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Full text of "Der Mann Moses und die monotheistische Religion"

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Der Mann Moses 
und die 

monotheistische 
Religion 



Drei Äbhandlungea 



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Der Mann Moses 

und die monotheistische 
Religion 

Drei Abhandlungen 

Die Geschichte des Mannes Moses und seine 

ägyptische Herkunft weiden zunächst in der 
Art eines historischen Romans entwickelt. 
Das Gebäude der Biographie ist mit den 
subtilsten Mittein historischer und psycho- 
logischer Kritik errichtet. Aus der Geschich- 
te des Mannes wächst die seines Werks und 
die des jüdischen Volkes. Herkunft und Ent- 
wicklung des jüdischen Monotheismus — 
eines Schrittes in der Entwicklung zur Gei- 
stigkeit -, seine Abhängigkeit von Aegypten 
und seine weiteren Schicksale lassen sich aus 
der Geschichte ihres Schöpfers ableiten. 
Auf dieser Grundlage gewinnt Freud einen 
Zugang zum Verständnis vieler Eigenschaf- 
ten des jüdischen Volkes, vor allem aber 
gewinnt er einen neuen Ausblick auf das 
Wesen der Religion. Er nimmt Gedanken, 
die er in seinen früheren Büchern „Totem 
und Tabu" und „Die Zukunft einer Illu- 
sion" 'entwickelt hat, auf und erweitert sie 
durch eine „Formel, die ihr bessere Gerech- 
tigkeit erweist". Sein Fund besagt, die Macht 
der Religion „beruhe . . . auf ihrem Wahr- 
heitsgehalt, aber diese Wahrheit sei keine 
materielle, sondern eine historische." 



SIGMUND FREUD 

DER MANN MOSES 

UND DIE 

MONOTHEISTISCHE RELIGION 

DREI ABHANDLUNGEN . 



1939 



VERLAG ALLERT DE LANGE 
AMSTERDAM 



Copyright 1939 by Allen de Lange - Amsterdam 

Printed in the Netherlands 

Druck: Drokkerij G. J. ¥an Amerongen N.V. 

Amersfoort (Holland) 



INHALT 



I. MOSES EIN ÄGYPTER 



Seite 

7 



IL WENN MOSES EIN ÄGYPTER WAR.... 

III. MOSES, SEIN VOLK, UND DIE MO- 
NOTHEISTISCHE RELIGION . . . 

Erster Teil 



9S 



Vorbemerkung I 97 

Vorbemerkung II loi 

A. Die historische Voraussetzung . . . . lO} 

B. Latenzzeit und Tradition 119 

C. Die Analogie . 130 

D. Anwendung 144 

E. Schwierigkeiten 165 



Zweiter Teil 

Zusammenfassung und Wiederholung . 

a. Das Volk Israel 

b. Der grosse Mann ..... 

c. Der Fortschritt in der Geistigkeit 

d. Der Triebverzicht .... 

e. Der Wahrheitsgehalt der Religion 

f. Die Wiederkehr des Verdrängten 

g. Die historische Wahrheit . . . 
h. Die geschichtliche Entwicklung . 



183 

186 

189 
197 

204 
216 
220 

22J 
232 



MOSES EIN ÄGYPTER 




inem Volkstum den Mann abzusprechen, 
den es als den grössten unter seinen Söh- 
nen rühmt, ist nichts, was man gern oder 
leichthin unternehmen wird, zumal wenn man 
selbst diesem Volke angehört. Aber man wird 
sich durch kein Beispiel bewegen lassen, die 
' Wahrheit zugunsten vermeintlicher nationaler 
Interessen zurückzusetzen, und man darf ja 
auch von der Klärung eines Sachverhalts einen 
Gewinn für unsere Einsicht erwarten. 
Der Mann Moses, der dem jüdischen Volke Be- 
freier, Gesetzgeber und Religionsstifter war, ge- 
hört so entlegenen Zeiten an, dass man die Vor- 
frage nicht umgehen kann, ob er eine histori- 
sche Persönlichkeit oder eine Schöpfung der Sa- 
ge ist. Wenn er gelebt hat, so war es im 13., viel- 
leicht aber im 14. Jahrhundert vor unserer Zeit- 
rechnung; wir haben keine andere Kunde von 
ihm als aus den heiligen Büchern und den 
schriftlich niedergelegten Traditionen der Ju- 
den. Wenn darum auch die Entscheidung der 
letzten Sicherheit entbehrt, so hat sich doch die 
überwiegende Mehrheit der Historiker dafür 



/. Moses ein Ägypter 

ausgesproehen, dass Moses wirklich gelebt und 
der an ihn geknüpfte Auszug aus Ägypten in 
der Tat stattgefunden hat. Man behauptet rmfr 
gutem Recht, dass die spätere Geschichte" des 
Volkes Israel unverständlich wäre, wenn man 
diese Voraussetzung nicht zugeben würde. Die 
heutige Wissenschaft ist ja überhaupt vorsichti- 
ger geworden und verfährt weit schonungsvol- 
ler mit Überlieferungen als in den Anfangszei- 
ten der historischen Kritik. 
Das Erste, das an der Person Moses' unser Inter- 
esse anzieht, ist der Name, der im Hebräischen 
Mosche lautet. Man darf fragen: woher stammt 
er? was bedeutet er? Bekanntlich bringt schon 
der Bericht in Exodus, Kap, 2 eine Antwort, 
Dort wird erzählt, dass die ägyptische Prinzes- 
sin, die das im Nil ausgesetzte Knäblein gerettet, 
ihm diesen Namen gegeben mit der etymologi- 
schen Begründung: denn ich habe ihn aus dem 
Wasser gezogen. Allein diese Erklärung ist of- 
fenbar unzulänglich. „Die biblische Deutung 
des Namens ,Der aus dem Wasser Gezogene' '% 
urteilt ein Autor im „Jüdischen Lexikon",*) „ist 
Volksetymologie, mit der schon <fie aktive he- 
bräische Form (jMosche' kann höchstens ,der 
Herauszieher' heissen) nicht in Einklang zu 
bringen ist." Man kann diese Ablehnung mit 

• ) Jüdisches Lexikon, begründet von Herlitz und Kirsch- 
ner, Bd. IV, 1930, Jüdischer Verlag, Berlin. 

IG 



I. Moses ein Ägypter 
zwei weiteren Gründen unterstützen, erstens, 
dass es unsinnig ist, einer ägyptischen Pinzessin 
eine Ableitung des Namens aus dem Hebräi- 
schen zuzuschreiben, und zweitens, dass das 
"Wasser, aus dem das Kind gezogen wurde, 
höchstwahrscheinlich nicht das Wasser des Nils 
war. 

Hingegen ist seit langem und von verschiedenen 
Seiten die Vermutung ausgesprochen worden, 
dass der Name Moses aus dem ägyptischen 
Sprachschatz herrührt. Anstatt alle Autoren an- 
zuführen, die sich in diesem Sinn geäussert ha- 
ben, will ich die entsprechende Stelle aus einem 
neueren Buch von /. H. Breasted übersetzt ein- 
schalten, ^) einem Autor, dessen „History of 
Egypt" (1906) als massgebend geschätzt wird. 
„Es ist bemerkenswert, dass sein (dieses Führers) 
Name, Moses, ägyptisch war. Es ist einfach das 
ägyptische Wort ,mose', das ,Kind' bedeutet, 
und ist die Abkürzung von volleren Namens- 
formen wie z. B. Amen-mose, das heisst Amon- 
Kind, oder Ptah-mose, Ptah-Kind, weiche Na- 
men selbst wieder Abkürzungen der längeren 
Sätze sind: Amon (hat geschenkt ein) Kind oder 
Ptah (hat geschenkt ein) Kind. Der Name ,Kind' 
wurde bald ein bequemer Ersatz für den weit- 
läufigen vollen Namen und die Namensform 
jMose' findet sich auf ägyptischen Denkmälern 
^ The Dawn of Conscience, London 1934, p. 350. 

II 



/. Moses ein Ägypter 

nicht selten vor. Der Vater des Moses hatte sei- 
nem Sohn sicherlich einen mit Ptah oder Amon 
zusammengesetzten Namen gegeben, und der 
Gottesnam^ fiel im täglichen Leben nach und 
nach aus, bis der Knabe einfach ,Mose' gerufen 
wurde. (Das ,s' am Ende des Namens Moses 
stammt aus der griechischen Übersetzung des 
alten Testaments. Es gehört auch nicht dem He- 
bräischen an, wo der Name jMosche' lautet.)" 
Ich habe die Stelle wörtlich wiedergegeben und 
bin keineswegs bereit, die Verantwortung für 
ihre Einzelheiten zu teilen. Ich verwundere mich 
auch ein wenig, dass Breasted in seiner Aufzäh- 
lung grade die analogen theophoren Namen 
übergangen hat, die sich in der Liste der ägypti- 
schen Könige vorfinden, wie Ah-mose, Thut- 
mose (Tothmes) und Ra-mose (Ramses). 
Nun sollte man erwarten, dass irgendeiner der 
Vielen, die den Namen Moses als ägyptisch er- 
kannt haben, auch den ScMuss gezogen .oder 
wenigstens die Möglichkeit erwogen hätte, dass 
der Träger des ägyptischen Namens selbst ein 
Ägypter gewesen sei. Für moderne Zeiten ge- 
statten wir uns solche Schlüsse ohne Bedenken, 
obwohl gegenwärtig eine Person nicht einen Na- 
men führt, sondern zwei, Familiennamen und 
Vornamen, und obwohl Namensänderungen 
und Angleichungen unter neueren Bedingungen 
nicht ausgeschlossen sind. Wir sind dann keines- 

12 



I. Moses ein Ägypter 
Wegs überrascht, bestätigt zu finden, dass der 

Dichter Chamisso französischer Abkunft ist, 
Napoleon Buonaparte dagegen italienischer, und 
dass Benjamin DisraeU wirklich ein italienischer 
Jude ist, wie sein Name erwarten iässt. Und für 
alte und frühe Zeiten, sollte man meinen, müss- 
te ein solcher Schluss vom Namen auf die Volks- 
zugehörigkeit noch weit zuverlässiger sein und 
eigentlich zwingend erscheinen. Dennoch hat 
meines "Wissens im Falle Moses' kein Historiker 
diesen Schluss gezogen, auch keiner von denen, 
die, wie gerade wieder Breasted, bereit sind an- 
zunehmen, dass Moses „mit aller Weisheit der 
Ägypter" vertraut war/) *) 
Was da im Wege stand, ist nicht sicher zu erra- 
ten. Vielleicht war der Respekt vor der bibli- 
schen Tradition unüberwindlich. Vielleicht er- 
schien die Vorstellung zu ungeheuerlich, dass 
der Mann Moses etwas anderes als ein Hebräer 
gewesen sein sollte. Jedenfalls stellt sich heraus, 
dass die Anerkennung des ägyptischen Namens 
nicht als entscheidend für die Beurteilung der 
Abkunft Moses' betrachtet, dass nichts weiter 
aus ihr gefolgert wird. Hält man die Frage nach • 
der Nationalität dieses grossen Mannes für be-- 

') 1- c., p. 334. 

*) Obwohl die Vermutung, dass Moses Ägypter war, 
von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart häufig ge- 
nug ohne Berufung auf den Namen geäussert wurde. 

13 



/. Moses ein Ägypter 
deutsam, so wäre es wohl wünschenswert, neues 
Material zu deren Beantwortung vorzubringen. 

Dies unternimmt meine kleine Abhandlung. Ihr 
Anspruch auf einen Platz in der Zeitschrift 
„Imago" gründet sich darauf, dass ihr Beitrag 
eine Anwendung der Psychoanalyse zum Inhalt 
hat. Das so gewonnene Argument wird gewiss 
nur auf jene Minderheit von Lesern Eindruck 
machen, die mit analytischem Denken vertraut 
ist und dessen Ergebnisse zu schätzen weiss. Ih- 
nen aber wird es hoffentlich bedeutsam schei- 
nen. 

Im Jahre 1909 hat O. Rank, damals noch unter 
meinem Einfluss, auf meine Anregung eine 
Schrift veröffentlicht, die betitelt ist „Der My- 
thus von der Geburt des Helden"/) Sie behan- 
delt die Tatsache, dass „fast alle bedeutenden 
Kulturvölker.,., frühzeitig ihre Helden, sagen- 
haften Könige und Fürsten, Religionsstifter, Dy- 
nastie-, Reichs- und Städtegründer, kurz ihre 
Nationalheroen in Dichtungen und Sagen ver- 
herrlicht" haben. „Besonders haben sie die Ge- 
burts- und Jugendgeschichte dieser Personen 
mit phantastischen Zügen ausgestattet, deren 
verblüffende Ähnlichkeit, ja teilweise wörtliche 

') Fünftes Heft der „Schriften zur angewandten Seelen- 
kunde", Fr. Deuticke, Wien. Es liegt mir ferne, den 

Wert der selbständigen Beiträge Ranks zu" dieser Arbeit 
zu verkleinern. 

14 '• 



/, Moses ein Ägypter 
Überemstimmung bei verschiedenen, mitunter 

weit getrennten und völlig unabhängigen Völ- 
kern längst bekannt und vielen Forschern auf- 
gefallen ist." Konstruiert man nach dem Vor- 
gang von Rank, etwa in Galtomchcr Technik, 
eine „Durchschnittssage", welche die wesentli- 
chen Züge all dieser Geschichten heraushebt, so 
erhält man folgendes Bild: 
„Der Held ist das Kind vornehmster Eltern, 
meist ein Königssohn. 

Seiner Entstehung gehen Schwierigkeiten vor- 
aus, wie Enthaltsamkeit oder lange Unfrucht- 
barkeit oder heimlicher Verkehr der Eltern in- 
folge äusserer Verbote oder Hindernisse. Wäh- 
rend der Schwangerschaft oder schon früher er- 
folgt eine vor seiner Geburt warnende Verkün- 
digung (Traum, Orakel), die meist dem Vater 
Gefahr droht. 

Infolgedessen wird das neugeborene Kind meist 
auf Veranlassung des Vaters oder der ihn ver- 
tretenden Person zur Tötung oder Aussetzung 
bestimmt; in der Regel wird es in einem Käst- 
chen dem Wasser übergeben. 
Es wird dann von Tieren oder geringen Leuten 
(Hirten) gerettet und von einem weiblichen Tie- 
re oder einem geringen Weibe gesäugt. 
Herangewachsen, findet es auf einem sehr wech- 
selvollen Wege die vornehmen Eltern wieder, 
rächt sich am Vater einerseits, wird anerkannt 



L Moses ein Ägypter 

anderseits und gelangt zu Grösse und Ruhm." 
Die älteste der historischen Personen, an welche 
dieser Geburtsmythus geknüpft wurde, ist Sar- 
gon von Agade, der Gründer von Babylon (um 
2800 V. Chr.). Es ist grade für uns nicht ohne 
Interesse, den ihm selbst zugeschriebenen Be- 
richt hier wiederzugeben: 

„Sargon, der mächtige König, König von 
Agade bin ich. Meine Mutter war eine Vestalin, 
meinen Vater kannte ich nicht, während der 
Bruder meines Vaters das Gebirge bewohnte. In 
meiner Stadt Azupirani, welche am Ufer des 
Euphrats gelegen ist, wurde mit mir schwanger 
die Mutter, die Vestalin. Im Verborgenen gebar 
sie mich. Sie legte mich in ein Gefäss von Schilf- 
rohr, verschloss mit Erdpech meine Türe und 
Hess mich nieder in den Strom, welcher mich 
nicht ertränkte. Der Strom führte mich zu Ak- 
ki, dem Wasserschöpfer. Akki, der Wasser- 
schöpfer,in der Güte seines Herzens hob er mich 
heraus. Akki, der Was-serschöpfer, ah seinen 
eigenen Sohn zog er mich auf. Akki, der "Was- 
serschöpfer, zu seinem Gärtner machte er mich. 
In meinem Gärtneramt gewann -Istar mich lieb, 
ich wurde König und 4 5 Jahre übte ich die Kö- 
nigsherrschaft aus." 

Die uns vertrautesten Namen in der mit Sargon 
von Agade beginnenden Reihe sind Moses, Ky- 
ros und Romulus. Ausserdem aber hat Rank 
16 



/. Moses ein Ägypter 

eine grosse Anzahl von dei» Dichtung oder der 

Sage angehörigen Heldengestalten zusammen- 
gestellt, denen dieselbe Jugendgeschichte, ent- 
weder in ihrer Gänze oder in gut kenntlichen 
Teilstücken, nachgesagt wird, als: ödipus, Kar- 
na, Paris, -Telephos, Perseus, Herakles, Giiga- 
mesch, Amphion und Zethos u, a, 
Quelle und Tendenz dieses Mythus sind uns 
durch die Untersuchungen von Rank bekannt 
gemacht worden. Ich brauche mich nur mit 
knappen Andeutungen darauf zu beziehen. Ein 
Held ist, wer sich mutig gegen seinen Vater er- 
hoben und ihn am Ende siegreich überwunden 
hat. Unser Mythus verfolgt diesen Kampf bis in 
die Urzeit des Individuums, indem er das Kind 
gegen den Willen des Vaters geboren und gegen 
seine böse Absicht gerettet werden lässt. Die 
Aussetzung im Kästchen ist eine unverkennbare 
symbolische Darstellung der Geburt, das Käst- 
chen der Mutterleib, das Wasser das Geburts- 
wasser. In ungezählten Träumen wird das El- 
tern-Kind-Verhältnis durch am dem Wasser 
Ziehen oder aus dem Wasser Retten dargestellt. 
Wenn die Volksphantasie an eine hervorragen- 
de Persönlichkeit den hier behandelten Geburts- 
mythus heftet, so will sie den Betreffenden hie- 
durch als Helden anerkennen, verkünden, dass 
er das Schema eines Heldenlebens erfüllt hat. 
Die Quelle der ganzen Dichtung ist aber der so- 

17 



/. Moses ein Ägypter 

genannte „Familienroman" des Kindes, in dem 

der SoEn auf die Veränderung seiner GefüMs- 
beziehung zu den Eltern, insbesondere zum Va- 
ter, reagiert. Die ersten Kinderjahre werden von 
einer grossartigen Überschätzung des Vaters be- 
herrscht, der entsprechend König und Königin 
in Traum und Märchen immer nur die Eltern 
bedeuten, während später unter dem Einfluss 
von Rivalität und realer Enttäuschung die Ab- 
lösung von den Eltern und die kritische Einstel- 
lung gegen den Vater einsetzt. Die beiden Fami- 
lien des Mythus, die vornehme wie die niedrige, 
sind demnach beide Spiegelungen der eigenen 
Familie, wie sie dem Kind in 'auf einander fol- 
genden Lebenszeiten erscheinen. 
Man darf behaupten, dass durch diese Aufklä- 
rungen sowohl die Verbreitung wie die Gleich- 
artigkeit des Mythus von der Geburt des Helden 
voll verständlich werden. Umsomehr verdient 
eS' unser Interesse, dass die Geburts- und Aus- 
setzungssage von Moses eine Sonderstellung ein- 
nimmt, ja, in einem wesentlichen Punkt den an- 
deren widerspricht. 

Wir gehen von den zwei Familien aus, zwischen 
denen die Sage das Schicksal des Kindes spielen 
lässt. "Wir wissen, dass sie in der analytischen 
Deutung zusammenfallen, sich nur- zeitlich von 
einander sondern. In der typischen Form der 
Sage ist die erste Familie, in die das Kind gebo- 
i8 



/. Moses ein Ägypter 

ren wird, die vornehme, meist ein königliches 

Milieu; die zweite, in der das Kind aufwächst, 
die geringe oder erniedrigte, wie es übrigens den 
Verhältnissen, auf welche die Deutung zurück- 
geht, entspricht. Nur in der ödipussage ist die- 
ser Unterschied verwischt. Das aus der einen 
Königsfamilie ausgesetzte Kind wird von einem 
anderen Königspaar aufgenommen. Man sagt 
sich, es ist kaum ein Zufall, wenn gerade in die- 
sem Beispiel die ursprüngliche Identität der bei- 
den Familien auch in der Sage durchschimmert. 
Der soziale Kontrast der beiden Familien eröff- 
net dem Mythus, der, wie wir wissen, die Hel- 
dennatur des grossen Mannes betonen soll, eine 
zweite Funktion, die besonders für historische 
Persönlichkeiten bedeutungsvoll wird. Er kann 
auch dazu verwendet werden, dem Helden ei- 
nen Adelsbrief zu schaffen, ihn sozial zu erhö- 
hen. So ist Kyros für die Meder ein fremder Er- 
oberer, auf dem "Wege der Aussetzungssage wird 
er zum Enkel des Mederkönigs. Ähnlich bei Ro- 
mulus; wenn eine ihm entsprechende Person ge- 
lebt hat, so war es ein hergelaufener Abenteurer, 
ein Emporkömmling; durch die Sage wird er 
Abkomme und Erbe des Königshauses von Alba 
Longa. 

Ganz anders ist es im Falle des Moses. Hier ist 
die erste Familie, sonst die vornehme, bescheiden 
genug. Er ist das Kind jüdischer Leviten. Die 

19 



/. Moses ein Ägypter 
zweite aber, die niedrige Familie, in der sonst 

der Held aufwächst, ist durch das Königshaus 
von Ägypten ersetzt; die Prinzessin zieht ihn als 
ihren eigenen Sohn auf. Diese Abweichung vom 
Typus hat auf Viele befremdend gewirkt. Ed. 
Meyer, und andere nach ihm, habeJi angenom- 
men, die Sage habe ursprünglich anders gelau- 
tet: Der Pharao sei durch einen prophetischen 
Traum ^) gewarnt worden, dass ein Söhn seiner 
Tochter ihm und dem Reiche Gefahr bringen 
werde. Er lässt darum das Kind nach seiner Ge- 
burt im Nil aussetzen. Aber es wird von jüdi- 
schen Leuten gerettet und als ihr Kind aufgezo- 
gen. Zufolge von „nationalen Motiven", wie 
Rank es ausdrückt,^) habe die Sage eine Umar- 
beitung in die uns bekannte Form erfahren. 
Aber die nächste Überlegung lehrt, dass eine 
solche ursprüngliche Mosessage, die nicht mehr 
von den anderen abweicht, nicht bestanden ha- 
ben kann. Denn die Sage ist entweder ägypti- 
schen oder jüdischen Ursprungs. Der erste Fall 
schliesst sich aus; Ägypter hatten kein Motiv, 
Moses zu verherrlichen, er war kein Held für 
sie. Also sollte die Sage im jüdischen Volk ge- 
schaffen, d. h. in ihrer bekannten Form an die 
Person des Führers geknüpft worden sein. Al- 
lein dazu war sie ganz ungeeignet, denn was 

') Auch im Bericht von Flavius Josephus erwähnt. 

*) 1. c, p. 80, Anmerkung. 

20 



/. Moses ein Ägypter 
sollte dem Volke eine Sage fruchten, die seinen 
grossen Mann zu einem Volksf remden machte? 
In der Form, in der die Mosessage uns heute Tor- 
liegt, bleibt sie in bemerkenswerter Weise hinter 
ihren geheimen Absichten zurück. "Wenn Moses 
kein Königssprosse ist, so kann ihn die Sage 
nicht zum Helden stempeln; wenn er ein Juden- 
. kind bleibt, hat sie nichts zu seiner Erhöhung 
getan. Nur ein Stückchen des ganzen Mythus 
bleibt wirksam, die Versicherung, dass das Kind 
starken äusseren Gewalten zum Trotz sich er- 
halten hat, und diesen Zug hat denn auch die 
Kindheitsgeschichte Jesu wiederholt, in der Kö- 
nig, Herodes die Rolle des Pharao übernimmt. 
Es steht uns dann wirklich frei, anzunehmen, 
dass irgend ein später, ungeschickter Bearbeiter 
des Sagenstoffes sich veranlasst fand, etwas der 
klassischen, den Helden auszeichnenden, Aus- 
setzungssage Ähnliches bei seinem Helden Mo- 
ses unterzubringen, was wegen der besonderen 
Verhältnisse des Falles zu ihm nicht passen 
konnte. 

Mit diesem unbefriedigenden und überdies un- 
sicheren Ergebnis müsste sich unsere Untersu- 
chung begnügen und hätte auch nichts zur Be- 
antwortung der Frage geleistet, ob Moses ein 
Ägypter war. Aber es gibt zur Würdigung der 
Aussetzungssage noch einen anderen, vielleicht 
hoffnungsvolleren Zugang. 

21 



/. Moses ein Ägypter 
Wir kehren zu den zwei Familien des Mythus 
zurück. Wir wissen, auf dem Niveau der analy- 
tischen Deutung sind sie identisch, auf mythi- 
schem Niveau unterscheiden sie sich als die vor- 
nehme und die niedrige. Wenn es si^h aber um 
eine historische Person handelt, an die. der My- 
thus geknüpft ist, dann gibt es ein drittes Ni- 
veau, das der Realität. Die eine Familie ist die 
reale, in der die Person, der grosse Mann, wirk- 
lich geboren wurde und aufgewachsen ist; die 
andere ist fiktiv, vom Mythus in der Verfolgung 
seiner Absichten erdichtet. In der. Regel fällt die 
reale Familie mit der niedrigen, die erdichtete 
mit der vornehmen zusammen. Im Falle Moses 
schien irgendetwas anders zu liegen. Und nun 
führt vielleicht der neue Gesichtspunkt zur Klä- 
rung, dass die erste Familie, die, aus der das 
Kind ausgesetzt wird, in allen Fällen, die sich' 
verwerten lassen, die erfundene ist, die spätere 
aber, in der es aufgenommen wird und auf- 
wächst, die wirkliche. Haben wir den Mut, die- 
sen Satz als eine Allgemeinheit anzuerkennen, 
der wir auch die Mosessage unterwerfen, so er- 
kennen wir mit einem Male klar: Moses ist ein 
— wahrscheinlich vornehmer — Ägypter, der 
durch die Sage zum Juden gemacht werden soll. 
Und das wäre unser Resultat! Die Aussetzung 
im Wasser war an ihrer richtigen Stelle; um sich 
der neuen Tendenz zu fügen, musste ihre Ab- 



22 



/. Moses ein Ägypter 
sieht, nicht ohne Gewaltsamkeit, umgebogen 
werden; aus einer Preisgabe wurde sie zum Mit- 
tel der Rettung. 

Die Abweichung der Mosessage von allen ande- 
ren ihrer Art konnte aber auf eine Besonderheit 
der Mosesgeschichte zurückgeführt werden. 
-Während sonst ein Held sich im Laufe seines 
Lebens über seine niedrigen Anfänge erhebt, be- 
gann das Heldenleben des Mannes Moses damit, 
dass er von seiner Höhe herabstieg, sich herab- 
liess zu den Kindern Israels, 
"Wir haben diese kleine Untersuchung in der Er- 
wartung unternommen, aus ihr ein zweites, neu- 
es Argument für die Vermutung zu gewinnen, 
dass Moses ein Ägypter war. Wir haben gehört, 
dass das erste Argument, das aus dem Namen, 
auf Viele keinen entscheidenden Eindruck ge- 
macht hat.*) Man muss darauf vorbereitet sein, 
dass das neue Argument, aus der Analyse der 
Aussetzungssage, kein besseres Glück haben 
wird. Die Einwendungen werden wohl lauten, 
dass die Verhältnisse der Bildung undUmgestal- 

') So sagt z. B. Ed. Meyer: Die Mosessagen und die Le- 
viten, Berliner Sitzber. 1 90 j : „Der Name Mose ist wahr- 
scheinlich, der Name Pinchas in dem Priestergeschlecht 
von Silo.... zweifellos ägyptisch. Das beweist natürlich 
nicht, dass diese Geschlechter ägyptischen Ursprungs 
waren, wohl aber, dass sie Beziehungen zu Ägypten hat- 
ten" (p. 6ji). Man kann freilich fragen, an welche Art 
von Beziehungen man dabei denken soll. 

23 



/. Moses ein Ägypter 
tung von Sagen doch zu undurchsichtig sind, um 
einen ScMuss wie den unsrigen zu rechtfertigen, 
und dass die Traditionen über die Heldenge- 
stalt Moses in ihrer Verworrenheit, ihren Wi- 
dersprüchen, mit den unverkennbaren Anzei- 
chen von jahrhundertelang fortgesetzter ten- 
fdenziöser Umarbeitung und Überlagerung alle 
i Bemühungen vereiteln müssen, den Kern von 
historischer Wahrheit dahinter ans Licht zu 
' bringen. Ich selbst teile diese ablehnende Ein- 
stellung nicht, aber ich bin auch nicht imstande, 
sie zurückzuweisen. 

Wenn nicht mehr Sicherheit zu erreichen war, 
warum habe ich diese Untersuchung überhaupt 
zur Kenntnis der Öffentlichkeit gebracht? Ich 
bedauere es, dass auch meine Rechtfertigung nicht 
über Andeutungen hinausgehen kann. Lässt man 
sich nämlich von den beiden hier angeführten 
Argumenten fortreissen und versucht, Ernst zu 
machen mit der Annahme, dass Moses ein vor- 
nehmer Ägypter war, so ergeben sich sehr inter- 
essante und weitreichende Perspektiven. Mit 
Hilfe gewisser, nicht weit abliegender Annah- 
men glaubt man die Motive zu verstehen, die 
Moses bei seinem ungewöhnlichen Schritt gelei- 
tet haben, und in engem Zusammenhang damit 
erf asst man die mögliche Begründung von zahl- 
reichen Charakteren und Besonderheiten der 
Gesetzgebung und der Religion, die er dem Vol- 
24 



/, Moses ein Ägypter 
ke der Juden gegeben hat, und wird selbst zu be- 
deutsamen Ansichten über die Entstehung der 
monotheistischen Religionen im allgemeinen an- 
geregt. Allein Aufschlüsse so wichtiger Art kann 
man nicht allein auf psychologischeWahrschein- 
lichkeiten gründen. 'Wenn man das Ägyptertum f ' 
Moses' als den einen historischen Anhalt gelten | i" 
lässt, so bedarf man zum mindesten noch eines '' 
zweiten festen Punktes, um die Fülle der auf- 
tauchenden Möglichkeiten gegen die Kritik zu 
schützen, sie seien Erzeugnis der Phantasie und 
zu weit ¥on der Wirklichkeit entfernt. Ein ob- 
jektiver Nachweis, in welche Zeit das Leben Mo- 
ses' und damit der Auszug aus Ägypten fällt, 
hätte etwa dem Bedürfnis genügt. Aber ein sol- 
cher fand sich nicht, und darum soll die Mittei- 
lung aller weiteren Schlüsse aus der Einsicht, 
dass Moses ein Ägypter war, besser unterbleiben. 



2S 



II 

WENN MOSES EIN ÄGYPTER WAR.. 



In einem früheren Beitrag zu dieser Zeit- 
schrift ^) habe ich die Vermutung, dass der 
Mann Moses, der Befreier und Gesetzgeber 
des jüdischen Volkes, kein Jude, sondern ein 
Ägypter war, durch ein neues Argument zu be- 
kräftigen versucht. Dass sein Name aus dem 
ägyptischen Sprachschatz stammt, war längst 
bemerkt, wenn auch nicht entsprechend gewür- 
digt worden; ich habe hinzugefügt, dass die 
Deutung des an Moses geknüpften Aussetzungs- 
mythus zum Schluss nötige, er sei ein Ägypter 
gewesen, den das Bedürfnis eines Volkes zum 
Juden machen wollte. Am Ende meines Auf- 
satzes habe ich gesagt, dass sich wichtige und 
weittragende Folgerungen aus der Annahme ab- 
leiten, dass Moses ein Ägypter gewesen sei; Ich 
sei aber nicht bereit, öffentlich für diese einzu- 
treten, denn sie ruhen nur auf psychologischen 
Wahrscheinlichkeiten und entbehren eines ob- 
jektiven Beweises. Je bedeutsamer die so gewon- 
nenen Einsichten sind, desto stärker verspüre 

h) Imago, Bd. XXIII, 1937, Heft i: „Moses ein Ägyp- 
ter". ! 

29 



IL Wenn Moses ein Ägypter war.... 

man die Warnung, sie nicht ohne sichere Be- 
gründung dem kritischen Angriff der Umwelt 
auszusetzen, gleichsam wie ein ehernes Bild auf 
tönernen Füssen. Keine noch so verführerische 
Wahrscheinlichkeit schütze vor Irrtum; selbst 
wenn alle Teile eines Problems sich einzuordnen 
scheinen wie die Stücke eines Zusammenlegspie- 
les, müsste man daran denken, dass das Wahr- 
scheinliche nicht notwendig das Wahre sei und 
die Wahrheit nicht immer wahrscheinlich. Und 
'endlich sei es nicht verlockend, den Scholasti- 
kern und Talmudisten angereiht zu werden, die 
es befriedigt, ihrea- Scharfsinn spielen zu lassen, 
gleichgültig dagegen, wie fremd der Wirklich- 
keit ihre Behauptung sein mag. 
Ungeachtet dieser Bedenken, die heute so schwer 
wiegen wie damals, ist aus dem Widerstreit mei- 
ner Motive der Entschiuss hervorgegangen, auf 
jene erste Mitteilung diese Fortsetzung folgen zu 
lassen. Aber es ist wiederum nicht das Ganze 
und nicht das wichtigste Stück des Ganzen, 



Wenn also Moses ein Ägypter war — , so ist der 

erste Gewinn aus dieser Annahme eine neue, 

schwer zu beantwortende Rätselfrage. Wenn 

ein Volk oder ein Stamm *) sich zu einer grossen 

^) Wir haben keine Vorstellung davon, um weiche Zah- 
len es sich beim Auszug aus Ägypten handelt. 

30 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 

Unternehmung anschickt, so ist nichts anderes 
zu erwarten, als dass einer von den Volksgenos- 
sen sich zum Führer aufwirft oder zu dieser 
Rolle durch Wahl bestimmt wird. Aber was 
einen vornehmen Ägypter — vielleicht Prinz, 
Priester, hoher Beamter — bewegen sollte, sich 
an die Spitze eines Haufens von eingewander- 
ten, kulturell rückständigen Fremdlingen zu 
stellen und mit ihnen das Land zu verlassen, das 
ist nicht leicht zu erraten. Die bekannte Ver- 
achtung des Ägypters für ein ihm fremdes Volks- 
tum macht einen solchen Vorgang besonders un- 
wahrscheinlich. Ja, ich möchte glauben, gerade 
darum haben selbst Historiker, die den Namen 
als ägyptisch erkannten und dem Mann alle 
"Weisheit Ägyptens zuschrieben, die naheliegen- 
de Möglichkeit nicht aufnehmen wollen, dass 
Moses ein Ägypter war. 

Zu dieser ersten Schwierigkeit kommt bald eine 
zweite hinzu. Wir dürfen nicht vergessen, dass 
Moses nicht nur der politische Führer der in 
Ägypten ansässigen Juden war, er war auch ihr 
Gesetzgeber, Erzieher, und zwang sie in den 
Dienst einer neuen Religion, die noch heute nach 
ihm die mosaische genannt wird. Aber kommt 
ein einzelner Mensch so leicht dazu, eine neue 
Religion zu schaffen? Und wenn jemand die 
Religion eines anderen beeinflussen will, ist es 
nicht das natürlichste, dass er ihn zu seiner eige- 

31 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 

nen Religion bekehrt? Das Judenvolk in Ägyp- 
ten war sicherlich nicht ohne irgend eine Form 
von Religion, und wenn Moses, der ihm eine 
neue gegeben, ein Ägypter war, so ist die Ver- 
mutung nicht abzuweisen, dass die andere, neue 
Religion die ägyptische war. 
Dieser Möglichkeit steht etwas im "Wege: die 
Tatsache des schärfsten Gegensatzes zwischen 
der auf Moses zurückgeführten jüdischen Reli- 
gion und der ägyptischen. Die erstere ein gross- 
artig starrer Monotheismus; es gibt nur einen 
Gott, er ist einzig, allmächtig, unnahbar; man 
verträgt seinen Anblick nicht, darf sich kein 
Bild von ihm machen, nicht einmal seinen Na- 
men aussprechen. In der ägyptischen Religion 
eine kaum übersehbare Schar von Gottheiten 
verschiedener Würdigkeit und Herkunft, einige 
Personifikationen von grossen Naturmächten 
wie Himmel und Erde, Sonne und Mond, auch 
einmal eine Abstraktion wie die Maat (Wahr- 
heit, Gerechtigkeit), oder eine Fratze wie der 
zwerghafte Bes, die meisten aber Lokalgötter 
aus der Zeit, da das Land in zahlreiche Gaue 
zerfallen war, tiergestaltig, als hätten sie die 
Entwicklung aus den alten Totemtieren noch 
nicht überwunden, unscharf voneinander unter- 
schieden, kaum dass einzelnen besondere Funk- 
tionen zugewiesen sind. Die Hymnen zu Ehren 
dieser Götter sagen ungefähr von jedem das 

J2 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 
nämliche aus, identifizieren sie miteinander 
ohne Bedenken in einer Weise, die uns hoff- 
nungslos verwirren würde. Götternamen wer- 
den mit einander kombiniert, so dass der eine 
fast zum Beiwort des anderen herabsinkt; so 
heisst in der Blütezeit des „Neuen Reiches" der 
Hauptgott der Stadt Theben Amon-Re, in wel- 
cher Zusammensetzung der erste Teil den wid- 
derköpfigen Stadtgott bedeutet, während Re 
der Name des sperberköpfigen Sonnengottes 
von On ist. Magische und Zeremoniellhandlun- 
gen, Zaubersprüche und Amulette beherrschten 
den Dienst dieser Götter wie das tägliche Leben 
des Ägypters. 

Manche dieser Verschiedenheiten mögen sich 
leicht aus dem prinzipiellen Gegensatz eines 
strengen Monotheismus zu einem uneinge- 
schränkten Polytheismus ableiten. Andere sind 
offenbar Folgen des Unterschieds im geistigen 
Niveau, da die eine Religion primitiven Phasen 
sehr nahe steht, die andere sich zu den Höhen 
sublimer Abstraktion aufgeschwungen hat. Auf 
diese beiden Momente mag es zurückgehen, wenn 
man gelegentlich den Eindruck empfängt, der 
Gegensatz zwischen der mosaischen und der 
ägyptischen Religion sei ein gewollter und ab- 
sichtlich verschärfter; z. B. wenn die eine jede 
Art von Magie und Zauberwesen aufs strengste 
verdammt, die doch in der anderen aufs üppig- 

33 



IL Wenn Moses ein Ägypter war.... 
ste wuchern. Oder wenn der unersättlichen Lust 
der Ägypter, ihre Götter in Ton, Stein und Erz 
zu verkörpern, der heute unsere Museen so viel 
verdanken, das rauhe Verbot entgegengestellt 
wird, irgend ein lebendes oder gedachtes Wesen 
in einem Bildnis darzustellen. Aber es gibt noch 
einen anderen Gegensatz zwischen beiden Reli- 
gionen, der durch die von uns versuchten Erklä- 
rungen nicht getroffen wird. Kein anderes Volk 
des Altertums hat soviel getan, um den Tod zu 
verleugnen, hat so peinlich vorgesorgt, eine Ex- 
istenz im Jenseits zu ermöglichen, und dem ent- 
sprechend war der Totengott Osiris, der Beherr- 
scher dieser anderen Welt, der populärste und 
unbestrittenste aller ägyptischen Götter. Die alt- 
jüdische Religion hingegen hat auf die Unsterb- 
lichkeit voll verzichtet; der Möglichkeit einer 
Fortsetzung der Existenz nach dem Tode wird 
nirgends und niemals Erwähnung getan. Und 
dies ist um so merkwürdiger, als ja spätere Er- 
fahrungen gezeigt haben, dass der Glaube an ein 
jenseitiges Dasein mit einer monotheistischen 
Religion sehr gut vereinbart werden kann. 
Wir hatten gehofft, die Annahme, Moses sei ein 
Ägypter gewesen, werde sich nach verschiede- 
nen Richtungen als fruchtbar und aufklärend 
erweisen. Aber unsere erste Folgerung aus dieser 
Annahme, die neue Religion, die er den Juden 
gegeben, sei seine eigene, die ägyptische gewesen, 

34 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 
ist an der Einsicht in die Verschiedenheit, ja Ge- 
gensätzlichkeit der beiden Religionen geschei- 
tert. 

11 

Eine merkwürdige Tatsache der ägyptischen 
Religionsgeschichte, die erst spät erkannt und 
gewürdigt worden ist, eröffnet uns noch eine 
Aussicht. Es bleibt möglich, dass die Religion, 
die Moses seinem Judenvolke gab, doch seine 
eigene war, eine ägyptische Religion, wenn auch 
nicht die ägyptische. 

In der glorreichen i8ten Dynastie, unter der 
Ägypten zuerst ein 'Weltreich wurde, kam um 
das Jahr 1 375 v. Chr. ein junger Pharao auf den 
Thron, der zuerst Amenhotep (IV.) hiess wie sein 
Vater, später aber seinen Namen änderte, und 
nicht bloss seinen Namen. Dieser König unter- 
nahm es, seinen Ägyptern eine neue Religion 
aufzudrängen, die ihren jahrtausendealten Tra- 
ditionen und all ihren vertrauten Lebensge- 
wohnheiten zuwiderlief. Es war ein strenger 
Monotheismus, der erste Versuch dieser Art in 
der "Weltgeschichte, soweit unsere Kenntnis 
reicht, und mit dem Glauben an einen einzigen 
Gott wurde wie unvermeidlich die religiöse In- 
toleranz geboren, die dem Altertum vorher — 
und noch lange nachher — fremd geblieben. 

35 



IL Wenn Moses ein Ägypter war..,. 
Aber die Regierung Amenhoteps dauerte nur 17 
Jahre; sehr bald nach seinem 1358 erfolgten To- 
de war die neue Religion hinweggefegt, das An- 
denken des ketzerischen Königs geächtet wor- 
den. Aus dem Trümmerfeld der neuen Residenz, 
die er erbaut und seinem Gott geweiht hatte, 
und aus den Inschriften in den zu ihr gehörigen 
Felsgräbern rührt das wenige her, was wir über 
ihn wissen. Alles, was wir über diese merkwür- 
dige, ja einzigartige Persönlichkeit erfahren kön- 
nen, ist des höchsten Interesses würdig.^) 
Alles Neue muss seine Vorbereitungen und Vor- 
bedingungen in Früherem haben. Die Ursprünge 
des ägyptischen Monotheismus lassen sich mit 
einiger Sicherheit ein Stück weit zurückverfol- 
gen.*) In der Priesterschule des Sonnentempels 
zu On (Heliopolis) waren- seit längerer Zeit 
Tendenzen tätig, um die Vorstellung eines uni- 
versellen Gottes zu entwickeln und die ethische 
Seite seines "Wesens zu betonen. Maat, die Göt- 
tin der Wahrheit, Ordnung, Gerechtigkeit war 
eine Tochter des Sonnengottes Re. Schon unter 

') „The first individual in human history" nennt ihn 
Breasted. 

^) Das Nachfolgeade hauptsächlich nach den Darstel- 
lungen von /. H. Breasted in seiner „History of Egypt", 
1906, sowie in „The Dawn of Conscience", 1934, und 
den entsprechenden Abschnitten in „The Cambridge 
Ancient History", Vol. II. 

36 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 
Amenhotep III., dem Vater und Vorgänger des 
Reformators, nahm die Verehrung des Sonnen- 
gottes einen neuen Aufschwung, wahrscheinlich 

in Gegnerschaft zum übermächtig gewordenen 
Ämon von Theben. Ein uralter Name des Son- 
nengottes Aton oder Atum wurde neu hervor- 
geholt und in dieser Atonreligion fand der junge 
König eine Bewegung vor, die er nicht erst zu 
erwecken brauchte, der er sich anschliessen 
konnte. 

Die politischen Verhältnisse Ägyptens hatten 
um diese Zeit begonnen, die ägyptische Religion 
nachhaltig zu beeinflussen. Durch die Waffen- 
taten des grossen Eroberers Thotmes III. war 
Ägypten eine Weltmacht geworden, im Süden 
war Nubien, im Norden Palästina, Syrien und 
ein Stück von Mesopotamien zum Reich hinzu- 
gekommen. Dieser Imperialismus spiegelte sich 
nun in der Religion als Universalismus und Mo- 
notheismus. Da die Fürsorge des Pharao jetzt 
ausser Ägypten auch Nubien und Syrien um- 
fasste, musste auch die Gottheit ihre nationale 
Beschränkung aufgeben, und wie der- Pharao 
der einzige und unumschränkte Herrscher der 
dem Ägypter bekannten Welt war, so musste 
wohl auch die neue Gottheit der Ägypter wer- 
den. Zudem war es natürlich, dass mit der Er- 
weiterung der Reichsgrenzen Ägypten für aus- 
ländische Einflüsse zugänglicher wurde; man- 

37 



//. Wenn Moses ein Ägypter "war..,. 

che der königlichen Frauen ^) waren asiatische 

Prinzessinnen und möglicherweise .waren selbst 
direkte Anregungen zum Monotheismus aus Sy- 
rien eingedrungen. 

Amenhotep hat seinen Anschluss an den Son- 
nenkult von On niemals verleugnet. In den zwei 
Hymnen an den Aton, die uns durch die In- 
schriften in den Felsgräbern erhalten geblieben 
sind und wahrscheinlich von ihm selbst gedich- 
tet wurden, preist er die Sonne als Schöpfer und 
Erhalter alles Lebenden in und ausserhalb Ägyp- 
tens mit einer Inbrunst, wie sie erst viele Jahr- 
hunderte später in den Psalmen zu Ehren des 
jüdischen Gottes Jahve wiederkehrt, Er be- 
gnügte sich aber nicht mit dieser erstaunlichen 
Vorwegnahme der wissenschaftlichen Erkennt- 
nis von der Wirkung der Sonnenstrahlung. Es 
ist kein Zweifel, dass er einen Schritt weiter 
ging, dass er die Sonne nicht als materielles Ob- 
jekt verehrte, sondern als Symbol eines göttli- 
chen Wesens, dessen Energie sich in ihren Strah- 
len kundgab. ^) 

^) Vielleicht selbst Amenhoteps geliebte Gemaklin No- 
fretete. 

*) Breasted, History of Egypt, p. 360: „But however 
evident the Heliopolitan origin of the new State reli- 
gion might be, it was not merely sun-worship; the word 
Aton was employed in the place of the old word for ,god' 
(nuter) and the god is clearly distinguished from the 
material sun." „It is evident that what the king was 

38 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 
"Wir werden dem König aber nicht gerecht, wenn 

wir ihn nur als den Anhänger und Förderer 
einer schon vor ihm bestehenden Atonreligion 

betrachten. Seine Tätigkeit war weit eingreifen- 
der. Er brachte etwas Neues hinzu, wodurch die 
Lehre vom universellen Gott erst zum Mono- 
theismus wurde, das Moment der Ausschliess- 
lichkeit. In einer seiner Hymnen wird es direkt 
ausgesagt: „Oh Du einziger Gott, neben dem 
kein anderer ist."^) Und wir wollen nicht verges- 
sen, dass für die Würdigung der neuen Lehre die 
Kenntnis ihres positiven Inhalts allein nicht ge- 
nügt; beinahe ebenso wichtig ist ihre negative 
Seite, die Kenntnis dessen, was sie verwirft. Es 
wäre auch irrtümlich, anzunehmen, dass die neue 
Religion mit einem Schlage fertig und voll ge- 
rüstet ins Leben gerufen wurde wie Athene aus 
dem Haupt des Zeus. Vielmehr spricht alles da- 
für, dass sie während der Regierung Amenho- 
teps allmählich erstarkte zu immer grösserer 
Klarheit, Konsequenz, Schroffheit und Unduld- 
samkeit. 'Wahrscheinlich vollzog sich diese Ent- 

deifying was the f orce, by which the Sun made itself feit 

on earth" (Dawn of Conscience, p. 279) — ähnlich das 
Urteil über eine Formel zu Ehren des Gottes bei A. Er- 
man (Die Ägyptische Religion, 1905): „es sind... Worte, 
die möglichst abstrakt ausdrücken sollen, dass man nicht 

das Gestirn selbst verehrt, sondern das Wesen, das sich 

in ihm offenbart." 

^) 1. c. History of Egypt, p. 374. 

39 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.,.. 
Wicklung unter dem Einf luss der heftigen Geg- 
nerschaft, die sich unter den Priestern des Amon 
gegen die Reform des Königs erhob. Im sechsten 
Jahre der Regierung Amenhoteps war die Ver- 
feindung soweit gediehen, dass der König seinen 
Namen änderte, von dem der nun verpönte Got- 
, tesname Amon ein Teil war. Er nannte sich an- 
statt Amenhotep jetzt Ikhnaton.^) Aber nicht 
nur aus seinem Namen tilgte er den des verhass- 
ten Gottes, aus, sondern auch aus allen Inschrif- 
ten und selbst dort, wo er sich im Namen seines 
Vaters Amenhotep III. fand. Bald nach der Na- 
mensänderung verliess Ikhnaton das von Amon 
beherrschte Theben und erbaute sich stromab- 
wärts eine neue Residenz, die er AkhetatonQrio- 
rizont des Aton) nannte. Ihre Trümmerstätte 
heisst heute Tell-el-Amarnaf) 
Die Verfolgung des Königs traf Amon am här- 
testen, aber nicht ihn allein. Überall im Reiche 
wurden die Tempel geschlossen, der Gottesdienst 
untersagt, die Tempelgüter beschlagnahmt. Ja, 
der Eifer des Königs ging so weit, dass er die al- 
ten Denkmäler untersuchen Hess, um das Wort 

^) Ich folge bei diesem Namen der englischen Schreib- 
art (sonst Äkhermton), Der neue Name des Königs be- 
deutet ungefähr das selbe wie sein früherer: Der Gott 
ist zufrieden. Vgl. unser Gotthold, Gottfried. 
*) Dort wurde 1887 die für die Geschichtskenntnis so 
wichtige Korrespondenz der ägyptischen Könige mit 
den Freunden und Vasallen in Asien gefunden. 

40 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 
„Gott" in ihnen auszumerzen, wenn es in der 

Mehrzahl gebraucht war/) Es ist nicht zu ver- 
wundern, dass diese Massnahmen Ikhnatons 
eine Stimmung fanatischer Rachsucht bei der 
unterdrückten Priesterschaft und beim unbefrie- 
digten Volk hervorriefen, die sich nach des Kö- 
nigs Tode frei betätigen konnte. Die Atonreli- 
gion war nicht populär geworden, war wahr- 
scheinlich auf einen kleinen Kreis um seine Per- 
son beschränkt geblieben. Der Ausgang Ikhna- 
tons bleibt für uns in Dunkel gehüllt. Wir hören 
von einigen kurzlebigen, schattenhaften Nach- 
folgern aus seiner Familie. Schon sein Schwieger- 
sohn Tutankhaton wurde genötigt, nach The- 
ben zurückzukehren und in seinem Namen den 
Gott Aton durch Amon zu ersetzen. Dann folg- 
te eine Zeit der Anarchie, bis es dem Feldherrn 
Haremhab 1350 gelang, die Ordnung wieder- 
herzustellen. Die glorreiche 1 8te Dynastie war 
erloschen, gleichzeitig deren Eroberungen inNu- 
bien und Asien verloren gegangen. In dieser 
trüben Zwischenzeit waren die alten Religionen 
Ägyptens wieder eingesetzt worden. Die Aton- 
religion war abgetan, die Residenz Ikhnatons 
zerstört und geplündert, sein Andenken als das 
eines Verbrechers geächtet. 
Es dient einer bestimmten Absicht, wenn wir 
nun einige Punkte aus der negativen Charakte- 
*) 1. c. History of Egfpt, p. 363, 

41 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 
ristik der Atonreligion herausheben. Zunächst, 
dass alles Mythische, Magische und Zauberische 
von ihr ausgeschlossen ist/) 
Sodann die Art der Darstellung des Sonnengot- 
tes, nicht mehr wie in früher Zeit durch eine 
kleine Pyramide und einen Falken, sondern, was 
beinahe nüchtern zu nennen ist, durch eine run- 
de Scheibe, von der Strahlen ausgehen, die in 
menschlichen Händen endigen. Trotz aller 
Kunstfreudigkeit der Amarnaperiode ist eine 
andere Darstellung des Sonnengottes, ein per- 
sönliches Bild des Aton, nicht gefunden worden, 
und man darf es zuversichtlich sagen, es wird 
nicht gefunden werden.^) 
Endlich das völlige Schweigen über den Toten- 
gott Osiris und das Totenreich. "Weder die Hym- 
nen, noch die Grabinschriften wissen etwas von 
dem, was dem Herzen des Ägypters vielleicht 
am nächsten lag. Der Gegensatz zur Volksreli- 

' } Weigdl (The llf e and times of Ikhnaton, i923,p.i2i) 
sagt, Ikhnaton wollte nichts von einer Hölle wissen, 
gegen deren Schrecken man sich durch ungezählte Zau- 
berformeln schützen sollte. „Akhnaton flung all these 

formulae into the fire. Djins, bogies, spirits, monsters, 
demigods and Osiris himself with all his court, were 
swept into the blaze and reduced to ashes." 
^) A. Weigdl (1. c). „Akhnaton did not permit any 
graven image to be made of the Aton. The true God, 
said the King, had no form; and he held to this opinion 
throughout his life." (p. 103.) 

42 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.,.. 

gion kann nicht deutlicher veranschaulicht wer- 
den/) 

III 

Wir möchten jetzt den Schluss wagen: wenn 
Moses ein Ägypter war und wenn er den Juden 

seine eigene Religion übermittelte, so war es die 
des Ikhnaton, die ÄtonreVigion, 
Wir haben vorhin die jüdische Religion mit der 
ägyptischen Volksreligion verglichen und die 
Gegensätzlichkeit zwischen beiden festgestellt. 
Nun sollen wir einen Vergleich der jüdischen 
mit der Ätonrcli^ion anstellen, in der Erwar- 
tung, die ursprüngliche Identität der beiden zu 
erweisen. "Wir wissen, dass uns keine leichte 
Aufgabe gestellt ist. Von der ^fowreligion wis- 
sen wir dank der Rachsucht der Amonpriester 
vielleicht zu wenig. Die mosaische Religion ken- 
nen wir nur in einer Endgestaltung, wie sie etwa 
800 Jahre später in nachexilischer Zeit von der 
jüdischen Priesterschaft fixiert wurde. Sollten 
wir trotz dieser Ungunst des Materials einzelne 
Anzeichen finden, die unserer Annahme gün- 
stig sind, so werden wir sie hoch einschätzen 
dürfen. 

') Erman 1. c. p. 70: „vom Osiris ond seinem Reich soll- 
te man nichts mehr hören." — Breasted, D. of C, p. 
291: „Osiris is completely ignored. He is never men- 
tioned in any record of Ikhnaton or in any of the tombs 

at Amarna." 

43 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 
Es gäbe einen kurzen "Weg zum Erweis unserer 
These, dass die mosaische Religion nichts ande- 
res ist als die des Aton, nämlich über ein Ge- 
ständnis, eine Proklamation. Aber ich fürchte, 
man wird uns sagen, dass dieser Weg nicht gang- 
bar ist. Das jüdische Glaubensbekenntnis lautet 
bekanntlich: Schema Jisroel Adonai Elohenu 
Adonai Echod. Wenn der Name des ägypti- 
schen Aton (oder Atum) nicht nur zufällig an 
das hebräische Wort Adonai und den syrischen 
Gottesnamen Adonis anklingt, sondern infolge 
urzeitlicher Sprach- und Sinngemeinschaft, so 
könnte man jene jüdische Formel übersetzen: 
Höre Israel, unser Gott Aton (Adonai) ist ein 
einziger Gott. Ich bin leider völlig inkompetent, 
um diese Frage zu beantworten, konnte auch 
nur wenig darüber in der Literatur finden, ) 
aber wahrscheinlich darf man es sich nicht so 
leicht machen. Übrigens werden wir auf die Pro- 
bleme des Gottesnamens noch einmal zurück- 
kommen müssen. 

Die Ähnlichkeiten wie die Verschiedenheiten 
der beiden Religionen sind leicht ersichtlich, oh- 

1) Nur einige Stellen bei Wdgall (I.e.): „Der Gott 
Atum, der Re als die untergehende Sonne bezeichnete, 
war vielleicht gleichen Ursprungs wie der in Nordsyrien 
allgemein verehrte Aton, und eine ausländische Königin 
sowie ihr Gefolge mag sich darum eher zu Heliopolis 
hingezogen gefühlt haben als zu Theben" (p, 12 und 
P- 19). 
44 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 
ne uns viel Aufklärung zu bringen. Beide sind 

Formen eines strengen Monotheismus, und man 
wird von vornherein geneigt sein, was an ihnen 
Übereinstimmung ist, auf diesen Grundcharak- 
ter zurückzuführen. Der jüdische Monotheismus 
benimmt sich in manchen Punkten noch schrof- 
fer als der ägyptische, z. B. wenn er bildliche 
Darstellungen überhaupt verbietet. Der wesent- 
lichste Unterschied zeigt sich — vom Gottesna- 
men abgesehen — darin, dass die jüdische Reli- 
gion völlig von der Sonnenverehrung abgeht, an 
die sich die ägyptische noch angelehnt hatte. 
Beim Vergleich mit der ägyptischen Volksreli- 
gion hatten wir den Eindruck empfangen, dass^ 
ausser dem prinzipiellen Gegensatz ein Moment 
von absichtlichem Widerspruch an der Verschie- 
denheit der beiden Religionen beteiligt wäre. 
Dieser Eindruck erscheint nun als berechtigt, 
wenn wir im Vergleich die jüdische durch die 
AtomAip.dn ersetzen, die Ikhnaton, wie wir 
wissen, io absichtlicher Feindseligkeit gegen die 
Volksreligion entwickelt hat. Wir hatten uns 
mit Recht darüber verwundert, dass die jüdische 
Religion vom Jenseits und vom Leben nach dem 
Tode nichts wissen will, denn eine solche Lehre 
wäre mit dem strengsten Monotheismus verein- 
bar. Diese Verwunderung schwindet, wenn wir 
von der jüdischen auf die ^towreligion zurück- 
gehen und annehmen, dass diese Ablehnung von 

45 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... ■'^ 

dort her übernommen worden ist, denn für Ikh- 
naton war sie eine Notwendigkeit bei der Be- 
kämpfung der Volksreligion, in der der Toten- 
gott Osiris eine vielleicht grössere Rolle spielte 
als irgend ein Gott der Oberwelt, Die Überein- 
stimmung der jüdischen mit der y4towreligion in 
diesem wichtigen Punkte ist das erste starke Ar- 
gument zugunsten unserer These. "Wir werden 
hören, dass es nicht das einzige ist. 
Moses hat den Juden nicht nur eine neue Reli- 
gion gegeben; man kann auch mit gleicher Be- 
stimmtheit behaupten, dass er die Sitte der Be- 
schneidung bei ihnen eingeführt hat. Diese Tat- 
sache hat eine entscheidende Bedeutung für un- 
ser Problem und ist kaum je gewürdigt worden. 
Der biblische Bericht widerspricht ihr zwar 
mehrfach, er führt einerseits die Beschneidung in 
die Urväterzeit zurück als Zeichen des Bundes 
zwischen Gott und Abraham, anderseits erzählt 
er an einer ganz besonders dunkeln Stelle, dass 
Gott Moses zürnte, weil er den geheiligten Ge- 
brauch vernachlässigt hatte, dass er ihn darum 
töten wollte, und dass Moses' Ehefrau, eine Mi- 
dianiterin, den bedrohten Mann durch rasche 
Ausführung der Operation vor Gottes Zorn ret- 
tete. Aber dies sind Entstellungen, die uns nicht 
irre machen dürfen; wir werden später Einsicht 
in ihre Motive gewinnen. Es bleibt bestehen, 
dass es auf die Frage, woher die Sitte der Be- 
46 



//. Wenn Moses ein Ägypter war,... 
schneidung zu den Juden kam, nar eine Ant- 
wort gibt: aus Ägypten. Herodot, der „Vater 
der Geschichte", teilt uns mit, dass die Sitte der 
Beschneidung in Ägypten seit langen Zeiten hei- 
misch war, und seine Angaben sind durch die 
Befunde an Mumien, ja durch Darstellungen an 
den Wänden von Gräbern bestätigt worden. 
Kein anderes Volk des östlichen Mittelmeeres 
hat, soviel wir wissen, diese Sitte geübt; von den 
Semiten, Babyloniern, Sumerern ist es sicher an- 
zunehmen, dass sie unbeschnitten waren. Von 
den Einwohnern Kanaans sagt es die biblische 
Geschichte selbst; es ist die Voraussetzung für 
den Ausgang des Abenteuers der Tochter Jakobs 
mit dem Prinzen von Sichern.*) Die Möglichkeit, 
dass die in Ägypten weilenden Juden die Sitte 
der Beschneidung auf anderem Wege angenom- 

') "Wenn wir mit der biblischen Tradition so selbstherr- 
lich und willkürlich verfahren, sie zur Bestätigung her- 
anziehen, wo sie uns taugt, und sie unbedenklich ver- 
werfen, wo sie uns widerspricht, so wissen wir sehr 
wohl, dass wir uns dadurch ernster methodischer Kritik 
aussetzen und die Beweiskraft unserer Ausführungen 
abschwächen. Aber es ist die einzige Art, wie man ein 
Material behandeln kann, von dem man mit Bestimmt- 
heit weiss, dass seine Zuverlässigkeit durch den Einfluss 
entstellender Tendenzen schwer geschädigt worden ist. 
Eine gewisse Rechtfertigung hofft man später zu er- 
werben, wenn man jenen geheimen Motiven auf die 
Spur kommt. Sicherheit ist ja überhaupt nicht zu er- 
reichen, und übrigens dürfen wir sagen, dass alle ande- 
ren Autoren ebenso verfahren sind. 

47 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 

men haben als im Zusammenhange mit der Re- 
ligionsstiftung Moses', dürfen wir als völlig 
altlos abweisen. Nun halten wir fest, dass die 
Besch eidung als allgemeine Volkssitte in Ägyp- 
ten geübt wurde, und nehmen für einen Augen- 
blick die gebräuchliche Annahme hinzu, dass 
Moses ein Jude war, der seine Volksgenossen 
vom ägyptischen Frondienst befreien, sie zur 
Entwicklung einer selbständigen und selbstbe- 
wussten nationalen Existenz ausser Landes füh- 
ren wollte — wie es ja wirklich geschah — , 
welchen Sinn konnte es haben, dass er ihnen zur 
gleichen Zeit eine beschwerliche Sitte aufdräng- 
te, die sie gewissermassen selbst zu Ägyptern 
machte, die ihre Erinnerung an Ägypten im- 
mer wachhalten musste, während sein Streben 
doch nur aufs Gegenteil gerichtet sein konnte, 
dass sein Volk sich dem Lande der Knechtschaft 
entfremden und die Sehnsucht nach den „Fleisch- 
töpfen Ägyptens" überwinden sollte? Nein, die 
Tatsache, von der wir ausgingen, und die An- 
nahme, die wir an sie anfügten,' sind so unver- 
einbar miteinander, dass man den Mut zu einer 
Schlussfolge findet: Wenn Moses den Juden 
nicht nur eine neue Religion, sondern auch das 
Gebot der Beschneidung gab, so war er kein Ju- 
de, sondern ein Ägypter, und dann war die mo- 
saische Religion wahrscheinlich eine ägyptische 
und zwar wegen des Gegensatzes zur Volksreii- 
48 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 
gion die Religion des Aton, mit der die spätere 
jüdische Religion auch in einigen bemerkens- 
werten Punkten übereinstimmt. 
Wir haben bemerkt, dass unsere Annahme, Mo- 
ses sei kein Jude, sondern ein Ägypter, ein neues 
Rätsel schafft. Die Handlungsweise, die beim 
Juden leicht verständlich schien, wird beim 
Ägypter unbegreiflich. "Wenn wir aber Moses in 
die Zeit des Ikhnaton versetzen und in Bezie- 
hung zu diesem Pharao bringen, dann schwin- 
det dieses Rätsel und es enthüllt sich die Möglich- 
keit einer Motivierung, die alle unsere Fragen 
beantwortet. Gehen wir von der Voraussetzung 
aus, dass Moses ein vornehmer und hochstehen- 
der Mann war, vielleicht wirklich ein Mitglied 
des königlichen Hauses, wie die Sage von ihm 
behauptet. Er war gewiss seiner grossen Fähig- 
keiten bewusst, ehrgeizig und tatkräftig; viel- 
leicht schwebte ihm selbst das Ziel vor, eines Ta- 
ges das Volk zu leiten, das Reich zu beherr- 
schen. Dem Pharao nahe, war er ein überzeug- 
ter Anhänger der neuen Religion, deren Grund- 
gedanken er sich zu eigen gemacht hatte. Mit 
dem Tod des Königs und dem Einsetzen der Re- 
aktion sah er all seine Hoffnungen und Aussich- 
ten zerstört; wenn er seine ihm teuren Überzeu- 
gungen nicht abschwören wollte, hatte ihm 
Ägypten nichts mehr zu bieten, er hatte sein 
Vaterland verloren. In dieser Notlage fand er 

49 



//. Wenn Moses ein Ägypter war,... 
einen ungewöhnlichen Ausweg. Der Träumer 
Ikhnaton hatte sich seinem Volk entfremdet und 
hatte sein Weltreich zerbröckeln lassen. Moses' 
energischer Natur entsprach der Plan, ein neues 
Reich zu gründen, ein neues Volk zu finden, 
dem er die von Ägypten verschmähte Religion 
zur Verehrung schenken wollte/Es war, wie man 
erkennt, ein heldenhafter Versuch, das Schicksal 
zu bestreiten, sich nach zwei Richtungen zu ent- 
schädigen für die Verluste, die ihm die Kata- 
strophe Ikhnatons gebracht hatte. Vielleicht war 
er zur Zeit Statthalter jener Grenzprovinz (Go- 
sen), in der sich (noch zur Zeit der Hyksos?) ge- 
wisse semitische Stämme niedergelassen hatten. 
Diese wählte er aus, dass sie sein neues Volk sein 
sollten. Eine weltgeschichtliche Entscheidung f) 
Er setzte sich mit ihnen ins Einvernehmen, stellte 
sich an ihre Spitze, besorgte ihre Abwanderung 
„mit starker Hand". In vollem Gegensatz zur 
biblischen Tradition sollte man annehmen, dass 

') Wenn Moses ein hoher Beamter war, so erleichtert 
dies unser Verständnis für die Führerrolle, die er bei 
den Juden übernahm; wenn ein Priester, dann lag es ihm 
nahe, als Religionsstifter aufzutreten. In beiden Fällen 

wäre es die Fortsetzung seines bisherigen Berufs gewe- 
sen. Ein Prinz des königlichen Hauses konnte leicht bei- 
des sein, Statthalter und Priester. In der Erzählung des 
Flavim Josephus (Antiqu. jud.), der die Aussetzungs- 
sage annimmt, aber andere Traditionen als die biblische 
zu kennen scheint, hat Moses als ägyptischer Feldherr 
einen siegreichen Feldzug in Äthiopien durchgeführt. 

SO 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 

sich dieser Auszug friedlich und ohne Verfol- 
gung vollzog. Die Autorität Moses' ermöglichte 
ihn, und eine Zentralgewalt, die ihn hätte ver- 
hindern wollen, war damals nicht vorhanden. 
Zufolge dieser unserer Konstruktion würde der 
Auszug aus Ägypten in die Zeit zwischen 1358 
und 1350 fallen, d. h. nach dem Tode Ikhna- 
tom und vor der Herstellung der staatlichen 
Autorität durch Haremhab. ^ ) Das Ziel der Wan- 
derung konnte nur das hond. Kanaan sein. Dort 
waren nach dem Zusammenbruch der ägypti- 
schen Herrschaft Scharen von kriegerischen 
Aramäern eingebrochen, erobernd und plün- 
dernd, und hatten so gezeigt, wo ein tüchtiges 
Volk sich neuen Landbesitz holen konnte. "Wir 
kennen diese Krieger aus den Briefen, die 1887 
im Archiv der Ruinenstadt Amarna gefunden 
wurden. Sie werden dort Hahiru genannt, und 
der Name ist, man weiss nicht wie, auf die spä- 
ter kommenden jüdischen Eindringlinge — He- 
bräer — übergegangen, die in den Amarnabrie- 
fen nicht gemeint sein können. Südlich von Pa- 
lästina — in Kanaan — wohnten auch jene 
Stämme, die die nächsten Verwandten der jetzt 

■^) Das wäre etwa ein Jahrhundert früher, als die mei- 
sten Historiker annehmen, die ihn in die I9te Dynastie 
unter Merneptah verlegen. Vielleicht etwas später, denn 

die offizielle Geschichtsschreibung scheint das Interreg- 
num in die Regierungszeit Haremhabs eingerechnet zu 
haben. 

51 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 
aus Ägypten ausziehenden Juden waren. 
Die MotiTierung, die wir für das Ganze des Aus- 
zugs erraten haben, deckt auch die Einsetzung 
der Beschneidung. Man weiss, in welcher Weise 
sich die Menschen, Völker wie Einzelne, zu die- 
sem uralten, kaum mehr verstandenen Gebrauch 
verhalten. Denjenigen, die ihn nicht üben, er- 
scheint er sehr befremdlich, und sie grausen sich 
ein wenig davor — die anderen aber, die die Be- 
schneidung angenommen haben, sind stolz dar- 
auf. Sie fühlen sich durch sie erhöht, wie geadelt, 
und schauen verächtlich auf die anderen herab, 
die ihnen als unrein gelten. Noch heute be- 
schimpft der Türke den Christen als „unbe- 
schnittenen Hund". Es ist glaublich, dass Moses, 
der als Ägypter selbst beschnitten war, diese Ein- 
stellung teilte. Die Juden, mit denen er das Vater- 
land verliess, sollten ihm ein besserer Ersatz für 
die Ägypter sein, die er im Lande zurückliess. 
Auf keinen Fall durften sie hinter diesen zurück- 
stehen. Ein „geheiligtes Volk" wollte er aus ihnen 
machen, wie noch ausdrücklich im biblischen 
Text gesagt wird, und als Zeichen solcher Weihe 
führte er auch bei ihnen die Sitte ein, die sie den 
Ägyptern mindestens gleichstellte. Auch konn- 
te es ihm nur willkommen sein, wenn sie durch 
ein solches Zeichen isoliert und von der Vermi- 
schung mit den Fremdvöikern abgehalten wur- 
den, zu denen ihre Wanderung sie' führen sollte, 
52 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 
ähnlich wie die Ägypter selbst sich von allen 
Fremden abgesondert hatten.*) 
Die jüdische Tradition aber benahm sich später, 
als wäre sie durch die Schlussfolge bedrückt, die 
wir vorhin entwickelt haben. Wenn man zuge- 
stand, dass dieBeschneidung eine ägyptische Sitte 

^) Herodot, der Ägypten um 450 v. Chr. besuchte, gibt 
in seinem Reisebericht eine Charakteristik des ägypti- 
schen Volkes, die eine erstaunliche Ähnlichkeit mit be- 
kannten Zügen des späteren Judentums aufzeigt: „Sie 
sind überhaupt in allen Punkten frömmer als die übrigen 
Menschen, von denen sie sich auch schon durch manche 
ihrer Sitten trennen. So durch die Beschneidung, die sie 
zuerst, und zwar aus Reinlichkeitsgründen, eingeführt 
haben; des weiteren durch ihren Abscheu vor den 
Schweinen, der gewiss damit zusammenhängt, dass Set 
als ein schwarzes Schwein den Horus verwundet hatte, 
und endlich und am meisten durch ihre Ehrfurcht vor 
den Kühen, die sie nie essen oder opfern würden, weil 
sie damit die kuhhörnige Isis beleidigen würden. Deshalb 
würde kein Ägypter und keine Ägypterin je einen Grie- 
chen küssen oder sein Messer, seinen Bratspiess oder 
seinen Kessel gebrauchen oder von dem Fleisch eines 
(sonst) reinen Ochsen essen, das mit einem griechischen 
Messer geschnitten wäre ... sie sahen in hochmütiger 
Beschränktheit auf die anderen Völker herab, die un- 
rein waren und den Göttern nicht so nahe standen wie 
sie," (Nach Erman, Die Ägyptische Religion, p. 181, 
o. ff.). 

Wir wollen natürlich Parallelen hiezu aus dem Leben 
des indischen Volkes nicht vergessen. Wer hat es übri- 
gens dem jüdischen Dichter H. Heine im 19. Jahr- 
hundert n. Chr. eingegeben, seine Religion zu beklagen 
als „die aus dem Niltal mitgeschleppte Plage, den alt- 
ägyptisch ungesunden Glauben"? 

53 



IL Wenn Moses ein Ägypter war.... 
war, die Moses eingeführt hatte, so war das bei- 
nahe so viel wie eine Anerkennung, dass die Re- 
ligion, die Moses ihnen überliefert, auch eine 
ägyptische gewesen war. Aber man hatte gute 
Grinde, diese Tatsache zu verleugnen; folglich 
musste man auch dem Sachverhalt in betreff der 
Beschneidung widersprechen. 

IV 

An dieser Stelle erwarte ich den Vorwurf, dass 
ich meine Konstruktion, die Moses, den Ägyp- 
ter, in die Zeit von Ikhnaton versetzt, seinen 
Entschluss, sich des Juden volkes anzunehmen, 
aus den derzeitigen politischen Zuständen im 
Lande ableitet, die Religion, die er seinen Schütz- 
lingen schenkt oder auferlegt, als die des Aton 
erkennt, die eben in Ägypten selbst zusammen- 
gebrochen war, dass ich diesen Aufbau vonMut- 
massungen also mit allzugrosser, im Material 
nicht begründeter Bestimmtheit vorgetragen ha- 
be. Ich meine, der Vorwurf ist unberechtigt. Ich 
habe das Moment des Zweifels bereits in der 
Einleitung betont, es gleichsam vor die Klam- 
mer gesetzt, und durfte es mir dann ersparen, es 
bei jedem Posten innerhalb der Klammer zu 
wiederholen. 

Einige meiner eigenen kritischen Bemerkungen 
dürfen die Erörterung fortsetzen. Das Kern- 

54 



IL Wenn Moses ein Ägypter war.... 
stick unserer Aufstellung, die Abhängigkeit des 
jüdischen Monotheismus von der monotheisti- 
schen Episode in der Geschichte Ägyptens, ist 
von verschiedenen Autoren geahnt und ange- 
deutet worden. Ich erspare mir, diese Stimmen 
hier wiederzugeben, da keine von ihnen anzu- 
geben weiss, auf welchem Weg sich diese Beein- 
flussung vollzogen haben kann. Bleibt sie für 
uns an die Person des Moses geknüpft, so sind 
auch dann andere Möglichkeiten als die von uns 
bevorzugte zu erwägen. Es Ist nicht anzuneh- 
men, dass der Sturz der offiziellen Atonreligion 
die monotheistische Strömung in Ägypten völlig 
zu Ende gebracht hat. Die Priesterschule in On, 
von der sie ausgegangen war, überstand die Ka- 
tastrophe und mochte noch Generationen nach 
Ikhnaton in den Bann ihrer Gedankengänge zie- 
hen. Somit ist die Tat des Moses denkbar, auch 
wenn er nicht zurXdtIkhnatom lebte und nicht 
dessen persönlichen Einfluss erfahren hatte, 
wenn er nur Anhänger oder gar Mitglied der 
Schule von On war. Diese Möglichkeit würde 
, den Zeitpunkt des Auszugs verschieben und nä- 
her an das gewöhnlich' angenommene Datum 
(im i3ten Jahrhundert) heranrücken; sie hat 
aber sonst nichts, was sie empfiehlt. Die Ein- 
sicht in die Motive Moses' ginge verloren und 
die Erleichterung des Auszugs durch die im Lan- 
de herrschende Anarchie fiele weg. Die nächsten 

55 



//. Wenn Moses ein Ägypter -war..,. 

Könige der i^ten Dynastie haben ein starkes 
Regiment geführt. Alle für den Auszug günsti- 
gen äusseren und inneren Bedingungen treffen 
nur in der Zeit unmittelbar nach dem Tode des 
'K.etzerkönigs zusammen, 

ly'm Juden besitzen eine reichhaltige ausserbibli- 
sche Literatur, in der man die Sagen und My- 
then findet, die sich im Verlauf der Jahrhunderte 
•um die grossartige Figur des ersten Führers und 
Religionsstifters gebildet, sie verklärt und ver- 
dunkelt haben. In diesem Material mögen Stük- 
ke guter Tradition versprengt sein, die in den 
fünf Büchern keinen Raum gefunden haben. 
Eine solche Sage schildert in ansprechender 
Weise, wie sich der Ehrgeiz des Mannes Moses 
schon in seiner Kindheit geäussert. Als ihn der 
Pharao einmal in die Arme nahm und im Spiele 
hoch hob, riss ihm das dreijährige Knäblein die 
Krone vom Haupt und setzte sie seinem eigenen 
auf. Der König erschrak über dies Vorzeichen 
und versäumte nicht, seine Weisen darüber zu 
befragen.*) Ein andermal wird von siegreichen 
Kriegstaten erzählt, die er als ägyptischer Feld- 
herr in Äthiopien vollführt, und daran ge- 
knüpft, dass er aus Ägypten floh, weil er den 
Neid einer Partei am Hofe oder des Pharao 
selbst zu fürchten hatte. Die biblische Darstel- 

') Dieselbe Anekdote in leichter Abänderung bei ]ose- 
phus. 

56 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 

lung selbst legt Moses einige Züge bei, denen 
man Glaubwürdigkeit zusprechen möchte. Sie 
beschreibt ihn als zornmütig, leicht aufbrausen 3, 
wie er in der Entrüstung den brutalen Aufseher 
erschlägt, der einen jüdischen Arbeiter misshan- 
delt, wie er in der Erbitterung über den Abfall 
des Volkes die Gesetzestafeln zerschmettert, die 
er vom Berge Gottes geholt, ja Gott selbst straft 
ihn am Ende wegen einer Tat der Ungeduld; es 
wird nicht gesagt, was sie war. Da eine solche 
Eigenschaft nicht der Verherrlichung dient, 
könnte sie historischer Wahrheit entsprechen. 
Man kann auch die Möglichkeit nicht abweisen, 
dass manche Charakterzüge, die die Juden in die 
frühe Vorstellung ihres Gottes eintrugen, indem 
sie ihn eifervoll, streng und unerbittlich hiessen, 
im Grunde von der Erinnerung an Moses her- 
genommen waren, denn in Wirklichkeit hatte 
nicht ein unsichtbarer Gott, hatte der Mann 
Moses sie aus Ägypten herausgeführt. 
Ein anderer ihm zugeschriebener Zug hat beson- 
deren Anspruch auf unser Interesse, Moses soll 
„schwer von Sprache" gewesen sein, also eine 
Sprachhemmung oder einen Sprachfehler beses- 
sen haben, so dass er bei den angeblichen Ver- 
handlungen mit dem Pharao der Unterstützung 
des Aaron bedurfte, der sein Bruder genannt 
wird. Das mag wiederum historische Wahrheit 
sein und wäre ein erwünschter Beitrag zur Bele- 

57 



//. Wenn Moses ein Ägypter war,... 
bung der Physiognomie des grossen Mannes. Es 
kann aber auch eine andere und wichtigere Be- 
deutung haben. Der Bericht mag in leichter Ent- 
stellung der Tatsache gedenken, dass Moses ein 
Anderssprachiger war, der mit seinen semiti- 
schen Neu-Ägyptern nicht ohne Dolmetsch ver- 
kehren konnte, wenigstens nicht zu Anfang ih- 
rer Beziehungen. Also eine neue Bestätigung der 
These: Moses war ein Ägypter. 
Nun aber, scheint es, ist unsere Arbeit zu einem 
vorläufigen Ende gekommen. Aus unserer An- 
nahme, dass Moses ein Ägypter war, sei sie er- 
wiesen oder nicht, können wir zunächst nichts 
weiter ableiten. Den biblischen Bericht über Mo- 
ses und den Auszug kann kein Historiker für 
anderes halten als für fromme Dichtung, die 
eine entlegene Tradition im Dienste ihrer eige- 
nen Tendenzen umgearbeitet hat. Wie die Tra- 
dition ursprünglich gelautet hat, ist uns unbe- 
kannt; welches die entstellenden Tendenzen wa- 
ren, möchten wir gern erraten, werden aber 
durch die Unkenntnis der historischen Vorgänge 
im Dunkel erhalten. Dass unsere Rekonstruktion 
für so manche Prunkstücke der biblischen Er- 
zählung wie die zehn Plagen, den Durchzug 
durchs Schilfmeer, die feierliche Gesetzgebung 
am Berge Sinai, keinen Raum hat, dieser Gegen- 
satz kann uns nicht beirren. Aber es kann uns 
nicht gleichgültig lassen, wenn wir finden, dass 

58 



//. Wenn Moses ein Ägypter mar.... 
wir in Widerspruch zu den Ergebnissen der 
nüchternen Geschichtsforschung unserer Tage 
geraten sind. 

Diese neueren Historiker, als deren Vertreter 
wir Ed. Meyer *) anerkennen mögen, schliessen 
sich dem biblischen Bericht in einem entschei- 
denden Punkte an. Auch sie meinen, dass die jü- 
dischen Stämme, aus denen später das Volk Is- 
rael hervorging, zu einem gewissen Zeitpunkt 
eine neue Religion angenommen haben. Aber 
dies Ereignis vollzog sich nicht in Ägypten, auch 
nicht am Fusse eines Berges auf der Sinaihalb- 
insel, sondern in einer örtlichkeit, die Meribat- 
(^ades genannt wird, einer durch ihren Reich- 
tum an Quellen und Brunnen ausgezeichneten 
Oase in dem Landstrich südlich von Palästina 
zwischen dem östlichen Ausgang der Sinaihalb- 
insel und dem Westrand von Arabien. Sie über- 
nahmen dort die Verehrung eines Gottes Jahve, 
wahrscheinlich von dem arabischen Stamm der 
nahebei wohnenden Midianiter.Yermutlich. wa- 
ren auch andere Nachbarstämme Anhänger die- 
ses Gottes. 

Jahve war sicherlich ein Vulkangott. Nun ist 
Ägypten bekanntlich frei von Vulkanen und 
auch die Berge der Sinaihalbinsel sind nie vul- 
kanisch gewesen; dagegen finden sich Vulkane, 

^) Ed. Meyer, Die Israeliten und ihre Nachbarstämme, 
1906. 

59 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 
die noch bis in späte Zeiten tätig gewesen sein 
mögen, längs des Westrandes Arabiens. Einer 
dieser Berge muss also der Sind-Horeb gewe- 
sen sein, den man sich als den Wohnsitz Jahves 
dachte/) Trotz aller Umarbeitungen, die der 
biblische Bericht erlitten hat, iässt sich nach 
Ed. Meyer das ursprüngliche Charakterbild des 
Gottes rekonstruieren: Er ist ein unheimlicher, 
blutgieriger Dämon, der bei Nacht umgeht und 
das Tageslicht scheut.*) 

Der Mittler zwischen Gott und Volk bei dieser 
Religionsstiftung wird Moses genannt. Er ist 
Schwiegersohn des midianitischen Priesters Je- 
thrö, hütete dessen Herden, als er die göttliche 
Berufung erfuhr. Er erhält auch in Qades den 
Besuch Jethros, der ihm Unterweisungen gibt./ 
Ed. Meyer sagt zwar, es sei ihm nie zweifelhaft 
gewesen, dass die Geschichte vom Aufenthalt in 
Ägypten und Ton der Katastrophe der Ägypter 
irgendeinen historischen Kern enthält,**) aber er 
weiss offenbar nicht, wie er die von ihm aner- 
kannte Tatsache unterbringen und verwerten 
soll. Nur die Sitte der Beschneidung ist er bereit, 
von Ägypten abzuleiten. Er bereichert unsere 

^ An einigen Stellen des biblischen Textes ist noch 

stehengeblieben, dass Jahve Tom Sinai herab nach Meri- 
bat-QuadeS kam. 
*) 1. c. p. 38, j8. 
3 1. c. p. 49. 

60 



//. Wenn Moses ein Ägypter war..,. 
frühere Argumentation durch zwei wichtige 
Hinweise. Erstens, dass Josua das Volk zur Be- 
schneidung auffordert, „um das Höhnen der 
■ Ägypter von sich abzuwälzen", sodann durch 
das Zitat aus Herodot, dass die Phöniker (wohl 
die Juden) und die Syrer in Palästina selbst zu- 
geben, die Beschneidung von den Ägyptern ge- 
lernt zu haben,*) Aber für einen ägyptischen 
Moses hat er wenig übrig. „Der Moses, den wir 
kennen, ist der Ahnherr der Priester von Qades, 
also eine mit dem Kultus in Beziehung stehende 
Gestalt der genealogischen Sage,^ nicht eine ge- 
schichtliche Persönlichkeit. Es hat denn auch 
(abgesehen von denen, die die Tradition irt 
Bausch und Bogen als geschichtliche Wahrheit 
hinnehmen) noch niemand von denen, die ihn 
als eine geschichtliche Gestalt behandeln, ihn mit 
Irgendwelchem Inhalt zu erfüllen, ihn als eine 
konkrete Individualität darzustellen oder etwas 
anzugeben gewusst, was er geschaffen hätte und 
was sein geschichtliches Werk wäre." ^) 
Dagegen wird er nicht müde, die Beziehung Mo- 
ses' zu Qades und Midian zu betonen. „Die Ge- 
stalt des Moses, die mit Midian und den Kultus- 
stätten in der Wüste eng verwachsen ist" ^) 
„Diese Gestalt des Mose ist nun mit Qades (Mas- 

') 1. c. p. 449. 
2) 1. c. p. 45 1. 
1 I. c. p. 49. 

61 



//. Wenn Moses ein Ägypter mar,... 
sa und Meriba) mitrennbar verbunden, die Ver- 
schwägerung mit dem midianitischen Priester 
bildet die Ergänzung dazu. Die Verbindung mit 
dem Exodus dagegen und vollends die Jugend- 
geschichte sind durchaus sekundär und lediglich 
die Folge der Einfügung Moses in eine zusam- 
menhängend fortlaufende Sagengeschichte." '^) 
Er verweist auch darauf, dass die in der Jugend- 
geschichte des Moses enthaltenen Motive später 
sämtlich fallen gelassen werden. „Mose in Mi- 
dian ist nicht mehr ein Ägypter und Enkel des 
Pharao, sondern ein Hirt, dem Jahve sich offen- 
bart. In den Erzählungen von den Plagen ist 
von seinen alten Beziehungen nicht mehr die 
Rede, so leicht sie sich effektvoll hätten verwer- 
ten lassen, und der Befehl, die israelitischen 
Knaben zu töten, ist vollkommen vergessen. Bei 
dem Auszug und dem Untergang der Ägypter 
spielt Mose überhaupt keine Rolle, er. wird nicht 
einmal genannt. Der Heldencharakter, den die 
Kindheitssage voraussetzt, fehlt dem späteren 
Mose gänzlich; er ist nur noch der Gottesmann, 
ein von Jahve mit übernatürlichen Kräften aus- 
gestatteter Wundertäter..,." ^) 
Wir können den Eindruck nicht bestreiten, die- 
ser Moses von Qades und Midian, dem die Tra- 
dition selbst die Aufrichtung einer ehernen 

') 1. c. p. 72. 
*) I. c. p. 47. 

61 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 
Schlange als Heilgott zuschreiben durfte, ist ein 
ganz anderer als der von uns erschlossene gross- 
herrliche Ägypter, der dem Volk eine Religion 
eröffnete, in der alle Magie und Zauberei aufs 
strengste verpönt war.|Unser ägyptischer Moses 
ist vom midianitischen Moses vielleicht nicht 
weniger verschieden als der universelle Gott 
Aton von dem auf dem Götterberg hausenden 
Dämon Jahve. Und wenn wir den Ermittlungen 
der neueren Historiker irgend ein Mass von 
Glauben schenken, müssen wir uns eingestehen, 
dass der Faden, den wir von der Annahme her 
spinnen wollten, Moses sei ein Ägypter gewesen, 
nun zum zweiten Mal abgerissen ist. Diesmal, 
wie es. scheint, ohne Hoffnung auf Wiederan- 
knüpfung. 



ein 



Unerwarteterweise findet sich auch hier 
Ausweg. Die Bemühungen, in Moses eine Gestalt 
zu erkennen, die über den Priester von Qades 
hinausreicht, und die Grossartigkeit zu bestäti- 
gen, welche die Tradition an ihm rühmt, sind 
auch nach Ed. Meyer nicht zur Ruhe gekom- 
men (Gressmann u. a.). Im Jahre 1922 hat dann 
Ed. Sellin eine Entdeckung gemacht, die unser 
Problem entscheidend beeinflusst.*) Er fand 

^) Ed. Sellin, Mose und seine Bedeutung für die israeli- 
tisch-jüdische Religionsgeschichte, 1922. 

63 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 
beim Propheten Hosea (zweite Hälfte des ach- 
ten Jahrhunderts) die unverkennbaren Anzei- 
chen einer Tradition, die zum Inhalt hat, dass 
der Religionsstifter Moses in einem Aufstand 
seines widerspenstigen und halsstarrigen Volkes 
ein gewaltsames Ende fand. Gleichzeitig wurde 
die von Ihm eingesetzte Religion abgeworfen. 
Diese Tradition ist aber nicht auf Hosea be- 
schränkt, sie kehrt bei den meisten späteren 
Propheten wieder, ja, sie ist nach Seilin die 
Grundlage aller späteren messianischen Erwar- 
tungen geworden. lAm Ausgang des babyloni- 
schen Exils entwickelte sich im jüdischen Volke 
die Hoffnung, der so schmählich Gemordete 
werde von den Toten wiederkommen und sein 
reuiges Volk, vielleicht dieses nicht allein, in das 
Reich einer dauernden Seligkeit führen. Die na- 
heliegenden Beziehungen zum Schicksal eines 
späteren Religionsstifters liegen nicht auf unse- 
rem Weg. 

Ich bin natürlich wiederum nicht in der Lage, 
zu entscheiden, ob Sellin die prophetischen Stel- 
len richtig gedeutet hat. Aber wenn er recht 
hat, so darf man der von ihm erkannten Tradi- 
tion historische Glaubwürdigkeit zusprechen, 
denn solche Dinge erdichtet man nicht leicht. Es 
fehlt an einem greifbaren Motiv dafür; haben 
sie sich aber wirklich ereignet, so versteht sich 
leicht, dass man sie vergessen will. Wir brau- 

64 






//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 
chen nicht alle Einzelheiten der Tradition anzu- 
nehmen. Sellin meint, dass Schittim im Ostjor- 
danland als der Schauplatz der Gewalttat an 
Moses bezeichnet wird. Wir werden bald erken- 
nen, dass eine solche Lokalität für unsere Über- 
legungen unannehmbar ist. 
Wir entlehnen von Sellin die Annahme, dass der 
ägyptische Moses von den Juden erschlagen, die 
von ihm eingeführte Religion aufgegeben wur- 
de. Sie gestattet uns, unsere Fäden weiter zu 
spinnen, ohne glaubwürdigen Ergebnissen der 
historischen Forschung zu widersprechen. Aber 
wir wagen es, uns sonst unabhängig von den Au- 
toren zu halten, selbständig „einherzutreten auf 
der 'eigenen Spur". Der Auszug aus Ägypten 
bleibt unser Ausgangspunkt. Es muss eine be- 
trächtliche Anzahl von Personen gewesen sein, 
die mit Moses das Land verliess; ein kleiner 
Haufe hätte dem ehrgeizigen, auf Grosses abzie- 
lenden Mann nicht der Mühe gelohnt. Wahr- 
scheinlich hatten die Einwanderer lange genug 
im Lande geweilt, um sich zu einer ansehnlichen 
Volkszahl zu entwickeln. Aber wir werden ge- 
wiss nicht irren, wenn wir mit der Mehrzahl der 
Autoren annehmen, dass nur ein Bruchteil des 
späteren Judenvolkes die Schicksale in Ägypten 
erfahren hat. Mit anderen Worten, der aus 
Ägypten zurückgekehrte Stamm vereinigte sich 
später imLandstfich zwischen Ägypten undKa- 

65 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 
naan mit anderen verwandten Stämmen, die 
dort seit längerer Zeit ansässig gewesen waren. 
Ausdruck dieser Vereinigung, aus der das Volk 
Israel hervorging, war die Annahme einer neu- 
en, allen Stämmen gemeinsamen Religion, der 
des Jahve, welches Ereignis sich nach Ed. Meyer 
unter midianitischem Einfluss in Qades vollzog. 
Darauf fühlte sich das Volk stark genug, seinen 
Einbruch in das Land Kanaan zu unternehmen. 
Mit diesem Hergang verträgt es sich nicht, dass 
die Katastrophe des Moses und seiner Religion 
im Ostjordanland vorfiel, — sie muss lange vor 
der Vereinigung geschehen sein. 
Es ist gewiss, dass recht verschiedene Elemente 
zum Aufbau des jüdischen Volkes zusammenge- 
treten sind, aber den grössten Unterschied unter 
diesen Stämmen muss es gemacht haben, ob sie 
den Aufenthalt in Ägypten, und was darauf 
folgte, miterlebt hatten oder nicht. Mit Rück- 
sicht auf diesen Punkt kann man sagen, die Na- 
tion sei aus der Vereinigung von zwei Bestand- 
teilen hervorgegangen, und dieser Tatsache ent- 
sprach es, dass sie auch nach einer kurzen Perio- 
de politischer Einheit hi zwei Stücke, das Reich 
Israel und das Reich Juda, auseinanderbrach. 
Die Geschichte liebt solche "Wiederherstellungen, 
in denen spätere Verschmelzungen rückgängig 
gemacht werden und frühere Trennungen wie- 
der hervortreten. Das eindrucksvollste Beispiel 
66 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.,.. 
dieser Art schuf bekanntlich die Reformation, 
als sie die Grenzlinie zwischen dem einst römisch 
gewesenen und dem unabhängig gebliebenen 
Germanien nach einem Intervall yon mehr als 
einem Jahrtausend wieder zum Vorschein 
brachte. Für den Fall des jüdischen Volkes könn- 
ten wir eine so getreue Reproduktion des alten 
Tatbestands nicht erweisen; unsere Kenntnis die- 
ser Zeiten ist zu unsicher, um die Behauptung 
zu gestatten, im Nordreich hätten sich die von 
jeher Ansässigen, im Südreich die aus Ägypten 
Zurückgekehrten wieder zusammengefunden, 
aber, der spätere Zerfall kann auch hier nicht 
ohne Zusammenhang, mit der früheren Verlö- 
tung gewesen sein. Die einstigen Ägypter waren 
wahrscheinlich in ihrer Volkszahl geringer als 
die anderen, aber sie erwiesen sich als die kultu- 
rell Stärkeren; sie übten einen mächtigeren Ein- 
fluss auf die weitere Entwicklung des Volkes, 
weil sie eine Tradition mitbrachten, die den an- 
deren fehlte. 

Vielleicht noch etwas anderes, was greifbarer 
war als eine Tradition. Zu den grössten Rätseln 
der jüdischen Vorzeit gehört die Herkunft der 
Leviten. Sie werden von einem der zwölf Stäm- 
me Israels abgeleitet, vom Stamme Levi, aber 
keine Tradition hat anzugeben gewagt, wo die- 
ser Stamm ursprünglich sass oder welches Stück 
des eroberten Landes Kanaan ihm zugewiesen 

6j 



//. Wenn Moses ein Ägypter war..,. 
war. Sie besetzen die wichtigsten Priesterposten, 
aber sie werden doch von den Priestern unter- 
schieden, ein Levit ist nicht notwendig ein Prie- 
ster; es ist nicht der Name eine Kaste. Unsere 
Voraussetzung über die Person des Moses legt 
uns eine Erklärung nahe. Es ist nicht glaubhaft, 
dass ein grosser Herr wie der Ägypter Moses 
sich unbegleitet zu dem ihm fremden Volt be- 
gab. Er brachte gewiss sein Gefolge mit, seine 
nächsten Anhänger, seine Schreiber, sein Gesin- 
de. Das waren ursprünglich die Leviten. Die Be- 
hauptung der Tradition, Moses war ein Levit, 
scheint eine durchsichtige Entstellung des Sach- 
verhalts: Die Leviten waren die Leute des Mo- 
ses. Diese Lösung wird durch die bereits in mei- 
nem früheren Aufsatz erwähnte Tatsache ge- 
stützt, dass einzig unter den Leviten später noch 
ägyptische Namen auftauchen.*) Es ist anzuneh- 
men, dass eine gute Anzahl dieser Mosesleute der 
Katastrophe entging, die ihn selbst und seine Re- 
ligionsstiftung traf. Sie vermehrten sich in den 
nächsten Generationen, verschmolzen mit dem 
Volke, in dem sie lebten, aber sie blieben ihrem 
Herrn treu, bewahrten das Andenken an ihn 
und pflegten die Tradition seiner Lehren. Zur 

') Diese Annahme verträgt sich gut mit den Angaben 
Yahudas über den ägyptischen Einfluss auf das früh- 
jüdische Schrifttum. Siehe A. S. Yahuda, Die Sprache des 

Pentateuch in ihrenBeziehungenzumÄgyptischen, 1929. 
68 



.\ 



IL Wenn Moses ein Ägypter war.... 
Zeit der Vereinigung mit den Jahvegläubigen 
bildeten sie eine einflussreiche, den anderen kul- 
turell überlegene Minorität. 
Ich stelle es vorläufig als Annahme hin, dass 
zwischen dem Untergang des Moses und der Re- 
Hgionsstiftung in Qades zwei Generationen, 
vielleicht selbst ein Jahrhundert verlief. Ich se- 
he keinen Weg, um zu entscheiden, ob die Neo- 
Ägypter, wie ich sie hier zur Unterscheidung 
nennen möchte, die Rückkehrer also, mit ihren 
Stammverwandten zusammentrafen, nachdem 
diese bereits die Jahvereligion angenommen hat- 
ten,' oder schon vorher. Man mag das letztere 
für wahrscheinlicher halten. Für das Endergeb- 
nis macht es keinen Unterschied. Was in Qades 
vorging, war ein Kompromiss, an dem der An- 
teil der Mosesstämme unverkennbar ist. 
Wir dürfen uns hier wiederum auf das Zeugnis 
der Beschneidung berufen, die uns wiederholt, 
als Leitfossil sozusagen, die wichtigsten Dienste 
geleistet hat. Diese Sitte wurde auch in der Jah- 
vereligion Gebot, und da sie unlösbar mit Ägyp- 
ten verknüpft ist, kann ihre Annahme nur eine 
Konzession an die Mosesleute gewesen sein, die 
— oder die Leviten unter ihnen — auf dies Zei- 
chen ihrer Heiligung nicht verzichten wollten. 
Soviel wollten sie von ihrer alten Religion ret- 
ten, und dafür waren sie bereit, die neue Gott- 
heit anzunehmen und was die Midianpriester 

69 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 
von ihr erzählten. Es ist möglich, dass sie noch 
andere Konzessionen durchsetzten. Wir haben 
bereits erwähnt, dass das jüdische Ritual gewisse 
Einschränkungen im Gebrauch des Gottesna- 
mens vorschrieb. Anstatt Jahve musste Adond 
gesprochen werden. Es liegt nahe, diese Vor- 
schrift in unseren Zusammenhang zu bringen, 
aber es ist eine Vermutung ohne weiteren An- 
halt. Das Verbot des Gottesnamens ist bekannt- 
lich ein uraltes Tabu. Warum es gerade in der 
jüdischen Gesetzgebung aufgefrischt wurde, ver- 
steht man nicht; es ist nicht ausgeschlossen, dass 
dies unter dem Einfluss eines neuen Motivs ge- 
schah. Man braucht nicht anzunehmen, dass das 
Verbot konsequent durchgeführt wurde; für die 
Bildung theophorer Personennamen, also für 
Zusammensetzungen, blieb der Name des Gottes 
Jahve frei (Jochanan, Jehu, Josua). Aber es 
hatte doch mit diesem Namen eine besondere 
Bewandtnis, Es ist bekannt, dass die kritische 
Bibelforschung zwei Quellenschriften des Hexa- 
teuchs annimmt. Sie werden als J und als E be- 
zeichnet, weil die eine den Gottesnamen Jahve, 
die andere den Elohim gebraucht. Elohim zwar, 
nicht Ädonai, aber man mag der Bemerkung ei- 
nes unserer Autoren gedenken: „Die verschiede- 
nen Namen sind das deutliche Kennzeichen ur- 
sprünglich verschiedener Götter." *) 
^) Gressmann, 1. c. p. 54. 
70 



//. Wenn Moses ein Ägypter war..., 
"Wir Hessen die Beibehaltung der Beschneidung 
als Beweis dafür gelten, dass bei der Religions- 
stiftung in Qades ein Kompromiss stattgefun- 
den hat. Den Inhalt desselben ersehen wir aus 
den übereinstimmenden Berichten von J und E, 
die also hierin auf eine gemeinsame Quelle (Nie- 
derschrift oder mündliche Tradition) zurückge- 
hen. Die leitende Tendenz war, Grösse und 
Macht des neuen Gottes Jahve zu erweisen. Da 
die Mosesleute so hohen Wert auf ihr Erlebnis 
des Auszugs aus Ägypten legten, musste diese 
Befreiungstat Jahve verdankt werden, und dies 
Ereignis wurde mit Ausschmückungen versehen, 
die die schreckhafte Grossartigkeit des Vulkan- 
gottes bekundeten, wie die Rauchsäule, die sich 
nachts in eine Feuersäule wandelte, der Sturm, 
der das Meer für eine Weile trocken legte, so 
dass die Verfolger von den rückkehrenden Was- 
sermassen ertränkt wurden. Dabei wurden der 
Auszug und die Religionsstiftung, nahe aneinan- 
dergerückt, das lange Intervall zwischen beiden 
verleugnet; auch die Gesetzgebung vollzog sich 
nicht in Qades, sondern am Fuss des Gottesber- 
ges unter den Anzeichen eines vulkanischen Aus- 
bruches. Aber diese Darstellung beging ein 
schweres Unrecht gegen das Andenken des Man- 
nes Moses; er war es ja, nicht der Vulkangott, 
der das Volk aus Ägypten befreit hatte. Somit 
war man ihm eine Entschädigung schuldig und 

71 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 
fand sie darin, dass man Moses hinübernahm 
nach Qades oder an den Sind-Horeb und ihn an 
die Stelle der midianitischen Priester setzte. 
Dass man durch diese Lösung eine zweite, un- 
abweisbar dringende Tendenz befriedigte, wer- 
den wir später erörtern. Auf solche Weise hatte 
man gleichsam einen Ausgleich geschaffen; man 
Ikss Jahve nach Ägypten übergreifen, der auf 
einem Berg in Midian hauste, und Moses' Ex- 
istenz und Tätigkeit dafür nach Qades und bis 
ins Ostjordanland. Er wurde so mit der Person 
des späteren Religionsstifters, dem Schwieger- 
sohn des Midianiters Jethro verschmolzen, 'dem 
er seinen Namen Moses lieh. Aber Yon diesem 
anderen Moses wissen wir nichts Persönliches 
auszusagen, — er wird durch den anderen, den 
ägyptischen Moses so völlig verdunkelt. Es sei 
denn, dass man die Widersprüche in der Cha- 
rakteristik Moses' aufgreift, die sich im bibli- 
schen Bericht finden. Er wird uns oft genug als 
herrisch, jähzornig, ja gewalttätig geschildert, 
und doch wird auch von ihm gesagt, er sei der 
sanftmütigste und geduldigste aller Menschen 
gewesen. Es ist klar, diese letzteren Eigenschaf- 
ten hätten dem Ägypter Moses, der mit seinem 
Volk so Grosses und Schweres vorhatte, wenig 
getaugt; vielleicht gehörten sie dem anderen, 
dem Midianiter, an. /Ich glaube, man ist berech- 
tigt, die beiden Personen wieder von einander 
ji 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 
zu scheiden und anzunehmen, dass der ägypti- 
sche Moses nie in Qades war und den Namen 
Jahve nie gehört hatte und dass der midianiti- 
sche Moses Ägypten nie betreten hatte und von 
Aton nichts wusste. Zum Zwecke der Verlötung 
der beiden Personen fiel der Tradition oder der 
Sagenbildung die Aufgabe zu, den ägyptischen 
Moses nach Midian zu bringen, und wir haben 
gehört, dass mehr als eine Erklärung hiefür im 
Umlauf war. 

VI 

Wir sind darauf vorbereitet, neuerdings den Ta- 
del zu hören, dass wir unsere Rekonstruktion 
der Urgeschichte des Volkes Israel mit allzu- 
grosser, mit unberechtigter Sicherheit vorgetra- 
gen haben. Diese Kritik wird uns nicht schwer 
treffen, da sie in unserem eigenen Urteil einen 
Widerhall findet. Wir wissen selbst, unser Auf- 
bau hat seine schwachen Stellen, aber er hat auch 
seine starken Seiten. Im ganzen überwiegt der 
Eindruck, dass es der Mühe lohnt, das Werk in 
der eingeschlagenen Richtung fortzusetzen. Der 
uns vorliegende biblische Bericht enthält wert- 
volle, ja unschätzbare historische Angaben, die 
aber durch den Einfluss mächtiger Tendenzen 
entstellt und mit den Produktionen dichterischer 
Erfindung ausgeschmückt worden sind. Wäh- 
rend unserer bisherigen Bemühungen haben wir 

73 



IL Wenn Moses ein Ägypter war.... 
eine dieser entstellenden Tendenzen erraten 
können. Dieser Fund zeigt uns den weiteren 

Weg. "Wir sollen andere solcher Tendenzen auf- 
decken. Haben wir Anhaltspunkte, um die 
durch sie erzeugten Entstellungen zu erkennen, 
so werden wir hinter ihnen neue Stücke des wah- 
ren Sachverhalts zum Vorschein bringen. 
Lassen wir uns zunächst von der kritischen Bi- 
belforschung erzählen, was sie über die Entste- 
hungsgeschichte des Hexateuchs (der fünf Bü- 
cher Moses' und des Buches Josua, die uns hier 
allein interessieren) zu sagen weiss.*) Als älteste 
Quellenschrift gilt J, der JaBvist, den man in 
neuester Zeit als den Priester Ekjatar, einen 
Zeitgenossen des Königs David, erkennen will.^) 
Etwas später, man weiss nicht, um wie viel, setzt 
man den sogenannten Elohisten an, der dem 
Nordreich angehört.^) Nach dem Untergang des 
Nordreiches 722 hat ein jüdischer Priester 
Stücke von J und E miteinander vereinigt und 
eigene Beiträge dazugetan. Seine Kompilation 
wird als JE bezeichnet. Im siebenten Jahrhundert 
kommt das Deuteronomium, das fünfte Buch, 
hinzu, angeblich als Ganzes im Tempel neu ge- 

') Encydopedia Britannica, XI. Auflage, 1910. Artikel: 

Bible. 

^) Siehe Auerbach, "Wüste und Gelobtes Land, 1932. 

^) Jahvist und Elohist wurden zuerst 1753 von Astruc 

unterschieden. 

74 



IL Wenn Moses ein Ägypter war.... 

fanden. In di& Zelt nach der Zerstörung des 
Tempels (586), während des Exils und nach der 
Rückkehr wird die Umarbeitung versetzt, die 
man den „Priesterkodex" nennt; im fünften 
Jahrhundert erfährt das Werk seine endgültige 
Redaktion und ist seither nicht wesentlich ver- 
ändert worden.*) 

Die Geschichte des Königs David und seiner 
Zeit ist höchstwahrscheinlich das Werk eines 
Zeitgenossen. Es ist richtige Geschichtsschrei- 
bung, fünfhundert Jahre vor Herodot, dem 
„Vater der Geschichte". Man nähert sich dem 
Verständnis dieser Leistung, wenn man im Sin- 
ne unserer Annahme an ägyptischen Einfluss 
denkt.*) Es ist selbst die Vermutung aufgetaucht, 

^) Es ist historisch gesichert, dass die endgültige Fixie- 
rung des jüdischen Typus der Erfolg der Reform von 

Esra und Nehemia im fünften Jahrhundert vor Christi 
Geburt war, also nachexilisch, unter der den Juden wohl- 
wollenden Perserherrschaft. Nach unserer Rechnung 
waren damals etwa 900 Jahre seit dem Auftreten Mo- 
ses' vergangen. In dieser Reform wurde mit den Bestim- 
mungen Ernst gemacht, welche die Heiligung des ge- 
samten Volkes bezweckten, wurde die Absonderung von 
den Umlebenden durch das Verbot der Mischehen 
durchgesetzt, der Pentateuch, das eigentliche Gesetz- 
buch, in seine definitive Form gebracht, jene Umarbei- 
tung abgeschlossen, die als Priesterkodex bekannt ist. Es 
scheint aber gesichert, dass die Reform keine neuen 
Tendenzen einführte, sondern frühere Anregungen auf- 
nahm und befestigte. 
') Vgl Yahuda L c. 

75 



//, Wenn Moses ein Ägypter war.... 
dass die Israeliten jener Urzeit, also die Schrei- 
ber des Moses, nicht unbeteiligt an der Erfin- 
dung des ersten Alphabets gewesen sind.^) In- 
wieweit die Berichte über frühere Zeiten auf 
frühe Aufzeichnungen oder auf mündliche Tra- 
ditionen zurückgehen und welche Zeitintervalle 
in den einzelnen Fällen zwischen Ereignis und 
Fixierung liegen, entzieht sich natürlich unserer 
Kenntnis. Der Text aber, wie er uns heute vor- 
liegt, erzählt uns genug auch über seine eigenen 
Schicksale. Zwei einander entgegengesetzte Be- 
handlungen haben ihre Spuren an ihm zurück- 
gelassen. Einerseits haben sich Bearbeitungen 
seiner bemächtigt, die ihn im Sinne ihrer gehei- 
men Absichten verfälscht, verstümmelt und er- 
weitert, bis in sein Gegenteil verkehrt haben, an- 
derseits hat eine schonungsvolle Pietät über ihm 
gewaltet, die alles erhalten wollte, wie sie es vor- 
fand, gleichgültig, ob es zusammenstimmte oder 
sich selbst aufhob. So sind fast in allen Teilen auf- 
fällige Lücken, störende Wiederholungen, greif- 
bare Widersprüche zustandegekommen, Anzei- 
chen, die uns Dinge verraten, deren Mitteilung 
nicht beabsichtigt war. Es ist bei der Entstellung 

') "Wenn sie unter dem Druck des Bilderverbots stan- 
den, hatten sie sogar ein Motiv, die hieroglyphlsche Bil- 
derschrift zu verlassen, während sie ihre Schriftzeichen 
für den Ausdruck einer neuen Sprache zurichteten. — 
Vgl. Auerbach, 1. c. p. 142. 

76 



//. Wenn Moses ein Ägypter war..., 

eines Textes ähnlich wie bei einem Mord. Die 
Schwierigkeit liegt nicht in der Ausführung der 

Tat, sondern in der Beseitigung ihrer Spuren. 
Man möchte dem Worte „Entstellung" den 
Doppelsinn verleihen, auf den es Anspruch hat, 
obwohl es heute keinen Gebrauch davon macht. 
Es sollte nicht nur bedeuten: in seiner Erschei- 
nung verändern, sondern auch: an eine andere 
Stelle bringen, anderswohin verschieben. Somit 
dürfen wir in vielen Fällen von Textentstellung 
darauf rechnen, das Unterdrückte und Verleug- 
nete doch irgendwo versteckt zu finden, wenn 
auch abgeändert und aus dem Zusammenhang 
gerissen. Es wird nur nicht immer leicht sein, es 
zu erkennen. 

Die entstellenden Tendenzen, deren wir hab- 
haft werden wollen, müssen schon auf die Tra- 
ditionen vor allen Niederschriften eingewirkt 
haben. Die eine derselben, vielleicht die stärkste 
von allen, haben wir bereits entdeckt. Wir sag- 
ten, mit der Einsetzung des neuen Gottes Jahve 
in Qades ergab sich die Nötigung, etwas für 
seine Verherrlichung zu tun. Es ist richtiger zu 
sagen: man musste ihn installieren, Raum für 
ihn schaffen, die Spuren früherer Religionen 
verwischen. Das scheint für die Religion der an- 
sässigen Stämme restlos gelungen zu sein, wir 
hören nichts mehr von ihr. Mit den Rückkehrern 
hatte man es nicht so leicht, sie Hessen sich den 

77 



IL Wenn Moses ein Ägypter war.... 
Auszug aus Ägypten, den Mann Moses und die 
Beschneidung nicht rauben. Sie waren also in 

Ägypten gewesen, aber sie hatten es wieder ver- 
lassen, und von nun an sollte jede Spur des ägyp- 
tischen Einflusses verleugnet werden. Den Mann 
Moses erledigte man, indem man ihn nach Mi- 
dian und Qades versetzte und ihn mit dem Jah- 
vepriester der Religionsstiftung verschmelzen 
Hess. Die Beschneidung, das gravierendste An- 
zeichen der Abhängigkeit von Ägypten, musste 
man beibehalten, aber man versäumte die Ver- 
suche nicht, diese Sitte aller Evidenz zum Trotz 
von Ägypten abzulösen. Nur als absichtlichen 
Widerspruch gegen den verräterischen Sachver- 
halt kann man die rätselhafte, unverständlich 
stilisierte Stelle in Exodus auffassen, dass Jahve 
einst dem Moses gezürnt, weil er die Beschnei- 
dufig vernachlässigt hatte, und dass sein midia- 
nitisches Weib durch schleunige Ausführung der 
Operation sein Leben gerettet! Wir werden als- 
bald von einer anderen Erfindung hören, um 
das unbequeme Beweisstück unschädlich zu ma- 
chen. 

Man kann es kaum als das Auftreten einer neu- 
en Tendenz bezeichnen, es ist vielmehr nur die 
Fortführung der früheren, wenn sich Bemühun- 
gen zeigen, die direkt in Abrede stellen, dass 
Jahve ein neuer, für die Juden fremder Gott 
gewesen sei. In dieser Absicht werden die Sagen 

78 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 

von den Urvätern des Volkes, Abraham, Isaak 
und Jakob, herangezogen. Jahve versichert, dass 

er schon der Gott dieser Väter gewesen sei; frei- 
lich, muss er selbst zugestehen, hätten sie ihn 
nicht unter diesem seinem Namen verehrt.*) 
Er fügt nicht hinzu, unter welchem anderen. 
Und hier findet sich der Anlass zu einem ent- 
scheidenden Streich gegen die ägyptische Her- 
kunft der Beschneidungssitte. Jahve hat sie be- 
reits von Abraham verlangt, hat sie als Zeichen 
des Bundes zwischen sich und Abrahams Nach- 
kommen eingesetzt. Aber das war eine besonders 
ungeschickte Erfindung. Als Abzeichen, das ei- 
nen von anderen absondern und vor anderen 
bevorzugen soll, wählt man etwas, was bei den 
anderen nicht vorzufinden ist, und nicht etwas, 
was Millionen anderer in gleicher Weise aufzei- 
gen können. Ein Israelit, nach Ägypten versetzt, 
hätte ja alle Ägypter als Bundesbrüder, als Brü- 
der in Jahve, anerkennen müssen. Die Tatsache, 
dass die Beschneidung in Ägypten heimisch war, 
konnte den Israeliten, die den Text der Bibel 
schufen, unmöglich unbekannt sein. Die bei Ed. 
Meyer erwähnte Stelle aus Josua gibt es selbst 
unbedenklich zu, aber sie sollte eben um jeden 
Preis verleugnet werden. 

') Die Einschränkungen im Gebrauch dieses neuen Na- 
mens werden dadurch nicht verständlicher, wohl aber 
suspekter. 

79 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 

An religiöse Mythenbildungen wird man nicht 
den Anspruch stellen dürfen, dass sie auf logi- 
schen Zusammenhalt grosse Rücksicht nehmen. 

Sonst hätte das Volksempfinden berechtigten 
Anstoss an dem Verhalten einer Gottheit finden 
können, die mit den Ahnherren einen Vertrag 
mit gegenseitigen Verpflichtungen schliesst, sich 
dann jahrhundertelang um die menschlichen 
Partner nicht kümmert, bis es ihr plötzlich ein- 
fällt, sich den Nachkommen von neuem zu of- 
fenbaren. Noch mehr befremdend wirkt die Vor- 
stellung, dass ein Gott sich mit einem Male ein 
Volk „auswählt", es zu seinem Volk und sich zu 
seinem Gott erklärt. Ich glaube, es ist der einzige 
solche Fall in der Geschichte der menschlichen 
Religionen. Sonst gehören Gott und Volk un- 
trennbar zusammen, sie sind von allem Anfang 
an Eines; man hört wohl manchmal davon, dass 
ein Volk einen anderen Gott annimmt, aber nie, 
dass ■ein Gott sich ein anderes Volk aussucht. 
Vielleicht nähern wir uns dem Verständnis die- 
ses einmaligen Vorgangs, wenn wir der Bezie- 
hungen zwischen Moses und dem Judenvolke 
gedenken. Moses hatte sich zu den Juden herab- 
gelassen, sie zu seinem Volk gemacht; sie waren 
sein „auserwähltes Volk".*) 

') Jahve war unzweifelhaft ein Vulkangott. Für Ein- 
wohner Ägyptens bestand kein Anlass, ihn zu verehren. 
Ich bin gewiss nicht der erste, der von dem Gleichklang 

80 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 
Die Einbeziehung der Urväter diente auch noch 
einer anderen Absicht. Sie hatten in Kanaan ge- 
lebt, ihr Andenken war an bestimmte örtlich- 
keiten des Landes geknüpft. Möglicherweise wa- 
ren sie selbst ursprünglich kanaanäische Heroen 
oder lokale Göttergestalten, die dann von den 
eingewanderten Israeliten für ihre Vorgeschich- 
te mit Beschlag belegt wurden. Wenn man sich 
auf sie berief, behauptete man gleichsam seine 
Bodenständigkeit und verwahrte sich gegen das 
Odium, das an dem landfremden Eroberer haf- 
tete. Es war eine geschickte Wendung, dass der 
Gott Jahve ihnen nur wiedergab, was ihre Vor- 
fahren einmal besessen hatten. 

des Namens Jahve mit der "Wurzel des anderen Götter- 
namens Ju-piter (JoTis) betroffen wird. Der mit der 
Abkürzung des hebräischen Jahve zusammengesetzte 
Name Jochanan (etwa: Gotthold, punisches Äquiva- 
lent: Hannibal) ist in den Formen Johann, John, Jean, 
Juan, der beliebteste Vorname der europäische Chri- 
stenheit geworden. Wenn die Italiener ihn als Giovanni 
wiedergeben und dann einen Tag der Woche Giovedi 
heissen, so bringen sie eine Ähnlichkeit wieder ans Licht, 
die möglicherweise nichts, vielleicht sehr viel bedeutet. 
Es eröffnen sich hier weitreichende, aber auch sehr un- 
sichere Perspektiven. Es scheint, dass die Länder um das 
östliche Becken des Mittelmeers in jenen dunkeln, der 
Geschichtsforschung kaum eröffneten Jahrhunderten 
der Schauplatz häufiger und heftiger vulkanischer Aus- 
brüche waren, die den Umwohnern den stärksten Ein- 
druck machen mussten. Evans nimmt an, dass auch die 
endgültige Zerstörung des IfiROS-Palastes in Knossos die 

8i 



IL Wenn Moses ein Ägypter war.... 
In den späteren Beiträgen zum biblischen Text 
setzte sich die Absicht durch, die Erwähnung 
von Qades zu vermeiden. Die Stätte der Reli- 
gionsstiftung wurde endgültig der Gottesberg 
Sinai-Horeb. Das Motiv hiefür ist nicht klar er- 
sichtlich; vielleicht wollte man nicht an denEin- 
fluss von Midian gemahnt werden. Aber alle 
späteren Entstellungen, insbesondere der Zeit 
des sogenannten. Priesterkodex, dienen einer an- 
deren Absicht. Man brauchte nicht mehr Berich- 
te über Begebenheiten im gewünschten Sinne ab- 
zuändern, denn dies war längst geschehen. Son- 
dern man bemühte sich, Gebote und Institutio- 
nen der Gegenwart in frühe Zeiten zurückzu- 

Foige eines Erdbebens war. Auf Kreta wurde damals, 
wie wahrscheinlich allgemein in der ägäischen Welt, 
die grosse Muttergottheit verehrt. Die "Wahrnehmung, 
dass sie nicht imstande war, ihr Haus gegen die An- 
griffe einer stärkeren Macht zu schützen, mag dazu bei- 
getragen haben, dass sie einer männlichen Gottheit den 
Platz räumen musste, und dann hatte der Vuikangott 
das erste Anrecht darauf, sie zu ersetzen. Zeus ist ja 
immer noch der „Erderschütterer". Es ist wenig zweifel- 
haft, dass sich in jenen dunkeln Zeiten die Ablösung der 
Muttergottheiten durch männliche Götter (die vielleicht 
ursprünglich Söhne waren?) vollzog. Besonders ein- 
drucksvoll ist das Schicksal der Pallas Athene, die ge- 
wiss die lokale Form der Muttergottheit war, durch den 
religiösen Umsturz zur Tochter herabgesetzt, ihrer eige- 
nen Mutter beraubt und durch die ihr auferlegte Jung- 
fräulichkeit dauernd von der Mutterschaft ausgeschlos- 
sen wurde. 

82 



//. Wenn Moses ein Ägypter war,... 
versetzen, in der Regel sie auf mosaische Gesetz- 
gebung zu begründen, um daher ihren Anspruch 
auf Heiligkeit und Verbindlichkeit abzuleiten. 
So sehr man auf solche Weise das Bild der Ver- 
gangenheit verfälschen mochte, dies Verfahren 
entbehrt nicht einer bestimmten psychologi- 
schen Berechtigung. ; Es spiegelte die Tatsache 
' wider, dass im Laufe der langen Zeiten — vom 
Auszug aus Ägypten bis zur Fixierung des Bi- 
beltextes unter Esra und Nehemia verflossen et- 
wa 800 Jahre — die Jahvereligion sich zurück- 
gebildet hatte zur Obereinstimmung, vielleicht 
bis zur Identität mit der ursprünglichen Reli- 
gion des Moses, 

Und dies ist das wesentliche Ergebnis, der schick- 
salsschwere Inhalt der jüdischen Religionsge- 
schichte. 

VII 

Unter all den Begebenheiten der Vorzeit, die die 
späteren Dichter, Priester und Geschichtsschrei- 
ber zu bearbeiten unternahmen, hob sich eine 

heraus, deren Unterdrückung durch die nächst- 
liegenden und besten menschlichen Motive ge- 
boten war. Es war die Ermordung des grossen 
Führers und Befreiers Moses, die SeUin aus An- 
deutungen bei den Propheten erraten hat. Man 
kann die Aufstellung Sellins nicht phantastisch 
heissen, sie ist wahrscheinlich genug. Moses, aus 

83 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 
der Schule Ikhnatons stammend, bediente sich 
auch keiner anderen Methoden als der König, 
er befahl, drängte dem Volke seinen Glauben 
auf .^) Vielleicht war die Lehre des Moses noch 
schroffer als die seines Meisters, er brauchte die 
Anlehnung an den Sonnengott nicht festzuhal- 
ten, die Schule von On hatte für sein Fremdvolk 
keine Bedeutung. Moses wie Ikhnaton fanden 
dasselbe Schicksal, das aller aufgeklärten Des- 
poten wartet. Das Judenvolk des Moses war 
ebensowenig imstande, eine so hoch vergeistigte 
Religion zu ertragen, in ihren Darbietungen ei- 
ne Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu finden, wie 
die Ägypter der i8ten Dynastie. In beiden Fäl- 
len geschah dasselbe, die Bevormundeten und 
Verkürzten erhoben sich und warfen die Last 
der ihnen auferlegten Religion ab. Aber wäh- 
rend die zahmen Ägypter damit warteten, bis 
das Schicksal die geheiligte Person des Pharao 
beseitigt hatte, nahmen die wilden Semiten das 
Schicksal in ihre Hand und räumten den Tyran- 
nen aus dem Wege.'^) 

Auch kann man nicht behaupten, dass der erhal- 
tene Bibeltext uns nicht auf einen solchen Aus- 

') In jenen Zeiten war eine andere Art der Beeinflus- 
sung auch kaum möglich. 

^) Es ist wirklich bemerkenswert, wie wenig man in der 
jahrtausendelangen ägyptischen Geschichte von gewalt- 
samer Beseitigung oder Ermordung eines Pharao hört. 

84 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 
gang Moses' vorbereitet. Der Bericht über die 
„"Wüstenwanderung" — die für die Zeit der 
Herrschaft Moses' stehen mag — schildert eine 
Kette von ernsthaften Empörungen gegen seine 
Autorität, die auch — nach Jahves Gebot — 
durch blutige Züchtigung unterdrückt werden. 
Man kann sich leicht vorstellen, dass einmal ein 
solcher Aufstand ein anderes Ende nahm, als der 
Text es haben will. Auch der Abfall des Volkes 
von der neuen Religion wird im Text erzählt, 
als Episode freilich. Es ist die Geschichte vom 
goldenen Kalb, in der mit geschickter Wendung 
das' symbolisch zu verstehende Zerbrechen der 
Gesetzestafeln („er hat das Gesetz gebrochen") 
Moses selbst zugeschoben und durch seine zorni- 
ge Entrüstung motiviert wird. 
Es kam eine Zeit, da man den Mord an Moses 
bedauerte und zu vergessen suchte. Sicherlich 
war es so zur Zeit des Zusammentreffens in 
Qades. Aber wenn man den Auszug näher her- 
anrückte an die Religionsstiftung in der Oase 
und Moses an Stelle des anderen an ihr mitwir- 
ken liess, so hatte man nicht nur den Anspruch 
der Mosesleute befriedigt, sondern auch die pein- 
liche Tatsache seiner gewaltsamen Beseitigung 

Ein Vergleich, z. B. mit der assyrischen Geschichte, 
muss diese Verwunderung steigern. Natürlich kann dies 

daher kommen, dass die Geschichtsschreibung bei den 
Ägyptern ausschliesslich offiziellen Absichten diente. 

85 



IL Wenn Moses ein Ägypter war..., 
erfolgreich verleugnet. In Wirklichkeit ist es 
sehr unwahrscheinlich, dass Moses an den Vor- 
gängen in Qades hätte teilnehmen können, auch 
wenn sein Leben nicht verkürzt worden wäre. 
Wir müssen hier den Versuch machen, die zeit- 
lichen Verhältnisse dieser Begebenheiten aufzu- 
klären. Wir haben den Auszug aus Ägypten in 
die Zeit nach dem Verlöschen der 1 8ten Dyna- 
stie versetzt (1350), Er mag damals oder eine 
Weile später erfolgt sein, denn die ägyptischen 
Chronisten haben die darauffolgenden Jahre 
der Anarchie in die Regierungszeit Haremhabs, 
der ihr ein Ende machte und bis 131 5 herrschte, 
eingerechnet. Der nächste, aber auch der einzige 
Anhalt für die Chronologie ist durch die Stele 
Merneptahs gegeben (1225 — 1215), die sich des 
Sieges über Isiraal (Israel) und der Verwüstung 
ihrer Saaten (?) rühmt. Die Verwertung dieser 
Inschrift ist leider zweifelhaft, man lässt sie als 
Beweis dafür gelten, dass israelitische Stämme 
damals schon in Kanaan ansässig waren.^) Ed. 
Meyer schliesst aus dieser Stele mit Recht, dass 
Merneptah nicht der Pharao des Auszugs gewe- 
sen sein kann, wie vorher gern angenommen 
wurde. Der Auszug muss einer früheren Zeit an- 
gehören. Die Frage nach dem Pharao des Aus- 
zugs erscheint uns überhaupt müssig. Es gab kei- 
nen Pharao des Auszugs, da dieser in ein Inter- 
') Ed. Meyer, 1. c. p. 222, 
86 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 

regnum fiel. Aber auf das mögliche Damm der 
Vereinigung und Religionsannahme in Qades 
fällt auch durch die Entdeckung derMerneptah- 

Stele kein Licht. Irgendwann zwischen 1350 
und 121 5 ist alles, was wir mit Sicherheit sagen 
können. Innerhalb dieses Jahrhunderts, vermu- 
ten wir, 'kommt der Auszug dem Eingangsda- 
tum sehr nahe, ist der Vorgang in Qades vom 
Enddatum nicht zu weit entfernt. Den grös- 
seren Teil des Zeitraumes möchten wir für 
das Intervall zwischen beiden Ereignissen in 
Anspruch nehmen. Wir brauchen nämlich eine 
längere Zeit, bis sich nach der Ermordung Mo- 
ses' die Leidenschaften bei den Rückkehrern be- 
ruhigt haben und der Einfluss der Mosesleute, 
der Leviten, so gross geworden ist, wie dasKom- 
promiss in Qades es voraussetzt. Zwei Genera- 
tionen, 60 Jahre, würden Mefür etwa ausreichen, 
aber es geht nur knapp zusammen. Die Folge- 
rung aus der Merneptah-Stele kommt uns zu 
früh, und da wir erkennen, dass in unserem Auf- 
bau hier eine Annahme nur auf einer anderen 
begründet ist, gestehen wir zu, dass diese Dis- 
kussion eine schwache Seite unserer Konstruk- 
tion aufdeckt. Leider ist alles, was mit der Nie- 
derlassung des jüdischen Volkes in Kanaan zu- 
sammenhängt so ungeklärt und verworren. Es 
bleibt uns etwa die Auskunft, dass der Name 
auf der Israelstele sich nicht auf die Stämme be- 

87 



//. Wenn Moses ein Ägypter war..., 
zieht, deren Schicksale wir zu verfolgen bemüht 

sind und die zum späteren Volk Israel zusam- 
mengetreten sind. Ist doch auch der Name der 
Habiru = Hebräer aus der Amarnazeit auf dies 
Volk übergegangen. 

"Wann immer die Vereinigung der Stämme zur 
Nation durch die Annahme einer gemeinsamen 
Religion vor sich ging, es hätte leicht ein für die 
Weltgeschichte recht gleichgültiger Akt werden 
können. Die neue Religion wäre vom Strom der 
Ereignisse weggeschwemmt yfotAcn,Jahve\mxe. 
seinen Platz einnehmen dürfen in der Prozes- 
sion gewesener Götter, die der Dichter Flaubert 
gesehen hat, und von seinem Volk wären alle 
zwölf Stämme „verloren" gegangen, nicht nur 
die zehn, die von den Angelsachsen so lange ge- 
sucht worden sind. Der Gott Jahve, dem der mi- 
dianitische Moses damals ein neues Volk zuführ- 
te, war wahrscheinlich in keiner Hinsicht ein 
hervorragendes Wesen. Ein roher, engherziger 
Lokalgott, gewalttätig und blutdürstig; er hatte 
seinen Anhängern versprochen, ihnen das Land 
zu geben, in dem „Milch und Honig fliesst",und 
forderte sie auf, dessen gegenwärtige Einwoh- 
ner auszurotten „mit der Schärfe des Schwer- 
tes". Man darf sich verwundern, dass trotz aller 
Umarbeitungen in den biblischen Berichten so 
viel stehen gelassen wurde, um sein ursprüngli- 
ches Wesen zu erkennen. Es ist nicht einmal si- 
88 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 

eher, dass seine Religion ein wirkliclier Mono- 
theismus war, dass sie den Gottheiten anderer 
Völker die Gottesnatur bestritt. Es reichte wahr- 
scheinlich hin, dass der eigene Gott mächtiger 
war als alle fremden Götter. Wenn dann in der 
Folge alles anders verlief, als solche Ansätze er- 
warten Hessen, so können wir die Ursache Me- 
für nur in einer einzigen Tatsache finden. Einem 
Teil des Volkes hatte der ägyptische Moses eine 
andere, höher vergeistigte Gottesvorstellung ge- 
geben, die Idee einer einzigen, die ganze "Welt 
umfassenden Gottheit, die nicht minder allie- 
bend war als allmächtig, die, allem Zeremoniell 
und Zauber abhold, den Menschen ein Leben in 
Wahrheit und Gerechtigkeit zum höchsten Ziel 
setzte. Denn so unvollkommen unsere Berichte 
über die ethische Seite der Atonreiigioa sein mö- 
gen, es kann nicht bedeutungslos sein, dass Ikh- 
naton sich in seinen Inschriften regelmässig be- 
zeichnete als „lebend in Maat" (Wahrheit, Ge- 
rechtigkeit).*) Auf die Dauer machte es nichts 
aus, dass das Volk, wahrscheinlich nach kurzer 
Zeit, die Lehre des Moses verwarf und ihn selbst 
beseitigte. Es blieb die Tradition davon, und ihr 

^) Seine Hymnen betonen nicht nur die Universalität 
und Einzigkeit Gottes, sondern auch dessen liebevolle 
Fürsorge für alle Geschöpfe, fordern zur Freude an der 

Natur und zum Genuss ihrer Schönheit auf. Vgl. 
Breasted, The Dawn of Comcience. 

89 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 

Einfluss erreichte, allerdings erst allmählich im 
Laufe der Jahrhunderte, was Moses selbst ver- 
sagt geblieben war. Gott Jahve war zu unver- 
dienten Ehren gekommen, als man von Qades 
an die Befreiungstat des Moses auf seine Rech- 
nung schrieb, aber er hatte für diese Usurpation 
schwer zu büssen. Der Schatten des Gottes, des- 
sen Stelle er eingenommen, wurde stärker als er; 
am Ende der Entwicklung war hinter seinem 
Wesen das des vergessenen mosaischen Gottes 
zum Vorschein gekommen. Niemand zweifelt 
daran, dass nur die Idee dieses anderen Gottes 
das Volk Israel alle Schicksalsschläge überstehen 
liess und es bis in unsere Zeiten am Leben er- 
hielt. 

Beim Endsieg des mosaischen Gottes über Jahve 
kann man den Anteil der Leviten nicht mehr 
feststellen. Diese hatten sich seinerzeit für Mo- 
ses eingesetzt, als das Kompromiss in Qades ge- 
schlossen wurde, in noch lebendiger Erinnerung 
an den Herrn, dessen Gefolge und Landsgenos- 
sen sie waren. In den Jahrhunderten seither wa- 
ren sie mit dem Volk verschmolzen oder mit der 
Priesterschaft, und es war die Hauptleistung der 
Priester geworden, das Ritual zu entwickeln und 
zu überwachen, überdies die heiligen Nieder- 
schriften zu behüten und nach ihren Absichten 
zu bearbeiten. Aber war nicht aller Opferdienst 
und alles Zeremoniell im Grunde nur Magie und 
90 



//. Wenn Moses ein Ägypter war.... 
Zauberwesen, wie es die alte Lehre Moses* be- 
dingungslos verworfen hatte? Da erhoben sich 
aus der Mitte des Volkes in einer nicht mehr ab- 
reissenden Reihe Männer, nicht durch ihre Her- 
kunft mit Moses verbunden, aber von der gros- 
sen und mächtigen Tradition erfasst,die allmäh- 
lich im Dunkeln angewachsen war, und diese 
Männer, die Propheten, waren es, die unermüd- 
lich die alte mosaische Lehre verkündeten, die 
Gottheit verschmähe Opfer und Zeremoniell, sie 
fordere nur Glauben und ein Leben in Wahr- 
heit «od Gerechtigkeit („Maat"). Die Bemühun- ' 
gen der Propheten hatten dauernden Erfolg; die 
Lehren, mit denen sie den alten Glauben wieder- 
herstellten, wurden zum bleibenden Inhalt der 
jüdischen Religion. Es ist Ehre genug für das jü- 
dische Volk, dass es eine solche Tradition erhal- 
ten und Männer hervorbringen konnte, die ihr 
eine Stimme liehen, auch wenn die Anregung da- 
zu von aussen, von einem grossen fremden 
Mann, gekommen war. 

Ich würde mich mit dieser Darstellung nicht si- 
cher fühlen, wenn ich mich nicht auf das Urteil 
anderer, sachkundiger Forscher berufen könn- 
te, die die Bedeutung Mos'es' für die jüdische Re- 
ligionsgeschichte im nämlichen Lichte sehen, 
auch wenn sie seine ägyptische Herkunft nicht 
anerkennen. So sagt z. B. Sellin: *) „Mithin ha- 
I. c. p. 52. 

91 



//, Wenn Moses ein Ägypter war.... 
ben wir uns die eigentliche Religion des Mose, 
den Glauben an den einen sittlichen Gott, den er 
verkündet, seitdem von vornherein als das Be- 
sitztum eines kleinen Kreises im Volke vorzu- 
stellen. Von vornherein dürfen wir nicht erwar- 
ten, jenen in dem offiziellen Kulte, in der Reli- 
gion der Priester, in dem Glauben des Volkes an- 
zutreffen. Wir können von vornherein nur da- 
mit rechnen, dass bald hie bald da einmal ein 
Funke wieder auftaucht von dem Geistesbrand, 
den er einst entzündet hat, dass seine Ideen nicht 
ausgestorben sind, sondern hie und da in alier 
Stille auf Glaube und Sitte eingewirkt haben, bis 
sie etwa früher oder später unter der Einwir- 
kung besonderer Erlebnisse oder von seinem 
Geist besonders erfasster Persönlichkeiten ein- 
mal wieder stärker hervorbrachen und Einfluss 
gewannen auf breitere Volksmassen. Unter die- 
sem Gesichtswinkel ist von vornherein die alt- 
israelitische Religionsgeschichte zu betrachten. 
"Wer nach der Religion, wie sie uns nach den Ge- 
schichtsurkunden im Volksleben der ersten fünf 
Jahrhunderte in Kanaan entgegentritt, etwa die 
mosaische Religion konstruieren- wollte, der 
würde den schwersten methodischen Fehler be- 
gehen." Und deutlicher noch Volz.^) Er meint, 
„dass Moses' himmelhohes "Werk zunächst nur 
ganz schwach und spärlich verstanden und 
*) Paul Volz, Mose, Tübingen 1907 (p. 64). 
92 



II. Wenn Moses ein Ägypter war.... 
durchgeführt wurde, bis es im Lauf der Jahr- 
hunderte mehr und mehr eindrang und endlich 
in den grossen Propheten gleichgeartete Geister 
fand, die das Werk des Einsamen fortsetzten.'* 
Hiemit wäre ich zum Abschluss meiner Arbeit 
gelangt, die ja nur der einzigen Absicht dienen 
sollte, die Gestalt eines ägyptischen Moses in den 
Zusammenhang der jüdischen Geschichte einzu- 
fügen. Um unser Ergebnis in der kürzesten For- 
mel auszudrücken: Zu den bekannten Zweihei- 
ten dieser Geschichte — zwei Volksmassen, die 
zur Bildung der Nation zusammentreten, zwei 
Reiche, in die diese Nation zerfällt, zwei Got- 
tesnamen in den Quellenschriften der Bibel — 
fügen wir zwei neue hinzu: Zwei Religionsstif- 
tungen, die erste durch die andere verdrängt 
und später doch siegreich hinter ihr zum Vor- 
schein gekommen, zwei Religionsstifter, die bei- 
de mit dem gleichen Namen Moses benannt 
werden und deren Persönlichkeiten wir von ein- 
ander zu sondern haben. Und alle diese Zwei- 
heiten sind notwendige Folgen der ersten, der 
Tatsache, dass der eine Bestandteil des Volkes 
ein traumatisch zu wertendes Erlebnis gehabt 
hatte, das dem anderen fern geblieben war. Dar- 
über hinaus gäbe es noch sehr viel zu erörtern, 
zu erklären und zu behaupten. Erst dann Hesse 
sich eigentlich das Interesse an unserer rein hi- 
storischen Studie rechtfertigen. Worin die eigent- 

93 



IL Wenn Moses ein Ägypter war.... 
liehe Natur einer Tradition besteht und worauf 
ihre besondere Macht beruht, wie unmöglich es 
ist, den persönlichen Einfiuss einzelner grosser 
Männer auf die Weltgeschichte zu leugnen, wel- 
chen Frevel an der grossartigen Mannigfaltig- 
keit des Menschenlebens man begeht, wenn man 
nur Motive aus materiellen Bedürfnissen aner- 
kennen will, aus welchen Quellen manche, be- 
sonders die religiösen, Ideen die Kraft schöpfen, 
mit der sie Menschen wie Völker unterjochen — 
all dies am Spezialfall der jüdischen Geschichte 
zu studieren, wäre eine verlockende Aufgabe. 
Eine solche Fortsetzung meiner Arbeit würde 
den Anschluss finden an Ausführungen, die ich 
vor 25 Jahren in „Totem und Tabu" niederge- 
legt habe. Aber ich traue mir nicht mehr die 
Kraft zu, dies zu leisten. 



94 



in 

MOSES, SEIN VOLK, UND DIE 
MONOTHEISTISCHE RELIGION 




ERSTER TEIL 

VORBEMERKUNG I 

Vor dem März 19^8 

•it der Verwegenheit dessen, der nichts 
oder wenig zu verlieren hat, gehe ich 
.daran, einen gut begründeten Vorsatz 
zum zweiten Mal zu brechen und den beiden, 
Abhandlungen über Moses in Image (Bd. XXI II, 
Heft I und 3) das zurückgehaltene Endstück 
nachzuschicken. Ich schloss mit der Versiche- 
rung, ich wisse, dass meine Kräfte dazu nicht 
ausreichen würden, meinte natürlich die Ab- 
schwächuög der schöpferischen Fähigkeiten, die 
mit dem hohen Alter einhergeht,*) aber ich 
dachte auch an ein anderes Hemmnis. 

^) Ich teile nicht die Ansicht meines Altersgenossen, 
Bernard Shaw, dass die Menschen erst dann etwas Rech- 
tes leisten würden, wenn sie 300 Jahre alt werden könn- 
ten. Mit der Verlängerung der Lebensdauer wäre nichts 
erreicht, es müsste denn vieles andere an den Lebens- 
bedingungen vom Grunde aus geändert werden. 

97 



III. Vorbemerkungen 
Wir leben in einer besonders merkwürdigen 
Zeit. Wir finden mit Erstaunen, dass der Fort- 
schritt ein Bündnis mit der Barbarei geschlossen 

hat. In Sowjetrussland hat man es unternom- 
men, etwa loo Millionen in der Unterdrückung 
festgehaltener Menschen zu besseren Lebensfor- 
men zu erheben. Man war verwegen genug, 
ihnen das „Rauschgift" der Religion zu entzie- 
hen, und so weise, ihnen ein verständiges Mass 
von sexueller Freiheit zu geben, aber dabei un- 
terwarf man sie dem grausamsten Zwäng und 
raubte ihnen jede Möglichkeit der Denkfreiheit. 
Mit ähnlicher Gewalttätigkeit wird das italie- 
nische Volk zu Ordnung und Pflichtgefühl er- 
zogen. Man empfindet es als Erleichterung von 
einer bedrückenden Sorge, wenn man im Fall 
des deutschen Volkes sieht, dass der Rückfall in 
nahezu vorgeschichtliche Barbarei auch ohne 
Anlehnung an irgendeine fortschrittliche Idee 
vor sich gehen kann.|Immerhin hat es sich so ge- 
staltet, dass heute die konservativen Demokra- 
tien die Hüter des kulturellen Fortschritts ge- 
worden sind und dass sonderbarerweise gerade 
die Institution der katholischen Kirche der Aus- 
breitung jener kulturellen Gefahr eine kräftige 
Abwehr entgegensetzt, Sie, bisher die unerbitt- 
liche Feindin der Denkfreiheit und des Fort- 
schritts zur Erkenntnis der Wahrheit! 



98 



III . Vorbemerkungen 
Wir leben hier in einem katholischen Land unter 
dem Schutz dieser Kirche, unsicher, wie lange er 
vorhalten wird. Solange er aber besteht, haben 

wir natürlich Bedenken, etwas zu tun, was die 
Feindschaft der Kirche erwecken muss. Es ist 
nicht Feigheit, sondern Vorsicht; der neue Feind, • } 
dem zu Dienst zu sein wir uns hüten wollen, ist ; ' 
gefährlicher als der alte, mit dem uns zu vertragen 
wir bereits gelernt haben. Die psychoanalytische 
Forschung, die wir pflegen, ist ohnedies der 
Gegenstand misstrauischer Aufmerksamkeit von 
Seiten des Katholizismus. Wir werden nicht be- 
haupten, es sei so mit Unrecht. Wenn unsere Ar- 
beit uns zu einem Ergebnis führt, das die Reli- 
gion auf eine Menschheitsneurose reduziert und 
ihre grossartige Macht In der gleichen Weise auf- 
klärt wie den neurotischen Zwang bei den ein- 
zelnen unserer Patienten, so sind wir sicher, den 
stärksten Unwillen der bei uns herrschenden 
Mächte auf uns zu ziehen. Nicht, dass wir etwas 
zu sagen hätten, was neu wäre, was wir nicht 
schon vor einem Viertel Jahrhundert deutlich ge- 
nug gesagt haben, aber das ist seither vergessen 
worden, und es kann nicht wirkungslos bleiben, 
wenn wir es heute wiederholen und an einem für 
alle Religionsstiftungen massgebenden Beispiel 
erläutern. Es würde wahrscheinlich dazu füh- 
ren, dass uns die Betätigung in der Psychoanaly- 
se verboten wird. Jene gewalttätigen Methoden 

99 



///. Vorbemerkungen 
der Unterdrückung sind der Kirche ja keines- 
wegs fremd, sie empfindet es vielmehr als Ein- 
bruch in ihre Vorrechte, wenn auch andere sich 

ihrer bedienen. Die Psychoanalyse aber, die im 
Laufe meines langen Lebens überallhin gekom- 
men ist, hat noch immer kein Heim, das wert- 
voller für sie wäre als eben die Stadt, wo sie ge- 
boren und herangewachsen ist. 

Ich glaube es nicht nur, ich weiss es, dass ich 
mich durch dies andere Hindernis, durch die 
äussere Gefahr, abhalten lassen werde, den 
letzten Teil meiner Studie über Moses zu ver- 
öffentlichen. Ich habe noch einen Versuch ge- 
macht, mir die Schwierigkeit aus dem Weg zu 
räumen, indem ich mir sagte, der Angst liege 
eine Oberschätzung meiner persönlichen Bedeu- 
tung zu Grunde. "Wahrscheinlich werde es den 
massgebenden Stellen recht gleichgültig sein, was 
ich über Moses und den Ursprung der monothe- 
istischen Religionen schreiben wolle. Aber ich 
fühle mich da nicht sicher im Urteil. Viel eher 
erscheint es mir möglich, dass Bosheit und Sen- 
sationslust das wettmachen werden, was mir im 
Urteil der Mitwelt an Geltung fehlt. Ich werde 
diese Arbeit also nicht bekannt machen, aber 
das braucht mich nicht abzuhalten, sie zu schrei- 
ben. Besonders da ich sie schon einmal, vor jetzt 
zwei Jahren, niedergeschrieben habe, so dass ich 

lOO 



///. Vorbemerkungen 
sie bloss umzuarbeiten und an die beiden voraus- 
geschickten Aufsätze anzufügen habe. Sie mag 
dann in der Verborgenheit aufbewahrt bleiben, 
bis einmal die Zeit kommt, wann sie sich gefahr- 
los ans Licht wagen darf, oder bis man einem, 
der sich zu denselben Schlüssen und Meinungen 
bekennt, sagen kann, es war schon einmal in 
dunkleren Zeiten jemand da, der sich das näm- 
liche wie du gedacht hat. 



VORBEMERKUNG II 

Im Juni ipj8 

Die ganz besonderen Schwierigkeiten, die mich 
während der Abfassung dieser an die Person des 
Moses anknüpfenden Studie belastet haben — 
innere Bedenken sowie äussere Abhaltungen — 
bringen es mit sich, dass dieser dritte, abschlies- 
sende Aufsatz von zwei verschiedenen Vorre- 
den eingeleitet wird, die einander widerspre- 
chen, ja einander aufheben. Denn in dem kurzen 
Zeitraum zwischen beiden haben sich die äusse- 
ren Verhältnisse des Schreibers gründlich geän- 
dert. Ich lebte damals unter dem Schutz der ka- 
tholischen Kirche und stand unter der Angst, 
dass ich durch meine Publikation diesen Schutz 
verlieren und ein Arbeitsverbot für die Anhän- 

lOI 



///. Vorbemerkungen 

ger und Schüler der Psychoanalyse in Österreich 
heraufbeschwören würde-IUnd dann kam plötz- 
lich die deutsche Invasion; der Katholizismus 

erwies sich, mit biblischen Worten zu reden, als 
ein „schwankes Rohr". In der Gewissheit, jetzt 
nicht nur meiner Denkweise, sondern auch mei- 
ner „Rasse" wegen verfolgt zu werden, veriiess 
'iich mit vielen Freunden die Stadt, die mir von 
'früher Kindheit an, durch 78 Jahre, Heimat ge- 
'wesen war. 

Ich fand die freundlichste Aufnahme in dem 
schönen, freien, grossherzigen England. I Hier 
lebe ich nun, ein gern gesehener Gast, atme auf, 
dass jener Druck von mir genommen ist und 
dass ich wieder reden und schreiben — bald 
hätte ich gesagt: denken darf, wie ich will oder 
muss. Ich wage es, das letzte Stück meiner Ar- 
beit vor die Öffentlichkeit zu bringen. 

Keine äusseren Abhaltungen mehr oder wenig- 
stens keine solchen, vor denen man zurück- 
schrecken darf. Ich habe in den wenigen Wo- 
chen meines Aufenthalts hier eine Unzahl von 
Begrüssungen erhalten von Freunden, die sich 
meiner Anwesenheit freuten, von Unbekannten, 
ja Unbeteiligten, die nur ihrer Befriedigung dar- 
über Ausdruck geben wollten, dass ich hier Frei- 
heit und Sicherheit gefunden habe. Und dazu 
kamen, in einer für den Fremden überraschen- 
102 



///. Vorbemerkungen 
den Häufigkeit, Zuschriften anderer Art, die 
sich um mein Seelenheil bemühten, die mir die 
"Wege Christi weisen und mich über die Zukunft 
Israels aufklären wollten. 
Die guten Leute, die so schrieben, können nicht 
viel von mir gewusst haben; aber ich erwarte, 
wenn diese Arbelt über Moses durch eine Ober- 
setzung unter meinen neuen Volksgenossen be- 
kannt wird, werde ich auch bei einer Anzahl 
von anderen genug von den Sympathien einbüs- -, 
sen, die sie mir jetzt entgegenbringen. 
An den inneren Schwierigkeiten konnten politi- 
scher Um^schwung und Wechsel des Wohnorts 
nichts verändern. Nach wie vor fühle ich mich 
unsicher angesichts meiner eigenen Arbeit^ ver- 
f misse ich das Bewusstsein der Einheit und Zu- 
; sammengehörigkeit, das zwischen dem Autor und 
. seinem Werk bestehen soll. Nicht etwa, dass es 
mir an der Überzeugung von der Richtigkeit des 
Ergebnisses mangeln sollte. ■ Diese habe ich mir 
schon vor einem Vierteljahrhundert erworben, 
als ich dasBuch über „Totem undTabu" schrieb, 
19 12, und sie hat sich seither nur verstärkt. Ich 
habe seit damals nicht mehr bezweifelt, dass die 
religiösen Phänomene nur nach dem Muster der 
uns vertraütm neurotischen^Symptome des In- 
dividuums zu verstehen sind, als Wiederkehren 
von längst vergessenen, bedeutsamen Vorgän- 
gen in der Urgeschichte der menschlichen Fami- 

103 



III. Vorbemerkungen 
lie, dass sie ihren zwanghaften Charakter eben 
diesem Ursprung verdanten und also kraft 
ihres Gehalts an historischer Wahrheit auf die 
Menschen wirken. Meine Unsicherheit setzt erst 
ein, wenn ich mich frage, ob es mir gelungen ist, 
diese Sätze für das hier gewählte Beispiel des jü- 
dischen Monotheismus zu erweisen. Meiner Kri- 
tik erscheint diese vom Manne Moses ausgehen- 
de Arbeit wie eine Tänzerin, die auf einer Ze- 
henspitze balanciert. Wenn ich mich nicht auf 
die eine analytische Deutung des Aussetzungs- 
mythus stützen und von da aus zur Sel/iwschen 
Vermutung über den Ausgang des Moses über- 
greifen könnte, hätte das Ganze ungeschrieben 
bleiben müssen. Immerhin sei es jetzt gewagt. 



104 



Ich beginne damit, die Ergebnisse meiner 
zweiten, der rein historischen Studie über 
Moses zu resümieren. Sie werden hier keiner 
neuerlichen Kritik unterzogen werden, denn 
sie bilden die Voraussetzung der psychologi- 
schen Erörterungen, die von ihnen ausgehen 
und immer wieder auf sie zurückkommen. 



Die historische Voraussetzung 

Der historische Hintergrund der Ereignisse, die 
unser Interesse gefesselt haben, ist also folgen- 
der: Durch die Eroberungen der i8ten Dyna- 
stie ist Ägypten ein Weltreich geworden. Der 
neue Imperialismus spiegelt sich wider in der 
Entwicklung der religiösen Vorstellungen, wenn 
nicht des ganzen Volkes, so doch der herrschen- 
den und geistig regsamen Oberschicht desselben. 
Unter dem Einf iuss der Priester des Sonnengot- 
tes zu On (Heliopolis), vielleicht verstärkt durch 
Anregungen von Asien her, erhebt sich die Idee 
eines universellen Gottes Aton, an dem die Ein- 
schränkung auf ein Land und ein Volk nicht 
mehr haftet. Mit dem jungen Amenhotep IV. 

105 



///. Moses, sein Volk, 
kommt ein Pharao zur Herrschaft, der kein hö- 
heres Interesse kennt als die Entwicklung dieser 
Gottesidee. Er erhebt die Atonreligion zur Staats- 
religion, durch ihn wird der universelle Gott der 
Einzige Gott; alles, was man von anderen Göt- 
tern erzählt, ist Trug und Lüge. Mit grossartiger 
Unerbittlichkeit widersteht er allen Versuchun- 
gen des magischen Denkens, verwirft er die be- 
sonders dem Ägypter so teure Illusion eines Le- 
bens nach dem Tode. In einer erstaunlichen Ah- 
nung spätere!- wissenschaftlicher Einsicht er- 
kennt er in der Energie der Sonnenstrahlung die 
Quelle alles Lebens auf der Erde und verehrt sie 
als das Symbol der Macht seines Gottes. Er 
rühmt sich seiner Freude an der Schöpfung und 
seines Lebens in Maat (Wahrheit und Gerech- 
tigkeit). , 
Es ist der erste und vielleicht reinste Fall emer 
monotheistischen Religion in der Menschheits- 
geschichte; ein tieferer Einblick in die histori- 
schen und psychologischen Bedingungen seiner 
Entstehung wäre von unschätzbarem Wert. 
Aber es ist dafür gesorgt worden, dass nicht all- 
zuviel Nachrichten über die Atonreligion auf 
uns kommen sollten. Schon unter den schwäch- 
lichen Nachfolgern Ikhnatons brach alles zu- 
sammen, was er geschaffen hatte. Die Rache der 
von ihm unterdrückten Priesterschaften wütete 
nun gegen sein Andenken, die Atonreligion wur- 

io6 



und die monotheistische Religion 
de abgeschafft, die Residenz des als Frevler ge- 
brandmarkten Pharao zerstört und geplündert. 
Um 1350 V. Chr. erlosch die i8te Dynastie; 

nach einer Zeit der Anarchie stellte der Feldherr 
Haremhab, der bis 1 3 1 5 regierte, die Ordnung 
wieder her. Die Reforna Ikhnatons schien eine 
zum Vergessenwerden bestimmte Episode. 

Soweit, was historisch festgestellt ist, und nun 

setzt unsere hypothetische Fortsetzung ein. Un- 
ter den Personen, die Ikhnaton nahestanden, 
befand sich ein Mann, der vielleicht Thothmes 
hiess, wie damals viele andere,*) — es kommt 
auf den Namen nicht viel an, nur dass sein 
zweiter Bestandteil -mose sein musste. Er war in 
hoher Stellung, überzeugter Anhänger der Aton- 
religion, aber im Gegensatz zum grüblerischen 
König energisch und leidenschaftlich. Für die- 
sen Mann bedeuteten der Ausgang Ikhnatons 
und die Abschaffung seiner Religion das Ende 
all seiner Erwartungen. Nur als ein Geächteter 
oder als ein Abtrünniger konnte er in Ägypten 
leben bleiben. Er war vielleicht als Statthalter 
der Grenzprovinz in Berührung mit einem se- 
mitischen Volksstamm gekommen, der dort vor 
einigen Generationen eingewandert war. In der 
Not der Enttäuschung und Vereinsamung wand- 

^) so hiess z. B. auch der Bildhauer, dessen Werkstätte 
io TeU-el-Amarna gefunden wurde. 

107 



///. Moses, sein Volk, 
te er sich diesen Fremden zu, suchte bei ihnen 

die Entschädigung für seine Verluste. Er wählte 
sie zu seinem Volke, versuchte seine Ideale an 
ihnen zu realisieren. Nachdem er, begleitet von 
seinen Gefolgsleuten, mit ihnen Ägypten verlas- 
sen hatte, heiligte er sie durch das Zeichen der 
Beschneidung, gab ihnen Gesetze, führte sie in 
die Lehren der Atonreligion ein, die die Ägyp- 
ter eben abgeworfen hatten. Vielleicht waren 
die Vorschriften, die dieser Mann Moses seinen 
Juden gab, noch schroffer als die seines Herrn 
und Lehrers Ikhnaton, vielleicht gab er auch die 
Anlehnung an den Sonnengott von On auf, an 
der dieser noch festgehalten hatte. 

Für den Auszug aus Ägypten müssen wir die 
Zeit des Interregnums nach 1350 ansetzen. Die 
nächsten Zeiträume bis zum Vollzug der Besitz- 
ergreifung im Lande Kanaan sind besonders un- 
durchsichtig. Aus dem Dunkel, das der bibli- 
sche Bericht hier gelassen oder vielmehr geschaf- 
fen hat, konnte die Geschichtsforschung unserer 
Tage zwei Tatsachen herausgreifen. Die erste, 
von E. Sellin aufgedeckt, ist, dass die Juden, 
selbst nach der Aussage der Bibel störrisch und 
widerspenstig gegen ihren Gesetzgeber und 
Führer, sich eines Tages gegen ihn empörten, ihn 
erschlugen und die ihnen aufgedrängte Religion 
des Aton abwarfen wie früher die Ägypter. Die 
108 



und die monotheistische Religion 

andere, von Ed. Meyer erwiesene, dass diese aus 
Ägypten zurückgekehrten Juden sich später mit 
anderen, ihnen nah verwandten Stämmen im 
Landgebiet zwischen Palästina, der Sinaihalb- 
insel und Arabien vereinigten und dass sie dort 
in einer wasserreichen örtlichkeit Quades unter 
dem Einfluss der arabischen Midianker eine 
neue Religion, die Verehrung des Vulkangottes 
Jahve, annahmen. Bald darauf waren sie bereit, 
als Eroberer in Kanaan einzubrechen. 

Die zeitlichen Beziehungen dieser beiden Ereig- 
nisse zu einander und zum Auszug aus Ägypten 
sind sehr unsicher. Den nächsten historischen 
Anhaltspunkt gibt eine Stele des Pharao Merne- 
ptah (bis 1215), die im Bericht über Kriegszüge 
in Syrien und Palästina „Israel" unter den Be- 
siegten anführt. Nimmt man das Datum dieser 
Stele als einen terminus ad quem, so bleibt für 
den ganzen Ablauf vom Auszug an etwa .ein 
Jahrhundert (nach 1350 bis vor 121 5). Es ist 
aber möglich, dass der Name Israel sich noch 
nicht auf die Stämme bezieht, deren Schicksale 
wir verfolgen, und dass uns in Wirklichkeit ein 
längerer Zeitraum zur Verfügung steht. Die Nie- 
derlassung des späteren jüdischen Volkes in Ka- 
naan war gewiss keine rasch ablaufende Erobe- 
rung, sondern ein Vorgang, der sich in Schüben 
vollzog und über längere Zeiten erstreckte. Ma- 

109 



///. Moses, sein Volk, 
chen wir uns von der Einschränkung durch die 
Merneptahstele frei, so können wir um so leichter 
ein Menschenalter (30 Jahre) als die Zeit des 
Moses ansehen/) dann mindestens zwei Genera- 
tionen, wahrscheinlich aber mehr, bis zur Ver- 
einigung in Quades vergehen lassen f) das Inter- 
vall zwischen Quades und dem Aufbruch nach 
Kanaan braucht nur kurz zu sein; die jüdische 
Tradition hatte, wie in der vorigen Abhandlung 
gezeigt, gute Gründe, das Intervall zwischen 
Auszug und Religionsstiftung in Quades zu ver- 
kürzen; das Umgekehrte liegt im Interesse unse- 
rer Darstellung. 

Aber das ist alles noch Historie, Versuch, die 
Lücken unserer GescHchtskenntnis auszufüllen, 
zum Teil Wiederholung aus der zweiten Ab- 
handlung in Imago, Unser Interesse folgt den 
Schicksalen des Moses und seiner Lehren, denen 
die Empörung der Juden nur scheinbar ein Ende 
gesetzt hatte. Aus dem Bericht des Jahvisten, der 
um das Jahr 1000 niedergeschrieben wurde, 
aber sich gewiss auf frühere Fixierungen stützte, 
haben wir erkannt, dass mit der Vereinigung 
und Religionsstiftung in Quades ein Kompro- 
miss einherging, an dem beide Anteile noch gut 

') Dies würde der 40 jährigen Wiistenwanderung des 
biblischen Textes entsprechen. 

^) Also etwa 1350 (40) — 1320 (10) Moses, 1260 oder 
eher später Quades, die Merneptahstele vor 121 5. 

HO 



und die monotheistische Religion 
zu unterscheiden sind. Dem einen Partner lag 

nur daran, die Neuheit und Fremdheit des Got- 
tes Jahve zu verleugnen und seinen Anspruch 
auf die Ergebenheit des Volkes zu steigern, der 
andere wollte ihm teure Erinnerungen an die 
Befreiung aus Ägypten und an die grossartige 
Gestalt des Führers Moses nicht preisgeben, und 
es gelang ihm auch, die Tatsache wie den Mann 
in der neuen Darstellung der Vorgeschichte un- 
terzubringen, wenigstens das äussere Zeichen der 
Mosesreligion, die Beschneidung, zu erhalten 
und vielleicht gewisse Einschränkungen im Ge- 
brauch des neuen Gottesnamens durchzusetzen. 
Wir haben gesagt, die Vertreter dieser Ansprü- 
che waren die Nachkommen der Mosesleute, die 
Leviten,, nur durch wenige Generationen von 
den Zeit- und Volksgenossen des Moses entfernt 
und noch durch lebendige Erinnerung an sein 
Andenken gebunden. Die poetisch ausge- 
schmückten Darstellungen, die wir dem Jahvi- 
sten und seinem späteren Konkurrenten, dem 
Elohisten, zuschreiben, waren wie die Grabbau- 
ten, unter denen die wahre Kunde von jenen 
frühen Dingen, von der Natur der mosaischen 
Religion und von der gewaltsamen Beseitigung 
des grossen Mannes, dem Wissen der späteren 
Generationen entzogen, gleichsam ihre ewige 
Ruhe finden sollte. Und wenn wir den Vorgang 
richtig erraten haben, so ist auch weiter nichts 



III 



///. Moses, sein Volk, 

Rätselhaftes an ihm; er könnte aber sehr wohl * 
das definitive Ende der Mosesepisode in der Ge- 
schichte des jüdischen Volkes bedeutet haben. 
Das Merkwürdige ist nun, dass dem nicht so ist, 
dass die stärksten /Wirkungen jenes Erlebnisses 
des Volkes erst später zum Vorschein kommen, 
sich im Laufe vieler Jahrhunderte allmählich in 
die Wirklichkeit drängen sollten. Es ist nicht 
wahrscheinlich, dass Jahve sich im Charakter 
viel von den Göttern der umwohnenden Völker j 
und Stämme unterschied; er rang zwar mit ih- ; 
nen, wie die Völker selbst mit einander stritten, 
aber man darf annehmen, dass es einem Jahve- 
verehrer jener Zeiten ebensowenig in den Sinn i 
kam, die Existenz der Götter von Kanaan, Mo- • 
ab, Amalek usw. zu leugnen wie die Existenz : 
der Völker, die an sie glaubten. ' i 

Die monotheistische Idee, die mit Ikhnaton auf- i 
geblitzt war, war wieder verdunkelt und sollte ■ 
noch lange Zeit im Dunkel bleiben. Funde auf . 
der Insel Elephantine , dicht vor dem ersten Ka- I 
tarakt des Nils, haben die überraschende Kunde ,! 
ergeben, dass dort eine seit Jahrhunderten an- 
gesiedelte jüdische Militärkolonie bestand, in de- 
ren Tempel neben dem Hauptgott Jahu zwei 
weibliche Gottheiten verehrt wurden, die eine 
Anat-Jahu genannt. Diese Juden waren aller- 
dings vom Mutterlande abgeschnitten, hatten 
die religiöse Entwicklung daselbst nicht mitge- 

112 



und die monotheistische Religion 

macht; die persische Reichsregierung (ftes Jahr- 
hundert) übermittelte ihnen die Kenntnis der 
neuen Kulturvorschriften von Jerusalem.*) Zu 
älteren Zeiteö zurückkehrend, dürfen wir sa- 
gen, dass Gott Jahve gewiss keine Ähnlichkeit 
mit dem mosaischen Gott hatte. Aton war Pa- 
zifist gewesen wie sein Vertreter auf Erden, 
eigentlich sein Vorbild, der Pharao Ikhnaton, 
der untätig zusah, wie das von seinen Ahnen ge- 
wonnene Weltreich auseinanderfiel. Für ein 
Volk, das sich zur gewaltsamen Besitzergrei- 
fung neuer Wohnsitze anschickte, war Jahve si- 
cherlich besser geeignet. Und alles, was am mo- 
saischen Gott verehrungswürdig war, entzog 
sich überhaupt dem Verständnis der primitiven 
Masse. 

Ich habe schon gesagt — und mich dabei gern 
auf die Übereinstimmung mit anderen berufen 
— , die zentrale Tatsache der jüdischen Religi- 
onsentwicklung sei gewesen, dass der Gott Jahve 
im Laufe der Zeiten seine eigenen Charaktere 
verlor und immer mehr Ähnlichkeit mit dem al- 
ten Gotte Moses', dem Aton, gewann. Es blieben 
zwar Unterschiede, die man auf den ersten Blick 
hoch einzuschätzen geneigt wäre, aber diese sind 
leicht aufzuklären. Aton hatte in Ägypten zu 
herrschen begonnen in einer glücklichen Zeit 
gesicherten Besitzes, und selbst als das Reich 
^) Auerbach: Wüste und gelobtes Land. Bd. II, 1936. 

113 



///. Moses, sein Volk, 

zu wanken begann, hatten seine Verehrer sich 
von der Störung abwenden können und fuhren 

fort, seine Schöpfungen zu preisen und zu ge- 
niessen. 

Dem jüdischen Volk brachte das Schicksal eine 
Reihe von schweren Prüfungen und schmerzli- 
chen Erfahrungen, sein Gott wurde hart und 
strenge, wie verdüstert. Er behielt den Charak- 
ter des universellen Gottes bei, der über alle Län- 
der und Völker waltet, aber die Tatsache, dass 
seine Verehrung von den Ägyptern auf die Ju- 
den übergegangen war, fand ihren 'Ausdruck in 
dem Zusatz, die Juden seien sein auserwähltes 
Volk, dessen besondere Verpflichtungen am En- 
de auch besonderen Lohn finden würden. Es 
mag dem Volke nicht leicht geworden sein, den 
Glauben an die Bevorzugung durch seinen all- 
mächtigen Gott mit den traurigen Erfahrungen 
seiner unglücklichen Schicksale zu vereinen. 
Aber man Hess sich nicht irre machen, man stei- 
gerte sein eigenes Schuldgefühl, um seine Zwei- 
fel an Gott zu ersticken, und vielleicht wies man 
am Ende auf „Gottes unerforschlichen Rat- 
schluss" hin, wie es die Frommen, noch heute 
tun. "Wenn man sich darüber verwundern woll- 
te, dass er immer neue Gewalttäter auftreten 
liess, von denen man unterworfen und misshan- 
delt wurde, die Assyrier, Babylonier, Perser, so 
erkannte man doch seine Macht darin, dass all 
114 



und die monotheistische Religion 
diese bösen Feinde selbst wieder besiegt wurden 

und ihre Reiche verschwanden. 
jn_drei^ichtig.eiiJP|}nkteaist der spätere J uden- 
gott endlich dOT_altaLmosai_schen Gott gleich 
geword'eiirTX'r^erste und entscheidendeTstTdass 
er wirklich als der einzige Gott anerkannt wur- 
de, neben dem ein anderer undenkbar war. Der 
Monotheismus Ikhnatons wurde von einem gan- 
zen Volke ernst genommen, ja, dies Volk klam- 
merte sich so sehr an diese Idee, dass sie der 
Hauptinhalt seines Geisteslebens wurde und 
dass ihm für anderes kein Interesse blieb. Das 
Volk und die in ihm herrschend gewordene 
Priesterschaft waren in diesem Punkte einig, 
aber während die Priester ihre Tätigkeit darin 
erschöpften, das Zeremoniell für seine Vereh- 
rung auszubauen, gerieten sie in Gegensatz zu 
intensiven Strömungen im Volke, die zwei an- 
dere der Lehren Moses' über seinen Gott wieder- 
zubeleben suchten. Die Stimmen der Propheten 
wurden nicht müde zu verkünden, dass der Gott 
Zeremoniell und Opferdienst verschmähe und 
nur fordere, dass man an ihn glaube und ein Le- 
ben in Wahrheit und Gerechtigkeit führe. Und 
wenn sie die Einfachheit und Heiligkeit des 
Wüstenlebens priesen, so standen sie sicherlich 
unter dem Einf luss der mosaischen Ideale. 

Es ist an der Zeit, die Frage aufzuwerfen, ob es 

IIS 



///. Moses, sein Volk, 
Überhaupt notwendig ist, den Einf luss des Jioses 
auf die Endgestaltung der jüdischen Gottesvor- 
steilung anzurufen, ob nicht die Annahme einer 
spontanen EntwicMung-zuJiöherer" Geistigkeit 
während eines über JahrhunderteTelcheiiden 
Kulturlebens genügt. Zu dieser Erklärungsmög- 
lichkeit, die all unserem Rätselraten ein Ende 
setzen würde, ist zweierlei zu sagen. Erstens, 
dass sie nichts erklärt. Die gleichen Verhältnisse 
haben beim gewiss höchst begabten griechischen 
Volk nicht zum Monotheismus geführt, sondern 
zur Auflockerung der polytheistischen Religion 
und zum Beginn des philosophischen Denkens. 
In Ägypten war der Monotheismus erwachsen, 
so weit wir es verstehen, als eine Nebenwirkung 
des Imperialismus, Gott war die Spiegelung des 
ein grosses Weltreich unumschränkt beherr- 
schenden Pharao. Bei den Juden waren die poli- 
tischen Zustände der Fortentwicklung von der 
Idee des exklusiven Volksgottes zu der des uni- 
versellen Weltherrschers höchst ungünstig, und 
woher kam dieser winzigen und ohnmächtigen 
Nation die Vermessenheit, sich für das bevor- 
zugte Lieblingskind des grossen He'rrn auszuge- 
ben?' Die Frage nach der Entstehung des Mono- 
theismus bei den Juden bliebe so unbeantwortet, 
oder man begnügte sich mit der geläufigen Ant- 
wort, das sei eben der Ausdruck des besonderen 
religiösen Genies dieses Volkes. Das Genie ist 
ii6 



und die monotheistische Religion 
bekanntlich unbegreiflich und unverantwortlich, 

und darum soll man es nicht eher zur Erklärung 
anrufen, als bis jede andere Lösung versagt 
hat.') 

Ferner trifft man auf die Tatsache, dass die jü- 
dische Berichterstattung und Geschichtsschrei- 
bung selbst uns den Weg zeigt, indem sie, dies- 
mal ohne sich selbst zu widersprechen, mit gröss- 
ter Entschiedenheit behauptet, die Idee eines 
einzigen Gottes sei dem Volke von Moses ge- 
bracht worden. Wenn es einen Einwand gegen 
die Glaubwürdigkeit dieser Versicherung gibt, 
so ist es der, dass die priesterliche Bearbeitung 
des uns vorliegenden Textes offenbar viel zu 
viel auf Moses zurückführt. Institutionen wie 
Ritualvorschriften, die unverkennbar späteren 
Zeiten angehören, werden als mosaische Gebote 
ausgegeben, in der deutlichen Absicht, Autori- 
tät für sie zu gewinnen. Das ist für uns gewiss 
ein Grund zum Verdacht, aber nicht genügend 
für eine Verwerfung. Denn das tiefere Motiv 
einer solchen Übertreibung liegt klar zu Tage. 
Die priesterliche Darstellung will ein Kontinu- 
um zwischen ihrer Gegenwart und der mosai- 
schen Frühzeit herstellen, sie will gerade das ver- 
leugnen, was wir als die auffälligste Tatsache 

^). Dieselbe Erwägung gilt auch für den merkwürdigen 
Fall des William Shakespeare aus Stratford, 

117 



///. Moses, sein Volk, 

der jüdischen Religionsgeschichte bezeichnet ha- 
ben, dass zwischen der Gesetzgebung des Moses 

und der späteren jüdischen Religion eine Lücke 
klafft, die zunächst vom Jahvedienst ausgefüllt 
und erst später langsam verstrichen wurde. Sie 
bestreitet diesen Vorgang mit allen Mitteln, ob- 
wohl seine historische Richtigkeit über jedem 
Zweifel feststeht, da bei der besonderen Be- 
handlung, die der biblische Text erfahren hat, 
überreichliche Angaben stehen geblieben sind, 
die ihn erweisen. Die priesterliche Bearbeitung 
hat hier Ähnliches versucht wie jene entstellende 
Tendenz, die den neuen Gott Jahve zum Gott 
der Väter machte. Tragen wir diesem Motiv des 
Priesterkodex Rechnung, so wird es uns schwer, 
der Behauptung den Glauben zu versagen, dass 
wirklich Moses selbst seinen Juden die monothe- 
istische Idee gegeben hat. Unsere Zustimmung 
sollte uns um so leichter werden, da wir zu sagen 
wissen, woher diese Idee zu Moses kam, was die 
jüdischen Priester gewiss nicht mehr gewusst 
haben. 

Hier könnte jemand die Frage aufwerfen, was 
haben wir davon, wenn wir den jüdischen Mo- 
notheismus vom ägyptischen ableiten? Das Pro- 
blem wird dadurch nur um ein Stück verscho- 
ben; von der Genese der monotheistischen Idee 
wissen wir darum nicht mehr. Die Antwort dar- 
auf lautet, es ist keine Frage des Gewinns, son- 
ii8 



und die monotheistische Religion 
dern der Forschung. Und vielleicht lernen wir 

etwas dabei, wenn wir den wirklichen Hergang 
erfahren. 

B 

Latenzzeit und Tradition 

Wir bekennen uns also zu dem Glauben, dass die 
Idee eines einzigen Gottes sowie die Verwerfung 
des magisch wirkenden Zeremoniells und die 
Betonung der ethischen Forderung - in seinem 
Namen tatsächlich mosaische Lehren waren, die 
zunächst kein Gehör fanden, aber nach dem Ab- 
lauf einer langen Zwischenzeit zur Wirkung ka- 
men und sich endlich für die Dauer durchsetz- 
ten. Wie soll man sich eine solche verspätete 
Wirkung erklären und wo begegnet man ähnli- 
chen Phänomenen? 

Der nächste Einfall sagt, sie seien nicht selten 
auf sehr verschiedenen Gebieten zu finden und 
kommen wahrscheinlich auf mannigfache Wei- 
se zustande, mehr oder weniger leicht verständ- 
lich. Greifen wir z.B. das Schicksal einer neuen 
wissenschaftlichen Theorie wie der Darwin- 
schen Evolutionslehre heraus. Sie findet zu- 
nächst erbitterte Ablehnung, wird durch Jahr- 
zehnte heftig umstritten, aber es braucht nicht 
länger als eine Generation, bis sie als grosser 
Fortschritt zur Wahrheit anerkannt wird. Dar- 

119 



///. Moses, sein Volk, 
w'm selbst erreicht noch die Ehre eines Grabes 
oder Kenotaphs in Westminster. Ein solcher 
Fall lässt uns wenig zu enträtseln. Die ne«e 
Wahrheit hat affektive 'Widerstände wachgeru- 
fen, diese lassen sich durch Argumente vertre- 
ten, mit denen man die Beweise zu Gunsten der 
unliebsamen Lehre bestreiten kann, der Kampf 
der Meinungen nimmt eine gewisse Zeit in An- 
spruch, von Anfang an gibt es Anhänger und 
Gegner, die Anzahl wie die Gewichtigkeit der 
ersteren nimmt immer zu, bis sie am Ende die 
Oberhand haben; während der ganzen Zeit des 
Kampfes ist niemals vergessen worden, um was 
es sich handelt. Wir verwundern uns kaum, dass 
der ganze Ablauf eine längere Zeit gebraucht 
hat, würdigen es wahrscheinlich nicht genug, 
dass wir es mit einem Vorgang der Massenpsy- 
chojqgie zu tun__haben. 

Es hat keine Schwierigkeit, zu diesem Vorgang 
eine voll entsprechende Analogie im Seelenleben 
eines Einzelnen zu finden. Dies wäre der Fall, 
dass jemand etwas als neu erfährt, was er auf 
Grund gewisser Beweise als Wahrheit anerken- 
nen soll, was aber manchem seiner Wünsche wi- 
derspricht und einige der ihm wertvollen Über- 
zeugungen beleidigt. Er wird dann zögern, nach 
Gründen suchen, mit denen er das Neue bezwei- 
feln kann, und wird eine Weile mit sich selbst 
kämpfen, bis er sich am Ende eingesteht: es ist 

120 



und die monotheistische Religion 

doch so, obwohl ich es nicht leicht annehme, ob- 
wohl es mir peinlich ist, daran glauben zu müs- 
sen,. Wir lernen daraus nur, dass es Zeit ver- 
-'"braucht, bis die Verstandesarbeit des Ichs Ein- 
wendungen überwunden hat, die durch starke 
affektive Besetzungen gehalten werden. Die 
Ähnlichkeit zwischen diesem Fall und dem, um 
dessen Verständnis wir uns bemühen, ist nicht 
sehr gross. 

Das nächste Beispiel, an das wir uns wenden, hat 
mit unserem Problem anscheinend noch weniger 
gemein. Es ereignet sich, dass ein Mensch schein- 
bar unbeschädigt die Stätte verlässt, an der er 
einen schreckhaften Unfall, z.B. einen Eisen- 
bahnzusammenstoss, erlebt hat. Im Laufe der 
nächsten Wochen entwickelt er aber eine Reihe 
schwerer psychischer und motorischer Sympto- 
me, die man nur von seinem Shock, jener Er- 
schütterung oder was sonst damals gewirkt hat, 
ableiten kann. Er hat jetzt eine „traumatische 
Neurose". Das ist eine ganz unverständliche, al- 
so eine neue Tatsache. Man heisst die Zeit, die 
zwischen dem Unfall und dem ersten Auftreten 
der Symptome verflossen ist, die „Inkubations- 
zeit" in durchsichtiger Anspielung an die Patho- 
logie der Infektionskrankheiten. Nachträglich 
muss es uns auffallen, dass trotz der funda- 
mentalen Verschiedenheit der beiden Fälle zwi- 
schen dem Problem der traumatischen Neurose 

121 



///. Moses, sein Volk, 
und dem des jüdischen Monotheismus doch in 
einem Punkt eine Übereinstimmung besteht. 

Nämlich in dem Charakter, den man die Latenz 
heissen könnte. Nach unserer gesicherten An- 
nahme gibt es ja in der jüdischen Religionsge- 
schichte eine lange Zeit nach dem Abfall von 
der Mosesreligion, in der von der monotheisti- 
schen Idee, von der Verschmähung des Zeremo- 
niells und von der Überbetonung des Ethischen 
nichts verspürt wird. So werden wir auf die 
Möglichkeit vorbereitet, das die Lösung unseres 
Problems in einer besonderen psychologischen 
Situation zu suchen ist. 

"Wir haben bereits wiederholt dargestellt, was in 
Quades geschah, als die beiden Anteile des spä- 
teren jüdischen Volkes zur Annahme einer neu- 
en Religion zusammentraten. Auf der Seite de- 
rer, die in Ägypten gewesen waren, waren die 
Erinnerungen an den Auszug und an die Gestalt 
des Moses noch so stark und lebhaft, dass sie 
Aufnahme in einem Bericht über die Vorzeit 
forderten. Es waren vielleicht die Enkel von Per- 
sonen, die Moses selbst gekannt hatten, und ei- 
nige von ihnen fühlten sich noch als Ägypter 
und trugen ägyptische Namen. Sie hatten aber 
gute Motive, die Erinnerung an das Schicksal 
zu verdrängen, das ihrem Führer und Gesetzge- 
ber bereitet worden war. Für die anderen war 
die Absicht massgebend, den neuen Gott zu ver- 

122 



und die monotheistische Religion 
herrlichen und seine Fremdheit zu bestreiten. 

Beide Teile hatten das gleiche Interesse daran, zu 
Yerleugaen, dass es bei ihnen eine frühere Reli- 
gion gegeben hatte und welches ihr Inhalt gewe- 
sen war. So kam jenes erste Kompromiss zustan- 
de, das wahrscheinlich bald eine schriftliche Fi- 
xierung fand; die Leute aus Ägypten hatten die 
Schrift und die Lust zur Geschichtsschreibung 
mitgebracht, aber es sollte noch lange dauern, 
bis die Geschichtsschreibung erkannte, dass sie 
zur unerbittlichen Wahrhaftigkeit verpflichtet 
sei. Zunächst machte sie sich kein Gewissen dar- 
aus, ihre Berichte nach ihren jeweiligen Bedürf- 
nissen und Tendenzen zu gestalten, als wäre ihr 
der Begriff der Verfälschung noch nicht aufge- 
gangen. Infolge dieser Verhältnisse konnte sich 
ein Gegensatz herausbilden zwischen der schrift- 
lichen Fixierung und der mündlichen Überliefe- 
rung desselben Stoffes, der Tradition. Was in 
der Niederschrift ausgelassen oder abgeändert 
worden war, konnte sehr wohl in der Tradition 
unversehrt erhalten geblieben sein. Die Tradi- 
tion war die Ergänzung und zugleich der Wider- 
spruch zur Geschichtsschreibung. Sie war dem 
Einfluss der entstellenden Tendenzen weniger 
unterworfen, vielleicht in manchen Stücken 
ganz entzogen, und konnte darum wahrhaftiger 
sein als der schriftlich fixierte Bericht. Ihre Zu- 
verlässigkeit litt aber darunter, dass sie unbe- 

123 



///. Moses, sein Volk, 

ständiger und unbestimmter war als die Nieder- 
schrift, mannigfachen Veränderungen und Ver- 
unstaltungen ausgesetzt, wenn sie durch münd- 
liche Mitteilung von einer Generation auf die 
andere übertragen wurde. Eine solche Tradition 
konnte verschiedenartige Schicksale haben. Am 
ehesten sollten wir erwarten, dass sie von der 
Niederschrift erschlagen wird, sich neben ihr 
nicht zu behaupten vermag, immer schattenhaf- 
ter wird und endlich in Vergessenheit gerät. 
Aber es sind auch andere Schicksale möglich; ei- 
nes davon ist, dass die Tradition selbst in einer 
schriftlichen Fixierung endet, und von noch an- 
deren werden wir im weiteren Verlauf zu han- 
deln haben. 

Für das Phänomen der Latenz in der jüdischen 
Religionsgeschichte, das uns beschäftigt, bietet 
sich nun die Erklärung, dass die von der sozusa- 
gen offiziellen Geschichtsschreibung absichtlich 
verleugneten Tatbestände und Inhalte in Wirk- 
lichkeit nie verloren gegangen sind. Die Kunde 
von ihnen lebte in Traditionen fort, die sich im 
Volke erhielten. Nach der Versicherung von 
Sellin war ja selbst über den Ausgang Moses' eine 
Tradition vorhanden, die der offiziellen Dar- 
stellung glatt widersprach und der Wahrheit 
weit näher kam. Dasselbe, dürfen wir anneh- 
men, traf auch für anderes zu, was scheinbar 
zugleich mit Moses seinen Untergang gefunden 
-124 



und die monotheistische Religion 

hatte, für manche Inhalte der mosaischen Reli- 
gion, die für die Überzahl der Zeitgenossen Mo- 
ses' unannehmbar gewesen waren. 
Die merkwürdige Tatsache, der wir hier begeg- 
nen, ist aber, dass diese Traditionen, anstatt sich 
mit der Zeit abzuschwächen, im Laufe der Jahr- 
hunderte immer mächtiger wurden, sich in die 
späteren Bearbeitungen der offiziellen Bericht- 
erstattung eindrängten und endlich sich stark 
genug zeigten, um das Denken und Handeln des 
Volkes entscheidend zu beeinflussen. Welche 
Bedingungen diesen Ausgang ermöglicht haben, 
das entzieht sich allerdings zunächst unserer 
Kenntnis. 

Diese Tatsache ist so merkwürdig, dass wir uns 
berechtigt fühlen, sie uns nochmals vorzuhalten. 
In ihr liegt unser Problem beschlossen. Das Ju- 
denvolk hatte die ihm von Moses gebrachte 
Atonreligion verlassen und sich der Verehrung 
eines anderen Gottes zugewendet, der sich we- 
nig von den Baalim der Nachbarvölker unter- 
schied. Allen Bemühungen späterer Tendenzen 
gelang es nicht, diesen beschämenden Sachver- 
halt zu verschleiern. Aber die Mosesreligion war 
nicht spurlos untergegangen, eine Art von Erin- 
nerung an sie hatte sich erhalten, eine vielleicht 
verdunkelte und entstellte Tradition. Und diese 
Tradition einer grossen Vergangenheit war es, 
die gleichsam , aus dem Hintergrund zu wirken 

125 



IIL Moses, sein Volk, 

fortfuhr, allmählich immer mehrfVlacht über die 
Geister gewann und es endlich erreichte, den 
Gott Jahve in den mosaischen Gott zu verwan- 
deln und die vor langen Jahrhunderten einge- 
setzte und dann verlassene Religion des Moses 
wieder zum Leben zu erwecken. Dass eine ver- 
schollene Tradition eine so mächtige Wirkung 
auf das Seelenleben eines Volkes üben sollte, ist 
keine uns vertraute Vorstellung. Wir finden uns 
da auf einem Gebiet der Masseepsychologie, in 
dem wir uns nicht heimisch fühlen. Wir halten 
Ausschau nach Analogien, nach Tatsachen von 
wenigstens ähnlicher Natur, wenn auch auf an- 
deren Gebieten. Wir meinen, solche sind zu fin- 
den. 

In den Zeiten, da sich bei den Juden die Wieder- 
kehr der Mosesreligion vorbereitete, fand sich 
das griechische Volk im Besitz eines überaus rei- 
chen Schatzes von Geschlechtersagen und Hel- 
denmythen. Im 9ten oder 8ten Jahrhundert, 
glaubt man, entstanden die beiden homerischen 
Epen, die ihren Stoff diesem Sagenkreis entnah- 
men. Mit unseren heutigen psychologischen 
Einsichten hätte man lange vor Schliemann und 
Evans die Frage auf werfen können: Woher nah- 
men die Griechen all das Sagenmaterial, das 
Homer und die grossen attischen Dramatiker in 
ihren Meisterwerken verarbeiteten? Die Ant- 
wort hätte lauten müssen: Dies Volk hat wahr- 
126 



und die monotheistische Religion 
scheinlich in seiner Vorgeschichte eine Zeit von 
äusserem Glanz und kultureller Blüte erlebt, die 
in einer historischen Katastrophe untergegangen 
ist und von der sich in diesen Sagen eine dunkle 
Tradition erhalten hat. Die archäologische For- 
schung unserer Tage hat dann diese Vermutung 
bestätigt, die damals sicherlich für allzu gewagt 
erklärt worden wäre. Sie hat die Zeugnisse für 
die grossartige minoisch-mykenische Kultur auf- 
gedeckt, die auf dem griechischen Festland 
wahrscheinlich schon vor 1250 v. Chr. zu Ende 
kam. Bei den griechischen Historikern der spä- 
teren Zeit findet sich kaum ein Hinweis auf sie. 
Einmal die Bemerkung, dass es eine Zeit gab, da 
die Kreter die Seeherrschaft innehatten, der Na- 
me des Königs Minos und seines Palastes, des 
Labyrinths; das ist alles, sonst ist nichts von ihr 
übrig geblieben als die von den Dichtern aufge- 
griffenen Traditionen. 

Es sind Volksepen noch bei anderen Völkern, 
bei den Deutschen, Indern, Finnen, bekannt ge- 
worden. Es fällt den Literarhistorikern zu, zu 
untersuchen, ob deren Entstehung dieselben Be- 
dingtingen annehmen lässt wie im Falle der 
Griechen. Ich glaube, die Untersuchung wird 
ein positives Ergebnis bringen. Die Bedingung, 
die wir erkennen, ist: Ein Stück Vorgeschichte, 
das unmittelbar nachher als inhaltreich, bedeut- 
sam und grossartig, vielleicht immer als helden- 

127 



///. Moses, sein Volk, 
haf t erscheinen musste, das aber so weit zurück- 
liegt, so entlegenen Zeiten angehört, dass den 
späteren Geschlechtern nur eine dunkle und un- 
vollständige Tradition von ihr Kunde gibt. Man 
hat sich darüber verwundert, dass das Epos als 
Kunstgattung in späteren Zeiten erloschen ist. 
Vielleicht liegt die Erklärung darin, dass seine 
Bedingung sich nicht mehr herstellte. Der alte 
Stoff war aufgearbeitet und für alle späteren 
Begebenheiten war die Geschichtsschreibung an 
die Stelle der Tradition getreten. Die grössten 
Heldentaten unserer Tage waren nicht imstan- 
de, ein Epos zu inspirieren, aber schon Alexan- 
der der Grosse hatte ein Recht zur Klage, dass er 
keinen Homer finden werde. 
Längstvergangene Zeiten haben eine grosse, eine 
oft rätselhafte Anziehung für die Phantasie der 
Menschen. So oft sie mit ihrer Gegenwart unzu- 
frieden sind — und das sind sie oft genug — , 
■ wenden sie sich zurück in die Vergangenheit und 
hoffen, diesmal den nie erloschenen Traum von 
einem goldenen Zeitalter bewahrheiten zu kön- 
nen."^) Wahrscheinlich stehen sie immer noch un- 
ter dem Zauber ihrer Kindheit, die ihnen von 

^) Diese Situation hat Macaulay seinen Lays of Äncient 
Rome zu Grunde gelegt. Er versetzt sich darin in die 
Rolle eines Sängers, der betrübt über die wüsten Partei- 
kämpfe der Gegenwart seinen Zuhörern den Opfer- 
mut, die Einigkeit und den Patriotismus der Ahnen 
vorhält, 
128 



und die monotheistische Religion 
einer nicht unparteiischen Erinnerung als eine 
Zeit von ungestörter Seligkeit gespiegelt wird. 
Wenn von der Vergangenheit nur mehr die un- 
vollständigen und verschwommenen Erinnerun- 
gen bestehen, die wir Tradition heissen, so ist 
das für den Künstler ein besonderer Anreiz, denn 
dann ist es ihm frei geworden, die Lücken der 
Erinnerung nach den Gelüsten seiner Phantasie 
auszufüllen und das Bild der Zeit, die er repro- 
duzieren will, nach seinen Absichten zu gestal- 
ten. Beinahe könnte man sagen, je unbestimmter 
die Tradition geworden ist, desto brauchbarer 
'wird sie für den Dichter. Über die Bedeutung 
der Tradition für die Dichtung brauchen wir 
uns also nicht zu verwundern, und die Analogie 
zur Bedingtheit des Epos wird uns der befremd- 
lichen Annahme geneigter machen, dass es bei 
den Juden die Mosestradition war, welche den 
Jahvedienst im Sinne der alten Mosesreligion 
verwandelte. Aber die beiden Fälle sind sonst 
noch zu sehr verschieden. Dort ist das Ergebnis 
eine Dichtung, hier eine Religion, und für letz- 
tere haben wir angenommen, dass sie unter dem 
Antrieb der Tradition mit einer Treue reprodu- 
ziert wurde, zu der der Fall des Epos natürlich 
das Gegenstück nicht zeigen kann. Somit bleibt 
von unserem Problem genug übrig, um das Be- 
dürfnis nach besser zutreffenden Analogien zu 
rechtfertigen. 

129 



///. Moses, sein Volk, 



Die Analogie 

Die einzige befriedigende Analogie zu dem merk- 
würdigen Vorgang, den wir in der jüdischen 
Religionsgeschichte erkannt haben, findet sich 
auf einem scheinbar weit abgelegenen Gebiet; 
aber sie ist sehr vollständig, sie kommt der Iden- 
tität nahe. Dort begegnen uns wieder das Phä- 
nomen der Latenz, das Auftauchen unverständ- 
licher, Erklärung heischender Erscheinungen und 
die Bedingung des frühen, später vergessenen 
Erlebnisses. Und ebenso der Charakter des 
Zwanges, der sich mit Überwältigung des logi- 
schen Denkens der Psyche aufdrängt, ein Zug, 
der z.B. bei der Genese des Epos nicht in Be- 
tracht kam. 

Diese Analogie trifft sich in der Psychopatholo- 
gie bei der Genese der menschlichen Neurosen, 
also auf einem Gebiet, das derEinzelpsychologie 
angehört, während die religiösen Phänomene 
natürlich zur Massenpsychologie zu rechnen 
sind. Es wird sich zeigen, dass diese Analogie 
nicht so überraschend ist, wie man zunächst 
meinen würde, ja, dass sie eher einem Postulat 
entspricht. 

Die früh erlebten, später vergessenen Eindrücke, 
denen wir eine so grosse Bedeutung für die Ätio- 
130 



und die monotheistische Religion 

logie der Neurosen zuschreiben, heissen wir 
Traumen J Es mag dahingestellt bleiben, ob die 
Ätiologie der Neurosen allgemein als eine trau- 
matische angesehen werden darf. Der nahelie- 
gende Einwand dagegen ist, dass sich nicht in 
allen Fällen ein offenkundiges Trauma aus der 
Urgeschichte des neurotischen Individuums her- 
ausheben lässt. Oft muss man sich bescheiden zu 
sagen, dass nichts anderes vorliegt als eine aus- 
sergewöhnliche, abnorme Reaktion auf Erleb- 
nisse und Anforderungen, die alle Individuen 
treffen und von ihnen in anderer, normal zu 
nennender Weise verarbeitet und erledigt wer- 
den. Wo zur Erklärung nichts anderes zur Ver- 
fügung steht als hereditäre und konstitutionelle 
Dispositionen, ist man begreiflicherweise ver- 
sucht zu sagen, die Neurose werde nicht erwor- 
ben, sondern entwickelt. 
In diesem Zusammenhang heben sich aber zwei 
Punkte hervor. Der erste ist, dass die Genese der 
Neurose überall und jedesmal auf sehr frühe ' 
Kindheitseindrücke zurückgeht.'^) Zweitens, es 
ist richtig, dass es Fälle gibt, die man als „trau- 
matische" auszeichnet, weil die Wirkungen un- 
verkennbar auf einen oder mehrere starke Ein- 

^) So, dass es also unsinnig ist, zu behaupten, man übe 
Psychoanalyse, wenn man gerade diese Urzeiten von der 
Erforschung und Berücksichtigung ausschliesst, wie es 
■von manchen Seiten geschieht. 

131 



///. Moses, sein Volk, 

drücke dieser Frühzeit zurückgehen, die sich ei- 
ner normalen Erledigung entzogen haben, so 
dass man urteilen möchte, wären diese nicht vor- 
gefallen, so wäre auch die Neurose nicht zu- 
standegekommen. Es reichte nun für unsere Ab- 
sichten hin, wenn wir die gesuchte Analogie nur 
auf diese traumatischen Fälle beschränken müss- ^ 
ten. Aber die Kluft zwischen beiden Gruppen 
scheint nicht unüberbrückbar. Es ist sehr wohl 
möglich, beide ätiologischen Bedingungen in 
einer Auffassung zu vereinigen; es kommt nur 
darauf an, was man als traumatisch definiert. 
Wenn man annehmen darf, dass das Erlebnis 
den traumatischen Charakter nur infolge eines 
quantitativen Faktors erwirbt, dass also in al- 
len Fällen die Schuld an einem Zuviel von An- 
spruch liegt, wenn das Erlebnis ungewöhnliche, 
pathologische Reaktionen hervorruft, so kann 
man leicht zur Auskunft gelangen, dass bei der 
einen Konstitution etwas als Trauma wirkt, was 
bei einer anderen keine solche Wirkung hätte. Es 
ergibt sich dann die Vorstellung einer gleitenden 
sog. Ergänzußgsreihe, in der zwei Faktoren zur 
ätiologischen Erfüllung zusammentreten, ein 
Minder von einem durch ein Mehr vom anderen 
ausgeglichen wird, im allgemeinen ein Zusam- 
menwirken beider stattfindet und nur an den 
beiden Enden der Reihe von einer einfachen 
Motivierung die Rede sein kann. Nach dieser 
132 



und die monotheistische Religion 

Erwägung kann man die Unterscheiduiig von 
traumatischer und nicht traumatischer Ätiologie 
als für die von uns gesuchte Analogie unwesent- 
lich beiseite lassen. 

Vielleicht ist es trotz der Gefahr der Wiederho- 
lung zweckmässig, hier die Tatsachen zusam- 
menzustellen, welche die für uns bedeutsame 
Analogie enthalten. Es sind folgende: Es hat sich 
für unsere Forschung herausgestellt, dass das, 
was wir die Phänomene (Symptome) einer Neu- 
rose heissen, die Folgen von gewissen Erlebnis- 
sen und Eindrücken sind, die wir eben darum als 
ätiologische Traumen anerkennen. Wir haben 
nun zwei Aufgaben vor uns: Erstens die gemein- 
samen Charaktere dieser Erlebnisse und zwei- 
tens die der neurotischen Symptome aufzusu- 
chen, wobei gewisse Schematisierungen nicht 
vermieden zu werden brauchen. 

Ad. I: a) Alle diese Traumen gehören der frü- 
hen Kindheit bis etwa zu 5 Jahren an. Ein- 
drücke aus der Zeit der beginnenden Sprachfä- 
higkeit heben sich als besonders interessant her- 
vor; die Periode von 2 — 4 Jahren erscheint als 
die wichtigste; wann nach der Geburt diese Zeit 
der Empfänglichkeit beginnt, lässt sich nicht si- 
cher feststellen, b) Die betreffenden Erlebnisse 
sind in der Regel völlig vergessen, sie sind der 
Erinnerung nicht zugänglich, fallen in die Pe- 

133 



///. Moses, sein Volk, 
riode der infantilen Amnesie, die zumeist durch 
einzelne Erinnerungsreste, sog. Deckerinneran- 
gen, durchbrochen wird, c) Sie beziehen sich auf 
Eindrücke sexueller und aggressiver Natur, ge- 
wiss auch auf frühzeitige Schädigungen des Ichs 
(narzisstische Kränkungen). Dazu ist zu bemer- 
ken, dass so junge Kinder zwischen sexuellen 
und rein aggressiven Handlungen nicht scharf 
unterscheiden wie später (sadistisches Missver- 
ständnis des Sexualaktes). Das Oberwiegen des 
sexuellen Moments ist natürlich sehr auffällig 
und verlangt nach theoretischer Würdigung. 
Diese drei Punkte — frühzeitliches Vorkommen 
innerhalb der ersten 5 Jahre, Vergessenheit, 
sexuell-aggressiver Inhalt — gehören eng zu- 
sammen. Die Traumen sind entweder Erlebnisse 
am eigenen Körper oder Sinneswahrnehmungen, 
meist von Gesehenem und Gehörtem, also Er- 
lebnisse oder Eindrücke. Der Zusammenhang 
jener drei Punkte wird durch eine Theorie her- 
gestellt, ein Ergebnis der analytischen Arbeit, die 
allein eine Kenntnis der vergessenen Erlebnisse 
vermitteln, greller, aber auch inkorrekter ausge- 
drückt, sie in die Erinnerung zurückbringen 
kann. Die Theorie lautet, dass im Gegensatz zur 
populären Meinung das Geschlechtsleben der 
Menschen — oder was ihm in späterer Zeit ent- 
spricht — eine Frühblüte zeigt, die mit etwa 5 
Jahren zu Ende ist, worauf die sogenannte La- 
134 



und die monotheistische Religion 

tenzzeit — ■ bis zur Pubertät ■ — folgt, in der 
keine Fortentwicklung der Sexualität vor sich 
geht, ja das Erreichte rückgängig gemacht wird. 
Diese Lehre wird durch anatomische Untersu- 
chung des Wachstums der inneren Genitalien 
bestätigt; sie führt zur Vermutung, dass der 
Metisch von einer Tierart abstammt, die mit 5 
Jahren geschlechtsreif wurde, und weckt den 
Verdacht, dass der Aufschub und zweizeitige 
Ansatz des Sexuallebens aufs innigste mit der 
Geschichte der Menschwerdung zusammen- 
hängt. Der Mensch scheint das einzige Tierwe- 
sen mit solcher Latenz und Sexualverspätung zu 
sein. Untersuchungen an Primaten, die meines 
Wissens nicht vorliegen, wären für die Prüfung 
der Theorie unerlässlich. Psychologisch kann es 
nicht gleichgültig sein, dass die Periode der in- 
fantilen Amnesie mit dieser Frühzeit der Sexua- 
lität zusammenfällt. Vielleicht bringt dieser 
Sachverhalt die wirkliche Bedingung für die 
Möglichkeit der Neurose, die ja im gewissen Sin- 
ne ein menschliches Vorrecht ist und in dieser 
Betrachtung als ein Überbleibsel (survival) der 
Urzeit erscheint wie gewisse Bestandstücke der 
Anatomie unseres Körpers. 

Ad II, gemeinsame Eigenschaften oder Beson- 
derheiten der neurotischen Phänomene: es sind 
zwei Punkte hervorzuheben, a) Die Wirkungen 

135 



k-^ 



HL Moses, sein Volk, 
des Traumas sind von zweierlei Art, positive 
und negative. Die ersteren sind Bemühungen, das 
Trauma wieder zur Geltung zu bringen, also das 
vergessene Erlebnis zu erinnern, oder noch bes- 
ser, es real zu machen, eine Wiederholung davon 
von neuem zu erleben, wenn es auch nur eine 
frühere Affektbeziehung war, dieselbe in einer 
analogen Beziehung zu einer anderen Person neu 
Wiederaufleben zu lassen. Man fasst diese Be- 
mühungen zusammen als Fixierung zn das Trau- 
ma und als Wiederholungszwang. Sie können in 
das sog, normale Ich aufgenommen werden und 
als ständige Tendenzen desselben ihm unwan- 
delbare Charakterzüge verleihen, obwohl oder 
vielmehr gerade weil ihre wirkliche Begründung, 
ihr historischer Ursprung vergessen ist. So kann 
ein Mann, der seine Kindheit in übermässiger, 
heute vergessener Mutterbindung verbracht hat, 
sein ganzes Leben über nach einer Frau suchen, 
von der er sich abhängig machen kann, von der 
er sich nähren und erhalten lässt/Ein Mädchen, 
das in früher Kindheit Objekt einer sexuellen 
Verführung wurde, kann ihr späteres Sexualle- 
ben darauf einrichten, immer wieder solche An- 
griffe zu provozieren. Es ist leicht zu erraten, 
dass wir durch solche Einsichten über das Pro- 
blem der Neurose hinaus zum Verständnis der 
Charakterbildung überhaupt vordringen. 
Die negativen Reaktionen verfolgen das entge- 
136 



und die monotheistische Religion 

gengesetzte Ziel, dass von den vergessenen Trau- 
men nichts erinnert und nichts wiederholt wer- 
den soll. Wir können sie als Abwehrreaktionen 
zusammenfassen.^ Ihr Hauptausdruck sind die 
sog. Vermeidungen, die sich zuHemmungennnd 
Phobien steigern können. Auch diese negativen 
Reaktionen leisten die stärksten Beiträge zur 
Prägung des Charakters; im Grunde sind sie 
ebenso Fixierungen an das Trauma wie ihre 
Gegner, nur sind es Fixierungen mit entgegenge- 
setzter Tendenz. Die Symptome der Neurose im 
engeren Sinne sind Kompromissbildungen, zu 
denen beiderlei von den Traumen ausgehende 
Strebungen zusammentreten, so dass bald der 
Anteil der einen, bald der anderen Richtung In 
ihnen überwiegenden Ausdruck findet. Durch 
diesen Gegensatz der Reaktionen werden Kon- 
flikte hergestellt, die regulärer Weise zu keinem 
Abschluss kommen können. 
b) Alle diese Phänomene, die Symptome wie die 
Einschränkungen des Ichs und die stabilen Cha- 
rakterveränderungen haben Zw^wgicharakter, 
d.h. bei grosser psychischer Intensität zeigen sie 
eine weitgehende Unabhängigkeit von der Or- 
ganisation der anderen seelischen Vorgänge, die 
den Forderungen der realen Aussenwelt ange- 
passt sind, den Gesetzen des logischen Denkens 
gehorchen. Sie werden durch die äussere Reali- 
tät nicht oder nicht genug -beeinflusst, kümmern 

137 



\> 



///. Moses, sein Volk, 
sich nicht um sie und um ihre psychische Vertre- 
tung, so dass sie leicht in aktiven Widerspruch 
zu beiden geraten. Sie sind gleichsam ein Staat 
im Staat, eine unzugängliche, zur Zusammenar- 
beit unbrauchbare Partei, der es aber gelingen 
kann, das andere, sog. Normale zu überwinden 
und in ihren Dienst zu zwingen. Geschieht dies, 
so ist damit die Herrschaft einer inneren psychi- 
schen Realität über die Realität der Aussenwelt 
erreicht, der Weg zur Psychose eröffnet.) Auch 
wo es nicht so weit kommt, ist die praktische 
Bedeutung dieser Verhältnisse kaum zu über- 
schätzen. Die Lebenshemmung und Lebensun- 
fähigkeit der von einer Neurose beherrschten 
Personen ist ein in der menschlichen Gesellschaft 
sehr bedeutsamer Faktor, und man darf in ihr 
den direkten Ausdruck ihrer Fixierung an ein 
frühes Stück ihrer Vergangenheit erkennen. 
Und nun fragen wir, was ist es mit der Latenz, 
die uns mit Rücksicht auf die Analogie beson- 
ders interessieren muss? An das Trauma der 
Kindheit kann sich ein neurotischer Ausbruch 
unmittelbar anschliessen, eine Kindheitsneurose, 
erfüllt von den Bemühungen zur Abwehr, unter 
Bildung von Symptomen. Sie kann längere Zeit 
anhalten, auffällige Störungen verursachen, aber 
auch latent verlaufen und übersehen werden. In 
ihr behält in der Regel die Abwehr die Ober- 
hand; auf jeden Fall bleiben Ichveränderungen, 

138 



und die monotheistische Religion 

den Narbenbildungen vergleichbar, zurück. Nur 
selten setzt sich die Kindemeurose ohne Unter- 
brechung in die Neurose des Erwachsenen fort. 
Weit häufiger wird sie abgelöst von einer Zeit 
anscheinend ungestörter Entwicklung, ein Vor- 
gang, der durch das Dazwischentreten der phy- 
siologischen Latenzperiode unterstützt oder er- 
möglicht wird. Erst später tritt die Wandlung 
ein, mit der die endgültige Neurose als verspätete 
Wirkung des Traumas manifest wird. Dies ge- 
schieht entweder mit dem Einbruch der Puber- 
tät oder eine Weile später. Im ersteren Falle, in- 
dem die durch die physische Reifung verstärk- 
ten Triebe nun den Kampf wiederaufnehmen 
können, in dem sie anfänglich der Abwehr un- 
terlegen sind, im anderen Falle, weil die bei der 
Abwehr hergestellten Reaktionen und Ichver- 
änderungeö sich nun als hinderlich für die Erle- 
digung der neuen Lebensaufgaben erweisen, so 
dass es nun zu schweren Konflikten zwischen 
den Anforderungen der realen Aussenwelt und 
dem Ich kommt, das seine im Abwehrkampf 
mühsam erworbene Organisation bewahren will. 
Das Phänomen einer Latenz der Neurose zwi- 
schen den ersten Reaktionen auf das Trauma 
und dem späteren Ausbruch der Erkrankung 
muss als typisch anerkannt werden. Man darf 
diese Erkrankung auch als Heilungsversuch an- 
sehen, als Bemühung, die durch den Einfluss des 

139 



///. Moses, sein Volk, 
Traumas abgespaltenen Anteile des Ichs wieder 
mit dem übrigen zu versöhnen und zu einem ge- 
gen die Aussenwelt machtvollen Ganzen zu ver- 
einigen. Aber ein solcher Versuch gelingt nur 
selten, wenn nicht die analytische Arbeit zu 
Hilfe kommt, auch dann nicht immer, und er 
endet häufig genug in einer völligen Verwüstung 
und Zersplitterung des Ichs oder in dessen Über- 
wältigung durch den frühzeitig abgespaltenen, 
vom Trauma beherrschten Anteil. 
Um die Überzeugung des Lesers zu gewinnen, 
wäre die ausführliche Mitteilung zahlreicher 
neurotischer Lebensgeschichten erforderlich. 
Aber bei der" "Weitläufigkeit und Schwierigkeit 
des Gegenstandes würde dies den Charakter die- 
ser Arbeit völlig aufheben. Sie würde sich in 
eine Abhandlung über Neurosenlehre umwan- 
deln und auch dann wahrscheinlich nur auf jene 
Minderzahl wirken, die das Studium und die 
Ausübung der Psychoanalyse zur Lebensaufga- 
be gewählt hat. Da ich mich hier an einen weite- 
ren Kreis wende, kann ich nichts anderes tun, als 
den Leser ersuchen, dass er den im. Vorstehen- 
den abgekürzt mitgeteilten Ausführungen eine 
gewisse vorläufige Glaubwürdigkeit zugestehe, 
womit also das Zugeständnis meinerseits ver- 
bunden ist, dass er die Folgerungen, zu denen 
ich ihn führe, nur dann anzunehmen braucht, 

140 



und die monotheistische Religion 

wenn die Lehren, die ihre Voraussetzungen sind, 
sich als richtig bewähren. 
Ich kann immerhin versuchen, einen einzelnen 
Fall zu erzählen, der manche der erwähnten 
Eigentümlichkeiten der Neurose besonders deut- 
lich erkennen lässt. Natürlich darf man von 
einem einzigen Fall nicht erwarten, dass er alles 
zeigen wird, und braucht nicht enttäuscht zu 
sein, wenn er sich inhaltlich weit von dem ent- 
fernt, wozu wir die Analogie suchen. 
Das Knäblein, das, wie so häufig in kleinbürger- 
lichen Familien, in den ersten Lfebensjahren das 
Schlafzimmer mit den Eltern teilte, hatte wie- 
derholt, ja regelmässig, Gelegenheit, im Alter der 
kaum erreichten Sprachfähigkeit die sexuellen 
Vorgänge zwischen den Eltern zu beobachten, 
manches zu sehen und mehr noch zu hören. In 
seiner späteren Neurose, die unmittelbar nach 
der ersten spontanen Pollution ausbricht, ist 
Schlafstörung das früheste und lästigste Sym- 
ptom. Er wird ausserordentlich empfindlich' 
gegen nächtliche Geräusche und kann, einmal 
geweckt, den Schlaf nicht wiederfinden. Diese 
Schlafstörung war ein richtiges Kompromiss- 
symptom, einerseits der Ausdruck seiner Ab- 
wehr gegen jene nächtlichen Wahmehmungen, 
andererseits ein Versuch, das Wachsein wieder- 
herzustellen, in dem er jenen Eindrücken lau- 
schen konnte. 

141 



///, Moses, sein Volk, 

Durch solche Beobachtung frühzeitig zu aggres- 
siver Männlichkeit geweckt, begann das Kind 
seinen kleinen Penis mit der Hand zu erregen 
und verschiedene sexuelle Angriffe auf die Mutter 
zu unternehmen, in der Identifizierung mit dem 
Vater, an dessen Stelle er sich dabei setzte. Das 
ging so fort, bis er sich endlich von der Mutter 
das Verbot holte, sein Glied zu berühren, und 
des weiteren die Drohung von ihr hörte, sie wer- 
de es dem Vater sagen und der ihm zur Strafe 
das sündige Glied wegnehmen. Diese Kastra- 
tionsdrohung hatte eine ausserordentlich starke 
traumatische Wirkung auf den Knaben. Er gab 
seine sexuelle Tätigkeit auf und änderte seinen 
Charakter. Anstatt sich mit dem Vater zu iden- 
tifizieren, fürchtete er ihn, stellte sich passiv zu 
ihm ein und provozierte ihn durch gelegentliche 
Schlimmheit zu körperlichen Züchtigungen, die 
für ihn sexuelle Bedeutung hatten, so dass er 
sich dabei mit der misshandelten Mutter identi- 
fizieren konnte. An die Mutter selbst klammerte 
er sich immer ängstlicher an, als ob er keinen 
Moment lang ihre Liebe entbehren könnte, in 
der er den Schutz gegen die vom Vater drohende 
Kastrationsgefahr erblickte. In dieser Modifika- 
tion des Ödipuskomplexes verbrachte er die La- 
tenzzeit, die von auffälligen Störungen frei 
blieb. Er wurde ein Musterknabe, hatte guten 
Erfolg in der Schule. 
142 



und die monotheistische Religion 
Soweit haben wir die unmittelbare Wirkung des 

Traumas verfolgt und die Tatsache der Latenz 
bestätigt. 

Der Eintritt der Pubertät brachte die manifeste 
Neurose und offenbarte deren zweites Haupt- 
symptom, die sexuelle Impotenz. Er hatte die 
Empfindlichkeit seines Gliedes eingebüsst, ver- 
suchte nicht, es zu berühren, wagte nicht, sich 
einer Frau in sexueller Absicht zu nähern. Seine 
sexuelle Betätigung blieb eingeschränkt auf psy- 
chische Onanie mit sadistisch-masochistischen 
Phantasien, in denen man unschwer die Ausläu- 
fer jener frühen Coitusbeobachtungen an den 
Eltern erkennt. Der Schub verstärkter Männ- 
lichkeit, den die Pubertät mit sich bringt, wurde 
für wütenden Vaterhass und Widersetzlich- 
keit gegen den Vater aufgewendet. Dies extre- 
me, bis zur Seibstzerstörung rücksichtslose Ver- 
hältnis zum Vater verschuldete auch seinenMiss- 
erfolg im Leben und seine Konflikte mit der 
Aussenwelt. Er durfte es in seinem Beruf zu 
nichts bringen, weil der Vater ihn in diesen Be- 
ruf gedrängt hatte. Er machte auch keine Freun- 
de, stand nie gut zu seinen Vorgesetzten. 
Als er, mit diesen Symptomen und Unfähigkei- 
ten behaftet, nach dem Tode des Vaters endlich 
eine Frau gefunden hatte, kamen wie als Kern 
seines Wesens Charakterzüge bei ihm zum Vor- 
schein, die den Umgang mit ihm zur schweren 

143 



ni. Moses, sein Volk, 

Aufgabe für alle ihm Näherstehenden machte. 

Er entwickelte eine absolut egoistische, despoti- 
sche und brutale Persönlichkeit, der es offenbar 
Bedürfnis war, die anderen zu unterdrücken 
und zu kränken. Es war die getreue Kopie des 
Vaters, wie sich dessen Bild in seiner Erinnerung 
gestaltet hatte, also ein Wiederaufleben der Va- 
teridentifizierung, in die sich seinerzeit der klei- ^ 
ne Knabe aus sexuellen Motiven begeben hatte./ 
In diesem Stück erkennen wir die Wiederkehr 
des Verdrängten, die wir nebst den unmittelba- 
ren Wirkungen des Traumas und dem Phäno- 
men der Latenz unter den wesentlichen Zügen 
einer Neurose beschrieben haben. 

D 

Anwendung 

Frühes Trauma - Abwehr - Latenz - Ausbruch 
der neurotischen Erkrankung - teilweise Wie- 
derkehr des Verdrängten: so lautete die Formel, 

die wir für die Entwicklung einer Neurose auf- 
gestellt haben. Der Leser wird nun eingeladen, 
den Schritt zur Annahme zu machen, dass im 

Leben der Menschenart ähnliches vorgefallen ist 
wie in dem der Individuen. Also dass es auch 
hier Vorgänge gegeben hat sexuell-aggressiven 
Inhalts, die bleibende Folgen hinterlassen ha- 
144 



und die monotheistische Religion 
ben, aber zumeist abgewehrt, vergessen wurden, 
später, nach langer Latenz zur "Wirkung gekom- 
men sind und Phänomene, den Symptomen ähn- 
lich in Aufbau und Tendenz, geschaffen ha- 
ben. 

Wir glauben diese Vorgänge erraten zu können 
und wollen zeigen, dass ihre symptomähnlichen 
Folgen die religiösen Phänomene sind. Da sich 
seit dem Auftauchen der Evolutionsidee nicht 
mehr bezweifeln lässt, dass das Menschenge- 
schlecht eine Vorgeschichte hat, und da diese un- 
bekannt, das heisst vergessen ist, hat ein solcher 
Schluss beinahe das Gewicht eines Postulats. 
Wenn wir erfahren, dass die wirksamen und 
vergessenen Tranmen sich hier wie dort auf das 
Leben in der menschlichen Familie beziehen, 
werden wir "dies als eine hocherwünschte, nicht 
vorhergesehene, von den bisherigen Erörtungen 
nicht erforderte Zugabe begrüssen. 
Ich habe diese Behauptungen schon vor einem 
Vierteljahrhundert in meinem Buch „Totem 
und Tabu" (1912) aufgestellt und brauche sie 
hier nur zu wiederholen. Die Konstruktion geht 
von einer Angabe Ch. Darwins aus und bezieht 
eine Vermutung von Atkimon ein. Sie besagt, 
dass in Urzeiten der Urmensch in kleinen Hor- 
den lebte, jede unter der Herrschaft eines star- 
ken Männchens. Die Zeit ist nicht angebbar, der 
Anschluss an die uns bekannten geologischen 

145 



10 



///. Moses, sein Volk, 
Epochen nicht erreicht, wahrscheinlich hatte es 
jenes Menschenwesen in der Sprachentwicklung 
noch nicht weit gebracht. Ein wesentliches 
Stück der Konstruktion ist die Annahme, dass 
die zu beschreibenden Schicksale alle Urmen- 
schen, also alle unsere Ahnen betroffen haben. 
Die Geschichte wird in grossartiger Verdichtung 
erzählt, als ob sich ein einziges Mal zugetragen 
hätte, was sich in Wirklichkeit über Jahrtau- 
sende erstreckt hat und in dieser langen Zeit un- 
gezählt oft wiederholt worden ist. Das starke 
Männchen war Herr und Vater der ganzen 
Horde, unbeschränkt in seiner Macht, die er ge- 
walttätig gebrauchte. Alle weiblichen Wesen 
waren sein Eigentum, die Frauen und Töchter 
der eigenen Horde, wie vielleicht auch die aus 
anderen Horden geraubten. Das Schicksal der 
Söhne war ein hartes; wenn sie dit Eifersucht 
des Vaters erregten, wurden sie erschlagen oder 
kastriert oder ausgetrieben. Sie waren darauf 
angewiesen, in kleinen Gemeinschaften zusam- 
menzuleben und sich Frauen durch Raub zu 
verschaffen, wo es dann dem einen oder ande- 
ren gelingen konnte, sich zu einer ähnlichen Po- 
sition emporzuarbeiten wie die des Vaters in der 
Urhorde. Eine Ausnahmestellung ergab sich aus 
natürlichen Gründen für die jüngsten Söhne, 
die durch die Liebe der Mütter geschützt aus 
dem Altern des Vaters Vorteil ziehen und ihn 
146 



und die monotheistische Religion 
nach seinem Ableben ersetzen konnten. Sowohl 
von der Austreibung der älteren wie von der Be- 
vorzugung der jüngsten Söhne glaubt man Nach- 
klänge in Sagen und Märchen zu erkennen. 
Der nächste entscheidende Schritt zur Änderung 
dieser ersten Art von „sozialer" Organisation 
soll gewesen sein, dass die vertriebenen, in Ge- 
meinschaft lebenden Brüder sich zusammenta- 
ten, den Vater überwältigten und ihn nach der 
Sitte jener Zeiten roh verzehrten. An diesem 
Kannibalismus braucht man keinen Anstoss zu 
nehmen, er ragt weit in spätere Zeiten hinein.We- 
sentlich ist es aber, dass wir diesen Urmenschen 
die nämlichen Gefühlseinstellungen zuschreiben, 
wie wir sie bei den Primitiven der Gegenwart, 
unseren Kindern, durch analytische Erforschung 
feststellen können. Also dass sie den Vater nicht 
nur hassten und fürchteten, sondern auch ihn als 
Vorbild verehrten, und dass jeder sich in Wirk- 
lichkeit an seine Stelle setzen wollte. Der kanni- 
balistische Akt wird dann verständlich als Ver- 
such, sich durch Einverleibung eines Stücks von 
ihm der Identifizierung mit ihm zu versichern. 
Es ist anzunehmen, dass nach der Vatertötung 
eine längere Zeit folgte, in der die Brüder mit 
einander um das Vatererbe stritten, das ein jeder 
für sich allein gewinnen wollte. Die Einsicht in 
die Gefanren und die Erfolglosigkeit dieser 
Kämpfe, die Erinnerung an die gemeinsam voU- 

147 



///, Moses, sein Volk, 
brachte Befreiungstat und die Gefühlsbindungen 
aneinander, die während der Zeiten der Ver- 
treibung entstanden waren, führten endlich zu 

einer Einigung unter ihnen, einer Art von Ge- 
. seilschaftsvertrag./Es entstand die erste Form 
einer sozialen Organisation mit Triebverzkht, 
Anerkennung von gegenseitigen Verpflichtun- 
gen, Einsetzung bestimmter, für unverbrüchlich 
(heilig) erklärter Institutionen, die Anfänge al- • 
so von Moral und Recht. Jeder einzelne verzich- 
tete auf das Idej,Ldie_¥aterstellung für sich zu 
erwerbjen, auf den Besitz von Mutter und 
Schwest-ern. Damit war das Inzesttabu und das 
Gebot der Exogamie gegeben. Ein gutes Stück 
der durch die Beseitigung des Vaters frei gewor- 
denen Machtvollkommenheit ging auf die Frau- 
-f en über, es kam die Zeit des Matriarchats. Das 
I Andenken des Vaters lebte zu dieser Periode des 
V „Brüderbundes" fort. Ein starkes, vielleicht zu- 
erst immer auch gefürchtetes Tier wurde als Va- 
terersatz gefunden. Eine solche Wahl mag uns 
befremdend erschfinen, aber die Kluft, die der 
Mensch*später zwischen sich und dem Tier her- 
gestellt hat, bestand nicht für den Primitiven 
und besteht auch nicht bei unseren Kindern, de- 
ren Tierphobien wir als Vaterangst verstehen 
konnten. Im Verhältnis zum Totemtier war die 
ursprüngliche Zwiespältigkeit (Ambivalenz) der 
Gefühlsbeziehung zum Vater voll erhalten. Der 
148 



und die monotheistische Religion 

Totem galt einerseits als leiblicher Ahnherr und 
Schutzgeist des Clans, er musste verehrt und ge- 
schont werden, anderseits wurde ein Festtag ein- 
gesetzt, an dem ihm das Schicksal bereitet wur- 
de, das der Urvater gefunden hatte. Er wurde 
von allen Genossen gemeinsam getötet und ver- 
zehrt (Totemmahlzeit nach Robertson Smith). 
Dieser grosse Festtag war in Wirklichkeit eine 
Triumphfeier des Sieges der verbündeten Söhne 
über den Vater. 

Wo bleibt in diesem Zusammenhange die Reli- 
gion? Ich meine, wir haben ein volle? Recht, im 
Totemismus mit seiner Verehrung eines Vater- 
ersatzes, der durch die Totemmahlzeit bezeug- 
ten Ambivalenz^ der Einsetzung von Gedenk- 
feiern, von Verboten, deren Übertretung mit 
dem Tode bestraft wird, — wir dürfen im To- 
temismus, sage ich, die erste Erscheinungsform 
der Religion in der menschlichen Geschichte er- 
kennen und deren von Anfang an bestehende 
Verknüpfung mit sozialen Gestaltungen und 
moralischen Verpflichtungen bestätigen. Die 
weiteren Entwicklungen der Religion können 
wir hier nur in kürzester Überschau behandeln. 
Sie gehen ohne Zweifel parallel mit den kultu- 
rellen Fortschritten des Menschengeschlechts 
und den Veränderungen im Aufbau der mensch- 
lichen Gemeinschaften. 

Der nächste Fortschritt vom Totemismus her ist 

149 



///. Moses, sein Volk, 

die Vermenschlichung des verehrten Wesens. An 

die Stelle der Tiere treten menschliche Götter, 
deren Herkunft vom Totem nicht verhüllt ist. 
Entweder wird der Gott noch in Tiergestalt oder 
wenigstens mit dem Angesicht des Tieres gebil- 
det oder der Totem wird zum bevorzugten Be- 
gleiter des Gottes, von ihm unzertrennlich, oder 
die Sage lässt den Gott gerade dieses Tier erle- 
gen, das doch nur seine Vorstufe war. An einer 
nicht leicht bestimmbaren Stelle dieser Ent- 
wicklung treten grosse Muttergottheiten auf, 
wahrscheinlich noch vor den männlichen Göt- 
tern, die sich dann lange Zeit neben diesen er- 
halten. Unterdes hat sich eine grosse soziale Um- 
wälzung vollzogen. Das Mutterrecht wurde 
durch eine wiederhergestellte patriarchalische 
Ordnung abgelöst. Die neuen Väter erreichten 
freilich nie die Allmacht des Urvaters, es waren 
•ihrer viele, die in grösseren Verbänden, als die 
Horde gewesen war, mit einander lebten; sie 
mussten sich mit einander gut vertragen, blieben 
durch soziale Satzungen beschränkt. ; "Wahr- 
scheinlich entstanden die Muttergottheiten zur 
Zeit der Einschränkung des Matriarchats zur 
Entschädigung der zurückgesetzten Mütter. Die 
männlichen Gottheiten erscheinen zuerst als , 
Söhne neben den grossen Müttern, erst später 
nehmen sie deutlich die Züge von Vatergestalten 
an. Diese männlichen Götter des Polytheismus 
ISO 



und die monotheistische Religion 
spiegeln die Verhältnisse der patriarchalischen 
Zeit wider. Sie sind zahlreich, beschränken ein- 
ander gegenseitig, unterordnen sich gelegentlich 
einem überlegenen Obergott. Der nächste Schritt 
aber führt zu dem Thema, das uns hier beschäf- 
tigt, zur Wiederkehr des einen, einzigen, unum- 
schränkt herrschenden Vatergottes. 
Es ist zuzugeben, dass diese historische Über- 
sicht lückenhaft und in manchen Punkten unge- 
sichert ist. Aber wer unsere Konstruktion der 
Urgeschichte nur für phantastisch erklären woll- 
te, der würde den Reichtum und die Beweis- 
kraft des Materials, das in sie eingegangen ist, 
arg unterschätzen. Grosse Stücke der Vergan- 
genheit, die hier zu einem Ganzen verknüpft 
werden, sind historisch bezeugt, der Totemis- 
mus, die Aß.nnerbünde. Anderes hat sich in aus- 
gezeichneten Repliken erhalten. So ist es mehr^ 
mals einem Autor aufgefallen, wie getreu der 
Ritus der christlichen Kommunion, in der der 
Gläubige' in symbolischer Form Blut und Fleisch 
seines Gottes sich einverleibt, Sinn und Inhalt 
der alten Totemmahlzeit wiederholt. Zahlrei- 
che Überbleibsel der vergessenen Urzeit sind in 
den Sagen und Märchen der Völker erhalten, und 
in unerwarteter Reichhaltigkeit hat das analy- 
tische Studium des kindlichen Seelenlebens Stoff 
geliefert, um die Lücken unserer Kenntnis der 
Urzeiten auszufüllen. Als Beiträge zum Ver- 

151 



///. Moses, sein Volk, 
ständnis des so bedeutsamen Vaterverhältnisses 

brauche ich nur die Tierphobien, die so seltsam 
anmutende Furcht, vom Vater gefressen zu wer- 
den, und die ungeheure Intensität der Kastra- 
tionsangst anzuführen. Es ist nichts an unserer 
Konstruktion, was frei erfunden wäre, was sich 
nicht auf gute Grundlagen stützen könnte. 
Nimmt man unsere Darstellung der Urgeschich- 
te als im ganzen glaubwürdig an, so erkennt 
man in den religiösen Lehren und Riten zweier- 
lei Elemente: einerseits Fixierungen an die alte 
Familiengeschichte und Überlebsel derselben, 
anderseits Wiederherstellungen des Vergange- 
nen, Wiederkehren des Vergessenen nach lan- 
gen Intervallen. Der letztere Anteil ist der, der, 
bisher übersehen und darum nicht verstanden, 
hier an wenigstens einem eindrucksvollen Bei- 
spiel erwiesen werden soll. 
Es ist besonderer Hervorhebung wert, dass jedes 
aus der Vergessenheit wiederkehrende Stück sich 
mit besonderer Macht durchsetzt, einen unver- 
gleichlich starken Einfluss auf die Menschenmas- 
sen übt und einen unwiderstehlichen Anspruch 
auf Wahrheit. erhebt, gegen den logischer Ein- 
spruch machtlos bleibt. Nach Art des credo quia 
absurdum. Dieser merkwürdige Charakter iässt 
sich nur nach dem Muster des Irrwahns derPsy- 
chotiker verstehen. Wir haben längst begriffen, 
dass in der "Wahnidee einStücK vergessenerWahr- 
152 



und die monotheistische Religion 

heit steckt, dass sich bei seiner Wiederkehr Ent- 
stellungen und Missverständnisse gefallen lassen 
musste, und dass die zwanghafte Überzeugung, 
die sich für den Wahn herstellt, von diesem 
Wahrheitskern ausgeht und sich auf die umhül- 
lenden Irrtümer ausbreitet.; Einen solchen Ge- 
£alt an historisch zu nennender Wahrheit müs- 
sen wir auch den Glaubenssätzen der Religionen 
zugestehen, die zwar den Charakter psychoti- 
scher Symptome an sich tragen, aber als Massen- 
phänomene dem Fluch der Isolierung entzogen 
sind. 

Kein anderes Stück der ReligionsgeschichteTst 
uns so durchsichtig geworden wie die Einsetzung 
des Monotheismus im Judentum und dessen 
Fortsetzung im Christentum, wenn wir die ähn- 
lich lückenlos verständliche Entwicklung vom 
tierischen Totem zum menschlichen Gott mit 
seinem regelmässigen Begleiter beiseite lassen. 
(Noch jeder der vier christlichen Evangelisten 
hat sein Lieblingstier.) Lassen wir vorläufig die 
pharaonische Weltherrschaft als Anlass für das 
Auftauchen der monotheistischen Idee gelten, so 
sehen wir, dass diese von ihrem Boden losgelöst 
und auf ein anderes Volk übertragen, von die- 
sem Volk nach einer langen Zeit der Latenz Be- 
sitz ergreift, als kostbarster Besitz von ihm ge- 
hütet wird und nun ihrerseits das Volk am Le- 
ben erhält, indem sie ihm den Stolz der Auser- 

153 



///. Moses, sein Volk, 

wähltheit schenkt./ Es ist die Religion des Urva- 
ters, an die sich die Hoffnung auf Belohnung, 
Auszeichnung, endlich auf Weltherrschaft 
knüpft. Diese letztere Wunschphantasie, vom jü- 
dischen Volk längst aufgegeben, lebt noch heute 
bei den Feinden des Volkes im Glauben an die 
Verschwörung der „Weisen von Zion" fort. Wir 
behalten uns vor, in einem späteren Abschnitt 
darzustellen, wie die besonderen Eigentümlich- 
keiten der Ägypten entlehnten monotheistischen 
Religion auf das jüdische Volk wirken und sei- 
nen Charakter für die Dauer prägen mussten 
durch die Ablehnung von Magie,, jod , Mystik, 
die Anregung zu Fortschritten in der Geistig- 
keit, die Aufforderung zu Sublimierungen, wie 
das Volk durch den Besitz der Wahrheit bese- 
ligt, überwältigt vom Bewussfsein der Auser- 
wähl theit, zur Hochschätzung des Intellektuel- 
len und zur Betonung des Ethischen gelangte, 
und wie die traurigen Schicksale, die realen Ent- 
täuschungen dieses Volkes alle diese Tendenzen 
verstärken konnten. Für jetzt wollen wir die 
Entwicklung in anderer Richtung verfolgen. 
Dk Wiedereinsetzung des Urvaters. in seine hi-^ 
storischen Rechte war ein grosser Fortschritt, 
aber es konnte nicht das Ende sein. Auch die an- 
deren Stücke der prähistorischen Tragödie 
drängten nach Anerkennung. Was diesen Pro- 
zess in Gang brachte, ist nicht leicht zu erraten. 
154 



und die monotheistische Religion 
Es scheint, dass ein wachsendes Schuldbewusst- 
sein sich des jüdischen Volkes, vielleicht der gan- 
zen damaligen Kulturwelt bemächtigt hatte als 
Vorläufer der Wiederkehr des verdrängten In- 
halts. Bis dann einer aus diesem jüdischen Volk 
in der Justifizierung eines politisch-religiösen 
Agitators den Anlass fand, mit dem eine neue, 
die christliche Religion jich™vom Judentum ab- 
löste. jP^^s, eia^römischer Jud^aus Tarsus, 
griff diesesSchuldBewusifseTh auf und führte es 
richtig auf seine urgeschichtliche Quelle zurück. 
Er nannte diese die „Erbsünde", es war ein Ver- 
brechen gegen Gott, dass nur durch den Tod ge- 
sühnt werden konnte. Mit der Erbsünde war der 
Tod in die "Welt gekommen. In Wirklichkeit 
war dies todwürdige- Verbrechen der Mord am 
später vergötterten Urvater gewesen. Aber es 
wurde nicht die Mordtat erinnert, sondern an- 
statt dessen ihre Sühnung phantasiert, und darum 
konnte diese Phantasie als Erlösungsbotschaft 
(Evangelium) begrisst werden. Ein SohnlGot- 
tes hatte sich als Unschuldiger töten lassen und 
damit die Schuld Aller auf sich genommen. Es 
musste ein Sohn sein, denn es war ja ein Mord 
am Vater gewesen. Wahrscheinlich hatten Tra- 
ditionen aus orientalischen und griechischen 
Mysterien auf den Ausbau der Erlösungsphan- 
tasie Einfluss genommen. Das Wesentliche an 
ihr scheint Paulus' eigener Beitrag gewesen zu 

155 



in. Moses, sein Volk, 
sein. Er war ein im eigentlichsten Sinn religiös 
veranlagter Mensch; die dunklen Spuren der 
Vergangenheit lauerten in seiner Seele, bereit 
zum Durchbruch in bewusstere Regionen. 
Dass sich der Erlöser schuldlos geopfert hatte, 
war eine offenbar tendenziöse Entstellung, die 
dem logischen Verständnis Schwierigkeiten be- 
reitete, denn wie soll ein an der Mordtat Un- 
schuldiger die Schuld der Mörder auf sich neh- 
men können, dadurch, dass er sich selbst töten 
lässt? In der historischen Wirklichkeit bestand 
ein solcher Widerspruch nicht. Der „Erlöser" 
konnte kein j.ndere^seln als der,Haiipischu|dige, 
der Anführer der Brüderbande, die jlen Vater 
überwältigt hatte. Ob es einen solchen Hauptre- 
bellen und Anführer gegeben hat, muss man 
nach meinem Urteil unentschieden lassen. Es ist 
sehr wohl möglich, aber man muss auch in Be- 
tracht ziehen, dass jeder einzelne der Brüder- 
bande gewiss den Wunsch hatte, für sich allein 
die Tat zu begehen und sich so eine Ausnahme- 
stellung und einen Ersatz für die aufzugebende, 
in der 'Gemeinschaft untergehende Vateridenti- 
fizierung zu schaffen. Wenn es keinen solchen 
Anführer gab, dann ist Christus der Erbe einer 
unerfüllt gebliebenen Wunschphantasie, wenn 
ja, dann ist er sein Nachfolger und seine Rein- 
karnation. Aber gleichgültig, ob hier Phantasie 
oder Wiederkehr einer vergessenen Realität vor- 

156 



und die monotheistische Religion 
liegt, jedenfalls ist an dieser Stelle der Ursprung 
der Vorstellung vom Heros zu finden, vom Hel- 
den, der sich ja immer gegen den Vater empört 
und ihn in irgendeiner Gestalt tötet/) Auch die 
wirkliche Begründung der sonst schwer nach- 
weisbaren „tragischen Schuld" des Helden im 
Drama. Es ist kaum zu bezweifeln, dass der 
Held und der Chor im griechischen Drama die- 
sen selben rebellischen Helden und die Brüder- 
bande darstellen, und es ist nicht bedeutungslos, 
dass im Mittelalter das Theater mit der Darstel- 
lung der Passionsgeschichte wieder neu beginnt. 
Wir haben schon gesagt, dass die christliche Ze- 
remonie der 'heiligen Kommunion, in der der 
Gläubige Blut und Fleisch des Heilands sich ein- 
verleibt, den Inhalt der alten Totemmählzeit 
wiederholt, freilich nur in ihrem zärtlichen, die 
Verehrung ausdrückenden, nicht in ihrem ag- 
gressiven Sinn. Die Ambivalenz, die das Vater- 
verhältnis beherrscht, zeigte sich aber deutlich 
im Endergebnis der religiösen Neuerung. An- 
geblich zur Versöhnung des Vatergottes be- 
stimmt, ging sie in dessen Entthronung und Be- 
seitigung aus. Das Judentum war eine Vaterre- 

^) Ernest Jones macht darauf aufmerksam, das der Gott 
Mithras, der den Stier tötet, diesen Anführer darstellen 
könnte, der sich seiner Tat rühmt. Es ist bekannt, wie 
lange die Mithrasverehrung mit dem jungen Christen- 
tum um den Endsieg stritt. 

157 



///. Moses, sein Volk, 

ligion gewesen, das Christentum wurde eine 
ßohnesreligion. Der alte Gottvater pat hinter 
Christus zurück, Christus, der Sohn, kam an sei- 
ne Stelle, ganz so, wie es in jener Urzeit jeder 
Sohn ersehnt hatte. Pa.ulus^,ilß,LEQrt,setzer_des 
Judentums,,,w.iu:de-,-au.ck,sein,_.Eers,törer. Seinen 
Erfolg dankte er gewiss in erster Linie der Tat- 
sache, dass er durch die Erlösungsidee das 
Schuldbewusstsein der Menschheit beschwor, 
aber daneben auch dem Umstand, .dass er, die 
Auserwähltheit seines Volkes und ihr sichtbares 
Anzeichen, die Beschneidung, aufgab, so .„dass 
die neue Religion eine universellej__alle_^Men- 
scheii'umfassende werden konnte. Mag an die- " 
sem Schritt des Paulus auch seine persönliche 
Rachsucht Anteil gehabt haben ob des Wider- 
spruchs, den seine Neuerung in jüdischen Kreisen 
fand, so war doch damit ein Charakter der alten 
Atonreligion wiederhergestellt, eine Einengung 
aufgehoben worden, die sie beim Übergang auf 
einen neuen Träger, auf das jüdische Volk, er- 
worben hatte. 

In manchen Hinsichten bedeutete die neue Reli- 
gion eine kulturelle Regression gegön die ältere, 
jüdische, wie es ja beim Einbruch oder bei der 
Z.ulassung neuer Menschenmassen von niedrige- 
rem Niveau regelmässig der Fall ist. Die christ- 
liche Religion hielt die Höhe der Vergeistigung 
nicht ein, zu der sich das Judentum aufge- 
158 



und die monotheistische Religion 

Schwüngen hatte. Sie war nicht mehr streng mo- 
'notheistisch, übernahm von den umgebenden 
Völkern zahlreiche symbolische Riten, stellte die 
grosse Muttergottheit wieder her und fand Platz 
zur Unterbringung vieler Göttergestalten des 
Polytheismus in durchsichtiger Verhüllung, ob- 
2war in untergeordneten Stellungen. Vor allem 
verschloss sie sich nicht wie die Atonreligionund 
die ihr nachfolgende mosaische dem Eindrin- 
gen abergläubischer, magischer und mystischer 
Elemente, die für die geistige Entwicklung der 
nächsten zwei Jahrtausende eine schwere Hem- 
mung bedeuten sollten. 

Der Triumph des Christentums war ein erneu- 
erter Sieg der Ammonspriester über den Gott 
Ikhnatons nach anderthalbtausendjährigem In- 
tervall und auf erweitertem Schauplatz. Und 
doch, war das Christentum religionsgeschicht- 
lich, d.h. in Bezug auf die "Wiederkehr des Ver- 
drängten, ein Fortschritt, die jüdische Religion 
von da ab gewissermassen ein Fossil. 
Es wäre der Mühe wert, zu verstehen, wie es 
kam,dass die monothe-istische Idee grade auf das 
jüdische Volk einen so tiefen Eindruck machen 
und von ihm so zähe festgehalten werden konn- 
te. Ich glaube, man kann diese Frage beantwor- 
ten. Das Schicksal hatte dem jüdischen Volke 
die Grosstat und Untat der Urzeit, die Vatertö- 
tung, näher gerückt, indem es dasselbe veran- 

139 



///. Moses, sein Volk, 
lasste, sie an der Person des Moses, einer her- 
vorragenden Vatergestalt, zu wiederholen. Es 
war ein Fall von „Agieren" anstatt zu erinnern, 
wie er sich so häufig während der analytischen 
Arbeit am Neurotiker ereignet. Auf die Anre- 
gung zur Erinnerung, die ihnen die Lehre Mo- 
ses' brachte, reagierten sie aber mit der Verleug- 
nung ihrer Aktion, blieben bei der Anerkennung 
'des grossen Vaters stehen und sperrten sich so 
den Zugang zur Stelle, an der später Paulus die 
Fortsetzung der Urgeschichte anknüpfen sollte. 
Es ist kaum gleichgültig oder zufällig, dass die 
gewaltsame Tötung eines anderen grossen Man- 
nes auch der Ausgangspunkt für die religiöse 
Neuschöpfung des Paulus wurde. Eines Man- 
nes, den eine kleine Anzahl von Anhängern in 
Judäa für den Sohn Gottes und den angekün- 
digten Messias hielt, auf den auch später ein 
Stück der dem Moses angedichteten Kindheits- 
geschichte überging, von dem wir aber in Wirk- 
lichkeit kaum mehr Sicheres wissen als von Mo- 
ses selbst, nicht wissen, ob er wirklich der grosse 
Lehrer war, den die Evangelien schildern, oder 
ob nicht vielmehr die Tatsache und die Um- 
stände seines Todes entscheidend wurden für die 
Bedeutung, die seine Person gewonnen hat. Pau- 
lus, der sein Apostel wurde, hat ihn selbst nicht 
gekannt. 
Die von SelUn aus ihren Spuren in der Tradition 

i6o 



und die monotheistische Religion 
erkannte, merkwürdigerweise auch vom jungen 
Goethe ohne jeden Beweis angenommene,Törang | 
des Moses durch sein Judenvolk*) wird so ein un- '' 
entbehrliches Stück unserer Konstruktion, ein 
wichtiges Bindeglied zwischen dem vergessenen 
Vorgang der Urzeit und dem späten Wiederauf- 
tauchen in der Form der monotheistischen Reli- 
gionen.') Es ist eine ansprechende Vermutung, 
dass die Reue um den Mord an Moses den Antrieb 
zur Wunscfiphantasie vom Messias gab, der wie- 
derkommen und seinem Volk die Erlösung und ■ 
die versprochene Weltherrschaft bringen sollte. 
Wenn Moses dieser erste Messias war, dann ist 
Christus sein Ersatzmann und Nachfolger ge- 
worden, dann konnte auch Paulus mit einer ge- 
wissen historischen Berechtigung den Völkern 
zurufen: Sehet, der Messias ist wirklich gekom- 
men, er ist ja vor Euren Augen hingemordet 
worden. Dann ist auch an der Auferstehung 
Christi ein Stück historischer Wahrheit, denn 
er war der wieder erstandene Moses, hinter die- 
sem der wiedergekehrte Urvater der primitiven 
Horde, verklärt und als Sohn an die Stelle des 
Vates gerückt. • 

^) Israel in der Wüste. Bd. 7 der Weimarer Ausgabe, 
S. 170. 

^) Vgl. zu diesem Thema die bekannten Ausführungen 
von Frazer, The golden Bough, vol. III, The dying 

God. 

161 
11 



///. Moses, sein Volk, 

Das arme jüdische Volk, das mit gewohnter 
Hartnäckigkeit den Mord am Vater zu verleug- 
nen fortfuhr, hat im Laufe der Zeiten schwer 
dafür gebüsst. Es wurde ihm immer wieder vor- 
gehalten: Ihr habt unseren Gott getötet. Und die- 
ser Vorwurf hat recht, wenn man ihn richtig 
übersetzt. Er lautet dann auf die Geschichte der 
Religionen bezogen: Ihr wollt nicht zugeben, 
dass ihr Gott (das Urbild Gottes, den Urvater, 
und seine späteren Reinkarnationen) gemordet 
habt. Ein Zusatz sollte aussagen: Wir haben 
freilich dasselbe getan, aber wir haben es zuge- 
standen und wir sind seither entsühnt. /Nicht 
alle Vorwürfe, mit denen der Antisemitismus die 
Nachkommen des jüdischen Volkes verfolgt, 
können sich auf eine ähnliche Rechtfertigung 
berufen. Ein Phänomen von der Intensität und 
Dauerhaftigkeit des Judenhasses der Völker 
muss natürlich mehr als nur einen Grund habend 
Man kann eine ganze Reihe von Gründen erra- 
ten, manche offenkundig aus der Realität abge- 
leitet, die keiner Deutung bedürfen, andere tie- 
ferliegende, aus geheimen Quellen stammend, 
die man als die spezifischen Motive- anerkennen 
möchte. Von den ersteren ist der Vorwurf der 
Landfremdheit wohl der hinfälligste, denn an 
vielen, heute vom Antisemitismus beherrschten 
Orten gehören die Juden zu den ältesten Antei- 
len der Bevölkerung oder sind selbst früher zur 
162 



und die monotheistische Religion 
Stelle gewesen als die gegenwärtigen Einwoh- 
ner. Das trifft z.B. zu für die Stadt Köln, wo- 
hin die Juden mit den Römern kamen, ehe sie 
noch von Germanen besetzt wurde. Andere Be- 
gründungen des Judenhasses sind stärker, so der 
Umstand, dass sie zumeist als Minoritäten unter 
anderen Völkern leben, denn das Gemeinschaf ts- 
gefühl der Massen braucht zu seiner Ergänzung 
die Feindseligkeit gegen eine aussenstehende 
Minderzahl, und die numerische Schwäche die- 
ser Ausgeschlossenen fordert zu deren Unter- 
drückung auf. Ganz unverzeihlich sind aber 
zwei andere Eigenheiten der Juden. Erstens, dass 
sie in manchen Hinsichten verschieden sind von 
ihren „Wirtsvölkern", Nicht grundverschieden, 
denn sie sind nicht fremdrassige Asiaten, wie die 
Feinde behaupten, sondern zumeist aus Resten 
der mediterranen Völker zusammengesetzt und 
Erben der Mittelmeerkultur. Aber sie sind doch 
anders, oft in undefinierbarer Art anders als zu- 
mal die nordischen Völker, und die Intoleranz 
der Massen äussert sich merkwürdigerweise 
gegen kleine Unterschiede stärker als gegen fun- 
damentale Differenzen. Noch stärker wirkt der 
zweite Punkt, nämlich dass sie allen Bedrückun- 
gen trotzen, dass es den grausamsten Verfolgun- 
gen nicht gelungen ist, sie auszurotten, ja, dass 
sie vielmehr die Fähigkeit zeigen, sich im Er- 
werbsleben zu behaupten und, wo man sie zu- 

163 



///. Moses, sein Volk, 

lässt, wertvolle Beiträge zu allen kulturellen 
Leistungen zu machen. 

Die tieferen Motive des Judenhasses wurzeln in 
längst vergangenen Zeiten, sie wirken aus dem 
Unbewussten der Völker, und ich bin darauf ge- 
fasst, dass sie zunächst nicht glaubwürdig er- 
scheinen werden. Ich wage die Behauptung, d^ss 
I die Eifersucht auf das Volk, welches sich für das 
I erstgeborene, bevorzugte Kind Gottvaters aus- 
I gab, bei den anderen heute noch nicht überwun- 
|den ist, so als ob sie dem Anspruch Glauben ge- 
•■■ schenkt hätten. .Ferner hat unter den Sitten, 
durch die sich die Juden absonderten, die der 
Beschneidung einen unliebsamen, unheimlichen 
Eindruck gemacht, der sich wohl durch die Mah- 
nung an die gefürchtete Kastration erklärt und 
damit an ein gern vergessenes Stück der urzeit- 
lichen Vergangenheit rührt. Und endlich das 
späteste Motiv dieser Reihe, man sollte nicht ver- 
gessen, dass alle diese Völker, die sich heute im 
Judenhass hervortun, erst in späthistorischen Zei- 
ten Christen geworden sind, oft durch blutigen 
■ Zwang dazu getrieben. Man könnte sagen, sie 
sind alle „schlecht getauft", unter einer dünnen 
Tünche von Christentum sind sie geblieben, was 
ihre Ahnen waren, die einem barbarischen Poly- 
theismus huldigten. Sie haben ihren Groll gegen 
die neue, ihnen aufgedrängte Religion nicht 
überwunden, aber sie haben ihn auf die Quelle 
164 



und die monotheistische Religion 
verschoben, von der das Christentum zu ihnen 
kam. Die Tatsache, dass die Evangelien eine Ge- 
schichte erzählen, die unter Juden und eigentlich 
nur von Juden handelt, hat ihnen eine solche 
Verschiebung erleichtert. Ihr Judenhass ist im 
Grunde Christenhass, und man braucht sich 
nicht zu wundern, dass in der deutschen natio- 
nalsozialistischen Revolution diese innige Be- 
ziehung der zwei monotheistischen Religionen 
in der feindseligen Behandlung beider so deut- 
lichen Ausdruck findet. 



Schwierigkeiten 

Vielleicht ist es im Vorstehenden geglückt, die 
Analogie zwischen neurotischen Vorgängen und 
den religiösen Geschehnissen durchzuführen und 
damit auf den unvermuteten Ursprung der letz- __^ 
teren hinzuweisen. Bei dieser Übertragung aus 
der Individual- in die Massenpsychologie stellen 
sich zwei Schwierigkeiten heraus von verschie- 
dener Natur und Würdigkeit, denen wir uns 
jetzt zuwenden müssen. Die erste ist, dass wir 
hier nur einen Fall aus der reichhaltigen Phäno- 
menologie der Religionen behandelt, kein Licht , 
geworfen haben auf die -anderen. Mit Bedauern 
muss der Autor eingestehen, dass er nicht mehr 
geben kann als diese eine Probe, dass sein Fach- 

165 



///. Moses, sein Volk, 
wissen nicht ausreicht, um die Untersuchung zu 
vervollständigen. Er kann aus seiner beschränk- 
ten Kenntnis etwa noch hinzufügen, der Fall 
der mahomedanischen Religionsstiftung erschei- 
ne ihm wie eine abgekürzte Wiederholung der 
jüdischen, als deren Nachahmung sie auftrat. Es 
scheint ja, dass der Prophet ursprünglich die 
Absicht hatte, für sich und sein Volk das Juden- 
tum voll anzunehmen. Die Wiedergewinnung 
des einzigen grossen Urvaters brachte bei den 
Arabern eine ausserordentliche Hebung des 
Selbstbewusstseins hervor, die zu grossen welt- 
lichen Erfolgen führte, sich aber auch in ihnen 
erschöpfte. Allah zeigte sich seinem auserwähl- 
ten Volk weit dankbarer als seinerzeit Jahve 
dem seinen. Aber die innere Entwicklung der 
neuen Religion kam bald zum Stillstand, viel- 
leicht weil es an der Vertiefung fehlte, die im 
jüdischen Falle der Mord am Religionsstifter 
verursacht hatte. Die anscheinend rationalisti- 
schen Religionen des Ostens sind ihrem Kern 
nach Ahnenkult, machen also auch Halt bei ei- 
ner frühen Stufe der Rekonstruktion des Ver- 
gangenen. Wenn es richtig ist, dass. bei primiti- 
ven Völkern der Jetztzeit die Anerkennung ei- 
nes höchsten Wesens als einziger Inhalt ihrer 
Religion gefunden wird, so kann man dies nur 
als Verkümmerung der Religionsentwicklung 
auffassen und in Beziehung setzen zu den unge- 
i66 



und die monotheistische Religion 
zählten Fällen rudimentärer Neurosen, die man 
auf jenem anderen Gebiet konstatiert. Warum 
es hier wie dort nicht weitergegangen ist, dafür 
fehlt uns in beiden Fällen das Verständnis. Man 
muss daran denken, die individuelle Begabung 
dieser Völker, die Richtung ihrer Tätigkeit und 
ihrer allgemeinen sozialen Zustände dafür ver- 
antwortlich zu machen. Übrigens ist es eine gute 
Regel der analytischen Arbeit, dass man sich 
mit der Erklärung des Vorhandenen begnüge 
und sich nicht bemühe zu erklären, was nicht 
zustandegekommen ist. 

Die zweite Schwierigkeit bei dieser Übertragung 
auf die Massenpsychologie ist weit bedeutsamer, 
weil sie ein neues Problem von prinzipieller Na- 
tur aufwirft. Es stellt sich die Frage, in welcher 
Form ist die wirksame Tradition im Leben der 
Völker vorhanden, eine Frage, die es beim Indi- 
viduum nicht gibt, denn hier ist sie durch die 
Existenz der Erinnerungsspuren des Vergange- 
nen im Unbewussten erledigt. Gehen wir auf 
unser historisches Beispiel zurück. Wir haben das 
Kompromiss in Quades auf den Fortbestand ei- 
ner mächtigen Tradition bei den aus Ägypten 
Zurückgekehrten begründet. Dieser Fall birgt 
kein Problem. Nach unserer Annahme stützte 
sich eine solche Tradition auf bewusste Erinne- 
rung an mündliche Mitteilungen, die die damals 
Lebenden von ihren Vorfahren, nur zwei oder 

167 



IIL Moses, sein Volk, 
drei Generationen zurück, empfangen hatten, 
und letztere waren Teilnehmer und Augenzeugen 
der betreffenden Ereignisse gewesen. Aber kön- 
nen wir für die späteren Jahrhunderte dasselbe 
glauben, dass die Tradition immer ein auf nor- 
male Weise mitgeteiltes "Wissen zur Grundlage 
hatte, das vom Ahn auf den Enkel übertragen 
worden? Welches die Personen waren, die ein 
solches Wissen bewahrten und es mündlich fort- 
pflanzten, lässt sich nicht mehr wie im früheren 
Falle angeben. Nach Sellm war die Tradition 
. vom Mord an Moses in Priesterkreisen immer 
vorhanden, bis sie endlich ihren schriftlichen 
Ausdruck fand, der allein es Sellin möglich 
machte, sie zu erraten. Aber sie kann nur Weni- 
gen bekannt gewesen sein, sie war nicht Volks- 
gut. Und reicht das aus, um ihre Wirkung zu er- 
klären? Kann man einem solchen Wissen von 
Wenigen die Macht zuschreiben, die Massen so 
nachhaltig zu ergreifen, wenn es zu ihrer Kennt- 
nis kommt? Es sieht doch eher so aus, als müsste 
auch in der unwissenden Masse etwas vorhan- 
den sein, was dem Wissen der Wenigen irgend- 
wieverwandt ist und ihm entgegenkommt, wenn 
es geäussert wird. 

Die Beurteilung wird noch schwieriger, wenn 
wir uns zum analogen Fall aus der Urzeit wen- 
den. Dass es einen Urvater von den bekannten 
Eigenschaften gegeben und welches Schicksal 
16% 



und die monotheistische Religion 
ihn betroffen, ist im Laufe der Jahrtausende 
ganz gewiss vergessen worden, auch kann man 

keine mündliche Tradition davon wie im Falle 
Moses annehmen. In welchem Sinne kommt also 
eine Tradition überhaupt in Betracht? In wel- 
cher Form kann sie vorhanden gewesen sein? 
Um es Lesern leichter zu machen, die nicht ge- 
willt oder nicht vorbereitet sind, sich in einen 
komplizierten psychologischen Sachverhalt zu 
vertiefen, werde ich das Ergebnis der nun fol- 
genden Untersuchung voranstellen. Ich meine, 
die Übereinstimmung zwischen dem Individu- 
um und der Masse ist in diesem Punkt eine fast 
vollkommene, auch in den Massen bleibt der 
Eindruck der Vergangenheit in unbewusstenEr- 
innerungsspuren erhalten. 
Beim Individuum glauben wir klar zu sehen. 
Die Erinnerungsspur des früh Erlebten ist in ihm 
erhalten geblieben, nur in einem besonderen 
psychologischen Zustand. Man kann sagen, das 
■ Individuum hat es immer gewusst, so wie man 
eben um das Verdrängte weiss. Wir haben uns 
da bestimmte, durch die Analyse unschwer zu 
erhärtende Vorstellungen gebildet, wie etwas 
vergessen werden und wie es nach einer "Weile 
wieder zum Vorschein kommen kann. Das Ver- 
gessene ist nicht ausgelöscht, sondern nur „ver- 
drängt", seine Erinnerungsspuren sind in aller 
Frische vorhanden, aber durch „Gegenbesetzun- 

169 



///. Moses, sein Volk, 
gen" isoliert. Sie können nicht in den Verkehr 
mit den anderen intellektuellen Vorgängen ein- 
treten, sind unbewusst, dem Bewusstsein unzu- 
gänglich. Es kann auch sein, dass gewisse An- 
teile des Verdrängten sich dem Prozess entzo- 
gen haben, der Erinnerung zugänglich bleiben, 
gelegendich im Bewusstsein auftauchen, aber 
auch dann sind sie isoliert, wie Fremdkörper 
ausser Zusammenhang mit dem anderen. Es 
kann so sein, aber es braucht nicht so zu sein, die 
Verdrängung kann auch vollständig sein und an 
diesen Fall wollen wir uns für das Weitere hal- 
ten. 

Dies Verdrängte behält seinen Auftrieb, sein 
Streben, zum Bewusstsein vorzudringen. Es er- 
reicht sein Ziel unter drei Bedingungen, i) wenn 
die Stärke der Gegenbesetzung herabgesetzt 
wird durch Krankheitsprozesse, die das andere, 
das sogenannte Ich, befallen, oder durch eine an- 
dere Verteilung der Besetzungsenergien in die- 
sem Ich, wie es regelmässig im Schlafzustand 
geschieht; 2) wenn die am Verdrängten haften- 
den Triebanteile eine besondere Verstärkung er- 
fahren, wofür die Vorgänge während der Pu- 
bertät das beste Beispiel geben; 3) wenn im re- 
zenten Erleben zu irgend einer Zeit Eindrücke, 
Erlebnisse auftreten, die dem Verdrängten so 
ähnlich sind, dass sie es zu erwecken vermögen.. 
Dann verstärkt sich das Rezente durch die la- 
170 



und die monotheistische Religion 
tente Energie des Verdrängten und das Ver- 
drängte kommt hinter dem Rezenten mit seiner 
Hilfe zur Wirkung. In keinem dieser drei Fälle 
kommt das bisher Verdrängte glatt, unverän- 
dert zum Bewusstsein, sondern immer muss es 
sich Entstellungen gefallen lassen, die den Ein- 
fluss des nicht ganz überwundenen Widerstan- 
des aus der Gegenbesetzung bezeugen oder den 
modifizierenden Einfluss des rezenten Erleb- 
nisses oder beides. 

Als Kennzeichen und Anhalt zur Orientierung 
hat uns die Unterscheidung gedient, ob ein psy- 
chischer Vorgang bewusst oder unbewusst ist. 
Das Verdrängte ist unbewusst. Nun wäre es eine 
erfreuliche Vereinfachung, wenn dieser Satz 
auch eine Umkehrung zuliesse, wenn also die 
Differenz. der Qualitäten bewusst (bw.) und un- 
bewusst (ubw.) zusammenfiele mit der Schei- 
dung: ichzugehörig und verdrängt. Die Tatsa- 
che, dass es in unserem Seelenleben solche isolier- 
ten und unbewussten Dinge gibt, wäre neu und 
wichtig genug. In Wirklichkeit liegt es kompli- 
zierter. ^s ist richtig, dass alles Verdrängte un- 
bewusst ist, aber nicht mehr richtig, dass alles, 
was zum Ich gehört, bewusst ist. Wir werden 
darauf aufmerksam, dass das Bewusstsein eine 
flüchtige Qualität ist, die einem psychischen 
Vorgang nur vorübergehend anhaftet. Wir müs- 
sen darum für unsere Zwecke „bewusst" erset- 



///. Moses, sein Volk, 
zen durch „bewusstseinsfähig" und nennen die- 
se Qualität „vorbewusst" (vbw.). Wir sagen 
dann richtiger, das Ich ist wesentlich vorbe- 
wusst (virtuell bewusst), aber Anteile des Ichs 
sind unbewusst. 

Diese letztere Feststellung lehrt uns, dass die 
Qualitäten, an die wir uns bisher gehalten ha- 
ben, zur Orientierung im Dunkel des Seelenle- 
bens nicht ausreichen. Wir müssen eine andere 
Unterscheidung einführen, die nicht mehr qua- 
litativ, sondern topisch und, was ihr einen be- 
sonderen Wert verleiht, gleichzeitig genetisch 
ist. Wir sondern jetzt in unserem Seelenleben, 
das wir als einen aus mehreren Instanzen, Bezir- 
ken, Provinzen zusammengesetzten Apparat 
auffassen, eine Region, die wir das eigentliche 
Ich heissen, von einer anderen, die wir das Es 
nennen. Das Es ist das ältere, das Ich hat sich 
aus ihm wie eine Rindenschicht durch den Ein- 
fluss der Aossenwelt entwickelt. Im Es greifen 
unsere ursprünglichen Triebe an, alle Vorgänge 
im Es verlaufen unbewusst. Das Ich deckt sich, 
wie wir bereits erwähnt haben, mit dem Bereich 
des Vorbewussten, es enthält Anteile, die nor- 
malerweise unbewusst bleiben. Für die psychi- 
schen Vorgänge im Es gelten ganz andere Ge- 
setze des Ablaufs und der gegenseitigen Beein- 
flussung, als die im Ich herrschen. In Wirklich- 
keit ist es ja die Entdeckung dieser Unterschiede, 
172 



und die monotheistische Religion 
die uns zu unserer neuen Auffassung geleitet hat 
und diese rechtfertigt. 

Das Verdrängte ist dem Es zuzurechnen und 
unterliegt auch den Mechanismen desselben, es 
sondert sich nur in Hinsicht der Genese von ihm 
ab. 'Die Differenzierung vollzieht sich in der 
Frühzeit, während sich das Ich aus dem Es ent- 
wickelt. Dann wird ein Teil' der Inhalte des Es 
vom Ich aufgenommen und auf den vorbewuss- 
ten Zustand gehoben, ein anderer Teil wird von 
dieser Übersetzung nicht betroffen und bleibt 
als das eigentliche Unbewusste im Es zurück. Im 
weiteren Verlauf der Ichbildung werden aber 
gewisse psychische Eindrücke und Vorgänge im 
Ich durch einen Abwehrprozess ausgeschlossen; 
der Charakter des Vorbewussten wird ihnen 
entzogen, so dass sie wiederum zu Bestandteilen 
des Es erniedrigt worden sind. Dies ist also das 
„Verdrängte" im Es. Was den Verkehr zwi- 
schen beiden seelischen Provinzen betrifft, so 
nehmen wir also an, dass einerseits der unbe- 
wusste Vorgang im Es aufs Niveau des Vorbe- 
wussten, gehoben und dem Ich einverleibt wird, 
und dass anderseits Vorbewusstes im Ich den 
umgekehrten Weg machen und ins Es zurück- 
versetzt werden kann. Es bleibt ausserhalb un- 
seres gegenwärtigen Interesses, dass sich später 
im Ich ein besonderer Bezirk, der des „Über- 
Ichs", abgrenzt. 

173 



///. Moses, sein Volk, 
Das alles mag weit entfernt von einfach schei- 
nen, aber wenn man sich mit der ungewohnten 
räumlichen Auffassung des seelischen Apparats 
befreundet hat, kann es der Vorstellung doch 
keine besonderen Schwierigkeiten bereiten. Ich 
füge noch die Bemerkung an, dass die hier ent- 
wickelte psychische Topik nichts mit der Ge- 
hirnanatomie zu tun hat, sie eigentlich nur an 
einer Stelle streift. Das Unbefriedigende an die- 
ser Vorstellung, das ich so deutlich wie jeder an- 
dere verspüre, geht von unserer völligen Unwis- 
senheit über die dynamische Natur der seeli- 
schen Vorgänge aus. Wir sagen uns, was eine 
bewusste Vorstellung von einer vorbewussten, 
diese von einer unbewussten unterscheidet, kann 
nichts anderes sein als eine Modifikation, viel- 
leicht auch eine andere Verteilung der psychi- 
schen Energie. Wir sprechen von Besetzungen 
und Überbesetzungen, aber darüber hinaus fehlt 
uns jede Kenntnis und sogar jeder Ansatz zu ei- 
ner brauchbaren Arbeitshypothese. Ober das 
Phänomen des Bewusstseins können wir noch 
angeben, dass es ursprünglich an der Wahrneh- 
mung hängt. Alle Empfindungen,- die durch 
Wahrnehmung von Schmerz-, Getast-, Gehörs- 
oder Gesichtsreizungen entstehen, sind am ehe- 
sten bewusst. Die Denkvorgänge und was ihnen 
im Es analog sein mag, sind an sich unbewusst 
und erwerben sich den Zugang zum Bewusstsein 
174 



und die monotheistische Religion 
durch Verknüpfung mit Erlnnerungsresten von 
Wahrnehmungen des Gesichts und Gehörs auf 

dem Wege der Sprachfunktion. Beim Tier, dem 
die Sprache fehlt, müssen diese Verhältnisse ein- 
facher liegen. 

Die Eindrücke der frühen Traumen, von denen 
wir ausgegangen sind, werden entweder nicht 
ins Vorbewusste übersetzt oder bald durch die 
Verdrängung in den Eszustand zurückversetzt. 
Ihre Erinnerungsreste sind dann unbewusst und 
wirken vom Es aus. Wir glauben ihr weiteres 
Schicksal gut verfolgen zu können, solange es 
sich bei ihnen um Selbsterlebtes handelt. Eine 
neue Komplikation tritt aber hinzu, wenn wir 
auf die Wahrscheinlichkeit aufmerksam wer- 
den, dass im psychischen Leben des Individuums 
nicht nur selbsterlebte, sondern auch bei der Ge- 
burt mitgebrachte Inhalte wirksam sein mögen, 
Stücke von phylogenetischer Herkunft, eine ar- 
chaische Erbschaft. Es entstehen dann die Fra- 
gen, worin besteht diese, was enthält sie, was 
sind ihre Beweise? 

Die nächste und sicherste Antwort lautet, sie 
besteht in bestimmten Dispositionen, wie sie al- 
len Lebewesen eigen sind. Also in der Fähigkeit 
und Neigung, bestimmte Entwicklungsrichtun- 
gen einzuschlagen und auf gewisse Erregungen, 
Eindrücke und Reize in einer besonderen Weise 
zu reagieren. Da die Erfahrung zeigt, dass sich 

175 



///. Moses, sein Volk, 
bei den Einzelwesen der Menschenart in dieser 
Hinsicht Differenzen ergeben, so scUiesst die 
archaische Erbschaft diese Differenzen ein, sie 
stellen dar, was man als das konstitutionelle 
Moment im Einzelnen anerkennt. Da nun alle 
Menschen wenigstens in ihrer Frühzeit unge- 
fähr das Nämliche erleben, reagieren sie darauf 
auch in gleichartiger Weise, und es konnte der 
Zweifel entstehen, ob man nicht diese Reaktio- 
nen mitsamt ihren individuellen Differenzen 
der archaischen Erbschaft zurechnen soll. Der 
Zweifel ist abzuweisen; durch die Tatsache die- 
ser Gleichartigkeit wird unsere Kenntnis von 
der archaischen Erbschaft nicht bereichert. 
Indes hat die analytische Forschung einzelne 
Ergebnisse gebracht, die uns zu denken geben. 
Da ist zunächst die Allgemeinheit der Sprach- 
symbolik. Die symbolische Vertretung eines Ge- 
genstands durch einen anderen — dasselbe ist 
bei Verrichtungen der Fall — ist all unseren 
Kindern geläufig und wie selbstverständlich. 
Wir können ihnen nicht nachweisen, wie sie es 
erlernt haben, und müssen in vielen Fällen zu- 
gestehen, dass ein Erlernen unmöglich ist. Es 
handelt sich um ein ursprüngliches Wissen, das 
der Erwachsene später vergessen hat. Er ver- 
wendet die nämlichen Symbole zwar in seinen 
Träumen, aber er versteht sie nicht, wenn der 
Analytiker sie ihm nicht deutet, und auch dann 
176 



und die monotheistische Religion 

schenkt er der Übersetzung ungern Glauben. 

Wenn er sich einer der so häufigen Redensarten 
bedient hat, in denen sich diese Symbolik fixiert 
findet, so muss er zugestehen, dass ihm deren 
eigentlicher Sinn völlig entgangen ist. Die Sym- 
bolik setzt sich auch über die Verschiedenheiten 
der Sprachen hinweg; Untersuchungen würden 
wahrscheinlich ergeben, dass sie ubiquitär ist, bei 
allen Völkern die nämliche. Hier scheint also 
ein gesicherter Fall von archaischer Erbschaft 
aus der Zeit der Sprachentwicklung vorzulie- 
gen, aber man könnte immer noch eine andere 
Erklärung versuchen. Man könnte sagen, es 
handle sich um Denkbeziehungen zwischen Vor- 
stellungen, die sich während der historischen 
Sprachentwicklung hergestellt hatten und die 
nun jedesmal wiederholt werden müssen, wo 
eine Sprachentwicklung individuell durchge- 
macht wird. Es wäre _ dann ein Fall von Verer- 
bung einer Denkdisposition wie sonst einer 
Triebdisposition und wiederum kein neuer Bei- 
trag zu unserem' Problem. 
Die analytische Arbeit hat aber auch anderes zu 
Tage gefördert, was in seiner Tragweite über 
das Bisherige hinausreicht. Wenn wir die Reak- 
tionen auf die frühen Traumen studieren, sind 
wir oft genug überrascht, zu finden, dass sie sich 
nicht strenge an das wirklich selbst Erlebte hal- 
ten, sondern sich in einer Weise von ihm entf er- 

177 



///. Moses, sein Volk, 

nen,die weit besser zum Vorbild eines phylogene- 
tischen Ereignisses passt und ganz allgemein nur 
durch dessen Einfluss erklärt werden kann. Das 
Verhalten des neurotischen Kindes zu seinen El- 
tern im ödipus- und Kastrationskomplex ist 
überreich an solchen Reaktionen, die individu- 
ell ungerechtfertigt erscheinen und erst phylo- 
genetisch, durch die Beziehung auf das Erleben 
früherer Geschlechter, begreiflich werden. Es 
wäre durchaus der Mühe wert, dies Material, auf 
das ich mich hier berufen kann, der Öffentlich- 
keit gesammelt vorzulegen. Seine Beweiskraft 
erscheint mir stark genug, um den weiteren 
Schritt zu wagen und die Behauptung aufzustel- 
len, dass die archaische Erbschaft des Menschen 
nicht nur Dispositionen, sondern auch Inhalte 
umf asst, Erinnerungsspuren an das Erleben frü- 
herer Generationen. Damit wären Umfang wie 
Bedeutung der archaischen Erbschaft in bedeu- 
tungsvoller Weise gesteigert. 
Bei näherer Besinnung müssen wir uns eingeste- 
hen, dass wir uns seit langem so benommen ha- 
ben, als stände die Vererbung von Erinnerungs- 
spuren an das von Voreltern Erlebte, unabhän- 
gig von direkter Mitteilung und von dem Ein- 
fluss der Erziehung durch Beispiel, nicht in 
Frage. Wenn wir von dem Fortbestand einer al- 
ten Tradition in einem Volk, von der Bildung 
eines Volkscharakters sprechen, hatten wir meist 
178 



und die monotheistische Religion 
eine solche ererbte Tradition und nicht eine 

durch Mitteilung fortgepflanzte im Sinne. Oder 
wir haben wenigstens zwischen den beiden nicht 
unterschieden und uns nicht klar gemachtj wel- 
che Kühnheit wir durch solche Vernachlässi- 
gung begehen. Unsere Sachlage wird allerdings 
durch die gegenwärtige Einstellung der biologi- 
schen Wissenschaft erschwert, die von der Ver- 
erbung erworbener Eigenschaften auf die Nach- 
. kommen nichts wissen will. Aber wir gestehen 
in aller Bescheidenheit, dass wir trotzdem diesen 
Faktor in der biologischen Entwicklung nicht 
entbehren können^ Es handelt sich zwar in bei- 
den Fällen nicht um das Gleiche, dort um er- 
worbene Eigenschaften, die schwer zu fassen 
sind, hier um Erinnerungsspuren an äussere 
Eindrücke, gleichsam Greifbares. Aber es wird 
wohl sein, dass wir uns im Grunde das eine nicht 
ohne das andere vorstellen können. Wenn wir 
den Fortbestand solcher Erinnerungsspuren in 
der archaischen Erbschaft annehmen, haben wir 
die Kluft zwischen Individual- und Massenpsy- 
chologie überbrückt,. können die Völker behan- 
deln wie den einzelnen Neurotikeri Zugegeben, 
dass wir für die Erinnerungsspuren in der ar- 
chaischen Erbschaft derzeit keinen stärkeren Be- 
weis haben als jene Resterscheinungen der ana- 
lytischen Arbeit, die eine Ableitung aus der Phy- 
logenese erfordern, so erscheint uns dieser Be- 

179 



///. Moses, sein Volk, 
weis doch stark genug, um einen solchen Sach- 
verhalt zu postulieren. Wenn es anders ist, kom- 
men wir weder in der Analyse noch in der Mas- 
senpsychologie auf dem eingeschlagenen Weg 
einen Schritt weiter. Es ist eine unvermeidliche 
Kühnheit. 

Wir tun damit auch noch etwas anderes. Wir 
verringern die Kluft, die frühere Zeiten mensch- 
licher Oberhebung allzuweit zwischen Mensch 
und Tier aufgerissen haben. Wenn die soge- 
nannten Instinkte der Tiere, die ihnen gestatten, 
sich von Anfang an in der neuen Lebenssitua- 
tion so zu benehmen, als wäre sie eine alte, längst 
vertraute, wenn dies Instinktleben der Tiere 
überhaupt eine Erklärung zulässt, so kann es nur 
die sein, dass sie die Erfahrungen ihrer Art in 
die neue eigene Existenz mitbringen, also Erin- 
nerungen an das von ihren Voreltern Erlebte in 
sich bewahrt haben. Beim Menschentier wäre es 
im Grunde auch nicht anders. Den Instinkten 
der Tiere entspricht seine eigene archaische Erb- 
schaft, sei sie auch von anderem Umfang und 
Inhalt. 

Nach diesen Erörtungen trage ich kein Beden- 
ken, auszusprechen, die Menschen haben es — 
in jener besonderen Weise ■ — immer gewusst, 
dass sie einmal einen Urvater besessen und er- 
schlagen haben. 

Zwei weitere Fragen sind hier zu beantworten. 
i8o 



und die monotheistische Religion 
Erstens, unter welchen Bedingungen tritt eine 
solche Erinnerung in die archaische Erbschaft 
ein; zweitens, unter welchen Umständen kann 
sie aktiv werden, d.h. aus ihrem unbewussten 
Zustand im Es zum Bewusstsein, wenn auch ver- 
ändert und entstellt, vordringen? Die Antwort 
auf die erste Frage ist leicht zu formulieren: 
Wenn das Ereignis wichtig genug war oder sich 
oft genug wiederholt hat oder beides. Für den 
Fall der Vatertötung sind beide Bedingungen er- 
füllt. Zur zweiten Frage ist zu bemerken: Es 
mögen eine ganze Anzahl von Einflüssen in Be- 
tracht kommen, die nicht alle bekannt zu sein 
brauchen, auch ist ein spontaner Ablauf denk- 
bar in Analogie zum Vorgang bei manchen Neu- 
rosen. Sicherlich ist aber von entscheidender 
Bedeutung die Erweckung der vergessenen Er- 
innerungsspur durch eine rezente reale Wieder- 
holung des Ereignisses. Eine solche Wiederho- 
lung war der Mord an Moses; später der ver- 
meintliche Justizmord an Christus, so dass diese 
Begebenheiten in den Vordergrund der Verur- 
sachung rücken. Es ist, als ob die Genese des 
Monotheismus diese Vorfälle nicht hätte ent- 
behren können. Man wird an den Ausspruch des 
Dichters erinnert: „Was unsterblich im Gesang 
soll leben, muss im Leben untergehen." ^) 
Zum Schluss eine Bemerkung, die ein psycholo- 
^) Schiller, Die Götter Griechenlands. 

i8i 



///. Moses, sein Volk, und die monotheistische Religion 
gisches Argument beibringt. Eine Tradition, die 
nur auf Mitteilung gegründet wäre, könnte nicht 

den Zwangscharakter erzeugen, der den religiö- 
sen Phänomenen zukommt. Sie würde angehört, 
beurteilt, eventuell abgewiesen werden wie jede 
andere Nachricht von aussen, erreichte nie das 
Privileg der Befreiung vom Zwang des logi- 
schen Denkens. Sie muss erst das Schicksal der 
Verdrängung, den Zustand des Verweilens im 
Unbewussten durchgemacht haben, ehe sie bei 
ihrer Wiederkehr so mächtige "Wirkungen ent- 
falten, die Massen in ihren Bann zwingen kann, 
wie wir -es an der religiösen Tradition mit Er- 
staunen und bisher ohne Verständnis gesehen 
haben. Und diese Überlegung fällt schwer ins 
Gewicht, um uns glauben zu machen, dass die 
Dinge wirklich so vorgefallen sind, wie wir zu 
schildern bemüht waren, oder wenigstens so 
ähnlich. 



182 



ZWEITER TEIL 

ZUSAMMENFASSUNG UND WIEDER- 
HOLUNG 

Der nun folgende Teil dieser Studie kann 
nicht ohne weitläufige Erklärungen und 
Entschuldigungen in die Öffentlichkeit 
geschickt werden. Er ist nämlich nichts anderes 
als eine getreue, oft wörtliche Wiederholung des 
ersten Teils, verkürzt in manchen kritischen Un- 
tersuchungen und vermehrt um Zusätze, die sich 
auf das Problem, wie entstand der besondere 
Charakter des jüdischen Volkes, beziehen. Ich 
weiss, dass eine solche Art der Darstellung eben- 
so unzweckmässig wie unkünstlerisch ist. Ich 
missbillige sie selbst uneingeschränkt. 
Warum habe ich sie nicht vermieden? Die Ant- 
wort darauf ist für mich nicht schwer zu finden, 
aber nicht leicht einzugestehen. Ich war nicht 
imstande, die Spuren der immerhin ungewöhn- 
lichen Entstehungsgeschichte dieser Arbeit zu 
verwischen. 

183 



///. Moses, sein Volk, 
In Wirklichkeit ist sie zweimal geschrieben wor- 
den. Zuerst vor einigen Jahren in "Wien, wo ich 

nicht an die Möglichkeit glaubte, sie veröffent- 
lichen zu können. Ich beschloss, sie liegen zu las- 
sen, aber sie quälte mich wie ein unerlöster Geist, 
und ich fand den Ausweg, zwei Stücke von ihr 
selbständig zu machen und in unserer Zeitschrift 
„Imago" zu publizieren, den psychoanalyti- 
schen Auftakt des Ganzen („Moses ein Ägyp- 
ter") und die darauf gebaute historische Kon- 
struktion („Wenn Moses ein Ägypter war...."). 
Den Rest, der das eigentlich Anstössige und Ge- 
fährliche enthielt, die Anwendung auf die Ge- 
nese des Monotheismus und die Auffassung der 
Religion überhaupt, hielt ich zurück, wie ich 
meinte, für immer. Da kam im März 1938 die 
unerwartete deutsche Invasion, zwang mich, die 
Heimat zu verlassen, befreite mich aber auch 
von der Sorge, durch meine Veröffentlichung 
ein Verbot der Psychoanalyse dort heraufzube- 
schwören, wo sie noch geduldet war. Kaum in 
England eingetroffen, fand ich die Versuchung 
unwiderstehlich, meine verhaltene Weisheit der 
Welt zugänglich zu machen, und begann, das 
dritte Stück der Studie im Anschluss an die beiden 
bereits erschienenen umzuarbeiten. Damit war 
natürlich eine teilweise Umordnung des Mate- 
rials verbunden. Nun gelang es mir nicht, den 
ganzen Stoff in dieser zweiten Bearbeitung un- 
184 



und die monotheistische Religion 
terzubringen; anderseits konnte ich mich nicht 

entschliessen, auf die früheren ganz zu verzich- 
ten, und so kam die Auskunft zustande, dass ich 
ein ganzes Stück der ersten Darstellung unver- 
ändert an die zweite anscMoss, womit eben der 
Nachteil einer weitgehenden Wiederholung ver- 
bunden war. 

Nun könnte ich mich mit der Erwägung trösten, 
die Dinge, die ich behandle, seien immerhin so 
neu und so bedeutsam, abgesehen davon, wie 
weit meine Darstellung derselben richtig ist, dass 
es kein Unglück sein kann, wenn das Publikum 
veranlasst wird, darüber zweimal das Nämliche 
zu lesen. Es gibt Dinge, die mehr als einmal ge- 
sagt werden sollen und die nicht oft genug ge- 
sagt werden können. Aber es muss der freie Ent- 
schluss des Lesers dabei sein, bei dem Gegen- 
stand zu verweilen oder auf ihn zurückzukom- 
men. Es darf nicht in der Art erschlichen wer- 
den, dass man ihm in demselben Buch das Glei- 
che zweimal vorsetzt. Das bleibt eine Unge- 
schicklichkeit, für die man den Tadel auf sich 
nehmen muss. Die Schöpferkraft eines Autors 
folgt leider nicht immer seinem Willen; das 
Werk gerät, wie es kann, und stellt sich dem 
Verfasser oft wie unabhängig, ja wie fremd, ge- 
genüber. 



185 



///. Moses, sein Volk, 

a) Das Volk Israel 

Wenn man sich klar darüber ist, dass ein Ver- 
fahren wie was unsrigCj vom überlieferten Stoff 
anzunehmen, was uns brauchbar scheint, zu ver- 
werfen, was uns nicht taugt, und die einzelnen 
Stücke nach der psychologischen Wahrschein- 
lichkeit zusammenzusetzen, — dass eine solche 
Technik keine Sicherheit gibt, die "Wahrheit zu 
finden, dann .fragt man mit Recht, wozu man 
eine solche Arbeit überhaupt unternimmt. Die 
Antwort beruft sich auf ihr Ergebnis. Wenn 
man die Strenge der Anforderungen an eine hi- 
storisch-psychologische Untersuchung weit mil- 
dert, wird es vielleicht möglich sein, Probleme 
zu klären, die immer der Aufmerksamkeit wür- 
dig schienen und die infolge rezenter Ereignisse 
sich von neuem dem Beobachter aufdrängen. 
Man weiss, von allen Völkern, die im Altertum 
um das Becken des Mittelmeers gewohnt haben, 
ist das jüdische Volk nahezu das einzige, das heute 
dem Namen und wohl auch der Substanz nach 
noch besteht. Mit beispielloser Widerstandsfä- 
higkeit hat es Unglücksfällen und Misshandlun- 
gen getrotzt, besondere Charakterzüge ent- 
wickelt und sich nebstbei die herzliche Abnei- 
gung aller anderen Völker erworben. Woher 
diese Lebensfähigkeit der Juden kommt und wie 
ihr Charakter mit ihren Schicksalen zusammen- 



und die monotheistische Religion 

hängt, davon möchte man gerne mehr verste- 
hen. 

Man darf von einem Charakterzug der Juden 
ausgehen, der ihr Verhältnis zu den Anderen be- 
herrscht. Es ist kein Zweifel daran, sie haben 
eine besonders hohe Meinung ton sich, halten 
sich für vornehmer, höher stehend, den anderen 
überlegen, von denen sie auch durch viele ihrer 
Sitten geschieden sind/) Dabei beseelt sie eine 
besondere Zuversicht im Leben, wie sie durch 
den geheimen Besitz eines kostbaren Gutes ver- 
liehen wird, eine Art von Optimismus; Fromme 
würden es Gottvertrauen nennen. 
Wir kennen den Grund dieses Verhaltens und 
wissen, was ihr geheimer Schatz ist. Sie haken 
sich wirklich^^ für das von Gott auserwählte 
Volk, glauben ihm besonders nahe zu stehen, und 
dies macht sie stolz und zuversichtlich. Nach 
guten Nachrichten benahmen sie sich schon in 
hellenistischen Zeiten so wie heute, der Jude war 
also damals schon fertig, und die Griechen, unter 
denen und neben denen sie lebten, reagierten auf 
die jüdische Eigenart in der nämlichen Weise 
wie die heutigen „Wirtsvölker". Man könnte 
meinen, sie reagierten, als ob auch sie an den 

^) Die in alten Zeiten so häufige Schmähung, die Juden 
seien „Aussät;zige (s. Manetho), hat wohl den Sinn einer 
Projektion: Sie halten sich von uns so fern, als ob wir 

Aussätzige wären." 

187 



///. Moses, sein Volk, 
Vorzug glaubten, den das Volk Israel für sich in 
Anspruch nahm. Wenn man der erklärte Lieb- 
ling des gefürchteten Vaters ist, braucht man 
sich über die Eifersucht der Geschwister nicht 
2u verwundern, und wozu diese Eifersucht füh- 
ren kann, zeigt sehr schön die jüdische Sage von 
Josef und seinen Brüdern. Der Verlauf der "Welt- 
geschichte schien dann die jüdische Anmassung 
zu rechtfertigen, denn als es später Gott gefiel, 
der Menschheit^ einen Messias und Erlöser zu 
senden, wählte er ihn wiederum aus dem Volke 
der Juden. Die anderen Völker hätten damals 
Anlass gehabt, sich zu sagen: Wirklich, sie ha- ■: 
ben recht gehabt, sie sind das von Gott auser- 
wäMte Volk. Aber es geschah anstatt dessen, 
■ dass ihnen die Erlösung durch Jesus Christus nur 
eine Verstärkung ihres Judenhasses brachte, 
während die Juden selbst aus dieser zweiten Be- 
vorzugung keinen Vorteil zogen, da sie den Er- i 
löser nicht anerkannten. 

, Auf Grund unserer früheren Erörtungen dürfen 

i wir nun behaupten, dass^ es jder^ Mann Moses 

'jwar, der dem jüdischen Volk diesen für alle Zu- 

ikunft bedeutsaiHfin.-Zttg aufgeprägt hat. Er hob 

'ihr Selbstgefühl durch die Versicherung, dass sie 

Gottes auserwähltes Volk seien, er legte ihnen 

die Heiligung auf und verpflichtete sie zur Ab- 

. sonderung von den anderen. Nicht etwa, dass es 

den anderen Völkern an Selbstgefühl gemangelt 

i88 



und die monotheistische Religion 

hätte. Genau wie heute hielt sich auch damals 
jede Nation für besser als jede andere. Aber das 

Selbstgefühl der Juden erfuhr durch Moses eine 
• religiöse Verankerung, es wurde ein Teil ihres 
religiösen Glaubens. Durch ihre besonders inni- 
ge Beziehung zu ihrem Gott erwarben sie einen 
Anteil an seiner Grossartigkeit, Und da wir wis- 
sen, dass hinter dem Gott, der die Juden ausge- 
wählt und aus Ägypten befreit hat, die Person 
Moses' steht, die grade das, vorgeblich in sei- 
nem Auftrag, getan hatte, getrauen wir uns zu 
sagen :/Es war der eine Mann Moses, der die Ju- 
•^ den geschaffen hat. Ihm dankt dieses Volk seine 
Zählebigkeit, aber auch viel von der Feindselig- 
*keit, die es erfahren hat und noch erfährt. 

b) Der grosse Mann 

Wie ist es möglich, dass ein einzelner Mensch 
_ eine so ausserordentliche Wirksamkeit entfaltet, 
dass er aus indifferenten Individuen und Fami- 
lien ein Volk formt, ihm seinen endgültigen Cha- 
rakter prägt und sein Schicksal für Jahrtausen- 
de bestimmt? Ist eine solche Annahme nicht ein 
Rückschritt auf dieDenkungsart,die die Schöp- 
fermythen und Heldeoverehrung entstehen 
Hess, auf Zeiten, in denen die Geschichtsschrei- 
bung sich in der Berichterstattung der Taten und 
Schicksale einzelner Personen, Herrscher oder 

189 



in. Moses, sein Volk, 

Eroberer erschöpfte? Die Neigung der Neuzeit 
geht vielmehr dahin, die Vorgänge der Mensch- 
heitsgeschichte auf verstecktere, allgemeine und 
unpersönliche Momente zurückzuführen, auf 
dien zwingenden Einfiuss ökonomischer Verhält- 
nisse, den. "Wechsel in der Ernährungsweise, die 
Fortschritte im Gebrauch von Materialien und 
Werkzeugen, auf Wanderungen, die durch 
V oiksvermehrung und Veränderungen des Kli- 
mas vÄanlasst werden. Den Einzelpersonen fällt 
dabei keine andere Rolle zu als die von Expo^- 
nenten oder Repräsentanten von Massenstre- 
bungen, welche notwendigerweise ihren Aus- 
druck finden mussten und ihn mehr zufälliger- 
weise in jenen Personen fanden. 
Das sind durchaus berechtigte Gesichtspunkte, 
aber sie geben uns Anlass, an eine bedeutsame 
Unstimmigkeit zwischen der Einstellung unse- 
res Denkorgans und der Einrichtung der Welt 
zu mahnen, die. mittels unseres Denkens erfasst 
werden soll. 'Unserem allerdings gebieterischen 
Kausalbedürfnis genügt es, wenn jeder Vorgang 
eine nachweisbare Ursache hat. In der Wirk- 
lichkeit ausserhalb uns ist das aber kaum so der 
Fall; vielmehr scheint jedes Ereignis überdeter- 
miniert zu sein, stellt sich als die Wirkung meh- 
rerer konvergierender Ursachen heraus.' Durch 
die unübersehbare Komplikation des Gesche- 
hens geschreckt, ergreift unsere Forschung Par- 
190 



und die monotheistische Religion 
tei für den einen Zusammenhang gegen einen 
anderen, stellt Gegensätze auf, die nicht beste- 
hen, nur durch die Zerreissung von umfassende- 
ren Beziehungen entstanden sind.^) Wenn uns 
also die Untersuchung eines bestimmten Falles 
den überragenden Einfluss einer einzelnen 
Persönlichkeit beweist, so braucht uns unser Ge- 
wissen nicht vorzuwerfen, dass wir mit. dieser 
Annahme der Lehre von der Bedeutung jener all- 
gemeinen, unpersönlichen Faktoren ins Gesicht 
geschlagen haben. Es ist grundsätzlich Raum für 
beides. Bei der Genese des Monotheismus kön-t;, 
nen wir allerdings auf kein anderes äusseres Mo- 
ment hinweisen als auf das bereits erwähnte, 
dass diese Entwicklung mit der Herstellung inti- 
merer Beziehungen zwischen verschiedenen Na- 
tionen und dem Aufbau eines grosses Reiches 
verknüpft ist. 

Wir wahren also dem „grossen Mann" seine 
Stelle in der Kette oder vielmehr im Netzwerk 
der Verursachungen. Aber vielleicht wird es 

*) Ich protestiere aber gegen das Missverständois, als 
wollte ich sagen, die "Welt sei so kompliziert, dass jede 
Behauptung, die man aufstellt, irgendwo ein Stück der 
"Wahrheit treffen muss. Nein, unser Denken hat sich die 
Freiheit bewahrt, Abhängigkeiten und Zusammen- 
hänge aufzufinden, denen nichts in der "Wirklichkeit 
entspricht, und schätzt diese Gabe offenbar sehr hoch, 
da es innerhalb wie ausserhalb der Wissenschaft so 
reichlichen Gebrauch von ihr macht. 

191 



in. Moses, sein Volk, 

nicht ganz zwecklos sein, zu fragen, unter wei- 
chen Bedingungen wir diesen Ehrennamen ver- 
geben. Wir sind überrascht, zu finden, dass es 
nicht ganz leicht ist, diese Frage zu beantwor- 
ten. Eine erste Formulierung: wenn ein Mensch 
die Eigenschaften, die wir hochschätzen, in be- 
sonders hohem Mass besitzt, ist offenbar nach 
allen Richtungen unzutreffend. Schönheit z.B. 
und Muskelstärke, so beneidet sie auch sein mö- 
gen, geben keinen. Anspruch auf „Grösse". Es 
müssten also geistige Qualitäten sein, psychische 
und intellektuelle Vorzüge. Bei letzteren kommt 
uns das Bedenken, dass wir einen Menschen, der 
ein ausserordentlicher Könner auf einem be- 
stimmten Gebiet ist, darum doch nicht ohne wei- 
teres einen grossen Mann heissen würden. Ge- 
wiss nicht einen Meister des Schachspiels oder 
einen Virtuosen auf einem Musikinstrument, 
aber auch nicht ieict|t einen ausgezeichneten 
Künstler oder Forscher. Es entspricht uns, in sol- 
chem Falle zu sagen, er sei ein grosser Dichter, 
Maler, Mathematiker oder Physiker, ein Bahn- 
brecher auf dem Feld dieser oder jener Tätig- 
keit, aber wir halten mit der Anerkennung, er 
sei ein grosser Mann, zurück. "Wenn wir z.B. 
Goethe, Leonardo da Vinci, Beethoyen unbe- 
denklich für grosse Männer erklären, so muss 
uns noch etwas anderes bewegen als die Bewun- 
derung ihrer grossartigen Schöpfungen. Wären 
192 



und die monotheistische Religion 

nicht grade solche Beispiele im Wege, so würde 
man wahrscheinlich auf die Idee kommen, der 
Name „ein grosser Mann" sei vorzugsweise für 
Männer der Tat reserviert, also Eroberer, Feld- 
herrn, Herrscher, und anerkenne die Grösse 
ihrer Leistung, die Stärke der Wirkung, die von 
ihnen ausging. Aber auch dies ist unbefriedigend 
und wird voll widerlegt durch unsere Verurtei- 
lung so vieler nichtswürdiger Personen, denen 
man doch die Wirkung auf Mit- und Nachwelt 
nicht bestreiten kann. Auch den Erfolg wird 
man nicht zum Kennzeichen der Grösse wählen 
dürfen, wenn man an die Oberzahl von grossen 
Männern denkt, die, anstatt Erfolg zu haben, im 
Unglück zu Grunde gegangen sind. 
So wird man vorläufig der Entscheidung geneigt, 
es verlohne sich nicht, nach einem eindeutig be- 
stimmten Inhalt des Begriffs „grosser Mann" zu 
suchen. Es sei nur eine locker gebrauchte und 
ziemlich willkürlich vergebene Anerkennung 
der überdimensionalen Entwicklung gewisser 
menschlicher Eigenschaften in ziemlicher An- 
näherung an den ursprünglichen Wortsinn der 
„Grösse". Auch dürfen wir uns besinnen, dass 
uns nicht so sehr das Wesen des grossen Mannes 
interessiert als die Frage, wodurch er auf seine 
Nebenmenschen wirkt. Wir werden aber diese 
Untersuchung möglichst abkürzen, weil sie uns 
weit von unserem Ziel abzuführen droht. 

193 

13 



IIL Moses, sein Volk, 
Lassen wir es also gelten, dass der grosse Mann 
seine Mitmenschen auf zwei Wegen beeinflusst, 
durch seine Persönlichkeit und durch die Idee, 
für die er sich einsetzt. Diese Idee mag ein altes 
Wunschgebilde der Massen betonen oder ihnen 
ein neues Wunschziel zeigen oder in noch ande- 
rer Weise die Masse in ihren Bann ziehen. Mit- 
_ unter ■ — und das ist gewiss der ursprünglichere 
Fall — wirkt die Persönlichkeit allein und die 
Idee spielt eine recht geringfügige Rolle. War- 
um der grosse Mann überhaupt zu einer Bedeu- 
tung kommen sollte, das ist uns keinen Augen- 
blick unklar. Wir wissen, es besteht bei der Mas- 
se der Menschen ein starkes Bedürfnis nach ei- 
ner Autorität, die man bewundern kann, der 
man sich beugt, von der man beherrscht, even- 
tuell sogar 'misshandelt wird. Aus der Psycholo- 
gie des Einzelmenschen haben wir erfahren, wo- 
her dies Bedürfnis der Masse* stammt./Es ist die 
Sehnsucht nach dem Vater, die fedem von seiner 
Kindheit her innewohnt, nach demselben Vater, 
den überwunden zu haben der Held der Sage 
sich rühmt. Und nun mag uns die Erkenntnis 
dämmern, dass alle Züge, mit denen wir den 
grossen Mann ausstatten, Vaterz'ige sind, dass 
in dieser Übereinstimmupg das von uns vergeb- 
lich gesuchte Wesen des grossen Mannes besteht/ 
Die Entschiedenheit der Gedanken, die Stärke 
des Willens, die Wucht der Taten gehören dem 
194 



und die monotheistische Religion 
Vaterbilde zu, vor allem aber die Selbständig- 
keit und Unabhängigkeit des grossen Mannes, 
seine göttliche Unbekümmertheit, die sich zur 
Rücksichtslosigkeit steigern darf. Man muss ihn 
bewundern, darf ihm vertrauen, aber man kann 
nicht umhin, ihn auch zu fürchten. Wir hätten 
uns vom Wortlaut leiten lassen sollen; wer an- 
ders als der Vater soll denn in der Kindheit der 
„grosse Mann" gewesen sein! 
Unzweifelhaft war es ein gewaltiges Vatervor- 
bild, das sich in der Person des Moses zu den ar- 
men jüdischen Fronarbeitern herabliess, um ih- 
nen zu versichern, dass sie seine lieben Kinder 
seien. Und nicht minder überwältigend muss die 
Vorstellung ■ eines einzigen, ewigen, allmächti- 
gen Gottes auf sie .gewirkt haben, dem sie nicht 
zu gering waren, um einen Bund mit ihnen zu 
schliessen, und der für sie zu sorgen versprach, 
wenn sie seiner Verehrung treu blieben. Wahr- 
scheinlich wurde' es ihnen nicht leicht, das Bild 
des Mannes Moses von dem seines Gottes zu , 
scheiden, und sie ahnten recht darin, denn Mo- 
ses mag Züge seiner eigenen Person in den Cha- 
rakter seines Gottes eingetragen haben wie die 
Zommütigkeit und UnerbittÜchkeit. Und wenn 
sie dann- einmal diesen ihren grossen Mann er- 
schlugen, so wiederholten sie nur eine Untat, die 
sich in Urzeiten als Gesetz gegen den göttlichen 
König gerichtet hatte und die, wie wir wissen, 

195 



///. Moses, sein Volk, 
auf ein noch älteres Vorbild zurückging/) 

Ist uns so auf der einen Seite die Gestalt des gros- 
sen Mannes ins Göttliche gewachsen, so ist es 
anderseits Zeit, sich zu besinnen, dass auch der 
Vater einmal ein Kind gewesen war. Die grosse 
religiöse Idee, die der Mann Moses vertrat, war 
nach unseren Ausführungen nicht sein Eigen- 
tum; er hatte sie von seinem König Ikhnaton 
übernommen. Und dieser, dessen Grösse als Re- 
ligionsstifter unzweideutig bezeugt ist, folgte 
vielleicht Anregungen, die durch Vermittlung 
seiner Mutter oder auf anderen Wegen — aus 
dem näheren oder ferneren Asien — zu ihm ge- 
langt waren. 

Weiter können wir die Verkettung nicht verfol- 
gen, aber wenn diese ersten Stücke richtig er- 
kannt sind, dann ist die monotheistische Idee 
Boomerang-artig in das Land ihrer Herkunft 
zurückgekommen. Es erscheint so anfruchtbar, 
das Verdienst eines Einzelnen um eine neue Idee 
feststellen zu wollen. Viele haben offenbar an 
ihrer Entwicklung mitgetan und Beiträge zu ihr 
geleistet. Anderseits wäre es offenkundiges Un- 
recht, die Kette der Verursachung bei Moses ab- 
zubrechen und zu vernachlässigen, was seine 
Nachfolger und Fortsetzer, die jüdischen Pro- 
pheten, geleistet haben. Die Saat des Monotheis- 
mus war In Ägypten nicht aufgegangen. Das- 
^) Vgl Frazer 1. c. 
196 



und die monotheistische Religion 
selbe hätte in Israel geschehen können, nachdem 
das Volk die beschwerliche und anspruchsvolle 
Religion abgeschüttelt hatte. Aber aus dem jü- 
dischen Volk erhoben sich Immer wieder Män- 
ner, die die verblassende Tradition auffrischten, 
die Mahnungen und Anforderungen Moses' er- 
neuerten und nicht rasteten, ehe das Verlorene 
wiederhergestellt war. In der stetigen Bemühung 
von Jahrhunderten und endlich durch zwei 
grosse Reformen, die eine vor, die andere nach 
dem babylonischen Exil, vollzog sich die Ver- 
wandlung des Volksgottes Jahve in den Gott, 
dessen Verehrung Moses den Juden aufgedrängt 
hatte. Und es ist der Beweis einer besonderen 
psychischen Eignung in der Masse, die zum jüdi- 
schen Volk geworden war, wenn sie so viele 
Personen hervorbringen konnte, die bereit wa- 
ren, die Beschwerden der Moses-Religion auf 
sich zu nehmen, für den Lohn des Auserwählt- 
seins und vielleicht noch andere Prämien von 
ähnlichem Rang. 

c) Der Fortschritt in der Geistigkeit 

Um nachhaltige psychische Wirkungen bei ei- 
nem Volke zu erzielen, reicht es offenbar nicht 
hin, ihm zu versichern, es sei von der Gottheit 
auserlesen. Man muss es ihm auch irgendwie be- 
weisen, wenn es daran glauben und aus dem 

197 



m. Moses, sein Volk, 
Glauben Konsequenzen ziehen soll. In der Mo- 
ses-Religion diente der Auszug aus Ägypten als 

dieser Beweis; Gott oder Moses in seinem Na- 
men wurde nicht müde, sich auf diese Gunstbe- 
zeugung zu berufen. Das Passahfest wurde ein- 
gesetzt, um die Erinnerung an dies Ereignis fest- 
zuhalten, oder vielmehr ein altbestehendes Fest 
mit dem Inhalt dieser Erinnerung erfüllt. Aber 
es war doch nur eine Erinnerung, der Auszug 
gehörte einer verschwommenen Vergangenheit 
an. In der Gegenwart waren die Zeichen von 
Gottes Gunst recht spärlich, die Schicksale des 
Volkes deuteten eher auf seine Ungnade hin. 
Primitive Völker pflegten ihre Götter abzuset- 
zen oder selbst zu züchtigen, wenn sie nicht ihre 
Pflicht erfüllten, ihnen Sieg, Glück und Behagen 
zu gewähren. 'Könige sind zu allen Zeiten nicht 
anders behandelt worden als Götter; eine alte 
Identität beweist sich darin, die Entstehung aus 
gemeinsamer Wurzel. Auch moderne Völker 
pflegen also ihre Könige zu verjagen, wenn der 
Glanz ihrer Regierung durch Niederlagen mit 
den dazugehörigen Verlusten an Land und Geld 
gestört wird. Warum aber das Volk Israel sei- 
nem Gott immer nur unterwürfiger anhing, je 
schlechter.es von ihm behandelt wurde, das ist 
ein Problem, welches wir vorläufig bestehen las- 
sen müssen. 

Es mag uns die Anregung geben, zu untersuchen, 
198 



und die monotheistische Religion 
ob die Moses-Religion dem Volke nichts ande- 
res gebracht hatte als die Steigerung des Selbst- 
gefühls durch das Bewusstsein der Auserwählt- 
heit. Und das nächste Moment ist wirklich leicht 
zu finden. Die Religion brachte den Juden auch 
eine weit grossartigere Gottesvorstellung, oder, 
wie man nüchterner sagen könnte, die Vorstel- 
lung eines grossartigeren Gottes. Wer an diesen 
Gott glaubte, hatte gewissermassen Anteil an 
seiner Grösse, durfte sich selbst gehoben fühlen. 
Das ist für einen Ungläubigen nicht ganz selbst- 
verständlich, aber vielleicht erf asst man es leich- 
ter durch den Hinweis auf das Hochgefühl eines 
Briten in einem fremden durch Aufruhr unsi- 
cher gewordenen Land, das dem Angehörigen 
irgend eines kontinentalen Kleinstaates völlig 
abgeht. Der Brite rechnet nämlich damit, dass 
sein Government ein Kriegsschiff ausschicken 
wird, wenn ihm ein Härchen gekrümmt wird, 
und dass die Aufständischen es sehr wohl wis- 
sen, während der Kleinstaat überhaupt kein 
Kriegsschiff besitzt. Der Stolz auf die Grösse 
des British Empire hat also auch eine Wurzel im 
Bewusstsein der grösseren Sicherheit, des Schut- 
zes, den der einzelne Brite geniesst. Das mag bei 
der Vorstellung des grossartigen Gottes ähnlich 
sein, und da man schwerlich beanspruchen wird, 
Gott in der Verwaltung der Welt zu assistieren, 
fliesst der Stolz auf die Gottesgrösse mit dem 

199 



///. Moses, sein Volk, 
^uf das Auserwähltsein zusammen. 
I Unter den Vorschriften der Moses-Religion fin- 
det sich eine, die bedeutungsvoller ist, als man 
zunächst erkennt. Es ist das Verbot, sich ein Bild 
¥on Gott zu machen, also der Zwang, einen 
Gott zu verehren, den man nicht sehen kann. 
"Wir vermuten, dass Moses in diesem Punkt die 
Strenge der Aton-ReÜgion überboten hat; viel- 
leicht wollte er nur konsequent sein, sein Gott 
hatte dann weder einen Namen noch ein Ange- 
sicht, vielleicht war es eine neue Vorkehrung 
gegen magische Missbräuche. Aber wenn man 
dies Verbot annahm, musste es eine tiefgreifen- 
de Wirkung ausüben. Denn es bedeutete eine 
Zurücksetzung der sinnlichen Wahrnehmung ge- 
gen eine abstrakt zu nennende Vorstellung, ei- 
nen Triumph der Geistigkeit über die Sinnlich- 
keit, streng genommen einen Triebverzicht mit 
seinen psychologisch notwendigen Folgen. 
Um glaubwürdig zu finden, was auf den ersten 
Blick nicht einleuchtend scheint, muss man sich 
an andere Vorgänge gleichen Charakters in der 
Entwicklung der menschlichen Kultur erinnern. 
Der früheste unter ihnen, der wichtigste viel- 
leicht, verschwimmt im Dunkel der Urzeit. Sei- 
ne erstaunlichen Wirkungen nötigen uns, ihn zu 
behaupten. Bei unseren Kindern, bei den Neuro- 
tikern unter den Erwachsenen wie bei den pri- 
mitiven Völkern finden wir das seelische Phä- 



200 



und die monotheistische Religion 
nomen, das wir als den Glauben an die „All- 
macht der Gedanken" bezeichnen. Nach unserem 
Urteil ist es eine Überschätzung des Einflusses, 
den unsere seelischen, hier die intellektuellen, 
Akte auf die Veränderung der Aussenwelt üben 
können. Im Grunde ruht ja alle Magie, die Vor- 
läuferin unserer Technik, auf dieser Vorausset- 
zung. Auch aller Zauber der Worte gehört hie- 
her und die Überzeugung von der Macht, die 
mit der Kenntnis und dem Aussprechen eines 
Namens verbunden ist. Wir nehmen an, dass 
die „Allmacht der Gedanken" der Ausdruck des 
Stolzes der Menschheit war auf die Entwick- 
lung der Sprache, die eine so ausserordentliche 
Förderung der intellektuellen Tätigkeiten zur 
Folge hatte. Es eröffnete sich das neue Reich der 
Geistigkeit, in dem Vorstellungen, Erinnerungen 
und ScHussprozesse massgebend wurden, im 
Gegensatz zur niedrigeren psychischen Tätig- 
keit, die unmittelbare Wahrnehmungen der Sin- 
nesorgane zum Inhalt hatte. Es war gewiss eine 
der wichtigsten Etappen auf dem Wege zur 
Menschwerdung. 

Weit greifbarer tritt uns ein anderer Vorgang 
späterer Zeit entgegen. Unter dem Einf iuss äus- 
serer Moment, die wir hier nicht zu verfolgen 
brauchen, die zum Teil auch nicht genügend be- 
kannt sind, geschah es, dass die matriarchalische 
Gesellschaftsordnung von der patriarchalischen 

20I 



///. Moses, sein Volk, 

abgelöst wurde, womit natürlich ein Umsturz 
der bisherigen Rechtsverhältnisse verbunden 

war. Man glaubt den Nachklang dieser Revolu- 
tion noch in der Orestie des Äschylos zu ver- 
spüren. Aber diese Wendung von der Mutter 
zum Vater bezeichnet überdies einen Sieg der 
Geistigkeit über die Sinnlichkeit, also einen 
Kulturfortschrittj denn die Mutterschaft ist 
durch das Zeugnis der Sinne erwiesen, während 
die Vaterschaft eine Annahme ist, auf einen 
Schluss und auf eine Voraussetzung aufgebaut. 
Die Parteinahme, die den Denkvorgang über 
die sinnliche Wahrnehmung erhebt, bewährt 
sich als ein folgenschwerer Schritt. 
Irgendwann zwischen den beiden vorerwähn- 
ten Fällen ereignete sich ein 'anderer, der am mei- 
sten Verwandtschaft zeigt mit dem von uns 
in der Religionsgeschichte untersuchten. Der 
Mensch fand sich veranlasst, überhaupt „geisti- 
ge" Mächte anzuerkennen, d.h. solche, die mit 
den Sinnen, speziell mit dem Gesicht, nicht er- 
fasst werden können, aber doch unzwieifelhafte 
sogar überstarke Wirkungen äussern. Wenn wir 
uns dem Zeugnis der Sprache anvertrauen dürf- 
ten, war es die bewegte Luft, die das Vorbild 
der Geistigkeit abgab, denn der Geist entlehnt 
I den Namen vom Windhauch (animus, spiritm, 
I hebräisch: mach, Hauch). Damit war auch die 
« Entdeckung der Seele gegeben als des geistigen 
202 



und die monotheistische Religion 

Prinzips im einzelnen Menschen. 'Die Beobach- 
tung fand die bewegte Luft im'Ättnen des Men- 
schen wieder, das mit dem Tode aufhört; noch 
heute haucht der Sterbende seine Seele aus. Nun 
aber war dem Menschen das Geisterreich eröff- 
net; er war bereit, die Seele, die er bei sich ent- 
deckt hatte, allem anderen in der Natur zuzu- 
trauen. Die ganze Welt wurde beseelt, und die 
"Wissenschaft, die soviel später kam, hatte genug 
zu tun, um einen Teil der Welt wieder zu ent- 
seelen, ist auch noch heute mit dieser Aufgabe 
nicht fertig geworden. 

Durch das mosaische Verbot wurde Gott auf 
eine höhere Stufe der Geistigkeit gehoben, der 
Weg eröffnet für -weitere Abänderungen der 
Gottesvorstellung, von denen noch zu berichten 
ist. Aber zunächst darf uns j.ine andere Wir- 
kung desselben beschäftigen, /Alle solchen Fort- 
schritte in der Geistigkeit haben den Erfolg, das 
Selbstgefühl der- Eerson zu steigern, sie stolz zu 
machen, so dass sie sich anderen überlegen fühlt, 
die im Banne der Sinnlichkeit verblieben sind. 
Wir wissen, dass Moses den Juden das Hochge-"" 
fühl vermittelt hatte, ein auserwähltes -Volk zu 
sein; durch die Entmaterialisierung Gottes kam 
ein neues, wertvolles Stück zu dem geheimen 
Schatz des Volkes hinzu. Die Juden behielten 
die Richtung auf geistige Interessen bei, das po- 
litische Unglück der Nation lehrte sie, den einzi- 

203 



in. Moses, sein Volk, 
geii Besitz, der ihnen geblieben war, ihrSchrift- 

tuni, seinem Werte nach einzuschätzen. Unmit- 
telbar nach der Zerstörung des Tempels in Je- 
rusalem durch Titus erbat sich Rabbi Jochanan 
ben Sakkai die Erlaubnis, die erste Thoraschule 
in Jahne zu eröffnen. Fortan war es die heilige 
Schrift und die geistige Bemühung um sie, die 
das versprengte Volk zusammenhielt. 
Soviel ist allgemein bekannt und angenommen. 
Ich wollte nur einfügen, dass diese charakteristi- 
sche Entwicklung des jüdischen "Wesens durdi-,.^ 
das Verbot Moses', Gott in sichtbarer Gestalt zu ' 
verehren, eingeleitet wurde. 

Der Vorrang, der durch etwa 2000 Jahre im Le-y' 
ben des. jüdischen Volkes geistigen Bestrebungen 
eingeräumt war, hat natürlich seine "Wirkung 
getan; er half, die Roheit und die Neigung zur 
Gewalttat einzudämmen, die sich einzustellen 
pflegen, wo die Entwicklung der Muskelkraft ■ 
Volksideai ist. Die Harmonie in der Ausbildung 
geistiger und körperlicher Tätigkeit, wie das 
griechische Volk sie erreichte, blieb den Juden 
versagt. Im Zwiespalt trafen sie wenigstens die 
Entscheidung für das Höherwertige. 

d) Triebverzicht 

Es ist nicht selbstverständlich und nicht ohne 
weiteres einzusehen, warum ein Fortschritt in 
204 



und die monotheistische Religion 

der Geistigkeit, eine Zurücksetzung der Sinn- 
lichkeit, das Selbstbewusstsein einer Person wie 
eines Volkes erhöhen sollte. Das scheint einen 
bestimmten Wertmasstab vorauszusetzen und 
eine andere Person oder Instanz, die ihn hand- 
habt. Wir wenden uns zur Klärung an einen 
analogen Fall aus der Psychologie des Indivi- 
duums, der uns verständlich geworden ist. 
Erhebt das Es in einem menschlichen Wesen ei- 
nen Triebanspruch erotischer oder aggressiver 
Natur, so ist das Einfachste und Natürlichste, 
dass das Ich, dem der Denk- und der Muskelap- 
parat zur Verfügung steht, ihn durch eine Ak- 
tion befriedigt. Diese Befriedigung des Triebes 
wird vom Ich als Lust empfunden, wie die Un- 
befriedigung unzweifelhaft Quelle von Unlust 
geworden wäre. Nun kann sich der Fall ereig- 
nen, dass das Ich die Triebbefriedigung mit 
Rücksicht auf äussere Hindernisse unterlässt, 
nämlich dann, wenn es einsieht, dass die betref- 
fende Aktion eine ernste Gefahr für das Ich her- 
vorrufen würde. Ein solches Abstehen von der 
Befriedigung, ein Triebverzicht infolge äusserer 
Abhaltung, wie wir sagen: im Gehorsam gegen 
das Realitätsprinzip, ist auf keinen Fall lustvoll. 
Der Triebverzicht würde eine anhaltende Un- 
lustspannung zur Folge haben, wenn es nicht ge- 
länge, die Triebstärke selbst durch Energiever- 
schiebungen herabzusetzen. Der Triebverzicht 

205 



///. Moses, sein Volk, 
kann aber auch aus anderen, wie wir mit Recht 

sagen inneren Gründen erzwungen werden. Im 
Laufe der individuellen Entwicklung wird ein 
Anteil der hemmenden Mächte in der Aussen- 
welt verinnerlicht, es bildet sich im Ich eine In- 
stanz, die sich beobachtend, kritisierend und 
verbietend dem übrigen entgegengestellt. Wir 
nennen diese neue Instanz das Über-Ich. Von 
nun an hat das Ich, ehe es die vom Es geforder- 
ten Triebbefriedigungen ins Werk setzt, nicht 
nur auf die Gefahren der Aussenwelt, sondern 
auch auf den Einspruch des Über-Ichs Rück- 
sicht zu nehmen, und wird umsomehr Anlässe 
haben, die Triebbefriedigung zu unterlassen. 
Während aber der Triebverzicht aus äusseren 
Gründen nur unlustvoll ist, hat der aus inneren 
Gründen, aus Gehorsam gegen das Über-Ich, 
eine andere ökonomische Wirkung. Er bringt 
ausser der unvermeidlichen Unlustfolge dem Ich 
auch einen Lustgewinn, eineErsatzbef riedigung 
gleichsam. Das Ich fühlt sich gehoben, es wird 
stolz auf den Triebverzicht wie auf eine wert- 
volle Leistung. Den Mechanismus dieses Lustge- 
winns glauben wir zu verstehen. Das Ober- Ich 
ist Nachfolger und Vertreter der Eltern (und 
Erzieher), die die Handlungen des Individuums 
in seiner ersten Lebensperiode beaufsichtigt 
hatten; es setzt die Funktionen derselben fast 
ohne Veränderung fort. Es hält das Ich in dau- 
206 



und die monotheistische Religion 
ernder Abhängigkeit, es übt einen ständigen 
Druck auf dasselbe aus. Das Ich ist ganz wie in 
der Kindheit besorgt, die Liebe des Oberherrn 
aufs Spiel zu setzen, empfindet seine Anerken- 
nung als Befreiung und Befriedigung, seine Vor- 
würfe als Gewissensbisse. Wenn das Ich dem 
Über-Ich das Opfer eines Triebverzichts ge- 
bracht hat, erwartet es als Belohnung dafür, von 
ihm mehr geliebt zu werden. Das Bewusstsein, 
diese Liebe zu verdienen, empfindet es als Stolz. 
Zur Zeit, da die Autorität noch nicht als Über- 
ich verinnerlicht war, konnte die Beziehung 
zwischen drohendem Liebesverlust und Trieb- 
anspruch die nämliche sein. Es gab ein Gefühl 
von Sicherheit und Befriedigung, wenn man aus 
Liebe zu den Eltern einen Triebverzicht zustan- 
degebracht hatte. Den eigentümlich narzissti- 
schen Charakter des Stolzes konnte dies gute 
Gefühl erst annehmen, nachdem die Autorität 
selbst ein Teil des Ichs geworden war. 
"Was leistet uns diese Aufklärung der Befriedi- 
gung durch Triebverzicht für das Verständnis 
der Vorgänge, die wir studieren wollen, der He- 
bung des Selbstbewusstseins bei Fortschritten der 
Geistigkeit? Anscheinend sehr wenig. Die Ver- 
hältnisse liegen ganz anders. Es handelt sich um 
keinen Triebverzicht und es ist keine zweite 
Person oder Instanz da, der zuliebe das Opfer 
gebracht wird. An der zweiten Behauptung 

207 



///. Moses, sein Volk, 

wird man bald schwankend werden. Man kann 
sagen, der grosse Mann ist eben die Autorität, 
der zuliebe man die Leistung vollbringt, und da 
der grosse Mann selbst dank seiner Ähnlichkeit 
mit dem Vater wirkt, darf man sich nicht ver- 
wundern, wenn ihm in der Massenpsychologie 
die Rolle des Über-Ichs zofällt. Das würde also 
auch für den Mann Moses im Verhältnis zum Ju- 
denvolk gelten. Im anderen Punkte will sich 
aber keine richtige Analogie herstellen. Der 
Fortschritt in der Geistigkeit besteht darin, dass 
man gegen die direkte Sinneswahrnehmung zu 
Gunsten der sogenannten höheren intellektuel- 
len Prozesse entscheidet, also der Erinnerungen, 
Überlegungen, Schlussvorgänge. Dass man z.B. 
bestimmt, die Vaterschaft ist wichtiger als die 
Mutterschaft, obwohl sie nicht wie letztere 
durch das Zeugnis der Sinne erweisbar ist. Dar- 
um soll das Kind den Namen des Vaters tragen 
und nach ihm erben. Oder: unser Gott ist der 
grösste und mächtigste, obwohl er unsichtbar ist 
wie der Sturmwind und die Seele. Die Abwei- 
sung eines sexuellen oder aggressiven Trieban- 
spruches scheint etwas davon ganz Verschiede- 
nes zu sein. Auch ist bei manchen Fortschritten 
der Geistigkeit, z.B. beim Sieg des Vaterrechts, 
die Autorität nicht aufzeigbar, die den Masstab 
für das abgibt, was als höher geachtet werden 
soll. Der Vater kann es in diesem Falle nicht 
208 



und die monotheistische Religion 

sein, denn er wird erst durch den Fortschritt zur 
Autorität erhoben. Man steht also vor dem Phä- 
nomen, dass in der Entwicklung der Menschheit 
die Sinnlichkeit allmählich von der Geistigkeit 
überwältigt wird und dass die Menschen sich 
durch jeden solchen Fortschritt stolz und geho- 
ben fühlen. Man weiss aber nicht zu sagen, war- 
um das so sein sollte. Später ereignet es sich dann 
noch, dass die Geistigkeit selbst von dem ganz 
rätselhaften emotioneilea Phänomen des Glau- 
bens überwältigt wird. Das ist das berühmte 
Credo quia absurdum, und auch wer dies zu- 
standegebracht hat, sieht es als eine Höchstlei- 
stung an. Vielleicht ist das Gemeinsame all die- 
ser psychologischen Situationen etwas anderes. 
Vielleicht erklärt der Mensch einfach das für 
das Höhere, was das Schwierigere ist, und sein 
Stolz ist bloss der durch das Bewusstsein einer 
überwundenen Schwierigkeit gesteigerte Nar- 
zissmus. 

Das sind gewiss wenig fruchtbare Erörtungen, 
und man könnte meinen, sie haben mit unserer 
Untersuchung, was den Charakter des jüdischen 
Volkes bestimmt hat, überhaupt nichts zu tun. 
Das wäre nur ein Vorteil für uns, aber eine ge- 
wisse Zugehörigkeit zu unserem Problem verrät 
sich doch durch eine Tatsachcj die uns später 
noch mehr beschäftigen wird. {Die Religion, die | 
mit dem Verbot begonnen hat, sich ein Bild von . 

209 

14 



///. Moses, sein Volk, 
Gott zu machen, entwickelt sich im Laufe der 
Jahrhunderte immer mehr zu einer Religion der 
Triebverzichte. Nicht dass sie sexuelle Absti- 
nenz fordern würde, sie begnügt sich mit einer 
merklichen Einengung der sexuellen Freiheit. 
Aber Gott wird der Sexualität völlig entrückt 
und zum Ideal ethischer Vollkommenheit erho- 
ben. Ethik ist aber Triebeinschränkung. |Die 
Propheten werden nicht müde "zu mahnen, dass 
Gott nichts anderes von seinem Volke verlange 
als gerechte und tugendhafte Lebensführung, 
also Enthaltung von allen Triebbefriedigungen, 
die auch noch von unserer heutigen Moral als 
lasterhaft verurteilt werden. Und selbst die For- 
derung, an ihn zu glauben, scheint gegen den 
Ernst dieser ethischen Forderungen zurückzu- 
treten. Somit scheint der Triebverzicht eine her- 
vorragende Rolle in der Religion zu spielen, 
auch wenn er nicht von Anfang an in ihr her- 
vortritt. 

Hier ist aber Raum für einen Einspruch, der ein 
Missverständnis abwehren soll. Mag es auch 
scheinen, dass der Triebverzicht und die auf ihn 
gegründete Ethik nicht zum wesentlichen Inhalt 
der Religion gehört, so ist er doch genetisch aufs 
innigste mit ihr verbunden. DerTotemismus,die 
erste Form einer Religion, die wir erkennen, 
bringt als unerlässliche Bestände des Systems ei- 
ne Anzahl von Geboten und Verboten mit sich, 

2IO 



und die monotheistische Religion 

die natürlich nichts anderes als Triebverzichte 
bedeuten, die Verehrung des Totem, die das 
Verbot einschliesst, ihn zu schädigen oder zu tö- 
ten, die Exogamie, also den Verzicht auf die lei- 
denschaftlich begehrten Mütter und Schwestern 
in der Horde, das Zugeständnis gleicher Rechte 
für alle Mitglieder des Brüderbundes, also die 
Einschränkung der Tendenz zu gewalttätiger 
Rivalität unter ihnen. In diesen Bestimmungen 
müssen wir die ersten Anfänge einer sittlichen 
und sozialen Ordnung erblicken. Es entgeht uns 
nicht, dass sich hier zwei verschiedene Moti- 
vierungen geltend machen. Die beiden ersten 
Verbote liegen im Sinne des beseitigten Vaters, 
sie setzen gleichsam seinen Willen fort; das drit- 
te Gebot, das der Gleichberechtigung der Bun- 
<desbrüder, sieht vom Willen des Vaters ab, es 
rechtfertigt sich durch die Berufung auf die 
Notwendigkeit, die neue Ordnung, die nach der 
Beseitigung des Vaters entstanden war, für die 
Dauer zu erhalten. Sonst wäre der Rückfall in 
den früheren Zustand unvermeidlich geworden. 
Hier sondern sich die sozialen Gebote von den 
anderen ab, die, wie wir sagen dürfen, direkt aus 
religiösen Beziehungen stammen. 
In der abgekürzten Entwicklung des menschli- 
chen Einzelwesens wiederholt sich das wesent- 
liche Stück dieses Hergangs. Auch hier ist es die 
Autorität der Eltern, im wesentlichen die des 

211 



///. Moses, sein Volk, 

unumschränkten, mit der Macht zur Strafe dro- 
henden Vaters, die das Kind zu Triebverzichten 
auffordert, die für dasselbe festsetzt, was ihm 
erlaubt und was ihm verboten ist./^Was beim 
Kinde „brav" oder „schlimm" heisst, wird spä- 
ter, wenn Gesellschaft und Über-Ich an die 
Stelle der Eltern getreten sind, „gut" und „bö- 
se", tugendhaft oder lasterhaft genannt werden, 
aber es ist immer noch das nämliche, Triebver- 
zicht durch den Druck der den Vater ersetzen- 
den, ihn fortsetzenden, Autorität. 
Diese Einsichten erfahren eine weitere Vertie- 
fung, wenn wir eine Untersuchung des merk- 
würdigen Begriffs der Heiligkeit unternehmen. 
Was erscheint uns eigentlich als „heilig" in Her- 
vorhebung von anderem, das wir hochschätzen 
und als wichtig und bedeutungsvoll anerken- 
nen? Einerseits ist der Zusammenhang des Hei- 
ligen mit dem Religiösen unverkennbar, er wird 
in aufdringlicher "Weise betont; alles Religiöse 
ist heilig, es ist geradezu der Kern der Heilig- 
keit. Anderseits wird unser Urteil durch die 
zahlreichen Versuche gestört, den Charakter der 
Heiligkeit für soviel anderes, Personen, Institu- 
tionen, Verrichtungen in Anspruch zu nehmen, 
die wenig mit Religion zu tun haben. Diese Be- 
mühungen dienen offenkundigen Tendenzen. 
Wir wollen von dem Verbotcharakter ausgehen, , 
der so fest am Heiligen haftet. Das Heilige ist 

212 



und die monotheistische Religion 
offenbar etwas, was nicht berührt werden darf. 
Ein heiliges Verbot ist sehr stark affektiv be- 
tont, aber eigentlich ohne rationelle Begrün- 
dung. Denn warum sollte es z.B. ein so beson- 
ders schweres Verbrechen sein, Inzest mit Toch- 
ter oder Schwester zu begehen, soviel ärger als 
jeder andere Sexualverkehr? Fragt man nach 
einer solchen Begründung, so wird man, gewiss 
hören, dass sich alle unsere Gefühle dagegen 
sträuben. Aber das heisst nur, dass man das 
Verbot für selbstverständlich hält, dass man es 
nicht zu begründen weiss. 
Die Nichtigkeit einer solchen Erklärung ist leicht 
genug zu erweisen, Was angeblich unsere heilig- 
sten Gefühle beleidigt, war in den Herrscherfa- 
milien der alten Ägypter und anderer frühen 
Völker allgemeine, Sitte, man möchte sagen ge- 
heiligter Brauch. Es war selbstverständlich, dass 
der Pharao in seiner Schwester seine erste und 
vornehmste Frau fand, und die späten Nach- 
folger der Pharaonen, die griechischen Ptole- 
rnäer, zögerten nicht, dies Vorbild nachzuahmen. 
Soweit drängt sich uns eher die Einsicht auf, dass 
der Inzest — in diesem Falle zwischen Bruder 
und Schwester— ein Vorrecht war, das gewöhn- 
lichen Sterblichen entzogen, aber den die Göt- 
ter vertretenden Königen vorbehalten war, wie 
ja auch die Welt der griechischen und der ger- 
manischen Sage keinen Anstoss an solchen in- 

213 



///. Moses, sein Volk, 
zestiösen Beziehungen nahm. Man darf vermu- 
ten, dass die ängstliche Wahrung der Ebenbür- 
tigkeit in unserem Hochadel noch ein Residuum 
dieses alten Privilegs ist, und kann feststellen, 
dass infolge der über soviele Generationen fort- 
gesetzten Inzucht in den höchsten sozialen 
Schichten Europa heute nur von Mitgliedern ei- 
ner und einer zweiten Familie regiert wird. 
Der Hinweis auf den Inzest bei Göttern, Köni- 
gen und Heroen hilft auch mit zur Erledigung 
eines anderen Versuches, der die Inzestscheu bi- 
ologisch erklären will, sie auf ein dunkles Wis- 
sen um die Schädlichkeit der Inzucht zurück- 
führt. Es ist aber nicht einmal sicher, dass eine 
Gefahr der Schädigung durch die Inzucht be- 
steht, geschweige denn, dass die Primitiven sie 
erkannt und gegen sie reagiert hätten. Die Un- 
sicherheit in der Bestimmung der erlaubten und 
der verbotenen Verwandtschaftsgrade spricht 
ebensowenig für die Annahme eines „natürli- 
chen Gefühls" als Urgrund der Inzestscheu. 
Unsere Konstruktion der Vorgeschichte drängt 
uns eine andere Erklärung auf. Das Gebot der 
Exogamie, dessen negativer Ausdruck die In- 
zestscheu ist, lag im Willen des Vaters und setzte 
diesen Willen nach seiner Beseitigung fort. Da- 
her die Stärke seiner affektiven Betonung und 
die Unmöglichkeit einer rationellen Begrün- 
dung, also seine Heiligkeit. Wir erwarten zuver- 
214 



und die monotheistische Religion 
sichtlich, dass die Untersuchung aller anderen 
Fälle von heiligem Verbot zu demselben Ergeb- 
nis führen würde wie im Falle der Inzestscheu, 
dass das Heilige ursprünglich nichts anderes ist 
als der fortgesetzte Wille des Urvaters. Damit 
fiele auch ein Licht auf die bisher unverständ- 
liche Ambivalenz der Worte, die den Begriff 
der Heiligkeit ausdrücken. Es ist die Ambiva- 
lenz, die das Verhältnis zum Vater überhaupt 
beherrscht. „Sacer" bedeutet nicht nur „heilig", 
„geweiht", sondern auch etwas, was wir nur 
mit „verrucht", „verabscheuenswert" überset- 
zen können („auri sacra fames"). Der Wille des 
Vaters aber war nicht nur etwas, woran man 
nicht rühren durfte, was man hoch in Ehren 
halten musste, sondern auch etwas, wovor man 
erschauerte, weil es einen schmerzlichen Trieb- 
verzicht erforderte. Wenn wir hören, dass Mo- 
ses sein Volk „heiligte" durch die Einführung 
der Sitte der Beschneidung, so verstehen wir 
jetzt den tiefen Sinn dieser Behauptung. Die Be- 
schneidung ist der symbolische Ersatz der Ka- 
stration, die der Urvater einst aus der Fülle sei- 
ner Machtvollkommenheit über die Söhne ver- 
hängt hatte, und wer dies Symbol annahm, zeig- 
te damit, dass er bereit war, sich dem Willen des 
Vaters zu unterwerfen, auch wenn er ihm das 
schmerzlichste Opfer auferlegte./ 
Um zur Ethik zurückzukehren, dürfen wir ab- 

215 



in. Moses, sein Volk, . 
schliessend sagen: Ein Teil ihrer Vorschriften 
rechtfertigt sich auf rationelle Weise durch die 
Notwendigkeit^ die Rechte der Gemeinschaft 
gegen den Einzelnen, die Rechte des Einzelnen 
gegen die Gesellschaft und die der Individuen 
gegen einander abzugrenzen. Was aber an der 
Ethik uns grossartig, geheimnisvoll, in mysti- 
scher Weise selbstverständlich erscheint, das 
dankt diese Charaktere dem Zusammenhang 
mit der Religion, der Herkunft aus dem Willen 
des Vaters. 

e) Der Wahrheitsgehalt der Religion 

Wie beneidenswert erscheinen uns, den Armen 

im Glauben, jene Forscher, die von der Existenz 
eines höchsten Wesens überzeugt sind! Für die- 
sen grossen Geist hat die Welt keine Probleme, 
weil er selbst alle ihre Einrichtungen geschaffen 
hat. Wie umfassend, erschöpfend und endgültig 
sind die Lehren der Gläubigen im Vergleich mit 
den mühseligen, armseligen und stückhaften Er- 
klärungsversuchen, die das Äusserste sind, was 
wir zustandebringen! Der göttliche, Geist, der 
selbst das Ideal ethischer Vollkommenheit ist, 
hat den Menschen die Kenntnis dieses Ideals ein- 
gepflanzt und gleichzeitig den Drang, ihr We- 
sen dem Ideal anzugleichen, Sie verspüren un- 
mittelbar, was höher und edler, und was niedri- 
zi6 



und die monotheistische Religion 

ger und gemeiner ist. Ihr Empfindungsleben ist 
auf ihre jeweilige Distanz vom Ideal eingestellt. 
Es bringt ihnen hohe Befriedigung, wenn sie, im 
Perihel gleichsam, ihm näher kommen, es straft 
sich durch schwere Unlust, wenn sie, im Aphel, 
sich von ihm entfernt haben. Das ist alles so ein- 
fach und so unerschütterlich festgelegt. Wir kön- 
nen nur bedauern, wenn gewisse Lebenserfah- 
rungen und Weltbeobachtungen es uns unmög- 
lich machen, die Voraussetzung eines solchen 
höchsten Wesens anzunehmen. Als hätte die Welt 
der Rätsel nicht genug, wird uns die neue Auf- 
gabe gestellt, zu verstehen, wie jene anderen den 
Glauben an das göttliche Wesen erwerben konn- 
ten und woher dieser Glaube seine ungeheure, 
„Vernunft und Wissenschaft" überwältigende 
Macht bezieht. 

Kehren wir zu dem bescheideneren Problem zu- 
rück, das uns bisher beschäftigt hat. Wir woll- 
ten erklären, woher der eigentümliche Charak- 
ter des jüdischen Volkes rührt, der wahrschein- 
lich auch seine Erhaltung bis auf den heutigen 
Tag ermöglicht hat. Wir fanden, der Mann Mo- 
ses hat diesen Charakter geprägt, dadurch, dass 
er ihnen eine Religion gab, welche ihr Selbstge- 
fühl so erhöhte, dass sie sich allen anderen Völ- 
kern überlegen glaubten. Sie erhielten sich dann 
dadurch, dass sie sich von den anderen fem hiel- 
ten. Blutvermischungen störten dabei wenig, 

217 



///. Moses, sein Volk, 

denn was sie zusammenhielt, war ein ideelles 
Moment, der gemeinsame Besitz bestimmter in- 
tellektueller und emotioneller Güter. Die Moses- 
Religion hatte diese Wirkung, weil sie i) das 
Volk Anteil nehmen Hess an der Grossartigkeit 
, einer neuen Gottesvorstellung, 2) weil sie be- 
jhauptete, dass dies Volk von diesem grossen 
, Gott auserwählt und für die Beweise seiner be- 
l sonderen Gunst bestimmt war, 3) weil sie dem 
Volk einen*Fortschritt in der Geistigkeit aufnö- 
tigte, der, an sich bedeutungsvoll genug, überdies 
den Weg zur Wochschätzung der intellektuellen 
Arbeit und zu^weiteren Triebverzichten eröff- 
netej 

Dies ist unser Ergebnis, und obwohl wir nichts 
davon zurücknehmen mögen, können wir uns 
doch nicht verhehlen, dass es irgendwie unbe- 
friedigend ist. Die Verursachung deckt sozusa- 
gen nicht den Erfolg, die Tatsache, die wir er- 
klären wollen, scheint von einer anderen Grös- 
senordnung als alles, wodurch wir sie erklären. 
Wäre es möglich, dass alle unsere bisherigen Un- 
tersuchungen nicht die ganze Motivierung auf- 
gedeckt haben, sondern nur eine gewissermassen 
oberflächliche Schicht, und dahinter noch ein 
anderes, sehr bedeutsames Moment auf Ent- 
deckung wartet? Bei der ausserordentlichen 
Komplikation aller Verursachung in Leben und 
218 



und die monotheistische Religion 

Geschichte musste man auf etwas dergleichen 
gef asst sein. 

Der Zugang zu dieser tieferen Motivierung er- 
gäbe sich an einer bestimmten Stelle der vorste- 
henden Erörtungen. Die Religion des Moses hat 
ihre Wirkungen nicht unmittelbar geübt, son- 
dern in einer merkwürdig indirekten Weise. Das 
will nicht besagen, sie habe nicht sofort gewirkt, 
sie habe lange Zeiten, Jahrhunderte gebraucht, 
um ihre volle Wirkung zu entfalten, denn soviel 
versteht sich von selbst, wenn es sich um die Aus- 
prägung eines Volkscharakters handelt. Sondern. 
die Einschränkung bezieht sich auf eine Tatsa- 
che, die wir der jüdischen Religionsgeschichte 
entnommen, oder, wenn man will, in sie einge- 
tragen haben. Wir haben gesagt, das jüdische 
Volk warf die Moses-Religion nach einer ge- 
wissen Zeit wieder ab — ob vollständig, ob 
einige ihrer Vorschriften beibehalten wurden, 
können wir nicht erraten. Mit der Annahme, 
dass in den langen Zeiten der Besitzergreifung 
Kanaans und des Ringens mit den dort wohnen- 
den Völkern die Jahve-Religion sich nicht we- 
sentlich von der Verehrung der anderen Baalim 
unterschied, stehen wir auf historischem Boden 
trotz aller Anstrengungen späterer Tendenzen, 
diesen beschämenden Sachverhalt zu verschlei- 
ern. Die Moses-Religion war aber nicht spurlos 
untergegangen, eine Art von Erinnerung an sie 

219 



IIL Moses, sein Volk, 
hatte sich erhalten, verdunkelt und entstellt, 
vielleicht bei einzelnen Mitgliedern der Priester- 
kaste durch alte Aufzeichnungen gestützt. Und 
diese Tradition einer grossen Vergangenheit war 
es, die aus dem Hintergrunde gleichsam zu wir- 
ken fortfuhr, allmählich immer mehr Macht 
über die Geister gewann und es endlich erreich- 
te, den Gott Jahve in den Gott Moses' zu ver- 
wandeln und die vor langen Jahrhunderten ein- 
gesetzte und dann verlassene Religion Mose/ 
wieder zum Leben zu erwecken. 
Wir haben in einem früheren Abschnitt dieser 
Abhandlung erörtert, welche Annahme unab- 
weisbar scheint, wenn wir eine solche Leistung 
der Tradition begreiflich finden sollen. 

f) Die Wiederkehr des Verdrängten 

Es gibt nun eine Menge ähnlicher Vorgänge un- 
ter denen, die uns die analytische Erforschung 

des Seelenlebens kennen gelehrt hat. Einen Teil 
derselben heisst man pathologisch, andere rech- 
net man in die Mannigfaltigkeit der Normali- 
tät ein. Aber darauf kommt es wenig an, denn 
die Grenzen zwischen beiden sind nicht scharf 
gezogen, die Mechanismen sind im weiten Aus- 
mass die nämlichen, und es ist weit wichtiger, ob 
die betreffenden Veränderungen sich am Ich 
selbst vollziehen oder ob sie sich ihm fremd ent- 
220 



und die monotheistische Religion 

gegenstellen, wo sie dann Symptome genannt 
werden. Aus der Fülle des Materials hebe ich zu- 
nächst Fälle hervor, die sich auf Charakterent- 
wicklung beziehen. Das junge Mädchen hat sich 
in den entschiedensten Gegensatz zu seiner Mut- 
ter gebracht, alle Eigenschaften gepflegt, die sie 
an der Mutter vermisst, und alles vermieden, 
was an die Mutter erinnert. Wir dürfen ergän- 
zen, dass sie in früheren Jahren wie jedes weib- 
liche Kind eine Identifizierung mit der Mutter 
vorgenommen hatte und sich nun energisch ge- 
gen diese auflehnt. Wenn aber dieses Mädchen 
heiratet, selbst Frau und Mutter wird, dürfen 
wir nicht erstaunt sein, zu finden, dass sie an- 
fängt, ihrer befeindeten Mutter immer mehr 
ähnlich zu werden, bis sich schliesslich die über- 
wundene Mutteridentifizierung unverkennbar 
wiederhergestellt hat. Das Gleiche ereignet sich 
auch bei Knaben, und selbst der grosse Goethe, 
der in seiner Geniezeit den steifen und pedanti- 
schen Vater gewiss geringgeschätzt hat, entwik- 
kelte im Alter Züge, die dem Charakterbild des 
Vaters angehörten. Auffälliger kann der Erfolg 
noch werden, wo der Gegensatz zwischen bei- 
den Personen schärfer ist. Ein junger Mann, 
dem es zum Schicksal wurde, neben einem nichts- 
würdigen Vater aufzuwachsen, entwickelte sich 
zunächst, ihm zum Trotz, zu einem tüchtigen, 
zuverlässigen und ehrenhaften Menschen. Auf 

221 



in. Moses, sein Volk, 
der Höhe des Lebens schlug sein Charakter um, 
und er verhielt sich von nun an so, als ob er sich 
diesen selben Vater zum Vorbild genommen 
hätte. Um den Zusammenhang mit unserem 
Thema nicht zu verlieren, muss man im Sinne 
( \ behalten, dass zu Anfang eines solchen Ablaufs 
\ j inamer eine frühkindliche Identifizierung mit 
■. ; dem Vater steht. Diese wird dann Verstössen, 
1 selbst überkompensiert, und hat sich am Ende 
I wieder durchgesetzt. 
Es ist längst Gemeingut geworden, dass die Erleb- 
nisse der ersten fünf Jahre einen bestimmenden 
Einfluss auf das Leben nehmen, dem sich nichts 
Späteres widersetzen kann. Über die Art, wie 
sich diese frühen Eindrücke gegen alle Einwir- 
kungen reiferer Lebenszeiten behaupten, wäre 
viel Wissenwertes zu sagen, das nicht hierher ge- 
hört. Weniger bekannt dürfte aber sein, dass die 
stärkste zwangsartige Beeinflussung von jenen 
Eindrücken herrührt, die das Kind zu einer 
Zeit treffen, da wir seinen psychischen Apparat 
für noch nicht vollkommen aufnahmefähig hal- 
ten müssen. An der Tatsache selbst ist nicht zu 
zweifeln, sie ist so befremdend, dass-wir uns ihr 
Verständnis durch den Vergleich mit einer pho- 
tographischen Aufnahme erleichtern dürfen, die 
nach einem beliebigen Aufschub entwickelt und 
in ein Bild verwandelt werden mag. Immerhin 
weist man gern darauf hin, dass ein phantasie- 

222 



und die monotheistische Religion 

YoUer Dichter mit der Poeten gestatteten Kühn- 
heit diese unsere unbequeme Entdeckung vor- 
weggenommen hat. E. T. A. Hoffmann pflegte 
den Reichtum an Gestalten, die sich ihm für 
seine Dichtungen zur Verfügung stellten, auf 
den Wechsel der Bilder und Eindrücke während 
einer wochenlangen Reise im Postwagen zurück- 
zuführen, die er noch als Säugling an der Mut- 
terbrust erlebt hatte. Was die Kinder im Alter 
von zwei Jahren erlebt und nicht verstanden ha- 
ben, brauchen sie ausser in Träumen nie zu er- 
innern. Erst durch eine psychoanalytische Be- 
handlung kann es ihnen bekannt werden, aber 
es bricht zu irgend einer späteren Zeit mit 
Zwangsimpulsen in ihr Leben ein, dirigiert ihre 
Handlungen, drängt ihnen Sympathien und An- 
tipathien auf, entscheidet oft genug über ihre 
Liebeswahl, die so häufig rationell nicht zu be- 
gründen ist. Es ist nicht zu verkennen, in wel- 
chen zwei Punkten diese Tatsachen unser Pro- 
blem berühren. Erstens in der Entlegenheit der 
Zeit,*) die hier als das eigentlich massgebende 
Moment erkannt wird, z.B. in dem besonderen 
Zustand der Erinnerung, die wir bei diesen 
Kindheitserlebnissen als „unbewusst" klassifi- 

') Auch hierin darf ein Dichter das Wort haben. Um 

seine Binduag zu erklären, erfindet er: Du warst in 
abgelebten Zeiten meine Schwester oder meine Frau. 
(Goethe, Bd. IV der Weimarer Ausgabe, S. 97). 

223 



///. Moses, sein Volk, 

zieren. Wir erwarten hierin eine Analogie mit 
dem Zustand zu finden, den wir der Tradition 
im Seelenleben des Volkes zuschreiben möchten. 
Freilich war es nicht leicht, die Vorstellung des 
Unbewussten in die Massenpsychologie einzu- 
tragen. 

Regelmässige Beiträge zu den von uns gesuchten 
Phänomenen bringen die Mechanismen, die zur 
Neurosenbildung führen. Auch hier fallen die 
massgebenden Ereignisse in frühen Kinderzeiten 
vor, aber der Akzent ruht dabei nicht auf der 
Zeit, sondern auf dem Vorgang, der 'dem Ereig- 
nis entgegentritt, auf der Reaktion gegen das- 
selbe. In schematischer Darstellung kann man 
sagen: Als Folge des Erlebnisses erhebt sich ein 
Triebanspruch, der nach Befriedigung verlangt. 
Das Ich verweigert diese Befriedigung, entwe- 
der weil es durch die Grösse des Anspruchs ge- 
lähmt wird oder weil es in ihm eine Gefahr er- 
kennt. Die erstere dieser Begründungen ist die 
ursprünglichere, beide laufen auf die Vermei- 
dung einer Gefahrsituation hinaus. Das Ich er- 
wehrt sich der Gefahr durch den Prozess der 
Verdrängung. Die Triebregung wird irgendwie 
gehemmt, der Anlass mit den zugehörigen Wahr- 
nehmungen und Vorstellungen vergessen. Da- 
mit ist aber der Prozess nicht abgeschlossen, der 
Trieb hat entweder seine Stärke behalten oder 
er sammelt sie wieder oder er wird durch einen 
224 



und die monotheistische Religion 
neuen Anlass wieder geweckt. Er erneuert darin 
seinen Anspruch, und da ihm der Weg zur nor- 
malen Befriedigung durch das, was wir die Ver- 
drängungsnarbe nennen können, verschlossen 
bleibt, bahnt er sich irgendwo an einer schwa- 
chen Stelle einen anderen Weg zu einer soge- 
nannten Ersatzbefriedigung, die nun als Sym- 
ptom zum Vorschein kommt, ohne die Einwilli- 
gung, aber auch ohne das Verständnis des Ichs* 

lAlle Phänomene der Symptombildung können 
mit gutem Recht als „Wiederkehr des Ver- 
drängten" beschrieben werden.. Ihr auszeichnen- 
der Charakter ist aber die weitgehende Entstel- 
lung, die das Wiederkehrende im Vergleich zum 
Ursprünglichen erfahren hat. Vielleicht wird 
man meinen, dass wir uns mit der letzten Grup- 
pe von Tatsachen zu weit von der Ähnlichkeit 
mit der Tradition entfernt haben. Aber es soll 
uns nicht gereuen, wenn wir damit in die Nähe 
der Probleme des Triebverzichts gekommen 
sind. 

g) Die historische Wahrheit 

Wir haben alle diese psychologischen Exkurse 

unternommen, um es uns glaubhafter zu ma- 
chen, dass die Moses-Religion ihre Wirkung auf ! 
das jüdische Volk erst als Tradition durchgesetzt ' 

hat. Mehr als eine gewisse Wahrscheinlichkeit '' 
haben wir wahrscheinlich nicht zustandege- 

225 

IS 



///. Moses, sein Volk, 

bracht. Aber nehmen wir an, es sei uns der volle 

Nachweis gelungen; es bliebe doch der Eindruck, 
dass wir bloss dem qualitativen Faktor der An- 
forderung genügt haben, nicht auch dem quan- 
titativen. Allem, was mit der Entstehung einer 
Religion, gewiss auch der jüdischen, zu tun hat, 
hängt etwas Grossartiges an, das durch unsere 
bisherigen Erklärungen nicht gedeckt wird. Es 
müsste noch ein anderes Moment beteiligt sein, 
für das es wenig Analoges und nichts Gleich- 
artiges gibt, etwas Einziges und etwas von der 
gleichen Grössenordnung wie das, was daraus 
geworden ist, wie die Religion selbst. 
Versuchen wir, uns dem Gegenstand von der 
Gegenseite zu nähern. Wir verstehen, dass der 
Primitive einen Gott braucht als Weltschöpfer, 
Stammesober haupt, persönlichen Fürsorger. Die- 
ser Gott hat seine Stelle hinter den verstorbenen 
Vätern, von denen die Tradition noch etwas zu 
sagen weiss. Der Mensch späterer Zeiten, unse- 
rer Zeit, benimmt sich in der gleichen Weise. 
Auch er bleibt infantil und schutzbedürftig 
selbst als Erwachsener; er meint, er kann den 
Anhalt an seinem Gott nicht entbehren. Soviel 
ist unbestritten, aber minder leicht ist es zu ver- 
stehen, warum es nur einen einzigen Gott geben 
darf, warum grade der Fortschritt vom Heno- 
theismus zum Monotheismus die überwältigende 
Bedeutung erwirbt. Gewiss nimmt, wie wir es 

126 



und die monotheistische Religion 

ausgeführt haben, der Gläubige Anteil an der 
Grösse seines Gottes, und je grösser der Gott, 
desto zuverlässiger der Schutz, den er spenden 
kann. Aber die Macht eines Gottes hat nicht seine 
Einzigkeit zur notwendigen Voraussetzung. Vie- 
le Völker sahen nur eine Verherrlichung ihres 
Obergottes darin, wenn er andere ihm unterge- 
bene Gottheiten beherrschte, und nicht eine Ver- 
kleinerung seiner Grösse, wenn andere ausser 
ihm existierten. Auch bedeutete es ja ein Opfer 
an Intimität, wenn dieser Gott universell wurde 
und sich um alle Länder und Völker beküm- 
merte. Man teilte gleichsam seinen Gott mit den 
Fremden und musste sich dafür durch den Vor- 
behalt, dass man von Ihm bevorzugt sei, ent- 
schädigen. Man kann auch noch geltend ma- 
chen, dass die Vorstellung des einzigen Gottes 
selbst einen Fortschritt in der Geistigkeit bedeu- 
te, aber man kann den Punkt so hoch unmög- 
lich schätzen. 

Für diese offenkundige Lücke in der Motivie- 
rung wissen nun die Frommgläubigen eine zu- 
reichende Ausfüllung, Sie sagen, die Idee eines 
einzigen Gottes hat darum so überwältigend auf 
die Menschen gewirkt, weil sie ein Stück der 
ewigen Wahrheit ist, die, lange verhüllt, endlich 
zum Vorschein kam und dann alle mit sich f ort- 
reissen musste. Wir müssen zugeben, ein Mo- 
ment dieser Art ist endlich der Grösse des Ge- 

227 



///. Moses, sein Volk, 

genstands wie des Erfolgs angemessen. 
Auch wir möchten diese Lösung annehmen. 
Aber wir stossen auf ein Bedenken. Das from- 
me Argument ruht auf einer optimisch-ideali- 
stischen Voraussetzung. Es hat sich sonst nicht 
feststellen lassen, dass der menschliche Intellekt 
eine besondere feine Witterung für die Wahrheit 
besitzt und dass das menschliche Seelenleben ei- 
ne besondere Geneigtheit zeigt, die Wahrheit 
anzuerkennen. Wir haben eher im Gegenteil er- 
fahren, dass unser Intellekt sehr leicht ohne alle 
Warnung irre geht, und dass nichts leichter von 
uns geglaubt wird, als was, ohne Rücksicht auf 
die Wahrheit, unseren Wunschillusionen entge- 
genkommt. Darum müssen wir unserer Zustim- 
mung eine Einschränkung anfügen. Wir glauben 
auch, dass die Lösung der Frommen die Wahr- 
I heit enthält, aber nicht die materielle, sondern 
I -die historische Wahrheit. Und wir nehmen uns 
• das Recht, eine gewisse Entstellung zu korrigie- 
ren, welche diese Wahrheit bei ihrer Wiederkehr 
erfahren hat. Das heisst, wir glauben nicht, dass 
es einen einzigen grossen Gott heute gibt, son- 
dern dass es in Urzeiten eine einzige Person ge- 
geben hat, die damals übergross erscheinen muss- 
te und die dann zur Gottheit erhöht in der Er- 
innerung der Menschen wiedergekehrt ist. 
Wir hatten angenommen, dass die Moses-Reli- 
gion zunächst verworfen und halb vergessen 
228 



und die monotheistische Religion 

wurde und dann als Tradition zum Durchbrach 
kam. Wir nehmen jetzt an, dass dieser Vorgang 
sich damals zum zweiten Mal wiederholte. Als 
Moses dem Volk die Idee des einzigen Gottes 
brachte, war sie nichts Neues, sondern sie be- 
deutete die Wiederbelebung eines Erlebnisses aus 
den Urzeiten der menschlichen Familie, das dem 
bewussten Gedächtnis der Menschen längst ent- 
schwunden war. Aber es war so wichtig gewe- 
sen, hatte so tief einschneidende Veränderungen 
im Leben der Menschen erzeugt oder angebahnt, 
dass man nicht umhin kann, zu glauben, es habe 
irgendwelche dauernden Spuren, einer Tradition 
vergleichbar, in der menschlichen Seele hinter- 
lassen. 

Wir haben aus den Psychoanalysen von Einzel- 
personen erfahren, dass ihre frühesten Eindrük- 
ke, zu einer Zeit aufgenommen, da das Kind 
noch kaum sprachfähig war, irgend einmal Wir- 
kungen von Zwangscharakter äussern, ohne 
selbst bewusst erinnert zu werden. Wir halten 
uns berechtigt, dasselbe von den frühesten Er- 
lebnisseii der ganzen Menschheit anzunehmen. 
Eine dieser Wirkungen wäre das Auftauchen 
der Idee eines einzigen grossen Gottes, die man 
als zwar entstellte, aber durchaus berechtigte 
Erinnerung anerkennen muss. Eine solche Idee | 
hat Zwangscharakter, sie muss Glauben finden. 
Soweit ihre Entstellung reicht, darf man sie als 

229 



///. Moses, sein Volk, 
.^ ahn hezeichncQ, insofern sie die Wiederkehr 
des Vergangenen bringt, muss man skWäk^h^ 
heissen. Auch der psychiatrische Wahn enthält 
ein Stückchen Wahrheit, und die Überzeugung 
des Kranken greift von dieser Wahrheit aus auf 
die wahnhafte Umhüllung über. 

Was nun folgt, ist bis zum Ende eine wenig ab- 
geänderte Wiederholung der Ausführungen im 

ersten Teil. 

Im Jahre 1912 habe ich in „Totem und Tabu" 
versucht, die alte Situation, von der solche Wir- 
kungen ausgingen, zu rekonstruieren. Ich habe 
mich dabei gewisser theoretischer Gedanken von 
Ch. Darwin, Ätkinson, besonders aber von W. 
Robertson Smith bedient und sie mit Funden 
und Andeutungen aus der Psychoanalyse kom- 
biniert. Von Darwin entlehnte ich die Hypothe- 
se, dass die Menschen ursprünglich in kleinen 
Horden lebten, eine jede unter der Gewaltherr- 
schaft eines älteren Männchens, das sich alle 
Weibchen aneignete und die jungen Männer, 
auch seine Söhne, züchtigte oder beseitigte. Von 
Atkinson in Fortsetzung dieser Schilderung, 
dass dies patriarchalische System sein Ende 
fand in einer Empörung der Söhne, die sich ge- 
gen .den Vater vereinigten, ihn ^überwältigten 
und gemeinsam verzehrten. Im Anschluss an die 
230 



und die monotheistische Religion 

Totemtheorie von Robertson Smith nahm ich 
an, dass nachher die Vaterhorde dem totemisti- 
schen Brüderklan Platz machte. Um mit einan- 
der in Frieden leben zu können, verzichteten die 
siegreichen Brüder auf die Frauen, derentwegen 
sie doch den Vater erschlagen hatten, und leg- 
ten sich Exogamie auf. Die väterliche Macht 
war gebrochen, die Familien nach Mutterrecht 
eingerichtet. Die ambivalente Gefühlseinstellung 
der Söhne gegen den Vater blieb über die ganze 
weitere Entwicklung in Kraft. An Stelle des Va- 
ters wurde ein bestimmtes Tier als Totem ein- 
gesetzt; es galt als Ahnherr und Schutzgeist, 
durfte nicht geschädigt oder getötet werden, 
aber einmal im Jahr fand sich die ganze Män- 
nergemeinschaft zu einem Festmahl zusammen, 
bei dem das sonst verehrte Totemtier in Stücke 
gerissen und gemeinsam verzehrt wurde. Nie- 
mand durfte sich von diesem Mahle ausschlies- 
sen, es war die feierliche Wiederholung der Va- 
tertötung, mit der die soziale Ordnung, Sitten- 
gesetze und Religion ihren Anfang genommen 
hatten. Die Übereinstimmung der Robertson 
SmithschenTotemmahlzeit mit dem christlichen 
Abendmahl ist manchen Autoren vor mir auf- 
gefallen. 

Ich halte an diesem Aufbau noch heute fest. Ich 
habe wiederholt heftige Vorwürfe zu hören be- 
kommen, dass ich in späteren Auflagen des Bu- 

231 



///. Moses, sein Volk, 

ches meine Meinungen nicht abgeändert habe, 
nachdem doch neuere Ethnologen die Aufstel- 
lungen von Robertson Smith einmütig verwor- 
fen und zum Teil andere, ganz abweichende 
Theorien vorgebracht haben. Ich habe zu ent- 
gegnen, dass mir diese angeblichen Fortschritte 
wohl bekannt sind. Aber ich bin weder von der 
Richtigkeit dieser Neuerungen noch von den 
Irrtümern Robertson Smiths überzeugt worden. 
Ein Widerspruch ist noch keine Widerlegung, 
eine Neuerung nicht notwendig ein Fortschritt. 
Vor allem aber, ich bin nicht Ethnologe, son- 
dern Psychoanalytiker. Ich hatte das Recht, aus 
der ethnologischen Literatur herauszugreifen, 
was ich für die analytische Arbeit brauchen 
konnte. Die Arbeiten des genialen Robertson 
Smith haben mir wertvolle Berührungen mit 
dem psychologischen Material der Analyse, An- 
knüpfungen für dessen Verwertung gegeben. 
Mit seinen Gegern traf ich nie zusammen. 

h) Die geschichtliche Entwicklung 

Ich kann den Inhalt von „Totem -und Tabu" 
hier nicht ausführlicher wiederholen, aber ich 
muss für die Ausfüllung der langen Strecke zwi- 
schen jener angenommenen Urzeit und dem Sieg 
des Monotheismus in historischen Zeiten sorgen. 
Nachdem das Ensemble von Brüderklan, Mut- 
232 



und die monotheistische Religion 

terrecht, Exogamie undTotemismus eingerichtet 
war, setzte eine Entwicklung ein, die als lang- 
same „Wiederkehr des Verdrängten" zu be- 
schreiben ist. Den Terminus „das Verdrängte" 
gebrauchen wir hier im uneigentlichen Sinn. Es 
handelt sich um etwas Vergangenes, Verscholle- 
nes, Überwundenes im Vöikerleben, das wir 
dem Verdrängten im Seelenleben des Einzelnen 
gleichzustellen wagen. In welcher psychologi- 
schen Form dies Vergangene während der Zeit 
seiner Verdunkelung vorhanden war, wissen wir 
zunächst nicht zu sagen. Es wird uns nicht leicht, 
die Begriffe der Einzelpsychologie auf die Psy- 
chologie der Massen zu übertragen, und ich 
glaube nicht, dass wir etwas erreichen, wenn wir 
den Begriff eines „kollektiven" Unbewussten 
einführen. Der Inhalt des Unbewussten ist ja 
überhaupt kollektiv, allgemeiner Besitz der Men- 
schen. "Wir behelfcn uns also vorläufig mit dem 
Gebrauch von Analogien. Die Vorgänge, die 
wir hier im Völkerleben studieren, sind den uns 
aus der Psychopathologie bekannten sehr ähn- 
lich, aber doch nicht ganz die nämlichen. Wir 
entschliessen uns endlich zur Annahme, dass die 
psychischen Niederschläge jener Urzeiten Erb- 
gut geworden waren, in jeder neuen Generation 
nur der Erweckung, nicht der Erwerbung be- 
dürftig. Wir denken hierbei an das Beispiel der 
sicherlich „mitgeborenen" Symbolik, die aus der 

233 



///. Moses, sein Volk, 

Zeit der Sprachentwickltmg stammt, allen Kin- 
dern vertraut ist, ohne dass sie eine Unterwei- 
sung erhalten hätten, und die bei allen Völkern 
trotz der Verschiedenheit der Sprachen gleich 

lautet. Was uns etwa noch an Sicherheit fehlt, 
gewinnen wir aus anderen Ergebnissen- der psy- 
choanalytischen Forschung. Wir erfahren, dass 
unsere Kinder in einer Anzahl von bedeutsamen 
Relationen nicht so reagieren, wie es ihrem eige- 
nen Erleben entspricht, sondern instinktmässig, 
den Tieren vergleichbar, wie es nur durch phy- 
logenetischen Erwerb. erklärlich ist. 
Die Wiederkehr, des- Verdrängten vollzieht sich 
langsam, gewiss nicht spontan, sondern unter 
dem Einf luss all der Änderungen in den Lebens- 
bedingungen, welche die Kulturgeschichte der 
Menschen erfüllen. Ich kann hier weder eine 
Obersicht dieser Abhängigkeiten noch eine mehr 
als lückenhafte Aufzählung der Etappen dieser 
Wiederkehr geben. Der Vater wird wiederum 
das Oberhaupt der Familie, längst nicht so unbe- 
schränkt, wie es der Vater der Urhorde gewesen 
war. Das Totemtier weicht dem Gotte in noch 
sehr deutlichen Übergängen. Zunächst trägt der 
menschengestaltige Gott noch den Kopf des Tie- 
res, später verwandelt er sich mit Vorliebe in 
dies bestimmte Tier, dann wird dies Tier ilim 
heilig und sein Lieblingsbegleiter oder er hat das 
Tier getötet und trägt selbst den Beinamen da- 

234 



und die monotheistische Religion 

nach. Zwischen dem Totemtier und dem Gotte 
taucht der Heros auf, häufig als Vorstufe der 
Vergottung. Die Idee einer höchsten Gottheit 
scheint sich frühzeitig einzustellen, zunächst nur 
schattenhaft, ohne Einmengung in die täglichen 
Interessen des Menschen. Mit dem Zusammen- 
schluss der Stämme und Völker zu grösseren 
Einheiten organisieren sich auch die Götter zu 
Familien, zu Hierarchien. Einer unter ihnen 
wird häufig zum Oberherrn über Götter und 
Menschen erhöht. Zögernd geschieht dann der 
weitere Schritt, nur einem Gott zu zollen, und 
endlich erfolgt die Entscheidung, einem einzigen 
Gott alle Macht einzuräumen und keine ande- 
ren Götter neben ihm zu dulden. Erst damit 
war die Herrlichkeit des Urhordenvaters wie- 
derhergestellt", und die ihm geltenden Affekte 
konnten wiederholt werden. 
Die erste Wirkung des Zusammentreffens mit 
dem so lange Vermissten und Ersehnten war 
überwältigend und so, wie die Tradition der Ge- 
setzgebung vom Berge Sinai sie beschreibt. Be- 
wunderung, Ehrfurcht und Dankbarkeit dafür, 
dass man Gnade gefunden in seinen Augen — 
die Moses-Religion kennt keine anderen als die- 
se positiven Gefühle gegen den Vatergott. Die 
Überzeugung von seiner Unwiderstehlichkeit, 
die Unterwerfung unter seinen Willen können 
bei dem hilflosen, eingeschüchterten Sohn des 

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///. Moses, sein Volk, 
Hordenvaters nicht unbedingter gewesen sein, 
ja, sie werden erst durch die Versetzung in das 
primitive und infantile Milieu voll begreiflich. 
Kindliche Gefühlsregungen sind in ganz ande- 
rem Ausmass als die Erwachsener intensiv und 
unausschöpfbar tief, nur die religiöse Extase 
kann das wiederbringen. So ist ein Rausch der 
Gottesergebenheit die nächste Reaktion auf die 
Wiederkehr des grossen Vaters. 
Die Richtung dieser Vaterreligion war damit 
für alle Zeiten festgelegt, doch war ihre Ent- 
wicklung damit nicht abgeschlossen. Zum We- 
sen des Vaterverhältnisses gehört die Ambiva- 
lenz; es konnte nicht ausbleiben, dass sich im 
Laufe der Zeiten auch jene Feindseligkeit regen 
wollte, die einst die Söhne angetrieben, den be- 
wunderten und gefürchteten Vater zu töteni Im 
Rahmen der Moses-Religion war für den direk- 
ten Ausdruck des mörderischen Vater hasses kein 
Raum; nur eine mächtige Reaktion auf ihn 
konnte zum Vorschein kommen, das Schuld- 
bewusstsein wegen dieser Feindseligkeit, das 
schlechte Gewissen, man habe sich gegen Gott 
versündigt und höre nicht auf, zu sündigen. Die- 
ses Schuldbewusstsein, das von den Propheten 
ohne Unterlass wach gehalten wurde, das bald 
einen integrierenden Inhalt des religiösen Sy- 
stems bildete, hatte noch eine andere, oberfläch- 
liche Motivierung, die seine wirkliche Herkunft 
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und die monotheistische Religion 

gescMckt maskiertejEs ging dem Volke schlecht, 
die auf Gottes Gtmst gesetzten Hoffnungen 
wollten sich nicht erfüllen, es war nicht leicht, 
an der über alles geliebten Illusion festzuhalten, 
dass man Gottes auserwähltes Volk sei. Wollte 
man auf dieses Glück nicht verzichten, so bot 
das Schuldgefühl ob der eigenen Sündhaftigkeit 
eine willkommene Entschuldung Gottes. Man 
verdiente nichts Besseres, als von ihm bestraft zu 
werden, weil man seine Gebote nicht hielt, und 
im Bedürfnis, dieses Schuldgefühl, das unersätt- 
lich war und aus soviel tieferer Quelle kam, zu 
befriedigen, musste man diese Gebote immer 
strenger, peinlicher und auch kleinlicher werden 
lassen./ln einem neuen Rausch moralischer As- 
kese legte man sich immer neue Triebverzichte 
auf- und erreichte dabei wenigstens in Lehre und 
Vorschrift ethische Höhen, die den anderen al- 
ten Völkern unzugänglich geblieben waren. In 
dieser Höhenentwicklung erblicken viele Juden 
den zweiten Hauptcharakter und die zweite 
grosse Leistung ihrer Religion. Aus unseren Er- 
örterungen soll hervorgehen, wie sie mit der er- 
steren, der Idee des einzigen Gottes, zusammen- 
hängt. Diese Ethik kann "aber ihren Ursprung 
aus dem Schuldbewusstsein wegen der unter- 
drückten Gottesfeindschaft nicht verleugnen, 
Sie hat den unabgescHossenen und unabschliess- 
baren Charakter zwangsneurotischer Reaktions- 

237 



///. Moses, sein Volk, 

bildungen; man errät auch, dass sie dea gehei- 
men Absichten der Bestrafung dient. 
Die weitere Entwicklung geht über das Juden- 
tum hinaus. Das übrige, was von der Urvater- 
tragödie wiederkehrte, war mit der Moses-Reli- 
gion in keiner Art mehr vereinbar. Das Schuld- 
bewusstsein jener Zeit war längst nicht mehr auf 
das jüdische Volk beschränkt, es hatte als ein 
dumpfes Unbehagen, als eine Unheilsahnung, 
deren Grund niemand anzugeben wusste, alle 
Mittelmeervölker ergriffen. Die Geschichts- 
schreibung unserer Tage spricht von einem Al- 
tem der antiken Kultur; ich vermute, sie hat 
nur Gelegenheitsursachen und Beihilfen zu jener 
Völkerverstimmung erfasst. Die Klärung der 
bedrückten Situation ging vom Judentum aus. 
Ungeachtet aller Annäherungen und Vorberei- 
tungen ringsum war es doch ein jüdischer Mann 
Saulus aus Tarsus, der sich als römischer Bürger 
Paulus nannte, in dessen Geist zuerst die Er- 
kenntnis durchbrach: "Wir sind so unglücklich, 
weil wir Gottvater getötet haben. /Und es ist 
überaus verständlich, dass er dies Stück Wahr- 
heit nicht anders erfassen konnte- als in der 
wahnhaften Einkleidung der frohen Botschaft: 
Wir sind von aller Schuld erlöst, seitdem einer 
von uns sein Leben geopfert hat, um uns zu ent- 
sühnen. In dieser Formulierung war die Tötung 
Gottes natürlich nicht erwähnt, aber ein Ver- 
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und die monotheistische Religion 
brechen, das durch einen Opfertod gesühnt wer- 
den musste, konnte nur ein Mord gewesen sein. 
Und die Vermittlung zwischen dem Wahn und 
der historischen Wahrheit stellte die Versiche- 
rung her, dass das Opfer Gottes Sohn gewesen 
sei. Mit der Kraft, die ihm aus der Quelle histo- 
rischer Wahrheit zuf loss, warf dieser neue Glau- 
be alle Hindernisse nieder; an die Stelle der be- 
seligenden Auserwähltheit trat nun die befreien- 
de Erlösung. Aber die Tatsache der Vatertötung 
hatte bei ihrer Rückkehr in die Erinnerung der 
Menschheit grössere Widerstände zu überwin- 
den als die andere, die den Inhalt des Monothe- 
ismus ausgemacht hatte; sie musste sich auch 
eine stärkere Entstellung gefallen lassen. Das un- 
nennbare Verbrechen wurde ersetzt durch die 
Annahme einer eigentlich schattenhaften Erb- 
sünde. 

Erbsünde und Erlösung durch den Opfertod 
wurden die Grundpfeiler der neuen, durch Pau- 
lus begründeten Religion. Ob es in der Brüder- 
schar, die sich gegen den Urvater empörte, 
wirklich einen Anführer und Anstifter der 
Mordtat gegeben hat oder ob diese Gestalt von 
der Phantasie der Dichter zur Heroisierung der 
eigenen Person später geschaffen und in die Tra- 
dition eingefügt wurde, muss dahingestellt blei- 
ben. Nachdem die christliche Lehre den Rah- 
men des Judentums gesprengt hatte, nahm sie 

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III. Moses, sein Volk, 

Bestandteile aus vielen anderen Quellen auf, ver- 
zichtete auf manche Züge des reinen Monothe- 
ismus, schmiegte sich in vielen Einzelheiten dem 
Rituale der übrigen Mitteimeervölker an. Es 
war, als ob neuerdings Ägypten Rache nähme 
an den Erben des Ikhnaton. Beachtenswert ist, 
in welcher Weise die neue Religion sich mit der 
alten Ambivalenz im Vaterverhältnis ausein- 
andersetzte. Ihr Hauptinhalt war zwar die Ver- 
söhnung mit Gottvater, die Sühne des an ihm 
begangenen Verbrechens, aber die andere Seite 
der Gefühlsbeziehung zeigte sich darin, dass der 
Sohn, der die Sühne auf sich genommen, selbst 
Gott wurde neben dem Vater und eigentlich an 
Stelle des Vaters. Aus einer Vaterreligion her- 
vorgegangen, wurde das Christentum eine Soh- 
nesreligion. Dem Verhängnis, den Vater besei- 
tigen zu müssen, ist es nicht entgangen. 
Nur ein Teil des jüdischen Volkes nahm die 
neue Lehre an. Jene, die sich dessen weigerten, 
heissen noch heute Juden. Sie sind durch diese 
Scheidung noch schärfer von den anderen abge- 
sondert als vorher. Sie mussten von der neuen 
Religionsgemeinschaft, die ausser Juden Ägyp- 
ter, Griechen, Syrer, Römer und endlich auch 
Germanen aufgenommen hat, den Vorwurf hö- 
ren, dass sie Gott gemordet haben. /'Unverkürzt 
würde dieser Vorwurf lauten: Sie wollen es 
nicht wahr haben, dass sie Gott gemordet ha- 
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und die monotheistische Religion 
ben, während wir es zugeben und von dieser 
Schuld gereinigt worden sind. Man sieht dann 
leicht ein, wieviel Wahrheit hinter diesem Vor- 
wurf steckt. Warum es den Juden unmöglich 
gewesen ist, den Fortschritt mitzumachen, den 
das Bekenntnis zum Gottesmord bei aller Ent- 
stellung enthielt, wäre Gegenstand einer beson- 
deren Untersuchung, Sie haben damit gewisser- 
massen eine tragische Schuld auf sich geladen; 
man hat sie dafür schwer büssen lassen. 
Unsere Untersuchung hat vielleicht einiges Licht 
auf die Frage geworfen, wie das jüdische Volk 
die Eigenschaften erworben hat, die es kenn- 
zeichnen. Weniger Aufklärung fand das Pro- 
blem, wieso sie sich bis auf den heutigen Tag als 
Individualität erhalten konnten. Aber erschöp- 
fende Beantwortungen solcher Rätsel wird man 
billigerweise weder verlangen noch erwarten 
dürfen. Ein Beitrag, nach den eingangs erwähn- 
ten Einschränkungen zu beurteilen, ist alles, was 
ich bieten kann. 



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