, entspricht. Jedes Mitglied zahlt 
einen jährlichen Beitrag von 15 Mk., gleichviel, ob es dem Congress 
beiwohnt oder nicht. Theilnehmer für den einzelnen Congress kann 
Jeder Arzt werden; die Tbeilnehmerkarte kostet 15 Mk. Die Theil¬ 
nehmer können sich an Vorträgen, Demonstrationen, Discussionen be- 
theiligcn; sie stimmen aber nicht ab. Dafür erhalten sie ein Exemplar 
der gedruckten Verhandlungen. Einzahlungen müssen bis zum 5. Juni an 
den Kassenführen Dr. Wiebel in Wiesbaden, später an das Bureau des 
Congresses gemacht werden. Die Sitzungen finden hier im Architekten¬ 
hause statt. 

Für den Moskauer Congress hat sich in Berlin ein besonderes Local¬ 
comite gebildet, Herr O. Liebreich, der Vorsitzende dieses Comitc’s, 
hat die Meldung, hierher gelangen lassen, zugleich mit dem Ersuchen, 
die Gesellschaft möchte sich durch ein Mitglied vertreten lassen. Als 
solches ist in Vorschlag gebracht Herr Senator, der bereit ist, anzunehmen. 
Wenn Sie einverstanden sind und wenn sich Widerspruch nicht geltend 
macht, so würde ich annehmen, dass Herr Senator als unser Dele- 
girter bezeichnet werden soll. Herr Liebreich hat ausserdem den 
Wunsch ausgedrückt, dass unser Schriftführer Herr Landau und ich selber 
an dem Comite theilnehmen möchten. Für mich muss ich allerdings ab¬ 
lehnen, da ich so sehr überlastet bin, dass ich keine neuen Verpflich¬ 
tungen übernehmen kann. Dagegen wird nichts entgegenstehen, dass 
der Herr Schriftführer tlieilnimmt. 

In Beziehung auf den Moskauer Congress wollte ich noch bemerken: 


es gehen fortwährend Anfragen an uns ein wegen der verschiedenen 
Erleichterungen, welche in Russland und sonst bewilligt werden. Ich bin 
leider nicht in der Lage, eine definitive Erklärung darüber abgeben zu 
können, da uns eine offlcielle Nachricht darüber nicht vorliegt. Wir 
haben eigentlich nur Informationen aus einer Anzeige, die von einem 
Pariser Comitä ergangen ist, worin zugleich alle möglichen Programme, 
namentlich über Rundreisen durch ganz Russland, enthalten sind. 
Ich bin nicht in der Lage, dies Programm im Angenblick vorzulegen. 
Ich habe es vor ein paar Tagen unserem Herrn Eisenbahnminister über¬ 
geben, um zu erfahren, wie weit etwa auch in Preussen Erleichterungen 
stattflnden könnten. Sie dürfen sich allerdings im voraus wenig Hoff¬ 
nung machen, da allgemeine Bestimmungen hinderlich entgegen- 
stehen. Der Herr Minister hat mir aber versprochen, mir eine genauere 
Mittheilung darüber zugehen zu lassen. Aus anderweitigen Mittheilungen 
entnehmen wir, dass, wie es scheint, die russische Regierung bereit ist, 
innerhalb des russischen Reiches die grössten Erleichterungen zu ge¬ 
währen, indem freie Hin- und Rückfahrt, natürlich nur innerhalb der 
Grenzen des Reiches, zugestanden wird. 

Ich habe noch nachträglich mitzutheilen, dass wir noch den Austritt 
eines zweiten Mitgliedes zur Kenntniss zu nehmen haben. Der Geh. 
Sanitätsrath Dr. Berckholtz theilt unter Ausdrücken grossen Be¬ 
dauerns mit, dass er seines hohen Alters und der damit verbundenen 
Bewegungsunfähigkeit wegen gezwungen ist, seine Praxis aufzugeben, 
und im Begriffe steht, Berlin für immer zu verlassen und auf das Land 
zu ziehen. Infolgedessen will er austreten, hat mich aber besonders 
noch ersucht, der Gesellschaft mitzutheilen, wie sehr er es bedauert, 
fortan nicht mehr Mitglied „der hohen Gesellschaft“ sein zu können. 
Wir bedauern, dass der Herr College in eine so üble Lage ge¬ 
kommen ist. Ich darf wohl in Ihrem Namen den Wunsch ausdrScken, 
dass es ihm gelingen möge, in seiner Ruhe wieder zu besserer Gesund¬ 
heit zu gelangen. 

Endlich habe ich noch die Mittheilung zu machen, dass während der 
vorigen Sitzung der Gedanke, durch eine Circulation unserer Liste für 
Johannes Müller mehr Theilnahme zu finden, mit gutem Erfolge aus¬ 
geführt worden ist. Die Liste, wie sie jetzt vorliegt, ergiebt Zeich¬ 
nungen ungefähr im Betrage von 600 Mk. Ich darf wohl die Liste 
noch einmal circuliren lassen und an Ihre Opferfreudigkeit appelliren. 

Vor der Tagesordnung. 

l. Hr. Hahn: Ueber die Operation eines hochsitzenden Mast- 
darmeareinoms. 

Wenn ich mir erlaube, Ihnen heute vor der Tagesordnung ein Prä¬ 
parat von hochsitzendera Mastdarmcarcinom vorzulegen, so geschieht 
dieses einmal, weil das Präparat selbst sehr gut erhalten and in mancher 
Beziehung von Interesse ist, ferner weil dieses, wie verschiedene andere, 
die ich auf operativem Wege entfernt habe, zeigt, dass man noch sehr 
hochsitzende Mastdarmcarcinome durch die sacrale Methode nach Kraske 
entfernen kann und zuletzt, weil ich der Meinung bin, dass man durch 
Lappenbildung bei der Operation anstatt des üblichen Längsschnittes 
die functionellen Resultate dieser Methode bessern kann. 

Der Tumor Belbst ist aufgeschnitten und man übersieht die ganze 
innere Fläche. Er hat die Grösse einer kindlichen Faust, ist an einer 
Stelle exulcerirt und hat an anderen den Charakter eines malignen 
Adenoms. Am peripheren Ende ist der Darm durch einem Faden zu¬ 
geschnürt. Das resecirte Darmende mit dem Tumor misst ungefähr 
25 cm. 

Carcinome des Mastdarms, welche oberhalb vom Sphincter tertius 
ihren Sitz haben, können durch Laparotomie oder die sacrale Methode 
entfernt werden. Die Entfernung durch die Laparotomie ist nur bei ganz 
beweglichen Tumoren ausführbar und entschieden gefahrvoller, da sich 
in der Tiefe des Beckens eine exacte Vereinigung der Darmenden, nach 
aasgeführter Resection, schwer ausführen lässt. 

Die Entfernung durch die sacrale Methode ist sicher gefahrloser, 
hat jedoch einen sehr grossen Nachtheil, der darin besteht, dass sich 
mit Sicherheit die Bildung eines sacralen Anus praeternaturalis nicht 
vermeiden lässt. Die Vereinigung der Dannenden durch die Naht ist 
meist unsicher, es tritt oft Nekrose der Ränder ein, das centrale Ende 
weicht zurück und es entsteht am Kreuzbein, entfernt von der natür¬ 
lichen Anusöffnung, ein Anus praeternaturalis. Dieser macht dem Kranken 
oft sehr grosse Beschwerden durch leicht eintretenden Prolaps und durch 
schwer anzubringenden PelottcnVerschluss. Alle Bestrebungen, dieses 
üble Ereigniss zu vermeiden, haben eine grosse Berechtigung. 

Hochenegg hat den Vorschlag gemacht, das centrale Darmende 
durch den Sphincter externns herauszuleiten. Wenn jedoch keine ge¬ 
nügende Befestigung erzielt wird, kann der Darm sich auch wieder 
zurückziehen. 

Meine Erfahrungen über die schwere Beseitigung des Anus praeter¬ 
naturalis am Os sacrum, wenn die Operation mit einem Längsschnitt 
auf dem Kreuzbein ausgeführt wurde, haben mich veranlasst, in dem 
vorliegenden Falle die Operation in folgender Weise zu machen: 

Die 60 Jahre alte Patientin, von gut entwickeltem Panni- 
cnlus adiposus, war sehr elend und blass und litt ausserordentlich 
schwer durch die Mastdarmbeschwerden. Dieselbe wurde mir durch 
Herrn Dr. Zwirn zur Operation überwiesen. In Narkose konnte man 
gerade mit der Spitze des Zeigefingers bei starkem Gegendruck auf das 
Abdomen einen höckerigen Tumor fühlen, der sich ziemlich weit nach 
oben erstreckt und vorne und seitlich beweglich, am Kreuzbein jedoch 
adhärent war. Die Operation wurde begonnen mit einer grossen Lappen- 


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31. Kai * 897 : 


bildung. Die etwa 8—10 cm breite Basis des Lappens kam auf den 
unteren Rand des Kreuzbeins zu liegen, etwas oberhalb der Stelle, wo 
ich die quere Durchmeisselung vorzunehmen beabsichtigte. Die Spitze 
des Lappens lag einige Centimeter hinter dem Anus. Nachdem der 
Lappen bis an seine Basis zuriickpräparirt und provisorisch nach oben 
an die Haut durch eine Naht befestigt war, damit sein Zurückklappen 
den ferneren Operationsverlauf nicht stören konnte, wurde ein Theil des 
Kreuzbeins und das Steissbein entfernt. Nach Ablösung, doppelter Unter¬ 
bindung und Durchtrennung des Darmes zwischen den Ligaturen ober¬ 
halb des Sphincier extemus, wurde die Resection des centralen Endes 
mit dem Tumor vorgenommen, die Peritoneal wunde in der ganzen Aus¬ 
dehnung durch Ausstopfen mit Jodoforragazc geschlossen und das cen¬ 
trale Ende 60 weit vorgezogen, dass es ohne Spannung durch das peri¬ 
phere und den AnuB herausgeleitet werden konnte. Die Befestigung 
wurde angestrebt durch Vereinigung breiter Wundfiäclien und zwar der 
durch die Operation am centralen Ende befindlichen und der am Anus 
dadurch gebildeten, dass je ein Längsschnitt nach hinten nnd vorne nur 
durch Haut, Schleimhaut und die oberflächlichsten Schichten des Sphincter 
externus und seitlich zwei halbmondförmige Schnitte gemacht wurden. 
Durch Anseinanderziehen mit Wnndhaken wurden diese Schnitte in breite 
Wundflächen verwandelt, mit welchen das centrale Dannende so ver¬ 
einigt werden konnte, dass die Wundflächen des Darmes mit denen der 
Haut in Berührung kamen. 

Ich bofTe durch die beschriebene Einnähung eine dauernde Einhei¬ 
lung des Darmes mit Functionerhaltung des Sphincter extemus zu er¬ 
möglichen. Sollte jedoch wider Erwarten einmal ein Zurückweichen des 
Darmes stattfinden, so kann man durch den gebildeten grossen Lappen 
leichter einen Verschluss des Anus praeternaturalis am Kreuzbein er¬ 
zielen, als nach der Operation mit dem Längsschnitt, wonach die Be¬ 
seitigung des Anus praeternaturalis oft auf unüberwindliche Hindernisse 
stösst. 

Bei der ausgedehntesten Mastdarmresection, die ich durch die 
sacrale Methode mit glücklichem Erfolg ausgeführt habe, betrug das 
resecirte Stück ca. 40 cm. In einigen Fällen war die Function bei der 
Operation mit dem Längsschnitt eine vorzügliche, in andern jedoch bat 
sich ein Anus praeternaturalis am Os sacrum gebildet, was mich zu der 
oben geschilderten Lappenbildung veranlasst bat, welche ausserdem noch 
den Act der schwierigen Ablösung des Darmes durch eine genauere 
Uebersicht erheblich erleichtert. 

2. Hr. Görges: Der fast 2 jährige Knabe, den ich Ihnen hier vorstellen 
möchte, kam am Sonnabend, den 8. Mai, in der Poliklinik des Elisabeth- 
Kinderhospitals zum ersten Male zu unserer Beobachtung. Nach den 
Angaben der Mutter erkrankte der sonst gesunde Junge, der keine In- 
fectionskrankheiten vorher durchgemacht hat und nur Zeichen von Rachitis 
zeigt, am Gründonnerstag mit Erbrechen und Verstopfung in Begleitung 
von hohem Fieber, und wurde mit Pulvern, wahrscheinlich Calomel, be¬ 
handelt, in Folge deren grüne diarrhöische Stühle auftraten. Nach acht 
Tagen fiel das Fieber ab, und der Knabe war ganz gesund, bis die 
Matter 14 Tage später, am Abend des 6. Mai, plötzlich einige rotbe 
Flecke am Gesäss bemerkte. Am nächsten Morgen zeigte sich ein 
grosser blaurother Fleck an der linken Wade und gleichzeitig trat eine 
Schwellung des rechten Fusses ein. 

Am Sonnabend, den 8. Mai, stellte die Mutter das Kind in der Poli¬ 
klinik vor. Es hatte in der Frühe mehrmals schwarze Stuhlgänge ge¬ 
habt und zeigte jetzt folgendes Bild. En war ein kräftiges, gut genährtes, 
aber rachitisches Kind. Beide Ohrmuscheln geschwollen, mit blaurothen, 
confluirenden Flecken bedeckt. Unter dem Helix des linken Ohres 
eine mit trübem 8erum gefüllte Blase. Auf beiden Wangen, auf dem 
Rücken des rechten, stark geschwollenen und des linken Handgelenks, 
auf dem geschwollenen rechten und auf dem Unken Fussrücken, an bei¬ 
den hinteren Oberschenkeln und besonders am Gesäss zahlreiche steck- 
nadelkopf- bis markstückgrosse rothe, zum Theil blauroth gefärbte Flecke. 
Rumpf völlig frei. Das Scrotum stark geschwollen, bläulich verfärbt. 
Herztöne normal, Herz nicht vergrössert, auf der Lunge leichter Katarrh, 
Milz nicht vergrössert, an den übrigen Organen nichts nachzuweisen. 

Das Kind wurde in das Hospital aufgenommen und zeigte schon 
am nächsten Morgen im wesentlichen das Bild der Purpura falminans, 
welches Sie jetzt noch sehen. Beide Hände bis zur Mitte des Unter¬ 
arms dunkelblauroth gefärbt, mit blaurothen Blasen, Handgelenke und 
Ellbogengelenke, besonders rechts, stark geschwellt und schmerzhaft. 
Die Flecke am Körper wie vorher. Das Kind fieberte hoch, am Sonn¬ 
tag Mittag 89,0, Abends 99,5, vorgestern Morgen und Mittag 89,0, 
Abends 39,9, seit gestern fällt das Fieber, heute ist das Kind fieberfrei, 
die Flecke fangen an abzublassen, die Röthung verschwindet. Die Blut¬ 
zählung 5120000 rothe, 18750 weisse Blutkörperchen, also ein Verhält- 
niss von 1 : 278; im Blute waren sonst keine Veränderungen zu finden, 
auch der Urin war ei weissfrei. 

Die Therapie bestand in Bettruhe, Diät und innerlich Jodkalium. 

Bemerkenswerth ist noch die Schnelligkeit — worauf schon Henoch 
aufmerksam macht —, mit der sich die Ecchymosen bilden, so dass sie 
gleichsam unter unseren Angen entstanden. Auch die Blasenbildung hat 
Ilenoch zweimal unter 4 Fällen beobachtet, weiss aber über die Aetio- 
logie nichts Bestimmtes anzugeben. Nach einer flüchtigen Uebersicht 
der Literatur habe ich gefunden, dass Letzerich in 3 Fällen von 
Morbns maculosns einen Bacillus gefunden haben will. Eine Bestätigung 
hat aber bis jetzt noch nicht stattgefunden. 

Discussion. 

Hr. Lassar: Ich möchte den Herrn Vortragenden fragen, ob er bei 


diesem oder ähnlichen Fällen eventuell auch an die systematische Dar¬ 
reichung des salicylsauren Natron denken würde. Der Umstand, dass 
in diesem Falle jedenfalls eine Belastung der Verdauungswege vorliegt, 
zusammen mit dem Umstand, da«s sich hier und auch sonst bei ähn¬ 
lichen Vorkommnissen rheumatische Beschwerden zeigen, deuten auf den 
Zusammenhang dieser Krankheit mit dem i. A. verlassenen Begriff der 
gastrisch-rheumatischen Störungen hin. Auf diesen Symptomencomplex 
seit längerer Zeit aufmerksam geworden, habe ich mich veranlasst ge¬ 
fühlt, in allen acut auftretenden Formen von Erythema febrile bullosum 
rheumaticum, zu denen auch dieser ganz hervorragende Fall gehören 
möchte, gleich von vornherein ausser einer Einwirkung auf den Darm 
salicylsaures Natron zn verabfolgen, in so hoher Dosis, wie das Alfer 
und die Constitution des Patienten es verträgt. Man wird, wenn auch 
diese Therapie keine absolut sichere sein kann, doch überrascht sein, 
wie häufig jene Medication einen sichtbaren Abfall der allgemeinen 
Störungen und der sichtbaren Symptome herbeifflhrt; wovon ich mich 
immer wieder von neuem zu überzeugen Gelegenheit finde. 

Hr. Görges: Ich möchte Herrn Lassar erwidern, dass wir in 
einzelnen Fällen allerdings auch Salicyl angewandt haben bei ge¬ 
ringfügiger Peliosis rheumatica, mit kleineren Blutflecken und ohne 
Fieber, dass wir aber in den meisten Fällen keinerlei Effect von der 
Darreichung gesehen haben. Ich entsinne mich aber aus meiner früheren 
Tbätigkeit bei Herrn Lassar, dass die Salicylsäure sehr häutig 
ausserordentlich günstig auf den Process eingewirkt hat; und wenn hier 
das Jod nicht geholfen hätte, so würde ich jedenfalls auch mit Salicyl 
hier einen Versuch machen. 

Hr. Heubner: Der Fall ist ja zweifellos ein ganz besonderer. 
Aber so viel ich mich erinnere, haben die Fälle, die Henoch als Pur¬ 
pura falminans bezeichnet hat, sämmtlich letal geendigt. Dagegen haben 
wir hier ein Kind vor uns, welches glücklicherweise diesen rasch tödt- 
lichen Verlauf nicht zeigt. Ich selbst habe allerdings einen ganz ekla¬ 
tanten Fall der Art, wie sie Henoch als Purpura fulminans bezeichnet 
hat, nie gesehen. Nach der Schilderung hätte ich mir die Erkrankung 
allerdings etwas anderes vorgestellt, als den Fall, den Herr Görges 
uns eben gezeigt hat. Zu der Henoch’schen Erkrankung gehört viel¬ 
leicht ein Fall, den ich vor zwei Jahren gelegentlich einer Consultation 
auswärts gesehen habe. Freilich handelt es sich auch da nicht um sehr 
massenhafte, sondern um spärliche Blutungen in die Haut, die aber neben 
dem Bilde einer schweren septischen Allgemeininfection auftraten, und 
rasch tödtlich endeten. Die meisten der Fälle, die Henoch beschrieben 
hat, sind doch wohl als septisch infectiöse Krankheiten aufzufassen. 

Der eben vorgestellte Fall dagegen erinnert mich an einen vor 
20 Jahren von mir beobachteten Fall, einen Erwachsenen, der damals 
im Anfang der Erkrankung auch grosse diagnostische Schwierigkeiten 
machte, sehr chronisch verlief und schliesslich nach einer Reihe von 
Wochen sich doch als Erythema exsudativum multiforme herauswies. 
Ich habe ihn in meiner Arbeit über Erythema multiforme ’) beschrieben. 
Auch in dem Falle hier erinnert doch manches, z. B. die Gruppen von 
Bläschen, die hier an einzelnen Stellen auf hämqrrhagischem Boden auf- 
treten, an diese exsudative Form des Erythem. Ich möchte deswegen 
doch die Frage anheimgeben, ob sich die hier gezeigte Erkrankung ganz 
mit Recht in die Kategorie der Purpura fulminans einreihen lässt. Meine 
Erfahrung ist ja keine so grosse, wie die der Herren Dermatologen. 
Aber vielleicht hören wir auch von diesen noch ein Urtheil darüber. 
Diese eigenthiimlichen zahlreichen Blasenbildungen kommen meines 
Wissens bei Purpura fulminans auch nicht vor, und ganz besonders ist 
es also, wie gesagt, der noch andauernd günstige Verlauf im Allgemeinen, 
der mir gewisse Zweifel erweckt, ob diese Bezeichnung ganz richtig ist. 

Jedenfalls sind wir aber Herrn Görges ausserordentlich dankbar, 
dass er diesen höchst bemerkenswerthen Fall uns gezeigt hat. 

Hr. Görges: Ich wollte noch bemerken: ich habe vergessen bei 
der Anamnese, dass das Kind am Sonnabend Morgen mehrere dunkle 
Stuhlgänge gehabt hat, die also entschieden aus Blut bestanden. Auch 
soll das Kind einige Male vorher, am Donnerstag, bevor es erkrankte, 
etwas Blut gebrochen haben. Auf der Schleimhaut haben wir ebenfalls 
einige kleine Ecchymosen gesehen, besonders auf der Schleimhaut des 
harten Gaumens und auf der Wangenschleimhaut. Im übrigen war das 
Zahnfleisch fast gar nicht entzündet. 

Hr. Lassar: Der Anregung des Herrn Heubner folgend, möchte 
ich betouen, dass man einen ganz principiellen Unterschied zwischen 
den Formen dieser Krankheit, wenigstens so weit meine Erfahrungen 
reichen, nicht machen kann. Es giebt Uebergänge aller Art, und die 
Krankheitsbilder, wie sie Herrn Geheimrath Henoch begegnet sind, 
dürften hauptsächlich in ihrem Grade eigenartig gewesen sein. Der 
hier vorliegende Zustand wird sich prognostisch heute wohl noch 
nicht endgültig entscheiden lassen, und der Herr Vortragende wohl 
wie ich selbst den Eindruck haben, dass die Vorhersage eine dubiöse 
sei. Diese Ungewissheit ist ganz besonders begründet in der grossen 


1) Anmerkung bei der Correctur: Deutsches Archiv f. klin. Mcdicin, 
Band 81, pag. 297. Auch in diesem Falle wurden im Verlaufe der Er¬ 
krankung ein Hämorrhagischwerden der Hautstellen, wo die Blasen 
sich entwickelten, sowie auch Schleimhautblutungen (Nasenbluten) 
beobachtet. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 22. 


Neigang zu Hämorrhagien, ein Umstand, den auch, so weit ich unter¬ 
richtet bin, Herr He noch immer hervorgehoben hat, da bei diesen und 
ähnlichen Zuständen die Neigung zu Blutergüssen, sei es im Darm, sei 
es in der Haut, ein prognostisch immer recht zweifelhaftes Moment ab- 
giebt. Die Erkrankung kommt ja, wie Herr Ileubner schon erwähnt 
hat, auch bei Erwachsenen vor, und zwar in einer bedrohlichen Form, 
welche nicht sehr verschieden auftritt von der eines Typhus. Man kann 
ein anfangs räthselhaftes Bild vor sich haben, starke Darmalteration 
und damit verbunden zarte Hautcruptionen, die zuerst einer Roscola 
gleichen. Mit einem Schlage kommt dann das Bild eines Erythema ex¬ 
sudativum bulbosum oder haemorrhagicum zum Vorschein. Gerade die 
Multiformität macht es schwer, besondere Rubriken auszusondern. 

3. Hr. Jacnsiel: Ich habe Ihnen im Februar einen Kranken vorgestellt, 
dessen Bild ich Ihnen kurz ins Gedächtniss zurückrufen will. Es war 
ein 28jähriger, missfarbig-bleicher Mann, der auch unterstützt nur müh¬ 
sam sich aufrecht erhalten oder gar geben konnte. Die Augäpfel waren 
hervorgedrängt, der Bauch geschwollen. Man konnte an ihm rechts eine 
Geschwulst, die stark vergrösserte Leber, links die stark vergrösserte 
Milz abtasten. Die Unterschenkel waren geschwollen. Das Hervor¬ 
ragendste und die erste Erkrankung war eine Geschwulst an der linken 
Ualsseite, in deren Umgebung sich kleine Geschwülste entwickelt hatten, 
namentlich auf dem Schulterblatt, oberhalb und unterhalb der Gräten 
und in den Achselhöhlen, auch in anderen Drüaengegenden, den Leisten 
u. s. w. 

Der Fall ist nun letal verlaufen. Die Erscheinungen sind vorge¬ 
schritten nach der Richtung, dass die Schwellung namentlich sich ver¬ 
mehrte. Das Oedem stieg auf die Oberschenkel fort, auf das Skrotum, 
auf den Penis. Es entwickelte sich Ascites, der mich nöthigte, in den 
letzten 14 Tagen den Verstorbenen 6mal zu punktiren, wodurch sich 
etwa 30 Liter einer durchweg klaren, ohne jede Beimischung hellgelben 
Flüssigkeit, die beim Niederrieseln ins Gefäss stark schäumte, entleerten. 
Beschwerden seitens des Patienten waren bis im Beginn dieses Jahres 
nicht vorhanden, während die Krankheit vor 8 Jahren begonnen hat. 
Die Beschwerden bezogen sich nur auf die Hinfälligkeit. Vor 8 Jahren 
hatte die Krankheit derart begonnen, dass ein Brett dem Patienten auf 
die linke Schulter gefallen war, dass sich an der betroffenen Stelle die 
Geschwulst sehr schnell entwickelt hatte, welche Sie hier gesehen 
haben, ohne dass dieselbe ihm wenigstens wesentliche Beschwerden 
machte. Er blieb arbeitsfähig. Er hat 4 Jahre später einmal, und 
eigentlich mehr Luxus halber, meinen Rath nacbgesucht. Es fiel mir 
damals nichts weiter auf, als die Grösse der Geschwulst und das 
schlechte Aussehen des Patienten. Das letztere war so auffällig, dass 
ich einen befreundeten Collegen ersuchte, zu sehen, ob er durch die 
Punctionsnadel etwas Material zur Untersuchung der Geschwulst ge¬ 
winnen könnte. Der wiederholte Versuch ist indessen von keinem Er¬ 
folge begleitet gewesen. Ich habe dann den Patienten 4 Jahre lang 
nicht gesehen. Es war eine Arsenikcur mit ihm vorgenoinmen, die er 
ganz aus eigenem Antrieb ziemlich consequcnt fortgesetzt hat, ohne viel 
zu fragen, und die ihm mindestens nicht geschadet hat, wie es scheint. 
Indess nahmen Ende des Jahres 1896 seine Kräfte so ab, dass er mit 
Beginn dieses Jahres nun arbeitsunfähig wurde. 

Ich habe Ihnen hier den Fall gezeigt, ohne ihn benennen zu können. 
Denn der Lebendige hat befremdliche Erscheinungen gehabt, die aber 
alle sich subsumiren lassen unter den Begriff der Kachexie, wie wir 
sie bei verschiedenen bösartigen Erkrankungen sehen, ohne dass doch 
ein kennzeichnendes Merkmal irgendwo offenbar wurde. Die 
Untersuchung des Blutes, der Excrete, die Untersuchung des Herzens, 
der Lungen ergab nichts Abnormes. Gegen Ende des Lebens hat die 
Geschwulst sich verkleinert. Es war das auch nur ein Zeichen, dass 
die Kräfte des Mannes sich aufzehrten. Die Beschaffenheit der Ge¬ 
schwulst wurde in etwas klarer. Während hier die Geschwulst noch 
erschien wie eine einzige grosse, gelappte Geschwulst von verschiedenen 
Festigkeitsgraden an verschiedenen Stellen, zeigte sich, als sie kleiner 
wurde, nämlich als das Fettpolster, das zwischen den einzelnen Ge¬ 
schwülsten lag — es waren deren ein Dutzend oder mehr gezählt wor¬ 
den — dass er mehrere stark geschwollene Drüsen hatte, und es ist 
mir nun gestattet worden, diese Drüsen vom Todten zu entfernen, die 
ich Ihnen hier vorlege. 

Ich habe das damals als einen interessanten Fall hier bezeichnet 
aus Verlegenheit, während eine Autorität in einer Art Nothtaufe ihm den 
Namen der Hodgkin’schen Krankheit oder Pseudo-Leukämie beigelegt 
hat: jedenfalls nichts, was in der That das Wesen der Krankheit auf¬ 
klärt. Leider kann ich Ihnen auch keinen vollständigen Obductions- 
befund zeigen, sondern nur einen kleinen Theil der erkrankten Partie, 
und zwar der primär erkrankten. Es sind Btark vergrösserte Drüsen 
von auf dem Durchschnitt saftreichem Aussehen, zum Theil übrigens 
gleichmässigem saftreichem Aussehen, während an einer anderen Drüse 
eine Blutung erfolgt ist ins Gewebe, während bei zwei anderen Drüsen 
auf dem Durchschnitt ziemlich grosse Stellen erscheinen, die, um ganz 
neutral zu bleiben im Ausdruck, saftlos erscheinen. Ich möchte also 
irgend welchen Ausdruck, wie „käsig“ oder „speckig“ vermeiden. 

Durch die Freundlichkeit des Herrn Oesterreich bin ich zum 
Conserviren der Präparate und zu den Präparaten gelangt, die ich da 
aufgestcllt habe, die indessen irgend eine Heteroplasie wesentlicher Art 
nicht zeigen. In dem einen Präparat sind zwei Riesenzellen: sonst fand 
sich nichts Auffallendes. Die Untersuchung nach Tuberkelbacillen ist 
negativ ausgefallen. 


Ich hielt mich für verpflichtet, Ihnen auch diesen geringen Befand 
vorzulegen zur Ergänzung des Falles, den Sie im Leben gesehen haben. 
Ich möchte allerdings, wenn es nicht unbescheiden ist, darauf aufmerk¬ 
sam machen, dass, wenn man diese Dinge mit dem übertünchten Namen 
Hodgkin oder Pseudo-Leukämie belegt, man doch wohl kaum in der 
Lage sein wird zu sagen, dass in allen den so benannten Fällen sich 
ein ähnlicher Befund beim Leichnam zeigt, ja, dass auch nur in einer 
überwiegenden Zahl von Fällen von sog. Hodgkin’Bt-her Psendo-Leu¬ 
kämie ein sicher kennzeichnender Befund vorhanden ist, so dass es viel¬ 
leicht einer grösseren Sammlung von geschickten Händen nur bedarf, 
um bessere Resultate zu ergeben, als die, die ich heute Ihnen vorau¬ 
steilen in der Lage bin. 

Herrn Geheimrath Virchow danke ich für die wiederholten freund¬ 
lichen Anweisungen, die er mir bei der Musterung der Präparate gab, 
Herrn Oesterreich für die Unterstützung bei der Präparirung 
derselben. 

Discussion. 

Ilr. R. Virchow: Es ist in der That ein ziemlich schwieriges Ob¬ 
ject, und noch schwieriger ist die Frage, wie weit dasselbe mit der 
überlieferten Beschreibung von Hodgkin’schen Präparaten übereinstimint. 
Ich darf wohl hervorheben, dass Hodgkin zu keinem in unserem Sinne 
bezeichncten Ergebniss gekommen war, und dass man eben deshalb, 
weil ein anderer Name sich nicht ergab, den Namen des Urhebers in 
dankbarer Erinnerung daran geknüpft hat. Damit allein wird man auf 
die Dauer nicht auskommen können, falls es sich um ganz bestimmte 
Veränderungen handelt. Ich habe neulich schon hervorgehoben, dass 
nach Hodgkin es sich wesentlich um eine progressive Drüsenschwel¬ 
lung handle, die nicht in das Gebiet irgend einer der bekannten bös¬ 
artigen Formen fiele. Das kann ich nun nach Kenntnisnahme dieses 
Präparates für den vorliegenden Fall nicht anerkennen. Es han¬ 
delt sich nicht um eine einfache Hyperplasie der Drüsen, denn auch da, 
wo aussen eine scheinbar gleichmässige Anschwellung sich findet, ergiebt 
sich im Innern eine eigenthümlich lappige Anordnung, gleichsam als ob 
allerlei Knoten aus der Masse herauswachsen, welche von sehr ver¬ 
schiedener Grösse sind, aber doch nie weit etwa über die Grösse von 
Erbsen hinausgehen. Sie sind fest, weisslich grau und wenig scharf -ab¬ 
gegrenzt. Wie Herr Jacnsiel schon erwähnte, giebt es aber hier auch 
Drüsen, die sich wesentlich verschieden verhalten. Eine solche Drüse 
zeigt auf dem Durchschnitt ein dichtes, homogenes, undurchsichtiges 
Aussehen, welches auf den ersten Blick ungefähr so erscheint, wie eine 
käsige Masse. Indessen die genauere Betrachtung hat weder mikrosko¬ 
pisch, noch makroskopisch ergeben, dass es Käse ist. Es ist eine 
dichtere, festere Masse von nicht bröckliger Beschaffenheit, die nnter 
dem Mikroskop nicht die Reste einzelner Zellen als geschrumpfte Ele¬ 
mente erkennen lässt, sondern eine amorphe, homogene, wenig körnige 
Masse, die über die gewöhnliche Zusammensetzung käsiger Massen 
hinausgeht. Es giebt dafür in der Geschwulstlehre eigentlich nur zwei 
Analogien, so weit ich übersehe: die eine sind Gummibildungen, die 
andere Sarkombildungcn. In beiden Fällen findet man im Innern der 
Knoten eigenthümlich compacte, dichte, undurchsichtige und durch ihre 
meistentheils mehr gelbliche Farbe ansgezeichnete Stellen. Das ist hier 
auch der Fall. Es hat sich herausgestellt, dass in diesen Stellen zer¬ 
streut kleine, eckige, sternförmige oder unregelmässige Einsprengungen 
Vorkommen, die man nach ihrer gelben Farbe Pigmente nennen könnte, 
die aber genetisch noch nicht so recht haben erklärt werden können. 
Das sind Verhältnisse, wie sie namentlich bei Sarkom häufiger Vorkom¬ 
men. Tuberkelbacillen sind nicht gefunden worden. Nun hat sich, wie 
ich von Herrn Jacusiel weiss, irgendein Anzeichen einer syphilitischen 
Infection bei diesem Manne nicht nachweisen lassen. Auch sind die 
anderen Drüsen nicht so beschaffen, wie man gewöhnlich syphilitische 
Drüsen sieht. Ich würde also meinerseits kein Bedenken tragen, vor¬ 
läufig den Fall nnter die Sarkome zu stellen, jene bösartigen Drüsen¬ 
sarkome (Lymphosarkome), wie sie Ihnen bekannt sind, die erst nach 
Hodgkin Bürgerrecht in der Onkologie gewonnen haben. 

4. Hr. Rosenhelm: lieber Sondirung der Speiseröhre im Oeso- 
phagoskop. 

Ich erlaube mir, Ihnen hier zwei Parallelfälle vorzustellen. Bei 
beiden Patienten liegt eine Strictur des Oesophagus vor; bei 
beiden findet sich dieselbe in gleicher Höhe, 28 bis 29 cm von den 
Zähnen entfernt, bei beiden Patienten gelang es nicht, als sie in meine 
Behandlung traten, durch das gewöhnliche Sondirungsverfahren diese 
Strictur zu erweitern. Beide Male ergab sich, dass der Eingang 
in die Strictur ganz aussergewohnlich excentrisch an der Hinterwand lag, 
während das Hinderniss von der Vorderwand ausging. Der Unterschied 
liegt bei diesen beiden Patienten nur darin, dass es sich in dem einen 
Falle um eine carcinomatöse Strictur handelt, in dem anderen Falle um 
eine gutartige, durch Aetzung entstandene. 

Den ersten Patienten, den 70 Jahre alten Klempner K., verdanke 
ich der Liebenswürdigkeit des Herrn Collegen Grabower, der auch 
bereits die Diagnose auf Carcinom des Oesophagus gestellt und ausser¬ 
dem eine Rekurrenslähmung constatirt hat. Patient war früher stets 
gesund, ist seit Januar d. J. krank. Er bemerkte, dass er schlecht 
schlucken konnte. Die Beschwerden wurden stärker, und im April d. J. 
wurden sie der Art, dass er nur dünne Flüssigkeiten hinunter brachte. 
Er kam dabei natürlich von Kräften. Es wurde die Sondirung versucht, 
um die Strictur etwas zu erweitern. Das gelang nicht. Der Patient 


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wurde mir dann Mitte April überwiesen. Ich konnte nur bestätigen, 
dass es nicht möglich war, auf gewöhnliche Art vorgehend die Strictur 
su sondiren, trotzdem ja eine Oeffnung zweifellos vorhanden war. Ich 
habe dann den Patienten ösophagoskopiert und dabei festgestellt, dass 
in der besagten Höhe ein Carcinom von der vorderen Wand au’gebt. 
Der Befund war der, dass eine starke Infiltration der vorderen 
ösophagealen Wand nachweisbar war; die Schleimhaut auf der 
infiltrirten Partie war blass, hier und da sah man mohnkorngrosse, 
weissliche Plaques, wie man sie besonders häufig oberhalb von Carci- 
nomen des Oesophagus in der Schleimhaut antrifft. Nach der Entwicke¬ 
lung der Sache und nach dem ziemlich charakteristischen Befunde konnte 
kein Zweifel sein, dass es sich um ein Carcinom handelte. Im Oeso- 
phagoskop klaffte unter diesem Tumor deutlich ein schmales Lumen in 
der angegebenen Höhe von 28 cm. Es war leicht im Oesophagoskop 
diesen Canal zu sondiren, und zwar ging gleich eine 7 bis 8 ram-Sonde 
glatt durch. Der Patient ist dann in dieser Weise in den folgenden 
Wochen behandelt, d. h. im Oesophagoskop Bondirt worden. Die Strictur 
erweiterte sich, und er fühlt sich jetzt wesentlich besser. 

WeBbalb nun unter solchen Bedingungen, wie sie hier waren, eine 
gewöhnliche englische Sonde, im Sitzen des Patienten eingeführt, nicht 
hindurchgeht, das erhellt aus der Lage des Tumors. (Zeichnung und 
Erläuterung an der Wandtafel.) Die Spitze der Sonde geht im Anfangs- 
theil des Oesophagus an die Hinterwand herein, biegt dann aber, nach¬ 
giebig wie sie ist, etwas nach vorn um und stösst nun allemal gegen 
den Tumor. 

Wenn ich den Patienten dagegen in Rückenlage sondire, so ge¬ 
lingt es eher, direkt in die Strictur hineinzukommen, aber auch nicht 
regelmässig. Dann bleibt nichts übrig, als dass man sich im Oesophago- 
skop die Strictur einstellt und unter Leitung des Auges die Sondirung 
ausführt. Nun wird man ja hier von keinem grossen therapeutischen 
Erfolge sprechen können, weil es sich eben um ein Carcinom handelt. 
Für den Patienten ist aber auch diese Erleichterung, die wir ihm ver¬ 
schafft haben, immerhin doch wesentlich. 

Ganz anders liegt die Sache beim zweiten Patienten. Hier handelt 
es sich um einen direkt lebensrettenden Eingriff. Der Patient, 
Arbeiter M., ist 26 Jahre alt und leidet schon seit Jahren an einer 
Kehlkopftuberculose, wegen der er in der König!. Universitätspoliklinik 
mit gutem Erfolge von Herrn Collegen Kirstein behandelt worden ist. 
Wie wenig er durch die Kehlkopftuberculose angegriffen war, geht daraus 
hervor, dass er sich eines ausgezeichneten Befindens erfreute: er war 
sehr gut genährt, als er am 6. März d. J. in Folge einer Verwechselung 
das Unglück hatte, Kalilauge zu trinken. Er hatte dadurch eine sehr 
schwere Oesophagitis corrosiva acquirirt, die ihn auf’s Krankenlager 
warf. Er wurde in's Krankenhaus nach Charlottenburg geschickt und 
dort einige Zeit behandelt. Die Sache wurde im Anfang etwas besser, 
aber als er dann herausging, stellten sich zunehmende Schluckbeschwer¬ 
den ein. Vom 15. April ab konnte er überhaupt fast nichts mehr ber- 
unterwürgen. Es gingen .nur wenige Schlucke Wasser im Verlaufe eines 
Tages durch. Er war in einen sehr desolaten Zustand gekommen. Fast 
völlig pulslos wurde er mir am 22. April von Herrn Collegen Kir stein 
überwiesen. Nach den Anschauungen, wie sie bisher herrschend gewesen 
sind, war hier zweifellos eine Gastrostomie, um dem Patienten zunächst 
Nahrung zuzuführen, indicirt. Ich schob den operativen Eingriff hinaus 
und versuchte zu ösophagoskopiren und im Oesophagoskop die Sondirung 
auszuführen. Das Vorgehen wurde ausserordentlich dadurch erschwert, 
dass die Kehlkopftuberculose bestand. Indess mit Hülfe von Cocain 
gelang es, in den Oesophagus hineinzukommen. Es zeigte sich nun, 
dass der oberste Theil des Oesophagus beträchtlich dilatirt war. Sowie 
ich das Oesophagoskop einführte, den Mandrin herauszog, strömten mir 
etwa 200 ccm einer trüben blutig gefärbten, noch etwas Speisereste ent¬ 
haltenden Flüssigkeit entgegen. Mit grosser Mühe gelang es nun, das 
Operationsfeld zu reinigen. Das Bild, das sich dann darbot, war ähn¬ 
lich dem erst beschriebenen, bloss dass der Tumor, der das Lumen ver¬ 
legte, nicht carcinomatöBer Natur war, sondern durch einen mächtigen 
Schleimhautwulst, stark blutrünstig, bedingt war. Von dem Eingänge in 
die Strictur war nichts zu sehen. Endlich heim Hin- und Herschieben 
des Tubus gelang es, unterhalb des Tumors eine ganz feine Oeffnung 
zu erkennen, in die ich auf’s Gerathewohl eine meiner feinsten Sonden, 
die ich für derartige Zwecke benütze, einzuführen in der Lage war. 
(Dem.) Diese ging thatsächlich durch. Ich konnte dann gleich mit 
einer etwas stärkeren vorgehen. Diese Sonde blieb liegen; über die¬ 
selbe hinweg wurde der Tubus herausgezogen und dann der Patient auf¬ 
gerichtet. Die Sonde aber verweilte etwa 10 Minuten. 

Wir haben dieses mühselige Verfahren wochenlang fortsetzen müssen, 
um endgültig eine Erweiterung der Strictur herbeizuführen. Schon nach 
4 Tagen konnte der Patient, den ich unterdessen vom Mastdarm ans 
ernährt hatte, Milch schlucken. Heute schluckt er, was sich in Breiform 
bringen lässt, ganz bequem; ein 7 mm-Rohr geht jetzt glatt durch die 
Stenose, aber auch heute noch ist es nicht im Sitzen möglich, die 
Sondirung auszuführen, sondern es gelingt immer nur — und die Lage 
der Strictur ist wohl dafür verantwortlich zu machen — wenn ich den 
Patienten auf den Rücken lege. 

Nun, solche Erfahrungen lehren doch unzweideutig, dass, bevor 
man sich zur Gastrostomie in derartigen Fällen entschliesst, 
man die Pflicht hat, zu untersuchen, ob man nicht durch ein 
solches unblutiges Verfahren den Patienten Erleichterung 
verschaffen kann. Dass sich dadurch Erfolge erzielen lassen, be¬ 
weisen diese Fälle. Ich darf vielleicht noch hinzufügen, dass die Er¬ 


weiterung der Strictur mit demselben Instrumentarium geschehen kann, 
das man sonst verwendet. Wenn das Oesophagoskop eingeführt ist, 
wird der Mandrin herausgezogen; dann bringe ich die Lampe hinein. 
Die ist nun so gebaut, dass eine Beleuchtung möglich ist, ich aber 
immer noch hier ein bedeutendes Fenster habe, durch welches ich nicht 
bloss sehen, sondern auch Instrumente einffihren kann, und auf diese 
Weise gehe ich dann mit feinen englischen Sonden vor. Man kann 
natürlich auch andere nehmen. Manchmal erweist sich ein Fischbein¬ 
stab nützlich, andere Male habe ich Stahlsonden benützt, Bleisonden, 
Spiralsonden, kurzum das Instrumentarium muss sehr vielfältig sein, 
wenn man in einem schwierigeu Falle allemal zum Ziele kommen will. 
Hinzufügen möchte ich noch zum Schluss, dass für die Ernährung solcher 
Kranken Oele und geschmolzene Butter von grösstem Nutzen sind; 
abgesehen von dem hoben Nährwerth dieser Stoffe kommt in Betracht, 
dass sie sehr leicht Verengerungen passiren manchmal leichter als andere 
Flüssigkeiten — dass sie reizlos sind und die Theile geschmeidig 
machen. 

Di scussion. 

Hr. Pariser: Es sei gestattet, zu den günstigen Erfolgen des Herrn 
Rosenheim einige aus eigener Beobachtung hinzuzufügen, und zwar 
sei neben einer grossen Anzahl jener passageren Erfolge bei Carcino- 
matösen von gutartigen Narbenstricturen mit andauernder Heilung ge¬ 
dacht. Der eine Fall betrifft einen Knaben von 8 Jahren, der direkt 
vor der Gastrostomie stand, bei dem sich im Oesophagoskop an der 
hinteren Wand des Oesophagus doch noch eine Oeffnung, die knapp 
linsengross war, aufflnden und zur Sondirung einstellen liess. Es gelang 
in einer sehr kurzen Reihe von Sitzungen, den Knaben so weit zu 
bringen, dass er alles esBen kann, nicht bloss flüssige Elemente, sondern 
auch Fleisch und Brod. 

Der zweite Fall betrifft einen Patienten, der vor mehreren Jahren 
wegen einer narbigen Strictur bereits eine Gastrostomie durchgemacht 
hat und bei dem dann von der Bauchwunde eine retrograde Sondirung 
der Strictur mit Erfolg versucht worden war. Mehre Jahre hatte das 
dadurch erzielte günstige Resultat angebalten, als er ein schweres Recidiv 
bekam, so dass ihm von anderer Seite der gewiss sehr berechtigte Vor¬ 
schlag einer erneuten Gastrostomie gemacht wurde. Im Oesophagoskop 
liess sich unschwer eine allerdings enge Stricturöffnung in der Nähe der 
hinteren Wand des Oesophagus entdecken und zur Sondirung einstellen. 
Es gelang auch in diesem Falle in recht kurzer Zeit, ein so günstiges 
Resultat zu erzielen, wie in dem erst angeführten. 

Hr. Grabow er: Es ist vielleicht von einigem Interesse für 8ie, 
wenn ich in Betreff des ersten von Herrn Rosenheim vorgestellten 
Falles eine kleine ergänzende Mittheilung hinzufuge. Wie Herr Rosen¬ 
heim Ihnen mitgetheilt hat, war bei dem ersten Patienten eine 28 cm 
hinter der Zahnreihe beginnende Verengerung sichtbar. Der Tumor ging 
von der vorderen Wand aus. Da ich gern über die Flächenausdehnung 
und auch über die Tiefenausdehnung des Tumors etwas erfahren wollte, 
so habe ich zu dem Röntgenverfahren meine Zuflucht genommen. Herr 
College Levy-Dorn war so liebenswürdig, mit mir den Patienten zu 
durchstrahlen. Das Resultat war folgendes: Es zeigte sich neben der 
Wirbelsäule im Niveau der 4. Rippe ein ganz exquisiter Schatten, 
welcher sich deutlich markirte vom Schatten der Wirbelsäule und auch 
von dem helleren Schatten der Rippen, der 5 cm berunterreichte und 
ganz besonders nur auf der linken Seite sich ergab, während er nicht 
bis zur Medianlinie und noch viel weniger bis nach rechts hinüberging. 
Ueberdies zeigte dieser Schatten durch seine ganze Quere hindurch eine 
deutliche, regelmässige Pulsation. Es war sonach klar, dass der Tumor 
in der linken Seite des Oesophagus lag, die rechte Seite gar nicht be¬ 
rührte. Und das war nicht nur diagnostisch, sondern auch therapeutisch 
von einigem Werth. Denn, wie Ihnen auch Herr Rosenheim sagte, 
gelang es nicht, auch nur Sonden geringsten Calibers durch die Enge 
hindurchpassiren zu lassen. Nun war hier durch die Röntgenunter¬ 
suchung erwiesen, dass die rechte Wand des Oesophagus frei vom Tumor 
war. Ich wurde dadurch darauf geführt, gleich bei Einführung der 
Sonde dieser die Richtung nach rechts zu gehen, und so gelang es mir 
auch ohne Oesophagoskop Sonden etwas grösseren Umfanges hindurch¬ 
zuführen. Es ist das also immerhin ein ganz schätzenswerther dia¬ 
gnostischer und therapeutischer Erfolg der Röntgenmethode. Ausserdem 
ist auch die erwähnte Pulsation nicht ganz uninteressant. Würde man 
auf dem flnorescirenden Schirm eine solche Pulsation in dieser Region, 
also am Ende des zweiten Drittels des Oesophagus sehen, so würde 
man unbedingt an Aortenaneurysma glauben, oder man würde wenig¬ 
stens in sehr grosser Verlegenheit sein zwischen der Diagnose Aorten¬ 
aneurysma oder Tumor. Da aber, wie Herr Rosenheim ösophago- 
skopisch festgestellt hat, es sich hier um Carcinom handelt, so konnte 
diese pulsatorische Bewegung nur eine von der Aorta mitgetheilte sein. 

5. Hr. Mackenrodt: Die Complication von Myom und Schwanger¬ 
schaft hat bisweilen Störungen zur Folge, welche den Arzt vor eine 
kritische Situation stellen. Besonders ist es die Erweichung von Myomen 
unter dem Einfluss der Schwangerschaft, die durch hohes Fieber und 
peritonitische Erscheinungen nicht bloss den Fortbestand der Schwanger¬ 
schaft, sondern das Leben der Mutter gefährden können. Da kann nur 
die Ausschälung des meist in einer festen Schale in der Uteruswand 
liegenden Erweichungsherdes helfen. Die Prognose dieser Operation ist 
günstig nicht bloss für das Leben der Mutter, sondern auch für den 
Fortbestand der Schwangerschaft. Es ist mir und Anderen bei derOpe- 


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No. 22. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


ration derartiger Fälle vorgekommen, dass trotz einer umfänglichen Ver¬ 
wundung der Wand des schwangeren Uterus dennoch die Schwanger¬ 
schaft ausgetragen ist. 

Eine noch häi tigere Störung seitens der eine Schwangerschaft com- 
plicirenden Myome entsteht durch die rela'iv häufige Stieltorsion ge¬ 
stielter Myome mit nachfolgendem Zerfall derselben. Einen solchen Fall 
kann ich Ihnen hier demonstriren. Vor 2 Jahren wurde mir die damals 
ledige Kranke angeführt und die Diagnose auf ein gestieltes Myom von 
ZweifaustgTösse gestellt. Da ausser geringen Blasenbeschwerden sonst 
nichts vorlag, so rieth ich dem C -liegen, bis auf Weiteres von der Ope¬ 
ration absehen zu wollen. Inzwischen verheiratcete sich Patientin und 
vor 3 Monaten blieb die Regel aus. Am Ende des zweiten Schwanger¬ 
schaftsmonates traten plötzlich heftige Schmerzen im Leibe, sowie 
zweifellose Peritonitis auf, am 8. Tage der Erkrankung sah ich Pat. und 
schritt baldigst zur Operation. Das Myom war kindskopfgross geworden, 
der vom linken Horn ausgehende Stiel war torquirt, das Myom in Zer¬ 
fall begriffen; in der Bauchhöhle ausgedehnte Verklebungen, Blutergüsse, 
die Bauch wand ödematös. Die Operation verlief glücklich, die Schwanger¬ 
schaft ist auch in diesem Falle nicht unterbrochen worden. 

Einen anderen Fall von Myom zeige ich Ihnen hier, in welchem 
das Myom während der Schwangerschaft gar keine Störungen verur¬ 
sachte, dagegen schliesslich zu einem absoluten Geburtshinderniss wurde. 
Der Tumor ist etwas mehr als faustgross, sass in der vorderen Wand 
in der Höhe des inneren Muttermundes, war nirgend mit der Becken¬ 
wand verwachsen, verlegte aber bei jeder Wehe den Gebärcanal. Nach¬ 
dem die Kreissende seit 2 Tagen das Wasser verloren hatte und sehr 
heftige Wehen gehabt hatte, fürchtete der behandelnde College mit Recht 
eine Uterusruptur und schickte die Kranke in die Klinik. Hier habe 
ich das Myom vaginal nucleirt und dann das Kind mit der Zange ent¬ 
wickelt, weil die Herztöne sich sehr verschlechtert hatten während der 
Myomoperation. Die Entwickelung des tief asphyctischen Kindes ging 
schnell und glatt, es ist aber nicht gelungen, dasselbe in’s Leben zu¬ 
rückzurufen. Die Matter ist genesen. 

Wie diese Fälle zeigen und auch die Erfahrungen Anderer lehren, 
so muss die so allgemein geltende, allzu optimistische Auffassung der 
Complication von Myom und Schwangerschaft doch wesentlich einge¬ 
schränkt werden. 

Hr. James Israel: Ich habe in 2 Fällen Gelegenheit gehabt, 
Myome aus dem schwangeren Uterus zu exstirpiren f und zwar beide 
Male wegen schwerer Druckerscheinungen im kleinen Becken mit 
Schwierigkeit der Urin- und Stuhlentleerung. In einem Falle habe ich 
2 Myome, eines aus der Hinterwand, ein anderes aus der Vorderwand 
des Uterus entfernen müssen. Der Fall ist vollkommen genesen, ohne 
Abort. In dem zweiten Falle trat Heilung ein; es erfolgte aber Abort 
nach vollendeter Heilung. Die Schwangerschaft war in beiden Fällen 
zur Zeit der Operation, so weit meine Erinnerung reicht, ungefähr bis 
zum 5. Monat vorgeschritten. 

Tagesordnung. 

Hr. Goltsckalk: Ueber den Einfluss des Wochenbettes auf 
cjstische EierstocksgeschwU'ste. 

Vortragender führt aus, dass sich der schädliche Einfluss des Wochen¬ 
bettes auf cystiscbe Eierstocksgeschwülste wesentlich nach 3 Richtungen 
bekunde: 

1. in ausgedehnten Verlöthungen der Geschwulstoberfläche mit der 
Umgebung, spec. Darm und parietalem Bauchfell, 

2. in der Neigung zu Stieldrehungen, 

3. in der Neigung zur Infection der Cyste. 

Das Wochenbett bilde zweifellos die häufigste Gelegenheitsursache 
für die Infection der Cysten. Da diese gewöhnlich acut einsetze uud 
unter Fieber verlaufe, könne sie zur Verwechselung mit gewöhnlichem 
Wochenbettfieber führen. Weniger leicht sei das möglich, wenn die Ver¬ 
eiterung der Cyste erst im Anschluss an das fleberlose Wochenbett 
erfolge. Nun können sich aber auch alle diese puerperalen Folge- 
veründerungen an der Cyste ausnahmsweise fleberlos und nahezu sym¬ 
ptomlos entwickeln und dadurch der klinischen Deutung grosse Schwierig¬ 
keiten bereiten. Als Belag hierfür berichtet Gottschalk über einen 
von ihm operativ behandelten und geheilten einschlägigen Fall: 

Eine 41jährige. nahezu 14 Jahre steril verheirathete Frau concipirte 
mit einer kleinen Kierstockscyste behaftet und machte eine ungestörte 
Schwangerschaft durch, Geburt wurde mit Forceps gut beendet, das 
Wochenbett verlief fieberfrei. Am 2. Wochenbettstag starke Auftreibung 
und grosse Schmerzhaftigkeit des Leibes, doch kein Fieber. Wöchnerin 
verliess nach 14 Tagen das Bett. Während der folgenden 9 Wochen 
bestand hochgradige Schwäche in den Beinen. 10 Wochen post partum 
die ersten örtlichen Schmerzen im Leibe und zwar nur im Liegen. 
2 Wochen später plötzlich in der Nacht eine äussert heftige Schmerz- 
attacke, die der bis dahin nahezu symptomlos verlaufenden Krankheit 
eine bedenkliche Wendung gab, so dass 14 Tage später aus vitaler 
Indication die Koeliotomie nothwendig war (7. Dec. 96). 

Vortragender sah die Patientin zum ersten Male 2 Tage vor der 
Operation, wo sie einen ganz desolaten Zustand darbot. Bei der Koelio¬ 
tomie, die technisch grosse Schwierigkeiten machte, zeigten sich so 
hochgradige Verwachsungen der bis zur Nabelhöhe reichenden Geschwulst 
mit der Umgebung, speciell mit dem Peritoneum paiietale und dem 
Colon descendens, dass eine freie Bauchhöhle vom Nabel abwärts über¬ 
haupt nicht existirte. Zur ürientirung war es nothwendig, die Bauch¬ 


decken beiderseits noch in die Quere bis zur vorderen Axillarlinie zu 
spalten. 

Es fand sich eine mehrfache Stieldrehung der von der rechten Seite 
ausgehenden Geschwulst, Vereiterung des Cysteninhaltes, reichliche 
Ansammlung von freien Gasen in der Cyste, die den behan¬ 
delnden Arzt zur Annahme eines hochgradigen Meteorismus verleitet 
hatte. Die Cyste dadurch prall gespannt. Hochgradige Dislocation 
sämmtlicher Nachbarorgane, namentlich des Uterus, der maximal um 
seine sagittale Axe nach links gedreht war, freier Ascites und ein intra¬ 
peritonealer abgekapBelter Abscess im Douglas. 

Der Cysteninhalt wird, nachdem die obere Kuppe mit einer Pravaz- 
nadel punktirt und unter hörbarem Zischen die Gase daraus entwichen 
waren, unter Wasser ausgehebert. Es war dicker Eiter, der das 
Bacterium coli commune in Reincultur aufwies. Der er¬ 
wähnte Abscesseiter enthielt den Staphylococcus pyogenes albus. Die 
exstirpirte Cyste war einkammerig und im Ganzen von gleichmässig 
dicker Wandung; Innenfläche rauh; Epithel fehlt. Dort wo die Wand 
flächenhaft mit dem Colon desc. verwachsen war, ist die Wand dünner und 
es fand sich in ihr ein schmaler Knochensplitter. Sonst keine Zeichen für 
eine dermoidale Natur der Cyste. 

Da die Beckenhöhle bei der Operation mit Infectionsmaterial verun¬ 
reinigt worden war, wird über dem Beckeneingang ein quer¬ 
verlaufendes peritoneales Septum gebildet, durch welches es 
gelang, die Darmschlingen während der Dauer der Reconvalescenz aus 
der inficirten Beckenhöhle fern zu halten. Die Beckenhöble wurde 
maximal mit Gaze ausgestopft, der grösste Theil der medianen Bauch¬ 
wunde offen gelassen und hier die Gaze nach aussen geleitet. Die 
Reconvalescenz beanspruchte 10 Wochen, so lange hielt die eitrige 8e- 
cretion nach Aussen an. Kein Fieber während der ganzen Dauer. Die 
Darmfunction war eine ausgezeichnete. 

Pat. wird als völlig geheilt, mit blühendem Aussehen vorgestellt; 
hat gut vernarbte Bancbwunde. 

Im Anschluss an diesen Fall weist Vortragender darauf hin, dass 
hier zum ersten Mal der exacte Nachweis geführt worden 
sei, dass eine spontane Gasbildung in einer geschlossenen 
Eierstockcyste ohne äussere Verletzung derselben durch 
das Bacterium coli comm. stattfand, welches offenbar von dem 
adhaerenten Colon aus anf direktem Wege in die Cyste eingedrungen 
war. Auch die primäre Vereiterung des Cysteninhaltes fällt dem Bact. 
coli comm. wahrscheinlich zur Last. 

Die Neigung zu ausgedehnten Verlöthungen der Cystenoberfläche mit 
dem Darm im Puerperium, und die zur Stieldrehung — welche Um¬ 
stände dem Eindringen des Bact. coli vom adbärenten Darm aus Vor¬ 
schub leisten — neben den direkten traumatischen Schädigungen der 
Cystenwand durch Geburtsvorgänge, zumal künstliche, erklären es, warum 
gerade im Wochenbette selbst nach glücklichem Geburtsverlauf und ohne 
äussere Infection geschlossene Eierstockcysten leicht vereitern können. 
Im vorliegenden Falle könnte durch den in der Cystenwand Vorgefunde¬ 
nen Knochensplitter noch eine unmittelbare Eingangspforte für die In- 
fectionskeime geschaffen worden sein. 

Zum Schluss besprach Vortragender die Differentialdiagnose solcher 
lufthaltigen Eierstockcysten, die sich besonders nach der Richtung zu 
erstrecken habe, ob die klinisch auffallende Tympanie der Leibesan¬ 
schwellung auf Gasansammlung in der Cyste oder auf Meteorismus eines 
abgesackten der Geschwulstoberfläche adhärenten Darmschlingen-Convo- 
luts beruhe. Untersuchung in steiler Hängelage ermögliche hier die 
sichere Differentialdiagnose. 

Es folgt die Demonstration von histologischen Präparaten, Schnitten 
durch die Cystenwand; von Bacterienpraparatcn aus dem Cysteninhaltc; die 
exstirpirte Geschwulst wird gezeigt. 

(Der Vortrag erscheint ausführlich in Volkmann’s Sammlung klini¬ 
scher Vorträge.) 

Discussion. 

Hr. Falk: Die Mittheilungen des Heim Gottscbalk liefern einen 
wichtigen Beitrag zu der Kenntniss von den Veränderungen, welche 
Ovarialtumoren während des Wochenbettes erleiden. Stieltorsion, Ver¬ 
eiterung und Verjauchung, welche in dieser Zeit häutiger auftreten, 
machen es uns zur Pflicht, bei jedem während der Schwangerschaft fest¬ 
gestellten Tumor, der Frage der Operation näher zu treten. So lange 
man annahm, dass die Gefahren der während der Schwangerschaft an¬ 
geführten Operation besonders grosse sind, war die Furcht vor der 
Operation berechtigt. Seitdem aber zahlreiche Veröffentlichungen gezeigt 
haben, dass die Gefahren nicht grösser sind, als die jeder anderen Cölio- 
tomie und dass auch die Schwangerschaft durchaus nicht stets unter¬ 
brochen wird, werden wir die Operation nicht nur ausführen, wenn der 
Tumor im kleinen Becken incarcerirt ist und sich nicht reponiren lässt, 
sondern wir werden uns auch unbekümmert um die Schwangerschaft zur 
Operation entschliessen, wenn die Geschwulst ausserhalb des kleinen 
Beckens liegt, sobald die Natur oder Grösse der Geschwulst derartig ist, 
dass sie, wenn keine Schwangerschaft bestände, eine Operation be¬ 
dingen würde. 

Ich hatte nun Gelegenheit, dieses Dermoid, welches Kindskopfgrösse 
hatte, von dem linken Eierstock ausging und sich ausserhalb des kleinen 
Beckens befand, am 4. XI. 1896 bei einer 18Jährigen Patientin zu ent¬ 
fernen ; die Patientin war im 7. Monat schwanger. Die Operation war 
eine leichte, der Verlauf der Reconvalescenz ein vollständig reactions- 
loser ohne Unterbrechung der Schwangerschaft, sodass die Entlassung 


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Bl.Mai 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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aus der Klinik am 17. Tage erfolgen konnte. Die Schwangerschaft 
verlief weiter ohne Störung, und gestern hat das Fräulein ohne Kunst¬ 
hülfe relativ leicht einen lebenden Knaben geboren. 

Im zweiten Falle, dem diese kleine zweikammerige Ovaria]cyste 
entstammt, welche im gefüllten ZuBtand faustgross war, musste die 
Operation am 2. X. 1895 ausgeführt werden, da bei der 19jährigsn Pa¬ 
tientin der von dem rechten Eierstock ausgehende Tumor im kleinen 
Becken incarcerirt war und sich nicht reponiren Hess. In diesem Falle 
trat am 7. Tage nach der Operation eine Fehlgeburt ein, der weitere 
Verlauf der Heilung war ein normaler, sodass die Kranke nach 8 Wochen 
g-ehcilt entlassen wurde. An dem Präparat ist eine wohl ausgebildete 
Nebentube sichtbar. 


Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie za Berlin. 

Sitzung vom 26. Februar 1897. 

Vorsitzender: Herr Martin. 

Schriftführer: Herr Winter. 

1. Demonstration von Präparaten. 

Hr. A. Martin demonstrirt zunächst 1. einen mit massigen multiplen 
Myomen durchsetzten Uterus, dessen Höhle ein schwangeres Ei aus dem 
3. Monat birgt Gewaltige Myomknollen waren subserös im Becken ent¬ 
wickelt und verursachten bedrohliche Harnretention, abgesehen von der 
Unmöglichkeit, dass neben diesen Myomen die Geburt per vaginam hätte 
vor sich gehen können. Exstirp. ut. grav. myom. per coeliotomiam. 
Ungestörte Reconvalescenz. Die Conception war 2 Monate nach der Ver¬ 
heiratung der 37jährigen erfolgt. 

2. Ein Präparat von gleichzeitiger Schwangerschaft in beiden Tuben. 
Die rechte Tube enthielt ein älteres Ei mit Blutgerinnsel durchsetzt aus 
dem 1. bis 2. Monat. Die Tube wurde darüber gespalten, das 
Schwangerschaftsproduct entfernt, die sonst gesunde Tube geschlossen. 
Ovarium dextrum gesund. In der linken Tube sass ampullär ein dem 

3. Monat entsprechendes Ei im Zustand des Aborts. Entfernung der 
linken Adnexa. 

8. Eine Extra-uterin-Schwangerschaft in der linken Tube im Zustand 
des Aborts, während die rechte atretische Tube ein Blutgerinnsel ent¬ 
hielt, ohne dass sich darin hätte ein Ei nachweisen lassen. 

Hr. Mackenrodt demonstrirt 3 Myome, welche er bei einer 
37 jährigen I gravida aus der hinteren Wand des Collum und des Corpus 
uteri durch hinteren Scheiden-Bauchschnitt entfernt hat. Pat. kam mit 
Blutungen und drohendem Abort; ihr Wunsch war die Erhaltung des 
Eies; die Myome lagen unbeweglich im Bcckenkanal und hätten bei 
einer eventuellen Geburt unüberwindliche Schwierigkeiten verursacht. 
Nach der Enukleation schloss sich die Cervix wieder und die Pat. hat 
nicht abortirt, jetzt 10 Wochen nach der Operation. 

Discussion: Hr. Winter fragt an, womit die Myome vom 
schwangeren Uterus entfernt worden wären und ob sie denn im Becken 
flxirt gewesen seien. 

Hr. Olshausen fragt an, ob die Laparotomie in diesem Falle nicht 
leichter gewesen wäre. 

Hr. Mackenrodt: Die Myome lagen unbeweglich im Beckenkanal; 
oder hätte man etwa das Ei ausräumen und die Myome sitzen lassen 
sollen? 

Die Laparotomie wäre gewiss leichter gewesen. 

II. Hr. Olshausen: Ueber Carcinom und Schwangerschaft. 

Bezüglich der Diagnose besteht keine wesentliche Schwierigkeit, 
weder betreffs des Carcinoms, noch betreffs der Schwangerschaft. Die 
Behandlung hat im Allgemeinen mit einer ungünstigen Prognose zu 
rechnen. Bisher ist nur in ganz vereinzelten Fällen nach Exstirpation 
des carcinomatösen schwangeren oder puerperalen Uterus eine Heilung 
von Sjähriger Dauer oder mehr beobachtet worden. Von O.’s Fällen 
befinden sich jetzt 4 Kranke frei von Recidiv, nachdem die Operation 
bezw. vor 2'/,, 5*/ 4 , 6' 5 und 7'/, Jahren vollzogen wurde. 

In erster Linie ist die vaginale Exstirpation des schwangeren Uterus 
zu empfehlen, welche gewöhnlich nur bis zum 8. oder 4. Monat empfohlen 
wird. O. exstirpirte 8 Uteri ohne sie zu entleeren. Hiervon war einer 
im 5., einer im 6. Monat schwanger. Der Letztere wog 1900 gr und 
hatte eine Peripherie von 46 cm an den Tuben. (Demonstration der 
3 Uteri.) Es giebt bis jetzt 25 Fälle von Exstirpation schwangerer, 
carcinomatöser Uteri. Alle 25 Kranke genasen von der Operation. 

Wo der Uterus zu gross ist, um unentleert durch die Vagina ent¬ 
fernt zu werden, soll man bei noch nicht lebensfähiger Frucht die 
Schwangerschaft unterbrechen; dann aber sofort die vaginale Exstirpation 
anschliessen. Dieselbe ist auch nach reifer Geburt immer sogleich mög¬ 
lich. Die Involution abzuwarten, wie O. es früher vorgeschlagen und 
ausgeführt hat, ist unnöthig und bedenklich. 

(Demonstrationen von 4 Uteri, welche nach künstlichem Abort 
exstirpirt waren, so wie von 4 anderen nach spontaner Geburt oder 
Abort.) 

Die Amputatio supravaginalis auf abdominalem Wege und nach¬ 
trägliche Exstirpation der Cervix von unten her ist eben so wie die 
abdominale Totalexstirpation bei todtem oder nicht lebensfähigem Kinde 
nicht gleichwerthig der vaginalen Exstirpation. 

Bei noch nicht lebensfähigem Kinde die noch mögliche Radical- 
operation des Carcinoms bis zur Lebensfähigkeit der Frucht hinauszu¬ 
schieben ist stets verwerflich. 


Ist die Frucht bereits lebensfähig, das Carcinom aber nicht radical 
entfernbar, so mache man die conservative Sectio caesarea, nach vor¬ 
heriger gründlicher Präparation des Carcinoms. (2 eigene Fälle des 
Autors, aber ohne die nöthige Präparation. Davon starb 1 an Sepsis.) 

Ist das Carcinom noch radical operirbar, so schliesse man an die 
Sectio caesarea, nach Entfernung der Placenta, Schluss der Uteruswunde, 
Unterbindung Tder Aa. spermaticae int. die vaginale Uterusexstirpation 
sogleich an. Beim Kaiserschnitt ist der Schnitt durch den Uterus in den 
Fundus zu legen, möglichst entfernt vom Ort der Neubildung. 

Bei abnorm engen Geburtswegen kann die abdominale Totalexstir¬ 
pation an die Stelle treten. 

Discussion: Hr. Mackenrodt berichtet über 6 von ihm beob¬ 
achtete Fälle von Schwangerschaft und Carcinom. die von Hernandez 
(Bull. med. 1894) beschrieben sind. M. stimmt den Bemerkungen 01s- 
hansen's vollkommen bei. 2 Fälle waren so vorgeschritten, dass 
keine Radical Operation mehr möglich war, in beiden Fällen trat Früh¬ 
geburt ein, beide Kinder starben, beide Mütter gingen nach kurzer Zeit 
an allgemeiner Carcinose zu Grunde. In 4 Fällen war die Radicalope- 
ration möglich. Einmal suchte die Kranke wegen Abortblutung Hülfe, 
das Carcinom wurde entdeckt und der Uterus vaginal exstirpirt. Die 
Pat. ist beute, nach 4 Jahren, noch gesund. In 8 Fällen wurde die 
abdominale Uterusexstirpation bei Schwangerschaft von 5—7 Monaten 
gemacht, der Uterus wurde nicht verkleinert. Eine Pat. ging 24 Stun¬ 
den p. op. an Nachblutung zu Grunde, die beiden anderen Uberstanden 
die Operation; eine ist jetzt mehr als 8 Jahre gesund, die andere er¬ 
krankte 7 Monate nach der Operation an carcinomatösem Ileus, den M. 
durch Darmresection und Anlegung eines künstlichen Afters behandelte. 
Das zuführende Darmstück war aber zu kurz, so dass Pat. bald an 
Inanition zu Grunde ging. Im Becken war kein locales Recidiv. Be¬ 
züglich der Reihenfolge der Erkrankung meint M., dass er es für er¬ 
wiesen halte, dass bei schon bestehendem Carcinom noch Schwanger¬ 
schaft entstehen könne, nämlich dann, wenn — wie in 2 Fällen seiner 
eigenen Beobachtungen — der Cervicalkanal intakt blieb und das Car¬ 
cinom nur an der hinteren Lippe und hinteren Scheidenwand sitzt. 
Handelt es sich dagegen um Cervixcarcinom, so dürfte das Carcinom 
stets älter sein als die Schwangerschaft. Die Prognose der Carcinome 
bei Schwangerschaft ist — wenn rechtzeitig erkannt — eher besser als 
schlechter wie die der sonstigen Carcinome. M. hat zwei, Olshausen 
noch mehr Dauerheilungen. 

Hr. A. Martin schliesst sich den Ausführungen des Herrn 01 s- 
hauBen im Wesentlichen an. Er hat die Zahl seiner Fälle von Com- 
plication bei Schwangerschaft und Carcinom nicht zur Hand. Er erwähnt 
nur einen Fall von dieser Complication, welcher in partu zur Behand¬ 
lung kam. Herr Orthmann machte unter Assistent von M. die Exstir¬ 
pation des vorher durch Kaiserschnitt entleerten Uterus von dem Bauch¬ 
schnitt aus. M. ist der Ansicht, dass, wenn schon in derartigen Fällen 
der Leib zum Zweck des Kaiserschnittes eröffnet worden ist, dann die 
Totalexstirpation besser von der Bauchhöhle aus angeschlosscn wird, als 
dass in einem 2. Act der Operation von der Scheide aus die Radical- 
operation ausgeführt wird. 

Hr. Odebrecht fragt an, ob es wohl zulässig wäre, nach dem 
6. Monat, wenn der Uterus für die vaginale Operation zu gross geworden 
ist, ihn nach Abpräpariren der Blase durch Schnitt in der vorderen 
Medianlinie zu spalten, vollständig vom Ei zu entleeren und dann vaginal 
zu exstirpiren. 

Hr. Bröse spricht sich auch für den Vorschlag des Herrn 01s- 
hausen aus, in Fällen von Carcinom und Schwangerschaft bei ausge¬ 
tragenem Kind erst die Sectio caesarea und dann die vaginale 
Exstirpation auszuführen, gegenüber dem Vorschlag des Herrn Martin, 
nach der Sectio caesarea den Uterus von der Bauchhöhle aus zu ent¬ 
fernen. 

Die Möglichkeit, die Bauchhöhle mit Carcinom- oder septischen 
Keimen zu infleiren, ist bei letzterem Verfahren nicht auszuschliessen. 

Hr. Olshausen (Schlusswort) hält die Entleerung des schwangeren 
Uterus in dem von Odebrecht vorgeschlagenen Falle wohl für zu¬ 
lässig, nachdem man vorher die Art. uterinae unterbunden hat. Die 
Exstirpation des Uterus per laparotomiam, nachdem man ihn durch den 
Kaiserschnitt entleert hat, wie Herr Martin es vorschlägt, ist bei 
sorgfältiger Des.infection des Carcinoms wohl ungefährlicher als früher, 
aber doch nicht mit der LebenBsicherheit ausführbar, wie die vaginale 
Operation. 


Verein für Innere Medlcin. 

Sttzung vom 17. Mai 1897. 

1. Ilr. Brasch (Krankenhaus Moabit) legt die Präparate eines 
Falles von Tabes meseralca vor. Sie stammen von einem 13jährigen 
Knaben, der seit 5 Jahren ungefähr immer dasselbe Krankheitsbild dar¬ 
bot, namentlich einen starken Ascites hatte, der sich, nachdem er abge¬ 
lassen war, von Neuem ergänzte. Auch Oedeme der unteren Extremi¬ 
täten und Genitalien waren vorhanden. Nieren und Herz waren intakt. 
Die zuletzt entleerte Asciterflüssigkeit hatte chylöse Beschaffenheit und 
enthielt 8"/ #n Albumen. Unter unregelmässigem Fieber, andauernden 
Durchfällen, Abmagerung, trat der Tod ein, drei Tage nachdem noch 
eine Laparotomie aurgeführt worden war. Die Seetion ergab eine 
Schwellung aller Mesenterialdriisen, der Drüsen der Leistenbeuge und 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 22. 


des Beckens. Die Brönchialdrüsen waren frei, Leber und Darm Waren 
von Tuberkeln durchsetzt, Langen dagegen ohne solche. Das Peritoneum 
war unverändert, der Aacites ist also wahrscheinlich durch Compression 
der Vena cava zu Stande gekommen. 

Hr. A. Fraenkel macht darauf aufmerksam, dass in der Ascites¬ 
flüssigkeit reichlich Fett enthalten gewesen sein kann, obwohl es makro- 
und mikroskopisch nicht nachweisbar war. 

2. Hr. Rnhemann stellt einen Fall von Brown>Slqnard*dcher 
Halb*eltenlähnmng bei einem 31jährigen Oberpostassistenten vor, die, 
ohne dass ein Trauma vorangegangen, in einer Nacht plötzlich eingetreten 
ist; in Zwischenräumen von etwa 10 Minuten traten mehrmals hintereinander 
Schmerzanfälle ln der Magengegend anf, die eine Lähmung des linken 
Beines und eine totale Anästhesie des rechten Beines und von da hinauf¬ 
gehend bis zum Nabel zurücklieasen. Fieber bestand nicht. Patient hatte 
vor 7 Jahren Lues gehabt. Unter einer antisyphilitischen Behandlung (Hg 
und Jod) sind die Krankheitserscheinungen bald zurückgegangen. Zur 
Zeit besteht noch ein etwas spastischer Gang, zuweilen Zittern im linken 
Bein, der Patellarreflex an demselben gesteigert. R. nimmt eine Rücken¬ 
marksblutung als Ursache der Affection an, dafür spricht der plötzliche 
Eintritt derselben und die schnell fortschreitende Besserung. 

Hr. v. Leyden hält die Annahme einer syphilitischen Erkrankung 
für gerechtfertigt, es ist indess keine Noth, eine Blutung anzunchmen. 
In Folge der syphilitischen Veränderung der Gefässe (Thrombose mit 
nachfolgender Erweichung) kann eine derartige Lähmung ganz plötzlich 
entstehen. 

Hr. Bernhardt hält gleichfalls eine Endocarditis syphilitica für 
vorliegend. In einem ähnlichen Falle hat er durch antiluetische Be¬ 
handlung schnelle Heilung eintreten sehen. 

3. Hr. Gumpertz stellt einen 33jährigen Tischler vor, bei dem die 
Krankheitserscheinungen anfangs auf eine Tabes hindeuteten: Schwanken 
bei geschlossenen Augen, Ataxie der unteren Extremitäten, gastrische 
Krisen, Incontinentia urinae u. a. m. Die Harnmenge war sehr ver¬ 
mindert, wenig Eiweiss. Potatorium zugestanden. Plötzlich auftretende, 
hoch hinaufsteigende Oedeme hatten die Diagnose klar gestellt: Urä¬ 
mischer Iutoxii nliousznstrHnd, hervorgerufen durch eine acute Exacer¬ 
bation der chronischen Nephritis, complicirt mit einer Polyneuritis alcoho¬ 
lica. Auch die Leber ist erheblich vergrössert. 

4. Hr. Posner: Demonstration einiger llülfsmIttel für die 
klinische Harnuntersuchung. 

Um die Eiterbeimischung zum Harn quantitativ zu bestimmen, lässt 
sieh die Zählung der Eiterkörperchen im Harn mittelst des Thoma- 
Zeiss’schen Apparates genau in derselben Weise wie im Blute ausführen. 
Versuche bei Cystitis und Pyelitis haben stets annähernd gleiche Re¬ 
sultate gegeben. Man gewinnt dadurch auch einen Anhaltspunkt zur 
Unterscheidung der Albuminuria spuria und vera, da der Eiweissgehalt 
des Harns nur bis zu einer gewissen Zahl von Eiterkörperchen auf diese 
zu beziehen ist. Um den Grad der Trübung eines Harns, durch Eiter 
namentlich, zu bestimmen, kann man ferner die Transparenz des Harns 
verwerthen. Je durchsichtiger der Harn ist, desto grösser ist die Flüssig¬ 
keitssäule. durch die eine unterliegende Druckschrift noch erkannt werden 
kann. Man kann die Intensität der Trübung der Harne daher auch 
graphisch veranschaulichen und auf diese Weise auch die allmähliche 
Aufhellung eines Harns genau flxiren. Mit Hülfe dieser Methode kann 
auch in gewisser Hinsicht .ein Rückschluss auf die Zahl der Eiterkörper¬ 
chen im Harn und die Frage der Albuminuria spuria gemacht werden. 
Schliesslich lässt sich mit Hülfe der gegebenen Verfahren der etwaige 
Einfluss antiseptischer Mittel auf den Harn verfolgen. 

5. Ilr. Litten: Uebcr Endocarditis traumatica. (Der Vortrag 
konnte wegen der vorgerückten Zeit nicht zu Ende geführt werden.) 


VII. 26. Congress der Deutschen Gesellschaft 
für Chirurgie. 

Vom 21.—24. April. 

Referent Eugen Cohn. 

IV. Tag. 

(8chluss.) 

Hr. H. Braun-Göttingen: Ueber die Lurabalpunction und 
ihre Bedeutung für Chirurgie. 

Br. sprach zunächst über die Technik der Punction, zu deren Aus¬ 
führung er eine bei Kindern 5, bei Erwachsenen 10 cm lange, etwa 
1,3 mm dicke, aussen in Centimeter getheilte, zum bequeren Halten mit 
längerem Ansatzstück versehene Hohlnadel bevorzugt. Ferner wurden 
einige Abildungen gezeigt, um die hier in Betracht kommenden ver¬ 
schiedenen anatomischen Verhältnisse zu erläutern; denn die Ergeb¬ 
nisse der Untersuchung der durch die Punction entleerten Flüssigkeit 
zusammengestellt und die Wichtigkeit der manometrischen Druck- 
beßtimmung hervorgehoben. 

Zu der Bedeutung der Lumbalpunction für die Chirurgie übergehend, 
besprach Br. besonders deren Werth für die Diagnose der Meningitis 
tuberculosa, Meningitis suppurativa und der Blutungen unter Berück¬ 
sichtigung der Literatur und mit Benutzung eigener Beobachtungen. 


Br. glaubt, dass bei gründlicher Untersuchung durch geübte Beobachter 
weitaus in der Mehrzahl der Fälle die sichere Diagnose auf tuberculöse 
Meningitis durch den Nachweis von Tuberkelbacillen gestellt werden 
kann. Bei eitriger Meningitis, die bald als Complication einer Otitis 
media, bald nach Verletzungen des Schädels aufgetreten war, hat Br. 
8 mal punctirt, und 6 mal theils nur vermehrte polynucleäre Leuoocyten, 
theils diese gleichzeitig mit Bacterien gefunden. In 2 Fällen war die 
Flüssigkeit vollkommen klar, trotz ausgedehnter eitriger Entzündung der 
Hirnhäute. Wenn also auch in der Mehrzahl der Fälle von Meningitis 
suppurativa die Diagnose durch die Lumbalpunction gesichert werden 
kann, wird bei negativem Ergebniss derselben eine solche nicht mit 
Sicherheit ausgeschlossen werden können. Ferner wirft Br. die Frage 
auf, ob man aus der Beschaffenheit der Flüssigkeit auf die Ausdehnung 
der eitrigen Hirnhautentzündung einen Schluss ziehen kann und weiter¬ 
hin die zweite, ob man sich durch den Nachweis vermehrter Leucocyten 
in dem erholten Liquor cerebrospinalis von der Ausführung indicirter 
operativer Eingriffe boII abhalten lassen. Letztere Frage wird einst¬ 
weilen zu verneinen sein, weitere Beobachtungen werden aber zu be¬ 
weisen haben, ob dies richtig ist. Schwer ist ferner mit dem dem vor¬ 
liegenden Beobachtungsmaterial die Bedeutung der Punction lür Blut¬ 
ergüsse in den Schädel festzustellen. Im Anschluss daran hebt Br. 
noch unter Hinweis auf die Beobachtungen von Kiliani und Jacoby 
auf die Bedeutung der Punctio bei Verletzungen der Wirbelsäule hervor, 
weil durch sie bei Abwesenheit von Fracturen und Luxationen die 
Diagnose auf Blutergüsse, welche zu einer Compression des Rücken¬ 
marks und der cauda equina Veranlassung geben können, sicher gestellt 
wird und durch Entleerung des Blutes gleichzeitig ein günstiger Einfluss 
auf den Verlauf der Verletzung aus geübt werden kann. Im Anschluss 
hieran wird der therapeutische Werth der Lumbalpunction besprochen, aber 
noch kein definitives Urtheil abgegeben, vor Allem deshalb, weil d'.e vor¬ 
liegenden Untersuchungen noch nicht in genügender Häufigkeit zur Aus¬ 
führung gelangt sind, um definitive Schlüsse ziehen zu können. 

Br. hält die Lumbalpunction für eine Untersuchungsmethode, die 
wichtig ist für die Diagnose vieler Fälle von Erkrankungen und Ver¬ 
letzungen des Gehirns und seiner Häute, die ferner wahrscheinlich auch 
therapeutische Erfolge verspricht. Die Lumbalpunction sollte deshalb 
auch von Seiten der Chirurgen mehr Anwendung finden, als sie tbatsäeh- 
lich bis jetzt gefunden hat, besonders auch deshalb, weil diejenigen Er¬ 
krankungen und besonders Verletzungen, die den Chirurgen besonders 
interessiren, den internen Medicinem, von denen seither fast allein Mit¬ 
theilungen über die Lumbalpunction vorliegen, seltener zur Beobachtung 
gelangen. 

Hr. Bardenheuer: Ueber Exarticulatio im Sacroiliacal- 
gelenk. 

Eine 46jährige Patientin mit grossem Psoasabscess, die seit sebr 
langer Zeit an Coxitis und an vielen Eiterungen gelitten hatte, war zur 
Resection des Beckens zu schwach. 

Es musste eine möglichst schnelle Operation mit möglichst wenig 
Blutverlust gemacht werden. Daher wurde Exarticulation des Ober¬ 
schenkels mit Resection des Beckens, soweit nöthig, in Aussicht ge¬ 
nommen. Erst wurde die Iliaca unterbunden, dann ein grosser äusserer 
und innerer Lappen gebildet, das Os pubis auch an der Symphyse frei¬ 
gelegt und durchsägt, das Os ilei durchtrennt, dann die Beckenhälften 
auseinander gebogen, und in der Synchondrosis sacro-iliaca luxirt. Dann 
wurde schichtweise genäht. Nach etwa 6—8 Wochen ging die Heilung 
rasch vor sich. Jetzt bestehen noch Fisteln. Patientin kann gut sitzen 
und mit Prothese gehen. Diese Operation wäre indicirt, wo nach 
Resection des Hüftgelenks die Eiterung nicht sistirt und eventuell bei 
Sarkomen. 

Hr. Küster: Fibröse Ostitis. 

Ein Mädchen aus tuberculös belasteter Familie, das zwei Knocben- 
brüche überstanden hatte, stürzte vom Wagen und wurde mit einer 
Fractur des rechten Oberschenkels in die Marburger Klinik gebracht. 

Der Trochanter stand 5 cm über der Roser-Nelatön’schen Linie, 
das Bein war nach innen rotirt. Das Mädchen starb an einer Pneu¬ 
monie in Folge der Untersuchungsnarkose. 

Bei der Section zeigte sich die rechte Beckenhälfte gegen die linke 
verkleinert, an der Pfanne Osteoporose und Rauhigkeiten. Das Femur 
zeigte oberhalb der FracturBtelle den Kopf und Hals derartig umge- 
staltet, dass der Kopf nach nnten umgebogen, der Hals verkürzt und 
oberhalb des Kopfes noch eine zweite neugebildete Gelenkfläche vorfand. 

Die Markhöhle war in ein fibröses Gewebe umgestaltet. Es handelt 
sich dabei um Ostitis flbrosa (Recklinghausen). Während dies aber 
eine allgemeine Erkrankung ist, war diese in meinem Falle auf einen 
einzelnen Knochen beschränkt. Vielleicht liegt dieser Process manchen 
Fällen von Coxa vara zu Grunde. 

Hr. Schlange hat ähnliche Fälle früher vorgestellt. Als Aetio- 
logie ist nach Virchow die Versprengung von Knorpeltrümmer anzu¬ 
nehmen. 

Hr. Reinhardt: Sarkome der Röhrenknochen. 

Bei Localisation der Sarkome der langen Röhrenknochen als cen¬ 
trale und periosteale bestehen Schwierigkeiten bei grossen Sarkomen, 
die Centrum und Rinde einnehmen. 

Oft ist die SpoDgiosa in derselben Ausdehnung ergriffen, wie das 
Periost. Wenn dann die Corticalis nur an einer kleinen 8telle vom Tu¬ 
mor durchbrochen ist, liegt die Vermuthung nahe, dass der Tumor vom 
Centrum ausgeht. 

Man unterscheidet eine epiphysäre und diaphysäre. Oft ist aber 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Sl.llai 


nicht die Epiphyse selbst, sondern der Schaft dicht an der Epiphyse be¬ 
fallen und die Epiphysenlinie grenzt ihn als Wall ab und wird dann 
wellenförmig emporgedrängt. • 

Sehr häufig sind die Sarkome in der Umgebung des Kniegelenks. 
Die hier befindlichen Epiphysen sind diejenigen, die sich am spätesten 
mit der Diaphyse vereinigen. Seltener ist der Tumor scharf abgegrenzt, 
häufig geht er in die Knochen über. Man muss sehr ausgiebig entfernen. 

Unter den über 4 Jahre beobachteten sind 18 pCt. dauernde 
Ileilungen, 82 Metastasen, 13 Recidive. Unter den Heilungen sind alle 
Arten Sarkome vertreten. 

Die Diagnose der Sarkome speciell in der Umgebung des Knie¬ 
gelenks lat im Anfangsstadium sehr schwierig. Nahe liegen Ver¬ 
wechselungen mit Tnberculose. 

Es ist zu hoffen, dass sich die Röntgenphotographie zur Früh¬ 
diagnose der Knochensarkome verwenden lässt. 

Hr. Müller-Aachen: Beitrag zur Leberchirurgie. 

Es giebt Lebertumoren mit Stiel, ähnlich wie gestielte Ovarial¬ 
tumoren. Vortragender demonstrirt einen bei einer Puerpera entfernten 
derartigen Tumor. Derselbe erwies sich als primäres Angiosarkom. Die 
Pat. ging nach 9 Monaten an inneren Metastasen zu Grunde. 

Ein zweiter Tumor, der seit über 6 Jahren bestand, reichte von der 
Leber bis zum Becken, war deutlich cystisch. Durch Keilincision und 
Eröffnung zahlreicher Cysten Hess sich der Tumor etwa um '/, ver¬ 
kleinern. Nach 11 Tagen starb Patientin an Lungenembolie. Der 
Tumor war ein Cystoadenom. Gleiche Cysten fanden Bich in der Niere. 

Hr. Israel hat 2mal Combination von Cystenleber mit Cystenniere 
gesehen. 

Hr. Dührssen-Bcrlin: Demonstration einer 20pfttndigen, 
mitsammt den tuberculösen Tuben durch vaginale Lapa¬ 
rotomie entfernten Eierstocksgeschwulst. (Autoreferat.) 

Das vorgezeigte glanduläre Ovarialkystom gehört zu den 
grössten Tumoren, die mittels meiner Methode der vaginalen Laparo¬ 
tomie, der Eröffnung der Bauchhöhle vom vorderen Scheidengewölbe 
aus, entfernt worden sind. Tumoren von solcher Grösse hat nur noch 
Schauta vaginal exstirpirt. Mein Fall ist ausserdem noch dadurch in¬ 
teressant, dass beide Tuben tuberculös erkrankt waren und gleichfalls 
exstirpirt wurden, während der Uterus und das eine gesunde Ovarium 
zurückgelassen wurden, um der 24jährigen Pat. die Menstruation zu er¬ 
halten. Vor 9 Monaten entleerte der behandelnde Arzt durch Punction 
8 Liter schleimiger Flüssigkeit. In der letzten Zeit wurde die Ge¬ 
schwulst bedeutend grösser, als sie vor der Punction gewesen war. 

Am 23. IV. 97 fand ich bei der vor der Operation vorgenommenen 
Untersuchung das ganze Abdomen bis zum Rippenrand hinauf durch 
eine fluctuirende Geschwulst stark vorgewölbt, die mit der linken Kante 
des retroflectirten und flxirten Uterus durch einen daumendicken Strang 
zusammenhing. Die rechten Adnexe bildeten einen 2 Daumen dicken, 
nach rechts hinten ziehenden Strang. Ein Segment des Tumors Hess 
sich, bei starkem äusseren Druck, vom vorderen 8cheidengewölbe aus 
fühlen. 

Operation. Nach Eröffnung der Plica floss reichliche, blutig¬ 
seröse, mit Fibrinflocken durchsetzte Flüssigkeit ab. Ein in die peri¬ 
toneale Oeffnung eingeführtes Spiegelblatt machte ein Segment des stark 
von aussen herabgedrückten Tumors sichtbar, welches sofort mit einem 
Muzeux gefasst und angestochen wurde. Es entleerten sich durch 
auccessives Anstechen weiterer Hohlräume mindestens 10 Liter einer 
gelblichen, schleimigen Flüssigkeit. Der so verkleinerte Tumor konnte 
bis vor die Vulva vorgezogen und sein vom Lig. latum gebildeter Stiel, 
nach Versetzung einiger Netzverwachsungen, ausserhalb der tuberculösen 
Tube abgebunden werden. 

Nach Abtragung des Tumors wurde der Uterusfundus mitsammt der 
tuberculösen rechten Tube durch Muzeux vorgezogen und letztere nach 
Unterbindung ihres Mesenteriums abgetragen. Den Schluss der Ope¬ 
ration bildete die Vaginoflxation des retroflectirten Uterus. Der Ver¬ 
lauf ist bis jetzt reactionslos; Pat. hat bereits heute, am 2. Tag der 
Operation, gar keine Beschwerden mehr. — Pat. wurde nach 14 Tagen 
geheilt entlassen. 

Die Vortheile der beschriebenen Methode, die, wie ge¬ 
zeigt, selbst bei g*nz grossen cystischen Ovarialtumoren möglich ist, be¬ 
stehen in dem Fortfall der Shokwirkung der Laparotomie, der Gering¬ 
fügigkeit der postoperativen Beschwerden, der schnelleren Heilung, der 
unschweren Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit und in der Ver¬ 
meidung der Bauchwunde mit ihren möglichen, nachteiligen Folgen. 

Hr. Hadra: Operative Heilung eines atypischen Morbus 
Addisonii durch Exstirpation einer tuberculösen Neben¬ 
niere. (Der Fall ist bereits veröffentlicht.) 

Hr. H. v. Büngner-Hanau berichtet über einen 36jährigen Pa¬ 
tienten mit allgemein multiplen Neurofibromen des peripheren Nerven¬ 
systems und des Sympathicus. Die Geschwülste traten zuerst am 
rechten Bein auf, entwickelten sich aber bald am ganzen übrigen 
Körper. Der Patient starb an einer Pneumonie. Das Praeparat zeigt 
das Rückenmark mit allen Plexus im Zusammenhang. Die Verdickungen 
sind sehr hochgradig, die Neurome 8 cm lang, 2—8 cm dick; nach der 
Peripherie zu werden sie kleiner. Ein Theil derselben, die bald den 
vorderen, bald den hinteren Wurzeln angehören, liegt intradunal und 
comprimirt das Rückenmark. 

Hr. H. Garr6-Tübingen: Ein Zwölftel aller beobachteten Fälle 
von Ncnroflbromen gelt an sarkomatöser Degeneration zu Grunde, ein 
Zusammenhang, den v. Bruns früher hervorgehoben hat. 


483 


Hr. H. Samt er-Königsberg: Ueber die Operation compli- 
cirter Hasenscharten. Die Loslösung der Oberlippen von ihrer festen 
knöchernen Unterlage ist allgemein anerkannt; dort reicht diese Methode 
nicht aus, man nahm daher directe Eingriffe am Zwischenkiefer vor. Des 
Weiteren liess man dann den Zwischenkiefer an seiner 8telle und 
machte Entspannungsschnitte, eine Methode, die wesentlich gute Resultate 
ergiebt. S. hat in seinen operirten Fällen das knorpelige Septum der 
Nase durchtrennt und so die Abweichung des Nasenspitze nach der ge- 
sammten Seite hin beseitigen können. 

Hr. II. Jul. Wolff-Berlin betont, dass der Zwischenkiefer nicht 
reponirt werden darf, ein hässliches Zurücktreten der Oberlippe gegen 
den Unterkiefer ist die Folge. Er hat in allen Fällen die Lippen mit 
dem Bürzel vereinigen können, das Gesichtsprofil wurde ganz normal. 

Hr. Immelmann-Berlin demonstrirt den Frank 1 sehen Apparat 
zur Anlegung eines Gypsverbandes ohne Assistenz. 

Hr. Noetzel-Bonn: Ueber die Infection granulirender Wun¬ 
den. Dass granulirende Wunden gegen Infection wenig empfindlich sind, 
ist bekannt, ebenso der Versuch Bi 11 roth’s, der zuerst einem Hunde die 
granulirende Wunde mit Jauche verband. Es kommt einmal die Durch¬ 
gängigkeit für Bacterien, dem die Resoiption von Toxinen in Betracht. 
Chemischen Stoffen gegenüber verhalten sich Granulationsfläcben durch¬ 
lässig, aber auf Bacterien ist das nicht: ohne weiteres zu übertragen. 
Das Thierexperiment zeigte, dass die intacten Granulationsflächen, die 
theils durch oberflächliche Hautragungen gewonnen werden, noch nach 
2 Tagen von Milzbrand ganz unbeeinflusst waren, während eine gleiche 
Infection frischer Wunden die Thiere nach 30, sicher nach 86—48 Stunden 
unfehlbar tödtete. Auch bei den Controlversuchen mit Tusche wurde 
nichts resorbirt. Die Behauptung Afanasieff’s, dass durch eine In¬ 
fection granulirender Wunden die Tiere dann gegen Infection bei frischen 
Wunden immun sein, kann N. nicht bestätigen. Auch eine locale Immu¬ 
nität wird nicht erreicht. Die Bacterien erhalten sich im Durchschnitt 
14 Tage, dann verschwinden sie, im wesentlichen wohl durch mechanische 
Einflüsse, Ansteckung, Wegschwemmung etc. Eine bactericide Kraft be¬ 
sitzen die Granulationen nicht. 

Hr. Enderlen-Marburg: Ueber das Verhalten elastischer 
Fasern in Hautpfropfungen. Vom 3. Tage nach der Ueber- 
pflanzung ab degeneriren die feinen elastischen Fasern, etwas später 
auch die giöberen, und nach drei Wochen erscheinen nun gerade ver¬ 
laufende feine Fäserchen, die spitzwinklig von den alten degenerirten 
abgehen. Erst nach längerer Zeit erscheint ihr Verlauf geschlängelt; 
nach 1—2 Jahren besteht der einzige Unterschied zwischen normaler 
und aufgepflanzter Haut darin, dass die Pupillen und dementsprechend 
auch die elastischen Fasern bei letzterer kürzer sind. 

Hr. Hildebrand-Berlin: Ungewöhnlicher Fall von Schief¬ 
hals. Der Fall betrifft ein 4 Wochen altes in Steisslage — nur der 
Kopf war exprimirt worden — geborenes Kind, dessen Btark zurückge¬ 
neigte Kopfhaltung aufflel. Die Untersuchung ergab in beiden Sterno- 
cleidomastoidei harte nussgrosse Geschwülste. Dieselben zeigten nach 
ihrer Exstirpation eine starke Bindegewebsentwickelung, nur aussen 
waren Muskelfasern, innen Spindel- und Rundzellen und äusserst derbes 
Bindegewebe, nirgends eine Spur Blutpigment. Auch die bald vorge¬ 
nommene Section (das Kind starb an Bronchopneumonie) ergab für die 
Erklärung der Geschwülste gar nichts. Lues war nicht zn constatiren, 
das alte Bindegewebe einmal, das Fehlen des Blutsegmentes weiter, 
lassen die von den Geburtshelfern angenommene traumatische Entstehung 
als unmöglich erscheinen. Auch die Entstehung auf dem Wege der 
Ischaemie nach Mikulicz tat nicht wahrscheinlich. Eher möchte H. 
an infectiöse Einflüsse, die durch kleine Wunden vermittelt sind, 
denken. 

Hr. Bennecke-Berlin: Zur Frage der Trippergelenke. In. 
Weiterführung der früheren Mittheilung Koenig’s werden die Beob¬ 
achtungen von 38 neuen Patienten mit gonorrhoischen Gelenkentzün¬ 
dungen besprochen. Es waren 15 Männer, 23 Frauen. 25 Mal war das 
Knie befallen, 10 Mal der Fuss, 6 Mal die Hüfte, 4 Mal Hand und 3 Mal 
Finger. 3 Gonitiden waren doppelseitig. Bei 30 Patienten bestand noch 
Urethralfiuss. Die Behandlung bestand in völliger Ruhestellung der Ge¬ 
lenke, in Extension, Punction, Injection 5proc. Carbolsäure und Jod¬ 
pinselungen, abgesehen von grösseren chirurgischen Eingriffen. Gono¬ 
kokken wurden in dem Gelenkinhalt nie gefunden. Im Kniegelenk blieb 
die Function in der Hälfte der Fälle gut. Auch Fuss und Hand haben 
trotz schwerer paraarticulärer Phlegmonen gute Functionen zurück¬ 
erhalten, ebenso ein Schultergelenk. Sehr schweren Verlauf, Neigung 
zur Destruction und Contractur zeigten die Erkrankungen des Hüft¬ 
gelenkes. Hier beseitigte die Gewichtsextension auch die enormen 
Schmerzen oft momentan. Von Conplicationen bestanden 3 Mal Con¬ 
junctivitiden, einmal eine hämatogene gonorrhoische Iritis. Die Gonorrhoe 
verliert, wie hieraus hervorgeht, leicht ihren localen Charakter und wird 
zur Allgemeinkrankheit. 

Hr. Koenig-Berlin sah oft ein ganz gleiches Bild bei Gonorrhoe 
wie beim acuten Gelenkrheumatismus. In einem Falle waren alle Ge¬ 
lenke erkrankt. Eine ganze Reihe Trippererkrankungen werden zum 
chron. Gelenkrheumatismus gerechnet. 

Hr. Bier-Kiel empfiehlt die Stauungshyerämic bei Behandlung 
gonorrhoischer Gelenke. 

' - Hr. Halban-Wien: ‘Resorption der Bacterien bei localer 
Infection. Kommt bei seinen Versuchen zu dem Resultat, dass nicht 
alle Bacterien gleich schnell zur Resorption gelangen. Beim Prodigiosus 
dauert es z. B. nur wenige Augenblicke, beim Staphylococcus eine 


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484 BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. No. 22. 


Stunde, beim Milzbrand nicht vor 2'/* Stunden. Die Lymph- 
drüsen halten die Bacterien nicht nur mechanisch zurück; 
durch die Phogocylose Metschnikotf’s, durch die Alexine 
Büchner’s Bind sie dieselben direct zu bekämpfen geeignet. Patho¬ 
logische Bacterien, erscheinen später als nicht pathologische und zwar 
je pathogener sie sind, um so später. Nach 1—2 Stunden verschwinden 
die Bacterien, sind 5—6 Stunden nicht nachweisbar, um dann in grösserer 
Zahl wieder zu erscheinen u. s. w. Die nicht pathogenen Keime ver¬ 
schwinden dann dauernd, die pathogenen nicht. 

Auf dieses cyclische Kommen und Verschwinden der Bacterien, das 
sich auch in den inneren Organen vermutben lässt, führt H. das eigen 
thümliche Fieber bei den septischen Erkrankungen zurück. 

Die Ansicht von Schimmelbusch, dass bei der Infection bluten¬ 
der Wunden die Bacterien sofort in die Blutbahn und in die inneren 
Organe übergeführt werden, ist unhaltbar, denn wenn man die Extremität 
eines Kaninchens, an welcher man eine blutende Wunde mit virulentem 
Milzbrand inflcirt hat, selbst erst 2—2'/i Stunden nach der Infection am- 
putirt, bleibt das Thier stets am Leben. / 

Ilr. Jürgens-Berlin deraonstrirt Sarkompräparate, bei Thieren durch 
Impfung erzeugt, sowie Kalkmetastasen in Lunge und Nieren bei Er¬ 
krankungen des Duodenum. 

Ilr. Fi scher-Strassburg: Ueber malignes Lymphom. 

Innerhalb 5 Jahre hat er in der Strassburger Klinik 5 Fälle beob¬ 
achtet. 4 Fälle sind gestorben, 2 an Metastasen, 2 an Tuberculosis, die 
sich secundär entwickelte. Die Blutuntersuchung culturell wie tinctorell 
wies nie Bacterien auf. Excidirte Drüsentheile in die Bauchhöhle im- 
plantirt, riefen nie Tuberculose oder eine Drüseninfiltration hervor. Der 
histologische Bau ist der gleiche, wie ihn v. Winiwarter beschrieb. 
Eosinophile Zellen landen sich reichlich in allen Fällen, doch ist dia¬ 
gnostisch dies von keiner Bedeutung, da sie sich ebenso auch in einem 
Fall von Tuberculose fanden. F. hält das maligne Lymphom für eine 
selbstständige Erkrankung der Lymphdrüsen, deren Aetiologie nicht be¬ 
kannt ist. Zur Sicherung der Diagnose ist Excision und das Thier¬ 
experiment nöthig. Die Tuberculose ist erst eine secundäre Infection. 

Zum Vorsitzenden der Gesellschaft für das nächste Jahr wird Prof. 
Trendelenburg-Leipzig mit grosser Majorität gewählt. 


Auf Seite 437 ist zu lesen: „Herr Pfeil Schneider theilt einen 
Obductionsbefund mit, aus dem hervorging, dass die eine Stunde vor dem 
Tode vorgenommene einzige Blasenpunction bereits zu einer Infiltration 
des ganz zersetzten Urins in das prävesicalc Gewebe geführt hatte, ob¬ 
schon dieselbe mit der feinsten Lanzennadel einer 5 ccm-Spritze ge¬ 
macht war.“ 


VIII. Tagesgeschichtliche Notizen. 

Berlin. In der Sitzung der Berliner medicinischen Gesell¬ 
schaft vom 26. d. M. sprach zuerst Herr Ewald über Massen¬ 
drainage mit Vorstellung eines Falles; an der Discussion betheiligten 
sich die Herren Klemperer, Senator und der Vortragende. Herr 
Grawitz sprach zur Physiologie und Pathologie der Pleura. Darauf 
folgte die Discussion über den Vortrag des Herrn Greeff über Gliome 
und Pseudogliome der Retina, an der sich die Herren Hirschberg und 
Schweigger betheiligten. 

— Die Ilufeland’sche Gesellschaft veranstaltete am 20. d. M. 
einen Demonstrationsabend, an welchem Kranke mit Aortenaneu¬ 
rysmen und Mediastinaltumoren durch die Herren Rosin und Jacob¬ 
sohn vorgestellt und über ebensolche von den Herren Mendelsohn, 
Liebreich und Kirstein berichtet wurde. Herr Casper demonstrirte 
neue Instrumente zu intravesicaler galvanokaustischer Operation; Herr 
Saalfeld Kranke mit Hautafiectionen; Herr Kirstein zeigte an einer 
grösseren Zahl von Kranken Beine nunmehr gänzlich vereinfachte Methode 
der Autoskopie des Larynx und der Trachea. 

— Bei Gelegenheit des vom 9.—12. Juni hierselbst tagenden XV. 
Congresses für innere Medicin werden in einer eigens dazu anbe¬ 
raumten Sitzung (Donnerstag den 10., Nachmittags 3—5) Demonstrationen 
von Kranken (namentlich aus den hiesigen grossen Krankenhäusern) und 
mikroskopischen, anatomischen etc. Präparaten stattflnden. Die Vor¬ 
steher der inneren Abtheilungen der Krankenhäuser werden die Führung 
durch dieselben an noch bekannt zu gebenden Tagen und Stunden über¬ 
nehmen. 

— Von der Tagespresse ist bereits gemeldet worden, dass das Institut 
für Serum-Controle. welches unter Leitung des Herrn Ehrlich steht, 
von Steglitz nach Frankfurt a. M. verlegt werden soll, die dortigen 
städtischen Behörden haben den Vertrag mit der Staatsregierung bereits 
genehmigt; die Genehmigung des Landtages — an der freilich nicht zu 
zweifeln — steht noch aus. Wir bedauern lebhaft das Ausscheiden des 
geschätzten Collegcn aus dem wissenschaftlichen Leben unserer Stadt 
und dem Lehrkörper unserer Universität; der ihm ertheilte Lehrauftrag 
— Specielle Pathologie und Therapie — ist, wie wir hören, Herrn 
Brieger übertragen worden. 


— An hiesiger Universität habilitirte sich Herr Dr. Koblanck. 
Assistenzarzt an der Königlichen Universitäts-Frauenklinik. 

— Professor Fritz Strassmann Ist zum Ehrenmitglied der Sociefe 
de Medecine legale de Belgique ernannt worden. 

— Das Berliner Local-Comite für den X11. Internati on al e n 
medicinischen Congress in Moskau hat sich am 25. d. M constftuiit. 
Demselben gehören an: Geh. Med .-Rath Prof. Dr. Liebreich als Vor¬ 
sitzender, Priv.-Doc. Dr. M. Mendelsohn als Schriftführer, Geh. 
San.-Rath Dr. Becher, Med.-Rath Prof. Dr. Fürbringer, Prof. Dr. 
E. Grawitz, Geh. Med.-Rath Prof. Dr. E. Hahn, Geh. Med.-Rath 
Prof. Dr. Jolly, Director Dr. W. Koerte, Prof. Dr. L. Landau, 
Prof. Dr. II. Munk, Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Olshausen, Prof. 
Dr. Renvcrs, Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Rose, Geh. Med.-Rath Prof. 
Dr. Senator, Prof. Dr. Sonnenburg, Hofratb Dr. Stadelmann, 
San.-Rath Dr. Witte, sowie der I. Schriftführer des deutschen Reichs- 
comites, Prof. Dr. Posner. Das Comite stellt sich die specielle Auf¬ 
gabe, die Interessen der den Congress besuchenden Berliner Collegen zu 
vertreten, ausserdem aber auch für einen würdigen Empfang derjenigen 
auswärtigen Aerzte Sorge zn tragen, welche Berlin bei ihrer Reise nach 
Moskau passiren werden und die medicinischen Sehenswürdigkeiten 
unserer Stadt kennen zu lernen wünschen. 

— Die vierte Versammlung süddeutscher Laryngologen 
wird am 2. Pflngstfeiertage, den 7. Juni, in Heidelberg stattfinden. Zur 
Discussion Bteht: Die Laryngitis exsudativa. Zahlreiche anderweitige 
Vorträge sind angemeldet. 

— In Brüssel wird vom 14. bis 19. September d. J. ein Inter¬ 
nationaler Congress für Nervenheilkunde, Psychiatrie, 
Elektropathologie und Hypnologie stattflnden, dessen Vorsitzender 
Professor Dr. Verriest (Löwen) sein wird. 


IX. Amtliche Mittheilungen. 

Peraanalla. 

Auszeichnungen: Rother Adler-Orden IV. KI.: dem Stabsarzt 
Gaertner in der Kaiserlichen Schutztruppe in Deutsch-Ostafrika, 
dem Geh. Sanitätsrath Dr. von den Steinen in Düsseldorf. 

Stern zum Königl. Kronen-Orden II. KL: dem General-Arzt 
I. Kl. a. D. Dr. Krulle in Deutsch-Wilmersdorf. 

Kronen-Orden II. KL: dem General-Arzt I. KL Dr. Grosshei m, 
Gen.-Arzt des IV. Armee-Corps. 

Rettungsmedaille: dem Ober-Stabsarzt I. KL Dr. Schilling in 
Prenzlau. 

Charakter als Sanitätsrath: dem prakt. Arzt Dr. Ruprecht 
in Malstatt-Burbach. 

Ernennungen: der seitherige Kreiswundarzt des Kreises Ileiligenbeil 
Dr. PI och in Brandenburg zum Kreis-Physikus des Kreises Darkehmen. 
Der seitherige Kreiswundarzt des Kreises Niederang Dr. Behrendt 
in Skaisgirren zum Kreis-Physikus des Kreises Mohrungen. 

Niederlassungen: die Aerzte Dr. Friedrich in Uchtspringe, Dr. 
Vogt in Sulzbach, Dr. Diestel-Lämmer in Adelsdorf, Dr. David 
und Dr. Schmitz in Bonn, Dr. Kuntze in Godesberg, Dr. 
Felten und Dr. Dickerhof in Cöln, Dr. Haas in Euskirchen, Dr. 
von Mettenheimer in Frankfurt a. M. 

Verzogen sind: die Aerzte Dr. Bremme von Eichberg nach Lieben¬ 
burg, Dr. Stolle von Berlin nach Eichberg, Dr. Bern eg an von 
Oranienstein nach Cöln, Stabsarzt Dr. Lorenz von Diez nach Mainz, 
Dr. Linkenheld von Wiesbaden nach Ems, Stabsarzt Dr. Ritt¬ 
meier von Hersfeld nach Diez, Hoeber von Worms nach Cronberg, 
Jaworowicz von Berlin nach Homburg, Pickert von Görbersdorf 
nach Falkenstein, Dr. Henrich von Frankfurt a. M. nach Schwanhein), 
Dr. Stiebei von Berlin nach Soden, Dr. Martens von Kiel nach 
Wiesbaden, Dr. Siegfried von Wiesbaden nach Nauheim, Dr. ßlit- 
stein von Wiesbaden, Dr. Bayerthal von Kaltenbach nach Schier¬ 
stein, Dr. Westphal von Buer nach Dotzheim, Dr. Kerle von 
Münster nach Camp, Josepbsohn von Bromberg nach Warlubien, 
Pilatowski von Leipzig nach Culmsee, Dr. Hugo Hirsch von 
Berlin nach Cöln, Dr. Ebkens von Barssei nach Rossbach, Dr. Less- 
hafft von Bonn nach Coblenz, Dr. Adrian von Rossbach nach Lob¬ 
machtersen, Dr. Eck von Oberdollendorf nach Bornheim, Dr. Scholz 
von Bonn nach Waldbroel, Stabsarzt Dr. Kulke von Erfurt nach 
Sprottau, Dr. Kandewitz von Herrischried (Baden) nach Hohenfriede- 
berg, Fabian von Ilohenfriedeberg nach Breslau, Stabsarzt Dr. Baehr 
von Sprottau nach Strassburg, Dr. Büsch von Schwanheim nach 
Püttlingen, Dr. Selhorst von Breslau nach Völklingen, Dr. Hamm 
von Heusweiler nach Schweich, Dr. Rech von Bonn nach Trier. Dr. 
Dederichs von Püttlingen nach Ensheim, Dr. Grotthof von Völk¬ 
lingen nach Berlin, Dr. Seil von Sulzbach nach Frankfurt a. M., Dr. 
Spormann von Nöschenrode. 

Gestorben ist: der Sanitätsrath Dr. Langguth in Sulzbach. 


Für die Redacüon verantwortlich Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald, Lüuowplata 5 


Verlag und Ei;enthum von August Hirschwald in Berlin. — Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin. 


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BERLINER 


o* 1 ** 1 ' Wochenschrift erscheint jeden 
\» ®* r ®^rke Ton 9 bis 3 Bogen gr. 4. — 
Preis 'rtertelj^flich 6 Mark. Bestellungen nehmen 
alle Buchhandlungen und Pottanstalten an. 


Einsendungen solle man portofrei an die Redaction 
(W. LQtzomplau No. 5 ptr.) oder an die Verlags¬ 
buchhandlung von August llirschsald in Berlin 
N.W. Uuter den Linden No. 68, adressiren. 



Organ für practische Aerzte. 


Mit Berücksichtigung der preussisclien Medicinalverwaltung und Medicinalgesetzgebung 

nach amtlichen Hittheilungen. 


Redaction: 

Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald und Prof. Dr. C. Posner. 


Expedition: 

August Hirschwald, Verlagsbuchhandlung in Berlin. 


Montag, den 7. Juni 1897. 


M 23. Vierunddreissigster Jahrgang. 


INHALT. 


Znm fünfzehnten Congress für innere Medicin, Berlin 1897. 


I. J. Mikulicz: Die chirurgische Behandlung des chronischen Magen¬ 
geschwür». 

II. Ans dem Institut für Hygiene und Bacteriologie der Universität 
Strassburg i. E. (Prof. Dr. J. Förster). E. Levy und Hayo 
Bruns: Beiträge zur Lehre der Agglutination. 

III. W. Havelburg: Experimentelle und anatomische Untersuchungen 
über das Wesen und die Ursachen des gelben Fiebers. 

IV. 0. Binswanger: Ueber die Pathogenese und klinische Stellung 
der Erschöpfungspsychosen. 

V. Aus dem hygienischen Institute der Universität München. Martin 
Hahn: Zur Kenntnis» der Wirkungen des extravasculären Blutes. 

VI. Aus der Universitäts-Augenklinik in Breslau. W. Uhthoff: Ein 
Beitrag zu den Sehstörungen bei Zwergwuchs und Riesenwuchs 
resp. Akromegalie. (Fortsetzung.) 


VII. Kritiken und Referate. Jacob: Atlas klin. Untersuchung«* 
methoden. (Ref. Posner.) Fl einer: Verdauungskrankheiten. (Kef. 
Kuttner.) Gangrene as a Complicatiop and Sequel of the continued 
fevers, especially of Typhoid; Romberg: Therapeutische Anschau¬ 
ungen. (Ref. Strauss.) Lazarus: Krankenpflege. (Ref. Posner.) 

VIII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Berliner med. 
Gesellschaft. H e u b n e r: Säuglingsernährung und Säuglingsspitäler 
(Disc.). — Phys.-med. Gesellschaft zu Würzburg. Schnitze: De¬ 
monstrationen. — Aerztl. Verein zu Hamborg. Arning, Groth, 
Rösing: Demonstr. Böttiger: Neurasthenie u. Hysterie. — Verein 
der Aerzte zu Stettin. Scheidemann: Kurzsichtigkeit. Krösing: 
Gonorrhoe. Schuchardt, Friedemann: Demonstrationen. 

IX. Wiener Brief. — X. Praktische Notizen. 

XI. Tagesgeschichtliche Notizen. — XII. Amtliche Mittheilungen. 


XV. Congress für innere Medicin. 

Berlin, 0.— 12 . Juni 18Ö7. 


Mh so sicherer Haml und so glücklichem Gelingen 
ist wohl selten eine neue Einrichtung auf medicinischem 
Gebiete in’s Leben gerufen und durchgefUhrt worden, wie 
vor nunmehr 15 Jahren der Congress für Innere Medicin. 
„Es handelt sich nm die Stellung der inneren 
Medicin zu den übrigen Gebieten der Heilkunde in 
ihrer wissenschaftlichen Bearbeitung wie in ihrer Ver¬ 
tretung nach aussen“ — in diesen wenigen, heute uns fast 
selbstverständlich dUnkenden Worten präcisirte Frerichs das 
Programm in seiner Einleitungsrede — hierin, in dem Bestreben, 
die Bedeutung der medicinischen Klinik als „eigentlichen 
Mittelpunkt aller ärztlichen Thätigkeit, als Endziel 
aller wahren Heilwissenschaft hinznstellen“ waren sich 
von vornherein einig Alle, die dem Rnfe Leyden’s folgend, 
die Vorbereitungen zu diesem Schritte gethan hatten. Der 
Congress trat von Anfang an in vollkommener Ausbildung ins 
Leben, — so sorgsam war alles erwogen, so genau sein Weg 
abgesteckt, sein Ziel bezeichnet, dass seither eine Veränderung 
principieller Natur eigentlich nicht erfolgt ist: was sich vollzogen 
hat, war stetige Entwickelung, Anpassung an sich ändernde 
Anssenbedingnngen, Wachsthum und Fortschritt, wie einem ge¬ 
sund arbeitenden Organismus geziemt. Die von den Begründern er- 
theilte, lebendige Kraft wirkt fort, auch nachdem längst das 
Grab sich Uber manchen der Männer geschlossen hat, deren An¬ 
sehen und Würde gerade den ersten Versammlungen einen so 
charakteristischen Stempel aufprägte! Freilich ist dem Congresse 
das seltene Glück zu Theil geworden, dass sein eigentlicher 


Schöpfer — Ernst von Leyden — der mit sicherem Blick 
alle Vorbereitungen getroffen und die richtigen Männer für 
ihre Verwirklichung zu interessiren gewusst hat — Ewald und 
Finkler als die ersten Schriftführer, Emil Pfeiffer als ständiger 
Secretär und E. Seitz als erster Mitredacteur seien genannt und 
die energische Verlagshandlung von Fr. Bergmann nicht ver¬ 
gessen — hente noch, wie vor 15 Jahren, mit gleichem Interesse 
und gleicher Thatkraft das Gedeihen des damals in’s Leben ge¬ 
rufenen Werkes begleitet und überwacht! 

Zum zweiten Male seit seiner Begründung soll jetzt der 
Congress fllr innere Medicin in unserer Stadt tagen. Wiesbaden, 
seinen Mutterboden, hat er anfangs nur einmal ausnahmsweise ver¬ 
lassen, als es galt, Frerichs eine besondere Huldigung darzu¬ 
bringen. Erst im Jahre 1891 wurde mit dieser Tradition gebrochen 
und neben Wiesbaden noch in regelmässigem zweijährigen Turnus 
vier grosse deutsche Universitäten, — Wien, Berlin, Leipzig, 
München — als Congressorte bestimmt. 

Dürfen wir nun, bei Beendigung seines dritten Lustrnm, den 
Congress für innere Medicin hier willkommen heissen, so ergiebt 
sich ganz von selbst die Gelegenheit, einen Rückblick auf seine 
bisherige Entwicklung zu werfen. Nicht besser glauben wir seine 
Bedeutung klar machen zu können, seine Werthschätzung zu 
begründen, als durch eine kurze Uebersicht der Summe seiner 
bisher geleisteten Arbeit. In den 14 Bänden seiner Verhand¬ 
lungen steckt ein gutes Stück Geschichte der neueren Medicin. 

Möge der Congress auch in Zukunft im gleichen Geiste 
vorwärts schreiten! 


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48ö 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 23. 


In keinem anderen Gebiete unseres Wissens hat sich, seit 
der ersten Tagung des Congresscs ein solcher Fortschritt voll¬ 
zogen, wie in der Lehre von den Infectionskrankheiten. Die 
erste Session (1882) fiel in die Zeit, als Robert Koch eben 
seine Methodik zur vollen Reife durchgearbeitet, und als bedeut¬ 
samstes Resultat seiner neuen Forschungen die Entdeckung des 
Tuberkclbacillus mitgetheilt hatte; ihr galt der zweite der 
überhaupt gehaltenen Congressvorträge — Koch selber stellte 
seine Methode und deren Resultate dar, Aufrecht, Seitz, 
Rühle, Jürgensen, A. Baginsky nahmen an der Discussion 
theil. Schon beim zweiten Congress bildete die Llingentllberculose 
den Gegenstand eines Referates (Rühle, Lichtheim) und die 
Referenten sowohl wie die an der Discussion Betheiligten (HiHer, 
Fraentzel) bemühten sich, die neue Auffassung der Krankheit 
als einer infectiösen mit den alten klinischen Erfahrungen in Ein¬ 
klang zu setzen. Ebenfalls unter gleichem Gesichtspunkt wurde 
später (IV. Congr.) die Therapie der Lungenschwindsucht 
besprochen (Dettweiler, Penzoldt; Disc. Brehmer, Rühle, 
Fraentzel, Hueppe) wobei sowohl die specifischen, als die 
allgemeinen, namentlich die klimatischen Methoden erörtert wurden. 
Es folgte später (Y1I. Congr.) Cornets bedeutungsvolle Mittheilung 
über die Verbreitungswege der Tuberculose; und endlich, beim 
IX. Congress die noch in aller Erinnerung haftende grosse Dis¬ 
cussion über das inzwischen publicirte Koch’sehe Heilver¬ 
fahren: Curschmann hielt den einleitenden Vortrag, von 
Jaksch, Ziegler, Heubner, Mor. Schmidt, Dettweiler, 
Sonnenburg, von Ziemssen, Fllrbringer, Naunyn, Käst, 
Cornet, Schultze, Wolff u. A. beleuchteten die Frage vom kli¬ 
nischen, pathologisch-anatomischen, klimatotherapeutischen Stand¬ 
punkt, und man kann dieser grossen Discussion, aller Uebertrei- 
bungen im Einzelnen unerachtet, das Zeugniss nicht versagen, 
dass sie in besonderem Maasse klärend gewirkt hat. Als Nach¬ 
klang dazu erfolgten noch auf dem X. Congresse einige Special¬ 
mittheilungen: Spengler sprach über die combinirte Tuberculin- 
Tuberculocidin-Behandlung, Klebs über Heilung der Tuberculose, 
Cornet Uber Mischinfection. Eine Wiederaufnahme der Discussion 
dürfte, nach Koch’s neuesten Publicationen nicht ausbleiben. 

Auch die Auffassung und Behandlung der InfeCtlOnskrank- 
heiten im Allgemeinen ist oftmals zur Sprache gebracht worden. 
Der II. Congress brachte ein Referat „Ueber die abortive 
Behandlung der Infectionskrankhcitcn w (Binz und Ross¬ 
bach), bei welcher namentlich die Frage der specifischen Be¬ 
handlung mit Rücksicht auf die Wirkung des Chinin bei Malaria 
viel erörtert wurde. Dann folgte die Zeit, in der man den 
chemischen Produkten der Bacterien die Hauptaufmerksamkeit 
zuwandte, repräsentirt durch zwei Vorträge Brieger’s Uber 
Fäulnissalkaloide und über Ptomaine (III. und V. Congress), und 
endlich brachte der XI. Congress vielerlei Mittheilungen über 
neue Imraunisirungs-Arbeiten und speciell Uber die Bedeu¬ 
tung des Serum; es sprachen hier Emmerich und Tsuboi 
über die Schutzstoffe des Senim, Büchner über das gleiche 
Thema, Wassermann über Immunität und Giftfestigkeit, 
Metschnikoff Uber die Immunitätslehre, Felix Klemperer 
Uber Heilung der Infectionskrankheiten durch nachträgliche Im- 
munisirung, Georg Klemperer Uber derartige Versuche bei 
der Pneumonie. Nochmals kamen diese Dinge beim XII. Con¬ 
gress in einem Vortrage Stern’s, Blutserum und pathogene 
Bacterien, zur Sprache. Ebenda berichtete Peiper über Ty¬ 
phusbehandlung mit Immunserum vom Hammel, Rumpf Uber 
Anwendung von Pyocyaneusculturen gegen Typhus; und am 
XII. Congress folgte Grubcr’s Vortrag Uber Immunität gegen 
Cholera und Typhus mit der scharfen Erwiderung R. Pfeiffer’s, 
des IJauptbegründers . der Lehre von der strengen Specifilät 
der Sera; die jetzt so viel erörterte Streitfrage der Agglutinine 
wurde damals zuerst vor grösserem Forum ausgefochten. 

Auch zur Hanpterrungenschaft der praktischen Serumtherapie, 
zur Behring’schen Diphtheriebehandlung hat der Congress Stel¬ 
lung genommen: die XIII. Versammlung brachte die grosse Dis¬ 
cussion über diese Frage, eingeleitet durch einen Vortrag 
lleubner’s, mit Antheilnahmc der bedeutendsten Kinderärzte, 
wie Baginsky, Wiederhofer, v. Ranke, Kohts, Seitz, 
Rehn, von Laryngologen, wie Rauchfuss, v. Mering, Klini¬ 
kern, wie v. Jaksch, v. Noorden, Vierordt u. A. Schon 
vorher war die Diphtheriefrage mehrfach erörtert worden; auf 
dem II. Congress hatten Gerhardt und Klebs darüber referirt 
und Letzterer neue bacteriologische Befunde mitgetheilt; beim 
III. Congress hatte Loeffler den von ihm entdeckten, damals 
noch vielfach angczweifelten Diphtheriebacillus vorgezeigt. 


In engem Zusammenhang mit diesen Fragen steht die der 
Antlpyrese; sie hat den Congress dreimal beschäftigt; es referirten 
hierüber beim I. Congress Liebermeister und Riess; beim 
IV. Filehne und Liebermeister, beim XIV. Binz und Käst; 
in die Discussionen griffen namentlich Unverricht und v. Jaksch 
ein; die Erörterungen führten in ziemlich allgemeinem Einver- 
ständniss schliesslich zu einer wesentlichen Herabsetzung der 
Werthschätzung der arzneilichen Antipyrese. 

Von einzelnen Infectionskrankheiten, bei deren Besprechung 
zum Theil auch die bisher angedeuteten Gesichtspunkte maass¬ 
gebend waren, seien noch erwähnt der Typhus — Vorträge von 
Alb. Fraenkel über Typhusbacillen und Finkler über Typhus 
(VI. Congress), Fürbringer über Knochenmarkserkrankungen 
typhösen Ursprungs (IX.), sowie die oben schon erwähnten von 
Rumpf und Peiper; — Malaria mit Demonstration der Para¬ 
siten von Dolega (IX.) und Mannaberg (XI.); Influenza, Uber 
deren epidemisches Auftreten Bäumler (IX.) umfassenden Bericht 
erstattete, und endlich die Cholera. Ueber diese sprach zuerst 
A. Pfeiffer unter Demonstration der Koch’schen Bacillen 
(IV.), dann folgte beim VII. Congress das von demselben und 
Cantani erstattete Referat, in dem ganz besonders die Therapie 
zur Sprache kam, sowie, nach der grossen Hamburger Epidemie, 
die von Rumpf und Gaffky eingelcitete Debatte (XII.); sie 
brachte eine scharfe Auseinandersetzung namentlich mit den 
Vertretern der Pettenkofer’schen Richtung; es waren wesent¬ 
lich v. Ziemssen, Fürbringer, Aufrecht, Hitzig, Klem¬ 
perer, E. Fraenkel, Senator, Grawitz, Klebs, Bauer, 
Quincke und Baelz, die sie führten. 

Von allgemeinen Erkrankungen nicht infectiöser Natur und 
Stoffwechselanomalien erwähnen wir zunächst die interessante 
Debatte Uber die Behandlung der Fettleibigkeit mit Ebstein 
und Henneberg als Referenten (IV.); au sie schliessen sich 
Einzelmittheilungen von Rosenfeld Uber Fettwanderung und 
Leube Uber subcutane Ernährung an (XIII). Eine grosse Rolle 
spielte, seit Beginn des Congresses, die Frage der Gicht und 
harnsauren Diathese. Nachdem Ebstein schon beim II. Con¬ 
gress seine Theorie der Harnsteinbildung vorgetragen, und diese 
beim VIII. Congress durch experimentelle Beweise erhärtet 
hatte, folgten die Referate Uber Gicht (Ebstein nnd E. Pfeif¬ 
fer) (VIII.), ein Vortrag von Mordhorst über Gicht (X.), Men¬ 
delsohn Uber hamsaure Diatliese (XII.), sowie beim XIV. Con¬ 
gress eine grosse Reihe Einzelmittljeilungen, in denen sowohl 
diese Frage (v. Noorden, Rosenfeld, Moritz), als nament¬ 
lich die Entstehung der Harnsäure und der Alloxurbasen 
di8cutirt wurde (Hess und .Schmoll, Laquer, sowie in der 
Discussion Albu, v. Noorden, Magnus-Levy). Hier ver¬ 
dient auch Kossel’s Vortrag Uber Nucleine Erwähnung, sowie 
Weintraud's Mittheilungen über Harnsäure und Poehl’s Vor¬ 
trag Uber Antointoxication (XIV.). 

Ein gleichfalls vielfach besprochenes Thema bildet der 
Diabetes. V. Jaksch machte am II. Congress seine Mittheilungen 
Uber Acetonurie und Diaceturie; am V. Congress fand ein ein¬ 
gehendes Referat von Stokvis und Iloffmann statt und 
späterhin kamen hier noch die wichtigsten Funde in die weitere 
Oeffentlichkeit; v. Mering Uber die Phloridzindiabetes (VI.), 
Ebstein, Uber Ernährung der Zuckerkranken mit Aleuronatpräpa- 
raten (XL), Minkowski, Uber Pankreasdiabetes (XI.), endlich 
specielle Vorträge von Moritz (X.), Posner (X.), Leo (VIII. 
u. XL), Gans (IX.), Rosenfeld (XII.) und v. Noorden (XIII.). 

Von Erkrankungen einzelner Organe und Systeme nennen 
wir zuerst diejenigen des Blutes Einmal sind beim XI. Congress 
die anämischen Zustände in besonderem Referat besprochen 
worden (Birch-Hirschfeld nnd Ehrlich, Disc. Troje, FUr- 
bringer, Klebs, Litten, Dehio); dann gehört hierher die 
grosse Discussion Uber die Eisentherapie am XIII. Congress, 
die von Bunge und Quincke eingeleitet wurde. Andere Mit¬ 
theilungen machte Uber pernieiöse Anämie Licht he im (VI.), zur 
Chemie des Blutes v. Jaksch (XII.), zur Blutuntersuchung 
Stintzing (XII.), Uber Hämoglobinaemie Ponfick (II), Uber 
Leukämie Litten (XI.), Mannaberg (XIV.), Gumprecht 
(XIV.), Uber Addison’sche Krankheit Fleiner (X.), endlich Uber 
Blntinfusionen v. Ziemssen (XI.) und Laudois (XI.). Ueber 
Veränderungen des Blutes im Hochgebirge sprach Egger (XIL). 

Von den Herzkrankheiten sind die chronischen Erkran¬ 
kungen des Herzmuskels in einer, von Oertel und Licht¬ 
heim eingeleiteten Discussion am VII. Congress besprochen 
worden, wobei speciell die Frage der Bewegungs- und Terrain- 
curen lebhaft erörtert wurde. Riegel sprach beim IV. Congress 


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JvioV!??7. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


487 


Uber Coffein bei Herzkrankheiten. Auf dem IX. Congress gaben 
die Leipziger Forscher v. Frey, Romberg, Ilis, Krehl, 
Lenhartz Berichte Uber ihre wichtigen, namentlich die Innervation 
des Herzens betreffenden Studien; der X. Congress brachte ein Re¬ 
ferat Uber Angina pectoris (A. Fraenkel, Vierordt); mehrfach 
erstattete v. Basch Uber seine Apparate Bericht, sowie Schott 
Uberseine Erfahrungen bei Herzkrankheiten (IX., X.). l eber Schluss¬ 
unfähigkeit der Lungenarterienklappen sprach Gerhardt (XI.). 

Die AthmungiOrgane haben wir mit ihrer wichtigsten Er¬ 
krankung, der Lungentuberculose, schon erwähnt. Von grossem 
Interesse waren auf diesem Gebiet noch mehrere andere Ver¬ 
handlungen. Der III. Congress brachte ein Referat Uber Pneu¬ 
monie von JUrgensen und A. Fraenkel, bei dem es zwischen 
letzterem und Carl Friedländer zu Auseinandersetzungen 
liber den Pneumococcus kam; weiter ist aber besonders die Frage 
der Therapie der Pleuritiden und Empyeme mehrfach dis- 
cutirt, beim V. Congress nach einem Referat von 0. Fraentzel 
und Weber, beim IX. nach einleitenden Vorträgen von Iramer- 
mann und Schede; namentlich wurde die Frage, ob Resection 
oder Aspiration lebhaft erörtert und wir begegnen hier zum 
ersten Male dem Falle, dass ein Chirurg am Referat theilnahm; 
die „Grenzgebiete“ sind seitdem vielfach berührt und ihre 
Besprechung bildet jetzt, wie ja auf dem Chirurgencongress eben¬ 
falls, ein besonders häufiges Thema. — Wir erinnern weiter 
auch auch an die Besprechungen der Asthmafrage (IV. Congress) 
im Referat von Curschmann und Riegel, sowie in einer 
Einzeleintheilung von Hack, wobei, wie B. Fraenkel in der Dis- 
cussion betonte, zuerst allgemein die Beziehungen zu den Nasenkrank- 
Jieitcn anerkannt wurden. Noch sei an Mosler’s Vortrag Uber 
Lungenchirurgie (II.) und l'nverricht's (XI.) und Stern’s (XIV.) 
Mittheilungen Uber Chcyne-Stokes’sches Äthmen erinnert. 

Hier müssen ferner die Vorträge von Fliess, nasale Reflex¬ 
neurose, M. Schmidt, Behandlung der Verbiegungen der Nasen¬ 
scheidewand mit Electrolyse, v. Ziemssen, parenchymatöse 
Injection in die Tonsillen (sämmtlich auf dem XII. Congress), 
Krause Uber Kehlkopftuberculose (VIII.) genannt werden. 

Eine sehr grosse Zahl von Vorträgen betrifft den Nlagen- 
darmcanal. Nothnagel eröffnet die Reihe mit seiner Mitthei¬ 
lung Uber den Einfluss des Morphiums auf den Darm (I ); es 
folgten beim VII. Congress die Referate von Leube und Ewald 
Uber nervöse Dyspepsie, welche, mit der anschliessenden Dis- 
cussion, maassgebend fllr die Auffassung dieses Kranklieitsbildes 
geworden sind. Beim VIII. Congress berichten Immermann 
Uber den Magen der Phthisiker, G. Klemperer Uber Magen- 
erweiteruug, Lauenstein Uber Pylorusresectionen; beim XI. 
Congress zeigte Ileryug die Magendurchleuchtung, dann sei be¬ 
sonders Cahn’s Vortrag Uber Magensäuren (VI.) und v. Mering’s 
Vortrag Uber die Function, speciell die Resorptiousverhältnisse 
des Magens erwähnt (XIII.); die Resorption des Darms besprach 
Leubuscher (IX.), die des Rectum Posner (XIII.), die Gastro- 
enteroptose Ageron (XV.). lieber Oesophagusstricturen trug 
Leyden vor (VII.). Von „Grenzgebieten“ kamen der Ileus mit 
einleitenden Referaten von Curschmann und Leichtenstern 
(VIII.) sowie die Typhlitis (Ref. Sahli und Ilelferich) beim 
XIII. Congress zur Verhandlung; beide Themata wurden nament¬ 
lich unter Mitwirkung hervorragender Chirurgen (Sonnenburg 
u. A.) auf’s Eingehendste besprochen. 

Ebenfalls sind die Erkrankungen der Leber vielfach bear¬ 
beitet worden: am X. Congress fand das Referat von Naunyn 
und FUrbringer mit Discussionsbetheiligung von Riedel statt, 
in der die Frage der Gallensteinkrankheit, namentlich der 
operativen Behandlung, eine wesentliche Förderung erfuhr; es 
schliessen hier an FUrbringer’s Mittheilung Uber Pseudo- 
Gallensteine (XI.), Bl um’s Vortrag Uber Behandlung der Choleli- 
thiasis mit Oelklystiren (XIV). Die Entzündungen der Leber, 
speciell die Cirrhosis wurden im Referate von Rosenstein 
und Stadelraann (XI.) eingehend erörtert. An der lebhaft ge¬ 
führten Discussion nahmen besonders v. Frey, Müller, Finkler, 
Minkowski, v. Liebermeister, Ebstein Theil. Ueber ner¬ 
vöse Leberkolik sprach (XIV.) Pariser. 

Das erste Referat, mit welchem der Congress Überhaupt 
seine wissenschaftliche Thätigkeit begann, betraf die Nieren- 
erkrankungen, insbesondere den Morbus Brightii. Leyden 
und Rosenstein fungirten als Referenten, Aufrecht, Klebs, 
Immermann, Rühle, Ewald nahmen an der Debatte Theil. 
Hatte es sich hier wesentlich um die allgemeine Auffassung des 
Processes in pathologischer und klinischer Hinsicht gehandelt, 


so bildete die Therapie des chronischen Morbus Brightii das 
Thema einer grossen Verhandlung beim IX. Congress, die durch 
Vorträge von v. Ziemssen und Senator eingeleitet wurden. 
Weiter sprachen Uber Urämie Leube (II.) und Fleischer (IV.), 
Uber acute Nephritis Aufrecht (XIII.), Uber Nephrcctomie 
E. KUster (XIV.). 

Wir schliessen hier an die Krankheiten der männlichen 
Geschlechtsorgane, die beim VlII. Congress durch Vorträge von 
FUrbringer (Impotenz) und Posner (Prostatitis) behandelt 
wurden, und die Syphilis, die beim V. Congress in Referaten 
von Kaposi und Neisser, ferner in Einzelmittheilungen von 
FUrbringer, Albuminurie bei Syphilis (IV), Lustgarten, Sy- 
philisbacillcn (IV), Senator, Icterus und acute Leberatrophie 
bei Syphilis (XII) auf der Tagesordnung stand. Ueber Physio¬ 
logie der Haut sprach Unna (IX), Uber Pemphigus Mosler (IX). 

Einen breiten Raum der Congressverhandlungen nehmen die 
Erkrankungen des Nervensystems ein. Auch hier war für alle 
spätere Forschung maassgebend ein am III. Congress gehaltenes 
Referat von Leyden und Oorreferat von Schnitze Uber Polio¬ 
myelitis und Neuritis; ferner wurde in bedeutungsvollen De¬ 
monstrationen und Vorträgen die Frage der Localisation im 
Grosshirn discutirt: Goltz zeigte (III) den bekannten Hund ohne 
Grosshirn, Ed in ge r berichtete Uber den Faserverlau fim Gehirn (IV) 
und die Bedeutung der Gehirnrinde (XII); Nothnagel und Nau¬ 
nyn leiteten am VI. Congress die Debatte Uber die Localisation 
der Gehirnkraukheiten ein; Unverricht (VI) und Binswangcr 
(VII) sprachen Uber Epilepsie, Wernicke Uber Aphasie (IX). 

Das Capitol der traumatischen Neurosen erfuhr eine 
eingehende Erörterung durch eine wichtige Discussion am XII. 
Congress, von Naunyn und Wernicke eingeleitet. (Discussion: 
Hitzig, Bruns, Jollv, Bäumler, Schultze u. A.) Die 
Lumbalpunction wurde zuerst am X. Congress von Quincke 
bekannt gegeben, sie kam beim XII. durch v. Ziemssen, beim 
XIV. durch Lenhartz nochmals zur Sprache, beide Male mit 
langen und interessanten Debatten. Mit rein psychischen 
Fragen beschäftigten sich die Vorträge von Meynert, Mecha¬ 
nismus der Wahnideen (IV) und Binswanger, Suggestivtherapie 
(XI); weiter seien erwähnt Rosenthal, Ueber Reflexe (III), 
Adamkiewicz Uber Pachymeningitis (IX.), Sternberg, Selmen- 
rellexc (IXi, Pciper, Exstirpation des Ganglion colliaeum (IX) 
und Ewald, Ueber Tetanie (XIII.). — Der Rheumatismus 
ist nur einmal, in einem Vortrage Gerhardt’s Uber Rheumatoid¬ 
erkrankungen (XIV) zur Sprache gekommen. 

Kinderkrankheiten und Kinderernährung wurden ebenfalls 
wiederholt abgehandelt. Eine längere Verhandlung (VI. Con¬ 
gress) bezog sich auf den Keuchhusten (Ref. Vogel und 
Ilagenbach). Biedert sprach Uber Kinderernährung (III), 
II. Weber Uber Schulhygiene in England (III.), Vierordt Uber 
Rachitis (VlII*, Leubuscher Uber Erkrankungen des Circula- 
tionsapparates und Nervensystems bei Kindern (XIV). 

Speciell therapeutische Fragen sind vielfach erörtert worden. 
Von Einzelmittheilungen erwähnen wir: Edlefsen, Chlorsaures 
Kali (III), wiederholte Mittheilungen von Binz Uber neuere 
Arzneimittel, die grosse Discussion Uber Weingeist als Heil¬ 
mittel, eingeleitet von Binz und v. Jak sch, sowie Bälz’ in¬ 
teressante Mittheilungen Uber heisse Bäder (XII). Ganz be¬ 
sonders aber muss an die jüngste, sehr belehrende und frucht¬ 
bare Discussion Uber die Organtherapie, speciell die Schild- 
drüsenbehandlung erinnert werden, die von Ewald und 
Bruns mit sehr lichtvollen Vorträgen eingeleitet wurde 
(XIV. Congress). Schon auf dem XIII. Congress war dies 
Thema in Vorträgen von II. Kehn und Re inert berührt worden. 

Allgemein diagnostische Mittheilungen machten: Litten, 
Ueber die Centrifugc (X), Krönig desgl. (XIV), Litten Uber 
das Zwerchfellphänomen (VlII). 

Zum Schluss erwähnen wir, dass auch pathologisch ana¬ 
tomische Dinge mehrfach zur Sprache kamen; Bostroem sprach 
Uber Actinomycose (IV), Baiser Uber Fettnekrose (XI), A. Fraen¬ 
kel Uber Endothelkrebs der Pleura (XI.), Adamkiewicz Uber 
Krebs, Dehio Uber Myxofibrosarcom des Herzens (XIII), Ribbert 
Uber experimentelle Erzeugung von Ekchondrosen, Thoma Uber 
Angiomalacie (XIII), dass allgemein physiologische Fragen von 
Kn oll (X.) erörtert wurden, und dass auch die Geschichte der He- 
dicin nicht ganz fehlt: abgesehen von den Nachrufen auf dahin¬ 
geschiedene hervorragende Mitglieder, wie Frerichs und RUhle, 
nennen wirLeyden’s grosse Rede zumGedächtni88Jenner’s(XIV) 
und Petersen’s Vortrag Uber Ilippokratismus (VlII). P. 


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488 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 23. 


I. Die chirurgische Behandlung des chronischen 
Magengeschwürs l ). 

Von 

Professor J. Mikulicz in Bre3lau. 

M. H.! Herr v. Leube hat uns soeben eine ausführliche 
Darstellung der Erfolge und Grenzen der inneren Behandlung 
des Magengeschwürs gegeben und daraus die Indicationen zum 
chirurgischen Eingreifen abgeleitet. Wir müssen Herrn v. Leube 
zu besonderem Dank verpflichtet sein, dass er die Mühe nicht 
gescheut hat, uns über eine Reihe von Dingen aufzuklären, die 
dem Chirurgen naturgemäss ferner liegen, vor Allem aber müssen 
wir ihm dafür danken, dass er zu einer der interessantesten 
Fragen der heutigen Chirurgie in unserer Versammlung, also 
gewissermaassen officiell, Stellung genommen hat. Denn wer 
konnte berufener sein, sein Urtheil Uber die chirurgischen Be¬ 
strebungen auf diesem Gebiete abzugeben, als der Herr Vor¬ 
redner? Gilt er doch mit Recht als einer der besten Kenner 
der uns beschäftigenden Krankheit, und verdanken wir doch 
hauptsächlich ihm eine rationelle innere Behandlung des Leidens. 

M. 11.! Wir bedürfen vielleicht auf keinem der zahlreichen 
Grenzgebiete zwischen Medicin und Chirurgie so sehr der Mit- 
hülfe, des Rathes und, bis zu einem gewissen Glade, selbst der 
Controle des inneren Klinikers, wie hier. Denn nirgends kann 
eine falsche oder leichtfertig gestellte Diagnose so leicht ver¬ 
hängnisvolle Folgen haben, nirgends sind so leicht Täuschungen 
Uber therapeutische Erfolge möglich, wie hier. Ich will, ohne 
Namen zu nennen, nur an die neuesten chirurgischen Bestre¬ 
bungen erinnern, schon in der vagen Diagnose: Dyspepsie, 
Gastritis, Magenatonie eine Berechtigung zu einer immerhin 
nicht ungefährlichen Operation zu finden. Dass solche Versuche 
die Kritik des inneren Mediciners geradezu herausfordern, ist 
begreiflich. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir auf diesem 
Gebiete nie den Zusammenhang mit der inneren Medicin ver¬ 
lieren dürfen, wollen wir nicht auf Abwege gerathen. 

Dieser Zusammenhang darf sich nun nicht auf das persön¬ 
liche Einvernehmen zwischen dem chirurgischen und internen 
Collegen beschränken. Es muss auch verlangt werden, dass der 
zu Rathe gezogene Chirurg auf diesem Gebiete zum mindesten 
kein Fremdling sei; nur so wird eine Verständigung zwischen 
beiden Theilen möglich sein, nur so wird der Chirurg die im 
Interesse des Kranken erforderliche Selbstständigkeit im Denken 
und Handeln erlangen. Denn diese ist hier ebenso nothwendig, 
wie auf allen Gebieten der Chirurgie. 

Man bedenke nur Folgendes. Die ganze Behandlung geht 
in dem Momente, als der Chirurg eingreift, in die Hände des¬ 
selben Uber, wenigstens für eine Reihe von Wochen. Nun ist 
es mit der Operation allein nicht gethan; nach derselben bedarf 
der Kranke einer mindestens ebenso sorgfältigen diätetischen 
Behandlung als vorher; dem Chirurgen müssen demnach auch die 
HUlfsmittel der inneren Medicin zu Gebote stehen, sonst kann 
der Operirte trotz vollendeter Technik zu Grunde gehen. Auch 
die ganze Diagnostik und nicht minder die Kenntniss der Patho¬ 
logie des Magengeschwürs ist dem Chirurgen unerlässlich, zumal 
wenn er seine operative Thätigkeit auch auf die schwierigen 
Fälle ausdehnt, in denen die Diagnose nicht durch gewisse Com- 
plicationen, wie Pylorusstenose, Blutung, Perforation, gesichert 
ist. Sehr häufig ist es die Aufgabe des Operateurs, nach Eröff¬ 
nung des Abdomens die Diagnose erst festzustellen, das ver- 


1) Vortrag, gehalten in der ersten Sitzung des diesjährigen Chir- 
urgencongresses am 21. April d. J. (Die ausführliche Arbeit über diesen 
Gegenstand erscheint demnächst in den Mittheilungen aus den Grenz¬ 
gebieten.) 


muthete Ulcus, die Ursache der Stenose erst aufzufinden; dann 
erst kann er den Operationsplan entwerfen und zur eigentlichen 
Operation schreiten. Ich werde noch später Gelegenheit haben, 
die Schwierigkeiten zu besprechen, denen der Operateur gerade 
in diagnostischer Hinsicht begegnen kann. 

M. H.! Herr v. Leube hat vorwiegend das noch offene, 
nicht complicirte Magengeschwür besprochen, also die Fälle, in 
welchen nicht durch eine bestehende Pylorusstenose oder durch 
Perforation eine klare Indication zur Operation gegeben ist. 
Der Gedanke, auch in diesen Fällen operativ vorzugehen, ist, 
wie es scheint, ziemlich gleichzeitig bei Medicinern und Chirur¬ 
gen lebendig geworden. Von Medicinern war, wenn ich nicht 
irre, Cahn 1 ) in Strassburg der erste, der ein nicht complicirtes 
Ulcus wegen hochgradiger gastralgischer und dyspeptischer Er¬ 
scheinungen Lücke zur Operation überwies. Der Fall wurde 
durch die Gastroenterostomie vollkommen geheilt. Dem Chirur¬ 
gen musste sich längst die Frage aufdrängen, ob es nicht mög¬ 
lich wäre, einer Krankheit, die so unheilvolle Folgezustände zu 
setzen im Stande ist, in einem gutartigeren, für den Operateur 
günstigeren Zeitpunkt beizukommen. Waren es doch bisher 
meist halb verhungerte, halb verblutete oder im Zustande des 
Shock und der acuten Sepsis befindliche Kranke, denen wir 
helfen sollten. Die Resultate waren mit Rücksicht darauf er¬ 
staunlich gute, wie Ihnen die vorliegenden Tabellen zeigen. 
Ohne Zweifel mussten sie viel besser werden, wenn der Kranke 
in einem günstigeren Moment dem Operateur überwiesen wurden. 
Von Chirurgen war meines Wissens Doyen der erste, der, von 
ähnlichen Gesichtspunkten wie Cahn ausgehend, ebenfalls bei 
einfachem Geschwür die Gastroenterostomie mit Erfolg ausführte. 
Bekanntlich stellt Doyen ziemlich vage Indicationen für die 
Gastroenterostomie auf, und zwar nicht allein beim Ulcus, son¬ 
dern auch bei den verschiedensten chronischen Magenaffectionen, 
als Dyspepsie, Gastritis u. a. Ich bin weit entfernt, ihm darin 
beizustimmen, aber wir müssen ihm das Verdienst zusprechen, 
durch seine Versuche für die ganze Frage neue Gesichtspunkte 
gewonnen zu haben. 


M. II.! Wenn wir die Frage erörtern, wieweit wir die 
chirurgische Behandlung des Magengeschwürs auf die nicht com- 
plicirten Fälle auszudehnen berechtigt sind, also auf jene Fälle, 
in welchen keine unmittelbare Lebensgefahr besteht, so müssen 
wir dies von einem zweifachen Gesichtspunkte aus thun, erstens 
vom Standpunkte der Lebensgefahr, zweitens vom Standpunkte 
des Nutzens, den wir, abgesehen vom Leben, dem Kranken ge¬ 
währen können. 

Der erste Gesichtspunkt muss vor Allem klargestellt sein, 
bevor wir den zweiten berücksichtigen. 

Wir müssen uns demnach die Fragen stellen: Welche Ge¬ 
fahr für das Leben involvirt das Magengeschwür als solches? 
Welcher Lebensgefahr setzen wir den Kranken durch die Ope¬ 
ration aus? 

Man sollte erwarten, dass auf die erste Frage die vorliegen¬ 
den Statistiken eine präcise Antwort geben. Leider ist dies 
nicht der Fall, denn wir finden vielfach nur approximative An¬ 
gaben, die auf Schätzungen oder der Verwerthung eines einsei¬ 
tigen Beobachtungsmaterials beruhen. Die Schwierigkeit liegt 
hier darin, dass das am häufigsten verwerthete Material aus der 
Praxis der Krankenhäuser stammt, in welchen vorwiegend die 


1) Ich verstehe unter Complicationen jene Consequenzen, die nicht 
zum regelrechten Symptomenbild des Ulcus gehören: Pylorusstenose resp. 
Sanduhrmagen, Verwachsungen mit der Nachbarschaft, namentlich der 
vorderen Bauchwand, profuse lebensgefährliche Blutung und Perforation. 
Die letzteren zwei bezeichne ich als schwere Complicationen. 


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I.tant 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


4S9 


schweren Fälle von Ulcus Hlllfe suchen. Auf der anderen Seite 
ist aber auch das die leichteren Fälle mitumfassende Beobach¬ 
tungsmaterial der Haus- und Privatpraxis nicht einwandsfrei, 
weil in vielen geheilten Fällen leichter Art die Diagnose Ulcus 
angezweifelt werden kann. Ueberdies schwankt sowohl die 
Morbiditäts-, als auch die relative Mortalitätszifter in verschie¬ 
denen Gegenden so sehr, dass man locale Einflüsse, vielleicht 
auch die Ernährungsverhältnisse der Bevölkerung für die Diffe¬ 
renzen verantwortlich machen muss. So schwankt die Morbidität 
an Ulcus in den verschiedenen Länderstrichen zwischen 1,23 und 
13 pCt. 1 ) 

Herr v. Leube hat uns bereits einige Mortalitätsziffern vor- 
gefUhrt. Da die Sache aber für uns von grösster Wichtigkeit 
ist, so gestatten Sie mir, diese Zahlen in sofern zu vervollstän¬ 
digen, als ich alle Angaben, die ich darüber vorfinden konnte, 
anfUhre. 

Allgemein findet man die Angabe, dass sich bei Sectionen 
2—3 mal häufiger Narben als frische Ulcera im Magen finden. 
Da ein Theil der frischen Geschwüre (bei zufälligen Befunden) 
sicher auch spontan geheilt wäre, so müsste man darnach 
schliessen, dass mindesten */* a ^ er Geschwüre spontan heilten. 
Das bezieht sich aber nur auf die Heilung im anatomischen 
Sinne, denn es ist nicht angegeben, wie oft dabei die Narben 
in Folge von Pylorusstenose zum Inanitionstod geführt haben, 
auch nicht wie viele der Obducirten an Phthise gestorben waren, 
auf deren Verlauf das Ulcus einen höchst ungünstigen Einfluss 
übt; endlich ist dabei auch nicht berücksichtigt, wie oft Carci- 
nome aus Ulcusnarben entstehen. 

C. Gerhardt 2 ) giebt an, dass in 3—5 pCt. der Ulcusfälle 
der Tod durch Verblutung eintrete, in 13 pCt. Perforation, in 
10 pCt. Pylorusstenose. Nehmen wir die letzteren Fälle auch 
als verloren an, so gäbe das eine Gesammtmortalität von 2G bis 
28 pCt. 

Nach der bekannten Statistik von Welch tritt in 85 pCt. 
der Fälle Heilung ein, nur 15 pCt. sterben, und zwar (5,5 pCt. 
an Perforation, 3—5 pCt. an Verblutung, 4—5 pCt. an Pylo- 
phlebitis und anderen Complicationen. 

Nach Harbersohn 3 ) (St. Barthol.-IIospit.) tritt in 18 pCt. 
sämmtlicher Fälle Perforationsperitonitis ein. 

L. Müller fand bei 120 Fällen von Ulcus 35mal Blutungen, 
von welchen 14 letal endigten. 

Steiner beobachtete bei 110 Fällen 7 tödtliche Blutungen 4 ). 

Hauser*) giebt an, dass in 5—6 pCt. der Fälle das Ulcus 
resp. die Narbe in Carcinom übergeht. 

Am ungünstigsten lautet die Statistik von Debovc und 
Remond*). Diese Autoren finden auf 100 Fälle von Ulcus: 


Vollständige Heilungen . . 50 

Perforationsperitonitis . . . 13 

Verblutung.5 

Inanition.5 

Tod an Tuberculose ... 20 
Andere Complicationen . . 7 


Das gäbe eine Mortalität von 50 pCt.! 


1) Vergl. Ewald, Klinik der Verdauungskrankheiten. 3. Auflage. 
Berlin 1893. S. 303. 

2) Ueber Zeichen und Behandlung des einfachen chronischen Magen¬ 
geschwürs. Deutsche med. Wochenschrift 1888, 8. 349. 

3) Citirt bei Boas, Diagnostik und Therapie der Magenkrankheiten, 
1896, III. Aufl., S. 52. 

4) Citirt nach Leube, Ziemssen’s Handbuch 7, II, S. 113. 

5) Das runde Magengeschwür, Leipzig 1883 (citirt nach Boas). 

6) Maladies de l’estomac, Paris 1894 (citirt nach Einhorn. Di¬ 
seases of the stomach. Twentieth Century Practice. New York 1896, 
VIII, 232.) 


Wir sehen also, dass die Angaben ausserordentlich differiren. 
Die ungünstigste Statistik giebt 50 pCt., die günstigste 15 pCt. 
Sterblichkeit. Bei der letzteren (Welch) sind aber zweifellos 
manche Complicationen, so z. B. Uebergang in Carcinom, gar 
nicht mitgerechnet. Wenn wir das berücksichtigen und sonst 
das Mittel zwischen den höchsten und niedrigsten Werthen neh¬ 
men, dürfen wir annehmen, dass die Gesammtmortalität beim 
Ulcus — alle Complicationen mit eingerechnet — 25—30 pCt. 
beträgt, gewiss ein so hoher Procentsatz, dass er allein schon 
die Bestrebungen der Chirurgen rechtfertigt, noch vor Eintritt 
der verhängnissvollen Complicationen dem Ulcus beizukommen. 


Nun haben wir eben gehört, wie ausserordentlich günstige 
Resultate Herr v. Leube durch seine Behandlungsmethode er¬ 
zielt hat. Es ist nicht unsere Sache die von Herrn v. Leube 
angeführten Zahlen einer Kritik zu unterziehen. Man könnte ja, 
was Herr v. Leube auch selbst zugiebt, einwenden, dass in 
einem Theil der ohne Magenblutung beobachteten Fälle gar kein 
Ulcus Vorgelegen habe, wodurch die Statistik in günstigem Sinne 
beeinflusst würde; man könnte auch die Frage aufwerfen, ob in 
den geheilten und namentlich den gebesserten Fällen durch 
mehrjährige Beobachtung das Ausbleiben von fatalen Complica¬ 
tionen sicher constatirt worden ist. Denn das Ulcus ist bekannt¬ 
lich ein Leiden, das leicht recidivirt. Aber trotz dieser Ein¬ 
wände sind die von Herrn v. Leube angeführten Resultate so 
günstig, dass man eingestehen muss, dass die früher angeführten 
hohen Mortalitätsziffern in der Praxis durch eine sachgemässe 
Behandlung ausserordentlich herabgedrückt werden. Man könnte 
daraus schliessen, dass es unter diesen Umständen beim nicht 
complicirten Ulcus überhaupt nicht der Einmischung der Chirurgie 
bedarf. Dem ist aber nicht so. Wir dürfen eben nicht 
vergessen, dass die chirurgische Behandlung unter 
allen Umständen erst dann in Frage kommt, wenn die 
interne Therapie versagt. Ob bei der letzteren 9(5 pCt. 
geheilt und gebessert werden, wie bei Herrn v. Leube, oder 
weniger, ist für unsere Frage gleichgültig; der ungeheilte Rest 
der Kranken schwebt jedenfalls in uicht geringer Lebensgefahr 
und der Chirurg ist berechtigt hier einzugreifen, falls die Ope¬ 
ration nicht noch gefährlicher ist, als das Leiden selbst. 

Welcher Lebensgefahr setzen wir den Ulcuskranken durch 
die Operation aus? 

Auch auf diese Frage können wir heute keine präcise Ant¬ 
wort geben, denn zu spärlich ist noch die Zahl der Fälle, in 
welchen nicht complicirte Magengeschwüre einer Operation unter¬ 
zogen wurden. Wir können indessen einen recht verlässlichen 
Maassstab gewinnen, wenn wir alle bisher beim Magengeschwür 
und seinen gutartigen Complicationen, Stenose und Verwachsung, 
ausgeführten Operationen zusammenstellen. Wir können dabei 
wenigstens nicht Gefahr laufen, zu einem allzu optimistischen 
Urtheil für die Zukunft zu kommen; denn die Resultate beim 
einfachen Ulcus können nicht schlechter, sondern nur besser 
werden, als bei den bisher fast ausschliesslich operirten schwie¬ 
rigen Fällen. 

Ich habe mich bemüht, mit Hülfe der Herren DDr. Dreh¬ 
mann und Chlumski, aus der uns zugänglichen Literatur die 
Erfolge der bisher beim Ulcus und der narbigen Pylorusstenose 
ausgeführten Magenoperationen zusammenzustellen. Die Zusam¬ 
menstellung ist gewiss keine vollständige; einzelne Fälle, na¬ 
mentlich aus der fremdländischen Literatur mögen uns entgangen 
sein. Auch sind Fälle, die nur gelegentlich von Discussionen 
ohne genauere Beschreibung erwähnt wurden, nicht mit aufge¬ 
nommen. Immerhin sind die Zahlen schon so gross, dass sie 
uns ein Urtheil Uber die vitale Prognose der drei hauptsächlich 

2 


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400 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 23. 


Tabelle I. 

Erfolge der bisher ausgeführten Operationen bei gutartiger Pylorusstenose und Ulcus ventricull ohne schwere Complication. 

A. Die Kliniken Billroth, Czerny, Mikulicz. 


Operateur 

Bis Ende 1890 

1891 bis October 1896 

October 1896 bis März 1897 

Zusammen 

i 

N 

q 

< 

‘5 

ja 

V 

O 

Gestorben 

Mortalität 

Anzahl 

Geheilt 

Gestorben 

Mortalität 

-/. 

1 

N 

< 

*2 

’S 

M 

Gestorben 

1 

b~ 

o 

S 

Anzahl 

Geheilt 

Gestorben 

Mortalität 

*/• 

Billroth (v. Hacker) . . 

15 

6 

9 

60,0 

5 

4 

1 


— 

— 

— 

— 

20 


10 

50,0 

Czerny . 

7 

4 

3 

42,8 

12 


2 

16,7 

— 

— 

— 

— 

19 

14 

5 

26,3 

Mikulicz. 

5 

4 


20,0 

21 

17 

4 

19,0 

10 




86 

81 

5 

13,9 

Zusammen. 

27 

14 


48,1 

38 

81 

7 

18,8 




0 

75 

55 

20 

26,7 


B. Gesammtstatistik. 



Bis Ende 1886 

1887 bis 

Ende 1890 

1891 bis 

Ende 1894 

1895 bis Anfang 1897 


Zusammen 


Operateur 

Anzahl 

Geheilt 

Gestorben 

Mortalität 

% 

Anzahl 

Geheilt 

Gestorben 

2 

73 => 

r=~ 

o 

Sfl 

d 

M 

e 

< 

Geheilt 

e 

3 

| 

Jg 

o 

Mortalität 

01 

Io 

Anzahl 

1 | 

V 

o 

Gestorben 

** 

g 

73-_o 

i 7^ ° 
o 

1 S 


| 

Gestorben 

■ 

Billroth (von Hacker), 
Czerny, Mikulicz. 

8 1 

3 

5 

62,5 

19 ' 

11 

8 

12,1 

18 

14 

4 

22,2 

30 

27 

8 | 

10,0 

75 

55 1 

20 

26,7 

Andere Operateure. 

15 | 

10 | 

5 

33,3 

31 

23 

8 

34,8 

87 

71 

16 

18,4 

30 | 

27 

3 

10,0 

163 

131 , 

32 

19,6 

Zusammen. 

23 

13 

10 

43,3 

50 ' 

34 

16 

32,0 

105 

85 j 

20 | 

19,0 

60 1 

54 J 

6 

10,0 

238 

186 

52 

21,8 


in Frage kommenden Operationen: der Magenresection, der 
Gastroenterostomie und der Pyloroplastik gestatten. 

Wenn ich 3G Fälle aus meiner eigenen Beobachtung hinzu¬ 
rechne, so sind es im Ganzen 238 Operationen, Uber deren 
unmittelbaren Erfolge die vorliegenden Tabellen Aufschluss geben. 
Dieselben enthalten: 1. Die wenigen bisher operirten Fälle von 
offenen GeschwUren, die in keiner Weise, also auch nicht durch 
Pylorusstenose complicirt waren. Ihre Zahl dürfte kaum zwei 
Dutzend betragen. 2. Die durch offene oder vernarbte Ge¬ 
schwüre erzeugten Pylorus- und Magenstenosen (Sanduhrmagen). 
3. Die Fälle von Verwachsung des GeschwUrsgrundes mit der 
vorderen Bauchwand und deren Nachbarschaft — meist mit par¬ 
tieller Resection des Magens behandelt. 4. Fälle von Verätzungs- 
strictur des Pylorus. Die Fälle der letzten Categorie sind mit 
aufgenommen, weil nach den Angaben der Literatur nicht immer 
eine strenge Scheidung derselben von den sub 2 angeführten 
möglich ist; sie stehen den Ulcusstenosen in Bezug auf Indica- 
tion, Technik und Prognose des Eingriffs so nahe, dass wir sie, 
ohne einen groben Fehler zu begehen, in unsere Statistik mit 
einbeziehen dürfen. 

Aus dem gesammten Beobachtungsmaterial habe ich ausser¬ 
dem die Operationsserien der Billroth’schen 1 ), Czerny’schen 
und meiner Klinik herausgehoben und gesondert zusammen¬ 
gestellt. Es sind das diejenigen Kliniken, in welchen bisher 
weitaus am meisten Operationen wegen l’lcus gemacht worden 
sind; ungefähr ein Drittel sämmtlicher Fälle gehört ihnen an. 
Die Statistik dreier Kliniken, in denen ähnliche Grundsätze in 
Bezug auf Indicationsstellung und Technik gelten, ist belehrender 
und sicher auch verlässlicher, als eine Samraelstatistik, bei der 
der Zufall allzu viel mitspielt. Die Freude am Erfolg und an¬ 
dere Motive veranlassen manchen Operateur einzelne Erfolge 


1) Es sind auch noch 6 Gastroenterostomien mit aufgenommen, die 
v. Hacker nach seinem Austritt aus der Billroth'schen Klinik im 
Wiener Sophienspital operirt und im letzten Bericht über die Billroth* 
sehen Fälle mit veröffentlicht bat. 


oder kleine Serien glücklich verlaufener Fälle zu veröffentlichen. 
So kommt es, dass eine aus der Literatur zusammengestellte 
Statistik hier ebenso wie bei den meisten anderen neuen und 
interessanten Operationen ein viel günstigeres Verhältniss ergiebt, 
als cs der Wirklichkeit entspricht’). Es kann nicht oft genug 
darauf hingewiesen werden, dass derlei Statistiken nicht als 
Maassstab benutzt werden dürfen, um die Gefährlichkeit einer 
Operation, sowie ihren therapeutischen Werth zu beurtheilen. 

Die Gesammtstatistik einer einzigen Klinik giebt uns die 
ungeschminkte Wahrheit; sie führt uns auch die ersten, oft 
fehlerhaften Versuche vor, und lässt uns am besten erkennen, 
was wir durch Erfahrung und Verbesserung der Technik im 
Laufe der Jahre gelernt haben. Wie trügerisch dagegen die 
aus zerstreuten Mittheilungen zusammengestellte Statistik ist, 
zeigt uns schon ein Blick auf die Tabellen. Die Operationen 
dieser Categorie ergeben für alle Zeitperioden bis auf die letzte 
eine erheblich geringere Mortalität, als die Fälle der 3 Kliniken! 
lind doch sollte man annehmen, dass hier, wo grössere Erfah¬ 
rung und Hebung vorhanden war, auch die Gesammterfolge 
bessere waren 2 ). 

M. II.! Aus den Tabellen I und II entnehmen wir vor 
Allem die erfreuliche Thatsache, dass sich die unmittelbaren 
Erfolge der Operationen in den letzten Jahren derart gebessert 


1) Ich bemerke ausdrücklich, dass auch von anderen Chirurgen, so 
von Krönlein, Lauenstein, die Gesammtstatistik ihrer Magenopera¬ 
tionen veröffentlicht worden ist. Die Zahl ihrer Ulcusfälle ist aber so 
gering, dass die Berücksichtigung in einer besonderen Rubrik hier keine 
Belehrung bieten würde. 

2) Eine weitere Illustration der Unzuverlässigkeit der Literatur¬ 
statistiken geben folgende Zahlen: Die Summe aller auf das Jahr 1894 
entfallenden pnblicirten Ulcusoperationen beträgt incl. Czerny und Mi¬ 
kulicz für das Jahr 1894 86 mit nur 6 Todesfällen. Nach der Statistik 
der Heilanstalten Preussens wurden aber in diesem Jahre in den ge¬ 
nannten Anstalten allein 80 Ulcusoperationen mit 9 Todesfällen ausge¬ 
führt. (Vergl. die Statistik von G. Heinemann, Arch. f. klin. Chir., 
Bd. 54, S. 251.) 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


'401 


haben, dft88 sich die Mortalität in der jüngsten Zeit bis auf 
10 pCt. vermindert hat 1 ). Dies gilt sowohl fUr die Gesammtheit 
der Operationen, als auch für jede einzelne derselben, wenn wir 
die geschlossene Statistik der drei Kliniken als maassgebend 
ansehen. 


Tabelle II. 

Statistik der einzelnen Operationen bei gutartiger Pylorusstenose und 
Ulcus ventriculi ohne schwere Complication. 


Operation 

Bis Ende 1890 

1891 bis Anfang 1897 

Zusammen 

2 

3 

a 

< 

Geheilt 

Gestorben 

Mortalität 

7 . 

Anzahl 

Geheilt 

Gestorben 

Mortalität 

7 . 

et 

N 

H 

< 

Geheilt 

Gestorben 

Mortalität 

7 . 

Resection . . 

28 

17 

11 

39,3 

18 

13 

5 

27,8 

46 

30 

16 

34,8 

Gastroentero- 













atomie . . . 

23 

13 

10 

43,5 

68 

57 

11 

16,2 

91 

70 

21 

23,6 

Pyloroplastik 

21 

IG 

5 

23,8 

76 

66 

10 

13,2 

97 

82 

15 

15,6 

(-f- Gastro- 













plastik) 






(52 f14) 







Zusammen 

72 

47 

26 

36,1 

162 

136 

26 

16,1 

234 

182 

52 

22,2 


Die Mortalität fUr die einzelnen Operationen beträgt nach 


der Gesammtstatistik seit 1891 ftlr 

die Resection. 27,8 pCt. 

„ Gastroenterostomie 16,2 „ 

„ Pyloroplastik ... 13,2 „ 

Zusammen 16,1 pCt. 

Interessant ist es zu verfolgen, wie sich das Häufigkeits- 


verhältnig8 der einzelnen Operationen mit der Zeit verschoben 
hat. Während in der ersten Periode die Resectionen den ersten, 
die Pyloroplastiken den letzten Platz einnehmen, kehrt sich das 
Verhältniss in der zweiten Periode um. Die Gastroenterostomien 
blieben immer in der Mitte. 

Es wurden ausgefUhrt 

vor 1891: nach 1890: 
Resectionen .... 28 18 

Gastroenterostomien 23 68 

Pyloroplastiken... 21 76 

Es wird die schwierigere und gefährlichere Resection 2 ) bei 
Ulcus immer seltener ausgefUhrt, während die leichtere und un¬ 
gefährlichere Pyloroplastik immer mehr an Boden gewinnt. Es 
wäre jedoch irrig anzunehmen, dass die Resection beim Ulcus 
mit der Zeit vollständig verschwinden und dass die Pyloroplastik 
die anderen Operationen ganz verdrängen wird. Jede der drei 
Operationen hat ihre Indicationen. Wir haben durch die 
Erfahrung gelernt, die Indications fUr jede derselben immer 
präciser zu stellen, d. i. diejenige zu wählen, welche ftlr den 
betreffenden Fall die ungefährlichere und zweckmässigere ist. 
Dadurch v<.r Allem ist die Verbesserung unserer Erfolge erreicht 
worden. Daneben spielt natürlich die Vervollkommnung der 
Technik im Allgemeinen, so wie beim einzelnen Operateur eine 
grosse Rolle. Immer seltener werden die Fälle, in denen tech¬ 
nische Fehler den unglücklichen Ausgang einer Operation ver¬ 
schulden. Dafür treten desto mehr jene Todesursachen in den 
Vordergrund, für welche nicht die Operation, sondern der 

1) Anmerkung während der Correctur. Die letzten 18 wegen Ulcus 
und anderer gutartiger Magenaffectionen von mir operirten Fälle sind 
sämmtlich genesen. 

2) Die circuläre Pylorusresection ist bekanntlich diejenige Operation, 
welche überhaupt zum ersten Mal beim Ulcus ausgefUhrt wurde, und 
zwar von Rydygier im Jahre 1881. 


schlechte Allgemeinzustand des Kranken oder sonstige schwere 
Complicationen verantwortlich gemacht werden müssen. Unter 
den 7 Todesfällen der Statistik Billroth, Czerny, Mikulicz 
aus der Periode seit 1891 sind 4 sicher auf derartige Ursachen 
zurUckzuführen (2 mal Inanition und Marasmus, 1 mal Pneumonie 
und Herzschwäche, lmal Verblutung aus einem zweiten neben 
dem stenosirten Pylorus liegenden Ulcus resp. einem Ast der 
Art. coeliaca). 

(Fortsetzung folgt.) 


II. Aus dem Institut für Hygiene und Bacteriologie der 
Universität Strassburg i. E. (Prof. Dr. J. Förster). 

Beiträge zur Lehre der Agglutination. 

Von 

Prof. Dr. E. Levy und Dr. med. Hajo Bruns, Assistenten des Instituts. 

Im Beginn des Jahres 1896 machte Gruber (1) in Gemein¬ 
schaft mit H. E. Durham (2) in eingehenderWeise auf die Er¬ 
scheinung der Agglutination aufmerksam. Die beiden zeigten, 
dass das Blutserum von Typhus-, Cholera- oder Coli-immunen 
Meerschweinchen, selbst in ganz geringer Menge Typhus-, 
Cholera- oder Colibouillon hinzugesetzt, die betreffenden Mikro¬ 
organismen in ganz eigenthümlicher Weise beeinflusste. Die Bac- 
terien verlieren ihre Beweglichkeit, ballen sich zu Häufchen zu¬ 
sammen, sinken zu Boden, während die darüberstehende Flüssig- 
keitssäule vollständig klar wird. Auch mikroskopisch kann die 
Erscheinung beobachtet werden. Diese Wirkung wird nach 
Gruber und Durham durch Antikörper hervorgerufen, welche 
die Hülle der Bacterienleiber zum Verquellen bringen. Die 
Immunisirung der Thiere geschah durch Bacterien, die durch 
Chloroform oder Erhitzen auf 60° abgetödtet waren. Diese Anti¬ 
körper sollen „sichere Abkömmlinge der Leibesbestandtheile der 
Bacterien (specifische Proteine) darstellen. Sie werden jedoch 
erst im immunisirten Thier durch Umwandlung (Verbindung mit 
den Bestandteilen des inficirten Organismus) erzeugt.“ 

Ungefähr zu gleicher Zeit machten R. Pfeiffer und 
Kolle (3) und Vagedes (4) auf dasselbe Phänomen auf¬ 
merksam, das übrigens schon vorher von C harr in und 
Roger (5), Metschnikoff (6), Jvanoff und Issaeff (7), 
Washbourn (8), Bordet (9) gesehen, aber nicht genügend ge¬ 
würdigt war. 

Gruber stellte nun auf Grund seiner Beobachtung eine 
neue Theorie der activen sowohl, wie der passiven Immunität 
auf, die darin gipfelte, dass die Agglutinine durch das Verquellen 
der Bacterienmembranen „das Bacterienprotoplasma den Alexinen 
Buchner’s zugänglich machen, wodurch der Tod der Bacterien 
herbeigeführt wird.“ 

Gegen diese Gruber’sche Hypothese wandte sich jedoch 
Pfeiffer im Verein mit seinem Schüler Kolle (10). Sie fanden, 
dass das Blutserum von Menschen, die mit subcutanen Injectionen 
von lebenden und abgetödteten Choleravibrionen in Dosen von 
Vi,—Vj Agarcultur behandelt waren, fünf Monate später keine 
stärkere Agglutination darbietet, als sie normales Menschenblut- 
serum besitzt. Dagegen zeigte dasselbe Serum bei Anstellung 
der Pfeiffer’schen Reaction noch eine ziemlich hohe bacterien- 
auflösende Kraft. Sein Titer betrug 0,01—0,02. Wenn man 
also von diesem Serum 0,01—0,02 ccm einem Cubikcentimeter 
Bouillon, in welches das zehnfache Multiplum der minimalen 
lethalen Dosis lebender Choleravibrionen vertheilt war, hinzu- 
fügte und das Gemisch einem Meerschweinchen in die Bauch¬ 
höhle injicirte, so tritt die Pfeiffer’sehe Reaction in typischer 

2 * 


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492 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Weise auf. In den Proben, die man von Zeit zu Zeit vermittelst 
Glascapillaren aus dem sich bildenden Exsudat der Peritoneal¬ 
höhle entnimmt, sieht man die Vibrionen zunächst unbeweglich 
werden, dann aufquellen und schliesslich in Kügelchen zerfallen. 
Auf Grund dieser und anderer Experimente, auf die einzugehen 
uns hier zu weit führen würde, kommen Pfeiffer und Kolle 
zu dem Schluss, dass die im Serum der gegen Cholera immuni- 
sirten Thiere und Menschen vorhandenen Schutzstoffe, die im 
Thierexperiment das Phänomen der Bacterienauflösung hervor- 
rufen, verschieden sein müssen von denjenigen im Choleraimmun¬ 
serum gleichfalls vorhandenen Körpern, welche im Reagensglas 
die Agglutination herbeiführen. Sie schlagen vor, die Grub er¬ 
sehen Körper, die zur Entwickelungshcmmung und Häufchen¬ 
bildung führen, als specifische Paralysine zu bezeichnen. 

Weiter kommen nach Bordet (10), einem Schüler Metsch- 
nikoff’s Fälle vor, in welchen trotz der Agglutination keine 
Immunität vorhanden, und auf der anderen Seite hinwie¬ 
derum Fälle, die Immunität darbieten, trotzdem die Aggluti¬ 
nation fehlt. 

R. Pfeiffer und später auch Bordet wandten sich auch 
gegen die Behauptung Gruber’s, dass das Zusammenkleben der 
Bacterien durch das Quellen ihrer Hüllen zu Stande käme. Sie 
hoben hervor, dass die Färbung der agglutinirten Bacterien 
selbst nach der Löf fl er’sehen Geisseltinktionsmethode absolut 
normale Verhältnisse erkennen lasse, dass im reinen und wenig 
verdünnten Serum zwar Formveränderungen auftreten, die aber 
lediglich als Verkümmerungsphänomen zu deuten seien. Doch 
scheint eine neue Arbeit von Roger (12) diese Frage wieder 
mehr zu Gunsten von Grub er zu entscheiden. Roger 
immunisirte Meerschweinchen gegen Oidium albicans, züchtete 
in deren Serum den Pilz wieder und fand, dass die einzelnen 
Zellen eine starke Verquellung der mehrschichtigen Membran 
darboten. 

Wir haben gleichfalls hier ira Institute für Hygiene und 
Bacteriologie uns mit der Frage der Agglutination beschäftigt 
und gesehen, dass das Phänomen, wie es Gruber, Durham, 
Pfeiffer und seine Schüler angegeben haben, sehr leicht und 
bequem zu constatiren ist. Auch wir kamen bald zu der Ueber- 
zeugung, dass bei der Agglutination, genau wie bei der 
Pfeiffer’schen Rcaction quantitative Verhältnisse obwalten, dass 
die Reaction nur dann als eine specifische angenommen und zu 
diagnostischen Zwecken verwerthet werden dürfe, wenn das Ver- 
hältnisB von Serum zu Bouillon weniger als 1 : 25 beträgt, am 
besten 1 : 50 und darüber. Ausser bei Cholera, Typhus, Coli und 
Pyocyaneus, bei welchen das Agglutinationsphänomen ja schon 
von den verschiedensten Autoren wiederholt nachgewiesen wurde, 
konnten wir zeigen, dass auch für Proteus genau dieselbe Reaction 
erzielt werden kann. Proteus gehört ja gleichfalls zu den giftbil¬ 
denden, beweglichen Bacterien, allerdings nicht zu denen, die ohne 
Weiteres im lebenden Organismus fortkommen können. Aber auf 
todten Nährsubstraten erzeugt der Proteus unter Umständen ausser¬ 
ordentlich stark wirkende Gifte, und so lag es verhältnissmässig 
nahe, die Agglutination auch bei diesem Bacterium zu prüfen. 
Es wurden Thiere gegen Proteus immunisirt, durch Einführung 
von Material aus hoch virulenten Proteus-Agarculturen, das 2 und 
3 Minuten auf 56° erhitzt worden war. Nach unseren Erfah¬ 
rungen genügt diese kurze Einwirkungszeit, um diese Bacterien 
abzutödten. Die Thiere (gewöhnlich handelte es sich um Ka¬ 
ninchen) bekamen zunächst 1 Oese subcutan; nachdem sie sich 
wieder vollständig erholt und ihr ursprüngliches Körpergewicht 
erreicht hatten, 2 Oesen und schliesslich bis zu 4 Oesen. Fünf 
Tage nach der letzten Einspritzung wurde Blut entnommen, und 
das Serum auf seine agglutinirende Wirkung geprüft. Das 
Gruber’sche Phänomen war recht deutlich bis auf Verdünnungen 


No. 23. 


von 1 : 50 herunter, in Andeutung auch bei 1 : 100 wahrnehmbar 
und nicht nur makroskopisch, sondern auch mikroskopisch er¬ 
kennbar. 

Verschiedene Beobachtungen nun, die wir früher und auch 
jetzt gerade an dem Studium des Proteus gemacht hatten, 
brachten uns auf den Gedanken, einmal nachzusehen, wie sich 
die Agglutinationsphänomene bei Thieren verhielten, die statt 
mit den Leibessubstanzen der Bacterien mit ihren löslichen 
Stoffwechselprodukten vorbehandelt waren. Ein solches Beginnen 
schien allerdings von vornherein aussichtslos; sagt doch Gruber, 
der Entdecker der Agglutinine, dass dieselben zweifellos aus 
den Leibesbestandtheilen der Mikroorganismen gebildet wUrden. 
Wir legten uns zu dem Zweck Bouillonculturen von virulenten 
Typhus-, Proteus-, Pyocyaneusbacillen und Choleravibrionen an, 
verbrachten dieselben auf 18 bis höchstens 24 Stunden in den 
Brutofen und filtrirten dann durch Chamberland. Die Filtration 
wurde auf das Sorgfältigste überwacht und controlirt; wir be¬ 
tonen hier ausdrücklich, dass es sehr häufig auch bei anschei¬ 
nend gut arbeitenden und angeblich geprüften Filtern und bei 
vollständiger Klarheit des Filtrats vorkommt, dass minimale 
Mengen von Bacterien durch das Filter durchgepresst werden. 
Die Filtration darf nur in kühlem Raume vor sich gehen, da 
sonst bei höherer Aussentemperatur Mikroorganismen von kurzer 
Generationsdauer in verhältnissmässig kurzer Zeit durchzuwachsen 
vermögen. Wir theilten das Filtrat in zwei Portionen; von der 
einen wurde eingespritzt, und die andere stellten w r ir bei 37 • 
für 48 Stunden in den Brutofen; es wurden dann noch mit 
grossen Mengen derselben Platten gegossen. Auch das ursprüng¬ 
liche Filtrat wurde, bevor es in den Brutofen gestellt wurde, 
durch Gelatineplatten auf seine Keimfreiheit geprüft. Bei Cholera 
wurden ausserdem noch zwei Anreicherungsculturen mit je 5 ccm 
des ursprünglichen Filtrats in etwa 100 ccm 1 proc. Peptonkoch^ 
Salzlösung angefertigt. Unsere Versuche erstrecken sich auf 
Uber 50 Kaninchen. Wir injicirten immer intravenös und zwar 
zunächst grosse Dosen von 5 ccm des keimfreien Filtrats. Fünf 
Tage später wurde den Thieren Blut aus der Carotis entnommen, 
das letztere im schräggelegten Reagensglas erstarren gelassen, 
und wenn sich nach G bis 10 Stunden das Serum abgesetzt 
hatte, dasselbe auf seine Agglutinationsfähigkeit geprüft. Da 
stellte sich denn zu unserer grossen Ueberraschung heraus, dass 
das Blutserum der mit keimfreien Filtraten von Typhus, Cholera, 
Proteus und Pyocyaneus behandelten Kaninchen das Gruber- 
sclic Phänomen in deutlichster Weise auch bei starken Verdün¬ 
nungen auslöste. Wir citiren der Einfachheit halber nur folgende 
Thierprotocolle: 


Verdünnung v. 1 :100 

1 :50 1 

:33V, 

1:25 1 

l : 16*/, 

1 : 12 

Typhus Kaninch. I + 

+ 

+ 

+ 

+ 

+ 

* * II + 

+ 

+ 

+ 

+ 

+ 

Cholera „ I + 

+ 

+ 

+ 

+ 

+ 

„ „ II + 

+ 

+ 

+ 

+ 

+ 


i, Control- 
'* röhrchen 

deutl. Entw. 
ohne Agglnt. 


TI ff 

W ff 


Bis zu Verdünnungen von 1 : 100 erwies sich also makro¬ 
skopisch das Serum als wirksam. Mikroskopisch bekamen wir 
das Agglutinationsphänomen bis zu 1 : 125. Ob stärkere Ver¬ 
dünnungen noch wirksam sind, haben wir nicht untersucht 

Weitere Fragen, die sich uns aufdrängten, waren die, zu 
entscheiden, in welchen Mengen das Filtrat noch wirksam sich 
zeigte, und wie viel Tage nach der Injection die Gruber’sche 
Reaction auftrat. 

a) Ueber den ersten Punkt giebt folgende Tabelle Auf¬ 
schluss. 

Es bekamen von Typhusfiltrat injicirt und wurden nach 
5 Tagen geprüft: 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


T.Jut»’ 1 1897. 


Verdünnung von 1 : 100 1:50 1 : 33 '/ 3 1:25 1 : 12'/, 


Control- 

röhrchen 


2 Thiere je 5 ccm 
Thier I 

» II 

1 Thier 4 ccm 

2 Thiere je 3 ccm 

Thier I 
„ II 

1 Thier 2 ccm 

2 Thiere je 1 ccm 

Thier I 

» II 


4- + 

4- 

4- 

deutl. Entw. 

4- + 

+ 

4- 

ohne Agglut. 

+ + 

+ 

4- 

n n 

+ + 

+ + 

-i. 

+ 

4- 

r r 

V T» 

1 I 

4- 

+ 

* 

Andeut. + 

4 . 

4- 

V V 

+ 

4- 

4- 

„ „ 


Wir brauchten also verhältnissmässig geringe Filtratmengen, 
um die Gruber’sche Reaction auszulösen; mit 3 ccm war es 
noch positiv bei Verdiinnungen von 1 : 100, bei 2 ccm 1 : 50, 
selbst mit 1 ccm war wenigstens in einem Fall bei Verdiinnung 
1 : 50 noch Andeutung vorhanden. 

b) Durch den Befund Widal’s (13), dass das Blutserum 
von Typhuskranken das Gruber’sche Phänomen darbot, hatte 
die Meinung eine Zeit lang Platz gegriffen, dass diese Reaction 
eine Infections- und keine Immunitätsreaction darstelle. Widal 
selbst hat allerdings diese seine erste Ansicht jetzt dahin modi- 
ficirt, dass es sich doch um eine „Vertheidigungsreactiou des 
Organismus“ handle, stimmt also in der Hauptsache wieder 
Gruber bei. Gruber (14) selbst liess durch seinen Schiller 
Grlinbaum zeigen, dass sogar dann, wenn man den Thieren 
„verhältnissmässig ungeheure Culturmassen“ eingespritzt hatte, 
mehrere Tage vergingen, bis das Serum die Reaction hervor¬ 
treten liess, dass also mit dem Moment der Infection die speci- 
fische Blutveränderung noch nicht gegeben war. Bevor uns die 
eben citirte Arbeit Gruber's, die ja erst in diesen Tagen er¬ 
schienen ist, zu Gesicht kam, haben auch wir uns mit dieser 
Frage beschäftigt, und nachgesehen, nach wie viel Tagen die Reac¬ 
tion bei Einführung von Filtraten eintritt. Vorhergehende Versuche 
hatten uns dargethan, dass bei Anwendung von abgetödteten 
Bacterienleibern die Agglutination am fünften Tage stets zu con- 
statiren ist. Es war aber immerhin ja möglich, dass bei Heran¬ 
ziehung von Filtraten (löslichen Stoffwechselproducten) dies Ver¬ 
hältnis sich änderte, die Zeit sich verkürzte. Das ist jedoch, 
wie folgender Versuch zeigt, in erheblichem Maase nicht der 
Fall. 

Es wurden wieder 5 Thiere mit 5 ccm Typhusfiltrat intra¬ 
venös geimpft; es zeigten: 


Verdünnung 1:100 1:50 1: 83'/ 3 1:25 1: 12'/, Röhrchen 

Kaninch. 1 nach 1 Tag.— — — — — deutl. Wachsth. 

ohne Agglut. 


II n 

2 


— 

— 

— 

? 

V 


III „ 

3‘ 

/2 t, + 

+ 

+ 

+ 

+ 

r) 


IV „ 

4 

„ And. 

4- 

+ 

+ 

+ 

„ 

„ 

V „ 

5 

n + 

+ 

4- 

+ 

+ 

* 

* 


Kaninchen II, das nach 2 Tagen ein vollständig nega- 
tives'Resultat dargeboten hatte, wurde nach 4'/, 'ragen noch 
einmal auf die Agglutinationsfähigkeit seines Serums untersucht, 
und wir bekamen jetzt ein positives Resultat bis zur Verdünnung 
1 : 50. Ausserdem hatten wir noch ein anderes Kaninchen zu 
unserer Verfügung, das nach 1 '/, und 3*/ 2 Tagen folgendes Ver¬ 
halten darbot. 


Verdünnung von 1 : 100 1 : 50 1:25 1 : 16 ! /j 1 : 12‘/ 2 Archen 

nach 1‘/* Tagen — — — — — deutl. Wachsth. 

keine Agglut. 

n 3 ‘/j »i + ++ + + nn 

Ein Incubactionsstadium muss also gewissermaassen, wenn 
man den Ausdruck hier gebrauchen darf, stattfinden, bis der 


4!»3 

Organismus die agglutinirenden Körper gebildet hat. Weiterhin 
aber scheint der Versuch zu lehren, dass die Reaction nicht all¬ 
mählich, sondern mit einem Schlage auftritt etwa dann, wenn 
genügend agglutinirende Stoffe erzeugt sind, um die Bacterien 
zu beeinflussen. 

Der positive Ausfall der Grub er’sehen Reaction nach Ein¬ 
führung von keimfreien Filtraten ist also durch unsere Experi¬ 
mente festgestellt worden. Er fordert unbedingt auf, wiederum 
mehr die Aufmerksamkeit auf die löslichen Stoffwechselproducte 
der Bacterien auch von der Gasse Typhus, Cholera u. s. w. zu 
lenken. Man kann wohl kaum anders, als annehmen, dass die¬ 
selben für den Verlauf der Infection oder das Zustandekommen 
der Immunität nicht ohne Bedeutung sind. 

Die nächste Frage, die sich auf Grund unserer Erfahrung 
über die Wirkung der filtrirten Culturen auf die Agglutination 
darbietet, die aber von dieser geschieden werden muss, ist die, 
wie mit Filtraten behandelte Thiere sich gegenüber der Pfeiffer¬ 
schen Reaction verhalten, lieber die hierüber angestellten Ver¬ 
suche werden wir später Mittheilung machen. 

Zum Schluss wollen wir nicht verfehlen, für das rege Inter¬ 
esse, mit dem er diese Arbeit gefördert hat, Herrn Professor 
J. Förster unseren verbindlichsten Dank abzustatten. 


Literatur. 

1) Gruber, Wiener klinische Wochenschrift 1896, No. 11 u. 12. — 

2) Durhain, l’roceedings of fhe Royal Society Vol. 59, Jan. 1896. — 

3) It. Pfeiffer und Kolle, Deutsche medicin. Wochenschrift 1896, 
No. 12. — 4) R. Pfeiffer und Vagedes, Centralblatt für Bacterio- 
logie, 1896, Bd. 19, No. 11. — 5) Charrin und Roger, Comptes 
rendus de la Socicte de Biologie, Paris 1889. — 6 ) Metschnikoff, 
Annales de lTnstitut Pasteur 1891, No. 8 . — 7) Issaeff und Ivanow, 
Zeitschrift für Hygiene 1894, Bd. 17, S. 117. — 8) Washbourn, 
Journal of Pathology and Bacteriology, April 1895. — 9) Bordet, An¬ 
nales de lTnstitut Pasteur 1895, S. 495. — 10) R. Pfeiffer und Kolle, 
Centralbl. für Bact., Bd. XX, 1896, S. 129. — 11) Bordet, Annales 
de lTnstitut Pasteur, Bd. 10, 1896, S. 193. — 12) Roger, Revue 
generale des sciennes, 1896, S. 775. — 13) Widal, Presse mcdicale 

1896, December. — 14) Gruber, Münchener medicin. Wochenschrift 

1897, S. 480. 


III. Experimentelle und anatomische Unter¬ 
suchungen über das Wesen und die Ursachen 
des gelben Fiebers. 

Von 

Dr. W. Havelburg, (Rio de Janeiro). 

Seit einer Reihe von Jahren bin ich mit Untersuchungen 
betreffend das gelbe Fieber beschäftigt. Wenn ich nunmehr, wo 
meine Arbeiten einen relativen Abschluss gefunden haben, daran¬ 
gehe, meine Resultate zu veröffentlichen, so mag es wohl auch 
angezeigt sein, die äussere Form, wie ich mich bei der even¬ 
tuellen Lösung der geheimnissvollen Räthsel, welche das bisweilen 
als mörderische Epidemie auftretende gelbe Fieber stellt, verhalten 
habe, zu schildern. Seit mehreren Jahren, wo ich in ärztlicher 
Eigenschaft in Rio de Janeiro thätig bin, hat die pathologische 
Anatomie der erwähnten Krankheit stets sehr viel Reiz für mich 
gehabt; das Bücherstudium über das Wesen und die anatomischen 
Veränderungen des Gelbfiebers befriedigte mich nicht: ich wollte 
ja selbst sehen und aus dem Selbstbeobachteten sichere Anhalts¬ 
punkte für Diagnose, klinischen Verlauf und therapeutische Mass¬ 
nahmen finden. In der ersten Bemühung dieser Art unterstützte 

3 


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1 


494 

mich der verstorbene Dr. Pinto Netto, der damalige ärztliche 
Leiter des in Rio de Janeiro neu begründeten Gelbfieberhospitals 
Sao Sebastiao. Späterhin bot mir meine eigene Praxis ent¬ 
sprechendes Material. Je mehr ich mich mit der Materie ver¬ 
traut machte, desto neugieriger wurde ich, aber auch um so com- 
plicirter erschienen mir die Aetiologie und Pathologie des gelben 
Fiebers. Ich sah schliesslich ein, dass ich etwas Positives und 
wenn auch nur ein bescheidenes Resultat nur dann zu liefern 
im Stande sein konnte, wenn ich, jede andere Thätigkeit auf¬ 
hebend, mich ganz in den Dienst der grossen Aufgabe stellte. 
Unter solchen Verhältnissen nützte ich die Gastfreundschaft des 
hiesigen Leprahospitals, woselbst ich ein bescheidenes, haupt¬ 
sächlich für die wissenschaftlichen Interessen dieses Hauses be¬ 
stimmtes Laboratorium leitete, aus, zumal es in der Nähe des 
Gelbfieberhospitals liegt. Damit begann im Anfang des vorigen 
Jahres fllr mich in meinen Arbeiten eine neue Epoche. 

Es ist mir eine angenehme Pflicht, den gegenwärtigen 
Director des Hospitals Sao Sebastao Dr. Pinto Seidl meinen 
Dank abzustatten, für die Bereitwillichkeit und Collegialität, 
mit der er das lebende und todte Material meinen sachlichen 
Bemühungen zur Verfügung stellte, mit gleichem Danke habe 
ich der Freundlichkeit zu gedenken, die mir von sämmtlichen 
Angestellten von oben herab, auf Anordnung des Directors, zu 
Theil wurde. Ich habe in der Epoche von Januar bis Ende 
Mai 19 complete und 7 partielle Autopsien von constatirten Gelb¬ 
fieberfällen gemacht: die Eröffnung des Schädels und die Unter¬ 
suchung des Schädelinhalts habe ich bei dieser Gelegenheit nie 
ausgeführt, weil dieser Theil der Autopsie fllr die für mich in 
Betracht kommenden Gesichtspunkte nur ganz nebensächliche Be¬ 
deutung hat. Wie ich das Material verarbeitet habe, werde ich 
des Weiteren späterhin auseinandersetzen. Oftmals sank mein 
Muth und die Hoffnung, irgend ein nennenswerthes Resultat zu 
erzielen; die Riesenlast der Verarbeitung, das Aufsuchen und 
Herbeischaffen des Materials, die Laboratoriurasarbeiten vom 
Putzen der Objectgläser, Sterilisiren von Apparaten, Herstellen 
der Culturböden bis zu den subtilen Arbeiten den mikroskopischen 
Durchforschung, der bacteriellen Untersuchung, der Thierbeob¬ 
achtungen etc. Alles von a bis z allein durchführen zu müssen, 
ward mir oft zu schwer. In dieser Situation hat mich mein Freund 
und Hospitalcollege, Dr. Azevedo Lima, immer wieder aufge¬ 
muntert und, wenn er auch nicht activ in meine Arbeit einge. 
griffen, so hat er doch einen indirecten wesentlichen Antheil da¬ 
ran. Ueberdies war er mir eine Controle; dadurch, dass ich ihm 
Alles zeigte, demonstrirte und mit ihm besprach, schützte ich 
mich vor subjectiven Täuschungen und Auffassungen. 

Aus dem vielen Unsicheren, was seiner Zeit meinen Beob¬ 
achtungen entgegentrat, imponirte mir im Laufe der Arbeiten, so¬ 
weit sich dieselben auf die Entdeckung des Krankheitserregers 
des gelben Fiebers erstreckten, ein Mikroorganismus und um 
mich diesbezüglich, soweit es möglich war, zu vergewissern, be¬ 
schloss ich eine Reise nach Europa. Mein Weg führte auch 
Uber Paris; dort fand ich im Institut Pasteur Seitens der Herrn 
Dr. Raup und dessen Assistenten Dr. Borei, liebenswürdige 
Aufnahme, Anregungen und technische Unterweisungen. Später¬ 
hin setzte ich meine Arbeiten in der von Herrn Dr. Aron sohn 
leiteten, bacteriologischen Abtheilung der chemischen Fabrik, 
früher Schering in Berlin fort. 

So, mit neuen Arbeitsplänen, mit vervollkommneter Technik, 
mit besserer Kritik ausgerüstet, nahm ich am Anfang dieses 
Jahres in Rio de Janeiro meine Arbeiten wieder auf. Zwar hatte 
das Gelbfieber in der diesjährigen Saison nicht die Fora einer 
Epidemie angenommen gehabt, aber das Hospital gewährte mir den¬ 
noch genügendes Material. Ich habe 10 vollkommene und 11 partielle 
Autopsien von sicherem Gelbfieber ausgeführt. Aus dieser Dar- 


No. 23. 

legung wird es verständlich, dass ich auf diese letzte Serie meiner 
Arbeiten das wesentlichste Gewicht lege, und dass ich die Re¬ 
sultate und meine Anschauungen im Wesentlichen basire auf 
die mit aller Sorgfalt und nöthigen Kritik gemachten Beobach¬ 
tungen dieser letzten drei Monate. 

Bevor ich nun an die sachliche Darstellung gehe, habe ich 
noch meinen besten Dank den obenerwähnten Persönlichkeiten 
abzustatten, aber auch der Verwaltung des Leprahospitals, 
welche in der schon angegebenen Weise, auch mittelst des Labo¬ 
ratoriums mir die materielle Möglichkeit zur Ausführung meiner 
Arbeiten gewährte. Die persönliche Einleitung entstammt keiner 
Schwäche der Eitelkeit, sie sollte aber charakterisiren, dass die 
Bethätigung irgend welcher Forschung sich hier, abgesehen selbst 
von dem erschlaffenden Einfluss des tropischen Klimas, ganz an¬ 
ders gestaltet, als in den europäischen Centralwissenschaftlichen 
Instituten. Ich begründe aber damit meine Bitte nach etwas wohl¬ 
wollender Rücksicht Seitens meiner Kritiker. 

Die bisherigen Arbeiten Uber die Ursache des gelben Fiebers, 
im Speciellen betreffend einen Mikroorganismus des gelben 
Fiebers, haben zu keinerlei wissenschaftlich befriedigendem Ab¬ 
schluss geführt. Das, was von verechiedenen Autoren diesbezüg¬ 
lich veröffentlicht wurde, hat sich bei Nachprüfung von anderen 
Seiten als nicht stichhaltig erwiesen. Unsere Kenntnisse Uber 
diese Angelegenheit sind gleich Null. 

Wo und wie ist nun der Hebel anzusetzen, um die bisher 
noch in absolutes Dunkel gehüllte Ursache des gelben Fiebers 
auch nur um ein Weniges ans Licht zu ziehen? Die moderne Er- 
kenntniss anderer Krankheiten lehrt uns, dass dort der speci- 
fische Erreger sich auf hält, wo die wesentlichste anatomische 
Veränderung sich vorfindet. Im pneumonischen Herd finden wir 
den Pneumonieerreger, in den specifischen typhösen Veränderungen 
im Darm und in der typisch vergrösserten Milz wuchert der 
Typhusbacillus etc. Diese elementare Lehre würde uns bezüg¬ 
lich des Gelbfiebers also auch darauf hinweisen, dass wir mit 
gewisser Aussicht auf Erfolg den specifischen Keim in dem 
Magen finden werden, wo die wesentlichsten Alterationen sich 
herausbilden. Die Beobachtung am Krankenbette pflegt unsere 
Vermuthungen in dieser Beziehung, welches das anatomisch am 
meisten compromittirte Organ sein wird, wesentlich zu unter¬ 
stützen. Bei den eben erwähnten Krankheiten geben, so möchte ich 
sagen, die Symptome schon Anhaltspunkte; das Gleiche ist für 
viele andere Krankheiten der Fall, bei Phthisis pulmonum, beim 
Erysipel u. s. w. Auch bei der Cholera asiatica war in dem 
wesentlichstem Symptom, der Diarrhoe, ein wichtiger Factor fllr 
die Fahndung auf den specifischen Keim gegeben, und das grosse 
Verdienst von Koch ist es, unter den vielen Darmmikroorga- 
niäraen den eigentlich pathogenen erkannt zu haben. 

Beim gelben Fieber suchen wir leider diesbezüglich vergeb¬ 
lich nach Anhaltspunkten, um aus den Symptomen auf das wesentlich 
erkrankte Organ zu schliessen. Klinisch ist das gelbe Fieber 
eine wohl charakterisirte Krankheit; es mag wohl im einzelnen 
Falle Vorkommen, dass man bei der Differentialdiagnose in Ver¬ 
legenheit ist; das ist aber ebenso auch bei jeder anderen gut 
charakterisirten Krankheit der Fall. Im Allgemeinen sind die 
Symptome und die Vereinigung der Symptome für das gelbe 
Fieber so typisch, dass klinisch dasselbe eine Krankheit sui 
generis, ist. Nehmen wir nun einen zweifellosen Gelbfieberfall, 
selbst innerhalb einer schweren Epidemiezeit, heraus und suchen 
wir die Symptome mit Hinblick auf unsere Zwecke zu analysiren, 
so werden wir nichts Sicheres erzielen. Deutet die frühzeitige 
und schwere Albuminurie, ja selbst Anurie auf die Nieren als 
den wesentlichsten Krankheitsheerd ? Der stete mehr oder weniger 
intensive Icterus, der ja der Krankheit den Namen verliehen, 
verdächtigt die Leber, das schwarze Erbrechen, das ebenso 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


405 


häufige Symptom der Krankheit, die ja auch als Vomito preto 
bezeichnet wird, richtet unsere Aufmerksamkeit auf den Magen 
und Darm resp. auf seinen Inhalt. Andererseits wird uns in 
Anbetracht aller dieser Erscheinungen das Blut verdächtig sein, 
theils als Ursache der localen Symptome, theils als der generelle 
Träger und Verbreiter. 

Wir sehen also, die klinische Beobachtung führt zu keinem 
Ziel; wir müssen uns an die anatomische Durchforschung der 
Gelbfieberleiche machen. In meiner nun folgenden pathologisch¬ 
anatomischen Betrachtung nehme ich an dieser Stelle von einer 
Beschreibung aller Einzelheiten oder von der Wiedergabe des 
Protocolls einer schematisch ausgefUhrten Section Abstand. Für 
unsere Betrachtung genügt die Besprechung der eventuellen Ver¬ 
änderungen der Leber, der Nieren, der Milz, des Magens, des 
Dünndarms und ferner haben wir das Blut in den Kreis unserer 
Betrachtung zu ziehen. Ich basire mich auf 20 Sectionen, die 
ich oben als complete bezeichnet habe; bei diesen habe ich in 
ganz regelrechter Weise alle Organe der Brust- und Bauchhöhle 
untersucht; von den wesentlichen Organen habe ich in fast allen 
Fällen noch in frischem Zustande mikroskopische Schnitte ange¬ 
fertigt, dann liess ich eine eingehende mikroskopische Unter¬ 
suchung von gefärbten Präparaten, hergestellt von den nach 
verschiedenen Methoden gehärteten Organen folgen. 

Bei Eröffnung der Bauchhöhle constatirte ich als oberen 
Leberrand, entsprechend dem Zwerchfellstand, den IV. Inter- 
costalrand. Der untere Rand fällt mit dem der Rippen zu¬ 
sammen, in einigen, nicht gerade häufigen Fällen war der 
Rippenrand von der Leber um Fingerbreite überragt und ebenso 
erinnere ich mich, gefunden zu haben, dass die Leber etwas 
zurückgesunken war, so dass also der Rippenrand den der Leber 
um ein Geringes deckte. Die Leberfläche war stets glatt. Kurz, 
ich constatirte keine, oder nur geringe Lebervergrösserung. 
Zweimal habe ich die Maasse festgestellt: 

Maximale Breite 20,1 cm, max. Höhe 20,3 cm, max. Dicke 0,5 cm 
„ n 30,0 „ „ „ 18,0 „ n „ 8,5 „ 

Die von aussen schon deutlich erkennbare Farbe der Leber¬ 
substanz entspricht der des Durchschnittes. Bald sieht man ein 
eigenartig gesprenkeltes, bald ein gleichmässig mattgelb ge¬ 
färbtes Gewebe und dazwischen kommen allerlei Uebergänge 
vor. Bei genauerem Zusehen werden diese Differenzen durch 
den verschiedenen Blutgehalt des Organs bdingt. In manchen 
Fällen, besonders denen eines rapiden Verlaufes, pflegten die 
grösseren und kleineren Gefässe der Pfortader mit Blut, das 
dunkelroth, stahlblau oder schmutzigroth ist, gefüllt zu sein. 
In den Fällen längerer Krankheitsdauer von 0—8 Tagen, nament¬ 
lich bei erheblicheren Blutungen in den Eingeweiden, existirt 
ein auffallender anämischer Zustand in der Leber. Die eigent¬ 
liche Substanz, also die Acini, bietet ausnahmslos ein gleich¬ 
artiges, opak graugelbes Aussehen dar. Nicht unschwer lassen 
sich aus dieser Farbenmischung die drei Componenten schon 
makroskopisch erkennen: parenchymatöse Veränderung, Fett¬ 
gehalt und Färbung durch Gallenfarbstoffe. Die Consistenz der 
Leber hat stets gelitten; sie ist stets weicher als eine normale 
Leber und diese Weichheit differirt natürlich in verschiedenem 
Grade. 

Die mikroskopische Untersuchung hat unter diesen Verhält¬ 
nissen ein ganz besonderes Interesse. Ich habe dieselbe an den 
frischen Organen stets vorgenommen. Zunächst sei erwähnt 
dass ich eine Veränderung um die Pfortader oder im interstitiellen 
Gewebe, wie behauptet wurde, nie constatirt habe. Bei einem frischen 
Gewebsschnitt sieht man im Gesichtsfelde eine Masse mittelgrosser 
bis ganz kleiner Fetttropfen frei umherschwimmen,'sie entstammen 
den geplatzten Leberzellen. In der Anordnung der Acini er¬ 
kennt man sofort das Prädominiren von Fett, das ohne Unter¬ 


schied die periphere mittlere und centrale Zone erfüllt. Legt 
man den Schnitt in 0,1 pCt. Osmiumsäurelösung, so erzielt man 
eine Isolirung der Zellen und gleichzeitige Fettfärbung. Wir er¬ 
sehen nun, dass in der Zelle mittelgrosse, kleine und kleinste 
Fettkörnchen eingelagert sind und der Zellenleib verfallen ist. 
Ganz grosse Fetttropfen, wie sie bei der Fettleber Vorkommen, 
oder ein Verhalten, dass die Leberzelle fast nur ein Fett¬ 
klumpen ist, wie Autoren behauptet haben, habe ich nie gesehen. 
Beseitigt man mittelst Anwendung von Aether das Fett und be¬ 
sieht den Schnitt, so zeigen die Zellen eine durch feinkörniges 
Material getrübte Beschaffenheit; Essigsäure klärt den Inhalt, so 
dass eine parenchymatöse Veränderung gleichfalls mikroskopisch 
zu constatiren ist. An vielen Stellen, nicht an allen, ist der 
Zellenkern total geschwunden. Macht man die Untersuchung an 
in Alkohol gehärtetem Lebergewebe, so geht natürlich durch die 
Uonservirung in Alkohol das Fett verloren, aber die parenchy¬ 
matöse Trübung des Gewebes sowie das Zugrundegehen von 
Kernen mittelst Färbungen ist deutlicher nachweisbar. In der Her¬ 
stellung und Behandlung des Schnitts muss man sorgfältig Vor¬ 
gehen, denn die im Zerfall begriffenen Zellen fallen leicht aus 
dem Gewebe heraus. Andererseits documentirt sich dieser zu 
Necrose hinneigende Zustand der Leberzellen darin, dass sie sich 
gegen die Farbstoffe, unter denen ich Carmin und seine Ver- 
Verbindungen benutzte, etwas ablehnend verhalten. Im frischen 
Gewebe kennzeichnet sich der icterische Zustand durch eine 
diffuse Gelbfärbung, die alle Theile betrifft. Körnige Niederschläge 
von Gallenfarbstoff sind mir selbst in den intensivsten Fällen 
nicht begegnet. 

Es interessirt, den Zustand der Gallenblase kennen zu lernen, 
um Uber die Form und das Wesen des Icterus bei gelbem Fieber 
sich eine Anschauung zu bilden. Werden Gewebsstückchen in 
eine Lösung von Kal. bichrom. in 1 pCt. Osmiumsäure gehärtet, 
dann nach dem Vorschläge von Böhm mit Argentum nitric. etc. 
behandelt, so gelingt die Darstellung der Gallencapillaren. 
In solchen mir gut gelungenen Präparaten kreuzen die 
feinen Netze der Gallencapillaren das Gewebe, ohne in ihren 
Dimensionen oder ihrem sonstigem Verhalten die Möglichkeit 
nahe zu legen, dass der Icterus durch Stauung bedingt sein 
könnte. Auch die sonstigen Sectionsresultate geben keinen 
Anhaltspunkt, dass von den Capillaren abwärts bis zur Entlee¬ 
rung der Galle ins Duodenum sich ein Hinderniss befindet. Bei 
meiner späteren Besprechung der Blutbeschaffenheit denke ich 
zu zeigen, dass auch kein sogenannter hämatogener Icterus dem 
Gelbfieber eigenartig ist. Es will mir nach dem Beobachteten 
erscheinen, dass der Icterus beim Gelbfieber zu jener Form ge¬ 
hört, die von Liebermeister als akathektischer bezeichnet 
wurde. Durch die evidente Degeneration hat die Leberzelle die 
normale Fähigkeit verloren, die erzeugte Galle festzuhalten und 
sie den Gallencapillaren zuzuführen, sie diffundirt nunmehr in's 
Blut und die Lymphe. 

In übertriebener Weise haben einzelne Schriftsteller die 
fettige Degeneration der Leberzelle als specifisch für das Gelb¬ 
fieber dargestellt. Ich kann mich dem nicht anschliessen. Die 
relativ grossen Fetttropfen, die man in den Zellen sieht, befinden 
sich ganz innerhalb der Grenze des Normalen. Das muss jeder 
unterstützen, der öfter solche Lebern untersucht. Anders das 
feingekörnte Fett. Dies aber ist auch ohnedem ein bekanntes 
Product schwerer parenchymatöser Veränderungen; unsere ana¬ 
tomische Ausbeute ist also, dass die Gelbfieberleber der Typus 
einer schweren parenchymatösen Hepatitis ist, wie sie bei man¬ 
chen anderen schweren Infectionskrankheiten auch vorkommt. 
Wir werden also die Leber nicht als das primäre Depot des 
Gelbfiebergiftes ansprechen können. 

Die Nieren sind stets etwas vergrössert, die Kapsel ist dünn 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 23. 


und leicht abziehbar, auf der Nierenoberfläche schimmern oft 
prall gefüllte Blutgefässe hindurch, häufig sind die Stellulae 
Verheynii intensiv sichtbar; ja kleine, stecknadelkopfgrosse 
Hämorrhagien sind zu constatiren. Die Consistenz des Organs 
ist weicher als normal, auf der Schnittfläche fällt die Verbreite¬ 
rung der Rindensubstanz, die grauweis opak gefärbt ist, auf. 
Der Blutgehalt dieses Theils ist, ebenfalls wie bei der Leber, 
recht beträchtlich; zwischen den geraden Harnkanälchen ziehen 
prall gefüllte Blutgefässe mit bei einfacher Betrachtung schon 
auffallenden, wie Stecknadelkopf grossen Malpighi’schen Körper¬ 
chen entlang. In vielen anderen Fällen besteht ein anämischer 
Zustand. Die Pyramidensubstanz besitzt stets einen beträcht¬ 
lichen Blutgehalt, was bei der event. blassen Schwellung der 
Corticalis besonders auffällig ist. In ihr sah ich öfter schon 
makroskopisch kleine Hämorrhagien; im mikroskopischen Bilde 
sieht man solche ziemlich häufig, wobei dann das ausgetretene 
Blut bald neben den Sammelkanälchen und den Ductuspapillaren 
lagert, bald die Wandungen derselben durchbricht und dann das 
Lumen der Harnkanälchen erfüllt. 

Untersucht man die Nieren mikroskopisch, so wird man 
überrascht von der hochgradigen parenchymatösen Veränderung 
der Epithelzellen der Harnkälchen. Ich habe in der Mehrzahl 
meiner Sectionen die Nieren frisch und, ebenfalls oft, gehärtet 
und in Paraffin eingebettet examinirt und dabei constatirt, dass 
die Degeneration sich nicht auf einzelne Nierenpartien oder auf 
besondere Abschnitte der Harnkanälchen beschränkt, sondern 
ganz unregelmässig und in verschiedener Intensität auftritt. 
Wir sehen genau wie bei der Leber parenchymatöse Trübung, 
fettige Degeneration, mehr oder weniger deutlichen Kernschwund. 
Diese veränderten Epithelien lösen sich von der Wand der Harn¬ 
kanälchen los, erfüllen resp. verstopfen theils in noch erkenn¬ 
barer Form, theils als Detritusmasse das Lumen der Harnröhr¬ 
chen. — So wesentlich für die Krankheit nun auch ein solcher 
Zustand ist, so glaube ich, kann man in demselben doch nichts 
besonderes Typisches für das gelbe Fieber erkennen. 

(Fortsetzung folgt.) 


IV. Ueber die Pathogenese und klinische Stellung 
der Erschöpfungspsychosen. 

Von 

Prof. Dr. 0. Blnswanger- Jena. 

Die neueren Bestrebungen, die geistigen Erkrankungen nach 
klinisch-ätiologischen Gesichtspunkten zu gruppiren, bedeuten 
zweifellos einen Fortschritt. Wir werden auf diesem Wege 
immer mehr dahin gelangen, Zustandsbilder durch abgeschlossene 
Krankheitsformen zu ersetzen, in welche die einzelnen, schon 
länger bekannten Symptomenbilder eingereiht werden können. 
In der neuesten Auflage seines Lehrbuches hat Kraepelin den 
dankenswerthen Versuch unternommen, schon jetzt die gesammten 
Geistesstörungen derart einzutheilen und zu schildern. 

Dieser Versuch ist in manchen Theilen sicherlich geglückt. Ich 
erwähne vor allem die Intoxications- und periodischen Psychosen, 
die geistigen Schwächezustände und das katatonische Irresein. 
Man wird Uber die Abgrenzung dieser einzelnen Krankheits¬ 
formen und ihre relative Häufigkeit auch zu anderen Anschauun¬ 
gen kommen können, als sie Kraepelin vertritt; so werden z. B. 
gewiss viele Beobachter die relative Häufigkeit der Katatonie 
selbst in der von Kraepelin durchgeführten Einschränkung des 
Krankheitsbildes auf Grund ihrer eigenen Erfahrung bezweifeln. 

An anderen Stellen aber erkennt man deutlich, dass 
wir heute noch nicht in der Lage sind, diesen idealen For¬ 


derungen einer ätiologisch - klinischen Eintheilung gerecht zu 
werden, ohne den wohlgesicherten klinischen Erfahrungen einen 
Ubergrossen Zwang anzuthun. So scheint es mir unmöglich zu 
sein und den Thatsachen geradezu zu widersprechen, dass die Me¬ 
lancholie als Krankheit sui generis ausschliesslich als Involutions¬ 
psychose aufgefasst wird. So lange das grosse Gebiet der Stoff¬ 
wechselerkrankungen und insbesondere der Autointoxicationen 
so wenig aufgehellt ist, muss es als verfrüht erscheinen, schon 
ganz bestimmte, gesetzmässige Beziehungen zwischen diesen 
Vorgängen und den Formen der Geistesstörung construiren zu 
wollen. Es ist dies nur dann zulässig, wenn wir eine wohl 
charakterisirte und in ihren einzelnen Entstehungsbedingungen 
genauer erforschte Art der Stoffwechselerkrankungen mit be¬ 
stimmten geistigen Störungen vereint vorfinden (Myxödem, Morbus 
Basedowii, urämische Psychosen u. s. w.). 

Es erwächst uns deshalb die Aufgabe, das ätiologisch¬ 
klinische Princip vorerst für die Erkenntniss derjenigen psychi¬ 
schen Erkrankungen in ausgiebigem Maasse zu verwerten, für 
welche die ursächliche Schädlichkeit genau bekannt ist. Wir 
werden dann zuerst der Aufgabe näher treten, die patho-physio- 
logischen Vorgänge im Gebiete des Centralnervensystems aufzu¬ 
klären, welche aus dieser Krankheitsursache entspringen. Es 
wird uns auf diese Weise gelingen, die einzelnen Erscheinungs¬ 
formen und Zustandsbilder der in diese Gruppe gehörigen 
Geistesstörungen allgemeinen Gesichtspunkten unterzuordnen und 
die wechselseitigen Beziehungen der verschiedenartigen Krank¬ 
heitserscheinungen verstehen zu lernen. 

Als das geeignetste Gebiet für einen derartigen Versuch ist 
mir schon seit Jahren im Anschluss an meine Studien Uber die 
Erschöpfungsneurosen dasjenige der Erschöpfungspsychosen er¬ 
schienen. 

Ich möchte Ihnen im Folgenden in kurzen Zügen meine 
Auffassung Uber die ätiologisch-klinische Eintheilung und die 
Gruppirung der Symptome dieser Krankheitszustände geben, 
welche ich beim klinischen Unterricht verwerthe; 

Ueber den Begriff der Erschöpfung bedarf es wohl keiner 
längeren Ausführung. Wie ich in meinem Lehrbuch der Neur¬ 
asthenie ausführlicher in dem Capitel der Pathogenese und all¬ 
gemeinen Aetiologie auseinandergesetzt habe, ruft ein pathologisch 
erhöhter Kräfteverbrauch zuerst einen Zustand hervor, welcher 
in Analogie zu der schon unter normalen Verhältnissen des 
Krafthaushaltes zu beobachtenden Ueberermüdung als Dauer- 
ermüdung bezeichnet werden kann. Letztere tritt ein, wenn 
der völlige Ersatz des übermässig verbrauchten Arbeitsvorrathes 
nur schwer, nach langen Erholungszeiten oder überhaupt nicht 
mehr vollkommen erreicht werden kann. „Werden dem dauer- 
ermüdeten Nervensystem Kraftleistungen zugemuthet, welche zu 
dem noch vorhandenen Kräftemaass in keinem Verhältnis 
stehen, so tritt schliesslich ein Zustand ein, in welchem die bei 
dieser Kraftleistung betheiligten functionellen Mechanismen völlig 
versagen. Diesen Zustand nennen wir Erschöpfung. Er kann 
nur ganz vorübergehend auftreten, kann aber auch für längere 
Zeit bestehen bleiben.“ Versucht man den Begriff der Er¬ 
schöpfung durch die Lehren der Molecularmechanik (Wundt) 
weiter aufzuklären, so gelangt man zu der Auffassung, dass 
in dem Stadium der Uebererregung, welches der Ueberermüdung 
resp. Dauerermüdung entspricht, eine Steigerung der Oxyda- 
tionsprocesse in Folge nutritiver Störungen stattfindet. Es ist 
dann die Bildung synthetischer Processe in der Nervenzelle 
gehindert; die inneren hemmenden Kräfte, welche auf die Ent¬ 
ladung verzögernd wirken, sind folglich abnorm verringert. 
Neben diesen gesteigerten und beschleunigten Entladungen be¬ 
stehen aber auch ausgebreitete Hemmungen, welche ebenfalls 
auf Störungen des intracellularen Krafthaushaltes beruhen. Es 


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kann nämlich ein Reiz, welcher die Nervenzelle trifft, der Aus¬ 
lösung äusserer positiver Molekulararbeit dadurch hinderlich sein, 
dass er primär anregend auf die Erzeugung äusserer negativer 
Molekulararbeit wirkt. 

In der ersten Phase des verringerten Krafthaushaltes, 
welche der tiefer greifenden .Erschöpfung voraufgeht, gewinnen 
alle bahnenden und hemmenden Einwirkungen eine Ausdehnung 
(Irradiation der Erregung) und eine Intensität, für welche uns 
der physiologische Zustand des Nervensystems nur ein unvoll¬ 
kommenes Analogon in der l'eberermUdung bietet. Wenn wir 
die relativ leicht Übersehbaren Bedingungen für das Zustande¬ 
kommen hemmender resp. bahnender Einwirkungen auf das 
Kniephänomen zur Erläuterung der freilich viel verwickelteren 
Erregungsvorgänge innerhalb der centralen Nervensubstanz heran¬ 
ziehen, so kommen wir zu der Vermuthung, dass einerseits die 
Hemmung eines stärkeren Reizes als die Bahnung bedarf, und 
andererseits die hemmende Einwirkung auf ein Nervencentrum 
Uberwiegt, selbst wenn auch gleichzeitig (von anderer Seite her) 
ein bahnender Einfluss stattlindet. Gerade diese Untersuchungen 
Uber das Kniephänomen bestätigen die obige Auffassung, dass 
alle bahnenden und hemmenden Einwirkungen auf Nervencentren 
bei übermüdeten, in ihrer gesammten nervösen Leistungsfähigkeit 
herabgedrückten Individuen krankhaft verstärkt sind. 

Viel leichter übersehbar sind die klinischen Erscheinungen 
der ausgeprägten Erschöpfung. Hier werden Reize überhaupt 
nicht oder nur in spärlichem Maasse auf das erschöpfte Centrum 
wirksam; der Vorrath an potentiellen Energien ist noch tiefer 
gesunken, die Erholung bis zum früheren physiologischen Kraft- 
vorrath desto langwieriger und unvollkommener. Wir finden 
hier in den höchst entwickelten Formen den Functionsausfall, 
bei geringeren Graden der Erschöpfung die Functionsvermin¬ 
derung. 

Ob eine Kraftschädigung durch Arbeitsleistungen oder andere 
erschöpfende Ursachen die Ueberermüdungs- oder Erschöpfungs¬ 
symptome hervorrufen wird, ist von den verschiedensten Bedin¬ 
gungen abhängig, welche freilich nur theoretisch für jedes ein¬ 
zelne functioneile Centrum festgestellt werden können. 

Ob in der Phase derUebererregung pathologisch vermehrte Ent¬ 
ladungen oder Hemmnngsvorgänge vorherrschen, hängt weiterhin 
ab: a) von dem Kraftvorrath, welchen das betreffende Centrum 
bei dem Beginn einer Reizung resp. Arbeitsleistung besitzt, b) von 
der Masse der Arbeitsleistung, welches sein Centrum innerhalb 
einer bestimmten Arbeitsfrist zu vollbringen hat; c) von der 
functionellen Bedeutung des betreffenden Centrums. 

Aus einer analytischen Erforschung der Entwickelung und 
des Verlaufs der neurasthenischen Krankheitszustände lässt sich 
erkennen, dass bei dieser fast durchwegs chronisch sich ent¬ 
wickelnden Form der nervösen Erschöpfung die Dauerermüduug 
gerade in den functionell höchststehenden Centren der Hirnrinde 
das erste und hauptsächlichste Krankheitszeichen ist. Befällt die 
Dauerermüdung die Hirnrinde, so werden auch innerhalb der¬ 
selben die verschiedenen functionellen Bezirke je nach dem 
Maasse ihrer Arbeitsleistungen ganz verschiedenartige Grade der 
Functionsstörung innerhalb einer bestimmten Beobachtungsperiode 
darbieten; z. B. kann ein sensorisches Centrum die Zeichen der 
ausgeprägten Uebererregung aufweiseu, während ein anderes 
sensorisches oder motorisches Centrum sich im Zustand der Er¬ 
schöpfung befindet. 

Ich habe fernerhin hingewiesen auf die zeitlichen Schwan¬ 
kungen, welchen die Intensitätsgrade dieser Kraftschädigungen fast 
fortwährend unterworfen sind. Berücksichtigt man endlich den 
ausserordentlichen Reichthum an functionellen Centren sowohl 
innerhalb einer Fuuctionsstufe als auch eines functionellen 
Systems, so wird das merkwürdige Durcheinander pathologischer 


497 

Steigerungen und Herabminderungen bestimmter Arbeitsäusse¬ 
rungen wohl verständlich, welche klinisch in der Bezeichnung 
„reizbare Schwäche“ schon längst einen bestimmten Ausdruck 
gefunden haben. 

Die gleichen patho-physiologisclien Grundbegriffe sind zum 
Verständniss der klinischen Bilder der Erschöpfungspsychosen 
zu verwerthen. Wir müssen hier generell zwei Gruppen von 
Krankheitsfällen auseinanderhalten: 1. diejenigen, bei welchen 
die Kraftschädigung durch langsam einwirkende, aber län¬ 
gere Zeit hindurch bestehende Schädlichkeiten hervorgerufen; 
2) diejenigen, bei welchen die Kraftschädigung acut oder sub¬ 
acut stattfindet. Bei ersteren bestehen die erschöpfenden Vor¬ 
gänge vor allem in körperlichen und geistigen Ueberanstren- 
gungen. Hierbei bedarf es wohl kaum eines besonderen Hin¬ 
weises, dass der Begriff der Ueberanstrengung sich individuell 
ganz verschieden gestaltet, je nach der constitutionellen Be¬ 
schaffenheit. Es hängt dies ab sowohl von ererbten, oder 
intrauterin erworbenen krankhaften Prädispositionen, als auch 
von späterhin, während der extrauterinen Entwickelung er¬ 
worbenen neuropathischen Zuständen. Aber auch hinsichtlich 
der zweiten Gruppe wird die verheerende Einwirkung der 
schädigenden Ursachen auf den nervösen Krafthaushalt sich ver¬ 
schieden gestalten, je nach dem individuellen Kräftezustand vor 
dem Einsetzen der Psychose. So finden wir, um nur ein Bei¬ 
spiel herauszugreifen, die acut einsetzenden Erschöpfungs¬ 
psychosen des Puerperium vorwaltend bei solchen Individuen 
sich entwickeln, welche, sei es durch hereditär bedingte Ent¬ 
wickelungsstörungen des Centralnervensystems, sei es durch er¬ 
worbene Schwächezustände (voraufgegangene Infectionskrank- 
heiten, Trauma, langdauernde deprimirende Gemüthsaffecte, 
mangelhafte Ernährung u. s. w.) eine verringerte Widerstandskraft 
gegen schädigende Einwirkungen dargeboten haben. 

Diese ätiologischen Fragen beanspruchen unter Umständen 
eine erhöhte practische Bedeutung, ich erinnere nur an die Con- 
sequenzen unserer modernen Unfalls- und Invaliditätsgesetzgebung 
und an die Pensionsansprüche, welche von den während der 
Militärdienstzeit erkrankten Personen erhoben werden. 

Die klinischen Bilder der Erschöpfungspsychosen gestalten 
sich recht verschiedenartig, je nachdem sich der Erschöpfungs¬ 
zustand schleichend oder acut entwickelt, aber auch je nach dem 
Intensitätsgrade desselben. Man kann den Satz aufstellen: je 
langsamer die Entwickelung des Leidens, desto vorherrschender 
sind bei massigeren Graden des Erschöpfungszustandes die 
Heramungs-, bei tieferen Graden die Erschöpfungssymptome; je 
acuter das Leiden ausbricht, desto ausgeprägter die Reizsym¬ 
ptome. Unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Gesichts¬ 
punkte können drei Krankheitsbilder aufgestellt werden: 1. der 
Erschöpfungsstupor (den leichteren Graden der Erkrankung ent¬ 
sprechend) oder die acute heilbare Demenz (bei schwereren 
Graden der Erkrankung); 2. die Erschöpfungsamentia; 3. das 
Delirium acutum exhaustivum. 

Bevor ich eine Skizze dieser Krankheitsbilder entwerfe, 
muss ich darauf aufmerksam machen, dass wir in dem grossen 
Rahmen der Erschöpfungsneurosen völlig abgeschlossene, selbst¬ 
ständige Krankheiten nicht unterscheiden können, sondern nur 
gewisse Krankheitstypen, welche ihr charakteristisches Gepräge 
durch das Ueberwiegen und die Gruppirung bestimmter Krank¬ 
heitsmerkmale erlangen. Ebenso dürfen wir innerhalb der 
Erschöpfungspsychosen eine scharfe Grenze zwischen diesen 
Krankheitsbildern nicht aufstellen. Gewisse Haupterscheinungen, 
w r elche aus dem Wesen der nervösen resp. psychischen Erschöpfung 
hervorgehen, sind allen drei Krankheitsbildeni gemeinsam. Wir 
werden auch gar nicht selten in der Lage sein, Verschiebungen 
der Krankheitserscheinungen in dem Sinne feststellen zu können, 

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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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498 

dass während des Krankheitsverlaufes die ganze Scenerie sich 
ändert. Wir werden dies am besten aus dem gegenseitigen Ver- 
liältniss der Amentia zur acuten heilbaren Demenz entnehmen. 

1. Der Erschöpfungsstupor und die acute heilbare 
Demenz. 

Die Entwickelung des Leidens ist bei dem Erschöpfungs¬ 
stupor durchwegs eine langsame, sich Uber Monate erstreckende. 
Die reinsten Fälle dieser Art gehören dem jugendlichen Alter an, 
besonders der Zeit der Pubertätsentwickelung. Sie treten so 
häufig bei jungen Handwerkslehrlingen und Dienstmädchen auf, 
dass ich im klinischen Unterricht diese Kategorien den Studenten 
geradezu als Lehrlings- oder Dienstmädchenpsychose bezeichne. 
Aber auch bei Seminaristen, jugendlichen Schreibgehilfen, Re¬ 
kruten, Nähterinnen werden Sie dieser Form sehr häufig be¬ 
gegnen. Es ist bemerkenswerth, dass, während die höheren 
»Stände resp. die materiell besser gestellten socialen Schichten 
ein Überaus grossen Contingent von Neurasthenikern produciren, 
in diesen tieferen Schichten, in welchen Übermässige Arbeitsbe¬ 
lastung mit mangelhafter Ernährung und chronischer Schlafver- 
kUrzung vereint sich findet, diese tiefer greifenden Schädigungen 
der geistigen Vorgänge sich einstellen. Man kann dies sehr schön 
an zwei Beispielen erkennen: Unter den Lehrlingen (14—lGjälir. 
Knaben, welche nach der Confirraation fast unvermittelt ins prac- 
tische Leben hineingestellt werden) erkranken nach meinen Er¬ 
fahrungen am häufigsten die Maurer-, Schmiede- und Steinsetzer¬ 
lehrlinge, welche einer im Verhältniss zu ihren Körperkräften 
übermässigen mechanischen Arbeitsleistung unterworfen sind; 
unter den Dienstmädchen erkranken ebenfalls die Anfängerinnen 
am häufigsten, jene armen, halbentwickelten Geschöpfe, welche 
im 14., 15. Jahr den ersten Dienst meist gegen geringen Lohn 
und häufig mit unzureichender Ernährung in den Häusern von 
Gewerbetreibenden annehmen. Hier haben sie nicht bloss 
schwere häusliche Arbeit zu verrichten, sondern sind auch ge¬ 
zwungen, im Gewerbe mit thätig zu sein. Es tritt dies besonders 
deutlich bei dem Bäckergewerbe hervor, wo an kleineren Orten 
das Austragen des Brotes in den frühesten Morgenstunden dem 
Bäckermädchen zufHllt; wenn es sich müde gelaufen, beginnt 
sein eigentliches Tagewerk im Hause. Es ist gewiss mehr als 
ein Zufall, dass ich schon eine grössere Reihe von derartigen 
Krankheitsfällen bei Bäckermädchen gesehen habe. 

Die ersten Anzeichen der Erkrankung sind diejenigen der 
Ermüdung. Bei Kopfarbeitern sind sie vorwaltend auf geistigem, 
bei Muskelarbeitern auf körperlichem Gebiete bemerkbar. Sie 
lassen sich kurz zusammenfassen als ein allmähliches Nachlassen 
der geistigen und körperlichen Frische. Die Erfüllung des täg¬ 
lichen Arbeitspensums ist erschwert, es treten lästige, schmerz¬ 
hafte Ermüdungserscheinungen auf, dyspeptische Phänomene und 
Abmagerung. Sehr bald stellen sich die ersten Anzeichen der 
Uebererregung ein: die Akrypnie, nervöses Herzklopfen, allge¬ 
meine Muskelunruhe, besonders des Nachts, Hyperästhesie gegen 
SinneseindrUcke (Hyperakusie), klingende, singende, dröhnende 
Geräusche im Schädelinneren u. a. m. Die geistige Thätigkeit 
ist verlangsamt, die Aufmerksamheit verringert, das Gedächtniss 
für jüngst Vergangenes verschlechtert sich rasch. Die Stimmung 
ist stumpf, gedrückt, missmutliig, reizbar. Diese ganze geistige 
Veränderung wird als Lässigkeit und Faulheit und böswillige 
Verstocktheit von der Umgebung gedeutet. Ich erinnere mich 
an einen Steinhauerlehrling von 15 Jahren, der mit den schwer¬ 
sten Arbeiten in einem Steinbruche beschäftigt wurde. Er wurde 
so „dummrig“, dass er alle Aufträge, mit welchen die Gesellen 
den jüngsten Arbeiter während der Mittagspause betrauten, sofort 
vergessen hatte: er kehrte von seinen Ausgängen mit leeren 
Händen zurück und wurde wegen seiner Faulheit dann weidlich 
durchgeprügelt. Er war früher ein gut begabter, fieissiger, ge- 


No. 23. 

weckter Junge in der Schule gewesen, der schliesslich g-eistig 
völlig zu Grunde ging. 

Dass es sich um einen geistigen Krankheitszustand handelt, 
wird dem Laien erst dann offenbar, wenn die Uebererregungs- 
symptome schärfer hervorfreten. Diese entwickeln sich meist 
ganz plötzlich und unvermittelt. Man wird in der Mehrzahl der 
Fälle irgend eine Gelegenheitsursache, einen heftigen Schreck, 
eine Misshandlung, eine Erkältung u. s. w. nachweisen können, 
welche diese jähe Steigerung der Krankheitserscheinung verursacht 
hat. Mit Vorliebe knüpfen die Erregungszustände an die nächt¬ 
liche Schlaflosigkeit an; die gesetzmässige Ideenassociation Ist 
völlig unterbrochen, es tauchen regellos und wirr durcheinander 
gewürfelte, abgerissene Vorstellungsreihen in beschleunigtem 
Tempo auf. Massenhafte Hallucinationen und Illusionen be¬ 
herrschen die Patienten und bestimmen zum grössten Theil den 
springenden, bald schreckhaften, bald heiteren, bald zornerfüllten 
Gedankeninhalt. Es ist wohl eine der schwierigsten und oft un¬ 
möglich zu lösenden Fragen, inwieweit der sprachlich geäusserte 
oder in Ausdrucksbewegungen erkennbare pathologische Vor¬ 
stellungsinhalt auf primär entwickelten incohärenten („Einfällen“) 
Wahnvorstellungen oder auf den hallucinatorishen und illusio¬ 
nären Störungen beruht. 

Die Kranken sind zugleich völlig unorientirt Uber ihren 
Aufenthaltsort und die Personen ihrer Umgebung. Die affective 
Erregung der Kranken ist durchaus wechselnd und, wie schon 
vorstehend angedeutet, secundär, ausschliesslich von dem Vor- 
stellungsiuhalt abhängig. Die motorische Erregung der Kranken 
zeigt dieselben charakteristischen Merkmale der völligen In- 
cohärenz und führt zu plan- und ziellosen Handlungen. 

Nachdem diese Erregung einige Stunden angedauert hat, 
tritt eine scheinbare Erholung ein, indem der Kranke in ein 
stumpfes, apathisches Verhalten verfällt. Er liegt dann mit ge¬ 
schlossenen Augen, fast regungslos und stumm da, reagirt auf 
Anrufen entweder gar nicht oder nur mit einfachen, sinnlosen 
Antworten, welche den Beweis erbringen, dass die SinneseindrUcke 
gar nicht oder äusserst unvollkommen aufgenommen und verar¬ 
beitet werden. Alle activen Antriebe zu motorischer Thätigkeit, 
selbst zu den einfachsten Verrichtungen, zur Nahrungsaufnahme, 
Körperpflege, fehlen entweder völlig oder sind nur mühsam 
durch wiederholtes Zureden zu erwecken. Meist müssen die 
Patienten wie kleine Kinder gefüttert und gereinigt werden. 
Ganz allmählich treten diese schweren Erschöpfungssyraptome, 
welche als Reaction auf die acute Erregungsphase und den durch 
sie bedingten abnormen Kräfteverbrauch aufgefasst werden müssen, 
wieder zurück. 

Ausgeprägte Hemmungserscheinungen, welche in einer hoch¬ 
gradigen Verlangsamung aller intellectuellen Leistungen ein¬ 
schliesslich der Willkürbewegungen bestehen, beherrschen das 
eintönige Krankheitsbild. 

Es gelingt wohl gelegentlich bei Öfterer Wiederholung ein¬ 
fachster Fragen z. B. nach Name, Alter, Heimathsort stockend 
und zögernd gemurmelte Antworten zu erlangen, welche uns be¬ 
weisen, dass diese Fragen richtig verstanden und intellectnell 
richtig verarbeitet worden sind. Auch einfachste Rechenaufgaben, 
dem kleinen Einmaleins entnommen, werden richtig gelöst. Aber 
alle weiter gehenden Versuche, die Patienten geistig anzuregen oder 
complicirtere geistige Operationen ausführen zu lassen, scheitern an 
ihrer völligen Unfähigkeit, auch nur den Sinn der Frage richtig 
aufzufassen. Es fällt vor Allem das völlige Unvermögen, sich in 
der Gegenwart zurecht zu finden, auf. Die Patienten blicken den 
Fragenden verständnislos an, sobald er Auskunft Uber ihren 
jetzigen Aufenthaltsort, den Namen von Mitkranken und Pflegern, 
Uber Jahreszeit, Datum u. s. w. erlangen will. Schon nach 
wenigen Versuchen, die Aufmerksamkeit der Patienten zu fixiren 


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7. Juni 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


499 


und sie zu irgend einer selbstständigen Arbeit anzuregen, versagt 
ihre intellectuelle Leistung vollständig. Sie greifen sich mlide an 
die Stirn, schliessen die Augen, sinken in’s Kissen zurUck und 
nehmen keinerlei Notiz mehr von dem Fragenden. Die Muscu- 
iatur der stuporösen Patienten ist meist schlaff, doch begegnen 
wir auch Fällen, in denen vorübergehend eine leichte Erhöhung 
des Spannungszustandes der Extremitätenrausculatur deutlich her¬ 
vortritt. Die Muskeln fühlen sich dann etwas rigide an, passiven 
Bewegungen der oberen oder unteren Extremitäten wird ein leichter 
Widerstand entgegengesetzt. Ausgeprägte Flexibilitas cerea ge¬ 
hört aber beim einfachen Erschöpfungsstupor zu den Selten¬ 
heiten. 

Dass aber auch hier gelegentlich Reizerscheinungen auf 
psychischem Gebiete wenn auch vereinzelt und höchst flüchtig 
auftretend, sich hinter dieser scheinbar völligen Erstarrung 
abspielen, wild durch ein plötzliches Kichern, lautes Aufschreien, 
oder einen angstvollen Gesichtsausdruck, einen Thränenerguss, 
durch sinnlose, geradezu autoraatenhaft ausgeführte Handlungen 
kenntlich. Die Letzteren werden nicht selten in einförmiger 
Weise längere Zeit hindurch ausgeführt. 

Diese Erscheinungen geben uns darüber Aufschluss, dass 
die in der Erregungsphase kund gewordene Unorientirtheit und 
Dissociation auch in der stuporösen Phase andauert. In diesem 
Zustand verharren die Patienten Wochen und Monate lang. Bei 
dem völlig ungenügenden Schlafe und dem Darniederliegen der 
Ernährungsvorgänge magern die Patienten hochgradig ab, der 
Blick ist ausdruckslos, erloschen, das Gesicht und die Extremi¬ 
täten sind leicht cyanotisch und kalt anzufUhlen. Es treten auch 
gelegentlich Oedeme der Füsse ein. Die Besserung erfolgt ganz 
allmählich, die Patienten gewinnen langsam die Orientirung 
wieder, einfache Gedankenoperationen, z. B. elementare Rechen¬ 
aufgaben, die Abfassung eines kurzen Briefes an ihre Angehöri¬ 
gen, die Ausführung leichter mechanischer Arbeiten beweisen 
das langsame Schwinden der psychischen Hemmung, mit welcher 
die körperliche Erholung gleichen Schritt hält. 

Ich habe in dieser Skizze das Bild eines ausgeprägten schweren 
Falles gezeichnet, dessen völlige Wiederherstellung erst nach 
einer Uber Monate sich erstreckenden Erholungszeit zu erwarten 
ist. Der gesammte Krankheitsverlauf beansprucht dann durch¬ 
schnittlich einen Zeitraum von 9—12 Monaten. 

(Schluss folgt.) 


V. Aus dein hygienischen Institute der Universität 

München. 

Zur Kenntniss der Wirkungen des extra¬ 
vasculären Blutes 1 ). 

Von 

Privatdocent Dr. Martin Hahn. 

In den letzten Jahren sind eine ganze Reihe von extra- 
vasculär nachweisbaren Wirkungen des Blutes und Blutserums 
beschrieben worden. Es sei hier zunächst an die bacterien- 
tödtende Wirkung des Blutes und Blutserums, an die bactericide 
Action, sodann an die globulicide erinnert. Ferner ist die von 
Magendie 2 ) festgestellte Thatsache, dass sich im Blute und im 
Blutserum ein diastatisches Ferment findet, welches Stärke in 
Traubenzucker überführt, neuerdings von vielen Seiten bestätigt 


1) Nach einem am 16. März d. J. in der Gesellschaft für Morpho¬ 
logie nnd Physiologie in München gehaltenen Vortrage. 

2) Compt. rend. 1846. 


und namentlich von E. Fischer und W. Niebel 1 ) auch für 
andere Polysaccharide erwiesen worden. Durch die Unter¬ 
suchungen von Fritz Voit 2 ) wissen wir, dass die Fischer- 
schen Resultate im Princip auch für den menschlichen Organis¬ 
mus Geltung haben. In neuester Zeit ist dann von einem 
deutschen und einem französischen Forscher (Cohnstein*), 
Hanriot 4 )) ziemlich gleichzeitig festgestellt worden, dass auch 
das Fett eine Veränderung durch extravasculäres Blut und Blut¬ 
serum erfährt und zwar, wie nach den Untersuchungen Han- 
riot's wahrscheinlich ist, in der Weise, dass es verseift wird. 
Während all' diese Functionen des extravasculären Blutes und 
Blutserums so ziemlich von allen Forschern als überlebende 
acceptirt werden, ist eine Eigenschaft des Blutes, die, nämlich 
den Zucker zu zerstören, nicht ohne Weiteres als eine vitale 
betrachtet worden uud man hat vielfach gemeint, es handle sich 
hier um eine erst post mortem auftretende Fähigkeit des Blutes. 
Die Thatsache selbst, dass auch beim Stehen in Zimmertempe¬ 
ratur das Blut ziemlich schnell erheblich von seinem Zucker¬ 
gehalt einbUsst, wurde schon von Claude Bernard beobachtet, 
von R. L cp ine namentlich weiter verfolgt und darf jetzt wohl 
als eine allgemein anerkannte gelten. 

Bei unseren Untersuchungen Uber die Herkunft, die Bedeu¬ 
tung und die Eigenschaften der bacterienfeindlichen Körper des 
Blutes und Blutserums musste sich naturgemäss die Frage auf¬ 
drängen, ob nicht gewisse Beziehungen zwischen diesen ver¬ 
schiedenen Wirkungen des extravasculären Blutes bez. Serums 
festzustellen seien. Für die globulicide und bactericide Action 
ist seiner Zeit schon von H. Büchner 1 ) und seinen Schülern 
nachgewiesen worden, dass grosse Analogien bestehen, dass na¬ 
mentlich die Vernichtung der Körper, welche beide Actionen 
ausüben, durch dieselben Temperaturgrade, also halbstündiges 
Erwärmen auf 55" herbeigeführt werden kann. 

In meinen Versuchen, über die ich demnächst ausführlicher 
berichten werde, wurde nun zunächst die diastatische Wirkung 
des Blutes und Blutserums nach dieser Richtung hin geprüft 
und dabei festgestellt, dass Blut und Blutserum ihre diastatische 
Fähigkeit durch Erwärmen auf 55° nicht einbüssen. Erst bei 
halbstündigem Erwärmen auf GO" macht sich eine deutliche Ver¬ 
minderung bemerkbar und erst bei 65—70° erlischt die diasta¬ 
tische Wirkung. Dieses Resultat stimmt vortrefflich mit Beob¬ 
achtungen von Kjeldahl") Uber die Malzdiastase überein, der 
schon vor langer Zeit festgestellt hat, dass die Malzdiastase 
ihre Wirksamkeit erst durch langdauemdes Erwärmen auf 66° 
verliert. Auch die Aufbewahrung bei Licht und Zimmertempe¬ 
ratur, welche die globulicide und bactericide Wirkung des 
Serums in kurzer Zeit vernichtet, verändert die diastatische 
Fähigkeit des Serums nur wenig. Nach 14 Tagen liess sich im 
Hundeserum noch eine diastatische Wirkung nachweisen, die 
drei Viertel der ursprünglichen gleichkam. Dass die bactericide 
und diastatische Thätigkeit des Serums unabhängig von einander 
verlaufen, konnte ferner dadurch nachgewiesen werden, dass sich 
in Serumproben, die gleichzeitig mit Glycogenlösung und Bacte- 
rien versetzt waren, dasselbe bactericide Vermögen fand, wie in 
solchen, die nur mit Bacterien geimpft waren, andererseits in 
Proben, die erst mit Bacterien geimpft waren und nach einiger 
Zeit mit Glycogenlösung versetzt wurden, die diastatische Wir¬ 
kung nicht vermindert war. Beide Functionen haben also nichts 
mit einander zu thun. Anhangsweise sei noch erwähnt, dass 

1) Sitzungsbcr. d. Akad. d. W., Berlin 1896. 

2) Münchener med. Wochenschrift 1896. 

3) Pflüger'8 Arch., Bd. 65. 

4) Compt. rend. CXXIV. 

5) Arch. f. Hygiene, Bd. XVII. 

6) Cit. nach Maly’s Jahresbericht, Bd. IX. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 23. 


auch die durch Aleuronatbrei erzeugten Pleuraexsudate ein ziem¬ 
lich beträchtliches diastatisches Vermögen aufweisen. 

Die lipolvtische Action des Serums scheint nach den Ver¬ 
suchen Hanriot's und Camus’ 1 ) jedenfalls gegen die Einwir¬ 
kung von höheren Temperaturen empfindlicher zu sein, w'ie die 
diastatische: sie erlischt schon fast völlig durch einstündiges 
Erwärmen auf 00". 

Im Gegensatz zu der Feststellung von derartigen fermenta¬ 
tiven Wirkungen des Blutserums steht eine Beobachtung von 
Roden 2 ), auf die mich Herr Professor Hammarsten zuerst 
aufmerksam gemacht hat, nach welcher die Labgerinnung durch 
die Gegenwart von Blutserum verhindert wird. Wir würden es 
also hier mit einer Eigenschaft des Blutes bez. Serums zu thun 
haben, durch welche das Ferment in seiner Thätigkeit verhindert 
wird, wenn nicht gänzlich zerstört wird („antifermentative Action 
des Blutes“). Diese Beobachtung legte natürlich eine Ver¬ 
gleichung mit der bactericiden Action ganz besondere nahe. 
Roden hatte seine Versuche hauptsächlich mit Pferde-, Schweine- 
und Rindereerum angestellt. Ich konnte zunächst feststellen, 
dass auch Hundeblut diese Wirkung auf das Labferment auszu¬ 
üben im Stande ist. Dieselbe Menge Labferment, die nach 
24stündiger Digestion bei 37° noch 10 ccm Milch in 3 bis 5 
Minuten zur Gerinnung brachte, vermochte, nachdem sie 24 
Stunden mit Hundeblut bei 37° digerirt war, nicht in 3 Stunden 
die Gerinnung der gleichen Milchquantität herbeizuführen. Aber 
diese Wirkung des Blutes und Serums erstreckt sich nicht nur 
auf das Labferment, sondern auch — und dadurch gewinnt die 
Beobachtung an Interesse — auf das Trypsin und Pepsin, wie 
ich feststellen konnte. Dass das Trypsin durch frische Organe 
vernichtet wird, während es sich in gekochten Organen erhält, 
hatte schon Fermi*) feststellen können, und auch Matthes hat 
den Widerstand lebender Gewebe gegen das Pepsinferment 
durch mehrfache Versuche erwiesen 4 ). Aber dass auch die Kör- 
pereäfte, insbesondere das Blut und Blutserum eine solche ver¬ 
nichtende Wirkung auf das Trypsin-Pepsinferment auszuüben im 
Stande sind, dafür konnte ich in der Literatur keine Angaben 
finden. Wenn man starre Gelatine mit einer Trypsinlösung 
Uberschichtet, so tritt bekanntlich sehr bald eine Lösung der 
Gelatine ein. Mischt man dagegen die Trypsinlösung mit Hunde¬ 
serum, so bleibt die Gelatine ungelöst. Ebenso wenig lösen sich 
Fibrinflocken in einer Trypsinlösung, die mit Serum versetzt ist. 
Man könnte denken, dass die Lösung des Fibrins, der Gelatine 
nur deshalb nicht erfolgt, weil inzwischen das Serum selbst ver¬ 
daut wird, also das Trypsin gewissermaassen mit Beschlag be¬ 
legt ist. Aber auch das ist nicht der Fall: Quantitative 
N-Bestimmungen im Filtrate der coagulirten Semm-Trypsin- 
mi8cliung haben ergeben, dass keine Verdauung im Serum statt¬ 
findet, dass der Gehalt an nicht coagulirbarem Eiweiss nicht 
zunimmt. Und ebenso steht es mit dem Pepsin: auch das 
Pepsin wird durch das Serum vernichtet, wobei allerdings wohl 
auch die Empfindlichkeit dieses Fermentes gegenüber Alkalien, 
d. h. hier gegenüber der Wirkung des alkalischen Serums, eine 
Rolle spielen wird. Wenn man Pepsinlösung und Serum mischt, 
die Mischung 24 Stunden bei 37 0 digerirt und alsdann die 
nöthige Salzsäuremenge zufügt, so tritt keine nennenswerthe 
Wirkung mehr ein, während die gleichfalls digerirte Control¬ 
probe des Pepsins ohne Serum fast das ganze Serumeiweiss 
verdaut. Freilich ist, wie sich wenigstens für das Trypsin nach- 
weisen liess, dieses antitermentative Vermögen des Serums kein 
unbegrenztes. Bei Zusatz grösserer Mengen von Trypsin zum 

1) Compt. rend. GXXIV, No. 5. 

2) Cit. nach Maly's Jahresbericht, Bd. XVII. 

8) Zeitschrift f. Hygiene, Bd. XVIII. 

4) Centralbl. f. med. Wissensch. 1894, No. 4. 


Serum tritt Verdauung des Serumeiweiss ein. Aber gerade 
dieser Umstand spricht dafür, dass wir es hier nicht mit ein¬ 
fachen chemischen Vorgängen, etwa mit einem Mangel an Alka¬ 
lien, mit einer hinderlichen Wirkung der Salze zu thun haben. 
Andererseits ist nun aber die fermeDtvernichtende Eigenschaft 
des Serums nicht ohne Weiteres zu identificiren mit der bacte¬ 
riciden. Denn auch die trypsinvernichtende Fähigkeit erlischt 
nicht bei 55—BO", sondern wie die diastatische, erst bei ca. 65°. 
Ein auf (35° erwärmtes Serum wird von einer kleinen Quantität 
Trypsinlösung gut verdaut. Auch beim Aufbewahren in Licht 
und Zimmertemperatur scheint das trypsinvernichtende Vermögen 
des Serums nur wenig zu leiden. In weiteren Versuchen soll 
noch berücksichtigt werden, in wie weit etwa die Herkunft des 
Serums und des Fermentes von verschiedenen Thierspecies anf 
den Ablauf der Fermentvernichtung von Einfluss ist. 

Auf die Bedeutung dieser Beobachtung für die 
interessante Frage, warum Magen und Pankreas sich 
nicht selbst verdauen, soll hier nur kurz hingewiesen 
werden. 

Wie schon oben erwähnt wurde, haben sich an die zucker¬ 
zerstörende oder glycolytische Wirkung des Blutes zahl¬ 
reiche wissenschaftliche Erörterungen geknüpft. Die Ursache für 
die abweichenden Resultate der einzelnen Autoren scheint zum 
Theil darin zu liegen, dass verschiedene und nicht völlig gleich¬ 
wertige Methoden der Blut-Zuckerbestimmnng benützt w'urden. 
Ich möchte an dieser Stelle vor allem für die Schenk’sehe 
Methode 1 ) eintreten (Lösung der Eiweisskörper durch 2proc. 
Salzsäure und Fällung derselben mit Sublimat), die mir in zahl¬ 
reichen Controlvereuchen nur wenig differente Resultate ergeben 
hat und deren absolute Genauigkeit von Schenk bereits hin¬ 
reichend erwiesen ist. 

Man hat vielfach die zuckerzerstörende Wirkung des Blutes 
als eine postmortale Erscheinung aufgefasst, die mit dem Ge¬ 
rinnungsvorgang eng verknüpft sei. Als Beweis dafür wird u. a. 
ein Versuch von Colenbrander angeführt. Die Gerinnung des 
extravasculären Blutes kann bekanntlich durch Injection von 
Blutegelextract verhindert werden. Nach Colenbrander soll in 
einem derartig ungerinnbar gemachten Blute auch keine Zucker¬ 
zerstörung stattfinden. Ich habe früher schon nachgewdesen, 2 ) dass 
durch Zusatz von Lilienfeld’s Histon 3 ) zum Blute, wodurch 
die sofortige Gerinnung verhindert wird, die bactericiden Wir¬ 
kungen des Blutes nicht aufgehoben werden. Ebenso liess sich 
nun durch eine Reihe von Versuchen feststellen, dass, wenn durch 
Histonzusatz die Gerinnung des Hundeblutes verzögert wird, das 
Blut trotzdem in gleicher Weise zuckerzeretörend wirkt, wie 
gleichzeitig entnommenes defibrinirtes Blut. Es sei an dieser 
Stelle hervorgehoben, dass sich in dem Histonblut nach ein- bis 
zweistündiger Digestion bei 37 0 leichte Gerinnsel bilden, dass 
aber trotzdem noch das Mikroskop zahlreiche wohl erhaltene 
Leukocyten mit amoeboider Bewegung zeigt. Längere Digestion 
bei 37° scheint nach meinen Versuchen ein Blut, dem der von 
Lilienfeld angegebene Procentsatz von Iliston zugefügt ist, 
nicht zu vertragen, ohne allmählich vollständig zu gerinnen. 
Jedenfalls ist aber nach meinen Versuchen mit Histonblut, die 
zum Theil nur 1—2 Stunden dauerten, die ZuckerzeretÖrung nicht 
an den Gerinnungsvorgang geknüpft und zeigt somit in dieser 
Beziehung das gleiche Verhalten wie die bactericide Wirkung 
des Blutes. 

Eine weitere Analogie besteht zwischen diesen beiden Actionen 
des Blutes insofern, als auch das glykolytische Vermögen des 


1) Pflüger's Archiv, Bd. 55. 

2) Arch. f. Hygiene, Bd. XXII. 

3) Zeitschr. f. phys. Chera., Bd. XX, Heft 1 u. 2. 


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n itvnt 189 7i 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


601 


Blutes durch Erwärmen auf 55 0 vernichtet wird, eine Thatsache, 
die schon durch die Untersuchungen Lepine’s und BarraUs') 
bekannt war und von mir in mehreren Versuchen bestätigt werden 
konnte. Ferner verliert das Blut seine zuckerzerstörende Wirkung, 
ebenso wie seine bactericide, beim Aufbewahren in Zimmer¬ 
temperatur. Nach 3 Tagen war in einem Versuche das glyko- 
lytische Vermögen eines vorher sehr wirksamen Blutes auf '/« 
Jierabgemindert. Die Zuckerzerstörung im Blute ist ferner ebenso 
wie die Bacterienvernichtung in ihrer Intensität abhängig von 
der zum Versuche benutzten Blutmenge: während 25 ccm Blut 
29,4 mgr Traubenzucker zerstörten, verschwanden bei Anwen¬ 
dung von 5 ccm desselben Blutes nur 11 mgr. Die Beimischung 
von Blut einer fremden Thierspecies, die nach H. Buchner’s 
Versuchen 1 2 ) die Bacterienvernichtung beträchtlich herabmindert 
bez. gänzlich aufhebt, scheint auch die Zuckerzerstörung sehr 
ungünstig zu beeinflussen. Während 45 ccm Kaninchenblut allein 
15,1 mgr Zucker zerstörten, wurden durch ein Gemisch von 
45 ccm desselben Kaninchenblutes mit 15 ccm Hundeblut nur 
5,5 mgr Zucker zum Verschwinden gebracht. Ob es sich hier 
um eine direkte Vernichtung derjenigen Körper im Blute handelt, 
welche die Zuckerzerstörung bewirken, oder ob nicht, wie es 
nach einzelnen meiner Versuche wahrscheinlich ist, die gleich¬ 
zeitig eintretende Lösung der rothen Blutkörperchen hier auch 
eine Rolle spielt, darüber müssen erst weitere Untersuchungen 
Aufschluss geben. 

In einer früheren Publication 3 ) konnte ich feststellen, dass 
die bacterienvemichtende Wirkung des Blutes im Stadium der 
Hyperleukocytose steigt. Das gleiche liess sich nun für die 
zuckerzerstörende Wirkung des Hundeblutes nachweisen, wenn¬ 
schon nicht immer in gleichem Maasse. Die nachfolgende Tabelle 
zeigt aber, dass sich in der Mehrzahl der Fälle doch recht be¬ 
trächtliche Unterschiede ergaben. 



Traubenzucker in mgr 
zerstört durch 

25 ccm 
normales 
Blut 

25 ccm 
hyperleukoc. 
Blut 

Hund 1 . . . . 

9,4 

28,6 

Hund 2 . . . . 

4,5 

14,2 

Hund 3 . . . . 

13,7 

20,0 

Hund 4 . . . . 

9,0 

— 

Derselbe . . 

8,2 

18,4 

Hund 5 . . . . 

12,2 

17,2 


Somit bestehen also in der That bemerkenswerthe Analogien 
zwischen der bactcriciden und zuckerzerstörenden Wirkung des 
Blutes. Beide Actionen sind unabhängig von der Gerinnung des 
Blutes, sie werden beide vernichtet durch Erwärmen auf 55°, 
durch Aufbewahren bei Zimmertemperatur, ungünstig beeinflusst 
durch Zumischung des Blutes einer fremden Thierspecies, sie 
sind abhängig in ihrer Intensität von der angewandten Blut¬ 
menge, sie steigen im Stadium der Hyperleukocytose. 

Aber trotzdem besteht eine grosse Differenz, welche eine 
Identificirung dieser beiden Blutwirkungen nicht zulässt: das 
Serum besitzt wohl bactericide, aber keine zuckerzerstörenden 
Eigenschaften. Diese Thatsache, die von Lepine zuerst fest¬ 
gestellt, von Spitzer 4 ) bestätigt wurde, konnte auch in meinen 
Versuchen wiederholt sicher nachgewiesen werden. Es soll hier 
nur auf diesen wichtigen Unterschied hingewiesen und es sollen 


1) Compt rend., 112. 8. 146. 

2) Arch. f. Hyg., Bd. XVII. 

8) Arch. f. Hyg., Bd. XXVIII. 

4) Pflüger’« Archiv 60, 8. 806. 


keine weiteren Schlussfolgerungen Uber die Herkunft des glyko- 
lytischen Ferments oder die Art und Weise, wie die Zucker¬ 
zerstörung zu Stande kommt, daran geknüpft werden. Die theo¬ 
retischen Auseinandersetzungen Spitz er’s Uber diesen Gegenstand 
sind gewiss der Beachtung werth. Wenn, wie Salkowski 1 ) 
anzunehraen geneigt ist, das zuckerzerstörende Ferment mit dem 
Oxydationsferment der Gewebe identisch ist, so müsste die 
Thätigkeit des Fermentes sicher eine sehr elektive sein und sich 
vornehmlich auf Körper mit Aldehyd- bez. Alkohol-Charakter 
beschränken. Denn nach einigen von mir angestellten Versuchen 
wird z. B. die sonst so leicht oxydable Oxalsäure von dem extra- 
vasculären Blute weder als freie Säure noch als Na 4 riumsalz 
selbst bei längerer Digestion angegriffen, ein Ergebniss, das 
übrigens mit den Resultaten von Gaglio 2 ) Uber die Nichtoxydir- 
barkeit der Oxalsäure im Organismus Ubereinstimmt und wieder 
zeigt, dass sich die Vorgänge im extravasculären Blut nicht 
anders abspielen, als im Thierkörper selbst. 

Nach diesen Versuchsergebnissen müssen wir sagen, dass 
sich ein engerer Zusammenhang, wenngleich keine Identität nur 
für die globulicide, die bactericide und die zuckerzerstörende 
Wirkung des Blutes nachweisen lässt, dass diese Actionen in der 
That von activen Ei weisskörpern im Sinne Buchner’s auszu¬ 
gehen scheinen, wie namentlich die geringe Widerstandsfähigkeit, 
welche sie gegen unbedeutende physikalische Eingriffe zeigen, 
beweist. Dagegen ist die fermentvernichtende und die diasta- 
tische Wirkung des Blutes sicher nicht an die Gegenwart so 
labiler Körper gebunden und auch die Lipase Hanriot’s scheint 
widerstandsfähiger zu sein. 


VI. Aus der Universitäts-Augenklinik in Breslau. 

Ein Beitrag zu den Sehstörungen bei Zwerg¬ 
wuchs und Riesenwuchs resp. Akromegalie. 

Von 

Prof. W. Uhthoff. 

(Fortsetzung.) 

Verschiedene Autoren, Putnam (Americ. Journ. of med. 
scienc., Aug. 1893), Bramwell (Brit. med. Journ., February 25., 
1893) u. A., haben die Erscheinungen der Akromegalie mit 
Hypophysisaffection nach Darreichung von Thyreoidextract sich 
bessern sehen. 

Marie und Marinesco (Arch. de med. experim. et d’ana- 
tom. pathol. 1891) nehmen an, dass die Hypophysis- und die 
Thyreoidea-Substanzen neutralisiren und unschädlich machen, 
welche nach Entartung dieser Organe toxisch auf die nervösen 
Centren einwirken und dadurch eine continuirliche Hypertrophie 
des Gewebes verursachen. 

Auf die histologische Aehnlichkeit zwischen Schilddrüse und 
Hypophysis ist schon von Virchow und nach ihm von einer 
Reihe von Autoren hingewiesen. 

Es darf wohl als sicher angesehen werden, dass die Schild¬ 
drüse und Hypophysis zwei Organe sind, die in einer gewissen 
Beziehung zu einander stehen, dafür sprechen die angeführten 
physiologischen und anatomischen Daten, und wie wir gleich 
sehen werden, auch manche Thatsachen aus dem Bereiche der 
Pathologie des Menschen. Dass wir es jedoch mit einer gleich¬ 
artigen Function beider Organe zu thun haben und somit von 
einer direkt vikariirenden Thätigkeit des einen für das andere 


1) Virchow’s Archiv, Bd. 147. 

2) Annal. di chim. e di farmac., 8er. IV. 


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1 


=JJ2 

sprechen können, das dürfte bisher doch noch nicht als hin¬ 
reichend nachgewiesen anzusehen sein. 

Des Weiteren sprechen für bestimmte Beziehungen zwischen 
Schildrüse und Hypophysis Thatsachen aus der menschlichen 
Pathologie. Zunächst die Befunde bei Cretinismus, der, wie wohl 
jetzt als ganz feststehend anzusehen ist, entsprechend den An¬ 
sichten von Kocher u. A., mit einer pathologischen Veränderung 
der Schilddrüse einhergeht und auf derselben beruht. Es sei 
hier an die Untersuchungen von Langhaus, Hanau (Verhandl. 
des X. internat. med. Congresses, Berlin, Bd. II, 3 Abth., pag. 128) 
erinnert und vor Allem an eine Arbeit aus der neusten Zeit 
von W. de Coulon (Bern) „Leber Thyreoidea und Hypophysis 
der Cretinen, sowie Uber Thyreoidalreste bei Struma nodosa.“ 
Virch. Arch. f. path. Anat., Bd. 147, Heft I, 18D7), in welcher 
dem Verhalten der Hypophysis bei Cretinismus und ihrem Verhält- 
niss zur Schilddrüse in den betreffenden Fällen ganz besondere 
Aufmerksamkeit geschenkt wird. Er untersuchte 6 Fälle von 
Cretinismus, hiervon 1 Fall mit guter geistiger Entwickelung. 
In allen Fällen waren die Schilddrüsen entartet und boten in 
sehr hohem Grade den Charakter der Atrophie dar. In 3 von 
diesen Fällen war die Hypophysis ausgesprochen vergrössert, ihr 
Gewicht betrug 0,1)5 g, 1,55 g und 1,05 g, während man das 
Durchschnittsgewicht der menschlichen Hypophysis nach Schoene- 
mann auf ca. 0,6 g schätzt. Auf Grundlage der mikrosko¬ 
pischen Untersuchung neigt C. auch hier zur Annahme atro¬ 
phischer Vorgänge in der Hypophysis. 

Es liegen ferner schon eine Anzahl von Beobachtungen in 
der Literatur vor, wo bei Myxoedem (Bovce and Beardles, 
Journ. of Pathol. and Bacter. 181)3 pag. 355), sporadischem Cre¬ 
tinismus (Bourneville et Brilon, Archives de Neurologie 188(5) 
und Schildrllsenatrophie (Gron „Postmortale Veränderungen bei 
Myxoedem“ Norsk. Magacin for Lägevidenskaben 1804, pag. 734) 
Vergrösserung der Hypophysis bei der Section constatirt wurde. 

Besonders aber müssen hier noch hervorgehoben werden, 
die Untersuchungen aus dem Langh ans'sehen pathologischen 
Institut zu Bern von A. Schoeneman („Hypophysis und 
Thyreoidea“. Virchow’s Arch. f. path. Anat., Bd. 120, Heft 2, 
1802) dessen Resultate für einen'Zusammenhang zwischen Schild- 
drüsenaffection und pathologischen Hypophysis-Veränderungen 
ausserordentlich significant sind. In 27 Fällen mit normaler 
Hypophysis war auch die Schilddrüse durchweg normal oder 
wenigstens ohne hochgradigere Veränderungen. Dagegen zeigten 
sich in einer grossen Anzahl von Fällen (84) pathologische Ver¬ 
änderungen der Hypophysis und fast regelmässig bis auf wenige 
Ausnahmen, handelte es sich hier um eine Erkrankung der Schild¬ 
drüse (Struma) zum Theil mit fast völliger Zerstörung des gesunden 
Schilddrüsengewebes, so das hier an einem Zusammenhang 
zwischen Hypophysis und Schildrüsen-Erkrankung gar nicht zu 
zweifeln sein dürfte. 

Wie steht es nun diesen Daten gegenüber mit unsern bis¬ 
herigen Beobachtungen Uber Sehstörungen bei Schilddrüsener- 
krankungen (Struma, Atrophie) und deren Folgezuständen (Creti¬ 
nismus, Myxoedem, Kachexia thyreoipriva, Zwergwuchs u. s. w.), 
da doch die so häufig nachgewiesene Erkrankung der Ilypophysis, 
wie man von vornherein annehmen sollte, geeignet ist, eventuell 
eine schädliche Einwirkung auf die basalen Sehnervenbahnen und 
vor Allem das Chiasma auszuüben. Trotzdem sind die Mitthei¬ 
lungen Uber Sehstörungen bei diesen Zuständen bisher ausser¬ 
ordentlich sparsam. In Bezug auf Cretinismus und Sehstörungen 
liegt fast gar nichts vor, und ich möchte hier nur die Koch er¬ 
sehen Angaben citiren (Deutsche Zeitschr. f. Chirurgie, Bd. 34, 
1802, pag. 556), denen ich aus der neueren Literatur nichts 
wesentliches hinzufügen konnte. Derselbe sagt pag. 567 „Auch 
die übrigen Sinne sind abgestumpft, das Gesicht functionirt noch 


No. 23 . 

relativ am besten. Doch werden auch bloss starke Lichtein¬ 
drücke in den höheren Graden des Leidens wahrgenomraen, wie 
Blitz, greller Lichtwechsel, aber nach einzelnen Schilderungen 
lässt ein Cretin öfters Stundenlang die Sonne direct auf sein 
Gesicht scheinen, ohne dadurch belästigt zu sein.“ Ewald er¬ 
wähnt in seiner neuen erschöpfenden Monographie (1. c.) pag. 108, 
bei dem Krankheitsbilde des Myxoedem's und der Kachexia 
struraipriva: „In einigen Fällen ist eine Gesichtsfeldbeschränkung 
notirt, in andern ist Atrophie der Nervi optici und Oedem der 
Retina angegeben.“ — Ich erwähne hier ferner die Beobachtung 
von Wadsworth (A case of Myxoedema with Atrophie of 
the optic nerves. Bost, medic. and surgic. Journ. 1885 Jan.), 
der in 1 Fall von Myxoedem beiderseitige Sehnervenatrophie mit 
scharfer Begrenzung der Papillen und hochgradiger Sehstörung 
(Rechts nur Lichtempfindung. Links S= 1 / 2 mit concentrischer 
Gesichtsfeldbeschränkung) feststellte (Ref. Mich. Jahresber. 1885, 
das Original war mir leider nicht zugänglich). 

Diese überaus sparsamen bisherigen Mittheilungen zeigen 
zunächst, dass bei Schilddrüsenerkrankungen und deren Folge¬ 
zuständen (Cretinismus. Myxoedem, Kachexia thyreoipriva n. s. w.) 
Sehstörungen jedenfalls ausserordentlich viel seltener Vorkommen, 
als z. B. bei der Akromegalie, obschon auch bei den ersteren 
Zuständen Hypophysis-Veränderungen nicht selten zu sein scheinen. 
Es muss wohl die pathologische Veränderung der Hypophysis 
hier gewöhnlich mit geringerer Volumszunahme einhergehen als 
bei der Akromegalie und somit weniger geeignet sein, die basalen 
optischen Bahnen zu schädigen. Immerhin zeigt unser Fall, wie 
ich glaube, dass wir auch bei Schilddrüsenatrophie eine secundäre 
Hypophysis-Veränderung bekommen können, welche eine schwere 
Sehstörung unter dem Bilde der temporalen Hemianopsie herbei- 
führt. Darin liegt meines Erachtens die principielle Bedeutung 
dieser Beobachtung und sie dürfte wohl dazu mahnen, bei Schild- 
drüsenerkrankung und deren Folgezuständen in Zukunft dem 
Verhalten des Sehorgans eine grössere fachmännische Aufmerk¬ 
samkeit zuzuwenden und ich bin überzeugt, häufiger als bisher 
wird man in der Lage sein, Sehstörungen und speciell Affection 
der basalen optischen Leitungsbahnen zu constatiren. Und ge¬ 
rade für die Diagnose einer Hypophysis-Vergrösserung intra 
vitam dürfte kein Symptom mehr in die Waagschale fallen als 
eine Sehstörung, zumal unter dem Bilde der temporalen He¬ 
mianopsie, anfangs vielleicht ohne ophthalmoskopische Verände¬ 
rungen, später aber unter dem Auftreten einer atrophischen Ver¬ 
färbung der Papillen. Auch möchte ich glauben, dass in 
manchen Fällen von Cretinismus, wo es zu hochgradigeren Seh¬ 
störungen gekommen, (conf. Kochers citirte Angaben) dieselben 
auf diese Weise zu Stande gekommen sind und bei regelrechter 
ophthalmoskopischer Untersuchung einen positiven pathologischen 
Augenspiegelbefund aufzuweisen haben. 

Zu denken wäre ja vielleicht noch an die Möglichkeit, dass 
auch die Optici bei Cretinismus, Myxoedem, Cachexia thyreoipriva, 
Schilddrüsenatrophie mehr selbständig und primär degeneriren, 
wie das von Langhans u. A. für andere periphere Nerven bei 
Cretinismus und Cachexia thyreoipriva nachgewiesen worden, und 
wie das ja auch bei dem Krankheitsbild der Akromegalie von 
Klebs, Arnold u. A. festgestellt worden ist. Diese Annahme 
dürfte eventuell nicht absolut von der Hand zu weisen sein, ich 
möchte sie aber für mindestens sehr selten halten und jedenfalls 
gilt sie nicht für die Fälle, wo die Sehstörung unter dem Bilde 
der temporalen Hemianopsie in die Erscheinung tritt. 

II. Die beiden Fällen von Acromegalie mit Sehstö¬ 
rungen sind folgende: 

Carl U., 16 J. alt, aus Or. M. war bei Beiner Geburt nicht besonders 
gross. Im 4. Lebensjahr soll er eine Lungenentzündung Uberatanden 
haben, nach deren Ablauf er anflng, sich in besonders auffälliger Weise 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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l.^vva» 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


503 


körperlich za entwickeln. Er wurde schnell sehr viel grösser als seine 
.Altersgenossen, in der Schule hatte er mit dem Lernen keine besonderen 
Schwierigkeiten. Bis rum 10. Lebenjahr hat er angeblich noch 9 mal 
Lungenentzündung gehabt. Seine körperliche Entwickelung erfolgte in 
demselben Maassstabe zum Schrecken seiner Eltern stetig weiter, so dass 
er sich vom Jahre 1894 ab in verschiedenen 8tädten und Ländern 
Europa’s als Riesenknabe sehen Hess. Schon als Kind will er immer 
viel getrunken haben, auch hat er seit früher Jugend viel an Kopf¬ 
schmerzen gelitten, dabei auch häufig starkes Nasenbluten gehabt. Letzte¬ 
res hat schon längere Zeit, die Kopfschmerzen aber erst seit ca. 1 Jahr 
nachgelassen. Im Februar und März 1896 ist dem Patienten das Haar 
sehr ausgegangen. In hereditärer Hinsicht sonst Nichts zu ermitteln, 
nur der GroBsvater mütterlicherseits soll ebenfalls sehr gross gewesen 
sein und war dabei sehr stark, derselbe ist jedoch vor Kurzem erst in 
Folge eines 8turzes von der Treppe gestorben. Sonst sind keine be¬ 
sonders grossen Leute in der Familie, ebenso sollen besondere Krank¬ 
heiten in derselben nicht vorgekommen sein. Pat. hat 5 Brüder und 
2 Schwestern, die alle gesund nnd von mittlerer Grösse sind, gestorben 
ist keines seiner Geschwister, er selbst ist das 4. Kind. 

Am 25. I. 1897 wurde Patient zur Beobachtung auf die Breslauer 
medicinische Klinik aufgenommen, namentlich auch mit Rücksicht darauf, 
ob es rathsam und möglich sei, Patienten als Athleten auszubilden. 

Die objective Untersuchung ergab folgenden Befand: 

Patient ist 194 cm gross, Brustumfang bei der Exspiration 114 cm, 
bei der Inspiration 118 cm Thorax im Allgemeinen gut gebaut, Wirbel- 
B&ale gerade. Lungengrenzen hinten unten in der Höhe des XI. Processus 
spinosus beiderseits, rechts vorn bis zum oberen Rand der VI. Rippe. 
Athemgeräusch laut, rauh, vesiculär. — Herzgrenzen rechts etwas nach 
rechts vom linken Sternalrand, oben Mitte der 9. Rippe, SpitzenBtoss im 
5. Interkostalraum, Herztöne rein. Puls ca. 80, gewöhnlich regelmässig, 
bisweilen etwas unregelmässig bis 96 8chläge. Abdomen sehr stark, 
Leber ragt 2 Finger breit über den Rippenbogen. Milz nachweisbar, 
nicht vergrös8ert. Beiderseitiger Cryptorchism«s, wenig pubes, penis 
klein, bisher nicht potent. 

Im Uebrigen handelt es sich bei dem Patienten um eine ziemlich 
gleichmässige collosBale Entwicklung seines ganzen Körpers, wobei be¬ 
sonders allerdings die obem und untern Extremitäten hervortreten. Die 
beigegebene Figur 9, sowie eine Anzahl von Maassen mögen das illu- 
striren. Füsse 95 cm lang, beiderseitiger Plattfuss, Waden 42 cm im 
Umfang, Oberschenkel 58 cm. Umfang des Handtellers 28 cm, des 
Daumens 10 cm (Thalergrösse), ebenso des Mittelfingers 10 cm, des 
Handgelenkes 24 cm. Missverhälniss zwischen Oberarm und Unterarm, 
die Knochen werden je mehr distalwärts, desto grösser. Mit dem linken 
Arm kann Pat. etwas weniger Widerstand leisten als mit dem rechten. 
Kopfumfang 62 cm, in der Richtung vom Hinterhaupt über das Kinn = 
75 cm. Unterkiefer sehr gross, Zunge desgleichen. Die Zähne stehen 
im Unterkiefer ziemlich weit auseinander. Larynx ohne Besonderheiten, 
mittelgross. Stimme pueril. 

Patient geriith bei Bewegungen leicht in Dyspnoe, desgleichen leicht 
in Scbweiss, es scheinen hierbei die rechte GeBichtshältte, rechter Arm 
und rechte Tboraxhälfte bedeutend mehr betheiligt als die entsprechende 
linke Körperhälfte. 

Die Urinmenge ist erheblich, beträchtlicher Zuckergehalt bis zu 4pCt., 
es besteht also Diabetes, seit welcher Zeit, ist nicht sicher festzustellen. 

Augenbefund: R. A. 8=-^mit 1,0 D. Sn. 0,4 von 12—40 cm, 

L. A. S= mit 1,0 D. Sn. 0,5 in 15 cm einzelne Worte (Fig. 4 u. 5.) 
(Gesichtsfelder). 

Es besteht somit zweifellos eine temporale Hemianopsie, wenn auch 
sehr ungleichmässig auf beiden Augen, jedoch ist auch auf dem rechten 
Auge die quadratenförmige Farbeneinmengung in der temporalen Gesichts- 
bälfte nach aussen oben so ausgesprochen, dass es sich hier zweifellos 
schon um eine Chiasma-Erkrankung und nicht mehr um eine einseitige 
Opticus Affection links handelt. Ophthalmoscopisch: Ist der Befund 
rechts noch ganz normal, die Papille zeigt noch nichts von atrophischer 
Verfärbung, während links eine leichte, aber deutliche atrophische Ver¬ 
färbung der Papille sich geltend macht, jedoch so, dass dieselben in den 
temporalen Theilen mehr zu Tage tritt und in den innern Theilen relativ 
weniger markant ist, dieselben reflektiren noch deutlich röthlich, wenn 
sie auch etwas blasser als normal erscheinen. Die Pupillenreaction ist 
beiderseit normal, die Augenbewegungen nicht gestört. Die Pupillen¬ 
distanz von einander beträgt 79 cm. Die Lidspalten sind sehr breit, 
die Lider etwas weniger elastisch, nach längerm Abziehen kehren dieselben 
relativ langsam in die normale Stellung zurück. 

Die Sehstörung boII sich seit ca. 1 Jahr ganz allmählig entwickelt 
haben. 

Es handelt sich hier somit um einen Krankheitsfall, wo ab¬ 
weichend von dem häufigsten Typus der Akromegalie, die 
Wachsthumsanomalie des Körpers sich schon vom 4. Lebensjahre 
ab kundgab und sich mehr unter dem Bilde des gleichmässigen 
Riesenwuchses als unter dem der eigentlichen Akromegalie (vorzugs¬ 
weise abnorme Vergrösserung der Extremitäten, des Unterkiefers 
u. s. w.) entwickelte. Lange Zeit hindurch wurde Patient auch 
als eigentlicher Riesenknabe angesehen nnd gezeigt und erst in 


Figur 9. 



II. Pat. U., 16 Jahre alt, Riesenwuchs, Akromegalie, temporale Hemianopsie, 
einseitige atrophische Verfärbung des Opticus. Diabetes. 


Figur 4. 



blau,-.— roth, . grün. 



Figur 5. 


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504 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 23. 


späterer Zeit trat das Wachsthum der Extremitäten besonders in 
den Vordergrund, und stellten sich Augenstörungen ein, wie sie 
bei Akromegalie häufig Vorkommen, und die auf eine Ver- 
grösserung der Hypophysis cerebri mit Chiasma-Erkranknng 
zurllckzufUhren sind. Gerade das Auftreten dieser Sehstörung 
war durchaus geeignet und diagnostisch wichtig, um diese 
kollossale Entwicklung des ganzen Körpers als eine exquisit 
krankhafte zu charakterisiren, zumal gleichzeitig Diabetes bestand. 
Auch die Form der Sehstörung und der Gesichtsfeldanomalie weicht 
von dem gewöhnlichen Verhalten ab. Bei oberflächlicher Unter¬ 
suchung konnte dieser Fall als einseitige Sehnervenatrophie mit 
vorzugsweiser Beschränkung in der linken temporalen Gesichts¬ 
feldhälfte gelten; erst die genauste Gesichtsfeldprlifung mit Farben 
ergab auch rechts eine typische Farbenbeschränkung, quadranten¬ 
förmig nach oben aussen gelegen, die mit Sicherheit schon auf 
eine Miterkrankung des Chiasmas hinwies. 

Herrn Geh.-Rath Käst habe ich flir die Ueberlassung resp. 
Zuweisung dieses Falles bestens zu danken, ebenso Herrn Collegen 
Kühn au fttr freundliche Uebermittelung der Krankengeschichte. 

(Schluss folgt.) 


VII. Kritiken und Referate. 

Jacob, Clir.: Atlas der klinischen Untersuchungsmethoden; 
nebst Grundriss der klinischen Diagnostik nnd der »peciellen 
Pathologie nnd Therapie der inneren Krankheiten. 182 farbige 
Abbildungen auf 68 Tafeln nnd 64 Abbild, im Text. München, 
J. F. Lehmann, 1897. 10 Mk. 

Der rührige Verlag von J. F. Lehmann in München hat sich die 
Aufgabe gestellt, in einer Sammlung wohlfeiler Handatlanten die Einzel¬ 
gebiete der Medicin in anschaulicher Weise bildlich darzustcllen. Das 
Unternehmen hat mancherlei schätzenswerthe Arbeiten zu Tage geför¬ 
dert — auch in diesen Blättern konnten wir wiederholt auf vorzüg¬ 
liche Werke hinweisen; wir erinnern z. B. an Hoffa's Verbandlebre, 
an Helferich’s Fracturen und Lnxationen, sowie an den Atlas des 
Nervensystems vom Verfasser der Jetzt vorliegenden Lieferung selbst. 
Auch für diese darf im Allgemeinen gelten, was Bonst rühmend hervor- 
geboben wurde: die Gliederung des grossen Gebietes zeugt von prak¬ 
tischem Blick, die Farbentafeln sind verhältnissmässig sehr splendid 
ausgestattet und sauber ausgeführt, der Preis ein sehr mässiger. 
Der Atlas giebt in seinem I. Theil auf 22 Tafeln die klinische Mikro¬ 
skopie (Blut, Harn, Eitererreger) und „Farbenreactionen“, im II. Theil 
Organsprojectionen und Schemata von Lungen- und Herzkrankheiten; ein 
Textabriss bespricht kurz und bündig die gesammte klinische Diagnostik. 

Aber es soll nicht verschwiegen werden, dass einige Bedenken, die 
man schon bei früheren Lieferungen, nicht ganz unterdrücken konnte, 
sich hier doch ganz besonders aufdrängen. Gewiss ist die schema¬ 
tische Darstellung als Lehrmittel nicht zu entbehren, sie illustrirt 
den lebendigen Vortrag, sie giebt die Abstracta zu den concreten Vor¬ 
gängen der täglichen Erfahrung. Aber sie birgt in sich doch auch eine 
grosse Gefahr: gar zu leicht prägen sich dem Lernenden ihre idealen 
Linien so fest ein, dass er nachher die abweichenden realen Formen 
gar nicht zu erkennen vermag; gar zu leicht begnügt er sich mit der 
Kenntniss des Schema, und vernachlässigt darüber das Wirkliche, That- 
sächliche. Hier werden nun vielfach Dinge dargestellt, die ungemein 
einfach erscheinen und so, im Gedächtniss haftend, starre Form an 
Stelle des lebendigen Werdens setzen. Wenn z. B. die Trommer’sche 
Probe so illustrirt wird, dass in ein Reagensglas unten blaue, oben rothe 
Farbe eingetuscht wird,' so'beweist dies nur, dass man einen so compli- 
cirten, so verschiedenartig 6ich abspielenden Vorgang, den man in allen 
seinen Phasen beobachten muss, eben nicht in ein Bild zu verwandeln 
vermag. Ebenso sind die Darstellungen der drei Urinsedimente durchaus 
geeignet, zu falschen Schlüssen zu verleiten. Andere Bilder sind minde¬ 
stens überflüssig — z. B. das Reagenspapier, welches links blau, rechts, 
zur Darstellung der Säurewirkung, mit rothem Rande bemalt ist, das Rea¬ 
gensglas mit Methylviolett, das durch Salzsäure blau gefärbt wird u. a.m. 
Wer solche elementare Dinge nie gesehen hat, dürfte sie auch aus dem 
Atlas nicht lernen; Alles zielt Jetzt auf „Anschauungsunterricht“ ab, 
gewiss mit Recht — aber er muss wirklich bei der Anschauung bleiben, 
nicht zur todten Copie von Naturvorgängen herabsinken! 

Es scheint uns also, als Bei hier in Bezug auf bildliche Darstellung 
des Guten etwas zu viel gethan; so löblich das ursprüngliche Bestreben, 
so sehr möchten wir vor dem Fortfahren gerade auf diesem Wege 
warnen. Eine zweite Auflage des Atlas kann ein sehr brauchbares und 
empfehlenswerthes Werk werden, wenn sie nicht, wie üblich, vermehrt, 
sondern ausnahmsweise einmal um ein recht Erhebliches vermindert 
sein wird. Posner. 


W. Fleiner: Lehrbuch der Verdauungskrankhelten. I. Hälfte. 

Stuttgart 1896. Ferdinand Enke. 

Obwohl heutzutage gerade kein Mangel an Lehrbüchern der Ver¬ 
dauungskrankheiten herrscht, werden wir doch jederzeit mit grossem In¬ 
teresse Veröffentlichungen entgegensehen, in denen anerkannt fach¬ 
männische Autoritäten das Wort nehmen, um so mehr, wenn, wie in 
dem vorliegenden Werke, der Verf. in der bevorzugten Lage ist, gleich¬ 
zeitig auch die Ansichten und Erfahrungen seiner Lehrer Kussmanl 
und Erb zum Ausdruck bringen zu können. 

In der bis jetzt erschienenen 1. Hälfte bespricht der Verf. die 
Krankheiten der Mund- und Rachenhöhle, der Speiseröhre and des 
Magens. Den bei weitem grössten Theil in dem Buche nimmt natnr- 
gemäss die Darstellung der Magenkrankheiten in Anspruch. Die Be¬ 
sprechung der Erkrankungen der Mundhöhle ist dagegen etwas kurz 
fortgekommen. 

Verfasser behandelt in kurzen Zügen die normalen Vorgänge 
und diejenigen Störungen der MagenVerdauung, welche ohne wirk¬ 
liche Erkrankung des Magens, d. h. ohne äusserlich nachweisbare 
Befunde und Veränderungen desselben als Folge unzweckmässiger Er¬ 
nährung oder als Theilerscheinung allgemeiner Krankheiten etc. bestehen. 
Es folgt hierauf die nach unserem Geschmack allerdings etwas breite Be¬ 
schreibung der Magensonde und deren Handhabung zu diagnostischen 
und therapeutischen Zwecken, weiterhin die Besprechung der Magen¬ 
inhaltsuntersuchung. Den Uebergang zu dem specicllen Tbeile bildet 
eine Auseinandersetzung über die Verwerthung des Untersuchungsbefundes 
zur Diagnose und zur therapeutischen Indicationastellung. Die weiteren 
Capitel umfassen die Pathologie und Therapie der einzelnen Magen¬ 
erkrankungen. 

Es ist selbstverständlich, dass wir bei der Lectfire des vorliegenden 
Werkes auf Anschauungen stosBen, die nicht von jedem getheilt werden 
dürfen. Aber gerade in dieser Subjectivität der Darstellung, die sich 
auf eine grosse Erfahrung auf dem Gebiete der Verdauungskrankheiten 
stützt, sehen wir einen Vorzug des Werkes, das von diesem Gesichts¬ 
punkte aus nicht nur den 8tudirenden, sondern auch den mit der Materie 
vertrauten Arzt interessiren dürfte. 

Es kann hier natürlich nicht auf Einzelheiten näher eingegangen 
werden; doch möchte Referent einige Fragen von praktischer Bedeutung 
besprechen. 

Dass Verf. zur Entnahme der Mageninhaltsproben ausschliesslich 
die Expressionsmethode empfiehlt und die Aspiration als überflüssig und 
sogar als verwerflich bezeichnet, entspricht nicht den Ansichten des 
Referenten. Gewiss stellt die von Ewald und Boas angegebene Ex¬ 
pressionsmethode die einfachste Gewinnungsart deB Mageninhaltes dar; 
aber abgesehen davon, dass dieselbe besonders bei schlaffen Baach¬ 
decken nicht zum Ziele führt und dass dieselbe häufig den an die Ein¬ 
führung des Magenschlanches weniger geübten Patienten sehr anstrengt, 
hat dieses Verfahren auch den Nachtheil, dass durch zu starkes Pressen 
Blutungen auf der Magenschleimhaut zu Stande kommen können. Des¬ 
wegen bevorzugen wir bei Carcinomen, bei Verdacht auf Ulcerationen, 
wie überhaupt bei Zuständen, bei denen Neigung zur Menorrhagie be¬ 
steht, die Aspiration mittelst des von Ewald für solche Zwecke em¬ 
pfohlenen Politzer’schen Gummiballons; dabei sei ausdrücklich betont, 
dass wir bei sehr ausgedehnter Anwendung dieses Verfahrens in der 
Klinik und Poliklinik des Augusta-Hospitals nie üble Folgen beobachtet 
haben. Alle complicirteren Aspiratoren dagegen, so besonders den 
Potain'schen Apparat, hält Referent für ebenso gefährlich als der Ver¬ 
fasser. 

Wenn der Verf. weiterhin dem Nachweis der gebundenen HCl 
jede Bedeutung für die Praxis abspricht, so können wir uns damit nicht 
einverstanden erklären. Nicht nur nach Ansicht des Referenten, sondern 
auch nach Ausspruch anderer Autoren dürfte der Nachweis der gebun¬ 
denen HCl bei Mangel an freier praktisch von nicht zu unterschätzender 
diagnostischer und prognostischer Bedeutung sein. 

Die Geringschätzung, welche der Verfasser der elektrischen 
Durchleuchtung des Magens zu Theil werden lässt, ist wohl nur 
eine Folge davon, dass der Autor bei der Beurtheilung dieser Methode 
nicht ausreichenden eigenen Erfahrungen folgt, sondern sich zu viel auf 
die Angaben anderer Autoren verlässt; wir Bind überzeugt, dass Fleiner 
bei eigener Prüfung dieser Untersuchungsmethode seine Ansichten zu 
Gunsten der letzteren ändern würde. Jedenfalls steht fest, dass die 
Gastrodiaphanie, abgesehen von deren diagnostischer Verwendbarkeit fUr 
die Erkenntniss der Lage-, Form- und Grössenveränderungen des Magens 
sich besonders bei der Entscheidung der Frage über den Sitz palpa- 
torisch nachgewiesener Tumoren in unserer täglichen Erfahrung auf das 
Beste bewährt. 

In dem Capitel „motorische Insufflcienz, Erschlaffung und Erweite- 
ung des Magens“ bezeichnet Fleiner einen Magen als „motorisch in- 
suffleient“, wenn derselbe nicht im Stande ist, die tagsüber genossene 
Nahrung über Nacht nach dem Darme fortzuschieben. „Ein motorisch 
insufficienter Magen ist demnach Morgens früh nüchtern, wenn nach dem 
Abendessen in der Nacht nichts mehr gennossen wurde, nicht leer.“ 
Als schlaff oder atonisch bezeichnet Fleiner einen Magen „mit ver¬ 
minderter motorischer Leistungsfähigkeit,“ also einen Magen, der längere 
Zeit braucht, bis er eine Mahlzeit bewältigt. 

Es ist klar, dass beide Zustände nur Grade derselben Functions- 
störung darstellen und deshalb hält Referent die Einführung verschie¬ 
dener Bezeichnungen für dieselben nicht für angezeigt. Auch die De- 


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T. Au n* 1^07. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


505 


finition der atonischen Magenerweiterung ist nach Ansicht des Referenten 
von Fl ein er nicht scharf genng gefasst. Der Verfasser versteht unter 
atonischer Magenerweiterung einen atonischen Magen, der frühmorgens 
noch Speisereste von den Mahlzeiten des vorhergehenden Tages enthält, 
also einen Magen, der motorisch insufflcient ist. 

Bei dieser Darstellung ist lediglich die der Magenerweitcrung zu¬ 
kommende motorische Schwäche gewürdigt, ohne Rücksicht auf die 
Orossenverhältnisse des Magens; trotzdem aber hält auch Fleiner den 
Nachweis der Vergrösserung des Magens nothwendig zur Diagnose der 
Dilatation; denn in dem Capitel „Magenerweiterung nach Pylorusstenose“ 
hebt der Verfasser ausdrücklich hervor: „Als erweitert bezeichnen wir 
einen Ubergrossen Magen, welcher dauernd motorisch insufflcient ge¬ 
worden ist.“ Und thatsächlich beansprucht die abnorme Erweiterung 
der Magenhöfale doch eine grosse Bedeutung für die Diagnose der Magen¬ 
erweiterung; denn nach Ansicht des Referenten liegt gerade darin der 
wesentliche Unterschied zwischen Atonie und Ectasie; beiden Zuständen 
gemeinsam ist die motorische Schwäche, die bei der Erweiterung des 
Magens allerdings einen höheren Grad erreicht als bei der einfachen 
Erschlaffung, aber während die Atonie eine functioneile Störung be¬ 
zeichnet, bei der die Grösse des Magens wechselt, abhängig von der 
Belastung desselben,, so dass der leere Magen annähernd normale Grössen- 
▼erhältnisse zeigt, bedeutet die Magenerweiterung einen anatomischen 
Zustand, bei dem es sich um eine andauernde, auch im nüchternen Zu¬ 
stande nachweisbare Vergrösserung der Magenhöhle handelt. 

Können wir uns nun in diesem mit den Anschauungen .des Ver¬ 
fassers nicht befreunden, so müssen wir ganz entschieden einen Vorwurf 
zurückweisen, den er in missverständlicher Weise der von uns unzählige 
Male geübten Methode gemacht hat, die Atonie eines Magens dadurch 
nachzuweisen, dass man den Pat. am Abend vor einer Ausspülung Ko¬ 
rinthen, Preisselbeeren oder dergleichen essen lässt. Fleiner hält 
diescB für einen schweren Diätfehler und fürchtet davon eine mecha¬ 
nische Reizung, Hypersecretion und Pylorusverschluss. Wir können 
Herrn Fleiner versichern, dass wir einen derartigen Effect niemals 
beobachtet haben, allerdings aber nehmen wir auch nicht, wie Fleiner 
zu glauben scheint, solche Proben bei einem floriden Magengeschwür 
vor. Wenn Fleiner bei dieser Gelegenheit als Beleg einen Fall von 
H. Strauss aus dem Augusta-Hospital citirt, so liegt hier ein Irrthum vor, 
denn in der entsprechenden Krankengeschichte ist von der genannten 
Probe gar keine Rede, vielmehr .wird von derselben später bei Auf¬ 
zählung der Methoden, welche wir besitzen, eine motorische Insufflcienz 
nachzuweisen, gesprochen. Dieselbe schlechtweg als einen „schweren 
Diätfehler“ zu bezeichnen, ist eine Uebertreibung, ganz abgesehen 
davon, dass es sich hierbei nicht um eine Diätvorschrift, sondern um 
eine diagnostische Probe handelt. 

Indessen wollen wir mit diesen Ausstellungen den Werth des Buches 
keineswegs beeinträchtigen. Die gründliche, klare und übersichtliche 
Darstellung, der wir fast in jedem Capitel des Werkes begegnen, das 
Eingehen auch auf anscheinende Kleinigkeiten, die ausführliche Be¬ 
sprechung aller praktischen Regeln und aller therapeutischen Maassnah- 
men, besonders die scharfe Präcisirung der Indicationen und Contraindi- 
cationen derselben werden das Buch nicht nur dem jüngeren Arzt zum 
Studium, sondern auch dem geübten Praktiker zur anregenden Lectüre 
bestens empfehlen. 

L. Kuttner, Berlin. 


Gangrene as a Compilcatlon and Seqnel of the continued fever«, 
especially of Typhold. Shattuk Lecture for 1896, by W. W. 
Keen M. D. LLD. Boston, Damrell & Upham, 1896. 

Verf. fand unter 1420 Fällen von Typhus 4 mal eine Gangrän, 
welche gewöhnlich in der 2. und 9. Woche des Fiebers eintrat. Inter¬ 
essant ist die Beziehung des Eberth'sehen Typhusbacillus zum Zustande¬ 
kommen des Brandes. Da der Typhusbacillus im Blute, auf endocardi- 
tiachen Wucherungen, in den Wandungen der Arterien und Venen, in 
den Thromben selbst und im perivasculären Gewebe gefunden' wurde, 
so kann eine Gangrän durch die Bacillen veranlasst werden und zwar 
1. dadurch, dasB von einer endocarditischen Wucherung ein Embolus in 
eine Arterie verschleppt wird, 2. durch arterielle Thrombose, indem die 
Bacillen ein bestimmtes Ferment produciren oder — was wahrscheinlicher 
ist — eine locale Endarteriitis erzeugen, 3. durch venöse Thrombose. 
Letztere ist häufiger als die erstere und im Allgemeinen auch ausge¬ 
dehnter als dieselbe. Bei arterieller Thrombose tritt gewöhnlich trockener 
Brand, bei venöser Thrombose gewöhnlich feuchter Brand ein. Eine 
vierte Form der Tbrombenbildung ist diejenige, welche an peripheren 
Gefässen stattfindet. Der gangränöse Herd ist bei dieser Form gewöhn¬ 
lich kleiner als bei den anderen Formen. Die Thrombenbildung ver- 
räth sich gewöhnlich zuerst durch ßchmerz, dann folgen die anderen 
bekannten Erscheinungen des Absterbens. Das Alter scheint keinen 
Einfluss auf das Auftreten von Gangrän bei Typhus zu haben, Männer 
scheinen etwas häufiger betroffen zu werden als Frauen; der Sitz der 
Gangrän ist am häufigsten in den Beinen und zwar links 4 mal häufiger 
als rechts, sodann kommen in der Häufigkeitsscala die Genitalien, dann 
Gesicht, Hals und Rumpf, Nase, Ohren, Arme. In ganz seltenen Fällen 
ist Gangrän der Bartholinischen Drüse, der Zunge, der Uvula beobachtet. 
Die Gangrän des Perineum kommt fast nur bei alten Leuten vor und 
meist erst in der 3.—7. Krankheitswoche. Für die Behandlung kommt 
zunächst die Prophylaxe (gute Ernährung, gute Luft, Reinlichkeit etc.) 
in Betracht Bei Herzschwäche ist reichliche Zufuhr von Alkohol sowie 


von Herztonicis nöthig. Die Therapie der ausgebildeten Gangrän ist 
eine chirurgische. Wenn nicht die Gefahr einer septischen Infection vor¬ 
liegt, soll man den Eintritt der Demarcationslinie abwarten. Wenn die 
Art. femoralis noch frei ist, macht die Gangrän gewöhnlich in der Nähe 
des Tuberculum tibiae Halt. Bei der Operation der Gangrän von Ex¬ 
tremitäten ist Esmarch'sche Blutleere zu vermeiden. 


Ueber die Entwickelung der jetzigen therapeutischen An* 
Behauungen in der inneren Medicln. Antrittsvorlesung, ge¬ 
halten am 21. Nov. 1896 von Dr. Ernst Romberg a. o. Prof, 
an der Universität Leipzig. Leipzig, Verlag von Arthur Georgi. 

1896. 

In fesselnder Darstellung entwickelt Romberg die Fortschritte, 
welche unsere therapeutischen Anschauungen und unser therapeutisches 
Können im Laufe dieses Jahrhunderts gemacht haben. An die Stelle 
einer von naturphilosophischem Dogmatismus beherrschten Therapie 
und eines im Anfang dieses Jahrhunderts dominirenden, durch die 
Wiener Schule veranlagten, therapeutischen Nihilismus ist eine um¬ 
fassende, auf physiologischer Basis und exacter Verwerthung klinischer 
Beobachtung begründete Therapie getreten. Das Grundprincip der The¬ 
rapie hat sich geändert, insofern es nicht mehr gilt, eine Krankheit, 
sondern einen kranken Menschen zu behandeln. Die Methoden der 
Therapie sind erweitert worden, insofern man die therapeutische Be¬ 
deutung der Besserung der hygienischen Verhältnisse erkannt hat, und 
die physikalischen Heilmethoden, die Elektrotherapie, die Mechanotberapie 
und die Hydrotherapie in ihrer Wirkungsform genauer studirt und in 
ihren therapeutischen Indicationen genauer präcisirt hat. Die Erfindung 
der Pravatz'schen Spritze hat einerseits die subcutane Zufuhr von Medi- 
camenten und Ernährungsflüssigkeiten möglich gemacht, andererseits die 
Entleerung von Körperhöhlen einschliesslich des Rückenmarkcanals er¬ 
leichtert. Die Einführung des Magenschlauches hat für die Therapie 
der Magenkrankheiten neue Bahnen eröffnet. Die Bekämpfung der In- 
fectionskrankeiten hat enorme Fortschritte gemacht, die Serumtherapie 
sowie die Organtherapie eröffnet neue Ausblicke in die Zukunft. Verf. 
schildert diese Fortschritte der Therapie in ebenso präciser wie an¬ 
regender Form und betont noch am Schlüsse die Bedeutung der rein 
menschlichen Eigenschaften des Arztes für die gedeihliche Ausübung 
seines Berufes. Die Lectüre der Antrittsrede von Romberg wird jedem, 
der sich für die Entwickelung unseres therapeutischen Könnens inter- 
essirt, grossen Genuss bieten. 

H. Strauss. 


J. Lazarus: Krankenpflege. Handbuch für Krankenpflegerinnen und 
Familien. Berlin 1897. J. Springer. 4 Mk. 

Die immer mehr anerkannte Wichtigkeit, welche eine rationell ge¬ 
leitete Krankenpflege als wesentlichstes Unterstützungsmittel de* 
eigentlich ärztlichen Thätigkeit zu beanspruchen hat, hat den Verfasser 
bewogen, seine in praktischen Unterrichtscursen gehaltenen Vorträge zu 
sammeln und herauszngeben. Sie wenden sich in erster Linie an die 
beruflichen Pflegerinnen; doch auch für die Familie bilden sie ein 
werthvolles Rath- und Hülfsbuch. Mit grossem Geschick ist die Klippe 
des Zuviel vermieden, in richtiger Beschränkung ausgewählt, was der 
Thätigkeit und dem Verständnis des Laien entspricht. Eine kurze Be¬ 
lehrung über Bau und Beschaffenheit des menschlichen Körpers geht 
voran; es folgt die Darstellung der allgemeinen Krankenpflege — Kran¬ 
kenzimmer, Darreichung von Speisen und Getränken, Nachtwachen etc. 
— dann die Mitwirkung in der Krankenbehandlung, speciell die Ausfüh¬ 
rung der ärztlichen Anordnungen, sowie die Pflege bei den einzelnen 
Erkrankungen und die Hülfe bei plötzlichen Unfällen und bei Lebens¬ 
gefahr; endlich Anleitungen über Transport Verunglückter, über Pflege 
des Sterbenden und Desinfection. Ein Anhang betrifft die Wochenpflege. 

Wenn wir aussprechen, dass das Buch in seiner ganzen Auffassung 
des schwierigen Themas am meisten an Billroth's treffliche „Kranken¬ 
pflege“ erinnert, so glauben wir damit seinen Werth am besten gekenn¬ 
zeichnet zu haben. Vom ärztlichen Standpunkt aus wäre es sehr er¬ 
wünscht, wenn die hier gelehrten Grundsätze in recht weite Kreise 
dringen möchten! Posner. 


VUL Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. 

Berliner medlclnlsche Gesellschaft. 

Sitzung vom 19. Mai 1897. 

Vorsitzender: Herr Virchow. 

Schriftführer: Herr Landau. 

Vorsitzender: Inzwischen hat die Aufnahmecommission getagt 
und es sind folgende Herren zu Mitgliedern aufgenommen worden: 

DDr. Felix Bock, Max Blumenthal, Herzog, Felix Hey¬ 
mann, Kreisphysicu9 Schulz, Geh. Sanitätsrath Wollner. 

Ausgetreten sind die Herren Dr. Heinrichs und F. Wolf, die 
nach ausserhalb verziehen wollen, ferner Dr. Rosenstein. 

Als Gast haben wir heute unter uns Prof. Dr. Wassilieff aus 
Warschau, den ich freundlichst willkommen heisse. 

In Beziehung auf den Moskauer Congress gestaltet sich nach 
den neuesten Nachrichten aus Russland Einiges klarer. Wir haben zu- 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 23: 


bog 


nächst eine Benachrichtigung von dem Präsidenten des Executivcomltßes, 
Herrn Prof. Skliffasowski in Petersburg erhalten, der ich Folgendes 
entnehme: 

1. Mitglieder des Congresses haben das Recht freier Hinreise nach 
Moskau und zurück. Die Rückfahrt kann in anderer Richtung geschehen, 
als die Hinfahrt, sogar einige grosse russische Städte umfassen. 

2. Es besteht in Moskau ein Wohnungscomitö. Wohnungen werden 

in Hotels und in Privathäusern vorbereitet. Nnr muss man sich recht¬ 
zeitig melden. ; 

8. In den grossen russischen Städten (Petersburg, Warschau, Kiew 
pnd anderen) sind Empfangscomitös gebildet. Sie werden während der 
ganzen Zeit des Congresses thätig sein. Ausserdem werden zur Zeit der 
Zureise der Mitglieder an den Grenzstationen besondere Bureaux zum 
Empfang der Reisenden eingerichtet Bein. 

4. Jedes Mitglied des Congresses kann nach seinem Wunsche eine 
oder die andere Tour unternehmen. Diese Touren sind aber nicht frei, 
sondern müssen bezahlt werden. 

Bis jetzt ist schon — schreibt Herr Skliffasowski weiter, — 
privatim eine Rundreise für den Kaukasus eingerichtet. Die Reise hin 
und zurück nach Moskau wird ungefähr eine Woche dauern und etwa 
150 Fr. kosten. 

Es ist bei uns ferner noch ein Brief von dem Vorsitzenden des 
Moskauer Comitäs, Herrn Prof. Klein, eingegangen, der besonders 
meldet, dass schon seit 2 Monaten ein specielles Wohnungscomitö unter 
dem Vorsitze des Herrn Prof. Scherwinski fungirt. Die Congress- 
mitglieder werden auf den Bahnhöfen in Moskau ein Wobnungsbureau 
vorflnden, durch welches jede erwünschte Auskunft für die Stadt und 
für Wohnungen ertheilt wird. Bis heute sind für die Herren Mitglieder 
etwa 8000 Zimmer reservirt worden. Der Preis stellt sich von 8 bis 
10 Fr. mit Einbegriff des ersten Frühstücks. Ausserdem wird das 
Comit6 viele Gratiswohnungen bei Privatpersonen und in einigen Schulen 
zur Benutzung bereit stellen. Viele Hotels in Moskau bewilligen den 
Congressgästen Ermässigungen bis zu 15 pCt. 

Auf alle Fälle wäre es den Herren, welche mit Familien nach 
Moskau reisen wollen, anzurathen, das Generalsecretariat so früh wie 
möglich von der Anzahl der benöthigten Zimmer nebst Angabe der An¬ 
kunft und der Dauer des Aufenthalts in Moskau zu benachrichtigen, 
damit man ihnen alles Nöthige bereit halten kann. Die russischen 
Bahnverwaltungen gestatten allen Congressmitgliedern freie Fahrt und 
gewähren Billets nach verschiedenen Richtungen hin und zurück. 

Herr Klein empfiehlt ganz besonders, dass die Herren sich mit 
einem Bädeker versehen möchten, um im Voraus einigermaassen sicher 
)hr Programm gestalten zu können. 

Er schreibt zum Schluss noch: „Wenn es uns der Raum gestattet, 
werden wir es so einrichten, dass den einzelnen nationalen Comites 
Zimmer für ihre Vereinigungen, für Ausgabe der Billets u. s. w. abge¬ 
lassen und sprachkundige Leute zur Seite gestellt werden.“ 

Die wichtigsten Punkte dieser Mittheilungen sind kurz zusammen¬ 
gefasst in einer kleinen Druckschrift, welche soeben von Seiten unseres 
deutschen Comites erlassen worden ist. 

(Davon wird eine Reihe von Abdrücken vorgelegt.) 

Discussion über den Vortrag des Herrn Henbner: Ueber Sfiug- 
lingsernährung and Säuglingsspitäler. 

Hr. A. Baginsky: Der Gegenstand, der heut zur DiscuBsion steht, 
ist von einschneidender Bedeutung und kaum in einer kurzen Discussion 
zu erledigen. Eb wird zum besseren Veratändniss nöthig sein, zum 
Mindesten mit einigen Worten auf die historische Entwickelung der 
auch für die Commune Berlin so wichtigen Angelegenheit einzugehen. 
— Die Frage der Säuglingspflege, speciell unter Berücksichtigung der 
der Communepflege anheimfallenden Haltekinder ist in Berlin mehrfach 
schon erörtert worden. Im Jahre 1886 erschien von mir, nach einem 
im Deutschen Verein für öffentliche Gesundheitspflege gehaltenen Vor¬ 
trage eine grössere Studie unter dem Titel: „Die Kost und Haltekinder¬ 
pflege in Berlin.“ In derselben sind die Vorzüge und die Mängel des 
germanischen Systems der Haltekinderpflege gegenüber der Findelpflege 
in anderen Ländern erörtert worden. Es handelt sich hierbei ausdrück¬ 
lich um die Verpflegung der gesunden Kinder. Ich lege ein Exemplar 
dieser Brochure hier nochmals vor. — Seither haben dann nach einem 
von Herrn N. Neumann in demselben Verein im Jahre 1891 gehaltenen 
Vortrage sehr eingehende Discussionen über die Verpflegung der er¬ 
krankten Säuglinge stattgeftmden. — Von da an hat der Gegenstand 
einige Zeit geruht, ohne dass etwas Ernstliches geschehen ist. Im vori¬ 
gen Jahre trat die Erscheinung zu Tage, dass von den hiesigen Kran¬ 
kenhäusern vielfach schwerkranke Kinder von der Aufnahme zurückge- 
wiesen werden mussten, weil die für dieselben getroffenen Einrichtungen 
nicht ausreichend waren. Das gab mir Anlass, mit Mitgliedern der 
städtischen Behörden über die Angelegenheit zu conferiren und zugleich 
an das (Moratorium unseres Krankenhauses mit bestimmten Anträgen zur 
Verbesserung heranzutreten, welche weiterhin unserem verehrten Herrn 
Vorsitzenden wichtig genug erschienen, um die Angelegenheit an den 
maa8Bgebenden Stellen, u. a. in der Stadtverordnetenversammlung Berlins 
cur Sprache zu bringen. — Die Commune ist augenscheinlich mit der 
Frage lebhafter als je beschäftigt und das erklärt die jetzt von meh¬ 
reren Seiten gleichzeitig hervortretenden Besserungsvorschläge. 

Wenn wir in die Frage der Säuglingspflege überhaupt so eintreten, 
wie es der Herr Vortragende gemacht hat, dass wir die Ernährung in 
den Vordergrund bringen, so kann wohl als allgemein gültiger, und von 


Niemand bestrittener Grundsatz vorangestellt werden, dass als Säuglings¬ 
nahrung die Frauenmilch das Normale ist und dass, wenn ein Ersatz 
für dieselbe geschaffen werden soll, derselbe quantitativ und qualitativ 
der Frauenmilch möglichst nahe zu bringen ist. Ara besten wäre es 
unzweifelhaft, den zu verpflegenden Kindern die Möglichkeit zu ver¬ 
schaffen, die Mutterbrust zu behalten, oder ihnen als Ersatz derselben 
Ammen zu geben. — Unter den früher von mir gemachten Vorschlägen 
befindet sich deshalb der eine, die Mütter der zu verpflegenden Kinder 
zu unterstützen, damit sie ihre Kinder nicht zu entwöhnen brauchen. — 
Dies ist gewiss schwierig, indess würde es bis zu einem gewissen Grade 
möglich sein, die Angelegenheit auf dem Verwaltungswege dnrchzufiihren. 

Muss man nun für eine Reihe von Kindern von der Ernährung an 
der Frauenbrust absehen, und fasst man die Frage des Ersatzes der¬ 
selben in's Auge, so hat man in erster Linie die Ernährung mittelst 
Kuhmilch zu berücksichtigen. Jedermann weiss jetzt, dass sich Kuh¬ 
milch wesentlich in ihrer chemischen Zusammensetzung von der Frauen¬ 
milch unterscheidet und dass überdies bei der Kuhmilchernährung durch 
fehlerhafte Beimischungen Schädlichkeiten den zu ernährenden Kindern 
zugeführt werden können. Man hat seit Langem versucht, Beides zu 
vermeiden. Nach der ersten Beziehung hin hat man es versucht, mit 
Veränderung der Mischungsverhältnisse und es hat yon jeher zwei Auf¬ 
fassungen gegeben. Eine Reihe von Autoren hat sich, um den Kindern 
die ihnen nöthige Zahl von täglichen Calorien zu geben, entschlossen, in 
möglichst geringen Verdünnungen die Kuhmilch zu verabreichen, andere 
Autoren haben, auf die schwierige Verdaulichkeit der Kuhmilch gestützt, 
die Caloriensumme zwar nicht ausser Acht gelassen, indess die Compo- 
nenten derselben etwas mehr zu berücksichtigen für zweckmässig ge¬ 
halten. Beide machen hierbei eigenthümliche Fehler, die nur auf Um¬ 
wegen zu vermeiden sind. Gestatten Sie, dass ich an einem Beispiel 
das klar mache. Der Herr Vortragende hat auseinandergesetzt, wie bei 
den von ihm verabreichten minderen Verdünnungen der Milch, die Calorien- 
ziffer diejenige, welche bei der Frauenmilchernährung erreicht wird, 
sogar überragt. Gehen wir einmal von den von mir verabreichten 
grösseren Verdünnungen aus, so stellt sich beispielsweise Folgendes 
heraus. Nach den vorliegenden empirischen Erfahrungen erhält etwa um die 
24. Woche ein an der FrauenbruBt ernährtes Kind etwa täglich 582,82 Ca¬ 
lorien. Diese setzen sich sich folgendermaassen zusammen: 

Casein und Eiweiss . . . 49,24 Calorien 

Fett. 824,76 „ 

Zucker. 208,32 „ 

Bei der von mir in derselben Alterstufe, etwa halb und halb ver¬ 
dünnten Kuhmilch erhält das Kind, wenn ich den Zuckerzusatz ausser 
Acht lasse, = 458,88 Calorien. 

Diese setzen sich zusammen aus Casein-Ei weiss = 110,70 Calorien 

Fett = 209,25 „ 

Zucker = 138,38 „ 

mit dem üblichen Zuckerzusatz wäre die Summe 663,88 Calorien, wobei 
die Zuckercalorien = 342,88 wären. 

Wir erkennen Bofort, dass schon bei dieser Verdünung die Casein- 
und Eiweisscalorien sich auf das Doppelte der natürlichen belaufen, während 
die Fettcalorien bei dem künstlichen Gemisch wesentlich minderwerthig 
sind. Je weniger man also die Kuhmilch verdünnt, desto mehr ent¬ 
fernt man sich von vornherein von der Zusammensetzung der normalen 
(Frauenmilch) Nahrung, soweit Eiweisscalorien in Frage kommen; aller¬ 
dings vermindert man aber auf der anderen Seite durch Verdünnungen 
die Fettcalorien. — Zucker kann man begreiflicher Weise nach Belieben 
zusetzen, indeBB kann der kindliche Organismus nicht wie der Che¬ 
miker sich mit Zucker statt Fett abspeisen lassen; er ist auf die Calorien- 
rechnung nicht eingerichtet Man könnte nun einwenden, dass man ein 
gewisses Uebermass der Eiweisscalorien sich lieber bei der Ernährung 
gefallen lasse, als den Minderwerth an Fett. Dieser Einwand wäre 
sicher berechtigt, wenn sich in der Praxis ergäbe, dass die Kinder dies 
vertragen und dabei gedeihen. Es kann ohne weiteres zugegeben werden, 
dass es solche Kinder giebt; die Mehrzahl der Kinder verträgt indess 
die concentrirte Milch nicht, und es ist nicht Herr Henoch gewesen, der 
die grösseren Verdünungen der Kuhmilch in Berlin eingeführt hat, sondern 
wir alle, hier seit Jahren in der Praxis stehenden Aerzte waren bei 
einer grossen Anzahl von Kindern immer wieder gezwungen von con- 
centrirter Kuhmilchnahrung zur verdünnten tiberzugehen, wenn man die 
Kinder nicht wollte Schaden leiden sehen. Das schliesst nicht aus, dass 
wir bei gesunden kräftigen Kindern gern auch die concentrirtere Nahrung 
versuchen, bei Kranken werden wir damit desto vorsichtiger sein müssen. 
Ich gehe nicht des Weiteren auf die anderen Unterschiede zwischen 
Frauenmilch und Kuhmilch ein; jeder Tag bringt hier Neues, so ist erst 
kürzlich auf die höchst wichtigen Unterschiede im Verhalten der phosphor¬ 
haltigen Substanzen (Nucleon) hingewiesen worden. 

Wichtig ist aber, wie ich hervorgehoben habe, die Eigenthümlich- 
keit der Kuhmilchernährung durch schädliche Beimischungen den zu er¬ 
nährenden Kindern gefährlich zu werden. Es handelt Bich hierbei ebenso 
um chemische giftige Körper, wie um Bacterien. Behufs der Vormeidung 
von chemischen Noxen hat Soxhlet, wie der Herr Vortragende ja auch 
hervorgehoben hat, auf die Nothwendigkeit sorglichster Reinhaltung der 
Milch schon im Stalle hingewiesen und zu der Beseitigung feindseliger Micro- 
organismen hat er seinen bekannten Kochapparat angegeben. — Meine 
Herrn: Ich habe den Apparat in der Sitzung von 16. Februar 1887 in 
dieser Gesellschaft hier zuerst demonstrirt und habe, glaube ich, da¬ 
durch viel zu Beiner raschen Einführung in den Berliner Kreisen beige¬ 
tragen. Wenn Sie die Güte, haben wollen, die Protocolle der damaligen 


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l.Sufli 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


507 


t Verbandlang nachzulesen, so werden Sie finden, dass ich gegenüber einem 
Ein wände, welchen Herr Henoch bezüglich der 8augevorrichtung machte, 
betont habe, dass die Saagevorrichtung selbstverständlich ebenfalls mit 
sterilisirt werden muss; denn was sollte es wohl nützen, Milch in Flaschen 
za sterilisiren, wenn an den Saugpfropfen Bacterien haften? Ich habe 
damals auf die Sterilisirnng durch die Hitze, durch Auskochen der Pfropfen 
hingewiesen. So geschieht es in unserm Krankenhause, so lange wir 
Säuglinge verpflegen. Daher ist es völlig ausgeschlossen bei uns, dass 
sich B. coli an den Saugpfropfen befindet und wir konnten uns gern das 
interessante Experiment des Nachweises sparen. 

8oviel meine Herren zunächst über die Ernährung in der Pflege der 
gesunden Kinder. Ich hätte vieles Andere noch bezüglich der Pflege 
an erwähnen, vor Allem die Fürsorge gegen die den kleinen Kindern hoch¬ 
gefährliche Abkühlung, die Fürsorge in der Reinhaltung u. v. A. Ich 
sehe hier davon ab und betone nur noch das Eine, dass die Durch¬ 
führung einer normalen Pflege gesunder Säuglinge eine ausserordentlich 
sorgfältige Ueberwachung erheischt. Es war mir sehr interessant zu er¬ 
fahren, dass der Herr Vortragende eine ärztliche Ueberwachung einiger 
reconvalescent entlassener Kinder hat durchführen lassen, und dass es 
ihm geglückt ist, den Nachweis zu führen, wie segensreich sich eine 
derartige Ueberwachung der Pflege erweist. Leider ist dieser interessante 
Versuch eben nur ein Versuch, in der bezeichneten Art wohl durchführbar 
bei einigen Kindern, aber nicht bei der grossen Summe von Kindern, 
welche die Commune zu versorgen bat. Die hier nothwendig werdende 
Ueberwachung kann nicht von einem einzelnen KrankenhanBe, nicht von 
einem Manne geführt werden, hier bedarf es besonderer Einrichtungen, 
welche auf dem Verwaltungswege geleitet werden. Hier bedarf es der 
Einrichtung dessen, was ich als Säuglingsasjrl bezeichne, eines Insti¬ 
tutes, in welchem Säuglinge nicht etwa dauernd gehalten werden, sondern 
von dem auB die Säuglinge in passend ausgesuchte Pflegestätten gebracht 
werden, und von dem aus die strenge Ueberwachung der Pflege gehand- 
habt wird. Die Ueberwachung muss von der Verwaltung aus mit Unter¬ 
stützung sachverständiger Aerzte geschehen. Eine derartige Einrichtung 
zu schaffen, wird keine grosse Commune umgehen können. Herr Neu¬ 
mann hat mit Recht hervorgehoben, dass die Fürsorge der kranken 
Kinder nicht völlig zu trennen sei von derjenigen der Gesunden. In dem 
einzurichtenden Säuglingsasyl liegt das Bindeglied. Die von dem Säug¬ 
lingsasyl ausgehende stete Fürsorge für die gesunden Kinder wird die 
Krankenziffer von Hause aus ganz wesentlich vermindern. 

Wie nun aber mit den Kranken verfahren. 

Ich halte es für ganz selbstverständlich, dass ernstlich erkrankte 
Säuglinge, deren Pflege der Commune anheimfällt — denn nur von 
solchen ist hier die Rede — am besten im Krankenhanse behandelt sind, 
mit den Ausnahmen freilich, wo ganz besonders gute Pflegestellen dies 
nicht nothwendig machen. Ich halte es kaam für möglich, dass für das 
Gros dieser Kinder die Einrichtnngen in der Privatpflege so geschaffen 
werden, wie dies in einem gut geleiteten Krankenhause geschehen kann. 
Sie werden fragen, welcher Art die Einrichtungen fiir die Säuglingskran¬ 
kenpflege in einem Krankenhause sein müssen? Gestatten Sie, dass ich, 
anstatt Ihnen allgemeine Grundlagen zu entwickeln, einfach berichte, 
welche Einrichtungen in dem von mir geleiteten Krankenhause bis jetzt 
getroffen worden sind, zu deren Inaugenscheinnahme ich 8ie gern ein¬ 
lade. Als das Kaiser und Kaiserin Friedrich-Kinder-Krankenhaus er¬ 
richtet wurde, hatten wir nicht die Absicht Säuglinge überhaupt auf¬ 
zunehmen. Wir hofften, dass die Poliklinik für die Säuglingskranken¬ 
pflege genügen würde, also die ambulatorische Behandlung und Aussen- 
pflege. Es hat sich indess sehr bald herausgestellt, dass dies unmöglich 
sei. Die Sänglinge wurden uns in so kläglichem Zustande gebracht und 
waren in der Aussenpflege so trostlos daran, dass wir uns entscbliessen 
mussten, wenigstens eine Anzahl derselben aufzunehmen. Unter solchen 
Verhältnissen sorgten wir zunächst für geeignete Nahrung. Da wir nach 
unseren räumlichen Verhältnissen die Mütter nicht aufnehmen können, 
auch Ammen nicht zur Verfügung haben, so sorgten wir dafür, dass wir 
uns gleichsam unseren eigenen Kuhstall einrichteten. Durch Vertrag, 
den wir mit einem in nächster Umgebung des Krankenhauses waltenden, 
sehr braven Milchproducenten abschlossen, wurde die Auswahl der Kühe, 
die Ueberwachung der Reinhaltung und die Art der Fütterung derselben 
völlig in unsere Hand gelegt. Ein Professor der Thierarzneischule 
übernahm gtitigst diese Fürsorgen; ein angestellter Chemiker überwacht 
chemisch und bacteriologisch stetig die gelieferte Milch. Dreimal täglich 
muss die Milch frisch in die Anstalt geliefert werden, und da der Kuh¬ 
stall aus der nächsten Umgebung des Krankenhauses nicht verlegt wer¬ 
den darf, ist ein längerer Transport der Milch ausgeschlossen. Die ge¬ 
brachte Milch wird sofort nach der Empfangnahme in den vorgeschrie¬ 
benen Mischungen mittelst Dampf sterilisirt. Die sterilisirte Milch wird 
unter WatteverBchlüssen in kleinen Flaschen nach Soxhletprincip auf die 
Abtheilungen geliefert. Vor der Darreichung werden die Saugpfropfen 
gekocht. So ist hier alles Mögliche getban, um eine Infection vom 
Munde ans von den Kindern fernzuhalten. 

Bei dieser Sorgfalt hat sich eine Gefahr der Uebertragung von 
Krankheiten von Kind auf Kind bis auf ganz seltene Vorkommnisse 
vermeiden lassen. GewisB haben auch wir frische Diarrhoeen entstehen 
sehen; indess glaube ich nicht, dass hier Infection vom Monde aus 
im Spiele ist. — Nur einmal beobachtete ich eine Uebertragung einer 
Enteritisform mit blutig-schleimigen Stühlen rasch nach einander auf 
4 Kinder, die neben einander lagen. In diesen Fällen konnte in den 
Faeces der B. pyocyaneus nachgewiesen werden. Ob er der Träger 
der Infection war, kann ich freilich nicht behaupten. Vor der Verbrei¬ 


tung von Diarrhoeen unter den Säuglingen schützt nach meiner Auffas¬ 
sung aber nichts besser, als die ganz ausserordentliche Reinhaltung. Ich 
bin überzeugt, und die Erfahrungen bei der Cholera asiatica lehren dies 
ja hinreichend, dass ein Kind ev. ebenso leicht vom AnuB her — wenn 
überhaupt — infleirt werden kann, wie vom Munde her. Daher kann 
bei der vom Herrn Vortragenden vorgescblagenen Zweitheilung der 
Pflege die Weiterverscbleppung von diarrhoischen Erkrankungen von der 
Wärterin, welche die Reinmachung der Kinder besorgt, ganz ebenso 
leicht geschehen, wie es bisher geschehen zu sein scheint. Ich sehe in 
dieser Zweitheilung der Pflege allein keinen Vortheil. Nöthig ist aber 
die strengste Reinhaltung in der Pflege, und zwar ebenso bezüglich der 
Wärterinnen, wie der Kinder selbst. Wir verbrauchen, um diese Rein¬ 
haltung durchzuführen, geradezu enorme Mengen von Wäsche. 24 Win¬ 
deln täglich bei einem diarrhoisch kranken Kinde sind das Uebliche; 
dazu 12 bis 16 reine Unterlagen und die entsprechende Menge Hemdchen 
und Kleidchen. 

Die Reinigung der Analgegend geschieht mittelst weichen Jute¬ 
materials, welches verbrannt wird. Den Gebrauch von Schwämmen 
habe ich wegen der Infectionsgefahr beseitigt. 

Alles Heil hängt freilich ab von den Pflegerinnen. Gewiss ist es, 
um Alles gut durchzuführen, nothwendig, dass die Zahl der Pflegerinnen 
gross genug ist. Hat doch in der Privatpraxis jeder kranke Säugling 
zum mindesten eine Tag- und eine Nachtpflegerin. Das ist nun freilich 
im Krankenhause nnmöglich. Aber mit einer Zahl von je einer Tag¬ 
pflegerin für 4 Säuglinge und einer Nachtpflegerin für 6—8 kann man, 
glaube ich, leidlich auskommen. Mehr aber als die Zahl entscheidet die 
Brauchbarkeit der Pflegerinnen und hier gerade leiden wir in unserem 
Krankenhause Mangel. Wir haben noch nicht diejenige Qualität von 
Pflegerinnen, die wir brauchen und sie wird auch ohne eigene Pflege¬ 
rinnenschule nicht zu erreichen sein. Ein gutes Säuglingshospital muss 
eine eigene Pflegerinnenschule haben. — Wir ermangeln aber überdies 
noch, gerade aus den oben angeführten Gründen der für die Kinder 
notbwendigen Wärmeschutzvorrichtungen. Ich habe Boeben erst ein 
zweckentsprechendes Säuglingsbett eingeführt, da die Säuglinge in den 
gewöhnlichen Kinderbettstellen zu viel abkühlten. Aach tat es nicht 
rathsam, Säuglinge in zu hohen Räumen zu verpflegen. Es hat sich 
herausgestellt, dass dieselben in der etwas niedrig gerathenen, von un¬ 
serem Herrn Vorsitzenden gestifteten Baracke besser gedeihen, als in 
dem schönen Pavillon mit 4‘/t m Höhe. Ich würde also, da ich nicht 
so sehr die Infection von Kind auf Kind, wie die Abkühlang fürchte, 
nicht sowohl nur fiir kleine, wie für nicht zu hohe Räume plaidiren. 
Dabei gebe ich zn, dass kleine Zimmer in einem Kinderkrankenhause 
behufs Isolirung von einzelnen Fällen stets nothwendig und unentbehr¬ 
lich sind. 

Ich gebe nicht näher ein auf die von uns veröffentlichten Ergeb¬ 
nisse unserer Säuglingskrankcnpflege und erwähne nur, dass die Sterb¬ 
lichkeitsziffer sich nach Einführung der erwähnten Einrichtnngen nicht 
über 40 pCt. steigerte, in der Regel darunter war. — 

Wenn ich zusammenfasse, so halte ich für die Pflege der den Com- 
munen anfallenden Säuglinge Folgendes für nöthig. — Die gesunden 
Kinder sind in der Aussenpflege zu belassen, unter Obhut eines Säug¬ 
lingsasyls, welches die Pflegen aussacht und ärztlich und verwaltlich 
überwacht. 

Die kranken Kinder gehören, mit denjenigen Ausnahmen, wo sich 
die Aussenflege besonders glücklich gestaltet, in das Säuglingskranken¬ 
haus. Wie lange sie darin zu belassen sind, dafür wird im Einzelfalle 
die Art der Erkrankung und die Beschaffenheit der zu Gebote stehenden 
Pflegestellen das Entscheidende sein. Auch ich stimme einer möglichst 
raschen Entlassung der Reconvalescenten zu, indess nur an jene vom 
Säuglingsasyl sorgsamst gewählten und gut überwachten Aussenpflegen. 
Wo diese fehlen, sind die entlassenen Kinder bald viel schlechter daran, 
als im Krankenhause. — Die Erfahrung lehrte mich, dass sie uns im 
kläglichsten Zastande wieder zugeführt wurden. — Ein 8äugling»kran- 
kenhaus kann aber nicht seinen Zweck erfüllen, wenn nicht einer ge¬ 
wissen Anzahl von Kindern die Frauenmilchnahrung geboten werden 
kann; dasselbe muss also darauf eingerichtet sein, Mütter oder Ammen 
aufeunehmen. 

Für diejenigen Kinder, welche mit Kuhmilch ernährt werden können, 
ist diese Nahrung unter den Cautelen zu beschaffen, welche ich in 
unserem Krankenhause durchgefiihrt habe. Für geeigneten Wärmeschutz, 
strengste Sauberkeit auch durch reichlichen Wäschewechsel und für wohl- 
geschultes Pflegerinnenpersonal muss Sorge getragen sein. Diese Dinge 
sind freilich etwas weit ausschauend; sie kosten reichlich Geld. Die 
Hygiene ist aber immer theuer und kostet Geld. In der Gesunderhaltung 
der Kinder liegt trotzdem schliesslich doch eine Ersparniss, weil — ab¬ 
gesehen von dem ethischen Gesichtspunkt — die elend heranwachsende 
Jagend in den späteren Jahren den Communen zur Last fällt und den¬ 
selben mehr an Kosten verursacht, als die Ausgaben für zweckmässige 
Einrichtung der Säuglingspflege betragen. 

Hr. Ritter: Nicht zu demjenigen Theil der Mittheilungen des 
Herrn Vortragenden, welcher sich mit den nutritiven Verhältnissen der 
Säuglinge beschäftigte, um die, wie der Herr Vortragende ja betont hat, 
noch heiss der Kampf der Meinungen wogt, sondern zu den in den 
Vordergrund seiner Ausführungen gerückten hygienischen Momenten 
möihte ich ein paar Worte sagen. Denn darüber, dass die Säuglings¬ 
sterblichkeit nicht nur in den Krankenhäusern, sondern auch ganz ebenso 
ausserhalb dieser in den Kreisen der Minderbegüterten, abgesehen von 


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503 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 23. 


einer geringfügigen Herabminderung in jüngster Zeit, auch heute noch 
eine erschreckende Intensität behauptet, darüber sind alle diejenigen 
gleicher Anschauung, welche in andauernde Berührung mit diesen Be¬ 
völkerungsklassen kommen und sich dadurch ein Urtheil über die ein¬ 
schlägigen Verhältnisse bilden können. Mögen diese Thatsachen in den 
Krankenhäusern klarer hervortreten: an Schärfe haben sie auch dort 
nichts verloren, wo z. B. zu einer Ziehmutter — einer in Berlin orts¬ 
üblichen Sitte — ein halbes Dutzend Säuglinge gebracht werden, welche 
theils unehelicher Herkunft sind, theils von den durch die tägliche Arbeit 
gefesselten Eltern anderer Fürsorge tagsüber, aber auch häufig die Nacht 
hindurch anvertraut werden müssen. Dort spricht die grössere Zahl der 
auf einmal zugeführten Säuglinge, hier die kleinere Summe in häufigerer 
Wiederholung. Und da stellt sich heraus, dass die Frage nach dem 
Schutz und nach der Pflege dieser Säuglinge hauptsächlich eine Frage 
der Sauberkeit ist. Das hat ja auch Herr Geheimrath Heubner hier 
hervorgehoben, indem er auf die mangelhaft sauberen Saughütchen und 
auf die mangelhaft gereinigten Hände der Pflegerinnen hinwies. Aber 
der Herr Vortragende ist meiner Meinung nach in seinen Folgerungen 
zum Theil nicht weit genug, zum Theil wieder zu weit gegangen. 

Es ist schon von Herrn BaginBky bervorgehoben worden, dass 
die Borsäure kein Mittel zur Reinigung von Saugpfropfen ist. Es geht 
da mit dem in dieser Richtung seit alter Zeit angewandten Mittel ähn¬ 
lich, wie es mit dem Kali chloricum bei der Bekämpfung der Diphtherie 
der Fall war. Das so überaus beliebte und die Diphtheriebehandlung 
zeitweilig .fast souverän beherrschende Kali chloricum richtet zur Ver¬ 
nichtung der Diphtheriebacillen nichts, absolut nichts aus, wie ich einst 
nacbgewiesen habe. Die 5proc. Borsäure wiederum ist überhaupt gar 
kein Sterilisationsmittel. Selbst die wenigst widerstandsfähigen Keime 
lassen sich in keiner Weise von dieser Lösung in ihrer Fortentwicke¬ 
lung aufhalten. Tauchen Sie einen Saugpfropfen in eine faulende Flüssig¬ 
keit und bringen Sie ihn nach stundenlangem Aufenthalte in einer ent¬ 
sprechenden Borsäurelösung nachher in eines unserer Näbrmedien, so 
werden Sie finden, wie ausserordentlich viele Keime aller möglichen Art 
in der Nährsubstanz zur Entwickelung gelangen. Es ist daher ganz un¬ 
möglich, dass wir durch ein derartiges Verfahren, auf welches sich ja 
Herr Geheimrath Heubner seiner Mittheilung nach einzig und allein 
beschränkt, eine hinreichende Sterilisation erreichen können. 

Prüfen Sie ferner die Hände einer Pflegerin, welche sich zur Be¬ 
dienung des Säuglings anschickt, auf ihre Keimzahl, und Sie werden 
ganz genau dieselben Verhältnisse finden, selbst wenn die Pflegerin gar 
nicht mit den Fäces eines Säuglings — eine Oberwärterin hat sie Herr 
Geheimrath Heubner genannt — in Berührung gekommen ist. Ich 
glaube daher, dass die Furcht vor dem Bacterium coli uns leicht auf 
einen falschen Weg führen würde. Ueberdies ist dasselbe gar nicht so 
schlimm, wie sein Ruf. Wenn einmal ein wild gewordenes Bacterium 
coli sich an einer Stelle findet, wo es nicht bingehört und dort als 
Fremdkörper wirkt, so geht es ähnlich wie mit anderen ganz harmlosen 
Substraten, welche an Stellen gelangt sind, wo nicht ihr Platz ist: es 
tritt eine mehr mechanische Schädigung ein. Aber eine Virulenz des 
Bacterium coli, eine Schädlichkeit dieser Spaltpilzklasse geht daraus nicht 
hervor. Es kommt noch hinzu, dass dieser Mikroorganismus bei keinem 
normalen Säuglingstuhl fehlt und sich auch in dem Darmtract jedes Er¬ 
wachsenen vorflndet, so dass auch die Gefahr bestände, dass die Wärterin 
ihr eigenes Bacterium coli fortzuimpfen im Stande wäre. Wir haben ja 
auch heute gehört, dass z. B. der PyocyaneuB, ein sonst für harmlos 
gehaltener Bacillus, einer Erzeugung von Diarrhöen angeschuldigt wor¬ 
den ist. 

Ich meine also, dass dürfte weniger in Frage kommen, welchen 
Theil des Körpers, ob den Ober- oder Unterkörper, worauf der Herr 
Redner den Hauptnachdruck legte, eine Pflegerin berührt, als dass sie 
den Säugling mit medicinisch reinen, mit aseptischen Händen berührt, 
und dass vor allen Dingen den Saugpfropfen genau dieselbe Aufmerk¬ 
samkeit gewidmet wird, welche nach der neuesten Forschung der Milch 
und ihren Aufbewahrungsgegenständen zugewendet zu werden pflegt. 
Und da ist es ja selbstverständlich, dass wir im kochenden Wasser das 
bequemste und sicherste Sterilisationsmittel für die Pfropfen besitzen. 
In Klinik und Privatpraxis habe ich seit Jahren die Mütter angewiesen, 
die Gummisauger 10 Minuten kochen und dann in dem zugedeckten vom 
Feuer entfernten Gefässe mit dem Wasser abkühlen zu lassen. Dabei 
ist nicht erforderlich, dass den Bedingungen der Bacteriologen strengster 
Observanz in Bezug auf Sterilität genügt wird. Denn es handelt sich 
ja doch im gewöhnlichen Leben nicht um Milzbrandsporen, sondern um 
diejenigen Bacterien, die anwesend zu sein pflegen, wo Menschen weilen: 
um Eiterkokken, Pneumokokken, Tuberkelbacillen u. s. w. Und von 
diesen wissen wir, dass Bie in kochendem Wasser in einer gewissen Zeit 
abgetödtet werden, in einer Zeit, die wir der Sache widmen müssen. 

Was schliesslich die Hände des Pflegepersonals anbetrifft, da muss 
es in den Fällen, wo wir überhaupt einen ärztlichen Einfluss auszuüben 
in der Lage sind, ebenso gehen, wie in der Chirurgie. Auch hier wird 
sich bei der Säuglingspflege dasselbe durchsetzen lassen, was wir bei 
der chirurgischen Behandlung doch schon lange erreicht haben. 

Hr. Gustav Kalischer: Der Vortrag und die Discussion haben, 
wie das bei Behandlung der Säuglingsernährung zu erwarten ist, auch 
Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege gestreift. In diesem Sinne 
möchte ich mir erlauben, auf einige Institute hinzuweisen, welche nicht 
erwähnt sind, aber Ihrer Beachtung werth sein dürften. 

Das eine Institut betrifft, was Herr Baginsky vorhin gewünscht 


hat, Einrichtungen, welche darauf berechnet sind, die Mütter möglichst 
in den Stand zu setzen, ihre Kinder selbst zu versorgen und zu nähren. 
Es ist das kein neuer Gedanke. Es existiren bereits solche Einrich¬ 
tungen schon in den siebziger Jahren in Paris von Frau Biquet 
de Vienne, und zwar unter dem Namen: „8oci6t6 pour la propagation 
de l'allaitemeut maternel. Es hat diese Gesellschaft viel Segensreichen 
gestiftet, und ich glaube, sie ist hier bei uns noch gar nicht bekannt, 
geschweige denn nachgeahmt. 

Da zweite Institut bilden die sog. Krippen, Gieches, critches, An¬ 
stalten, in denen Säuglinge bis zum Alter von 2 bis 8 Jahren, deren 
Mütter resp. Angehörige sich nicht um die Kleinen kümmern können, 
tagsüber untergebracht und unter sachgemässer Aufsicht gegen ein kleines 
Entgelt gehegt und geflegt werden. Diese Krippen haben, wie die vor¬ 
genannte Einrichtung, ebenfalls ihren Ursprung in Frankreich genommen, 
und zwar in Paris. Hier hat Herr Marbeau im Jahre 1844 einen 
Krippenverein (Socißte des crcches) gegründet, und von da aus sind die 
Krippen überpflanzt worden nach Belgien, Dänemark u. s. w., zuletzt 
erst nach Deutschland und Berlin. Hier hatten in den fünfziger Jahren 
und später Herr Geheimrath Esse, Barez, Frau Adelheid v. Mühler, 
Lina Morgenstern u. A. ähnliche Einrichtungen getroffen, aber sie 
alle Bind nicht recht in Gang gekommen, bis der eigentliche Begründer 
der Krippen in Berlin, der Berliner Marbeau, Herr Dr. J. Albu, der 
nachmalige Leibarzt des Schahs von Persien, Ende der siebziger Jahre 
in Berlin einen Krippenverein mit einer Krippe in der Anclamersftrasse 
(im Norden) eingerichtet hat. Es ist aber wiederum, obschon es an 
Wohlthätigkeitssinn und an Geld für die Krippen nicht mangelte, nicht 
recht vorwärts gegangen, aus Gründen, auf die ich hier nicht eingehen 
will. Der geringe Erfolg bat vor allem daran gelegen, dass die Grund- 
auffassung der Krippe hier nicht recht zum Durchbruch kam, die Grund- 
anffassung nämlich, wie Mettenheimer u. A. dargethan haben, dass 
Krippensache Frauen- und Aerztesache sei. 

Ich behalte mir vor, an anderer Stelle hierauf wie über die hierher 
gehörige Findelhaus-Frage näher einzugehen; heute wollte ich auf diese 
Dinge ganz kurz hingewiesen haben, weil ich meine, dasB man nicht oft 
genug betonen kann den alten Mahnruf: Berlin thnt nicht genug für 
seine Kinder. 

(Schluss folgt.) 


Physikalisch-medlclnlsche Gesellschaft zu Würzburg. 

Sitzung vom 18. Mai 1897. 

Hr. Schnitze: 1. Demonstration durchsichtiger Em¬ 
bryonen. 

2. Neue Untersuchungen über die unbedingte Nothwen- 
digkeit der Schwerkraft für die Entwickelung. 

Vor 3 Jahren hatte der Vortragende gelegentlich seines Nachweises 
der künstlichen Erzeugung von Doppelbildungen bei Amphibienlarven 
unter dem Einfluss abnormer Gravitationswirkung den Satz aufgestellt, 
dass die stabile Gleichgewichtslage des in seiner Hülle beweglichen, mit 
excentrischem Schwerpunkt versehenen Froscheies für die normale Ent¬ 
wickelung dieses Eies unbedingt nöthig sei. Da für das Zustandekommen 
der stabilen Gleichgewichtslage die richtende Schwerkraftwirkung ein 
unentbehrlicher Factor ist, so erschien auch die richtende Wirkung der 
Schwerkraft für die normale Entwickelung als unbedingtes Erforderniss. 
Gegen diese Auffassung sprach ein Versuch von Roux, bei welchem 
sich Froscheier, die in einer verticalen Ebene langsam, ohne Centrifugal- 
wirkung rotirten, bei angeblich anfgehobener richtender Wirkung der 
Schwerkraft normal entwickelten. Gegenüber den unzureichenden 
Versuchen von Roux bewies der Vortragende, dass, so lange das 
Ei in den Hüllen auch nur noch eine minimale Beweglichkeit besitzt, 
bei der von Roux angewandten Versuchsanordnung ein richtender Ein¬ 
fluss der Schwerkraft auf das Deutlichste stets nachweisbar ist. Bei 
der von Roux angewandten Umlaufszeit des in seiner Hülle drehbaren 
Eies von ca. 2 Minuten corrigirt das Ei die durch die Rotation an dem 
Klinostaten erstrebte Stellungsänderung seiner Eiaxe, nachdem die Eiaxe 
sich zunächst in die Rotationsebene eingestellt hat, durch eine bei jeder 
Rotation einmal erfolgende Axenumdrehung in seinen Hüllen um eine 
zur Rotationsebene verticale Axe. Die Axendrehung des Eies ist der 
Drehung der Rotationsebene entgegengesetzt gerichtet. So entwickeln 
sich die Eier bei fortwährend richtender Wirkung der Schwerkraft normal. 
Durch neue Versuche gab der Vortragende seinen früheren Resultaten 
eine noch bestimmtere Fassung, indem er zeigte, dass die Aufhebung 
der stabilen Gleichgewichtslage des Eies stets zu Entwickelungsstörungen 
führt, die allerdings, wenn seine Lage nach kurzer Zeit wieder herge- 
stellt wird, sich ausgleicben können, bei länger dauernder Aufhebung 
aber das Ei bezw. der Embryo immer abtödten. Wird z. B. die kurze 
Zeit nach der Befruchtung eintretende verticale Stellung durch unge¬ 
nügende Quellung der Hüllen verhindert, so tritt zwar, wie dies Pflüger 
zeigte, typisch abgeändert Furchung mit stets verticalen ersten Theilungs- 
ebenen gleichzeitig mit Substanzverlagerungen im Innern des Eies (Born) 
ein, die Eier sterben aber regelmässig ab, wenn man ihnen nicht nach 
der ersten Furchung die Fähigkeit, stets die stabile Gleichgewichtslage 
einnehmen zu können, durch reichlichen Wasserzusatz wiedergiebt. Hebt 
man ferner typische, in dem Verlauf der normalen Entwickelung ein- 


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1. Wt 1897. BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. BOD 


geschaltete, durch Verlagerungen des Schwerpunktes im Innern des Eies 
verursachte und unter dem Einfluss der Schwerkraft Bich vollziehende 
Totalrotationen des Eies auf, so stirbt das Ei bezw. der missgebildete 
Embryo regelmässig ab. Es ergab sich schliesslich, dass überhaupt jede 
eine gewisse Zeit andauernde Aufhebung der Drehfähigkeit des Eies in 
seinen Hüllen, d. h. die sog. Zwangslage, das Ei constant abtödtet. 

Da nun die für die Entwickelung des Eies als nöthig erwiesene 
Drehfähigkeit bezw. die Fähigkeit, immer die stabile Gleichgewichtslage 
zu bewahren, nur bei richtender Wirkung der Schwerkraft erfolgen kann, 
so ist bei dem beständigen Einfluss dieser auf unserem Erdball die 
Nothwendigkeit Jener richtenden Wirkung der Schwerkraft für die nor¬ 
male Entwickelung erwiesen. Diejenige Wirkung der Schwerkräfte, 
welche das Ei bezw. der Embryo in der Gleichgewichtslage erhält, ist 
deshalb eine für die Entwickelung nöthige Potenz, die, wenn sie nicht 
vorhanden wäre, die Schwerkraft andere und zwar störende Wirkungen 
auf das Ei ausüben muss, durch welche das Ei stirbt. 

Kahn. 


Aerxtllcher Verein zu Hamborg. 

Sitzung vom 27. April 1897. 

Vorsitzender: Herr Rumpf. 

Hr. Arning stellt 1. einen Kranken mit Vanille-Ekzem vor. 
Die Erkrankung gehört zu den Gewerbekrankheiten, und es entgeht ihr 
keiner von den Arbeitern, die mit dem Sortiren und Packen der Vanille 
zu thun haben. In der Regel klagen die Kranken 14 Tage bis 3 Wochen 
nach Beginn ihrer Thätigkeit über Jucken im Gesicht, an den Ohren, 
an den Armen, in den Kniekehlen und Leistenbeugen. Es kommt zu 
einem frischen Ekzem, das im Laufe kurzer Zeit schwindet; dann be¬ 
steht absolute Immunität. Das Vanilleekzem tritt nur einmal, dann nie 
wieder auf. 

Nur in selteneren Fällen tritt eine längere Erkrankung auf, darin 
besteht das Besondere des vorgestellten Falles: Pat. ist seit Januar in 
dem betreffenden Geschäft; bald traten die ersten Erscheinungen des 
Ekzems auf und diese bestehen noch jetzt fort. In einem anderen Falle 
dauerte das Ekzem bei einem 11jährigen Knaben 3 /i Jahre, er musste 
Bchliesslich Beine Arbeit aufgeben. Es steht zu hoffen, dass allmählich 
auch im vorgestellten Falle noch die Immunität eintritt. 

Das Ekzem selbst bietet nichts Charakteristisches (vielleicht könnte 
es mit 8cabies verwechselt werden). 

2. stellt er eine ältere Kranke vor mit primärem seit 2 Jahren be¬ 
stehendem LupuB der Nase und Oberlippe. Die Kranke wird aus¬ 
schliesslich mit dem neuen Koch’schen Tuberculin behandelt. Sie soll 
später wieder vorgestellt werden. 

3. Ein Fall von Sclerodermie en plaques. Die Pat. wird mit 
Massage und Na. salicyl. behandelt werden. 

Hr. Groth schildert die im Anschluss an Gonorrhoe auftretenden 
Gelenkerkrankungcn nach der König'Bchen Eintheilung (Hydrops des 
Gelenkes; Bildung eines serofibrinösen Exsudats; Empyem; Phlegmone des 
Gelenkes). Die letztere Form neigt zur Ankylosirung der Gelenke. Er 
stellt einen Fall der letzteren Art vor, bei dem es sich um eine gonorrh. 
Arthritis des rechten Handgelenkes handelte. Anfänglich wurde an eine 
rheumatische Gelenkerkrankung gedacht. Die Krankheit trotzte der ein¬ 
geleiteten antirheumatischen Behandlung. Es wurde dann die gonorrh. 
Natur des Processes festgestellt, die Hand geschient und mit Jodtinktur 
behandelt. Die Behandlung der jetzt eingetretenen Ankylose ist wenig 
aussichtsvoll. 

Hr. Rösing demonstrirt 2 Präparate von Magencarcinomen. 
In dem ersten Falle lag gleichzeitig eine Carcinose des Peritoneums vor — 
ein immerhin seltenes Ereigniss, unter 120 Fällen nur 3 Mal Peritoneal- 
carcinose —, im anderen Falle, in dem das Carcinom den Fundus des 
Magens einathmen, war es zu einer Perforation und Bildung eines abge¬ 
sackten subphren. Abscesses, später zur allgemeinen Peritonitis ge¬ 
kommen. 

Hr. Boettiger: lieber Neurasthenie und Hysterie und 
die Beziehungen beider Krankheiten zu einander. 

Um zu beweisen, dass Neurasthenie und Hysterie zwei grundver¬ 
schiedene Krankheiten sind, schilderte Vortragender zunächst jedes der 
beiden Krankheitsbilder in kurzen Umrissen. Bei der Neurasthenie wies 
er besonders auf die Analogien zwischen ihren Symptomen und den 
physiologischen Erscheinungen der Ermüdung hin, schilderte eingehend 
die Art der Neurastheniker, ihre Klagen vorzubringen und dabei in Ver¬ 
gleichen und Bildern zu sprechen, zählte die im Ganzen nur spärlichen 
objectiven Krankheitszeichen auf und besprach unter diesen eingehender 
die Hantreflexe, welche ein ganz gesetzmässiges Verhalten darzubieten 
pflegten, und die Secretionsanoroalien, besonders soweit sie den Magen¬ 
saft beträfen. Auch die Entstehung der Zwangsvorstellungen und 
-Handlungen wurde kurz gestreift und durch Beispiele illustrirt. 

Bezüglich der Hysterie stellte sich der Vortragende auf den strikten 
Standpunkt, dass dieselbe eine Psychose sei und ihre Symptome in diesem 
Sinne zu erklären und zu verstehen seien. Er gab dann eine ausführ¬ 
liche Schilderung des psychischen Zustandes der Hysterischen, ihrer Ge¬ 
fühls-, VorstellungB- und Willensthätigkeit in formaler und inhaltlicher 
Hinsicht und zeigte, dass es ausgesprochene Fälle von Hysterie gäbe, 
ohne dass bei ihnen sich auch nur eine Spur der sogenannten hysteri- 
-zchen Stigmata nachweiscn Hesse. Etwas eingehender besprach Vortr. 


sodann die Perversität des Handelns der Hysterischen, namentlich den 
Selbstbeschädigungstrieb. Er fasste diesen Begriff weiter, als es sonst 
üblich sei und rechnete hierher ausser den äusseren Verletzungen der 
Hysterischen, wie Decubitus, Brandblasen, Verschlucken gefährlicher 
Gegenstände, Zahnfleisch- und Vaginaverletzungen mit entsprechenden 
Blutungen, Papillenstarre durch Atropin etc., auch die durch Autosug¬ 
gestion entstehenden functioneilen Störungen, wie vor allen Dingen die 
hysterischen Mono- und Hemiplegien auf motorischem und sensiblem 
Gebiete, Astasie-Abasie, den Mutismus etc., ferner die motorischen Reiz¬ 
erscheinungen, die hysterische Chorea, Chorea electrica, überhaupt die 
localisirten oder allgemeinen Convulsionen, die verschiedensten Krampf¬ 
und Contracturerscheinungen, immer soweit dieselben durch Autosuggestion 
bedingt seien. Bezüglich der concentrischen Gesichtsfeldeinschränkung 
und der Hemianästhesie ist Vortragender der Ueberzeugung, dass diese 
Symptome stets autosuggerirt oder durch den Untersucher ansuggerirt 
seien. Durch geeignete prophylaktisch angewandte GegensuggeBtion des 
Arztes lasse sich das Auftreten dieser Symptome bei bisher noch un¬ 
untersuchten Hysterischen stets vermeiden. So hat Vortragender selbst 
während seiner Hamburger praktischen Thätigkeit noch nie bei seinen 
Hysterischen eine Hemianästhesie zu constatiren gehabt. Die Berechti¬ 
gung als Stigmata sei daher eine sehr fragwürdige. 

Vortr. besprach dann noch kurz diejenigen Symptome, namentlich 
neurasthenischen Ursprungs, die sich häufig den wirklich hysterischen 
Symptomen binzugesellen und dann fälschlicher Weise auch als hyste¬ 
rische gedeutet werden und warnte zum Schluss davor, mit der Diagnose 
Hysterie zu schnell bei der Hand zu sein, da sich hinter manchen ähn¬ 
lichen Krankbeitsbildern häufig organische Erkrankungen oder andere 
schwere Psychosen verbergen. 

Discussion. 

Hr. Hess erklärt sich mit der Auffassung des Herrn Vortragenden 
bezüglich der Neurasthenie einverstanden. Die Hysterie möchte er lieber 
als Neurose, allenfalls als Neuropsychose bezeichnen. 

Hr. Liebrecht: Von den hysterischen Augenstörungen seien her¬ 
vorgehoben 1. das hysterische Doppeltsehen, 2. die Pupillenstörungen, 
3. die Gesichtsfeldbefunde. Diese 3 Symptome lassen sich nicht rein 
psychisch erklären, sie Bind nicht dem Willen unterthan. 

Das hysterische Doppeltsehen, das meist als Contractur auftritt, zu¬ 
weilen auch unter dem Bilde einer Augenmuskellähmung, ist ausge¬ 
zeichnet durch die Veränderlichkeit in der Stellung der Doppelbilder bei 
früher vollständig normaler Thätigkeit der Augenmuskeln. — Einseitige 
Pupillenerweiterung kommt sicher bei Hysteria vor. Der Wille hat über 
die Pupillenveränderungen keine Macht. — Gesichtsfeldeinschränkungen 
sind nicht Buggerirt. Beweis dafür ist die Angabe der entsprechend ein¬ 
geschränkten Farben, ferner die Coaptationsstörungen derartiger Augen 
im Dunkeln. Es liegt eine abgeschwächte Empfindung der Netzhaut¬ 
peripherie vor. — Neben den rein psychisch hervorgebrachten Symptomen 
sind also objective vorhanden und von den ersteren scharf zu trennen. 

Hr. Beselin hält den Vortragenden nicht für berechtigt, jede 
hysterische Augenmuskellähmung zu läugnen. Wenn auch die Diagnose 
zwischen Lähmung eines Muskels und Contractur seines Antagonisten oft 
schwierig sei, so kämen doch z. B. Fälle von Mydriasis mit Accommo- 
dationsparese vor, in denen eine andere Deutung als hysterische Läh¬ 
mung des CiliarmuBkels nicht möglich sei. Ein solcher Fall sei Uber 
3 Jahre von ihm gemeinschaftlich mit Herrn Nonne beobachtet und be¬ 
schrieben, in dem sowohl Atropin gebrauch als auch Lues sicher auszu- 
schliessen waren' Eine virgo intacta mit vielfachen Anzeichen schwerer 
Hysterie, mit beobachteten hystero-epileptischen Anfällen, ohne Anzeielien 
hereditärer oder erworbener Lues am Körper, bis jetzt auch ohne orga¬ 
nische Erkrankung des Nervensystems geblieben, war wegen hysterischer 
Aphonie zu Herrn N. geschickt und zeigte gleich bei dem ersten Besuch, 
sowie bei häufigen Nachuntersuchungen eine vollständige sensible und 
sensorische Hemianästhesie der linken Seite und auch linksseitig die 
ebenfalls von Herrn Prof. Deutschmann später bestätigte Mydriasis 
mit Accomodationsparese. Als sicheres Zeichen hysterischer Erkrankung 
desselben Auges muss . eine zeitweise auftretende Diplopia monocularis 
angesehen werden. 

Wenn derartige Fälle auch sehr selten sind und weitere Beobach¬ 
tungen wünschenswerth, so erscheint es doch nicht angängig, einer 
Hypothese zu Liebe selbst die Möglichkeit solcher Thatsachen zu be¬ 
streiten. 

Hr. Rumpf: Im Grossen und Ganzen haben wir die Anschauung 
gewonnen, dass die Hysterie eine Psychose sei und dass viele Erschei¬ 
nungen bei der Hysterie auf Suggestion beruhen. 

Wer heute vorurteilsfrei die Bilder aus der Salpetriere betrachtet, 
wird zugeben, dass es sich in einem grossen Theile um künstliche Pro- 
ductionen handelt. Als Benedikt früher durch den Magneten künst¬ 
lichen Schlaf bei Hysterischen hervorrief, legte sich R. bereits die Frage 
vor. ob es sich nicht um Einbildung bei den betreffenden Individuen 
handele. Spätere Nachprüfungen haben den Herrn Vortr. niemals zu 
einem positiven Resultate geführt. Keiner seiner Patienten konnte durch 
den Magneten in Schlaf versetzt werden, sofern ihnen nicht Mittheilung 
von der erwarteten Wirkung gemacht wurde. Zu den Symptomen, die 
man suggeriren kann, gehören ferner auch die Hemianästhesie und die 
Einschränkung des Gesichtsfeldes. Je vorsichtiger man untersucht, um 
so seltener bekommt man derartige Befunde; darauB erklären sich auch 
die Unterschiede in der beobachteten Häufigkeit dieser Symptome an den 
verschiedenen klinischen Anstalten. 

Neben derjenigen Form von Hysterie, die rein als degenerative 


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No. 23. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Psychose za betrachten ist, giebt es aber eine andere, bei der die 
Kranken ausserordentlich unter ihrem Zustande leiden, wo sie selbst mit 
ihrer Krankheit bis auf’s Aeusserste kämpfen. Es sind Fälle, in denen 
weder die Erziehung des Kranken — im weitesten Sinne — noch die 
Familie ein ursächliches Verschulden trifft. Es ist dies zu betonen, um 
nicht diese Kranken zu hart zu beurtheilen. Ebenso ist neben der 
Schilderung de‘s Vortr. zu betonen, dass es Fälle von Hystero-Epilepsie 
giebt, bei welchen vollständige Bewusstlosigkeit eintritt. 

Was die Anomalie der Magensaftsecretion betrifft, so weiss man, 
dass die Hyperacidität auf nervösem Boden entstehen kann. Auch beim 
typischen Carcinom des Magens kommt es vor, dass die IIC1 reichlich 
bez. in normaler Menge abgeschieden wird und weiterhin ist das häufige 
Fehlen der freien IIC1 bei nervösen Zuständen zu betonen; bei gleich¬ 
zeitigem Milchgenuss kann es in solchen Fällen zur Buttersäure- und 
Milcbsäuregährung kommen. Liegen ausserdem Anzeichen einer geringen 
Ektasie des Magens vor, so ist leicht der Anlass zu verhängnisvollen 
diagnostischen Irrthümern gegeben. 

Hr. Franke: Die Gesichtsfeldeinschränkung beruht auf Suggestion. 
Hinsichtlich der Diplopie ist mehr an eine Parese als an Contractur der 
Augenmuskeln zu denken. 

Hr. Peltessohn bemerkt, dass amerikanische Autoren darauf auf¬ 
merksam gemacht haben, dass oft geringfügige Refractionsanomalien des 
Auges ein ganzes Heer neurasthenischer Beschwerden zur Folge haben, 
die mit einem Schlage verschwinden, sobald die Anomalien des Auges 
corrigirt sind. 

Hr. Liebrelit hat solche Fälle in grosser Zahl gesehen. Man 
braucht nicht immer corrigirende Brillen zu geben. Häufig genügt es, 
eine Schutzbrille zu geben, daneben bedarf etwa bestehende Anämio 
oder Chlorose einer besonderen Behandlung. 

Hr. Böttiger fasst als Psychiater den Begriff der Psychose weiter 
als Herr Hess. Die Hysterie ist eine Psychose und zwar eine Krank¬ 
heit mit Intclligenzdefect besonders auf neurotischem Gebiete. Die 
Diplopie beruht auf Functionsstörungen. Schon beim normalen 
Menschen Bind Doppelbilder in den Endstellungen der Bulbi nicht selten. 
Den hervorragend sensiblen Hysterischen kommen diese Erscheinungen 
besonders leicht zum Bewusstsein. Die Gesichtsfeldeinschränkungen bei 
Hysterischen beruhen auf Suggestion. Die Annahme functioneller Stö¬ 
rungen der Grosshirnrinde zur Erklärung der hysterischen Sehstörungen 
ist rein hypothetisch und nichts beweisend. An Atropinmydriasis ist 
nicht zu denken. Eine organische Läsion (vielleicht Lues?) nicht Bicher 
auszuschliessen. Die weitere Beobachtung der Kranken wird auch zu 
einer sicheren Diagnose führen, da Pupillenstörungen 10—15 Jahre früher 
auftreten können als die übrigen organischen Störungen. L. 


Wissenschaftlicher Yerein der Aerzte zu Stettin. 

Sitzung vom 4. Mai 1897. 

Vorsitzender: Herr Schleich. 

Schriftführer: Herr Freund. 

Hr. Scheidemann: lieber die operative Behandlung hoch¬ 
gradiger Kurzsichtigkeit (mit Demonstration). 

Die Gründe, welche dazu geführt haben, hochgradige Kurzsichtigkeit 
operativ zu behandeln, sind: 1. Nutzlosigkeit und Schädlichkeit corrigi- 
render Gläser. 2. Unverwendbarkeit der Accomodation für viele Berufs¬ 
arten. 8. Hülflosigkeit und Erwerbsunfähigkeit vieler Hochmyopen. Die 
Operation, von Fukala vor 10 Jahren eingeführt, besteht im Wesent¬ 
lichen in Discission und nachfolgender Linearextraction der Linse, und 
ist seither in über 1000 Fällen mit meist sehr günstigen Resultaten 
vorgenommen worden, doch ist man zu einer kritischen Sichtung des 
Materials verpflichtet. Indicationen: 1. Grad der Myopie nicht unter 
14,0 D. 2. Womöglich jugendliches Alter; doch ist auch noch bis zum 
50. Lebensjahre die Operation gut ausführbar. 8. Gesunder Augenhinter¬ 
grund. — Contraindicationen und mögliche Gefahren der Operation, na¬ 
mentlich von Seiten des Augenhintergrundes. — Vortheile nach der 
Operatiou: 1. Günstige Umgestaltung der Refraction. 2. Oft bedeutende 
Erhöhung der Sehschärfe. 3. Ersatz der oft (namentlich für Handwerker) 
unverwendbaren Accommodation durch ein gutes Sehen in der Nähe 
über ein wesentlich grösseres Gebiet unter Benutzung von Convexgläsern. 
4. Nach doppelseitiger Operation Herstellung eines binocularen Sehactes. 

Die vom Vortragenden operirte 20jährige Patientin hatte Myopie 
beiderseits = —24,0 D. S. mit —20,0 knapp 5 0O . Sn l'/j in 5 cm 
p. rlm. Gläser wurden gar nicht vertragen. Augenhintergrund: nur 
grosse Staphylome. Gf. normal. Nach vorheriger Tenotomie wegen 
Convergenzschielens Anfangs Februar Discision des linken Auges. Am 
10. und 18. Februar partielle Extractionen. Fehlen jeglicher Reizerschei¬ 
nungen. Ende März Pupillargebiet ganz klar. — Patientin hat jetzt 8. 
ohne Gläser = * M (Emmetropie). Also Verbesserung der absoluten 
Sehschärfe um das Dreifache. Da aber Patientin früher Gläser über¬ 
haupt nicht vertrug, so beträgt die faktische Erhöhung der Leistungs¬ 
fähigkeit des Auges noch weit mehr und zwar mindestens das 15 fache. 
In der Nähe liest Patientin Sn l'/i mit -f- (5,0 gut in 8". 

Discussion. 

Hr. Roth holz berichtet über einen Fall, der mit '/io Sehvermögen 
in seine Klinik kam und jetzt, 8 Wochen nach der Operation, schon ein 
Sehvermögen von */ 10 besitzt. 

Hr. Mttrau warnt nach dem Vorgänge Hirschberg’s, Fuchs’u. a. 


vor einer Ueberschätzung der Bedeutung der Operation, und will die¬ 
selbe nur auf völlig hülflose Fälle beschränken. 

Der Vortragende erwidert, dass er alle Gefahren und Contraindi¬ 
cationen eingehend erörtert habe. 

Hr. Rud. Krösing: Argentamin und Argonin in der Go¬ 
norrhoebehandlung. Das gegen Gonorrhoe an Stelle des Arg. nitr. 
in den letzten Jahren von Schäffer und Jadassohn empfohlene 
Argentamin (Aethylendiamin-Silberphosphat) und Argonin (Ar¬ 
gentum-Casein) hat Redner im letzten Jahre (1896) an 158 Fällen von 
männlichen Gonorrhoeen mit positivem mikroskopischen Gono¬ 
kokkenbefund angewandt und zwar 55 Fälle (42 ant. und 18 ant. et post.) 
mit Argentamin '/ 4 —'/»"/oo und 103 Fälle (86 ant. 17 ant. et post.) mit 
Argonin 2—8 pCt. behandelt. Injicirt wurde von den Kranken viermal 
täglich mit einer 10 ccm haltenden Spritze und die Lösung anfänglich 
10, später 5 Minuten in der Urethra zurückgebalten. — Die Urethritis 
post, wurde mit einigen Guyon’sehen Instillationen von 1 0 0# Argen¬ 
tamin bezw. 5 pCt. Argonin meist schnell geheilt. 

Beide Mittel brachten die Gonokokken in 10 Tagen 
(Argentamin 10,8) zum Verschwinden. Sechsmal (14 pCt.) entstand 
während der Argentaminbehandlung Urethritis post. (Zweigläser¬ 
probe), einmal Epididymitis (2 pCt.). Andere Complicationen (Prosta¬ 
titis, Cystitis, Coroperitis, para- beziehungsweise periurethrale Infiltrate) 
blieben aus. — 

Während der Argoninbebandlung sah Redner dreimal (2,9 pCt.) 
Urethritis post., fünfmal (2 pCt.) Epididymitis (einmal doppelseitig) hin¬ 
zutreten; andere Complicationen stellten sich auch hier nicht ein. — In 
8 der 55 mit Argentamin und io 26 der 103 mit Argonin behandelten 
Fälle traten nach 1—7 Wochen die Gonokokken im Secret bezw. den 
Flocken wieder auf, meist in Folge von Excessen in Baccho, Erectionen, 
Pollutionen, körperlicher Anstrengung (Radfahren, Rudern, Reiten), vor¬ 
zeitiger Bougierung, Dehnung etc., ohne dass etwa erneute Infection 
durch geschlechtlichen Verkehr stattgefunden hatte. Dieses Ereigniss 
ist so zu erklären, dass in der Tiefe der Schleimhaut oder den Urethral¬ 
drüsen Gonokokken zurückgeblieben sind, die durch die erwähnten Reize 
wieder hervorgelockt wurden und von Neuem eine übrigens kurze viru¬ 
lente Secretion bedingen. — Ueber die zur definitiven neilung nöthig 
gewordenen Zeitdauer kann wegen des ambulanten und mit chronischen 
Fällen stark untermischten Materials ein Urtheil nicht abgegeben werden. 
Fast die Hälfte der Infectionen fand seitens 8tettiner Prostituirtcn statt 
(72: 158), 30 bei auswärtigen P. p., 56 bei nicht unter Controle Stehen¬ 
den. — Redner kann beide Präparate als schnell die Gonokokken ver¬ 
nichtend (wenn auch nicht in allen Fällen radical), in den erwähnten 
Concentrationen fast reiz- und schmerzlos, Complicationen und Cbroni- 
cität wesentlich vorbeugend zur Gonorrhoebehandlung empfehlen, möchte 
jedoch zur möglichst radicalen Gonokokkenvernichtung dringend er¬ 
mahnen, diese Mittel erst möglichst spät gegen adstringirende (Zinc. 
sulfocarbol, Zinc. permang. etc.) einzutauschen. 

Hr. Scbuchardt spricht die Hoffaung aus, dass die seit einigen 
Jahren von den Dermatologen inaugurirte causale Behandlung der 
Gonorrhoe auch für die chirurgischen Formen dieser Krankheit, nament¬ 
lich für die gonorrhoischen Gelenkentzündungen von Nutzen 
sein möchte und fordert za Versuchen in dieser Richtung auf. Man 
kann in therapeutischer Beziehung drei Arten gonorrhoischer Gelenker¬ 
krankung unterscheiden. Die eine, namentlich im Kniegelenke von 
Frauen sich findende, stellt hartnäckige Gelenkschwellungen dar, die 
nach Entdeckung und Beseitigung der oft verheimlichten Gonorrhoe rasch 
von selbst völlig aasheilen, nachdem vorher vergebens alles Mögliche 
versucht worden war. Die andere, häufigere Form persistirt auch noch, 
nachdem die Gonorrhoe der Harnröhre ausgeheilt ist, nimmt aber einen 
relativ gutartigen Verlauf und führt nur zu serösen Ergüssen und mehr 
oder weniger langwierigen Gelenksteiflgkeiten. Die bisher üblichen 
Mittel, namentlich die Punction und Auswaschung des Gelenkes 
mit 3proc. Carbolsäurelösung, Dampfbäder, Massage, bydropathische Ein¬ 
wickelungen, heisse Sandbäder u. s. w. vermögen zwar oft Heilung her¬ 
beizuführen, jedoch ist die bisher zur Verfügung stehende Therapie doch 
noch sehr verbesserungsbedürftig und manchmal bleibt alle Mühe ver¬ 
gebens. Namentlich gilt dies auch für die dritte Kategorie von Fällen, 
in denen es zu schweren Veränderungen im Gelenkapparate, Kapsel¬ 
verdickungen, Zottenwucherungen , fibrösen Anchylosen u. s. w. kommt 
und die mitunter nacheinander mehrere der grossen Gelenke befällt, ja 
in einzelnen Fällen unter hochgradiger Kachexie zum Tode führen kann. 
Für alle diese Gelenkerkrankungcn muss in Zukunft versucht werden, 
durch Einführung der gonokokkentödtenden Mittel (Argonin u. s. w.) in 
die Gelenkhöhle und das Gewebe des Synovialis den Proceas zum Still¬ 
stand zu bringen. 

Auch bei solchen Fällen von gonorrhoischer Pyosalpinx, bei 
denen auf der einen 8eite bereits ein grosser Eitersack gebildet ist, 
während die untere Tube nur erst leicht verdickt erscheint und im Be¬ 
ginne der gonorrhoischen Infection steht, kann man vielleicht die jetzt 
übliche doppelseitige Resection dadurch vermeiden, dass man die leichter 
erkrankte Tube durch Argonininjection zur Heilung bringt und den 
Kranken dadurch ihre Conceptionsfähigkeit erhält. 

Hr. Friedemann demonstrirt einige durch Operation gewonnene 
Präparate: 

1. Die linksseitigen Adnexe einer 24jährigen. gonorrhoisch inficirten 
Frau. Die Tube befindet sich sich in einem sehr frühen Stadium der 
Pyosalpinxbildung und ist durch die Laparotomia vaginalis nach 
Duehrssen entfernt. Glatte Heilung. 


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1. Juni 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


511 


F. hebt hervor, dass gerade flir diese frühen Stadien der Tuben¬ 
gonorrhoe die Duehrssen'sche Operation von grossem Werthe sei, da 
man leicht und gefahrlos die kranken Theile entfernen und so völlige 
Heilung erzielen könne, während sich sowohl Arzt wie Patientin zu dem 
viel schwereren Eingriff der gewöhnlichen Laparotomie doch nicht so 
leichten Herzens zu entschlossen pflegen. 

2. Einen fast mannskopfgrossen myomatösen Uterus, der auf vagi¬ 
nalem Wege genau nach dem Land au'sehen Verfahren durch Morcelle¬ 
ment unter Benutzung von Klemmen exstirpirt worden ist. Das Myom 
zeigt sehr starke hyaline Umwandlung, die anfänglich Verdacht auf 
Sarkom erregte. Glatte Heilung, nur complicirt durch eine leichte 
Lungenhypostase in der 3. Woche. 


IX. Wiener Brief. 

Bericht der Oesterreichischen Commission zum Studium 
der Pest in Bombay. 

Wien, Ende Mai 1897. 

Am 17. d. M. langte die von der kaiserlichen Academie der Wissen¬ 
schaften zum Studium der Pest nach Bombay entsendete Commission 
wohlbehalten wieder in Wien an. Die Commission bestand aus 4 Herren, 
den Doctoren Al brecht und Ghon, Assistenten am Institute des Prof. 
Weichselbaum, welche mit dem anatomischen end bacteriologischen 
Theil der Arbeiten betraut waren, dem Doc. Dr. Müller, Assistenten 
der Klinik Nothnagel's, welcher den klinischen Theil unter Mithülfe 
des Dr. Bock bearbeitete. Nach ziemlichen Schwierigkeiten, welche 
hauptsächlich in der Erlangung des Materials bestanden, war es der Ex¬ 
pedition mit Hülfe des dirigirenden Parsiarztes am Arthur-Road- 
Spital Dr. Choksey und Dr. Weyer in Bombay gelungen, alles ver¬ 
fügbare klinische und Leichenmaterial sich zu verschaffen. Bis dahin 
wurden Obduetionen an Pestkranken nur in sehr geringem Maasse aus- 
geführt, was hauptsächlich aus dem grossen Widerstand der Hindus und 
der Verheimlichung von Krankheitsfällen überhaupt zu erklären ist. Ge¬ 
naue Erhebungen über den Stand und die Verbreitung der Krankheit in 
der Stadt waren deshalb auch von Seite der Behörden nicht durchführbar, 
weil vielfach die heimische Bevölkerung Krankheitsfälle verschwieg, und 
die Todten oft mehrere Tage lang verborgen gehalten wurden, um dann 
in aller Stille der Nacht bestattet zu werden. Bei dieser Lage, bei 
dem Schmutze und den trostlosen hygienischen Verhältnissen, die unter 
einem grossen Theil der Bevölkerung Bombays constatirt wurden, ist es 
begreiflich, dass die Seuche gerade unter der armen Classe grosse Opfer 
forderte. Im Allgemeinen war eB üblich, dass die Häuser, in welchen 
sich Pestkranke befanden, aussen mit Ringen angezeichnet wurden, und 
unter den photographischen Aufnahmen, welche von der Expedition rait- 
gebracht wurden, befinden sich Häuser mit 40 und 46 solchen Ringen, 
womit die Zahl der in den betreffenden Häusern untergebrachten Pest¬ 
kranken angezeigt wird. 

Ueber die wissenschaftlichen Ergebnisse ihrer Beobachtungen, welche 
sich auf 70 klinisch beobachtete und 47 anatomisch und bacteriologiBCh 
untersuchte Erkrankungen beziehen, hat die Expedition bereits eine auf 
die groben Umrisse sich beziehende Mittheilung in der Gesellschaft der 
Aerzte erstattet. 

Es lassen sich 8 Formen der Pest constatiren. Erstens, die septi- 
kämisch-hfimonhagische Form mit primär hämorrhagischen Bubonen, 
zahllosen Blutungen, acutem Milztumor, Veränderungen des gesammten 
lymphatischen Apparates, Degeneration der inneren Organe. Manche 
dieser Fälle führen foudroyant zum Tode, in anderen Fällen vereitern 
die Bubonen, es entstehen in der Umgebung der Haut hämorrhagische 
Blasen und mit Eiter gefüllte Blasen, oder die LymphdrUsenschwellung 
resorbirt sich. Die anatomischen Präparate, welche Dr. Albrecht von 
diesen Formen demonstrirte, waren sehr interessant und instructiv. In 
den Abstrichpräparaten vom Buboneneiter, sowie in dem Inhalt der 
Blasen finden sich massenhaft Pestbacillcn. Die inneren Organe sind 
bei dieser Form der Sitz grosser, bis erbsengrosser Hämorrhagien, 
aus welchen Erosionen entstehen können (Magen, Nieren). Die zweite 
Form ist die septisch-pyämische mit Metastasen in der Lunge, der Leber 
und der Niere. Eine dritte Form Ist charakterisirt durch primäre Pest¬ 
pneumonie, die lobulär auftritt. Im Sputum fluden sich entweder blos 
Pestbacillen oder Pestbacillen mit Diplokokken. Als Eingangspforte der 
Infection ist in der Mehrzahl der Fälle die Haut anznsehen, in einer 
kleinen Reihe von Fällen die Lunge und die Tonsillen. Eine Infection 
vom Magendarmtract ist bisher nicht beobachtet worden. 

Als Erreger der Pest sind die von Yersin und Kitasato ge¬ 
fundenen Bacillen anzusehen. Dieselben sind im Leichenmateriale in 
ungeheurer Menge als alleinige Mikroorganismen auffindbar. In wechseln¬ 
der Menge finden sie sich in der Galle. (Hämorrhagien bilden einen 
nicht seltenen Befund.) Sie finden Bich im Urin der Leichen, nie jedoch 
in den Fäces. Beim Lebenden gelang der Nachweis im Blute oft schon 
im Deckglaspräparate, und diese Fälle verliefen meist tödtlich; in zahl¬ 
reichen Fällen konnten die Pestbacillen aus dem Blute gezüchtet 
werden. 

Von den biologischen Eigenschaften des Pestbacillus ist hervorzu¬ 
heben, dass er bei der G r am'sehen Methode ungefärbt bleibt, eine nicht 


immer gut nachweisbare Kapsel besitzt, alkalische Nährböden bevorzugt, 
eine geringe Wachsthumsenergie zeigt und gegen Austrocknung und 
höhere Temperaturen nicht widerstandsfähig ist. 

Analoge Veränderungen wie beim Menschen konnten bei einer Reihe 
von Thieren durch Einbringung von Culturen beobachtet werden, nur 
Aasgeier bleiben refraetär. Spontane Erkrankungen konnten nur bei 
Ratten beobachtet werden, welche massenhaft in den Docks zu Grunde 
gingen und wahrscheinlich für die Verbreitung der Pest eine grosse Be¬ 
deutung haben. 

Ueber die therapeutischen Versuche mit abgetödteten Culturen nach 
Haffkine und mit den von Yersin eingeführten Seruminjectionen 
konnten die Herren nach ihren Beobachtungen günstige Resultate nicht 
berichten. —t - . 


X. Praktische Notizen. 

llagaastisehei ind Casaistik. 

Ein 42jähriger vielgereister Mann entleerte mit den letzten Tropfen 
Urin stets etwas Blut. Der Urin wurde allmählich immer trüber und 
die Entleerung schmerzhaft. Im Urin fand sich wenig Eiwelss, etwa 
dem Blutgehalt entsprechend. Die mikroskopische Untersuchung ergab 
die Anwesenheit von zahlreichen, auf allen Entwickelungsstufen stehen¬ 
den Eiern von Distoma haematobiura. Nach Ihjectionen von Gerb¬ 
säure in verdünnter Lösung Mess die Blutung nach. Ausserdem bekam 
der Kranke Methylenblau. Er befindet sich augenblicklich noch in Be¬ 
handlung. (Sondern, New-York medical News vom 1. Mai 1897.) 

Hof mann (Centralblatt für innere Medicin, 22. Mai 1897) hat die 
Widal'sche Reaction in 81 Fällen von Typhus abdominalis mit Er¬ 
folg angestellt In 4 Fällen von fieberhaftem Darmkatarrh, 8 Miliar- 
tuberculosen, einer influenzaartigen Erkrankung wurde sie zu differential¬ 
diagnostischen Zwecken angestellt und fiel negativ aus. Der mikro¬ 
skopischen Reaction giebt Verf. vor der makroskopischen, die ihn mehrmals 
im Stich liess, den Vorzug. In 5 Typhusfällen untersuchte er auch die 
Wirkung des serösen Inhaltes von Zugpflasterblasen und fand sie der 
des Blutserums gleich. 


In der Socictö des Sciences mödicales de Lyon (Sitzung vom April 
1897) berichtete Vinay über 13 Fälle von puerperaler Sepsia, die mR 
Antistreptokokkenserum behandelt worden waren. In 9 Fällen, 
die von vornherein gutartig verliefen, trat Heilung ein. In den schweren 
Fällen war das 8erum ohne jede Wirksamkeit. (Lyon mödical, 16. Mal 
1897.) 


Ueber einen Phytobezoar im Magen einer Frau und dessen 
Diagnose nnd Heilung berichtet Schreiber (Mittheilungen aus den 
Grenzgebieten d. Medicin und Chirurgie, Hft, 5, 1896. 

Die Patientin klagte über einen faustgrossen Knoten im Leibe der 
auf- und absteige, sowie über manigfache andere Beschwerden, wie Herz¬ 
beklemmungen, Schmerzen zwischen den Schulterblättern, Appetitlosigkeit. 
Man constatirte in der rechten Abdominalhälfte 3 Finger breit unter dem 
rechten Rippenrand einen verschieblichen, faustgrossen Tumor, der für 
eine Wanderniere gehalten wurde. Schiesslich gelangte man aber zu 
der Ansicht, dass eine frei im Magen bewegliche Geschwulst vorliege. 
Durch die Operation wurde dann eine Uber faustgrosse, höckerige, feste, 
harte, frei im Magen gelegene Geschwulst entfernt. Dieselbe bestand 
aus zusammengepressten Pflanzenfasern, Micrococcenhaufen und Detritus¬ 
massen. 

Einen allgemeinen Icterus katarrhalischer Ursache ohne Gallen¬ 
farbstoff und Urobilin im Harn hat Hayem (Societe medieale des böpi- 
tanx 14. Mai) beobachtet. Der Icterus war über den ganzen Körper 
verbreitet und bestand Monäte lag, bald schwächer, bald stärker. Für 
die naheliegende Annahme einer Xanthodermie fehlte jedes Zeichen. 
Spectroskopisch wies Hayem im Blutserum dieses Kranken Urobilin 
nach (wohl der erste Befund dieser Art!), auch gab das Serum die 
Gmelin'sche Reaktion. Der Gallenfarbstoff kann also im Blut circuliren, 
ohne dasB auch nur eine Spur davon im Harn auftritt. Hayem spricht 
diese Beobachtung als den ersten sichergestellten Fall von Icterus ohne 
Veränderung des Harns an und sieht darin die Bedeutung desselben. 

A. 


Therapeatisehei «ad lataxleatiaaea. 

Ueber sehr günstige Erfolge von Eucaineinspritzungen in der ope¬ 
rativen Zahnheilkunde berichtet Touchard (Bulletin general de Thera- 
peutique 1897, Heft 9). Das Mittel hatte nicht die unangenehmen Neben¬ 
wirkungen des Cocains und erzeugte doch eine vollkommene Anästhesie. 


Gegen dieNachtschweisse der Phthisiker empfehlen Combele 
und Deschumaker (Rev. möd. du Nord. Wiener med. Wochenschr. 1897, 
No. 5) Snlfonal. Dasselbe soll 14 Tage lang zwischen 7 und 8 Uhr 
Abends in Dosen von 1—2 gr genommen werden. 


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Bl 2 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 2a. 




P. Bruns benutzte, um den Verband genähter Wunden mittelst 
eines einfachen trockenen Schorfes zu bewerkstelligen, mit gutem Er¬ 
folge die von Socin empfohlene Zinkpaste (50 Theile Zinkoxyd, 50 Th. 
Wasser und 5—6 Th. Zinkchlorid) und Zinkleim. Als ganz besonders 
gut wirkenden Wund-Occlusiverband empfiehlt er in den „Bei¬ 
trägen zur klinischen Chirurgie,“ Bd. 18, 1897 Airolpaste. Die¬ 
selbe wird mit einem Spatel in ziemlich dicker Schicht auf die ge¬ 
nähte Wunde und ihre Umgebung aufgetragen und mit dem Finger etwas 
eingerieben, so dass die Mündung jedes einzelnen 8ticbcanals bedeckt 
ist. Darüber wird eine dünne Schichte Baumwolle leicht angedriickt. 
Die Zusammensetzung dieser Paste ist: Airol., Mucilag. Gummi arab., 
Glycerin, aa 10 Theile, Bol. alb. 20 Theile. Bruns hat seit einem 
halben Jahre unter der Airolpaste keine einzige Stichcanaleiterung ge¬ 
sehen. Für seröses Wundsecret ist die Paste durchlässig. 

Von Dr. Bruno AI exander-Reichenhall ist analog der Türck- 
scben Schwammcanüle eine Wattetamponcanüle für Kehlkopf, Rachen, 
Nase und Nasenrachenraum angegeben. — Die Metallcanülen der 
Fränkel’8chen Spritze sind zur Befestigung der Watte mit einem Ge¬ 
winde versehen. — Durch diese Vorrichtung ist man im Stande, den 
Pinsel bis zur Applicationsstelle trocken einzuführen und die Menge der 
zu verwendenden Flüssigkeit genau zu dosiren. 


W. Zoege von Manteuffel (Centralblatt für Chirurgie, 22. V. 1897) 
empfiehlt ausgekochte Gummihandschuhe als ein sehr zweckmässiges 
-Inventar8ttick des Operationssaales. Zwar operirt sich mit ihnen etwas 
unbequemer, aber sie gewährleisten eine vollständige Asepsis, wie man 
sie leider durch die sorgfältigste Desinfection der Hände nicht erreichen 
kann. Verf. benutzt die Handschuhe: 1. bei Operationen an Septischen, 
2. bei Operationen an reinen Wunden, wenn sie nicht aufschiebbar sind 
und der Operateur vorher mit septischen Dingen in Berührung gekommen 
ist, 3. wenn die Hand des Arztes eine Verletzung trägt, oder einen 
•Furunkel etc., 4. bei plötzlichen Unglücksfällen. Natürlich müssen die 
-Hände und Arme des Operateurs, bevor er die sterilen Handschuhe an¬ 
zieht, nach herkömmlicher Weise desinficirt sein. Auch das Touchiren 
per anum führt der Verfasser mit dem Gummifinger aus. (Der Vor¬ 
schlag ist in ähnlicher Weise schon im Jahre 1895 von Roth gemacht 
worden.) 


In der Societe mßdicale des Hopitaux berichteten in der Sitzung 
vom 7. Mai 1897 Marie und le Goff über einen Diabetiker, welcher 
8—4 pCt. Zucker im Urin hatte, und dessen Zustand nach Gebrauch 
von Methylenblau (60—120 egr pro Tag) im Verlauf von 6 Wochen 
•erheblich sich besserte. Der Zucker war schliesslich vollkommen aus 
dem Urin-verschwunden. (Gazette hebdomadaire, 13. Mai 1897.) 


Kocher giebt im Centralblatt für Chirurgie 1897, No. 19, eine Zu¬ 
sammenstellung der in seiner Klinik nach seiner lateralen Vcrlagerungs- 
raetbode ausgeführten Hernienradicaloperationen. In 91,3 pCt. 
trat die Heilung per primam intentionem ein. Diese Patienten konnten 
im Mittel nach 10,7 Tagen entlassen werden. Von 111 Fällen von 
äusserer Leistenhernie recidivirten 8,6 pCt. Die Mortalität ist 0. 


XI. Tagesgeschichtliche Notizen. 

Berlin. RudolfVirchow wird in einer der allgemeinen Sitzungen 
des Moskauer Congresses einen Vortrag über „die Rolle derGefässe 
bei der Entzündung“ halten. 

— In der Sitzung der Berliner medicinischen Gesellschaft 
am 2. d. M. hielt Herr Klemperer den angekündigten Vortrag über 
Nährpräparate. An der Discussion nahmen die Herren Ewald, 
Rosenheim, Albu, Senator und im Schlusswort der Vortragende 
theil. Es folgte der Vortrag der Herren Posner und E. Frank „Bei¬ 
trag zur Frage der Blaseninfection“* 

— In der Sitzung des Vereins für innere Medicin am 31. Mai 
stellte zunächst Herr Krön ein junges Mädchen mit einer peripherischen 
Peroneuslähmung vor (Discussion: die Herren Bernhardt, Krön und 
Gerhardt). Dann beendigte Herr Litten seinen Vortrag über Endo- 
carditis traumatica. Zum Schluss sprach Herr Senator über die Be¬ 
ziehungen zwischen dem Diabetes mellitus und insipidus. 

— In der Sitzung der Gesellschaft der Charite-Aerzte am 
3. d. M. stellte Herr Lesser eine Anzahl von Kranken vor, und zwar 
einen Fall von Xeroderma pigmentosum mit Epithelialcarcinom, und vier 
Patienten mit Syphilis, von denen der eine eine Syphilis hereditaria 
tarda mit hochgradiger Deformation der Nase und Oberlippe, der zweite 
eine tertiär-syphilitische Ulceration am Penis, der dritte ein dem Lichen 
ruber planus sehr ähnliches papulöses Syphilid, der letzte einen gum¬ 
mösen Zerfall der Hoden und Nebenhoden darbot. Sodann trug Herr 
Burchardt über die Behandlung von Thränensackleiden vor, indem er 
vor der übermässigen Schlitzung der Thränenröhrchen warnte und an 
zwei Patienten augenscheinliche Nachtheile einer solchen Behandlungs- 
weise demonstrirte. 


— In der 8itzung der Berliner Dermatologischen Gesell¬ 
schaft am 1. Juni stellten vor der Tagesordnung Oestreicher einen 
Lichen ruber, Blaschko eine Dermatitis herpetiformis, Pionski ein 
Melanosarkom und Lassar eine Elephantiasis der Ohren vor- Zur 
Tagesordnung übergehend zeigten Berger eine Alopecie im Anschlüsse 
an Tokicalitis und Th. Mayer aus Lassar’s Klinik eine Geschwulst, 
welche sich aus einem Naevus des behaarten Kopfes entwickelt hatte, 
sowie einen Fall von Mycosis fungoides. Ledermann demonstrirte 
einen Epileptiker mit ansgedehnten stark juckenden Hautpigmentationen, 
einen Fall von Sclerodermie, ein Mädchen mit Lues insontium, Heller 
eine Nagelerkrankung und schliesslich Blaschko mikroskopische Prä¬ 
parate von Lupus-, Gummi-, und Lepra-Carcinom. 

— Mit der „Stellung der Aerzte zur Fürsorge für die 
lungenkranken Mitglieder der Berliner Krankenkassen“ 
befasste sich eine in verflossener Woche im Langenbeckhause tagende 
Aerzteveraammlnng, die vom Verein zur Einführung freier Arztwahl ein¬ 
berufen worden war. Nach einem ausführlichen Referate des Herrn 
Sommerfeld wurden folgende Resolutionen angenommen: „1. Die 
Versammlung hält es für eine dringende Pflicht der Berliner Aerzte, 
besonders der Kassenärzte, sich der Frage der besseren Fürsorge für 
die lungenkranken Kassenmitglieder durch gemeinsames Zusammenarbeiten 
anzunehmen. 2. Al» ersten nothwendigen Schritt sieht die Versammlung 
die Schaffung einer nicht nur für den unmittelbaren Gebrauch der 
Krankenkassen bestimmten Statistik an. 3. Dazu ist die von der Com¬ 
mission des Vorstandes des Vereins zur Einführung freier Arztwahl vor¬ 
läufig als Entwurf aufgestellte Zählkarte geeignet. 4. Ueber die Fort¬ 
schritte in der Bearbeitung der Frage ist einer Aerzteversammlung in 
kürzester Frist durch die bestehende, bezw. ergänzte Commission Mit¬ 
theilung zu machen.“ 

— Wie wir erfahren, werden die stenographischen Aufnahmen der 
Commission zur Berathung der Medicinalreform in der That gedruckt 
und demnächst der Oeffentlichkeit zugänglich gemacht werden, in welcher 
die reformatorischen Absichten der Staatsregierung sicherlich mehr Ver- 
ständniss und Unterstützung finden werden, als dies von seiten einzelner, 
nichtärztlicher Mitglieder der Commission der Fall gewesen zu sein 
scheint! 

— Im Anschluss an die Discussion der Berliner medicinischen Ge¬ 
sellschaft über die Säuglingspflege und Säuglingsspitäler theilt Herr 
A. Baginsky noch folgende Zahlen mit: 

Das Kaiser und Kaiserin Friedri ch-Kinder-Kranken haus 
hat an Säuglingen folgende Verpflegungen und Sterblichkeit gehabt: 


Säuglinge (0—1 Jahr.) 

1898 aufgenommen 282, davon gestorben 108 = 78,1 °/ ( 


1894 

r» 

566, 

71 

fl 

209 = 36,9 */. 

1895 

rt 

600, 

»1 

»1 

203 = 83,8 */. 

1896 

* 

374, 

71 

fl 

150 = 40,1 # 0 


In Summa aufgenommen 1 772, davon gestorben 670 = 37,8 “/• 
Herr B. ist überzeugt, dass wenn weiterhin die von ihm vorge¬ 
schlagenen Verbesserungen durchzuführen sein werden, die Sterblichkeits- 
Verhältnisse sich noch einigermaassen werden verbessern lassen. 


XII. Amtliche Hittheilongeh. 

Prrsenalla. 

Niederlassungen: die Aerzte Dr. Brackmann in Buende, Dr. 
Boerkohl in Sendenhorst, Dr. Maxen in Telgte, Dr. Lorenz in 
Loccum, Dr. Meyer in Lntzerath, Sander in Coblenz. 

Verzogen sind: die Aerzte Ober-Stabsarzt I. Kl. Dr. Dietrich von 
Colberg nach Metz, Ass.-Arzt 1. Kl. Dr. Kramm von Colberg nach 
Metz, Weinbrenner von Bonn nach Coblenz, Werner von Tannen¬ 
hof nach Andernach, Achtermann von Goerbersdorf nach Coblenz, 
Dr. Hanen von Bonn nach Coblenz, Bossmann von Münstermaifeld 
nach Ahlen, Dr. Burghart von Andernach nach Bonn, Dr. Burk¬ 
hardt von Hameln nach Hildesheim, Dr, Schlueter von Hameln 
nach Lübeck, Dr. Kyrieleis von Detmold nach Hameln, Dr. Wend- 
riner von Hirschberg nach Hannover, Gohde von Amelinghausen 
nach Artlenburg, Dr. Schaefer von Telgte nach Gronau, Dr. Kerle 
von Münster i. W. nach Caup (Wiesbaden), Dr. Zepler von Sagan 
. nach Herford, Dr. Schütt von Rhynern nach Beverungen. 

Gestorben sind: die Aerzte Sanitätsrath Dr. Koester in Beverungen, 
Kreis-Physikus Dr. Dyrenfurth in Buetow, Stabsarzt a. D. Dr. 
Frost in Breslau. 


■ekanntaachani. 

Die durch Ableben erledigte Stelle des Kreis-Physikus des Kreises 
Greifenberg in Pommern, mit Jahrcsgehalt von 900 M., soll wieder be¬ 
setzt werden. Geeignete Bewerber fordere ich auf, sich unter Bei¬ 
fügung der erforderlichen Zeugnisse und eines Lebenslaufs binnen vier 
Wochen bei mir zu melden. 

Stettin, den 25. Mai 1897. 

Der Regierungs-Präsident. 

FOr die Redactlon verantwortlich Geh. Med.-Bath Prof. Dr. C. A. E w a 1 d, Lötsowplata >. 


Verlag und Eigenthnm von Angust Hirschwald in Berlin. — Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin. 


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t>l* ße»'H nM Klinliehi Wochenschrift erscheint Jeden 
Montag * n der Sthrke »on 9 bis 3 Bogen gr. 4. — 
Preis vierteljährlich fi Mark. Bestellungen nehmen 
alle Buchhandlungen und Postanstalten an. 


BERLINER 


Einsendungen wolle man portofrei an die Redartion 
(W. Liitzowplatz No. 5 ptr.) oder au die Verlags¬ 
buchhandlung von August Hirsrhwald In Berlin 
N.W. Unter den Linden No. fi8. adressiren. 


KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Organ für practische Aerzte. 


Mit Berücksichtigung der prenssischen Medicinalverwaltung und Medicinalgesetzgebung 

nach amtlichen Mittheilungen. 

Hedaction: Expedition: 

Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald und Prof. Dr. C. Posuer. August Hirschwald, Verlagsbuchhandlung in Berlin. 


Montag, den 14. Juni 1897. 


M 24. 


Vierunddreissigster Jahrgang. 


I N H 

I. M. Neneki, N. Sieber und W. Wyznikiewicz: Ueber die ! 
Rinderpest. 

II. Aus der medicinischen Klinik des Herrn Geh.-Rath Erb in Heidel¬ 
berg. S. Bettmann: Ueber den Einfluss der Schilddriisen- 
bebandlung auf den Kohlenhydrat-Stoffivechsel. 

III. J. Mikulicz: Die chirurgische Behandlung des chronischen Magen¬ 
geschwürs. (Fortsetzung.) 

IV. O. Binswanger: Ueber die Pathogenese und klinische Stellung 
der Erschöpfungspsychosen. (Schluss.) 

V. W. Havelburg: Experimentelle und anatomische Untersuchungen 
über das Wesen und die Ursachen des gelben Fiebers. (Fort¬ 
setzung.) 


I. Ueber die Rinderpest. 

Von 

M. Neneki, N. Sieber und W. Wyznikiewicz. 

Die Untersuchung, deren Ergebnisse wir in Folgendem mit¬ 
theilen, wurden im Aufträge der russischen Regierung vor jetzt 
zwei Jahren von uns unternommen und hatten zunächst die Auf¬ 
gabe, einem Wunsche der SchaafzUchter des Kubangebietes 
nachkommend, zu ermitteln, inwiefern Schaafe der Merinorasse 
für die Rinderpest empfänglich sind. Gleichzeitig sollte damit 
eine Untersuchung Uber die Natur des Rinderpestcontagimus ver¬ 
bunden sein. Im August des Jahres 18!>5 begaben wir uns in 
das Land der Kuban’schen Kosaken, wo gerade die Rinderpest 
herrschte und nachdem wir uns mit den Symptomen, dem Ver¬ 
lauf und den pathologisch- anatomischen Veränderungen hei 
dieser Krankheit bekannt gemacht hatten, wurden unsere Unter¬ 
suchungen zunächst im Kubangehiete auf einem Berge in der 
Nähe der Kosakenstaniza Kardanik am nördlichen Abhange 
des Elborus und seit November 18!)5 in Petersburg, im Institute 
für experimentelle Medicin fortgesetzt. Die ersten Resultate 
unserer Untersuchungen haben wir vor einem Jahre in dem 
rassischen Archiv der Veterinärwissenschaften (Juliheft 1896) ver¬ 
öffentlicht. Der Inhalt dieser Publication lässt sich in den drei 
folgenden Punkten resumiren. 

1) Der Erreger der Rinderpest gehört nicht zu den Bacterien. 
Alle von den bisherigen Autoren als Ursache der Rinderpest be¬ 
schriebenen Spaltpilzarten haben damit nichts zu tliun. Wohl 
gelang es uns, zwei Bacterienarten zu isoliren, die pathogen sind 
und bei den Wiederkäuern eine acute, manchmal tödliche Gastro¬ 
enteritis aber keine Rinderpest hervorrafen. In diesem Punkte 


ALT. 

VI. Kritiken und Referate. Ransebenbach: Pathologie nnd 
Therapie der Cataracta traumatica; Stilling: Grundzüge der 
Augenheilkunde. — Graefe: Sehen der Schielenden; Mooren: 
Medicinische and operative Behandlung kurzsichtiger Störungen. 
(Ref. Brecht.) 

VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Berliner raedi- 
cinische Gesellschaft. Discussion über Heubner: Säuglingsernäh¬ 
rung und Säuglingsspitäler. Greeff: Ueber Gliome und Pseudo¬ 
gliome der Retina. 

VIII. Praktische Notizen. 

IX. Tagesgeschichtliche Notizen. 

X. Amtliche Mittheilungen. 


stimmen wir also überein mit den in vorigem Jahre publicirten 
Untersuchungen von Semmer 1 ) und Tartakowsky 2 ). 

2) Der specifische Mikrobe der Rinderpest lässt sich auf 
mucinhaltigen Nährböden, auf Agar, auf Peptonbouillon (5—lOpCt.) 
mit Zusatz von 2 pCt. Kochsalz cultiviren wo er als blass¬ 
glänzende runde, manchmal birnenförmig spitz ausgezogene, 1,5 
bis 3 //. grosse Körperchen erscheint. Durch die verschiedensten 
Farbstofflösungen werden diese Körperchen gar nicht oder nur 
schlecht tingirt und bilden auf festen Nährböden keine Colonien. 
Auf flüssigen Nährböden ist ihre FortzUchtung schwer, da sie 
von Bacterien leicht überwuchert werden. Die Culturen dieses 
Mikroben in erster bis vierter Generation, rufen bei Schaafen und 
und Kälbern typische Rinderpest hervor und gesunde Kälber, 
mit dem Blute der gefallen Thiere inficirt, gehen ebenfalls an 
Rinderpest zu Grunde. 

3) Das Serum von Thieren, welche die Pest Uberstanden 
haben, hat immunisirende Eigenschaften. Wir fanden, dass 
Kälber, denen wiederholt 20 bis 30 cm solchen, von einem Schaaf 
herrührenden, Serums subcutan injicirt wurden, hernach mit viru¬ 
lentem Material inficirt, zwar an Pest erkrankten, aber genasen und 
gegen neue Infection immun blieben. 

Unsere russische Publication wurde wenig bekannt. Wir 
zögerten auch absichtlich mit der ausführlichen Publication, da 
es unser Wunsch war, genaue und präcise Daten Uber die Natur 
des Pestmikroben, seine Lehensbedingungen, sowie die Methoden 
znr Immunisirung resp. Heilung der Rinderpest zu ermitteln. 
Mit grossem Eifer haben wir im Laufe des vergangenen Jahres 


1) Deutsche Zeitschrift für Thiermedicin. Bd. 22, S. SB. 

2) Archives des Sciences biologiques de St. Petersbourg. T. I, 
p. 295. 


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BERLINER KLINISCHE WOCItENSCÖRlEf. 


No. 24. 


fel4 

daran gearbeitet. Wiederholt haben wir an der Specificität des 
von uns gefundenen Mikroben gezweifelt und alle anderen iin 
Blute und den Organen pestkranker Thiere aufgefundenen Mikro¬ 
organismen auf ihre eventuelle Beziehung zu dieser Erkrankung 
geprüft. Stets hat uns aber das Experiment darauf hingewiesen, 
dass der von uns schon in Kardanik gesehene Mikrobe, der 
wirkliche Erreger der Rinderpest ist. Da wir inzwischen auch 
bezüglich der Iramunisation verschiedene Erfahrungen gesammelt 
haben, so halten wir es für angezeigt, namentlich mit Rücksicht 
auf die Berichte von R. Koch, unsere Untersuchungen auch in 
deutscher Sprache zu veröffentlichen. Der Raum dieser Wochen¬ 
schrift gestattet nicht eine ausführliche Mittheilung der zahl¬ 
reichen Protocelle, Zeichnungen und mikrophotographischen Auf¬ 
nahmen. Sie sollen demnächst in einer separaten Abhandlung 
veröffentlicht werden. Wir beschränken uns hier auf die Mit¬ 
theilung der wesentlichen Ergebnisse. 

Der Misserfolg der bisherigen zahlreichen Untersuchungen 
Uber die Rinderpest hat einen dreifachen Grund. Der erste war 
die vorgefasste Meinung, dass der Mikrobe eine Bacterienart ist 
und seine Isolirung mittelst der üblichen Methoden gelingen 
müsse. Der zweite Grund liegt in der Natur des Mikroben selbst. 
Trotz der ausserordentlichen Ansteckungsfähigkeit, der schweren 
Erkrankung und der typischen pathologisch-anatomischen Verän¬ 
derungen ist die Rinderpest eine specifische Erkrankung der Wieder¬ 
käuer, und selbst unter den Wiederkäuern sind einzelne Arten und 
Rassen verschieden empfänglich. Es war daher a priori zu erwarten, 
dass der, die Rinderpest hervorrufende, Mikrobe an sehr bestimmte 
und enge Bedingungen bezüglich seines Lebens und seiner Virulenz 
gebunden ist. Der dritte Grund der Misserfolge unserer Vorgänger 
ergiebt sich aus dem Vorangehenden und liegt darin, dass die 
von ihnen benutzten üblichen Nährsubstrate für den Rinderpest¬ 
mikroben nicht geeignet waren. Es ist nicht übertrieben, wenn 
wir sagen, dass wir circa hundert verschiedener Xährsubstrate 
angewendet haben, in der Hoffnung, dass der specifische Mikrobe 
darauf auswachsen und zu isoliren sein werde. Wir haben in 
Folge davon aus den Säften und Geweben gesunder und pest¬ 
kranker Kälber nicht nur neue Mikroben rein gezüchtet und iso- 
lirt, darunter eine im Blute pestkranker Kälber ziemlich häutig 
vorkommende pathogene Streptotrixart, sondern auch für die 
schwer zu isolirenden Organismen wie die Flagellaten und Ainoeben 
sehr günstige Nährsubstrate gefunden. Es würde uns zu weit 
führen, die verschiedenen Nährböden hier einzeln anzuführen. 
Wir wollen uns nur auf diejenigen beschränken, auf denen es 
uns gelungen ist, den für die Rinderpest specifischen Mikroben 
zu züchten. 

Da bei der Rinderpest in erster Linie die Schleimhaut des 
Verdauungstractus afticirt ist, so hielten wir es für wahrscheinlich, 
dass ein an thierischem Schleim reicher Nährboden für die Cultur 
des Pestmikroben geeignet sein dürfte. Nach verschiedenen Ver¬ 
suchen hat sich folgendes Verfahren zur Herstellung mucinhaltiger 
Nährsubstrate als brauchbar erwiesen: 1—2 Kilo frisch aus dem 
Schlachthause bezogener Submaxillardrüsen vom Rind werden 
herauspräparirt, in einer Fleischmaschine fein zerhackt, mit dem 
5 fachen Gewicht destillirten Wasser Ubergosseu und unter häufi¬ 
gem Umrühren 20—24 Stunden in der Kälte stehen gelassen. 
Man filtrirt durch Fliesspapier und das dickliche Filtrat wird 
sofort durch Chamberlandkerzen in sterile Gefässe filtrirt. Die 
Kerzen sind vorher auf ihre Durchlässigkeit zu prüfen. Sie 
dürfen keine Bacterien durchlassen und andererseits nicht zu 
dick in der Wandung sein. Von diesem Mucin bereiten wir 
3 Sorten, nämlich: 1) ohne allen Zusatz, 2) mit vorherigem Zu¬ 
satz von 3 pCt. NaCl und 3) mit einem Zusatz von 0,2—0,5 pro 
Mille an Kali- oder Natronhydrat. Durch Fliesspapier lässt 


sich der wässrige Auszug der Speicheldrüsen gut filtriren. Aus 
dem neutral reagirenden Filtrate kann durch Zusatz von so viel 
verdünnter Salzsäure, dass die Lösung 1,5 pro mille HCl ent¬ 
hält das Mucin als schleimige Masse abgeschieden werden. Das 
gefällte und mit Wasser ausgewaschene Mucin kann von Neuem 
in Alkali gelöst und durch Zusatz von Gelatine oder Agar zur 
Herstellung eines festen Nährbodens — „Mucingelatine resp. Mucin- 
agar“ — verwendet werden. Die durch Fliesspapier filtrirte Mucin- 
lösung trübt sich beim Kochen, wobei sich etwas Eiweiss ab¬ 
scheidet. Setzt man jedoch zu dem Filtrate soviel Kali- oder 
Natronhydrat hinzu, dass die Lösung 0,3 bis 0,5 pro Mille Alkali 
enliält, so bleibt die Lösung auch beim Kochen klar und kann auf 
die Weise sterilisirt werden. Das Mucin wird in sterile Röhrchen 
vergossen, andererseits kann es zu festen Nährböden zugesetzt 
werden. Genau auf gleiche Weise haben wir aus gehacktem 
Kalbfleisch, das mit dem doppelten Gewicht Wasser 24 Stunden 
in der Kälte gestanden, durch Filtration, anfangs durch Fliess¬ 
papier hierauf durch Chamberlandkerzen, als Ersatz der Fleisch¬ 
bouillon sterilen Fleischsaft bereitet. Als einen anderen mucin- 
haltigen Nährboden benutzten wir die Galle. Frische Kinder¬ 
galle wurde direkt aus der Gallenblase in sterile Röhrchen ver¬ 
theilt und im Autoclaven sterilisirt. In einigen Fällen wurden 
der Galle 2 pCt. NaCl zugesetzt. Auch die Galle kann zu festen 
Nährböden zugesetzt werden. 

2. Peptonkochsalzlösung wurde bereitet durch Auflösen 
von 100 gr Pepton „Witte“ in 900 gr Wasser. Der Lösung wurde 
20 gr NaCl zugesetzt, filtrirt, in Probirröhrchen vergossen und 
im Autoclaven sterilisirt. 

3. Agar mit unorganischen Salzen. 10—15 gr Agar 
werden zunächst durch 2—3 maliges Aufgiessen von destillirtem 
Wasser ausgelaugt, hierauf in einem Liter sehr heissen Wasser 
gelöst. Der Lösung wurden zugesetzt: 0,5 gr phosporsaures 
Kalium (POJL), 1 g calcinirte Soda (Co^Naa), 2,5 gr neutrales 
schwefelsaures Ammon [S0 4 (N1L),) und 5—10 gr Kochsalz. Die 
Lösung wird filtrirt und im Autoclaven sterilisirt. Selbst¬ 
verständlich verflüchtigt sich bei der Sterilisation ein Theil des 
Ammoniaks. Nach unseren Beobachtungen macht gerade dieser Um¬ 
stand den Nährboden für die Amoebencultur besonders geeignet. 

Werden diese Nährlösungen mit 1—3 Platinoesen pest¬ 
haltigen Materials geimpft und bei Bruttemperatur stehen ge¬ 
lassen, so sieht man schon am 2. Tage ausser Bacterien blass¬ 
glänzende 1—3 ,« grosse, meistens runde Gebilde. Einzelne 
sind oval, bimenförmig oder spitz ausgezogen. An den grösseren 
Individuen sieht man Ausbuchtungen und an einzelnen ein in 
der Mitte liegendes Körnchen. Die grösseren, mehr matten 
zeigen amöboide Formveränderungen; auch haben einige einen, 
seltener zwei cilienartige Fortsätze. In Culturen aus Galle, den 
Organen, Erosionen, Magen- oder Darminhalt, wo kleinste Fett¬ 
tröpfchen beigeraischt sind, sind diese Organismen schwer davon 
zu unterscheiden. Durch Zusatz von Osmiumsäure werden sie 
nicht wie die Fetttröpfchen geschwärzt, sondern gerathen in 
eine stärkere, zitternde Bewegung. Da bei den Ueberimpfungen 
aus den Organen das Mitauswachsen der Spaltpilze sehr störend 
ist, so benutzten wir für die Impfungen vorzugsweise Galle und 
Blut. Blut bietet den Vortheil, dass es in jedem Stadium der 
Erkrankung leicht aus den Ohrvenen steril erhalten werden kann. 
Untersucht man das mit physiologischer Kochsalzlösung passend 
verdünnte Blut nach Ausbruch des Fiebers oder noch besser, 
gegen das letale Ende, nach Abfall der Temperatur, so sieht 
man nicht in jedem, wohl aber in jedem 3.—5. Präparate 
ausser den Blutkörperchen die gleichen runden Gebilde, welche 
wir in Culturen erhalten und als infectiös erkannt haben. Sie 
erscheinen nur hier blasser, unbeweglich, manchmal mit 1 bis 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


515 


\4 juni 1897. 

2 Fortsätzen. Trocknet man das Präparat bei gewöhnlicher 
oder höherer Temperatur ein und färbt nach den üblichen 
Methoden der Bacterienfärbung, so ist das Resultat insofern 
völlig negativ, als nichts deutlich Definirbares zu sehen ist. 
Fixirt man das Blutpräparat vorher mit Osmiumsäure oder 
Osmium- plus Essigsäure, Alkohol oder Chloroformäther und 
färbt mit MethylengrUn, Hämatoxylin, Fuchsin, Methylenblau oder 
am besten mit der Rh um bl er'sehen Lösung (vgl. Rhumbler 
im Zoologischen Anzeiger, 16. Jahrgang, S. 47, 1893), so nehmen 
diese Gebilde den Farbstoff, wenn auch nur schwach auf. Die 
Präparate sind jedoch nicht haltbar. Beim Eintrocknen werden 
sie undeutlich und später nicht mehr sichtbar. Ebenso lassen 
sie sich weder in Glycerin noch in Canadabalsam autbewaliren. 
Wir müssen hervorhebeu, dass diese Gebilde schon bei ober¬ 
flächlicher mikroskopischer Besichtigung einen so zu sagen 
physikalischen Unterschied zeigen, in dem sie manchmal stärker 
glänzend, ein anderes Mal mehr matt erscheinen. Die stärker 
glänzenden Formen nehmen überhaupt keine Farbe auf, die 
matt erscheinenden lassen sich nach längerer Behandlung, wenn 
auch nur schwach tingiren. 

Da die Auffindung dieser Mikroben in den Blutpräparaten 
ziemlich schwierig ist, so ist cs zweckmässig, vorerst die Blut¬ 
körperchen durch Wasserzusatz zu zerstören. Mit weniger als 
dem gleichen Volumen destillirten Wassers versetzt, wird das 
Blut sofort lackfarben und bei mikroskopischer Besichtigung, 
jetzt wo die Blutkörperchen zerstört sind, sind die runden Ge¬ 
bilde viel leichter zu finden. Immerhin ist ihre Zahl im Blute 
nicht so gross und namentlich nicht gleichmässig. In einzelnen 
Präparaten sieht man sie nur vereinzelt, in anderen kann man 
ihrer 20 und mehr im Gesichtsfelde zählen. Ihre grösste Menge 
findet man bei solchen pestkranken Thieren, welche lange fiebern. 
Solchen protrahirten Krankheitsverlauf und meistens mit letalem 
Ausgang, kann man leicht bei Kälbern hervorrufen, wenn man 
sie mit Serum von Kälbern, die die Pest Uberstanden haben, 
vorimmunisirt. — Wir kommen bei Besprechung der Immunisation 
noch einmal hierauf zurück. — Kälber, die nach Ausbruch des 
Fiebers 8—10 Tage lang eine Temperatur von 41° und darüber 
haben, enthalten nicht allein im Blute, sondern in allen Organen 
und im Verdauungstractus in bedeutend grösseren Mengen diese 
blasnglänzende, runde Gebilde. — Eine Thatsache, welche als 
Beweis für die Specificität dieses Mikroben angesehen werden 
kann. — In solchen Fällen gelang es durch Ueberimpfungen 
von der Magenschleimhaut, von der Leber und vom Blute auf 
die oben angeführten Nährböden den blassglänzenden Mikroben 
in Culturen zu erhalten und sind die mit den Culturen in- 
ficirten Kälber sämmtlich an typischer Rinderpest zu Grunde ge¬ 
gangen. 

Noch auf eine andere Weise lässt sich die Gegenwart dieses 
Mikroben im Blute deraonstriren. Ein wesentliches Ilinderniss 
für ihre Beobachtung ist die eintretende Blutgerinnung. Um 
diese zu vermeiden, werden hoheGlascylinder oder Probirröhrchen 
zu ein Drittel mit 0,6 pCt. NaCl-Lösung, die noch 1 pM. neu¬ 
trales Natriumoxalat enthält, gefüllt. Man lässt hierauf direkt 
aus der Vene nicht mehr als das gleiche Blutvolumen hinein- 
fliessen, schüttelt um und lässt an einem ruhigen Orte stehen. 
Das Blut, namentlich von Kälbern, die schon nahe dem Tode 
sind, gerinnt nicht oder es bilden sich nur spärliche Gerinnsel. 
Nach 2 bis 4tägigem Stehen haben sich die Blutkörperchen zu 
Boden gesenkt und die oberste Schicht der Blutkörperchen ent¬ 
hält meist zahlreich diese charakteristischen blassglänzenden Ge¬ 
bilde. Ihr specifisches Gewicht ist also kleiner wie das der 
rothen Blutzellen. Ueberhaupt machten wir die Beobachtung, 
dass sie auch in flüssigen Nährlösungen am leichtesten in dem 
oberen Dritftheil der Flüssigkeit zu finden sind. Wird Galle 


oder Ham von pestkranken Thieren centrifugirt, so ist nicht 
allein der Bodensatz, sondern auch die oberste Flüssigkeits¬ 
schicht infectiös. Beim Eintrocknen müssen diese Organismen sehr 
leicht und mit den Luftströmungen fortbeweglich sein. Es liegt 
vielleicht darin der Grund, dass die Rinderpest bei den Wieder¬ 
käuern, ähnlich wie die Masern beim Menschen, so ausserordent¬ 
lich ansteckend ist. — Bezüglich der Frage, ob der Mikrobe 
nur frei in der Blutflüssigkeit oder auch in den morphotischen 
Elementen, speciell den rothen Blutzellen, enthalten ist, haben 
wir Folgendes beobachtet: 

1. Lässt man Blut, namentlich von lange fiebernden Käl¬ 
bern, 2—3 Tage ruhig stehen und fertigt hierauf ein mikrosko¬ 
pisches Präparat aus der obersten Blutschicht, so sieht man 
manchmal, jedoch nicht immer, dass die rothen Blutzellen, wie 
in Fragmente zerfallen sind und inmitten der Fragmente den 
blassrunden Mikroben. An einzelnen rothen Blutkörperchen ist 
diese Fragmentirung nur angedeutet, während sich in ihrem 
Innern 1 bis 3 solcher blassen Körperchen befinden. 

2. Wird Pestblut in möglichst dünner Schicht auf ein Ob¬ 
jectglas aufgetragen, an der Luft getrocknet, hierauf in Alkohol¬ 
äther liegen gelassen und dann mit dem Dreifarbengemisch von 
Biondi gefärbt, mit Alkohol abgewaschen und in Canadabalsam 
untersucht, so sind in einzelnen rothen Blutzellen braunroth ge¬ 
färbte Gebilde zu sehen, die möglicherweise der specifische Mi¬ 
krobe oder seine Entwickelungsform sind. 

In w’eissen Blutzellen haben wir nicht färbbare, blassglän¬ 
zende Gebilde gesehen, die allem Anschein nach unser Mikrobe 
sind. Dass sie von den weissen Blutzellen aufgenommen werden, 
dafür spricht die constant nach Abfall der Temperatur vermehrte 
Leukocytenzahl im Blute pestkranker Thiere. Aber nicht allein 
von den Leukocyten, sondern auch von den Amöben, worauf 
wir weiter unten zurückkommen werden, scheinen sie aufge¬ 
nommen zu werden. 

Ueber die Vermehrungsweise dieses Mikroben können wir 
Folgendes mittheileu: Unter den mehr mattglänzenden, runden 
Kugeln sieht man hier und da je zw r ei — eine grössere und 
eine kleinere — mit einander verwachsen, einer knospenden 
Hefe mit ihrer Tochterzelle vergleichbar. Direkt haben wir 
beobachtet, wie unter leisen Drehungen an der grösseren, zu¬ 
nächst eine Ausbuchtung und hernach die Abschnürung einer 
dritten sich vollzog. Der Vorgang dauerte etwa eine Viertel¬ 
stunde. Ob eine Vennehrung auf eine andere Weise stattfindet, 
darüber möchten wir uns vorläufig jeder Aeusserung enthalten, 
obgleich einzelne Beobachtungen uns dafür zu sprechen scheinen; 
auch können wir nicht angeben, auf welche Weise die mehr 
birnenförmigen und spitzen Formen, die gerade die virulentsten 
sind, entstehen. 

Auf den genannten Nährböden cultivirt, geht dieser Mikrobe 
nach kurzer Zeit zu Grunde. Während Organe der an Pest 
gefallenen Thiere bei niedrigen Temperaturen in lOproc. NaCU 
Lösung ein halbes Jahr und darüber ihre Virulenz bewahren, 
ist es uns bis jetzt nur zweimal gelungen mit vierter Generation 
tödtliche Pesterkrankung beim Kalbe hervorzurufen. Mit der 
ersten und zweiten Uebertragung gelingt es ziemlich sicher Pest 
hervorzurufen, mit der dritten öfters nicht mehr. Es kommt 
übrigens hierbei wesentlich auf die Cultur an. Durch längere 
Beschäftigung haben w r ir eine gewisse Uebung in der Erkennung 
virulenter Culturen erlangt, so dass wir durch mikroskopische 
Besichtigung der injicirten Cultur ziemlich sicher Voraussagen 
konnten, ob das inficirte Thier an Pest erkranken wird oder 
nicht. — Dass unsere Culturen nicht eine einfach mecha¬ 
nische Uebertragung des Contagiums waren, dafür spricht die 
Thatsache, dass wir nur auf den oben genannten Nährsub¬ 
straten infectiöses Material erzielen konnten. Culturen auf Gela- 

1 * 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 24. 


510 

tine, Bouillon, Serum, Hämoglobinlösungen, Eiern, Kartoffeln, 
verschiedenen Pflanzeninfusen (Heu, Hafer, BierwUrze) mit ver¬ 
schiedenem Gehalt an Alkalisalzen und sonstigen Zusätzen waren 
nicht infectiös, auch in erster Generation; ebenso die von Wino- 
gradsky für Culturen der Nitrit- und Nitratbacterien empfohle¬ 
nen Nährlösungen. Auch Culturen auf mucinhaltigem Nährboden, 
Peptonsalz oder unorganischem Agar bei Zimmertemperatur oder 
Bruttemperatur und Luftausschluss waren unwirksam. Dass die 
Virulenz der Culturen von anscheinend unbedeutenden Momenten 
abhängig ist, das haben wir namentlich bezüglich der Tempe¬ 
ratur beobachtet. Wiederholt sahen wir, dass Kälber mit Cul¬ 
turen aus erster resp. zweiter Generation aus Galle resp. Mund¬ 
erosion, die bei 37,5° gestanden sind, geimpft, nur leicht erkrankten 
und genasen. Wurden dann die gleichen Kälber mit der gleichen 
Cultur, die aber 4 Tage lang bei 37,5—38° und nur die letzten 
24 Stunden bei 40° gestanden inficirt, so erkrankten sie schon 
am zweiten resp. dritten Tage mit Temperaturen Uber 41 °, hef¬ 
tigem Stöhnen, typischen Auflagerungen und Erosionen an den 
Lippen und Zungen und gingen am siebenten resp. achten Tage 
zu Grunde. Es empfiehlt sich ferner, jeden Tag zu Uber¬ 
impfen und die Culturen längere Zeit — 5—8 Tage — bei 
der Brutteraperatur stehen zu lassen. Zusatz von Kochsalz, 
namentlich zu Pepton, begünstigt die Virulenz, hindert auch die 
Ueberwucherung der Cultur durch Bacterien. Unter 16 Thieren 
(12 Kälber, 2 Ziegen und 2 Schafe), die von uns mit Culturen 
geimpft und an Pest gestorben sind, war nur ein einziges Kalb 
mit der ersten Generation, die 10 Tage bei Bruttemperatur ge¬ 
standen und wo die gleiche, 2 Tage alte Cultur, wirkungslos 
war, inficirt. Von den Übrigen erhielten 8 Thiere die zweite, 
5 die dritte und 2 die vierte Generation. Bei der Vergänglich¬ 
keit der Culturen und den vielen sonstigen EigenthUmlichkeiten 
dieses Mikroben, wäre es voreilig, ihn schon jetzt in eine be¬ 
stimmte Classe unterbringen zu wollen. Dies kann erst nach 
gründlicherer Erforschung seiner Natur und seiner Lebensbe¬ 
dingungen geschehen. Damit wird voraussichtlich unsere Kennt- 
niss der Aetiologie einer ganzen Gruppe menschlicher Infections- 
krankheiten, wie Pocken, Scharlach, Masern u. s. w. einen 
wesentlichen Fortschritt machen. 

Alle Organe und Säfte pestkranker Thiere enthalten den 
Pestmikroben. Wir betonen dies namentlich den neuesten 
Aeus8erungen Koch’s gegenüber. In seinen Berichten an den 
Staatssecretär fUr Landwirtschaft in Capstadt TCentralbl. f. Bact. 
Bd. 21, S. 431) schreibt Koch „er sei berechtigt zu sagen, dass 
die Galle den Ansteckungskeim der Rinderpest nicht enthält“ 
und (1. c. S. 536) „dass er mit der Galle von an Rinderpest 
gefallenen Thieren, gesunde Thiere immun machen kann.“ In 
diesem Falle genUgt eine einmalige subcutane Einspritzung von 
10 cram. Diese Immunität setzt am zehnten Tage ein und ist 
von solcher Wirkung, dass selbst nach 4 Wochen 40 emm Rinder¬ 
pestblut eingespritzt werden können. — Unsere, vor mehr als 
einem Jahre mit der Galle angestellten und vor Kurzem wieder¬ 
holten Experimente haben ein ganz anderes Resultat ergeben. 
Von 8 Kälbern, denen Galle oder Culturen aas Galle auf Mucin 
oder Peptonsalz subcutan injicirt wurden, sind alle an typischer 
Pest zu Grunde gegangen. Davon erhielt ein Kalb 2 ccm drei 
Tage alter, ein anderes 3 ccm fUnf Tage alter Pestgalle. In 
einem anderen Versuche wurde vier Tage alte Pestgalle centri- 
fugirt und einerseits der Bodensatz, andererseits die klare obere 
Schicht je einem Kalbe injicirt. Beide Thiere starben an der 
Pest. Die vier anderen Kälber sind an den Culturen aus der 
Galle in erster bis dritter Generation zu Grunde gegangen. Erst 
13 Tage nach dem Tode des Thieres auf bewahrte Pestgalle, 
gesunden Kälbern injicirt, blieb unwirksam. Als wir ein Monat 
später einem solchen Kalbe 5 ccm einer Pestcultur in dritter 


Generation subcutan injicirten, starb das Thier an typischer Pest. 
Ein anderes Kalb, das ebenfalls nacli der Injection 13 Tage 
alter Pestgalle nicht erkrankte, wurde in den Stall, wo pest¬ 
kranke Thiere standen, UbergefUhrt. Es inficirte sich spontan 
und starb ebenfalls an der Pest. 

Wird Blut pestkranker Thiere mit dem gleichen Volumen 
destillirten Wassers versetzt und nach Zerstörung der rothen 
Blutzellen durch Fliesspapier ein- bis zweimal filtrirt, so bleibt 
es infectiös. Im Bodensätze des anscheinend klaren Filtrates 
haben wir wiederholt die blassglänzenden Körperchen gefunden. 
Lässt man jedoch solches filtrirtes Blut 4—7 Tage bei Zimmer¬ 
temperatur stehen, so verliert es seine Infectionsfähigkeit. Thiere, 
die 5—10 ccm davon subcutan erhielten, erkrankten gar nicht, 
zeigten nicht einmal eine Temperaturerhöhung. Sie wurden aber, 
selbst durch 2—3 malige Wiederholung solcher Injectionen nicht 
imraunisirt. 1 Kalb und 3 Ziegen, mit filtrirtem Blute vorbehandelt, 
und dann mit 5 cm virulenten Materials inficirt, erkrankten 
sämmtlich an der Pest. Nur eine Ziege, welche das erste Mal 
4 Tage dann nach 6 Tagen nur noch 2 Tage mit destillirtem 
Wasser gestandenes Blut, und 4 Tage später infectiöses Material 
erhielt, erkrankte zwar schwer, erholte sich aber am 9. Krank¬ 
heitstage und genass — Magensaft von Hunden (1 Theil Magen¬ 
saft, 1 Theil physiol. Kochsalzlösung und 1 Theil defibrinirtes 
Pestblut) hebt die Virulenz des Blutes schon nach 20 Standen 
auf. Das Gleiche ist der Fall beim Zusammenmischen von Magen¬ 
saft mit dem Organextracte pestkranker Thiere. — Diese Ge¬ 
mische immunisiren aber nicht. 

Dass das Serum von Thieren, welche die Pest Uberstanden 
haben, immunisirende Eigenschaften hat, haben wir schon vor 
mehr als l 1 /, Jahren gefunden. Nach unseren Beobachtungen, 
die wir jedoch mit Vorbehalt mittheilen, da eine Wiederholung 
dieser Versuche im Grossen nothwendig ist, können Kälber mit 
dem Serum immuner Schafe immunisirt werden. Wir besitzen 
eine Färse, die im Februar 1806 mit Schlafserum immunisirt 
w'urde, seither 3 mal virulentes Pestmaterial, zuletzt ira April 
1807, injicirt bekam und gar nicht mehr darauf reagirte. 
Weitere Versuche werden zeigen ob diese Beobachtung prak¬ 
tischen Werth haben wird. 

Man muss Überhaupt mit Schlussfolgerungen bei der Iminu- 
nisation gegen Rinderpest sehr vorsichtig sein. Die Verschieden¬ 
heit der Rassen kommt hier sehr in Betracht. Andererseits 
passirt es öfters, dass Kälber mit äbgeschwächtem Material ge¬ 
impft, schwer, mit Temperatur Uber 41®, erkranken, dann 
genesen und einige Wochen später mit infectiösem Material 
geimpft, oder mit pestkranken Thieren zusammengebracht, an 
typischer Pest zu Grunde gehen. Nicht genug und bei ver¬ 
schiedenen Rassen erprobte Methoden können nur zur Ver¬ 
schleppung und Verbreitung der Epidemien beitragen. Mit dem 
Serum immuner Kälber lassen sich Kälber nicht sicher immuni¬ 
siren. Nachdem wir sahen, dass eine einmalige subcutane In¬ 
jection von 40 emm immunen Serums nicht genUgt, wurden 3 bis 
6 Monate alten Kälbern, in Intervallen von je 8 Tagen, je 40 emm 
im Ganzen also 80 emm gegeben. Als auch diese Mengen vor 
Infection nicht schützten, haben wir Kälber, während 3 Wochen, 
vorimmunisirt, wobei sie in 3 Portionen im Ganzen also 150 bis 
170 emm Serum bekamen. 

Der einzige Erfolg davon war ein protrahirter Verlauf der 
Krankheit. 

Die Thiere fiebern lange und bei der Section der ge¬ 
storbenen Thiere findet man im Verdauungstractus neben frischen 
Auflagerungen und Erosionen auch in Heilung begriffene Partien 
der Schleimhaut. Aelmlich und doch etwas anders und sehr 
interessant, verhielt sich ein Kalb dass mit Serum von einem 
immunen Ziegenbocke vorbehandelt war. Das halbjährige Kalb 


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14. 3uni 1807. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


517 


erhielt während drei Wochen, in 3 gleichen Portionen im Ganzen 
150 cmm davon. 8 Tage nach der letzten Injection wird es 
mit pestkranken Kälbern zusammengestellt und erkrankt 10 Tage 
später mit einer Temperatursteigerung von 39,1° auf 40,5°. Am 
nächsten Tage Durchfall und Steigerung der Temperatur auf 
41°, die auch bis zum Tode, der am 12. Erkrankungstage ein¬ 
trat, auf dieser Höhe bleibt. Der Durchfall hielt fortdauernd 
an und das Thier ging unter langsamen Kräfteverfall zu Grunde. 
Während der ganzen Zeit hatte das Kalb keine Ablagerungen 
und Erosionen an der sichtbaren Schleimhaut der Maulhöhle, 
was auch die Section bestätigt, indem nur an der Zungenwurzel, 
neben der Epiglottis und im obersten Tlieil des Oesophagus 
kleine punktförmige Auflagerungen und Erosionen gefunden 
wurden. An der Portio pylor. sind vereinzelte flache Erosionen 
mit Fibrinmembranen bedeckt und in Heilung begriffen. Die 
Schleimhaut des DUnndarms ist geschwollen, mässig byper- 
ämisch. Die Fever’sehen Plaques sind stark geschwollen» 
hyperämisch mit einer dicken fibrinösen Schwarte bedeckt, nach 
deren Abheben die Plaques schon ganz verheilt, glatt und 
pigmentirt erscheinen. Auf der Dickdarmsclileimhaut einzelne 
Blutextravasate. 

Das Rectum mässig hyperämisch. Die Leber nicht gelb, 
dunkelroth gefärbt und etwas brüchig. Gallenblase stark gefüllt. 
Die Nierenrinde grau verfärbt. Die Grenzschicht nicht hyper¬ 
ämisch. Im Herzen geronnenes Blut Keine Blutextravasate. 
Trachea etwas hyperämisch. Obere vordere Lungenlappen 
hepatisirt. Die übrige Partie ödematös. Rechte Lunge hyper¬ 
ämisch. Die Ränder emphysematos. Milz normal. 

Die Heilkraft des Serums ist hier unverkennbar, nur war 
sie nicht genügend stark. Das Schafserum muss bedeutend 
stärkere Immunisationskraft haben. Das damit dauernd immuni- 
sirte 3 Monate alte Kalb erhielt am 7. Februar 1890 20 ccm 
und 5 Tage später noch 20 ccm davon subcutan. Im Ganzen 
also nur 40 ccm. Zwei Tage nach der letzten Seruminjection 
wurden ihm 5 ccm des durch Gaze filtrirten Extractes von pest¬ 
kranken Organen injicirt. Ein mit dem gleichen Material parallel 
inficirtes Kalb ging an typischer Pest zu Grunde. Das immuni- 
sirte Kalb hatte am zweiten Tage nach der Infection eine Tem¬ 
peratur von 40,2*. 11 Tage lang fieberte das Kalb mit Tem¬ 

peraturen zwischen 40,1—41,5, worauf es sich vollkommen er¬ 
holte. Während der Fieberzeit war die Fresslust stark ver¬ 
mindert und das Thier magerte ab. Die sichtbaren Schleimhäute 
(der Maulhöhle und Vagina) blieben die ganze Zeit normal, nicht 
hyperämisch und ohne Auflagerungen. An der Injectionsstelle 
entstand eine faustgrosse Geschwulst, die zwei Wochen nach 
der Infection, da sie fluctuirte, aufgeschnitten und der Eiter ent¬ 
leert wurde. Das Thier ist bis jetzt gegen die Pest völlig 
immun. 

Wie zu erwarten war, wird virulentes Pestmaterial oder 
Blut mit dem gleichen oder doppelten Volumen immunen Kalbs¬ 
serums in vitro zusammengemischt nicht neutralisirt. Auch 
können Kälber nach erfolgter Infection, selbst vor Ausbruch des 
Fiebers, durch Injectionen von immunem Serum (auch Schaf¬ 
serum) nicht gerettet werden. 

Interessant ist die Beobachtung, dass Amöben aus den 
Schleimhäuten und den Organen pestkranker Thiere gezüchtet, 
immunisirend wirken können. Wir fanden, dass nicht allein im 
Verdauungsrohr, im Uterus- und Nasenschleim, aber auch in den 
inneren Organen wie: Leber, Milz, Niere, hier allerdings nicht 
constant, bei pestkranken Thieren Flagellaten und Amöben Vor¬ 
kommen und dass das unorganische Agar und Mucin ein vor¬ 
züglicher Nährboden zu ihrer Züchtung sind. Wir wollen an 
einem anderen Orte unsere Erfahrungen Uber die Form und die 
Vermehrung der von uns beobachteten Amöben mittheilen. Hier 


beschränken wir uns nur darauf, unser Verfahren zur Isolirung 
der Amöben, sowie die damit augestellten Infectionsversuche zu 
beschreiben. — Sofort nach dem Tode entnommene, kleine 
Stückchen von Leber, Milz, Niere, Erosionen von den Lippen 
oder Zunge, Eiterpfropfe aus den Peyer’schen Plaques, Magen-, 
Darm- oder Uterusschleimhaut werden auf unorganischen Agar 
übertragen und bei Bruttemperatur stehen gelassen. Meistens 
schon nach 1(5—20 Stunden findet man in dem trüben Rand 
rings um die hineingelegten Stückchen herum, bei mikroskopi¬ 
scher Besichtigung, ausser Bacterien auch die Amöben. Von 
hier werden sie auf flüssiges Mucin in Petrischalen Ubergetragen, 
wiederum auf 18—20 Stunden bei Brut- und dann bei Zimmer¬ 
temperatur stehen gelassen. Ueberhaupt ist es zweckmässig, 
jede neue Ueberimpfung nur kurze Zeit bei Brut- und dann bei 
Zimmertemperatur zu belassen. Rathsam ist es ferner, sie von 
Zeit zu Zeit auf unorganischen Agar zu übertragen. Auf Mucin 
und Agar halten sich solche Culturen 2—3 Monate lang. Selbst 
wenn die Flüssigkeit eintrocknet, ist es nur nöthig, frische Mucin- 
lösung zuzusetzen und kurze Zeit bei Brutteraperatur stehen zu 
lassen, um die encystirten Amöben wieder beweglich zu haben. 
Wir haben sie so bis zur 20. Generation, jedoch nie ganz frei 
von Bacterien, gezüchtet. Die Grösse dieser Amöben ist wechselnd 
von 2— 14/i. Auf dünnflüssigen Nährböden (1 pCt. Agar oder 
Mucin) sind die Bewegungen des Ektoplasma viel lebhafter. 
Wir lassen die Frage offen, ob wir hier vorwiegend mit einer 
oder mehreren Species zu thun haben. Auf Heuinfus und Heu¬ 
agar wachsen sie schlecht und sind jedenfalls von der Heuamöbe 
verschieden. 

Für die Wiederkäuer sind die von uns isolirten Amöben 
nicht pathogen. In mehr als 20 Versuchen, wo wir Amöben in 
verschiedenen Generationen und bei verschiedenen Temperaturen 
gezüchtet, Kälbern und Ziegen injicirten, sind uns nur 2 Kälber 
durch Amöbencultur in zweiter resp. dritter Generation an Pest 
zu Grunde gegangen. Andererseits wurden in Folge der In¬ 
jectionen von Araöbenculturcn 2 Kälber und 1 Ziege gegen die 
Rinderpest immunisirt. Diese Fälle sind so beraerkenswerth, 
dass wir wenigstens einen hier kurz beschreiben wollen. 

Ein 3 Monate altes Kalb erhält am 5. XI. 1896 eine zweite 
Generation von Amöben, welche aus der Magenschleimhaut eines 
an Pest verstorbenen Kalbes auf unorganischem Agar bei 30° aus¬ 
gewachsen sind. Die Cultur wurde auf gleiche Nährböden Uber*- 
geimpft, nach 2 tägigem Stehen bei 30° etwas von der ober¬ 
flächlichen Schicht abgeschabt, in 0,6 pCt. Kochsalzlösung suspen- 
dirt und dem Kalbe subcutan injicirt. Das Thier reagirte hier¬ 
auf gar nicht, weder local, noch mit einer Temperatursteigerung. 
Am 11. XI. erhält das Kalb die gleiche Cultur. Sie stand 
4 Tage bei 30° und die 2 letzten Tage bei 37,5°. Die Amöben 
darin waren meistens encystirt, 2—3/x gross und nur wenige 
grössere mit beweglichem Ektoplasma; ausserdem enthielt das 
Präparat sehr spärliche Bacterien. Auch auf diese Injection 
reagirt das Kalb gar nicht. Am 19. XI. wird ihm von Neuem 
eine Amöbencultur injicirt. Die Cultur stammte aus dem Nasen¬ 
schleim eines pestkranken Kalbes und zwar war es die vierte 
Generation, stets auf Agar übertragen. Es waren darin grössere 
bewegliche Amöben. Die Cultur von der Oberfläche des Agar 
abgeschabt, wurde in 3 cm 3 0,6 pCt. Kochsalzlösung dem Kalbe 
subcutan injicirt. Auch hier blieb das Kalb gesund und hatte 
keine Temperaturerhöhung. 10 Tage später, am 29. XI., wird 
das Kalb mit 5 cm 3 virulenten Pestmaterials inficirt, worauf es 
nur einmal am 3. Tage mit einer Temperatursteigerung auf 40* 
reagirt. Das Kalb ist bis jetzt (20. V. 97) mitten unter den 
pestkranken Thieren gesund und reagirte auf wiederholte In¬ 
jection virulenten Materials gar nicht. Ganz gleich verhielt sich 
noch ein Kalb und eine Ziege. Beide Thiere sind seit mehreren 

2 


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518 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 24. 


Jahren gegen Rinderpest völlig immun. Diese Befunde lassen 
uns vermuthen, dass die Amöben gleich wie die Bacterien auch 
den Mikroben der Rinderpest in ihre Leibessubstanz aufnehmen 
und sie abschwächen, wodurch die Immunisation zu Stande 
kommt. Es würde dies auch erklären, weshalb jüngere Amöben¬ 
generationen von pestkranken Thieren in seltenen Fällen viru¬ 
lent sind. Auf Grund dieses Befundes, sowie der Beobachtung, 
dass das immune Serum einer entfernteren Wiederkäuerart stärker 
immunisirend wird, wie dies z. B. mit dem Schafserum für die 
Kälber der Fall ist, haben wir ein Pferd und ein Schwein mit 
virulenter Cultur oder Rinderpestmaterial inficirt, um zu ver¬ 
suchen, ob mit dem Inhalt des an der Injectionsstelle entstan¬ 
denen Abscesses Wiederkäuer gegen die Rinderpest nicht zu 
immunisiren sind. Ueber das Resultat dieser Versuche werden 
wir später berichten. 


II. Aus der medieinischen Klinik des Herrn Geh. Rath 
Erb in Heidelberg. 

Ueber den Einfluss der Schilddrüsenbehandlung 
auf den Kohlenhydrat-StoffwechseL 

Von 

Dr. S. Bettmann, Assistenzarzt. 

Vor 2 Jahren hat Ewald fl) über einen Fall von Myx¬ 
ödem berichtet, der durch die Darreichung von Schilddrüsen¬ 
präparaten geheilt worden war, bei dem sich^ aber im Verlaufe 
der Behandlung eine hochgradige Glykosurie eingestellt hatte, 
die schliesslich in dauernden Diabetes überging. Dass das Auf¬ 
treten dieser Glykosurie in Beziehung zur Thyreoidindarreichnng 
stand und es sich nicht etwa nur um einen zufällig während 
der Beobachtungszeit einsetzenden Diabetes handelte, ging dar¬ 
aus hervor, dass zunächst mehrere Male nach dem Aussetzen 
der Kchilddrüsenfütternng der Zucker wieder aus dem Urin ver¬ 
schwand. Nun ist diese Beobachtung einer Glykosurie unter 
dem Einflüsse der Schilddrüscnbehandlung nicht vereinzelt ge¬ 
blieben, wenn auch eine so hochgradige und andauernde Zucker¬ 
ausscheidung wie im Falle Ewald’s nicht mehr veröffentlicht 
wurde. Schon vor diesem Autor hatte Dale James (2) von 
einem Psoriasiskranken berichtet, bei dem unter dem Gebrauche 
von Thyreoidtabletten neben nervösen und cardialen Störungen 
Zucker im Urin aufgetreten war; später erlebte Dennig (3) an 
sich selbst eine Glykosurie, nachdem er 11 Tage lang 2—3 Ta¬ 
bletten täglich eingenommen hatte, v. Noorden (4) fand unter 
17 fettleibigen Personen, die mit Schilddrüsenpräparaten be¬ 
handelt wurden, 5, bei denen es zur Zuckerausscheidung kam, 
und Hennig (5) sah ebenfalls bei einer fettleibigen Kranken, 
der er Jodothyrin gab, eine Glykosurie. In allen erwähnten 
Fällen schwand die Zuckerausscheidung nach dem Aussetzen der 
Medication oder kehrte sogar, wenn dasselbe Quantum Schild¬ 
drüsensubstanz, wie in Hennig’s Falle, weiter gegeben wurde, 
später nicht wieder; wohl stets aber bestanden zur Zeit der 
Glykosurie noch andere Vergiftungssymptome aus dem Bilde 
des sogenannten Thyreoidisraus. Es fragt sich aber, ob gerade 
die Glykosurie als eine Schilddrüsenwirkung autzufassen sei, 
oder ob sie nicht vielleicht nur eine Nebenwirkung der ange¬ 
wendeten Präparate darstelle. Gegen die Annahme einer speci- 
fisehen Wirkung sprach von vorneherein die Thatsache, dass 
bei der ausgedehnten Verwendung der Schilddrüsenpräparate 
und trotz der häufig genug beobachteten Erscheinungen der 
Ueberfütterung die Zahl der dabei aufgetretenen Glykosuriefälle 
sehr gering geblieben ist. Andererseits aber lässt sich gegen 


den Versuch, jene Glykosurie durch die secundäre Wirkung 
toxischer Umwandlungsproducte der in der Schilddrüse vor¬ 
handenen Eiweisskörper zu erklären, der Einwand erheben, dass 
die Glykosurie wenigstens in dem einen Falle Hennig’s auch 
unter dem Einflüsse des eiweissfreien Jodothyrins beobachtet 
wurde, eines Präparates also, das nicht durch bacterielle Ei¬ 
weisszersetzung verdorben sein kann. Dass die Schilddrüsen- 
substanz an sich toxisch zu wirken vermag, steht Uber jeden 
Zweifel fest, und so hat auch die Ansicht, dass speciell jene 
Zuckerausscheidung sich auf eine reine Schilddrüsenwirkung 
zurückführen lasse, ihre Vertreter gefunden, insbesondere in 
v. Noorden, der die Vermuthung ausspricht, die Schilddrüse 
übe wohl auf eine mit der Zuckerverarbeitung verknüpfte Function 
einen hemmenden Einfluss aus, derart vielleicht, dass sie die 
Fettbildung aus den Kohlenhydraten hintanhalte. 

Eine Reihe von Beobachtungen unterstützt die Annahme einer 
Glykosurie als Folge der Hyperthyreose. So die Erfahrung, 
dass einzelne Autoren mit einer gewissen Constanz bei Thieren 
durch Ueberfütterung mit Schilddrüsensubstanz die Zuckeraus- 
scheidung hervomifen konnten; insbesondere Georgiewsk (6) 
erzielte so bei 12 Thieren „förmlichen Diabetes“, auch Me- 
dinger (7) vermochte bei einem Hunde durch die Schilddrüsen- 
darreichung Glykosurie zu erzeugen. Weiterhin aber sind bis 
zu einem gewissen Grade Erfahrungen bei Morbus Basedow» 
heranzuziehen. Die klinische Beobachtung, wie genaue Stoff- 
wechseluntersuchungen haben gelehrt, dass die Erscheinungen 
dieser Krankheit weitgehende Ucbereinstiraraungen mit denen des 
Thyreoidisraus zeigen, wenn auch beide Syraptomenreihen nicht 
mit einander identificirt werden dürfen. Hier wie dort finden 
sich gleichartige Störungen seitens des Gefässsystems, die er¬ 
regte Herzthätigkeit, die gesteigerte Frequenz und die Arythmie 
des Pulses, Anfälle von Angina pectoris und Dyspnoe, dazu die 
psychische Erregtheit und das Zittern, Kopfschmerzen, Schwindel, 
Collapse und ähnliche Erscheinungen. Nun ist gerade bei Base¬ 
dowkranken gelegentlich Glykosurie und in seltenen Fällen auch 
das Auftreten eines echten Diabetes beobachtet worden (7); es 
besteht also auch in diesem Punkte ein Parallelismus zu den 
eingangs mitgetheilten Befunden bei der SchilddrltsenfUtterung. 
Dazu gehen aber, wie zuerst Kraus und Ludwig zeigen konnten, 
die meisten Fälle der Basedowschen Krankheit mit einer 
leichteren Störung des Kohlenhydrat-Stoffwechsels, nämlich der 
gesteigerten Neigung zur alimentären Glykosurie, einher. Ob 
auch in dieser Richtung sich bei der SchilddrUsenflltterung ana¬ 
loge Störungen ergäben, ist meines Wissens bis jetzt nicht unter¬ 
sucht worden, obwohl dieser Punkt für eine Beantwortung der 
Frage, welche Rolle etwa die Schilddrüse bei der Kohlenhydrat¬ 
verarbeitung spielen könnte, in’s Gewicht fallen musste 1 ). 

Ich habe nun an 20 Personen hierhergehörende Unter¬ 
suchungen angestellt. Es erscheint mir nicht überflüssig, vor 
Besprechung der Ergebnisse auf den Einwurf einzugehen, dass 
derartige „Experimente am Menschen“ überhaupt nicht zulässig 
seien. So hat insbesondere vor wenigen Monaten Zarubin (9) 
vor der Schilddrüsendarreichung gewarnt mit dem Hinweise, dass 
er bei Anwendung derselben in massigen Quanten zuweilen an 
jungen und kräftigen Menschen die schweren und gefahrdrohen¬ 
den Zeichen des Thyreoidisraus gesehen habe. Eine solche 
Warnung wird aber um so mehr zu berücksichtigen sein, wenn, 
wie es scheint, die Möglichkeit besteht, dass bei der Schild- 
drüsenfUtterung bleibende Störungen auftreten. Sähen wir etwa 


]) Anm. bei der Correctur: Mein Manuskript ist am 1. III. an die 
Redaction der Berl. klin. Wochenschrift abgegangen. Der Vortrag von 
Strauss: „Zur Lehre von der neurogenen und thyreogenen Glykosurie“ 
(Deutsche med. Wochenschrift 1897, No. 18) wurde am 15. III. gehalten. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


519 


U. 3 ^ 4897 . 

so das Entstehen eines Diabetes bei Patienten, bei denen nicht 
Krankheiten wie das Myxödem oder gewisse Formen der Tetanie 
die Thvreoidinbehandlung veranlassen müssten, so dürften wir 
uns kaum mit dem Tröste beruhigen, dass jene Personen an und 
für sich wohl „Zukunftsdiabetiker“ gewesen seien. Selbstver¬ 
ständlich wurde deshalb bei meinen Versuchen von vornherein 
darauf geachtet, dass ausgesprochenere Erscheinungen des 
Thyreoidismus nicht zum Ausbruch kamen, obwohl ja zu er¬ 
warten wur, dass eine etwaige alimentäre Glykosurie nur im 
Verein mit anderen deutlichen Zeichen der Schilddrüsen Über¬ 
fütterung aufträte. Um so grösserer Werth aber durfte deshalb 
auf einen positiven Ausfall der Versuche bei Anwendung ge¬ 
ringer SchilddrUsenmengen gelegt werden. Die Untersuchung 
erstreckte sich auf 15 Weiber und 5 Männer, im Alter von 
15—30 Jahren. Es handelte sich durchweg um Individuen in 
mittlerem Ernährungszustand, welche an Haut- oder Geschlechts¬ 
krankheiten litten, die wenigstens zum Theil auch einen thera¬ 
peutischen Versuch mit den Schilddrüsenpräparateu rechtfertigten; 
complicirende Krankheiten waren bei keinem vorhanden. Speciell 
Fettleibige, nervöse Personen, solche mit Kropf oder Herz- 
affectionen waren ausgeschlossen. Der Urin enthielt bei keinem 
Einzigen der Patienten vor Beginn der Versuche Eiweiss oder 
Zucker, ferner ergab sich bei Keinem ein Anhalt für eine „dia¬ 
betische“ Belastung. 

Verwendet wurden zur Schilddrüsendarreichung theils 
Doepper’sche Thyreoidintabletten, theils Baumann’sches Jodo- 
thyrin in Pulverform aus der Fabrik von Bayer & Co. Die 
Darreichung erstreckte sich in allen Versuchen, die in der fol¬ 
genden Tabelle zusammengestellt sind, nur Uber die Dauer einer 
Woche. Am Morgen des 8. Tages erhielten die Patienten 
nüchtern 100 gr gelösten Traubenzucker zusammen mit einer 
letzten Dosis des Schilddrllsenpräparates. Es wurde stets mit 
kleinen Gaben begonnen, und auch bei der Steigerung wurden 
niemals mittlere Werthe überschritten, die allgemein als zulässig 
gelten. 

Das folgende Schema giebt den ganzen Modus der Verab¬ 
reichung wieder. 



Thyreoidintabletten 
ä 0,3 gr. 

Jodotbyrin- 

pulver 

1. Tag 

8X1 Tabletten 

3 X 0,25 gr 

2. * 

3X1 

3 X 0,25 „ 

8. „ 

3X2 

2 X 0,5 „ 

4. „ 

3X2 

2 X 0,5 „ 

5. „ 

3X3 

3 X 0,5 „ 

6. „ 

3X3 

3 X 0,5 „ 

7. „ 

3X3 

3 X 0,5 „ 

8. „ 

1X3 

1 X 0,5 „ 


Es wurde demnach bei Verwendung der Thyreoidintabletten 
fast doppelt soviel Schilddrüsensubstanz gereicht, wie bei Eingabe 
des Jodothyrins; die mit den beiden Präparaten gewonnenen 
Resultate sind deshalb nicht ohne Weiteres unter einander ver¬ 
gleichbar. 

Sämmtliche Versuchspersonen standen unter fortgesetzter 
klinischer Beobachtung und es ergaben sich in keinem Falle 
Erscheinungen, welche zur Unterbrechung des Versuchs veran¬ 
lasst hätten. Auch eine nachträgliche Schädigung hat sich bei 
den Patienten, von denen die meisten noch mehrere Wochen 
lang in Beobachtung blieben, nicht herausgestellt. 

Was nun die Wirkung der Schilddrüsensubstanz angeht, so 
hat sich ein therapeutischer Effect höchstens bei der Ichthyosis 
congenita (Fall 18) gezeigt, bei der deshalb die Schilddrüsen- 
darreichung in kleinen Quantitäten später wieder aufgenoramen 
wurde; das Leiden des Patienten, der noch in ambulatorischer 


Weiber. 


Nummer 

Name 

Alter 

Diagnose 

Tbyreoidin 

Jodotbyrin 

1 

Anna U. ... 

28 

Psoriasis vulg. 


_ 

2 

Margar. B. . . 

26 

do. 


— 

3 

Käthchen B. . 

22 

do. 


+ 

4 

Wilhelmine B. 

23 

Onychogryphosis man. 

4- 


5 

Rosa B. 

17 

Hyperkeratosis palmaris 

+ 


6 

Paula H. . . . 

18 

Lues II 

+ 


7 

Grethchen 8. . 

18 

do. 


— 

8 

Luise 8. . . . 

17 

do. 


+ 

9 

Elise P. 

20 

do. 



10 

Joseflnc G. . . 

24 

do. 

— 

— 

11 

Anna L. 

20 

do. 

-1- 


12 

Henriette J. . . 

18 

Gonorrhoea chron.cervic. 


— 

13 

Barbara V. . . 

24 

do. 

+ 

— 

14 

Lina 8. 

18 

do. 

— 


15 

Charlotte H. . 

20 

do. 

— 

+ 




Positiv 

5 

3 




Negativ 

4 

7 




Summe 

9 

10 


Männer. 


Nummer 

Name 

Alter ! 

Diagnose 

fl 

§ 

’o 

hm 

.2 

'C 

►» 

o 

-o 

© 

•“5 

16 

Georg F. . . . 

30 

Psoriasis vulg. 

+ 


17 

AdolfS. 

26 

do. 

+ 

+ 

18 

Alwin T. . . . 

25 

Ichthyosis congenita 



19 

Georg J. . . . 

22 

Gonorrhoea chron. 

— 


20 

Richard 8. . . 

15 

Lues II 


— 




Positiv 

2 

2 




Negativ 

1 

1 




Summe 

3 

3 


Behandlung steht, hat sich zweifellos gebessert. Dagegen war 
weder bei der Psoriasis, noch bei luetischen Exanthemen (im 
Falle 11 bestanden ausgedehnte rypiaartige Hautveränderungen) 
ein bessernder Einfluss zu erkennen; doch sind aus diesen nega¬ 
tiven Ergebnissen wegen der Kürze der Behandlungsdauer keine 
Schlüsse zu ziehen. 

Erscheinungen, die bei allen Versuchspersonen auftraten, 
waren eine Erhöhung der Pulsfrequenz und Steigerung der Urin¬ 
menge, beides allerdings meist nur innerhalb bescheidener 
Grenzen; der Puls ging durchschnittlich um 15—20 Schläge, 
die Harnmenge um einige Hundert Cubikcentimeter in die Höhe. 
Bei einer Patientin indessen stieg die Pulszahl auf 126 (No. 11), bei 
einer anderen Versuchsperson (No. 12) die tägliche Urinmenge, 
die vorher durchschnittlich 1200 ccm betragen hatte, bis auf 
3400 ccm. Die Wirkung auf die Pulsfrequenz zeigte sich meist 
schon am 2. oder 3. Tage der Schilddrüsendarreichung, die Zu¬ 
nahme der Urinmenge durchschnittlich am 4. bis 5. Tage. Nach 
dem Aussetzen des Mittels kam es zu einem raschen Rückgang; 
fast stets waren schon 4 Tage nachher für Pulszahlen und Urin¬ 
quantum die Werthe der Vorperiode wieder erreicht. Nur ein 
Patient (No. 20) behielt noch wochenlang nach dem Versuche 
Urinmengen zwischen 2000 und 2500 gegenüber einem Mittel¬ 
werth von 1500 in der Vorperiode. 

Dem Verhalten des Körpergewichts ist leider nur bei den 
späteren Versuchen die nöthige Aufmerksamkeit geschenkt worden. 
Es fanden sich nach Ablauf der Versuchswoche mit einer Aus¬ 
nahme nur Gewichtsveränderungen von weniger als einem Pfunde, 

2 * 


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520 


No. 24. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Öfters allerdings im Sinne eines Gewichtsverlustes als dem einer 
Zunahme, namentlich bei solchen Personen, welche die 
alimentäre Glykosurie zeigten. Doch war auch wenigstens 
in einem positiven Falle (No. 1) eine geringe Gewichtssteigerung 
zu finden. Nur einmal erreichte der Gewichtsverlust eine uner¬ 
freuliche Höhe; der Patient S. (No. 17) nahm während des Jodo- 
thyringebrauchs um 2300 gr ab, trotzdem keine Magen-Darm¬ 
störungen bestanden und auch sonst keinerlei wesentliche Stö¬ 
rungen eingetreten waren; insbesondere hatte sich die Pulsfre¬ 
quenz auf mässige Höhe gehalten. Dieser Patient gewann 
Übrigens schon in der ersten Woche nach Aussetzen des Jodo- 
thyrins 1100 gr seines Körpergewichts zurück. 

Niemals wurden subjective Herzbeschwerden, Irregularität 
des Pulses, Fiebererscheinungen, Kopfschmerzen, Schwindel, 
Mattigkeit, nervöse Erregungen, Zittern, Störungen des Schlafes, 
Verdauungsbeschwerden beobachtet. Bei einer Patientin trat 
während der Schilddrüsendarreichung die Periode rechtzeitig ein 
und war von der gewöhnlichen Dauer, bei einer anderen hat 
das Mittel den Eintritt der nächsten Menstruation verzögert. 

Einmal wurden am letzten Versuchstage Spuren von Albumen 
im Urin gefunden, die schon nach 24 Stunden wieder verschwun¬ 
den waren und später nicht wiederkehrten. 

Was nun die Untersuchung auf alimentäre Glykosurie an¬ 
geht, so sind von 12 Versuchen mit Thyreoidin 7 gleich 
58,3 pCt., von 13 Versuchen mit Jodothyrin 5, gleich 
38,5 pCt., oder im Ganzen von 25 Versuchen 12, gleich 
48 pCt. positiv ausgefallen. Von den 20 Personen, 
auf welche diese Versuche entfallen, erwiesen sich 
11 oder 55 pCt. als alimentäre Glykosuriker unter der 
Einwirkung desSchilddrüsengebrauchs. Als positiv wurden 
diejenigen Fälle angesehen, bei denen ausser der Trommer'schen 
und der Nylander’schen Reaction die Gährungsprobe deutlich 
ausfiel. Reducirende Substanzen wurden übrigens, wenn auch 
manchmal nur in Spuren, auch in einem grossen Theil der nega¬ 
tiven Fälle gefunden, eine Beobachtung, die mit der Angabe 
von v. Jaksch (10) Ubereinstimmt, dass nach Schilddrüsenfütte- 
ruug im Urin auch kohlenhydratartige Substanzen auftreten, 
die nicht Traubenzucker sind. Für eine solche Annahme ist 
wohl auch der Ausfall der Polarisationsversuche heranzuziehen, 
bei denen sich eine ganze Reihe der Urine, die lebhafte Gährung 
zeigten, optisch als kaum activ erwies; in den llrinen waren 
also wohl Substanzen vorhanden, die der Rechtsdrehung ent¬ 
gegenwirkten. In keinem Falle gab übrigens die Polarisations¬ 
bestimmung einen höheren Werth als 0,6 pCt. Traubenzucker; 
die ausgeschiedenen Glykosemengen waren also keinesfalls be¬ 
deutend. Stets war die Zuckerreaction des Urins in der ersten 
Stunde nach der Zuckerdarreichung am deutlichsten, sie nahm 
in dem Urin der 2. und 3. Stunde schon ab und war bei einer 
Anzahl der Versuche im Harne der 4. und 5. Stunde bereits 
verschwunden. 

Dem Umstande, dass bei den Thyreoidinversuchen durchweg 
grössere Mengen wirksamer Substanz eingeführt wurden, ist es 
zuzuschreiben, dass von diesen Versuchen eine grössere Anzahl 
zur alimentären Glykosurie führte, als von den Untersuchungen 
mit Jodothyrin. Ich habe im Uebrigen den Eindruck, als ob das 
Jodothyrin eher wirksamer sei, als die getrocknete Schilddrüsen- 
substanz; die grösste Urinmenge und die stärkste Abnahme des 
Körpergewichts sah ich gerade bei Anwendung des Jodothyrins. 
Wenn im Falle 13 eine Zuckerausscheidung auf Tyreoidintabletten 
erfolgte, die auf Darreichung des Jodothyrins ausgeblieben war, 
so lag das wohl nur daran, dass mit der Einführung der Ta¬ 
bletten schon am 3. Tage nach Beendigung des negativen Jodo- 
thyrinversuches begonnen wurde und die folgende Zuckerausschei¬ 
dung demnach wohl nur der cumulativcn Wirkung der weiteren 


Schilddrüsendarreichung zuzuschreiben war. In allen anderen 
Fällen, in denen an ein und derselben Person Untersuchungen 
mit den beiden Mitteln vorgenommen wurden, liegen diese 
Parallelversuche mindestens 2 Monate auseinander, so dass liier 
beim zweiten Versuche eine Nachwirkung der ersten auszu- 
schliessen war. 

Es zeigte sich, dass die Patienten 7 und 10 sich beiden 
Mitteln gegenüber negativ verhielten, der Patient 17 dagegen 
beide Male positiv. Im Falle 15 aber trat auf Jodothyrin die 
alimentäre Glykosurie ein, die im Parallelversuche ausgeblieben 
war. Auch diese Beobachtung spricht also für die stärkere 
Wirksamkeit des Jodothyrins. 

Die mitgetheilten Beobachtungen lassen sich natürlich fUr 
die Annahme, dass die erzielte alimentäre Glykosurie wirklich 
der Einführung der Schilddrüsensubstanz zuzuschreiben war, nur 
unter der Voraussetzung verwerthen, dass die betreffenden Per¬ 
sonen nicht an und für sich alimentäre Glykosuriker darstellten. 
War cs von vorne herein unwahrscheinlich, dass die Hälfte 
meiner Versuchspersonen derartige Glykosuriker sein sollten, so 
musste doch der genauere Beweis dafür noch erbracht werden. 
Es wurde deshalb in allen positiven Fällen 8 Tage nach Ablauf 
des Versuches die Darreichung von luO gr Traubenzucker 
wiederholt. Nach der Beobachtung des Pulses und der Urin¬ 
ausscheidung durfte angenommen werden, dass sich innerhalb 
dieser Zeit die Wirkung der Schilddrüsendarreichung wieder 
ausgeglichen habe. In der That wurde bei diesen Con¬ 
trolversuchen kein einziges Mal das Auftreten von 
Glykosurie beobachtet. 

Für das Zustandekommen einer Zuckerausscheidung beim 
SchilddrUsengebrauch hat man endlich auch noch dem Zucker¬ 
gehalt des verwendeten Präparates eiue gewisse Rolle zuschrei¬ 
ben wollen; indessen sind die Zuckermengen, welche dem Körper 
mit dem Jodothyrin zugefUhrt werden, das ja thatsächlich eine 
Milchzuckerverreibung darstellt, viel zu gering, um in Betracht 
kommen zu können. Es wurde trotzdem auch noch bei einem 
meiner Patienten, bei welchem der Jodothyrinversuch positiv 
ausgefallen war, nachträglich speciell die Reaction auf Milch¬ 
zucker geprüft; nach Einnahme von 30 gr Lactose (einem weit 
grösseren Quantum demnach, als dem, das während des ganzen 
Jodothyrinversuchs eingegeben worden war), zeigte der Urin 
weder Reduction noch irgend eine andere Zuckerreaction. 

So geht also aus den mitgetheilten Beobachtungen hervor, dass 
eine Uber mehrere Tage fortgesetzte Zuführung mittlerer, steigender 
Gaben der Schilddrüsensubstanz oder ihres wirksamen Princips, 
des Jodothyrins, bei Personen, bei denen eine Functionsstörung 
der Thyreoidea nicht vorauszusetzen ist, in einem verhältniss- 
mässig grossen Theil der Fälle ausser anderen leichten Erschei¬ 
nungen der Schilddrüsenvergiftung eine alimentäre Glykosurie 
herbeifuhrt 1 ). Diese Erscheinung wird demnach als ein häufiges 
Symptom dem Bilde des Thyreoidismus einzureihen sein. Dass 
es sich um eine genuine Schilddrüsenwirkung handelt, zeigt die 
Wirksamkeit des Jodothyrins; auf die Frage, ob dieses in der 


1) Anm. bei der Correctur: Gerade in der raschen Steigerung der 
Scbilddrtiseuquanten und der dadurch herbeigefiibrten leichten Ueber- 
fdtterang liegt meines Erachtens eine wesentliche Voraussetzung für das 
Zustandekommen der Glykosurie. Den Grund dafür, dass Strausa und 
Bruno Goldschmidt (Dissertat. Berlin 1890) bei ihren Fütterungs¬ 
versuchen weit seltener eine alimentäre Zuckerausscheidung sahen als 
ich, glaube ich in dem Umstande finden zu dürfen, dass diese Autoren 
längere Zeit kleine Schilddrüsenmengen (bis zu 4 Tabletten pro die) 
eingaben. Auch ich konnte inzwischen feststellen, dass bei Individuen, 
die bei meiner Versuchsanordnung am 8. Tage Zucker ausschieden, die 
alimentäre Glykosurie wieder verschwand, wenn ihnen einige Zeit kleine 
Schilddrüsenmengen (3 Tabletten pro Tag) weitergegeben wurden. 


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14. Jniw.1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


521 


That die einzige active Substanz der Schilddrüse darstelle, 
braucht dabei nicht weiter eingegangen zu werden. 

Die gefundene Thatsache lässt uns das Auftreten einer Ab¬ 
magerung bei Schilddrllsengebrauch verständlicher erscheinen; 
wie immer wir uns das Verhältnis der alimentären Glykosurie 
zur spontanen und dauernden Zuckerausscheidung vorstellen 
mögen, so müssen wir jedenfalls in ihr eine Störung des Kohlen- 
hydrat-Stoffwechsels erblicken, und wir werden auf Grund un¬ 
serer Untersuchungen ohne Weiteres auf die früher angeführte 
Hypothese v. Noorden’s gelenkt, dass in der That die Schild¬ 
drüse hemmende Einflüsse auf die Assimilation der Kohlen¬ 
hydrate, speciell auf die Fettbildung aus denselben ausübe. 
Eine andere Annahme (Minkowski), dass etwa die Schilddrüse 
eine Zuckerbildung aus den Eiweisssubstanzen im Organismus 
befördere, hat gerade der alimentären Glykosurie gegenüber 
nichts Verlockendes. Nachdem gezeigt worden ist, dass die 
Schilddrllsenwirkung bei Personen, welche zu irgend welcher 
Zuckerausscheidung an und für sich keinerlei Neigung besitzen, 
schon eine alimentäre Glykosurie herbeifuhren kann, wird es 
begreiflich, dass sie bei prädisponirten Individuen (Fettleibige!) 
schwerere Störungen des Kohlenhydrat-Stoffwechsels und event. 
sogar einen dauernden Diabetes auszulösen vermag. 

Die von verschiedenen Autoren betonte Differenz der indi¬ 
viduellen Empfänglichkeit für die Schilddrüseneinwirkung zeigt 
sich auch bei dem speciellen Symptome der alimentären Gly¬ 
kosurie; bestände jene Verschiedenheit nicht, so müsste ja 
schliesslich bei jedem Individuum die Glykosurie zu erzeugen 
sein, wenn auch vielleicht nur unter längerer Einwirkung des 
Schilddrüsengebrauchs. Bietet demnach schon innerhalb physio¬ 
logischer Breite der Organismus ungleiche Neigung zum Zu¬ 
standekommen der alimentären Glykosurie beim Schilddrüsen- 
gebrauch, so wird angenommen werden dürfen, dass sich in 
dieser Richtung zwischen Zuständen einerseits, die mit der 
„Hypofunction“ der Schilddrüse einhergehen und solchen anderer¬ 
seits, bei denen eine gesteigerte Schilddrüsenfunction vorauszu¬ 
setzen ist, ein direkter Gegensatz constatiren Hesse; die Schild- 
drüsenflltterung müsste demnach bei Myxödem und gewissen 
Formen der Tetanie nur selten, beim Morbus Basedowii dagegen 
mit gesteigerter Häufigkeit zur alimentären und eventuell spon¬ 
tanen Glykosurie führen. 

Das Material, welches als praktischer Beweis dieser An¬ 
nahme vorliegt, ist verschwindend gering. Sicher ist, dass bei 
Tetaniekranken keine Neigung zur spontanen oder alimentären 
Glykosurie besteht, und diese letztere scheint auch nach Schild- 
drüsengebrauch nicht beobachtet worden zu sein. Sie fehlte bei 
drei daraufhin untersuchten Patienten, die an unserer Klinik 
der Thyreoidinbehandlung unterzogen worden waren, ebenso wie 
bei einer Anzahl anderer derartiger Kranker, bei denen keine 
Schilddrüsenbehandlung stattgefunden hatte. Was das Myxödem 
angeht, so ist überhaupt nur in Ewald s Beobachtung (1) eine 
Zuckerausscheidung bekannt geworden, und zwar unter der An¬ 
wendung der Schilddrüsensubstanz. Bei diesem Falle, der auf 
den ersten Blick der Annahme einer erhöhten Resistenz der 
Myxödematösen gegen die Zuckerausscheidung zu widersprechen 
scheint, ist zu bedenken, dass die Glykosurie zu einer Zeit 
auftrat, wo durch anhaltenden Schilddrüsengebrauch der functio¬ 
neile Ausfall der Thyreoidea ausgeglichen, ja wohl sogar iiber- 
compensirt war. 

Ueber die endlich vom Schilddrüsengcbrauch zu erwartende 
Steigerung der alimentären Glykosurie Basedowkranker sind 
auffälliger Weise thatsächliche Beobachtungen aus der Literatur 
kaum zu entnehmen. Verwerthbar scheint mir höchstens die 
Angabe Senator’s (11), der einmal bei einer Basedowkranken 
nach Thyreoidindarrcichung Zucker im Urin fand, während bei 


der Patientin von Scholz (12), an der eine alimentäre Zucker¬ 
ausscheidung vorher constatirt war, unter dem Einflüsse der 
SchilddrÜ8enfUtterung wenigstens keine spontane ZuckeVausschei- 
dung auftrat. Ich bin trotzdem überzeugt, dass in vielen Fällen 
von Morbus Basedowii die Untersuchung eine Steigerung der 
alimentären Glykosurie durch Schilddrüsendarreichung ergeben 
wird; einschlägige Beobachtungen haben wohl die Mitwirkung 
der Thyreoidinbehandlung deshalb nicht genügend gewürdigt, 
weil ja die alimentäre Glykosurie der Basedowkranken an sich 
längst bekannt war. Dass eine bestehende Melliturie durch 
Schilddrüsenfütterung verschlimmert werden kann, hat sich bei 
Diabetikern gezeigt (Blachstein) (10), während allerdings 
nicht verschwiegen werden darf, dass diese Behandlung auch 
im Gegentheil bessernd auf den Diabetes gewirkt haben soll 
(z. B. Bram well) (13). Es wird dabei zu berücksichtigen 
sein, dass es ätiologisch und anatomisch verschiedene Diabetes¬ 
formen giebt, und es ist nicht unwichtig, dass bei manchen Dia¬ 
betikern Schilddrüsenveränderungen gefunden worden sind, auch 
ohne dass deutliche Basedowerscheinungen bestanden hätten 
(Blachstein, Rosenfeld) (10). Jedenfalls erscheint bei be¬ 
stehender Zuckerausscheidung die grösste Vorsicht in der Ver¬ 
wendung der Schilddrüsenpräparate geboten. 

Bei der Basedowschen Krankheit — auch wenn sie nicht 
mit Glykosurie verbunden ist — warnt die theoretische Ueber- 
legung grundsätzlich vor der Schilddrüsentherapie angesichts der 
weitgehenden Aehnlichkeiten zwischen dem Bilde dieser Krank¬ 
heit und dem des Thyreoidismus. Der praktischen Erfahrung 
gegenüber hat diese theoretische Erwägung Recht behalten; 
Beobachtungen einer günstigen Beeinflussung der Basedowschen 
Krankheit durch Schilddrüsendarreichung sind in demselben 
Maasse seltener geworden wie sich die Erfahrungen Uber eine 
nachtheilige Wirkung gehäuft haben. Darüber haben insbe¬ 
sondere die Verhandlungen des letztjährigen Congresses für 
innere Medicin Klarheit verschafft; von anderen Mittheilungen 
seien beispielsweise erwähnt diejenigen von Ault (14), Joffroy 
(15), Stabei (16), David (17). Es kann nach allem nicht 
mehr bezweifelt werden, dass der Morbus Basedowii auf einer 
dem Thyreoidismus nahestehenden Störung beruht. Was speciell 
die oft beobachtete alimentäre Glykosurie der Basedowkranken 
betrifft, so ist durch die vorliegende Untersuchung gezeigt wor¬ 
den, dass auch sie auf eine reine Schilddrüsenwirkung zurück- 
zuführen ist. Sie ist der Ausdruck einer Störung des Kohlen¬ 
hydrat-Stoffwechsels, die zweifellos bei der unter Schilddrüsen- 
flltterung auftretenden Abmagerung wie bei der Kachexie 
Basedowkranker eine Rolle spielt. 

Herrn Geheimrath Erb spreche ich für die Erlaubnis zu 
den vorliegenden Untersuchungen meinen besten Dank aus. 


Literatur. 

1) Ewald, Ueber einen durch die Schilddrüsentherapie geheilten 
Fall von Myxödem etc. Berliner klin. Wochenschrift 1895, No. 2. — 
2) Dale James, Glycosuria from taking thyroid extract. British Jour¬ 
nal of Dermatology, Juni 1894. — 8) Dennig, Ueber das Verhalten 
des Stoffwechsels bei der Schilddrüsentherapie. Münchener medicin. 
Wochenschrift 1895. — 4) Hennig, Ueber Thyrojodin. Münchener 
med. Wochenschrift 1896, No. 14. — 5) v. Noorden, Beiträge zur 
Theorie und Praxis der Schilddrüsentherapie. Zeitscbr. f. prakt. Aerzte 
1896, No. 1. — 6) Georgiewsk, Wratsch 1896. — 7) Medinger, 
Ueber die Erscheinungen nach Schilddrüsenfütterung. Dissert. inaug. 
Greifswald 1895. — 8) cf. Bettmann, Ein Fall von Morbus Basedowii 
mit Diabetes mellitus. Münchener med. Wochenschrift 1896, No. 49. — 
9) Zarubin, Zur Frage von der Behandlung der Hautkrankheiten mit 
Schilddrüsenpräparaten. Arch. f. Dermatol, u. Syphilis 1896. — 10) Ver¬ 
handlungen des 14. Congresses für innere Medicin, Wiesbaden 1896: 
Ueber therapeutische Anwendung der Schilddrüsenpräparate.— 11) Se- 

3 


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522 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 24. 


nator, Sitzung der Berliner med. Gesellschaft am 22. I. 1896 (Discus- 
sion). — 12) Scholz, Ueber den Einfluss der Schilddrüsenbehandlung 
auf den Stoffwechsel des Menschen etc. Centralblatt f. innere Medicin 
1895. — 18) Byron Bramweil, The thyroid treatment of skin di¬ 
seases. Atlas of clin. medecine 1894. — 14) Auld, On the effect of 
thyroid Extract in exophthalmie goitre. Brit. med. Journal 1894. — 
15) Joffroy, Nature et traitement du goitre exophthalmique. Progrcs 
medical 1894. — 16) Stabei, Zur Schilddrüsentherapie. Berliner klin. 
Wochenschrift 1896, No. 5. — 17) David, Ueber den Einfluss der 
Schilddrüsenpräparate auf die N-Ausscheidung im Harn. Zeitschrift für 
Heilkunde 1896. 


111. Die chirurgische Behandlung des chronischen 
Magengeschwürs. 

Von 

Professor J. Mikulicz in Breslau. 

(Fortsetzung.) 

Aus dem bisher Gesagten dürfen wir, ohne zu übertreiben, 
folgende Schlussfolgerung ziehen: Die Lebensgefahr, in 
welcher sich ein Kranker mit offenem Magengeschwür 
befindet, ist zum mindesten nicht geringer, höchst 
wahrscheinlich erheblich grössser, als die Gefahr, 
welcher wir heutzutage den Kranken durch eine tech¬ 
nisch vollendete Operation aussetzen. Jedenfalls dürfen 
wir uns für berechtigt halten, in Fällen, die nicht durch die 
interne Therapie geheilt werden können, chirurgisch einzu¬ 
greifen. Selbstverständlich aber nur unter der Voraussetzung, 
dass wir durch die Operation dem Kranken positiven Nutzen 
schaffen, d. h. ihn von seinem Leiden dauernd befreien. Wie 
weit dies zutrifft, soll uns jetzt beschäftigen. 

Unsere bisherigen Erfahrungen beziehen sich fast ausschliess¬ 
lich auf die Fälle von Pylorusstenose, sei es, dass dieselbe durch 
eine alte Narbe oder durch ein noch offenes Geschwür verursacht 
werde. Ich darf es als bekannt voraussetzen, dass in diesen 
Fällen durch Beseitigung der Stenose auch die consecutiven Er¬ 
scheinungen fast regelmässig verschwinden. Die Untersuchungen 
von Jaworski 1 ), Kaensche 2 ), Mintz 3 ), Rosenheim 4 ) u. A. 
haben uns darüber belehrt, dass die Functionen des Magens in 
motorischer und häufig auch in secretorischer Beziehung zur 
Norm zurückkehren. Das vollzieht sich meist im Verlauf von 
wenigen Monaten. Hat neben der Stenose noch ein offenes Ge¬ 
schwür bestanden, so verschwinden fast immer auch sehr rasch 
die eigentlichen tJlcussymptorae, namentlich die gastralgischen 
und dyspeptischen Erscheinungen. Die Kranken verlieren ihre 
Beschwerden, sie werden allmählich wieder fähig, jede beliebige 
Kost zu sich zu nehmen, sie nehmen oft erstaunlich rasch an 
Körpergewicht zu, kurz sie werden wieder gesunde Menschen. 
Man darf nur einen Kranken dieser Art vor und etwa ein halbes 
Jahr nach der Operation gesehen haben, um überzeugt zu sein, 
wie segensreich hier die Chirurgie wirken kann. 

Aber wie verhalten sich die Fälle von offenem Geschwür 
ohne Stenose? Bisher sind nur spärliche Fälle dieser Art ope- 
rirt und genau beobachtet worden; aber die hierbei gemachten 
Erfahrungen berechtigen uns zu den besten Hoffnungen. Zu¬ 
nächst ist der bekannte Fall von Cahn zu erwähnen, in dem 
Lücke nur wegen der heftigen gastralgischen und dyspeptischen 
Erscheinungen mit vorzüglichem Erfolg die Gastroenterostomie 


1) Wiener klin. Wochenschrift 1889, No. 5 u. 17. 

2) Deutsche med. Wochenschrift 1892, No. 49. 

3) Zeitschr. f. klin. Medicin, Bd. XXV, S. 123. 

4) Deutsche med. Wochenschrift 1895, No. 1—3. 


ausfUhrte. Von ähnlichem Erfolg war dieselbe Operation in 
2 Fällen begleitet, in welchen Küster wegen häufig recidivi- 
render Blutungen operirte. Auch durch partielle Resection der 
vom Ulcus eingenommenen Magenwand wurden ähnliche Erfolge 
erzielt. Eine Patientin, der ich vor 3 Jahren wegen einer pro¬ 
fusen Biutung aus der arrodirten Coronaria superior das flinf- 
pfennig8tückgrosse Geschwür resecirt habe, ist vollkommen ge¬ 
sund und hat inzwischen geheirathet. Eine andere Patientin, 
der das mit der vorderen Bauch wand verwachsene Geschwür 
resecirt wurde, ist mindestens 3 1 /* Jahre, d. i. so weit die letzte 
Nachricht reicht, gesund geblieben. Ueber ähnliche, mit günsti¬ 
gem Erfolg operirte Fälle haben Hofmeister 1 ), Klausner 2 ) 
u. A. berichtet; ich werde auf dieselben noch später zurück- 
kommen. 

Hier müssen wir die auf diesem Gebiete reichen Erfahrungen 
Doyen’8 erwähnen, der berichtet, durch die Gastroenterostomie 
eine Reihe von offenen Magengeschwüren geheilt zu haben. Da 
indessen, wie ich früher erwähnt habe, Doyen 3 ) auf eine präcise 
Diagnose in seinen Fällen nicht allzu viel Gewicht legt, können 
wir seine Beobachtungen für unsere Frage nicht voll verwerthen. 
Auch die Beobachtungen von Carle 4 ) will ich nur kurz anfüh- 
ren, der 3mal die Loreta’sche Divulsion, 5mal die Pyloro- 
plastlk bei Gastrectasien ohne Pylorostenose mit Erfolg ausge- 
führt hat; darunter befand sich auch ein Fall von Ulcus. Desto 
ausführlicher darf ich deshalb über 4 Fälle berichten, in welchen 
ich in jüngster Zeit bei sicher gestellter Diagnose durch die 
Pyloroplastik Heilung erzielt habe. Die betreffenden Patienten 
waren längere Zeit hindurch mit wenig oder nur vorübergehendem 
Erfolg intern behandelt worden. In einem Fall bestanden die 
Ulcussymptome 7 Jahre, in einem anderen 9 Jahre. Zweimal 
sass das fünf- bis zehnpfennigstllckgrosse Geschwür im Bereich 
des Pförtners, zweimal an der kleinen Curvatur und zwar 5 resp. 
10 cm vom Pylorus entfernt. In den beiden ersten Fällen 
wurde zuerst der Geschwürsgrund excidirt, die dadurch ent¬ 
standene Wundfläche von der Schleimhautseite aus vernäht und 
dann die Pyloroplastik angeschlossen. In den anderen 2 Fällen 
blieb das Geschwür unberührt; es wurde nur die Pyloroplastik 
gemacht. Interessant war, dass auch in diesen Fällen der Py¬ 
lorus auffallend eng erschien; während der normale Pylorus für 
meinen Zeigefinger bequem durchgängig ist, konnte hier gerade 
nur die Fingerkuppe eindringen. Die Enge war aber nicht 
durch eine Narbe, sondern durch den unnachgiebigen Ringmuskel 
hervorgerufen, der auch auf dem Querschnitt deutlich verdickt 
erschien. In allen 4 Fällen schwanden nun sämmtliche Ulcus¬ 
symptome nach der Operation, aber nicht in der gleichen Zeit¬ 
folge. Die intelligenten Kranken machten uns darüber ganz 
präcise Angaben. Im Fall 3 und 4, wo das Ulcus unberührt 
blieb, schwanden die Schmerzen, die vorher auch in nüchternem 
Zustande bestanden hatten, sofort; im Fall 3 kamen später, als 
die Patientin anfing feste Nahrung zu nehmen, gelegentlich noch 
kleine Schmerzanfälle, die aber von der 9. Woche an bis zum 
heutigen Tage, d. i. 2 1 /, Monate lang ganz ausblieben. Im 
Fall 4 kamen die Schmerzen überhaupt nicht wieder, doch ist 
der Fall erst kaum 4 Wochen beobachtet. Im Fall 1 und 2, 
in denen das Ulcus gleichzeitig excidirt war, bestanden die 
ersten 10 Tage hindurch ziemlich starke Schmerzen, die die 
Patienten aber nicht genau als Magenschmerzen localisiren 
konnten. Fall 2 blieb dann, so weit die Beobachtung reichte, 

1) Beiträge zur klin. Chirurgie, Bd. XV, H. 2. 

2) Münchener med. Wochenschrift 1896, No. 30. 

3) Traitement chirurgical des affection de l’estomac et du duode- 
num. Paris 1895. X. Franzos. Chirurgencongress. Revue de Chirurgie 
1896, No. 11, p. 868. 

4) X. Italienischer Chirurgencongress 1895. 


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14- 3uni 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


523 


&. i. durch 6 Wochen, vollkommen schmerzfrei, während in 
Fall 1 später noch kleine Schmerzanfälle kamen, die dann auch 
vollständig schwanden und während der 10wöchentlichen wei¬ 
teren Beobachtung nicht wiederkehrten. Es liegt nahe, im 
Falle 1 und 2 die initialen Schmerzen auf die Spannung der 
GeschwUrsränder durch die Naht zu beziehen. Die Periode von 
8 Wochen, in welcher im Fall 1 und 3 noch kleine Schmerz¬ 
anfälle wiederkamen, entspricht vielleicht der Zeit, welche das 
Ulcus zur völligen Vernarbung brauchte. In einem der Fälle 
bestand eine hochgradige motorische Insufficienz des Magens. 
Diese verschwand wenige Wochen nach der Operation voll¬ 
ständig. Der Fall verhielt sich in der Beziehung ähnlich wie 
die Fälle von narbiger Pylorusstenose, in welchen die Haupt¬ 
beschwerden durch die motorische Insufficienz des Magens her¬ 
vorgerufen werden. Auch hier kehrt bekanntlich die Motilität 
des Magens nach der Pyloroplastik oder Gastroenterostomie 
sehr bald zur Norm zurück. 

Von noch grösserem Interesse ist die Verminderung der 
Salzsäureproduction, die sich in allen 4 Fällen nach der Ope¬ 
ration constatiren Hess. Die Gesammtacidität war in allen 
4 Fällen vor der Operation vermehrt, u. zwar bis Uber das 
Doppelte der als normal angesehenen Werthe. Die Acidität 
ging nun nicht etwa plötzlich herunter, sondern verringerte sich 
successive, so dass sie im Fall 1 und 3 erst nach 4—5 Monaten 
auf die Norm oder selbst unter dieselbe sank. Ich will Ihre 
Zeit nicht durch Vorführung der darauf bezüglichen Zahlen in 
Anspruch nehmen; die genauen Ergebnisse werden bei anderer 
Gelegenheit von Herrn Dr. Kausch, der die Untersuchungen 
ausgeführt hat, veröffentlicht werden. Ich will nur hervorheben, 
dass das Sinken der Salzsäureproduction auch in anderen Fällen, 
in welchen ein Ulcus mit dem tastenden Finger während der 
Operation nicht nachgewiesen werden konnte, nach der Pyloro¬ 
plastik von uns beobachtet wurde. 

M. H.! Ich habe Uber diese Fälle etwas ausführlicher be¬ 
richtet, da sie für uns von grosser principieller Bedeutung sind. 
Sie beweisen uns von Neuem, dass wir ein Magengeschwür, 
ohne es selbst zu berühren, heilen können — wenigstens im 
klinischen Sinn — u. zwar indem wir die Hindernisse beseitigen, 
die einer raschen und vollständigen Entleerung des Magens ins 
Duodenum im Wege sind. Ob das Hinderniss in einer narbigen 
Stenose oder aber in einer functionellen Verengerung des Pylorus, 
in einem Pylorospasmus bestehen, scheint gleichgültig zu sein. 
Diese Erfahrungen stehen im vollen Einklang mit den herrschen¬ 
den Ansichten, dass Pylorusenge, d. h. ungenügende und er¬ 
schwerte Entleerung des Magens, Hyperacidität und Ulcus 3 Er¬ 
scheinungen sind, die innig mit einander Zusammenhängen und 
von einander abhängen. Die Theorie von Talma 1 ) und Doyen 2 ), 
dass der Pyloruskrampf dabei das Primäre ist, hat nach unseren 
Beobachtungen viel für sich, da nach Beseitigung der Pylorus¬ 
enge in der That das ganze Symptomenbild schwindet. 

Es ist indessen nicht unsere Sache, diese theoretische Frage 
zu erörtern. Unsere Erfahrungen sind auch noch zu spärlich 
und zu kurzdauernd, um hier den Ansschlag zu geben. Wir 
wollen uns heute damit begnügen, zu constatiren, dass in der 
That durch relativ wenig gefährliche Eingriffe, wie die Pyloro¬ 
plastik und Gastroenterostomie alle Erscheinungen des Ulcus 
zum Schwinden gebracht werden können. 

M. H.! Wir wollen uns nun mit der Frage beschäftigen, 
welche Operatiousmethode für die einzelnen Fälle zu wählen 
sei. Wir wollen bei dieser Gelegenheit gleichzeitig die Technik 


1) Indieationen zur Magenoperation. Berl. klin. Wochenschr. 1895, 
No. 15. 

2) A. a. O. 


der Operationen besprechen. Da es sich hier zumeist um be¬ 
kannte Dinge handelt, darf ich mich jetzt etwas kürzer fassen. 
Wie Sie aus den früher angeführten statistischen Tabellen er¬ 
sehen, kommen hier in der Hauptsache 3 Operationen in Frage: 
die Resection, die Gastroenterostomie und die Pyloro¬ 
plastik. Wir wollen uns auch auf die Besprechung dieser 
3 Operationen beschränken, und von anderen operativen Ein¬ 
griffen absehen, die beim Magengeschwür und seinen Compli- 
cationen gelegentlich ausgeführt wurden. Dahin gehören z. B. 
die Divulsion des Pylorus nach Loreta, die Verkleinerung des 
dilatirten Magens durch die sogenannte Gastroplicatio nach 
Bircher, die Anlegung einer Magenfistel behufs localer Be¬ 
handlung des Ulcus, die Anlegung einer Jejunumfistel behufs 
Ausschaltung des Magens. 

Was nun die Resection des Pylorus resp. Magens 
betrifft, so haben Sie schon aus der vorangehenden Darstellung 
ersehen, dass diese Operation beim Magengeschwür von den 
Chirurgen allmählich mehr und mehr verlassen worden ist. Sie 
ist unter den drei in Frage kommenden Eingriffen der gefähr¬ 
lichste und giebt zweifellos am wenigsten Garantie für radicale 
Heilung, weil sie an und für sich der Causalindication am 
wenigsten Rechnung trägt. Nun wäre es aber irrig, anzu¬ 
nehmen, dass die Resection in der chirurgischen Therapie des 
Ulcus mit der Zeit vollständig verschwinden wird. Für viele 
Fälle wird sie immer noch ihre Indication behalten. 

Wir müssen hier zwischen den verschiedenen Arten der 
Resection des Pylorus und Magens unterscheiden, die durchaus 
nicht gleichwerthig sind. Zunächst die circuläre Resection 
im Bereiche des Pylorus oder des Corpus ventriculi. Auf diese 
Operation beziehen sich vorwiegend die ungünstigen Erfahrungen, 
Uber die ich früher berichtet habe. Die circuläre Resection 
wird bei Ulcus mit Recht vollständig verlassen, mit Ausnahme 
eines einzigen Falles: beim Verdacht auf Carcinom. Die Fälle, 
in welchen klinisch ein Ulcus ventriculi diagnosticirt wird, 
während sich die bei der Operation oder durch den späteren 
Verlauf ein Carcinom des Magens herausstellt, sind nicht über¬ 
mässig selten. Mir selbst ist dies bisher 5 mal begegnet. 2 mal 
wurde das vermeintliche Ulcus resecirt, und die mikroskopische 
Untersuchung ergab alsbald Carcinom. Ein drittes Mal liess 
die mikroskopische Untersuchung des excidirten Tumors die 
Diagnose in suspenso, der weitere Verlauf machte es indess 
sehr wahrscheinlich, dass ein Carcinom Vorgelegen habe. 2 mal 
habe ich, in der Meinung ein offenes Ulcus ventriculi vor mir 
zu haben, die Gastroenterostomie ausgeführt. Auch hier liess 
der weitere Verlauf keinen Zweifel darüber aufkommeu, dass 
ein Carcinom Vorgelegen hat. Wir werden also in allen ver¬ 
dächtigen Fällen die Resection ausfUhren, sofern sie technisch 
möglich ist. 

(Fortsetzung folgt.) 


IV. Ueber die Pathogenese und klinische Stellung 
der Erschöpfungspsychosen. 

Von 

Prof. Dr. 0. Binswanger-Jena. 

(Schluss.) 

Bei den noch vieler Orts bestehenden Erschwerungen des 
Aufnahmeverfahrens und der Scheu, die Kranken in öffentliche 
Irrenanstalten zu verbringen, werden vorwiegend diese schweren 
Fälle der Anstaltsbehandlung zugänglich. Günstiger liegen die 
Verhältnisse der psychiatrischen Kliniken mit unbeschränkter 


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524 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 24. 


Aufnahmebefugniss und zahlreichen freiwilligen Aufnahmen. 1 ) 
Hier werden jene leichteren Fälle recht häufig beobachtet, bei 
welchen die initialen Erregungszustände entweder ganz fehlen 
oder nur ganz flüchtig und unfertig entwickelt auftreten. Die 
geistige Störung wird dann den Angehörigen und auch den Pa¬ 
tienten selbst dadurch offenkundig, dass vereinzelt thörichte Ein¬ 
fälle auftauchen, welche zu albernen und kindischen Handlungen 
Veranlassung geben und zu dem übrigen stumpfen, gleichgülti¬ 
gen, müden Wesen der Patienten auffällig contrastiren. Ausge¬ 
prägte Sinnestäuschungen können bei diesen leichteren Fällen 
ganz fehlen oder nur in der Form hypnagoger Visionen oder 
unbestimmter Akoasraen Vorkommen. 

Gerade diesen leichteren Fällen ist ein ausgeprägtes Krank¬ 
heitsgefühl eigentümlich, welches im Beginn der Erkrankung, 
solange die Hemmungen noch nicht vollständig sind, zu hypo¬ 
chondrischen Verstimmungen und Angstaflecten führt. In diesen 
leichteren Fällen überwiegen die Hemmungserscheinungen die¬ 
jenigen der Erschöpfung bedeutend. Man sieht gerade in diesen 
Fällen sehr deutlich, dass die Ausfallserscheinungen von der 
Intensität der Reizsymptome abhängig sind. Der Verlauf bean¬ 
sprucht bei diesen Fällen eine durchschnittliche Zeitdauer von 
4—5 Wochen. 

Die Prognose ist bei den schweren Fällen durchaus nicht 
immer günstig zu stellen. Nach meinen Erfahrungen tritt nur 
etwa in der Hälfte der Fälle eine völlige Heilung ein, in einem 
weiteren Viertel ist eine relative Heilung mit Defect d. h. völlige 
geistige Klärung aber dauernde Einbusse an geistiger Leistungs¬ 
fähigkeit zu verzeichnen. Im letzten Viertel der Beobachtungen 
tritt dauernde geistige Verödung ein. Die Prognose hängt ab: 
1) von der individuellen geistigen Veranlagung und Entwickelung, 
welche vor Eintritt der Krankheit vorhanden war; 2. von der 
Intensität und Dauer einerseits der Reiz- und andererseits der 
consecutiven Erschöpfungszustände und 3. von der Möglichkeit 
einer rationellen Behandlung. 

Die Prognose bei den leichteren Fällen ist fast durchweg 
günstig zu stellen, doch darf man auch hier nicht vergessen, 
dass die cerebralen Erschöpfungszustände mit Vorliebe Individuen 
heimsuchen, welche ein widerstandsloses Nervensystem besitzen 
und von Hause aus eine geringe geistige Leistungsfähigkeit dar¬ 
geboten haben. In solchen Fällen ist selbst bei scheinbar leich¬ 
terer Erkrankung der Ausgang ein ungünstiger; es tritt wohl 
eine Erholung und scheinbare Heilung ein, die geistige Thätigkeit 
ist aber dauernd herabgemindert. Treten die Patienten wieder 
in das Leben zurück, so zeigen sie sich unfähig zur Wiederauf¬ 
nahme ihrer früheren Thätigkeit. In einzelnen Fällen, in welchen 
übrigens immer eine ausgeprägte erbliche Belastung vorhanden 
war, entwickelten sich späterhin typisch cyclische Psychosen. 

Ueber die Behandlung kann ich mich ganz kurz fassen: 
sorgfältigste körperliche Pflege mit Ueberemährung, leichter all¬ 
gemeiner Massage und Hydrotherapie (prolongirte Bäder und 
Einpackungen) bei völliger Bettruhe und Fernhaltung aller psy¬ 
chischen Reize bis zu eingetretener Reconvalescenz, dann aber 
zweckmässige körperliche Arbeit und methodische Hebungen der 
geistigen Kräfte. 

2. Die Erschöpfungsamentia. 

Der Beginn des Leidens ist ein acuter, doch lässt sich auch 
hier bei sorgfältiger Erhebung der Anamnese nachweisen,dass schon 
vor dem Einsetzen der Psychose ein durch die verschiedensten oft 


1) Vergl. hierzu meine Ausführungen über die freiwilligen Aufnahmen 
in meinem Vortrage „Zur Reform der Irrenfürsorge in Deutschland“ 
(Volkmann’s klin. Vorträge N. F. No. 148). Im letzten Jahre waren in 
hiesiger Klinik unter 459 Aufnahmen 282 Patienten freiwillig einge¬ 
treten, d. h. nicht unter Vermittelung der Behörden. 


cumulirend wirkenden Schädlichkeiten hervorgerufener Erschöp¬ 
fungszustand der Geistesstörung im engeren Sinne voraufgegangen 
ist. Hier treten von Anfang an die Symptome der Unorientirt- 
heit, vollendetster Incohaerenz der Vorstellungsverbindungen, 
massenhafte Illusionen und Hallucinationen, Jactation der Vor¬ 
stellungen, hochgradig gesteigerter Bewegungsdrang bei regel¬ 
losen motorischen Impulsen (motorische Incohaerenz) hervor. 
Niemals fehlen heftige Affectschwankungen im Sinne des jählings 
wechselnden Vorstellungsinhaltes. Dieser allgemeine Erregungs¬ 
zustand, welcher immer mit fast völliger Agrypnie und schweren 
allgemeinen Ernährungsstörungen verbunden ist, dauert durch¬ 
schnittlich 6—8 Wochen. Er hält sich während dieser Zeit ent¬ 
weder andauernd auf gleicher Höhe oder wird für Stunden und 
Tage von schwereren Collapszuständen unterbrochen. Beim end¬ 
lichen Abklingen der Erregungsphase (ein jäher, dauernder Ab¬ 
fall ist recht selten) treten dann jene Erschöpfungszustände, 
welche bei den schweren Formen des Erschöpfungsstupors 
skizzirt worden sind, für längere Zeit (durchschnittlich 5—6 Mo¬ 
nate) ein. Auch hier ist im Allgemeinen die Zeitdauer und die 
Intensität der Erregungsphase maassgebend für die Tiefe und 
Ausdehnung der reactiven Erschöpfung. Die motorische und 
affective Erregung, die Flucht der Vorstellungen tritt ganz all¬ 
mählich gegenüber den Symptomen der primären Incohaerenz 
und der Unorientirtheit zurück, die Patienten wandeln wie im 
Traume, von der Aussenwelt abgeschlossen, plan- und ziellos 
umher, begehen unter dem Einfluss von Einfällen und vereinzelten 
hallucinatorischen Erregungen allerhand zwecklose Handlungen, 
die in der Langsamkeit der Ausführung und ihrer monotonen 
Wiederholung von dem unbestimmten Bewegungsdrang der Er¬ 
regungsphase deutlich abstechen. Sie werden allmählich immer 
stumpfer und bewegungsarmer und versinken dann in einen Zu¬ 
stand völligen Mutismns. Hier begegnen wir dem höchsten Grade 
geistiger Verarmung: keine Ausdnicksbewegung, keine Willkür- 
handlung findet mehr statt. Entweder schlaff zusammen gesunken 
oder mit leichter kataleptiformer Spannung der Muskulatur in 
etwas gezwungener Körperhaltung liegen sie regungslos zu Bett 
und müssen, da keine spontane Nahrungsaufnahme erfolgt, ge¬ 
futtert werden. Dieser Zustand kann in schwersteu Fällen viele 
Monate audauern, der allgemeine Kräftezustand geht dabei lang¬ 
sam aber unaufhaltsam zurück, die Respiration ist verlangsamt, 
oberflächlich, die Circulation in Folge verringerter Triebkraft des 
Herzens und schlechter Gefässspannung erheblich gestört. In 
zwei Fällen habe ich als Folge der Ernährungsstörung vorüber¬ 
gehend skorbutartige Zustände und Blutungen des Zahnfleisches und 
der Darmschleimhaut bei leichtester mechanischer Reizung beob¬ 
achtet. Für diese Zustände, in welchen alle geistigen Vorgänge 
erloschen erscheinen, ist die Bezeichnung der acuten Demenz 
sehr wohl gerechtfertigt. Doch ist in Hinsicht auf die Möglich¬ 
keit der Heilung zur Unterscheidung von anderen Formen der 
Demenz die Beifügung des Wortes heilbar zweckmässig. In¬ 
wieweit es sich hier um wirkliche Ausfalls- oder Hemmungs¬ 
symptome in dem früher erörterten Sinne handelt, ist, so lange 
die Phase der psychischen Iteactionslosigkeit andauert, natürlich 
nicht zu entscheiden. Aus der Art des Wiedererwachens der 
geistigen Vorgänge wird man mit ziemlicher Sicherheit folgern 
können, ob diese oder jene Reihe von Erscheinungen das Krank¬ 
heitsbild verursacht hat. 

In den schwersten Fällen kann man beim Wiedererwachen 
der geistigen Vorgänge die Beobachtung machen, dass die Pa¬ 
tienten nicht nur keinerlei Erinnerungen an die Vorgänge wäh¬ 
rend der überstandenen Krankheitsphase besitzen, sondern auch 
das Gedächtnis für die einfachsten und uächstliegenden Ereig¬ 
nisse und Vorstellungscoraplexe aus gesunder Zeit verloren haben. 
In einem gegenwärtig in der Klinik befindlichen Falle von 


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BERLINER KLtNISCIlE WOCHENSCHRIFT. 


525 


puerperaler Amentia mit nachfolgender acuter Demenz erkannte 
die Patientin bei dem ersten Besuche ihrer Angehörigen den 
Mann und ihre Kindern nicht wieder. Sie hatte zur Zeit dieses 
Besuches schon erhebliche Fortschritte in der Besserung ge¬ 
macht. hatte die Spontaneität ihrer Bewegungen, die Orientirnng 
in ihrer Umgebung wiedergewonnen, das Operiren mit einfachen 
Zahlenbegriffen wieder erworben. Nur dadurch, dass ihr nach 
dem Besuche längere Zeit hindurch täglich die Photographien 
ihrer Angehörigen gezeigt und erläutert wurden, gewann 6ie die 
Erinnerung an sie wieder. In dem Falle, den ich vor 10 Jahren 
in den Charite-Annalen mitgetheilt habe, ist der Verlust und 
Wiedererwerb selbst einfachster intellektueller Vorgänge der 
sehr schön zu verfolgen. Jener Fall ist übrigens deshalb noch 
bemerkenswert!!, w f eil bei ihm ein Zustand tiefster geistiger Ab¬ 
stumpfung eingetreten war, ohne dass eine ausgeprägte Amentia 
voraufgegangen war. Meine damalige Auffassung Uber die physio- 
pathologischen Unterscheidungsmerkmale zwischen Erschöpfungs¬ 
stupor und acuter Demenz haben sich im Laufe der Jahre 
wesentlich geändert. Vor allem möchte ich aus den klini¬ 
schen Erfahrungen, welche ich Uber die Wiedererweckung der 
geistigen Fähigkeiten im Laufe der Jahre sammeln konnte, 
nicht mehr den Schluss ziehen, dass es sich bei diesem Krank¬ 
heitszustande um eine völlige Vernichtung des früheren gei¬ 
stigen Besitzstandes handelt. 

Sicherlich sind in diesen Zuständen höchster cerebraler 
Erschöpfung weitgehende Molekularschädigungen in den Nerven- 
elementen vorhanden, Uber die wir freilich noch recht wenig 
wissen. Man darf aber im Hinblick auf die Arbeiten von 
Nissl und Held, welche uns Uber die Sructur der cen¬ 
tralen Nervenzelle und Uber die Bedeutung ihrer protoplasma 
tischen Bestandtheile ein tieferes Verständniss eröffnet haben, 
die Hoffnung hegen, dass bei letal verlaufenden Fällen auf 
der Basis dieser Arbeiten die feineren structurellen Verände¬ 
rungen der Ganglienzellen festgestellt werden können. Die 
Vermuthung liegt sehr nahe, dass in den Nissl‘sehen Körpern, 
welche in ihrer Bedeutung als Ernährungsmaterial der Ganglien¬ 
zellen von Held erkannt w r orden sind, sich mikroskopisch sicht¬ 
bare Veränderungen nachweisen lassen. Ich kann mir sehr 
wohl denken, dass ein vorübergehender Functionsausfall 
beim Verluste des grössten Theils des Emährungsmaterials der 
Zelle verursacht wird, wührend bei dem Wiederaufbau der 
Ni88Usehen Körper die Zelle ihre Function wiedergew’innt. 
Hierfür sprechen auch die experimentellen Untersuchungen von 
Nissl. Bei der dauernden Vernichtung der Nervenzelle wird 
es sich wohl nicht bloss um den Verlust an Ernährungsraaterial 
sondern auch um den Untergang von functionstragendem Proto¬ 
plasma, den Neurosomen von Held handeln. Man wird unter 
diesen Gesichtspunkten die Erschöpfung von der Vernichtung 
streng trennen müssen. 

Welche psycho-physiologische Deutung für die klinischen 
Erfahrungen Uber den Wiedererwerb scheinbar völlig verloren 
gegangener Vorstellungscomplexe einfacherer und zusammen¬ 
gesetzter Art zulässig ist, ist wohl eine der schwierigsten Fragen 
beim Studium dieser Krankheitsvorgänge. Solange wir Uber die 
materiellen und psycho physiologischen Grundlagen des Gedächt¬ 
nisses überhaupt so unvollkomene Kenntnisse besitzen, wird es 
kaum angängig sein, Uber das Vergessen und das Wieder¬ 
erlernen unter psycho-pathologischen Bedingungen bestimmte 
Theorien aufzustellen. Doch ist der allgemeine Schluss gestattet, 
dass bei den Gedächtnisstörungen der Erschöpfungsdemenz ein 
Verlust der Erinnerungsbilder nicht stattfindet, sondern nur die 
Schwächung, Lockerung und vorübergehende Aufhebung der 
associativen Thätigkeit die Reproduction erschwert, auf der 
Höhe der Erkrankung sogar unmöglich macht. Mit fortschreiten¬ 


der Erstarkung der Ideenassociation wird dann die Erweckung 
latenter Erinnerungsbilder an Zahl und Häufigkeit zunehmen. 
Mit dem wachsenden Reichthum an verfügbarem Vorstellungs¬ 
inhalt wächst folgerichtig die Fähigkeit und der Reichthum 
associativer Verknüpfungen einfacherer und zusammengesetzterer 
Vorstellungen und damit schliesslich auch die erneute Erwerbung 
von Urtheilsassociationen. Ist die Erholung vollständig d. h. ist 
die Summe der potentiellen Energien innerhalb der Hirnrinde 
nach Ablauf der Reconvalescenzperiode annähernd dieselbe wie 
vor dem Einsetzen der Erkrankung, so w’ird man von einer 
völligen Heilung sprechen dürfen, ist aber der Widerersatz un¬ 
vollständig, so bleibt eine dauernde Kraftschädigung übrig, 
welche sich klinisch als unvollständige Heilung kund giebt. 

Es geht aus dem Vorstehenden wohl zur GenUge hervor, 
dass der Ausgang des Leidens wie bei dem einfachen Er¬ 
schöpfungsstupor abhängig ist a) von dem individuellen Kräfte- 
raass vor dem Einsetzen der Krankheit b) von dem Masse der 
Kraftschädigung, welche zur Entwickelung der Psychose geführt 
und c) von der Heftigkeit und Langwierigkeit des Erregungs¬ 
zustandes; von diesem ist abhängig d) der Grad der consecntiven 
Erschöpfung, welche ja annähernd dem Uebermass von Kraft¬ 
verbrauch während der Amentia entspricht. Es sind also 
mannigfache und individuell recht verschieden geartete Factoren, 
welche die Erholung, d. h. die Restitution der Kräfte beein¬ 
flussen. Schwere Fälle von Amentia endigen immer mit einem 
relativen Defect, d. h. einer unvollständigen Restitution, wenn 
schon vor dem Einsetzen der Erkrankung eine gewisse geistige 
Debilität bestanden hat. Hingegen wird man sogar bei sehr 
schweren Fällen eine vollständige Heilung erwarten dürfen, 
wenn es Bich um rüstige Gehirne handelt und der Erregungszu¬ 
stand nur 2—3 Monate dauert. Bei einem solchen Verlaufe wird 
man auf die reactive acute Demenz G—7 Monate rechnen müssen. 

Dauert aber der Erregungszustand länger, so ist die Pro¬ 
gnose des Falles recht zweifelhaft. Der Ausgang in secundäre 
Demenz tritt dann sehr häufig ein. 

Wir können dann zwei Arten ungünstiger Ausgänge des 
Leidens unterscheiden: einmal endigt die Krankheit mit chro¬ 
nischer, schwachsinniger Verw'irrtheit (agitirter Blödsinn), 
welcher noch alle Attribute der acuten Psychose anhaften. Man 
findet die mangelnde Orientirtheit, die Incohaerenz, pathologische 
Einfälle, zum Theil in der Form schwachsinniger Wahnideen, 
Hallucinationen und Illusionen, die ebenfalls zur wahnhaften 
Umgestaltung des Vorstellungsinhalts führen. Sodann stellen 
sich intercurrente Erregungszustände von kürzerer und längerer 
Dauer ein mit Ideentlucht, Verbigeration gesteigertem, zweck¬ 
losem Thätigkeitsdrang, oder auch allgemeiner motorischer 
Erregung. Die Affecte besitzen ebenfalls die charakteristi¬ 
schen Merkmale des Schwachsinns, sie sind motivlos wechsel¬ 
voll. Dieser Ausgang schliesst sich fast unmerklich an die ur¬ 
sprüngliche Erregungsphase an, das consecutive Stadium der 
acuten Erschöpfungsderaenz tritt nicht deutlich hervor. 

Sodann finden wir den Ausgang in apathischen Blödsinn. 
Auch hier sind natürlich mannigfache Abstufungen des in- 
tellcctuellen Verfalls in praxi vorhanden. Ich möchte hier nur 
der scheinbar leichteren aber nicht minder verhängnisvollen Aus¬ 
gänge in secundärer Paranoia erwähnen, bei welcher neben 
den klinischen Merkmalen des Intelligenzdefectcs eine grössere 
oder geringere Zahl von Wahnvorstellungen in lockerer, logisch 
absurder Verknüpfung den hauptsächlichsten Denkinhalt dar¬ 
stellen. 

Es lässt sich dann auch meist deutlich nachweisen, dass 
sie aus der Amentia herübergenommen sind und in Folge der 
Abschwächung der Intelligenz niemals wieder eine Correctur 
erfahren haben. 


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52Ö 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 24. 


1 


Bei der Behandlung der Amentia wird man in erster Linie 
das Ziel verfolgen, die durch die Erregung stattfindende Kraft¬ 
schädigung auf ein möglichst geringes Mass herabzuraindern. 

Man wird dies durch hydrotherapeutische (Einpackungen 
und prolongirte Bäder), vor allem aber durch medicaraentöse 
Behandlung (Ilyoscin, Duboisin, Trional u. s. w.) zu erreichen 
suchen. 

Man wird die Zeiten relativer Beruhigung ausnutzen mUssen, 
um eine genügende Ernährung der Kranken zu erreichen. Milch, 
Somatose, Fleischsäfte, Lipanin u. s. w., überhaupt alle flüssigen 
Nahrungsmittel von hohem Nährwerth sind hier am Platze, ln 
dem reactiven Erschöpfungszustände wird man in gleicher Weise 
wie bei dem Erschöpfungsstupor die Uebernährung und die 
anderen Hilfsmittel zur Anregung und Förderung des Stoff¬ 
wechsels zu einem methodischen Kurplan vereinigen. 

3. Das Delirium acutum exhaustivum. 

Auf den alten Streit, ob die Aufstellung dieser Krankheits¬ 
bezeichnung überhaupt gerechtfertigt ist, will ich hier nicht ein- 
gehen, da eine Wiederlegung der gegnerischen Momente hier 
viel zu weit führen würde. 

Nur auf einen Punkt möchte ich wenigstens kurz hinweisen. 
Die Autoren, welche das Vorkommen dieses Symptomencomplexes 
zwar nicht bestreiten, jedoch behaupten,, dass es sich dann um 
galoppirend verlaufende Paralysen handele, machen sich ihre 
Beweisführung doch zu leicht. Ganz abgesehen davon, dass 
die überwiegende Mehrzahl der Fälle von Del. ac. jugendliche 
weibliche Personen im Alter von 17—30 Jahren betrifft, bei 
welchen also die progressive Paralyse ausserordentlich selten 
vorkommt, setzen sie bei den Anhängern der Lehre von Delir, 
acutum eine grobe Unkenntniss der klinischen und anatomischen 
Befunde bei der progressiven Paralyse voraus. Wer längere 
Zeit das klinische Material, welches den Krankenhäusern einer 
Grossstadt zufliesst, zu bearbeiten Gelegenheit hatte, der wird sich 
unschwer von dem thatsächlichen Vorkommen peracut verlaufen¬ 
der cerebraler Erschöpfungszustände höchster Intensität über¬ 
zeugen können. Die unheimliche Trias der klinischen Er¬ 
scheinungen: 1. tiefe Benommenheit mit Jactation des in- 
cohaerenten Vorstellungsinhaltes, 2. hochgradigste motorische 
Erregung, welche sich in ungeordneten gewaltigsten motorischen 
Entladungen äussert (Chorea magna), 3. schwerste Ernährungs¬ 
störungen mit excessiven Fieberbewegungen, lässt bei richtiger 
Würdigung der Anamnese einen Zweifel an der Diagnose nicht 
zu. Sie weist ferner darauf hin, dass es sich bei diesem Krank¬ 
heitszustand um die schwerste Zerrüttung der gesammten Stoff¬ 
wechselvorgänge einschliesslich derjenigen der corticalen Nerven¬ 
zellen handelt. 

Der Krankheitszustand endet bekanntlich in der über¬ 
wiegenden Mehrzahl der Fälle tödtlich. Ich erinnere mich nur 
eines einzigen Falles unter 32 Beobachtungen, welcher günstig 
und zwar mit Heilung ohne einen Intelligenzdefect verlaufen ist. 
Es handelte sich damals um ein acutes Delirium mit hohem 
Fieber im Anschluss an eine Empyemoperation. Man wird in 
diesem Falle die Frage aufwerfen können, ob die Diagnose 
völlig gerechtfertigt war. Für jeden Fall findet das hohe Fieber 
das nur während 3G Stunden bestand und dann plötzlich auf 
Collapstemperatur herabfiel als Resorptionsfieber eine genügende 
Erklärung. 

Es würde hier also die Fieberbewegung nicht mit dem 
Hirnrindenproces8 in unmittelbarer Beziehung stehen. Die 
Dürftigkeit der pathologisch-anatomischen Hirnrindenbefunde 
bei Anwendung der älteren histologischen Untersuchungs¬ 
methoden beweist natürlich nichts gegen die Auffassung, dass 
w r ir mit den neuen Nissl’sehen und Held’sehen Methoden zu 
positiven Ergebnissen gelangen werden. Sie sehen aus dieser 


Skizze der Erschöpfungspsychosen, dass ich in manchen wesent¬ 
lichen Punkten von der Auffassung Kraepelin’s ab weiche. 

Zum möchte ich noch darauf hinweisen, dass sowohl hin¬ 
sichtlich der Pathogenese als auch der klinischen Krankheits¬ 
bilder eine scharfe Trennung der Erschöpfungspsychosen von den 
aemitoxischen Psychosen im einzelnen Falle sehr schwierig, 
ja geradezu unmöglich sein kann. Es gilt dies vor allem von 
der Amentia und dem Delirium acutum. 

Wir dürfen nie vergessen, dass ja in letzter Linie auch die 
cerebralen Erschöpfungszustände auf einem gestörten Chemismus 
der Nervenelemente beruhen mUssen, welche zur Bildung ab¬ 
normer Stoffwechselproducte führt. 

Diese Ermüdungs- oder Erschöpfungstoxine wirken im Sinne 
einer Autointoxication auf die Himrindenelemente. Es liegt sehr 
nahe, dass auch andere aus Störungen der Stoffwechselvorgänge 
herrührende Vergiftungen der Nervenelemente ganz analoge 
Krankheitserscheinungen hervorrufen. 

Ich erinnere Sie hier neben den Autointoxicationen in Folge 
von Darmkrankheiten wiederum an die urämischen und dia¬ 
betischen Psychosen. Ebenso innig ist der pathologische und 
klinische Zusammenhang mit den Infectionspsychosen, welche 
durch die Stoffwechselproducte der Mikroorganismen erzeugt 
werden (Typhus, Variola u. s. w.). Ich hoffe späterhin Gelegen¬ 
heit zu haben, diese und andere Intoxicationsssychosen einer 
ausführlichen Erörterung zu unterziehen 1 ). 


V. Experimentelle und anatomische Unter¬ 
suchungen über das Wesen und die Ursachen 
des gelben Fiebers. 

Von 

Dr. W. Havelburg, (Rio de Janeiro). 

(Fortsetzung.) 

Die Milz ist ein beim Gelbfieber höchst merkwürdigerweise 
nicht compromittirtes Organ. Weder bei der Autopsie, in grober 
Betrachtung, noch bei mikroskopischer Durchmusterung findet sich 
eine irgendwie zum gelben Fieber in Bezug stehende Alteration. 
Ich drücke mich derart aus, weil man bisweilen Milzhypertrophie 
begegnet; indess sind dies Ausnahmen und die Residuen abge¬ 
laufener Malaria. 

Hieran möchte ich eine kurze Betrachtung Uber das Blut 
anschliessen. Während meiner früheren ärztlichen Thätigkeit 
habe ich in nur wenigen Fällen eine Blutuntersuchung unter¬ 
lassen und dadurch mir an einem nicht unbedeutenden Material 
eine Ansicht Uber die Blutbescbaffenheit bilden können, die mir 
gestattet, bei den Arbeiten der letzten Jahre von der Repetition 
dieses Theiles abzusehen. Am Krankenbette kann man namentlich 
im Anfang der Krankheit differentell diagnostische Schwierig¬ 
keiten haben, ob es sich um Gelbfieber oder Malaria handelt; 
eine Fahndung auf Plasmodien im Blute ist dann von grösster 
Wichtigkeit. Diese Protozoen finden sich bei gelbem Fieber nie 
im Blute, wie Uber überhaupt diese Krankheit und Malaria zwei 
ganz differente pathologische Zustände sind, trotz mancher schein¬ 
baren Analogie. Es hat ja etwas Verführerisches im Blute das 
eigentliche Gelbfieberagens zu suchen. In den nach den modernen 
Methoden hergestellen Trockenpräparaten von Gelbfieberblut finden 
sich leider auch keinerlei Anhaltspunkte; weder Protozoen noch an- 


1) Vorstehender Aufsatz ist die Ausarbeitung eines Vortrages, welcher 
auf der 1. mitteldeutschen Neurologen- und Psychiatenversammlung zu 
Leipzig am 25. April d. J. gehalten worden ist. 


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14. Juni 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


dere den Spaltpilzen angehörige Mikroorganismen werden ange¬ 
troffen. Wir constatiren gleichzeitig ein Wohlerlialtensein der 
rothen Blutkörperchen, desgleichen der weissen; wir finden keiner¬ 
lei Verschiebung im Verhältnis der rothen Blutkörperchen zu 
den weissen. Ein Ausflösen von Blutkörperchen, Bildung von 
Blutplatten ist mir nicht begegnet. Solches ist merkwürdiger¬ 
weise oft von Autoren behauptet worden, die dann auch Haemo- 
globin im Serum constatirt haben wollen. Daraus folgten dann 
die Schlüsse, dass man beim Gelbfieber es mit einem haematogenen 
Icterus zu thun habe, dass ein wesentlicher Factor in der Pa¬ 
thologie die Blutzersetzung sei. Wir müssen da sehr wohl unter¬ 
scheiden zwischen der Beschaffenheit des Blutes in vivo und der 
der Leiche. Bei lebenden Patienten habe ich in den verschiedenen 
Stadien der Krankheit kleinere und grössere Mengen Blut ent¬ 
zogen. Die Farbe derselben bot nichts Auffallendes dar und 
wenn ich das Blut sofort im Reagensglase centrifugirte, so schied 
sich ein deutlich icterisch gefärbtes Serum ab. Wird dieses Serum 
abgehebert, verdünnt und spectroskopisch untersucht, so zeigt sich 
anch nicht die minimalste Andeutung von Haemoglobin, dagegen 
gelingen alle chemischen Reactionen auf Gallenfarbstoff. Diese 
Gallenfarbstoffe befinden sich im Blute schon sehr frühzeitig, 
längst bevor dieselben an anderer Körperstelle, oder im Ham 
sichtbar oder chemisch nachweisbar wurden. Die Gerinnungs¬ 
fähigkeit des frischen Blutes ist, abgesehen von seltenen Fällen 
mit der Tendenz zu starken Haemorrhagien, nicht oder nur in 
geringerem Grade herabgesetzt. Das Blut der Leiche ist zu¬ 
weilen bezüglich seiner Gerinnbarkeit nicht verändert. Für ge¬ 
wöhnlich ist das Blut dünnflüssiger, oft ist die Gerinnung wesent¬ 
lich verzögert und bleibt ganz aus. Dies und auch die veränderte 
Blutfarbe, die schmutzig braunroth ist, dürfte wohl durch die 
Kohlensäureüberladung bedingt sein, jlenn der reguläre Tod beim 
Gelbfieber erfolgte unter schwerer und langdauernder Dispnoe. 
Für meine, auf die Gelbfieberursache gerichteten Bemühungen, 
habe ich das Leichenblut nicht weiter verwerthet, denn was sich 
im Blute des Erkrankten oder Moribunden nicht nackweisen lässt, 
bietet auch im Cadaver keine Chancen nachweisbar zu sein. Ana¬ 
tomisch wie bacteriologisch waren die Untersuchungsresultate in 
dieser Hinsicht negativ. 

Der Digestionstractus ist beim gelben Fieber stets in Mit¬ 
leidenschaft gezogen. Die Ausdehnung des Magens und Dünn¬ 
darms ist schwankend; gewöhnlich sind die Organe im mittleren 
Grade aufgetrieben; aber man trifft sie auch ziemlich collabirt. 
Die seröse Oberfläche ist zuweilen etwas stärker injicirt, zumeist 
jedoch anämisch, hellgrau. Ist der Dünndarm in toto oder in 
einzelnen Abschnitten etwas ausgedehnt, so schimmert ein bläu¬ 
lich dunkler Hintergrund durch die Wandungen hindurch. Bei 
der Eröffnung findet sich neben Gasen jener eigenthümliche In¬ 
halt, der schon im Leben sich als sog. „schweres Erbrechen“ 
verrathen hat, und bekanntlich modificirtes Blut ist. Der Con- 
sistenz nach macht dieser blutige Inhalt des Magens die ganze 
Scala von wässriger Beschaffenheit bis zu der eines dicken Breies 
durch; die Menge schwankt zwischen etwas Uber '/ 2 Liter bis 
zu einem Esslöffel. Auch in Fällen, wo es im Leben nicht zum 
Bluterbrechen kam, findet sich dieser besondere Mageninhalt. 
Gleiche Massen erfüllen für gewöhnlich das Duodenum. In den 
übrigen Theilen des Dünndarms sieht man in der totalen Aus¬ 
dehnung einen blutig oder durch Blutderivate gefärbten Inhalt 
von verschiedener Consistenz oder dieser Befund lässt sich nur 
strecken weis machen und zwar derart, dass bereits an ein¬ 
zelnen Stellen der Darminhalt ein normales Colorit angenommen 
hat und dann zeigen sich wieder durch Blutpigraent veränderte 
Massen. Ebenso verschiedenartig ist der Dickdarminhalt, der 
alle Uebergänge von theerartiger Beschaffenheit bis zu normal 
gefärbten und geformten Fäces darbietet. Erwähnt sei, dass 


527_ 

es mir nie begegnet ist, dass der Danninhalt in der beschriebenen 
Weise verändert war, ohne dass sich der blutige Inhalt im 
Magen und Duodenum befand, wohl aber häufig das Umgekehrte. 
Andererseits habe ich zu constatiren, dass in einigen wenigen 
Fällen, die sich im Leben als Gelbfieber kennzeichneten, und 
wo sich nach dem Tode auch in den Organen die dieser Krank 
heit zukommenden Veränderungen fanden, der Mageninhalt von 
katarrhalisch-schleimiger, biliöser Beschaffenheit war. 

Die Betrachtung und Untersuchung der Schleimhaut des 
Digestionstractus giebt eine natürliche Erklärung der Enteritis¬ 
befunde. Da die Veränderungen, welche sich auf der Schleim¬ 
haut des Dünndarms resp. des Colons, theils in grösserer, zu¬ 
sammenhängender Ausdehnung, theils inselförraig zeigen, caeteris 
paribus denen gleichen, die sich auf der Schleimhaut des Magens 
und Duodenums finden, so genüge es, diese hier zu besprechen. 

Die Erkrankung der Magenschleimhaut, soweit sie makro¬ 
skopisch sichtbar ist, betrifft den Fundus und besonders den 
Pylorustheil, und erstreckt sich weiter auf das Duodenum. Sie 
kennzeichnen sich durch eine Schwellung und eine intensive 
arborisirte Röthung, in der kleine und kleinste hämorrhagische 
Pünktchen sichtbar sind. Aber auch der übrige Theil der 
Schleimhaut ist gelockert und geschwollen. Mikroskopisch sehen 
wir in den schwächer und stark erkrankten Partien das Epithel 
zerstört und in feinkörniges Material verwandelt. Die Zellen der 
Magen- und Darmdrüsen sind in gleicher Weise, wie bei der 
Leber und der Niere, parenchymatös getrübt und fettig degene- 
rirt, bei gleichzeitigem Zugrundegehen des Kerns. Zwischen den 
Drüsenschläuchen trifft man hämorrhagische Herde, die sich in 
glücklich ausgefallenen Schnitten in ihrem Zuge an die Ober¬ 
fläche hin verfolgen lassen. So ist denn also unsere anatomische 
Ausbeute trotz der für die uns interessirende Krankheit so her¬ 
vorragenden Veränderungen, die sowohl den Inhalt, wie die 
Gewebsbestaudtheile des Verdauungscanals betreffen, wiederum 
schwere parenchymatöse Trübung und Hämorrhagien. 

Schwellung der solitären, wie Peyer’schen Follikel habe 
ich oft gesehen, nie einen Zerfall derselben. Ebenso sei er¬ 
wähnt, dass die Mesenterialdrüsen stets etwas geschwollen und 
hyperämisirt sind. 

Ziehen wir aus diesen anatomisclieu Untersuchungen ein 
Kesum6, so lautet es dahin, dass wir zwar Uber die Eigen¬ 
heiten und für sehr viele symptomatische Erscheinungen des 
gelben Fiebers recht werthvolle Aufklärungen erhalten aber Uber 
die Infectionsquelle und Infectionsursache resultirt daraus nichts. 

Neben diesen anatomischen und mikroskopischen Unter¬ 
suchungen, die auf die pathologischen Veränderungen gerichtet 
waren, betrieb ich natürlich auch eine Durchforschung der Or¬ 
gane und Gewebe nach bacteriologischer Richtung hin. Es ist 
selbstverständlich, dass ich stets danach trachtete, ganz frisches 
Material zu erlangen, mit ganz besonderer Sorgfalt bemühte ich 
mich, wenn es mir auf culturelle Zwecke ankam, vor dem Ab¬ 
leben der Kranken zur Stelle zu sein, um bald nach dem Tode die 
Section vorzunehmen. Besonders in der diesjährigen Saison habe 
ich nie Leichen verwerthet später als 2 Stunden nach dem Tode. 

Nach Analogie bei anderen Krankheiten hatte es gewiss 
seine Berechtigung, anzunehmen, dass eventuell existirende 
Mikroorganismen von dem eigentlichen Infectionsort aus im 
Körper verbreitet würden und sich demgemäss in irgend welchen 
Organen auffinden lassen müssten. Es wäre unendlich viel ge¬ 
wonnen, wenn ein Fund dieser Art sich realisirt hätte. Seit 
ich mich mit der Untersuchung des gelben Fiebers beschäftige, 
hatte ich bei der mikroskopischen Untersuchung dieses Z;cl vor 
Augen und mit wesentlicher Inteusität betrieb ich diese Examina 
im vergangenen Jahre. Es wurden frische Gewebsausstriche an¬ 
gefertigt und gleichzeitig Organstückchen in absolutem Alkohol 


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528 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 24. 


gehärtet und dann die Gewebsschnitte untersucht. Alle mög¬ 
lichen Färbungsverfahren, von den einfachsten bis den com- 
plicirteren und für besondere Zwecke empfohlenen wurden heran- 
gezogeu; ebenso wurden Modificationen vorgenommen, sowohl 
was die Zusammensetzung der Farbstofflösungen als die Zeit¬ 
dauer der Anwendung derselben betrifft. Es wurden untersucht 
Herzmuskel, Lunge, namentlich natürlich Leber, Gallenblasen¬ 
wand, Niere, Milz, MesenterialdrUsen, von Hautstückchen be¬ 
sonders solche, die von Petechien betroffen waren, vereinzelt 
auch Stückchen des M. rectus abdom., der bisweilen von kleinen 
hämorrhagischen Herden durchsetzt ist, Nebennieren und das 
Ganglion coeliacum. Es ist keine Unbescheidenheit und Ueber- 
treibung, wenn ich berichte, dass ich diese Untersuchungen mit 
der nur denkbarsten Ausdauer, die bis zur physischen Er¬ 
schöpfung führte, durchgeführt habe. Das Resultat dieser Riesen¬ 
arbeit fiel mit Bezug auf den Fund eines Mikroorganismus 
negativ aus und ich gedenke heute noch mancher getäuschten 
Hoffnung. Diesen ungünstigen Ausfall hätte ich eigentlich vor- 
au8sehen können, denn ich weiss und habe dabei mitgeholfen, 
dass hervorragende Pathologen und Bacteriologen ersten Ranges 
sowohl von Brasilien wie von anderen Gegenden, wo Gelbfieber 
vorkommt, in den Besitz geeigneten Untersuchungsmaterials ge¬ 
langten und wäre es möglich gewesen, einen Gelbfiebermikro¬ 
organismus mit Hülfe der mikroskopischen Technik zu erkennen, 
so wäre derselbe sicherlich schon längst entdeckt. 

Recht häufig habe ich natürlich auch Magen- und Darm- 
stückchen untersucht; hier fand ich ausnahmslos Mikroorganismen 
der Oberfläche eingelagert und auch solche, die in die schlauch¬ 
förmigen Drüsen eingedrungen waren. Ich komme später noch 
auf diese zurück. Dieser Befund war natürlich nicht über¬ 
raschend und konnte nicht als Wegweiser dienen, denn irgend 
welche specifischeDifferenzirung eines besonderen Mikroorganismus 
war a priori nicht ersichtlich. 

Unter solchen Verhältnissen gestaltete sich die weitere Ar¬ 
beit zu einer bacteriologischen, um mit Anwendung des Cultur- 
verfahrens das Weitere zu versuchen, ohne bestimmte Anhalts¬ 
punkte mussten aufs Geradewohl sämmtliche Organe und Sub¬ 
stanzen durchprobirt werden. Der Gedanke, im Magen- und 
Darminhalt den specifischeii Gelbfieberkeim zu suchen, liegt nahe, 
zumal in Anbetracht der Erfahrungen bei Cholera asiatica. Auch 
die klinischen Erfahrungen unterstützen diese Vermuthungen. 
Der Beginn des gelben Fiebers erfolgt zumeist mit gastrischen 
Erscheinungen und die Erkrankung des Magen- und Darmcanals 
zieht sich wie ein rotlier Faden durch den ganzen Krankheits¬ 
verlauf. Die schwierige und umständliche Arbeit einer bacterio- 
logisclien Durcharbeitung des Magendarminhalts wollte ich gern 
umgehen und erhoffte von einer Verarbeitung der hauptsächlich 
ergriffenen Organe vielleicht ein bacteriologisches Resultat, ob¬ 
gleich ein anatomischer ausgeblieben. Indessen die Aussaaten 
von Substanz der Leber-, Nieren-, Milz-, MesenterialdrUsen, 
Gallenblasenwand, von Blut und Galle auf Koch’schen Gelatine¬ 
platten blieben steril, besonders in den erst untersuchten Fällen. 
Späterhin bei Fortsetzung dieser Arbeiten habe ich dennoch bis¬ 
weilen das Auswachsen von Colonien beobachtet, die mir. iden¬ 
tisch zu sein schienen mit denen, deren Bekanntschaft ich auf 
anderem Wege machte. Diesen Keimen bin ich in all’ den ge¬ 
nannten Organen und Flüssigkeiten begegnet, freilich nur spora¬ 
disch, dann auch nur in geringer Anzahl und verschieden bald 
in dem einen, bald in einem anderen Aussaatmaterial, nie in 
allen zu gleicher Zeit. Grosses Vertrauen setzte ich auf diese 
Funde nicht, sie schienen mir aber im Zusammenhang mit dem 
gleich zu Berichtenden wohl beachtenswert!). 

(Fortsetzung folgt.) 


VI. Kritiken und Referate. 

Beitrag zur Pathologie und Therapie der Cataracta traumatica. 

Von Dr. Karl Rauschenbach in Schaffhausen. Inaug.- Dissert. 

Scbaffhausen, J. Bachmann 1897. 

Auf Veranlassung von l’rof. Dr. Schiess-Gemues und unter 
der Leitung von Prof. Mellinger behandelte der Verfasser an der 
Hand der Krankengeschichten der Baseler Augenklinik vom Jahre 1882 
bis 1895 die Lehre von der Cataracta traumatica. 

Nach einem historischen Ueberblick der einschlägigen Literatur 
vom Jahre 1892 — 95 bringt uns eine Reihe von Tabellen die wichtigsten 
Punkte der Krankengeschichten; im Anschluss daran werden Aetiologie, 
Symptomatologie, Dauer, Verlauf und Prognose, sowie die Therapie be¬ 
sprochen. Von letzterer ist die bei der Extraction traumatischer Cata- 
racte an der Baseler Augenklinik schon seit 10 Jahren angewandte 
Spülung der Vorderkammer mit der Undine hervorzuheben, wobei durch 
Entfernung der Linsenmassen das beste Sehvermögen erreicht würde. 
Im Allgemeinen glaubt Verf. den Satz aufstellen zn dürfen, dass opera¬ 
tive Eingriffe bei Cataracta träum, bo lange hinausznschieben seien, als 
noch entzündliche Erscheinungen bestehen, vorausgesetzt, dass nicht 
z. B. glaukomatöse Zustände eine Operation indiciren. 

Auch fand Verf, dass die traumatischen Cataracte in der weitaus 
grössten Mehrzahl der Fälle mit gleichzeitiger Perforation der Bulbus¬ 
hüllen zu Stande kommt, sowie dass bei träum. Cat. ohne Verletzung 
der Bulbushüllen, wenn keine Quetschung vorhanden ist, die optisch 
günstigsten Resultate zu Stande kommen. 

Die mit vielem Fleiss gefertigte Arbeit bildet einen in mannigfacher 
Beziehung interessanten Beitrag zur Lehre der traumatischen Cataracte. 


Grnndzüge der Augenheilkunde von Dr. Stilllug, Prof, an der 
Universität Strassburg. Mit einer Farbentafel u. 118 Figuren ln 
Holzschnitt. Wien n. Leipzig. Urban u. Schwarzenberg. 1897. 
(368 pag.) 

Das Lehrbuch beginnt mit einer sehr genauen und dennoch nicht 
zu umfangreichen Darstellung der Anatomie des Auges, wobei auch 
die histologischen und embryologischen Verhältnisse wohl berücksichtigt 
und durch zahlreiche sehr klare und instructive Abbildungen erläutert 
sind. In dem nun folgenden Cjpitel über physiologische und psy¬ 
chologische Optik entwickelt der Verfasser verschiedene von den 
bestehenden Hypothesen oft weit abweichende eigene Ideen nnd An¬ 
schauungen, wie z. B in der Lehre von den Farbenempflndungen. Er 
legt den Grund für die noch vielfach bestehenden falschen Anschauungen 
in die gänzliche Vernachlässigung der Erkenntnisstheorie, obwohl deren 
Hauptgrnndzüge schon längst von Kant entdeckt und späterhin von 
Albrecht Krause weiter au«gearbeitet seien, verbreitet sich jedoch 
hierüber in einer den Rahmen dieses Buches nahezu überschreitenden 
Ausdehnung. % 

Nun folgen UnterBnchungsmethoden und Functionsprü- 
fuugen, von welchen die eigene Art des vom Verfasser angegebenen 
Perimeters hervorznheben wäre. Unter den verschiedenen Rcfractions- 
bestimmungen findet auch die Skiaskopie eingehende Erwähnung. 

Bei den Anomalien der Refraetion finden wir des Verfasser« 
Ansicht über die Entstehung der Myopie. Die als Conus bezeichnete 
atrophische Sichel beruht nach seiner Anschauung auf der durch Muskel¬ 
zerrung von Seiten des Obliquus superior bedingten Verziehung der 
Wand des Scleralcanals, wodurch die äussere Wand des Ganalia opticus 
sichtbar wird und so gemäss den Gesetzen der Perspective das Bild 
einer weissen Sichel entsteht. Diese Muskelzerrung bezw. der Muskel¬ 
druck bei anstrengender Naharbeit bedinge die Vergrösserung des im 
Wachsthum befindlichen Organes im sagittalen Durchmesser. Die eigent¬ 
liche Anlage zur Myopie aber liege im Augenhöhlen- und somit im 
Scbädelbau, wodurch auch die Erblichkeit der Myopie nicht nur in der 
Familie, sondern in ganzen Volksstämmen ihre Erklärung finde. 

Daran reihen sich Motilitätsstörungen, Krankheiten der 
Orbita, Lidkrankheiten und Erkrankungen der Thränen- 
organe. Bei narbiger Strictur des Thränennasencanaies und gleich¬ 
zeitiger Eiterabsonderung empfiehlt Verf. ausser systematischer Sonden¬ 
behandlung, Injection von blanero Pyoctanin in I°/ #0 igen Lösung. 
Auch bei Conjunctivalkatarrh wendet Verf. Anilinfarbstoffe an. 
Bei leichteren Fällen lä-st er täglich einige Tropfen einer l°/» 0 igen 
Lösung von Pyoctaninum flavum (Accramin) einträufeln, bei stärkerer 
Eiterung nimmt erAethylpyoctanin in derselben Lösung oder 2®/ 0 ige9 
blaues Pyoctaninstreupulver. — Mit grosser Freude erfahren wir 
in demselben Abschnitte die jedenfalls einer reichen Erfahrung ent¬ 
springende Ansicht der Verfassers über Blennorrhoe-Behandlung. Auch 
er ist, wie allerdings erst wenige Autoren, zu der Anschauung ge¬ 
kommen, dass die Argentum-nitricum-Behandlung keinen specifischen 
Werth besitze und dass man mit sorgfältiger Reinlichkeit unter anti¬ 
septischen Cautelen mindestens ebenso weit komme. Jedenfalls ist diese 
Methode schon deshalb weitaus mehr zn empfehlen und namentlich für 
den praktischen Arzt auf dem Lande weit vortheilhafter, weil mit Argent. 
nitr. aus Mangel an Uebung meist entweder mit zu starken Lösungen 
oder gar bei unvorsichtiger Anwendung des Stiftes die Hornhaut verätzt 
und dadurch in sehr vielen Fällen mehr geschadet, wie genützt werden 
kann. 

Bezüglich der Therapie des Trachoms stellt Verf. auf dem Stand¬ 
punkte, dass man so lange wie möglich stark ätzend wirkende medi- 
camentöse Mittel meiden soll, dagegen • hätten sich Mann har t'aehe 


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\4. Jtini 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


529 


Kupfersalbe oder der Pagen Stecher 'sehe Kupferstift bewährt bei 
Pannus Einstreuung von 2 /„ blauem Pyoctaninstreupulver. 

Das blaue Pyoctanin finden wir ferner noch in der Therapie der 
Hornhautgeschwüre auch in der Form des Stiftes angewandt zur 
directen Aetzung des Geschwürbodens; bei Keratitis eczematosa zieht 
Verf. in leichten Fällen die gelbe Pyoctaninlösung vor, und wendet in 
schwereren das 2"/ 0 ige blaue Pulver an. 

Daran schliessen sich die Krankeiten der Linse und des Glas¬ 
körpers, sowie die Erkrankungen des Uvealtractus. Die verschie¬ 
denen Abbildungen der Veränderungen des Augenhintergrundes dürften 
ebenso, wie die im folgenden Capitel der Netzhaut- und Sehnerven- 
erkrankungen keineswegs den Anspruch auf gut gelungene Repro- 
ductionen machen. 

Die glaukomatösen Zustände werden in einem gesonderten 
Abschnitte behandelt. Nach Eiörterungen der wesentlichsten ätiologi¬ 
schen Momente des Glaukoms, bespricht Verf. das Zustandekommen des 
genuinen Glaukoms. Er ist der Ansicht, dass namentlich bei älteren 
Leuten in dieser Beziehung psychische Affecte eine nicht zu unter¬ 
schätzende Rolle spielen. Es werde nämlich dadurch der intraoeuläre 
Druck gesteigert, es komme zu einer Hypersecretion im senilen Auge, 
einerseits, bei mangelhafter Excretion in Folge der Sclerose andererseits. 

Als 15. und letztes Capitel werden die Operationen besprochen; 
in 18 Abschnitten werden die Hauptgrundzüge der Operationstechnik vor¬ 
geführt, Es ist auffallend, dass, während die Operationen am Lid und 
an der Umgebung des Auges durch zahlreiche Abbildungen illustrirt 
sind, Iridectomie, Staarextraetion etc. ohne jede bildliche Darstellung 
blieben. 

Es dürfte somit dieses Lehrbuch, welches eine Fülle eigener inter¬ 
essanter Ansichten und die Resultate mannigfacher eigener Unter¬ 
suchungen des Verfassers enthält, sich zwar weniger für Anfänger eignen, 
dagegen für solche, welche sich bereits etwas mit Ophthalmologie be¬ 
schäftigt haben, aufs wärmste zu empfehlen sein, da es hinsichtlich 
theoretischer Ansichten, wie praktisch-therapeutischen Maassnahmen gar 
vieles Neue und Interessante enthält. 

v. S.-München. 


Pag Sehen der Schielenden. Eine ophthalmologisch - physiologische 
Studie von Dr. Alfred Graefe. Mit 4 Figuren im Text und 
1 Tafel. Wiesbaden, Verlag von J. F. Bergmann, 1897. 

Die vorliegenden Untersuchungen A. Graefe’s bilden eine Ergän¬ 
zung seiner bekannten Arbeiten über Muskelbewegungen des Auges und 
über das Schielen, welche im Handbuche von Graefe-Saemisch, 
Band VI, und in v. Graefe’s Archiv, Band XI und XXXII, nieder¬ 
gelegt sind. Nach jahrelang fortgesetzten Untersuchungen steht Verf. 
noch heute auf demselben Standpunkte, den er damals einnahm, doch 
werden seine Behauptungen vielfach neu begründet und erweitert. 

Die Frage über das Sehen der Schielenden dreht sich vorzugsweise 
um die ßetheiligung des schielenden Auges am binocularen Sehacte. 
Verf. kommt zu dem Schlüsse, dass die Störungen der Schielenden be¬ 
ruhen auf Exclusion — in Abstufungen von beginnender, im Werden 
begriffener bis zu absoluter — oder auf Bildung neuer Identitätsverhält¬ 
nisse, oder auch einer Combination dieser beiden Vorgänge. Die ver¬ 
schiedenen Manifestationsformen jener Störungen sind bedingt durch die 
individuell verschiedenen Grade der Ausbildung der letzteren und die 
besondere Art ihrer etwaigen Combinationen. 

Die vieltachen feinen physiologischen Beobachtungen und Unter¬ 
suchungen, welche Graefe in vorliegender Abhandlung darstellt, ent¬ 
ziehen sich hier der Wiedergabe, zumal ihr Verständnis für den Unvor¬ 
bereiteten nicht leicht ist. Jeder jedoch, der an physiologischen Fragen 
Freude hat, wird Graefe’s Arbeit mit Interesse lesen, wenn auch nicht 
alle Ansichten des Verfassers unanfechtbar sind. 

A. Mooren: Die medicinisihe and operative Behandlung kurz« 
sichtiger Störungen. Wiesbaden bei J. F. Bergmann, 1897. 
135 8eiten. 

Die operative Beseitigung der Kurzsichtigkeit steht seit Fukala’s 
Veröffentlichungen und Dank der populären Behandlung dieser Frage in 
einer vielgelcsenen belletristischen Wochenschrift im Brennpunkte nicht 
nur des ophthalmologischen Interesses, Bondern auch der Laienwelt. 
Jeder Beitrag zur Lösung dieser noch schwebenden Frage muss daher 
dankbar begrüsst werden. 

Die Ursachen der erworbenen Myopie sind bekanntlich, ausser erb¬ 
licher Belastung, Schulbesuch, schlechte Beleuchtung, undeutlich und zu 
klein gedruckte Bücher, übertriebene Ansprüche an die Leistungen der 
Schüler, Lesen im Halbdunkel, vornübergeneigte Kopfhaltung beim 
Schreiben und langdauernde Erschöpfungszustände. Mooren pflichtet 
der Jetzt nicht mehr so allgemein wie früher anerkannten Ansicht bei, 
dass die erworbene Myopie stets durch Accommodationskrampf eingeleitet 
werde. Während leichtere Grade von Myopie im Alter stationär werden, 
sind die höheren und höchsten Grade progressiv. Letzteren drohen, 
nach Ansicht des Verf., die Gefahren intraoeularer Drucksteigerung, 
welche eintreten kann, wenn die rigide Sclera keine weitere Nach¬ 
giebigkeit, als die einmal erreichte gestattet, und des Auftretens von 
Netzhautablösnng, gegen welch’ letztere verschiedene Operationen — 
Einspritzung von Jodtinctur oder Kaninchenglaskörper — empfohlen sind, 
aber nicht dauernd helfen. Da nach Mooren in der Entwickelung der 
bösartigen Formen der erworbenen Myopie die accommodative Ueberan- 


strengung — wie gesagt — einen nothwendigen Factor ausmacht, so 
wird man nur dnreh Ausschaltung dieser Schädlichkeit den Process zum 
Stillstand bringen können. Die Operation, welche Verf. übt, besteht in 
der Eröffnung der Linsenkapsel mit dem v. Graefe’sehen Starmesser 
und Zerschneidung der Linse zu 3 / t ihrer Dicke. Nach Abfluss des 
Kammerwassers wird durch Reiben mit der Fingerspitze auf dem ge¬ 
schlossenen Auge der Zusammenhang der Kapsel mit der Linse mög¬ 
lichst gelockert. Nach einigen Tagen folgt die Extraction der Linsen¬ 
massen, die bisweilen bei stürmischer Quellung wenige Stunden nach 
der Discision vorgenommen werden muss. Der gewöhnlich günstige 
Heilverlauf kann durch das Auftreten cyklitischer und glaukoraatöser 
Erscheinungen gestört werden. In manchen Fällen sind Nachoperationen 
(Discision des Nachstars oder Iridotomie) nothwendig. Hochgradige 
Chorioidalatrophie spricht nach Mooren nicht gegen, sondern für baldige 
Operation, die Verf. auch bei Glaskörpertrübungen macht. Grundsätzlich 
operirt Verf. beide Augen und zwar möglichst in einer Sitzung. Den 
Zeitpunkt für die Operation hält Mooren für gekommen, wenn in einem 
frühen Lebensalter der Accommodationseinfluss aufgehört hat und nur 
noch Axenmyopie vorliegt. Verf. glaubt die Operation empfehlen zu 
müssen, da das Verfahren ein durchaus ungefährliches und immer von 
einer bedeutenden Besserung der centralen Sehschärfe gefolgt ist, die 
Fälle ausgenommen, bei denen die Zerstörungen im Inneren des Auges 
bereits zu weit vorgeschritten sind. Seit 1893 hat Mooren auf diese 
Weise 156 mal die Reifung einer intacten Linse vorgenommen. Die 
Myopie schwankte in den tabellarisch aufgeführten Fällen zwischen 2,0 

und 20,0 Dioptrien, die Sehschärfe zwischen — und Fingerzählen. In 

den meisten Fällen ist leider nichts über das Resultat bezüglich der 
Refraction und Sehschärfe vermerkt. 

Mit der Operation so geringer Grade von Myopie wie 2,0 D. steht 
Mooren bisher völlig isolirt da. Nach den Publicationen anderer Ope¬ 
rateure und den in der hiesigen Universitäts-Augenklinik gemachten Er¬ 
fahrungen ist vor der Operation so geringer Grade entschieden zu warnen. 
Die Operation ist nur dann von wirklichem Vortheil für den Patienten, 
wenn das operirte Ange nahezu emmetropisch wird, so dass es mit einer 
Convexbrille für die Nähe auskommt, während bei restirender Hyper- 
metropie 2 Convexbrillen, eine für die Nähe und eine für die Ferne, 
nothwendig sind, was die Patienten für keinen Vortheil gegen ihren 
früheren Zustand betrachten. Ueberhaupt dürfte sich der jetzt herrschen¬ 
den Richtung gegenüber eine Einschränkung der Operation empfehlen. 

O. Brecht. 


VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. 

Berliner medlcinlsche Gesellschaft. 

Sitzung vom 19. Mai 1897. 

(Schluss.) 

Fortsetzung der Discussion über den Vortrag des Herrn Henbner: 
Ueber Säuglingsernährung und Säuglingssplläler. 

llr. Auerbach: Herr Ileubner hat erklärt, dass entscheidende 
Versuche, welche Art der Säuglingsernährung die vorthoilhafteste sei, ob 
die mit einem Rahmgemenge oder mit stark oder weniger verdünnter 
Milch, noch nicht vorliegen. Entgegen dieser Behauptung möchte ich 
an die zahlreichen Beobachtungen erinnern, die ich am Anfang dieses 
Jahrzehnts als Arzt in einer grossen Milchsterilisirungs-Anstalt in Berlin 
zu machen Gelegenheit hatte. 

Im Verlaufe von 2*/* Jahren wurden an 4000 Kinder mit sterili- 
sirter Säuglingsnahrung — bestehend aus Kuhmilch, Zucker, Wasser und 
Rahm, in Flaschen für je eine Mahlzeit gefüllt — ernährt; sowohl be¬ 
züglich der Gewichtszunahme als auch bezüglich der Verdauung waren 
die Ernährungsresultate günstiger, als bei den üblichen Kuhmilch- 
raischungen. Auch konnte die Concentration der Milchrahm-Wasser¬ 
mischungen erheblich stärker sein, als Kuhmilch nach den Vorschriften 
von Henoch verabreicht wird. So vertragen die Kinder vom Beginn 
des zweiten Altersquartals bereits die Mischung 1:1. Die guten Er¬ 
folge erklären sich leicht daraus, dass sowohl durch die stärkere Con¬ 
centration der Nahrung, als besonders durch die Beifügung von Rahm 
(ca. 25 pCt. Fett enthaltend) die Einverleibung derselben Anzahl Calo- 
rien möglich wurde, wie bei natürlicher Ernährung mit Muttermilch. 
Dabei betrug die Flüssigkeitsmenge pro Tag im ersten Halbjahr höch¬ 
stens 1200 ccm, im zweiten Halbjahr wurden 1400 ccm selten über¬ 
schritten. 

Herr Prof. Gaertner in Wien hat vor einigen Jahren unter dem 
Namen Fettmilch das Rahmgemenge wieder aufgenommen, und von 
vielen Seiten werden dieselben günstigen Resultate mitgetheilt, wie ich 
sie mit den Produkten meiner Milchsterilisirungs-Anstalt gehabt habe. 
Meine Beobachtungen sind ausführlicher berichtet im Januarheft der 
Therapeutischen Monatshefte 1895. 

Hr. Moses: Ich werde mich nicht mit der Säuglingsernährung be¬ 
schäftigen, so wichtig das ja auch für die Pflege ist, sondern vorwiegend 
mit der Säuglingsspitalfrage und der Säuglingsasylfrage. Ich sehe mich 
dazu veranlasst durch meine. Stellung an Instituten der Stadt, welche 
besonders bestimmt Bind, der Pflege der Säuglingsasyle zu dienen. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 24. 


530 


Aus den Mittheilungen des Herrn Vortragenden Prof. Heubncr ist 
wohl neben anderen wichtigen das ausserordentlich bedeutsame Factum 
hervorzuheben — eine Thatsache, die allerdings von sehr vielen Säug¬ 
lingsspitälern bekannt ist — dass die Mortalität in geschlossenen An¬ 
stalten, in Krankenanstalten, bei Säuglingen, besonders während des 
ersten Lebensjahres, eine sehr hohe, ja man kann sagen, eine schrecken- 
erregende ist. Die Mortalität, die uns Herr Prof. Heubner angegeben 
hat, bezieht sich wohl, wenn ich ihn recht verstanden habe, auf die 
Kinder bis zum zweiten Lebensjahre (Herr Heubner: bis zum ersten!) 
— also bis zum ersten Lebensjahre, und es waren 80 pCt., wenn ich 
nicht irre, angegeben (Herr Heubner: früher!). Also sie war zunächst 
vor langer Zeit nach der Beobachtung des Herrn Prof. Heubner auf 
80 pCt. angekommen; sie ist nach kurzen Versuchen desselben in einer 
Koch’sehen Baracke, bei einem verhältnissmässig kleinen Kranken¬ 
material reducirt worden auf 65 pCt.; er hoffe sie noch weiter anf 
50 pCt. herunterbringen zu können. Die Sterblichkeit der Säuglinge 
(bis zum ersten Lebensjahre), welche von dem Waisenhause in die 
Charite zur Pflege überwiesen wurden, ist vor etwa 8 Jahren auf 93 pCt. 
festgestellt. Nicht ganz so schlimme Verhältnisse hat die Kranken- 
station für chronisch kranke Kinder in der Waisenanstalt in Rummels¬ 
burg gezeigt. Ich habe in Veranlassung dieser hohen Mortalitätsziffer 
der Charite die Kinder aus dem Waisendepöt längere Zeit wegen chro¬ 
nischer Krankheiten, aber auch zuweilen wegen anderer, acuter Krank¬ 
heiten in die Waisenstation des Krankenhauses in Rummclsburg gelegt, 
aber auch dort trat die erschreckende Thatsache zu Tage, dass die 
Mortalität 83 pCt. betrug. Ich kann Ihnen dazu eine andere Thatsache 
binzufiigen, dass in der Anstaltspflege im städtischen Waisendepöt. einer 
Centralstation für Waisenpflege, die sich in der Alten Jakobstrasse be¬ 
findet, nach meiner als Arzt des Waisenhauses gewonnenen Erfahrung, 
Säuglinge trotz aller guten hygienischen Verhältnisse, trotz Soxhlet- 
emährung mit vorzüglicher Kuhmilch, trotz grosser Reinlichkeit und 
gewissenhafter Wartung der Säuglinge, trotz grosser Pflegeräume, ge¬ 
sunder Lage derselben nach einem freien Platz und Parke hin, vorzüg¬ 
licher Betten und Bettinhalts, trotz der Möglichkeit, schwer kranke 
Säuglinge bis znr Ueberfiihrnng in ein Krankenhaus vorübergehend zu 
isoliren, bei längerem Aufenthalt in dieser Durchgangsstation auch 
ein verhältnissmässig schlimmes Verhalten zeigen: ihre Kräfte nehmen 
nicht zu und gelegentlich werden sie in Folge längeren Aufenthaltes 
auch krank. 

Gegenüber diesen thatsächlichen Vorgängen in einer geschlossenen 
Anstaltspflege, sei es in Säuglingsabtheilungeu von Kranken¬ 
häusern, sei es in einem Säuglingsdepöt (Säuglingsasyl), ent¬ 
steht wohl mit Recht die Frage, ob es überhaupt richtig ist, in den 
Vordergrund der Fürsorge für kranke Säuglinge die Frage der Spital¬ 
behandlung zu stellen, ob es nicht vielmehr angezeigt ist, die Fürsorge 
der Zukunft dahin zu richten, die. Spifalbehandlnng auf ein möglichst 
geringes Maass zu beschränken, ob nicht vielmehr die Commune 
die Aufgabe hat, diesem letzten Ziele ihre besondere Aufmerksamkeit zu- 
zmvenden. Ich bin der Ansicht, dass es nicht im Vordergründe der Be¬ 
trachtung heute zu stehen hat, neue Krankenspitäler für Säuglinge 
herzustellen, sondern zu fragen, ob cs überhaupt richtig ist, so viele 
kranke Kinder in ein Krankenhaus zu verlegen. Die heutige Aeusse- 
rung des Herrn Baginsky, dass gesunde Säuglinge in Einzelpflege, 
kranke direkt in ein Krankenhaus geschickt werden sollen, ist wohl 
dahin richtig zu stellen, dass es sich nur um schwerkranke Säuglinge 
handelt. (Zustimmung des Herrn Baginsky.) Es wird die Aufgabe 
sein, sich die Frage vorzulegen: ist es nicht möglich, die Krankenhäuser 
für Säuglinge, die vielen für Säuglingspflege eingerichteten, ziemlich 
zahlreichen Krankenhäuser der Stadt, des Staats und Privat¬ 
krankenanstalten von der Säuglingspflege zu entlasten? Ich 
meine, das ist zu bejahen. Herr Heubner ist schon der Commune 
aus eigener Initiative in dieser Frage entgegengekommen, um die Kinder 
angesichts der enormen Sterblichkeit in der Charite und der ungünstigen 
Verhältnisse einer Anstaltspflege möglichst bald, ja noch im Sta¬ 
dium der Besserung einer Krankheit, aus der Krankenhaus¬ 
pflege in die Einzelpflege über zu führen. Es ist seiner Anre¬ 
gung zu danken, dass die Stadt etwas grössere Opfer bringt für die früh 
aus der Charite in Einzelpflege übergefiihrten Säuglinge — ieh darf 
wohl hinzufügen, dass gerade die Commune der Frage der Säuglings¬ 
pflege seit Jahren die grösste Aufmerksamkeit in der Waisenverwaltnng 
zuwendet — seiner Anregung ist zu danken, dass die Stadt sich bereit 
erklärt hat, um die Sterblichkeit der Kinder hcrabzusetzen, den Pflegesatz 
von 6 Thalern auf 10 Thaler zu erhöhen für die Pflege der Säuglinge, 
welche ans der Charite direkt in Einzelpflege treten. Neben dieser Ent¬ 
lastung der Krankenanstalten durch frühzeitige Entlassung in Einzelpflege 
von ihrer Pflege anvertrauten kranken Säuglingen müsste vor allem der 
Zugang von kranken Säuglingen in Spitalpflege ganz ausser¬ 
ordentlich eingeschränkt werden; er müsste wegen der Sterblich¬ 
keitsgefahr für Säuglinge in Krankenhäusern möglichst vermieden werden. 
Nur in den dringendsten Fällen, in vereinzelten Krank¬ 
heiten, welche überhaupt in der Privatpflege nicht zu behandeln, mit 
Gefahr für die Umgebung verbunden sind, müsste die Krankenhauspflege 
in Anspruch genommen werden. Es sollte die grosse Zahl von gering 
oder schwer erkrankten Säuglingen in der Einzelpflege bis znr Herstellung 
ärztlich behandelt werden. Ich befinde mich da in ausserordentlichem 
Gegensatz zu der Auffassung des Herrn Baginsky. Aber ich glaube 
doch, dass diese Erwägungen ira Vordergründe der Betrachtung Btehen 
werden, wenn es sich darum handelt, zu entscheiden, dass die 


Commune jetzt und in Zukunft die Aufgabe habe, ein nenei 
Säuglingsspital zu gründen. Allerdings ist dazu nötbig, nm mein 
vorgc.stelltes Ziel zu erreichen, dass die Dotation der Pflegestelleo 
wesentlich erhöht wird, und zwar für den Fall, wenn Krank¬ 
heit bei Säuglingen zu Tage tritt. Es ist dann eine zweite An¬ 
forderung, dass die Aufsicht in der Pflegestelle von einem Arzt 
geübt wird neben den Organen der Waisenpflege und anderen, freiwilligen, 
damit er das gesunde Kind mit überwacht und rechtzeitig bei einer 
Erkrankung einschreitet, andererseits bei schwerer Erkrankung die ärzt¬ 
liche Behandlung oft bis zur Heilung führen kann. 

Mit der Entlastung der Krankenanstalten durch frühe Entlassung in 
dem zweiten Vorschläge wird dann nicht mehr bezweifelt werden, dass 
die vielen vorhandenen Krankenanstalten, die städtischen: Kranken¬ 
haus Moabit für Säuglinge mit Mutter, Krankenhaus Urban, Krankenhaus 
Friedrichshain, KrankenBtation für chronische Kranke im Waisenhause 
zu Rummelsburg für. Kinder über 1 Jahr alt, die staatlichen: Charite, 
und endlich die privaten Anstalten: Bethanien, Kaiser und Kaiserin 
Friedrich-Kinder-Krankenhaus (in den drei letzten Anstalten Anfnahme 
von Säuglingen, bis 1 Jahr, ohne Mutter), — dass alle diese Anstalten 
vollauf in Zukunft für die Zwecke der Säuglings-Kranken- 
hauspflege genügen. 

Es lehrt die Erfahrung, dass die Einzelpflege der einzig richtige 
Weg ist, um die Gesundheit der Kinder zu fördern. Die Einzelpflege 
in Berlin wird vorgesehen theils von den commuDalen Behörden, theils 
vom Staate durch die Polizei. 

Was thut die Stadt nun in der Säuglingsfragc? Es sei mir ge¬ 
stattet, darauf etwas einzugehen. 

Vorsitzender: Ich muss aber doch bemerken, dass wir hier un¬ 
möglich die städtischen Verhältnisse zum Gegenstände einer speciellen 
Erörterung machen können. Dann würden wir wochenlang womöglich 
discutiren können. Wir müssen doch auf den allgemeinen Verhältnissen 
basiren, nicht auf den städtischen. 

Hr. Moses: Ja, es ist aber gesagt worden, dass die Stadt sich in 
der Einzel pflege nicht genügend für diese Frage interessirt. Deswegen 
glaubte ich. dass ich darauf eingehen sollte. 

Vorsitzender: Ja, wenn Sie das ausführen wollen — das wird 
sehr interessiren — so will ich das gern gestatten. Aber wir können 
doch nicht alle Einzelheiten der Verhältnisse erörtern. 

Hr. Moses: Ich wollte nur darauf hinweisen, dass die Stadt sich 
in ausserordentlichem Maasse um die Einzelpflege kümmert, dass die 
Waisenverwaltung in fürsorglichster Weise Einzelpflege überwacht, wenn 
sie sie auch nicht von einem Arzt überwachen lässt, doch ihre Schuldig¬ 
keit thut. Die Stadt hat ausserdem schon jetzt einen Fortschritt in der 
Einzelpflege ausserhalb Berlins durch ihre Bemühungen zu verzeichnen, 
indem sie in einzelnen Städten, wo eine grössere Zahl von Säogiingen 
von ihr untergebracht ist, sogar bewirkt hat, dass ein Arzt die Aufsicht 
Uber die in Einzelpflege untergebrachten gesunden Zöglinge führt, in 
Charlottenburg, in Köpenik, in Guben, in Fürstenwalde und in anderen 
kleinen Städten in der Nähe Berlins. 

Die Säuglingspflege, sowohl in dem städtischen Säuglingsasyl (das 
Waisen-Asyl in der Alten Jacobsstrasse) wie in der Einzelpflege für ge¬ 
sunde und kranke Kinder bildet in der Waisenverwaltnng den vorzüg¬ 
lichsten Theil ihrer schwierigen Thätigkeit. In der, auch in Öffentlichen 
Verhandlungen der Waisenräthe fortgesetzt gezeigten Fürsorge für die 
Haltekindcrfrage, steht die Säuglingseinzelpflege im Vordergründe 
ihres Interesses. 

Weiter wäre zu wünschen, dass die Frage der unehlichen Kinder 
besser vorgesehen würde, sowohl seitens des Staates, wie auch seitens 
der Gemeinden, und dass auch die Aufsicht in Bezug auf die von der 
Polizei untergebrachten Kinder nicht allein den Polizeiorganen über¬ 
wiesen, sondern mit ihnen auch einem Arzte. 

Nun habe ich noch ein paar Worte über das Centraldepot 
(Säuglingsasyl) zu sprechen. Wir besitzen bereits ein sehr grosses 
Centraldepot, ein sogenanntes Säuglingsasasyl in der Alten 
Jacobsstrasse und ein Depot (Säuglingsasyl in dem städti¬ 
schen Obdach). Hier hat die Stadt stets eine besondere Fürsorge für die 
Säuglingsfrage gezeigt, indem sie die Wöchnerinnen, welche in hilflosem, 
geschwächten Zustande aus den verschiedenen Entbindungsanstalten kurz 
nach der Entbindung Zuflucht mit Säuglingen im städtischen Obdach 
suchen, sowohl in Bezug anf ihren Ernährungszustand mit diätetischer 
Pflege zur Kräftigung eintrift, sie in arbeitsfähigem Zustande versetzt, 
aber auch mit finanziellen Mitteln unterstützt, damit sie wieder die erste 
Arbeit zu ihrer eigenen und der Säuglingserhaltung aufnebmen können. 
Im zweiten Hauptdepot, im Weisenhause befinden sich 1. Säuglinge, 
welche als Findlinge der Armenpflege durch die Polizei zngehen. 
2. wirklich verlassene Säuglinge, Waisen, 8. Säuglinge, welche von 
den Krankenhäusern überwiesen werden, wenn sie von den Müttern oder 
den Angehörigen nicht rechtzeitig abgeholt werden. Aber die Stadt hat 
auch nach anderer Richtung bereits einer ganz besonders humanen Für¬ 
sorge in dem Depot in der Alten Jacobstrasse getroffen, seit Jahresfrist 
mit Hilfe einer bedeutenden milden Stiftnng, dass sie 4. auch uneheliche 
Kinder, die von den Müttern in ihrer Noth dort abgegeben werden, einfach 
unter ihre Fittige genommen und von dort aus in Einzelpflege gegeben 
hat. Die zwei Säuglingsasjle (Depot im Waisenhaase und städtisches 
Obdach) genügen in ihrer jetzigen Einrichtung den Anforderungen und 
auch speciell das Depot im Waisenhause zeigt nur eine tägliche 


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531 


i U. Jiwi 1897. 


- Dutchschnittsfrequenz, einen täglichen Durchschnittsbe¬ 
stand von noch nicht 6 Säuglingen, trotzdem dorthin auch aus der 
* Einzelpflege viele Säuglinge bei eintretender Erkrankung von den Pflegern 
1 überwiesen werden. 4 /.-. Säuglinge sind gesund, 1 5 krank eingeliefert. 

Ich möchte das, was ich gesagt habe, in ein paar kurzen Sätzen 
zusammenfassen. 

1. Krankenhauspflege ist für Säuglinge wegen sehr grosser Sterb¬ 
lichkeit in derselben möglichst zu vermeiden. 

2. Bis auf vereinzelte Krankheiten ist der Pflege resp. Be¬ 
handlung bis zur Heilung in Einzel pflege zu bewirken. 

S. Friizeitige Entlassung der Säuglinge aus dem Krankenhause 
in Einzel pflege schon im Stadium der Besserung. 

4. Bessere Dotation der Pflegestelle bei Krankheit des Säuglings. 

5. Aufsicht der Pflegestellen durch einen Arzt, sowohl 
der communalen, als auch der von der Polizei ausgewählten. 

0. Für uneheliche Kinder haben Stadt und Gemeinde grössere Für¬ 
sorge eintreten zu lassen. 

7. Das Depot (Säuglingsasyl) sei nur Durchgangsstation, 
für einen möglichst kurzen Aufenthalt bestimmt. 

8. Ein neues, Königliches Krankenhaus liegt wegen der sehr hohen 
Sterblichkeit von Säuglingen in Krankenhäusern, und wegen der ganz 
unverhältnissmässig grossen Kosten nicht im communalen Inter¬ 
esse Berlins. 

Ich möchte noch eine Bemerkung machen. Es ist in der letzten 
Publication zur Säuglingskrankenpflege an grossen Städten (mit besonderer 
Berücksichtigung der Berliner Verhältnisse) von Herrn Baginsky, 
(Berliner klinische Wochenschrift 1897, No. 19) als besonderer Vorzug 
für die poliklinische Behandlung neben andern Vorzügen, die in derselben 
mitgetbeilt werden, erwähnt worden, dass eine gedruckte Unterweisung 
in Bezug auf die Haltung und Wartung der Säuglinge aus den Privat¬ 
polikliniken häufig den Pflegern der Säuglinge zur Nachachtung in die 
Hand gegeben wird, und nach dieser Mittheilung ist der besondere Wunsch 
ausgesprochen, dass auch die städtischen Anstalten diesem Vorgehen ent¬ 
sprechen mögen. Ich möchte tbatsächlich mittheilen, dass bereits lange 
bevor eine Privatpoliklinik für kranke Säuglinge im Kaiser und Kaiserin 
Friedrich-Kinder-Krankenhause existirt hat und lange bevor Herr Privat- 
docent Dr. Neumannn eine Privat Poliklinik leitet, — auf beide 
Privatpolikliniken wird in der Schrift hingewiesen — nach dieser Richtung 
vorgegangen ist, dass das städtische Weisenhaus bei Ausgabe von ge¬ 
sunden Kindern in Pflege jedesmal eine, solche gedruckte Anweisung 
für Haltung und Wartung der Säuglinge in gesundem und in krankem 
Zustande an die Pfleger ansgegeben hat; das ist bereits seit 10 Jahren 
in Gebrauch. 

Hr. Heubner (Schlusswort): Ich freue mich, dass der Gegenstand 
meines Vortrages so viel Interesse erregt bat, dass eine eingehende 
Discussion sich daran geschlossen hat. Man hätte ja zweifelhaft sein 
können, ob dieses Thema überhaupt in der Ausdehnung, wie ich es ge¬ 
fasst habe, für unsere grosse Gesellschaft ganz geeignet gewesen sei. 
Indess im Einverständniss mit unserem verehrten Herrn Vorsitzenden 
habe ich doch gerade hier die Frage einmal erörtern zu sollen geglaubt, 
ganz besonders mit Rücksicht darauf, dass eben jetzt in Berlin Unter¬ 
nehmungen, die in dieser Richtung Bich bewegen, geplant werden. Da 
empfahl es sich, dass wir Aerzte deshalb einmal darüber verhandelten, 
welche Vorstellungen sich zur Zeit über diesen Gegenstand auf Grund 
des Standes unserer Kenntnisse gewinnen lassen. Ausserdem war aller¬ 
dings auch mein stiller Wunsch, dass die Herren Collegen, die in den 
Behörden als Stadtverordnete und Stadträthe sitzen, für die Frage durch 
diese Discussion noch wärmer interessirt würden. 

Mein Vortrag sollte die Frage allgemein behandeln. In der Dis- 
cussion allerdings hat sie sich sehr stark auf die speciellen Berliner 
Verhältnisse zugespitzt. So eingehend konnte ich ja nicht werden, da 
ich zu viel Verschiedenes gewissermaassen in meinem Vortrage zusam¬ 
mengepackt hatte. Ich will nun nachträglich im Anschluss an das, was 
die Discussion gebracht hat, noch auf einige Einzelheiten eingehen. 

Die Ernährungsfrage will ich nicht berühren. Das sind ja lauter 
ganz bekannte Dinge, die Herr Baginsky in dieser Beziehung uns hier 
vorgerechnet hat. Ich habe die Eiweissfrage im Vortrage nicht ein¬ 
gehender berührt. Sie finden sie aber in meiner ausführlicheren Schrift 
behandelt. 

Was die Borsäure anlangt, so fasse ich sie ebensowenig wie Herr 
Ritter und Herr Baginsky als Sterilisationsmittel auf. Aber sie ver¬ 
hindert die Neuentwickelung von Bacterien, ist daher, weil nicht giftig, 
ein geeignetes Aufbewahrungsmittel reiner Gegenstände, eignet sich ja 
auch ganz wohl in der Privatpraxis. 

Was ich in Bezug auf unsere Spitalserfahrnngen hervorgehoben habe, 
ist, dass die Saugstöpsel nicht immer in reinem Zustande in die Lösung 
gelegt worden sind, dass der Dienst der Wärterinnen zu überlastet war, 
um diese Reinigung immer genügend sorgfältig vorzunehmen. Interessant 
war daneben gerade die Art der Verunreinigung mit Bacterium coli. 

In Bezug auf das Bacterium coli bin ich weder von Herrn Ba¬ 
ginsky noch von Herrn Ritter richtig verstanden worden. Ich habe, 
wenn ich nicht irre, selbst hervorgehoben: Wir wissen durchaus noch 
gar nicht, ob das Bacterium coli zu der Erzeugung der wichtigsten 
Darroerkrankungen des Säuglingsalters in aetiologischer Beziehung steht. 
Ich halte die Arbeiten, die bis jetzt darüber gemacht sind, nicht für 
genügend beweisend. Meine Ausführung ging aber dahin: so gut, wie 
das Bacterium coli von einem kranken Säugling auf einen gesunden 
mittelst des bi.-her üblichen Wärterinnendienstes übertragen werden kann, 


so gut können auch die noch unbekannten infectiösen Stoffe, wenn wir 
überhaupt solche annehmen wollen — und das scheint mir wenigstens 
zunächst eine ziemlich plausible Hypothese zu sein — auch durch Con- 
tactintection übertragen werden. 

Nun, in dieser Beziehung hat sich namentlich Herr Baginsky 
ziemlich wenig hoffnungsvoll über meine auf diese Untersuchungen ge¬ 
stützten neuen praktischen Maassnahmen ausgesprochen. Dagegen hat 
er uns ja mit sehr lebhaften Farben geschildert, wie trefflich die Ein¬ 
richtungen im Kaiger und Kaiserin Friedrich-Krankenhaus seien, um die 
Fürsorge für die Säuglinge bestens zu gestalten. Nun, ideal, paradiesisch 
ist aber der Zustand auch bei den Säuglingen des Herrn Baginsky 
nicht — trotz seiner 24 Windeln! Denn er klagt ja selbst über die 
steigende Säuglingsmortalität im Kaiser Friedrichs-Kinderkrankenhaus. 
Bei dieser Sachlage ist es zu weit gegangen, zu behaupten, mit der 
neuen von mir vorgeschlagenen Aenderung des Pflegerinnendienstee in 
der Säuglingsabtheilung sei keine Besserung zu erreichen. Wenn Herrn 
Baginsky’s Wärterinnen 24 Windeln bei jedem Säugling täglich weg¬ 
bringen, so ist das für manche Fälle noch gar nicht so übertrieben viel. 
Aber wenn er auch noch mehr Windeln wechseln lässt, bo werden die 
Hände der betreffenden Wärterinnen nur um so stärker infleirt werden, 
und um so mehr wird eben das, was ich als Contactinfection bezeichne, 
auch sich ereignen können. 

Herr Baginsky hat uns eingeladen, seine Einrichtungen uns an¬ 
zusehen. Ich lade ihn ein, meine Maassnahmen einzuführen, dann wird 
seine Trauer über die wachsende Mortalität vielleicht sich wieder min¬ 
dern. Ich kann versichern, dass wir seit der neuen Regelung des Dienstes 
unsere Säuglingsabtheilung mit einer gewissen Freudigkeit betreten, 
während wir früher fast immer mit einem gewissen Gefühl verlorener 
Liebesmühe an unsere Arbeit gingen. Aprioristische Redewendungen 
sind in dieser Frage ganz deplacirt. Erst prüfen, dann urtheilen! 

Von verschiedenen Seiten ist mir gesagt worden, dass mein Ver¬ 
langen so vieler Wärterinnen etwas Erstaunen erregt habe. Ich kann 
die Herren in dieser Beziehung beruhigen. Die von mir ausgesprochene 
Anforderung würde das Höchstmaass bei einem Musterinstitute darstellen 
— übrigens immer noch billiger als Ammenversorgung sein. Ich halte 
es aber für möglich, dass an der obigen Zahl bei zunehmender Erfahrung 
etwas abgelassen werden kann. 

Ich komme nun zur Frage der Säuglingsasyle. Auch liier kann ich 
mich durchaus nicht auf den Standpunkt des Herrn Baginsky stellen; 
vielmehr finde ich das, was Herr Moses als ihm vorschwebenden Plan 
angedeutet hat, viel beherzigenswerther. Mir scheint, dass die Ba- 
ginsky’schen Vorschläge sich ohne originelle Abänderung anlebnen an 
die Findelhausverhältnisse, wie sie in anderen Staaten, z. B. in Oester¬ 
reich bestehen. Diese sind auf unsere Anforderungen nicht übertragbar. 
Die Findelhäuser stehen in direkter Beziehung zu den Gebärhäusern und 
werden also in der That überwiegend mit gesunden Kindern bevölkert. 
In Berlin haben wir aber für die hiilflosen Kinder, die so zu sagen auf 
der Strasse liegen, Unterkunft zu schaffen. Dazu haben wir keine be¬ 
sonderen Anstalten, wie es die Findelhäuser darstellen, neben den 
Krankenhäusern nöthig. Denn ich frage jeden Erfahrenen: wie viel von 
diesen Berliner Säuglingen, die jetzt Versorgung heischend an die Thüren 
der Krankenhäuser pochen, sind überhaupt gesund? Sie sind fast alle 
kiank. Also cs wird sich gar nicht darum handeln, ein grosses Säug¬ 
lingsasyl mit einem complieirten Verwaltungsapparat einzurichten, das 
nun wieder mit den Krankenhäusern in Beziehung zu treten hätte, wo 
hin und hertelephonirt wird: Wie viel Betten hast Du? — Wie viel 
Betten hast Du? — Wo schicke ich das Kind hin? — Wo das hin? 
n. s. w. Das ist ganz und gar unpraktisch. Wohl aber brauchen wir, 
wegen der Nothwendigkeit einer speciellen Organisation der Säuglings¬ 
pflege, Anstalten für die hülflosen Säuglinge, die nicht mit den grossen 
Krankenhäusern in Verbindnng stehen, mag man sie nun Säuglingsasyle 
oder Säugling^hospitäler, Säuglingsstationcu oder sonstwie nennen. Das¬ 
jenige nun, worauf es dabei ankommt, ist zunächst, dass die Kinder so 
schnell wie möglich eine Unterkunft finden und deswegen ist mein Ge¬ 
danke, dass nicht ein grosses Asyl, sondern eine grössere Zahl von 
kleinen Asylen in Berlin geschaffen werden müsste. Die Stadt Berlin 
ist zu gross für eine solche Anstalt, abgesehen von dem Nachtheil der 
Anhäufung von 150—200 Säuglingen oder mehr in einem Hause, das ist 
meiner Ansicht nach schon an und für sich zu verwerfen. 

In jedem Stadttheil sollte mit der Zeit ein solches kleineres Asyl 
geschaffen werden, wohin die armen Mütter mit ihren Kindern nicht 
stundenweite Wege zurückzulegen haben. Die Aufnahme, nachdem ein 
Säugling hülflos geworden, muss so schnell und anstandslos als möglich 
sich vollziehen. Aber — und hier bin ich ganz der Meinung des Herrn 
Moses — auch die Entlassung des Säuglings aus dem Asyl, sobald es 
gesundet, oder überhaupt gekräftigt ist, muss nach möglichst kurzer 
Zeit möglich sein. 

Das aber wird nur durchzuführen sein, wenn jedes solche Asyl ge¬ 
wissermaassen das Centrum einer Organisation darstellt, von wo aus die 
Haltekinderpflege des Stadttheils, in dem das Asyl gelegen, in 
obligatorischer und behördlicher Form überwacht wird. 

Der Director jedes solchen Säuglingsasyls müsste auch die sämmt- 
lichen Haltekinder seines Bezirkes mit unter seiner verantwortlichen 
Direction haben, wobei er natürlich von Unterorganen unterstützt sein 
muss. Das im Kleinen bereits bewährte Verhältniss, welches der Di¬ 
rector der Charite-Säuglingsabtheilung zu seinen in Einzelpflege gegebenen 
Säuglingen des W'aisenhauses hat, müsste für ganz Berlin verallgemeinert 
werden. Dieses würde weder zu schwierig noch zu kostspielig sein. 


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m 


BERLINER KLINISCHE WOCllENSCÖRlET. 


Nb. 24. 


Es ist von den in dieser Beziehung schon bestehenden guten Einrich¬ 
tungen Berlins die Rede gewesen. Aber verdenken Sie es einem früheren 
Provinzialen nicht, wenn er auch einmal auf eine Einrichtung in einer 
Provialstadt aufmerksam macht, die der Nachahmung in der Reichshaupt- 
stadt werth ist. Das sind die Einrichtungen, wie sie in Betreff des 
Haltekinderwesens in Leipzig bestehen. Dies Ziehkinderwesen ist dort 
von einem ursprünglich als Armenarzt angestellt gewesenen Collcgen, 
Dr. Taube, in einer wirklich ausgezeichneten Weise organisirt. Ich habe 
schon verschiedentlich mit Berliner Collegen darüber gesprochen. Da 
wurde mir gewöhnlich enfgegengehalten: ja, das ist ja nichts für Berlin, 
die Stadt ist ja viel zu gross. Darauf erwidere ich: man theile Berlin 
in einzelne Bezirke, wie sie meinetwegen einer grossen Provinzialstadt 
entsprechen, und jeder einzelnen Bezirk ahme das nach, was Dr. Taube 
in Leipzig eingerichtet hat. Es würde viel zu weit führen — ich fürchte 
Rchon, ich habe die Erlaubnis missbraucht, die mir noch zusteht — 
Ihnen die Einzelheiten dieser Organisation mitzutheilen. Sie finden die¬ 
selben in einem buchhändlerisch zugänglichen Biichelchen von Taube: 
Schutz der unehelichen Kinder in Leipzig. Leipzig 1893. Ich will nur 
noch hinzufügen, dass die dortigen Einrichtungen vom sächsischen Minister 
des Innern in öffentlicher Landtagsverhandlung als mustergiltig be¬ 
zeichnet worden sind. 

Also eine organische Verbindung von an verschiedenen Stellen 
Berlins eingerichteten Säuglingsasylen mit der Einzelpflege unter der 
Direction des betreffenden Asyldirectors, das ist die Idee, die ich für die 
beste und praktischste halte. 

Ilr. Greeff: Ueber Gliome and Pseudogliome der Retina. 
(Der Vortrag wird unter den Originalien dieser Wochenschrift ver¬ 
öffentlicht.) 


VIII. Praktische Notizen. 

Bezüglich des Verhaltens der weissen Blutkörperchen bei Sarkomen 
herrscht bei den Autoren, welche solche Untersuchungen machten, inso¬ 
fern UcbereinBtimmung, als alle das Bestehen einer ausgesprochenen 
Leukocytose bei Sarkomkranken annehmen. Nur 2 Autoren, v. Li mb eck 
und Palma, berichten von Sarkomfällen, bei welchen die Leuko¬ 
cytose durch eine Zunahme der einkernigen Elemente des Blutes bedingt 
war. Dieballa (Wiener klin. Woehensehr. No. 22, 1807) theilt einen 
Fall von Sarcoma multiplex cutis mit, in welchem ebenfalls die 
Lymphocytenzahl absolut und relativ eine starke Vermehrung zeigte. 

Bremer (Centralbl. f. innere Med. 1897, No. 22) giebt Vorschriften 
zur Diagnose des Diabetes mellitus aus dem Blute mit Hülfe der 
Anilinfarben. Auf Objectträger wird das Blut in nicht zu dünner Schicht 
ausgebreitet und dieselben werden dann 10 Minuten lang auf 135 0 circa 
erhitzt. In lprocentiger wässriger Lösung von Congoroth ist nach 
1 ’/j—2 Minuten das Diabetespräparat nicht oder indifferent gefärbt, 
während Controlpräparate den congorothen Farbenton angenommen 
haben. Ebenso verhält sich Methylenblau. Bei Biebrichschar¬ 
lach ist gerade umgekehrt das Diabetespräparat gefärbt, die Control¬ 
präparate sind ungefärbt. In Ehrlich-Bion di’scher Farbmischung 
werden Diabetespräparate orange, andere Blutpräparate violett. 


Ueber typische Hornhauterkrankungen bei Anilinfärbern, 
die er unter 35 Arbeitern bei 18 feststellen konnte, berichtet Senn 
(C'orrespondenzbl. f. Schweizer Aerzte No. 6, 1897). Anfänglich treten 
kleine Epitbeldefecte auf, mit denen eine Färbung der Hornhaut Hand 
in Hand geht. Im Laufe von Jahren entsteht dann eine vollkommene 
Unterminirung des Hornhautepithels, eine tiefgehende Färbung und 
Trübung des Parenchyms, starke Herabsetzung der Sehschärfe. Die 
directe Ursache dieser eigenartigen Erkrankung scheinen die aus den 
Farbetrögen aufsteigenden heissen Dämpfe zu sein, welche Chi non e 
enthalten. Im Anfangsstadium der Krankheit ist ein Aussetzen der Ar¬ 
beit von Besserung gefolgt. Es muss in Anilinfabriken für eine prompt 
wirkende Ventilation gesorgt sein. 

Schon mehrfach ist auf die Gefahren hingewiesen worden, welche 
die intramusculäre Einverleibung der unlöslichen Hydrargyrumpräparate 
mit sich bringen kann. Schulze (Archiv f. Dermatol, u. Syphil., Bd. 39, 
H. 2) berichtet von einem Fall, in welchem kurz nach der Injection 
Symptome auftraten, welche wohl auf eine Lungenembolie zu deuten sind. 
Es sind schon mehrere ähnliche Fälle beobachtet worden (Lesser u. A.). 
Verf. räth mit Blaschko nach Einstich der Nadel erst abzuwarten, ob es 
blutet, und nur dann, wenn dies nicht der Fall ist, zu injieiren. 


Lemoine (Societe de biologie, l. Mai 1897) hat in 7 Fällen von 
Albuminurie nach Verordnung von Methylenblau in Dosen von 
0,2—0,5 egr pro die 3 mal ein Verschwinden des Eiweisses im Urin 
constatirt, 4 mal ein erhebliches Herabgehen des Albumengehaltes. 


Gellhorn (Therapeutische Monatshefte 1897, No. 5) hat bei Chlo¬ 
rose nach Anwendung von Mangan-Eisen-Pepton Gude in mehreren 


Fällen vorzügliche Erfolge gesehen. Er gab 3 mal täglich 1 Esslöffel 
und verordnete eine regelmässige Diät. Er ist der Anschauung, das» 
man dem Säurebedürfniss der Chlorotischen nicht nachgeben dürfe. 


IX. Tagesgeschichtliche Notizen. 

Berlin. Der Congress für innere Medicin ist am 9. d. M. 
eröffnet worden und hat unter reger Betheiligung, namentlich auch der 
auswärtigen Kliniker und Forscher, — es waren u. A. v. Ziem säen, 
Nothnagel, Curschraann, v. Lenbe, Riegel, Lichtheim, 
v. Mering, Mosler, Hitzig, Sahli, Vierordt, Ebstein, Rune¬ 
berg, Käst, R. Ewald, Kronecker, Stintzing, Romberg. 
Rumpf, Weigert, v. Jaksch, Benedict, Naunyn, Quincke, 
Behring, Unverricht, Bäumler, Schultze, Binswanger, 
v. Noorden, M. Schmidt anwesend — sein grosses Programm 
in angeregten Verhandlungen erledigt. Zn allgemeinstem Bedauern war 
freilich Herr v. Leyden, welcher den Vorbereitungen des Congresses 
die regste Sorgfalt gewidmet hatte, durch seine Berufung an das Kranken¬ 
bett des rumänischen Thronfolgers, verhindert, dem Congress persönlich 
beizuwohnen. Lebhaften Besuches erfreute sich die reichhaltige und 
sehr übersichtlich geordnete Ausstellung. 

— Herrn Priv.-Doc. Dr. Gustav Behrend, dem verdienstvollen 
Leiter der Abtheilung für venerische Krankheiten am städtischen Obdach, 
ist der Titel als Professor verliehen worden. 

— In Bezug auf den Internat, med. Congress in Moskau erfahren 
wir, dass der geplante Empfang in Petersburg erst nach dessen 
Beendigung stattflnden wird, es sind daselbst vom 28. August bis 
1. September verschiedene Festlichkeiten vorgesehen, unter denen wir 
erwähnen: 28. August: Empfang im Saale der Adelsversammlung; 

29. August: Empfang beim Kaiser bezw. beim Prinzen von Oldenburg. 

30. August: Eröffnung des Pirogoffmuseums. 31. August Ausflüge. 
Diese Mittheilung dürfte namentlich Interesse haben mit Bezug auf die 
vorherige Feststellung des Reiseplanes, die nothwendig ist, da die vom 
Moskauer Comite auszustellenden Freikarten die genaue Routenbezeich- 
nung enthalten müssen. — Wie weiter soeben bekannt gemacht wird, 
erstreckt sich die Vergünstigung freier Eisenbahnfahrt in Russland 
nicht auf die Damen der Mitglieder. 

— An der im October d. J. in Berlin tagenden internationalen 
Lepra-Conferenz werden im Aufträge des Cultusministers der Geheime 
Obermedicinalrath Prof. Dr. Skrzeczka und der Oberstabsarzt Prof. 
Dr. Kirchner theilnehmen. 


X. Amtliche Mittheilungen. 

Personal!». 

Auszeichnung: Rother Adler-Orden TV. Kl. m. d. Schl.: dem 
Direetor der Landes-Irren-Anstalt, Geh. Sanitälsrath Dr. Zinn in 
Ebers walde. 

Ernennungen: Dr. Burkarth in Empfingen zum Physikus des Ober¬ 
amts Haigerloeb; Dr. Plinke in Bleckede zum Kreis-Physikus des 
Kreises Bleckede. 

Versetzung: Kreis-Physikus Dr. Niemeyer in Huenfeld aus dem 
Kreise Huenfeld in den Kreis Neuss. 

Niederlassungen: die Aerzte Dr. Hartei in Erfurt, Dr. Hempel. 
Dr. Scharfe und Dr. Oertel in Halle a. S., Dr. Butsch kus in 
Allenberg, Simon in Königsberg i. Pr., Dr. Lange und Dr. Jen ekel 
in Göttingen, Dr. Engelhardt in Göttingen, Dr. Behr in Hildes¬ 
heim; in Halle a. S.: Dr. Hagemann, Dr. Ziegner, Dr. Franz. 
Dr. Jacob, Dr. Becher und Dr. Wallbaum. 

Verzogen sind: die Aerzte Dr. Wa 11her von Leipzig, Dr. Schwartan 
von Schwerin, Dr. Hecht von Heidelberg und Dr. Spiller von 
Thorn nach Göttingen, Dr. Bremme von Eichberg nach Liebenburg, 
Dr. Geist von Roda nach Liebenburg, Dr. Sülzer von Celle nach 
Holle, Dr. Wiegmann von Göttingen nach Hildesheim, Dr. Polzin 
von Hildesheim, Dr. Humpf und Dr. Lange von Göttingen, Dr. 
Dreser von Göttingen nach Elberfeld, Dr. Zeroni, Dr. Lau pp und 
Dr. Hildebrandt von Göttingen, Dr. Weiss von Göttingen nach 
Königsberg i. Pr., Langhinricb von Jena nach Jork, Dr. Scholz 
Ober-Stabsarzt von Verden nach Glogau, Ober-Stabsarzt Herrmann 
von Diedenhofen nach Verden, Ass.-Arzt Dr. Schulz von Thorn nach 
Gumbinnen, Stabsarzt Dr. Richter von Gumbinnen nach Giessen, 
Dr. Kuwert von Tilsit nach Bad Nauheim,- Stabsarzt Dr. Bo eck 
von Lyck nach Königsberg i. Pr., Dr. Köhler von Weilburg nach 
Lyek, Dr. Grote von Allenberg nach Königsberg i. Pr., Stabsarzt 
Dr. Kauenhowen von Königsberg i. Pr. nach Piliau, Gen.-Arzt Dr. 
Stahr von Königsberg i. Pr. nach Berlin, Stabsarzt Dr. Bohnke von 
Piliau nach Diedenhofen, Stabsarzt Dr. Grabow von Pillan nach 
Cüstrin, Dr. Scheffler von Allenberg nach BartensteiD, Stabsarzt 
Dr. Wagner von Hagenau nach Soldau, Dr. Grüter von Sömmerda 
nach Werden a. Ruhr, Dr. Sch lieben von Weimarisch- nach 
Preussisch-Stützerbach, Dr. Tödten von Halle a. S. nach Hambarg. 

Für die Redaction verantwortlich Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald, LQttowpl&t* 5. 


Verlag und Eigentbura von August Hirschwald in Berlin. — Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin, 


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BERLINER 


t>l« flwUn« KlinUehe Wochenschrift erachelnt Jeden 
Montag ln der Stärke ron J blt S Bogen gr. 4. — 
Preis Tierteljibrlieh 6 Mark. Bestellungen nehmen 
eile Burhhamllungen und Poetanstalten en. 


Eineendungen wolle men portofrei en die fiedactlon 
(W. LiHzowplau No. i ptr.) oder en die Verlags¬ 
buchhandlung von August Hirschwald in Berlin 
N.W. Unter den I.lnden No. 68, adressiren. 



Organ für practische Aerzte. 


Mit. Berücksichtigung der preussischen Medicinalverwaltung und Medicinalgesetzgehung 

nach amtlichen Mittheilungen. 

Redaction: Expedition: 

Geh. Med.-Kath Prof. Dr. C. A. Ewald und Prof. I)r. C. Posner. August Hirschwald, Verlagsbuchhandlung io Berlin. 


Montag, den 21. Juni 1897. 


M 25. 


Vierunddreißsigster Jahrgang. 


INHALT. 


I. Aus der medicinischen Klinik zu Leipzig. Ernst Romberg: 
Hemerkungen über Chlorose und ihre Behandlung. 

II. Otto Dornblüth: Ueber Kolanin-Knebel. 

III. Aus der Universitäts-Augenklinik in Breslau. W. Ubtboff: Ein 
Beitrag zu den Sehstörungen bei Zwergwuchs und Riesenwuchs 
resp. Akromegalie. (Schluss) 

IV. J. Mikulicz: Die chirurgische Behandlung des chronischen Magen¬ 
geschwürs. (Fortsetzung.) 

V. W. Havel bürg: Experimentelle und anatomische Untersuchungen 
über das Wesen und die Ursachen des gelben Fiebers. (Fortsetzung.) 

VI. Kritiken und Referate. Dennig: Tuberculose im Kindes¬ 


I. Aus der medicinischen Klinik zu Leipzig. 

Bemerkungen über Chlorose und ihre Be¬ 
handlung. 

Vom 

Prof. Dr. Ernst Romberg, I. Assistenten der Klinik. 

Nach den zahlreichen Bearbeitungen ! ), welche der Chlorose 
in den letzten Jahren zu Theil geworden sind, durften wesent¬ 
liche neue Ergebnisse ohne neue Untersuchungsmethoden kaum 
zu erwarten sein. Immerhin bedürfen einige Punkte einer etwas 
genaueren zahlenmässigen Grundlage. Vor Allem gilt das von den 
Zahlenverhältnissen der Blutkörperchen und von dem Erfolge der 
Eisentherapie. Als einen Beitrag zur Kenntniss dieser Verhält¬ 
nisse möchte ich die folgende Mittheilung angesehen wissen. Sie 
stützt sich auf die eingehende Beobachtung von 117 Fällen, die 
ich in den letzten Jahren in der medicinischen Klinik zu Leipzig 
gesehen habe. 

Allgemein ist wohl die Duncan- Gräber’sche Anschauung 1 ) 
verlassen, dass die Chlorose durch eine ausschliessliche Ver¬ 
minderung des Hämoglobins characterisirt sei. Wir wissen, dass 
in der Regel die Zahl der rothen Körperchen gleichfalls herab- j 


1) 8. bes. v. Noorden, Die Bleichsucht, Wien 1897 mit eingehenden 

Litteraturangaben, F. A. Hoffmann. Lehrb. d. ConstitutionBkrankheiten. 
1898, 8. 89, ff. Grawitz, Klin. Fathol. des Blutes, 1896, 8. 74 ff. 

v. Limbeck, Grundr. der klin. Pathol. des Blutes, II. Aufl., 1896, 

8. 801 ff., Gilbert, Traitö de raed. pnbl. par Charcot etc. 1892, II., 

Arcangeli, La clorosi, 1897, Verhandlg. d. Congr. für innere Medicin, 

1895 etc. 

2) Duncan, Sitzungsber. d. math. phys. Kl. d. k. k. Acad. d. Wiss., 
Bd. 55, Th. II, 8. 516, 1867, Gräber, Arbeiten aus der München. 
Klinik Bd. II, 2 Hälfte, 1890, 8. 289, ff. 


alter; Schlesinger: Tuberculose der Tonsille bei Kindern; 
Heubner: Syphilis im Kindesalter; Eschle; Mngdan: Er¬ 
nährung des Kindes im ersten Lebensjahr. (Ref. Stadthagen.) 

VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Berliner medi- 
cinische Gesellschaft. Ewald: Massendrainage. Grawitz: Phy¬ 
siologie und Pathologie der Pleura. Discussion über Greeff: 
Gliome und Pseudogliome der Retina. 

VIII. 15. Congress für innere Medicin in Berlin. 

IX. Vom Congress für innere Medicin. 

X. Tagesgeschichtliche Notizen. 

XI. Amtliche Mittheilnngen. 


gesetzt ist, nur weniger stark als der Hämoglobingehalt. Es ist 
ferner bekannt, dass die Hämoglobinarmuth der einzelnen Körper¬ 
chen nicht fUr die Chlorose characteristisch ist, sondern bei den 
verschiedensten Anämien vorkommt. Immerhin fehlt es an 
grösseren Zahlenreihen, die diese Verhältnisse deutlich illustrieren. 
Das geht aus der von Reinert') zusammengestellten, in ver¬ 
schiedene Lehrbücher Ubergegangenen Tabelle hervor. Die grösste 
Zahl von 40 Fällen hat Stiller') veröffentlicht, Litten 1 ) giebt 
eine kurze Uebersicht von 50 Fällen, v. Noorden legt seiner 
Darstellung Uber 200 Fälle zu Grunde, macht aber keine de- 
taillirten Angaben: 

Durch K. Vierordt 4 ) und besonders durch Reinert V) ein¬ 
gehende Untersuchungen kennen wir die nicht unbedeutenden 
Schwankungen in den Werthen der rothen Blutkörperchen und des 
Hämoglobingehaltes zu den verschiedenen Tageszeiten. Beide 
Autoren constatirten vor dem Essen höhere Werthe als Nachmittags. 
Wir besitzen nun, so viel mir bekannt ist, keine Untersuchung 
Uber die als normal zu betrachtenden Werthe in einer bestimmten 
Tageszeit. Um fUr meine Zwecke die erforderlichen Control¬ 
zahlen zu gewinnen, habe ich bei 55 weiblichen Personen im 
Alter von 16—24 Jahren, die anscheinend völlig gesund waren, 
Vormittags zwischen 9 und 11 Uhr das Blut untersucht. Es er¬ 
gab sich als Durchschnittszahl fUr die rothen Blut¬ 
körperchen 4051000, fUrden Hämoglobingehalt 88,8pCt.; 
die Grenzwerthe lagen fUr die ersten bei 4192000 und 6264000, 
ftlr das Hb bei 81 und 98 pCt. Stimmen auch die Durchschnitts- 

1) Reinert. Die Zählung der Blutkörperchen 1891 8. 158. 

2) Stifler, Berl. klin. Wochenschr. 1882, No. 16 und 18. 

3) Litten, Hdb. der spec. Ther. von Penzoldt and Stintzing, 
Bd. II. Th. 8, 8. 164 f. 

4) K. Vierordt, Arch. für physiol. Heilkunde, Bd. XI, Heft 5. 

5) Reinert, I. c. 8. 91 ff. 


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534 


Berliner klinische Wochenschrift. 


No. 25. 


zahlen mit den seit Welker allgemein angenommenen Werthen 
ziemlieh Überein, so möchte ich doch auf die grossen individuellen 
Verschiedenheiten in meinen Fällen hinweisen. Besonders sei 
hervorgehoben, dass der Hb Gehalt flinfundzwanzigmal 90 pCt. 
erreichte oder überschritt und das zweiunddreissigmal 5000000 
rothe Blutkörperchen oder mehr im emm gefunden wurden. 

Hinsichtlich der Technik der Blutuntersuchung sei erwähnt, dass ich 
die meisten der hier zu besprechenden Blutuntersuchungen unter sorg¬ 
fältiger Beachtung aller nothwendigen Cautelen selbst ausgefübrt habe. 
Ein kleiner Theil wurde von meinem Collegen Herrn Dr. Zumpe oder 
meinen Protocollanten ausgefiihrt. Auch für die Richtigkeit dieser Be¬ 
stimmungen kann ich einstehen. Es ist mir eine Freude, den Herren 
auch an dieser Stelle für ihre Mühe zu danken. Zur Bestimmung der 
rothen Blutkörperchen wurden 100 Quadrate der Zeiss’schen Zählkammer 
gezählt. Es war also nach Keinen 1 ) bei annähernd normaler Körperchen¬ 
zahl ein Fehler von +_ 4,4917 pCt. möglich. Die weissen Blut¬ 
körperchen wurden in 200 Quadraten, der Hb-Gehalt mit dem Gowers- 
schcn Apparat bestimmt. Sämmtliche Zählungen wurden Vormittags, die 
grosse Mehrzahl zwischen 9 und 11 Uhr vorgenommen. 

In der Tabelle habe ich 100 Fälle von Chlorose zusammen- 
gestellt. Vielleicht ist es nicht überflüssig hinzuzufügen, dass ich 
als Chlorose mit F. A. Hoffmann (1. c.) die Anämie des weib- 
Geschlechts verstehe, welche ohne bekannte Ursache zur Zeit 
der Puberlätsentwicklung scheinbar spontan entsteht. 


Tabelle I. 

Hb-Gehalt 

Zahl der 

1 

Zahl der rothen Blutkörperchen. 

in pCt. 

Fälle. 

Durc-hscbo. | Maximum 

Minimum 

20-29 

1 

3 

2919300 3709000 

2424000 

30—39 

21 

3282400 4256000 

2298000 

40-49 

24 

3 681500 4528000 

2 592000 

50—59 

22 | 

4132000 5288000 

3 400000 

60—69 

18 i 

4 394000 6360000 

3 720000 

70-79 

12 ; 

4570000 5 500000 

3640000 


Die Tabelle 1 zeigt auf das deutlichste, wie die Durch¬ 
schnittszahl der rothen Blutkörperchen immer mehr 
abnimmt, je stärker der Hb-Gehalt vermindert ist. 
Selbst bei ganz leichter Chlorose mit 70—79 pCt. Hb. liegt die 
Durchschnittszahl noch etwas unter dem für meine speciellen Ver¬ 
hältnisse gefundenen Normalwerthe. Die Tabelle bestätigt ferner 
die allgemeine Anschauung, dass der Hb-Gehalt stärker ver¬ 
mindert ist, als die Zahl der rothen Blutkörperchen. 

Geben die Durchschnittszahlen ein übereinstimmendes Bild, 
so werden die Verhältnisse äusserst wechselnd, wenn wir die 
einzelnen Fälle in’s Auge fassen. Bei demselben Hb Gehalt 
finden wir die verschiedensten Werthe für die rothen Blutkörper¬ 
chen. Die Ungleichmässigkeit ist so beträchtlich, dass man immer 
wieder versucht hat, sie zu erklären. In entschieden zu weit 
gellendem Schematismus fasste Gräber 2 ) jede Verminderung der 
rothen Blutkörperchen als eine Complication der echten, nur durch 
Hb-Armuth characterisirten Chlorose mit Anämie auf. v. Noorden 3 ) 
glaubt, dass das Missverhältnis zwischen Hb- und Körperchen- 
Abnahme am ausgebildetsten bei erstmaliger schwerer Erkrankung 
sehr junger Mädchen sei, viel weniger bei Recidiven, bei längerer 
Dauer der Kranhheit und bei der Chlorose älterer Personen her¬ 
vortrete. Es sei ausgebildeter bei Individuen, die sich eines 
guten Gesammternährungszustandes erfreuen als bei Mädchen, 
die schlecht genährt waren und an Gewicht erheblich abge¬ 
nommen hatten. Vielleicht sei auch die Rasse, das Alter, die 
Beschäftigung, die Therapie von einschneidender Bedeutung. 

In Tabelle II habe ich 50 Fälle, von denen ich genauere 

1) Reinert, 1. c. S. 62. 

2) Gräber, 1. c. S. 325 ff. 

3) v. Noorden, 1. c. S. 30 u. 35 f. 


Notizen über diese Verhältnisse besitze, zusammcngestellt. Als 
erstmalige Chlorose sind die Fälle bezeichnet, bei denen die zum 
ersten Male aufgetretene Krankheit noch nicht länger als ein Jahr, 
meist nur wenige Wochen oder Monate gedauert hatte, als rec;- 
dicirende diejenigen, bei denen die Kranken angaben, schon früher 
an Chlorose gelitten zu haben, dazwischen aber wieder völlig ge¬ 
sund gewesen zu sein, als habituelle endlich diejenigen, die 
schon seit mehreren Jahren, vielfach schon seit dem Beginne der 
Pubertät bestanden und keine wirklich freien Intervalle gezeigt 
hatten. Da ich auf die Angaben der Kranken angewiesen war, 
sind die Grenzen zwischen den verschiedenen Formen nicht ab¬ 
solut sicher. Annähernd zutreffend werden sich aber wohl die 
wirklichen Verhältnisse aus ihnen ergeben. 

Ueber die Anordnung der Tabelle geben die l.'eberschriften 
der einzelnen Spalten Auskunft. Nur das sei bemerkt, dass die 
äusseren Verhältnisse als schlecht bezeichnet wurden, wenn die 
Kranken angaben, ein schlechtes Zimmer zu bewohnen, un¬ 
zureichende Kost, ungenügenden Schlaf — besonders das Letzte 
wurde häufig geklagt — gehabt zu haben. Die Frage, ob die 
Mädchen vor der Aufnahme mit Eisen behandelt waren, wurde 
verneint, wenn in den letzten 4—5 Monaten keine Eisenbehand¬ 
lung stattgefunden hatte. In der grossen Mehrzahl der Fälle 
war überhaupt noch kein Eisen genommen worden (s. Ta¬ 
belle II). 

Wohl scheinen einzelne Fälle die Gräber’sche Anschauung zu 
bestätigen, dass die Blutkörperchenzahl bei der Einwirkung „anänii- 
sirender“ Einflüsse stärker vermindert ist als bei guten äusseren 
Verhältnissen. Andere aber stimmen nicht zu der Theorie. Und 
ähnlich verhält es sich mit den von v. Noordcn herangezogenen 
Factoren, soweit sie bei meinem Material in Betracht kommen. 

Wir müssen uns — das scheint mir aus der Zusammen¬ 
stellung hervorzugehen — vor der Hand bescheiden, die 
Ursache des wechselnden Verhaltens in zunächst nicht 
näher präcisirbaren individuellen Eigenthümlichkeiten 
der Blutbildung zu suchen. Andere Einflüsse, wie Ernäh¬ 
rung, Wohnung und dgl., mögen unter Umständen mitwirken. 
Einen maassgebenden Einfluss scheinen sie aber nicht zu haben. 

Interessant war mir ein Fall (No. 15), in dem bei aus¬ 
gesprochen chlorotischem Habitus sich G8 pCt. Hb und 6360 000 
r. Blutkörperchen fanden. Es bestand hier eine beträchtliche 
Herzdilatation nach links mit zeitweisen Erscheinungen von 
Herzschwäche. Unter Verabreichung von Eisen hob sich die 
Herzkraft, stieg der Hämoglobingehalt in den ersten 20 Tagen 
auf 85 pCl. und sank die Blutkörperchenzahl auf 5208000. 

3 mal bin ich Fällen begegnet, bei denen man nach ihren 
Beschwerden, ihrem Aussehen, nach den Erscheinungen am Herzen 
und an den Venen deutliche Blutveränderungen erwartete. Unter¬ 
suchte man, so fand sich ein der Norm anscheinend ent¬ 
sprechender Blutbefund, speciell ein 80 pCt. oder mehr be¬ 
tragender Hb Gehalt. Auch Laache 1 ) und Reinert 2 ) haben 
derartige Fälle beschrieben und der um die Blutpathologie so 
hoch verdiente norwegische Forscher hat aus ihnen den Schluss 
gezogen, dass das klinische Bild der Chlorose nur zum Theil 
durch die Blutveränderung bedingt sein könne, da man bei ßo 
geringfügigen Blutveränderungen so ausgesprochene klinische Er¬ 
scheinungen finde. 

Ich lasse meine Zahlen folgen: 

1. Voigtmann, 25j. Dienstmädchen 80 pCt. Hb., 5246000 r. Bl. 

2. Müller, 19j. Dienstmädchen . . 83 „ „ 5376000 * „ 

3. Prautsch, 20j. Pflegerin .... 87 „ „ — 

1 Woche später 4408000 „ „ . 

1) Laache, Die Anämie. Christiania 1883, S. 87. 

2) Reinert 1. c. S. 160. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


535 


3vi^LlB97. 


Tabelle II. 

a) Erstmalige Chlorosen. 



Ilb- 

Gehalt 

in 

pCt. 

Rothe 

Blutkörper¬ 

chen 

Beschäftigung 

Alter 

Jahre 

Körper¬ 

gewicht 

Kilogramm j 

Aeussere 

Verhältnisse 

Besondere Einflüsse 

Dauer 

der 

Krankheit 

resp. 

der Recidive 

Vor der 

Aufnahme 

mit Eisen 

behandelt? 

1 

81 

2 980 000 

Dienstmädchen 

26 ' 

63,5 

Schlecht. 

Sehr starke Menses vor 

5 Wochen. 

14 Tage. 

Nein. 

2 

31 

8 608 000 

Dienstmädchen 

17 

52,3 

Schlecht. 

— 

*/ 4 Jahr. 

Nein. 

3 

33 

4 064 000 

Köchin 

19 

53 

Gut. 

— 

4 Wochen. 

Seit2Tg.Eisen 

4 

37 

2 400 000 

’ Dienstmädchen 

19 

54,2 

Mässig. 

— 

5 Wochen. 

Seit 2 Tg. Eisen 

5 

89 

2 (508 000 

Dienstmädchen 

21 

55,5 I 

Gut. 

— 

8 Wochen. 

Nein. 

G 

40 

3 8(54 000 

Dienstmädchen 

18 

46 

Schlecht. 

_ 

V« Jahr. 

Nein. 

7 

43 

3 984 000 

Kindermädchen 

16 | 

50,8 

Ohne Besonderheiten. 

— 

'/ 4 Jahr. 

Nein. 

8 

48 

4 464 000 

Arbeiterin 

21 ! 

53.6 1 

Ohne Besonderheiten. 

— 

V 4 Jahr. 

Nein. 

u 

52 

4 000 000 

Dienstmädchen 

18 

53,5 

Ohne Besonderheiten. 

— 

*/ 4 Jahr. 

Nein. 

10 

55 

4 496 000 

Dienstmädchen 

21 ; 

60 

Gut, schwere Arbeit, i 

— 

7, Jahr. 

Nein. 

i i 

60 

3 956 000 

Dienstmädchen 

17 

50,5 

Nichts Besonderes, j 

Schlechter Appetit. 

l / 4 Jahr. 

Nein. 

12 

60 

5 128 000 

Bonne 

19 

54,3 

Gut. 

— 

14 Tage. 

Nein. 

13 

66 

5 160 000 

Dienstmädchen 

20 

48,3 

Schlecht. 

Ulc. ventric. nämatemese 
vor 5V, Wochen. 

'/ 4 Jahr. 

Nein. 

14 

68 

3 720 000 

Dienstmädchen 

19 i 

42,6 

Schlecht. 

4 Wochen. 

Nein. 

15 

68 

6 360 000 

Küchenmädchen 

20 ! 

56,5 

Ohne Besonderheiten. 

Dilatatio cordis. 

'/ 4 Jahr. 

Nein. 

IG 

70 

3 888 000 

Dienstmädchen 

26 

61,1 

Ohne Besonderheiten. 

Alter Ulcus ventric. Zur Zeit 
keine Magenbeschwerden. 

Einige Woch. 

Nein. 

17 

70 

4 008 000 

Ladenmädchen 

16 

48,5 

Stark. Anstrengungen. 

— 

3 Wochen. 

Nein. 

18 

73 

4 504 000 

Dienstmädchen 

26 

42,9 

Ohne Besonderheiten. 

Alter Ulcus ventric. Zur Zeit 
keine Magenbeschwerden. 

1 Jahr. 

Nein. 

19 

76 

3 960 000 

Dienstmädchen 

19 

53 

b) R e c i d i v 

Mässig. 

irende Chlorose 

n. 

Jahr, i 

Nein. 

20 

28 

3 709 000 

Kindermädchen 

19 ! 

47,5 

Schlecht. 


2 Wochen. 

Nein. 

21 

31 

2 672 000 ' 

Stubenmädchen 

19 

48,5 

Schwere Arbeit. 

— 

2 Wochen. 

Nein. 

22 

37 

3 272 000 

Dienstmädchen 

21 

53,6 

Gut, aber wenig an 
frischer Luft. 

— 

8 Tage. 

Nein. 

23 

87 

3 752 000 | 

Kindermädchen 

19 

47,5 

Schwere Arbeit. 

— 

5 Monate. 

Nein. 

24 

38 

4 160 000 1 

Kellnerin 

24 

62,5 

Schlecht. 

— 

*/ 4 Jahr. 

Nein. 

25 

40 

3 312 000 1 

Dienstmädchen 

19 

54,3 

Schlecht. 

— 

V 4 Jahr. 

Nein. 

26 

40 

3 352 000 

Dienstmädchen 

, 22 

56,7 

Gut. 

— 

Einige Monate. 

Nein. 

27 

40 ! 

8 824 000 

Dienstmädchen 

, 23 

55,9 

Gut, schwere Arbeit. 

— 

8 Wochen. 

Seit 8 Wochen 
Eisen. 

28 

40 ! 

4 192 000 

Dienstmädchen 

21 

48 

Schlecht. 

— 

7 Wochen. 

Fragl.ob Eisen 

29 

46 

8 932 000 

Laufmädchen 

17 

87 

Gut. 

Starke Magenbeschwerden. 

4 Wochen. 

Nein. 

30 

48 

3 192 000 

Arbeiterin 

17 

50 

Ohne Besonderheiten. 

— 

EinigeWochen 

Seit 5Tg.Eisen 

31 

50 

4 664 000 

8tubenmädchen 

i 21 

47 

Gut. 

— 

8 Wochen. 

Fragl .ob Eisen 

32 

52 

3 725 000 

Küchenmädchen 

16 

53,6 

Schlecht. 

— 

3 Wochen. 

Nein. 

33 

55 

3 448 000 

Dienstmädchen 

20 

50 

Schwere Arbeit. 

— 

EinigeWochen 

Nein. 

34 

56 

4 392 000 

Arbeiterin 

18 

47,6 

Ohne Besonderheiten. 

In Gummiwaarenfabrik 
thätig. 

Einige Tage. 

Nein. 

3;> | 

66 

4 648 000 

Pflegerin 

26 

48,5 

Mässig. 

Organische Insuff. mitral. 

Mehr.Wochen. 

Nein. 

86 

67 

4 304 000 

Arbeiterin 

21 

50,5 

c) Habit 

Ohne Besonderheiten. 

uelle Chlorose. 


7, Jahr. 

Nein. 

37 

80 

3 006 000 

Dienstmädchen 

19 

42,5 

Schlecht. 

— 

4 Jahre. 

Fast stets 
Eisen. 

38 

80 

8 240 000 

Arbeiterin 

17 

47,6 

Ohne Besonderheiten. 

Starke Magenbeschwerden. 

3 Jahre. 

Nein. 

39 

32 

4 256 000 

Köchin 

29 

54,8 

Gut. 

— 

Mehrere Jahre. 

8eit9Tg.Eisen 

40 

88 

8 280 000 

Dienstmädchen 

22 

52,6 ; 

Ohne Besonderheiten. 

Ulc. ventric. Vor 7 */ 2 Woch. 
Hämatemesia. 

8 Jahre. 

Nein. 

41 

88 

2 448 000 

Dienstmädchen 

18 

47,1 

Schlecht. 

— 

1 '/j Jahr. 

Nein. 

42 

88 

4 024 000 

Stubenmädchen 

24 

52,1 

Ohne Besonderheiten. 

— 

8 Jahre. 

Fast stets 
Eisen. 

43 

42 

3 512 000 

Dienstmädchen 

18 

52,8 

Gut. 

— 

8 Jahre. 

Nein. 

44 

45 

4 456 000 

Kellnerin 

21 

54 

Schlecht. 

— 

6 Jahre. 

Seit 14 Tagen 
Eisen. 

45 

48 

2 856 000 

Arbeiterin 

17 

51,5 

Ohne Besonderheiten. 

Starke Magenbeschwerden, 
Erbrechen. 

2 Jahre. 

Nein. 

46 

48 

4 528 000 

Arbeiterin 

18 

41,9 

Schlecht. 

— 

3 Jahre. 

Nein. 

47 

55 

4 144 000 

Mamsell 

22 

55 

Ohne Besonderheiten. 

Ulc. ventric. Vor 8 Wochen 
Hämatemesis. 

5 Jahre. 

In letzter Zeit 
kein Eisen. 

48 

57 

3 808 000 

Dienstmädchen 

19 

36,7 

Schlecht. 


4 Jahre. 

Nein. 

49 

66 

4 944 000 

Köchin 

17 

50 

Gut. 

— 

4 Jahre. 

Nein. 

50 

70 

4 632 000 

Dienstmädchen 

21 

52,8 

Schlecht. 

| 

4 Jahre. 

1* 

Seit4Tg.Eisen 


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536 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 25. 


Besonders Überraschend war das Ergebniss in dem letzten 
Falle. Die Haut zeigte zwar annähernd normale Farbe. Da¬ 
gegen waren die Schleimhäute, besonders die Conjunctiven blasser 
als normal. 1 ) Das Gesicht war gedunsen; es bestanden Knöchel¬ 
ödeme. Am Herzen fand sich neben Bradycardie und bedeuten¬ 
der Irregularität ein systolisches Geräusch an der Spitze, ohne 
dass man nach dem ganzen Befund an einen Klappenfehler 
denken konnte. An den Halsvenen war lautes Nonnensausen 
hörbar. Und dabei der anscheinend völlig normale Blutbefund. 

Der weitere Verlauf klärte den eigenthUmlichen Befund auf. 
Bei weiterer Beobachtung unter Eisenbehandlung nahm der Hb- 
Gehalt zu, das Aussehen besserte sich, die subjectiven Be¬ 
schwerden, die Oedeme und das gedunsene Aussehen in dem 
letzten Falle schwanden. Es handelte sich also nicht um Chlo¬ 
rosen mit normalem Blutbefund, sondern um Personen, deren 
normale Werthe, wie auch Laache für seinen einen Fall her¬ 
vorhebt, höher lagen als die Durchschnittszahl, in unseren 
Fällen bei 96 und 98 pCt. Hb. Man sieht, wie auch hier Alles 
von individuellen Zufälligkeiten abhängt. Jedenfalls scheinen 
derartige Fälle mir nicht als Beweis dafllr angeführt werden zu 
können, dass das klinische Bild der Chlorose nicht ganz über¬ 
wiegend von der Blutveränderung beherrscht wird. 

Fälle wirklicher Oligämie, wie sie von Krehl 2 ), von 
Stintzing und Gumprecht*) u. A. beschrieben werden, sind 
mir unter der hier besprochenen Zahl von Kranken nicht vor¬ 
gekommen. 

(Fortsetzung folgt.) 


II. Ueber Kolanin-Knebel. 

Von 

Dr. Otto Dorublttth in Rostock. 

Unter den anregenden Stoffen, mit denen uns die Berichte 
der Weltreisenden bekannt gemacht haben, steht nach den 
Schilderungen der Afrikaner die Kolanuss obenan. Es ist daher 
nicht auffallend, dass die rege Industrie versucht hat, diese 
Wirkung auszunutzen, zumal da der Alkohol allmählich glück¬ 
licherweise bei Einsichtigen etwas an Werthschätzung verloren 
hat. Wer aber die in den Handel gebrachten Kolapräparate 
unbefangen prüfte, war Uber das Ergebniss der Untersuchungen 
wohl immer recht enttäuscht. Eine Aufklärung Uber die Gründe 
dieses Misserfolges gab zuerst eine Arbeit, die Dr. Ernst 
Knebel im pharmaceutischen Institute und Laboratorium für 
angewandte Chemie der Universität Erlangen unter Leitung von 
llofrath Professor Dr. Hilger durchführte. Die Ergebnisse 
sind in der Inaugural-Dissertation des Herrn Knebel nieder¬ 
gelegt. 

Die erste chemische Untersuchung der Kolanuss wurde da¬ 
nach von Justus von Liebig vorgenommen, dem Gerhard 
Rohlfs im Jahre 1877 Kolanüsse aus Centralafrika zur Prüfung 
übersandte. Liebig fand bei der Analyse mehr Coffein darin 
als in der gleichen Menge Kaffeebohnen. Weiterhin fiel es auf, 
dass die Wirkungen der Kolanuss nicht durch die darin ent¬ 
haltene Menge Coffein erklärt würden, und man glaubte, andere 
wirksame Bestandtheile in dem Kolaroth gefunden zu haben, 

1) Da» Aussehen der Conjunctiven gestattet einen entschieden 
zuverlässigeren Schluss auf die Blutbeschaffenheit, als die Farbe der 
Lippen und des Zahnfleisches, welche auch bei nicht anämischen Per¬ 
sonen, besonders Blondinen bisweilen wenig Farbe zeigen. 

2) Krehl, Grundriss der klinischen Pathologie. 1893, S. 43. 

8) Stintzing und Gumprecht, D. Arch. f. klin. Med., Bd. 53, 
S. 287 ff. 


einem noch nicht genauer bekannten Bestandtheile der Kolanuss. 
Insbesondere betonte dies Schuchardt in seiner 1891 er¬ 
schienen Schrift Uber die Kolanuss Ferner wies Heckei, ein 
französischer Chemiker, in Erwiderung gegen Germain S£e, 
der nur die Coffein Wirkung der Kolanuss anerkennen wollte, 
durch Versuche nach, dass die Kolanuss nach Entfernung des 
Coffeins immer noch ähnliche Wirkungen zeige wie die frische 
Nuss. Demgemäss heben die Kolapräparate des Handels ge¬ 
meinhin den Gehalt an Kolaroth und Coffein eigens hervor. 

Die Untersuchungen von Dr. Knebel und Geheimrath 
Ililger, die in der genannten Dissertation ausführlich be¬ 
schrieben sind, wiesen nach, dass in den Nüssen überhaupt 
keine Alkaloide präexistiren, sondern dass die Wirkung einem 
darin enthaltenen Glykosid zuzuschreiben sei. Dies Glykosid 
bezeichnet Knebel als Kol an in. Wahrscheinlich wird es schon 
beim Reifen oder beim Trocknen der Nüsse durch das darin 
enthaltene Ferment zum Theil in Coffein und Glykose zerlegt. 
Diese starke Zersetzlichkeit erfordert natürlich eine sehr sorg¬ 
fältige Behandlung der Nüsse, wenn das Kolanin ungeschädigt 
erhalten werden soll. Erst unter dem Einflüsse des Speichels 
und des Magensaftes soll das Kolanin zersetzt werden, damit 
seine Alkaloide in statu nascendi zur Wirkung kommen können. 

Die fabrikmässige Darstellung des Kolanins haben im Verein 
mit Dr. Knebel Apotheker Krewel & Co. in Köln über¬ 
nommen, und von diesem Fabrikat ist mir eine grössere Menge 
zu Versuchen zur Verfügung gestellt worden. 

Ich habe das in der bequemen Form von sehr leicht zer¬ 
fallenden Tabletten untergebrachte Mittel zuerst bei mir selbst 
und dann bei einer grösseren Anzahl meiner Patienten ange¬ 
wendet. Dabei zeigte sich zunächst unzweifelhaft, dass die Ta¬ 
bletten eine viel ausgesprochenere Wirkung hatten als die mir 
sonst bekannt gewordenen Kolapräparate. An mir selbst konnte 
ich z. B. regelmässig wahrnehmen, dass die Erschöpfung nach 
einer besonders anstrengenden Sprechstunde durch eine Tablette 
— diese immer zu 0,2 Kolanin — in wenigen Minuten ohne 
irgend welche Nebenwirkungen beseitigt wurde. Coffein, das 
ich des Vergleichs wegen unter denselben Bedingungen zu 0,1 
oder 0,2 nahm, hatte nicht dieselbe Wirkung, erzeugte aber ein 
unangenehmes AufregungsgefUhl. Ebenso ging es mir bei einer 
Probe mit schwarzem Kaffee, der zudem noch aufsteigende Hitze 
hervorrief. Von einer Suggestion zu Gunsten des Coffeins weiss 
ich mich frei. Ich will gleich bemerken, dass mir unter sämmt- 
lichen Patienten, die Kolanin erhielten, nur einmal eine sehr 
sensible hysteroneurasthenische Dame von einem Gefühl von Un¬ 
sicherheit oder Zittern in den Händen nach 0,2 Kolanin zu be¬ 
richten wusste. Sonst war niemals von irgend welchen Neben¬ 
wirkungen die Rede. 

Die belebende Wirkung des Kolanins trat in einer ganzen 
Reihe von Erschöpfungszuständen deutlich zu Tage, so z. B. bei 
der Abspannung der Neurastheniker, und zwar ohne dass beim 
Aufhören dieser Wirkung eine nachträgliche Erschlaffung zu 
bemerken gewesen wäre. Selbstverständlich bin ich nicht der 
Meinung, dass damit ein Mittel zur Bekämpfung der Neurasthenie 
gewonnen wäre, es handelt sich nur um eine vorübergehende 
Erleichterung, aber alle Specialfachgenossen werden mit mir in 
dem Bedürfniss nach einem unschädlichen Anregungsmittel für 
die zahlreichen Neurastheniker einig sein, die aus äusseren 
Gründen nicht ruhen können. Es ist bekannt, wie viele davon 
durch das zwingende Bedürfniss nach Reizmitteln dem Alkohol 
verfallen. Dass nebenher die Neurasthenie rationell behandelt 
werden muss, braucht nur angedeutet zu werden. 

Eine weitere Anwendung habe ich von dem Kolanin bei 
den bekannten Zuständen von neurasthenischer Herzschwäche 
gemacht, wo der Puls klein und flatterig wird und die Kranken 


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21. J«ni 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


637 


jenes quälende GefUhl der drohenden Ohnmacht empfinden. Hier 
war in der Mehrzahl der Fälle subjectiv und objectiv eine deut¬ 
liche Besserung zu beobachten. Der Erfolg hielt allerdings er¬ 
klärlicher Weise nicht sehr lange an, jedenfalls musste nach 
1—IV 2 Stunden wieder eine Tablette gegeben werden, aber es 
gelang doch, die Kranken Uber die schlimmsten Stunden in 
guter Art hinwegzubringen. Andere Mittel, die dies mit einiger 
Sicherheit leisteten, sind mir nicht bekannt, denn die Camphora 
monobromata, die sonst wohl fUr diese Fälle empfohlen wird, 
lässt nur zu häufig im Stich und ist nicht immer frei von 
lästigen Nebenwirkungen. Durch das Coffein konnte ich auch 
bei Gaben 0,2—0,3 nicht dieselbe Wirkung wie mit dem Kolanin 
erzielen. 

Einige weitere Versuche wurden bei zwei Patienten mit 
organischer Herzschwäche bei chronischer Myokarditis und bei 
nephritischem Herznachlass angestellt, z. B. in der Zeit, wo die 
Wirkung der verordneten Digitalis noch nicht eingetreten war, 
oder wo nach Beendigung einer Digitalisperiode die Herzthätig- 
keit noch nicht ganz nach Wunsch war. Auch hier zeigte sich 
im allgemeinen eine zufriedenstellende Wirkung des Kolanins, 
allerdings erst bei mehrmaligen Gaben von 0,2 Kolanin, in 
V 2 stündlichen Zwischenräumen gereicht. Ob das Mittel hier 
deutliche Vorzüge vor dem Coffein hat, kann ich bei der nicht 
sehr grossen Zahl der Beobachtungen an Herzkranken nicht 
sicher sagen. 

Auch bei Migräne habe ich das Mittel angewendet. Wie 
zu erwarten war, zeigte sich eine günstige Wirkung nur in den 
Fällen von ausgesprochener vasoparalytischer Migräne und da, 
wo es sich voraussichtlich um ähnliche Verhältnisse handelt, 
z. B. beim Kopfschmerz nach Aufregung, Aerger, UeberanBtren- 
gung, Alkoholexcessen u. dergl. Hier war der Erfolg fast ohne 
Ausnahme sehr befriedigend. Wiederholt konnte beobachtet 
werden, dass gleich nach dem Eintreten der Erleichterung ein 
recht gutes Wohlbefinden und sogar geistige Arbeitsfähigkeit 
eintraten. Bei den meisten Kopfschmerzmitteln ist das bekannt¬ 
lich nicht der Fall. 

Auch die aus der Heimath der Kolanuss bekannte Wirkung 
derselben als Mittel gegen körperliche Ermüdung Hess sich bei 
Versuchen mit den Krewel’schen Kolanintabletten deutlich er¬ 
kennen. 

Nach alledem scheint das Kolanin in der That eine medi- 
cinische Bedeutung beanspruchen zu können, die dem Rufe der 
Kolanuss entspricht. Da die Februarernte an Kolafrüchten in¬ 
zwischen in Deutschland eingetroffen und bald verarbeitet sein 
wird, werden die Fachgenossen in nicht ferner Zeit in der Lage 
sein, sich selbst ein Urtheil zu bilden. 


III. Aus der Universitäts-Augenklinik in Breslau. 

Ein Beitrag zu den Sehstörungen bei Zwerg¬ 
wuchs und Riesenwuchs resp. Akromegalie. 

Von 

Prof. Vf. Uhthoff. 

(Schlags.) 

Fall II. 8tud. St., 24 Jahr alt, stellte sich am 17. IV. 1896, von 
Geb.-Rath Mannkopff überwiesen, mir in der Marburger Universitäts- 
Augenklinik vor. Es handelte sich um einen typischen Fall von Akro¬ 
megalie, stark vergrösserte Hände und Füsse, verlängerte claviculae mit 
Zurückdrängang der Schulterblätter, mächtige Entwicklung der LippeD, 
sehr massige Zunge, Impotenz u. s. w. Ich will hier auf den allge¬ 
meinen Befund nicht näher eingehen, da der Fall nebst Obductionsbefund 
später eingehend von Herrn Privatdocenten Dr. Nebelthau in Marburg 
veröffentlicht werden wird. Seit 8 Jahren hatten sich die Symptome der 
Akromegalie allmälig entwickelt. 


Etwas eingehender sei hier nur der Augenbefund bei dem Patienten 
im Anschluss an nnsern 1. Fall mitgetheit, da mir derselbe nach ver¬ 
schiedenen Richtungen bemerkenswert!) erscheint. Erst in der letzten 
Zeit klagt Patient über Sehstörungen, welche im Wesentlichen in Doppel¬ 
sehen und Mangel an Ausdauer bei der Nahearbeit bestehen. 

Der objective Befund ist folgender: It. A. Myop. 2,25 8 = —, 
£ 

L. A. Myop. 1,25 S = -y mit folgenden Gesichtsfeldern (Fig. 6 und 7). 


Figur 6. 



Es besteht also eine ausgesprochene homonyme, rechts¬ 
seitige Hemianopsie für Farben mit normalen Grenzen fiir ein 
weisses Object. Bei genauster perimetrischer Prüfung jedoch zeigt sich, 
dass die Farbenstörung auf dem linken Auge auch schon in den äussern 
oberen Gesichtsfeldquadranten übergreift; unter diesen Umständen ein 
sicheres Anzeichen, dass auch das Chiasma schon mit ergriffen ist, und 
es sich somit um eine Tractus-Hemianopsie handeln muss mit Ueber- 
greifen der Erkrankung auf das rechtsseitige gekreuzte Bündel im 
Chiasma selbst. Eine hemianopische Pupillenreaction war nicht nach¬ 
weisbar. Die Pupillen reagirten normal auf Licht, zeitweise bestand eine 
leichte Differenz in der Pupillenweite beider Augen. Die Akkommoda¬ 
tion war nicht beeinträchtigt. 

Die Augenbewegungen waren sonst frei, namentlich auch die seit¬ 
liche Beweglichkeit der Augen im associrten Sinne im Bereiche beider 
recti interni völlig intact, dagegen bestand eine fast völlige Läh¬ 
mung der Convergenz-Bewegung mit entsprechender Diplopie. Bis 
zu einer Entfernung von 1 m bestand beim Fixiren mit beiden Augen 
noch kein Doppelsehen, von da ab jedoch bei stärkerer Annäherung in 
der Mittellinie gekreuzte Diplopie mit wachsendem seitlichen Abstand. 

In 4 m Entfernung dgn. Divg. = 3° 

In 25 cm „ „ „ = 23° 

In 4 m „ Abductionsprisma = 9° 

In 1 m Entfernung und näher Abductionsfähigkeit so gut wie ganz 
aufgehoben = 1°. 

Die Pupillardistanz beträgt 68 mm. Die Bulbi von normaler Grösse, 
etwas massige hängende obere Lider, Lidspalten etwas abnorm breit. 

Der ophthalmoskopische Befund ist zur Zeit noch negativ, rechts 
die äusBern Papillentheile etwas blasser (?) als normal, jedenfalls sind 
die Veränderungen so gering, das sie noch nicht mit Sicherheit als pa¬ 
thologisch angesprochen werden können. 

Urin frei von saceharum und albumen 

Das Allgemeinbefinden des Patienten blieb bis Anfang October 1896 
nach Angabe seines Bruders, der selbst Arzt ist, ziemlich unverändert und 
konnte er so lange noch seinem Studium nachgehen. Auch nahmen an¬ 
geblich in dieser Zeit die Angenstörungen nicht wesentlich zu. Von da 
ab verschlechterte sich das Befinden, es stellten sich psychische Ano¬ 
malien ein, er wurde dement, bettlägerig, konnte seinen Studien nicht 
mehr nachgehen. Es trat zeitweises Erbrechen auf, Patient liess den 
Urin unter sich, wurde ganz apathisch und starb am 20. December 1896 
an hypostatischer Pneumonie. 

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5B8 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 25. 


Die Autopsie wurde 29 Stunden nach dem Tode ausgeführt, aus den 
mir gütigst von Herrn Geheimrath Mannkopff zur Verfügung gestellten 
Notizen über den Sectionsbefund will ich hier nur kurz einzelne Daten 
erwähnen, während die genauere Mittheilug derselbeu später von Herrn 
Collegen Nebelthan gegeben werden wird. 

Es handelt sich an der Hasis des Gehirns unmittelbar oberhalb des 
Pons um eine grössere Geschwulst (Sarcom), welche, die beiden Pedunculi 
c-erebri nach hinten auseinander drängend, in den III. Ventrikel hinein¬ 
reicht. Linkerseits ist die Geschwulst in die mediale vordere Partie der 
mittleren Schädelgrube hineingewachsen, die Dura mater, ohne dieselbe 
zu durchbrechen, nach der linken Seite hin beträchtlich vorwölbend. 
Von dem linken Tractus opticus ist makroskopisch nichts aufzufinden, 
die Stelle des Chiasma ist sehr verdünnnt, der linke Nervus opticus ist 
nur noch als dünnes Bändchen an der Oberfläche einer Geschwulstpro¬ 
minenz sichtbar. 

Der rechte Tractus nnmittelbar vor dem Chiasma etwas einge¬ 
schnürt. 

Während auf der rechten Seite Oculomotorius und Trochlearis nicht 
von dem Tumor ergriffen sind, umschliesst derselbe auf der linken Seite 
den Oculomotorius, den Trochlearis und den Trigeminus an der Durch- 
trittsstelle durch die Dura mater. 

Der Keilbeinkörper ist durch die Geschwulst bis auf wenige Knochen¬ 
lamellen zum Schwund gebracht und durch Tumormasse ersetzt. 

Es handelt sich also in diesem Falle auf Grund des Sections- 
befundes jedenfalls um eine Geschwulstentwickelung in der Hy¬ 
pophysis-Gegend mit Betheiligung der Sella turcica, des Keilbein¬ 
körpers, von dort aus sich nach hinten bis zum vordem Pons¬ 
rand erstreckend und ebenso nach oben bis weit in der III. Ven¬ 
trikel hineinreichend. Die grössere Ausdehnung der Geschwulst 
nach links herüber namentlich auch den linken Tractus und das 
Chiasma in Mitleidenschaft ziehend, erklärt sehr wohl die Er¬ 
scheinungsweise der zuerst beobachteten Sehstörungen (rechts¬ 
seitige homonyme Hemianopsie mit Uebergreifen der Krankheits¬ 
ursache auf das Chiasma). 

Die 2. sehr exquisite Erscheinung der anfänglich reinen Con- 
vergenzlähmung durfte wohl in erster Linie zurUckzuführen sein 
auf das Hineinwuchem der Geschwulst in den III. Ventrikel, wo¬ 
durch eine Läsion der Convergenzccntrums zu Stande gekommen 
sein mag. Jedenfalls erscheint es nicht statthaft, dieses Symptom 
aus einer Läsion der basalen Oculomotorisstämme durch die 
Geschwulst erklären zu wollen, da die Function beider Recti in- 
terni im associirten seitlichen Sinne anfangs völlig erhalten war. 
Vielleicht gelingt es hier durch die genaue anatomische Analyse 
des Falles werthvolle Daten fUr die Lage des Convergenzcen- 
trums aufzufinden. 

Die beiden mitgetheilten Fälle bieten sowohl vom Stand¬ 
punkt der Akromegaliefrage überhaupt, als auch besonders in 
Betreff der bei Akromegalie vorkommeuden Augenstörungen be¬ 
sonderes Interesse. 

Unser erster Fall ist zunächst dadurch bemerkenswert!!, dass 
es sich nicht, wie gewöhnlich, um die Entwickelung der Akro¬ 
megalie im späteren Leben handelt, sondern dass die Wachs¬ 
thumsstörung schon bis ins 4. Lebensjahr zurückdatirt, zu welcher 
Zeit Pat. sich in allen Dimensionen abnorm stark körperlich ent¬ 
wickelte. Erst in seinem 16. Lebenjahr wird er zur Beobachtung 
in die medicinische Klininik gebracht, da sich weitere auffällige 
Erscheinungen allmälig bei ihm entwickelt haben, er hat Diabetes, 
klagt seit einiger Zeit Uber eine Sehstörung u. s. w\ Die Eltern 
sind scheinbar auch jetzt noch nicht geneigt die Erscheinungen 
bei ihrem Sohn als im eigentlichen Sinne krankhaft anzusehen, 
da sie noch mit den Gedanken umgehen, den Knaben eventuell 
zum Athleten ausbilden zu lassen. Es ist also einer jener Fälle, 
wo es sich lange Zeit hindurch lediglich um Riesenwuchs im 
gewöhnlichen Sinne zu handeln schien, und wo erst zuletzt die 
Symptome einer intracraniellen Veränderung, der Hypophysis- 
Vcrgrösserung, sich geltend machten. 

Ich erinnere hier an die hochwichtigen Mittheilungen Lan- 
ger’s (Wachsthum des menschlichen Skeletts mit Bezug auf 
den Riesen. Denkschrift der Kaiserlichen Akademie in Wien 
1872); Bollinger's (Uebcr Zwerg- und Riesenwuchs. Samm¬ 


lung gemeinschaftlicher, wiss. Vorträge [von Virchow und 
Fr. von Holzendorf] No. 455, Berlin 1885). Sehr instructiv 
sind in dieser Hinsicht die Zusammenstellungen von Stern- 
berg (Beiträge zur Kenntniss der Akromegalie. Zeitschi*, filr 
klin. Medic., Bd. 27, 1895) in seiner umfassenden Arbeit. Er 
sagt, pg. 115: „Riesenwuchs und Akromegalie sind 2 ganz ver¬ 
schiedene Dinge. Der Riesenwuchs ist eine Anomalie der Ent¬ 
wicklung, die an sich nichts krankhaftes hat. Vergrösserung der 
Hypophysis, Verunstaltung der Kieferbildung und dergleichen 
kommen nicht dem Riesenwuchse an sich zu, sondern der Akro¬ 
megalie, welche eine wohlbegrenzte Krankheit mit ganz scharfen 
Merkmalen ist. Der Riesenwuchs setzt aber eine Disposition für 
das Auftreten allgemeiner Dystrophien und zwar insbesondere der 
Akromegalie. Daher leidet nahezu die Hälfte aller Riesen an 
dieser Krankheit und geht an ihr zu Grande. Zählt man die 
genauer untersuchten Beobachtuugen Uber Riesen zusammen, so 
erhält man die Zahl 84. Davon sind 14 als Fälle von Akro¬ 
megalie aufzufassen. Es sind also circa 40 pCt. aller Riesen 
akromegalisch und etwa 20 pCt. aller Akromegalischen sind 
Riesen.“ 

Derartige Betrachtungen dürften auch wohl für unsern Fall 
massgebend sein, und auch bei ihm der ursprüngliche gleich- 
mässige Riesenwuchs die Prädisposition für spätere Entwicklung 
der Akromegalie mit ihren typischen Symptomen geschaffen haben. 

In unserm 2. Falle hatte sich das Krankheitsbild der aus¬ 
gesprochenen Akromegalie relativ schnell entwickelt, rascher als 
das gewöhnlich der Fall zu sein pflegt und bald zum Tode ge¬ 
führt. Die Ursache lag in der Entwickelung einer malignen 
Neubildung in der Hypophysisgegend. 

Auch in Bezug auf die Sehstörungen selbst sind unsere 
beiden Fälle bemerkenswerth. Es ist als eine durchaus fest¬ 
stehende Thatsache anzusehen, dass wenn sich bei der Akro¬ 
megalie die optischen Leitungsbahnen mitbetheiligen, dies in den 
bei weitem meisten Fällen unter dem Bilde der temporalen He¬ 
mianopsie geschieht. Wir verfügen jetzt schon in der Literatur 
Uber ca. 50 derartige Beobachtungen, und es zeigt sich sehr 
deutlich bei der Durchsicht des einschlägigen Materials, dass je 
genauer die Beobachtungen und die Gcsichtsfeldmessungen in der 
neueren Zeit durchgeführt werden, um so häufiger gerade die 
temporale Hemianopsie gefunden wird. Zweifellos müssen auch 
manche der früheren Beobachtungen hierher gerechnet werden, 
wo die Untersuchungen nicht genau genug durchgeführt wurden, 
oder wo die Fälle erst in einem sehr vorgeschrittenen Stadium 
zur Beobachtung kamen. Hierauf weisen auch schon Hertel 
u. A. mit Recht hin. Es ist auch ungerechtfertigt, wie das wohl 
von einigen Autoren geschehen ist, da, wo der ophthalmoskopische 
Befund oder auch die anatomische Untersuchung einfache Seh¬ 
nervenatrophie ergiebt, diese Befunde auch als wirklich primär 
eintretende Sehnervenatrophien bei Akromegalie anzusehen, fast 
jedes Mal zeigt es sich bei genauerer Untersuchung, dass es sich 
um Compression der basalen optischen Bahnen in der Gegend 
des Chiasma handelt und somit die Sehnervenatrophie als eine 
secundäre absteigende anzusehen ist. 

Ophthalmoskopisch ist das Auftreten der einfach atrophischen 
Verfärbung der Papillen in den Fällen von Akromegalie mit 
Beeinträchtigung des Sehvermögens durchaus der gewöhnlichere 
Fall, in ungefähr nur 10 Fällen sind bisher neuritische Er¬ 
scheinungen, Stauungspapillen, neuritische Atrophie an den Pa¬ 
pillen beobachtet worden. 

Einseitige Seh- und Gesichtsfeldstörungen, die lediglich 
auf eine Erkrankung eines Opticus-Stammes zurUckzuführen 
wären, sind bei dem Krankheitsbild der Akromegalie als ausser¬ 
ordentlich selten anzusehen und einzelne Fälle in der Literatur, die 
wohl gelegentlich als solche citirt worden sind, wie die von Meyer 


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51. Juni 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


539 


(Soc. franc. d’ophthalmol. Mai 1890, Annal d’oculist 1891) und 
Rognami (Bull, de la Soc. Lancisian. d'Osp. d. Roma. 1891 ref. 
Annal d’Oculistique 1*91) gehören nicht dahin. Unser Fall I (U.) 
ist gerade in dieser Hinsicht sehr lehrreich, er wurde anfangs 
auch fllr eine einseitige Opticus-Atrophie genommen mit einer 
Gesichsfeldbeschränkung nach aussen auf dem linken Auge und 
atrophischer Verfärbung der linken Papille, wärend auf dem 
rechten Auge der ophthalmoskopische Befund noch ganz normal 
war und ebenso das Sehvermögen und das Gesichtsfeld hier noch 
normal zu sein schien. Erst bei genauester Prüfung des Ge¬ 
sichtsfeldes zeigte sich, dass auch rechts eine deutliche Farben¬ 
beschränkung im äussern obern Gesichtsfeldquadranten im Sinne 
einer temporalen Hemianopsie vorhanden war, während links 
schon die ganze äussere Gesichtshälfte bis zur verticalen Trennungs¬ 
hälfte afficirt war (s. Gesichtsfeldzeichn.). Der Fall also, der 
bei anfänglicher oberflächlicher Untersuchung als einseitige 
Opticus-Atrophie imponirte, erwies sich bei genauester peri¬ 
metrischer Aufnahme der Gesichtsfelder als eine zweifellose 
Chiasma-Erkrankung und damit wurde bei diesem Kranken eigent¬ 
lich die Diagnose einer llypophysis-Yergrösserung erst sicher. 

Eine Thatsache, die wesentlich zur richtigen Auffassung 
des ganzen Krankheitsbildes beitrug. 

Unser 2. Fall St. bot bei der ersten Untersuchung eigentlich 
lediglich das Bild einer reinen rechtsseitigen homonymen Farben- 
hemiamopsie mit normalen ophthalmoskopischem Befunde und 
voller Sehschärfe beiderseits. Erst die genaueste perimetrische 
Untersuchung zeigte auch hier, dass auf dem linken Auge die 
äussere Gesichtsfcldhälfte für Farben nicht mehr ganz intact 
war, ein Umstand, der schon zweifellos auf einen Uebergang 
des Krankheitsprocesses auf das Chiasma selbst hindeutete und 
somit auch hier den Sitz der Veränderung im vorderen Theil 
des linken Tractus unmittelbar am Chiasma dokumentirte, eine 
Annahme, die mit dem späteren Autopsie-Befttnde sehr wohl in 
Einklang steht. Nach den bisherigen Angaben in der Literatur 
ist laterale homonyme Hemianopsie ebenfalls als eine seltene Er¬ 
scheinung bei der Akromegalie angeführt worden, es sind die 
Fälle von Sr Umpell (Münch, med. Wochenschr. 15. Aug. 1888) 
Harris (Med. New. Philadelphia 1892, N. 5) und Dulles (Med. 
New. Philadelphia, 1892 No. 5) als solche cilirt, der Fall des 
letzteren Autors aber hört jedenfalls nicht ganz hierher, da auch 
die noch vorhandenen Gesichtsfeldhälften gleichzeitig eingeengt 
waren. 

Es ist wohl die Frage ventilirt worden, ob bei Akromegalie 
mit Hypophysis-Vergrösserung das Chiasma in seinem vorderen 
oder in seinem hinteren Winkel zuerst geschädigt wird. In bei¬ 
den Fällen resultirt ja das Krankheitsbild der temporalen He¬ 
mianopsie, und ich bin überzeugt, dass bald das Eine, bald das 
Andere vorkommt. Ich möchte an dieser Stelle auf interessante 
anatomische Untersuchungen von Zander („Ueber die Lage und 
Dimensionen des Chiasma opticum und ihre Bedeutung für die 
Diagnose der Hypophysis-Tumoren“ [Deutsche med. Wochenschr., 
No. 3, 1897. Ber. d. Ver. f. wissensch. Heilkunde in Königs¬ 
berg, Sitzung v. 9. Nov. 1890]) aus der neuesten Zeit verweisen, 
die gerade mit Rücksicht auf diese Fragen angestellt worden 
sind. Zander hebt auf Grundlage seiner Untersuchungen an 
Leichen Uber die topographische Lage des Chiasma hervor, „dass 
dasselbe nicht im sog. Sulcus chiasmatis des Keilbeins liege, wie 
das wohl theilweise bisher angenommen sei. Dasselbe liege weiter 
rückwärts, was ja auch bei einer Durchschnittslänge der intra- 
craniellen Opticusstämme von 10—11 mm nicht anders möglich 
sei, auch müssten die Opticusstämme vor dem Chiasma unter 
einem Winkel von nahezu 2 rechten divergiren, wenn das Chiasma 
auf dem vorderen Theil des Keilbeinkörpers in dem sog. Sulcus 
chiasmatis, der übrigens nicht einmal constant vorhanden sei, 


seinen Platz habe. Beseitigt man das Diaphragma sellae, so 
bekommt man die Hypophysis zwischen den beiden Sehverven 
und dem vorderen Rande des Chiasma vollständig zu Gesicht. 
Wenn die Sehnerven kurz sind, so ist der hintere Abschnitt der 
Hypophysis von dem vorderen Chiasmarand etwas verdeckt. 
Niemals aber reicht die Hypophysis über den hinteren Rand des 
Chiasma hinaus. 

In 00 pCt. der Fälle ist das Chiasma nach rechts oder 
links deutlich verlagert. In diesen Fällen zeigen die intra- 
craniellen Theile der Sehnerven erheblich (bis zu 5 mm) be¬ 
tragende Längenunterschiede.“ 

Für die Diagnose Hypophysis-Turaoren ergiebt sich aus 
diesen Beobachtungen folgendes: „Die Ilypophysis-Tumoren wer¬ 
den sich zunächst niemals hinter dem Chiasma zwischen den 
Tractus optici — wie bisher vielfach angenommen —, sondern 
meistens vor dem Chiasma zwischen den Sehnerven und in die 
Cistema chiasmatis hinein vorwölben. In solchen Fällen wo das 
Chiasma. weit nach vorn liegt, wird auch ein Druck auf die 
untere Fläche des Chiasma frühzeitig sich zeigen. Die Ver¬ 
grösserung der Hypophysis in verticaler Richtung muss min¬ 
destens 0,5 cm betragen, bevor ein Druck auf die optischen 
Bahnen stattfindet.“ Zander erwähnt auch noch besonders die 
Beobachtung von Wi 11s (Tumor of pituitary body without Akro¬ 
megalie, Brain 1892), wo einseitige Erblindung in Folge von 
Hypophysistumor beobachtet sei. Dieser Fall erscheint mir je¬ 
doch nicht beweisend fUr eine rein einseitige Störung, da die 
Angaben zu ungenau sind und eine exakte Gesichtsfeldunter¬ 
suchung nicht vorliegt. Auch ergiebt der Sectionsbefund drei 
Wochen später doppelseitige Tractus- und Chiasmadegeneration. 

Ich habe hier diese Zander’schen Angaben etwas ein¬ 
gehender referirt, weil sie mir für die einschlägigen Verhältnisse 
bei der Akromegalie mit Hypophysis-Vergrösserung sehr wichtig 
erscheinen. 

Nach diesen Ausführungen könnte es vielleicht auffallend 
erscheinen, dass einseitige und doppelseitige Erkrankung der 
Opticusstämme vor dem Chiasma nicht häutiger bei Hypophysis- 
Tumoren und Akromegalie mit Hypophysis-Vergrösserung beob¬ 
achtet werden, und doch müssen wir durchweg als die Regel 
annehmen, dass sowohl bei den Hypophysis-Tumoren (conf. 
Rath, „Beitrag zur Symptomlehre der Geschwülste der Hypo¬ 
physis cerebri,“ v. Graefe’s Archiv f. Ophth., Bd. XXXIV, 4, 
p. 81, 1888) als bei der Akromegalie die Sehstörung in den bei 
weitem meisten Fällen unter dem Bilde der temporalen Hemi¬ 
anopsie auftritt. Ich möchte wohl glauben, dass hierbei das 
Verhalten des Diaphragma sellae, welches in den vorderen Theil 
die Hypophysis überlagert und nur eine relativ kleine Oeffnung 
für den Durchschnitt des Hypophysisstieles bietet, mit in Betracht 
zu ziehen ist. Dies straff gespannte und ziemlich derbe Dia¬ 
phragma kann einer Ausbreitung der vergrösserten Hypophysis 
nach vorn doch wohl ein gewisses Hinderniss entgegensetzen 
und so dazu beitragen, dass das wachsende Organ sich mehr 
nach hinten in der Richtung des Stieles der Hypophysis an dem 
hinteren Chiasmawinkel vorbei zwischen die Tractus und die 
Hirnschenkel vorschiebt. Es würde bei einem solchen Ausbrei¬ 
tungsmodus auch der hintere Chiasmawinkel getroffen werden 
können und vor allem auch die unteren Theile des Chiasma in 
der Medianlinie, da der Stiel der Hypophysis auf eine grössere 
Strecke hin noch der unteren Fläche des Chiasma anliegt. 

Auch die nicht seltene Mitbetheiligung der Oculomotorii, 
während die Abducentes fast niemals mitbetroffen sind, bei der 
Akromegalie spricht für eine schädigende Compression der nach 
hinten sich ausdehnenden Hypophysis-Vergrösserung, ginge diese 
Läsion von einer coraprimirenden Wirkung der wachsenden Hypo¬ 
physis in seitlicher Richtung, in der Gegend der Sella turcica 

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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 25. 


640 

und des Sinus cavernosus aus, so musste nach der topographi¬ 
schen Lage der Nerven der Abducens so gut wie der Oculo- 
niotorius betroffen werden. 

In unserem zweiten Falle (St.) ist noch das anfängliche 
Auftreten einer reinen und vollständigen Convergenz-Läbmung, 
bei guter Function der Interni im associirten Sinne bei seit¬ 
licher Bewegung, besonders hervorzuheben. Es muss hier eine 
Läsion des Convergenzcentrums durch die wachsende Geschwulst 
von der Hypophysisgegend aus wahrgenommen werden. Durch 
eine partielle Affection der basalen Oculomotoriusstämme ist 
diese Krankheitserscheinung bei dem Patienten nicht zu erklären. 
Vielleicht wird die spätere genaue anatomische Untersuchung 
durch Herrn Collegen Nebelthau in dieser Hinsicht weiteren 
Aufschluss geben und eventuell fUr die Localisation des Conver¬ 
genzcentrums noch genauere Anhaltspunkte finden. Die Ausdeh¬ 
nung der Geschwulst bis in den hinteren Theil des III. Ven¬ 
trikels hinein dürfte hierbei wohl hauptsächlich in Betracht 
kommen. 

In der Literatur sind Fälle von Convergenzparese bei 
Akromegalie bisher nur selten verzeichnet, so in dem Falle von 
Mackie Whyte (Lancet I, 1893) und Litthauer (Deutsche 
med. Wochenschr. 19. Nov. 1891). Von beiden Autoren wird 
jedoch ausdrücklich eine ausgesprochene Insufficienz der interni 
hervorgehoben, so dass hier auch die Convergenzparese sehr 
wohl in einer doppelseitigen basalen Oculomotoriusaffection ihre 
Erklärung finden könnte. 

Für unsere beiden Fälle sowohl als auch für die bei weitem 
meisten Beobachtungen in der Literatur ist es zweifellos, dass 
die Seh- und Augenbewegungsstörungen direkt durch die ver- 
grösserte Hypophysis oder die Geschwulst in der Hypophysis¬ 
gegend bedingt werden, indem durch direkte Compression und 
Zerstörung die betreffenden Nerven afficirt werden. Hieraus 
erhellt auch besonders der grosse diagnostische Werth der Augen¬ 
störungen bei dem Krankheitsbild der Akromegalie; es ist be¬ 
kannt, dass gerade Geschwülste in der Hypophysisgegend lange 
Zeit hindurch nur sehr geringe Erscheinungen machen können, 
und zweifellos sind die Sehstörungen und ebenso die Bewegungs¬ 
störungen der Augen gerade hier mit als die werthvollsten dia¬ 
gnostischen Merkmale anzusehen. Dass unter Umständen auch 
bei dem Krankheitsbild der Akromegalie Seh- und Gesichtsfeld-, 
sowie Augenbewegungsstörungen Vorkommen können, die nicht 
direkt durch die Vergrösserung der Hypophysis oder durch eine 
Geschwulst in der llypophysisgegend bedingt sind, kann nach 
den bisherigen Mittheilungen in der Literatur von Arnold 
(Virchow’s Arch., Path. Anat. Bd. 135, H. 1, 1894 und Ziegler’s 
Beitrage zur path. Anat., X. 1891), Bury (Lancet 1891), Klebs 
und Fritsche („Ein Beitrag zur Pathologie des Riesenwuchses“, 
Leipzig 1884), Caton, (Brit. med. Joum. 1893, Jan.) u. A. nicht 
wohl in Zweifel gezogen werden. Es ist von diesen Autoren 
eben anatomisch nachgewiesen, das bei Akromegalie auch Dege¬ 
nerationen an den basalen Himnerven Vorkommen, die nicht 
direct durch eine Vergrösserung der Hypophysis hervorgebracht 
werden. Immerhin ist diese Thatsache als sehr selten zu be¬ 
zeichnen und so ist es völlig gerechtfertigt, wenn man den spe- 
ciellen Augenveränderungen auch in Bezug auf die Localisation 
und die Ausdehnung der intrakraniellen Veränderungen bei 
Akromegalie einen grossen diagnostischen Werth beimisst. 


IV. Die chirurgische Behandlung des chronischen 
Magengeschwürs. 

Von 

Professor J. Mikulicz in Breslau. 

(Fortsetzung.) 

Der circulären Resection des Magens ist die Resection 
kleiner Stücke der Magenwand entgegen zu stellen. Sie wird viel¬ 
fach als partielle bezeichnet, was aber unrichtig ist, da ja auch 
die circuläre Magenresection fast ausnahmslos eine partielle ist. 
Ich bezeichne diese Resection, je nachdem nur ein Segment der 
Magenwand oder ein grösseres keilförmiges Stück, also ein 
Sector, resecirt wird, als segmentäre und sectoräre Re¬ 
section. Es braucht nicht erst hervorgehoben zu werden, dass 
die segmentäre und sectoräre Magenresection einen ungleich 
geringfügigeren Eingriff darstellt als die circuläre. Trotzdem 
halte ich sie nicht für die Normaloperation, da sie der schon 
vielfach erwähnten Causalindication nicht entspricht. Durch 
diese Operation kann wohl das Ulcus exstirpirt werden, aber 
die Entleerung des Magens in den Darm wird dadurch nicht 
beeinflusst. Dazu kommt, dass auch die segmentäre und secto¬ 
räre Resection des Magens für die meisten Fälle von Ulcus 
technisch recht schwierig ist; dies gilt namentlich für die an 
der kleinen Curvatur in der Nähe der Cardia und in der hinteren 
Wand gelegenen Geschwüre. Wir werden aus diesem Grunde 
die einfache Excision des Geschwürs nur unter besonders gün¬ 
stigen Verhältnissen oder aus besonders triftigen Gründen vor¬ 
nehmen. So wird ein kleines Geschwür an der vorderen Magen¬ 
wand sich sehr leicht excidiren lassen; die Excision ist hier 
auch deshalb angezeigt, weil diese Geschwüre bekanntlich be¬ 
sonders leicht zur Perforation führen. Wenn wir eine Ver¬ 
wachsung des Geschwürsgrundes mit der vorderen Bauchwand 
oder mit Nachbarorganen des Magens antreffen, so wird auch 
hier häufig eine Excision desselben nicht zu umgehen sein. Es 
wird von den sonstigen Umständen, insbesondere dem Verhalten 
des Pylorus, abhängen, ob wir der Excision des Geschwürs noch 
die Gastroenterostomie oder die Pyloroplastik hinzufügen. Für 
Fälle von bedeutender Pylorusenge ist jedenfalls eine Com- 
bination von Excision und einer der zwei eben genannten Ope¬ 
rationen ins Auge zu fassen. Die Combination der Pyloroplastik 
mit der Excision des Ulcus wird bei offenen Geschwüren in der 
Pylorusgegend am häufigsten indicirt sein. Ich selbst bin 
mehrere Male mit Erfolg so vorgegangen, dass ich nach Spaltung 
der Magenwand das am Pylorus sitzende Ulcus excidirte, die 
Wunde von der Schleimhautseite aus vereinigte und dann die 
Pyloroplastik anschloss. 

Es concurirren somit filr das offene Magengeschwür haupt¬ 
sächlich zwei Methoden miteinander: Die Gastroenterostomie 
und die Pyloroplastik. Welche von den beiden verdient den 
Vorzug? Die Frage ist heute noch nicht entschieden zu beant¬ 
worten. Nach den bisherigen Erfahrungen scheinen beide in 
gleicher Weise den Zweck zu erfüllen, das ist eine rasche und 
vollständige Entleerung des Mageninhaltes in den Darm zu er¬ 
möglichen. Wenn dies richtig ist, dann müssen wir derjenigen 
Operation den Vorzug geben, welche technisch leichter und un¬ 
gefährlicher ist, und in die Beziehung gebührt ohne Zweifel der 
Pyloroplastik den Vorzug. Indessen ist die Pyloroplastik, wie 
schon früher erwähnt, nicht für alle Fälle geeignet. Somit bleibt, 
wenn wir selbst dieselbe zur Normaloperation bei offenen Ulcus 
erheben wolten, für die Gastroenterostomie noch eine grosse Zahl 
von Fällen reservirt Die Pyloroplastik ist nur dann leicht und 
sicher ausführbar, wenn der Pylorus frei beweglich, seine Wan¬ 
dungen weich und nachgiebig sind. Leichte, lockere Adhäsionen 
des Pylorus mit der Umgebung geben an und für sich keine 


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Contraindication; meist lassen sie sich leicht lösen und der 
Pylorus zur Operation genügend mobil machen. Feste Ver¬ 
wachsungen mit der vorderen Bauchwand, der Leber, dem Pan¬ 
kreas contraindiciren die Operation absolut. Ebenso wenig darf 
die Pyloroplastik ausgeführt werden, wenn die Magenwand in 
der Nachbarschaft des Pylorus durch das Ulcus und die um¬ 
gebende entzündliche Infilitration indurirt und unnachgiebig ge¬ 
worden ist. Für diese Fälle kann nur die Gastroenterostomie 
in Frage kommen. 

In Bezug auf die Technik der Pyloroplastik muss ich be¬ 
sonders erwähnen, dass die Erweiterung des Pylorus in mög¬ 
lichst ausgiebiger Weise geschehen soll, namentlich wenn sich ein 
noch frisches Ulcus in der Pylorusgegend befindet. Ich spalte 
die vordere Magen- resp. Duodenalwand auf eine Länge von 
5—6 cm; wenn dieser Spalt quer vereinigt wird, so entsteht eine 
so weite Communication zwischen Magen und Duodeneum, dass 
dieselbe ganz unabhängig von dem noch vorhandenen Rest der 
Pylorusöffnung ausreicht, die Verbindung zwischen Magen und 
Duodenum herzustellen. Es entsteht durch die Operation also 
eine echte Gastroduodenostomie. 

Es ist klar, dass die Pyloroplastik gegenüber der Gastro¬ 
enterostomie, insofern das rationellere Verfahren ist, als sie 
wieder normale physiologische Verhältnisse herstellt. In wie 
weit dies für die Praxis in die Wagschale füllt, werden wir 
gleich sehen. 

Die Gastroenterostomie ist zweifellos jene Operation, 
deren Ausführung ungleich seltener auf technischen Schwierig¬ 
keiten stösst, wie die Pylorooplastik. Es ist deshalb verständ¬ 
lich, dass manche Operateure dieser den Vorzug geben und sie 
als Normaloperation beim Ulcus Ventriculis ansehen. Allein die 
Gastroenterostomie ist, wenn sie auch technisch kaum schwieriger 
als die Pyloroplastik ist, in Bezug auf den functioneilen Erfolg 
nich so sicher. Da die Sache für uns von grosser praktischer 
Bedeutung ist, so muss ich auf sie hier etwas näher eingehen. 

Es ist Ihnen allen wohl bekannt, dass, seitdem Wölfl er 
zuerst die Gastroenterostomie ausgeführt hat, eine Reihe von 
Modificationen und neuen Methoden dieser Operation angegeben 
worden sind; ihre Zahl übersteigt heute sicher zwei Dutzend. 
Wir können schon daraus den Schluss ziehen, dass allen diesen 
Methoden und Modificationen ein gewisser Mangel anhaftet. Wir 
wollen von verschiedenen technischen Unvollkommenheiten, wie 
der Unsicherheit der Naht, der Anheftung einer unpassenden 
Darmschlinge und anderen absehen, und nur jenen üblen Zu¬ 
fall besprechen, der sich, soviel ich weiss bei jeder Methode der 
Gastroenterostomie ereignen kann: Die Entwicklung eines Cir¬ 
culus vitiosus zwischen Magen und zuführender Jejunumschlinge. 
Der Mageninhalt entleert sich nicht, wie gewünscht wird, in das 
abführende Darmstück, sondern in den zufuhrenden Darmschenkel, 
ins Duodenum. Der zufuhrende Darm regurgitirt seinen Inhalt 
wieder in den Magen und dieser kann sich nur durch den Oeso¬ 
phagus nach aussen entleeren. Es stellt sich unstillbares Er¬ 
brechen ein, der Operirte geht im Verlauf von 5—14 Tagen an 
Innanition zu Grunde. Bei der Section findet man in derartigen 
Fällen den Magen, das Duodenum und den an den Magen an¬ 
gehefteten zuführenden Schenkel des Jejunums kolossal ausge- 
gedehnt; der abführende Schenkel ist leer, zwischen dem zu- und 
abführenden bildet sich eine Art Sporn, der das Hinderniss 
für den Abfluss des Mageninhalts in den abführenden Darm zu 
bilden scheint. Gerade die Verhinderung dieser Spornbildung 
haben fast alle Modificationen der Gastroenterostomie zum Ziele, 
aber keine, wie es scheint, mit ganz sicherem Erfolg. Ueber die 
Ursache der Spornbildung und des Circulus vitiosus ist schon 
wiederholt discutirt worden. Nach meiner Ueberzeugung ist hier 
die Spornbildung nicht die Hauptsache. Wahrscheinlich ist sie 


541 _ 

nur eine Folge des Circulus vitiosus; der eigentliche Grund der¬ 
selben ist in den meisten Fällen ein Missverhältnis zwischen den 
motorischen Kräften des Magens und der beiden angehefteten 
DarmstUcke. Wenn in der Regel nach der Gastroenterostomie 
die Verhältnisse sich so reguliren, dass sowohl der Magen als 
auch der zuführende Darmschenkel seinen Inhalt in das ab¬ 
führende Darmstück entleeren, so setzt dies voraus, dass beide 
musculären Hohlorgane sich kräftig genug contrahiren, um einer 
Stauung und einem Regurgitieren von Flüssigkeiten Widerstand 
zu leisten. Ist aber der Magen, und was häufig combinirt ist, 
auch der Darm atonisch, so werden sie so lange Flüssigkeiten 
aufnehmen, als es ihre Elaaticität überhaupt zulässt. Eine so 
hochgradigen Atonie, dass von vornherein weder der Magen noch 
der zufUhrende Darmschenkel sich kontrahirt, ist wohl selten. 
Es genügt aber schon ein mässiger Grad davon, um eine starke 
Füllung des zuführenden Darmschenkels herbeizuführen. Ist dies 
aber einmal der Fall, so wird die »Scheidewand zwischen zu- und 
abführendem Darm immer mehr gegen den letzteren herange¬ 
drängt. Dadurch bildet sich immer stärker jener Sporn aus, der 
den Zugang zum abführenden Schenkel immer mehr erschwert 
und ihn zuletzt vollständig verlegt'). 

Diese Betrachtung ist für uns deshalb von Wichtigkeit, weil 
wir wissen müssen, dass die motorische Schwäche des Magens 
zu dieser Spornbildung disponirt, und da bekanntlich gerade beim 
Ulcus ventriculi und sein Folgezuständen insbesondere der Pylorus¬ 
stenose, eine motorische Insufficienz des Magens nicht selten ist, 
liegt gerade hier die Gefahr einer Spombildung vor. Jeder auf 
diesem Gebiet erfahrene Chirurg hat in dieser Richtung traurige 
Erfahrungen gemacht. Ich selbst habe mehrere Operirte an der 
genannten Spornbildung verloren, darunter auch einen, der wegen 
eines stenosierenden Magengeschwürs operirt worden war. In 
zwei andern Fällen, in denen sich ebenfalls unstillbares Erbrechen 
einstellte, konnten die Kranken durch eine zweite Laparotomie 
gerettet werden. Es wurde hier zwischen dem zu- und ab¬ 
führenden Schenkel, etwa 10 cm von der Anheftungsstelle ent¬ 
fernt, eine kleine Enteroanastomose angelegt, durch welche sich 
der Inhalt des stark geblähten zuführenden Darms unmittelbar 
in den abführenden entleeren konnte. Dieses Aushilfsmittel ist 
zuerst von Lauenstein vorgeschlagen, denn von Braun und 
Jaboulay ausgefUhrt worden. Es ist das einzig sichere Mittel 
den Circulus vitiosus zu verhindern. Es ist gewiss zu weit ge- 
gegangen, in allen Fällen an die Gastroenterostomie die Entero¬ 
anastomose in der beschriebenenen Weise anzuschliessen. Ist 
man aber genöthigt, bei ausgesprochener Magenatonie die Ope¬ 
ration auszuführen, so empfiehlt es sich sicher, von vornherein 
die zwei Operationen zu combinieren. 

Aus dem gesagten geht hervor, dass die Gastroenterostomie, 
so vorzügliches sie auch in der Regel leistet, doch keine ganz 
verlässliche Operation ist; das ist für mich Grund genug, sie für 
das Ulcus ventriculi erst an die zweite Stelle neben die Pyloro¬ 
plastik zu stellen. Ich möchte demnach folgenden Satz aufstellen: 
Hat man beim Magengeschwür zwischen der Pyloroplastik und 
das Gastroenterostomie zu wählen, so ist die erstere vorzuziehen, 
vorausgesetzt, dass sie technisch sicher auszuführen ist. Nur wo 
die Pyloroplastik auf Schwierigkeiten stösst, ist die Gastroente¬ 
rostomie am Platze. Bei atonischem Magen soll sie von vorn¬ 
herein mit der Enteroanastomose nach Braun-Jaboulay com¬ 
binirt werden. 

M. H.! Wiewohl das offene, nicht complicirte Magen¬ 
geschwür den wesentlichsten Gegenstand unserer Besprechung 


1) Eine eingehende Darstellung dieses Gegenstandes wird demnächst 
eine ausführliche Arbeit meines Assistenten, Herrn Dr. Chlumsky in 
den Beiträgen zur Chirurgie bringen. 

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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 




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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 25. 


bildet, kann ich es doch nicht unterlassen, auch auf die Com- 
plicationen desselben einzugehen, soweit sie auf die Indication 
und Wahl des operativen Verfahrens von Einfluss sind. Aut 
diesem Gebiete lag ja bis vor Kurzem fast ausschliesslich das 
Feld unserer Thätigkeit, und auch in Zukunft werden wir, wie 
ich glaube, weit häufiger bei den Complicationen des Magen¬ 
geschwürs einzugreifen Gelegenheit haben als bei dem einfachen 
offenen Geschwür. Denn nach den Mittheilungen des Herrn 
v. Leube, sowie anderer innerer Kliniker ist wohl zu erwarten, 
dass die innere Therapie dem Chirurgen nur eine beschränkte 
Zahl nicht complicirter Fälle überlassen wird. 

Diejenige Complication, bei welcher bisher am häutigsten 
und mit den schönsten Erfolgen operirt wurde, ist bekanntlich 
die narbige Pylorusstenose. Die Ansichten Uber die Be¬ 
rechtigung und Indicationsstellung der Operation sind, wie ja 
auch Herr v. Leube hervorgehoben hat, heute so geklärt, dass 
ich es unterlassen kann, näher darauf einzugehen. Auch in Be¬ 
zug auf die Technik der narbigen Pylorusstenose ist heute kaum 
mehr etwas Neues zu sagen. Auch hier werden wie beim 
offenen Magengeschwür hauptsächlich die Gastroenterostomie und 
die Pyloroplastik mit einander concurriren. ln Bezug auf die 
Auswahl der Operation gilt dasselbe wie beim Magengeschwür. 
Erwähnen möchte ich nur, dass in Bezug auf Indications¬ 
stellung die narbige Stenose in der Continuität des Magens, der 
sogenannte Sanduhrmagen, genau so zu behandeln ist, wie 
die narbige Pylorusstenose. An Operationstechnik stehen uns 
hier zur Verfügung die Gastroplastik — das Analogon der 
Pyloroplastik — und die Gastroanastomose nach dem Vor¬ 
gänge von Wölfler, das heisst die Verbindung der zwei Magen¬ 
hälften durch eine breite Coramunicationsöffnung. Welches von 
den beiden Verfahren anzuwenden ist, hängt von den Verhält¬ 
nissen des einzelnen Falles ab. Sie bewirken hier beide das¬ 
selbe und durch beide Methoden ist schon eine grössere Anzahl 
von Sanduhrmägen mit Erfolg geheilt worden. 

Eine andere Complication, welche einen operativen Eingriff 
indicirt, ist die Verwachsung des Geschwürsgrundes mit der 
Bauchwand und den umliegenden Nachbargebieten des Magens. 
Wir müssen hier aber zwei Arten von Verwachsung auseinander¬ 
halten: 1. die lockere Verlöthung, die nur insofern Störungen 
veranlassen kann, als ein bestimmter Abschnitt des Magens 
seine Beweglichkeit verliert und infolgedessen Zerrungen bei ver¬ 
schiedenen Füllungszustftnden ausgesetzt sein kann. Derartige 
Verwachsungen sind meist die Folge einer chronischen, durch¬ 
aus gutartigen Perigastritis. Es ist nicht zu bezweifeln, dass in 
manchen Fällen durch diese Adhäsionen, auf die meines 
Wissens zuerst Lauenstein nachdrücklich aufmerksam ge¬ 
macht hat, hochgradige gastralgische Erscheinungen hervorge¬ 
rufen werden können, ähnlich wie bei der Hernia epigastrica. Es 
ist aber die Diagnose in diesen Fällen recht schwierig; nach 
meiner Erfahrung sind diese Fälle von den einfachen idiopathi¬ 
schen Cardialgien schwer zu unterscheiden, und das um so mehr, 
als wir auch für die meisten dieser Fälle annehmen müssen, 
dass es sich um Cardialgien handelt, die durch die bestehenden 
Verwachsungen nur ausgelöst werden. Es wäre sonst nicht zu 
verstehen, warum nach zahlreichen Magenoperationen, die sicher 
festere Verlöthungen der Magen wand mit der Bauchwand wenig¬ 
stens für einige Zeit zurücklassen, keine Spur von Schmerzen 
auftritt, während in einzelnen Ausnahmefällen ganz lockere Ver¬ 
wachsungen so schwere Gastralgien erzeugen. Da aber durch 
die Erfahrung festgestellt ist, dass in der That durch die Lösung 
dieser Verwachsungen — v. Hacker hat diese kleine Operation 
Gastrolysis genannt — alle Beschwerden mit einem Schlage 
beseitigt werden können, so müssen wir die Berechtigung der 
Operation für gewisse hartnäckige Fälle anerkennen. Ich selbst 


habe vor Kurzem einen jüngeren Mann operirt, bei dem der 
Pylorustheil des Magens, ohne dass deutliche Spuren eines 
Ulcus nachzuweisen waren, durch lockere Verwachsungen mit 
der Umgebung so nach oben zu verlagert war, dass er gewisser- 
maassen um 90" in der Längsachse gedreht erschien. Patient 
hatte seit Jahren die heftigsten Gastralgien, die vergeblich mit 
inneren Mitteln behandelt wurden. Nach der Lösung der er¬ 
wähnten Adhäsionen und nach der Reposition des Magens in 
seine normale Lage verschwanden alle Beschwerden mit einem 
Schlage. 

Viel leichter zu beurtheilen, aber schwieriger zu operiren 
sind jene Fälle von Verwachsung des Geschwürsgrundes mit 
der vorderen Bauchwand, bei denen das Geschwür allmählich in 
die Bauchwand vordringt und hier in Folge der entzündlichen 
Infiltration der Fascien und Muskellagen derbe unbew’egliclie 
Tumoren erzeugt, die leicht für eine Neubildung gehalten 
werden können. Vielfach wird in diesen Fällen deshalb auch 
die irrige Diagnose auf eine echte Geschwulst gestellt. In den 
meisten Fällen bestehen neben den typischen lllcussymptomen 
ausserordentlich heftige Schmerzen, die durch die Berührung 
des Pseudoturaors gesteigert werden. Alle Bewegungen und 
Verschiebungen der Bauchdecken steigern in gleicher Weise die 
Beschwerden, so dass die Kranken sich in der That in einem 
jammervollen Zustande befinden. Für diese Fälle ist die Ope¬ 
ration zweifellos stricte indicirt. Die Operation besteht in der 
Resection des Ulcus sammt der infiltrirten Partie der Bauchwand. 
Der Defect in der Magenwand wird durch die Naht geschlossen; 
in der Regel kann der Magen selbst versenkt werden. Es sind 
bisher, soviel ich weiss, 8 Fälle dieser Art, alle mit Glück, ope¬ 
rirt worden; einen davon habe ich vor G Jahren operirt. Die 
Operation kann nur dann Schwierigkeiten bieten, wenn die 
Magenwand in weiterer Ausdehnung starr infiltrirt ist und da¬ 
durch die Magennaht erschwert. Vor Kurzem hat Brenner 1 ) 
zwei besonders schwierige Fälle dieser Art mit Erfolg operirt. 
Das eine Mal erstreckten sich die Verwachsungen bis auf die 
Leber und das Pankreas. Brenner liess in diesem Fall den 
Grund des Geschwürs am Pankreas zurück und tamponirte es 
nach Schluss des Magendefectes mit Jodoformgaze. Es erfolgte 
Heilung. Eine erschöpfende Darstellung der Fälle dieser Art 
vom chirurgischen Standpunkt findet sich in der schon citirten 
Arbeit von Hofmeister. 

(Schluss folgt.) 


V. Experimentelle und anatomische Unter¬ 
suchungen über das Wesen und die Ursachen 
des gelben Fiebers. 

Von 

Dr. W. Havelburg, (Rio de Janeiro). 

(Fortsetzung.) 

Inzwischen hatte ich eingesehen, dass ich ich mich an die 
bacteriologische Untersuchung des Magen- und Darminhalts wohl 
oder übel machen musste. Das Ausgangsmaterial konnte dann 
natürlich nur diejenige Masse sein, die als „vomito puto“ der 
Krankheit den besonderen Stempel aufgedrückt hat. Die Iso- 
lirung, Differenzirung und die entsprechenden Thierexperimente 
waren eine recht umständliche und mühsame Arbeit. Jeder, der 
mit diesen Studien vertraut ist, kennt auch die vielen, fast un¬ 
vermeidlichen Irrwege. Schliesslich aber blieb meine Aufmerk- 


1) Wien. klin. Wochenschr. 1896, No. 48. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


«EL - Juni 1897. 

samkeit an einen Mikroorganismus haften, der, anfänglich ver¬ 
nachlässigt, mir durch eine gewisse Constanz schliesslich im- 
ponirte. Seine Bedeutung stieg flir mich, als ich ihn in schweren 
Fällen von Gelbfieber im blutigen Mageninhalt fast als aus¬ 
schliesslichen Insassen bei der Cultur antraf. Seine Pathogenität 
erwies sich an verschiedenen Experimentirthieren, besonders aber 
für das Meerschweinchen. Auch der gelegentliche, oben er¬ 
wähnte Befund in den Organen erhöhte die ihm zu widmende 
Beachtung. Nachdem ich diesen Mikroorganismus erkannt, habe 
ich ihn stets im Mageninhalt der an Gelbfieber Verstorbenen 
angetroft’en und in allen Einzelheiten der Cultur und im Thier¬ 
experiment auf seine Identität untersucht. Es galt nun festzu¬ 
stellen, ob es sich eventuell doch um einen bekannten und, wie 
das Experiment zeigte, zum mindesten für das Meerschweinchen 
stets pathogenen Keim handelte. In Betracht kam eigentlich 
nur der Bacillus coli communis. Die zur Differencirung an- 
gestellten Versuche boten grosse Schwierigkeiten; ich hatte all¬ 
mählich Grund, abzunehmen, dass es sich um einen Mikro¬ 
organismus sui generis handelt, beschloss dann aber zum Zwecke 
weiterer Klärung, europäische Sachverständige um Rath anzu¬ 
gehen. Es gelang, Culturen des Mikroorganismus zu transpor- 
tiren, ihn, der, wie es sich zeigte, in seiner Vitalität sehr ge¬ 
schädigt war, wieder zu neuem Wachsthum zu bringen und eine 
Serie von Experimenten, die ich hier angestellt hatte, in Europa 
zu wiederholeu. Die Pathogenität des Mikroorganismus liess 
sich zwar durch Thierexperimente steigern, aber, der Natur der 
Sache nach war ein bestimmtes l'rtheil nicht möglich, um so 
weniger, als sich eine gewisse Modification in der Form des 
Mikroorganismus zeigte. Es ist ja eine bekannte Thatsache in 
der Bacteriologie, dass Mikroorganismen durch längeren Aufent¬ 
halt auf einem Nährboden an manchen Eigenschaften Einbusse 
erleiden, die nur schwer oder gar nicht reparationsfähig sind. 
Es musste also die Arbeit mit frischem Material fortgesetzt 
werden. Durch die Beobachtung, dass der in Frage stehende 
Mikroorganismus fUr das Meerschwein in bestimmter Weise 
pathogen ist, was ich in den vielen Versuchen und Ueber- 
tragungen constatirt hatte, hatte ich mir für die neu aufzu¬ 
nehmende Serie von Arbeiten als Untersuchungsmodus eine 
Imitation der Üblichen Methode, zur Reincultur des Tuberkel¬ 
bacillus mittelst Injection tuberculüsen Materials in die Bauch¬ 
höhle der Meerschweinchen zu gelangen, als Plan zurechtgelegt. 
Gleich im ersten untersuchten Falle war die Ausführung dieser 
Idee von bestem Erfolg begleitet. Da auf diese Weise die Zeit 
unsicheren Herumexperimentirens vorüber war und Methode, Ziel 
und Richtung eine mehr bestimmte Form angenommen hatte, 
so lege ich auf die Arbeitsresultate der letzten Monate als auf 
festerer Basis stehend, den wesentlichsten Werth. 

Bevor ich an die Darstellung derselben gehe, habe ich die 
Lösung einer principiellen Fragestellung, die mir Herr Dr. Raup 
einflösste, zu besprechen. Wenn sich keine Mikroorganismen in 
den Organen und Säften nachweisen lassen, existirt dann über¬ 
haupt ein Giftstoff, der im Körper circulirt und von dem aus die 
Erscheinungen der Krankheit möglich sein konnten? Nach einigen 
technisch verunglückten Versuchen ging ich so vor, dass ich 
mit sterilisirter Spritze einer wie zur Venäsection vorbereiteten 
Armvene Blut entzog und dasselbe sofort einem Meerschweinchen 
in die Bauchhöhle spritzte. Aus früheren anderweitigen Ver¬ 
suchen weiss ich, dass diese Thiere sogar ziemlich grosse 
Mengen menschlichen Blutes in ihrer Bauchhöhle vertragen 
können. 10 ccm. die nun einem Schwerkranken entnommen 
wurden, erzeugten beim Thiere eine Reaction: es wurde in seinen 
Bewegungen langsamer, frass nicht, zog sich in eine Ecke zu- 
rilck, jedoch nach einem Tage änderte sich der Zustand zum 
Normalen. Eine leichte Temperaturerhöhung, die von 38,7 


auf 39,7 sich eingestellt hatte, hielt noch einige Tage an; 
in 5 Tagen verlor das Thier GO Gramm an Körpergewicht, er¬ 
holte sich dann aber wieder. Der Patient, dem das Blut ent¬ 
zogen war, starb einen Tag später. An einem gleichfalls 
Schwerkranken wurde das Experiment mit gleichem Erfolg 
wiederholt. Das hätte nicht gerade für besondere Giftwirkung 
beim gelben Fieber gesprochen. Nun stellte ich folgende Ueber- 
legung an. Weder das Meerschweinchen noch ein anderes Thier 
ist von Natur aus für das Gelbfiebergift empfänglich. Wenn 
trotzdem in ersterem ein pathologischer Zustand erzeugt werden 
soll, so muss es zum Mindesten unter gleiche Bedingungen ge¬ 
setzt werden als sich der kranke Mensch befindet. Der Kranke, 
dem ich im zweiten Experiment Blut enlzogen hatte, war ein 
äusserst kräftig gebauter Mann von sicherlich 80 Kilo Gewicht; 
demnach besass er ca. 6 Kilo Blut. Wenn also ein Meerschwein¬ 
chen von 500 Gramm Gewicht bezüglich seines Blutes unter 
annähernd gleiche Bedingungen gesetzt werden soll, so müssen 
ca. 35 Gramm injicirt werden. Ich repetirte mein Experiment, 
als der Kranke moribund war und injicirte einem Meerschwein¬ 
chen von 535 Gramm Gewicht 30 Gramm Blut. Die Anfangs¬ 
temperatur des Thieres von 38,7" stieg auf 39—39,9, hielt sich dann 
in dieser Höhe 2 Tage hindurch: am 4. Tage nach Abfall der 
Temperatur auf 37,1, starb das Thier. Diesen Versuch habe 
ich an 4 Schwerkranken, deren Prognose nach der Erfahrung 
ungefähr gleich infaust war, wiederholt; das Meerschweinchen 
beantwortete prompt die Frage nicht nur nach Gift, sondern 
auch nach der Intensität der Krankheit. Krank wurden alle 
4 Thiere, 2 von denselben starben, desgleichen der Blutspender. 
Die anderen beiden Kranken blieben am Leben, ebenso auch die 
injicirten Meerschweinchen. Eine Giftwirkung ist demnach beim 
gelben Fieber ausser allem Zweifel. 

Der wichtigste Versuch, der nun der Ausgangspunkt aller 
eingehenderen speciellen Untersuchungen wurde, besteht in der 
Bestätigung folgender Thatsache: Injicirt man subcutan einem 
Meerschweinchen 1—2 ccm des Mageninhalts eines an Gelbfieber 
Verstorbenen, so stirbt das Thier mit absoluter Sicherheit und 
in seinem Blute finden wir in Reincultur den Mikroorganismus, 
den ich als den für die Krankheit specifischen ansprechen 
möchte. Diese Thatsache habe ich in allen 21 Fällen, die ich 
in dieser Saison untersucht habe, festgestellt, ohne einen ein¬ 
zigen negativen Ausfall. In den 10 corapleten Autopsien war 
die Diagnose Gelbfieber ausser Frage und bei den partiellen 
Sectionen entnahm ich zur bacteriologischen Untersuchung 
Mageninhalt; gleichzeitig wurden makroskopisch und mikro¬ 
skopisch an Leber und Nieren die dem Gelbfieber eigenen Ver¬ 
änderungen festgestellt. 2 Controlversuche, bestehend in der 
subcutanen Injection gleicher Mengen Mageninhalts von In¬ 
dividuen, die an anderen Krankheiten verstorben waren, er¬ 
gaben ein negatives Resultat, die Meerschweinchen blieben am 
Leben. 

Handelt es sich um Gelbfieber, so stirbt das Meerschwein¬ 
chen nach der Injection und das Resultat war ein gleiches, ob 
der Mageninhalt blutig oder, wie es zweimal der Fall war, ein¬ 
fach catarrhalisch biliös war. Der Tod erfolgt sicher in 8 bis 
24 Stunden; in einem auch klinisch schweren Falle sah ich ein 
ca. 400 gr wiegendes Meerschweinchen nach subcutaner Injection 
von 1 ccm schon in 5 Stunden sterben und trotz der Kürze der 
Zeit war der Bacillenbefund im Herzblut ein reichlicher. Neben¬ 
her wurde auch der Mageninhalt auf Nährboden untersucht und 
controlirt. In letzter Zeit habe ich davon Abstand genommen; 
der einfachste Weg zur Reincultur der pathogenen Keime zu 
gelangen, ist die subcutane Injection der Meerschweinchen. 

Der Mikroorganismus selbst ist ein äusserst feiner, kleiner 
Bacillus, dessen Länge ca. 1 //, und dessen Breite ca. 0,3 bis 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 25. 


0,5 ß beträgt. Es ist ein gerades Stäbchen, das sich zumeist 
isolirt zeigt, aber auch nicht selten liegen zwei Stäbchen paar¬ 
weise zusammen; Fadenverbände bilden sich nicht, auf keinen 
der diversen Nährböden. Eine Eigenheit des Bacillus besteht 
darin, dass die beiden Pole des Körpers besonders ersichtlich 
sind, etwas an den Bacillus der Hlihnercholera erinnernd, wo¬ 
durch die Gestalt des Körpers die wird, als ob es sich um einen 
Diplococcus handelt. In frischen jungen Culturen treten diese 
Bilder bei fast der Hälfte der sämmtlichen Organismen auf; 
ausserdem fand ich, dass diese Formation um so häufiger wird, 
je virulenter der Mikroorganismus. Derselbe färbt sich leicht 
mit allen basischen Anilinfarben, zeigt jedoch eine ziemliche 
Empfindlichkeit gegenüber absolutem Alkohol und Säuren. Ist 
die Färbung eine nicht ziemlich intensive gewesen, dann geben 
die Mikroorganismen den Farbstoff ab. Färbung nach der 
Gram'schen Methode gelingt nicht. Unter vorsichtiger Behandlung 
mit ganz schwachen Farbstofflösungen lässt sich auch eine 
distincte Färbung der Pole erzielen; sonst erscheint der Bacillus 
im gefärbten Präparat als solider Stab. 

Untersucht man die lebenden Bacillen, so macht es den 
Eindruck, als ob sie beweglich sind. Doch bin ich im Laufe 
der Untersuchungen darüber schwankend geworden. Die Ver¬ 
suche nach der Löffler’schen Methode die Geissein zu färben, 
führten nicht zum Ziel, trotz aller Modificationen im Zusatz von 
Alkali und Säuren; Fehler in den angewandten Flüssigkeiten 
oder der Technik können wohl nicht unterlaufen sein, die Ver¬ 
gleichspräparate mit dem B. subtilis gelangen. Wenn man aus 
der Verlegenheit zu entscheiden, ob Eigenbewegung oder Mole- 
cularbetfegung, herauskommen kann, indem man die Präparate 
in 5proc. Carboisäurelösung oder 1 pCt. Sublimat untersucht, 
dann ist mein Bacillus unbeweglich, denn er bewegte sich in 
dieser Flüssigkeit in gleicher Weise wie in Bouillon oder Wasser. 
Auch in Culturen, die durch dreistündigen Aufenthalt in einer 
Temperatur von <55 0 abgetödtet waren, zeigte sich der Bacillen¬ 
leib in annähernd derselben Bewegung wie der lebende. An¬ 
deutung von Sporenbildung zeigte sich in keinerlei Form. 

Auf der Gelatineplatte wächst der Bacillus, schon nach 
24 Stunden erkenntlich, als ein feiner weisser Punkt, der nach 
weiteren 24 oder 48 Stunden grösser geworden ist, und, an die 
Oberfläche gekommen, sich als stecknadelkopfgrosse Colonie 
charakterisirt. Die Gelatine wird nicht erweicht. Mikroskopisch 
zeigte sich die Colonie, ob klein ob gross, als eine gelbliche, 
fein granulirte Scheibe mit feingezacktem Rand. 

Im Impfstich der Gelatine selbst wächst der Mikroorganis¬ 
mus als ein feiner, weissgekörnter Faden in die Tiefe, auf der 
Oberfläche sich als dicke weisse Kuppe in Nagelform ausdehnend. 
Die Gelatine bleibt solid. 

Auf der Agaroberfläche bilden sich bei Aussaat vereinzelter 
Bacillen runde, grauweisse Scheiben, die isolirt stehen oder 
zusammenfliesBen können. Beim Ueberstreichen über die Agar¬ 
oberfläche entsteht das W achsthum einer grauweissen Masse, 
die von der Impfstelle ausgehend sich nach den Seiten erstreckt; 
jedoch begrenzt sich das Wachsthum. Das Condensationswasser 
ist im Grunde getrübt. Für gewöhnlich bleibt die Oberfläche 
desselben frei, nur bei stärkeren Culturen bildet sich eine zarte, 
leicht bröcklige Haut. 

Die gewöhnliche Koch’sche Nährbouillon wird schnell trübe; 
schon nach 24 Stunden hat sich ein grauer wolkenartiger Boden¬ 
satz gebildet, der, aufgewirbelt, sich bald wieder senkt. Das 
Depot wird nie sehr erheblich. Die Oberfläche der Bouillon 
bleibt klar; nur in ganz alten Culturen bildet sich bisweilen 
eine zarte, krümelige Decke, die bei etwas stärkerer Bewegung 
der Flüssigkeit sich leicht theilt und zu Boden sinkt. Dagegen 
zeigt sich am Rand der Oberfläche ein mehr oder weniger inten¬ 


siver weisser Belag am Glase. Die Bouillonculturen sind etwas 
übelriechend und behalten stets eine alkalische Reaction. 

Zuckerhaltige Bouillon wird schnell in Gährung Ubergeführt 
Ebenso entstehen im zuckerhaltigen Agar, sowohl bei Milch-, 
als besonders bei Traubenzucker, Gasbildungen, welche Sprünge 
in der Agarraasse erzeugen. 

Milch wird in 12 Stunden zur Coagulation gebracht. 

Auf der Kartoffel ist das Wachsthum relativ gering und 
bildet sich ein grauer schleimiger Belag. 

Im Blutserum wächst der Mikroorganismus in uncharakte¬ 
ristischer Weise unter Trübung und Bodensatzbildung. Anf er¬ 
starrtem Serum bildet sich eine zarte graue Decke.. Die Indol¬ 
bildung ist stets und intensiv vorhanden, ebenso existirt eine 
erhebliche SH 2 -Bildung. 

Das Wachsthum der Mikroorganismen erfolgt auch in 
sauren Nährböden, ja selbst in hochsauren ist das Wachsthum 
ein gutes. 

Lakmusagar wird nicht reducirt, wohl aber wenn es Zucker 
enthält. 

Der Mikroorganismus ist facultativ anaerob. Bei Luftent¬ 
ziehung und in Wasserstoff gas ist das Wachsthum ein vortreff¬ 
liches und ich habe sogar den Eindruck bekommen, dass er 
auch dem Beispiele anderer Mikroorganismen folgt, bei anaerober 
Cultur virulenter zu sein. 

Empfänglichkeit für den Mikroorganismus besitzt in hohem 
Grade das Meerschweinchen. Freilich müssen wir einen anderen 
Maassstab für die zu injicirende Menge anlegen als bei Injection 
mit anderen Bacterienmassen; wir müssen aber auch eingedenk 
sein, dass das Gelbfieber eine Infectionskrankheit ist, die nur 
Menschen befällt. 

(Schluss folgt.) 


VI. Kritiken und Referate. 

Adolf Dennlg: Ueber die Tnberculose im Kindesalter. Leipzig 

1896. Verlag von F. C. W. Vogel. 266 S. 

Eine ausführlichere Bearbeitung der Tnberculose im Kindesalter 
— welche den Inhalt der vorliegenden Monographie bildet — darf auf 
das Interesse weiter ärztlicher Kreise zählen. Denn einerseits ist die 
Tuberculose im Kindesalter — zumal in den frühen Altersstufen — 
durch viele Eigentümlichkeiten im Vergleich zu der Verlanfsweiae beim 
Erwachsenen ausgezeichnet; auf der anderen Seite haben unsere dia¬ 
gnostischen und therapeutischen Methoden gerade in den letzten Jahren 
mancherlei Wandlungen und Fortschritte aufeuweisen, so z. B. sei an 
die Lumbalpunction bei Erkrankungen der Centralorgane, an die Laparo¬ 
tomie bei Peritonitis tuberculosa erinnert. 

Der Titel des Buches entspricht allerdings nicht ganz dem Inhalt 
desselben, insofern nicht die gesammte Tuberculose, sondern nur die der 
inneren Organe abgehandelt wird. Ausführlicher zur Darstellung ge¬ 
langen nnr die Meningitis tuberculosa, die Tuberculose des Gehirns, die 
Tuberculose der Brust- und Banchorgane. In diesen Abschnitten ist 
alles aut den Gegenstand Bezügliche eingehend und sachlich, häufig 
unter Beifügung von instructiven Krankengeschichten, erörtert. Kur* 
ausgeführt ist die Tuberculose des Pharynx, der Mund-, Nasen- und 
Vaginalschleimhaut, der Schild- und Thymusdrüse. — Verfasser stützt 
seine Arbeit auf eine 15jährige Erfahrung, welche er an der Klinik und 
Poliklinik zu Tübingen sammeln konnte. Dass einzelne Ergebnisse 
seiner Untersuchungen nur auf die Eigenart des Tübinger Materials zu 
beziehen sind — so z. B. ist die überwiegende Häufigkeit der Miliar- 
tuberculose der Lungen eine Tübinger Eigenthümlichkeit —, giebt der 
Darstellung nur ein mehr idividuelles Gepräge, ohne im Uebrigen den 
Vorzügen des Buches Abbruch zu thun. 

Eugen Schlesinger: Die Tubereolose der Tonsille bei Kindern. 

(Berliner Klinik.) Berlin. Fischer’s medic. Buchhandlung. 21 S. 

F. Strassmann hat zuerst darauf aufmerksam gemacht, dass die 
Tonsillen relativ häufig an Tuberculose erkranken; diese Erkrankung 
geschieht fast ausschliesslich in Form kleinster miliarer Tuberkel. Im 
weiteren Verfolg der Untersuchungen Strassmann’s haben Schlenker 
n. A. festgestellt, dass bei Erwachsenen die Tnberculose der Tonsillen 
nur bei fortgeschrittener Lungentuberculose gefunden wird, umgekehrt bei 
freien oder wenig erkrankten Lungen, auch bei sonst verbreiteter Tuber¬ 
culose, die Tonsillen frei bleiben. Die Erklärung dieses Verhaltens fand 


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Juni 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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man darin, dass die Erkrankung der Tonsillen am häufigsten durch das 
tuberculöse Sputum herbeigeführt werde. Die tubereu löse Erkrankung 
der Halslymphdrüsen geschieht erst secnndär von den Mandeln aus. 
Dieses Gesetz des Parallelismus zwischen Lungentuberculose und Tuber- 
culose der Tonsillen soll nach Schlenker u. A. bei Kindern nicht 
gelten; diese Abweichung soll sich daraus erklären,, dass Kinder das 
Sputum nicht expectoriren. Verf. hält diese Erklärung für unrichtig, 
weil Kinder das nicht expectorirte Sputum immer lange im Munde halten, 
ehe sie es verschlucken. Um die Richtigkeit der obigen Angabe zu 
controliren, untersuchte Verf. 17 Kinderleichen. Unter 13 Fällen von 
florider Lungentuberculose waren 12 mit Tonsillartuberculose combinirt; 
bei 4 Fällen mit obsolater Lungentuberculose oder bei Freisein der 
Lungen und ausschliesslicher Tuberculöse anderer Organe fanden sich 
auch keine tuberculösen Veränderungen in den Mandeln. Das obige 
Gesetz des Parallelismus gilt also für Kinder so gut wie für Erwachsene. 
— Die Diagnose der Tonsillartuberculose kann nur mit Hülfe des Mikro¬ 
skops gestellt werden, da es sich fast nur um kleinste Tuberkel handelt, 
grössere Käseherdc fast aunahmslos fehlen, tuberculöse Geschwüre auf 
den Mandeln ausserordentlich selten sind. — Die tuberculösen Tonsillen 
waren meist klein, blass, hart und erschienen makroskopisch ohne patho¬ 
logische Veränderung; nur dreimal waren sie gross, uneben, in mässiger 
chronischer Hypertrophie. Auch bei der mikroskopischen Betrachtung 
fiel fast immer die Getingftigigkeit der tuberculösen Veränderungen in 
den Tonsillen gegenüber den ausgedehnten Verkäsungen in den Lungen 
nnd den benachbarten Ccrvicaldrüsen auf. Diese geringe Neigung zu 
degenerativen Veränderungen, welche in gleicher Weise bei Kindern wie 
bei Erwachsenen besteht, verhindert, dass aus dem Vorhandensein oder 
Fehlen selbst kleinster centraler Verkäsungen ein sicherer Schluss auf 
die Dauer des tuberculösen Processes in den Mandeln gezogen werden 
kann. In allen Fällen waren beide Mandeln afficirt. Während Schlenker 
und Krückmann bei allen oder doch fast allen Fällen von Halslymph- 
drüsentuberculose Erwachsener auch eine solche der Tonsillen nach- 
weisen konnten, liegen die Verhältnisse bei Kindern nicht so einfach. 
Unter 9 Fällen von Halsdrüsentuberculose fand Verf. 2 mal die Tonsillen 
frei von Veränderungen. Verf. glaubt, dass bei Kindern nicht immer 
die Cervicaldrüsentuberculose von einer Tonsillartuberculose ausgeht, 
sondern bisweilen die Mandeln seitens der verkästen Lymphdrüsen, also 
auf dem Wege des retrograden Lymphstroms infleirt werden. 


O. Henbner: Die Syphilis ira Kindesalter. Gerhardt's Handbuch 
der Kinderkrankheiten. Nachtrag I. Tübingen 1896. Verlag der 
II. Laupp’schcn Buchhandlung. 133 8. 

Die Eigenart der Syphilis im Kindesalter kommt vorwiegend in 
ihrer häufigsten Erscheinungsform — der ererbten Syphilis — zum Aus¬ 
druck. Dieser ist daher naturgemäss der weitaus grösste Theil des 
Buches gewidmet. Nach einer kurzen Uebersicht über die Geschichte der 
Krankheit bespricht II. die Aetiologie. In sehr klarer Weise entwickelt 
er unsere derzeitigen Kenntnisse von den Gesetzen, nach denen die Ver¬ 
erbung sich vollzieht. Von besonderem Interesse ist die Darstellungs¬ 
weise dadurch, dass H. sich nicht mit der einfachen Aufführung der 
ätiologischen Thatsachcn begnügt, sondern bestrebt ist, dem Leser diese 
Thatsachen aus den allgemeinen Gesetzen der Infection und Intoxication 
— anschliessend an die Arbeiten von Finger, Profeta u. A. — ver¬ 
ständlich zu machen. Nach einer kurzen Darstellung der makroskopi¬ 
schen und wichtigsten histologischen anatomischen Veränderungen, kommt 
H. zu dem Haupttheil, dem klinischen Bilde der Krankheit. Bei der 
grossen Mannigfaltigkeit der Symptome wählt H. die Eintheilung, dass 
er zunächst im 1. Abschnitt die regulären Erscheinungen der hereditären 
Syphilis im Säuglingsalter schildert, die Varietäten und die seltener vor¬ 
kommenden Zustände in den folgenden Capiteln anschliesst. In diesen 
behandelt er im 2. Abschnitt: 1. das Hereinragen fötaler Visceralsyphilis 
in das Säuglingsalter; 2. die parasypbilitischen Erkrankungen; 3. die 
hämorrhagische Heredosyphilis; 4. die Mischinfectionen. Zu letzteren 
rechnet er u. a. auch die Mehrzahl der eitrigen Gelenkentzündungen. — 
Der 3. Abschnitt enthält: Rückfälle und tiefer gehende syphilitische Er¬ 
krankungen während der ersten Kindheit; der 4. Abschnitt: Die tertiäre 
Periode der Heredosyphilis. Die Syphilis tarda. — Jeder kundige Leser 
wird schon aus der Ueberschrift dieser Capitel entnehmen, wie viel 
Streitfragen hier auf Schritt und Tritt dem Bearbeiter entgegentreten. 
H. geht keiner dieser Fragen aus dem Wege, ohne sie aber weitläufiger, 
als es dem Zwecke eines Handbuchs entspricht, zu behandeln. — In 
den letzten Capiteln ist die Diagnose und Prognose und Prophylaxis 
und Therapie besprochen. 

In der zweiten Hälfte des Buches beschäftigt sich H. mit der er¬ 
worbenen Syphilis im Kindesalter. Da diese sich im Grossen und 
Ganzen derjenigen des Erwachsenen gleich verhält, so begnügt Verf. 
sich damit, auf die etwaigen Abweichungen der Erkrankungen im Kindes¬ 
alter von dem bekannten Verhalten beim Erwachsenen hinzuweisen. 


Eschle: Karze Belehrung Aber die Ernährung and Pflege des 
Kindes int ersten Lebensjahr. 3. neubearbeitete und vermehrte 
Auflage. Leipzig 1897. Verlag des „Reichs-Medicinal-Anzeigers.“ 
B. Konegen. 86 S. 

Für diejenigen Leser, welche das Heftchen aus den früheren Auf¬ 
lagen noch nicht kennen, bemerken wir, dass es in allgemein verständ¬ 
licher Darstellungsweise eine kurzgefasste, dabei sehr praktische An¬ 
leitung zur Ernährung und Pflege des gesunden und kranken Kindes im 
ersten Lebensjahre enthält. Nach der Absicht des Verfassers soll das 


Biichelchen Müttern und Pflegerinnen als Nachschiagebuch dienen, um 
sie in den Stand zu setzen, die ärztlichen Rathschläge genauer verstehen 
und befolgen zu können. — Eine eingehendere Umarbeitung hat in der 
vorliegenden 3. Auflage das Capitel über die künstliche Ernährungsweise 
erfahren. 

Otto Mogdan: Die Ernährung des Kindes im ersten Lebensjahr. 

Vortrag, gehalten im Chemiegebäude der Berliner Gewerbe-Aus¬ 
stellung 1896. Berlin 1896. Verlag von S. Karger. 19 S. 

In der Form eines populär gehaltenen Vortrages giebt Verf. in 
grossen Umrissen die Grundsätze an, nach welchen die Ernährung des 
Kindes im ersten Lebensjahre geschehen soll. 

M. Stadthagen. 


VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. 

Berliner mediclnische Gesellschaft. 

Sitzung vom 26. Mai 1897. 

Vorsitzender: Herr Senator. 

Schriftführer: Herr Hahn. 

Vorsitzender: Wir haben als Gäste unter uns die Herren Dr. 
Richter aus Hamburg und Herr Dr. Wehrli aus Zürich, die ich im 
Namen der Gesellschaft begrüsse. 

Tagesordnung. 

l. Hr. Ewald: lieber Massendrainage mit Krankenrorstellnng 

Ich habe schon wiederholt, theils in dieser Gesellschaft, theils an 
anderer Stelle auf den Nutzen aufmerksam gemacht, den die frühzeitige 
und möglichst ausgiebige Punction resp. Entfernung wässriger Ansamm¬ 
lungen aus dem Körper bei sehr verschiedenartigen Krankheitszuständen, 
namentlich bei Lebercirrhose, bei Nephritis, bei Herzfehlern und ähnlichen 
mit üdematösen Ansammlungen verbundenen Krankheiten hat. Schon ira 
Jahre 1883 habe ich dies Thema in dieser Gesellschaft besprochen, zu¬ 
letzt wieder im Jahre 1894 unsere Erfahrungen über die Einlegung von 
Troikars bei Oedem der Beine mitgetheilt. 

Nun haben wir Beit der Zeit nicht aufgehört, diese Methode zu be¬ 
nutzen, sodass wir eine recht ansehnliche Erfahrung nach dieser Richtung 
hin gewonnen haben, und ich kann nur sagen: immer ausgezeichnete 
Erfolge. Ich möchte behaupten, dass wir in einer ganzen Reihe von 
Fällen die Kranken über einen kritischen Zeitpunkt fortgebracht haben, 
und dass sie sich dann in einer Weise erholt haben, die ohne diese 
Massendrainage, wie ich sie einmal nennen will, nicht eingetreten wäre. 
Selbstverständlich kann nicht immer von einem kurativen Einfluss solcher 
Drainage die Rede sein. Das liegt ja in der Natur der Krankheit, ob 
sie sich überhaupt kurativ beeinflussen lässt oder nicht. Aber dass die Drai¬ 
nage und Punction je früher und ausgiebiger sie gemacht wird, von desto 
besserem Erfolge ist, darüber kann meines Erachtens gar kein Zweifel sein. 

Ich habe nun Gelegenheit genommen, Ihnen hier einen Patienten 
vorzustellen, bei dem gerade diese Methode in ausgiebiger Weise und 
mit vorzüglichem Erfolg angewandt worden ist. 

Es handelt sich um einen Herren von 33 Jahren, welcher im April 
und Juni 1896 eine Injectionscur durchmachte. Mitte August deseiben Jahres 
erkrankte er nach einer starken Anstrengung im Freien mit Heiserkeit, 
Anschwellung der Füsse, des Leibes und des Gesichts und es wurde von 
seinem Arzte eine Nierenentzündung konstatirt. Er schwoll in kurzer Zeit 
ganz ausserordentlich stark an und es stellten sich urämische Erscheinungen 
ein, sodass er am 31. August das Augusta-Hospital aufsuchte. Damals 
war ein Eiwcissgehalt von 2 pCt. Es wurden reichlich Hyalincylinder, 
rothe nnd weisse Blutkörperchen, aber kein Eiter im Harn gefunden. Sehr 
schnell entwickelten sich nun auch bei uns sehr bedrohliche urämische Er¬ 
scheinungen. Der Herr wurde leicht komatös, er fing an zu deliriren, 
die Athemnot war eine sehr grosse, und die Anschwellung des Leibes 
erreichte eine hochgradige Ausdehnung, ebenso die der unteren Extre¬ 
mitäten. Es wurde demgemäsB eine Punction des Ascites vorgenommen, 
und es wurden Troikars in die beiden Beine gelegt und zwar, wie wir 
es jetzt immer thun je nach Bedarf sogar in ein Bein resp. einen Unter¬ 
schenkel je 2 Troikars von derselben Stärke, wie wir Bie auch zur 
Punction der Pleuren benutzen. Ueber die Technik dieser Massnahmen 
habe ich bereits früher gesprochen. Es machte sich nun im Laufe des 
Aufenthaltes im Krankenhanse wiederholt solche Punctionen nöthig, und 
Sie werden gleich sehen, bis zu welcher Höhe wir dieselben getrieben 
haben. Es wurden nämlich insgesammt aus den Beinen 22500 gr 
seröse Flüssigkeit durch Punctionen entleert, welche vom 10. Sep¬ 
tember bis zum 3. December 1896 ausgeführt wurden. Dann war eine 
weitere Entziehung des Oedems der Beine nicht mehr nothwendig, weil 
sich nicht mehr genügend Flüssigkeit ansammelte. Die Pleura wurde 
fünfmal punctirt und 1200 g Flüssigkeit abgelassen. Der Leib wurde 
vom 6. October 1896 bis zu 13. März 1897 fünfundvierzigmal 
pnnctirt und im Ganzen 140000 g resp. ccm Flüssigkeit ab¬ 
gelassen, und zwar erfolgte die Punction in den beiden ersten 
Monaten, das heisst also im October und November, unge¬ 
fähr jeden 4. Tag, im December und Januar aber schon 
jeden 2. Tag und öfter jeden 3. Tag, je nachdem die Be- 


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546 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


nöthigung dazu da war. Im Februar und März wurde wieder etwas 
weniger punctirt, das heisst jeden 5.—7. Tag, und die letzte Punction 
hat am 13. März dieses Jahres stattgefunden. Ich sage: je nachdem 
die Benöthigung dazu vorhanden war. indem nämlich der Patient, wenn 
der Leib wieder etwas anschwoll, jedesmal grosses Unbehagen fühlte, 
etwas Athenmoth bekam, unruhig wurde und den dringenden Wunsch 
hatte, wieder von seinem Wasser im Leibe befreit zu werden. So 
haben wir also durch diese wiederholten Punktionen Alles in Allem 
1GS700 ccm Flüssigkeit, d. h. rund 164 Liter entleert. Der Ei¬ 
weissgehalt im Urin war ein schwankender, das heisst progressiv ab¬ 
nehmender. Zuerst betrug er, wie ich schon Bagte, 2 pCt., dann war 
er gesunken auf 0,9 pCt., 0,6 pCt. Es kamen dann wieder leichte 
Steigerungen vor, 0,8 pCt., dann einmal 0,3 pCt, 0,55 pCt., 0,7 pCt., dann 
einmal wieder 1 pCt., und jetzt hat der Urin einen Eiweissgehalt von 
0,7 pCt. oder 7 p. Mille. Cylinder sind auch jetzt noch im Urin zu 
finden, aber allerdings sehr spärlich. Es wurde auch eine Bestimmung 
der Eiweissmenge, die durch den Ascites ausgeschieden wurde, und 
zwar zu wiederholten Malen gemacht, theils indem das Eiweiss direkt 
bestimmt wurde, theils indem eine Stickstoffbestimraung mit Hilfe des 
Kjeldal’schen Verfahrens ausgeführt wurde. Es zeigte sich, dass der 
Eiweissgehalt des Ascites etwas wechselte. Er war nämlich einmal 
0,76 pCt. auf den Stickstoff berechnet — der StickstofTgehalt betrug 
0,123 pCt. — und ein anderes Mal nur 0,58 pCt. Eiweiss, indem der 
Stickstoffgehalt 0,089 pCt. betrug. Ich habe auch bei anderen Gelegen¬ 
heilen wiederholt den Eiweissgehalt solcher Ascitesflüssigkeiten bestimmt. 
Er pflegt in der Regel zwischen 0,2 bis 0,4 und 0,5 pCt. zu schwanken. 
Wenn man nun die Eiweissmengen, die wir in toto abgelassen haben, 
auf Fleisch umreebnet, so würde man in der ganzen Masse des abge- 
la8senen Wassers eine Menge von 3136 g also etwa 3 Vj kg Fleisch ge¬ 
habt haben. 

Nun, meine Herren, der Erfolg, den wir durch diese fortgesetzte 
Drainage errecht haben, ist doch ein ausserordentlich günstiger. Ich will 
bemerken, dass der Patient mit den verschiedenartigsten Diureticis behandelt 
wurde, die aber niemals einen entschiedenen Einfluss auf die Diurese 
zeigten. Glücklicher Weise war überhaupt eine Tendenz zu reichlicher 
Urinausscheidung vorhanden, die zwischen 1500, 2000, selbst 2500 
schwankte und nur selten etwas darunter ging. Daneben haben wir 
noch verschiedene diätetische Kuren vorgenommen, die dem Pat. aber alle 
schlecht bekommen sind. So z. B. die speciflsche Nierendiät, die eine 
Zeit lang eingehalten wurde, bei der er nur Brotsuppe, etwa Backobst, 
ab und zu ein Ei bekam, gar kein Fleisch, ist ihm nicht sehr gut be¬ 
kommen. Sie wurde 3 Wochen hindurch innegehalten, er fühlte sich dabei 
sogar recht schlecht. Dann hat er eine Zeit lang die sogenannte Scbrot- 
sche Trockencur durchgemacht, das heisst, so gut wie gar keine Flüssig¬ 
keit bekommen, nicht mehr, wie 300 ccm pro Tag. Das hat einen merk¬ 
lichen Einfluss aut die Wiederkehr der Oedeme und des Ascites nicht 
gehabt. 

Als eigenthümlich wäre noch zu bemerken, dass der Kranke ge¬ 
legentlich eine Dermatitis bekam, die ohne irgend welche nachweisbare 
Ursache meist an den Oberschenkeln, zuweilen auch am Stamme, beson¬ 
ders am Rumpf, auftrat und dann unter Spiritusumschlägen schnell wieder 
nachliess, jedesmal mit einer kleinen Fiebersteigerung verbunden war, 
aber, wohlgemerkt, niemals etwa von der Einstichstelle der Troikars 
ausging, wie ich denn überhaupt mit Ausnahme eines einzigen Falles 
bei einem ganz elenden Individuum niemals ein Erysipel oder 
eine Gangrän, oder eine Nekrose nach diesen Einstichen 
erlebt habe. Wie gesagt, bei einem sehr elenden Menschen kam ein¬ 
mal kurz vor dem Tode eine Nekrose in der Umgebung des Stichcanals 
zn Stande. Wir machen natürlich das Einlegen der Troikars unter anti¬ 
septischen Vorsichtsmaassregeln, wie das ja selbstverständlich ist. 

Ich lasse den Herren, der morgen das Hospital verlässt,' jetzt 
in den Saal kommen und Sie werden sehen, dass er sich in einer 
ganz vortrefflichen Verfassung befindet. (Demonstration.) Allerdings be¬ 
steht immer noch ein geringes schlaffes Oedem der Beine: aber der 
Ascites ist so gut wie vollständig geschwunden. Nur ein geringes 
Anasarka lässt sich beim Eindrücken nachweisen; zu einer Punction ist 
gar keine Veranlassung mehr gegeben. Auch das Skrotum, das colossal 
angeschwollen war, übrigens auch mehrfach punktirt wurde, ist jetzt 
völlig abgeschwollen. Es besteht eine ganz leichte Hypertrophie des 
Herzens. Im Uebrigen Fühlt der Herr sich so wohl, dass er vor einigen 
Tagen zum ersten Mal seit August 1896 wieder ausgegangen ist und 
wie gesagt jetzt schon das Hospital verlassen will. 

Der Fall ist nun noch dadurch besonders interessant, dass sich 
während dieser Punctionen, und zwar unmittelbar vor Schluss derselben, 
der vorher seröse Ascites in einen chylösen Ascites umgewandelt hat. 
Es fiel auf, dass die Punctionsflüssigkeit mit einem Male milchweiss 
war, und als ich dem Ding etwas näher nachging, zeigte sich in 
der That, dass wir es mit einem sog. chylösen Ascites zu thun hatten. 
Das speciflsche Gewicht schwankte bei den verschiedenen Punctionen 
zwischen 1004 und 1007. Die Reaction war immer alkalisch. Als die 
Flüssigkeit nun so weiss wurde, bot sie unter dem Mikroskop das Bild 
von zahlreichen Granulis resp. Tröpfchen dar, die eine sehr lebhafte 
Brown’sche Molekularbewegung zeigten, und die sich mit Osmiumsäure 
zum Theil schwarz färbten, aber nur zum Theii. Von verfetteten 
Zellindividuen war kaum eine Spur vorhanden, ab und an einmal 
ein verfettetes Epithel, aber grössere Mengen von verfetteten Zellen 
fehlten, so dass es sich also nicht etwa um einen Ascites adi- 
posus, der durch Verfettung von Zellen entsteht, handeln konnte. Sie 


No. 25. 


sehen hier in diesem Röhrchen einen Theil der Flüssigkeit, den ich 
noch aufgehoben habe. Sie sah frisch, wie das immer der Kall ist, 
vollkommen wie Milch aus. In der enteiweissten Flüssigkeit waren ganz 
erhebliche Quantitäten Zucker vorhanden. Leider habe ich es versäumt, 
eine quantitative Bestimmung zu machen. Dann enthält die Flüssigkeit 
eine grosse Menge von Fett. Trotzdem Bammelt sich dasselbe beim 
Stehenlassen nicht etwa oben an, sondern wird offenbar von den anor¬ 
ganischen Salzen zu Boden gerissen, so dass sich beim Stehen ein 
dicker weisser Bodensatz absetzt. In einer Bestimmung des letzteren 
sind kohlensaure Magnesia und kohlensaurer Kalk gefunden worden. 
Der eingetrocknete Niederschlag giebt einen weissen Rest, der anf ein 
Platinblech gebracht und erhitzt, wie Sie hier sehen, mit heller Flamme 
brennt. (Demonstration.) Ich habe den Niederschlag nach Zusatz von 
Kalilauge mit Aether auBgezogen, aber nicht so viel Rückstand erhalten, 
um eine quantitative Fettbestimmung zn machen. Gewöhnlich pflegt 
der Fettgehalt zwischen 0,9 und 1 pM. zu betragen. 

DaB Merkwürdige ist nun, dass dieser chylöse Ascites, wie es 
scheint, ebenso schnell, wie er entstanden, auch wieder verschwunden 
ist, denn jetzt ist so gut wie gar kein Ascites mehr da. Ich habe ver¬ 
sucht, noch einmal durch die Probepunction etwas frische Flüssigkeit 
zu erhalten. Indess ist es gar nicht mehr möglich, Flüssigkeit aus der 
Bauchhöhle zu entziehen. 

Wie man das nun erklären soll, darüber wage ich gar keine Muth- 
maassung zu äussern. Es wäre ja möglich, dass unter dem stärkeren 
Druck des Exsudates Inhalt ans den Chylusgefässen ausgepresst ist, und 
sich die Gefässe später geschlossen haben, als der Druck nachliess. 
Indess, das ist doch nicht mehr wie eine Vermuthnng, die man ans¬ 
sprechen kann, die aber nicht zu beweisen ist. Es sind mehrfach in 
der Literatur chylöse Ergüsse in die Bauchhöhle beschrieben, ohne dass 
sich selbst p. m. bei genauer Untersuchung eine Läsion der Cbylus- 
gefässe nachweisen liess. Dass ea Bich aber um einen chylösen Ascites 
gehandelt bat, das glaube ich bestimmt auch nach den Untersuchungen 
meines verehrten Collegen Senator annehmen zu dürfen. Herr Se¬ 
nator hat sich ja gerade ganz besonders mit dem Studium dieser Frage 
befasst und als ein besonders charakteristisches Merkzeichen, nnd meiner 
Ansicht nach durchaus begründet, hervorgehoben, dass eben ein chylöser 
Ascites zuckerhaltig sein muss, weil ja auch der Chylus zuckerhaltig ist. 

Nun haben wir versucht, noch auf einem anderen Wege diesen 
chylösen Ascites zu identificiren, indem wir dem Patienten Fett, und 
zwar grosse Mengen eines charakteristischen Fettes gegeben haben, um 
zn sehen, ob das Fett in den ABcites übergeht. Wir haben ihm nach 
dem Vorgänge von Munk mehrere Male grössere Mengen von Lipanin 
gegeben. Indess liess sich das Lipanin nicht in der Ascitesflüssigkeit, 
als nach 24 Stunden punktirt wurde, nachweisen. Das ist kein Gegen¬ 
grund gegen die Annahme des chylösen Ascites, denn es ist wiederholt 
beobachtet worden, dass das Fett, selbst bei sicherem Erguss von Chylus 
in die Bauchhöhle nicht, in den Ascites übergetreten ist. 

Wenn ich zum Schluss das Facit dieser Erfahrungen noch einmal 
hervorbeben darf, bo glaube ich, die Massendrainage auf 
das Wärmste empfehlen zu dürfen. Ich glaube, dass man 
immer gut daran thuu wird, solche Ergüsse, wo sie auch sitzen 
mögen bei chronischen Krankheitsprocessen, so schnell wie irgend 
möglich zu entleeren und fortzuschaffen. Die Vortheile davon liegen 
so sehr auf der Hand, dass es kaum ihrer besonderen Aufzählung 
bedarf. Man entlastet die Gefässe des Unterleibes, man entlastet 
einen etwa schon zu Stande gekommenen Collateralkreislauf von 
dem Druck, der anf den Gefässen liegt, man entlastet die grossen 
Drüsen des Unterleibes und die Därme von dem Druck, nnter dem 
sie stehen, nnd last not least: man hebt den Druck auf Herz und 
Lungen auf, so dass diese Organe besser functioniren und somit auch 
den allgemeinen Kräftezustand sich heben und zur Entfaltung kommen 
lassen. 

Man hat im Allgemeinen, glaube ich, auch dieser frühzeitigen Punc¬ 
tion des Ascites zugestimmt. Ich habe eigentlich nur eine einzige Be¬ 
merkung dagegen gelesen, die von Herrn Klemperer herriihrt, welcher 
bei Gelegenheit der Anpreisung des Harnstoffes als harntreibendes 
Mittel sagt, er hätte keine guten Resultate davon gesehen, ja er habe 
sogar einmal nach einer Punction eine Magenblutung mit tödtlichem 
Ausgang und ein anderes Mal einen schweren Collaps erlebt, den er auf 
die Anämie des Gehirns resp. der Medulla oblongata bezieht, indem er 
die Magenblutung durch die Anämie der Unterleibsgefässe erklären zu 
dürfen glaubt. Wie das zu Stande kommt, ist mir, offen gesagt, nicht 
recht klar. Denn gerade wenn der Druck auf die Unterleibsgefässe 
nachlässt und die Circulation eine bessere wird, so wird doch dadurch 
keine Veranlassung zu einem gesteigerten Druck und etwa zu einem 
Bersten der grossen Gefiisse gegeben. Im Gegentheil, ich glaube, dass 
gerade das Umgekehrte statthat. Man muss aber, wie ich schon anfangs 
betonte, nicht etwa glauben, dass man mit solchen Punctionen Jemand 
heilen kann. Von einer Heilung ist ja auch bei unserem Kranken nicht 
die Rede. Aber das ist ganz sicher, dass unser Patient längst vom 
kühlen Rasen bedeckt wäre, wenn wir ihm nicht diese Massenpunctionen 
gemacht hätten, und wenn wir ihn nicht auf diese Weise so weit ge¬ 
bracht hätten, dass er jetzt seiner Nierenkrankheit als ein ganz anderer 
Mann als vorher gegenübersteht. 

DiscusBion. 

Hr. Klemperer: Ich habe leider nur den letzten Theil dea Vor¬ 
trages von Herrn Ewald gehört; ich will deswegen auch nicht Uber die 


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21. Juni 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


547 


Indicationen der Pnnction im Allgemeinen sprechen, sondern nur eine 
kurze Bemerkung zu dem Citat machen, welches Hr. Ewald aus einer 
meiner Arbeiten erwähnt hat. Ich habe in der That die Meinung ver¬ 
treten, dass man vor der Punction die Entfernung des Ascites durch 
Anregung der Diurese so sehr als möglich erstreben soll und als ein 
recht wirksames Dinreticum haben sich mir grosse Dosen von Harnstoff 
erwiesen, den ich deswegen zu weiteren Versuchen empfohlen habe — 
ohne ihn übrigens „anzupreisen“, wie der Herr Vorredner meinte. Als 
einen Grund gegen die Entleerung grosser Exsudate habe ich die That- 
sache angeführt, dass danach plötzliche Todesfälle durch Himanämie 
und Darmblutungen eintreten können. Das habe ich selbst erlebt und 
es ist auch in der Literatar mehrfach beschrieben. Die Erklärung, die 
ich hierfür gegeben habe, ist doch wohl ganz plausibel: wenn das Ge- 
fässnetz des Unterleibs plötzlich von dem darauf lastenden Drucke des 
Ascites befreit wird, so stürzen grosse Blutmengen in die erweiterten 
Gefässe und es ist leicht verständlich, dass einerseits Gehirnanämie, 
andererseits ein Bersten der überfüllten GefäsBe stattfinden kann. Ich 
möchte diese Anschauung aufrecht erhalten nnd nach wie vor gegen eine 
Punction plädiren, ehe nicht alle inneren Mittel erschöpft sind. 

Da ich gerade das Wort habe, darf ich vielleicht noch eine Be¬ 
merkung über das Ereigniss machen, das Herr Ewald erwähnt hat, 
dass ein Ascites chylös wird, der vorher nicht chylös war. Ich habe 
diese Thatsache in der letzten Zeit zweimal erlebt, einmal bei Leber- 
cirrhose nnd einmal bei chronischer Peritonitis. In dem ersteren Fall 
ergaben drei Punctionen klaren Ascites, bei der vierten Punction wurde 
ehylöses Exsudat entleert und ebenso bei den zwei folgenden Punctionen 
und bei der mehrere Wochen danach folgenden Obduction war der Inhalt 
der Peritonealhöhle fettfrei. In dem zweiten Falle wurde die Flüssig¬ 
keit dreimal nicht cbylushaltig gefunden, die vierte und letzte Punction 
gab einen stark chylösen Ascites und bei der Obduction hat sich ein 
Grund für diese Chylusbeimischung nicht finden lassen; die Chylusgefässe 
und der Ductus thoracicus waren normal. Man muss wohl annehmen, 
dass Durchtritt von Chylus durch die intacten Gefässe Vorkommen kann, 
ebenso wie es Blutungen aus unverletzten Gefässen giebt. Auch in 
anderen Fällen von chylösem Ascites haben sich nicht immer Ver¬ 
letzungen der Chylusgefässe gefunden. Praktischen Werth möchte ich 
also dem Cbylöswerden eines Ascites nicht beimessen. Man hat eine 
gewisse Beunruhigung, wenn getrübtes Exsudat hervorschiesst, aber ich 
glaube, dass es meist keine wesentliche Bedeutung hat. 

Ilr. Stadelmann: Ich möchte auch einen Beitrag zu dieser Frage 
und zu dem Falle, den Herr Ewald uns heute vorgestellt hat, geben. 
Es handelt sich nicht gerade um Massendrainage, sondern eher um eine 
sehr häufig wiederholte Puuction bei einem Kranken. Auch mein Pat. 
war ein Nephritiker, der sich im Stadium der parenchymatösen Nephritis 
befand und ziemlich reichliche Oedeme und Ausschwitzungen in die ver¬ 
schiedenen Körperhöhlen zeigte. Besonders war es — eine eigentüm¬ 
liche Thatsache, die wir noch garnicht erklären können — gerade die 
linke Pleurahöhle bei ihm, in welche hinein diese Transsudate statt¬ 
fanden. Er wurde von ihnen ausserordentlich belästigt. Er bekam 
Athemnoth, Beängstigung, und ich war genötigt, sehr häufig — es ist 
vielleicht 40 Mal nötig gewesen — die linke Pleura zu pnnktiren, 
wobei jedes Mal so ungefähr ein Liter bis 1200 ccm Flüssigkeit heraus 
gebracht wurden. Dann allmählich ging die Nephritis mehr in das 
Stadium der interstitiellen Nephritis resp. der Schrumpfung über. Die 
Oedeme liessen mehr und mehr nach, die Ausschwitzungen verschwanden 
allmählich und der Kranke ging in leidlichem Zustande, etwa wie der¬ 
jenige des uns von Herrn Ewald vorgeführten Pat. ist, aus dem 
Krankenhause heraus und bat sich meiner weiteren Beobachtung ent¬ 
zogen. Es ist übrigens die Sache schon sehr lange her, vielleicht 12 
oder 15 Jahre. Ich habe nichts weiter von ihm gehört. Ich musste 
die Punction machen, weil der Kranke ebenfalls sehr darauf drang. 
Häufig stösst man auf grossen Widerstand bei den Kranken; sie wollen 
diesen Eingriff nicht, obgleich er ja sehr leicht ist, bei sich vornehmen 
lassen. Mein Patient — und nach der Richtung hin hat ja dieser Fall 
auch eine Aehnlichkeit mit dem, welchen Herr Ewald uns vorgeführt 
hat — fühlte eine solche Erleichterung nach derartigen Punctionen, dass 
er sehr häufig, manchmal jeden zweiten, auch dritten Tag darauf drang, 
dass wir doch wieder die Punction vornehmen möchten, und ich habe 
auch die Empfindung gehabt, dass wir dem Kranken mit derselben sehr 
genützt haben. Anderweitige Punctionen, etwa Einlegung von Troikars 
unter die Haut oder Punction des Ascites, waren bei ihm nicht nöthig, 
denn die Flüssigkeit sammelte sich, wie schon erwähnt, vorzugsweise 
und recht rasch in der linken Pleurahöhle an. 

Hr. Senator: Auch ich möchte mir einige Bemerkungen zu dem 
sehr interessanten Fall des Herrn Ewald erlauben. Was zunächst die 
Drainage betrifft, so kann ich in das Lob derselben nur einstimmen. 
Ich habe wiederholt sehr massenhafte Entleerungen aus den Extremitäten 
beobachtet, in einem Falle durch Drainage aus beiden Oberschenkeln 
10 Liter in 24 Stunden. Indessen hat diese Methode auch ihre Schatten¬ 
seiten, so dass man sie nicht für jeden Fall als die einzig richtige 
empfehlen kann. Denn der Patient ist dabei gezwungen, recht 
ruhig zu liegen, weil, sowie er sich bewegt, leicht die Punctionsnadel 
oder das Trokatröhrchen sich verschiebt und Schmerzen macht und auch 
der die kleine Hautwunde abschliessende Verband gelockert wird, wo¬ 
durch leicht eine Infection eintritt. Es bleibt also neben der Drainage 
auch noch den Skarificationen ein Platz für die Entleerung von Oedemen. 


— Ich habe Jetzt einen Mann auf meiner Abtheilung, der mit einer 
sogenannten parenchymatösen Nephritis aufgenommen wurde, bei dem 
auch im Laufe der Zeit, ich weiss nicht wie oft, der Ascites punktirt 
und die Drainage gemacht worden ist, und der jetzt, wie er meint, sich 
vollkommen wohl befindet. Er ist aber nicht aus dem Krankenhause 
hause gegangen, weil er als Wärter angestellt worden ist. Ich führe 
das an, um Ihnen zu zeigen, wie gesund er sich fühlt und für wie 
leistungsfähig er von der Direction erachtet wird. Nichtsdestoweniger 
hat er das, was man eine „secundäre Schrumpfniere“ nennt, mit 
dem charakteristischen Urin und gewissen bis jetzt freilich geringfügigen 
Veränderungen am Gefässsystera. Seine Bauchhaut zeigt Striae, wie 
eine Frau, die viele Schwangerschaften durchgemacht hat. 

Was nun den Ascites chylosus betrifft, so haben wir auch öfter 
beobachtet, besonders bei Nephritikern, dass bei wiederholten Punctionen 
die vorher klare seröse Ascitesflüssigkeit milchig wurde und mikrosko¬ 
pisch sich etwa so verhielt, wie es Herr Ewald beschrieben hat. Indess 
war ein so starker Fettgehalt, wie ihn Herr Ewald beobachtet hat, in 
diesen Fällen nicht zu constatiren. 

Herr Ewald hat darauf Bezug genommen, dass ich den Zucker¬ 
gehalt früher als ein Kriterium bezeichnet habe zur Unterscheidung des 
chylösen Ascites, das heisst eines Ergusses von wirklichem Chylus und 
des sogenannten chyliformen Ascites oder Ascites adiposuB, der durch 
fettige Umwandelung von allerhand Zellen in einem Erguss entsteht. 
Man hat damals geglaubt, dass Transsudate nur ganz minimale Spuren 
von Zucker enthalten. Indess es hat sich doch herausgestellt bei neueren 
Untersuchungen mit feineren Methoden, dass auch gewöhnliche Trans¬ 
sudate deutliche Mengen Zucker enthalten. Ein geringer Zuckergehalt 
ist also nicht entscheidend gegen ein Transsudat, in dem Bich die Zellen 
fettig umgewandclt haben und spricht zu Gunsten eines wirklich chylösen 
Ergusses. Ich möchte also jetzt nur einen stärkeren Zuckergehalt für 
Ascites chylosus beweisend halten. Geringe Zuckermengen würden nichts 
beweisen. 

Wie der chylöse Ascites in Herrn Ewald’s Falle zu erklären sei, 
weiss ich auch nicht. 

Dass bei rascher Entleerung einer starken Flüssigkeitsansammlung 
allerhand üble Zufälle stattfinden können, namentlich auch Ohnmächten 
und selbst tödtliche Hirnanämien, darin muss man wohl Herrn 
Klempcrer beistimmen. Die Kranken verbluten sich in ihr Pfortader¬ 
system hinein in Folge der Aufhebung des Drucks, welcher auf dem¬ 
selben gelastet hat. Und ich glaube auch, dass es dabei zu Blutungen 
aus den Wurzeln der Pfortader, die vorher comprimirt waren und sich 
nun gewaltig ausdehnen, kommen kann, also auch zu Magenblutungen. 
Ich habe selbst nie Derartiges beobachtet, vielleicht weil ich niemals 
Alles mit einem Male entleere, sondern Pausen mache, in denen die 
Patienten angehalten werden, tief zu athmen. also die Athmungspumpe 
in Bewegung zu setzen und dadurch die Aspiration des Blutes aus dem 
Bauch in den Thorax zu befördern. Auch ziehe ich es vor, die Kranken 
bei der Punction liegen zu lassen, wodurch der Abfluss des Blutes nach 
der oberen Körperhälfte, dem Gehirn, etwas befördert wird. 

Hr. Ewald (Schlusswort): Ich möchte nur mit ein paar Worten 
an das anschliessen, was eben Herr Senator gesagt hat. Was zu¬ 
nächst den Zuckergehalt betrifft, so ist ja schon vor einer geraumen 
Reihe von Jahren — es muss im Jahre 1874 gewesen sein — von 
Bock und II off mann nachgewiesen worden, ich glaube auch von 
Naunyn, dass in allen Exsudaten etwas Zucker enthalten ist. Davon 
habe ich mich selbst oft genug überzeugt. Doch ist die Menge minimal 
und man muss die Zuckerprobe mit grosser Vorsicht anstellen, um die 
kleine Spur von Zucker in diesen serösen Exsudaten respective Trans¬ 
sudaten nachweisen zu können. Ich hatte hier allerdings eine grössere 
Zuckermenge im Sinn, wie ja auch Herr Senator eben gesagt hat, so 
dass ohne Weiteres schon grössere Mengen von Zucker zu con¬ 
statiren sind. 

Was die Art der Punction anbetrifft, so stimme ich auch darin ganz 
Herrn Senator bei. Man muss eben doch nicht eine Punction des 
Ascites so machen, dass man innerhalb 10 Minuten 6 oder 8 Liter ab- 
lässt, was immerhin ein KunBtfehler sein würde. Ich dringe seit 
jeher darauf, dass die Punction ganz langsam ausgeführt wird, mit 
einem recht dünnen Troikar, der kaum sehr viel dicker ist, wie 
doppelte Stricknadeldicke. Das kostet allerdings etwas mehr Zeit, 
aber ich habe schon vor vielen Jahren in einer Arbeit, die ich 
damals über die Punction der Pleura veröffentlichte, gesagt, „dass 
der Arzt, der keine Zeit für seine Kranken hat, lieber davon weg¬ 
bleiben soll“, und dass man die Geduld haben soll, die Flüssig¬ 
keit langsam ablaufen zu lassen. Dann gleichen sich die veränderten 
Druckverhättnisse langsam aus und dann werden einem auch solche 
8achen nicht passiren, dass plötzliche Blutungen eintreten oder die 
Kranken an Hirnanämie zu Grunde gehen. Mir ist das wenigstens nie¬ 
mals passirt. Die Fälle, die in der Literatur vorhanden sein mögen, 
sind ebenso wie die Fälle von Chloroformtod nicht massgebend, die 
Methode zu discreditiren; deshalb wird man nicht etwa die Punction bei 
Seite schieben wollen. Ausserdem trifft die Bemerkung von Herrn 
Klemperer auch deshalb nicht auf meine Auseinandersetzungen zu, 
weil es sich bei mir ja gerade um jungen Ascites handelt; frischen, 
frühzeitigen Ascites will ich punctiren, wo es noch garnicht zu einem so 
starken Druck nnd zu so grosser Wasseransammlung gekommen ist. 
Aber selbst wenn es sich um grössere Mengen handelt, so wird doch 
nach der Punction durch bekannte Maassregeln,, vor Allem durch C’orn- 


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No. 25. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


pression dca Leibes durch eine fest angezogene Leibbinde nach Mög¬ 
lichkeit dafür gesorgt, dass eine solche Verblutung in die Unterleibs- 
gefässe vermieden wird. 

Ich muss also trotz alledem gestehen: ich bin durch Herrn Klem- 
perer nicht von einem Saulus zu einem Paulus geworden. Wie die 
Magenblutung durch eine Punction zustande kommen soll, ist mir trotz 
seiner Ausführungen nicht klar geworden. Vielleicht sprechen wir uns 
darüber einmal privatim aus. 

Im Uebrigen kann ich nur noch einmal meine Empfehlung der früh¬ 
zeitigen und ausgiebigen Punctionen, die ja auch von anderer Seite be¬ 
stätigt worden ist, wiederholen. 

2. Hr. Grawitz: Zur Physiologie und Pathologie der Pleura. 
(Der Vortrag wird unter den Originalien dieser Wochenschrift ver¬ 
öffentlicht.) 

8. Discussion über den Vortrag des Herrn Greeff: Ueber Gliome 
und Pseudogliome der Retina. 

Hr. Hirschberg: Den interessanten Erörterungen des Herrn Vor¬ 
tragenden, mit dessen Ansichten ich im Wesentlichen übereinstimme, 
möchte ich einige Bemerkungen hinzufügen, zumal meines Wissens im 
Schoosse unsrer Gesellschaft vorher erst zwei Mal Erörterungen über 
Gliom und Pseudogliom stattgefunden haben: einmal im Jahre 1869, als 
ich einen Vortrag hielt über den Markschwamra der Netzhaut 1 2 ), und 
ferner im Jahre 1874, wo im Anschluss an den Vortrag des Collegen 
Landsberg die Verwechslungen der entzündlichen Neubildungen mit 
dem Markschwamm von mir erörtert wurden. 1 ) 

Der Gegenstand verdient wohl, bei uns besprochen zu werden, 
weil die Lehre vom Gliom der Netzhaut wesentlich von Mitgliedern 
unsrer Gesellschaft ausgebildet ist: von Bernhard von Langen- 
beck, der schon 1886, also vor der Entdeckung der Zelle, mit Hilfe 
des Mikroskops die Uebereinstimmung der histologischen Elemente des 
NetzhautmarkschwammB mit solchen der normalen Netzhaut nachgewiesen 
hat; von unsrem Vorsitzenden Rudolf Virchow, von dem Name, 
anatomische Definition und Beschreibung des Netzhautgliom herrührt; 
von Albrecht von Graefe, von Schweigger und mir selber, denen 
in den letzten Jahren College Greff sich angeschlossen hat. 

Freilich, der praktische Arzt kann schon etliche Jahre prakticiren, 
ehe er überhaupt einen Fall von bösartiger Augengeschwulst zu sehen 
bekommt; aber bei uns Augenärzten sind Augengeschwülste nicht gar 
so selten, da etwa 1 Fall auf 1000, allenfalls auf 2000 Augenkranke 
kommt, und stellen bedeutungsvolle Erkrankungen dar, die nicht nur ein 
so wichtiges Organ, wie das Auge, zerstören, sondern sogar das Leben 
ernstlich bedrohen, so dass, bei frühzeitiger Erkenntniss, lebens- 
rettende Augenoperationen in Betracht kommen. 

Noch dazu sind diese Krankheitsformen berufen gewesen, auf dunkle 
Gebiete der allgemeinen Krankheitslehre Licht zu werfen. Während 
unser Herr Vorsitzender 1864 in seiner bahnbrechenden Geschwulstlehre 
den Ausspruch that, dass die klinische Beobachtung des Gesammtver- 
laufes, des „Constitutionalismus“ der einzelnen wissenschaftlich ab¬ 
gegrenzten Geschwulstformen, ein Gebiet darstelle, auf dem eigentlich 
noch alles zu machen sei, haben bereits 1868 Albrecht von Graefe, 
H. Knapp und ich selber die Krankheitsbilder und den klinischen Ge- 
sammtverlauf der bösartigen Augengeschwülste genauer gezeichnet, als 
dies bis dahin bei vielen Neubildungen andrer Körpertheile möglich ge¬ 
wesen, und brauchbare Beispiele für einige Hauptsätze der allgemeinen 
Geschwulstlehre geliefert. 

Wie gesagt, den Begriff und die Beschreibung des Netzhautgliom 
verdanken wir unserem Herrn Vorsitzenden, während allerdings der 
Markschwamm der Netzhaut bereits seit Wardrop’s Sonderschrift vom 
Jahre 1809 bekannt gewesen. Die Scheidung des Gliom in eine nach 
aussen von der Netzhaut, also nach hinten wuchernde Form, und 
in eine nach innen, also nach vorn wuchernde, oder, wie ich damals 
sagte, in Glioma exophytum und Glioma endophytum habe ich 1869 in 
meiner Sonderschrift aufgestellt und auch von vornherein gefordert, die 
entzündlichen Veränderungen von den gliösen zu trennen, 
zwischen denen nicht blos früher, z. B. in der berühmten Dissertation 
von Canstatt aus dem Jahre 1830, die schlimmsten Verwechslungen 3 * ) 
ganz regelmässig vorgekommen waren, sondern auch noch in der neueren 
Zeit einige, wenn auch weniger schlimme und nicht so häufige. 

Mehrfach erhielt ich damals einen ausgeschälten Augapfel mit der 
Diagnose Glioma zugesendet, während ich bei der anatomischen Unter¬ 
suchung Netzhautablösung in Folge - von hämorrhagischer Aderhautent- 
zündung vorfand. Zur kurzen Bezeichnucg dieser Fälle schuf ich, in 


1) Verhandl. d. Berl. med. Ges., n. Band (1869—1871), II. Abth., 
S. 34. 

2) Verhandl. d. Berl. med. Ges., VI. Band (1874—1875), I. Abth., 
S. 33. 

8) Nur von diesen sagte ich 1869 (Markschwamm der Netzhaut, 
S.284): Heutzutage dürften derartige Verwechslungen nicht mehr Vor¬ 
kommen.— Diese Stelle ist von Greeff wie von Wintersteiner miss¬ 
verstanden worden. Dass in einigen seltnen Fällen die Diagnose 

zweifelhaft bleibt, habe ich bereits damals (S. 230) ausgesprochen und 

später, auf Grund grösserer Erfahrung, genauer ausgeführt. 


Anlehnung an Sichel’s PseudencephaloYd'), 1872 den Namen Pseodo- 
glioma"), der leider bis heute sich erhalten hat. 

Denn mit unsrem Herrn Vorsitzenden verabscheue ich die falschen 
Krankheiten und ihre Namen; wir sind aber auf bestem Wege, als 
Seitenstück zu der „echten Pseudoleukämie“ auch noch ein „echtes 
Pseudogliom“ zu bekommen und dies von den unechten zu unter¬ 
scheiden. 

Uebrigens bemerke ich, dass ich die von dem Herrn Vortragenden 
beschriebene Verwechslungskrankheit seit mehr als 2 Jahrzehnten wohl 
kenne; College Ginsberg hat auch neuerdings (1894) einen Fall aus 
meiner Praxis im Centralbl. f. A. genau beschrieben. 

Zur Diagnose genügt hier, wie gewöhnlich in der Heilkunde, 
nicht ein Zeichen, das kann trügen, sondern die Zusammenfassung des 
ganzen Krankheitsbildes. Wie ich schon 1869 und 1874 angedeutet, 
ist es 1. der messinggclbe oder mehr grünlich-gelbe Schimmer aus der 
Pupille 3 ), 2. das Fehlen des hirnmarkähnlicben Geschwnlstgewebes mit 
den weissen Fett- und Kalkpünktchen in den vorgeschobenen Netzhaut¬ 
buckeln, 3. das Fehlen deutlich ausgebildeter Blutgefässe, und endlich 
4. die Entwickelungsgeschichte der Krankheit, der acute Beginn, welche 
die wichtigsten Anhaltspunkte für ein entzündliches Leiden nnd gegen 
Markschwamm abgeben. 

Wenn nun unter 24 wegen der Diagnose Netzhautgliom 1888—1892 
von den Chirurgen zu Moorflelds in London enucle'frten Augäpfeln 7 mal 
die Diagnose nachträglich durch die anatomische Untersuchung als falsch 
erwiesen wurde, und wenn ferner Haab in Otto Becker's Sammlung 
unter 20 Augäpfeln, die von Verschiedenen wegen Gliom enucleirt worden, 
5 mal diese Diagnose falsch gefunden; so scheinen mir diese Verhältniss- 
zahlen von 7:24 oder von 5: 20 etwas zu gross zu sein. Aber ich ge¬ 
stehe zu, dass auch noch hautzutage sogar der Erfahrene gelegentlich 
in seiner Diagnose schwanken kann. Längeres Znwarten ist gefährlich, 
wenn es sich wirklich um bösartige Geschwulst bandelt. Von der Probe- 
punction, die ich selber bereits 1868*) für Binnengeschwülste dea Aug¬ 
apfels angegeben, mache ich nur sparsamen Gebrauch, weil man da¬ 
durch die histologische Reinheit der Ausrottung preisgiebt, wie die Er¬ 
fahrung gelehrt hat. 5 ) 

So wird man denn von zwei Uebeln, Tod des Kranken und Ver¬ 
lust eines blinden, entarteten Augapfels, das letztere als das bei Weitem 
kleinere wählen müssen.*) 

Denn bei dem echten Markschwamm der Netzhaut Ist 
die frühzeitige Entfernung des Augapfels eine lebens¬ 
rettende That. 

Schon 1869 hatte ich gezeigt, dass, wenn der helle Schein aus der Pupille 
erst seit einigen Wochen bestellt, und weon dann nach der Ausschälung 
des Augapfels die Neubildung auf die Netzhaut beschränkt gefunden 
wird, die Kinder dauernd gerettet sind. Ausnahmsweise kann allerdings 
auch einmal nach längerem Bestand der Erkrankung und bei beginnender 
Ausbreitung auf Aderhaut und Sehnerv noch Heilung durch Operation erzielt 
werden, aber doch nur ausnahmsweise. Damals konnte ich aus den 77 Fällen 
der Literatur und meinen eigenen Beobachtungen in von Graefe’s 
Augenklinik nur 5 Fälle oder 6‘ 5 pCt. dauernder Heilungen aufflnden. 
Seit dieser Zeit hat die Diagnose der frühen Stadien sich vertieft und 
verbreitet. In der neuesten Sonderschrift Uber diesen Gegenstand, aus 
diesem Jahr, von Winters teiner in Wien, sind von nahezu 500 Fällen 
der Literatur bereits 81 Fälle dauernder Heilung mitgctheilt, das sind 
16 pCt. Ich bemerke, dass ich den einen Ausnahmefall, wo 4 Jahre 
nach der Ausrottung des einen Augapfels wegen Gliom der Netzhaut 
dieselbe Krankheit in dem anderen Auge erschien und das Kind hinweg¬ 
raffte, wohl kenne und berücksichtige. Aber ein Fall auf 500 ändert 
die Gesammtauffassung nicht, zumal die Erkrankung des zweiten Auges 


1) Sichel hat allerdings mit PseudencephaloYd nur eine besondere 
Form des Encephaloid (Netzhaut-Markschwamm) bezeichnen wollen, viel¬ 
leicht das Glioma endophytum. Vgl. seine Iconographie ophthalmologique, 
Paris 1852—1859, S. 582: J'apelle pseudencephaloYde de la rätine 
une maladie toute semblable ä l'encäphaloYde retinien, dont eile differe 
peu par ses symptomes pathognomoniques, son diagnostic difförentiel 
n’est pas encore etablie d’une maniere nette. 

2) Hirschberg, Klinische Beobachtungen aus der Augenheilanstalt, 
die im December 1872 abgeschlossen, mit der Jahreszahl 1874 in Wien 
erschienen sind, S. 11. —- In Nagel’s Jahresbericht taucht der Name 
Pseudogliom zuerst 1877 auf (VI. Jahrgang f. 1875), im Anschluss an 
den Fall von Hutchinson, Ophth. Hosp. Rep. VIII, 227. 

8) Beim Markschwamm der Netzhaut ist der Schimmer aus der 
Pupille glänzend weiss, gelbweiss oder allenfalls röthlich-gelb; mattweiss 
oder grauweiss bei metastatischer Aderhautentzündung nach Meningitis; 
gelb bei Glaskörpervereiterung, z. B. nach Eindringen eines Fremd¬ 
körpers; bläulich bei Ausschwitzung in den Glaskörper, z. B. in Folge 
von Lues congenita. 

4) Vgl. Zehender’s Monatsbl. 1868 und Centralbl. f. A. 1896, 
S. 268. 

5) Discussion der Heidelberger Ophth. Gesellsch. 1896, Hirschberg, 
Leber. (Bericht S. 120.) 

6) Wintersteiner, Das Neurepitheliom der Netzhaut, S. 185: 
„Lieber zehn blinde Augen zuviel enucleYren, als ein Mal durch Unter¬ 
lassung der rechtzeitigen Operation das Kind dem grauenhaften Ge¬ 
schwulsttode überantworten!“ Diesen Standpunkt vertreten übrigens die 
besseren Lehrbücher schon seit Jahren. 


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21. Wi 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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an Gliom stet« ala eine selbstständige anzuaeben ist. Meine eignen Er¬ 
fahrungen sind übrigens verhältnismässig noch günstiger, als die Zu- 
sammenstellnngen von College Winters te in er. Ich verweise auf die 
Inauguraldissertation von Dr. Bruno Wolff aus dem Jahre 1893 und 
auf meinen 25jährigen Bericht. Siebzehn Fälle von Netzhautgliom, die 
ich bis 1893 operirt hatte, zerfallen in zwei Gruppen. In der ersten 
Gruppe von zehn Fällen zeigte die anatomische Untersuchung des ent¬ 
fernten Augapfels, dass die Neubildung nicht die Netzhaut überschritten 
hatte. In keinem dieser Fälle konnte ein Rückfall oder übler Ausgang 
nachgewiesen werden; drei von ihnen vermochte ich allerdings nicht 
lange genug zu beobachten: aber die andern sieben über mehrere, selbst 
5, 8, 12 Jahre. Ganz anders gestaltet sich die Sache in der zweitön 
Gruppe jener sieben Fälle, die erst zur Operation gelangten, als die 
Neubildung bereits die Netzhaut überschritten hatte: ein Fall konnte 
nicht lange genug beobachtet werden; aber die anderen 6 ergaben alle 
leider einen ungünstigen Ausgang. 

Somit ist der Netzhautmarkschwamra ein treffliches Beispiel zu dem 
Virchow’sehen Satz, dass bösartige Geschwülste im Beginn ein streng 
örtliches Leiden darstellen, das, rein ausgerottet, nicht wiederkehrt. 

Ich besinne mich auf einen recht traurigen Fall, das einzige Kind 
einer Familie, wo mein Rath der Operation nicht angenommen wurde, 
weil ein Fachgenosse, der nach mir befragt wurde, gegen die Diagnose 
Markschwamm sich aussprach, und das Kind elendiglich zu Grunde ging, 
obwohl einige Monate später, als die Diagnose handgreiflich ge¬ 
worden, der Augapfel noch nachträglich entfernt worden war. 

Doch bin ich keineswegs gleichgiltig gegen die Erhaltung eines, 
wenn auch erblindeten und entarteten Augapfels, falls dieselbe möglich 
ist. Zu meinen dankbarsten Clienten gehörte eine andre Mutter, der 
ich, wieder bei dem einzigen Kinde, einem Mädchen, von der dringend 
angerathenen Entfernung eines Augapfels abrieth nnd von der Richtig¬ 
keit meiner Diagnose auf metastatische Augenentzündung durch jahrelang 
fortgesetzte Weiterbeobachtung mich vollständig überzeugt habe. 

Hr. Schweigger: Ich wollte nur bemerken, dass das Wort Pseudo- 
Gliome eigentlich nur gebraucht werden sollte für solche Fälle, bei denen 
diejenigen Anzeichen vorhanden sind, die man sonst charakteristisch für 
Gliom betrachtet. Wenn man hinter der Linse einen weissen Reflex 
Bieht mit Gefässen, so sollte man das auch nicht Pseudo-Gliom nennen. 
Aber dieselben Veränderungen, welche man gewöhnlich als charakte¬ 
ristisch für Gliom betrachtet, kommen auch vor ohne Gliom. Wenn man 
dicht hinter der Linse alle in 3—4 Buckeln vorgedrängte Netzhaut sieht, 
so pflegt man darauf hin Gliom zu diagnosticiren, aber die anatomische 
Untersuchung solcher enucleirten Augen hat ergeben, dass dieser Befund 
auch vorkommt bei Netzhautablösung ohne Gliom. Obgleich also die 
Diagnose Gliom nur eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose ist, bin ich doch 
dafür, die Enucleation auszuführen, denn das Auge ist doch verloren, 
aber von einer „Lebensrettung“ durch die Enucleation kann in solchen 
Fällen nicht die Rede sein. Uebrigens habe ich eB auch bei anatomisch 
nachgewiesenem Gliom gesehen, dass etwa ein Jahr nach der Enucleation 
auch das andere Auge an Gliom erkrankte. Es steht ungefähr ebenso 
mit anderen intraocnlären Geschwülsten. Auch hier wird die lebens¬ 
rettende Wirkung ganz bedeutend übertrieben. Es ist eben zu bemerken, 
dass der Nachweis einer intraoeulären Geschwulst durch den Augen¬ 
spiegel nicht schwer ist. Man sieht die Geschwulst deutlich, aber ein 
Urtheil über die Natur der Geschwulst kann man aus dem blossen An¬ 
blick nicht gewinnen. Wenn man sonst eine Geschwulst sieht, so be¬ 
gnügt man sich nicht damit, sie nur in einseitiger Richtung, wie wir es 
mit dem Augenspiegel thun, anzusehen, sondern man betastet die Ge¬ 
schwulst und untersucht in jeder möglichen Weise, was bei intraoeulären 
Geschwülsten nicht möglich ist. Eine positiver Beweis über die Natur 
der Geschwulst ist durch den Augenspiegel nicht möglich, es handelt 
sich immer nur um Wahrscheinlicbkeitsdiagnosen. Ich habe deshalb in 
Fällen, wo die Geschwulst vorn im oder nahe am Ciliarkörper lag, die 
Punction ausgetührt, und einzelne Theile der Geschwulst ausgelöffelt; 
wenn dann Sarkom durch die mikroskopische Untersuchung nachgewiesen 
war, wurde die Enucleation ausgeführt. Irgend welche Nachtheile können 
daraus nicht erwachsen, denn wenn es eine maligne Geschwulst ist, 
wird eben sofort enucleirt, und bei ungefährlichen Geschwülsten kann 
die Punction unmöglich schaden. 

Vor etwa einem Jahr hatte ich einen Fall in Behandlung, in welchem 
bei localer Beleuchtung eine Geschwulst in der Ciliarkörpergegend zu 
sehen war. Das Auge war von einem Collegen bereits zur Enucleation 
verurtheilt worden. Die Patientin kam zu mir, weil sie das Auge lieber 
behalten wollte, obgleich das Sehvermögen verloren war. Ich machte 
also eine Probepunction, und zu meinem Erstaunen floss eine grosse 
Masse Flüssigkeit aus. Das Auge collabirte; nach ein paar Tagen war 
aber Beine Form wieder hergestellt, und nach mindestens einem halben 
Jahre habe ich die Patientin wiedergesehen mit vollständig gut er¬ 
haltenem Auge und ohne Beschwerden. Das beweist also doch, dass 
die Enucleation in diesem Falle ganz überflüssiger Weise angerathen 
war. Nun, es hätte ja hier nicht viel geschadet, weil das Auge er¬ 
blindete. Aber wenn man eine Geschwulst im Auge sieht und dabei 
noch ein brauchbares Sehvermögen vorhanden ist, halte ich es doch 
nicht für gerechtfertigt, die Enucleation auszuführen. Denn ein Nach¬ 
weis über den mikroskopischen Bau der Geschwulst wird durch den 
Augenspiegel nicht geliefert, und selbst wenn es ein Sarkom ist, können 
wir nicht wissen, ob es eine primäre Geschwulst ist, oder ob nicht 
irgendwo im Körper schon andere Geschwulstherde sitzen. So eine 


kleine Geschwulst, wie wir sie im Auge sehen, z. B. ein kleines Sarkom, 
kann ja vielleicht viele Jahre in der Leber und sonst wo sitzen, ohne 
dass es Beschwerden macht, und ich habe in der That Fälle gesehen, 
bei denen nach der Enucleation wegen Sarkom der Choreoidea schliess¬ 
lich nach 1—2 Jahren doch der Tod noch durch Lebersarkom erfolgte, 
was damals natürlich nicht nachweisbar war. Es ist immer eine Frage, 
die man nicht beantworten kann, ob die Geschwülste, die wir sehen, 
nicht bereits Metastasen sind. Ich muss ausserdem noch bemerken, dass 
häufig Missbrauch mit der Enucleation getrieben wird. Mir ist z. B. 
ein Fall vorgekoramen, von einem Patienten, der auf der Conjunctiva 
verschiedene kleine schwarzgefärbte Geschwülste zeigte, die sich bei 
der Untersuchung auch als sarkomatös erwiesen, aber bei ganz normaler 
Sehschärfe. Er hatte sich an zwei berühmte Professoren gewandt; der 
eine wollte das Auge enncleiren, der andere gleich die ganze Orbita 
exenteriren, „denn es könnte in die Lymphgefässe wandern.“ Nun, ich 
begnügte mich, die kleinen Knötchen auszuBChneiden. Sie recidivirten 
dann, wurden wieder ausgeschnitten und zum Theil auch galvanokaustisch 
zerstört. Die Sache zog sich dadurch etwas in die Länge. Nachher 
habe ich den Patienten jahrelang beobachtet, ohne dass irgend etwas 
erfolgte. 

Mein Standpunkt ist also der: wenn eine intraoeuläre Geschwulst 
im Auge nachweisbar ist und das Sehvermögen ist noch gut, so halte 
ich es im Interesse des Patienten für das Beste, den Fall weiter zu 
beobachten. Mir sind solche Fälle vorgekommen, wo ich jahrelang 
beobachtet hatte, ohne dass ein Wachsthum der Geschwulst erfolgte, 
während das Sehvermögen unverändert blieb. Schliesslich fielen die 
Leute jemand in die Hände, der ihnen sofort angst und bange machte, 
und das Auge enucleirte, weil er es gern haben wollte. Meine Ansicht 
ist also: man muss zurückhaltend sein in solchen Fällen, wo die Dia¬ 
gnose nicht mit Sicherheit gestellt werden kann, sondern eben nur mehr 
oder weniger als WahrscheinlichkeitsdiagnoBe. 


VIII. 15. Congress für innere Medicin in Berlin. 

Vom 9.—12. Juni 1897. 

Ref. Albu (Berlin). 

1. Sitzung vom 9. Juni, Vormittags. 

An Stelle des abwesenden Vorsitzenden v. Leyden leitet 
M. Schmidt (Frankfurt a. M.) die Verhandlungen und verliest die von 
v. Leyden abgefasste Eröffnungsrede. Dieselbe führt nach einleitenden 
Bemerkungen über die Geschichte des Congresses folgendes aus: Die 
innere Klinik steht heute unter dem Zeichen der Therapie. Die interne 
Klinik kann sich nicht darauf beschränken, die ErkenntnisB und Beob¬ 
achtung der Krankheit zu fördern, sie darf ihr höchstes und letztes Ziel 
nicht ans dem Auge verlieren, dem sie zu dienen hat: zu helfen. Die 
Medicin ist eine Kunst, welche für ihre Zeit schaffen soll', sie hat den 
Bedürfnissen des alltäglichen Lebens zu dienen, sie muss im Augenblick 
helfen, so gut sie es eben kann. 

Die Zeiten des Nihilismus in der Klinik und des Pessimismus in 
der Praxis sind überwunden. Die exspectative Therapie, welche die 
ärztliche Wirksamkeit auf ein recht bescheidenes Maass herabsetzte, hat 
einer zielbewussten Thätigkeit Platz gemacht. Nicht mehr sind wir der 
Meinung, dass die Medicin nur in denjenigen Krankheitsfällen etwas 
leistet, wo sie über specifische Mittel gebietet, und dass ausser ihnen 
jede andere Verordnung gleichgültig sei. Wir sind uns heute am 
Krankenbette bewusst, dass wir nicht bloBS die Krankheit, sondern an 
erster Stelle den Kranken zu behandeln haben und dass nichts, auch 
nicht das Kleinste für ihn gleichgültig ist: nichts am Krankenbette 
macht sich von selbst in richtiger Weise, für alles hat der Arzt zu 
sorgen. Die heutige Medicin fusst nicht mehr auf einem bestimmten 
System und schöpft nicht mehr aus bloBS einer Quelle. 

Unsere Therapie beruht nicht mehr ausschliesslich auf Medicamenten 
und Recepten. Wir wissen, dass die Aufgabe des Arztes nicht damit 
erledigt ist, dass er sein Recept lege artis verschrieben hat. Wir sind 
uns auch darüber klar, dass viele Kranke ohne Medicin genesen. Trotz¬ 
dem ist die Behauptung, dass der Glaube an Medicamente gesunken ist, 
nnr in sehr beschränktem Sinne begründet. Wer gegenwärtig einen 
Blick auf die immense Entwickelung der chemischen Pharmakologie wirft, 
der wird zweifellos nicht wohl der Meinung sein können, dass der Glaube 
an Medicamente allzu sehr im Sinken ist. ' Das Vertrauen in die alten 
Medicamente ist gesunken, den neuen jauchzt man zu. 

Trotz aller Angriffe der Radicalen bleibt die Pharmakologie also 
auch heute ein wichtiger Factor der Therapie. Sie hat überdies in den 
letzten Jahren zwei neue wichtige Provinzen gewonnen, welche, der 
wissenschaftlichen Forschung zugehörig, schon Bedeutendes hervorge¬ 
bracht haben, noch mehr versprechen: Die 8erumtherapie und die 
Organsafttherapie. In der ersteren hat das Behring’sche Diphthcrie- 
heilserum auch im Laufe des letzten Jahren seinen Triumphzug fortge¬ 
setzt und alle mehr oder minder schüchternen Angriffe siegreich 
abgeschüttelt. Die anderen derartigen Präparate, welche der Wissen¬ 
schaft und den Aerzten dargeboten sind, haben bisher keinen entschie¬ 
denen Erfolg errungen, weder das Erysipelserum von Emmerich, noch 
das Marmorek’scbe Streptokokkenserum; auch von dem Tuberkulose- 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 25. 


heilserum Maragliano’s ist nichts näheres zu vermelden. Auch die 
Organsafttherapie hatte in dem vergangenen Jahre keine grossen 
Fortschritte zu verzeichnen. Die Thyreoidintherapie, gefördert durch 
die Entdeckung des Jodothyrins, steht an der Spitze. Die anderen 
Organsäfte haben noch keine sicheren Erfolge aufzuweisen, aber sie 
erfreuen sich einer sehr verbreiteten Sympathie im ärztlichen und Laien¬ 
publikum. 

Die Fülle von neuen Arzneimitteln und Präparaten, welche die 
chemischen Fabriken uns daTbieten, überschwemmen den Markt in so 
ausserordentlichem Maasse, dass es nicht mehr möglich ist, ein auf 
Wissenschaft und Erfahrung sicher gegründetes Urtheil zu gewinnen. 
Das Interesse der Industrie erfordert eine gewisse ßeclame. Es ist 
nicht zu hindern, dass Speculation und Reclame sich der im Publicum 
herrschenden Strömungen bemächtigen. Der Kranke, welcher Hülfe 
erhofft, ist leicht zu bethören, er klammert sich an das Neue und will 
nicht warten, bis die Wissenschaft ihr Urtheil gegeben hat; aber die 
Anpreisung neuer Nähr- und Arzneimittel oder solcher Dinge, die es 
sein sollen, überschreitet leider oft nach Form und Inhalt doch gar oft 
die Grenze dessen, was die Würde der Heilwissenschaft erlauben sollte. 

Leyden erörtert des Weiteren die Heilfactoren, die durch die 
Krankenpflege, die Diätetik, die Psychotherapie, die Elektrotherapie, die 
Massage, die Gymnastik und die Hydrotherapie gegeben sind. 

Die natürliche Folge einer so schnellen Entwickelung therapeuti¬ 
scher Methoden ist die, das sich allmählich mehr und mehr therapeutische 
Specialitäten bilden. Diese Specialisirung hat anscheinend ihren Höhe¬ 
punkt noch nicht erreicht: wir werden dahin kommen, dass die Behand¬ 
lung einzelner Krankheiten zu einer Specialität wird. Dass eine solche 
Specialisirung, wie sie ja nach vielen Richtungen hin im Sinne unserer 
Zeit liegt, auch ihr Gutes habe, kann man ohne Zögern anerkennen, 
obwohl wir nicht ohne Besorgniss unter der fortschreitenden Zersplitte¬ 
rung die Gesammttherapie in den Hintergrund treten sehen. Wir werden 
schliesslich viele Specialisten, aber wenig r Aerzte im alten Sinne“ mehr 
haben. 

Zu allen Zeiten haben daher die Culturetaaten die Nothwendigkeit 
anerkannt, für eine gründliche Ansbildung und Prüfung der Aerzte Sorge 
zu tragen. Diese Ausbildung müsste auf der Erlernung der thatsäch- 
lichen Grundlagen der Medicin, wie sic die Wissenschaft und die geläu¬ 
terte Erfahrung giebt, basirt sein! Die Ausbildung des angehenden 
Arztes ist heute vielleicht die allerachwierigste Aufgabe. Man kann es 
fast Niemandem darin mehr recht machen. Man spricht von „Scliul- 
medicin“ und will damit einen gewissen Gegensatz zu den Anforderungen 
ausdrücken, welche das praktische Leben an den Arzt stellt. Nun, 
„Schulmediein“ müssen wir betreiben, weun wir eben eine medicinische 
Schule sein sollen. Es ist selbstverständlich, dass der Unterricht nach 
gewissen Principien gelehrt werden muss, welche dem Lernenden in 
erster Linie den wissenschaftlichen Inhalt und das wissenschaftliche 
Denken beizubringen trachten. Der Anspruch, dass alles, was in der 
Praxis eine gewisse Bedeutung gewonnen hat, auch sogleich zum Lehr¬ 
gegenstand erhoben werden soll, scheint daher nicht nach allen Rich¬ 
tungen hin überlegt zu sein. Kein Arzt kann als Meister die Universität 
verlassen; wer nicht tüchtig weiterarbeitet, wird kein tüchtiger Arzt. 
Wie jeder andere Künstler, erreicht auch der Arzt die Höhe seiner 
Leistung erst nach jahrelanger selbständig-schaffender Thätigkeit. — 

Es folgten die Begrüssungsreden der staatlichen und städtischen Be¬ 
hörden. Virchow als Ehrenpräsident proclamirt, hält folgende An¬ 
sprache: Seit 50 Jahren kämpfe er gegen die 8pecialitäten an. Traube 
hat ihn zuerst darin wankend gemacht und seitdem hat er öfters den 
scheinbaren Erfordernissen der Zeit zögernd nachgegeben. Durch die 
immer weitere Verzweigung der medicinischen Wissenschaft werden die 
gemeinsamen Interessen und die gegenseitige Verständigung gefährdet. 
Die Zersplitterung der Gesammtwissenschaft kann in einzelnen Disci- 
plinen zu der Vorstellung Veranlassung geben, dass wir in den Grund- 
anschaunngeu unter einander viel weiter auseinander gingen, als es in 
Wirklichkeit der Fall ist. Man muss immer wieder den Versuch machen, 
diese innere Kluft zu überbrücken. Die pathologische Anatomie ist die 
einzige, die von allen Specialitäten in Anspruch genommen wird. Trotz¬ 
dem sind die Pathologen selbst im Begriff, sich zu einem Sondercongress 
zusammenzuthun. Die von einem neuen Zweige in der Medicin ausge¬ 
gangene Serumtherapie gab sich den Anschein, als ob sie die Humoral¬ 
pathologie wieder zum Leben erwecke. Davon kann gar keine Rede 
sein. Denn die Erfolge der Sernmtherapie sind zwar Thatsachen, 
aber Bic spotten noch jeder Erklärung, ebenso wie Jenner’« Schutz¬ 
pockenimpfung. 

Der chronische Gelenkrheumatismus und seine Behandlung. 

Der Referent, Herr Bäu ml er (Freiburg), bespricht die Pathogenese 
des chronischen Gelenkrheumatismus. Verschiedenartige Gelenkerkran¬ 
kungen werden in der Praxis mit diesem Namen belegt. In Deutschland 
wird nach v. Volkmann's Beispiel von den meisten Chirurgen das 
„chronischer Gelenkrheumatismus“ genannt, was die Mehrzahl der inneren 
Kliniker als „Arthritis deformans“ bezeichnet. 

Die Verwirrung, welche auf diesem Gebiete herrscht, ist dadurch 
verschuldet, dass das eine Mal eine pathologisch-anatomische Bezeich¬ 
nung gewählt wird, das andere Mal ein der ältesten Humoralpathologie 
entlehnter Ausdruck, nämlich „Rheumatismus.“ Die Bezeichnung „Rheu¬ 
matismus“ wird seit alten Zeiten bald als ätiologische Bezeichnung ge¬ 
braucht, bald wird „rheumatische“ Erkrankung gleichbedeutend mit „Er¬ 
kältungskrankheit. “ 


Der Ausdruck Rheumatismus wird schliesslich noch im Sinne einer 
in der Organisation gewisser Personen begründeten Prädisposition zu 
entzündlichem Erkranken der Gelenke unter dem Einfluss von Erkältung 
und anderen Ursachen gebraucht, d. h. zur Kennzeichnung einer Diathese. 

So werden in praxi oft die verschiedenartigsten Dinge als Rheuma¬ 
tismus bezeichnet, während cs sich thatsächlich um eine Neuritis, um die 
lancinirenden Schmerzen der Tabes, um eine Periostitis, vielleicht um 
eine Periostitis syphilitica handelt, oder “der diagnosticirte „chronische 
Gelenkrheumatismus“ in Wirklichkeit eine gonorrhoische Gelenkentzün¬ 
dung ist. Die rechtzeitige Erkennung des wahren Wesens einer der¬ 
artigen Erkrankung ist aber die Grundlage einer richtigen Behandlung. 

Immermann hat vorgeschlagen, den Ausdruck „Rheumatismus** aus¬ 
schliesslich für Krankheitszustände mit einheitlicher Pathogenese und 
einheitlicher Aetiologie, also für den sogenannten „acuten Gelenkrheuma¬ 
tismus“ zu verwenden. 

Was haben wir nun unter „chronischem Gelenkrheumatismus“ zu 
verstehen ? 

Folgerichtig die chronische Form der acuten. 8olche chronische 
Formen desselben giebt es. Sie setzen sich meist zusammen aus wieder¬ 
holten subacuten Anfällen, aus Rückfällen nicht sorgfältig oder lange 
genug behandelter acuter Anfälle. Häufig sind auch von früheren An¬ 
fällen herrührende Herzaffectionen nachweisbar, oder sie entwickeln sich 
auch erst in dem chronischen Stadium. Diese Form des chronischen 
Gelenkrheumatismus ist seit Einführung der Salicylbehandlung viel sel¬ 
tener geworden. 

Die Zahl der Fälle von chronischer Gelenkerkrankung, die mit 
Sicherheit als chronischer Gelenkrheumatismus bezeichnet werden können, 
weil sie in nachweisbarer Beziehung stehen zu sicher diagnosticirtem 
acutem Gelenkrheumatismus, ist eine geringe. Scheidet man ferner noch 
von den Formen chronischer Gelenkentzündung die so häufige und oft 
recht chronisch verlaufende gonorrhoische Gelenkentzündung, ferner die 
im Verlaufe verschiedener acuter Infectionskrankbeiten, sodann die bei 
Tuberculose, bei Syphilis vorkommenden Gelenkentzündungen aus, so 
bleibt noch ein Gebiet klinisch wohl charakterisirter Fälle übrig, in 
welchen ein bestimmtes ätiologisches Moment häufig nicht nachweis¬ 
bar ist. 

Das Charakteristische bei dieser Erkrankung, welche ähnlich wie 
der acute Gelenkrheumatismus in ihren typischen Fällen als polyarti- 
culäre Erkrankung anftritt, ist die oft sehr frühzeitig eintretende, durch 
verschiedenartige Veränderungen hervorgerufene Missstaltung der Gelenk¬ 
gegenden, die in vielen Fällen zu einer Verkrüppelung der Glieder oder 
des ganzen Körpers führt. Diese Verunstaltung betrifft nicht bloss die 
äussere Form der Gelenke, wozu neben der gleichmässigen oder un- 
gleichmässigen Schwellung auch die noch in der Umgebung sich rasch 
entwickelnde Muskelatrophie wesentlich beiträgt, sondern auch ihre, ana¬ 
tomische Structur. Die Synovialmembran, die Knorpel und die Band¬ 
apparate, selbst die angrenzenden Theile der Knochen werden durch 
Schwund und Wucherung tiefgreifend verändert. Aus beiden Gründen, 
wegen der augenfälligen äusseren Verunstaltung und wegen der inneren 
Destrnction ist die Bezeichnung der Krankheit als „Arthritis deformans“ 
eine durchaus zutreffende. 

Dieser Name „Arthritis deformans“ wird nun aber von den Chi¬ 
rurgen meist ausschliesslich in Anspruch genommen für die Fälle von 
chronischer Gelenkentzündung, bei welchen es durch Randwuchernng des 
Knorpels und Verknöcherungen derselben einerseits, durch Atrophie 
andererseits durch Hyperostose zu tiefgehenden Veränderungen aller das 
Gelenk zusammensetzenden Theile kommt. Bei dieser destruirenden 
Form von chronischer Gelenkentzündung sind die pathologisch-anatomi¬ 
schen Veränderungen in den Gelenken dem Wesen nach die gleichen, 
nur gradweise weiter fortgeschritten, wie in den dem inneren Kliniker 
häufiger zur Beobachtung kommenden Fällen multipler deformiren- 
der chronischer Gelenkentzündung. 

Der wesentliche Unterschied dieser Erkrankungsform, welche hier 
und da auch ziemlich acut einsetzen kann, von dem acuten Gelenk¬ 
rheumatismus ist die frühzeitig eintretende Veränderung (Zerstörung 
einerseits und ossifleirende Hyperplasie andererseits) der Geienknorpel, 
welche bei dem acuten Gelenkrheumatismus selbst heftigster Form stets 
intact bleiben. In dieser Veränderung am Gelenkknorpel besteht aber 
auch die wichtigste Veränderung bei der „Arthritis deformans“ der 
Chirurgen. 

Es handelt sich wohl thatsächlich eben um einen und denselben 
Process, von dessen Dauer es abhängt, ob die inneren Gelenkverände¬ 
rungen bereits dem Bilde der Arthritis deformans (der Chirurgen) ent¬ 
sprechen, oder ob sie noch nicht so weit gediehen sind. 

Es erscheint daher zweckmässig, diese Gruppe von Fällen chroni¬ 
scher Gelenkerkrankung, welche in meist snbacuter Weise auftretend, 
dann mit sehr chronischem, über Jahrzehnte sich hinziebenden, gewöhn¬ 
lich ganz fleberlosen Verlaufe viele oder die meisten Gelenke des Körpers 
befällt, und die weitgehendsten Verunstaltungen an ihnen hervorruft, als 
Arthritis oder Polyarthritis deformans zusammenfassen, da die Bezeich¬ 
nung „chronischer Gelenkrheumatismus“ leicht zu einer irrthümliehen 
Auffassung der Krankheit und zu häufig überflüssigen und erfolglosen 
therapeutischen Maassnahmen den Anlass geben kann. 

In Folge des oft Monate, ja Jahre langen Bettliegens bildet sich 
meist eine allgemeine Ernährungsstörung, die sich durch Blässe and 
cachectisches Aussehen und allgemeine Abmagerung kund giebt. Dann 
kommt es allmählich zu einer Atrophie der zu den affleirten Gelenken 
in Beziehung stehenden Muskeln. 


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21. 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 551 


An den befallenen Gelenken, unter denen die Hüftgelenke häufig 
frei bleiben, während die Kniegelenke und alle kleinen Gelenke an 
Händen und Füssen meist in hohem Grade an der Erkrankung sich be¬ 
theiligen, lässt sieh nach längerem Bestehen, zuweilen auch schon nach 
kurzer Dauer der Krankheit bei passiven Bewegungen ein fühl- und hör¬ 
bares Knarren durch Aneinanderreiben der von ihrem Knorpelüberzug 
entblössten Gelenktheile nackweisen. Zuweilen wird durch die Schmerz¬ 
haftigkeit, die Kapselverdickung, die zottige Wucherung der Synovial- 
membrara jede active wie passive Bewegung unmöglich, und die lange 
dauernde Haltung des betreffenden Theiles in der Stellung, in welcher 
die geringsten Schmerzen empfanden werden, führt allmählich zur Con- 
tractur von Muskeln und Bändern. 

Der allgemeine Ernährungszustand, sowie die Functionen des Nerven¬ 
systems werden in vielen schweren Fällen ungünstig beeinflusst durch 
deD bei solchen Kranken ganz gewöhnlich sich ausbildenden Morphinismus. 
Unter keinen Umständen sollte solchen Kranken die Morphiumspritze über¬ 
lassen werden. Eine dem Verlauf der Krankheit nach nicht unmögliche 
Besserung wird durch den Morphinmisebrauch ausgeschlossen. Zuweilen 
tritt nach einer Reihe von Krankheitssteigerungen mit Ausbreitung auf 
immer zahlreichere Gelenke, wodurch ein Kranker schon gänzlich arbeits¬ 
unfähig und hülflos geworden war, doch nach Monaten noch ein Ruhe¬ 
zustand und eine Besserung ein, die es den Kranken ermöglichen, sich 
wieder zu bewegen und zu arbci'en. 

Ob die einmal begonnenen Gelenkveränderungen, die vielleicht zu 
Anfang nur in einer leichteren Entzündung der Synovialmembran be¬ 
stehen, zuriiekgehen können, ist nicht erwiesen. Bannatyne hält 
Heilung im Anfangsstadium für möglich. Auf alle Fälle sollte man im 
allerersten Beginn derselben die sorgfältigste Behandlung eintreten lassen 
und stets daran denken, dass nach eingetretener Besserung auch leichte 
Rückstände an den Gelenken für neue Steigerungen der Krankheit den 
Ausgangspunkt bilden können. 

Das mechanische Moment, das Trauma in weitestem Sinne des 
Wortes, spielt eine grosse Rolle bei den auf ein einzelnes Gelenk be¬ 
schränkten Veränderungen, zu welchen vielleicht ein sehr unbedeutendes 
Trauma ursprünglich den Anstoss gegeben bat. Dies ist besonders der 
Fall bei dem „Malum coxae“. Traumen spielen ferner eine sehr grosse 
Rolle bei den Arthropathien der Tabes und der Syringomyelie. 

Von anderen ätiologischen Momenten sind zunächst die atmosphäri¬ 
schen Einflüsse zu nennen: Schlafen in einer feuchten Kammer, Stehen 
auf feuchtem Boden u. dgl. m. Inders wird von manchen Autoren der 
Feuchtigkeit und Kälte als Ursache der Arthritis deformans jeder Ein¬ 
fluss abgesprochen. 

Die Bezeichnung „Arthritis pauperum“ ist irreführend, da die Krank¬ 
heit ebenso häufig bei Wohlhabenden, wie bei Armen vorkommt. 

Fast überall wird das L’eberwiegen des weiblichen Geschlechts unter 
den Erkrankten hervorgehoben, besonders in dem für dasselbe wichtigen 
Lebensabschnitt zwischen dem 40. und 50. Jahre. Doch kommt die 
Krankheit bei beiden Geschlechtern auch schon in früheren Lebensjahren 
zuweilen vor, ja selbst das kindliche Alter ist nicht ausgeschlossen. 

Nachdem Charcot die bei der Tabes vorkommenden der Arthritis 
deformans sehr ähnlichen Gelenkaffectionen beschrieben batte, dachte 
man vielfach daran, dass auch die multiple deformirende Gelenk¬ 
erkrankung eine vom Nervensystem abhängige trophische Störung sein 
könnte. 

Die Analogie mit der tabischen Arthropathie trifft jedoch nur ober¬ 
flächlich zu, es handelt sich um ganz andere Veränderungen als bei der 
Arthritis deformans. Bei letzterer fehlen alle Zeichen einer Rücken- 
roarkserkrankung. 

Wenn man auch selbstverständlich bei jeder auch nur auf ein oder 
ein paar Gelenke beschränkten chronischen Arthritis nicht unterlassen 
wird, auf ein Rückenmarksleiden, wie Tabes oder Syringomyelie zu 
fahnden, bo darf man doch nicht so weit geben, wie J. K. Mitchell 
und Wich mann, sie geradezu als eine Rückenmarkskrankheit anzu- 
sehen. 

Das häufige Vorkommen der Krankheit beim weiblichen Geschlecht 
veranlasste Ord, in einer vom Genitalapparat ausgehenden Reizung, 
welche durch das Nervensystem auf die Gelenke reflectorisch übertragen 
werde, die Pathogenese der Krankheit zu suchen. 

IndesB dürfte die Annahme einer Verschleppung von Entzündungs- 
erregem von den Schleimhäuten des weiblichen Genitalcanals, in die Ge¬ 
lenke, also die Annahme eines infectiösen Ursprungs für das häufigere 
Vorkommen der Krankheit beim weiblichen Geschlecht überhaupt eine 
näherliegende Erklärung sein, als die Annahme eines reflectorisch zu¬ 
stande kommenden Erkrankens der Gelenke. Die ganze Art des Auf¬ 
tretens der Krankheit in polyarticulärer Form hat schon oft den Gedanken 
nahegelegt, dass es sich um eine Infectionskrankbeit handelt, dass auf 
dem Blutwege ein infcctiöses Agens, dem gegenüber die 8ynovialmembran 
oder die Synovialflüssigkeit eine besondere Empfänglichkeit darbietet, in 
die verschiedenen Gelenke gelangt. Untersuchungen der Gelenkflüssig¬ 
keit haben auch schon mehrfach das Vorhandensein von Bactericn nach¬ 
gewiesen. 1892 hat Schüller einen von ihm für pathogen gehaltenen 
Bacillus in derart erkrankten Gelenken gefunden. 1894 haben Banna¬ 
tyne und Wohlmann durch Punction aus solchen Gelenken (in 24 Fällen 
von 25) einen sehr kleinen hantelartig gestalteten Bacillus gefunden. 
Blaxall hat den Befund eines vorwiegend Polfärbung zeigenden kurzen 
und sehr kleinen Bacillus bestätigt. Er konnte ihn in der Synovial¬ 
flüssigkeit verschiedener Gelenke von 18 Fällen von Polyarthritis defor¬ 
mans nachweisen, während ihm dies nicht möglich war bei Synovial¬ 


flüssigkeiten, die von anderen Gelenkerkrankungen herstammten. Es 
gelang Blaxall auch, die Bacillen in Bouillon, auf Agar, Löffler’s 
Serum und in Milch, nicht aber auf Gelatine zu züchten. Denselben 
Mikroorganismus fand Blaxall im Blute derartiger Kranker in den 
drei schwersten von fünf Fällen in Deckglaspräparaten und durch das 
Cnlturverfahren. Für Mäuse, Kaninchen, Meerschweinchen erwies sich 
der Bacillus nicht pathogen, doch hatte es den Anschein, als ob bei 
Kaninchen eine Krankheit erzeugt wurde, bei welcher die Gelenke affi- 
cirt waren. Diese Untersuchungen müssen jedenfalls fortgesetzt werden. 

Zum Schluss bespricht Referent noch die nahe Verwandtschaft der 
Gicht und Arthritis deformans. 

(Fortsetzung folgt.) 


IX. Vom Congress für Innere Medicin. 

Wenn in der Schluss-Sitzung des diesjährigen Congresses der Vor¬ 
sitzende — Herr von Jaksch — rühmen durfte, dass es gelungen 
sei, das gesammte vorliegende Material vollständig zu bewältigen, so 
wird man, bei aller Anerkennung der geleisteten Arbeit, doch eine ge¬ 
wisse Einschiänkung nachträglich auszusprechen haben: die Erledigung 
der angemeldeten Vorträge war nur möglich, indem ein Theil der Redner 
auf das Wort verzichtete, ein anderer aber das bekannte Prokrustes- 
Verfahren über sich ergehen liess und seine Mittheilungen wirklich nur 
auf skizzenhafte Andeutungen beschränkte. Die Belastung der Tages¬ 
ordnung war nun einmal eine zu hohe — unter den 26 an dem einen 
Demonstrations-Nachmittag hinter einander gepackten Vorträgen drohte 
Bie fast zu8ammenzubrecben —, und manche, sorgfältig und mühevoll 
vorbereitete Vorstellung von Kranken oder Präparaten kam dadurch um 
die gebührende Geltung. Es lag dies wohl in erster Linie daran, dass 
auch diesmal 8 Referate mit der anschliessenden Discussion zu be¬ 
wältigen waren, die einen übergrossen Theil der Zeit absorbirten — hier 
in erster Linie möchten wir dem GescbäftsausschusB etwas mehr Zurück¬ 
haltung empfehlen — schränkt man sich wieder auf die früher pro- 
clamirte Zweizahl ein, so wird Raum genug für Entfaltung auch der 
anderen, beim Congress wirksamen Kräfte übrig bleiben! 

Besser bewährte sich eine andere Neuerung, die darin bestand, dass 
einige Redner, direct von derCongressleitungeingeladen, über allgemein inter¬ 
essante Themata ihres Arbeitsgebietes sprachen. Hr. R. Ewald ^Strassburg) 
machte, unter Demonstration sehr lehrreicher Experimente, Mittheilungen 
über seine gehirnphysiologischen Untersuchungen, — die Herren Beh¬ 
ring und Liebreich entwickelten in zusammengedrängter Form ihre 
Anschauungen über die Aufgaben der Therapie insbesondere bei Be¬ 
kämpfung der Infectionskrankheiten. Der Congress wurde so Zeuge 
einer Art von Kampf zweier fast unvermittelt einander gegenüberstehen¬ 
der Anschauungen. Freilich ist solch ein Schauplatz an sich wohl nur 
wenig geeignet, Fragen von so tiefgreifender Bedeutung zum Austrag zu 
bringen: gar zu leicht verführt die prägnante, gemeinverständliche Art 
der Darstellung zu Einseitigkeit und Uebertreibung. Es ist denn auch 
keine Brücke geschlagen worden, welche die beiden, schroff gegenüber- 
stehenden Richtungen mit einander verbände: Behring vertrat mit der 
bei ihm gewohnten Energie die Lehre von den speciflschen Infectionen und 
der darauf begründeten speciflschen Therapie mit den, von der Natur 
selbst im kranken Körper hervorgebrachten Heilkräften, die übrigens 
in seiner Darstellung wirklich zu immateriellen „Kräften“ ohne stoff¬ 
liches Substrat sich zu verflüchtigen drohten, — Liebreich recla- 
mirte in sehr wirkungsvoller Auseinandersetzung das Recht der 
Therapie, sich auch fürder der alten, empirisch gefundenen oder 
chemisch construirten Mittel zu bedienen und bestritt der Infections- 
lehre und speciell der Serumtherapie sowohl die zwingende experimen¬ 
telle Begründung, als die praktische Stichhaltigkeit, — wiederum seiner¬ 
seits die Bedeutung der Thierexperimente Behring's u. A. unter¬ 
schätzend. Leider mischten sich ältere, ihres ursprünglichen Sinnes 
lange entkleidete Schlagworte, wie namentlich das Gespenst der 
„Humoralpathologie“ verwirrend in diese DiscusBion: es war das Ver¬ 
dienst Goldscheider's, durch seinen Hinweis auf die jetzt erst mit 
Hülfe der Nissl’schen Methode bei TetanuBvergiftung nachweisbaren 
feinen Veränderungen der Ganglienzellen gerade diesen Einwand zu ent¬ 
kräften und das Verständniss auch der bisher noch dunklen Vorgänge 
bei diesen Infectionen auf cellularer Basis anznbahnen. Ganz gewiss mit 
Recht vermisste Virchow in seiner sehr bemerkenswerthen Ansprache 
zu Beginn des Congresses noch die wirkliche „Erklärung“ der serumtherapeu¬ 
tischen und antibacteriellen Wirkungen, die er indess — doch wohl im Gegen¬ 
satz zu Liebreich — an sich ebenso gut, wie z. B. die Jenner’Bche 
Impfmethode, als berechtigt anerkannte; bis sie endgültig gefunden, 
wird wohl noch viele Zeit vergehen, viele Arbeit nötbig sein, — 
differiren ja doch auch die Vorkämpfer dieser Richtung noch unter sich 
über die Wege, ja sogar über die Ziele, und fanden doch R. Koch's 
neue Publicationen über seine Tubercutinpräparate gerade an Behring 
einen scharfen Kritiker. Vorsicht und Zurückhaltung zu üben gegen¬ 
über den sich etwas schnell überstürzenden, oft einander wider¬ 
sprechenden Neuerungen gerade auf dem Gebiete der Infectionskrank¬ 
heiten wird nach wie vor von Nöthen sein, und so möge jeder sachliche 
Einwand vorgebracht, jede Prüfung mit 8kepsis vorgenommen werden: 
das kann der endlichen Erkenntniss der Wahrheit, der wirklichen 
Erklärung, nur förderlich sein. Dennoch — überblickt man die bis- 


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552 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT.__No. 25. 


herige Geschichte der Congressarbeiten in Zusammenhang mit dem in 
den letzten 15 Jahren Geleisteten überhaupt, nimmt man hinzu, was 
auch der diesmalige Congress an positiver Förderung geboten hat, 
bo wird man sich dem Eindruck eines, wenn auch vielleicht nur all¬ 
mählichen Fortschrittes nicht entziehen können. Die innere Medicin hat 
durch die neuen Lehren eine mächtige Befruchtung erfahren, sie wird 
auch in Zukunft aus dieser Quelle, wie allerdings auch aus jeder an¬ 
deren, ihr zuströmenden, zu schöpfen wissen. „Diese Richtung ist ge¬ 
wiss: immer schreite, schreite!“ 

Die Leiter des diesjährigen Congresses dürfen mit berechtigter Ge¬ 
nugtuung auf seinen Verlaut zorückblicken, der sich zu einem unge¬ 
wöhnlich bewegten und belebten gestaltete, trotz der nicht zu verken¬ 
nenden hohen Schwierigkeiten, die die Oertlichkeit an sich bedingte, und 
die durch das unvermutete, allseitig beklagte Ausbleiben seines ersten 
Vorsitzenden noch um ein Erhebliches gesteigert wurden. Der Erfolg hat 
von Nenem für seine Lebenskraft und seinen Werth Zeugniss abgelegt 
— die Menge der geleisteten Arbeit, die Vielseitigkeit der besprochenen 
Gegenstände von Neuem bewiesen, dass es gerade hier nicht einer wei¬ 
teren Zersplitterung und Specialisirung gilt, sondern einem energischen 
Zusammenfassen sonst vielfach getrennter Kräfte unter dem gemeinsamen 
Banner der medicinischen Klinik! P. 


X. Tagesgeschichtliche Notizen. 

Berlin. In der Sitzung der Berliner medicin. Gesellschaft 
am 16. d. M. demonstrirte Herr Behrend einen Patienten, bei dem in 
alten Tätowirnngsflguren syphilitische Eruptionen erschienen waren; Herr 
O. Mankiewicz einen grossen, um ein abgebrochenes Katheterstück 
entwickelten Blasenstein; Herr Lassar prächtige, colorirte Diapositiv- 
Aufnahmen von Hautkrankheiten, die bei stereoskopischer Betrachtung 
vollkommen plastische Bilder liefern. Herr Dr. P. Ko hu (a. G.) hielt 
den angekündigten Vortrag über Aetz- und Brandschorfe in Bezug auf 
Infectionsschutz; Herr H. Neumann sprach über Skrophulose und Tuber- 
culose im Kindesalter; die Discussion wurde vertagt. 

— In der Sitzung der Gesellschaft der Charit^-Aerzte am 
17. d. M. stellte Herr Burghart einen Fall von klinisch diagnosticirter 
und durch die Röntgen-Photographie bestätiger Dextrocardie mit Situs 
viscerum inversus vor. (Discussion Herr Krocker.) Herr Lähr de¬ 
monstrirte zwei Kranke mit Folgeerscheinungen schwerer Rückencontu- 
sionen (pseudospastischer Parese mit Tremor) und besprach deren Zu¬ 
sammenhang mit Simulation in Folge der Unfallsgesetzgebung. (Discussion 
Herr Westphal.) Herr Strauss zeigte sodann einen Patienten, bei 
dem er die Diagnose anf organische Tricuspidalinsufflcienz entwickelte 
und Herr Jacob berichtete über einen tödtlich verlaufenen Fall von 
Kalicbloricum-Vergiftung und besprach die spectroskopischen und mikro¬ 
skopischen Urin- und Blutbefunde dabei. Endlich trug Herr Bnssenius 
über die bisherigen Erfahrungen mit dem neuen Tuberculin T. R. auf 
der Klinik für HalBkrankheiten vor unter Vorstellung von drei wesentlich 
gebesserten bezw. fast geheilten Lupusfällen. 

— In der 8itzung der Hufeland’schen Gesellschaft vom 
3. Juni zeigte und besprach Herr Posner die Florence’sche Sperma- 
reaction; den Vortrag des Abends hielt Herr Mendel über Migräne. Die 
Discussion hierzu wird erst in nächster 8itzung stattflnden. 

— XII. Internationaler medicinischer Congress. Ueber 
die Bedingungen der, den Congressbesuchern zugebilligten freien 
Eisenbahnfahrt in Russland liegen nunmehr endlich amtliche Mit¬ 
theilungen vor. Danach gilt diese Vergünstigung ausschliesslich für 
directe Strecken von der Grenze nach Moskau und zurück (also bei¬ 
spielsweise Alexandrowo—Moskau, Moskau—Wirballen), aber nicht für 
irgendwelche Umwege; da nun zu diesen Umwegen auch, wie ausdrück¬ 
lich betont wird, die Fahrt über Petersburg gehört, so wird für viele 
auf Landwegen kommende oder gehende Deutsche ein Theil der Ver¬ 
günstigung illusorisch: es muss für die Strecke Petersburg—Eydtkuhnen 
besonders bezahlt werden! Das Deutsche Reichscomitä wird bei dem 
russischen Organisations-Comit6 dahin vorstellig werden, dass hierin noch 
Abhülfe geschafft und diese Tour, die ja, nachdem in Petersburg zu 
ganz speciellen Veranstaltungen eingeladen werden soll, besonders wichtig 
ist, noch mit in die Reiseroute einbezogen werde. Im Uebrigen ist dar¬ 
auf aufmerksam zu machen, dass die Freikarten auf vorherige Ein¬ 
gabe an den Generalsecretär des Congresses, Prof. Roth in Moskau, 
übersandt werden, wobei die genaue Reiseroute demselben mit- 
getheilt werden muss (diese Correspondenz kann auch durch Vermittelung 
des Deutschen Reichscomitäs oder des Reisebüreaus von Carl Stangen, 
Berlin, geführt werden). Seitens des Deutschen Reichscomit6s wird in 
den nächsten Tagen eine genauere Mittheilung Uber Reisepläne, Wohnungs¬ 
angelegenheiten etc. publicirt werden. 

— Eine besonders interessante Festgabe wurde den Mitgliedern des 
Congresses für innere Medicin dargebracht in Gestalt einer historischen 
Skizze „Die Entwickelung der Medicin in Berlin von den 
ältesten Zeiten bis auf die Gegen wart“, von unserem rühmlichst 
bekannten Historiker Dr. Pagel (Wiesbaden bei Bergmann). Das mit 
7 Portraits (8chönlein, Thurneisser, Siegemundin, Johannes 
Müller, Hnfeland, Heim, Kluge) trefflich ausgestattete Werk ver¬ 
dient bleibendes Interesse als erster Versuch einer Darstellung des all- 


mäligen Werdens und Wachsens ärztlicher Thätigkeit und medicinischen 
Forschens in unserer Stadt; die etwas ungleichmässige, oft nur skizzen¬ 
hafte Ausführung, sowie allerhand Errata namentlich bei Aufnahme des 
Status des gegenwärtigen „medicinischen Berlins“ lassen die Gelegen¬ 
heitsschrift erkennen und wünschen, dass dem geschätzten Verfasser 
Müsse und Möglichkeit zu gründlicherer Durcharbeitung und Vertiefung 
geboten werde! 

— In Wiesbaden verschied plötzlich, hochbetagt, aber noch in der 
Fülle körperlicher und geistiger Rüstigkeit, der Chemiker Professor 
Remigius Fresenius. Sein Hinscheiden berührt auch die Mediciner 
schmerzlich, — waren doch seine Beziehungen zu unserer Wissenschaft 
sehr vielfältige! Eng verbunden wird sein Name insbesondere mit der 
Balneologie bleiben, der er durch seine zahlreichen Quellenanalysen un¬ 
gewöhnliche Förderung zu Theil werden Hess; sein Institut ist, nament¬ 
lich seit Errichtung des ursprünglich von Hueppe, später von O. Frank 
geleiteten bacteriologischen Laboratoriums, auch vielen Aerzten zu gute 
gekommen — und am beredtesten für seine Werthschätzung in allen 
medicinisch-naturwissenschaftlichen Kreisen spricht der Umstand, dass 
er — ein einzig dastehender Fall — dreimal an die Spitze einer Natur¬ 
forscherversammlungen berufen war. Wer das Glück batte, ihm per¬ 
sönlich näher zu treten, wird sich der sympathischen, geistvollen und 
lieben8werthen Greisengestalt in dauernder Verehrung erinnern! 


XI. Amtliche Mittheilungen. 

Perionalla. 

Auszeichnungen: Prädikat als Professor: dem Privatdocenten 
Dr. Gustav Behrend in Berlin, dem prakt. Arzt Dr. Sippel in 
Frankfurt a. M. 

Niederlassungen: die Aerzte Dr. Wanjura in Beeskow, Dr. Klein¬ 
haus in Tegel, Dr. Mahlow in Prittisch, Dr. Graf und Dr. Pol¬ 
lack in Berlin, Dr. Wirtz in Düsseldorf, Dr. Crom me in Kaisers¬ 
werth. 

Verzogen sind: die Aerzte Dr. Kahleyss nach Dresden, Dr. Jel- 
linghaus von Halle a. 8. nach CasBel, Dr. Schantz von Halle a. S.. 
Dr. Kohlhardt von Berlin nach Halle a. S., Dr. Kuhn von Schmal¬ 
kalden nach Naumburg a. 8., Dr. Pantzer von Rossleben nach Magde¬ 
burg, Dr. Selbach von Bonn nach Barmen, Dr. Lauenstein von 
Hannover nach Kaiserswerth, Dr. Kälter Von Lüben nach Düssel¬ 
dorf, Dr. Mank von Aldenhoven nach Düsseldorf, Dr. Rothstein 
von Würzburg und Dr. Schaumann von Osnabrück nach Düsseldorf. 
Dr. Olterbeck von Berlin nach Duisburg, Dr. Kisgen von Polch 
nach Elberfeld, Dr. Schmidt von Dnisburg nach Elberfeld, Dr. 
8chulte von Hillen nach Kray, Dr. Felsmann von Breslau nach 
Essen, Dr. Polzin von Hildesheim nach Issum, Dr. Schulte von 
Strassburg i. E. nach Viersen, Dr. Buschhausen von Jüchen- nach 
Garzweiler, Dr. Bindemann von Carisfeld nach Löttringhausen. 
Wever von Schriesheim nach Ileiligenhaus, Dr. Kaldenberg von 
Münster nach Neviges, Dr. Greven von Morsbach nach Wesel, Dr. 
Laehr von Voerde nach Wesel, 8tabsarzt Dr. Jansen von Cöln 
nach Wesel, Dr. Goebel von Dortmund nach Ruhrort, Dr. Jacobi 
von Altendorf nach Laar, Dr. Muelier von Neuendorf nach Schmidt¬ 
horst, Dr. Hess von Barmen nach Laar, Dr. Dekker von Kaisers¬ 
werth nach Solingen, Dr. Koetter von Düsseldorf nach Brackwede. 
Dr. Schmitz von Düsseldorf nach Bad Wildungen, Dr. Schmidt 
von Duisburg nach Elberfeld, Sanitätsrath Dr. Hoefling von Duis¬ 
burg nach Meiningen. Dr. Gottlieb von Issum nach Blumenthal, Dr. 
Gatzen von Garzweiler nach Birkesdorf, Dr. Werner von Lüttring¬ 
hausen nach Andernach, Dr. Fischer von Oberbausen nach Coblenz, 
Dr. Kr au s 8 von Laar auf Reisen, Dr. Schasse von Laar nach 
Königstein; nach Berlin: Dr. Gerstenberg von Marburg, Dr. 
Hartmann von Schwarzow, Dr. Kraus von Karlsruhe, Dr. Oskar 
Müller von Dresden, Dr. Roettger und Dr. 8äbn von Kiel; von 
Berlin: Dr. Hamburger nach Pankow, Dr. Josephsohn nach Rix- 
dorf, Dr. Lehrich nach Charlottenburg, Dr. Frdr. Meyer nach 
Darmstadt, Dr. Otto nach Wiesbaden, Dr. Roth nach Bamberg, Dr. 
Tarrasch nach Schoeneberg, Dr. Tannhauser nach Stuttgart, Dr. 
Welcker nach Osnabrück, Dr. Wertheim nach Charlottenbnrg, Dr. 
Lövinsohn von Posen nach Charlottenburg, Dr. von Chrzanowski 
von Breslau nach Posen, Dr. 8 zu mann von München und Dr. Jacob- 
sohn von Berlin nach Posen, Hampke von Prittisch nach Lands¬ 
berg a. W., Dr. Hartisch von Czempin nach Schneidemühl, Dr. 
Braun von Fordon nach Czempin, Dr. Christoph von Reichenbach 
nach Owinsk, Dr. Adamczewski von Schmiegel, Dr. Seidel von 
Cbarlottenburg nach Erkner, Dr. Edel von Dalldorf nach Charlotten¬ 
burg, Dr. Rauschoff von Rosenthal nach Berlin, Dr. Jochims 
von Pankow nach Kiel, Dr. Samt er von Neu-Rahnsdorf nach Berlin, 
Dr. Ellerhorst von Blankenfelde nach Ober-Schönweide, Dr. Pantzer 
von Rossleben nach Magdeburg, Dr. Boden von Magdeburg nach 
Barby, Dr. Schulze von Stassfurt nach Ballenstedt. 

Gestorben sind: die Aerzte Dr. Nitz sch in Gross-Ottersleben, Dr. 
Diel in Kaiserswerth, Dr. Mittweg in Essen, Ober-Stabsarzt I. Kl. 
a. D. Dr. Doering in Berlin. 


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N.W. Unter den Linden No. 68, adressiren. 


KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


Organ für practische Aerzte. 


Mit Berücksichtigung der preussischen Medicinalverwaltung und Medicinalgesetzgebung 

nach amtlichen Mittheilungen. 

Redaction: Expedition: 

Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. A. Ewald und Prof. Dr. C. Posner. August Hirschwald, Verlagsbuchhandlung in Berlin. 


Montag, den 28. Juni 1897. 


Vierunddreissigster Jahrgang. 


I N H 

I. G. Klemperer: lieber künstliche Nährpräparate. 

II. Walther Menke: Ueber Hermaphroditismus. 

III. Aus der medicinischen Klinik zu Leipzig. Ernst Homberg: 
Bemerkungen über Chlorose und ihre Behandlung. (Fortsetzung.) 

IV. J. Mikulicz: Die chirurgische Behandlung des chronischen Magen¬ 
geschwürs. (Schluss.) 

V. W. Havelburg: Experimentelle und anatomische Untersuchungen 
über das Wesen und die Ursachen des gelben Fiebers. (Schluss.) 

VI. Kritiken und Referate. Dermatologie. (Ref. Joseph.) 

VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Berliner medi- 
cinische Gesellschaft Klemperer: Nährpräparate. Posner und 
Frank: Beitrag zur Frage der Blaseninfection. — Verein für 


I. Ueber künstliche Nährpräparate ). 

Von 

Prof. 6. Klemperer. 

Die folgenden Darlegungen werden den Herren College!), 
welche auf dem Gebiete der Krankendiätetik bewandert sind, 
weder neue Tbatsacben, noch neue Gesichtspunkte darbieten. 
Trotzdem erscheint es mir nicht ganz überflüssig, einmal Uber 
künstliche Nährpräparate zu sprechen. Denn einerseits wächst 
von Tag zu Tag die Zahl der Substanzen, die den Herren Col- 
legen als Nährpräparate angeboten werden, so dass selbst die¬ 
jenigen, die die Fortschritte auf diesem Gebiete aufmerksam 
verfolgen, doch nicht so leicht im Stande sind, das Gute vom 
Ueberflüssigen und Schlechten zu trennen. Andererseits ist her¬ 
vorzuheben, dass die mannigfachen Wandlungen, die die Lehre 
von Stoffwechsel, Ernährung und Verdauung in den letzten Jahr¬ 
zehnten durchgemacht hat, selbstverständlich auch auf die Werth¬ 
schätzung der verschiedenen Kategorien künstlicher Nährpräparate 
von Einfluss sein müssen. Soviel ich weise, ist eine zusammen¬ 
hängende Darstellung der jetzt auf diesem Gebiet maassgebenden 
Anschauungen bisher nicht gegeben worden, während eine grosse 
Reihe von Einzelarbeiten der Zusammenfassung harren. 

Ich selbst habe die verschiedenen Nährpräparate, die in 
Frage kommen, in zehnjähriger Hospitalthätigkeit znm grössten 
Theil selbst am Krankenbett durchprobirt; zur theoretischen 
Durcharbeitung dieser Materie fand ich Veranlassung, als mir 
die Abfassung dieses speciellen Capitels für das „Handbuch der 
Diätetik“ übertragen wurde, welches demnächst von Geheimrath 
von Leyden im Verein mit vielen Klinikern herausgegeben 


1) Vortrag, gehalten in der Berliner medicinischen Gesellschaft am 
2. Juni 1897. 


ALT. 

innere Medicin. Krön: Peroneuslähmung. Litten: Endoearditis 
traumatica. Senator: Diabetes mellitus und insipidus.— Physi- 
kalisch-medicinische Gesellschaft zu Würzburg. Seifert: Spiegel¬ 
schrift. 

VIII. 15. Congress für innere Medicin in Berlin. (Fortsetzung.) 

IX. Die wissenschaftliche Ausstellung des XV. Congresses für innere 
Medicin in Berlin. 9.—12. Juni 1897. 

X. Nachtrag zu Levy und Bruns: Beiträge zur Lehre der Aggluti¬ 
nation. 

XI. Praktische Notizen. 

XII. Tagesgeschichtiiche Notizen. 

XIII. Amtliche Mittheilongen. 


wird. Was ich an Gesichtspunkten bei dieser Bearbeitung ge¬ 
wonnen habe, dass möchte ich nun kurz zusammenstellen. 

Nährpräparate werden künstlich dargestellt aus dem Gebiete 
der Eiweisskörper, der Kohlehydrate, der Fette. Ara meisten 
angeboten und gefragt werden wohl die Eiweisspräparate. In der 
Werthschätzung dieser Kategorie muss eine gewisse Veränderung 
eintreten von dem allgemeinen Gesichtspunkte aus, dass den 
Eiweisssubstanzen nicht mehr der alles Ubertreffende Werth für 
die Ernährung zugesprochen werden kann, der ihnen seit Liebig 
noch lange beigelegt worden ist. Es ist ja selbstverständlich, 
dass kein Mensch ohne gewisse Mengen von Eiweiss ernährt 
werden kann. Aber in der Normirung der unbedingt nothwen- 
digen Eiweissmenge gehen wir jetzt bekanntlich auf sehr viel 
geringere Zahlen zurück, als z. B. Voit noch für nothwendig 
hielt. Es ist bekannt, dass namentlich seit den Arbeiten von 
Hirschfeld, welcher 30—40 gr Eiweiss für ausreichend zur 
24sttlndigen Ernährung des Menschen erkannte, vielfältig nach¬ 
gewiesen ist, dass für kurze Zeit jedenfalls sich der Mensch mit 
verhältnissmässig geringen Mengen Eiweiss im Stickstoffgleich¬ 
gewicht erhalten kann, wenn ihm genügende Mengen N-freier 
Nahrung dargeboten werden. Es ist also wohl verständlich, dass, 
wenn es in einer kritischen Zeit darauf ankommt, einen Menschen 
mit künstlichen Präparaten zu ernähren, dass wir dann zur Er¬ 
höhung der Nahrungszufuhr weniger Werth darauf legen, Eiweiss- 
substanzen als vielmehr Kohlehydrate und Fette zuzufUhren, 
durch welche der Eiweissumsatz verringert wird. Da die Fette 
in allen Zuständen erschwerter Verdauung nicht so leicht zu 
resorbiren sind, so haben wir vor allem auf die Kohlehydrat- 
Nährpräparate einen viel grösseren Werth zu legen, als auf die 
Eiweisspräparate. 

In der ersten Zeit der Darstellung künstlicher Eiweiss¬ 
substanzen wurden vor allen Dingen solche Nährpräparate 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 26. 


fabricirt, welche gewissermaassen in verdautem Zustande dem 
Körper zugefllhrt werden sollten. Da alles Eiweiss, das dem 
Körper zugefllhrt wird, vor der Resorption peptonisirt wird, so 
war das Bestreben vor etwa 20 Jahren und ist es zum Theil 
noch heute, dem Kranken anstatt der Eiweisssubstanz Pepton 
zuzufUhren. Gerade in dieser Frage sind ziemlich entscheidende 
Wandlungen in unseren Anschauungen vorgegangen; von dem 
Bestreben, wirkliches Pepton zuzufUhren, sind wir gänzlich zurück- 
gekommen. Pepton ist derjenige Eiweisskörper, der das End- 
product der Magenverdauung darstellt, also ein Eiweisskörper, 
der in Wasser löslich ist, der durch Kochen und Zusatz von 
Säuren gar nicht mehr gefällt wird. Dieses wirkliche Pepton, 
rein dargestellt, schmeckt gallenbitter, reizt oft die Magen¬ 
schleimhaut zum Erbrechen, und kann in grösseren Mengen 
Diarrhöen hervorrufen. Ich kann wohl sagen, dass reines Pepton 
in der Form z. B. des Witte’schen Peptons, des Merck'sehen 
Caseinpeptons u. a. m., wie sie einst als das Ideal künstlicher 
Nährpräparate angesehen wurden, in der Krankenbehandlung 
kaum noch eine Rolle spielen. Allenfalls, dass man zu Ernäh- 
rungsklystieren solche Peptone anwendet, auch da können sie 
unter Umständen sehr stark reizen. Man hat vielmehr erkannt, 
dass schon im Magen selbst die Verdauung nicht bis zu der 
Stufe des wirklichen Peptons zu Ende geführt wird, sondern 
dass sie an einer Zwischenstufe Halt macht, bei den sogenannten 
Albumosen. Das sind bekanntlich ebenfalls in Wasser leicht lös¬ 
liche, durch Kochen nicht fällbare Eiweisskörper, die aber in heisser 
Lösung durch Salpetersäure gelb gefärbt und durch Schwerraetalle, 
namentlich Essigsäure und Ferrocyankalium noch gefällt werden. 
Diese bilden das wesentliche Product der Magenverdauung und 
nichts lag näher, als an Stelle der discreditirten reinen Peptone 
nun diese Albumosen zuzufUhren. In all den Präparaten, die 
heute noch unter dem Namen * Peptone“ geführt werden, und 
die wir im Einzelnen noch betrachten wollen, ist verhältniss- 
mässig wenig Pepton und verhältnissmässig viel Albumose ent¬ 
halten. Es ist so weit gekommen, dass sich die Fabrikanten 
einigermaassen geniren, den Pcptongehalt, mit dem sie vorher 
geprunkt haben, in den Vordergrund zu rUcken, und dass sie 
vorwiegend die hohen Albumosezahlen betonen. Es ist nun zweifel¬ 
los, dass mit der Zufuhr solcher Albumosepräparate dem Körper 
eine Verdauungsarbeit erspart wird. Fragt man aber, ob solche Er¬ 
sparung nothwendig ist, so muss man diese Frage flir die meisten 
Fälle verneinen. Denn selbst in grossen Schwächezuständen des 
Körpers bleibt meist soviel Salzsäure Übrig, dass kleine Mengen 
Eiweiss, wie man sie in den Üblichen Nährpräparaten zu sich 
nimmt, verdaut werden können. Andererseits ist der stricte Nach¬ 
weis geliefert worden, dass selbst dann, wenn die Salzsäure im 
Magen vollständig fehlt, eine genügende Peptonisirung resp. 
Albumosirung der Ei weisskörper stattfindet. Bekanntlich hat 
man Hunden den ganzen Magen resecirt und doch haben diese 
salzsäurelosen Hunde das Eiweiss der Nahrung ganz gut verdaut. 
Bekannt sind auch Stoffwechselversuche bei Leuten mit Anacidität 
und Subacidität des Magensafts, bei denen Eiweisskörper in ge¬ 
nügender Menge trotz des Fehlens der Magenverdauung zur Re¬ 
sorption kommen. Was der Magen nicht thut, thut der Darm. 
Die Pankreasabsonderung, z. Th. wohl auch die Thätigkeit von 
Darmbacterien sind im Stande, genügende Albumosirung herbei- 
zufUhren. Wenn ich also anerkenne: Albumosepräparate mögen 
immerhin gut sein, insofern als sie Eiweisskörper darstellen — so 
kann ich mich doch nicht auf den Standpunkt stellen: sie sind 
nöthig, weil sie verdaute Eiweisskörper darstellen. Jede fein 
zertheilte oder jede lösliche native Eiweisssubstanz 
ist ebenso werthvoll, wie dieselbe Menge von Albu¬ 
mose; eine pulverförmige oder lösliche Eiweisssubstanz scheint 
mir als künstliches Nährpräparat in den meisten Fällen durch¬ 


aus empfehlenswerth — ganz wenige Ausnahmen will ich ja 
zugeben, aber sie spielen praktisch kaum eine Rolle. 

Lösliche Eiweisskörper sind in neuester Zeit dargestellt in 
der Nutrose (Casein-Natron) und dem Eukasin (Casein-Am¬ 
moniak). Es ist durch Versuche am Krankenbett nachgewiesen, 
dass Eukasin und Nutrose gut vertragen werden, und im Fall 
der Nothwendigkeit einer Zufuhr löslichen Eiweisses verdienen 
diese Präparate wohl angewendet zu werden. Fragen wir aber 
wieder, ob es nöthig ist, dass die Substanzen in löslicher Form 
zugeführt werden oder ob es der Körper nicht fertig bringt, fein 
vertheiltes Eiweiss auch in wasserunlöslicher Form zu verdauen, 
so möchte ich glauben, dass in den allermeisten Fällen der Körper 
auch dieser Leistung wohl gewachsen ist. 

Es ist in einer gewissen Categorie von Fällen nöthig, ganz 
fein vertheilte, pulverförmige Nahrung zuzufUhren, die beim 
Schlucken wenig Beschwerden macht und auch dem Magen 
wenig Reizung verursacht. Wenn man gewöhnliches Fleisch 
auf dem Wassetbade trocknet und ganz fein zermörsert, dann 
erhält man ein solches Pulver, das man früher als Fleischmehl, 
FleUchpulver bezeichnete (im Handel früher unter dem Namen 
Came pura zu haben). Auch durch Trocknung und Zerreibung von 
Ei er eiweiss kann man sich ein geruch- und geschmackloses 
Ei weisspulver hersteilen. In Wasser oder Milch aufgeschwemmt, 
gelangen diese Pulver ganz fein zertheilt in den Magen, nach¬ 
dem sie ohne jede Beschwerde geschluckt sind, und ich glaube 
keinen Widerspruch zu finden, wenu ich sage, dass künstliche 
Nährpräparate, seien es Albumosen oder lösliches Eiweiss für die 
allermeisten Kranken nicht mehr Werth haben als ein solches 
einfach hergestelltes künstliches Eiweisspräparat. 

Bei der Würdigung der künstlichen Nährpräparate kommt 
nun noch ein Gesichtspunkt in Frage, der neben den schon er¬ 
wähnten besondere wichtig ist, und der eigentlich erst in dem 
letzten Jahrzehnt, vielleicht auch erst in den letzten Jahren in 
der Krankenemährung zu entscheidender Bedeutung gekommen ist: 
das ist der quantitative Gesichtspunkt, der ja in der physio¬ 
logischen Ernährungslehre von jeher eine Rolle gespielt hat. Es 
ist noch nicht so lange her, dass man bei dem Kranken viel 
mehr gefragt hat: wie soll er essen und was soll er essen? — 
als: wieviel soll er essen. Es ist aber den Herren bekannt, dass 
jetzt auf das Wieviel? der entscheidende Werth gelegt wird, 
und dass die beste Nahrung die reine Illusion ist, wenn sie nur 
grammweise genossen wird. Es braucht ein Kranker pro Tag 
50—60 gr Eiweiss. Diese ihm zuzufUhren ist nöthig. Wie viel 
von dem künstlichen Präparat giebt man nun? Einen Theelöffel, 
vielleicht zwei; mehr als 3 Theelöffel pro Tag nimmt wohl kaum 
ein Kranker ein. Nun, in einem Theelöffel des syrupösen Peptons 
sind etwa 3—4 gr lösliches Eiweiss enthalten. Sie sehen, dass 
das wesentlich für die Kranken nicht in Frage kommt, dass es 
nur eine ganz kleine Hülfe sein kann, dass man aber gewiss 
nicht der Illusion sich hingeben darf, dass man mit solchen 
Präparaten etwas dem Kranken wesentlich Nützliches oder gar 
seine Gesundheit Erhaltendes leisten kann. 

Nach diesen allgemeinen Bemerkungen möchte ich Einiges 
Uber die verschiedenen Präparate sagen, die hier in Frage kommen. 
Von den reinen Peptonen soll nicht mehr die Rede sein. Auf 
die am meisten angebotenen Peptonpräparate von Kochs, 
Kemmerich und der Compagnie Liebig trifft die Meinung zu, 
dass sie grossentheils gar nicht wirkliche Peptone sind, sondern 
Albumosenpeptone. Sie haben gewöhnlich 35—40 pCt. lösliches 
Eiweiss, und von dieser Gesammtsumme kommt gewöhnlich die 
Hälfte auf die Albumosen und die andere Hälfte auf die Peptone. 

Diese Präparate stellen eingedickte Syrupe dar; zum Ge¬ 
brauch werden sie theelöffelweis in Brühe etc. gelöst; gerade 
diese Präparate müssen durch die quantitative Betrachtung sehr 


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28. Juni 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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in der Werthschätzung verlieren. Werthvoller sind in dieser 
Beziehung die pulverisirten Präparate. Das Ant weil er’sehe 
Albumosenpepton ebenso wie die Somatose enthält ca. 80 pCt. 
lösliches Eiweiss. Die Somatose ist reine Albnmose, das Ant- 
weiler'sehe Pepton enthält von 80 pCt. 60 pCt. als Alhumose 
und 20 pCt. als eigentliches Pepton. Wenn Jemand einen Thee- 
löffel voll Somatose geniesst, die ja mit so grosser Reclame an¬ 
gepriesen wird, so hat er in der That 8 gr Eiweiss. Das sind 
immerhin 33 Calorien. Aber um das nach seinem wahren 
Werthe zu schätzen, müssen wir doch bedenken, dass ein ein¬ 
ziges Ei 70 Calorien enthält, ebenso viel wie 100 ccm Milch, 
und dass Jemand also mit einem Theelöffel Somatose nicht mehr 
als ein halbes Ei zuführt oder 50 ccm Milch. Es ist ganz selbst¬ 
verständlich, dass diese Präparate, wenn wir hier den quantita¬ 
tiven Maassstab anwenden, die Bedeutung, die ihnen von manchen 
Kreisen zugeschrieben wird, verlieren werden, wenngleich ja 
nicht zu leugnen ist, dass ein Weniges, ein Geringfügiges da¬ 
durch erreicht wird. Freilich darf man auch die Frage nicht 
vergessen: wie theuer wird das Wenige bezahlt? Es 
kostet 1 kgr Somatose 48 Mk., also 10 gr 48 Pf. Wenn man die¬ 
selbe Nahrungsmenge im Ei zu sich nimmt, bezahlt man dafür 
2'/, Pf. Also man bezahlt die Somatose, um etwas Besonderes 
zu gemessen, mit dem 20fachen des wahren Werthes. Dieser 
ökonomische Gesichtspunkt mag immerhin in vielen Fällen ausser 
Betracht bleiben; aber armen Leuten nur um der Illusion willen 
so theure Präparate zu verordnen, das halte ich für einen Miss¬ 
brauch. 

Viel besser liegen die Verhältnisse bei dem schon genannten 
löslichen und nicht vorher künstlich verdauten Eiweiss, der 
Nutrose und dem Eukasin. Ich möchte die Darstellung dieser 
Präparate für einen sehr wesentlichen Fortschritt halten. Aber 
ich muss gestehen, wenn man jedesmal ganz frei die Bedürfniss- 
frage aufwirft, dann schrumpfen die Fälle, wo es wirklich nöthig 
ist, solche Präparate an »Stelle der natürlichen Nahrungsmittel 
zu verordnen, auf ein Minimum zusammen. Im Uebrigen haben 
die Nutrose und das Eukasin dadurch noch einen kleinen Vor¬ 
zug, dass diese Präparate Milcheiweiss darstellen. Alles, was 
dem Milcheiweiss Gutes nachzurühmen ist, gilt auch vom Eukasin 
und von der Nutrose. Ihnen fehlen diejenigen Nucleine, welche 
die Muttersubstanz der Harnsäure sind, so dass man ebenso wie 
durch Milch auch durch diese Nährpräparate die Harnsäure¬ 
mengen sehr stark herabdrücken kann. Will ich also einem 
Gichtkranken oder einem, der an harnsauren Nierensteinen 
leidet, ein Eiweisspräparat geben, so thue ich gut, die Nutrose 
oder Eukasin zu verordnen. Ich möchte allerdings glauben, 
dass wir genug natürliches, nucleinfreies Eiweiss besitzen, um 
der künstlichen Präparate entbehren zu können. In Frage 
kommt auch noch, dass Zustände von Nierenentzündung durch 
Extractivstoffe ungünstig beeinflusst werden. Diese fehlen in 
der Somatose wie in den Caseinen. Also vorausgesetzt, dass 
ich Veranlassung habe, einem Brightiker künstliche Präparate 
zu verordnen, werde ich diesen Eiweisspräparaten den Vorzug 
geben. 

Wir können nun die Nährpräparate der Eiweissgruppe nicht 
verlassen, ohne einige solche zu erwähnen, die dem Fleisch ent¬ 
stammen, und durch ihre anregende Wirkungen sehr nützlich 
sein können, ohne eigentliche Nährmittel zu sein. Das sind die 
Fleischextractpräparate. Jeder weiss, dass nur sehr geringe 
Eiweissmengen im Fleischextract enthalten sind; immerhin sind 
es noch ca. 20 pCt. Wenn man bedenkt, dass. Pepton 35 pCt- 
hat, so wird man auch durcli den Vergleich mit dem Extract 
gemahnt werden, die nährende Wirkung der sog. Peptone nicht 
zu überschätzen. 

Die Bestandtheile des Fleischextracts sind zwar Gichtikern, 


Nierenkranken und Harnsteinleidenden schädlich, aber auf Nerven 
und Herz wirkt das Fleischextract höchst anregend. Fleischextract 
wird man deswegen oft bei Kranken und bei solchen, die einen Wider¬ 
willen gegen andere Ernährung haben, gern darbieten, um ihren 
Appetit hervorzurufen, aber für die Ernährung kann man dadurch 
nichts leisten. Was vom Extract gilt, gilt auch für die verdünnteren 
Auszüge, wie sie als Fleischsaft, Beef-tea, als Flaschen¬ 
bouillon durch Kochen oder Digeriren oder Ausziehen von 
Fleisch dargestellt werden; diese Säfte enthalten 2 bis 3 bis 
4 pCt. lösliches Eiweiss. Wenn davon die Patienten viel ge¬ 
messen, so gemessen sie '. 4 , '/• Tassenkopf voll. Es ist kaum 
möglich, auf diese Weise vielleicht mehr als 5 bis 6 gr Eiweiss 
zuzuführen. Es ist dieser Beef tea nichts anderes, als Lösung eines 
Fleischextractes von 1 : 10. Dass hierdurch eine allgemeine An¬ 
regung hervorgebracht wird, dass der Magen davon unter ge¬ 
wissen Umständen günstig beeinflusst wird, ist gar keine Frage. 
Aber dass es ein ernährendes Präparat ist, kann in keiner 
Weise behauptet werden. 

Unter der Marke, ernährende Präparate zu sein, treiben 
namentlich amerikanische Präparate ausserordentliche Reclame. 
Diese Thatsache gilt namentlich von dem meat juice Valen¬ 
tin e’s. Dieser meat juice ist weiter nichts als eine Lösung 
von Fleischextract von 1 : 3. Wenn man einen Theelöffel voll 
meat juice giebt, so sind darin 1'/, gr Eiweiss enthalten. Das 
ist also eine Menge, die in gar keiner Weise in Betracht kommt, 
und wenn ich wieder nach dem Calorienwerth dieses Präparats 
frage, so muss man, um den Nährwerth von einem Ei zu ge¬ 
messen, nicht weniger als 254 ccm dieses meat juice nehmen, 
und es werden bekanntlich 150 ccm mit dem unerhörten Preise 
von 4,50 Mark bezahlt. Dass darin ein ganz gewaltiger Miss¬ 
brauch gelegen ist, muss gewiss mit aller Schärfe ausgesprochen 
werden. 

Neuerdings ist in Deutschland ein empfehlenswerther Fleisch¬ 
saft dargestellt worden (Puro von Dr. Scholl). Derselbe ent¬ 
hält 33 pCt. Eiweisskörper, wovon 21 pCt. natives Eiweiss, 3 pCt. 
Leim, 7 pCt. Pepton‘sind. Es ist .also Fleischsaft Puro dem 
amerikanischen Präparate unbedingt vorzuziehen, zumal der Preis 
bedeutend geringer ist. Freilich muss gesagt werden, dass die 
gewöhnlich genommenen Quantitäten zu gering sind, um für die 
Ernährung wesentlich ins Gewicht zu fallen. 

Ich habe nur eine kleine Auswahl der vielen Präparate 
namhaft gemacht, die hier in Frage kommen. Es ist ja auch 
nicht nöthig, jedes einzelne zu nennen. Man braucht sich ja 
bloss die Analysen eines solchen Präparates anzusehen, um die 
Gesichtspunkte, die wir eben erwähnten, auf jedes anzuwenden. 

Gestatten Sie mir wenige Worte Uber Kohlehydrat¬ 
präparate. Es ist wohl anzuerkennen, dass in den Bemühungen, 
den Genuss von Kohlehydraten dem Kranken zu erleichtern, 
ein wesentliches Verdienst gelegen ist, da nach unserer jetzigen 
Meinung Kohlehydrate dem Geschwächten, dem Fiebernden, am 
nothwendigsten sind. Die hier in Betracht kommenden Präpa¬ 
rate sind in erster Reihe die sog. präparirten Mehle, aus welchen 
die Krankensuppen bereitet werden. Es ist kein Zweifel, dass 
die feine Vertheilung, sowie die Zerkleinerung der Cellulose die 
Verdauung des Mehles sehr erleichtert, und es ist wohl allge¬ 
mein anerkannt, dass die verschiedenen Hafermehle, Reis¬ 
mehle, Gerstenmehle, wie sie namentlich von Knorr in Heil¬ 
bronn in den Handel gebracht werden, wie sie die Legu¬ 
minosenmehle von Hartenstein in Chemnitz darstellen, sehr 
wesentliche Stutzen für die Ernährung der Kranken sind. Es ist 
freilich zu bedenken, wie viel Wasser zur Bereitung einer Suppe 
gehört. Wenn man 1 Liter Wasser mit 50 gr Mehl kocht, so 
enthält die Suppe 5 Eiweiss, 2,5 Fett, 36 Kohlehydrate, also nur 
7* von dem Nährwerth, der 1 1 Milch zukommt. Mit der Milch 

1 * 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 26. 


kann eben kein künstliches Nährpräparat in Wettbewerb treten. 
Da es aber eine Reihe von Patienten giebt, welche die Milch 
nicht vertragen, so bedarf man nicht selten des Surrogates der 
Mehlsuppen, die man durch Zusatz von Fleischextract anregen¬ 
der, durch Zusatz von Eigelb oder Butter nahrhafter machen 
kann. 

Nun ist den Herren bekannt, dass man auch bei den Kohle¬ 
hydraten versucht hat, dem Körper die Verdauungsarbeit zu 
ersparen, indem man aus dem Stärkemehl die vom Körper her¬ 
gestellten Verdauungsproducte, z. B. das Dextrin, die Maltose 
hergestellt hat. Es sind die sog. Kindermehle, welche dadurch 
hergestellt sind, dass auf das Mehl selber die Diastase einge¬ 
wirkt hat, um das Amylum in lösliche Producte zu verwandeln. 
Das Nestlemehl, das Kufekemehl u. a. m. sind solche, die einen 
mehr oder weniger grossen Procentgehalt an verdautem, oder wie 
der technische Ausdruck gewöhnlich lautet,“ aufgeschlossenem 
Mehl enthalten. Den höchsten Gehalt an solchem aufgeschlos¬ 
senen Mehl hat das Kufekemehl, die anderen folgen in ge¬ 
wissen Zwischenräumen nach. Das Nestlemehl hat einen ver- 
hältnissmässig kleinen Gehalt an diastasirter Stärke. Nun, wenn 
die Speichelverdauung, die Sacharificirung im Körper gelitten 
hat, wird man dem betreffenden Menschen gewiss nützen, wenn man 
ihm diese aufgeschlossenen Mehle darreicht. Ich möchte glauben, 
obgleich ich nicht berechtigt bin, darüber ein selbständiges 
Urtheil zu fällen, dass dies für die Säuglingsemährung wesent¬ 
lich sei. Es ist Sache der Kinderärzte, zu entscheiden, wie 
weit es nöthig ist, bei Kindern das Stärkemehl durch das 
diastasirte Mehl zu ersetzen. Wenn ich aber frage, wie weit 
es bei erwachsenen Kranken nöthig ist, statt des Hafermehles 
diastasirte Mehle zu verordnen, so muss ich gestehen, dass auch 
hier wieder der Wirkungskreis ein sehr eng zugemessener ist, 
indem ich keine Erkrankung kenne, bei der die diastatische Kraft 
der Speicheldrüsen-Secrete Noth gelitten hätte. Auf Grund 
eigener Beobachtung kann ich sagen, dass Fälle, wo die Speichel- 
secretion in dem Maasse Noth gelitten hätte, dass Stärke nicht 
mehr sacharificirt werden kann, kaum vDrkoramen, und auch 
Darmerkrankungen giebt es kaum, bei denen die Pankreas¬ 
absonderung so stockt bezw. die baktericide Wirkung so herab¬ 
gesetzt ist, dass wir deswegen solche aufgeschlossenen Mehle 
brauchten Ich möchte also glauben, dass diastasirtes Mehl am 
Krankenbett anzuwenden, in den meisten Fällen nicht nöthig ist. 
Ich habe nichts dagegen, verschiedene dieser Nährpräparate für 
die Kranken zu verwenden. Aber wieder muss man sagen: was 
der Fabrikant hier geleistet hat, wird so unverhältnissmässsig 
theuer bezahlt und ist für die Krankenernährung so wenig direkt 
nöthig, dass wir kaum in der Lage sind, davon Gebrauch zu 
machen. 

Wir haben als Nährpräparat noch das Malzextrakt zu 
erwähnen und haben in der That anzuerkennen, dass in dem 
Malzextrakt 53 pCt. Zucker und 15 pCt. Dextrin enthalten sind, 
so dass man also in einem Esslöffel eines Malzextrakts so viel 
Nährwerth zuführen kann, als in einem Ei gelegen ist. Das 
ist immerhin eine schätzenswerthe Unterstützung der Kranken¬ 
ernährung, und das Malzextrakt mag als ein nützliches Nähr¬ 
präparat bezeichnet werden, wenngleich das, was gut ist, 
auch hier vielfach überzahlt wird. Denn die Natur giebt 
uns andere Zuckerpräparate, die viel billiger sind und in 
den meisten Fällen mindestens ebenso gut bekommen, wie diese 
künstlichen Präparate, sodass kaum eine Veranlassung ist, die 
künstlichen Präparate heranzuziehen. An erster Stelle zu nennen 
ist der Honig, welcher in der Krankenemährung gewiss eine 
grössere Rolle spielen könnte. Er enthält 80 pCt. Zucker, darunter 
einige 70 pCt. Lävulose, nebenbei auch ein Präparat, das vielen 
Diabetikern sehr bekömmlich ist. Wir haben ausserdem die 


echten Zucker, welche sich ausgezeichnet zu Nährpräparaten 
eignen. Am nächsten liegt der Rohrzucker, welcher freilich sehr 
stark süsst. Auch ist die Lävulose künstlich dargestellt. Aber 
bedeutend billiger ist der in grosser Reinheit ueuerdings gewonnene 
Milchzucker, und wo es.mir darauf ankommt, die Kohlehydrat- 
zufuhr zu vermehren, thue ich am besten, Honig oder Milch¬ 
zucker oder ähnliche Präparate darzureichen. 

Ich möchte noch kurz erwähnen, dass ebenso illusorisch, 
wie viele der erwähnten Dinge, die Darreichung der Malzbiere 
ist; sowie der sogen. Kraftbiere, die Pepton enthalten. Was 
man an Malz und Pepton mehr zufUhrt, ist gewöhnlich in den 
Präparaten weniger an sogen. Stammwürze, an Dextrin und 
Alkohol enthalten und die viel gerühmten Malzextraktbiere 
enthalten in Wirklichkeit weniger Nährstoffe, als die meisten 
Münchener Biere. Das sog. Kraftbier von Ross z. B. enthält 
in einem Viertelliter 8,75 gr Eiweiss und kostet 70 Pf. Wenn 
man für denselben Geldwerth Münchener Bier oder selbst ein¬ 
heimische Biere trinkt, so erhält man darin ungleich höhere 
Mengen von Nährstoffen. 

Zum Schluss möchte ich mir gestatten, auf die Fettpräparate 
einzugehen. Ich muss gleich von Anfang an sagen, dass das 
Bestreben, künstliche Fettpräparate zuzuführen, wenn man be¬ 
denkt, wie viele gute Fettpräparate die Natur uns darbietet, 
etwas gekünstelt erscheint. Wir haben in der Butter, im Rahm, 
im Gelbei, im Caviar, in den feinen Speiseölen, zum Theil anch 
im Leberthran so ausgezeichnete Fettpräparate, dass wir kaum 
nöthig haben, zu künstlichen Uberzugehen. Aber es wird allen 
Herren bekannt sein, dass uns im Lipanin ein künstliches Nähr¬ 
präparat dargeboten wird, welches sich vor dem natürlichen Fett 
dadurch auszeichnet, dass es 6 pCt. Oelsäure enthält. Lipanin 
wird deswegen als künstliches Präparat empfohlen, weil dadurch 
dem Körper die Arbeit erspart wird, Oelsäure abzuspalten. Nun 
gebe ich ohne Weiteres zu, dass Lipanin ein sehr feines Speiseöl 
ist, welches so fein wie Provencer-Speiseöl schmeckt, und ich 
frage nur wieder: ist es nothwendig, dem Körper die Arbeit 
des Fettabspaltens zu ersparen? Es giebt keinen Krankheitszu¬ 
stand, bei dem die Fettabspaltung so leidet, dass es auf die 
6 pCt., welche im Lipanin künstlich zugeführt werden, ankommen 
sollte. Wenngleich ich also nicht leugne, dass Lipanin gut ver¬ 
tragen wird, so [stelle ich vollkommen in Abrede, dass es um 
dieser 6 pCt. Fettsäure willen gut resorbirt wird, es ist auch 
experimentell festgestellt, dass Lipanin nicht besser vertragen 
wird, wie neutrale Fette, wenn dieselben frisch, unzersetzt und 
wohlschmeckend sind. Also ich darf auch hier sagen, dass mir 
eine Nothwendigkeit, künstliche Präparate zuzuführen, nicht vor¬ 
zuliegen scheint. 

Ich habe mit Absicht auf Vollständigkeit verzichtet, um kurz 
zu sein. Es kam mir nur darauf an, einige principielle Gesichts¬ 
punkte darzulegen, und etwas auszusprechen, was gewiss vielen 
Herren schon sehr häufig zum Bewusstsein gekommen ist: dass 
auch für dieses kleine Gebiet der Medicin der Ruf Geltung haben 
müsste, der schon so oft ein belebender Weckruf gewesen ist: 
Zurück zur Natur! 


II. Ueber Hermaphroditismus. 

Von 

Dr. Walther Menke. 

(Vortrag mit Demonstration gehalten am 13. Juni 1896 in der medici- 
nischen Gesellschaft zu Berlin.) 

Das Wort Hermaphroditismus ist im Laufe der Jahrhunderte 
ein Sammelname geworden, mit dem man alle erdenklichen 
und bisweilen recht phantastischen Missbildungen im Bereiche 


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58 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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der Genitalsphäre umfasste. Noch bis in die neuere Zeit hat 
man die abenteuerlichsten Bilder aus Alterthum und Mittelalter 
wissenschaftlich ernst genommen und Individuen beschrieben mit 
Penis, Scrotum, Vulva, grossen und kleinen Schamlippen. Die 
exacte Nachprüfung der Pathologen und die Erkenntniss von 
der Rolle, welche die Geschlechtsgänge und Drüsen und ihre 
Entwicklung für die Bestimmung des Geschlechtes spielen, hat 
eine Ausmerzung der alten Phantasieproducte herbeigefühlt und 
hat veranlasst, dass die alte willkürliche Kinthcilung der jetzt 
gebräuchlichen Classification, wie sie Klebs und Ahlfeldt ge¬ 
schaffen, Platz gemacht hat. Klebs unterscheidet den Pseudo¬ 
hermaphroditismus vom Hermaphroditismus verus, bei welch 
letzterem die Geschlechtsdrüsen beider Geschlechter vertreten 
sind, und zwar Hermaphroditismus verus bilateralis, unilateralis 
und lateralis. Der Pseudohermaphroditismus seinerseits zerfällt 
in Masculinus und Femininus und jeder dieser beiden wieder in 
Externus, Internus und Completus. 

In einem Falle, den ich zu beobachten Gelegenheit hatte, 
handelt es sich um Pseudohermaphroditismus femininus extemus, 
der sich jedoch von den landläufigen Fällen dadurch unter¬ 
scheidet, dass die Clitoris zwar zum Penis sich entwickelt hat, 
jedoch die Schamlippen nicht verwachsen sind und keine Atresie 
der Scheide besteht. Da derartige Fälle von angeborener Ver- 
grösserung der Clitoris ohne sonstige Missbildungen im Genital- 
tractus zu den grossen Seltenheiten gehören, glaube ich, den 
Bericht darüber Ihnen schuldig zu sein, um so mehr, als Herr 
Geheimrath Virchow das Kind am dritten Tage nach der Ge¬ 
burt intra vitam und seine Organe nach dem in 5. Woche an 
Brechdurchfall erfolgtem Tode und der von mir vorgenommenen 
Section gütigst mit mir untersuchte und mich mit seiner maass¬ 
gebenden Ansicht unterstützt bat. 

Bei der äusseren Besichtigung der Geschlechtsorgane des kräftigen 
Kindes findet man ein peniBartigeB Gebilde mit Eichel und Präputium, 
2 cm lang, hakenförmig noch abwärts gekrümmt, undurchbohrt. An der 
Unterfläcbe ziemlich weit vorn beginnt eine von flachen Hautfalten um¬ 
säumte Rinne, welche die Sonde in das Orificium urethrae gleiten lässt. 
Es gleicht diese Bildung also dem männlichen Gliede mit Hypospadie. 
Im Uebrigen entsprechen die äusseren Genitalien durchaus denen des 
weiblichen Geschlechtes. Nach der Section fand ich Situs inversus der 
Beckenorgane. Der Darm verläuft zweimal geknickt rechts; von der 
Mittellinie ganz nach links verdrängt liegt der Uterus schwach bicorn 
gebildet mit deutlichen Tuben und Eierstöcken. Die Scheide ist über 
die Norm lang, wie durch den stark nach links verdrängten Uterus in 
die Länge ansgezogen, sonst regelrecht. In der rechten grossen Scham¬ 
lippe fühlt man ein bodenartiges rundes Gebilde, das sich jedoch bei der 
Section als Fett erwies. Das knöcherne Becken ist merkwürdig gebaut, 
niedrig, wie zuBammengedrückt aussehend, ähnlich einem osteomalaci- 
seben Becken en miniature. Eine nähere Beschreibung ist mir zur Zeit 
unmöglich, da ich durch weitere Freilegung das Präparat für die heutige 
Demonstration gefährdet haben würde. Die ganz auffällig starke Ver¬ 
lagerung des Uterus, sowie die doppelte Knickung des Darmes wird 
voraussichtlich durch die vergrösserte Blase, die bei der Section ziemlich 
prall gefüllt war, mit herbeigefübrt sein. 

Ich entschloss mich, von den Eltern behufs Anmeldung zum 
Standesamtsregister um das Geschlecht befragt, obwohl die weit¬ 
aus grössere Anzahl der zweifelhaften Fälle männlichen Ge¬ 
schlechts sind, das Kind als weiblich anzugeben. Geleitet hat 
mich bei der völligen Unmöglichkeit, intra vitam in diesem Falle 
eine sichere Entscheidung zu treffen, der Wunsch, dem Kinde 
im Verkehr mit seinen Spiel- und Schulgenossen den bei der 
Jugend nur zu häufigen Spott Uber Missbildungen jeglicher Art 
möglichst lange zu ersparen. Da das Kind den Urin sitzend 
hätte entleeren müssen, würde es in der Knabenschule mehr 
oder weniger früh aufgefallen sein, während mir so zugleich mit 
Rücksicht auf die von Natur grössere Schamhaftigkeit des weib¬ 
lichen Geschlechtes ein längeres Verborgenbleiben der Missbil¬ 
dung gewährleistet schien. Wie sehr Zwitter unter dem Spotte 
leiden können, lehrt der Steimann’sehe Fall, in dem das 
Kind ausdrücklich hervorhob, dass es „bereits unsagbare Nccke- 


Figur 1. 



Aeussere Genitalien am 8. Tage nach der Geburt gezeichnet. V. */,. 


Figur 2. 



Figur 3. 


Introitus 

vaginae 



.orificium 

urethrae 


Glied in die Höhe gegen die Banchwand gelegt. An unterer Fläche 
Rinne, die in das orifle. urethrae führt (I. Pfeil). Darunter Introitus 
vaginae (2. Pfeil). Natürliche Grösse. 

reien habe ausstehen und sich wiederholt von seinen Gespielen 
und Bekannten habe trennen müssen.“ 

Die sociale Stellung des Zwitters ist von Geburt an eine 
eigenthümliche. Der Bildungsexcess respective die Bildungs¬ 
hemmung der Natur ist von der Gesetzgebung nicht genügend 
berücksichtigt worden. Die alte Forderung nach einer eigenen 
Rubrik in den Standesamtsregistern ist noch heute unerfüllt. In 
dem Lehrbuche der Geburtshülfe für die Preussischen Hebammen 
vom Jahre 1878 findet die Zwitterbildung keine Erwähnung, ein 
Umstand, der um so unbegreiflicher ist, als er falsche Eintra- 

2 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


558 


Figur 4. 


gungen in die amtlichen Listen begünstigt. Und welche Gefahren 
ein derartiges Verkennen des Geschlechtes bietet, möge Ihnen 
ein Fall von St ei mann, annähernd mit seinen Worten citirt, 
illustriren. Ein zwanzigjähriges blühend gesundes Mädchen 
schliesst, ob ihres Glückes viel beneidet, eine dem Anschein nach 
glänzende Ehe. Es beginnt bald nach der Hochzeit zu kränkeln, 
besucht Autoritäten, Bäder, siecht ungeachtet dessen körperlich 
und geistig gebrochen dahin und stirbt nach zehn Jahren. Das 
Leiden wurde ärztlicherseits als hysterische Innervationsstörung 
bezeichnet. Auflallend war Habitus, Stimme, Benehmen des 
Mannes. Die Indiscretion der Hebamme verrieth dem Autor, 
dass der Gatte bei seiner Geburt für einen Zwitter gehalten 
wurde, da seine Genitalien missbildet waren. War er in der 
That ein Weib, so bestand keine Ehe, sondern nur ein eheähn¬ 
liches Verhältnis, dessen Auflösung jedoch nur behördlich hätte 
erfolgen können. Vor diesem Schritte mochte wohl die Frau 
aus Scham und Ehrgefühl zurückschrecken und nahm sie lieber 
das Geheimnis, dessen Opfer sie geworden, mit in das Grab. 

Wie beim Eheschliessungs- und Scheidungsrecht ist die 
Stellung des Zwitters auch im Erbrecht — ich verweise nur auf 
die Rechtsfrage bei Majoraten —, sowie im Strafrecht wahr¬ 
scheinlich seines immerhin seltenen Vorkommens wegen nicht 
genügend präcisirt. Unser Preussisches Landrecht ist so gefällig, 
den Eltern die Geschlechtswahl des Hermaphroditen zu über¬ 
lassen, ihm selber aber mit dem neunzehnten Jahre freizustellen, 
sich sein Geschlecht selbst zu bestimmen. Jedoch ist im Falle 
der Rechtsbeeinträchtigung eines Dritten der Sachverständigen- 
Entscheid maassgebend auch gegen die Wahl des Zwitters resp. 
seiner Eltern. Ja, als ob diese Entscheidung so leicht und als 
ob sie so sicher wäre. Zum Belege der Schwierigkeit eines 
endgültigen Urtheils diene Ihnen der von Steimann berichtete 
Fall, in dem ein Kind bei seiner Geburt als Knabe angesehen, 
von seinen Eltern jedoch als Mädchen erzogen wurde. Mit dem 
zehnten Jahre wurde es ärztlicherseits wiederum als Knabe be¬ 
zeichnet, und Steimann erklärt es sechzehn Jahre alt wiederum 
flir ein Mädchen. Ahlfeld hält den Steimann'sehen Beweis 
noch nicht für erschöpfend und männliches Geschlecht durchaus 
nicht für ausgeschlossen. Die Bestimmung ist in vielen Fällen 
intra vitam unmöglich und nur dann absolut sicher, wenn Sperma¬ 
bildung nachweisbar und die Vasa deferentia normal sind und 
nicht, wie fast immer, entweder obliterirt sind oder mit Tube 
oder Uterus verwachsen blind enden. Alle jene anderen zur 
Bestimmung herangezogenen Unterscheidungsmerkmale der Ge¬ 
schlechter, wie Menstruation, Habitus, Nymphenbildung, Bau von 
Kehlkopf und Becken > Stimme, Gestalt der behaarten Region 
der Schamgegend, Brustdrüsen können trügerisch sein und haben 


No. 26. 

nur als Adjuvantien für die Wahrscheinlichkeitsdiagnose Werth. 
— Nur davor möchte ich dringend warnen, dem sexuellen 
Empfinden des Zwitters, wie es früher geschehen, eine ausschlag¬ 
gebende Bedeutung beizumessen. Ich halte dafür, dass diese 
Empfindungen anerzogen sein können, dass unmerklich das 
Fühlen und Denken des Geschlechtes, in dem sich ein 
Zwitter fälschlich bewegt, auf ihn übergehen, und dass die 
jedem Geschlecht eigene Bewunderung des anderen zusammen 
mit diesem anormalen Empfinden den Zwitter ohne sein Wissen 
geschlechtlich pervers machen kann. Das geschlechtliche Ver¬ 
gehen des Zwitters interessirt bei uns den Strafrichter im Gegen¬ 
satz zu Oesterreich, wo auch der weib-weibliche Verkehr ver¬ 
folgt wird, nur bei mann-männlicher Liebe, aus welchem Grunde 
ist mir unerfindlich geblieben. Welch’ wunderbare Confusion 
die eigenartige Stellung des Zwitters aurichten kann, lehrt der 
bekannte Martini’sehe Fall — nach österreichischem Recht 
beurtheilt —, in dem eine verwittwete Hebamme sich an einer 
Clientin zu vergehen suchte. Durch Sachverständige wurde 
männliches Geschlecht erwiesen. Es lag mithin ein Versuch der 
Nothzucht eines Mannes gegen ein Weib vor, und dieses Ver¬ 
gehen wurde vom Gerichte als widernatürliche Unzucht aufge¬ 
fasst, da sich die Hebamme als Weib gefühLt habe. Die Sach¬ 
verständigen hatten sich fruchtlos gegen diese widersinnige Aus¬ 
legung gewehrt und mit Recht darauf hingewiesen, dass Noth¬ 
zucht respective Versuch der Nothzucht begangen sei. Ich würde 
mit II off mann noch weiter gegangen sein und würde bei der 
Unklarheit des Individuums Uber sein Geschlecht in diesem Falle 
die Strafbarkeit selbst in Frage gezogen haben, wie ich auch 
überzeugt bin, dass die Zurechnungsfähigkeit von Zwittern nicht 
nur bei strafbaren Handlungen sexueller Natur, sondern auch 
bei allen erdenklichen anderen Vergehen in jedem Falle sorg¬ 
fältig geprüft werden muss. Man weiss, dass sexuell Missbildeten, 
wie Castraten eine erhebliche Abschwächung der intellectuellen 
Kräfte und auffallende Energielosigkeit zukommt, und müsste 
daher in jedem Falle einer strafbaren Handlung eines solchen 
Wesens nicht nur die vorhandene Unzurechnungsfähigkeit, son¬ 
dern sogar die verminderte Zurechnungsfähigkeit in das Bereich 
der Untersuchung ziehen. 


III. Aus der medicinischen Klinik zu Leipzig. 

Bemerkungen über Chlorose und ihre Be¬ 
handlung. 

Von 

Prof. Dr. Ernst Romberg, I. Assistenten der Klinik. 
(Fortsetzung.) 

Das Verhalten der weissen Blutkörperchen ist bis¬ 
her in der Chlorose-Litteratur etwas stiefmütterlich behandelt 
worden. Ich habe fast in allen Fallen auch die Leukocythen ge¬ 
zählt. Als Durchschnittszahl erhielt ich bei meinen Vormittags 
ausgefUhrten Zählungen des Blutes von 55 gesunden jungen Mäd¬ 
chen 9068 w. Blk. Für Chlorose habe ich die Durchschnitts- 
werthe von 100 Fällen in Tabelle -III zusammengestellt. 

Wir begegnen also durchweg Zahlen, die in dem Bereich 
der Norm liegen. Auch bei Betrachtung der Einzelfälle zeigen 
sich keine wesentlichen Abweichungen. Nur fällt auf, dass die 
Durchschnittswerte der Leukocythen bei den schweren Chlorosen 
um ca. ein Drittel niedriger sind als bei den leichten. Ich halte 
die Erscheinung nicht für zufällig. Wir kennen dasselbe Ver¬ 
halten nur in ausgesprochenerer Weise bei schweren Fällen per- 



- Blase 


Darm 


Beckenorgane von hinten und oben gesehen. Natürliche Grösse. 


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<2*. JB L1897. BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 559 


Tabelle III. 


lib-Gehalt 

in 

Procenten. 

Zahl 

der Fälle. 

Weise Blut¬ 
körperchen. 

w. Blk. 

r. Blk. 

20—29 

3 

6 400 

1 :456 

80-39 

21 

6 300 

1 :521 

40—49 

24 

8 300 

1 :444 

50-59 

22 

9 500 

1 : 435 

60-69 

18 

9 000 

1 :488 

70—79 

12 

8 800 

1:521 


niciöser Anämie (vergl. Grawitz 1 2 )). Seine Ursache wird sich 
zunächst nicht nachweisen lassen. Handelt es sich um eine 
wirkliche Verminderung oder ist es nur eine relative Abnahme 
durch Eintritt von Wasser in das Blut, durch eine hydrämische 
Plethora? 

Dass eine hydrämische Plethora Vorkommen kann, ist für 
manche Herzkranke nach den interessanten Feststellungen von 
Stintzing und Gumprecht*) und von Katharina Baranoff 3 4 ), 
die unter Leitung Sahirs arbeitete, kaum noch zu bezweifeln. 
Für ihre Existenz bei Chlorose lassen sich aber sichere Beweise 
nicht beibringen. 

ßlntkörperchenzählungen gestatten an sieh kein Urtheil. Die von 
Stintzing und Gum precht festgestellte Verminderung der Trocken¬ 
substanz des Blutes kommt hauptsächlich auf Rechnung der Hämoglobin¬ 
verminderung. Der von Grawitz*) gefundene grössere Wasserreich¬ 
thum des Serums in schweren Fällen von Chlorose tritt dagegen zurück. 
Nur in besonders schweren Fällen, wenn auch die Zahl der rothen Blut¬ 
körperchen bedeutend herabgesetzt war, stellte Grawitz eine be¬ 
trächtliche Eiweissverarmung des 8erums fest, die aber bei der Re- 
duction des Gesammternährungszustandes auch auf eine absolute Ver¬ 
minderung des Serumeiweisses bezogen werden kann. 

Nur ein abnorm grosser Wassergehalt des Körpers 
überhaupt muss in vielen Fällen von Chlorose angenommen 
werden. Das beweisen in manchen Fällen die Knöchelödeme, in 
sehr vielen das gedunsene Aussehen, welches für diese Kranken 
so charakteristisch ist. 

Ganz besonders tritt aber die Wasserretention in der eigen¬ 
tümlichen bisher nur von v. Noorden 5 ) mit vollem Rechte be¬ 
tonten Thatsache hervor, dass in sehr vielen Fällen von Chlorose 
im Beginn der Behandlung das Körpergewicht abnimmt. Bei 
95 Fällen, von denen ich genaue Bestimmungen des Körpergewichts 
besitze, war das 47 Mal in der ersten oder den ersten Wochen 
der Fall. Erst dann stellte sich eine oft recht beträchtliche 
Gewichtszunahme ein. Auch aus der von Re inert 6 ) abgebilde¬ 
ten Curve geht dieses Verhalten hervor, ist aber von ihm, so 
viel ich sehe, nicht beachtet worden. Es scheint bei Chloroti- 
schen besserer Stände, die sich reichlicher ernähren, bisweilen 
noch ausgesprochener zu sein. 7 ) Ich gebe zunächst einige Bei¬ 
spiele: 

1) Grawitz 1. c. 8. 101. 

2) Stintzing und Gumprecht 1. c. S. 292 ff. 

8) Baranoff, Beitr. zur Theorie der Flüssigkeitsentziehung. In.- 
Diss. Bern 1895. 

4) Grawitz 1. c. 8. 79. 

5) v. Noorden, 1. c. 8. 65 n. 8. 180. 

6) Reinert, 1. c. 8. 150. 

7) Anmerkung bei der Correctur. Herr Geheimrath Cursch- 
mann hatte die grosse Liebenswürdigkeit, mir über seine Erfahrungen 
in dieser Beziehung Folgendes mitzutheilen: „In meinen Notizen finde 
ich 12 mal (aus den Jahren 1883 -bis jetzt) auffällige Gewichtsabnahmen 
bei Chlorotiscben verzeichnet, die trotz entsprechender Diät und medi- 
camentöser Coren und trotz erheblicher subjectiver und ob- 


1. Lindner, 40 pCt. Hb, 3 312 000 r. Bl., 4800 w. Bl., in den 
2 ersten Wochen Abnahme um 1,6 kgr, dann in 9 Wochen Zunahme 
um 9 kgr. 

2. Heimerl, 31 pCt. Hb, 3 608 000 r. Bl., 4400 w. Bi., in der 
ersten Woche Abnahme um 1,0 kg, dann in 2 Wochen Zunahme 
um 1,9 kgr. 

3. Mühlenpfordt, 30 pCt. Hb, 3 008 000 r. Bl., 6800 w. Bl., in 
der ersten Woche Abnahme um 1,5 kgr, dann in 8 Wochen Zunahme 
um 7,0 kgr. 

4. Müller, 30 pCt. Hb, 3 240 000 r. Bl., 4400 w. Bl., in der 

ersten Woche Abnahme um 0,9 kgr, dann in 7 Wochen Zunahme 
um 1,9 kgr. 

5. Ollendorf, 25 pCt. Hb, 2 424 000 r. Bl., 7200 w. Bl., in den 
ersten 2 Wochen Abnahme um 1,4 kgr, dann in 1 Woche Zunahme 
um 2,5 kgr. 

6. Kern, 56 pCt. Hb, 3 656 000 r. Bl., 6000 w. Bl., in der 

ersten Woche Abnahme um 1 kgr, dann in 2 Wochen Zunahme 

um 2,7 kgr. 

7. Schwarz, 28 pCt. Hb, 3 709 000 r. Bl., 5600 w. Bl., in der 

ersten Woche Abnahme um 0,8 kgr, dann in 9 Wochen Zunahme 

um 3,4 kgr. 

8. Pröhl, 33 pCt. Hb, 4 064 000 r. Bl-, 7200 w. Bl., in der 

ersten Woche Abnahme um 1,0 kgr, dann in 8 Wochen Zunahme 

um 1,5 kgr. 

9. Hamann, 52 pCt. Hb., 4 000 000 r. Bl., 6400 w. Bl., in der 

ersten Woche Abnahme um 1,2 kgr, dann in 2 Wochen Zunahme 

um 1.0 kgr. 

10. Thieme, 31 pCt. Hb., 2 980 000 r. Bl., 4000 w. Bl. in der 

ersten Woche Abnahme um 5,5 kgr, dann in 1 Woche Zunahme 

um 0,5 kgr. 

11. Lock, 70 pCt. Hb, 5 500 000 r. Bl., 5200 w. Bl. in der 

ersten Woche Abnahme um 0,2 kgr, dann in einer Woche Zunahme 
um 0,5 kgr. 

Es ist überflüssig, noch mehr Fälle einzeln anzuführen. Sie 
gleichen einander vollständig. Es handelt sich fast durchweg 
um schwere, seltener um mittelschwere Fälle, die die auffällige 
Erscheinung zeigten. Nur zweimal habe ich sie bei leichten 
Fällen beobachtet. Den einen habe ich unter die obigen Bei¬ 
spiele aufgenommen 

Schon das Aussehen und das Gesammtbefinden der Kranken 
zeigten, dass es sich nicht um eine Abmagerung in Folge ihrer 
Chlorose oder damit verbundener dyspeptischer Erscheinungen 
handelte, welche in der ersten Zeit der Behandlung noch Fort¬ 
schritte gewacht hätte. Im Gegensatz zu dem anscheinenden 
Gewichtsverlust besserte sich das Aussehen. Die Gedunsenheit 
des Gesichts, die mehrfach vorhandenen Knochenödeme schwan¬ 
den, die Hautfarbe wurde frischer. Das Gesammtbefinden 
hob sich. 

Ganz deutlich aber bewies der folgende Fall, dass die Ge¬ 
wichtsabnahme nicht auf Rechnung der Bleichsucht zu setzen war. 

Weissenburg wurde 4'/* Wochen wegen Starker dyspeptischer 
Beschwerden, die den Verdacht auf Ulcus ventriculi erregt hatten, im 
Krankenhause mit entsprechenden Maassnahmen ohne Erfolg behandelt. 

jectiver Besserung des Allgemeinzastandes zu Stande kamen. Auch 
bei weiteren Fällen von Chlorose habe ich diese Erscheinung so oft ge¬ 
sehen, dass ich seit Jahren schon die Angehörigen auf die Eventualität 
aufmerksam zu machen pflege. Sie kam öfters bei sog. pastösen In- 
Individuen vor, häutiger bei jüngeren als älteren Chlorotischen. Das 
älteste Individuum unter denen, von denen ich Gewichtszahlen habe, 
zählte 22 Jahre. Die Gewichtsabnahme erfolgte bei den fraglichen In¬ 
dividuen während sie „Liegecuren“ machten, d. h. Wochen lang den 
ganzen Tag über oder doch während des grössten Theils desselben die 
Rückenlage einnahmen und reichliche gemischte Kost (mit nicht geringer 
Menge Kohlenhydrate) nahmen. Von den früheren Fällen habe ich nur 
notirt, dass ihre Blutbeschaffenheit und die äusseren Erscheinungen, be¬ 
sonders das Aussehen sich erbeblich gebessert hatten. Bei später beob¬ 
achteten Fällen ist erhebliche Besserung des Hämoglobingehalts und der 
Zahl der rothen Blutzellen festgestellt. Die Gewichtsverluste schwankten 
in den 12 Fällen sehr. Das Extremste bot ein 16jähriges Mädchen, die 
(im Verhältnis zum Gewicht bei Beginn der Behandlung) 5,75 Kilo ab¬ 
nahm. 4, 3 und 2,5 Kilo sind nicht ganz selten, häufiger geringere 
Abnahmen. Von dem Individuum mit der stärksten Abnahme notirte 
ich für das Alter ungewöhnliche Adipositas and Gedunsensein des 
Gesichts.“ 

2 * 


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600 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 26 . 


Das Körpergewicht war während der ganzen Zeit völlig gleich geblieben. 
Der Hämoglobingehalt betrug 30—40 pCt, die rothen BI. 3 125 000. Es 
wurde dann Ferr. carbonic. gegeben. Die Kost wurde nicht geändert. 
In der ersten Woche der Eisenbehandlung sank das Körpei gewicht um 
1,2 kgr, um sich dann in 7 Wochen um 1,5 kgr zu heben, während der 
Blutbefund sich rasch von Anfang an besserte. 

Ich sehe keine andere Möglichkeit, den Gewichtsverlust zn 
erklären, als durch eine Abnahme des Wassergehalts des Kör¬ 
pers. Da der Gesammternährungszutand sich gleichzeitig hob, 
werden die durch die Waage festgestellten Gewichtsverluste 
wohl nnr einen Theil der vermehrten Wasserausscheidung reprä- 
sentiren. Leider besitze ich keine genügende Zahl wirklich 
zuverlässiger Bestimmungen der FlUssigkeitszufuhr und der Ham¬ 
menge, die ein Urtheil Uber die durch die Nieren ausgeschiede¬ 
nen Quantitäten gestatteten. Wir können aber trotzdem wohl mit 
Sicherheit annehmen, dass in den betreffenden Fällen von Chlo¬ 
rose Wasser im Körper zurückgehalten wird. Daraus kann man 
nun, wie Krehl 1 ) sehr richtig betont, natürlich nicht folgern, 
dass dieses Wasser innerhalb der Gefässe sich auf hält. Die 
bisweilen vorkommenden Knöchelödeme beweisen auch direkt, 
dass auch ausserhalb der Gefässe vermehrter Wasserreichthum 
der Gewebe besteht. Also auch die Thatsache der Wasser¬ 
retention spricht nicht eindeutig für die Existenz einer hydrä- 
mischen Plethora bei Chlorose. 

Ihre Existenz wUrde mit viel grösserer Sicherheit anzunehmen 
sein, wenn die Beobachtungen Raehlmann’s 2 ) allgemein be¬ 
stätigt worden wären. Raehlmann fand wie Ed. v. Jäger 
sehr häufig bei Anämie eine Hyperämie der Netzhautgefasse, die 
gleichmässig Arterien und Venen betraf. Dabei erschiene das 
in ihnen fliessende Blut besonders in den Venen abnorm hell 
und durchsichtig, so dass man hinter einer Vene eine Arterie, 
die von einem pigmentirten Choriodealsaum umrandete Papillen¬ 
grenze durchscheinen sähe. Mit der Erweiterung der Gefässe 
ginge ein deutlich sichtbarer Arterienpuls einher. Raehlmann 
hat auch bei experimentell erzeugter Hydrämie die Erweiterung 
der Netzhautgefässe und ihre Pulsation eintreten sehen. Die 
Raehlmann’sche Beobachtung wUrde kaum anders zu erklären 
sein als durch eine seröse Plethora. 

Die auffällige helle Färbung und Durchsichtigkeit der Netz- 
hautgefässe, das öfters vorkommende deutliche Pulsiren der 
Arterien wird allgemein erwähnt. Dagegen wird die Häufigkeit 
der von Raehlmann geschilderten Gefässerweiterung bei Chlorose 
nicht allgemein anerkannt. Wie mir Herr Prof. Hess mittheilte, 
nimmt die Mehrzahl der Autoren an, dass die Arterien in der Regel 
entschieden dUnner seien als normal. Auch in 28 meiner Fälle, 
die Herr Prof. Hess zu untersuchen die Freundlichkeit hatte, 
fand sich nichts von einer gleichmässigen Erweiterung der Netz- 
hautgefässe. Dieselbe scheint nach alledem bei echter Chlorose 
nicht häufig zu sein. Dabei waren unter den ophthalmoskopisch 
untersuchten Fällen eine ziemliche Anzahl hochgradiger Chlo¬ 
rosen, bei denen nach dem Verhalten des Körpergewichts eine 
zum Theil beträchtliche Wasserretention im Körper anzunehmen 
war. Der ophthalmoskopische Befund spricht also eher zu 
Gunsten der Annahme, dass das im Körper zurückgehaltene 
Wasser sich hauptsächlich in den Geweben ansammelt. 

Ich schliesse hier mit Erlaubnis des Herrn Prof. Hess die 
Resultate seiner Augenuntersuchungen an. Siezeigen, dass 
leichte Papillenveränderungen bei Chlorose keineswegs selten 
sind, wenn auch hochgradige nur hin und wieder zur Beobach¬ 
tung gelangen. 

Ich lasse zunächst eine kurze Zusammenstellung der Fälle 
folgen, die Abweichungen von der Norm aufwiesen: 


1. Richter, 25 pCt. Hb, 2 625 000 r. Bl. Papillen beiderseits ver¬ 
waschen. Sehr deutliches Umbiegen der Gefässe. Schmutzig grane 
Farbe der Papille. Nach tl Wochen bei 78 pCt. Hb 4 728 000 r. Bl. 
Papillen nicht mehr eigentlich verwaschen, nur die Grenzen nicht voll¬ 
kommen scharf. Nasale Hälfte etwas mehr geröfhet. Gefässe normal. 

2. Dick, 65 pCt. Hb, 5 248 000 r. Bl. Temperale Pap.-Hälfte nor¬ 
mal, nasale mit auffallend verwaschenen Grenzen. Links dicht an die 
Papille angrenzend schmaler grauer Saum, an dem die Gefässe auffallend 
umbiegen und etwas weniger deutlich erscheinen. 

3. Schröder, 60 pCt. Hb, 5 232 000 r. Bl. Rechtes Auge normal. 
Linke Papille ganz verwaschen. Leichtes Umbiegen der Gefässe. 

4. Weissenburg, 30—40 pCt. Hb, 3 125 000 r. Bl. Tempor. Pap- 
Hälfte normal. Nasale mit auffallend verwaschenen Grenzen. 

5. Schiller, 32 pCt. Hb, 4 256 000 r. Bl. Leichte Hyperämie der 
nasal. Pap.-Hälfte. 

6. Pröhl, 33 pCt. Hb, 4064000 r. Bl. Mässige Röthung der nasalen 
Pap-Hälfte. Grenzen in geringem Grade verwaschen. 

7. Krapff, 55 pCt. Hb, 4 144 000 r. Bl. Grenzen der Papillen gran, 
überall besonders temporal verwaschen. Deutliches Umbiegen der 
Gefässe. 

8. Mohr, 40 pCt. Hb, 4 192 000 r. Bl. Leichte Röthung der 
tempor. Pap.-Hälfte. Grenzen nicht ganz scharf. Keine vermehrte Ge- 
fäisfüllung. 

9. Renker, 50 pCt. Hb, 4 644 000 r. Bl. Leichte Röthung und 
Verwaacbcuheit der nasalen Pap.-Hälfte. Keine vermehrte Gefäss- 
füllung. 

10. Mühlenpfordt, 30 pCt. Hb, 3 008 000 r. Bl. Beiderseits hoch¬ 
gradige Röthung und Verwaschenheit der nasal. Pap.-Hälften, links mehr 
als rechts. Sehr starke Schlängelung der Venen. 

11. Leppel, 43 pCt. Hb, 4 464 000 r. BI. Leichte Röthung der 
tempor. Pap.-Hälfte. Grenzen nicht ganz scharf. Keine vermehrte Ge- 
fässfüllung. 

12. Reiter, 43 pCt. Hb, 3 384 000 r. Bl. Derselbe Befand. 

13. Friedrich, 45 pCt. Hb, 4 456 000 r. Bl. Ausgesprochene Ver¬ 
waschenheit der Pap.-Grenzen. Schlängelung der Venen. 

14. Hamann, 52 pCt. Hb, 4 000 000 r. Bl. Ganz geringe Röthung 
der nasal. Pap.-Hälfte. Keine Abnormitäten der Gefässe. 

15. Melle, 48 pCt. Hb, 2 838 000 r. Bl. Ganz geringe Röthung der 
temporalen Pap.-Hälfte. Grenzen < twas verwaschen. Geringe Umbiegung 
der Venen am Pap.-Rande. 

16. Martin, 60 pCt. Hb, 5 128 000 r. Bl. Auffallende Röthung der 
tempor. Pap.-Hälfte. Grenzen verwaschen. Deutliche Umbiegung der 
Venen am Pap.-Rande. Unmittelbare Umgebung der tempor. Pap.-Hälfte 
zeigt grauen Schdln. 

17. Schucht, 31 pCt. Hb, 2 672 000 r. Bl. Netzhaut und Umgebung 
der Pap. zeigen leicht graueu Schimmer. Gefässe auffallend hell. Pap.- 
Grenzen scharf. 

18. Seifert, 40 pCt. Hb, 3 352 000 r. Bl. Beiderseits leichte Trü- 
bung der Netzhaut um die Papillen, deren nasale Hälften in geringem 
Grade verwaschen erscheinen. Leichtes Umbiegen der Gefässe am nasal. 
Pap.-Rande. 

19. Gädc, 68 pCt. Hb, 3 720 000 r. Bl. Pap.-Grenzen sehr ver¬ 
waschen, bes. auf der nasalen Hälfte des recht. Auges. Merkliches Um¬ 
biegen der Gefässe. 

Rechnen wir einen noch zu erwähnenden Fall mit gleichen 
Veränderungen hinzu, so haben wir nach der von Herrn Prof. 
He88 vorgenommenen Untersuchung unter 28 Fällen von Chlo¬ 
rose 15), die nicht das normale Aussehen der Papille zeigten. 
Das ist ein überraschend hoher Procentsatz bei einer Reihe, 
die ohne Auswahl, wie sie aufgenommen wurden, zur Unter¬ 
suchung kamen. Es war stets dasselbe Bild: Verwaschenheit der 
Papillengrenzen, oft Verfärbung uud mehr oder weniger ausge¬ 
bildete Schwellung der Papille. Die Veränderungen fanden sich 
bei allen Graden von Chlorose in schweren und leichten Fällen. 
Ebenso sind unter den Fällen mit normalem Augenhintergrund 
alle Grade der Krankheit vertreten. Bemerkenswerth ist ferner 
die ungleich starke Betheiligung der beiden Papillenhälften in 
der Mehrzahl der Fälle, die öfters constatirte stärkere Betheili¬ 
gung eines Auges. 

Sehstörungen fehlten vollständig. Auch stärkere cerebrale 
Erscheinungen, heftiger Kopfschmerz, Schwindel, unter Umstän¬ 
den Apathie, habe ich nicht gesehen. Nur Fall 2 klagte Uber 
starken und anhaltenden Kopfschmerz. 

(Schluss folgt.) 


1) Krehl, 1. c. S. 44. 

2) Raehlmann, Virch. Archiv Bd. 102, S. 191 ff. 


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28. Juni 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


5G1 


IV. Die chirurgische Behandlung des chronischen 
Magengeschwürs. 

Von 

Professor J. Mikulicz in Breslau. 

(Schluss.) 

Die verhängnisvollste Complication des Magengeschwürs 
ist bekanntlich die Perforation in die freie Bauchhöhle. Die 
Chancen einer Spontanheilung sind hier so geringe, dass schon 
aus diesem Grunde jeder innere Kliniker die Hülfe des Chirurgen 
anrufen wird, sobald nur die ersten Erscheinungen der Per- 
torationsperitonitis sich bemerkbar machen. Ich habe zum 
ersten Mal im Jahre 1880, noch als Assistent der Billrot ti¬ 
schen Klinik, den Versuch gemacht, eine perforirte Ulcusnarbe 
an der kleinen Curvatur durch die Naht zu schliessen. Patient 
starb 3 Stunden nach der Operation an Collaps. Seit dieser 
Zeit ist der Versuch immer häutiger wiederholt worden, zunächst 
immer mit ungünstigem Ausgange, bis es im Jahre 1892 
Heusner 1 2 ) gelang, den Patienten durch die Operation zu retten. 
Seit dieser Zeit häufen sich die günstigen Erfolge immer mehr 
und mehr, und heute können wir schon auf eine stattliche Zahl 
von gelungenen Operationen zurückblicken, wie Ihnen die vor¬ 
liegende Tabelle zeigt, so dass wir heute an der Berech- 


T ab eile III. 

Die bisher publicirten Operationen bei Ulcus ventriculi perforatum. 


Jahr. 

Anzahl 

Geheilt 

Gestorben 

Mortalität 

#- 

• 0 

1885 bis ind. 1893 . . . 

1894 bis ind. 1896 . . . 

35 

68 

1 

32 

84 

' 86 1 

97,15 

52,94 

Zusammen 

103 

33 

70 

67,96 


tigung der Operation nicht mehr zweifeln können, lieber die 
operative Behandlung des perforirten Magengeschwürs hat 
sich schon eine umfangreiche Literatur angesammelt. Das 
Wissenswerthe darüber finden Sie in dem bekannten Aufsatz 
von Pariser*) und neuerdings in der inhaltreichen Arbeit von 
Weir undFoote 3 ). Indem ich Sie auf die genannten Arbeiten 
verweise, möchte ich nur die wichtigsten Momente hervorheben, 
die auf Prognose und Technik der Operation Bezug nehmen. 
Die bisherigen Erfahrungen haben erwiesen, dass von zwei Um¬ 
ständen die Chancen der Operation wesentlich abhängen: 1. da¬ 
von, ob der Magen zur Zeit der Perforation sich in leerem oder 
gefülltem Zustande befunden hat, und 2. ob die Operation früh¬ 
zeitig oder erst spät nach eingetretener Perforation ausgeführt 
wird. Es ist Ihnen gewiss bekannt, dass bei leerem Magen es 
in seltenen Ausnahmsfällen selbst ohne Operation zum spontanen 
Verschluss der Perforationsöffnung kommen kann. Um so gün¬ 
stiger sind die Aussichten, wenn wir in einem derartigen Falle 
rechtzeitig zur Operation gerufen werden. In praktischer Be¬ 
ziehung Hesse sich daraus für den inneren Arzt nur die Regel 
ableiten, einem Ulcuskranken, bei dem Verdacht auf Perforation 
besteht, per os absolut keine Nahrung zu geben, sondern die 
Ernährung ausschliesslich per rectum zu bewerkstelligen. Was 
den Zeitpunkt der Operation betrifft, so sind nach den bisherigen 


1) Der Fall ist von Kriege in der Berl. kl. Wochenschr. 1892, 
No. 49 u. 50 beschrieben. 

2) Zur Behandlung des frei in die Bauchhöhle perforirenden Ulcus 
ventriculi. Deutsche med. Wochenschr. 1895, No. 28 u. 29. 

8) The surgical treatment of round ulcer of tbe stomach and its 
sequelae; The Medical News, New York 1896, April 25 and May 2. 


Statistiken die Aussichten auf Heilung ungefähr 4 mal so günstig, 
wenn man innerhalb der ersten 12 Stunden nach eingetretener 
Perforation operirt, als bei den später ausgefilhrten Operationen. 
Aus dieser Erfahrung erwächst für jeden Arzt die Pflicht, so¬ 
bald die ersten Anzeichen der Perforation vorhanden sind, so¬ 
fort einen Chirurgen zu verständigen, damit die Operation un¬ 
verzüglich stattfinden kann, sobald die Diagnose gesichert ist. 
Der Chirurg darf natürlich nicht verlangen, dass die Diagnose 
auf Perforation eines Magengeschwürs absolut sicher gestellt ist; 
häufig wird man nur ganz allgemein die Diagnose: Perforations¬ 
peritonitis stellen können. Diese Diagnose ist aber für alle 
Fälle schon Indication genug zu einem operativen Eingriff. Dem 
Rath des Herrn v. Leube, bei Magenperforationen den ersten 
Shock abzuwarten, möchte ich nur mit einer gewissen Reserve 
beipfiiehten. Wenn es sich nur um einen Verzug von einer 
Stande oder etwas mehr handelt, ist dagegen nichts einzuwenden; 
so viel Zeit der Beobachtung wird ohnehin auch jeder Arzt sich 
reserviren müssen, um die Diagnose festzustellen. Aber bei 
festgestellter Diagnose allzu lange zu warten, bis etwa der 
Collaps vollständig verschwindet, halte ich doch nicht für un¬ 
bedenklich. Es könnte da allzu oft Vorkommen, dass der dem 
ersten Shock folgende Collaps unmittelbar in den die Agone ein¬ 
leitenden übergeht. 

In technischer Beziehung liegen die Verhältnisse bei der 
Perforation des Magengeschwürs meist sehr günstig. Die Mehr¬ 
zahl der perforirenden Magengeschwüre, etwa 80 pCt., liegen im 
Bereich der vorderen Magenwand. Sie sind somit leicht aufzu¬ 
finden und leicht zugänglich. Liegt das Geschwür an einer 
entlegenen Stelle, in der Nähe der Cardia oder gar an der 
hinteren Magenwand, so kann allerdings die Auffindung be¬ 
deutende Schwierigkeiten machen, häufig selbst unmöglich werden. 
Es ist auch eine Reihe von Fällen veröffentlicht worden, in 
denen unter diesen Verhältnissen die Auffindung des perforirten 
Geschwürs nicht gelungen ist. Trotzdem sind einige dieser 
Fälle durch die Laparotomie geheilt worden, und zwar hat 
zweifellos die Eröffnung und Tampondrainage des inficirten Peri¬ 
tonealabschnittes hier lebensrettend gewirkt. 

Damit kommen wir auch auf die Frage zu sprechen, was 
wir mit dem perforirten Geschwür vornehmen sollen. Eine Ex- 
cision desselben scheint nach den vorliegenden Erfahrungen nicht 
nothwendig zu sein. Es kommt nur darauf an, dass das vor¬ 
handene Loch im Magen durch die Naht geschlossen wird. Ist 
die Excision leicht möglich, so wird man sie ausführen; wenn 
nicht, begnüge man sich damit, durch eine mehrfache Reihe von 
Serosanähten die Lücke zu verschliessen. In manchen Fällen 
ist dies aber nicht möglich und zwar entweder wegen der 
schweren Zugänglichkeit des Geschwürs oder aber, weil die Ge- 
8chwürsränder und deren Umgebung stark infiltrirt sind. In 
diesem Falle kann man versuchen, die Lücke mit einem Stück 
Netz zu Ubernähen oder aber dieselbe durch einen nach aussen 
geleiteten Jodoformgazebeutel zu verschliessen. Dass in dieser 
Weise auch Heilungen zu Stande gekommen sind, habe ich schon 
erwähnt. Im Uebrigen fällt die chirurgische Behandlung der 
Magenperforation mit der der Perforationsperitonitis überhaupt 
zusammen. 

Wir haben uns bisher nur mit der acuten Perforation des 
Magengeschwürs in die freie Peritonealhöhle beschäftigt. Es 
giebt aber bekanntlich noch eine zweite Form der vom Magen¬ 
geschwür ausgehenden Peritonitis, die in subacuter oder chro¬ 
nischer Form als Perigastritis beginnt. Eine vielleicht 
geringfügige Lücke im Geschwürsgrund ist ursprünglich durch 
Verklebung mit den Nachbarorganen gedeckt. Allmählich 
geben dieselben aber nach und es kommt zu einer fibrinös¬ 
eitrigen, progredienten Peritonitis, die zunächst die unmittelbare 

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662 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 26. 


Umgebung des Magens betrifft, dann aber sich immer weiter 
ausbreitet und schliesslich den ganzen subphrenischen Abschnitt 
der Peritonealhöhle einnehmen kann. Bekanntlich verdankt ein 
Tlicil der subphrenischen Abscesse einer derartigen Perigastritis 
ihren Ursprung. Bisher wurden aber nur die ausgebildeten 
subphrenischen Abscesse einer chirurgischen Behandlung unter¬ 
worfen; da aber viele Patienten dieses relativ gllnstige End¬ 
stadium der eitrigen Perigastritis nicht erleben, sondern früher 
an allgemeiner Peritonitis oder unter pyämischen Erscheinungen 
zu Grunde gehen, so muss man doch daran denken, in einem 
früheren Stadium der eitrigen Perigastritis operativ beizukommen. 
Die Verhältnisse liegen hier aber in jeder Richtung recht 
schwierig. Vor Allem ist die Diagnose nicht leicht, da der 
Process sich zum grössten Theil in der Zwerchfellkuppel ab¬ 
spielt und weder der Palpation noch der Percussion deutliche 
Anhaltspunkte bietet. Der Entschluss zur Operation wird auch 
noch dadurch erschwert, dass zweifellos die leichteren Fälle 
dieser Fälle spontan heilen, ferner dadurch, dass bei bestehen¬ 
den Verklebungen und bei ungünstiger Lage des Geschwürs — 
z. B. an der hinteren Magen wand — die Orientirung für den 
Operateur ausserordentlich schwierig ist. Ich glaube indessen, 
dass hier noch ein dankbares Feld für die weitere Entwickelung 
der chirurgischen Ulcustherapie vorliegt. 

Die vierte, vielleicht häufigste Complication des Magenge¬ 
schwürs, die zu einem chirurgischen Eingriffe auffordern kann, 
ist die Blutung. Selbstverständlich werden leichte Blutungen 
noch keine Indicatiou zum Eingreifen abgeben. Es kann sich 
nur um jene Blutungen handeln, die das Leben gefährden, und 
hier müssen wir zwei Arten auseinander halten: einmal jene, 
in welchen aus einem grösseren arteriellen Ast eine so pro¬ 
fuse Blutung eintritt, dass der Kranke an acuter Anämie 
zu Grunde gehen kann. Bekanntlich enden etwa 5 pCt. der 
Ulcusfälle durch Verblutung tödtlich. Das Bestreben, auf ope¬ 
rativem Wege das blutende Gefäss aufzusuchen und es zu unter¬ 
binden oder zu umstechcn, wie bei jeder anderen Blutung, ist 
daher von vorn herein durchaus gerechtfertigt. Es wurde auch 
zu wiederholten Malen bisher dieser Versuch gemacht, in den 
meisten Fällen aber ohne den gewünschten Erfolg. Nur in zwei 
Fällen dieser Art ist meines Wissens bisher mit Erfolg operirt 
worden: den einen Fall hat Roux, 1 ) den anderen habe ich 
operirt. Beide Male wurde das blutende Gefäss gefunden. In 
meinem Falle war es die Arteria coronaria snperior, die durch 
ein kleines, an der kleinen Curvatur sitzendes Geschwür arrodirt 
war. Ich excidirte das Geschwür und vernähte den Defect. 
Patientin ist bis zum heutigen Tage, das ist mehr als 3 Jahre, 
gesund. Ausser diesem einen Fall habe ich noch dreimal bei 
acuten Blutungen den Magen eröffnet. Das Geschwür lag in 
der Gegend des Pylorus in der hinteren Wand und griff in zwei 
Fällen auf die Pankreassubstanz Uber. Den Geschwürsgrund 
und die Umgebung waren so starr infiltrirt, dass von einer Unter¬ 
bindung oder Umstechung des Gefässes nicht die Rede sein 
konnte. Ich begnügte mich mit der Kauterisation des Geschwürs- 
grundes mit dem Thermokauter. Die Kranken gingen im Ver¬ 
lauf der nächsten 24 bis 48 Stunden im Collaps zu Grunde. 
Ebenso wenig Erfolg hatten in ähnlichen Fällen Bill roth und 
andere Operateure. Die Hauptschwierigkeit bei den acuten, pro¬ 
fusen Blutungen liegt darin, dass das Magengeschwür meist sehr 
ungünstig für die chirurgische Behandlung gelegen ist. Es ist 
ja immer nur eine grössere Arterie, die zu einer lebensgefähr¬ 
lichen Blutung führen kann, und zwar in selteneren, wie in den 
zuerst erwähnten Fällen die Arteria coronaria snperior, in der 
weitaus grösseren Zahl der Fälle eine der in der Pankreassub- 


1) Mitgetheilt auf dein französischen Chirurgencongress 1893. 


stanz verlaufenden grösseren Arterien, also ein Ast der Coeliaca.. 
In diesen Fällen unterziehen wir, wenn wir das Geschwür bloss¬ 
legen wollen, den schon ohnehin auf’s Aeusserste herunterge¬ 
kommenen Kranken einer sehr eingreifenden Operation und können, 
da die Excision des Ulcus unmöglich und die Unterbindung oder 
Umstechung auch nur schwer möglich ist, kaum eine Garantie 
dafür geben, dass die Blutungen nun sich nicht mehr wieder¬ 
holen. Eine zweite Schwierigkeit liegt daein, dass es oft ausser¬ 
ordentlich schwer gelingt, das Ulcus, wenn es nicht gerade die 
eben erwähnte Beschaffenheit besitzt, aufzufinden. Es sind eine 
Reihe von Fällen beschrieben, in welchen es bei der Operation 
am Lebenden absolut nicht gelang, das Geschwür zu finden, 
und selbst bei der später vorgenommenen Obduction machte es 
die grösste Mühe, dasselbe zur Ansicht zu bringen. Solche 
Fälle erwähnen Eiseisberg, 1 ) Hirsch,*) und Weir-Foote. 3 ) 
Es handelt sich dann meist um ganz kleine, oft Jahre lang 
bestehende, in Vernarbung befindliche Geschwüre, die an der 
kleinen Curvatur, zumal hoch oben in der Cardiagegend sitzen. 

In der Praxis bieten diese Fälle noch in einer anderen 
Richtung eine grosse Schwierigkeit: es lässt sich nie bestimmen, 
ob eine acute Magenblutung im einzelnen Falle das Leben wirk¬ 
lich so bedroht, dass der Versuch, ihr chirurgisch beizukommen, 
gerechtfertigt ist. Man wird daher immer abwarten, ob unter 
dem Einfluss einer regelrechten Behandlung nicht die Blutung 
sistirt, und erst aus einer zweiten oder dritten Blutung die Be¬ 
rechtigung zum Eingriff ableiten. Dann ist aber meist der 
Patient so heruntergekommen, dass der Chirurg wenig Neigung 
haben wird, an dem „verlorenen Fall“ noch einen zweifelhaften 
Versuch zu machen, und das um so weniger, als ja bekannter- 
maassen auch solche aufgegebenen Fälle mitunter genesen. Es 
wird also die Indication immer nur eine relative sein. 

Trotz der besprochenen Schwierigkeiten wird der Chirurg 
diese Fälle aber nicht ganz von der Hand weisen dürfen. Man 
muss nur immer bedenken, dass 5 pCt. der Ulcuspatienten an 
der Blutung zu Grunde gehen. Wir haben auf so vielen anderen, 
noch schwierigeren Gebieten durch die Erfahrung gelernt, die 
bestehenden Hindernisse zu überwinden; hoffentlich wird es uns 
auch hier mit der Zeit gelingen. 

Ganz anders liegen jene Fälle, in welchen es nicht eine 
einmalige profuse Blutung, sondern häufig wiederholte, Wochen 
lang und Monate lang andauernde kleine Blutverluste sind, die 
den Kranken immer mehr herunterbringen und ihn in jenen 
Zustand der chronischen Anämie versetzen, die schliesslich irre¬ 
parabel ist. Ich stimme in dieser Richtung ganz mit Herrn 
v. Leube überein, dass diese Fälle ein sehr dankbares 
Feld für die operative Behandlung geben. Hier besteht in der 
That eine absolute Indication, alles zu unternehmen, was 
die Heilung herbeifuhren kann. Gelingt es nicht, durch eine 
interne Behandlung das Geschwür zu heilen, so ist eine chirur¬ 
gische Behandlung indicirt. Wie bei jedem offenen Geschwür, 
das chirurgisch behandelt werden soll, wird man auch hier von 
der Excision des Geschwürs meist absehen und entweder die 
Gastroenterostomie oder die Pyloroplastik ausfUhren. Zwei Fälle 
dieser Art sind mit Erfolg von Küster in Marburg durch die 
Gastroenterostomie behandelt worden. 

Ich kann die Darstellung nicht schliessen, ohne noch eine 
wichtige Sache zu besprechen, nämlich die diagnostischen 
Schwierigkeiten und die Consequenzen, die sich für den 
Chirurgen während der Operation daraus ergeben. Wir sind 


1) Archiv für klin. Chirurgie, Bd. 39, S. 834. 

2) Zur Caauistik und Therapie der lebensgefährlichen Magenblutungen. 
Berl. klin. Wochenschr. 1896. 8. 847. 

3) A. a. O. 


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Sö3 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


%i Un i 1897. 

bisher von der Voraussetzung ausgegangen, dass die Diagnose 
aut Ulcus sichergestellt sei, und fUr die meisten Fälle wird dies 
zutreffen. Der Chirurg kann aber auch in die Lage kommen, 
in diagnostisch zweifelhaften Fällen zu operiren. Gerade Pa¬ 
tienten, bei denen die Diagnose auf Ulcus nicht absolut sicher 
steht, bringen oft den Arzt zur Verzweiflung. Sie wandern oft 
von einem Specialisten zum andern; wenn ihnen nicht geholfen 
wird, so drängen sie schliesslich zur Operation, um von ihren 
Schmerzen und sonstigen Beschwerden befreit zu werden. Der 
Chirurg muss darüber orientirt sein, welche Möglichkeiten vor¬ 
liegen können, und wie er sich ihnen gegenüber zu verhalten 
hat. Eine Unterlassung kann hier ebenso viel schaden als ein 
überflüssiger Eingriff. 

Wenn wir der Reihe nach die Erkrankungen durchgehen, 
die differentialdiagnostisch beim Ulcus und seinen Complicationen 
in Frage kommen, so sind das folgende: 

1. Das Carcinom. Ich habe schon früher erwähnt, dass 
mit dieser Eventualität häufiger zu rechnen ist, als vielfach an¬ 
genommen wurde. Es kommen dabei nicht allein primäre Magen- 
carcinome, sondern besonders auch jene Fälle in Betracht, bei 
welchen aus dem Ulcus oder der Ulcusnarbe ein Carcinom wird, 
ein Vorkommniss, dass nach Hauser für 6 pCt. sämmtlicher 
Ulcusfälle zutrifft. Ich habe schon früher erwähnt, dass ich fünf¬ 
mal, wo die Diagnose zweifelhaft lautete und sich mehr dem 
Ulcus zuneigte, ein Carcinom fand. Wie der Chirurg sich in 
solchen Fällen zu verhalten habe, ist von vornherein gegeben, 
Ich brauche mich daher mit dieser Eventualität nicht weiter zu 
beschäftigen. 

2. Nicht übermässig selten sind die Fälle, in welchen UIcus- 
erscheinungen, namentlich Gastralgieen, und selbst Erscheinungen 
von Pylorusstenose durch Affectionen der Gallenblase und der 
Gallenwege vorgetäuscht werden. Der Ductus cysticus oder 
die Gallenblase kann in Folge von eingekeilten oder perforierenden 
Gallensteinen oder andern entzündlichen Processen zu einer 
chronischen circumscripten Peritonitis führen. Diese führt zu 
Verwachsungen, Verklebungen mit den Nachbargebilden, der 
Leber, dem Duodenum, dem Colon transversum und selbst dem 
Magen. Es können dadurch Tumoren entstehen, die als Intum- 
escenzen des Magens imponieren. Wenn dabei Icterus fehlt, so 
können die vorhandenen Schmerzen für gastralgische gehalten 
werden, zumal der Magen selbst in solchen Fällen häufig in Folge 
von Zerrung und Compression leicht mitbetheiligt ist. Es kann 
das Duodenum oder selbst der Pylorus so stark comprimirt werden, 
dass das Bild der Pylorusstenose entsteht. Ja, es kann selbst Vor¬ 
kommen, dass ein in das Duodenum oder den Pylorus per¬ 
forier Gallenstein die Obturation bewerkstelligt und einen Tu¬ 
mor vortäuscht. Einen Fall dieser Art habe ich noch in Königs¬ 
berg operirt. Es war die Pylorusgegend von einem fast liühner- 
eigrossen, derben Tumor eingenommen, der mit der ganzen Um¬ 
gebung fest verwachsen war. Für mich lag ein nicht exstirpir- 
barer Pylorustumor vor, und ich war schon daran, mich mit der 
Gastroenterostomie zu begnügen. Glücklicherweise versäumte ich 
es nicht, von einer kleinen Incision durch die vordere Magen¬ 
wand aus den Pylorusring von innen her zu palpieren. Ich fand 
einen taubeneigrossen Gallenstein fest im Pylorus eingekeilt; 
offenbar war er von der Gallenblase aus dahin perforirt. Durch 
die Extraction des Gallensteines wurde vollständige und dauernde 
Heilung erzielt. Ausserdem habe ich noch zwei Fälle operirt, 
in denen eine Pylorusstenose resp. gastralgische Erscheinungen 
durch Cholelitiasis und Pericholecystitis hervorgerufen waren. 
Beide Male war das Duodenum resp. der Pylorus durch die 
stark vergrÖ88erte und adhärente Gallenblase comprmirt. In einem 
Fall wurden durch die Entfernung der Gallensteine alle Be¬ 
schwerden gehoben, in einem andern Falle wagte ich es 


wegen des schlechten Allgemeinzustandes der Patientin nicht, die 
durch zahlreiche Verwachsungen technisch schwierige Cholecysto- 
tomie auszufUhren. Es wurde zunächst die Gasroenterostomie 
ausgeführt und nach mehren Monaten, als sich die Patientin voll¬ 
ständig erholt hatte, die Cholecystotomie vorgenommen. Patientin 
ist bis zum heutigen Tage, — zwei Jahre nach der Operation 
vollkommen gesund. Aehnliche Fälle sind auch andern Chirurgen 
gelegentlich vorgekommen. Tuffier und Marchais 1 ) haben vor 
kurzem 19 einschlägige Fälle aus der chirurgischen Litteratur 
zusammengestellt. 

3. Ich habe schon früher erwähnt, dass Adhäsionen des 
Magens mit der vorderen Bauchwand gelegentlich hochgradige 
Beschwerden hervorrufen können. Ob durch die Lösung des 
Magens von der vorderen Bauchwand der Fall erledigt ist, 
wird nicht jedesmal leicht zu entscheiden sein. Jedenfalls wird man 
gut thun, daneben noch genau auf ein etwa vorhandenes frisches 
Ulcus zu untersuchen- Ich habe aber früher einen Fall erwähnt, 
in welchem bei Verdacht auf Ulcus derartige lockere Adhäsionen 
gelöst wurden; dies allein hatte ein vollständiges Verschwinden 
der Symptome zur Folge. 

Nicht vergessen darf man, dass gelegentlich eine Hernia 
epigastrica hochgradige Magenbeschwerden hervorrufen kann. 
Man wird in jedem Fall von unklaren Gastralgien nach 
einer solchen suchen müssen. Die Bedeutung dieses Leidens 
ist allgemein anerkannt und vor kurzem hat Kuttner 2 ) 
aus der Ewald’schen Poliklinik, eine ausführliche Zusammen¬ 
stellung der bisherigen Erfahrungen darüber gegeben. Noch 
wichtiger ist es, daran zu denken, dass neben einer Hernia epi¬ 
gastrica noch ein Ulcus bestehen kann. Dies habe ich zwei mal 
gesehen, und das eine mal war das Vorhandensein der Hernia 
epigastrica für den Patienten wahrscheinlich verhängnisvoll. Es 
war ein in der vorderen Magenwand gelegenes kleines Ulcus in 
die freie Bauchhöle perforiert; daneben bestand aber noch eine 
kleine Hernia epigastrica, die bei Druck ausserordentlich schmerz¬ 
haft war. Die vorhandenen peritonealen Reizerscheinungen wurden 
anfänglich auf einelncarceratiou der Netzhernie bezogen. Ich beeilte 
mich deshalb nicht mit der Operation, sondern wartete einige 
Stnnden, bis dieDiagnose: Ulcusperforation immer evidenter wurde. 
So kam es, dass ich anstatt 3 erst 7 Stunden nach der Perforation 
zur Operation schritt. Patient starb nach 8 Tagen. Ein zweites 
Mal wurden die seit Jahren bestehenden Magenbeschwerden auch 
auf eine Hernia epigastrica bezogen. Es lag an der typischen 
Stelle in der Linea alba ein etwa mandelgrosses Fettklümpchen 
vor, das sich zum Theil durch die Lücke der Linea alba repo- 
nieren Hess. Als ich die Operation ausfUhrte, stellte sich heraus, 
dass es keine eigentliche Hernie war, sondern dass nur ein 
präperitonealer Fettklumpen durch das Loch der Linea alba 
nach aussen getreten war. Dies veranlasste mich, nun weiter 
zu gehen und die Wege gründlich zu untersuchen; es fand sich 
in der That ein Ulcus an der kleinen Curvatur. Patient wurde 
durch die Pyloroplastik geheilt. 

4. Gelegentlich kann auch ein Duodenalgeschwür nicht 
mit absoluter Sicherheit vom Magengeschwür unterschieden 
werden, wenn auch in den meisten Fällen die Differentialdiagnose 
mit einiger Sicherheit möglich ist. Es liegt nahe, beim Ulcus 
duodeni nach Analogie des Ulcus ventriculi durch die Gastro¬ 
enterostomie eine Art Entlastung und Ausschaltung vorzunehmen. 
Die Operation ist, soviel ich weiss, bei Ulcus duodeni schon 


1) Des retr^cissments da pylorc d’origine hepatique. Revue de 
Chirurgie, 1897, No. 2. 

2) Ueber Verdauungsstörungen, verursacht durch verschiedene Bruch¬ 
formen, besonders durch Hernien der Linea alba. Mittheilungen aus den 
Grenzgebieten der Med. und Chirurg. Bd. I. Seite 661. 

8 * 


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einige Male mit Erfolg ausgefiihrt worden. Selbstverständlich 
würde die Pyloroplastik beim Ulcus duodeni nicht den geringsten 
Nutzen bringen. Insofern also muss der Operateur an diese 
Möglichkeit in jedem nicht ganz sicheren Falle denken. 

5. Am schwierigsten ist die Verwechselung eines Ulcus mit 
mit einfacher Gastralgie. Jeder erfahrene Arzt kennt jene 
Fälle, in welchen die Kranken unter dem Bilde einer ausge¬ 
sprochenen Neurasthenie Uber Magenbeschwerden klagen. Heftige 
Schmerzen, Dyspepsie, Aufstossen und selbst Erbrechen, Druck- 
emptindlichkeit der Magen-Gegend, Abmagerung, kurzum eine 
Reihe von Symptomen finden sich hier häufig vergesellschaftet, 
wie wir sie auch beim Ulcus ventriculi finden.. Der Magen kann 
dabei auch einen hohen Grad von Atonie und motorischer Iu- 
sufficienz zeigen. Die Differentialdiagnose ist hier häufig um so 
schwieriger, als bekanntlich jeder Mensch, der längere Zeit am 
Magen leidet, nach und nach neurastheniscb wird, und so kommt 
es, dass bei einfacher Neurastenie ein Ulcus angenommen 
werden kann oder umgekehrt ein Kranker mit einem Ulcus, das 
aber keine ausgesprochenen, zweifellosen Symptome darbietet, 
für einen einfachen Neurastheniker gehalten wird. Fälle beider 
Art sind mir schon vorgekommen. Man muss sich nur hüten, bei 
reinen Magenneurosen um jeden Preis etwas gründliches unter¬ 
nehmen zu wollen. Ich habe schon früher erwähnt, dass gerade 
in solchen Fällen bei vorhandener Magenatonie die Gastroente¬ 
rostomie bedenkliche Folgen haben kann, indem der dort be¬ 
schriebene Circulus vitiosus entstehen und die Kranken infolge 
unstillbaren Erbrechens an Innaition zu Grunde gehen können. 

In diesen zweifelhaften Fällen wird ja die Operation immer 
zunächst nur eine diagnostische Incision sein. Findet man nun keine 
greifbaren Veränderungen, namentlich keine deutliche Verenge¬ 
rung des Pylorus, und sprechen auch sonst keine zwingenden 
Gründe für ein Ulcus, so begnüge man sich mit der Incision 
und schliesse bald wieder die Bauchhöhle. Man kanu auch in 
solchen Fällen mitunter einen wunderbaren Erfolg erleben. Vor 
Kurzem sah ich bei einem Patienten dieser Art nach der ein¬ 
fachen diagnostischen Incision alle Beschwerden sofort schwinden. 
Ich fand mit Ausnahme einer mässigen Gastrektasie absolut 
nichts Abnormes. Einige Fälle von Schwinden der Magensym¬ 
ptome nach einfacher Probeincision sind auch von anderen 
Autoren beschrieben worden. Wie viel hier die Suggestion, wie 
viel die nach der Laparotomie dem Magen auferlegte Ruhecur 
zur Heilung beiträgt, lässt sich schwer entscheiden. Solche 
Beobachtungen sind geeignet, in uns Zweifel zu erregen, ob in 
allen Fällen von glänzenden Heilungen durch die Gastrolysis 
und andere Operationen bei nicht genau diagnosticirten Magen¬ 
krankheiten — ich erinnere an die früher erwähnten Erfahrungen 
von Doyen und Carle — in der That die Operation die Hei¬ 
lung bewirkt hat. Jedenfalls mahnen sie uns in zweifelhaften 
Fällen zur grössten Vorsicht, wollen wir uns nicht selbst täu¬ 
schen und den Patienten Schaden zufügen. 


M. H.! Ich bin am Schluss meiner Darstellung. Wir dürfen 
mit Befriedigung auf das zurückblicken, was die Chirurgie bisher 
beim Ulcus ventriculi, oder richtiger gesagt, bei den schweren 
und lebensgefährlichen Complicationen dieses Leidens geleistet 
hat. Ohne Zweifel werden auf diesem Gebiete die Resultate mit 
der Zeit noch besser werden. Wir haben aber durch unsere 
jüngsten Erfahrungen auch eine neue Grundlage gewonnen, um 
dem nicht complicirten Magengeschwür in einer rationellen und 
dabei wenig eingreifenden Weise beizukommen. Es ist, wie ich 
schon wiederholt betont habe, gewiss nicht zu fürchten, dass der 
internen Therapie durch unsere Bestrebungen Eintrag geschieht; 
nur wo diese nicht zum Ziel führt, tritt die Chirurgie in ihre 


Ko. 26 . 

Rechte. Also nicht verdrängen, sondern nur ergänzen wollen 
wir hier die interne Medicin. 

Es wird die Aufgabe der Zukunft sein, die Gebiete der 
inneren und chirurgischen Therapie hier näher abzugrenzen. 
Zur Zeit sind unsere Erfahrungen noch immer zu spärlich, um 
bestimmte Regeln aufzustellen. Ich glaube mich aber im Ein- 
verständniss mit Herrn von Leube zu befinden, wenn ich fol¬ 
gende ganz allgemein gehaltene Sätze ausspreche. 

Die chirurgische Behandlung des offenen, nicht complicirten 
Magengeschwürs ist dann ins Auge zu fassen, wenn 

1. Erscheinungen anftreten, die das Leben des Kranken 
direkt oder indirekt bedrohen (häufige Blutungen, zunehmende 
Abmagerung, beginnende eitrige Perigastritis, Verdacht auf Car- 
cinom), 

2. wenn eine consequente, eventuell wiederholte curmässige 
innere Behandlung keinen oder nur kurzdauernden Erfolg giebt 
und der Kranke somit durch schwere Störungen: Schmerzen, 
Erbrechen, Dyspepsie in der Arbeitsfähigkeit oder dem Lebens¬ 
genuss schwer beeinträchtigt ist. Die äusseren Lebensverhält¬ 
nisse des Kranken können hier unter Umständen mitbestimmen. 

Diese Sätze sind sehr dehnbar und geben noch keine präcise 
Indication für den concreten Fall. In der Praxis werden wir 
jedes Mal das Für und Wider genau erwägen müssen; die per¬ 
sönliche Erfahrung des berathenden inneren Arztes wird hier 
ebenso in die Wagschale fallen, wie das persönliche Können 
des zu Rathe gezogenen Chirurgen. Auf keinem Gebiete be¬ 
dürfen wir so sehr des einmüthigen Zusammenwirkens des 
inneren Mediciners und Chirurgen wie hier. 


V. Experimentelle und anatomische Unter¬ 
suchungen über das Wesen und die Ursachen 
des gelben Fiebers. 

Von 

Dr. W. Havelburg, (Rio de Janeiro). 

(Schlus».) 

Die Infection des Meerschweinchen erfolgt subcutan oder 
intraabdominell. Von einer Bouilloncultur, von welcher 1 ccm 
ausreicht, bei subcutaner Injection das Thier innerhalb 24 Stun¬ 
den zu tödten, genügen schon 0,2 ccm in die Bauchhöhle ge¬ 
spritzt. Man hat es graduell in der Hand, durch grössere Dosen 
den Tod schneller herbeizuführen. Kleinere Dosen verzögern 
den Krankheitsverlauf um Tage, wobei die Thiere stark ab¬ 
magern; manche kommen aber auch durch und erholen sich. 
Nach Injection einer mittleren Dosis sehen wir in den ersten 
zwei Stunden kaum eine Veränderung in dem Zustand des Thieres. 
Dann aber begiebt sich das Thier in einem Winkel, lässt den 
Kopf hängen, verharrt auffallend ruhig, was namentlich auffällt 
bei Thieren, die vordem sehr beweglich waren. Die Fresslust 
ist von da ab total geschwunden. Leichte Zuckungen gehen 
Uber den Körper; eine Untersuchung ergiebt eine Steigerung von 
1—IV 2 0 der Anfangstemperatur. Der Zustand des Thieres wird 
so zu sagen immer apathischer; legt man es nach einiger Zeit 
auf den Rücken, so verharrt es in dieser Lage; wird es zum 
Gehen gereizt, so sieht man Parese einer oder beider hinteren 
Extremitäten, die immer prononcirter wird. Bei Berühruug und 
leichtem Druck irgendwelcher Körperstellen schreit das Thier, 
besonders wenn die Umgebung der Injectionsstelle betastet 
wurde. Allmählich sinkt die Körpertemperatur 2—5° unter die 
Anfangstemperatur, das Thier fühlt sich auch schon für die 
tastende Hand kühl .in. Es fällt schliesslich um; die Athmung 


BERLINER KLINISCHE WOCtlEKSCHRtFT. 


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fcfc. 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


665 


wird beschleunigt und oberflächlich. Anfänglich leicht, dann 
immer stärker und, sich in kurzen Zwischenräumen wiederholend, 
stellen sich clonische Zuckungen ein, die die Musculatur des 
Nackens, Gesichts, des Hauches und der Extremitäten betreffen. 
Jede äussere Berllhrung löst derartige Convulsionen aus. Unter 
fortschreitender Dyspnoe erlischt das Leben. — Die Section 
ergiebt je nach der Schnelligkeit, mit der dieser Zustand ver¬ 
laufen ist, etwas verschiedene Resultate. Bei subcutaner Injec- 
tion in die Bauchhaut sieht man leichte Röthe bis zu ausge¬ 
dehnten haemorrhagischen Infiltraten, die sich nach der Axillar¬ 
und Inguinalgegend hin erstrecken. Bei Injection in die Bauch¬ 
höhle findet sich bald kein, bald nur geringes Exsudat. Die 
Leber ist gefleckt, in ihrem Parenchym sichtlich verändert, die 
sonst deutlichen Acini sind verwaschen, die Lebersubstanz selbst 
sehr spröde. Die Nieren sind stark geröthet; bei nicht zu 
rapidem Verlauf findet sich Eiweiss im Urin. Der Magen ist in 
den Fällen schnellen Verlaufes mit Speisebrei gefüllt, sonst ziem¬ 
lich oder selbst ganz leer; im catarrhalischen Zustand, eventuell 
bei langsamerem Verlauf stark injicirt und bisweilen mit feinen 
BlutpUnktchen besäet. In ähnlichem Zustand ist der Dünndarm. 
Die Milz ist nicht wesentlich befallen. Auf dem Perikard sah 
ich bisweilen kleine haemorrhagische Herde. Bei mikroskopi¬ 
scher Untersuchung der Leber und findet man parenchymatöse 
Veränderungen und selten wird jnan capillare Blutungen ver¬ 
missen. Alle diese Erscheinungen haben natürlich einen etwas 
differenten Charakter, ob das Thier nach einem Krankheitsver- 
verlauf von 5 Stunden oder 2 Tagen verstorben ist. Bei der 
subcutanea Injection schwächerer, nicht tödtlicher Dosen, kommt 
es zu einem Infiltrat der Haut, welches längere Zeit anhält, 
schliesslich aber verschwindet, oder sich in kleine Abscesse 
umwandelt, die mit Substanzverlust enden. 

Genau dem Geschilderten entspricht auch das Krankheits¬ 
bild nach Injection von Mageninhalt frischer Gelbfieberleichen. 
Für Meerschweinchen im Gewicht von 400 gr wird etwa 1 ccm 
des erwähnten Mageninhalts in 24 Stunden tödtlich wirken; 
grössere Mengen bewirken den Tod schneller. Andererseits er¬ 
fordern grössere Thiere etwas höhere Dosen. Auch die Virulenz 
der Keime differirt etwas und bedingt Unterschiede in der Do- 
8irung. Absolute Zahlenangaben lassen sich bei derartigen Ex¬ 
perimenten nicht geben. 

Wie auch immer der Verlauf gewesen sein mag, ob schnell, 
ob langsamer, ob injicirt mit Mageninhalt oder mit Cultur meines 
Mikroorganismus, stets findet sich der letztere in Reincultur im 
Herzblut des Thieres. 

Empfänglich in gleicher Weise ist die Maus. Es genügt ca. 
0,1 ccm der Bouilloncultur intraperitoneal injicirt, um das Thier 
in etwa 6 Stunden zu tödten; nach subcutaner Einspritzung von 
0,25 ccm stirbt es in ca. 24 Stunden. 

Die Ratten verhalten sich verschieden; ich bin auf einige 
Exemplare gestossen, die weder auf subcutane noch intraabdomi¬ 
nale Injection reagirten. In der Mehrzahl jedoch haben sie eine 
Disposition, auf Injection von Gelbfieber-Mageninhalt, ebenso wie 
auf meine Culturen zu reagiren. 

Ganz immun ist das Huhn. Demselben kann man Magen¬ 
inhalt oder Cultur einspritzen, man kann diese Massen in die 
Haut oder in die Bauchhöhle einführen, es zeigt keine Alteration 
in seinem Zustande. 

Der Hund hat mir einige Besonderheiten dargeboten. Spritzt 
man dem Hunde Mageninhalt von Gelbfieberleichen unter die 
Haut, so zeigt er leichte Krankheitssymptome, die sich in scheuem 
Wesen, geschwundener Fresslust etc. äussern. Nach 24 Stunden 
ist der Hund wieder wohl und an der Injectionsstelle bildet sich 
in den nächsten Tagen ein Abscess. Nach subcutaner Injection 
meiner Cultur äussert der Hund das gleiche veränderte Ver¬ 


halten, aber es kommt nicht zum Abscess. Mageninhalt habe 
ich dem Hunde nicht ins Abdomen gespritzt; bringe ich aber in 
die Bauchhöhle eine Quantität von ca. 5 ccm meiner Cultur, so 
stellen sich allgemein unbestimmte Krankheitssymptome ein, die 
ca. 2 Tage andauern; war die Quantität gegen 10 ccm gewesen, 
so geht ein ca. 10 Kilo schwerer Hund unter Vergiftungserscheir 
nungen zu Grunde. War bei einem Hunde eine Injection, die 
resultatlos verlaufen war, vorausgegangen, selbst eine solche von 
Mageninhalt, die mit einem Abscess geendet hatte, und Hess 
man dann eine stärkere Injection folgen, so reagirte wohl der 
Hund, blieb aber lebendig. Es ist das wohl als ein deutliches 
Zeichen einer beginnenden Immunisirung aufzufassen. Im ver¬ 
gangenen Jahre trieb ich auf diese Weise die Immunisirung des 
Hundes in die Höhe und schützte mit Serumeinspritzung Meer¬ 
schweinchen, wogegen Controlthiere den gleichen Infeetionen er¬ 
lagen. Da aber zur damaligen Zeit meine Arbeiten noch nicht 
genügend fundamentirt waren, so will ich das nur flüchtig er¬ 
wähnt haben, in diesem Jahre hatte ich noch nicht Zeit zu 
derartigen verlässlichen Versuchen. 

Der Bacillus, von dem spreche, hat die Neigung, sehr schnell 
an seiner Virulenz Einbusse zu erleiden und gleichzeitig geht 
auch eine Veränderung in seiner Gestalt vor sich. Die virulente 
Cultur zeigt in grosser Anzahl jene erwähnten bipolaren Bacillen, 
die sich in gleichmässige Stäbe umwandeln und in alten Culturen 
werden diese Stäbe sogar länger, wobei gleichzeitig die Virulenz 
wesentlich geschwunden ist. Durch Culturen durch den Thier¬ 
leib hindurch gelingt es, die Giftäusserung des Bacillus wieder 
zu steigern, gleichzeitig schrumpft er bei der fortgesetzten Cultur 
wieder zusammen. 

Im vergangenen Jahre herrschte eine ziemlich schwere 
Epidemie in Rio de Janeiro und ich hatte ziemlich virulentes 
Material in Händen. Ich war damals oft im Zweifel, ob ich 
einen Diplococcus oder einen Bacillus vor mir hatte; am meisten 
erstaunt war ich aber, als meine nach Europa gebrachten 
Culturen relativ längere Stäbe zeigten. Nach einigen Thier¬ 
versuchen reducirte sich die Form und so ward ich auf die 
Fährte geleitet, die mir nach den jetzigen Erfahrungen als die 
richtige erscheint. 

Die Virulenz des Bacillus, durch Züchtung auf besonderen 
Nährboden zu steigern, wurde von mir versucht, ohne jedoch 
Erfolg zu erzielen. Die Passage durch den Thierkörper ist der 
zwekmässige Weg, wobei aber auch besondere Wege ein¬ 
geschlagen werden müssen. Diese Experimente sind für die 
eventuellen praktischen Zwecke der Immunisirung und Serum¬ 
darstellung von der allerhöchsten Bedeutung, ich muss es mir 
aber einstweilen versagen, dies zu besprechen, da trotz mancher 
gemachten Erfahrungen die Arbeiten erst im Entstehen sind. 

Nachdem wir derart die Bekanntschaft mit dem von mir 
als specifisch angesehenen Bacillus gemacht haben, möchte ich 
nochmals die Betrachtung anstellen, ob wir denselben nicht 
doch in den Organen von an Gelbfieber Verstorbenen antreffen. 
In der massenhaften Bacillenverlagerung in die Magen- und 
Dünndarmschleimhaut sehen wir Mikroarganismen in Abundanz, 
die dem beschriebenen derart gleichen, dass die Indentität nicht 
ausgeschlossen ist. 

Eine besondere Färbungsmethode für den Organismus habe 
ich nicht eruiren können, es muss daher fraglich bleiben, welcher 
Art diese kleinen Bacillen sind. 

Es war indessen doch sehr auffallend, dass im Leben schon 
so massenhafte und tiefgehende Einlagerungen von Mikro- 
organismau stattgefunden haben sollten, ohne dass sich ein so 
zweifellos Pathogener daran betheiligt hätte. 

Die am meisten avancirten Bacillen, die in die schlauch¬ 
förmigen Drüsen eingedrungen sind und hier zwischen Epithel 


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6(>6 

und Basalmembran liegen, gehören einer gleichen kleinen 
Bacillenform an; ob es die des hier näher beschriebenen ist, 
lässt sich nicht bestimmt entscheiden, möglich wäre es. — Auch 
an meinem diesjährigen Material habe ich mikroskopisch in den 
Organen mich nach einem Mikroorganismus umgesehen, jedoch 
vergeblich. 

Ferner habe ich in 10 Fällen unter allen Cautelen aus 
Leber, Milz und Nieren mit der Pipette Material entnommen 
und zur Aussaat gebracht. Etwas Specifisches ging nicht an; 
fast Alles blieb steril und was wuchs, waren Verunreinigungen. 
Dann machte ich 2 Mal den Versuch, unter möglichen Vosichts- 
massregeln entnommene OrganstUckclien mit sterilem Wasser im 
sterilisirten Mörser zu zerreiben und durch sterilisirte Trichter 
zu filtriren; das Filtrat ward Thieren injicirt und zur Aussaat 
gebracht. Die Thiere blieben gesund und die Culturresultate 
waren negativ. Ob die Beobachtungen des vergangenen Jahres, 
die mich immerhin etwas auf den Weg brachten, fehlerhafte 
waren, kann ich nicht sagen; freilich herrschte damals eine im 
Charakter sehr schwere Epidemie, w'ährend die Erkrankungen 
dieses Jahres nur sporadische waren, so dass vielleicht mit der 
Schwere einer Epidemie die Eigenheiten des Bacillns sich etwas 
anders verhalten. Bei meiner letzten Untersuchungsserie habe 
ich weder mikroskopisch, noch culturell den beschriebenen oder 
einer anderen Mikroorganismus in den Organen: Leber, Milz, 
Urin, aufgefunden. 

Nur einmal fand ich bei meinem ersten gelungenen 
Versuch Uber die Giftigkeit des Blutes in dem zu Grunde ge¬ 
gangenen Meerschweinchen meinen Bacillus. Damals schwelgte 
ich in der Hoffnung, dass damit eigentlich die ganze Angelegen¬ 
heit des Gelbfieberbacillus gelöst sei und dass ich den Befund 
stets haben werde, w r as seitdem aber nicht wieder der Fall 
gewesen ist. — Immerhin hat aber dieser selbst einzeln da¬ 
stehende Befund einen nicht geringen Werth für die Bedeutung 
des hier besprochenen Bacillus. 

In früheren und auch in diesjährigen Versuchen eruirte ich 
Uber die Giftigkeit des Bacillus Folgendes: Wird eine mehr¬ 
tägige Bouilloncultur filtrirt und das Filtrat selbst in grossen 
Mengen dem Meerschweinchen injicirt, so bleibt das Thier leben; 
Ausnahmen hiervon erweisen sich als experimentelle Fehler. 
Es gehen durch das Filter auch einzelne Mikroorganismen durch, 
und diese sind es dann, welche den Tod der Thiere bedingen, 
nicht aber ein Giftstoff. Vor diesem Fehler schützte ich mich, 
indem ich das Filter durch 3 Pukal’sche Filter gehen liess und 
von dem injicirten Filtrat wurden Culturen angelegt. Nur, 
wenn diese steril blieben hatte das Experiment einen Werth. 
Das Resultat also ist, dass der Bacillus keinen Giftstoff bildet, 
der in die Flüssigkeit Ubergeht, sondern die Giftwirkung haftet 
seinem Körper selbst an. 

Eine andere wichtige Thatsache ist folgende: Wird eine 
kräftige Bouilloncultur 3 Stunden lang in einer Temperatur von 
ca. 65° gehalten, so dass die Bacillen zu Grunde gehen, so 
kann man Meerschweinchen selbst grosse Mengen davon injiciren, 
sie bleiben am Leben. Es bedeutet das natürlich eine ver- 
hältnissmässig leichte Zerstörbarkeit des von dem Bacillus ge¬ 
bildeten Giftes. 

Dass sich die Virulenz schnell in den üblichen Cultur- 
mitteln verringert, habe ich bereits erwähnt. 

Nach dem Auseinandergesetzten wUrde es sich bei Gelb¬ 
fieber also um eine Krankheit handeln, dessen specifischer 
giftiger Erreger in den Magen gelangt, dort und im Darcanal 
sich weiter entwickelt und wenn überhaupt, dann nur aus¬ 
nahmsweis in geringer Menge von dort aus den Organismus 
invadirt. Im Magen- und Darmcanal wird nach Analogie wie 
bei der Cholera asiatica, wahrscheinlich durch Auflösung des 


No. 2C . 

giftigen Bacillenleibes mittelst der Verdauungssäfte eine toxische 
Substanz frei, die, resorbirt, die schweren Krankheitsver- 
änderungen und eventuell den Tod bedingt. 

Die Wirkung des durch Injection in den Thierleib ge¬ 
brachten und durch die Hauptbahnen ins Blntgefässsystem ge¬ 
langenden giftigen Bacillus wäre, wenn auch in den dabei mit¬ 
wirkenden chemischen Einzelheiten noch unbekannt, nach Analogie 
verständlich. Zu UberbrUcken wäre aber noch, warum er in 
dem einen Falle vom Verdauungstractus, im anderen Falle vom 
Blute aus seine Wirkung entfaltet. 

In diesem Punkte befindet sich meine Forschung, man möge 
mir den Ausdruck gestatten, genau in dem Stadium als seiner 
Zeit die Deutung der Cholera-Infection nach der glorreichen 
Entdeckung des Bacillus. Genau dieselben Gründe sind da an- 
zufUhren: es giebt eben kein Thier, das an eigentlichem gelbem 
Fieber erkrankt; was man im Thierleib erzeugt ist ein modi- 
ficirter, als Septicaemie wirksamer Vorgang. Ich habe es an 
Versuchen, Thiere vom Magen aus zu inficiren, nicht fehlen 
lassen. Man kann Meerschweinchen, um nur von diesen Thieren 
zu berichten, grosse Mengen Mageninhalts von Gelbfieberleichen 
per 08 beibringen, gleichgültig, ob der Magen durch Alkalien 
neutralisirt wird oder nicht; die Thiere erhalten sich dem¬ 
gegenüber reactionBlos. 

Dasselbe Schicksal erlitten auch meine Culturen. War bei 
der Einführung der Oesophagus oder die Magenwand lädirt 
worden, dann starben die Thiere; aber es handelte sich dann 
wieder um Infection vom Blute aus, denn in demselben fanden 
fanden sich dann die Bacillen. Hoffentlich gelingt es in der 
Zukunft auch die Lösung dieser Frage, wie sie bezüglich der 
Cholera von Nicati und Ri et sch und dann besonders durch 
Koch selbst gelöst wurde. 

Trotz des nicht geringen Materials, das ich verarbeitet habe, 
trotz aller Nebenversuche mit dem Colonbacillus, bin ich meinen 
Bacillus gegenüber, ob er wirklich der specifische des gelben 
Fieber ist, sehr misstrauisch gewesen. Ich suchte nach best¬ 
möglichen Unterscheidungsmerkmalen. Man weiss, wie schwierig 
die Differenz zwischen Colonbacillus und dem des Typhus ist. 
Der letztere konnte gar nicht weiter in Frage kommen. Es ist 
nicht zu verkennen, dass sehr viele Eigenschaften meines 
Bacillus dem des Bacillus coli communis ähneln oder gleichen. 
Mein Bacillus indess zeigt, je virulenter, desto massenhafter die 
bipolaren Eigenschaften; beim Colonbacillus trifft das Gegentheil 
zu. Der Colonbacillus ist stark beweglich, der meinige wahr¬ 
scheinlich unbeweglich; der erstere wächst auf der Gelatine¬ 
platte zu einem glatten Rasen aus, der andere stecknadelkopf¬ 
förmig. Der Wachsthum des Colonbacillus auf der Kartoffel ist 
bekanntlich recht üppig, hingegen wächt der meinige in massigem 
Grade, schmutzig grau. Zweifellos kommt der Kommabacillns 
auch im Magen vor, obgleich sein eigentlicher Sitz, wo er seine 
volle Entwicklung erlangt, die unteren Partien des Darms sind, 
aber nie in der Massenhaftigkeit, wie es der hier in Frage 
stehende thut und es liegt nun kein Grund vor, anzunehmen, 
dass er dem gelben Fieber gegenüber eine andere Regelmässig¬ 
keit befolgen sollte. 

Der Colonbacillus ist so schnell tödtend, wie es der 
meinige ist. Immerhin aber würde die Stellung des von mir 
behandelten Bacillus im bacteriologischen System neben der 
Colon- und Typhusgruppe sein und einen Uebergang zu den 
nahe verwandten Bacillen der hämorrhagischen Septicaemie 
bilden, mit denen er ebenfalls manche Gleichartigkeit besitzt. 
Ich muss gestehen, dass der Umstand, dass die Durchforschung 
der Eigenheiten des Bacillus mich dahin führte, dass er diesen 
Gruppen nahe steht, für mich viel Verlockendes hatte. Denn 
auch das klinische Bild der Krankheit deutet dahin. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


567 


i 

28. Juni 1897. 


Diese letztere Erwägungen machten mir viel Arbeit und 
Sorgen und ich sah kaum eine Möglichkeit, aus diesem 
Dilemma in anderer Weise herauszukommen, als durch fort¬ 
gesetzte Immunisirung von Thieren schliesslich ein zu gewinnen¬ 
des Serum auf seine Heilwirkung beim gelben Fieber auszu- 
probiren. Ich sah also noch langen mühsamen Arbeiten ent¬ 
gegen, bevor ich glaubte, es wagen zu dürfen, der wissenschaft¬ 
lichen Welt meine Arbeiten zu unterbreiten. Da lichtete sich 
mir die Situation in jüngster Zeit. 

Die von Pfeiffer inaugurirte, dann von Widal für die 
praktischen Zwecke der Typhusdiagnose ausgebildete Methode 
hatte ich ebenfalls zu Rathe gezogen. Das Serum von Gelb¬ 
fieberkranken zeigte keinen Einfluss auf eine 24stündige Bouillon- 
cultur. Das Blut war freilich Patienten, die 4—5 Tage erst 
krank war, entnommen. Nun hatte ich früher bereits einen 
negativ ausgefallenen Versuch gemacht, ob Blut von recon- 
valescenten Meerschweinchen vor einer tödtlichen Injection meiner 
Cultur schützt. Ich hatte nicht ganz 10 gr Blut den Thieren 
subcutan eingespritzt. Ueberlegungen, die mich bei der Unter¬ 
suchung, ob beim gelben Fieber ein Giftstoff überhaupt circulirt, 
leiteten, waren Veranlassung, einem Meerschweinchen 30 gr Blut 
eines Gelbfieber-Reconvalescenten in die Bauchhöhle zu spritzen. 
Am nächsten Tage erfolgt dann an anderer Stelle eine Injection 
von 0,5 ccm Bouilloncultur; das Thier blieb nicht nur leben, 
sondern zeigte kurze Zeit nach der Injection keine Veränderung 
in seinem Wesen; ein gleichfalls injicirtes Controllthier war 
nach 24 Stunden todt. Der Versuch wurde wiederholt. Ein 
Meerschweinchen von 300 gr Gewicht erhielt eine intraperitoneale 
Injection von 25 ccm Blut eines Patienten, der in der dritten 
Woche krank war und sich in der Reconvalescenz befand. 
Deutlicher Icterus und Albuminurie verriethen noch die eine 
Woche vorher überstandene Akme der Krankheit. 24 Stunden 
später war durch Betasten der Bauchhöhle zu constatiren, dass 
ira Wesentlichen das Blut resorbirt war. Nun wurden 0,25 ccm 
einer Bouilloncultur, wovon 0,1 ccm bei intraabdominaler In¬ 
jection, durch Versuch festgestellt, schon tödtlich war, in die 
Bauchhöhle gespritzt. Eine gleiche Operation erfuhr ein gleich 
schweres Meerschwein. 

Nach 2 1 / 2 Stunden sitzen beide Thiere in der Ecke des 
Käfigs; sie fressen nicht. Auf den Tisch gesetzt, bleibt das 
nicht vorpräparirte Thier ruhig, ist matt und zeigt bereits eine 
Andeutung eines paretischen Zustandes der hinteren Extremi¬ 
täten; das mit Blut vorinjicirte Thier sucht flott davonzulaufen. 
Nach weiteren 2 Stunden schreit Thier a bei Berührung des 
Körpers, fühlt sich kühl an und die Mattigkeit hat zugenommen; 
Thier b lässt sich jeden Druck an seinem Körper gefallen, 
wehrt sich mit den Füssen lebhaft, um davon zu kommen. 
Wiederum 2 Stunden später: Thier a befindet sich in hohem 
Grade der Schwäche, fällt bei leisester Berührung auf die Seite; 
Thier b frisst und ist munter. 14 Stunden nach gemachter In¬ 
jection ist Thier a todt, Thier b ohne irgend welche Abweichung 
von einem gesunden Thier. 

Der öfteren Wiederholung dieser und ähnlicher Experimente 
stellten sich übrigens äussere Schwierigkeiten entgegen. Die 
Kranken widersetzten sich meinen Blutabzapfungen, zumal einige 
der Patienten, die meinen Versuchen gedient hatten, gestorben 
waren, und eine Erklärung, dass ich gerade von Moribunden 
Blut habe entnehmen wollen, ohne Verständniss blieb. • Ich 
musste förmlich abwarten, bis ein Turnus von Patienten den 
Krankensaal verlassen hatten, um wieder ein Experiment zu 
wiederholen. 

Das überlebende Meerschweinchen hat dann noch zwei wei¬ 
tere Injectionen erhalten, um seine Resistenzfähigkeit zu erhöhen. 
Alsdann spritzte ich ihm 1 ccm einer Bouilloncultur, die ein 


Vergleichsthier 12 Stunden nach der Injection tödtete, in die 
Bauchhöhle; auch diesen Eingriff überlebte das Thier. 

Mit diesen letzteren Experimenten war der Kreis der Unter¬ 
suchungen geschlossen; zweimal waren Meerschweinchen durch 
vorhergehende Injection einer genügenden Menge Blut von Gelb¬ 
fieber-Reconvalescenten vor tödtlichen Injectionen meiner Culturen 
geschützt worden. Dies beweist: 

1. dass der beschriebene Mikroorganismus der specifiscbe 
Keim des gelben Fiebers ist, 

2. dass wir für eine zukünftige wirksame Serumtherapie 
eine solide, wissenschaftliche Basis haben. 

Es bleibt ja noch manche Frage, betreffend die Biologie 
des Mikroorganismus, sein Vorkommen, hygienische Maassnahmen, 
ferner solche die Pathologie selbst betreffend, den eigenartigen 
Unterschied zwischen Acclimatisirten und Nichtacclimatisirten 
u. s. w. übrig. Immerhin aber glaube ich in ernster Arbeit 
einige Fragen und vor Allem die wichtigste Angelegenheit nach 
dem specifi8chen Erreger des gelben Fiebers etwas gefördert 
zu haben. 

VI. Kritiken und Referate. 

DerMttelogie. 

Bei seinen Untersuchungen über das Melanotische Pigment 
und die pigmentbildenden Zellen des Menschen und der Wirbel- 
thiere in ihrer Entwicklung nebst Bemerkungen über Blutbildung und 
Haarwechsel gelangt S. Ehr mann (Bibliotheca medica. D II, Heft VI, 
1896) zu dem Schluss, dass die Pigmentbildung in eigenthümlichen weder 
mit Bindegewebszellen noch Leukocyten noch mit Epidermiszellen iden¬ 
tischen Zellen, den Melanoblasten geschieht. Dieselben sind Abkömmlinge 
des mittleren Keimblattes, welche zum Theil sich darin selbstständig 
entwickeln, in die Epidermis einwachsen und daselbst ein selbstständiges 
Zelldasein führen. Die Melanoblasten entstehen an der Grenze zwischen 
äusserem und mittlerem Keimblatte von wo sie in die Epidermis hinein¬ 
wachsen, und entstehen in den drei höheren Wirbelthierklassen auch selbst¬ 
ständig in der Tiefe. Das Material, welches zum melanotischen Pigment 
verarbeitet wird, entsteht im Blute und ist Hämoglobin. Dieses wird 
zum melanotischen Pigment umgewandelt. Die Entstehung von mela- 
notischem Pigment aus BeBtandtheilen des Kernes oder Umwandlung 
farbloser Formbestandtheile des Protoplasmas ist unbewiesen. Die ex- 
tracelluläre Bildung von melanotischem Pigment ist ebenfalls bis jetzt 
nicht nachgewiesen. Was nach Blutungen als extracelluläres goldgelbes 
Pigment beschrieben wurde, ist nicht melanotiBches Pigment, sondern es 
sind hämatische Schollen. Aechtes melanotisches Pigment kommt zweifel¬ 
los extracellulär nur bei Zerfall von pigmentirten Zellen vor. Die Ueber- 
tragung des Pigmentes geschieht durch protoplasmatische Strömung und 
Protoplasmafäden, welche die Melanoblasten mit den Epithelzellen 
verbinden. Der Ausdruck Einschleppungstheorie ist deshalb besser durch 
den Ausdruck Einströmungstheorie zu ersetzen. Der Pigment ist wenig¬ 
stens kurz nach seiner Entstehung ein in einer zähflüssigen farblosen 
Substanz aufgelöster Körper. 

Im Jahre 1889 hatte Herxliei mer eigentümliche spiral gewundene, 
im Epithel verlaufende Fasern demonstrirt in Präparaten, welche nach 
der Weigert 1 sehen Fibrinmethode gefärbt waren. Diese Fasern wurden 
als speciflsche Bestandteile des Stratum spinosum normaler und patho¬ 
logischer Epidermis des Menschen, sowie der analogen Epithellage der 
mit geschichtetem Pflasterepithel ausgekleideten Schleimhäute angesehen. 
Eine definitive Deutung gab damals Herxheimer diesen Gebilden 
nicht, liess aber die Möglichkeit offen, dass es sich um ein electiv ge¬ 
färbtes Saftbahnsystem des Epithels handeln konnte. Als nun im Jahre 
1895 Weigert eine neue Methode zur Neurogliafärbung veröffentlichte, 
welche sich besonders gut zur Darstellung von cuticularen Substanzen 
der Epithelzellen eignen sollte, lag für Herxheimer die Pflicht vor, 
auch mit dieser Methode die Constanz der von ihm gefundenen Gebilde 
nachzuweisen. Nachdem K. Herxheimer und H. Müller (über die 
Deutung der sogenannten Epidermisspiralen. (Arch. f. Dermal, 
und Syph. Bd. XXXVI) die Weigert’sche Neurogliamethode in ihrer 
Anwendung auf die Haut etwas modifleirt hatten, stellte sich bei ihren 
Untersuchungen an normaler Haut, spitzen Condylomen, und secundär- 
syphilitischen Papeln heraus, dass die Spiralgebilde eigenthümlich ver¬ 
änderte Zellconturen seien, deren eigenartige Form nur als Schrumpfungs- 
product angesehen werden kann, wie sie durch die Anwendung der Wei ge rt- 
schen Methode hervorgerufen iat. Ein anderer Theil der spiraligen Ge¬ 
bilde aber, welcher früher als Büschelform beschrieben wurde, ist iden¬ 
tisch mit den seit Ran vier beschriebenen Protoplasmafasern des Epithels. 

J. Schlitz hatte schon früher bei seinen Untersuchungen der Pso- 


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568 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 26. 


riasis gefunden, dass elastische Fasern des subepithelialen Netzes bei 
einer neuen Färbung mit Pikrinsäurefuchsinlösung und Flemming'scher 
Fixirung zwischen den Basalzellen des Rete eindringen, manchmal in 
drei bis vier Zelllagen weit Bich verfolgen lassen und schliesslich sich 
direkt in die gerade parallele Streifung des Stachelmantels verlieren. 
Ebenso konnte er konstatiren, dass die meisten Zellen des Corium feinste 
Fasern abgeben, welche in elastische Fasern übergehen. Er fasste da¬ 
her das elastische Fasersystem als ein Zwischenstück zwischen Epithel 
und Bindegewebe auf, mehr oder weniger als eine ständige Verbindung 
aller Zellen untereinander. Diese ursprünglich nur zufällige Beobachtung 
veranlasste neuerdings J. Schütz (über den Nachweis eines Zu¬ 
sammenhanges der Epithelien mit dem darunterliegenden 
Bindegewebe in der Haut des Menschen. Arch. f. Dermat. und 
Syph. XXXVI. Band. 1896.) zu eingehenden ausserordentlich interessanten 
allgemeinen Erhebungen über die Verbindungsfasern zwischen Epithel 
und Bindegewebe, und in der That war er in einer Reihe von Fällen 
so glücklich, die Verbindungsfäden des elastischen Netzes zu den Epithel¬ 
zellen einwandsfrei zu finden. Besonderes allgemeines Interesse wird 
es erregen, dass Schütz die von den Retezapfen herantretenden elastischen 
Fasern sich spalten und direkt in den Contur der Basalzelle übergehen 
sah. Ebenso theilten sich bei grossen epithelialen Tumoren, Warzen. 
Psoriasis, Hautcarcinomen etc. die an das Epithel herantretenden elas¬ 
tischen Fasern pinselförmig in feinste Fibrillen und verloren sich direkt 
in die gerade Streifung des Stachelmantels. Ferner sah er häufig Binde¬ 
gewebsfasern von den yindegewebszellen aus in elastische Fasern über¬ 
gehen. Durch diesen Zusammenhang hat Schütz in der That eine Ver¬ 
bindung von Bindegewebszellen zu Epithelzellen gefunden indem feinste 
tingible Fasern aus Bindegewebszellen herausgehen und in das ver¬ 
zweigte elastische Fasersystem übergehen, von den elastischen Fasern 
hinwiederum feinste Ausläufer ins Epithel eindringen und in der Rinden¬ 
schicht des Protoplasmas, im Continuum der Ranvicr’schen Fasern sich 
verlieren. Daher wird Schütz mit Recht zu der Ansicht gedrängt, dass 
die feineren elastischen Fasern, Ranvier’s Streifung, Hornsubstanz und 
auch Nukleclen sich chemisch nahesteheu müssen. Diese Gewebstheile 
scheinen Endformationen zu sein, welche das Protoplasma bezw. die 
Kerne unter verschiedenen Bedingungen erzeugen. Aehnlich wie Schütz 
die Ran vier'sehe Protoplasmafaserung der Stachelzellen mit der be¬ 
ginnenden Verhornung in Beziehung bringt, so scheint ihm auch die Er¬ 
zeugung elastischer Fasern ungezwungen als ein dem Bindegewebe eigen¬ 
tümliches Analogon hierzu. 

Die Funktionen der menschlichen Haare als Tastorgan, 
als Walze, als Temperaturregulator und als Schmuck bespricht Sigm. 
Exner (Wien. klin. Woch. 1896. 14). Als Tastorgane sind am em¬ 

pfindlichsten die Cilien, alsdann die Augenbraunen und die kleinen Haare, 
welche im Gesicht ausser dem Barte und am grössten Theile der Haut¬ 
oberfläche Vorkommen. Auf die Funktion des Haares als Walze macht 
Exner wohl als Erster aufmerksam. Ueberall da, wo sich bei den ge¬ 
wöhnlichsten Bewegungen des Körpers z. B. Gehen zwei Hautflächen 
an einander reiben, sind zwischen ihnen Haare eingelagert, und der Werth 
dieser Haarwalzen besteht darin, dass die zwei Hautstrecken viel leichter 
an einander gleiten, als wenn sie nakt wären. Das Kopfhaar spielt eine 
grosse Rolle bei der Bestrahlung durch die Sonne. Die auf den Kopf 
fallenden Wärmestrahlen treffen bei gut behaartem Kopfe nirgends die 
Haut, ihre lebendige Kraft wird zunächst zur Erwärmung der Haare 
verwandt Indem dann die Temperatur steigt, nimmt ihre Ausstrahlung 
zu, und diese muss bei der grossen Oberfläche, welche die sämmtlichen 
Haare zusammengenommen haben eine ausserordentlich bedeutende sein. 
Ist doch die Ausstrahlung proportional der Oberfläche. 

Das Vorkommen von Angiokeratora an dem Skrotum beschreibt 
als Erster Fordyce (Journal of cutan. and genito-urin. dis. März 1896), 
während wir sonst diese Affection nur an Fingern und Zehen kennen. 
Er sieht das Primäre der Erkrankung in einer Dilatation der Kapillaren 
des Papillarkörpers. Die histologischs Untersuchung ergab die An¬ 
wesenheit von mit Blut erfüllten cavernösen Räumen in Papillarkörper, 
die zum Theil bis in das Rete Malpighii reichen, während die Hyper- 
keratosc. der Epidermis in diesem Falle nur wenig ausgesprochen war. 
Elektrolyse, und Galvanocaustik führten zur Heilung. 

Derselbe Verfasser berichtet über einen Fall von Lupus erythe¬ 
matosus disseminatus bei einer graviden Frau, der kurz vor und im 
Beginn der Schwangerschaft im Gesicht sowie an symmetrischen Stellen 
beider Hände und Arme auftrat. Nach 6 Monaten der Schwangerschaft 
war jede Spur des Leidens verschwunden, abgesehen von den atrophischen 
leicht pigmentirten Stellen. In einem zweiten Falle von Lupus ery¬ 
thematosus des Gesichts, der ebenfalls in der Gravidität verschwand, 
kehrte die Affection nach der Entbindung in gleicher Form wieder. 

Aus dem Vortrage Ilallopeau's auf dem dritten internationalen 
dermatologischen Congress zu London dürfte weitere Kreise interessiren 
zu erfahren, dass er auch den Lupus erythematosus zu den tuber- 
culösen Hauterkrankungen rechnet. Freilich hat man hier niemals den 
Tuberkelbacillus gefunden. Indessen kann nach neueren Untersuchungen 
der Infektionsträger der Tuberculosc aller Wahrscheinlichkeit nach auch 
noch unter einer anderen Form als der der Bacillen sich darbieten. 
Die Zoogloea tuberculosis ist schon lange untersucht, und Hallopeau 
vermuthef, dass durch das Wachstum dieser Form in der Haut wahr¬ 
scheinlich der Lupus erythematosus zustande kommt. 

Legrain (Annal. de Dermat. et de Syph. 1896. 1.) behandelte 
einen Fall von Lupus erythematosus der Wangen, des Nasenrückens 
und der mittleren Stirngegend bei einer 32 jährigen Frau, welche schon 


alle möglichen Behandlungsmethoden durchgemacht hatte mit Injectionen 
von Lammblutserum. Es wurden in fünftägigen Intervallen zwei In¬ 
jectionen von 10 ccm Serum gemacht, worauf nach 10 Tagen die Af¬ 
fection spurlos verschwand. Verfasser glaubt, dass diese Varietät des 
Lupus erythematosus ein toxisches Erythem darstellt, veranlasst durch 
die Toxine des Tuberkelbacillus, aber keine wirkliche lokale Hauttuber- 
culose So lasse sich die rapide antitoxische Wirkung des normalen 
Serum erklären. 

Eine neue eitrige Pemphigus ähnliche Form von Hauttuberculose 
glaubt Hallopeau (Annal. de Denn, et de Syph. 1896. 1.) beobachtet 
zu haben, bei welcher zuerst stets eine kleine Eiterpustel erscheint ond 
an der Peripherie neue Pusteln aufschiessen. So entstehen grosse 
eiternde Flächen, die überraschend schnell excentrisch wachsen, am 
Rande dieser Flächen Anden sich zerklüftete, wulstartige Erhebungen, 
während das Centrum einsinkt wie bei parasitären Dermatosen. Der 
rapide Verlauf, die fortwährende Bildung neuer Pusteln, das Ergrißensein 
grosser Flächen, ebenso das schnelle Verschwinden des Plaqnes, das 
Einsinken und die Vernarbung der centralen Partie, die Infiltration und 
Wulstung der Peripherie charakterisiren diese neue Form der Ilaut- 
tuberculose. Tuberkelbacillen wurden nicht gefunden, nur Staphylokokken 
ähnliche Mikroorganismen. 

Günstige Erfolge bei der Behandlung der Aktinomykose der Haut 
durch Jodkalium aah Malcolm Morris (The Lancet 6. Juni 1896.) 
Darnach glaubt Verfasser, dass Aktinomykose sehr oft mit Gnmma oder 
malignen Tumoren verwechselt worden ist. Da trockene Gräser und 
Getreidehalme sehr oft Träger des Pilzes sind, so warnt Verfasser mit 
Recht vor der Gewohnheit, dieselben in den Mund zu nehmen, wie es 
der bekannte englische Staatsmann Lord Palmerston that. 

Einen Beitrag zum Studium des Madurafusaes liefert Hy de (Journ. 
of cutan. and genito-urin. dis. 1896). Patient hatte als Kind viel barfass 
und im Wasser gespielt. Zu Beginn stellte sich ein harter Knoten an 
der Planta pedis ein, welcher unter lokaler Behandlung mit acidum 
nitricum für einige Jahre verschwand. Später traten Recidive ein, es 
erfolgte eine erhebliche Verdickung des linken Fusses, die mit einer 
ziemlich scharfen Grenze in der Gegend des Tarso-metatarsal-Gelenkes 
aufhörte, und auf der Oberfläche erschienen Knoten verschiedener 
Farbe und Grösse zum Theil ulcerirt, so dass die Diagnose von vielen 
Seiten auf Tuberculose oder Sarkom gestellt war. Hy de sah den Knaben 
14 Jahre nach Beginn der Erkrankung und stellte die Diagnose auf 
Maduratuss. Es wurde Amputation vorgenommen und die Diagnose durch 
die Untersuchung bestätigt. Die Aehnlichkeit der hierbei gefundenen 
Mikroorganismen und ihren Mycelfäden und undeutlichen Strahlen an 
der Peripherie mit dem Aktinomvces ist sehr auffällig, doch giebt Verf. 
einige Unterschiede an und hält beide Erkrankungen nicht für identisch. 

Einen interessanten Beitrag zu den Hautaffectionen im Gefolge der 
Malaria giebt L. Brocq (Annal. de Dermat. et de Syph. 1896). Bei 
einer 40 jährigen Frau, die bereits früher ein hartnäckiges Ekzem der 
Hände gehabt hatte, erschien auf der Nase ein kleiner unregelmässig 
begrenzter Plaque mit geröthetem entzündetem Grunde und circa 7 — s 
ziemlich grossen Knötchen und Bläschen darauf von graugelblichem Aus¬ 
sehen mit Krusten bedeckt und nässend, nachdem Pat. an dieser Stelle 
vorher Klopfen, Ziehen und brennenden Schmerz empfunden hatte, all¬ 
mählich im Laufe des Tages verschwanden diese Erscheinungen, das 
Nässen hörte auf, die Schwellung ging zurück und gegen Abend war 
kaum mehr etwas von der Affection zu sehen. Auf zwei Tage der 
Schwellung folgte immer ein Tag des Wohlbefindens und zwar zugleich 
mit anderen Erscheinungen (Neuralgien, Brustbeklemmungen) larvirter 
Malaria. Die Affection verschwand auf Chinin und recidivirte wieder 
nach Aussetzen des Medikamentes, um schliesslich nach energischer mit 
Arsen kombinirter Chininbehandlung etwas fortznbleiben. Aehnlich wie 
schon früher Verncuil und Merklen (Annal de Derra. et de Syph. 
1882) auf Hautanomalien bei Malaria hingewiesen hatten, so glaubt auch 
Verf. den eben beschriebenen Fall hierher rechnen zu müssen. Es giebt 
eine Malaria Herpes, eine Malaria Urticaria und Erythema nodosum. 
Gewöhnlich begleitet die Hautaffection den Intcrmittensanfall. Ausser¬ 
dem giebt es aber noch selbstständige Hauterkrankungen, die nicht von 
Fieber begleitet sind und als eine Art larvirter Malaria betrachtet werden 
müssen, die selbst dann erscheinen, wenn das Fieber durch Chinin unter¬ 
drückt ist, wie schon Griesinger hervorhebt und sich so als direkte 
Malariasymptome, nicht als blosse febrile Erscheinungen darstellen. 

Zwei Fälle von primärem Hautsarkom bei eingebornen Kabylen, wo 
diese Affection sich ziemlich häufig findet, demonstrirten Legrain und 
Bourguet (Annal. de Dermat et de Syph. 1896). Bei einem 40jährigen 
Manne entwickelte sich am unteren Augenliedc ein kleinzelliges, sehr 
gefässreiches Rundzellensarkom, welches nach der Abtragung bald re¬ 
cidivirte. Bei dem zweiten Pat. bestand der Tumor am inneren Rande 
des rechten Fusses und erwies sich hier ebenfalls als kleinzelliges Rund¬ 
zellensarkom. Im Anschluss hieran stellten Legrain und Perrusset 
noch ein starkes Sarkom der Kniekehle ebenfalls bei einem Kabylen 
vor, welches sich auf einer früheren Verbrennungsnarbe entwickelt hatte. 
Hier wurde die Diagnose mikroskopisch auf Riesenzellensarkom gestellt 
und Amputation des Beines vorgenommen. 

Ucber einen Fall von erfolgreicher Arsenmedikation bei Haut¬ 
sarkom berichtet Pospelow (Archiv f. Dermat. u. Syph. Band XXXII). 
Es handelte sich um ein Rundzellensarkom an der Nase bei einer 
50jährigen Frau, welcher nach 6 monatlichem Gebrauche von 800 asia¬ 
tischen Pillen und 1,0 Solut. arsen. Fowleri völlig verschwunden war. 
Verf. lässt es wegen der Kürze der Beobachtungszeit noch unentschieden, 


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BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


569 


<&. 189 ?. 


ob man fc ier schon von einer Ausheilung des Hautsarkoms reden kann, 
oder sich vielleicht noch Recidive einstellen werden. 

Es giebt nur wenige Fälle von PemphiguB, bei welchen auf den 
abgeheilten Stellen Milien auftraten. M. Behrend (ein Fall von Pem¬ 
phigus acutus mit Horncystenbildung. Arch. für Dermat. u. Syph. 
XXTVI. Band) beschreibt einen hierher gehörigen Fall besonders nach 
der anatomischen Seite genauer. Bei der mikroskopischen Untersuchung 
dieser Blasenbildung waren das auffälligste die zahlreichen Cysten. 
Dieselben gingen theils von den Haarbälgen aus, theils waren es Horn- 
cysten und diese waren von den Schweissdriisen ausgegangen. Sie lagen 
meist in der Cutis mit wenigen Ausnahmen ohne Zusammenhang mit 
der Epidermis. Diese Cysten waren aber nicht nur reine Retentions¬ 
cysten, sondern ihre Entstehung war hauptsächlich auf Proliferations¬ 
vorgänge zurückzufübren, da die Wand aus mehreren Schichten Epithel¬ 
zellen bestand und an vielen Stellen reichliche Keratohyalinbildung zeigte. 
Für diese Wncherung ist jedenfalls wohl die 8tauung als das auslösende 
Moment anzusehen. Merkwürdig ist, dass diese Gebilde wieder spontan 
verschwinden können wie nicht nur aus dieser, sondern auch aus anderen 
in der Literatur mitgetheilten Erfahrungen hervorgeht. 

K. Herxheimer (über Pemphigus vegetans nebst Bemerkungen 
über die Natur der Langerhans’schen Zellen Arcb. f. Dermat. u. Syph. 
XXXVI. Band) hatte Gelegenheit 8 Fälle dieser seltenen Krankheit zu 
beobachten. In zweien von diesen war die Schleimhaut des Mundes zu¬ 
erst befallen, ein auch bei dem vulgären Pemphigus beobachtetes Vor¬ 
kommnis, welches im Allgemeinen als prognostisch ungünstiges Zeichen 
aufzufassen ist. Doch hält Verfasser die Annahme des stetigen Beginns 
auf der Mundschleimhaut für einseitig, da sonach die vegetirende Form, 
wie die vulgäre auch auf der Haut beginnen können. Auf der Schleim¬ 
haut enstehen aber die gleichen Wucherungen wie auf der äusseren Haut, 
ein Vorkommniss, welches bisher nicht beobachtet zu sein scheint. Be¬ 
merkenswerth ist auch, dass in beiden Fällen die Wucherungen sich 
nicht zu den im Beginn der Krankheit vorhandenen MundeffforeBcenzen 
gesellten, sondern sich erst im weiteren Verlaufe, bezw. erst gegen das 
Ende zeigten. Bei einem Patienten bestanden auch Wucherungen am 
Naseneingang. Neben diesen Pblyctaenosen der Mundhöhle fiel auch das 
Auftreten der Efflorescenzen am Genitale, der Aftergegend und am Nabel 
auf. Verf. hat diese Trias (Befallensein der Mundschleimhaut, Nabel¬ 
und Genitalgegend) nicht nur bei der vegetirenden, sondern auch bei der 
vulgären Form schon einige Male beobachtet. Im weiteren Verlaufe 
kommt es durch den immensen Eiweissverlust zu einem mehr oder weniger 
ausgeprägten Zittern der Musculatur. Dieser Tremor konnnte von Herx¬ 
heimer auch an der Zunge bemerkt worden und ist wohl als ein Sym¬ 
ptom der zunehmenden Schwäche zu deuten. Von dem einen dieser 
Kranken stand dem Verf. Material zur histologischen Untersuchung zur 
Verfügung. Hierbei sab man fast in jedem Retezapfen die schon von 
C. Müller beschriebenen kleinen Abscesse, welche zum Theil nach Aussen 
durchgebrochen waren, und in deren nächster Umgebung eine stärkere 
ödematöse Durchträokung des Epithels regelmässig zu constatiren war. 
Im Corium fielen neben den Gefässveränderungen besonders die Knäuel¬ 
drüsen auf, deren von vielen Mastzellen durchsetztes Epithel ödematös 
gequollen und gewuchert erschien. Die Gefässveränderungen bestanden 
in obliterirender Entzündung und Perivasculitis. An einzelnen Stellen 
waren die Vegetationen ausserordentlich reichlich von Oedem durchtränkt 
und die Intercellulärräume bedeutend erweitert. Eine Specifität für die 
vorliegende Erkrankung ist allerdings diesen Wucherungen, dem hoch¬ 
gradigen Oedem, den Abscessen nach des Verf. Meinung nicht beizu¬ 
messen. In den mehr ödematösen Wucherungen wie in den trockenen 
finden sich zahlreiche Langerhans'sche Zellen, welche aus dem Binde¬ 
gewebe in das Epithel wandern, mithin bindegewebiger Natur sind und 
in ihrem Innern zahlreiche als Pigment zu deutende Körnchen zeigen. 
Danach hält Herxheimer dieselben, wenigstens soweit sie in der mensch¬ 
lichen Haut Vorkommen für identisch mit den Chromatophoren und nicht 
wie es noch vielfach geschieht für Nervenorgane. Das Bild der ge¬ 
wucherten Schleimhaut entsprach nur theilweise demjenigen der äusseren 
Haut, die in den tieferen Schichten eine Anzahl von Mitosen aufweisenden 
Epithelien der peripheren Wucherungen waren stark ödematös, aber nur 
von wenigen Rundzellen durchsetzt. Die Langerhans’schen Zellen 
liessen sich nicht finden. Ebenso fehlten hier die Abscesse vollkommen. 
Dagegen war das Glycogen hier noch reichlicher als in der äusseren 
Haut vorhanden und zwar vorzugsweise in den mehr in die Tiefe ge¬ 
wucherten Epithelzapten. Was die Frage betrifft, welches Gewebe bei 
der Erkrankung zuerst in Wucherung geräth, entschied sich Verf. dafür, 
dass die Bindegewebswucherung das Primäre ist. In den einen Falle 
von Pemphigus vegetans stellte Struve auf der Abtheilung v o n Noorden’s 
Stoffwechseluntersuchungen an, welche ergaben dass die Erkrankung hier 
mit einem enorm gesteigerten Eiweisszerfall einhergeht. Der Inhalt der 
Pemphigusblasen erwies sich als stark eiweisshaltig, und im Harne wurde 
täglich das Vorhandensein reichlicher Indikanmengen constatirt. 

(Schluss folgt.) 

Max Joseph (Berlin). 


VII. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. 

Berliner medictnlsche Gesellschaft. 

Sitzung vom 2. Juni 1897. 

Vorsitzender: Herr Virchow. 

Schriftführer: Herr Landau. 

Hr. Klemperer: Ueber Nährpräparate. (Der Vortrag ist in dieser 
Nummer veröffentlicht.) 

Discussion. 

Hr. Ewald: Ich kann zunächst meiner Befriedigung darüber Aus¬ 
druck geben, dass Herr Klemperer sich in seinen Betrachtungen auf 
einen Standpunkt gestellt hat, der jetzt wohl allgemein anerkannt wird. 
Ich selbst darf mir vielleicht das kleine Verdienst zuschreiben, durch 
den Nachweis, dass die Magenverdauung es nur bis zur Albumosen-, 
aber nicht bis zur Peptonbildung bringt, bereits vor einer Reihe von 
Jahren darauf hingewiesen zu haben, wie falsch es ist, in diesen Prä¬ 
paraten den Peptongehalt so sehr zu betonen, dass es vielmehr der 
Albumosengehalt ist, der dabei wesentlich ins Spiel kommt. Meine 
Kritik solcher Präparate bezog sich besonders auch auf ein Präparat, 
welches Herr Klemperer eben gar nicht genannt hat, nämlich das sog. 
Denayer’sehe Pepton, welches so gut wie gar kein Pepton, sondern 
hauptsächlich Leimsubstanz enthielt. 

So ist man mit der Zeit auch ganz davon abgekommen, den Pepton¬ 
gebalt in erster Linie zu betonen und hat sich Btatt dessen mehr auf 
die Darstellung eines an Albumosen möglichst reichen Präparates gelegt. 
IndeBS, es ist bekannt und Herr Klemperer hat darin ganz Recht: es 
wird mit allen diesen Präparaten, quantitativ genommen, eine verhältniss- 
mässig geringe Menge von Nährstoffen eingeführt. Andererseits hat Herr 
Klemperer aber die praktischen Erfahrungen nicht genügend in Betracht 
gezogen und sich zu sehr auf theoretische Erwägungen beschränkt. Für die 
Praxis sind diese Nährpräparate nämlich trotz alledem ein entschiedenes 
Bedürfniss und dadurch ist es auch nur erklärlich, dass dieselben so 
viel gekauft werden und offenbar für die Fabrikanten ein ausge¬ 
zeichnetes Geschäft darstellen. Denn alle Augenblicke kommt ein neues 
derartiges Präparat auf den Markt. Wir werden ja geradezu überlaufen 
mit Anpreisungen und mit den Aufforderungen, diese Präparate zu piüfen. 
Ich sage schon seit vielen Jahren in meinen Vorlesungen: die Natur 
lässt sich nicht spotten, und alle die Nährpräparate sind immer nur ein 
trauriger Ersatz der Natur, der natürlichen Präparate, ganz ebenso, wie 
Herr Klemperer eben ausgeführt hat. Aber andererseits ist doch nicht 
wegzuleugnen, dass wir häufig genug am Krankenbett in die Lage 
kommen, dass alle übrige Nahrung, wie sie dem Kranken „in der Natur* 
geboten wird, gegeben und verordnet, von dem Kranken aber verweigert 
wird. Da heisst es: ja, Fleisch kann ich absolut nicht mehr gemessen, 
das ist mir so widerlich, das kann ich nicht mehr zu mir nehmen; Milch 
kann ich nicht mehr sehen und wenn wir einem Kranken, der an 
schwerem Magenkatarrh, Carcinom oder dergl. leidet, mit Butter, mit 
Fett, mit Lipanin kommen wollen, so schüttelt er sich und weist uns 
zurück, und es wird uns im besten Falle auf ein oder zwei Mal ge¬ 
lingen, aber nicht auf die Dauer, und für diese Fälle ist allerdings die 
Möglichkeit, dass der Arzt noch ein Präparat an der Hand hat, mit dem 
er dem Kranken wenigstens, ich will einmal sagen, die Illusion gewährt, 
ihm noch eine stärkere Nahrungszufubr beizubringen und doch auch sich 
schliesslich dabei beruhigen kann, ihm in der That eine gewisse Menge von 
Nährstoffen zuzuführen — nicht zu unterschätzen, ich sage: für diese gar 
nicht seltenen Fälle in der Praxis werden eben künstliche Nährpräparate 
immer ihren Werth behalten. Hierzu kommt, dass es ausserdem eine ganze 
Zahl von Fällen giebt, wo die Darmverdauung nicht mehr vicariirend 
für die Magen Verdauung eintritt, wo also entweder der Uebertritt der 
Magencontenta in den Darm behindert oder doch die Darmverdauung ge¬ 
stört ist, wo also ein zweifelloses Bedürfniss nach der Einfuhr vorver¬ 
dauter und resorptionsfähiger Nährstoffe besteht. Aber das gebe ich 
von vornherein vollkommen zu, dass der Nährwertb, den man darin zu¬ 
führt, nicht dem entspricht, was man dafür bezahlt, und das gilt beson¬ 
ders für den amerikanischen meat juice, der in der That gar nichts 
weiter ist, als eine starke Bouillon, die mit einem Preise bezahlt wird, 
der weit über das hinausgeht, was sie werth ist. 

Es kommt aber nun noch eins bei diesen künstlichen Nährpräparaten 
hinzu, und das ist der Geschmack der Präparate. Die Fabrikanten, die 
zu Ihnen kommen oder von denen Sie die Reklamezettel gedruckt be¬ 
kommen, behaupten ausnahmslos: das Präparat schmeckt ausgezeichnet. 
Ich habe noch niemand bei mir gesehen, der das nicht gesagt hätte. 
Vielleicht schmeckt es auch ganz leidlich und wenn man es den Kranken 
giebt, so nehmen sie es vielleicht auch ein oder zwei Mal anstandslos. 
Aber nach sehr kurzer Zeit ist es den Kranken so widerwärtig, dass 
sie es nicht mehr nehmen mögen. 

Man ist deshalb immer froh, wieder ein neues Präparat an der 
Hand zu haben, was man geben kann: und nun kommt noch hinzu, dass 
der Gaumen der Kranken ja sehr viel empfindlicher ist, wie der von 
Gesunden, dass ihnen also sehr schnell Dinge widerstehen, die für uns 
noch einigermaassen schmackhaft und erträglich sind. 

Deshalb glaube ich, dass Herr Klemperer diese Imponderabilien, 
wenn ich so sagen darf, unterschätzt, und dass man sich doch, trotz 
aller der theoretisch ganz wohlbegründeten Deductionen nicht dem wird 
entziehen können, die Präparate anzuwenden. Ganz besonders kann ich 
mich da dem Lobe anschliessen, was Herr Klemperer in dieser Be- 


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570 BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. No. 26. 


Ziehung dem Eukasin zugesprochen hat. Vor einigen Wochen ist mir 
ein neues Eukasin -Präparat zugekommen — die früheren Präparate 
litten daran, dass sie nach altem Käse rochen und zum Theil auch 
schmeckten, weil sie eben aus Milch hergestellt sind und dieser 
specifische Fäulnissgeruch der Eiweisskörper der Milch, sich durch 
gar kein Mittel, wie es schien, fortbringen liess — ich sage: mir ist 
jetzt ein Präparat zur Prüfung übergeben worden, was in der That ge¬ 
schmacklos und geruchlos ist und von den Kranken gern genommen 
wird. Wir haben auch Stoffwechselversuche damit gemacht. Ich 
werde inj der nächsten Zeit vielleicht Gelegenheit haben, darüber be¬ 
richten zu lassen. 

Hr. Rosenheim: Ich möchte mich mit der Tendenz und den Ge¬ 
sichtspunkten, die Ihnen Herr Klemperer vorgetragen hat, durchaus 
einverstanden erklären. Ich glaube, man kann wohl sagen: je weniger 
ein Arzt von der Diätetik und der diätetischen Küche versteht, um so 
häufiger wird er nöthig haben, auf derartige Präparate zurückzugreifen. 
Trotzdem sind wir, wie Herr Ewald ganz richtig ausgeführt hat, häufig 
genöthigt, diese Präparate gebrauchen zu müssen, weil eben das Nähr¬ 
präparat, das uns die Natur giebt, z. B. die Milch, bei vielen Patienten 
versagt, von vielen Patienten nicht genommen wird. 

Sie gestatten mir noch zwei Bemerknngen zu den sachlichen Aus¬ 
führungen des Herrn Klemperer. Die eine bezieht sich auf die 
Peptonpräparate, von denen er u. a. sagte, dass er sie im Wesent¬ 
lichen für die Ernährung vom Magen aus jetzt perhorrescire, und darin 
kann ich ihm vollständig beipflichten, dass sie höchstens in Betracht 
kommen würden und wohl auch in Betracht kommen können für die 
Ernährung vom Mastdarm aus. Ich habe auch in dieser Beziehung eine 
ganze Reihe von Erfahrungen gemacht und kann nach diesen nur davor 
warnen, besonders wenn es sich darum handelt, längere Ernährungs- 
curen vom Mastdarm aus zu machen, diese Peptonpräparate zu verwen¬ 
den, weil sie eine ausserordentlich ungünstige, direkt reizende Wirkung 
auf den Darm oft genug ausüben. Ich kann nur sagen, dass zur Ein¬ 
verleibung von Eiweiss vom Mastdarm aus das Eiereiweiss in fein ver- 
theilter Form das geeignetste Präparat ist, wie es auch von meinem 
Herrn Vorredner wiederholt empfohlen und in der Praxis viel verwandt 
worden ist, ganz besonders mit Zusatz von Kochsalz — dem gegenüber 
sind alle künstlichen Eiweisspräparate minderwerthig. Auch die Casein¬ 
präparate erscheinen mir in der Beziehung nicht so empfehlenswerth, 
und ich freue mich, in einer jüngst erschienenen Arbeit aus der Riege 1- 
schen Klinik diese Auffassung vollkommen bestätigt zu finden. Der 
Stoffwechselversuch erwies Nutrose und Eukasin für den in Rede stehen¬ 
den Zweck weniger brauchbar als einfaches, fein vertheiltes, geschlagenes 
Eiereiweiss. 

Die zweite Bemerkung, die ich zu machen hatte, bezieht sich auf 
den allgemeinen physiologischen Ueberblick, den Herr Klemperer ge¬ 
geben hat, nnd wobei er von der Bemerkung ausging, dass die neueren 
StofFwechseluntersuchungen ergeben hätten, dass ein Individuum gemeinhin 
mit einer verhältnissmässig viel geringeren Eiweissquantität pro Tag 
anskäme, als sie früher, namentlich auch von Voit, der ja bekanntlich 
weit über 100 gr Eiweiss pro die für gesunde Menschen beanspruchte, 
verlangt wurde. Herr Klemperer hat sich dabei auf Versuche u. a. 
von Hirsch fei d gestützt. Es ist das auch vollständig richtig und zu¬ 
zugeben, dass es möglich ist, ein gesundes Individuum mit einer ganz 
geringen Eiweissmenge ins Stickstoffgleichgewicht zu bringen. Aber 
Herr Klemperer hat Eins vergessen zu erwähnen: nämlich, dass das 
nur gelingt, wenn man die Nahrung so steigert, dass sie von den durch¬ 
schnittlich 30 Calorien, die der normale Mensch in ruhiger Lage pro 
Körperkilo braucht, auf 50 bis 54 Calorien steigt, und das ist eine 
Krankendiät, die überhaupt nicht zu bewältigen ist, die überhaupt nicht 
in Betracht kommt, und deshalb ist für die Krankendiät, und um die 
handelt es sich doch hier, diese Sentenz ganz bedeutungslos, ihre Ver- 
wertbung für das Kostmaass unter pathologischen Verhältnissen kann im 
Gegentheil nur schädlich wirken. Für die Krankendiät wird nach wie 
vor das allermindeste Eiweissquantum, das wir einzuverleiben suchen, 
das von 100 gr sein, wenn der Kranke überhaupt ausreichend Nahrung 
zu sich nehmen kann, und ich sehe gar keine Veranlassung, von dieser 
Quantität abzugehen. 

Hr. Albu: Herr Klemperer hat die Nährpräparate nach dem Ge¬ 
halt an Eiweisskörpern, an Kohlehydraten und Fetten beurtheilt auf 
Grund der heutigen Calorientheorie, die wir Alle ja anerkennen. Aber 
ich glaube, dass man bei der Beurtheilung des Werthes von Nährmitteln 
einen Gesichtspunkt noch berücksichtigen muss: das ist nämlich der 
Salzgehalt. Herr Klemperer hat den völlig ausser Acht gelassen. 
Ich glaube, dass die Salze im Allgemeinen in ihrem Werth Für die Er¬ 
nährung unterschätzt werden. Wir kennen eine Reihe von Krankheits¬ 
zuständen, bei denen sich die ihnen zu Grunde liegenden Stoffwechsel¬ 
anomalien nicht im Gebiete der drei hauptsächlichen Nahrungsbestand- 
theile abspielen, sondern bei denen Abnormitäten des Salzgehaltes eine 
erhebliche Rolle spielen. Ich erwähne nur die Osteomalacie, die Rachitis, 
den Scorbut, die Chlorose u. a. m. Die Salze wurden bisher immer nur 
als Genussmittel betrachtet. Aber gerade in neuester Zeit machen sich 
Anschauungen geltend, die vielleicht eine gewaltige Reform in dieser 
Hinsicht anbahnen. Ich möchte auf die Untersuchungen von Köppe in 
Giessen verweisen, die er auf der Naturforscherversammlnng in Frank¬ 
furt mitgetheilt hat, und die mir von ganz hervorragender Bedeutung 
für die Physiologie der Ernährung zu sein scheinen. Sie stützen sich 


auf neuere physikalisch-chemische Untersuchungen, die von dem jetzigen 
Berliner Akademiker van t’Hoff ausgeführt sind und auf das Gebiet 
der Physiologie übertragen worden sind. Die Quintessenz derselben ist 
die: alle Salzlösungen unterscheiden sich vom Blut und den Gewebs- 
säften in Folge ihres differenten Salzgehaltes wesentlich in ihrem osmo¬ 
tischen Druck und müssen deshalb, wenn sie durch thierische Membranen 
hindurch diffundiren, indem sich ihre Energie in Bewegung umsetzt, eine 
erhebliche Förderung des Säftestroms zur Folge haben, welche der Re¬ 
sorption der Nahrung zu Gute kommt. Wir haben also als Kraftquelle 
für den Organismus nicht nur die Wärraebildung zn betrachten, sondern 
wahrscheinlich auch die unmittelbare Beeinflussung des Säftestroms, 
Veränderung der Alkaleseenz u. dgl m. — Factoren, denen ja in neuerer 
Zeit in der Pathogenese vieler Erkrankungen eine grosse Bedeutung zu- 
geschrieben wird. Ich möchte darauf hinweisen, dass von einer 8eite, 
mit der ich mich sonst nicht identificiren möchte, von Lahmann im 
weissen Hirsch in Dresden, Beit vielen Jahren die Nothwendigkeit betont 
wird, Salze in vermehrter Menge in der Nahrung einznfdhren, und ich 
selbst habe, seitdem ich diesen Dingen mehr Aufmerksamkeit geschenkt 
habe, doch auch gesehen, dass in diesem von Lahmann allerdings 
sehr einseitig betonten Standpunkt ein brauchbarer Kern ist. Gerade 
für eine Reihe von Erkrankungen, wo es sich um Blutanomalien handelt, 
für primäre und seenndäre Anämien, Chlorose und dergleichen, scheint die 
reichliche Zuführung von Salzen sehr vorteilhaft, wenn auch nicht in den 
sonderbaren Formen, wie sie Lahmann empfiehlt, sondern ganz allgemein 
in Gestalt von Gemüsen und Obst, in denen die Salze an Kohlehydrate ge¬ 
bunden sind, welche in krankhaften Zuständen, so namentlich bei der Neur¬ 
asthenie, grösseren Nutzen bringen als die von uns bisher übertriebene 
einseitige Eiweissernährung. Ich meine, dass wir auch die künstlichen 
Nährpräparate nicht mehr allein nach ihrem Gehalt an den drei Haupt- 
nahrungsbestandtheilen beurteilen sollten, sondern auch den Gehalt an 
Salzen berücksichtigen müssten — wenn man überhaupt von solchen 
Nährmitteln Gebrauch machen zu müssen glaubt. 

Hr. Senator: Ich möchte ausführlicher nur auf einen Punkt ein- 
gehen, den Herr Rosenheira zur Sprache gebracht hat. Was die an¬ 
deren von Herrn Klemperer entwickelten Gesichtspunkte betrifft, so 
herrscht ja wohl Ucbereinstiramung darin, dass er theoretisch und prin- 
cipiell vollkommen im Rechte ist, dass wir aber für die Praxis — er 
wird das ja wohl auch nicht so scharf gemeint haben — die künstlichen 
Nährpräparate doch nicht entbehren können. Es soll ja Niemand aus¬ 
schliesslich mit ihnen ernährt werden, sondern wir benutzen sie als 
Zusatz zu anderen Nahrungsmitteln, wenn von diesen nicht genug ge¬ 
nommen wird, und da, glaube ich, haben sie doch einen gewissen Werth. 
Wenn ein Kranker z. B. nur sehr wenig Milch gemessen kann und 
wenn wir dazu, also etwa zu 100 gr Milch, 1 Theelöffel Somatose oder 
Nutrose hinzusetzen, so erhält er damit doppelt so viel Eiweiss, als 
ohne den Zusatz, und da der Geschmack verschieden ist, ist es ganz 
gut, wenn wir eine grössere Auswahl solcher Präparate haben. Man 
kommt eben nicht immer mit der einfachen Nahrung aus, was ja wün- 
schenswerth wäre, da diese künstlichen Präparate, wie Herr Klemperer 
mit Recht hervorgehoben hat, sehr theuer bezahlt werden. Das kann 
noch ein anderes einfaches Beispiel beweisen. Wenn wir es für nöthig 
halten, einem Kranken eine gewisse Menge Alkohol zuzuführen, kommen 
wir doch häufig damit nicht zu Stande dadurch, dass wir eine Mixtur 
von Alkohol verordnen, sondern viel eher durch Zufuhr von Wein, 
Cognac und dergleichen, wobei der nöthige Alkohol doch auch theurer 
bezahlt wird. Ich habe wenigstens sehr häufig versucht, zu einer Zeit, 
als man sich von dem Alkohol Temperatur herabsetzende Wirkungen 
versprach, Alkohol in grossen Dosen zu geben. Aber die. meisten Kran¬ 
ken, namentlich aus den wohlhabenden Ständen, waren doch nicht zu 
bewegen, den Alkohol bloss mit Wasser und Zucker versetzt zu nehmen, 
während sie Wein ganz gern nahmen. 

Was das Lipanin betrifft, so bin ich auch der Meinung, dass es 
ein mindestens unnöthiger Ersatz für die anderen Fette, namentlich die 
Butter, ist. Aber das Lipanin ist auch gar nicht als Ersatz für die ge¬ 
wöhnlichen Nahrungsfette empfohlen, sondern wegen seines besseren 
Geschmacks bei gleich guter Emulgirbarkeit als Ersatz für Leberthran, 
und diesen Ersatz leistet es doch. Es wird entschieden lieber genom¬ 
men, als Leberthran. 

Ich komme nun zu dem von Herrn Rosenheim betonten Pankte, 
nämlich, dass man doch den Kranken bis zn 100 gr Eiweiss geben 
müsse, um sie im Stickstoffgleichgewicht zu halten. Ich glaube doch 
nicht, dass das durchaus nothwendig ist. Bei vielen Krankheiten, na¬ 
mentlich acuten, ist es überhaupt nicht möglich nnd wir können oft froh 
sein, wenn wir den Kranken durchbringen. Wenn er dann auch sehr 
abgemagert ist und nicht im Stickstoffgleichgewicht, so können wir zu¬ 
frieden sein. Dazu hat er später Zeit. Ich glaube nicht, dass man bei 
acuten Krankheiten namentlich sich auf den Standpunkt sollen soll, dem 
Kranken durchaus jeden Tag so viel Calorien znzuführen, als er ohne 
von seinem Körpergewicht zu verlieren, zum Leben nöthig hat. Das 
würden viele Kranke gar nicht vertragen oder bewältigen können. Man 
muss doch nicht vergessen, dass ein Mensch, auch wenn er krank ist, 
nicht in 1 oder 2 Tagen verhungert, selost wenn er gar keine Nahrung 
bekommt, und noch viel weniger ist es nöthig, ihm jeden Tag die ganze 
nöthige Menge Eiweiss zuzuFühren, wenn er Fett oder Kohlehydrate er¬ 
hält. Es kommt doch oft genug darauf an, den Kranken über eine 
dringende Lebensgefahr hinwegzubringen, auch wenn ein Paar Tage hin¬ 
durch keine ganz ausreichende Ernährung Btattfindet. 


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28. 3ufli 1897. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


571 


Hr. Roaenbeim: Ich glaube, Herr Senator hat mich miss ver¬ 
standen. Ich habe es nicht als wünschenswert ausgesprochen, dass wir 
uns bemühen, alle Patienten um jeden Preis ins StickstofTgleichgewicht 
zu bringen und möglichst hohe Dosen Eiweiss zu geben, sondern ich 
habe nur, von demjenigen, was Herr Klemperer gesagt hat, ausgehend, 
es für nicht unbedenklich erachtet, wenn wir von dem Experimente 
scbliessen, dass wir Eiweiss im Verhältnis zu den anderen Nährstoffen 
in der Kost vernachlässigen können, dass wir also von den Dosen, die 
nicht sehr hoch gegriffen sind, von 100 gr, zurückgehen mit Rücksicht 
auf ein Experiment, das unter ganz anderen Gesichtspunkten und mit 
ganz anderen Hülfsmitteln beim Gesunden resp. beim Thier gemacht 
worden ist. Ich muss hier ausdrücklich auf die von mir und J. Munk 
featgestellten gesundheitsschädigenden Wirkungen einer eiweissreichen 
Kost hin weisen. 

Hr. Klemperer (Schlusswort): Ich möchte zuerst den Herren Vor¬ 
rednern danken, dass sie durch die Autorität ihrer Erfahrungen meine 
Ausführungen bestätigt haben. Ich habe im Anfänge meines Vortrages 
betont, dass ich in keiner Weise prätendire, originelle Meinungen zu 
entwickeln. Ich habe gewissermaassen die bescheidene Rolle eines 
Springbrunnens für mich in Anspruch genommen, der das in die Höhe 
bringt, was in vielen Röhren schon unter der Oberfläche murmelt. 

Darf ich auf das eingehen, was die einzelnen Herren gesagt haben, 
so hat Herr Ewald und auch schliesslich Herr Senator darauf auf¬ 
merksam gemacht, dass ich doch wohl auf die praktische Erfahrung 
nicht genügend Rücksicht genommen hätte, und dass ich die Impondera¬ 
bilien — ich darf wohl auch hinzufügen — den suggestiven Effect nicht 
genügend berücksichtigt hätte. Nun, ich zweifle ja auch gar nicht, habe 
68 auch selbst oft genug erlebt, dass das alles in Frage kommt. Aber 
ich wollte gerade durch meinen Vortrag darauf hinweisen, dass man 
dem nicht zu grosse Wichtigkeit beimessen soll. Wie vielen Vorurtheilen 
des Publicums geben wir nach, ohne es nöthig zu haben! Das wollte 
ich eben zum Ausdruck bringen: Wir haben auch in diesem Gebiet der 
Krankenbehandlung die Pflicht, das Publicum zu der Höhe unserer An¬ 
schauungen binaufzuziehen, und nicht zu seinen unbegründeten Irrmei¬ 
nungen herniederzusteigen. Vieles, was als Imponderabile bezeichnet 
wird, kann man doch direkt als falsch bezeichnen. Es giebt gewiss 
Situationen, in denen man gut thut, die Dinge nicht beim rechten Namen 
zu nennen; aber ich glaube, wir sollten das nur in besonderen Aus¬ 
nahmefällen thun und die Erzielung suggestiver Wirkungen nicht allzu- 
Behr in den Vordergrund schieben. 

Auf den Einwand des Herrn Rosenheim bezüglich der dem Kran¬ 
ken nothwendigen Eiweissmenge kann ich nicht treffender antworten, als 
es Herr Senator gethan bat. Ich glaube nicht, dass die kurze Bemer¬ 
kung, die Herr Rosenheim eben gemacht hat, das Gewicht der Aus¬ 
führungen des Herrn Senator irgendwie vermindert. Ich bin wohl 
berechtigt, aus den experimentellen Untersuchungen die Thatsache zu 
entnehmen, dass man einen gesunden Menschen kurze Zeit mit viel 
weniger Eiweiss zu ernähren vermag, als man früher für nöthig hielt. 
Herr Rosenheim hat darin vollständig Recht, dass dazu mehr Calorien 
nöthig sind, als bei eiweissreicher Kost, aber Herr Senator hat mit 
Recht hervorgehoben, dass es bei vielen Kranken in gar keiner Weise 
möglich ist, die nothwendige Calorienzahl zuzuführen; in diesem Falle 
kann es für die Werthschätzung der EiweisBmenge gleichgültig sein, von 
wie viel Calorien sie begleitet wird. 

Herrn Albu gegenüber glaube ich ganz bestimmt, dass in der ein¬ 
seitigen Betonung des Salzgehaltes der Nahrung eine ausserordentliche 
Uebertreibung gelegen ist. Ich halte die van t’Hoff’schen Unter¬ 
suchungen keineswegs für geeignet, in die praktische Medicin übertragen 
zu werden; wie weit der „osmotische Druck - der Nährstoffe für ihre 
Resorption und Assimilation in Betracht kommt, ist vorläufig eine ganz 
dunkele Sache. Es ist festgestellt, dass eine lproc. Kochsalzlösung eine 
gleich starke Rohrzuckerlösung um das zehnfache, eine gleichstarke Ei¬ 
weisslösung um das hundertfache an osmotischem Druck übertrifft. Zu 
welchem Widersinn kommt man, wenn man hiernach den Nährwerth 
bestimmen wollte! Natürlich gebe ich Herrn Albu gern zu, dass der 
Kranke auch Salze braucht. Aber ich möchte besonders darauf aufmerk¬ 
sam machen, dasB der menschliche Körper eine enorme Fähigkeit besitzt, 
seine Salze festzuhalten, viel fester, als sein Eiweiss, sein Fett, sein 
Glycogen. Deswegen glaube ich, dass man in schweren Krankheiten 
auf die besondere Salzzufuhr nicht allzu grossen Werth zu legen hat. 
Ich hatte wohl auch nicht nöthig, von den Salzmischungen besonders zu 
sprechen, weil die erwähnten künstlichen Nährpräparate wohl sämmtlich 
auch eine gewisse Salzmenge enthalten. 

Den Ausführungen des Herrn Senator möchte ich mich ganz an- 
schliessen. Man kann natürlich der Milch Somatose zusetzen. Ich halte 
es übrigens für viel richtiger, wenn man die Milch aufs Doppelte ein¬ 
engt, ein Verfahren, das auch Herr Senator auf seiner Klinik ausführen 
Iiess, und welches auf der Leyden’sehen Klinik seit langer Zeit ange¬ 
wandt wurde. Diese eingeengte Milch hat in neuester Zeit Professor 
Jaworski als Kraftmilch (lac triple) empfohlen. Auf diese Weise kann 
man der Milch denselben Nährgehalt verschaffen, wie durch Zusatz 
künstlicher Präparate. 

Auf die Alkohol frage möchte ich nicht bei der vorgerückten Zeit 
eingehen. 

Das Lipanin ist in der That als Ersatzmittel des Leberthrans ur¬ 
sprünglich eingeführt und in dieser Beziehung mag es immerhin Aner¬ 
kennung verdienen. Ich habe ja auch gesagt, dass ich das Lipanin für 


ein sehr wohlschmeckendes und bekömmliches Fett halte, aber trotz 
seiner 6 pCt. Oelsäure, nicht wegen derselben; und ich glaube, dass 
keine Veranlassung vorliegt, die neutralen Oele durch Lipanin zu er¬ 
setzen. Feine Butter, Provencer und Nizzaer Oel, feines Sesamöl, ja 
bei vieleu Menschen Leinöl, werden ebenso gern genommen und ebenso 
gut assimilirt wie Lipanin. 

Hr. Posner und Hr. E. Frank: Beitrag znr Frage der Blasen* 
infeetion. (Erscheint unter den Originalien dieser Wochenschrift.) 


Berichtigung 

zum Bericht der Verhandlungen der Sitzung der Berl. med. Gesellschaft 
vom 24. März 1897. 

Hr. Mordhorst: (a. G.) Ist der Harn stark alkalisch, dann geht 
die Lösung so schnell vor sich, dass die gelösten Salze mittelst Diffusion 
sich nicht gleichniässig vertheilen; sie bleiben vielmehr in der Umgebung 
des Steines. Wenn man solche in Auflösung begriffenen Steinchen unter 
dem Mikroskop untersucht, fällt Einem sofort das 8troma des Steines an 
der Peripherie desselben auf. Bei häufigem Erneuern des Harns kommt 
immer mehr vom Stroma zum Vorschein. Aus demselben löst sich all¬ 
mählich eine durchsichtige organische Substanz, die sich wie eine Wolke 
um den ganzen Stein legt und eine weitere Auflösung desselben und 

die Diffusion der gelösten Salze verhindert.Wird der Ham 

nicht erneuert, dann schiessen von diesen Kügelchen Krystalle von 
saurem harnsaurem Natron aus, so dass der ganze Stein bald in eine 
Schicht von diesem Salze eingehüllt wird, die eine weitere Auflösung 
unmöglich macht. 


Verein für innere Medicin. 

Sitzung vom 31. Mai 1897. 

Vor der Tagesordnung stellt Hr. Krön ein löjähriges Dienstmädchen 
mit peripherischer Peroneuslähmung vor, die durch ihre Entstehungs¬ 
weise: Arbeit in kniehockender Stellung bemerkenswerth ist. Sie ist 
vor zwei Jahren entstanden und jetzt noch in ihren Residuen erkennbar. 
Die Bewegung des Fusses ist behindert, die Musculatur atrophisch. 
Partielle Entartungsreaction. Der Fall gehört zu den mittelschweren, 
die oft sehr hartnäckig sind. Vortragender giebt eine literarische Ueber- 
sicht über diese Form der Peroneuslähmung. 

Hr. Bernhardt hat diese Affection bei Aspbaltarbeitcrn, Rohrlegern 
u. dergl. beobachtet, die in hockender Stellung arbeiten. Unlängst hat 
er aber eine Peroneuslähmung gesehen, bei der gar kein ätiologisches 
Moment zu erkennen war. Zuweilen ist sie ein Anfangssymptom der 
Tabes. 

Hr. Gerhardt theilt einen Fall mit, der in Folge schlechter Lage 
beim Schlafen entstanden ist. 

Hr. Litten: Heber Endocarditis traumatica. 

Der Vortragende bezweckt durch seine Mittheilung eine Form der 
Herzerkrankung sicherzustellen, deren Kenntniss für die Zwecke der 
Unfallbegutachtung von Wichtigkeit ist. Die Verletzungen der Herz¬ 
klappen bestehen in Abhebungen, Ablösungen, Quetschungen und Zer- 
reissungen des Endocards mit subserösen Blutungen. Sie kommen zu 
Stande bei vollständigem Fehlen äusserer Verletzungen, selbst in tödtlich 
verlaufenen Fällen. Die Fälle, in denen durch ein Trauma die be¬ 
stehende Compensation eines alten Herzklappenfehlers aufgehoben wird, 
können nicht als Endocarditis traumatica bezeichnet werden. Aus dem 
Begriff derselben sind auch diejenigen Fälle auszuschliessen, wo in Folge 
einer Verletzung an irgend einer Körperstelle Mikroorganismen ins Blut 
gelangen und auch auf dem Endocard sich festsetzen. Das ist vielmehr 
eine septische Endocarditis in Folge einer Allgemeininfection. Solcher 
Art sind die meisten in der Literatur bisher mitgetheilten Fälle. Redner 
hat aber nur die einfache, acute Endocarditis verrucosa benigna im 
Auge, die in nachweisbarem direktem Zusammenhang mit einem Trauma 
entstanden ist. Nur solche Fälle haben für die Beurtheilung der Frage 
nach dem Vorkommen einer solchen Erkrankung Wcrth r welche sofort 
nach dem Unfall in ärztliche Behandlung und genau untersucht worden 
sind. Vortragender theilt aus seiner Erfahrung folgende Fälle mit: Ein 
(unger Mann, der bei seiner Einstellung zum einjährigen Dienst als voll¬ 
ständig gesund befunden war, wurde im Dienst von einem Pferde mit 
dem Thorax hart gegen die Krippe gedrängt, so dass er unter heftigen 
Schmerzen umfiel. Erste Erscheinungen im Lazareth: Angstgefühl, 
Herzklopfen, Beklemmung, Fieber, Dyspnoe, Cyanose. Patient wurde 
nach einiger Zeit als vorübergehend unbrauchbar aus dem Dienst ent¬ 
lassen. Nach einigen Monaten erhob L. bei ihm folgenden Befund: 
Lautes systolisches Geräusch an der Spitze, Verbreiterung des rechten 
Ventrikels, in geringem Grade auch des linken, lautes systolisches Ge¬ 
räusch an der Aorta. Diagnose: Mitralinsufflcienz und Endocarditis 
aortica, die zu einer Aortenstenose führen wird. Patient wurde als 
dauernd dienstunfähig vom Militär entlassen. Während in diesem Fall 
die Endocarditis zu einem Herzklappenfehler führte, hat L. einen an¬ 
deren, den einzigen Beiner Art bisher, in Heilung ausgehen sehen. Einem 
Arbeiter, der beim Brückenbau beschäftigt war, war eine Kurbel auf die 
linke Brust geschlagen, er war besinnungslos umgefallen. Symptome: 
Atliemnoth, Herzklopfen, Schmerzen in der Brust nach der Schulter aus- 
strahlend, Cyanose, kleiner, frequenter Puls. Herz anscheinend normal. 
Nach 4 Tagen Besserung. Als L. ihn zum ersten Male untersuchte 


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572 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 26. 


waren reine, schwache Herztöne vorhanden. Am 15. Tage systolisches 
Geräusch an der Spitze, das allmählich noch intensiver wurde. Keine 
Hypertrophie des rechten Ventrikels eingetreten. Neun Monate später 
war das Geräusch geschwunden, trat auch nach Anstrengungen nicht 
auf. Dritter Fall: Ein Arbeiter, dessen Herz von L. wegen eines Di¬ 
vertikel des Oesophagus früher oft untersucht und gesund befunden war, 
war beim Steintragen von der Leiter rücklings heruntergefallen, die 
Mauersteine fielen ihm auf die linke Brust. Nachdem der Shock über¬ 
standen war, erschienen die Herztöne in den nächsten Tagen rein. Nach 
einigen Wochen aber wurde ein systolisches Geräusch festgestellt: Mi- 
tralinsufflcienz und Hypertrophie beider Ventrikel, vollständige Arbeits¬ 
unfähigkeit. Solcher Fälle sind in der Literatur viele mitgetheilt, die 
meisten davon sind aber unbrauchbar, weil der Befund unmittelbar nach 
dem Unfall nicht festgestellt ist. Bis zum Auftreten des Geräusches 
können viele Monate vergehen. Die traumatischen ZerreiBSungen der 
Klappen sind in solche gesunder und kranker Klappen zu unterscheiden, 
letztere werden auch Spontanzerreissungen genannt. Für den Renten¬ 
empfänger kommt aber der Unterschied nicht in Betracht, da er in 
beiden Fällen durch den Unfall arbeitsunfähig wird. Die Spontanzer¬ 
reissungen sind viel häufiger, kommen namentlich an den Aortenklappen 
vor. Es treten sofort die Erscheinungen der Aorteninsufficienz auf und 
die Diagnose ist daher leicht. Zerreissungen der Mitralklappensegel sind 
bisher noch nicht beobachtet, sondern nur der Sehnenfäden und Papillar- 
muskeln. Die Prognose der traumatischen Aorteninsufficienz ist schlech¬ 
ter, als die der spontanen. Bevor es zur Hypertrophie des linken Ven¬ 
trikels kommt, tritt oft der Tod ein. 

(Die Discussion wird vertagt.) 

Ilr. Senator: Ueber die Beziehungen zwischen Diabetes melli* 
tos nnd insipidos. 

Erst seit Ende des vorigen Jahrhunderts wird eine grundsätzliche 
Unterscheidung zwischen beiden Krankheiten gemacht. Aber sowohl ex¬ 
perimentelle Thatsachen wie klinische Erfahrungen weisen darauf hin, 
dass zwischen ihnen enge Beziehungen bestehen. Das Bindeglied 
scheint vornehmlich das Nervensystem zu sein. Beide Erkrankungen 
kommen auch alternirend unter Blutsverwandten vor. Zu den in der 
Literatur vorhandenen Fällen fügt S. folgende eigene Beobachtung hinzu. 
Ein Dr. phil., dessen Mutter an Diabetes mellitus gestorben war, hatte 
seit früher Kindheit Polydipsie und Polyurie; zur Zeit der Beobachtung 
liess er täglich 11 Liter Harn. Es handelte sich nur um Diabetes insi- 
pidus. Solche Fälle sind wohl häufiger, als sie zur Kenntniss kommen, 
weil der Diabetes häufig übersehen wird, auch die Erkrankungen der 
Ascendenz selten bekannt sind. Auch bei ein und demselben Menschen 
kann die eine Krankheit in die andere übergehen, und zwar am häufig¬ 
sten der Diabetes mellitus in den insipidus, wodurch sich die Heilung 
des ersteren vorbereitet. In der Literatur sind zwölf solcher Fälle mit¬ 
getheilt, S. selbst hat vier beobachtet, die er raittheilt. Bei allen ist 
eine nervöse Belastung oder eine Stoffwechselanomalie in der Ascendenz 
nachweisbar. So ging bei einem Arbeiter der seit langer Zeit bestehende 
Diabetes mellitus nach einer schweren fieberhaften Krankheit in einen 
insipidus über. Bei einer 66jährigen Dame schwand der Zucker aus 
dem Harn unter geeigneter Diät und mehreren Curen in Karlsbad, ein 
Diabetes insipidus blieb bestehen. Seltener und prognostisch ungünstiger 
sind die Fälle von Umwandlung des Diabetes insipidus in einen mellitus. 
Zu zwei bekannten Fällen fügt S. einen dritten hinzu: Eine 48jährige 
Dame litt ohne Beschwerden seit vielen Jahren an einem Diabetes insi¬ 
pidus, seit drei Jahren war Zucker im Harn nachweisbar, das Allge¬ 
meinbefinden verschlechterte sich seitdem zusehends, alle diätetischen 
und Badecuren waren vergeblich, Patientin ist in einem Zustand grösster 
Abmagerung gestorben. Schliesslich sollen nach Angaben in der Lite¬ 
ratur beide Erkrankungen auch bei ein und demselben Patienten ab¬ 
wechselnd auftreten. An der nahen Verwandtschaft derselben ist kein 
Zweifel. Was die Erklärung anlangt, so ist zu berücksichtigen, dass 
nach den Thierexperimenten bei Verletzung gewisser Stellen am Boden 
des vierten Ventrikels Diabetes mellitus resp. insipidus auftritt. Viel¬ 
leicht greift die ursächliche Affection leicht von einer Stelle auf die 
andere über. Die Annahme von Cantani, dass nach Auf hören der 
Zuckerausscheidung noch eine Fluxion zu den Nieren hin bestehen 
bleibe, welche einen Diabetes insipidus unterhalte, steht in Widerspruch 
mit der klinischen Thatsache, dass bei Heilung eines Diabetes mellitus 
auch die Polyurie auf hört. 


Physibalisch-medicinische Gesellschaft zu Würzburg. 

Sitzung vom 28. Mai 1897. 

Ilr. Seifert: Ueber Spiegelschrift. 

Der Vortragende berichtet zunächst über die an den Zöglingen der 
Kreistaubstummenanstalt in Würzburg und in der badischen Taubstummen¬ 
anstalt in Gerlachsheim, in Summa 221 taubstummen Kindern, 142 Knaben 
und 79 Mädchen im Alter von 6 — 18 Jahren, angestellten Untersuchungen. 
89 Kinder (55 männliche nnd 34 weibliche) boten normalen Befund in 
Nase, Nasenrachenraum und Kehlkopf. Von Veränderungen im Kehl¬ 
kopf fand er nur je einmal hochgradige Anämie, chronische Laryngitis 
und Atrophie der Stimmbänder, von solchen im Rachen zweimal Uvula 
bifida, einmal vollkommenen Wolfsrachen, 20 mal Hypertrophie der Gau¬ 
mentonsillen, 7 mal Pharyngitis atrophic. und 30 mal Pharyngit. granulosa. 

Von Erkrankungen der Nase constatirte er: 13mal Ekzema narium, 


5mal Rhinit. subacuta, 18mal Rhinit. atroph., 15mal Rhinit. hyperplast., 
18 mal Polypen der Nase. Adenoide Vegetationen, die die operative 
Entfernung nöthig machten, wurden in 53 Fällen (nahezu 24 pCt.) nach¬ 
gewiesen, 84 betrafen das männliche, 19 das weibliche Geschlecht. 

Unter den 221 Taubstummen war in 57 Fällen die Taubstummheit 
als eine angeborene zu betrachten, in 42 Fällen war sie auf Meningitis, 
in 17 Fällen auf Krämpfe, in 15 Fällen auf Scharlach, in 11 Füllen auf 
Ohrenerkrankungen, in je 7 Fällen auf Diphtherie und Tranma, in je 
6 Fällen auf Typhus und Rachitis, in 4 Fällen auf Masern, In 2 Fällen 
auf Schlaganfall zurückzufiihren; in 14 Fällen lagen Krankheiten, deren 
Natur nicht zu erpiren war, zu Grunde. Bei 13 Kindern war das here¬ 
ditäre Moment nachzuweisen. 

Von diesen 221 Taubstummen wurden von 121 Kindern Schrift¬ 
proben mit der linken Hand geliefert, von diesen waren 11 vollständige 
Spiegelschriften = 9,90 pCt. und 10 unvollständige Spiegelschriften 
= 8,76 pCt, es stehen somit diese Zahlen denen anderer Beobachter 
nach (Cahen Brach fand 85 pCt., Treitel 25,8 pCt. resp. 45,8 pCt , 
Lochte 27,3 pCt.). Ein Einfluss der Intelligenz und Begabung auf die 
Spiegelschrift im Allgemeinen und die Qualität derselben im Besonderen 
war nicht nachzuweisen, ebensowenig ein Einfluss des Geschlechts. 

Die von Leichtenstern bei 8 zur Linkshändigkeit gezwungenen 
Kindern beobachtete Senkschrift, fand Vortragender bei keinem der 
Kinder. 

Seifert legte dann Schriftproben von 4 rechtsseitig Gelähmten, 
zwei mit und zwei ohne Aphasie, vor. Von diesen zeigte nur ein männ¬ 
liches Individuum mit Aphasie Spiegelschrift. 

Von 34 normalen erwachsenen Individuen schrieben 4 männliche 
und 6 weibliche Individuen Spiegelschrift sowohl wenn sie mit der linken 
Hand als auch wenn sie mit der rechten und linken Hand gleichzeitig 
schrieben. Ein weibliches Individuum schrieb gleichzeitig mit der rechten 
und linken Hand Spiegelschrift und eben dasselbe vermochten zwei männ¬ 
liche Versuchspersonen, wenn sie dazu aufgefordert wurden. 

Wenn man von der unvollständigen und von der vollständigen un¬ 
willkürlichen Spiegelschrift die zwangsweise Spiegelschrift abtrennt, so 
wird man die beiden ersten Grade derselben für eine in das Bereich des 
Physiologischen fallende Schreibweise erklären dürfen, welcher absolut 
keinerlei diagnostische Bedeutung bezüglich psychischen Verhaltens zu¬ 
kommt. Ueber die Frage, in wie weit die zwangsweise Spiegelschrift 
als ein Zeichen psychopathischer Minderwertigkeit anzusehen ist, er¬ 
laubt sich der Vortragende kein eigenes Urtheil, er bezieht Bich hier 
nur auf die Angabe von Pieper und Gutzmann. 

Kahn. 


VIII. 15. Congress für innere Medicin in Berlin. 

Vom 9—12. Juni 1897. 

Ref. Albu (Berlin). 

1. Sitzung vom 9. Juni, Vormittags. 

(Fortsetzung.) 

Correferent Hr. Ott-Prag: Vom empirischen Standpunkte aus muss 
die Behandlung gegen die einzelnen Symptome in den verschiedenen 
Stadien der Erkrankung gerichtet sein. Daraus folgt, dass wir jeden acuter 
auftretenden derartigen Process in den Gelenken schon während seines 
Bestehens und selbst noch längere Zeit nach eingetretener Reconvalescenz 
auf das Sorgfältigste überwachen werden. Die Behandlung muss dahin 
gerichtet sein, jedes acutere Stadium so rasch wie möglich vorfiberzu- 
führen. So lange irgend Fieber besteht, wird absolute Bettruhe und 
Diät neben geeigneter ruhiger Stellung der Gelenke erforderlich sein. 
Sehr zweckmässig sind behufs Verminderung der Schmerzen und 
Schwellungen die sogenannten Priessnitzeinwickelungen. 

Sind die Schmerzen sehr heftig, so werden mit Opiaten oder Chloto- 
form versetzte Linimente und Salben, oder Morphiuminjectionen ange¬ 
wendet. Die Wirkung, die man früher mit dem Ferrum candens er¬ 
zielen wollte, wird schmerzloser und folgerichtiger durch energische Ein- 
pinselung mit Jodtinctur zu erreichen sein. Ist die Anschwellung des Ge¬ 
lenkes sehr bedeutend und lässt sich ein mehr flüssiges Exsudat als Ursache 
derselben vermuthen, so wird die Punction der Gelenkkapsel angezeigt 
sein, welche ausser der Entspannung Verminderung der Schmerzen bringt. 

Von jeher war man bemüht, die äussere Behandlung des Gelenk¬ 
leidens durch innerlich gereichte Mittel zu unterstützen. Von diesen 
werden die früher sehr beliebten, das Aconit, Colchicum und Guajak 
heute wohl wenig mehr verwendet, nachdem das Salicyl und seine Prä¬ 
parate in allen Affectionen, welche man auf Rheumatismus bezog, als 
specifisches Mittel angesehen, dieselben verdrängt hat. Aber, so aus¬ 
gezeichnet sich diese Salicylpräparate beim acuten Gelenkrheumatismus 
bewährt haben, so wenig Erfolg ist bei der Arthritis deformans, sowohl 
in deren Beginn, als wie bei Exacerbationen der Erkrankung zu er¬ 
reichen gewesen. Am meisten wird noch dem Salol eine günstige Wir¬ 
kung zugesprochen, während andere wieder das Antipyrin, Aetanilid, 
Phenacetin, Phenocoll, Malakin wirksamer finden. 

Ist bloss mehr oder weniger starke Schwellung der Gelenke vor¬ 
handen, ohne dass es zu wesentlicher Beeinträchtigung der Beweglich¬ 
keit oder stärkerer Dislocation der Gelenkenden gekommen ist, so wird 


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28. Juni 1807. 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


573 


hauptsächlich die äussere Behandlung angezeigt sein. Die meisten hier 
in Verwendung gelangenden Maassnahmen werden darauf gerichtet sein 
müssen, die Rückbildung der Exsudate durch Steigerung der Thätigkeit 
der Blut- und Lymphgefässe zu fördern. In dieser Beziehung sind 
namentlich die Jodtinctur und das Ichthyol anzuführen, welche zuweilen 
Erfolg bringen. Sind alle Erscheinungen acuter oder subacuter Reizung 
verschwunden, so wird sich der Gebrauch der Bäder empfehlen. Die 
Badecur soll unterbrochen werden, wenn im Laufe derselben solche 
Erscheinungen wieder hervortreten. 

Die Bäder, welche gebraucht werden, sind sowohl gewöhnliche, ein¬ 
fache, oder mit medicamentösen Stoffen versetzte, dann die verschiedenen 
Thermalbäder, Moor- und Schlammbäder, Sand-, Dampf-, heisse Trocken¬ 
luft- und Sonnenbäder. 

Bei allen diesen Badeformen muss vorzüglich die Wärme als das 
wirksame Princip betrachtet werden. Es wird dadurch ein ganz ener¬ 
gischer Einfluss auf die Bewegung des Venenblutes und der Lymphe 
geübt, und damit die Resorption befördert. 

Ausser den einfachen Bädern werden auch solche mit Zusätzen 
mineralischer wie vegetabilischer Substanzen empfohlen. Unter den 
Salzen ist es obenan das Chlomatrinm und die nebst diesem, auch 
andere Chloride enthaltenden Mutterlaugen. Zu gleichem Zwecke werden 
die sogenannten Moorsalze als Badezusatz angepriesen, wobei besonders 
ihre Gleichwertigkeit mit den später zu erwähnenden Moorbädern ge¬ 
rühmt wird, eine Angabe, deren Grundlosigkeit sich schon aus der Ver¬ 
schiedenheit der Einwirkung erkennen lässt. In ihrer Wirkung kommen 
alle diese 8alzbäder auf eins heraus, nämlich dass sie den durch die 
Wärme gesetzten Hautreiz zu steigern vermögen, eine Wirkung, welche 
auch in den mit anderen Zusätzen bereiteten Bädern die Hauptsache 
sein dürfte. 

Von vegetabilischen Zusätzen sind besonders die Harze und or¬ 
ganischen Säuren enthaltenden (besonders Terpentinöl nnd Ameisensäure) 
in Gebrauch. Hierher zählen auch die sogenannten Fichtennadelbäder. 
Zu gleichem Zwecke werden auch die sogenannten Heusamen-, Lohbäder 
und aromatische Kräuterbäder gebraucht. 

Weit häufiger als die einfachen und mit Zusätzen bereiteten Bäder 
werden die eigentlichen Mineralbäder oder natürlichen Thermen bei 
Polyarthritis deformans in Anwendung gebracht. 

1. Die sogenannten indifferenten Thermen- oder Wildbäder sind be¬ 
sonders in jenen Fällen anzuwenden, wo ein höherer Grad von nervöser 
Erregbarkeit neben, dem Gelenkleiden besteht. Von Thermen, welche 
aus dieser Gruppe für die Behandlung der Arthritis deformans sich 
eignen, sind namentlich: Teplitz in Böhmen. Gastein, Warmbrunn, Römer¬ 
bad, Tüffers, Wildbad in Württemberg, Pfäffers-Ragatz. 

2. Die Kochsalztbermen. 

Unter den einfachen Kochsalzthermen sind vorzüglich Wiesbaden, 
Baden-Baden, Kreuznach, Münster a. Stein: von kohlensäurehaltigen: 
Nauheim und Rehme-Oynhausen zu nennen. 

An die kochsalzhaltigen Thermen reihen sich naturgemäss die koch¬ 
salzhaltigen Quellen und Soolen. welche, wenngleich keine naturwarmen 
Wässer, doch in ebenso zweckmässiger Weise bei der Behandlung der 
Polyarthritis deformans verwendet werden können. Von Soolen werden 
Ischl, Hall, Reichenhall, Eimen, Kosen, Oldeslohe, Rosenheira, Jaxtfeld, 
Dürkheim besonders zu empfehlen sein. 

8. Die Schwefelbäder wurden von Alters her gegen die Arthritis 
deformans gerühmt, und es ist auch nicht zu bezweifeln, dass ganz aus¬ 
gezeichnete Erfolge mit ihrem Gebrauche zu erreichen sind. Ihren be¬ 
rechtigten Ruf verdanken sie aber wohl weniger ihrem Gehalt an SH, 
und Schwefelmetallen, der ja meist nur ein geringer ist, als vielmehr 
der hohen Temperatur, in welcher sic gebraucht werden. Von Thermal¬ 
schwefelbädern, welche bei Polyarthritis deformans besonders in Rnf 
stehen, sind Aachen, Mehadia, Baden bei Wien, Trenchin-Teplitz, Pistyan, 
Ofen (Margaretheninsel), Grosswardein, Battaglia in Norditalien, Aix les 
bains in Savoyen zu nennen. 

In den Moorbädern sind es ausser der Wärme besonders die in den¬ 
selben enthaltenen Säuren, sowie die grosse Menge der Salze, welche 
neben der mechanischen Einwirkung der reibenden Moorpartikelchen 
eine starke Reizung der Haut setzen und so die Resorption der Ex¬ 
sudate befördern. Die Hauptsache bleibt aber auch hier, wie bei den 
verschiedenen mit Schlamm bereiteten Bädern der höhere Wärmegrad 
als therapeutisches Agens, auch bei den sogenannten Limanen und dem 
Fango. Von den Moorerden sind die Eisenmineralmoore von Franzensbad, 
Marienbad, Elster — von den Sclammabsätzen die Schlamme der Schwefel¬ 
thermen die gebräuchlichsten. Für locale Applicationen eignen sich die 
damit bereiteten Umschläge vortreftlich. Ihre Wirkung ist zuweilen 
ganz überraschend. Die Umschläge eignen sich auch dort, wo man 
wegen zu grosser allgemeiner Schwäche oder vorliegender Arteriosklerose 
von der Anwendung totaler Moor- oder Schlammbäder Abstand nehmen 
muss. 

Eine weitere Badeform, von der gleichfalls mit bestem Erfolge Ge¬ 
brauch gemacht wird, sind die Sandbäder. Sie bieten den Vortheil, 
dass sie in sehr hoher Temperatur, 42—56° C., verwendet werden 
können, weil sie bei freier Luftzufuhr genommen, das Freibleiben des 
Kopfes ermöglichen. 

Zu den die Wärmewirkung am intensivsten zur Geltung bringenden 
Badeformen sind die Dampf- und Heissluftbäder zu zählen. Es 
gehört aber ein gewisses Kräftemaass dazu, dieselben ohne Nachtheil zu 
ertragen. Für herabgekommene, anämisch gewordene Kranke werden 
sich dieselben weniger eignen. 


Auch die Sonnenbäder werden als eine Art Heissluftbäder ge¬ 
braucht, entweder indem man den Patienten der Sonne im Freien oder 
in einem verglasten Raum aussetzt. 

Eine eigenartige flir locale Heissluftbäder bestimmte Vorrichtung 
wurde in jüngster Zeit in England von Tallermann (Sheffield) con- 
struirt und bereits in verschiedenen Krankenanstalten mit bestem Er¬ 
folge angewendet. Der Apparat besteht aus einer Kupferkammer von ver¬ 
schiedener Grösse, meist in Cylinderform, so dass die Extremitäten und 
selbst das Becken in denselben eingeschlossen und local behandelt 
werden können. An einem in den Kasten eingelassenen Thermometer 
ist die Temperatur leicht abzulesen. Um den kranken Theil darin auf- 
zuhängeu und vor Verbrennungen zu schützen, ist eine Asbestvorrichtung 
eingefügt. Der Apparat wird durch unter demselben befindliche Gas¬ 
brenner erhitzt. Beim Einführen des kranken Theils in die Kammer 
ist die Temperatur auf 65° C. eingestellt, und wird damit bis auf 104" C., 
ja bis zu 119° C. gesteigert. Die Folge ist ein sehr reichlicher Schweiss¬ 
ausbruch an der eingeschlossenen Extremität, welcher sich aber auch 
meist über den ganzen Körper verbreitet. Häufig werden schon nach 
der ersten Sitzung- die Schmerzen wesentlich erleichtert, die Gelenke 
schlaffer und weicher, die Bewegungen freier und zwar nicht allein 
nur in den der Heissluft direct ausgesetzten Partien, sondern auch an 
den übrigen Körperregionen. 

Eine wesentliche Unterstützung der Thermalbehandlung ist in der 
Verwendung der Doucbe gegeben. Sie verbindet den Wärmereiz des 
Wassers mit dem mechanischen des anprallenden Strahles. 

An die thermalen Behandlungsmethoden reihen sich naturgemäss die 
hydriatischen Proceduren, welche bei Polyarthritis deformans oft 
von grossem Nutzen sein können. Auch sie verfolgen meist die 
Hervomifung starker 8chweiss8ecretion. 

Durch diese Verbindung der Kälte- und Wärmeanwendung kann 
auch der Uebergang von der Thermalmethode zur Kaltwassercur an¬ 
gebahnt werden, wodurch der durch langdauernden Gebrauch warmer 
Bäder erschlaffte und verweichlichte Organismus gekräftigt und gegen 
Recidive weniger zugänglich gemacht wird. In der rauhen Jahreszeit 
ist der sofortige Beginn einer hydriatischen Cur vorzuziehen. Unter den 
hydriatischen Proceduren passen namentlich die Douchen ganz vorzüg¬ 
lich für die Behandlung der kranken Gelenke, besonders die schottische. 

Ein wesentlicher Behelf bei der Behandlung der Polyarthritis defor¬ 
mans sind die mechanischen Maassnahmen. Unter diesen steht 
obenan die Massage. Ist es bereits zur Schrumpfung der Gelenkskapsel 
gekommen, hat diese ihre Elasticität verloren, dann wird von der Massage 
kaum mehr etwas zu erwarten sein. 

Im Anschluss an die Massage sollen auch active nnd passive 
Bjewegungen vorgenommen werden. Mit denselben soll namentlich die 
Neigung zur Versteifung und Anchylosirung der Gelenke entgegengearbeitet 
werden. Doch sollen dieselben, so lange noch grössere Schmerzhaftig¬ 
keit besteht, niemals mit stärkerer Kraftanwendung ausgeführt werden. 

Bei bereits torpider gewordenen Fällen lassen sich die passiven Be¬ 
wegungen in ganz zweckmässiger Weise durch die jetzt fast allgemein 
aufgestellten Zander'schen Apparate ausführen. 

Die Verwendung der Electricität bei diesem Leiden beruht auf der 
Erkenntniss, dass der electrische Strom die Circulations- und Ernährungs¬ 
verhältnisse der Haut, sowie der tiefer gelegenen Organe zu beein¬ 
flussen vermag, daher auch auf pathologische Veränderungen derselben 
ebenso durch Ableitung, wie durch Förderung des localen Stoffumsatzes 
günstig einzuwirken vermag. 

Sehr wichtig ist die Berücksichtigung der klimatischen Verhältnisse 
für an Polyarthritis deformans Erkrankte. Vielfache Erfahrungen lehren 
uns, dass hier Wärme mit möglichster Temperaturconstanz, Trockenheit 
und Schutz gegen Winde die Grundbedingungen eines solchen Kranken 
günstigen Klimas sind. 

An manchen Badeorten gestattet das Vorhandensein von Thermal¬ 
quellen gleichzeitig die Ausführung einer Badecur. Solche sind: Battaglia 
in Norditalien zum Aufenthalt im Frühjahr und Herbste geeignet, Ischia, 
wo sowohl natürliche Thermalbäder, als durch die Erdwärme erhitzte 
Sandbäder zur Verfügung stehen, Algier mit den zahlreichen in der Nähe 
befindlichen Thermen. 

Was die innere Behandlung der Polyarthritis deformans betrifft, so 
lässt sich noch von jenen Mitteln am meisten erwarten, welche die all¬ 
gemeinen, constitutioneilen Verhältnisse, die Blutbildung zu verbessern 
und infolge der hierdurch gehobenen Stoffwechselenergie die Rückbildung 
der gesetzten Exsudate zu fördern im Stande sind. 

Aus diesem Grunde werden also ausser selbstverständlicher Ver¬ 
meidung aller schwächenden Potenzen, und Verordnung möglichst 
kräftigender Ernährung, Eisen- und Chininpräparate, nebst Leberthran 
die wichtigsten Mittel darstellen. Unter den Eisenpräparaten soll 
namentlich dessen Verbindung mit Jod, als Syrup. ferri jodat., insbe¬ 
sondere bei jugendlichen Individuen den besten Erfolg bringen. 

Zum Schluss erwähnt Redner, dass die Arthritis deformans öfters 
auch eine chirurgisch-orthopädische Behandlung nothwendig macht. 

(Fortsetzung folgt.) 


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574 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 26. 


IX. Die wissenschaftliche Ausstellung des 
XV. Congresses für innere Medicin zu Berlin, 
9.—12. Juni 1897. 

Seit der denkwürdigen Ausstellung, welche, namentlich dank der 
Initiative O. Lassar’a gelegentlich des Internationalen Congresses zu 
Berlin ins Leben gerufen wurde, und die zum ersten Mal das Princip 
einer streng wissenschaftlich eingetheilten und anfgestellten medicinischen 
Ausstellung verkörperte, hat ein ähnliches Unternehmen nicht wieder in 
solcher Anlage und Ausdehnung hier stattgehabt; erst beim diesjährigen 
inneren Congress wurde von Neuem ein derartiger Versuch, natur- 
gemäss in erheblich geringerem Umfang, ebenfalls aber mit vollem 
Gelingen dorchgeführt. Namentlich trag auch die diesmalige, sorgfältig 
vorbereitete Ausstellung durchaus den Stempel einer einheitlichen Or¬ 
ganisation. Ein besonderes Verdienst hatte sich Herr Geh. Obermedi- 
cinalrath Generalarzt Dr. Sch aper dadurch erworben, dass er den Vor¬ 
sitz eines Ausschusses übernommen hatte, welcher' die Ausstellungs¬ 
angelegenbeiten zu regeln hatte; in diesem Ausschüsse fiel Herrn Geh. 
Rath Prof. Dr. Liebreich die Arzneimittelausstellung, Herrn Prof. 
Brieger die Bacteriologie, Herrn Geh. Rath Prof. Dr. Eulenburg die 
Electricität, Herrn Professor A. Fränkel das Gebiet der Diagnostik 
und Herrn Privatdocenten Dr. Mendelsohn die Krankenpflege zu. Die 
thatsächliche Aufstellung, die Eintheilung in Gruppen und das allgemeine 
Arrangement der Ausstellung überhaupt hatte Herr Privatdocent Dr. 
Martin Mendelsohn in Gemeinschaft mit Herrn Oberarzt Dr. Paul 
Jacob übernommen. Indem diese Herren mit grosser Sorgfalt die Aus¬ 
wahl unter den zur Ausstellung zuznlassenden Objecten Vornahmen und 
nur Gegenstände vorführten, welche für den Kliniker Objecte von wirk¬ 
licher Bedeutung sind, namentlich solche, die dem ärztlichen Publicum 
bisher überhaupt noch nicht näher bekannt waren, gewann die Aus¬ 
stellung eine wirklich wissenschaftliche Bedeutung, welche noch dadurch 
besonders erhöht wurde, dass die Herren Gruppenvorsteher an den ein¬ 
zelnen Tagen der Congresswoche zu bestimmten, vorher festgesetzten 
Stunden die ihnen unterstellten Abtheilungen den Congresstheilnehmern 
eingehend demonstrirten und das besonders Wichtige und Beachtens- 
werthe unter den zur Ausstellung gebrachten Objecten hervorhoben und 
erläuterten. 

Was die einzelnen Abtheilungen selbst anbelangt, so seien hier nur 
einige darans erwähnt. Aus den Abtheilungen Diagnostik, Bacteriologie, 
Pharmacolngie muss vor Allem der Gesammtausstellung des König¬ 
lichen Kriegsministeriums gedacht werden, welches zahlreiche hoch- 
bedeutsame Objecte ausgestellt hatte. Besondere Beachtung fand der 
von Herrn Stabsarzt Dr. Heyse ausgestellte Feldsterilisirapparat, in 
dem durch jede Art von Heizung die Sterilisation vorgenommen werden 
kann und der in seiner ganzen Zusammensetzung den höchsten Grad der 
Einfachheit und Zweckmässigkeit erreicht; ferner die in derartiger Voll¬ 
kommenheit bisher wohl nicht gesehenen Röntgenphotographien des 
Herrn Oberstabsarztes Dr. Stechow. Allseitige Anerkennung fanden 
sodann die pathologisch-anatomischen Präparate des Herrn Dr. Keiser- 
ling, welche derselbe mit der von ihm bereits bekannt gegebenen Con- 
servirungsmethode behandelt hatte, und welche, obgleich einzelne davon 
nun seit bereits zwei Jahren in der betreffenden Flüssigkeit liegen, 
sämmtlich das Bild vollkommener Frische, vor Allem in der Farbe 
zeigen. Zum Vergleich mit diesen Präparaten waren daneben die von 
Herrn Dr. Berliner künstlich aus Wachs gefertigten chromopIastischen 
Nachbildungen aufgestellt worden; dieselben sind künstlerhaft ausgeführt 
und fanden ebenfalls reichen Beifall. Im Uebrigeu hatten sich noch das 
Hygienemuseum, die chemische Abtheilung des physiologischen Institutes 
(Prof. Dr. Thierfelder) und die landwirtschaftliche Hochschule (Prof. 
Dr. Zuntz) an der Ausstellung betheiligt. Von wissenschaftlichen 
Apparaten hatten besonders Dr. Rohrbeck-Berlin, die Firmen Zeiss- 
Jena und Ernst Leitz-Wetzlar, F. u. M. Lautenschläger-Berlin, Paul Alt¬ 
mann-Berlin, Klönne u. Müller-Berlin viele bedeutsame Apparate aus¬ 
gestellt. Ausserordentlich stark waren die neuen Nährmittelpräparate 
vertreten, so das Eucasin, Fleischsaft Puro, Maltonweine, Heidelbeer- 
weine, Dr. Theinhardt’s Nährpräparat u. s. w., und noch zahlreicher 
fast die organotherapeutischen Mittel; namentlich hatte die englische 
Fabrik Burroughs, Wellcome u. Co., vertreten durch den Berliner Apo¬ 
theker Linkenheil eine Gesammtübersicht über die von ihr gefertigten 
Präparate gegeben. Auch die grossen Berliner Apotheken von Simon, 
Schering, Radlauer, Kade, sowie die chemischen Fabriken von Riedel, 
Bchering etc. hatten viel Beachtenswertes gebracht. 

Fast noch grössere Bedeutung als der eben besprochene Saal hatte 
der daneben liegende, in welchem unter Leitung des Herrn Dr. Martin 
Mendelsohn die Abtheilung „Krankenpflege“ Platz gefunden hatte 
und ein deutliches, wenn auch nur theilweises Bild von der grossen Samm¬ 
lung darbot, die derselbe Herr während des letzten Jahres im Kgl. Charite- 
Krankenhause mit grösster Sorgfalt systematisch zusammengestellt hat. 
Diese neu begründete Sammlung ist ebenfalls während der Congresstage 
der Besichtigung zugänglich gemacht worden. Unter den auf dem Con- 
gresse ausgestellten Objecten seien zunächst die grosse Anzahl von Kranken¬ 
bet en genannt, welche in mehr oder minder vollkommener Weise die 
La'ge des Kranken verbessern und ohne Bein Zuthun verändern lassen. 
Nicht weniger als 8 mechanische Betten verschiedenartiger Constrnction 
waren hier in vergleichender Uebersicht neben einander aufgestellt 
worden. Besondere Erwähnung verdient unter diesen das neue 


Pfeifter’sche Closetbett, mehrere vorzügliche Betten von der Firma 
Ernst Lentz-Berlin, unter diesen das Bett mit dem neuen Mendelaohn- 
schen Krankenheber, und schliesslich ein von der Fabrik C. Maqnet- 
Heidelberg ausgestelltes Bett, das nach den speciellen Angaben des 
Herrn Dr. Paul Jacob angefertigt wurde, und besonders im Stande zu 
sein scheint, sämmtlichen Anforderungen, die namentlich für die bequeme 
Lagerung gelähmter Patienten mit Neigung zu Decubitus gestellt werden 
müssen, zu genügen. Ausser den Betten waren mehrere Bettfahrappa¬ 
rate verschiedenartiger Constrnction ausgestellt, so der nach Angabe von 
Dr. Jacobsohn bei der Firma Lentz angefertigte, ferner der auf Ver¬ 
anlassung von Geh. Rath Prof. Lichtheim in Königsberg hergestellte 
sehr schöne, aber nngcwöhnlich kostspielige Bettfahrer. In demselben 
Saale war auch eine kleine Zusammenstellung von Kleidungsstücken, 
welche der Verein für Verbesserung der Frauenkleidung angegeben hat, 
zur Vorführung gebracht. Sodann fesselten die Aufmerksamkeit eine 
Reihe gut constrairter Krankenwagen von Voltmann-Oeynhausen und 
C. Maquet-Heidelberg. Heizbare Wasserbetten der Berliner Fango-Cor- 
anstalt, „Pegamoid“-Stoffe zu Matratzen und Bettstücken verarbeitet, 
Guramikissen, Stechbecken, Speischaalen nnd andere Utensilien der 
Krankenpflege in neuer und eigenartiger Constrnction, schliesslich der 
Sachs’sche Apparat für Zimmergymnastik, von dessen Vorzügen der 
Erfinder selbst während der ganzen Dauer des Congresses die Anwesen¬ 
den zu überzeugen bestrebt war, vervollständigten das entsprechende 
und lehrreiche Gesammtbild des Saales „Krankenpflege“. 

Ausser diesen beiden grossen Sälen waren nan noch zwei weitere 
Räume für die Ausstellung herangezogen, in welchen die electrischen, 
zur Aufnahme der Röntgenbilder bestimmten Apparate Aufstellung ge¬ 
funden hatten. Auch hier war eine Reihe hervorragender Firmen ver¬ 
treten, so die Electricitäts-Gesellschaft Charlottenburg, Siemens und 
Halske, die Allgemeine Electricitäts-Gesellschaft, Hirschmann, Reiniger 
Gebbert und Schall, Krause n. Co., sämmtlich in Berlin. Aehnlich wie 
in dem Hanptsaale waren auch hier vorzügliche Röntgen-Aufnahmen 
ausgestellt; die Photographie mit den X-Strahlen wurde mehrfach prak¬ 
tisch demonstrirt und eine grosse Zahl von Durchleuchtungen am leben¬ 
den Objecte in einem eigenen Dunkelzimmer den Congresstheilnehmern 
vorgeführt. 

Diese kurze Beschreibung mag genügen, um zu zeigen, ein wie 
reichhaltiges und interessantes Bild diese Ausstellung darbot. 


X. Nachtrag 

zu der Arbeit von E. Levy und H. Bruns „Beiträge zur Lehre 
der Agglutination“ in No. 24 d. W. 

Wir lesen soeben in der letzten Nummer der Annales de 
l’Institut Pasteur (25. Mai 1897) in dem ausführlichen Aufsatz 
von Widal und Sicard Uber die Serumdiagnose folgendes: 
„Wenn man einem Meerschweinchen in fractionirten Dosen eine 
filtrirte Typhusbonillonkultur, die nicht erhitzt wurde, injicirt, 
so muss man die successive Einspritzung von 8 ccm abwarten, 
um die Reaktion nach 8 Tagen in die Erscheinung treten zu 
sehen. Chantemesse sah bei einem Hammel Agglutination nach 
fünf Tagen, als er eine kleine Menge löslichen Toxins in die 
Venen einführte.“ Diese beiden Mittheilnngen sind die eine 
Ende 1896 und die andere vor einigen Wochen im „Bulletin de 
la 80 ci 6 t 6 medicale des höpitaux“ mitgetheilt worden, waren je¬ 
doch nicht zu unserer Kenntniss gelangt. 


XI. Praktische Notizen. 

llagiMtisehes ind Casilstlk. 

Comby (Sociötö mödicale des höpitaux. Sitzung von 2. Mai 1897) 
hat 6 Fälle von Ren mobilia im Kindesalter gesammelt. Schon in 
dieser Epoche scheint das weibliche Geschlecht am häufigsten an diesem 
Leiden zu laboriren. Redner glaubt, dass die PrädiBposition zur Wander¬ 
niere angeboren ist. Die klinischen Symptome sind dieselben wie bei 
Erwachsenen. (Gaz. hebdom. No. 42, 1897.) 


Juedell (Archiv für Dermatologie u. Syphilis, 89, Heft 2) ist es 
gelungen, in 2 Fällen gonorrhoischer Metastase den Gonococcus rein zu 
züchten. Im ersten Fall handelte es sich um eine Tendovaginitis, eine 
Affection, bei welcher der Nachweis von Gonokokken durch die Cnltur 
noch nicht geführt worden ist. 


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28 . 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


575 


Job (De l’actinomycose des centres nerveusea. These de Lyon) 
schildert die Actinomycose der nervösen Centralorgane im 
Anschluss an die Beschreibung zweier von Pincet beobachteter Fälle 
und mit Benutzung der bisher bekannt gewordenen in der Literatur er¬ 
wähnten 14 Fälle. Anatomisch kann man 2 Formen der Actinomycose 
des Centralnervensystems unterscheiden: eine diffuse Form und eine 
circumscripte tumorartige. Entere macht die Symptome einer acuten 
Meningitis, letztere die eines Tumon. Die Diagnose lässt sich nur 
stellen, wenn Antinomycose an einem anderen Organ festgestellt ist. Die 
Prognose ist schlecht, alle Kranke starben. 


Netter (Soci£tä de biologie, Sitzung vom 29. Mai) hat im Staube 
eines Krankensaales virulente Pneumokokken nachge¬ 
wiesen, indem er den aufgesammelten Staub in sterilem Wasser ver¬ 
theilte und diese Mischung Kaninchen in die Bauchhöhle spritzte. Die 
Thiere bekamen eine eitrig-flbrinöse Peritonitis und eine Pleuritis. Es 
sei daran erinnert, dass Cor net im Staub der Zimmer, in welchem 
Taberculöse sich auf hielten, den Tuberkelbacillus gefunden hat. (Gaz. 
hebdom. 1897, No. 44.) _ 


Goey-Edwards beobachtete zahlreiche Fälle von folliculärer 
Tonsillitis, als deren Ursache er den Genuss inficirter Milch er¬ 
kannte. Dieselbe enthielt Staphylococcus pyogenes aureus, Sta- 
phylococcus pyogenes albus und Streptococcns pyogenes. Bei 
der Untersuchung der Kühe der betreffenden Gegend wurde eine kranke 
Knh entdeckt, in deren Milch die obengenannten Bacillen nachgewiesen 
werden konnten. (The Lancet, 12. Jnni 1897.) 

finouf beobachtete Lähmungen bei der Pneumonie der 
Kinder. Sie treten entweder gleichzeiüg mit schweren Gehirnsymptomen 
auf, und in diesen Fällen führt meist die Pneumonie zum Tode, oder 
sie treten bei Pneumonien auf, die heilen, während deren. Verlauf sich 
aber bedrohliche Symptome eingestellt haben. Die Lähmungen haben 
den monoplegischen, paraplegischen oder den hemiplegischen Typhus. 
Sie dauern bisweilen nur einige Stunden, meist einige Wochen, ihre Prog¬ 
nose ist also günstig. (Gaz. hebdom. 1897 No. 47.) 


Abrault (These de Paris) hat einige Fälle beobachtet, in welchem 
Ascariden den gesunden Darm perforiit hatten und in die Bauchöhle 
gelangt, eine Peritonitis erzeugten. 


Ueber die Lepra in Constantinopel äussert sich F. Hueppe 
in einer unlängst erschienenen, in vieler Hinsicht recht lesenswerthen 
Schrift „Zur Rassen- und Socialbygiene der Griechen im Alterthume und 
in der Gegenwart.“ (Wiesbaden, C. W. Kreidel’s Verlag, 1897): In dem 
grossen mit Cypressen dichtbestandenen Begräbnissplatze bei Skutari 
befindet sich ein von niederen, elenden Baracken umgebener Hof; in 
diesen Baracken wohnen 20 Familien Lepröser, um die sich Niemand 
kümmert. Seit Wochen war kein Arzt dort gewesen, so dass ich mich 
nicht wundern konnte, gleich in zwei schweren Fieberfällen consultirt 
zu werden, da mein Begleiter, dem die Leute ihr Leid klagten, mich 
sofort als Arzt vorgestellt hatte. Wir batten dadurch aber auch vollen 
Einblick in die trostlose Lage dieser armen Leute. Die erbliche Ueber- 
tragung der Krankheitsanlage, welche durch schlechte sociale Verhält¬ 
nisse erworben und bei der Vererbung gefestigt wird, spielt auf Jedem 
Fall die grösste Rolle. Die reichliche Gelegenheit zur infection kommt 
ohne dieses Moment nicht zur Geltung, so dass z. B. der dort geborene 
Priester, seine zwei Frauen und sein Kind, trotzdem sie sehr schlecht 
leben und jeden Augenblick der Infection ausgesetzt sind, vollständig 
und zwar seit Jahren gesund Bind. 

Die Behandlung reicht nicht ganz an die auf dem medicinischen 
Congresse in Wiesbaden einmal empfohlene viertheilige heran, aber sie 
sie ist eben so originell. Der Kranke giebt ein Geldstück auf eine 
Mühle und mahlt dasselbe, während daneben aus einem Hahne Wasser 
läuft. Dann muss er sich, ohne das Gesicht rückwärts zu wenden, ent¬ 
fernen. Es hilft gerade so viel wie die jetzige Therapie der exacten 
Medicin! Das Heilen scheint aber auch dort mit Eifer betrieben zu 
werden. Da die Türkin nicht in ein öffentliches Haus eintreten darf, 
so dient der Friedhof für die grosse Garnison als Stelldichein. Ist die 
Türkin dabei syphilitisch geworden, so versucht sie sich selbst zu heilen, 
indem sie um den Hof der Leproserie läuft, um dadurch ihre Krankheit 
dort zu lassen. In diesem Punkte ist unsere Therapie weiter fortge¬ 
schritten. 

Während die Türken ihre Leprösen sofort isoliren, können aussätzige 
Griechen, Bulgaren, Armenier und Juden umgehindert herumgeben und 
man sieht besonders auf der giossen Brücke von Galata nach Stambul 
sehr häufig Lepröse. A. 


Therapeatisehes an i litaiieatUiea. 

Ueber die Frage, ob vor Allem die Zellen des Körpers Tetanus¬ 
toxin enthalten, wie es Behring, Goldscbeider und Blumenthal 
für die motorischen Nervenzellen des Rückenmarkes bewiesen haben, 
giebt ein von Jacob (Deutsche medicinische Wochenscrift No. 24) be¬ 
schriebener Fall weitere Aufklärung. Die einige Zeit nach einer Entbindung 
von Tetanus befallene Patientin, die zweimal mit Tetanus-Anti¬ 
toxin nach Behring injicirt wurde, genas. Verf. glaubt die Heilung 


nicht auf die Serumbebandlung zurückfuhren zu dürfen. Bei Versuchen, 
welche an Mäusen mit dem Blut der Patientin angestellt wurden, zeigte 
sich nun, dass nur diejenigen Thiere starben, welche mit dem Blute 
selbst geimpft wurden, während diejenigen, welche mit dem Blutserum 
und einem Auszuge aus dem Blute behandelt waren, ohne Krankheits¬ 
erscheinungen am Leben blieben. Es scheint somit, dass das Tetanus¬ 
toxin zum grössten Theil in den Zellen des Blutes enthalten ist. 


Ueber die Resultate der Thyreoidinbehandlung bei Obesitas und 
Struma berichtet Hiebei aus der Klinik von Dräsche Folgendes: 
(Wiener medicinischer Club. Sitzung vom 26. Mai 1897.) Manche 
Patienten klagten über ausstrahlende 8chmerzen in den Extremitäten 
und Zucken in den Baucbdecken. Herzklopfen, Angstgefühl und Kopf¬ 
schmerz wurden nur in einem Fall beobachtet. Die durchschnittliche 
Abnahme des Körpergewichtes betrug 1—1 */* Kg. pro Woche. Die 
Wirkung des Tbyreoidins auf den Kropf ist nach Ansicht des Redners 
noch zweifelhaft. (Wiener klin. Wochenschrift 1897 No. 23.) 


Ueber seine Erfahrungen mit Pyramidon, einem Derivat des 
Antipyrins (vgl. Filehne’s Aufsatz dieserWochenschr.), berichtet Lupine 
(Lyon mödical 1897, No. 24). In gleichen Dosen wie das Antipyrin ge¬ 
geben, wirkt es dreimal stärker. Nach 8—10 gr des Mittels dürften 
nach der Vermuthung des Verf.'s die heftigsten Vergiftungserscheinungen 
auftreten. In 20 Fällen wurde es bis zu 8 gr pro die angewendet, 
ohne dass irgend welche Zufälle auftraten. Die Schmerzen eines Ta¬ 
bikers, die durch Morphin nicht gelindert werden konnten, verschwanden 
bei Pyramidon für längere Zeit. Gewöhnlich wurde das Mittel in 
Dosen zu 1 gr gegeben. Mit Erfolg wurde Pyramidon bei einem 
Typhuskranken angewendet, der sich weigerte, kalte Bäder zu nehmen. 
Man gab ihm 0,25 gr dreistündlich. Vom 3. Tage an sank die Tem¬ 
peratur täglich ein- oder zweimal unter 89°. Pyramidon verringert wie 
Antipyrin die Urinsecretion. 


Im Jahre 1896 hatte Vinay vier Fälle von Pnerperalsepsis mit 
Marmorek’schen Antistreptokokkenserum behandelt und zwei 
Heilungen erreicht. Er berichtet nun von den Erfolgen seiner in diesem 
Jahre fortgesetzten Versuche mit dem Marmorek’schen Serum in 
18 Fällen. (Lyon medical 1897, No. 23 und 24). Von diese genasen 9. 
Bald nach der Anwendung des Serum sank das Fieber rapide, der All¬ 
gemeinzustand besserte sich; niemals beobachtete Verf. Albuminurie. In 
allen ausgesprochen schweren Fällen puerperaler Sepsis versagte das 
8erum seinen Dienst, auch eine vorübergehende Besserung war nicht 
festzustellen, gleichviel ob man früh oder spät injicirte. 


Slater und Cameron berichten über die Serumbehandlung 
per Diphtherie im St. George's-Hospital. Nur in einem Falle ent¬ 
stand ein Abcess an der Injectionsstelle. Aus einer mitgetheilten Ta¬ 
belle geht hervor, dass die Zahl der Todesfälle mit der Einführung der 
Serumbehandlung gesunken ist. In 167 bacteriologisch untersuchten 
Fällen wurde der Diphtheriebacillus 112 mal gefunden. Seit Einführung 
des Diphtherieheilseruras kommt es seltener zur Tracheotomie. 8mal 
wurde am Tage nach der Injection Eiweiss im Urin gefunden. In eini¬ 
gen Fällen trat ein masernähnliches Exanthem auf. (The Lancet 
12. Juni 1897.) 


XII. Tagesgeschichtliche Notizen. 

Berlin. In der Sitzung der Berliner medicin. Gesellschaft 
am 28. d. M. legte zunächst Herr Steiner einen von Herrn Israel 
entfernten Ureterstein vor, der in ungewöhnlicher Ausdehnung eine 
grosse Strecke des betr. Harnleiters ausfüllte. Herr E. Lesser hielt 
darauf den angekündigten Vortrag „Ueber Syphilis insontium“ (d. h. die 
nicht auf dem Wege illegitimen Geschlechtsverkehrs erworbene Syphilis). 
An der Discussion nahmen die Herren Blaschko, Heller, H. Neu¬ 
mann, 0. Rosenthal theil. Es folgte der Vortrag des Herrn Ritter 
über Scrophulose und Tuberculose; die DiscuBsion hierüber, wie über 
Neu mann’s in letzter Sitzung gehaltenen Vortrag über das gleiche 
Thema wird in nächster Sitzung beginnen. 

— Herrn Dr. P. Frosch, Assistent am Institut für Infections- 
krankheiten, ist der Titel Professor beigelegt worden. 

— Herr von Koelliker, der demnächst seinen 80. Geburtstag 
feiert, hat den Wunsch geäussert, von seinem Lehramte entbunden zu 
werden; als sein Nachfolger ist Prof. Philipp Stöhr, zur Zeit in 
Zürich, berufen. 

— Prof. Dr. Felix Semon in London, der bekannte Specialist für 
Hals- und Nasenkrankheiten, ist gelegentlich des Regierungs-Jubiläums 
der Königin Victoria zum Baronet ernannt worden. 

— Als Nachfolger des Dr. ßidder in der Stellung eines dirigirenden 
Arztes am Britzer Kreiskrankenhause soll Dr. H. Riese, Privatdocent 
der Chirurgie in Wttrzburg vom Kreisausschuss gewählt sein. 

— Der Präsident des Reichs-Versicherungsamt, Herr Dr. Bödiker, 
welcher nach I8jähriger überaus verdienstvoller Thätigkeit am 1. Juli 


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576 


BERLINER KLINISCHE WOCHENSCHRIFT. 


No. 26. 


d. J. sein Amt niederlegen wird, wendet sich in einem besonderen Dank¬ 
schreiben an die Vorstände der Berufsgenossenschaften und der Invali- 
ditäts- und Altersversicherungsanstalten, die Schiedsgerichte und alle 
anderen Organe der Arbeiterversicherung, mit denen das Reichs-Ver¬ 
sicherungsamt in Verbindung steht. 

„Auch den Aerzten, welche auf diesem neuen socialpolitischen 
Gebiete mit Rath und That die gute Sache gefördert haben, kann ich 
nicht umhin, bei diesem Anlass angelegentlichen Dank zu sagen.“ 

Indem wir Aerzte diese Kundgebung mit aufrichtiger Genugthuung 
begriissen, dürfen wir unsererseits das verständnissvolle Entgegenkommen, 
welches Herr Bödiker jederzeit den Wünschen und Auslassungen der 
Aerzte entgegengebracht hat, besonders rühmend anerkennen. So hat 
das Reichs-Versicherungsamt noch in jüngster Zeit beschlossen, die 
häufig wegen der grundsätzlichen Wichtigkeit der erörterten Fragen, 
wegen der Seltenheit des Falles, der hervorragenden Stellung des Ver¬ 
fassers etc. bedeutsamen Gutachten zu veröffentlichen und einer weiteren 
Nutzbarmachung zu übergeben. Der Anfang mit dieser dankenswerthen 
Neuerung ist in den Amtlichen Nachrichten des Reichs-Versicherungs¬ 
amtes S. 836 gemacht, wo sich der Abdruck eines Obergutachtens von 
Prof. Schönborn in Würzburg, betreffend die traumatische Entstehung 
eines Magenkrebses, findet. 

— Die Aerztekammer für Berlin-Brandenburg hat in ihrer 
jüngsten Sitzung einen Antrag Eulenburg auf Ausscheiden der 
Aerzte aus der Gewerbeordnung, gesetzliches Verbot der 
Curirfreiheit und Erlass einer Aerzteordnung mit grosser Ma¬ 
jorität angenommen. Gerade unter den Berliner Collegen sind die An¬ 
schauungen über die Opportunität dieses Schrittes noch sehr getheilt — 
in der Kammer selbst sprachen sich die Herren Mugdan und Ka¬ 
lischer mit grossem Nachdruck dagegen aus. Herr Alexander be¬ 
tonte, dass die drei Forderungen nicht in nothwendigem Zusammenhang 
mit einander stehen, dass insbesondere „Ausscheiden aus der Gewerbe¬ 
ordnung“ und Erlass einer Aerzteordnung nicht ohne Weiteres das 
Pfuschereiverbot bedingte, und erklärte sich gegen letzteres. Herr 
Kossmann hob mit Recht hervor, dass der Eulenburg’sche Antrag 
insofern ein „Schlag in’s Wasser“ sei, als er zwar wahrscheinlich die Zu¬ 
stimmung der Reichsregierung, — sicher aber nicht diejenige des Par¬ 
laments finden werde, und beantragte daher eine Reihe von Maass¬ 
nahmen, durch welche auf dem Boden der bestehenden Gesetzgebung die 
Pfuscherei viel schärfer bekämpft werden könnte, als dies jetzt meist ge¬ 
schieht (strengere Bestrafung der Pfuscher im Falle fahrlässiger Körperver¬ 
letzung oderTödtung, schärfere Ueberwachnng des Verkehrs mit Patentmedi- 
cinen und stark wirkenden Arzneimitteln etc.); auch diese Anträge wurden 
angenommen. Wir glauben,' dass man im Augenblick die Frage ganz und 
gar aus dem Gesichtswinkel politischer Betrachtungen herauslösen und 
lediglich fragen sollte: „Was kann geschehen, um der immer scham¬ 
loser wirthschaftenden Pfuscherei zu steuern, zum Besten der hierdurch 
geschädigten Aerzte einerseits, zum Besten des Gemeinwohles anderer¬ 
seits?“ Dass das allgemeine PfUschereiverbot hier nicht ohne Weiteres 
Wandel schaffen würde, dass auch unter seinem Bestehen die Verhält¬ 
nisse so wenig ideale sein werden, wie sie es früher waren, dürfte 
allseitig zugegeben werden. Aber, dass der Kampf gegen das Pfuscher¬ 
thum aufgenommen werden und sogar mit einer gewissen, nur zu lang 
vermissten Rücksichtslosigkeit durchgefochten werden muss, sollte eben¬ 
falls nun nicht mehr bestritten werden. Und insofern wird das Vorgehen 
der Aerztekammern nicht ohne Erfolg bleiben und wird gebilligt werden 
auch von denen, die aus principiellen oder praktischen Gründen den 
hier gefassten speciellen Beschlüssen nicht zuzustimraen vermögen. 

— Die Berliner 8tadtverordneten-Versammlung hat einen bedeuten¬ 
den Schritt gethan, der die Schaffung des lange geforderten städti¬ 
schen Gesundheitsamtes in absehbare Nähe rückt. Eine Magi¬ 
stratsvorlage hatte vor Kurzem einen städtischen „Hydrologen“ 
gefordert; der von der Stadtverordneten-Versammlung eingesetzte 
Ausschuss, als dessen Berichterstatter Virchow fungirte, ist aber 
um ein erhebliches weiter gegangen, und ersucht den Magistrat 
um eine Vorlage zur Anbahnung eines städtischen Gesundheitsamts mit 
Ernennung eines erfahrenen Bacteriologen und eines bewährten Chemikers. 
Man verhehlte sich nicht die vielen Schwierigkeiten, die so lange noch 
entgegenstehen, als der Staat für Berlin nicht in die Uebertragung der 
Gesundheitspolizei an die Stadt willigt; dennoch stimmte die Versamm¬ 
lung dem Ausschussantrage zu, schon in der Hoffnung, hiermit einen 
weiteren Druck auf die staatliche Behörde auszuüben. Wir begrüssen 
den hier getbauen, hoffentlich recht bald in die That umgesetzten Schritt 
freudigst als ein für Berlin Behr werthvolles Stück praktischer Medici- 
nalreform! 

— Mit der Frage der Errichtung neuer Lungenheilstätten hatte 
sich in letzter Woche die Berliner Aerzteschaft in wiederholten Ver¬ 
sammlungen zu beschäftigen: die Alters- und Invaliditätsversicherungs- 
Anstalt Berlin gedenkt eine derartige Anstalt zu errichten, und es ist 
seitens der Aerzte, — die sich hier rühmen dürfen, der socialpolitischen 
Gesetzgebung nicht nur ihre Unterstützung zu leihen, sondern sogar ihr 
die richtigen Wege zu weisen — diesem Plane lebhaft zugestimmt 
worden, so sehr man auch, wie namentlich Renvers hervorhob, von 
einer Ueberschätzung der dadurch zu erhoffenden Resultate entfernt ist. 
Bei dieser Gelegenheit dürfen wir nicht unerwähnt lassen, dass die jüngst 
zu Wiesbaden verstorbene Frau Hauptmann Wanda Freytag — eine 


Tochter des verstorbenen bekannten Berliner Collegen, San.-Rath Dr. 
H. Epenstein — neben zahlreichen anderen Legaten ftir milde 
Stiftungen die Berlin-Brandenburgische Heilstätte mit der Summe von 
100 000 Mk. in ihrem Testament bedacht hat. 

— Das Deutsche Reich wird auf dem Internationalen medi- 
cinischen Congress in Moskau offlciell durch den Generalarzt der 
Armee. Herrn Prof. Dr. v. Coler Exc. und Herrn Oberstabsarzt I. CI. 
Dr. Schjerning vertreten sein; auch das preussische MedicinalHrinisterium 
wird einen Delegirten entsenden. Ebenfalls werden bereits seitens ein¬ 
zelner medicinischer Vereinigungen Vertreter angemeldet — so hat die 
Deutsche Gesellschaft für Chirurgie die Herren von Bergmann und 
Gurlt zu Delegirten ernannt. Die Anzahl der aus Deutschland gemel¬ 
deten Mitglieder beträgt augenblicklich etwa 160. Die Congressbesucher 
machen wir gleichzeitig darauf aufmerksam, dass soeben die neue Ausgabe 
von Baedeker’s Russland, sowie von dem dazu gehörigen Leitfaden 
der russischen 8prache erschienen ist. 

— Der Aerzteverein zu Bad Wildungen erlässt eine scharfe Erklärung 
gegen den dort prakticirenden Arzt, Dr. Schmitz, welcher „seit einer 
Reihe von Jahren reclamehafte Ankündigungen erlässt, durch welche Aerzte 
und Laien getäuscht werden können“. 

— Die diesjährige Sitzung der opbthalmologischen Gesellschaft 
findet vom 5. — 7. August zu Heidelberg statt. 

— Auch an der Universität Greifswald werden jetzt Fortbildung»- 
curse für praktische Aerzte und zwar vom 19. — 81. Juli d. h. in 12 
Tagen, also wahre „Schnellcurse“ abgehalten werden. 


XIII. Amtliche Mittheilungen. 

Personal!». 

Auszeichnungen: Charakter als Geheimer Sanitätsrath: dem 
Kreis-Physikus Sanitätsrath Dr. Brandts in Linnich. 

Ernennungen: der Departements-Thierarzt Tietze in Cassel zum 
Veterinär-Assessor bei dem Medicinal-Collegium der Provinz Hessen- 
Nassau; der prakt. Arzt Dr. Dethlefsen in Friedrichstadt zum Kreis- 
Physikus des Bezirks Friedrichstadt. 

Prädikat „Professor“: dem Assistenten des Königl. Instituts für 
Infectionskrankheiten in Berlin Dr. Paul Frosch. 

Niederlassungen: die Aerzte Dr. Lasbeck in Hattingen, Dr. Robe 
in Rhynern, Dr. Weber in Dortmund, Dr. Rumpel in Celle, Dr. 
Kahlbaum, Dr. Sklower,- Dr. Weintraud, Dr. Fiegler, Dr. 
Lappe und Dr. 8pyra in Breslau, Steinig, Dr. Beckmann, Dr. 
Jung und Kobert in BreBlau, Dr. Preu in Reichenbach i. Schl., 
Dr. Nolte in Minden, Dr. Laup in Rbaden, Kabl£ in Münster a. St., 
8choen in Stargard i. P., Dr. Noack in Lübbenau, Dr. Perls in 
Waldenburg, Dr. Freudenberg in Friedland, Dr. Czekalla in 
Nieder-Wüstegiersdorf, Mikule in Riemberg. 

Verzogen sind: die Aerzte Dr. Keller von Gr.-Alsleben nach 
Foerderstedt, Dr. Rodewald von Elberfeld nach Aacheti, Dr. 
Koeppel von Aachen nach Münster, Dr. Stallmann von Ander¬ 
nach nach Dueren, Dr. von Train von Ostrach nach Wiesen- 
Bteig, Gen.-Arzt Dr. Stricker von Metz nach Münster i. W., Gen- 
Arzt Dr. Krulle von Münster i. W. nach Berlin, Dr. Frost von 
Mixstedt nach Kraschwitz, Dr. Puetz von Barnimscunow nach Wolk¬ 
ramshausen, Dr. Margendorff von Demmin nach Stettin, Peters 
von Rostock nach Demmin, Zauke von Würzburg nach Bendorf, Dr. 
Fassbender von Kaysersberg nach Remagen, Dr. Scherschlicht 
von Bacharach nach OberweBel, Dr. Wallot von Oppenheina nach 
Oeynhausen, Dr. Hagemeier von Herzebrok nach Gütersloh, Stabs¬ 
arzt Dr. Overbeck von Celle nach Hannover, Stabsarzt Dr. Gott¬ 
hold von Celle nach Sonderburg, Dr. Quellhorst von Artlenburg 
nach Lüne, Dr. Wahrendo'rf von Berlin nach Ilten, Dr. Bach von 
Königsberg i. Pr. nach Frankfurts. O., Dr. Heydweiller von Berlin 
nach Senftenberg, Hampke von Prittisch nach Landsberg a. W. 
Dr. Dieckhoff von Frankfurt a. 0. nach Landsberg a. W., Dr. 
Ziegler von Breslau nach Annahütte, Dr. Geisel er von Kiel nach 
Landsberg a. W., Dr. Müller-Kypke von Frankfurt a. O. nach 
Caracas (Süd-Amerika), Stier von Pforten nach Hobenluckow, Dr. 
Maire von Landsberg a. W. nach Oldenburg, Dr. Drope von Anna¬ 
hütte, Dr. Höhne von Lübben, Dr. Schmitz von Landsberg a. W. 
nach Eberswalde, Dr. Bersch von Hamburg nach Breslau, Dr. 
Schoengarth von Poepelwitz nach Breslau, Stabsarzt Dr. Uhl von 
Brieg nach Breslau, Ass.-A.* Dr. Herr von Brieg nach Breslau, Dr. 
Rumbaum von Marienburg W.-Pr. nach Brieg, Dr. Barth von 
Cöslin nach Brieg, Dr. Schulz von Camenz nach Frankenstein, 
Grunwald von Rackschütz, Dr. Reichel von Breslau nach Rack¬ 
schütz, Pollaczek von Winzig nach Peisterwitz, Dr. Scheffel von 
Bentheim nach Oblau, Dr. Pol lack von Reichenbach nach 8nlmir- 
schütz, Dr. Achtermann von Görbersodorf, Prof. Dr. Kobert von 
Dorpat nach Görbersdorf. 

Gestorben sind: die Aerzte Dr. Broll in Maltscb a. O., Dr. Col¬ 
in an t in Bendorf, San.-Rath Dr. Walloth in Wissen, Dr. Erpen¬ 
beck in Papenburg. 


FOr di« Bedaction verantwortlich Geh. Med.-Rath Prof. Dr. C. i. Ewald, Lütsowplata S. 


Verlag und Eigenthum von August Hirscbwald in Berlin. — Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin. 


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