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Full text of "Die Aktion 07Jg 1917"

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W0CHEN8CHRIFT FOR POUTIK. UTERATUR, KUN8T 

1JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT NR l 



INHALT: Hans Richter: Widmungsblatt ftir die AKTJON (Titelbild) / Ludwig burner: Jahreswende 1916 / Otokar Bfezina: 

a j frm Werfel : Substantiv tmd Verbum / Geoi^ Tappert : Zeichnung / Max Elskamp: Abschied / Gathmann: Wir / 
ns Blnabaum : Halluzinatorische Observation 2; Erotik / Franz Werfel: Die neue H6ite / Christian Schad: Zwei 
Zdchnungen / Wilhelm Klemm, Gottfried Benn, Kurd Adler, Max Herrmann (Neisse): Gedichte / Hieronymus Sturgkh: 
Zed Silvester-Poemata / Hans Richter: DSubler / Mynona: Groteske / Albert Ehrenstein: Traum / Japanischer Holzschmtt t 
Fruu Piemfert: Herrn Theodor Wolff vom / Kleiner BriefVasten > leh schneide die Zeit aus / Erich Gehre: Landschaft 





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den Memoiren etnes Russen“ von Alexander Herzen. 
Hochst lehrreich und schrecklich I" 

Friedrich Nietxsche an Erwin Rohde. 
Dies unvergangliche Memoirenwerk von einem der glin- 
zendslcn und anziehendsten Geister, die RuQland je 
hervorgebracht, ist von einer inneren Kraft durchdrungen, 
wie sie nur eebten Dichterwcrken eigen ist. Als Volker- 
psychologe und Mcnschcnkenner offenbart Herzen eine 
Feinheit und Elastizitat des Begreifens, die nicht nur 
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Rutland und das russische Volk erfahn man aus diesen 
Memoireo Wesentliches und Unvergefllichcs. 

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Zeitroman , . . Ein wichtiges, interessantes Werk.^ 

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lichkeit heme wieder vor uns hin, gleich als wolle er 
der Idee, die sich an seinen Namen kntlpit, zum Siege 
vorhelfcn. „I>*e tixlfe' 1 , Berlin. 




WOCHENSCHRIFT FOR POLITIK, LITE R ATU R, KUNST 

7. jahrgang HERAUSQEQEBEN VON FRANZ PFEMFERT 6 - JANUAR 1917 



JAHRESWENDE 1916 

(Pur die ACTION gedichtet) 

Schnee deckt Erde. Bluttrunkene Erde deckt 

Schnee ... — 

GroBe Mutter, die du uns alle segnest, 

Erde du, die riu uns alien und iiberall begegnest, 

Toter, Getoteter, Sterbender, Lebender, Werden- 

der Mutter du, Evoe! 

Fahlsuchtige Nacht, einer tiefsten Sage ent- 

sungen, 

Stemgespaltene Stirn, aus der der Gott steigt, 

leuchtet! 

Gott! Du! Der! Du! Von den Zungen alter Weis- 

sagungen befeuchtet! . . . 

O! wundervoller schrie nie Zeit aus ihren Lungen. 

Wundervoller nie ... War. Wahr. Wahr? 

War? . . . 

Immer rast seuchender Sommer, pestet Fruhling, 
giftnebelt Herbst, totet Winterschw eigen. — 

Erde? Mutter? tontest du uns deiner VerheiBun- 

gen Geigen? 

Wer? Irrsam dein Leib? Wem botest du Seele 

deiner Sehnsiichte dar? 

Wem?! Wann wieder zittert Zeit? 

Umseelt Glutschaum Entseelter wundervollen 

Kem? 

Stdhnt Nacht, entsaugt sich seiner Wiederkehr 

der Stern, 

Der dich, uns, dich an Ewigkeiten reiht?! . . . 

Segne uns Erde! Erde, du, flammendem SchoB 

entsungen, 

Da Gott aus unerhorten Einsamkeiten rief. 

Begegne uns, Mutter du! Segne! begegne uns, 

Erde! * . . tief, 

Tiefer sauge uns ein entsturzende Kraft deiner 

Lungen. 

Ludwig Bdumer 



PROLOG ZU FRANTISEK BILEKS VATER- 
UNSER 

Von 0 tol ar Bhtina 

Ich will, daB man meine Worte nur auffasse als 
das machtige Schweigen vor dem Gebet und als 
die Konzentration der seelischen Krafte vor seiner 
geheimnisvollen Arbeit. DaB sie das schmerzliche 
Dammern seien, in welchem die Glut der irdischen 
Lichter erlischt und in welchem die verborgenen 
Luster des seelischen Zenits entziindet werden, 
wie bei volistandiger Sonnenfinsternis, neben den 
blutig quellenden Wunden der Protuberanzen, an 
dem abgriindig vertieften Himmel die heilige Be- 
wegung weiBer Sterne lodert, in den majesta- 
tischen Perspektiven des Kosmos. 

Ich will, dab ihr bis an jene Orte niedersteiget, 
wo eure Seele sich mit den Seelen unzahliger 
Briider in einem einzigen Schmerze begegnet, 
gleich bittern Wurzeln, die sich durch das Dunkel 
hindurchmuhen, aneinandergepreBt von der stei- 
nernen, in innerem Feuer sich krampfenden Faust 
der Erde. An die Orte, wo tausende Lippen sich 
vereinen zu einem einzigen, entbrannten und in 
derSehnsucht Wehklagen durch Aeonen atmenden 
Lippenpaar und wo aus Millionen und AbermilH- 
onen von Angesichtern gleich der Ausstrahlung 
eines verborgenen Lichtes, Zug fur Zug, Strahl 
um Strahl, das mystische Antlitz des Menschen 
sich heraushebt, schmerzlich, liebreich und den 
Zeittiefen entschimmernd wie ein sich nahender 
Stern. Wir sind hier an den Orten innerlicher 
Windstille. Ailes, w ? a$ die Seele scheidet, ist fern 
hinter dem Horizont. Gleich einem stillen Schiff 
treibt hier das Herz durch die Jahrtausende, ent- 
fiihrt von den gliihenden Aquatorialstromen der 
Liebe. 

Neue Bereiche des Lebens tauchen an den Gesia- 
den empor. Ins Unendliche weiten sich die strah- 
lenden Perspektiven der Analogien. Die Sinne, 
einer nach dem andem, bersten wie Knospen zur 
Blute der Erkenntnis, der Sonne erschlossen. Die 
Dinge erscheinen hier als Spiegel von SymboJen, 
die geheimnisvolle Bewegung unsichtbarer Ereig- 
nisse ins Sichtbare abspiegelnd. Jeder Stein und 
jeder Baum unserer Wege, jeder Vogel, jede 
Wolke und jeder Stern, fliegend im Blau iiber 
ihnen, wird hier mit einmal zum Weiser eines 
Wegs, der durch Jahrtausende fiihrt. Und die 
glanzenden und schmerzlichen Visionen, die an 
diesen Orten die demiitigen Seelen der Liebenden 




3 



DIE AKTION 



4 



besuchen, sind wie Bilder der einzelnen Phasen 
des schwindeligen Werkes der Gnade, das sich auf 
Erden und im Weltall entfaltet. Eine unendliche 
Sehnsucht nach der Heimat erfaBt hier die Seelen, 
jene ewige Sehnsucht der Menschheit, tausendmal 
enttauscht und emeut in jedem Fruhlinge gleich 
uberschwemmten Fliissen singend, eine Sehn- 
sucht, die in die Zukunft alles legt, was die Gegen- 
wart nicht zu geben vermag, die aus jedem zer- 
triimmerten Stern wie aus einem zerschlagenen 
Bienenstock den goldenen Schwarm der Bienen, 
das sanftigende Lacheln illusiver Sterne fliegen 
laBt und die aus der Hoffnung einen Strom ge- 
macht hat, der alle Knospen des Lebens zur Blute 
treibt. 

Aus diesen Orten tretet hinaus in die bitteren, 
stillen, versonnenen Garten des gegenwartigen 
Werkes. Das Geheimnis des Gebetes wird euch 
in neuem Lichte erstrahlen. Ihr werdet erkennen, 
dafi es abspiegelt die ganze Geschichte der 
menschlichen Seele auf Erden, vom ersten Schrei 
der Zerknirschung und schmerzlicher Verbitterung 
der irdischen Dinge bis zur ergebenen Hinnahme 
des Lebens und der Freude und bis zum letzten, 
ekstatischen hoheren In-den-Armen-Ruhen vor ei- 
nem neuen sieghaftern und schweigsamern Wege. 
Der gesamte klare Bogen geisugen Fluges, uber 
die Jahrtausende gespannt, beginnt vor euch zu 
kreisen. An jeglicher Stelle zittert an ihm in die 
Zeiten der Glanz weinender und wie Turteltauben 
singender Seelen. in der Blute eines blendenden 
Regenbogens erhebt er sich reglos in der Bewe- 
gung der Wolken, die durch seine Sphare hin- 
durchgehen, — Alle diese Stadien findet ihr hier 
abgespiegelt und eingefangen von einer gleicher- 
maBen schmerzlichen wie mitleidigen und lieben- 
den Hand. Ihr erschauet hier die Gesten einer 
ewigen, stummen Trauer, demiitig hingenommen 
wie die Wucht todlichen Schlages ohne Laut; 
mystische Augen vervielfacht wie die Sterne eines 
ganzen Kosmos von Schmerz; aber auch silbeme 
Morgendammerungen und gliihende Augusttage 
geistiger Ernte, wo die Herzen, gleich der Sonne 
entflammt, das gesamte All mit Glanz zu erfiillen 
sich sehnen. Die Umfahung der hochsten Liebe 
ist hier in einer so tiefen und kiihnen Vision sym- 
bolisiert, dafi vielleicht einzig die bildende Kunst 
fahig ist, sie noch auszudriicken, denn das Wort 
fande an solchen Stellen niemals den Mut, zu reden. 
— Und wenn ihr bis hierher gestiegen seid, so 
wird der symbolische Wuchs dieser Linien, der 
vom Wirbelwind des Schmerzes geriittelte, in De- 
mut gebrochene, entwurzelte Wald vor euch in 
den Blitzen eurer Tiefen auflodern und rein, mit 
einer einzigen, groBen, heiligen unbewegten 
Flamme verbrennen, ein Siihnopfer, ewiges Feuer, 
auf immer geschiirt von den Liebenden. 

Und wenn ihr zu der Arbeit der Erde wiederkehrt, 
in die Reihen ihrer Tagewerker, zu den Feuer- 
essen eines Werkes, zu den im Nachdenken euren 
Handen entfallenen Werkzeugen, zu eurer Saat, 
zu den steinigen Feldern eures Erbguts, so erhebt 
ihr euch wie erwacht nach starkendem Traum; im 



Antlitz aller Briider, denen ihr begegnet, gewahrt 
ihr den Abglanz eines geheimnisvollen Angesichts, 
das Grauen und Heil ewigen Glanzens, und 
ihr werdet es lieben. Die Wunden aller Her- 
zen werden euch sein wie Rosenbetten, darinnen 
schlummert und daraus sich erhebt der geistige 
Mensch. Und ihr werdet einen neuen, fruchtbaren 
Schmerz dulden, weil ihr begreifet, wie der Dich- 
ter dieser Zeichnungen begriff, daB die Nagel der 
geheimnisvollen Kreuzigung alle Zeiten und die 
Hiinde aller Gefesselten, Verschiichierten, zu Bo- 
den Gedriickten, nach dem Lichte Schmachtenden, 
vor Durst Vergehenden durchdringen; aber auch 
die aller Giitigen, SuBen, Briiderlichen, Mutigen, 
neue Horizonte ErschlieBenden, allzu friih Gebo- 
renen. 

Und so dies Werk noch mit andern Worten zu 
euch reden wird (starke Kunst redet zu tausend 
Seelen in tausend Zungen), wisset, daB zahllose 
Wege sind, auf denen unsere Seele dem Leben 
dient. Und daB selbst in den Stimmen der Ableh- 
nung und des Widerspruchs, den unsere Worte 
erregen, die ununterbrochene Arbeit der Wahr- 
heit auf Erden unterstiitzt wird. Und daB jedes 
machtige, das ganze Wesen erschutternde Ereig- 
nis, wie es die Begegnung mit einem starken 
Kunstwerk ist, seinen verborgenen EinfluB auf 
die geheimnisvolle Gipfelung, das Zusammen- 
flieBen der Krafte und die Schopfung der geistigen 
Blute der Erde hat. 

(Deutsch von Otto Pick) 

SUBSTANTIV UND VERBUM 
Notiz zu einer Poetih 
Von Franz Werfel 

1 

Den Wert des Verswortes macht seine assozia- 
tive Potenz aus. 

Eindeutigkeit ist der Tod des dichterischen Wor- 
tes, ebenso wie sie das Leben der Prosa ist. 

Das Prosa-Wort schlieBt eine Vorstellung ein, 
die tausend grammatische und syntaktische Mit- 
tel hat, sich mit anderen Vorstellungen in Bezie- 
hung zu setzen. Das Vers-Wort ist diese Bezie- 
hung selbst. 

In der Prosa ist das Substantiv der Trager der 
Betonung. „Er war Landarzt und lebte in einem 
kleinen Flecken der Oberpfalz. u Auch die Beto- 
nung beim Vorlesen ist damit gegeben. 

In der Poesie ist der Trager der Betonung das 
Verbum. Diese Unterscheidung ist selbstver- 
standlich ungemein ubertrieben, aber nur durch 
Obertreibung wird Wesentliches deutlich. 

Das Substantiv des Verses ist vieldeutig, assoziativ, 
symbolisch. Es ist ein GefaB, das es dem Leser 
iiberlaBt, die eigene durch das Verbum des Dich- 
ters aufgerufene Vision einzufiillen. 

„Wo nehm ich, wenn es Winter ist?“ 

Dieser Winter ist tausenddeutig. Und gerade in 
dieser Tausenddeutigkeit besteht sein iiberwah 
tigend Konkretes. Konkret ist nicht, was sinnlich 
eindeutig fa 8b a r, sondern was am assoziativsten 
ist, was mehr Welt in sich hat. Das Substantiv des 
Verses ist delphisch, es hat die innere vieldeutige 



DIE AKTION 





Oberdeutlichkeit, doch auch das Gedampfte des 
Geheimnisses. 

In der Deklamation bleibt es unbetont. 

Das Verbum des Verses ist mehr, ais eindeutig. 
Es ist uberbestimmt und gegen den Leser uner- 
bittbch, denn es ist der Trager der Leidenschaft 
und der Tat. Nicht ist es der Ausdruck eines 
Tuns, sondem dieses Tun selbst. (Da rum ist wohl 
die mittelbarste Verbalform, das Jmperfektum, 
dem Verse fremd.) Das Vers verbum ist von klarer 
sinnlicher Vision, dabei durchaus ubertrieben, er- 
scheint gleichsam immer mit zusammengebissenen 
Zahnen, oder die Hand auf dem Herzen! 

„Im Winde klirren die Fahnen.“ 

Das Verbum des Verses ist im Tun ein Verbum 
militans, im Leiden ein Verbum martyre, immer 
aber cantabile oder furioso. 

Ein guter Rezitator wird dabei fast immer alien 
Ton auf das Verbum legen, denn es ist das dyna- 
mische Regulativ, ZeitmaB und Manometer des 
Verses, und dabei seine hochste Realitat. 

In der Welt, die in der Sprache ihr Gleichnis hat, 
leiht sich das Licht den Dingen. In der Welt, die 
im Vers ihr Gleichnis hat, wirft sich das Licht 
einzig aut die Bewegung, auf den Willen Oder 
aut die Gelenktheit der Dinge, jedenfalls auf ihr 
Zueinander. Die Dinge selbst bleiben gespentisch 
und im Schatten. 

In der Welt des Traumes ist es nicht anders. Den 
Traum erleben wir, tiefer in ihm stehend, als wir 
im Wachen stehn, zugleich doch feme fiber ihm 
stehend. Im Traume ahnen wir die Er- 
lebensart absoluterer Wesen, als wir es sind. 
Die Gegenstande vereinfachen sich in ihrer Form, 
und vervielfachen sich in ihrer Bedeutung. Sie 
werden, indem sie scheinbar den Weg der Ab- 
straktion beschreiten, zu den hochsten Realitaten 
des Lebens, zu Sinnbildem. Dberzeugend zeigtdas 
Strindberg im j.TraumspieF*. Die Kulissen einer 
Dekoration verwandeln sich zu vielen wechseln- 
den Bedeutungen. — Die Buhnentfire wird zur 
Kontorture der Advokatenkanzlei, endlich zurTfire 
des Geheimnisses selbst. Das Bleibende ist, da 6 
immer Menschen vor ihr warten. 

Die Orgel im Hintergrund der Kirche wird zu den 
Basaltsaulen der Fingalsgrotte; gleich bleibt nur, 
dab sie die Stimme der jammernden Menschheit 
und die Stimme der Winde tont. 

Im Zustand des Traumes und der Dichtung, in 
absoluteren Zustanden, ist wirklich allein das 
Geschehen, das Ding aber gleichnishaft und weh- 
leidig zuriickgezogen. 

II 

Schon aus diesen unvoUkommenen Bemerkungen 
erhellt, dafi die Erlebnisformen von Zeit und 
Raum im Verse durchaus verschieden von den 
gultigen Erlebnisformen sind. 

Die dichterische Zeit ist paradox. Sie lauft ab, 
ohne sich von der Stelle zu ruhren. Sie reimt, 
ohne vom Fleck zu kommen, bis an jhr Ende. 
Sie ist eine tumultuare Dauer. Auch hier lebt der 
Bann des Traumenden, der das Ereignis voll- 
bringt, ohne sich hewegen zu konnen. Das all- 



gemeine Zeiterlebnis hat seine ausschlaggebende 
Bedingung darin, dafi diese konventionelle Zeit 
ein Abenteuer ist, nur unbekannte, trotz Hoff- 
nung, Ahnung, Angst, SchluBfoIgerung anbe- 
rechenbare Ereignisse auf ihrer FLache tragend, 
durch das BewuBtsein stfirzt, daB sie ihrem We- 
sen nach unvorhergesehen, daB sie Zukunft ist. 
Ffir das hohere BewuBtsein des Dichters oder 
des Traumenden ist aber das Zukfinftige, ehe 
es noch eintritt, Vergangenheit. Das hat mit 
Weisheit und hoher Einsicht in Kausalitaten nichts 
zu tun, der Traumende und der Dichter erfahrt 
hier die Ahnung eines gbitiichen Attributs, das 
die Theologie „AlizeitIichkeit Gottes <( nennen 
konnte. — Die Aufeinander-Folgen durchdringen 
sich nach einem andem Gesetz, man mag an den 
Schritt zweier gegeneinander gerichteter FfiBe 
denken. 

Die seltene Lebenserscheinung der faux con- 
naissance, das plotzlich blitzhafte „Das habe ich 
schon erlebt“, dieses Phanomen dauert in 
der traumenden und dichtenden Seele, und ver- 
laBt sie nicht Die Zeit, die im Verse dahingeht, 
hat sich schon erfullt, ehe sie abgelaufen ist. 
Sie erlaubt keine Hoffnungen, und wenn Hoff- 
nung ausgesprochen wird, so ist ihr schon be- 
wuBt, ob sie in Erfullung geht oder nicht. Von 
diesem fiberschwebenden Wissen rfihrt die imma- 
nente Schwermut alles Vershaften her. (Auch 
Heiterkeit ist Schwermut.) Das normale BewuBt- 
sein, je tiefer stehend, je mehr, ist sich nur des 
Zufalls bewuBt, das dichterische BewuBtsein, je 
hbher, je mehr, nur der Notwendigkeit. Das Re- 
gime des Lebens heiBt: Zufall (TLXH), zugleich 
das groBte Verbrechen der Kunst, deren Wert- 
maB die Notwendigkeit (ANATKH) ist. 




Georg Tappert 



Zeichmmg 



7 



DIE AKTION 



8 



Ein Zeichen dafiir, daB die Bewegung, das Ge- 
schehen innerhalb des Verses, ein dauernder Vor* 
Rang, gteichsam ein ewiges Sturzen, ein uner* 
miidendes Rasen ist, scheint mir die Art der 
Anwendung des Participiums zu sein. 

Das Participium ist die starkste dichterische Ver- 
balform, denn es ist die Bejahung des Vorgangs, 
der Moment, wo der Dichter dem Unerbittlichen 
sich entgegenwirft, um das Geschehen unendlich 
zu machen. Das Participium iibertrifft bei wei- 
tem den infinitiv an Kraft, weil es zugreifend 
ist, immer bestimmt, immer etwas faBt, und mit 
Leidenschaft im Arm tragt, wahrend der Infini- 
tiv abstrakt ist, einem blutlosen Theoretiker 
gleicht, der im entscheidenden Augenblick aus- 
reiBt. Das Particip ist die angemessene Aus- 
drucksform der Trunkenheit, der Ekstase, der 
Raserei, und der dazu polaren Spanmmgen, im* 
mer aber mit einer kleinen weiblichen Betonung 
von Resolutheit Oder Innigkeit. 

Mir fallt dazu ein, daB Wagners Text zu Isoldens 
Liebestod (fast bis zur Lacherlichkeit) Partici- 
pien aneinanderreiht. 

Eine sehr schone Stelle will ich aus einem Ge- 
dichte der Lasker-Schuler noch hiehersetzen. 
„Und meine Sehnsucht, hingegebene.“ 

Das Substantiv Sehnsucht ist hier mit hoher Ab- 
sicht blaB, madchenhaft verzagend gewahlt, damit 
ein ObermaB von Innigkeit auf dem Participium 
ruhe: hi ngeg ebene!*) Es wird hier bis zur 
Schwarmerei verstarkt durch die Form der Sub- 
sta ntivierung und Postposition, beides an 
die gottliche antike Grammatik gemahnend. 

Die Hingcbung hier will nicht enden, will keine 
Liebeserfiillung; sic ist sich mit ihrer Schwer* 
mut genug, kaum daB sie die Lippen eines Schla- 
fenden kussen will, um weiter zu wachen uber 
Endymion, unverganglich in ihrem E-Laut. 

Hier mochte zu besserem Verstandnis noch eini- 
ges iiber die dichterische Bedeutung der Vokale 
vorvveggenommen werden. Der E-Laut bedeutet 
alles Ebene, alles unendlich als Flache in die 
Feme Gestreckte. Das E hat den sehnsiichtig 
starrcn Blick einer liebenden Fiirstin, die ihr 
Hcrz verschlieBt: Ebene, Nebel, ewig, elend, 
Schnee, Leere, Sehnsucht, Seele. Wie ist dies 
alles ins Unendliche gerichtet! 

Wundervoll korrcspondieren in dem zitierten Vers 
all diese Bcdcutungen. Funf E-Laute treten in 
Beziehung und sammeln sich in dem starren Lie- 
besblick der Verbalform: 

„Sehnsucht, hingegebene/* 

Das Reimwort Ebene, endloser Blick bebenden 
Maudes, weht unterirdisch mit. 

An dieser Stelle ist die Sendung des Participiums 
vollauf klar, die Verewigung des Zeitlichen. 

Ill 

Dichterischer Raum ist geometrisch gesprochen 
die Beziehung aller Punkte zu alien Punkten, jedes 
einzelnen zu jedem einzelnen; also im Verse die 
Beziehung jeder Association zu jcder Association. 
Vollendet wird ein Gedicht nur dann sein, wenn 

*) Ein Wort nur, und die herrlichste Kantilene. 



kein Teil ohne Gegenteil bleibt, kein Wort seine 
Hande ins Leere strecken muB. Der dichterische 
Raum ist absolute Gebundenheit. 

Ich bin mir selbstverstandlich bewuBt, daB mit 
dieser rationalen Formel nichts vom Geheimnis 
ausgesagt ist. I>er dichterische Raum ist zu ver- 
gleichen mit groBem hallenden Hausflur, mit dem 
Innem eines Domes, wo jedes Lispeln, jeder 
Schatten, jedes Bald und Gerat sein Echo hat. 
Der Wert dieses Raums beruht in der Armut 
seines Reichtums, in der Kargheit seiner viel- 
deutigen Gestalt. Ebenso wie beim Substantiv im 
Dunkel, im Ratsel, im ZerflieBen. Seine Gegen- 
stande mussen sich sanft wehren gegen die Rase- 
rei des Zeitlichen, so wie das Dunkel einer Kirche 
sich gegen den Farbenrausch derfestlichen Menge 
und gegen die Stiirme des Gesanges zu wehren 
scheint. 

Also der Raum eines Gedichtes, das die Dinge 
deutlich und eindeutig aussagt, mag in ihnen die 
Zeit triumphierend ihr Wesen vollenden, ein sol- 
dier Versraum ist unvollkommen, weil er das 
Gesetz der Beziehung nicht erfiillt und das Gegen- 
standliche vereinzelt. (Dies ist oft der Fall in den 
Gedichten von F.W.) Es liegt hier die tiefste Ge- 
fahr des Pathetischen, die Entwurzelung. Wenn 
das Gewebe nicht in uberbewuBter Logik sich 
selbst halt und balanciert, so schnellen elastisch 
die Faden einer nach dem andem zuriick, die so 
entstehende Unruhe beginnt sich selbst zu miB- 
trauen, und die Folge ist, wie bei jedem Selbst- 
miBtrauen, Angriff, Appell nach auBen. 

Das Extrem dieser Krankheit ist das b5s Rheto- 
rische, das giinzlich undichterisch ist, weil es sei- 
nen Raum aus abstrakten unassodativen Mauern 
baut. 

Alle lyrischen Revolutionen (in Ermangelung an- 
derer) handeln von Abkehr und Wiederkehr zur 
Strophe. Die Pramisse ist immer falsch, denn 
sie heiBt „konventionelle Architektur'*. Der freie 
Vers wird gegen die vierzeilige Strophe, die vier- 
zeilige Strophe gegen den freien Vers immer wie- 
der neu erschaffen. Ob aber geleugnet oder ge- 
huldigt wird, diese konventionelle Strophe ist 
durch keine adaquate, gleich machtige und all- 
gemeine Form ersetzt, so verschweint sie auch ist. 
Alle Reformen sind eben Reformen, geboren aus 
Willkiir und nicht aus biologisch genialer Not- 
wendigkeit. Es ist nicht wahr, wie vegetal isclie 
Pantheisten meinen, daB man Gott am besten un- 
ter freiem Himmel anbetet. Gottes-Dienst ohne 
Gottes-Haus ist paradox. Gott muB Mensch wer- 
den, um in Erscheinung zu treten. Die Grenze 
ist die Bedingung der Dffenbarung. 

Ich glaubean die Geburt einer neuen strophischen 
Dichtkunst, die ganz frei sein wird von der scho- 
lastischen Symmetric bisheriger Architektur, aber 
ebenso frei von der Zufalligkeit der aus dunklem 
Widerspruch kommenden, sidh selbst nicht bewei- 
senden, immer auch anders mbglichen, permu- 
tationsfreien Emeuerung. In der modernen Lite- 
ratur haben solche Strophen Holderlin (in den 
Hymnen), Poe und Swinburne geahnt. 




DIE AKTION 



9 




» 



MUSSET 

Ton Andre Snares 

Einziges Schicksal, dusterer Todeskampf: Musset 
ist ziemiich jung gestorben, er war kaum 47 Jahre 
alt: und doch hat er sein Werk um 17 Jahre 
uberlebt. Man hat Angst, daran zu denken; und 
dennoch ist es wahr, daB er mit 30 Jahren fertig 
war mit schreiben. Vom zwanzigsten bis zum 
dreiBigsten Jahre hatte er alles gemacht, was er 
machen muBte. Er hatte nur noch zu verschwin- 
den. Man regt sich auf uber solch einen Ober- 
fluB, gefoigt von einer solch en Sterilitat. Man 
begreift alsdann, warum Mussets Werk in seiner 
Gesamtheit so reich erscheint und so vergeblich, 
je nachdem man die Versprechungen betrachtet 
Oder den vollendeten Fehlschlag. 

Ein Kind ist niemals Kiinstler, ebensowenig wie 
eine Frau. Die Kunst ist ein Gott, dem man allein 
dienen muB, um ihn zu erkennen. Der Chorknabe 
spiel t, wenn er die Messe bedient. Die Ehrfurcht 
genugt nicht. 

Der Geist bewahrt Musset, und selbst bisweilen 
seine Verse, vor einer so klaglichen Leichtigkeit. 
Er hat die Beweglichkeit und den reinen Akzent, 
der aus der Touraine stammt. Obrigens ist er 
sehr viel weniger leicht in der Prosa, wo er Reim 
und Zasur verlassend seinen Rhythmus verandert. 
Wenn man ihn nicht mehr wird lesen wollen, wird 
man doch immer sein Theater lesen, das von einem 
so reizenden Geschmack ist. Die Erfindung dabei 
ist kostlich. Da ist er EHchter. Das Theater 
Mussets ist das einzige seines Jahrhunderts: es 
dauert fort durch die Erfindung und den Stil. Es 
kommt von Rousard und Watteau. Alles darin 
ist jung mit der sussen Bosheit der Jugend und 
diesem grunen Reiz des Friihlings, der das Blatter- 
treiben des Wunsches ist. Hier allein findet man 
in Frankreich die Phantasie, die befliigelte An- 
mut und den Reiz Shakespeares. Die Liebe geht 
voruber, und ihr Schatten ist iiberall, dieser dop- 
pelte Schatten bei Sonne und bei Mond, der 
aus ein wenig narrischer Zartlichkeit gebildet ist 

und lachelnder Melancholie. 

(Deutsch von August Bruch er) 



ABSCHIED 
Vo n Max Ekkamp 

Nun aber, ach, schon kam die Zeit 
Zum Abschiednehmen — bis zum Flieder! 
Von meinem Ha us, und seiner Glieder 
Schattigstem, stets fur mich bereit. 

Denn nun offen liegt jedem, in Leiden 
Meine Seele, von keinem beklagt, 



Fur das Wortlein, das hier ich gewagt 
Aus meinem Gedanken an kiinftige Freuden. 

Jetzt zur Strafe mir, oder zum Heil 
(Denn noch betet dafiir die Gemeine) 

In meinem Hofe schon liegen die Steine! 

Und auf der Stirne die Fliege, mein Teill 

Dann im Tage das Kunterbunte 
Von Augen; Spahern (Noch ein? schon aus?) 
Nach alien Fenstern in diesem Haus 
Und von Kehlen, die grob sich ermuntern. 

Zu verlachen in mein Gesicht, 

Meinen Glauben, das stumme Geschleppe 
Vor Pilatus. Und dieser (an meiner Treppe) 
Wascht sich rein — und das Urteil mir spricht 

(Berechtigte Nachdichtung von Paul Adler) 



WIR 

Das blonde Licht zerstaubt sich uber Trummer- 
statten. 

Wir stehen still und walten vor dem Blauen 

mit Herzen, die nichts aus sich retten 

als Angst des Endes und das letzte Grauen. 

Ham GatHmann 




Menachtm Bimbaum 



Halluxination 




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DIE AKTION 



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DER NEUEN HOLLE VL OESANO 

Von From WerfeL 

Das Caf€ der Leeren 

Wie um uns noch die riesige Babel rollte, 

Auf Schienen tollte, in Kaminen schrie, 

Hob mich mein Lehrer, wo’s schon femer grollte. 

Kurzatmender die Strafie stieB und spie. 

Ins Schattenatmen schwindend einer Treppe 
Hort fern den Feind ich, mein Schritt, wie niel 



Eh noch der Sinn sich selber unterschieden, 
Stand ich in einem scheuBlich strengen Chor. 
In Kreisen donnernd, die einandei 1 mieden. 

Nach alien Seiten vor und hoch empor 
Unendlich angereihte, kreisten hohnten 
Schwarz Fliegenvolker ans verlorne Ohr. 

Mit jedem Nu die Kreise schwarzer drohnten 
Und stiegen auf und ab im lauten Rauch, 

Den sie wie mit Metallen uberstohnten. 



Auf einer Hohlung hohnte sein Qeschleppe, 

In einer Odnis donnerte sein Beil, 

Es war ein Saal und dennoch Rauch der Steppe. 

Der Andere schrittlos sprach mir ein Verweil! 
Ich sah vie! Wolkentum zu Haupten kochen 
In das ein Licht schlug abwarts grauen Keil. 

So war verwesender Himmei unterbrochen 
In diesem Saal von einer Lamp Unmut 
Mit Sklavenstrahlen kam sie angekrochen. 

Die schlichen ab, wie ein Gepeitschter tut. 

Ein Summen, Surren, ungeheures Sieden 
Erfullte mich und Traum wie Kesselsud. 



So war durchraumi des Saals verwester Bauch 
Von einem Raum, den setbst das Grab nicht bildet, 
Kein Atem der Natur glich seinem Hauch. 

O Traum, in dem sich dieses Feld gefildet, 

O Traum, da dennoch Saal im Nebel lag, 

Sich Wiiste wiistete und Wildnis wildet . . . 

Mein Atem, der ins Herz davor erschrak, 

Begann zu wanken, daB ich fast erstickte, 

Und meine Kreatur dem Schwall erlag. 

Doch der Erhabene seinen Blick mir blickte, 

Hob an die Gnade seiner Haltung mich, 

DaB ich mich wusch, und endlos neu erquickte. 




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DIE AKTION 




„Ist dir so fremde dieser Ort hier, sprich, 

Da 8 sich das Leben qualt durch deine Kehle? u 
So sprach er und befahl: „Sieh nur um dich!“ 

Alt im Gewolke wiederland sich Seele, 

Und der Gestank war plotzlich mir vertraut, 

Als ob ich selbst — ein Irrwisch — ihm entschwale. 

An Tischen sitzend hab’ ich sie erschaut, 

Mir fremd im Traura und Traums mir Tief- 

bekannte, 

Sie sa6en da von lauem Dunst umbraut. 

Den Starrenden das schlaffe Antlitz spannte 
Ein schiefes Grinsen mit verruchtem RiB, 

Das nicht sich von gestulpten Munden wandte. 

Das Haar im Weichselzopf, braun das GebiB 
Von ihren Lippen hing in grofien Trauben, 
Langsamer Fliegen eine Finsternis. 

Nicht konnte Wachen sie des Schlafs berauben, 
Kein Schiaf noch raffte je ihr Wachen hin, 

Die Zeit um sie war sichtbar, war ein Stauben. 



Ich aber fuhlte selbst mich mitten drin 

In ihrem Qualm und trug den Kranz von Fliegen 

Verfallenen Hauptes schon seit Anbeginn. 

Ja, eine Wiiste war ich. Und kein Liegen 
Kein Stehn und Wandeln fullte mein Gebein. 

Kein Wort der Erde nennt mir das Versiegen, 

Das sich in meine Quelle brannte ein. 

Ich schwand und blieb. Ich war derLeib der Leere, 
Nichts, nichtiger als Nichts, noch dessen Schein. 

Im SchoB trug meinenLeib ich, fremde Sch were, 
Wie harter Kot hing er an mir hi nab, 

Und in mir starrte scheuBlich trage Sphare. 

Unendliche Verwesung, Stank und Grab — 

Dies jubiliert noch — hatte ich vergessen 
Jegliche Riihrung Lebens, die es gab, 

Als wire ich von je schon hier gesessen, 
Unsterblich, wie die Hutte, die mich rief, 

Nichts, dennoch seiend ! Spuk von GotterspaBen ! 




Christian Schad 



Zeichnung 



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DIE AKTION 



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VERSE VOM SCHLACHTFELD 
Aussicht 

Ein blauer Rauch ringelt sich zart aus der Erde 
Gleich daneben hangen Brombeerranken. 

Ein Baum hat nur noch zvvei Arme. 

Der Wind klappert in der losen Wildnis. 

Laufroste kleben von Lehm. Die Ratte tritt heraus. 
Uber die Faschinen des Grabens hangen verfaulte 

Sandsacke 

Die wieder zu Erde werden, von der sie ge- 

nommen. 

Die Baume sind bedeckt mit queren Striemen. 



Der Unterstand ist Bauch eines Schiffes. 

Sein Beton sieht aus wie vergroBerter Streusel- 

kuchen. 

Der Himmel erhebt sich in blauer Erhabenheit. 
Granaten hauchen voriiber. Zaunkonig singt ein- 

sam und hold. 



DAS PLAKAT 



Wilhelm Klemm 



Friih, wenn der Abendmensch ist eingepfliigt 
Und brockelt mit der kalten Stadt im Monde; 
Wenn Logik nicht im ethischen Konnex, 

Nein, kategorisch wuchtet; Mangel an Aufschwung 
Bejahung stankert, Klammerung an Zahlen, 
(Zumal wenn teilbar), Einbeinung in den Gang 
Nach Krankenhaus, Fabrik, Registratur 
Im Knie zu Hausbesitzverein; Geschlcchtsbejahung, 
Fortpflanzung, staatlichem Gemeinsystem 
Ingrimmige Bekennung, — 

Trostet den Trambahngast 



Allein das farbenprachtige Plakat. 

Es ist die Nacht, die funkelt. Die Entriickung. 

Es gilt dem kleinen Mann: selbst kleinem Mann 
Steht offen Lust zu! Stadtisch unbeheiligt: 

Die Einsamkeit, die Heimkehr in das Blut. 
Rauschwerte werden offentlich genehmigt, 
Entformung, selbst Vergessen der Fabrik 
Soil zugestanden sein: ein Polizist 
Steht selber vor der einen LitfaBsaulel — 



O Luftung! Warme Schwellung! StirnzerfluB ! 
Und plotzlich bricht das Chaos durch die StraBen: 
Enthemmungen der Locher und der Liiste, 
Entsinkungen: Die Formen tauen 
Sich tot dem Strome nach. — 

Gottfried Bcnn 

DER ABEND AN DEM FENSTER 

Dies sind die seltsainsten von alien Sti'.nden, 

in denen es von lichtgrau stiller Gute 

aus dcinen Worten rann und rann 

und gliihte. 



Und alle Worte waren wie Gesang, 
wie junger Madchen halbbewuBter Gang 
und ebenso vor neuen Wundern bang .... 

. . So sahn wir lachelnd sich die Dinge runden 

und untersinken in dem schmalen Dampf 

der abendlichen goldgezackten Stadt, 

die ihre Briiste zu den Nebeln rang 

. . In unsren Handen war vielleicht ein Kampf 

urn diese Zeit .... sie hingen wartend mat t, 

wie junge Kinder zahlten sie die bunten 

weinroten Blumen und die blauen Gange 

des Teppichs. Was die Kopfe sannen, 

vergaBen wir. Es kamen nur Gesange 

des Abends her. Es drangen 

die ungelebten Stunden in uns ein 

und traufelten wie uberbrannte Kerzen 

auf unsre Hande .... 

die sich finden werden. 

So hab ich nun den Stolz der wachsenden Ge- 

barden, 

das Blut der ungestillten groBen Schmerzen 
und jenes vvundersame Gluck, das viele starke 

Stadte 

wie wilde Hecken um dich bliihn, als hatte 
ein Sehender sie hier gepflanzt, damit sich keine 
der HaBlichkeiten noch hiniiberrette 
und tciiber werde deine groBe Reine. 

Kurd Adler 

DEIN HERZSCHLAG HAT NICHT EINEN 
WIDERHALL! 

Was les ich Bucher, der ich alles dies schon weiB : 
Wie man Kind ist, enttauschter Jiingling, Gatte, 

Witwer, Greis . . . 

Wie da und dort ein Buchstab' fehit im Alphabet 
fur einen Laut, der aus gequalter Kehle weht! 

DaB Bilder bleichen . . . daB in Kriigen Trug 
im Brot Verzweiflung wachsen kann , , . daB wie 

ein Zug 

kaum angeschauter Vogel die Gedanken sich nicht 

fassen 

und die Veiiockungen sich erst nach deinem 

Hollensturz erlosen lassen! 

Und iiberall die Feinde warten, daB du fallst; 
und iiberall aus nichts dir Schmahung spirit 
vom Schild den letzten Schmuck vor Gott! 

Im Kot der Gasse deines Dorfes walzt 
der Einzige, der deinen Herzschlag fiihlt, 
sich vor dem Pobel als ein Schanken-Spott. 

Max Herrmann (Xeisse) 



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DIE AKTION 



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DIE GRE1SE 

Von J ungem blieb uns nichts, von vielem Feuer 

sind wir ausgebrannt, 

Wir stehn allein im Traum der langen Abende, 

Und nur die vveiBen Wurmer, weiche, mit den 

Riisseln stetig schabende, 

Leben in irgendeiner Tur und alten Wand * . , 

Was uber unsre Hande huscht, ist Grau und das 

Verebben 

Von tragem Blut, das blau durch hochgehobne 

Adern geht, 

Zuweilen wie von alizulanger Wandrung steht, 
Zuweilen horcht, als rausche ihm das Knistern 

weicher Schleppen. — 

Und das rauscht lange noch in Schlaf und Schlag 

der Uhren, 

Und geht nicht welter und bleibt lange da und 

stort 

Den schmalen Leib, der keiner Beigelagerten mehr 

angehort, 

Der fremd in sich, vereinsamt, tief verschwiegen, 
Sich manchmal aufbiegt, um noch lasiender zu 

liegen 

Auf kuhlen Damastdecken mit des in den Schran- 

ken allzuvielen Lagerns gel ben Spuren. 

Anton Schnack 

ZWEI SILVESTER POEMATA 
Yon Hieronymus Stiirgkh 

{Far FVtmx Wrrftl) 

Klagelied des Billard 

Wie ich es has se griin zu sein! 

Wie es mich traurig macht, ist nicht zu sagen. 

Fallt denn den Menschen niemals ein, 

DaB auch ein Billard sich will modisch tragen? 

Warum nicht wie die Veilchen blau? 

Selbst rosafarben ware nicht so graBlich, 

Ja meinetwegen sogar grau, 

Nur nicht mehr griin, — es macht mich dick und 

haBlich* 

Und dann das ewige Einerlei 

Nichts als das eine griine Kleid zu haben, 

Man wird davon ganz menschenscheu, 

Man traut sich kaum auf Kohlmarkt mehr und 

Graben, 

Mit Fingern zeigt man schon auf mich, 

Komm langsam ich die StraBe promenieren, — 

$' ist eine Qual ganz fiirchterlich, 

Man mocht doch gerne unbemerkt spazieren! 

Die Ballade der StraBenlaterne 

Es ist der reizendste Beruf zur Nacht, 

Doch der langweiligste ist er bei Tage. 

Sie ahnen nicht, wie stumpfsinnig es macht 
— Versetzen Sie sich nur in meine Lage — 

Man steht am Straflenrand, entbloBt vom Zwecke, 




Egal ob in der Zeile, an der Ecke: 

Man steht im Weg, ein Funktionar 
Ohne Funktion. Ja, wenn da nur was war, 

DaB man sich setzen konnte! Nein, man steht 
Steif wie ein Pfahl. Von friih bis spat. 

* 

Dann aber, wenn das Dunkel niederfallt, 

DaB wir wer sind, bekommen wir bestatigt 
Von dem Passanten, der sich an uns halt, 
Mancher verweilt und wird gar sehr vertraulich 
Sagt Du zu uns, erzahlt von seiner lieben 
Familie und was sie mit ihm trieben, — 

Es ist im Ganzen nicht gerad erbaulich, 

Doch intressant, besonders wenn man ledig. 
Dann isfs ein Liebespaar, das bei uns halt, 

Und gern zu dienen sind wir dann erbotig, 

Wenn er das Geld in seiner Borse zahlt, 

Teils weil sie gerne ins Theater girigen, 

Oder weil sie schon irgendwo wie waren, 

Und er, da andre Mittel nicht verfingen, 

Die Sache abmacht nun mit gutem Baren, — 

Ja ja, wir machen in der nachtgen Landschaft 
So leicht wie gern die netteste Bekanntschaft. 




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DIE AKTION 



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Doch sind wir damit fur die Nacht entschadigt? 

O Menschenfreund, beklage unser Los! 

Bei Tag sind wir fur alle die erledigt, 

Die nachts sich trosteten in unserm SchoB. 

Alle acht Tage kommt ein stummer Knecht, 

Legt eine Leiter an, putzt unsre Glaser, 

Und ruckt in uns noch dies und das zurecht — 

LaB Dich dies Dasein ruhren, lieber Leser! 

Kein Werfel hat sich unsrer angenommen, 

In keinem Jammes sind wir schon vorgekommen. 

Geleit: 

Wir armen Baume ohne Blatt und Ast, 

Wir griinen nicht im Lenz und wir vergelben 
Im Herbste nicht, sind immer ganz die selben. 
Kein Vogel singt in uns, kein milder Gast 
LaBt sich in unserm diinnen Schatten nieder, — 
Wir armen Stiimpfe ohne Laub und Lieder! 

EILOFF DER UNBUSSFERTIGE 
Oroteshe von Mynona 

„Nichts,“ sagte Adam ; er wischte sich den SchwciB 
von der Stirn und lachte geargert. Wie leicht 
hing nun der Himmel uber ihm, und in ihm 
begann es zu klingen. Die boshafte Landschaft 
stichelte um die Hiitte seiner Liebsten, einer 
braunen Fee mit sogenannten Elfenknocheln, die 
unmittelbar auf die Mannsleute wirken. Adam 
kannte sich aus. Er hatte einen dicken Onkel, 
genannt Midas (wegen komischer Eheaffaren); 
der hatte Geld und gab ihm zu leben. Da hatte 
er sich diese Braune erworben und lebte mit ihr 
stillf riedlich unter Bauern dahin. Die Luft roch 




Japamecher HoUschnitt 



um die Vesper nach Diinger und Kaffee. (Jetzt 
erlauben Sie mir eine kleine Abschweifung.) 

In alten Zeiten, als es schummerig war, und die 
Menschen sich noch nichts auf sich selber ein- 
bildeten, ging einst ein Kind auf den Fischfang. 
Es fing drei Aale, und die Familie wurde satt. 
Nach dem FraB traumte der Vater: 

Venus entstieg, es dammerte, 

Mondiiberhaucht dem Meer, 

Poseidon, der Belammerte, 

Schnob dicht hinter ihr her. 

Lila lali lilo 
Er wog 380 Kilo! 

Die Mutter: 

Lag auf dem Estrich 
Ein Haufen Mostrich? 

Senftone, die trostreichen, 

Verdichtet zum Breichen, 

Wirkten so klostrig! 

Du allein! Du allein! 

Darfst mich frein! 

Komm! Junker mein! 

Diese kurze Unterbrechung leitet zwang- 

los zum Folgenden iiber. Denn Adam- und die 
Braune liebten es, in alte Zeiten (und auch son st) 
auszuschweifen, und oftmals gingen solche Lieder 
durch ihre Kopfe, zuweilen auch laut durch ihren 
Mund. Vor der Jelangerjelieber-Laube sammelte 
sich dann die Dorfjugend und sang den Refrain 
mit, obgleich der Lehrer grim dazu sah. Der 
Lehrer aB gern geschmorte Hagebutten; eine 
Liebhaberei, in Verfolg deren er alien Respekt 
einbuBte, Sie ahnen nicht ohne Grund, daB die 
Braune auch dem Lehrer einleuchtete. Interessiert 
Sie das Liebesgedicht eines Dorfschullehrers ? 
Hier: 

Dir! Und schon zischt Feuerschlange 
Zwischen deinen sprodcn Knbcheln — 

Dir! Wie lange schon! Wie lange 
Gilt mein letztes Rocheln. 

Lehrer sterben nie vor Liebe, 

Sie beherrschen ihre Triebe — 

Mochts in ihren Lustkaldaunen 
Unaussprechlich auch posaunen — 

Horst du nur ein leises Raunen! 

Oh, du Niedliche! 

Streng Appetitliche! 

Hold Gemutliche! 

Ubersudlicbe 
Braune 1 



DIE AKTION 



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Bist meine Laune, 

Mein Los, mein Bronnen, 

Mein Sinnen und Sonnen 

Adam fand dieses Gedicht im spinnwebdunnen 
linken Strumpf des Madchens. Es tut mir leid. 
In gewissen Fallen gibt es keine Konzessionen. 
Er erhangte sich in der Scheune. Der Lehrer 
schnitt ihn ab, es war ein Akt lautlosen Edel- 
mutes, und Adam dankte ihm damit, daB er tot 
blieb. Es war das Tages- und Nachtgesprach; 
der Lehrer trostete die Braune stunden- und tage- 
iang. Endlich kam Onkel Midas, um die Leiche 
ins Erbbegrabnis abzuholen. Die Schuler sangen, 
vom Lehrer dirigiert, ein trauriges Lied. Hier 
ist es: 

Wenn der Jiingling sich erhangt hat 
Und des Lebens schmutzgen Becher 
Sauberlich fein ausgeschwenkt hat, 

Bleibt er immer noch ein Zecher. 

Hei! Er liegt mit offnen Augen, 

Offnem Munde, offnem Warns, 

Endlos in sich einzusaugen 

Tod mit Wollust leeren Schwamms 

— — — am ms — — — anuns — — — 

Hochgeboren, unbetagt 

Liegst du bleich, von uns bekiagt! 

Audi die Herzen durftger Bauern 
Spuren ehrerbietges Trauern 
Um des Midas selgen Neffen, 
den sie jetzt aul Tod betreffen. 

Ach! Nach sotchem Graunedebnis — 

Ab mit dir ins Erbbegrabnis. — 

Midas weinte. „Wer hat das Lied verfaBt?" er- 
kundigte er sich. Der Lehrer verbeugte sich. 
Midas wotlte heftig losschnauzen, kapitulierte vor 
der Naivitat mit Glucksen, das sogar nach Bei- 
fall klang. „Warum hat er sich erhangt ?“ — 

Meldete sich die Braune Midas! Midas! 

Midas sagteseinen Leuten: „Pfarrer Schnatzke soli 
am Grabe sprechen; ich kame bald wieder/ 1 
Dann schlang er seinen ausgemergelten Arm um 
die verwaiste Braune. „Zwi$chen einem bluhend 
schonen, aber toten Neffen und einem alten, aber 
lebendigen Onkel ist die Wahl gar keine Qual, 
nicht wah r?" Die Braune polkte sich die Tranen 
weg und lachelte nicht schiecht. Midas — ge- 
wonnenes Spiel! — verschwand mit ihr in der 
Hutte. Weshalb das Schicksal ihn qualte, konnte 
der Lehrer nicht entratseln. Tief in der Nacht las er 
immerfort „ Wilhelm Tell“ (Auf die Feuerge- 
fihrlichkeit „ Wilhelm Tells 1 ' muB immer wieder 
hingewiesen werden .) Oegen Morgen brannte die 



Hiitte ab. Um die eingeascherten Leichen von 
Onkel und (sagen wir) Nichte tanzte der wahn- 
sinnig gewordene Lehrer und rief (man weiB nicht 
warum) : „Ich bin Eiloff! Eiloff der UnbuBfertige! 
Eiloff ! Eiloff! Der UnbuBf “ 

TRAUM DES 888. NACHTREDAKTEURS 
Von Albert Ehrenstein 

Und Schahrazad bemerkte das Grauen des Tages 
und hielt inne in der verstatteten Rede. Doch 
a Is die achthundertachtundachzigste Nacht da war, 
fuhr sie also fort: „lch vemahm, o gliicklicher 
Konig, daB im Lande der besoffenen Strome aus- 
nahmsweise ein geiemasiger Jiingling lebte, der 
gem im Schlafe ertrank, und da er wenig ar- 
beitete, Hunger trieb. Seine Sehnsucht und Be- 
gierde ging gleichwohl nach dem Faulen uner- 
reichbarer Gewiirze, und wegen dieser seiner 
dicken Gewohnheit nannten ihn die Unglaubigen 
Schinkenstem. 

Als er eines Tages seinen Magen nach den Mar- 
zipaninseln traumwandeln lieB, iiberfiel ihn ein 
Schnellzug und lieB nicht ab, ihn davonzutragen, 
bis alle Kohlen verdampft waren. „Dies ist nicht 
das Land des Safrans und der Wohlgeriiche," 
jammerte der Entfiihrte, als er sich nach einem 
wahnwitzig schrillen Pfiffe in einer robusten Halle 
ausgesetzt sah. Weil es notwendig war, brach 
er die Dammerung seines Geistes ab und suchte 
nach einem Sofa, wo er sein Haupt niederlegen 
konne. Weiter strichen seine Plane nicht, und 
indem er an einem Hotelportier vorbeiging, er- 
reichte er es, mehrere Meldezettel ausfiillen zu 
diirfen. Nachdem er diese Damon en besiegt hatte, 
warf er sich in den Schlaf, ob ihm vielleicht 
die Deutung der zu erwartenden Traume seine 
innersten Gedanken enthulle. Doch der Schlaf 
spie ihn riicksichtslos, traumlos wieder ins Leben 
a us, und als der Ungluckliche zum abertausend- 
sten Male klaglich im Raume erwachte, veran- 
staltete er einige Augenblicke der Besonnenheit. 
Aber ehe er etliche Verniinftigkeiten ausgeheckt 
hatte, verdrangte der Schrei nach einer Butter- 
semmel das Gekrachz seiner Seele. Als er dann, 
noch verdauungsmatt, seinen Kopf aufzusetzen 
versuchte, fand sich dieser nicht, und so beschloB 
er, seine Leiblichkeit vorlaufig dem Hin und Her 
des Zufalls zu sChenken. Keinesfafls war er 
jedoch geneigt, allzu hiindische Arbeit zu tun 
und wollte lieber die Verhandlungen mit der 
Erde abbrechen. Er begann also iiber die Ober- 
flache der fremden StraBen als ein gemaBigter 
und nicht ganz zielloser Spazierganger hinzu- 



23 



DIE AKTION 



24 



gleiten. Seine Augen grasten ruhig die Er- 
scheinungen ab und fielen schlieBlich in die 
Blatter, aus denen sich zahlreiche Toren iiber den 
Gang der Gestirne zu unterrichten versuchten. 
Da schlug in ihn ein schnelles Erinnern, und 
seine futterwitternde Geiemase, die ihm aus einem 
Spiegel entgegengrinste, bestarkte ihn zu einer 
seellosen Zeit in gewissen Betrachtungen. 

Er besaB zwar keine Feder der Fiille, aber an 
Schalttagen drangen tollkluge Worte aus ihm. 
Wenn er auch bezweifelte, daB diese seltenen 
Schalttage je ein ganzes Jahr anstecken wurden, 
war er sich doch einer bescheidenen Kenntnis 
einiger, aber bei weitem nicht aller Gesetze der 
Interpunktion bewuBt, und verdammte sich kalten 
Herzens dazu, von seiner Durchschnittssprache 
zu leben. Dieszwecks legte er Zylinder an und 
ehe er sich noch hatte warnen konnen, verscholl 
er in einem Verlagsgebaude. Er hatte besser 
getan, sich des Zephirs der Welt zu berauben. 
Denn als er vor den Joumalisten der Zeit trat, 
zersetzte ihn der Druckgewaltige folgender- 
maflen: „Du gehorst zu den weltfremden Sirius- 
ochsen und bildest dir zwar nicht den Besitz 
des Stilmonopols ein, bist aber trotzdem stolz 
darauf, als erster den Ipunkt unter dem I befestigt 
zu haben. Ich kann jedoch nur eine recht- 
schreiberische Schreibmaschine brauchen.“ Da 
lieB sich der Verrater Schinkenstern sterben, er 
antwortete: „0 Konig der Zeitung, ich hore und 
gehorche. Ich war ein I frit von den Marids der 
Dschann und bin bereit, den Eid auf das Zeilen- 
honorar abzulegen. Ich habe es eilig, ins Nichts 
zu hasten. Ich war mitunter die Zunge der Dinge. 
Werde ich es weniger sein, wenn ich mich zur 
Stimme des Rindviehs mache? Moge ich bald an 
einem Druckfehler sterben !“ „Ich sehe, du ge- 
horst zu den schwachen Zugtieren, die, statt ein 
Ende zu setzen, ihren uniiberwindlichen Magen 
anklagen, o Halbdichter!“ 

Es wird berichtet, daB der Geiernasige zunachst 
als Besprechungsliterat versank, einer jener vielen 
Kritikastraten und Verschnittenen wurde, die eifer- 
siichtig den Harim. des Ruhmes bewachen. Er 
ward eine kahle Negation, legte sein Gehirn blofi, 
exhibitionierte mit der raschwachsenden Glatze 
der Weisheit, aber seine Seele war im Ubersatz. 
Er schrieb nur Kartoffeln, und die Worte der 
Dichter verdienten, mit Nadeln in die Spitzen 
seiner Augenwinkel geschrieben zu werden. Da 
bemerkte er endlich das Graue seines Tages und 
hielt inne in dem verstatteten Leben. Allah, iiber- 
setzc ihn nicht! 



ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS 
XXXVIII 

„Tod durch den Strang!* Vicr Worte wie Blei . . . 

„Tod durch den Strang — was ist weiter da bei? 

Nicht mehr, als daG man im Regiment 
Einen Namen Loscht und weniger nennt.“ 

Der Richter winkt ah: „Wir loschen ihn schon. 

Dein Deutschland soil folgen. Hinweg den Spion.“ 

Link sum in den Hof der Haftiing schwenkt. 

Er Uehelt, wenn er des Richters denkt, 

Er lachelt, wie er den Galgen gewahrt. 

„Nur Wahnbild ist 's um die Todesart, 

Ob tm Feld oder hier — ich fall vor dem Feind. 

Mein Fahnenschwur hat nur ein Sterben geraeint.* — 

Und er denkt der Tage, im Wald durchwacht, 

Und der Nfichte, die er wandernd verbracht, 

Und des Meeres, das er als Knecht durchquert, 

Und der feindlicben Hfifen, von Panzern bewehrt, 

Und des Forschens und Findens, jeder Schritt turn Grab — 
Und der Klippe, von der er die Zeichen gab. 

Es zogen vie! Dampfer mit Pulver und Stahl. 

Da gab er das Zeichen zum e r s t e n Mai. 

Voll Trtlmraer die See l Und die Brlider verschont — 

Und wiedcr das Meer im verdunkelten Mond. 

Vieltausend an Bord. Sein Zeichen schien . . , 

Und ein Sterbeschrei ! Und dann ftngen sie ihn. 

Und willjg legt er den Weg zur tick, 

Sein Auge leuchtet, als sSh es das Gltlck, 

Als sSh es die Graven, die treu er bewahrt, 

Als s&h es den Feind auf der Todesfahrt, 

Des Vaterlands Feind, den er niederschlug t 
O Eh re, o Ehrc, das sei dir genug ! — — 

Hoch liber ihm b&umt sich der Galgenstock. 

Er lachelt: „Ich trage kein Kreuz am Rock w . . . 

Noch hort er im Ohr: „ Hinweg den Spion 1“ 

Der steht, als sittnd er auf goldenem Thron, 

,, Deutschland soli leben 1 1* 1 und schreitet weit 
Von der Leitersprosse zur Ewigkeit. 

Bruchstuck ana einem Qedicht; „Der Spton* f doe 
Herr R. Herzog am 24. Dezembcr des Jahres 1916 
in der Weihnachtsnummer des n Berliner Lokal- 
Anxeigeri 4 * drucken lassen konnte, 

KLEINER BRIEFKASTEN 

Iierrn Theodor Wolff, Chefredakteur des „Berlincr Tageblaits 1 *, 
Seit dem Begin n dieser umfangreichen Zeit ist llinen wohl nie- 
mals der Gedanke gekommen, Ihren Namen von der Stirn des 
. B. Ts. u wischen zu lassen. Neunundzwanzig Monate lang haben 
Sie eine Zeitung derartig geschickt zu redigieren vcrmocht, dafl 
dieser Zeitung der „Ulk* eine p&ssende Beilage blciben konnte. 
Nun ist gewiii die Mehrzahl der Menschheit von sanfter Nach- 
sicht gegen ihr Leiborgan und vergiGt gern bei der Lektttre des 
Abendblatts den Inhalt der Morgenausgabe. Wer jedoch, sets 
aus Sympathie, seis aus edlerein Grunde, Blotter wie: „ Deutsche 
Tageszeitung*, ^Berliner Tageblatt*, „Welt am Montag*, „Post u , 
„Vorw£rts*, „Tiigliche Rundschau 1 *, „VoG* und „Preuftische 
Kreuzzeitung* seit dem Juli 1914 sorgsam gesammelt hat, um 
diese Dokumente in eine anderc Zeit hintiberzubringen, wer, 
etwa wie ich, nichts davon vergessen will und nichts vergessen 
wird, Dem ist die Weihnachtsnummer 1916 des ^Berliner Tage- 
blatts* eine grofic Oberraschung gewesen, denn auf dem 1, Bei- 
blatt dieser papierreichen Fesipublikalion schrie eine feite 
Oberschrift tlber drei Spalten hinweg: „Filr die Sicherung des 
kllnfligen Kriedens*, und batten Sie, Herr T. W., cine von Ihnen 
vcranstaltete Rundfrage und deren Resultate druckcn lassen. 

Ich mufi schon gestehen, daG mich Ihre Rundfrage mehr tlber* 
raschte als die Antworten, Sie batten (wahrscheinlich wiilirend 
Sie die Hcrren Sudermann, Lovis Corinth, Bernstein, Salus und 
Vesper um n zeitgemKGe* Bciirage filr die Weihnachtsnummer 
bitten lieOen) die Briefe Leopold I. an die Prinzessin Viktoria ge- 
lesen und don die SStze entdeckt : „Man mufl sich nicht darum 
kllmmern, was die Zeitungen sagen. Deren Macht beruht auf 
Ogen schlechtesler Art.* — Und nun grilbelten Sie angestrengt : 




25 



DIE AKTION 



26 



„Darf man sagen, dafl beute solche Klagen ganz unmoglich, oder 
gam unbegtlndet wXren, da£S seither (Leopold schriebs 1836) 
alle Schaden, die der Presse anbafteten, getilgt und alle Jour- 
n&Hsien zu Httlem iro Teropel der Vblkerfrcundschaft ge worden 
sind? w und Sie kamen, gewill nicht ohne Mtihe, zu der Erkennt- 
nit: ,fEin Teil der Schuld an dem ungeheuren Werk der 
Zerstorung lastet auf derjenigen Presse, die lange vor dem Kriege 
Mined legte und alle Artcn gifiigex Case erfand“ und zu der 
Frage: „ Kants zur kUnftigen BekSmpfung einer so gefahrlichen 
Verse uchung irgend el was VV irk sanies geschchen Sie hMten 
mich, oder alte JahrgSnge der AKTION befragen sollen, Aber 
werm eine Ungewissheit dem Journal is ten begegnet, wird ailemal 
eine Rundfrage, eine Enqueie draus. Sie sandien „einigen 
leiicnden PersiSnlichkeiten der neutralen Presse “ ein Scbreiben, 
in dem, nebeo anderen SStzen, zu lesen war: 

. « . Immer wieder waren alle Bestrebungen der- 
jenigen, die aufrichtigeine versohnliche Siimmung 
in Europe schaffen wollten, durch eine vergiftende 
journal isiische Gegenagiution gestfirt worden. Das 
ged ruckle Wort, das ein Segen fttr die Menschheil 
baue werden sollen, hat dazu beigetragen, unge- 
beures Unglttck liber die Welt zu bringen, Nicht 
wenige Ffihrer der bffen ilichen Meinung, deren 
Kenntnislosigkeit oft so grofi ist wie ihre Gewissen- 
losigkeit, haben ihre Freiheit und ihre Macht mid- 
braucht, und siatt auf der Erde Licht zu verbreiten, 
haben sie auf fried liche WohnstSUen die Brand - 
fsckel geworfen. 

Diejenigen, die in crnstcm Verantwortungsgefilhl es 
ablehnen, dteVolkerinKatastrophen hineinzuireiben, 
baben, wie icb glaube, die Pfiicht, einen deutlicben 
Trennungsstrich xwischen sich und jenen anderen 
zu ziehen und sich mil der Frage zu bescbaftigen, 
ob es kein Miuei gSbe, die Menschheit gegen die 
Gefahren, die ihr a us solchem Treiben erwacbsen 
mils sen, zu schtitzen. Gewifi, es wird immer sehr 
schwierig b lei ben, unberechttgte Polemik von be- 
rechtigter zu scbeiden und zu sagen, wo 
die achtuogawfirdige patriotiscbe 
Aufwallung endet und wo die verbrecherische 
chauvinist! sche Zttgellosigkeit beginnt. Es 
wird auch immer schr schwer sein, den Wamungen 
oder den verurteiienden Sprilchen eines Tribunates 
eine AutorUSt zu verleiben, die von den rerhetzen- 
den Elememen der Presse respektiert werden 
mttBte, denn diese Elemenle finden leider bei der 
Sensationslust, der Gedankenlosigkeit und der 
Unerfahrenheit allzu vieler Leser eine wertvolle 
UnterstiHzung . . . 

. . Icb bin bemtiht, mhig zu bleiben und Ihnen gegen Uber den 
etwas langatmigen Sul beizubeballen, docb Sie machen es mir 
recht schwer. Denn was Sie, Journalist, den Journalisten ge* 
schrieben haben, ist durch atis nicht die klare Frage, die gestellt 
werden mutt. Jedenfalls hat die „Kretiz-Zeitung i4 sehr recht, 
dagegen zu protestieren, daft Sie, blofi um vom „Trennungs- 
strich'* reden zu konnen, in vagen Andeulungen gegen „einen 
Tei! der Presse* ' polemisierten. Wenn jedoch das kooservative 
Organ zu Ihrer Rundfrage bemerkt : „Danach kdnnte es schei* 
sen, als ob auch in Deutschland eine vdlkcrverhetzende Presse 
rorhanden gewesen ware*', so macht das Blatt Ihnen die Sache 
ru leicht. Es handell sich n&mltch gar nicht sehr darum was 
da mats war, als Sie, Herr T. W., Tolstoi in Leitartikeln 
ehrten oder aus Paris Feuilietons sandten oder die Berner 
Pttngstkonferenz mit liberatem Wohlwollen begrQflten. (Auch 
der ,.Simpltcissitnus ;( hat damals Ahnliches geleistet.) — Lassen 
Sie sich bitte aus Mosses Annoncenbureau die Auflageziffern der 
rechtsstehenden Presse zusammenaddiert geben und die Abon- 
ttentenziffem der liberalen und der sozialdemokraliscben BI£Uer. 



— Dann wollen wir uns ttber die Gefthrlichkeit und Schuld der 
Presse unterh&Uen. Und tun Sie bitte, was ich heute getan 
habe : Le^en Sie vergleicbend ,, Berliner Tageblatt u und „Deuische 
Tageszeitung 44 , „Vorwails‘ 4 , n Vossische Zeitung 44 und n T£gliche 
Rundschau* 1 aus den ersten Monaten dieser Zeit. Gcwiii gibt 
es Unterscheidungen. Die ^Deutsche Tageszeitung 4 * hat nicht, 
wie Theodor Wolff, Herrn Harms die Moglichkeit gegeben, 
revolutionize Hafigedichte von Herwegh ins Aktuelle zu liber* 
tragen, hat nicht den WehbUrger Hermann Bahr, nicht die 
Herren Sombarl, Kellermann, Emil Ludwig etc. in den poli- 
tischen Teil gerufen, hat nicht — aber Sie werdens ja seibst 
nach lesen ; es ist mir heute nicht mbglich und auch nicht 
wichtig, all das aufzuzihlen, worin sich Ihr Blatt von anderen 
Bliittern unterscheidet. Betonen m&chte ich nur, dafl dieser 
Untgrschied Ihnen kaum das Recht gibt, solche Rundfragcn zu 
veranstalten, die von den Blittern rechtsstehender Parteien 
miflfillig aufgcnommen werden konnen. 

Nina und Renate. Also in diesen Tagen wird endltcb er- 
scheinen : 




Dafi alle Freunde der AKTION auch fttr dieses Werk werben 
werden, ist wohl sicher. 

K. L. Ein Sonderheft fttr Ludwig Rubiner ist bereits ange- 
kttndigt worden; Sie haben die Notiz ttbersehen, Alexander 
Herzens ,,Erinnerungen‘ 4 konnen Sie «um Vorzugspreise nur 
direkt beziehen, nicht durch eine Buchhandlung. Auch dies 
war in jeder Nummer zu lesen. 

Freunde. Ich suche fiir einen j ungen, kfirperlich nicht kr&ftigen 
Dichter, der journalistische Betriebe vermeiden will, eine Existenz- 
mbglichkeu. Wer weill etwasf Bitte an keine Kollekte 
denken 1 

BOCHERLISTE 

EMILE ZOLA. Fruchibarkeit. Roman in sechs BUchern (Insel- 
Verlag, Leipzig). M. 4, 

ROUSSEAU. Bekenntnisse. VollstSndige Ausgabe in einem 
Band (Ebenda). Leder M. 8. 

EBERHARD BUCHNER. Kriegsdokumente, Bd. $ und 6 
(Verlag Albert Langen, Mtlncben). Jeder Band M. 3,50. 




Erich Ochre Landschaft {Holzschnitt) 



IN HALT DER VORIQEN NUMMER. SONDERHEFT „FRIEDE AUF ERDEN 44 . RICHTERBERLIN : DIE H1RTEN AUF 
dem Felde (Titelblatt) / Rembrandt: Die Anbetung der Hirten (Zeichnung) / Ein andachtiger Weihnachtsgesang (XVII. Jahrhun- 
dert) / Heinrich Fischer: Weihnacht j Max Elskamp: Fur die Bektimmerten. Deutsch von Paul Adler / August Strindberg: 
Eine Legende / Leo Tolstoi: Ein MSrchen / Albrecht Diirer: Die Anbetung (Holzschnitt) / Rembrandt: Die Flucht nach 
Agypten. Nachtstuck / Patmore: Das Spielzeug. Deutsch von August Brucher / Josef Capek (Prag): Die Botschaf! (Zeichrungl / 
R. de La Fresnaye (Paris): Friede auf Erden (Holzschnitt) / Simon Kronberg: Cham lam erzahlt sich Marchen / K. L. Heinrich: 
Weihnachtstraumerei (Zeichnung) / Q. K. Chesterton: Weihnachten / Hans Richter: Weihnachtsmusik (Zeichnung) / Franz Schulz : 
Der Weg zum Religiosen / Strohmeyer : Sentimental itat (Holzschnitt) / Arthur Segal (Ascona): Holzschnitt / nellmuth Wetzel : 
Der groBe Exquisite vom Jahr danach / Wilhelm Klemiti: Verwundeter (Tusch zeichnung) / Werner Hahn: Weihnachtsfahrt / 
Job. Urzidil: Emeuemng / Steinicke: Vers / Wilhelm Ktemm: Religion / Carl Einstein; Negergebet } Dtubler: DerSchwur/ 

Herbert Kfihn; Wir / Ich schneide die Zeit aus / Kleiner Briefkasten / Inhaltsverzeichnis des VI. Jahrgangs 




(II 



i 



1 






A 









Fur Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten 
Inhalt verantworttich : Franz Pfemfert, Berlin-Wil- 
mersdorf, Nassauische StraBe 17. Tel Pf alzbg. 1 695. 
Gedruckt bei F. E, Haag, Melle in Hannover. 
Die AKTION erscheint jeden Sonnabend. Abonne- 
ments kosten vierteljahrlich durch die Post, durch 
Buchhandel oder Verlag (unter Kreuzb.) M. 2,50. 
Abonnements fur das Ausland kosten M. 3, — . 
Buttenausg., lOOnumerierte ExempL, jahrl. M. 40, — . 
Verlag der AKTION, Be rli n-Wilm e rsdorf. 

Unverlangten Manuskripten 
ist Ruckporto beizufugen. 

Alle Rechte vorbehalten. 




WOCHEN8CHRIFT FOR POUTIK. UTERATUR, KUN8T 
fll JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT NR | 



INHALT: Richter-Berlin: Macedonier. Holzschnitt (Titelblatt) / Ludwig Rubincr; Das Mittel / O. R Nicolai: Heimatliebe / 
Nietzsche an Overbeck / Oeoig Davidsohn: Lieber Franz Werfel / Richter-Berlin: Am Vardar (Holzschnitt) / Franz Werfel: 
Des Trinklieds zweite Fassung / Richter-Berlin: Macedonische Landschaft und Macedonier (Zwei Holzschnitte) / Ludwig 
Baumer: A us «Der Untergang* / Anton Schnack, Fritz Heckerling und Alfred Vagts: Verse vom Schtachtfeld / Richter-Berlin: 
Macedonier (Federzeichnung) 7 Rudolf Fuchs, Umn, Herbert Kfihn, M. Morax-Korschelt, Franziska Stoecklin (Basel), Wilhelm 
Klemm und Richard Huelsenbeck: Neue Verse / Wilhelm Stolzenburg (New York): Ansprache vor der Leiche eincs Cowboys f 
Hoerle (Kdln): Notiz fiber Expressionismus und ein Holzschnitt / fianns Braun; Em Stenogramm / Ich schneide die Zeit 

aus / Kleiner Briefkasten 




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WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR, KUNST 

7. jahrgang HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT 20. JANUAR 1917 



DAS MITTEL 

Fan Ludwig Mubiner 

Die tiefste Erkenntnis fur den Weg 2um Tun des 
Menschen steckt in der bekannten amerikanischen 
Zeitungsan nonce : 

I „Wenn ich Sie personlich 

I sprechen kdnnte!“ 

Das ist es ja gerade, daB ich Sie nicht personlich 
sprechen kann, Sie Armer Oder Gesattigter, Sie 
Beamter Oder AusLander, Sie Furst, Minister Oder 
verkrochener kranker Unterprofetarier! Konnte 
ich Sie personlich sprechen, dann hatfe ich es 
leicht, dann wiirde es schnell gehen, Sie Auge in 
Auge zu bewegen, mit Bcnutzung alter Neben- 
umstande, auf dem Wege durch Ihren Korper, 
Aber Sie sind weit weg, nicht Nachbar, sondern 
Mitmensch; ich muB also zu Ihnen von den Grund- 
lagen des Mitmenschen a us sprechen. Einmalig* 
keit des Sagens gilt nur von Mensch zu Mensch. 
Allgemeinwesentliches muB, um glaubhaft zu wer- 
den, immer wieder von neuem, unentmutigt: ein- 
geredet, zugeredet, iiberredet warden. 

Man kann aber nichts in der Welt durch einen 
Bluff erreichen. Wenn Sie wollen, daB eine Starke, 
ungewohnte, unangenehme Wahrheit zu vielen 
Teilnahmslosen komme, so konnen Sie sie bei- 
spielsweise unter dem Titel hinausgehen lassen: 

„Hier werden Kinderwagen ver$chenkt!“ 

Die meisten Menschen werden erstaunt mit- 
macheit, was Sie zu sagen haben, und viele, aus 
Stagier, bis ans Ende. Wenn sie die Aufsch rift nur 
tinmal mnerhalb Ihrer Rede aufgreifen und witzig 
umpielen, werden Sie sogar als geistreich gelten. 
Aber damit bleiben Sie eitimaiig. Damit werden 




Sie nie: wirken. Es ist ein edles Geheimnis des 
Weltgeschehens, daB Schwindel nichts hilft. 
Schwindel: ist aber der Versuch, den Weg von 
der Tragheit des Mitmenschen bis zur Annahme. 
der Wahrheit mit einem Schlage zurucklegen zu 
wollen, magisch. Schwindel: ist die Absicht, nach 
Erregung dunkler Beunruhigung sich selbst be- 
ruhigt ins Privatleben zuruckziehen zu wollen. 
Schwindel: ist Ausiibung jeder Einmaligkeit 
Nicht Schwindel, also wirksam, ist: sich zur Ver* 
fiigung stellen. Einzig wirksam ist die Unermud- 
lichkeit der Oberredung, das Immer-Wieder-Von- 
Vorn-Anfangen, die Einstellung zum Mitmenschen 
in Mitliebe. Nicht nur wissen, daB der Mitmensch 
ist, sondern wollen, daB der Mitmensch sei. 

Das beste Mittel, die Tragheit aufzuriitteln, ist, 
noch tiefer als sie zu steigen. Das menschliche 
Wahrheitsgesetz zu enthiillen: in dem Wunsche 
des Mitmenschen von sich selbst, in seiner Pre* 
stigeabsicht, in seiner Eitelkeit. 

Wenn Sie die Eitelkeit des Mitmenschen wecken, 
ihm elementare Versprechungen fur die Geltungs- 
tendenzen seiner Person machen; wenn Sie ihm 
sagen : 

Sie sind schon! 

Sie sind gut! 

Sie sind frei! 

- ~ dann wird er das nie ganz glauben konnen. 
Aber er wird Sie nicht enttauschen diirfen. Er 
wird danach handeln! 

Jede Erweckung der Eitelkeit eines Mitmenschen 
enthalt eine ungeheure Wahrheit fur die Zukunft: 
die Erinnerung an die gottlichen MaBe, nach 
denen der Mensch geschaffen ist. 

Er wird danach handeln. 



29 



DIE AKTION 



30 



HEIMATLIEBE 
Von G. F. Nicolai 

Die Heimatliebe is t ein Erbteil, das wir schon 
von den Tieren ubernommen haben. Je weniger 
ein Organismus an die allgemeinen Bed ingun - 
gen der Erde und je mehr er an die besonderen 
seines Milieus angepaBt ist, desto mehr ist er 
in seiner Heimat verwurzelt. In dieser Beziehung 
gibt es in der Entwicklungsgeschichte ein Auf 
Ab. Die niedrigsten Lebewesen, wie z. B. noch 
heute manche Bakterien, bediirfen nur allgegen- 
wartiger Bedingungen (Luft, Licht, Wasser und 
einige wenige uberali vorkommende Nahrungs- 
stoffe) zu ihrer Existenz und haben demzufolge 
als ^Kosmopoliten 11 keine engere Heimat. 
Aber alimahlich wird die Anpassung an bestimmte 
Milieubedingungen immer intimer Der Eisch 
muB im Wasser schwimmen, die Forelle 
braucht zu ihrem Wohlbefinden sogar „sprin- 
gende Quetlen". Der Affe kann nur in warmen 
Waldern leben, der Orang-Utang sogar nur in 
den tropischen Urwaldern des ostindlschen Ar* 
chipels. Der Vogel braucht Luft, aber der Kondor 
braucht auflerdem noch gewisse Bedingungen, die 
er nur in den Anden findet. 

Diese steigende Anpassung an ein bestimmtes 
Klima, diese wachsende Bodenstandigkeit, die, 
wenn wir dafiir ein Gefiihlsaquivalent anwenden 
wollen, eben einer wachsenden Heimatliebe ent* 
spricht, wird unterbrochen, als die junge Mensch- 
heit sich das erste Werkzeug formt. 

Es ist hier schon gezeigt worden, wie sich der 
Mensch durch dies neue Prinzip in jeder Bezie- 
hung Freiheit geschaffen hat; es genugt, auf die 
ganz offensichtiiche Tatsache hinzuweisen, daB der 
Gebrauch von Werkzeugen den Naturzwang der 
Heimatliebe aufhebt, denn mit Hilfe seines Werk- 
zeuges (im weitesten Sinne) lernt der Mensch sich 
den verschiedenartigsten Bedingungen anzu- 
passen. Im Gegensatz zu den festgewachse- 
nen, unzahligen Werkzeugen der Tiere (Schna- 
bel, Zahne, Wickelschwanze, Russel, GrabfiiBe 
usw.) kann das menschliche Werkzeug in jedem 
Augenblick weggelegt oder ausgewechselt wer- 
den. Mit seiner „verschieden warmen Kleidung' 1 
kann der Mensch in den Tropen leben und am 
Nordpol, wahrend das Tier entweder eine kahle 
Haut hat oder einen dichten Pelz. 

Der Tiger muB Beute schlagen und darum in 
wildreicher Gegend leben, denn die Krallen sind 
ihm angewachsen; der Maulwurf muB graben 
und darumr in die Erde kriechen, denn seinen 
GrabfuB kann er nicht ablegen. Das Pferd mu 6 
ein fluchtiges Tier sein und kann daher die Steppe 
nicht verlassen, denn seinen Hut kann es zu nichts 
and ere m brauchen, als zum Laufen. Der Mensch 
aber kann das Schwert mit der Pflugschaar ver- 
tauschen, er kann sich auch die Schnelligkeit des 
Pferdes aneignen, indem er das Pferd selbst zum 
Werkzeuge macht und sich auf seinen Rucken 
schwingt; er kann diese Schnelligkeit sogar noch 
dadurch potenzieren, daB er sich Eisenbahnen und 
Dampfschiffe, Luftschiffe und Automobile baut, 
und er kann Infolgedessen uberali leben. 



Durch den freien Intellekt des Menschen ist also 
die Kurve der Anpassung an gegebene Bedin- 
gungen rucklaufig ge worden. Der Hochstste- 
heude ist nicht mehr derjenige, der am genauesten 
an ein bestimmtes Milieu angepaBt ist, sondern 
derjenige, der am freiesten iiber die AuBenwelt 
herrscht. 

Die Heimatliebe des Menschen ist also ein Rest 
unserer Tierheit, sie ist hervorgegangen aus der 
Angst des Wilden vor dem Unbekannten; und 
wenn auch dieser negative Ursprung bei uns mo- 
dernen Menschen langst subiiimiert und mit post- 
tivem Inhalt angefiillt ist, so lebt doch liberal] 
noch diese negative Seite deutlich erkennbar. 

Es wird keinem, der die Menschen vorurteilsfrei 
zu beurteilen versucht, entgangen sein, dafi bei uns 
die Heimatliebe in den meisten Fallen ein romanti- 
sches Gefiihl ist, in dem mancherlei von Chateau- 
briand und den vielen anderen lebt, die uns das 
moderne Naturgefuhl erfunden haben. 

Die naive Heimatliebe aber ist etwas ganz an- 
deres, sie ist eine wirkliche Notwendigkeit und ist 
bei tiefstehenden Volkern am groBten. Diese sind 
wirklich mit der Heimat verwachsen, weil sie, aus 
ihr herausgerissen, sich in der neuen Welt nicht 
mehr zurechtfinden. Benihmt urn ihrer Heimat- 
liebe Willen — und zwar schon zu seiner Zeit, als 
der moderne Snobismus noch nicht die Verehrung 
der Heimatkunst forderte — waren in Europa vor 
allem die Schweizer Alpler, die ohne ihre Berge 
und Kiihe nicht leben konnten, die Wolga-Fj- 
scher, denen Miitterchen Wolga die Welt be- 
deutet, und die Islander, die ihre rauhe Heimat 
allem mitteleuropaischen Luxus vorziehen, alles 
relativ primitiv gebliebene Volkerschaften. Und je 
tiefer wir auf der Skala der Ethnologie hinab- 
steigen, desto groBer wird dieser unbezwingbare 
Hang zur „Heimat“. 

Man hat sich oft gewundert, daB Sohne von Natur- 
volkern (Indianer und Neuseelander z. B.) die ein 
ngutiges Geschick 1 * in eine komfortable europa- 
ische Umgebung versetzt hatte, dort nie heimisch 
werden konnten, ja, daB selbst viele zivilisierte 
Wilde, die sich bereits ganz gut angepaBt zu haben 
schienen — und beispielsweise ihre Universitats- 
studien mit Auszeichnung vollendet hatten — 
doch bei der ersten Gelegenheit in ihren Busch 
zuriickrannten und nackte Wilde wurden. Dies 
ist aber garnicht erstaunlich, denn diese primi- 
tiven Gehirne sind eben nicht imstande, sich in den 
komplizierten neuen Verhaltnissen zurechtzufin- 
den, haben also aus ganz natiirlichen Grunden eine 
uns auf den ersten Blick unverstandliche „Heimat* 
Hebe**. 

Obrigens hat, wenn ich nicht irre, zuerst Macau- 
lay darauf hingewiesen, daB zwar friiher in klei- 
nen Staatsgebilden wie den griechischen Repu- 
bliken, den Schweizer Kantonen und den deutschen 
Reichsstadten Heimatsliebe und Vaterlandsliebe 
identisch waren (denn hier reprasentierte die enge 
Heimat wirklich einen einheitlichen Begriff), daB 
aber in den heutigen groBeren Staatsgebilden hier- 
von keine Rede mehr sein kann. Mit Recht sagt 
Ratzel: „Der Deutsche hat zunachst nur ein 



31 DIE AKTION 32 



Verhaltnis zu seinem Land oder Landchen, das Bewohner dcr oberrheinischen Tiefebenc eher 

braucht aber beim Altbayem nicht bis nach Fran- Heimat sein, als die Luneburger Heide. 

ken und beim PreuBen nicht uber die Elbe west- So i$t denn die naturliche Heimatliebe notwen- 

warts zu reichen.“ Andererseits findet der Be- digerweise auf das Enge gerichtet, und gerade 

wohner der norddeutschen Tiefebene in dem asi- hochstehende Vo liter mit weitem Blick kennen 

atischen Tiefland bis zum Jenissei verwandteres, diese angeborene Heimatliebe nicht mehr, weil 

heimatlicheres Land als in ganz Suddeutschland, sie die Angst vor dem Neuen veriemt haben und 

und der Suddeutschen naturliche Heimat erstreckt offnen Auges und Oh res die Schonheit der Welt 

sich umgekehrt weit hinaus aus Deutschland nach in sich autzunehmen wissen. Die spateren gebil- 

Suden und Western Ja, die Lombardei konnte dem deten Griechen waren in der ganzen damals be- 




33 



DIE AKTION 




kannten Welt zu Hause, die Romer wiederum 
liebten Griechenland mehr als ihr eigenes Land 

— ja, sie nannten sich selbst oft genug Barbaren 

— und Tacitus und andere fanden sogar ewige 
Schonheiten und Gefiihlswerte in der terra nebu- 
losa von Germanien. Wir Deutsche hatten von 
alters her eine unbezwingliche Sehnsucht nach 
dem Suden, und der Englander weifi, daB er in ge- 
wissem Sinne imstande ist, sein Vaterland mit sich 
rund um die Welt zu tragen. Gerade darum, weil 
er auf englische Art in Skandinavien den Elch 
jagt, in RuBland den Baren hetzt, in lndien Tiger 
und in Afrika Lowen schicBt, gerade darum, weil 
ihm das „Home, sweat home" nur noch eine 
romantische Feiertagsidylle ist, gerade darum hat 
er sich die ganze Welt zur „Heimat“ gemacht. 

NIETZSCHE AN OVERBECK 

Sils*Maria, d. 30. August 1887. 

Lieber Freund, 

der Sommer ist dahin; wir waren sogar schon 
zwei Tage tiichtig eingeschneit, seitdem blieb es 
frisch und streng, doch so hell, wie sich's meine 
Gesundheit nur wunschen kann. Die Kalte ist 
nicht mein Feind. 

Ich habe oft an Dich gedacht, namentlich in Hin- 
sicht auf Deinen Dresdener Aufenthalt, uber den 
Du schwer genug hinweggekommen sein wirst. 
Jetzt denke ich Dich auf irgend einer Hohe, nach- 
sommerlich gesinnt und hoffentlich wieder etwas 
von schmerzlichen Eindrucken hergestellt. Dein 
Name ist diesen Sommer oft genug hier oben 
von mir genannt worden: denn Basel war dies 
Mai die langste Zeit das dominirende Element 
in Sils, — namentlich durch eine Kopfzahl von 36 
vertreten. Die gute Basler Welt zeigte sich gegen 
mich ganz unverandert, sehr herzlich und sehr 
respektvoll, ganz wie ich’s nur wunschen konntc. 
Die Namen La Roche Ryhiner AIHoth usw. usw. 
schwirrten mir Anfangs etwas vor dem Kopf, 
allmahlich stellte ich mein Gedachtnis wieder ein; 
namentlich Sally Vischer von Ehedem hat sich 
prachtig die ganze Zeit iiber gegen mich bezeigt 
(mit ihren Kindern Manfred, Eleonora, Sigis- 
mund: wir haben iiber die schonen Namen ge- 
lacht!) Insgleichen die Schwester von Andreas 
Heusler. —Sodann ist FrI. von Sallis hier, jetzt 
Doktorin der Geschichte (Abhandlung iiber die 
Mutter Heinrich IV., Agnes von Poitou), welche 
mit ihrer Freundin, der Tochter des Prof. Kym 
zusammenwohnt. Endlich habe ich einen gele- 
gentl. Verkehr mit einem Prof, der Matheniatik 
aus Erlangen, Noether gehabt, einem gescheuten 
Judcn, und dem alten Reichsgerichtsrath Dr. 
Wiener aus Leipzig sammt Familie. I — — I 
Meine englisch-russischen Damen haben mich von 
Maloja aus besucht; MiB Fynn hat bei einem 
dortigen Maskenbali den ersten Rang im succes 
behauptet (sogar nach den Zeitungen), namlich 
als russische Hofdame und als russische Bauerin. 
Mit der alten Mansouroff geht es aber nicht zum 
Besten. Eines Tags begriiBte mich ein alter Herr, 



grauhauptig, mit seiner Frau: Prof, ClaB („Phi!o- 
soph“) aus Erlangen: seine ersten Worte waren 
„oh wie liebenswiirdig haben Sie mich exami- 
niert! das werde ich nie vergessen" (er promo- 
vierte seiner Zeit in Basel). 

Noch habe ich Dir nicht fur die TertuIIianstelle 
gedankt, ich habe von Deinen adnotat. dazu den 
unbefangensten Gebrauch gemacht (namlich in 
einer Abhandlung, die jetzt gedruckt wird): ein 
Stuck der Stelle fand sich noch vor Eintreffen 
Deines Briefes in meinen Manuscripten, aber es 
war mir sehr wertvoll, sie in extenso zu bekom- 
men. — Das Resultat vom Verkauf vom „Jen- 
seits" ist sehr lehrreich; dies Mai ist Alles getan, 
was ein geschickter und beliebter Buchhandler 
zu Gunsten eines Buches thun kann; es sind eben- 
falls gegen 60 Freiexemplare an Zeitschriften und 
Redaktionen vertheilt worden. Trotzdem jammer- 
licher AbschluB der Rechnung, buchstablich 106 
Exemplare verkauft, Alles sonst remittirt. Kaum 
der fiinfte Teil der Redaktionen hat Notiz von der 
Zusendung genommen; entschiedene Zeichen von 
Abneigung u. principieller Ablehnung gegen Alles, 
was von mir kommt, fehlen nicht. Und nicht Eine 
in Betracht kommende Anzeige! Ich sage dies 
iibrigens nicht mit Verdrufi: denn ich verstehe es. 
Trotzdem schien es mir notwendig, diesem „Jen- 
seits" von mir aus etwas zu Hilfe zu kommen: und 
so habe ich ein paar gute Wochen benutzt, um 
in Gestalt von 3 Abhandlungen das Problem des 
genannten Buches noch einmal zu pracisiren. Da- 
mit glaube ich am Ende mit den Bemiihungen zu 
sein, meine bisherige Litteratur „verstandlich“ 
zu machen: und nunmehr wird fur eine Reihe von 
Jahren nichts mehr gedruckt, — ich muB mich 
absolut auf mich zuriickziehen u. abwarten, bis 
ich die Ietzte Frucht von meinem Baume schiitteln 
darf. Keine Erlebnisse; nichts von auBen her; 
nichts Neues — das sind fur lange jetzt meine 
einzigcn Wiinsche. — Den 20. Sept, will ich nach 
Venedig abreisen, um unserem braven K. wieder 
Muth zu machen; er hatte einen schweren Som- 
mer. 

Ms. Taine hatte von Genf aus sehr liebenswiirdig 
an mich geschrieben. (In Bezug auf ihn hat Rhode 
in diesem Fruhjahr eine Rupelei gegen mich be- 
gangen, nun, ich habe ihn griindlich darauf ge- 
dient, vielleicht zu griindlich. Hinterdrein that 
mir's leid.) Man schreibt mir, daB Dr. Johannes 
Brahms sich auf das Lebhaftcste fiir meine Schrit- 
ten interessiere — (Die Gesundheit bei strengster 
Diat besser als andere Jahre: in summa 6 ganz 
schlimme Anfallstage.) Ich halte an Sils test. Ich 
habe keine Zeit mehr zu probiren — und keinen 
Glauben daran mehr, zu finden . . . Empfielil mich 
auf das Beste Deinerlieben Frau undderen Anver- 
wandten! (Die Nachricht von der Munchener 
Hochzeit kam in Gestalt einer schonen Karte zu 
mir.) Treulich u. dankbar Dein N. 

(Turin), Weihnachten (1888) 

Lieber Freund, 

wir miissen die Sache mit Fritzsch schnell tna* 



DIE AKTION 



36 




chen, denn in zwei Monaten bin ich der erste 
Name auf der Erde. — 

Ich wage noch zu erzahlen, dab es in Paraguay 
so schlimm als mdglich steht. Was hier in Turin 
merkwurdig ist, daB ist eine vollkommene Fas- 
cination , die ich ausiibe, obwohl ich der anspruch- 
ioseste Mensch bin und Nichts verlange, Aber wenn 
ich in ein groBes Qeschaft komme, so verandert sich 
jedes Gesicht; die Frauen auf der StraBe blicken 
mich an, — meine alte Hockerin iegt fur mich das 



SuBeste von Trauben zuriick und hat den Preis 
ermaBigt! , . . Er ist an sich Lacherlich ... Ich 
esse in einer der ersten Trattorien, mit 2 unge- 
lieuren Etagen von Salen und Zimmern. Ich zahle 
fur jede Mahlzeit 1 Fr. 25 mit Trinkgeld — und 
ich bekomme das Ausgesuchteste in der ausge- 
suchtesten Zubereitung*) ich habe nie einen Be- 
griff da von gehabt, weder was Fleisch, noch was 

) (Am Rande): Moral: ich babe auch noch nie einen ver- 
dorbenen Magen gehabt . . . 




Bich ter -Berlin Uace<U>nUr (Holztchnitf) 




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37 



DIE AKTION 



36 



Gemuse, noch was alle diese eigen tl ital. Spei- 
sen sein konnen . . . Heute z. B. die delikatesten 
ossobuchi, Oott weifi, wie man deutsch sagt, das 
Fleisch an den Knochen, wo das herriiche Mark 
ist! Dazu broccoli auf eine unglaubliche Weise 
zubereitet. zuerst die allerzartesten Maccaroni. — 
Meine Kellner glanzen von Feinheit und Entgegen- 
kommen: das Beste ist, ich mache Niemanden 
dummer ... Da in meinem Leben noch alles mdg- 
lich ist, so notiere ich mir alle diese Individuen, die 
in dieser unentdeckten Zeit mich entdeckt haben. 
Ich verschwdre es nicht, da6 mich bereits mein zu- 
kfinftiger Koch bedieni. — 

Noch Niemand hat mich fur einen Deutschen ge- 
halten ... Ich lese das Jornal des Debats, man 
hat es mir instinktiv beim ersten Betreten des 
ersten Cafes gebracht. — 

Es giebt auch keine Zufalle mehr: wenn ich an 
Jemand denke, tritt ein Brief vom ihm hoflich zur 
Thfir herein . . . Naumann ist in einem pracht- 
vollen Feuereifer. Ich habe den Argwohn, dab er 
die Festtage hat drucken lassen. Es sind 5 Bo gen 
in 2 Wochen mir zugeschickt worden. Den SchluB 
von Ecce homo macht ein Dithyrambus von eincr 
ganz grenzenlosen Erfindung, — ich dar! nicht 
daran denken, ohne zu schluchzen. 

Unter uns, ich komme dieses Fruhjahr nach Basel, 
— ich habe es nothig! Zum Teufel, wenn man nie 
ein Wort im Vertrauen sagen kann . . „ 

Dein Freund N. 

BRIEF AN FRANZ WERFEL 
Lieber Franz Werfel! 

Deine Dichtung und Dich beachte und achte ich. 
Darum bitte ich Dich: schreibe keine „Poetik“ und 
auch keine „Notiz zu einer Poetik 14 wie in Nr. 1/2 
der AKTION. So etwas ertragt man nur, wenn es 
vom Universitats-Katheder aus dem Philologen-Ka- 
theter traufelt. Was Kuno Fischern, Erich 
Schmidten, Meyern mit den vielen Vornamen, Karl 
Werdern, Max (Dessoir oder Hermann) und Mo- 
ritz (Hartmann) recht ist, das ist Franz Werfeln 
unbillig. 

Bisher hat — Gott sei Dank — noch jeder Dichter 
versagt, der sich — wie etwa Otto Ludwig — mit 
der „Poetik“ verplemperte, und der kluge Lessing, 
der kein Dichter gewesen sein mag, aber vom 
Dichten ein wenig verstand, hat urn die „Poetik“ 
grofle Bogen Weges (nicht Papiers) gemacht und 
sich Iieber auf die Kritik gelegt. 

Solange der Mensch spricht, sieht, hort, riecht, fuhlt 
und schmeckt, ohne sich torichte Gedanken dariiber 
zu machcn, wie das alles zustande kommt, so 
lange geht die ganze Geschichte hfibsth glatt und 
nett von statten. Sobald er aber anfangt, in philo- 
sophischem Autosadismus fiber all die „Wunder 44 
jener psycho-physischen Akte zu studieren, zu 
sinnieren, zu experimentieren, tut ihm beim Spre- 
chen der Kehlkopf weh, schmerzen ihn die Augen, 
wenn er ins Grime schaut, hat er Ohrensausen, 
wahrend die Nachtigall schlagt, kriegt er Nerven- 
zucken in den Nustern, wenn die Rosen bliihen, 
zittert ihm die Hand, mit der er die Ruckenlinie 



seiner Liebsten abtrommelt, und kann er kein 
deutsches Schnitzel essen, ohne daB seine Zungen- 
warzchen psychologisch-anaiytisch flimmern. 

Die Sonne scheint, der Bach rieselt, der Wind 
weht, der Dichter dichte! Wenn die Sonne fiber 
ihr Sch einen, der Bach fiber sein Rieseln, der 
Wind fiber sein Wehen zu denken beginnen 
wollte, dann ware es Zeit, dafi wir uns alle, soweit 
wir den Krieg uberleben, begraben lassen. 
Selbstverstandlich will ich nicht etwa einer Dich- 
terei das Wort reden, die alles gut sein laBt, wie 
es aus dem Universum der Dichterseele auf den 
Planeten irgendeiner Schreib-Materie nieder- 
gekommen ist. Der Dichter soli feilen, verdichten, 
hobeln, glatten, polieren. Aber ohne groBe „Ge- 
lehrsamkeit 44 ! Einfach: weii dieses so noch klarer 
ist, jenes so weit heller erscheint, viel Hebreicher 
rieselt, kraftiger weht. Beileibe aber keine Er- 
ziehung der Poeten zu Poetikern! 

Dabei kommt glucklicherweise doch meist nicht 
vie! Erschutterndes heraus, Iieber Franz Werfel, 
der Du ja so gerecht bist, Deine Bemerkungen 
selber „unvollkommen <( und Deine Unterscheidun- 
gen , t selbstverstandlich ungemein ubertrieben** zu 
nennen. 

Darf ich Dich zitieren? 

„Das Extrem dieser Krankheit ist das bos Rhe- 
torische, das ganzlich undichterisch ist, weil es 
seinen Raum aus abstrakten unassociativen Mau- 
ern baut.“ 

Bravo! 

* 

Darf ich fragen, Iieber Franz Werfel, ob in der 
Prosa wirklich i miner das Substantiv der Trager 
der Betonung ist? Nehmen wir einmal: Der Dich- 
ter kam, sah, siegte! Oder nehmen wir Dein Bei- 
spiel und bauen den Sinn um, dann fallt die Beto- 
nung, wohin Du witlst: auf Verben, Adjektiva, 
Pronomina, Adverbia und sonstiges grammatika- 
liches Gemuse. Lassen wir sie auf die Verben 
fallen: „Kaum hatte er sich niedergelassen, der 
junge Landarzt, da konnte er das Elend nicht 
ertragen: er half den Weibern und hat spater im 
Zuchthaus geendet/* — Wenn ich diesen Satz in 
bezug auf seine Betonung sezieren sollte, dann 
mfiBte ich in Gelehrsamkeit machen: Tone reden 
von Haupttonen, Mitteltonen, Nebentonen, Zwi* 
schentonen, Untertonen, und es wurde schlieBlich 
nicht ein Krumchen mehr heraustonen, als daB 
wir beide recht und unrecht haben, weil diese 
Dinge — in der Poesie wie in der Prosa — keine 
Fesseln ertragen als die durch den Sinn ge- 
gebenen ! 

Lieber Franz Werfel! Das Imperfektum ist dem 
Verse durchaus nicht fremd. Sprich Dir mal Goe- 
thes „Erlkdnig“ vor: Von vorn bis hinten nichts 
als Prasens. Wohl an die funfzig Mal. BloB ein 
einziges Imperfektum. Im letzten Vers. Goe- 
the war ja nicht unbegabt. „ln seinen Armen das 
Kind ist tot“ hatte Ihm „fremd <4 geklungen, Ueber 
Franz Werfel. Ebenso „fremd“, wie wenn er ge- 
dichtet hatte: „Ich geh im Walde so fur mich 
hin . . Oder: Sieht ein Knab’ ein Roslein stehn. 
Ich will wiederum davon absehen, an Hunderten 



JUcker-BmUn 



Moctdonisdit Lanitckaft (HoUtrhnitt) 










41 



DIE AKTION 



42 



von Dichtern alter, neuer, jungster Zeit zu be- 
vveisen, daB auch diese Dinge jeder Schemati- 
sierung spotten. BIoB auf dies mochte ich doch 
nicht verzichten: Franz Werfel den Poeten gegen 
Franz Werfel den Poetiker zu Hilfe zu rufen. In 
Nr. 1/2 der AKTION steht auBer „Substantiv und 
Verbum 44 auch ein Qedicht von Franz Werfel: 
Die neue Holie. Und darin (entschuldige, daB ich 
gezahlt habe, aber das ist die gerechte Strafe 
fur uns beide): 62 Imperfekta, von denen mir 
auch nicht ein einziges „fremd“ an die Tur ge- 
klopft hat. 

Den schonen Vers der Else Lasker bewundern wir 
gemeinsam. Aber was Du iiber die 5 E-Laute 
sagst — es mag hier stimmen und da und dorten 
auch. Die Verallgemeinerung indessen totet den 
Wert dieses kleinen Hymnus. Denn erstcns klingt 
das offene E so ganz anders als das geschlossene, 
das stumpfe so ganz anders als das spitze, daB 
schon hier alle erdenklichen Irrtums-Moglichkeiten 
auf uns lauern. Wenn ich sage: „Ich saB im Cafe 
und trank zehn Glas Tee u — wo, lieber Franz 
Werfel, ist in den 3 E-Lauten dieses Satzes „der 
sehnsiichtig starre Blick einer liebenden Fiirstin, 
die ihr Herz verschlieBt“ ? 

Man hat friiher viel Wesens gemacht von der 
^audition co!oree“ — dem Farbenhoren. Die Ex- 
perimental-Psychologen haben bald eingesehen, 
daB es sich da um Dinge handelt, die keincrlei 
Qeneralisierung vertragen und allerhochstens fur 
eine bestimmte Sprache in ein bestimmtes „Sy- 
stem“ gebracht werden konnten, Aber nicht fur 
die Sprache der Menschheit iiberhaupt. Ange- 
nommen: die E-Theorie von der Ebene oder Flache 

ware richtig gilt sie auch furs Franzosische 

(general), furs Italienische (pittore), Englische 
(say), Alt-Griechische (TYXH, ANATKH)? Oder 
starrt in jeder lebenden und in jeder toten Sprache 
ein anderer Laut den sehnsiichtigen Blick der 
liebenden Fiirstin? 

Wenn Du dichtest, lieber Franz Werfel, vergiBt 
Du keinc Farbe an ihren Platz zu setzen. Wenn 
Du unter die Poetiker gehst, erzahlst Du uns aka- 
demisch von Sprache und Licht, Bewegung, Willcn 
und so weiter. Hier vergiBt Du Deine Farben, 
und das ist schade, denn sie wiirden sich m!t 
Deiner Theorie vom alleinseligmachenden Ver- 
bum bos vertragen. Wohingegen ich mich, lieber 
Franz Werfel, trotz diesem Diskurs zu Deinem Ex- 
kurs mit Dir weiter gut zu vertragen die edle Ab- 
sicht habe als der AKTION alter — kritischer 
Freund 

Georg Daridsohn 

TRINKL1ED (Zweite Fassung*) 

Wir sind wie Trinker, 

Gelassen iiber unseren Mord gebeugt. 

In delphischer Ausflucht 
Wanken wir dammernd, 

Welch ein Geheimnis da? 

Was klopft von uuten da ? 



*) Die erste Fassung siehe Franz Werfel-Heft. 



Nichts, kein Geheinuiis da, 

Nichts da klopft an. 

LaB du uns leben! 

DaB wir uns starken an letzter Eitle, 

Die gut trunken macht und dumpf! 

LaB uns die gute Liige, 

Die Heimat, wohlernahrende! 

Woher wir leben 
Wir wissen nicht . . . 

Doch reden wir hiniiber heriiber 
Zufalliges und anderes Herz. 

Wir wotlen nicht die Arme sehn, 

Die nachts aus schwarzem Flusse stehn. 

1st tiefer Wald um uns, 

Glockenturm iiber Wipleln ? 

Hinweg, hinweg. 

Wir leben hin und her. 

Reich du voll schwarzen Schlafes uns den Krug! 
LaB du uns leben nur, 

Und trinken Ia8 uns, trinken! 

Doch wenn ihr wachtet. 

Wenn ich wachte iiber meinem Mord! 

Wie flohen die Fiifie mir! 

Unter den Ulmen hier war ich nicht 
An keiner Statte war ich. 

Die Baume braunten sich, 

Tarpeisch stiinden die Felsen. 

In jedes Feuer wiirf ich mich. 

Schmerzlicher zu zergliihn! 

Trinker sind wir iiber unsern Mord, 

Wort deckt uns warm zu. 

Dammrung und in die Lampe sehn! 

1st kein Geheimnis da? 

Nein nichts da! 

Kommt denn und singt ihr! 

Und ihr mit Kastagnetten, Tanzerinnen! 

Herbei! Wir wissen nichts. 

Kampfen wollen wir und spielen. 

Nur trinken, trinken laB du uns! 

Franz Werfel 

SCHLUSSCHOR AUS DEM ORATOR1UM 
„DER UNTERGANG 1 * 

Chor der Toten 

DaB sind wir Toten, daB wir den Tag schaffen 
aus den Morgenroten unseres Zerfalls, 

DaB wir, Riesen der Abendrote, aufdonnern das 
Tor der Nachte, der Nacht, 

Zwischen deren Lippen, sturmwolkenumhaarter 
SchooB, die neue Sonne wacht, 

Deren Leib ragendstes Glockengestiihl klingender 
Briiste zerschaumendsten Widerhalls .... 

Wir Ubereinandergeschichteten, uns wachst 
Grabraum ins Grenzenlose. 

Wir wissen von dem Atem unserer Verwesung 
nur, dafi er die Mauern unseres Unterirdischen ein** 
reiBt, 

DaB wir zueinander quilien, Feindtose, Friedlose, 
das erste Geschlecht nach den an der Sonne Ver- 
kommenden, zusammengeschw'eifit 
Von der Inbrunst einer verjahrten Sehnsucht, 
an deren Flammen die Schicksale aller gewesenen 
Zeit zersprangen. Wir Schicksablose. 




43 



DIE AKTION 




Und schuf Zerschmetterung den Bauch der Erde 
zum Saal eines nie gewesenen Spiels, 
Ausroeheln unserer Leiber uns die Wonnen fiber- 
wachter Geburten urersten Anfangs der ewigen 
Kindheit. 

Sprofllinge nur des Geschehns, nicht SproBlinge 
der Menschen mehr, gliiht aus den zerrissenen 
Hohlen unserer Blindheit 

Mehr als Antlitz von Himmel und Erde, gliiht das 
Gesicht des ewigen erstemsten Ziels, 

Wirbauen am Turm der Lautlosigkeit, von dessen 
Zinnen der erste Schrei ertonen wird, der uns 
weckt, 

Der uns weckt, uns Wache der ersten Ankunft, 
wir mauern die Saule des Lichts fiir die Herkunft 
des Schreitens . . . 

Wir warten, warten noch, Krieglose, Friedlose, 
bis uns, ein Horn der Verkundung seligsten 
Schreitens, 

Der Gott, der urspriingfiche Gott des namenlosen 
Lebens an seine atemsturmenden Lippen reckt. 

Ludwig Bdumer 

VERSE VOM SCHLACHTFELD 
Schwester Maria 

Marchen einer scheuen Knabenzeit wachten ihm 
auf unter dem schxnalen Glanz ihrer Hande, 
Primel sah er gelb im Waldmoos; oh seine Mutter 
ging Iachelnd im Sommerlicht 
Mit blauen BlumenstrauBen ; klein gingen die 
Schwestern vorbei mit begluhtem Gesicht . . . 
Bilder . . . Bilder . . . Sufi versang das Fieber 
Regen ihrer schwebenden Worte, kuhlend 
den Stachel der bosen Brande . . . 
jubeiten Nachtigallen im Maibusch: wenn ihre 
Stimme kostlich vorubersprach, 

Waren Veilchen erbluht im Marzabend: wenn sic 
im Zimmer war? . . . 

Gold lag irgendwo: neigte sie seitwarts ihr glit- 
zerndes Haar, 

Sterne hingen seidig, gingen auf fiber ihm ihre 
Augen, im Dammergemach . . . 

Marchen wachten auf, Kinderfeste im Gartcii, 
Nachenfahrten im Wasserrosensee, 

Wilder Kuckucksruf im Wald und banges Ver- 
steckspiel mit ihnen, 

Den Nachbarskindern; Sterne im Oberflufi und der 
Mond der Julinacht . . . 

Unter der Schonheit ihrer Gfite mildete suB sich 
das Feuer im Fieber . . . Madchen sah er 
tanzen im Rotklee, 

Mutter ging wandeln im Garten; kleine Frohligkcit 
flog schmal in die Mienen. 

Weit . . . weit im West traumte furchtbar die 
Schiacht . , . 

Anton S chna tk 

Der Getotete 
Dew graucr Rock vcrfiel. 

Umgeworfen dein Herz, 

Dem verlassenes Profil 

Steht Lotte-warts. 



Immer ruft der Kuckuck. 

Der Vater schaut nach Osten; 

Das Fremdeste wird Schmuck, 

Wenn die Abende rosten. 

GroB! — Aufwarts! — Gott 
Fiel auf Dich, dafi du verwest; 

Aus dir blfiht Gelb und Rot, 

Du bist Wind und wehst. 

Frit* Heekerling 

Im Scherenfernrohr 

Die Farben isolieren sich vor mir, zu denen ich 
einst gehorte. 

Kaltestes ausgeprefltes Bild, die Karbe, rollt sich ab, 
erlosend aus zerbeulten Tone-Raumen. 

Glaserner Kreis grenzt zentrifugale Angste ein, 
links dammt rostig Eisenbahn, des Friedens 
blitzende Sekante. 

Vor einem alten Graben klafft die Fahne der 
Ewigkeit, 

ihr Tuch aus Wald und Feld, von Schussen zer- 
fetzt, 




Richter -Berlin 



Macedonia 





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DIE AKTION 






46 







zerrissen die alten Nahte der Drahtleitungen. 
Sommerfaden spinnen der Melancholie Verhaue 
tiber dunkles Gras, um Tote blau und dicht 
gegriint. 

Der Rhythmus wehender Kornfelder unterbricht 
sich um sie wie Riicken der Klagefrauen, 
die dieses Jahr nicht Ahren lesen in Abendsonnen- 
raumen Millets. 

Alfred Vogts 

ODE AN DAS NIMMERERWACHEN 
O arge Welt, reiB mich nicht aus dem Arm des 
Dampf deine Lust an mir! [Schlafs! 

Es ist noch Zeit. 

Seit ich bin, kenn ich nur deinen iiblen Odem, 

und deine kuhlen Hande 

und dein, vom Horensagen, gutes Herz. 

Es ist noch Zeit. Noch voller Sterne wallt 
der Himmel hin, Und Ost und Westen sind 
noch kaum von sich zu scheiden. 

Ich war soeben auf dem Weg zu Gott . . . 

Mir war so ewig innen angeziindet . . . 

Nun hast du mir’s vergallt — 

Allesi 

Komm, siifler Hai, wenn mich mein Atem schwellt! 
ZerbeiB das Lot, woran ich Schweres hange, 
daB ein Nichts emporschnellt, wenn sie dran wecken, 

dieweil mich korallener Frieden trankt. 

Rudolf Fuchs 

NACHT 

Schlaf tragt in Baum, 

Klirrt Skelett. 

Vergrabnes Blut greift an. — 

Wenn Erde mondete gesichelt dem Gemiit, 
Ergriinten Blatter Ohren, 

Gestein brach auf und Profetie der Hohle. 
Gedanken hammern Beile. 

Gestirn faBt Aste. 

Hund belli fremden Schritt. 

Urian 

WIEDERKEHR 

Das alles war schon einmal iiber mir und schlug 

mich tot. 

Den Tag ergreifen welke Hande. 

Die Finger kratzen. Pressen Not. 

Grell wachsen, ragen, blahen Wande. 

O Grauen. Hilfl Das alles war doch einsi? 
Genau. Der Blick. Das Buch. Das Starren ini 

Oesicht. -- 

Die Nerven stauen kr&B vereist, 

Bis in* der Schrei aus alien Poren bricht. 

Herbert Kuhn 



DER BETRUNKENE 

Schwarze Nacht greift an sinkende Wande. 
Oaslichter schreien, werfen klirrende Kranze 
aus bodenlosem Schacht. 

Ein hoher Hof starrt aus iriiber Verwesung nach 

Sternenlicht — 

Fhicht den bunten Perlen, die seine Totenhand 

sehnt. 

Dacher ktappern mit unsicheren Augen, 

Wurgen, gehassig, graue Dinge im Haus. 

Auf leeren Wegen sinken Menschen in Traumc, 
schlotternd, angstlich und einsam. 

Af. Morax KorscheU 

TRAUMTOD 

Die Nacht braust um sich ihr schwarzes Lied, 
Dabel tickt immer an die Scheiben der Regen. 

O die Nacht mit ihrem bosen Gesang . . . 

jetzt siohnt neben mir die kleine Schwester 
Weil ihr ein finsterer Mann 
In den weiBen Traum steigt. 

Ober Wotkenwalder fahrt der Mond. 

Sein Licht wallt in mein Zimmer 
Und erzahlt von den Toten 
Die da oben 
Ihr Schattensein fiihren. 

Und wie sie mit furchtbaren Handen 
In die Stunden der Lebenden greifen. 

Jetzt hat der finstere Mann die kleine Schwester 
erwurgt!! 

O die Nacht mit ihrem bosen Gesang . . . 

. . . . Ich will sie auf eine Wiese tragen, die 
ohne Ende. 

Ich will sie in den weiten Mantel hiillen 
Damit sie keiner ahnt, 

Damit sie keiner anruhrt 

Will ich sie in die stillste Erde tun. 

Nur die schmalen Engel werden dabei sein, 

Mit ihren Strahlenlichtern 

Und das Lied von den Garten Gottes singen, 

O das Totenfest meiner kleinen Schwester . . . 

FranzisJca StoecHin 

MOROENDAMMERUNG 

Wieder erfullen sich die gewaltigen Rotunden mit 

Licht, 

Die griinen Rippen der Berge dampfen. 
Panoramen dunsten empor. lm Gebusch 
Silberfahl rauscht auf der Morgen wind. 




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DIE AKTION 



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Die schwarzen Schalen der Nacht sind leer. 

Der dunkle Wein rollt schwer durch unsre Adem. 
Schwarmerisch endete das Bachanal. 

Ein groBer Stern sinkt ins Herz der Morgenrote. 



Welke Rosen auf zerwuhlten Kissen! 



Muhsam ordnest du dein goidnes Haar, 

Schwer von Liebe* Unter den Wundern, 

Die mir der wachsende Tag zeigt, bist du das 

groBte. 



Wilhelm Kkmm 



SCHWEBENDE 

Unsagbar Heilige, die ihr wie Schatten 
durch unsere Traume mit den Gedanken geht 
Lippen erstarren. Glieder ermatten. 

Gott ist der Wind, der uber die Meere weht. 



Schiffe und Hauser sinken im Wetter* 
ihr, die ihr Wolken wie Bliiten begreift, 
Sprenget die Hauser und Stadte wie Ketten. 
Beten ist Faltenkieid, das uns umstreift. 



Heilige wandert ihr, Augen im Lichte, 
Raffet die Volker mit eiliger Hand. 
Beten ist Zittern vor dem Gerichte: 
Gott ist im Winde, Gott ist im Brand. 



Kirch en zerstauben vor mutigen Schritten, 
Seen und Lander zerklaffen vor Gott. 

Nehmt die Geschenke und priifet die Bitten; 
Orge! nun jammert mit dem Fagott. 

Priester bereiten die steinernen Sarge, 
Kerzen zerspringen wie Funken im Raum. 
Heilige steigt ihr betend und denkend 
ais eine Sonne durch unseren Traum. 



Christ ist erstanden uber den Kreuzen; 

Heere von Bettlern sammeln sich dort 
Hure, geheiligt, harret in Demut, 

Kundet ihr wieder ewiges Wort. 

Richard Huehmheck 



ANSPRACHE VOR DER LEICHE EINES 
NEVADA- COWBOYS 

Vor der Hulle unseres abgeschiedenen Freundes 
wollen wir unserer Ruhrung Einsicht und unserer 
Klage Einhalt gebieten ; dem, der hier liegt, ist mit 
Tranen nicht gedient. Er wiirde auch die Absicht 
vor der Ausfirhmng durchschauen und uns jeden- 
falls davonfaufen. Boys, beschamen wir eine tote 
Gestalt nicht! 

Dieser Mann, der nur die atmende Natur geliebt, 
die groBen Siedelungen und die Stadte aber mit 
der Ehriichkeit des Waldgeborenen gehaBt hat, 
soli den Weg r zum Grabe ungestort, ohne Gaffer, 
ohae den vermaledeiten Larm der Bahnen in Ge- 
gichertheit zu rucidegen* 



Er hat von seinen Ritten nicht das Gold Alaskas, 
wohl aber das giitigere Gold, ein fiir die Freiheit 
dieses Landes schlagendes Herz zunickgebracht 
Es war sein edelster Besitz, den viele neiden und 
wenige in Nachfolge zum ihrigen erheben konnten. 
Merket auf, Boys ! 

Einem solchen Toten ist kein Vorwurf, keine Un- 
gezogenheit zuruckzugeben* Er, der hier vor uns 
liegt, war ein Gentleman der Hilfsbereitschaft, die 
er in der Handlung und den Werken seines Le- 
bens wahr zum Ausdruck brachte. Dieser Mann 
ist von uns fort und aus der Welt gegangen, 

Wilhelm Stofoenburg (New* York) 

EXPRESSIONISMUS, PICASSO, KUBISMUS 
Jede Zeit hat ihre Notwendigkeit, ihr Gesicht, 
ihren Ausdruck. Den Ausdruck der unsern hat 
man Expressionismus genannt. 

Dieser Zeitausdruck bewies sein Dasein und das 
Neue seiner Erscheinung durch das Versagen der 
uberkommenen Mittel ihm gegeniiber. Die Form 
fehlte. Die Kiinstler waren verwirrt und malten 
experimental, problematisch. Sie sympathisierten 
mit Kinderzeichnungen, Negerkunst und schatzten 
die Primitiven, — die durch ihre Urspriinglichkeit 
eine Moglichkeit der Losung zu geben schienen — 
aus optischer Wahlverwandtschaft Eine Losung 
war aber nicht moglich, da die Kunstler nur zum 
Tat$achlichen=Bild zuruckkehrten. (Bildhafte Dar- 
steliung.) Das Neue geschah. In einem Kunstler 
vollzog sich der Entwicklungsgang mehrerer Jahr- 
hunderte: Picasso wandte sich ab von der bild* 
haften Darstellung und kehrte — der wirkliche 
Primitive — zum Ursachlichen zuriick==Bildebene. 
Er gab auf ihr das Gesetz der bildhaften Gestab 
tung und damit das Neue, die Losung der Form 
des Zeitausdrucks Expressionismus^Kubismus. 

Heinrich Hoerle (Kbln) 




Htimieh Hoerle ( Klfln ) 



HolMUknitt 








DIE AKTION 



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SCHURNALIST WERDEN 
Ein Stenogramm 

Von Hanns Braun (1916) 

Die jiingsten Tage standen unter dem Eindruck 
des — wessen? in — wo?, ach, noch ist es gleich- 
gtiltig: 

Kalt drauBen. Der Wind klebt sich wie weiBes 
Pech gegen die Fenster, und die Nasse schutzt in 
Dachstuben . . . Dachstuben . . . wie stenogra- 
phiert man: Dachstuben ... So; — vor Kalte 
nicht. Hat das Sinn? Einerlei. Aber es gcschehn 
einen Menge Dinge, die niemand erwarten konnte. 
— Geistreich, was? — Weifte Kalkwande, weiBe 
Kalkwande, schiefe weiBe Kalkwande . . . Haus- 
dacher . . . Kamine . . . Sonnenrote . . , Verzeihen 
Sie! Aber dies hier — miissen Sie wissen — ist 
nichts als eine tollgewordene Stenographie- 
iibung! 

Ich werde Schurnalist! 

Grausame Freude, das Wort zu graphieren, wie 
man es sprechen muB; da fallt aller Kalk herunter, 
alie Tiinche, wollte ich sagen; die stimmhafte 
Halsbinde. 

Pflichtgefuhl, herauf! Anfeurung der irr tan- 
zenden Hand. Silbenrekordbrecher. Gedanken- 
rennbahn. Taglich hinfort laBt du mich starten. 
Jeder Punkt, jedes Komma ein Hindernis; ver- 
flucht, ich mus einen neuen Rhythmus lernen, der 
unaufhaltsam einfach vorne anfangt und hinten 
aufhort. Sssst! (Sieht gut aus auf gabelsbergisch : 
Leuchtrad, das saltomortal am Boden sich wal- 
zend zuletzt als Rakete aufsteigt.) 

Schweife ich ab? Hallo, mit ganzer Stim auf das 
immer Nachstliegende gestiirzt, hier uber den 
Holztisch. 

Was also? — Richtig! Krieg. Das Wort, das ich 
am oftesten werde zu kritzeln haben. Ich werd mir 
Siegel daraus machen: Kr! etvva. Kr. Kr! Nicht 

ubel. 

Das also meine Zukunft: ich werd eine schwarze 
Haube iiber den Ohren tragen, dran sind gespannt 
die Drahte Europas. Ich spur sie, ich allein, ihre 
Ungeheuerwege zu mir heranbrausen, singen, s:n- 
gen: von Feindschaft, Not, Betrug, Wucher und 

Mord. 

Schicksale funken daher, auf letzte kalteste For- 
meln gebracht, wo man die Summanden nicht 
mehr erkennt. Unmenschliche, seltsame Dishar- 
monien sind wie ein Kichern in den Drahten: 
Kriiiiii! — Kr, kiirze ich. 

Aufstehn werd ich miissen und hinab auf die kalte, 
naB-fahle StraBe, unter die Existenzen der Mor- 
gendammerung, zu den Sonderbaren, ja den Exi- 
stenzen schlechthin: StraBenfeger, Miichmadchen, 
Brotmadchen, Burschen mit karrierten Wollhem- 
den, eine Halbdime, Dime, die sich nach Hause 
mttht, zu bleich, um zu erroten . . . Fleifiige Leute, 
jawoll! Erbarmlich fleiBig . . . Gesindel! Das ist 
das Wort. WIR kennen uns alie! Wir hassen und 
lieben und am meisten beneiden einander: der 
Barkellner da, mit der Zigarrette im Maul, mit sei- 
nem Pelzmantel, einem versoffenen hangen- 
gebliebnen versetzten Pelzmantel; pfui Schande! 



O wie wir alie einander hassen, wenn wir nicht 
niude sind, WIR grtifien uns, soviel ist sicher. 

In einen kahlen Raum (von Liebe leer) werd ich 
treten, wo schwarz versammelte Manner beraten, 
was dem Burger — um diese Stunde noch hor ich 
sein Schnarchen — zum Morgengahnen vor- 
zusetzen sei. 

Ich! Ich werde Lust haben Unerhortes zu sagen, 
daB mich alie bos verwundert anschaun: Haltst 
uns auf, Zeitdieb, Scher dich. — Und werde un- 
widerstehlich Lust haben . . . heraufringende — 
Urwaldgestrupp — Wolken jagende vor derNacht, 
von purpurner Scham jah iibergossen; Wasser- 
ebnen kristallklingende . . ., o ihr ungeberdigen 
ungebornen, o ihr Gedichte . . . wahrend die 
Schreibmaschinen vor mir und um mich klappern 
und klingeln, und die Stenogramme sich fur ihre 
hastige Geburt rachen. 

Du schamlose und verangstigte Lust am Geld, am 
guten Fressen, Lackschuhen und seidnen Kra* 
watten, konnte ich dich — Still! Dies soli ein 
Grab sein. 

Versprech es: werd meine Worte bewachen, meine 
heimlichen, lieben, morgenhellen Worte, daB ste 
nicht flattern, wo sie nicht diirfen: gefangne Para- 
diesvogel — solange bewachen, bis sie entgoldet, 
blaB, erstickt, entschlafen sind. 

Aber dann, wenn mit ihnen ich selber tot bin, dann 
hockst du, STOLZ, auf meiner Leiche und ktap- 
perst mechanisch. Brav wirst meine Maschine 
denken lassen: Wievielen doch bin ich Nahrer im 
Geist! Wieviele konnt ich betoren! Tausende — 
wenn ich nur will — verfuhre ich taglich. Die 
Auflage derer, die an meinen Lippen hangen, 
wachst von Jahr zu Jahr: Schwall zu meinen 
FiiBen: die Masse, das Volk! Ich traume bisweilen 
davon. (Hab ich's so nicht immer, als unklar 
griiner, schreihalsig sentimentaler dichtender 
Rotzloffel immer gewolit?) 

LJnsterbiichkeit ? Ruhm? Wir wissen, wie sie ge- 
macht werden, WIR. Ich kann mir mein Teil ver- 
schaffen. Pah! Ich verzichte. 

Und die Wahrheit? Sie wird mir vorkommen wie 
eine dicke ungelenke Kochin, der ich herrischen 
Befehl — Wonne der Tyrannei! — morgentlich 
zuschreie, derb in die unbeholfenen Gelenke, bis 
daB sie uns Kulinaria auftischt. 

Denn ich werde sein in der Kiiche der Wahrheit. 
Europa kennt, nein, Europa will keine bessere! 



ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS 
XXXIX 



Bud&pest, i.Januar. 

Beim Neujahrsempfang der Kegterungsparlei bielt MmisterprSai- 
dent Graf Tisza eine Ansprache, in der er sagte: 

„Ich Itann zwar die Amwortnote der Entente, da sie blofi durch 
Zeilungsmeldungen bekannt geworden ist, in meiner verantwort* 
lichen Stellung nicht zur GrundUge von Aufierungen machen. 
Es ist ittr mich eine offene Frage, ob unsere Gegner tatsSchlich 
unsere Anregung mit einer votligen Ablehnung beantworten 
werden. Wenn unsere Gegner die vollkommen zwecklose and 
unbegrtlndete MenschenschlKchterei fort set sen wollen, so irifft 
uns dies weder unvorbereitet, noch unerwartet. Wir werden 
den Kampf fortsetsen, bis es gelingen wird, entweder durch 
unsere wetteren Erfolge die Oberzeugung von der volt- 



51 



DIE AKTION 



52 



komzDeuen ZwecVlosigkeit und Aussichtslosigkcii 
des Krieges bei unsercn Gegnem zu crwecken, oder bis der 
Selbsierhaliungstricb dcr zur Schlachibank gcschickten Nationen 
sich gegen ihre Re g ierung e n we n dct und der vollkommen 
:n-pck- und sussichlslosenFortsetrung des KriegesEinhslt gebietct.'* 
Grat Tisza scblofi mil dcm Ersucbeu um weitercs Vertrauen, 
das, ob nun der Fried* eintrcte oder dor Kriegszusiand weitcr 
dauere, filr die Erfttllung der gro0en und schweren Aufgabcn 
eine unerliflliehe Vorbedingung sei. Die Rede des Minisierprasi 
den ten wurdc wiederhok von starkeui BeiftH untcrbrochen. und 
Graf Tisza w&r Gegen stand sehr lebhaftcrOvationen. 

.. Berliner TngtblafV' und , t Berlinrr Volksteitung" 
2. Januar 291? 

. . . Das einzige, was bisher faktisch und praktisch auf dcm 
blutgetranktcn Boden Europas fur den Frieden herausgekommen 
ist, war das deutsche Friedensangebot. Dieses Angebot ware 
umnbglich gewesen, wenn es niebt in Deutschland eine Starke 
Volksbewegung gibe, die kDr und fesi auf dem Boden der 
I^andesverteidigung sleht und dabei unablassig auf den Frieden 
hmdrangt. Mit Arbeitsgemeinschaftlern find Sparlakussen — 
Kreditverweigerern a us taktischeo und prinzipiellen Grttnden — 
konnie dieser Schritt nicht getan werden. 

E» ist ja ein sehr einfaches Mittei der Propaganda, von der 
Kegierung Dingc zu verlangen, von denen man genua weiO, dafi 
sie sie nicht mnehen wird. weil sie sie nicht machcn kann, und 
sie dann so htnzusiellen, dafi kein Hund mehr einen Bissen Brot 
von ihr nehmen muchie. Das Geheimnis solcher alter Haus~ 
rezepte ist much uns nicht verloren gegangen, und wir zweifeln 
nicht d&ran, dafi man durch ihre Anwendung die im Volk vor- 
handene Mifistirnmung erheblich steigern kann. 

.tus detn „ Vortciirta“ - Leitartiktl geqen die soxial- 
dcmokratische Minderheit, 9. 7. 79/7 

gibt unseres Erachtens (lberhaupt kein besseres Mittei zur 
Hebung der Moral unserer Soldatcn als sie iirnner wiedcr da* 
von zu (Jberzeugen, daB die Verlangerung des Krieges nicht 
unsere Schuld, sondern die der Gegner ist. 

Aus dem r Vons&rts‘\ 7. Januar 191? 

. . . Uns aber, uns Leuten der Feder, die wir tiglich filr 
Manner und Frauen, alt und jung, Arbeiter und Rentiers, Kfinsl- 
ler und Diplomaten, Gelehrte und Industrielle, Kaufleute und 
Bureaumidchen, Offiziere und Mannschaften, Weltdamen und 
Hausfrauen, Halbweltdamen und Fabrikarbeiterinnen, filr arm 
undreich,die wir filr jedermann ein scbmackhaftes Ragout geistiger 
Nahrung, Zerstreuung und Unterhahung zu brauen haben, uns 
bereitet es siets Freude und wohl auch ein wenig Genugtuung, 
wenn wir wahrend der langen Slrafienbahnfahrt den einert und 
den anderen unsere eigene Arbeit mit Interesse lesen schen. 
Ej schmetcbelt unserer Eitelkeit, obwoht wir uns vollkommen 
bewuOt sind, dafi wir nicht flir den einen oder anderen, son 
dern fUr tausende und abertausende Menschen schreiben. 

Aus dem FeuilWon der ft Sational- Zeiiung* 1 , Ber- 
lin 12. 7. 1917 . 

Das engliscbe Parlamentsmitgtied Midlay uber die engltsche 
Kriegspresse. 

(Telegram m unseres Korrespondenien.) 

Haag, 28 . Dezember. 

Oberst Midlay sagte in der Debatte fiber die deutschen Friedens- 
vorschlage : ^Ich korame in dieses Haus nach einer Abwesen- 

heit von fast einem Jahr an der Front . . . Aber wie steht es 
mi: der Pressed Manchmal, wenn ich gewissc Blatter lese, 
wtlnschte ich, alle Nachrichtenblfitter dfirften keine Nachrichten 
bringen. Man sollte Riesenttberschriften abschaffen. Die b i 1 1 i ge 
Presse ist dcr Hauplverbrecher und einige der schlimmsten Zei 
tutigen sind gerade die, die die neue Kegierung stfitzen. Ihr 
rtcksichtsloser Gebrauch von Ansdrlicken, wie ,Hunnenfreund‘ 
und ,V>rraier’ konnen einem (lbelmachen. Das ist unenglisch 
and beweist innere Unausgeglichenheit. Diesen Ton findet man 
rjicht an der Somme. “ 



KLEINER BRIEFKASTEN 

Dr. 15. in R, , , In riner Zeiiung halt eine gewisse Geistes- 
odor Gcsinnungsgruppc einen Monolog mit sich selbst; das ist 
alles. Aber der Monolog ist unfruchtbar, frucblbar ist nur der 
Dialog . . . Diesen alien wahrenSatz hatte ich nicht vergessen, 
als irh im vorigen Heft dem Chef des ^Berliner Tageblatis“ 
zusjTach. \’oraus 7 uwissen war, dafi Herr Theodor Wolff schueigen 
wllrde, aber dar&uf komint es doch wirklich nicht an. Die AKTION 
ist keiue Zeiiung; im Gcgenteil. Und da ich immerhin hoffen 
darf, dafi diese Seitcu noch dann n aktuelH sein werden, wenn 
das vergessen ist, was die Tagespresse in filnfzig Jahren an 
den Tag geben wird, da die AKTION also Dialoge mit anderen 
Zeiten halt, so ist das augenblicktiche Ergebnis der Unter* 
haltung vollkommen unwichtig. 

Rend Schickele, Herausgeber der ,,Weiflen Blatter'*, tm Dezember- 
heft Ihrcr abgeklarten Monatsschnft schreiben Sie; *Ichrufe 
es seit zwei Jahren; balten wir zusammen, um Gotteswillen 
hallen wir zusammen. Alle Teufel sind liber uns, auch die 
Philosophen.* Da Sie es erst seit zwei Jahren rufen, bin ich nicht 
gemeint. Da aber seit zwei Jahren die Hcrrrn Leonhardl, 
Mflhsam, Hiller ti. a. m. Gleiches rufen, so dilrfte das Ziuam* 
menhalten blofl noch ein technisches Problem sein. 

Mir bat, vor zwei Jahren, als ich auch ihn auf dem anderen 

b b 

Ufer entdeckle, der Doktor Kerr Ahnliches in schon gebundener 
Form zugerufen : 

Ich bin kein Schlachtenhurrarufer, 

Mir ist vor der Verviechung bsnge. 

Die Welt ward unerbort betort. 

Wir sitzen an dem selben Ufer; 

Wir Uutcn an dem selben Strange — 

beteuerte er. Im letzlen Drittel seiner Beichie heiflt es schlieBlich : 

. . . RuBland, lieber Pfemfert, 

Ist inir ein grimmer Grund des Grolls. 

Und wenn’s mich dkhtert, wenn's mich kampfert, 

Fahr" ich dazwischen aus Impols. 

Und fttble doch in Sturm und Drang: 

Ein Leid ist unterschweilig mang. 

Wir ziehn zuletzt am gleicben Strang, 

Alfred Kerr 

. . , Und Ich babe diesen Doktor Kerr einst geliebt wie ich Schickele 
einst geliebt und Herrn Mflhsam einst geschStzt babe, und dafi 
der Gesang vom gleichen Strang dann im roten «Tag“ durch 
fixe Gottliebkuplets erganzt worden ist (und noch ikglich erganzt 
wird), erhbht seinen Reiz. Kfirzlich, als es Alfred Kerr wiedcr 
dichtertc und kampferte. ist ein r RumSnenlied“ drsu* geworden, 
von dem ich zwei Zeilen hierher setzen will: 

,.Tn der Hauptstadl Bukurescht, 

Wo sich kainer FiBc w 5 scht.“ 

Tja ; Und fuhte doch in Sturm und Drang; Ein Letd ist onter 
schwellig mang. 

Georg Davidsohn. Sie haben gesehen: Ihr Brief an Franz 
Werfet ist prompt erschienen. Schade. dafi Sie als M. d. R, 
nichts von dem sebonen Temperament hergeben, das Sie bier 
als M. d. ,,A,“ zeigen! 

H. F. Immer wieder mufi ich um Geduld bitten : Die Buch- 

bindrrei hat ihr Versprechen, in den ersten Januartagen das 
AKTIONSBUCH zu liefern, noch nicht erffillen konnen. Auch 
die neuen Bande AKTIONSLYRIK (Gottfried Benn, Wilhelm 
Klemm, Kurd Adler) blieben noch aus. Wie sehr ich das be- 
lt) age, werden meine Leser verstehen, wenn ich venrate, dafi vier 
weitere BSnde Tyrik, zwei AKTIONS-BCCHER DER AETER- 
N1STEN und Ludwig Rubiner Werk: DER MENSCIJ IN DER 
MITTE nahen! 



Erstc Seite des M Berlin tr TagehlaW* t Abendaus- 

pabe 28. 12. 2916. 



INHALT DER VORIGEN NUMMFR: Hans Richter: Widmungsblatt fiir die AKTION (Titelbild) / Ludu-ig Baumer: Jahres- 
vtnde 1916 / Ofokar Bfezina: Prolog / Franz Werfet: Substantiv und Verbtnn / Georg Tappert: Zeichnung / Max Elskamp: 
Abschied / Gafhmann: Wir / Menachem Bimbaum: Halluzinatorische Observation 2: Erotik / Franz Werfet: Die neue 
Hoik i Christian Schad: Zwei Zeichnungen / Wilhelm Klemm, Gottfried Benn f Kurd Adler, Max Herrmann (Neisse): 

/ Hieronymus Sturgkh: Zwei Silvester- Poemat a / Hans Richter: Daubier / Mynona: Groteske / Albert Eh renstein : 

r„nm / lananischer Holzschnitt l Franz Pfemfert: Herrn Theodor Wolff vom *B.T.« / Kleiner Brief kasten / Ich schneide die 
iTium zelt aus / Erich Ochre: Undschaft 




Fur Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten 
Inhalt verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin- Wil- 
mersdorf, Nassauische StraBe 17. Tel* Pfalzbg. 1695. 
Gedruckt bei F. £. Haag, Melle in Hannover. 
Die AKTION erscheint jeden Sonn abend. Abonne- 
ments kosten vierteljahrlich durch die Post, durch 
Buchhandel oder Verlag (unter Kreuzb.) M. 2,50. 
Abonnements fur das Ausland kosten M. 3, — . 
Buttenausg., lOOnumcrierte Exempt., jahrl.M. 40, — . 
Verlag der AKTION, Berlin-Wilmersdorf. 

Unverlangten Manuskripten 
ist Rudcporto beizufugen. 

AUe Rechte vorbehalten. 














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WOCHENSCHRIFT FUR POLITIK, LITERATUR, KUNST 
HI.JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT NR. i 



INHALT: Felix MQIler-Dresden ; Original hoi zschnitt (Titelblatt) / Ludwig Rubincr; Ursprache und die zweite Erde / O. F. 
Nicolai: Der Familiensinn / Stursa (Prag): Aktstudie / Aus Turgenjews Bnefweehsel mil Herzen / R. Bampi: Die Last (Zeich- 
sung) / Franz Werfel: Petr Bezru€ f Beye: Der Zeitungsleser (Zeichnung) / Arthur Segal: Original holzschnitt / , Wilhelm 
Klenrni: Zeichnung / Swinburne: Strophen aus „ Dolores" (Nachdichtung von Alexander Freiherr von Bemus / Walther Rilla: 
Ballade vom GlQck / Alfred Wolfenstein : !m Bestienhaus / Albert Ehrenstein : StoBseufzer ( Edlef K&ppen: Nachts im 
Zimmer l Heinrich Schaefer: Qual / Kurd Adler; Januar / Hans Koch, Andr£ Sutras und Marguerite Schurmann: Oedichle 

in Prosa / Ich senneide die Zeit aus / Kleiner Briefkasten 




VERL AG < DIE AKTION ' BERLIN -WILMERS DORF 



HEFT 50 PFG. 




POLITISCHE AKTIONS-BIBLIOTHEK 



F R 


A N 


Z M E H R I N 


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D i e 


Lessinglegendc 








Gebunden M. 3,10 




Die 


G e s c 


h i c h t e der deutsche 


n 




So 


zialdemokratie 






Vier Bande gebunden M. 20, — 




1807- 


-1812. 


Von Tilsit nach Taurogge 


n. 


1S13- 


*1816. 


Von Kalisch nachKarlsba 


d. 




Jeder 


Band gebunden M. 1,10 




Verla 


g J. H. 


W. Dietz Nachf. , Stuttgart 





WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR. KUN3T 

7. jahrgang HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT 3. febr. tsi/ 



ZWEI FESTSTELLUNQEN 
Yon Ludwig Rubiner 
Ursprache 

Dichtung ist ein Ausdruck der Esoterik. Von 
einem kleinen Kreis fur einen kleinen Kreis. Eine 
bessere Welt wird in ihren Geheimnissen allein 
dem musischen Menschen eroffnet Bessere 
Welt? Wir konnten sie brauchen. Aber diese da 
gilt ais besser nur, weii sie ewig unwirklich bleibt. 
Ausrede: Man verwirkliche im Gedanken. — Aber 
welch ein Schwindel, dies! Das bloBe Denken ist 
bestenfalls zur Leitung des Verwirklichens da, 
zur Ordnung des geschaffenen Raums, aber nie 
selbstschon Verwirklichung, selbst ganzlich raum- 
los; ein Vorgang, der in unablassigem FluB von 
tausend neuen Vorgangen verdrangt wird. Wahr- 
haft unwirklich. 

Wie feige sind Dichter! Wird tatsachlich einmal 
ein Stuck Dichtung verwirklicht, hat tatsachlich 
sich die Forderung des Menschen durchgesetzt 
und die Welt geandert, neuen Raum gezeugt, neue 
Lebensmoglichkeiten geschaffen, dann veriaBt ge- 
wohnlich der Dichter seinen Posten (auf den er 
nun erst stolz zu sein hatte!) und nennt sich 
Prophet. 

Wie ausweichend. Wie unverantwortlich! 

Die Romantikerhypothese: „Dichtung die Urspra- 
che der Menschheit" — ist Wechselfalschung. 
Selbst wenn sie deskriptiv richtig ware, sie ist aber 
zudem historisch und forme!! menschlich falsch. 
Ein Verbrechen als Ausrede. 

Was schiert uns die Ursprache, wenn wir tot sind! 
Was schiert uns die Ursprache, solang nicht ein- 
mai erhabene Aussagen von unserem Verhalten 
zur Welt — mehr noch und einfacher — Be- 
stimmungen fiber unser Leben Oder unseren 
Tod!: in unmittelbarer Verstandigungssprache 
fiber Ozeane und Drahtverhaue hinweg rufen! 



Es gilt nicht: Jeden als musisch zu betrachten; — 
es gilt geringstenfalls : Jeden musisch zu 

machen. 

Aufgabe einer ethischen Philologie: Intematio- 
nalisierung des Ausdrucks. Die Lehre: Wichtige 
Dinge ohne Wortkunst zu sagen. 

Dabei scharfste Ablehnung eines MiBverstand- 
nisses: Die gewaltsam erfundenen Sprachen, Vola- 
piik bis Esperanto, sagen Kunstworte fiir Unwich- 
tiges. In Wahrheit handelt es sich aber darum, 
unsern Inhaltswert in die Welt zu sprechen, er 

formt die Sprachen nach ihm; keine Obersetzung 
wird ihm urn die geringste Spur seinen EinfluB auf 
Menschen mindern konnen! 

Ein wand: Die seelische Verarmung. 

Gegen den Einwand, und fiir uns: Was ist Euch 
wichtiger? Euer Leben zu retten, Oder Buntheiten 
zu sehen! 

Nur zu Selbstlebensrettern rede ich. 



Die zweite Erde 

Philolaos, ein Schuler des Pythagoras, dachte sich 
das Schweben der Erdkugel im Raum so, daB eine 
andere, feme Erdkugel unsichtbar ihr an einer 
Schaukel das Gieichgewicht hielte. 

Aber nicht anders ist heute noch die Vorstellung 
der Kiinstler von ihrem Werk. Kunst an sich: ein 
anderes, femes, fremdes Gebild ; eine zweite Erde, 
Sinkt unsere Erde recht tief, dann schaukelt man 
schnell hinauf zu der zweiten. 

Welcher Mangel an Giite gegen unsere Erde! 
Man hiipft zu einer andem, anstatt aus der alten 
Erde eine neue zu bauen. 

Doch noch bornierter ist der Aberglaube der 
Kiinstler, anzunehmen, es geniige schon Mangel 
an Giite, um eine zweite Erde — Kunst — zu 
erschaukeln. 











DIE AKTION 



56 



55 



DER FAMILIENSINN 
Von Q. F Nicolai 

Die priinitiven Horden, in welche die Menschen 
sich in alien Zeiten gliederten, danken ihre Ent- 
stehung teilweise dem menschlichen Herden- 
instinkt und teilweise dem Familieninstinkt. Bei- 
des geht schon von Anfang an etwas durchein- 
ander, und so ist es bis heute geblieben. 

Der Familieninstinkt hat sich allmahlich immer 
mehr erweitert und ist zum Rasseninstinkt ge- 
worden, soweit man wenigstens bei einer Rasse 
von einer gemeinsamen Abstammung sprechen 
kann; wahrend der Herdeninstinkt ganz ein- 
fach die Zusammenfassung einer grofieren Zahl 
von Menschen als Kriegsbanden erzwingt und 
dabei an sich mit einer gemeinschaftlichen Ab- 
stammung nichts zu tun hat. Er bedeutet also ein- 
fach die Tatsache, daB sich die Menschen in Mas- 
sen wohler fiihlen als einzeln. Praktisch fuhrte 
er allmahlich zu den sogenannten Mannerbiinden, 
der Wurzel der spateren ^Gefolgschaften^ ; diese 
Gefolgschafien bildeten dann ihrerseits die Grund- 
lage fur die modernen staatlichen Gemein- 
schaften. 

Hier soil nur der grundlegende Familieninstinkt 
abgehandelt werden; den aus ihm hervorgegan- 
genen Rassen patriotismus will ich in einem 
anderen Aufsatz betrachten. 

Der Familiensinn war urspriinglich auf die Mutter- 
liebe beschrankt; Mutterliebe ist neben dem FreB- 
trieb vielleicht deralteste Instinkt, den wir kennen. 
Aber wahrend Fressen eine rein egoistische Hand- 
lung darstellt, ist die Mutterliebe der ursprung- 
lichste Trieb, der etwas „Altruistisches“ in sich 
enthalt, ohne doch vorlaufig aufgehort zu haben, 
egoistisch zu sein, denn das Kind ist zwar bereits 
ein „anderer“, aber die Mutter fiihlt es als etwas 
zu sich selbst Gehoriges. Erst als sich die Mutter- 
liebe zur Familienliebe und endlich zur allgemei- 
nen Bruderliebe erweiterte, trat das altruistische 
Moment schiirfer in die Erscheinung, jedoch ohne 
dafi dabei das Gefiihl selbst seinen ursprunglichen 
Charakter geandert hatte. Wir sehen nier wie so 
oft, daB es in der Nalur keinen Anfang gibt und 
daB sogar das scheinbar entgegengesetzte Neue 
nur etwas aus dem alten Entwickeltes ist. Lange 
glaubte man iibrigens, daB die Mutterliebe nur aus 
dem Gefiihl hervorgegangen sei, daB ein Kind 
Fleisch von meinem Fleisch, Blut von meinem 
Blut sei. Aber etwas der Mutterliebe Analoges 
existiert nachweislich auch dort, wo von Gefiihlen 
noch gar nicht die Rede sein kann, da die Eltern 
ihre Kinder gar nicht kennen, ja oft iiberhaupt 
niemals sehen. 

Allerdings sprechen wir dann im gewohnlichen 
Sprachgebrauch nicht mehr von Mutterliebe, auch 
nicht mehr von miitteriichen Instinkten, son- 
dern von „der miitteriichen Fiirsorge der 
Natur.“ 

Autenrieth hat hierfiir den schonen und passen- 
den Namen „organischer Instinkt“ cingefuhrt und 
will damit in tatsachlicher Beziehung sagen, daB 
es sich bei diesen niederen Tieren nicht um Ab* 
anderungen des Gehirns, sondem um Abande- 



rungen des iibrigen Organismus handelt, die wir 
deshalb auch nicht gewohnt sind, als psychische 
Vorgange zu werten. Solcher organischen Mutter- 
instinkte gibt es unzahlige. 

Die Tatsache, daB ein Tier desto mehr Junge 
hervorbringt, je kleiner und je schutzloser die 
Jungen sind, gehort hierher; denn diese Massen- 
produktion dient doch nur dazu, daB trotz aller 
Verfolgung eben doch noch einige iiberleben. 

Die Schaffung von Brustdriisen, die eine geeig- 
nete Nahrung geben, die Schaffung von Kropfen 
bei Vogeln, die damit vorverdauen konnen, die 
Schaffung von Beuteln, in denen die Jungen ge- 
tragen werden, das alles sind solche Tatsachen, 
die in bezug auf den Erfolg mit der Mutterliebe 
identisch sind. 

Dann folgt eine Reihe von Tatsachen, die wir 
bereits mit Instinkten in Zusammenhang bringen 
konnen und die ebenfalls einzig und allein Mutter- 
liebe bedeuten, aber auf den ersten Blick damit 
nichts zu tun zu haben erscheinen. Hierher gehort 
z. B. die Einfiihrung von Brunstperioden, die 
uberall so liegen, daB die Jungen nicht in die 
Kalte des Winters kommen, und junge, saftreiche 
Pflanzen (resp. junge, leicht verdauliche Beute- 
tiere) vorfinden. 

Ahnlichen Zwecken dienen unzahlige Instinkte der 
Insekten, die mit einer fast unglaublichen Vor- 
aussicht beim Legen der Eier dafiir zu sorgen 
scheinen, daB die kunftigen Larven unter pas- 
senden Bedingungen auskriechen konnen, und 
doch hat nie ein solches Insekt je die Geburt sei- 
nes Kindes erlebt. Bei den hoheren Tieren, vor 
allem den Vogeln und Saugern, werden dann diese 
zwangsmaBigen Instinkte immer freier, d. h. immer 
mehr psychisch, denn, da bei ihnen die Gehim- 
tatigkeit immer mehr in den Vordergrund tritt, 
muB das Gehirn die Sorge fur die Kinder iiber- 
nehmen und damit das geschieht, muB notwendig 
ein Gefiihl existieren. Das aber ist die Mutter- 
liebe. 

Die Mutterliebe kann also — wie die meisten 
unserer sublimsten Gefiihlsvverte — in die Tier- 
reihe bis zu dem Punkte zuriickverfolgt werden, 
an dem sie noch ein organischer Instinkt war, also 
eine rein tierische Eigenschaft. Dadurch wird ein 
solches Gefiihl nicht minder wertvolk Aber wenn 
wir sehen, daB es eben nur als Aequivalent frii- 
hercr korpeilicher Eigenschaften auftritt, die ihrer- 
scits teilweise bereits verschwunden sind, so wer- 
den wir nicht mehr ohne weiteres von dem Ewig- 
keitswert solcher Gefiihle iiberzeugt sein, ihre 
Verletzung sinkt damit auf den Wert einer kor- 
perlichen Verletzung herab, und wir lernen be- 
greifen, daB unter Umstanden auch die Mutter- 
liebe w'iederum durch andere hohere Einrichtun- 
gen ersetzt werden kann. 

Wenn die Menschheit einmal — was doch nicht 
im Reiche der Unmoglichkeit liegt — von Gesell- 
schaft wegen fur die Kinder sorgt, weil sie diese 
Art der Versorgung als niitzlicher erkannt hat, so 
ist die Mutterliebe nur noch ein rudimentarer In- 
stinkt, der vielleicht sogar hindert, ebenso wie 
der Blinddarm ein friiher niitzliches, heute un- 



DIE AKTION 





brauchbares Rudiment ist, das eigentlich nur noch 
Krankheiten verursachen kann. 

Aber wenn dies schon fiir die Mutterliebe gilt, 
wieviel mehr fiir die daraus abgeleitete Familien- 
liebe und endlich gar fiir die Rassenliebe. Denn 
hier ist der instinktive Ursprung schon langst 
nicht mehr rein. Hier mischen sich bereits durch- 
aus menschliche und zum Teil recht wenig erfreu- 
liche Komponenten mit hinein. DaB sich die 
Mutterliebe zur Familieniiebe erweitern konnte, 
beruht eben darauf, dafi nicht nur die Mutter das 
Kind, sondern auch der Mann die Nachkommen 
liebte. Die moderne Forschung hat langst gefun- 
den, daB die monogame Ehe nichts Natiirliches 
ist. Der Mensch ist von Natur polygam und phi* 
loneistisch. Urspriinglich herrschte in den Hor* 
den Promiskuitat zwischen alien Mannern und 
Weibern, wie denn iiberhaupt alle Herdentiere 
polygam sind und nur wenige einzeln lebende 
Tiere, wie z. B. manche Vogel, die Monogamie 
kennen. Wir wissen heute ganz sicher, daB iiber* 
all auf der sogenannten Periode des Mutterrechtes 
erst dann die Periode der Einehe folgte, als die 
Frau als vvertvolles Arbeitstier in die Sklaverei 
des Mannes geriet, und als der Mann sich an ihr 
wie an jedem beliebigen Stuck Vieh sein Besitz* 
recht sichern wollte. Gleichzeitig mit der Ver- 
sklavung der Frau und deren Besitzergreifung 
durch den Mann trat auch Privatbesitz an son- 
stigen Giitern auf, fur den sich der Mann eben 
durch Griindung einer abgeschlossenen „Iegiti- 
men“ Familie einen legitimen Erben sichern 
wollte. Die Heiligkeit der Familie beruht also 
letzten Endes nur auf der Heiligkeit des Privat- 
besitzes, und diejenigen Volker, die noch heute 
den Besitz an materiellen Giitern am hochsten 
achten, wie z. B. die Juden, halten auch noch 
immer die Familie am heiligsten. Die Familien- 
liebe hat also von Urbeginn an auBer der reinen 
Quelle der Mutterliebe noch die triiben Quetlen 
der Sklaverei und des Eigentums. 

Rassenliebe ist nun aber nichts anderes als er* 
weiterte Familieniiebe. Wir lieben die Menschen, 
von denen wir wahnen, sie halten die gleiche 
Aszendenz wie wir, von denen wir also annehmen, 
daB sie mit uns eine groBe Familie bilden. 

Eine Gemeinschaft von Menschen scheint uns 
mehr als der einzelne Mensch, und so hat man 
gemeinhin die Entstehung der Gemeinschaft auch 
zeitlich in eine spatere Zeit gesetzt als die Mensch- 
werdung. 

Entweder glaubte man die Gemeinschaft sexuell 
erklaren zu konnen: Der Mensch griindete die 
Familie, es entstanden Sippen, diese schlossen 
sich zu Dorfern und Stadten und diese wieder zu 
Staaten zusammen. 

Oder man erklarte es kulturell: gewisse Gewerbe, 
z. B. der Ackerbau oder wie Schiller sagt „Ceres“ 
habe den Menschen zum Menschen gesellt. 

All diese Anschauungen treffen, wie die Anthropo- 
logie langst bewiesen hat, nicht den Kempunkt, 
denn nicht der Mensch hat die Gesellschaft 
^egriindet, sondern die Gesellschaft war 



das Primare, und die Gesamthcit hat den 
einzelnen erst entwickelt, mit anderen Wor- 
ten: die Gesellschaft ist alter als der Mensch, und 
schon im tierischen Zustand lebtcn die Vorfahren 
der Menschen herdenweise. 

Der Mensch ist also nicht nur als Ziel, sondern 
schon von Urbeginn das Zwov tcgXitix6v des 
Aristoteles, das gescllige Tier Die Verbriiderung 
der Gesamtmenschheit der humanitare Gedanke 
sind nichts Abstraktes, sondern hochste Realitat. 

Wir haben also nicht zu erklaren, wie das mord- 
lustige Tier zu einem friedliebenden Menschen 
wurde, sondern umgekehrt wie es kam, daB das 
gesellige Tier kriegeiisch ward. 

Aber wenn auch dieser humanitare Instinkt der 
Menschheit tief und von Ursprung an eingeboren 
ist, so hatte er doch dauernd mit dem ebenso ein- 
geborenen Instinkt des Egoismus zu kampfen. 

Die Form fiir die Humanitat tragen wir in uns, 
das Instrument, urn sie im hochsten MaBe zu be- 
tatigen, ist vorhanden, aber wir Menschen wissen 
noch nicht darauf zu spielen. Vorlaufig erklang 
jene Musik kommender Harmonie noch niemals 
rein auf Erden, nur begnadete Menschen horten 
die leise Zukunftsmusik und begeisterten sich 
daran. 

So weist uns die soziale Sehnsucht der Menschheit 
vorwarts einem Ideal entgegen, das aber nicht 
vage und unbekannt im Nebel kiinftiger Entwick- 
lung liegt, sondern das wir bereits heute — wenig- 
stens mit geistigem Auge — absolut klar vor uns 
sehen. 




St ursa (Prog) 



Aktstudie 




DIE AKTION 







AUS TURGENJEWS BRIEFWECHSEL MIT 
HERZEN 

Paris, den 30. Mai 1858. 

Lieber Freund! 

Zurne mir nicht fur mein Schweigen; ich muBte 
genaue Erkundigungen iiber die Dir bekannte 
Angelegenheit einziehen. Es hat sich folgendes 
herausgestellt: 

Die Quelle der Hindernisse ist nicht unsre hie* 
sige Gesandschaft, auch nicht Francks Intriguen; 
es sind einige norddeutsche Regierungen, die sich 
mit dem Hinweis auf die vermeintliche Gefahr 
Deiner Publikationen an die hicsige Polizei wand- 
ten. Die Folge davon war die Verordnung an die 
Buchhandler, Deine Publikationen iiberhaupt nicht 
zu verkaufen; im Laufe von 14 Tagen geschah 
es wirklich nicht, jetzt aber sind sie wieder erlaubt, 
d. h. man sieht wieder einmal durch die Finger, — 
und ich selbst sah die „Glocke" u. a. bei Franck 
und in der rue de Rivoli; nur einige Nummem der 
„GIocke“ (so Nr. 8 und 12), sowie die Briefe aus 
Italien wurden endgiiltig verboten. Dies alles 
wurde mir im geheimen mitgeteilt und mit der 
Bitte, es nicht zu verbreiten; ich bitte Dich daher, 
nicht dariiber zu sprechen, um so mehr, als die 
Sache vorlaufig im richtigen Gleise ist. Die aus- 
landischen Buchhandler in Paris befinden sich 
vollstandig in den Handen der Polizei: ein Wort 
— und man jagt sie von hier fort. Aber was, wie 
es mir scheint, ungliicklicherweise, aus dem Ge- 
leise gekommen ist — das sind unsre heimatlichen 
Angelegenheiten. Die Reaktion hat endlich ihr 
Haupt erhoben. Titow ist durch irgendeinen 
Narren, Grimm, ersetzt, Kawelin entfernt worden. 
Vor einigen Tagen versammelte Kowalewski samt- 
liche Redakteure und hielt eine sehr nieder- 
geschlagene Anrede an sie: „Ich bin alt, sagte 
er, und kann nicht mit Hindernissen kampfen; 
mir wird man nur vom Amte jagen, Ihnen aber, 
meine Herren, kann es viel schlimmcr ergehen; 
ich bitte Sie daher, aufierst vorsichtig zu sein". 
Bald darauf begab er sich nach Moskau, um iiber- 
all Verbote zu erlassen. Diese revirements waren 
zu erwarten, aber man darf sie nicht iibertrieben 
fiirchten. Was sie auch tun mogen, der Stein ist 
bergab ins Rollen gekommen, und es ist unmog- 
lich, ihn aufzuhalten. Ubrigens hoffe ich auF 
Alexander Nikolajewitsch, obwohl leider wahr- 
scheinlich seine Umgebung noch schlimmer ist, 
als wir es dachtcn. 

Ich griiBe alle Freunde und umarme Dich. Mitt- 
vvoch reise ich nach RuBland; ich werde Dir aus 
Berlin schreiben. Addio. Im lieben Vaterlaude 
werde ich einen schweren Stand haben. 

Dein I. Turgcnjew 

Paris, rue de Rivoli 210, den 28. April 1862. 
Lieber A. I.! 

Ich antworte umgehend auf Dcinen Brief, nicht 
um mich zu verteidigen, sondern um Dir zu dan- 
ken und gleichzeitig zu erkliircn, daB ich, als ich 
den Basarow*) schuf, nicht nur nichts gegen ihn, 
sondern sogar eine gewisse ,,Hinneigung, eine 

^4. ■ , 

•) Hauptfigur in Turgenjews «VaLer und Sohne«. 



Art von Schwache** fur ihn hatte, so daB Kat- 
kow in ihm die Apotheose des „Zeitgenossen“ 
erblickte und erschrak und mich daher uberredete, 
nicht wenige mildernde Ziige ganz wegzulassen, 
was ich jetzt bereue, getan zu haben. Und wie 
soil nicht ein Basarow den „Mann mit dem parfii- 
mierten Schnurrbart" und die anderen uberragen! 
Es ist ein Triumph des Demokratismus iiber die 
Aristokratie. Wenn ich die Hand aufs Herz lege, 
fiihle ich mich vor Basarow nicht schuldig und 
ich konnte ihn nicht mit einer unnutzen Anmut 
ausstatten. Wenn man ihn nicht lieb gewinnt, 
so wie er ist, mit alien seinen HaBlichkeiten, so 
trage ich die Schuld daran, denn ich konnte den 
von mir gewahlten Typus nicht bewaltigen. Es 
ware ein Leichtes gew F esen, ihn als Ideal dar- 
zustellen, aber schwierig war es, ihn zum Wolf 
zu stempeln und dennoch zu entschuldigen, und 
dies ist mir wahrscheinlich miBlungen; aber ich 
mochte nur den Vorwurf der Gereiztheit gegen 
ihn von mir ablenken. Denn es diinkt mich, daB 
in dem Ganzen, in der Schilderung seines Todes 
usw. ein der Gereiztheit gerade entgegengesetz- 
tes Gefiihl durchschimmert, Aber, basta cosi, — 
wenn wir zusammenkommen, werden wir einge- 
hender dariiber sprechen. 

In Mysticismus bin ich nicht und werde ich nicht 
verfallen; — was Gott betrifft, so sage ich mit 
Faust: 

Wer darf ihn nennen, 

Und wer bekennen: 

Ich glaub’’ ihn! 

Wer empfinden 
Und sich unterwinden, 

Zu sagen: Ich glaub* ihn nicht! 
Ubrigens war dieses Gefiihl in mir Dir nie ein 

o 

Gelieimnis. 

Auf Wiedersehen — wie Du auch iiber meine 
Unpiinktlichkeit denken rnagst, eher wird der Erd- 
ball platzen, ehe ich ohne Abschied von Dir ver- 
reise. Bieibe gesund. Dein Iw. Turgenjew 

Baden-Baden, Schillerslrafie 7, 
Dienstag, 4. J uni/ 23 Mai 1867. 

Ich danke Dir, liebster A. J., fiir Deinen Brief 

und fiir die mir gesandte Nummer der „Glocke". 

An Deiner Erzahlung „Aus jcner Welt“ erkannte 

ich die Dir eigene Art, und obwohl ich selbst zu 

den heiser gewordenen Tenoren gehore, las ich 

doch allcs mit wahrem Vergniigen. Selbst „Trum- 

mer eines Schiffes", wie Odipus sagt, fiihle ich 

doch mit, wenn man meinen altgewordenen Holz- 

korpcr zur „PerIe der Schopfung” erhebt. 

Ich bin ja gern bereit, Dir einen Dienst zu erwei- 

sen, aber es hat sich meiner eine groBe Faulheit 

bemachtigt. Auch forderst Du in wenigen Worten 

vieles: ich soil die alte und junge Gesellschaft 

und dabei von drei Standpunkten aus beschreiben! 

Ich werde mich bemiihen, etwas auszubruten, es 

wild vielleicht Nutzen bringen. 

Viclleicht kannst Du mich benachrichtigen, wer 

Wyrubow ist, der zusammen mit Littre die ,, Revue 

positive" herausgibt? Ich abonnierte auf diese 

Zeitschrift, well ich Littre sehr hochschatze. 



-i.j 9 - 



3 



DIE AKTION 



62 




► 



Ein Exemplar von „Dun$i“ habe ich Dir nodi 
damals zugleich mi t tneinem Brief geschickt Die 
Kritik der „Stimme 4< habe ich gelesen und weifi 
uberdies, daB alle — Rote und WeiBe, von oben 
und von unten, auch von der Seite, besonders aber 
von der Seite — uber mich schimpfen. Es erschie* 
nen sogar Gedichte voll Entrustung, dies verbliifft 
mich aber nicht; nicht weil ich mich fur unfehlbar 
halte, sondem es fallt von mir ab, wie von der 
i Cans das Wasser. Denke Dir, ich freue mich so- 
t gar, daB mein beschrankter „Westmann“ Potugin 
, gerade zur Zeit des panslavistischen Tanzes a la 

' Kosack aufgetreten ist, wo Pogodin so flink mit 

einer Harmonika in der Hand seine Pas hiipft. 
Ich habe nicht ganz recht Dolgorukows Klatscherei 
verstanden. Ich kenne nicht Deine Beziehungen 
zu ihm, aber er ist einer von den wenigen, die 
ich wider meinen Willen verachte. Verzeihe mir, 
wenn Di ch dieser Ausdruck verletzt, es ist mir 
schwer zu glauben, daB Du einen Menschen ach- 
ten kannst, der verdffentlicht hat: wenn es euch 
einfallen sollte, mir den ProzeB zu machen, so 
werde ich sofort alle unsre Gesprache veroffent- 
tichen. Die dritte Abteilung muB uber eine so 
edle Entschlossenheit in die Hande klatschen. 
GruBe Deine Kinder, falls sie sich noch meiner 
erinnem, besonders Deine alteste Tochter. Bleibe 
gesund. Dein ergebener Iw. Turgenjew 



Baden-Baden, SehillerslraBe 7, den 12. Dezember 1867. 

Lieber Alexander Iwanowitsch! 

Ich habe Deine franzosische „Glocke“ erhalten 
und durchgelesen. ich danke Dir, daB Du Dich 
meiner erinnerst Was Deinen Aufsatz selbst be- 
trifft, so ist dies doch ein alter Streit zwischen 
uns, — meiner Ansicht nach ist weder Europa so 
alt, noch RuBland so jung, wie Du es vorstellst: 
wir sitzen in ein em Sacke und es steht uns keines- 
wegs bevor, ein „speziell neues Wort“ auszuspre- 
chen. Aber gebe Gott, daB Du hundert Jahre 
lebst und Du wirst als letzter Slavophile sterben 
und kluge, amiisante, paradoxale, tiefsinnige Auf- 
satze schreiben, die man nicht umhin konnen wird, 
bis zu Ende zu lesen. Ich bedauere nur eines, daB 
Du es fur notig hieltest, Dich in ein Gewand zu 
kleiden, welches Dir nicht vollig paBt. Glaube 
mir oder nicht, wie Du willst, aber Deine Auf- 
satze werden vergeblich die sogenannte Gegen- 
wirckung auf das europaische Publikum auszu- 



uben suchen . . . 

Es erscheine zum Beispiel nur ein groSer russi- 
scher Maler und sein Bild wird eine bessere Pro- 
paganda sein, als tausende von Abhandlungen 
uber die Fahigkeiten unsrer Rasse fur die Kunst 
Die Menschen sind iiberhaupt ein rohes Ge- 
schlecht, das gar kein Bedurfnis nach Gerechtig- 
keit oder Unparteilichkeit hat; packe sie aber an 
den Augcn oder an die Tasche ... so wird die 
Sache anders . Obrigens, vielleicht irre ich mich 
und Du hast recht, — wir werden sehen. Jeden- 
fails ist der Moment kaum gut gewahlt; jetzt ist 
wirklich die Frage aufgestelit: Wer siegen wird, 
die Wissenschaft oder die Religion? Was hat 
RuBland dabei zu schaffen? 



Da Du das erste Exemplar von „Dunst“ nicht 
erhalten hast, so will ich es von neuem versuchen 
und ich schicke Dir ein Exemplar der Moskauer 
Sonderausgabe, worin alle von der Katkowschen 
Zensur gemachten Kiirzungen wieder erganzt sind. 
Das Buch selbst wird Dir selbstverstandtich nicht 
gefallen. Aber auf Seite 97 befindet sich die Bio- 
graphie des Generals Ratmirow, die Dir vielleicht 
ein Lachein abzwingen wird. 

Und hiermit adieu; benachrichtige mich uber Dich 
und Deine Familie. Ich lebe hier als Anachoret 
und kann leider nicht auf die Jagd gehen. Wegen 
einer ungeschickten Bewegung schmerzt mich das 
Knie. Bleibe gesund. Iw. Turgenjew 

VORREDE ZU DEN SCHLESISCHEN LIE- 

DERN DES PETR BEZRUfi 
Von Franz W erf el 

Petr Bezruf gibt es nicht. Das heiBt, es gibt 
nicht nur nicht einen Mann dieses Namens, son- 
dern auch den gibt es nicht, der in irgendeiner 
Nacht diesen Namen fiir sich erfunden hat. Petr 
BezruC, das ist keine dichterische Person mit 
Beginn, Entwicklung und Ende, das ist auch keine 
Mythe, aufgestiegen aus Blut und SchweiB eines 
kleinen erdruckten Volkes; Petr BezruC, das ist 
der einmalige, unpersonliche, unerklarliche, letzte 
Aufschrei eines zugrunde gerichteten Stammes. 
Petr Bezruk, das sind jene siebzigtausend, die 
hart vor Teschen sterben, die in Lysa ausloschen, 
bei Leuten, in den Beskyden, bei Oderberg, 
Schumburg ausloschen, im Feuerschwall der Wit- 
kowitzer Hochofen verbrennen, in den Ostrauer 
Revieren hohl werden vor Kohlenstaub und ver- 
welken. Petr Bezru5, das ist ein kleiner Stamm 
des tschechischen Volkes, der in den osterrei- 
chisch-schlesischen Industriezentren in Sprach- 
inseln verstreut hart um Sprache und um karge 
fronende Existenz kampft. 




R. Bampi 



DU Last 







r.-: 




63 



DIE AKTION 







Die „schlesischen Lieder“ (slezsk£ pisne) des 
Petr Bezruk diirften im Jahre 1903 zu Prag er- 
schienen sein. Von dem pseudonymen Verfasser. 
vermutet oder weiB man gar, daB er k. k. Staats- 
beamter ist, und nach diesem Werke nichts mehr 
geschrieben hat. 

Es ist klar, daB dieser Mann weiB, daB seine Ge- 
sange nicht aus seiner vereinzelten menschlichen 
Person getreten sind, daB sie nichts mit ihm selbst 
zu tun haben, ja es scheint, daB er mit ungeheu- 
rem Erstaunen und Herzklopfen an eineni Kreuz- 
weg jenem wilden, ihm fremden, fahrenden Petr 
Bezruc begegnet ist, vor dem er sich zur Flucht 
wandte, bis der ihn einholte, und ihm teicht und 
gebieterisch das Haupt beruhrte. Der Dichter hat 
im Auftrag gehandelt, er war das Instrument ver- 
triebener Machte, der Auserwahlte grollender, 
langst geschlagener, uralter Gottcr, die sich noch 
cinmai im Sturm zusammenballten, und zu Haup- 
ten der vergehenden Sippen im letzten Weh zu 
heulen anhuben. 

4 * 

* 

Unser Herz fuhlt connational mit alien Unter- 
driickten aller Volker. Unser Geist haBt die 
Macht- und SelbstbewuBtseinsform aller Volker. 
Es ist ein tiefes Lebensgesetz des Geistes, daB er 
wie Tag und Nacht niemals an einem Orte mit der 
Macht sein kann. Ja, wenn sich selbst die Giite 
anschickte Macht zu werden, er fiele vor ihr auf 
die Knie und riefe: „Tu es nicht!* 4 — Die Macht 
wird immer den Geist hassen miissen, wie er sie 
haBt, denn die beste Macht selbst hat die Pflicht, 
an einer erreichten Ordnung festzuhalten und sie 
zu bewahren, wahrend der Geist jedes irdische 
Reich auflosen muB. Die irdische Gerechtigkeit 
wird zum Beispiel den Verbrecher nur in Jenem 
sehen, der im weitesten Sinne der herrschenden 
Ordnung widerspricht. Also: da das Eigentum 
obwaltende Maxime ist, muB der Dieb ein Ver- 
brecher sein. Aber ist fur den Geist der Dieb ein 
Verbrecher? GewiB, er kann es sein! Die Perspek- 
tive ist jedoch unendlich verschieden. Denn der 
innerste Grundsatz der Macht-Gerechtigkeit ist: 
„Wer gegen mich, wer mir schadlich ist, darf nicht 
sein!** Das miiBte notwendig selbst der Grundsatz 
einer kommunistischen Verfassung sein. Nur die 
Konjugation der Macht kann sich verfeinern, 
scheinbar den immer drangenderen Forderungen 
des Geistes sich anpassen; ihr Prinzip muB immer 
bleiben: die Erhaltung ihrer selbst. Das Prinzip 
der Weisheit aber ist in memoria Cartesii: ewiger, 
fruchtbarer Zweifel an sich selbst, unvergang- 
liche Sclbstvernichtung. 

Die Unterdriickung ist der unendiichste Stoff fur 
den Dichter. Denn hier werden die gewaltigsten 
schopferischen Krafte des Menschen angeriihrt, 
Erbarmen und Zorn, von der kleineren warmen- 
den Flamme des Mitleids bis zum Vulkan des 
Irrsinns. — Dieser Stoff kann aber seine Unmittel- 
barkcit verlieren, besonders in Zeiten, wo die 
Macht so klug ist, die Eitelkeit des Dichters zu 
fetieren, in Zeiten, wo der Dichter mit dem Pur- 
sten geht. Denn in jeder Kunst steckt noch ein 
groBer Rest von Korruptheit. Wenn es der aktu- 



ellen Mondanitat gerade gelingt, dem Dichter eine 
Haltung abzutrotzen, die sich zwar nicht mit ihr 
identifiziert, aber in ungefahrlicher Sphare sich 
halt, in sublimer Unnahbarkeit, dann entsteht das, 
was man Klassizismus nennt. Stoff und Trieb 
sind noch immer die gleichen! Denn man muB 
sich einer Realitat erbarmen mit ganzer Seeie, 
wenn man sie in eine vollkommene Gestalt bringen 
will, und man erbarmt sich nur armer Wesen. 
in solchen Zeiten wendet sich das irritierte Ge- 
wissen des Dichters durchaus dem Ausdruck zu, 
er nimmt seinen Schmerz und seinen Kampf der 
Welt weg und konzentriert beide auf sein Werk. 
Das im ehrlichsten Falle! Aber die klassische Lite- 
ratur entgeht ihrer Strafe nicht, sie wird durch 
ihren Platonismus zugrunde gerichtet. Sie beginnt 
die Gesichte durch Ideen zu ersetzen, die unmittel- 
baren Lebendigkeiten durch Abstraktionen ! Das 
heiBtaber, ihr liegt nichts mehr am Herzen! Ebenso 
wie dem hochentwickelten Kultur-lndividuum, das 
durch Wohlstand gesichert ist, nichts mehr am 
Herzen liegt, denn es empfindet die heiBesten 
Fragen nur dialektisch! Aus welchem Grunde? 
Aus Kalte, aus Lebensfeme, aus Interesselosig- 
keit! 

Diesem Schicksal entgeht die Literatur kleiner 
Volker eher, wenn sie nicht rein provinziell ist, 
und soferne diese Volker iiberhaupt geistig po- 
tent sind. Warum beeinflussen die nordischen 
Volker seit fast vierzig Jahren so stark die euro- 
paische Literatur, wie vermochten sie es, die Son- 
nenfinsternis eines Strindberg hervorzubringen? 
Antwort! Sie waren durch keine klassische Ver- 
gangenheit erblich belastet, die die Glieder ihrer 
Sprache hofisch und allzu verbindlich gemacht 
hatte. — Das politisch-moralische Temperament 
der Franzosen hat nach der Revolution, und viel- 
leicht schon in den Enzyklopadisten seinen Klassi- 
zismus iiberwunden. Jedenfalls erstanden ihm im 
vorigen Jahrhundert Manner, wie Flaubert, Zola, 
Baudelaire. Einem groBen Volk, den Russen, blieb 
der Klassizismus erspart. So scheinen es bloB 
die Deutschen zu sein, die fortlaboriereri. Wohl- 
gemerkt! Unter Klassizismus werden hier nicht 
die „Klas$iker“ verstanden und bekampft, sondern 
die Anschauung des Burgers vori Literatur, wenn 
er mit einem gewissen eitclindolenten Blick die 
Cottaschen Bande hinter dem Glas seines Biicher- 
schrankes mustert. — Der Geist ist selbst in einer 
Zwangslage, der er eriegen ist, wichtig genug, 
daB Du und ich seinen Schutz mit dem Tode be- 
zahlen. Es ist aber nicht zu leugnen, daB es gerade 
der Klassizismus ist, der die Burger von der 
Angst vor dem Geiste erldst hat Wodurch? Es 
mag der eine oder andere Genius eine Konzes- 
sion in seiner Haltung gemacht haben, wodurch 
die Autoritat eine Stutze empfing. Der Burger hat 
dafiir ein unendliches Feingefiihl. Er atmet auf. 
Denn wodurch einzig er die GroBe ertragt, ist 
der stille Trost, bei dem er sich innerlich die 
Hande reibt: „Auch Goethe ist ein SchweinP* 
Der intellektuelte Mittelstandspobel selbst erhalt, 
und nicht jene tun es, die Autoritat (die bureau- 
kratische und die wissensdiaftliche) auf ihrem 




65 



DIE AKTION 



66 



Throne. Er tut so, weil er fuhlt: „Diese sind mei- 
nesgleichen, jene aber, die Genies, wollen etwas 
von mir und mit mir; das ist aber unbequem und 
stort nur meine Geschafte. Also fort mit ihnen, 
solange sie leben! Ich bin aber nicht ungerecht 
und werde mir ihre Leichen praparieren lassen. 
Vorher will ich sie aber versuchen durch die 
Hesperidenapfel der zeitlichen GroBe und Wohl- 
fahrt." 

Wer aber bei dieser Verlockung zu Falle kam, 
hat, wie groB er auch sei t einen Verrat am Geiste 
begangen. 

Die KompromiBhaltung der Literaten, die Presse, 
die immer mehr menschenverwustende Organi- 
sation, in ihrem Gefolge die ganzliche Entwirk- 
lichung der Gehirne, das Bildungsprivilegium ge- 
wisser Stande, das, und tausend unbestimmtc 
Grunde mehr, fuhren jenen unverbindlich erha* 
benen Neutralisms herbei, jenes leidenschafts- 
lose Festhalten an gebrauchlichen Architekturen, 
jene unuberwindliche Nurbegrifflichkeit, die hier 
Klassizismus genannt wird. Die bedeuten- 
den und feurigen Geister der Zeit, die sich 
ihm entziehen wollen, werden mit ihrem 
Schmerz und Witz imaginar bleiben, im Leeren 
hangen, denn sie tragen den schrecklichen Krank- 
heitsstoff der Entrealisiertheit in sich. Sie mussen 
sich die Dinge erst vorstellen mit dem Ungluck 
Oder der Frechheit Schuchterner. Fremdheit ist ihr 
produktives Geftihl. 

Die Dichtung wird immer esoterischer werden, 
sie wird in Gem einschaf ten, Biinden, Clique n 
leben, weil sie die panbureaukratische Lebens- 
haft der sozialen Abstraktion nicht mehr ertragen 
kann. 

Siebzigtausend sind die Stimme und siebzigtau- 
send gilt die Stimme des Petr BezruC. Ihnen nur, 
und nicht der anderen Well. In diesen Gedichten 
wird nicht gedacht an Werk, Wirkung, Presse, 
Ruhm, Bestatigung einer unregelmaB igen Existenz 
— ail diese Versuchungen, all die Verwesungs- 
stoffe im Charakter eines burgerlichen Dichters 
haben hier kelne Nahrung. Denn hier ist in Wahr- 
heit Sterbensschrei ! — Der Sterbensschrei eines 
burgerlichen Dichters, sturbe er selbst an diesem 
Schrei, wird Koketterie sein, Hier ist Notvvendig- 
keit, nicht die notlose Notigung, die den burger- 
Iichen Dichter zum Schreiben treibt (Welch ein 
peinliches Eingestandnis entwirklichter Produkti- 
vitaten ist es, Opiate zum Schaffen nicht entbehren 
zu konnen.) Dieser Mann aber steht keiner Vision 
gegen tiber, er ist keiner von jenen, die schlieBlich 
doch nur etwas aussagen von dieser Vision, nein, 
er ist der besessene, letzte, zusammengepreBte 
Send! in g, die ganze Wirklichkeit eines untergehen* 
den Stammes. — Warum sind alle Arbeiterdichter 
undiskutabel, warum ist uberhaupt noch der So- 
zialdemokratie kein Dichter erstanden? Weil sie 
selbst nichts anderes ist als Abstraktion, eine tech- 
nische Konstrukti on des technisch konstruktiven 
Zeitalters . Ein kleiner Teil aber eines kleinen 
Volkes , der bedruckteste Sklave dieser Technik, 
bat die tiefe Einfalt und Mens chi ich keit gehabt 
(die Welt mag es Unkultur nennen), bedruckt zu 



werden und frei zu bleiben von der Bewunderung 
fur die Bedrucker. Unseresgleichen bewundert 
aber die Maschine, die uns beherrscht Nur von 
ungebrochener Menschenwirklichkeit, nicht von 
Nationalism us Oder irgendwelcher Parteiung, 
konnte Petr BezruC entsandt werden, nur von den 
alten, ohnmachtigen, durch den Sturm vs einen den 
Oottern eines vergehenden B lutes. 

Hier bleibt ein Wort iiber das Volk der Tsche- 
chen ubrig. 

♦ * 

* 

Die Tragik der mitteleuropaischen Volker und ihre 
GroBe ist die Innerlichkeit. Es fehlt der Atem 
der Atlantis, das Hymnische, das Verschworertum, 
die Leidenschaft fur oder gegen den Nachsten, 
da rum auch die Leidenschaft des Marktes. Kurz, 
es fehlen die Revolution und der Roman, und alles 
ist Lyrik. Hier sind die Zonen der schweren 
Betten, wo jeder die Decken und Kissen iiber sich 
hauft, damit ja sein Traum und seine Warme nicht 
von ihm weiche. Wie leicht hatte es hier die 
Macht, die keinen Widerstand fand, ihren Sitz 
immer unnahbarer und uneinnehmbarer zu be- 
festigen, so sehr, dafi die Menschen, die sich ihr 
Leiden gar nicht eingestehen durften, in eine selt- 
same Schlafkrankheit verfielen. Alle Versuche zu 
erwachen endeten in der tiefen Gestaltungsunfahig- 
keit des Schlaftrunkenen. Ein einziges dieser Vol- 
ker wehrte sich und verteidigte seinen Versuch 
so lange, bis es von der Macht vernichtet wurde 
in seiner Seele. Das war das Volk inmitten der 
Mitte Euro pas, das war das tragische Ges chick 
der Tschechen inmitten der deutschen Tragik. 
Der Hussitismus ist die unausloschliche, wenn 
auch fiir Jahrhunderte zerstorte, schopfensche 





DIE AKTION 





Tradition des tschechischen Volkes. Seine Bedeu- 
tung wird miBverstanden und mehr noch a!s das, 
gefalscht! Er ist keineswegs der Ausbruch eines 
lange zuriickgehaltenen Nationalhasses, als den 
man ihn darzustellen beliebt, nein, er ist nichts 
als die groBte und reinste Erhebung zu einem 
heiligen Leben, die uns das spate Mittelalter be- 
schert hat. DaB er schopferische Tradition ist, 
beweist die merkwiirdige, rhythmische Uberein- 
stimmung zeitlich so auseinanderliegender Gei- 
ster, wie ChePicky, Comenius und Otokar Bfe- 
zina. Unser Zeitgenosse Biezina scheint noch ein 
Mann der bohmischen Kirche zu sein, einer von 
den „Briidern des gemeinsamen Lebens“, oder 
einer aus der „Unitas fratrum“. Seine Verse von 
gewaltiger Strombreite sind ohne Dynamik, ohne 
Steigerung, am Beginn nicht schmaler als an der 
Miindung. Sie sind wie ein Herbeistromen von 
Menschen an einen heiligen Ort, wie eine tiefe 
Wallfahrt, die sich zu formen beginnt. Ein Gedicht 
dieses Mannes hat schon im Dichterischen jene 
Form, der fur das Leben der Menschen seine 
Sehnsucht gilt. Jedes seiner Gedichte ist eine Ge- 
meinde, eine hohe Bruderschaft. Frappant ist auch 
die Ahnlichkeit zu dem inneren Stil des Comenius, 
obgleich dieser zumeist lateinisch schrieb. Aber 
man vergleiche nur die Titel, die der Verfasser 
des „Orbis pictus“ seinen Biichern gab, mit den 
Titeln des Bfezina: „Zentrum der Sicherheit“, 
„Paradies des Herzens 44 , „Stimme der Trauer“, 
nennt Comenius drei seiner Schriften; in einer 
anderen versuchte er in seltsamer mystischer Ar- 
chitektonik nach dem GrundriB des salomonischen 
Tempels eine „Pansophia“ aufzubauen. Man denke 
jetzt an die Titel Bfezinas: „Erbauer des Tem- 
pels“, „Winde von beiden Polen“, Fiihlt man 
nicht schon in diesen beilaufigen Merkmalen den 
tiefen langsam vollen Glockenschlag des g eichen 
Blutes? — Noch einmal sei betont, der Hussitis- 
mus ist kein Negativum, keine nationalistische, 
dem DeutschenhaB entsprungene Revolte, er ist 
der heilige Drang eines ganzen Volkes zur Abkehr 
und Wiedergeburt. 




Studi? 



Zeitkinder werden mir nicht glauben wollen* Denn 
nichts ist dieser Zeit unbcgreiflicher als geistige 
Entscheidung; darum auch sieht das Ressen- 
timent der Zeit in der heutigen Geschichtschrei- 
bung hinter allem Motive und volkswirtschaft- 
liche Ursachen. 

Unausdenkbar schrecklich waren die Leiden, die 
dieses Volk fur seinen hohen Willen zum Gottes- 
staat geerntet hat. Die jammervollste Zeit Mittel- 
europas iiberragte in Bohmen an Jammer sich 
selbst. Eine wahrhaft menschliche Gesittung, eine 
einfaltige Lebensart, eine briiderliche Sammlung, 
eine gute Mischung von deutscher Biederkeit und 
slawisch endloser Demiitigkeit vor Gott und dem 
Bruder, dies alJes aus der traurigen Heiterkeit 
einer reichen, sanften Landschaft geboren, ein 
Volk, eine Sprache wurde zerstampft von der 
Macht und zugrunde gerichtet. Horen wir, wie 
Herder diese Katastrophe beklagt. Er spricht von 
der bohmischen Kirche: „Keine Gemeinde 

Deutschlands ist mir bekannt, 44 so schreibt er, 
„die mit so reinem Eifer fur ihre Sprache, fur 
Zucht und Ordnung bei ihren Gebrauchen sowohl 
als in ihrem hauslichen Leben, ja fur Unterweisung 
und Aufkliirung im Kreise ihres Notwendigen und 
Nutzlichen gesorgt, gestritten, gelitten hatte, als 
diese. Von ihr aus entsprang jener Funke, der in 
den dunkelsten Zeiten des hartesten geistlichen 
Dcspotismus Italien, Frankreich, England, die Nie- 
derlande, Deutschland wie ein Feuer durchlief 
und jene vielnamigen Albigenser, Waldenser, Lol- 
larden usw. weckte. In ihr ward durch Hus und 
andere der Grund zu einer Reformation gelegt, 
die fur ihre Sprache und Gegenden eine National- 
reform hatten werden konnen, wie es keine in 
Deutschland ward. Bis auf Comenius strebte da- 
hin der Geist dieser slawischen Volker. In ihr ist 
eine Wirksamkeit, eine Eintracht und Tapferkeit 
gezeigt worden, wie auBer der Schweiz diesseits 
der Alpen nirgends anders; und es ist kaum zu 
zweifeln, dafl, wenn man sich vom zehnten, vier- 
zehnten Jahrhundert an diese Tatigkeit nur eini- 
germaBen unterstiitzt gedenkt, Bohmen, Mahren, 
ja uberhaupt die slawischen Lander an der Ostseite 
Deutschlands ein Volk worden waren, das seinen 
Nachbarn andern Nutzen gebracht hatte, als den 
es jetzt seinen Oberherren zu bringen vermag^. 
Die Unvernunft und Herrschsucht der Menschen 
wollte es anders. Ein (lias beweinenswurdiger 
Umstande . . . <f 

* * 

* 

Der groBe Dichter Otokar Bfezina ist die reine 
Manifestation der scliopferischen Substanz des 
tschechischen Volkes. In ihm lebt der mystische 
Humanismus der taboritischen Republiken, jene 
Miidigkeit im Pathos, die liber das voile MaB der 
Polyphonic hinsclnvingend unsaglich herzensreine 
Melodienlinie der Stnetana-Musik, Petr Bezruk 
ist die Manifestation des tschechischen Schicksals. 
Er ist grimmige Hussitenseele, die ihren Gott 
verloren hat. Er mag nach der Niederlage von 
Lipan dunkel mit zerflattertem Haar iiber sein zer- 
brochenes Schwert gebriatet haben, ihm schlug^ 
die Fiamme ins Gesicht, in die der Jesuit die hun- 



Wilkelm Kitmm 



DIE AKTION 



M 



70 



itAmend hohen Bucher warf, die fast fur immer 
mt b^iache und ihre Dichtung verzehrten. Er 
mt\\ das Brot in den Waldern, wohin die ver- 

Qrubenheimer geflflehtet waren. in reg- 
nerisebeu Nachten saB er auf elenden Fuhrwerken 
unter den Auswanderern nach dem Westfalischen 
Frieden. In Schweden belauschte er Komenskys 
Gesprach mit Oxenstirn, in England wehte er 
schutzend iiber gerettete Dokumente. Jetzt aber 
taucht er wieder auf, Damon, Revenant und In- 
karnation des Volk-Schicksals. Er schreit auf vor 
Teschen, er jagt in der Nacht fiber die Felder des 
Marquis Gero, sein entsetzliches Lachen hort man 
von fern im Eisenlarm der Witkowitzer Hochofen, 
in den Schenken singt man sein Lied von der 
Marie Magdon und von Bernhard Zor. Denn er ist 
uberall dort, wo das alte Schicksal herein bricht. 
Und hier ist das uralte Schicksal wieder, hier, 
in den schlesisch-mahrisch-polnischen Bezirken, 
jenes Urschicksal, das die Sprache seit eh und je 



zerstort und die schfitzenden Goiter vertreibt. Das 
Schicksal jener hinsterbender Siebzigtausend ist 
symbolisch fur das ganze Volk. Und darum er- 
scheint dort der ewig umgehende Damon, darum 
erscheint der dunkle, grimmige Petr Bezrufi. 



Fur die Damonie seiner Erscheinung ist die 
Sprache des Petr Bezruk der starkste Beweis. Es 
ware muBig, sie durch Elementar-Vergleich und 
Metapher umschreiben zu wollen. Eins sei nur 
gesagt: In der Art, wie er Namen nennt, Witko- 
witz, Lysa, Hrabin, Beskyden, Ostrawitza Iiegt 
dichterische Entschiedenheit, eine Leidenschaft, 
die diese Namen fiberwirklich macht, exempla- 
risch, zu sagenhaften Statten. Ein ahnliches Ge- 
fuhl mochten die Griechen haben, wenn sie The- 
ben und Argos von der Szene genannt horten, 
alltagliche Orte, die nun auf einmal verwandelt 
waren in Traum-Bedeutung. 




Arthur Stgol 



Hohichnitt (vom Stock gedrutkt) 






71 



DIE AKTION 



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STROPHEN AUS DEM GEDICHT DOLORES 

Von Algernon Charles Swinburne 

Kaite Lider wie Schmucksteine huten 
Harte Augen, fast sanft eine Stund; 

Die schwerweiBen Glieder, Giftbliite 
Der rote und grausame Mund, 

Geht einrnal dahin ihre Glorie, 

Was bleibt datin von dir, was ist dein, 

O mystische, diistre Dolores, 

Unsre Herrin der Pein? 

Es gibt Sunden vielleicht zu entbinden, 

Es gibt Taten vielleicht unentfacht. 

Welches neue Werk willst du ausfinden? 

Neue Siichte fur Tag Oder Nacht? 

Welchen Bann, der nie Jene betorte, 

Deren Leben wie Blatter verweht? 

Marter unertraumt, unerhorte, 

Unmafiig, unstet? 

Im Raume von gestern und morgen, 

AuBer Sicht, wenn auch Trugbild vom Tag, 
Immer waren und werden sein Sorgen, 

Nicht zum Spiel sind ihr BiB und ihr Schlag. 
Magst du Leben und Liebe verschmahen — 

Das schmerzt, doch umsonst wird es sein, 

Als weisestes Weib bleibst du stehen, 

Unsre Herrin der Pein. 

Frucht fault, Liebe stirbt, Zeiten wandern, 

Ein bestandiger Atem dein Brod, 

Lebst eine Verwandlung zur andern, 

Du bist frisch von den Kiissen vom Tod. 
Entflammt und emeut von Ermattung, 

Von fruchtloser, zuchtloser Wahl, 

Unrein von verworfner Begattung, 

Ptirstin giftig, fahl. 

Man kleidet und schmuckt und verkappt uns, 

Du bist edel und nackt und antik. 

Libytina die Mutter, Priapus 
Dein Vater Toskaner und Griech! 

Wir spielen mit Liebe Ieichtlebig, 

Sind storrisch und fiigen uns drein 

Liebe stirbt, doch dich wissen wir ewig, 

Unsre Herrin der Pein! 

Umdichtung von Alexander Freiherr von Bemus 

BALLADE VOM GLOCK 

In grauen Tagen singende Melodie entfernter 

Maien 

Aufweint hinstromend genossener Freuden silber- 

blauen Rausch. 

Das war — das ging . . Erstes Alleinsein zu 

Zweien 

Umarmend Sonne glanzend Gefild in Leiber be- 

seligtem Tausch. 

An ewigem Himmel — Lacheln — der Mittag 

ruhte 

Hingebreitet Segnung uber entknospete Flur. 
Leuchten ging auf Paradies Ahnung aus rau- 

schendem Blute — 

Meteor steil gen Spharen Musik schimmernde 

Spur. 

Sprachlos wallten auf hymnischer Lippe Gebete 



Oh — einfaltigen Danks. Schweigen war ganz 

erfullt. 

Aus ungewuBten Bezirken Seins herwehte 
Atem Gottes der sauselt im Zephir und aus den 

Sturmen brullt. 

Sterne tanzten verziickt im himmlischen Raum 
Selbstvergessen und froh der Gewahrung seltener 

Huld. 

Taten geschahn — erhaben! — aus Bliiten zer- 

staubtem Traum. 

Herzschlag der Menschheit sanftester Ton war 

rein von Schuld. 

Das war — das ging . . Eilig auf golden er Kugel 

rollte 

Die hohe Gottin den Teppich der Gaben fliehend 

ein. 

Entlang verdunkelter Horizonte Drohungen grolltc 
Donner — Verheifiung Leids. Firmamenteflamm- 

ten blutenden Widerschein. 

Qual knarrende Speichen kurbein muhsames Rad 

der Welt. 

Blindheit Geschick durch krampfhafte Zeiten 

waltet. 

Aus ewigen Wolken Fliigel Dammerung entfaltet 
Die Fledermause — Gespenster — lautlos durch 

Abende schnellt. 

Verstorte Nachte Hirne zersplittern weh zer- 

wachte 

Die Ratseln starben ungeruhrten Geschehens. 
Menschen Ahasvere voll heilig-unheiligen Schens 
Rasen Ekstasen vergeblich — nie ausgedachte. 
Bleiches Gesicht vor brausenden Fernen flackernd 

kniet 

Eingegraben erschutternden Denkens knallender 

Not — : 

Dem Nichtsl — fanatisch bestrahlt vom brau- 
senden Rot 

Des rasenden Lebens das schaumt in den Zenith. 
Bleiches Gesicht — Visionen zerpeitscht es strahlt 

transparent 

Durch furchtbare Einsamfceit zerbrechende Qual — : 

zu sein! 

Tiefster Verlassenheiten aufdonnert einSchrei'n — 
Verzweiflung Herzens, das Sehnsucht Gluckes ver- 

brennt. 

Bleiches Gesicht hypnotisch auf ruchlose StraBen 

starrt 

Die unter dem Kreuz mussen gegangen sein ohn 

Ende. 

Hoffnung erhabenen Seins ohn Ende narrt 
Die segnend erhoben sind hilfreich getaltete Hande. 
Steil in den Himmel, Gesicht! In den Zenith! 
Schimmer vergangener Tage will sanft dich 

kronen. 

Dafi dich ein Blinzeln aus Gottes Auge sieht 
Sehnsucht Orgel soli brausend ertonen! 

In grauen Tagen singende Melodie entfernter 

Maien 

Aufweint hinstromend genossener Freuden silber- 

blauen Rausch. 

Das war — das ging . . Seele verstumm! Auf- 

lausch 

SiiBer Verheifiung spharischen Litaneien! 

Walther Rilla 



DIE AKTION 



74 




Ito&tSTlENHAUS 

\A \ Taurig, rings umgittert von den Tieren, 
Duicbs bniWende Haus am StoB der Stabe hin 

und her, 

Und bYicke weit in ihren Blick wie weit hinaus 

auf Meer 

in ihre Freiheit — die die schonen nie verlieren. 

Der harte Takt der engen Stadt und Menschheit 

zahlt 

An meinen Zeh'n, doch lose schreiten Einsam* 

keiten 

Im Tigerknie, und seine baumgestreiften Seiten 
Sind nur der ganzbewachsenen Erde eng vermahlt. 

Ach, ihre reinen heifien Seelen fuhlt mein Wille ] 
Und ich zerschmelze sehnsuchtsvoller ats ein 

Weib, 

Des Jaguars Blitze gelb aus seinem Sturmnachtleib 
Empfangt mein Schneegesicht und winzige Pupille. 

Der Adler sitzt wie Statuen still und scheinbar 

schwer 

— Und aufwarts auhvarts in Bewegung unge- 

heuer, 

Sein Auftrieb greift in mich und spannt mich in 

sein Steuer, 

— Ich bleibe still, ich bin von Stein, es fliegt 

nur er. 

Es steigen hoch der Elefanten graue Eise, 
Gebirge, nur von Riesengeistern noch bewohnt — 
Von Wucht und Glut des freien Alls bin ich 

umthront. 

Und stehe eingesperrt in ihrem wilden Kreise. 

Alfred Wolfenstein 

STOSSEUFZER 

Ihr G otter von Rechts und Links, 

wenn schon der Tag langen Ganges nicht vor- 

ubergeht, 

verschont meine schmerzzertobte Brust, 

wenn sie nachtbefangen und ungewappnet ist. 

Denn der Mond larmt am blutigen Himmel, 

mich hetzen die Geister tagi gesehener Menschen, 

gleichend gefleckten BullenbeiBern, 

den Kroten unter den Hunden. 

Ich, weilend im trauemden Forst, 

kann nicht entrinnen, 

urxfahig des Bergs, 

des Erklimmens rettender Gipfel, 

wo rciner die Luft ist, 

und kein Gerede von Menschen, 

den Kroten unter den Dingen! 

Albert Ehren stein 



NACHTS IM ZIMMER 

Die Gaslampe rochelt wie eine sterbende Frau. 
Stuhle erheben sich und konnen nicht helfen. 
Irgendetwes murmelt zitternd der alte Ofen. 
AuHriSt jeden Schall der rote Teppich. 

Mit blinden Augen lauem still die Fenster. 

Der Spiegel grinst wie die gemeinste Hure. 
Unflatig kriechi das Sofa iiber die Dielen. 

Die Glaser im Schrank schutteln sich und kichern. 

Edlef Koppen 

QUAL 

Quille, quille rot erschaumend 
in der inneren Nacht und rinne, 
rinne, still es Blut. 

Ist so suB das Sterben, 
neige, neige nieder dich 
bis auf meine Lippen, 
weh verwundete Frucht 

Trennen, trennen 
meine feuchten Lippen 
und der Zahne wciBes Blecken 
ruhren, riihren 

flimmernde Gefahr der Rander 
deiner steilen Wunde. 

Spring auf, spring auf 

wild mein Blut, 

der Lust Woge, 

einzige Woge, 

rauschend in den Schacht 

verrauschend schnell 

und ewig fallend 

in die heimatlose Nacht 

Heinrich Schaefer 

JANUAR 

Alle Hauser sind ganz scharf umrandert, 
und der graue Himmel bangt vor Kalte. 

Enge Baume zucken aus dem Felde 

diinn, wie Korper von schwerkranken Kindem, 

Selig, selig ist das Land verandert. 

Lehnt sich kuhl und briinstig an Kaskaden 
weiBer Wolken, die im letzten hintem 
Ende dieser flachen Helle war ten, 

Und sie offnen gierig ihre Scharten, 
in die sich die starke Erde drangt, 
marmorn, durstig, und sie will sich baden 
in den Hiiften runder Wolkenstrange. 

Jhre Liebe selbst bleibt rein, wie der Nomaden 
stille, madchenwerbende Gesange. 

Kurd Adler 



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DIE AKTION 




GEDICHTE IN PROSA 
Die Birke 

Eine schlanke Birke wuchs im griinen Land. Um 
sie her leuchteten die Tupfen gelber und blauer 
Blumen. Und die Wolken hoben sich schimmernd 
iiber den Rand des Hiigels. 

Da fiel ein Weih ein mit rauschenden Fliigeln 
und glanzenden Krallen. Und hielt in den Zwiugen 
seines Hornschnabels cine wilde Taube. Aus 
ihrem weiBen Flaum quollen Tropfen roten Blutes. 
Die Birke schauderte es und jah ward sie krank. 
Sie bog ihren Wipfel und rief den Namen des 
Winds. 

Und der Wind kam brausend geflogen und schiit- 
telte die Birke, daB der Weih die geworfenen 
Schwingen spreiten muBte. 

Doch als der Kuckuck Quartier nahm in ihrem 
Gezweig, da glanzte das Stammchen auf wie Seide 
und die Blattchen zwitscherten in der prangenden 
Sonne. 

Hans Koch 



Die Amsel 

Zum erstenmal heute, bei mildem regnerischem 
Wetter, wie es fast immer jetzt ist, unter den 
feuchten Baumen, habe ich die Amsel gehort, als 
der Tag sich neigte. 

O siiBe Stimme. O laue Seele des Friihlings, den 
keiner noch sieht und den dieses sanfte Geschopf 
schon kennt und segnet. 

Eine Melodie war es, kaum fur einen Augenblick. 
Dann drei Tone fur sich, einer, noch einer und 
noch einer. Und sie schwieg. 

Oh, Amsel meine treue Seele. Oh Flote des April, 
die der Februar schneidet in Liebeserwartung und 
Hoffnung aut Frohlichkeit, 

Wie suB und frisch deine Stimme ist, so rein und 
so neu. Und wie sie wunderbarerweise alles auf 
den ersten Schlag weifi! Ihr erster Versuch ist 
ein Lied. 

Der Seufzer eines Augenblicks hat er denn soviel 
SuBigkeit? Die Liebc schluchzt, und dcr Augen- 
blick ist suB, 

Oh, meine Freude, meine Freude. In meinem 
traurigen Herzen singst du, wenn ich selbst mor- 
gen sterben muB. Die Dammerung kommt und 

in meine Augen so viele, so viele laue Tranen! 

Andre Suares 

(Deutsch von August Bruchcr) 



Antik 

Einst eine wilde Kentaurin in Thessalien sprengtc 
ich im Gefolge der riesenhaften Ungeheuer, ga- 
loppierte mit ihren kranzgeschmuckten Scharen 
durch die Mondnachte, trank das Wasser klarer 



Quellen, sog den Duft der dunklen Salbei am See- 
ufer ein, raste als erste iiber die hochsten Berg- 
kamme . , . und mein Haar flatterte wie cine 
Fahne im Abendwind. 

Sie haben mich alle geliebt und sie haben mich alle 
verfolgt, die Kentauren . . . sogar der alte Hink- 
teufel Chiron mit seinem harten Bart, dessen bei- 
Bender Geruch meine Nasenflugel aufbeben 
lieB . . . O du kurzes Leben, versunken in Leiden- 
schaft, als ich mich noch mit gehetztem Atem, 
berauscht von meiner Schonheit, in die wachen 
Abenteuer sturzte . . . Ich erinnere mich eines 
Tages am Meeresufer. Das Meer schwoll still 
wie die Glatte eines Saphirs. Da lag ich, durch- 
bohrt vom Kieselpfeil eines jungen Satyrs, im 
Sand, besat mit kleinen Seemuscheln, achzend vor 
Schmerz, und horte verzweifelnd fern, ganz fern, 
den Klang der schweren Hufe, der in die Felsen 
hinauffloh . . . 

Die steigende See feuchtete meine Kruppe, spiilte 
iiber meine machiigen Flanken. In Stromen schoB 
das Blut aus meiner tiefen Wunde, und vereist 
von Schauern, in Schrecken erstarrt, fuhlte ich 
wie der Tod mich wurgend umhalste. 

Marguerite Schurmann 

(Deutsch von Manfred Georg) 

ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS 
XL 

Es wird also auch nach dem Frieden nbtig sein, den Ricmen 
eng geschnallt zu halten. Wir werden weiter schsrf rationieren 
roUssen. Wir werden weiter altes Brotgetreide, auch das tninder- 
wertige, filr die menschliche Nahrung erfassen wttssen, und wir 
werden bis Uber den Bicker hin den Konsum zu regeln haben. 
Erleichterungen werden erst allmihlich eintreten und werden 
dann mit grofier Befriedigung entgegengenommen werden. Man 
mufl aber den Gedanken mit voile m Ernst erfassen, diS zunichat 
wegen des Friedensschlusses eine Erleichterung auf dem Gebiete 
der Lebensmittelversorgung — soweit es sich wenigstens um die 
Massengttter handelt — nicht eintreten wird. Der Sehnsuchisruf 
„Gebt uns Frieden, gebl unt mehr Brotl* hat keine innere 
BegrUndung. 

Unterst aa t ssekretar Michaelu den amilichen 

n Deutschen Krieysnavhrichten* . 

Die Preisprtlfungsstelle in Khln hat beschlossen, weibliche Hilfa- 
krifte fttr die stidtische Poltzei einzusiellen Die Frauen sollen 
vor allem die KleinhandeUpreise Uberwachen. Es wird dadurch 
eine Anregung verwirklicht, die unser Kolner Parteiblatt wieder- 
holt gegeben bat. Unsere Kolner Genossinnen werden selbst- 
verstindlich darauf hinwirken, dafl auch aus ihren Reihen „Poli- 
zistinnen** genotnmen werden. 

Aus dent ,, Vonoarttf', 7, Januar 1917, wo die Notiz 

mit der Ubcrschrift erschifn : ,, Qenossin Sckutxfrau' 1 * 

. . . Wenn das Volk lelzte Irmanz sein soil, so ist damit nicht 
gesagt, dafi es in alien Dingen die erste ist und dad keinerlei 
Mafinahmen der Staatsleitung getroffen werden dilrften, be vor 
das Volk ihnen lugestiramt hat. 

Als Demokraten stehen wir auf dem Standpunkt, dafi keinerlei 
Meinungsftufierung unterbunden und mit Strafe belegt werden 
soli. Aber wir meinen auch, dafl ein Volk, je freier es i*t, 
des to klarer die Grenzen erkennen soil, die zwischen bloflem 
Dafttrhalten und fachmfinnischer Erwigung verantwortlicher 
StelLen gezogen find. 

Aus dem Leitartxhtl „Kriegfuhrung und Demokratie*, 

de$ n VorwUrt9 u , fiaupt-Organ aer JPartei ScheuUt- 

mann- Stamp fer, vom IS. 1. 1917. 




DIE AKTION 



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KLEINER BRIEFKASTEN 



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Leset* ich wctO, du liest seit Monaten aus dem Sumpfer- 
tchen w VorwSns* nur, was ich hier ziih-re; deine Nerven haben 
den Voneil davon. lleut hahe ich fJr dich (uml iur spatere 
Tage) zwei „Vorwaris - - Pr*idukte, <l»e nebeneinandcr stehen 
miissen: 



Was soil noch die Zensur? 

Die Zensur gehbrt zu den 
Miiteln eines sich in 
rase hem Tempo vollzie- 
benden Niederwerfungs- 
kriegs. Wo die Tat allein 
eniscbeidet sollen Z wei fel und 
Bedenken s eel iscb e E i n * 
wirkungen. die den Erfolg 
geflhrden, niedergehalien 
werden. So wie man sich den 
Krieg nie anders vorsiellen 
konnie als cine rasch vor liber- 
gehende Erschemung, so war 
die Zeo'ur nie anders gedacht 
denn ais cine vorubergehende 
Madregel. 

Anders kann sie auch gar nicht 
vrirken. Dcnn die frcie Dis* 
kussion setzt sich in einem 
Lande, das einmal an sic ge- 
wohnt war, immer wieder von 
selber durch. Wir mochten 
fragen: Gibt es irgendeine 
Metnung (lber den Krieg 
and die mit ihni zusammm- 
hangenden Gegenstande, die 
dem Volke nichr bekannt ist, 
die von ihm nicht disku- 
t i ert wird? . . . 

Folgen die Parlamentsverhand- 
lungen Sie stehen auch wihrend 
des Kriegs unter ImmuniiSt, 
und die Protokolle der Reichs* 
tags- und Landiagsdeb&lten ent- 
b alien uisichlich jede Meinung, 
die innerhalb des Volkes ver- 
t re ten wird. . . , 

Und nun die Presse selbst? . . , 
In der letzten Zeit hatte 
diedeutscbcPresse sicher 
nicht erbeblich anders 
Busgesehen, wennestiber- 
haupt keine Zensur gege* 
ben h&ite. 

Urd nun baben wir noch das 
deuische Friedensangebot er- 
lebt and seine Ablehnung durch 
die Gegner. Fiir alle Weit ist 
damit klar ge worden, dafi 
Deutschland gegen feindliche 
Eroberungsabsichten einen Ver- 
ieid>gungskrieg zu fuhren hat. 
Die _ F rage - der Landesver- 
teidigung, d ie immer h o c h- 
■tens nur ftlr sehrverein- 
selteCeister eine n Frage a 
wir. ist damit ftlr das gante 
Volk aufierb al b jeder Er* 



An die Partei! 

. . . Durch unsre Paneiorgani- 
sation geht ein RiU. In ver* 
hangnisvoller V cise haben sich 
die Zu^tfindc innerhalb der 
Partei enuvickeh. . . . 

Zur groflten Freude atlerFeinde 
der Partei und zum unabseh- 
baren Schuden der P.trioi und 
der deutschen Arbeiierschaft 
redetc und stimmle schliefllich 
nicht nur eine Minderheit der 
RHchatagsfraktion gegen die 
Mehrheit, sondern grtlndeie so- 
gar eine besondere Fraktion. 
Mil der Spaltung der Reichs- 
tagsfraktion war in unverant- 
wortlicher \Vt*ise das den k bar 
schlimmste Beispiel fiir we it ere 
Parteizerspliuerung gegeben 
worden. Trotz alledem lieOen 
es der Partei vorstand, der Par- 
teiausschuft und die Reichstags- 
frakiion bei Tadeln und ernsten 
Ermahnungen, in der Erwar- 
tung, daft die in der Opposition 
stehenden Genossinnen und (Ie- 
nos sen sich auf ihre demokra- 
tischen Pflichtcn hesinnen und 
femerhin Disziplin Uben 
wtirden. 

Dtese Erwartungen sind nach 
jeder Rtchtung bin getSuscht 
worden DieallgemeinenKriegs- 
note, der Schmerz urn Verluste, 
die Surge um Angehtirigc usw 
— alles das hat, wie in alien 
andern am Kriege beteiligien 
Landern auch bei uns eine 
Stimmung geschaffen, die von 
der Opposition restlos ausge- 
nutzt wird, um die Parteimehr- 
heit und die Paneileitung zu 
verdachtigen und die Leitung 
dcr Partei einer Gruppe in die 
Hande zu spielen, die schon 
lange Zeit vor dem Kriege dar- 
um gekampft hat. Unausgesetzt 
hielten und hallen die ver 
schiedenen oppositionellen 
Gruppen — die Sozialdemo- 
krattsche Arbeitsgemeinschaft, 
die sogenannten I nternationalen, 
die Spartakusan hanger usw. — 
Konferenzen im Retche ab, um 
sich zunachst opposiiionelle 
St(Uzpunkte und im Anschlufi 
daran eigene Organisationen zu 
sclaffen. . . . 

Parteigenossen : Die geschtl* 

derten Zustknde sind ftlr die 
Partei unerirSglich geworden ; 



ort e r un g gesiellt. Ji-dermann 
weiS, dafl das, was jetzt ge- 
schieht, eben nur darum ge- 
schicht, wed es anders durch- 
aus nicht geht. 

Diese Ati*fa>sung ist so ziem- 
lich in der gnnren deuischen 
Presse zum Ausdmck gekom- 
men und das httue auch nicht 
anders sem kbnnen, selbst 
wenu man denjenigen mit 
einer P ramie bedacht 
hatte, der dazu etwas 
andcres zu sagen wilOte. ... 
Die Aufhebung der Zensur 
kbnntc aber auch nicht ohne 
Ktlckwirkung auf andere Lander 
bleiben, die sich jerade jetzt 
— nach der Ablehnung des 
Fnedensangebots — den Luxus 
einer vollkommcnen Prefifrei- 
heit viel weniger gestatten kbn- 
nen als wir. . . . 

Z w a n g li r ft u c h t nur der, 
der niederschlagen und 
nchtnen will. . . . 

Ah# dem Ldtartikel des 
„ For itv * jenem , , C'en - 
tratorgan der Soxialdtmo- 
krntisehen Partei Deutsch- 
lands‘* t IS, I. 1917. 



sie mtlBten die Parlei zugrunde 
richien wenn wir sie linger 
d ulden woilten. Wir wullen 
und dilrfen sie nicht langer 
d u 1 d e n , , , . 

Fs in ii B jetzt Klarheit in der 
Partei geschaffen werden Wer 
fernerhin zur sozialdemokrati- 
schen Partei stehen und ibr 
die Trcue halten will, der kann 
nichts gemein haben mit dem. 
was auf der Reichskonfrrens 
der verschiedenen op posit to* 
nellen Gruppen beschlossen 
worden ist. 

Es mufi jetzt Farbe bekannt 
werden. Die Genossen und 
Organisationen, die sich mit 
den Beschltlssen der Reichs* 
Sonderkonferenz der oppositio- 
nellen Gruppen solidarisch er- 
ktaren, kbnnen nicht gleich- 
zeitig Mitglieder der sozialde* 
mokr&tischen Partei sein oder 
bleiben, Das eine schlieOt das 
andre aus. . . , 

Am# dem selben „VoT‘ 
tcdrt8", SI. /. 1917. „Au/'- 
ruf u eines TVites des Vor - 
standee, der deutschen So~ 
tialdemokratie. 



. . . Lichivoll werden diese , p VorwSrts'*-Darbietungen erst durch 
den Sylvester- Auf»atz des Blattes. der von den ,,blirgerlichen (> 
Parteien sagt: 

„ , . . Sie, die uns vor dem Kriege vaterlandslose Gesellen nannten, 
haben an uns, an der ganzen Bewegung, dcren Wesen sie ver- 
kannten, ein Unrecht gut zu machcn, Mogen sie es tun, indem 
sie aufhorcn, Fcinde unsrer Sache zu sein. u 
Aber „unsre“ Sache ist ja unsre Sacbe, kbnnen die btlrgerlichen 
Parteien antworten. 

Doktor Alfred Kerr, Sie bedauern im roten n Tog u , da0 ich 
Ihren Sang vom gieichen Strang nur gekdrzt titiert habe. Da 
ich wohi mit Recht annehme, da3 sich das Bedauern auch auf 
das niedliche n Kumnnenlied' > beziehl, so will ich Ihnen den Ge- 
fallen bald tun. Heuie habe ich leidcr keinen Raum ttbrig. 

F.L. Als Band 5 der AKTIOVS BOCHER DER AETERNISTEN 
erscheint soeben: Carl Einsteins Bebuquin, vom Dichter neu 
durchgesehen. Das gebundenc Exemplar kostet drei Mark. Als 
Band 6 wird vorbereitet: Charles P^guy: Essays, dann folgen: 
Heinrich Schaefer, Gottfried Benn. 

Nina und Renatc. Die n:ichsten Biinde der Sammlung AKTIONS- 
LVKIK sind: Goiifricd Benn. Fieisch. Gcsammehe Lyrik; Wil- 
helm Klemm, V'erse; Kurd Adler, I. erne Strophen Dann kom* 
men: Otio Pick, Ludwig Bautner, Karl Ouen, Herbert Ktlhn, 
Rudolf Fuchs* Alfred Vagts, Walt her Rilla, Hermann Kasack, 
Oskar Kanehl, Urzidii, Hugo Sonnenschein, Heinrich Nowak, 
Paris von Glitersloh u. a. m, 

N. W. Auch Druckfehler sind jetzt nicht vollig zu vermeiden, 
obgleich ich sie wie einen korperlichen Schmerz empfinde und 
die Druckerei keine Muhe scheui, mir Schmerzen zu eraparen, 

B. G. Das AKTIONS* BUCl I kostet gebunden M. 3 , — . 

C. A. Sie wUnschen Ihr Abonnement in Naturalien zu begleichen? 
Was wollen Sie mir schicken? 



INHALT DER VORIGEN NUMMER: Richter-Berlin: Macedonier. holzsclimlt (Tiiclblatt) / Ludwig Rubiner: Das Mittel / 
G. F. iVfCO/ai: Heimailiebe / Nietzsche an Overbeck / Georg Davidsohn: Lieber Franz Werfel / Richler-Berlin: Am Vardar 
(Hol2Schnitt) / Franz Werfel* Des Trinklieds zweite Fassung / Richter-Berlin: Macedomsche Landschaft und Macedonier (Zwei 
fiolzschwttc) i Ludwig Baumer; Aus «Der Untergang" / Anton Schnack, Fritz Herkeriing und Alfred Vagts: Verse vom 
Sch/achffeld / Richter-Berlin: Macedonier (Federzeichnung) / Rudolf Fuchs, Urian, Flerbert Kiihn, M. Morax-Korschelt, Franziska 
StoecJflin (Basel), Wilhelm Klemm und Richard Huelsenbeck: Neue Verse I Wilhelm Stolzenburg (New York): Ansprache vor 

^ines Cowboys / Fioerle (Koln): Notiz fiber Expressionism us und ein Holzschnitt / Hanns Braun: Ein Stenogramm / 
oc-Lccnc em ✓ j ch schneide die Zeit aus / Kleiner Briefkasten 




Fur Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten 
Inhalt verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin-Wil- 
mersdorf, Nassauische Strafie 17. Tel. Pfalzbg. 1695. 
Gedruckt bei F. E. Haag, Melle in Hannover. 
Die AKTION erscheint jeden Sonnabend. Abonne- 
rnents kosten vierteljahrlich durch die Post, durch 
Buchhandel Oder Veriag (unter Kreuzb.) M. 2,50. 
Abonnements fur das Ausland kosten M. 3, — . 
Biittenausg., lOOnumerierte Exempt., jahrl.M.40,~ . 
Veriag der AKTION, Berlin-Wilmersdorf. 

Unverlangten Manuskripften 
1st Ruck porto beizufugen. 

Alle Rechtevorbehalten. 




7 p: f'i. 

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WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR, KUNST 

YU JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERTNR | 



SONDERH 
Gauguin: 
Lyriier 




FEUX MOLLER-DRESDEN. INHALT: FELIX MOLLER: SELBSTPORTRAT 




/ PAUL 




Malcrd (Aus dem Nachl&fi) / Fdix Muller: Zwei Origin&l-Holzschnitte / K. Hugo Hilar: Eduard Vojan, der 
cn Schauspielem / Felix Mflller: Original-Holzschnitt / Aus Turgenjews Briefs 
cr: Aktstudie (Original-Holzschnitt) / Otakar Theer: Am Kreuze / Felix MOller: rlolzschnitt Mann mit Hund / Walter 



jews Briefwechsel mit Herzen / Felix 



RW ntr : Totengebet / Herbal Kflhn : Ende I Paul Hatvani : Klassisches Fragment / Felix MOller : Zwei Schwestem (Holz- 

: ^ 
ipto 

ON / Ich schneide die Zeit aus / Kleiner Briefkasten / An die Battenabonnenten 



schnitt) / Kurd Adla: Da Triumph l Felix MOller: Hoizschnitt f Carl Einstein: Tdtlicha Baum / Wilhelm Klemm 
Hilde SUdcr: Abisag / Franz Werfel: 

aTcti 



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Ex abrupto / Hans Koch: Eine Novel le } Felix Metier : Widmungsblatt fflr die 




VER LAG * DIE AKTION / BERLIN -WILMERSDORF 

50 PPQ^ 









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AKTIONS-BUCHER DER AETERNISTEN 

Band i : 

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Band 2: 

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FRANZ JUNG 

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Im Insel-Verlag zu Leipzig 




J RN 






WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR. KUNST 

7. JAHRGANG HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT 17. FEBR. 1917 




Felix MSIler Origmal-Holsedmitt 




81 



DIE AKTION 



82 






SYNTH ET1SCHE NOTEN 
Aus dem Nachlafi von Paul Gauguin 
Die Malerei ist die schonste aller Kunste; in ihr 
fassen sich alle Sinneseindrucke zusammen, be! 
ihrem Anblick kann jeder nach dem Belieben 
seiner Einbildungskraft den Roman erschaffen, 
sich mit einem einzigen Blick des Auges die Seele 
von den tiefsten Erinnerungen einnehmen lassen; 
keine Anstrengung des Gedachtnisses, alles zu- 
sammen mit einem einzigen Augenblick. Eine voll- 
kommene Kunst, in der alle anderen Kunste ent- 
halten sind, und die sie erganzt. Wie die Musik 
wirkt sie auf die Seele durch das Mittel der Sinne, 
die harmonischen Farben entsprechen den Harmo- 
nien der Tone. Doch in der Malerei erreicht man 
eine Einheit, die in der Musik unmoglich ist, wo 
die Akkorde aufeinanderfolgen, und die Urteils- 
kraft empfindet dadurch eine standige Ermudung, 
wenn sie Anfangund Ende zusammenbringen will. 
Kurz, das Gehor ist ein Sinn, der dem Gesichtssinn 
unterlegen ist. Das Ohr kann nur einem Ton auf 
einmal dienen, wohingegen das Auge alles zu 
gleicher Zeit umfaBt und es nach Belieben ver- 
einfacht 

Wie die Literatur erzahlt auch die Malerei alles, 
was sie will, mit dem Vorteil, daB der Leser un- 
mittelbar das Vorspiel, die Inszenierung und die 
Losung kennt. Die Literatur und die Musik ver- 
langen eine Anstrengung des Gedachtnisses, um 
die Gesamtheit zu wurdigen. Die erstere Kunst 
ist die unvollkommenste und schwachste. 

Man kann frei traumen, wenn man Musik hort, 
wie wenn man ein Bild betrachtet. Liest man ein 
Buch, ist man Sklave der Gedanken des Autors. 
Der Schriftsteller mufi sich an den Verstand wen- 
den, bevor er das Herz trifft, und Gott weiB, wie 
wenig machtig ein von dem Verstand geleiteter 
Sinneseindruck ist. 

Das Gesicht allein bringt eine augenblickliche 
Gefiihlswallung hervor. 

Drum sind auch die Schriftsteller allein Kunst- 
kritiker, sie allein verteidigen sich dem Publikum 
gegeniiber. Ihre Vorrede ist stets die Verteidigung 
ihres Werkes, als ob ein wahrhaft gutes Werk 
sich nicht von selbst verteidigte. 

Diese Herren flattern fiber die Welt hin in der 
Art der Fledermause, die in der Dammerung mit 
den Fliigeln schlagen und deren diistere Masse 
einem durch alle Sinne geht. Tiere, unruhig tiber 
ihr Schicksal, daB ein zu schwerer Korper sie am 
Aufsteigen hindert. Werft ihnen ein mit Sand 
gefiilltes Taschentuch hin, und sie schlagen sich 
wie blodsinnig darauf herum. 

Man muB horen, wie sie alle Menschenwerke 
beurteilen! Gott hat den Menschen nach seinem 
Bild gemacht, und das ist often bar schmeichelhaft 
fur den Menschen. Dieses Werk ist nach meinem 
Geschmack und ganz und gar so, als ob ich es aus- 
gedacht hatte. Die ganze Kunstkritik ist darin 
enthalten. Mit dem Publikum einer Meinung sein, 
ein Werk nach seinem Bilde suchen. Ja, ihr Her- 
ren Literaten, ihr seid unfahig, ein Kunstwerk zu 
beurteilen, und sei es selbst ein Buch. Weil ihr 



schon voreingenommene Richter seid; ihr habt 
im voraus einen fix und fertigen Gedanken, eben 
den des Literaten, und ihr haltet euch fur zu 
wertvoll, um den Gedanken eines anderen zu be- 
trachten. Ihr liebt das Blau nicht, denn ihr verur- 
teilt alle blauen Bilder. Wie ein empfindsamer 
melancholischer Dichter wollt ihr alle Stiicke in 
Moll. Einer liebt das Graztose, er verlangt alles 
in dieser Art. Ein anderer liebt die Frohlichkeit, 
er hat keinen Sinn fur eine Sonate. 

Um ein Buch zu beurteilen, ist Verstand und Bil- 
dung notig. Um uber Malerei und Musik zu ur- 
ieilen, braucht man auBer Verstand und Kunst- 
kenntnis besondere Fahigkeiten, die Natur aufzu- 
fassen, man muB mit einem Wort zum Kunstler 
geboren sein ; aber viele sind berufen, und wenige 
sind auserwahlt. Jeder Gedanke lafit sich for- 
mulieren, doch mit den Regungen des Herzens ist 
es nicht ebenso. Was fur Anstrengungen, um sich 
zum Herrn der Furcht vor einem Augenblick der 
Begeisterung zu machen; ist die Liebe nicht oft 
unverhofft da und fast immer blind? Und zu be- 
haupten, der Gedanke sei Geist, wahrend die In- 
stinkte, die Nerven, das Herz ein Teil der Mate- 
rie bildeten. Welche Ironie! 

Das Schwankendste, das Undefinierbarste, das 
Veranderlichste ist gerade die Materie. Der Ge- 
danke ist der Sklave der Sinnesabdriicke. 

Uber dem Menschen steht die Natur. 

Die Literatur ist der menschliche Gedanke, be- 
schrieben durch das Wort. 

Wieviel Talent einer auch haben mag zu erzahlen, 
wie Othello ankommt, um, das Herz von Eifer- 
sucht verzehrt, Desdemona zu toten, meine Seele 
wird niemals solchen Eindruck davon empfangen, 
wie wenn ich Othello mit eigen en Augen gesehen 
habe, wie er in das Zimmer hineingeht, die Stirn 
von einem Gewitter bedeckt. Drum braucht ihr 
auch das Theater, um euer Werk erst voll- 
standig zu machen. 

Ihr konnt mit Geschick einen Sturm beschreiben, 
doch mir einen lebendigen Eindruck davon zu 
geben, werdet ihr nie erreichen. 

Die lnstrumentalmusik hat wie die Zahlen eine 
Einheit zur Grundlage. Das ganze Musiksystem 
beruht auf diesem Prinzip, und das Ohr hat sich 
an alle Teilungen gewohnt; doch kann man eine 
andere Grundlage nehmen, und die Tone, Halb- 
und Vierteltone ergeben sich daraus in richtiger 
Reihenfolge. Davon abgehend wird man Dishar- 
monien erhalten. Das Auge ist weniger gewohnt 
als das Ohr, diese Dissonanzen zu empfinden, aber 
die Teilungen sind auch vielfaltiger, und fur die 
groBere Komplikation hat man auch mehrere Ein- 
heiten. 

Bei einem Instrument geht man von einem Ton 
aus. Bei der Malerei geht man von mehreren aus. 
So beginnt man mit dem Schwarz und teilt es bis 
ins WeiB — erste Einheit. Dies ist die leichteste 
und darum auch die gebrauchlichste, folgiich die 
am besten verstandene. Aber nehmt soviele Ein- 
heiten, wie es Farben im Regenbogen gibt, tut 
die hinzu, die von den zusammengesetzten Far- 




DIE AKTION 











t 



bta gebWdet werden, und thr kommt zu einer 
ttd\\ betrachtUchen Ziffer von Einhciten. Welche 
Zatoenmenge, eine Arbeit, die wirklich vie! Kopf- 
i«bttdien macht! Und es ist daher kein Wunder, 
daB die Wissenschaft des Koloristen so wenig 
vertiett ist von den Malem und so wenig verstan- 
den vom Publikum. Aber auch welch ein Reich* 
turn der Mittel, um in nahe Beziehung zur Natur 
zu treten! 

Man tadelt bei uns die ungemischten Farben 
nebeneinander. Auf diesem Oebiet sind wir not- 
wendigerweise die Sieger, tiichtig unterstutzt von 
der Natur, die nicht anders zu Werk geht. 

Ein Grun neben einem Rot ergibt kein Braun rot, 
wie die Mischung, sondern zwei vibrierende Tone. 
Setzt Cromgelb neben dieses Rot, und ihr habt 
drei einander bereichemde Tone, die die Inten- 
sity des ersten Tones erhohen: des Grun. 

An Stelle eines Blau setzt ein Violett, und ihr 
werdet in einen einheitlichen Ton verf alien, der 
aber zusammengesetzt ist und in das Rot sich 
wendet. 

Die Kombinationen sind unbegrenzt Die Mi- 
schung der Farben ergibt einen schmutzigen Ton. 
Eine alleinstehende Farbe ist etwas Haries und 
existiert nicht in der Natur. Sie existiert nur in 
der Erscheinung eines Regenbogens, und die 
reiche Natur sorgt daftir, sie auch nebeneinander 
in einer gewollten und unverruckbaren Ordnung 
zu zeigen, so als ob jede Farbe aus der anderen 
hervorginge. 

Nun, ihr verfugt iiber geringere Mittel als die 
Natur, und ihr verdammt euch dazu, euch all die- 
ser Mittel zu berauben, die sie in euere Hand 
legt Werdet ihr jemals ebensoviel Licht haben 
wie die Natur, ebensoviel Hitze wie die Sonne? 
Und ihr sprecht von Obertreibung; doch, wie 
wolR ihr ubertrieben sein, da ihr doch hinter der 
Natur zuruckbleibt ? 

Ja, wenn ihr unter ubertrieben jedes unausge- 
glichene Werk versteht, dann hattet ihr in diesem 
Sinne recht, doch ich will euch darauf hinweisen, 
daB, so zaghaft und blaB euer Werk ist, es als 
ubertrieben gelten muB, wenn in der Harmonie 
ein Fehler ist. 

Es gfbt eine Lehre von der Harmonie? — Ja: 
Und zwar ist der Sinn des Koloristen genau diesc 
naturiiche Harmonie. Wie die Sanger, singen auch 
die Maler bisweilen falsch, ihr Auge hat dann 
keine Harmonie. 

Spater kommt durch Studium eine ganze Methode 
der Harmonie, wofern man dies nicht mifiversteht, 
wie auf den Akademien und meistens in den Ate- 
liers. In der Tat hat man das Studium der Male- 
rei in zwei Kategorien eingeteilt Man lernt zeich- 
nen und dann malen, oder, was dasselbe heiBt, 
in einem schon vorbereiteten Kontur koloriert 
man, w/e etwa cine Statue nachtraglich bemalt 
w/rd. 

Ich gestehe, daB ich aus dicser Ubung bisher bloft 
das eine begriffen habe, namlich daB die Farbe 
nur etwas Nebensachliches ist. Sie miissen, mein 
Herr, bevor Sie maJen, erst ordentlich zeichnen, 



und das wird in einem hochgelehrten Ton gespro* 
chen; iibrigens werden die groBen Dummheiten 
immer in dieser Weise laut. 

Werden Schuhe etwa als Handschuhe getragen? 
Wollt ihr mir wirklich weismachen, die Zeich- 
nung hange nicht von der Farbe ab und umge- 
kehrt? Und zum Beweis unternehme ich es, euch 
dieselbe Zeichnung je nach der Farbe, mit der 
ich sie ausfiille, zu vergroBern oder zu verklei- 
nern. Versucht doch, genau in denselben Ver- 
haltnisscn einen Kopf von Rembrandt nachzu- 
zeichnen und setzt das Kolorit von Rubens hin- 
ein, ihr werdet sehen, welch ungestaltes Ding 
ihr gleichzeitig mit der Disharmonie der Farben 
erhalten werdet. 

Seit einem Jahrhundert gibt man enorme Summen 
aus zur Verbreitung der Zeichenkunst und man 
vermehrt die Menge der Maler, ohne einen Schritt 
vorwarts zu tun. Was fur Maler bewundern wir 
augenblicklich ? Alle die, welche die Schulen ge- 
tadelt haben, alle, die ihre Kenntnisse aus der 
personlichen Beobachtung der Natur schopften. 
Nicht einen ..... 

(Hier bricht das Manuskript ab.) 

(Deutsdi von August Brucher) 

EDUARD VOJAN, DER LYR1KER UNTER 
DEN SCHAUSPIELERN 
Von K Hugo Hilar 

Als er das sechzigste Lebensjahr erreicht hatte, 
da vermochte diese seltene Gelegenheit zu Jubi- 
liiumsaufsatzen, die der Verdienste des grofiten 
zeitgenossischen tschechischen Schauspielers ge- 
dachten, nicht die Unzulanglichkeit der wertenden 
Kritik gutzumachen, die Vojans gesamtes kiinst- 




Ftlix Mxiller 



Original * Hoix xchnitt 









85 



DIE AKTION 




lerisches Schaffen verfolgt hatte: wiederum ward 
er wie ehedem gepriesen mit den gleichen mecha- 
nischen Superlativen, die keinen Unterschied zwi- 
schen den Leistungen gelten Iassen, wiederum mit 
den gleichen auf der Oberflache haftenden Ein- 
wanden getadelt. Aber ob gefeiert oder verworfen, 
uberall wird er mit denselben Gemeinplatzen als 
der unsichtbare Gott definiert, den jeder be- 
stimmt, ohne das einer ihn erkannte. Er entflieht 
alien Gloriolen, iiber den kritischen Erwagungen 
wiegt sich sein chimarisches und seltsamcs La- 
cheln, verachtlich oder mitleidvoll, vver kann es 
wissen, dasselbe ratselhafte Lacheln, das ihn als 
Menschen niemals verlassen hat und das sich un- 
vergeBIich alien seinen Masken aufgepragt hat. 

In solchem Mafie ist ein Lyriker unter den tsche- 
chischen Schauspielern ein Ratsel. 

Und Eduard Vojan ist ein Lyriker der Schauspiel- 
kunst, er ist Lyriker bis in die Tiefen seines We- 
sen s, er ist Lyriker durch den Charakter alter sei- 
ner Leistungen, und dieses Wort ist das ganze Ge- 
heimnis seiner Kunst, die voll wilden Wider- 
streits und metaphysischen Weitbiicks in ihrem 
Stolze wie ein unverwundetes Gefuhl eingehiillt 
ist und die dem Schauspielertyp, w r ie er in tech- 
nischer Beziehung verstanden wird, ats der Er- 
innerung an ein verachtungswiirdiges Handwerk 
entschliipft. 

Es mag Vojan vielleicht niemals darum zu tun 
gewesen sein, verschiedene Menschen zu schaffen 
(die Eitelkeit eines jeden Schauspielers) oder rich- 
tiger das Aufiere der Menschen, als es ihm viel- 
mehr stets urn ihr gemeinsames und gliihendes 
Wesen zu tun gewesen ist. Darum vereinigte er 
eher und vereinfachte, als zu unterscheiden, zu 
individualisieren und zu vervielfachen. Mephisto, 
Hamlet, Othello und Shylock, Wallenstein und 
Borkman, alle hat er zur gleichen GroBe gefuhrt; 
zur GroBe eines Gefiihles, einer Leidenschaft oder 
Idee, des reinen Elements mit einem Wort, das 
der Mensch in sich tragt als ewige Mitgift des 
Schicksals und des Lebens. Und er ist ohne Zuge- 
standnis dieser gemeinsamen GroBe des Ewig- 
menschlichen nachgegangen und so zu seiner 
eigenen, gleichzeitig geheimnisvollen und durch- 
sichtigen GroBe gelangt: denn zugleich mit jenen, 
die bei seinen Leistungen vor Bewunderung nicht 
bis auf den Grund des Denkers sahen, waren sol- 
che da, die unverziiglich die physischen Mittel und 
somit die Unzulanglichkeiten des Schauspielers 
durchblickten. Welch Iebendiges Feld fur den 
Streit um seine GroBe! Nichtsdestoweniger steht 
Eduard Vojan iiber ihnen vor den Augen aller, die 
auf den gemeinsamen Quell jeder Kunst, auf das 
ewige Feuer achthaben, dem das unversiegliche 
Leben der Welt entlodert. Es ist die lyrische 
Entflammung, in welcher der Mensch fur einen 
Augenblick der Ewigkeit teilhaftig wird, indem 
er zum Sinn der Welt vordringt. Es ist die namcn- 
lose Flamme der Lust und des Schmerzes, ein 
erhohtes Lebensgefiihl, in dem sich der Kiinstler 
und auch sein Zuhorer erneuert. Es ist die Nost- 
algic der Ewigkeit, der Gesang unbekannten 
Anbeginns, die Sehnsucht nach maBloser Feme, 



der unendliche Gesang des menschlichen Innern, 
widerklingend in der Tiefe aller wahrhaft kiinst- 
lerischen Werke. Eduard Vojan hat immer nur 
diesem Gesang im Herzen aller wahrhaften 
Dramen gelauscht, er hat immer eher diese innere 
und geheimnisvolle Wahrheit der Dinge verfolgt, 
als ihr physisches Antlitz. Daher das ausgespro- 
chen subjektive Geprage seiner Schauspielerkunst : 
Shylock bedeutet ihm nicht die Reproduktion eines 
sonderbaren und halsstarrigen Greises, psycho- 
logisch durchgearbeitet bis in alle Nuancen der 
Gebrauche und rassenhafte Typizitat, was zum 
Beispiel Shylock fur Novelli bedeutet. Sondem 
ein in einigen groBen Ziigen skizziertes Symbol 
menschlicher Verworfenheit, des Elends biirger- 
licher Rechtlosigkeit, des unendlichen Leidens einer 
zertretenen Rasse, dessen bittern Ton die liebliche 
Schonheit des belmonter Himmels und die siiBe 
Verwicklung zweier Liebespaare dampft. Als 
zentrales Gesetz zieht sich durch alle wesentlichen 
Leistungen Vojans dieser absolut machende Ly- 
rismus, der seinen Hamlet zum Philosophen meta- 
physischer Verzweiflung, Othello der durch Zwei- 
fel vergifteten Liebe, Mephisto der menschlichen 
Skepsis macht, im Francek oder Janosik den rudi- 
mentaren Gesang des lauteren Bluts verdol- 
metscht, mit einem Worte Individuen und Typen 
nach einem pathetischen Gesetz darstellt, das 
allem Lebendigen gemeinsam ist und die gliihende 
Einheit des Alls bildet. 

Die Zahigkeit und zugestandnislose Anstrengung, 
mit welcher Vojan diesen lyrischen Akkord an- 
schlagt und den Tiefen alien schauspielerischen 
Materials, den Rollen und den eigenen physischen 
Mitteln entlockt, sind nicht nur sprichwortlich, 
sondern begrunden die Eigenart seiner schau- 
spielerischen Technik: sie spannen zu auBerst sei- 
nen Korper, die Gestikulation, Mimik, Stimme, 
die ganze Klaviatur schauspielerischer Expression 
an. Die grausame Macht seines Widens zwingt die 
Muskeln zu auBerordentlicher Nachgiebigkeit, 
zerbrdckelt und spitzt den Klang des Wortes, 
wurgt die eigene Kehle, tyrannisiert die Mimik, 
verdichtet die Bewegungen zu abrupten, jahen Ge- 
sten, schleudert Dolche in Blicken und Lacheln. 
Alle auBere Eigenart der schauspielerischen Tech- 
nik Vojans beruht in dieser offenbaren Anspannung, 
in diesem sichtlichen Zweikampf zwischen der ly- 
rischen Inspiration, die innen verborgen ist, und 
dem rebellischen Korper, der sie ver- 

dolmetschen soil und es nie beredt ge- 

nug tun wird. Es ware aber unvorsichtig, gerade 
in ihr, so gute Fruchte sie auch ihrem Schopfer 
eingebracht hat, den Vorzug von Vojans Kunst 
zu erblicken. Der Grundzug dieser Technik ist 
einfach eine physische Begrenzung, so wie als 
aesthetische Begrenzung das UbermaB in jenen 
einigen Gestalten erscheint, die der Kiinstler mit 
dramatischer Eindringlichkeit, Macht des Intel* 
lekts, lyrischer Heftigkeit iiberladen hat im Wider* 
streit mit ihrem ornamentalcn, vom Dichter ge* 
gebenen Charakter, wobei ich nur Juliens Bruder 
oder noch eher Wildes Herodes nennen mochte. 
Hier unterjocht in Vojan der Lyriker den Schau- 




Mmitr 



Original'Hokschnit 








89 



DIE AKTION 




spieler, notigt ihm Leidenschaften und Ideen auf t 
wo es sich nur um Masken und Figuren handelt. 
Da er die Rolle nicht zu seinem Sprachrohr zu 
machen vermag, vergewaltigt er sie aus Rache fur 
die eigene Verge waltigung. 

Doch gerade das sind nur die Ufer eines mach- 
tigen und strahlenden Stromes, der unausschopf- 
bar erscheint in der Glut innern Feuers und ent- 
flammter Jugend — einer apollonischen Jugend, 
die das unvergangliche Geschenk und Attribut 
alter lautern Entflammtheit ist. Durch sie ist Edu- 
ard Vojan zum unzertrennlichen Mitwirkenden an 
der Entwicklung der modernen tschechischen dra- 
matischen Poesie geworden, die aut der Szene nur 
zum eigenen Schaden ohne ihn auszukommen ver- 
mochte; durch diesen Lyrismus, der das Alltag- 
iiche im Feuer der Ewigkeit auflodern macht, hat 
Vojans Name die tschechische Schauspielkunst 
im modernen, neupathetiscfhen Sinne begriindet, 
Nach einer Periode des Naturalismus, der den 
Schauspieler zum Feinde des Dichters rnachte, ist 
kraft dieses vojanischen lyrischen Feuers auf der 
tschechischen Szene der Schauspieler als ein Bru- 
der der Dichter erstanden. 

(Autorisierte Obersetzung von Otto Pick) 

AUS TURGENJEWS BRI EFW ECHSEL MIT 
HERZEN 

Baden-Baden, Schillerstrafie 277 
Freitag, den 17. Mai 1867 

Liebster Alexander Iwanowitsch! 

Du wirst Dich gewiB wundern, vielleicht auch 
emport sein, wenn Du meinen Brief erhaltst. Aber 
„alea jacta est**, wie der unverschamte Greis La- 
martine zu sagen pflegte. Es fiel mir ein, Dir ein 
Exemplar meines neuen Werkes zu schicken und 
gelegentlich Dir ein paar Worte zu sagen. 

Obwohl Du ganz richtig in Deinem letzten Briefe 
an mich bemerkt hattest, daB wir uns eigen tlich 
nie nahestanden, fand jedoch auch keine beson- 
dere Entfremdung zwischen uns statt, da meine 
groBen Vergehen sich bis jetzt nur, soviel ich mich 
erinnere, auf drei Tatsachen beschrankten: 1, Mein 
Name stand unter den Subskribenten fur die Ver- 
wundeten im polnischen Kriege; 2. ich erkannte 
Dich nicht, als ich Dir in Paris auf der StraBe be- 
gegnete, und 3. die Moskauer Zeitung nannte mich 
„einen teuren Gast**. Trotz aller Anstrengung 
kann ich mich auf nichts mehr besinnen; denn 
wessen mich der Republikaner, Fiirst Dolgorukow, 
zeiht, namlich, daB ich ihm seine Visite nicht er- 
widerte und daB ich auf dem brennenden Schiffe 
um Rettung gefleht haben soli, das kann mir doch 
nicht als eine politische Siinde angerechnet wer- 
den. Und so schicke ich Dir mein neues Werk. 
Soviel ich weiB, brachte es in RuBland die Reli- 
giosen, die Hofleute, die Slawophilen und Patrio- 
ten gegen mich auf. Du bist weder religios, noch 
ein Hofmann, aber Du bist Slawophile und Patriot 
und es ist moglich, daB auch Du in Zorn geratst. 
Oberdies werden Dir wahrscheinlich auch meine 
Heidelberger Arabesken miBfallen, — wie dem 
auch sei, die Sache ist abgeschlossen. Eines er- 
mutigt mich ein wenig. Auch Dir hat doch die 



Partei der jungen Refugies die Wiirde eines Zu- 
ruckgebliebenen, eines Reaktionars verliehen: So 
hat sich denn die Entfemung zwischen uns ver- 
mindert. Wenn Du mich nicht als einen Menschen 
ansiehst, mit dem es so weit gekommen ist, daB 
man mit ihm nicht mehr korrespondieren darf, 
so gib es mir tiichtig oder persifliere ein wenig, 
aber setze mich uber Dich und Deine Familie in 
Kenntnis, das interessiert mich. Haltst Du aber 
jegliche Beziehung zu mir fur unmoglich, so 
empfange meinen AbschiedsgruB und meinen auf- 
richtigen Wunsch, daB es Dir in allem gut gehen 
moge. Iw. Turgenjew 

Baden-Baden, SchillerstraBe 7 (nicht 277) 

Mittvoch, den 22. Mai 1867 

Ich schicke Dir meine Novelle, nachdem ich, lie- 
ber A. I., Deine Notiz in der „Glocke“ gdesen 
hatte: daraus kannst Du ersehen, wie wenig ich 
bose geworden bin. In Deinem Brief an Aksakow 
sagst Du, daB Dein 55. Lebensjahr voriiber ist. 
Kunftiges jahr werde ich mein 50. zuriicklegen. 
Diese Jahre sind ruhig, und was Du auch sagen 
magst, wir sind Dank unserer Vergangenheit, 
Dank unsrem Erscheinen in der Welt u. detgl. m . 
immerhin einander naher und verstehen uns leich- 
ter, als Leute verschiedenen Alters. Die Rechnung 
ist sehr leicht zu machen. Das einzige, was an mir 
nagt, das sind meine Beziehungen zu Katkow, 
wie oberflachlich sie auch sein mogen. Aber ich 
kann folgendes sagen: ich verdffentlichc meine 
Sachen nicht in der „Moskauer Zeitung**, so was 
wird hoffentlich nie bei mir vorkommen, sondem 
im „Russischen Boten**, dcr nichts anderes als 
ein Sammelwerk ist, keine politische Farbung hat 
und jetzt das einzige Journal ist, welches vom Pu- 
blikum gelesen wird und welches zahlt. Ich ver- 
hehle es Dir nicht, daB diese Entschuldigung nicht 
ganz fest auf den Beinen steht. 

Du bist dcr langen Reden Petugins iiberdrussig 
geworden und bedauerst, daB ich nicht die Halfte 
davon hinausgeworfen habe. Aber stelle Dir vor: 
ich finde, daB er noch nicht genug spricht, und in 
dieser Meinung bestarkt mich die allgemeine Wut, 
welche diese Person gegen mich erregt hat. Jo- 
seph II. pflegte zu Mozart zu sagen, daB in seinen 
Opern zu viele Noten vorhanden waren, — „keine 
zu viel**, antwortete der letztere. Ich bin nicht 
Mozart, noch weniger als Du Joseph II. bist, aber 
ich wage zu denken, daB hier kein Wort zu viel. 
Was im Auslande als ein Gemeinplatz erscheint, 
kann bei uns die Leute durch seine Neuheit in Wut 
bringen. 

Unter den Heidelberger Arabesken verstehc ich 
die Scenen bei Gubarjew. Mich freuen die guten 
Nachrichten uber Deine Familie; ich litt wirklich 
an langwierigen Gichtanfallen (ach und weh!) jetzt 
aber bin ich fast gesund. DaB ich mit der Gicht 
belohnt wurde, das ist eine entschiedene Emuui- 
terung fur Zecher und Saufer: wie niichtern und 
maBig war ich doch! 

Und hiermit driicke ich Dir die Hand „in alter 
kordialer Freundschaft** Iw. Turgenjew 




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DIE AKTION 



94 



AM KREUZE 
Von Oiahar Tkeer 

Am Kreuze, zwischen den Schachern hing er. 
Dort unten, 

unter dem Feuer der FiiBe, in denen die Nagel 

brannten, 

drangt sich die Menge: 

Fauste, Helme, Gesichter. 

Vielleicht Freunde, vielleicht 
Doch heute — so fremd. 

Mude das Haupt, der Korper im Fieber, die Lippen 

schmachtend. 

Und unten die Stadt im Lichte der Nachmittags- 

sonne. 

Die Hauser alle so weiB, weiB, weiB, weiB. 

Die Hauser so weiB. 

Alles weiBes, weiBes Grauen — — — — — 

Alles flimmerte im Blau, alles lud durch seinen 

Schatten 

in diesem Landstrich, der sein war. 

SuB, 

ist die Feuchte des Wassers, wenn sie vom See 

streichet, 

still 

ist die Sprache des Schilfes am wetchen lifer, 
wo im Moose du gleitest. 

Und feierlich, gluhend, gesellig und tonend 
ist die Freude Sohn Gottes zu sein, 

O schones Land, 

wo mit ihm er sprach, der Vater! 

Wenn du die Hand erhebst, 
zum Horizonte streckst, 

weiBi du in seliger Geborgenheit, was zur Rechten 

ist, was zur Linken. 




So war es dort. 

Und die Giite stand stets zur Rechten, 

und zur Linken, faltig und mude krummt sich der 

Teufel. 

O schones Land! 

Kraft seines Wortes harrten die Berge, 
des Einen, Einzigen, 

daB sie die Ufer verlieBen, in das Meer sprangen, 
so, wie in Sommersglut du in das Bad strebst. 
Und die Krankheit, die Siinde, die gierigen Leiden- 

schaften 

fletschten die Zahne 

vor seinem Schatten auf der Flucht. 

Warum tat es not zu verlieren 

den Frieden der Berge, und die Tausende Augen 

glaubig zu ihnen gewandt, 
die Weizenfelder, betend im Flustern, 
des Fischers der Seelen dichie Netze 
und das Sell iff 1 ein, gefahrlos schwebend 
unter der Pranke des Sturms? 

Warum tat es not, zu treten 

hieher, in die weiBe Holle der Stadt, 

wo die Furcht auf der Schwelle der Hauser sitzt, 

unfahig, unsichern FuBes 

hinter der Gottheit zu gehn ? 

Hier folgte der Tag dem Tage, dem Schatten 

gleichend, 

diebisch umschlich er sein Herz 
und ein jeder 

ein Stuck Gottheit ihm herabriB und stahl mit 

dunkler Hand. 

Hier entkleidete ihn ein Tag nach dem anderen der 

Wiirde des Sohnes. 

Hier erbluhte das Wunder nicht unter seinen 

Handen, 

da er sie ausstreckte, um zu segnen. 

Hier vervvechselte sich die Rechte mit der Linken, 
hier gewohnten die Augen daran, im Grau'n zum 

Himmel zu sehn, 

und die Stirne war schweiBbedeckt durch die 

Zweifel. 

Damit du Gott bleibest, 

das ist ein Kampf — mit jeder Weile, jedem 

Augenblicke, 
und ein jeder siegreich. 

Wenn du zweifel test 

nur so kurz, als der Blick sich schlieBt vor uner- 

wartetem Feuer, 

offnet sich der Himmel und mit schrecklicher 

Stimme 

verleugnet er dich. 

Und der Ruhm der Gottlichkeit, 

dies leichte Gefieder, uber der Erde zu schweben, 

die Hand in der gfitigen Hand des Vaters, 
im Lichte zu sprechen, von der Ewigkeit gefolgt 

sein, wie von der Schwalbe, 
wandelt sich in Felsen, der in dir zerdriicket 
das Menschtum, in dem du Zuflucht gesucht. 




95 



DIE AKTION 



96 



Hetit fruh bei Golgatha, 

nicht unter dem Kreuze, nein, unter der Gottlich- 

keit fiel er, 

die er nicht mehr zu tragen vertnochte 

Auf dem Kreuze, zwischen zweien Schachern 

hing er 

Mude das Haupt, der Korper im Fieber, die Lippen 

schmachtend. 

Jetzt sprangen die Augen vor Grau’n aus den 

Hohlen, 

auf schrie er mit schrecklicher Stimme: „Gott, 
du mein Gott, wie hast du mich verlassen!“ 

Und starb. 

(Nachdichtung aus dem Tschechischen von Maria Nachlinger) 

TOTEN-GEBET 

Dem Geddchtnis des Hoboken F. Karger 

Hoboken F. Karger, f neunzehnjahrig, in den ersten 
Dezembertagen 1916 als dienstpflich tiger deutscher 
Soldat. 

lhr Wolken, schwarz schwalende Fahnen der 

Stadte, 

hullt mir den Mund!, daB nicht (zerrissenster Ab- 

grund) 

mein Schrei euch trifft (Geliebte!) und ihr nimmer 

noch bluhet ! 

. . . Da er, der Freund, im Schatten des todlichen 

Tiers 

sinnios in brandende Sonne sich fing; . . . 

— : ach! und ein siiBes Wehn aus den Augen blond 

entschwand . . — 

... da er den gra&lichen Vogel wohl schaute, 

der ihn 

beflog, und seine Schultern sich mischten 
sternigem Horizont, . . . und das Haupt ent- 

schwebte! — ja: . . . sah er 

sich und mich und uns gedreht im Taifun 
drdhnender Saulen Europas?, — hob noch 
tetzten Blick er zum Wald und trank schnell sich 

nahernden Mondes Milch? 



: — sahst, Hoboken, noch unser verschiittetes Ant- 

litz, 

denveil ein Mond dich schlurfte!, — — - 

schwammst in der Quelle des Alls 
(, klarster!) — ja; — und die Wimpern hingen, 
Teppich mit Sternen bebliimt, duster zwischen 

Aufgang und Niedergang! 

. . . Lieber GenoB ! ... in weiter Abendrote 
Wf deine goldene Hand, und die Nacht 
(dem Helml) senkt sich hart und gnadig 
auf dieser grausamen Schadelstatte brausend Ge- 

fild f 

Walter Eheiner 



ENDE 

Die Fltisse bluten. Erde bricht wehschreiend auf. 
Die Hauser wanken in den Fundamenten. 

Blau recken Frauen Arme steil hinauf. 

Zerballt. Zerrissen, Hohnend Sakramenten. 

Die Fahnen briillen grell durch breite StraBen. 
Wir horen nichts. Wir sind in uns hineingejagt. 
Wann war es, daB wir noch in Garten saBen? 

Die Zeit zerfrifit uns. Wir sind abgenagt. 

Herbert Kiihn 

KLASSISCHES FRAGMENT 
. . . Ewigen Untergangs trauernd, hor ich nicht 

mehr dieses orphische Lied, 
da es nun Leid ist und Orphens tot Und tot ist 

das Lied. 

Und auch der Krieger bricht hin und Helles ver- 

sinkt — 

was kreisest du noch, ohnmachtiger Helios? 
Niemals wird Licht mehr auf Erden, 
diese Erde erleuchtest du nicht. 

Oh, wie hammert Hephaistos mir die Schlage des 

Herzens! 

Qualvoll erblick ich die Tempel zerfallener Zeiten, 
keine sapphische Ode mehr gibt es, 
und auch Anakreon schweigt. 

Ewig betrauert den Untergang diese ewige Zeit, 
die so veiganglich ist, daB sie niemals vergeht. 
Meinem Haupte entsprungene Pallas Athene, 
klage mich an; sieh, mein Wort ist verdorrt . . . 

Paul Hatvani 




Felix MUller Zwei Schwesttrn (HoUschnitt) 





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DIE AKTION 



98 




DER TRIUMPH 
Seltsamer, seltsamer Triumph! 

In dieser eklen, peitschenden Nacht, 

da der Regen sich wie ein unendliches Gewand 

urn uns legte 

und der Dreck uns bis zu den Ohren sprang, 
die dunklen Sumpffelder wuchsen in den Himmel 
und die kahle Schwarze stach uns — stach uns. 
In dieser Nacht klangen heisere, verwiinschende 

Worte — 

breitgeflugeltes Elend . . . patsch — patsch — 

patsch sang die schwere Finsternis. 
Augen, in denen Wasser tropfte, brannten nach 

Schiaf. 

Fluche — Gekeuch — im zahen Brei stapften 

Schritte von Storchen. 

„Verflucht — die Sauerei!“ 

Patsch — patsch — patsch sang die schwere 

Finsternis. 

Ein unerbittlicher Leichenzug. 

Oho! Hochzeitshell triumphierte in dieser Nacht 

mein Leben wie nie zuvor. 

In toller Wollust warf ich weiBe Astern in diese 

Schwarze. 

Die Hande meiner schonsten Freundin steckte ich 

wie Grabkreuze in die Siimpfe. 

StraBen mit Beeten und Baumen zog sich am 

Himmel. 

Eine unendlich einsame Leuchtkugel — — oh, 

dieses ausersehene Restaurant, 




Feitx j Wilier 



Original* Houschnitt 



in dem Kellner auf roten Teppichen um kleine 

Tische frackten. 

Tausend Verse Rilkes schrieb ich in den rinnen- 

den Regen. 

Ober den schweren FuBeri hatte mein Hirn sit- 

berne Fliigel 

Flog — Flog und sang ein Triumphlied; 

und bewundernd und kostlich reich warf ich es 

weg 

in den aufspritzenden Schlamm. 

Und jubelte in meinem Himmel, als ich sah, 
daB Hunderte achtlos und keuchend voriibermar- 

schierten. 

Kurd Adler 

TOTLICHER BAUM 

Glasig Zerstiicken zerrt tauben Hals in quere 

Masche. 

Gefetzter schwert blattrige Luft. 

Dein Fleisch nahrt Wind. 

Auge blendet fremd Gestirn. 

Verscherbter zackt in bergigem Schrei, 

Gilb Wiese mit zersticktem Vorwurf. 

Eitrige Silbe wolkt. 

Zahn farbt rotgestotterten Dampf. 

Tropfig Denken speit lockern Herbst. 

Zerwesen krankt Fall; 

Greist 

Staubt 

Wurzelt. 



Griffe gegabett jammern dir den Ast. 

Aufwirft HaB in kantenen Rauten. 

Kreise bleiche Korner, 

Hagelgurt. 

Runde trages Gift. 

Ersticken tiirmt. 

Carl Einstein 



SPAT 

Die Zeit leckt langsam an unsren Hauptern. 
Die Kette ohne Ende zieht voruber, 

Jedes Glied hat ein sonderbares Gesicht — 
Aber uber alien Augen das Staunen. 



Der Silbemachen des Mondes beugt sich, 

Eine Nacht ging wieder hin. 

Ich bin wie immer allein mit dem Unbekannten 
Wer gab mir das Gefiihl fur das Unerklarbare? 



Die Sphinx gebicrt ncuc Sphinxe. 

Der Stern schweigt. Die Stadt verdunstet. 

Die Seele tatowiert sich mit groBartigen Sym- 

bolen. 

Der PaBgang des Herzens geht weiter, 

Wilhelm Klemm 



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DIE AKTiON 




100 



M&ISAG 

K\s Abisag, die Zarte, David ward gegeben, 
DaB ihres jungen Leibes Warme sie ihm brachte, 
Erbebte sie ob der Entartung ihrer Nachte 
Und \ag in Scham und Grauen ihrem Los ergeben. 
Da sah sie seinen Blick, der sich um sie betrubte. 
Und als der Konig giitig ihre Hande faBte, 
Geschah es plotzlich, daB sie seine Augen liebte. 
Sie wuBte jah, daB ihn ihr Herz erwahle . . . 
Und fuhlte, wie sie in Erschfitt’rung tief erblaBte. 



Und mit des Leibes Warme gab sie ihm die Glut 

der Seele. 



Eilde Stieler 



EX ABRUPTO 

Wir beginnen schon zu erkennen, daB wir, um 
Psychologen zu sein, syrabolische Physiologen 
sein mussen. Denn der schwindelhafteste Satz, 
den es gibt, heiBt : „lch schaue anders aus, als 
ich bin.“ Nein, ich sage dir: Wieviele Flecken du 
auf deinem Anzug hast, soviel Flecken hast du 
in Seel und Gewissen. (Die brauchen aber lange 
noch nicht verwerfliche zu sein.) Alles AuBen ist 
wahrhalt nur tiefsinniges Symbol der Wirklich- 
keit. Leute, die viel purgieren, leiden an Ge- 
wissen sfeigheit, die sich oft als Gewissenhaftigkeit 
zeigen mag. Solche Menschen wollen immer, 
seibst unter sehr groBen Opfern, alle Verant- 
wortung von sich abwalzen, jedem Selbstvorwurf 
entgehen. Im ubrigen leiden Leute mit Stuhl- 
verstopfung auch an conscientia obstipata. 

♦ 

Die Menschen konnen nichts dafiir . . . Man 
bedenke doch, wie schwer es ist zu gehn, zu 
atmen, die siebzig Kilogramm seines Korpers zu 
schleppen, wie viele furchtbare Kampfe und Hin- 
dernisse diese Beschaffenheit bei Tag und Nacht 
zu ubenvinden hat . . . 

Nein, die Menschen konnen nichts dafiir. 

Franz Werfel 



EIN TRAUM 

Ich greinte tranenlos wie ein krankes Fjndelkind, 
ich schnob vor Wut, ruttelte an den Eisenstaben, 
ich stammelte gedankenleer die Gebete meiner 
Kindheit: das war drei Tage lang. Dann uberkam 
mich eine Mattigkeit, die Wollust war und hilf- 
loses Schnattern. Ein ausgebranntes Lacheln ge- 
rann in meinem Gesicht, und ich beschmierte 
Boden und Wande mit meinem Kote. 

Nun gab’s nur Eines noch: der ungewisse Tod. 
Denn ich lag im „Gitterhaus der perlmutternen 
Tranen“. 

Hohe wie Tiefe waren erfiillt von den Ober* 
schneid ungen eiserner Roste. Durch die grfin- 
lichen Glas wande der Mauern, aus dem Licht- 
schacht des Daches kam der triibe Tag herein- 
gekrochen wie eine schlierige Schnecke. Aus dem 
Grunde sprang das Klingen geschlagenen Eisens 
herauf, eine Holle gebar sich Tag und Nacht in 
den enfmenschten Schreien der Gefangenen, in 
dem Rocheln der Gefolterten, in sfiBlichem Blut- 



geruelt und deni (jestank versenkter Menschen- 
haut. 

Gegen Ende des vierten Tages warf man einen 
Blutgesellen mir in die Gitterkammer. Erschnurrte 
wie eine gescheckte Katze um die eisernen Stiitz- 
saulen, lachte johiend auf und riB an den Hand- 
schellen, daB die Ketten um die barenhaften Arme 
baumelten, Er trat zu mir her und quetschte mit 
derbem Griff meine Schulter. Ich starrte ins 
Leere. Er hob mir das Kinn mit dem gekrummten 
Finger und ich las mit den Augen ihm von den 
gesperrten Lippen, ersah am Krallengriff seiner 
Hande, dafi er seine Geliebte erdrosselt habe. 
Zu was auch . . . Ich zuckte die Achsel und 
kauerte gelassen in meinem Eck mit hochgezoge- 
nem Knie. 

Und die Stunde kam, da quiekend die schweren 
Flugel der Gattertfir aufschlugen. Trage quirlend 
schwebte just an einem Seilaufzug ein rohes Holz- 
gerfist herauf. Vier Manner traten herein: der 
Eine trug einen Turban fiber dem pockennarbigen 
Mohrengesicht, ein blonder Flaumbart ffihrte eine 
lederne Kurzhose fiber den Waden und auf- 
gekrempelt das pludrige Hemd. Die beiden 
Andern aber staken vermummt in Monchskutten : 
die Augen flackten mit kalten Lichtern hinter 
schwarzen Sammetmasken. 

Kein Wort fiel. Die Bfittel hantierten in ihrem 




Felix Muller 



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DIE AKTION 



102 



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AUtagswerk, die Kuttner standen in unbetonter 
Langweile nebenaus. 

Durch mein Hirn aber schlingerte es wie Tang 
in tragem Oefalle: gilt es dir oder gilt es 
mir? . . . 

Da warden Blitz und Geschtlien Eins: Halb vor 
mcinem Blick sackte eine dunkle Masse nieder, 
ich sah erhoben zucken den klobigen Arm des 
Schindhansgenossen, ein Blutwirbel drehte sich 
mir in die Augen, ein fremdes Gelenk fuhr mir 
zu Hand, zu sticB ich mit barter Faust, rollte hin 
iiber einen Leib und schniirte eine Manns- 
kehlc zu. 

Schnell flog mein Blick zur Seite: der Andre war 
schon fertig und hattc einem Folterknecht den 
Brustkorb eingedriickt. Eben trat er hin und 
drehte Einem der Vermummten, der wieder sich 
zu rcgen begann, das Gesicht ins Genick. 

Ich sprang empor, ein Blick ging Auge in Auge, 
wir rissen zwei Leichen aus ihrem Plunder, ich 
wart eine Kutte mir um, der Andre streifte in 
seine Kniehose und warf die Armel auf. Dann 
sicherten wir durch die offene Tiir. 

Auf der Eisentreppe, wo des Tages letzter 
Dammer filtrierte, schlurfte ein Dickwanst uns 
entgegen: ein ruckhafter StoB — im dumpfen 
Fade wumbte die rostige Plattform wieder. Wir 
sprangen tiefer in das schummrige Duster, 
huschten durch einen engen Gittergang, klappten 
hart auf steinernen Fliesen, der alterszitterige 
Pfortner lieB den Schliissel des Ausgangstores 
mnspringen, wir schliipften durch, das Blut 
rauschte mir im Ohre: kiihl und quack sprang die 
Luft der Freiheit mir an die Stirn. 

Zutatzend rifi der Genosse die Kapuze mir vom 
Schadcl, stiefi mich lautlos die Gasse lununter 
und verschwand selbst um die andre Eckc. Ich 
lief auf nachtigen Steigen, schwenkte um Meiler 
und Pfosteu, hetzte ein Stuck den Flufl hinunter, 
balancierte iiber einen morschen Bruckcnsteg, 
griff den rollenden Hut, nach dem ein wurdiger 
Herr unbeholfcn sich buckte, im Sprunge auf und 
streifte im Vorwartstorkeln den lastigen Monchs- 
rock mir vom Lcibe. Meine Tritte hallten wider 
vom Pflaster der totcn StraBen. Am Stadttor 
drehte die Wache cben den zweiten Fliigel cin, 
Hallo! raunztc ich den Flibustier an wie ein 
Boxerhund, riB, da er zufaBte, ihm die Achsel 
unter der Faust weg, sprang durch und keuchte 
eine Pappelallee hinunter, in der dcr nachtige 
Sturm die gereckten Wipfcl bog. Stechend 
stricheu cin paar groBe Tropfen mir ins gliihendc 
Gesicht. Dann strolchte ich im Hinschwinden 
mciner letzten Kriifte die schwirnmende Chaussec 
hinab, achzend, jappend, mit berstender Brust. 

In einem verschlnfenen Gutshof schlug ein Ketten- 
hund an. Ich hielt feldeinwiirts und ficl auf das 
platte Gesicht: in eine Pulse jagtcn klopfend an 
der schmierigen, kalten Erdc, 

Da horte ich die Glocken wimmern aus dcr 
Stadt, hell stieB der Ruf von Trompeten durch 
die wiihlende Nacht heriiber, ich kroch in einem 
Heuhaufen nnter und lacheltc seli^-zcrfahren. 



ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS 
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3 m Xtjronjaal ber Ofencr $6ttig3l> urg. 

Telegramm unsere* Sonderberichterstattcrs Dr. Leo Lederer. 

I. Budapest, 28. Dezember (1916.) 

. . . dehnt sich die licbtdurchflutete Stadt, aufschaumend in der 
Freude dieser Kronungstage. Der ganze ungarische Adel fill It 
neben einem groflen Teil der wohlhabenden Provinziatbevul- 
kerung die Hauptstadt; alle Hotels sind von unten bis oben 
bcsetzt, zehntausend Privatziramer sind der Stadt zu dem be- 
merkenswerten Preis von fttnfzig bis hundert Kronen far den 
Tag zur VerfUgung gestellt worden. Aber sie reichen kaum 
aus, die Wtlnsche der schaulustigen Ankommlinge zu befrie 
digen. In der beliebten Konditorei Gerbaud aber drohen 
die Damen und Herren des Landadels den friscbgebackenen 
Kriegsmillionaren und ihren brillantenbedeckten Gattinnen die 
ersessenen Platze wegzunehnien. Wohl tragt ein groBer 
Teil der Hofgesellscb&fi seit dem Ableben Kaiser Franz [osefs 
Trauer, aber von dem Wirken der „Liga fur Einfachheii , die 
ungarische Damen als kriegsgemiiflc Kampfgesellschaft gegen 
den Modeluxus gegrtindet baben, ist nicht gerade viel zu merken. 
Hi ber und Zobel, glSnzenden Seal und sanften Chinchilla, 
Breitschwanz und Marder hat die Liga vor dem Tode nichi 
bewahren konnen. 

DrauOen in den Straflen herrscht das voile GetUmmel eines 
J a hrmar ktfes te s. Rot-weifl-grline Fahnen wehen liber der 
Stadt: Oper und Parlament, Donaukai und AndrassystraCe 
prangen im nationalen Schmuck. Kleine Knaben schwingen 
die bunte Flagge mit der ungarischen Krone. Unverfalschter 
Jubel und echie Ilerzensfreude gliinzen in den Augen. Es ist 
wunderbar, wieviel Begeisterungsfiihigkeit, Lebensfreude unci 
stiirmische Energie nach zweieinhalb Jahren Krieg, fleischlosen 
Tagen und lichtlosen Niichten in dieser Nation noch lebt. . . . 
In den Vorzimmern des Tronsaalcs. Vor dem Thronsessel 
aber vereinigt sich die Abordnung des Reichstags im Feat 
tagskleid der ungarischen Gala zu einem Bild edel* 
ster, farbenfroher Kunst. Aus schwarzem Samt und goldenem 
Brokat, aus silbernen Schnallen und funkelnden Agraffen, 
aus weiflen Reihern und schwerem edlen Zobel , aus 
ziselierten Wehrgehangen und amelhystgescbmUckten Schwert- 
knaufen, aus einem unerhdrten Reichtum an Farben und an 
Formen isl dieses Galakleid des Volkes gebildet, . , , 
Schmat und unheimlich wie eine Veuetianer Dotchklinge steckt 
der rassige Korper Julius Andrassys in der Scheide seiner 
schwarzen Mente. In der kirschrolen Gala des Wi liens zur 
Macht stcht ihm sein Gegner Stephan Tisza gegentiber. . . . 
Wir geben hinnttber in die GemScher der Kbnigin, Matter 
leuchten die Kerzen. . . Nur wenig erhoht steht ein 
goldener Sessel vor der Mitte der Wand. Und schon 
tritt auch die Konigin ein.... Ist es die zarte 
Rote der Erregung, ist es die gehaltene Lebens* 
freude, die aus den dunkeln Augen leuchtet, 
sind es die sanften Wellen ttber der weiflen zarien 
Stirn, die sie schdner erscheinen lassen als alle 
ihre Bilder? . . . Von dieser Konigin . . . geht ein Strom 
von jugendlicher freudiger Daseinsbejahung aus, der 
seinen Eindruck nicht verfehlt. Mit heller Stimme, die die 
fremdartige Aussprache des Ungarischen fast noch wohl- 
lau tender macht, nimmt auch die Konigin die Auf- 
forderung des Fllrstprimas, sich kronen zu lassen, an. Sie 
spricht dieselben Worte, die Konigin Elisabeth, angebetet von 
der ganzen ungarischen Nation, vor nun bald ftlnfzig Jahren 
bei dem gleichen Anlafl gesprochen hat Konigin Zita kann 
die Rivalin dieser groflen Toten werden. Die alien Magnalen 
und die j ungen Heiflsporne der Nation sind von ihrer 
neuen Konigin begeistert. Die ganze ritterliche Liebe dieses 
Volkes fiir die Frauen bricht in den jubelnden Eljenrufen los, 
die den Worten der Kdnigin folgen. 

„Man wird ihr nichts abschlagen konnen, u sagt resigniert ein 
alter Magnat der Opposition. 

„Berlincr Taqeblatt*', Chefrcdaktenr Theodor Wolff , 
2%. 12. 1916, Leifartikd. 

Das Krdnungsfest und die Ratgeber des Kcinigs 

vo n Ungarn, 

Telegramm un seres Sonderberichtersta tiers Dr. Leo Lederer. 

I. Budapest, 30, December (1916.) 
Zwischen den miuelaherlich grauen Mauern der Ofener Festung 
Buda hoch oben ttber der Donau drangt sich das Volk, die 




DIE AKTION 



101 




wbtmtungro des Krdnungsschauspiels geniefJend. . . . Immer 
jiol c* eiwas zu schauen und 2u gaffen. Mil einer unglaublichen 
Sotgtait und LAebe, die die ganze Tiefe des ungarischen na- 
lionalen Etopfindens offenbart, rllstet sich das Volk zur Kronung 
seines Kotiigs und seiner Konigin. Das ganze Land blickt nach 
det stolzen Olener Burg, alle Gedanken hangen in diesen 
Tfcgen an der teuren heiligen Krone Stephans I., die 
morgen Ko nig Carl aufs Haupt gesetzt werden soil. Unterdem 
Donnei der Kanonen und dem Gelaute der Glocken hat man 
da* kostbaie Heiligtura mil den anderen Kroninsignien heute 
nachmittag aus dem streng behttieten, Tag und Nacht bewachten 
Kronzimmer in die Kronungskirche iiberflihrt. Gleich einer 
Priozessin hat man sie in einen goldenen Wagen gehoben, den 
sechs schneeweiBe Pferdc mit golddurchwirktem Zaumzeug 
ziehen. Honvedkavallerie eroffnet und beschlieBt den Zug, 
Tnbanten und Kxonwache scharen sich um den Wagen, in 
einer glasernen sechsspinnigen Kutsche folgen die Kronhtlter 
Graft n Bela Szecheny und Graf Julius Ambrozy mit den Ver- 
trelera des Konigs. Graf Karl Khuen Hedervary und Graf Aurel 
Dessewffy, in gToSer ungarischer Gala der Krone. ... In 
feierlichem Zuge zieht die alte Krone die Kronungsstrafie hinauf 
2 nr Math i ask irche, 

Zweimal hat man Generalprobe der Kronung in der Kirche ge 
halten. Gestern hat der Bischof Nemes die Rolle des Konigs 
dargestellt, heute ist der Kbnig selbst erschienen, morgen wird 
sich das Schauspiel vor den Augen der ganzen Nation wieder- 
holen. In seiner Buntheit und seiner Prunklust hat es dennoch 
einen tiefen Sinn. Ewig neue Kraft slromt aus der heiligen, 
geheimnisvollen Krone in die Seele des ungarischen Volkes. . . . 

Berliner Tageblatt te , Chefrtdakfmr Theodor Wolff, 
SO. 12 . 16 , Leifartikel. 



KLEINER BRIEFKASTEN 

Nina und Renate. Neue Bucherschein ungen ? In alien Buch 
und Papiergeschiften, auf alien Bahnhofen liegt, hSngt oder 
steht jetzt, 1917, im dritten Jahr des Wellkrieges cine I) ruck - 
schrift mit dem Titel: 

Der nachste 
W e 1 1 k r i e g 

Jawohl: der nachste Weltkrieg! Sowas konnle jemandschreihen, 
das gibt'a I Der Verlag Wilhelm Borngraber, Berlin, hates auf 
den Markt gebracht. Die Bauchbinde, die dem Buche umge- 
legt worden ist, schreit : 

Das wichtigste Buch der Gegenwart! 
Begeistert ist jeder.der es gelesen hat! 

Eine Mark. 

Dr. Werner Klinkhardt, Verlag, Leipzig. Sie senden mir mit 
der Bitte um freundliche Besprechung einen illustrierten Prospeki 
zu, der fllr einen rUstigen Handwerker Kunden werben soil. 
Bisher ist es nicht liblich gewesen, daB der ernste Verlags- 
buchhandel solche Geschlftazirkulare als Kunstbficher ausgibt, 
doch wie Sie wtlnschen. Also ich soli freundlich besprechen, 
was Herr Carl Sung fiber den Betrieb eines „neudeutschen 
HohscbnitzmeUlers" zu sagen hat. n Der Weg des Genies ist ein 
steiler, oft dornenvoller Aufstieg, u Schbn. „Da kam der grofie 
Krieg. Aber much unter seiner Einwirkung legte der Kfinstler 
die Hande nicht mtlfiig in den SchoB. Er wandte sich dem 
ungeheuren Geschehen , . . auf seine Weise nachdrllcklichst 
zu. . . — n Es ist die lange Reihe unserer Feinde, die er in 
einzelnen Typen mit scharfem Blick in ihrer Wesenheit 
erfafit und geformt hat. Mebrere Male hat er sich schon an 
diesem Vorwurf erprobt, und es ist erstaunlich, welch e 
Falle von Einfallen der M e ister hier ausgestreut hat. . . . u 
— . . . B Den Reigen erdffnet Kbnig Nikita, der Ftlrst der 
schwarzen Berge, auf dem vielgenannien Hammel reitend, 
er, der Konig der Hammeldiebe. . . 

Das Buch bringt 21 Seiten Text und etwa ebensoviel Bildchen. 
Der Preis, M. 3, ist allzu niedrig, verehrter Verlag. 



Heim l)r. L. Haas-Karlsruhe, M. d. R. In einem Artikel, den 
Herr Theodor Wolff im Morgenhl&it des „B, Ts.*‘ vom 20. 1, 1917 
abgedruckt hat, schreiben Sie in zeitgemafier Weise ilber „Das 
Nationalitatenprinzip. 1 ' Ich plane niebt, alle Ihre realpolitischen 
Konstruklionen nachzuprtifen, aber ein Satz hat sich in die 
Zeitungsbetrachtung eingeschlichen, den ich aus der ungeeigneten 
L'mrahmung herausholen will : 

„Eintrachtig undglucklich leben in der Sc h we i z Deutsche. 
Franzosen und Italiener, und sie lehnen hoflich, wenn es d&raut 
ankomrnt weniger hoflich, mil guten Gewehren und guten Kanonen 
die Anwendung des Nationalitatenprinzips auf ihre 
Helmut ab; sie denken nicht daran, sich an Deutschland, 
Frankreich und Italien vertcilen zu lassen.* 1 
Haben Sie, Herr Haas, nachgedacht, weshalb das mit der „Ein- 
tracht“ der Schweiz wohl soisi? Haben Sie da rflber nachgedacht, 
weshalb in Amerika Deutsche und Englander und Osterreicber 
und luliener und Schweizer und Russen und Polen, kurz alle 
„Nationen h eintrachtig nebeneinandar leben und sogar Amerika 
als „Heimat" bttrachten? Ein Politiker sollte wissen, daS die 
guten' 1 Gewehre und Kanonen der Schweiz nicht gegen 
sondern i Ur das ,,Nationalitatenprinzip‘ l bestimmt sind, denn 
gerade die Schweiz, Herr, ist, wenn auch nicht das absolute 
Ideal so doch ein Beispiel, wie in einem Staatswesen, das ketn 
Nanonalstaat ist, die Freiheit der verschiedenen ,,NationalitSten" , 
also das ^Naticn&litStenprinzip' 1 , gewahrt werden kann. (Nur 
die Anwendung dieses Prinzips hilt Amerika und die Schweiz 
zusammen.) Ubrigens, Herr Dr- Haas, schieben Sie bitte die 
„Realpolitik‘' fllr einige Minuten beiseite und forschen Sie nach, 
wie es eigentlich moglich war, dafi in Paris, London, Wien, 
Berlin, Petersburg, Rom einst die gesamten ,,Nationalitaten‘ 
nebeneinander leben konnten. Oder forschen Sie lieber nicht 
nach, denn sonst konnten Sie zu dem EntschluB kommen, ftirderhin 
M realpolitische*' Aufsatze zu unterlassen. 

O. St. Ich erinnere Sie an Balzacs Wort: „Auflerhalb der liter.v 
rischen Welt gibt es keinen Menschen, der die schreckliche 
Odyssee kennt, auf der man zu dem gelangt, was man je nach 
den Talenten Beliebtheit, Mode, Ansehen, Renommee, Berllhmt- 
heit, Popularity nennen raufl.“ (Balzac: ,, Talent und Journa- 
li sinus", AKTION, JAHRGANG III, Heft 10.) 

Elischewa K. in M. Ich kann Ihnen die AKTION erst senden, 
wenn Sie mir Ihre Adresse mitteilen, Welche Hefte haben Sie 
erhalten ? 

Georg Davidsohn. Geduld. Die nachste AKTION bringt Franz 
Werfels Auseinandersetzung mit dem Autor des „Verlages der 
Schriftcn von Karl Kraus* 1 , dann wird Werfels Antwort auf Ihren 
Brief erscheinen.Lesen Sie inzwischen: „Wiewerdeichenergisch :,, 

G, G. Der Verlag der Schriften von Heinrich Mann (Kurt 
Wolff) und der Verlag der Schriften von Max Brod (Kurt Wolff) 
ist auch der Verlag der Schriften von usw. usw, 

W. U. Von Carl Einsteins „Anmerkungen*‘ ist eine sehr kleine 
Zah! von besonders leichten, broschierten Exemplaren hergestelh 
worden, jedes Exemplar wiegt inkl. Verpackung 125 Gramm. 
Diese Ausgabe, die schnell vergriffen sein diirfte, istnurdirekt 
vom Verlage zu beziehen und kostet M, 1,10 bet Voreinsendung 
des Betrages. 

H. N. Die Biittenaasgabe der AKTION kostet jahrlich 40 Mark ; 
von jedem Heft werden 100 Exemplare hergestelh und numeriert. 
Probedrucke werden zur Ansicht versandt. Es ist wichtig, da II 
jeder Freund ffir diese Ausgabe Abonnenten wirbt. Folgende 
Neuerung erhtiht den Wert sehr: die Buttennbonnenten erhalten 
im Laufe des jahres mindestens sechs Kunstblatter (Handdrucke, 
Steindrucke, Original-Radierungen und - Lithograph ien). Diese 
Blatter gelangen nicht in den Handel ! 

DER BOTTEN AUSGABE DIESES HEFTES 

ist ein Kunstblatt von Felix Mtlllcr beigegeben, vom KUnstler 

signiert und numeriert. 



INHALT DER VOR1GEN NUMMER: Felix Miiller-Dresden : OriginaUiolzschniU (Titelhlatt) / Ludwig Rubiner; Ursprache 
und die zwelte Erde / G. F. Nicolai: Der Familiensinn / Stursa (Prag): Aktstudie / Aus Turgen jews Briefwechsel mit Herzen / 
R. Bampi: Die Last (Zeichnung) / Franz Werfel: Petr Beznitf / Beye: Der Zeitungsleser (Zeichnung) f Arthur Segal: Ori- 
iin&lhofz$chnitt / Wilhelm Klemm: Zeichnung / Swinburne: Strophen aus , .Dolores' 1 (Nachdichtung von Alexander Freiherr 
von Bern us / Walther Rilla: Ballade vom Gluck / Alfred Wolfenstein: Im Bestienhaus / Albert Ehrenstein; StoBseufzer / 
Edief Koppen : Nachts im Zimmer / Heinrich Schaefer: Qual / Kurd Adler : januar / Hans Koch, Andre Suares und Mar- 
guerite Schfirmann: Gedichte in FYosa / Ich schneide die Zeit aus / Kleiner Briefkasten 



Fur Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten 
Inha!t verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin-Wil- 
mersdorf, Nassauische Strafie 17. Tel. Pfalzbg. 1605 
Oedruckt bei F. E. Haag, Melle in Hannover. 
Die AKTION erscheint jeden Sonnabend. Abonne- 
ments kosten vierteljahrlich durch die Post, durch 
Buchhandel oder Verlag (unter Kreuzb.) M. 2,50. 
Ahonnemcnts fiir das Ausland kosten M. 3,—. 
Buttenausg., lOOnumerierte Exempl., jahrl. M. 40,— . 
Verlag der AKTION, Berlin-Wilmersdorf. 

Unverlangten Manuskripten 
ist Riickporto beizufugen. 

Alle Rechte vorbehalten. 




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WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, UTERATUR, KUN8T 
YD. JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERTNR. 3, 



IN HALT : Homeyer: Der Maler Chagall (Titelblatt) / Charles P£guy : Persdnliche Erinnerungen anjturte / Wilhelm Morgner: 
Federzdchnung / Q. F. Nicolai : Das Rassen problem / R, Bampi: Tuschzeichnung / Richter-Berlin : Macedonische Zigeuner 
(Oririnal-Holzschnitt) / Osio Koffler: Der Ahne (Zeichnung) / Carl Einstein : Heimkehr / Karl Otten : Oesicht / Josef Capek (Prag): 
Zeichnung / Albert Ehrenstein: Oedicht / Heinrich Schaefer: Zustand / Oskar Kanehl und Theodor Rudy: Verse vom Schlacnt- 
feld / Xaver: Caligulas Tod / Hoerle: Holzschnitt / Franz Werfel: Die Metaphysik des Drehs. Ein offener Brief an Karl 

Kraus / F. P.: Ich scnneide die Zeit aus; Kleiner Briefkasten 






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AKTIONS-BUCHER DER AETERNISTEN 

Band I : 

FERDINAND HARDEKOPF 
Lesestiicke 

Band 2 : 

CARL EINSTEIN 
An merkungen 

Band 3: 

FRANZ JUNG 

Opfcrung 

Band 4: 

FRANZ JUNG 

Saul 

Band ^ : 

CARL EINSTEIN 

B e b u q u i n 

Band t, 2 und 4 kosten gebunden je M. 2, — 
Band 3 und 5 kosten gebunden je M. 3,“ 



POLITISCHE AKTIONS-BIBLIOTHEK 



Erstes Werk 



ALEXANDER HERZEN 
Erinnerungen 
Deutsch von Otto Buek 

Zwei Bande. (446 und 338 Seiten.) Mit 

drei Portrats 

Gebunden M, 12,50, broschiert M. 10, — 

Filr Abonnenten der AKTION 
nur direkt vom Verlage : 

M. 8, — geb., M. 5, — broschiert 

Zweites Werk: 

LUDWIG RUBINER 
Der Mensch in der Mitte 

M. 3- 

VERLAG DIE AKTION 



DIE A K T I O N S 



Band 1 : 



L Y R I K 



1914 — 1916 

Fane Anthologie 

Band 2; 

JONGSTE TSCHECHISCHE LYRIK 

Fine Anthologie 



WILHELM 



Verse 



und 



K L E M M 
B i 1 d e r 



Luxusausgabe M. 15, 



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Sophie. Der Kreuzweg der Demut 
Ein Roman. Geb. M. 3, — , geh. M. 2, — 



Jeder Band gebunden M. 3, 



VERLAG DIE AKTION 



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EMILE ZOLAS ROMANE 



Die Lessinglegende 

Gebunden M. 3,10 



Die Geschichte der deutschen 

Sozialdemokratie 

Vier Bande gebunden M. 20, — 

1807 — 1812. Von Tilsit nach Tauroggen. 
1 8 1 3 — 1816. Von Kalisch nach Karlsbad. 

Jeder Band gebunden M. i,io 



Fruchtbarkeit 
Wahr h ei t 
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Lourdes 
Rom 

Paris 
Das Geld 
Doktor Pascal 
Der Zusammenbruch 

Jeder Band in Leinen gebunden M- 4, 



Verlag J, H. W. Dietz N ac hf., Stuttgart 



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WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR, KUNST 

7. JAHRGANG HERAUSGEG EB EN VO N FRANZ PFEMFERT 3. MAR2 1917 



PERSONLICHE ERINNERUNGEN AN JAURfeS 
Von Charles Pegny 

Jaures 1905 

Als Band 6 der AKTIONSBUCHER DER 

AETERNISTEN wird Peguy: »Aufsatze" er- 

scheinen. Dies ist ein Probest uck aus dem 

Buche. 

Wer hatte sich ihm nicht angeschlossen ? Und 
wer, ihm angeschlossen, hatte sich nicht gehaiten 
gefiihlt? Sein alter und gerechter Ruhm aus der 
aiten Dreyfusaffare, der seinen alteren, seinen 
nicht minder gerechten Sozialistenruhm vermehrte, 
verdoppelte, umgab ihn nun noch mit dem Glanze 
der Gute. Das war die Zeit, wo es offenkundig 
wurde, daB Jaures gut war. Die Andren 
konnten ihm andere Vorztige bestreiten, aber am 
Ende hieB es stets; Er ist gut; man muB es ihm 
lassen, er ist gut — Und das war auch die vier 
Jahre wahrende Zeit, wo er, nicht mehr Deputier- 
ter, aus der parlamentarischen Welt, ja beinahe aus 
der ganzen politischen Welt ausgeschieden, in die- 
sem Lande eine Stellung einnahm, die er niemals 
wiedererlangt hat. Das war der gute FuBgiinger 
und gute Plauderer Jaures, nicht der erhitzte, ver- 
schwitzte Jaures der rauchigen Versammiungen, 
noch dergerotete und leider arg mondane Jaures 
der Salons der Vert eidigung der Republik; sondern 
ein Jaures der freien Luft und der Herbstwalder, 
wie er gewesen ware, wenn sich ihm niemals das 
Unheil genaht hatte, ein Jaures, dessen Schritt auf 
dem festen Boden der LandstraBe widerhallte. Ein 
Jaures der lichten Morgennebel, deren Schimmer 
den Fruh herbs t verschont. 

Ein Jaures, der, wiewohl von den Berghangen der 
Cevennen, von den Ufem der Garonne zu uns 
gekommen, die vollkommene Schonheit der fran- 
zosischen Landschaft restlos wurdigte. Ein 
Jaures, der diese herrlichen herbstgoldenen Baume 
der Ile-de-France bewunderte, zu sehn und anzu- 
sehn verstand. Ein Jaures, der auf der Brucke 
von Suresnes ans schlanke Gelander aus GuBeisen 
oder sonst einem Metall gelehnt, den Blick gegen 
Puteaux gerichtet, als moderner Beschauer die 
ganze neuzeitliche industrielle Schonheit dieser 
Seine-Partie zu bewundern wuBte; oder er stand, 
von der anderen Seite aus betrachtend, das Ge- 
sicht dem Strom e zugewendet, schaute, staunte, 
beobachtete, sah, wie nur ein Franzose es zu sehen 
vermag, die edelgeformten Windungen des Stro- 
mes, der von der wundervollen Kammlinie der 
Hugel herniederfloB. Er erklarte mir all dies. 



Immer erklarte er alles. Er verstand wundervoll 
zu erklaren, mit logischen, beredten, beweisenden 
Griinden; zwingend. Das war es, was ihn verfiihrt 
hat. Ein Mann, der solch hervorragende Gabe 
des Erklarens besitzt, ist reif fiir jede Art von Ka- 
pitulation; Kapitulationen bestehn im wesentlichen 
darin, dafi man zu erklaren anfangt, statt zu han- 
deln. Die Feigen sind Menschen, die von Erkla- 
rungen uberstromen. 

Ich babe einen poetischen Jaures gekannt. Eine 
alte gemeinsame Bewunderung, zum Teil von 
unseren Universitatsstudien herriihrend, verband 
uns in dem gleichen Kultus der Klassiker und der 
groBen Dichter. Er verstand Latein; er verstand 
Griechisch, Er wuBte ungeheuer viel auswendig. 
Ich habe das hohe Gluck genossen — und das ist 
nicht jedermann zuteil geworden, — das Gluck, 
dem vortragenden, deklamierenden Jaures zur 
Seite zu gehn. Wie viele denn haben die Dichter 
durch die machtig hallende Stimme Jaures kennen 
gelernt? Racine und Corneille, Hugo und Vigny, 
Lamartine und die Bbrigen, bis herab zu Villon: 
er kannte alles, wovon man nur wuBte. Und er 
kannte ungeheuer viel, wovon man nichts weiB. 
Die ganze Phadra, w r ie mir schien, den ganzen 
Polyeucte. Und Athalie. Und den Cid. Er ware 
ein groBartiger Mounet gewesen, wenn das widrige 
Schicksal sich nicht darauf versteift hatte, einen 
Politiker aus ihm zu machen. Er war zum Klassi- 
schen mehr durch eine toulousanische Neigung 
fiir romische Beredsamkeit gekommen, wahrend 
ich vielleicht mehr durch eine franzosische Nei- 
gung fiir griechische Reinheit dazu gelangt sein 
diirfte. Doch zu jener Zeit vertiefte man nicht 
diese leichten Meinungsverschiedenheiten, Die 
Geister waren in Einigkeit. Man blickte nicht alles 
so kritisch an. Sosehr er urspriinglich Toulou- 
saner war, er erhob sich leicht, natiirlich voll- 
kommen zum Verstandnis und zum Geschmack 
der ausgezeichneten Dichter aus dem Loi retale 
und dessen Umgebung, welche die Essenz fran- 
zdsischer Genialitat darstellen: du Bellay, der un- 
sterbliche Ronsard. Er kannte die Sonette: 
„Wenn du einst alt bist**, „Im Abendlicht der 
Kerzen“. Wolle Gott, daB diese kompromittie- 
renden Enthiillungen seinem politischen Ruhme 
nicht zu sehr schaden. Es gab nur dann MiBtone, 
wenn er sich erinnerte, daB er, der in der Normal- 
schule ehemals ein ausgezeichneter Philosophie- 
dozent gewesen war, es unternahm, den Philoso- 
phen zu spielen. Dann nahmen diese Unterhal- 




107 



DIE AKTION 



108 



tungen bose Wendungen. Eines Tages hatte ich 
das Ungeschick, ihm zu sagen, daB wir sehr regel- 
maBig die Vorlesungen des Herrn Bergson am 
College von Frankreich, zumindest die Freitag- 
vorlesungen, besuchten, und ich beging die Un- 
klugheit, ihm anzudeuten, daB man sie gehort 
haben miiBte, um halbwegs im laufenden zu sein 
iiber das, was vorgehe. Allsogleich in weniger 
als dreizehn Minuten, hatte er mir einen Vortrag 
iiber die Philosophic Bergsons gehalten, von der 
er auch nur das erste Wort nicht kannte oder 
nicht verstanden hatte. Bestimmt nicht. Doch er 
war der Promotionskollege von Herrn Bergson in 
der alten Normalschule, in der hoheren, gewesen. 
— Dies war einer der Palle, wo er mich zu beun- 
ruhigen anting. Das geniigte ihm. — 

Er war so beredt, daB er oft, ohne es zu wollen, 
stehenblieb, um noch beredter zu sein; und ob 
er nun ging oder stand, machten die Leute in der 
Stadt oft halt, um ihn sprechen zu sehn. Nicht 
alle kannten ihn, obwohl er der beriihmteste Mann 
in Frankreich war und damals im Zenit seines 
Ruhmes stand. 

In jenen Tagen, zur Zeit Ronsards und Heredias, 
pflegte Jaures zu mir zu sagen: Sie, Peguy, Sie 
haben einen Fehler. Sie haben die Manic, sich 
das Leben von jedem Menschen ganz anders aus- 
zudenken, als der Besitzer selbst es sich einteilt; 
und an seiner statt fur ihn es einzuteilen. — Das 
ist, well ich als einfacher Burger den notigen 
Abstand habe. Mitten im einfachen Volke stehend, 
sehc ich wie jedermann vide Dinge, welche die 
QroBen nicht sehen. 

Das letzte Mai, da ich Jaures in diesen Verhait- 
nissen gesehn habe, und ich habe ihn seitdem 
nie mehr, auch nicht in anderen Verhaltnissen ge- 
sehn, war just wahrend der Monate, da er die 
Zeitung vorbereitete, welche die „Humanite 
worden ist. Die alten Leute entsinnen sich noch, 
was alles man von dieser in Bildung begriffenen 
Zeitung erhoffte. Die Zeitung Jaures’ l Inspateren 
Jahren hatte man genug davon, Seit Jahren wuBte 
man es, hatte man davon gesprochen, daB Jaures 
einmal seine Zeitung griinden wurde. Nun end- 
lich wurde man sic haben, sehn, wiirde man die 
Zeitung Jaures’ wirklich zu sehn bekommen, Man 
wartete. Man durfte nichts reden. Das wiirde eine 
Zeitung sein, wie man noch nie eine gesehn hatte. 
Die Zeitung Jaures’ eben. Das Wort sagte alles. 
Das Wort gait alles. Man wiirde schaun, was 
fiir ein Biatt die Zeitung Jaures’ sein wurde. Die 
Anteilscheine liefen um. 

In dieser Zeit geschah es, daB mir eines 
Tages die Drucker, als ich kurz nach dem 
Friihstiick in die Druckerei kam, sagten: Den- 
ken Sie sich, Jaures war hier und hat nach 
Ihnen gefragt! Sie waren nicht wenig stolz, die 
Drucker, mir diese Botschaft zu iibermittein, weil 
die Verehrung, welche einstmals die Untertanen 
fiir den Konig von Frankreich hatten, nichts im 
Vergleiche mit den Gefiihlen war, welche unsere 
modernen Biirger fiir die grofien Fiihrer ihrer 
Demokratie hegten, 

Es war damals schon lange, daB ich Jaures, nach- 



dem er wieder Deputierter geworden, nicht ge- 
sehn hatte. Seine Kapitulation vor der Demago- 
gie der Combisten und bald darauf seine Verbin- 
dung mit ihr hatten endgiiltig eine Trennung voll- 
zogen, deren Anfange in das Entstehungsstadium 
unserer ersten Beziehungen zuriickreichten. Im- 
merhin sagte ich mir, als die Drucker mir so be- 
richteten, Jaures hatte nach mir gefragt, daB ich 
schlieBlich der Jiingere war, ein ganz junger 
Mensch im Vergleich mit ihm, daB ich ihm dem- 
zufolge Achtung schuldete, daB ich auf seinen 
ersten Schritt eingehen miiBte, daB unsere friihe- 
ren Beziehungen niemals anders als hochst acht- 
bar und untadelig gewesen waren, daB sie mir 
stets in wertvoller Erinnerung bleiben wiirden — 
daB ich mithin den zweiten Schritt machen miiBte. 
Ich stellte mich bei ihm ein. Etwa am folgenden 
Tage. Ich glaubte, daB er mir etwas zu sagen 
haben werde. Er hatte es nicht. Er war ein ganz 
anderer Mann. Gealtert, verandert, um Gott weiB 
wieviel. Diese letzte Zusammenkunft war recht 
unglueklich. Es ist etwas sehr Trauriges, w f enn 
zwei Menschen, welche ein Stuck Leben miteinan- 
der gelebt haben, nach einer langen, endgiiltigen 
Trennung aus eigenem Antriebe oder durch die 
Geschehnisse in die auBerliche Form dieses frii- 
heren Lebens zuriickversetzt werden. Kein an- 
derer Umstand wie eine derartige Wiederannahe- 
rung grabt die eitle Staubesspur verfehlter Schick- 
sale so tief ins Herz. Er ging. Ich begleitete ihn 
trotz allem. Wir gingen zu FuB. Er trug Briefe 
zur Post; oder Telegramme. Wir gingen, wir gin- 
gen dahin durch die frostigen StraBen des 16. Be- 
zirkes. Bei der Statue von La Fayette oder dort 
in der Nahe hielt er einen Wagen an, um eine 
Fahrt zu machen. Im Augenblick der Trennung 
fiihlte ich wohl, daB es das letzte Mai sein wurde. 
Eine tiefe Bewegung, fast Reue, machte es mir 
unmoglich, ihn so zu verlassen. Im Moment die- 
ses letzten Handedrucks kam ich auf das zuriick, 
was seit dem vorigen Tage und seit dem Beginne 
des Besuchs mein Gedanke gewesen war; ich sagte 
zu ihm; Ich habe geglaubt, daB Sie mich gestern 
in der Druckerei wegen Ihrer Zeitung aufgesucht 
haben. — Etwas iibersturzt erwiderte er: Nein. — 
Wenige Augenblicke vorher hatte er in erschopf- 
tem l one gesagt: Ich mache Wege, Besuche. — 
Er war und sah miide aus. — Die Leute wollen 
nicht vorwarts. Die Leute sind miide. Die Leute 
taugen nicht viel. Er war ermattet, gebeugt, ver- 
braucht. Ich habe niemals etwas oder jemanden 
so traurig, so trostlos, so untrostbar gesehn wie 
diesen professionellen Optimisten, 

Hatte er schon damals oder vielleicht schon seit 
einiger Zeit, eben durch jene unternommenen 
Schritte ein Vorgefiihl von dem bitteren Leben, 
in das er eintrat? Dieser Tag, diese Zeit hatte eine 
entscheidende Bedeutung in seinem Leben. Zum 
letzten Male verlieB er das freie Leben, das ehr- 
bare Leben, das Freiluftleben des einfachen Bur- 
gers; das letzte Mai, unwiderruflich, er ging hin, 
um unterzutauchen, um den Kopfsprung in die 
Politik zu machen. Er war von einer groBen Trau- 
rigkeit befallen. Er war Zeuge seines eigenen 



DEE AKTION 



110 



m 



Untergangs. Und da er von Natur aus beredsam 
v?ar, beklagte er sich in seinem Herzen in bered- 
tesler Weise. Die Hand in seinem Haare lieB die 
Strahnen i\attem. Ich sagte zu ihm: Horen Sie 
mich an. Sie wissen wohl, daB ich nicht verlange, 
\hrer Zeitung beizutreten. Mein Leben gehort 
ganz den „Heften M . Aber ich habe neben mir — 
oder besser gesagt — es arbeitet an den Heften 
eine Reibe junger Leute mit, die Sie beitreten 
lassen kdnnten. Sie sind keineswegs beriihmt 
Sie laufen dem Ruhme nicht nach. Doch sie sind 
emst. Und sie haben die Tugend, welche in 
den modemen Zeiten am allerseltensten geworden 
ist: die Treue. Es ist nicht Treue, wodurch die 
Manner Ihrer Umgebung glanzen. Hier aber, — 
Sie wissen, welche Krisen, welche Note die 
„Hefte“ seit fiinf Jahren durchgemacht haben: 
nicht einer meiner Mitarbeiter hat mich im Stich 
gelassen. So etwas ist mehr wert als alles, was 
ich veroffentlicht habe. Es ist zweifellos das erste 
Mai seit dem Beginne der dritten Republik, daB 
so etwas vorkommt 

Er war verlegen. Ich fuhr fort: Glauben Sie zum 
Beispiel, daB es so ganz sinnlos ware, wenn Sie 
den Anfang damit machten, den „Coste“ von La- 
vergne im Fenilleton zu bringen? Nun begann 
er mit verzweifelter Miene die Arme gegen den 
Himmel zu erheben: Sie wissen genau, wie das ist 
Ich hat te mein Personal vollzahlig, bevor ich an- 
ting. Es ist leichter, Mitarbeiter als Kommandi- 
tare zu finden. 

Ich wuBte alles. Ein letzter Handedruck. Er stieg 
schwer, wie gebrochen, in seine Bummeldroschke 
ein. Seither habe ich ihn nicht wiedergesehen. 

Ich habe also nie erfahren konnen, warum er am 
Vortage plotzlich, nach einer tangen Pause und 
ohne Ankundigung mich in der Druckerei auf- 
gesucht hatte. Vielleicht war es im Augenblick vor 
dem Wagnis, knapp vor dem entscheidenden 
Schritt ins Unvermeidliche, ein geheimes Bedau- 
ern, ein leiser GewissensbiB ? Im Augenblick des 
Abschieds fur immer von einem Land, wo er 
etwas Gluck und etwas Gewissensruhe gefunden 
hatte, knapp vor dem Obergang in den Morast der 
Politik, in die Sumpfe, ins Brackwasser der Tief- 
ebene, ein letzter Grufi, eine letzte Gcsundheit, 
eine letzte Fahrt ins alte Land der wahren Freund- 
schaft. 

(Autorisierte Ubersetzung von Gustav Schlein) 



DAS RASSENPROBLEM 
Von G. F. Nicolai 

Die Rassenfrage ist eines der traurigsien Kapitel 
tnenschlicher Wissenschaft, denn nirgends sonst 
hat man — bewuBt oder unbewuBt — die „vor- 
urteilslose** Wissenschaft so often in den Dienst 
politischer Bestrebungen gestellt; wofur die Bu- 
cher des Angfo-Deutschen Houston-Stewart Cham- 
ber/am ein Beispiel sind. Bekanntlich hat dieser 
Autor den Versuch gemacht, alle bedeutenden 
Menschen der Weltgeschichte — inkl. Christus 
und Dante fur di e g^rmanische Rasse zu rekla- 

miere/i. 



Betrachten wir aber die Grundtage, auf denen 
diese Rassentheorien stehen, so sind sie recht 
schwach : 

1. ist es im allgemeinen nicht erwiesen, daB eine 
reine Rasse besser sei als eine gemischte; 

2, ist es im einzelnen unmoglich zu definieren, 
was eine Menschenrasse sei. 

Was den Wert einer reinen Rasse betrifft, so sagt 
man, ein Rassehund sei wertvoller als ein StraBen- 
koter. Und diese Tatsache hat wohl die eigen- 
artige Meinung zur Folge gehabt, nach der auch 
der reinrassige Mensch wertvoller sei als der ge- 
misch trass ige. 

Bei den Hunden, in geringerem MaBe auch bei 
anderen Haustieren, ist diese Bewertung verstand- 
lich, hat sich doch der Mensch aus der urspriing- 
lichen Hunderasse allmahlich das zurechtgeziich- 
tet, was er brauchte oder liebte. So zuchtete er 
eine kleine und lange Rasse, mit krummen zum 
Graben geeigneten Beinen, mutig, kraftig und 
raubgierig — den Dachshund, den er zur Jagd 
auf hohienbewohnende Tiere benutzte. Eine an- 
dere Rasse zuchtete er sich groB und schlank, 
mit langen Beinen — die Windhunde, die ihm die 
Hasen jagten, und ahnlich hat er sich wachsame 
Spitze, feinnasige Vorstehhunde, auf den Mann 
dressierte Doggen bis hinauf zu den menschen- 
rettenden Bernhardinern gezogen. 
jede dieser Rassen hat nur ganz bestimmte Eigen- 
schaften, wahrend die anderen verkummert sind, 
so kann der Windhund nicht riechen, der Dackel 
nicht gehorchen, und die Doggen sind bissig. Kurz, 
biologisch sind diese reinrassigen Hunde durch- 
aus nicht besonders giinstig veranlagt, aber der 
Mensch will sie nun einmal so und deshalb er- 
scheinen ihm Kreuzungen, bei denen die Spezia- 
litat der einzelnen Hunde natiirlich verwischt ist, 
als minderwertig. 

DaB aber in rein biologischer Beziehung die rei- 
nen Rassehunde minderwertig sind, geht schon 
daraus hervor, daB gerade die hochst geziich- 
teten meist ziemlich schnell wieder aussterben, 
so haben die Bernhardiner nur vier Generationen 
erlebt, und auch reine Mopse gibt es nicht mehr, 




Wilhelm Morgnet * Landtchaft 




Ill 



DIE AKTION 



112 



#< 



aber dafiir kommen immer wieder neue „reine 
Rassen auf. 

Bemerkenswert ist es allerdings, daB man die 
Polizeihunde, die ihrer Aufgabe nach „vielge- 
wandt“ sein miissen, nicht reinrassig nennt. 

Reine Rassen sind eben nur dort zu gebrauchen, 
wo es sich um Sepzialzwecke handelt und da man 
nur den Hund zu so vielfachen, seiner Natur nach 
eigentlich fern gelegenen Zwecken verwendet, so 
hat der Begriff der reinen Rasse vornehmlich 
beim Hunde Wert und Bedeutung. 

Bei alien anderen Haustieren — (Pferden, Kiihen, 
Ziegen, Schweinen usw.) ist gerade die kunst- 
gerechte Kreuzung, die Veredelung, wie der Ziich- 
ter sagt, die Hauptsache. Und selbst, wo man 
im ganzen eine einigermaBen reine Rasse ziichtet, 
muB man von Zeit zu Zeit das Blut auffrischen. 
Nur die zum Sport (resp. in praktischer Beziehung 
hauptsachlich gerade zur immer von neuem er- 
folgenden Veredelung) gehaltenen Rennpferde und 
einige Taubenspielereien machen Ausnahmen — 
aber als Gebrauchspferd ist eben nur das Halb- 
blut verwendbar. 

Im Tierreich finden wir also kaum eine Stiitze 
fur den Satz, daB die reinrassigen Volker vorzu- 
ziehen seien und unter den Menschen konnen wir 
gar keine Stiitze dafiir finden, weil es hier — ab- 
gesehen vielleicht von einigen sehr tiefstehenden 
Volkem — iiberhaupt keine reinen Rassen gibt. 
In Europa wenigstens bilden alle Nationen ein 
„Volkerchaos“. 

Aber wenn man selbst sagte: Gut, die Volker 
sind einmaf durch Mischung entstanden, aber nun 
bildete sich eben aus diesen Kreuzungen im Laufe 
der Zeit eine einheitliche Rasse, und diese alten 
Rassen sind wertvoller als die jungen Mischungen, 
so entspricht dies nicht den Tatsachen. Im Ge- 
genteil, es ist eine merkwiirdige Erscheinung, daB 
alle Volker, die groB geworden sind, in ihren 
Sagen erzahlen, sie seien als Eroberer in ihr jet- 
ziges Land gekommen, was zweifellos die Erinne- 
rung an die immer wieder bestatigte Tatsache ist, 




Die Schwangere 



daB sich machtige Volker, die der Welt etwas 
Neues zu sagen haben, immer dort bilden, wo 
zwei Volkerfluten zusammenstoBen und sich ein 
neues Reich erhebt. Es gilt dies auch fur die alten 
Reiche des Ostens, aber um nur bei Europa zu 
bleiben, aus jener groBen Volkerbewegung, die 
wir als die dorische Wanderung und die grie- 
chische Ko Ionisation des Mittelmeeres bezeich- 
nen, ging Hellas und Rom hervor (Roms Weltreich 
noch in ganz direktem AnschluB an die etrus- 
kischen Wanderungen), aus den Sturmen der 
Volkerwan derung bildete sich Deutschlands 
mittelalterliches Weltreich. . . Aus den Araber- 
ziigen ging in Spanien, (also nicht im Mutter- 
lande!) das in jeder Beziehung bedeutsamste der 
arabischen Reiche hervor und spater das spani- 
sche Weltreich. Die Normannenziige des zehn- 
ten Jahrhunderts nach Frankreich und England 
wurden AnstoB fur die GroBe dieser Lander. 
Dort, wo die aus dem German envorstoB des 
zehnten bis zwolften Jahrhunderts iiber die Ost- 
mark hinaus resultierende Mischung mit den unter- 
worfenen Slawen am intensivsten war, entstand 
PreuBen. In RuBland aber wurden um 1400 die 
Slawen mit den Mongolen gemischt und seit- 
dem bewegt sich dies Volk in aufsteigender 
Linie. 

DaB es nicht immer nur die Blutmischung ist, son- 
dern daB auch die Aufriittelung schlummernder 
Energien eine Rolle spielt, ist moglich, aber 
jedenfalls widerlegt schon diese kurze Zusammen- 
stellung die Vorstellung, als waren altere Rassen 
irgendwie bevorzugt, — 

Und wem diese alten Geschichten zu fern liegen, 
der braucht nur auf die beispiellose Entwicklung 
Amerikas zu blicken, wo unter unsern Augen aus 
den zum Teil doch minderwertigen Absplit- 
terungen des alten Europas mit allerdings 
geringem, aber doch nicht zu verachtendem Ein- 
schlag von Neger- und Indianerblut ein junges 
lebensstarkes Volk entsteht. Ein Volk, das man 
nicht mit Unrecht die neue Welt nennen kann. 
Jedenfalls darf man ganz objektiv behaupten, der 
Vorzug einer reinen Menschenrasse vor einer ge- 
mischten ist durch nichts erwiesen oder auch nur 
wahrscheinlich. 

Was nun die Unterscheidung der einzelnen Rassen 
anlangt, so ist es das Schlimme, daB wir kein ein- 
deutiges Kriterium fiir die Definition einer Rasse 
besitzen: Man hat deshalb alles mogliche heran- 
gezogen, man hat versucht, durch historische 
Fors chung die Menschen in Gemeinschaften glei- 
cher Abstammung zu sondern, man hat sprach- 
liche Verwandtschaften sowie andere kultu- 
relle Ahnlichkeiten und Unterschiede herangezo- 
gen und man hat endlich Rassen zu definieren 
versucht auf Grund korperlicher Eigenschaf- 
ten. Alles mit einer gewissen Berechtigung und 
auch mit einem scheinbaren Erfolg, wenn wir uns 
eben nur einseitig auf die betreffende Spezial- 
forschung stutzen. Aber leider stimmen die auf 
solch verschiedene Weise zusammengefaBten Vol- 
kergruppen nicht uberein. 

Es gibt historisch beglaubigte Volker, wie z. B. 



42 . Bampi 



113 



DIE AKTION 



114 



die Germane n der Volkerwanderung, deren eigentlich entscheidend i$t, so kann sich jeder das 

Nachkommen man aber in Italien und Afrika, in fur seine Sonderwunsche Passende heraussuchen, 

Spanien und Byzanz suchen konnte. und was schlimmer ist und zu heilloser Verwiming 

E s gibt sprachliche Gemeinschaften, wie z. B. gefuhrt hat: jeder, der auf Grund einseitiger Merk- 

die „Deutschen“, zu der neben Germanen auch male ein „Vo!k“ abgegrenzt hat, versucht auch 

Slawen und Kelten, ja Neger und Mongolen die anderen Merkmale dem anzupassen. So hat 

gehoren. man gemeinschaftiiche Artmerkmale in dem gan- 

Endlich gibt es anthropotogische Rassen wie z. B, zen Gebiet finden wollen, das einst von den StQr< 

den langkdpfigen Nordtypus der Europaer, men der Volkerwanderung erschiittert wurde, man 

der im wesentlichen um die Ost- und Nordsee hat das deutsche Oder slawische Sprachgeblet als 

(mit Ausnahme von Potnmern, Westpreufien und Rasse zusammenfassen wollen und man hat die 

Finnland) wohnt. Juden resp. Germanen als Kulturgemeinschaft auf- 

Da nun niemand weifi, welche Methode fassen wollen. 





115 



DIE AKTION 



116 



Vor allem ist die historische Forschung zur 
Erhebung sinnloser Anspriiche miBbraucht wor- 
den. 

Nun ist aber gerade die historische Forschung 
fur die Rassenfrage vollig belanglos, denn wenn 
in einem von Millionen bewohnten Oebiet auch nur 
ein einziger Vertreter einer fremden Rasse iibrig- 
geblieben resp. eingewandert ist, und dieser ein- 
zige hat ^ravalierende 14 Artmerkmale (d. h. sol- 
che Eigenschaften, die sich bei einer Kreuzung 
mit Vcrtretern andcrer Rasse unbedingt vererben), 
so wiirde durch fortgesetzte Kreuzung in we* 
nigen Jahrhunderten die gesamte Bevolkerung 
diese Merkmale des Einen besitzen. 

Um dies einzusehen, mu!5 man bedenken, daB 
(bei je 4 Kindern) ein Mensch in der 5. Generation 
(also nach 125 Jahren) tausend Nachkommen hat; 
nach 250 Jahren ist’s eine Million und nach 375 
Jahren wiirde seine Nachkommenschaft annahernd 
der Zahl aller lebenden Menschen entsprechen. 
Die historische Tatsache, daB ein Volk zu einer 
gegebenen Zeit reinrassig war und seitdem keine 
wesentliche Zumischung fremden Blutes in sich 
aufgenommen hat, ist also nur von relativ geringer 
Bedeutung. 

Ebenso hat die Sprachforschung zu nichts ge- 
fiihrt, denn wir wissen, daB Volker unter Um- 
standen in ganz kurzer Zeit eine neue Sprache 
fast restlos annehmen, so sprechen z. B. die Sla- 
wen der ostelbischen Provinzen fast liberal! gut 
deutsch. Die urspriinglich turkisch - tatarischen 
Bulgaren wurden von slawischer Kultur und Spra- 
che so durchdrungen, daB sie jedes BewuBlsein 
ihrer Abstammung verloren haben, umgekehrt sind 
die in Gricchenland eingedrungenen Slawen vollig 
hellenisiert worden. 

Auch die Gothen in Spanien und der Lombardei 
haben ihr Germanentum schnell und restlos ver- 
gessen. Diese Liste konnte man beliebig ver- 
langern. Dies el be schnelle Veranderlichkeit wie 
in der Sprache kommt in noch hoherem Grade 
alien anderen Kultureinrichtungen zu. 




Der Ahne 



Das Studium korperlicher Merkmale, das bei 
Tieren fast ausschlieBlich zur Unterscheidung der 
Arten dient, ist auch beim Menschen das einzige, 
das wirklich greifbare Resultate gibt, und hat sich 
auch bei der Unterscheidung der groBen Meti- 
schenrassen in Weifie und Schwarze, Gelbe und 
Rote gut bcwahrt. Bei der Abgrenzung der kleinen 
europaischen Untervarietaten, die man oft genug 
auch als Rassen bezeichnet, hat sie im wesent- 
lichen versagt. Denn: 

1. waren diese Volker wahrscheinlich iiberhaupt 
niemals echte Varietaten, sie hatten keine Gelegen- 
heit, sich dazu zu entwickeln, weil sie erst in rela- 
tiv spaterer Zeit sich von dem gemeinsamen Stamm 
der sogenannten indogermanischen Rasse abge- 
spalten haben; 

2. wird das Studium wesentlich erschwert, weil 
man nicht weiB, ob die in Europa vorhandene 
Urrasse, auf welche die Einwanderer stieBen, ho- 
mogen war oder nicht. Gerade dieser Punkt 
jedoch wird eine bessere Kenntnis der prahisto- 
rischen Funde allmahlich aufklaren; 

3. und das ist der Hauptpunkt, hat in historischer 
Zeit eine so intensive Durchmischung stattgefun- 
den, daB man liberal! nur noch Trummer der ein- 
zelnen Volker erwarten darf. 

Roms Legionen drangen zum Pontus, zur Ultima 
Thule und weit iiber den Limes hinaus, und was 
mehr ist, sie kolonisierten in hohem Mafie, wovon 
z. B. die durchweg romischen Namen rheinischer 
Stadte und die haufig genug romischen Profile 
der rheinischen Madchen beredtes Zeugnis ab* 
legen. 

Dann sprengten schon vor der Volkerwanderung 
kimbrische Horden weit nach Suden, es folgte 
die Zeit, in der Germanen als romische Soldner 
den Erdkreis durchzogen, bis sie endlich in der 
Volkerwanderung als selbstandige Volker ganz 
Europa durch wand crten. Und diese Volkerwan- 
derungen haben nicht aufgehdrt, besonders im 
ostlichen Zentraleuropa zwischen dem 15. und 
30. Langengrad, also etwa in dem Balkan und in 
dem iiber ihm aufgebauten Viereck (mit den Ecken 
Stettin, Triest, St. Petersburg und Konstantinopel) 
fanden Volkerverschiebungen statt, von denen die 
kurlandischen und Siebenbiirgener Deutschen im 
slawischen und rumanischen, die Szekler Magya- 
ren im osmanischen, die Wenden und Tschechen 
im deutschen Gebiet Zeugnis ablegen. 

Aber auch sonst brachte Krieg und Frieden viel 
Abwechslung. Geschlagen haben sich speziell 
in Deutschland alle Volker Europas und der um- 
liegenden Gegenden, ink!. Mongolen und Mores- 
ken, Finnen und Magyaren. Aber viele von ihnen, 
vor allem Spanier und Franzosen, Schweden und 
Polen lagen oft lange in Deutschland, umgekehrt 
lagen deutsche und Schweizer Landsknechte in 
der ganzen Welt in Garnison und zeugten mit 
oder ohne Gewalt Nachkommen. 

Zu diesen sich aus der Historie ergebenden 
Schwierigkeiten kommt eine weitere biologische 
Schwierigkeit. An sich ist z. B. die Schadelfor- 
schung eine ganz exakte Methode, nur wissen wir 
nicht, ob und warum die Schadelmerkmale (eben- 



Oaio Koffler 




DIE AKTION 




so wie and ere korperiiche Eigenschaften) variabcl 
smd. W enn z. B. s wie durch Schadelfunde und sta- 
tistische Aufnahmen leicht festgestellt werden 
kann t in Deutschland die Rundkopfigkert, resp. 
der brunette Typus allmahlich zunimmt, oderwenn 
in Amerika unter den Weifien ein gewisser Indi- 
anertypus neuerdings haufiger wird, so wissen 
wir nicht, rum mindesten konnen wir es den Scha- 
de\n nicht ansehen, ob dies darauf beruht, dafi ein 
anfanglich in der Mtnderzahl vorhandener Volks- 
bestandteil mit pravalenten Merkmalen (brunette 
Rundkopfe oder echte Indianer) allmahlich „durch- 
schlagt“, oder ob es sich dabei um Anpassungs- 
erscheinungen an gewisse uns vorlaufig noch un- 
bekannte Milieubedingungen handelt, oder ob 
nicht etwa doch die Vermehrung auf klandestiner 
Einwanderung beruht 

Angesichts dieser Schwierigkeiten konnte man mit 
Rerfit sagen, falls die Ethnologie die Rassenrein- 
heit eines Volkes dartun wiirde, so ware das ein 
zwingender Beweis von der Wertloslgkeit dieser 
Methode. In Wirklichkeit hat aber die neue For- 
schung griindlich dam it aufgeraumt Und wah* 
rend fruher die meisten Volker auf ihren rassen- 
reinen Ursprung stolz waren (wobei sie ihre Ab* 
stamm ung meist auf einen Gott oder Halbgott, 
zum mindesten auf einen beriihmten Helden zu- 
ruckfuhrten), erheben wohl heute nur nodi Rus- 
sen und Deutsche leidenschaftlichen Anspruch auf 
Rassenreinheit, oder besser gesagt, ein beider- 
seits viel zu ernsthaft genommener beschrankter 
Teil dieser Volker, die Panslawisten und Alldeut- 
schen und ihre wissenschaftlichen Vorkampfer. 
Fur die Russen ist es auch nicht ganz richtig, aber 
da sie ebenso wie die Skandinavier in ihrer ost- 
lichen Abgeschlossenheit ziemlich unberuhrt ge- 
blieben sind, so ist tatsachlich in Skandinavien 
der europaische Nord typus (Germanen), und in 
Ru Bland der europaische Os tty pus am reinsten 
erhalten. 



verschmaht und zergart, 
friBt er. 

Schamen zerbricht dich. 

Innen ermattet 

wirst du des Knaben Erde verspuren 
Niemand griiBt. 

Niemand ein Wort. 

Nie ruft den Namen 
Dir Stimme des Menschen. 

Wtirge dir ein 
Hungers Wege. 

Auf warts ! da oben 
klingende Ture. 

VERHUNGERT. 

Himmel griiBt zart, 

Bietet dir Kommen und Schlufi. 



GESICHT 



Einstein 



Da stohnt ein Mann in seinen Tod 

Linden und Rosen dorren ab 

Blauhimmel brokelt klirrend falb 

Zu LuftkristalJen, die im Alb 

Ihm seine Lunge wiirgen. Hier gahnet Grab 

Lehmvoll aus Wiesengriin ins Abendrot. 

Du siehst dein Zimmer an und weinst 
Es kriecht heran wie Traum und preBt 
Die Maske vor BewuBtseins Helle. 

Ein Blinder fiihlt die Fronten lang. 

O mochte eine halten her zu mir aus ihrem Gang. 
Der Wein wird sauer, Milch gerinnt. 

Wie bist du weit von dir, vom Kind. 

Der Hastige muB vorbei geraten. 



Die Glocken lauten, auch Fahnen wehen, 

Viel Fenster singen, wie Vogel auf Alleen. 
Herz schlage an, die Sterne wollen kreisen. 

Earl Otten 



HEIMKEHR 
Krieche der Erde. 

Krumm dich der Wolke. 

Willst du das, Mann ? 

In Scherben zerrieben, zum Irrsinn gezerrt. 
Endloser Wanderer, all ein. 

Tod lauft dich an, 

Streut in rauchige Asche 
AufriB und Runm. 

Junges leuchtet geehrt 
Jetzt nur Flecken, ein Wisch. 

Dies alles. 

Schwa nkst 

Und streifst kaum 

Gras, das die Hiifte umgrfint 

Keuche zum Himmel. 

Knochen, Feigen und Sklaven 
Hungert es uns. 

See/e verforen, 

HBt es den Leichnam dir taumeln. 

Deinen Scfiatten schreckt staubiger Abend. 
Anderer Muscfieln, 




Jouf 6apek (Prag) 



Zeiehnung 




119 



DIE AKTION 



120 



AUF DER HARTHERZIGEN ERDE 
Deni Rauch einer Lokomotive juble ich zu, 
mich freut der weifle Tanz der Gestirne, 
hell aufglanzend der Huf eines Pferdes, 
mich freut den Baum hinanblitzend ein Eichhom, 
oder kalten Silbers ein See, Forellen im Bache, 
Schwatzen der Spatzen auf diirrem Gezweig. 
Aber nicht bliiht mir Freund noch Feind auf der 

Erde, 

Feme Wege gehe ich durch das Feld hin. 

Ich zertrat des Gebot 

„Ringe, o Mensch, dich zu freuen und Freude zu 

geben den andernl“ 

Duster umwandle ich mich, 
vermeidend die Madchen und Manner, 
seit mein welches, bluttranendes Herz 
im Staube zerstieBen, die ich verehrte. 

Nie neigt sich meinem einsam jammernden Sinn 
die Liebe der Frauen, denen ihr Atmen ich dankte. 
Ich, der Frostelnde, lebe dies weiter. Lange noch. 
Feme Wege schluchze ich durch die Wiiste. 

Albert Ehrenstein 



ZUSTAND 

Der moralische Schmutz stieg iiber alle Schranken. 
In sich vollkommen ruht der Siindmorast. 

Wir sind langst ertrunken. — 

Von tieferem Wissen dunkelnd des Freundes Auge 
leuchtete und verging. 

Krachzend zerriB ein anderer. 

Ein schwerer Atem zog die Schultern hoch dem 
ungeheuren Wahnsinn, 

Sein Blick stach grau 

und die bombastische Psychose zersprang in ihre 

Faulnis. 

Noch kampft ein Letzter. 

In tausend Trummern umher 
reiBt hoch sein Geist sich 

und seine Splitter stehen gespreizt, strecken wild 

auf, 

deuten ein irres Zusammen irgend — 
zitternde Trane 

an ihren jammerlichen Enden erbliiht — 

Nie mehr erreichen sic die tief ersattigende 

Kniipfung. 

Nie mehr baut sich die selige Pyramide — 

Wo wir lebten, 

ein Riesenmordblock, Eisen rasierte leicht daher — 
Wo blieben wir? 

Satanchen blahen sich und konnen sich nicht 

mehr halten. 



Um unsere zerstorten Spanten purzelt ihr helles 

Lachen. 

Gespenstische Arme kriimmen in schauernder Luft 
ein Schattentanz und Asche schwebt in schwachen 

Tonen — 

Wir existieren imaginar — 

Heinrich Schaefer 

VERSE VOM SCHLACHTFELDE 

Aus dem Kriege 

Nun dauert es so lange, 

daB ich anfange zu verges? en, 

wie sehr ich dir gut war. 

Und wenn ich dich 

zwischen den Wahnsinnen der Schlacht 
im Traum treffe, 

dann Ieuchten deine samtenen Augcn 
lieb mir zu. 

Und deine groBen Lippen locken meinen KuB. 

Und deine Hiiften tragen, 
was du mir versagst. 

Auf deiner Blasse bliiht ein unerlostes krankes 

Fieber. 

Unirdisch kommt dein FuB, 
an dem die rote Rose stak, 
den ersten Tag, da ich dich sah, 

Und deine Schritte reihen sich 
wie Psalmenglieder. 

Schwarze Frau, dein schwarzes Haar 

fiihle ich weich an meiner Hand 

und deine korperliche Ruhe ganz lebendig. — 

Aber ich benehme mich ungelenk 

und fremd und wie nicht mehr gehdrig 

zu dir. 

Der Traum an dich weckt mich in meinein Schlafe 

auf. 

Und wenn ich wache, 

larmt um mich der kriegerische Tag, 

in dem ich dich so oft verlor. 

Bleib du mir treu. 

In deinen Rauschen bleib mir treu. 

Oskar Kanehl 

Vorfriihling 

Dreimal hab das Zelt ich wohl zuriickgeschlagen 
Und hinausgelauscht in die Dammerung. 

Ode lag das Land mit seiner Hugel Schwung, 

Und der Morgen blaBte mud herauf, ein murrisch 

Fragen. — 

Im zerschossenen Walde pfeift ein Vogelein 
Und mir ist, ein Ruch der Wiesen streife 
Meinen Atem — da in laue Luft ich greife. 

Und die Sonne kommt in fremdem, rotem Schein. 

Theodor Rudy 






m 



die aktion 



122 



CMJGULAS TOD 
Von Xaver 

Saturn hatte Caligula seinen Gaul nicht zum 
K(msu\ emennen sollen? Hat nicht ein Ratsherr, 
der wahrend einer Auffiihrung im Theater un- 
ma&ig gierig fraB, sofort das Amt eines Prafcors 
angenommen? Caligulas Geschenk fur diese er- 
go tzliche FreBvorstellung. 

Hatte der Ratsherr nicht annehmen diirfen, Ein- 
seitig! Eines Ratsherrn unwurdig. 

Bitte! Ratsherren Iassen sich nicht lumpen. Im 
Amtsornat, im Zirkus vor der Plebs wettlaufen; 
Caligula zuliebe. Einseitigkeit ? Hie Ratsherren — 
hie Caligula; einander vviirdig. 

... „Wozu man Ratsherren noch anstellen kann? 
Wozu? . . . Wozu? ... Ha, ha, ha! Wie ihre 
Beine schlottern! Und haben doch tiichtig ge- 
schmaust beim Liebesmahl, die edlen Herren! Zit- 
tern vor ein paar Panthem und Leoparden und 
Tigem? Gefallt Euch nicht soicher Nachtisch? 
Ha, ha, ha! Die Viecher haben ja keinen Zahn 
mehr im Maul gehabt ! 44 Caligula greift in die 
Tasche und vvirft die Zahne der Tiere unter die 
Herren. Die Herren! Bedanken sich untertanigst 
fur Caligulas Gnade. 

„Guteren Herrn kann es nicht geben , 44 winselt 
vor Caligulas SchloB ein Herr; „wenn er nur nicht 
stirbt, Caligula; er ist so krank! Will gern ver- 
recken, wenn nur er am Leben bleibt . 44 
„Hast, was Du willst; stirb ! <4 ruft des genesenen 
Caligula Gnade. „Henker, voran ! 44 
Man rechnet auf Gegenseitigkeit. 

Ratsherren springen im Trab neben Caligulas Kut- 
sche; sind Kellner, Schuhputzer Caligulas. Be- 
amte des Reiches sitzen in Kafigen; kriechen auf 
alien vieren. 

Caligula wachst. 

Ein Ratsherr wird mitten auseinander gesagt; die 
Kollegen hindern es nicht. 

Caligula wird noch groBer. 

Einer will nicht zusehen, wie seine Kinder hin- 
gerichtet werden ; ihm schickt Caligula eine Sanfte, 
zur Schau ihn zu holen. Er kommt. 

Caligula ist machtig groB gewachsen. 

Einer muB kichern und saufen, bevor er zur Richt- 
statt seines Sohnes gefuhrt wird. Einer wird im 
Zirkus verbrannt; hatte Caligulas GroBe iiber- 
sehen, hat nie bei Caligulas Genius geschworen. 
Beamte des Staates toten sich selbst auf Caligulas 
Wunsch. „Ob unter ihnen einer den andern um- 
bringen wiirde; nur so? Das mochte ich zu geme 
wissen . 44 

„„Caligulas sehnlichster Wunsch, es zu wissen? 
Caligulas sehnlichster Wunsch? Eilt Euch, Kol- 
legen !“ 41 „Wir haben kein Schwert . 44 „„EiIt 
Euch, Kollegen ! 44 44 Die Schreibgriffel der Kolle- 
gen bohren sich in eines Amtsbruders Gesicht und 
Brush Amtsbrudcr ist tot; wird von den Kollegen 
zerhackt 

Caligulas GroBe wird immer noch groBer. 

„Gib die A xt, Opferstecher! Ich erschlage das 
Opfertier Hoch in der Luft Caligulas Hand mit 
der Axt. Caligula zertrummert den Schadel des 

Opfers tech ers. 



Rom ist still 

„Ganz Rom, ich will Deinen einzigen Hals ! 44 
Rom halt still. 

f] Bin ich denn gar nichts mehr? Vernachlassigt 
man mich? Hungersnot, Pest, Feuer, kommt! Sie 
sollen Massen vernichten! Wenn doch ein Erd- 
beben alle auf einmal verschlange! Wenn wenig- 
stens alle Soldaten zusammen im Kriege vemich- 
tet wiirden! Wie fad! Ich greife in Schlamm. Ihr! 
Ihr Menschen, warum wendet ihr euch nicht an 
die Richter? Alle Richter nehme ich euch fort! 
Immer noch nichts gegen mich? Immer noch 
nicht? Hoher Adel, eure altuberlieferten Abzei- 
chen zerreibe ich unter meinen FuBen. Volk, dein 
Geld ist mein! Ehepaare her! Die Weiber haben 
an mir vorbei zu marschieren; die Manner haben 
zuzusehen! Die will ich . . . die ... die ... die! 
Deren Manner haben sich scheiden zu Iassen! 
Immer noch nichts? Schlamm, Schlamm! . . . 
Meer her! Felsen her! Jetzt rase ich gar 
noch iibers Meer auf Pferdefufien, und mein Wort 
zerbricht Felsen. Ebenen miissen Berge werden! 
Berge sind Ebenen! Nicht flink genug schafft man 
es mir. Kopf ab ! 44 

Caligula sieht sich an: „Bin ich auch groBer als 
ich? Mein Korper laBt sich in Weibskleider 
stecken; laBt sich aufputzen, daB man ihn nicht 
mehr fur menschlich halt. Mein Gesicht hat gol- 
denen Bart; mein Arm schlagt mit Blitz, Dreizack 
und Schlangenstab um sich — ich lasse es mir 
von mir gefallen. 




Heinrich Hoerle (Koln) 



Holzschnitt 





% 









01 







A 



V 



-f 










123 



DIE AKTION 



124 



Ich mische mich unter euch. Ich fechte, ich lenke 
Wagen, ich singe, ich tanze — offentlich — bin 
ich grofi, bin ich kiein? 

Jupiter, Bruder, horst du mich?“ 

„„Ich hore dich schon, mein Bruder; aber es ware 
mir lieber, du kamest von deinem Gegenuber zu 
mir heriiber auf mein Kapitol.““ 

„Kopf ab fur deine Frcchheit!" 

Auf der Jupiterstatue sitzt Caligulas Kopf. 

„„So war es nicht gemeint, Bruderherz! Bitte, 
bitie, wohne du bei mir in meinem Tempel auf 
dem Kapitol. Bitte, bitte, komme sofort her- 
iiber!““ 



„Der Affe hanselt mich.** 

„„Bruderherz, Caligula, verzeihe, daB ich dich 
im Augenblick noch fur einen Menschen gehalten 
habe, der Beine zum Gehen und einen Boden unter 
den FiiBen braucht.**** 

Hoch in der Luft Briicke vom SchloB zum Jupiter- 
tempel; in drei Tagen gebaut. Caligula besucht 
Briideri Jupiter. Alles glaubt, Caligula sei raum- 
loser Gott und sei zu Jupiter hiniibergefiogen. 
Man hat ihn nicht auf der Briicke gehen sehen. 
Die Briickengelander waren sehr hoch. 

„Woher stammst du, Jupiterl?** 

„„Von Gottern.**** 

„Meinst du viclleicht, mein Blut sei vermenscht ? 
Ich sage dir, ich schwore dir: Mein GroBvater hat 
mit seiner Tochter meine Mutter gezeugt. Mein 
GroBvater war selber ein Gott. Ich hore nicht 
auf, meine Schwestern zu begottern . . 

In einem unterirdischen Gang vom Theater zum 
SchloB wartet ein Schwert; das fliegt Culigula ins 
Genick. Feigheit! Caligula fallt zu Boden; schreit: 
„Ich lebe noch!** DreiBig Schwerter fliegen auf 
Caligula. Caligula schreit nicht mehr. 

Caligula lebt noch: In seinem NachlaB sind zwei 
Bucher als Manuskript; das eine tragt die Auf- 
schrift „Schwert“; das andere „Dolch“. Caligula 
hat nur zu wahlen. Untertanen sind da. 

„Ein Gliick t daB dieser Caligula heut nicht mehr 
lebt! Der? Der hieBe auch uns umbringen.** 

„„ Caligula lebt noch!**** 

„Pfui!** 

„„Du Schlammgebilde, du laBt ihn ja nicht tot 
sein.**** 

„Pfui, pfui!** 

„„Du, ich mochte Caligula sein! 4 *** 

„Dreimal pfui!** 

„„Und mochte verachten konnen, was den 
SchweiB mir von der Sohle leckt und dazu spricht: 
Das ist Gotterspeise! Verachten konnen den, 
der lebt, weil meine Gnade ihm das Leben 
laBt. 4 *** 

„Du! Du !** 

„„WiIlst auch Caligula sein?**** 

„Deine Hand! 4 * 

Schon zwei Caligula! Die sehen sich an. Aus 
diesem Sehen wachsen Caligula, hundert, tau- 
send . . . 



Alle wollen jetzt Caligula sein. 
Alle sind Caligula geworden. 
Jetzt ist Caligula tot. 



DIE METAPHYSIK DES DREHS 

Ein offener Brief an Karl Kraus von Franz Werfel 

Motto: 

Denn wer nur am Worte reibt sich 

Wird gedruckt bei Drugulin in Leipzich. 

Karl Kraus 

Sie schreiben, Karl Kraus, in einer I4seitigen Explikation zu 
einem kleinen Privatbrief, den ich Ihnen geschrieben babe, tat- 
sSchlich folgende Satze: „Wenn ich nun wieder die Probe auf 
Herrn Werfel machen mufite, so wlirde mir statt seiner Verse 
die Kritik, die er an den meinen ttbt, vollauf gentigen, Er be- 
zieht sie tatsachlich auf sich und beweist wohl schon damit 
allein, dafl er es mil Recht tut. Ich kenne die seelische Wurzel 
dieses Dranges, sich an meinem Wort zu reiben. . . .“ 

Wer reibt sich denn? Habe ich vierzehn Seiten zu Ihrem Ge- 
dicht geschrieben, deren es allerdings nicht wert gcwesen wire? 
Ich habe mit einigen Zeilen auf die Parodie eines meiner Ge 
dichte reagierl, auf eine Parodie, liber deren Ethos Sie sich ruhig 
von den alien Weimaranern einen Wink geben lassen mogen. 
Ich beziche etwas auf mich, was selbst der Setzer nach dem 
Textbild (wenn er das Gedicht „Vater und Sohn“ und die „Me- 
lancholie an Kurt Wolff 4 an ein und demselben Tage setzte), 
auf mich beziehen rnUfite, Sie erwahnen in Ihrem Aufsatz ein 
Gedicht von mir, von dem Sie behaupten, es wire eine Ausein 
andersetzung mit Ihnen, was zu erkennen aber gewifi eine inten- 
sivere Reibung an meinem Wort fordert, als es Keibung von mir 
gefordert hat, in Ihrer Parodie mich parodiert zu ftthlen, — 

Sie kennen, Karl Kraus, die seelische Wurzel dieses Dranges 
sehr schlecht, sonst wtlrden Sie Ihre Hysterie nicht in andere 
hineininterpretieren, urn dann zu beweisen, dafi diese Hysterie 
sich an Ihnen reibt. Sie reibt sich nur scheinbar an Ihnen, und 
an einem Buchstaben hinge Ihr Leben, wenn Sie erkennten, daB 
sie sich in Ihnen reibt. Aber Sie stecken ja in einem Panzer 
vollkommener Konstruktionen und werden nie erkennen, so kann 
ich Ihnen, ohne ein Morder zu sein, dies ruhig sagen. 

Die seelische Wurzel all dteser Konstruktionen aber ist die Er- 
scheinung des Drehs, jenes absoluten dialektischen Selbst 
schutzes, mittels dessen jeder Vorwurf auf den zurUckflllt, von 
dem er herkommt. Sie werden mir unzweifclhaft das psychoana 
lytische Tatwamasi, das Sie mir gestem zur Ant wort gegeben 
haben, auch morgen zur Ant wort geben. Diese Replik geht na 
tllrlich in infinitum, denn der Dreh steht und fallt damit, daG 
er das letzte Wort behalt. 

So weit kommt es aber gar nicht. Die Psychiatrie geniigt mir 
nicht. Ich will mich auch von der Physiognomik belehren lassen, 
sehe Sie jetzt an einem Tische sitzen und frage: wer ist in 
Aufregung, wer in Unruhe, wessen Blick ist voll liefer Irri- 
tierung, wessen Gesten verraten einen ununterbrochenen Bela- 
gerungszustand } Aber auch die vergleichende Literaturkunde 
verschmlhe ich nicht und frage weiter: Wer ist in Angriff und 
Verteidigung (die einzige Wahrhcii des K. u. K. Dienstreglemems 
ist der Satz, dafi die beste Art der Verteidigung der Angriff ist), 
wessen Werk ist davon beherrscht, sich geleugnet zu ftthlen, 
wessen Einheit wird durch eine entfernteste Andeutung aus der 
Balance gebracht, wer plfidoyiert jeden Schritt seines Lebens, 
wer sieht die Dinge nur in einer Wendung gegen sich selbst ? 
Wir wollen einen Gelehrten fragen auf wessen Seite die Krank* 
heitserscheinungen der Hysterie sind I 

Aber es ist mir nicht darum zu tun, Sie zu durchschauen, noch 
Sie zu treffen in diesem und jenem Sinn. — Wje bezeiebnend 
ttbrigens, daG in Ihrem Kopf gerade die Synonymitat dieses 
Wortes auftaucht. — 

Festslellen will ich in Ihnen nur den Drehpunkt, jenen meta 
physischen Knacks, durch den es Ihnen gelingt, den peinlichen 
Farmer des Ichs, den inneren Gegenspieler, aus sich hinaus in 
die Welt 2U zaubern, bis Sie schlieGlich die Welt vor jenem 
anderen feindlichen Ich nicht mehr sehn, oder besser jenes an- 
dere feindliche Ich als die Welt sehn. 

Sie verlegen den Schauplatz des schmerzlichsten, fruchtbarsten 
und menschlichsten aller Kampfe extra muros, ziehen einem fik 
tiven Feind entgegen, der Sie selbst sind, und behaupten, Sie 
wSren nicht ftlhllos, wenn jener mit alien Pfeilen in der Brust 
von daonen zieht, die er gegen Sie erhob und die doch nur 
von aliem Anfang an in Ihrem eigenen Fleische stecken. 

Aber der Feind, dessen Namen Sie nennen, erslaunt dariiber, 
denn er hat weder einen Kampf gewollt, noch auch ftihlt er 
irgendwelche Pfeile in seiner Brust. 



DIE AKTION 



126 





Wirli die Well den Spiegel nach lhnen, den Sie, wie Sie be 
hauplen, ibr vorhalten? Ich merke nichls davon, abcr fttrchle, 
dafi Sie selbsi eine bose SpiegeUechterei ireibent Und wie steht 
ea denn mil der Einheit, Karl Kraus? Shakespeare war und 
\baie sich in Gestalt auf, wann hitte er aber begrttndet und PU- 
doyers ftir sich gehalten ? Ich glaube nicht, dafi er so komplizierl 
sein Verhaltnis zum Globe ■ Theater begrlindet hat, wie Sie es 
z, B. begrUnden, dafi Sie Vortrage halten, wo doch niemand die 
Veneidigung dieaer Tatsache von lhnen verlangt. Das ist eher 
die Hahung des schlechten Gewissens, die Art Raskolnikows, 
der vor dem Juristen, den er eben erst kennen gelernt hat und 
der ganz harralos seine Zigarette raucht, alles mogtiche begrUndet, 
wovon gar nicht gesprochen wird, und krampfhaft sein Alibi 
nachzuweisen sucht. Zur Einheit des Wesens vor allem gehort 
die Sicherheit. Der einheitliche Mensch ist sicher, seine Tat 
ist die notwendige Blttte seiner Ganzheit, er kommentiert sie nicht, 
denn er hat keine Instanz aufier sich und in sich, die ihn zur 
Recfaenschaft ziehen wttrde. Karl Kraus aber rechtfertigt sich 
unaufhbrlich. Spricht er mit uns — oder steht er einem ge- 
heimen dunklen Tribunal in sich Rede? Stimmt etwas nicht, 
muft etwas heruhigt werden, warum denn schmecken manche 
Seiten der Fackel so verieufelt nach einem sublimtenen Alibi- 
nachweis? Welch rtthrendes Gestandnis, dad Sie, Karl Kraus, 
vor dem endgtthigen Abschiufl einer Arbeit einen Dummkopf 
eventuell zu Rate ziehn, wenn Sie liber ein Wort oder ttber einen 
Sau im Unklaren sind! Das ist ein Beweis daftlr, dafi Sie nur 
fiktive Dus ertragen konoen, ein Beweis filr den tiefen Drang, 
l hr alter ego aus sich hinauszupraktixieren, um zu einem Dialog 
zu kommen, Sie wagen den eigemlichen Monolog auf Tod und 
Leben nicht und suchen aus SelbsterhaUungstrieb scbeinbare 
Dialoge auf, die Sie mit scheinbaren Partnern ftlhren. Das tun 
tile, die in letzter Einsamkeit nicht mit sich allein sein ktinnen, 
Die Einigen aber, die Scbopfer, die durch sich selbst fliegen 
konoen ttber tausend Meeren, tun das nicht, und die Tolstois 
such nicht, die im achtxigsten J&hre den Gerichtstag ttber sich 
hahcn. Aber die Leeren tun es, die ichflUchtigen Selbstmords- 
kandidaten, die Trinker und Morphinisten, kurz alle Feiglinge 
und Drttckeberger des Zerfalls. 

Des Einigen Zeichen vor allem aber ist die Freiheit, er kennt 
keine Seitenblicke, er beherrscht sich und ist bedingt nur von 
der Kreatur, in der er lebt. Sie aber, Karl Kraus, werden ge- 
dreht von jenem Drebpunkt, es ist sehr leicht, Ihren Mechanis- 
mus in Bewegung zu setzen, jeder schlechte Kerl kann Ihre Re- 
gister ziehn, wenn er Sie grttflt, oder nicht gxttflt. 

Und schliefilicb sind Sie der Sohn Ihres Volkes. Zeigen Sie mir 
den Juden, der nicht dualistisch, zwiespiltig wire I Und vielleicht 
ist dieses Ich und Du diese Duplizitat, diese Zwiesprache zwischen 
^esen und Gewisseu der edelsle Besitz und die Bedingung, 
aus der das Juden turn von Nietzsche das „eibische Genie unter 
den Volkern* genannt wird. Der Jude erkennt den Zwiespalt 
im Menschen als letzte Unerbittlichkeit, und deshalb verleiht er 
our Gott das Attribut: Einig und Einzig. 

Als echter Jude sehen S»e in dem Begriff der Einheit einen hbch* 
sten absoluten Wert, aber der Dreh beginnt zu wirken, Sie 
zaubem Ihre Dualitat aus sich hinaus und usurpieren die Ein- 
heit in sich. 

Aber in diesem Dreh sind Sie nicht nur der Sohn Ihres Volkes, 
sondern vor allem der Sohn der Assimilation, jenes dunklen Zwan- 
ges, alle Spur hinier sich verwischen oder persiflieren zu mttssen, 
^Dorten 4 * zu sagen, und das ftir richtig halten ist simpel. „Dor- 
ten u fttr falsch halten und es ankreiden, mag nicht weniger 
naiv sein. 

„Dort“ aber ftir richtig halten, und zu wissen, dafi n dorten“ 
jttdisch- deutsch sei, wo es doch nur boh tnisch -deutsch ist, weiter 
aber noch zu wissen, und aus Pfiichtgeftthl, eh nocb der Ein- 
spruch erhoben wurde, aus einem Dutzend zusammenhin gender 
Belegstellen gelernt haben, dafi „dorten“ geheiligtes Deutsch sei, 
und trotzdem keine andere Furcht hegen, als dafi man das b£h- 
misch-deutsche „dorten“ fttr gutes Deutsch und nicht etwa fUr 
jttdisch-deutsch halten konnte, — diese rttckerschaffende Analyse 
eines Vers-Wones, dieserGrad von Komplikation, diese Windung 
von Dreh ist allerdings eine nattonale Tat ersten Ranges, vor der 
selbst die Botachaft der Ohnmacht die PSsse abvertangen mufi. 
Nein, Karl Kraus, Sie sind sich ttber I hr Ichbin aehr wenig 
im klaren. Wer dieses Ichbin, den Glaube n an seine eigene 
ReaJitlr, erle bt bat, des sen Werk tfint ohne Unruhe. Wenn Sie 
ein Ichbin waren , wttrden Sie weiter konjugieren und sagen: 
Du bist. Sie aber wehren sich gegen das Wir sind, weil es 
schmerzlicb ist, andere sein zu sehn und selbst nicht zu sein. 



Ich bin, d. h. zugleich, ich bin unmittelbar und einfach. Wo 
ist in Ihrer Lyrik nur ein unmittelbsrer, aus einer Existenz 
und nicht aus einer Rason geborener Vers? 

Nein, Bester, Sie begehn einen groben grammatikalischen 
Schnitzer, wenn Sie sich ein Hauptworl nennen. Sie sind 
allzusehr ein Zeitwort! Welcbe Uhr schlagt das Ghetto in 
lhnen? Ich glaube die elfte und nicht die zwolfte Stunde, 
Die zwolfte gcht einen Schritt in der Wahrhaftigkeit weiter, 
erkennt den assimilatorischen Dreh und sagt nicht vestra culpa, 
sondern mea culpa. 

Das MeisterstUck dieser elften Stunde und Ihres Ichbins mufi 
ich lhnen aber doch noch vorhalten. Sie kommentieren Ihre 
Dichtung folgcndermafien : 

„Die Zeile ,denn wer nur am Worte reibt sich* ist an und fttr sich 
schlecht und der Reim auf Leipzich an und fttr sich billtg. 
Truer wird er mir erst im Zusammenhang und Zusammenklang 
derSphiren, die hier sachselnd und jttdelnd einander zusprechen. 
Ein ,sich am Worte reiben* soil Gestalt bekommen und be- 
kommt sie in einem klappernden: ,denn wer nur am Worte reibt 
sich 4 , und dieses GerSusch ist, wenn’s auch Herrn Werfel unfafl- 
bar scheint, zugleich mit dem Reim Leipzich dagewesen und 
nicht diesem zuliebe erfunden worden. Dafi es keinen andern 
Reim auf Leipzig geben kann, mufi etwas zu bedeuten haben, 
und es klappert nicht durch mein Ungeschick oder durch mein 
Versehen, sondern es klappert das, was dargestellt werden soil . 41 
Ich will gar nicht von der Emwirklicbung der Sinne sprechen, 
die, wenn ein reibendes Gerkusch Gestalt bekommen soil, einen 
klappernden Vers m&chen. Auch die kttbne Bebauptung 
dafi es keinen anderen Reim auf Leipzig geben kann als 
, reibt sich 1 will ich nicht tragisch nehmen. (Den noch mufi ich 
bitten, die wenig klappernde, allerdings nur einseitig skchsische 
Tatsache, die ich unter den Strich seize, zur Kenntnis zu 
nehmen).*) Selbst noch die Frage will ich unterdrllcken, wo denn 
in alter Welt in den zitierten Versen der Zusammenhang und 
Zusammenklang zweier Sphkren ist, die einander jttdelnd und 
skchselnd zusprechen. Wo jttdelt denn der Vers: „denn wer nur 
am Worte reibt sich 14 , and wo sfichselt der Vers: „wird gedruckt 
bei Drugulin in Leipzich ? 44 Sie mttssen Ihr Ohr erst, diese Zeilen 
sich vorsichselnd und vorjtldelnd, verge wait igen, um das zu 
glauben. 

Nein, all diese Dinge neb me ich hin, denn ich weifi, der Dreh 
kann den Kommentar ins Unendliche weiter kommentieren. 
Aber auch an die Leser dieses offenen Briefes wende ich mich 
nicht, obgleich ich tehe, wie sie vor diesem Monstrum von Apo 
logic erstaunen. 

Ich stelle nur dieses Gebilde zwischen uns beide und frage: 
Wttrden Sie, Karl Kraus, auch in einer Welt, wo es nicht um 
Sieg und Niederlage geht, nicht um Rechthaben und Unrecht- 
haben, „dorten, wo Dein Lieben unserem Lieben gleicht* 4 , 
in einer Welt der Wahrheit und nicht der beweisbaren Wahr- 
heit, — und wenn Sie in jener Welt vor keinem anderen Rich- 
ter st Unden, als vor sich selbst, aber wie es vom Richter ge- 
fordert ist und geschrieben steht, mit dem Geftthl, ttber einem 
glllhenden Abgrund zu hkngen, — wttrden Sie dort ttber diese 
zwei Verse die Worte wiederholen: „Herr Werfel abnt gar 
nicht, wie unbewufit hier das Gelingen und wie bewufit das 
Mifitingen ist?“ 

Die Antwort, die Sie sich geben, wird die W r ahrheit ttber Sie 
selbst sein I 

Sie haben recht, es ist nicht an dem, ttber gutes Deutsch zu de- 
battieren, und dafi Sie das selbsi sagen, gibt mir gute Hoffnung, 
dafi in lhnen doch einige Zweifel an solcher Beweisftthrung leben, 



*) Zeigte totter jemalt denn ein Weib lich 
Ihrem Hus, ala Julcheu Schalxe (Leipzich)? 

Doch der FaLche nahm turn Zcitvertreib sich 
Juliancn. Die war nicht von Leiprich. 

Julchen ho rtf, erfahxtz, ich reibt, untersch reibt sich 
Auf zwei Abschiedtkarten ; Meiften — Leipzich, 

Weiot ein weni;, trinkt mil Kaffee, traibt sich 
Durch die Stra&et], Street*. Eutritcsch — Leipzig, 

Laufc zur Pleiile, lachelt und enOeibt sich. 

Hans wird wild, erwigt : Eatleibt etch — Leipzich? 

Greift sich an den Kepf, ichneuzt, strati be rich, kneipt sich, 
Blickt zum Himmel, der mondunbescheibl lich 
Leicht vertropft auf Gautsch und Gohlis- Leipzig, 

Hant verdammt sich, wird Asket and reibt sich 
Nur am Wort, am Weib nicht mehr, entweibt lich, 

Julit&c wirbt, tan it, schleift, tchreit, treibt sich 
Einen Dolch ins Hen. Enchaudre, Leipzifl 
Hans lacbt bitter bistig und verbleibt aich 
Selbst zum Ekeh laatert und ▼erschreibt sich 
Cans dem Teufel, speit Gott an, weil der iha 
Nur enchuf, dali tick was rtiml auf Leipzictk 



127 



DIE AKTION 



128 



aber den gewollten oder ungewollten Dreh zu erkcnnen, das ist 
schon wcniger ein philologisches Problem, als cine Frage des 
Seelenheiis. 

Vor mir liegt eine Tolstoische Schrift. Darin steht eine Notiz 
aber den Umerschied der Schriftstellerei von Mann und Frau, die 
hier gar nicht zur Sache gehort und nur utn einer Klammer 
willen zitiert wird. Die zwei ietzten Satze tauten : 

Der Mann aber eignet sich die literarischen Handgrifle an 
und ist dann h inter seiner Manier nicht zu erkennen, man weiB 
nur, dafl er dumm ist, Davon, was in seiner Seele vorgcht, 
weifl man nichis, (Nicht gut, boshaft I) 

Wie erhabcn, wie wundcrbar ist diese Klammer » Interjektion, 
diese Zwiesprache mil sich, dieser Zwiespalt, diese schmerzliche 
Kontrollel 

Hier steht der Mensch sich selbst gegentlber in seiner Zwiefalt, 
erkennl des Wortes Bctrug in seinem eigenen Ich, scblSgt sich 
auf den Mund, und transponiert diesen moralischen Drang nicht 
in einen okkuhen Drachen-Kampf mit dem Druckfehler, um an 
des Wortes Schein zu leiden, stall an der eigenen Seele Schuld, 
die sich im Worte oflfenbart. 

Gern gebe ich Ihnen alle Qualen der Veranlwortung zu und 
glaube sie Ihnen. Aber diese Qualen gelten keiner Wirklichkeit 
weder in Ihnen noch aufler Ihnen. Sie gelten nicht den Menschen 
und Dingen, die Sie zu W r orte bi ingen, sondern dem Worte selbst. 
Wortdienst Gotzcndienst. Das Gewissen konzentriert sich auf 
den Beistrich und nicht auf die wirkliche Beziehung. Auch hier 
der grofle Dreh. 

Es ist selbstverstiindlich, dafl ein konstruiertes Phanomen in eine 
vorbereitete Konstruktion paQt, und ebenso selbstverstSndlich, 
dafl die moralische Unsicherheit sich umsetzt in den Eifer um 
das LUckcnlose, Geschlossene, Unwiedersprechende, Richtige des 
Gebaudes. Auch das ist die Gesle der Verteidigung. — Was 
aber bisher grofi war von Menschenwerk, war voll Widerspruch, 
voller Ltlcken, denn die Baumeister wirkten nach anderem Ge- 
setz als die Taschenspieler. 

Ich gebe Ihnen ferner zu, Karl Kraus, dafl es mit alien Ver- 
btndungen, die Sie eingehn, Ihnen furchib&r ernst ist. 
Verbindungen sind es vietleicht, Verbundenbeiten aber nur so 
lange, als der Popanz, den Sie sicb von Ihrem Nehenmenschen 
machen, in die Konstruktion p&fit, denn diese Konstruktion darf 
nicht zusammenbrechen, wenn Sie leben wollen, Ftir Sie gibt 
es gar kein wirkliches Du, denn all die Dus, die Ihnen er- 
scheinen, sind entweder leere Puppen oder mit Ihrem eigenen 
Gegcnspieler aufgeflillte Puppen. 

Aber Sie haben recht, Puppen entpuppen sich, und es kommt 
einmal der Tag, wo Sie die leidenschaflliche Verehrung, die 
Sie sich gezolll haben, mit der Puppe nicht teilen konnen. 
Wehe, die Puppe hat eine eigene Mechanik, und sie entfahrt 
den nackten Gegenspieler, dessen Blick und Mund nun nicht 
mehr durch die leidenschaflliche Verehrung, die Sie ftir sich 
hcgen, gedrimpfi und angenehm ill. Das alles ist Spuck, aber 
er fiihn den Namen von Menschen, die noch im Fleische 
wandeln. 

Der Spuck, der in Ihrer Konstruktion meinen Namen ftlhrt, 
mag nun allerdings gewaltig enitfiuscht sein, dass Sie nicht 
mehr die Verehrung mit ihm teilen, die er Ihnen entgegen- 
bringt, ebenso schwer mag es ihm fallen, sich ftir einen Schein 
gehalten zu wissen ; auch ich verwehre ihm nicht mein Mitgeftihl. 
Sie sollten es aber beim Schein bewenden lassen und nicht 
darUber klagen, dafl der Schein getrogen hat ; auch die halb- 
lauen Bemerkungen sind Uberfltlssig, die Sie dem Schein anheften, 
und die nur eine Apologie ftir das einslmal dem Schein crteilte 
Lob bedeulen ! Wozu diese Gespenster-Politik ? Wahrlich aber 
der Gipfel der Narrheit ist Ihre Oberzeugung, dafl ich, oder 
die Generation, die Sie in mir charakterisieren, nichts Besseres 
zu tun babe, als vor Ihnen in Selbstbehauptung zu vergehn. 
Ein Kind oder ein magerer Droschkengaut auf der StraGe kann 
mich in alle Selbst verwerfung sltlrzen, ich brauche dazu nicht 
einmal die Taisache, dafl mir einer die Wahrheit ins Gesicht 
sagt, aber wie, warm und wovor soil ich mich selbst behaupten, 
wenn Sic einem Gespenst an die Gurgel gehn! Sie haben 
mit diesern Humor wirklich die Lacher auf Ihrer Seitel 
Ihr Satz von meinem in die Nachslcntiebe zurtickgezogenen 
Literatentum ist ein viel zu gelinder Vorwurf und verdreht 
nur wieder den eigentlichen Vorwurf, der mir zu machen ware, 
nkmlich den Vorwurf einer in Literatentum zurtickgezogenen 
Nachstenliebe. Dreh, alles Dreh! Sie stehen eben auf dem 
di&lektischen, alien wirklichen Fragen des Menschenwesens 
entgegengesetzen Pol, und Ihr Paradox ist nur die verzwetfelte 



Anstrcngung eines, der auf dem Kopf steht, sich auf die Beine 
zu stellen. Dafl Sie Ihre Welt aus dem Zeitungsblatt erleben, 
ist Ihr Schicksal, wie es in anderem Sinne das Sebicksal der 
ganzen Zeitgenossenschaft ist. Und es ist kein Zweifel, daB Sie 
unter alien lebenden Menschen, unter alien Sklaven der Zeitung 
der Freigelassenc und Ihr groflter Durchschauer waren, wie kein 
anderer geboren zum Propheten der Katastrophe, die liber 
die Abonnenten aller Zungen hereinbrach. Wenn die Welt 
nun idemi&ch mit der Zeitung ware, so konnten Sie sich getrost 
den grbflten Verktlnder des Absolulen in ihr nennen, aber sie 
ist es nicht, und so gestikulieren Sie in einem ganz dtlnnen 
Reich, kein dichter, aber ein etwas dtchterer Schein unter 
Scheinen. Es ist Ihre Tragik, vom Schein alles zu wissen und 
nichts von der Wahrheit. So mogen Sie denn berufen sein, 
was Schein im Wesen ist zu erkennen, und ebenso verdammt, 
was Wesen im Schein ist, zu verkennen. Denn wo in anderen 
Menschen das reine richtunggebende heilige Erlcbnis des Seins 
und Nebeneinander Seins ist, dort rotiert in Ihnen ein durch 
die Logik des Drehs bewegtes System von verzweifelier Symmetric, 
das, indent es den Schein trifft, die Wirklichkeit verfehlt. Wenn 
Sie ein wirklicher Mensch waren, und niebt nur der grofle 
Antagonist, den sich der krciflende Schofi der Mutter Presse 
gebar, dann wtirden Sie's auch mit uns ernst meinen, und die 
Erkenntnis des Scheins wflrde andere Opfer von Ihnen fordern, 
als den hbheren Interessenschutz einer Schreibiisch-Kokeiterie. 
Ich nehme es ruhig hin, dafl Sie Ihr Wissen tlber mich aus 
dem journatischen Waschzettel, der gerade im Umlauf ist, Uber- 
nehmen und mich damit zu erledigen meinen, dafl Sie der 
Trivialitat den satyrischen Tonfall geben. Sonntagsausflug in 
den Kosmos, alliebend, lyrisch erbarmen . . . diese Tone sind 
mir nicht neu . . . und daO Herr Presber Goethes „Leb wohl" 
und Herr Leipzigcr Claudius' „leider H sagen kann, bestfirkt mich 
nur in der Oberzeugung, dafl obige Wendungen durchaus in 
Ihrer I.ebensluft atmen. 

Wohingegen der Witz n Welipostgedichte w einzig und allein 
der geistigen Sphare von Oskar Blumenthal angehoren dtlrfte 
und auch Sie werden im Ernst nicht mehr behaupten, dafl der 
Witz so schlecht ist, weil sein Gegenstand eben nicht besser 
ist, und mir ftlrderhin den Rat geben, aus der Tatsache, dafl 
Ihnen unbewufll schlechte Witze gelingen, meine Selbsterkenntnis 
zu schopfen. 

Was aber die n Feldpostbriefe M anbetrifft, so kann ich nur wieder 
wiinschen, Sie mbchten sich doch zuverlassig von den weimarer 
Dioskuren einen ethischen Wink geben lassen, ob ,,dorten“ der 
rechte Ort ist, so schnell wehleidig zu werden und sich gleich 
zu beklagen, wenn ein Feldpostbrief nicht traurig genug ist l 
Sollte wirklich alles verdreht sein?! Oder ist es dennoch meine 
Schuld, dafl ich nicht die gebilhrende Rlihrung aufbringe ftir die 
Mdhe eines Mundes, der dorten die Gurgellaute nachspricht, die 
dort und hier unterm Schicksalsgriff Ubrigbleiben ! 

Feldp. 431. Franz Werfel 



ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS 
XLII 



Keine Beschlagnahme deutschen Kapitals und deut- 
schen Besitzes in den Ver ei n igte n Staaten. 

London, 10. Februar. (W. T. B.) 

,, Daily Exprefl u meldet aus New- York : Der PrSsident habe 

mitteilen lassen, dafl im Fall eines Krieges das deutsche K&pital 
und der deutsche Besitz in den Vereinigten Staaten nicht be- 
schlagnahmt werden wtirden. 



Wenn sicb die obige Meldung bestatigt, wtlrde daraus folgen, 
dafl die Vereinigten Staaten fUr den Fall eines Krieges mit den 
Mittelmfichten die gehassigen Methoden des Wirtschaftskrieges, 
mit denen England und die tlbrigen Ententestaaten die vorher 
zwischen ihnen und ihren Gegnern unterhaltenen engen wirt- 
schaftlichen Beziehungen fiir lange Zeit so gut wie vollig zer- 
stbrt haben, nicht zur Anwendung bringen wollen. Eine 
derartige, das private Eigentum aus dem Spiel lassende Art der 
Kriegfdhrung ware in Anbetracht der vielen und slarken 
Wechselbeziehungen wirtschaftlicher Natur zwischen den Ver 
einigten Staaten und den MittelmHchien durchaus zu begriifien 
und wtlrde den Beweis liefern, dafi ein notwendig werdender 
bewaffneter Konflikt zwischen zi v i l i s i e rt e n Staaten 
auch in For men geftihrt werden kann, die auf die Einzel- 
individuen schonende Rtlcksirht nehmen und die 
Wiederankntlpfung 



eines geregelten Wirtschafuver- 







DIE AKTION 



130 




Lehrs nach Btendigung des Konflikts in vcrhillnismaBig 
Lurzer Zett ermogUchen . . . Man darf erwartcn, daB der 
Giundsatz von T re u uod Glauben im internationalen 
Pnxatv«k.ehr, den die amerikanische Regierung jetzt feierlich 
verkundet, in alien Stadien des Konflikts von ihr aut- 
rechterbaHen wird. 

P. = Persius; ;u lesen im Hauptblatt (nicht Borsen- 
fri/) der Sonntagsnummrr des ^Berliner Tageblatt' 
0?ie/re<JaJfcfewr Theodor Wolff , den 11. 2, 1^17. 



^etl bir, a Hinton burg! 



Stugrltttt van $nl 




1. tSkx etantl 6*1 * M »<B attton, btt oral aft vox Sint auf Law*? 




XcMMi faan t Mtagvt SMrnoaoL Zunat, % toxoid tyagvt 



i. ffier finmal 6Mbat will mtrtm, 

Irt muji trfi ison Hint* auf lcmet>: 
$a^rte wrt'n, $a^nc wrt’n, ufw. 

:f. £>au tbn feft. 

4. ibn tot. 

6. Snglanb Wfg. 
editlbwodb fkb'n. 

T. Stramm gcftanbcii, ftratnm gcftartbtn’ 
Sebt, ba fommt bn Arncra! : 




m 

$«U bfcr. o (ixbrw&uTx, ftftift <tfl* 




WuQrr tot fenl $uMabav|t 



Side# [[tint Jtralfvttl iff tvfl^«nb Ml Artcgr# in Hamburg auf* 

gefaumm. t# flammt r fyabt (<$ ntrgeitb# nfabrtn fdmurt. Ungtrufttt 

war ri mit rfnart SSatt unter uni. $iit frtntm ganjen Bau Ifl ct bunbaui 
tmbntQmliib. trite ©eifo aitftammt btm dlttren JtinbcrCtrtc : „JB*nn 

wtr fa&ren auf ber Set". 

Snut man Mel Tleinc fiieblein }um erften SJIale vorftngrn unb borfblcfcn 
birt. fo Wirft Me fifttufttort'c ton „$tfl bir im Stegerttarn" ctnfa$ ergreifenb. 
Cute ini JhnbtrtflinH^e Qbertragene Heine 3ubelcuorrttire. $<$ tctlr ei bier 
mit fcteil eo tine bant bare Btrtl^erunfl unfetel €d)ulftnotnl auf ber Unterftufe 
bvbeutct, bte ben ftfeinffen — bar aflrm in 3Jliibcbrn[<$uIrJi, gro&e ftrtube be* 
reiica rotrb. 

Aefpielt wirb baft fiieb fclge nbermafeeit : Sit Ainber gebtn bei ben Infebcr 
Strobb* toiebtrtrljTfnbtn ffiorten „Ber efmnat Solbat Will werttft, ber muf 
rrft von Atnb auf lernen" in geftbloffenem Areife berum. Bei ber jiedten 
$AIfte tafien Re einanber lol, gr£tn im Jtceife ^intrreinanbtr b tr unb fUljreit 
bit cntfvredjrnbcn SeWegungcn aul- So fdmtenfen fie bei ber X. Stro^b* ben 
rt$tcn inn fiber bem Jtopf berum ; bei ber S. unb 4. f 4 la gen unb ftoHn fie 
ibren Sorbermann \ bei ber o. mnd^tn fie tattmfl$ig eme unnactiabmlieb Wtp* 
werfenbe Betvegnng mit ber reebtrn ^anb. Bei bet 7. Stropbt enbiidb bteiben 
fie. nai^ bent ^mtern bei Jtrclfel gewenbet, auf ber € telle ftrben unb maepen 
buri^ Snfegen ber ^icibten an ben Jtopf cine Ubrenbeieugunj, wotauf beim 
Ctbfu&gtiatf $ ein vor bem Eplefc ertodbftel Finb, ba# rodbrenb bei Spiel# 
aufctrtaJ& bei ftteifel gmartet bat, in biefen bineintritt unb unter &anbatilcgen 
an ben flopf mit einer na<b ben Bterteln ber Vielobte fitb talttnffftlg Wteber= 
belenbeit Berbeugung ber 9tetbe naeb aQe im Aceife Stetjenben begdlfit, bit 
fttt|eln ben 9ru^ mit rtner entfpreebenben Ccrbeugung exietbern. Bier auf ben 
lt*t.u Z an feegrilfet Wirt, fpielt bei ber SB te berbotung all Oeneral. 

Aann t'eutfdilanb* Jtinbemeft unfetem {linbenburg cine febdnere ^uU 
tigung barbringen all in biefetn Spiele? 

Verkleinerte Wiedergabe tines Beitraqrs a us dem 
6*. He fie da XI. Jahrgangts der „ M onatsschrifl 
fur Schulge8ang t Zeitschrifi zur Htbung %md Pftegc 
dee Schutgemnges, Organ des Vert ins der Musik- 
lehrer an hoheren Uni tr rich t sans tal/cn Freuftens, 
des I r eretns preufi. Seminar- Musiklehrer, der Musik - 
lehrer an Sachsens Seminaren, des Vereins der 
Qesanglehrer an den stddtischen hoheren Lehran- 
s fallen zu Berlin u . Die Druckscitrift gibt heraus 

in Qemeinschaft mit dem Kgl. Seminar oberlekrer 
Ernst Paul „unter Mit wirkung her vorra gender Fach- 
mdnner F. Wiedermann, Jfgl. Mustkdirektur und 
Qesanglehrer am Leibniz- Gymnasium in Berlin. 
Der Mitleiler des Lehrstoffes, Herr Jode, ist Qe- 
sanglehrer. 



Ein Forschungsinstitut ftlr Psychiatric. 

MUnchen, 15, Fcbruar. (W, T. B.) 

Die Krrichtung einer deutschen Forschungsanstall ftlr Psychiatric 
in Mtinchen wird sich demnachst verwirklichen. Konig Ludwig 
wurde tur Erforschung des Wesens der Geisteskrankheiten so- 
wie zur Auihndung von Mitteln zu ihrer VerhtUung, Linderung 
und Heilung ein Betrag von 1 700000 M. zur Verfiigung gesiellt. 
In eincm Handschreiben an den Kuliusminister genehmigte der 
Konig die Verwendung der obigen Mitlel zu dem gtnannten 
Zweck und sprach den Sptndern ftlr den bckundelen Gemein* 
sinn seinen be<onderen Dank &us 

„ Berliner Tagcblatt " , 1H, 2. lhl? } Morgen- A usqabe. 

KLEINER BRIEFKASTEN 

Paul Block, Feuilletonredakteur des „B. Ts Unter der nied- 
licbcn C’berschrift : „Fbrderung ist mehr als Geld a veroffent* 
lichen und verantworten Sic in der Abendausgabe votn 
19. Februar 1917 Zeilcn, die ich Ihrer Be&chtung empfeblen 
wlirde, wtlflte ich nicht: der Fall ist hoffnungslos. Paul Block, 
Herrscher unterm Strich der reichsten Annoncenzeitung, hat 
diese Zeilen in Druck gegeben, nur did so zu tun, als ob er 
so tSte. In dem gleichen *B. T.“, das noch jedes r ringende 
Talent“, soweit es nicht zur wildwuchernden Gattung der 
journalistischen Bcgabungen zu schieben Mar, preisgegeben hat, 
in dem gleichen „B. T.“, das Georg Heym und Ernst Blafl und 
Jakob van Hoddis und Alfred Lichtenstein und jeden kommen- 
den Dichter durch Talentlose verspotten liefi, solange dieser 
VVerdende nicht das Gltlck hatte, im Wannsee zu ertrinken, im 
Schtltzengraben zu sterben oder gegen den Hohn des n B, Ti. u 
sich durchzusetzen, im n B. T.“, das soeben einem Bierwitzigen 
erlaubte, den sclbstlosen Forderer junger Dichtkunst, Franz Blei, 
zu verulken, im „B. T - , das jahrelang die Forderungsarbeit 
der AKTION totgescliM iegen hat, dort, in diesem selben, gleichen, 
nKmlichen W B. T.“ wird gedruckt, es sei: „bares Geld unsern 
Schriftstellern nicht itnmer so notig wie wirksame Fdrderung 
Literaturpreise erreichen selten K&mpfende, son dem meistens 
schon halb Durchgedrungene; woher soil auch die Oflentlichkeit 
Talente kennen, die im Verborgenen bliihen, nein, verktlmmern - . 
Wahrhaftig, das steht dort I Und Paul Block druckt kattbldlig 
die Anregung: man mdsse einen n Verlag finanzieren u , der die 
Tendenz hat, Druckwlirdiges „unabh£ngig von Verdienst** zu 
veroffentlichen. Ich furchte, einer meiner Miiarbetter hat sich 
init lhnen einen Scherz erlaubt, Herr Block. 

Mu tile mcht jede Zeitung diese Tendenz haben? 

Wann hat das „B, 1'.“ Jemals mitgeholfen, jungen Dichtern die 
Offentlichkcit zu erkampfen? Welcher Tageblattleser bat durch 
Sie erfahren, dafl grolie Dichiwerke junger existieren wie: Ein- 
stein n Bebu(juin* i , Paul Adler n Elohim u , Franz Jung r Opferung**, 
Diiublcr pNordlichi* 4 , Hardekopf ^Lesesthcke - , Rubiner „Das 
himmlische Licht** dafi Namen wie Kurd Adler, Gottfried Benn, 
J. T, Keller, Ludwig Baumer, Paul Boldt, Wilhelm Klemni, Oskar 
Kanehl, Edlef Koppen, Alfred Vagts, Karl Otten, Piscator, 
Heinrich Schaefer, Goll, Wolfenstein, Max Herrmann, Ernst 
Stadler — um wahllos nur einige zu nennen — eine neue, starke 
Dichtergeneration represent ieren ? 

Jeder dieser Namen beweist (lbrigens, wie nebensachlich die 
Giinnerschaft der „groOcn Presse** ist. Bleiben Sie ruhig bei 
Oskar Blumcntbal, Kideamus und Paul Schiller, Aber tun Sie 
nicht, als ob Sie anders latent 



BUCHERLISTE 

FRANZ WERFEL. Gesange aus den drei Reichen. Auswahl 
aus: „I>er Weltfreund u , fl Wir sind“, r Einander“ und Neue 
Gedichic. (Kurt Wolff, Verlag, Leipzig.) M. *,50. 
ALEXANDER FREIHERR VON BERNUS. Das Reich. 
Vierteljahrsschrift. (Hans Sachs -Verlag, Mllnchen.) Einzelbuch 
M. 2,50. 



INHALT DER VORIOEN NUMMER: SONDERHEFT FELIX MULLER-DRESDEN. FELIX MULLER: SELBSTPORTRAT 
(TiteJblaft) / Paul Gauguin: Uber Malerei (Aus dem NachlaB) / Felix Miiller: Zwei Original-Holzschnifte / K. Hugo Hilar: Eduard 
Voian derLvriker unter den Schauspielem / Felix Muller: Original-Holzschnitt / Aus Turgenjews Briefwechsel mit Herzen / 
Felix Muller: Aktstudie (Original-Holzschnit / OtakarTheer: Am Kreuze / Felix Muller: Holzschnitt Mann mit Hund / Walter 
Rheiner: Totengebet / Herbert Kuhn: Ende i Paul Hatvani: Klassisches Fragment / Felix Muller: Zwei Schwestern (Holz- 
scim/ft) / Kurd Adler: Der Triumph / Felix Muller: Holzschnitt i Carl Einstein: Totlicher Baum / Wilhelm Klemm : Spat / 
Hiide Stieler: Abisag / Franz Werfet: Ex abrupto / Hans Koch: Eine Novelle / Felix Muller: Widmungsblatt fur die 

AKTION / Ich schneide die Zeit aus / Kleiner Briefkasten / An die Bfittenabonnenten 















Fur Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten 
Inhalt verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin- Wil- 
mersdorf, Nassauische StraBe 17. Tel. Pfalzbg. 1 695. 
Qedruckt bei F. E. Haag, Melle in Hannover. 
Die AKTION erscheint jeden Sonnabend. Abonne- 
ments kosten vierteljahrlich durch die Post, durch 
Buchhandel Oder Verlag (unter Kreuzb.) M. 2,50. 
Abonnements fur das Ausland kosten M. 3, — . 
Buttenausg., lOOnumerierte Exempl., jahrl.M.40, — . 
Verlag der AKTION, Berlin-Wiltnersdorf. 

Unverlangten Manuskripten 
ist Ruckporto beizufugen. 

Alle Rechte vorbehalten. 




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W0CHEN8CHRIFT FUR POUTIK, LITERATUR, KUNST 
VII. JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERTNR ^ 

INHALT: Beyc: StraSenscene in Neapel (Titelblatt) / Johannes Fischer (Wien): Der Doppelgtnger / O. F. Nicolai: Ober 
Rassenmischung / Willy Zierath: Zeichnung f Oeorg Tappert: Original-Holzschnilt / Jomar FGrste : Zeichnung / Aus Baku- 
nins Briefwechsel mit Herzen / Paul Hatvani: Versucn fiber den Expressionismus / Felix M filler: Selbstmorder f Original- Holz- 
schnit) / Fin Oedicht Friedrichs II., des Hohenstaufers (Nach dem lialienischen von Otto Frh. von Taube) / Wilhelm Klemm: 
Mit schwarzem und blondem Haar . . / William Blake: Das entweihte Heiligtum (Aus dem Engiischen von Alex Frh. von 
Bemus) / K. Teige: Zeichnung / Alfred Oruenwaid : Verse / Georg Qretor: Vision / Karl Otten: Besinnung / Arnold Berney: 
Geschichte / Franz Werfel: Substantiv und Verbum. Eine Ant wort an Georg Davidsohn / Franz Jung: »Das Wesen der Oe- 

schlechtlichkeit* / F. P.: Ich schneide die Zeit aus; Kleiner Briefkasten 












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AKTIONS-BUCHER DER AETERNISTEN 

Band I : 

FERDINAND HARDEKOPI- 
Lesestiicke 

Band 2: 

CARL EINSTEIN 
An merkungen 

Band 3: 

Franz jung 

Opferung 

Band 4: 

FRANZ JUNG 

Saul 

Baud 5 : 

CARL EINSTEIN 

B e b u q u i n 

Band p, 2 und 4 kostcn gebunden je M. 2, — 
Band 3 und 5 kostcn gebunden je M. 3, — 



POLIT 1 SCHE AKTIONS-BEBLIOTHEK 



Erstes Werk 



ALEXANDER HERZEN 
Erinneru ngen 
Deutsch von Otto Buck 

Zwei Bande. (446 und 33 ® Seiten.) Mit 

drci Portraits 

Gebunden M, 12,50, broschicrt M. 10, — 

Fur Abonnenten der AKTION 
nur direkt vom Verlage : 

M. 8, — geb., M. 5, — broschiert 

Zweites Werk (in Vorbereitung): 

LUDWIG RUBIN ER 
Der Mensch in der Mitte 

M. 3, — 

V E R L A G DIE AKTION 



KUNST-SONDERHEFTE 

DER AKTION 

„Neue Secession" / Richter Berlin / Schmidt- Rouluff / 
K. J. Hirsch I Hans Richter / Wilbel m Morgner / Egon 
Schiele / Georg Tappert / Else von znr Mflhlen / Ines 

Wetzel ! Felix Mlliler 



DICHTER 

DER 



SONDERHEFTE 

AKTION 



Kran2 Blei / Gottfried Kblwel / Alfred Lichtenstein / 
Paris Ton Gutcrsloh / Heinrich Schaefer / Theodor D£iibler 

/ Paul Adler / Franz Werfel 

SONDERHEFTE ,.DIE VOLKER" 

„RuUland" (mit Geleitworten von Maximilian Harden) / 
1 England" J „ Frankreich" / ^Belgien" / r ItaHen w / BSh 

men" / r Deutschland" 

Jedes Sonderheft, gewohnliche Ausgabe, 
kostet 50PC — Biitten, numeriert, M.2, — 



BOTTEN - AUSGABE DER AKTION 

100 numeiierte Exemplare 
Jahresabonnement : M. 40 

Jcdem BtUtenabonnement werdcn jahrlich mindestens 
acht Kuustblatier beigegcben, von den KUnstlern nuroc- 
riert und signiert. Diese Beilagen komtnen nicht in den 
Handel und stellen eincn Wert dar, der den Abonne- 
mentsbetrag itbersieigtl Im Jahrgang 1917 werden 
beigegeben : Blitter von Felix Muller / Max Opponheimer / 
Ines Wetzel / Karl Jakob Hirsch / Richter-Berlin u a. 



KONSTLER-POSTKARTEN DER AKTION 

Es atnd 80 verschiedene Drucke erschienen 

Zcichnungen von Mopp / Kars / Schmidt- Rottluff / Schrimpf 
j Klein / Richter-Berlin / Nadelman / Feininger / Harta / 
Schiele / Mense / Melzer / Tappert / Else von aur 
Mtlhlen / Hans Richter / Josef Capek / Morgner u. a. 

100 Stuck M. 3, — 

portofrei gegen Voreinsendung des Bctrages 



DTE AKTIONS 



Band 1 : 



L Y R I K 



*9*4“ 1916 

Eine Anthologie 

Band 2 : 

JUNGSTE TSCHECHISCHE LYRIK 

Eine Anthologie 



WILHELM 



Verse 



und 



K L E M M 
B i 1 d e r 



Luxusausgabe M. 15, 



A N 



N G 



Sophie. Der Kreuzweg der Demut 
Etn Roman. Geb. M. 3, — , geh. M. 2, — 



Jeder Band gebunden M. 3, 



VERLAG DIE AKTION 




W0CHEN80HRIFT FOR POUTIK, UTERATUR, KUN8T 

7. JuHROAdO HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT ,7 - M * RZ 




Johanna Pitcher ( Wien) 



Dor Doppdganger ( Original- HoUtchniti) 




133 



DIE AKTION 



134 



OBER RASSENMISCHUNO 
Von G. F. Nicolai 

Vielleicht dankt Deutschland seine Fahigkeit, 
die „Stimmen der Volker 1 * zu verstehen, dem 
Umstand, daB Nachkommen aller europaischen 
Volker in ihm Ieben. Zum mindesten durfte 
eine solche Auffassung mehr innere Berech- 
tigung haben als jene, wonach jede Volker- 
mischung (das sogenannte Volkerchaos Chamber- 
lains) von vornherein minderwertig sei. Doch 
gleichviel, mogen die Ergebnisse dieser Rassen- 
mischung gut Oder schlecht sein, — wir miissen sie 
hinnehmen, denn an derTatsache selbst istnichtzu 
zweifeln. Da aber das dicke Chamberlainsche 
Buch ( — das mit falscher, irrefiihrender Dialek- 
tik das Gegenteil, namlich die Reinrassigkeit der 
Germanen, vertritt, oder zum mindesten in gewoll* 
ter Absicht zu vertrctcn scheint — ) in Deutsch- 
land ziemlich verbreitet ist, so mochte ich hier 
mit einigen Worten darauf eingehen. 

Es wird von alien Rassentheoretikern angenom- 
men, daB von meBbaren Korpermerkmalen die 
Schadelbildung, die Haar- und Hautfarbe 
und die KorpergroBe die wichtigsten ethnolo- 
gischen Merkmale sind. Auf Grund dieser drei 
objektiven Hauptmerkmale hat nun Deniker ver- 
sucht, die jetzige Rassenverteilung in Europa ob- 
jektiv, d. h. nach den zum Teil ja in sehr groBcr 
Zahl vorhandenen Messungen an Schulkindern und 
Rekruten darzustellen. Er nimmt im ganzen zehn 
Rassen an, darunter sechs Hauptrassen, und zeigt, 
wie diese ohne Riicksicht auf Sprach- oder Staaten- 




grenzen recht bunt iiber die gesamte europaische 
Halbinsel verteilt sind, wobei die einzelnen Rassen 
meist urn Meeresteile herum ausgebreitet erschei- 
nen. So wohnen die Germanen im wesentlichen 
urn die Ostsee und um die Irische See herum usw. 
Die Resultate dieser Forschungen, die in dem 
wertvollen Buche von Hirth nachgelesen werden 
mogen, sind fur alle europaischen Volker interes- 
sant. Doch soli hier nur aut Deutschland ein- 
gegangen werden und auch nur auf das Gebiet 
innerhalb der Grenzen des jetzigen deutschen 
Reiches, denn an der Rassendurchmischung in 
Osterreich durfte wohl niemand zweifeln. 

Um die Ostsee saBen die alten Germanen und 
drangen von dort gegen die ubrigen Lande vor. 
Sie trafen dabei in Suddeutschland auf Kelten und 
gegen Siidosten auf Slawen. Die Slawen, die noch 
heute in Posen und Schlesien ziemlich rein sitzen, 
haben zeitweilig ihrerseits nicht unbedeutende Vor- 
stoBe gemacht und haben insonderheit durch ihren 
erklarlichen Drang zum Meere hin bewirkt, daB 
in Pommern und WestpreuBen die urspriinglich 
germanische Pravalenz verschwunden ist. Durch 
Suddeutschland zogen die Germanen hindurch, 
um dann im fernen Siiden, der fur sie offenbar 
nicht geeignet war, ziemlich bald und vollstandig 
zugrunde zu gehen. In Suddeutschland hat sich 
daher in Baden und Wiirttemberg die keltische 
Rasse einigermafien rein erhalten konnen, wah- 
rend sich im ubrigen die durch die Romerherr- 
schaft bedingte Einwanderung der Adriavolker 
und des rundkopfigen homo alpinus bemerkbar 
macht. Es scheint, als ob hier die Romer gute 
Lebensbedingungen fanden, denn ihr Typus ist 
auch heute noch jenseits des alten Limes vorherr- 
schcnd. Der groBte Teil des mittleren Deutsch- 
lands aber ist Mischvolk, oder wie Chamberlain 
so schon sagt, Volker-Chaos, 

Auch Wilser bestatigt die historische Tatsache, 
wenn er sagt: „Nur ein geringer Hundert- 
s a 1 z unserer beutigen Volksgenossen hat an- 
nahernd noch einen Schadel- und Knochenbau 
wie die Gerippe aus den Reihengrabern der Wan- 
derzeit* 4 , und an anderer Stelle: „Wollen wir 
heutzutage noch echte Germanen finden, so 
miissen wir zu unseren nordischen Brudervolkern 
gehen (Schweden, Niederlander, Englander). 
Deutsch nennt man die in diesem Rassengemisch 
auf Grund gemeinschaftlicher Sprache und Kul- 
tur entstandenen Eigentiimlichkeiten und Ge- 
meinsamkeiten. Germanisch aber nennt man 
die urspriinglich vorhandenen Eigentiimlichkeiten 
eines Volkes unbekannter Herkunft, das heute so 
mit anderen Volkern gemischt ist, daB es, zum 
mindesten in Deutschland, nicht mehr existiert. 
Deutschland ist also ein aut der gemeinsamen 
Sprache und kein auf einer gemeinsamen Rasse 
aufgebauter Staat, und es ist vollkommen irre- 
fiihrend, wenn man Germanen und Deutsche iden- 
tifiziert. 

Es ist schwer zu sagen, wie Menschen wie Cham- 
berlain zu ihren Ansichten gekommen sind. Wenn 
man liest, daB er fur die abenteuerlichsten Dinge 
(z. B. fur die Angabe, M daB Goten in groBen 



Willy Zierath 



Zeichnung 




Qeorg Tapper t 



Original- Hoi zschnitt 




137 



DIE AKTION 



138 



Zahlen das Judentum angenommen haben 4 *) 
„einen gelehrten Fachmann der Wiener Univer- 
sity* als Quelle anfuhrt, ohne jedoch seinen Na- 
men anzugeben; wenn er in seinen „Kriegsauf- 
satzen 4 * iiber Briefe berichtet, die er erhalten 
haben will und deren Inhalt in geradezu kunst- 
lerischer Form sich gegenseitig erganzt, so mufi 
dem objektiven, kritischen Leser der Gedanke 
kommen, daB in diesen Fallen der Autor, um der 
gefalligen Form willen, den lnhalt unberucksich- 
tigt gelassen hat, und es ware zu wunschen 
gewesen, daB er wie sein grofler Lehrer Gobi- 
neau, fur derartige Behauptungen auch die Form 
des Romans gewahlt hatte. 

Immerhin erscheint es auch denkbar, daB die 
ganze alldeutsche Theorie iiberhaupt nur auf 
einer hochst bedauerlichen Verwechslung beruht. 
Man sagt, die iibrigen Nationen Europas seien aus 
einem Gemisch der jeweils vorhandenen Urbevol- 
kerung mit den durch die Volkerwanderung hin- 
zugekommenen Germanen entstanden. In Deutsch- 
land aber hatten sich Germanen mit Germanen 
gemischt, hier sei die Rasse rein geblieben! 

In Wirklichkeit hat, wie uns die Graber und Ske- 
lettfunde beweisen, auch in Deutschland eine bis 
ins Diluvium zuriickreichende Urbevolkerung ge- 
sessen, die beim kimbrischen Durchzug und spater, 
als der Strom der Volkerwanderung hereinbrach, 
teihveise auswanderte, oder sich zum mindesten 
in die Gebirge zuriickzog, teilweise unterging und 
teilweise sich mit den Neuangekommenen ver- 
mischte. Genau wie in alien iibrigen europaischen 
Staaten hat diese Urbevolkerung auch hier schon 
gelebt, als noch Rhinozerosse und Elefanten 
Europa bevolkerten. Eine Mischung dieser Ur- 
bevolkerung mit Kelten scheint, als die Romer 
kamen, am Rheine gelebt zu haben. So lieb man- 
chen das alte Scheffelsche Lied „Es wohnten die 
alten Germanen zu beiden Seiten des Rheins* 4 




Jo mar For tit Zeichnung 



auch sein mag, — es ist falsch. Ariovist war der 
Rasse nach kein Germane, sondern ein Kelte, 
und wenn schon jemand damals auf beiden Seiten 
des Rheins wohnte, so waren es die Kelten. Aber 
Tacitus nannte diese Vdlkerschaften Germanen, 
und dieser Name wurde dann spater auf jene 
Vdlkerschaften angewandt, welche aus den Gegen- 
dcn, in denen Ariovist gelebt hatte, in die damalige 
zivilisierte Welt einbrachen. Dies waren Ostgotcn, 
Westgoten, Vandalen usw. Seit dieser Zeit datiert 
das MiBverstandnis, denn die Germanen des Ta- 
citus und die der Volkerwanderung sind etwas 
ganz anderes. Lange Zeit wuftte denn auch nie- 
mand, was eigentlich Germanen seien. Noch im 
12. und 13. Jahrhundert bezeichnete man eher 
noch die Franzosen mit diesem Namen. 

Dann aber kam ein anderer Name auf. In Frank- 
reich hatte man schon friihzeitig die lingua romana 
rustics im Westen und die lingua theodisca im 
Osten (d. h. in Deutschland) unterschieden. Diese 
Worte bezeichneten nur die Sprache, aber nicht 
ein Volk, wie wir etwa heute, wenn wir von 
jemandem sagen, er spricht hochdeutsch, nicht an- 
deuten wollen, daB er zu einem bestimmten Volks- 
stamm gehort. 

Spater wurde aus dem nur adjektiv gebrauchten 
theodisk das ahnlich lautende, aber dam it gar nicht 
verwandte Substantiv Teutone gebildet. Dies 
Wort, aus dem schlieBlich das Wort deutsch 
wurde, bezeichnet gleich von vomherein keinen 
rassenmaBigen, sondern einen Kultur- resp. 
Sprachzusam men hang (denn die albeme Sage von 
dem Riesen Theuto, dem gemeinsamen Ahnherrn 
aller Deutschen, ist nachweislich im 13. Jahrhun- 
dert erfunden worden). Deutsch waren die Ger- 
manen, die Kelten und die Slawen, soweit die 
deutsch sprachen. 

Die Tatsachen, an welche hier ermnert ist, sind 
an sich gar nicht kompliziert und werden auch, 
wenn man genau zusieht, von alien Unbefangenen 
als etwas selbverstandliches zugegeben, verwor- 
ren werden sie — vor allem fur die breiteren 
Massen — erst dadurch, daB man doch immer 
wieder Germanen und Deutsche durch ein and er- 
wirft. So sagt Ratzel z. B. in seiner popularen 
Heimatkunde: „Es gab eine Zeit, wo im grdBten 
Teil unseres Landes keine Deutschen wohnten 4 * 
und weiterhin: „Es ist geschichtlich, daB Sud- und 
Westdeutschland nicht von Deutschen bewohnt 
war, als die Romer dorthin vordrangen. 4 * Trotz- 
dem sagt er dann allerdings, dab jenes Volk, das 
Tacitus geschildert, nur Germanen gewesen sem 
konnten. Nun ist zwar nach Ratzel „Germanien“ 
ein weiterer Begrift als „deutsch 44 , aber die Kel- 
ten kann doch auch Ratzel nicht unter den noch 
so weit getaBten Begriff des Germanentums 
rechnen. 

Durch solche Unstimmigkeiten, wie sie hier bei 
Ratzel vorliegen, wird Leuten wie Chamberlain 
nur der Weg geebnet. 

Zusammenfassend ist zu sagen : Es gibt in Europa 
keine reinen Rassen, keine „guten Arten“ im 
Sinne der Zoologie, nicht einmal konstante Varie- 
taten. 



DIE AKTION 



140 




*US DEW BRIEFWECHSEL BAKUNINS MIT 
ALEXANDER HERZEN 

Fur die FQLITISCHE AKTIOXS-BIBLIOTHEK be- 

rtite ir Jt tiehe n anderen Btinden v or,' LassalUs Tagc* 

buchfr und &akuni*<8 Brie ft. Am diesen hislorisch 

leertvoUen Dokurncnten kommt cinTtil der AKTlOX 

zum Abdvurk. 

28, Juni IS66. Napoli 
Corso Vittorio Kmanude — Casa Nohilt 2. piano 
Secondo pahzzo doppo il Bersaglio 

Freund Herzen! 

Deine wenigen Worte habe ich durch B. erhalten, 
und ich war erfreut, seine Bekanntschaft zu 
machen. Wie es scheint, ist er ein anstandiger 
Mensch. Mit seiner Comteschen Doktrin erin- 
nert er mich an meine Jugend, wo ich in Hegels 
Namen jeden Unsinn schwatzte, wie er dies ini 
Namen des Positivism us tut. Doeh ist Comte 
Hegel voraus, unverdienterweise hebt ihn unser 
Freund auf die Stufe des Absoluten empor. 

Du wirfst mir mein Schweigen vor. Lieber Freund, 
nicht sehreiben mochte ich, sondern mich mit 
Euch besprechen. Ich war bereits im Begriffe, 
Euch in der Schweiz aufzusuchen. Die Mittel er- 
lauben es mir nicht. Du aber bist reicher als ich 
\X r ie ware es, H erzen — von Ogarjow spreche 
ich nicht, er ist unbcweglich, — wenn Du Dich 
entschliefien wolltest, mit Deiner Antigone Na- 
talja Alexandrowna, wenigstens auf einen Mo- 
nat Oder zwei, hierherzukommen. Ich sage nicht, 
um mit mir zusammenzutreffen, — es ware zu 
ambitios, — sondern nur so, um eine Vergnii- 
gungsreise zu machen und Dich durchzuliiften. 
In Genf ist es Dir so schwiil und eng und lang- 
weilig, daB Du es verwiinscht hast. In Deutsch- 
land herrscht Cholera und Krieg, nach Frank- 
reich wird es Dich wohl schwerlich hinziehen, 
vom Lago di Como kann gar nicht die Rede sein ; 
in der Nahe desselben erschallen Kriegsrufe. 
Keine einzige Stadt Norditaliens wird Dir jetzt 
gefalien, alle sind vom Hauch der patriotischen 
Luge verpestet; in Florenz aber ist das Leben 
so teuer geworden, daB man dort einfach nicht 
leben kann. Uberdies bleiben im Sommer nur 
diejenigen in Florenz, die nicht fortkommen kon- 
nen, so heiB, so schwiil, so den Augen schadlich 
ist es dort. Dank dem Meere ist Neapel im 
Sommer fast der frischeste Punkt in Itaiien und 
zweifelsohne einer der billigsten. Wie ware es, 
wolltest Du, z, B, auf einen Monat, Dich auf 
Ischia niederlassen ; ich kenne keinen bezaubern- 
deren, keinen angenehmeren Ort, im heiBesten 
Sommer ist es hier frisch. Und wie biliig! Im 
Hotel Grande Casamicciolo kostet ein Zimmer 
nebst vollstandiger Pension 5 Frank pro Tag. 
L'brigens kennt ja Natalja Alexandrowna diesen 
Ort, und sie soli selbst sagen, wie gut es hier 
ist — still, einsam, behaglich und siiB. Die 
Friichte sind hier vorziiglich. Heida, Herzen, 
komme her! Besiege nur den ersten Widerstand 
der Tragheit, die leider mit den Jahren in uns 
wac/ist. Hier ist alles still, die Geriichte iiber 
den Krieg kommen wie aus der Feme her. Wir 
werden zusammen einen stiilen, friedlichen, ge- 



nuBreichen und vielleicht auch nutzlichen Monat 
verbringen. 

Adieu, umarme von mir den Abbe Sieves unsrer 
russischen Bewegung, Freund Ogarjow, und 
schleppc ihn, wenn moglich, mit Dir. 

Euer M. Bakunin 
28. Oktobcr 1869. Genf 

Obermorgen fahre ich nach Lugano. Deinen 
Brief habe ich erhalten und mit Aufmerksamkeit 
gelesen. 

Erstens. Da hast Du meine Antwort in betreff 
Marx’: Ich vveiB so gut wie Du, daB Marx 

uns gegeniiber ebenso schuldig ist, wie alle iihri- 
gen, und daB er sogar der Urheber und An- 
schiirer aller uns aufgebiirdeten Abscheulichkeiten 
ist. Weshalb ich ihn also gelobt habe? Aus 
zwei Grunden, Herzen. Der erste ist die Oe* 
rechtigkeit. Wenn wir alle seine Abscheu- 
lichkeiten, die er gegen uns begangen, beiseite 
lassen, so diirfen wir, wenigstens ich, seine auBer- 
ordentlichen Verdienste um den Sozialismus nicht 
verkennen, dem er, es werden bald fiinfund- 
zwanzig Jahre sein, klug, energisch und treu dient, 
und worin er ohne Zweifel uns alien voraus ist. 
Er war einer der ersten, man kann sagen, der 
Hauptbegriinder der internationalen Gesellschaft. 
Und das ist in meinen Augen ein ungeheures 
Verdienst, das ich stets anerkennen werde, was 
er auch gegen uns begehen mag. 

Der and re Grund ist die Politik und nach 
meiner Meinung eine vollkommen richtige T a k - 
tik. Ich weiB, daB Du mich fur einen ziemlich 
schlechten Politiker haltst. Halte es nicht fur 
Eigcnliebe von meiner Seite, wenn ich Dir sage, 
daB Du Dich irrst. Namlich Du schatztest und 
schatzest mich nach meinen Handlungen in der 
zivilisierten Gesellschaft, der Welt der Bourgeois; 
hier benehme ich mich in der Tat ohne alle Be- 
rechnung und ohne das geringste Zeremoniell, 
mit scheltender, rucksichtsloser Aufrichtigkeit. 
Doch weiBt Du, weshalb ich so mit ihnen um- 
gehe? Weil ich keinen Groschen fur sie gebe 
und keine produktive fortschrittliche Kraft in 
ihnen anerkenne. Ich weiB sehr gut, daB diese 
Welt noch zur Geniige materielle Mittel und or- 
ganisierte staatliche routinierte Krafte hat, weit 
mehr, als zu wiinschen ist. Aber man muB mit 
dieser Macht kampfen; hier sind keine 
Versohnungen, keine Abmachungen moglich, 
weil sie wahrlich keine Zugestandnisse mehr, 
keinen Schritt mehr vorwarts machen kann 
und durch die Macht der Verhaltnisse zuriick- 
gedrangt wird. Es mag fiir den einzelnen 
gefahrlich sein, mit ihnen ganz offen und scho- 
nungslos zu kampfen, es mag wohl fur den 
Kampfenden mit groBen Unbequemlichkeiten und 
Unannehmlichkeiten verbunden sein — ich er- 
fahre es zum Teil an mir selbst — , aber fur 
die Sache, fiir die Volkssache ist es niitzlich und 
unentbehrlich, da mit das Volk die Frage klar 
und bestimmt aufstellt und sie von jeder Bourgeois- 
beimischung befreit. Das ist auch in dem Sinne 
fiir den Kampfenden niitzlich und unentbehrlich, 



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indem sein aufrichtiges Verhalten zur Welt der 
Bourgeois seine Stellung klar bezeichnet, seine 
Aufrichtigkeit beweist und ihn im Volk festeren 
Fu8 fassen laBt, !ch bin also mit Dir einver- 
standen, dafi ich in der Bourgeoisgesellschaft und 
in den Bourgeoisfragen kein Politiker und kein 
Taktiker bin, Und ich will weder eines noch das 
andre sein. Du wiirdest Dich sehr irren, wolltest 
Du daraus schlieBen, daB ich mich ebenso un- 
iiberlegt oder, richtiger gesagt, mit dersetben Be- 
rechnung in der Welt der Arbeiter benehme. Das 
ist die einzige Welt im Westen, an die ich 
glaube, wie ich in RuBland an die der Bauern 
und an die gebildete der riicksichtslosen Jung- 
linge glaube, die in RuBland weder Platz noch 
Beschaftigung findet, diese Vierzigtausend-Pha- 
lanx, die bewuBt oder unbewuBt, ihrer Stellung 
nach, zur Revolution gehort und um derentwillen 
Du mir noch nicht aufgehort hast zu zurnen. 
In dieser dunklen Welt, auf diesem einzigen Bo- 
den, auf dem sich die Zukunft aufbauen wird, 
hier erkenne ich Politik und Taktik an, erforsche 
ich aufmerksam ihre schwachen und starken Sei- 
ten, ihre klugen und dummen, hier bemuhe ich 
mich, mich danach so zu richten, dafi die Volks- 
sache gedeiht — das ist seibstverstandlich das 
erste, das Hauptziel — und daB gleichzeitig meine 
Stellung sich befestigt. Und als Beweis dafiir 
mag Dir mein Benehmen gegen Marx, der mich 
nicht ausstehen kann und, wie ich glaube, iiber- 
haupt niemand auBer sich und den ihm Nahe- 
stehenden liebt, meine Politik und Taktik in Be- 
zug auf ihn dienen. 

Marx ist zweifelsohne ein niitzlicher Mensch in 
der internationalen Gesellschaft. Er ist hier eine 
der sichersten, einfluBreichsten und klugsten 
Stutzen des Sozialisinus, einer der starksten 
Damme gegen das Eindringen irgend welcher 
Bourgeoisrichtung oder Bestrebungen. Und ich 
wiirde es mir nie verzeihen, vernichtete oder ver- 
ringerte ich auch nur zur Befriedigung meines 
personlichen Rachegefiihls seinen zweifellos wohl- 
tatigen EinfluB. Es kann jedoch und wird wahr- 
scheinlich vorkommen, daB ich mich bald in einen 
Kampf mit ihm werde einlassen mussen, nicht 
fur personliche Beleidigung, sondern einer prin- 
zipiellen Frage halber, des Staatskommunismus, 
dessen eifrige Verfechter er, sowie die von ihm 
geleitete Partci, die englische wie die deutsche, 
sind. Dann aber wird es einen Kampf, nicht 
auf Leben, sondern auf Tod geben. Doch alles zu 
seiner Zeit, und jetzt ist die Zeit dazu noch nicht 
gekommen. 

Ich schonte und erhob ihn auch aus Taktik, aus 
personlicher Politik. Wie siehst Du nicht, daB 
alle diese Herren insgesamt unsre Feinde sind 
und eine Phalanx bilden, die man vorerst trennen, 
zerstiickeln muB, um sie dann um so leichter 
zu schlagen? Du bist gelehrter als ich, und Du 
wirst daher besser wissen, wer zuerst gesagt 
hat: divide et impera. Wollte ich mich jetzt in 
einen offenen Kampf mit Marx stiirzen, so wiirde 
ich drei Viertel von der Internationale gegen 
mich haben, ich wiirde im Nachteile sein und den 



einzigen Boden unter meinen FiiBen verlieren. 
Wenn ich aber den Kampf mit einem Angriff 
auf sein Gesindel beginne, so habe ich die Mehr- 
zahl auf meiner Seite, und Marx selbst, in dem, 
wie Dir bekannt, eine grenzenlose Schadenfreude 
steckt, wiirde sehr zufrieden sein, daB ich seine 
Freunde angriffe und sie libel zurichtete. Sollte 
ich mich jedoch irren, und nahme er sie in Schutz, 
so wiirde er doch zuerst einen offenen Krieg 
beginnen, und ich wiirde zuriickweichen et 
j’aurais le beau role. 

Jetzt wollen wir iiber die Abfassung meiner Ar- 
beit sprechen. Vaterchen Alexander Iwanowitsch, 
stehe Pate bei diesem haBlichen Werke, gib deine 
Feile dazu und hilf mir, es zustande zu bringen. 
Es ist mir bei den jetzigen Umstanden einfach 
zum Bediirfnis geworden, es herauszugeben. 

Ich bin kein Kiinstler, und die literarische Archi- 
tektur ist nicht meine starke Seite, so daB ich 
wohl den geplanten Bau nicht bewaltigen werde, 
oder daB mit mir dasselbe der Fall sein wird, 
wie mit demjenigen, von dem man erzahlt, daB 
er zuerst das Haus aufbauen und dann erst die 
Fenster und Tiiren durchbrechen lieB. 

Das erste kurze Kapitel: Etude sur les Juifs 
allemands bildet nicht den Kern der Broschure, 
es ist nur eine Art polemischen Vorworts, mein 
Hauptziel ist, meine Tatigkeit wahrend der letzten 
sechs Jahre zu erzahlen und zu erklaren, sowie 
die Entwickelung der politisch-sozialen Ideen, 
welche diese Tatigkeit begleiteten. Ich weiB, daB 
mein Buch vieles Gute enthalten wird. Du aber 
sei mir ein Wohltater und Pate in dem, was mir 
abgeht, nicht als Idealist, sondern als Realist. 
Nahmest Du die Sache als Idealist in Angriff, 
so wurdest Du einfach mit meinem ganzen Na- 
turell kurzen Prozefi machen, als mit etwas, das 
Deinen Gewohnheiten und Ansichten wider- 
spricht, und statt meines Buches wiirdest Du 
Dein eigenes herausgeben. Ais Realist aber wirst 
Du Dir sagen, was soli ich mit ihm anfangen, 
den Alten werd’ ich doch nicht anders machen, 
chassez le naturel, il reviendra au galop; be- 
miihe Dich also nur nach Kraften, die natiir- 
lichen Mangel der Broschure zu schleifen und zu 
verringern. Du wirst Dir sagen, er soli sich 
das Haus nach seiner Art und Weise bauen, 
da er aber weder Asthetik noch Fahigkeiten fur 
die Architektur besitzt, so werde ich ihm Fenster 
und Tiiren durchbrechen; es wird doch immerhin 
besser sein, als wenn er sich daran macht. Die 
Arbeit ist langweilig, das weiB ich, aber nimm 
sie auf Dich, ich sage nicht, aus alter Freund- 
schaft, sondern aus der alten Gewohnheit des 
Zusammenlebens und der gegenseitigen Achtung, 
trotzdem wir manchmal einzeln arbeiteten und 
manchen Streit nicht ausgleichen konnten. Eine 
solche Gewohnheit, die sich nicht in der Welt 
der Abgeschmacktheiten, sondern in derjenigen 
der hochsten menschlichen Interessen gebildet, 
kommt der Freundschaft gleich. 

Es handelt sich namlich um folgendes: Auf 

Grund der wenigen Bogen, die ich Dir schickte, 
kannst Du noch nicht iiber das von mir geplante 



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Buch urtetten. Warte ein wenig, dieser Tage 
werde ich Dir mehr Bogen schicken, und sobald 
Du Dir eine endgiiltige Meinung gebildet hast, 
wirst Du Oir sagen, was Du, urn das Erscheinen 
des Buches zu fordern, in literarischer wie in 
materiell administrativer Hinsicht zu tun ver- 
magst und gedenkst. Wenn Du diese Arbeit 
ubemimmst, so wird sie wohl zum Teil schwierig 
sein, aber auch nicht ohne Interesse. Beim Lesen 
meines Schreibens wirst Du vielleicht in edlem 
Eifer entbrennen, vielleicht auch emport sein, und 
Du wirst Dich entschlieBen, ein Vorwort zu 
schreiben, selbstverstandlich kein schimpfendes 
und absolut verneinendes. Sonst miiBten wir es 
besonders drucken lassen. 

Ich wiirde dann mit einem Nachwort kommen 
und Ogarjow wiirde als jury d’honneur sein Urteil 
fallen. Das Buch wird wohl etwas seltsam wer- 
den, etwa in der Art von Notre dame de Paris, 
nicht die von Hugo, sondern die Pariser, jeden- 
falls wird es ein interessanteres und bedeuten- 
deres werden, als die Werke des pomadisierten 
Radikalismus und des „anstandigen“ Sozialismus. 
Wenn die Bourgeois ihm auch den Riicken kehren, 
so werden es die Arbeiter lesen, ich burge dafiir. 
Fur mich jedoch ist das geniigend, da ich, ich 
wiederhole es nochmals, kein andres Publikum 
habe. 

Adieu, und antworte vorlaufig durch Ogarjow 
oder poste restante nach Lugano. Meine genaue 
Adresse werde ich dir spater schicken. 

Dein M. Bakunin 

MIT SCHWARZEM UND BLONDEM HAAR 
Mit schwarzem und blondem Haar sehen wir die 

Volker 

Und der Ernst der Jahrtausende beschattet die 

Augen. 

Wir saBen einsam an schweigendem Wasser, 

Der Mond zog durch die Rhomben einer Eisen- 

bahnbrucke. 

Das ganze System reiste in die Nacht. 

Die Maskenziige der Verzweiflung hinterdrein. 

Nach dem Spinnengewebe der Sterne 

Gab es erblindete Sonnen und verkohlte Himmel. 

0 du, heraufgegurgelt aus dem Schlunde der 

Ewigkeit, 

Was sitzt du hier festgekrallt an deiner Stangc 
Wie ein groBer Vogel, nackt und krank? 

Gebt ihm ein Worterbuch, damit er nachsehe, 

was Gott heiBt. 

Wilhelm Klemm 

VISION 

Ihr saht die starre Maske abends, 

1 hr standet angsterkaltet still. 

Das fremde Auge, welches euren Blick 
Verschlang, war wie ein Grab des Leids, 
Darmnen tausendfacher Hunger nistet. 



Und friih, als Morgenh often war, 

Da saht Ihr wicdcr hin. — Ihr saht: 

Ein totes Liicheln hatte in der Nacht 
Gelahmt das stumrne Lippenpaar. 

Georg Gretor 

VERSE 

Und auch die Nachte dieser Stadt 

Sind unterhohlt von den stiirzenden Glocken. 

Uns Nackten wehen in ihr Bad 

Des Rausches von ruhlosen Lippen Flocken. 

Wo du an uberlaubtem Tor 
Weichere Hande nicht wolltest kiissen, 

Habt Beidc ihr Schatten sehen mussen, 

Und Schreie, da ein Gercchter verlor. 

Ein dunkler Seim von krankem Baum 
Ward uber das Pflaster zu spaltiger Glatturg, 
Und ein Zuschlag sprang wie aus eiserner 

Kettung 

Einer toten Weiche in deinen Traum. 

Alfred Gruenwold 

BESINNUNG 

Geborstne Glaser stocken 

Des Himmels Unendlichkeit Flachen 

Schall ist als ob die Glocken 

Im Traume sprechen. 

Eulen und Flederniause 
Fallen ins Tageslicht — 

Die Magde im dunklen Gehause 
Riisten das Hochzeitslicht. 

Jetzt konnen Blinde sehen 
Und Kinder werden alt — 

Steil stromen in eins die Alleer. 
rauschend wie Wald. 




K. Teigc Landschafl 



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Die Winde entstiirzen der Rose 
heulend vvie ein Schwert, 

Bleierne Angsthypnose 
Die faulen Stadte durchquert. 

Erinnerung sanftcs Oesicht inwcndig 
Errichtet eine Saule 
Und Demut wandelt mich lebendig 
Wie Phonix licht aus Asch und Faule. 

Karl Otten 

EIN QEDICHT KAISER FRIEDRICHS II., DES 

HOHENSTAUFERS (Nach dem Halienischen) 

TU, wie der Vogel tut, 

Den einer sich gefangen: 

Der Iebt von dem Verlangen, 

Das sich im Herzen findet 

Und nicht schwindet, — dem einzigen Flucht- 

begebren, 

Weil Ahnliches mein Mut 
Erhofft in lauter Schmerzen, 

1st mir’s nicht wohl im Herzen: 

Solch Liebe ist drin entziindet 

Und solchc Sehnsucht, Frau, die mich verzehren, 

Zu Euch zuruckzukehren. 

Die alle Lust hinieden 

Vereint und mich geschieden 

Von allem Frieden — und von aller Freud: 

Mir scheint, vie! Jahre waren 

Dahin, seit wir geschieden, 

Und Ruckkehr, — so gemieden, — 

Mir kaum beschieden — um das alte Leid . . . 

(Ubertragen von Otto Frh. v. Taube) 

DAS ENTWEIHTE HEILIGTUM 
Kapelle sah ich ganz von Gold, 

Doch niemand wagte sich hinein, 

Und viele standen weinend draufl, 

Wcinend, trauernd, Andacht weihnd. 

Da vor den Eingangssaulen weiB 

Hob eine Schlange sich empor 

Und sie sprengte und sprengte und sprengte 

Die goldnen Angeln an dem Tor. 

Und glitt die schonen Fliesen hin 
Mit Perlen und Rubingegleifi 
Und all ihr Scheinen zog sie lang 
Und bis hinauf zurn Altar weiB. 

Sie spie ihr Gift dariiber aus 

Auf das Brod und auf den Wein 

So sucht ich einen Schweincstall 

Und legte mich dort hin zum Schwein. 

William Blake 

(Umdichtung von Alexander Freiherr von Bern us) 



VERSUCH UBER DEN EXPRESSIONISMUS 

Von Paul Hatvani 
I 



Der Expressionismus ist eine Revolution: damit 
will ich nun keine Defination gesagt haben, son- 
dern bloB ein Argument zu seiner Geschichte. 
Denn, — mag es auch banal und akademisch klin- 
gen — : Evolutionen in der Kunst konnen nur nach 
Form und Inhalt, immer wieder nach Form und 
Inhalt, definiert werden und niemals nach den 
auBeren Umstanden ihrer Entwicklung. Geradeso 
kann man auch sagen, der Expressionismus hatte 
nun neuerdings das Ich entdeckt: diese Erkennt- 
nis allein ist schon ein Bekenntnis zur Revolution, 
wenn man darunter das maBlose, aber berechtigte 
Uberhandnehmen eines Teiles iiber ein Ganzes 
versteht. Im Impressionismus hatten sich Welt 
und Ich, Innen und AuBen, zu einem Gleichklang 
verbunden. Jm Expressionismus iiberflutet 
das Ich die Welt. So gibt es auch kein AuBen 
mehr: der Expressionist verwirklicht die Kunst 
auf eine bisher unerwartete Weise. (Die konven- 
tionellere „ungeahnte Weise** ware hier falsch: 
dem Expressionismus steht ja die Ahnung naher 
als die Erwartung, und so ist die eine Steige- 
rung der andern.) 

Nach dieser ungeheuerlicheu Verinnerlichung hat 
die Kunst keine Voraussetzung mehr. So wird 
sie el e men tar. Der Expressionismus war vor 
Allem die Revolution fur das Elementare. — 



II 

Der Weg zum Elementaren ist die Abstraktion. 
Allerkonsequenteste Abstraktion fiihrt bis ins Ele- 
ment: iiber die Form hinaus, die sie zerstort, bis sie 
im Ursprung des Inhaltes Iandet. Man darf nicht 
sagen, dafi der Expressionismus den Inhalt vor 
die Form stelle. Aber er macht auch die Form 
zum In halt So wird auch hier ein AuBerliches 
verinnerlicht, und iiber das vorherige Chaos trium- 
phiert das Element. 

Nichts ist reiner, moralischer, ethischer als die 
Darstellung des Elementaren. Das Element kennt 
kein Kompromifi; es besteht fur sich, in sich, aus 
sich: es ist. Nur das Etement ist durch hloBes 
Dasein wirkend: so erfiillt es sich in einer Idee 
der Weiblichkeit. Der Mann schafft — das 
Weib ist; der Mann beweist sich der Welt durch 
das Bevvufitsein — das Weib wird von der Welt 
bewiesen. So erhalt — das Element eine gei- 
stigen Reflex vom Weibe, und der Expressionis- 
mus eine sinnliche Beziiglichkeit zum Geschlecht. 
Und da der Kiinstler doch im ewigen Gegensatze 
zum Stoffe lebt, wird dieser weibliche Stoff des 
expressionistischen Kiinstlers ein Urqueli seiner 
erhohten Mannlichkeit. 

Der Mann ist differenziert; der Kiinstler eine ho- 
here Potenz davon; der Expressionist die vor* 
laufig hochstdenkbarste. Das Weib ist das Ele- 
ment. 

Und im Anfang war das Element. — 

III 

Die Form wird beim Expressionismus zum lnhalt: 
sie macht einen bedeutungsvollen Schritt liber 






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sich selbst hinaus. Das ist ein Gegensatz nicht etwa 
zut Musik, sondem zu dem, das ich „ldee des 
Musikalischen** (im Sinne Schopenhauers) nen- 
ncn will: denn in der Musik wird auch der Inhali 
formal. Aber „in Form aufgelost“. 

Diese Transformation der Form in den In halt 
bedingt die ungewohnliche Verdichtung des Ex- 
press ionismus. Das expression is tische Kunstwerk 
ist so konzentriert, dafi scheinbar fiir die Form 
weder Zeit noch Raum fibrigbleibt. Der Inhalt 
wachst fiber Zeit und Raum hinaus; er erfullt 
seine Welt und bestatigt sich im Willen zur Ewig- 
keit. So wird das Kunstwerk auf eine neue Art 
unabhangig von Zeit und Raum. 

Aber es Iebt eine eigene Dimension der Zeit. 

IV 

Rhythmus ist ein Zeit-Reflex auf das Kunstwerk. 
Er ist die innere Periodizitat einer metaphysischen 
Lebensbejahung und damit auch das sichtbare 
Merkmal einer Kraft, die durch das Kunstwerk 
wirkt. Das Kunstwerk ist ja wohl in erster Linie 
Sein — dann aber auch Wirkung: und der Ex- 
pressionismus vereinigt diese beiden Pradikate der 
Kunsi 

Im expressionistischen Kunstwerk e ist Sein und 
Wirkung Eins geworden: so ist nun auch der 
Rhythmus ganz ins Innere des Werkes verlegt 
Ohr und Auge sind ausgeschaltet; aber das Be- 
wuBtsein der Kunstempf indung ist ungeheuerlich 
gesteigert. Hier ruht nun der Rhythmus im In- 
halte selbst und hat mit der Form nichts mehr zu 
tun. 

(Dieses hat wohl den Philister am argsten gegen 
den Expressionism us aufgebracht: der „goIdene 
Mittelweg" ist ganz verschwunden, und die leicht- 
fafiliche Gliederung in Klang, Reim, Ornament und 
ewiger Wiederkehr ist nicht mehr zu erkennen. 
Das sind aber Dinge, die dem Philister das Wesen 
der Kunst ausmachen; der Expressionism us hat 
Ihn da rum betrogen!) 

Der Rhythmus des Expressionismus ist nicht mehr 
Wirkung, sondem E reign is. Er ist nicht mehr 
das scheinbare Wellenspiel eines toten Meeres, 
sondem die ewige, unendliche Bewegung der 
Strom e im Meer. — 

V 

Im Expressionismus, endlich, ist sich die Kunst 
selbst In halt genug. Das ,,1’art pour l’art“ hat 
sich zur Idee der „Kun$t an sich“ gelautert. Nicht, 
ohne diesem ureigenen Inhalte eine radikale Um* 
wertung zu bereiten. 

Im Impressionismus noch war ein starrer Inhalt 
In das Bewegliche der Form gekletdet: mit der 
Form nun bat der Inhalt des expressionistischen 
Kunstwerkes auch die Beweglichkeit erlangt. 
So hatte die neue Kunst ihre erste grofie, fiber- 
irdische Freude am Ausdruck der Bewegung. (Die 
futuristische Malerei entlud sich vorerst in der 
bewegten Darstellung des Raumes; nach und nach 
hat jedes expression istische Kunstwerk die wider- 
spruchsvoJIe Statik fruherer Kunstrichtungen in die 
sinnreichere Dynamik unserer Anschauung ver- 
wandelt. Die Bewegung ist ein Attribut des In- 



halts geworden und also der Inhalt selbst.) Statik 
und Dynamik: dieser Gegensatz ist im Expressio- 
nismus bewuBt geworden. Und dieses BewuBt- 
sein wird viel Abgestorbenes uberwinden ; es 
scheint mir, als ware jetzt erst die letzte Stunde 
des Naturalismus gekommen: der Expressionismus 
hat seine Starrheit befreit und in Bewegung ver- 
wandelt. — 



VI 

Bewegung als BewuBtseinsinhalt ist so eminent 
neu, dafi wir gar keine Begriffe dafur haben. 
Und da das Kunstwerk ein Sein gewordener Be- 
wuStseinsinhalt ist, hatte es auch keine Methoden 
fur die Bewegung. Hier vvurde der Expressionis- 
mus zum erstenmale schopferisch : er schuf Raum 
fur die Bewegung. 

Der Raum ist ein Formproblem; — diese aber hat 
der Expressionismus im Inhalte gelost. So kann 
man etwa sagen, dafi der Expressionismus die 
Form teilweise durch Bewegung ersetzt 
habe, und hat damit schon sehr viel gesagt. — 




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VII 

Ein beachtenswertes Zusammentreffen geistiger 
Erlebnisse: gleichzeitig fast mit der Geburt der 
neuen expresstonistischen Kunst begann sich die 
neue Relativitatstheorie (vor Allem Einstein) 
der Naturwissenschaften zu bemachtigen. 

Ich will hier auf diese groBte Abstraktion, die 
menschlichem Denken auBerhalb der Kunst bis- 
ber gelungen ist, nur kurz hingcwiesen haben. 
Audi die Relativitatstheorie hebt jcdes Ding und 
jedes Ereignis aus der Starrheit der Statik und 
lost es in cine kosmische Dvnamik auf. Alles ist 
Bewegung. 

Ich will nur anfuhren, daB es zum Beispiel dem 
Professor Einstein gelungen ist, die Newtonsche 
Gravitationsanschauung durch cine neue zu er- 
sctzen, die ich „psychozentrisch orientiert“ nennen 
mochte: sie liebt alle Voraussetzungen der ultra- 
— und intraphysikalischen Tragheit des Denkens 
auf und lost das denkende Ich selbst in den Be- 
wufltseinsinhalt „Gravitation“ auf. 

. . . Und tut dies nicht auch jedes expressionisti- 
sche Kunstwerk? 

Der Expressionismus zwingt uns, alle Voraus- 
setzungen unserer bisberigen Daseinswelt aufzu- 
geben. Der Beschauer versetze sich in das Bild, 
der Leser in den Gedanken, der Theaterbesucher 
in die Handlung. Um nun die organische Einheit 
des Bildcs, des Gedankens, der Handlung nicht 
weiter zu storen, bedarf es jener Relativitat der 
Anschauung, auf die es ja auch dem Physiker 
ankommt. Man hat nichts weiter zu tun, als sei- 
nen Standpunkt aufzugeben: die „psychozen- 
trische Orientierung“ des Denkens und Fiih- 
lens verbietet es, Standpunkte zu haben. So flieBt 
alles dorthin zuruck, woher es einmal gekommen 
ist: ins Bewu fits ein. — 

VIII 

Der Expressionismus stellt wiederum die Aprio- 
ritat des Bewufitseins her. Der Kiinstler spricht: 
Ich bin das BewuBtsein, die Welt ist mein Aus- 
druck. Die Kunst vermittelt also zwischen BewuBt- 
scin und Welt; oder, wenn man will, sie entsteht 
im Werden des BewuBtseins. So ist also die groBe 
Umkehrung des Expressionismus: das Kunstwerk 
hat das BewuBtsein zur Voraussetzung und die 
Welt zur Folge; es ist also schopferischer, 
als es das impressionistische Kunstwerk sein 
konnte. Dort „brachte“ das Kunstwerk die Welt 
„ins BewuBtsein' 4 ; — 

Der Expressionismus macht die Welt be- 
wuBt. Er apperzipiert das Weltall und fuhrt es 
in das Reich des Geistes ein. — 

IX 

Der Expressionismus stellt das BewuBtsein nicht 
uber, aber immer in alles. Das ist seine einzige 
Forderung und seine einzige Methode. 

Das expressionistische Kunstwerk ist nicht nur 
verbunden, sondern auch identisch mit dem Be- 
wuBtsein der Kiinstler. Der Kiinstler schafft seine 
Welt in seinem Ebenbilde. Das Ich ist auf eine 
divinatorische Art zur Herrschaft gelangt. 

. . , Und, getreu seinen rclativistischen Grund- 



lagen, muB der Expressionismus auf jede starre 
Defination seines Wesens verzichten, Alles, was 
iiber ihn ausgesagt wird, ist durch ihn bestatigt. 
Das Wort erlebt sich selbst, und da es einen 
Begriff verfolgt, empfindet es sich als Bewegung: 
jeder Ausdruck des BewuBtseins ist Bewegung. 
Bewegung: darauf kommt es an. Der Expres- 
sionismus hat die Bewegung entdeckt und 
weiB, daB auch die Ruhe und das Gleichgewicht 
und die ungeheure Tragheit der Welt und des 
Schicksals nur Bewegungen sind. Und es ist letz- 
ten Endes nur die Erkenntnis einer urspriinglich- 
sten Form, wenn er von seiner Welt sagt: 

Im Anfang war Bewegung. Denn auch das Wort 
ist Bewegung, und im Anfang war das Wort! 

DIE GESCHICHTE DES VINZENZ FLEIG 
Eine Oroteske von Arnold Bemey 
Vinzenz Fleig kam aus irgendeinem Dunstkreise, 
der sich aus Luftgeriichen und Staub um die Erde 
flocht. Er war weder alt noch jung. — Er — Vin- 
zenz Fleig — gehorte gottlob keinem Jahrhun- 
dert an — kam einfach aus irgendeinem Dunst- 
kreis — war also kein Landsmann — kein Patriot 
— kein Bekenner, einfach ein paradiesischer 
Mensch ohne Manieren und darum einzigartig. 
Er leant, hatte irgendwelche Mission, und ging. 

Er hatte eine Mission. Eine glaskiare Sendung. 
Man hatte zu ihm gesagt: Dieses entwickelt sich 
noch. („Man“ meinte damit die Erde.) Alles 
kampft noch und reibt sich auf. Alles ist noch 
Anfang, Geh hin, Du hast Schangsen. Du hast 

eine Oberdosis Vertrauen zu Dingen und Wesen. 
Du warest wohl gcschaffen fur irgendein goldenes 
Zeitalter — geh hin — versuch's, deine Oberdo- 
sis hinzupflanzen. 

Nein eines Tages — ging auch er zu sterben. 
Vorlaufig aber soli ich doch etwas von seiner Sen- 
dung sagen: Verstehen Sie? Also: 

Die Uberdosis. Er hatte also das Recht, irgendwie 
Schicksal zu haben. Menschen haben ja im all- 
gemeinen kein Schicksal. Sie tappen einfach iiber 
ein gewisses Stuck Boden — konstatieren, daB es 
vom 20. Jahre ab ab warts geht — ferner, dafi 
Fremde einfach Leid werden kann — sind plotz- 
lich runzlig und miide, fallen hin wie Ieere Kon- 
servenbiichsen bei der MBllabfuhr und rasseln 
dann nochmal. 

Nein — diese Leute sind die Anormalen, Ich meine 
die mit Uberdosis. Sie machen — wie gesagt — 
das Schicksal — schreiben es an die schwarze 

Schultafel und siehe — alles — gedanken - 

strich-los. 

Vinzenz Fleig begann zu kampfen. Er nahm alle 
Waffen, die die 2000 Jahre hervorgebracht und 
kampfte. 

Etwas walzte sich gegen Etwas. Die Erdrinde 
quoll auf wie Zeitungspapier im Feuer. Millio- 
nen kampften sehr toricht wider Millionen ; 
alle Sterne lachten iiber die Konkurrenz, 

die — sonst ein leuchtendes Vorbild — sich selbst 
zerriB, zerfleischte und aufwiihlte. Vinzenz Fleig 
stand mitten drin in dem Kampf. Er war der 
Einzige, der das Ziel des tausendfaliigen Krieges 



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wuftte. Der somit wuBte, worum er kampfte. 
Et war sich’s bewuBt, daB es sich um eine Kinder- 
krankheit handelte, die da die Erde z. Z. mit- 
machte. Schon freute er sich der kommenden, 
seligen Jiinglings- bzw. Jungfernjahre. Er wuBte 
ganz genau, daB das Geschiecht dieses Jahrhun- 
derts dazu da war, Tradition zu machen, mehr 
als alle die Geschlechter verflossener Jahrhun- 
derte. Und so wie oft Kinderkrankheiten, gut 
durchgelittene, — Gewahr geben fur fernere Ge- 
sundheit — so sollte auch diese Periode fur die 
Erde das sein, was man so im allgemeinen im 
Feuilleton unter: „VerheiBungsvolIer Anfang“ ver* 

steht. 

Wenn ich vorhin sagte: Vinzenz Fleig stand mitten 
im Kampf, so diirfen Sie sich das nicht vorstellen 

— wie eine kubistische Zeichnung — so — hier ein 
Arm und hier ein Auge und hier ein abgeschla- 
gener Kopf — sondern eher wie ein Streckersches 
Disticton — Sie kennen doch Hermann Strecker, 
den Herrlichen? — Also Vinzenz Fleig stand 
irgendwie gleichsam im Norden am Rande der 
groBen Scheibe alien Erlebnisses — — er 
stand im Norden — erlebte alles mit, stand darin 

— aber doch noch nicht daruber — wie Leute es 
tun, die Iange dasselbe crleben — 

Nun bekam er aber eines Tages die Waffe in die 
Hand gedriickt, jene Waffe, deren Vollendung 
auf allem fuBt, was in jenen 2000 Jahren voll- 
bracht. 

Er sollte plotzlich auch auBerlich „kampfcn“. Man 
sandte ihn auf irgendein Schneefeld, dort stand 
er muhsam wie ein dicker Tropfen Blut auf einem 
frisch gewaschenen Bettuch. 

Er sah mit Einem, wie haBlich das Leid war. 

Sah — irotz seiner nun eben durch das Nicht- 
vorhandensein des auf den Kinderkrankheiten der 
Erde beruhenden FuBenden — logisch-entstehen- 
den — einstmals — sowohl mit als auch ohne kon- 
fessionelle — insbesonderheitliche Prophezeiung 
kommenden goldenen Zeitalters hart getroffenen 
Oberdosis an Vertrauen zu Wesen und Dingen 
sah — also daB er Mensch war — daB es einfach 
von seinem 20. Geburtstage ab ab warts gehen 
musse, weigerte sich einfach, das nun einmal pro- 
phetenhaft angekundigte Schicksal auf sich zu 
nehmen — verharrte torichterweise in der Freude 
seiner Kindheit und machte linksum kehrt. Streckte 
dem Leid die Zunge heraus. War sich iiber seine 
Dosis Weltschmerz klar und zundete sich irgend- 
eine Zigarette an, zog seinen Schafspelz an 
und stieg in sein unterstes Seelenrevier. Dort 
schrumpfte er ganz in Heimweh zusammen. 
Machte sich in einer ostlichen Nacht plotzlich auf 
den Weg, um heimzukehren. Er folgte dem Schie- 
nenstrang, der iiber die Weichsel nach Siidwest 
fuhrt und wanderte und wanderte. Neuschnee lag 
und biies gewaltig nach Nordost. Jener aber ging, 
gefestigt in seiner Freude — in seinem Beharren 
am inneren Kindhaften — das das Leid nicht er- 
duiden kann, gen Westen. Den 7 s6 in G abgehen- 
den Schnellzug D 137 fiihrte Lokomotivfiihrer 
Erich Emil Knalle. Er wurde spater freigespro- 
chen. Vinzenz Fleig natiirlich wurde ilberfahren. 



BRIEF AN GEORG DAVIDSOHN 
Von Kranx Werfet 

Licber Georg Davidsohn, 

vorerst 1&0 mich fllr das gute Du danken, das Du mir gibst, 
und erlaube, dafl ich es erwldere. 

Wir gehn in unsere scheinbar selbstverslandlichen Grenzen ein- 
gemummt, wie in einen riesigen Pelz; wie wohl tut da jeder 
Aufblick und jede zerbrochene Zeremonie I 

Du wtlrdest mich mit Recht getadelt habrn, wenn ich eine 
^Poctik - geschrieben h&tte, d. h. ein Rczept der Dichikunst, 
eine Gesetzgebung, eine Technik. (Obgteich ich auch darin 
gute GewShrsleute anfuhren kbnnte.) Ich bin aber selbst schuld 
an der IrrefUhrung, denn durch die akademUche Bezeichnung 
an der Spitze meines Artikels*) habe ich vermutlich Dein Auge 
irmiert und von Wesenilicherem abgelenkt. 

Es gebt um etwas anderes Nicht um eine unbewiesene Philo* 
logie oder um eine Unteriuchung der „psychophysischen Akte w , 
um irgend etwas im Universitiitssinn Wissenschaftiiches. Wohl 
aber geht es um Erkenntnis. 

Willst Du nun wirklich Deine Ansicbt aufrecht erhalten von 
der „scheinenden Sonne 41 , dem „rieselnden Bach - , dem „wehen* 
den Wind - und dem „dichtenden Dichter - ? Ich weiS nicht, 
wie lange sich dieser I mum von der gedankenlosen nur 
mediumistischen Natureracheinung des Dichters in der Welt 
herumtreibt. Welch eine entehrende Deklassierung zum 
vision&ren Kretin. 

Dieser Irrtum beruht auf einer falschen Synonimii&t des Wortes 
„Fruchlbarkeit tt , indem nlmlich die Fruchtbarkeit der Natur 
der Fruchtbankeit des Geistes gleichgesetct wird. 

Des Dichters Fruchtbarkeit heiflt Erkenntnis. Nenne mir eine 
bedeutsame Dichtung, die letzten Endes nicht Gestaltung von 
Erkenntnis wSre I 

Nur das Beweismittel dieser Erkenntnis ist ein anderes, als 
das Beweismittel der AllUglichkeit und der Wissenschaft. Die 
Logik des Dichters heifit Symboiik. Es werden, um sie zu 
erkennen, fltr die Beziehungen der Dinge nicht abstrakte Zeichen 
gesetzt, sondern die Gleichnisse Der Gestaltungstrieb des Denkers 
hat zwischen Evidenz und Ausdruck einen einfachen bewuflten 
Weg zurtlckzulegen, er gestaliet in einer Algebra. 

Beim Dichter fuhrt der Weg zwischen Evidenz und Ausdruck 
durch unerhbrte I.abyrintbe, er gestaltet in einer der RealitiU 
gleichsam Ubergeordneten Realitat in einer Welt, wo die Schnee* 
flocke donnernd zu Boden fXUt und die Lawine lautlos nieder- 
sttlrit, 

Sein Geist ist also fruchtbar in einer fretnden Welt, die ihn 
beherrscht und der er vollkommen delerminiert ist. Anderer* 
seits nimmt se ; n Geist aber die ursprtlngliche ErschUilerung, 
die erste Erkenntnis * Zelle aus dieser uns alien gemeinsamen 
hiesigen Lebenswelt hintiber. Diese Dualit&i ist ihm bewuflt, 
und da das Erstaunen sein unausldschlicher Anstofi ist, sollte 
er sich da so schnell liber sich selbst beruhigen ?I Nein, das 
Wort, das in ihm Fleisch wird, ififlt ihn nicht zur Ruhe kommen. 
Denn er ist ein Mensch undkein n Bach der rieselt - , und mufi 
sein Rieseln kontemplieren. 

* 

Die Sprache als TotalitKt ist eine ebenbtlriige, gleichaltrige 
Schwester der Welt. Die Spracbe und die Welt, beide sind 
unendlich. Wenn es auch nur einen beschrSnkien Schatz von 
Ausdruck gibt, so ist doch der mdgliche Ausdruck grenzenlosl Es 
gibt drei Wesenheiten : Gott, Welt, Sprache, Die Welt selbst, 
ist die Sprache, die Gott spriebt. Baum, Strom und Berg, 
jede geschloasene Form, jedes individuum inefabile ist ein 
Wort Gottes. Desbalb auch ist die Welt unvollkommen, wcil 
vollkommen nur das Sein, niemals aber der Ausdruck des 
Seins sein kann. Unvollkommenheit jedoch heifil Unruhe. Altes 
wird und stirbt, aber alles will vollkommen, das heiflt ewig und 
voll Ruhe sein. Der Vollkommenheitstrieb ist das urerste Ele- 
ment alles Lebens. 

So aber bewegt sich die sterbliche Welt nicht nur in der ihr 
immanenten Bewegung. die ihr Gott gibt, indem er sie aus* 
spricht (im Organtschen Rhythmus), sondern sie widerspricht ihm 
mit einer freien eigenen Bewegung, sie entgegnet ihm, sie 
respondiert ihm Die Gesamtbcit dieses Responses heiflt 
Sprache. Sprache ist also slier freie Ausdruck der Dinge, 
Selbst im Stein mufl tin Minimum von Sprache sleeken. Be- 
trachte nur einen Stein im Fallen. Die Verzo^erung. die wach- 
aende Beschleunigung, obgleich durchaus im Gesetze der Gra* 



*) Heft I /a der AKTION d. J. 







DIE AKTION 




viution, ergeben doch eine Geste von Widerstand, von Oberlegung, 
Den noch 1st die Sprache etvu absolut Menschliches, j& das 
Menschliche schlechtweg. Schopenhauer empiirt sich einmal 
Uber die bibliscbe Trennung von Mensch und Tier. Abcr wie 
das Tier durchaus im Menschen existiert, so existiert der Mensch 
durchaus im Tier. Das Menschliche im Tier, und nicht nur 
im Tier, sondern in der ganzen nicht menschlichcn Natur, ist 
Sprache. (Welch ungeheure Ausdrucksfttlle, alle Fragen des 
Hiob: hat doch der Blick eines Hundesl) 

Erkenntnis der Sprache ist demnach Erkenntnis der uns zuglng- 
lichaten Wesenheit in jener TrinitSt, Sprachphilosophie im 
weitesten Sinn, die Deutung des freien Ausdrucka der Welt. 

• 

Jetzt schtlttelst Du den Kopf und sagst zu Dir : Was will dieser 
Mensch ? Nicht genug, dafi er eine Poetik verfaflt hat, tischt er 
mir noch eine wirre Theologie auf, als lebten wir im frtthen 
Mittelalter. Eine Theologie mit elnem scholastischeo ens rea 
lissimum ac purissimum, seinen erstarrten Wort - Geatahen and 
deren Respons. 

Gleichviel bitte ich Dicb, mir noch ein Stttck zu folgen, deon 
ich habe nicht vergessen, dad ich Dir gegenttber einige Erkennt* 
nisse, die unter dem Titel „ Substantiv und Verbum* 1 zusammen* 
gefaQt sind, rcchtfertigen will. 

Der Respons, die Sprache der Well, hat eine doppelte Rich- 
tung, eine horizontale und eine vertikale, die kiebtung cum 
Nebending bin, und die Richtung xu Gott empor. 

Von der Sprache als nVerstlndigung" konnen wir in unserer 
Gedankenfolge absehn, und wollen uns g&nz an die absolute 
Sprache halten, mehr noch an ihre unbedingteste Form, die 
dennoch gebundene Sprache heifit, an den Vers. Was konnen 
wir durch den Vers erkennen ? 

» 

Wie in jeder starken Form des menschlichen Ausdruck* den 
Stand der Geschichte und ihre Tendenz! Alle bisherigen Ge* 
schichts-Methoden nehmen zum Grund ihrer Anschauung zuflllige 
und meist verhUllende Relativitaten. Um nur zwei zu nennen, 
die maierialistische und psychologische Methode bleiben bei ganz 
unreinen Forme n des Menschheitsausdrucks stehn, bei der Wirt* 
schaftsart und bei der Subiilitat der Reizbarkcit. 

Niemals noch ist der Ausdruck, der Respons eines Zeitabschnitts 
als Ganzes gefafii worden. 

Wo ist aber auch der genialeMann dazu, dieses feinsteMetronom t 
Denn es ha tide It sich um die Erkenntnis der rhythmiseben 
Einheit in der Sprache, die die Welt gegen Gott fubrt. 

Wie wenig sagen doch Begriffe wie Kapitalismus oder Libera- 
lismus ! Sie bleiben bei einer spiiien Folge stehn und verwan- 
deln sie in die Ursache, aus der sie Zustand und Entwtcklung 
•bleiten, und mebr noch, sie machen von dieser willkllrlich ein* 
gesetzieu Ursache den Ausdruck der Welt in einer Zeitgcnosscn. 
schaft abhiingig. 

Also der Rhythmus des XX. Jabrbunderts wird als eine Folge 
der Kupitals'Wirtschaft angesehn, deren Ursache er doch ist. 
Eine Gteichnisfrage aus dem Organischen? Bestimmt unser Tem- 
perament unser Tun, oder das Tun unser Temperament? 1st 
unsere Geste vom Herzschlag abhiingig, oder der Herzschtag 
von unserer Geste? 

Wir werden, um das Wesen des XX. jabrbunderts zu erkennen, 
nicht von einem konstrukuven Vorurteil ausgehend seine Geste 
definieren dlirfen. Wir mttssen den rhythmischen Grtlnden seiner 
Geste nachgehn und uns fragen: Warum ist die Impression, die 
Chemic der Dinge, die Vereinzelung, die mechanische Verge- 
sellschaftlichung seine Geste? Einem guten Ohr milQten, wie 
vor allem in der Musik, so auch in der dichLerischen Sprache 
diese letzten rhythmischen Grlinde der sozialen Erscheinung deut* 
licher tbnen, wie piotzltch das gewahig erwachende Ticken der 
Tascbenuhr bei Nacht, und es mttGte so horen kbnnen, wie die 
Hexe in der HOhle des Vesuvs, die das Rauschen des Feuer- 
pumpwerks im Stamm des Berges deutet. 

Um auf unseren Fall zu kommen, der Tonwert, den das Sub- 
siamiv (als Idee nattirlich) in der Vers*Sprache einer Zeit hat, 
mttGte uns verraten, wie die menschliche Seele dieser Zeit die 
Idee des ^Eigentums u wertet, ob sie sich im Besitz sicher fuhlt 
gegen die M&chte oder ob diese Sicherheit in die Wehen kommt. 



In dem kleinen Aufsatx, dem Du mil Recht seine Bezeichnung 
als Poetik vorwirfit, habe ich unbewuOt nicht* anderet unter- 
nommen, als die Ahnung einer verlndericn Rhythmik des Welt- 
ausdrucks in ein« Theorie des Ged icbls zu kleiden. 



Die Grammatik ist mir mit zwei Symbolen zu Hilfe gekommen. 
Substantiv und Verbum in diesem Zusammenhang waren mir 
Symbol beillufig fur Ding tmd Motive. Aber mil dieser Deu* 
lung, ftthle ich, wird das Gedeutete vergrobert. 

Ich ahnte durch diese Theorie hindurch eine Entsachlichung, 
Entsubstantivierung der Welt, ein Zeitaltcr der Verben (Tun und 
Leiden mehr als Haben), Verwandlung, Auflosung der Realitat, 
die das Substantiv verUfit, um im Verbum zu wohnep. Ftir diese 
erabme Zeit z. B. wird Blume weniger Realitat sein, als Bllihen, 
Auge weniger RealitSt als Liicheln, Weinen. BJicken. 

Um das besser zu verstehn, mache Dich nur mit der neuen 
Malerei vertraut. Also Zukunftsmusik, Ahnung, Hofihung viel- 
leicht und Forderung. Der Irrtum war der apodiktische Schein 
auf meinen Sateen, den Du natflrlich leicht mit allerhand Bel* 
spielen, ja mit mir selber wiederlegen konntest. 

Aber nach diesen kurzen Andeutungen, hoffe icb, wirst Du ftthlen, 
dafi es mir nicht um Stthettsche Einsichten geht, sondern um 
Erkenntnis des Menschen, wozu Du ja auch einem Autpr von 
Versen das Recht nicht absprechen wirst, 

V 

Wenn ich diese Zeileo durchlese, ftthle ich wieder in akem 
Schmerz, wie sehr uns alle das Wort vereinsamt und trennt, 
und diB alles Zwiegesprttch nur ein Selbstgesprlch ist, das wir 
aneinander vorbeifuhren. 

Februar 1917 Franx Werfel 



LITERARISCHE NfEUERSCHEINUNGEN 



Grete Meisel-Hefl. Das Wesen der Geschlechtlichkeit (Ver- 
lag Eugen Diederichs, Jena). 

Diese zwei Blnde Geschlechtlichkeit wtlnschen die Meinung auf- 
kommen zu lassen, als handle es sich um eine psychologische 
und darstellerische Untersuchung der Spannung zwischen Physis 
und Psyche im Einzelnen, die in der Beziehung zum anderen 
Menschen sich als Geschlechtlichkeit erweist, Es wire nicht 
notwendig, Uber die Pr&tention des W'erkrs auch nur ein Wort 
zu verlieren, da erfahrungsgemit3 selbst lediglich die Erwahnung 
Leser wirbt, wenn es nicht ein beispietlos treffender Ausdruck 
der Zeit wire. Die Arbeit der Frau Meisel-Hefi enthalt nlm 
lich abgesehen von dem Titel ttber das Wesen der Geschlecht* 
licbkeit nichts, nicht ein einziges Wort. Man faOt sich an den 
Kopf, daft eine Verfaiserin, der jahrelang in einer Atmospbare 
der Intellektuellen gedient wurde, die Konjunktur benutzt und 
vom Koitus schreibt In der Meinung, dam it dem Wesen der 
Geschlechtlichkeit genug get an zu haben. Es ist bezeichnend 
ftir diese Zeit, dad in der Entwicklung einer unser ailer Lebens 
existenz als Problem bedrohenden Umwandlung der Lebensform 
in Erlebentform eine Verfasserin den Eindruck erweeken kann, 
als set der kbrperllch vollzogene Sexuslverkehr ein notwendiges, 
mehr Oder weniger beschmutzendes Ubcl, gemildert dadurch, 
dad der Mann xahlt, oder dad der Mann von Siaals- und Ord 
nungswegen zum Zahlen gehalten ist. Es ist schwer, in Er* 
innerung der Mtlben so vieler ausgezeicbneter Menschen, die 
nicht nur ein Buch, sondern ihr Leben und ihr Lebensgllick 
daran gesetzt haben, derartigen Gedankengang aus den Ver* 
krampfungen und Bedrttckungen Schwacher und Niedergelretener 
herauszulosen, nicht persbnlich beleidigend zu werden. 
Naturgemfid ist jetzt in der Allgemeinheit der Glauben zurttek- 
get ret en, dad die Geschlechtlichkeit die Quelle des menschlichen 
Erlebens ist, dad Erleben gleich Freude gleicb zwingende Ent* 
faltung des Menschendaseins ist, und dad die Wtrksamwerdung 



dieses Erlebens die Gemeinschaft wird und ist. Gsr nicht zu 
reden davon, dad darin die Auflosung ailer noch bestehenden 
Verzweiflungen und Unsicherheiten der Menschen zueinander 
sich vorbereitet. Stall dessen triumphiert in dem Buch buch* 
stlblich rohe OberflSchlichkeit, Gerede ttber Monogam ie (ohne 
zu wissen, dad Monogamie im Wesen der Differenzifcrungen der 
Geschlechtlichkeit keine begriffliche Form mehr ist, der Koitus 
bleibt nur eine fast Irmliche Bestaligung der Beziehung), Am- 
menmlrchen Uber Enlartung. 

Man glaubt in der Zeit des Dreifligjlhrigen Krieges zu leben. 
Es ist ein wenngleich peinticher Trosl, dad derart beratene Men* 
schen die Sklavenhorde minifestieren werden, die Handlanger, 
zur Peitscbe bereit, falls sie sich glttcklich einleben, zufrieden 
sind. Ja die Zufriedenheit , . . Dad aus dem schwitzenden . 
stinkenden verkompromidten Chaos diejenigen Menschen, die sich 
erleben wollen, freier und ungetrttbt herausstrahlen. Ein in der 
T« bedrttekender Trow. j 




DIE AKTION 



156 




ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS 
XL1U 

Krieg und Heidenmission 

Der Vorlrsg, den Herr Pfarrer Dr. Bornemann aus Frankfurl a. M. 
am Sonntag abend in der alien Trinitaricrkirche (Metz) fiber dies 
Thema hiell, darf ein ganz hervorragendes Interesse in Anspruch 
□ehmen, nichi allein wegen des hohen Wertes der Heiden- 
mission an sich und des Verlustes, den die deutschen Missions- 
gesellschaften im Kriege erlitlen haben, ... So ist er zweifcl- 
los ein berufener L’rteiler darfiber geworden, wie und warum der 
We It krieg fur die Hei d e n m iss io n Uberhaupi und die deut- 
sc he im Besonderen wohl meist betrllbendc, aber doch sehr ver* 
schiedenartige Folgen und Wirkungen gezeiligi hat und voraus* 
sicbtlich zeitigen wird. 

Der Redner ging von der Untersuchung aus, aus welchen tnneren 
Grtinden die H e i denchristen in aller Well AnsloG an dem Well- 
kriege nehmrn mufiten und genoinmen haben rum Schaden der 
Mission. In Afrika fanden sie es von ihrem Standpunkt aus un- 
begreiflich und unwilrdig, dafi christliche Volker, deren Venreter 
ihnen Friedensapostel sein und selbst ihre kleinen Stammesfehden 
wieder und wieder hat ten verb 11 ten wollen, einander mil Feuer 
und Schwert zu vertilgen. End wenn so schon die Schwarzen 
uneilten, wieviel mebr die Inder, deren Hauplreligion, der Bud- 
dhismus und Brahmanismus, das Toten selbst von Tieren verab* 
scheut. Vielfach herrschte bei den Heidenchristen die alterdings 
mibverstandliche Auffassung, dafi Christus jeden 
Krieg tiberhaupt verboten hatte Auch dafi selbst ihre 
Friedensapostel, die Missionare, zum Schwert greifen, teilwcise 
aktiv an dem blutigen Kriege teilnehmen mufiten, war ihnen an* 
stofiig. den Indern noch besonders deshalb, weil der Soldat bei 
ihnen durchaus nicht in Achtung sleht und die kriegerische Ge- 
sinnung sich auf einzelne StSmme, wie die Gurkas und die Shiks, 
beschrinkt. Dafi ihre Landsleute fortgefuhrl und, wie sie bald 
erkannten, unter betrtlgeri schen Versprechungen zur europSischen 
Schlachtbank gefilhrt wurden, war ihnen unfafibar. 

Alle diese AnstoBe trafen nattlrlich das Chrisientum an sich und 
damn die ganze Heidenmission. Die Englander sorgten aber 
dafiir, dafi zunachst der Flucb des Kneges ausschlieflhch die 
Deutschen und damit ihre Heidenmission traf, was ihnen urn so 
leichter wurde, weil ihre schamlosen Lfigen ohne iede Mbglich* 
kei; der Widerlegung tlberall da durch Rede und Presse ver* 
breilet werden konnten, wo ihre Weltsprache den Verkehr be- 
herTscht. Ob sie den Deutschen Kaiser in Wort und Schrift in 
der schmachvollsten Weise verunglimpften, ob sie verbreileten, 
das deutsche Volk sei entsiulichi in all seinen Stiinden und 
Kreisen, es hange noch an Heidengottern — man sage dort ia 
ganz otfen : der ahe Gott lebt nocht — , sei dabei aber von der- 
aniger Machtgier, dafi ihr Volkslied sei: Deutschland tiber allcs! 
Dann setzien die lUgenslrotzenden Kriegsberichte ein mit den 
HundefUausenden von Deutschen, die schon in Belgien ge 
fallen usw. 

Selbst die Bewohner des schwarzen Erdteils kamen allerdings 
schhefilich in die Lage, an der Wahrheit dieser englischen 
Kriegsberichte zu zweifeln. 

In Indien machte schon die Emden mit dem Ruf ihrer Heiden- 
taten, aber auch der Ritlerlichkeit ihres Ka pi tins dem Glauben 
an Englands Lilgen so jah ein Ende. da8 die Volksstimmung in 
oh ttbertriebener Weise zu staunender Bewunderung fiir die Deut- 
schen, ftlr Kaiser Wilhelm und fUr die Emden umschlug, die 
drauf und dran sei, das engtische Indien zu erobern. 

Wenn trotz alledem die Bevolkerung Indicns mit ihren 3 1 / a Mil- 
honen Christen nicht die Gelegenhcit zu Aufslandcn benutzte, 
so hat das seine guten GrOnde, , . . Mil oft rllhrender Treue 
baben die indischen Heidenchristen in den schweren Tagen der 
Verfolgung und der Vcrbannung zu ihren Missionaren gestanden, 
und es ist zu hoffen, dafl das Werk der deutschen Mission von 
den aus dem Lande selbst slammenden wohlunterrichteten chrisl- 
lichen Lehrern und Ftlhrem ohne Unterbrechung und Schwiichung 
fongefuhrt werden wird bis zu besseren Tagen. 

, F rank fur ter -Zeitung* ) 11. 1. 19/7 . 



KLEINER BRIEFKASTEN 

Julius Meier-Graefe. In ihrem Feuilletonieil „Kunst und Leben* 
list die „ Deutsche Tageszeitung* vom 19. 2. 1917 sich mit dem 
Vortrag beschSfligt, den Sie acht Tage zuvor in Berlin tiber 
Paul Cezanne zu halten fUr nUt/lich erachteten : Dr. Storck hatte 
die Beschaftigung libernommen. Bit te, lesen Sie nach, weshalb 
er seine Kritik tlberschreibt : r Heimliche Liebe*. Ich finde, der 
Doktor Storck hat sich die Sache unndtig schwer gemacht. Er 
kommt mil „ze iigemSfien* 1 Einwanden, die nattlrlich lacherlich 
wit ken. Gegeti Meier Graefe, wenn er tiber Paul Cezanne kommt, 
lasse man jenen Meier Graefe auftreten, den die Deutsche Tages- 
zeitung im September 1 9 14 aus dem ..Berliner Tageblalt* lobend 
ziiieren konnte. Ilie Meier-Graefe Ct*2anne ?: II le Meier-Graefe 
der „Drei Gewinne - („B, T.“ 11. September 1914)! 

G F. Ich habe das Buch „ England und die Sozialdemokratie u , 
das im Verlage der Annoncenexpedilion Max Kirstein, Berlin SW, 
erschienen ist, noch nicht gelesen, ich knnn Ihnen fiber den 
Inhalt nur sagen, was ich aus den Anzcigen des Verlegers we i lit 
„Ein radikaler Sozialdemokrat ftlr den schrankenlosen U Boot- 
Krieg gegen England mit einem Geieitwort von Julian 
Borchard t, Preis 4, — Mark. u 

Gg. S. Was der „Vorwfirts“ in seiner romantischen Art jetzt 
siebenmal wijchentlich „die Schicksalsslunde der Partei* zunennen 
liebt, verdient diese Bezeichnung nicht. Langst ist die Schick - 
salsstunde vorllber, und das Holterdiepolier-Spiel „KHlrung w 
sollie sachgemSfier benannl werden. Ich schlage vor: „Die 
Schicksals-Minuten des Partei vorstands.* Denn von „Mehr* 
heit“ und „Minderheit“ kann erst dann ernsthaft gesprochen 
werden. wenn das Vorstandsfragment die Vertrauens- 
frage an die Mitglieder der Partei (nicht an GewShhel) ge- 
richtet haben wird Jeder andere Vereinsvorstand hatte, in 
gleicher Situation, diese Probe lfingst gewagt! „Ihr beanstandet 
unser Tun I Wir werden die Mitglieder befragen und beiseite 
stehen, bis unsere Frage klar beamwortet ist. Wir kleben nicht.* 
Auf diese Idee der ITabstimmung aber scheinl der Vorstand der 
demokratischen Partei nicht kommen zu konnen. Er weifl vielleicht 
nicht, dafi eine solche Abstimmung unter Benutzung der Feldpost 
Seiche vorzunehtnen ware, Man sollte es ihtn schonend sagen. 
Nina und Renate. Zeitungen konnt ihr lesen, ohne da bei Zeit 
zu verlieren. Einige Wochen habe ich die ZweimaliSglichen und 
die Wdchentlichen ungelesen tlbereinander schichten mtlssen. 
In einer knappen Stunde konnte ich jetzt alles VersSumte nach* 
holen. Die ersten Worte des ersten Satzes aus dem Leitartikel 
des P B. Ts. u vom 10. 2 1917 — 

„\Venn auch ftlr das Auge des Laien die augen* 
hlickliche Kriegslage nichts besonders Intcres- 
sames gibt, so sind doch . . .“ 

— und ich kenne den ganzen Inhalt. Oder ich nchme Heft 48 
der groflen ^Glocke 44 dcs Herm Parvus zur Hand. — Herr 
Stefan Grofimann schreibt gegen den tschechi schen Abgeord* 
neten Kramarsch. „Dazu kam, wie erwiihrit, die Verheiratung 
mit einer vornehmen und reichen Russin.“ „Die Entwurzclung 
Kramarschs ist notwendig. Seine politische Wirksamkeit sieht 
stch heute mindestens als eine lange Kette von Zweideu- 
tigkeiten an.“ Das Wort Zweideutigkeiten unterstreicht 
Herr Stefan Grofimann, dessen politische Wirksamkeit erst als 
Sozialist und dann als Sozialdemokrat und dann als Thcalerleiter 
und jetzt als Ullsteinredaktcur allerdings stets eindeutig gewesen 
ist. — Am langsten verweile ich bei der „ Deutschen Tages- 
zeitung*. Hier lese ich sogar die Wetterkritik und erkenne das 
gegnerische Blatt, wenn cs dort hei Dt „der kaltestc Mhrz- 
tag Berlins seit dem Jahre 1848.“ 

J. G. Carl Einstein Bebuquin ist, neubearbeitet, als Band 5 
der AKTIONS BOCIIER DER AETERN1STKN erschienen. 

D. A. Gottfried Bcnns Lyrikband ^Fleisch 4 * ist soeben als 
Band 3 der Sammlung AKTIONS-DVRIK erscliienen Den 
I'mschlag zeichnete Max ( )ppenheimer. Das Buch kostel, in 
Halbpergament gehunden, M. 3, — . 

DER Bt'TTEN A L’SG A BE DIESES HKFTKS 

ist ein Kunstblatt von Max Oppenheimer beigegehen, vom 

Kllnsiler signiert und numeriert. 



fNHALT DER VORIOEN NUMMER: Homeyer: Der Maler Chagall ( I itelblato / Charles Peguy: Personliche Erinnerungen 
an Jaures / Wilhelm Morgner: Federzeichmmg / O. F. Nicolai: Das Rassen problem t R. Bampi: Tusdizeithnung i Riclitei- 
BerJin* Macedonische Zigeuner (Original-Holzschnitt) / Osio Koffler: Der Ahne (Zeichnung) > Carl Einstein: Heimkehr Karl 
Otien - Gesicht /Josef Capek (Prag): Zeichnung / Albert Ehrenstein: Gedicht t Heinrich Schaefer; Zustand / Oskar Ranch! und 
Theodor Rudy: Verse vom Schtachtfeld / Xaver: Caligulas Tod / Hoerle: Holzschnitt { Franz Werfel: Die Metapliysik des 

Drehs. Ein offener Brief an Karl Kraus / F. P.: Ich schneide die Zeit aus; Kleiner Briefkasten 



* 



Fur Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten 
Inhalt verantwortlich: Franz Pfemfert, Berlin- Wil- 
mersdorf, Nassauische StraBe 17. Tel. Pfalzbg.1695. 
Oedruckt bei F. E. Haag, Melle in Hannover. 
Die AKTION erscheint jeden Sonnabend, Abonne- 
merits kosten vierteljahrlich durch die Post, durch 
Buchhandel oder Verlag (unter Kreuzb.) M. 2,50. 
Abonnements fur das Ausland kosten M. 3, — . 
Buttenausg., lOOnumerierte Exempl., jahrl. M. 40, — . 
Verlag der AKTION, Berlin-Wilm ersdorf. 

Unverlangten Manuskripten 
ist Ruck porto beizufugen. 

Alle Rechte vorbehalten. 










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WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, UTERATUR, KUNST 

ID. JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT NR. 13 



INHALT: Josef Eberz: Aktstudie (Titelblatt) I Carl Einstein: Der Leib des Armen / Karel H!ava?ek: Aus der „Kantilene 
der Rache M . Detttseh von Camill Hoffmann / Franz Werfei: Die Leidenschaftlichen / Vallotton: Bakunin (Holzschnitt) Maurice 
Denis: Hinterlassenes von Ingres / Felix Muller: Federzeichnung / Q. F. Nicolai: Das Eigentumliche der Vdlker / R. Janthur; 
bndschaft (Zeichnung) / Stursa (Prag): Federzeichnung / Iwan Ooil: Schneemorgen f Wilhelm Klemm: Schnee / Henriette 
Hardenberg: Pein / Alfred Vagts: Verse vom Schlachtfeld / Max Oppenheimer: Federzeichnung / Simon Kronberg: Spur / 
Adolf von Hatzfeld: Erinnerung / Strohmeyer: Geiger (Holzschnitt) / Heinrich Stadelmann-Ringen : Musik der Materie / August 
Strindberg: Gerichtstage (Deutsch von Emil Schering) / Hermann Kasack: Zu Strindbergs Totentanz / F. P.: Ich schneide die 

Zeit aus; Kleiner Brief kasten. 




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Band 1 : 

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Band 3 : 

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Schiele / Georg Tappert / Elsa von 2ur Mahlen / Ines 

Wetzel / Felix Muller 

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Paris top Gtitcrsloh / Heinrich Schaefer / Theodor DSubier 

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jcdccn Bltuenabonnement werden jahrlich mindestens 
acht Kunstblatter beigegcben, von den Kilnstlern nume- 
riert und sigoiert. Diese Beilagen kotnmen nicht in den 

Handel und stellen eincn Wert dar. der den Abonne- 

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mentsbeuag Ubersteigt! Im Jahrgang 1917 werden 
beigegeben: Blatter von Felix Mllller/ Max Oppenheimer / 
Ines \Vet2el / Karl Jakob Hirsch / Richter-Berlin u a. 



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Es sind So verschiedene Drucke erschienen 

Zcichnungtn von Mopp / Karg /Schmidt- Roitluff /Schrimpf 
/ Klein / Richter Berlin / Nadelman / Feininger / Harts / 
Schiele / Mense / Melzer / Tappert i Else von aur 
Muhlen / Hans Richter / Josef Capek / Morgner u. a. 

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Band 1 



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1914 — 1916 

Eine Anthologie 

Baud 2: 

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Eine Anthologie 



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Luxusausgabe M. 15, 



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Ein Roman. Geb. M. 3,—, geh. M. 2, — 



Jeder Band gebunden M. 3, 



VERLAG DIE AKTION 




WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, UTERATUR. KUNST 

7.JAHRGAKG HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT "* RZ w 



DER LEIB DES ARMEN 

I 

Ich sehe zu, wie es mir greist. 

Grau stiirzt der Leib durch RegenguB in Wande. 
Die Hand greift Blitz, der an der krummen Miide 
Der Gelenke dunkelt. 

In meiner FiiBe Furchen wachst Unkraut, 
Ausgetretene Wege sind die hochgequollnen 

Adern, 

Die langsam in die abendiichen Felder rinnen. 

II 

Der Baum knickt trocken, 

Dessen Schatten mich vermantelt. 

Mein Hunger friBt sein Griin. 

Luft rostet 

Und Schatten eB ich Wiesenboden fort, 

Quell trocknet an mir a us. 

III 

Regen kammt mich, 

Wagen jagen mich, 

Hunde angsten das zerriSne Kieid. 

Hauser stoBen mich ins Irre 
Durchs Zerbrochene. 

Sparsame Blicke schleudem mich 
Ins atemlose Freie. 

Dunner Nebe! des Leibes 
RoIIt entglittenen Weg. 

Taut in die rasenden Horizonte. 

IV 

Blicke und Suchen 
Zergriff mir das Kieid. 

Hose alter denn ich, 

Ein Fremder ging mit dir 
Wohin, ich weiB nicht wohin. 

So wolbte fremd Geschick die Hand um mich. 
Und mein Gewand 
WeiB alteres. 

Und ist mir vorgeboren 
Dem Enkel seiner Kleider. 

Geeckt stoBt Luft mich auf, 

Feindlicher Strahl zeigt schamlos meine Brust 
Zuriickgezogenen Stilleseins. 

Ich wollte ohne dieses all verharren, 

Das ich nicht fassen darf. 

Luft fingert mir die Haut. 

Vertiert bin ich in nacktes Gelb gekleidet. 

Mein Herz spielt mit der Wolke und den Platzen, 
Entkleidet vor dem furchtbar Vielen, 

Das ich nicht weiB. 




V 

So wirst du ganz mir magern, 

Wegziehen Zehrung des Windes in riechende 

Wolke, 

In Graben sanft verstromen, 

Unter Brucken gebeugt vernachten. 

Immer ferner 
Gehst du von mir. 

Kaum noch bin ich. 

Gehauchte Luft. 

VI 

Er gehort mir nicht, 

Zahl ich ihn nicht; 

Flieht mir in fettiger Wolke, 

Umstrauchelt hohnisch was blieb 
Hohle meines Gefuhls. 

Blaut flach in einen Baum, 

Fahne peitscht es mich nach. 

Ach er verflieht. 

VII 

Blut kannte ich vorerst, 

Jetzt ist es mir entfremdet 

Und ich vergafi des raschen Rots, 

Das meine Backe kranklich ausbarst. 

Wohl halten Untergange vielleicht rot, 

Doch sehe ich den Tag, 

Da Licht ergreist in meiner truben Hand. 

VIII 

Fremd bohren alle 
Mein Nacktes. 

Ein jeder dringt durch Gange meines Hungers, 
Ich wanke jedem Kauf und preisgegebne Feile. 
Enger schnur ich mich zusammen. 

Hunger speit mich iiber Dacher und durch 

Mauern. 

Ich taube Augen, daB sie UngefaBtes lidbedeckt 

vergessen 

Und die Pupille zirkelt in gedrangter Blindheit, 
DaB ich Hande nicht mehr spiire. 

IX 

Die Hande kann ich nicht vergraben, 

Die nach mir witterten 
Mit der Gewalt des Gebers, 

Die mir die Haut rasch offneten 
Zu priifen 
Herkunft und Weg. 

Wohin, was weiB ich, wo ich gehe 
In Hunger vernetzt. 





DIE AKTION 



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Und Haar, das Erde diingt, 

1st mir ein spitzer Strauch. 

Der Mond zeigt eine schmale stillberingte Hand. 
Er bohrt sich ein. 

Kann ich den Mond bezahlen? 

X 

EntflieBe Leib 
Und zahle Luft, 

Die mir zu atmen 
Mit Recht verwehrt 1st. 

Ich sinke eng in mich. 

O Stein. 

Ich gehe von dir, 

Nicht mehr dich zu pressen, 

Und lege, daft du mir nicht ziirnst, 

Einen welken, kaum blutenden Finger 
In deine Hohle. 



Ich stehe spitz gerichtet 
Auf den blauen Zehen. 

Greift mich Luft und futtert mir das Kleid. 
Wind weht in Stern. 

Mich trifft er Taumelnden. 

Geh mit ihm lieber mir genommener Leib. 
Ich schneide dich von mir. 

Und du verfallst 

An Luft und Wanken stillen Baums. 

Du gleitest weg 
Ins Nahrende. 

Was schreist du? 

Carl Einstein 



AUS DER „KANTILENE DER RACHE“ 

Die Ode unsres Landes will der Mond selb&t 

nicht bescheinen, 

Kein Duft, kein Odem weht, die Saat welkt zwi- 

schen diirren Rainen, — 

Nur stille, stille, Geusenvolk, — so war's be- 

stimmt den Deinen. 

Nichts scheucht die Ohnmacht auf, in der die 

Glocken miide hangen, 

Unmoglich Sturm zu lauten und — die Nacht 

ist noch so lange — 

Nur stille, stille, Geusenvolk, nur zahme du dein 

Bangen. 

Den Dolch der Rache in der Faust, reih dich 

zu langer Kette, 

Brich auf zum Marsch durch Nacht und Wind, 

aus dem zufriednen Bette, 

Nur stille, stille, Geusenvolk, weckst du die 

Schlummerstatte. 

Und schleich dich auf verlornem Pfad bis an die 

Bruckenwache, 

Auslose, weB erhobne Faust als erste nieder- 

krache — 

Nur eile, eile, Geusenvolk, nimm Rache fur uns, 

Rache! 

Karel Hlavatek 
(Obersetzt von Cam ill Hoffmann) 



DIE LE1DENSCHAFTL1CHEN 
Mein Gott, es werden sein zu Deiner Rechten 
Nicht die Wahrhaftigen und die Gerechten. 
Doch alle, die in dreizehn Dezembemachten 
Vor einem Fenster standen. Und Frauen, die sich 

rachten 

Mit Vitriol und dann im Gerichtssaal ergrauten. 
Die Eifersuchtigen all, die ihr Blut stauten, 

In Droschken weinten, in Salen sich erfrechten. 
Die durchgefallenen tiefen Atmer, 

Sanger, die mit bezechten 

Gliedem dem Tod sich in die Grube schmissen, 
Sie werden sein zu Dir emporgerissen, 

Sie werden sitzen, Gott, zu Deiner Rechten. 

Es werden wandeln in Deinen Garten 
Nicht nur die Demutigen und die Beschwerten, 
Nein alle, die leuchteten und verehrten. 
Madchen, die in Konzerten erkrankten, 

Weil ihre Wangen zu bleich sich verklarten. 
Blicke aus Augen, die dankten . . . 

Wahre Augenblicke zu nimmer verzehrten 
Dauern aus Zeit in Deine Zeiten gehoben, 
Werden sie Iodem weiter und loben, 

Leichte Feuer wandelnd in Deinen Garten. 

Es werden ruhen, Gott, in Deinen Tiefen 
Nicht die allein, die Deinen Namen riefen. 

Nein alle, die in den Nachten nicht schliefen. 

Die am Morgen ihr Herz in beiden Handen 

hauften 

Wie Flamme und liefen, 

Tiefatmend, blind in unbekannten Lauften. 

Ein Kustenwind singt in Selbstmdrderb riefen. 

Die Knaben haben Meere nicht verstanden. 

So brannten sie sich ab in Hieroglyphen. 

Nun knarrt ein RoB-Schild an den schiefen 
Eisernen Kreuzen der Konfirmanden. 

Wie sehr wir hier sind, sind wir doch vorhanden. 
Die hier unruheten aus Deinen Tiefen, 

Sie werden ruhen dort in Deinen Tiefen. 

Franz Werfel 




Vailotton Bakunin 





DIE AKTION 



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bUNTERLASSENES VON INGRES 
Von Maurice Denis 

ttier, in methodischer Ordnung wiedergegeben, 
eiaige Aphorismen, die wichtig genug sind, urn 
die Doktrine Ingres zu charakterisieren. Diese 
Aphorismen wurden teils den eigenen Schriften 
Ingres, teils den Erinnerungen seiner Schuler ent- 
nommen. 

Vor allem die Notwendigkeit der Doktrine selbst: 
„Poussin ware nie so groB ge worden, wenn er 
keine Doktrin besessen hatte . .“ 

Ober das Kunstwerk: 

„Wenn ich einen Sohn hatte, ich wiinschte, dafi 
er das Malen nicht anders erlernt, als indem er 
Bilder macht. 44 

Uber die Natur und das Schone: 

„Die hohere Natur 1st eine Herrin, sie bewilligt 
alles denen, die an sie frei herankommen, und 
ist nur geizig gegen verschamte Bettler. 44 (Flan- 
drin.) 

„Behalten Sie stets diese gliickliche Naivitat, diese 
entzuckende Ignoranz. 44 (Amaury Duval.) 
„Lieben Sie das Wahre, weil es immer auch 
das Schone ist. 44 

„Wenn Sie dieses Bein haBlich finden wollen, 
ich weifi, Sie werden schon dafiir Grund haben; 
aber ich sage Ihnen: Nehmen Sie meine Augen 
und Sie finden es schon.* 1 

„Wenn ich euch alle zu Musikern machen konnte, 
ihr wiirdet als Maler dabei gewinnen. In der 
Natur ist alles Harmonie . . . Heutzutage schreit 
eine Anzahl von Kiinstlern gegen die Kompo- 
sition, sie wollen keine Einteilung des Bildes 
haben . . . die Natur des Zufalls, nichts als die 
Natur, und darauf die Farben in Massen anhaufen : 
das sind ihre Prinzipien. 44 (Baize.) 

„Und was fur ein Genie Sie auch sein mogen, 
wenn Sie bis zu Ende nach dem Modell, nicht 
nach der Natur, malen, werden Sie zum Sklaven 
des Modetls werden, Ihre Malerei wird nach 
Sklaventum riechen. Die beste Probe des Gegen- 
teils davon gab uns Raphael, weil er die Natur 
solchermaBen beherrschte und sie so gut in sei- 
nem Gedachtnis behielt, daB man sagen konnte, 
nicht er habe ihr, sondern sie habe ihm ge- 
horcht . . 

Poussin pflegte zu sagen: „Ein Kiinstler lernt 
eher, indem er die Sachen beobachtet, als indem 
er sich bemiiht, sie zu kopieren; ja, aber es ist 
notwendig, daB der Kiinstler seine Augen ge- 
braucht. 44 

Amaury Duval erzahlt, daB Ingres den Ausdruck 
„chic 44 in seinem Atelier nicht dulden wollte. Er 
erzahlt auch von dem Abscheu Ingres gegen Ana- 
tomie und das Skelett. 

„Anatomie ist eine furchtbare Wissenschaft ! Wenn 
ich Anatomie erlernen muBte, wiirde ich niemals 
ein Maler werden. 4 * 

Er sagte: 

„Machen Sie Linien, vie! Linien, aus dem Ge- 
dachtnis, oder nach der Natur, auf diese Weise 
werden Sie ein guter Kiinstler werden. 44 
Folgende Bemerkung aus den Heften des Mont- 
auban, die er dann in einem Artikel des Kunstlers 



Delecluze wiedergegeben hat, kann man als giiick- 
lich gelungene Formel seines Gedankens be- 
trachten: 

„ . . . Er horte mit seinen edlen Bemiihungen 
nicht auf, die Natur mit der Wiirde der Kunst, 
die er ausiibte, intakt zu bevvahren. Sogar in 
den Portrats frappiert die Miihe, die er sich gibt, 
seine Gedanken zu konzentrieren, indem er alien 
Formen die moglichste Homogenitat verleiht ; die- 
ser lnstinkt, der ihn zwingt, die hauptsachlichsten 
Ziige de Geichts mit den Einzelheiten, die die 
Tendenz haben, sich vom Ganzen zu emanzipieren, 
in Einhett zu behalten. 44 
Gber die antiken Meister: 

„Die Meisterwerke der Antike sind mit denselben 
Modellen gemacht worden, wie wir sie vor un- 
seren Augen jeden Moment in Paris haben . . . 
Man muB das Geheimnis des Schonen durch das 
Wahre finden. 44 (Janmot.) 

„Die Alten haben alles gesehen, alles verstan- 
den, alles gefiihlt, alles gegeben. 44 
„Die antiken Figuren sind nicht deshalb schon, 
weil sie einer schonen Natur ahnlich sind . . . Die 
Natur wird immer schon sein, wenn sie den 
schonen Werken der Antike ahnlich sein wird.“ 
„Die Superioritat der griechischen Kunst zeigt 
sich in der Meisterschaft der einfachen Hand- 
werker, der Topfer z. B. Eine einzige Kompo- 
sition einer schonen Vase wiirde einen modernen 
Kiinstler beriihmt machen. 44 

„Studieren Sie die Vasen, nur durch sie begann 
ich die Griechen zu verstehen. 44 (Baize.) 

Sein Ideal, schreibt Janmot, war die Antike durch 
das Studieren der Natur wieder zu schaffen. 




Felix MHUer Zeiehnuny 




163 



DIE AKTION 



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k 



Von den Primitiven in Pisa, 1806, sagt er: 

„Auf den Knien sollte man diese Leute kopieren!“ 
„lch weiB sehr gut, daB diese Figur (ein Werk 
von Giotto) eine zu pointierte Nase und Fisch- 
augen hat; aber selbst Raphael wiirde einen 
solchen Ausdruck nicht erreichen.“ 

Lange vor der romantischen Epoche merkte 
Amaury-Duval, daB er mittelalterliche Sujets dar- 
stelle. Er hat sogar der Kunst dieser Epoche 
eine gewisse naive Harte entliehen. (Charles VII., 
Francesca, Angelique.) Fiigen vvir hinzu, daB er 
als erster in historische Szenen die Sorge um 
Lokalfarbe und Archaologie einfuhrte ; in seinen 
Heften findet man unzahlige liebevoll gezeichnete 
Kostiimentwurfe nach Kupferstichen oder Bildern 
der Primitiven. 

Bei Raphael zog er vor allem die Disputa und 
die Messe von Bolsene vor. 

„RaphaeI, der Gott, das unvergleichliche Wesen, 
der Absolute, der Unzerstdrbare, und Poussin 
der vollkommenste der Menschen. 

„Nahrt euch davon, meine Herren, nehmt davon 
alles, was ihr nehmen konnt, das ist das himm- 
lische Manna, das euch ernahren wird, das euch 
starkt (Amaury-Duval). 

Uber die Zeichnung: 

„lch werde auf die Tiire meines Ateliers schrei- 
ben: Schule fur Zeichnen, und werde Maler 

machen.“ 

„Die Zeichnung ist die Ehrlichkeit der Kunst. 
„Die Zeichnung enthalt alles aufler der Farbe . . . 
Das ist der Ausdruck, die innere Form, der Plan, 
das Modele. 

,,Die Linie ist die Zeichnung, ist alles. 

„Selbst Rauch muB durch einen Strich ausge- 
driickt werden. 

„Die Zeichnung ist alles, sie ist die ganze Kunst. 
Das materielle Verfahren der Malerei ist sehr 
einfach, man kann es in acht Tagen erlernen; 
durch das Studieren der Zeichnung, durch die 
Linien erlernt man die Proportion, den Charakter, 
die Kenntnis der menschlichen Naturen, der ver- 
schiedenen Alter, ihrer Typen, ihrer Formen, das 
Modele, welches die Schdnheit des Werkes voll- 
endet. 

„Der Ausdruck ist der wesentliche Teil der Kunst 
und ist eng an die Form gebunden. 

„Es gibt keine korrekte oder unkorrekte Zeich- 
nung, es gibt nur schone und haBliche Zeich- 
nungen und das ist alles. (Janmot.) 

Was er Anfangern beibrachte, war nach Amaury- 
Duval die Linie und die MaBe, d. h. die Be- 
wcgung, die er selbst so leicht erfaBte, weiter 
die Silhouette der Schattenmasse, indem er die 
Augen halb schloB. 

,,Die ganze Figur, die Ihr darstellen wollt, sollt 
Ihr in den Augen, im Geiste behaiten; die Aus- 
fiihrung ist nichts anderes, als die Erfiillung des 
Bildes, das schon bewaltigt und vorgeahnt ist. 
Man muB der Form Gesundhcit geben.“ 

Uber die Malerei: 

,,Eme Sache, die gut gezeichnet ist, ist auch ge- 
niigend gut gemalt. 

„Es kam noch nicht vor, daB ein grollcr Zeichner 



nicht die Farbe gefunden hatte, die nicht genau 
dem Charakter der Zeichnung angepaBt ware. 
„Die wesentlichen Qualitaten der Farbe sind am 
meisten im Ensemble der Massen und dem 
Schwarz des Bildes enthalten. 

„Die Farbe, der animalische Teil der Kunst . . . 
„Vor den Rubens verseht euch mit Scheuklappen, 
wie man es mit Pferden tut.“ (Amaury-Duval.) 
„Meine Herren, gebt WeiB in die Schatten hin- 
ein“ (id.) 

„Man soil nicht bei einem Schatten einer Kontur 
die Farbe um den UmriB herumlegen, man soil 
sie darauf legen. 

„Schmale Reflexe, Reflexe, die die Konturen ver- 
langern, sind der Erhabenheit der historischen 
Malerei unwiirdig. 

„Die Kunst, die Gegenstande der Malerei her- 
vorzuheben, was vide a!s das wichtigste Moment 
eines Bildes betrachten, war es nicht, worauf 
der groBte Kolorist Tizian seine Aufmerksam- 
keit ienkte. Maler niedriger Qualitat machen dar- 
aus ein Geschrei, ebenso wie die Menge der Lieb- 
haber, die die groBte Befriedigung empfinden, 
wenn sie eine Figur sehen, um die, wie sie sagen, 
man herumgehen konnie. 

,,Man ist erst zu Ende, wenn man uber der Voll- 
endung steht. 

„Man muB die Geschicklichkeit verwenden, indem 
man sie verachtet, und trotz allem, wenn man da- 
von fur 100 000 Francs besitzt, muB man noch 
fur zwei Sous dazulegen." 

Ingres predigte die Natur, man solle sie in Zeich- 
nungen ubersetzen. Aber die Zeichnung ist keine 
Kopie des Modells, vor allem muB man die Schdn- 
heit suchen. Und was ist Schonheit? Das ist 
das, was man bei Raphael und den Griechen her- 
ausliest. 

,,Wenn man sich Rechenschaft uber die Uber- 
treibungen eines Menschen gibt, ist der Wider- 
spruch zwischen den zwei oder drei Prinzipien, 
den Phrasen, Gebarden, der Stimme und welcher 
Betonung, mit dem er sie abwechselnd aufstellt, 
nicht so groB.“ 

Dieser vollbliitige, machtige, entschiedene Tou- 
louser liebte seine Schuler wie eigene Kinder. 
AnlaBlich eines Skizzenwettbewerbs schrieb er: 
„Man hat eine furchtbare Ungerechtigkeit began- 
gen, ich bin davon ganz krank geworden; wenn 
man euch miBhandelt, miBhandelt man meine Kin- 
der.“ Er sagte von Flandrin, dem das erstemal 
der Preis von Rom verweigert wurde: „nun haben 
sie das Lamm erwiirgt.“ Dieser Mensch, der 
beim Gedanken, seinen Rat zu verkaufen, weinte, 
umarmte, gestikulierte und sich emporte, war einer 
von denen, die alle auBeren Mittel, den ganzen 
notigen EinfluB besitzen, um Meinungen jungen 
Leuten vorzuschreiben. Alle Kiinstler, die sich 
ihm naherten, bewahrten eine unvergeBIiche Er- 
innerung an das Gefiihl, das jedes Wort von 
ihm, jede Bewegung, jeden Blick erfiillte. 

Seine Schuler empfitigen diesen Unterricht; jeder 
seinem Temperament gemaB, jeder in ganz ver- 
schiedenem Sinn, dekorativen, katholischen, goti- 
schen, philosophischen, literarischen, neugriechi- 



165 



DIE AKTION 



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schen und natural istischen. Manche verstanden 
ihn besser, als er sich selbst verstand. Amaury- 
Duval erzahlt in bezug darauf eine typische Anek- 
dote vom Maler Granger, der behauptete, Odipus 
sei idealisiert, wahrend Ingres, vor Wut schau- 
mend, beteuerte, er sei nur nach der Natur ko- 
piert. Er wunderte sich dariiber und nachtraglich 
auch iiber den Mangel an Logik bei Ingres. Er 
glaubte, sagt er, uns die Natur kopieren zu lassen, 
in Wirklichkeit lieB er uns sie kopieren, wie er 
sie sah. Die meisten nahmen seinen Rat an, 
ohne deutlich das Prinzip hervorzuheben. 
Am an ry- Duval baute darauf seine Theorie von 
der subjektiven Umgestaltung. 

Er erinnert sich an den Vorwurf, den man der 
Odalisque Pourtales (jetzt im Louvre) gemacht 
hat, daB sie drei Wirbelbeine zuviel habe und ant- 
wortete: „Wiirde sie denselben Reiz haben, wenn 
die genauen Verbal tnisse eingehalten waren? Hier 
ist das Wort des Odilon Redon zu zitieren, vor 
Paolo und Francesca, der sie mit der gewagten 
geometrischen Bewegung eines Krebses, der seine 
Beute fangt, umfaBt: Ingres hat Monstrositaten 
geschaffen ! 

Und doch! Es ist bemerkenswert, daB er, in* 
dem er die Natur und ihr ideal predigte, doch 
Schuler zu erziehen vermochte, die nach ihrer Art 
ihre Fahigkeiten entwickelten, Janmot, Fiandrin, 
Mottez oder Signol, die sich nicht begniigten, das 
Model! zu umschreiben, und der, indem er zu 
kopieren glaubte, Dichtungen der Naivitat, der 
Strenge, der GroBe und der Emphase geschaffen 
hat. — 

(Autorisierte Obersetzung von Maria Einstein) 



DAS EIGENTOMLICHE DER VOLKER 
Yon G. F. Nicolai 

Es gibt Milliarden von Menschen und es gibt in 
jedem der heutigen Kulturvolker Millionen von 
Menschen; und wenn auch, wie Schleiden einmal 
sagt, kein Blatt dem anderen ganz gleicht, und 
wenn auch jeder Mensch innerhalb dieser Milli- 
onen etwas Besonderes hat, was ihn als Person- 
lichkeit unbedingt singular erscheinen laBt, so 
konnen bei der groBen Zahl der Menschen diese 
Unterschiede doch nicht gar zu groB sein, und 
vollends in bezug auf die praktische Verwertung 
des einzelnen fur die Zwecke der Allgemeinheit 
erganzt ein Mensch den anderen. Ebenso aber ist 
es mit den Kultumationen. In ihr haben dadurch, 
daB im Durchschnitt alle Menschen unter an- 
nahernd gleichen Bedingungen aufgewachsen 
sind, die einzelnen ein gewisses gemeinschaft- 
liches Geprage erhalten. Und dieses Gepragc 
kann man als das Eigentiimliche des betreffenden 
Volkes betrachten. 

Von diesen Kultumationen aber gibt es hochstens 
ein Dutzend. Und von diesem Dutzend ist keine 
entbehrlich, denn man muB nicht glauben, daB 
es irgendein Volk gibt, das sowohl Religion wie 
Kunst, Wissenschaft wie Politik, Technik wie 
Handel, kurz, alles Menschliche besser verstande 
aJs aJJe andern Volker zusammen. 



Durfte man Paradey missen wollen, weil man 
Helmholtz besitzt, oder Lamarck, vveil nun Dar- 
win geboren ist? — 

Ersetzt Bismarck Napoleon, oder Washington 
Cromwell? Jesus aus judaa und Francesco d' As- 
sisi sind aus der christlichen Religion ebensowenig 
wegzudenken wie der deutsche Luther oder der 
russische Tolstoi. 

Der deutsche Mathias Griinwald hat die Kar- 
freeitagstragodie anders gesehen als der Flame 
Rubens, der Italiener Mantegna anders als der 
spanische Greco. Aber wer kann sagen, welches 
das tiefste Schauen war? — Eine Entscheidung 
ist ebenso unmoglich wie die, ob die Trauben 
von Burgund, vom Rheingau oder von Hispanien 
den besten Wein geben. Es sind dies wie der 
russische Kaviar, der Seibling vom Konigssee, der 
Bernstein OstpreuBens und vieles andere spe- 
zifische Landesprodukte, die nirgendwo anders 
gedeihen. 

Auch industriell kann jedes Land etwas Beson- 
deres hervorbringen. Die Lyoner Seide, das 
schlesische Linnen, die englischen Kattune, die 
russischen Pelzwaren sind oder waren doch be- 
rtihmt. 

Es ist wahr, die Industrien wechseln durch irgend- 
welche technische Fortschritte einzelner Lander: 
Einst war die Damaszener Klinge die beriihmteste, 
dann gait der Degen aus Toledo als der beste. 
Ihm folgte die hohe Entwicklung des englischen 
Stahles, und heute ist Deutschland erfolgreich be- 
miiht, diesem den Rang abzulaufen. 

Aber nie kann ein Volk in allem das Beste leisten, 
nie kann ein Volk das Genie der anderen Volker 
entbehren. Es ist richtig, daB z t B. Deutschland 
in einer groBen Zahl von Industrien heute sich 
ruhig neben anderen Volkern sehen lassen 
kann ; aber darum diirfen wir die anderen Volker, 
die unsere Lehrmeister waren, nicht vergessen 
wollen. Uberdies kommt doch immer wieder 
etwas, worin sie uns voraus sind. Man denke 
nur gerade an die Instrumente des neuzeitigen 
Verkehrs: Die Automobile kamen aus Frank- 




i2. Jantkur 



Landsrhttft 










167 



DIE AKTION 



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reich, die Aeroplane aus Amerika, Unterseeboote, 
die Funkentelegrahie aus Italien. 

Gewisse Einzelheiten werden immer aus dem Aus- 
lande bezogen, wie z. B. jetzt Lumiereplatten 
aus Lyon, Tabloids aus England, Gummischuhe 
aus Rutland, Strohhute aus Italien. Manches kauft 
man in der Fremde, weil man es zu Hause nicht 
produzieren will, manches aber auch, weil man es 
nicht produzieren kann, und zwar nicht etwa, 
weil es an Rohstoffen mangelt, sondern deshalb, 
weil in gewissen Beziehungen das technische Kon- 
nen anderer Lander weiter vorgeschritten ist. 
Auch Deutschland ist in vielem von anderen Lan- 
dern jiingerer Industrie schon eingeholt, vielleicht 
sogar iiberholt worden. Es ware muBig, im ein- 
zelnen vergleichen zu wollen, welches Volk ge- 
wisse Dinge besser macht, aber die auBerordent- 
lichen Erfolge Amerikas auf dem Gebiet des Ma- 
schinenbaus (Prazisionsmaschinen und in der Elek- 
trotechnik) liegen klar vor Augen. 

Wie der einzelne schon langst nicht mehr fahig ist, 
sein Leben sich ohne Hilfe der anderen zu ge- 
winnen, so sind auch die Volker aufeinander an- 
gewiesen. Vor allem, es wiirde eine Verarmung 
bedeuten, wenn jedes Volk nicht freudig von allem 
anderen lernen und annehmen wollte. Es ist 
schon bedauerlich genug, daB in letzter Zeit mehr 
und mehr der Unfug einreiBt, fur jede Erfindung 
sich einen nationalen Erfinder zuzulegen, aber dies 
ist noch eine sehr harmlose Eitelkeit. Schlimm 
ware es, wenn wirklich jede Erfindung ein 
dutzcndmal gemacht werden muBte. 

Dies alles ist so selbstverstandlich, daB beispiels- 
weise Guizot in seiner Geschichte der europai- 
schen Zivilisation sagt: „Sie ist zwar im all- 

gemeinen in den verschiedenen Landern Europas 
relativ gleichformig, aber doch unendlich mannig- 




Stuf§a Zcichnung 



faltig und in keinem Landevollendet. Ihre 
Elemente miissen bald in Frankreich, bald in Eng- 
land, bald in Deutschland und bald in Spanien 
aufgesucht werden.“ 

Diese Mannigfaltigkeit bei relativer Gleichformig- 
keit ist auch heute noch unbestreitbare Tatsache, 
und die Frage nach der Berechtigung eines ex- 
k 1 u s i v e n Patriotisms sollte daher unter ernst- 
haften Mannern eigentlich nicht diskutiert werden, 
denn nur ein Wahnwitziger konnte die Gesamt- 
heit der Nationen streichen wollen, um seine 
eigene allein an deren Stelle zu setzen. 

Neben seinen Vorzugen hat jedes Volk auch seine 
Fehler: die Fehler seiner Vorziige, denn es gibt 
kaum eine gute Eigenschaft, die nicht wie ihren 
Schatten auch einen Nachteil notwendig bedingte, 
Wer sehr wohltatig ist, kann nicht sparsam sein, 
wer die Gute zum Prinzip seines Lebens gemacht 
hat, kann nicht immer der Klugheit folgen, wer 
den Erfolg an seine Fersen zwingt, kann nicht 
die feinste Bliite der Kultur verkorpern und ahn- 
liches mehr. Der fur ubersinnliche Dialektik und 
ethische Gesetzgebungangelegte Semitische Stamm 
beispielsweise, der friih zu vergleichsweise reinster 
Auspragung der Gottesidee gelangte, verbot, ein 
Bildnis seines Gottes zu fertigen, tat deshalb die 
Kunst in Bann und hatte, wie Emil du Bois Rey- 
mond einmal sagt, den Gotterbildner Phidias ge- 
steinigt. So ist es liberal], und ein jedes Volk 
hat gute und schlechte Eigenschaften, die, wenn 
man genauer zusieht, einander notwendig bedin- 
gen. — Darum kann ein Volk auch meist seine 
Fehler nicht ablegen, ohne gleichzeitig seine Vor- 
ziige zu verlieren. 

Es widerspricht dem durch die ganze Natur hin- 
durchgehenden Gesetz der Okonomie, alle Vor- 
ziige zu besitzen, und wenn diese Sehnsucht, der 
Menschheit Krone zu erringen, auch unser bestes 
Teil sein mag, so laBt sich mit dem faustischen 
Wort: „ich will*' doch nicht alles machen — 
immer kommt ein Mephistopheles und flustert uns 
ins Ohr, man konne nicht: 

Alle edlen Qualitaten auf seinen Ehrenscheitel 

haufen, 

Des Lowen Mut, des Hirsches Schnelligkeit, 

Des Itaiieners feurig Blut, des Nordens Dankbar- 

keit, 

LaBt ihn Euch das Geheimnis finden, 

GroBmut und Arglist zu verbinden. 

Und Euch mit warmen Jugendtrieben, 

Nach einem Plane zu verlieben. 

Mochte selbst solche einen Herren kennen, 

Wiird ihn Herrn Mikrokosmos nennen. 

Wer aber diese tatsachliche Unmoglichkeit ein- 
gesehen hat, der wird nicht von s einem Volke 
glauben, daB es alle edlen Qualitaten in sich ver- 
einige, sondern er wird sich freuen, wo immer 
er etwas Gutes und Schones sieht, und wird 
sich zu der Goetheschen Weisheit durchr ingen, 
um endlich auch in bezug auf andere Volker 
sagen zu konnen: 

Was je ihr gesehn, 
es sei wie es wolle, 
es war doch so schon. 



m 



DIE AKTION 



170 



^ 



SCHNEEMORGEN 

Der Schnee, der zu Morgen die Stadt befiel, war 
wie eine schauernde Erinnerung der vergang- 
nen Nacht: 

Goldene Stempailletten, bunte Karnevalsbander, 
rote Liebesblumen: erblaBt war all die Pracht. 
Aber die Stadt lag da wie ein geschliffener Dia- 
mant; das siebenfarbige Licht brach sich von 
alien F lachen los. 

Die Platze schuttelten die schattengrfinen Domi- 
nos. 

Die StraBen, orangehell unter den triefenden La- 
ternen, krummten sich wie trockene Schalen. 
Steinrunzlige Kirchen funkelten im Purpur der 
Morgenstrahlen. 

Blaue VergiBmeinnicht bliihten in erwachenden 
Fenstern auf. 

Die Reiterstatue trug Schneesilber auf Pallasch 
Mantel und Knauf, 

Die ersten Menschen, die das sahen, glaubten in 
ein glasernes Paradies zu treten. 

Schnee schluchzte in die Stadt wie ein stummes 
Seufzen, ein inneres Beten. 

Es staubte inniges, sinniges Leid 
Cber die harte Wesenheit 

Wie schmerzliches Lacheln, wie eine geschminkte 
Pierrotmaske lag der Schnee, 

Wie ein trostlos trauriges Weh, 

Ein mfider Schnee, 

Ein gutiger Schnee. 

Ein grublerisches Sinnen und Spinnen: 

Gedanken fiber ein Totenlinnen. 

Iwan Ooll. 

SCHNEE 

Die Hauser werden ganz klein. BlaBrosa und 

blau. 

Die Allee geht leise fiber eine Hohe im Norden, 
Dunstig und wolkenlos steigt der Himmel auf, 
Aber das WeiB, das WeiB liegt weit auf den 

Feldern. 

Wo vereinzelt die alten Weiden — 

Und eine Wolke von Krahen sich senkt, 

Das Auge muB immer wieder in die Sonne blinzeln 
Und ein Glockchen schiafert fiber die Ebene. 

Nichts. Einsamkeit im W*iB. Verschneites Land. 
Sonne drfiber hin. 

Schnee der Jahre ist ins Herz gefallen — 

Schon und rein. Und die Luft ist leichter als jc. 

Wilhelm Klemm. 

PEIN 

Der Mond steht auf meiner Seele, 
blaue Gesfaffen meines Versenkens 
zucken aus Ecken hervor. 

Ich warte ungestort auf fremdes Schleichen in 

meinen Wegen, 

auf fable Lichter, die in mich leuchten wollen. 



Ich starre nach den blauen Flammen-Recken 

und finde meinen gepeinigten Leib. 

Mondespfeile toten mich und die Tat. 

Ich weiB nicht, wann der Tag kommt 

und seine Schatten bringt . . . 

Henrietle Hardenberg 

MEINE ABENDE 

Zu zierlich deuten Schachtelhalme kalte Vorzeit 

an, 

amphibisch schleppt mit Wolken sich der Himmel. 

Ein elegischer Gedanke nimmt die Klage der 

Prothesenfruhlinge vorweg 

unter Baumen, Kruppeln ohne die weichen Hande 

ihres Laubs, die den Bruch der Wolken- 
Darme zuruckdrucken, 

die im Donner ausbrachen auf den Schlachttisch 

der Erde 

und hinter Hfigel lautlos polterten, wo in Ko- 

lonnen Pferde auf steifen Beinen ster- 
ben. 

Abendfarben trocknen, blau und roter Schorf sinn- 

loser Operationen, 

deren Chloroformwattemaske, Wiesennebel, 

dampfend sich in das zerspannte Ge- 
sicht der Nachtposten druckt. 

Mich Oberwachen anhohlen Sorgen erdengrau, 

mich weht Einsamkeit an wie Wind der Sand- 

schwalben verlassene Nester. 




Max Opptnhefmer 



Studie fur ^Operation* 



171 



DIE AKTION 



172 



In einem Panzer, von Schlachten schwer ge- 

buckelt und gehammert, erhalt mich Ge- 
wohnheit, eiserne. 

Fauste in zerschwungcnen Augenhohlen aufwuh- 

len das Gesicht 

zu der Toten Stirnen-Angesicht, erhaben und ge- 

drilckt ewig edle Urnenform, 
in die versprengte Halme von den Grabenrandern 

Mondlicht traufeln. 

Alfred Vagts 

SPUR 

Da ich mich im elliptischen Dank erinnere, 
stiert mein Gefuh!, verziickt in Brennpunkten, auf, 
die zueinander krank sind von kreisenden Augen. 

Und traf einmal am Tor eines toten Gehofts 
ein Licht, verdruckt infam meiner Liebe zu mir, 
o, nackt im Kranze der Nacht, die Feldwege fraB. 

Erstand es den Flimmer a!s Dank gerdteter Augen, 

die in des Blutes Gufl geachseSt stehn, 

stumm an der Grenze vorn Sinn, die Gott urn* 

stellte? 

Simon Kronberg 

ERINNERUNG 

Wisse: Ich trat aus Kreisen des Seins 

iiber zu einer Frau, 

glaubte: Tag, Nacht, Ich und Stern sei eins, 
und eine Frau zerriB meines schonsten Traumes 

Blau, 

Selig waren die Stunden, da meine Tiefen ruhten 
in ihren haltenden Handen und ihrem Schofi, 
Einsam kam ich aus einer Frau, und im Fluten 
der Stunden laB ich manchmal mich leise los. 

Wiege mich sanft in schoner tonender Welle, 
in der Erlosung grenzenloser Minuten, 
gehe traumend im Geruch der Stalle, 

und habe Angste, die nach innen verbluten. 

Adolf von HaUfeld 




MUSIK DER MATER1E 

Von Heinrich Stadelmann-Ringm 

Du weilst als Mensch unter Menschen. 

Den einen Menschen durchgfiiht Leidenschaft; den 
andern Menschen macht Herzenskalte trag; ein 
Mensch kriimmt sich beim Sturm der Welt auf ihn ; 
ein Mensch zerreifit, was urn ihn ist; ein Mensch 
zieht Kreise in sich selbst hinein; ein Mensch 
treibt mit Peitschen die Sterne zum Tanzen an; 
in einen Menschen schliipfen Bilder von auBen in 
der Welt; in einem Menschen zeugen sich Bilder, 
die niemals gewesen sind. 

Viele, viele Menschen; sind: Ein Mensch. 

Urbild der Welt, wo bist Du? 

Ach, daB ich Auge, Ohr und Nase habe! DaB ich 
schmecken kann und tasten muB! Alles ist ein- 
zetn. Zerfasert lauft die Welt urn mich. Singt 
ein klagend Lied; will wieder Eines sein. 

Horch! Musik!! 

Die tausend, tausend Menschen schwingen tau- 
send, tausend Weisen. Die Steine, Einzelweitteile, 
haben sich in ihnen autgelost, und jeder einzelne 
Stein singt sein feines Lied. So fein, daB du es 
nicht mehr horen kannst mit Ohren; daB du es 
nur horen kannst mit dem Gefuh!, Musik der 
Steine! In einem Menschen schwingt Natrium vier 
billionenfach in einer einzigen Sekunde; maskiert 
seinen Gesang; malt; in Gelb. In einem Menschen 
schwingt Kalium sechs billionenfach in einer ein- 
zigen Sekunde; maskiert sich; malt; breit Griin, 
Blau, Violett, wenig Rot. In einem Menschen 
hiipft das vermaskete Lied von Rot zu Gelb, zu 
Orange, zu Griin, zu Blau, zu Indigo, zu Vio- 
lett . . . 

Die maskierten Lieder wollen nicht als Farbe 
aus dem Menschen; die Farben setzen wieder 
eine Maske auf; wandeln sich zum Auf und Nieder 
des Charakters; zur Seele. 

Es schwingen Seelen alle Weisen, die jeder ein- 
zelne Stein zu schwingen hat, wenn er, sich ver- 
fluchtigend, zuruck will zu den Briidern; wenn 
alle Briider nicht mehr Briider, wenn alle Briider 
ein einziger Vater werden wollen. 

Ein klagend Lied! Musik von ungezahlten Rhyth- 
men, die einzeln unsicher flatternd, sich erganzen 
zum Einheitssang des Lebens: „Ach, daB Alles 
einzeln ist!" 

Leidenschaft, Tragheit des Herzens; vernichtet 
Werden, Vernichten; Reflektieren iiber sich und 
Welt; Handeln, Handeln; Sehen, Schauen: In 

vielerlei Menschen. Vielerlei rhythmische Gesange 
von vierhundert Billionen Schwingungen bis sechs- 
hundert Billionen. Sinnlich unhorbar. Horbar 
nur durch Vererbung, die bis zum ersten AusfluB 
des Welteneinsseins sich erstreckt; die schreit: 
„Ich will zuruck!" 

Der Schrei hat sich zerkliiftet zu feinen, feinsten 
Schwingungen. Sie klingen alle, alle fein zusam- 
men; riickwarts treibend zur Gewesenheit. 

Das ist das Lied der Wurmer; das Lied der Sterne ; 
das ist das Lied der Menschenseele. 

Das ist das Lied der Steine; ist der Materie Musik. 



Strohmeyer 



Qcigtr (Hohschnitt) 



73 



DIE AKTiON 



174 



QERICHTSTAGE 

Jon August Strindberg 

In dem nordlichen Turm der Kirche Notre Dame 
de Paris hatte der Turmwachter sein Zimmer, Es 
war aber zu einer Buchbinderwerkstatte einge- 
richtet, denn das Amt war am Tag nicht beson- 
ders driickend, und die Stunden der Nacht ver- 
g'mgen mit Schlaf oder ohne Schlaf, da sich nie- 
mand darum kiimmerte, diesen jetzt iiberflussigen 
Kirchendiener zu beaufsichtigen. 

Niemand ging in die Kirche, die verschiedentlich 
beschadigt war, und niemand kam auf den nord- 
lichen Turm hinauf, denn im siidlichen hingen die 
Glocken, und dort wurde der Dienst etwas stren- 
ger genommen, denn bei alien auBerordentlichen 
Gelegenheiten sollte die Sturmglocke lauten. 

Mit dem Glockner auf dem siidlichen Turm unter- 
hielt der Wachter eine Art telegraphische Verbin- 
dung; bei ruhigem Wetter konnten sie auch mit- 
einander plaudern; wenn es aber windig war, 
muBten sie Sprachrohre benutzen. 

Die Werkstatte hatte sich im Laufe der Jahre zu 
einem sehr gemiitlichen Raum entwickelt. Ihre 
siidliche Seite nahm ein einziges groBes Bucher- 
gestell ein. In rotem Maroquin mit Goldschnitt 
glanzte da die Enzyklopadie in der ersten Auf- 
lage 1751 — 80 mit ihren fiinfunddreiBig Banden. 
Dort standen Voltaire, Rousseau, Montesquieu, 
Locke, Hume, alle, die vorhanden sein muBten. 
Auch Zeitungen, Moniteur, Pere Duchesne und 
Marats L'ami du Peuple. Diese letzte war in 
etwas fettiges Leder gebunden, das einer 
Schweineschwarte glich und sich geworfen hatte. 
Eine andere Wand war mit Graviiren bekleidet, 
teils kolorierten, teils unkolorierten. Sie hingen in 
chronologischer Reihenfolge von links nach rechts, 
von oben nach unten, so daB man die ganze Revo- 
lution in Bildschrift sehen konnte. Schwur im Ball- 
haus am 20. Juni 1 789 mit Mirabeaus Portrat; 
Brand der Bastille und Kopf des Kommandanten; 
Jakobinerklub mit Marat, Saint-Juste, Couthon, 
Robespierre, Verbriiderungsfest auf dem Marsfeld; 
Flucht des Konigs nach Varennes; Lafayette; 
Girondisten; Hinrichtung des Konigs und der 
Konigin; WohlfahrtsausschuB mit Danton und 
dem ausgeheckten Robespierre; Schreckensherr- 
schaft; Charlotte Corday totet Marat in der Bade- 
wanne; Robespierre noch einmal; Fest des hoch- 
sten Wesens; Voltaires Begrabnis; Robespierre 
wieder, jetzt am neunten Thermidor. Dann be- 
gpnnt Bonaparte und das Direktorium, gemischt 

mit Pyramiden und Alpen. 

Mitten im Zimmer stand ein sehr groBer Tisch; 
auf der einen Seite befand sich das Werkzeug des 
Buchbinders und auf der andern Schreibzeug. Das 
TintenfaB saB in einem Schadel, und das Lineal 
war ein Unterarm: der Briefbesclnverer war eine 
Guillotine, der Federhalter eine Rippe. 

Der Buchbinder selbst, ein Hundertjahriger mit 
einem Apostelbart, saB und schrieb unter einer 
Laterne, die von der Decke hing. Niemand als er 
war im Zimmer zu sehen. 

DrauBen sturmte es, und die Dachpfannen klap- 
perfen zmveiien; es war kiihl im Zimmer, aber 



nicht kalt, denn ein Kamin brannte in einer Ecke, 
in der man die Geratschaften des Turmwachters 
sah: ein groBer Wolfspelz, ein Sprachrohr, einige 
Flaggen und eine Laterne mit verschieden ge- 
farbtem Glas. 

Der Alte schob die Brille auf den Scheitel, blickte 
auf und sprach, ohne daB man sehen konnte, mit 
wem : 

— Bist du hungrig? 

Eine Stimme hinter dem Biichergestell antwortete: 

— Ziemlich! 

— Frierst du? 

— Nein, noch nicht! 

— Warte noch eine Weile, ich muB gleich hin- 
aus und eine Beobachtung machen. 

— Woran schreibst du? 

— An meinen Erinnerungen! 

— 1st es ruhig in der Stadt? 

— Ja! Aber sie sind nach Saint-Cloud hinaus- 
gezogen. 

— Dann kommt es bald zum Klappen! 

— Zum Klappen kommt es nicht, aber wir konnen 
cine Proklamation erwarten. Schweig jetzt, ich 
muB hinaus und tclegraphiercn! Essen sollst du 
dann bekommen und auch etwas zu trinken, viel- 
leicht auch eine Pfeife Tabak. 

Es wurde still hinter dem Biichergestell, und der 
Alte zog den Pelz an, entziindete die vielfarbige 
Laterne, griff nach einem Sprachrohr und trat 
auf den Altan hinaus. 

Es war sehr dunkel, aber der Alte kannte seine 
Menagerie drauBen auf der Balustrade; er liebte 
seine Steinungeheuer, die Eule, den Greifen, die 
Gorgo, und er muBte sie jedesmal, wenn er an 
ihnen vorbeiging, streicheln. Das Untier aber mit 
dem Korper eines Menschen, den Bocksfiifien und 
den Hornern auf dem Kopf floBte ihm etwas 
Respekt ein, wie es dort stand, auf die Hande sich 
stiitzend wie ein Priester, und, vorniiber geneigt, 
der gottlosen Stadt zu predigen oder Strafgerichte 
auf sie herab zu schleudern schien. Neben ihm 
suchte er seinen Platz, als er mit der Laterne zu 
signalisieren anting. Aber der Wind war so heftig, 
daB der Alte schwankte und „den dort“ um den 
Leib fassen muBte, um sich festzuhalten. 
Nachdem er eine Weile gestanden und mit der 
Laterne manovriert hatte, immer hinaus in den 
Raum spahend, richtete er sich plotzlich in die 
Hohe, lieB die Laterne fahren und setzte das 
Sprachrohr an den Mund. Sich an dem steinernen 
Gelander haltend, wandte er sich dem siidlichen 
Turm zu und schrie: 

— Halloh, Francois! Halloh! 

Nach einer Weile antwortete eine Stimme aus 
dem Dunkel: 

— Qui vive? 

— Mont-joie-Saint-Denis. 

— Sacre! antwortete man von driiben. 

— Laute die groBe Glocke! Laute, der tausend! 
Der Wachter blieb noch eine Weile stehen und 
betrachtete die gefarbten Lichter im Kirchturm 
von Saint-Cloud, und um ganz sicher zu sein, 
wiederholte er das Signal, worauf er zur Ant- 
wort erhielt; 



173 



DIE AKTION 



176 



— Richtig verstanden! 

Der Alte seufzte: Geschehe dein Wille, Herr des 
Himmels! Darauf wollte er in die Turmkammer 
zuriickgehen, aber im selben Augenblick faBte der 
Wind seine Kleider so heftig, daB er den Arm des 
Behornten ergreifen muBte, um sich fest zu halten, 
Aber die Figur hatte sich gelockert, gab nach 
und machte eine kleine Bewegung. 

— Der auch! sprach der Alte in seinen Bart. 
Nichts halt, alles gleitet fort, nichts bleibt, worauf 
man sich stiitzen konnte! 

Er hockte sich nieder, um nicht fortgeweht zu 
werden, und kriechend erreichte er die Tur der 
Turmkammer, die er aufriB. 

— Die Revolution ist aus! rief er dem Biicher- 
gestell zu. 

— Was sagst du? 

— Die Revolution ist aust — Treten Sie vor, 
Sire! 

Er faBte das Buchergestell an und drehte es wie 
eine Tur in ihren Angeln. Man sah einen kleinen 
hubschen Raum im Stil Ludwigs XV., und hervor 
trat ein dreiBigjahriger Mann mit feinem aber 
blassem Gesicht und von traurigem Aussehen. 

— Sire, griiBte der Buchbinder demiitig, jetzt ist 
Ihre Zeit gekommen und meine geht zu Ende! 
Die Revolution ist aus! Was an diesem acht- 
zehnten Brumaire in Saint-Cloud geschehen ist, 
weiB ich nicht; eins aber weiB ich: Bonaparte 
ist ans Ruder gekommen! 

— Jaques, antwortete der Edelmann; ich will 
deine Gefuhle nicht verletzen, aber ich kann meine 
Freude nicht verbergen . . . 

— Verbergen Sie sie nicht, Sire! Sie haben mich 
vom Schafott gerettet, und ich habe Sie gerettet: 
danken wir uns gegenseitig und Iassen Sie uns 
quitt sein! 

— DaB dieses blutige Spektakel zu Ende geht, 
daB diese Gemiitskrankheit . . . 

— Sire! Nicht so . , . 

Und seine Augen begannen zu funkeln. Darauf 
aber schlug er um: 

— Lassen Sie uns die letzte Mahlzeit zusammen 
essen, aber in Liebe wie Mitmenschen; Iassen Sie 
uns von der Vergangenheit sprechen, um uns 
dann in Frieden zu trennen. Heute abend sind wir 
noch Briider, aber morgen sind Sie der Herr und 
ich der Diener. 

— Du hast recht! Heute bin ich ein Emigrant, 
aber morgen bin ich Graf. 

Der Alte setzte ein kaltes Huhn vor, einen Kase 
und eine Flasche Wein, und die beiden nahmen 
Platz am Tisch. 

— Diese Flasche, Sire, ist Anno 89 abgezapft; 
sie hat eine Geschichte, und darum . . . 

— Hast du keinen weiBen? Ich kann den roten 
Wein nicht trinken. 

— Mogen Sie die Farbe nicht? 

— Nein, ich sehe nur Blut! — Du hast ein Weib 
und vier Sohne verloren . . . 

— Warum soli man dariiber weinen! Sie fielen 
auf dem Felde der Ehre . . . 

— Dem Blutgeriist ! 

— Ich nenne das Blutgeriist das Feld der Ehre! 



— Aber Sie wtinschen weiBen! Gut, Sie sollen 
ihn haben! Sie ziehen die Farbe der Tranen vor; 
ich die des Blutes! 

Er offnete eine Flasche WeiBvvein. 

— Suum cuique! Der Gcschmack ist verschieden! 

— Wir konnen also wieder atmen und nachts 
ruhig schlafen! Das war das Schwerste dieses 
Jahrzehnts, das vergangen ist; der Verlust des 
Nachtschlafes. Die Furcht vorm Tod war schlim- 
mer als der Tod! 

— Das Schwerste fur uns — verzeih den Aus- 
druck — war, zu sehen, wie Staat und Gesell* 
schaft auf den Kopf gestellt wurden; wie die 
Roheit oben saB . . . 

— Warten Sie! Ludwig XIV. bezahlte zwei Kam- 
merherrn zwanzigtausend Livres jahrlich, dafiir 
daB sie jeden Morgen seinen hohen Nachtstuhl 
untersuchten und hinaustrugen; weiter in Roheit 
konnten die Sanskulotten nicht gehen. Marie An- 
toinette ging nachts mit Junggesellen aus und 
trank die Nacht durch, so daB sie um 11 Uhr 
am folgenden Vormittag erschopft nach Haus 
kam; das war roh von so einer feinen Person! 

— * Du darfst heute abend flunkern, Jacques, aber 
morgen nimm den Kopf in acht! 

— Und wie ich im Gerichtssaal saB, als die 
Konigin eines unerlaubten Verhaltnisses zu ihrem 
Sohn angeklagt wurde, glaubte ich nicht an die 
Anklage; spater aber horte ich . . . Ja, Sie wissen 
ja, wie die Mutter mit ihren Kindern spielen; es 
beginnt mit Spiel im Bett am Morgen, aber die 
Grenze ist unmerklich fur den Verlauf der Ge- 
fuhle . . . und da der Dauphin selbst bekannt 
hat — die Sache war wohl nicht ganz richtig! 

— Nein, Ihr diirft nicht so sprechen von diesen 
hohen Personen, die den Martyrertod gelitten 
haben , . . 

— Halt, halt! Der Konig war, was man einen 
netten Kerl nennt, aber die Konigin war ein Weib- 
stiick! Doch beide wurden gerechterweise zum 
Tode verurteilt, alle beide! — Sehen Sie, wenn 
Turgot hatte bleiben konnen, ware die Revolution 
nicht gekommen. Alle die Reformen in Staat, 
Kirche und Gesellschaft, die wir — verzeihen 
Sie den Ausdruck — dann durchgefiihrt haben, 
hatte Turgot auf seinem Programm. Die Konigin, 
die es nicht leiden wollte, daB der Minister ihre 
Apanage beschrankte, intriguierte ihn fort; und 
der Konig half ihr dabei. Das war ein groBes 
Verbrechen! Das zweite war der Sturz Neckers. 
Dann regierte die Konigin mit den Hofdimen! So- 
wohl der Konig wie die Konigin suchten den 
Auslander gegen ihr eigenes Land zu erheben ; der 
Briefwechsel in dieser Sache wurde gefunden, 
und damit waren die Verrater des Vaterlandes 
zum Tode verurteilt! Sprechen Sie nicht von 
Martyrern, denn dann werde ich bose! Ich werde 
namlich bose, wenn ich eine Luge hore, und 
dann kann ich mich nicht mehr beherrschen. 

Der Graf legte die Hand an den Degen. 

— Stecken Sie Ihr Schwert in die Scheide, jun- 
ger Mann, sonst . . . 

Sie saBen sich am Tisch gegeniiber und spriihten 
Feuer iibereinander. 



DIE AKTION 




-Die Ursachen, fuhr der Alte fort, die kann 
man im Paradies suchen, aber wir haben es hier 
nur mit den nachsten zu tun, und die kennen 
wir. Die Revolution war ein jungstes Gericht, 
das Vommen muBte, ebenso wie es in England 
kam, genau hundert Jahre vorher, auf den Punkt, 

\m. 

— Aber Cromwells Republik war nicht von 
Dauerl 

— Das ist wohl diese auch nicht! Aber sie kommt 
wieder! Lassen Sie uns lieber von etwas Schonem 
sprechen, an diesem letzten Abend. Ich habe 
alles mitgemacht, ich habe ein starkes Gedachtnis 
und kann nichts vergessen: was mir aber durch 
all die dunklen Tage hindurch scheint, das ist 
der Tag auf dem Marsfeld, das Verbruderungsfest 
vom vierzehnten Juli anno QO ! Zwanzigtausend 
Arbeiter sollten das Marsfeld roden; als sie aber 
bis zum festgesetzten Tag nicht fertig wurden, 
zog ganz Paris hinaus. Da sah ich Bischofe, 
Hofmarschalle, Generale, Monche, Nonnen, Da- 
men der Gesellschaft, Arbeiter, Matrosen, Ab- 
fuhrleute und Dirnen, alle nebeneinander mit 
Hacke und Spaten den Boden ebnen. Und schlieB- 
lich fand sich der Konig selbst ein, um an der 
Arbeit teilzunehmen! Das war die grofite Ni- 
vellierungsarbeit, die die Menschheit ausgefiihrt 
hat; die Hohen wurden abgetragen und die Sen- 
kungen ausgefullt. SchlieBlich war das groBe Frei- 
heitstheater fertig. Auf dem Altar des Vater- 
tands wurden Feuer von wohlriechenden Holz- 
arten angeziindet. Talleyrand, Bischof von Autun, 
mit einem Gefolge von vierhundert weiBgekleide- 
ten Priestern, weihte die Fahnen ein. Der Konig, 
in Zivilanzug, und die Konigin saBen auf der 
Estrade, und „die ersten Burger des Staates“ 
legten den Eid auf die Verfassung ab. Alles war 
vergessen, alles war verziehen. Eine halbe Mil- 
lion Menschen, auf einer Stelle versammelt, von 
einem Geist beseelt, fuhlten sich an diesem Tag 
als Briider und Schwestern. Wir weinten, wir 
fielen uns in die Arme, wir kuBten uns. Wir 
weinten bei dem Gedanken, wie erbarmlich wir 
gewesen und wie gut und wohlwollend wir in 
diesem Augenblick waren. Wir weinten vielleicht 
auch, weil wir ahnten, wie gebrechlich alles war. 
Und nachher am Abend, als Paris auf StraBe 
und Markt hinaus zog! Die Familien aBen Mit- 
tag auf dem Trottoir; Alte und Kranke wurden 
unter freiem Himmel hinausgetragen; Speise und 
Wein auf Staatskosten verteilt. Das war das 
Laubhuttenfest, die Erinnerung an die Auswan- 
derung aus der agyptischen Knechtschaft; das 
war Saturns Fest, die Wiederkehr des goldenen 
Zeitalters . . . Und dann . . , 

— Kamen Marat, Danton und Robespierre . . . 

— Ja! Robespierre, der verhaBteste, war nicht 
schlechter als Ludwig XI. und Heinrich VIII. 

— Ein Morder . . . 

— Der Richter ist nicht Morder, und der Henker 
auch nicht . . . 

— Aber das goldene Zeitalter verging, wie es 
kam! 

*— Doch es kommt wieder. 



— Nicht mit Bonaparte! 

— Nein, nicht mit ihm, aber durch ihn . . . 

— Wer ist er? 

— Ein Korsikaner, im selben Jahr geboren, als 
Frankreich sein Land nahm. Er wird es rachen, 
und da er sich nie als Franzosen fuhlen kann, 
wird er unser Land nur fiir seine Zwecke be- 
nutzen. Aber trotzdem, trotz seiner unerhorten 
Selbstsucht, trotz seinen Lastem und Verbrechen 
wird er der Menschheit dienen, denn alles dient! 

— Und nachher? 

— Wer kann das sagen! Wahrscheinlich geht 
es gut wie bisher: bald vorwarts, bald etwas 
Ruhe, und dann wieder vorwarts! 

— Und dann taucht das Alte wieder auf . . . 

— Ja, wie der Ertrinkende. Dreimal kommt er 
in die Hohe, um zu atmen, das vierte Mai aber 
bleibt er auf dem Grund. Oder wie die Wieder- 
kauer: kleine Auf s to Be, Wiederkauen, und dann 
hinaus durch die Speiserohre, wenn alles Gegen- 
wartige in den Kreislauf aufgenommen ist! 

— Glaubst du an die Wiederkehr des goldenen 
Zeitalters? 

— Ja, ich glaube wie Thomas, wenn ich gesehen 
habe! Und ich habe gesehen! In dem Augen- 
blick, an den ich eben erinnerte, auf dem Marsfeld, 
da sah ich! Wir ahnten die Zukunft, wir waren 
sicher, daB wir eine Offenbarung aus der femen 
Zukunft gesehen hatten, aber wir waren unsicher, 
ob sie sich jetzt gleich einstellen werde. 

— Wie lange sollen wir warten? 

— Wir sollen nicht dasitzen und warten, sondern 
wir sollen arbeiten! Dann vergeht die Zeit. Die 
Gelehrten sagen, der Hugel Montmartre habe eine 
Million Jahre gebraucht, um sich aus dem Wasser 
abzusetzen! Nun, unsere Geschichte ist nur drei- 
tausend Jahre alt; in dreitausend Jahren kann die 
Menschheit iiber ihre Vergangenheit nachdenken, 
und in sechstausend vielleicht ist es zu merken, 
daB eine Verbesserung eingetreten ist! Wir sind 
ungeduldig, Herr, und hochmiitig. Und doch geht 
es schnell. Vor dreihundert Jahren ist Amerika 
entdeckt, und jetzt ist es europaische Republik. 
Afrika, Indien, China, Japan sind eroffnet, und 
die ganze Erde gehort bald Europa! Sehen Sie, 
jetzt ist die VerheiBung an Abraham: „In deinen 
Samen sollen alle Geschlechter gesegnet werden. u 
auf dem Wege, sich zu erfullen ; auf dem Wege, 
sage ich! 

— Die VerheiBung an Abraham? 

— Ja, haben nicht Christen, Juden und Muha- 
medaner Teil an der VerheiBung? 

— Christen aus Abrahams Samen? 

— Durch Christus, der von Juda war, sind wir 
geistig von Abraham. Ein Glaube, eine Taufe, 
ein Gott und aller Vater! 

— Ich habe dich angehort, und ich muB sagen: 
dein Glaube ist groB und der hat dich erlost! 

— Wie er die Menschheit erldsen wird! 

Jetzt verstummte das Gesprach, denn die GroB- 
glocke begann im sudlichen Turm zu lauten. Sie 
iibersturmte den Sturm und sie erfullte die Ram- 
mer mit ihrem Geton, erschutterte den Tisch, 
die Stiihle, so daB die beiden Menschen zitterten. 



170 






DIE AKTION 



180 



Der Alte machte einen Versuch zu sprechen, aber 
sein Gast horte nichts, sah nur, daB sich sein 
Mund bewegte. Der Alte erhob sich und zeigte 
auf eine Gravure von den vielen. 

Sie stellte Anacharsis Clootz vor, den Philan- 
thrope^ den Philosophen, wie er sich im Konvent 
einfindet mit einer Schar aus alien Volkern der 
Erde, schwarzen, gelben, weiBen, kupferroten 
Menschen, und ersucht, die als Burger in die 
Weltrepublik aufzunehmen. 

Der Graf lachelte zur Antwort, halb mifitrauisch, 
halb freundlich nachsichtig. 

Der Alte versuchte zu sprechen, er war aber 
nicht zu horen. Aus der Tiefe der Jahrhunderte 
schien das Gelaut zu kommen, das alte Jahr- 
hundert aussingend, das neue einlautend, das in 
einigen Wochen begann; das neunzehnte Jahr- 
hundert seit der Geburt des Erldsers, der ver- 
sprochen, wiederzukommen, und es vielleicht in 
der einen oder andern Weise tun wird. 

Der Graf saB da und befingerte den Briefbe- 
schwerer, die Guillotine. Er ergriff ihn plotzlich 
und fragte eine Frage mit den Augen f vvorauf der 
Alte mit einem Nicken ja antwortete. Der Brief- 
beschwerer wurde mit einer schnellen Bewegung 
in den Papierkorb geworfen. 

Da schwieg die GroBglocke, das Zimmer wurde 
ruhig, und die Arme iiber der Brust gekreuzt, 
sprach der Alte wie in einem Seufzer der Dank- 
barkeit aus: 

— Die Revolution ist aus. 

— Diese Revolution! 

— Triibsal gibt Geduld; Geduld gibt Erfahrung; 
Erfahrung gibt Hoffnung; Hoffnung laBt nicht 
zuschanden werden! 

(Deutsch von Emil Schcring) 

ZU STRINDBERGS TOTENTANZ 

R&tsel — ? Toriclu bleibt, nach Problem, Tendenx xu fragen. 
Zeichcn des Unverstandnisses, Inhalt zu posaunen. Regisiratur 
Uber Aufbau, tbeatralische Requisiten: Mosaikarbeit; literarische 
Malichcn (lohnend ! htlbschl), Kechenschaft tlber QualiUU : immer 
unbeholfenc Kriiik, so blendend auch journalistische Routine sich 
versucht, hinreichend, Gonnern und Zeitgenossen unter die Arme 
zu greifen, UberflUssiger Kommenlar. 

Hinnehmen des Gegebenen, daS Buchliches sich zerlose, Aus- 
druck der Szene, sei er Erftlllung. - — 

So ragst du, Mann, durchsichtig dir selbst, urn doch, lassig, das 
Gcrippe der Rlarhcit immer unfehlbar zu ertragen, in mystische 
Augenblicke zu fallen. Undurchsichtig deiner Umgebung, die 
sich begnllgt, dein Wesen in Monotonie, Agonie erklSrend zu 
stempeln, — 

Der Mann,*im Wissen, dafi Wortc Wiederholungen sind, giihnL 
leer. Unwllrdig, so sein Lebcn hinzubringen. Was ich fuhle, 
banaler Geschmack im Mund, da ich es redete. Am gram trial i~ 
kalischen Gesetz zerbricht alles. Bleibt der Naturlaut: wir 
werden uns peinlich. Erinnerung stellt sich vor, driickt Gegen- 
wart platt, Rcsignieren — ? Sich absperren ira Turm — ; Ein* 
samkeit bleibt Monopol Goues, Unmoglich also, grade zu bleiben, 
weil Trieb treibt — bedingt durch Menschen, an die uns Worte 
keiten, obgleich wir sie Uberwanden?! Ja und nein. Denn 
dieses wird: ich tpiele mit dem Fluch, den die Existenz Mann 
mir mitgibl. Die Wirkung von Wortcn, Satzen ist unverkennbar, 
Erzwungen ist, dafi ich schamlos genug werde, sie auszunuisen. 
Die Gefahr scheint grdfier, als die Annahme zul&ssen mbchte, 
diesen Zusiand als Leben anzuschen, Gewifi: ich wich vor 
nichts zurttck, ich nahm eine Frau. Zwang etwa sie tnicb zur 
Ehe, so, dafi das Spiel in wirkliche Unterhaliung brdenkUch 
ilbergriff? Rechnung, Kleinkram, Kartenspiel, Worte heute, 
morgen, gestern, es ist immer dasselbe; sogar der Effekt des 
Tanzes, UeiOt das Langeweilel? 



Leidet der Mann? Die Frau behauptet es von sich. Da btilzt 
ihm Triumph zu. Gehetzt: ich leide nicht an mir, denn ich 
habe iiberwunden, rage allein, selbsliindig, unabhingig von 
Menschenpack, ich lejde an ihr, da ich sie liebe. Ich kann 
nicht gleichgllltig sein, also bin ich abh&ngtg. Ich bin Sklave, 
also ihr Tyrann. 

Selbsttauschung als tragischcr Punkt. 

Stockt die Maschine — ? Denn da wieder greift Radchen in 
Kadchcn : Szene ; BloGe in Liebe und Hafi steigert Ausbruch, 
Yorgezeichncier Gang der Handlung, die Monotonie, rasilos, kreist, 

Es ist, in der Tut, uneriraglich. Und so sterben ? Niemalsl Ich 
habe Kinder, o nein, nur Werkzeuge, nach Bedarf — . Ich bin 
verkeitei, unbeireit, ich versirickte mich im Garn meines eigenen 
Spieles. Kommt das W under? Dafi ich bin als Mensch, als ge* 
wohnlichster, aber als Leben — — — 

Nur fremde, unbekannte Brulaliifit, die etgene Ohnmacht er 
zwingt, kann Lfisung bn n gen, Knolen durchhauen. 

Vielleicht ist der Tanz eigene Wollust, keine Routine. 

Der Mann sttirxt in ihm hint Ohnmacht des Todes. Wie fried- 
lich. Wie rein. Keine Menschen, die ich bertihrte, und die mei- 
nen Atem nun ausstofien, sind da. Alleinl Lieber Tod. . , . 
Aber: Erwachen. Trieb oder Verzweiflung. Umgebung hockt, 
unbeiroffen von seiner Erneuerung. Schoner Anfang des alien 
Spieles zu besserer DurchfUhrung. Ich glaube nicht an Worte, 
also gebe ich LUgen als Feststellungen; die Wirkung wird trap* 
pant sein. 

Solange das Bewufitsein des Todes wach ist, vcrjtingt sich das 
Leben. Herrlich, prSchtig, wie Frau und Freund tanzen, wim- 
mern. Da juckt der Kitzel, sich ins Letzte zu spannen. Er ver 
lien die Balance und wird kindisch. Er beichtet. „Mein B ruder 
benutzt so Starke Worte! Wir haben alle Nachsicht notig! 1 * 
Noch bleibt sein Triumph Wirkung auf die Aufienstehenden. 
Sie glauben an seinen Damon. Harlekinade der Frau schcitert 
an seiner elementaren Macht der Vorsehung. Ich sprlthe kein 
Gift, ich verteidige nur die Festung der Maske. Bisher war 
Bluff, SchreckschuO gewesen, zwar wirkungsreich, aber impotent ; 
Amusement, Laune aus Freiwilligkeit. Jetzt drangt Verantwor 
lung zur Tat. Herrschsucht, weniger verdrangtes Motiv infoige 
der Gnade als erslarrteste Entwicklung: Gollwcrdung. Sicher- 
lich tk.il ft zur Realisierung die SchwEche, deren Frau und Freund 
Zeuge waren, dieser Moment, da er sich nicht me hr ertrug, 
Selbsterkenmnis ihn blofistellte, schSmiger Rest leitet Uber turn 
Zusammenbruch, der ftlr Wei teres Daucreinsieltung wird. Keine 
Bosheit haft el, anstrengste Sicherung endlicher Position. Auch 
die differenzierteste Sexualilat ist iiberwunden. Vampyr, die Welt 
in sich zu saugen, um sie nie wieder zu gebSren. Selbstver- 
schuldete Ohnmacht macht bisweilen rabiat, Indessen, da die 
Konzenlrierung ungeheuer ist, bleibt kein Schniitpunkt seines 
Kreises vergessen. Wahnsinn liegt nahe, ware aber Ausflucht: 
korrekt bis zum Ende; „durch Beharrlichkeit, Pfiichuretie, Ener- 
gie und — Ehrlichkeit. “ Alle um ihn schmelzen, runden sich, 
wechseln bis zur Verzermng, ER, grade Linie, unabSnderlich, 
Dokument niegesehener unerhorter Notwendigkeit. — 

„Ein wenig Gltlck macht uns besser, aber nur Unglfick macht 
uns zu Wolfen. u Unnbtig, zu erinnern, dafi nur die Frau so 
sprechen darf. Alle ihre Worte und Handlungen bestStigen, 
dafi sie der Tragbdie des Mannes unverstandlich zusieht, an 
ihr nicht Anteil hat. ' 

Sie leidet an der Unbefriedigtheit, nicht ganx so aufrichtig mehr 
wie der jUngling und der Backfisch, sie leidet an ihrem Zustand, 
der sich schon sofort umsetzt in Hafi, Mitleid, Liebe; sie ver* 
wendet ihn, wie sie ihn braucht, immer unselbstSndige Puppe. 

Man wird nicht argerlich Uber die Mech&nik, die die Personen 
der Frau und des Freundes (auGer den Nebenpersonen) erstehen 
l&flt. Denn die Tragbdie ist des Mannes, ein Monolog — ■ am 
starksten in der stummen Gebarde (I. vierter Akt, erste Szene) 

— die Reden der Muspieler sind nur technische MiUel zu seiner 
Darstellung. Man entschuldigt die Unterbrechung. Die Frau 
redei Bellelristik, also Gleichgtthiges. Sie konnte in jedem Augen* 
blick auch das Gegenteilige sagen, die Tragbdie des Mannes 
bliebe davon unberlihrt. Sie hat keinen eigenen Monolog, daher 
auch ihre Unzulanglichkeit, als Erscheinung zu fesseln. So ver- 
liert sie stets den Faden; mufl sie den Mann nicht zur Ver- 
zeihung rUhren? Ironie setzt sich in Resignation um. Anfang 

— Ende: nur ein Ausschnitt: „Durchsireichen und Weitergehen.** 
Sentimentale Vcrscihnung ztvischen Weinen und Lachen, scheint 
es der Frau. Ekelt den Mann so viel Kitsch nicht? Nein: in 
der Bejahung seiner Sendung bereiiet er nur das Kommende vor. 
Niihrt, wahrend Tod ihn umschattet, seine Kraft. Noch knarren 





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181 



DIE AKTION 



182 



3 ie Sch*rniere seiner Beine, aber sic gehorchen, ruckweise sent 
sich NViUe durch. Yom Slehauf zur Marionette. Klug gcnug 
immer, seioen Horizont zu erfilNen. 

Helfen Satze des Freundes zur Erklarung? Und: lollte diese 
Eiastizitii nicbt zu erledigen sein? Prablerei, wenn er sich in 
alles schickt ; ^Ich habe schon Schlimmeres durchgemachl. u — 
Triumphierender Mann, zielhaft, nicht geplagt von Unersiitllich- 
keit, Beherrscher der Insel — »ich selbst ganz durchzusetzen, 
sollte es unmoglich sein ohne Bundesgenossen, auch nur als 
Werkzeug — weil er die Insel libernahra, nicht selbst schbpfte!? 
Trilgt Blick des Blutes; Judith? Zerstort impulsive Nai vital ab- 
geschlossene Berechnung? Der Mann wird zerschmettert. Durch 
die Tatsache und durch lurchtbare Erlcenntnis; in Vcrtrauen ver- 
blendet seizte er Selbstvcrstandliches voraus, ohne sich zu ver 
gewissern. Uberliefl den letzten Trumpf dem Partner, desaen 
SelLstbewuCtsein unterschiitzend. 

Nachlasstgkeit oder KompromiB? Theatralische Losung oder — * 
Kronung ? 

Tausend NSchte quellen Weib. Eine Sekunde Lang: Familien- 
vater. — Zucken, Spucken, Krampf. 

Die Entscheidung ist nahe. Habe ich vollendet ? Weist die 
starre Linie auf einen Stern? 

Fraulein Judiths Vater sagte . „Verzeih ihnen, derm sie wissen 
nicht, was sie tun.** War nicht alles schon einmaL? 

Iipmer aller Antwort Iautet: „Unbegreifltch I . . 

D« ist zur Gcnttge erwiesrn. Hermann KoMack 

ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS 
XLIV 

Petersburg v o m 9. bis ium 14. Mfirz 

Telegr. unseres Korrespondenten 

Bern, 17. Marz 

Der Petersburger „Temps ,, -Korrespondetn gibt folgende knappe 
Schilderung der Ereignisse vom 9 * his zum 14. : 

Freitag 9. Marz: Emstellung des Trambahnverkchrs, Straflen- 
umtage unter den Rufen: , p Wir wollen Brot!‘\ Plilnderung 

von Backereien, Belastigungen von Polizeibeamten. 

Son na bend, 10. Marz: Der Generalstreik der Trambahn-Ange 

stellten und F'abriken; der Streik dehnt sich rasch aus, Laden 
werden geschlossen, Kosakenabieiiungen durchstreifen die Stadt. 
Die Polizei ist bemtlht, die Menge zu rerstreuen. An diesem 
Tage fallen die ersten Opfer, da Polizei und Kosaken von ihren 
Waffen Gebrauch machcn. 

Sonntag, 1 r. Marz: Der Zar und Ftlrst Golitzyn unterzeichnen 

das Dekrel der Y r erugung der Duma, Keine Zeitung ist er- 
schienen. Das Dekret wird bffentlich angeschlagen. Die Duma 
geht dartlber hinweg und fabrt fort zu silzen, U m MiltemacbL 
bildet sich das Exekutivkomitee. Wahrend des Tages begeben 
sich ganze Regimenter zur Duma, um ibre AnhSngerscbaft an 
dir Revolution zu dokumenlieren. 

Montag, 12. Marz: Rodzianko sendet im Namen der provi- 

sorischen Regicrung ein Telegram tn an die roiiitfirischen Haupt- 
chefs an der Front und teilte ihnen mil, dafl die ehemalige 
kaiserlicbe Regicrung nicht mehr existiert. Die Revolutions- 
truppen und die bewaffnete Menge besetzten mehrere Regierungs- 
gebiude Wo kaiserlicbe Truppen Widcrstand leisten, ent- 
spannen sich Karapfe. Die Maschinengewehre spieUen. Nach 
kurzem Kampfe gaben die kaiserlicben Truppen nach und 
»ieilen sich auf die Seite der Revolution Sre. Die Pcter-Paul- 
Festung ergibt Sich ohne Widerstand. Polizeigefangene, ’die 
seit langen jahren dort eingeschlossen sind, werden voa der 
bewaffneten Menge befreit. Sie wuflten im ersten Augenblick 
nicht, was rorgeht. Das Gefingnis Kresty, wo die Arbeiter* 
miiglieder des kriegsindustrielten Komitees eingespeirt waren, 
wird im Sturme genommen, ebenso das Arsenal von Petersburg, 
dessen Waffen nach der Peter-Paul-Festung Uberftlhrt werden, 
die zur Aktionsbasis der Revolulionflre ge worden ist. Die ersten 
Verhaftungen werden vorgenomtnen, zurtftchst die des Reichs- 
ratsprasidenten Schtcheglowitow. Er wird nach der Duma 



transpouiert, wo man ihn im Ministerpavillon in Gefangenschaft 
selzt. 

Dienstag, 13. Marz; Die Revolution ist auf ihrem Hohepuukt. 
Die bisher treuen Regimenter der kaiserhehen Regicrung ent- 
fatten die rote Fabne, Die Truppen zieheu zum Duma-Gebaude, 
wo ihnen Rodzianko ftlr ihren Patriotismus dankt. Wahrend des 
Tages ist die SchielJerei in den StraOen ziemlich hrftig. Die 
ehemalige Regierung stellt Maschinengewehre und Polizeiagenter 
auf die Dacher der Hauser und selbst auf die KirchtUrme, vor 
wo aus die Menge beschossen wird Die revolutionaren Truppen 
anlworten durch Bombardement der betreffenden HSuser. Diese 
SchieOerei dauerte mehrere Tage und wurde selbst nachts nicht 
unterbrochen. Der Ministerpavillon im Taurischen Pa last wird 
voller Gefangener. Stiirmer stirbt dortselbst aus Angst, Die 
Maflnahmen der provisorischen Regierung werden vom ganzen 
Volke gebilligt. 

MiUwoch, 14. Marz: Die Revolution ist so volkstllmltch gewor- 
den, dafl alle Welt role Fahnchen triigt. Die Straflen sind votl 
von Frauen und MSnnern aus alien Schichten der Bcvblkerung. 
Eine Gruppe von journalisten hat ein Blatt herausgegeben, das 
in den StraOen umsonst verteilt wird. Moskau und Charkow 
haben sich der Revolution angeschlossen. Die meisten Minister 
sind verhaftet. Pokrowsky, der Minister des AuQeren des Ka- 
binetts Golitzyn, befindet sich noch in Freiheil und verhandelt 
mit den Botschafiern, um sie liber die Situation aufzuklaren, 
Der Justizminister Dobrowolsky flieht auf die italienische Bol- 
schaft und biuet von don aus telegraphisch Rodzianko um seine 
Festnabme, um auf diese Weise sein Leben zu retten. Am 
Abend erschien ein vom vielen Umherirren erm tide ter Mann 
vor dem Taurischen Palais und erklarte: „Ich bin der ehema- 

lige Minister des lnnern Prolopopow und bin gekommen, mich 
den Handen der provisorischen Regierung zu tibergeben/ 1 Das 
Marineministerium, dafl noch immer von einer Kompagnie 
verteidigt worden war, wird von dieser im Sliche gelassen und 
die Revolution&re ergreifen von ihin Besitz. 

„ Berliner Atlgemeine Zeitung* , IS, Marz 1917 

KLEINER BRIEFKASTEN 

F. B., Rostock. Nein, Senna Hoy ist nicht in Warschau ge* 
storben, sondern im GefSngnis zu Meschtscherskoje bei Moskau, 
am 29. April 1914. Lebte er heute, so ware er also jet zt frei. 

K, G. Franz Blei wird eine neue Zeitschrift her&usgeben, M Sum- 
mi" genanm, 

Nina und Renate. Die Abkllrzung I. S. D, bedeulet Internatio- 
nale Sozialisten Deutschlands und dies wiederum bedeulet etn- 
fach: Julian Borchardt, Denn es heiflt Ubertreiben, wenn jem and 
behauptet, der Julianische Bund bestehe noch aus zwei Mitgliedern. 
Herr Borchardt ist Haupt und Gemeinde, und das Vorwort zum 
Erdmannbuch, mil dem er sich scinen wirkungsvollen Abgang 
von der politischen BUhne schuf, wird diese Gemeinde gutheiften. 

O, T. Meinen Aufsatz ,,Es ist nichts geschehen“ veroffentlichte 
ich den 30. Oktober 1912 (AKTION II. Jahrgang, Heft 44). 

Gg, St. Der dritte Band der Sammlung AKTIONS - LYRIK, 
Gottfried Benn „Fleisch“ t ist in einer kleinen Auflage erschienen 
und kann deshalb nur an Abonnenten abgegeben werden, 
die das Buch direkt vomVerlage beziehen mils sen. Preis; Halb- 
pergament M. 3, — . 

B. L. Max Oppenheimer darf und wird es sehr piepe sein, dafl 
der Kunstkritikus der Frankfurter Zeitung ihn persbnlich zu ver- 
unglimpfen sucht. 

A. R. Das nachste Sonderheft, t ,Ostern", erscheint in achtTagen, 
dann werden diese Sonderhefte folgen : Ludwig Rubiner, Alfred 
Wolfenstein, Wilhelm Klemm, Max Oppenheimer. 

MIT DIESEM HEFTE 

schlieflL das erste Quartal 1917. Soil in der Zustellung eine 
Unterbrechung nicht eintrelen, dann mufl das Abonnement so- 
fort erneuert werden ! 



INHALT DER VORIGEN NUMMER; Beye: StraBenscene in Neapel (Titelblatt) / Johannes Fischer (Wien); Der Doppel- 
canger / G. F. Nicolai: Ober Rassenmischung j Willy Zierath: Zeichnung / Qeorg Tappert: Onginal-Holzschnitt / lomar 
Forsle- Zeichnung / Aus Bakunins Briefwechsel mit Herzen / Paul Halvani: Versuch fiber den Expressionismus / Felix Muller: 
Selbstmdrder (Original-Holzschnit) / Ein Oedicht Friedrichs II., des Hohenstaufers (Nach dem Italienischen yon Otto Frh. von 
Taube) / Wilhelm Klemm: Mit schwarzem und blondem Haar . . / William Blake: Das entweihte Heiligtum (Aus dem 
Englischen von Alex Frh. von Bernus) / K. Teige: Zeichnung / Alfred Gruenwald; Verse / Georg Gretor: Vision / Karl Otten : 
Bestnnune / Arnold Bemey; Geschichte / Franz Werfel : Substantiv und Verbum. Eine Antwort an Georg Davidsohn / Franz 

Jung: ..Das Wescn der Geschlechtlichkeit* / F. P, : Ich schneide die Zeit aus; Kleiner Briefkasten 



Fur Herausgabe, Sch riffle itung und den gesamten 
Inhalt verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin-Wil- 
mersdorf, Nassauische Strafie 17. Tel. Pfalzbg.1695. 
Gedruckt bei F. E. Haag, Melle in Hannover. 
Die AKTION erscheint jeden Sonn abend. Abonne- 
ments kosten vierteljahrlich durch die Post, durch 
Buchhandel oder Verlag (unter Kreuzb.) M. 2,50. 
Abonnements fur das Ausland kosten M. 3, — . 
Buttenausg., lOOnumerierte ExexnpL, jahrl. M. 40, — . 
Verlag der AKTION, Berlin-Wilmersdorf. 

Unverlangten Manuskripten 
ist Ruck porto beizufugen. 

Alle Rechte vorbehaiten. 



WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR, KUNST 
fH JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERTNR £ 



SONDERHEFT OOLGATHA / INHALT: BEYE: AUFR1CHTUNQ DES KREUZES (TITELBLATT) f GEN GOLOATHA 
Holzschnitt aus dem Jahre 1495) / ]. S, Machar: Auf Goigatha / E. Anger: Am Kreuze (Holzschnitt) / Lindstaedt: Oster- 
egende / August Brucher: Judas j $ trohmeyer: 

: Die Kreuzabnahi 



Karl Brand 



Kreuzabnahme f Waldemar 



* nui 

sr: Kreuzigung (Holzschnitt) / Max Herrmanh-Neifie : Des Erldsers letzter Sieg / 
Ohly: Kreuzabnahme (Holzschnitt) / Georg Gretor: Vision / Felix MO Her: Ori- 



ginaj-Holzschnitt / Rudolf Fuchs: Erwachend / Ludvig B5 timer: Und da der Eine ging . . I Felix Muller: Kreuzigung (Feder- 

“- 1 , ■* - " imkehr / Heinrich Nowack: 

/ Jos 

ncng / Heinrich Stadeimann-Ringen : Zwei Stttcke / Maurice de Guerin: Del Xentauer / F. P.: Ich schneide die Zeit aus; 



zeichnung) / Richard Huelsenbeck: Die Dichter der Mans / S. Bo u Ska: Maria / Wilhelm Klemm: Heimkehr 

/ Ernst Kaljen : Federzetchnung / Albert Ehrenstein: Ende / Raoul Hausmann: Der Mensch j Josef Eberz: Federzeich- 



Elczid 



Kleiner Briefkasten 




VERLAG . DIE AKTION < BERLIN -WILMERSDORF 

HEFT 50 PFG. 










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AKTIONS-BUCHER DER AETERNISTEN 

Band I : 

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Band 2: 

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Schiele / Georg Tapper* / Else von zur Mtlhlen / Ines 

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Franc Blei / Gottfried Kolwel / Alfred Lichtenstein / 
Faria von Gtltersloh / Heinrich Schaefer / Theodor Daubler 

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kostet 50 Pf. — Biitten, numeriert, M.2, — 



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Jahresabonnement : M. 40 

Jedem BUttenabonnement werden jahrlich mindestens 
acht Kunstblliuer beigegeben, von den Kilnstlern nume- 
riert und signiert. Diese Beilagen kommen nicht in den 
Handel und stelien einen Wert dar, der den Abonne* 
mentsbetrag ilbersteigt! Im Jahrgang 1917 werden 
beigegeben; Blatter von Felix Mttller/ Max Oppenhetmer/ 
Ines Wetzel / Karl Jakob Hirsch / Richter-Berlin u a. 



KONSTLER-POSTKARTEN DER AKTION 

Es sind 80 verschiedene Drucke erschienen 

Zcichnungtn von Mopp / Kars / Schmidt- Rottluff /Schriropf 
/ Klein / Richter-Berlin / Nadelman / Feininger / Harta / 
Schiele / Mense / Melzer / Tappert / Else von sur 
Mtlhlen / Hans Richter / Josef Capek / Morgner u. a. 

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DIE AKTIONS - LYRIK 

Band I : 

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Eine Anthologie 

Band 2: 

JONGSTE TSCHECHISCHE LYRIK 

Eine Anthologie 



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Ein Roman. Geb. M. 3, — , geh. M. 2 , — 



Jeder Band gebunden M. 3, 



VERLAG DIE AKTION 




WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR, KUNST 

7 . jahrgang HERAUSQEQEBEN VON FRANZ PFEMFERT 7 APRIL .917 




Om Golgatha (Holzschnitt atu cUm Jahrt 1495) 



AUF GOLGATHA 
Von J 8 . Machar 

Zur dritten Stunde war es, da sie aufgerichtet, 
das Kreuz zwischen den Kreuzen. 

Von der Mfih gerotet 
auf die verstampfte, blutgetrankte Erde 
die Soldner niedersaBen. Teilten die Kleider, 
und um den Rock, atis einem Stuck gewebet, 
wurfelten sie. 

Aus der Menge viele 
kamen herbei, sahen zur Hohe, 
schuttelten die Kopfe: Haha, haha, 
nun st eig vom Kreuz herunter, da du doch ein 

Konig ! 

Den Tempel niederreiBen wolltest du, in dreien 

Tagen ihn errichten, 
nun, hilf dir seiber! — 

Standen hier auch Priester 
Gesetzgeber mit iangen weiBen Barten 
und sprachen zu einander: Wahr ist's. So. So. 
Da er andern half, hilf er sich seiber. — 

Und aus der Feme sahen viele Frauen, 
die ihm gedienet, frfiher, zu Galila, 

Salome, Maria und Magdalena 

und die mit ihm nach Jerusalem kamen. 

Am Kreuze hing er, Verbrechern zugezahlet, 
nackf und geschert. Am zerpeitschten Korper 
klebte geronnen Blut. Rote Bachlein flossen 
von Hand und FuBen, tropften auf die Erde. 



Die Augen, die der Schmerz geweitet, blickten 

in die Feme 

fiber die weiBe Stadt hin, fiber Hfigel, Walder, 
zum Kamm der Berge, in deren SchoB liegen 
die blauen Wasser galilaischer Seen. 

Den Kopf er neigte. 

Da klang ihm zum Ohre 
der Flugel Rauschen. Doch es war nicht des 

Vaters Engel 

mit dem Kelch der Labung seiner mfiden Seele, 
der bose Geist spreizte die Fledermausflfigel 
hin durch die Luft, flog zu ihm nieder. 

Er muBte dulden, daB sich Satan setzte 

auf dies sein Kreuz, ihm zu Kopf sich neigte, 

denn sein mfider Geist war nicht mehr eines 

Kampfes fahig. 

Und Satan sprach: „Elender Dulder, 
auf dem Holz des Kreuzes sehen wir uns wieder. 
Und heut zuletzt, Denn heut ist es entschieden. 
Der Kampf beendet. 

WeiBt du, vor drei Jahren, 
dort in der Wfiste, wie ich dich getragen 
auf einen hohen Berg und dir gezeiget 
machtige Reiche, alien Ruhm der Welt, 
und alles dir versprach, wenn du dich neigend 
mir dich beugen wfirdest? Du verschmahtest. 

Kunden gingest du das Reich des Himmels 
den Schwachen, Armen. Reinen Herzens woll- 

test geben 

du Schatze, welche nie vergehen. 

Einfaltgen Seelen wolltest weisen den Weg 
du zu dem Ruhm des Vaters. Von der Stirne 
der Geschlechter loschen den Fluch Adams. 

Zum Tode gingst du in Ergebung, 
gleich einem Lamm, das seinen Mund nicht off net, 
dein Blut hast du wie Tau vergossen, damit 
sich deine junge Saat erquicke. 

Jesus von Nazareth, sieh diese Mengen, 
die unter deinem Kreuze wallen! 

Vor kurzem, da voll Ruhm du einzogst 

in diese Stadt, Palmen sie streuten 

unter die Hufe deines Esels, riefen dir zu, 

und nannten dich Sohn Davids, 

denn sie meinten, daB dieses Gottesreich 

beganne, daB die ersehnte Zeit gekommen 

des Honigs und des Hafers. Du verschmahtest 

wieder. 

Die enttauschte Menge in der Wut der Rache 
Kreuzige! schrie ins Ohr nun dem Pilatus. 








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DIE AKTION 



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Jetzt hier sie gehen, schiittein mit den Kopfen 
und spotten: Seht, hier hangt der Juden Konig! 
Er soil sich helfen! Oottes Sohn wollte er sein, 
doch scheint es, daB der Vater sein vergessen. — 

Und der Vater hat vergessen! 

Schau den Himmel, 

wo du ihn im vollen Glanze sitzend wahntest: 

wolkenlos, still und klar er lachelt 

mit seinem fuhllos blauen Lacheln, 

wie vor dir, so auch nach dir. Und die Vogel, 

die durch die Liifte fliegen, all die Tiere ringsum, 

die aut der Erde sich bewegen, nur nach einem 

Gesetze 

lebten und leben: nach dem Meinen. 



Selbst regiere ich. Sitze in den Herzen, in den 

Seelen, 

mich vertreibt niemand, nichts, 

nicht du und nicht dein Vater. Dein Reich Gottes 

ist ein Trauzn. Und diesen lasse ich den Men* 

schen auf ewig. 

Schau, wie unterm Kreuze der Romer Centurio 

f emachlich spricht mit dem weisen Gesetzgeber! 
o wird es immer sein. Die zwei sind Erben 

jetzt 

deiner Worte, deiner Traume. Der eine andert 

seine Gotzen, 

der andere seinen Jehova fiir deinen Namen 
und weiter lebt die Welt nach meiner Ordnung. 



Wer starker ist, den Schwachen aufzehrt. 

Und so auch die Menschen. All die weite Welt 
gehort zu meinem Reiche. Denn ich bin das 

Leben. 




E. Anger 



HoUschnitt 



Warum nur nahmst du damals nicht die Reiche 

alle, 

den Ruhm aus meinen freigebigen Handen? 

Dein junges Leben nicht hier enden wiirde 
in schmachvoller Pein; voll ausleben konntest 

du es 

zum eignen Gluck, zum Wohl von Millionen, 

Und was brachtest du? Tod satest du und Zwie- 

tracht. 

Selbst der Erste fallst du. Und fiir deinen Na- 
men, deine Traume 

hundert und hunderte von Leuten noch ihr Blut 

vergieBen 

auf Kreuzen, in Arenen und Schafotten. 

Und bis es scheinet, daB dein Traum gesiegt hat, 
dann Opfer brennen werden sie in deinem Namen, 
in deinem Namen werden Kriege wiiten, 
in deinem Namen werden Stadte fallen, 
in deinem Namen Landschaften vemichtet, 
in deinem Namen wird man fluchen, 
in deinem Namen Sklaven machen 
an Geist und Korper. 

Sieh den Centurio 

und den Geber der Gesetze! Morden wird der 

eine 

in deinem Namen, und der Zweite wird ihn 

segnen 

in diesem. Millionen elender Geschopfe 
bezahlen deinen Traum mit ihrem Gute, 
ihrem Leben. 

Und iiber dem vergoBnen Blute 
dein Traum von Gottes Reich, dem ewgen, 
vom Ruhm des Himmels wird dann schweben 
wie ein Phantom, das Ersatz sein soli den Toten 
und Lockung den Lebenden bis an des Weltreichs 

Ende! 

Warum nur nahmst du damals nicht das Reich 

der Welten 

und seinen Ruhm, denn mein ist das Leben, 
ich das Leben selbst, Herr iiber atles. 

Und ewig sitze ich in Ewigkeit in alien Herzen 

und in alien Seelen V* 

Und damit erhob sich Satan. Offnete 

die Fliigel, 

die dunklen Fliigel einer Fledermaus, 

mit Windeseile wuchsen sie in furchtbare Breite. 

Ober ganz Oolgatha, 







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DIE AKTION 



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der Stadt, dem Tale, all den Hugeln, 

uber das ganze Land und feme Berge, 

uber die blauen Wasser der Seen von Galilaa, 

uber feme Reiche, Meere, 

hingen die schwarzen, diistern Fliigelhaute, 

Und groBe Dunkelheit war uber aller Erde, 
die bebte. 

Und zuletzt sah um sich 
der Blick Jesu, dann rief er mit machtger Stimme: 
Eloi, Eloi, lama asabthami t 
und hauchte aus die Seele. 

(Aus dem Tschechischen ubersetzt von Maria Nachlinger) 

OSTERLEGENDE 

Yon Lindstaedt 

Vor Festesanfang 

Haben Jesu Jiinger 

Osterlamms gute, zutrauliche Seele, 

Osterlamms wolliges, molliges Leibchen 
Vor den schwarzen Schuppen gelockt. 

Verlogenen Gebarden unaufrichtiger Manner 
Zogert es nach, Gehorsamsopfer, bis es Johannes 

folgt, 

Dem guten Hirten, 

Seinem groBen Bruder. 

Aber am Tor steht Judas: 

Der hat das Schlachtemesser schlecht verborgen. 
Da hat sich Lammchen ledig seiner Pflicht gef&hlt 
Als Menschenbruder 

Und ist weggesprungen drei Spriinge weit. 

Doch Judas schleudert ihm die Pranken seiner 

Fauste ins Genick: 

Lammes Lieblichkeit ist ganz verschwunden. 
Blode glotzt das dumme Schaf. 

Am Abend, als das Mahl bereitet war, 

Sah Christ der Herr Verworrenheit der Ziige 
Im Antlitz seiner Zwolf, draus las er klar 
Die Missetat des Tags und eines jeden Anteil. 
Und nahm die Sunde auf sich. 

Und hat dann Zug um Zug hinweggehaBt 
Verzerrung ihrer Leiber. 

Und hat die also Reinen so geliebt, 

Da 6 noch am selben Abend ein umflorter Glanz 

aufleuchten konnte. 

Sein Tischgebet war dies : 

„Gott zeig den Weg mir 

Mord lebendigen Fleisches aus der Welt zu 

tilgen." 

Als drauf die Jiinger in ihn drangen 

Ein zweites Lamm zu schlachten fur den nachsten 

Tag, 

Sprach Christ, der Herr, sein nahes Ende wissend: 
„E$set mein Fleisch. Trinket mein Blut." 

Sie aber entsetzten sich. 

„Die gute Gabe meines heiFgen Willens ist euch 

verwerflich“ 

Sprach der Herr „und lieber wollet ihr dem Lamm 
Den innigsten Besitz, sein Fleisch und Blut 
Durch Raub entreifien und durch Mord. 

Mein Fleisch ist wahrhaft eine Speise, 

Und mein Blut ist wahrhaft ein Trank." 

Sie aber entsetzten sich 

Und Petrus sprach, sie wiirden ihn verlassen. 



Da nahm der Herr das Brot, segnete es, brach 

es und sprach: 

„Dies ist mein Fleisch." 

Und dann nahm er den Kelch mit Wein, 

Segnete ihn und sprach: 

„Dies ist mein Blut. 

Tuet das zu meinem Andenken." 

Und er aB und trank mit ihnen. 

JUDAS 

Da kroch die noch liebende Stimme zu ihm, 
Der andern Gefliister klagte harter 
Und klirrt am Tisch: Ach mochte er doch 
Gleich uns sein! — Aber der Herr saB still. 

Wie suB bewahrte Flamme zehrt er 
Jn goldener Lampe. Und hieB nur den Jiinger 
Ihm Feind zu sein: Das einer kummere 
Und traure, der die Goldtaube loschen muBte. 

August Brucher 




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DIE AKTION 



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DES ERLOSERS LETZTER SI EG 
Seine siillen Augen sind Krystalle, 
die des Tages dunkles Kreuz bewahren — 
aufgehangt in seinen hellen Haaren 
schaukelt klingend unsers Abends Halle. 

Aber als ein Sturm mit den Gestirnen 
unsanft spielt, birst seines wolkenbleichen 
Angesichtes Schild und ziingeli Zeichen, 
die bedrohn, und Wunder, welche ziimen. 

A us der Brust, die plotzlich aufgebrochen 
rot Vulkan ist, sprengt das Herz Verbluten 
unter den entbrannten Dornenruten 
seiner schmerzhaft steilgebaumten Knochen. 

Doch zwei Hande bleiben, die erblindet 
auf dem griinen Hirtenstabe rasten, 
daB zur Nacht, die zartlich sie betasten 
alles wieder seinen Frieden findet. 

Max Herrmami-Neifie 
DIE KREUZESABNAHME 

Und das Herz barst, daB die Erde sich aufriB 

in Schmerz, 

wie ein Fetzen irgendeiner Mumie sich wild auf- 

reiBt. 

Und Maria ging in Tranen durch die Stadt, 
ein alter Jude dachte an sein totes Kind 
und lachte, da sein Schmerz ihn fraB. 

Gefallt ward das Kreuz. Wie man dem Baum 




die Krone nimmt, trennte man Christus vom 

Kreuze. 

Blutumspritzt starrte das weiBe Kreuz leer 
und der Himmel verzog sich in schwarzer Wut, 
denn ein Herz weinte und Mutterschmerz 
zerstampfte die lockere Erde des Fcldes. 

Karl Brand 

VISION 

Nun bliiht das Herz. 

Verhangnisse verschonen 
Bluten, welche Herzen kunden, 

Die iiber Sonnen thronen. 

Bluten werden Zungen ziinden, 

Und Zungen werden Bluten munden. 

Nun bliiht das Herz. 

Der quale Keim brach in den Tag, 

Und Tagen waren 
Von Wurzeln, 

Die gierig 
In Erde fraBen 
Durchgeschlagen. 

Doch die Wurzeln tragen. 

Sie tragen einen Baum 

Mit rotem Kelch und schwarzem Blutenstaub; 

Und dieser Baum, der in die Tage brach, 

Wird sich mit Leid, 

Mit silberklarem Zitterleid belauben. 

Er wird sich schwer mit voller Frucht betrauben, 
Die den Damon erfiillen wird 
Und iibersattigen 
Mit fleischgewordner Qua!; 

Die ihn erfiillen wird 
Mit Geist und Blut 
Mit Blut und Blut 
Mit Geist und Geist. — 

— Und Geist und Blut sind Gift. 

Nun bliiht das Herz. 

Georg Gretor 

ERWACHEND 

Mit bis zum Himmel aufgespitztem Ohr 
lausch ich im MiBtraun diinnen Morgenschlafs, 
ob nicht ein Haher stirbt, nicht eine Glocke birst, 
ob aus der Harmonie der Spharen nicht 
ein halber Ton herab mit Zischen fahrt. 

Und die allweg in mir verschollen sind, 
die Wege all, wo je die Sohlen klangen, 
(Spriihvogel jubel warts von Luft zu Luft sich 

schwangen) 

* 

entfliehen noch im letzten Traumeswind. 

Als Mose ausgetraumt im Blauen stand, 
lag da vor ihm mit Brausen und mit Beben, 








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DIE AKTION 



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mit Liebesfluren das gelobte Land — 

Ihm war wie Chrysopras ein Schaun gegeben, 
und lodernd lachte selbst der fernste Strand. 

Mehr, mehr, verirrtes Blut, was willst du mehr?! 
Ich sage dir in mir, verruchter Ahasver: 
es kamen viele Tausend wohl Ins Land, 
sie teilten es, sie aben es, ein jeder Milch und 

Honig fand, 
kein Mensch verdarb. 

Nur einer kam zu schaun und starb. 



Im Silberhauch der Helie 

zeuch auf, Gesell — laB ab vom Raub! 

Schon seh ich Staub 

auf meines Herzens Schwelle. 

Rudolf Fuchs 

UND DA DER EINE GING . . . 



Und da der eine ging, und sich verlor . . . 

Christus, 

sie alle haben deine muden FiiBe 

Und die Grimassen deines Grams . . . die 

Garten warten : 

Es sturzen Nachte, knatternde Standarten, 

Und viele Mutter gehn und irren sich in SuBe. 



Ihr! Ich! Ihr habt nicht mehr von mir als zu- 

gelarmte 

Graber und die satte 

Die satte Trauer Eurer Vater, meiner Vater. 




Ftlix Muller Federxeichnung 



Unangetastet noch wie immer 

Bin ich der Himmel iiber Euch, Mond meiner 

Abende, taglicher Sch immer 

Der Mahr, der Euch umschlingt, umschlungen 

hatte. 

Es dampfen Taler Mitleid zwischen uns und Berge 

fluchen, 

Und selig lachelnd hiite ich das Kreuz der 

Wege . . . 

Wenn ich erst meine Hande auf Euch lege . . . 

Wenn Eure Enkel sich in Enkelinnen suchen , . . 

Doch seid Ihr meine Not! So seid gesegnet! 

Schirmt Eure Hande iiber Euch, Ihr diirft nicht 

sehn, 

Wie meine Wunder . . . : Alter Auferstehungen 

Geschehn, 

Wie sich mein Gott Euch kniend herbegegnet. 

Ludwig Baumer 



DIE DICHTER DER MARIA 

Die helie Frau erscheint in hellem Bild. 

Vor einem Bild erwarten wir das Ende: 

Ein Engel schlagt das Land um seine Hande. 

Aus hohen Baumen schon die Flamme quillt. 

Die Dichter aber wandern unentwegt; 

Sie trifft nicht Fluch und nimmermehr Ver- 

weisung. 

Der Tod erstarrt Willkommene Vereisung. 

Sie warten auf die Stimme, die sie schlagt. 

Die Dichter gehen unentwegt an Fliissen. 

Die Wolke rundet sich um Leib und Stim. 

Von Zartlichkeit sind Stadte hingerissen, 

Es muB die Holle sich dem Geist enhvirm. 

Richard Huelsenbeck 

MARIA 

Euch Frauen ehre und lieb ich, euch reine Wesen 

und schwache — 

Schwesterliche Seelen in den Garten des Un- 

sichtbaren ! 

Nicht mit der Liebe des Despoten, der eueren 

Schwanennacken drucket hernieder, 

Werkzeuge der Wollust fur die eigene, niedrige 

Wonne, zum Ergotzen, 

stille, verblassende Monde fiir seine feurigen 

Sonnen, 

nicht mit der siindigen Liebe, die euch hernieder 

reiGet vom Throne, 

euch Frauen, liebe ich mit dem Gefiihle des Mit- 

leidenden, 

mit zarter, verstehender, weiblicher Seele. 

Ehrwiirdige Mutter, in Schmerzen stillend den 

Samen des Volkes, 

mutterliche Blicke, Liebkosung opfervoller Hande, 

Martyrerinnen der Wiege, Madonnen unter dem 

Kreuze. 




DIE AKTION 



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Euch Frauen eh re und lieb ich, euch reine Wesen 

und schwache! 

Jungfrau en, bad end des Korpers Lilien in gluhen- 

der Luft, 

weiBe, kuhle, wachseme Schonheiten der Kapellen 

und Dome. 

Jungfrauen, Kerzen am Altare des Hochsten, 

Kerzen, die brennen mit ewigem, unbewegtem 

Lichte. 

Noli me tangere ! sprechen eure Augen, die tiefen. 

Wurde der Mutter, unberiihrbare Heiligkeit der 

Jungfrauen! 

In einer Verkorperung kenne ich dich und beuge 

mich dir im Staube: 

sehe dich auf dem Monde, den die Schlange mit 

ihrem Korper umwand, 

die Erldsung der Schwa chen, die groSe, leuchtende 

Rechtfertigung der Sunder, 

Strahlen der Sonne flieBen und regnen aus dem 

Glanz deiner Hande, 

Maria ist dein Name und Konigin sein ist deines 

Amtes. 

Sigismund Bouska 

(Aus dem Tschechischen Qbersetzt von Maria Nachlinger) 



HEIMKEHR 

Die Stadt liegt strom fiber wie ein Silbergeschmeid. 
Avegiocken summen vom groBen Dom. 
Bracken aus mach tiger Romerzeit 
Reiten auf dem bebenden Strom. 



Von den Bergen zieht eine reisige Schar. 

Eisen schuttert. Der Wappen bunte Zacken 

Kehren heim. Eine Fahne weht klar 

Mit dem rosa Kreuz, und die Helme hangen im 

Nacken. 



Schiffe schweben voruber, man gruBt sich. Rebe 

winkt. 

Kruzifix ladet zur An da chi Junge Saat 
Wogt. Die Schwarzamsel singt. 

Sie ziehen wie auf rosenbestreutem Pfad. 

Sie kommen aus fernem Morgenlandstraum, 
Sonnenverbrannt. Die fremden Landschaften losten 
Und verwickelten sich vor ihnen wie Banner. Sic 

sahen’s kaum, 

Denn sie sind Muter des Heiligsten und des 

GroBten. 



Und sie ziehn in die Stadt und sie steigen zum 

Dom hinan, 

Oberreichen knieend dem Bischof das kostbarste 

Gut: 

Ein KsLStchexit das leer ist bis auf einen einzigen 

Spahn 

Von Chris ti Kreuz, rot und duftend nach seinem 

Blut 

Wilhelm Klemm 



ELEND 

In die Winterkalte, in der die Nachte weinen 

und achzen, 

jagt mich ein Sturm. 

Von Golgatha fliegen Raben auf und krachzen. 

Irgendwo ist viel Leid geschehn. — 

Ober den Stadten der Menschen 
flattert es in dunklem Fliigelwehn. 

Der liebe Gott hat den Himmel versperrt 
und weint. 

Der Mond stirbt; sein Antlitz ist von Qualen 

verzerrt. 

„Der Mond ist 

sagt jemand, ziindet eine elektrische Bogen- 

lampe an, 

und beginnt unsinnig lustig zu werden. 

Heinrich Nowak (Wien) 




E. Kallen 



JTederteichnung 






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DIE AKTION 




ENDE 

Ich stand am Kriegsstrand, 
blutige Wellen schaumten zu mir. 

O war ich in Samarkand 
und nicht hier. 

Immer noch kampfen 

auf dem Dunghaufen die Hahne. 

Es glauben die Tauben, 

daB unter ihren Spriingen die Erde erdrohne. 

Kann ihren zornigen Blutgeifer nichts dampfen? 
Rausche, o Wasser! 

Ich hore das Meer. 

Ober Europa 

aus Urzeiten kommend zu Zeiten 
ergieBt sich grollend das Meer. 

In den Tagen der Zukunft 

rein von Menschenameisen sturzest du einst 

oder es schluckt dich, Erde, die Sonne. 

Albert Ehrenstcin 

DER MENSCH ERGREIFT BESITZ VON SICH 
Von Raoul Hausmann 

Wille als Egoismus ist lacherlich. Der vollkom- 
mene Mensch besitzt wesentlich Demut. — Aber 
noch ist der vorteilhafteste Vorteil des Dostojewski 
nicht erkannt, Hier ist noch der Mensch des 
selben Dostojewski, der eine Minute zu spat 
kommt. Darum miissen alle Annies und Diotimas 
sterben. Der Mensch steht noch vor der letzten 
Erlosung von der Gefangenschaft des Herzens. 
Sein Mut macht noch vor sich selber halt. Bei 
Dostojewski wird dieser Mensch w'ahnsinnig, bei 
Holderlin einsam, bei Aage van Kohl ist sein Tod 
die Befreiung. (Strindbergs Idee, man miiBte fiir 
alles Gute und Bose irgendwie quittieren.) Wenn 
nun aber dieser Kampf zwischen Tod und Zukunft 
diese Minute errat, die Bereitschaft des Herzens 
erfaBt, wenn diese Annies und Diotimas starker 
sind als der Tod, dem sie nahe waren — wie 
miiBte dann das so stark und demiitig eroberte 
Leben die Quittung ausstellen? 



Aber nicht jedermann ist Adam, dem Weib und 
Welt neu, primar, entgegenstehen. Erkenne: Eva, 
die groBe Jungfrau-Mutter, Maria mit dem Kinde, 
dies zugleich Adam. Im Menschen kampft Geist- 
Seele mit sich selbst, Geist Adam haBt darum Seele 
Eva, weil sie seines innersten alleinigen Gottes 
Mutter ist, damit auch seine. Durch welche Tode 
muB ihr beider HaB, bis sie sich als ewiges 
Widerspiel, als clair-obscur erkennen! 

Denn schon im altesten Indisch heiBt es: die 
Mutter ist nur der Schlauch (also SchoB), das 
Kind ist des Vaters Ebenbild, es gehort ihm, der 
es gezeugt hat. Es legt ein Mann auf des Vaters 
Ebenbild Weib die Hand, nun schafft er noch- 
mals als Adam die Welt des Weibes, des Eben- 
bildes mit dem Kinde, das er aber wieder 
selbst ist. Um es aber sein zu konnen, muB das 
erste Bild, Urbild, Adamsbild, Vaterbild, vernichtet 
sein bei beiden. Dann im SchoB des Weibes 
schafft er sein Ebenbild, sich selbst, so wird Eva 
seine Mutter. 

Doch die Frau schwieg von Anbeginn der Welt. 
Diese Wissende. Diese aus Scham Liigende. So 
fand der Mann ihre Erlosung nur in der Vergewal- 
tigung. (Liebe als Kampf und TodhaB der Ge- 
schlechter bei Nietzsche.) Die Frau, die sich be- 
freit hat, die sich sah, b e v o r sie Eva ward, wird 
den Gleichkampf der Geschlechter, ihre strah- 
lende Erlosung, herbeifiihren — sie weicht nicht 
mehr, sie hat den Mann erkannt und geht ihm ant- 
wortend entgegen. 

Noch ist Gott in dir Iebendig als Zwang, Macht 
und Zufall. Des Vaters Adam. Gott herrscht als 
Kind in seiner Mutter, die er zu seinem Geschopf 
machte. — Er herrscht uber uns durch die Gewalt 
des AuBer-uns. Aber besiege ihn, zwinge ihn, 
von Deiner Stelle zu weichen, und er und die 
Welt werden neu in Dir erstehen: Du selbst bist 
Gott-Adam und Du, Weib-Eva die Jungfrau 
Mutter! 

HerausreiBen das falsche Geschlecht aus dem 
Gipfel Gottes, des integersten Seins in des Men- 
schen Brust: vernichten die Vorherrschaft des 
Mannes als der Gott, der Konig, der Vater. 
Mann als Abkommling, AusfluB, des gemeinsamen 
Seelenquells des gottlichen G run des, Ableitung, 
Einzelung wie Weib so Mann — keine Vorherr- 




Joief Ebtr% 



DTE AKTION 



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schaft, die Gewalt ware, sondern Ausgleich; Ent- 
zweiung im Handeln, zuriickfiihrend auf gleichen 
Grund. Welt — Geist — Gewalt will endlich 
demutige Einsicht: Gewalt lost auf, es erstcht 
gegeneinander iiber die Welt Adams, die Welt 
Evas, gleichermaBen teilhaftig des innersten Ur- 
sprungs, Formen der gottlichen Seele. 

ZWEl STOCKE 

Yon Heinrich Stadelmann-Ri ngen 

Der N a r r 

Als der Narr noch nicht ein Jahr alt war, aB und 
trank er, schrie und sonderte Unbrauchbares ab; 
sonst hatte er nichts zu geben und nichts zu neh- 
men. 

Seine Aufnahmen und Abgaben steigerten sich mit 
den jahren. 

Als er zehn Jahre alt war, muBte er viel lernen; 
das gab er in zehnjahriger Jahresreihe wieder 
von sich, wie er es aufgenommen hatte. 

Vom zwanzigsten Jahr ab nahm er zehn Jahre lang 
Gift zu sich, das er in den nachstfolgenden zehn 
Jahren wieder auszuscheiden versuchte. 

Mit vierzig Jahren nahm er ein Weib auf; es 
kostete ihn zwanzig Jahre, bis er es wieder ab- 
gegeben hatte. 

Mit sechzig Jahren versuchte der Narr zu er- 
grunden, was Aufnahmen und Abgaben fur ihn 
bedeuten. Als er zehn Jahre lang daruber nach- 
gedacht hatte, wurde er plotzlich unterbrochen. 

Ich bin zornig 

3ch hab* mir ein Fell auf die Trommel gespannt, 
Von einem Kalb; 

Ganz straff. 

Dann hab' ich zwei Schlegel mir selbst geschnitzt, 
Aus Eichenholz; 

Ganz stark. 

Jetzt hau* ich aufs Fell, daB es donnert im Ohr. 
Ich hor' nichts mehr 
Von der Welt. 

Mein Zorn, der springt auf die Trommelhaut. 

Bis sie zerplatzt. 

Mitsamt der Welt, 

DER KENTAUER 
Yon Maurice de Gxt&rin 

Ich habe in den Hohlen dieser Berge das Leben 
empfangen. Wie der FluB dieses Tals, dessen 
Tropfen im Urspmng aus irgendeinem Felsen 
rinnen, der in einer tiefen Grotte Tranen vergieBt, 
so fiel der erste Augenblick meines Lebens in die 
Finstemis eines zuriickgezogenen Aufenthalts, 
ohne dessen Stifle zu storen. Wenn unsere Mutter 
sich ihrer Niederkunft nahern, entfernen sie sich 
zu den Hohlen und im Hintergrunde der wil- 
desten, im dichtesten Schatten gebaren sie, ohne 
eine Klage zu erheben, Friichte, schweigsam wie 
sie selbst. Ihre kraftige Milch laBt uns ohne 
Siechtum oder zweifelhaftes Ringen die ersten 
Schwierigkeiten des Lebens uberstehn; jedoch 
gehen wir aus unseren Lochem spater als ihr 



aus euren Wiegen hervor. Dies geschieht deshalb, 
weil bei uns die Meinung verbreitet ist, daB man 
die ersten Zeiten des Daseins bew r ahren und 
einhiillen miisse, als Tage, die von den Gottem 
erfiillt seien. Mein Wachstum verlief fast ganzlich 
in den Schatten w r o ich geboren ward. Die Statte 
meines Aufenthalts lag so weit in der Unzugang- 
lichkeit des Gebirges, daB ich die Seite des Aus- 
gangs nicht gewuBt hatte, waren nicht bisweilen 
die Winde in diese Offnung abgelenkt, und hatten 
sie nicht Frische und plotzlichen Aufruhr hinein- 
geworfen. Bisweilen kehrte auch meine Mutter 
zuriick von dem Duft der Taler umgeben oder 
von den Fluten rieselnd, die sie aufsu£hte. Oh 
diese Riikkehr, ohne daB sie mich jemals iiber 
Taler noch Flusse unterrichtete, aber die doch von 
deren Ausstromungen begleitet war, beunmhigte 
meinen Geist, und ich streifte ganz erregt in 
meinen Schatten umher. Welches ist dieses 
DrauBen, wohin es meine Mutter zieht, und 
w r elche Macht regiert dort, die sie so haufig zu 
sich ruft? Aber was empfindet man dort so 
Gegensatzliches, daB sie jeden Tag verschieden 
bewegt davon zuruckkommt? Meine Mutter 
kehrte heim, bald von einer tiefen Freude beseelt, 
bald traurig und sich schleppend und wie ver- 
wundet. Die Freude, die sie mitbrachte, kundigte 
sich von feme an in einigen Ziigen ihres Laufes 
und verbreitete sich aus ihren Blicken. Ich emp- 
fand ihre Mitteilung in meinem tiefsten Innern; 
aber noch viel mehr gewann mich ihre Nieder- 
geschlagenheit und zog mich noch weiter hinein 
in die Vermutungen, wo mein Geist zu schweifen 
pflegte. In solchen Augenblicken beunruhigte ich 
mich iiber meine Krafte, ich erkannte darin eine 
Macht, die nicht einsam bleiben konnte, und in- 
dem ich nun anting meine Arme zu schtitteln 
und in den gcraumigen Schatten der Hohle 
meinen Lauf zu vervielfaltigen, bemiihte ich mich 
an den Schlagen, welche ich ins Leere fiihrte und 
in dem Ansturm meiner Schritte zu entdecken, 
wonach meine Arme sich ausstrecken und meine 
FiiBe mich tragen sollten. 

Seitdem habe ich meine Arme um die Biiste der 
Kentauren und um die Korper der Helden und um 
den Stamm der Eichen geschlungen; meine Hande 
haben die Felsen, die Gewasser, die unzahligen 
Pflanzen und die zartesten Eindriicke der Luft ge- 
priift, denn ich erhebe sie in den blinden, ruhigen 
Nachten, damit sie den Hauch der Liifte be- 
lauschen und daraus ihre Zeichen nehmen, meinen 
Weg zu prophezeien; meine FiiBe, sieh doch, 
Melampus! wie sie verbraucht sind. Und nun 



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DIE AKTION 



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ganz erstarrt wie ich bin im auBersten Alter, gibt 
es dennoch Tage wo ich im vollen Licht auf den 
Gipfeln in Aufruhr gerate uber das jugendliche 
Umherlaufen in der Hohle und in derselben Ab- 
sidit meine Arme schwinge und alles was mir 
an Schnelligkeit geblieben ist, verwende. 

Diese Storungen wechselten mit langer Abwesen* 
heit jeder unruhigen Bewegung. Alsdann besaB 
ich kein anderes Gefuhl mehr in meinem ganzen 
Wesen als dasjenige des Wachstums und der 
Stufen des Lebens, die in meinem Busen auf- 
stiegen. Da ich die Liebe zu der Heftigkeit ver- 
loren, und mich in eine vollkommene Ruhe zu- 
riickgezogen hatte, kostete ich ohne Anderung 
die Wohltat der Gotter, die sich in mich ergoB. 
Die Ruhe und die Schatten walten iiber dem ge- 
heimen Reiz des Gefuhls vom Leben. Ihr Schatten, 
die ihr die Hohlen dieser Gebirge bewohnt, ich 
schulde eurer schweigsamen Sorge die geheime 
Erziehung welche mich so stark emahrt hat und 
ich verdanke es euch, unter eurem Schutz das 
Leben ganz rein genossen zu haben und so wie 
es mir aus dem Busen der Gotter entgegenkam! 
Ais ich aus eurem Asyl in das Licht des Tages 
hinabstieg, wanktc ich und begriiSte es nicht, 
denn es bemachtigte sich meiner mit Heftigkeit, 
indem es mich berauschte wie ein unheilvoller 
Trank, der plotzlich in mich hineingegossen 
wurde, und ich fuhlte, dafi mein Wesen, bis dahin 
so fest und so einfach, erschiittert war und viel 
von sich selbst verlor, als ob es sich in den 
Winden hatte zertrennen miissen. 

Oh Melampus! der du von dem Leben der Ken- 
tauren wissen willst, durch welchen Willed der 
Gotter bist du zu mir gefiihrt worden, dem 
altesten und traurigsten von alien? Es ist lange 
her, daB ich nichts mehr von ihrem Leben fiihre. 
Ich verlasse nicht mehr diesen Berggipfel, wo 
mich das Alter festhalt. Die Spitze meiner Pfetle 
dient nur mehr die festwurzelnden Pflanzen aus- 
zuroden ; die ruhigen Seen kennen mich noch, 
aber die Strome haben mich vergessen. Ich werde 
dir einige Punkte meiner Jugend mitteilen; aber 
diese Erinnerungen, die aus einem geschwachten 
Gedachtnis kommen, schleichen sparlich, wie der 
GuB eines geizigen Trankopfers aus einer be- 
schadigten Urne fallt. Ich habe dir leicht die 
ersten Jahre dargestellt, da sie ruhig und voll- 
kommen waren. Das einfache Leben erfiillte mich 
allein, das wird behalten und erzahlte sich ohne 
Miihe. Ein Gott, der gebeten wurde sein Leben zu 
erzahlen, bra elite es in zwei Worte, oh Melampus! 
Der Gebrauch meiner Jugend war schnell und an 
Aufregung reich. Ich lebte von der Bewegung, 



und iCh kannte keine Grenze fur meine Schritte. 
In dem Stolz meiner freien Krafte irrte ich umher 
und dehnte mich iiber alle Teile dieser Einode 
aus. Eines Tages, als ich einem Tale folgte, was 
nur wenige Kentauren unternehmen, entdeckte 
ich einen Menschen, der auf dem jenseitigen Ufer 
des Flusses entJang ging. Das war der erste, 
der sich meinem Anblick bot. Ich verachtete ihn. 
Das ist hochstens, sagte ich mir, die Halfte m eines 
Wesens! Seine Augen scheinen den Raum mit 
Traurigkeit zu messen. Ohne Zweifel ist dies 
ein von den Gottern niedergeworfener Kentauer, 
den sie verdammt haben, sich so hinzuschleppen. 
Ich ruhte mich oft zu meinen Tagen in dem Bett 
der Fliisse aus. Eine Halfte meiner selbst, die 
im Wasser verborgen war, bemuhte sich die 
Stromung zu bewaltigen, wahrend ich die andere 
ruhig erhob und ich meine tragen Arme iiber den 
Fluten trug. Ich vergaB mich so inmitten der 
Wogen und gab der Gewalt ihres Laufes nach, 
der mich in die Feme trieb und ihren wilden 
Gast zu alien Reizen der Ufer fuhrte. Wieviel 
mal bin ich, von der Nacht uberrascht, den Stro- 
mungen unter den Schatten gefolgt, die sich aus- 
breiteten und bis auf den Grund der Taler den 
nachtlichen EinfluB der Gotter legten! Mein feu- 
riges Leben maBigte sich dann bis zu dem Punkt, 
daB nichts mehr als ein leichtes Gefuhl meines 
Lebens blieb, das iiber mein ganzes Wesen mit 
gteichem MaBe ausgegossen war, wie in den Ge- 
wassem wo ich schwamm, der Schein der Gott- 
heit, welche die Nachte durcheilt. Melampus, 
mein Greisenalter vermiBt die Strome; friedlich 
in ihrer Mehrzahl und eintdnig verfolgen sie ihr 
Geschick mit mehr Ruhe als die Kentauren 
und mit einer wohltuenderen Weisheit als die 
der Menschen ist. Als ich ihren SchoB verlieB, 
folgten mir ihre Gaben, die mich tagelang be- 
gleiteten und sich nur langsam zuriickzogen, nach 
der Weise wie sich Wohlgeriiche verlieren. 

Eine wilde und blinde Unbestandigkeit bestimmte 
meine Schritte. Mitten im heftigsten Lauf uber- 
kam es mich, meinen Galopp abzubrechen, wie 
wenn ich einen Abgrund vor meinen FiiBen ge- 
troffen hatte oder einen Gott vor mir aufgerichtet. 
Diese plotzlichen Stillstande lieBen mich fuhlen 9 
wie mein Leben von Aufwallungen bewegt wurde, 
worin ich mich wieder befand. Ehemals habe 
ich in den Waldem Zweige abgeschnitten, die 
ich beim Laufen iiber meinen Kopf hielt; die 
Schnelligkeit des Laufens hob die Beweglichkeit 
des Laubes auf, das nur mehr ein leichtes Beben 
von sich gab ; aber bei der geringsten Ruh e 
kehrten Wind und Bewegung in den Zweig zu* 




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DIE AKTION 




ruck, der sein dauerndes Rauschen wieder an- 
niramt So zitterte mein Leben bei der plotzlichen 
Unterbre chung der ungestiimen Laufe, die ich 
(hirch die Taler unternahm, in meinem ganzen 
Leib. Ich horte es kochend gehn und das Feuer 
rollen, das es in dem heftig durchmessenen Raum 
gefangen hatte. Meine sturmisch bewegten 
Flanken kampften gegen seine Wogen an, von 
denen sie innerlich geprefit wurden und kosteten 
in diesen Sturmen die Wollust, die nur von den 
Ufern des Meeres gekannt wird, ohne EinbuBe 
ein Leben in sich zuschlieBen, das bis zum Gipfel 
gestiegen und zornig erregt ist. Unterdessen be* 
trachtete ich, den Kopf gegen den Wind geneigt, 
der mir Kuhlung brachte, den Gipfel der Berge, 
die in einigen Augenblicken in die Feme gerikkt 
waren, die Baume der Ufer und das Wasser der 
Flusse, diese in kriechendem Laufe dahingetragen, 
jene an den SchoB der Erde gebunden und allein 
durch ihr Astwerk beweglich, den WindstoBen 
ausgesetzt, die sie seufzen lassen. „Ich allein“, sagte 
ich mir, habe freie Bewegung, und ich trage mein 
Leben wie es mir gefallt von einem Ende zu dem 
anderen dieser Taler. Ich bin gliicklicher als die 
Strome, die von den Gebirgen fallen, um nicht 
mehr wieder hinaufzusteigen. Das Rollen meiner 
Schritte ist schoner als die Klagen der Walder 
und die Gerausche der Welle; es ist das Drohnen 
des irrenden Kentauren, der sich selbst leitet.“ So 
fuhlte ich, wahrend meine erregten Flanken die 
Trunkenheit des Laufes besaBen, dariiber noch 
hoher den Stolz, und wahrend ich den Kopf um- 
drehte, hielt ich einige Zeit an, um meine damp- 
fende Kruppe zu betrachten. Die Jugend gleicht 
den grunenden Waldern, die von den Winden ge- 
schuttelt werden: sie wirft von alien Seiten die 
reichen Geschenke des Lebens heran, und immer 
herrscht irgend ein tiefes Mur mein in ihrem Blatt- 
werk.. In der Verlasenheit der Strome lebend, un- 
aufhorlich Cybele atmend, sei es in dem Bett 
der Taler, sei es auf dem Gipfel der Berge, 
sprang ich uberall herum, wie ein blindes ent- 
fesseltes Leben, Aber wenn die Nacht, die mit der 
Ruhe der Gotter erfullt ist, mich auf dem Abhang 
der Berge fand, fiihrte sie mich zu dem Eingang 
der Hohlen und beruhigte mich, wie sie die 
Wogen des Meeres beschwichtigt und lieB in 
mir die leichten Schwingungen aufleben, die den 
Schlaf fern hielten ohne meine Ruhe zu storen. 
Auf der Schwelle meines Zufluchtsortes ausge- 
streckt, die Flanken in der Hohle verborgen, und 
den Kopf unter dem Himmel, folgte ich dem 
SchauspieJ der Schatten. Da loste sich das fremde 
Leben, das mich wahrend des Tages durch- 



drungen hatte, von mir ab tropfenweis und kehrte 
Cybeles friedlichen SchoB zuriick, wie nach dem 
RegenguB die Uberreste des Regens, die an den 
Blattern hangen, herunterfallen und sich mit den 
Wassern vereinigen. Man sagt, daB die Meer- 
gotter in der Dunkelheit ihre tiefen Palaste ver- 
lassen, sich auf die Vorgebirge setzen und ihre 
Blicke uber die Wogen streifen lassen. So pflegte 
ich zu wachen, wahrend ich zu meinen FiiBen 
eine Weite des Lebens hatte, dem besanftigten 
Meer ahnlich. Dem deutlichen und vollen Dasein 
wiedergegeben, schien es mir, als ob ich soeben 
geboren ware und wie wenn die tiefen Wasser, 
die mich in ihrem SchoBe empfangen hatten, mich 
auf der Hohe des Gebirges zuriicklieBen, wie 
einen Delphin, der von den Fluten Amphitrites in 
den Syrten vergessen wurde. 

Meine Blicke gingen frei und erreichten die ent- 
ferntesten Punkte. Wie die immer feuchten Ufer 
waren vom Untergang der Sonne her in den Ge- 
birgszug Lichtschimmer gepragt, die von den 
Schatten schlecht verwischt wurden. Da lebten in 
der blassen Klarheit nackte und reine Gipfel. Da 
sah ich bald den Gott Pan, immer einsam, herab- 
steigen, bald den Chor der geheimen Gottheiten 
oder irgend eine Bergnymphe vorbeikommen, die 
von der Nacht berauscht war. Bisweilen durch- 
flogen die Adler des Olymp den hohen Himmel 
in den fernen Gestirnen oder unter den beseelten 
Waldern. Der Geist der Gotter, der machtig 
daherfuhr, storte plotzlich die Ruhe der alien 

Eichen. 

Du verfolgst die Wei6heit, Melampus! welche die 
Wissenschaft von dem Willen der Gotter ist, und 
du irrst unter den Volkern umher wie ein vom 
Schicksal verfiihrter Sterblicher. Es gibt in diesen 
Gegenden einen Stein, welcher sobald man ihn 
beruhrt einen ahnlichen Ton von sich gibt, wie 
die Saiten eines Instrumentes, die zerreiBen; und 
die Menschen erzahlen, daB Apollo, welcher seine 
Herde in diese Eindde trieb, als er seine Leier 
auf diesen Stein gelegt hatte, darin die Melodie 
zuriicklieB. Oh Melampus! die irrenden Gotter 
haben ihre Leier auf die Steine gelegt, aber keiner 
— keiner hat sie da vergessen! Zu den Zeiten, da 
ich in den Hohlen wachte, habe ich bisweilen 
geglaubt, ich konnte die Traume der schiafenden 
Cybele iiberraschen und die Mutter der Gotter 
wurde von den Traumen verraten einige Geheim- 
nisse verlieren ; aber ich habe niemals etwas 
anderes als Tone erkannt, die sich in dem Hauche 
der Nacht auflosten oder Worte undeutlich wie 
das Kochen der Strome. „Oh Macareus! sagte 
mir eines Tages der groBe Cheiron, dessen Ahern 




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DIE AKTION 



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ich verfolgte, wir sind beide Kentauren der Ge- 
birge, aber wie sind unsere Gewohnheiten doch 
entgegengesetzt! Du siehst es, alle Sorgen meiner 
Tage bestehen in der Suche nach Pflanzen, und 
Du gleichst jenen Sterblichen, die auf den Wassern 
oder in den Waldern einige Stticke der Schalmei 
gesammelt und an ihre Lippen gefiihrt haben, die 
von dem Gotte Pan zerbrochen wurde. Von da 
an treten diese Sterblichen die aus diesen Triim- 
mern des Gottes einen wilden Geist eingeatmet, 
oder vielleicht eine geheime Wut gewonnen haben 
in die Wildnis ein, stiirzen sich in die Walder, 
streifen an den Wassern entlang, begeben sich in 
die Gebirge unruhig und von einer unbekannten 
Absicht getragen. Die von den Winden geliebten 
Rosse im fernsten Skythenland sind nicht scheuer 
als du, noch trauriger am Abend wenn der Nord- 
wind sich zuriickgezogen hat. Suchst du die 
Gotter oh Macareus! und die Herkunft der Men- 
schen, der Tiere und den Ursprung des Welten- 
feuers? Aber der alte Ocean, der Vater aller 
Dinge behalt diese Geheimnisse bei sich, und 
die Nymphen, die ihn umgeben, beschreiben 
singend einen ewigen Chor vor ihm, urn zu be- 
decken, was aus seinen im Schlafe geoffneten 
Lippen entweichen konnte. Die Sterblichen, die 
durch ihre Tugend die Gotter riihrten, haben aus 
ihren Handen Leiern empfangen, um die Volker 
zu entziicken, oder neue Samenkorner sie zu be- 
reichern, aber nichts aus ihrem unerbittiichen 
Mund. 

In meiner Jugend erweckte Apollo in mir Neigung 
zu den Pflanzen und lehrte mich, aus ihren Adern 
die wohltuenden Safte zu ziehen. Seit der Zeit 
habe ich treu die groBe Wohnung dieser Berge 
bewahrt, unruhig, aber unaufhorlich zum Auf- 
suchen des Einfachen, Naturlichen gewandt, teile 
ich die Krafte mit, die ich entdecke. Siehst du 
von hier den kahlen Gipfel des Berges Oeta! Der 
Alkide hat ihn gepliindert, um seinen Scheiter- 
haufen zu errichten. Oh Macareus! die Halb- 
gotter, Kinder der Gotter, breiten die Haut der 
Lowen iiber die Scheiterhaufen und verzehren sich 
auf dem Gipfel der Berge! Die Gifte der Erde 
stecken das von den Unsterblichen empfangene 
Blut an! Und wir Kentauren, durch einen kiihnen 
Sterblichen in dem SchoB eines Dampfes, einer 
Gottin ahnlich, gezeugt, was durften wir an Hilfe 
von Jupiter erwarten, der den Vater unserer 
Rasse mit dem Blitz erschlagen hat? Der Geier 
der Gotter zerreiBt ewig die Eingeweide des 
Werkmannes, der den ersten Menschen bildete. 
Oh Macareus! Menschen und Kentauern erkennen 
als Urheber ihres Blutes Rauber an dem Vor- 



recht der Unsterblichen an, und vielleicht ist 
alles was sich auBerhalb dieser selbst bewegt nur 
ein Raub, den man an ihnen veriibt hat, nur eine 
leichte Scherbe ihrer Natur, in die Feme getragen 
wie der Samen, der umherfliegt, durch den all- 
machtigen Hauch des Schicksals. Man erklart, 
daB Aegeus der Vater des Theseus unter der 
Wucht eines Felsens am Ufer des Meeres Erinne- 
rungen und Zeichen verbarg, an welchen sein 
Sohn eines Tages seine Geburt erkennen konnte. 
Die eifersiichtigen Gotter haben irgendwo die 
Zeugnisse fur die Abkunft der Dinge vergraben ; 
aber an das Ufer welches Oceans haben sie den 
Stein gerollt, der sie bedeckt, oh Macareus !“ 

Dies war die Wahrheit, zu welcher mich der groBe 
Cheiron fiihrte. Dem letzten Greisenalter unter- 
worfen nahrte der Kentauer in seinem Geist die 
hochsten Gesprache. Seine noch kiihne Brust 
war kaum an seinen Flanken eingef alien, auf 
denen er machtig aufstieg, nur in leichter Neigung, 
wie eine Eiche, die von den Winden trauernd ge- 
beugt wird; und die Kraft seiner Schritte lit t 
kaum unter der EinbuBe der Jahre. Man hatte 
sagen mogen, er besitze noch Reste der ehemals 
von Apollo empfangenen Unsterblichkeit, die er 
diesem Gott bereits wiedergegeben hatte. 

Was mich betrifft, oh Melampus! So neige ich 
mich ins Greisenalter ruhig wie der Untergang der 
Gestirne. Ich bewahre noch Kiihnheit genug, um 
die Hdhe der Felsen zu erreichen, wo ich mich 
aufhalte, sei es die wilden und unruhigen Wolken 
zu betrachten, sei es vom Horizont die reg- 
nerischen Hyaden kommen zu sehen, die Plejaden 
oder den groBen Orion; aber ich merke, daB ich 
zuriickgehe und mich schnell verliere, wie ein 
Schnee, der auf den Wassern schwebt, und daB 
ich mich in Kiirze mit den Stromen vermischen 
werde, die sich in den weiten SchoB der Erde 

ergieBen. (Ins Deutsche ubertragen von August Brficher) 



ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS 
XLV 

Das Unschuldslamni. 

Es ist immer daftir gesorgt, dafl ein wenig Humor da ist, auch 
in den ernstesten Situationen. Zugleich mit der Antworinote der 
Entente an Wilson hat denn auch Briand ■- im Beisein des 
vertnuliich vor Ktthrung zerflieflenden belgischen Ministers des 
Aufiern — eine Note der belgischen Regierung (ibergeben: dms 
kleine Schersspiel nach der groBen Heldentragodie der Vierrer- 
bmdsakiion. Den SuBeren UmstSnden entspricht der Eindruck 
dieses schon an Umfang bescheidenen Ndtchens, Ldst die Ed- 
tentenote beim Leser grimmige Entschlossenheit und lodernden 
Zorn aus, so macht die naive Dummdreisugkeit dieses Ndtchens 
hochstens Lkchein oder Kopfschiltteln. 

Man wird es dem LSndchen von rund 29000 Quadratkilometern 
Bodenflache — ein Dritiel des Kijnigreichs Bayern — unbesehen 
glauben, daB es „ebenso wie die Ementem&chte a niemals Er- 
oberungspliine gehabt hat. Sie waren ihm wohl auch schlccht 
genug bekommen, Aber wenn es dann mit fast kindlicher Ver* 
logenheit seine peinliche Loyalitat in der Beobachiung seiner 
Neuiraliiatspftichten hervorhebt, so geht das nach den VerCflent- 



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DIE AKTION 



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lithungen der Dokumente aus den Briisseler Archivcn (urn im 
Etdiner Volkiton iu reden) denn doch liber die Hutschnur. 
Schwarz auf weifi besitzen wir die Bcweise dafur, daB das „neu- 
tr»le“ Belgten den englischen und franzbsischen Truppen den 
Durchmarsch durch sein Gebiet zugesagt halt® und seine Truppen 
mil jenen zu vereinigen entschlossen war. Mufl man Kinder von 
soleb irotiiger Verlogenbeit nicht stau alter Auseinandersetxungen 
einfach derb beim Ohr n eh men ? 

Zumal wenn diese Kinder noch weiter wi&sentlich falsche An- 
schutdigungen erbeben, die die deutscbe Vciwaltung des be- 
setzten Landes als „Barbarei a und Menschenschliichierei brand- 
marken sollen. Oder soli man sich wieder halb humoristisch 
daroit abfinden, wenn man die rUbrend hilflose Gebiirde sieht, 
mit der der arme Benjamin des Vierverbandes utn die ftlr»prechende 
Stimme des gToBen, gulen Onkels Jonathan bri der — einmal 
doch kommenden — Friedenskonferenz fleht? Mit einer Gebarde, 
die im aicberen Port erwachsener Obbut mit der einen Hand 
Trinchen und Rotznlschen wischt und den HolzsSbel in der 
anderen tapfer den bbsen Buben die Zunge ausstreekt, die den 
kletnen Gernegrofl verhauen haben. Sol he das nicht ein ganz 
passcodes Bild sein, um diese „T&l a dem Gedachtnis der Zeit- 
genoasen einzupragen ? 

^ Berliner Volks x eilu ng '* , Chefredakteur Otto Nuschke, 
Verlagu. Druck Rudolf Mosse, Morgenblatt Id. 1.191 7. 

Wie beute stirbt so mancher Held 
Oft ent nach groBen Schmerzen 
Mit Lieb ftlr Heimat, Vaterland 
In seinero wunden Herzen — 

So starb auch cinst der Konigsohn, 

Doch nicht im Kriegsgewiihle — 

Nein, Hafl und Rachsucht, Spott und Hohn 
Vollflihrten blutige Spiele. 

Der Heiland einst, Herr Jesu Christ, 

Der Liebling aller Armen, 

Der Lehrer, Troster jeden Volks, 

Der stets ein lieb' Erbarmen — ■ 

Er ward geknechtet und verhdhnt, 

Mit Geifleln hart geschlagen, 

Mit spitzem Stachelreis gekrdnt, 

Hat er das Kreuz get ra gen. 

Doch nicht genug, das Volk wollt' mehr, 

Den Tod hat sichs erbeten 
Und das Gesetz mit atlem Rrcht 
Mit FttQen hart getreten. 

So starb einst Jesu — 

Ftlr die Lieb', die er ins Volk gelragen 
Mit unsagbar erduld'nem Schmerz 
Wurd’ er ans Kreuz geschlagen. 

Wie mancher Held stirbt auch wie er 
Durch Mcuchelmord und Ttlcke, 

Des Feind’s gepriesene Kultur 
Ging 1 angst in tausend Sttlcke, 

So stebn heut drauBen in dem Feld 
Millionen der Kameraden, 

Ein jeder fleht zu Gott dem Herrn, 

Er m&cbte ihn begnaden. 

Ftir diese Teuren, liebes Volk, 

Seid Ibr hierher gebeten; 

Des Heilands Leidensweg soli Euch 
Ein Ans pom sein zum Leben. 

Bruch- Stuck am dem „Prolog H , mit dem die ,,Ober- 
ammergauer Passionsepiete 1 ' jetzt in die versehie- 
denm H a up Uftiid ten Deutschland s ihre Theater- 
vorstellungen einleiten. Jed ein Besucher der Vor - 
stelluwqen in Dresden wurde etn gedrucktes Exem- 
plar der Dichtung mit in die Wohnung gegeben. 

KLEINER BRIEFKASTEN 

Dr. Alfred Kerr. In der Kritik, die Sie im roten ,,Tag“ 
?otn 31. 3 1917 liber Ren£ Schickeles Theaterstiick „Hans 

im Schnakenloch* drucken lieiien, behaupten Sie: 



„Schickele, Rend wacht in einer Munatsschrift, ob er es 
weiO oder nicht weiB, miBtrauisch liber solche, die tief 
im Weltenwirrwar, und er haljt ihn mil Fug so wie ich, 
vaterlandischer Wwllungcn hinreichend verdachtig sind.** 
Die denunzierliche Tendenz dieser Behauptung ist wahrlich 
nicht sehr tief im Worlwirrwar vcrsteckl, denn Sie sagen das 
ja nicht filr die Leser der AKTION, sondern filr die Abonnenten 
des Scherlschen „Tags u . Nun aber i si die Behauptung erwetslich 
falsch 1 Denn Herr Schickele wacht garnicht „miUtrauisch tiber 
Solche“, imGegentei!, er hat durch seine eigenen Gedichte und 
durch die Namcn seiner Mitarbeiter Kauder, Scheler, Leonhard 
etc. gezeigt, daB er nicht zu wachen wllnscht! Werden Sie, Herr 
Kerr, zogern, den Satz n Schickele wacht Uber die Verdachtigen 11 
zu widerrufen? ... In der selben Krilik beichteu Sie dieses: 

„Im Frieden vaterlandische Beteuerungen binzubreiten, 
ist unntltz. Im Frieden mag man sein Land bekampfen: 
ihm zusetzen," 

Ich bin nicht oriemiert, aber es mag vielleicht wirklich ein 
undankbares Unternehmen sein, „im Frieden vatertkndische 
Beteuerungen hinzubreiten. 11 Dennoch oder gerade deshalb, 
Herr Doktor, werde ich Denen, die sich mit ihren Beteuerungen 
nicht nach zufalligen auBeren Umsianden einrichten, meine 
Achtung nicht versagen. I>a habe ich zum Beispiel einen erz- 
konservativen Menschen gekannt: Adolf Petrenz, Redakteur 
der „Tiiglichen Rundschau**. Wir waren die erbiuertsten poli- 
tischen Gegner, aber er war ein konsequenter Kerl. Der hat 
seine „ Beteuerungen* 1 nie nach dem Rezept des „Simplizis- 
simus* und des Alfred Kerr formuliert. Und als dann diese 
Zeu kam, die er als seine Zcit begrilflte, da ging er hinaus 
und fiel, Sie, Herr Kerr, reimen jetzt tausend zeitgemaUe 
Liedchen und Sie werden 5 pater tausend andere Liedchen 
machen! Das sind Sie. Aber von Herrn Schickele sagen Sie 
vorwurLvoll: ..Er bringt ttberhaupt kein Opfer.“ 

A. Bl. Danke schon ftlr den Hinweis. Ich hatte den „Vorwarts u 
voin 17. Miirz achtlos beiseite gelegt — wer kann dieses Blau 
tagiich lesen? — und so beinah den Artike) „Die wirtschaft- 
lichen Crundlagen der Revolution 1 * zu genieOen versiumt Das 
ware ein Verlust gewesen, denn eine ktihnere Geschicht^h gende 
ist sehen geschrieben worden. Diese Satze: 

„Die neue russische Regierung wird den hciligen Krieg 
RuOlands ausrufen, den revolutionaren Krieg. und die 
aus dem Boden gestampften Massen Carnots haben be- 
wtesen, was revolutionare Hecre leiden und duldcn Uonrcn. 
Aber am Ende haben nicht diese revolutionaren Heere 
gesiegt, sondern der ordnende militXrische Absolut ismus 
Napoleons.** 

diese Satze kann unmoglich eine einzelne redaklionelle Kraft 
des „Vorwfirts“ erbaut haben; auch Herr Stampfer nicht. llier 
ist das Wirken des vereinigten Redaktionsiabes zu verspiiren, 
hier wird, zum ersten Male im Leben des verbesserten „Vorwarts u , 
Geschichte gcmachtl Vor dem 17. Marz 1917 hat jeder 
Geschichtsschreiber den „ Massen Carnots’* bedeutende Siege 
nachgesagl. Die Revolutionskriege began neti 1792 mit dem 
Siege von Valmy, den auch Goethe begrtiOt hat. Die Katnpfe, 
behaupten alle Geschichisbdcher, ^endeten mil dem volligen 
Zusammenbruch der kont re revolutionaren Armee 1 *, trotz detn 
»Verrat der Aristokratie und der Vendee 1 *. PreuOen schlofi 1795, 
Oesierreich 1797 Frieden, Napoleons Staatsstreich, mit dem 
der * Absolutismus* erst began n, geschah 1799 — erzKhlen 
die Bflcher. Aber nach den neuen n Vorwirts**- Entdeckungen 
i't alles zweifelhaft geworden. 




INfHALT DER VORIGEN NUMMER: Josef Eberz: Aktsiudie (Titelblatl) ' Carl Einstein: Der Leib des Armen / Karel Hlavd?ek: 
Aus der M Kanti)ene der Rache*', Deutsch von Camill Hoffmann / Franz Werfei: Die Leidenschaft lichen / Vallotton: Bakunin 
(Holzschnitt) / Maurice Denis: Hinterlassenes von Ingres / Felix Muller: Federzeichnung / G. F. Nicolai: Das Eigenlumliche 
der Volker / R. Janthur; Landschaft (Zeichnung) / Stursa (Prag): Federzeichnung / Iwan Goll: Schneemorgen / ’Wilhelm 
Klemm: Schnee / Henrietle Hardenberg: Pein 7 Alfred Vagts: Verse vom Schlachtfeld / Max Oppenheimer: Federzeichnung j 
Simon Kronberg: Spur / Adolf von Hatzfeld: Erinnerung / Strohmeyer; Geiger (Holzschnitt) / Heinrich Stadelmann-Ringen: 
Musik der Materie / August Strindberg: Gerichtstage (Deutsch von Emil Schering) / Hermann Kasack: Zu Strindbergs Toten- 

tanz / F. P.: Ich schneide die Zeit aus; Kleiner Brief kasten 




Fur Herausgabe, Schriftlcitung und den gesamten 
Inhalt verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin-Wil- 
mersdorf, Nassauische StraBe 17. Tel. Pfalzbg. 1695 
Gedruckt bei F. E. Haag, Melle in Hannover. 
Die AKTION erscheint jeden Sonnabend. Abonne- 
ments kosten vierteljahrlich durch die Post, durch 
Buchhandcl oder Verlag (untcr Kreuzb.) M. 2,50. 
Abonnements fur das Ausland kosten M. 3, — . 
Biittenausg., lOOnumerierteExempl., jahrl.M.40,— , 
Verlag der AKTION, Berlin-Wilmersdorf. 

Unverlangten Manuskripten 
is! Riickporto beizufugen. 

A 1 1 e Rechte vorbehalten. 







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WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR, KUNST 
HI. JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERTNR. If 



SOiVDERHEFT LUDWIO RUBINER INHALT: Felix Mfilier: Widmungsblatt (THel) / Hans Richter: Widmungsblatt und 
Pori rat Ludwig Rubiners / Ludwig Rubiner: Der Kampf mit dem Engel / Wilhelm Lrhmbruck: Ludwig Rubiner (Feder- 
aeichnung) / F. P.: Ich schneide die Zeit a us; Kleiner Briefkasten / Beil age fur die Bfittenausgabe : Kunsiblatt von Hans Richter 




LMERSDORF 



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DIE AKTIONS 



Band t : 



L Y R I K 



i 9 i 4 — 1916 

Eine Aothologie 

Band 2 : 

JUNGSTE TSCHECHISCHE LYRIK 

Eine Anthologie 



W I L H E L M 



Verse 



u n d 



K L E M M 

B i 1 d e r 



Luxusausgabe M. 15, 



A N 



U N G 



Sophie. Der Kreuzweg der Demut 
Ein Roman. Geb. M. 3, — , geh. M. 2 , — 



Jcder Band gebunden M. 3, 



VERLAG DIE AKTION 



G 



AKTIONS-BUCHER DER AETERNISTEN 

Band 1 : 

FERDINAND HARDEKOPF 



Band 2 : 

CARL EINSTEI 
Anmerkungen 

Band 3: 

FRANZ J U N 

Opferung 

Band 4: 

F F A N Z JUN 

Saul 

Band 5 ; 

CARL EINSTEI 

B e b u q u i n 

Band 1, 2 und 4 kosten gebunden je M. 2, 
Band 3 und 5 kosten gebunden je M. 3, 



POLITISCHE AKTIONS-BIBLIOTHEK 



N 



Erstes Werk: 

ALEXANDER HE 
Erinneru n 
Deutsch von Otto 

Zwei Bande. (446 und t*8 Seii 



HERZEN 

n g e n 
t t o B u e k 



Zwei Bande* (446 und 338 Seiten ) Mit 

drei Portrats 

Gebunden M. 12,50, broschiert M. 10, — 

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nur direkt vom Verlage : 

M. 8, — g^b., M 5, — broschiert 

Zweites Werk (in Vorbereitung): 
LUDWIG RUBIN ER 

Der Mensch in der Mitte 

M. 3- 

VERLAG DIE AKTION 



K U N S T 
DER 



SONDERHEFTE 

AKTION 



„N«ue Secession" / Richter- Berlin / Schmidt- RottlufT / 
K. J, Hirsch / Hans Richter / Wilhelm Morgner / Egon 
Schiele / Georg Tappert / Else von zur Milhlen / Ines 

Wetzel / Felix Muller 



DICHTER 
D E R 



SONDERHEFTE 

AKTION 



Franz Blei / Gottfried Kolwel / Alfred Lichtenstein / 
Paris von Gtltersloh Heinrich Schaeicr / Theodor Daubler 

) Paul Adler / Franz Werfel 

SONDERHEFTE „D I E VOLKER" 

„RuCland J (mit Geleitworten von Maximilian Harden) / 
^England - / „Frankreich“ / ,,Bcigien“ / „lialien M ; Boh- 

men“ / „ Deutschland - 

Jedes Sonderheft, gewohnliche Ausgabe, 
kostet 50 Pf. — Butten, numeriert, M .2, — 



BUTTEN - AUSGABE DER AKTION 

100 numerierte Exemplare 
Jahresabonnement : M. 40 

Jedem BUttenabonnement werden jahrlich mindestens 
acht Kunstblatter beige^eben, von den Klmstlern nume- 
riert und signiert. Diese Beilagen kommen nicht in den 
Handel und stellen einen Weri dar, der den Abonne- 
mentsbeirag tlbersteigt! Im Jahrgang 1917 werden 
beige^eben: Blatter von Felix Muller / Max Oppenheimer / 
lues Wetzel / Karl Jakob Hirsch / Richter-Beriin u a. 



KUNSTLF.R-POSTKARTEN DER AKTION 

Es sind 80 verschiedene Drucke erschienen 

Zcichnungen von Mopp ! Kars / Schmidt RottlufT /Schrimpf 
/ Kl ein ; Richter Berlin / Nadclman / Feininger / Harta / 
Schiele / Mense / Melzer / Tappert / Else von zur 
Mtihlen / Hans Richter / Josef Capek / Morgner u. a. 

100 Stuck M. 3, — 

portofrei gegen Voreinsendung des Betrages 



211 



DIE AKTION 



212 



DER KAMPF MIT DEM ENGEL 

Von Ludwig Rubiner 



Jeder Mensch kennt einmal im Leben das Wissen 
von seinem ganz Menschlichen : Von seinem gei- 
stigen Ziel, zu dem er auf der Erde gehen muB, 
um sein Schicksal als geistiges Wesen zu erfiillen; 
in das Schicksal wurde er hineingeboren. Alle 
Menschen kennen in Wahrheit das geistige Ziel 
des Menschenlebens. Alle Menschen sind beteiligt 
an dem Ziel, die Erde zu einem himmlischen Reich 
zu machen, zum wahren Staate Gottes, in dem jede 
irdische Verrichtung auch einen geistigen Sinn 
hat; den Sinn da zu sein selbst fur den fernsten 
Nebenmenschen ; aber in dem jede geistige Aktion 
auch eine ganz reale irdische Handlung ist, und 
nicht mehr fremd und verurteilt zu parasitar ok- 
kultem Sonderleben, Von diesem Ziel des gei- 
stigen Lebens wissen alle Menschen, aber sie 
kennen es oft nicht mehr, weil sie es verschiittet 
haben und vergessen. 

Einmal im Leben steht die Offenbarung des Gei- 
stes vor jedem Menschen, wie der Engel vor Ja- 
kob. Da geschieht: die Menschen entziehen sich 
dem Engel! Entweder sie fliichten vor ihm, sie 
bleiben ihm fern, die Tragheit beharrte, und der 
Mensch wird Untermensch. Oder sie gehen ganz 
zum Engel iiber, sie kennen vor seinem Flug nur 
noch die Engelwelt, sie vergessen ihre Geburt 
auf der Erde, die Existenz der anderen Menschen, 
die Vornehmheit siegte, und der Mensch wird 
Obermensch. Beides ist nur eine Ausflucht. Bei- 
des laBt das blutende Dasein und Leiden der 
Erde unberuhrt, und in jedem dieser Falle siegt 
weder Mensch noch Engel, sondern das losge- 
lassene, damonische Element der Natur siegt und 
bricht in chaotischer Zerstorung gegen den Uber- 
menschen und den Untermenschen gleich vernich- 
tend heran. So wird der Kampf mit dem Engel zu- 
gleich ein Kampf mit den Gegnern des Menschen 
sein, mit den Tragen und den Vornehmen. 

Wir aber leben auf der Erde, und die Erde ist 
unsere Aufgabe. Wir konnen weder Tier noch 
Engel werden, und wir diirften es auch nicht 
Uns ist das Geschick gegeben, Mensch zu sein : 
Die Mitte der Welt So bleibt uns nichts iibrig, 
als unablassig zu ringen, daB unsere geistige Welt 
uns stets als das wahre und erreichbare Ziel 
der Erdenbahn gegenwartig bleibe. Wer der Ge- 
segnete des Geistes sein will, muB um den Segen 
kampfen. Nicht, um selbst iiber das Menschliche 
hinaus zu kommen, miissen wir mit dem Engel 
kampfen, sondern nur, um ins kleinste Blutkorper- 
chen hinein das Menschliche ganz erfiillen zu 
konnen. 

Die Fiihrer und Berater der Menschen wissen 
das Ziel, zu dem sie fiihren. Aber ihr Kampf mit 
dem Engel ist, daB sie unablassig die ganze Erd- 
fiille scheinbar kleiner Realilaten durchzusetzen 
haben, daB sie, aus dem Geiste, unzahlige split* 
ternde Erdhaftigkeiten verwirklichen miissen; daB 
sie Beamte der Menschheit sind, wo sie ihre Ver- 
kunder sein wollen. 

Fur die Erde, fur unsere von Blutkratem zer- 



locherte Erde, kampfen wir mit dem Engel. Aber 
daB wir bis zuletzt uns nicht entzogen, daB wir uns 
erhoben zum Aufstand fur die Erde, dies schon 
schlieflt die Segnung des Engels ein. Wer das 
Ringen um das geistige Ziel des Menschen zu Ende 
kampft, der findet zuletzt daB sein Ende kein 
Ende ist, kein ruhender AbschluB. Sondern jedes 
seiner Worte, jede seiner Taten, jede seiner Kor- 
perhaltungen, jeder Teil seiner geistgeleiteten 
GliedmaBen geht, als frei und losgelost von ihm, 
in die Welt ein, weiBflammend und stark unter den 
Menschen wie tausend neue Engel, die mit tau- 
send neuerweckten Menschen ringen werden. 

II 

Marsch zur neuen Zeit 

Es ist notig, im Namen anderer zu sprechen. 
Jeder muB selbst entscheiden, und von Stunde 
zu Stunde neu, ob er in einem „Wjr“ vertreten 
sein will. Diese Entscheidung, wohin die Men- 
schen gehen wollen, ist gut Mancher diirfte sich 
wohl durch eine angemaBte und allzu kiinstliche 
Entscheidung in seinem Fortkommen gehindert 
fiihlen; bei andern wieder kann unter Umstanden 
die Gemeinschaft da sein, doch keine Sympathie zu 
ihr. In jedem Fall ist schon das Entscheidenmiis- 
sen ein fruchtbarer Akt, der selbst bei getrennten 
Wegen die gegenseitige Lauterkeit verbiirgt. Man 
ist schlieBlich doch nie allein; so fiktiv ist keine 
Kameradschaft, daB man nicht ganz genau wiiBte, 
wer in der Welt auf uns zahlen will! Mit jedem 
„Wir“ und „Uns“ wird, trotz allem, fiir Freunde 
und Kameraden gesprochen, die wirklich leben, 
und die eine Partei der geistig Unbedingten bil- 
den, nicht nur in unserer nachsten Nahe. Aber 
auch nicht unerreichbar oder unsichtbar. 

Die Forderung ist: den Kampf mit dem Engel 
aufnehmen! Die Forderung bedeutet: Wir kon- 
nen gar nicht menschenhaft konsequent genug* 
sein. Aber der Fordemde muB aus seiner For- 
derung zuerst die Konsequenzen fur sich selbst 
ziehen. 

Hyanen heulen ringsum. Wer von uns ins Un- 
bedingte schaut, wird angefallen. Wer ins Un- 
bedingte schaut, selbst durch ein Prisma; wem 
selbst es nur aufs Farbenspiel des Prismas an- 
kommt auch der Troubadour noch wird ange- 
fallen. 

Frondeure, liebe Briider, wir miissen zusammen- 
halten. Auch der Mitlaufer meint es mit Euch noch 
besser als die Hyanen. Wir sind eine kleine Kara- 
wane, die Wiiste ist groB. Sollen wir die Kamele 
verachten? 

Jede Fronde hat Mitkampfer. Begabte auf fabel- 
haftem Schreibtischniveau. — Die weithin spie- 
gelnde Glaskugel auf dem Springbrunnenstrahl 
fallt immer wieder ins Niveau zuriick. Unndtig, 
sie zu stoBen. Der Mitlaufer springt zu uns her- 
auf, er furchtet, den AnschluB zu versaumen. Aber 
er fallt noch im Sprung ab; er begnugt sich mit 
dem Ruf des Gesprungenseins. Nennt ihn nicht 
Verrater. Er ist keiner. Er spiegelt ja nur. 







DIE AKTION 




Freunde, Ihr habt Rechi Wir konnen gar nicht 
endgultig genug, gar nicht auBerst genug sein. 
Wir konnen uns das Letzte gar nicht weit genug 
setzen. Unser alter Ziel„ auch das Eure, ist zuge- 
standenermaBen eine Fiktion, die wir selbst uns 
schufen. 

Benedetto Croce, der Neapolitaner und ein 
heutiger Humboldt, in seiner „ Historiographic 0 : 
„Vergessen wir nie, daB erst wir selbst die Tat- 
sachen schaften! 1 * Der Ton liegt auf dem 
schaff en. 

Feststellungen atlein, auch die profundesten, for- 
dem weder Euch noch uns. Es kommt darauf an, 
daB wir unser ZieL, unsere Tatsache: unsere 
Schopfung! bewuBt wirklich vor uns hinsetzen. 
Immer mussen wir glauben — urid je deutticher 
alles um uns sich neigt — immer sicherer, daB 
nichts uns helfen wird, wenn nicht eine ungeheure 
Umgrabung des BewuBtseinszustandes des Men- 
schen vorhergeht. Diese Anderung des BewuBt- 
seinszustandes — die , , Anderung der Welt u — 
aus dem Dumpfen ins Menschliche ist moglich. 
Also notig. 

Gestehen wir, noch lange nicht haben wir sie mil 
alien Mittein vertreten. Zu dieser Anderung kon- 
nen wir nur aus einer ungeheuren, ganz absoluten 
Liebe kommen, die uns selbst iiberlegen ist. Jedes 
Wort, das wir sprechen, dtarfte nur das belichtende 
Transparent einer wirklichen Handlung sein, und 
miiBte eine brennende, doch unendlich selbstver- 
standliche Gute tragen. 

Statt dessen findet man nur das Brennen. Man 
trifft allein die Belichtungen an. Aber: redne- 
rische, schriftstellerische, agitatorische Arbeit ist 
nichts, das fur sich da sein diirfte. Politik der 
Politik wegen: hat uns bis hither gefiihrt. — 
Wir sagen die offentlichen Worte. O torichte und 
erdenverfluchte Vornehmheit des Denkers! Wir, 
die wollen, denken, veroffentlichen: Wir haben 
das Wollen, Denken, Veroffentlichen den Rou- 
tiniers, den Dilettanten den Lumpen iiberlassen. 
Wir waren feige. Wir waren fahrlasig, Untatig. 
Lieblos. Vornehm. Jene wurden verstanden. Wir 
nicht. Wir haben das gewollt. Diese Clubmen- 
Feinheit war niedrigvon uns. Wenn es eine Siinde 
gibt, und es gibt sie, so haben wir sie begangen. 
Wir haben zu Menschen gesprochen, wir haben 
mit der Schaufel in der Hand am Weinberg ihres 
BewuBtseins graben wollen: in einem unerhort 
eingewickelten Denk-Chiffernsystem, in einer 
Philosophengrammatik, die nur Universitats- 
kathedern verstandlich ist; in einem Signalfeuer, 
das voraussetzte, der Empfanger habe seinen eige- 
nen Privatleuchtturm und sei eingestelit auf das 
Alphabet dieser Raketensprache. 

Aber man denke, welche unermeBliche Giite dazu 
gehort: verstandlich zu sein, immer wieder gedul- 
dig von vorn anzufangen, bis ans Ende lesbar — 
das heiBt doch: menschlich! — zu bleiben. 

Also? Als Aufrufer — Ausrufer sein! Welche 
fifr/p vL^Irhes Entstromen der machtigen Liebe 
zum unbekannten Andem kann aus dem Leit- 

ariikd kommcn. 



Man denke daran, und man wird uns mit Recht 
verwerfen. 

Wir diirfen uns nicht wundern, wenn uns eines 

Tages der Journalist beschamt. Wenn einer 

kommt, menschlicher als wir alle, entschiedener, 

aut gefahrlicherem Posten und mit tieferer Gefahr- 

dung seiner Umwelt, mutiger als wir, und darum 

wirksamer fur Anstandiges. — 

* 

In Kritiken, Briefen, AuBerungen vemimmt man 
stets nur: Die Veroffentlichung ist schon — ist 
nicht schon. Ist tief — ist flach. Ist realistisch — 
ist mystisch. Ist harmlos — ist gefahrlich. Aber 
alle diese Urteile sind nur dumpfes Ge- 
rede. Wiirde jemand eine wirkliche Kritik iiben 
wollen, so muBte sie, unter den vielen moglichen 
Anleitungen, mindestens so aussehen: „Wenn 
Sie es ernst meinen, dann gehen Sie zu 
diesen und jenen Erben Treitschkes und reden 
Sie ihnen zu. Allein die Tatsache Ihres Erschei- 
nens wird die hochste Verbliiffung hervorrufen, 
und Sie haben schon halb gesiegt. Aber nur halb. 
Wichtig ist, daB Sie stets bewuBt sind, der Teil 
zu sein, welcher die groBere innere Sicherheit hat, 
und die Gerechtigkeit auf seiner Seite. Nur nie 
sich durch die wohlstudierte Freundlichkeit des 
Anderen gewinnen iassen; nie ausgleiten in Aner- 
kennung des angeblichen Auch-Standpunkts des 
Andern; nie in Mondanitat verfallen, wie die Car- 
riere - Demokraten ! Auch nie irgendwelchen 
spezialistisch sicher hingeschnurrten Antworten 
ein vermeinilich „hohnisches Schweigen' 1 (das nie 
wirkt!) entgegensetzen, was nur intrigante Damen 
tun diirfen, die man im Hauptzimmer abfertigt, 
und die auf der Hintertreppe Gift spritzen. Viel- 
mehr, wenn Sie den Leuten gegeniiberstehen, 
seienSie sicher, daB Sie ein neuer, heutiger Typus 
sind, noch unbedingter, geladener noch mit gutem 
und bosem Zeitenablauf, noch wissend hinge- 
rissener als es ehemals die Urchristen waren. 
DaB Sie alien Gefahren entgegengehen. Und daB 
Sie nur eintreten diirfen mit der hochsten Be- 
sinnung auf Ihre geistige Berufung. Tun Sie alles, 
was physisch auf die Menschen wirkt. Reden Sie 
laut und leise, taktvoll und taktlos. Singen Sie, 
beten Sie, rutschen Sie auf den Knien durchs Zim- 
mer. Nur zeigen Sie, daB Sie die Person von der 
Sache nicht trennen!“ 

Was hat denn Fronde iiberhaupt fur einen Sinn, 
wenn nicht den, die Menschen zu stellen! Sie zu 
erinnern, daB sie mindestens so anstandige We* 
sen sind, wie wir selbst. Und daB nur ihre, deran- 
standigen Wesen, Zahl groBer sei als die unsrige. 
Und daB sie preiswiirdiger seien als wir, denn sie 
wurden einfach durch uns daran erinnert, daB 
sie geistige Wesen, Sohne Gottes seien. Wir aber 

muBten uns selbst erinnern. 

* 

Es gibt, seit Herrschaftsfragen existieren, zwei 
Strome des WoLlens: Den freiheitlichen, der sich 
meistens von einer positiven Naturvorstellung tra- 
gen laBt, und den konservativen, der fast immer 
ein gottliches Recht zu Hilfe nimmt. Zuweilen 
dreht das Verhaltnis auch um, wie in neuerer Zeit. 



215 



DIE AKTION 



216 



Es ergibt sich der immerhin ungewohnte Zustand: 
Wir Freiheitsmenschen der Fronde berufen uns 
heute so von Grund aus auf cin gottliches Recht, 
daB wir als Mittler zwischen uns und Gott nicht 
einmal die Natur mchr zulassen konnen. Dagegen 
die konservativen Elemente unter den Denkern 
sind so entsetzt uber unsere Naturferne, daB sie 
uns sogar mil spinozist schen Mittein angreifen. 
(Ein mcrkwiirdigcs U be rskreuz- Verbal nis, das nur 
erweist, wie sehr es dem konservativen Geist 
ledig ich aufs Bewahren tines irgendwann einge- 
burgerten Denkinhalts ankommt, auch wenn der 
einmal selbst rcvolutioniir wirkte.) 
Mifiverstandnisse sind grober Unfug. Es gibt 
keine Mifiverstandnisse. 

Immer noch kann man sich nicht darubcr beru- 
higen, dafi wir der Kunst ihr Primat nahmen. 
Mufi es wiederholt werden? Kunst ist ein Aus- 
drucksmittel. Es kommt darauf an, was ausge- 
driickt wird. Miissen Beispiele genannt werden, 
daB nur Inhalt: Dienst an der Sache, gilt? DaB 
— iibertragen auf unsere, vollig andere und neue 
Welt — nur der politisch-religiose Homer, nur 
der politisch-religiose Dante bleibt! DaB 
nur die Kirchenmus k, die wahrhaft dienende, 
existiefl DaB uns der Zcitgenosse der vorletzten 
Generation, etwa Richard StrauB, ebenso fern- 

steht wie scin Cousin Paul Lincke! Nur die grofien 
Dienenden konnen Fiihrer sein! Dafi uns die 
aufierordentliche abcr indirekte Malerei Manets 
anodet aber dafi ein neucr P saner Maler vom 
„Triumph des Tcdes * unser Mann ware — allein 
er wiirde zum Triumph ganz andcrer Zuslande als 
dem Tode ffihren, Wie erst, wenn die grofien Die- 
ner in Musik, die Palaestrina, Heinrich Schfitz, 
Bach, wenn sie Heutige waren, neu und erstmalig, 
und, in unserer Zunge, uns leiteten mit zu neu er- 
standenem Leben aus dem Geiste auf Erden. 
Wenn sie uns heute sagten, wie jene Musiker den 
Ihren: so sollt Ihr Euer Ffihlen lenken! 

Mufi man immer wieder zeigen, dafi jene Beispiele 
unserer Gegner, die hohlkopfig gegen uns dar- 
legen sollen, „Gesinnung allein sci nichts, [an- 
geblich], wenn die kiinstlerische Fahigkeit 
mangle u , — daB jene Beispiele falsch sind 1 Weil 
Gesinnung sich nie am Unvollkommenen nach- 
weisen laBt, sondern stets nur da, wo sie bis zu 
Ende spricht. 

Man mufi es immer wieder zeigen. Und doch ist 
es nicht sehr wichtig. Wenn wir immer wieder 
rufen miissen: „Kunst an sich ist nichts. Der ln- 
halt ist alles!“ so bewiese das nur, daB unsere 
Inhalte diirftig sind. 

Waren sie es nicht, dann ware die Diskrepanz 
nicht moglich. Dann wiirde der Wert, das Gott- 
liche, Geistige, Heilige (was eben ja man allein 
„lnhalt“ nennen kann!) schon langst das dienende 
Ausdrucksmittel, seine bloB variationale Anwen- 
dung, deutlich bestimmt haben. Ein ganz selbst- 
verstandlicher Vorgang wiirde das sein. — Aber 
so mufite man erst noch laut rufen. Wonach 
cigentlich? Nach Herrschaft der Geisb'gen — 
oder, nur boshaft, nach Machtlosigkeit der Die- 
nenden ? 



Indes, wie blind waren unsere Gegner, als sie nicht 
sahen, daB wir nur schamhaft verschleiert spra- 
chen. Sei es nun enthiillt: Wir, wir gaben der 
Kunst — indem wir sie aus dem angemaBten In- 
haltswert vertrieben — erst wieder den Inhalt. 
Wir gaben ihr, deren Existenzberechtigung wir 
verneinten, erst wieder neue Existenzmdglichkeit, 
neue Geburt, neues Sein, neuen Quell, neue Auf- 
gaben. Wir befreiten sie von der Wiederholung, 
diesem Totgebaren, und fiihrten sie zur Schop- 
fung. Und frage man einen groBen Dichter, einen 
bedeutenden Musiker, sogar einen Maler von 
Zwang — sie werden das bloBe Tun urn der 
ruhenden Seligkeit des Tuns willen als die sinn- 
lose Behauptung armlich leerer Nachahmer er- 
kennen, die iiberernahrte Selbstbetatigungssucht 
saturierter Erben, w r uchernd an ubernommenem 
Kapital. Den wirklichen Schopfern sind ihre Kiin- 
ste nur Verstandigungszeichen. Doch nicht das 
Zeichen, selbst nicht die Verstandigung ist wich- 
tig. Wichtig ist, wo ruber man sich verstiindigt. 
Wir sind gegen die Musik — fur die Er- 

weckung zur Gemeinschaft. 
Wir sind gegen das Gedicht — fur die 

Aufrufung zur Liebe. 

Wir sind gegen den Roman — fur die An* 

leitung zum Leben. 

Wir sind gegen das Drama — fur die An* 

leitung zum Handeln. 

Wir sind gegen das Bild — fur das Vorbild. 
So weit die kommenden Kunstler auch von uns 
entfernt scin werden, dennoch werden sie nichts 
ohne uns sein. Sie werden nicht aus eigener Ab- 
sicht der Person sein konnen, sondern alles nur 
aus Inhalt. Und sind sie nur einigermaBen 
Mensch, dann werden sie auch nicht Kunstler 
sein, sondern Mitteiler, inspirierte Geber, Aus- 
rufer der ewigsten Forderungen von Menschen- 
sinn. Auch das kleinste Vaudeville wird ohne uns 
nicht moglich sein! 

* 

Wir sind Wollende und Fordernde. Propheten 
haben es gut bei uns, weil sie nur unsere Forde- 
rungen ins Kommende zu versetzen brauchen. 
Aber wir selbst sind keine Propheten; wir fanden 
es unlauter, selbst Prophet zu sein; denn Prophe- 
tie, das hieBe: unser Wollen als einen bestehenden 
Zustand zu betrachten. Wir fanden es unlauter, 
uns mit der Realitat von morgen zu begniigen. 
Wir sind keine Beschreiber. 

Wir sind Rationalisten. 

Wir sind die Menschen, welche verkiinden, daB 
das Geschlecht dieser Erde ein geistiges Ge- 
schlecht ist. DaB wir Wesen aus gottlichem Strahl 
sind. Und daB wir uns danach zu richten haben* 
Wir verkiinden, daB wir unsere Abkunft von Gott 
nicht vergessen diirfen. Und wenn wir sie ver- 
gessen sollten; selbst wenn uns die Erinnerung- 
an unsere hohere Existenz schwande; auch wenn 
unsere Geistigkeit — das ist die Sprache der We- 
sen gottlicher Geburt — uns nur als eine Fiktion 
erschiene: Noch dann miissen wir die Wiirde des 
Geistwesens Mensch als letztes und erstes Ziel 
des Lebens vor uns setzen. 



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DIE AKTION 



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Das ist Rationalism us. 

Zidsetzen ist Rationalismus, 

Kern Ziel setzen ist: Siinde. 

Man glaube uns doch, daB wir unsere Erdheit, 
unsere Tierheit, unsere Natiirlichkeit ebensogut 
kennen wie unsere Gegner. MuBten wir nicht 
tausendmal den Weg durch unser Dasein zuruck- 
legen, hin zu unserm Unbedingten ? 

Unsere Gegner fordern in lacherlicher Unwissen- 
heit, daB wir bei unserm Dasein verweilen. DaB 
wir zufrieden seien. Darum so lacherlich, weil 
sie, die gegen das Fordern sind, unversehens 
selbst fordern, nur unversehens. 

Aber wir versehen uns des Daseins und d^r Nafcur, 
des Bestehenden, des Gegebenen und Seienden 
besser, als die darin versinken. Denn wir brechen 
durch im unmittelbaren Aufstand unseres Wesens 
zum Geist. 

Das Ziel selbst nur zu nennen ist schon ein unge- 
heurer Griff in die Welt. 

Allein nie diirfen wir die furchtbarste Mahnung 
in Vergessenheit fallen lassen: Das Dasein 

selbst existiert nicht; das Bestehende exi- 

stiert nicht. Wir machen ailes erstl 

Unsere starkste Forderung, die der Rationalisten 
— und welche uns iiber das Niveau bloBer erbarm- 
licher Rechner erhebt — ist die Forderung: Ab- 
kurzung der Qual. Ausschaltung des Bestehenden, 
das sich an uns breit macht, das nur durch uns 
geschaften wurde, durch unsere naive Zubitligung 
seiner Existenz. Es ist grausigstes Hindernis, in 
die Langezerrung der Leiden, Damm vor unserem 
Vordringen zum Menschentum. Wir fordern Aus- 
schaltung! 

Abschaffung. 

* 

Wir brauchen die Anderung der Welt. Aber ohne 
eine Anderung unseres BewuBtseinszustandes aus 
dem geduldig Dumpfen ins menschenartig Helle 
wird uns eine einfache formelle Umschiebung 
der Tatsachen nichts helfen. Die Arbeit an der 
Anderung unseres BewuBtseinsstandes, diese Gi- 
gantenarbeit: uns dem Leben im Urzellenstand zu 
entreiBen, und das Leben im Geiste, das Leben 
zu Gott uns vorzusetzen; das Leben nicht im 
Relativen, welches uns fesselt, sondern zum Abso- 

iuten, welches uns frei macht diese erbittert- 

ste aller Tiefbohrungen, diese Umwuhiung von 
Ewigkeit her ist 

Rationalismus. 

* 

Das schopferische Leben besteht nicht von allein. 
Wir miissen es erst schaffen. 

Rufen wir fur uns einen Bruder auf, den unsere 
Bruder hier iiber zwei Jahrtausende griiBen wer- 
den. Herodot. Er war fur uns. Er war fiir die 
Menschen da, er war doch w r ohl, wie wir, Welt- 
verbesserer, Rationalist. Ein Wort Herodots, das 
in unserm Mund erst Leben und Wirksamkeit 
haben word: 

„LaBt nichts unversucht. Denn es geschieht nichts 
von selbst, sondern der Mensch erlangt ailes erst 
durch seine Unternehmungen!“ 

m 




III 

Die Gegner 

Nun, da wir alle so vie! durchgemacht haben, 
darf da noch einer sein, der Menschentum fiir eine 
Phrase hielte? 

Nun, da Millionen Zufriedener wissen, wie Hun- 
ger ist, darf da noch einer sein, der nicht jedes 
Mittel zur ewigen Beseitigung des Hungerns gut- 
hieBe ? 

Geist ist die AuBerungsform Gottes gegeniiber 
dem Menschen, und die darum eine Gemeinsam- 
keit fiir alle Menschen bildet. Geistige sind die 
Menschen, welche durch diese Gemcinsamkeit vor 
dem Absoluten sich in einer besonders groBen 
Verantwortlichkeit gegenuber den andcren Men- 
schen verpflichtet fuhlen. (Im Gegensatz zu alien 
modernen Mystikern, die behaupten, ein Privat- 
abkommen mit Gott zu haben, das sie aller han- 
delnden Verantwortung iiberhebt.) 

Man hat gegen die Geistigen ailes unternommen. 
Man hat uns bekampft, man hat uns denunziert, 
man hat uns zu sehr — zu wenig — radikal, demo- 
kratisch, sozialistisch genannt. Man hat uns Ver- 
rater geheifien, man hat uns ignoriert, man hat 
uns gelesen, verlacht, aufgenommen, benutzt. 
Nur nicht verwunden. 

Aber wie klaglich sind unsere Gegner. Diese 
Blumentdpfchen von Denkern! Da ist das un- 
sichere Schafchen, das ailes mitmeckert, den Frie- 
den und den Krieg, Volkstum und Dynastie; das 
sich nie entscheiden kann trotz des historischen 
Kotelettebartchens, das an einen alten tapfer unbe- 
dingten suddeutschen Land genossen demokrutisch 
erinnern soil. Es rettet sich stets in die List, aus 
purer Angst, vors Gericht des Geistes geladen zu 
werden urid seine Ausfiucht ist, wohlwollend die 
Geistigen liingst dagewesen zu finden. Aber jener 
ahnt gar nicht, wie dagewesen wir erst ein Jahr- 
hundert spater sein werden! — Heran springt 
der ubliche wilde Kriegsindianer, der dem Staat 
empfiehlt, uns zu fusilieren. — Aufzug, wankend, 
des umstiindlichen Stammlers, der zweeks Emp- 
fehlung seiner eigenen, heiser vorsichtigen Po- 
stillen, undeutlich Lrbittcrtes gegen uns hustet. — 
Mit forschem Zinnsoldatenschritt marschiert, ei- 
ner fiir sich, der Kulturkonservative, von nieman- 
dem als seinem eigenen EntschluQ zur politischen 
Reprasentation beauftragt, trocken, intelligent, 

und vielleicht nur durch massiv kapitalistische 
Umgebung bei allzu dicker Naivitat geblieben. 
Er findet es gewohniich unerhort, die bloBe Kon- 
statierung dessen was ist, zu verlassen. Eine Dis- 
kussion, die keine ist, denn unser Ziel ist ja ge- 
rade die stromende, zeugende Fruchtbarkeit, ge- 
genuber einer Konstatierung des Seienden — 
welche uns bloB Nehmen, Wucher und Selbst- 
genuB bedeutete. 

Schiefe Kopfe, gute Herzen, achtbare Leute. Sie 
sind entriistet. Und selbst wenn sie uns in der 
Hitze minutenweise den Tod wunschen, so kann 
man sich iinmer noch mit ihnen freundlich hin- 
setzen und ihnen zeigen, wie fahrlassig sie han- 
deln. Wir wissen den Moment, wo sie zusammen- 
brechen werden und mit stumpfer Miene ein- 






DIE AKTION 



220 




sehen, wie sie persdnlich fast verbrecherisch ge- 
handelt batten. Oder seht unseren Gegner, den 
Erlebnisphilosophen ; er denkt begeistert alies mit, 
wie e$ auf ihn zustdflt, den Krieg, den Frieden, 
den Waffenstillstand ; turd er wird sein Lebens- 
werk schaffen als eine „Philosophie der Conjunc- 
ture, tief ehrlich, immer von neuem aus der Bahn 
geworfen. Er bait es fur gut, das Gegebene — 
das jedesmal ihm blindlings ohne sein Zutun Ge- 
gebene — zu bejahen, und aus dem einen Moment, 
der eben herrscht, die ganze Welt zu entdecken. 
Er halt das Erlebnis nicht fur die Lehre des 
Lebens, nicht fur den Weg, den wir durchs Mate- 
rial hindurch zum Unbedingten nehmen miissen, 
sondem fur sein ZieL Er ware sogar bereit, uns 
das Erlebnis zu verschaffen — in der Meinung, 
wir wiiBten nichts davon. Die alte schlechte Vor- 
aussicht der Nur-Methoden-Menschen, dem an- 
dern das Erlebnis verschaffen zu wollen: sie ver- 
wirklicht sich im besten Fall als Intrigue! — Und 
herzu tiigen sich die letzten Widersacher: der un- 
schopferische Schreiber, der Phantasielose, der 
Talentarme; das grobe ungefiige Handgelenk; der 
ungeistig Geistgelahmte. Der literarische Couleur- 
friseur im RenommierschmiB-Stil. Der gebildete 
Reisebrief-Lakai der Zeitungen. Gasmaske her vor 
den Feuilletonrulpsem des vollgeschlemmten Ka- 
jutenbauches aus finnigem Ferkelchenmaul. Die 
religiosen Reiseredner furs Hapag- Dessert. Die 




mihelm Lthmbruelt Ludwig Rubiner 



Antithetiker des Lebens: Zionisten aus JudenhaB. 
Imperalisten aus barbarossaschem Humpenritter- 
tum. Der armliche Passagierpublizist, der die Erde 
autgeteilt hat nach Novellenmotiven, Romanstof- 
fen, Joumalbriefen, und zahneknirschend sie zei- 
Ienmessend absuchen muB, urn amtlich nachweis- 
bar iiberall seinen Bleistift aufgepflanzt zu haben. 
Die Exoten-Wippchen der nordlichen und siid- 
lichen Halbkugel. Und zuletzt die erlogenen 
Freunde, die mitgehen nicht fur die Sache, nicht 

fur den Geist als Unbedingte; sondem urn, gut 
berechnet, in der Gesellschaft der Zukunft gesehen 

zu werden; um der Gegenwart sich als Vermittler- 
postchen zu empfehlen! 

Droschkenkutscher her, StraBenreiniger her, Stein- 
setzer her, Dienstmadchen her, Waschweiber her; 
Mob, Unterproletariat, Verzweifelte, Unorgani- 
sierte her, die nichts zu verlieren haben; Besitz- 
lose, ganz Besitzlose her! Menschen her! Her zu 
uns, wir sind fur Euch da! Die Zeit geht dem 
Ende entgegen. Einmal wird der himmlische Ho- 
rizont wieder an die Erde stoflen, und der Umkreis 
unserer Augen wird wieder den Glauben sehen, 
das Wissen von gottlichen Werten. Dann werden 
die, welche in Europa ihren Mund auch nur ein 
einziges Mai haben das Unrecht sprechen lassen, 
fiir immer in der Jauchegrube des Vergessens er- 
sticken. Aber sie sind keine Gegner. Nur Mit- 
laufer der vergangenen Zeit; Mitwiirmer der Ver- 
wesung; Mitgeriiche der Auflosung. 

Wo ist unser Gegner, der Gegner? Ich vermisse 
den Teufel. Warum ist er nicht da? Der Inbegriff 
des Elementaren, zustoBend Erlebnishaften, der 
geschleuderten Seele, des Isoliertseins! Der In- 
begriff der Welt — gegen den Geist! Der Inbegriff 
des Einzeltums gegen die hohen, sudlich licht- 
bauenden Bogen des Allgemeinen, Wo blieb der 
Teufel ? 

Aber der Teufel ist nicht mehr da. Er zerfloB, 
als wir ihn erkannten, als wir ihn benennen konn- 
ten; als wir aussprachen, daB nicht der Sturm, 
das Getriebene, das damonische Element, das Wo* 
gen der Seele: daB nicht er menschenhaft sei, 
sondern der Geist. In unserm Kampf mit dem 
Engel wird zur selben Zeit auch gewirkt die Be- 
schworung des Teufels, In unserer neuen Zeit 
des Absoluten ist der Herr des Relativen nicht 
mehr Feind. Und von ihm blieben nur diinne, 
erstarrende Blutstropfen zuriick: die Tanzer, San- 
ger, Schauspieler; die Kiinstler, die Reizbet^uber. 
Unwissend ihrer selbsi, im Absterben. Der matte 
Bleichblut-Tod einer zusammengefallenen Luxus- 
welt. 

Ihr, die Ihr uns geistig Freund seid, Ihr konnt 
den Einzelnen nicht trennen von den wenigen 
Anstandigen des heutigen Tages, von Kameraden, 
mit denen man sich nicht zufallig zusammenfand. 
Und wenn es mit rechten Dingen zugeht, dann 
werden wir Genossen die mitlaufenden Amtskan- 
didaten iibeireden, das Amt fahren zu lassen, 
und sich um ihre ewige Seligkeit zu kiimmern, 
die da ist: ihre Haltung vor dem Auge der Ewig- 
keit. Wenn es aber mit un rechten Dingen zugeht, 



221 



DIE AKTEON 



222 




dann nsussen wir versuchen, sie recht zu machen. 
“ Herodot: „Laftt nichts unversucht!** — Und 
wean sich heraussteltt, daB jene bei unrechten 
Dingen verbleiben wollen, daB sie nur die Ober- 
hand suchen, daB ihnen die Sache gieichgiiltig 
und mir der Strelt wichtig ist; da8 ihnen das Ver- 
gnugen kunstierischer SchluBfolgerungen lieber ist 
ah der Ruf der Menschlichkeit; daB sie nur bloBe 
Themen behandeln (Sch rifts teller), und nicht 
Handhingen vertreten; und daB sie auch nur 
fiber ihre Themen denken, schreiben, drucken, 
reden, ohne im geringsten ihren personlichen Leib 

mit ihren Worten zu identifizieren ........ 

Wenn also sich herausstellt, daB jene nur ruch- 
lose Betrachter sind, anstatt Zeuger zu sein, — 
dann ist da mit nur ein gravierender Beweis gegen 
uns selbst geliefert. Dann ist der Beweis gelie- 
fert, dab wir selbst nur zu vornehm, zu eitel, zu 
lau waren. DaB wir selbst nichts getan haben, 
urn irgendeinen Menschen von der Wurde des 
geistigen Lebens zu uberzeugen. DaB wir nicht 
uberzeugen, well wir selbst kein Beispiel geben. 
DaB wir ohne personliches Beispiel nicht Fuhrer 
sein kdnnen. Und daB nur die Fuhrer das Recht, 
die Fahigkeit und den Standpunkt zu einem Le- 
i>ensurteil uber andere haben (auch wenn sie 
darauf verzichten). — Ein Urteil, abgegeben aus 
Hochmut, ist gar nichts wert, es andert nichts. 
^wingend ist nur ein Urteil aus Liebe. 

Die politischen Farteien haben fur den Mann, der 
ihr Programmatiker ist, einen wilden Ausdruck 
von der Rennbahn: sie nennen ihn „Einpeit$cher“. 
Es kommt aber zuerst nicht darauf an, Meinungen. 
einzupeitschen, sondem sie zu vertreten. Es 
kommt zuerst darauf an, seine Meinung selbst zu 
sein. Es gibt kein Privatleben. Es gibt nur den 
offentlichen Menschen. Entweder wir sind offent- 
liche Menschen — oder wir sind nichts. Entweder 
wir sind dffentliche Menschen oder wiederum 
wird in den nachsten hundert Jahren alles nieder- 
gestampft, niedergeschossen, niedergebrannt, was 
wie bisher nur gelernt hat, die Person von der 
Sache zu trennen. Entweder wir sind offentiiche 
Menschen — oder wiederum hundert Jahre bleibt 
das geistige Leben, die Sache — ohne die Person 

— nur ein Zungenschlag, ein Demutsspiel fur 
alte Damen. Entweder wir sind offentiiche Men- 
schen — oder wir bleiben Suppenesser, Schla- 
fer, Vergnugungsreisende mit verschmitzten Denk- 
reservaten, und schlieBIich Gerippe, deren Exi- 
stenz nie uber eine, von Komplikationen beglei- 
tete Stoffwechseltatigke it hinaus gegangen ist. 
Glauben wir aber: es gibt schon offentiiche Men- 
schen! Es gibt schon Fuhrer. Also wird es auch 
in alien Landern der Erde bald mehr geben. Jeder 
Mensch ist gcschaffen, ein Fuhrer zu sein. Jeder 
Mensch ist unersetzlich. Der offentiiche Mensch 
keimt die Unersetziichkeit des Bruders. Der 
offentiiche Mensch fuhrt uns zum Leben im Geiste. 
Aber Leben im Geist ist zuerst Leben auf der Erde, 
w/rk/iches Leben, Lebendigsein im Fleisch. Und 
nur wenn wir zuerst selig sind uber die Existenz 
des Nebenmenschen, werden wir dem Neben- 
meoschexz Fuhrer sein. 



IV 

Der Fuhrer 

Der Fiihrer ist liberal] von dem groBen, bebenden 
Volkergeschopf umgeben, das unaufhoriich seine 
Gestalt und seine Substanz andert. Immer liegt 
es zittemd um ihn. 

Er ist kein besonderer Mensch, er denkt einfach, 
er ist nicht merkwurdig und schon. 

Er hat schon den faitigen Schauspielermund, er 
hat den kurzen wichtigen Schritt, der uber viele 
Tribiinen geht Er weiB langst, wie er seinen 
Augen kommandieren kann, und er muB auf neue 
Register der Erregung sinnen wie der Akrobat 

auf neue Trap ezsp rung e. Er merkt bei ailem, 
wie er der Mitmensch seiner Genossen ist, und 

er ist jede Sekunde darauf gefaBt, daB aus der 
ungeheuren Menge, zu der er spricht: einst ein 
Bruder aufsteht, der noch zum ersten Male und 
unabgenutzt den Mund off net. Und der ihn zu 
einem Hauflein Asche verwandelt, weii in seiner 
Hand die wahren Blitze Gottes ruhen. Doch bis 
dieser Augenblick eintritt, wird er selbst, mit alien 
Mitteln, mit der abgenutzten Wahrheit, mit da- 
gewesenen Blitzen und den groBen unermudltchen 
Beteuerungen vom Wissen: seine Pflicht tun. 

Er weiB sich eine kleine, Storungen unterworfene 
Blutsaule. Er kennt seine Kleinheit. Um ihn herum 
liegt die Ewigkeit. Um ihn, uberaU, steht die 
GewiBheit so sicher wie die Horizonte, die sein 
Auge uberkreist in der Feme. Um ihn, uber ihn 
strdmen die Saftstrahien des Absoluten, sie schie- 
Ben in eine kristallene Glocke rund uber den Erd- 




Hans Richter 



Ludwig Rubiner 




223 



DIE AKTION 



224 



m 



ball hinaus; fern und blaB ziehend wie die durch- 
scheinende MilchstraBe schwebt die unbedingte, 

gottliche Wahrheit um den Menschenball. 

Der Fiihrer weiB, wie fern und wiederholt er ist. 
Er will zur Ewigkeit. Er will, daB sein Schritt 
mit der Drehung der Erde gehe (dcr Schritt des 
Magiers). Er will, daB seine geballte Faust ab- 

gestorbene Planeten zu Himmelsstaub driicke. Er 
will, daB seine Augen, die den Blick der Menschen 
aufwarts blitzen, eine StraBe wahrhaft ins unhe- 
dingt Zukiinftige bauen; er will, daB die Worte, 
die sein Mund als Fackeln auswirft, die zwar 
flammen aber nur aufs Geratewohl ziinden, vvahr- 
haft unabanderlich in die Welt gefallene Tatsachen 
seien. 

Er will nichts anderes als die Ewigkeit. Aber er 
weiB, daB er ihr namenlos fern ist. Er weiB, daB 
die Menschen um ihn in einer grauenhaften Un- 
gewiBheit leben, und daB er sie nur aufrecht er- 
halt, indem er ihnen von Zeit zu Zeit die Ewigkeit 
nennt. Aber er, was ist er denn? Ist er anders 
als jene? Auch er kann sich ja nur der Ewigkeit 
erinnern. Er kann sie nicht geben. 

* 

Kein Mensch von uns alien will vollkommen allein 
auf der Erde sein. Niemand will der Einzige sein 
— und um sich, unter sich, neben sich die Kugel 
leer von Menschen. WuBten wir es je, dann gewiB 
heute, daB es keine Ubervolkerung der Erde 
gibt. Die Freiheit, die jeder Mensch auf der Erde 
will, heiBt keinem, dafi es um ihn ode sei. Im 
Gegenteil. Mit ihr meint man die Kraft: inmitten 
der Menschen vollkommen den Raum lebendig 
zu schaffen, in den man geboren wurde. Dies 
heiBt: seinen Platz ausfullen. Freiheit ist kein 
Begriff, der mit Moden oder intellektuellen Zeit- 
stromungen kommt und dann wieder alt und 
wertlos wird. Freiheit ist ein ewiges und abso- 
lutes Ziel. Dieses Ziel schiieBt als etwas ganz 

Selbstverstandliches das Wissen um die Uner- 
setzlichkeit jedes einzelnen Menschenlebens ein. 

Nur der sinnlos teuflischste Bureauindustrialis- 
mus konnte zu der Entwertungsformel vergan- 
gener Jahre kommen: „Kein Mensch ist uner- 
setzlich 4 *. In Wahrheit ist keiner ersetzlich. Denn 
mit dem Tode jedes Menschen wird jedesmal 
von neuem eine ungeheure und unausgeschopfte 
Moglichkeit zu fleischgewordener Liebe vernich- 
tet. — Aber zur Freiheit, zur Fahigkeit seinen 
Platz als Bruder des Menschen auszufiillen, ge- 
hort das Wissen von der Einmaligkeit dieses 
Platzes. Wir miissen einmal ihn ganz und allscitig 
stark sehen; es bleibt uns nichts iibrig, als aus 
alien unseren vorhandenen Kraften einen unsicht- 
baren Turm zu bauen, von dessen riescnhoher 
Spitze wir unsere eigene Bestimmung in der Welt 
schauen, als ware sie der Liniengang einer klei- 
nen, bewegten Schachfigur. Dies ist das Wunder, 
an das wir glauben. Es ist nichts anderes, als daB 
wir in aller unserer gesammelten Energic vor das 
Absolute treten wollen. In dem Moment, wo wir 
zu Gott gehen, sehen wir uns selbst. 

Aber dieser Augenblick wird uns nicht geschenkt; 
wir miissen alles selbst tun. Unseren Weg zu Gott 



wollen wir in einem Nu zurucklegen. Doch die 
Fahigkeit dazu ware selbst schon gottlich. Man 
miBtraue den Mystikern, die ihre angebHche Ein- 
heit mit Gott bezeugten ; sie waren entweder hin- 
gerissene Beschreiber von bloBen Seelenzustan- 
den, oder sie driickten sich aus Wortmangel falsch 
aus, oder sie irrten. Wir sind selbst nicht Gott, 
nicht absolut, sondem Geschopfe der Absoluten. 
Wir sind einfach Menschen. Wir sind nicht selbst 
Geist, sondern w'ir sind geistige Wesen. 

Zwischen dem Absoluten und dem Menschen gibt 
es Stufen, und sie konnen dem Menschen helfen, 
zum Bew'uBtsein des Absoluten zu kommen. Doch 

nur, wenn er stets nicht sie erreichen will, sondern 
das Absolute selbst. Der Mensch muB auch mit der 
Hilfe kampfen, die jene Zwischenexistenz ihm 
gewahrt. Der Kampf mit dem Engel ist allein 
der Weg zu Gott. 

* 

Der Fiihrer befremdet uns immer von neuem ein 
wenig. Vor uns wird er nie eine gewisse Lacher- 
lichkeit los. Gleich darauf entziickt er uns, weil 
er von Dingen sprach, die die unsrigen sind. 
Doch dann bemerken wir, daB die Wege, auf 
denen er unser Bruder ist, uns lange selbstver- 
standlich sind. Neuer Grund, ihn gering zu 
schatzen, und wir verurteilen uns, da wir bereits 
die Nennung eines uns w r erten Ideenkreises als 
Teilung des gleichen Interesses nahmen. Wir ach- 
ten den Fiihrer nicht, weil er nicht unser Leben 
teilt, und dennoch Fiihrer ist. 

Aber wir sind im Irrtum. Es ist der lrrtum der 
Vornehmheit. Unsere Vornehmheit — die Be- 
quemlichkeit und Feigheit ist — hat das Leben 
in bloBe Themen aufgeteilt. Der Fiihrer befrem- 
det uns, weil ihm nichts Thema ist, sondem 
alles Idee. Er denkt nicht, wie wir fahrlassig 
Zuriickgezogenen, ii b e r eine Idee nach, son- 
dern er denkt in einer Idee. Er scheint uns 
beschrankt zu sein, doch seine Begrenzung laBt 
in Wahrheit nur diejenigen unserer Lebensange- 
legenheiten zu sich, die ihm zu vvirklichen Lebens- 
leitern werden. Wir erw r arten vergeblich, daB er 
unsere bequeme Allseitigkeit zum Ausgang des 
Fiihrertums nehme. Wir erwarten dies darum, 
weil wir selbst nichts fiir unsere Angelegenheiten 
tun, sondern sie nur betrachten wollen. Unsere 
Vornehmheit kommt daher, dafi wir die Tat f ii r 
uns immer einem Anderen zuschieben wollen. 
Wir erwarten, daB der Fiihrer unsere Sache tue, 
die w'ir selbst noch nicht einmal entschieden ha- 
ben. Wir schatzen ihn gering, weil ihm unsere 
Revolten in der Tasche — und die uns selbst 
nur Ausfliichte sind — nicht am Herzen liegen. 
Wir wiinschcn von ihm, daB er unsere Vorstellun- 
gen in greifbare Wirklichkeit setze, jetzt gleich, 
bis heut Mitternacht; unsere VorsteUungen, zu 



DIE AKTION 



226 




deren Verwirklichung wir selbst keinen Schritt 
getan haben. Wir wiinschen von ihm das„Gleich 
Jetzt und uns selbst gewahren wir ewigen 
Aufscbub. 

Dabei vergessen wir: Er ist der Fiihrer! Er 

fuhrt auch uns. 

Aber wohin fiihrt der Fiihrer? Er fiihrt zum 
Geist. Fiihrer sein, heiBt, zum Geist fuhren. 
Allein zum Geist. Wer nicht zum Geist fiihrt, 
kann vielleicht ein begabter Vortanzer sein, aber 
nie ein Fiihrer. 

Er fiihrt uns zum Geist auf alien Wegen, die 
des Geistes sind: Der Umkreis, den wir Politik 

nennen, ist seine Bahn, die Ermoglichung un- 
serer menschiichen Gemeinschaft. 

Der Geist ist das Palladium der Ge- 
meinschaft. 

Die Materie ist das Abzeichen der 
I s o I a t i o n. 

Man sagt, die Unterscheidung: hier Geist — dort 
Materie — — sei eine nur schulmaBige Bequem- 
lichkeit. Sehr gut! Jene Scheidung ist auch 
falsch, solange sie nur deskriptiv gemeint ist 
und behaupten will, sie stelle vollzogene Tat- 
sachen dar. Aber sie ist herrlich: sie ist schopfe- 
risch, wenn sie eine Forderung ist. Nur mit 
dieser Forderung, allein durch sie, leben wir: Seid 
geistige Wesen! Stammt von Gott ab! 

Wenn unser Leib jetzt am Leben bleibt, so haben 
wir die Gelegenheit, gerade noch Blicke aus den 
schmalen Luken eines schauerlich versinkenden 
Zeitalters hinaus in eine neue Zeit ru tun. Aus 
dem Zeitalter der sinnlosen Welt — urn es ge- 
nau zu sagen, wie denn eigentlich die „Materie <4 
aussieht: sie sieht aus wie die Welt, das Sein, 
das Gegebene, das fur uns ewig Gewesene. 

Die Welt liegt da vor uns, urn von uns geknetet, 
geformt, gestaltet zu werden, stets von neuem, 
nach gottlichem Plan, dessen Zeiger wir sind. 
Aber wie menschvergessen, wie ursprungs- und 
gottvergessen ist es, sich von der Welt, der Ma- 
terie, kneten, formen, gestalten zu lassen. Als 
sei man selbst Untermaterie. Die Elemente dran- 
gen in uns hinein, jene Macht, die man damonisch 
nennt. Nur der Ungeistige wird vom Damoni- 
schen ubermannt. Alles, was an uns erlebt, das 
Seelische, das Aufiergeistige an uns, ist ungott- 
lich. O sinnlosestes, chaotisch blutendes Zeit- 
alter, das nun zusammenbricht, Zeitalter des Er- 
iebens, der Seele, des Elementenspieles! Es ge- 
schah das grofie Sichpassivmachen. Sichaufteilen 
aJs Objekt f Lir Gelegenheiten. Jedes fremde Ob- 
jekt zwischen sich und Gott treten lassen, ohne 



dazu etwas zu tun. Das Ereignis — den Accident 
— den Rohstoff des Lebens, die Natur, wie 
einen Billardball an sich stoBen lassen, und im 
Anprall erst das Ich vermuten. Zeitalter des ewi- 
gen Nehmens! Denn Erlebnis — in riickschla- 
gender Rache ausgesetzt sein dem damonisch 
Elementaren — ist: Nehmen. Wahrend doch 
unser Leben die Liebe ist, und wir zu geben 
haben, geben, geben, geben, und um so mehr, je 
geringer die Zahl der Menschen auf der Erde 
wird, und wir einsamer werden. Das vergehende 
Zeitalter versuchte, das bloBe Bild des Lebens 
zu genieBen, ohne es selbst zu schaffen. Aber 
wir haben zu leben, um mit unserem Leben der 
Welt geben zu konnen. 

Grausamer Millionentod ist die Gipfelung des 
elementarischen Zeitalters. Heraus aus dem Ele- 
mentaren, aus der Seele, aus der Vereinzelung! 
Heraus aus dem Treibenlassen, aus dem Besitz 
des Gewesenen, aus dem Erlebnis! Seid gott- 
liche Wesen. Geht in die neue Zeit des Geistes. 
Seid Fiihrer zum Geist. 

W ir haben die Erbsiinde, sie heiBt heute 
fur uns: Isolation. Sie ist Insichsein, Einzelner 
sein, Seele sein, Nehmender sein. 

Wir haben aber auch die Erbliebe. Und 
die ist: Geben; Schopfer sein; Genosse, Mit- 
mensch, Kamerad, Bruder sein. Die Erbliebe 
heifit; Gemeinschaft! 

Nichts wird von unserm Kampf mit dem Engel 
uns erspart. Keine Mythologie steht zu unserer 
Hilfe mehr da. Zwischen uns und Gott hat 

nichts Gewesenes mehr Platz. 

* 

Der Mensch machte es sich leicht. Er formte 
eine Wachspuppe nach seinem Bilde, beweglich, 
lebensgrofi mit Vollbart, langem Haar und 
Schlapphut. Sie steht auf ihrem Wachsfiguren- 
postament im Fiirstensaal des Panoptikums. Der 
Mensch dreht das Uhrwerk auf, sie hebt mit 
knackendem Ruck eine Trompete krachzend an 
den starren Mund, darnach stofit sie diinne, 
rostige Laute aus, die vorbereiteten Ohren ahn- 
lich klingen wie , .Revolution, Revolution ! u Eine 
ungeheure Wachsfigurengebarde schuttelt den 
Mantel iiber der Holzschulter zurecht. — Der 
Mensch steht befriedigt vor seinem Werk. Noch 
ist er nicht totgeschossen ; so geht er hochst an- 
geregt schlafen. 

Der Mensch schlaft. Kein Fiihrer ist fur ihn da, 
denn er selbst wollte nicht Fiihrer sein. Unter- 
dessen stehen die Fiihrer der Damonen grinsend 
bereit, gigantische Metzgergesellen, geschiirzten 



227 



DIE AKTION 



228 



Arms, machtig mit erdachsengroBen Maschinen- 
gewehren, die Fleischfetzen und Totenklumpen 

bis zu den Sternen hochspritzen werden. 

* 

Die Dinge sind so einfach. Dennoch muB man 
um sie kampfen. Was wir wollen, ist gar nicht 
neu. Es ist nur evvig. 

Der Fiihrer will immer wieder alles in der Welt 
plotzlich, mit einem Ruck und auf einmal andem. 
Er sieht, daB dies nicht moglich ist. Aber er sieht 
auch, daB der sichere Glaube, trotzdem sei es 
moglich, ndtig ist, um auch nur einen kleinen 
Schritt zuriickzulegen. Der Kampf mit dem Engel 
besteht darin: Nicht zu resignieren. 

Resignation ist Vornehmheit 
Nicht vornehm sein! 

Immer wieder steht der einfache Mann — auf 
den wir herabsehen — als Fiihrer da. Immer 
wieder sind wir die, welche vom Volksmann ge- 
fiihrt werden, da wir nicht selber fiihren! 

Der einfache Mann, der Fiihrer, ist weder talent- 
los, wie wir glauben mogen; noch ungenial, wie 
wir ihn zwecks verbitterter Karikatur einschatzen ; 
noch ist er absonderlich zufallig. Sein Taj ent, seine 
Gabe, sein Genius, seine Notwendigkeit, ist: der 
vollkommene Mut, sich ganz hinzugeben, nicht 
Eigener im Besitz einer Seele zu sein; ganz er- 
fiillt noch im letzten Blutstropfen Vertreter des 
Geistes zu sein. Auch auf riickstandig kind- 
lichen Irrtumern noch der gerechte Fiihrer zu 
Geistigem zu sein. Nichts ubrig zu lassen von 
sich fur einen anderen als den offentlichen Men- 
schen. Kein Privatleben, keine Privatansichten, 
Privatfreunde, Privatfreuden mehr. Gleichviel 
was er sonst hatte sein konnen, und wie in 
einem anderen Leben seine Gemiitseinstellung zu 
uns gewesen ware (eine Perspektive der Un- 
wirklichkeit, nach der wir ihn falschlich beurtei- 
len) ; gleichviel: Er ist der offentliche Mensch, 

und das ist er ganz. Dies ist, gesehen vom 
obersten Turm der Menschenschicksale, seine 
gottliche Stellung in der Welt. Er erfahrt oft 
erst sehr spat, in der hochsten Krisis der Mensch- 
heit, daB er gottliche Gesetze ausfiihrt. Er 
k&mpft mit dem Engel, um seine Besitzlosigkeit 
zu wahren, um nicht abzufallen zu dem Para- 
sitenluxus des Augurentums ; um trotz seines 
Hindurchschlupfens durch eine neuere und viel- 
verbrannte Haul von Menschenkenntnis, dennoch 
mit der Unmittelbarkeit des scheinbar Naiven 
auf das Geistige und Absolute hinzugehen. 

Wir sehen nicht, wie er kampft. Seine Robust- 
heit erschreckt uns, und seinen gottlichen Platz 



in der Welt erkennen wir erst, wenn er unsere 
eigenen Unterlassungen vertritt und mit auf sich 
nimmt. Wenn er laut unsere Sache fiihrt, die 
Sache des Geistes. 

Doch unser eigener Kampf mit dem Engel liegt 
auf der umgekehrten Bahn. Wir miissen herab- 
steigen. Jeder Schritt, den wir aus unserer er- 
haben skeptisch iiberwissenden Isolation herab 
in die heilige Vulgaritat tun, vollzieht einen Teil 
unserer Aufgabe in der Welt. Heraus aus un- 
serer Seele! Hinab in die Allgemeinheit! Wir 
ringen mit dem Engel, weil wir ihn uns ein- 
verleiben wollen. Wir wollen selbst der Engel 
sein — und konnen uns nicht entscheiden, ob 
aus Hoheit oder Tragheit. Aber wir sind, im 
schonsten Fall, nur einfache Menschen. Wir kon- 
nen nicht aus uns heraus Gesetze diktieren. Uns 
diktiert sie der Geist, und wir sprechen sie nur 
gesetzgeberisch aus, in Not, weil kein anderer 
da ist, der es zeugnishaft und bekennend tate. 
Aber um Gesetze aussprechen zu konnen, um 
fiihren zu diirfen, miissen wir sie vom Munde un- 
seres Lebensengels ablesen. Ablesen die Gesetze 
vom Munde des Volkergeschopfes. Nichts mehr 
darf an uns bleiben von Oberlegenheit, Nur 
Heiligkeit darf noch bei uns sein; aber mehr 
noch ist der Weg durch die Gosse. Erst wenn 
wir freiwillig vor der tiefsten Gewohnlichkeit an- 
gekommen sind, erst dann sind wir befugt, Plane 
zum geistigen Leben zu zeichnen: Fiihrer zu sein. 
Zum Engel sprechen: „Ich lasse dich nicht, du 
segnest mich denn!“ ist immer wieder der Akt 
hochster, hoffnungslosester Verzweiflung, und 
dennoch muB es immer wieder unternommen 
werden. Immer ziehen wir im Kampfe mit 
dem Engel den kiirzeren. Der Engel fahrt da- 
von, wir behalten blaue Fleck e. Aber erst die 
Wundflecke aus dem Kampfe, erst die ganze 
Haut ein einziges grofles brennendes Wundmal 
des Kampfes ; erst die ganze Notwendigkeit einer 
Erneuerung der Haut: Erst da ist die Segnung 
des Engels. 

Erkennen wir: Nicht die einzelne, nur stets un- 
erfiillte Wunschsekunde, sondern der ganze, viel- 
zeitige Umfang und die Gestalt des langen Kamp- 
fes erst ist in Wahrheit unser Fiihrertum! 

* 

Nicht eher werden wir unsere neue Erde bauen, 
als zwischen Gott und uns kein Ding mehr liegt, 
an dem wir uns zuriickhalten konnen. Wir miissen 
ganz besitzlos sein. Jeden Besitz miissen wir 
erkannt haben als unsere Flucht vor dem Men- 
schentum. Aber die letzte Barrikade gegen das 



DIE AKTION 



230 




Leben im Geiste, gegen die unbedingte Freiheit 
iu Gott, gegen unseren Weg zum Absoluten: ist 
die Seele. 

Das Denken, der Wille, die Verwirklichung sind 
untrennbar voneinander. Aber schon das Den- 
ken, das nur mit unserem Leibe sich vollig decken 
muB, um uns zu geistigen Wesen zu machen, 
errichtet uns Hindernisse auf dem Wege zum 
Geist. Unsere Feigheit vor dem Verwirklichen- 
mussen rettet sich zu den niederen Anwendungs- 
arten des Denkens. Die niederen Anwendungs- 
arten des Denkens, da wo es aus seinem Leben 
als Aktivitat des Geistes herabgleitet in un- 
geistige Surrogatprozesse, sind, auf der Seite der 
Abstraktion: der Formal ismus ; auf der Seite des 
Figurlichen: das Bild, die Vorstellung. Mit dem 
Formalismus und mit der Vorstellung lassen wir 
ktinstlich Naturgegebenes schaffen. Wir stellen 
das schon Vorhandene noch einmal dar; so er- 
zielt unsere Angst vor der Verwirklichung, daB 
durch den Mangel an Verwirklichungsursprung 
die isolierende Schranke — Machtgefuhl, Ver- 
teidigung des Besitzes — nur noch grofier wird. 
Aber diese Zwischenfalle konnen nicht unsere 
stetig sich erneuende Besinnung auf das geistige 
Schopfertum des Denkens, auf seine Menschen- 
formung, aufhalten. Denn so erschopflich und 
endlich die Natur ist, so unerschopflich ist das 
Denken. Ware auch die Natur — wie pan- 
theistische Begeisterung besinnungslos behauptet 
— unerschopflich, so wiirde sie der Verwirk- 
lichung des Denkens nicht ihre gewohnlichen, 
heftig einmaligen Hindernisse bieten, sondern 
grad we is infinitesimale. Aber das geschieht nicht. 
Sondern zwischen dem vorangehenden iiblichen 
Auftreten von Hindernissen und ihrem ebenso 
spateren Nachfolgen tritt jener heilig erhabene 
Fall auf, in dem die Verwirklichung des Denkens 
hindemislos ausgeiibt wird. Man nennt diesen 
Fall der hindemislosen Verwirklichung: den 
Glucksfall. (Die Tatsache des Glucksfalles er- 
weist die Erschopflich keit der Natur. Hier sei 
gleich bemerkt, warum kein Pantheismus uns ge- 
stattet ist, selbst im — nicht zutreffenden ! — 
Fall, die Natur ware hochwertig schopferisch. 
Jede Gfeichsetzung Gottes mit der Natur und 
der Welt; jede Representation Gottes durch einen 
kosmischen ProzeB; jeder solche Determinismus: 
ist ein Beiseiteschieben des Ethischen.) Aber 
der Glucksfall ist kein Zufall. Vielmehr, er ist 
das Wunder . Und jedesmal, wenn der Mensch 

ij- Denken g*anz mit sich identifiziert, wenn das 
Geistige so um ihJi Spbare bildet, daB die Natur 



auf ihre Endlichkeit sich zusammenziehen muB, 
dann perlen um ihn — unglaubhaft fur die bloB 
elementar naturabhangigen Zuschauer, aber glaub- 
haft selbstverstandlich fur die Mithandelnden — 
die Wunder auf. 

Die Welt konnte voller Wunder sein. Aber die 
Seele halt uns von ihnen zuriick. Nicht das Gei- 
stige des Menschen, nicht sein wollendes Denken 
in Wirkung wartet auf das Wunder; das Den- 
ken tut das Wunder. Sonderiich die Seele wartet 
auf das Wunder. Die Seele wartet auf das Wun- 
der, weil sie von ihm eine Bereicherung erhofft. 
Bereicherung des Besitzstandes. Die Seele ist 
vom Denken abgesondert, geflissentlich. Sie ist 
nicht da, um zu verwirklichen ; sogar, sie will 
nicht verwirklichen. Sie will in sich sein. Die 
Seele ist ein Zufluchtsort, eine geheime Ecke. 
Ein Schatz. Ein Besitz. Eine Machtfiille. Ein 
Uberlegenheitsmittel. Ein Gegebenes. Ein Er- 
reichtes. Ein Ausruhplatz. 

Es kommt aber darauf an, keine Zuflucht mehr 
zu haben. Es kommt darauf an, daB wir in die 
vollkommenste Verzweiflung gehen, wo wir nichts 
mehr zu retten haben. Kein Geheimnis mehr. 
Kein Fursichsein. Kein Privatleben. Es kommt 
darauf an, zu verwirklichen. Es kommt darauf an a 
Besitz, Macht, Gegebenheit zu vernichten, um das 
BewuBtsein von der Existenz Gottes zu er- 
reichen. 

Die Seele ist unsere totendste Ausschweifutig. 
Immer wieder sucht sie uns das MaB der Welt 
anzulegen, wenn wir die gottliche UnermeBlich- 
keit des Geistes menschenhaft anrufen. Immer 
wieder, wenn wir schopferisch fur das Menschen- 
tum werden, sucht die Seele uns zu Einzelzellen 
zu machen, stolz auf das Vereinzelungstum ihrer 
Zelle. 

Der Geist ist die Gnade Gottes. Er ist fremd 
alien unreinen Wesen. 

Die Seele steht im Banne des Teufels. 

Der Kampf mit dem Engel ist auch unser inni- 
ger Wille, das weltgebundene Sonderwesen der 
Seele aufzuheben, und die reine Lichtfortsetzung 
des Geistes zu werden. 

Will man handgreiflich sehen, was die Vertretung 
des Teufels, die Vermenschlichung der Welt ist? 
die Seele? 

Die Seele kennt nicht Werte. Nicht Recht noch 
Unrecht. Nicht den Ursprung der Handlungen 
noch ihr Ziel. Sie kennt nur Wirkungen, und sie 
nimmt alle als gleichen Sinnes an. Sie wird 
darum stets zur Apotheose der Gewalt bestrahlt, 
denn die Gewalt beruft sich auf Macht, Geheimnis 



231 



DIE AKTION 



232 



und inneren Besitz. Gevvalt findet stets als ihren 
dunklen Anwalt die Seeie. 

Aber der Geist allein leitet, auch in der Ietzten 
Bedrangnis noch seiner Blutzeugen und offent- 
lichen Miinder, die Verteidigung des Rechts. 

Der Privatmensch gibt sich der Seeie hin. Aber 
fur uns gibt es kein Privatleben mchr. Wir, 
die Offentlichen, die Geistigen, die Menschen: 
die Geistesmenschen — wir miissen in unserm 
Kampf mit dem Engel den Weg durch die 
Seeie nehmen, wie wir den durch die Welt neh- 
men mussen. Offnen Augs, lichtumflammt vom 
Geist mussen wir durch das Dunkel. Auch die- 
ser Weg wird uns nicht geschenkt. 

Wir erinnern uns, daB wir die Welt geformt 
haben zu einem Glied des Geistes. Wir Wesen 
des Geistes. 

* 

Nun haben wir alles von uns abgetan, das uns 
noch band. Wir stehen nackt da, und selbst un- 
ser Leib, der mit Wunden aus dem Kampf be- 
deckt ist, ist uns nur noch wert als Mittel, 
unser Geistiges durch seinen Raum zu verwirk- 
lichen. So sind wir ganz herabgestiegen von 
unserm Adels-Sockel, wo w r ir als Vornehmer, als 
Seeie, als Personlichkeit, als Einzelner standen. 
Wir stiegen bis zur Ietzten Tiefe, die uns gerade 
noch vom Tod trennt. Wir haben nichts mehr 
von unserm Besitz aufzugeben und zu verlieren, 
wir sind besitzlos geworden, Wir haben nichts 
mehr zu bewahren: Nun konnen wir geben, so 
unerschopflich wie der Geist durch uns strahlt. 
Zum erstenmal sehen wir. 

Fuhrer, du fahrst auf aus dir, wie ein entflammtes 
Ziindholz, klein. Schwankend diinn im groBen 
T aglicht-Umkreis. 

Vor dir atmet das Volkergeschopf vorfiihlend 
und ruck die Glieder, in brauner Angsteshaut. 

O steh grade, halte die Augen entgegen, streck' 
die Hande! 

Du siehst die Locher aus den Augen schaun, die 
Arme tastend, Leiber hilfegedrangt, die Kopfe 
bleich und viel, als blicktest du lang in den 
schmerzenden Spiegel. 

Sieh dein Gesicht groBwachsern dir entgegen, 
Das Blut lauft iiber die Augen vom erdig weiBen 
Haar, 

Hungerfalten um deinen zerknirschten Mund, der 
breit aufklappt zum Schrillen. 

Sieh dein Gesicht weich und rund, rot, fleischig, 
zahnlos, sanft erschreckt bei der Geburt, 
Sieh dein Gesicht erstaunt rasend eh du Mann 
wirst. 



Sieh dein Gesicht in der Abendstunde der schwe- 
sterlichen Nachdenklichkeit. 

Sieh die Augen spiegelnd iiber Nasen, die ge- 
kriimmt sind in Jahrtausendgestalt, 

Sieh die Augen blaB ausgelaugt von Verfolgun- 
gen, 

Sieh den Mund, der faltig blieb von den Flammen 
der Scheiterhaufen, den Mund, der diinn ist 
von den Uberfallen der Truppen, er schloB 
sich nicht seit den Handschellen der Ge- 
richtsdiener. 

Ftihrer, sieh dein Ewigkeitsgesicht. Schmal, Bru- 
derlich, 

* 

Der Fuhrer steht klein, eine zuckende Blutsaule, 
auf der schmalen Tribune. Sein Mund ist eine 
rundgebogene Armbrust, ein ungeheurer Ruck 
iiber ihm schnellt ihn schwdngend ab. Gottes StoB 
hat die Krummnase dieser schwachlichen Saule 
in die zitternden Massen geschw'ungen. Seine 
Glieder sind helle fliegende Wesen geworden, 
losgelost von ihm, unter seinem Wink, die iiber- 
all unter den Massen auftauchen und bei den 
Menschen eifern. Seine Ringerarme kreisen weit 
hinein, iiberzeugend wie schlanke weiBe Leiber, 
ins feindliche Menschenfeld. Seine Augen wer- 
fen im Horizontschwung leuchtende Fliigel. Hohl 
befliigelt schweben seine Ohren rosig auf bleier- 
nem Volksgeschrei, die hellen Fliigel tragen den 
Thron seines Kopfes sanft hoch iiber Steinwiirfe 
und graue Beleidigungen. Der leuchtende Ball 
seines Kopfes schwebt gewoben aus verflochte- 
nen Engelswesen durch den blauen Raum, und 
schiittelt wie Wolkengefieder blitzende Himmels- 
kuppeln auf die Menschenschultern herab. Die 
Engelswesen der Augen pfeilen zu den schwirren- 
den Bruderaugen weitum im riesigen Kreis. Die 
Engel Gliedersaulen, Arme, Zunge und Lippen 
verschlingen sich wie Zweige im wehenden Baum. 
Der Fuhrer spricht. Um ihn schweben auf und 
ab, ins Weite und zuriick, ringend verschlungen 
seine Engel auf kristallenen Bergen. Pfingst- 
flammen flieGen schmalbrennend auf den riesi- 
gen Erdwald der Menschenhaupter herab. 

Fuhrer, sprich! 

ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS 
XLVI 

Der Feind nimmt Fleiflig die Gelegenheiten wahr, seine 
Eroberungen aufzuz&blen Wenn diese Mitzchen sch Tarz 
auf wet0 gedrucki sind, finden sie verzUckte Leser genug 
and das Narhdenken ttber die seltsamen Dinge bteibi vor- 
laufig den Sifiben der Engender und Franzosen Uberlassen, 
die sich immer noch nicht recht zu men und zu helfeti wissen. 
Noch haben sie vom Rtlckzug der Ancre VerlusLlisten cu- 
sammentustellen f indenenganzgrausigeEinzelsuminen vorkommen. 



233 



DIE AKTION 



234 



So liegen beispielsweise vor Bucquoy in einem engen Rautn 
weil mchr ats tausend tote Englander, Bei all dirsen 
N'schhuisgcfechten rachte sich ein hlindes Anlaufen der Haufen 
mil schweren Opfern. Man mufl Ubrigens bei dieser Gelegen- 
heit eine Unwahrheit der Englander durchslreichen : es gab um 
Bapaume keinerlei Gefechie, F.mige Mann von uns sind in 
dem Gelande geblieben, das ist absolut alles und von einer 
Erobtxung durch heiUen Kampf ist Lein \\brtch°n wahr. 

Der fetndhche Yormarsch geht langsam weiier. Es sind ihm 
gehiutie Schwicrtgkeiten in den Weg gelrgt, und a u Herd cm 
wiuern die anziebenden Truppen begreillicherweise ilbcrall 
Fallen und schreckhche Dinge. Die Englander erzahlen von 
mit Sprengstoffen gefillhen deutschen Siahlhelmen, und einer 
erfand das neue Marc hen von zurtickgelassenen deulschen Ktlll- 
federn, die nichis anderes seien als Hollcnmaschiiien. Man 
kann ja ganz gui verstehen, dafi die ungeheuren AusmaGe der 
deutschen Zersiorungsarbeil ein Gruseln autkommen laisen und 
dafi der nachziehende Feind Spukgestahen tlher der kohlenden. 
rauchenden, stinkenden \\ Usie ste^t, die wir verlassen haben. 
Wie im Kaum uer alien Ancresiellungen ist in den Sommegelanden 
der Nachmarscli des Feindes Uberaus schwierig gemacht. Die 
Sirafienkreu* ungen sind in groBtem Umfange gesprengt, und 
auf alien fahrbaren Wegen liegen Raurnkroncn. Siamme und 
in den Orischaftsbereichen gauze Hauserzeilcn. Der Feind 
mud zuerst ausgtebige Raumungen von>ehmen, wenn er seinei 
Truppe mu Proviant, Arullerie und Munition wieder nach' 
k^mmen soil. Yersuche. neben den StraSen zu fahren. wird 
er wohl schon wirder aufgegeben haben. Die Friihjihrnwi timing 
halt uns. das Terrain in Brei zu verwandeln. Die Urunnen sind 
gesprengt, verunreinigt, verstopft. Es ist zwischen Ancre und 
Oise eine Wuste entsunden, die auf lange Zeit mchis von alien 
Lebensbedingungen geben kann, Alles Noidurftig*ie mull der 
Gegner auf langen Strecken anlahren, und bevor er semen 
F uhrparxs diese aulierordentliche Belaslung zuteilen kann, mud 
er viele Tausende von Arheiiskraften mobil machen, um nur 
eimgermaSen durch das Chaos durchzufinden und die primi* 
tivsten Quartiergelegenheiten zu geben. Der Feind steht vor 
Autgaben. die alle seine bisherigen Muhen und die fabelhaften 
Opfer an Menschen, Geld und Zeit glatt auf das Verlusikonto 
schreiben und kaum zu Bruchteilen filr die neue Lage der 
Dinge nutzbar machen. 

D<gegen haben wir Prachtvolies gewonnen: Unsere front hat 

• ich bewegt und erfrischt. Erreicht ist die Befreiung aus 
dem starksten Druck. aus Schlamm und Grabennot, in den 
freien sicheren Halt . , . 

Leitartikel i'on Mitttrorh. 21. \ftirx 1917 „ Berliner 
TageblatV* . C>>efredaktrur Tin odor Wolff. Dir Liter- 

schrift sifht, vetkirinert. so aut: 



$cr iHiictyifl 

jttjifdirn Slncre unb Cite. 

tarfe feinMidjc Serfuftc. — $ie SdjrotfrtgfcUtn M 

fcutMtdfto SBorniarfdjel, — $ie SDiifte. — 

$ie beulfdie Sront erfrifdjt. 

Xclegramm unfereS Jtrieg$berid>tetftatter# 

Georg Queri. 

<5) . . . aJidti. 



. . , Werden noch viele Trommelfeuer der Schlacht folgen 
mdssen. die jetzi bei Arras rast? Dafl die Slitnmung in Frank- 
reich sich am Voraberd dieser Kampfe nicht zum Fnedlichen 
gewandelt hatte, zeigl die Senatssilzung vom 31. Mitre, die mit 
Berichten und Erkiarungen ither die Verwdstungen der geriumten 
Sommegebiete ausgefdlli war. Man kann die Keden des Se- 
nators Cheron und des Justizmimsti-rs Viviani, deren olTentlicher 
Anschlag in alien Gemeinden beschlossen wurde, hicr mcht 



wiedcrgeben, aber kaum jcmals seit Bcginn des Krieges hat 
sich die Leidenschaft in solchen Ausbrtlchen Luft gemacht. 
Nur neben bet sei erwahnt, dafl die franzosische Presse, um die 
Erhitzung der Geister zu sieigern, dem Publikum sagt, deutsche 
Zeitungen hiitten die Not und den Kummer der obdachlosen 
Bevolkerung gehohnt. Der n Temps u behauptet, das Berliner 
Tageblait* 4 habe die grofle Wtiste „mit Liebe 1 * geschildert. 
Maurice Barres schreibt im „Echo de Paris - , wir hatien „mit 
der Freude von Kannibalen u in der Ausmalung dieser Leiden 
geschwelgt. Georg Queri, dessen gut m 11 1 ige r M i 1 le i dst on 
so mi&deutet wird, hat gewtB beim Anblick der armen Men- 
schen und Stiitten keinerlei FreudengefUhle verspUrt. Lad 
dieses Hiatt ist nicht der Platz, wo gegenilber fremdem UnglUck 
kannibahsche Instinkte erlaubt und tlblich sind . , 

Theodor Wolff. Chefredakteur des n Berliner Tage - 

blatt u , Leitariihel 10. April 1917. 

KLEINER BRIEFKASTEN 

R. L. DaG — nach der Rede Bethmann-Hollwegs und nach 
der ErklSrung Haases auch Herr Ebert namens und im Auf- 
trage der deutschen Sc^zialdemokratie Sondergruppe Kolb David- 
Scheidemann der russischen bozialdemokratie tur Revolution 
w gratulierte J , habe ich natiirlich gelesen. Gelesen habe ich, wie 
Parvus in seinem Ariikel „Der Steg der russischen Revolution 11 
(..Glocke*' Nr 52) die Miflerfolge des russischen Heeres erklart; 

,,Die tteleren GrUndc des Mifterfolges liegen in den zwei 
groflen Rechenfehlern, die man in KuGland und anderorts 
seit Anfang des Krieges gemacht hat. Der erste Rechen- 
fehler war die Ubcrschatzung Kufilands Rutland war 
noch nicht genug industnell durchgebiidet, um den Welt- 
kampf siegreich durchflihren zu konnen. Man konnte 
doch nicht wahrend des Krieges selbst dieses Kiesen- 
reich mit den Eisenbahnen verschen, die ihm zum weii- 
aus groliten Teil noch fehlten. Und damn waren auch 
die bchranken Air die Industrie und den Ackerbau ge- 
geben. Der zweite Fehler war die Unlerschiitzung 
Deuischlands und der Mittelm^chte. Man bildete sich 
einen Kampf gegen die Ptckelhaube und die Junker ein 
und stiefl auf die deutsche Industrie und die deutsche 
Sozialdemokratie." 

E. B., Rostock, Ich habe im Heft 11/12 von Herrn Stefan 
GroGmann, dem groBen Ullsieinfeuiltctonisten, sprechen mdisen. 
Der hatte sich tlber Kramarsch geaufiert (man lese den Brief- 
kaslen). Wenn Grobmann einmal so grofl sein wird wie 
Hermann Bahr, weiflbariig und vielletcht gar Chefredakteur 
der T ,V r jss“, dann will ich ein Buch tiber ihn schreiben. Ein 
dUnnes Buch. Beginnen werde ich mit dem Wiener Anarchisten 
GroGmann, der dann in Berlin beim ^Sozialist 1 * mitarbeitete. 
Und als Geleitwort werde ich einige Zeilen wihlen, die, mit 
den Buchstaben S. G. gezeichnet, 1895 in der Wiener „Zukunft“ 
erschienen : 

pin einer kalten, dumpfen Stubi: kannsl Du zur Not Schuhe 
machen, schrifistellern kannst Du urtcr stelen Entbehrungeo 
nicht. — Nicht etwa nur, weil man dann der Schrift die Ent- 
behrung des Autors ansieht, Du verlier;>i die Lust am Reden, 
Du mbchtcsl liebcr eine zeillang schweigen, so wirst Du ein 
gezwtingener, unlust iger, schlechter Schriftsteller. 
fa. der Schriftsteller mufi gliicklich sein und er braucht mehr 
Glilck als der Schuster oder der Schneider. Und darum gibt ea 
fiir jeden armen Schriftsteller einmal die Alternative: Ein 

Charakter sein und versauern oder ein Verriiter und gltlcklicher 
werden. - 

H. R. Ich empfehle Ihnen die Zeitschrift n Arbeiterpolilik“, 
eine W ochenschritt fur wissenschaftlichen Sozialismus. Das 
Blatt erscheint in Bremen (Aumunder Sir. 33) und kostet monat- 
lich 60 Pfg. Lassen Sie sich Air 20 Pfg. eine Probenummer 
kommen. 



J.VHALr DER VORIUEN* NUMMER: SONDbRHtET GOLGATHA. BEYE: AUhRICHTUNG DES KREUZES (TITEL- 
bfoit) / Gen Golgatha (Holzschnitt aus tiem Jahre 1495) / J. S. Machar: Auf Golgatha / H. Anger: Am Kreuze (Holzschnitt^ / 
lindstaedt: Osterlegende i August Brucher: Judas / Strohmeyer: Kreuzigung (Holzschnitt) / Max Herrmann-NeiUe: Des cr- 
/o 5 crs /efzier S/eg . Karl Brand: Die Kreuzabnahme / Waldemar Ohly: Kreu/abnahme (Holzschniu) / Georg Gretor: Vision/ 
Felix MuDer: Onginal-Holzschnitt / Rudolf Fuchs: Erwachend / Ludwig Baunier: Und da der Eine ging . . ( Felix Muller: 
Kreu/iguntf (Fcderzei chnung) i Richard Huelsenbeck: Die Dichter der Maria S. BouSka: Maria i Wilhelm Klemm: Heimkehr/ 
tfemnch Nowack: Elend / Ernst Kallen: Federzeichnung 1 Albert Ehrensiein: Ende / Raoul Hausmann: Der Mensch / Josef 
Federzeich n ung / Heinrich Stadelmann-Ringen: Zwei Stiicke / Maurice de Guerin: Der Kentauer / F. P.: Ich schneide 

die Zeit aus; Kleiner Brief kasien 




Fur Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten 
Inhalt verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin-Wil- 
mersdorf, Nassauische StraBe 17. T el. Pfatzbg. 1695. 
Gedruckt bei F. E. Haag, Melle in Hannover. 
Dit AKTION erscheint jeden Sonn abend. Abonne* 
ments kosten vierteljahrlich durch die Post, durch 
Buchhandel oder Verlag (unter Kreuzb.) M. 2,50. 
Abonnements fur das Ausland kosten M. 3,—. 
Buttenausg., 100 numerierte Exempt, jahrl. M. 40,—. 
Verlag der AKTION, Berlin- Wil m e rsdorf. 

Unverlangten Manuskripten 
1st Riickporto beizufugen. 

Alle Rechte vorbehalten. 



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WOCHENSCHRIFT FUR POUTIK, LITERATUR, KUNST 
fn. JAHR.HERAUSQEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT NR S 



INHALT; Oeorg Tappert: Original-Holzschnitt (Titelblatt) j Franz Werfcl: Neue Sprfiche des Landstreichers Laurentin / 
Heinrich Schaefer: Zu Nietzsches Umwertung / Josef Eberz: Zeichnung / 0. F. Nicolai: Die International tit dcr Kultur / 
Ines Wetzel: Original-Holzschnitt / Oeorg uretor: AKTIONS-Briefe I St K. Neumann: Zirkus / Rudolf OroBmann: Zirkus 
(Zeichnung) / Strohmeyer: Seiltlnzerin (Original-Holzschnitt) / Wilhelm Klemm; Stufe / Walther Rilla: Scheidung der Oeister / 
Rolf Henkl: Oesicht / Elise H. Ullmann: Buddha / Hanns Braun: Rasimir Edsch. Eine Novelle / Josef Capek (Prag): Toilette 

(Holzschnitt) / Waldemar Ohly : Maske (Holzschnitt) / F. P. : Ich schneide die Zeit aus; Kleiner Brietkastes 









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KUNST-SONDERHEFTE 
DER AKTION 

„Neue Secession 11 / Richter-Berlin / Schmidt- RottlufF / 
K. J. Hirsch / Hans Richter j Wilhelm Morgner / Egon 
Schiele / Georg Tappert / Else von mr MUhien / Ines 

Wetzel / Felix Muller 



D I C H T E R 
DER 



SONDERHEFTE 

AKTION 



Franz Blei / Gottfried Kolwel / Alfred Lichtenstein / 
Paris von Gtltersloh / Heinrich Schaefer / Theodor Daubler 

/ Paul Adler / Fram Werfel 

SONDERHEFTE ,,D I E V OLKER" 

„Rufilfttid u (mit Geleilwortcn von Maximilian Harden) / 
^England 14 / „Frankreich u / „lielgien u / „Italien u / Boh- 

men 4 / „Deutschland“ 

Jedes Sondcrheft, gewohnliche Ausgabe, 
kostet 5oPf. — Biitten, numeriert, M.2, — 



BUTTEN - AUSGABE DER AKTION 

100 numerierte Exemplare 
Jahresabonnement : M. 40 

Jedem Btittenabonnement werden jahrlich mind es tens 
acht Kunstblatter beigegeben, von den Ktinstlern nume- 
riert und signiert. Diese Beilagen kommen nicht in den 
Handel und stellen einen Wert dar, der den Abonne- 
mentsbetrag abersleigtl Im Jahrgang 1917 werden 
beigegeben: Blatter von Felix Muller / Max Oppenheimer / 
Ines Wetrel / Karl Jakob llirsch / Richter-Berlin u. a. 



KaNSTLER-POSTKARTEN DER AKTION 

Es sind 80 venchiedene Drucke erschienen 

Zcichnungen von Mopp / Kars / Schmidt-Rottluff / Schrimpf 
/ Klein 1 Richter-Berlin / Nadelman / Feininger / Hart* f 
Schiele / Mense / Melzer / Tnppert / Else von xur 
Mtlhlen / Hans Richter / Josef Capek / Morgner u. a. 

100 Stuck M. 3, — 

portofrei gegen Voreinsendung des Betrages 




WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR. KUNST 

7 . jahrgang HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT *• mai 1917 



AUS DEN LAURENTINISCH EN SPROCHEN 

Von Franz Werfel 

Der Nichtige 

Wer aber ist, und wahr ist, 

Er blickt sich um . . . 

Da liegt die goldene Wandrung seines Vormit- 

tags: 

Dort war ich, was ich hier bin. 

Hier bin ich, was ich dort war. 

Adler des Mittags heben ihn hin. 

Schritt und gute Luft in den Lungen. 



Wer aber nichtig ist, 

Er biickt sich um . . . 

Da schwebt der Staub, stockt Schotter-Hohn: 

Bin ich der Nebel, der ich dort war? 
Hinweg, du Nadimittag! 

Luge will Vergessenheit. 

Schuld erseufzt Vernichtung. 

Urn Dammerung fleht ein Schatten. 



Der Fluch 

Es ist ein Fluch iiber uns. 

In uns heiBt er: Boser Wille. 

Nur Absicht ist in Deinen Augen, 

Da rum wird Emsicht ihnen nicht zuteil. 

Du siehst, nur was Du willst, zu sehn, 

Du siehst, Dich zu verrnehren, in die Welt. 

Das heiBt Leben. 

Boser Wille ist in Deinen Handen, 

Zweck zwackt Deine Finger. 

Was seufzt Du! — Wiiste!? 

Die Welt ist leer, weil sie von Dir so voll ist! 
So lebst Du ohne Gnade. 

Doch willst Du wissen 

Geheimnis der GroBe, Geheimnis der Genien:? 
Lebe aus Gottes Hand! 



Der Scheideweg 
Imraer, immer winkt uns von einer Seite 
Der schwammige Backentaschen-Baal, 
Bauch-Baal, Schlauch-Gotze der Rhinozerosse. 
Sau-Geist und Lau-Geist der Moraste, 

Der Wampen-Wal und Wanst-Bowist, 

Der Riissel-Schnuffler wohliger Jauchen-Gase. 
Immer winkt er, der dreizehnte Tod, 

Der Schfuck-Tod, der Kot-Tod, 

Der Wuchrungs-Wucherer, Rulpser-Ruppel, 
Ba8geigen~Baal und Schwarzsuff. 

Hieher zu mirl 

Ruft euch der Gott, der eine Sehne ist 



Der Morgen-Abendgott der A-Saite. 

Der Sehnen-Gott, der nie des Sehnens versi egt. 
Der Gott, der nicht arm wird an Herzklopfen. 
Der feurige Gott der Aufwarts-Tonleiter. 

Der einfache Gott, 

Der Gott des Anti-Vakuums. 

Der Wellen-Tanzmeister und Wasserwandler. 

Der Uberwinder der Speckwaagen, 

Der Ketzer der Kanzleien, 

Der Ungebeugte von Hauptbiichern, 

Der sich erbarmet, des Rubriken-Straflings ! 

Der Dreizack und Dreschflegel 
Ober den Gesetzen! 

Die Erdolquelle, 

Der Molch und Salamander in Baals Nabelfoch. 

Der Hexenmeister 

Ich bin der alt-wilde Hexenmeister, 

Der ausgewitzte Magier und Teufels-Trotz, 

Der Lux und Urlist-Zauberer! 

ZerbeiB ich zornig meine Schifferpfeife, 

Erstickt wo ein Gerichtshof. 

Immer tret ich in den Schadelkreis, 

Persisch hohe Spitz-Tiara auf dem Kopf. 

In meinem Katz-Falleisen klappert 
Viel Wolfsherz, Eulenauge, Krotenmilz, 
Schwarzes Mondkorn streu ich auf meine Feuer. 
Mit meinem Ahriman-Stab lock ich das Volk: 

Die Sporen-GroBen, den behangten Staats-TroB, 
Die grauen Goldzahn-Satrapen, 

Die zwinkernden GroB- und Klein-Ladenhiiter, 
Die fetten Maul-Gestank-Vetteln, 

Die buntrock-geschaftigen Geist-Storer lock ich! 
Sie kommen! 

Herbei, herbei, hereinspaziert, Herren und 

Damen ! 

Ich lasse euch tanzen nach meinem Taktstab. 
Zehntausend Stunden miisset ihr tanzen! 
Zehntausend Stunden zuckt mein Zorn, 

Bleibt lustig meines Gottes Wohlgefallen ! 

Tanz, tapp, tritt fehl du Asthma, 

Verwackle BIutverkalkungs-Gottlasterer ! 

Ich bin der alt-wilde Hexenmeister, 

Der Lux und Urlist-Zauberer. 

Ich keuche vor Musik. 

Edler Rache SchweiB tropft von der Stirn mir. 

— Erquickt, o Tropfen, diese Wiistenei! — 

Doch du Geliebter tanz, 

Tanz du Seuchen-Dung, 

Taktlos du Akt-Aas und Verordnungs-Furz ! 

Tanzt, tanzt nach meinem Stab Gold-Galgenvogel ! 







A 

: S 




237 



DIE AKTION 



238 



Ich breche nicht den Bann, 

Zu Tode tanz ich euch! 

Wie kitzelt euer Todes-Angstschrei 
Mein Hokuspokus-Hohngelachter ! I 

Laurentins' Eins-Zwei-Drei-Lied 
Eins ist Got!. 

Eins ist Nichts. 

Eins ist das Unvergleichbare. 

Eins heiBt: Ohneherzschlag. 

Eins heiBt: Ohnmorgen-Ohngestern. 

Eins heiBt: das Dochnichtheute. 

Eins nennt sich: Ungebiirtig todlos. 

Eins ist: Die Windstille des Mittelpunkts. 

Eins ist: Die Saulen-Ruhe. 

Eins ist: Die leichte ungebeugte Freude. 

Eins tanzt nicht, 

Eins blickt nicht, 

Eins lacht nicht, 

Eins weint nicht, 

Eins scheut nicht, 

Eins scheint nicht, 

Eins stirbt nicht 
Warum stirbt nicht Eins? 

Weil Eins sich selbst nur lebt. 

Zwei ist Mensch, 

Zwei ist Schmerz. 

Zwei ist, was lieben muB, 

Weil es nicht Eins ist. 

Zwei ist, was suchen muB, 

Weils hier und dort ist 
Ein Baal bockt uber zwei 
Wie heiBt er? Er heiBt Baal-Zwiel 
Wie heiBt sein Baaldienst? 

Zweck, Zweifel, Zwist und Zwang. 

Zwei ist heut und morgen, 

Zwei ist Gift und Giite, 

Zwei ist suB und bitter, 

Zwei ist viel Verrat! 

Zwei ist, was immer tanzen muB, 

Zwei trifft sich im Tanz, 

Zwei lost sich im Tanz. 

Zwei ist das Nicht-Rechte, 

Zwei ist die Lugennot, 

Zwei ist die Todesfurcht, 

Zwei ist das Sterbenssehnen. 

Zwei stirbt. 

Warum stirbt Zwei? 

Weil Zwei sich selbst nicht lebt 

Drei ist Geburt 

Drei ist Kind. 

Drei ist der hohe Trost, 

Drei ist Erlosungsglut 
Eins zeugt ins Zwei. 

Drei springt aus Zwei. 

Drei singt mit goldenem Mund. 

Eins ist weiB, 

Zwei ist rot, 

Drei ist blau. 

Drei ist der Prinz des Dreiklangs. 

Drei ist der Fiirst des tiefen Atems. 

Drei ist des Menschen Tat 
Drei ist des Menschen Sohn. 



Drei, Drei durchdringt sich selbst 
Mit Laub und Stern und Stab. 

Geheimnisvolier Schritt 
Aus alien Feuern steigt. 

Drei ist Erz-Michael, 

Besieger aller Zwei, 

Triumph-Eins, die da kommt 
Dann heiBt es: Drei ist Eins. 

Drei Strophen hat dies Lied. 

BEMERKUNG ZU NIETZSCHES UMWER- 
TUNG 

Von Heinrich Schaefer 

Dafl das hochste Bemiihen eines geistigen Lebens 
der Herausarbeitung dieser Lehre dienen muflte. 
DaB der konzentrierteste dionysische Enthusiasm 
mus auf die Herausschleuderung dieses merk- 
wurdig ins „uberethisch“ Unethische gedrehten 
Ethos eingestellt war. DaB einem Geiste exklusiv 
aristokratischer Kultur die totliche Notwendigkeit 
wurde, die „Idee“ des blanken Brutums aquivalent 
zu verkorpem und zur Vollkommenheit auszu- 
bauen, was an Rohheit und apriorischer Geist- 
armut rings aus jedem Munde gemeiner Allge- 
meinheit elementarisch stammelt. — Es ist er* 
staunlich. Wo von Natur die europaische Mensch* 
heit heute wie in den Zeiten katholischen Glaubens 
mit den Grundsatzen des Sieges und des Rechtes 
des Starkeren aufernahrt und mit der Verachtung 
des in christlichem Sinne Guten durchtrankt er- 
scheint! Wo in jedem Augenblick des privaten 
und offentlichen Lebens die ihren Namen einzig 
verdienende Immoral ihren Sklavenaufstand zum 
Gelingen bringt und es vielmehr einem geistigen 
„Herren“geschlecht vorbehalten scheint, der Welt 
das luxuriose Geschenk der Moral zu bieten ! 
Wie wenig scheint zu diesem die Masse prade- 
stiniert! Wie sehr ist Nietzsche ihr Ausdruck 
und Sturmpilot! Sein unter iibermenschlichem 
Kraftaufgebot als gelungen vorwegempfundener 
„Umwertungsversuch“ hat sich langst als Wert- 
losigkeit gewertet, unniitz, ohne Erfahrung eines 
hoheren Lebens. Wie zur Niedrigkeit verurteilt 
bleibt diese Sublimierung der triebhaft geltenden, 
ganz unerwachten Naturgesetze! Wie bar des 
pythischen BewuBtseins dieser Eitelste des Gei- 
stesl Wie beraubt des ins Obersinnliche verant- 
wortlichen Gefuhls! — Wohingegen wir sagen: 
Sittlichkeit ist Emporung. Die „Ordnung“ hat 
sich ihren Namen angemaBt. Den Morder be- 
straft sie aus der verirrten Ahnung eines Hohern. 
Aber sie bestraft auch Jesus. Das ewige Rom 
triumphiert und kreuzigt ihn in jeder Stunde. Auf 
seinen gottlichen Brecher hauft es die verdam- 
mendste Schmach wie auf seinen adaquaten Ver* 
wirklicher, den Barrabas. 

Der Versuch einer wahren Umwertung hatte mit 
herkulischer Gegenanstemmung, mit iiberwalti- 
gendster Anstrengung, mit der fliegendsten Zuver- 
sicht des noch nie dagewesenen Sieges im Geiste 
aller derjenigen zu geschehen, die in der offent- 
lichen Meinung Europas jahrhundertelang brutali- 
siert, bannbelegt, roh und mitleidlos verurteilt, 
unsagbar hochmutig verschwiegen, ausradiert und 



239 



DTE AKTION 



240 






stummerstickt, kurz, unter bestialischer Aus- 
nutzung des Naturgesetzes in die materielle Nicht- 
existenz gedrangt wurden. Also historisch. im 
Geist der „Trojaner“ und Perser, der Etrusker, 
Osker, Samniter, der ewigen Opfer — und mensch- 
lich im Geiste der unzahligen Zerschmetterten, 
der namenlosen Abgeschlachteten immer seit den 
Zeiten Assurs und Babels, denen die irdischen 
Herzen nur theoretisch allgemein hinsterben kon- 
nen in Mitleid langst zu spat, ohne Hilfe, Geist 
des ungehort in den Raum des Nichts gestohnten 
Verendens! Geist der absoluten und nichts an- 
deres gelten lassenden Pein der Qualung, die 
ihren eigenen Mund vernichtet! Das Gesamturteil 
der Menschheit steht zur Revision. Wie groB ware 
das Werk! Des Lebens „Nachtseite“ zu ver- 
wandeln in den Tag! Das „negativ“ Genannte als 
ein uberirdisch Positives zu erweisen! Wie iiber 
die Brust schmetternd die Aufgabe! Wie iiber- 
menschlich die Liebe! Wie totlich schwach das 
aufarbeitende Herz! 

Einer solchen Betrachtungsweise diirfte gegen- 
wartig in Europa das Verstandnis angebahnt sein. 

DIE INTERNATIONALITAT DER KULTUR 
Yon G. F. Nicolai 

Es haben wohl alle emsthaften Kulturmenschen 
empfunden, daB „spezialis ierte Kultur“ keine 
wahre Kultur ist. 

So sagt, um nur einige Beispiele anzufiihren — 
Kant: Kultur sei „Hervorbringung der Tauglich- 
keit eines vernunftigen Wesens zu beiiebiger 
ZweckmaBigkeit“ und Fichte meint ahnlich, aber 
etwas unklarer, „Kultur sei die Ubung aller 
Krafte auf den Zweck der volligen Frei- 
heit“. 

Am bestimmtesten und anschaulichsten aber 
spricht es Nietzsche aus: „Kultur sei die Ein- 
tracht einander wider»trebender Krafte“. 
Ein Maler, ein Musiker. ein Bildhauer kann 
ebensowenig die Kultur reprasentieren wie ein 
Wissenschaftler, ein Techniker, ein Philosoph. 
Aber auch die Gesamthcit eines Standes vermag 
an sich keine Kultur zu bilden, sondern das groBe 
Gebaude einer Kulturperiode besteht eben in der 
Tatsache, daB all die genannten Machte — und 
noch viele andere sich zu einem Organismus 
vereinigen, in dem keine der zahlreichen Tell- 
erscheinungen an ihrer freien Entfaltung gehemmt 
wird. 

Wie man nun einem Organismus — also z. B. 
einem Menschen — nicht die Hand abschlagen 
kann, ohne das Gehim in Mitleidenschaft zu 
ziehen, nicht das Gehim verletzen, ohne die 
Hand zu beschadigen, wie man iiberhaupt kei- 
nen Teil andern kann, ohne das ganze zu 
andem, so wird auch die Kultur minderwer- 
tig, wenn einer ihrer Teile leidet. Wer es 
sich nur ein wenig iiberlegt, wird sofort fin- 
den, wieviel Musik in alien andem Kiinsten und 
Wi&enschaften steckt — man denke nur an den 
Ursprung der Tragodie und der Lyrik, an Pytha- 

liras and an die Religionen. 

W wenn iiberhaupt etwas in unserer zerris- 



senen Zeit eine Einheit ist, so ists die Kultur. — 
Und sie ist es und wird es sein, — trotz der zer- 
rissensten Zeit, denn sie ist notwendig einheit- 
lich aus sich selbst. Die Kultur kann niemand 
zerreiBen weder in Raum noch Zeit: Kein Brand 
von Alexandria, kein Brand von Byzanz, kein Fol- 
terknecht und kein Stuhl Petri, kein Krieg und 
keine selbstgewollte Entmannung einzelner soge- 
nannter Kulturtrager — immer wird die Hand da 
sein, welche die Fackel hiniiberreicht von heute 
zu morgen — und von Land zu Land. 

Nur der einzelne Mensch kann der Kultur un- 
treu werden — aber vielleicht ist selbst das nicht 
moglich. Vielleicht ist das, was die Zeit uns 
zeigt, nur das Abfallen einer zivilisierten Schale, 
die wir fur Kultur genommen, von einem zucht- 
losen Herzen. 

Die Kultur ist jedenfalls ein einheitlicher Organis- 
mus, dessen Arme die Welt umspannen. 

Jeder Organismus kann je nach der Betrach- 
tungsweise in verschiedener Weise eingeteilt wer- 
den: Man kann nach Korperregionen (Arme, 
Beine, Rumpf, Kopf usw.) oder nach Organ- 
systemen (BlutgefaBe, Nerven, Verdauungsorgan 
usw.) also System e, die alle obengenannten Kdr- 
perregionen mehr oder weniger gleichmafiig 
durchziehen. 

So ists auch mit dem Kulturorganismus! — Man 
kann ihn einteilen nach Kulturregionen in grie- 
chische und romische, deutsche und romanische, 




Josef Eben Zeichnurtg 



241 



DIE AKTION 



242 



slawi-sche und chinesische Kultur usvv. Aber man 
kann ihn auch einteilen nach Kuitursvstemen in 
geistige, naturwissenschaftliche, technische Kul- 
tur usw., die dann ihrerseits alle Regionen mehr 
oder vveniger gleichmaBig durchziehen. 

Dieses Hineinwachsen einer Kulturzone in die 
andere (diese „Querschichtung“ der Kultur) hat 
gerade in neuerer Zeit durch die intensivere 
Moglichkeit eines internationalen Verkehrs immer 
groBere Wichtigkeit gewonnen. 

Die technische Kultur ist in einer Beschran- 
kung auf Landesgrenzen iiberhaupt nicht mehr 
denkbar: Post und Telegraphie, Ei<senbahn und 
Dampferverkehr sind ihrem Wesen nach Weltein- 
richtungen und die Bestimmungen daruber zei- 
gen die deutliche Tendenz einer immer weiterge- 
hcnden Vereinheitlichung. 

Wo diese internationalen Bestimmungen selbst 
in relativ belanglosen Dingen noch fehlen — wie 
z. B. in der Frage, ob ein Auto rechts oder links 
ausweichen soil empfindet es jeder Beteiligte 
wie einen Anachronismus. 

Auch die wissenschaftliche Kultur ist langst 
nicht mehr national. Die Meteorologie, die inter- 
nationale Bestimmung der Atomgewichte, die in- 
ternationale archaologische Forschung, die Erd- 
bebenforschung, die Astronomic, sind ziemlich 
wahllos herausgegriffene Beispiele, die aber je- 
dem, der diese Wissenschaften kennt, zur Ge- 
niige beweisen, daB sich hier gewisse Organisati- 
onen unabhangig von aller Nationalist iiber die 
Welt ausgebreitet haben; aber auch eine nationale 
Medizin, Jura oder Padagog'k waren Undinge. 
Der geschilderte Zustand kommt gleichsam offi- 
ziell dadurch zurGeltung, dafl es bereits zahlreiche 
inte rnationale Amter gibt, die von der Ge- 
samtheit aller Nationen verwaltet werden, die 
wichtigsten, die politischen Anstrich haben, hat 
man ihrer Unverletzlichkeit halber auf die drei 
Staaten Schweiz, Belgien und Holland verteilt, 
deren Neutralist garantiert war. 

In Bern, Telegraphenbureau (1865), Weltpost- 
verein 1874, Schutz des industriellen (1863) und 
geistigen (1886) Eigentums. 

In Briissel, Bureau der Zolltarife (1890), Skla- 
venhandel (1890), Zuckerkommission (1902). 

Im Haag, Schiedsgerichtshof, Oberprisengerichts- 
hof. 

Bei den internationalen Instituten glaubte man 
offenbar, dieser Vorsicht nicht zu bediirfen. Denn 
man konnte es sich wohl kaum vorstcllen, dafi 
auch Manner der Wissenschaft ihre internationale 
Arbeit verleugnen wiirden. 

So befindcn sich in Deutschland zwei Amter: 
das Potsdamer Institut fur Erdmessung (1864) 
und das StraBburger fiir Erdbebenforschung 
(1903). 

In Frankreich cbenfalls zwei: das MaB- und 
Gewichtsbureau in Sevres (1875) und das inter- 
nationale Pariser Sanitatsarnt auch mit mehreren 
Sukkursalen im Orient (1893) 

Das internationale Institut fiir Meeresforschung 
(1902) befindet sich in Kopenhagen und das fiir 
Landwirtschaft in Rom (1905). 



AuBerdem gibt es zahlreiche internationale Ver- 
einbarungen, nach denen die Verwaltungen der 
einzelnen Lander sich richten. Fried fixhrt deren 
86 an, die sich iiber Handel und Verkehr, Recht 
und Polizei, Wissenschaft und soziale Bestrebun- 
gen, Krieg und Politik erstrecken. 

International ist dann heute ferner jener groBe 
Teil der Kultur, den man Zivilisation nennt. Inter- 
national sind die Sitten, die Moden, die Tanze, 
die Gassenhauer. Dem kann sich niemand ent- 
ziehen. Zwar haben jedesmal, wenn der Deutsche 
sich in den Krieg sturzte, die Zuriickgebliebenen 
beschlossen, eine deutsche Mode zu grunden. 

Es ist niemals etwas daraus geworden. 

Wie die Menschen, so sind auch die Hauser in- 
ternational und leider farblos. Paris unterscheidet 
sich heute — auBer durch seine historischen Bau- 
ten — kaum noch von London, Berlin oder Pe- 
tersburg; Bukarest, Konstantinopel und Madrid — 
haben vielleicht noch gewisse Eigenarten, aber 
auch hier ist die Tendenz sich zu internatio- 
nalisieren unverkennbar. Ein „modernes“ Viertel 
in Mailand, Berlin oder Stockholm konnte man, 
wenn man nicht die StraBenschilder liest, iiber- 
haupt nicht mehr erkennen. 

Ja selbst die Hafenviertel in Hongkong und Ham- 
burg, in Port Said und New York sind abgesehen 
von AuBerlichkeiten fast identisch; dieselben Ma- 
trosenkneipen und dieselben Kinos, dieselben in- 
ternationalen Dirnen und dieselben Schiffsleute; 
ebenso zeigen die vornehmen Viertel Uhlenhorst 
und der Hongkong Hill vielmehr Ahnlichkeit unter 
sich als mit dem je entsprechenden Hafenviertel 
Sankt Pauli und Hongkong-Harbour. 

Es ist ja die Klage des eindringlichen Reisenden, 
daB, wenn man sich heute nicht in die Einsamkeit 
der Pampas, der Steppen, der Tundren oder Ur- 
walder vergrabt, man den Cookschen Standard- 
Hotels kaum entfliehen konne. 

So bliebe nur die Kunst. 

Zwar ist auch sie in der Realitat international 
geworden: Die neueste Operette wird in den 
Hauptstadten Europas fast gleichzeitig aufge- 
fiihrt, Caruso kann kaum noch als Italiener be- 
zeichnet werden. Tolstoi, Ibsen, Bernhard Shaw 
haben sich in alien Landen ihre Schule geschaf- 
fen. 

Es gibt Querschicht ungen, (z. B. Naturalismus, 
Impressionismus bis bin zum Futurismus) die 
in alien Landen ziemlich gleichzeitig tonangebend 
waren, selbst die sogenannte Heimatkunst ist in 
Wirklichkeit ein in alien Landen gleichzeitig auf- 
getretener internationaler Snobismus. Aber bei 
der Kunst konnte man doch wenigstens ernsthaft 
von einer nationalen Verinnerlichung sprechen, 
denn Kunst ist etwas Traditionelles und weist 
auf die Vergangenheit. 

Aber die Menschen fehlen, die solche retrospek- 
tive Kunst machen konnen. Die Erziehung ist 
international. Der Knabe sieht und lernt iiberall 
dasselbe und wenn er selbst in der verlorensten 
Provinz aufgewachsen ist, seine geistige Nahrung 
war uberall sehr ahnlich und mit Recht sagt der 
im einsamen Forsthaus markischer Siimpfe auf- 



243 



DIE AKTION 



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gewachsene selige Dehmel, zehn Volkern mm 
mindesten danke er sein biBchen Hirn. Und so- 
bald der junge Kiinstler gar beruhmt geworden 1st, 
ergreift ibn das internationale moderne Leben 
rettungslos. 

Die Versuche des Virdango-Bundes, die aite aus- 
gesprochen deutsche Kunst, die eben mir in den 
abgeschlossenen engen Stadten des Mittelalters 
wachsen konnte, neu zu beleben, sind gescheitert 
wie ahnliche Bestrebungen in anderen Landem. 

So 1st die gesamte Kultur heute international ge- 
worden ihrem Wesen nach. 

Naturlich gibt es Ausnahmen, — Aber man soil 
sich nichts vormachen, auf die kommt es nicht 
an. 



AKTIONS-BRIEFE AUS NEUTRAL1EN 
Yon Georg Gretor (Zurich) 

1. Das Symbol Schweiz 
Die Schweiz ist mehr denn eine Realitat: sie ist 
ein Symbol. Keine Realitat wird uns dieses Sym- 
bol zu truben vermdgen. Wir werden uns nicht 
wie die Mehrzahl der Fremden von ihr diipieren 
lassen. Jeder verschuldet seine Disillusionen 
selbst, durch naive Voreingenommenheit und 
mehr durch ungeschicktes, unzulangliches Er- 
kennen und eitles Urteil. 

Die Fremdenpsychologie wird ein anderes Mai 
analysiert werden. Heute seien die gesetzma Bigen 
Vorbedingungen und die abstrakten Begriffe ge- 
nannt, die das Symbol der Schweiz tragen. Nicht 




/jus Wetzel 



Holzschnitt 



245 



DIE AKTION 






eine besondere Menschengattung hat ihn hervor- 
gebracht; e$ ist aus den Bedingungen des Landes 
erwachsen. Die mehrsprachliche Zusammen- 
setzung, die verschiedenen Mundarten, die kirch- 
liche Pari tat, die bundesstaatliche Organisation 
ohne Hegemonie eines Kantons, alles bedingt, 
dab hierzulande gemeinschaftsbildend wirkt, was 
anderswo antinational erscheint. Die Vorausset- 
zungen der Entwicklung nationalen Lebens im ub- 
lichen und im iiblen Sinne fehlen hier, Eine solche 
Mentalitat wiirde die Eidgenossenschaft bald in 
ihre drei Sprachgrenzen, vielleicht in ihre 22 Kan- 
tone auflosen. Man kann nicht mit Worten wie 
unschweizerisch im Sinne von, sagen wir „un- 
russisch", Oder „ wider das Volksempfinden" Pro- 
paganda machen, da nicht zu ersehen ist, ob der 
Begriff franzosisch, deutsch oder italienisch de- 
finiert werden soli. Das Volksempfinden ent- 
wickelt sich unter verschiedenen Bedingungen und 
Gesetzen in jedem Tale; unterscheidet sich in 
der Ebene von den Talern, in den Stadten von den 
Landern, in den westlichen von den ostlichen und 
so fort. Wo man dennoch diese ungliicklichen 
Begriffe fur irgendeinen Zweck aufzuhetzen ver- 
sucht, werden sie Karikatur und fiihren ad ab- 
surdum. 

Aber jeder Staat braucht eine „Idee“. So muflte 
man in der Schweiz hoher greifen. Man fand die 
demokratische Freiheit. Sie tragt zwar ein etwas 
bauerliches Gewand, bedriickt aber kein Gewissen. 
Es ist auf alle Falle ein gtinstiges Zeichen fiir ein 
Gemeinwesen, wenn die meisten Behorden der 
offentlichen Meinung voran sind und weitherzigere 
Ansichten als das Volk vertreten. 

Diese Freiheitsidee aber ist nur ein Mittel, eine 
Form ohne Gehalt, die Volkswohlfahrt fordernd, 
aber den Gebildeten und Intellektuellen der 
Schweiz nicht geniigend. D i e miissen sich nach 
anderem umsehen. Hierbei leuchtet als ,,nationa- 
les“ Gut sogleich die Idee auf, fur die alle Gebil- 
deten, Gebildete in alien Landern leben, das 
Verlangen geistiger Neubefruchtung bestehender 
Kulturen durch Synthese. — Ein iibernationales 
Gut. Solches vermag Eigen art auszumachen, die 
sich von der „Eigenart“ anderer Volker qualitativ 
unterscheidet. Das nationale Gebahren aller Vol- 
ker enteignet sie bis auf die Nieren. In dem 
Bestreben, sich auf diese Weise voneinander 
abzuheben, werden sie sich gleich wie eine HaB- 
lichkeit der anderen; Dummhcit, Einbildung und 
HaB haben keine Rassenmerkmale. Das ist das 
tragische Los derer, die sich in der nationalen 
Frage zu unterbieten suchen. 

Das iibernationale Gut fuhrt, wie alles GroBe, 
iiber sich selbst hinaus. Geisdges und kunstle- 
risches Neuerkeimen und Entfalten findet stets 
nur jenseits der Gewohnheitsgrenze statt. 
Wahrend die Schweiz diplomatische Vertretung 
von GroBmachten bei Grofimachten ubernommen 
hat, erschlieBt sich ihr die Moglichkeit einer kul- 
turellen Vormachtsteilung. Fur die genugen ein 
Dutzend begabter und mutiger Geister. 

Seit dem Bestehen der Schweiz hat sich in ge- 
fahrdeten Zeiten geistiges Leben in ihre Grenzen 



gefluchtet und darin befruchtend gewirkt. Auch 
gegenwartig fuhlen sich psychisch differenzierte 
und schopferische Naturen von ihr angezogen. 
Sie machen dem Lande gleichviel Eh re, wie die 
Fliichtlinge der Hugenottenverfolgung, der 48er 
Jahre, des Sozialistengesetzes und des zum Mythos 
gewordenen RuBIands. Ihr Leben ist ein kunst- 
lerisches Ferment, an Mogiichkeiten reich. Sie 
bilden die Vorbedingung einer fruchtbaren inneren 
Kolonisation, die dem vergeistigten Wesen der 
Schweiz entspricht. Die intensive Kulturdruch- 
dringung und Steigerung dieser hebt die Re- 
alitat ihrem Symbole entgegen. 

Der ProzeB schwebt; er ist im Werden. 
Schilderungen von Menschen und ihrem Schaffen, 
von Schweizern und Auslandern, Trager dieser 
Ideen und Mogiichkeiten, werden ihn in Sicht- 
barkeit an dieser Stelle fordem. 

ZIRKUS 

Von Stanislav K. Neumann 

Ich bin entziickt von den bunten Plakaten; 

Sie locken, wie wenn geschminkte Madeln lacheln. 
GroB und Klein geht staunend voriiber, 

Streichelt glucklich mit den Handen dariiber. 

In Lebensillusionen, die sie plotzlich umfacheln, 
Gaffen die Leutchen sie freudig an. 

Larmend fiel in das Stadchen ein, 

Uberfallend die schwarzen Tafeln brutal, 
Larmend fiel in die Dorfer ein, 

Entfachend gedrucktes Leben uberali, 

Papiernes Bengal! 

Tore, Zaune und Wande 
Steckt es in helle Brande, 

Uber Felder und Walder posaunt sein Schall, 

Sein Alarm signal ! 

Ich bin entziickt von den bunten Plakaten: 

Weil sie der Wind bringt wie exotische Traume, 
Wie Bliiten fremdlandischer, seltener Baume, 

Weil sie die Menschlein aus den Hausern jagen. 
Und eines Tages rufen sie die Menge 
Zum Bahnhof. Dort stehn im Gedrange 
Die begierigen Burger, die sich stoBen und redeen. 
Bis der Waggons bunte Beute ausgeladen, 

Bis das fahrende Volk sich ergibt ihren Gnaden, 
Ein Mummenschanz farbiger Flecken. 

Durchs Spalier dieser Bande 
Von Zuschauern aus billlgem Lande, 

Von ehrsamen Leuten 

Und Lausbuben von alien Seiten, 

Als Travestie des Lebens, der Tropcn Sumpf, 
Des verarmten Naturkonigs Triumph, 

Und zwanzig, dreiBig, vierzig Pferde; 

Funf Teile der Welt begegnen sich drinnen 
Und alles verbindet die breite Hose vom Clown. 
Ich liebe diese Welt, 




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DIE AKTION 



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Die Abends, von Massen bombenvoll, sich unter- 
haH, 

Diese Web von Glut und Musik, von Larm und 
Dimst, 

Diese Welt, deren Lichtspalten langen Fun ken 
gleich 

Im Dunk el ergluhn wie ein b runs tiger Zapfen- 
streich, 

Wie die Strahlen einer feurigen Wasserkunst. 
Und ich hor das leuchtende Tor ins Weite hallen, 
Und seh wie es fadelt auf Schntire der Menschen 
Krallen. 

Die Glocke ruft. 

Von den Trichterwanden der Riesenrotunde 
Durchkreisen unzahlige Augen die Manege in der 
Runde. 

Die erhitzte Luft erfullt wilder Duft. 

Wir segeln, ein Schiff im Meeresstrom, 

Auf den Masten sind alle Flaggen gehiBt, 

Die Brise weht, wie Nektar mild, 

An Bord ist ein Fest, die Nacht ist suB, 

Mit Champagner sind alle Glaser gefullt, 

Das Schiff ist besessen von tollem Galopp, 
Der Abend betaubt uns, der Abend ist wild. 

Mein Liebdien, komm . . . 

Der Pferde Trab und der Peitschen Hiebe 
Erwecken Instinkte und Triebe, 

Begierig vibrieren die Nustern, 
es lauern die Sinne lustern, 

Wir fliegen durch die Welt 
Trotten in tragem Trab uber glattes Oestein, 
Mit Zebras, Karaeelen, Braunen und Rappen, 
Schwa rze und Gelbe, in Turbanen und Kappen, 
Mischlinge und MiBgeburten, 

Mit Eseln und Affen an Ledergurten 
Zum Stadtchen kommen sie angefahren, 
Exotische Proben aus fremden Landern, 

Durch Europa gewohnt herumzuschlendern, 

Ein buntes Knaul, das sich aufrollt und schliefit, 
Krank im Herzen, aber stolz im Gebahren, 

Denn die Menge gafft. 

Diese hysterische Sippe, 

Professionsharlekinade, 

Die halb tierisch, halb menschlich 
Auf ihrer Promenade 

Sich blaht mit fletschenden Zahnen und dem 
Kauderwelsch fremder Welten, 

Mrt ihrer SinnJichkeit auf schwulstiger Lippe, 

Sie schlangelt sich bin ; es wiehern die Pferde, 
es brulH das Getier — 

Una tiles verschwindet in den Zelten. 

Schon wie ein Dorn, geheimnisvoll, machtig 
•fete schon die Zelte hoch aufgeschlagen ; 



Es konnte ein riesenhaft Tier sein, das ungelenk, 
trachtig, 

Und doch so selten ist, daB ein junger Gott 

Es melkt, urn seinen Durst zu verjagen. 

Ich liebe diese Welt, 

Die wie Frauen im letzten Monat von Frucht 
geschwellt. 

Fur Zinshausbewohner birgt sie die seltensten 
Dinge der Erde, 

In Stallen, Garderoben, Kafigen, Magazinen, 

Raubtiere, Madeln, viel Buntes zu schau’n, 

Ich liebe der Peitschen Knall, der Mahnen weiBes 
Traumen, 

der Hengste pustenden Blitz und j3he$ Sich- 
Baumen, 

Der Japaner kreisenden Ball, der Elefanten be- 
dachtiges Konnen 

In dem entfernte Vergangenheit melancholisch 
mimt Gegenwart, 

Ich lieb der Kameele Galopp, der Bajazzos SpaBe 
und Rennen, 

Der Lowen Sprung und Gebrutl, des Bandigers 
wachsame Art, 

Der Reiterin lieblichen Walzer, der weiBen Eis- 
baren Ranke, 

Der vornehmen Hunde Gespann, exzentrischer Mit- 
siker Schwanke, 

Die englischen Girls und der rasenden Leiber 
spriihenden Glanz, 

Ihr Schreien, ihr Springen und ihren wilden Tanz, 




Rudolf Grof matin 



Zirkus 




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DIE AKTION 



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Strohmeyer : Seiltdnzerin 

Der Kraftmenschen stahlerne Muskeln und Zahne 
ohn jeglichen Trug, 

Von Hangetrapezen und Ringen der Menschen- 
kometen Flug, 

Gekreisch anstatt Spornen, Kiisse von Hohn 

Und Stille, wenn rings vor Angst die Herzen stehn, 

Applaus und Musik. 

Ich liebe den Zirkus. Ich liebe sein Wirren, 

Das ununterbrochen durch Europa muB irren 

Mit Blitzen und Glitzen, mit Schcllcn undGellen, 
mit Tanz und Glanz und Tand, 

Weil er, ein bunter Traum, uns eines grauen 
Tags iibermannt, 

Weil er brutal ist, wic des Feuerwerks gliihen- 
des Beben, 

Und cin schoner Kampf ist urns Leben. 

Und ich liebe den Zirkus, 

Weil er im Herzen zum SchluB mir wecket die Lust, 

In den Schatten der matten Laternc, in den Stall 
mich zu schleichen, 




Zu schmiegen zum Nacken des braven Kameels 
meine Brust, 

Wie er so rubt der stille Nomade, und traumen... 
Und traumen von weitem, weichem Wiistensand, 
Von weiBen und braunen Karawanen, Oasen und 
Palmenbaumen, 

Von gliihender, grausamer Sonne . . . 

(Deutsch von J. V. Lowenbach) 

STUFE 

Bis auf den Grund ist die Welt entgottert. 

Uber prunkende Ruinen der Religionen, 

Uber zahm gewordene Philosophen 
Gingen wir hin, rasend vor Wahrheitsliebe. 

Aber die Gotter sind Vorhange. Hinter jedem 

offnen sich 

Neue Ozeane, neue Arenen der Seele, neue Stern- 

arkaden, 

Hdher, schoner und reiner. Denn alles ist Stufe 
Und Mensch sein, heiBt erkennen. 

Deckt auf die verborgenen Gesetze der Progres- 

sionen, 

Die zitiernd nach dem Nichts oscillieren, es er- 

reichen, hindurchgehen, 

Zuriickpendeln in endliche Werte, und unauf- 

haltsam 

Hinausschwingen ins unendlich groBe! 

Wilhelm Klemm 

SCHEIDUNG DER GEISTER 

Uns sprengt Zerrissene von Einsamkeiten wiist 

— nur Worte spottisch sehr Gespenster uns um- 

schwanken 

Erhaben, ja! — uns sprengt Getrenntseins Qual 
Von euch selig im Licht, die Leben griiBt. 

(Ihr nicht verpflichtet hartestem Gedanken 
Gesattigte an Freuden Freunden vollem Mai). 

Die grofie Stadt sie tosend mufi durch uns ge- 
gangen sein. 

(Ob Dome Filigran nach uns Gesange tout — ? . . 
Hinstaubend Frauen-Zartlichkeit wir uberwinden. 
Oh — Lacheln auch der Madchen siiBer Wein 
Uns dient — mit Dornenkrone sanft gekrdnt — 
Uns lauter schweigend ausgeschieden finden. 

Maschinen Larm Echo uns steil erregt. 

Der dunklen Gassen Stachel schmerzJich lockt. 
Asphalte Sonnen fahl elektrisch iibersungen 
Der Nerven Appetit galvanisch sie bewegt. 

Wir Not Entbehrung schmetternd angepfloekt 
Ekstatisch aufgevveckt aus Seins Erniedrigungen — 

Wir durch die Ather Sternen jah entgegenschnellen 
Utopisch Suchende Lebens grellste Melodie — 

Das Paradies! Zerflammend des Gewesencn 

Schlamm der heult 

MuB unerhbrt sich neuer Kontinent erhellen 

DaB Satter feiste Ruhe panisch flieh 

Uns Hungernde in Geistes blanke Lust verknault! 




251 



DIE AKTION 



4 




Uns Hungemde? die sprengt Getrenntseins Qual 
Von euch die Freunden leben zartlich hingestreckt. 
Wir abseits stehn Zerfressene heiOen Leids 
Chaos in uns . . ! Wir starben — leuchten fahl. 
Euch drohend Schatten die Fanfare weckt 
Wenn aufbliiht — bald! — uns fabelhaften Ca- 
seins Reiz! 

Walther Eilla 

GESICHT AUS DEM GBWIRR DER STADT 
WIEN 

An einem grauen Tage sah ich auf, 

Gequalt und iiberspannt vom Stechend-Larm der 
Stadt um mich. 

Da fiel von oben eine bange Kiihle in mein Wesen 
Und oben zogen hohe Haufen grauer Wolken 
Durch ihre Gegenwart allein zermalmend alles 
Kleine. 

Tiefst sank in mich der Anblick, alles ringsum 
schvvand 

Und nur mehr dies war da: Ich starren Auges 
und der Wolken steter Zug. 

Und sieh, da wuBte ich: Ein ungeheueres Ge- 
schehen 

Brutet liber der Welt. 

Es wird ein Ungeheures geschehn 

Und sich in unsre miiden Stirnen graben 
DaB dorten der Erlauchtheit Stempel stehn 
Weil unsre Taten nach uns leben gehn 
Und wir das Leben nicht verstanden haben. 

Rolf IJenhi 

BUDDHA 

. . . Doch in indien lebt ein goldner Buddha 
Tausend Hande hat der goldne Buddha 
Und die jungen Vogel nisten dort, 

AHe Blatter, die da bleich geworden, 

AUe Augen, die in Tranen betten, 

Jeden Hund mit triefend altem Kiefer, 

Nimmt der Buddha in die tausend Hande. 

Sieh, wir beten zu den tausend Handen! 

Tausend Hande miissen warmen konnen, 

Denn sie sind ein ungeheures Mitleid. 

Elise H, Ullmann 

RASIMIR 

Von Hanns Braun 

Widmung an einen Zeitgenossen 
Rasimir sprang mit beiden FiiBen friih morgens 
aus dem Bett und balbierte sich. 

Es lautete stark. Die Schaffnerin knallte die Tur 
auf, mude, aber sehr giitig: Herr Ede-Edsch . . . 
II Rono! O Gott! Und mit einer tiefen Kopf- 
beuge beschrieb sie ihre Emphase gegen das 
Linoleum. Die Uhr schlug silbern. 

Rasimir kostete die niederstiirzende Pause und 
witterte mit geblahten Nasenfliigeln die Angst, 
die das Tor spaltete. Dann hob er groB und 
feierlich die Hand mit dem Messer. 

Fraulein Eff trat vor die Braue des Eingangs und 
verhielt. Senkte auch den Kopf, der geformt wie 
eine mongolische Zwiebel und Augen springen 
machte, wie der schwarze Panther im Zoo von 
Kopenhagen. 

Rasimir spiirte, wie der Tisch und ein klotziger 




Josef Capek: Toilette 



Stuhl, der zwischen ihnen stand, machtige Tren- 
nung auftrieb. Er wurgte Kehllaute. Seine be- 
waffnete Rechte formte endlich, mit unbandiger 
Anstrengung, ein lindes Zittern. 

Die Effin begann, stockend, wie es weibliche 
Pflicht war. Ihre Stimme ionte diinn, wie Sper- 
berschrei; leis; und olig wie Pfirsichseim. Aber 
es gahrte darunter Drangen und Kraft, Kraffft. 
Rasimir unterbrach sie jah. Seine Wucht damp- 
fend trat er auf sie zu und neigte sie, die Hande 
um ihre Schlafen blatternd, gegen seine Brust. 
Alsdann begann es sie, mit einem Blick nach der 
Stutzuhr, zu entkleiden. Diese schlug abermals: 
siebenhundertzwanzig Stunden des Tages, die 
rasend vorbeitanzten, silbern, auf blauem Gold- 
grund. 

Jene zitterte stumm unter der Elektrizitat seiner 
Hande. Das Messer klemmte bedrohlich zwi- 
schen seinen Fingern. 

Er! Er . . War iiberall ganz nackt. In weiBen 
Katarakten fiel das Licht iiber seine Muskeln, 
die straff ineinanderspielten. Sie zuckten biswei- 
len, wie Gewitternahe, unter den sehr schonen 
und heroischen Gesten, die er, ohne zu wimmern, 
vollzog. Seine Arme schwebten auf ihrer Starke 
knorrig hinaus. Mitten auf dem Gewolbe seiner 
Brust, wo eine Mulde die Rippen anteilte, sproBte 
Blondes. 

Uber seine Schenkel auch stromte es seidig hinab. 
Bander aus Stahl hefteten Wade zu FuB und 
warfen blaue Schatten. 



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DIE AKTION 



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Er! Er . . War uberall ganz nackt. 

Sie — wurde es. 

Er atmete den Duft ihrer Linnen und hielt schnau- 
bend ein, Das war Geruch baltischen Tang- 
wassers, wie es die Strandweiber auf Rfigen 
schaumig schlugen. Tausend und zwei Fragen 
wirbelten, wie Sandhosen in der Wuste, gegen 
die Himmelsdecke seines Schadels. Aber er 
zwang sie, dafl sich der Wirbel legte. 

Sie, nackt indessen, fragte bescheiden den Re- 
gungslosen, Bohrendstummen, frierend beinahe, 
wahrend Schauer von Hitze gegen die Wande 
ihres Leibes klatschen und Rote austrieben: Wo- 
hin , , 

Mit der Faust mahlte er die tolpische Stirn. Ruh- 
rung quirlte in seinem Busen. 

Sie stieB einen kleinen, aber sehr gliick lichen 
Schrei gegen sein Ohr. Denn er hatte sie un- 
versehens aufgehoben und senkte sie auf wage- 
rechten Armen mit iangsamer Lust auf sein noch 
warmes Lager. 

Als sie Festes unter sich spiirte, wand sie sich 
biitzschnell und lag dann ganz still, die Arme 
fiber dem Gesicht verschrankt. 

Er sah erstaunt ihre Bewegung: sie erinnerte 
ihn an den jahen Wirbel eines Delphins, den er 
vier Jahre vorher auf Capri von einer Klippe aus 
beobachtet hatte. Es barst ihm eine Trane unter 
der roten Wimper vor Begluckung iiber die ele- 
mentare Irdischkeit des Weibes und er stiirzte 
iiber sie hin. 

Zwang sie, mit rasender Mannlichkeit, scheinbar. 
(Nichts dergleichen geschah.) Auf einem Segel- 
schiff umkreiste er rasch viermal die Erde, im- 
mer den Aquator lang, Sein Schlafzimmer hieB 
„Sudseeinsel“. Seine Bettstatt: „Caramuzzal“. 
Wahrend sie in stillen Seufzern sich erging, ohne 
die Arme zu entschranken, mit den Ellbogen die 
Spitzen ihrer Briiste gegen den Leib driickte gleich 
Rebenkeltem, taumelte er sich wund an brunstigen 
Schreien. DaB die Glaser im Raume schepperten. 
Fauchte auf Tierriicken durch bellende Phanta- 
sien. 

Unvermittelt hielt er ein. 

Sie loste das Geflecht ihrer Arme, gleichsam 
lauschend, und schaute ihm dunkel unter die 
Brauen. 

Nun drang der Gedanke empor, der ihn halten 
gemacht. Er steltte den Hals mit Gurgeln auf- 
warts, wie die Schildkroten der Goldkiiste, und 
schwappte ein unmaBiges Gelachter gegen ihren 
Bauch. 

Sie entschliipfte unversehens der Beleidigung. Ihn 
schwemmte es gegen die leere Matratze. Sein 
Blick jagte nach dem Messer, das ihm den Ballen 
der Hand zerschnitt. Dann schlingerte es ihn 
wieder hinab. 

Die Effin war langst und leis davongegangen. 
Aber jemand stellte sich vor: Mein Name ist 
Schmatt. Mein Vater war der beriihmte Orgel- 
virtuose Schmatt; beachten Sie, bitte. 

Er sah sie mit schwimmenden Augen an, ver- 
wundert. Denn sie machte unendlich feiste Lip- 
pen bei ihrem Namen. Von ihrem Flachhut 
schwankten Dolden uberreif dunkler Kirschen. 



Sie knickte ein, als er seine Hande uber ihre 
Schultern legte, und schielte nach dem Messer, 
das auf ihr lag. Er aber achtete ihrer nicht, 
sondern klagte sich an und raufte sich die Haare 
auf seiner Brust: Die Baume! Die Bau-au-aume!! 
Ich werde Mich erschlagen mit dem Schenkel der 
Eselinnen ! 

Bis an seine Augen warf sie ihren Blick. Nicht 
doch, murmelte sie, miBverstehend. Aber als sie 
seine Entriicktheit gewahrte, da beugte sie sich 
aus seinen gewaltigen Armen und entknfipfte sich 
heimlich. 

Er breitete seine Arme, beterisch: O Ekstase!.. 
tase! 

Du bist klug! rief sie ihm zu und schabte an 
seinem Bauch. Klfiger sogar als mein Vater! 
Ich opfere dir alles! Nimm es hin, Gorillastarker! 
Aber lehre mich deinen Ton, o Meister! 

Er sah auf sie nieder, bacchischen Blicks. Ver- 
stehst du mich denn? fragte er mit giitigem 
Zweifel. 

Sie zog verschamt die Wimpern fiber ihre Ent- 
bloBung. Stehend, ein Strumpf noch schwarzte 
ihr linkes Bein. Die Brfiste hingen, wie Schnee- 
wachten, nachbarlich fiber dem mfirben Bauch. 
Auf seiner Stirn schwoll Striem und Muskel. Mit 
entsetzlich schoner Bewegung packte er den Rund- 
tisch und stulpte ihn zu Boden. Setzte die Ferse 
auf die verkehrte Platte und riB mit einer Hand 
das Dreibein heraus. 

Sie begriff. Noch ehe er*s niedersausen lassen 
konnte, entfloh sie mit einem Schrei nackt auf 
die StraBe. 

Er beschritt, schweiBend, den Raum. Das Mes- 
ser kerbte sich ihm in die Hand, ohne daB Blut 
floB. Er spiirte es nur. Die Uhr iickte ihm leere 
Zeit in die Ohrmuskeln. 

Da fuhr er denn fort, sich zu balbieren. 

Geriihrt sah er im Spiegel, daB ihm der Flaum 
stun dl ich porte. Seine Hand kurvte gewaltig. 
Strome von Blut entperlten seiner Haut und ran- 
nen ihm fiber das Gesicht; mit dem Schaum der 
Seife zu feurigem Gischt sich verbindend, trach- 
tigen Abendwolken vergleichbar. 

Lassig streifte er ihn mit gestrecktem Finger von 
den Wangen ins Becken. Sein Wollen stillte den 
Schwall. Feiertagig stieg sein Antlitz aus reiben- 
den Tuchem. Die Hitze des Mittags sott in 
seinen Adern. 

Da trat Frau Sudlander ein, bauchig, brustflach 
und mit bartigen Wangen. Sie liebte die Kunst. 
So haBlich hatte sich ihm das Ebenvergangne ge- 
atzt, daB diese ihm schon dfinkte. Er schritt 
mit erbotigen, in den Schultern gehobenen Armen 
auf sie zu. 

Sie bannte ihn drei Schritte vor ihrem Leib. Hal- 
ten Sie mich nicht fur kleinlich, sprach sie, ich 
kenne Leben und Welt, stamme ich doch nicht 
minder aus Darmstadt. Aber dennoch, bitte, be- 
decken Sie sich. Es stort Asthetisches. 

Rasimir griff, lachelnd, nach einem winzigen 
meergrunen Trikot und bestulpte das Notwen- 
digste. Wieder kurbelte ihm eine Frage in der 
Stimhohle. Er sah zum Fenster und es war ihm r 
als roche er den Harn tibetanischer Kamele. 





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DIE AKTION 



256 




Ich bin, verehrter j linger Meister, unterbrach si e 
ihn, gekommen um Ihren Rat. Meine Tochter 
ist . . . 

Wie?, schnellte er a uf warts, Sie haben ... Ist 
sie hfibsch? 

Man sagt es. 

Ich liebe Judinnen! jubelte Rasimir. Auch halbe. 
Sie haben ekstatisch a lies, was ich nicht habe. 
Wann werden Sie mich vorstellen? 

Gemach, teurer Meister — sie hatte glfickliche 
Wangen — ich wollte Ihren Rat. Meine Toch- 
ter ist — sage ich's? — hysterisch. 

Rasimir, ohne Grund, schien unmaBig beleidigt 
Was solFs? Mir das! grollte er mit gewittri- 
gen Lefzen. Ich, ein Athlet, ein Timur, ein 
Gottseibeiuns. Versuchen Sie Anspielungen, Ma- 
dame? Ich pfeife darauf mit all meinen sechs 
Mundungen, verstehen Sie ! 

Sie flatterte: Meister, was ist Ihnen? Ich ver- 
stehe nicht. Verzeihen Sie. Reden Sie doch. 
Sagen Sie; bah! Nur einmal wenigstens. Und, 
bei Gott, warum haJten Sie immer das furchter- 
liche Messer in der Rechten? 

Da kroch, wie Sonne fiber Blattspitzen, Lacheln 
fiber seine tonernen Zuge. Er saugte die Unter- 
lippe von den Zahnen und striegelte mit der Lin- 
ken das Kinn. Dann hob er sehr langsam die 
Klinge und machte unzweideutig eine schabende 
Bewegung gegen ihren Bart. 

Sein Gelachter uberschrie donnemde Tfiren. Er 
peitschte sich vomfiber. Spie Kot, der in Elek- 
tronen zerspritzte. Sah Licht unterseeisch durch 
Wellen blutigen Schaums, aufwartsringend. 
Sprengte sich, luftschnappend, den Trikot in zwei 
Fetzen vom Leib. Seizte sich auf ein Wiegen- 
pferd, das in der Ecke gestanden, und jagte 
kreisum durch die Steppen Asiens. 

Auf der Strafie sammelte sich Publikum, welches 
der Schutzmann des Reviers beruhigte. 

AIs er wieder zuruckkehrte in die weiBen Segel 
seiner Caramuzzal, lag ein zartes Magdlein er- 
wartungsvoll darin. Unvermittelt fiel er in ein 
hektisches Weinen von tiefer Inbrunst. AIs die 
Quellen seiner Bresthaftigkeit versiegten, erschrak 
er nicht, ein and res Magdlein zu erblicken. 

An der Tur entstand heftiges Drangen. Es ge- 
schah das Brausen sich u be rsturze rider Wellen, 
die in Reihen daherkommend mit den zurfick- 
flutenden kampfen muBten. Schreie gellten aus 
den Fenstern; drunten lauschte die Fremdenrund- 
fahrt in sieben Sprachen. Ein Filmoperateur kur- 
belte eifrig, bis ihn Rasimir mit der groBen Zehe 
aus dem Fenster stieB. 

Da trat sie herein, jene ersehnte, geffirchtete, 
wunderherrliche: silbeme Monde unter die Brfiste 
geschminkt und den Nabel mit Hennah gerotet. 
Am Rucken tief leuchteten zwei untergehende 
goldene Sonnen und das Antlitz schwieg zitronen- 
gelb, aus dem dunklen Reiche der Kaiserin 
Tschmg — Tschai-po. Sie schritt auf die Cara- 
muzzal los und legte sich schweigend in ihre 

T/efe 

Rasimir schrie auf und warf sich zitternd zu 
fioden. Sie sfreichelte mit der Hand seine Mahne. 



Seine Antwort enthauchte pythischen Dampfen: 
Die Zeitgenossen — oh! 

Komm, sagte sie einfach. 

Nicht doch! Er stellte seine Hand agyptisch 
gegen sie. Mit dem kuhlenden Rucken des 
Messers streifte er sich die Wirbelsaule abwarts. 
Es ist sfiBer zu begehren ohne Erfullung. Kost- 
liches Wissen! In Sehnsucht sterben — ver- 
klartester Tod! 

Funfzig Augen phosphoreszierten in Ehrfurcht. 
Komm, ftusterte es in der Caramuzzal. 

Da hockte er sich aufrecht, in die Stellung des 
Domausziehers. Fittiche schlugen um sein Haupt. 
Zerfetzt schrie er auf: Kraft! Krafft! Das ist 
es. Ekstatisches Gottsein. Nimmermehr werde 
ich sterben, ich, der sehr kleine Bruder meines 
Bruders Holofernes. Allzeit und rasend leben. 
In tausend Leiber taglich meine Kraft floBen! 
Bis die Welt, mein GefaB — es sei denn! — 
an mir zerspringt: c’est la guerre! Zu deutsch: 
Das ist die Wahrheiti 

Da lachte es gellend auf und die goldnen Sonnen 
brannten dicht vor seiner Stirn: vor ihrem Feuer- 
hauch sank er dahin, taumelte abwarts. Der 
Tod quoit um ihn auf, wie leere Kissen, ein Uhr 
nachts. Sein mach tiger Atem zitterte scheidend 
aus den Fenstern ins Kalte hinaus. Leis bebten 
noch eine Weile Holz, Glas und Metall im Raume. 

Mit beiden FuBen sprang, eine Stunde fruher 
morgens, obschon unheilbar tot, Rasimir aus der 
Caramuzzal. 

Der tote Rasimir balbierte sich. 




Woldemor Ohfy 



Moske 




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DIE AKTION 



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ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS 
XLVII 

Anlafrlich des Jubilaums des Cbefredakteurs Wynecken in 
Konigsberg i, P. 1 st diesem cin Schreibcn des Ministers des 
Innern von Loebell lugegangen, in dem es u. a. heiflt: „Wie 
hocb ich den nationalen Beruf der deutschen Presse werte, 
brauchc ich nicht zu betonen. Eine erfolgreiche journal is Use he 
Arbeit, die, wie die Ihrige, unbeschadet aller besonderen poli- 
lischen Meinungsbitdung den Patriotismus und das National- 
geftlhl unverrilckbar als die bestiramenden Krafte anerkennl und 
zum Ausdruck bringt, ist ftlr den Staat ein unentbehrliches 
Mittel zur Erhallung seiner Kraft und der Erreichung seiner 
Zwecke.“ 

Notiz des tf Berliner Tageblatts u und aller anderen 
Zeitungcn 6. Januar 1917. 

KLEINER BRIEFKASTEN 

Freunde, ungekum gebe ich hier den Leitartikel wieder, den 
der „Vorwarls w in seiner Nummer vom Dienstag den 3. April 
1917 veroffentlichte ; denn es ware schade, wenn auch nur ein 
Leser der AKTION sich mit den Bruchsttlckcn begntlgen 
mtlOte, die in der nichtsozialdemokratischen Presse zu lesen 
waren. Ich mochte feststellen : was hier gesperrt gedruckt wird, 
ist auch im Original gesperrt. 

„ZUR AUFKLAKUNG NACH RUSSLAND 

Republik und Monarchie 

In alien Landern h«t der bUrgerliche Imperialismus den Ver- 
such gemacht, die proletarisch-revolutionaren Bestrebungen vor 
seinen Wagen zu spannen. Inwieweit dieser Versuch gegltickt 
oder miOlungen ist, soil hier nicht untersucht werden. Aber 
in alien Landern hat sich filr die Sozialdemokratie die gleiche 
schwierige Lage ergeben, Sie soil den Imperialismus daheim 
bekampfen, sie soil aber dabei auch nicht die Verbtindete des 
Imperialismus auf der anderen Seite werden. 

Wie die deutsche Sozialdemokratie dieses schwierige Problem 
zu losen versucht hat, ist bekannt. Daheim wird sie wegen 
ihrer Friedensarbeit von Eroberungspolitikern und Bis-ans-Ende* 
Kriegern als ihr g c fah rl i chste r Feind bekiimpft, Drauflen 
behaupiet man von ihr aber, sie hatte sich dem btirgerlichen 
Imperialismus mit Haut und Haaren verkauft. Beschuldigungen, 
die in der Htlze eines Bruderkampfes unbedacht erhoben wurden, 
dienen dazu, diese Behauptung zu statzen, die Verstandigung 
zwischen den sozialdemokratischen Parteien der verschiedenen 
Lander zu hintertreiben, die Verwirrung zu steigern, die Friedens- 
aussichten zu verschlechtern. 

Jetzt soli aber die russische Sozialdemokratie vor den 
Wagen des btirgerlichen Imperialismus gespannt werden, und 
als Zaumzeug verwendet man dabei sehr geschickt die demo- 
kratische Ideologic. Den russischen Sozialisten wird gesagt, 
der Kampf der Entente sei ein Kampf um die Deinokralie, und 
er dtlrfe niebt ruhen, solange nichf Deutschland Republik ge- 
worden sei. 

Nach Behauptungen der franzbs ischen Presse soil 
auchGenosseTscheidse erklarthaben, das russische 
Proletariat kbnne erst nach der Absetzung der 
Hohenzollern mit Deutschland gehen. 

Dazu sei folgendes bemerkt: 

Zunachst : Die Forderung nacli der deutschen Republik kann 

nur von den Deutschen selbst, nicht aber von Russen, 
Franzosen, nicht von w Untertanen u des Konigs von England 
oder des Konigs von lialien erhoben werden. Kein Volk 
hat das Recht, einem anderen seine Staatsform mit Gewalt 
aufzudrangen, und kein Volk tut klug, wenn es einen solchcn 
Versuch unternimml, weil diese Staatsform eben dadurch, dafl 
sie bloG aufgedraingt wird, auch entwertet wird. Jetzt soli 
das russische Volk durch allgemeine Abstimmung dartlber ent- 
scheiden, ob es monarchiscb oder republikaniscb regiert scin 
will. Wir deutschen Sozialdemokraten werden uns sehr freuen, 
wenn diese Entscheidung zugunsten der Republik ausfalh, aber 
den Gedanken, dafl diese Entscheidung durch auflere Gewalt 
getrofFen werden solhe, halten wir fttr absurd. Was filr KuG- 
land gilt, gilt auch ftlr Deutschland. 

Weiter: tJber die Wunsche des deutschen Volkes hinsichtlich 

seiner Staatsform sind wir einjgermaflcn unterrichtet. Bei den 
letzten Reichstagswahlen im Januar 1912 wurden in geheiincr 
Wahl 12188000 Stimmen abgegeben, d&von waren 423S000 
sozialdemokratisch. DaG alle Wahler, die sozialdemokratisch 
stimmten, uberzeugle Kepublikaner waren, mdchten wir keines- 



wegs behaupten; dafl die restlichen 7 949 000 Wahler es nicht 
waren, darf man wohl als gewifl annehmen. Im Reichstag 
sind von 397 Abgeordneten 286 entschiedene Monarchisten. 
Unter solchen Umstanden gibt es ftlr erne demokratische Partei 
wie die Sozialdemokratie nur eine Moglichkeit: ihre Grund- 
siilze zu vertreten und der Mehrheit ihr Recht werden zu lassen. 
Man soil also die Starke der Monarchie in Deutschland nicht 
unterschatzen. Uber ihre Zukunft wollen wir nicht prophezeien. 
Nur das eine soil gesagt sein; Findet die Monarchie in dieser 
Zeit kluge Ratgeber, dann kann sie sich fdr alle absehbare 
Zeit stchern und festigen. Das deutsche Volk ist in seiner 
Mehrheit nicht antimonarchisch, es ist aber zweifellos in seiner 
Mehrheit demokratisch gesinnt, es will das gle iche Wahl • 
recht zu alien Ver tre tun gskbrpern , es will Selbstver* 
waltung und parlamen tar isch es System. Kurz, es will 
das, was in anderen Monarchien Ungst verwirklicht ist. Gegnerin 
dieser Reformen ist nur eine dtlnne Schichl, die vorgibt, sie 
wolle die Monarchie schtitzen, die aber in Wirklichkeit nur 
um ihre eigene Herrschaft k&mpft. 

Sobald die Monarchie die Wtinsche des Volkes erfllllt, ist aller 
republikanischen Agitation der Boden unter den Ftifien weg- 
gezogen. Die Frage, ob Monarchie oder Republik, wllrde dann 
noch viel weniger Diskussionsihema sein, als sie es jetzt schon 
ist, Und alle W&hrscheinlichkeit spricht daftlr, dafl es so 
kommt. Wenn auch noch Schwierigkeiten zu Uberwinden sind, 
so werden sie — voraussichtlich sogar schon in kUrzcster Zeit 
— Uberwunden werden, ohne eine Spur von gewaltsamem Um* 
sturz und ohne Umsturz der Monarchie. 

Die Methoden des politischen Fortschrilis sind in den ver* 
schiedenen Landern vcrschieden, und kein Volk sollte dem 
anderen Vorschriften dartlber machen wollen, wie es zu seinen 
politischen Rechten kommen soil. J eder Ver such i n di eser 
Richtung miiflte den Krieg unabseh bar verlangernl 
Das heutige Ruflland sieht in der monarchischen Staatsform 
En glands und It aliens keinen Grund, die freundschaftlicben 
Beziehungen zum englischen und zum italienischen Volk zu 
losen. Wie sollte ibm da die beutige Staatsform Deutschlands 
ein Hindernis sein, auch zum deutschen Volke wieder in freund- 
schaftliche Beziehungen zu treten? 

Tscheidses Ausspruch ist, wenn er tiberhaupt richtig wieder* 
gegeben ist, jedenfalls vor dem Bekanntwerden der deutschen 
Erklarung gefallen, dafl Deutschland nicht daran denke, der 
freiheitlichen Entwicklung KuGlands auch nur das geringste in 
den Weg zu legen und dafl es keinen anderen Wunsch habe, 
als mit Ruflland bald zu einem filr beide Teile ehrenvollen 
Frieden zu gelangeo. Auch der Vorschlag des Grafen Czernin, 
noch mitten im Waffenlarm zu einer a 1 Igemeinen Friedens- 
konferenz zusammenzutreten, konnte damals in Ruflland noch 
nicht bekannt sein. Es erfllllt uns mit Freuden, dafl seitdem die 
Stimmen ruhiger und freundlicher zu uns heriiberkl ingen. 

Die russische Sozialdemokratie erfllllt nach unserer Uberzeugung 
ihre grofle Mission nur dann, wenn sie den Volke riraum 
vom nahenden Frieden verwirklichen hilft und wenn sie 
es dem deutschen Volk ttberlaflt, {Ur seine eigene Fretbeit zu 
sorgen, Nach diesem Krieg wird es kein Volk in Europe 
geben, das nicht, sei es unter welcher Staatsform immer, frei 
seine eigene Geschicke beslimmen wird. Und keines wird eine 
Rdckkehr zu dem furchtbaren Zustand wllnschen, dessen end* 
liches Ende alle aus ganzem Herzen herbeisehnen l u 
Dies ist der Aufsatz, den ich ein historisches Dokument nennen 
wlirde, wenn erwiesen ware, dafl die Herren rings um den 
„Vorwarls" die deutsche Sozialdemokratie vertreten, was min- 
destens zweifelbaft ist. Sind es die Vertreter, dann werden 
wir bald Ruhe im Lande haben. Welch kompliziertc Ange* 
legenheit ist dann doch das Eiproblem des Kolumbus, vergltcben 
mit dem Problem Sozialdemokratie 1 Noch am 2. Juli 1914 
behauptete der „Vorwans u , als er gegen Kaiserhoch* Wtinsche 
des Herrn Heine polemisierte: „Die sozialdemokratischen Massen 
in Deutschland wissen, dafl ihre Panel republikaniscb ist, sie 
wollen keine Verhttllung ihrer Ziele M ; jetzt wird, nach dem* 
sei ben „Vorwarts°, bald, „ aller republikanischen Agitation der 
Boden unter den Ftiflen weggezogen“ sein, einfach durch die 
nahende Wahlreform. Die Monarchie kann sich damit „fur 
alle absehbare Zeit sichern und festigen u . Ich wundere mich, 
dafl der „Vorwarts 4 als Motto zu dieser Kundgebung nicht die 
Schluflsiitze jenes Leitarlikels verwendete, den er am 26. Sep- 
tember 1916 gedruckt hat: *Der Geisl der alien Internationale 
beftndet sich in Deutschland im siegreichen Vormarsch. Sein 
endgUltiger Triumph ist bereiti ge»ichextl w 



* 



DIE AKTION 



260 







Cg. Sit. id M. Kurt Martens Artikelreihe n Flugschriften Uber 
den Krieg“, die das „Literarische Echo** verb ffentl ich t, hat 
meinem Papierkorb schon viele unaufgeschnittene Drucksachen 
zugeftihrt ; ich babe Zeit und Raum gewonnen. Manche Dinge, 
eiwa die unx&hligen Neuheiten des Herrn Fendrich, lasse ich 
ja ohnehin nicht in meine Wohnung; Martens beweist mir, dafi 
ich gut daran tue. Anderes hingegen, das ich fllr spatere Arbeiten 
nicht entbehren m&chie, brauche ich, dank Bttrger Martens, 
jetrt nicht xu erduldeo ; seine Andeulungen genllgen mir vor* 
iaufig. So wenn er (Heft 13 LE.) von der Uruckschrift des 
Herrn Wolfgang Heine, „Zu Deutschland* Erneuetung", plaudert: 

^Darin, dafi er gleich zu Beginn Gefuhlspolitik ablehnti 
soli ten vernUnftigerweise die Manner alter Parteien ihm 
folgen. ,Die Pfitcht und das gute Recht der Deutschen 
xu klmpfen und xu siegen, ganx gleichgtiltig welche 
Fehler etwa ( 1 ) auch die deutsche Politik vor dem Kriege 
gemacht hat 1 , wird bekanntlicb von den linksstehenden 
Sozialdemokraten bestriuen. Wolfgang Heine wehrt 
sich an vielen Stellen seines Buches heftig gegen die 
Vorwtirfe der Sozialdemokratischcn Arbeitsgemeinschaft, 
die sich iiber das .Umlernen' der ehemaligen Fraktions- 
freunde befremdet zeigt. Die Reichsregierung und die 
bfirgerlichen Parteien konnen Kdpfe wie den Wolfgang 
Heines, Scheidetnanns, Stidekums usw. als Mititreiler 
ja nur willkommen heiflen, und zumal die fortschrittliche 
Volks part ei wird bald freundlich auf thren Blnken zu 
sammenrttcken. Mil dem frtlher so grimmig befehdeten 
Militarismus sdhnt sich Heine auf Grund des .Notwehr'- 
Gedankens aus ; den Glauben an die rote Internationale 
scbeint er vollig verloren zu baben; in der Konkurrenz 
zwischen , Potsdam und Weimar 1 , d. h. zwischen mili- 
tirischer und geisttger Kultur spendet er auch ,der 
gToOen Zeit Potsdams 4 warme Anerkenaung. — “ 

W. R. Aber 1 aber’! Da hat ja Frauiein Renate B. trotx 
seiner Jugend (xu Neugierigen gesagt: Renate kann bald thren 

ersten Geburtstag feiem; Nina Einstein hingegen wird in 
spatestens fanfzeho Jahren heiratsfthfg sein . .), trotx seiner 
Jugend ein bes seres Gedlchmis, ,,Wortel Wortel Keine 
Taten!" ist weder ein Ausspruch von Scheidemann, noch ein 
Ztimf des Lensch. Jener andere Heine, dem das Weber lied 
und ahnliche Delikte zut Last gelegt werden mttssen, der in 
Paris ruhende Heine hat auch diese Worte xu verantworten. 
Strmfmildernd ist allerdings, dafi er sie in einem unpolUischen 
Liebesgedicbt drucken liefi. 

Lieber Leser, lies, bitte, den ..Briefk&sten" in Heft 7/S des 
fn often jahrgangs nochmals. Dort habe ich das Gedicht 
wiedergegeben, das ein Herr Julius Schiller dem ..Frlnkischen 
Kurier“ eingesandt hatte und das der Redakteur dieses Blattes 
unter dem Titel l) Soldatenlos ,< als neue Schopfung veroffent- 
lichte, obwohl es eine dreiste Abschrift des auf alien Kinder* 
spiel platzen bekannten Liliencronscben „Tod in Aehren" war. 
Herr Schiller hat damais geschwiegen. Jetzt meldet er sich. 
Er sendet mir zu seiner Rechtfenigung die Zeilen ein, mit 
denen Herr Dehmel sich im ,, Berliner Tageblatt" Nr. 132 gegen 
Professor Bexzenberger zu „rechtfertigen‘ l sucht. Herr Schiller 
hat in diesem Falle recht. Professor Bezzenberger zeigle im 
Sonntagsblait der ^Konigsberger Hart. Ztg " Dehmel als Pla- 
giator. Herr Dehmel ist nicht kleinlaut ge worden. Ich erklfire 
nunmehr in atler Form: Liliencrons ,,Tod in Aehren 11 ist von 
Julius Schiller und heiQt ,, Sol date nlos u . Genllgts? Vielleicht 
vereinigen sich die Schiller, Dehmel mit Herrn Siegfried Jacob' 
sohn? Herrn Karl Broger, Dichter der grofien Glocke des 
Herrn Parvus, kann ich den Rat nicht geben, denn Herr 
Broger ist doch zu sehr Eigenbrdger, er w&lzt fremde Ideen 
gar eigenartig aus. Der japaniscbe Dichter Sakine hat, vor 
75 Jahren, der Welt ein lyriscbes Kiel nod geschenkt; 

„ G 1 o c k e n. 

Die Glocken schmolz man zu Kanonen um ! 

. . . Nun klingt nicht mehr beim ersten Stemenschein 

Tbr heJJes Abendlied ins Land hinein. 

Die H 8 he n sind, die Tiler stumm. 



Die Blumen selbst, die auf dem Fetsen wohnen, 

Vergessen, wartend auf den Nachtgesang, 

Des Welkens gar . . . 

Voll blubt der Bergeshang, 

Seit man die Glocken umschmolz zu Kanonen l" 

,, Glocken?' 4 Herr Broger dichtet (Glocke Nr. 53) wuchtiger. 
Er legt los: 

„Die G 1 ocken kanonen. 

Im Gesttihl 

hoch Uber dem wimmelnden Jahre gehangen, 
hoch Uber dem wimmelnden WellgewUhl, 

Wiege und Tolenschrein 

ging in ihr klingendes Glockenleben ein 

und schltef in threm Schall gefangcn. 

Diese wilde Zeit 

reifit die Glocken vom Turm, 

stellt sie als Haubitzen breit 

fUr den wirbelnden FrUhlingssturm. 

Uber des Krieges Blutallar 

drohnt die Kanone, die einst Glocke war. Usw. usw, 

Wie wire es, Herr Parvus, wenn die , .Glocke" aucb die 
, .Glocken 41 druckte? Paul Enderling, der das Gedichl 1905 
Ubersetzte, wtirde sich wahrscheinlich nur freuen. 

, . . Dies hatte ich geschrieben, als das n Berliner Tageblatt" 
(Morgenausgabe, 25. April 1917) aus dem Hauptausschufi (sprich: 
Budgetkommission) des Reichstags berichtete, zur Beralung des 
Heeresetats sei folgender neuer Antrag gestellt worden: 
„Groeber und Genossen (Zentr.) auf eine dem 
Metallwert voll entsprechende VergUtung der 
Kirchengemeinden fUr die von der Militiirver- 
waltung enteigneten Kirchenglocken und auf 
Lieferung von Glockenmetall gegen Rtlckzahiung 
der VergUtung nach Beendigung des Krieges sowie 
auf Gewlhrung von Unteratiitzungen an bedUrftige 
Kirchengemeinden zur WiederanschafTung der 
Glocken," 

Lieber Leser, in Mtlnchen gibt Herr Karl Graf ▼. Bothmer 
neuerdings eine Zeitschrift heraus „ftir Ordnung und Recht". 
Also mit einem eigenartigen Program m. Das erste Heft brachtc 
einen Leit&rtikel Uber fl Die Unmoral der Moralisten u . Gegen 
— Kriegsgegner. Hier ist der Weisheit Schlufi: 

„Wir beharren darauf: Der pazifistisch-internationalisLische 
Gedanke ist ein Ausflu& menschlicher und vblkischer 
Unmoral. 11 

Ich habe das Heil der Welt nie von Ha&ger Platonikern erwartet. 
Der n pazifistisch - internationalistlsche Gedanke" atlein — 
wie oft ist das vor dieser Zeit hier gesagt worden 1 — vermag 
Kriege nicht aus der Welt zu scbaffen. Aber dafi er ein Aus- 
flufi der Unmoral sei, dies auszusprechen, im dritten Jahre des 
Volkermordens, wahrlich, dazu gehort Mutt 
W, W. Es ist nett, dafi jetzt der „VorwSrts“ gegen Hardens 
„Zukunft" das Bannwort „bUrgerlich" schleudert. Wie wfcrs, 
Herr Stampfer, wenn das Zentralorgan fttr politische Klugheit 
sich entschlosse, einige Aufsfitze dieser bUrgerlichen Zeitschrift 
(etwa; „Ftlr die bessere Welt" aus Nr. 28, oder: „ Am tausend- 
sten T»g“ aus Nr. 30) durch Nachdrucken „niedriger zu hlngen"? 
vielleicht als dusteren Hintergrund zu gebeo zu den lichtvollen 
Aufsiitzen der Proletarier Lensch und SUdekum? 

K. O. Der dritte Band der Sammlung DIE AKTIONS-LYRIK: 
Go t tf rie d Be n n : Fleisch ist bereits erschienen. Erkostetge* 
bunden M. 3, — . Der vierte Band: Wilhelm Klemm: Verse uod 
die Anthologie „Der Hahn" gelangen in dieses Tagen zur 
Ausgabe, ebenso kornmt jetzt (endlichl): DAS AKTIONS- 

BUCH, kommt: Lu d wi g Rubi ner: Der Mensch in der Milte. 
Der „Hahn“ kostet M. 2, — , die Ubrigen Werke jedes M. 3, — . Die 
Auflage des AKTIONS-BUCHES ist nahczu vergriffen durch 
Vorbestellungen I 

M. ST Von Ludwig Rubiner erschien, bei Wolff in Leipzig: 
w Das himmlische Licht". Das Werk ist wichtig. Sie k&nnen 
es fllr 80 Pf. im Buchladen kaufen, oder, wie jedes gute Buch, 
durch die AKTION beziehen. 

H. H. Nadja Strassers Werk „Die Russin" hat S. Fischer, 
Berlin, verlegt. Lesen Sie est 



SONDERHEFT LUDWIG RUBINER. INHALT DER VORIGEN NUMMER: Felix Muller: Widmungsblatt (Titel) / Hans 

Richter’ Widmungsblatt und Portrdt Ludwig Rubiners / Ludwig Rubiner: Der Kampf mit dem Engel / Wilhelm Lehm- 

l_ ir L. 'r Rubiner (Federzeichnung) / F. P.: Ich schneide die Zeit aus; Kleiner Briefkasten / Beilage fur die Biittenaus- 

orucx. l-uaw K ga be; Kunstblatt VQn Hans Richter 






Fur Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten 
In halt verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin- Wil- 
mersdorf, Nassauische StraBe 17. Tel. Pfalzbg.1695. 
Qedruckt bei F, E. Haag, Melle in Hannover. 
Die AKTION erscheint jeden Sonnabend. Abonne- 
ments kosten vierteljahrlich durch die Post, durch 
Buchhandel oder Verlag (unter Kreuzb.) M. 2,50. 
Abonnements fur das Ausland kosten M. 3, — , 
Buttenausg., lOOnumerierte Exempt., jahrl. M. 40, — . 
Verlag der AKTION, Berlin-Wiim e rsdorf. 

Unverlangten Man usk rip ten 

ist Ruckporto beizufugen. 

Alle Rechte vorbehalten. 




WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITE RATU R, KUNST 

ID. JAHR.HERAUSQEGEBEN VON FRANZ PFEMFERTNR f} 

INHALT: Richter- Berlin : Original- Holzschnitt (Titelblatt) / Charles P6guy: Clemenceau / Kurt Pinthus: Ober Kritik f Carl 
Einstein: Qedenken des Andre Derain / Arm in T. Wegner: Die Ertrunkenen / Josef Capek (Prag): Ori ginal-H olzschn i tt / 
Herbert Ktihn: Die Tage fallen ab / Charlotte Wohlmuth: Qedicht / C6 1 estin a Tucher: Mondnacht / Paul Hatvani: Fest- 
steliung ! Heinrich Hoerle : Ober Kubismus / Wilhelm Schuler: Hirsche (Ori ginal-H olzschnitt) / Wilhelm Stolzenburg (New 
York): westwirts / H. von Rebay; LinoleumsUinitt / Simon Kronberg : Rabbi Chasan, Ein Sttick Prosa / Franz werfel: 
Theologie. Fine Erzahlung / Christian Schad: Portrait / W, E, Burckhardt Du Bois: Die Litanei von Atlanta (Deutsch von 
Arthur Holitecher) / Marg. Moll: Portrftt / Literarische Neuerscheinungen / F. P.: ich schneide die Zeit aus; Kleiner Brief kasten 






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: J i 
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DIE AKTIONS 



Band I : 



L Y R I K 



Eine Anthologie 
Band 2 \ 

JUNGSTE TSCHECHISCHE LYRIK 

Eine Anthologie 

Band 3: 

GOTTFRIED BENN: FLEISCH 

Gesammelte Lyrik 



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Verse und Bilder 



Luxusausgabe M. 15, 



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Ein Roman. Geb. M. 3, — , geh. M, 2, — 



Das AKTIONSBUCH 

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Band 1 : 

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Lesestucke 

Band 2 : 

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Anmerkungen 

Band 3: 

FRANZ JUNG 

Opferung 

Band 4: 

FRANZ JUNG 

Saul 

Band 5 : 

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Band 1, 2 und 4 kosten gebunden je M. 2, — 
Band 3 und 5 kosten gebunden je M. 3, — 



POLITISCHE AKTIONS-BIBLIOTHEK 



Erstes Werk: 



ALEXANDER HERZEN 

Erinneru ngen 
Deutsch von Otto Buek 

Zwei Bande. (446 und 338 Seiten ) Mit 

drei Portrats 

Gebunden M. 12,50, broschiert M. 10, — 

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Der Mensch in der Mitte 

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KUNST-SONDERHEFTE 
DER AKTION 

„Neue Secession a / Richter- Berlin / Schmidt- Roll! u AT / 
K. J. Hirsch / Hans Richter / Wilhelm Morgner / Egon 
Schiele / Georg Tappert / Else von zur Mtihlen / Ines 

Wetzel / Felix Muller 



D I C H T E R 
D E R 



SONDERHEFTE 

AKTION 



l-'ranz Blei / Gottfried Kolwel / Alfred Lichtenstein / 
Paris von Gutersloh j Heinrich Schaefer / Theodor DSubler 

j Paul Adler / Franz Werfel 

SONDERHEFTE „DIE VOLKER" 

w kuUUm!” (mil Geleitworten von Maximilian Harden) / 
„ England” / n Frankreich“ / „Itelgien“ / n Italien” / Boh- 

men* 4 / „ Deutschland” 

Jedes Sonderheft, gewohnliche Ausgabe, 
kostet 5oPf. — Biitten, numeriert, M.2, — 



BUTTEN - AUSGABE DER AKTION 

loo numerierte Exemplare 
Jahresabonnement : M. 40 

Jedcm BUttenabonnement werden jahrlich mindestens 
acht Kunstbl&uer beigegeben, von den Ktlnstlern nurne- 
riert und signiert. Diese Beilagen kommen nicht in den 
Handel und stellen einen Wert dar, der den Abonne- 
mentsbetrag Ubersieigtl Im Jahrgang 1917 werden 
beigegeben: Blatter von Felix Mllller / Max Oppenheimer / 
Ines Wetzel / Karl Jakob Hirsch / RichterBerlin u a. 



KtJNSTLER-POSTKARTEN DER AKTION 

Es sind 80 verschiedene Drucke erschienen 

Zcichnungen von Mopp / Kars / Schmidt- Rottluff / Schrimpf 
/ Klein / RichterBerlin / Nadelman / Feininger / Hart a / 
Schiele / Mense / Melzer / Tappert / Else von zur 
Muhlen / Hans Richter / Josef Capek / Morgner u. a. 

IOO Stuck M, 3, — 

portofrei gegen Voreinsendung des Betrages 



WOCHENSCHRIFT FUR POUTIK, LITERATUR. KUNST 

7.JAHRGANG HERAUSGEQEBEN VON FRANZ PFEMFERT »• mai tsiz 



CLEMENCEAU 1904 
Von Charles Peguy 

Clemenceau liefert ein noch trefflicheres Beispiel 
als Jaures fur die Gefahr der Parlamentspolitik; 
nicht nach allmahlicher Annaherung, nicht mil 
langsam anroKenden Wellen ergreift und dutch - 
dringt ihn die Flut der parlamentarischen Poll- 
tik; dazu ist er viel zu stark; er kennt sich selbst 
zu gut; und kennt die Verhaltnisse zu gut; die 
Parlamentspolitik ist das tagliche Brot seines Le- 
bens; er kennt die Parlamentspolitik und die Mit- 
teldieser Pol i tik vollkommen; er war lange Depu- 
tierter; er ist Senator; und seine politische St el 
lung hat fast imtner den politischen Grad, den er 
erreicht hatte, uberragt; seine politische Wirksam- 
keit aber hat fast immer seine offizielle Stellung 
um vieles uberragt; auch kennt er die Politlk 
durch und durch und ist fast niemals — wie Jau- 
res — von den Ehren, die sie zu verleihen scheint, 
uberwaltljgft ; auch sichert ihn sein Charakter ge- 
gen geplante Uberraschungen, gegen snobbish - 
sche Ubergriffe; die Politik ist der naturliche 
Nahrstoff seines Lebens, seines Schreibens und 
Redens. Ganz plotzlich, halb willkurlich, halb 
unwillkurlich, macht der impulsive Mann mit den 
ungjaublich dauerhaften Freundschaften und 
Feindschaften, — welche seine Feinde fur Rach- 
sucht erklaren, — macht er Ausfalle, die im vollen 
Sinne verstanden, seine ganze Politik fiber den 
Haufen werfen wurden. Das kommt eben daher, 
da8 er unter uns in Geist und Geste so etwas wie 
einen jener alten Republikaner reprasentiert, von 
denen ich gesprochen habe. Das kommt im beson- 
deren und im allgemeinen von seinem Tempera- 
ment her, welches unlenkbar ist und Ver- 
steilungen nur schwer ertragt — miteingeschlos- 
sen, ja in erster Linie die Verstellungen des Herm 
Clemenceau. Oder viehnehr ist sein ganzes Tem- 
perament das markante Beispiel eines Tempera- 
ments aus vergangenen Tagen. Ungemischt ver- 
korpert er das Temperament der alten Republi- 
kaner, weil sie dieses Temperament in sich hatten 
und weil er selbst einen solchen in sich tragt. 



Diese Ausfalle sind cs, welche ihm die bestandige, 
eigensinnig treue Freundschaft seiner alten An- 
hanger und Bewunderer bewahrt haben. Denn 
so alt er ist, so viel er gelebt, so zahlreiche poli- 
tische Wechselfaile er erlitten hat, verstand er 
sich doch das zu erhalten, was Jaures nicht mehr 
besitzt: Freundschaften und Bewunderung; per- 
sonliche Freundschaft und Bewunderung von Leu- 
ten, welche er kennt und die ihn nicht verlassen 
haben, die ihn regelmaBig besuchen; Freundschaf- 
ten und Verehrerschaften, die zweifellos wertvoller 
sind als solche von Leuten, die er nie gekannt 
hat, die ihn im stillen lieben und bewundern; 
kein Mann hat heutzutage noch soviele ungekannte 
Freunde unter den ehrlichen und verstandigen 
kleinen Leuten; selbst heute entzundet er auf den 
ersten Blick, im ersten Ansturm Freundschaft und 
Bewunderung unter ganz jungen Leuten, Sozia- 
listen, die seinem urwuchsigen, ungegorenen Ra- 
dikalismus den Vorzug geben vor der eitlen Rhe- 
torik eines Parlaments-Sozialismus; sie wissen 
wohl, was ihm alles fchlt ; doch sie lieben sein ur- 
wuchsiges Temperament; sie haben andere Theo- 
rien, andere Methoden der Praxis, doch sie lieben 
diese Eberausfalle und jahen Angriffe, diese uber- 
raschenden Wendungen, diese Scherze a la Vol- 
taire, a la Diderot; denn er vertritt nicht nur den 
Typus einer vorhergehenden Generation, seine 
Art reicht weit zurfick in der Tradition des fran- 
zosischen Geistes; er ist klar, offen; Philosoph 
ist er nur im Sinne des 18, Jahrhunderis; aber 
in diesem Sinne ist er genau das, was man damals 
einen Philosophen nannte; in der wissenschaft- 
lichen und philosoph is chen Arbeit gerade so weit 
bewandert, um nicht in sie vertieft, eingedrungen 
zu sein; gerade so weit, hinreichend wissend, 
hinreichend unwissend, um Exposes verfertigen 
zu konnen; er ist fur alle seine Freunde und Be- 
wunderer, fur die einen und fur die anderen, 
fur die Jungen und Alten, nicht wie ein verwohn- 
tes Kind, sondem was viel lustiger, verjungender, 
kostlicher ist, wie ein verwohnter Papa, ein alter 
Onkel, welcher seine schlechten Viertelstunden 



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263 



DIE AKTION 



264 



hat, dem man aber in seinen guten Momenten 
nicht widerstehn kann. Diese guten Momente — 
sind eigentlich die bosen Streiche des alten Poli- 
tikers; denn der gewohnliche Inhalt seines politi- 
schen Wirkens in Parlament und Regierung ware 
nur geeignet, ihn zu verdammen; was ihn rettet, 
was ihm die Sympathie der Mittelpartei zufiihrt, 
selbst wo sie sich bereits entmutigt fiihlt, das 
sind seine Augenblicke des Selbstvergessens, seine 
Uniiberlegtheiten; wenn die Natiirlichkeit und mit 
ihr die Aufrichtigkeit wieder durchbricht; das sind 
seine bosen Streiche, seine GroBmauligkeiten, 
Prahlereien, SpaBe and Abfuhren, seine Rappel- 
launen und Clownspriinge. Es wird ihm viel ver- 
ziehen werden, denn er hat viel gespaBt. 

Er hat offensichtlich nicht immer den Respekt, 
den wir den politischen Machthabern schuldig 
sind; er versteht nicht immer zu ziitern und zu 
gehorchen, wie es sich gebiihrte. Diese seine 
chronische Respektlosigkeit z, B. gegen politische 
Kundgebungen, die ihn unterbrechen, hat seiner 
parlamentarischen Laufbahn viel geschadet; eben- 
dies jedoch erhebt ihn in der Schatzung der an- 
standigen Leute, in der Achtung der freien Man- 
ner; man versichert, daB nur ein ubler Scherz 
gegenuber einem Abgeordneten es verschuldet 
habe, daB er nicht President der Kammer ge- 
worden sei; solche Ziige gereichen einem Mann 

zur Ehre. 

Die Politik erscheint ihm, wie so vielen anderen, 
zweifelsohne als notwendiges Ubel; die Politik 
lafit ihn, wie sie es alle, die sie betrieben, tun 
liefi, schlechte Handlungen begehn; die ihm gar 
nicht gleich schauen; er ist aus Combismus und 
gevvissermaBen um seine schone „Rede fur die 
Freiheit“ vergessen zu machen, zu widerrufen, 
von ungerechter Heftigkeit gegen die Manner ge- 
wesen, welche sich weigerten, der combistischen 
Demagogie beizutreten; er hat Handel mit man- 
chen gesucht, die es nicht verdienten; er hat 
den harmlosesten Menschen gescholten, den hin- 
gebendsten, ehrlichsten Dreyfusisten, Herrn Ga- 
briel Monod; und der Wortlaut so gut wie der 
Gegenstand und der AnlaB dieser Streitsache ha- 
ben jene sehr iiberrascht, sehr betrubt, die ein 
wenig darin eingeweiht waren, aus welcher par- 
lamentspolitischen Kombination die Begnadigung 
des Dreyfus zugleich mit der Amnestie hervor- 

gegangen ist. 

Es gibt noch immer gewisse Tage, gewisse Stun- 
den, wo das alte Blut des vormaligen Repubii- 
kaners ervvacht: das Temperament des alten Un- 
zahmbaren gewinnt die Oberhand; die Politik 
des Senators Clemenceau argert ihn auf einmal 



mehr als alle anderen Politiken; weil er darinnen 
steckt; er schickt alle Riicksicht zum Teufel; und 
halt eine dieser unpolitischen, unparlamentarischen 
Reden, welche die Kombinationen iiber den Hau- 
fen werfen, die Vereinbarungen zerschlagen, die 
Angstlichen verriickt machen; er weiB nichts von 
Disziplin; er jagt seine Freunde in Schrecken; 
und wie wir alle, wir beharrlich Freisinnigen, fiihri 
er das Spiel vor, das unsterbliche Spiel der Re- 
Aktion, 

In diesen Augenblicken findet der alte Redner 
in seine Rollen der groBen Komodie zuriick, die 
einstmals der Schrecken jener grotesken Politiker 
waren, die man Parlaments-Marionetten nennen 
konnte; der Sohn Voltaires und Diderots wird 
auch wieder der Sohn Molieres; man versichert 
mir, daB es in jener Sitzung am Dienstag, den 
17. November, richtige groBe klassische Komodie 
gab; man war hundert Meilen weit weg vom 
Senai; es war ganz der alte franzosische Kampf 
— durchaus nicht romisch, wie man mir glauben 
mag — der Kampf des rechtschaffenen Mannes 
und des Lebens gegen die Herrschaft der Schule; 
es war das alte Dictum von Montaigne und Ra- 
belais, von Descartes und Moliere, Pascal und 
Rousseau gegen unsere Feinde, die Geiehrten; und 
man sagt, daB der ehrenwerie Herr Lintilhac, auf 
seinem Platze sitzend, dieseibe jammervolle Miene 
machte wie Thomas Diafoirus auf seinem Arm- 
siinderstuhl; er bemiihte sich vergebens, die ersten 
Angriffe abzuwehren; rasch zum Schweigen ge- 
bracht, verhielt er sich still, bis zum Ende. 

(Autorisierte Ubersetzung von Gustav Schlein) 

OBER KRITIK 
Von Kurt Pinthus 

Wenn ich Geist als Bewegung des BewuBtseins 
zum Zweck der Vervollkommnung bestimme, so 
ergibt sich, daB der Kritiker nicht nur Propagator 
des geistigen Werks (anderer), sondern voraus- 
sturmendster Gebarer, Aufpeitscher, Veikorperer 
des Geistes selbst zu sein hat, 

Freilich seien als Kritiker nicht verstanden die 
Deskribenten und Hintergriinder, nicht analy- 
tische Nacherzahler oder salbadernde Verdunkler, 
nicht historische Einreiher und Abhangigkeits- 
schniiffler, — die alle in der Finstemis ihrer fun- 
ken- und gedankenleeren Hirne sich sonnen unter 
der stolzen Demut, Karrner zu sein. 

Es ist selbstverstandliches Erfordernis, daB der 
Kritiker die Histone, die Tatsache beherrscht, — 
nicht um sie zu besitzen, sondern um sie ver- 
schwinden zu lassen. Nicht mit Luft, sondern mit 
Stcinen baut der Architekt, nicht der Steine halber, 
sondern um der Idee vermittelst der zu ordnenden 
und zu andernden Materie Gestalt zu schaffen. 
Das Material der ReaJitat ist erforderlich, um sie 
zu beseitigen, damit der Idee Verwirklichung ge- 
geben werden kann. Der Kritiker hat die Aufgabe, 



265 



DIE AKTION 



266 



das Kausalitatsgesetz, kraft seiner Kraft, aufzu- 
heben durch eine andere KausaJitat, — die Kausa- 
litiit derTatsache zu verbessern durch die derldee. 
Er feuert den Kunstler an, durch das Werk zu be- 
wirken, dafi erkannt sei: Realitat, Ens sei das Ima- 
ginare, Spiel- und Werkzeug; der Geist als Movens 
das Reale. 

Man konnte einwenden, daB das Kunstwerk, iiber 
das der Kritiker spricht, schon nicht mehr Realitat 
der Tatsache sei, sondern bereits geformter Geist, 
Strahl der Idee. Dem ist zu entgegnen, daB sich 
der Kritiker zum Werk verhalt wie der Kunstler 
zur Realitat. Wie der Kunstler die Realitat als Aus- 
drucksmittel braucht, um aus sich eine neue, 
hohere Realitat sichtbar zu machen, so braucht 
der Kritiker das Werk . . . nicht um sich am Werk, 
sondern um das Werk an seinem Geist zu entziin- 
den. Hiermit soli nicht die absolute Willkiirlich- 
keit des Kritikers statuiert, sondern die Wechset- 
wirkung bezeichnet werden, durch welche die 
Kritik sich erzeugt. 

Denn Kritik ist nicht Selbstzweck, auch nicht Zen- 
sierung des Kunstwerks, sondern Entziindung, 
Schopfung, Wirkung, entspringend aus dem ge- 
heimnisvollen Dreieck, dessen Seiten sich aus 
Kunstler, Publikum und Kritiker bilden; so daB 
die drei Winkel entstehen, die sich unaufloslich 
selbst einander in die Arme werfen, da jeder ihrer 
Schenkelarme gleichzeitig der des andern ist, und 
die zum Zentrum hin jene sich ballende magische 
Kraft schleudern, durch die bewirkt ward, daB 
ehrfurchtige Menschheit seit alters in dieser Figur 
das strahlende, ziindende Auge Gottes sah. 

Der Kritiker ist der Kunstler iiber den Kunstler; 
das Werk auflosend kniipft er neu die Idee, laBt 
sie wirken, indem er untersucht, was der Kunstler 
will und was er kann. Und mit diesem Augenblick 
ist er nicht mehr nur Kunstler. Weil er das Werk, 
das des Kiinstlers geziigelte Willkiir ins Absolute 
stellt, in Beziehung zum Publikum sowie wiederum 
zum Schopfer bringt, weil er dem Werk Sinn und 
Ziel gibt, . . . wird er Politiker! Er zieht die flam- 
mende Unie vom Menschen, der das Werk schuf 
— iiber den Menschen, den dieser schuf — zum 
Menschen, fiir den er es schuf. Diese Trinitat wan- 
delt er zur Einheit durch Sichtbarmachen der Idee. 
Er laBt das Ethos auferstehen, aus dessen Glut das 
Werk nicht nur erwuchs, sondern das ihm auch 
die Form gab. Er sucht nicht das Kunstvollste. 
sondern das Wertvollste, das Wesentliche. Er 
wertet. Wertet das Werk fur die Kunst und die 
Menschheit. Wirkt. Und damit ist die Idee seiner 
Existenz verwirklicht. 

Im Kritiker also fiigt sich der kiinstlerische und 
der politischc Mensch zu vollkommenster Harmo- 
nie. Das ist sein tragischer und zugleich be- 
g/iickender Beruf. 

Seine Arbeit birgt nicht die konzentrierte Ruhe des 
Wissenscha f tiers und die Sicherheit, welche die 
Beherrschung des Spezialgebiets gewahrt. Er 
*tnnt nicht die Erlosung durch das Schaffen, 
tfe das Gluck des Kiinstlers ausmacht. Die 
^rscheinung-en der Kunst geben ihm nicht Ge- 



nuB, sondern schleudern ihn pausenlos in 
die krampfhafte Ruhelosigkeit seines Berufs. 
Er bohrt Tunnel ins Unendliche belichtet mit 
schnellem Handgriff Horizonte. Er klari das 
Dunkel im Kiinstler; er wirbt fiir das Werk ande- 
rer, indem er es aufleuchten laBt im Strahl seines 
Geistes; er wird durch Dienen Fiihrer und ver- 
schleudert sich zu ziindenden Atomen, um die 
Idee zur Wirkung zu bringen. Er ist nicht der 
asthetische, sondern der ethische Mensch. 

Denn er ware verloren und verrucht, wenn er nur 
Schongeist ist. Er muB durch alle StraBen des 
Lebens, durch alle Schluchten der Verdammnis, 
alle Paradiese der Begliickung getrieben sein, die 
Mannigfaltigkeit und Menschlichkeit aller Mensch- 
heit erfiihlt haben, Tragodien und Bilder miissen 
tausendfach in ihm zerbrochen sein, Gedichte und 
Symphonien seine Scele durchrauscht, unzahlige 
Schicksale sein Herz zermiirbt, unendliche Ideen 
sein Hirn zerpfliigt haben . , . die Geselligkeit 
spie ihn aus, die Einsamkeit zerschmetterte ihn, 
und aus Parteien und Freundschaften, die ihn 
binden und beirren, hat er sich wiederum in die 
Einsamkeit retten miissen ... bis er richtet, er- 
richtct, vernichtet. Erst der Gepriifte dart priifen, 
erst der Wert-volle werten. Und, da dieser tra- 
gische Mensch zu erweisen hat, daB der Geist jene 
promesse de bonheur Stendhals bedeutet, wird er 
zur furchtbarsten GeiBel des Kiinstlers, der 
Menschheit und seiner selbst 
Er namlich ist es, der den Menschen rastlos auf- 
peitscht, den Aufschwung aus dem Sumpf des 
effektiven Zustandes zu dem in der Idee bereits 
erreichten Hochstand zu wagen. Er ziichtigt den 
saumigen Kunstler; wacht, daB der Burger 
nicht triumphiere. Er hetzt den Geist aufs Publi- 
kum; beunruhigt, qualt, reizt, lockt die Mensch- 
heit, indem er Wesen und Werk des Menschen 
zerlegt, priift und wertet Seine Aufgabe ist: Auf- 
riittelung! Aufriitteln zur Vervollkommnung! 

Sein Ziel zu erreichen, wird jedes Mittel zur Wir- 
kung ihm Pflicht. Er laBt aufwirbeln den Sturm 
der Beredsamkeit, stoBt ins Horn des Zornes, 
jagt dem Uberraschten Witze und Ironien ins Ge- 
sicht, laBt Lieblichkeit lauten, das Pathos der Pro- 
pheten erdrohnen, den Schrei der Reklame leuch- 
ten, filmt Zukunftslandschaften, ruft Beispiele der 
Historie und Tatsachen der Wissenschaft auf, illu- 
striert mit Anekdoten, wolbt Briicken iiber Epo- 
chen, bohrt mit Analysen letzte Tropfen des Le- 
bens. Er ist der am wenigsten spezialisierte, 
er ist der umfassendste, der expansivste, explo- 
sivste Mensch. Und noch seine Negationen sprii- 
hen positive Forderungen, 

Doch treibt nicht HaB seinen Kampf, sondern 
Sehnsucht nach Vollkommenheit Giite scharft 
sein Wort, Mitgefiihl starkt seine Stimme. Er 
wird fiir die Menschheit, was der Pastor einst fiir 
die Gemeinde war. Durch diesen Menschen, der 
Paradox und Harmonie zugleich ist, wird das 
Tragheitsgesetz im irdischen Dasein aufgehoben, 
da seine Leidenschaft die Idee in Bewegung und 
Verwirklichung umsetzt. 

Der Einwand, der hier umrissene Typus des Kri- 



267 



DIE AKTION 



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tikers existiere nicht, spricht nicht gegen diese 
Bemerkungen, sondern Iaflt urn so fordernder die 
Notwendigkeit seiner Erscheinung erkennen. 

GEDENKEN DES ANDRE DERAIN 

I 

Ernstes Sptiren 
Dammrig Prufen. 

Tag faflt Dunkel 
Blickt voller Naeht. 

Nacht empfing 
Auftakt und Herz, 

Griindet in gewagtem Dammern. 

Herz tagt schwebend, 

Stromt 

In das Klopfen lebendig tonenden Bechers. 
Stiller Strahl ist nachtig gehiitet. 

Lebens Ekstase 
Kraft der Schopfung 
Kannte als Erster 
Der Mensch. 

Freude sprang vom Mann. 

II 

Ich suche in groBem Ernst 
Suche in Dammerung. Taste. 

Riihre Grenzen, Tag und Licht. 

Blicke in Nacht. 

Nacht empfing Samen der Nacht, das Herz. 

Feste der Nacht 

Stand in sich 

Selbst im Dammern. 

Es wachst verwolkt ein Saft, 
durchsaftet Teile des Lebens. 

Becher des Lebens schlagt. 

Schatten hiiten zierlichen Strahl. 

Der Mensch kannte als Erster 
Schopfende Kraft, Ekstase des Lebens, 

Freude sprang aus dem Menschen 
— Aus tiefem Schweigen hinein in den Laut - 
So die Herkunft des Menschen. 

Jaweh, der Weitsichspannende 
Fiillte Feme des Himmels. 

Zauber geschaffenen Lebens 
Lief und wuchs Ekstase 
Lag in gluckhafter Stille, 

Seliger Ruhe. 

III 

Ich weine, rufe 
Hohe Wogen 
Der See. Ich schreie 
Dem bittern Gott 
Des Meers, 

Den Ungetiimen, 

Die dort sich bergen ; 

Zu aller Siegeln. 

Kommt zu begraben 
Mich Geschwarzten 
In Trauergewand. 

Ich nachte 
Die Woge 
Zu Leid. 



Erlaubt mir zu schlafen 
Gleichvvie der Tote. 

Ich rufe die ungeheuern 
Muscheln des Meers, 

Dich Turm der Woge 
Endlosen Gebriills. 

Kommt, schlingt zu Grund 
Mich der lodert und schreit, 

Machtigen Geist erfleht; 

Komme 

Vollende zehrenden Wunsch. 

O laB die Himmel dammern 
Trauerkleid. 

LaB mich liegen 
Schlaf des Tods. 

IV 

Die Flut des Lebens gleitet 
Schnell hin ; mischt sich und jedes 
In Eins, weit ausebbenden Schaum. 
Schlafender Himmel 
Lichte. 

Rote 

Erde, erwache 
Wirf deine Kraft in mich 
Sprenge die Tur 
Letzter Heimat, 

Wo Ruhe und 

Friede des Himmels mich warten. 

Sonne fall! und verhangt 
Dammrigen Abend. So will ich 
Vorspringen nach 
Der heiligen Insel. 

Weile Stimme des mir 
Eigenen heiligen Vogels 
Hoch iiber Sternen. 

Deine Stimme weint 
Doppelten Laut. 

Schleudere, wirf mich 
In dunkle Nacht 
Endloser Dammerung, wo 
Ich mich strecke 
Zwischengespannt den Grenzen. 

Ruhe mich zu befrieden 
Meinem Geschick. 

V 

GruG dir Mariam. 

Weile ein wenig, 

Dir zu sagen 

Was Tote sprechen von Lacheln und Runzeln, 
Wie es die Jahreszeit schenkt, 

Zwei Jahre kein Brot 
Zwei Jahre in Not 
Diirftig und bitter. 

Dann gilbt dir die Ernte 
Menge des Korns. 

Doch Mariam 
Bist kraftig 
Zu wahlen, zu Iassen 
Seltenes Gut, 

Was Leben verstattet. 

Wcnn Schlaf kehlt den Leib, 

Geist iiberfallt dich 



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DIE AKTION 



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Weist 

Die Zeichen lebendiger Saule, 

Eigen es Omen. 

Still verrat sie 
Himmlisches Ereignen; 

Not und Hunger, 

Gemeinen taglichen Tod. 

Einstein 

DIE ERTRUNKENEN 

Wenn ich des Abends am einsamen Flusse schreite, 
Tont aus den Wellen dunkler Klagen Gesang, 
Und der Ertrunkenen Stimme gibt mir Oeleite 
Durch die Nacht, durch den Tag, auf brautlichem 
Gang. 

Wir, wir schreiten im Blau, im regnendem Lichte, 
Von Sternen ist hoch, von Himmel das Haupt 
iiberdacht 

Und wir bilden den Tag und wir haben feme 
Gesichte; 

Sie aber wohnen in Schweigen und ewiger Nacht. 

Versunkene Schiffe, beladen voll modernder 
Schatze, 

Ankern sie tief in der Flusse gleiBendem Grand, 
Sie streifen der Fischer schleppend gefullte Netze, 
Algen und Schleiche nisten in ihrem Mund. 

Furchtbar hebt sich der Berg der geschwollenen 
Leiber, 

Von Wasser geblaht, ein triefend gefullter Sack, 
Von den Fischen benagt die entbloBten Briiste 
der Weiber, 

Vergangener Schonheit entsetzliches Wrack. 

Blasen steigen auf aus den pilzuberbluhten 
Weichen — 

O weiBe Schaluppe, mit Ratten und Froschen 
bespannt, 

Es sitzen auf ihrer Mutter gedunsenen Bauchen 
Die Ungebornen und segeln hinab in das Land. 

Ich grufie euch, der Liebe verratene Pfander, 

Im Tanzkleid, im strohgeflochtenen Hut. 

Und iiber mich durch der Brucke finstres Ge- 
lander 

Fallt Laternenlicht auf eure einsame Flut. 

Im Abfall und Spulicht der eingestiirzten Kanale 
Schwimmt eurer Haare flattemd geloster Tang, 
Und es tastet die Hand um der Speicher zer- 
fallende Pfahle, 

Aus ersticktem Jammer hebt sich ein sABer Ge- 
sang. 

HaB, Hunger, Verzweiflung, Ekel und Reue 
Ebben dahin um der Hafen betrammerten Strand, 
Und sie halten die Stadt, ihre Brunst und stur- 
mischen Schreie 

Mit der dunklen Wucht ihrer Stille gebannt. 

Schw'eigend walzt sich der Strom, um die frie- 
renden Kusten 

GieBt Abend schwarz sein geronnenes Blut. 

An den versunkenen Inselbriisten 

Saugf still wie das Kind am Busen der Mutter, 
die Flat. 

Aftnin T . Wegner 




Josef Capek Rolzschnitt 

DIE TAGE FALLEN AB 
Die Tage fallen von uns ab 
Wie leere Beeren. 

Wir tragen sie nicht mehr. 

Wir kennen ihre Stelle nicht, 

Und unsere FuBe linden keinen Weg. 

Schal, hohl z erf alien sie. 

Ganz fern, 

Herbert Kuhn 

WO SCHLAFT DEIN BLUT? 

Wo schlaft Dein Blut? 

Starb es mit Deiner Mutter, 

Oder welkte es im fremden Atein eines Mad- 
chens? . . . 

Du kannst mich nicht bereiten. 

Mein Blut kann nur in Erde reifen . . . 

Aber Deine Blicke sind nicht Schollen: 

Sie kommen vom Grabe Deiner Mutter, 

Oder aus dem fremden Atem eines Madchens. 

Charlotte Wohlmuth 



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DIE AKTION 



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MONDNACHT 

Blanke Gondel uber blauen Nachten, 

Bra ch ten Deines Lenkers Ruderschlage 
Schlanke Fracht mir bald zum rechten Hafen, 
Sehnend miidet schon des grauen Denkers 
Stime in das schwanke Morgens chlafen, 

Und des jungen Henkers Beil, 

Lehnend in der Schatten dunkler Hege, 
Uberspiegelt das Licht aus blauen Nachtcn, 

Drin die blanke schwanke Barke gleitet — 

Mondhell ist die enge Welt geweitet. 

ColesUna Tucker 

FESTSTELLUNG 

Wir erleben eine Erneuerung der Trivialitat. Die 
Ereignisse der Zeit gehen wieder einmal ins Ele- 
mentare des Gefiihls uber und versuchen es, mit 
neuen, ziichtigen Kurven die Wege des Daseins 
zu bezeichnen. ^Sentimental" ist kein Schimpf- 
wort mehr, seitdem man wieder weiB, daB es von 
^sentiment" abzuleiten ist . . und bald wird 
sich auch eine brauchbare Ethymologie fur die 
„ Banalitat" gefunden haben. 

Es ist ein fur alle Mai zu merken, daB sich alle 
geistigen Gefiihlsereigmsse im Rhythmus der 
Sprache vorbereiten: zehn Jahre nach dem Ent- 
stehen des Danilo-Entr£eliedes in der „Lustigen 
Witwe", etwa, brach der Weltkrieg aus und die 
Diplomaten hatten das Nachsehen. Die Folge 
wird wohl ein gesteigertes Interesse der Psycho- 
logic fiir die Operette sein ; oder, im iibertragenen 
Sinn, eine schon langst erwartete Allianz des 
Scheins mit dem Sein. 



Man miiBte wieder einmal feststelfen, was Scherz, 
Satire und Ironie bedeuten . . denn uber das 
flache GleichmaB im Ernst der Zeit kann hoch- 
stens ein Attribut der kosmischen Situationskomik 
hinweghelfen. 

Ironie steht dem „Ernst der Zeit" am nachsten, 
Satire trifft ihn ins Antlitz und Scherz scherzt 
bloB dariiber hinweg; der Ironiker schaltet das 
Temperament an, der Satiriker aber poienziert 
es: alles Andere ist gut und heilig, solange es 
mit Leidenschaft geschieht! 

Die neue Banalitat lebt von den Abfallen der 
Vergangenheit. Sie gefallt sich in Posen anmutig- 
ster Langeweile und tut „geistig" vergnugt. Sie 
hat etwa die Kunstwartperspektive zur Voraus- 
setzung und ist ganz und gar antiphilistrds : ein 
KompromiB ist uber ein Dasein geschlossen, das 
seinen Geist sozusagen hygienisch sterilisiert hat. 
Die geistige Revolution „Jugend" verlauft im 
Sande. Die neue Banalitat bricht alle Spitzen 
ab und richtet sie gegen sich selbst: man freut 
sich geradezu der jungen Kunst und in illustrierten 
Blattem sind die Photographien „un$erer jungen, 
revolution a ren Kiinstler" zu finden. 

Die wahre Kunst aber rettet sich in ein Post- 
skriptum der Zeit: ihre Zeit kommt, bis die neue 
Trivialitat alt geworden sein wird. 

Paul Hatvani 

NOTIZ UBER KUBISMUS 

Ende des vierzehnten Jahrhunderts erfand irgend- 

wer die Perspektive, — die Moglichkeit, Raum- 

lichkeiten der Natur optisch auf der Bildebene dar- 

zustellen. 




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Wilhelm Schuler 



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274 



DIE AKTION 



Gebunden war die Darstellung an die Lokalitat 
des Objekts und an die Bestatigung des Objekts 
durch die Lokalitat, die geschah mittels der Per- 
spektive, durch welche Jahrhunderte lang Raum 
imitiert wurde. In diese falschen Raumlichkeiten 
setzten Kunstler ihre tatsachlichen Objekte. 

T atsachlich ist die Objektbestatigung — ursachlich 
die Bestatigung des Raumes. (Und das Ursach- 
liche kommt in Betracht, — weil es die Moglich- 
keit der neuen Logik unierstfitzt.) Gleichnis: Tee- 
tasse, benfitzt als Tennisball, ist nicht falsche Be- 
statigung des wirklichen Objekts, sondern des ur- 
sach lichen Raums, den die Tasse einnimmt, — 
woraus sich das Wertvolle des Ursachlichen er- 
gibt und das Irriiimtiche der Raummalerei vor 
Picasso hervortritt — und die notwendige, kom- 
mende Beachtung der Bestatigung des Raumes. 
Picasso, der wirklich Primitive, gab die Moglich- 
keit der Raumgestaltung auf der Ebene. (Siehe 
„Notiz fiber Expressionismus" DIE AKTION vom 
3. 4. 17.) Seit seiner Tat ist die wirkliche Schop- 
fung moglich. Picasso schafft auf der Bildebene 
den Raum ffir sein Objekt, und es geschieht die 
absolut kfinstlerische Schopfung: der Raum wird 
wirklich durch seine Bestatigung mit dem Objekt, 
das sich manifestiert durch dies Geschehen, Leben 
gebiert durch die dazu notwendige Bewegung. 
Raum, Objekt und Leben, Drei-Einheit der ku- 
bistischen Schopfung, so wirklich, wie die Drei- 
Einigkeit Gott Vater, Sohn und hi. Geist mystisch. 
Picasso gab die Moglichkeit der neuen Bildge- 
staltung, doch gelang es ihm nicht, Bilder zu 
malen. In seinen Versuchen geschieht die Objekt- 
ersetzung, statt der gestaltenden Objekt-Einheit. 
Die ersten kubistischen Bilder gibt Marc Chagall, 
der naive Maler, mit der reinen Geste des Kindes. 
Seine Bilder sind marchenhaft und schon. 

Die kommende Malerei hat ihre Entwicklung zu 
nehmen — wissend der Kunstler: 

Pablo Picasso, der Primitive, — Marc Chagall, 
der Naive! 

Heinrich Hoerle 

WESTWARTS 

Jack London-San Francisco 

zum Gedachtnis. 

Morgen reise ich irgendwohin. Gleichgiltig wo- 
hin. Irgendwohin. Vielleicht nach einer fernen 
Stadt westwarts. Jedenfalls zu Menschen . . . 
Gebirgsschluchten gigantischen Bauwerks stan- 
den auf, Sturm saugend. Salven, Salven in den 
Broadway schleudernd . . . 

Done rndes Eisengerust heiBt Hochbahn. 
Spukhaft graues Bauwerk Aquarium. 
Skyscraper*) blast Rauch . . . 

... Ins Buch der Kinder diesen Satz: 

Der grode Strom tragt wie einst das Canoe des 
roten Afannes. Der Hudson schwemmt wie einst 
die Baume der Urwalder vorbei . . . 

Ins Buch der Kinder auch diesen Satz: 

Gestalten wie dunner grauer Rauch urn Glut 

und Flam me „ . - 

Jwolkenkntzcr. 




Selbstgesprach: 

Morgen reise ich nach einer fernen Stadt west- 
warts. Ich werde den Pazifik schauen! 

Gesicht: 

Staubwande stehen wie Berge auf. Wind- und 
und Wasserhosen marschieren. Orkane fegen ost- 
Hches Land . . . 

Wilhelm Stolzenburg-New York 

RABBI CHASAN 
Ein Stuck Prosa 
Von Simon Kronberg 

Die Messe begann. Jfidische Lieder fielen wie 
Coriandoli in einen gewohnlichen Tag. 

Darinnen sa8 Chasdn. Rieb Stuckstunden des 
Lebens; die trockene Semmel menschlicher Mel- 
dungen. In der Warme seiner Zeit goB Blut fiber. 
Chasin brach das Brot. 

Und der Knabe begann. Seit die Gasse kochte. 
Wie Nacht durch Mauern und Menschen. Ge- 
rausch der Scham. 

Das Lied ist reif zur Erde. Die Gelocktheit alter 
Linie formt Kranz urn Herren Traum, der kaum 
vergaB. Da erst verlieB Chasdn die warme 
Stube. — 

1m langen Gang sann Schwarze hinzu. Bewog 
zur Wette. Abgeschlossen und eingeleitet ist die 
Arbeit des finsteren Gehirns. Wie vor Gott und 
Menschen. Alleingelassene lastern. Die Luft der 
Gasse ersann dreimal dreckigen Weg. — 

So zum Morgen folgt Chas£n, als eine Blfite fiel, 




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DIE AKTION 



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Christian Sehad 



Zcicknung 



Frau des taubsten Tages. Kinder antworten im 
Singen, daB Tod mit Trommeln ein Vergniigen 
sei; Chasdn zuerst, daB Stunden fielen, gleiches 
Tik-tak im Sand. Er schloB im Verschmerzen 
unter Lidern. — 

Grau taut auf. Ein Befehl seines ersten Herrn 
der Natur. Schon gefalteter Vorhang der wallt. 
Singen ohne Abbruch. Selbstverstand der Stimme 
seines Landes mit einzelnen Baumen. Jung ist 
der Blick fiber Hie-und-da-Grun. Umziehen mit 
Faden der Freude die Hummel, dick in der Luft. 
Chasdn gewann, klirrt Lieder. So schuttem 
T raume in der geiben Sonne. Er lobt Gott. Cha$£n 
gewahrt den Grundsatz „Wir“. 

THEOLOGIE 
Von Franz Werfel 

Und siehe, Gott erschuf die Welt, damit er ein 
Du fande fur sein Ich. 

Doch kaum war die Welt fertig, geriet sie in 
eine Bewegung, die nicht Gottes war, die nichts 
mit der selbstliebenden Bonhomie seiner allabend- 
lichen Spaziergangsschritte zu tun hatte. Da er- 
faBte Gott ein Zorn uberaus, und er sprach zur 
Welt: „Was tust Du, was tummelst Du Dich, 
was rasest, was trippelst Du? Schuf ich E>ich 
nicht, daB Dein Bestehen ein Vergehen in uns sei, 
daB Du ewiglich anschauest die Frfihlinge meines 
inner en Rollens, Dich schmiegen in die Glocken- 
stfirme meiner Spiele? Schuf ich Dich nicht, 
daB ich im Grunde Deiner Augen mich selber 
anschauen kann?“ 



„Um Gotteswillen halte mich nicht auf,“ sagte 
die Welt. „Wenn Du wfiBtest, was ich alles 
im Kopf haben muB! Wenn ich mich nicht darum 
kummere, geschieht nichts. Der Schulknabe Jakob 
Bausewang hat sein Lehrbuch der lateinischen 
Syntax zu Hause vergessen. Es gibt zur Zeit 
58 937577 Kriege. Das Senegal-Rhinozeros Nr, 
793 hat einen Darmkatarrh. Auf Kassiopeia V 
tritt eine wichtige Erosion ein. Ich habe soviet 
im BewuBtsein, nicht eine Sekunde Zeit! Ich 
muB immer in mich hineinschauen. Man kann 
sich ja auf niemanden verlassen. Es geschieht 
ja sonst gar nichts. “ 

„ Willst Du von diesem oden Humbug nicht auf- 
blicken?* 1 sprach der Herr, indem er sich an 
den Kopf faBte. „Was sollen nur diese dumpfen 
Halluzinationen der Ffinf-Uhr-Stunde meines 
Schlafwachens? Wehe ihnen, daB sie sind! Willst 
Du mich nicht ansehn?! Sieh mich an! Ich 
will aus Dir nur zurucktonen. Ich will in Dir 
mich ffihlen, wie ich vollkommen bin! Liebe mich, 
liebe mich!“ 

„Was fur Worte richtest Du an mich, o Herr, 1 * 
erwiderte die Welt. „Wie kame ich zu Dir? Du 
bist ein Herr! VergiB nicht, daB ich aus der Hefe 
des Volkes bin. Mein Los ist Arbeit. Etwas an- 
deres kann ich nicht, als arbeiten. Ich bin unge- 
bildet, habe nur die Elementarschule besucht. 
Aber ich darf langer nicht reden. Es geschieht 
sonst nichts, es kommt nichts vor sich. Dort 
und dort und dort . . . u 

Er stohnte auf: „So verfluche ich Dich, daB Du 
nicht seist! Was irritierst Du mich mit Deinem 
Larm? Ich befehle Dir, sei nicht, sei nicht!** 

Die Welt sagte, indem sie rasch nebenbei eine 
Bratpfanne reinigte: „Ich hange nicht am Leben. 
Ich bin nicht schuld daran, daB Du Deine Hallu- 
zinationen nicht zurucknehmen kannst, daB ich 
vor Deinen Augen schuften muB. Selbst mir ist 
Arbeit keine Freude. Aber es muB etwas ge- 
schehn. Wenn ich nicht zugreife, geschieht 
nichts. *‘ 

„Warum muB etwas geschehn ?“ 

„Das weiB ich nicht. WeiBt Du J s?“ 

„Nein! — Aber warte, Du willst mich ver- 
hdhnen!“ 

Gott faBte seinen Spazierstock, schwang ihn fiber 
sein Haupt und jagte die Welt wutend durch eine 
uberaus groBe Zimmerflucht. Immer knapp hinter 
ihr her schrie er: „Du sei ich, Du sei ich, Du 
sei ich!** Die Welt hielt ohne viel Keuchens und 
Anstrengung gleichen Abstand von ihrem Ver- 
folger. Sie war ein ausgesprochenes Phlegma. 
Die Verfolgung setzte sich schlieBlich fiber eine 
mittelmaBige Haustreppe fort. Mieter fuhren aus 
ihren Wohnungen, schimpften und warfen wieder 
die Tfiren zu. 

Wahrend der Ruf Duseiich scharf das Getrampe! 
der Schritte fiberschallte, fand das verfolgte Weib 
noch Zeit, hier eine blinde Klinke mit einem 
Strich blank zu wischen, dort eine Schale oder 
ein Papier aufzuheben, und in seinem etwas breit- 
hfiftigen Lauf das ganze Haus in Ordnung zu 
bringen. 







DIE AKTION 




DIE LIT AN El VON ATLANTA 

Von W. E, Burekhardt Du Bois 

(W. E. Burekhardt Du Bois ist der Verfasser der 
Romane; „Die Seele des schwarzen Volkes" und 
„Der Zug nach dem Silbernen VlieB" und Heraus- 
geber der Zeitschrift der Jungen Neger „The Crisis") 

O schweigender Gott, dessen Ruf feme im Nebel 
und in der Unergriindlichkeit weilt in diesen 
schrecklichen Tagen und unsere hungrigen Ohren 
nicht erreichen kann, Hore uns, guter Herr! 
Horch zu uns nieder, deinen Kindernr unsere 
Gesichier dunkel vor Zweifel, sind zum Hohn 
geworden in deinem Heiligtum. Mit emporge- 
reckten Handen stehn wir vor deinem Himmel: 
Wir flehn zu dir, hor uns, guter Herr! 

Wir sind nicht besser als unsere Briider, Herr 
wir sind nur schwache und menschliche Menschen. 
Wen n die Teufel unter den Unsrigen ihreTeufelein 
tun, verfluche dann den Tater und seine Tat: ver- 
fluche du sie, wie wir sie verfluchen, tu ihnen an, 
was und mehr aJs sie je getan haben der Unschuld 
und der Schwachheit, den Frauen und den Heimen! 
Hab Mitleid mit uns elenden Sundern! 

Und doch, wer tragt die Schuld? Wer hat sie 
erschaffen, diese Teufel? Wer zog sie groB im 
Verbrechen und mastete sie mit Unrecht? Wer 
hat ihre Mutter verfiihrt, entehrt und wegge- 
worfen? Wer kaufte und verschacherte ihre Ver- 
brechen und wurde reich und fett vom Erl os ihrer 
Zwietracht? Du weiBt es, guter Gott! 

Wozu beten wir? 1st er nicht tot, der Gott der 
Vater? Haben nicht die Seher in Himmelshallen 
seine Ieblose Form und Leiche steif im rollenden 
schwarzen Rauch der Siinde liegen sehn, zwischen 
den endlosen Reihen von nickenden Gespenstern 
des bittern Todes? Wach auf du Schlafer! 

Von Lust des Fleisches und Blutlust 
Befrei uns, groBer Gott! 

Von Lust an der Macht und Lust am Golde 
Befrei uns, groBer Gott! 

Von vereinter Luge des Despoten und der Bestie 
Befrei uns, groBer Gott! 

Eine Stadt wand sich in Wehen, Got t unser Herr, 
und aus ihrer Flanke sprang das Zwiltingspaar 
Mord und Schwarzer HaB. Rot wars zur Mitter- 
nacht. Klang, Krachen und Schrei von Tod und 
Wut erfullie die Luft und zitterte unter den 
Stemen, zu denen die Turme deiner Kirchen 
stumm hinauf zeigen. Und all dies, um die Gier 
der Gierigen zu stillen, die sich hinter dem Schleier 
der Rache verborgen halten. 

Neig dein Ohr zu uns, o Herr! 

Verstort sind wir und verzerrt von der Leiden- 
schaft, irr vom Irrsinn eines gehetzten und ver- 
hohnfen und gemordeten Volkes; angepreBt an 




Margarethe Moll Portrii t 



die Armstutzen deines Thrones heben wir unsere 
gefesselten Hande und klagen dich an, Gott, bei 
den Gebeinen unserer geraubten Vater, bei den 
Tranen unserer toten Mutter, beim Blut deines 
gekreuzigten Christ: Was soil dieses bedeu ten? 
Verrate uns die Absicht! Gib uns das Zeichen! 
Schweig du doch nicht, o Oott! 

O verzeih den Gedanken. Vergib das wilde 
las tern de Wort. Du bist ja immer noch der Gott 
unsrer schwarzen Vater, in deiner Seele sind die 
weichen Schatten des Abends, die sammtenen 
Tone der tiefen Nacht eingeschlossen. Wohin? 
Nord ist Gier und Slid ist Blut. Innen der Feigling, 
auBen der Lugner. Wohin? In den Tod? 

Amen. Willkommen dunkler Schlaf! 

Wir neigen unsre Kopfe und horchen nieder zum 
leisen Weinen der Frauen und der kleinen Kinder 
unter uns. Wir flehen dich an, hor uns, guter Gott! 
Unsere Stimmen sinken in Schweigen und in die 
Nacht. 



Hor uns guter Gott! 

In die Nacht, o Gott eines gottlosen Landes. 
Amen! 



In Schweigen, o schweigender Gott 
Selah! 



(Deutsch von Arthur Holitscher 




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DIE AKTION 



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u 



LITERARISCHE NEIJERSCHEINUNQEN 

Paul Pal gen. La Route Royale, Poeraes. (Verlag Victor Buck, 
Luxembourg. 

Der „Luxemburger u Norbert Jaques hat (in deutscher Sprache) 
hamischc Bdcher drucken lassen, Bci S. Fischer und seit dem 
heulenden Anfang der enlmenschten Zeit. In Luxembourg — 
TrefTpunkt und Dilemma zweier Kulturen — hat jetzt der 
Ingenieur Paul Palgen (franzosische) Gedichtc verbffenllicht : 
La Route Royale. In blauduftende Dammerung der symbo 
listischen Wunderwelt geht ein zierlicher Weg . . . : koniglich, 
fur feingestimmte Dichterseelcn : So die Gedictue der Jugend 
Palgens. Man wird delikat-diskret erinnert an Pauvrc Lelian 
und den leisesten von alien, Maeterlinck, Dochl Sphinx Kunst 
stellt neue Probleme, expressionistische, wie gejubelt wird. 
Palgen in der Voie douloureuse (dem zweitcn Teile seiner Samm- 
lung) zeigt schon tastendes Verstandnis fUr diese letzte voll- 
kommenste Forderung. 

Luxembourg hat nun zwei echte Dichter der franzosischen Manier: 
Marcel Noppeney und Paul Palgen. Auf der anderen Seite unserer 
Doppelkultur stehen die Europiier Nikolaus Welter und Batty 
Weber, Verlretcr einer altcreu Kunstrichtung. Als Vermittler 
sei Franz Clement genannt. lm Cenacle des extreme agitieren 
filr die AKTIONSziele : Augustus van Werwckc und Pol Michels. 
Nationalistische Dialektdichtung (als hemmender Moment) und 
der Jaques zahien nicht, Pol Michels (Luxembourg). 

ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS 
XLVIII 

Wenn man berilcksichtigt, mit welchcr Geduld und Ausdauer 
Frauen allc Mtlhsale des Kricges ertragen haben, wie sic trolz 
gelegentlichen Zornausbruches geduldig die Schwierigkeiten der 
Ernahrung und der BeschafTung der Nahrungsmittcl ertragen 
hahen, so wird die Frauenwelt aus dem Kriegserlebnis einen 
aufierorordenllichen Gewinn davontragen, nicht nur fur die 
Lehenszeit, sondern auch einen Gewinn ftir die gesamte Zukunft, 
der sich erst nach Jahrzehnten zeigen wird und ricsengrofi 
wiegt gegenttber den verhaltnismaftig geringen Schadigungen, 
die den Nerven der Frauen in dieser Zeit erwachsen sind. 

Dr. Albert Moll in einem Vortragc . Laut ,,Bcrliner 
Tageblatt**, 17. 2 . 19I? h Morgen- Ausgabe . 

KLEINER BRIEFKASTEN 

Es war nattlrlich vorauszuwissen, lieber Ixscr, dafl der hoch- 
wohilobliche „VorwUris u mcinen zarten Wink, Aufsatze aus der 
blirgerlichen .Zukunft w (durch Nachdruck) „nicdriger u zu hanged 
nicht bcachtcn wtirde. Gut. Dann will ich die Arbeit uber- 
nchrocn. Hicrsei wiedergegeben, was, liber eingleichcs Theme, 
die „btirgerliche“ Zcitscbrift gedruckt, was die „proletarische“ 
Zeitung gejubelt hat. Aus dem sozial-demokratischcn Zeniral- 
organ jubcit cs also: 

preuftens /lufcrfkfjung. 

. . . Der Auferstehungstag des driitcn Kriegsjahres 1917 — 
wird er dereinst in der Geschicbtc als der Auferstehungstag 
des alien PreuQens zu neuer Fntwicklur.g dasielien > Er hat 
uns eine Verheiflung gebrncht, die freilich noch nicht die Auf- 
erstehung selbst ist, aber cine Verheiflung, die hoffnungs- 
vol 1 e r un d zuk u/i ft ssi c h ere r ausschaut, a 1 s allc frUhcrcn 
Anktlndigungen zusamtnen. 

Die konigliebe Botschaft an den prcuflischcn Miuisterprhsidenten, 
deren Text uns in s pater Nach 1st unde dbennittelt 
wird, ist diese neuc Verb ci Cun g. „Die Botschaft hor’ ich 
wohl, allein inir fchlt der Gl#ube, w das ist ja auch ein Odtcr 
wort, das wir bci frUberen Anktlndigungen oftmals und lei der 
mit Recht gesprochen haben ! es sei nur erinnert an die Thron- 
rede des Jahres 1908. 

Aber angesicbls der j e t z i g e n Anktlndigung dUrfcn 
wir hoffnungsvoller und vert rauensvo Iter in die 
preuCische Zukunft blicken. Diese Ankuudigung kann 
unmbglich wieder in das wesenlosc Nichls der verhallten Worlc 
und verstaubten Akten zurucksinken. Dafur sprechen drei ge- 
wichiigc Momeme : ihr fcicrticher Ernst, die Zeitumstandc, 
in denen sie zu uns gelangt, vor allem aber der innere Geist, 
der aus ihr spricht. 

Betrach'en wir zunachst die Form. Der Monarch selber 
setzt sich fur die Neuorientierung in PrcuOcn ein. Gegcntibcr 
den bisberigen Anktlndigungen des Ministerprasidenten lieB sich 



einwenden, dafl sie ihn nur filr seine Person binden, daC sein 
Nachfolger sie verleugnen und abschtltteln ktinnie. Dieser 
Einwand entfallt jetzt. Denn dadurch, daB die Stelle, welche 
iiber Bleiben und Wechscl der Minister entscheidct, die Garantie 
filr die Durchflihrung der Neuorientierung tibemioimt, ver- 
pflichtet sie sicb, auch im Falle eines Ministerwechsels keinen 
Mann mit der Leitung der preufiischen Staatsgescbafie zu be- 
trauen, der nicht mindestens in demselben Mafle die innere 
Reform betreibt, wie Herr von Bethmann-Hollweg dies 
getan hatte. 

Die Umstande *. Wir brauchen hier keine Worte zu verlieren. 
Vergegenwartigen wir uns nur, dafi der Ministerprasident selber 
die Neuorientierung als eine Lebensnolwendigkctt fdr das 
deutsche Volk bezeichnet hat, ohne deren ErlUllung es in Zu* 
kunft nicht mehr wtirde existieren konnen, 

Schliefllich der Geist! Wir stehen hier vor einem Bruch der 
Regierung mit jenem gefKhrlichen, falschlich auch altpreuflisch 
genannten Geiste, der bishcr die Fortcntwickelung unserer 
imieren Zustandc wie ein unerlragliches Bleigewicht hemmte. 
Diese Botschaft ist entgegen dem Geiste der bureaukratisch- 
rcaktionaren Verknocherung, die in unseretn stagnierenden Ver- 
fassungszustanden bisher einen sicheren und bequemen Hort 
fand; sie setzt nicht eine schlecbte Tradition fort, die unsern 
Staatswagcn auf ein falsches Gleis und vor eine Gefahr gc- 
schoben hat, deren Grofie wir erst jetzt voll erkennen. 

Betrachten wir, was uns die Botschaft verheifSt. Eine grtlndliche 
Reform des Dreiklassenwahlreqhts, also das, was von 
uns stets als der springende Punkt unserer inneren Folitik 
angesehen worden ist. Daneben eine Reform des preuflischen 
Henenhauses, deren Einzelheiten sehr unbestimmt sind. Das 
direkte und geheime Wahlrecht wird ausdrUcklich zugestanden, 
Dagegen bleibt die Frage des Gewichts der einzelnen Slimme 
offen. Aber wenn die Botschaft selber ausspriebt, dafl filr ein 
Klassenwahlrecht kein Raum mehr ist, nach dem, was uns der 
Krieg gelehrt hat, so mufi eine solche Begrtlndung g anz von 
selber zu der allein mbgHchen logiseben Konsequenz des 
gleicben Wahlrecbts fUhren . . . 

Unsere Aufgabe mufl es angesichts der Regierungsbotschafl sein, 
alle politischen KrSfte des Volkes ftlr eine moglichst energische 
und nachhaltige Durchflihrung der Reform mobil zu machen . . . 
Je energischer die Regierung die Initiative ergreift, einen desto 
starke ren Rtlckhatt wird sie an der Volksbcwegung finden. Und 
je starker die Volksbcwegung anschwillt, je unzweideutiger und 
machtvoller sie sich kundgibt, desto entsebiedener und muti ger 
wird die Regierung ihre Bahn beschreiten konnen. 

Das gilt auch von den politischen Parteien. Nur von der Soztal- 
demokralie allein weifl man genau, was von ihr in der inneren 
Politik zu erwarlenist . . . Audi ein Teil des btlrgerlichen 
Liberalismus kommt als Korlscbriusfaktor in Betracht, aber 
schon hier fehlt es nicht an schwankenden Gestalten, nament- 
licb wenn man den rechten F'ldgcl der Nat iona 1 1 ibera 1 e n 
betrachtet , , . 

Notiger als je ist in dieser Situation die Einhcit und Ge- 
schlosscnhcit der Arbciterbewegung. Mit tietstem Schmerz mufl 
es jeden ehrlichen Freund ihres Fortschreitcns erftlllen, dafl 
gerade dieser Augenblick sie ittnerlich gcspalten anirilTl. Aber 
ebenso notwendig ist cs zum Siege der Volksbewcgung, dafl 
die Arbeiterscbaft an ihrem Willen der Vaterlandsveriei- 
digung unverbrilchlich festhalt. Gerade diese verstandige 
und einsicbtsvollc Haltung der Arbeiterscbaft im Kri egc 
hat die Neuorientierung erst aus einer Parteiforderung zu einer 
allgemeinen Volksforderung emporwachsen lassen. 

Wir haben oft betont, dafl unser Verteidigungswille unberilhrt 
1st von inneren Fragen . . . Aber es freut uns, dafl die 
deutsche Regierung in dem Augenblick, wo der neue Fei nd 
die altcn abge standenen Phrasen vom Kampf der 
Freiheit und Demokratie gegen Absolutismus und 
Militarismus neu auf warm t, mit dieser Botschaft der 
A uflcnwclt einen deutlichen Bcwcis gibt, daB das deutsche 
Volk seine innerpclitische Fortentwickehmg selber besorgt und 
keine BegUlckung von auflen her braucht, zumal keine, die auf 
Kanonenkugeln und Panzerschiffen geritten kommt! 

Freilich, noch mehr freuen als die Versprechung wtirde uns 
die Tat! Die Regierung halt die Tat wahrend des Krieys- 
zustandes fdr unmbglich, Zugestchen konnen wir ihr, dafl, 
soweit eine Bin dung ftlr die Zukunft Uberhaupl mbglich 
ist, sie uns gegeben worden ist.“ 

Also htipfen die Hauptsatze dcs ,.,Vorwarts ,l *Leitartikels vom 
S. April 1917, Die -j"j"pbtlrgerliche ,,Zukunft‘ l , vom Geiste des 
Erfurter Program ms weniger erfullt, hat diesen Aufsatz gebrachl; 







281 



DIE AKTION 



282 




Fit die benece Welt. 

„Minn«rttolx vor KGnig»thruB*u, 

Brfldor, f Alt* m Out and Blut . . 

In einem Krl&B,, den (wie, vor dem g&nzen Stilbild, schon 
der erste Nebensatz lehrt) Herr von Beth maun entworfen 
hat und dem (wie amtlich betheuert wird) alle preuBischen 
Slaatsminister zugestimmt haben, nennt der Deutsche Kaiser 
den Krieg ein „Ringen um den fieatand des Reiches" und 
ein ErlebniB, das „mit erhabenem Ernst eine neue Zeit ein- 
JeiteL* Dem Reichskanzler und preuBischen Ministerpriiai- 
denten „liege es ob, den Erfordernissen dieser Zeit mit den 
rechten Mitt ein und zur rechten Stnnde zur Erfiillung zu 
verhelfen.* 4 Die rechte Stunde werde schlsgen, vrenn die 
Krieger heimgekehrt sind und „selbst am Fortschritt der 
neuen Zeit mitrathen und mitthaten konnen. 4 * (Gemeint ist 
wohl der Fortschritt „in“ neue Zeit, die ja dann erst be- 
ginnen soil ; und der scherzhafte Gleichklang der Wdrter 
„mitrathen, mitthaten* 4 soli wahracheinlich andeuten, daB man 
warten musse, bis die Manner der sichtharsten That, der dos 
Korpers, im Rath mitreden konnen.) Von den rechten 
Mitteln wird nnr eina erwshnt: „die Umbildnng des PreuBi- 
schen Landtagea* 4 , fiir die, „auf des Konigs Weisung, schon 
an Beginn des Krieges Vorarbeiten gemacht worden sind.* 4 
Warum wir erst jetzt, nach den Vorgangen und Erorterungen 
des Marzmon&ts, nach der russischen Revolution und der 
Rede Wilsons iiher Freiheit, erfahren, da 6 „ schon zu Be- 
ginn des Krieges**, als jede Staatsbehorde mit drangender 
Arbeit uberbiirdet war, fiir die Landtagsreforra vorgcsorgt 
wrurde. tduB der Ministerprasident erklaren ; auch, welcho 
betrachtliche „Vorarbeii a nach den langen Jahren des 
Schwatzes fiber Wahlrecht und Pairsachub, Erste und Zweite 
K&ramer noch nothig war. Der Konig wiinscht, daft die 
Wahl geheim sei, nicht durch Wahlmanner, nicht in Wahler- 
klassen bewirkt werde. Die Zahl der PreuBen, die daran 
gezweifelt haben, kann nur klein gewesen sein. Wer sich 
erinnert, daB vor neun Jahren die zahm Liberalen „das all- 
gemeine, gleiche, direkte Wahlrecht mit geheiraer Stimm* 
abgabe* 4 und die dem Rechtsanapruch geniigende Aenderung 
des Wahlbezirksumfangcs gefordert haben. wird glauben, 
daB mit geheiraer, unmittelbarer, von dcr Klassenachranke 
befreiter Wahl selbat der (nach Riamarcks Ausdruck) Hyper- 
konservative sich abgefunden hat und sie nur, vor dem 
Auge der Galerie, noch bekampft, um mit der Geberde ihm 
gefkhrlicheren Versuch einzuschiichtem. „Das Herrenhans - , 
aagt der Erl&fi, „wird den gewaltigen Anforderungen der 
kommenden Zeit besser gerecht werden konnen, wenn ea in 
weiterem und gleichmaftigerem Umfang als bisher aus den 
verschiedenen Kreisen und Berufen des Volkes fiihrende, 
durch die Achtung ihrer Mitbtirger ausgezeichnele Manner 
in seiner Mitte vereinigt." Nur den Anforderungen der kom- 
menden Zeit? Nicht unserer? Unter den ^Rezepten*, die 
ich am ersten Tag des Jahres 1911 hier veruffentlichte, war 
auch dieses : „Am Abend vor der Eroffnung der neuen Land- 
tagssession wird bekannt, daB der Konig aus besonderem 
V ertranen vierzig PreuBen in das Herrenhaus berufen wolle. 
Davon gehoren dreiBig der Industrie, dem Gewerbe und 
Handel an; die iibrigen sind Techniker, Handwerker und 
auf hohere Betriebsposten gelangte Lohnarbeiter. In dem 
Kommentar wird d&r&uf hingewiesen, daB eine Zeit, in der 
Deutsch lands Gesammthandel Waaren im Werth von fast sech- 
zehntausend Millionen Mark in Bewegung setzt, die Pflicht er- 
zeagt habe, den Vertretern dieses Handels und der ihm verbiin- 
deten Berufe auch im Herrenhaus des groBten und gewerblich 
stiirksten Bundesstaates den ihrer Leistung angemessenen 
Platz zu schaffen. Die Besetzung dss Herrenhauses miisse 
der Struktur des preuBischen Staates entsprechen, die heute 
ein erweitertes Vertretnngrecht fordere, weil sie nicht mehr 
rjx richtigem Ausdruck komme, wenn, auSer den Prinzen des 
Koniglichen Hauses, dem pririlegirten Adel, den Inhabem 
der groBen Hofamter, den Domstiften, Provinzial- und 
Familienverbanden, dem alten und befestigten Grundbesitz, 
nur die grofieren Stadte und Universitaten in der Krsten 
Kammer Sitz und Stimme haben. Auch den Korperschaften 
der Industrie und des Handels sei fortan das Recht zur 
Presentation zu gewahren und die Zahl der aus besonderem 
Vertrauen vom Konig zu berufenden Person en zu erhdhen. 
Die Novelle zur Verfassung werde dem Landtag sofort zu- 
geben und der Regierung wie der Mebrheit die erwiinschte 
Gelegenheit zu dem Beweis bieten, daB sie zeit gem aBe Re- 
fonnen nicht feig aufschiaben und den um die Wirthschaft- 



entwickelung verdienten Schichten das ihnan gebuhrende 
politische Recht nicht vorenthaiten wollten." Die Berufung 
von Kiinstlem (der Palette, des Wortes, des MeiBels) und 
Gelebrten, die, naturlich, in einem Herrenhaus wiirdig ver- 
treten sein muBten, hatte ich nicht empfohten, wei] ich ge- 
wiB war, daB die von Gunst, nicht die vom Genius Begna- 
deten PreuBen peers wiirden. Neues bringt also der ErlaB 
nicht. War der Zweck Beiner Veroffentli chung, zu zeigen, 
daB der Kaiser mit dem Kanzler, der Konig mit dem Minister- 
prasidenten iibereinstimmt und daB Herr von Bethm&nn 
nichts Anderes begehrt als die Minister Von Loebell und 
Von Schorlemer, die nicht bo oft den Pfeilen Alldeutscher, 
den Schleudera des Junkergrolles ausgeaetzt sind? 

Ob dieses Zicl erreicht wird und der VorstoB gegen die 
wenigen Steljen aufhort, an denen Herr von Bethm&nn nicht 
verwundbar ist (gegen die anderen hebt sich kaum je ein 
Schwert) : fiir Deutschland und PreuBen ists heute belanglos. 
Wichtig und erfreulich scheint mir in dem ErlaB das offene 
BekenntniB, daB B fiir die freie und freudige Mitarbeit aller 
Glieder unseres Volkes** im Deutschen Reich noch nicht 
Raum ist. Wie aber sollen dann die M im Feld stehenden 
Millionen Volksgenossen am Fortschritt der neuen Zeit mit- 
rathen und mitthaten* 4 und warum soil die „Umbildung des 
Landtages" h inter die Heimkehr der Krieger verschoben 
werden? Wenn der Glaube wiche, der Krieg, den das 
Deutsche Reich gegen tausend Millionen Menschen fiihrt, 
sei mit militarischen Machtmitteln zu enden, kdnnte vielleicht 
noch in diesem Jahr die Vorhandlung iiber den Friedens- 
schluB beginnen. Die wird, da alle Erdtheile mitsprechen 
und die gr»iBten Fragen der Menschheit zu beantworten sein 
werden, viele Monate dauern ; und mindestens zweifelh&ft 
ist, ob schon vor ihrem AbschluB die Demobilisierung des 
Heeros durchgefiihrt werden kann. Im giinstigsten Fall 
w’iirde dcr Entururf der Lamltagsreform im letzten Drittel 
des Jahres 19L8 in die Parlamente der LeipzigerstraBe ein- 
gebraebt. Berathung in zwei Kammern, zwei Kommissionen 
(die sich vor Kile wohl hiiten werden); wahrscheinlich Ab- 
lehnung, Auflbsung, Wahl, Pairsachub, neue Berathung. 
Mies miiUte recht glatt gchen, damit die Sache noch 1919 
fertig wiirdc. Und bis daliin boII r fiir die freie und freudige 
Mitarbeit unseres Volkes** in PreuBen, nach der Ueber- 
zeugung des Kbnigs und seiner Minister, nicht Raum sein? 
Gerade in der Zeit ungeheurcr Entacheidung? Das ist nicht 
mfiglich. In Irrthumsdickicht leht, wer glaubt, die deutsche 
Kriegsmannschaft wiinsche solchen , Aufschub. Diirfte sie 
abstiinmen : heute noch wiirde Manches anders, Wesentliches ; 
und jede Wandlung stiinde unter dem Zeichen vemiinftiger 
Demokratic. Kben so thbricht wie die Zumutbung, der im 
Vorrecht Wohnende, Adel, GroBgrundhesitz und alles ihm 
Verl kundete solle aus freiam Willen, ohne Wehrversuch, die 
bequeme Recht ssch an ze raumen, die zu erobern der Gegner 
nicht stark nder nicht kiihn gonug ist, ware der Wahn, eine 
V olksahstimmung, ein Plebiszit oder Referendum wiirde 
nicht mit Riesenmchrheit die Demokratisierung des Staats- 
wesens fordem. 1st denn irgendwn noch ein junger Schopfer- 
konf dagegen ? Zweifelt irgendein sachkundig Unbefangener, 
daB alle Millionen, die den Briillero, Amokliiufem, Seicht- 
schreibern fiirs Ewig-Oestrige von gemiisteten Kriegsliefer- 
anten zur Griindung neuer Tageblatter und Zeitschriften 
hingekleckert wiirden, in schnell flieBcndes Wasser geworfen 
witren? ^Ein miindiges Volk hat das Recht, sich selbst zu 
regiren. Darf die Regirung, die den Aufmarach einer 
feindlichen Menschenmilliarde und den Weltvorwurf rohen 
Vulkerrechtsb ruches nicht vermeiden konnte, der Staatskunst 
einer Demokratie sich iiberlegcn wahnen ? Blutstrdme haben 
alles Bedenken weggeschwemmt, Jubelt oder stohnet: hinter 
jedem Kriegsausgang steht die GewiBheit, daB Deutschland 
nur noch vom Volkeswillen regirt werden kann. Wenn die 
im Vorrecht Wohnenden mit der Dehnung des PreuBen- 
wahlrechtes aus der Klemme kamen, diirftcn sie ihr Gluck 
dem eines Manncs vergleichen, der auf der hdchsten Sprosse 
der Henkersleiter hiirt, er sei nur verurtheilt, sich schleunig 
rasiren zu lasscn. Ganz andere Umpflilgung n&ht. Sputet 
Euch, die Ihr Fiirsten berathet ! Wer Nothwendiges schnell 
gewahrt, meidet den Schein unwiirdigen Zwanges. Obne 
das Recht, zur Gestaltung deutschen Schicksals mitzuwirken, 
das Lebcn, die Ha bo, die Hoffnung der Kinder dafiir ein- 
setzen : Das war gestern.* 4 Vor acht Tagen ists hier gesagt 
worden. Muthig vorbedachte und rasch wirkende Handlung 
brauchen wir; nicht neues Vereprechen. Jedes Zaudem 



283 



DIE AKTION 



284 



kann morgen VerhangniB werden. Febler sogar mussen 
dem Staatsmannsgeist zinsen ; der Belagerungzustand, in 
desseu Dauerdiktatar (weil sie jedes Streben, das wiirdigste, 
nach Verstiindigung mit der feindlichen Menachheit hindert) 
ich den iiefsten, gefahrlichsten Febler innerer Kriegspolitik 
sehe, erleichtert den Regirenden die Umschiehtung des 
Staatsgrundes ; der Kampf uni den Landtag und die Reichs- 
tagsrechte, der octroi einea Wahlrechtea wiirde ihnen jetzt 
nicht so unbequem wie in fesaelloser Friedenazeit Nicht 
ala den von Huld zu gewahrenden Lohn seines Wohlverhaltens 
fordert das Volk den zu fruchtbarer Mitarbeit ndthigen 
Raum, sondern ala das ihm gebiihrende Recht. Und laut 
wamt PreuBen s Geschichte vor dem Verauch, es mit undeut- 
lichem Veraprechen abzuspeisen. 

In den harten Jahren der Kriege gegen Bonaparte hatte, 
unter Steins, dann unter Hardenbergs Einwirkung, Friedrich 
Wilhelm der Dritte sich dem Gedanken an Volkarecht, 
Volksvertretung, Ersatz des Absolutiamus durch Verfassung 
sacht befreundet, Ala der Minister Wilhelm von Humboldt 
in dem Entwurf zur Verfassung einea Deutschen Reiches 
(unter osterreichischer Spitze) den Landtagen der Einzel- 
staaten nur beratheude Stimmen gewahren wollte, schalt der 
Freiherr vom Stein diesen Willen zu „elendem Recht", das 
von Bayern und den Kleinstaaten iiberboten werde, und 
schrieb: „In PreuBen vereinigen sich alle Elemente, die eine 
ruliige, verstandiga Bewegung Verbiirgen: Nationalitat, Ge- 
wohnheit und erprobte Bereitwiiligkeit, Abgaben zu leisten, 
Opfer zu bringen, Besonnenheit, gesunder Menschenverstand, 
*tlgemcine Bildung. Warum soil PreuBen nicht deutlich 
Grundsatze aussprechen, die zwei Drittel von Deutschland 
sc bon angenommen baben, die daa Vertrauen zu ihm mebren 
und aeinen EinfluB atarken ? Oesterreicb kann aus vielen 
Griinden nicht gleiche Grundsatze aussprechen: wegen der 
Fremdartigkeit seiner Bestandtheile, dea niederen Zustandea 
seiner alJgemeinen Bildung, der Maximen seiner Regirung 
und Regenten, und es mag aua diesen Griinden eine Aus- 
nahme maehen. Warum aber soli PreuBen eine ihm selbst 
so nachtheilige und fur daa iihrige Deutschland so gefahrlicbe 
MaBregei wahlen?" Spater: ,,Von PreuBen haugt das 

Wohl Deutschland? ab. Die PreuBen sind verstandige, 
geschaftsfahige, durch ein geschichtlichea Leben gepriifte, 
treue, tapfere, fromme und besonnene Manner. Die Vcr- 
tretung eines solchen Volkes beschrankt den Regenten nicht, 
sondern erleuchtet und at ark t ihn. Du ist ihm noting; denn 
die relative Schwache der preuBiachen Mon archie gegen die 
Nachbarstaaten kann nur durch moraliscbe und intellektuelle 
Kraft ersetzt werden." Vergebens. Der Konig widerstrebte 
jedem wirksamen Parlamentsrecht und schrankte sich in 
stete Erneuung unklaren Vcrsprechens. In Wien, wahrend 
des Kongreaaes, uberredete der Staatskanzler Harden berg 
ihn, „Beinem treuen Volk ein Zeichen dankbaren Vertrauens 
zu geben“. Der Wortlaut der Koniglichen Verordnung vom 
zweiundzwanzigsten Mai 1815 erinnert an den des Kaiserlichen 
ErUsses vora siebenlen April 1917; auch die Umstande, die 
in beiden Fallen den EntschluB erwirkten, sind ahnlich : 
lange Kriegadauer und Nothwendigkeit neuer, nun doppelt 
acbwerer Opfer. Der Konig verspracb, die Provinzialstande 
wiederherzuatellen und von ihnen dann den Landtag wahlen 
zu Lassen. Am siebenlen April (soils ein Lostag PreuBens 
werden?) hatte ihn, auf den Antrag dea Oberschlesiers 
Eisner von Gronow, die n Interimistische National represen- 
tation 44 ersucht, eine endgiltig wirksame Volksvertretung zu 
sebaffen. M on ate, Jahre lang geschah nichts Rechtes, Die 
altstandige Partei und ibr Wortfiihrer im Ministerium, der 
ehrliche Feudalist Klewiz, redete und schrieb gegen den 
Verfassungsplan als gegen eine dem Gesamtstaat drohende 
Lebensgefabr. Der gute Geist von 1813, hieB es, tniisse 
erbalten werden. (Heute werden Gesellschaften gegrundet, 
die den Schutzengrabengeibt von 1917 erhalten sollen und 
in denen der Herrgott, wenu er den Schaden besiebt, Zecher, 
Spieler, FreBgierige und eitle Schwatzer in Mehrzahl findet.) 
Der Kiinig babe zwar aein Wort verpfandet, die Art und 
den Tag der Einlosung in Dunkel gelassen. Stein schrieb: 
„Die militarisehe Maschinerie sah ich am vierzehnten Oktober 
1806 (am Tag von Jena) fallen; vielleicht wird auch die 
Schrcibmaschinerie iliren vierzehnten Oktober haben. Der 
Staat ist nicht ein landwirthschaftlicher und Fabriken-Verein, 
sondern aein Zweck ist religios-sittliche, geistige und korper- 
liche Entwickelung; durch seine Emrichtungen soil ein 
kraftiges, muthiges, sittliches Volk, nicht nur ein kunstreiches, 



gewerbefleifiiges, gebildet werden. “ Was Vernunft rieth. 
haftete nicht im Obr der allzu Machtigen. Professor Max 
Lehmann, der riihmenswertbe Biograph des groBen nassau- 
ischen Freiherrn, sagt: „Die reaktionare Fluth, eben so sehr 
dem reprasentativen wie dem nationalen Gedanken feind, 
vcrschlang nicht nur die deutsche Verfassung, sondern schlug 
ihre Wogen auch in die deutschen Einzelstaaten. Der Konig 
von PreuBen lieB sich aus der Bahn d ran gen, die er mit 
der Verordnung vom zweiundzwanzigsten Mai 1815 betreten 
hatte. Er und seine Rathgeber, Fiirat Wittgenstein und 
Hardenberg, trieben die Furcht vor demagogischen Umtrieben 
so weit, daB sie ihren Staat verpflichteteu, auf Reichsatande 
zu verzichten. Friedrich Wilhelm gewahrte 1823 (acht Jahre 
nach dem fcierliehen Vcrsprechen) nur Provinzialstande und 
behielt die Entscheidung der Frage, wann eine Berufung der 
allgemeinen Stands erforderlich sein werde, seiner landes- 
vaterlichen Fursorge vor. u Glimmender Unmnth lodert in 
Zorn auf. Hundert Zeitschriften umheulen die Frage der 
Volksvertretung. Von tausend Zungen kommt die Anklage, 
der Konig babe sein Wort gebrochen. Er atirbt, ehe er 
diese Beschuldigung entkraften will. Und erst nach der 
wirren Revolution vom Marz 1848 lost Friedrich Wilhelm 
der Vierte, ein Hirnkranker, vollig das Wort ein, das sein 
Vater, dreiunddreifiig Jahre zuvor, nach Kriegsnoth und Sieg, 
auch da nicht zum ersten Mai, dem Volk verpfandet hat. 
Nie wieder darf, nie wieder kann es so werden. Als in der 
frankfurter Paulskirche Joseph Maria von Radowitz das 
Schicksal des Fiirsten und Staatmannes beseufzt hatte, der, 
an einer Zeitenwende, Alles zu spat oder zu friih tun miisse, 
mahnte Jakob Grimm : „Wir Deutsche sind ein geschaftigea, 
ordentliches Volk, doch diese loblichen Eigenschaften scblagen 
auch bei uns oft in Fehler um. Wenn das Pedantische in 
der Welt unerfunden geblieben ware, hatte der Deutsche es 
erfunden. Der bekannte Satz: ,Vorgethan und Nachbedacht 
hat Manchen in groBes Leid gebracht 1 , dieser Satz kann auf 
uns Deutsche in politischen D ingen sehr selten angewendet 
werden; vie! of ter ein anderer: Lang Bedacht und schleclit 
Gethan : ist der deutsche Schlendrian. 44 Der Worte sind 
genug gewechselt. Jeder Wache, nicht durch Eigensucht 
Geblundete sieht, daB die Sintflut (auch die Bibelscbreib&rt 
fl Sundfiut“ wiirde hier passen) dieses Krieges zu raschem, 
griindlichen Umbau der Arche zwingt. Wer das Staats- 
geschaft leiten, ob und wann Friede oder Krieg sein solle, 
muB fortan das als miindig bewahrte Volk eutsebeiden; alien 
Lebensfragen deutscher Nation selbst die Antwort finden. 
Dann ist es Herr seines Schicksals, verantwortlich und darf 
nicht Andere anklagen, wenn eB in Leid sinkt. Parlamenta- 
rische Regirung ist an dem Tage gesichert, wo eine in 
Neuwahlen haltbare Fraktionenmehrheit beschliefit, nur den 
Mannern ihres Vertrauens Geld zu bewilligen und mit anderen 
den Geschaftsverkehr abzubrechen. Herr von Bethmann, der 
zuerst gesagt hatte, die offentllche Wahl sei (weil sie „die 
gottgewollten Abhangigkeiten 44 zum Auadruck bringe) un- 
entbehrlich, die indirekto nicht langer ertragbar, ist 1910 
fur geheime und indirekte, 1917 fur geheime und direkte 
Wahl eingetreten; stets mit dem selben Pathos der Freuds 
an Feierlichkeit. Er wiirde, wenn es sein miiBte und eine 
Mehrheit ihn ale Vertrauensmatm kiirte, auf diesem Weg 
vorwarts schreiten. E lease ern und Lothringem gab er daa 
allgemeine, alien gleiche Recbt zu geheimer und unmittel- 
barerWahl: will er wagen, es PreuBen zu weigem? In einer 
Zeit ungehemmter Freiziigigkeit und wachsenden Wander- 
triebes wird der Vergleich eines weiter reichenden Wahl- 
reohtes mit cinem enger begrenzten, das in dem selben Reichs- 
verband gilt, immer Grund zu Unzufriedenheit geben. Ini 
fiinften Lebensjahrzehnt des Reiches darf jeder ihm An- 
gehorige fordern, daB der Umfang seines politischen Rechtes 
nicht kleiner sei als seines Nachbars. Die VerheiBung des 
Wahlgesetzes vom Mai 1869, dafi mit der Volksziffer auch 
die Zahl der Abgeordneten steigen solle, darf nicht langer 
unerfiillt bleiben ; noch im Reich, wider den Willen der Vcr- 
fassung, ein Zustand fortdauern, der ermoglicht, daB drei- 
hunderttauaend GroBstadter zwei, dreihunderttansend Land- 
bewohner siebenundzwanzig Vertreter in den Reichstag ah- 
ordnen. Ein Industriestaat mit ubergewichtiger Agrar- 
vertretung ist ein nur kiinstlich, durch Gewalt und Unwahr- 
haftigkeit, zu crhaltcndcs Gcbild. Den durch Kopfzahl uml 
Leistung er stark ten Stadten darf der Zuwachs politischen 
Rechtes nicht bestritten, dem der Volksgesundheit dienst- 
baren Landkreis ilieaes Recht nicht entkraftet werden. Blut- 




Fur Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten 
Inhalt verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin- Wil- 
mersdorf, Nassauische Strafie 17. Tel. Pfaizbg. 1605. 
Gedruckt bei F. E. Haag, Melle in Hannover. 
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ist Ruckporto beizufugen. 

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A. 










M>R 



WOCHENSCHRIFT FUR POUTIK, LITERATUR, KUN8T 

TO. JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT NR. || 

SONDERHEFT ALFRED WOLFENSTEIN. INHALT: A. H PELLEGRINI ALFRED WOLFENSTEIN, PORTRAT 
(Titelblatt) / Alfred Wol fen stein: Ober Lebcndigkeit der Kunst / Josef Eberz: Zeichnung / Alfred Wolfenstein: Allegro der 
Finstemis / Rudolf Mense: Zeichnung / Alfred wolfenstein: Vorsptel; Dunkel des Den kens / Waldemar Ohly: Maske / Alfred 
Wolfenstein: Andante der Freundschaft; Durch die Schwirze der Erde / F. P.: Ich schneide die Zrit aus; Kleiner Bricfkasten; 

Bemerkung zu diesem Son der heft / Beilage ffir die But tenausgabe : Felix Mfiller: Original-Lithographie 




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SONDERHEFT ALFRED WOLFENSTEIN 

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E r i n n e r 



HERZEN 



E-rinnerungen 
Deutsch von Otto Buek 

Zwei Bande. (446 und 338 Seiten.) Mit 

drei Portrats 

Gebunden M. 12,50, broschiert M. 10, — 

Fur Abonnenten der AKTION 
nur direkt votn Verlage: 

M. 8, — geb., M. 5, — broschiert 
Zweites Werk (in Vorbereitung): 

LUDWIG RUBIN ER 

Der Mensch in der Mitte 

M. 3, — 

VERLAG DIE AKTION 



RUNS! 

DER 



SONDERHEFTE 

AKTION 



,,Xeue Secession J / Richter Berlin / Schmidt Rottluff / 
K. |. Ilirsch ! I!."' ns Richier i Wilhelm Morgner / Egon 
Schiele / Georg T-ippen / Else von zur Mtlhlen / Ines 

Wetzel . Felix Muller 



DICI1TER 
D E R 



S O N D E R H E F T E 
AKTION 



Franz Blci / Gottfried Kiilwel / Alfred Lichtenstein / 
Paris vnn Giltersloh / Heinrich Schaefer / Theodor I>iiubler 
/ Paul Adler / Franz Werfel / Ludwig Rubiner 

SONDERHEFTE ,,D I E V O L K E R‘* 

,Rutlland“ (mil Geleitworten von Maximilian Harden) / 
„ England* / n Frankreich w / „Bc!gien“ / „ltalicn u / Boh- 

men“ / ..Deutschland 11 

Jedcs Sondcrheft, gewohnliche Ausgabe, 
kostet 50 Pf. — Butten, numeriert, M.2, — 



BUTTEN - AUSGABE DER AKTION 

100 numerierte Exemplare 
Jahresabonnement : M. 40 

Jed eni KUnenaVionnemcnt warden jiihrlicb ini ndes tens 
acht Ku nstbliiuer beige^cben, von den Kiinstlern nume* 
riert und signiert. Diese Hcihigcn kommen nicht in den 
Handel und siellen eineti Wert dar, der den Abonne- 
ment^betrag ttbersteigt! Ini jahrgang 1917 werden 
heigegeben: Blri iter von Felix Muller / Max Oppenheimcr / 
lnes Wetzel / Karl Jakob Hirsch / Richter-Berlin u a. 



KUNSTLER-POSTKARTEN DER AKTION 

Es sind 80 verschiedene Drucke erschienen 

Zcichnungtn von Mopp / Kars/ Schmidt-Rottluff /Schrimpf 
; Klein / Richter Berlin / Xadelinan j Feininger / Hart* / 
Schiele / Mensc / Melzer / Tappert / Else von zur 
MUhlcn / Ilans Richter / Josef Capek / Morgner u. a. 

I OO Stuck M. 3, — 

portofrei gegen Voreinsendung des Betrages 



WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK. UTERATUR, KUN8T 

7 . JAHRGANG HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT 2. JUNI 1917 



UBER LEBENDIGKEIT DER KUNST 
Yon Alfred Wolfensttin 
I Das Buch 

Das unsichtbare Verhaltnis des Geistes zum Leben 
auf der Erde nimmt im Kunstler besonders sicht- 
bare Gestalt an. Das Jenseits, verachtet und ge- 
furchtet vom nackten Kaufmann, Lebemann, Ty- 
rannen, — das Diesseits, verachtet und gefiirchtet 
vom Priester, Asketen, Sonderling; schweben als 
dunkle Wolken uber den Einseitigen, die den 
Dichter aufatmend begruBen muBten . . . 

Aber das unsichtbare Verhaltnis der Dichtung 
zu den Lebendigen verlangt gleichfalls nach einer 
sichtbarsten Gestalt, 1st diese . , . das Buch? 
Oft scheint uber dem festgelegten Worte, ober- 
halb seines optimistischen Willens zur Wirkung, 
noch ein anderer Ausdruck leidend zu liegen: 
Als fliehe es in den Urheber zuriick; als konne 
nur dessen lebendige Gegenwart seine ganze Dich- 
tung geben! 

Nicht fur jede, aber fur eine ewig (heute beson- 
ders stark) wiederkehrende Art der Kunst wird 
dies gelten. Von welchen Instrumenten der Ver- 
mittelung sieht sie sich gefangen: Kann das Buch 
jemals eine voile AuBerung sein, dem Dich- 
ter und der Dichtung ebenbiirtig? Blickt es nicht 
mit taubstummem Gesicht in das vollkommene 
Gesicht des Lesers? Nicht nur Kunst, auch ein 
kiinstlicher Zwang schwebt uber beiden, sich ein- 
ander anzupassen; das Buch gewinnt falsches 
Leben, — der Leser ein Surrogat der dichteri- 
schen Stimme. Wie ein Gespenst des Geistes 
muB das Buch, wahrend es mit der Erscheinung 
seiner Geheimnisse riihrt, zugleich durch eine 
Raumleere erschrecken, die seine Gestalt durch- 
zieht. Es ist mehr als ein Ding, — doch soviel 
weniger als der Geistl 

Darum hat es zvvei Gegner: den Gewaltmenschcn 
und den Dichter. Die Faust verachtet immer 
das Fehlen einer Faust, sie haBt die unsichtbare 
Stirn, — die aus den Worten eines Werkes uber 
sie hinwegsieht. So richtet sich die Gering- 
schatzung der Zeitgenossen, als Genossen der 
bloBen Zeit, vielfach gegen die unbesitzbare, nicht 
nur augenblickliche Ruhe des Buches. 

Aber aus einem Gegenteil der Verachtung: . . . 
aus Unzufriedenheit kann der Dichter es ver- 
werfen. Staff seiner Klange und Bewegungen 
ziehen die schattenhaften Buchstaben, wie flache 
Photographien seines Schwunges, voriiber. Seine 
Dichtung ruft nach seiner Dimension. Er 



mochte das Buch, — dem der Machtmenseh den 
Rucken kehrt, — in sein zugewendetes Gesicht 
wieder einschmelzen: Jenem anderen scheint es 
nicht Gewalt genug, ihm aber nicht all seine 
Kunst. Seine Kraft und Wirkung bleibt an der 
zufalligen, unaufgelosten Einrichtung Buch frag- 
mentarisch. 

Denn sein Weg — reicht bis in die Mittei- 
lung; auch diese gehort zum Schaffenswerten. 
Das Buch tauscht ein Erleichtern und Verkiirzen 
des Weges vor; und bringt an ein ganz anderes 
Ziel. 

Und so peinigen ihn, den nach wahrer AuBerung 
Diirstenden, die Gedanken an den Leser, den im 
abgeschnittenen Zimmer nur die Buchstaben an- 
flustern. 

II Lebendige Mitteilung 

Die Jiingeren aus unserer Zeit, durch die grofie 
Offenheit Berlins begiinstigt, haben von ihren 
Anfangen an solche Verkorperung (nicht schau- 
spielerische, sondern dichterische) — mit beson- 
derer Freude ausgefiihrt. Ein Raum, der den 
Rhythmus der zerstreuten Zimmer iiberspannt, voll 
scheinbar Fremder, die Freunde werden konnen: 
ein Raum aller unmittelbar menschlichen Wellen 
kann das Buch wie eine NuBschale versenken. 
DaB er es gedichtet hat, — mit dieser Erinne- 
rung uberlafit der Dichter sich und seine Gestalt 
den Andern, ohne Furcht, in einem Meer zu 
vertropfen. Denn Dichten ist eine Art zu lieben. 
Manche freilich werden sich nicht gern auf diese 
Tribune stellen, weil sie allzuviel verlieren wiirden. 
Nicht etwa die von ihrem Korper Gehemniten 
(deren Oberwindung Kunst werden konnte); — 
aber wie Gespenster wiirden jene dort stehen, 
deren Kunst statt in ihrem Leben in ihrer Tech- 
nik oder „in sich selbst u bodenlos wurzelt. Es 
sind die seit iangem so Zahlreichen, die mehr 
konnen, als sie sind. Es sind auch jene 
Unsichtbaren, die sich in den Glauben „Die Kunst 
fur die Kunst** verfliichtigen und ihr Reich der 
Worte als eine Wirklichkeit an die Stelle des 
Lebens setzen wollen (tyrannisch wie sonst nur 
Staatsmiinner). Sie machen es sich zum Gesetz, 
den Stoff zu einer angeblich kunstreichsten Form- 
an-sich auszusaugen ; wcnn der Pokal leer sei, 
klinge er um so voller — . Sie lieben das Buch 
derartig, daB sie mit Recht noch den Buchein- 
band ihrer Kunst zuzahlen. 

Sie miissen naturlich die Moglichkeit verab- 



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DIE AKTION 




scheuen, daB ein Mensch auch mit alien Mitteln 
seiner geistigen und sinnlichen Gegenwart, mit 
seiner Stimme, die die Noten erst in Musik er- 
hebt, mit der Belebung seines Kopfes, mit der 
Sphare voll Ethos und Pathos zwischen ihm und 
den Andern, mit seinem hervorblitzenden Ge- 
wissen — nicht schauspielerisch, son- 
dern dichterisch — den wahren Aufbau 
seiner Dichtung voilendet! 

HI Die Abgewandten 

Das ist die Kunst, die schon in ihrem Ursprung 
voraussetzt, — dafl sie nicht in die Einsamkeit 
aufgehn wird. Auch die Dichtung des ganz von 
der Welt Abgekehrten, mag seine Einsamkeit von 
ihm gesucht Oder Schicksal sein, ist ein Ruf ge- 
gen die Einsamkeit; ihr Klang und daB sie 
erklingt, ist ein Zeichen ihrer wahren Bestimmung. 
Sie gilt dem Gemeinsamen. Wohnte ein Kiinstler 
inderWiiste und ware es gewifi, dafi niemalsmehr 
ein Vers von ihm unter die Menschen dringen 
konnte: er wurde nicht aufhoren, so zu dichten, 
als sprache er zu Menschen; — wenn es Kunst 
bliebe und nicht Religion wurde. Ja, er konnte 
gerade auch dort bis zum Ende Kiinstler bleiben 
und nicht Gottgeweihter werden. 

Dies bedeutet, dem Kiinstler ist Menschenlosig- 
keit ebenso undenkbar wie Gottlosigkeit! Er kann 
keinen Zufall darin sehen, daB es mehr als 
Einen auf der Welt gibt. Worin aber besteht 
dies M i tmenschliche seiner Kunst? Nicht etwa 
nur im allgemein Menschlichen. Sondern es ist 
Beseelung und Eingebting von der Oberwelt, eine 
Nahe, verbunden mit den Menschen so innig wie 
mit dem Gottlichen, ein irdischer Sturm uber 
seinem Drang, ein schopferischer Wirbel auch 
von den Menschen her und zu ihnen hin. 

Diese Kunst vermag nicht nur selbst, sondern 
auch in ihrer Wirkung Menschen zu gestalten. 
Wozu der SchoB des Weibes noch nicht genugte, 
Menschen bringt sie ans Licht einer endgiiltigen 
Geburt. Nochmals gehen sie durch einen sie 
machtiger prufenden Organismus, durch den 
mannlichen Geist, durch den Astralleib seiner 
Kunst! 

Sehr fremd sind daher diesem Kiinstler die von 
der Welt Abgewandten. Der religiose Eksta- 
tiker kennt nur die eine Seite — und wenn er 
aus sich heraus geht, — findet er sich nicht 
unter den Andern, sondern mit Gott allein. Er 
tragt nicht wie der Dichter eine Fackel aus Fin- 
sternis hinaus, um der Erde zu leuchten, er tritt 
in ein Licht, das schon da ist und nur von ihm 
in seiner Absonderung erblickt wird. 

Was sollte er dort tun, oder auch nur sagen? 
Der Unangesprochene verwirft auch die Sprache. 
Er, in beziehungsloser Steilheit seines Glaubens, 
sieht sich im Schweigen vollkommen. Seine Selig- 
keit ist: nichts, selbst die Sprache nicht, auBer 
sich und Gott zu denken. Weshalb spricht er 
dennoch seine Visionen aus? Er weiB es nicht 
und es erfreut ihn nicht. Eine gotterfullte Men- 
schenleere widerhallt von seinem Stammeln; was 
sollte er dort wirken? Er will nichts, und nicht 



dies schmerzt ihn, sondern vielleicht nur die Un- 
vollstandigkeit seines Schweigens. 

Der Dichter aber ist ein Freund der AuBe- 
rung. Sie ist sein Gluck, das zwar nichts Tragi- 
sches in ihm auflosen, es nur wie ein'm Strudel 
uberflieBen kann; — aber an sich unlosbare Ge- 
heimnisse und Leiden miinden dennoch be- 
gluckend fur ihn und die Andern hinaus. 

Es gibt allerdings auch asketische Kiinstler, — 
die zwischen solcher Freiheit des Dichters und 
jener jenseitigen Entruckung stecken bleiben, als 
Gefangene ihrer wuchernden Seele. Die Be- 
driickung durch eine iiberwiegende Innerlichkeit, 
in unserem Norden merkwiirdigerweise ebenso 
haufig wie die Bedruckung durch eine iibermach- 
tige Gewaltsamkeit, — bringt die Welt ebenso 
gut um Friichte wie die Roheit! Wir sehen selbst 
Schauspieler, statt der auBersten Darstellung zu 
huldigen, auf ihr innerlichstes Sein gewissermaBen 
vervveisen, ihr Mienenspiel, statt es auf den sicht- 
barsten Gipfel zu bringen, in die tiefste Seele 
verlegen, und so an Stelle der eigenen Leistung 
beinahe die des Zuschauers erzwingen. Die Bio- 
graphic eines beriihmten Schriftstellers berichtet: 
Ihn habe es schon ganz befriedigt, seine Romane 
vollstandig im Kopf zu entwerfen; nur unter wii- 
tenden Tranen habe er, vom Verleger gezwun- 
gen, seine Werke auch niedergeschrieben. Dieser 
(dennoch nicht Kalte) ist wie eine Madonna, die 
Gott nur genieBen und nicht auch den Erldser 
zur Welt bringen mochte — 

Den Kiinstler muB es zur Mitteilung seines Lebens 
zwingen — wie zum Leben selbst. Er bleibt in 
keinem Jenseits, er ist kein die Wirklichkeit 
fliehender Diener Gottes, er setzt auch nicht als 
zweiter Gott eine tyrannische Kunstwelt an die 
Stelle der Wirklichkeit: Er bewirkt wie ein guter 
Engel die Vermittelung aller Welten. 

IV Der Wirkende 

Um dieser allseitigen Lebendigkeit widen, — da 
er mit doppeitem Gesicht und immer neuen Grif- 
fen in die urspriinglichste Unruhe die Welt von 
unten bis oben durchsprengt: — ist ihm der ver- 
hartet nur auf das „R e a 1 e“ Gerichtete nicht 
weniger fremd als die nach einer anderen Seite 
Abgewandten! Diese entziehn sich der Kunst wie 
allem — : Der Realpolitiker aber weiB iiberhaupt 
nichts von ihr, weil er den Geist nicht kennt. 
Das An-sich, das er kennt, ist die Ordnung. Er 
laBt in seinen Mischungen der Natur mit der 
Praxis alle lauen, talmigeistigen, schwarzweiBen 
Dinge und die Eisen- und Goldmenschen am 
besten gedeihen. Er ist der Verrater an der 
Schopfung. Das Chaos zwar ist scheinbar vor- 
iiber, sein Herr war das Dunkel; eine neue Ein- 
ode aber ist die Zivilisation mit den kiinstlichen 
Lichtern als ihren Herren. Sie lassen die HaB- 
lichen und Seelenlosen thronen, die Herzen zu 
Schollen aus Geld gefrieren, die Hande in fremde 
Arbeit haltlos versinken, zu Kriegen miB- 
brauchen — . 

Wer darf dieser Atmosphare der Sumpfe und 
der Erstarrungen feindlicher sein als die Brin- 





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DIE AKTION 



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gerin der Erregungen! Die Atmosphare der Kunst 
ist der absolute Gegensatz zu diesen Toden der 
Welt, mag deren immer neue Maske Zivilisation 
Oder sonstwie heiflen. 

Da rum soli man, — denken viele, zur Kunst 
„f luchten 14 — . Hier aber trennen sich gerade 
die Arten der Kiinste. Und Eine empfangt die 
Fliehenden durchaus nicht idyllisch, — sondern 
fuhrt sie erneut dem Leben zu, einem besseren 
Leben allerdings, denn sie geht gleichzeitig mit 
und wirkt auf die Realitat. Sie ist zu alien 
Zeiten dagewesen, aber vielleicht immer Ieben- 
diger anschwellend; und die heute Iebende 
Jugend bekennt sich sturmischer als jemals zu 
ihr. Diese Kunst ist nicht eitel auf ihren Gegen- 
satz zum Dasein, sie wiirde ihn hingeben, wenn 
er nicht ewig sein sollte, — sie gibt ihn hin! 
Sie stromt Atmosphare in die andere Atmosphare, 
sie redet an und reicht die Hand, sie bestraft den 
Schopfungsverrat durch den Anblick ihrer 
Leidenschaft. 

Zwar bedeutet der „Inhalt“, ob er tatvoll sei 
Oder nicht, wenig gegen den Iebendigen Grad 
der Kunst, — aber auch dieser bedeutet noch 
wenig gegen den Iebendigen Grad einer Kunst, 
die gleichzeitig einen tatvollen Inhalt gestaltet! 
Es gibt einen Wetteifer zwischen Form und In- 
halt, den eine tatgleich bewegende Wirkung kro- 
nen kann. 

Ein Vorbild der realen Bewegung ist die Kunst. 
Das Geschaft der Gewalthaber ist, den Men- 
schen in Facher zu zerteilen, einen Stern in Unter- 
tanigkeit und Ausland, die Gerechtigkeit in Ge- 
horsam und Krieg, die Wahrheit und das All in 
lauter unschopferische Stiicke zu zerteilen, aus 
denen niemals („allmahlich“) das Endgiiltige her- 
vorgehen konnte. Die zivile Wirklichkeit, heute 
nach all ihren Regain aufmarschiert (nach Regeln 



der „Kunst des M6glichen“) wagt nicht die Wahr- 
heit! Sie furchtet den Verbrecher, statt den Men- 
schen zu wagen, liebt und furchtet die Waffen 
statt des Gewissens, schwitzt um Geld, statt alles 
natiirliche Gluck zu wagen. 

Die Kunst dagegen meint in jedem Augenblicke 
Alles. Sie entsteht aus unaufhorlichem Herauf- 
holen des Ersten und Vorwegnehmen des Letzten, 
Sie ist der Klang des Zusammenpralls 
dieser beiden Krafte. Die real Regierenden aber 
mischen halb und halb. Sie grunden aus Natur- 
kraft und Geist sandige Mittelreiche, wischen Ufer 
und Brandungen mit 01 weg. Aus den Leiden 
eines Heilands und der Ordnung wird das Mittel- 
ding Kirche gebaut, aus der Urspriinglichkeit und 
der Ordnung die Schule, aus Schicksal und Ord- 
nung das Gefangnis. Und iiberall Freiheit und 
Demut in die Ebene der Pflicht zusammenzu- 
stampfen, — ist die Pflicht des von Geburt Ge- 
ebneten. 

Aber wie es den Realkiinstler gibt, der sein 
Schreib- und Malmaterial aus dem Fach oder 
Zweck entnimmt: so konnte umgekehrt ein gei- 
stiger (nicht nur gewaltiger) Politiker, ein fur 
die Menschheit handelnder Christus, das Ge- 
heimnis des Lebens so stark beriihren wie ein 
groBer Kiinstler, Es gibt cine Hohe, wo der 
Unterschied der Mittel, mit denen sie er- 
stiegen wurde, aufgehoben scheint und nur d i e 
Hohe sich spiiren laBt. Die menschliche Tat 
und das menschliche Kunstwerk iibergipfeln da 
einander, sie wirken briiderlich verwandt gleich 
reinen Bergen und reinen Wolken. Und sie ver- 
einigen sich in den keinen Augenblick lang stok- 
kenden Verwirklichungen der Utopien. 

V Der Aufldsende 

Da die Kunst ein Beispiel fur das Leben gibt: 
so gebe der Kiinstler durch sein Leben ein Bei- 




Jotef Eber% 



Zcichnung 




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DIE AKTION 



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spiel fur seine Kunst, Nieht auch durch ihn darf 
der Hieb gehen, der vom ewig neugebildeten 
Heere des Ungeistes durch den Menschen hin- 
durch gefiihrt wird, um seine Gestalt in ungleichc 
Tcile der Seele und des Wirkens zu zerlegen. Dies 
scheint selbstverstandlich, doch wenn wir den 
reinen Grad dieser Selbstverstandlichkeit mei- 
nen, wollen wir es schallend in die Zeit des baren 
oder verkleideten Spekulantentums rufen. 
Fanatismus gerade dieser Wahrheit! Fanatismus 
des Dichters, auf jeder Stufe seiner Wirkung 
auch selbst zu stehen, — seine gesamten inne- 
ren Geister einander priifen und durch einander 
sturzen oder steigern zu lassen. Entfacht von 
Einheit! — wahrend die Fachmenschen der Zeit 
auch vor dem Erfolge nicht haltmachen, den 
lediglich ihr nackt uber sie hinausragendes Talent 
fiir sich erringen will. Innige Umfassung des 
Daseins, aus der nicht nur Sprache oder Leben 
sondern der Sprecher hervorgeht! 

Wir sahen ihn unahnlich dem in G'ott Schweigen- 
den oder im Besitz Verstummenden, auch dem 
in seiner Kunst Schwelgenden oder nur mit sich 
selber Redenden unahnlich. Seine Hingebung 
zwar gleicht auch nicht dem Hinschmelzen des 
Geschlechtes, sondern sie ist ausstrahlende, doch 
im Kern fiir sich und so auch fiir die Andem 
b I e i b e n d e Freundschaft. Eines, das in die Ver- 
gewaltigung der Liebe mitversinkt, gibt die 
Freundschaftlichkeit in der Kunst niemals hin: 
das schopferische BewuBtsein. 

Dafiir aber lost sie alles ubrige Irdische auf, im 
eigenen Innern wie rings in den Andern und in 
der weiter umringendcn Welt: Einschmelzung der 
Seele um des Geistes willen, Auflosung der Kor- 
per um ihrer Wiedergeburt im Geiste willen, Be- 
waltigung der Welt um ihrer Schopfung willen, 
des Lebens um der Belebung willen. 

Diese tatig steigende und geistig steigernde Kunst 
ist die (ewig) jiingste. Doch nur als Kunst 
i s t s i e T a t — . Ihr Gesetz ist das Gegentei! jenes 
Satzes: Kunst sei Natur minus x, je kleiner das x, 
desto groBer die Kunst . . . 

Ihr Ethos fuhrt die Welt der menschlichen Losung 
entgegen. Ihre Elemente sind sich wunderbar 
glcich: Auch der Unterschied zwischen ihrer 
Form und ihrem Sinn ist aufgehoben, noch ihr 
Klang ist ein Stuck ihrer ethischen 
Aufgabe. Und sie macht mit auflosendem 
Feuerkreis auch vor ihrem lebendigen Trager 
selbst nicht halt; crgreift aus einem Zentrum 
auch ihn, im innersien Ringe seiner Welt. 

So gehore er selbst zur Kraft und Stimme seines 
Werkes. Er trage es vor, — zu den Menschen. 
So zeige er sich als seine gauze Kunst. 

Das Buch steht in der Feme, an den stilleren 
Hausern, nicht wie eine Fahne auf Halb- 
mast, — doch auch nicht stuimvoll und nkht so 
nah umfangeiul und bewegend wie das Herz des 
Fiihrers selbst. 

Er sei der Ausdruck seiner Menschenkunst, wenn 
er es wagen darf. Und nur wer es wagen darf, 
kann glucklich rnachen. 



ALLEGRO DER FINSTERNIS 
Von Alfred Wolfenstein 
Der schneidende Schlag 
Des Sonnenrandes fall t den Tag, 

Ein Friedhof wolbt sich, bleiche schvverc Men- 
schenbetten, 

Verwachsen mit des Dunkels wuchernden Ketten. 

Da aimet Schlaf uber Toten, . . doch nur einen 
Augenblick, 

Sie wenden sich um . . : schon klirrt das Licht 
wie Schliissel zuriick. 

. . So springen ewig auf und nieder 
Die zitternden Lider. 

Sie offnen sich weit und jubelnd, als sei es der 
jiingste Morgen, 

Die Kniee sturmen . du bleibst uns, Fiimmel, 
nicht langer verborgen! 

Hinaus in schwingendem Lauf . . . 

Doch nur ein Gefangnis tut sich auf. 

Ist dies denn Tag, . . der langsam bis zur Mitte 
zwischen zwei Nachten graut 
. . Und ehe der Fiimmel den Gipfel traf, schon 
niederschaut? 

Die Morgendammerung 

Lafit los, . . da packt ihn Abenddammerung. 

Ach Trauer, wenn der Hoffende wieder ab warts 
schleift, 

Kein Auge aus den Wolken seinen Blick be- 
greift . . . 

Der Erde Wande 

Empfangen fruchtlos seine Lende. 

Zwar lang ist seine Kette, stundenweit darf er 
gehn, 

Die feinsten Korner der Wuste trinken, der Schat- 
ten hellsten Rand sehn . . 

Und Kerkermauern, 

Die ihn doch iiberall zuletzt belauern. 

Da schliigt verdurstcndes Gewimmel den Stein 
nur harter, 

Rings starren arme Wartende und arme Warter, 

In Nebel und Staub 

Bricht atemlos der Rule Laub. 

Da irrt die Stirn, in dauernden Ring des Ratsels 
geschmiedet. 

Die hochgewachsene Freiheit ewig unbefriedet 
Schleicht hin und her, 

Vom dumpfen Punkt der Erde schwer. 

Da schreit ein Mund, wie bleiches Segel sturm- 
gestrafft: 

Ihr Ufer der Welt . . weichet! von mir, der zau- 
bernden Kraft! 

Und seine eigene Sturmesunruh 
Wirft ihn der Tiefe zu. 

Hohlaugig steht am Turn pel elncr wic atn Meer, 
Die Seele vol! Gebirg und Gcstirn, die Flugel leer, 
Und viele hungernden Hande brullcn 
Um ihn: Uns fullen! fiillen! 

Gib Luft, o Gott, gib Licht, . . Licht! 

Das blaue Gewolbe riilirt sich nicht. 




DIE AKTION 



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Da wird zu Stahl und Explosion ihre schluchzende 
Miene. 

Wie Zangen und Krallen greifen die Seelen nach 
der Maschine. 

Und kreisen wie wiitende Sterne empor, 

Es schwindet vor ihnen der Wall um der Liifte 
offenes Tor, . . 

Doch in dem schlammig weichen Ozeane 
Kein neues Land, kein Ziel winkt ihrer Fahne. 

Die diistere Kugel wird kleiner, . . doch groBer 
kein Stem! . . sie fliegen 

Zuriick, . . die Erde bleibt kleiner! . Noch enger 
die Enge, zu liegen, 

Noch wtister und naher, 

Sehn sie Bespieene und Spaher: 

Du grundloses Gesicht, . . du lacherlich geformtes 
Menschengesicht, 

Hinweg mit dir! du dumm gegliederter Korper! 

Taubes Loch, das spricht 
Lnd Bauche, mehr gefullt als meiner, 

Mit Vogelschadeln kleiner! 

Du Rachen, gereckt vom WeiBen bis zum 
Schwarzen Meer! 

Und dieser mit der zahl’os scharfen Finger Heer! 
Und der mit leichten Knieen, 

Die aller Gerechtigkeit entfliehen . . . 

Und seid ihr herrlicher als wir, . . so schenkt 
uns Licht! 

So seid denn Gott! und rettet uns, besitzet nicht 
So slier . . . 

Ah, was wir suchten, haltet ihr! 

Erkenntnis und Freiheit und Gluck, wir reiBen’s 
aus ihnen! 

Und saugen ihre Lebensluft, unserm Atem zu 
dienen, 

Heraus das Geheimnis der Welt! Mit des Feindes 
Him 

Zerspalten wir dieses dunkle Gestirn! 

Da hammern ihre Herzen aufeinander los, 

Es spitzen sich der Manner Arm und Kopf und 
Schofi 
Zu Waffen, 

Nach neuem Ebenbild sich umzuschaffen . . . 

Die Lander fluten 

Hervor mit drangendem buntem Bluten, 

Zu gelbem Sumpf zusammengurgeln die spren- 
genden Herden . 

Doch groBer will der Raum der Welt fiir sie 
nicht werden. 

Und schleudern Feuer, bringen die eigene Flut 
zu Fall, 

Vertrocknen das Blut mit grellstem Flammenan- 
prall: 

Doch tiber alien Glutgebarden 

Heller will das Licht der Welt nicht werden. 

Und srammeln: Macht Platz! laBt Wenige ubrig, 

. Ja6t mich allein 

Die Allmacht sammeln! . . O losende Lichtung! 

Gewaltig schmeizt ein 



Der Menschen verdunkelnde Masse! . . Lafit 
Einen iiber alle Erden! . . 

Doch freier will die Luft der Welt nicht werden. 

. . Und siehe, einer 

Steht hier und da auf Insein ein wenig reiner, 
Er wiihlt, die Wahrheit zu finden, nicht in der 
Andern Brust, 

Und doch nicht einsam ubrig, ihrer schmerzlich 
bewuflt. 

Erfuhlt die Nacht 

Nicht nur von Gott hereingebracht, 

Und nicht mit ferner Himmelshilfe zu ergriinden, 
Doch auch mit Holle niemals lichter zu entziinden. 

Auf Ebenen 

An meinem Mund riittelt der Sturm, 

Aus Ebenen zackt mein weiBer Mund, 

Schultern des Sturms schwingen Luft und Nichts, 
Mich trifft die Mitte seines Geistgesichts. 

Alb 

Der Turen stumme Karusselle schwenken 
Die Straften ins Cafe um, . , Wolken drehn 
Sich in den Rauch herum, . . die Sterne renken 
Sich in die dicken Birnen um, . . die Wiinsche 
stehn 

Auf Tischen nun . . . Es schwarzen Traume sich 
und Feen . . . 

Die Turen quirlen in der Brust mit unerbetenen 
Geschenken. 

. . Herein mit langcn Beinen tritt einmal ein Weib, 
Den diinncn Gang wie Messer biegend, 

Durch ihre Bluse starrt ihr knochiger Leib 
Wie aus zwei vorgequollenen Augen, hart und 
wiegend, 

Zu ihrer Freundin spricht sie . . wie zu mir . . 

mit blinzelndcm SchoR, . . 

Sie schickt an meinen Platz ihr steifes Fingern 
Wie einen Ring, die Lippen bauchen sich und 
schlingem, 

Nicht bose, haBlich nur und ahnungslos . . . 
Und Unruh tastet iiber meinen Leib . 

Es konnte eine Tiir des Chaos in mich geben, 
Und plotzlich iiberwaltigt miiBt ich irgend ein 
Weib 

Mit mir verschmelzen, alles Licht vergessen, mit 
ihr leben. 

See 

Der See erbleicht vom langen Starren ins Gesicht 
Des blauen Gottes, der er spiegeln muB! Wer 
spiegelt sein Gesicht? 

Die schwere Sonne, — nur ein Schatten, schlagt 

entzwei 

Die trocknen Ufer, — ihn verhartet sie zu Blei, 
So qualt dich Himmel! — aber stiirme! und es 

schwankt 

Das Bild der Ubermacht und sinkt, die Tiefe rankt 



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DIE AKTION 



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Sich an sich selbst empor, die hohle Woge schwillt 
Von sich! und schleudert an die Wolken jetzt 

ihr Bild. 

DUNKEL DES DENKENS 
Schlaf ein . . Erwach . . 

Dazwischen ragt die Welt 
Fur sich . .! 

Wie Turme wachsend „ . . Oder zart vielleicht 
wie Gras . . . 

Verworren . . . oder klares Glas . . . 

Du siehst es nicht . . 

Des Bettes weicher Riicken tragt 
(Dein willig Ding . . doch nicht dein Freund) 
Dich schimmernd durch die Fremde hin und 
schaut . . 

Und schweigt dich an, wenn Morgen graut. 

Und ruhst du nicht, 

Dann siehst du Sterne nur 

Den Tag zersplittert spiegeln, siehst 

Doch niemals, niemals, wie es sei, 

Wenn du nicht bist! siehst an der Nacht vorbei . . 

Du atmest Wald . . . Schlaf atmet auch, 

Du brennst wie Tag im Tagesbrand, 

Nachts richtcst du dich tagend auf . . . 

Ach ewig Sonnendunkel . . . 

Ein Tier ist suB 

Und spielt mit seinem Schwanz 
Und tanzt und nie zerreifit es sich . . . 

Doch du, nach deiner Stirae schlagen 
MuBt du, und Honig ihr versagen. 




VORSPIEL 

Von Alfred Wolfmstein 

Am Fenster seiner dunklen Stube ein Mensch, vor seinen 
Schultern erheben sich die knochigen Dachlinien zum 
Himmel, eine voll Dunkel gesogene Fahne steht 
zwischen noch roten Wolken; aufhorendes Qlocken- 
Iluten. 

Ewigkeit scheint zu Ende — 

Erstarrung greift iiber in mich — 

Mauern, von der kaltesten Glocke, die je- 
mals schallte, gebaut, — Mauern, mit feierlich 
krachendem Hammern kreuz und quer in den 
zuckenden Ather geschlagen ! — und abgebrochen ! 

— ja, einzig, einzig nur des h alb aufgebaut, um 
vom Erze der Waffen, gleich sinnlos wie Glocken, 
wieder abgerissen zu werden — : So auf und 
nieder windet sich nun blutaufwirbelnd die StraBe 
des Bosen zum Triumph. 

Grenzen! so Iange von stachligen Miindern, von 
Stimmbandern plump wie Faustknochel gemauert, 

— noch einmal schwingt ihr aus — — und 
verstummt, uberschritten nun von den Haltlosen, 
Armen, von den Volkern, die man trennte, dam it 
sie zusammenstoBen konnen. 

Ich aber, — den FuB zum Tanze der Freiheit 
erhoben, die auf Erden beginnen wollte, stehe nun 
beschamt und erstarrt. — 

Zwar ist mir das Schicksal guns tig, ich brauche 
mit keinem Schrei der Vers turn melung oder des 
Sieges zu diesem Opferfeste beizutragen — : 
Meine feme Heimat, der letzte Erdteil umgibt 
mich mit seiner Sudsee von Freiheit. Aber was 
ist dieser glatte Vorteil der Neutralist gegen 
die lunge grime wilde Freiheitsinsel, die wir uns 
gemeinsam erschaffen wollten, — ihr Versinken- 
den! 

Als ein Gespenst der Freiheit stehe ich da, — 
sehe nun den Krieg meine Luft von Gesichtern 
wie von Apfeln leer fressen — und tue nichts, 
kann nichts tun, flustere hier nur Fetzen der zer- 
storten Musik. 

Schwer wie ein Tornister liegt das Zimmer hinter 
m j r _ _ Konnte ich doch diese Tanzhaltung 

aus meinem Riicken brechen Aber es flu- 

stert: — mache doch Verse . . . Dichter, ver- 
gewaltige den Mund der armen dummen Stunde 
mit deinem Geschlecht . . . zu etwas Anderem 
bist du nicht gezwungen, im Krieg oder Frie- 
den . . . Suche deine Neue Welt auf, sonne dich, 
genieBe die Nacktheit. Lasse die Wilden dir ihre 
sanften Sudseemarchen erzahlen . . . von dem 
Madchen, das auf die Tannen floh, und als der 
Bedranger kam, wuchsen die Baume mit ihr in 
den Himmel . . . Hier inzwischen lass . . . 

Wie mich das Dunkel vergiftet! Aber kann ich 
etwa zu euch gehoren, von Waffen Beladene und 
Begeisterte? Triefend in Schnee erscheinen mir 
jetzt meine Feuerpalmen, — aber auch euer Tu- 
mult heute, in dieser neutralen Stadt, von alien 
Parteien Europas bewohnt, eure Kriegserklarung, 
schlagt wie ein Eismeer gegen mein Blut. Ihr 
wart schon furchterlich verandert, meine Freunde, 
jetzt nicht meine Feinde, — jetzt nichts! Gesichts- 
loses Gewimmel, das sich heute am Bahnhof so 




Rudolf Mentc 



Zeicknung 



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DIE AKTION 



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schnell den Riicken wandte, — wo die Bahnen 
alle Sprachen, Farben, Kuppelungen zerrissen, — 
um mit aller Macht, mit nichts als Macht vor eure 
Lander gespannt gegeneinander zuriickzuwalzen. 
Schauerlich, wie mir lauter Unbekannte zunickten, 
so daB ich mich vergeblich nach Erinnerungen 
umwandte, als gruflten sie einen anderen. 

Wie soil ich euch nun ansehen, wie gegen euch 
handeln? Ein neues Gefuhl beruhrt mich, es bildet 
ein neues wilderes Haupt auf meinen Schul- 
tern HaB gegen die Hassenden! 

Jener Kamerad, mit dem ich vor einigen Tagen 
durch den See schwamm, — zwischen wasser- 
glatten Fischen und landstumpfen Kahnen — wir 
beseelt! — aus unseren gleichen nackten Be- 
wegungen und dem Ausdruck unserer verschie- 
denen Gesichter, freudig einsam jn den Himmel 
getaucht, aus sofchem Obereinander von Tren- 
nung und Obereinstimmung stieg da uns beglei- 
tend die Musik klarster Menschlichkeit. Aber — 
stolz auf den gemeinsamen SchweiB im vollge- 
stopften Eisenbahnzug, mit einem platten Lacheln 
des Vordergrunds wie ein intimer Schauspieler, 
den Mund bereitwillig in diesen neben ihm groh- 
lenden Gesang gezerrt wie in ein uberall einiges 
leeres Loch, so winkte er heute der Menge zu, 
sinnlos verschmolzen! 

Ihr habt nur die Hoffnung niedergejubelt — . 
Warum laBt sich bloB die eine Seite eurer Seele 
blicken? Ich begreife es nicht, — moge Vater- 
landsliebe euch anziehen, eure ganze Wahrheit 
ist sie doch nicht, — weshalb treibt euch nicht 
das Entsetzen gleichzeitig ebensoweit aus ein a n- 
der? Seht die Vergeblichkeit, das Leben durch 
Mord zu vermehren, und die Unablosbarkeit jeder 
Schuld, — seid jung und gebt nicht den Landern 
die Macht uber die Menschen: So konnte es viel- 
leicht noch geschehen, — aus dem Beieinander 
von Burgerlichkeit und echtestem Schrecken, von 
BewuBtlosigkeit und unuberwindlichem Gewissen 
konnte Trauer statt Begeisterung aufsteigen — 
Gedanke, daB es noch Zeit ware! DaB solche 
Wolke Trauer, tiefe Trauer, wie sehr der Mensch 
sich vergessen konne, schwer wie Europa in euch 
zuruck sanke, euch wieder umstimmte — — 
Laut bin ich, ein stahlerner Geist klopft an die 
Wand, — wer bin ich, daB ich jetzt noch Fragen 
stellen darf. Fragen sind vorbei. 

Nein — Iauter, lauter will ich sein, hilft es auch 
nichts mehr. Fur mich, — hartnackig und kindlich 
nur noch fur mich selbst, im Trubel der Erwach- 
senen. MuB die Jug end, die am Leben eures 
Staates niemals teilhatte, nun den Tod von ihm 
erleiden? Die Jugend ertrauinte sich, wahrend 
ihr traumlos riistetet und traumlos schlieft, eine 
Insel, belachelt von den Wilden Europas, die 
keinem Staate auf Erden gehoren sollte. Eine 
feurige Insel, sprengkraftig von der Seele her! 
Nun wird sie versinken, die Zuflucht aller guten 
Geister, kaum mit den Ufern aus den Siimpfen 
hervorgetaucht. Die Mutter wenigstens trauem 
vielleicht, denn eure Kinder wurden von ihr vor 
allem erwartet. Vorbei an der Falltiir der Kafige, 
die vor eurem SchoB bestandig lauert, konnten 



sie einem freien Inselreich zugeboren werden. 
Nun behieltet ihr die Gezeichneten vielleicht lieber 
im Dunkel zuruck. 

— Was stachelst du dich mit Erinnerungen, rechne 
nun mit den Grenzen ! Mit den Fratzen, die sie 
einander schneiden, aus der Ewigkeit der Hori- 
zonte schnorkelig herausgeknotet. Sieh wie sie 
heranwimmeln, wundere dich nicht, sie kommen 
jetzt alle nur zu dir. Sie sind ja klein, nicht einmal 
Gefangnismauern, wuchtig gebauchte, du hast 
dich ja geirrt, sie sind nur St riche, abstrakt im 
Gehirne der Staaten, speiend auch leicht wieder 
ausgeloscht. Doch — nicht ganz — , wie Wiir- 
mer windet es sich zu mir heran, ein Knauel 
von alien Landern, wo ihr nun uberfliissig seid, 

— ein Turm von Wurmern um mich herum, 

— und mein FuB hat nun ein Recht, nicht mehr 

zu tanzen, das Recht des Gefangenen. Spater 
werdet ihr ja wieder abziehen, — euch entschul- 
digen, — neue Freiheit 

Aber ich werde es nicht vergessen konnen — 
O Ekel, Ekel — 

Es dringt in mich ein — Mich selbst durch- 
kreuzen sie, teilen mich selbst feindlich gegen mich 
auf, durchgrenzen mein Herz — 

Ich friere — gelahmt — — Aber sieh doch, du 
kannst ja durch alle Lander passieren, — ein 
unsichtbar machender Ring liegt an dir, du kannst 
durch Tod und Zwang hin und her gehen, nie- 
mand befiehlt dir, alles weicht zuruck, nur ein 
paar Blicke flustern: du bist reich, wir sind 
arm — — 

Ihr Liigner, ich hasse euch, laBt mich allein — 

— — Einsamkeit! Einsamkeit! 

Eine Gipfelwuste ragt herein — und winkt mir 
eisig — hinauf — — 

S t i m m e: 

Die Tiir stand weit often, wie ausgehoben, ich 
klopfte ins Dunkel, verzeihen Sie. Von meinem 
Berge herab komme ich geradeswegs zu Ihnen, 
nur von den vollgestauten StraBen etwas abge- 
lenkt. Auch die Einsamkeit ist jetzt schwarz von 
Menschen, in ihr zu bleiben hat keinen Sinn 
mehr, zumal man sie auch herabbringen kann. 
Der Jungling: 

Wie mein Spiegelbild kam es mir einen Augen- 
blick lang entgegen, als ich ein weiBes Gesicht 
leise aus dem Korridor auftauchen sah. 

Der Andere; 

Sie riechen den Schnee in meiner Haut. Auch im 
schwulsten August bestehen die Gletscher. — 
Aber ich finde Sie zu meiner Verwunderung trau- 
rig, wie Mutter von scheidenden Soldaten — ? 
Ist Ihnen denn jetzt nicht zumute, als seien Sie 
von einem anderen Stern? Sie schiitteln leise 
den Kopf, aber Ihr Stick verliert doch wieder den 
Glanz von Briiderlichkeit, den erst meine Frage 
kurz hereinbrachte — . 

Sie sehen mich hier, Ihnen Klarheit zu bringen — . 
Der Krieg stoBt Sie, den Dichter und den Mit- 
menschen, pendelnd zwischen schoner Ferne und 
jaher Teilnahme hin und her, — zwischen Ihrer 
leidenden und Ihrer tatigen Natur. Es ist nur 
schade, daB Sie eigentlich schon entschieden 



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haben, denn Sie wiegen sich allzu leidvoll und 
vertraulich auf Ihrem Zwiespalt hin und her. 
Wie ist es moglich, dafi Sie nicht die Tat wahlen? 
Verkunder des Menschentums — : immer dem 
Orte des schrecklichsten Aufruhrs sich zu- 
zuteilen, sind Sie ja als wahrer Mensch verpflich- 

tet — ; so sind Sie jetzt Europaer 

Der Jiingling: 

Die Stimme . . . weich . , . und abstoBend hart . . . 
macht mich schwindeln . . . Finsternis dehnt die 
leere Gestalt mit leeren Satzen in die Winkel aus- 
einander, die plotzlich atemlos zum bohrenden Fel- 
sen zusammenriickt. Wie aus der eigenen Kehle 
ruhrt mich die Stimme an . . . und ich mochte 
nicken ... da enthauptet sie mich . . . 

Der Andere: 

Du fiihlst, Du sollst Deine eigenen Schranken 
verlassen, aber es verwirrt Dich doch noch, dafi 
Du frei bist, — daB nicht Du sondern ich von 
Geburt zu diesem Chaos gehore. Nun, diese 
Schwierigkeit braucht uns nicht zu schrecken, ich 
werde Deine Seele und Deine Sache zu der mei- 
nen machen — 

Erinnerst Du Dich nicht mehr, was ich bei un- 
serer Begegnung vor meinem Blockhaus sagte? 
Der Jungling: 

Dies Gleiche, wie jetzt, daB ich aus der Ein- 
samkeit hinweggehen und die Menschen suchen 
solle . . . 

Der Andere: 

Ja, nur scheinst Du es miBzuverstehen. LaB es 
Dir naher zeigen. 

Gehst Du unter die Menschen nur, um sie zu 
lieben? Hast Du noch nie die StraBen aufge- 
sucht, weil Deine Wande Dir noch nicht ode 
genug waren? Mit hohnischem Blick, mit Wonne 
das dumme Gewimmel betrachten, die sinnlose 
Form menschlicher Gesichter, die Barte und 
Nasen, die Augen flach wie Porzellan, — und 
ungeschickte, zankische, langweilige Worte im 
Sumpf Deines feindlichen Lachelns abfangen, — 
das belebt uns neu! Sieh die HaBlichkeit der 
Dicke oder der Dunne, gleichviel: die Unmog- 
lichkeit, Dir zu gefallen, die roten Haare, den 
tolpatschigen oder leichten Gang, die Buckel oder 
die glatten geistreichen Stirnen, — alles findest 
Du gleich dumm, denn Du bist ihr Feind und 
zeigst es ihnen. Wie wird auch jedes Lacheln 
mit wegwerfendem Blick zerschlagen. Und eine 
sichere Haltung, den Stock unter den Achseln, 
wenigstens mit dem Ellbogen einmal anstoBen zu 
konnen ! 

Genug, denn so etwas darf Dich jetzt nicht mehr 
zufriedenstellen. Auch die machtlosen Kriimmun- 
gen der Grenzen vor uns zu betrachten, mit ver- 
schrankten Armen, auch dieser GenuB ist noch 
allzu dichterisch. Einen groBeren bringe ich Dir: 
den GenuB einer Tat! Die formaien Erhebungen 
der Seele waren gut und schon, erkenne aber 
endlich, ihre Zeit ist vorbei. Eisblumen liegen 
auf Deinen Lippen, nur gezwungen liefie sich 
Deine Seele jetzt zu Gedichten bewegen! Auch 
wird der Larm rings herum allzu groB. 

Aber verachte Deinen Mund, erhebe die Hand 



und die Tyrannei wird rings gedampft und 
Deine eigene Erstarrung bricht. Der Tanz Deiner 
alten Freiheit ist nur abgelaufen, es gilt ihn ge- 
waltiger zu erneuern. 

Der Jiingling: 

Wicder scheinen die dr6henden Worte mit feiner 
freundlicher Nahe zu enden . . . Aber ich weiB, 
es ist ein Keil, dessen Spitze klaffender in mich 
dringen wird. 

Diese Tat soil den Menschen feindlich sein . . . 
und will sie strafen . . . Wofiir? 

Der Andere: 

Ich strafe sie dafiir, daB ich dabin. 

Der Jiingling: 

. . . Fiir ihre Unvollkommenheit, glaube ich. Aber 
sind nicht Wenige nur, seltsam Wenige schuldig? 
DaB der Krieg ein dumpfer Aufwartsdrang der 
armsten Volker sei, ihre einzige bittere Moglich- 
keit, einmal im Leben mit den anderen in Be- 
riihrung zu kommen ... ich glaube es nicht. 
Sind sie nicht in Wahrheit die hilflos zuckenden 
Mittel derer, die einen Willen haben? die ihr 
nichts als Willen auftiirmen zu Eisen, Kasernen, 
Festungen, Harte und die Haufen gegeneinander 
schleudern . . . um zu sehen, was nach dem Zu- 
sammenkrachen iibrigbleibt . . . Die Massen der 
Menschen sind weich, Ehrgeiz beherrscht ihre 
Dammerung nicht, die schweren Quellen aus der 
Mitte der Erde durchflieBen sie noch breit . . . 
De r Andere: 

So kommst Du mir endlich entgegen ! Empfinde, 
wie unser HaB im Blut jener Schuldigen minde- 
stens, — jener Wenigen, sich die Hand reicht. 
Die Spitze meines Berges brach ich ab und stiirze 
liber die Rander mit Eis und Schneefohren und 
besitzlos wiitenden Stiirmen, mit den kalten Ar- 
men der Horizonte und Augen von blau und 
weiB gefarbt, und bringe die Lava der Gletscher 
herab, auf der Erde neu zu ergliihen, deren 
Inneres entgegenbrennt: 

Wo sind meine Briider, die Attentater? Sie wer- 
den nicht spurlos verschwunden sein, die Heere 
der Einzelnen, erzbereit vom Ursprung der Welt 
an, die Hande, die schwarz durch die Vorhange 
der Tyrannen stieBen, die Hollenmaschinen, 
magnetisch angezogen von Waffen — — 

Nun lass mich Dir niiherkommen, mit meinem 
groBen Plane, — den Wanden wachsen jetzt 
Ohren, feine, ungeheure, friiher nur eine dumme 
Redensart. Uber alle Lander verteilen wir die 
Genossen, — wir wissen ja und werden es immer 
neu erfahren, wen wir toten miissen — 

Und es zerplatze und hiipfe rings um den Krieg 
ein grelleres unerschopfliches Feuerwerk und be- 
strahle die Zeit und in aile Ewigkeit uns und - 
Was sind nun gegen dies Fest und Siidlicht der 
Tat — Deine Gedichte! 

Bis endlich die Volker sich allein gegeniiber- 
stehen. Mag es sich dann zeigen, ob Deine Mas- 
sen gutmiitig Versohnung feiern konnen, — oder 
ihre fuhrerlose Dummlieit sich dann nur unge- 
heurer zerfleischt und die Schopfung in W'iiste 
umkehrt. Was kummert Dich mein Wunsch, — 
bis dahin sind wir eins. Erst wollen wir die 




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Weft reif machen zu einem Entweder — oder, 
in dieser einzigen Zeit! Dann stehen wir uns 
allein gegenuber Darum komme ich ?u Dir. 

De r J tin gling: 

Ich weiche nicht ... ich fasse nur den furchter- 
lich geraden StoB halb in meiner Brust ... ich 
will fragen . . . Auch Jene sind Menschen . . . 

Der Andere: 

Hast Du vergessen, daB Du die Revolutionen 
besungen hast? Enthusiastische Totung, wie sie 
mir kaum der Krieg bringen wird — — . 1st die 
Barrikade ein Beichtstuhl? Deine bleichere Stirn 
fliistert, hier stecke ein tiefes Problem. Aber ich 
beseitige Gedanken wie die Gedichte. LaB die 
Wiiste Dein Blut reinigen, die herrliche Eiseinsam- 
keit, wo die Sonne geschlossenen Blickes aufstieg, 
wo ich blinkend liber die weiten Flachen starrte 
wie uber das WeiBe des eigenen Auges, die den 
Horizont zersagten, - von keinem Lebenden auf- 
gehalten, von keinem Gott im geoffneten Himmel. 
Die niemals umgestimmte, fur mich und fur sich 
ewige Wiiste! Sie stachle Dich gegen die Ent- 
tauschenden, gegen die Veranderlichen, die sich 
schlagen und vertragen Wie der Wclttei! zu- 
sieht, daB der Weltteil zerbricht und im Lande 
sich der Schonste mit dem Scheufilichsten ver- 
einigt, der Feindseligste mit dem VerhaBtesten, 
anstatt jeder gegen jeden zu kampfen! Warum 
haltst Du sie fu r Menschen? Ihre Eigenschaften, 
glaube mir, sind bloBer Schein, in ihnen sitzt 
weder HaB noch Freundschaft noch Zweifel, son- 
dern nichts! Wolltest Du niemals sehen, daB 
auch das Geld sie schon immer in seine Uni- 
form steckt, sie zusammenschweiBt und voll ein- 
miitigen Abscheus gegen die anderen, sich ebenso 
Liebenden fiihrt? Enttauschungen ! Enttauschun- 
gen! gedenke ihrer, der Briicken, die Du allzu 
oft von Horizont zu Horizont schlugst, — und 
sahst, scheinbar angelangt, ihre Enden nur ins 
Leere ragen! Denn der Mensch ist nicht da, -- 
nur sein Schicksal oder sein leerer Wille, die aus 
ihm machen, was gerade an der Ordnung ist. 
Das Gespenst kannst Du vernichten ! 

Der Jungling: 

Es ist wahr, alles wahr . - . aber Dein Gefiihrte 
bin ich nicht . . . nur Dein stummer Sklave . . . 
Und der Ton Deiner Stimme . . . macht mich 
zweifeln . . . und fast aufspringen und zur Ver- 
teidigung meine Arme vor sie breiten . . . Wenn 
Du es sagst, feindselig, ist es da noch wahr? 
Aber ich sehne mich nach Klarheit und gern 
und demiitig wiirde ich dem Gew'altigsten folgcn. 
Zeige mir Deine ganze Gewalt. 

Der Andere: 

Mit Dir kann ich sprechen, keine Wand trennt 
uns, keine Haut. Du kannst nicht andere gegen 
mich verteidigen wollen, denn ich bin Du. Hore 
vom gewaltigsten Triumph: 

Wenn die Einsamkeit siegt, — dann als letztes 
BewuStsein zu leben — ! 

Die Erde der Volker und Tiere ist bleich wie 
ein Mond — — 

Die Geister alle liegen als Sand da — — 



Mich zu denken als letztes BewuBtsein der 
Welt 

Alies in mich nehmend — — — 

Was ist Euer Wille zur Macht gegen die Ein- 
samkeit des Alls in mir! 

Kann ich dann jemals sterben, wenn ich alles 
bin - — — 

Aber ich spiire Dich zwischen meinen Knien 
flustern: 

„Wenn kein Haupt mehr da ist, Dich an- 
zuhoren, Dich anzusehen, — — konnte 
Dich dann nicht plotzlich der vergebliche 
Schmerz nach Menschen mit Liebe er- 

fullen?" 

Nur dann! nur dann! 

Der Jungling: 

So bist Du entlarvt! Auch Dein Geist, auch 
Deiner ist auf den Menschen gestellt, er ist Dein 
Wunsch, — nicht Du, der Mensch ist das Letzte 
auch fur Dich! Du kehrst zu ihm zuriick, seine 
Herrlichkeit ist grofier als die Deine, — Du 
wendest Dich nach dem Menschen um, — wenn 
es zu spat ist! Denn Du konntest ihn nicht be- 
leben, Du bist kein Schopfer. 

. . . Aber auch ich, freue ich mich vergebens? 
Bleibt Dein sterbendes Gift noch stark genug, daB 
ich mich nicht aufrichten kann . . . die Erde noch 

leer fur meine suchenden Finger? 

Stimme: 

Im Dunkeln . . .? (Licht flammt auf.) Und allein? 
Der Jungling: 

Du bist es . . . 

Die Frau: 

Und kniest am Boden? 

Der Jungling: 

Auf dem Grunde des Ozeans Flammende, Eis- 
fliisse nimm, lose auf . . . laB vom Gipfel in deine 
Tiefe springen . . . 

Die Frau: 

Heute bist du allein? Ich glaubte kaum daran, 
dich zu treffen. 

Der Jungling: 

Bleibe bei mir. 

Die Frau: 

Dein Mund ist so bleich, und biegt sich diinn wie 
geschliffen, deine Hand liegt daran, als hielte 
man eine Sichel! Weshalb so verzweifelt? Aber 
deine Wildheit sieht schon aus! 

Ja . . . ersetze die Zeit, die drauBen rast, sei 
stark zu mir wie die ganze Stadt! 

Der Jungling: 

Wer?. . . 

Voll Schnee gewirbelt durchknirschen mich meine 
Wege und sind es nicht mehr . . . Kannst du 
mir helfen? 

Warst du mein Freund, wenn deine ufervolle 
Bewegung durch mich ging? Ich war glucklich 
in deiner Umarmung, dachte ich — spater, — 
denn wer vermochte es zu denken, wahrend meine 
Brust uber alle Horizonte gewolbt untrennbar 
mit dir zusammenfiel ? 

O verzeih mir, daB ich warte, unsicher . . , Ein 
Geist iiberkam mich . . . er hat nicht gesiegt, 
nein, aber da er mich nicht zerteilen konnte, so 



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schiittelte er mich zusammen, ein kalter StoB 
im Davonfliegen triibt meine Seele milchig . . . 
Nun suche ich mich in dieser Auflosung. 

Aber hilfst du nicht etwa ihm? 

Die Frau: 

— Oder komm mit mir hinaus. 

Der Jiingling: 

Sei gut, denke dich in mich . . . Ich mochte 
mich sehen, so wahr wie Qott es sich wiinscht. 
Furchtbar ist der Schatten gewesen, den ich im 
Glas oder Eis von mir gespiegelt sah. 

Und deine Wogenflache . . . Spiegelt sie je? 
Weicht sie nicht und schlingt sich im Riicken um 
mich, daB ich versinke, unkenntlich? 

Kann deine Liebe nicht anders, nicht mensch- 
licher sein? 

Die Frau: 

Komm mit mir hinaus. 

Der Jiingling: 

Ich will niemand sehen. 

Die Frau: 

Wenn du die aufgeregten StraBen sehen wiirdest, 
wo man nicht auf Steine zu treten glaubt, die 
Hauser fahren wie Schiffe durcheinander, vor 
den Plakaten kreisen und schreien die Leute, 
Musik nirgends mehr, aber man denkt, von alien 
Seiten spiele Musik, trotzdem nicht unruhig — : 
aufregcnd! Die Menge bedruckt nicht, nur auf 
wenige Arten Gesichter schmilzt sie zusammen, 
Karusselle, die sich umeinander drehen, nur in 
verschiedener Richtung und anderem Tempo, die 
biederen Leute aus dem Lande, die verwirrt An- 
kommenden, die eilend Fortgerufenen. Der muf- 
fige Bahnhof voll Jugend und Umarmung, die 
schmutzigste Gasse in Stromung. Und doch 
komme ich zu dir, obwohl ich dich den gan- 
zen Krieg iiber haben kann . . . Aber deine 
Stehlampe ist anstrengend nach den funkelnden 
Augen. Und du liebst sonst das GroBe, Leiden- 
schaftliche! In uns ist jetzt die SudHchkeit ! Wie 
haltst du diese Stille aus, wenn ein Gewitter 
herrscht, das niemals wiederkommt. Ach, hin- 
reiBend, unerschopflich umschlingend sind die 
StraBen . . . es ist ganz gleich, dort, ob Freund- 
schaft oder Feindschaft . . . alles sucht sich nur 
stark und bezwingend zu zeigen, als wolle es 
nur erregen, nur reizen und lieben! 

Der J u n gl i ng: 

In das Zimmer starrt es herein, den Kopf schnei- 
dend in den Schultern, die Glaser blinken vor 
toten Augen, seine Hande steifen sich vor 
Freude . . . spaten Triumph hofft er noch zu 
feiern . . . einsamsten GenuB . . . einer Begattung 
beizuwohnen . . . 

Aber er laBt mich nur dir auf den Grund sehen. 
Nein, du machst mich nicht zufrieden. Ich will 
nicht bose zu dir sein . . . doch lau hinabzuschmel- 
zen in deine weite, aber alles einebnende, alles 
genieBende Liebe . . . ich, der MenschenbewuBte, 
wie in Algentiere, stohnende Muscheln, lichtlosc 
Erde verquollen zu liegen, fern von mir . . ist 
das nicht ebenso schlimm wie in Einsamkeit zu 
erstarren? . . . 



Die Frau: 

Du bist schwach, wunschst Gesellschaft und wie* 
der nicht. MuB man als Dichter in allem andem 
schwach sein? Warst du ein Soldat, du wiirdest 
jetzt wissen, was du tun sollst. Sei dir klar, 
niemand hat es von jetzt ab so schwer wie ein 
Dichter. Was kann man iiberhaupt jemals mit 
Worten erreichen? Die Dichter beherrschen die 
Sprache am besten, aber was ist sie gegen die 
Wiinsche, die man hat und sich oft erfullen kann, 
durch Liebe und Stillschweigen! 

An deiner Stelle wiirde ich Soldat! Es konnte 
dir vielleicht auch sehr gut stehen . . . Aber mit 
deiner Neutralist und Traurigkeit wirkst du jetzt 
beinahe wie eine Frau. 

De r J ii ngling: 

Echo einer Stimme . . .! 

Doch — du bist es ja nicht, nicht du kannst mir 
begegnen . . . auch nichts Ubermenschliches . . . 
auch nicht das Gute, das gibt es nicht . . , : aber 
der Gute miiBte sein... damit ich mit ihm 
leben kann. 

Hier herrscht die Sonne nicht mehr. Ein weiBes 
Licht schreit und schweigt im furchterlichen, von 
Menschen eingesetzten Theater, — aber es macht 
auch die Schatten und Winkel verschwinden. Und 

drauBen — — 

Stimme: 

Ich komme auf einen Augenblick. 

De r J tingling: 

Du — ? Ich glaubte dich nicht mehr da. 

Der Freund: 

Ich bleibe hter, fiir immer. 

Der Jiingling: 

Du gehst nicht in dein Land? 

Der Freund: 

Mein Land ist eine Ursache des Krieges. — 
Aber ich helfe diesem neutralen Volk. 

Der Jiingling: 

Seltsam ist es — 

Der Freund: 

Glaube nicht, daB ich es betone. Nur mein erstes 
Gefiihl! aber ich folge ihm wie einem Fiihrer. 
Mein Geist — hat zugleich einen Korper! Mein 
Geist sinkt aus meinem Kopf heraus, wenn nicht 
beide von einer Sache aufrechterhalten werden, 
und ware es die kleinste. 

Emporung ist auch ein Schwingen meiner Arme! 
Darum kann ich dem Kriege nicht ausweichen. 
Allzu notwendig fuhle ich meine Gestalt. 

Sie ist die Form der Erde, und mit ihr begegne 
ich der Erde! 

Lachelnd bin ich soeben an den Milizsoldaten 
entlanggegangen, wie sie sorgsam ihr relativ gutes 
Gewissen schultern, und will mit ihnen dies Land 
vor alien anderen schiitzen. 

Der Jiingling: 

Nicht dies finde ich seltsam. Du bist da! Du 
belebst mit mir die Welt — Ich sehe, daB deine 
Augen, Mitgeist, die meinen sehen. Deine Hand 
driickt sich test in meine und hebt mich doch 
nicht auf! Wie dein Mund mich befeuert, nicht 
befiihlt, deine Stirn nicht weichlich verschwindet, 
wenn sie mich denkt! 



DIE AKTION 



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Das ist herrlich, sich nicht fremd zu sein und 
doch nicht derselbe; ein Wald von gegenseitigem 
Wachstum zu sein. Der gleiche gute Boden laBt 
un$ durch parallel geschiedene AtherstraBen auf- 
wartsschieBen, die sich erst leuchtend im Unend- 
lichen schneiden! Von dort zuckt Feuer mitein- 
ander vertauscht und beschwingend in un$ bis 
zur Erde zuruck. 

Ja, Einsamkeit, da alle Welt in mich einschrumpft, 
— Begattung, die haltlos mich selbst in sich ein- 
saugt, beide laBt ihr vom Geist nicht viel iibrig. 
Aber du, Freundschaft, verbrennst mich wie die 
Sonne ! 

Ich sehe es dir an — — — Aber du muBtest 
noch wirklich zu mir treten. Klaffend wie der 
Raum zwischen dem unsichtbaren Meer der Un- 
geborenen und der unsichtbaren Todesebene auf 
der anderen Seite, — groB wie die lebendige 
Stadt, die dazwischenragt, unsagbar verschieden 
ist es, ob ich dich, Mitmenschen, nur denke oder 
du sichtbar vor mir erscheinst. 

Jetzt bin auch ich wieder ein Stern wie du, ein- 
ander erhellend, jeder als einzige Welt. 

Noch einen Augenblick, — unsere Stirnen er- 
scheinen im Weltraum der Freundschaft. 

Leb wohl 



Mir ist frei wie einem Wald, in dem seine Holz- 
faller tot liegen. 
jetzt anders allein ! 

Wenn ich jetzt das Licht auslosche, wird das 
Dunkel von mir abprallen, meine Hande greifen 
nicht nach mir, das Bild des Weibes bleibt an 
der Wand. 

Ich hore noch einen dunnen Wurm die Worte 
pochen: Der Starke ist am machtigsten allein — 
O die Starke des Machtigen — ! 

Aber die Starke des Schopfers ist nicht allein! 
er . . . von den Menschen bewohnt . . . und am 
dichtesten, wenn er allein ist . . fur sie, fur 
das Werk fur sie. Allein unter Gott . . . aber 
Gott ist nicht nur ein Mensch! 

Dies sollte mir genommen und entehrt werden: 
das Wort, — dies erschaffende Alleinsein der 
Dichtung! Dem Krieg soil die Gelegenheit nun 
geiingen, die Jahrtausende lang erlauerte: den 
Geist in das Nichts hiniiberzuziehen ! 

Aber auch jetzt werden die Wahrhaften frei blei- 
ben! Zu ihnen spricht die Dichtung zuerst, denn 
zur Kunst kann man niemanden zwingen. 

Aber der Mund, der von Freundschaft weiB, wird 
bald hallender sprechen! Freiheit! Freiheit! Zur 
neuen Welt und zur Jugend der alten. 

Geist der Freundschaft, gehe und rufe das neue 
All auf. 

(Ende des Vorspiels) 



ANDANTE DER FREUNDSCHAFT 
Du bisf es . . I Und ich schlieBe schon 
Wie gern mein Buch, den geisterblassen Ton, 
Mein Zimmer auch, das schwer durch rauchte, 
Von alizuviel Verkorperung gebauchte. 



Die Strafte schallt und schwingt in unserm Oange 
Wie eines Vogels enge Stange, 

Wenn ihn ein Menschenmund zum Singen bringt. 
Der Sternenhimmel wie entgittert winkt. 

Den Schritten offnet endlos sich die Nacht, 

Zur Hohe endlos ragt der Hauser Macht, 

Die endlos tief in Baume sinken, 

Die Blatter, wie Gestirn und Fenster, blinken. 

Die Wiesen wolben sich, ein Himmel 
Der Erde, bunt ins Horizontgewimmel, 

Weit bliiht das Dunkel auf, Sehn uber Sehn . . . 
Und dennoch mit der Erde FiiBen gehn. 

O Schrei, der mich in Not befiel: 

„Grenzen der Welt, macht auf!“ O jenseits ist 
kein Ziel! 

Was sucht ich endlos irrer Leere zu! 

Die weitere Welt, o Freund, bist Dul 

So fahre, Ather, hin alleine, 

Venus und Mars und Jupiter sind Scheme. 

Hier kreist ein Stern nicht nach Gesetzen fest, 
An dessen freies Reich sich fliegen laBt. 

Du Dunkel, das ich nie durchbrach: 

Hier kommt ein Nachklang zu mir, den er sprach, 
Hier regt das Dunkel selbst die Lippen, sendet 
die Hand den Briidern, stirngeblendet. 

Stark zuckt der Strom hindurch, . . wir horen 
Die Vielen, die in gleichen Ganges Choren 
Nun dasind, und die schwere Erde weihn 
In ihre klaren Takte ein. 

Und unser Schritt stellt pfeilerhaft 
Zahllose Dome vor uns auf , . und rafft 
Sie weg. Denn wir sind luftiges Werden, 

Des groBen Geistes Kolonie auf Erden. 

O daB er in das Chaos nicht nur Einen 
Pflanzte . wie fiihlen wir's! Und Lachen, 
Weinen 

Nicht fur die Wiiste stromen laBt, 

Und uferlosen Ruf in Ohren faBt. 

Der nah in weites Geisiesmeer 
Miinde . wie rufen wir J s! DaB unser Mehr 
kein Zufall ist, . . ein Tanz auf vollem Balle . 
Wie schlagen's unsre Herzen alle! 

Von feinem Schlage donnem unsre Bruste, 

Und unsres Saaies zweifclhaft Geruste 
Zertanzen wie auf Gipfelspitzen wir, 

Ein Jeder stark von sich . . und dir und dir. 

Denn uber aller Freude . . Kraft! 

Wie zwischen Sternen sich der Himmel strafft, 
Wolbt Freundschaft . . Tat! wolbt iiber uns die 
Tat, 

Haucht immer neuen Stern den Pfad. 

So dehnt sich Raum der Welt, durch euch 
gefiihrt . . . 

Entladet euren Raum der Geister . riihrt 
Einander an . . und Licht springt immer weiter 
Aus euch hervor, ihr Gluthaupt tragenden 
Schreiter. 

Alfred Wolfenstein 





309 



DIE AKTION 



310 



DURCH DIE SCHWARZE DER ERDE 

Von Alfred Wolfenstein 

I hr geht auch an des Sternes dustren Stellen 
harmlos hin t 

AIs seien’s Fenster und man hat das Licht darin 

Nur ausgemachi. AIs seien’s Augen seelenguter 
Nacht. 

Doch hinter euch durchhallt ein andrer Schritt 
die Nacht, 

Der plotzlich abbiegt, . * denn ein alter Wald 
steht vor ihm da. 

Wo eure lustige Menge bloB schlafende Hauser 
sah. 

Den Andem schluckt die Erde ein und schwarzes 
Meer, 

Ihn schleudem abenteuerlich Sterne kreuz und 
quer, 

Finsternis verschlingt die blaue Wiederkehr. 

Durch unterirdische Fliisse schwimmt er heillos, 
... wo die Stadt 

Noch ihre hell durchfahrenen Tunnel legt, be- 
grenzt und glatt, 

Sie klingeln hin und lcehren leuchtend wieder um 
zur Stadt. 

Er aber reiBt geschaftige StraBen zu sich nieder 
in den Orund 

Der Schwerkraft! eckige Marsche der Hauser und 
Heere schmilzt er rundl 

Die kunstlich erhellten Herzen verloschen in sei- 
nem zermalmenden Mund! 

Und dann erst, , . unten die Strome durchrie- 
seln sein Blut, 

. . Er sturmgetaut, er Dunklem und Schwerem 
gut 

Geht krachend dann erst auf, und wirbelt nun 
von Glut! 




Waldemar Ohly 



Maske 



ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS 
XLIX 



Der Mordprozess Friedrich Adler. 

Von unserem Son derberichicrsi after 
Dr. Leo Ledercr, 

L. Wien, Mute Mm. 
Der Schriftsteller Dr. Friedrich Adler, 38 Jahre alt, gehoren 
in Wien, konfessionstos verheiratct, hat am 2t. Oktober 1916 
gegen den Ministerprasidenten Dr. Karl Graf Sttlrgkh in der 
Absicht ihn zu loten, durch Abgabe mehrerer Revolverschiisse 
in hei mttic kiacher Weise auf cine solche Art gehandelt, 
dass dessen Tod darauf erfolgen muflte Dr. Friedrich Adler 
ist am Tatort selbst verhaftet worden, die Gutachten der Psych i 
ater haben seine Zurechnungsfahigkeit erwiesen. Seine ErklS- 
rung er habe den Mord aus polttischen GrUnden began gen, 
lfcsst seine Tat nicht weniger verwerflich erschetnen. Die 
^Propaganda der Tat" wird in der menschlichen Gesellschaft 
niemals Duldung finden kbnnen. Es kann keinem Zweifel 
unterliegen, daO Dr. Friedrich Adler wegen Meuchelmordes 
nach § 136 des Strafgesetxbuches zu bestrafen ist. Das enthebt 
den Gerichtshof gleichwohl nicht der Aufgabe, sich mit den 
Beweggrttnden seiner Tat zu befassen, zu untersuchen, aus 
welchen Quellen jener Wille str&mte, der die drei lodlichen 
Revolverkugeln nach dem Haupt des Ministerprffsidenten lenkte. 

_ Berliner Tagcblatt‘\ Chefredakteur Theodor 
Wolff, Morgen- Ausgabe Sonnabend, den 19. Mai 
1917. Das Zitierte ( die Worte „ heimtiickiseher * 
und „men8chlichsn te habe ieh unter stricken , nicht 
Herr Lcdercr) ist auf der selben Seite abgedruckt, 
die den ausfdhrtichen Vcrhandlungibericht bring t. 

Nach Verlesung der Anklageschrift ersucht der President den 
Angeklagten Adler, vorzutreten. 

Der Pr£sident fragt: ,,Bekennen Sie sich schuldig?'* 

Adler antwortct mit erhobener Stimme: ,,Ich bin schuldig in 
demselben Masse wie jeder Offizier. der getfitet hat oder den 
Auftrag zum Toten gegeben bat, nicht mehr und nicht weniger." 

Aus dem in alien burgerlicken B Id t tern vom 19. Mai 
gleichlautend wiedergegebenen Bericht uber den 
Bsginn der Verhandfung , 

Wien, 20. Mai. 

Der Prozess gegen Dr. Friedrich Adler endcte, wie gemeldet, 
mit dessen Verurteilung zum Tode. Adler nabm das Urteil 
gefafit entgegen. 

Nach den Plaidoyrs des Staats&nwalts und des Verteidigers er- 
bat sich 

der Angeklagte Adler noch einmal das Wort: 

„Ich weiO, welches Urteil meiner harrt. Ich werde aus diesem 
Saale gehen nach dem Urteil, in dem Geiste unserer alien 
Hymne, die ftir mich nicht Worte sind, aondern Evangeliura: 
„Nicht z&hten wir die Feinde, nicht die Gefahren all*, und 
wSr’s zum Tod, denn unare Fahn’ ist rot." Ich weiB nicht, 
ob ich bald slerbe, oder ob das Scbicksal mich zu endlosem 
Vegetieren verurteilt. Aber wenn es ernst wird mit dem Sterben, 
dann habe ich nur den einen Wunsch, dafi ich meine Nerren 
und Stnne so zusammenhalte bis zu jenem letzten Augenblick." 
Adler las dann von einem Notizblatt tiefbewegt mit zitternder 
Stimme folgendes: „Und wenn ich jetzl Abschied nehme von 
alien, die ich geliebt habe und deren Liebe mein Glttck ge- 
wesen ist, von alien Freunden und Kampfgenossen in alien 
Teilen der Welt, dann erinnere ich sie zum Abscbied und zum 
Trost an die Tiefe und die Reinheit des Ostergrufles: ,, Nicht 
alle sind tot, die hegr&ben sind, denn sie tbten den Geist nicht, 
ihr Brttder. M 

Nach viertelsltlndiger Beratung erschien der Gerichtshof wieder 
im Saal. Der President vcrkttndete das Urteil, In der 

BegrQndung des Urteils 

fahrte der Vorsitzende aus, der Gerichtshof sei zu der Ober~ 
zeugung gelangt, dafl die Tat des Angeklagten die TaL eines 
einzelnen Fanatikers gewesen sei. Was das Motiv der Tat an- 
langt, hat der Gerichtshof von vornherein jene Motive ala 
richtig angenommen, die der Angeklagte selbst mnge- 
geben hat. 

„ Berliner TogtblatV 1 } Morgenausgabt 21. 5. 1917. 

Der Prozess Adler. 

Jeder dsterreichische Sozialdemokrat sah vor dem Kriege in 
Deutschland das Vaterland der internationalen Sozialdemokrat ie, 










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311 



DIE AKTION 



312 



da* Land seiner Vorbilder, den Hort seiner HofTnungen. Alt 
sich in den ersten Augusttagen des Jahrcs 1914 von alien Seiten 
die Un wetter iiisammeniogen, gall die Sorge vielcr osterreichi- 
scher Genossen vielleicht mehr noch deni Nachbarhaus als dem 
eigenen. Sie beteten nicht zu den Gotiern der Alldcutschcn, 
mit denen sie vielmehr in heftigs’em Kampfe lagen, aber sie 
liebten das Land der Marx und Lassalle, der Rebel und Lieb- 
Itnecht, der starksien Organisations und der glanzendsien 
Wahlerfulge. Dieses Land sollte nicht zugrunde gehen! 

So billigten es die Oaterreicbischen Genossen durchaus, dafi die 
deutschen Sonaldemokraten sich am 4. August lilr die Vertei- 
digung des Reiches erkiarten, und die ,, Wiener Arbeiierzeitung* 1 
feierte diese Abstimmung in einem begeisterten Aritkel als den 
Tag des deutschen Volkes 

Friedrich Adler war wahrend des Kriegcs semen Weg allein 
gegangen. Er sab die Dinge mit anderen Augen als die osier- 
retchiscben Genossen, und das Starke Geffihl fUr die gesihicht- 
liche Not wendigkeit des Verteidigungskampfes, das sie erf til 1 te , 
war seiner Seele fremd Er sah nur das Unheil des Kriegcs 
nnd das Elend der osteireichischen Zustande . » . Er hat zwei 
Tage Ung gegen einen Vater, den er liebt, und gegen seinen 
Anwalt, den Verteidiger ib unzahligen Prozessen, in denen die 
osterreichischen Genossen das Gegenteil von Feigheit bewiesen, 
un sein Recht auf den Gal gen (1m Original gesperrt ge- 
drucki) gekampft Und es ist wahrlich nicht j.Herostraien"- 
noch sonstiger Kuhm, den dieser bescheidene Mensch dabei 
sucht, sondern er will nichts anderes, als durch seinen Opfer- 
tod den Beweis erbringen, dafi etne grofie Idee wichtiger ist 
als ein einzelner Mensch, ,,Ob wahrend des Krieges in Oster* 
reich ein Mensch mehr oder weniger aufgehangt wird, hat keine 
Bedeutung . . . Ich habe ein Bekenmnis zur Gewalt abgelegt.* 1 
Hier ist der Punkt, wo sich die Geister scheiden. Diedeutsche 
Sozialdemokratte .... 

Aus dem Leitartikei des ,, Vortrarts" vom SO. Mai 
1917 . In diesem Artikel wird wimer von Fritx 
Adler gesprochtn; ich habe , aus Orunden des Qe- 
fuhls, den Fthlcr beseitigt. 

KLEINER BRIEFKASTEN 

O. St. Die Freundschaft von roanchen Leuten ist wie unser 
Schatten, welcher stets in unserer NShe ist, solange wir in der 
Sonne gehen, aber verschwindet, sobald wir ins Dunkel ge- 
langen, sagt ein englisches Sprichwort. 

H. B. in R. Ich kann nur den Satz wiederholen. mit dem ich 
meine Registrier- Arbeit „Ich schneide die Zeit aus“ einleilete : 
Me ine Antworten waren, bevor diese Zeit mir ihre Fragen 
ftteHte. Sie wollen nun horen, was ich zur n Unabhangigen 
Sozialdemokratie“ sage? Imjahrgang II der AKTION, am 1. Mai 
19x2. schrieb ich dieses: 

DIE HAASEATEN 
I 

Der sozi al demokrati sche Parlament wed ner Haase ist unter den 
Radikalisten seiner Partei ungefahr der Gipfel, Kein Bebel; 
kein hi nrei Bender, selbstiindiger Geist ; keine aufragendc Perstin- 
lichkeit; eher ein Temperament aus politischer Unklarheit ; eher 
ein Cbarakter aus Eigensinn. Innerhalb der Fortschriulichen 
Volkspartei hatte dieser Konigsbcrger Advokat vielleichl mtihelos 
den Kadikalismus eines Mtlller Meiningen produzicren konnen; 
zum sozialistischen Revolutionar. den er jetzt agiert, fehlt ihm 
beioah alles. Man muB Herrn Haase erlcbt haben, wenn er 
auf Parteitagen die starre Unentwegtheit marxistischer Onhodoxie 
gegen revisonistische Diplomaienkiinste veneidigte, wenn er 
mit stotternden Gesten und schriller Slimme dem revolutionaren 
Prinzip beisprang, wenn er dem gefahrlicheren (well intelligen- 
teren) Doktor Frank entgegentrat ! Nie hat eine gute Snche 
einen schlechteren Vertreter gehabt. Rosa Luxemburg hat, in 
Jena, einem Haufen boswilliger Anderswoller gegenilber sich 
Gehbr zu verschaffen gewuBt : das Geliichter derer um Kolb 
verkroch sich unbeholfen, als diese Frau, die auf dem Podium 



gitnz Leiclenschafi, ganz Idealismtis, ganz Feuer ist, als diese 
Sozialistin ihre Wortc in den Saal schlittete. 

Herr Haase ist auch in den Momenten bewegtester Hande der 
Advokat vor der Zi v ilka miner. 

II 

lmmerhin : wir hahen in Haase den Reprasentanten des radikalen 
FlUgels zu seiien und nicht in Rosa Luxemburg . 

( 1 111 Abschnitt ill beklopfie ich, wie sich die Haasealen im 
Reichstag bei deu iJebaitcu (lber die „ Wehrvorlage“ benommen 
haiten. Und ich schloss meine Krltik wbrllich:} 

IV 

Nein, die deutsche bozialdemokratie ist keine Garantie des 
Wellfriedens. 

. . Habcn sich die Haascaten schon dadurch einen besscren Ruf 
verdient, dafi sie sich aus der Scheidemann-Gcmeinschaft drangen 
lie2en' Ich kann’s nicht zugeben. Sie selbst flatten es vorgezogen, 
dnn zu bleiben; „Etnigkett w fiber alles. Und sie werden 
wieder zusammen kommen: das Wasser (zwischen Kautsky, 
Haase, Henke etc. und dem wahren Sozialismus) ist viel zu 
tief . . . 

Lieber Leser, das Pfingstfest war bisher der liberalen Presse ein 
Anlafi, Pasioren als Leiiartikler vorzuftlhrcn. In diesem J&hre 
versagte unser r B. T.“. Keinen Pastor zu Pfingsten; und in der 
Ausgabe von Sonnabend, den 26. Mai, diese denkwfirdige Notiz; 

„Forlfall des Kirtihenzetiels. Nach einem Beschlufi der 
,Vereinigung groOstadtischer Zeilungsverleger“, der durch 
die gegen wiinige Papierknappheit veranlafit wurde, nehmen 
wir m Uebereinstimmung mit den der Verelnigung an- 
geschlossenen Zi*iumgen von einer Verfiffentlichung des 
Ktrchenzettels vorlSuhg Abstand.** 

Das mit der Papierknappheit kann leicht als Vorwand enthUllt 
werden: man versuche, den Kirchenzettel als Inserat ins Tage- 
blatt und in die anderen Papicre zu bringen; es wird glalt ge* 
lingen. (Von Papierknappheit zu reden und dann den Roda- 
Roda-Koda zu drucken, ist ein Witz fur sich.) . . Also das 
Mosseblait ohne Pfingspredigt, — doch nicht verzagent — : der 
^Vorwarts" hat sich gleich zwei Pasioren ffir seine Pfingstaus- 
gabc gcleistet : Stampter, ohne Kanzel, und Herrn Pastor em, 
H. Tech, dessen Leiianikel also ausklingt: 

w Die Orthodoxie des Verfassers dieser Zeilen wird 
niemand in Zweifel 2iehen, hoffentlich auch nicht seinen 
Pair lotismus 1 “ 

Freunde, eine gme Nachricht: Seit den Maitagen 1917 gibt 
Ludwig Rubincr in der Schweiz eine Zeitschrift heraus, „Zeit- 
Echo“, die ich dringrndempfehle. (Zeit*Echo Verlag Benteli A.*G., 
P.fimpl itz B«'rn ; Einzelheft 5° Pfg , durch jede Ruchhandlung.) 
Freunde? DAS AKTIONbBUCH ist nun an alle Besteller ex- 
pediert worden. Wer Nachbestellungen zu machen wUnscht, tue 
es sofort. denn die Auflage ist fast vergriffen! Das Werk kostet 
drei Mark (352 Seiten mu Beitragen von mehr als 140 AKTIONS- 
Autoren). Zweihundert Exemplare sind in Halhpergament 
gebunden, handschrifilich numerierl und sigaien, zum Preise 
von M 0. — erschienen. Auch diese Ausgabe ist nahezu ver- 
griffen. 

BEMFRKUNG ZU DIESEM WOLFE NSTEIN-H EFT : Es 

wird erganzl durch das, was frtihere Heftc (seit 1912) von Alfred 
Wo 1 ten stein grbracht haben und was kommende Helte von ihm 
bringen werden. Dann durch das Versbuch „ Die gottlosen 
Jahre“. das S. Fischer verlegt hat. Schliefilich durch den Woi fen- 
’slem des AKTIONS RUCHES. Ich schStze in Alfred Wolfen* 
stein den treuen Kameraden und deu Dichter. Ein Nachwort 
zu diesem Heft (von Ludwig Rubiner) bringt die nSchste Nummer, 
so die Post will. 

AN DIE ROTTEN -A BONN ENTEN. Diesem Sonderheft liegt 
eine Original Lithograph ie von Felix M filler- Dresden bei, vom 
Kitnsib-r signiert. 



INHALT DER VORIGEN NUMMER: Richter-Berlin: Origiiial-Holzschnitt (Titelbbtt) t Charles Peguy: Clemenceau / Kurt 
Pinthus: Uber Kritik / Carl Einstein: Gedenken des Andre Derain / Armin T. Wegner: Die Ertrunkenen / Josef Capek 
(Prag); Original-Holzschnitt / Herbert Kiihn: Die Tage fallen ab / Charlotte Woliltnulh : Gedicht / Colestina Tucher: 
jMondnacht Paul Hatvani; Fests'ellung / Heinrich Hoerle: Uber Kubismus / Wilhelm Schuler: Hirsche (Original-Holz- 
schnift) / Wf/helm Stolzenburg (New York): Westwarts / H. von Rebay: Linoleums.hnitt / Simon Kronberg: Rabbi Chasan. 
Ein Stuck Prosa / Eranz Werfel: Theologie. Eine Erzahlung / Christian Schad: Portrat / W. E. Burckhardt Du Bois: Die 
Utanei von Atlanta (Deutsch von Arthur Holitscher) / Marg. Moll: Portrat / Literarische Neuerscheimingen / F. P.: Ich 

schneide die Zeit aus; Kleiner Brief kasten 



Fur Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten 
Inhalt verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin- Wil- 
mersdorf, Nassauische StraBe 17. Tel. Pfalzbg. 1605. 
Oedruckt bei F. E. Haag, Melle in Hannover. 
Die AKTION erscheint jeden Sonnabend. Abonne* 
ments kosten vierteljahrlich durch die Post, durch 
Buchhandel oder Verlag (unter Kreuzb.) M. 2,50. 
Abonnements fflr das Ausland kosten M. 3—. 
Buttenausg., 1 00 numerierte Exempt., jahrl. M. 40, — . 
Verlag der AKTION, Berlin-Wilmersdorf. 

Unverlangten Manuskripten 
ist Ruck porto beizufugen. 

Alle Rechte vorbehalten. 




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WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR, KUNST 
YU. JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERTNR H 

SONDERHEFT JOSEF CAPEK. INHALT: JOSEF CAPEK: MADONNA (TITELBLATTZEICHNUNO) / ALEXEI KOLZOW: 

Russischc Volkslieder / Theodor Lessing: Europa und Asien / Josef Capek: Medusa (Zeichnung) / Arthur Holitscher: Die 
Russin / Josef Capek: Frauen torso (Chnginal-Holzschnitt) / Georg Gretor: Zweiter A KT IONS* Brief aus der Schweiz / Carl 
Einstein: Negerlieder / Edief KSppen, Maximilian Rosenberg, Wilhelm Klemm, Ludwig Baumer und Rudolf Hartig: Verse 
vom Schlachtfeld / Josef Capek: Frauen port rit (Holzschnitt) / Rudolf von Kapri: Bei Brixen / Josef Capek: Das Madchen 
(Holzschnitt) / Heinrich Stadelmann-Ringen : Das neue Drama / Josef Capek: Frauenportrftt (Federzeichnung) / Heinrich Schaefer: 
Hoch sich windende Ranke /Josef Capek: Zwei M&nnerportr&ts (Holzschnitte) / Fr. Tucny: Zu diesem Josef Capek~Hcft / Lud- 
wig Rttbiner: Uber Alfred wolfenstein ; F. P.: Ich schneide die Zeit aus; Kleiner Briefkasten / Beilage der Butten- Ausgabe : 

Capek: Original-Stemdruek 




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DER AKTION 

„Neue Secession* / Richter-Berlin / Schmidt- RotilufF / 
K. J Hinch / Han* Richter / Wilhelm Morgner / Egon 
Schiele / Georg Tappert / Else von zur Mtfhlen / lnes 

Wetzel / Felix Muller 



DICHTER 

DER 



Franz Blei / Gottfried Kdlwel / Alfred Lichtenstein / 
Paris von Gutertloh / Heinrich Schaefer / Theodor Diubler 
/ Paul Adler / Franz Werfel / Ludwig Rubiner 

SONDERHEFTE „DIE VOLKER" 

,RuBland u (mit Geleitwortrn von Maximilian Harden) / 
„ England* 1 / „Frankreich“ / n Belgien“ / „Italien“ / Boh* 

men u / n Deutschland u 

Jedes Sonderheft, gewohnliche Ausgabe, 
kostet 50 Pf. — Biitten, numeriert, M.2, — 



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100 numerierte Exemplare 
Jahresabonnement : M. 40 

Jedem BUttenabonnement werden jkhrlich mindestenz 
achl KunstbUtler beigegeben, von den KUnstlern nume- 
riert und signiert. Diese Beilagen kommen nicht in den 
Handel und stellen einen Wert dar, der den Abonne- 
memsbetrag Ubersteigtl Im J&hrgang 1917 werden 
beigegeben: Blatter von Felix Muller / Max Oppenheimer / 
Inez Wetzel / Karl Jakob Hirsch / Richter-Berlin u a. 



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Zeichnungtn von Mopp / Kars / Schmid t-Rottluff/Schrimpf 
/ Klein / Richter-Berlin / Nadelman / Feininger / Harta / 
Schiele / Mense / Melzer / Tappert / Else von zur 
Mtthlen / Hans Richter / Josef Capek / Morgner u. a. 

100 Stuck M. 3, — 

portofrci gegen Voreinsendung des Betrages 







WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR. KUNST 

7. JAHRGANG HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT 16.JUNI 1917 



GEDICHTE 
Von Alexei Kolzow 
Der Mensch 

A lies, was der Herr geschaffen, 

1st so herrlich und so gut, 

Doch herrlicher als der Mensch 
1st nichts auf dem Erdenrunde. 

Bald mag er sich setber hassen, 

Halt sich bald fur wert und gut, 
Liebt, entliebt sich, fur ein Weilchen 
Leben bangt er ohne Mut; 

Gibt er Freiheit seinen Wiinschen 
Trankt die Erde er mit Blut; 

Gibt er Willen seinem Wollen 
Baumt sich unter ihm die Flut. 

Doch verandert er sein Streben, 

Fullt mit Liebe sich sein Geist, 

Lischt vor seiner Schonheit jede 
Andere noch so heile Glut. 

Lied 

Singe, Nachtigall, nicht 
Unterm Fenster mein, 

Fliege fort nach dem Wald 
Meines Heimatlands, 

Werd dem Fenster Du hold 
Meines Magdeleins, 

Flote zartlich ihr 2U, 

Wie mir dd zu Mut, 

Wie ich feme von ihr 
Werde vvelk und durr, 

Wie auf Steppen das Gras 
Vor dem Herbst verdorrt, 

Ohne sie ist mir nachts 
Gar der Mondschein blind, 

Geht mir Tags ohne Glut 
Gar die Sonne hin, 

Ohne sie, ach, wer nimmt 
Mich noch freundlich auf, 

Wessen Brust gibt dem Haupt 
Eine Ruhestatt? 

Ohne sie, wessen Wort, 

Das mich lacheln macht, 

Welches Lied, welcher GruB, 

Der zum Herzen spricht? 



Warum, Nachtigall, singst 
Du am Fenster mein, 

Fliege fort, fort zu ihr, 

Meinem Herzensschatz! 

Rausche nicht, Du Korn 
Rausche nicht, Du Korn, 

Mit der reifen Frucht, 

Singe, Schnitter, nicht 
Von der Steppe breit, 

Frommt mir doch zu nichts, 
DaB mein Gut ich mehr, 
Frommt mir doch zu nichts, 
DaB ich reicher werd. 

Sammeln mocht der Bursch, 
Sammeln schvveres Gut, 

Nicht zur eigenen Lust, 

Seinem Herzensschatz, 

Lieblich war mir da, 

In ihr Auge schaun, 

Ihre Augen, drin 
Stille Liebe sann. 

Doch erloschen sind 
Diese hellen nun, 

Mit des Grabes Schlaf 
Schlaft die Holde schon! 

Mehr als bergeschwer, 

Dunkler als die Nacht, 

Legte sich aufs Herz 
Schwarzes Sinnen mir! 

Lied 

Winde wehen, 

Wilde Winde wehn, 

Wolken gehen, 

Dunkle Wolken gehn, 

Und verdeckt ist 
Drin das Tageslicht, 

Und verdeckt ist 
Drin der Sonnenschein. 

In der Feuchtnis 
Hinter Nebeln liegt 
Eitel Nacht, die 
Nur noch schwarzer wird. 

Soldier Tage, 

Wo die Schauer gehn, 




315 



DIE AKTION 



316 



* 



Einsam hausen 
1st dem Herzen kalt: 

In der Bmst tut 
Ihm so dringend Not 
Feuerseele, 

Schones Magdelein! 

Mit ihr Winter 
1st wie Sommerzeit, 

Und im Elend 
Kummer kummerlos! 

Die S t ra 3 e 

Eine StraBe so breit 

Liegt vor mir schon so lang, 

Doch gelang mir auf ihr 
Noch kein Lauf, noch kein Gang. 

Wer denn halt mich zuruck? 

Was verlaB ich so schwer? 

Warum strebt ich noch nte 
In die Feme bisher? 

Kam mein Lebensgeschick 
Denn verwaist auf die Welt, 

Oder ward mit dem Gluck 
Ihm nur Zwietracht bestellt? 

Bin nach Jahr und nach Haar 
Ja noch lange kein Greis, 

Viel Gedanken im Haupt, 

Und das Herz gar so heiB! 

Habe Knecht, habe Gut 
Im VerschluB, das da harrt, 

Und der Rappe im Hof 
Steht gesattelt und scharrt: 

Auf, hinan — wie mein Wunsch! — 
Doch mein Wille zu flau, 

DaB ich Leute und Land 
In der Feme beschau, 

DaB in Not und Gefahr 
Fur mich selber ich steh, 

Vor dem Wetter, das droht, 

Nicht zum Riickzuge geh, 

DaB ich lachle beim Fest, 

Wenns im Herzen mir weh, 

DaB mit Nachtigallslied 
Ins Verderben ich geh! 

Lied des Greisen 
Und so sattl ich mein RoB 
Mir, mein schnelles RoB, 

Sprenge fort, fliege hin 
Wie der Falke leicht, 

Uber Feld, iiber Meer 
In die Weite fern, 

Hole ein, hoi zuruck 
Mir die Jugend mein, 

Lange an — wieder bin 
Ich der einstige Bursch, 

Gehe wieder verliebt 
Schonen Dirnen nach! 



Aber wehe, kein Weg 
Ins Vergangene fuhrt 
Hebt doch niemals im West 
Sich der Tag empor! 

Vor dem Bilde des Heiland 
Vor Dir hab ich, mein Gott, 

Ausgeblasen mein Licht, 

Und das hochweise Buch 
Schlug ich zu mit Verzicht, 

Brennt Dein himmlisches Licht 
Doch unloschsam und klar, 

Deine endlose Welt 
Liegt dem Blick offenbar, 

Und mit Liebe zu Dir 
Senk ich tief mich darein, 

Steh mit Tranen im Blick 
Vor dem Antlitz voll Schein. 

Ohne Sieg hob die Welt 
Wider Dich sich empor, 

Ohne Sieg, daB ihr Spruch 
Dir das Sterben erkor. 

An dem Kreuz unterm Dorn 
Flehtest ruhig und sacht 
Bis zum Tod Du fur die, 

So Dir Obels gebracht. 

Das groBe Geheimnis 
Wolken bringen Wasser, 

Wasser trankt die Erde, 

Erde tragt die Frucht. 

Sterne gibts in Fiille, 

Und in Fiille Leben. 

Bald ist licht, bald finster 
Die wunderbare Natur. 

In den Zweifeln alternd 
Ober das groBe Geheimnis 
Gehn unwiderbringlich 
Die Jahrhunderte nieder, 

Und die Ewigkeit fragt 
Jegliches Jahrhundert: 

^Welches war das Ende?“ 

„Frage Du ein anderes,“ 

Antwortet ein jedes. 

Doch ein kiihnes Haupt sturmt 
Im Gebet zur Vorsicht: 

„Schenke dem Gedanken 

Das Geheimnis der Schdpfung!“ 

Antwort — neu Geheimnis, — 

Wunder der Natur, mit 
Stille oder Sturm die 
Gedanken staunen machend. 

Was wird einst geschehen 
Kiinftig mit dem Weltall? 

Brenne, Lampe, heller 
Vor dem Kreuzesbilde: 

Schwer ist mir das Denken, 

Siifl mir das Gebet. 

(Aus dem Russischen ubertragen von Otto Frhr. von Taube) 




317 



DIE AKTION 



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EUROPA UND ASIEN 
Von Theodor Lessing 

lm Herbst 1914 (!) hielt Doktor Theodor Lessing, Dozent 
der Philosophic in Hannover, einen akademischen Vortrag 
fiber Europa und Asien. Er hat ihn zu einem Buch er- 
weitert, aus dem ich, heute bcginnend, Stucke veroffent- 
lichen werde. 

I 

Die B evolk e ru ngsf rage 
Schatzen wir die Anzahl aller Menschen auf Erden 
auf 1600 Millionen, so leben davon 900 Millionen, 
also mehr als die Hatfte, in Asien, obwohl das 
kleine Europa etwa fiinf Mai so dicht bevdlkert 
ist, wic das weit geraumigere Morgenland. Mit 
einem nicht allzu kiihnen Bilde konnte man sagen, 
daB unser Weltteil zu Asien sich verhalte, wie 
das Gehim zum ubrigen Leibe. Und wie das 
Gehirn droben im Haupte frei leicht und selbst- 
herrlich die ganze schwere Korpermasse zu len- 
ken berufen ist, so scheint dieses kleine vorge- 
schobene Inselchen Europa, das an dem unge- 
heurem Rumpfe der alien Erde, ein winziges 
Kopfchen auf massigen Korper, befestigt liegt, 
dennoch befugt, die Herrschaft iiber alle Men- 
schenwelt anzutreten. Nicht nur Wissen und Kon- 
nen, Komfort Zivilisation Maschinenwesen, son- 
dem im weitesten Sinn alles das, was man mit dem 
zweifelhaften Worte Kultur bezeichnet, scheint 
nur dem europaischen Menschen, dessen Sprosse 
ja auch der amerikanische und australische 
Mensch ist, scheint nur dem weiBhautigen Men- 
schen von mittellandischer Rasse eigen tumlich zu 
sein. Dieser „kaukasische Mensch** steht seit drei- 
hundert Jahren im begriffe, die ganze Erde zu 
unterwerfen und hat seit hundert Jahren diese 
Vorherrschaft der ganzen Erde fiihlbar gemacht. 
Im Jahre 1800 gab es auf Erden etwa 900 Millio- 
nen Menschen, von denen 175 Millionen europa- 
ischer Abkunft waren. Gegenwartig, 1914, gibt es 
etwa 1600 Millionen, von denen etwa 520 Milli- 
onen europaischen Blutes sind. Dieses besagt, 
daB das Menschengeschlecht innerhalb eines Jahr- 
hunderts beinahe sich verdoppelt hat, daB aber 
diese Verdoppelung im wesentlichen nur auf Rech- 
nung der europaischen Volker zu setzen ist. Denn 
wahrend vor hundert Jahren etwa ein Sechstel 
der Menschheit europaisch war, ist es heute mehr 
als ein Drittel. 

Hier nun bletbe dahingestellt, welche Folgen dies 
Bevolkerungsgesetz fur die Zukunft der Erdbe- 
wohner haben mag. Da die Erde 136 Millionen 
Quadratkilometer Flachenraum darbietet, so 
wiirde, wenn die Vermehrung der europaischen 
Menschen in kiinftigen Jahrhunderten genau so 
weiterginge, wie sie im letzten Jahrhundert vor 
sich gegangen ist, in etwa tausend Jahren auf 
jeden Quadratmeter Erdbodens ein europaischer 
Mensch zu sitzen kommen. — (Nahme man die 
nichteuropaischen Menschen hinzu, so saBe auf 
jedem Quadratzentimeter Bodens ein sogenannter 
Mensch.) — 

II 

Kampf um die Macht 

Die nationalen I deale europaischer Volker und 

Herrscher, in deren grauenhaftem Machtkampfe 




Jotff Captk Medusa (Zeichnuny) 



Europas zartere Geistigkeit verbluten wird, 
mlissen kunftig diese Massengewalt und Mas- 
senvermehrung begiinstigen. Denn nur dasjenige 
Volk kann Sieger bleiben, welches die meisten 
Sohne in die Welt setzt, die meisten Kolonien 
begriindet und mit seiner Sprache, seinen 
Landessitten, seiner Menschenart den grofiten Teil 
der Erdoberflache an sich reiBt und iibermachtigt; 
kraft seiner Kraft und kraft jener Macht- oder 
Erfolgentscheide, die jenseit der ideellen Pro- 
bleme des Wertes verharren. — Dem Phiioso- 
phen, der als auswertender Geist keine politi- 
schen Ideale zu verfechten hat, ja den Begriff 
politisches Ideal als so sinnlos-widerspruchs- 
voll empfindet, wie den verwandten Begriff einer 
,normativen Staatsgewalt 1 , mbge man zu gute 
halten, daB er Zeitalter erhofft, wo Gewissen und 
Seele des Einzelnen nicht als ,Kanonenfutter fiir 
des Machtwahns abstrakte Hlusionen*, oder, wie 
man gegenwartig sagt als ,Menschcnmaterial fiir 
das Reichsgeschaft* in die Welt wissenden Schmer- 
zes hineingeboren wird. So sei auch dies dahin- 
gestellt, ob wirklich die Vorherrschaft dessen, 
was wir Europaer Kultur nennen und mit edlen 
Worten als „1deal“ und „sittliche Aufgabe* 4 der 
Staaten zu schildern lieben, ob sie wirklich das 
Ziel, sei es das natiirliche, sei es das vernunft- 
gebotene Ziel der Geschichte ist. 

Gleicht Europa dem Gehirn, das grofle Asien 
dem schweren unbewegtem Leibe der Erde, dann 




319 



DIE AKTION 



320 



scheint im Augenblick (Dezember 1914) das 
Apostelwort zu gelten; ,Ihr seid das Salz der 
Erde. Wo nun das Salz dumm wird, womit soil 
man salzen? Es ist zu nichts hinfort niitze, 
denn, daft man es hinaus schutte und lasse es 
die Leute zertreten/ 

Ein Weltbrand ist entfacht! Die groBen wie 
die kleinen Staaten Europas entpuppen sich 
als ebenso viele machtwillige Bestien, deren 
jede hinter den Wandelbildern Kultur und Idee 
versteckt, ein moglichst grofies Stuck Erdober- 
flache an sich reiften und erraffen will, deren 
jede immer den an deren als den Storenfried, 
den Menschheitfeind empfindet und vor der 
groften Fabelerzahlerin Geschichte anzuschwarzen 
versucht. Ausgehungerten blind rasenden Wol- 
fen gleich, jeder vor jedem bangend, haben sie 
sich so in einander festgebissen, daft erst die 
Erschopfung a 1 1 e r oder jener Zufall, den vvir 
von nachhinein ,historisches Fatum 4 nennen, dem 
Verbrechen des Menschen am Menschen, dem 
iAifibrauch des Menschen durch den Menschen 
das Ende bereiten wird. 

Wahrlich, ein Weltbrand ist entfacht, der nicht 
etwa Jahre, auch nicht Jahrzehnte, der ein gan- 
zes Jahrhundert schwalen und fortlodern muft, als 
ob nur auf Trummern Europas schlieftlich 
erbliihen konnte jenes Traumland der Bruder* 
liebe, davon Buddha sagt: ,Wer ist der Feind? 
Wer der Bruder? atman ist nicht in Mir und 
nicht in Euch, sondern Wir in Ihm. 4 — Der 
Historiker aber, der den praktischen, wirklichen 
Menschen kennt und seine sogenannte Weltge- 
schichte, ach! er kennt auch des Menschen Un- 
heilbarkeit und Unlenkbarkeit durch jede andere 
Gewalt als durch die der nackten Not und bru- 
talen Notwendigkeit. Er blickt in Europas Zu- 
kunft, wie Johannes auf Patmos in das Dammern 
apokalyptischer Grauel. Asiens Stern sieht er 
im Steigen. Und schon aus naher Gegenwart 
konnte statt der getraumten Gehirnkultur Euro- 
pas ein Wiedererwachen Asiens hervorbliihn, als 
Wiedererwachen dunkel instinktiver, unergriind- 
licher, elementarer Krafte der Seele. Weil wir 
aber auf solche Wandlungen Europas gefaftt sein 
mussen, so miissen wir Asiens Seele kennen; 
anders und besser, als sie bis heute in Europa 
gekannt wird. Und dazu tut not, daft wir den 
Glauben ablegen, unsre europaischen Lebensfor- 
men seien die einzig moglichen, unsre Kultur 
sei die Kultur, unsre Religion d i c Religion und 
unsre Berufung auf Erden sei es, 900 Millionen 
Menschen, die vollkommen anders und viel lebens- 
naher denken und f uhlen als wir, zu unsrer Logik, 
unsrer Politik, unsrer Wissenschaft und ange- 
beteten Kunst zu erziehen. 

NADJA STRASSER: DIE RUSSIN 
Von Arthur Holitscher 

Dieses Buch *) platzt mitten hinein in die aktuelle 
Frage: kann uns die russische Revolution niitzen 
oder wird sie uns schaden? Es macht uns mit 



*) Erschienen im Verlag S. Eischcr, Berlin. 



den heiligen und genialen Frauen Vera Figner, 
Geftja Helfmann, Sonja Perowski bekannt in einem 
Augenblick, in dem den Gemutern hierzulande die 
Erkenntnis aufdammert, daft man ja die Frauen 
ganz gut fur a!I die Organisationen der Kriegshilfe 
und der Staatsarbeit gebrauchen kann! Und es 
lehrt uns den Einfluft der russischen Martvrerin 

•m 

auf die Triebkrafte der Intellektualitat erkennen 
in diesen Zeitliiuften, in denen sich Leute den 
Kopf damit zerbrechen: welche Rolle wird der 
Dame in der Salon-Geselligkeit nach dem Kriege 
zugeteilt sein? 

Die Russen wallfahrten jetzt nach Jasnaja-Pol- 
jana zum groften Schatten. Aber die Asche der 
irdischen Gottinnen, die Nadja Strassers Buch 
nennt, ist uber das unermeftliche Reich verstreut 
und die Pilger miiftten auf den weiten Wegen, die 
nach den dstliehen Stcppen fuhren, Halt machen, 
ebensogut wie auf den Petersburger Briicken zur 
Peter-Pauls-Festung, zur Schlusselburg, ja mitten 
auf den Straiten der Stadte, wo unter einem 
Pflasterstein Blut in Granitsplitter gebettet ist, auf 
Knien die Ritcn der Auferstehung feiern. Und sie 
werden es tun. Denn die Antlitze der Frauen, die 
fur die russische Freiheit gestorben sind, sind 
Antlitze von Ikonen. 

Die franzosische Revolution hat die Schalen um 
Frauenseelen in einer Explosion zersprengt. Die 
groften Frauen des Thermidor g'ommen auf, ver- 
spruhten im Dunkel wie Feuerwerk. Was war 
die franzosische Frau zwei Jahrzehnte spater, unter 
Bonaparte? Der Thermidor der Russin wahrte 
hundert Jahre. Wahrend der soeben verflossenen 
Wochen mengte sich kein Frauenschrei in das 
grofte Aufbriillen der Befreiung. Aber wie ferner 
unterirdischer Gesang halite die Erinnerung an 
wunderbare Wortklange durch das Getose durch, 
Namen von Legcndenwesen durch woben das Ge- 
tose mit Musik, Jugendklang — Vera Sassulitsch! 
Sie stehen „in des Despotismus Triimmer einge- 
graben 4 * wie Puschkin an Tschaadajew schreibt. 
In marchenhafter Reinheit schweben sie iiber den 
Wirrnissen der Gegenwart. Wir lernen aus den 
Ereignissen heute im besten Faile Ergebnis und 
Niederschlag kennen. Dort oben aber schwebt 
Giite, Liebe, ehrgeizlose Wahrheit, der Trieb! 

O, es waren Stunden des Daseins, in der Gegen- 
wart von Frauen dieses Schlages verlebte, Stun- 
den die zahlen im Vergehen armlicher Jahre. HaB 
und Liebe lebten zu vervielfachtem Leben auf im 
Innem, aus Rede und Schweigen schoft Rauschen, 
bew r egte Fliigel, Rausch! Was blieb iibrig? Weni- 
ger als nichts — Traurigkeit. Denn jene Stunden 
waren ja nicht in dem fernen, furchtbaren 
RuBIand verlebt worden, dem Abgrundsland, 
Traumkontinent, sondern in dem von Schein- 
kultur, Scheinfreiheit gefalschten Westen Europas. 
Und die Bitternis, Traurigkeit, miide Resignation 
wurde durch die Erkenntnis verursacht: DaB der 
Aufschwung, der aus dem Herzen, dem durch- 
gliihten Verstand dieser Frauen kam und iiber- 
strdmte, fruchtlos verebben muBte, daB keine Tat 



321 



DIE AKTION 



322 



a us ihm entstand, im besten Fait etwas bessere 
Literatur, das Rad der Welt nicht um ein Spei- 
chensegment vorwarts gedreht wurde — und in 
ihnen selbst, diesen russischen Frauen, wie ver- 
kummerte da das Hohe, Erhabenste: die angriffs- 
frohe Giite, der grenzentose Opfertrieb! Aus dem 
Buch uber die Russin erfahren wirs: der Polare 
Mensch fehlte, die massive Mauer, der urgriindige 
Widerstand, ob er nun aus dem grausamen, mi! 
Sadismus groBgefutterten Cynismus der Herr- 
schenden aufstand oder der stupiden sklavischen 
Exekutive der Macht, dem Tschin. Im Westen, 
in der Scheinkultur, der Afterfreiheit konnten diese 
russischen Frauen nicht gedeihen, da gabs keine 
Polaren Menschen, und der Aufschwung blieb 
stecken in zaher KompromiBatmosphare, im Libe* 
ralisrnus, wissenschaftlicbem Sozialismus, Bildung 
und Oberflachlichkeit Man sah sie, diese Rus- 
sinnen am Ende selber schwanken und zerfallen, in 
dem Dilemma: Peter Altenberg Oder Lassalle auf- 
gehn — dem Lassalle selbstredend, der sein erstes 
romantisches Abenteuer mit der Grafin Hatzfeld 
hatte und sein zweites mit der Helene Donniges. 

Aber aus Nadja Strassers Buch steigt der Ge- 
schmack, die unendliche Wiirze jener Daseins- 
stunden wieder auf, in der Gegenwart russischer 
Frauen verlebter Stunden, denen schale Burger- 
lichkeit folgen muBte, nach denen das Leben um 
einen Ton niedriger schwang, etwas Unwieder- 
bringliches fortgeflogen war, jugend vielleicht. 

„Sie sind harter als wir, weil sie weicher sind,“ 
sagt von ihnen Tyrkin seinem Freund Ki- 
baitschitsch. Manches Buch lehrt erkennen, wie 
viel man in seinem eigenen Leben vertan, verloren 
hat, wie viel der Alltag unrettbar verschlang. Das 
Exempel der Martyrerinnen lehrt es. Die Frauen- 
rechtlerinnen sollten das Buch lesen. Auf ihrer 
Ebene harren und warten die heiligen Schatten 
Perowski, Sassulitsch, im Fleische wartet das 
schon verklarte Miitterchen Breschkowski und 
die Anderen! Wo wird das RuBland, das im 
Marz 1917 in Bewegung genet, stehen bleiben? 
Wird dort die Soziale Republik? Waren die Opfer- 
tode nicht vergeblich? Geht die letzte, hochste 
Hoffnung nicht in Erfiillung, dann, glaubt es nur, 
ist die Reihe der Martyrerinnen des Gedankens 
nicht abgeschlossen. Das tiefe, unerschopfte We- 
sen, die Heiligkeit des mystischen Volkes der 
beiden unzertrennlichen Kontinente Europa-Asien 
wirkt weiter und fort, sie werden nicht stehen 
bleiben an der Pforte der Erldsung. Aus dem 
Osten schlagt jetzt der Pulsschlag iiber den lauen 
Westen, diesen unglucklichen Westen, den die 
groBte Katastrophe nicht aus seiner Gemachlich- 
keit zu riitteln vermag. Jawohl, es bleibt abzu- 
warten, wie vie! oder wie wenig uns die russische 
Revolution zu helfen vermag. Kommt der Frie- 
den aus der Himmelsrichtung, woher ihn niemand 
crwartet hat? Die Russin wird an der Befrei- 
ung der Welt ihren Anteil im gleichen MaBe 
haben wie er ihr an der Befreiung ihres eigenen 
Landes zugestanden wird 





Josef Capek Frauen tor so 



AKTIONSBRIEFE AUS DER SCHWEIZ 
Von Georg Gretor 
El 

Die Predigt eines Kandidaten 

In der Schweiz gibt es sogar unter den Theologen 

interessante Kopfe. 

DaB von der Kanzel die Achtung Derer gepre- 
digt wird, die mit dem christlichen Grundsatz: 
„Du sollst nicht toten“ Ernst machen, ist nicht 
selten und auffallig. Aber wirklich Geistiges von 
Geistlichem frei, Religioses von Kirchlichem eman- 
zipiert, freier Sinn von Freisinn nicht gelahmt, 
findet sich nur in der Jugend. 

Die Probepredigt des Kandidaten der Theologie, 
p yf — e j n Bestandteil des Examens — sei 
aus kirchlicher Verganglichkeit gelost. 

„Jesus Christus und diejenigen, die seinen Glau- 
ben verbreitet haben, sind Opfer des Massenin- 
stinktes geworden, den die Zeitungen heute das 
f Gesunde Volksempfinden‘ nennen. Seine Predigt, 
jedes Wort seiner Lehre war krankhaft, denn er 
verkiindete die Wirklichkeit des Unsichtbaren und 
die Jrrealitat des Dinghaften. Er predigte schwach- 
liches Vergeben und krankhafte Feindesliebe. Er 
verlangte die Vorherrschaft des Geistes und der 
Seele, und diese Vorherrschaft ist stets gesund- 
heitswidrig. Gesund lebt nur das reine Tier und 
der Hahn bleibt Symbol der Moral: Feder um 
Feder, Auge um Auge. Der erste Mensch war 












:■ -! 1 , 



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DIE AKTION 



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eine tierische Dekadenz. Aber jede Entwicklung 
ist Verfall minderer Lebenstormen. Hohere erset- 
zen. Der Erhaltungsinstinkt der Minderwertig- 
keit, dieser gesundeste par excellence, wehrt 
sich heimtuckisch und mit Gift. — Aber er muB 
gebrochen werden, soil Leben weiter bestehen. 
Verfall ist niemals aufzuhalten, doch es gibt Faul- 
nis, wenn er sich langsam vollzieht. Verfall ist 
so wenig zu verhindern wie personlicher Tod. 
Wo Trieb und Mut zu ncuer Zeugung fehlen, 
stirbt Leben aus. Verstandnislosigkeit, Zogern, 
Bremsen, Hemmen rassischer und soziologischer 
Notwendigkeit, ist Verbrechen wider das kei- 
mende Leben. — Der Verfallene fiihlt nur Verfall, 
indes der Chaotische aus Vollem schopft. — 
Die tierischen Erhaltungsinstinkte, durch mensch- 
liche Dekadenz, d. h. seelische und geistige Dif- 
ferenzierung, abgeschwacht, oktroyiert dem Ein- 
zelnen die Organisation seiner Gemeinschaft. Der 
Staat. Die Funktionen des Staates, sind Objek- 
tivierung derjenigen Instinkte, die durch die 
Menschwerdung im Prinzip iiberwunden worden 
sind. Die grofite Virtuositat hierin entfaltete der 
Romische Staat. Er gab geistlosesten, mechani- 
schen Staats- und Rechtschutz alien Machtigen. 
Die rdmischen Tugenden hielten alle religiosen 
und seelischen Komplexe von ihren Biirgern fern, 
die sie erregen und verfeinern und somit zur 
Einbufie ihres Machtgefiihles und Bediirfnisses 
fuhren konnten. 

Das romische Reich ist das in blutigem Marmor 
in die Weltgeschichte gesetzte Denkmal der abso- 
luten Staatsidee. Sein Verfall zeigt den Irrtum 
und die Luge des Axioms, daB Geist und Ge- 
wissen einen Korper brauchen, um zu wirken. 
Je mehr Leiblichkeit vorherrscht, um so ohnmach- 
tiger, um so verganglicher wird sie. Die Luge 
des Realen fiihrt immer zum Opfer, zum 
finalen Schwund des Geistes und des Gewis- 
sens. Sobald der Korper seinen Sinn verliert, 
lost er sich auf; mechanisch, chemisch, trotz 
Pflege und Korperkult 

Die Vergotterung des Realen wurde im rdmischen 
Reiche unter dem Zeichen der Staatstugenden 
betrieben. Der klassische Verfall seiner Macht 
wurde nicht aufgehalten von den immer verspa* 
teten schonen Seelen, von den Guten, die nie 
aufhoren, gestrige Tugenden zu predigen. Der 
Verfall wurde beschleunigt von einem klei- 
nen, schwachlichen, unsympalhischen Juden. Aber 
er hob aus ihm rein und unversehrt menschliches 
Leben in neue Gestalt empor. Er lehrte: das Un- 
sichtbare ist wirklich, das Korperliche irreal. Fluch 
und Verganglichkeit sind dem beschieden, der 
seine Seele dem Korper unterordnet, der sein Ge* 
wissen irdischen Pflichten preisgibt. Unsterblich 
ist, wcr in letztem moralischen Mute seinen Kor- 
per verkummern laBt; gottliche Intervention wird 
ihn erhaltcn und sein geistiger Same wird bliihcn 
fiber den Leichen und Triimmerfcldern derer, die 
ihrem Fleische und ihrer Scholle leben. 

Das ist das Bild Christi, das unverratene, des 
Verratenen, Ausgelieferten, von seinen Behorden 
Gckreuzigten. Und kame Er heute unter uns, 



unser gesunder Instinkt, der Erhaltungstrieb un- 
serer Minderwertigkeit wiirde sich gegen ihn, 
den Verfeinerten und Kranklichen emporen. Ge- 
bildete nennen ihn einen Traumer, einen Tage* 
dieb, einen gefahrlichen Ideologen, einen Phra- 
seur, Hochstapler, den Antichrist, den Dekadent. 
— Man liefert ihn wieder dem Pobel aus, er fin* 
det sein Ende stets immer wie einst, gelyncht 
oder am Galgen.“ — 

Noch ist nicht bekannt, ob der Kandidat die 
Prufung besteht. 



NEGERL1EDER 

Nachdichtungen von Carl Einstein 

I 

Sterbelied,zumVertreibenderGeister 
Der Sohn ging in die Felder, zu sehen, beendeten 
die Baume die Reife. 

Die Baume sind reif. Die Geister irren umher. 

Die Zeit ist gekommen. 

Die Nacht beginnt. Der Gefangene ist frei. 

Der Gefangene ist frei. Geht zum jenseitigen 
Ufer. 

Er schaut nicht riick warts, schaut nicht riickwarts. 
Der Schatten deckte das Feuer der Hiitte. Ich 
sehe einen Funken, schwirrt 
wie der Gliihw'urm, dreht sich, 
umfliegt das Gehor. Ja. 

Stamm der Fan 



11 

Vater, ach ach. Warum Vater verlaBt du deinen 
Herd. 

Ein Mann, Vater, totete Dich. 

Ihr werdet seinen Tod rachen. 

Dein Schatten geht zum andem Ufer. 

Himmel gliiht. Augen dunkeln. 

Wasser fallt vom Baum. Tropfen Tropfen. 
Ratte wich aus ihrem Loch. 

Seht hier das Haus meines Vaters. Rfliickt Toten* 
krauter, 

Ein Mann blickt jetzt die unsichtbaren Dinge. 

Stamm der Fan 

111 

Der Tod macht keine Ausnahme. Kein Mensch 
meidet des Todes Gericht. Wir brechen auf, wir 
gehen — sehen, wir gehen schauen Amusu im 
Grab. Der Tod reiBt auch uns aus dem Haus. 
Am Mittwoch, acht Uhr lautet Havo’s Telephon: 
Di gada. 

Ama rief an: „Na, wath is the matter ?** 

Es sagtc: Eben ging Amusu ins Totenreich. 

Ama rief: „Wie! My God. Wath is the sick? 
Amusu ging in das Totenreich. 

( Verfasser : Kanyi Eweh) 




DIE AKTION 






325 

VERSE VOM SCHLACHTFELD 
Schreie 

Schreie brechen uns nieder. 

Irrende Rufe umkrallen uns. 

Des W eltenwahnsinns Orgeldrohnen riittelt Tage 
und Nachte. 

Wie eine Mutter deckt sich der Hi mm el um seine 
Baume: 

sie sollen das Grauen nicht sehen! 
bettet in Schnee seine Blumen: 
sie sollen nicht schaudem! 

Aber wir stehen ganz, ganz allein. 

Oh Leben! LEBEN!! 

Waram hast du uns veriassen!! 

Edlef Koppen 

M ousson 

Und langsam nur gewohnte dich die Zeit 
An Biider, blutgefarbt zuerst und neu; 

Doch vor dem Taglichen erlischt die Scheu. 
Verglasien Auges starrt das fremde Leid. 

Denn reden Leichen? Pferde, die den Huf 
Erstarrt nrni Himmel stredcen, wahrend Kot 
Dem offnen Leib entquillt? Nur tot, nur tot! 
Zuletzt verhallt der Unerldsten Ruf. 

Wir ritten nachts. Mattrote Sich el scheint. 

Da dringen Stimmen, die du nicht betorst 
Vom Schlachtfeld her: Der Nachtwind stohnt und 
weint ; 

Du gtaubst, daB du verworrene Worte hdrst — 
Und plotzlich weiBt du, da8 auch dies versteint 
Und BQd wird, wenn du eintnal wiederkehrst. 

Maximilian Rosenberg 

St elltxng 

Die Maschinengewehre repetieren ihre nacht- 
lichen Rollen. 

Manche gurgeln hastig ihren Vers herunter. 

Perlen rein, oder verhallen dunk el 

Ober riesige Bahnen. Kn at tern ein rasches Terzett. 

Eines klopft funfmal sehr bestimmt. 

Funfmal zirpen die Geschosse uber uns weg. 
Qeisterhaft. Man macht seine Verbeugung. 
Aber wie hoch ist der Sternhimmel uber den 
Graben ! 

Selig steigen die Leuchtkugeln auf, 

Vor zerschossenen Baumen, schweigsamen 
Ruincn. 

Wie der Novemberwald duftet! Nach Nacht und 

NuB. 

Wie iange soilen wir noch verzaubert sein! 

Wilhelm Rlemm 



326 




J osef Capek Frauentorso 

Fruhlingstag 

Wirrdunkle Stimmen schwelgen. In Halmen 
stehen griine Schreie, zittem. 

Eine Sonne fallt auf die Erde, singende Flut und 
Ausbreiten, 

In das sich Schatten deichen. — Es geht ein 
herrschsiichtiges Schreiten 

-p- + 

Uber das Land, um das Vielfaltige seiner Sehn- 
sucht zu wittern. 

Ein Wald steht still. Angst in seinem Gesicht 
uber Ankunft seines Erreichens. 

Hoch stammt seine Not die Quelle der Wurzeln. 
Nackt! Nackt! Entkleiden 

SproBt a us hageren Leibem. Wildes, unsagbar 
wildes Sich-leiden 

Graut, rostet, gerinnt und wartet seines Zeichens. 

Zimmer sturzen aus Hausem. Menschen grenzen- 
los. Ewiges Verschwenden 

Des Ewigen: Es mogen wohl Berge weichen, und 
Hugel fallen. — 

Sturm. Sonne. Sturm, und leisestes aller Lallen 

Des Tages zu seinem Abend: Ich will enden. 

Ludwig Bdumer 

Manchmal . . . 

Manchmal ist es, daB wir Bruder treffen 

Die wir schon ein Jahr und viele Monate nicht 
gesehen 

DaB wir von den Eltern reden 

Wo wir in den Zimmem gfucklkh und zufrieden 
waren. 







327 



DIE AKTION 



328 



► 



DaB wir dann durch fremde Stadte gehen 
In glanzenden Cafes zusammen sitzen 
Und schweres Leben mud bereden. 

DaB dann wieder alles, was erlebt 
Und schon wie ins Vergessen tief gesunken war 
Noch einmal jah aufflammt und dann in Nachten 
unsre Traume stort, 

Viele von uns waren stark die Klage ganz heiseit 
zu tun 

Aber wenn sie Briider oder Freunde treffen 
Steht es wieder auf und Wort wird Klage um die 
toten Kameraden. 

Und die Dinge die sie einst berieten 
Haben Glanz und Kraft verloren 
Dann traumen sie vielleicht in Nachten 
Von dem Angriff einer wilden indischen Brigade 
Und sind ganz aufgeregt am Morgen wieder ihre 
Siimme zu. 

Rudolf Hartig 




BEI BRIXEN 

Der Siiden war die suBe Dominante. 

Lazerten huschten zierlich hin und her: 
wie um den Steintrog, den die holde Mar — 
o me verbluhter Liebe Rosenspur! — 
das Grab der Julia Capuletti nannte. 

Giuliettas Grab, Verona und Venedig: 

Erinnerung umwob uns zauberfadig. 

Die erste Palme . . . Siidlands Konifere . . . 
Aufflog der Seele Wunsch in den Azur, 
daB die verruchte Zeit versunken ware! 

Rudolf von Kapri 

DAS NEUE DRAMA 

Von Heinrich Stadelmann-Ringen 

Die Zeit. Ein Ruck — Entdeckung, Erfindung, 

neuer Gedanke — die Zeit ist alt geworden; 

wird neu. 

Die Antike: Ein unabanderlicher Schicksalswille 
Ienkt des Menschen Handeln. Wer sich auf- 
baumt gegen diesen Wilien, bewuBt oder unbe- 
wuBt, den trifft Schuld. Solche Schuld wird 
Knotenpunkt im antiken Drama, Die Losung des 
Knotens im antiken Drama ist vom Ideal M s c h d n“ 
diktiert, das Einfiigung will; eine Harmonie der 
Form; auch der Form des Menschenlebens. Die- 
ses Schonheitsideal fCihrt zur Einfugung des Men- 
schen willens in den Schicksalswillen. 

Die chris tlich-kirchliche Zeit: Eine neue Auffas- 
sung iiber das Menschenleben wirft den antiken 
Schuldbegriff beiseite. Die Kirche konstruiert sich 
einen neuen; unterschiebt ihm das Ideal jjgut 44 . 
Will Schuld durch Suhne und Versohnung zum 
Ausgleich bringen; will derart die Menschenseele 
fahig zur Einfugung in ein Ganzes machen, jen- 
seits dieser Welt. 

Jahrhunderte vergehen. Die Naturwissenschaft 
fangt zu sprechen an. Die fordert durch ihr Er- 
kenntnisstreben ein neues Ideal; das heiBt 
„w a h r“. „Wahr“ fiihrt dazu, Innerlichkeiten 
bloBzuIegen, frei werden zu lassen. Entdeckung 
des Menschen! Der Mensch wacht auf; sieht 
sich verschleppt. 

Jetzt hat der Krieg (in diesem Falle ein Sammel- 
wort fur vielerlei Vorkommnisse), gegen seine 
Absicht, begonnen, die Wirkung des Ideals ^wahr 44 
zu unterstiiizen; hat „Gesetze << , die sich als Boll- 
werk vor die freie Entfaltung der Menschenseele 
legten, als umstoBlich gekennzeichnet und hat Er- 
ziehungsUigen aufgedeckt. 

Was des Menschen ist, beansprucht heut der 
Mensch fiir sich. Verlangt sein u nverfa Is ch tes 
Menschenleben. Will Beziehungen vom Menschen 
zum Menschen aufsuchen, die seiner freien Ent- 
faltung gedeihiich sind. Ein mit SelbstbewuBt- 
heit Fordernder tritt er auf. 

Schuld? Dies Wort paBt nicht mehr in die neue 
Zeit. Die Naturwissenschaft, die die neue Zeit 
zu einer andern Beschaffenheit gemacht hat, 
kennt nur das Ideal „wahr“. Was hat „wahr 4< 
mit „Schu!d“ zu tun? 




DIE AKTION 



330 










„lch bin!* 1 

Schuld? Nein! Recht! Darum ein neucs Drama! 
Fort mit dem MiBbrauch von Jesus* Gesellschafts- 
lehre! Fort mit dem dunkeln Popanz, womit die 
Kirche fiirchten machen will! Fort das Ein- 
schuchtern von Mensch enleben auf der Erde! Fort 
mit den Drohungen von Strafen fur Ungehorsam 
noch liber das Erdenleben hinaus! Fort das un- 
wiirdige Verbot, das Menschen zu Maschinen 
macht! Fort mit der Macht (Tauschung!) kraft- 
loser Menschen! 

„KIarheit will ich! 11 ruft der neue Mensch. Der 
Mensch von heut und morgen will unverhangenen 
Auges hinter die Kulissen des Welttheaters 
sehen; will im Vorwartssturmen sich nicht mit 
Schuld beladen lassen. Weifi wohl, da6 er 
schuld 11 (Ursache!) an etwas sein kann; weist 
auch Mgut* 1 und M schon u als Werte nicht zuriick 
(jedoch als Ideale!). Hat erkannt, daB als ideal 
ihn nur das Ideal „wahr“ fordern kann. Der 
Mensch von heut und morgen will erkennen; 
will sich befreien. Will die Stellung seines 
Ich zur Welt bloBlegen; die Stellung zu sich, 
zu andern Menschen und dem Kosmos. Will 
sehen, was die Einzelheiten auseinander halt und 
was sie eint. 

Ein Drama ohne Schuld? Die hergebrachten Kon- 
flikte sind im Aussterben. Beim Graben nach 
Wahrheit ist ihnen die Wurzel, der Autoritats- 
glaube an Sachen und ldeen, abgestochen wor- 
den. Jetzt gilt Kraft gegen Kraft. Recht auf Kraft, 
die menschliche Innerlichkeit bedeutet 

Auf! Sucht die Kraft, die Menschenwahrheit in 
euch und die Wahrheit in der Welt! Das sind 
unsere Note und unsere Notwendigkeiten! 

Der neue Dramatiker spurt nach Beweggriinden 
der Menschen zu ihren LebensauBerungen. Diese 
Beweggriinde heiBen: Liebe, HaB, Eifersucht, 
Verachtung, Enttauschung, Betrug, Banalitat usw. 
Sind Gestalten, stark genug, dem Drama den 
Lebensnerv geben zu konnen. Diese Bewcg- 
grunde sind etwas Zusammengesetztes aus tau- 
send einfachen Grunden. Arbeitet der neue Dra- 
matiker mit den zusammengesetzten Grunden, 
dann schafft er das Drama vom Menschen in seiner 
Stellung zum Menschen; werden ihm die elemen- 
taren Lebensgriinde Ausgangspunkt, dann erhebt 
er das Drama vom Menschen zu kosmischer 
GroBe. 

Die Losung des Konfliktes im neuen Drama kann 
folgtich nur durch Erkenntnis geschehen; die be- 
deutet Befreiung. Das neue Drama ist ein Er- 
kenntnis- und Bef reiungsdrama. 

Inhalt des neuen Dramas? Das Leben. Immer. 
Dieser fnhalt wird aus den Lebensgrunden, die 
alien Menschen gemeinsam sind, als Menschlich- 
keiten. Darum wird das neue Drama ganz un- 
personlich sein. Sein Schopfer tritt hinter das 
Erschaffene zu ruck. 

Die InnerJichkeiten, die sich im neuen Drama 
durch die LebensauBerungen kund geben, konnten 
in mystische, geschichtliche, moderne oder in 
phantastische Gestalten verlegt werden; nicht 



aber diirfte die LebensauBerung der Ausgangs- 
punkt des Dramas sein. 

Aus Grunden etwas herausgestalten ergibt etwas 
Anderes, als durch Griinde Gewordenes nach- 
ahmen. Hier tritt der Unterschied von Wahrheit 
und Wirklichkeit deutlich hervor. Nicht d'e „fer- 
tige Welt 11 (Menschen) da drauBen diirfte der 
neue Dramatiker zum Muster nehmen; sie auch 
nicht herausheben, „wie sie ihm vorkam 11 , „wie 
er sie erschaute. 11 Nicht ein Vorkommnis aus 
der menschlichen Gesellschaft zu einem drama- 
tischen Stoff „dichterisch umbilden 11 ! Nicht „Tat- 
sachen andern! 11 Nicht „idealisieren !“ Aus eige- 
nem Lebenserlebnis heraus miiBte der neue Dra- 
matiker schaffen. 

Poet-Dichter und -Macher; in Obersetzung des 
Wortes. Wir trennen hier den Macher als Er- 
zeuger vom Macher, der ein Nachformer ist. 
Darum unterscheiden wir zwischen „n a t u rl i ch 11 
und „naturalistisc h“. Das neue Drama „na- 
tiirlichen 11 Stils ist das innere Ebenbild vom Men- 
schen. 

Der neue Dramatiker stellt Gleichnismenschen auf 
die Biihne; mogen sie auch moderne Anzuge 
tragen. 




Josef Capek Frauenportrdi (Federteichnung) 






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DIE AKTION 



332 



Gleichwie der Mensch in dieser Welt ein Gleich- 
nis ist der Losung aus Kampf von vielen und — 
wie lange schon! — einander bedrangenden Ge- 
walten, kann des dramatischen Dichters Mensch 
auf der Biihne nur ein Gleichnis der Lebensgrunde 
aus dem Geist des Dichters sein. 

Die Notwendigkeit des Geschehens verlangt vom 
Dichter Folgerichtlgkeit bis zum letzten; mag da- 
bei auch die Stoff setzende Innerlichkeit bis zu 
letzten Fragen einer Mystik sich erstrecken. Durch 
diese strenge Folgerichtigkeit (gefordert vom 
logischeu Ideal „wahr“) wird das Drama etwas 
„Gewachsenes“ ; nichts Frisiertes, Gebiigeltes. 
Wie kommt das neue Drama zustande und wie 
prasentiert es sich? 

Nicht Aufrollung einer vorgeschriebenen, vorge- 
zeichneten Fabel! Die Fabel ist schon Fertiges; 




Josef Captk 



Portrat ernes Marxnes 



sie wird nicht ; sie ist. Derneue Dramatiker 
bautvon innen heraus; tritt nicht von aufien 
her an eine Sache oder ein Ereignis. Will ernst- 
lich Wesenheiten; nicht Gegenstand. Schafft dtr- 
art echtes Ausdrucksdrama; Kunst; Geschopf. 
Die Tragodie der Enttauschung wird einen andem 
Bau haben als die der Treue usw. Die Lebens- 
griinde, als Rich tl ini en des Dramas, bestimmen 
dessen Bau. 

Der Ausgestaltung des neuen Dramas hegt ein 
bewegiiches „Gesetz“ zugrunde. Der neue Dra- 
matiker als Schopfer darf bei seinem Dramenbau 
jede mogliche Architektur anwenden, vorausge- 
setzt, daB er die Innerlichkeit in ganzer Folge- 
richtigkeit zum A usd ruck bringt. Deshalb kann 
er sich nicht an die hergebrachte Form der Akte 
halten; er wird seelische Bilder aufrollen, worin 
die Hauptmomente der dramatischen Geschehnisse 
gekennzeichnet sind. Diese Bilder sind, wie durch 
Strahlung, test untereinander, unsichtbar verbun- 
den. Eine Einheit. 

Die Sprache im neuen Drama? Kiirze; Knappheit; 

Breite; Dithyrambus . . . Je nach Notwendigkeit, 

um die Innerlichkeit zu versinnbildlichen. Auf 

jeden Fall Obersichtlichkeit 

Schmuck? MuB in der Sache selbst liegen. Kein 

Aufkleben von Verzierung! Witz? Desgleichen. 

„Gewachsenes 4t . 

Aus aliem ergibt sich ein „n a t ii r I i c h e r S t i l“. 
Der lauft entgegengesetzt den Weg vom „natura- 
listischen". 

Wer schreibt solche Dramen natiirlichen Stils? 
Das tun Niichternheit und Leiden- 
schaf tlichkeit, die Griinde des Er- 
kenntnisstrebens und des Befreiungs- 
dranges; die Temperamente unserer 
neuen Zeit! 

Was will das neue Drama? Will es unterhalten? 
Erziehen? Aufregen? Spannen? Es will wirken 
durch seine Wahrheit furs groBe Ziel, das Mensch 
heiBt. Den einen Horer mag es unterhalten; den 
andern beunruhigen; einen erziehen; einen in Ek- 
stase bringen . . . Das hangt von den Men&chen 
ab, die im Theaterraum sitzen. 

Was wiirde zu solchem Drama der Kritiker (von 
gestern) sagen? Der Kritiker? Der lispelt ver- 
legen in sein Gehirn hinein: „Da versagt mein 
MaBstab**. GewiB. Denn das lebendige Gefuge 
des neuen Dramas, geworden aus dem Erlebnis 
vom Leben, laBt sich nicht mit starren, toten Ge- 
gensfanden messen. Vielleicht halt er es mit dem 
erprobten Literaturhistoriker, der sprach: „Warten 
wir, bis diese Dinge sich bewahrt haben 1“ 

HOCH SICH WINDENDE RANKE 
Von Heinrich Schaefer 

Blocke prallen. Kosmos angefiillt mit Blocken 
mengt die Blocke, wirft rumorend krachend split- 
tend durch einander, drangend allher ineinander 
Mittelpunkt auf einen Block, auf einen fullend 
eingefugten, ruhgehangten Kosmos-Block. 

Durch einander kurvzackstechend wandem bre- 















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DIE AKTION 




chend streckend imtner stehen luckenlose Risse, 
dennoch Risse, schwarze Blitze ewig wandelnd 

ihre Zackgestalt. 

Und von unten und aus Dunkeln 1st ein Frucht- 
grund hoch gehoben, dranget her, schwarzer Feit- 
schlamm, weiBe Kiesel, schwellend, wall end, uber- 

all erknisiem quillend die Fruchtbruste im vul- 
kanischen Mutt e rland. 

Schon Beruhrung mit den Block en und die ersten 
SchoUen fetzen wie gebaggert und die ersten 
Schlisse sind gefegt in das vielbuckelnde Mutter* 
land. 

Schreien, schrilles Kratzekreischen, Drechsel- 
achreien der geschnittnen Kiesel, bebend in sich 
zdgemd zieht zuriick das weiche Land. 

Aber immer, immer Fruchtgrundmassen neu auf 
neu gebarend drangt das Dunk el — Pressung, 
ReiBung, Schmerzen, Schreien, Werfen in Erbau- 
mung hinaus entbogen ohn Entrinnen verwachsen, 
Sterben zwischen ReiBung, Pressung — Durch 
muB. Durch muB. Krampf in sich zusammen 
zuckend duckt der Muttergrund, alle Muskeln 
innenwarts gezerrt, geknauelt um den Knorpel 
seiner Kraft — irr glitzen fiebemd weiBe Kiesel 
starrer Schreck, in schoner Streuung weit liberal! 
die weiBvereisten Augen an dem dunklen Leib 
des ungeheuren Urgrundmutterbails — 

Plotzlich Kuppe, wachsend ein Berg, aller Leib 
getrieben in alleinzige Mutterbrust, steiget stoBt 
und rammend stoBt — Durch muB. Alles durch* 
get rage n muB ein Wachstum baumgebandigt rund 
im saftigen Holze einzig zusammensiehn, o Wun- 
der! — was widersteht dem Eisenzackgebirge, 
hingetragen am Bug der sausen Erde — h in ein 
in die knallende Muhle der Bldcke — 

Siehe, siehe, was erstand — alle Frucht gesam- 
melt in die Spitze war ein Keim, geborgen in die 
auBerste Kuppe hoch, die Kimme Diamant, der 
Kronschatz, edler Stein und wild gehauen winz- 
ger Stilt auf breitgeschwollner Woge er ais StoB, 
er als StoB an den Feind — hell blaffend ihm 
entspritzt ein grunes Halmchen steht test und 
spitz. 

Aber donnemder mit Gebriill und Krachen in sich 
groHender das wehe Pein- und Messerwerk ge- 
schuttelt — wilder rucken knarren die Hobel 
seiner Schneidekanien gedreht, kopfen den Berg 
und sprengen die SchoUen, Blut schiittet, mahen 
das junge, saf tige, kaum lugende Kind, das 

HaJmchen. 

Aber in das Wilde wilder wogender wirft sich 
aus rotem Sprudeln ein Berg und griines Spitz- 
chen zungelt, fuhlert und siicht, ziickt zuriick. 



lauert, sticht, schnell SchuB in voruberfliegenden 
RiB ist es geschlupft, hiipft, wachst schnell und 
schnell in Langung muB es sich ziehen, in das 
rasende Chaos der Bldcke willig geklemmt mit* 
gerissen muB es rasen. 

— und die letzte Kraft zu wachsen und zu nahren 
reifit in sich hoch der gute, gute, blutende Mutter- 
berg treibt, treibt — 

Durch das Bldckechaos blotzt und plumpert Mord 
und Tod. Quaderpfeiler kreisend und das Stan- 
genwerk der Weltmaschine knackt das Harte, 
kerbt das fliehende Weiche tief, Bruch und Blut. 
Suche, such, von dem enfziindeten Muttergrund 
auBerst nie getrennt, Trennung nie gewillt, halt 
immer Faden diinn, zieh Fett und Schleim, glan- 




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DIE AKTION 



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zend durch die treue Wurzel dein wird Liebe dir 
gesandt, flammt in dich ein, eiastisch klopft dein 
Pulsschlag gut, verwandle dich, durch Feindschaft* 
wand in schlanken Pilz erdehne dich, doch bringe 
dich, doch lebend immer schlinge dich, eidech- 
sengut und schlangle hurtig — durch Rillen rinnt, 
durch Karst und Klamm klettert und dreht, in- 
mitten zermalmendem Tod gestummelt, gcschnit- 
ten wachst und iebt armes, diinnes Gras, was 
Stamm ist, Baum und weiter Wipfetmond, wachst 
und lebt, dranget gedrangt und weiB nicht und 
stemmt, fiillt rohrigsten Stieg, auf glimmert Licht, 
stoBt dornigste Miindung, Saft spritzt in das 
Brockeln, aus letzter Quetschung, aus giftigem 
Zahnemund, der beiBt und schleiBt, ringelnd 
ersteht, entrinnend eilig, in Freiheit erholend 
raschauf raschauf, hoch in Saule fein ist die Ranke 
erwunden, quiriet und vveht, rotierender Qualen 
erdrechselt erdreht, was halt sie? was hebt? 
in einsamem Raume spielen Spiralen und ihnen 
erschwebt stracks trotzt die Spitze spitzender in 
dem eisigen Lichte, wo Leben erfriert — o hu- 
schendes Leben! o ewiger Tod! — entschwindet 

vergeht — 



Bemerltung zu diesem Josef Capek*Heft 

Auf die Frage, warum such bei uns Tschechen einc Bewegung 
wie der Kubismus entstehen und sich entwickeln kann, mufj 
geantwortet werden, dafl die Geschichte einer Revolution, wie 
der Kubismus sie ist, nicht einem einzigen Volke ihre voile 
Entwicklung verdanken kann, Bei uns darf sein Entstehen als 
der Ausdruck eines allgemeinen, niemals feilschenden Enthu- 
siasmus, und einer reinen Seele betrachtet werden. So wie zu 
unserer Tradition die Kampf e um die Gesetze der neuen Welt 
und um die geistige Wiedergeburt durch die Reformation ge* 
horen, so spielt sich auch in diesem Falle der Kampf um ein 
neues Seben und Offenbaren bei uns ab. Es handeit sich um 
cine Demonstration gewisser allgemeiner Weligesetze. 

Aus dem Kampf um das Rechl auf die Existenz dieser neuen 
Form ertbnt bei uns das Gebet um das, was das Volk immer 
persbnlich am schmerziicbsten geftthlt hat — das Gebet urns 
Le b e n. 

Der Maler will nicht, daft nur das Stoffliche und Gegen- 
siSndliche sei. Der neue Mensch erregt sich religios und ist 
andSchtig. Denn wiewohl er auch lebendlg ist, ftthlt er sich 
doch schwfichlich und klein: Uber ihm hangt die abgrund- 
liefe Last des GegenstSndlichen und aus dieser Gewaltigkeit 
ergl&nzt seine Sehnsucht und sein Gebet, es w£ren keine leb- 
losen Dinge mehr, es m&chte die tote Maierie sich beleben, 
es geschehe das Wander des Auflebens, es mbge das Geheimnis 
des Lebens entstehen, 

Von der bildnerischen Seite sehen wir, man ist um Anmutig* 
keit bemttht: die Linie wird inniger und reicher an Reinheit, 
die Konstruktion geschieht in einfacher Farbe, in klar gesetzten 
Kitchen. Aber in den Vordergrund treten hier aufierdem auch 
andere umstttrzlensche Quellen kllnstlerischen Schaffens. 

Zum Gcgenstande des neuen Schaffens wird die Welt der Vorstel- 
lungen und Erinnerungen der Kindheit der Secle. In dieser 
elementaren Welt haben die Dinge eine eigene hbhere Realitat 
und Lebendigkeit, eine hohere geistige Wirklichkcit und cine 
tiefere R&umlichkeit, als in der stnnlichen Augenblicklichkeit 
und Sentimentalitat des Impressionismus und Naturalismus der 
eben abgelaufenen Zeit. Zu diesen verborgenen ursprElnglichen 
Quellen der menschlichen Seele ftthren, wie mir scheint, Capeks 
Bilder. 



hr. Tu 6 ny 

(Oberseut von J. Fleischner) 



Ueber Alfred Wolfenstein 

Als Wollensteins ersles Gedichibuch erschien, ,,Die gottJosen 
Juhre’* (S, Fischer, Berlin 1914), da konnte man meinen, hier 
sei ein stiller Dichter,. mensch' und kreaturliebend, cdel im 
Versuch uns das Daseinsrecht jedcs Geschopfs zu lehren aus 
dessen eigenem Auge, Blut and Bau: 

P f e r d. 

Htlglig gehohlt und gehoht liegt sein Rucken 
Leblos drttckend auf sleilen Gitedern 
Wie auf stummem Sluhl .... bloflc Fleiscbe btlcken 
Sich zu Steinen, die die dumpfe Last erwidern . . . 

. . . Pltitzlich bewegt vor sich vorwtrts hasten 
St&rken, daran die fremden Willen laut saugen 
. . . Vorn eingesperrt in den knochigen Kasten 
Summt sein armes Hirn an die Locher der Augen. 

Und hier, aus dem Abschnitt „Das neue BewuBtsein“, ganz 
liebend, neufranziskanisch : 

Die Gedanken schlagen zusamtnen (ftir welches Fest ?) im 

Geltut. 

Und unten pfeift die Strafle vor Schnellsein (was ibr 

Ziel ?) 

Die Trams sprtihen am Draht und klingeln von Menschen 

voll Geftlhl, 

Dieser herrliche Blick vom Pferd (aber wtlOt ich, was ihn 

so freutl) 

Aber spaler las ich von ihm den Vers: 

An meinem Mund rllttelt Sturm 
und diese Prosasiitze: 

Ein Dichter sein bedeutet, selbst an die Stelle eines Qe- 
dichtes treten zu konnen . . . Wer selbst als sein Gedicht 
auftritt, hat nur sick darzubringen . . . Die Schusse^ die 
aues beim alien lassen, sollen ubertonende Stimmen zu 

horen bekommen Die W a f/en, die alles beim. alien 

lassen, sollen, wie von einem gewaltigen Magneten, von 
der Gestalt des ganz sichtbaren Kuns tiers angezogen und 
den chaotischen fidnden entrissen werden, 

Danach wufite ich, da Q er einer von den unsrigcn ist. Ein 
Direkter, der sich entschlossen hat, seine Person fttr die Liebe, 
fttr die Gemeinschaft, fttr die hobere Ordnung einer neuen 
Welt hinzugeben. Aber, die das mit mir wuflten, das waren 
nur Wenige; wir Minderheit, die seit Jahren gettbt ist im Laster: 
hinter den Zeilen zu horchen, 

Ein Dichter von diesem Wollen hat Verplichtungen. Nieroand 
darf langer meinen, daft es seinen Versen gleichgttltig wfire, 
wenn Thessalien Krieg auf den Mond trttge I (Gleichgttltig 
seinen Versen, und nur seine m Frivatleben ein leidenscbafi- 
licher Abscheu.) Wolfenstein werde offentUch, Er sage den 
Geist an, unter dem er stebt. Seine Freunde sind da. 

Ludwig Rubiner 

ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS 
L 

Italienische Wutausbrttche. Beihmanns Rede. 

Drahtbericht uns. Korrespondenten. 

Lugano, X. April. Die italienischen KriegsbI&tter 
ergehen sich, wie nicht anders zu erwarten war, in hasserftllllen 
Beschimpfungen Deutschlands als Antworl auf die Rede Belh- 
mann-Hollwegs. „Corriere della Sera* nennt diese eine ,, hinter- 
listige Verbeugung vor der russischen Revolution 0 . Aus 
Rtlcksicht auf das Dr&ngen der freiheitlichen Parteien im 
eigenen Lande habe das Haus Hohenzoltern durch den Mund 
des Kanzlers den in der Gefangenschaft weilenden Zaren ver- 
leugnet, wie Petrus Christus verleugnete ; netn, schlimmer noch : 
verralen, wie Judas. Wilhelm II. lasse heule Steine auf den 
gefallenen Zaren werfen, weil dieser die hundertjahrigc Freund- 
schaft zwischen den Romanows und Hohenzollem vergessen 
habe. Welch eine Ktthnheit! Die tragische Schuld des Zaren 
war es, sicb den liberalen Nationen genShert ohne vom preussischen 
Militarismus und Unterdrflckungsgeist gelassen zu haben. Das 
Blau hofft, dass die Petersburger Arbeiter nicht vergessen 
werden, dass die Revolution erst moglich wurde, nachdem das 
alte Regime die preussische Untersttttzung verloren hatte. Die 
Rede Bethmann- Hollwegs sei nichts als ein Lttgengewebwe und 
ein Fallsirick far das neue Kussl&nd. Auch „Secolo“ nennt die 
Rede einc ungeheuerliche Lttge, darauf berechnet, dem russischen 
Volke zu schtncicheln. Das rdmische Regierungsblatt „Giornale 
d' Italia u gibt ebenfalls der Meinung Ausdruck, dass Bethmann- 
Dollweg sich mil seiner Rede in erster Linie an die demo 
kratischen Parteien im eigenen Lande habe wesden wollen. 




DIE AKTION 



338 




urn fieien Zorn zu damp fen. Die Basis seiner Rede sei absolul 
Msch uud wider spruchsvoll. Seine scheinbaren Schmeicheleien 
gtgentiber der Revolution und seine heuchlerische und unbe- 
itimmte Friedensofferte an den demagogischen Pazifismus babe 
den Zweck, indirekt die katastrophische Tendenz zu begtinstigen 
und so den preussiseben Konservativen ein Pfand ftlr den 
Ruin der Revolution zu geben. Die Befestigung der freiheitlichen 
Zustande in Kussland und die Einsicht des russischen Volkes 
warden aber alle diese Machenschaften zuschanden machen. 

Wer schimpft, bat unrecht. 

KrUgtztitu.ng dta ,,Ber lintr Lokal-Anzeiger t“ 2, April 1917. 

KLEINER BRIEFKASTEN 

F. J. Icb mtisse w anerkennend“ registrieren, dafi das ,,B, T. u 
ein Beiblatt „Das junge Geschlecht" seiner Phngstnummer mil' 
gegeben babe? Dieses , junge Geschlecht 11 reprasentierten dort 
diese funf Autoren: Franz Werfel, Heinrich Mann und Georg 
Kaiser einerseiis, der secbzigjihrtge Kulturaufrufumerzeichner 
Carl Hauptmann und Herr Hasenclever von jener Seite, Sind 
Sie ernatlich der Meinung, Herr Block drucke Mann und Wer- 
fel, u.m ftlr diese Dichter ein Publikum zu werben ? Ach, es 
ist der alte Trie, den ich hier oft (zuletzt im Heft 9/10 d.J.) 
kennzeichnele : hat sich ein Autor durchgekampft gegen Hobn 
und Totschweigen der Presse, dann naht Herr Block (oder Fritz 
Enge 1), um mit „Namen“ zu prunken, Wie aber das „n«men 
lose“ junge Geschlecht votn r B. T. u behandelt wird, daftlr 
bringt jeder Tag neue Beweise. Da bat Herr Block verbffent- 
licht: n Fdrderung ist mehr als Geld**. Einer der besten 

Dichter der AKTION, (den das Tageblau feiern wllrde, hStte 
er, wie Georg Heym, das Gltlck, katastrophal aus dieser Kul- 
turmenschheit befreit zu werden), lieO daraufhin Herrn Block 
einige Kostbarkeiien zusenden. Der Feuilletonchef, der den Ein- 
sender als AKTJONS-Aulor nicht erkennen konnle, reagierle : 

REDAKTION DES BERLINER TAGEBLATT 

ABTEILUNG FEIJILLETON 

Alle Zuitoduagta »a upi sind lt An die Rediktion 

d#« lintr Ttgeblitt FEUILLETON* * iti 

: BERLIN SW 1 9, 19. Mirz 17. 

BKRLXBLA Jerusaletasr Strait 45—49 

Werter Herr, 

es spriebt eine entschiedene Begabung aus diesen Gedichten — 
aber wie soli eine Tageszeitung in dieser Zeit der aufiertten 
Raumnot solcbe Verse dmcken? Ich wllrde Ihnen raten, sich 
an die ^Akiion* cu wenden, deren Herausgeber zwar mit dem 
„ Berliner Tageblatt“ ewig im — einseitigen! — Kriege liegt, 
aber ftlr junge Dichter Stimroung bat, Berufen Sie sich aber 
nicht auf micb; das wllrde Ihnen nur schaden. Allenfalls 
kbnnen Sie auf die verknocherte Feuilletonredaktion des „ Berliner 
Tageblattes* 1 schimpfen; wenn Sie dadurch bei Herrn Pfemfert 
etwas erreicben konnen, haben Sie memen Segeo datu. 

Mit Hochacbtung 

Paul Block. 

Niedlich. Fbr ^entschiedene Begabungen a hat das Papier keinen 
Raum, das tnunier die Fulda und Genossen druckt und dabei vorgibt, 
das „ junge Geschlecht“ fordern zu wollen. 

Obrigens xahlen auch Kttnstler zu diesem Geschlecht, und das 
Moaseblatt bat in Fritz Stahl einen Kunstkritikus. Junge Maler 
mils sen Bilder verkaufen, mllssen „marktfahig tt werden, um in 
dieser Gesellschaft vegetieren zu kdnnen. Das weifl selbst 
Herr Stahl. Jetzt entdeckte er, dafi die stets von ihm ver- 
lachten Jtlngsten sich (wieder gegen die Presse!) eine Gemeinde 
erklmpft haben. Eine Versteigerung, die, den 5. Juni 1917, 
in Berlin stattfand, zeigle es. Wie zieht sicb Herr Fritz Stahl 
aus der A flare ? 

Herr Fritz Stahl jauchzt im ,,B. T." t Abendausgabe vom 6. Juni 
1917: F. St. Die Versteigerung der Gaierie Flechtheim hat 
sum ersten Male Werke der neuesten Richlung der Probe der 
Auktion unierworfen. Es ist hier tlber die Sammlung nicht 
vorher gesprochen worden, um die Freisbildung, die dies- 
mal eine gewisse grundsatzliche Bedeutung hatte, nicht zu 
bceinflussen. Ftlr die Betracbtung des Resultats ist es wicb 
tig, darauf hinzuweisen, dafi es sich nicht um eine Auslese 
handelte. Auch soli nicht vergessen werden, dafi die Ver- 
meegung alter und neuester Bilder vielleicht unvoneilhaft 



gewesen ist. Selbsl Werke berilhmter Meister, wie tier „Zuave“ 
von Van Gogh (19000 Mark), haben nicht so vie! gebmchl, 
wie sie im Zusammenhang einer anderen Auktion erzielt h St ten. 
Trotz alledem muii man feststellen, dafi die Preise ftlr die Bilder 
der jtingsien Schule im ganzen sehr niedrig waren . . . Die 
einzige Ausnahme bildete ein Gemalde von Marie Lau- 
rencin, das setnen Preis von 3000 Mark wo hi dem frtlh 
gezeigten Imeresse einer sehr za hi u ng sfah igen Familie 
verdankt. Dieses bescheidene Resultat ware nicht weiter 
auffallend, wenn es nicht in so schreiendem Gegensatz zu dem 
Ruhm stande, den die Wortfilhrer der lelzten Ismen den 
Malern gespendet haben. Diese j ungen Ktlnstler haben ftlr sich 
allein mehr Zeitschriften und woribegabte Fllrsprecher zur 
Verfligung, als alle anderen zusammengenommen. Es wird 
seit Jahren fUr sie und gegen die Unglaubigen des neuen 
Glaubens so viel Larm und Geschret gemacht, wie niemals 
frUher in der Kunstkritik gehort worden ist . . . Da ist es 
doch wohl cm Beweis fttr die KUnstlichkeit der ganzen Be- 
wegung, wenn in einer Auktion nicht einm&l dieselben Preise 
wie im Handel erreicht werden . . . 

Herr Fritz Stahl gibt also offen zu, Vorbesprechungeo zurtlck- 
gehalten zu haben, um „die Preisbildung nicht zu beeinflussen“ !. 
Er gibt zu, die Versteigerung habe eine „gewisse grundsKtz- 
liche Bedeutung“. Und da ihm das Ergebnis einen Strich 
durch seine gesamte Kritik machte, deutete er es einfach um 1 
Mutig verschwieg er, dafi ein Aquarell von Liebermann 1 100 Mark, 
eine Zeichnung von Picasso 2000 Mark brachte. Er spricht 
vor dem q zahlungsfahigen M Tageblattpublikum von n sehr nied- 
rigen Preisen", als sei das ein Einwand gegen die Kunst und nicht 
vielmehr gegen die Bilderkaufer, Er nennt (bei seinem Hin- 
weis auf Marie Laurencin) eine (falsche) Zahl als ,, einzige 
Ausnahme". Dabei muflte die Ubrige Presse, die auch nichl 
ftlr jtlngste Kunst schwSrmt, der Wahrheit entsprcchend ganz 
anders berichten! Hier zwei Ziiate. 

In der „B. Z.“ vom Donnerstag, den 7 . Juni, war zu lesen: 

Die erste Auktion jtlngster Kunst. 

Zur Versteigerung der Gaierie Flechtheim am Kurftirstendamm. 

Es hat sich bei dieser ersten Versteigerung der „jtingtten u 
Kunst um nicht weniger gehandelt, als um den Beweis daftlr, 
wie weit diese Kunst tlberhaupt marklflihig und m&rktmdglich 
ist. Der Beweis ist gegltlckt. Von heute ab ist keine 
Tfiuschung mehr moglich tlber die Tatsache, dafi ein Publikum 
ftlr unsere neueste Kunst da ist, und dafi dieses Publikum ftlr 
seine Cberzeugung bereits Geld ausgibt, also zu ihr Vertrauen 
hat. Denken wir an die ersten Vcrsteigerungen zurtick, mit 
denen die Iunpressionislen zur Zeit ihrer ersten Ausstcllungen 
die Offentlichkeit zu erobern versuchten. Schon damals hat die 
revolutionise Kunst versucht, auf dem Wege fiber die Auktion 
cum Marktwert zu kommen. Buret weiil interessant zu er- 
zahlen, wie klaglich diese Versuche scheiterten, wie schflne 
Werke, entscheidende Werke der Manet und Monet, der Picasso 
und Sesley im Preise zwischen 50 und too Francs schwankten. 
Wie sieht dem gegentlber nun die Rechnung des „Expressio- 
nismus* aus? Picassos wurden mit mehr als 3000 und 4000 Mark 
bezahlt, ein grofies Bild von Marie Laurencin ging nicht 
unter 3600 Mark weg; die allerdings auffallend schdne Wein- 
ernte des Schwcizer Amiet stieg bereits auf 2100 Mark, die 
Madonna von Deni-? auf 1000 Mark, ein Derain auf 1820 Mark, 
ftlr eine grofle Bronze des Italiener Fiori 2450 Mark, ffir 
Landschafien von Friefi 700 bis 1000 Mark. 

In der „Tag1ichen Rundschau* (fi. 7 .) : Versteigerung der Ga- 

ierie Flechtheim stand mit semen Werken der neueren Kunst 
im Zeichen zahlreichen Besuches, reger Anteilnahme der Bieten- 
den und guter Preise. Auch ftlr Arbeiten von recht frag- 
wtlrdiger ktinsilerischer Natur wurden nnsehnliche Sum men 
gezahlt. Als bezeichnend fUr die NVertschatzung Ubermodemster 
Kunst mogen angeftlhrt sein, usw. 

Doch genug Bemerkt sei nur noch, dafi die bekannteren 
jtlngsten Deutschen nur sparlich venreten waren. Kein Bild 
von Max Oppenheimer Oder Kokoschka, keine Arbeiten von 
Kichter-Berlin, Tappert, Schmidt Rott luff, Cesar Klein, Morgner, 
Pechstein, Hans Richter, Schritnpt, K. J. Hirsch. Dennoch 
erbrachte die Versteigerung Herrn Stahl den Beweis ftlr die 
,, KUnstlichkeit" der ganzen Bewegung". 



INHALT DER VORIOEN NUMMER. (SONDERHEFT ALFRED WOLFENSTEIN) : A. H. PELLEGRINI; ALFRED 
Wolfenstein, Portrat (Titelbiatt) / Alfred Wolfenstein; Uber Lebendigkeit der Kunst / Josef Eberz: Zeichnung / Alfred Wolfen- 
stein: Allegro der Hnstemis / Rudolf Mense: Zeichnung / Alfred Wolfenstein: Vorspiel; Dunkel des Denkens / Waldemar Ohiy: 
Maske / Alrred Wolfenstein: Andante der Freundschaft; Durch die Schwarze der Erde / F. P.: Ich schneide die Zeit aus; Kleiner 
Briefkasten; Bemerkung zu diesem Sonderheft / Beilage fur die Buttenausgabe: Felix Muller: Original-Lithographie 







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Ffir Her&usgabe, Schriftleitung und den gesamten 
Inhalt verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin-WIl- 
mersdorf, Nassauische Strafle 17. Tel. Pfalzbg.1695. 
Oedruckt be! F. C. Haag, Melle in Hannover. 
Die AKTION erscheint jeden Sonnabend. Abonne- 
ments kosten vierteljahrlich durch die Post, durch 
Buchhandel Oder Verlag (unter Kreuzb.) M. 2,50. 
Abonnements fOr das Ausland kosten M. 3,—. 
Bftttenausg., lOOnumerierte Exempt., jahrl.M.40, — . 
Verlag der AKTION, Bcriin-Wilmersdorf. 

Unverlangten Manuskripten 
ist Rflckporto beizuftigen. 

Alle Rechte vorbehalten. 




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WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, UTERATUR, KUNST 
VI JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT NR. 26 



INHALT: Georg Tappert: Landschaft. Original-Hotzschiiitt (Titelblatt) / Franz Mehring: Michael Bakunin / Osio Koffler: 
Oondelfahrt (Federzeicnnung) / Theodor Lessing: Europe und Asien / Max Krause: Ein Argument (Federzeichnung) / H. Anger: 
Holzsdinltt / Herbert K&hn: wiederkehrende / Franz tobler: Kinderkreuzfahrt / Antonin Sova: wenn nun . . . / Paul Bold!: 
Die Sprccher / Horax Traubel : Oh mein toter Kamerad / Raoul Hausmann : Holzschnitt / Felix MQller : Holzschmtt / Kolzow : 
Der ventummte Dichter / Alfred WoUenstdn: Hingebung des Dichters / K. J. Hirsch: Original- Holzschnitt / JQrgen von der 
Wense; Angdegenbeit / Heinrich Stadelmann-Ringen : Sophus Emanuel. Eine Novclle / w. Schuler: Holzschnitt / Xaver: 
Caligulas Hinterlassenschaft / Felix M tiller : Xavers Portrftt / Simon Kronberg: Erdbeben / Franz Jung: Einffihrung in den 

Roman Zuflucht / F. P.: Ich schneide die Zeit a us; Kleiner Briefkasten 




VERLAQ > DIE AKTION < BERLIN -WILMER S DORF 

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WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK. LITERATUR, KUNST 

7.JAHRGANG HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT 30. JllNl 1917 



MICHAEL BAKUNIN 
Von Frans Mehring 

Unter den revolutionaren Charakterkopfen de$ 
neunzehnten Jahrhunderts nimmt Michael Baku- 
nin einen hervorragenden, aber keinen unbestrit- 
tenen Platz ein. Und solange es Philister auf die- 
sem ErdbalJ gibt, wird ihm sein geschichtlicher 
Ehrenplatz wieder und wieder bestritten wer- 
den. 

Bakunin gehorte zu jenen „grenzenlos-genialen 
Naturen“, von denen Goethe einmal spricht, Na- 
tural, die dem Philister ewig ein Argernis und 
eine Torheitsind, aus dem einfachen Grunde, weil 
er sie nicht verstehen kann und nicht einmal ver- 
stehen darf, ohne sein kostbares Dasein aufzuge- 
ben. Wobei es naturlich nicht darauf ankommt, 
ob dieser Philister sich die Nachtmutze des poli- 
zeifrommen Staatsbiirgers uber die Ohren zieht 
oder jener Philister das Lowenfell eines Marx 
um seine schlotternden Gebeine zu hangen ver- 
sucht. 

Bakunin hatte hundert Fehler und Schwachen, 
und namentlich lebte er, um seiner revolution a ren 
Anschauungen willen schon fruh von Familie und 
Vaterland verstoBen, in ewigen Geldnoten, die 
ihn in den Fragen des irdischen Mammons recht 
unbekummert machten, was der richtige Spie- 
fier am wenigsten verzeiht. Aber wenn er und 
seinesgleichen nun diese oder ahnliche Siinden 
Bakunins an den Fingem herzahlen, so wird, wer 
sich anders noch auf menschliche Grofle und 
menschliche Schuld versteht, entweder mit Las- 
salle im allgem einen antworten : I hr habt ja in jedem 
Punkte recht, aber eben daB Ihr in jedem Punkte 
recht habt, ist Euer Unrecht, oder mit Bjelinski, 
dem beruhmten russischen Kritiker und jugend- 
freunde Bakunins, im besonderen: „Michae! ist 
in vielem schuldig und sundhaft, doch gibt es 
etwas an ihm, das alle seine Mangel uberwiegt — 
das ist das ewig bewegende Prinzip, das in der 
Tiefe seines Geistes lebt.“ 

Dies „ewig bewegende Prinzip 1 *, wie es Bjelinski 
oder „der Satan im Leibe**, wie es Bakunin selbst 
grobschlachtiger nannte, oder wie man es wohl 
am treffendsten ausdruckt, der revolutionare 
Sturm, der in ihm lebte, war Bakunins Starke 
und — wie es bei jedem ganzen Mann zu sein 
pfiegt — seine Schwache. Jeden Funken des Auf- 
ruhrs, den er zu entdecken glaubte, schurte er zu 
heller Flamme, aber es ist oft genug vorgekom- 



men, daB er in tote Asche blies, die ihm selbst 
in die Augen staubte. Wenn er sich bei dem Dres- 
dener Maiaufstande von 1849 — nach dem Zeugnis 
seines spateren Gegners Marx — als „fahiger 
und kaltbliitiger Leiter“ bewahrte, so hatte er 
sich ein Jahr vorher fur den abenteuerlichen Frei- 
scharenzug begeistert, den Herwegh aus Paris 
nach Deutschland plante, und noch zwanzig Jahre 
spa ter hat er sich von dem russischen Fluchtling 
Netschajew, einem wild energischen, aber vor den 
verwerflichsten Mitteln, vor Falschung, Raub und 
Meuchelmord nicht zuriickschreckenden Agitator, 
in einer Weise betoren lassen, die mehr als alle 
seine sonstigen MiBgriffe seinem Ansehen gescha- 
det hat. 

Bakunins Eigenart verrat sich schon in seinem 
literarischen Erstling. Als Sohn einer alten, ange- 
sehenen Adelsfamilie sollte er die standesubliche 
Militarlaufbahn einschlagen, wurde aber durch das 
ode Garnisonleben so angewidert, daB er schon 
mit zwanzig Jahren den Offiziersrock auszog. Er 
wollte sich nun der wissenschaftlichen Laufbahn 
widmen und genet in einen Kreis junger Leute, 
die die Probleme der deutschen Philosophic eifrig 
erorterten. In dem Studium unserer klassischen 
Philosophen ist Bakunin zum Revolutionar ge- 
worden. Um Kant, Fichte und Hegel an der 
Quelle zu studieren und zugleich in ihrem Geiste 
zu wirken, siedelte er 1339 nach Deutschland uber, 
wozu ihm nicht die Familie, die ihn fortan am 
Hungertuche hielt, sondern ein ige Freunde die 
Mittel gewahrten, 

Wie er von einem ungestumen Drange der Propa- 
ganda beseelt war, so hatte er die Gabe, daB die 
Menschen auf seine Stimme hdrten. Man hat 
ihn wohl einen „groBen Bezauberer" genannt. Ar- 
nold Ruge, der die Deutschen Jahrbiicher, das Or- 
gan der Junghegelianer, in Dresden herausgab, 
schrieb begeistert: Jt Dieser liebenswiirdige junge 
Mensch uberholt alle alten Esel in Berlin.** In der 
Zeitschrift Ruges veroffentlichte Bakunin seine 
erste literarische Arbeit uber die Reaktion in 
Deutschland, unter dem Pseudonym Jules Elysard. 
Merkwiirdigerweise entging sie dem Rotstift des 
Zensors, der viel harmlosere Sachen unbarmherzig 
mordete. 

In diesem Aufsatz wies Bakunin schon nachdrikk- 
lich auf das unterirdische Grollen der sozialen 
Revolution hin, auf die arme Klasse, das eigent- 
liche Volk, das die im Vergleich zu ihm schwache 
Reihe seiner Feinde zu zahlen, das die wirkliche 







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341 



DIE AKTION 



342 



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Gewahrung seiner ihm langst zugestandenen 
Rechte zu fordern beginne. . . „ln RuBland selbst, 
in diesem endlosen und schneebedeckten Reiche, 
das wir so wenig kennen und dem vielleicht eine 
groBe Zukunft bevorsteht, — in RuBland selbst 
sammeln sich dunkle, Gewitter verkiindende Wol- 
ken. Oh, die Luft ist schwiil, sie ist schwanger von 
Sturmen. . , LaBtunsdem ewigen Geiste des Herrn 
vertrauen, der nur deshalb zerstort und vernich- 
tet, weil er die unergriindliche und ewig schaf- 
fende Quelle alles Lebens ist. Die Lust der Zer- 
storung ist zugleich eine schaffende Lust. 44 Der 
letzte Satz wurde zu einer Art gefliigelten Wortes 
unter den Junghegelianern, die noch kein poli- 
tisches oder soziales Programm hatten; fur Baku- 
nin selbst ist er der Grundakkord seiner ganzen 
Lebensarbeit geblieben, obgleich er schon auf 
das Erwachen „der armen Klasse 44 , „des eigent- 
lichen Volkes 44 , als ein Unterpfand der Wieder- 
geburt hinwies, wovon die Junghegelianer noch 
nichts ahnten. 

Die angesehene S tel lung, die sich Bakunin in die- 
sen Kreisen erworben hatte, gab sich auch darin 
kund, daB er zu den Paten der Deutsch-Franzo- 
sischen Jahrbiicher gehorte, zu deren gemein- 
samer Herausgabe sich Ruge und Marx 1843 
nach Paris begaben, als eine drakonische Zen- 
sur ihnen ein offentliches Wirken in Deutschland 
umnoglich machte. Ein Briefwechsel zwischen 
Marx, Ruge, Ludwig Feuerbach und Bakunin, 
gleichsam als Programm, leitete das erste Doppel- 
heft des Untemehmens ein. Es ist das einzige 
geblieben, da die beiden Herausgeber sich bald 
iiberwarfen, wegen der entschiedenen Wendung, 
die Marx zum Kommunismus nahm. Bakunin 
schlug sich auf seine Seite, Noch fast dreiflig Jahre 
spa ter, als er rait Marx schon in heftiger Feind- 
schaft lebte, hat er bekannt, wie haufig er im 
Jahre 1844 in Paris mit dem um vier Jahre jun- 
geren Manne verkehrt habe, aus Bewunderung 
nicht nur fur dessen Wissen, sondern auch fur 
den leidenschaftlichen Ernst, worn it Marx der 
Sache des Proletariats ergeben gewesen sei. „Marx 
war damals der bei weitem Extremere von uns 



beiden, und auch jetzt ist er, wenn nicht extremer, 
so unvergleichlich gelehrter. Ich hatte damals 
keinen Begriff von der politischen Okonomie 
und war noch in den metaphysischen Abstrak- 
tionen befangen, und mein Sozialismus war rein 
instinktiv. Er dagegen, obgleich jiinger als ich, 
war schon Atheist, gelehrter Materialist und be- 
wuBter Sozialist. Gerade damals arbeitete er die 
Grundlagen seines jetzigen Systems aus. 44 Seines 
Systems oder richtiger seiner Weltanschauung, in 
die sich Bakunin leider nie hineinzuleben ver- 
mochte, so oft er auch Marx als groBen Den- 
ker gefeiert hat. 

Bakunin hat es nie verstanden, den revolutionaren 
Sturm und Drang seiner Natur in die geregelten 
Bahnen wissenschaftlichen Denkens zu leiten. Er 
hat am Ende nie einen Begriff von politischer 
Okonomie gehabt, und sein Sozialismus ist immer 
rein instinktiv gewesen. So vermiBte er an Marx 
„den Instinkt der Freiheit 44 , den er an Proudhon 



entdeckte: „Proudbon betet Satan an und verkun- 
det die Anarchie 41 . Nicht als ob Bakunin den 
franzdsischen Sozialisten iiber Marx gestellt hatte; 
er sagte im Gegenteil, Proudhon sei ein „ewiger 
Widerspruch 44 , der bestandig mit den Phantomen 
des Idealismus kampfe und sie niemals zu besiegen 
vermoge. Aber die blendenden Paradoxen Proud- 
hons rissen ihn immer wieder hin, so die SchLag- 
worter der Anarchie und des Foderalismus, das 
traumerische Gebilde eines Gesellschaftszustandes, 
der nach Zertriimmerung aller staatlichen Herr- 
schaftsformen die Menschheit in freien Gruppen 
produktiver Arbeiter einigen solle. 

Noch hatte sich das garende Chaos seiner Ge- 
dankenwelt nicht geklart, als die Revolution von 
1848 ausbrach. Erst in Paris, dann in Berlin und 
Breslau, dann in Prag, endlich in Dresden warf 
sich Bakunin mit seinem ganzen Ungestiim in 
ihre Strudel. Nach der Niederlage des Dresdener 
Maiaufstandes wurde er gefangen, zum Tode ver- 
urteilt und zu lebenslanglichem Gefangnis begna- 

digt, dann an Osterreich ausgeliefert, hier wieder 
zum Tode verurteilt und zu lebenslanglichem Ker- 
ker begnadigt, endlich nach RuBland ausgeliefert, 
wo er im Alexeiraveiin der Peter-Pauls-Festung 

ein Grab bei lebendigem Leibe fand. Hier und 
spater in der Fe stung Schlusselburg, wohin ihn der 
Zar Nikolaus im Anfange des Krimkrieges br ingen 
lieB, aus Angst, daB ihn die englische Flotte 
befreien konne, hatte er unsagliche Quale n zu 
erdulden. Aber gebrochen haben sie ihn nicht. 
„Heiter war und blieb er nach alien ausgestan- 
denen Leiden, die jeden andem zehnmal zer- 
malmt hatten; nur er, der Gigant, schuttelte die 
Last von sich ab und zeigte den erstaunten Freun- 
den stets wieder das lachelnde Gesicht auf dem 
gewaltigen Rumpfe 44 — so schreibt einer seiner 
Biographen. 

Als der Zar Nikolaus gestorben war, verschwor 
sich dessen Nachfolger zwar auch, Bakunin nie- 
mals freizulassen, aber als sogenannter „Zar-Be- 
freier 44 tat er ein iibriges, indem er den gefurch- 
teten Revolutionar nach Sibirien verbannte. In 
den sibirischen Eiswiisten hat Bakunin, zuletzt in 
halbwegs ertraglichen Verhaltnissen, noch vier 
Jahre geschmachtet, bis ihm im Juni 1861 die 
Flucht gel an g. In abenteuerlicher Weise entkam 
er iiber Japan und Nordamerika nach London, 
wo er im Dezember desselben Jahres eintraf* 
nachdem er 30000 Werst in sechs Monaten zuriick- 
gelegt hatte. 

Ober ein Jahrzehnt war er dem europaischen Le- 
ben entfremdet gew'esen, und er muBte sich erst 
allmahlich wieder hineinleben. Es war naturlich, 
daB er seine erste Zuflucht bei den russischen 
Fluchtlingen in London suchte und fand, die, wie 
Herzen und Ogarew, die Gefahrten seiner Jugend 
gewesen waren. Aber im Grunde hatte er wenig 
mit ihnen gemein: sein Panslawismus, soweit da von 
uberhaupt gesprochen werden konnte, blieb immer 
revolutionar; von dem Rasonnieren auf den „ver- 
faulten Westen 41 und der Verherrii chung der rus- 
sischen Dorfgemeinde wollte er nichts horen. 
Er brach mit Herzen zwar nicht personlich, aber 



DIE AKTION 





politisch, und nahm fur mehrere Jahre seinen 
Aufenthalt in Italien, zumal in Neap el. 

Er hatte dies Land gewahlt des milden Klim as 
und des wohlfeilen Lebens willen, zumal da ihm 
Deutschland und Frankreich verschlossen waren, 
dann aber auch aus politischen Grunden. Er sah 
in den Italienern die natiirlichen Verbiindeten der 
Slawen gegen den osterreichischen Zwangsstaat, 
und die Heldentaten Garibaldis hatten schon in 
Sibirien seine Phantasie entzundet. An ihnen er- 
kannte er zuerst, daB die revolutionare Flut wie- 
der im Steigen begriffen sei. In Italien land er eine 
Menge von Geheimbunden ; er fand hier eine de- 
klassierte Intelligenz, die stets bereit war, sich in 
allerlei Verschworungen einzulassen, eine bauer- 
(idle Masse, die stets am Rande des Hungertodes 
schwebte, und endlich ein ewig bewegliches Lum- 
penproletariat, so die Lazzaroni in Neapel. Diese 
Klassen erschienen ihm als die eigen tlichen Trieb- 
krafte der Revolution, eine Auffassung, die urn so 
starker in ihm wurzelte, als die Dinge in seiner 
russischen Heimat ahnlich lagen. Allein wenn 
Bakunin in Italien das Land sah, wo die soziale 
Revolution vielleicht am nachsten auflodem werde, 
so muBte er bald seinen Irrtum erkennen. Noch 
war in Italien die Propaganda Mazzinis uberm ach- 
tig; mit seinen verschwommenen religidsen 
Schlachtrufen und seinen straff zentralisierenden 
Tendenzen kampfte Mazzini nur fur die biirger- 
lidie Einheitsrepuhlik. 

In diesen italien is chen Jahren nahm die revolu- 
tionare Agitation Bakunins bestimmtere Forme n 
an. Bei seinem Mangel an theoretischer Bildung, 
der sich mit einem OberfluB an geistiger Beweg- 
lichkeit und ungestumer Tatkraft verband, wurde 
er immer sehr stark von der Umwelt beeinfluBt, 
worin er lebte. Der religios-politische Dogmatis- 
mus Mazzinis trieb um so scharfer seinen Atheis- 
mus und seinen Anarchismus, die Verneinung 
jeder staatlichen Herrschaft hervor. Dagegen farb- 
ten die revolution a ren Oberlieferungen jener Klas- 
sen, die ihm die Preisfechter der allgemeinen Um- 
walzung waren, um so starker auf seine Neigung 
zu den Waffen ab, mit denen die „ Revolution are 

der vorigen Generation** gekampft hatten. Er 
stiftete einen revolutionaren Geheimbund, einen 
„Verein der sozialistischen Demokratie* 4 , der sich 
zunachst aus Italienern rekrutierte und besonders 
„ihe widerwartige Bourgeoisrhetorik der Mazzini 
und Garibaldi* 4 bekampfen sollte, aber sich bald 
auf international em Fu8 erweiterte. 

Um sich breiteren Ellenbogenraum zu schaffen, 
siedelte Bakunin 1867 in die Schweiz iiber und 
suchte seine Propaganda in die Friedens- und Frei- 
heitsliga zu ubertragen, eine internationale Orga- 
nisation der radikalen Bourgeoisie, die damats 
entstanden war, aber weder ein langes noch ein 
ruhmliches Leben gehabt hat. Natiirlich blitzte 
Bakunin bei ihr ab, und nunmehr trat er 1868 in 
die internationale Arbeiterassoziation ein, die 1864 
gegrundet worden war und in London ihren Ge- 
ueralrat hatte, dessen leitender Kopf Karl Marx 
war. Nun begann die bewegteste Peri ode im Le- 
ben Bakunins, jener groBe Kampf, aus dem Baku- 



nin nur als todmiider Mann hervorgehen sollte. 
Diesen Kampf in all seinen wechsetnden Phasen 
zu schildern, ist auf beschranktem Raume unmdg- 
lich ; es muB geniigen, die entscheidenden 
Gesichtspunkte des erbitterten Ringens hervor- 
zuheben. 

Zunachst muB die leider von Marx selbst genahrte 
Vorstellung zuriickgewiesen werden, als sei 
Bakunin ein „sehr gefahrlicher Intrigant* 4 gewe- 
sen, der sich aus personlicher Eitelkeit und 
Herrschsucht in die Internationale gedrangt habe, 
um sie zu beherrschen und eben dadurch zu zer- 
riitten, Bakunin war alles andere eher als ein 
^Intrigant 14 , seine Fehler lagen so ziemlich aHe 
nach der entgegengesetzten Richtung. Aber wenn 
man auch davon absehen will, so ist die Vorstel- 
lung, daB ein gefahrlicher Intrigant aus niedrigen 
Beweggriinden eine historische Erscheinung, wie 
die Internationale, habe zerrutten konnen, wenn 
nicht unsinnig, so doch ganz unmarxistisch. 
Es ist aber auch unzutreffend, daB Bakunin mit 
seinen theoretischen Unklarheiten in der Inter- 
national verwirrend und verwiistend gewirkt 
habe. In alien theoretischen Fragen hatte die In- 
ternationale einen sehr weiten Mantel; war es 
doch ihr Zweck, die verschiedenen Arbeiterpar* 
teien der verschiedenen Nationen zunachst unter 
einer Fahne zu samtneln, um erst aus dem gemein- 
samen Zusammenwirken ein gemeinsames Pro- 
gramm sich entwickeln zu lassen; aus den Proto- 
kollen ihrer Kongresse kann man heute noch er* 
schen, wie kunterbunt die Ansichten selbst in den 
wichtigsten Eigentumsfragen auseinander und ge- 
geneinander gingen. 

Der wirkliche Stein des AnstoBes war die Frage 
der Organisation. Bakunin wollte das anarchi* 




Osio Kofi Ur Qondelfahrt 








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DIE AKTION 



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stische Ideal der Zukunft schon in der Gegenwart 
verwirklicht sehen; die Internationale solite sich 
von der ^Autoritat** des Generalrats lossagen und 
in freie Gruppen auflosen, und diese Gruppen 
sollten aller politischen Tatigkeit absagen, die 
nicht unmittelbar auf die Zerstorung des Staates 
abziele. Marx hat den eigentlichen Streitpunkt 
klar und scharf in den Worten zusammengefaBt: 
„Die Anarchie ist das groBe Paradepferd Baku- 
nins. Alle Sozialisten verstehen unter Anarchie 
dies: Ist einmal das Ziel der proietarischen Bewe- 
gung, die Abschaffung der Klassen, erreicht, so 
verschwindet die Gewalt des Staates, die dazu 
dient, die groBe produzierende Mehrheit unter 
dem Joche einer wenig zahlreichen ausbeu- 
tenden Minderheit zu erhalten, und die Re- 
gierungsfunktionen verwandeln sich in ein- 
fache Verwaltungsfunktionen. Bakunin greift 
die Sache am umgekehrten Ende an. Er prokla- 
miert die Anarchie in den Reihen der Proletarier 
als das unfehlbarste Mittel, die gewaltigen, in den 
Handen der Ausbeuter konzentrierten, gesell- 
schaftlichen und politischen Machtmittel zu bre- 
chen. Unter diesem Vorwande verlangt er von 
der Internationalen in demselben Augenblick, wo 
die alte Welt sie zu zermalmen strebt, daB sie ihre 
Organisation durch die Anarchie ersetze.“ 

Es liegt auf der Hand, daB Marx die entwickeltere 
Form des proietarischen Emanzipations-Kampfes 
vertrat. Er handelte und sprach aus dem Geiste 
des groflindustriellen Proletariats, wie es sich 
in England, Frankreich und Deutschland ent- 
wickelt hatte oder zu entwickeln begann. Aber 
Marx hatte unrecht, von einem „Vorwande u Ba- 
kunins zu sprechen und ihn als „Sektenstifter“ 
anzuklagen, der nur Unheil und Verwirrung stif- 
fen konne. Bakunin handelte und sprach ebenfalls 
aus dem Geiste des Proletariats, namlich des- 
jenigen Proletariats, wie es sich in Italien, Spanien, 





RuBIand, auch Belgien, und selbst im stidlichen 
Frankreich und der romanischen Schweiz regte. 
Er hatte sogar eine viel groBere Anhangerschaft 
hinter sich als Marx, dessen starkste Stiitzen wank- 
ten, als die deutsche Arbeiterbewegung durch 
den siegreichen Krieg gegen Frankreich zuriidk- 
gedrangt und die franzosische im Blut der Pari- 
ser Kommune erstickt wurde, wahrend die eng- 
lischen Trade Unions durch ihre gesetzliche Aner- 
kennung auf die Iiberale Seite zuruckgedrangt 
wurden. 

Dagegen spricht auch nicht, daB Bakunin im Herb- 
ste 1872 auf dem Haager KongreB aus der Inter- 
nationalen ausgestoBen wurde, teils wegen seiner 
den Bund zerstorenden Tatigkeit, teils auch wegen 
einer personlich ehrenriihrigen Tatsache. Bei die- 
sem G erich tsve rf a hren ging es, gelinde gesagt, 
sehr tumultuarisch her. Von dem Fiinfer-AusschuB, 
der nach einer ganz fliichtigen Priifung mit vier 
gegen eine Stimme den AusschluB Bakunins be- 
antragte, den die Mehrheit des Kongresses un- 
besehen genehmigte, entpuppte sich einer der vier 
bald als Spitzel, was allein geniigte, das gauze 
Verfahren null und nichtig zu machen. Nun gar 
die personlich ehrenriihrige Tat, die Bakunin be- 
gangen haben solite, beschrankte sich darauf, was 
erst nach Jahrzehnten aufgedeckt wurde, daB er 
bei einem Verleger mit ein paar hundert Rubeln 
VorschuB hangengeblieben war. Der wirkliche 
Tatbestand geht daraus hervor, daB der marxi- 
stische Zweig der Internationalen nach dem Haa- 
ger KongreB nur noch sparliche Lebenszeichen 
von sich gab, wahrend ihr bakunistischer Zweig 
noch mehrere Kongresse abhalten konnte, bis er 
gegen Ende der siebziger Jahre ebenfalls ein- 
schlief. 

Nicht an Bakunins Intrigen ist die erste Inter- 
nationale untergegangen, sondem an geschicht- 
lichen Gegensatzen, die in dem europaischen Prole- 
tariat selbst entstanden waren und sich zunachst 
nicht ausgleichen lieBen. Man mag es Bakunins 
Schuld nennen, daB er dabei die unentwickeltere 
Form des proietarischen Emanzipationskampfes 
vertrat, aber es ist keine Schuld im moralischen 
Sinn des Worts, die seinen Ruhm schmalern konnte, 
ein echter Revolution ar gewesen zu sein, der sich 
im Kampf fur die Arbeiterklasse aufgerieben hat 
und in ihren Jahrbiichem mit vollen Ehren ge- 
nannt zu werden verdient 

Und wie schwer hat er seine Schuld gebuBt! Bis 
auf den Tod durch rastlose Arbeit erschopft, zog 
er sich bald nach dem Haager KongreB von der 
offentlichen Tatigkeit zuriick; nach wenigen Jah- 
ren wirtschaftlichen Elends und schwerer Krank- 
heit ist er am 1. Mai 1876 in Bern gestorben. Es 
war verstiegene Rhetorik, als der franzosische 
Historiker Michelet schrieb: „Wenn Deutschland 
Deutschland werden wird, wird man diesem Rus- 
sen dort Altare errichten/ 4 aber es ist nachgerade 
an der Zeit, daB die Deutschen, die sich an dem 
Andenken des seltenen Mannes am schwersten 
^ versiindigt haben, die allzulange gestundete Schuld 
einlosen, mehr noch zu eigener Ehre als zu Ehren 
Bakunins. 



Max Kraust 



Ein Argument {Ftdtrxtichnuny) 



947 



DIE AKTION 



348 



EUROPA UN D ASIEN III *) 

Yon Theodor Lessing 

Der Mensch in Asien 

Wir treten in eine Welt, wo wir den Europaer 
vergessen und uns daran erinnern miissen, daB 
das schopferische Leben andere Fragen birgt, als 
Fragen nach Volkerwachstum und Politik andere 
Werte als die der Tiichtigkeit, der Leistung, des 
Wissens Oder Konnens. Um die Geisteswelt des 
Morgenlandes mit dem Gefuhle zu begreifen, miis- 
sen wir festhalten, daB alle Mystik, auch die der 
christlichen Kirche, ihre Wurzeln in dunkle Mut- 
tergrunde Asiens senkt. Wenn wir im Stolz auf ge- 
sunde Nuchtemheit wissender Verstandesfeinung 
den europaischen Menschen fur der Erde Licht- 
bringer halten, so liegt im Glauben asiatischer 
Menschheit die Sache umgekehrt Das Wort 
Europa kommt von dem assyrischen I rib oder 
Ereb und ist dasseibe Wort, welches im Grie- 
chischen der Nachtwelt, dem Erebos seinen Namen 
gegeben hat. Nach Meinung der asiatischen Vol* 
ker heiBen wir die Finsteren; unser Erdteil der 
finstere ErdteiL Die hoheren BewuBtseinskrafte 
des immer geselligen, immer zwischenmensch- 
lichen Verstandes sind der Notausgang langer 
Dunkelheiten. Wir waren im Gegensatz zu jenen 
inmitten farbiger Lichtnatur lebenden Menschen 
der tropischen Sonnenlander seit Jahrhunderten 
in Rauch und RuB, hinter Mauern und Steinen 
eingekafigt. Hunderttausende sahen das dunkle 
Jahr entlang keine Wiese, keinen Berg, keinen 
Wald. Die Kalte, Nasse, Feuchte des Klimas, 
das unbestandige, ungesunde, unwirtliche Wet- 
ter der sogenannt gemaBigten Zone hat unser 
Fnnenleben gestaltet, hat es gewcckt und wach, 
so wie das Tier wach und erfinderisch wird, 
wenn man es den Gefahren der N o t preis- 
gibt. Dagegen scheint es, als ob jene Kin- 
der einer geneigteren Natur noch im enge- 
ren Zusammenhang mit Tier und Pflanzc, 
Wolke und Wind verblieben sind und nicht gieich 
uns, kritisch-orientierend der Welt gegeniiber- 
stehn. Die elementarisch-miterlebende Erfassung 
der Gegenwelt durch Form und Gestalt, d. h durch 
Mitahmen ihrer Lebensbe w egungen, ur- 
spriinglicher als alles ethische oder logische Be- 
u r t e i 1 e n , laBt den Menschen unmittelbarer das 
Wesen seiner Umwelt als sein eigenstes 
Leben verspuren, gleich wie einem Kinde die 
Welt, welche es wahrnimmt, nur ein Stuck seines 
eigen en Lebens ist, oder das eigene Leben, 
ungeso ndert, unentfremdet noch in die Welt seiner 
Wahrnehmungen hineinflieBt. Wir aber schritten 
abseits von Natur, da sie feindlich uns gegenuber- 
tra t und wurden sekundare Menschen in dem 
gleichen Sinne, in welchem BewuBtsein und Den- 
ken sekundar gegeniiber den vorbewuBten Er- 
lebnissen sind. Ja oft scheint es, als ob die 
Menschen Asiens reichere Empfindungsweisen be- 
sahen, Sinne, die durch einseitige Ausbildung 
denkend beurteilenden Intellektes allmahlich ent*. 
hehrhch geworden sind. Der weiBhautige Mensch 

•} 1 und II s iebe voriges Heft. 




wird in den Sprachen Indiens und Persiens der 
blasse oder abgeblaBte genannt, grad als wenn 
die braunen, schwarzen, gel ben, (Tagmenschen 
nennt sie die Anthropologie), ein ursprung- 
li c h e r e r Menschenschlag seien Jener hat unter 
den gluhenden Strahlen der Tropensonne Leben 
und Seele empfangen, dieser erhielt vom Vegetiren 
hinter steinerner Hauser Schranken: Gpist und 
BewuBtheit. Wir, die blonden und blassen Vol- 
ker, in sonnenarmen Landern aus Frost und Nebel 
geboren, sind das BewuBtsein der Erde. 
Das ist unsere Tugend! Denn nur Not des her- 
beren Kampfes hat aus uberschwanglichem Er- 
leben aller Lebensfulle Zucht und Berechnung, 
Vernunft und haushalterische Fursorge her\ f or- 
gepeitscht. Bemerken wtr doch ahnlichen Unter- 
schied innerhalb Europas zwischen den romani- 
schen Volkern des Siidens und uns germanischen 
Nordlandern. Der sudeuropaische Mensch, sinnen- 
froher, leichtlebiger, heiBbliitiger, mehr in Augen- 
blick und Gegenwart lebendig, steht dem Mutter- 
hause Asiens immer noch nah. Darum haben 
die besten Kenner Griechenlands, haben Hol- 
derlin, Hamerling, Burkhardt, Nietzsche, die mach- 
tige verhaltene Leidenschaft antiker Kunst aus 
ihrem asiatischen Ursprunge erklart, wahrend der 
rational bandigende, zielstrebige Geist der Ord- 
nung Apollons Mitgift, Europas eigenstes Wesen 
verkorpere. Aber unsre Tugend, ordnender Geist 
ist zugleich auch Grenze; so wie Krankheit 
zwar eine Lebensstorung, aber zugleich das 
Mittel zur Dberwindung dieser Lebensstorung 




349 



DIE AKTION 



350 




Baoul Eau$mann Original'EoUsdmiii 

ist Wir haben tins aus dem Leben herausge- 
griibett, die Nabelschnur zerreiBend, die uns mit 
umfassenderen Qewaiten jenseit von BewuBtseins- 
wirklichkeit zusam men band. Asiens Volker dage- 
gen wurzein in unausme&lichem Leben. Daher be* 
sitzen sie Fahigkeiten, die den europaischen Men- 
schen so unbegreiflich anmuten, wie manche Sinne 
der Tiere, etwa wie die Fahigkeit der Schmetter* 
iinge iiber viele Meilen hinweg sich durch Dufte 
zu vers tan digen oder wie die merkwiirdige Gabe 
der Zugvogel, iiber Meere und Erdteile bin im 
Raume sich zurechtfinden, dieselbe Palme in Agyp- 
ten, dieselbe Eiche im hannoverschen Land immer 
wieder aufsuchend, iiber tausende Meilen hin. -- 
Die Geheimwissenschaften (Theurgie, Theosophie, 
Occultism us) entwickeln manche vitale Mdglich- 
keiten der Seele, vor denen unsre groBe Gehim- 
kultur als vor unfaBbaren Ratseln steht. Samnyasi, 
Gosain, Soufi, Mahadma indie ns, sowie die J unger 



der Yoggaphilosophie besitzen die Gabe, Herz- 
schlag und Puts, Atem und Eingeweide vollkom- 
men der Willkiir menschlichen Widens zu unter- 
steflen. Tage- ja wochenlang lassen sie skh leben* 
dig eingraben, monatelang leben sie von einer 
Handvoll Reis oder Datteln, ja von ein paar Trop* 
fen Wassers. Ihre Selbstbeherrschung im Ertragen 
freiwilliger Martern, ihre Verachtung des Lebens, 
Leidensfahigkeit und Todesbereitschaft tibersteigt 
unsre europaischen Begriffe. BiiBertaten und 
Selbstkasieiungen, die uns als Wahnsinn an- 
sprechen und nur aus Krankheit und geistiger 
Umnachtung des Ich erklarlich scheinen, gehoren 
in Asien zu taglichen BuBubungen. Ta ten der 
Selbstaufopferung, die in Europa kaum geglaubt 
werden, sind in China und Japan gewohnUche 
Erscheinungen. Alles in allem lebt der Mensch 
Asiens in anderem Naturzusammenhange, naher 
der Scholle und Kraften der Scholle, einfaltiger, 
sicherer, ja aus innerster Verwandtscha't wisstn* 
der iiber vorbewuBte Quellen, die das Leben 
lenken, wissender als wir mit unsrer Natur dko- 
nomisierenden Wissenschaft und der stolzen Logik 
des BewuBtseins. Wohl denken wir iiber das 
Metaphysische aber leben weniger Metaphysik, 
vielmehr ist das profane Europa eine einzige 
Selbstbeziiglichkeit des Menschen. Hier wurde 
der Mensch Krone und Ziel alles Lebendigen. 
Des zum Zeichen pflanzte er, wohin er kommt, 
naturverachtend und naturtibermichtigend, das 
Kreuz und das Anbild des aus Leiden ver- 
geistigten Menschensohnes auf die 
Trummer lebendiger Schopfung. 

W1EDERKEHRENDE 

Wir hangen hohl an nackten Kreuzen. 

Von Leid uni k Lamm ert, dunkler Scham. 

Die Augen sieinem aufgetan 
In Schwa rzes, das die Erde nahm. 

O, Sterne, klagend in die Nacht,, 

O, Blumen betend, Gladiolen. 

I hr rettet uns nicht mehr. 

Wir sind verloren. 

Wir haben der Welt den Tod gebracht. 

Herbert Kuhn 

KINDERKREUZFAHRT 

Ob Berge kreisen starr e Abendsonnen. 

Der Tag lischt aus. Wildwind geht blau und kalt, 
Hier liegt das Tal, von trtibem Glanz umronnen : 
Ein Kinderheer, das durch den Bhitsee wallt. 

Sie ziehn mit kargen Strahlen ubergattert. 

Sie wandem unbeirrt und schmerzverzuckt, 

Von Schwarmen boser Vogel eng umflaitert, 
Tief in das giftdurchspulte Tal gebtickt. 

Die Raben schnarren. Gelbe Diinste stechen, 

Ein hohler Schrei bohrt schrillend in ihr Oh r t 
Bald werden die verklarten Glieder brechen, 

Die Dunkeldampfe quellen laudos vor. 

Was konnen ihre armen Lieder taugen ? 

Sie schwanken aus der Flut bemuht und schrag, 
Sie dringen langsam durch die Aussatzlaugen, 
Ein Lichtgeruch zerspaltet ihren Weg. 

Franz Tobler 



-.w .— -/i ■■■*■:■ 



351 DIE AKTION 352 



WENN NUN DIE FREUDE KAME . . . 

Wenn nun die Freude kame, ruhig, naiv, er- 
st aunt . . . 

Besinnet euch, dffnet die kotbesudelten Fenster, 
der Seeie Festtag hebt an, Stille strahlet der Mor- 
gen . . . 

Wenn nun die Freude kkme, wie Feierabend vor 
Festcn, 

da Bliiten der Baume in Liebe dem Mondglast 
sich offnen, 

im Stemglanz, rein gefegt, die Schwellen leuch- 
ten . . ! 

Die freie, weite Melodie, die Melodie der Ver* 
sohnung, 

die Melodie der Verzeihung zoge durch a'le auf- 
gertssenen Fenster, 

durch Glockengedrdhn, Hosannah, Hosannah zur 
Feier der Seeie. 

Sie kame, die Schwingen gehoben, die aus weich- 
sten Geweben gewoben, 

aus Ookl und Scharlach und blaulichen Tinten 
ungeahnter Fernen — 

wenn min die Freude kame, ruhig, naiv, erstaunt. 

Anion Sow 

(Aus dem Tschechischen ubcrsetzt von G. S torch) 

EWE SPRECHER 

Mundmann, du Sprecher vor dem Rochel-Ende: 
Das Boot in Handen, ruderfingerkraus, 

Wir machten auf dem Meere Fische aus. 

— Und nun rahmen mich ein Zehen und Hande. 

Ichbild, der Mtiskel, knitted a Is Zwangsjacke. 
An Nervenschauern bin ich fast erstickt. 

Ein Raumrauber, der vor dem All erschrickt; 
Im Tischgesicht, im Bratfisch, im Ge&chmacke. 

Los* we hen wird Ich: hirnher nach hirndort. 

In Ohren-Rosen sinken vom I du winger. 

Im Hautereiz wimmeln nicht mehr Sprachfinger. 
Der Mischiing Mensch probiert herber das Wort. 

Und losspredien die Munde der Bekenner. 
Heraus, was da ist: soviet Herz fur Frankreich. 
Einen Gedanken schreien alle klangreich: 

Es gibt die vielen totgeschossenen Manner! 

Paul Boldt 

OH MEIN TOTER KAMERAD 

Von Horax Traubel (Amerika) 

Oh mein toter Kamerad — mein groBer Toter! 

Ich saB bei dir am Bett — es war bei Tagesende — 

/ch bode das Tropfen des Regens auf dem Dach 

des Hauses: 

Das Licht ward schattig — verging, verging — 
Aucft du vergingst, vergingst — 

Du und das Licht, ihr Genossen im Leben, jetzt 
auch Genossen im Tod, 

Zogt euch zuriick in den Schatten, trugt sonst- 
wohin den Segen eurer Sonnenstrahlen. 




Felix Muller Original- Holuchnitt 



Ich saB bei dir am Bett, ich hielt deine Hand: 
Einmal schlugst du deine Augen auf: Oh Biick 
des Erkennens! oh Biick des Beschenkens! 
Von dir zu mir ging da die Forderung der Zukunft, 
Von dir zu mir in jeder Minute, von deinen Adem 
in meine, 

Aus der Stromung, als du hinaustriebst mit der 
Flut, 

Von deiner Hand, die meine beriihrte, von deiner 
Seeie, die meine berubrte, nah, oh so nah — 
Die Himmel mit Sternen flimmt, 

Trat ein, glanzte auf mir und aus mir, die Macht 
des Fruhiings, der Same der Rose und des 
Weizens, 

Wie von Vater zu Sohn, wie von Bruder zu Bruder, 
wie von Gott zu Gott! 

Oh mein groBer Toter! 

Du warst nicht gegangen, du h attest verweilt — 
in meinem Herzen, in meinen Adem, 
Reichtest durch mich, durch andere, durch mich, 
durch alie zuletzt, unsere Bruder, 

Eine Hand der Zukunft 

(Autorisierte Uebcrsetzung von August Briicher) 





353 



DIE AKTION 



354 



w 



DER VERSTLJMMTE DICHTER 

Von Alexei Kolzow (urn 1830) 

Mit Seherseele, 

Vom Stempel der Grofie 
Die Stirne bestellt, 

So kam er, der Knabe, 

Zum Wunder der Welt. 

Die irdischen Gottinnen, 

Listige Frauen, 

Sie lockten den Knabcn 
Mit prachtigem Traume, 

Betrogen die Liebe 
Verstellten Liebkosen^, 

Entzimdeten kiissend 
Die Rote der Wangen 
Und raubten das Lacheln, 

Das seelische Licht. 

Vergebens verbarg er, 

Verwahrte vergebens 
Begeisterungsgaben 
Fiirs irdische Leben 
Vor bitterer Welt. 

Vergebens mit tonendem 
Paradiesesliedc 
Erfullte er die hcimischen 
Haine und Felder. 

Die Ode blieb still. 

Die Menge, sie wich 
Vor dem Blick des Profeten, 

Erkannte das hohe 
Gefiihl, der Begeisterung 
Glut und die Kraft nicht, 

Die schaffende, an. 

Zum Lachen schien Lust ihr 
Und Leiden des Dichters. 

Ja, war er entbrannt von 
Verachtlichem Brande, 

Dann hatte mit Kiissen 
Wie eine Bachantin 
Ihn ganz sie bedeckt 
Mit Schwesterentzucken, 

Unreinem, ihn schmahlich 
Fur ewig gestempclt. 

Gen Morgen bezaubert, 

Gen Mittag betrogen, 

Bekleidet mit Nebel 
Des Abends und Schatten 
Des ratselnden Lebens, 

Blickt gleichmiitigen Geistes 
Der Dichter verstummt . . . 

Du glaubst ihn gefallen, — 

O nein! Du bemerktest 
Nur nicht den erhabnen 
Gedanken, im Blicke 
Die segnende Glut. 

(Aus dem Russischeu iibersctzl von Otto frli. v, Taube) 

HINUEBUNG DES DICHTERS 
Von Alfred Wolfenstein (1917) 

Wie die Wolke durchflammt, Wolke durchdrohnt, 
zwischen Haupt und Boden 



Zuckt eines Menschen sprechender Mund, 

Blitzende Zahne roden 

Dickichte nieder: da schnellen die Blumen empor 
luftig und bunt. 

Hore die Stimme, o taubeste Trauer, 

Schwarz wie Gestriipp unterm Ozeangrund! 

Klangloser Vogel, zu singen beginne, im rund- 
lichen Bauer, 

Es singe dich freier des Menschen Mund! 

Doch wie im Traum blau iiber dem Dach seiner 
Donner, 

Uber den eigenen Lippen noch unerlost wartet 
er selbst, der Dichter, 

Sturm, von der Sonne versammelt, regnet 
nicht auf in die Sonne! 

In dem gewitterverbauten Himmel gliihen oben 
noch lechzend die Lichter. 

Gliihn weiter . .! Den Sturm zu versammeln be- 
gliickt nicht genug! 

Worte wie Boten, entfesselt, mit eigener Schwere 
hinab 

FlieBen in horchender Menschen Krug, 

Worte, erstanden aus ihm, . . ihn verlasscnd als 
sei er ein Grab. 

Wahrheit, so blicke von oben in seine Seele, 

Nic wird sie leerer, verkunde es, menschlicher 
mochte sie sein! 

Ruft er die Liebe mit Worten aus, ruft seine 
hellere Kehle 

Liebe nur wirkiicher in ihn herein! 

Atmet er Verse: nur noch lebendiger schwillt 
seine Brust! 

DaB er vor Scham und Freude inmitten der 
Sprache aufstehen 

Mochte, um fort in die Wiiste oder zu irgend 
einer Lust 

. . . Nein, den Menschen noch naher zu gehen! 

Bis es am Schlusse von unten 

Donnert, von unten nun: Du! 

Antlitze, rot wie Gedicht und beriihrtes Gewolk^ 

Blitzen nun seiner Entschleierung zu. 

Nah wie Umarmung . .! Erdenwind reicht ihm 
die Hande 

Durch das ganz offene Tor. 

Sprache verrollt, die Arme erhebt er, nun erst 
am Ende 

Geht sein schwerer Vorhang vor ihm selbst 
empor. 



357 



DIE AKTION 



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ANGELEQENHEIT 

Von Hans Jurgen von der Wense 
Das Kino platzte. AufstieB der sanguinische Lift. 
Noch das „moi“ im Atem, ward er blind. In 
Gedarmen dann vibrierte unaufgehorte Atona- 
litat, und — eingeweicht eingefleischten Kissen — 
zerschoB das Letzte, DrauBen heiser vor Entfer- 
nung, drinnen dumpf vor Prima und flauer Ver* 
dauung, im Drinnen — DrauBen: Hier: klopfte im 
Magen das Gemut; Ironie-Saccharin fur „Charak- 
tcr^-Zucker. 

Da er irp peinlichen Auge zwischenhin ver* 
schwemmter Verwesung duckte: „es mensdit“, 
bog sich Rakete Erkenntnis . . . und pluralisch 
tatterte der Apparat 

Nadelte ihn neulings gellenden Unrats ausgereck- 
ter Tropfen, stahl er Kontakt, sich zu Indifferenz 
orientierend. Sah seines Nabels laszives Hin- 
hocken bis ins Moranenkrematorium internster 
Erdherzhohlen. Platterte durch diese Notausgange 
staatlich subventionierten Betruges : Dableiben des 
Daseins, (diese Kinos, Betten, Klaviere und Revol- 
ver) in die biigelnde Wut gisch tiger Geysire, 
die von nicht zu sentimentalen Sonnen beblauten 
Gelande inkarnierter Negationen. War schon in 
einer Seidenbarke, einem Laken eisleiser Blake 
eingeschlafen, (fuhlt : durch Mauer raucht joviales 
Gespenst), als ihn aufbleckt steiles Gerochel miB- 
handelter Trompete. 

NeudurchnaBt von kompliziertem Kitsch: o der 
Faust stein erner Gesang im Taschengrab, o Verrat 
zu Heimat geoffneter Arme verlorener Sohne, 




W. Schuler 



In* Caff (Ori§\nal-H«lzschniit) 



o Schwur: in Liebe immer (iinmer schlechter) Be- 
handlung. 

Stand in Flammen — ein Feuerwehrmann. 

Zu spat; schon zage klagte im ewigen J ungling 
ewiger Sonnenaufgang, da zum viertenmal der 
Graf verreckte (10 Uhr 52). 

AbstieB der sanguinische Lift, Das Kino platzte. 

SOPHUS EMANUEL 

Von Heinrich Staddmann- Bingen 

„Es werde Licht!" 

„Warum hast Du nicht gerufen: Ee werde ein 
Auge?" 

Sophus Emanuel patscht den Oberschenkel und 
lauft im Zimmer hin und her. „l$t dies recht? 
Oder nicht recht? Antwort!" 

Ruhe, Ruhe, Sophus Emanuel, gequalter Ant- 
wortsucher! 

Sophus Emanuel nimmt erne Zigarette aus der 
Schatfitet; ein Streichhotz aus dem Behalter. 
„Habe ich dazu ein Recht ?“ Er bringt das Streich- 
holzfeuer in Verbindung mit der Zigarette. Schon 
wieder: „Wo 1st das gottgeschaffene Auge fiir 
das gottgeschaffene Licht; das Licht, das mein 
Tun beleuchtet? Das Auge, das mich erkennen 
laBt? Tor! Licht und Auge sind ein Eines; was 
soli ich mit der Halbheit Licht beginnen?“ 

Das Streichholz ist verkohtt; die Zigarette ist 
nicht mehr. Zwei Dinge sind im Raum ge- 
wesen. 

„fch wirtschafte hier, al$ ob ich ein Recht dazu 
hatte! Zum Verzweifeln! Antwort, Antwort! 
Wenn ich Niere ware, oder Leber! Niere, Leber 
zerreiBen Molekule zu Atomen; bauen neue Mole* 
kule; kraft ihres Seins. Oberiegen nie, ob sie 
rechtiich tun. Gluckliche Harn- und Gallebereiterl 
Zu euch kommt kein Licht; darum vermiBt ihr 
nicht das Auge und schiebt die Dinge im R&ume 
skrupellos dahin, dorthin. Ich, Sophus Ema- 
nuel, wiirge alles untereinander, mit BewuBt- 
sein! BewuBtsein, Licht! Und dafiir kein Auge! 
Tue ich un recht? recht ?" 

Sophus Emanuel schreibt und zeichnet. Schafft 
neues aus dem Chaos seines Selbst; wie Niere, 
Leber. Verflucht! Mit BewuBtsein! 

Ruhe, Ruhe, Sophus Emanuel, gejagter Antwort- 
sucher! 

„Habe ich ein Recht auf Schreiben und auf Zeich- 
nen? Auf Gestaltung meines Chaos? Verfluch- 
tes Licht !" Sophus Emanuel sucht wieder, sucht 
umsonst nach einem Auge fur das Licht, etas 
sein Tun bestrahli „Jedes Ding im Raum hat 
ein Recht auf eigenes Sein; unantastbares Recht 
so spricht das Licht zum Augenlosen; tf darum 
gestalte!" Und wieder spricht das Licht: „Hor 
wol, Sophus Emanuel, ein jedes Ding hat Recht 
auf Sein; darum gestalte nichts!" 

Sophus Emanuel war wiitend. Er warf das Tin ten- 
faB zu Boden; das Papier zerriB er; die Feder 
stiefi er stumpf. 

Erldsung! 

Erlosung? 

Sophus Emanuel hatte wieder mit den Dingen 





358 



DIE AKTION 



360 




im Raum gewirtschafiet, als ob er bestimmtes 
Rccht dazu hatte: Tintenklexe; Papicrschnitzd ; 
Stahtf ederstuck e. 

Hier ist man hcrgesetzt; mitten in die Dinge 
hinein. WeiB nicht, tut man recht, tut man nicht 
recht. 44 

Sophus Emanuel schloB die Augen. Den An fang 
suchte er. Er begann: „Am Anfang schuf Gott 
Himmel und Erde . . . Augenloser! Wirtschafte- 
test, als ob Du ein Recht dazu gehabt hattest. 
StelHest aus dem Chaos DEINES Seins Dinge 
im Raume auf, Himmel und Erde. Und die be- 
nutzest Du! Zerstorst sie wieder und baust sie 
wieder auf. Sind die was anderes t als mein Ge- 
schriebenes und mein Gezeichnetes ?“ 

Er drohte mit der Faust: „Als meine Streichhd!- 
zer und meine Zigaretten ? 44 
„Gott, Niere, Leber, Ich! Alle wirtschaften sie 
im Raum; augenlos; wissen da rum nichts vom 
Recht und Unredit auf ihr Tun. Eines Ohn- 
machtigen Verzweiflungsschrei: Es werde Licht! 44 
Weiter im Anfang: „Und es ward Licht. Und 
Gott sah, d&S das Licht gut war . . .“ 

Sophus Emanuel: „Er sah? Sah? Hast DU viel- 
leicht heimlich DIR ein Auge geschaffen? Und 
mir hast DU es vo rent hal ten ? Ich verzichte auf 
DEIN ^ottliches Licht, DU! Ich habe kein Auge, 
mit DEIN EM Licht zu erkennen, was recht ist 
und was nicht recht ist/ 4 
Blendlaternenlicht lauft durch ein Zimmer. Diebs- 
licht. Was er niitzen kann, nimmt er an sich; ein 
Dieb; fragt nicht nach Recht und Unrechl Dinge 
sind im Raum gewesen. 

„lch will Licht, das meinem Menschenauge taugt. 
Ich bin. Es werde Menschenlicht! 44 . . . Sophus 
Emanuel sieht Diebe, PIQnderer, Rauber, Schan- 
der, Morder auf der Erde rasen. 

Zerstampfte Garten. Zersplitterte Wiilder. HSuser 
brennend. Uber Schutt verfolgte MenschenftiBe. 
Zermalmte Weiberseelen; zcrstlickte Mannerlciber. 
Paradies der Augenlosen. 

Ein Schrei: „Wo ist das Auge?“ 



CAL1GULAS HINTERLASSENSCHAFT 
Von Xaver 



„Caligula tot? 44 

Bange Frage. Gesinnungsbohrer ? 

„Darf nicht tot sein; ist nicht tot. Hoch Caligula! 
Guter Vater! 44 Sie rufen es. Sie fiihlen es? 

Die es riefen, fuhlten nicht. Die es fuhlten, riefen 
nicht; die handelten. Soldaten, die Treuen um 
Caligula — Laufschritt! Marsch, marsch! — ren- 
nen zur unterirdischen Galerie zwischen Zirkus 
und Palasi Dort liegt Caligulas Leiche. Rachel 
Soldaten, die Treuen um Caligula, zerhacken 
lebendiges Menschenfleisch, alles, was in Nahe 
kommt. Umsonst. Caligula bleibt regungslos. 
w Wo ist ein neuer Herr fur unsere Treue?“ 

Ein Vorhang zittert. Morder dahinter? Soldaten- 
hinde reiBen Vorhang fort. Soldatenhande zerren 



eme MiBgeburi vom Menschen, Korperk rappel, 
GeistesJtrupp^i au * ^ en Soldatenschild: „Hoch 
Imperator Claudius/ 4 

& zittert auf erhobenen Sol daten hind en Sol- 




Fdix M Oiler 



Xaver* PortrOt 



datenschild; dr auf zittert Furcht. Furcht steht 
auf, wachst. Hat lange Arme; die wachsen langer. 
Furchts Arme wachsen in Jahrhunderte hinein . . . 
Nero . . . Galba . . . Sie zittern auf Soldaten- 
schildern . . . 

Caligulas Hinterlassenschaft. 

ERDBEBEN 

Von Simon Kronberg 

Denn die Erde trinkt Blut, ohne zu erbrechen. 
Sie saBen und weinten harte, trockene Tranen. 
Die Brust hinauf in den Hals, hinab tie! in den 
Leib, Bauch, strahnig an den Schenkeln, krampfig 
in den FuBen. Siebzig Juden, Gerechte der Welt, 
nie wird ihre Zahl kleiner . . . 

Von Kerzen brennt nur noch der Docht, tief in das 
Holz der Tempelbreiter. Geruch nasser Tucher 
wiihlt an Einem, an Anderen. Zerbrochen ist die 
Aufrechte jiidischer Manner. Einer: „Geht zu 
Gott, fragen! 44 GroBes Gewein aus durchnaBten 
Knochen. VerstoBen, wollen alle hdren. Tag 
brock t von den Wanden, zu fruh geborene Worte, 
alle Hande fallen zitternd. 

Rabbi, Altester, Steinklopfer am Rand der Gasse, 
ist blind, lacht auf einmal; und Neunundsech- 
zig: zwei Konige, Fursten, Talmud junger, ein 
Schneider, gehohnte, aussatzige Menschen und 
Hausierer lachen auf einmal. Sehen nach einer 
Richtung spulende Schwikle. m Hort? Gott ist! 144 
Rabbi erhebt sich. Ncunundsechz ; g erheben sich. 
Rabbi nimmt den Menschen, speit ihn an. Neun- 
undsechzig speien nach dem Menschen. Rabbi 
zerfetzt das Pergament. Rauch kommt von der 
Welt. Neunundsechzig lachen gewahnsinnigt. 
„Rabbi! Rabbi! Ja-amaud Ha-Maftir/ 4 Schwarz 
reden alle Worte Die Erde: „Kratzt mir das Blut 



DIE AKTION 



362 



361 



von den Augen, ich werde blind." O, liber das 
Gesieht des Rabbi ein Ratsel. Er geht in Socken. 
Neunundsechzig gehen in Socken. Rabbi und 
Neunundsechzig tanzen. Staub speit in die Kehlen. 
Liederstickenisch . . . 

Die Nacht trinkt Siebzig miihsam. — 

EINFOHRUNG IN DEN ROMAN: ZUFLUCHT 
Van Frans Jung 

DrauBen rollt unabanderlich die verdammte Bahn. 
Verzweiflung schwillt. Die Flut. Die Verzweif- 
lung. Unzweifelhaft die Flut. Die ungeheuere 
Flut. Die Verzweiflung — Eine Spinne lauft die 
Kante runter. Merkwiirdig schmale, entsetzliche 
Spinne* Lebewesen wie alle — * die Menschen, 
ein guter Mensch, eine liebe gute Spinne. Das 
Hirn pfeift. Eingeklammert. Laftt uns beten, lacht 
eins. Lachen die Leute: Ruhe! Ihr lieben, guten 
Leute — das Him pfeift. Ich liebe dicli. Und 
dich — und dich, Liebe. Die Bahn. Die Spinne. 
Kreist wieder das Blut — schwellend — Flut — 
weit hinaussehnend zu mir selbst, fern im Osten. 
Will fort, schrei doch jemand: ich halte es nicht 
mehr aus. Fast nicht mehr — aus! 

Lachelnd blatternd in gaukelnden Erinnerungen : 
Keinen Larm machen, denn das Gluck straft. 
O ihr Gliicklichen. Der Schimmer ist schwer zu 
tragcn, das Gluck in mir. ReiBt, bohrt, schlagt alles 
nieder, zerpreBt! Und keinen Larm. Die Bahn 
rollt. Draufien schweben Baume, Bliiten, gleitende 
Sehnsucht in starrer Schwere der Akazien. Gibt 
sich wer den wehen Ruck — ? Die Ellbogen gegen 
das Licht. Licht an die Wand driicken, zerquet- 
schen. (Nicht doch zerquetschen). Mehr Mord! 
Larm!! Matten raus, Stuhl, Zigarrenkiste, Spiegel, 
spiegelnd den Triumph der Fratze traneniiberkol- 
lert — ah — lebend liebt auch der Mensch . . . 
Mensch? Lebewesen?? Spinne??? Das Gluck 
ist da. SachgemaB. Steigt auf den Stuhl. Meine 
Verehrten, das Gluck, und schneidend, und eisig. 
Immer den Kopf hinhalten, das Geriiste hinstellen, 
Knochen. Tod, mehr Liebe, Jelanger-jelieber, 
Schall und den nicht mehr wegzuleugnenden Haar- 
hut. Weinend! Auf dieser verfluchten Erde. Ba!d 
aber geht’s wirklich — bald aber wirklich, bald 
nicht — wirklich nicht mehr, bald! 

So — wenn schon einer am Boden, he!!, wenn 
schon einer am Boden liegt, vielleicht von der 
Trambahn angefahren und dann noch unter die 
Rader, sage ich — Der Zuschauer hat direkt 
einen neuen Inhalt, der Zuschauer ist davon er- 
fiillt, der Leser, der Autor, alle Autoren, gerade 
die anderen Autoren . . . 
unter die Rader! 

Solange die Bahn rollt! In jener winzigen Ent- 
spannung, die das Grauen allein ist, die Angst 
flattert, und von ganz weit her in sich befestigte 
Gebcte murmeln, die doch eine Mauer zwischeu 
uns Menschen trennt. Widerlich gefestigt — aber 
eine ganz kurze Entspannung und widerlich. 
Steh-hen, ? Feststehn!? Die Fiut steigt. Lieber 
keine Entspannungen mehr. Steigerungen. Boden 



liegen, gewiirgt werden. DaB fur jeden das Gluck 
sichtbar wird. Vom Chaos des Gliickes zer- 
stampft. Zerfetzt taumelnd in Allmachtlgkeit — 
Im Blut die Fanfaren meines jiingsten Gerichts. 
(Bahn kreist, Blut rollt, Hirn kantert eine Spinne). 

ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS 
LI 

Ein Befreierslfick der Entente. 

Die Abdankting des Griechenkonigs erxwungen. 

Die Entente ftihrt bekannttich den Kreuzzug fur Freiheit und 
Detnokratie. Sie hat jetzt xum eratenm&l ein Sttlck ihres viilker- 
begiUckenden Programms durchgesetzt : in Griechenland 
wurde der Kdnig abgesetzt, der Kronprinz von der Thron- 
folge ausgeschlossen. Das griechische Volk ist jetzt alio 
„befreit u . . . 

Also dem unterdrllckten griechischen Volk muSte gegen seinen 
absolutislischen Herrscher die Freiheit zurtlckerstattet werden, 
Zu diesem Zweck raubte die Entente dem griechischen Volke 

— nicht dem Herrscher — seine Kriegsflotte. D&rauf 
wurde dem Volke — nicht dem Herrscher — das wich- 
tigste Ausrttstungsattlck der Armee, die A r t i 1 1 e r i e , fort- 
genommen, die halbentwaffnete Armee in Peloponnes tntermert. 
Dann raubte die Entente dem Volke — nicht dem Herrscher 

— die gcsamte, fttr das kleine Land sehr betrfichtliche Handets- 
fiotte . . . Nachdem dies alles geschehen war, kam end 1 ich 
die Freiheit an die Reihe, wurde der K6nig durch einen Ein- 
griff in die souveranen Rechte des Staates abgesetzt, Heil der 
Entente I Die Griechen sind jetzt ein vollig freies Volk ■— 
von verbungernden, ohnmiichtigen Bettlem. 

„Voruxirts‘‘, crwtt Seite Hauptblatt 14. Juni 1917 

Einen eigenartigen Antrag hat die VorwKrts-Buchdruckerei und 
Verlagsanstalt Singer & Co., Feller, Petersburger PJatz 4, an die 
Grundeigentumsdeputaiion der Stadt Berlin gerichtet. Sie legt 
dar, daO ihr Betrieb auSerordentlichen Rackgang habe; die 
Zahl der Abonnenten auf den Vorwkrts und der Buchhandel 
in der Spedition sei auflerordentlich zurdckgegangen, Es falle 
ihr unter diesen UmstSnden die Zahlung der Miete sehr schwer. 
Sie bitte deshalb, die Miete von nur 800 M. far die R&ume — 
einen Laden, eine Stube und eine Kttche — auf 600 M. zu 
erraafligen. In der Grundeigentumsdeputaiion erregte dieter 
Antrag einer Firma, die frtlher einen nach Millionen zihlcnden 
Jahresumaatz hatte, das lebhafteste Befremden. Man wies darmuf 
hin, da 6 MietermJiCigungsantrSge von Kriegerfrauen, kleine n 
GescaSfisleuten, Restaurateuren usw. wfihrend des Krieges be- 
grei fitch seien und nach Moglichkeit Entgegenkommen nach 
Prttfung der Sachiage gefunden hJitien. Grolie Firmen ratiflte 
die Selbstachtung vor solchem Verlangen nach Gemeindemitteln 
abhalten, wenn sie etwa vorUbergehend in Verlegenheiten ge- 
raten sollten. Derartige Antrfige mttfiten ja auch grundsSttlich 
abzulehnen sein. Eine Ausnahme bei dem Vorwarts zu machen, 
der frtlher Millionenverdiensle notorisch gehabt habe, gehe 
keineswegs an. Die Berliner Steuerzahler seien nicht dazu da, 
ein Defizit zu decken, das eine Firma mil oder ohne ihr Ver- 
schulden erlitten habe. Es erlibrige sich deshalb auch, Vor- 
legung der Bticher der Bittstellerin zu stellen. Der Antrag 
wurde mit alien Stimmen gegen die des Abgeordneten Bajner, 
der lebhaft fdr den Liebesgabenantrag eintrat, abgelehnt. 

Deutsche Tcgcszeitung, 15, Juni 19 J 7 

Der n V orwSr ts u im Kriege. Die nVorwKrts 41 -Filial e am 
Petersburger Platz 4 hat, wie die „ Deutsche Tageszeitung“ einen* 
Bericht der „Letpziger Volkazeitung a eninimmi, an die Gmnd- 
eigentumsdeputation der Stads Berlin die Bitte gerichtet, die 
Miete von 800 M, fttr ihre RSume auf 600 M. zu ermkBigen, 
da die Zahl der Bezieher des ^Vorw&rts" wie der Buchhandel 
in der Spedition auflerordentlich zurdckgegangen seien. Der 
Antrag sei mit alien Stimmen gegen die eines Vertreters der 
sozi&ldemokratischen Mehrheit abgelehnt worden . . . Oafl 
Unternehmungen, die durch den Krieg gelitten haben. Mieis- 
nachlasse ansuchen und auch bewilligt erhalten. ist ein allt&g- 
Ucher Vorgang. DaU aber der Antrag der genannien ,Vor- 
wkrts d -Fitiale abgelehnt wurde, ist in hohem Mafle dem Eifer 
des Siadtverordneten Artur Stadthagen zu danken, der gegen 
den Antrag gesprochen und gegen ihn gestimmt hat. 

„ VbrwdrW*, 16. Juni 1917 






363 



DIE AKTION 



364 



KLEINER BRIEFKASTEN 

Die Papiemot, Freunde, ist jetzt ein ergiebiges Them* der 

Pr(si6. Diesel ben Rotziionsmsschincn, die sonst tlber 
jede Not Trostendea zu drucken wufiten, schleudern sehr drohende 
Proteste in die Welt, weil nun such die Ullstein, Mosse, 
Scherl & Co. zu Einschrankungen gezwungen sind. Mit einem 
Pathos, sis ginge es urn die Dinge der Menschheit, wird den 
Abonneaten vordeklamtert, wieviel Inscrstenseiten nicht verksuft 
werdea konnten, wihrend gleichzeitig durch Abdruck von Bei- 
tragen der Ed. Schmid, Rods Roda etc, Pspier vergeudet wird. 
In den letzteo drei Jshreo, die ishllose Existenzen serbrschen, 
ging es der Presse nach Wunsch; jetzt stohnt sie, sis seien un- 
gedruckt gebliebene Inserste eine Gefshr fttr die Kultur. — 
lch nehmc die Sonnugsnummer (24. Juni) des „B. Ts.“ zur Hand : 
16 Seiten Annoncen, 7>/ t Seiten Textbeigabe (die leicht auf 
iwei bis drei Seiten zusammenzustreichen gewesen wire.) Und 
Shnlich die Ubrigen w groflen“ Blatter Berlins. Ein betrichtlicher 
Teil der Inserste erscheint Uberdies an einem Tage glcich 
Isutend in alien Blatlem. Hier, wenn irgendwo, sehe ich den 
Weg fttr die r ,KriegswirtschaftssteUe fttr das Zeitungsgewerbe*, 
Papier zu gewinnenl Man trenne an alien Orten, wo m eh re re 
Annoncenplantagen existieren, das Inseratengeschkft vom Presse - 
bctriebe und grtmde eine offizielle reine Annoncenzeitung I 1st den 
Zeitungsunternehmern die Verquickung von Presse und lnserai 
verboten, dann wird, wer Inserste aufgeben oder lesen will, 
zur Annoncenzeitung greifen und dort nicht durch Text gesldrt 
werden. Ein einziger Son n tag wttrde soviet Papier frei machen 
wie die Zeitungen in einer Woe he fttr den Nachrichiendienst 
benotigen, Der Vorscblag ist leicht diupchftthrbar. Das Publikum 
wird die annoncenfreien Wochen sicher ertragen ktonen. Die 
Zeitangsbesiizer wtlrden nicht mitmschen ? wtirden nicht drucken ) 
Aber das ware ja — — 

Renate. Das n B.T, u vom 23. Juni (Abendauag.) bringt diese Zeilen : 
Hap ns Heinz Ewers, der Amcrika nicht ver- 
lassen kann, bittet uns durch einen in DKnemark 
etngetroffenen Bekannten, seinen Freund en in 
Deutschland mitzuteilen, dafi er unter seinem 
u nfrei w il 1 i gen Exll in dieser Zeit leidet, sich 
aber korperlich wohl befindet. Er ist zurzeit 
mit der Cbersetzung einer irisch-amerikaoischen 
Operette „Eileen“ (von Victor Herbert) be- 
sebifligt. Er wirkt nach Mbglichkeit far die 
deuische Sache; sein Heimweh und sein Be- 
dauern, untStig dem gewahigen Ringen des 
deutschen Volkes zuschen zu mils sen, wird durch 
die Unmtjglickkeit selbst des schriftlichen Verkehrs 
mil der Heimat noch verschirft. 

Herr Hanns Heinz Ewers, der sich aber ktirperlich wohl be- 
hndet, weilt sen Juni 1914 in Amerika, das 1917 in den Krieg 
eingetreten ist. 

Freunde! Soeben gelangten zur Ausgabe: Ludwig Rubiner: 
Der M ensc b in der Mitte und Band 5 der Semmlung AKTION S- 
LVRIK; Der Hahn (eine Anthologie), Jedes Werk kostet 
54,3, — . Pflicht der Freunde ist, energisch fttr die Verbreitung 
der Bficher zu wirken ! 

F. B. Vom AKTIONSBUCH sind nur ganz wenig Exemplare 
in Halbpergament gebunden worden; das Exemplar, numeriert 
und signiert, kostet M. 6, — , (Auch die ungebundenen Exem- 
plare [a M. 3, — ] sind nahexu vergriffen I) 

K. F. Irn Feuilleton der „Mlinchener Neuesten“ No. 237 wird 
liber Kunst geplaudert. Ftlnf lange Spatten so: 

„Der aristokratische Charakter der Kunst muss notwendig um 
so ach&rfer hervortreten, je mehr sie der brei ten Masse zugedacht 
wird. Nicht dafi sie sich einer besondereti gesellschafttichen 
Klasse vorbebielte oder gar Alleinbesitz einer Gilde ware, aber 
sic bevorztigt Auserwihlte, und von ihr gilt das wundersame 
Wort : Wer da hat, dem wird gegeben werden. Die zahlloseu 
Versuche unserer Zeit, den Pegasus ins Joch zu spannen, 



Lieber Leser, von M. d. n A. M Victor Fraenkl, erbalte ich diese 

Zei len : 

Berlin W. 57 Potadamerstr, 86 b 
den 19. Juni 1917 
am 1058. Tag des Krieges. 

Lieber Freund Pfemfert, 

die jetzigen ZeitlSufte dunken mich besonders geeignet, den 
lange gehegten Ged&nken einer Gesellschaft fllr tiuddhis- 
mus und b udd h i st ische Forschung — unter Aur 
schlufi von Anh&ngern theoaophischer Rich tungen — 
in die Tat umzusetzen. Leisten Sie, bitte ich, der Sache da- 
durch einen Dienst, dafi Sie in der AKTION die hier fol- 
genden SItze verGffentlichen, mit welchen ich viele Anfragen 
und Meldungen programroatiich beantwortet habe! 

Ich danke Ihnen herzlich und grtlfie Sie 1 

Ihr 

Victor Fraenkl 



Hier die SKtze: 

Die zu grttndende Buddha-Vereinigung will auf den Mahnruf 
antworten, den sonderlich unsere Tage der Biuemisse und der 
Qualen an die Menschen ergehen lassen, Nicht zu milder 
Skepsis soli ein Zusammenscblufl erfolgen. nicht zur Spielerei 
mit Eufierlichem Myslicismus, sondern zur Selbsleinkehr, zur 
Selbstbesinnung durch die Weisheit des Inders Siddhartba, der 
in der Mahabodhi-Nachl zu dem Buddha geworden ist. 

Der Buddhismus versagt nicht, wfihrend Orgien des V61ker- 
hasses raien und Ozeane von Menschenblut dahinstrdmen. Er 
beschonigt nichts und nennt schwarz, was diese Far be hat; er 
vertrostet nicht auf Paradiese aufierhalb des jammertals der 
Erde und verheifit nichts, was er nicht zu hahen vermag. Un- 
erbiuliche Folgerichligkeit ist sein Kennzeichen, er opfert nichts 
der klingenden Phrase oder einem Kompromifi. Herb sind in 
seiner „Predigt von Benares* die Lehren vom Leiden, von 
dessen Entstehung, von dessen Aufhebung und vom Weg dazu. 
Der Lohn aber dafttr sind tiefe Erkenntnisse, mittels welcher man 
die nimmer mhenden, st&ndig flieflenden und wechselnden Er 
scheinungcn zu begreifen und den Weg zur Ret lung aus dem 
Sam saru, der Welt des leidvollen Entstehens und Vergehens, 
zu finden vermag. Nicht etwa mit dem Ziel der Selbstver- 
nicht ung, sondern der Selbslbeherrschung, die nicht n Sttnde < * 
schilt, was „Letden u ist, die zur Loslbsung von Neid, Gier, 
Zorn, Unduldsamkeit, Hafi emporklimmt, die das Toten ver- 
abscheut und sich mllht, die Liebe zu alien Wesen „den starken 
und solchen, die in der Welt zittern* werktagig zu tlbcn. 
Jahrhunderte vor Jesus Christus hat der Buddha durch den 
Karma-Gedanken das Walten einer ausgieichenden Gerechtigkeit 
dargetan. Er hat nicht eine ttbernatlirliche Often barung, keinen 
Ubermenschlichen Hetland, nicht den Glauben an eine ewige 
Scligkeit in einem Jenseits zu Hilte genommen. Durch seine 
Ethik, die auf Beobachtungen und Tatsachen gegrUndet ist, hat 
der Buddha die Pforten zur Erlbsung vom Leiden und zur selb- 
stKodigen Heiligung gesprengt. 

Mit seinen Lehren und der standig zu vertiefenden Forschung 
in ihrem Schrifttum soil sich die neue Gesellschaft zunkchst be* 
schiftigen. 

Wer zu ihr kommen will, braucht sich nicht zur Befolgung 
buddhistischer Vorschriften zu verpflichten ; was von ihm er- 
wartet und gefordert wird, ist das Sire ben, an ernsten Erkenntnis- 
arbeiten mitzuwirken, 

Haben Sie nach diesen Darlegungen ein ehrlichet Interesse an 
der GrUndung, so wollen Sie es mich freundlichst wissen lassen I 



MIT DIESEM HEFT 

schtiefit das zweite Quartalf Abonnementserneuerungen mttssen 
so fort erfolgen, soil in der Zustellung keine Unterbrechung 
eintreten. Dies gilt auch fur Feldpostabonnenten I Den Lesem 
im Auslande sei empfohlen, das Abonnementsgeld einzusenden; 
Nachnahmen verteuern den Preis unnotig! 



INHALT DER VOR1GEN NUMMER. (SONDERHEFT JOSEF CAPEK): JOSEF CAPEK: MADONNA (T1TELBLATT- 
zekhnung) i Alexei Kolzow: Russische Volkslieder / Theodor Lessing: Europa und Asien / Josef Capek: Medusa (Zeichnung) / 
Arthur Holitscher: Die Russin / Josef Capek: Fraucntorso (Original-Holzschnitt) / Oeore Oretor; Zweiter AKTIONS-Brief 
aus der Schweiz / Carl Einstein: Negerlieder / Edlef Koppen, Maximilian Rosenberg, WUnetm Klemm, Ludwig Baumer und 
Rudolf Hartig: Verse vom Schlachtfeld / Josef Capek: Frauenportrat (Holzschnitt) / Rudolf von Kapri: Bei Brixen / Josef 
Capek: Das Madchen (Holzschnitt) / Heinrich Stadelmann-Ringem Das neue Drama / Josef Capek: Frauenportrat (Federzeichnung) 
-'Heinr/ch Schaefer: Hoch sich windende Ranke / Josef Capek: Zwei Mannerportrats (Holzscnnitte) / Fr. Tucny: Zu diesem Josef 
Cap ek-Heft / Ludwig Rubiner: Ober Alfred Wolfenstein / F. P.: Ich schneide die Zeit aus; Kteiner Briefkasten / Beilage der 
^ But ten- Ausgabe: Capek: Originat-Steindruck 



Soeben erschicn Band 3 der Sammlung: 



DIE AKTIONS-LYRIK 

HERAUS6EGEBEN VON FRANZ PFEMFERT 



DAUB LER/DER HAHN 

EINE ANTHOLOOIE 




VERLAG DIE AKTION/BERLIN-WILMERSDORF 



Das Titclblatt zeichnete Felix M ii 11 e r 
Preis des Werkes in Halbpergament M. 3 



Ktir Heraasgabe, Schriftleitung und den gesamten Inhilt verantwortlich : Frans Pfemfcrt, Berlin •Wilmersdorf, N assauisc keatraaae 17. 
Gedruckt bei K. E. Haag, Me lie in Hannover. Abonnements kosten vierteljthrlich dorch die Poet, dorcb Buchhandel oder Vesiag 
(unter Kreusbaod) M. 2.50, far das Aiuland M. 3, - , Biittenauigabe, 100 niimcrierte Exemplar e, jAhrJich M. 40. Verlag der ACTION, 

Berlin 'Wilmersdorf. Alle Rechte vorbe bakes. 










A 

'ti / 












WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, UTERATUR, KUNST 

Hi. JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT NR. g 

IN HALT: Raoul Hausmann: StraBc (Titelblatt) / Theodor Lessing: Europa und Asien / Aus Bakunins Brief en / Waldemar 
Ohly: Holzschnitt / Josef Eberz: Federzeichnung / Charles P£guy: Renan / Rudolf Mense: Der Flufi (Federzeichnung) / 
Mopp: Vol taire_(Federzrich n ung) / Franz Werfei : Oebet { Albert Ehrenstein : Verschmachten / Carl Einstein: Kr&nke / Wil- 
helm Kletnm: liefer Abend / Alfred Wolfenstein: Des Freundes Haupt / Kurd Adler: Verheifiung / A. B. N. Sissenicn: Oc- 
dicht / Hans Richter: Musik (Tuschzeichnung) / W. Schuler; Holzschnitt / Karl Otten: Unzullnglicne Opfer. Fine Familien- 
blatt-Novelle / Erich Oehre: Holzschnitt / Franz Jung: Finanznovellen / F. P.: kh schneide die Zeit aus; Kleiner Briefkasten 




VERLAQ * DIE AKTION ' BERLIN. WILMERSDORF 



HEFT 50 PFQ 

















AKTIONS-BOCHER der aeternisten 

Band I : 

FERDINAND HARDEKOPF 
Lesestiicke 

Band 2; 

CARL EINSTEIN 

Anmerkungen 

Band 3: 

FRANZ JUNG 

Opferung 

Band 4: 

FRANZ JUNG 

Saul 

Band 5: 

CARL EINSTEIN 

B e b u q u i n 

Band 1, 2 und 4 kosten gcbunden je M. 2, — 
Band 3 und 5 kosten gebunden je M. 3, — 



POLITISCHE AKTIONS-BIBLIOTHEK 



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Erstes Werk: 



ALEXANDER HERZEN 
Erinnerungen 
Deutsch von Otto Buek 

Zwei Bande. (446 und 338 Seiten.) Mit 

drei Portr&ts 

Gebunden M. 12,50, broschiert M. 10, — 

Fur Abonnenten der AKTION 
nur direkt vom Verlage : 

M. 8, — geb., M. 5, — broschiert 

Zweites Werk (soeben erschienen !) : 

LUDWIG RUBIN ER 
Der Mensch in der Mitte 

M. 3- 



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VERLAG DIE ARTION 



DIE AKTIONS - LYRIK 

Band 1: 

1914 — 1916 

Eine Anthologie 
Band 2; 

JONGSTE TSCHECHISCHE LYRIK 

Eine Anthologie 

Band 3 : 

GOTTFRIED BENN: FLEISCH 

Gesammelte Lyrik 

Band 5: 

DER HAHN. Eine Anthologie 

Jeder Band gebunden M. 3, — 



BUTTEN - AUSGABE DER AKTION 

100 numerierte Exemplare 
Jahresabonnement : M. 40 

Jedem Buttenabonnement werden jahrlich raindestens 
acht KunstblSuer beigegeben, von den KUnstlern nume- 
ric rt und signiert. Diese Beilagen kommen nicht in den 
Handel und stellen einen Wert dar, der den Abonne* 
menlsbetrag Ubersteigt! Im Jahrgang 1917 werden 
beigegeben: Blatter von Felix Mailer f Max Oppenheimer / 
Ines Wetzel / Karl Jakob Hirsch / Richter-Berlin u a. 



KUNSTLER-POSTKARTEN DER AKTION 

Es sind So verschiedene Drucke erschienen 

Zeichnungtn von Mopp / Kars/ Schmidt -RoUlu IT /Schrimpf 
/ Klein / Richter-Berlin / Nadelman / Fetninger / Harta / 
Schiele / Mense / Melzer / Tappert / Else von zur 
Mtlhlen / Han* Richter / Josef Capek / Morgner u. a. 

100 Stiick M. 3, — 

portofrei gegen Voreinsendung des Betrages 



KUNST-SONDERHEFTE 
DER AKTION 

„Ntue Secession “ / Richter-Berlin / Schmidt- RoltlufT / 
K. J. Hirsch / Hans Richter / Wilhelm Morgner / Egon 
Schiele / Georg Tappert / Else von zur MUhlen / Ines 

Wetzel / Felix Muller 



DICHTER 

DER 



SONDERHEFTE 

AKTION 



Franz Blei / Gottfried Kblwel / Alfred Lichtenstein / 
Faria von Gtttersloh / Heinrich Schaefer / Paul Adler / 
Franz Werfel / Ludwig Rubiner / Alfred Wolfenstein 

SONDERHEFTE „DIE V O LKER“ 

,Rufiland w (mit Geleitworten von Maximilian Harden) / 
^England" / „Frankreich“ / „Belgien“ / „Ita 1 ien a / Boh- 

men" ( „ Deutschland" 

Jedes Sonderhcft, gewohnliche Ausgabe, 
kostet SOPf. — Blitten, numericrt, M.2,— 



WILHELM 



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Sophie. Der Kreuzweg der Demut 
Ein Roman. Geb. M. 3, — , geh. M. 2, — 



Das AKTIONSBUCH 

M. 3, — , in Halbpergament gebunden, signiert, 

M. 6, — 



VERLAG DIE AKTION 






WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITE R ATU R, KUNST 

7 .JAHRGAN 6 HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT 14. JULI 1917 



m 



EUROPA UND ASIEN 
Ton Theodor Leasing 

IV*) 

Die H auptge i s t esm ach 1 e Asiens 
Es ware jedoch eine falsche Verallgemeinerung, 
wenn wir die Geisteswelt Asiens als Einheit auf- 
fassen und schlechtweg der sogenannt europa- 
isehen Kultur entgegenstellen wollten. 

Innerhalb Asiens sind wiederum verschiedene 
Krafte, ungleiche Ideale am Werk. Der Brahma- 
n ism us mit 220 Millionen A n hanger n; der Bud- 
dhismus mit 420 Millionen, der Ahnenkult des 
Shintoism us, (sicherlich an 20 Millionen Anhanger 
zahlend), diese eigentliche Religion Japans, wel- 
ches Land der kluge Kopf Asiens ist, wie lndien 
sein groBes mutterliches Herz; endlich der Islam 
mit 240 Millionen. 

Betrach ten wir das Wesen dieser vier groflten 
asiatischen Geistesmachte. 

1. Der sogenannte Brahman ismus — (br&hman, 
(Mana] ist das indische Wort fur S e i n , wel- 
ches weder mit unserm Begriff Da sein, noch 
mit dem Begriffe Lehen [&tman] iibereinkommt,) — 
ist der ungeheuerste Naturkult, die gewaltigste 
Lebensreligion, die die Erde kennt. Eine Reli- 
gion, vollkommen ohne Gottesbegriff und ohne 
Ethik; denn dort wo alles Lebendige als gott- 
lich und gotterfiillt verehrt wird und das Leben 
in alien seinen EntauBerungen Gegenstand der 
Andacht ist, da gibt es keine sittlichen Wertleitern 
und logischen Rangstufen. 

Unser deutsches Wort Gott kommt von Gut! — 
Gott, so nennen wir das Gute; und darin zeigt 
sich, daB christliche Religiositat eine sittliche Re- 
ligiosity ist, oder, wie ich besser sagen konnte, 
eine Wertreligiositat!, das heiBt eine Glaubigkeit, 
welche Nor men und Ideale fur Menschen auf- 
stellt und uber das Leben sittliche Urteile, das 
heiBt, Schatzungen und Auswertungen abzugeben 
trachtet. Aber neben und im Gegensatz zu alien 
Wert religion en stehen Naturreligionen, welche 
nicht uber das Leben normierend urteilen, son- 
dem mit dem Leben E i n e s sind in einem tie- 
feren Sinn, als die immer ethische und das heiBt 
auch immer zwiespaltige (dualistische) Religiosi- 
tat europaischer Menschen. 

Die Welt der Vielheit ist nur ,,Schleier der Maja.“ 
Hinter dem BewuBtseinsschleier ist alles Eines. 
-Mensch kann zu Tier, Tier zu Mensch werden. 



*) I, II und HI siehe die Hefte 24/25, 26. 



Pflanze und Tier, Wind und Woge sind dem 
Morgenlander Schwester und Bruder. Als Ge- 
genstand der Furcht und Ehrfurcht erfiillt ihn 
die unendliche Fruchtbarkeit des Lebens, die in 
alien nur moglichen, ewig wan del bar dahin- 
flieBenden und vor keiner Phantastik zuriick- 
schreckenden Formen und Gestalten verehrt und 
angebetet wird, in Affe und Schlange, Mango- 
baum und Dattelpalme, Lingam und Lotos, Fratze 
und Saule; am liebsten in ungeheuerlichen Got- 
terbildern, die tausend Arme, tausend Kopfe, tau- 
send Bruste haben, trachtig von Leben, strotzend 
von zeugenden Kraften des Lebens, so wie der 
Dschungel oder Urwald, der nahe den Tem- 
peln solcher Gutter liegt. Das sind fratzenhaft 
wiiste Gotter, die kein geringerer als Goethe 
miBverstand, weil er mit sittlich Ithetlschem MaBc 
Euro pas ihnen ebenso wenig nahen durfte, als 
einem Urwald von Menschen! ei be rn, den der opale 
Pinsel des groBen Rubens auf die Leinwand 
schmettert Auch die Verehrung Kamas, — ver- 
mutlich Ursprung des Dionysosdienstes in Hel- 
las — Indiens Freudenkult und die Hingabe des 
Weibes aus religidsen Weihen erklart sich aus 
dieser Anbetung der ewigen lebencjigen Frucht- 
barkeit. Die Religion Brahmas kennt keinen sitt- 
lichen Imperativ, also keinen Dualismus. Eben 
darum (ich kann diesen Gedanken hier nicht 
begiiindend ausfuhren) bedarf sie jenes starren, 
ein flir alle Mai beschlossenen Kastenwesens 
und Traditionalismus, welcher alle auswertende 
Einzelvernunft und ihr sittliches Pathos fraglos 
dahinlebenden Mensch engeschlechtem vollkom- 
men ersetzt. 

Wenn man behauptet hat, daB Religion eine An- 
gelegenheit der Einzelseele sei, Privatsache und 
allerpersonlichstes Leben, so gilt diese Behaup- 
tung streng genommen doch nur fur die N a t u r - 
tatsache Religion, fur jene Allbeseelung, der aus 
Busch und Baum das Bild lebendiger Fulle wieder- 
strahlt, jenes A 1 1 erlebnis, welches Gefiihl und Ah- 
mung, den vorbewuBten Muttergrund alles Seelen- 
lebens, zum Trager hat. Demgegenuber aber 
erziichtet der ZusammenschluB der Menschen zur 
Gruppe, die Entstehung der Stadt, des Verkehrs, 
des Geldes, des Zwi&chenmenschlichen und Sozi- 
alen die Notwendigkeit eines Bruches in und mit 
der Natur, jenes Wertreich, welches wir Ver* 
nunft oder Sittlichkeit nennen. Erst das Gruppen- 
und Gemeinschaftsleben tragt uber schnell dahin- 
sterbenden Einzelwesen dieses Uber- uud Unper- 



367 



DIE AKTION 



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sonliche empor, das a!s Allgemeines und alien Ge- 
meinsames die Einzelseele iiberdauert und ver- 
zehrt, den idealen Oberbau iiber allem Seelischen : 
den Geist. — Mit dem Geiste aber erb'uht eine 
ganz andere Art von Religion, die universale 
Religion der sittlichen Bindung. Von diesem Wan- 
del der Naturreligion und des mythischen Fuhlens 
zu denkender und wertender Beurteilung der 
Welt zeugt die zweite der groBen Gelstesmachte 
Asiens, der Kultus Japans, dessen Staatswesen 
dem europaischen verwandt 1st: der sogenannte 
Shintokult. 

2* Shinto, auf deutsch etwa: Weg der Gotter, ist 
die zur Staatenbildung giinstigste, ich mochte 
sagen erzieherisch kliigste Religiosiiat der Erde. 
Sie griindet auf Familiensinn und Gruppenge- 
fiihlen* Nicht in der Natur, in Baumen des Ur- 
waldes, nicht in seltenen Tieren und Pflanzen, 
nicht in Gleichnissymbolen der schopferischen 
Lebensfulle sucht sie den Gott, sondern, ohne 
Tempel und Pagode, im Menschengemiite, so 
innig-zart, daB des Christentums Sitte und Ge- 
wohnung oft dagegen barbarisch anmuten. 
Sie weiht die Hutte des armsten Paria zum 
Tempel heiligen Gefuhls. Da steht der kletne 
Hausaltar mit vielen Tafelchen und Papierstreifen, 




Waldemar Ohly 



Holuchnitt 



auf denen die Namen der Toten prangen, der To- 
ten, welche nach dem Heimgang einen neuen Na- 
men erhalten; da wird in silberner Kapsel die 
Nabelschnur verwahrt, die das Kind mit der Mutter 
verband; da verwahrt man Grabsteine der Ahnen, 
als das Heiligste, was das Gernut kennt; und 
wir Europaer wissen nicht, was wir einem from- 
men Ostasiaten antun, wenn wir einen alten Stein 
umstiirzen, den der Shintoglaubige ebensowenig 
antasten darf, als der Chinese ein Stuck bedrock- 
ten oder beschriebenen Papieres vernichten. — 

3. Noch naher aber, ja am nachsten steht unserm 
europaischen Denken die dritte asiatische Gei- 
stesmacht, der Buddhismus, einem gereinigten 
Christentume so nahe verwandt, daB der Gedanke 
Wahrscheinlichkeit gewinnt, der in ihm den Mut- 
terschoB des Christusgtaubens sieht, ja mit an- 
nahemder RIchtigkeit auch den Namen Christus 
vom indischen Krischna Oder Schiwa herleitet. 
Denn die Kerngedanken Buddhas sind durchaus 
ethisch-dualistisch und der Buddhismus 1st eine 
Wert religion, die zum Brahmanismus gemein- 
sam mit dem Christentum in Gegensatz steht. 
Denn wahrend der Brahmane alle Formen und 
Gestalten fur den Ausdruck des einen Brahma, 
ihre Vielheit und Unterschiedlichkeit aber fur 
bloBe BewuBtseinstauschung und „Schleier der 
Maja*^ halt, setzt der Buddhist wie der Christ 
Weltordnung und Weltzie! zur Erklarung der Un- 
terschiede ein und nennt die eine Lebensform 
„besser“ als die andere. Inmitten des ewig- 
wandelbaren Flusses des Lebendigen baut somit 
der Geist stolz und still am Felsen des Ge- 
setzes: Buddhas oder Christus , Anbild ruhig 
und wandellos erhohend, inmitten des fruchtbar 
zeugenden Lebenselementes, welches der lebens- 
nahere Brahmaglaube ausschlieBlich verherrlicht. 
Damit aber tritt der menschliche Gedanke 
aus dem Leben heraus, um zuletzt alles Leben 
in sich, als in sein „Nirvana <f wieder zuriickzu- 
schliirfen und „im Geiste zur Erfullung zu 
bringen.^ 

Ich betrachte zwei Grundgedanken als das We- 
sentliche. a) Zunachst den Gedanken des Karma. 
Jeder Lebenslauf wird vorbestimmt durch Blut 
und Same, vorbelastet durch Erbsiinde und Erb- 
schuld, vorentlastet durch BuBe und Heiligkeit. 
Wir leben auf Erden Himme! und Hollen; ernten, 
was Vorgeschlechter in uns gesaet haben, saen, 
was Nachgeschlechter ernten mussen. Mag man 
das nun mit europaischer Naturwissenschaft an 
Hand Darwinischer Gesetze mit den Schlagworten 
Vererbung und Anpassung banaler und klarer 
machen; mag man die christlichen Mysterien 
tiefinnerer Gerechtigkeit oder geschichtlicher Ne- 
mesis oder mag man endlich die Aufforderung 
zu Askese und Heiligkeit darin suchen; Karma 
ist der Glaube, daB Natur (vom Menschen 
aus gesehen) ein Kleid ist, gewoben aus 
Tat. Gewesenes wirkt im Lebenden und 
Alles lebt in alien. Nicht wie der Brahmane 
glaubt unterschiedlos im ewigen Formen wechseL 
sondern nach Gesetzen der Zucht, die dem 
Leben einen ,Sinn* geben. Also nicht ein kos- 



) 

i 



t 













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370 



misches Allgefuhl (wie im Brahm), sondern ein 
Sittliches wirkt in den Glaubigen Buddhas — 
b) Buddhas zweiter Kerngedanke ist der von der 
Wiedergeburt, nach Gezeiten aonenlanger 
Zwischenruhe in imrner neuen Formen. Auch 
dieser Gedanke der Wiedergeburt ordnet sich dem 
sittlichen Ideale zu, da wir ja selber in der 
Hand haben, zu bestimmen, als was wir wieder- 
geboren werden. Wer sieh iiber die gemeine Ord- 
nung der Seelen hinauserzog, dem bleibt Natur 
die Wandlung in eine hohere Ordnung der 
Wesen schuldig; wer seine geistigen Keime 
vertrocknen Oder verschiitten lafit, dessen Los 
ist Versinken in das niedere Reich der ele- 
mentarischen Krafte; er mag als Blatt oder Blume, 
Kafer oder Kiesel weitervegetieren; ewiges Ver* 
gessen ist sein Teil, und seine Wiedergeburt als 
geistiges Wesen zu geistigem Werk ist 
auf so lange versperrt, bis auch sein Leben sich 
neu emporgearbeitet hat aus allverschlungenen 
Ketten pflanzlich-tierischer Existenzformen zu Ge- 
danke und wertendem Geist. In ihren erhabensten 
Gebilden ist diese G eistes religion Asiens so 
tiefsinnig, daB Schopenhauer vollkommen recht 
hat, von ihr weit eher noch als vom Brahmanismus 
zu sagen, daB es platte Geschmackiosigkeit sei, 
wenn wir Europaer christliche Missionen nach In- 
dien schicken, um Brahmanen und Buddhisten zum 
Glauben an den dreieinigen Gott zu bekehren; 
sinnvoller scheine ihm, daB der Kaiser von Siam 
Missionare nach Europa sende, um Europa zum 
Buddhismus zu bekehren. — 

4. Noch eine vierte groBe Geistesmacht Asiens 
gilt es zu begreifen, den semitischen Islam. DaB 
die Tiirkei gegenwartig in Deutschland ebenso 
mit einer Gloriole umstrahlt wird, wie sie vor 
wenigen Jahren noch zum Schreckgespenst euro- 
paischer Vorurteile diente, hat unser hier ganzlich 
unpofitisches Urteil nicht zu kiimmern. Was — so 
fragen wir — ist das Wesentliche in der Geistes- 
welt Mahomets? Und die Antwort macht uns 
geneigt, die islamitische Geisteswelt nicht nur 
fur uneuropaisch, sondern als im tiefsten anti- 
europaisch zu betrachten. Denkende Beobachter, 
die lange in Vorderasien Iebten, stimmen darin 



iiberein, daB der Tiirke zu unsrer Art Gedank- 
lichkeit, europaischem Geschaftsverkehr, Technik 
und Wissenschaft gerade vermoge seiner reli- 
gidsen Tugenden verdorben sei. Seine Reli- 
giosity ist kontemplativ. Sie erfordert groBe stille 
Betrachtung des Lebens ohne die aktiven Zwecke 
und Ziele, die der europaische Mensch wie einen 
Zwangpanzer iiber das Leben wirft, Wir sehen 
ruhige patriarchalische Manner und blumenhafte, 
wie Kinder bluhende Frauen auf den Kirchhofen, 
den Grabsteinen ihrer Vorfahren, (der Statte, die 
der Tiirke pflegt, wie wir unsre Laubengarten), — 
da sitzen sie in der Sonne, die Frau den Tee berei- 
tend, der Mann die Wasserpfeife rauchend. Ihr 
Ziel? Die Meeresstille des Gemiites. Eine 
schmerzlose Gleichgiiltigkeit gegeniiber dem 
Leben. Ihr fester Glaube: das Kismet, wonach 
der Mensch der Spielball ubergeordneter Krafte 
ist. Nicht wie das Karma der Inder ein Gedanke 
an Erbsiinde und Erbentlastung, sondern ein Ge- 
danke des logischen Optimismus: „Alles hangt 
mit allem zusammen. Es hat alles so kommen 
soilen, w r ie es kam.“ 

,Du, der durchs Leben wird geschlagen wie ein 
Schlagelballen, 

Du, der Du in die Lust des Weines und der 
Huri gefallen, 

Du bist gefallen auf des Ewigen GeheiG, 

Er ist es, der es weifi, der's weiB, der’s weifl. 4 

AUS MICHAEL BAKUNINS BRIEFEN 

16. November 1869 

Mein lieber Ogarjow! 

Ich habe Comte erhalten; ich danke Dir; auch 
erhielt ich Deine beiden Briefe. Ich antworte 
Dir auf beide zusammen. Du gibst Dich um- 
sonst der Wehmut hin, und vergebens wiihlst 
Du in Deiner Seele, um verschiedene Abscheulich- 
keiten darin zu entdecken. Zweifelsohne wird 
jeder ohne Ausnahme, der ebenso in seiner Seeifi 
wiihlt, etwas Unreines in sich finden. 

Weshalb aber solltest Du Dich dem iibermaBigen 
Wiihlen in Deiner Seele hingeben? Das ist doch 
auch eine vollkommen unniitze Beschaftigung der 
Eigenliebe, Reue ist wohl gut, wenn sie nur 




Josef Eb*rz 



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etwas verandern und bessern kann. 1st dies aber 
nicht der Fall, dan n ist sie nicht nur nutzlos, 
sondern auch schadlich. Vergangenes kann man 
nicht zuriickrufen. Nicht bereuen und nicht be- 
dauern sollen wir, sondern alles sammeln, was 
in uns an Kraft, Geist, Verstand, Gesundheit, 
Leidenschaft und Willen von unsern Fehlern und 
Drangsalen noch verschont geblieben ist; das 
alles miissen wir konzentrieren, um dem einzig 
ersehnten und letzten Ziele zu dienen, der Re- 
volution. Warum fragst Du, ob wir sie erleben 
werden oder nicht? Das vermag niemand zu er- 
raten. Wenn wir sie auch erleben, Ogarjow, 
so wird das uns personlich geringen Trost 
bieten, andre Leute, neue kraftige, junge, wer- 
den uns von der Erde verdrangen und uns Iiber- 
fliissig machen. 

Dann werden wir ihnen den Platz raumen. Sie 
mogen dann schalten und walten, wir aber wer- 
den fur immer in einen tiefen Schlaf sinken. Bis 
dahin sind wir aber zweifelsohne niitzlich; sam- 
meln wir also unsre ganze Kraft, unsre Fahig- 
keiten, die dank den Gottern noch nicht ganz in 
uns erstorbene Leidenschaft und arbeiten wir oline 
Rast und Ruh bis zum letzten Atemzug, ohne 
nutzlos in unserm Innern zu wuhlen ; dabei 
miissen wir mit uns selbst wie mit verdorbenen 
und zum Teil zerbrochenen Instrumenten 'am- 
gehen, die man mit Kenntnis und Geschick be- 
handeln muB, ohne Unmogliches und Unerreich- 
bares von uns zu fordern, ohne iiber die eigenen 
Schwachen in Verzweiflung zu geraten, sondern 
wir miissen diese stetig und nach Kraften maBi- 
gen. Das, Ogarjow, soli unser Leben ausmachen. 
Damit es uns aber behaglicher wird, schlieBen 
wir uns fest aneinander an, Ogarjow, auch zwei 
alte Leben vermogen Licht und Warme hervor- 
zubringen und Kraft zu schaffen, wenn sie sich 
eng aneinander schmiegen. — Willst Du? Ich 
bin bereit. 

Wenn Maria die Schwindsucht hat, so soil sie 
sich nur schonen. in ihren Jahren kann man 
mit Schwindsucht lange leben. Vielleicht ist es 




Rudolf Mentt Der /7u/? 



doch keine Schwindsucht? Sie soil sich nur 
schonen, sie ist a very good lady, 

Besuche die Schenke, aber nur mit MaB. Du 
bist nicht zum Anachoreten geboren, ein Asket 
warst Du nie und wirst Du nie sein, Nur mit 
MaB. Darin, Bruder, liegt, wie es scheint, das 
ganze Geheimnis. 

Ich bin froh, daB auch Shukowski sich so 
von Dir angezogen fuhlt. Glaube mir, daB dieser 
Mensch ein goldenes, liebevolles, treues Herz hat. 
Er ist immer bereit, das letzte wegzugeben. Zwar 
hat er keinen Charakter, — er ist zu weich, zu 
erregbar, er hascht nach Eindriicken und liebt 
selbst, Eindruck zu machen, aber er ist klug und 
faBt schnell und gut auf. Er ist eine ganz kiinst- 
lerische Natur, sei mit ihm herzlich und ziehe ihn 
zu Dir heran, soviet Du kannst, FeSle ihn so, 
daB er uns ganz gehore. Das wird niitzlich und 
auch mdglich sein. Zu diesem Behufe und ohne 
ihm irgend welche ernsthaften Geheimnisse an- 
zuvertrauen, vertraue ihm im groBten Geheimnis 
einige geringfiigige, aber anscheinend sehr ernste 
Angelegenheiten an, z. B. daB ich in Lugano 
bin, daB ich Dir das Recht gegeben hatte, es 
ihm zu sagen, mit der Bitte, er moge es niemand 
mitteilen mit Ausnahme seiner Frau Ada, die, 
ich versichere Dich, die einzige Frau meiner Be- 
kanntschaft ist, die ich in die geheimnisvollste 
Sache einweihen konnte. Sie ist klug, aufier- 
ordentlich klug, edel bis zur Donquichotterie, treu 
und verschwiegen wie das Grab und keineswegs 
demonstrativ, sie hat einen dem ihrer Schwester 
ganz entgegengesetzten Charakter. Dazu ist sie 
auBerordentlich witzig, eine gute Beobachterin, 
sie sieht alles, schreibt sich’s hinter die Ohren 
und lachelt nur vor sich hin , . . 

Mein Freund, wir sind alt, deshalb miissen wir 
klug sein, Wir besitzen keinen jugendlichen Reiz 
mehr, dafur aber Verstand, Erfahrung, Menschen- 
kenntnis, das alles miissen wir im Dienste der 
Sache anwenden. 

Dein 

M. B. 



RENAN 

Von Charles Peguy 

Unter alien modernen Historikern war vornehm- 
lich Renan dazu ausersehn, die ungeheueren 
Schwierigkeiten odcr Unmoglichkeiten metaphysi- 
scher oder physischer, menschlicher oder natur- 
licher Art zu erkennen, welche der Begriindung 
einer wirklich modernen Geschichtswissenschaft 
entgcgenstehn. Er gehorte keineswegs zu den 
Historikern, welche nicht meditieren. Man konnte 
im Gegentei! beinahe sagen, daB die Meditation 
sein natiirlicher Zustand und iiberdies sein lieb- 
ster war. DaB sie den Grund seines Wesens seines 
geistigen und gemiitlichen Lebens ausmachte. Er 
war Bretone. Er war Katholik gewesen. Er war 
von katholischer Rasse. War Katholik und — 
im allgcmeinen Sinne — Christ ein wenig langer 



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DIE AKTION 



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geblieben, als er e$ glaubte, um vieles langer 
als er es sagte, bedeutend langer, als er es zu 
verstehn gab, und unendlich viel langer, als man 
uns immer vorgesagl hat Er war ein Mann der 
Meditation. Er hatte eine hinreichend lange Lehr- 
zeit priesterlichen Lebens hinter dich. Und er 
war nicht der Mensch, eine Lehrzeit zu vergessen. 
Er war im Grunde und unter einem gewissen 
auBeren Schein von Heiterkeit voll Traurigkeit, 
von einer gesunden, heilsatnen Traurigkeit. All 
diese Scheingewander von Heiterkeit waren fur 
seine Traurigkeit nichts als Hiillen der Scham. 
Zuiveilen fast schamlose. In Ermangelung der 
Oabe der Tranen barg er tief in sich, unterhalb 
alles auBeren Schemes, aller Scheinbarkeiten, in- 
mitten so vieler Unaufrichtigkeiten, man durfte 
beinahe sagen, inmitten aller 6einer Unaufrich- 
tigkeiten, unter alien Mondanitaten barg er ewig 
unzerstorbar diese angeborene, iibersinnliche Gabe 
der Traurigkeit Eine lange Erfahrung, eine per- 
sonliche Erfahrung religiosen Lebens hatte ihn 
unwiderstehlich zur metaphysischen Meditation 
gefiihrt; eine standige Besorgtheit lacherlich zu 
werden, auch vor sich selbst und demzufolge der 
Genarrte zu sein, auch durch sich selbst, trat 
bei ihm fast vorteilhaft an die Stelle einer gewissen 
Wahrheitsliebe, wie es auch. bei vielen andern, 
weniger schuldlosen, vorkommt. All dies fiihrte 
ihn dazu, bei seinen taglichen Beschaftigungen 
zu meditieren, eben fiber den Zweck dieser Be- 
schaftigungen. O nein, die Metaphysik war ihm 
nichts Fremdes. Er wufite, was Metaphysik war. 
Ganz genau wuBte er es. Er brauchte sie. 

Das ist der Grund, warum ein Mann wie Renan 
eine fast einzigartige Mischung darstellt; seine 
unaufhorlichen SpaBe, Spottereien, oftmals unbe- 
scheiden, entsprangen dennoch immer nur der 
Bescheidenheit und waren Hiillen. 

Ihre Kleider sind einfach verfertigt; denn in diesem 
milden Klima tragt man nur ein feines und leichtes 
Stuck unzugeschnittenen Stoffes, das ein jeder 
sittsam in langen Falten um den Leib legt, in der 
Form, die ihm eben zusagt. Das ist, wie Fenelon 
es gibt, dieser Renan des 17. Jahrhundert, eine 
treffende Zeichnung unseres Renan. Alle Monda- 
nitaten, alle Schwachen, alle Zugestandnisse an 
das Jahrhundert: nur Hiillen. Und im Organisraus 
tief drinnen der metaphysische Ernst. 

Nirgends tritt dieser Ernst bei Renan so sehr zu- 
tage wie in dem merkwiirdigen und merkwurdig 
umfangreichen Buche, in Form und Inhalt einzig 
dastehend unter seinen Werken, dem er selbst 
den Titel gegeben hat: Die Zukunft der Wissen- 




Max Oppenkeimer Voltaire 

schaft (Gedanken von 1848). Ein Testament vor 
dem Leben — dies sind vielleicht die aufrichtig- 
sten Testamente — ein Testament vor der 
Schwelle seines Manneslebens : hier spricht einer 
zu uns: Hoc nunc es ex ossibus meis et caro da 
came mea. Eine Zeugenschaft, noch vor dem 
Leben abgelegt, um nach s einem Ende veroffent* 
licht zu werden, veroffentlicht zum Abschhifl 
seines Lebens, weil das Leben sich lang hinzog, 
weil der Tod zu nahen zogerte, weil die geleug- 
nete Ewigkeit auf dich warten lieB. Oder besser 
eine Zeugenschaft zwischen zwei Leben, ein Testa- 
ment nach Vollendung, nach einer ersten fur end- 
giiltig gehaltenen Vollendung des priesterlichen 
und religiosen Lebens, zugleich aber eine Veiv 
pflichtung, ein Versprechen, Bekenntnis, Gelubde 
vor Beginn des zweiten Lebens, vor dem Eintritt 
in die wissenschaftliche Laufbahn. 

(Autorisierte Obersctzung von Gustav Schlein) 



DAS GEBET MOSIS 
(Neue Fassung) 

Nicht vierzig Tage, vierzig Nachte, 

Nicht vierzig Jahre und abervierzigl 
Nein vierzig Leben, vierzig mal vierzig Leben! 
Dies noch zu wenig. Ich will mich rtihren nicht! 
O Sohne, Knechte, stiitzt mir die Arme auf, 

Die Arme mir empor, hort ihr, Knechte Sohne! 
Die Arme stemmt mir empor, stiirmt mich hinauf. 
Horst Du, ich bin kein Bittender, ich bin der 
Alte Furchtbare, Dein alter Kampfhahn bin ich, 
Dein Tiireinschlager, Dein Glaubiger-Ungetum ! 
Ich lasse nicht ab, ich riittle an Dir, ich renne 

Dich ein! 

Ich bin der alte Festungsstiirmer, Du zitterst, Du 

kennst mich. 

Verrammte Dich, versammle nur um Dein Haupt 

die EHener der oberen Feste und der 
unteren Feste, 

Die Engel der Lehre, die Engel der Vollstreckung, 

sie taugen Dir nicht. 



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Ich lasse nicht ab, ich zerschmeiBe Dei tie Walle, 

ich saufe Deine Graben aus, ich schleife 
Dich. 

Ich fahre in Deine Ordnung, ich werfe mich kopf- 

iiber in Dein Walten, Du widerstehst mir 
nicht. 

Ich beiBe mich in Deine Brust, ich flechte mich in 

Dein unbildliches Feuer, ich hammere mit 
Fausten an Deinen Mund! 

Ihr Sohne Knechte werft mich empor! Fiihlt ihr 

den bruderlichen Orkan? 

Auf, auf! Du wirst mich nicht los, wie Du Dich 

auch windest. 

Ich halte Dich, Du mein Feind, Du mein Vater 

an Deincm Saum unwiderstehlich! 

Ich befehde die Rotte um Deinetwillen, Du mein 

Widersacher! 

Ich befehde Dich um der Rotte willen, Du mein 

Vater! 

Ich habe keinen, nicht Dich und nicht die Rotte! 
Ich kampfe nach oben und nach unten, 

Ich tobe auf einem Berg zwischen Dir und ihnen. 
Ich bin nicht wohlgeneigt. Lache nie. Ich bin 

T rompetenschrei, Unversohnlichkeit, 
Feind alien Ausgleichs! 

Ich fuhre keinen Frieden herbei, denn mein 

Schwert schlagt Himmel und Erde! 

Ich lasse Dich nicht, Du wendetest denn an alien 

Enden ! 

Ich bin die Wahrheit, die nicht vertrieben wird, 

die Gerechtigkeit, die man nicht zur Seite 
nimmt. 

Ich will mich an Deine Majestat hangen mit mei- 

nem AuBentum. 

Auf auf, ihr Knechte Sohne, baumt meine kriege- 

rischen Fauste auf! 

Du entgehst mir nicht in Deiner Unendlichkeit! 
Du muBt mir Rede stehn mit zitternden Lippen! 
Ich fordere Dich vor Dein Gericht, Richter! 

Da ist keine Flucht mehr, ist kein Ausweg. 

Du erscheinst — Ich knie Deine Welt ins Nichts. 
Ich schlage Dich mit Deinem Namen. 

Du erscheinst, Du rechtfertigst Dich, Du wen- 
detest denn ! 

Franz W erf el 

VERSCHMACHTEN 

Reifer Vater, noch keine Rettung mir, 

der in der Wiiste lagert? 

Nichts als den breiten Sand, 
der mich umweht?! 

Fernab den gazelle naugigen, 
mondwangigen Brauntochtern der Oasen 
kriimmc ich mich im Durst. 

Nur in den Ohren rauscht mir 
das Geschwatz eines Baches, 
der Madchen Silberrede, 
die nicht verstummt. 

Ihr schlanken Palmen voll SiiBe, 
jungen Stuten der Zelte, 
soil ich euch niemals ftihlen, 



heifier als der Sand, 
am Abend, 

wenn die Kameele verschwunden sind, 
und nur der Himmel Sprache halt 
mit seinen Sternen zu mir? 

Albert Ekrenstein 

KRANKE 

I 

Hohle knauelt 

Augapfel brandet in barometrigem KanaL 
Verrostet schwimmt ein hohler Hammer in den 

Adern. 

Luft entziindet kuglig, 

Erstickt in Bandern Schlamms. 

Schlingt bleiern hoch zur Schadelbriicke 
Faltet an Zimmerdach 
Verwirrten Kinderdrachen. 

Ich klimme an der Schnur 
Quirliges Insekt. 

Entschaie den Russel 
In kurzbodigen Teich. 

Mich ebnet Kranke in verspiegeltes Zergrauen. 

II 

Angst um den blinden Mond 
Rostet das Auge kurvender Eidechse. 

Aufschwillt mein Herz, 

Ballont iiber Pflasterstein ; 

Eitriger Erde 
EinpreBt er den Nabel. 

Ich werfe in den Schrecken 
— Queruber die Sichel — 

In zackiges Seufzen des Skorpions. 

Es verwankt verdorrten Horizont 
Auf Seilen. 

III 

Gitter umbohren Locher 
der Gedanken. 

Vages Verwildern. 

Him 

Carl Einstein 

TIEFER ABEND 

Ich sehe viele Gesichter am Himmel, 

Aber eine Stimme behauptet, daB sie alle eins 

seien. 

Zauberhaft und unausdenklich 

Sind diese Versuche und Immerwiederversuche. 

Der Himmel wird violetter, 

Der Mond geht auf wie ein groBes BewuBtsein. 

Ich wanderte lange bergauf 

Durch eiserne Walder und Dornenhecken der 

BuBe. 

Nun wird es Friede um stolzumschattete Augen. 
Die Nacht schreibt ihre ewigen Gesetze, 

Oh wie still sind in dieser Hohe die Felsen — 
GroBe Stuhle, in denen man einschlaft. 

Wilhelm Klemm 



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DES FREUNDES HAUPT 

Die Strome, gegen die wir schwimmen, 

Die weichen Traume, die uns trinken, 

Gebirge der Gewatt, auf die wir klimmen, 

Die Frauen auch, in deren Sternen wir versinken 
Mit halben Stimmen: 

Wir bieten uns den Wiidnissen und SiiBigkeiten 
Der Erde hin, . . sie kussen uns mit Keulen, 
Verkorpem und zerpfiucken uns, verbreiten 
Die GUeder als ein sufies Chaos durch die ganze 
Seeie . 

Daruber dennoch steht des Freundes Haupt voil 
Saulen ! 

An deinem Geist IaB meine Stimme widerhallen, 

An mir IaB deine Gedanken 
Verstarkt und marmorleicht und 
turmbeschwingt erschallen, 

Und unsrer Klarheit Wolbungen 
In einer einzigen Tat gekreuzt 

die Erde uberranken! 7 

Alfred Wolfeneiein 



VERSE VOM SCHLACHTFELD 
Granaten huschen gespenstisch 
heriiber und hiniiber. 

Letzte Sonne warmt 

frierende Baumgerippe und zerwiihlten Boden 
und blutende Fauste, 
um SchieBeisen verkranipft. 

Schwefel, Feuer, Blausaure 
geifern um FuBbreitcn Erde. 

Ein Sterbender haucht den letzten Schrei: 
„Mutter!“ 

Irgendwo in einer zerschossenen Kirche 
traumt ein altes Gebetbuch 
vom Christentum 

A, B. N. Smenich 



VERHEISSUNG 

Tage springen auf 
mit lichtendem Glanz, 
von VerheiBungen schwer. 

Meine Hande fasten 
begierig das GroBe 
und gleiten hinab 
und ahnen Geschick 
flutender, rauschender Gebarden. 
Und greifend spielend 
den schweren Ball 
aufsteigender Sonnen* 

Zittemdes Gluck 
ahnt sich vorbei. 

Farben zerflieBen 
werden zum Rahmen 
zersinkender Dinge, 
verklingender Kopfe, 
zerrinnender Wunsche. 

Auf b reitem Feld 
schleicht schweren Schritts 
mit brechendem Riicken 
raudgraue, fressende 
gestaltenlose Einsamkeit 
Ein bitteres Schreien 
Tief hinten im Hals 
zerbricht den Tag, 
der weise und lachelnd 
sich selbst begrabt. 

Kurd Adler 



r* 

fi 





Han* Richter 



Mu*ik 




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W. Schuler 



Die Lesende 



UNZULANGLICHE OPFER 

Eine Familienblatt-Novelle von Karl Otten 

I 

Die groBe Stadt troff von Regen. Die Bazare 
und Kasernen, die Tore und Palaste schwammen. 
Wie durch Glas glitzerten Automobile und Wagen. 
Alles wirbelte mit den Tropfen, die niederhiipften, 
feurig und behend. Als seien sie gliicklich, ihr Los 
zu erfiillen. Schwarze Kuppelschirme reihten sich 
wie ein Zug schwankender Schildkroten anein- 
ander. Die Blumen und Gesichter, die Federn und 
Pelze der Frauen frostelten. Die Kleider waren 
traurig verschlungen. Gelb knirschte Schleim auf 
den Wegen. Lachen spritzten gelb vor Radern 
auseinander. Viel Papier trieb durch die Gossen 
in die Unterwelt der Kanale. Wie bunte Leichen. 
„Mar* war dem Ende nie naher“ murmelten die 
Misanthropen in den Bart. Die Hoffenden aber 
sammelten sich vor dem Wetterhauschen, Ein 
Mann mit rotseidenem Kragenschoner sagte plotz- 
lich zu einem Fremden mit goldener Brille: „Ich 
werde meinen Sohn veranlassen, daB er den Laub- 
frosch oben auf der Leiter festbindet . 44 
„Wenn Ihr Sohn das nicht aus sich tut, nutzt es 
nichts, Herr Doktor.“ 

Der errotete bis in seinen Kragenschoner und 
sagte gefaBt: 

„lch will ihn ja gar nicht zwingen, meine ideen 
zu reaiisieren, aber er hat eine gliicklichc Hand. 
Einnial zog er ein Los des Heimes fur gefallene 



Madchen. Da hab ich zweihundert Mark ge* 
wonnen . 44 

„Hoffentlich kommt er nicht spater in die Lage, 
sie den gefallenen Madchen mit Zinsen zuriick 
zu zahlen . 44 

Dort erwarteten Katharina und Maria die Tram 
und Horten dies Gesprach. Katharina riickte den 
Mantel iiber ihren schweren Leib zurecht 
„Ich kann es noch nicht fassen , 44 sagte sie, „ich 
will nicht. Ich denke im Bogen um das Haus her- 
um. Wenn nur die Tram karne. 4 * 

„Den einen trifft es wie die anderen. Die Frau 
Goldstaub hat Gluck, Wie sie wutend war, wenn 
Franz dich besuchte. Und wie sie hantierte, wenn 
dieser liederliche Fetzen in ihrer Kammer lungerte. 
Dann Kaffee, Braten, Schnaps, Wein. Am andem 
Tag war sie gelb und blau wie ein abgegriffener 
Schmetterling. Ich habe dieses Weib gehaBt. Man 
hatte dem alten Kerl einen Streich spielen sollen, 
nur um dich zu rachen. Was wird Franz tun, 
wenn du niederkommst ? 44 

„Ich weiB es noch nicht. Er ist ein guter Mensch. 
Aber manchmal konnte ich ihn iiber den Haufen 
schieBen. Diese Manie, mich fiir den Lohn aller 
Schlechtigkeit auf Erden zu halten. Als ob ich 
das fuhlen konnte! Wenn ich mich vor dem 
Spiegel anschaue, packt mich die Wut, weil doch 
alles gegen seinen Willen spricht. Als ich ihm 
sagte, daB ich seit drei Monaten schwanger sei 
— — — er wackelte mit dem Kopf von rechts 
nach links und juckte sich auf der Glatze. Das 
war scheuBlich. Dann sahen wir uns nicht an — 
wohl zwei Stunden, sprachen nicht, es war eine 
ungeheure Last so zu sitzen mit alien Gliedern 
und Augenund Zunge. Nur das Herzschlagt. Das 
war eine furchtbare Zeit, nicht Zeit, nein, es 
war so alles nur furchtbar getrankt mit Herze- 
leid. Alle Welt war da. Jedes Brett im Boden 
ein Ungliick. Jeder Stuhl, jede Blume, der Vor- 
hang und die Lampe Mord und Totschlag. Und 
plotzlich fragte er mich, wie alt ich sei. Er wuBte 
das genau. Und wenn er dieses halbe Jahr irgend 
etwas sagte, dann merkte ich: dieser Feigling, diese 
Angst, und ich dachte, es muB in mir aufstehen 
und schreien, daB er ein schlapper Hund ist. Ich 
sagte ihm einmal, wollen wir nicht von der Briicke 
springen? Da sah er mich an (weiBt du, so ein 
Mann kann einen mit den Zahnen und dem 
Schnurrbart ansehen) und packte mich um den 
Leib und kiiBte mich, Heute weifi ich, daB er 
doch im letzten ein Hund ist und mich nicht hei- 
raten will . 14 

Maria horte zu und dachte, sie hat Fieber, Das 










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381 



DIE AKTION 



382 



wird bald zu Ende sein. Ich muB mich hiiten, 
keiner ist sicher, nur der Wache. Die Tram kam 
durch den Regen geschwommen, blau und klir- 
rend. Die beiden Madchen druckten sich fest an- 
einander. Katharina stohnte bei den Stoflen des 
W'agens. Sie war geduckt unter ihren Hut, den 
kleine Rosen umbluhten, als zdge sie den Kopf a us 
der Schlinge. Maria sah gerade vor sich hin, 
starr. Irgendvvie war es ihr peinlich da zu sitzen. 
Sie hatte ein Gefiihl von Schuld. „Aber das bin 
doch ich nicht; was hat das Ganze mit mir 
zu tun/* 

Sie fuhren eine Haltestelle weiter, gingen zuriick. 
Beide preBten sich wiitend und entschlosscn, ja 
lachelnd durch das eiserne Tor zwischen kleinen 
Blumenrabatten. Der Kies knirschte. 

„lch fiihle jetzt erst, in dem Gartchen, daB ich 
mich von jenen drauBen lose. Man zahlt mich da- 
zu, w'eil mein Vater mit ihnen lebt, weil ich ein 
blaues Kleid trage und einen braunen Mantel. 
Wie alle. Aber ich ziehe mich jetzt so zusammen, 
dafl ich ihnen absterbe. Ich schame mich nicht. 
Was vorher war bleibt so in mir — ich habe 
Franz eigentlich dazu gebracht, sich ganz aufzu- 
losen und jetzt findet er sich nicht mehr, und 
verlafit mich. Ach, Marie, es ist so leicht, wenn 
man weiB, daB die Nachte bei ihm schoner waren 
und starker als alles; das ist dann doch nur 
Dreck und wenn es noch so voll goldener Ele- 
ganz daher fahrt“ 

Man sah ihr nicht mehr an, daB ihr Vater Maurer 
war und zwischen Frau und sieben Kindern in 
einem dumpfen Loche fast verhungerte. Sie hob 
sich nicht hoher als ihr Kind, das noch schlum- 
merte, aber daB sie die Liebe kannte und ersehnte, 
bis in das innerste Gehirn, das stieg auf. 

Und sie blahte die Niistern, als der Arzt fragte, 
wie sie heiBe. 

Eine Nonne kam und fiihrte sie fort. Lachelnd 
reichte sie ihrer Freundin die Hand. 




In der Kuche erzahlte Maria. Sie log, erklarte, 
Katharina — habe geredet, um irgend etwas for t- 
zuschaffen. Das sei herzlos. Man habe doch Er- 
fahrung genug, um zu wissen, daB es keine Klei- 
nigkeit sei. Frau Goldstaub horte zu und strich 
an ihrem Rock entlang, als reibe sie ihre 



Hande ab. 

„Gott,“ sagte sie, „sie hatte wissen konnen, daB 
es sehr schon, aber auch sehr gefahrlich ist,“ 
und Jachefte mit den Goldplomben. Kessel zisch- 
len mit weiBen Dampfen. Die andern Madchen, 
mit roten Handen und weichen dicken Gesichtern 



schniiffelten liistern heruber. Einige kicherten. 
Maria ging auf ihr Zimmer, legte sich auf die 
Chaiselongue und betrachtete das Bild ihres 
Vaters; der war Backer in einer kleinen Provinz- 
stadt und schickte ihr am ersten und funfzehnten 
je fiinfzig Mark. Sie pflegte das Geld schnell auszu- 
geben fur irgend etwas. Wenn sie ein paar Mark 
besaB, war sie sich nie klar daruber, was damit 
tun. Striimpfe, Hemden, Ringe, Schuhe — dann 
war nichts mehr da. Dabei hatte sie noch gelogen 
und ihrem Vater gesagt, sie verdiene nichts, musse 
Wohnung und Essen zahlen. Unmuiig w'andte sie 
sich ab und zog die Schuhe aus, ubersah aber 
ein Loch im Strumpf. Dann streifte sie den 
Rock hinauf, krummte die Beine und schlum- 
merte ein. 

Ill 

Werner Lebchen war Student. Er unterschied 
sich von den Theologen und Juristen dadurch, daB 
er Medizin studierte. Als er aus dem Cafehaus 
trat, ruckte er den hellen Mantel mit den Schul- 
tern empor und hielt sie hochgezogen. Sein Kra- 
gen war nicht ganz frisch und dabei sah es auch 
amerikanisch athletenhaft aus. Lebchen war ein 
moderner Mensch. Er hatte keine Ahnungen. 
Hochstens die, daB der SchluB des Monats uner- 
quicklich sein wiirde. Er mufite seinem Vater 
schreiben und um Geld bitten. Der war Ziegelei- 
besitzer und Mitgriinder des Ringes. Durch 
billigere Lieferung hatte er sich eine groBe Kund- 
schaft gesammelt und sie bei der Verteilung trotz 
Protestes kleiner Firmen auch behauptet. Die 
muBten zum Teil fallieren. Vater Lebchen kaufte 
sie auf und vereinigte in den Generalversamm- 
lungen der Aktionare und Besitzer drei Zehntel 
aller Stimmen auf seine Anlagen. Dadurch bekam 
der Alte cine Art finanziellen GroBenwahns und 
eine iiberragende Stellung in der Familie. Ja, er 
behandelte alle Leute seiner Bekanntschaft so, 
als sei er ihr familiares Oberhaupt. Diese Uber- 
legenheit des Vaters Ieuchtete dem Sohne ein. 
Er benahm sich auch vaterlich. Eines Tages, er 
vergaB ihn nie, es war sein Triumphtag, ging er 
zu schonen Madchen. Er muBte warten. Da ging 
die Tlir — Sein Vater. Werner dachte, das Zim- 
mer fliege durcheinander -- Spiegel, Facher, roter 
Pliisch und Kavaliere. Der Alte grinste und setzte 
sich in eine andere Ecke. Wartete. Da kam die 
Madame und bat Werner lachelnd einzutreten. 
,,Ach, mein Herr,“ er verbeugte sich gegen seinen 
Vater, „vvurden Sie vielleicht vorangehen, Sie 
haben sicher weniger Zeit.“ Werner erschien eher 
und wartete im Vorzimmer. Sie unterhielten sich 



383 



DIE AKTION 



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und er erntete Lobspruche, weil er es fertig ge- 
bracht hatte, drei Mark herabzuhandeln. Vater 
Lebchen bewunderte ihn seitdem als eine Art 
Don Juan, der in der Liebe Finanzpolitik treibe. 
Der Abend war sanft und miide vom Regen. 
Kristallklare Blaue schnitt durch das Tor. So daB 
die Bremer Lampen des Warenhauses sich gram- 
ten, Werner blieb vor einem Fenster stehen und 
grinste uber die Wachsmodelle, die oben Busen 
und Korsett und unten Holzbiigel waren. Da 
stand ein Madchen bei der Blumenfrau am Ein- 
gang und kaufte ein StrauBchen Maiglockchen, 
Steckte es an die Jacke. Sie ging an den Drosch- 
ken vorbei und streichelte plotzlich ein Pferd uber 
die Stirne. Das fiel ihm auf. Sie streichelte ein 
Pferd, einen dummen, bidden Droschkengaul. 
Also ging er i hr nach. Sie war so groB wie 
er und schmal in den Hiiften. Aber als sie die 
Rocke hob, sah er ein Loch im Strumpf. Da sprach 
er sie an, lud sie in die Lichtspiele ein. Er machte 
ein Wortspiei und sprach sehr Hochdeutsch, eine 
Leistung fur einen Sachsen. Namentlich seitdem 
er ein Jahr gedient hatte, sprach er fast, als ob 
er aus Berlin sei, obwohl sein Regiment in Halle 
an der Saale lag; er liebte aber diese Stadt nicht 
und spottelte uber die Walfische, die es dort 
gabe. Werner hatte keine Ahnung, was aus einer 
Begegnung werden kann, Seinem Vater war es 
ebenso ergangen. Er hatte genau so gut irgend 
eine andere Frau treffen konnen. Hatte dann 
andere Kinder gehabt, Hatte andere Spiele der 
Liebe von seiner Frau verlangt. Aber die Gegen- 
wart war maBgebend. 

,,Wissen Sie, weshalb Sie mir auffielen?** fragte 
Werner im Kino. „Ich bin namlich Mediziner, 
man hat einen Blick! Weil Sie das Pferd strei- 
chelten/* 

„Ach, das Pferd lachelte; es hat so geregnet, da 
waren Blumen, ich kaufte mir Strumpfe, da stand 
ein braunes Pferdchen und lachelte. Und da muBte 
ich es streicheln/* 

Werner kicherte und sagte, sie leise mit dem 
Arme driickend: 

„Sehen Sie, die Frau bleibt auBen. Das steht 
fest, Sie wollten einfach etwas streicheln. Was 
aber streichelt man? Was man liebt, Sie haben 
aber niemanden. Daher das Pferd. 1 * 

Ein Herr mit einer Brille sagte nebenan halblaut 
zu einer reiferen Dame: „Oder den Esel — ** 
Das Madchen wandte sich entriistet um, und leise 
flusterte er ihr ins Ohr: „Dieser SpieBer.** 

Dann waren beide ganz vertieft in das Drama, das 
rund flirrte. Leute briillten lautlos, lachelten, man 
pfliickte Blumen — eine Dame wurde von einer 



Schlange gebissen. Ah, die Prophezeiung 

Es schien geschrieben. 

„Nanu,** sagte Werner, „welche Prophezeiung?** 
Ein Herr gebardet sich rasend, winkt Arzte mit 
Barten herbei, hoffnungslos, ratselhaft! schiitteln 
die Kopfe. 

„Gibts ja gar nicht, ausbrennen, saugen, Milch — “ 

„Milch ist fur viele Menschen der einzig richtige 

* 

Zustand,** knurrte der Herr mit der Brille. 

Ein Inder mit Ketten und Schlangen. Die schone 
Dame mit der Vergiftung schaudert, will sterben. 

Nur der BiB dieser Schlange 

Werner argert sich und sieht nicht mehr hin. 
Spricht kein Wort mehr, in der Pause schaut 
er das Madchen genau an. Sie hat warme ver- 
schleierte Augen und einen roten geschweilten 
Mund. Den Kopf lehnt sie etwas linkisch von 
ihm ab. 

Obernachtigt und verfilmt tratcn sie aus dem 
Kinemathographenth eater. 

„Das ist wie ein Traum, der einen einschlafert,** 
meinte das Madchen. Werner schlug eine Wirt- 
schaft vor, um Abendbrot zu essen. Er aB frech 
drauflos, grinste einigen Bekannten zu und trank 
drei Glas Bier. Sie saB da und rutschte mit dem 
Messer vom Teller ab und wurde feuerrot. 

„Ich habe sie ja so in der Hand . . dachte 
Werner. Dann gingen sie Arm in Arm, leise 
wankend, iiber die weitentteerten StraBen. Er 
las Lichtreklamen vor. Da gab es irgendwo ein 
so gemtitliches Lokal. Mit Wein allerdings. Man 
saB in kleinen Kabinen. Werner hob mit dem 
Knie ihr linkes Bein hoch und kniff hinein. Sie 
schrak zusammen. Der Speichel driickte ihn im 
Halse, Ein ekelhaftes Gefiihl der Aufregung ent- 
nervte ihn. So trank er einige Glas Wein; sie 
schluckte, wiirgte. 

„Es ist natiirlich scltsam, daB wir hier sitzen. Als 
kennten wir uns schon seit unserer Kindheit und 
feierten Verlobung. Dabei weiB ich nicht mal 
Ihren Namen.** Er lauerte, was da wohl komme. 
„Ich weiB doch auch nicht den Ihren/* 

, ,Wemer Lebchen,** sagte er, weil ihm rechtzeitig 
die Visitenkarte an der Tiir einfiel. Sonst pflegte 
er Leberecht AllenStein zu sagen. 

„Werner,“ lachelte sie freudig, „so heifit doch 
mein Bruder/* 

„Und Sie?** 

„Ich — ** sie zogerte das so hin, als fiele ihr 
schwer, den Namen zu sagen, „Regina Laasen/* 
,,Regina ist hiibsch, Konigin — Konigin meines 
Herzens — ** flusterte er selig. Wiirde sie Kleo- 
patra oder Schwanhilde gesagt haben, hatte er 
auch nichts gemerkt. Sehr spat fuhren sie im 



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DIE AKTION 



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Auto nach Hause. Regina war schon im Wagen, 
als er dem Kutscher seine Adresse sagte. Dabei 
wiederholte er zweimal dritter Stock. Er war 
schon ziemlich betrunken. Als sie in seinem 
Zimmer standen, war er rasch gefaBt und um- 
schlang sie. Sie straubte sich nicht, war aber 
etwas enttauscht, da sie Felle und einen Spiegel 
mit Goldrahmen erwartet hatte. Und vor allem 
ein Bett mit seidenen Vorhangen. Werner dagegen 
spahte in den Spiegel fiber der Kommode und 
hakte ihr dabei die Taille auf. 

Als er am Morgen erwachte, war er ganz fern 
und dumm. Er wandte sich und sah plotzlich in 
ein wirres Knauel blonder Haare, die scharf 
rochen. Er erhob sich und bemerkte auf dem 
linken Oberschenkel Reginas ein Muttermal in 
Form eines Sternes. 

Sie besuchte ihn dann noch einige Male, obwohl 
ihm diese Anhanglichkeit peinlich war. Dann 
reiste er nach Hause, weil seine Schwester 
heiratete, blieb die Ferien dort und bezog in 
der Universitatsstadt eine neue Wohnung in 
einem ganz andern Viertel. Er mufite jetzt auf 
der Frauenklinik arbeiten, die ziemlich weit vor 
der Stadt lag. Trotz alledem erreichte ihn eines 
Tages ein Brief, der nachgesandt war. Er zeigte 
eine gehakelte, ihm fremde Handschrift auf 
schlechtem Papier. Er zuckte die Achseln und 
warf ihn ins Feuer. Darin befolgte er die Regeln 
seines Vaters. 



IV 

Werner spezialisierte sich schon zum Frauenarzt. 
Vielleicht weil er, ahnungslos, vor nichts zurfick- 
schreckte, lange Hande und starken Bartvvuchs 
hatte. Vielleicht auch, weil sein Vater es als sehr 
aussichtsreich hingestellt hatte. Jedenfalls ver- 
stand er sich gut mit seinem Professor, der Spe- 
zialist fur Entbindungen war, und er genoB schon 
eine Art Ruf bei ihm, weil er rigoros und kuhl 
agierte. 

Man stand eines Morgens in dem sehr hohen 
und schmalen Zimmer, wo die Patientinnen vor- 
gefuhrt wurden. Das Zimmer war weiQ und 
hungrig; man hatte, durch die Hohe und lacher- 
liche Schmalheit verfuhrt, den Eindruck, als musse 
man eigentlich auf den Wanden gehen. Oben 
jedoch sammelten sich die Schreie in Echo. Denn 
es stand hier nur ein Schrank voll schoner Etuis 
und langer Nickelzangen. Hier pflegten die kom- 
plizierten Falle erledigt zu werden. AuBer dem 
Stub] war heute noch ein groBer Operationstisch 
aufgestellt. Werner witterte Blut und flusterte zu 
Philipp: jjKaiserschnitt.* 1 Der Professor sprach. 
Kurz und weltfremd. Vielleicht war es auBerste 



Objektivitat, die fiber allem Schmerz urteilte. „Seit 
drei Tagen Wehen. Schon Fieber. Doch hilft 
keine Massage. Na, Sie werden sehen.“ Er klin- 
gelte. Zwei Warter mit behaarten Handen in 
gestreiften Anzugen rollten auf einer Bahre eine 
Frau herein. Ihr Gesicht war verhullt. Werner 
drangte sich vor. „Ja, Herr Lebchen,“ nickte der 
Professor, „kommen Sie her, Sie werden helfen 
mussen.“ Die Schwangere stohnte, ihre ge- 
fesseiten Arme quollen aus den Riemen, rot- 
gluhend, als blase sie der Schmerz auf. Da er- 
blickte Werner am linken Oberschenkel der Frau 
ein Muttermal in Gestalt eines Sternes. Er ward 
bleich und zitterte. 

„Na, was ist Ihnen denn? Sie dfirfen nicht zittern, 
die Maske bitte.“ Werner schlug das Tuch vom 
Gesicht der Frau zurfick und stulpte die Maske 
mit Chloroform darauf; er sah einen furchtbaren 
Blick, ein gesprengter Mund verzerrte Worte zu 
dumpfem Rocheln. Er rfickte die Maske fiber die 
Augen. Die schlossen sich und der Blick ver- 
knirschte fiber die aufgedunsenen Ziige, die skh 
in Schlaf entspannten und geordnet lagen um die 
gipsige Maske. Regina! Sein Herz hammerte, 
stanzte ihm das Wort in Fleisch und Knochen. 
Aber er half ganz ruhig, Durch Blut und SchweiB 
hob er seinen Sohn ans Licht. Die Mutter wachte 
nicht auf. Es traf ihn wie ein FuBtritt, „Sie ist 
hin — tot — ich Vater — u Er raste hinaus zu 
Philipp! Man muB reden! Sich besaufen! Er 
erzahlte ihm die Geschichte. 




Erich Qehrc 



Holzschnitt 







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DIE AKTION 



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„lrrst du nicht? Muttermale wie Sterne gibt es 
eben wie die Sterne. Ich habe selbst so eins. 
Und das Gesicht war so verzerrt und verschlagert 
und zerkratzt — “ 

Sie gingen zusammen ins Bureau der Klinik 
und fragten nach dem Namen des Madchens. 
Nummer 763. 

Der Warter blatterte umstandlich: „Maria Woll- 
mayer.“ 

„Ha t siehst du; deine Regina denkt nicht daran, 
ein Kind zu haben. Erst recht nicht von dir.“ 
Werner schwieg. Dann lachte er bose und stol- 
perte iiber seine eigenen Worte, die irgendwo 
tief unten auftauchten: #t Da hat mich das Luder 
ja belogen.“ Auch Philipp lachte. 

Zu Hause rifl Werner die Visitenkarte von der 
Ture. Des Nachts sprach er auf der StraBe ein 
Madchen an, mit einem Madonnengesicht. Er be- 
trank sich, hieB Eduard von Kellermann. Das 
sagte er ihr aber erst, als sie in seinem Zimmer 
stand und sich auskleidete. 



FINANZXOVELLEN 

Aus dem Kreise ernster im werktatigen Lebcn stehender 
Klinstler heraus sagt der Prospekt, ich meine die Quadriga, 
schrieb ein ungenannt bleiben wollender Schriftsteller zwei 
Novellcn, beide verlegt bei Eugen Diederichs in Jena. Die eine, 
der Fenriswoif, bevorwortet von einem Verfasser eiserner So* 
nette, behandelt das Problem wirtschaftlicher Beziehungen und 
wtlnscht nach dieser Richtung hin als Revolutionierung der 
Kunslform angesehen zu werden. Man erfafart nicht, warum. 
Die Darstellung einer Handlung bleibt guie S. Fischer* 
Epik, auch wenn sie in der Aneinanderreihung von Geschafts- 
briefen sich vollzieht. Ks gehdrt Uberdies schon ein gutes 
Teil Naivilat dazu, zu glauben, die Taktik von Pressebespre- 
chungen, Einkreisen von Geschaftsgegnern, ein biflschen Doppel* 
itlngigkeit, sei was weiC Gott besonderes — wo es doch 
Standard ist. Man mUBtc sich anders eher fragen, wie tlber- 
haupl sonst ein Geschiift 2ustande kommt. Und daO eine Order, 
die ein Banklehrling zu schreiben hat, ftir den Kunden indi- 
viduell poliert, in schone glatte Kormen eingewickelt, wirklich 
mehr Leben sprUht als die anerkanntermafien Ichenspriihenden 
Aufsatze eines Herm Kasimir Edschmidl, sollie bald jeder 
wissen. Es ist gar kein Grund da fur den Verfasser, ungenannt 
zu bleiben. Die Praktiken, die da aufgezeigt werden, sind 
harm! os genug, und ich behaupte, dafl eine so geleitete Bank 
bei groflen GeschSften erheblich ins Hintertreffen kommen 
diirfte. Troizdem staunt die ganze deutsche Presse, von der 
B, Z. bis zur Voss. (Sie inerkens nicht mal, daU nicht sic 
schreiben, sondern der Sessel — wenn sich wenigstens einer 
gebost hatte.) FinanznoveUe, in dieser Apotliese nicht ohne 

Witz. 

Leidcr verabsKumt der jenenser Vcrlag eine entsprechende rol- 
gerung zu ziehen. Die der zweiten Novellc: „Das Wcllreich 

und sein Kanz!er“ vorausgeschickten Kiitiken liber den Fenris- 
wolf lasscn noch die einheitliche Leilung vermissen. Sie wir 
ken verworren, nicht gentlgcnd abgestimml, der Leser bekommt 
kein richtigcs Bild von der latigkeit eines Reklatncchefs. Es 
genllgl nicht allein, daG dns Niveau dieser zweiten Novelle aus 
der AtmoSphare sympathischer Geldpolitik in zeiigematie Ethik 
saml Weltkrieg und Mcnschbeitsduse), vcrbumlcn mit einem 
Frachtraumcorner, umgesctzt wird. Gecornert wird jederzeit 
und sowie es uberhaupt in irgcndciner Ware irgendwie mdglich 
ist. JnsofiTn ist auch die Pradikatverleilung Weltkrieg und 
Kanzler nur Anlehnung an Rechtsvcrhahnisse. die gang und 
gebe sind Dagcgen erhebt in dieser Novellc auch die Liebe 
ihren Anspmch. Ein Dnktor Kcchtsanwalt, der die Sache 
schicbcn sol!, spUrt noch etwas mehr als Geld und Macht- 
politik in sich, das wird mit verquickt, und endet nicht ohna 



fur den Leser zurtlckbleibende 2wiespaltige Auffassungen vorder* 
hand in einer Heilanstalt. Diese Novelle hat schon etwas, das 
in manchen Fischer Btichern nicht ist, so eine gewisse Kotnik 
zu sich selbst, die ins Leben, auch darstellerisch, fiihrt. Be 1 
merkenswert ist, daG der VVirtschaftspolitiker der Frankfurter 
Zeitung, Herr Feiler, in einem Feuilleton gerade das nblehnt 
und zu Gunsten des Fenriswolf verwirft. Man beachtc das be* 
senders, denn man wird in der Meinung besiarkr, es konnte 
die phychische Beunruhiguug doch noch einma! Staal und 
Wirtschaft, Presseverkehr, Borse und Weltkrieg wirkungsvoll 
— in Bewegung versetzen, wenn man so sagen dark 

Franx Jung 



ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS 
LI1 

1 m Hauptquartier des Kronprinzen 

Der Hauptschriftleiter der Konigsberger Allge- 
meinen Zeitung, Herr A. Wyneken, berichtet fiber 
einen Besuch im Hauptquartier des Kronprinzen : 
Kronprinz Wilhelm ist tagstlber und manche Nachtstunde an 
der Arbeit, und, soweit die PHicht nicht gemeinsam mit seinem 
Stabschef ihn an die GeschSftss telle fesselt, vorn bei seinen 
Truppen. In den Abendsiunden aber pflegt er den Kreis seiner 
unmittelbaren Umgebung um sich an der Tafel zu versammeln. 
Am ersten Tage unseres Aufenthaltes im Hauptquartier durften 
wir einer gtltigen Einladung des Kronprinzen folgend, an der 
kleinen Tafelrunde teilnehmen, und hier war es, wo ich Ge- 
legenheit hatte, ihro in langerem Zwiege sprach naher zu 
treten . . . 

Bald wandte die Unterhaltung sich emsteren Dingen zu. So 
sprachen wir m&nches Uber den Krteg, und da brach dann das 
heilige Feuer und der bittere Ernst durch, mit dem der Kron- 
prinz von seiner hoben Stellc aus in die Ereignisse eingreift. 
Immer wieder sprach er mit Begeisterung von der fiber jedes Lob 
und jede Bewunderung erhabenen Haltung „seiner Leute M , 

Er erzahlte mir bei diesem Anlafl auch, dafl er kilrzlich, als 
zehn bayerische Abgeordnete die Front be’such t, Gelegen* 
heit gehabt habe, sich mit einem Sozialdemokraten zu 
unicrhahen. Er habe es flir nlltzlich gehalten, die sen Herrn 
in die Vorderste Linie zu bringen, und sei erfreut gewesen 
liber den gewaltigen Eindruck, den dieser Mann aus dem 
Volke von den bitteren Leiden der RiesenleisLungen und dem 
nicht umzubringenden Siegeswillen der Truppen heimgebracht 
habe. Er, der Kronprinz, habe empfunden, dafl der Herr 
mit sehr ernsten Gedanken, vielleicht gar mit einer 
ncuen Weltanschauung den Heimweg angetreten ... 
Auch in der inneren Politik weiil Kronprinz Wilhelm gut 
Bescheid, ktlmmert sich um alles und steckt aus sehr be- 
slimmten Anschauungen und Auffassungen heraus auch sehr 
bestimmle Ziele. Allerdings im vollsten Freimut und vollster 
Unbefangenheit des Urteils und fern von jeder vorgefafRen 
Meinung. oder gar Parteimcinung . . . Aus manchen seiner 
guten und klugen Worte ging hervor, dafl es des Volkes 
Wohl ist, das seinen Wflnschen und Gedanken die Richtung 
gibt, und dafl er sich eifrig bemilht, die Bedtlrfnisse des Volkes 
zu erforschen, seine Stimmungen zu erkennen, die Zeichen der 
Zeit zu prlifen und nach dem Wege zu suchcn, der ibre Be- 
friedigung und ErfUllung bringen konnte. Dahin gehdrt auch 
neuerdings seine Neigung, Manner verschiedener Richtungen, 
auch der sozialderaokratischen, Gelegenheit zum Austausch der 
Ansichten zu geben . . B. Z. am Mittag, 7. Juni 1917 



Filrstin und Soldat. Die Groflherzogin Luise von Baden 
trat beim Besuche der Verwundetenlazaretle in Mannheim an 
das Beet eines besonders schwer verwundeten Kriegers aus 
Westpreuflcn, des Unteroffizters Otto Radmacher, welchen am 
31. Juli d. J. eine Schrapnelladung auf den Schlachifeldern im 
Osten niedergestreekt hatte. Nach huldvoller BegrUflung sprach 
die Filrstin dem Verwundeten gegenflber die Absicht aus, dai 
ihm soeben aus dem Korpcr entfernte Geschofl in Gold fassen 
zu lassen und ihm als Andenkcn zunickzugebcn. Auf die 
dankbare Zustimmung des Befragten nahm die hohe Frau die 
Kugel in ihrer Handtasche mit, Der junge Held erlag seinen 
Wunden, aber die FUrstin gedachte seiner tlber das Grab hin 
aus. Dieser Tage ging den Eitern (der Vater pension ierter 
Lehrer in Schellmdhl bei Danzig, tut aber wiihrend des Krieges 
wieder Schutdiensi) ein Beileidsschreiben dcs groflherzoglichen 
Hofin:irsch:tllamies zu, welchem die Ehrengabe der Gfofiherrogin^ 

bcigefiigt war. Fott*, Berlin, 0.1. 1916 



Soeben erschien Band 2 der Sammlung: 



P0L1TISCHE AKTI ON S- BIBLI OTHER 

H E R A U 8 G E G E B E N VON FRANZ PFEMFERT 



LUDWIG RUBINER 

DER MENSCH IN DER MUTE 



VERLAG DIE AKTION/BERLIN-WILMERSDORF 



Preis des Werkes M. 3 



Fiir Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten Inhalt verantworllich : Franz Pfemfert, Berlin -Wilmersdorf, Nassaaischestrasse 17. 
Gedruckt be! F. E. Haag, Melle in Hannover. Abonnemcnts kosten viertelj&hrlich durch die Post, durch Bachhandel oder Verlag 
(uoter Kreoiband) M. 2.50, fur das Ausland M. 3. — , Biiltenausgabe, 100 numcrierte Exemplare, jahrlich] M. 40. Verlag der AKTION, 

Berlin -Wilmersdorf. Atle Rechte vorbehalten. 




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W0CHEN8CHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR, KUN8T 
YD. JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT NR f Q 

SONDERHEFT ALBERT EHRENSTEIN. INHALT : KUBIN: ABENTEUER (TITELBLATT) / ALBERT EHRENSTEIN: 
Mcnschlichkeit / Alfred Kubin: Frau Sonne (Zeichnung) / Albert Ehrenstein: Aus den Ansichten des Extern torialen / Rudolf 
Mense: Aktstudie (Federzeichnung) / Albert Ehrenstein: Dialog und fflnf Oedichte j Alfred Kubin: Der Kater (Federzeichnung) 
/ Albert Ehrenstein: Die Katemovclle / Kurt Pint h us: Bemerkungen fiber Albert Ehrenstein / Victor Fraenkl : Eine wichtige 
Schrift / F. P.: Ich schneide die Zeit aus; Kleiner Briefkasten / Beilage ffir die Bilttenausgabe: Original-Radierung von 

Christian Schad 




VERLAO > DIE AKTlON < BERLIN-WILMERSDORF 
SONDERHEFT ALBERT EHREN8TEIN 

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100 numerierte Exemplare 
Jahresabonnement : M. 40 

Jedem Bttttenabonnement werden jahrlich mindestens 
acht KunstbUtter beigegeben, von den Ktlnstlern nume- 
ric rt und signiert. Diese Beilagen kommen nicht in den 
Handel und stellen einen Wert dar, der den Abonne- 
mentsbetrag Ubersteigtl I>em Jahrgang 1917 werden 
beigegeben: Blatter von Felix Muller / Max Oppenheimer / 
Josef Capek / Karl Jakob Hirsch j Richter- Berlin u a. 



KUNSTLER-POSTKARTEN DER AKTION 

Es sind So verschiedene Drucke erschienen 

Zeichnungtn von Mopp / Kars /Schmidl-Rottluff / Schrimpf 
/ Klein j Richter-Berlin / Nadelman j Feininger / Hart a j 
Schiele / Mense / Melzer / Tappert / Else von zur 
MUhlen / Hans Richter / Josef Capek / Morgner u. a. 

IOO Stiick M. 3, — 

portofrei gegen Voreinsendung des Betrages 



WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK. LITERATUR. KUNST 

7 . jahrgang HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT zs.juli 1917 



MENSCHLICHKEIT! 

Von Albert Ehrenstein 

Diesen Aufsatz verSffentlicht Ludwig Rubiner in 
der zweiten Nummer seines ^eit-Echos 1 ' (in der 
auch die Tolstoianerbriefe abgedruckt sind). Ob- 
gleich ich hoffe, da8 alle Freunde das .pZeit-Echo'* 
lesen, soli der Aufsatz auch hier stehen: dieses 
Sonderheft ware ohne thn unvollstlndig. F. P. 

Bittere Erinnerung lebt auf in mir der 
Tage des Volksschulers, den auf dem Wege zur 
Schule schuldlos das „Geh zum Teufi, Saujud 
vafluchta** der Kameraden traf und durchstach. 
Dieses Schimpfwort — wie wohl jeder Jude — 
empfangen zu haben gleich den ahnlichen Lieb- 
kosungen „Moses, Salomon, Samerl" entsinne ich 
mich, auch der in Wien an jeden kleinen lsrae- 
liten von Gassenjungen gerichteten Frage „Ju- 
derlach-he ! was kosten die Floh?** Darauf folgte 
dann die Versicherung, daB die Sara Lause babe. 
Trotz gegen diese Klein welt mag es gewesen 
sein, die mich, dem Gebote der frommen GroB* 
eltern gehorsam, in Wien oder in der ungarischen 
Slowakei, wo es noch weniger an drastischen 
Beschimpf ungen fehlte, vor katholischen Prozes- 
sionen in die Toreinfahrt trieb, das Kreuz nicht 
gruBen zu mussen. (Dies war Flucbt: Zionis- 

mus.) 

Sehr fruh entwickelte sich eine ungemein starke 
Abneigung gegen Jesus Christus in mir; ich fand, 
es werde eine unverdient kraftige Reklame fiir 
ihn getrieben mit tausend Kirchen, Kapellen und 
Kreuzholzern, ihm zu Ehren, den ich von Anbe- 
ginn fur den ,,stinkerten Saujuden** und die rest- 
liche Insektensprache verantwortlich machte. 

Wenn mir ein Gstanzel entgegenscholl, wie: 
„Jud, Jud! spuck in Hut, sag der Mutter, das 
ist gut!* 1 — der Untergymnasiast schon trug die 
feindlichen AuBerungen nte den naiven Beleidi- 
gern nach, ins Herz drang ihm die Wut gegen 
den Urheber, der ihm verraterisch, zu eigener 
Erhohung, im Tode sein Volk mit Blutschuld 
befleckt zu haben schien. 

Das Judentum selbst sprach zu mir mit heiligen 
Klangen, die ich kaum verstand, ergreifenden 
Zeremonien 1 die mich in Gebetmanteln umrausch- 
ten, mit Riemen banden. 

Die Schonheit des Seders lieB mich aber keines- 



vvegs die blutige Schattenseite: Beschneider und 
Schachter vergessen, noch gar die pharisaischen 
„Religionslehrer** und Rabbiner, Schachter, die 
den kindlichen Glauben beschnitten. 

Zum Wesen meiner Religionslehrer gehorte, daB 
sie hebraische Fibeln und Grammatiken verfaBt 
hatten, deren Erwerb den hauptsachlichsten Teil 
des nichtigen Unlerrichts bildete; sie bevorzugten 
wohlhabende, unwissende Schuler vor armeren, 
die jenes hebraische Wissen besaBen, das die 
Lehrer selbst nicht vermittelten. Es gab Matu- 
ranten, die ihre Bibel noch nicht einmal buch- 
stabieren konnten und gleichwohl mit vorziig- 
lichen Noten traktiert wurden, nur weil sie judi- 
sche Geschichte, historischen Schweiel phrasen- 
reich wiedergeben konnten — hie und da 
schwamm in die Sprechstunde des darob bril- 
lantinebegliickten Professors ein edelsteinbehan- 
genes, seidenrauschendes Haufchen Ganse- 
schmalz, die Frau Kommerzialrat. 

Ein iibler „Trost**: Ich sah, auch anderen Reli- 
gionen waren Pedanten, Schwindler, Gauklcr, 
nicht gesalbte, doch salbungsvolle Scheinheilige 
als Priester beschieden. Den Zusammenhang des 
synagogalen Wunders zu erkennen, blieb mir nicht 
erspart. Die Ernennung der Gegenstande mei- 
nes schmerzlichen Argers und karikaturistischen 
Vergniigens geschah nicht ohne EinfluBnahme 
jenes geschaftetriefenden Konsortiums „kaiser- 
licher Rate**, das in gewissen Kultusgemeinden 
zu herrschen pflegt. 

So wurde der Assimilant, der Vollblutaffe mit 
Monokel und eisernem Kreuz, gezuchtet, das 
Protzensohnchen, das fruh anhob mit den Worten 
„Gestern hab ich den ganzen Nietzsche geschenkt 
gekriegt** oder „Mein Vater ist Sammler; er hat 
sechstausend Spazierstocke**, enden wird nach un- 
gliicklichem Feldzug, am Pogromtag unter dem 
losgelassen „Do Juden san schuld“ briillenden 
Volk. 

Trotzdem: Exzessiver Zionismus ist fiir mich 
nicht der Weg zur Erfiillung. Ein jiidischer Na- 
tionalpark, ein Indianerterritorium, eine Reserva- 
tion, in der stati wilder Bisons gemiiBigte lsrae- 
liten verwahrt werden, etwa unter der miiden 
Herrschaft eines mittlerweile zum Dachingiscohn 



3Q3 



DIE AKTION 



394 



avancierten kaiserlichen Rats und Grofirabbiners 
— das ware Flucht, Flucht ins Herbarium. Und 
neue freiwillige Kasernierung, Uniformierung des 
Judentums. Die blutige Polemik zwischen den 
beiden mehr und weniger demokratisch ge- 
schminkten Warenhausertrusts und Plutokratien 
konnte gezeigt haben, wohin der MiBbrauch na- 
tionalen Gefiihls und des Besitztriebs ftihren 
mufite. Ein Altersheim fur dem Antiscmitismus 
Weichende, weite Siedlungsgebiete fur Vertrie- 
bene pogromliebender Horden, dies ist denkbar, 
muBte es sein. Aber den Juden asiatisch zu neu- 
tralisieren, hiefle, wichtigste Blutkorper, adler- 
starken Sprengstoff der europaischen Menschheit 
entziehen. Es gibt eine hohere Dienstpflicht als 
die allgemeine, nationale, konfessionelle, wirt- 
schaftliche. Das Reich Gottes auf Erden wird 
nicht dadurch naher gebracht, daB sich eines der 
wenigen gotttragenden Volker „selbstandig“ 
macht, in engstem Weltbezirk wie die anderen 
Volkercommis etabliert, sich lokalisiert. 

Man jammere nicht allzusehr iiber die Diaspora! 
In welcher entsetzlichen Diaspora haben nicht 
Moses, die Propheten, Sokrates, Christus, Buddha 
gelebt! Palastina ist nicht die Entelechie, son- 
dern ein entwundener, iiberwundener Zustand. 
Historizismus will neue Inzucht treiben, Blut- 
schande mit dem Mutterlande. 

Wenn ich Jude bin: victrix causa Dis placuit, 
victa Catoni! Wenn ich vom Gottesreich sprach, 
konnte es einem neokatholischen Urchristen ein- 
fallen, mich hier miBzuverstehen und fiir sich 
zu reklamieren. Aber diese Richtung mochte ich 
ebenso ablehnen, wie es mir nicht beifallt, dem 
Judentum hochste Potenz, messianisches Auf- 
bliihen in aller Zukunft zu prophezeien, wenn es 
sich quietistisch, allzu palastinensisch durchaus 
auf sich zuriickzoge — nur weil vor ein paar Jahr- 
tausenden Rauber, Habiri, agyptische Soldner sich 
der Stadt Ursalima und nach und nach des gan* 
zen Landes Kinahi fiir einige Zeit bemachtigten. 
Wenn ein geohrfeigter Knabe dem andern zu- 
ruft: „Kumm in meine Gassen!“ — ist dies Wil- 
len zur Heimatkunst, zur Bodenstandigkeit, und 
ich habe die Nase voll von all den volkischen 
Erd- und Blutgeriichen, historischen Revanche- 
und Ohrfeigenszenen. Innere Kraft wird sich un- 
ter hohem AuBendruck am starksten manifestie- 
ren — ware es den Hebraern tropisch*gut ge- 
gangen, hatten sie keine Tiefspur im Wusten- 
sand hinterlassen. 

Soil ich noch von dem Unethischen konfessio- 
neller, rassenhafter Sonderbestrebungen sprechen, 
soweit sie einem egoistischen Wunsch ,,Mir soli 
es gut gehen!“ entwuchsen? 

Wo sind die Hcitigen, die in euch aufgerichtet 
hat der Herr, mit denen Er Gebote gezeugt 
hat? 



Wo sind die Propheten Gottes? Wo seid ihr: 
Mausche, Jehauschua, Muchamedun? Dahinge- 
schwunden seid ihr zum Schiilerschreck euerer 
Unvertraglichkeit wegen, im Jahzorn der Feld- 
herrn-Rachsucht euerer Rede: „Du sollst keine 
falschen Gotzen haben auBer mir .* 4 

Da ihr mit eueren Lehren schwanger ginget, bes- 
ser ware es gewesen, ihr waret auf dem Monde 
niedergekommen mit solch blutigen Speisege* 
setzen, Kreuzigungen, HolzstoBen, heiligen Krie- 
gen und Kreuzziigen ! 

„Du sollst nicht toten!“ rollt den Sinaidonner 
der Herr wider Mausche. Aber Mausche war 
harthorig, ein Krieger und Viehschachter, ver* 
stand nicht das Wort, einging er nicht in das 
verheiBene Land, seine sterbenden Augen sahen 
es nur von fernem Berge. Und immer noch tanzt 
sein Volk, das weiBe Volk urn das lebende, be- 
bende Kalb und schlachtet es. Verschollen bist 
du, Schrei des Jesaja: „Wer einen Ochsen 

schlachtet, ist ebenbiirtig dem, der einen Mann 
erschliige; wer ein Schaf schlachtet, ist gleich 
dem, der einem Hund den Hals brache!** 

Und der vor Jehauschua herlief die Nacht: Jo- 
chanan war bedeckt von Kamelhaar, frafl Heu- 
schrecken fur sich, unschuldiges, grimes Getier 
des Feldes. Es kam die Uber-Antwort — der 
Heuschrecken-Henker w f ard liberantwortet seinen 
Henkern, es metzgete eine Metze sein Haupt, 
wie das Kind Grashupfern ein Bein bricht. 
Gber dem Saugling Jehauschua vvurden geschwun- 
gen von Mirjam Brandopfer, Sundopfer: zwei 

junge Turteltauben dem Tode. 

Nicht mied der Sohn Davids blutiges Mahl: aus- 
teilte er unter Gaste unstrafliche Fische, schuld- 
los-schuldigen Raubfisch und algenfromme. 

Er richtete an Gerichte von Fischen und Oster- 
lammern, so ward er gerichtet. Mit dem letz- 
ten Hauch des Gerichteten gedieh der harteste 
Teufel vor dem Richtbaum und erkannte: „Das 
Holz dieses Kreuzes ist gut, ich werde es in 
Speere spalten. 1 * 

Weh iiber Verwickler der Nabelschrtur — von 
den Schachtern der Wiiste bis zu den Schachtem 
der Chassidim kenne ich nur einen groBen Ge- 
rechten und Wisser des Gesetzes der gleichen 
Aktion und Reaktion: jenen Kronprinzen, der kein 
Annexionist war. 

t ,Lebendiges umzubringen hat der Fiihrer ver- 
worfen, Lebendiges umzubringen liegt ihm fern: 
dem Asketen Gotama, ohne Stock, ohne Schwert, 
fiihlsames Herz, Teilnahme hegt er zu alien Ie- 
benden Wesen: Liebe und Mitleid. 

Nicht Gegebenes zu nehmen, hat er vervvorfen ; 
vom Nehmen des Nichtgegebenen halt er sich 
fern; Fleisch nimmt er nicht an; Ziegen und 
Schafe nimmt er nicht an; Hiihner, Schweine 



395 



DIE AKTION 



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und Hinder mmmt er nicht an, der Asket Go- 
tamo Buddha.** 

MuB wieder ein Kronprinz kommen, der — und 
nicht gerade zur Schonung des geschwachten 
Viehstands — ein Nichttoter und Spinatesser son- 
der alle Lacherlichkeit ware? Es diirfte dies- 
mai kein Kronprinz sein. — 

Die Bibel spricht vom Fleische: „Wo Aas ist, 
sammeln sich Adler.** Moge es geschehen! Zu 
beenden den verbissenen Giftkampf zwischen der 
kosmopolitisch arrivierten Anglokratie und einer 
mediterranen Autokratie; zu beenden den christ- 
lich-friedlichen Wettbewerb zwischen der domi- 
nierenden, alleinseligmachenden Paketfahrt dieser 
Erde und einem Agrar- und Industrieverband, 
der solche Konkurrenz unter seine U-boot- 
maBigkeit bringen mochte. Man rede nicht all- 
zuviel von der Demokratie, bisher herrschte sie 
nur in Neuseeland, bislang steht zu befurchten, 
daB Eurasien (oder wenn man will: Barbaropa) 

nach dem Krieg ein einziger Veteranenverein sein 
wird. Deswegen mochte, alter Leiden ungeach- 
tet, ich den Juden, einen der besten Streiter Got- 
tes und der Menschheit, aus dieser aufreibenden 
Dienstpflicht noch nicht in den vegetativen Ruhe* 
stand, in den nabelbeschaulichen, lebenfristenden 
Ackerbau entlassen, auf Milch- und Honigfliissen 

dahinzutreiben. 

Und, letzten Endes: wozu die vielen Stammgott- 
heiten und Spezial-Baale der vielen Volker? Hat- 
ten die Konfessionslehrer samtlicher Sekten sich 
darauf „beschrankt** T den Kindern als Inbegriff 
aller Religion nur zwei Satze ins Herz zu trei- 
ben, in die innerste Seele zu giefien, waren wir 
aller Kriege und Ismen enthoben. Ich meine die 
Spriiche: „Du sollst nicht toten“ und „Behandle 
deinen Nachsten wie dich selbst**. 



ANSICHTEN EINES EXTERR1TORIALEN 
Yon Albert Ehrenstein 

Nun erst, da ich einige Zeit auf dem Erdbatl zu- 
gebracht habe, vermag ich meinem Auftrag gemaB 
Rapport zu erstatten. Ich verschmahte es Sonnen- 
tag fur Sonnentag zu melden, was ich erkundet 
habe, urn nicht in die Lage zu kommen, anfangliche 
Meinungen bei nach und nach errungener besserer 
Einsicht berichtigen zu miissen. Hier alles des Ge- 
sehenen und Gehorten, von dem Mitteilung zu 
machen mir der Miihe wert schien. Ja, es ist 
wahr, was unsere Weisen erstaunlich friih ge- 
ahnt, die Gelehrten spater hypothetisch behauptet 
haben: die Erde ist von Lebewesen bewohnt. 
Doch nicht so, wie sie annahmen, daB die Ge- 
schopfe Hauptsache waren, was zu versichern 
diese selbst nicht rniide werden. Vielmehr deucht 
mir, als ware die Erde selbst genau so wie unser 
Wande/stern ein einziges riesiges Lebewesen mit 
hautgleichen Atmungsorganen; grunen Waldern 



und Wiesen, Furchen und Fallen: Ebenen und 
und Gebirgen, Ausscheidungen in Fliissen und 
Vulkanen und so fort. Ein einigermaBen empfind- 
liches Sentiment vermag ein Seiendes, das seine 
Existenz nicht fiihlt, leblose Materie, nicht zu 
fassen und nimmt gern nur noch nicht entdeckte 
Lebensregungen an, wo der Realist nichts als 
toten Stein sieht. Aber auch die neueren Lehren 
unserer Weltkorperkunde scheinen mir auf eine 
nicht geringe Vitalitat der Gestirne hinzudeuten. 
Wie haufig liest man von den gliihenden Um- 
armungen lichterloh-brennend-liebend-vereinigter 
Doppelsterne und iiber die Treulosigkeit der leicht 
fertigen Kometen gibt es unter den verlasscnen 
Asteroiden nur eine Stimme. Wer weiB denn, 
ob nicht die Gravitation in Schranken gehaltene 
Sexualitat ist, zumindest kann niemand exakt das 
Gegenteil beweisen. Wessen Exhibition die Erde 
ist, bleibt unbekannt — aber dies spricht noch nicht 
gegen ihren geschlechtlichen Charakter. Doch ab- 
gesehen von solchen mehr vagen Spekulationen, 
ein Hauptgrund fiir meine Ansicht von der Le- 
bendigkeit der Erde: das eitle Ding dreht sich 
zunachst mit einer rasenden Geschwindigkeit um 
sich selbst, hernach kriecht sie um die Sonne. 
Wohl um ihr hierdurch ihre Zuneigung auszu- 
driicken. Das nun tuen ihre Kreaturen, die auf 
ihr schmarotzenden Mikroorganismen, ihr nach, 
sogar die vomehmsten, die Menschen. Ein jeg- 
licher von ihnen dreht sich zuvorderst mit einer 
rasenden Geschwindigkeit um sich selbst, ver- 
neigt sich, verbeugt sich unaufhorlich vor sich, 
hernach kriecht er um irgendeine Sonne. Ein 
zweiter Grund fiir die Nebensachlichkeit der 
Menschen und Tiere: diesen ohnmachtigen Wesen, 
wenigstens den mir bekannten, mehrminder an 
der Oberflache Haftenden mi&lang es, in das Erd- 




A If red Kubin Frau Sonne 



397 



DIE AKTION 



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innere zu dringen, sie ritzen bloB die Rinde mi t 
ihren Messern und iiberziehen sie mit ihren Ge- 
weben, weit arger — sie wissen sich wider die 
Taten und Emotionen der Erde keineswegs zu 
helfen. Ein Glied isi erkrankt, ein Landstrich 
zittert und bebt in fiebrischem Keuchhusten, 
Zellen und Teile schieben sich iibereinander und 
vernichten dabei allerlei handgreifliches Leben, 
das ratios nicht auf Abwehr sinnt. Ein Geschopf 
aber, das sich nicht zu verteidigen weifi, es nicht 
kann, ist das schwachere, minderwertige, von dem 
zu erzahlen sich nicht lohnt, und ich tue es nur, 
weil es mir geboten wurde; mich personlich wiirde 
allerdings eine andere Untersuchung mehr reizen. 
Ob riamlich nicht, gleich den aus Erdsaften 
emporgetriebenen Waldern, auch die beweglichen 
Dinge, die man Tiere nennt, bloB Korperteile der 
Erde sind, Lcbensfunktionen noch unbekannter 
Artausiibend geradein ihren Wanderungen, jeden- 
falls inniger mit der Erde verkettet, zusammen- 
hangend, als daB man ihnen Selbstandigkeit zu- 
gestehen konnte, eine uber die Gebundenheit von 
Parasiten hinausgehende Unabhangigkeit . . . 

Ich komme schon dem Befehle nach und widme 
mich derSchilderung des Lebendsten derErddinge, 
des Menschen. Nicht so machtlos wie den Erd- 
beben Oder den Oberschwemmungen, der Friih- 
lingsbrunst der Strome gegeniiber, noch lange 
aber nicht Herr uber die Wind und Wetter ge- 
nannten Lebensprozesse der Atmosphare, unfahig 
sich anders zu schiitzen, hat sich der Mensch 
aus Bergsteinen, Waldholz und Pflanzensehnen 



\ 




Aktstudie 



Hauser und Zelte gebaut, nach seiner Art jeder 
eines fur sich, nicht alle eines fur alle. In solche 
Hauser und Hiitten ziehen sie sich zuriick, um 
Dinge zu verrichten, die auBerhalb zu tun sie sich 
schamen. Schamen — dies ist uberhaupt eine 
ihrer Lieblingsbeschaftigungen, denn sonst wiirden 
sie nicht ihre Korper gleich MiBbildungen mit 
Hiillen bedecken, die ihnen Leichenfarbe ver- 
leihen. Sie schamen sich einzelner ihrer Korper- 
teile. Ob darin etwa einige Abwechslung statthat 
und sie sich am Ende zwei Aonen lang ihrer 
Ohrmuscheln schamten, dann wieder den Pfoten 
unsterbliche Scham weihten, dieses liefi sich nicht 
ergriinden, weil ihre Geschichtswerke nicht so- 
weit zuriickgehen. Gegenwartig aber, das heiBt: 
solange sie noch nicht zu Konserven fur unsere 
nach der Kapella fliegenden Truppen verarbeitet 
sind, gegenwartig schamen sie sich ihres Fort- 
pflanzungstriehes, nehmen jene Transsubstanth* 
tion, durch welche sie sich vervielfaltigen, nicht 
offentlich vor, statt, wenn sich in ihnen schon 
Skrupel gegen diesen regen, ein anderes, mehr 
vegetatives Verfahren ausfindig zu machen. Aber 
soweit wollen sie wieder nicht gehen. Wie glan* 
zende Namen sie in ihren Verschonerungsvereinen 
fur ihre Bestrebungen auch ersinnen mogen: jeder 
ihrer Wege fiihrt am letzten Ende unweigerlich 
zur Begattung. Es ist, als ob die auf der Erde 
vorherrschenden Naturgesetze nicht auf eine ge- 
schmackvolle Auslese, sondern auf glatt-mecha- 
nische Vermehrung Wert legten. Alle sind stets 
von der Furcht beseelt, das Menschengeschlecht 
konne jahlings aussterben, und behiiten darum 
ihre Generationsraumlichkeiten auf das so rgfal- 
tigste. Deswegen tragen sie ihre Geschlechts- 
teile immer bei sich und uberzeugen sich moglichst 
oft von dcren Vorhandensein. Ihr Dasein ist trotz- 
dem unerquicklich, da es bei ihnen nur zwei Ge- 
schlechter gibt — die Hauptursache ihres haufigen 
Lebensuberdrusses. Denn gebricht es einmal an 
Vielfaltigkeit, Abwechslung und Permutation der 
erotischen Beziehungen — durch desto rastlosere 
Kommunikation laBt sich die Ewigkeit der Lust 
nicht erzwingen. 

Vielleicht ist die Art der Organisation des Men- 
schen das Mangelhafte, so mancherlei Widersinnig- 
keiten Zeugende. Die vornehmsten Sinneswerk- 
zeuge haben bei ihm den Sitz hart aneinander, an 
einem Ort, in einem einzigen Knochen. Also daB 
eine Durchbohrung des Auges erhebliche Ver- 
letzungen des Gehirnes nach sich zieht, Storungen 
wieder des einem einzigen Organe innewohnenden 
Denkvermogens den ganzen, leider nicht homo- 
genen Korper dem Verderben preisgeben, haufig, 
wenn durch irgend eine Krankheit das Worte- 
sprechen erschwert oder unmoglich gemacht 
wurde, das Gleiche auch bei der Schallbildung 
statthat. Das Auffallende: nicht einmal solchc 
Menschenkasten, denen vie! daran liegen muB, 
die Beobachtung des Mienenspieles zu erschweren, 
nicht einmal die Diplomaten arbeiten an einer 
Verlegung des Mundes. In vielen ihrer Siechen- 
hauser war ich, nirgends kamen sie ihren Blinden 
und Tauben mit jener kleinen Empfindung zu 



Rudolf MdUfe 



3gg 



DIE AKTION 



400 



Hilfe, die bei uns auf dem Jupiter jedes Tier kennt. 
Um solche Leidende zu heilen, bedarf es doch 
nur eines Transform a tors, der die Lichtwellen in 
SchalKvellen umwandelt oder umgekehrt, und man 
kann nach Herzenslust mit den Ohren sehen, mit 
den Augen horen. Sie aber konnen nicht einmal 
mit ihrem Gehirne denken und verfolgen ein- 
ander — vielmehr, da sie alle aus einer Materic 
geschaffen sind, sich seibst mit dem Speiche! ihres 
Hasses. 

Keineswegs ausschliefilich Glaubens- oder Farhen- 
intervalle bringen bei den ZweifuBlern die Gase 
des Unverstandes zur Entzundung, nein, Ver- 
schiedenheit der Sprache, ja der Mundart hat den 
gleichen Effekt, und die meisten Volker argern sich 
aneinander in zwei oder mehreren Stammen. Und 
nicht bloB die Wanderratte, wenn sie einer Haus- 
ratte begegnet, auch der Burger von Buxtehude 
hat an jenen, die Schildas Triften bewohnen, ge- 
waltiglich auszusetzen. Wenn sie nun in Scharen 
zusammenkommen, diejenigen von Schilda und die 
von Buxtehude, dann, ihre Herrscher hinter sich 
herfuhrend, trachten sie einander den Garaus zu 
machen. 

Es gibt zwei Arten von Menschen, Raubtiere und 
Haustiere. Dazwischen innesteht noch eine 
Sorte von Lebewesen, selber hochst kummerlich 
gedeihend, aber von den anderen wegen ihres 
Wohlgeruches und der ungemeinen Kostlichkeit 
ihrer Milch ab und zu durch leere Worte aufge- 
niuntert: sogenannte Blattlause. Man heiBt sic 
auch Kunstler. Die gefahrlichsten Raubtiere, 
morderischer denn Panther, verschmahen es, das 
Blut der Ausgesogenen in Nahrung zu verwandeln 
und lassen es sich an dem Geruche der Er- 
schJagenen genug sein. 

DaB man den Menschen eine Spur von Ver- 
nunft zutrauen soli, wie unsere Femrohrgelehrten 
wollen, wird man daher schwerlich begrunden 
konnen. Am Leben ist ihnen nichts gelegen. 
Wenn z. B. zwei aus dem Volke der westlich an 
die Garamanten angrenzenden Kimnierier mitein- 
ander einen Streit haben, sei es um die Leiche 
des jiingst verstorbenen Kafers, sei es um den 
angeblichen Besitz des Weibes, gehen sie hin in 
den Wald und oft kehrt keiner von beiden gesund 
und heil wieder. Bei uns auf dem Jupiter gab es 
vor Zeiten eine Gattung Tiere, die in solchen 
Fallen einander das linke Hinterbein abzubciBen 
suchten. Dann aber ergriff sie Scham, und an 
dieser Scham starben sie, fuhlend, die in ihrem 
friiheren Vorgehen bekundete Anlage werde sich 
niemals ausrotten lassen. 

Auch sonst ist der Rechtssinn bei den Menschen 
verbildet. Von dem ersten Eigentfimer fallen ge- 
lassene Tramwaykarten darf kein zweiter ge- 
brauchen, bei Witwen aber ist das gestattet. 
Dafi maBige Korper- und Geistesdispositionen 
von Ahnen auf eine Nachkommenschaft fiber- 
gehen, konnen sie nicht verhindem, die solche 
Eigenschaften durch eine herrliche Ffigung der 
Natur oft uberzuckernde Vererbung von Glficks- 
gutern mochten sie abgeschafft wissen. Logisch 
wiederum sind sie in ihrem Benehmen den 



Herrschern gegenfiber. Da die Menschen sich von 
einer anderen Tiersorte, den Affen, abzustammen 
riihmcn, welches konnte mehr, zugleich groflte 
Erinnerung ihrer Herkunft und rfihrendste Be- 
zeigung ihrer Ehrfurcht vor Ubergeordneten sein 
als folgendes: sie hlillen sich mit Vorliebe in Ge- 
wander, die auch eben jene Affen am besten 
kleiden. Allen Hoheren nahen die Untertanen 
mit schwarzen Kiibcln des Hauptes. Schmuck 
tragen alle sehr gerne, als ob durch fremde Dinge, 
die sich auf ihrem Korper befinden, sie seibst 
zum Besseren verandert wurdcn. Diese Leute 
also haben diese Sitten, andere Leute aber haben 
andere. 

Es konnte auf der Erde Wesen geben, die wenig 
bemerkt, sich von der den Alternden und Kranken 
entschwindenden Kraft nahren und, eine Zukost, 
an den Taten der Menschen freuen, gleichwie 
diese seibst sich mit dem Gesange der Vogel 
masten. Ich habe keines dieser unbekannten Ge- 
schopfe wahrgenommen. Wenn sie uberhaupt be- 
standen, sind sie mit ihren Opfern zugrunde ge- 
gangen. Denn derzeit sind die Menschen aus- 
gestorben. Konnen aber wann immer aus den 
hier gegebenen Bestandteilen neu erbaut werden. 
Ihren Tod habe ich ganz zufallig veranlaBt. Am 
Nevado Llullaillaca, den ich, um euch auf dem 
Jupiter cin Zeichen zu geben, crflogen hatte, 
wegen einer Dummheit: mein Vorrat an der Sorte 
von Meteorsteinen, die ich zu kauen pflege, war 
ausgegangen — auf diesem Berge angelangt, zog 
ich das gewdhnliche Schallhorn, dessen wir uns 
im Weltenverkehr hedienen, aus der Westentasche 
und nieste daniher. Langsam, leicht und leise wie 
ein Kahn verglitt der Ton. Fur meine Ohren. Fur 
irdische aber! Ich vermag nicht diesen den Men- 
schen gewordenen Eindruck zu schildern. Das 
Gebriili wuchs ins Uncndliche, erstarrte zu Ricsen- 
pilzen und Felswanden, zerbrach Gebirge, alles 
Wasser wurde zu Eis. Plotzlich schlug Stille ein 
wie ein Donnerschlag: das Zeichen, dafi mein 
Signal eine Station erreicht hatte und durch ein 
empfangsbestatigendes Gegengeniese vernichtet 
worden war. Auf das Eintreten dieser Erscheinung 
waren meine Sinne gespannt gewesen und so hatte 
ich der irdischen Umwiilzungen nicht acht gehabt. 
Nichts atmete mehr. Die meisten waren wohl 
bereits infolge des ftirchterlichen Echos wahn- 
sinnig geworden, und der von meiner Schalniei 
ausgesandte Luftstrom hatte, in den wildesten 
Zyklonen und Antizyklonen sich ergehend, allem 
Leben das Ziel gesetzt. Der Menschen schwachlich 
Ringen war geendigt. Und fiber den Maulwfirfen, 
welche alle fur unsittlich halten, die Augen be- 
sitzen, fiber ihren Leibern und den Leichnamen 
der stillen Baren und friedlichen Kaninchen lagen 
verstreut die geronnenen Blfiten und Blatter der 
Baumc. Da nun aber diese Dinge schon so weit 
sind, stelle ich den Antrag, mein unschuldiges 
Weltenhorn in einem der jovialischen Museen aus- 
zustellen, kommenden Generationen zum Zeugnis, 
mit welch unvollkommenen Mitteln auch wir schon, 
und zwar nebenbei, verhaltnismaBig Grofies aus- 
zufuhren imstande waren . . . 



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GEDICHTE 
Von Albert Ehrenetein 
DIALOG 
Dichter 

Mein Herz, du bist zu weltenwarm, 
zu zitternd jedem Wind, 
der irgend einem armen Menschenarm 
Erstarren, Lahmung sinnt. 

Ich bin nicht Gott, ein Dichter, 
und sch little mein Haupt, 

Alt bist du, o Konigin. 

So hat Schonheit keinen Sinn? 

Konigin 

Wohl, ich war das Weib: der Zukunft Gasse. 
Korper dorren, Verse sterben, 
schwinden hin zu neuen Erben. 

Was ist Form und was ist Masse? 

Beide 

Blutsaulen, Heersaulen unverdrossen vorwarts- 

eilen, 

rasch zu verrinnen unterm Gewolbe der Nacht. 

Blutumflossen geboren, 

als Leichen in Siimpfe gefroren, 

mit erhobenen Handen im Winde schwankend 

Schilf, 

wo kein „Hilf!“ hilft, 
schallt keiner Frage Antwort. 

Sinnlos Erstandene, sinnloser Zerriebenel 
O Blut auf dem Kreuzholz der Wiege und Bahre, 
wem gehort die vorbeigetriebene, 
wozu die geschlachtete Herde der Jahre? 

WALSTATT 

Weifl weint der Schnee auf den Ackern, 
bitterlich schwarz sind die Witwen, 
griin warst Du, o Wiese des Fruhlings, 
gelb verkrummt sich das Herbstlaub, 
grauer Soldat im Felde, 
rot sinkst Du hinab zur hiindischen Erde, 
unter des Himmels unverfrorenem Blau. 

Mit glockenhell donnernden Schwingen 
senkt er sich nachtig ins Tal. 

Fliigelschlag wcgblast die feig glimmernden 

Sterne, 

iiber die Rochelnden reckt sich vampyrisch der 

Roch, 

Verwundete, Leichen sind seine Nahrung. 
FRUHLING 

Die Sonne weint ihren Kummer in Wolken aus, 
der Regen scheint aufs Dach und glanzt, 
erbleichend fletscht die Zahne der Mond, 
der Teufel lenzt. 



DER WALDESALTE 

Aus schwarzem Gebirg wuchs er hervor, 
sein Scheitel zerfetzte die Sonne, 
die versandenden Meere ging er hindurch 
in eisernem Trott, 

von Speeren umhaart, der Racher, der Waldesalte. 
Ausbrach er Gebriill : 

„Nicht ehrtet ihr das griine Haus, 
darin sich Nachtigallen wiegten. 

Es hat die Seele keinen Bosporus, noch Vogeseit 
Zweitausend Jahre lagen brach. 

Noch nicht kennt ihr Christus. 

Ihr stochert frech mit einem Span 
vom Kreuz den Zahn. 

So haben Kraft und heben 

die grauen Heerwurmer ihre blindgeborenen 

Schlunde. 

Ihr trostet euch mit der streichelnden Henkers- 

mahlzeit, 

: euere Weiber, die Saue Gottes, 
pflegen Wunden, schicken die blassen 
Krieger vom Mordfeld zum Mordfeld. 

So bin ich euch der Weihnachtsbaum 

des roten Zimmermanns von Beth Lechem!" 

Seine Haare starrten, 

: eisweiBe Mastbaume, 

und spieBten, umblutete SpieBe, 

die nachtgeschlagenen Heere. 

Klaglich blokten Kanonen. 

DER TROST STETS NUR BEIM TROSTER 
BLEIBET 

Ist es die Nacht, die sich schon nieder neiget, 
zerreiBt mich bald mein wildes Herz? 

Vom Tode sprach ein weiBes Haar. 

Nicht halten Gotter ihn im Gange auf. 

Die Uhr zu schlucken und ewig zu werden, 
gelang keinem. Drum glaub ich schier an ein 

Madchenkleid 

zerbrosle dumpf die gute Zeit. 

Verliebt in zart tanzenden Gang, 
witternd weiBe Ruhc, Gefilde kostlicher Haut, 
sing ich: n Wemi ich deine Augen fange, 
in deinem milden Garten schlaF ich lange.** 

Durchtone ich im Sonnenfieber die krieg- 

entmenschten Auen, 

gern strauchelnd auf dem miiheschweren Weg 

zu Gott 

von einem Walde weiB ich schon zu traumen, 
der Regen naht mit nasser Stirn, 

Leuchtkafer irrl ichtern zickzack durch die duftende 

Luft. 



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Umspinnt mich dann mit altem Tag die steineme 

Stadt, 

zerrinne ich in Trauer: 

Der Trost stets nur beim Troster bleibet, 
in Frauen, Wald, Gott, Sonne und Leuchtkafern. 

DER DICHTER UND DER KRIEG 

Ich sang die Gesange der rot aufschlitzenden 

Rache, 

und ich sang die Stille des wakiunibuchteten Sees ; 
aber zu mir gesellte sich niemand, 
steil, einsam 

wie die Zikade sich singt, 
sang ich mein Lied vor mich. 

Schon vergeht mein Schritt ermattend 
im Sand der Muhe. 

Vor Mudigkeit entfallen mir die Augen, 

miide bin ich der trostlosen Furten, 

des Obersdireitens der Gewasser, Madchen und 

StraBen. 

Am Abgrund gedenke ich nicht 
des Schildes und Speer es. 

Von Birken umweht, 
vora Winde umschattet, 
entschlaf ich zum Klange der Harfe 
Anderer, 

denen sie freudig trieft 

Ich rege mich nicht, 

denn allc Gedanken und Taten 

triiben die Reinheit der Welt. 



DIE KATERNOVELLE 
Von Albert Ekrenstein 



O Mensch, sei lieb 
nicht nur zu Dir! 

Was stiefl und trieb 
das arme Tier 

den kleinen, schwarzer Kater fort? 
Im Leben hilft nur selige Tat 
— zu spat wird Reue wort ! 



Seine Eitern habe ich nidit gekannt. Auf unserem 
Hofe ist er nicht aufgewachsen. Es muB ihm aber 
jedenfalls hundeschlecht gegangen sein, denn fiir 
gewohnlich verlassen Katzen das Haus ihrer Ju- 

gend absolut nicht Der arme junge Teufel 
kam zu mir, rieb sich an meinen FuBen und bat 
mich instandig urn meine Protektion. DaB er zu 
mir kam, ist ein Wunder. Fremde Kater sind sonst 
sehr scheu. Er war total verhungert und etwas 
raudig. Da nahm ich ihn auf. Denn auch ich 
war raudig. Ich hatte bei der Matura nicht ge- 
ahnt, daB man zur Fullung von Thermometem 
aufier Weingeist und Quecksilber auch Toluol 
verwenden konnte. Und ich wuBte noch eine 
Menge derartiger Toluole nicht Nachprufung. Ich 
bin atlein und zahle die Blatter, die von den 
Bitumen fallen. Ich lasse das Fenster offen: es 



ware mir em Erlebnis, wenn mich eine Miicke ste- 
chen wollte. Wie gesagt, brachte er ein schwar- 
zes Fell iiber sich. Beim Gesinde hieB er des- 
wegen Zigeuner: Czigan. Ich nannte ihn Kerouen, 
Thomas Kerouen. Die zwei Namen diirfen nicht 
befremden. Meine Kater haben immer Vor- und 
Zunamen. Ich fiille sogar einen Meldezettel fur 
sie a us. In Hochachtung vor den Menschen. 

Er war noch jung, etwa ein Jahr alt Oft spielte 
er mit einem kleinen, braunen Hund namens 
Libor. 

Tagsiiber war er im Bureau — auf den Frucht- 
boden gab es Legionen von Mausen, die ihn nicht 
zu Atem kommen lieBen. Er blieb bei ausgezeich- 
neter Verkostigung so mager wie zuvor. Man wird 
fragen, viele Leute wird es interessieren, was 
Kerouen gegessen hat. Nun, so opulent wie bei 
hanseatischen Mahlzeiten ging es nicht her. Es 
gait fiir ihn die gewohnliche, auf Milch, Milchbrei, 
einfache Mehlspeisen, Suppen, Griinzeug, Fleisch- 
abfalle, Huhnerknochen beschrankte Katzen- 
diat. Aber wenn er nach erfolgreicher Jagd durchs 
offen e Fenster zu mir aufs Sofa sprang, zu spinnen 
begann und die durren, von Staub bedeckten 
Flanken an mir zu reiben versuchie, dann konnte 
ich ihn unmoglich mit dieser ordinaren Haus- 
mannskost abspeisen. 

Ich hatte nicht so gut zu ihm sein sollen. Das 
w*are fiir uns beide besser gewesen. Bei Licht 
schien er ein alltaglicher Geselle, m der Nacht 
wirkte er leicht unheimlich. Ich muBte ihn einige 
Zeit hindurch bei mir im Kabinett iibernachten 
Iassen. Er fing die Mause weg, gut — doch wenn 
ich aus schweren Alptraumen erwachte, saB der 
schwarze Damon mit den grunglitzernden Augen 
auf meiner Brust und schnurrte irgendeinen Sieges- 
hymnus. Ich lieB ihn nicht mehr ins Kabinett. 
Aber damit er nicht glaubte, ich gonnte ihm 
etwa die darin befindlichen Mause nicht, st elite 
ich Fallen auf. Fing sich ein Tierchen, ging ich 
mit der Falle zum Brunnen, ersaufte die Maus und 
wartete mit ihr dem Kater auf. Kerouen hatte 
sonderbarerweise keine Aversion gegen Mause- 
fallen, es fiel ihm nicht ein, die Konkurrenz zu 




Alfred K*bin Der Kater 










K 



A 




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zertrummern, er lebte offenbar in der Idee, das 
seien in seinen Diensten stehende Vorrichtungen, 
tributary Instrumente, die ihm aus irgendwelchen 
Griinden Nahrung zu liefern hatten. Andererseits 
brachte er sie mit mir in Konnex, er lieB sich nichis 
schenken, revanchierte sich regelmafiig: ab und zu, 
wenn er eine besonders feite Maus erwischt hatte, 
schleppte er sie zu mir, legte sie vor meinen FuBen 
nieder und sah mich an. Um ihn nicht zu belei- 
digen, muBte ich die Maus annehmen. 

Wenn es besonders heiB war, pflegte ich nach 
Tisch im Schatten der Mauern auf einer Wiese zu 
schlafen, die hart am Hinterhause lag. Hie und 
da besuchte mich Kerouen. Er staunte iiber die 
Flugsprunge der Heuschrecken, hupfte in drol- 
ligen Schwiingen hinter ihnen her und manchmal 
gelang es ihm sogar, eine zu haschen. Die graten- 
artigen Beine biB er weg, das tibrige behagte ihm. 
Seine Besuche waren also nicht ganz uneigen- 
ntitzig. Ich fiihlte mich dadurch nicht gekrankt, 
sondern ging noch einen Schritt weiter: ich 
machtc ihn auf die Frosche aufmerksam. Aber 
er verschmahte selbst die jiingsten, zartesten, be- 
hendesten, lieB sie unbehelligt ihren Weg ziehen 
zu den seligen Sumpfen. Ich machte ihm keinen 
Vorwurf daraus. Ich bin iiberzeugt: die Katzen 
haben dieselbe Abneigung gegen Froschschenkel, 
wie wir sie gegen Hundefleisch besitzen. 

Ich habe eine aufregende Bekanntschaft gemacht. 
Sie heiBt Miaulina, tragt eine blaue Seidenschleife 
um den Hals und beschaftigt drei Kater. Kerouen 
ist einer von ihnen. Miaulina und Kerouen geben 
sich hie und da auf der Wiese ein Rendezvous. 
Es ist ihm also gar nicht eingefallen, meinet- 
wegen die Wiese zu besuchen! So ein Kerl! 
Audi wir haben eine neue Wirtschafterin be- 
kommen. So sehr ich mich gegen aufdringliche 
Parallelismen straube: Kerouen und ich scheinen 
Schicksalsgenossen zu sein. Sie heiBt graBlicher- 
weise Sabine, tragt einen Rosenkranz um den 
Hals und beschaftigt, soweit ich sehen kann, nur 
zwei Kater. Ich hatte also das Recht, zu Kerouen 
„Et$ch!“ zu sagen. Wenn ich es unterlasse, liegt 
das daran, daB der eine Kater fur zwei ausgibt. 
Es erhoht die Freude des Wettbewerbs, so der 
Konkurrent ein Cousin ist. Kompliziert und ge- 
fahrlich wird die Sache erst dann, wenn der Be- 
treffende nicht nur Cousin, sondern auch Haus- 
lehrer ist. Ich habe mich ja der neuen Wirt- 
schafterin noch nicht entschieden genahert, es 
ware mir aber sehr peinlich, falls mich Robert 
einma! bei ihr trafe und sagte: ,,Hugo! Geh 
lieber Physik lernen. u Als ob das nicht die wahre 
Physik ware. 

Ich sah Radierungen von Rops durch, als Sabine 
in mein Kabinett trat. Schnell klappte ich die 
Mappe zu, damit sie mich frage, warum ich die 
Mappe so schnell zugeklappt habe. Natiirlich fiel 
sie hinein. Ich verweigerte die Auskunft. Sic 
sagte: „Sie werdcn mir’s schon zeigen, Herr 
Herrensein!“ Ich zweifelte nicht daran. 

Robert hat einen grofieren Schnurrbart. Er ist 
auch drei Jahre alter und bald Reserveleutnant. 
Zwischen scrnem und meinem Kabinett liegt 



Sabines Schlafzimmer, Sie schlaft nicht allein, zu 
ihren FuBen, auf einem Strohsack, schnarcht das 
Kiichenmadchen. In der Nacht begann der Trampel 
zu schreien. Ich eilte ins Schlafzimmer, da horte 
die Neidische auf, zu briillen: sie wies auf 
Sabines Bett — es war leer. ,,Der Herr Robert 
hat sie zu sich ins Kabinett getragen!“ heulte 
die Magd. 

Auch Kerouen ging es nicht gut. Seinen Ge- 
schmack billigte ich nicht, Miaulina war eine 
ANerweltskatze und zog ihm einen machtigen, 
graugestreiften und einen einaugigen Kater vor, 
der einen lichtbraunen, grobkarierten Anzug trug. 
Sie lief ihnen schnurrend und spinnend entgegen, 
warf sich auf dem Riicken hin und her, als ware 
ihr Riickgrat gebrochen, bot ihnen werbend den 
Bauch, walzte sich wolliistig und schrie ab- 
scheulich. Der schmaehtige Kerouen siegte nicht 
immer in den Kampfen und dann geschah es 
oft, daB sich ein fremder Kater im Hinierhofe 
breitmachte und die ganze Nacht hindurch in 
der Brunst wie ein Schwein grunzte, wie ein 
Hund murrte, wie ein Kind klagte. Kerouen hatte 
das Seinige getan, der faulen Miaulina oft eine 
Riesenmausgebracht, aberMausesind in derLiebe 
nicht das einzig Ausschlaggebende. Und nach so 
einer Nacht, die von dem frechen Miauen, von 
dem unverschamten Gewinse! des graugestreiften 
Katers erfiillt gewesen, war der besiegte und 
verschmahte Kerouen immer sehr melancholisch 
gestimmt: er kam wieder zu mir. Ich wuBte, 
daB ungliickliche Liebe vernichtet, und trachtete, 
ihm nach Kraften zu helfen. Kaum Nacht 
iiber die Erde gefallen war, ob nun Regenschauer 
uns anprusteten oder aus blauhinhallendem 
Himmel der Mond uns sein kalkweiBes Licht 
ins Gesicht schlug, Kerouen und ich zogen zu 
Felde, gingen nach dem Hinterhofe. Er lief 
murrend einige Schritte voraus, lieB mich nicht 
nahekommen, ich schlich bewaffnet hinterdrein. 
Irgendwo im Dunkel ruhte gewohnlich Miaulina 
und eilte Kerouen entgegen. Sie hatte fur jeden 
Liebhaber dieselben Formalitaten, das Weitere 
allerdings muBten die Kater untereinander aus- 
machen. Im Hinterhalte lagen handliche Jauche- 
oder Wasserkiibel, aber weder intelligente Giisse 
noch Stein wiirfe, durch welch e die armen Kerle 
mit unbarmherziger Sicherheit von ihren Dachern 
weggefegt wurden, vermochten die fremden Kon- 
kurrenten auf die Dauer zu verscheuchen. Miaulina 
besaB irgendwelche, fur mich nicht sichtbare 
Reize: fur jeden Kater, der, aus seiner Hohe 
gestiirzt, mit ladierten Rippen ausschied, fandert 
sich schnellstens zwei Remplacanten ein. Und 
gelang es einmal meiner strategischen Umsicht, 
die ganze Katerherde zu eliminieren, dann war 
regelmaBig auch Miaulina verschollen. Ihr in 
Feindesland zu folgen, iniquo loco mit den Neben- 
buhlern zu kampfen, wagte Kerouen nicht recht, 
er war ja noch klein, erst ein Jahr alt, und bei 
einer derartigen Gelegenheit hatte einst ein Gour- 
mand, ein alter, weiser Kater untersucht, wie 
ein Ohr Kerouens schmecke. Die Leiden des 
jungen Kerouen konnte ich also auf diese Art 



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nicht lindern. ^aterchen,'* sagte ich, „$iehst du, 
mir geht es auch nicht besser. In vierzehn Tagen 
aber wird Robert zur Waffenubung einriicken, 
dann werde ich vvohl Sabine Rops zeigen konnen. 
Obrigens besitze ich grofle Konnexionen. Jetzt 
soil die zweijahrige Dienstzeit cingcfiihrt werden. 
Vielleicht laBt es sich unter Einem durchfuhren, 
daB auch die alteren Kater zur militarischen Dienst- 
leistung einberufen werden. Ich will dem Kriegs- 
minister einen diesbezuglichen Vorschlag unter- 
breiten.“ 

Man glaube nicht, ich habe mich etwa aus Selbst- 
losigkeit Kerouen angeschiossen, Ich lud ihn ein, 
wieder bei mir im Kabinett zu schlafen, damit 
ich mir nicht ganz verlasse vorkomme. Er nahm 
an und Punkt zehn Uhr gingen wir taglich zur 
Ruhe. Wenn ich die Tur offnete, gestattete ich 
ihm immer den Vortritt, denn er war mein Gast. 
Mause lieB ich ihn nicht mehr fangen, dies ware 
mir wie Eigennutz und Entwiirdigung der Freund- 
schaft erschienen. Ubrigens war ja nicht mehr 
die alte Wirtschafterin da, die streng darauf 
achtete, daB die Katzen ihr Futter verdicnten. 
Die Alte hatte sich sehr vor den Mausen ge- 
fiirchtet. Als ob so eine Maus sich nichts Besseres 
wufite, als ihr zwischen die Beine zu geraten. 
Wie gesagt: es paBte mir nicht, daB mein Freund 
arbeiten sollte wie ein gewohnlicher Mausfanger. 
Da er aber doch Sachverstandiger war, ernannte 
ich ihn zum Inspektor. Urn ihn aufzuheitern, 
schaffte ich neuartige Fallensysteme an und 
demonstrierte sie ihm. Er sah sehr intelligent 
zu und schlug en passant die Krallen ins Draht- 
geflecht, wie um dessen Starke zu priifen. In 
der Folge brachte er weder mir, noch Miaulina 
Mause: er war ja Industrieller. 

I in ubrigen benahm er sich jedoch keineswegs wie 
ein Parvenu. Es fiel ihm langst nicht mehr ein, 
in der Nacht auf meiner Brust zu hocken, sondem 
er saB bescheiden und manierlich zu meinen FiiBen 
auf der Decke. Er wurde recht zutraulich und 
lief mir den ganzen Tag nach. In der Wohnung. 
Denn mir auf die Gasse zu folgen, vermochte ich 
nicht bei ihm durchzusetzen. Wenn ich ihn gewalt- 
sam hinaustrug, begann er zu kratzen. Ebenso- 
w'enig wollte er mir im Hofe Gesellschaft leisten. 
Sein Grundsatz schien: im Hause diene ich, auBer 
Hause bin ich mein eigener Herr. Nicht etwa, 
daB er mich ignoriert hatte; es waren Reste von 
Wildheit, der unbandigen Freiheitsliebe derkatzcn- 
artigen Raubtiere, die in seinem Benehmen zutage 
traten Die spitzfin digs ten Versuche, ihn durcn 
Delikatessen auBer Hause an mich zu ziehen, 
nutzten nichts ; er verzehrte das Gebotene und 
war dann nicht mehr fur mich zu sprechen, ver- 
schwand. In mir aber lag der Wunsch und Trieb, 
alles zu knechten — ich heiBe nicht umsonst 
Herrensein. Ich wollte ihn nicht brechen, aber 
ins Unendliche biegen, seine Seele aus ihrem 
Reiche jagen, sie uber alle ihre Grenzen hinaus 
an mich bringen. 

Ich habe meinen besten Freund verraten. Es war 
nicftf der erste Verrat, den ich beging, und ich 
verr/ef auch nicht das Gute um des Besseren 



willen. Feigheit und Eigensucht, die schamvolle 
Furcht, von dem Freunde besiegt zu werden an 
Grofle der Ergebenheit, mit einem Wort: mein 
niedriges Trachten trieb mich zum Mord. Ge- 
schah mir etwas, vergriff sich jemand an mir, 
wurde mir irgendein geringfugiges Leid getan, 
schrie ich Zeter und Mordio, erzahlte Fremden, 
Gleichgultigen und Ubeiwollenden meine Qualen. 
War aber ich der Herr und hatte die dominierende 
Position inne, drangte sich da ein liebesdurstiges 
Herz an mich, sich an mir zu warmen, und war 
es selbst ein Herz, um das ich inbriinstig geworben 
hatte — ich vergafl es nie, ich konnte es nicht 
verzeihen, daB ich so lange ohnmachtig unten 
hatte werben, dienen mussen, und beforderte das 
Herz, das Freundesherz, mein eigenes Herz mit 
einem FuBtritt auf den Dungerhaufen. — 

Durchs Dorf zum nahen Steinbruch zieht taglich 
ein Mordskerl, ein beriichtigter Raufbold, mit 
seinem wilden Riesenrofi. Der Brandfuchs heiflt 
,,Teufel“. Der grausame Knecht reizt ihn un- 
aufhorlich, dann wird das Pferd ungebardig, 
schlagt aus, beiBt, laBt niemanden nahekommen. 
Wenn das rote Ungetiim besonders stark tobt, 
schwingt der Lummel seine Nagelpeitsche, reiBt 
an dem Stachelzaum, bis der gebandigte Hengst 
das Baumen aufgibt, mit blutiggerissenem 
Riicken, blutendem Maulc stiilsteht. Dann briillt, 
lacht, grinst, hohnt der Bauernkerl triumphierend: 
„Halloh! der Oberteufel bin i!“ 

Mir stand kcin hollisches Pferd, nur ein armer, 
kleiner, magerer Kater zur Verfiigung, nichtsdesto- 
weniger konnte ich mit groBerer Berechtigung 
in die Welt schreien: „Halloh! der Oberteufel 
bin i! u Ich habe mich nicht geschamt, das kleine 
Tier zuschanden zu reiten. — 

Im Nachbarhause lieB ein junger Slowak seine 
Schwermut in eine Harmonika stromen. Zu tun 
gab es nichts. Ich stand mitten im Hofe und 
lauschte. Erst in drei Tage sollte Robert ein- 
riicken. Mittlerweile war nichts zu machen. Ich 
dachte daran, auf achtundvierzig Stunden weg- 
zufahren, mir belanglose Dinge anzusehen, den 
ZusammenfluB zweier Strome etwa, den Flug der 
Kiebitze iiber die Sumpfe hin, vielleicht auch 
waren einige Wildenten zu schieBen. Da kam 
Sabine auf mich zu. Und gleich darauf, von einer 
anderen Seite her, hier einer provokanten Gluck- 
henne, dort mit einem groflen Satze einer Kot- 
lache ausweichend: Kerouen. Es war das erste- 
mal, daB er mich im Hofe aufsuchte. Mir gait 
es, nicht dcr Miaulina, nicht den Heuschrecken, 
jetzt gait es mir, Aber es war nicht Liebe. Es 
war Eifersucht. Etwas Weiches schmiegte sich 
werbend an meine FiiBc. Ich stellte nicht vor, 
ich sagte nicht: „Dies ist Kerouen. Thomas 
Kerouen. Der Kater meiner Seele, der einzige 
Kater, der existiert.“ Ich schamte mich meines 
Freundes, wollte die Gefuhlsweichheit meiner Seele 
verstecken wie eine geflickte Stelle im Gewande. 
Ich tat hart und tyrannisch. Und er war zu 
mir gekommen! 

Ein FuBtritt — - etwas Schwarzes iiberschlug sich 
in der Luft, wirbelte einen Augenblick zappelnd 



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iiber dem Diingerhaufen und fiel dann auf einen 
psychisch minderwertigen weiBen Hahn nieder, 
der emport „Kotkotkodutot“ schrie. „HaIIoh! der 
Oberteufel bin i!“ 

Der Arbeiter Janku auf dem Fruchboden droben 
sah zu und grinste meiner Roheit Beifall. Der 
Kater, vergeltungsweise auch einmal von Jauche 
iiber und iiber bedeckt, lag zunachst ganz still, 
schrie nicht wie jener Pariahahn und war auf 
einmal verschwunden. Sabine besaB die iiber- 
triebene Freundlichkeit, mir mitzuteilen, Robert 
habe einen langeren Aufschub seiner Waffen- 
iibung erwirkt. 

Ich verneigte mich und ging — ging in der 
Richtung, die Kerouen eingeschlagen hatte. Aber 
er war nicht mehr zu erblicken, hatte sich mit 
seinem Leid verkrochen. Mein Opfer war ver- 
geblich gewesen und nun wollte auch er mich 
nicht sehen. Und ich hatte ihm doch so gern 

die ganze Sache erklart! Diese meine Untat war 
nicht die erste. Die Kindheit und Jugend von 
Verbrechern muB Dinge enthalten, die den spateren 
Befriedigungen irgendwie analog sind. Und sie 
enthalt sie auch. Ich habe schon friiher Katzen 
umgebracht. Als Kind habe ich uralte oder ganz 
junge Katzen, mit denen ich einige Zeit gut Freund 
gewesen, pldtzlich gepackt und aus der Hohe 
von Stiegen und Boden in die Tiefe geschleudert, 
um zu kontrollieren, ob sie auch richtig auf die 
Fiifle fallen. Man nenne das nicht kindlich-grau- 
same Experimentiersucht, die fruh der Gottheit: 
dem Lesebuch den Glauben kiindigt. Bei Katzen, 
die im kraftigsten Alter standen, unterlieB ich ja 
derartige Proben, weil ich wuBte, sie konnten 
sie bestehen, 

Es ware ubrigens ein Irrtum, anzunehmen, ich 

hatte Kerouen durch jenen FuBtritt getotet. Er 
erfreute sich auch fernerhin der besten Gesund- 
heit. Ich habe ausdriicklich hervorgehoben, daB 
Kerouen sich nicht iiber schlechte oder wenig 
reichhaltige Kost zu beklagen hatte. Als Knabe 
liebte ich einst ein schwarzes Hahnchen, es starb 
— und dies war teilweise meine Schuld — jung 
und ohne Leibeserben zu hinterlassen. Nichts- 
destoweniger diirfte mich jedermann verstehen, 
wenn ich sage, ich hatte Kerouen gewissermaBen 
mit den Knochen und Uberresten dieses Hahn- 
chens gemastet, indent ich ihn oft mit Hlihner- 
braten traktierte. Jede junge Freundschaft wird 

von den Resten der alten, in Feindschaft ver- 
wandelten ernahrt, Zumal, wenn sie bereits wieder 
briichig zu werden droht. Also lebte Thomas — 
ich war taktlos genug, jetzt intimer zu werden 
und Kerouen beim Vornamen zu rufen — er 
lebte wie ein Grandsigneuer, es ging ihm nichts 
ab. Kein Kater der Welt diirfte so viele Maus- 
fallen besessen haben wie er. Und gar an dem 
Tage, wo er zum Kommerzialrat ernannt wurde, 
ging es hoch her. Aher er wollte nicht mehr, 
er war meiner und dieser Welt miide. 

Denn sonst hatte er nicht tun konnen, was er 
mir tat. Kerouen hatte es doch wahrlich nicht 
notig und auch das Verbotene konnte ihn nicht 
reizen, dazu stand er ethisch zu hoch: er war 



uberfiittert. Ich hatte mich endlich doch ent- 
schlossen, hatte gepackt und war weggefahren, 
mir endlich belanglose Dinge anzusehen, den Zu- 
sammenfluB zweier Strome, den Flug der Kie- 
bitze iiber die Siimpfe hin — aber bevor ich 
noch daran gehen konnte, kam die Nachricht: 
„Kerouen schwer erkrankt!“ 

Was war ihm Wurst und Speck! Es ist nicht 
denkbar, daB er nach derlei Dingen gegiert hatte. 
Gut: er hatte dem Arbeiter Janku taglich aus dem 
abgelegten Rock Fruhstiicks wurst und Mittags- 
speck gestiebitzt. Aber doch nicht, um diese 
unsaglich gem einen Sachen zu verzehren. Vul- 
gar war sein Geschmack nie. Nicht einmal aus 
Freude an Metier, an diesem mannlichsten 
Metier, brach er ein, nein! er stahl, um 
dafiir halbtot, tot gepriigelt zu werden. Er 
hatte mir noch immer nicht den FuBtritt vergeben. 
Der Freund hatte ihn verlassen, da verlieB er 
den Freund. Er machte sich meine Abwesenheit 
zunutze, um sich zu entfernen. Es sah wie ein 
Zufall aus, der Arbeiter Janku spielte dabei die 
lacherliche Rolle eines Werkzeugs. Kerouen hatte 
bemerkt, wie Janku den Fusstritt beifallig be- 
grinst hatte. Friiher hatte Janku sich nicht unter- 
standen, iiber Kerouen auch nur despektierlich 
zu denken. Aber er hatte zugesehen, als ich den 
Kater miBhandelte — und Kerouen seinerseits 
hatte ihn dabei gesehen, lief zu dem Arbeiter 
und stahl ihm die Wurst. Zu anderen Zeiten 
hatte Janku Schadenersatz verlangt und nicht 
selbst den Richter gespielt. Nun aber besaB er 
ein neues Erlebnis, faBte meinen langst zuriick- 
genommenen FuBtritt als Auffordemng und Er- 
laubnis auf, dem Kater den Rest zu geben. Den 
komplizierten Windungen unserer Benehmens 
nachzuirren, war er nicht geschaffen, er gehorchte 
einem Weltgesetz. Wen der Herr tritt, erschlagt 
der Knecht. Nein, Janku trug nicht schuld, und 
dann war er schon dreiBig Jahre im Hause, ihn 
konnte man nicht entlassen. Sicherlich hatte er 
geglaubt, mir einen Diensi zu leisten. Warum 
auch, sagte er, war der faule Czigan nicht nach 
den Mausen der Welt gelaufen, statt ihm den 
Speck zu stehlen? 

Ein Steinwurf hatte dem armen Kerouen den 
Kopf zerschmettert, den Leichnam auf ein Stoppel- 
f eld geschleudert. Er lag unweit einer Mauer 
— wie die Kater, die ich um seinetwillen von den 
Dachern herabgeholt hatte. An seinem diinnen 
„Es ist erreicht^-Schnurrbart klebten sparliche 
Tropfen geronnenen Blutes. Das Rot seines 
Blutes war ein anderes als das des Ziegels, von 
dem er sich toten lieB. Die Pfoten hatte er ein fur 
alle Male dezidiert von sich gestreckt, ein Rabc 
aber bekannte sich zu ihm, flog vom Weingebirg 
heran auf seinen Leichensdnvingen, stieg her- 
nieder, krachzte ruhmredig und verkiindete die 
Annexion. Kerouen sollte also noch jemandem 
zugute kommen. Moge er, dachte ich, moge ihn 
der Rabe zu sich nehmen, vielleicht kann er da- 
mit wieder einen Propheten in der Wiiste speisen. 
Aber fiir diesen Zweck stank mein Frevel wohi 
schon allzusehr zum Himmel, der Rabe erhob 



4U 



DIE AKTION 



412 



sich bald wie rachekrachzend und iiberliefi mich 
wieder meinem Opfer. Jn der Selbstmorderecke 
des Bauemfriedhofes, wo die Wanderer und Zi- 
geuner ruhen, wollte ich Czigan nicht beerdigen 
tassen. Wo sein Grab liegt, darf nur ich wissen. 
Er hinterlieB — wie gewohnlich — - nur wenig, 
und hatte es vorher schon anstandshalber sorg- 
faliig zugescharrt. Soweit ich die Menschheit 
kenne, wird sie sich nicht darum kiimmem. 

Der Nachbar hat mich auf Schadenersatz ver- 
klagt. Ich habe Miaulina mit einem Flobertge- 
wehr erschossen. Sie soil nicht triumphierend 
des Lebens genieBen, wahrend Kerouen verwesen 
muB, Der Sabine habe ich gekiindigt, nicht ohne 
ihr vorher Rops gezeigi zu haben. Dies alles 
war Rache fur Thomas Kerouen. Doch was 
konnten die armen Katzen dafiir? Sie ahnten 
nicht, was sie verbrachen. Sie konnten nicht 
anders. Aber ich, ich! Wie kann ich mich 
zuchtigen ? 

Er hat es eilig gehabt, er hat sich auf und davon 
gemacht, ohne sich auch nur Zeit zu nehmen, 
seinen Schnurrbart zu putzen, vom Blute zu rei- 
nigen. Aber ich will mich vom Blute reinigen, 
ich will meine Tat siihnen, Eine Zeit lang hockte 
wohl des Nachts auf meiner Decke ein schwarzes 
Gespenst, verwaiste Mausfallen begannen zu 
rasseln — Kerouen drohte mich zu ersticken, 
mir die Kehle zu durchbeiBen. Ich fahre auf, 
aber dann ist alles wieder verschwunden und der 
Schlaf kehrt zuriick. Klein, auBer allem Ver- 
haltnis zur Schuld ist die Strafe und groB sind 
die Gewissensbisse, Wenn ich den Kater wenig- 
stens eigenhandig umgebracht hatte! Doch er 
hat mich umgebracht, ich habe mich unsterblich 
blamiert. Und ich kann mich nicht rachen: ein 
armseliges Tier iibertraf mich an Seelengrofle, 
vollzog geschickt das Harakiri und mir lieB es 
das Leben. Kerouen, Kerouen ! 

Ich habe mich dem Kommissariat gestellt. „An 
meinen Handen klebt Blut/* sagte ich, ,,ich habe 
meinen Kater erschlagen.** „Sie waren doch der 
Herr/* behauptete der Polizist, sie durften 
machen was sie wollten.** Dann fiel es ihn an, 
ich sei nicht recht bei Trost, und er rief den 
Beamten. Ich blieb bei meiner Anzeige. „Derart 
feine Rechtsbegriffe machen ihnen alle Ehre, Herr 
Herrensein, aber wohin kame an da/* „Das 
ware auf dieser Erde nur logisch**, erlaubte ich 
mir einzuwerfen. Da geriet der Beamte in Rage. 
„Sie sind reif furs Jrrenhaus!'* Ich brauche also 
die Nachpriifung nicht zu machen. (Hier ging 
es ohne Toluol.) 

Mir bleibt nichts ubrig, als vor Leuten zu warnen, 
die ein Tagebuch fuhren. Wenn ihnen cin Freund 
erschlagen wird, wissen sie, daB das Rot seines 
Blutes ein anderes ist als das des Ziegelsteins, 
der ihn entfernte. Ich war niedertrachtig genug, 
diese Geschichte zu schreiben, die Leute werden 
sie ausgezeichnet finden, man wird nicht den 
Verkehr mit mir abbrechen, man wird weder mir 
noch sich ins Gesicht spucken. Alle Menschen 
sind so wie ich- Ich stelle die Menschheit. 



BEMERKUNGEN t)BER ALBERT EHRENSTEIN 
Ehrenstein, ewiger Schlemihl, Uumelt durch die Unendlichkeiten 
des Alls und stfirzt fiber einen Pferdeapfel; bricht nicht das Ge 
nick, wird nicht in seligere Welt der Erlbsung befbrdert, sondern 
hlngt nun zwischen Htmmei und Erde, wehrlos, hoffnungsioi, 
in einem Chaos, von dessen Firmament unendliche Qualen un- 
barmherzig auf ihn herniederstrahlen. 

Er ist angeschmiedet an den Felsen Lcid, und der Geier Schmerr 
hackt mit tausend feinen Stichen breite Strbtne der Klage und 
Verfiuchung aus seinem Herzen, Er schopft ins bodenlose Fa8 
des Herzens Geffihle, die augenblicks ins unbegrenzte Nichts 
zerrinnen. Er streckt sehnsflchtig die Arme nach den Fiiichten 
der Lust aus, die fortschnellen, ehe noch er sie bertihrt. Er 
wSlzt den Stein Sehnsucht ewig vor sich her, der immer entrollt 
und wolltlslig die Ffifle des Wandernden zermalml. 

Albert Ehrenstein, bitterer Neffe von Vischers A. E., ewiger 
Schlemihl, der Graue rollte zusammen und enttrug dir die F&hig- 
keit, dich zu freuen und Freude zu bereiten den andern. Unstet, 
nicht da, nicht dort, schrcist du ungchbrt durch leeren Raum, 
schweifsi, w&hrend we i fie Zeit auf dich herabschneit, lichtlos, 
schattenlos umher, denn nicht gltlht in der Brust dir schonster 

Giitterfunke und nicht ist dir gegeben, im Schatien deines Glficks 
zu ruhen. 

Schopenhauer stieg herab und segnete seinen liebsten Sohn. Dem 
aber, in Wien aufwachsend, ward in zarter Seele der Segen ftlhlbar 
in frfiher Jugend als Fluch, so dafl sein erstes Gedicht ist wie 
sein letztes: Leid, Klage, Verfluchung, Hohn, Vemichtung. — 
Leid des Daseins ist die einzige unendliche Melodie in Ehren- 
steins Gedichten, Erzablungen, Phantasien, Schrcien, Balladen, 
Hymnen. Dies ist die tausendfache Wurtcl des Leids: „AlIe 
Gedanken und Taten trtiben die Keinheit der Welt“. 

Weisheit des Orients bestrehh und verdUstert das zermfirbte Hen 
des ostwestlichen Juden, der durch die Demfitigungen der Jahr- 
hunderte, durch Erinnerung an biblische Triumphe, durch 
zwingende und erzwungene Familien und Handelsgeftlhle, durch 
das Martyri um der Idee bis in den Zusammenbruch der Gegen- 
wart geschleift ist. 

Bewegung und unseres Tuns Unvollkommenheit zerstbren GlUck 
und Sinn des Daseins. Des Menschen unerstickbare Gefdhle 
werden durch Widerwmrtigkeiten der Wirklicbkeit zerqualt und 
verpestet. Das Geschlechtliche aber lockt zu wildestem Htndeln, 
weckt die zUckendste Gier zur Vereinigung mit der Unvollkommen- 
heit des Andem, stfirzt drum in elendeste Erniedrigung und Enl* 
t&uschung , , . „unseliger Wollustrausch** wandelt -Diener des 
Lichts in Anbetcr des Nichts 14 . . . 

Einzige Rettung ist: die Geffihle niederzuschlagen, um nicht von 
ihnen niedergeschlagen zu werden. Keiner noch predigte so 
beseligt wie Ehrenstein die Verneinung des Geffihls; keiner 
vollbrachte mit so selbstmorderischer Inbrunst die Befreiung von 
den Gefllhlen durch Zerknirschung, Verhohnung, Ertdtung, nach- 
dem er emtfiuscht die Unmfiglichkeit ihrer Erftillung erkannt hat. 
Auch Gbtter, selbst tinvollkommen, kbnnen nicht Menschen er- 
losen; hochste Entwandlung ist deshalb nicht Seligkeit einer 
anderen Welt, die cbenso emtauschen kdnnte wie die der irdischen 
Kealitit, sondern: im Wind verwehter Staub zu sein. 

In Ehrensteins Werk trostet sich der Weltschmerz nicht am stiffen, 
melancholischen Sentiment. Gegen Heine schreit er: Nit klang 

mir das deutsche Wort ,ich liebe dich'l u ” 

Auch keine heroische Ekstase enlrtlckt den Leidenden, wiewohl 
ihm die heroische Landschaft, der heroische Mensch, das Helden- 
lied aller Zeiten und Vblker sehr vertraut sind. Denn sofort 
sttlrzt die Landschaft in ihrer Unvollkommenheit zusammen zu 
einem Trllmmerhaufen, Uber den tier Wind des Hohns pfeift und 
Satyr grimmige Flbiendisharmonien htnblfist. Der gottliche Held 
■tolpert Uber seine Unzulanglichkeit und fiber die Tficke des Ob- 

jekts, — den Kleinen ein Spott und Mitlcidender — und des- 
halb ihresgleichen. 

Welt und Mensch wird desillusioniert. Die Welt offenbart sich 

als schlechteste aller moglichen Welten . . . dts Leben als 
unsinnige Pleite. 

Um die unentrinnbare Furchtbarkeit des Leids, die LIcherlich* 
keit der Tat zu erweisen, entrollen sich kosmische Landschaften, 
antike und orientalische Panorama der Mythologie und Heroen- 
geschichte , . , Riesen, Zauberer, hfirsten, Prinzessinnen prunken; 
wfiste Phantasien strotzen Uppig auf; ungeheuerliche Lagen, 
Babeltiere, Urgewachse wuchern, buntgewirkte Teppiche wild 
und strahlend uber die Horizonte ... Um so schauerlicher, 
erregender, lacherlicher, demfitigender ist dann der Sturz ins 
Kontrastgeftihl. Denn all dies wjtchst empor, um sofort wieder 
ins Menschlich-Kleinliche zu schrumpfen, sich ins NiedertrScbtig- 



413 



DIE AKTION 



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Boshaftc zu verknllllen. Die pb&maslitche Mythologie der Historic 
verkrflppelt sich augenblicks zu Satyrspiel und Groteske; die 
heroische und orientalische Situation isi nur Paraphrase der AH- 
tfcgUchkeit ; der Held verwinzigt sich turn erbarmlichen Spiefler ; 
die grofle Wunderweh, in die ein Steinchen der Realitat falh, 
zerplalst plolzlich, Uberschwemmt uns mit Kaskaden des Hohns 
und ersauft uns itn Meer des l.eids. 

Die Ekstase wird Ironie und die Ironie Methaphysik. 

Denn wie das Grofle schrumpft, Unzulanglicbkeit der Welt und 
des Geschebens urn so eindringlicher erkennen zu lassen, wachst 
kleiner Schmerz fiber die gestorte Vollkoinmetiheit, schwillt 
Demtltigung, Lacherlichkeit und Alpdruck des Alltags zum un 
geheuren Mylhos des Leids empor, olTenbart sich in der Qual 
der kleinsten Krcatur das Unsterbliche, wird der Schlemihl zum 
tragi sc hen Heros. EinunendltchesWechselspiel also: die mythische 
Welt und der Heldengesang verlacherlichen sich sum Nebbich- 
bezirk alltflglicher Unzulanglicbkeit, — und das kleine bill ere 
Leid irdischen Lebens gebiert, das Welt&ll full end, ungeheuerliche 
Visionen seltsamer Erscheinungen und ewiger, allgemeiner Be* 
deutungen. 

Im gleichen Wechselspiel verschiebt Ehrenstein das Bcdeutungs- 
gewicht des einzigen Worts. Begriffliche und bildlicb gewordene 
Wttrter mussen pldtzlich wortlich verstanden werden, und prasseln 
aerschmetternd und hohnend, ungewbhnt unserem Aug' und Ohr, 
auf uns nieder. Grellvorstellbare Adjektiva und Verba gcsellen 
sich tttckisch zum heroischen Substantiv und enthttllen plbixlich 
miserable Unbedeutendheit, zerreifien ernllchternd die Illusion. 
Und umgekehrt erhebl ein Epitheton aus den Heldcnliedern, eine 
weitblickerfiffnende Neubildung die Bezeichnung des allt&glichen 
Leids ins Allgemein-Bedeutsame, ins Ewige. Es konimt darauf 
an, die Bedeutung des Bewufltseininhalts durch die zerslorende 
und verherlichende Macht des Wortes umzustUrzen, die Kontrast- 
wirkung der ursprtinglichen Vorstellung und Vision hervorzu- 
locken, damit der Leser beunruhigt und aufgcrtUleh wird. Die 
romantische Ironie lebt, ins Ungewdhnliche gesteigert, zu neuer, 
schrecklicher Wirksamkeit auf. 

Weil Ehrenstein zum fanatischen Verachter der aufgezwungencn 
KealitSt wird (wer noch wagte zu sagen: „Real ist alles, nur 
die Welt ist’s nicht 14 ), weil er ganz und gar Ausbruch dcs Welt 
leids, Schrei in der Wtlsle, Klage und Anklage ist, weit er furcht- 
barstes Uneil dem unvollkommenen Sein spricht, und weil sein 
ganzea Werk durch Sehnsucht nach dem Vollkommenen empor 
geschleudert ward — wird er den noch auch von denen begrtiflt, 
weiche nicbt durch die Verneinung, sondern durch Steigerung 
des Willens und Geftlhls die Welt zu tlberwinden hoffen. 

Denn unerhort bisher in der deutschen Dichtung sind jenc furcht* 
baren Verfluch ungen des Daseins, der beschmutzten Gefllhle, der 
geschSndeten Sehnsucht, jene fakalische, genit&lischen Schimpf 
reden gegen den Mifibrauch des Lebens der Menschcn und der 
Gescblechter untereinandar, jene umsttirzenden Verhohnungeo 
verwilderter und armseliger Brauche in Staat und Familie. 

Das Erstlingsbuch „Tubuisch" zeigt, wie sich die zarte Seele, 
Qua ten und Wirren des Kosmos im engsten Raum durchlebend, 
verbilterte. — Und noch aus Hymnen der Verzweiflung und des 
Hohns, aus Strophen der Zerknirscbung, aus dem Taumcl skurriler 
Assoziationcn, aus zusammengeballter, verkrampfter, geist- und 
vorstellungsreichstcr Prosa, aus tntlhsam und wild hervorgestofiencn 
Versen hallen zarte Lieder, Elegien sliflester Musik, Sprdche klarster 
Weisheit, in denen sich Bild und Melodic des Herzens offenbart, 
bevor es die Unmbglichkeil reinen Seins erlitlen und erkannt 
hattc . . . bis es reif ward, sich ins Urleid, Urlied der irdischen 
Kreatur zu relten. Kxirt Pinthus 

Eine wichtige Schrift 

Lieber Leser, Du weiflt es, dafl Universilatsprofessoren und 
Geistlicbe als Dekorateure des Krieges am We rk sind. Philo- 
sophen und Theologen, sonst unfreundlich gegeneinander, sind 
Zeltgenossen geworden und drehen Beruhigungs- und HoffnuDgs- 
pillen. Etwelche preUen den Krieg als Stufe zum Aufstieg; 
andere psalmodieren von gbltlicher JSchickung und Fiigung und 
weisen dem gequiilten Volk Troslwege zu einem bcsscren Jen- 
aeits. Da abcr holt ein Mann aus dem Woislicitschacht des 
Ostens, insonders aus dem Buddhismus, dns Melall, aus dem er 
den Panzer gegen das Leiden und die Waflb zu seiner Uber* 
windung schiniedet. Georg Grimm, der Verfasscr des Ruches 
-Die Lebre dcs Buddha — die Religion der Yernunft" ist cs 
und nennt seine neuc Schrift ..Das Leiden und seine Uber* 
windung im Lichte der altindiscben Weisheit." (Einhorn-Verlag 
in Dachau 1917). Ein Umschlag — gelb, wie die Farbe der 



Gewandung buddhtStischer Mdnche — birgl ein schmachtiges 
Bbchlein von 42 Seiten ; in dem engen Kahmen aber steckt 
eine FUlle iiberwSLigender Gcdanken, die meisterlich herausge- 
arbeitet und dargelegt sind. 

Grimm packt das Problem rait der Zange .Schopenhauers, der 
vom Leiden als von gehemmtem Wollen spricht. Da an such) 
er der Frage, weshalb unser Wille siets von neuetn durchkreuzi 
werde, die Antwon und findct sie in der Verganglichkcit aller 
Objekte des Wollens. Niemals vermoge jemand dem Leiden cu 
enirintien, dessen Umfang proportional der GroGe und Stfirke 
des Willens und Begehrens sei. Mil dem Wissen von der Ent* 
stebung hange das Miuel zur Aufhebung zusammen ; sei Leideo 
durchkreuzles Oder ge he mm tea Wollen, so liege die Befreiung 
in der Vermeidung dcs Wollens. Grimm zeigt, dafl dessen 
Artung dem Wesen des Individuutn entspreche, und schlieflt 
vom ersteren auf das letztere. Da die VergSnglichkeit der Ob- 
jekte des Wollens es iramer wieder zusammenbrechen IteOen, 
widerspreche seiner Natur alles VergSngliche, Dieses sei gegen 
unser Wesen, das vielmehr die Unverg&nglichkeit besitze. Zu 
unserem wirklichen SeEbst kfinne mithin nichts von dem ge* 
bfiren, was an uns erkennbar sei, d. b. nicht der K6rper, die 
Empfindungen, Wahrnehmungen, Gemlltstiiiigkeiten, die satmUch 
fortgesetzt neu entstUnden und vergingen. Unser Verlangen nach 
diesem Kbrper, nach den Empfindungen usw. bedinge das Hfingeti 
und Haften an ihm, wfihrend wir uns in W r irklicbkeii jenseiu 
der verganglichen Erscheinungen als das Unverg&ngliche be- 
ffinden. Grimm weist auf die Folgerungen hin, die sich daraus 
fur die Stellungnahme gegen Uber dem sog. seelischen und kor 
perlichen Leiden ergeben, und ftthrt dann aus, dafl, wenn der 
Kbrper mit dem Wesen nichts zu schaffen ha be, die Erzeugung 
nicht unseren wirklichen, sondern lediglich den Anfang un seres 
Korpers bedeute, So klopfen wir an das Tor der uralten Lehre 
von der Wiedorgeburt ; es tut sich auf und erschlieflt die Er- 
kenninis, dafl die Palingeneaie mit dem immer wiederkehrenden 
Begehren eines Korpers, durch den man zum Genufl der Erschei* 
nungen der Welt kommen wolle, zusammenhfinge. Das Ver- 
langen nach ihnen seize voraus, dafl man sie schon einmal 
empfunden und wahrgenommen, also bereits vor dem gegen- 
wSrtigen korperlichen Organismus einen anderen besessen haben 
mffsse, mittels dessen man in der Welt ge wesen sei. So fUge 
sich Glied an Glied in der Kette von der anfanglosen Ver 
gangenheit bis zur endlosen Zukunft. Sobald indessen der 
Wille zu einem Korper, also das im Tode geschehende Er 
greifen eines neuen Keimes aufhdre, kbnne kein ueuer korper- 
licher Organismus entstehen. Das Heraustreten aus der Leideni- 
welt sei voltendei; man habe sich auf das unvergingliche Teil 
von sich zurflckgezogen und das Nirwana erieicht. Den Weg 
zu ihm bahne die stetig zu vertiefende Erkenntnis, dafl alles, 
weil verganglieh, Leiden bringe und uns nicht angemessen sei. 

So in nuce der Inhalt der Grimmschen Schrift, die zu studieren 
wertvoller ist, als die Lektflre von Berichten Uber Ministerkrisen 
und Wahlrechisreformen. Der Verfasser geleitet zur Hobe der 
Buddha- Lehre und erweiat, wie verfehlt es ist, den Buddhismus 
der Passivitilt zu zeiben, Wer zu dem grofiten Inder ateht, 
kampft und ringt in und mit sich, um der Fulle des Leidens 
Herr zu werden. Er wird, wie mich dUnkt, sich auch um eine 
solcbe Gcstaltung der Daseinsrerhflltnisse der anderen mtlhen, 
daG sie die Bahn zur Erkenntnis der Wabnbegriffe zu betreten 
vermogen, um zu einer Losldsung vom Haften an den leid* 
bringenden Erscheinungen der Welt zu gelangen. 

Was das im Hinblick auf alle die Trugbegriffe und Lflgenge* 
bilde bedeutet, die die Gevatterinnen eines Krieges sind, ergibt 
sich von selbstT Victor Fraenkt 

ICH SCHNE1DE DIE ZEIT AUS 
LIU 

Wir baben — um eine kleine Auswahl aufzuzflhlcn -- - nicht 
den leiseslen Druck auf unsere VcrbUndeien Iiatien und 
RumSnien ausgellbi. Wir haben uns bei den Belgiern ent- 
schuldigt, dafl wir von unserem vert rag sm 5 Big fest 
gelegten D urch in a rs ch srech t Gebrauch inachten. 
Wir haben dem betgischen Kdnig mehrfach den Frieden unter 
allergUnstigsten Bedingungen „ohne Annexionen und mit Ent 
schSdigungen" angeboten. Wir haben mit dem nmerikanischen 
Prasidcmen wie mit einem Freunde verhandell Wir haben . . . 

Aus dem Leitartikel Varlamentarische Staatskunst" 

des Herm Georg Bernhard, „ I 'oss. Ztg u 18, Juni 
1917 



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DIE AKTION 



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KLEINER BRIEFKASTEN 

Freunde, tnanchmal ist es doch wichtig, Zeilungen zu lasen. 
Ktlrxlich, den 14. Juli 1917, ersah ich aus dcm .Berliner 
Lokal*Anzciger u : 

„Kein Deutscher, der auch nur eine Spur voo 
nationalem Eropfinden hat, wird die Wochc, die 
hinter uns liegt, nicht alt eine der furchlbarsten 
seines Lebens betrachten. - 

Lnd der in Berlin wirkende „ Deutsche Kurier 1 *, gegen den 
die .Deutsche Tageszeitung** Himbecrlimonade ist, versicherte 
mir am gleichen Tage : 

.Wir ha ben eine furchibar ernste Woche durch- 
lebt. Neben dem Verlangen nach einer inneren 
L'mwltzung grbflten Stils und von unberechenbaren 
Folgen erhob das Gespenst einei faulen Ver 
siandigungsfriedens (im Original gespern) 
drohender ats je sein Haupt. Die Mehrheii des 
Reichttagt liefl sich von ibm emschtichtem." 

Die Mehrheit des Reichstaget? tie, die drei Jab re lang? Var- 
wirrt las ich nun den Leitartikel dieses deuttchen Kuriert: 

.Was aber wilt die angebliche Mehrheit der an* 
geblichen Volksvertrelung? Ihr sogenanntet 
.Frierfensprograrom* verrStes mil einer zynischen Un- 
verfrorenheit, die sofort einen Sturm der Ent~ 

Histung entfacht und damit die jetzt abgetchlossene 
Krise auSerordentlich abgektlrzt haben wttrde, 
falls ihr Wortlaut tchon gleich ru Anfang be* 
kannt ge worden wire; ihr national wttrdeloser, 
erb&rmlicher Wortlaut, der zur Hauptsacba 
besagt : 

,Der Reichstag erstrebt einen Frieden der Ver* 
stEndigung und der dauernden Versohnung der 
Vblker. Mit einem solchen Frieden sind er 
zwungene Gebietserwcrbungen und politische, 
wirtschaftliche oder finanzielle Verge wahigungen 
unvereinbar. 

Der Reichstag weist auch alle Plfine ab, die auf 
eine wirtschaftliche Absperrung und Verfe indung 
der Vfilker nach dem Kriege ausgehen. Die 
Freiheit der Meere mufl sichergestellt werden. Nur 
der Wirtschaftsfriedc wird einem freundschaftlichen 
Zusammenleben der Volker den Boden be* 
re i ten. 

Der Reichstag wird die Schaftung internationaler 
Rechtsorganisattonen tatkraftig fordern/ 

Es wire ein Hohn auf alle politische Vernunft, 
es wire ein Schlag ins Gesicht des wahrhaften 
gesunden Volksempfindens, wenn Ausgabe und 
Annahme einer solchen Reichstagsenlschliefiung 
den jlmmerlichen Versuch machte — — w 

.Aogebliche Mehrheit der angebtichen Volksvertretung** — 
das ist zwar Zeitungsjargon, aber die Herren Heine, 
Ebert, David, Stresemann, Stidekum, Scheidemann und Kollegen 
sind tatsachlich keine .Voiksvertreter" mehr, sondern M. d. K i 
von eigencr Gnade \ das „Volk w hatte diese Herrschaften 
nur fttr ftlnf Jahre mit der Vertretung betraut gehabt, Dafi der 
deutscbe Kurier das .Friedensprograrara* so he fug bekimpft, 
ist mir weniger verstindlich. .Erzwungene Gebiets- 
erweiterungen M : mit dieter Formel wird ein politischer 
Kopf doch etwas anfangen kbnnen t (von den anderen Schon* 
heiten des Meisterwerks zu schweigen). Ich bitte die aufge- 
regten Herren von der Rechten, sich freundlicfast die von der 
Mehrheit (inch Scheidemannfraktion) energisch abgelehnte 
Resolution der „Unabh&ngigen u anzusehen (abgedruckt im „Vor 
warts* vom 20. Juli 1917). Sie werden dann den Wert der 
angenommencn Kundgebung ermessen konnen und sich be- 
ruhigen . . . 



Die unndtige Erregung wirkte schon gar zu stilblUtentreibend. 
Der n Lokal&nzeiger u z, B., der eben die furchibarste Woche 
seines Lebens hinter sich hat, erinnerie an Michaelis' Auftreten 
im Preuflen pari ament und schrieb (15. 7. 1917): 

„Mit jener Rede vom 7. Mkrz, aus der jedcr, 
der tie hone, die Klaue des Lbwen sptlrte, 
die von gluhender Valer tandsl i ebe ge* 
tragen war, und aus der ein eiierner 
Wille iprach, hat sich Dr. Michaelis das Vertrauen 
aller Parteien erworben " 

Uli. In jener Rede, die er den 19. juli im Reichstag gehahen 
hat (und in der er auch den Namen Liebknecht verwenden 
zu mtlssen glaubte), hat Herr Scheidemann (nach dem ofhziellen 
Ste nogram m und den Presscberichten) von dem .unerschrockenen 
Verfahren" des .Vorwlrts** gesprochen. Zu recht! Denn es 
ist ein .unerschrockenes Verfahren*, den Lesern Uglich irgendein 
.bcdeutsames geschichtlicbes* Ereignis zu servieren. Das reiBt 
bei dem Stampferblait seit Dezember 1916 nicht ab. Der 
.Vorwirts" ist direkt ein Museum gcworden ftlr sllerhand 
„Bedeutsames“, „Geschichtliches u , .Fundamentals** , n Bedeu- 
tuQgsvolles**, .Ungeheures** usw, 

Ich habe jetzt nicht den Raum frei, dies vollstlndig zu ceigen. 
Hier nur Proben aus dem Monat juli. 

Herr Paul Rohrbach (ftlr dessen Blatt die Zeitsch rift der .Deulschen 
Friedensgesellschaft u gegenlnseratengebtlhren Propaganda macht). . 
Herr Paul Rohrbach und einige andere Konservative, durch 
das glatte Funktionieren des Reichstags sicher geworden, 
empfehlen in einem Schreiben das Reichstags wahlrecht ftlr 
Preutien. Dazu der .VorwXrts** (Leitartikel 3. 7. 1917); 

.Es sind M Inner von anerkannt konservativer 
Grundauffassung, die diesen geschichtlich 
bedeutsamen — — ** 

Am 1 1. juli raunt eis Leitartikel des Stampfer: 

n Die sozialdemokratische Parte i Deutschlands kann 
vielleicht in absehbarer Zeit vor das Problem des 
Ministerialismus gestellt sein. . . . Man kann sagen: 

Der Eintriu von Sozialisten in die deutsche 
Regierung wtlrde an sich (von Stampfer unter- 
strichen !) schon einen so ungeheuren Urn* 
schwung bedeuten, da 8 sich alles andere 
daraus von selbst erglbe**. 

Tags drauf ruft es fiber die ganze erste Seite : .Gleiches Wahl* 

recht in Preu8en u ; es wird der Erla8 an Bethmann*Hollweg 
abgedruckt. 

Erst am niichsten Tag, den 13. Juli, hat der „VorwXrts“ die 
Faasung wiedergefunden und leitartikelt: 

.Die Einfllhrung des gleichen Wablrechts in 
Preutten bedeutet eine fundamentale Urn- 
w&ltung (im Original gesperrt!) nicht nur fUr 
Preutien selbst, sondern ftlr das ganze Reich. . 

Den 14. Juli erlebt der Leser eine .Reichswende**; well 
ein Kanzler durch einen anderen ersetzt werden soil. 

Den 18. Juli. .Ein geschichtliches Dokument* 4 lock: die (Jber- 
schrift und im Text heiflt es noch klarer: 

.Unter den gestern abends ausgegebenen Druck- 
sachen des Reichstags bcfindet sich als be* 
scheidene Nummer 933 ein bedeutsames ge* 
schichtliches Dokument: . . .** 

Gemeint war jene von Fischbeck, Ebert, Mttller-Fulda, David, 
Mayer Kaufbeuren. Sudekum, Scheidemann und anderen umer- 
zeichnete .EntschUeGung*, gegen die der tt Kurier* ohne Grund 
wetterte, Tja: so .unerschrocken* 4 lebt der .VorwXrls alle 
Tage. 

an die BCTTEN ABONNENTENI 

Diesem Sonderheft ist beigegeben eine O rigi nal ra d i er ung 
von Christian Schad, vom Kdnsller signiert und numeriert. 



INHALT DER VORIGEN NUMMER: Raoul Hausmann: StraBe (Titelblatt) / Theodor Lessing: Europa und Asien / Aus 

Bakunins Briefen / Waldemar Ohly: Holzschnitt / Josef Eberz: Federzeichnung / Charles Peguv: Renan / Rudolf Mense: 
Der FluB (Federzeichnung) / Mopp: Voltaire (Federzeichnung) / Franz Werfel: Gebet / Albert Enrenstein: Verschmachten / 
Carl Einstein: Kranke / Wilhelm Klemm: Tiefer Abend / Alfred Wolfenstein: Des Freundes Haupt / Kurd Adler: VerheiBung / 
A. B. N Sissenich : Ocdicht / Hans Richter: Musik (Tuschzeichnung) / W. Schuler: Holzschnitt / Karl Otten: Un/.ulangliche 
Opfer. Eine Famiiienblatt-Novelle j Erich Oehre: Holzschnitt / Franz Jung: Finanznovellen / F. P,: Ich schneide die Zeit 

aus; Kleiner Briefkasten 






FOr Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten 
Inhalt verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin-Wil- 
mersdorf, Nassauische StraBe 17. Tel. Pfalzbg.1695. 
Oedruckt bei F, E. Haag, Melle in Hannover. 
Die AKTION erscheint jeden Sonnabend. Abonne- 
ments kosten vierteijahrlich durch die Post, durch 
Buchhandel oder Verlag (unter Kreuzb.) M. 2,50. 
Abonnements fur das A us land kosten M. 3, — . 
Buttenausg., lOOnumerierte Exempl., jahrl. M. 40, — , 
Verlag der AKTION, Berlin-Wiltn ersdorf. 

Unverlangten Manuskripten 
ist Ruckporto beizufugen. 

Alle Rechte vorbehalten. 




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WOCHENSCHRIFT FUR POUTIK, LITERATUR, KUN8T 
TIi. JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT NR fi 



INHALT: Otto Freundlich : Holzschnitt <Tiie1bIatt) / Heinrich Stadelmann-Ringen : Vorspiel; Rede des KuHurministers bei 
Eroffnung der neuen Universidit / Raoul Hausmann: Notiz und Federzeichnung / Aus Bakunins Briefwechsel mit Alexander 
Herzen / Rudolf Mense: Tuschzeichnung / Vlastislav Hof man (Prag): Dostojewskij (Holzschnitt) / Karel Hiavacek: Aus der 
Kantilene der RacHe / A, Krapp: Der Dichter Ludvig Baumer (Holzschnitt) / Ludwig Baumer, Oscar Schiirer, Wilhelm 
Klemm, Franz Lindstaedt und Rudolf Mense: Verse vom Schlachtfelde / Claire Studer (Lausanne): Gefailener Sohn / Franz 
Blei: Die HSnde Gottes / Alfred Wolfensteii : Die Stirn f Josef Eberz: Aktstudie / Iwan Goll: Das Fenster / Felix Muller: 
Portrat r Jurgen von der Wense: Sternblaue Wimper / Anna Maria Martin (Zurich): Die Mode und der Burger / Christian 
Schad (Genfi: Cabaret! (Holzschnitt) / Xaver: Caligula hat regiert / Otto Beyer: Original-Holzschnitt / F. P : Ich schneide 
die Zeit aus; Kleiner Briefkaslen / Kunstbeilage fur die Buttenabonnenten : Max Oppenheimer: Original-Holzschnitt 




VERLAG * DIE AKTION ' BERLIN -WILMERSDORF 

HEFT 50 PFG 



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AKTIONS-BUCHER DER AETERNISTEN 

Band I : 

FERDINAND H A R D E K O P F 



POLITISCHE AKTIONS-BIBLIOTHEK 



Band 2: 

CARL EINSTEI 

Anmerkungen 

Band 3 : 

FRANZ J U N 

O p f c r.u n g 

Band 4: 

FRANZ JUN 

Saul 

Band 5 : 

CARL EINSTEI 

B e b u q u i n 

Band 1, 2 und 4 kosten gebunden je M. 2, 
Band 3 und 5 kosten gebunden je M. 3, 



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Band 1 : 



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Eine Anthologie 

Band 2 : 

JUNGSTE TSCHECHISCHE LYRIK 

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Band 3 : 

GOT T F R 1 E D BRNN; FLFJSCH 

Gesammelte Lyrik 

Band 5 : 

DER HAH N. Eine Anthologie 

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„Neue Secession 11 f Kichur Berlin f Schmidt-RottlufT / 
K. J. Ilirsch / Hans Rtchler / Wilhelm Morgner / Egon 
Schiele / Georg Tappert / Else von zur Mtihlen j Ines 

Wetzel / Felix M tiller / Josef Capek 



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AKTION 



Franz Rlci / Gottfried Kolwel / Alfred Lichtenstein / 
I’aris vun Giitersloh / Heinrich Schaefer / Paul Adler ( 
Franz Werfel / Ludwig Kuhiner / Alfred Woifenstein / 

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men 41 / ^Deutschland* 

Jcdes Sondcrheft kostet 50 Pf. 



BUTTEN - AUSGABE DER AKTION 

100 numerierte Exemplarc 
Jahresabonnement : M. 40 

Jedem Btttten&bonnement werden jahrlich mindestens 
acht Kunst blotter beigegeben, von den Kfinstlern nume- 
rtert und signiert. Diese Beilagcn kommen nicht in den 
Handel und stellen einen Wert dar, der den Abonne- 
raenisbetrag tibersteigt! Dem Jahrgang 1917 werden 
bcigegeben : Blatter von Felix Muller / Max Oppcnheimer / 
Ines Wetzel / Karl Jakob Hirsch j Richter-Berlin / Josef 

Capek / Christian Schad u a. 

KUNSTLER-POSTKARTEN DER AKTION 

Es sind verschiedene Drucke erschienen 

Zcichnungen von Mopp / Kars / Schmidt-RottlufT / Muller 
I Klein / Richter-Berlin / Nadelman / Feininger / Hart a / 
Schiele f Mense / Melzcr / Tappen / Else von zur 
Mtlhlcn / Hans Richter / Josef Capek / Morgner u, a, 

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portofrei gegen Voreinsendung des Bctrages 



WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR, KUN8T 

7 . jahrgang HERAUSQEQEBEN VON FRANZ PFEMFERT « august mi 



VORSPIEL 
Es lodert, 

Es brennt. 

Es dampft, 

Es spritzen die Funken. 

Die Gluten walzen sich 
Durch den Bau. 

Die Hitze wuhlt 

In den Speichern der Kraft. 

Die Klammem des Gefuges haben sich schon 

gelockert . . . 

Mensch! 

Deine Zeit ist gekommen . . . 

Heinrich Stadel m ann-Bingen 

REDE DES KULTURMINISTERS BEI EROFF- 
NUNG DER NEUEN UNIVERSITAT 
Das neue Haus ist aufgetan. 

Zutritt hat jeder, der frei ist, die Fulle des Leben- 
digen, ergriffen mit lebenssuchtigen Armen, in 
sich autzunehmen. Damit er fortwahrend neue 
Lebenswerte schaffe. 

Willkommen alle, denen Leidenschaftlichkeit das 
Leben schurt; willkommen alle, die niichterner 
Betrachtung nahe sind ! 

Hort! 

Ihr sollt vom Menschen wissen! Vom Menschen, 
der auf der Erde wohnt; vom Menschen, dessen 
Geist durch alle Weltenraume dringt! 

Der Mensch! Das ist der Anfang und ist das 
Ziel der Lust, die hier, in diesem Haus, zur Ar- 
beit drangt. 

Im All schafft die Bewegung; aufbauend und zer- 
legend. 

Aufbauen und Zerlegen sind hier die Arbeits- 
hande. 

Zerlegt den Menschen! Baut ihn wieder auf! 
Ist Mensch das endliche Erzeugnis des kosmischen 
Geschehens, dann mtiflt Ihr in ihm alles finden, 
was im Anfang war; was nach dem Anfang kam; 
und was aufs Letzte weist. Macht aus den feinst 
zerlegten Menschenteilen Licht, Luft, Tier, Stern! 
Zerlegt Stern, Tier, Luft, Licht und macht daraus 
den Menschen! 

Ein groBes Gleichnis des zugteich Werdens und 
Vergehens sei Euch der Mensch fur das noch 
groBere Gleichnis dieses Form zeugenden Wech- 
selspiels, das AH! 

WiBt Ihr, wie vielfach in der Form das Gleichnis 
des Werdens und Vergehens wiederkehrt? Dies 
zu ergriinden, ist dieses Haus erbaut. 




Ein Einziges, ein Ganzes ist der Kosmos; darin 
ein Einziges, ein Ganzes, gleichwie der Kosmos, 
ist der Mensch. Das Werden und Vergehen ist 
da und dort in gleicher Weise vielfach tausend- 
mat zu finden; und alles steht, da und dort, mit 
allem fortwahrend in Beziehung. Im Organis- 
mus Mensch erlebt sich das Wesen des ganzen 
Kosmos wieder. 

Bleibt nicht an Einzelheiten hangen; sie sind nur 
sinnvoll, wenn sie dem Ganzen zugehoren. 

Ein Vorkommnis als etwas Einzelnes im Menschen, 
wie im Kosmos, muB betrachtet werden, wie das 
Ganze; von alien Seiten aus. Das Ganze hat viel- 
fach Flachen, sich von Euch bespiegeln und be- 
sehen zu lasscn. Die Flachen alle erganzen sich 
zu einem einzigen Etwas. Ihr werdet liberal! 
was anderes ersehen; wie Ihr gerade Standpunkt 
gewinnt. Der Standort der Physiologie zeigt eine 
andere Flache, als es der Standort der Physik 
und andere Standorte tun. Stellt Euch auf 
alle Standorte! Ihr werdet endlich liberal! das 
Andere im Grunde als das Nanriiche erkennen. 
Ihr werdet wissen, daB, was von verschiedenen 
Standorten aus verschiedene spezielle Namen hat, 
vom universalen Standort aus nur einen einzigen 
Namen gewinnen kann. So werden alle nutz- 
losen Reden vermieden. 

Speziell diirft Ihr nicht sein, nicht werden! Uni- 
versal sei Euer Ziel! Sind Geologie und Lehre 
vom Gedachtnis in Wahrheit Verschiedenheiten? 
Greift Padagogik nicht tief in Chemie hinein? 
Kann Psychologie ohne Anatomie bestehen? Juris- 
prudenz ohne Entwicklungslehre? Bringt nicht der 
Handelswissenschaft groBen Gewinn die Psycho- 
logie? Konnt Ihr Botanik ohne Mineralogie be- 
greifen? Es gibt nicht Einzelheiten; es gibt ein 
Einziges nur. 

Immer ist es der Mensch, dem Ihr beim Lehren 
und beim Lernen immerfort begegnet. Er ist 
dieses Einzige, wovon ich spreche. Die Einzel- 
heiten nehmt zur Priifung auf die Notwendig- 
keit des Zusammenschlu&ses zum Einzigen! 
ich rufe die Erzieher auf: Erzieher! Ihr seid 
Historiker der Praxis in der Gegenwart. Euch 
ist es in die Hand gegeben, seelische Vererbung 
auszustreuen. Die Saat, die von Euch geht, tragt 
Frucht, wird Saat, tragt wieder Frucht, wird 
wieder Saat; wird Frucht und Saat in Einzelnen, 
die alle wieder den Neukommlingen von Eurer 
Aussaat geben. Drum haltet hoch die Autoritat 
des Rechtes des kosmischen Geschehens! 




DIE AKTION 



420 




Befragt Chemie! Sie sagt Euch beispielsweise, 
warum der Mensch im Augenblick mit seinem 
Geist nicht fassen kann, was I hr ihm gebt. Hort 
auf Physik, auf Klimatologie! Die wissen, Euch 
vom Grunde mcnschlichen Befindens zu berichten. 
Physiologie gibt Euch eine Fulle von Deutlich- 
keiten in dem Bild, das Ihr bearbeitet. Beseht 
den feinen Bau, worein Ihr Eure Aussaat sat; 
Anatomie weifi viel davon zu sagen. Damit Ihr 
wisset, was ihr tut. 

Erzieher mussen die geistig Reichsten sein. Da- 
mit die Armut unter den Menschen ein Ende 
nehme. In Erziehern flute fortwahrend Werden 
und Vergehen. Darum mussen sie Kinder, Jting- 
linge, Manner sein; zuglcich. So schaffen sie 
den Menschen Weitherzigkeit und geistig groBe 

Zuge. 

Ihr Arzte! Totet, was dem Leben sich widersetzt! 
Erwurgt den Schwachgeist; reiBt seine Palaste 
ein, wo brauchbare Menschen siechen, wenn sie 
im Ringen um ein tagliches Stuck Brot die eigene 
Kraft an idiotischen Gehirnen zerreiben! Arzte! 
Befreit den Menschen! Das sei Euer Ruf in Euch! 
Lehrer des Rechts im Menschen! Fragt, was ist 
Unrecht; dann erfahrt Ihr, was Recht sei. Seht 
in Euch selbst! Dort findet Ihr, was Verbrechen 
ist. Ihr, die Ihr vom Menschen Verantwortungs- 
gefiihl verlangt, lernt verstehen ! Verbrechen ist 
hemmungsloseste Lebensleistung. Was unter- 
scheidet Euch, wenn ein Verbrecher vor Euch 
steht, von ihm? Die Nuchtcrnhcit. VergeBt nie: 
Taten springen aus dcr Leidcnschaft; Nuchtem- 
heit liifit u ber Taten reflektieren. WoIIt Ihr, daB 
ein Verbrecher Achtung hat vor Eurcr Niichtern- 
heit, der er in Augenblicken ermangelte; so habt 
auch Achtung vor der Leidcnschaft, die einen 
Menschen rcizte zur Tat. So predigt Ihr durch 
Euern Spruch Gerechtigkeit; Gerechtigkeit, spricht 
das Geschehcn beim Werden und Vergehen, heiBt 
in der Sprache des Lebens Ausgleich; Ausgleich, 
der zum Einssein fiihrt. 

Die Ihr von den Volkern und Nationen, den ge- 
w'esenen und den scienden, von den Gemein- 
schaften der Menschen und von Massen zu be- 
richten habt, Euch ist es zugeteilt, das groBe 
Problem zum Ausgangspunkt zu nehmen, das 
von alien Menschen als einem einzigen Menschen, 
dem Menschen handelt. Die abertausendfaltigen 
wahrnehmbaren Vcrschiedenheiten, die Menschen 
gestern, heut und morgen zeigen, sind Ausdruck 
menschlicher Moglichkciten. Ein einziger Mensch; 
er kann als Korper nicht in alien Zeiten und in 
alien Raumen sein. Das Menschenwesen hat 
sich verteilt und hat abertausendfiiltig Formen 
angenommen. MuB da, muB dort, muB heut, 
rnuB morgen andern AnstoBcn begegnen, die das 
Mensclientuni in immer wieder andere Formen 
zw'ingen. Zerlegt den Menschencharakter mit 
Hilfe der Umgebung, die um den Menschen war 
und ist; denn des Menschen Geist und Korper 
bauen sich mit Hilfe der Umwelt auf und sind 
mit ihr ein Einziges. Daraus folgert: Viele Men- 
schen mit gteichcn Korper- und Geisteserleb- 
nissen, ein Volk, ha ben, wie der einzelne 



Mensch, Recht auf Selbststeuerung fur die Lebens- 
fiihrung. Es ergibt sich leicht: Volk verdirbt, 
wenn andere als ihm kosmisch eingewurzelte Ge- 
setze aufgezwungen werden. Doch, vergefit nicht 
zu sagen, daB diese Komplexe von Menschen 
nur einen Teil menschlicher Moglichkeiten zum 
Ausdruck bringen. Alle menschlichen Komplexe 
zusammen ergeben erst den Menschen. Darum: 
Die Faden, die vom einen zum andern laufen, 
hebt heraus; gebt sie zur Kenntnis und Erkennt- 
nis! Damit unter alien Menschen Beziehungen 
erwachsen, die dem Ausbau des Menschen for- 
derlich sind. Und sprecht: Alle Menschen sind 
e i n Mensch. 

Philosophen! Eure erste Arbeit: Zerschlagt die 
Schubfacher! 

Dieses Haus ist Universitat! Euer Standort ist 
mitten im Geschehen des Lebens, im Werden 
und Vergehen. Dort ist Anfang und Ende der 
Welt, wovon Ihr sprechen sollt. Dort ist die 
Kraft, die sich zur Form geballt hat, die Ihr 
selber seid. Steigt tief in Euch hinab; die Niich- 
ternheit begleite Euch, dazu die Leidenschaft- 
lichkcit! Darnach erhebt Euch aus Euch selbst 
und werdet weit; so weit wie das AH, das Ihr 
zu durchwandern habt. Klar glanzen Eure Augen 
und hell spricht Eure Freude, wenn Ihr erkannt: 
„Ich bin wie Du". Sprecht es zum All! Sprecht 
es zum Menschen! Seid Theologen, wenn Ihr 
Euch selber sucht, als Absucher der Griinde alles 
Werdens! Bittet den Mathematiker, daB er durch 
Zahl und Linicngefiige Euern Fund verdeutliche! 
Ihr Philosophen seid die Vorarbeiter fur die 
Kunst. 

Sehet! Kunst ist ein Mensch! Lebt. Hat Werden 
und Vergehen zugleich. Hat Vererbung; hat 
Geschichte. Als Einzelvorkommnis im Menschen; 
als flutendes Ereignis im Mensch he itsgeist. Kunst, 
Mensch im Menschen! 

Kiinstler! Kommt in dieses Haus nur, wenn Ihr 
strauchelt. Wenn Euer unbewuBtes Wissen von 
allem, was hier gelehrt wird, sich verdunkeln 
will. Schafft abertausendfaltig aus Euch heraus, 
was die Weit um Euch noch nicht schaffen 
konnte. Ihr habt den Ruf in Euch, die aber- 
tausendfaltigen Formen im Kosmos zu vertausend- 
fachen. Durch Eure eigene Kraft, die Kraft vom 
Kosmos ist. 

Ihr Arbeiter in Wissenschaft und Kunst! Das 
Drama vom Lebendigsein der Welt, das in der 
Menschenseele sein starkes Echo fand, lost sich 
in Ruhe des Erkennens und Bekennens auf, wenn 
Ihr Zerrissenheiten dieser Welt, die zu Euern 
eigenen Zerrissenheiten wurden, in Niichtemheit 
und Leidenschaftlichkeit, nach ihren eigenen Not- 
wendigkeiten, eint. 

Euch Allen, die Ihr hier seid, ruft mein Verant- 
wortungsgefuhl zu: „Seid Ichmenschen!" „lch!“ 
ruft aus! „lch! Ich bin. Ich bin ein Mensch; 
ich will vom Menschen reden; will von mir 
reden!'* Seid ehrlich und ruft wieder: „Ich kann 
nicht anders als von mir zu reden !" So werdet 
Ihr von der Wahrheit reden. 

Seid rucksichtslos ! Das heiBt: Seid wahr! So 



421 



DIE AKTION 



422 



nur konnt Ihr alle Riicksicht verkiinden. Es 
wird das Ich, von dem Ihr redet, Kristall gleich, 
vor alien Menschen sich verkorpert zeigen. Es 
wird das Werk aus Euch — das seid Ihr selbst 
— als Wahrzeichen echter Menschlichkeit, samt- 
licher Menschen Besitztum sein; wird ein Er- 
kenntnisstiick fur jeden einzelnen der vielen 
Menschen. 

Leben sei all Eure Lehre, sei ein Werden und 
Vergehen zu gleicher Zeit; sei Zerlegen, sei 
Bauen! Lehre sei Euch alles Leben irn Kosmos; 
Lehre von der groBen Einheit durch jegliche 
Bewegung. Hort das Spiel des Cello; seht des 
Meeres Flut und Ebbe! WiBt, ein gleiches ist 
es, was Euch da und dort das Herz erfreut. 
Ungleich ist nur die Materie, worin Bewegung 
lauft. Spiirt tief ins Herz des Kosmos; dort 
findet Ihr das Eure; findet eines jeden Menschen 
Herz. Alles atmet gleiches Leben. Nur der 
Intervalle Dauer, Schlagkratt und Wurfweite der 
Bewegung sind sich nicht immer gleich. Sind 
ungleich, damit sie alle ein einzig groBes Gleiches 
erzeugen; ein einzig groBes Zusammenklingendcs; 
ein einziges Geschehen. So groB wie Kosmos; 
so groB wie Mensch. 

Alle! Lehrt das Recht vom Werden und Ver- 
gehen; das Recht des Lebens. Baut darauf die 
Lehre von deni Recht des Menschen. Auf daB 
Empfanglichkeit und Mitteilsamkeit zum groBen 
Menschengut, allgemein, werde. 

Unser Herr ist das Leben, das Werden und Ver- 
gehen, der uns Kultur zu schaffen heiBt. Ich 
bin der Diener dieses Herrn; bin der Kultur- 
minister. Kultur will sagen : kosmische Schopfung, 
durch Menschcngeist geleistet. Minister will be- 
deuten: Diener. Dem Geistesleben diene ich. 
Das neue Haus ist aufgetan! 

Es fuhre Euch durch seine Raume der Mensch! 

Heinrich Stadelmann-Ringen 



NOTIZ 

Aus der Sphare der innersten, hochsten Realitat 
flieBt alles „Wirken“ in die Realitat der „Welt“ 
als einer Fiktion. Die Auswirkung in der Welt* 
Menschlichkeit; Zeit -Welt iiberhaupt gehorcht 
der Stimme des Geistes, der wahren Realitat, 
die „Sinn 4< , ^Bedeutung 44 , „Wert“ ausstrahlt und 
zu riickstrahlt, erkennen laBt durch das Spiel „sirm- 
Ioser“ Organe „Zufal]“, die unersehiitterte Richt- 
quelle, ewige Schopfer-Pcrson, Geist-Gott. 

Nur die Realitat der Geist-Sphare ist wirklich. Die 
Realitat der „Welt“ ist Schein. Die Balance der 
Oeistsphare, das innerste Ich, Gott-Person, darf 
darum nicht zur Tauschung fiihren: die Mensch- 
Person sei mit ihr identisch — erkannt muB wer- 
den ihr ungeheuerer Gegensatz, ihr Zusammen- 
hang als Durchdringung der Welt mit Geist. 

Der Organismus: Mensch, auf dieser Erde, die 
tausendfach verflochtenen, sich durchkreuzenden 
Gedankensysteme (Regierungsformen, Kapital- 
wirtschaft, biirgerliche Gesellschaft als ebensovicle 
Machtwillen), bilden ein Geisterreich so ungeheucr 
schwer erschutterbar, beharrend, daB seine Fehler, 
.Anderungen die daraus sich erzwingen, sich dem 




Raoul Hausmatit i 



Shid>c 



Gottgeist entgegenstemmen, balancierend, dem Be- 
wuBtheitsblitz in der Gott-Person langsam, aus- 
weichend Wage halted, seine Realitat zuerst liber- 
taubend in der Welt. Der Fiihrer im Geist-Reich 
besitzt unmittelbar sofort den Sieg; die Materie, 
Mensch-Realitat bedarf noch langer, blutiger Be- 
sinnung - in diesem ewigen Augenblick steht die 
wahre Welt, als einem Zugleich und Gegenein- 
andervon inncrstem Sein und auBercm Gcschchen, 
auf der Schneide des Traums — zum Erwachen. 
Die Erkenntnis der schcinbaren Ohmnacht, weiter- 
wirkcndcn Macht des gespenstigen Geisterreichs, 
der Fiktion, der Isolation des Menschen - - uin- 
kehrend in Besitzergreifung, den neuen am Geist- 
himmel crscheinenden Geist-Staat, Idee der Neu- 
schopfung des Menschen, grenzenlos All-Verant- 
wortung ist das ewige Wirken des Geistes, Gottes 
im Menschen, auf der Erde; als solche ewig neu! 
wiederkehrend. 

Raoul Hausmann 



AUS BAKUNINS BRIEFWECHSEL MIT 



HERZEN 



( 1 862) 



Lieber Herzen! 

Du besitzest entschieden weder die Fahigkeit, 
meine Gedanken, noch die, meine Worte zu be- 
greifen. An der Niitzlichkeit und Notwendigkeit 
eines Biindnisses mit den Polen zweifelte ich nie. 
Dies konntest Du selbst bezeugen. Wenn ich 
aber Zweifel hegte, so war es ausschlieBIich an 



423 



DIE AKTION 



424 



eurem Glauben an dasselbe, und wenn Du gestern 
auf meiner Stirn Wolken erblicktest, so waren 
es nicht Martjanowsche, sondern von der Besorg- 
nis verursacht, daB sich euer wieder im letzten 
Augenblick Bedenken bemachtigen wiirden. Habe 
ich tnich geirrt, um so besser. Was die Meinungs- 
verschiedenheit mit Martjanow betrifft, so ist 
es mir leid um ihn, der Sache selbst tut es keinen 
Eintrag, da ich von ihrer Notwendigkeit und 
heiligen Gerechtigkeit unerschiitterlich uberzeugt 
bin. 

Ich schicke Dir den „Daily Telegraph**, worin 
ein Artikel tiber RuBland und ein andrer iiber das 
Riot im Hydcpark enthalten ist. Du bist mir 
vvohl, wie es mirscheint, 10 Schilling schul- 
dig. Wenn ja, so schicke sie mir. An Pad- 
levvski werde ich schreiben, wie ihr befehlt. 

M. Bakunin 

3. Oktober 1862. 

Herzen, ich bin durchaus nicht der Meinung, 
daB man auf das Schreiben des Warschauer 
Komitees mit einem Brief an die Offiziere ant- 
worten darf. Nach meiner festen Uberzeugung 
miissen wir auf ein Dokument mit einem Doku- 
ment, d. h. mit einem Schreiben an das Komitee 
antworten, worin unsere Grundsiitzc und Hoff- 
nungen in betreff RuBIands, KleinruBlands und 
Polens dargelegt und das mit unsern d r e i Namen 
bestiitigt sein soil*). Mir scheint, daB dies die 
Gerechtigkeit und unsre Wiirde erfordern. Im 
Biindnisse mit den Polcn nehinen wir die p r a k - 
tische Verantwortlichkeit auf uns, so daB wir 

*) 1( Damit bin ich durchaus nicht einverstanden." Zuschrift 

von der Hand Ogarjows. 



uns nicht zu verstecken brauchen, sonst wird die 
Bescheidenheit als Feigheit und als Wunsch, sich 
nicht zu kompromittieren, erscheinen. Das frag- 
liche Schreiben mufi, wie ich glaube, ebenso kurz 
wie das der Polen sein und in wenigen Worten 
unser politisches Programm aussprechen. In 
derselben Nummer konnten wir dann auch das 
Schreiben an die Offiziere veroffentlichen, welches 
einen Kommentar zum ersteren bieten wiirde. 
Gestern bestiirzte mich das Vergniigen, mit 
dem Du Dich mit dem Journal Mieroslavvskts ein- 
verstanden erklartest, namlich, daB die „G!ocke“ 
eine rein abstrakt-zerstorende Richtung ohne 
jeden Plan fur die Zukunft, ohne jedes praktische 
Zeithatte. Erstens ist das ungerecht: die„GIocke‘* 
predigt seit lange das Selbstbestimmungsrecht 
der Semstwos, die representative Selbstverwal- 
tung in Landgemeindcn und Provinzen und end- 
lich die Foderation derselben. Dieses Prinzip 
und Ziel sind klar, bestimmt, praktisch, vollig 
ausreichend, um die strengsten praktischen For- 
derungen zu befriedigen, — und gebe Gott, daB 
die Polen uns ein Programm vorwiesen, welches 
ebenso praktisch ware wie das unsre: Nun, hatte 
Mieroslawski wirklich recht? Es ware doch un- 
verzeihlich schlimm, Herzen. Ich wiederhole 
abermals, Bescheidenheit wiirde als Feigheit be- 
zeichnct werden, wenn Du Dich nicht jetzt zu 
einer offenen praktischen Handlung ent- 
schlieBen solltest. Der Vorwurf anmaBenden 
Selbstvertrauens wird Dir immerhin anhaften — 
es gibt doch Neider und Feinde — aber die 
Ehre der ehrlichen und offenen Handlung wirst 
Du nicht haben. Du hast eine Macht, eine un* 
geheure Macht geschaffen, — und diesc Ehre 




Rudolf A/V use 



Auf Deck 




425 



DIE AKTION 



426 



wird Dir niemand rauben. Jetzt liegt die gan/e 
Frage darin, was Du aus dieser Macht machen 
wirst RuBland fordert jetzt eine praktische Lei- 
tung zum praktischen Ziele. Wird dies die 

^Glocke 1 * leisten Oder nicht? Wenn nicht, so 
wird sie vielleicht in einem oder einem halben 
Jahre ihre Bedeutung und ihren EinfluB ver- 
lieren und die ganze von Dir geschaffene Macht 
wird vor dem ersten besten, kiihnen, anmafien- 
den Knaben zusammenstiirzen, der aus Unfahig- 
keit, so zu denken wie Du, sich erdrei sten 
wird, es besser tun zu wollen. Schwinge also, 
Herzen, Dein Banner fur die Sache, schwinge 
es mit der ganzen Dir eigenen Vorsicht, mit jed- 
mogiicher Klugheit und Takt, doch schwinge es 
kiihn- W'ir aber werden Dir folgen und mit Dir 
gemeinschaftlich arbeiten. 

Wann werden wir uns sehen? Antworte. 

M. Bakunin 

(1862.) 

(Dies das Konzept des fraglichen Vorworts ) 
Indem wir in einer besonderen Broschiire die 
wichtigen Dokumente, welche die neue Ara der 
russischen wie auch der polnischen Bevvegung 
bezeichneteu, veroffentlichen, nauilich: das 

Schreiben des polnischen Volksko- 
mitees a n die Redaktion der „G 1 o c k e“, 
ihr Antwortschreiben an das p o I - 
nische Komitee, die Ant wort auf das 
Schreiben der Offiziere der russi- 
schen, im Konigreich Polen einquar- 
tierten Heereund endlich die Adresse 
dieser Heere an den GroBfiirsten 
Konstantin Nikolajewitsch, — bitten 
wir unsre russi&chen Freunde, Zivilisten und Mt- 
litars, diesen Dokumenten besondere Aufmerk- 
samkeit zu schenken. Durch sie wird dem un- 
gliickseligen, freihcitsfeindlichen MiBverstandnis, 
das bis jetzt die Verteidiger der russischen Volks- 
sache und die der Befreiung Polens trennte, ein 
Ende gesetzt. Von nun an wollen wir, mit auf- 
richtigerem Vertrauen zueinander, gemeinschaft- 
lich erfolgreicher und kraftiger vorgehen. Polen 
und Russen, wo und unter welchen Umstanden 
wir uns auch begegnen mogen, im Kampfe oder 
in der Verbannung, machtig oder vom Ungliick 
getroffen, wir wollen einander zu brudertieher 
Hilfe fur die heilige, gemeinschaftliche Sache 
die Hand rerchen, Wir wollen zusammen streben, 
das schimpflich driickende Petersburger Joch ab- 
zuschutteln, das in gleichem MaBe auf den russi- 
schen und polnischen Landen lastet. Wenn wir 
ihnen aber die Freiheit wieder erobert habcn, 
dann mogen sie selbst ihre Grenzen und Biind- 
nisse bestimmen, sowie die Formen ihres kiinf- 
tigen erneuten Daseins, auf Grund des gesetz- 
lichen und zweifellosen Rechtes, auf Grund des 
freien Willens der Volker. 

Zum SchluB wollen wir unsre Oberzeugung aus- 
sprechen, daB, solange Polen in Ketten liegt, das 
zur Rolle eines Henkers verurteilte RuBland nicht 
einmal einen Schatten von Freiheit erblicken wird. 

Michael Bakunin 





'*y 



Vlastislav fiofman ( Prnq) 

AUS DER „KANTILENE DER RACHE“ 

Ein Abend, Schwarze Wolken ziehn 
Durch diirres krankes Land dahin 
Bis zum Angelusliede . . . 

Sie knien nieder auf der Flur, 

Wo sie ironische Natur 
Anlachelt, still und miide. 

Ein Abend, siindhaft, mud und spat, 

Und niemand teilt ihr Nachtgebet. 

Die schwarzen Wolken ziehn zum Dom, 

Der in der Feme schlaft am Strom, 

Und senken ihre Hande... 

Allein die Glocken sind verstummt, 

Und keine, die noch hell aufsummt 
Aus Ohnmacht ohne Ende. 

Ein Abend siindhaft, mud und spat, 

Die Glocke selbst spricht kein Gebet. 

Die frommen Wolken zieben fort 
Vergeblich noch von Ort zu Ort 
Auf ihrer Trauerreise. 

Mein hoffnungsloses Lacheln nur 
Auf der verlassen stillen Flur 
Ironisiert sie leise: 

Ein Abend, siindhaft, mud und spat, 

Bei uns spricht niemand ein Gebet. 

Karel Hlavaeeh 

(Deutsch von Camili Hoffmann) 




427 



DIE AKTION 



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A. Krapp 



Ludwig Bdumtr 



VERSE VOM SCHLACHTFELDE 

Wir singen 

Das tut uns der Schlaf, er kiihit uns nicht. 

Er ist wie ein Krampf mit weh end en Tatzen, 

Schnurt 

Uns die Hande an den Leib, laBt Seele verrocheln, 

Und schaukelt grinsend und pestartiger Geruch 
auf unserm grauweifien Gesicht. 

Und der Tag: Lichtlos und zerknoch erodes Atnuen, 
Holen 

Und Peitschen in willig widerwilligen Mord. Un- 
sere Arme flattern 

Unsere Augen rollen weit vor uns her, werden 
spitz, stechender, 

Muder, schluchzen zuruck. Andere kommen, 
miissen, Alle FiiBe frieren an die Bohlen. 

Wenn einmal ein Mond kame, ein Mond mit silber- 
n en Hornern . . . 

Wir Unterirdischen, wir haben langst unsere Welt 
verloren, 

, . . Grinsen . . . eure . . . 

Ein Mond mit silbernen Hornern . . . 

Wir sind von keiner Mutter mehr, sind ein Anfang 
von seltsamsten Tieren 

Und fiillen unsere Bauche mit eisemen Kornem. 

Ludwig Baumer 



Besonnte Schlacht 
O gelbe Sonne, wer hat dich vergiftet? 

Den roten Dorfern gehorst du nicht mehr, 

Nicht ihren bliihenden Garten, den rosenverhan- 
genen 



Und nicht mehr den goldreifen Feldem, die sonst 
dich glanzwicgten im A h re n sang. 

Den Menschen gehorst du nicht mehr und nicht 
meinen lichtfrohen Augen, 

Dafi sie fremdirren und hungern in Grauen 

o Sonne! 

Den blitzenden Rohren gehorst du in staubigen 
Buschen 

Und plotzlichen Fahnen, die schreiend der Erde 
entwachsen im Einschlag der Grimmigen. 
Schrecklicher Fahnensturm! 

Stahl ist dein liebloser Brautigam worden, heulen- 
der Stahl in den Luiten, Stahl in den Blumen. 

Berstendes Eisen hat all dein Gefunkel geraubt 
und zuckende Herzen 

Klagen in Angsten ein Obersturm hab dich in 
Wirbel gerissen, zerschmettert, 

In Triimmern und gluhenden Brocken umrast uns 
dein Untergang 

Du arme vergiftete Sonne. 

Oscar Sckurer 



Pause 

Die Sonne geht unter, orangen wie ein Gastmahl. 
Die nackten, weiBen Schultern sind doch das 

schonste ! 

Erinnerst du dich noch an das leise Lachen? 
Man saugt sich hin an der siiBen Moglichkeit. 



Horch, die Kanonen hallen zusammen, 

Der Wind blast. Es ist ode geworden auf der 

Welt. 

Der Feind ist vor uns. Ein Tag kann kommen 

Man denkt voruber an seiner Moglichkeit. 

Wit helm Klemm 



Der G ef a 1 1 en e 
Du liegst auf dem Bauch. 

Schwer hebt entseelter Kopf sich an 
Und bietet mir unkenntliches Gesicht. 

Aber dein Leib ist f s. 

Das linke Bein fehlt. 

Wem wars im Weg? 

Dem Kanonier, der die Granate schoB? 

Nein. — Oott? 

Wes Schuld riB er es ab von deinem Leib? 
Schuld deiner oder meiner, 

Der weiB, 

Weswegen dir dies Bein fehlt. 

Weswegen so, nicht anders, du liegst? 

Gott? Gott? Nein Gdtze! 

Wah ns chaff en Schreckbildi 
Tyrann 

Den gute Frauen ewig meiden: 

Er ubernimmt sich maBlos. — 

Gott ? Gott ist gut ? 

Franc Lindstaedt 




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DIE AKTION 



430 



O e d i c h t 



Weg, weg Gcwoge der Schlachtf 
Dunke! und Blut auf gerotetem HiigeL 
Genug des Rasens! 

Ruhen will ich am lichten Hugel, 

Im sanften Gewoge mich wiegen 
Deines Busens, Geliebte 
Mordens miide bin ich! 

Jammer traf mich, fremder Jammer 
Tiefer als Tod. 

Welt jammer, Weltleid! 

Wie brach mich, wie zerbrach mich 
Der Kreaturen Unseligkeit. 

Aug des zerstummelten Pferdes 
Dein unsaglicher Strahl 
ZerreiBt mir die Nachte, 

Ich bin zerstuckt, 

Seele, meine Seele, wo find ich dich wieder? 
Herz, mein armes Herz, wohin? 

Schlafen will ich, 

Mordens miide, so miide bin ich. 

Im Schatten deines Busens schlafen, 

Geliebte! 

O ratselhaft schon ist deine Wange, 

O Wunder dein Auge. 

An seiner Wimper verebbt der Donner der 

Schlachten, 

Sie senkt sich, senkt sich zum Schlaf, 

Zum Schlaf. 



Rudolf Men$e 



GEFALLENER SOHN 
O larmende StraBe im Abendzimmer, 
Zerbrochenes Rufen und wildes Geflimraer 
Der heiBen Glocken und Fahnen. 



Der schon fur dich zu wachsen beginnt. 

Glaube an mich: dein letzer Schrei lacht 

Rot aus tausend Miittern: dein Tod erwacht! 

Claire Sluder 

DIE HANDE GOTTES 
Gewaltiger, 

Dessen unerbittliche Rechte iiber diese Deine 
Spielkugel Erde 
Hinstreicht, 

Und ihre miihsalig gebauten Ameishiigel und 
Biberbaue 

Zur Flache glattet der uranfanglichcn Einform, 

DaB weglos, ziellos verrennet 

Was in den Bauen und Hiigeln hauste, 

Aas und Lebendes seines Gleichen unter den wim- 
melnden FiiBen nicht achtend 
Gew'altiger, deB' Antlitz wir hier nicht, dessen 
beide Hande wir hier nur sehen, 

Du allcin weiflt, warum Deine harte Rechte so 
tut iiber uns; 

Verschlossen bleibt es uns Menschen immerdar, 
Und wir ertragens. 

Haftet denn Hoffnung nicht aufgehoben den 
betenden Blick 
An Deine Linke, 

Die Du, dem liebenden Herzen nah, 

Verborgen noch triigst im Busen? 

An Deine gtitige Linke, 

DaB sie aus ihrer Hohle die Grube falte und 
hinhalte, 

In die wir Wunde uns bebend verkauern? 

Franz Blei 

DIE STIRN 

Himmel baut sich um die Brust mir bis zum 
Kiefer, 

. . . Wie aus durchbrochenem Dach 
Ragt mein Auge frei hinaus, die Hiifien giirtet 
tiefer 

Wiese und Luff als grimes und blaues Gemach. 



Ach, sie flattern dich von den Hausem hin, 
Durch deinen Tod konnten sie bliihn — 
Nicht hast du mehr milden Abend an. 

Und die Narzissen der weiBen Morgen, 
Nicht mehr das GroBe der Sorgen, 

Nicht mehr das Bunte der Lacheln. 

Wohin bist du verklungen, mein Lied? 

Dich sucht jede Trane, die man nicht sieht, 
Und jeder Tag, der vor dir kniet. 

Helle Kindersonne, die aus mir stieg, 

Wohin bist du untergegangen? 

Du wirst wieder einmal prangen! 

Ich schlage deinen schwarzen Abend, Kind, 
Mit dem jungen Erstsommerwind 
Wie tin Mantel um den kleinen B ruder, 







Josef Ebert 



Aktstudie 



431 



DIE AKTION 



432 



Aber schrankenios ... in welche Raume giihn 
die Gipfel meiner Mienen? 

. . . Adler und Strome und Wald 

Atmen unten ... In den irdischen Maschinen 

Pliegt es, blutet und schallt: 

Doch es klingt nur klein wie schweigendes Stau- 
nen, wie in Wanden 
Ein bescheidenes Spiel . . 

Riesig iiber Himmelsschultern, Bergeslenden, 
Schwebt die Stirn . ., Sonne auf schmachtigem 

Sliel, 

Drache, unerschopflich iiber seinen Halsen, 
Mond iiber Ebbe und Flut, 

Gewittergebirge iiber alien einzelnen Felsen, 
Reicht die Stirn in die Glut! 

In das Schicksal reicht die Stirn . . . und kann 
nicht siegen, 

Aber singen ... bis sie dem Schicksal gleicht an 
Glanz, 

Blitze und Sonne entlang, Spiraien durchfliegen, 
. . . Bis sie ganz oben mit Menschenstirnen sich 
trifft im Tanz! 

Alfred Wolfensiein 




Felix Miiller 



Fortrat (Holttchniii) 



DAS FENSTER 

Ein Fenster, allein, im Nachtdickicht drunten, ver- 
loren im Gestriipp der Schatten wie eine 
leuchtende Erdbeere, 

Wie ein siiBes VerheiBen, eine lichte Verzeihung 
fur all die Leiden, die die Nacht enthalt, 

Eine strahlende Frucht im Raum der Welt, kleines 
Fenster, das ich von meinem Balkon aus 
pfliicke und auf zitternden Handen verehre: 

Bist du ein Stern, auf dem Millionen Sehnsuchts- 
menschen wohnen, ein femes Chaos, iiber 
dessen Glanz ich schluchze ? 

Oder ein kleines Mansardengliick mit zerbrech- 
lichen Dingen aus Blech und Porzellan, Post- 
karten an der Wand, papiernes Schicksal um 
den Spiegel gewunden? 

DichF ich rosigen Wunsch in das matte Glanzen, 
das ungewisse? 

Setz' ich zwei Menschen hinein, die sich so grofi 
und gliicklich diinken wie die ersten der 
Schopfung? 

Nichts unterscheid' ich, nicht die qualmende 
Lampe, die engelliaft iiber dem Meer des 
Estrichs fliigelt, 

Nicht das wogende Schiff des Bettes mit den ge- 
raff ten Segeln, dem geschweiften Bauch und 
weiBzischender Spitzengischt: 

Nur des Vorhangs doppelgefliigelter Schmetterling 
stoBt und rauschi mit Ungeduld ans harte 
Fensterkreuz. 

Du kleine Welt, du ganze Welt, traumfern iiber 
dem stiirmischen Boulevard drunten, 

Wie eine Uferblume mit klarem Kelch iiber der 
ewig zitternden, ewig anprallenden Stromung, 

Du kleiner heller Kosmos, in dem jetzt vielleicht, 
aus bebender Nacht der herrlichste Men- 
schenbruder mirgeboren wird! 

Iwan Go 1 1 



STERNBLAUE W1MPER 
Sternblauer Wimper musikalisches Gestad 
Entlegensein verwundbar. 

Harfe und Stall in die Wolken gestellt. 
Glocken-Obdach. Omphale. 

Oberuns: warmt windleicht ein Rosenwald, 

WeiB der maBlose Odem des Monds. 

Gtiihe Kometen begleiten das moosglatte Melos. 
Alles abhanden . . 

Nur schneit eine guldene Birke. Bebt. 

Jurgen von der Wense 

DIE MODE UND DER BORGER 
Von Maria Martin (Zurich) 

Vor einigen Jahren spottete man in Deutschland 
iiber eine sparlich ausgefallene Manifestation Pa- 
riser Suffragetten. Die Franzosin, sagte man, 
wiirde nie gefahrlich werden; sie habe ja die 
schoneren Hiite. 

Man irrte. 

Ein schoner Hut ist ein Kunstwerk, fast so selten 
wie dieses* Vorurteil gegen Mode kennzeichnet 




433 



DIE AKTION 



434 



* 



eines Volkes Tiefstand. Der Untiefe verachtet 
sie und Unreine entnehmen ihr nur das sexuelle 
Moment, Indessen spiegelt sie den Gesamtgehalt 
der Epoche. Sie illuminiert Zeitgenossen und 
Zeitinstitutionen in ihrem Vergehen und Ver- 
sprechen. Wie alle Kunst unterliegt sie dem be- 
wegenden Gesetz. Expressionismus ist ihr Wesen, 
und ihr Sinn ist Expression. Unfahigkeit verrat 
sich in der Silhouette. Ein haBlicher Hut ist eines 
Madchens Leichenstein, der ihren Geist begrabt, 
und manche ist gestorben an einem unmodernen 
Kleid. 

Die Kokette dient dem Geist, und er dient ihr. 
Wenn sie lachelnd iiber die StraBe schreitet, 



wird Geist nicht minder als wenn der Unsterb- 
liche ihre Schonheit kiindet. Geist laBt sich in 
Schleifen binden. 

Die suchende Geste nach den Massen der Schon- 
heit, nach stetig flieBenden Gesetzen, immer neuen 
Rhythmen und Stromungen, ziellos, zeitios, aber 
niemals zutallig, nicht blind und nicht taub, das 
ist Mode. Da sie das Verganglichste ist, ist sie 
von ewiger Dauer. Sie ist von alien Errungen- 
schaften des Menschengeistes dem Fallgesetz am 
wenigsten unterworfen: da rum bringt sie Tugen- 
den zu Fall. 

Sie tut mehr. Sie organisiert Schonheit. Und 
Schonheit ist ein starkes Gift wie Geist, Eine 




Christian Sckad (Genf) 



Cabarett ( Roltschnitt } 










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435 



DIE AKTION 



436 



furchtbare Waffe mifihandelten Geistes ist sie in 
den Handen der Frau. Nur mit ihr ist das Tier 
zu bandigen. Im Zierrat Finer, die Viele racht, 
bleibt der Burger verblutend hangen. Das Mann- 
chen erschieBt sich nicht um der Kontrollierten, 
nur um der Preziosen willen. Manchmal aber 
auch totet das gereizte Tier. (Und der deutsche 
Professor iibersetzt Kurtisane mit „Weibchen“.) 
Mode pervcrtiert den Burger; aber sie einigt 
Volker. lhre Moral ist die von morgen. Der 
leichteste Stoff wird Herr des schwersten. Sie 
ist ein revolutionares Gewissen der Menschheit, 
weil alle ihre Gesetze in eigener Vervollkomm- 
nung ruhen: in ihr ziehen sich die Machtigen 
den Keim heran, der ihre Macht zerstoren wird. 
Sie ist Gefahr, Aufruhr und Verbrecherin. — 
Die Mode zieht das Leben selbst in ihren Kreis. 
Diese Wirkung des Geistes, eigenste und elemen- 
tarste, ist fur den Burger peinlich, weil sie die 
zcrstorendste ist, „Eaction directed. Er, der sich 
gern als Liebhaber der Kiinste aufspielt, verpont 
sie und verbiindet sich gegen sie mit Padagogen, 
Polizisten und Parlamenten. 

CALIGULA HAT REGIERT 
Von Xaver 

„Puppchen! (Pupum). Stern !'* (Sidus) haben sie 
ihn genannt; haben es laut geschrien; dazu die 
Mauler gespitzt, als gelte es, Feigen auszuzullen. 
Caligula denkt lachend an seinen Einzug in die 
Hauptstadt. Sie hatten ihn am liebsten auf den 
Arm und in den Arm genommen. Ihn! Den 

Imperator ! 

„Ob man der Bande trauen darf? Wie haben sie 
es ihrem lieben Liebling, dem General Sejan ge- 
macht? Dem freundschaftlichsten Freund der 
hohcn und der niedern Welt? Mit sechshundert 
Sonnen hatten sic ihn beleuchtet, erwarmt, wenn 
es so viele gegeben hatte. Im Handumdrehen 
haben sie ihn zerrissen. Fische im FluB haben 
sich ihn schmecken lassen. Brrr! Ich kenne 
das Gesindel. Wie nenne ich eure sufie Liebe zu 
mir? Verkehrter HaB, der meinem GroBvater 
gait. 

Gottverdammter — beugt die Knie! — gottseliger 
GroBvater, Imperator Tiberius, ich weiB heut 
noch nicht, in welcher Ecke meines Korpers 
so viel Wasser vcrborgen war, dafl ich Stunden 
lang — mein Volk ist Zeuge! — Biiche von Triinen 
iiber deincn Heimgang weincn konnte. Tja! Ich 
wollte doch regieren nach des Hochseligen Tod! 4< 
Plarrt weiter, Romer! Euer ,,SchoBkind“ (alum- 
num), euer ,,Klemchen“ (pullum) heiBt ihr ihn? 
Er kennt euch bcsser, als ihr selbst euch kennt. 
„Mein vielgeliebtes Volk! Ich stelle dir eine 
alte Konigsburg wieder her (. . . regiam resti- 
tuere . . .); ich stifte dir einen Jugendtag (. . . diem 
juvenalem . . .) fur vaterlandische Spiele; ich gebe 
dir das verlorene Recht zuriick ( . . . suffragia 
populo reddere...); ich... Ha, ha, ha! Was 
will ich! Regieren! Regicren will ich! Wil! Im- 
perator sein!^ Rom ist's zufrieden; hat sich den 
Freiheitsstolz Iiingst vom Gcsicht gestreift. 



Caligula regiert. „Behandle ich die Herde gut, 
Nvird sie beim Regieren mich nicht storen.“ 
Caligula regiert unaufhorlich. 

,,Vielleicht, vielleicht erinnert sich die Herde an 
die Zeit, wo noch keiner war, der regiert hat; 
und konnte... Nein! Nein! Sechshundert Nein! 
Bei meiner Schwester-Frau Drusilla! Ich schwore 
es: Herde soil Herde bleiben! Ich bin Ich. Ich 
will regieren, damit ich bleibe Ich!“ 

Caligula regiert lustlich unaufhorlich weiter; un- 
aufhorlich mehr; unaufhorlich starker. Das Ro- 
mervolk? Es ftihlt am eigenen Leibe Caligula re- 
gieren. 

„Stumpfb6cke! Werden sie es bleiben? Wer weiB, 
eines Nachts steht ein Kerl mit einem Dolch vor 
meinem Bett. Noch bin ich Mensch; verwund- 
bar. Vorsicht! Ist schon bekannt geworden, 
was Tiberius iiber mich vorher gesagt? Ich 
wiirde mit meiner Art regieren dem Romervolk 
eine Natter, der ganzen Welt ein Phaeton und 
steckte die Erde in Brand? Dreimal Vorsicht !“ 
Caligula will regieren. Darum Edikt: 

„Sowie der Hirt einer Herde Ochsen, Ziegen oder 
Kleinviehs nicht selbst ein Ochs oder sonst ein 
Mitglied der Herde, sondern ein Mensch ist, der 
an Wiirde und Fahigkeit hoch iiber den von ihm 
beherrschten Tieren steht, ganz ebenso hat man 
zu glauben, daB auch Ich, als Oberhirt der vor- 
ziiglichsten von alien Herden, der Menschenherde, 
ein von den Individuen meiner Herde vollig ver- 
schiedenes, nicht menschliches, sondern unend- 
lich hoher begabtes gottliches Wesen bin!“ 

(„KaMTcep y a P x<ov £XXu>v Ciocov &Y£Xapx at ? 

(3oux6Xoi xal aix6Xot xal vopeTg 5uxt eiaEv, 

fiuxe alyes 5yce 5pve;, aXX’ £vd*pw7:oi xpetxovo; 

poEpag xal xaxaaxeufjs imXixovxe;, tpdnov 

aYcXapx^Ovia xdtjil xfj; ApEaxtj^ AvO'pto^wv y£ , j0 ’ j * 

dtY^^s voptax6ov Bta^peiv, xal xax* Svd-pajrcov 

elvaL pet^ovo? xal $eiox£pac pofpa; xexux>j x ^ v at- u ) 

Caligula kichert in den Schlund hinein; dreht die 
Augapfel zu den Wolken; redet: „Ist es so recht, 
ehrwiirdigster, erlauchter Ahnherr Oktavian? 
Freust Du Dich droben im Elysium ?“ 

Caligula regiert. Die Menschenherde lichtet sich; 
der Uberrest wird fahl und faul. 

,,Glaubt an mich, ihr Menschenherdentiere! Dann 
glaube ich auch euerm „Puppchen“, „SchoBkind“, 
„Kleinchen“, „Stern“. 

Ruhe im Romeriand; Caligula kann ungestort 
regieren: Spiegelgefecht ohne Binden und Ban- 
dagen bis zur Abfuhr 

Hohlspiegel grinst Krummspiege! an. Krumm- 
spiegel hohlt sich; wirft gehohltes Krummgesicht 
auf Hohlspiegel. Der macht sich krumm ; wirft 
krummes Hohlgesicht auf Krummspiegel . . 

Halt! Warum Halt? Die Waffen sind ungleieh: 
Das eine Gesicht weiB von seinem Betrug; das 
andere weiB von seinem nicht 
Verlogener Spiegel Spiegelspiel. 

Rom ist verdorrt. 

Caligula hat regiert. 





Otto Btytr 



Original’ HolzschniU 




43 Q 



DIE AKTION 



440 



ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS 
LIV 

Einc Unterredung russischer Journaliiten mit 
Scheidemann. 

( Bench t ftir das „ Berliner Tageblatt.“) 

Auflerhalb Deutschland wird bei Erorterungen liber ElsaB- 
Lotbringen fast i miner vergessen, da 6 es itch um ein Land 
handelt, das bis auf etwa IO Prozent kerndeutsch ist und in 
dem nur etwa 1 1,5 Prozent der GesamtbevBikrrung tlberhaupt 
Franzosisch verstehen. Elsafl Lothringen wurde im 17, Jahr- 
h undent gewaltsam durch Frankreich von Deutschland loagerisscn, 
1870 von Deutschland zurlickgenomroen, Desbalb ist es absolut 
unverstandlich r daB auch die franzosischen Sozialisten sich in 
der elsafi’lothringischen Frage $0 vollkommen solidarisch er- 
erkl&ren mit den national istischen Kreisen Frankreichs . . . 

Ich glaube, dafl in der elsafl-lothringischen Frage alle Deutschen 
eines Sinnes sind. 

Gegentiber der in den EntenlelSndern verbreiteten Anschauung, 
dafl die deutsche Regierung, gesthtzt auf einfluflreiche Kreise, 

imperial istische Tendenzen 
verfolge, antwortete Scbeidemann : ^Deutschland hat wfihrend 

44 Jahren Frieden geh&lten . , , Es ist richtig, dafl es bei 
unsauch einfluflreiche Kreise gibt, die imperial!* 
stis che Kr i egszi e le aufgestellt ha ben. Tatsache ist aber 
auch, dafl diese Kreise in Deutschland nicht den Einflufl 
gewinnen konnten, den sie in England und Frankreich immer 
roch haben. Das deutsche Volk fuhrt den jetzigen 
Krieg lediglich zu seiner Verteidigung gegentiber 
den aggressiv'imperialistischen Kriegszielen, die von feind- 
lichen Regierungen wiederholt und noch bis in die letzte Zeit 
verkUndet worden sind. 

Es will mir Ubrigens scheinen, dafl das deutsche Volk auf seine 
Regierung bereits einen erheblich grBBeren Einflufl auszuUben 
vermag, als das in den sogenannten demokratischen Staaten der 
Fall ist. Das geht nicht nur aus den Parlament aver- 
handlungen hervor . . . Ich kann Ubrigens nur wtlnschen, 
dafl die Demokratisierung auch in England, Frankreich 
und A m e r t k a fortschreite, wo die Rcgierungsmacht im Besitz 
einer kleinen imperialistisch-kapiialistischen Interessen- 
schicht ist, aus deren Handen die Masse des minder bemittelten 
Volkes ihr Schicksal entgegennehmen mufl. In Deutschland 
iat der EinfluB der Demokraiie wenigstens stark 
genug, zu verhindern, daB diese imperial istisch und nationals 
stisch orientierten Kriegspolitiker das Heft in die Hand be- 
kommen. Erst wenn auch jene anderen Lfinder wirklich 
demokratisiert sind, das heiflt die Massen des Volkes 
entscheidend sind, werden wir hoffen dtirfen, einen Zustand 
dauernder friedlicher Besiehungen zwischen den Vblkern zu 
erreichen. a 

^Berliner lhgeblatt u , 21. Juni 191 7, Morgen - A utgabe. 

. . . Wir ktinnen, was ge&chehcn ist, nicht ungeschehen 
machen. jedoch die Pfiicht treibt uns, den Weg zu suchcn, 
der uns aus dem endtosen VStkermord hinausfllhrt, Und da 
ist mir das, dessen ich mir schon zuvor bewuflt war, in Stock- 
holm erst recht zur unerschlltterlichen Uberzeugung ge worden, 
Es geht nicht ohne eine durchgre i fende Demokrati- 
sierung Deu tsch lands ! (Im Original gesperrt.) 

Es sind nicht die Feinde, es sind die — ach so selfenen — 
Freunde drauflen, die uns immer wieder sagen : Ihr mtlflt end* 
lich einmal heraus aus Euren innerpolitischen Zustanden ! Ihr 
uidOt der Welt zeigen, dafl der Unterschied zwischen ihr und 
Euch nicht so grofl ist, wie er scheint, und dafl er nicht un- 
tiberbrtlckbar ist, Ihr seid eines der tfichtigsten, der gebildetsten 
Volker der Welt, und Ihr dtirft nicht lfinger Regierungg* und 
Verfassungsfnrmen ertrager, die dem Kindheitszustande der 
Vblker angepaflt sind. Erst wenn thr das tlberwunden habt, 
ist der Weg gefunden, den Ihr sucht : der Weg zur VerstXndigung 
der Volker, 

Daheitn aber gibt es wieder Leute, die folgendermaflen zu uns 
reden; Wenn die Feinde unsere inneren Zust&nde anschwlrxcn, 
so ist das nur eine Kriegslist, um Deutschland zu entnerven 
und seiner besten Kraft zu berauben. Zumal jetzt reform ieren, 
hiefle sich dem Willen der Feinde unterwerfen und sich von 
ihnen in unsere inneren VerhSllnisse dreinreden lassen. Also 
erstens tlberhaupt nicht, und zweilens gerade jetzt erst recht 
nicht I . . . 

Wir aber sagen: Tiefgreifcnde, weilhin sichlbare Reformen 

unserei inneren Staatslebens sind jetzt notig, und es ist keine 



weitere Verschiebung des Termt n s statthaft (im Ori- 
ginal gesperrt), wenn unser Volk nicht den schwersten Schaden 
leiden soil . . . 

Der selbe Herr Philipp Scbeidemann. Leitartikcl. 
„Draufien und daheim ", „Vorwdrts u 24, Juni 1917, 

„Ich kann auch gar nicht so klug sein, denn Ihr alle wiflt, 
dafl ich ein sehr einfacher Arbeiter gewesen bin, der sich sein 
biflehen Wissen . . 

Der selbe Herr Philipp Scheidemann r Soz . Dem, 
Part ext ag Jena, 16, Sept, 1913. (ProtoJeoll Seite 328,) 



KLEINER BRIEFKASTEN 

Lieber Leser, ich hatte die vorstehend gedruckten Zitate ge- 
rade zusammengestellt, da sprach, rundreisend: 

Scheidemann iiber „Deutsch lands Zukunft" 

„. . , Die Arbeit fur den Frieden gleicht einer Hilfsexpe- 
d it ion, die auf der Suche nach verungliickten Menschen 
hoch im Gebirge nicht die steile Bergwand hinauflaufen 
kann, sondern sich erst miihsam die Stufen ins Eis 
schlagen muB. Zwei solche Stufen sind die Wahl- 
rechtsbotschaft vom 11. Juli und das Friedens- 
programm des Reichstags vom 19. Juli. Beides waren 
Erfolge, die man noch vor Wochen kaum fur moglich 
gehalten hatte. Das ist aber noch nicht genug. Als 
der Reichstag wieder 2usammentrat, sagten wir: So geht 
das nicht wetter... Und die deutsche Presse darf nicht zum 
Instrument von Leuten gemacht werden, die den Reichstags- 
beschluB am liebsten ganz aus der Welt schaffen wiirden. 
Presse und Parlament geh6ren zusammen ... Im Osten 
ist ein kritisches Stadium eingetreten. Denken Sie sich, 
ein solches Ungliick ware der deutschen Armee 
widerfahren und die Regierung kdnnte das auf das 
Schuldkonto einer so zial istischen Partei in Deutschland 
setzen ! Hier huben Sie den SebtUssel zum Verstflndnte 
unsere r Haltung! (Im ,,Vorwarts" Fettdruck.) , .. Nur 
eine erb5rmliche Demagog ie kdnnte verlangen, daB wir 
dem Lande die Mit tel versa gen, weil war hunger n mussen, 
Oder weil Zeitungen und Versammlungen verboten werden. 
Unsere parlamentarische Arbeit w'ahrend der letzten 
Wochen hat gute Fortschritte gezeitigt, in der Wahlrechts- 
vorlage und in der Friedensresolution . . 

Nach den Berichten dee „ Vorwarts* 1 und des ,,i9er- 
linei m 1 hgeblatt" (27. Juli 1917) iiber eine Auffuhrung, 
bei der Herr Scheidemann, zeitenteprcchcnd, mir 
gegen Ear ten zu besich tigen xcar. 

Dr. W — f. Houston Chamberlain, etwa der konservative 
Parvus Englands, bemuht sich seit August 1914. Seine 
Kriegsbroscnuren, die sich auf dem Niveau von Fendrichs 
SiiluDungen halten, wirken wie der heutige ,,Simplicissi- 
mus". Jetzt hat Mister Chamberlain etnen Zeitungsaufsatz 
iiber „Demokratie und Parlamentarismus" im ..Chemnitzer 
Tageblatt" drucken lassen (und die Berliner Presse druckt 
ihn nach). Solche Wahrheiten stehen auf und wandeln : 

„Der Parlamentarismus ist das Grundiibel 
unsrer Zeit. Wissenschaftlich betrachtet ist 
er ein Ungeheuer: alien wissenschaftlichen 
Erfordernissen — der genauen Sachkenntnis, 
der leidcnschaftlichen Erwagung, der streng 
folgerechten Methodik u$w. — schlagt er ins 
Gesicht; volkisch betrachtet ist er ein Wahn- 
sinn: kein Mensch auf Erdcn besitzt ein 
, Recht* auf Wahlzettel, und kein Mensch 
auf Erden wird um -ein Titelchen besser, 
weiser, gliicklicher dadurch, dad ihm dieses 
Recht verliehen wird . . . 

Deutschland — zu hohen Dingen befahigt 
und berufen — ist heute auf Irrw'ege geraten 
und zu einem Sklaven des Revoiutionsideals 
herabgesunken ; und doch ist dieses Ideal, 
vor dem sich fast alle verneigen, so grund- 
falsch, so unglaublich albern, daB kiinftige 
Oeschlechter nicht begreifen w'erden, w r ie 
es mSglich war, selbst die Vernunftigen unter 
uns so lange zu narren . . . 

Der Tag ist nicht mehr fern, wo man auf 



Fur Herausgabe, Schriftleitung und den gesamien 
Inhalt verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin-WiF 
rnersdorf, Nassauische StraBe 17, Tel. Pfalzbg. 1695 
Gedruckl bei F. E. Haag, Melle in Hannover, 
Die AKTION erscheint jcden Sonnabend. Abonne- 
ments kosten vierteljahrlich durch die Post, durch 
Buchhandel oder Verlag (unter Kreuzb.) M. 2,50. 
Abonnements fur das Ausland kosten M. 3,—. 
Biittenausg., lOOnumerierte Exempl.,jahrl.M.40,— . 
Verlag der AKTION, Berli n-Wil rnersdorf. 

Unverlangten Manuskripten 
ist Riickporto beizufiigen. 

A 11c Rechfe vorbehalten. 




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WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR, KUNST 
YU. JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT NR. || 

INHALT: Vlastislav Hof man (Prag): Dostojewskijs Portrat. Holzschnitt (Titelblatt) / Margaret he Goetz (ZOrich): Zwei 
Zeichn ungen zur Zeit / Max Brod: Aus einer Szene „Der Genius des Krieges" / Myrrha Tunas: Fledermausflug / Karl 
Sgraffoido und Rudolf Hartig: Verse vom Schlachtfeld / Theodor Lessing: Europa una Asien / Anton Pirek: Der Totenhof 
(Zeichnung) / Felix Muller: Portiit des M. d, „A/' Victor Fraenkl / Aus Bakunins Briefwechse! mit Herzen / Oeorg Tappert : 
Portrat (Zeichnung) / Karl Often; Die Nachtwandlerin / Alfred Wotfenslein: Der Leichenwagen / Max Herrmann: Der am 
Leben stirbt / Kurd Adler: Sommergang / Alexei Kolzow: Frage (Deutsch von Otto Frhr. von Taubc) / Lothar Homey er: 
Original-Hol2schnitt f Kurt Pinthus: Der Lyriker Wilhelm Klemm / Else Lasker-Schfiter : Max Herrmann und ein Doppel- 

portrat / Hans Koch: Traume / F. P.: Ich schneide die Zeit aus; Kleiner Briefkasten 




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Wetzel / Felix Mllller / Josef Capek 



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Jedcm BUttenabonnement werden jiihrlich mindestens 
acht Kunst blatter beigegeben, von den Kunstiern nume- 
riert und signiert. Diese Beilagen kommen nicht in den 
Handel und stellen einen Wert dar, der den Abonne- 
menlsbetrag Ubersteigtl ]_>em Jahrgang 1917 werden 
beigegeben: Blatter von Felix Mllller / Max Oppenheimer / 
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Capek / Christian Schad u a. 

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/ Klein / Richter-Berlin / Nadelman / Feininger / Hart* / 
Schiele / Mense / Melzer / Tappert / Else von zur 
Muhlen / Hans Richter / Josef Capek / Morgner u, a, 

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WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR. KUNST 

7.JAHRGANG HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT 25. AUGUST 1917 







Margarethe Goetz 



Zeichnung 



AUS EINER SZENE: „DER GENIUS DES 
KRIEGES" 

Von Max Brod 

„Wche denen, die Boses gut nennen und Gutes bose, 
Die Finsternis 2U Licht machen und Ucht zu Finsternis, 
Die bitter zu sfifl machcn und sfiB zu bitter. " 

Jesaja 5, 20. 

Der Genius des Krieges (spricht) 
Niemand gerettet. — Denn ihr alle seid 
Die Schuldigen. In eure eigne Handarbeit, 

Die ihr gedankenlos an Sommerabenden 
Schwatzhaft und mild verstummend wobt, seid ihr 
Gefangen, Hebe Damen, und verstrickt 
in alle Torheit, die ihr je dabei geplappert. 

In eure Modebiatter und Kostiime, 

In eure geistlos widerliche Narrheit pfeift 
Ihr heute euren letzten Atem aus, 

Erstickt von Borten, Federn, Hausfraudummheit 
Und was ihr arglos triebt 
Und weiter treibt, indes Verderben schwillt, 
Das sticht zuriick mit arger Schlangenwindung, 



Ihr wiBt garnicht, wie bos ihr selbst euch seid. 
So harmlos und so bos. — Die ihr den Gatten, 
Der Sohne hingeworfne Schar beweinet, 

Ob ihr nur wiBt, im Augenblick der Nachricht, 
Der gliihenden, es wiBt, daB ihr sie selbst, 

Ihr selbst getotet habt. Mit eurem Lacheln 
Mit euren Kleidchen, Witzchen, Nichtigkeiten 
Getotet habt. — Das ist die Art der Welt, 

Die, einer tollen Feuerkugel gleich, 

Durch ihr Geleise rollt. LaBt ihr sie los, 
Springt sie euch an. Man muB sie wacker halten. 
Und ihr habt losgelassen, liebe Frauen. 

Nun brennt es tiichtig, was? 

Und bruht auch euch, 

Ihr siiBe Dichterjugend, die im eignen Selbst 
Nach Reinheit strebt. Und gut und unvermischt 
Wollt ihr die goldne Lyra eurer Seele 
Garberigewaltig klingen lassen, riicksichtslos, 
Denn jede Rucksicht dampft das edle Saitenspiel. 
Nur daB das Echte, so in sich gedreht, 

Gar leicht zu Falschheit und Bequemlichkeit 
Und das Gefiihl zu bidder Wirrnis sinkt. 

So in euch selbst gewickelt naht ihr euch 
Der Schicksalskugel, deren wilde Flamme 
Wie Lockenhaar um einen Tollkopf, wie 
Demantner B!ick von tausend Spaheraugen, 

Ein Glanz, doch unhold euch, entgegendroht? — 
Die Damen wollten wie in einem Spiegel 
Sich in dem Ball besehn, da brach er auf, 

GoB seine Lavafliisse fiber sie. 

Der Kaufmann wollte ihn in Mfinzen schneiden, 
Er riB sich los aus Qual und KrallenfleiB 
Mit einem Ruck. — Und ihr, was wollt denn ihr? 
Ihr wollt ihm garnicht nahn, ihr nur auf euch 
Und eurer eignen Seele Glanz Bedachten? 

Ihr stoBt ihn weg sogar? — Er kehrt zuriick 
Und, merket, diirren Reisig friBt er auf. 

Ihr dachtet, er beschmuizt? O mehr! er friBt, 
Ein wildes Tier. Jetzt briilit ihr! O zu spat! 
Ihr wart so tapfer, daB ihr feige vvurdet, 

Ihr wart so reinlich, daB ihr heucheln muBtet, 

So fuhlend. - Aber wart ihr je gerecht, 
Kraftvoll mit offnem Aug, mit Einsicht hilfreich ? 
Ich darf euch schelten, denn in eurem Tiegel, 
Ihr drei, ward ich gezeugt, — mir nicht zur Lust, 
Zu ungewissem Sein vielmehr. Ich leide, 

Ich bin so miide, ohne Lebenskraft, 

DaB ich zerfiieBen mochte. Doch ich weiB, 
Wenn ich zerflieBe, - wer wird mich erkennen? 
Schon heute, da ich noch in guter Fulle 
Vor euch aufstehe, scliielt ihr mir vorbei 



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DIE AKTION 



446 



Und fragt: „Wer is t denn schuldig? — Wir doch 

nicht. — 

Wir haben ihn nicht in die Welt gesetzt. — ** 
Drum bin ich da, drum halt 1 ich mich noch auf- 

recht, 

Damit ihr endlich eure Elternschaft 
Einseht, von Riitseln und DamoneneinfluB 
Nicht fabelt und von Wundern femer Spharen. 

Ach, wiiBtet ihr, — es gibt Damonenwelten, 

So selige, auf Riicken griiner Beige, 

In Silberwiesennebel und Gewolk, 

Wohin nicht eurer kuhnsten Phantasie 
Oberste Flugelspitze anstoBt, — dort 
War ich ein wilder, doch gelehriger, 

Noch unvollkommner Geist und freute mich 
Mitten im Engelchor der Unterweisung. 

Auf unsrer Moosbank saBen wir und horten, 

Wir Reifenden, dem Cherub Lehrer zu. 

Da greift wie eine Teufelsfaust ein Bann, 

Ein Zauberlied, in unsern Himmel ein 
Und ruft. Und rufet mich, gerade mich 
Unseligen, — ein Lied aus Menschenlippen, 

Von euren Lippen war's. Und schaudemd sptire 
Ich kalten Bandern gleich die Klange mich 
Umwickeln, meine zarte Aureole, 

Die tauerfrischte, werdenden Gefiiges, 

Kaum noch an zarte Atherluft gewohnt, 

Mit rauher Kraft zusammendrucken, — ach, 
Und jeder Klang fiigt Fleisch und Knochen mir, 
Fiigt sie wie Maurerhand die Ziegelsteine, 

Fiigt einen schandlich ungelauterten 
Gefangnisleib um meine Sehnsuchtsseele. 




Margaret hr Goetz Zachnung 



Ganz eingemauert bin ich, einen Schacht 
Fiihl ich um mich, den es mit Obermacht 
Mich aus mir selbst hinaus, hinunter reiBt. 

Das habt ihr mir getan. Ein andres war's, 

Von Gott mir zugeteilt. Ich ahn es kaum. 

Ich war so jung und frohlich, voll von Saft, 

Und irgend eine Tugend, unbekannt 
Den Hutern der Geheimnisse, nur Ihm 
Bekannt, und kaum erst vorbereitet 
In meiner Brust, nur wie die Frucht im Kern 
Drangend und holder Nahrung gierig, wuchs 
In mir, das fiihlte ich, — Jetzt bin ich da, 
Unsinnig, vor der Zeit. Ich schlage bos 
Um mich wie ein Unausgeschlafener, 

Ich tobe wie ein schlechtgelauntes Kind 

Und spreche aus dem Fieber. Ach, mein Bestes, 

Geradheit, Mut und Kraft, wie habt ihr mir 

Die Tugenden aus ihres schonen Wachstums Bahn 

Gerissen, ach, mein Bestes in mein Argstes, 

Mitgift und Burgschaft hdherer Bestimmung 

In schwarend Gift zersetzt. Die nur fur euch 

Im All der Krafie federnd 

Auf fernen gottgewuBten Stufen kuhn 

Zur Hilfe vorbereitet lag, — o meine Kraft, 

Die gute, habt ihr wirr im Eigennutz 

Zu euch herabgezogen, ungeduldig 

In Gang gesetzt das fiirchterliche Uhrwerk, 

Schamlos, ehe es fertig war, vorwitzig, 

Ohne Vertrauen in die wahrhaftige 
Wortlos sinnvolle Absicht meines Vaters, 

An die ihr nicht geglaubt. Was wolltet ihr 
Die ihr mit frevelndem Beschworungswort 
Zu diesem falschen Ungetum mich machtet, 

Mir Leben gabt, des alien Leben feind, 

Nur Dauertod, erstarrte Hinschwund ist? 

Sagt an, was wolltet ihr, ihr bosen Pfuscher? 

O dafi ihr wenigstens verstundet, was 
Ihr siindigtet, an mir, an euch, daB sich 
Aus zitternden zerknirschten Lippen endlich 
Das groBe Schiboleth, das mich erkennt, 
Entrange, mir die Freiheit, euch den Frieden 
Und vorbedachtes Heil, wie es der GroBe 
Im ersten trunknen Schopferblick gesehn, 

Uns beiden gabe. Schaut, zu ihm schaut auf, 

O sprecht die Wahrheit, rufet, rufet mich 
Bei meinem rechten Namen, — ach wie geme 
Verschwand’ ich dann. 

Doch allzufest gekettet 

Bin ich. Und ihr an mich. Niemand gerettet! 

FLEDERMAUSFLUG 
Von Myrrha Tunas 

Unruhige Schleifen zucken im Dammergrau, 
Fledermausflug. Rastloses Jagen, Zogern im Wen- 
den, unstates Hasten in Sehnen nach leuchtendem 
Ziel, das Nachtschleier schwarz schelten: Fleder- 
mausflug. 

~~„Was zuckt dort hinten? Siehst du die graue 
Gestalt? Sie zeigt die Zuge einer Frau 
„Mutter war sie eines Sohnes.“ 

„Mutter ? <4 

„Mutter. Siehst du nicht den Darnengiirtel rings 
um ihren Leib?** 




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DIE AKTION 



448 



1*1 



* 



„Domengurtel! Dornen? Mutter! 44 
„Mutterdornen. Tranen kannst du nicht mehr 
sehen, wurden ja zu Blut und Dornen. Blut er- 
starrte, Dornen blieben/ 4 
„Fiel ihr Sohn in Schuld — “ 

„Totend wurde er getotet. War er ja der erste 
Sohn von einer Mutter, der im Kriege fiel/ 4 
„0 Leid und Not! 4 * 

„Am Himmelstor stand sie, die Leichnamstiicke 
mit der Hande Magerkeit umkrallt: hier, Herr, 
mein Sohn! Ein Stiickchen Seele fehlt. 44 
„Nun konnt Gott keine Ruhe geben? 44 
„Sie irrt umher, zuckt hierhin, zuckt dorthin. S i e 
sucht den Fleck, den keine Trane 
n a B t e.“ 

„Keine Trane? 44 

„Dort ist das Seelenstuck des Sohns, dort darf die 
Mutter ruhn/ 4 

„Ruhen? Sternenfernes Mutterlos. 44 
„Und dann soil Frieden sein fur Menschen/ 4 
„Frieden? Sternenfernes Menschen los. 4 4 
„ Frieden, immer Frieden. Siehst du sie fliegen und 
suchen ? Zuckt hierhin, zuckt dorthin — und sucht, 
sucht/ 4 

„Und tragt die Ziige einer Frau/ 4 
— Unruhige Schleifen zucken in dammergrauer 
Luft. Fledermausflug. Jagen, Hasten, Wenden, 
Suchen nach leuchtendem Ziel, das Nebelschleier 
verhiillen — — 



VERSE VOM SCHLACHTFELD 



Traum im Trichter 



Tragst Du verstorte Seele noch den Schaum 
der femsten Stunden in die stets verdrangte 
Andacht, die Dir verblieb als vages Kaum? 

Vertraumst Du nicht die Tat in triib gemengte 
Bedacht, Dir unbekannt wie dies Gesicht 
im Ieeren Spiel, das Dir der Tag behangte, 

Siehst Du darin der Torheit und des Alters Gicht? 
Denk an die Stunden, da sich Dir erhellte 
Dein morgenfriihes warmgestrahites Licht, 

Da Dir kein Zweifel noch den Sinn verstellte, 
Der Dir die Welt zeigt durch ein t rubes Glas. 

O daB des Vogels Flucht im Blut zerschellte, 

Als er gefangen in den Gittem saB, 

Vereinsamt, krank, versiichtet und verkommen 
Das Futter weigerte, das er am liebsten fraB — 
Weh! Jenes feme Licht ist ganz Dir nun ver- 

glommen. 



11 

Ich lag im Traum, der Welle war und Schaum 
Und mich bedrangte, Erdliches verdrangte, 

Ich sah die Weite, sah den Himmel kaum, 

Und war dem grunen Licht das Eingemengte, 
Das ganz mit Schaum esspitzen mein Gesicht 
Und weiBen Schleimesschleiern es behangte, — 

Schwer wie Gewicht lag’s auf mir und wie Gicht, 
Und nichts die grasig-grune Nacht erhellte: 

Sie stand und wogte so im eignen Licht. 

Wie oft sich auch das Auge mir verstellte, — 

Es war nicht lebend mehr, war wie aus Glas, 
An dem die Welle brach und sich zerschellte — 



Ich wuBte nur, am tiefsten Grunde saB 

Das Scheuel, dem ich sinkend muBt’ verkommen 

Und seiner Fresse ein willkommner FraB 

Erwacht sah ich des Morgens klares Licht ent- 

giommen. 

Karl Sgraffoldo 

Stimme aus der Hohe: 

Wollen wir doch nun, du lieber Kamerad im 
kreidigen Mantel an der Schiefischarte, alles 
Traumen weit wegtun und nur dem leben, was 
Harte befiehlt! 

Moge die Mine, die hoch daherzieht, fallen, wohin 
sie fallt; zittern wir nicht, betten wir den 
Toten, den sie uns riB, in Erde und Ruhe! 

Aber die driiben im kreidigen Grabenstrich, tun 
sie nicht so wie wir und leiden, frieren in 
gleicher Not, 

Haben Vater und Frauen zu Haus und waren 
einstmals ganz lachelnde Kinder, 

Gingen einst auch mit Biichern zur Schule, saflen 
wohl horchend denen zu FiiBen, die Weise- 
stes lehrten. 

Bruder und Menschen, vergaBen wir’s doch im 
Trauern um Freunde. — 

Aber du druben, der du ein anderes Kleid tragst 
und nach anderer Richtung hinhorchst die 
Lieben zu horen. 

Spuren wir nicht eines Herzens Schlag, das uns 
Gott gab alle Menschen zu lieben? 




Otto Freundlick 



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DIE AKTION 




Sei, wie du bist! Seist du im Khaki, im blauen 
Tuch oder Turban oder Stahlhelm oder in 
lehmfarbencr Mutze, 

Wollen wir nicht aufeinander zugehn und wieder 
uns Briader heiben? 

Da wir doch Menschen sind, leidend, zerqualt 
und einstmals ein Gleiclies ertraumten in 
Kindheit und Liebe? 

Wollen wir nicht die tiefdunklen Unterstande auf- 
reifien, die wir aus Furcht voreinander ge- 
baut?! 

Oder aus den Oraben herausgehn, bis in die 
Mitte, wo kein Verhau ist! 

Und hin alles stellen: Gewehre, Granaten, Minen- 
werfer und Gasflaschen, Handbomben und 
Feuerspeier. 

Und hinknien und beten: Herr, gib uns wieder 
die Liebe!! 

Rudolf Hartig 

EUROPA UND ASIEN 

Von Theodor Less in g 

V Europa und der ,F o r t s c h r i 1 1* 

,,Bezahlten wir des Lebens Wissen mit dem Leben selbst, 
Zu Geist verblabt? Sind wir ein Geisterreich ?" 

Die Geistesmachte Asiens ; welche wir schilder- 
ten, zielen allesamt auf ewiges Leben: zeitlos- 
ruhend-unbedingt. Europas Wissenschaften und 
Religionen dagegen sind fur Zeit und Wirklich- 
keit eingerichtet; das heiBt, fiir die relative, be- 
grenzte menschliche BewuBtseinswelt! Sie 
sollen, nach dem Wort eines europaischen Theo- 
logen „schon jetzt und hier dem bedrangten 
Menschenkinde zu einem wiirdigen Leben und 
frohlichem Sterben behiilflich sein.** 

So kommt es denn, dab tiefer-denkende Asiaten, 
indem sie an Hochschulen und Universitaten Eu- 
ropas alle Hilfsmittel des „Komfort$“ und der 
Lebensubermachtigung mit grober Gelehrigkeit 
und Nachahmungsgabe sich aneignen, dennoch 
zuweilen im Innern eine gewisse Mibachtung der 
europaischen „Kultur (< verspuren. Sie fuhlen 
insgeheim heraus, daB alle unsere gewaltigen 
Systeme zuletzt nur Gliickseligkeitslehren ihrer 
Autoren sind, die auf ,befriedigende Weltanschau- 
ung* als auf die Norm menschlichen Griibelns und 
Erkenncns hinschielen. Ihr Wert dient dem Leben, 
ihre Wahrheit der Wirklichkeit, und doch wissen 
wir gar nicht, ob das Leben mit dem Wert, 
die Wirklichkeit mit der Wahrheit notwendig 
in Harmonie stehen mub. Das ist vielleicht nur 
eine ,monisti$che* Uberzeugung, die der alteren 
Weisheit Asiens vollkommen fremd ist*). 

Ein clirwurdiger Freund, Max Schneidewin hat schon 1891 
den hier in Rede stehenden phiiosophischen Gegensatz foU 
gendermaBen formuliert: Der n wissenschaftliche Geist" 
entspricht so reclit der Gesinnung der occi dentalischen 
Volker; der Lust des Einzelnen am geistigen Leben und Be- 
wegung mit dem Wettbewerb der eigenen Beteiligung daran; 
er ist die Luft unserer Universitaten. Der ph ilosoph isch e 
Geist ist daneben ein unveriilg bares Ekdiirfnis der ernstesten 
Vcrnuuft selbst, sofmi sie rein sich sclber folgt, in deni 
groben Carneval keine Rolle bcausprucht und nicht vom 



— Ein seit hundert Jahren bei uns allverbreitetes, 
in Asien aber unbekanntes Schlagwort bemantelt 
fiir Europas denkende, nicht denkende Intelligen- 
zen die Blobe dieses Aberglaubens an Wissen- 
schaft, narnlich das Schlagwort: Forts chritt 

oder Entwicklung! Wo immer es verwendet 
wird, da kommt ein gewisser anschaulicher Mate- 
rialismus der Wcltbetrachtung zum Ausdruck. In 
Deutschland verschuldete die grobe Wirkung He- 
gels (1807), in England der nicht minder mach- 
tige Erfolg Darwins (1839), dab der Begriff „Ent- 
wicklung'* zum Kern des gesamten geistigen 
Lebens wurde. Die Natur wurde seit Darwin, 
die Geschichte seit Hegel mit einem hochst 
naiven Vertrauen so betrachtet, als seien Sinn, 
Wert, Fortschritt, Entwicklung nicht etwa nursinn- 
gebende und logifizierende Ideen, nein! hochst 
gewisse, erfahrungsgemabe Tatsachen dieser 
hochst gewissen, erfahrungsgemaben ,WirkIich- 
keitL Besonders im Englischen wird das Wort 
evolution gleich als ob sich das von selbst ver- 
stunde, immer im Sinne von melioration ge- 
braucht. 

Was nun b e s a g t Das ? — Wenn wir nicht irren, 
be?agt es, dab eine Untermengung von Tatsache 
und Wert, Wirklichkeit und Idee eingetreten 
ist, aus der das europaische Denken nicht her- 
ausfindet. 

Das bemerken wir mit schauderndem Entsetzen 
in diesem Augenblick! 

„Geschichtliche Notwendigke:t u ist das Zauber- 
wort des gegenwartigen Europa ge worden. 

Selbst das Sinnlose, Widersinnige, Verruchte be- 
ginnt fiir Millionen als logisch sanktioniert und 
ethisch gerechtfertigt zu gelten, wofern es ihnen 
nur als ,geschichtlich-not\vendig‘, das heiBt als 
genetisch begriindet eingeredet wird. Und ge- 
rade Europas denkende Seelen, deren ganze Le- 
bensarbeit darin bestehen sollte, die Sphare des 
wertenden Geistes von Vertriibungen durch blofl 
historische „Notwendigkeit u rein zu halten, hul- 
digen diesem Historismus und kapitulieren mit 
einem Schlage vor , Geschichte* und ,Notwendig- 
keit*, wofern nur ihre Geschichte und ihre 
Notwendigkeit in Frage stehen. 

Diese Preisgabe der phiiosophischen Einsicht und 
Wiirde an den Dienst der Wirklichkeit von Natur 
und Geschichte wird von nachhinein nicht nur als 
erzwungene Politik oder praktischer Sinn ent- 
schuldigt, nein! wird geradezu als Pflicht und 
Forderung, sittliche Opfertat und Begeistcrung fiir 
das Ideal in den Himmel erhoben. Immer wieder 
wird historische Veranderung, (die doch zu- 
nachst nie etwas Anderes ist als Funktion der je- 
weiligen Notstande), so hingestellt, als ob 
sie schon eo ipso eine von der Vernunft zu billi- 
gende, vom Gewissen zu bestatigende i d e a 1 e 
Forderung in sich schlosse, (besonders dann, 
wenn die geschichtiichen Veranderungen im Sinn 
der volkstumlichen I nstinkte, der privaten Wun- 
sclic vor sich gehen). — 

R.iusch der mcnschlictiLMi Din^e unmebeit ist. (Das goldene 
Abe der Philosophic, die Ein'eitung zu dem Werke Philo- 
sophic im Umrib von Adolph Steudel). 



451 



DIE AKTION 



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w 



Ich will hier nun keineswegs jeden Begriff ge- 
schichtlichen Fortschritts anzweifeln, j e d e Form 
historischer Entwicklungen leugnen. Ich wiinsche 
auch keineswegs zu bestreiten, daB die sogenann- 
ten .Errungenschaften 4 Europas: Dampfschiffe, 
Eisenbahnen, Telegraphen, Telephone, Luftschiffe, 
Dynamos, Automobile, Lenkbalions; ferner: Par- 
lamente, Konstitutionen, Zeitungen, Universitaten, 
Volksschulen in der Tat dem ganzen Mcnschen- 
geschlechte Outer und Werte ubermitteln. Aber 
es handelt sich hier nicht um wirtschaftlichen und 
politischen, uberhaupt nicht um bloB funktio- 
nellen Wert, dessen Wert immer erst an hand 
einer reineren und unbedingteren Sphare der Giil- 
tigkeit gemessen und bestimmt werden muBte. 
Denn alles Politische, Wirtschaftliche, Historische 
liegt diesseits der Sphare reinen Wertes. Es wird 
in aller Ewigkeit, so lange als Menschen auf der 
Erde leben und was immer auch an diesen Men- 
schen vor sich gehen mag, blofie Funktion ihrer 
Notstande, Notausgang ihrer Verhaltnisse, derb 
gesagt, Index ihrer menschlichen Geschafts- und 
Nutzlichkeitserw'agungen sein. Was aber ist der 
Nutzen alle dieses Nutzens, was der Wert aile 
dieser Werte? 1m praktischen Leben regie rt 
Not! Und was auch immer geschieht, Europas 
internationaler Demokratismus nicht minder, als 
der im Augenblick kurzsichtig und kurzatmig auf- 
gebluhte Nationalismus der Volker, Monarchic 
wie Republik, Anarchie wie Sozialismus, alfes 
muB Funktion der Not bleiben! Alles Qerede von 
GroBe und Heldentum der Zeiten zersch elite 
immer wieder am ehernen Felsen der Not! — 
Wir verachten wahrlich jede Skeptik, jede Vernei- 
nung gegenuber den einzig wichtigen, einzig das 
Leben lebenswert machenden groBen Gewalten 
des Gemutes! Aber zu oft haben wir gesehen, 
daB Meinungen, Bekenntnisse, Uberzeugungen 
ganzer Volker von heut auf morgen sich anpaBten 
an die sogenannte .praktische 4 Oder .historische 
Notwendigkeit 4 (diese Notiiige aller Charakterlo- 
sigkeit, Dummheit, Unselbstandigkeit und Eitel- 
keit der Menschen). Wir haben es erlebt, daB 
die Vertreter der Geldmacht, wie die der Waf- 
fenmacht von heute auf morgen sich in ,Demo- 
kraten* wandelten, ja den radikalsten Sozialismus 
als Trumpf ausspielten, wofern damit fur sie 
,bessere Geschafte 4 zu gewartigen waren. Wir 
haben nicht weniger oft erlebt, daB die unabhan- 
gigsten Anarchisten und Revofutionsmanner in 
Stadt und Land von heute auf morgen sich riick- 
verwandelten zu Hutern von Thron und Altar, 
sobald nur s i e hinter den Altaren zu stehen, s i e 
auf die Thronsitze zu gelangen eine Aussicht 
erhielten. 

Hinter .politischer Geschichte 4 der Volker und 
Staaten je Hoheres, Tieferes je zu suchen, als das 
„Mysterium des Fressens und Gefressenwer- 
dens 4< , das ware eine unverzeihliche Unbesonnen- 
heit und nicht erlaubte Primitivitat fur den, der 
durch das Studium der curopaischen Geschichte 
hindurchging, Auch das hochste, echteste, gott- 
erfullteste Pathos, das aus dem Bestialen: Krieg 
und Revolution, etwas Sittliches zu gestalten 



vermag, konnte uns in dieser Skepsis niemals 
irremachen *). 

Wo denn sind gegenwartig, Herbst 1914, die 
Heroen europaischen Fortschritts? Wo Europas 
Sozialisten? die zur Wahrung des Zwischenvol- 
kischen berufenen Denker und Dichter? die zu 
reinerer Menschlichkeit geborenen Frauen? Wo? 

— O getrost! Alle: Sozialisten, Frauen, Denker 
und Dichter, alle alle werden morgen oder uber- 
morgen wieder die Markte mit Fortschriit, Ent- 
wicklung, Sittlichkeit und Humanitat versorgen, 
wenn keine Gefahr dabei besteht beim Verkauf 
von Sittlichkeit, beim Handel mit Humanitat er- 
wischt und fusilier! zu werden. Dieser ,Fortschritt ( 

— Funktion des Selbsterhaltungs- und Selbstaus- 
heilungswillens — ist keine Besonderheit Eu- 
ropas! Er ist die unvermeidliche Lebenswaffe 
des Menschen, jedes Menschen, so weit er Ver- 
treter seiner Lebensgruppe ist, sei es in Europa, 
sei es in Asien. — 

Aber ein a n d e r er , ungleich tieferer Gegensatz 
tut sich vor uns auf! Das Morgenland traumt und 
atmet in einer Substanz des Lebens, darin der 
Mensch und seine BewuBtseinswelt ein fur alle 
Mai eingesenkt ruht: zeitios und unbedingt! Wir 
dagegen, in Europa, denken auch das, was hin- 

*) Dieses wurde ini Herbst 1914 gesagt 




Anton Pirek 



Der Totenhof 




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I) 









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DIE AKTION 






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t e r der Welt steht, das ,Metaphysische‘, als einen 
„historischen ProzeB“ und somit eigentlich als 
zcitlich. Wir benennen es mit Worten wie 
Weltgeist, Weltwille, WeltbewuBtsein, Energie. 
Immer aber mit Worten, die Tatigkeit und 
somit Wandel in sich schlieBen, als Spiegelbild 
unsrer eignen aktiven, immer arbeitenden, immer 
auf Ziele hinstrebenden Lebendigkeit, Selbst Scho- 
penhauer und Spinoza, die beiden beschau- 
I i c h s t e n Denker Europas, suchen im Weltwesen 
weniger ein zeitlos uberwirkliches S e i n , als zeit- 
lich wirkendes Lebendigsein. 

Nach alledem mochte ts uns bedtinken, als ob 
das Denken des Morgenlandes gleich einem lie- 
benden Weibe vertraulich hingegeben der Natur 
sich ans Herze schmiege, wahrend das BewuBt- 
sein des Abendlanders gespannt und kriegerisch 
ihr gegeniibersteht, immer auf der Lauer, 
herauszufinden, wie die Natur arbeitet, wo* 
durch er ,hinter die Natur kommend', in den 
Stand gesetzt wird, sie nachzubilden. ja sogar 
zu verbessern, was denn freitich aus aller bunten 
Lebendigkeit Europas zuletzt doch nur einen ge- 
spenstigen Golem hervorlockt: die Mas chine, 
die wie das vergeistigte Gespenst des Lebendigen, 
wie ein Vampyr nun das Leben in sich aufsaugt. 



Denn auch unsre bauende und neuschaffende 
Kunst ist wie die Syntese der Chemie eben ,kunst- 
lich‘, auf mechanische Zerlegungen, atomi- 
sierendc Zerstiick el ungen des Lebendigen voran- 
gewiesen. 

Darum begreifen wir nicht die schlichte Anbetung 
der schlichten groBen Symbole von Geburt, Zeu- 
gung, Fruchtbarkeit, Leben und Tod. Und begrei- 
fen nicht, daB das Morgenland als seine groBten 
Menschen solche verehrt, die durchaus gar nichts 
getan, geleistet, geschrieben und gemacht haben, 
sondern gleich Buddha und Laotse nur der Betrach- 
tung des groBen lebendigen Einen mit alien Sinnen 
nachlebten: unbewegt, heilig, wandellos, ohne 
Werk. Wir aber finden unsre Rechtfertigung, ja oft 
unsre Entschuldigung im W i rk e n. Gleichen wir 
nicht dem Vogel StrauB in der Wuste, welcher 
eigentlich von der Natur zum Vogel bestimmt 
ist, mit Fliigeln, die ihn dazu befahigten, leicht 
und frei in Licht und blauem Ather zu leben? 
Er aber hat einen zu schweren, massigen Korper, 
und sobald er sich auf semen Flugeln ein wenig 
erhebt, so zieht ihn alsbald der schwere und 
trage Leib wieder nieder zur gewohnten Erde. 
Da macht er denn aus der Not eine Tugend! 
Weil er nicht als hochster unter den Vogeln 
fliegen kann, so lernt er wenigstens als schnell- 
stes unter den Erdgeschopfen Iaufen. Und dann 
riihmt er sich vor alien Fliegenden: „Seht mich 
an, meine Erfahrung, meine Wissenschaft! Wer 
von Euch kann im Sande der Wuste so schnell 
iaufen wie Ich?“ — 

Gerade darum also, weil wir Mhlen, was wir 
verloren haben, reiten wir Lebensarmeren auf dem 
Begriffe ,, Leben In der jiingsten europaischen 
Philosophic, (ich erinnere nur an den vielzitier- 
ten Begriff der Evolution creatrice), wurden zu 
Lieblingsformeln aller Orakel dieser Zeit Be- 
griffe wie diese: Leben, Lebensphilosophie, un- 
mittelbare Anschauung, adaquate Evidenz, Lebens- 
macht, Lebensgewalt, Intuition des Lebendigen. — 
Und nichts hort man in so vielen Tonarten im 
gegenwartigen Europa wiederhallen, wie das 
widerwariige Lebenspreislied Fichtes: 

, Nichts hat unbedingten Wert und Bedeutung 
als das Leben. Alles iibrige Denken, Dichten, 
Wissen hat nur Wert, insofem es sich auf 
irgendeine Weise auf das Lebendige bezieht, 
von ihm ausgeht Oder in dasselbe zuriickzu iau- 
fen beabsichtigt/ — 

Indem der Europaer solche ,Lebensbekenntnisse* 
spricht, denkt er zweifellos nicht an das asiatische 
br£hm (denn wie sollte Denken, Dichten, Wissen 
uberhaupt es anfangen, aus br&hma je herauszu- 
treten?) nein! er denkt an atma*). Denkt an 
Macht, Gluck, Weltherrschaft, Reichtum, Starke, 
Erdenphilosophie, Menschheitsnutzen. Die Herr- 
lichkeit dieser aktivistischen Philosophic gilt aber 
gerade so lange, als die Erde und auf der Erde 
der M e n s c h dauert. Das geniigt vollkommen 
— dem Europaer- 

*) Die dcutschc Ubcrselzung des Oupnek' hat, nach Anquetil 
Du perrons lateinischer, verdeutscht atman sehr schon als 
N da$ daseinslose Dasein", 



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AUS BAKUNINS BRIEFWECHSEL MIT 
HERZEN. 

4. April 1867. Napoli. 

Vico Bella donna a Chiaja No. 9, 2 piano. 

Lieber Herzen! 

Der Oberbringer dieses Briefes, der beruhmte Ge- 
lehrte und Genfer Professor Claparede, wiinscht 
sehr Deine Bekanntschaft zu machen, and mit 
Vergnugen gebe ich ihm diesen Brief, da ich iiber- 
zeugt bin, daB Du an der Bekanntschaft mit ihm 
viel Vergnugen finden wirst. Er gehort nach 
seinen Gedanken und seiner Richtung zu uns; 
es ist ein klarer Kopf, eine gerade und ehrliche 
Seele. Er ist sehr krank und diese Krankheit 
lahmt oft seine Tatigkeit. Ich wiederhole noch- 
mals, ich bin sicher, daB ihr, Ogarjow und Du, 
mir fur diese Bekanntschaft dankbar sein werdet. 
Du bist in Itaiien gewesen, ich hoffte, daB der 
Wunsch, Dich zu erwarmen, Dich auf einige Tage 
nach Neapei ziehen wurde. Ich ware selbst zu 
Dir nach Florenz gekommen, hatte ich Geld ge- 
habt Doch wie gewohnlich fand sich keins bei 
mir. Die Sonne von Neapei war diesmal nicht 
verlockend genug fur Dich, und mein Wunsch, 
Dich zu sehen, ging nicht in Erfiillung. Vielleicht 
wird es mir gelingen, im Juni oder Juli nach 
Genf zu kommen, wo mir Claparfcde einen Zu- 
fluchtsort bietet. 

Bevor Du diesen Brief erhaltst, werde ich Dir 
7 Franken, den Abonnementsbetrag fur die 
,,Glocke“, schicken. Es heiBt, daB die letzten 
zwei Nummern, die ich nicht zu Gesicht bekam, 
wegen der Korrespondenzen aus RuBIand sehr 
interessant seien. 

Schon geht es jetzt in RuBIand zu! Euer gott- 
gesegneter Schuler*) hat schon tange Nikolai iiber- 
troffen. Obrigens bin ich froh, Ich habe der Re- 
gierung nie irgend welchen Fortschritt zugetraut, 
nie habe ich an den Siaatssozialismus geglaubt. 
Ich bin froh, daB sich Regierung und Staat ent- 
puppen und sich so zeigen, wie sie anders nicht 
sein konnen. Wie stumpf auch das Bewufitsein im 
russischen Volke ist, es wird doch endlich auf* 
wachen; und da es in unserm Staate nichts Or* 
ganisches gibt — alles ist nur Sache der Me- 
chanik — , so wird der Anfang des Zusammen- 
sturzes schwierig sein, aber nichts wird ihn dann 
aufhalten konnen ; das Reich wird in Stucke gehen, 
daran zweifle ich nicht, ich wiinsche nur, daB 
es noch zu unsern Lebzeiten geschieht. 

Was macht Ogarjow? Wie ist seine Gesundheit? 
Schon t er sich genug und ist ein gescheiter Arzt 
um ihn? Ich driicke ihm und Dir die Hand, Na- 
talja Alexejewna meinen ehrerbietigen GruB. Viel- 
leicht wird es mir doch gelingen, euch kiinfti* 
gen Sommer in Genf zu sehen. 

8. April 1867. Napoli. 

Vico Bella donna a Chiaja No. 9, 2 piano 

Lieber Herzen! 

Ich wundere mich, daB Baxt, der mehrmals bei 
uns war. Dir nicht meine Adresse gegeben hat. 
Du darfst wann und wie immer in meinem Namen 

*) Hier ist wohl Alexander II. gemeint. 




Georg Tap pert Port rat 



antworten, ich stelle ihn Dir zur volien Verfii- 
gung. Nur weiB ich nicht, von welchem Artikel 
in der „Gk>cke“ Du sprichst; ich habe keine ein- 
zige Mirznummer der „Gk>cke“ erhalten und 
begann bereits zu denken, daB Du mir fur irgend 
etwas, selbstverstandlich ohne Verschulden 
meinerseits, bose geworden seiest und Tchor- 
zewski ersucht hattest, mir eure Zeitschrift nicht 
mehr zu schicken. Ich war bereits im Begriff, 
euch 7 Franken zu schicken, mit der Bit te, mich als 
Abonnenten zu betrachten. ich bitte Dich, schicke 
mir die beiden Marzhefte und erklare mir, w'orum 
es sich eigentlich handelt. 

Es ist ganz naturlich, daB ich Deinen vorletzten 
Brief nicht erhalten habe, Du hast ihn poste 
restante adressiert und er liegi noch hiibsch ruhig 
auf der Post. Jetzt erst werde ich ihn holen. Wenn 
mir der Angriff verletzend erscheinen sollte, so 
werde ich auBer Deiner Antwort, die ich Dich bitte, 
in meinem Auftrage, aber nicht direkt mit meinem 
Namen unterzeichnet, zu verdffentlichen, selbst 
eine Antwort schreiben, in welcher ich darin mit 
Dir ubereinstimmen werde, daB man in Bezug 
auf solches Vieh keine Skrupel haben soil. 

In etwa zwei Wochen wird Professor Clapar&de 
nach Genf kommen ; er ist ein Genfer, eine zoo- 
logische Beruhmtheit und ein in alien Hinsichten 
vortrefflicher und auBerordentlich kluger Mensch ; 
er teilt alle Hauptpunkte unsres Glaubensbekennt- 
nisses, und man darf sagen, er gehort ganz zu 
uns, nur ist er krank und durch die Krankheit 
matt. Ich bin iiberzeugt, daB ihr, Ogarjow und 
Du, mir fur diese Bekanntschaft sehr dankbar 
sein werdet. Wie geht es Ogarjow? Er soil mir 
auch ein paar Worte schreiben. Freunde, wenn wir 
auch scheinbar verschiedene Wege wandeln, so 
gehen wir doch ein jeder nach bestem Verstande 
ehrlich und unermudlich demselben Ziele zu, — 








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DIE AKTION 



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0 



ich personlich habe nie aufgehort, der Eurige zu 
sein. 

Apropos, habt ihr das Oktoberheft der „Situa- 
zione italiana“ erhalten und gelesen? Ich schicke 
Dir mit gleicher Post das Programm des neuen 
Journals, das bald in Neapcl erscheinen wird. 
Es sollen Dich nur nicht die charlatanhaften Ver- 
sprechungen am Schlusse und die vorsatzliche Aus- 
lassung sozialer Fragen im Programm des Jour- 
nals erschrecken, das hauptsachlich ein soziales 
sein wird. 

Ich driicke Ogarjow die Hand, griiBe ihn sowie 
Natalja Alexejewna und Lisa von mir und meiner 
Frau und erwarte Ant wort. 

Euer 

M. B. 

Ich habe die Nummern 233 -234 und neulich die 
Nummer vom 1. April, von den Zwischennummem 
nur eine erhalten. 

DIE NACHTWANDLERIN 
Man sah sie erst als weifie Taube 
zwischen Fensterflugel geklemmt 
Lieblich mit offnem Haar und Spitzenhemd 
vor Mondlicht schmelzend, reife Traube — 

Oespenst in Phosphor griin, gelahmt, 
aufschwelend ohne Schatten, von den Traufen 
die weiBen Beine spreizen unverschamt — 
kiihn iiber Borde und Gesimse laufen — 

Sie vvuchs hinmagernd lang in kalte 
Wachsarmut einer steifen Kinderpuppe, 
Verkugelt das Gelenk bizarr in Ekstase — 
steigt auf von Schwebcndem gespannte, diinne 

Blase 

und flattert grelle Wirbel Sternschnuppe 
in Finsternis drohnend auf frierende Asphalte. 

Karl Often 

DER LEICHENWAGEN 
Die Sonne 

Verbrennt im Ebenholze; 

Es giiihen Leder und Metall 
Der leblos ziehenden Pferde; . . 

Aus vier Laternen 

Funkelt der Morgen und schwebt 

Fruchtlos neben dem kalten Dochte, 

Springt in das Glas . . und zuriick . . 

Und beflackert die Mitte wie eine Lampe. 

Aus dem Sarge lodert die unwirkliche Sonne. 

In den Augcn des Kutschers vor sich hin 
Dammert ein Ziel . . . 

Hinter ihm ragt eine Hand aus dem Innern: 
Wohin? 

Bin ich wirkliche Erde? 

Alfred IVolfenstein 



DER AM LEBEN STIRBT 
In Herzenskalte eingekerkert, hoffnungsleer 
harr* ich der Stunde, die Vernichtung heiBt. 

Die Sommernacht laBt ihren Regen schwer 
herniederwuchten auf den mildgekampften Geist. 
Schwer wie ein Leichentuch. Wie Gottes Mantel, 

der 

im Sturm die Sterne in den Abgrund reiBt. 

Ich harre, starr, ein Stein. Ach, allzu sehr 
ist mein Gemiit verwittert und vergreist. 

Mit keinem Wesen weiB ich mir ein Wort, 
mit keinem Ding ein Dach gemeinsam mir. 
Sehnsucht erblindete und Demut ist verdorrt. 
Kommt ihr zu meiner Mutter, kiindet ihr: 

Er will nicht, daB es ihn auch nur im Traum noch 

gibt! 

Er will nichts, als den Henker, der ihn weder 

haBt, noch liebt! 

Max Herrmann 

SOMMERGANG 

Des reifen Sommers Starke war im Ruch 
der Baume, Graser und im sanften Blatt. 

Ganz ausgeloscht war jede Qual der Stadt, 
der Staub, der Werktag, das Gelarm, der Zug, 
der Gierigen. Und wie ein Bilderbuch 
fiir Kinder nichts als Wort und Farben hat 
und keinen Sinn, ward Melodie die Tat, 
um die ein junger Wind die Laute schlug. 

Des Landes Weite und der Acker Kraft, 
der hellen Dorfer hingegebene Rub', 
die diinnen Straucher und der groBe Blick 
iiber der Berge hei&e Leidenschaft 
kam und verschwand. Verwirrt erinnerst du, 
Sonntag, der Waldrand und ein dunkles Gluck. 

Kurd Adler 

FRAGE 

Kannst Du denn 
Der Sonne rufen: 

Hore Sonne, 

Bleibe stehen, 

DaB am Himmel 
Du nicht wan deist, 

Auf die Erde 
Du nicht leuchtest. 

Tritt ans Ufer, 

Schau das Meer; 

Kannst Du es denn 
Irgend zwingen, 

DaB das Wasser drin 
Erkalte, 

DaB es hart, 

Zu Stein gefriere? 

Und mit welcher 
Reckenhaften 
Kraft vermagst Du 
Diesen Erdball 
Aufzuhalten, 



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Seine Kreisbahn 
Und sein Drehen ? 

Ach wie kann ich 
Auf der Welt denn, 

Die bewegt ist, 

Wunschlos bleiben! 

Und was tun mil 
Wikfem Wollen, 
Sundigem Sinnen, 
Leidenschaft ? 

Denn in diese 
Erdenscholle 
Pflanzte Himmels- 
Kraft das Leben, 

Und es lebt darin 
Als Konig. 

Von der Wiege 
Bis zum Qrabe 
Streiten, kampfen 
Geist und Erde: 

Erde straubt sich 
Gegen Dienen 
Und vermag sich 
Nicht zu freien; 

Doch zuwider 
Ist dem Geiste, 

Sich der Scholle 
Zu vermahlen. 

ist viel Zeit 
Bereits v erf lessen ? 

Soli viel weitere 
Noch vergehen? 

Wann wird jener 
Kampf sich enden? 

Wer wird siegen? 

Gott mags wissen. 

Dieser Mare 
SchluB bleibt dunkel, 

Und mein Haupt 
Hat den Verstand nicht, 
Gottes Taten 
Zu durchschauen. 

Hinterm Grabe 
Schweigt die Rede, 
Ewiges Finster 
Deckt die Feme. 

Werd ich leben 
Tief im Meere, 

Werd ich sein 
Im fernen Himmel, 
Friiherer Statte 
Mich entsinnen, 

Was als Mensch ich 
Einstmals dachte, 

Oder alles 
Dort vergessen 
Ohne Sinn, 

Ohne Gedachtnis? 

Was wird dann 
Mit mir geschehen, 
Weltenschopfer, 

Herr der Natur? 

Alexei Kolzow 





Lothar Homey er Original- Holzschnitt 




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DER LYRIKER WILHELM KLEMjM 
Von Kurt Pin thus 
(Aus eincm Brief) 

. . . Da Sie, lieber Freund, im Bauch des Krieges 
eingehohlt, mich bitten, Ihnen einen Dichter zu 
nenneti, der nicht kleine Liiste und Leiden wort- 
reich Ihnen beichtet, noch Natur- und Stadte- 
stimmungen genieBerisch schildert, sondern der 
Sie von Larm und Wirrnis dieses gepeinigten 
Planctcn radikal erlose, — so antworte ich: 
Wilhelm Klemm scheint auf Erden zu sein, um 
fur Sie zu dichten. Nach grotesk-gewaltsamen 
Aufschwungen entfaltete sich rasch in edler Reife 
sein groBes Talent zu Phantasieen, die jenen dehn- 
baren, die menschlichen Ausdrucksmoglichkciten 
fassenden Seidenpapierballon zentrifugal zer- 
sprengten. 

Wilhelm Klemm verlaBt die irdisehe Landschaft 
und die aus Sinneseindriicken und Wirklichkeits- 
erlebnissen sich ergebenden Inhalte unsres Be- 
wuBtseins; sein Geist gebiert einen neuen Kos- 
mos, in deni Dimensioned Naturgesetze und Kau- 
salnexus nicht vorhanden sind. Tausend neue lyri- 
schc Mittel schaffend, vertausendfacht er die lyri- 
sche Wirkung, Der Kreis seiner Vorstellungen 
hat den Radius unendlich, und der Dichter bewegt 
sich in der flieBenden Unendlichkeit dieses Kos- 
mos mit derselben selbstverstandlichen Sicherheit, 
mit wclcher der Burger Wohnstube und heimat* 
liches Waldchen durchschreitet. 

Man mag ihn einen kosmischen Dichter nennen, 
aber er unterscheidet sich von dem, was gemein- 
hin als kosmischer Dichter auftritt, weil er nicht 
Sonnen, Sterne und unverstellbare AusmaBe um 
sich streut, und so menschliche Sehnsuchtsgefiihle 
schwatzerisch - hymnisch und betriigerisch ver- 
sclnvimmen lafit, sondern er laGt vage BewuBt- 
seinsdammerungcn zu klarst anschaubaren, sach- 
lich prazisierten Vorstellungen aufwachsen. 
Manche einzelne Zeile seiner Gesange ist ein Ge- 
dicht fiir sich . . . Millionen dieser schimmern- 
den Verse scheinen im Dichter zu ruhen, und jede 
leise Bewegung fugt sie fast automatisch zu neuen 
Gebilden zusammen wie des Kaleidoskops bunte 
Steinc. 

Doch nicht wird die phantastische Vision um ihrer 
selbst willen geformt. Sondern: der Menschen 
Aneinander - Gebundensein ist nun gelost, die 
schweifenden Gefiihle, die unsere Urspriinge um* 
kreisen und zu geahnten Ziclen streben, die Ab- 
straktheiten, die ungreifbar unsern Geist durch- 
flatterii, werden als schimmernde Realitat und als 
rcvolutionierendes Ereignis in unser BewuBtsein 
geriickt, wie sonst nur schwindende Traume uns 
fiir Augenblicke bcgliicken. 

Anders sind seine Kriegsgedichte: Da reiht er in 
monotoner Folge kurz konstatierend Tatsachen 
des Elends aneinander, sodaB dieser stets dunkle 
Tropfenfall unsre Herzen zerweicht und zermurbt. 
Wertvoller ist seine Lyrik, von der ich bisher 
sprach. Wie das Gefiihj von seiner iiblichen Aus- 
drucksform, so wird hier die Erscheimmg von 
ihrem Umrifi befreit, sie „vcrsinkt in den Abgrund 



ihrer Moglichkeit 4 ', sie verliert ihre Grenzen, dehnt 
sich traumerisch ins Unendliche Oder rollt sich 
zusammen zu mikroskopisch - deutlicher Konzen- 
triertheiL Der Mensch ragt himmelhoch durch 
den Raum und ,,ganze Welten fallen in den 
Furchen seiner Gewander hinab“. Titanische 
Verfluchungen losen sich zum siiBen Abendlied. 
Aus dem Getiimmel und uberirdischen Ver- 
knupfungen visionarer Landschaften und phan- 
tastischer Wesen aber strahlt uns das Auge einer 
milden Weisheit an, die wciB, daB unsere groBten 
Wunder sind: eine geheimnisvolle Liebe, halb 
Weib, halb Stern und im Dickicht der Ratsel die 
Hoffnung. Aus den magischen Wanderungen und 
dem Getose der Geburten tont das milde Gelaut 
einer fast melancholischen Erkenntnis. Ein gei- 
stiges Herz befreit sich von seiner Irdischkeit 
und tut so das Seinige zur Erlosung des Menschen. 
Diese Gedichte sind nicht kurzatmig hysterisch 
hervorgestoBen, nicht zerflieBen sie unplastisch 
in der Art der kosmischen Stammler, nicht zeigen 
sie die gehammerte Starrheit Heymscher Visio- 
nen, sondern fiber ihnen schimmert der feierliche 
Stern Holderlins, antiker Form sich nahernd ent- 
stromt ihre ruhige Rhythmik einer gelassenen 
Hand. Nicht drohnen eherne Akzente in unsere 
Ohren, sondern ihre kaum betonten Hebungen er- 
zeugen jenes Gleiten, das es unserm Geist leicht 
macht, ins Unendliche zu schweifen. 

Lieber Freund, der Sie jetzt dort stehen, wo ein 
paar Quadratmeter der armen Erde wert gehalten 
werden, daB um deren (vermeintlichen) Besitz erst 
Dutzende dort faulen miissen, Ihnen wird Wilhelm 
Klemms Lyrik wieder die Allmacht des mensch- 
lichen Geistes offenbaren, der, da ihm die Erde 
geraubt ist, eine Welt sich schafft, in der jene 
Erde nur ein schwebender Punkt, die Erd- 
Geschichte ein fliehender Gedanke ist, die aber 
von der grenzenlosen Bewegung der Gestaltungen 
eben dieses Geistes in Ewigkeit erdonnert und 
leuchtet. 

(Wilhelm Klemms Verse sind als Band 4 der Sammlung 
DIE AKTIONSLYRIK erschienen; das Buch kostet M. 3,—) 

MAX HERRMANN 

Er ist der grime Heinrich, und alle glauben es, 
wenn ich das sage. , t O ja, er ist der grune 
Heinrich. a Seine Augen sind griin, sein Haar 
ein geschorener griiner Wiesenfleck; seine Ei- 
dechsennase — immer schlangelt sie sich. Und 
sein griiner Primancrmund schwellt noch an vor 
Erwartung. Und seine Seele ist griin und tief, 
ein heller Schilfieich, man kann daraus Schach- 
telhalme, Leuchtkafer, Jesusblumen und gespren- 
kelte Blatter fiirs Herbarium sammeln. In seinem 
Dachzimmer, ich nehme an, er wolint mit seinem 
Lenlein schrag unterm Hutrand des Hauses, leben 
sicher viel Kreaturen in Glasern, Kroten, Fische, 
Quabben — und in Spiritus die Paradiesschlange 
zu sehen! Und noch lauter GroBknabendinge. Len- 
lein, die Griinheinrichfrau ist eigentlich ein Heili- 
genmadchen, betet den griinen Heinrich an. Der 
ist ganz klein, tragt einen Hiigel auf dem Riicken, 
so daB man ihn erst, wenn man mit ihm redeti 





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will, besteigen muB und es viel schwieriger fallt, 
zu ihm zu gelangen wie zu Menschen, die all- 
taglich in die Hohe, manche nach unten, auf- 
geschossen sind. Grunheinrichs Mutter hat gerne 
Marchen gelesen, und ihr Sohn kam in ihrer 
Traumwelt zur Welt; ihre Augen mogen wie 
bei Kindern groB geglanzt haben, als auf ein- 
mal der griine Heinrich in ihren Handen lag mit 
einem Stern in der Schlafe, wie ihn nur Dichtern 
von Gott selbst verliehen wird. Der griine Hein- 
rich ist ein Dichter, und seine Gedichte sindgrofle 
pietatvolle Wanduhren, schlagen herrlich, wenn 
er sie vortragt. 

Else Lasher -Schuler 



ZWEI TRAUME 
Fan Hans Koch 
1 

Als Turmwachter saB ich zwischen zerschlissenen 
Dielen und morsehem Gebalk. Femhin im Land 
hoben die Schachte sich schwarz wie Sarge, die 
Schlote schnitten dicht und schlank in den gelben 
Horizont, und von den Essen warf sich immer 
wieder rot ein Schein in den schwalenden Abend, 
Leuchtend stand in rundlichen Tupfen bliihender 
Pfirsich im dunkelnden Land. 

Am hjimmelsrand aber stand aufgerichtet eine 
steile, braune Riesenwolke, die Sternlein sprangen 
funkelnd auf in schauervoller Tiefe des Blaus, 
aus den StraBen, von den Platzen der wirren 
Vorstadt drang machtvol! und dunke! der 
Hymnengesang feiernder Arbeitermassen, als sei 
er gekommen: Der neue Gott. 

Da ward meine armselige Turmkammer von 
weiBem Lichte erfullt, und ein krauskopfig Eng- 
lein mit Hemdchen und Stutzfliigeln sprach also: 
Hosiannah, die Mutter Gottes hat wieder der 
Storch ins Bein gebissen! 



II 

Full te der Tag mit seinem matten Schimmer 
mein Zimmerlein, dann sah ich wohl die schwar- 
zen Fliegen unter dem Lampenhang der hohen 
Decke kreiseln. Sie waren meine stummen 
Freunde, denn sie kamen zutraulich nieder- 
geflogen, kletterten iiber mein Gesicht, ruhten 
aus auf meinen Handriicken, darauf die dunkeln 
Haare wie Kellerpflanzen wucherten. 

War Nacht, dann lag ich wach bei mir allein, 
ohne bunte Erinnerungen, ohne Wunsch und 
Sorge. Nur wenn der Mond sein kreidiges Licht 
iiber die Tapete fiihrte, schreckten Fratzen in 
meine leere Seele. 

Ich lag geduldig in meinem Bett, Riicklings, 
wenngleich mich Kreuz und Fersen schmerzten. 
Da sie durchgelegen waren, muBten sie mich 
schmerzen, ich fiihlte es langst. Aber der Schmerz 
war stumpf und stetig. 

Und wiederum hatten zur Nacht die Stunden der 
Turmuhren wie eine frostelnde Schildwacht ihre 
Rundgange abgetan, das Zwielicht der Friihe hing 
gleich Spinnweben in den Ecken, da stand ein 
Besuch neben mir im Zimmer. Es war ein alter, 
langstverschollener Schulkamerad aus der Prima 
von damals. Der fliigellahme Kneifer wippte vor 
seinem schiefen Blicke, die oligen Haarstrahnen 
warfen das harte Licht des Morgens in blinden 
Spiegeln her, der unruhig steigende Gurgelknopf 
tat, als ob es eine Riihrung niederzuhalten galte. 
Aus einer BegriiBung machte er weiters keine 
Umstande, der Besuch. Er kramte kopfhangerisch 
eine Wachstuchmappe aus und legte mir vorsichtig 
ein Dutzend Puppen auf das Federbett: paus- 
backige, runde Dinger in buntem Putz, kleine 
Madels in kurzen Kleidchen, grofle Damen in ge- 
bauschter Seide, fesche Ammen und Kinder in 
leinenduftigen Steckkissen. 

So mtihsam es mir wird: ich stiitzte mich in den 
Ellbogen auf, meine hagern Finger fahren aus, 
talpern iiber die porzellanenen Glieder. Und kh 
drehe die blonden Kopfchen rundum, zerre an 
Hiiteu und Miedern und wiihle hastig unter die 
steifen, knisternden Rockchen alle . . . 

Die Krankenschwester ist unversehens herein- 
gekommen und packt wiitend Beine, Bander, 
Zdpfe und Hoschen in ihre geraffte Schiirze, und 
ihre rasselnde Stimme sagt mir, der Priester kame 
sogleich mit dem heiligen Ole. 

Dann drikkte sie mich zuriick in die hohen Kissen. 
Und wie ich gequalt und einsam auf dem Hinter- 
kopf liege, brach iiber eins das Begreifen in mir 
auf, daB ich ein alter, abgelebter Mann geworden 
war. 

Und da ich weinen mochte, konnte ich's nicht 
mehr. 





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465 



DIE AKTION 






WH* 



iCH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS 
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Litton Sang, 



KLEINER BRIEFKASTEN 

Freunde, die neue Fried eoskundgebung des Pepstes (die sich, 
in ihrem Hsuptleil, wcnig unterscbeidet von jeaer Friedens- 
re solution der ^Unabhlngigen*, die der deutsche Reichstag ab* 
gelehnt hat) gibt jetzt der tf Parlametitsmehrheit w Gelegenheit, 
den Sinn der „historischen EntschlieOung" vom 19, Juli 1917 
zu enthUllen. Nach den Presses! i inmen, die bis heute, den 19. 8., 
zu hbren sind, dllrfen wir asf allerlei gefafit sein. „ Wir kommen 
aus den FriedenserOrterungen nicht heraus“ , stdhnt der „ Deut- 
sche Kuricr* (17. 8.); die „Po*t w fUrchtet n unnatiouale Einflttsse 
in die deutsche Politik“ (17. 8.); die Kundgebung sei n keioe 
ktrchliche, sondem eine politische Hand lung* klingt's im Chore. 
GewiS isi der Friedensvorschlag des Papsles ein politischer 
Akt und kein Gebet. Andernfalls wiirde sich der Statthalter 
Christi nie zu dem Satz entschlossen haben: 

„Alle Welt erkennt ja an, dafi die Waffen- 

ehre sowohl auf der einen wie auf der andcrn 

Seite unverletzt lst. u 

Dteaer Satz bedeutet eine Konsession an alle K r i e g ftlhrenden 
und an den Krieg an sick. Vielleicht ist er wirkungivoller 
als Gebete ? 



bet dbtiitu* ber Oberammergauet 
gjaniansfniele, als feibgrauer £anb* 
ftutmnumn bei cittern batjerifdjen 
Sifenba^nbotailUm. 

Berl. IU.-Ges. 

Aus der n Deu tsch en Illustrierten Zcituvg u f Berlin , 
10. Jahrg. Nr. 42. 

„£}&s Selbstbestimmungsrecht der Volker*, sngewandl auf Elsa 6- 
Lothringen, ktinme doch nur besagen, dafi das deutsche Volk 
selber bestimmen soil, ob ElsaO-Lothringen nach wie vor betm 
Reiche bleiben soil oder nicht. Man lasse also die 65 Miilio- 
nen des deutschen Volkes einschliefilich Elsafl* Lothringen 
dartlber abslimmen.* 

Nicht aus finer Bierzeifung, sondem aus dem Leit- 
artikel der in Berlin erscheincnden grope n n Qlocke <{ 
des Far vu 8 vom 11. August 1917. Verfasser: 
Herr Paul Lensch t Doktor der Staatswissenschaften 
tmti noch Beichstagsmitglied ( durch Verlangerung 
der Leqislaturperiode). Herr Lensch hat das Ru- 
manistische Gymnasium in Potsdam und die Uni- 
versitdten in Berlin und Strapburg besucht. Geb . 
den 31. III. 1873 zu Potsdam , diente er 1893} 96 
betm 4 . Gardertgiment zu Fup in Berlin. Lebt 
in Neubabelsberg. 

Wir wollen die Frage nicht untersuchen, ob wir die Regierung 
des Zaren and die franzbsischen Chauvinisten als die Yertreter 
eines reinen Gerechtigkeitideals betrachten konnten . . . Aber 
beilSt es nicht das erste Gesetz des Lebens verneinen, wenn 
man von einem Volke verlangt, es solle das Gerechti gkeits- 
geftshl liber den Selbsterhaltungstrieb slelien? Es 
sollte die Niederlage der eigeneri Armeen und das Eindrtngen 
der feindlichen in das eigene Land begrtifien, weil damit einem 
vcrmcinttichen Oder wirklichen Recht Gentige getan ist ? . . . 
Der Friede wird kommen, wenn die Annexionisten tiler Linder 
so besiegt sein werden, wie es die deutschen schon heute 

„ Vorwdrts u f 31. Juli 1917, Leitartikel „3LJuW\ 
Die Unterstreichungen sittd von mir t das Ausru- 
fungszeichen hinter tt sind“ ist zitiert. 

Hoffentlich gibt es in Deutschland keinen einzigen ernslbaflen 
Menschen mehr, der damn denkt, nach dem Kriege Belgien 
wicderherzustellen, wie es vor dem Kriege war. 

Wenn es dort einen andersdenkenden Politiker gibe, so wire 
kein Stein schwer genug, uni ihn an seinen Hals zu binden, 
und kein Meer tief genug. um ihn darein ?u werfen. 

Das frtihere Belgien wiederhemistetien, wire fttr Deutschland 
dasselbe, wie wenn es sich zum Scherz einen Krebs aufs Herz 
impfte. So darf diese Voraussetzung ohne weiteres und end- 
gtiltig ala abgetan gelten. 

Das Schwert hat, Gott und Deutschland sei Dank, Flandern 
von Wallonien gelrennt ; der Diplomutenspeichel wird sie nicht 
w'icder aneinander kleben konnen. 

Leitartikel dcs m Deutscher Knrier", Berliner Ta yes- 
organ der laid Vorwarts ver nicht rtf n Anna iontstev , 

vom ?. August 1917. 



Nina. In der „Voss. Ztg", Morgen-Ausgabe, 21. 
1917, wird an leitender S telle uber „Dreistundige 
ratungen" (so ist die amtliche Meldung von der K< 
tion uberschrieben worden) u. a. benchtet : 




ak- 



„Zum ersten Male traf der Kaiser auch mit 
sozialdemokratischen Abgeordneten als offi- 
ziellen Vertretern der sozialdemokratischen 
Par lei zusammen. Von der sozialdemokrati- 
sehen Fraktion waren nimlich die Abgg. 
Scheidemann, Ebert, Dr. David, Dr. Suae- 
kum und Molkenbuhr erschienen. Dr. SQde- 
kum trug Leutnantsuniform. Die 
iibrigen Herren hat ten zum Teil Gehrock, 
zum Teil Straftenanzug angelegt. 

Die Unterhaltung zwischen aem Kaiser und 
den Erschienenen war sehr angeregt. Sie 
beruhrte alle schwebenden Fragen." 

Die Beratung beruhrte ,,alle schwebenden Fragen". In 
der aus demselben Ullsteinbetrieb stammenden „B. Z. 
am Mittag" wird, einige Stunden spa ter, widersprochen : 



„Die gestrige Begegnung des Kaisers mit 
den Fiihrern der Reichsiagsfraktionen wird 
von alien Beteiligten als ein sehr erfreu- 
liches Ereignis bezeichnet, obwohl, wie uber- 
einstimmend mitgeteilt wird, ihm eine 
B e d e u t u n g fur die schwebenden p o I i- 
t i s c h e n Fragen nicht zukommt Seine 
Wirkung soli und wird sich nur altgemein 
auf die kunftigen Bezi eh ungen zwischen 
Regierung und Par lament erstrecken. Es war, 
nach der Meinung der Abgeordneten, eine 
schdne politische Oeste des Kaisers." 



Der Sat2 korrigiert, scheint mir, die „ubereinstimmenderT‘ 
Mitteilungen wesentlich. Ober die Kleidung ist die , r B. 
Z." anderer Ansicht als die „Voss.''. Zwar oestStigt sich : 



„das MitgUed der sozialdemokratischen Frak- 
tion Dr, Sudekum, der die Leutnantsuni- 
form mit dem Eisernen Kreuz trug . . 



Dann jedoch erfahren wir: 

,,Die anderen Abgeordneten waren im Oeh- 
rock erschienen." 



Herr Scheidemann hatte mithin nicht zum Teil Geh- 
rock, zum Teil StraBenanzug angelegt. Die ( ,B. Z." be- 
halte das Wort: 



„Die Eingeladenen stellten sich im Saale 
nebeneinander auf, dem Eingang zunachst 
das Reichstagsprasidium, dann die Abgeord- 
neten von Westarp bis Trampczynski, dann 
die Staatssekretare, Minister und Bundesrats- 
mitglieder. Staatssekretar Dr. Hetfferich stellte 
die Abgeordneten fraktionsweise vor, und 
schon Dei dieser ersten BegruBung ent- 
wirkelfe sich zwischen dem Kaiser und den 



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467 



DIE AKTION 



468 



Vorgestellten ein tebhaftes Oesprach. 

Nach der Vorstellung entwickelte sicn eine 
zwanglose Unterhaltung. 

Die Ereignisse der ietzten Tage, cbenso die 
alle politischen Kreise unmittelbar beschatti- 
genden Eragen wurden nicht b e r ii h r t , 
wohl aber bewegte sie sLch um Angelegen- 
heiten und Ereignisse des K r i e - 
ges... Mit den sozialdemokratischen Ab- 
geordneten sprach der Kaiser iiber Stock- 
Holm. 

Die politische Bedeutung der Begegnung 
zwiscnen dem Kaiser und den Abgeordneten 
wird uns aus parlamentarischen Kreisen da- 
hin gekennzeicnnet, dad sozusagen die ge- 
se llschaf 1 1 iche Par la m e n ta r is i e - 
rung begonnen habe, der nun die poli- 
tische folgen kann. 

Des Kaisers erstes Oesprach mit Scheidernann 
wird, so hofft man, eine gute Briicke ge- 
schlagen haben. Die Offenheit, mit der 
Kaiser und Abgeordnete miteinander spre- 
chen konnten, kann nur gut gewirkt haben, 
mag auch das Gesprach selbst die schwe- 
benden innerpolitischen Eragen nicht 
zum Gegenstande gehabt haben. 

Fur den neuen Reichskanzler bedeutet die 
Unterhaltung dcs Kaisers mit den Abgeord- 
neten eine grofle Unterstutzung des Pro- 
gram ms und nach auBen hin bezeugt sie 
vor aller Welt erneut die innere Geschlosscn- 
heit des deutschen Volkes. Nicht zuletzt ist 
mit dieser Begegnung ein von politischen 
Kreisen seit langem gehegter Wunsch er- 
fullt worden, die von einer freien Aus- 
sprache zwischen dem Kaiser und den 
Abgeordneten eine klarende und alle 
Teile befriedigende Wirkung erwartet haben. 

Es war ein gesellschaftlich politischer 
Akt, dessen Bedeutung in Abgeord- 
neten kreisen sehr hoch eingeschatzt wird." 

Ich beschaftige mich jetzt nicht mit Politik und bin 
bloB durch die Beteuerung des Reporters, es set eine 
unpolitische Angelegenheit, zur Lektiire veranlaBt worden. 
Jetit schwanke ich: soli ich dem Anfang des Benefits 
glauben? Oder dem Schlufl? Erst versichert man mir 
,,Qbereinstimmend", dem erfreuiichen Ereignis sei „eine 
Bedeutung fur die schwebenden politischen Eragen n i c h t u 
beizumessen. (Da von bin ich ohnehin fest uberzeugt 
gewesen.) Aber dann wieder war es ,,ein gesellschaftlich 
politischer Akt, dessen Bedeutung in Abgeord- 
netenkreisen sehr hoch eingeschatzt wird". Erst: ,,Die 
alle politischen Kreise unmittelbar beschaftigenden Era- 
gen wurden nicht beruhrt". Dann endet der Satz: 
„wohl aber Angelegenheiten und Ereignisse des Krie- 
ges". Gehoren diese Dinge nicht zu den ,,alle politi- 
schen Kreise unmittelbar beschaftigenden Eragen"? Und: 

, .Stockholm"; auch nicht? ,,GroBe Unterstutzung des 
Program ms" des neuen Kanzlers. Dann ware doch uber 
dieses Programm ein Wortchen zu reden gewesen! Der 
Herr Reporter konstatiert eine ,,klarende und alle Teile 
befriedigende Wirkung". Mir ist alles ungeklart ge- 
blieben. 



Torn. Ich weiti nicht, welche der verschiedenen Sozinlisten- 
parieicn PcuischUnds Sie meinen. Es gihi die „Mehrheits“* 
gruppe Scheidernann, die sich in siebcnuruldreiGig verschiedcne 
Kichtungen bewegt ; es gibt die Un.’ibhringigen ; die tiruppe 
p Spartakus" ; die itnaginiiren InternalioiialisLeii-Sozi.tlisteo (Herr 
Horchardt); die von Herrn Kadek lilr Bremen- Hamburg prujek 
tierte Parte i ; es gibt die A. S. P. (aktivc Sozialtsten Partei), die 
jetrt ihren Partcitag abhahen soli. Also welche? 

An die Mit-Arbeiter und Frcunde. Wohin die „Einheit u fuhrt, 
wenn sie auf Kristen der Keinheit aufrechterhalien bleibt: die 
deutsche Sozialdcmokratie zeigte es. Es soil und darf nur 
Huben oder Drllbcn geben I Wer eine Gemeinschaft fiir tnbg- 
lich halt mit den Leonhard, Mtihsain, Hiller, Klabund usw, (eine 
ausflihrliche l.iste wird folgen), der bleibe freundlichst der 

AKTION fern! 



O, U. Heinrich Mann, den ich bisher zu meinen Mitarbeitern 
z£hlte, ist Mitglied der „ Deutschen Gesellschaft 1914“ gc worden ; 
er selbst hat es mir bestatigt, als ich danach fragte. 

K, Z. Franz Bleis Brief liber Herrn Dr. Max Scheler hat die 
^Frankfurter Zeitung - den 20. Juli gedruckt. Da Ihnen (und 
vielen) die niedliche AfTare unbekannt geblieben ist, will ich 
die Behauptungen des Philosophen und Franz Bleis Erwiderung 
im nachsten Hett veroffenilichen. 

L. R, Alexander Moissis „Offcner Brief* 4 ist in der „B. Z. ant 
Miitag* 4 erschienen ; ich besitze das Exemplar der Zeitung. 

Liebcr Leser, in das Zentralorgan scheint der durch den Frei- 
herrn von Stumm charakterisierte berlihmte Redaklcur der „Post** 
eingetreten zu sein. Die Stampfer politik wird schbner mil 
jedem Tag: 

„Die „Tagliche Rundschau** erinnert daran, dali der neue Liiter- 
staatssekretar seinerzeit als Redakleur der sozialdemokratischen 
Magdeburger „ Volksstimine** wegen Majestatsbeleidigung verur- 
teilt wurde. Das ist richtig, . . 

Der Magdeburger MajestStsheleidigungsprozeli gehurl zu grauen- 
haftesten Blattern aus der Geschichle der deutschen Sozinlisten- 
verfolgung. Dam als, obgleich das Sozialistengesetz schon 
aufgehoben war, stand noth jeder aktive Sozialdemokrat itnler 
einem tatsachlichen Ausnahmezustand und mit einem Fufi im 
Cefangnis. Trotzdem nun die Ernennung eines ..vorbestraften* 4 
sozialdemokratischen Rertakteurs zmn I’nterstaatssekretar erfolgt 
ist, bleibt noch viel zu tun, um Deutschland zu einem Land 
wirklicher Gesinnungsfreiheit zu machen,‘* 

Am dem Lcitartikel „/>(> neue Rtyientng und die 
Parteien*\ 7 t S. 1917 

Ich verraag da ntchL mehr auszuweichen, Freunde : ich inuG 
eine besondere Ecke einrichten : 




H. G. Der sechste Band der Sammlung AKTIONS-BOCHER 
DER AETERNE STEN , Charles P6guy, Aufsatze, wird 
bald erscheinen, auch Theodor Lessings Werk n Europa und 
Asien 11 wird schnell fertiggestellt werden. Im Druck: Heinrich 
Schaefers Roman „Gefangenschaft u und Kurd Adlers Gedichte. 

S. F. NatUrlich erhahen neu hinzutretende Biittenabonnenten 
slmtliche Kunstbeilagen nachgeliefcn. 



INHALT DERVORIGEN NUMMER: Otto Freundlich : Holzschnitt (Titelblatt) / Heinrich Stadelmann-Ringcn : Vorspiel; Rede 
des Kulturministers bei Eroffnung der neuen Universitat / Raoul Hausmann : Noti 2 und Federzeiehmmg / Aus Bakunins Bt iefwechsel 
mit Alexander Herzen / Rudolf Mense: Tuschzeichnung / Vlastislav Hofman (Prag): Dostojewskij (Holzschnitt) , Karel Hlavacck: 
Aus der Kantilene der Rache / A. Krapp: Der Dichter Ludwig Baumer (Holzschnitt) / Ludwig Haunter, Oscar Schiirer, Wilhelm 
Klemm, Eranz Lindstaedt und Rudolf Mense: Verse vom Schlachtfelde ! Claire Stnder (Lausanne): Gefalltuter Sohn / Eranz 
fiiei : Die Hande Gottes / Alfred Wolfensteiu: Die Stirn / Josef Eberz: Aktstudie / [wan (loll: Das Fensier . Felix Muller: 
Portrat / Jurgen von der Wense: Stemblaue Wimper / Anna Maria Martin (Zurich): Die Mode und der Biirger / Christian 
Schad (Genfj: Cabaretl (Holzschnitt) / Xaver: Caligula hat regiert / Otto Boyer: Original-Hol/sdinitt / E. P. : fch schneidc 
die Zeit aus; Kleiner Briefkasten / Kunstbeilage fur die Biittenabonnenten: Max Oppenheimer : Original-Holzschnitl 



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Fur Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten 
Inhalt verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin- Wil- 
mersdorf, Nassauische S trade 17. Tel. Pfalzbg. 1695. 
Oedruckt bei F. E. Haag, Melle in Hannover. 
Die AKTION erscheint jeden SonnabendL Abonne- 
ments kosten vierteljahrlich durch die Post, durch 
Buchhandel Oder Verlag (unter Kreuzb.) M. 2,50. 
Abonnements fur das Ausiand kosten M. 3, — . 
Buttenausg., lOOnumerierte Exempt., jahrl.M. 40,—. 
Verlag der AKTION, Berlin-Wilm ersdorf. 

Unverlangten Manuskripten 
ist Ruckporto beizuftigen. 

AUe Rechte vorbehalten. 




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WOCHENSCHRIFT FUR POUTIK, UTERATUR, KUNST 
Til. JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT NR. |g 

INHALT: Beye: Portrat eines Mantles (Titelblatt) / Charles Peguy: Das Elend / Strohmeyer; Zwei Holzschnitte / Ulrich 
Steindorff: Heilige Nacht / Iwan Goll: Meeting der funften Klasse / Christian Schad: Origin at- Holzschnitt / Jurgen von der 
Wense: Expansion f Heinrich Schaefer: Stimme / Libero Altomare: Die Hauser sprechen / Arthur Segal: Onjinal-Holzschnitt / 
Claire Studer: Sonntag / Karl Oiten: Erinnem an Skutari / Mense: Federzeichnung / Albert Ehrenstein: Tiefe Nacht / Paul 
Hatvani: Fluch / Carl Figdor: Die Tochter Sauls / Alfred Wolfenstein: Begegnung / Max Pulver: Tatniana / F, X. Saida: 
Eine Novelle / Josef Eberz: Aktstudie / Otto Balsam: Amazonen / Xaver: Wer hat Caligula umgebracht? / F. W. Seiwert: 
Original -Holzschnitt / Carl Einstein: Brief / Raoul Hausmann: Originai-Holzschnitt / Pol Michels: Ueber ein Buch / 
F. P. : Ich schneide die Zeit aus; Kleiner Briefkasten / Beilage fur die Buttenausgabe : Originai-Holzschnitt von Ines Wetzel 




VERLAG > DIE AKTION ' BERLIN -WILNIERSDORF 

HEFT 50 PFG. 



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Band 


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4: 










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WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITE R ATU R, KUNST 

7 .JAHRGANG HERAUSGEQEBEN VON FRANZ PFEMFERT s. sept. 1917 



DAS ELEND 

Von Charles Peguy 

Man verwechselt fast immer das Elend mit der 
Ou rftigfk e i t ; diese Verwechslung ruhrt daher, daB 
Elend und Durftigkeit einander benachbart sind; 
benachbart sind sie zweifellos; jedoch auf ver- 
schiedenen Seifen einer Grenzlinie gelegen; das 
ist namlich jene Grenzscheide, welche, psvcholo- 
gisch betrachtet, das wirtschaftliche Leben in zwei 
Gebiete sondert; diesseits derselben ist die wirt- 
schaftliche Existenz nicht gesichert, jenseits der- 
selben ist die wirtschaftliche Existenz gesichert. 
Erst bei dieser Grenzlinie fangt die Sicherheit 
der wirtschaftlichen Existenz an; diesseits von 
ihr hat der Notleidende entweder die GewiBheit, 
daB sein Existenzminimum nicht gesichert ist 
oder er hat uberhaupt keine GewiBheit dariiber, ob 
es gesichert ist oder nicht und muB das Risiko 
auf sich nehmen; das Risiko hort eben bei dieser 
Grenze auf ; jenseits davon hat der Arme oder der 
Reiche die GewiBheit, daB sein Lebensunterhalt 
gesichert ist; jenseits dieser Grenze herrscht Ge- 
wiBheit, Gesichertheit; Zweifel und negative Ge- 
wiBheit teilen sich unter die Existenzen, welche 
diesseits der Linie bleiben; diesseits ist alles 
Elend: Elend des Zweifels oder Elend der Ge- 
wiBheit; die erste Zone jenseits ist die der Durf- 
tigkeit; sodann reihen sich die allmahlich an- 
steigenden Zonen des Reichtums an, 

Viele wirtschaftliche Probleme, moralische, sozi- 
ale, selbst politische wiirden zuvorderst eine Kla- 
rung erfahren, wenn man diese Unterscheidung 
beriicksichtigen oder besser noch als wesentlich 
anerkennen wollte. Wir werden darauf zuriick- 
kommen, vvenn wir kdnnen. Wir werden unter- 
suchen, ob diese Grenzlinie tatsachlich besteht, 
ob diese Unterscheidung zurecht besteht, in wel- 
chem Mafie und unter welchen Bedingungen. 

Es wiirde sich zweifel! os ergeben, daB diese 
Grenze nicht allgem ein besteht, daB sie nicht 
feststehend, nicht in alien Fallen feststellbar und 
in den festges tell ten Fallen veranderlich ist; 
imraerhin wiirde es sich zeigen, daB sie auch heute 
in einer sehr groBen Zahl von Fallen nachweis- 
bar ist; daB sie eine wesentliche Bedeutung inner- 
halb fester Gesellschaftsgefiige, daB sie noch 
immer ziemliche Bedeutung in einem schwanken- 
den Gefiige hat, wie es die zeitgenossische Gesell- 
schaft darstellt. Selbst heute, wiirde man erkennen, 
wird eine groBe Anzahl von sozialen Existenzen 



dadurch bestimmt, daB sie verurteilt sind diesseits 
dieser Grenze zu bleiben; und eine betrachtliche 
Anzahl wird dadurch bestimmt, daB sie liber diese 
Grenze ohne Gefahr der Riickkehr hinaus sind, 
Eine ganze soziale Zone ist dadurch bestimmt, daB 
sie jenseits dieser Grenze gelegen ist, gerade noch 
driiben, ohne sie bedeutend in der Richtung gegen 
den Wohlstand iiberschritten zu haben, aber auch 
ohne Gefahr des Ruckfalls. In gleichem Sinne 
wiirde man die hochbedeutsame moralische und 
soziale Krise untersuchen, die das Alter von sie- 
benundzwanzig Jahren befallt: infolge welcher die 
ungeheure Mehrheit aller Revolutionare zu Kon- 
servativen wird und cs verbleibt, sei es daB sie in 
den konservativen Parteien Konservatismus be- 
treiben, sei es, daB sie, wie gemeiniglich, den 
Konservatismus innerhalb der vorgeblich revoluti- 
onaren Parteien betreiben, in Form von Oppportu- 
nismus oder durch UbermaB und Oberbildung, 
sei es, daB sie jenen offentlichen und privaten Kon- 
servatismus betreiben, der darin besteht, der Ak- 
tion selbst nach anfanglichem Interesse regelmaBig 
auszuw eichen ; man wiirde zur Erkenntnis gelan- 
gen, daB das Verlangen nach GewiBheit, das Be- 
diirfnis nach Sicherung, Gesichertheit, Ruhe ein 
gewichtiger moralischer Faktor ist; man wiirde 
entdecken, dafl dieses Bediirfnis als beachtens- 
wertes Element vielen religidsen Neigungen inne- 
wohnt; man wiirde sich schlieBlich iiberzeugen, 
daB wir iiber einen Menschen, jung oder erwach- 
sen, solange er nicht das Alter dieser Krise iiber- 
schritten hat, weder ein Urteii noch eine be- 
stimmte Vermutung aussprechen diirfen, 

Alles diesseits der Grenze ist das Gebiet der 
Not; driiben beginnt das Gebiet der Durftigkeit 
und endigt bald; auf diese Weise sind Not und 
Durftigkeit Nachbam; sie sind in quantitativem 
Sinne einander naher benachbart als gewisse 
Stufen des Reichtums es denen der Diiiftigkeit 
sind; wenn man nur nach der Qualitat miBt, ist 
ein Reicher von dem Durftigen weiter entfernt als 
ein Diirftiger vom Notleidenden; aber zwischen 
Not und Durftigkeit schiebt sich eine Grenze: 
der Diirftige ist vom Notleidenden durch einen 
Unterschied der Qualitat, des Wesens getrennt. 

Viele Probleme bleiben unklar, weil man diesen 
Umstand nicht erkannt hat; so schreibt man der 
Not die Tugenden der Armut gut oder schiebt um- 
gekehrt der Armut die Verfehlungen der Not in 
die Schuhe; wie man andrerseits der Niedrigkeit 



■■.V' 



471 



DIE AKTION 



472 



die Vorziige der Bescheidenheit zuschreibt oder 
umgekehrt der Bescheidenheit die Entwiirdigun- 
gen der Niedrigkeit ankreidet 
Man gestatte mir einen Vergteich aus der Theolo- 
gie: die Holle wird im Wesen als eine Art gott- 
licher Exkommunikation dargestellt; der Ver- 
dammte ist ein aus Gottes Nahe Verbannter; er 
ist durch Gott auBerhalb der christlichen Gemein- 
schaft gestellt; er ist der Gegenwart Gottes be- 
raubt; er erleidet die Abwesenheit Gottes; die 
verschiedenartigen, unzahlbaren, jammervollen 
Strafen, an denen sich die Einbildung seit jeher 
erregt hat, werden alle iiberragt von dieser einen 
Strafe der Abwesenheit, welche die mit nichts ver- 
gleichbare Kapitalstrafe ist; ferner ist die Holle als 
ewig charakterisiert; das will sagen, als unend- 
lich in der Zeit oder als unendlich in dem, was als 
Zeit erscheint, wodurch eigentlich die Zeit aus* 
geschlossen wird; in dieser Hinsicht kennzeichnet 
sich also die Holle dadurch, daB sie keine Hoff- 
nung zulaBt; der Horizont des Verdammten ist 
von einer unendlichen Schranke umgeben; die 
Holle ist ringsumschlossen; nicht eine einzige 
Hoffnung dringt durch, nicht ein einziger Schim- 
mer von Licht. 

Hingegen wird das Himmelreich im Wesen als 
die Verwirklichung der gottlichen Gemeinschaft 
dargestellt; der Erkieste i&t von Gott erkiest, in 
der christlichen Gemeinschaft zu verbleiben; er 
empfangt die Gegenwart Gottes; die zahlreichen 
Wonnen, in denen sich die Einbildung ziemlich un- 
niitzer Weise ergangen hat, werden gekront von 
diesem Lohn der Gegenwart, welcher der mit 
nichts vergleichbare Preis aller Wonnen i&t, fer- 
ner ist das Himmelreich als ewig charakterisiert; 
damit ist es iiber jede Gefahrdung erhaben. Der 
Horizont des Auserwahlten liegt offen da, in un- 
endlicher Weite; weder Verzweiflung noch Zwei- 
fe] vermogen irgendwie einzudringen. 

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(Autorisierte Ubmclzung von Gustav Schlein) 




Strohmeyer Original- H olzsch n itt 



HEILIGE NACHT 

In StraBen, die des Reichtums Raderschwung 
Zum Spiegel der Geduckten schliff, 

Die hungernd gehn, 

Steht feierlich 
Ein nacktes Volk, 

Die Masse ist Gebet, ist SchoB, 

Entgegendrangend ihrem Got t. 

Erfiillt sein und Erfiillung reichen 
1st das Verlangen ihrer harten Hande, 

Die iiber alle Grenzen sich entgegenstrecken. 

Und feierlich, 

Die Narben ihres Elend grell gefarbt, 

ReiBt sie aus Steigen abgetretenen Basalt, 

Die Asphaltschminke vom Gesicht der Stadte, 
Und baut Altare aus gestiirzten Hausern, 

In denen Wucher mit der Liebe hurte, 

Bis Krieg aus jedem Kinderlachen schrie. 

Steintiirme wachsen an den StraBenkreuzen, 
Minarette, 

Und junge Stimme schwingen auf 
Und rufen sich die voile Stunde zu. 

Ulrich Stein dor ff 

MEETING DER FONFTEN KLASSE 
Von Iwan Goll 

Ihr Mitmenschen! So seid ihr alle gekommen, 
durch die abendgehohlten StraBen, durch die Tun- 
nels der Stadt: Ihr Gedriickten, ihr Fliichtigen 
aus der Zwielichtwohnung, aus hafigefiillter Ka- 
serne und dumpfem Schlafloch! Euch alle, meine 
Briider, hat mein weher Ruf durchdrungen! O, 
ihr muBtet waten durch das grelle Gold des Boule- 
vards. Ihr wurdet vom gelben Gezisch der Kinos 
angespieen. Es war so weit, so weit bis auf 
diesen offenen Abendplatz. Und nun? 

Hier steh ich, der ich euch rief. Da steh ich auf 
holzerner Estrade und habe nichts in den Handen 
als den groBen Himmel, nichts in den Augen als 
den Glauben an euch, und nichts zu verschenken 
als ein Wort, ein einziges, schallendes, tiefes Wort. 
Erwartetet ihr mehr? Glaubtet ihr mich bereit, 
euch das Giftmittelchen HaB einzuimpfen? Ein 
Advokat wtirde euch mit grandioser Geste an 
seine Brust drucken? Oder ich sei ein Metzger- 
junge, der je nach Bedarf ein Kilo oder ein 
Viertelpfund Befriedigung an jeden verteilt, ein 
bifichen Klassenkampf, ein waar Phrasen vom Ka- 
pitalismus und von Lohntarifen? 

Meine Mitmenschen, wie habt ihr euch geirrtl Ich 
rief euch alle und habe doch nichts im Munde 
als ein einziges Wort, das wie eine blutige Sense 
iiber meine Lippen streift. Schaut mich nicht so 
an: Ich bin kein Prophet. Ich bin ein Mensch. 
Ich bin ein einsamer, nackter Mensch wie jeder 
von euch. Stiirzt mir nicht zu FiiBen! Schluchzet 
nicht! Jeder von euch konnte dasselbe tun und 
auf diese Tribune steigen und konnte die Mensch- 
heit befreien helfen. Er brauchte nur wie ich sein 
aufgeblutetes Herz zeigen und das eine Wort aus- 
sprechen. 

Das eine Wort, das ihr ja alle wiBt. Das Wort, 
das mehr Geist enthalt als die Literatur des ge- 



473 



DIE AKTION 



HH 



474 



samten neunzehnten Jahrhunderts, das mehr Re- 
volte ist als al!e Appells und Proklamationen 
eurer bisherigen Fuhrer, ein Wort, das sich um 
die runde Erde wolbt wie der nachtliche Himmel, 
dunkel und so voller goldener Moglichkeiten doch. 
Ein Wort! 

Ihr alle kennt es so gut, auch wenn ihr es immerzu 
verschweigt. Ihr fahrenden Zigeuner, die den 
bunten Wagen hinter der SchieBbude stehen lieBet. 
Du, zynischer Apache. Du Nachtasylenschlafer. 
Strafling, dem die Nummer der Zelie noch immer 
weiB auf schwarz vor den Augen flimmert. Dienst- 



madchen, das in seiner Schwangerschaft nachher 
am Kana! ein dichtes Weidengestrupp aufsuchen 
wird. Du rchgef alien er Student, der trotz Mytho- 
logie und Phiiosophie an diesem einen Wort, das 
unausgesprochen blieb, nicht scheitern kann. 

Ich konnte ubrigens dies Wort wie ein Zauberer 
auf dem Markt aus der Tasche ziehen und vor- 
gaukeln lassen. Ich konnte es euch hinwerfen 
wie ehedem der Ritter seine goldene Borse unter 
das FuBvolk. Aber es ist nicht notig, es aus* 
zusprechen. Es gilt nur, davon zu wissen, bewuBt 
zu sein, daB ein jeder es in sich tragt, wie der 




Christian Schad 



Origin al-Iiolzsch nitt 



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475 



DIE AKTION 



476 



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Chirurg behauptet, daB ihr alle Lungen in euch 
tragt. 

Schon brodeln eure dumpfen Stimmen. Schon be- 
wegen sich eure schweren FiiBe. Eure Hande 
sind gezackt. Ich fuhle, ich fuhle, ihr habt mich 
verstanderr. Wie konnte es anders sein? Ihr alle 
seid ja selbst schon einmal an diesem Wort ge- 
storben. Ihr alle waret Kriegsmenschen. Ihr sahet 
Vervvundete beschamt ihre Eingeweide mit den 
Handen verbergen. Sahet Familienvater sich toll 
iiber grunende Jiinglinge stiirzen. Und den Toten 
saht ihr ins verglaste Auge, und das Wort stand 
erstarrt auf ihrem schwarzen Mund. 

Ich brauche es euch nicht zu sagen. Ich habe in 
euer Antlitz gesehen. Ich habe euer Herz gepruft 
an diesem goldenen Abend. Ich weiB f ihr seid bei 
mir, wie ich bei euch bin. Ich weiB, schon ist 
das Wort kein Wort mehr, schon ist es Tat, 
Sinn und Erleichterung: Schon ist es die Menschen- 
liebe selbst! 

EXPANSION 

Schwinde dich hin ins gliihende Griin, 

Taufe mit Tau so glockigen Leib: 

Liebenden leuchtet nur keuscher 
imirmelnder Miicken Besinnsamkeit, 
schwarmt in den SchoB nur erwarmter 
schliipfender Falter Verhaltenheit. 

Sanft vor Zertrummerung drohnendes Blut — 
weih deinen Leib, wir losen ihn auf: 
schluchzende Briiste in rauschendem Gerank 
und den duldigen Ruch emporten Gelocks. 

Atem kracht iiber kochendem KuB, 

Nachhall der Nacht — wir glauben uns hinaus: 
Rausch und Bewaldung rennen wir ein 
Brich uns Brandung, Welt: stimm an! 

Jurgen von der Wense 

SriMME 

Wurm, ich suche Dich 

und Du bist Ich und Du entgehst mir nicht — 
Dem warmen Zelleuloch, 
daraus das Wolkchen Deines Atems bricht, 
und dem Jahrhundertgrund 




Strohmeyer 



Original- Holzschnitt 



entkriechst Du heute ungeborstner Kraft 

und sprengst den Ringelturm 

und ruttelst Dich zu langer Wanderschaft — 

Ich sag Dir: Stehe, Mensch! 

Verdammtes Zeichenwerk, aus Dir gebrannt — 
sprachlos — der Menschheit bar — 

Stumpfes GefaB, toll in die See gesandt — 

was wirbelnd Du ertragst 

und kochend speist — du wagst es nicht! 

Die Palmeninsel! Vogelschaaren ziehn 

und schluchzend kuBt das Meer — Du fragst 

es nicht! 

Tot sind Aonen! In den Steppen Du, 

Zeiten — und Menschenvoll, 

wenn Du erschallst, kein Lebendes hort zu — ! 

Heinrich Schaefer 

DIE HAUSER SPRECHEN 
Von Lthero AUomare 

Wir sind ans Kreuz geschlagene Traume, 

Im Erdreich festgeheftet 
Mit weiten Wurzein. 

Festnagelt uns die blode Tragheit 

Der Menschen, die so gern 

Sich lebend zwischen unserm Mauerwerk be- 

graben 

Und in der Kammem dumpfer Luft 

Wie einen lastigen Floh schnell jede Kuhnheit 

knicken. 



Sie kaufen uns mit Gold 
Wie ihre Huren. 

Auf Monatsmiete sind sie unsere eifersiichFgen 

Herrn 

Und geizigen freiwilligen Gefangenen. 

Sie schmucken uns, sie lieben uns, 

Sie malen uns mit frohen Farben an; 

Sie brauchen uns zur Wiege und zum Stall 
Und FreBtrog: und im Tod erst 
Verlassen sie uns wider Willen. 

Wir sind Treibhauser 
Und dumpfige Aquarien, 

In denen blasse Qualkn 

Und kummerliche Pflanzen siechen. 

Und MiiBiggang und Wollust 
Behangen in angstvollem Geiz 
Unsre geheimsten Wande 
Mit ihrer Liebe Spinnennetzen. 

O Menschen, gebt uns frei! 

Macht endlich uns dem Boden gleich! 

Ihr seid geschaffen, umzuschw'eifen 
Auf Bergen, iiber Meere, in der Luft! 

Euch ziemen hiftige Wohnungen, 

Hauser, beweglich — unbestandig 
Wie all die Wiinsche, die euch plagen 
Wie kiihne Winde, um 

Die alte Zifferblatt-Schildkrote Zeit zu argern. 




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DIE AKTION 





Der Sonne rauben 

Den leuchtend gelben Schatz der Elektrizitat 
Metallne Flugpagoden. 

So, Menschen, will es das Oeschick: 

Der alte ruBige Kamin 

Verwandelt sich zum gliihenden Motor, 

Das windgeduckte Dach 
MiBgonnt der Schwalbe ihre FlugeL 

O Qua!, so unbeweglich dazustehn, 

Wenn alles rings sich froh bewegt: 

Das Leben scheint uns ein phantastisch Riesen- 

karussell. 

Wir sind die Pfahle: 

Steif, festgeham inert, unbewegt 



O Qua!, so dazustehn 

Und langsam zu verfaulen 

Unter der schmutzigen Hand der Zeit! 

Kein Fieber darf uns 

Die gichtischen, verkalkten Knochen warmen, 
Nur ab und zu bewegt ein ErdstoB uns, 

Nur ab und zu fullt Feuer uns mit trunkener 

Freude 

Und Sehnsucht, flammenlodernd zu vergehn! 
(Aus dem Italienischen iibersetzt von Else Hadwiger) 

SONNTAO 

Sonntag, lachelnde Verbriiderung: 

Du Fluchtling aus der Stadt, Vertraulicher du 
im Wartesaal kleiner Stationen, 




Arthur Segal 



QriginaLholzsch nitt 







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DIE AKTION 



480 



479 



Still und verbrannt ragen die roten Kerzen deiner 
Fabriken in dich hinein, 

Und ihre Maschinen liegen tot in den steinemen 
Sargen. 

Du hoffender Verkaufer der Ecken mit Blumen 
und Zuckerzeug, 

Du bunter Luftballon der Kinder, du fliegst im 
Karussell rund um die Welt. 

Du Schicksalserwartung kleiner Madchen,die sich 
lange fur dich sammeln, 

Du Freiheitsgeste der Redner in durstigen Salen 
und Volksgarten, 

Du bunte Strand promenade der Bader, flatternde 
Fahne der Qu&is, 

Aus denen du mit weiBen Segeln in den Werktag 
fahrst: 

Du friedlicher Menschengott im blonden Bart, 
der einmal die Welt umarmte, 

Sonntag, lachelnde Verbruderung! 

Claire Studer 

ERINNERN AN SKUTARI 
Wie Bliitenschafte weiBer Kallen 
st eigen Minarets von Moscheen, 
die dunkelschwere Garten sehn. 

Wenn durch den singenden Abend Bliiten fallen 
wird des Mondes Kugel iiber der Fontaine stehn 
uifd Fraun in Blumenseide iiber Briicken gehn. 

Der Knauel wirren Volks spult summend im Basare 
hallend unter den ausgeloschten Gangen, 

In Stapeln prunkt die Farbe bunter Ware 
und schone Huren mit geschwarzten Brauen 
singen und betteln im Gedrange 

in des sie lassig auf die Tamburine hauen. 

Karl Often 




T1EFE NACHT 

Wie lang schon darb ich vor dem Paradiese, 
schlichte Sehnsucht nach der guten Wiese, 
bravem Schlaf in treuer Bucht 
Herr, gib mir die Bliite, mir die Frucht. 

Wills! du, o Gott, mich niemals giitig griiBen? 
Almosen gibst du Bettlem, Sohnen des Weges, 
kiihles Wasser der Forelle, 

Seelenantlitz meinem Madchen; 



mir nur, daB ich Tran an Trane weine, 
Uhu mit den Eulen werde 
— selig sind die Schottersteine, 
nachbarlich umfangt sie Erde. 



Ratten, fresset meine Eingeweide, 
zerspell mich, Fels, ertrank mich, Furt! 

Was starb ich nicht vor der Geburt? 
Aufstrahlt mir nie das Land der Freude. 

Albert Ehrenstein 



FLUCH 



Dunklem Tag Erwachtes: 

Grau uns Umhiillendes: 

Spuk der Zeit: 

Ich speie dich an, Fluch des Tags, 

ich fluch e dir, Zeit des Fluchs, 

zertrummere deine Hymnen, Untergang, 

deine Eisen opfert Irrsinn, 

ersauf im Blut, Blutsaufer, 

vermodere im Massengrab deiner Fluche, 

rette dich . . . 

Ich fluche. Got t hort dich nicht! 

Paul Hatvani 



DIE TOCHTER SAULS SPRICHT: 

Schimmernde Saule 

in gewundenem Leid 

strebe ich vviinschend 

geschlossenen Auges 

in Flammen gequalter Finstemis 

zu den Traumen deiner Haupter empor, 

Ach ich neige mich zitternd 

im Beben gebogenen Schilfcs, 

rieselndes Licht empfangensbereit, 

kollernd zwischcn Perlen von Tau 

und gerctteten Amcthysten erstickten Murmclns 

Gluten unter den Lidem, 

sinkender Sonne Nachtahnung 

Liebesgeslohn von Mensch und Tier, 

aufzuckenden Abends 

zersprungene Hoffnung 

und letzte Krampfe schwelgender Herzen. 

Die blaue Blume zittert im Morgenreif, 

Girlanden erster Strahlen sind in ihre Krone ge 

geflochten. 

Das unendliche Moosbett trieft 

und die blaue Blume zittert im Morgenreif. 

Carl Figdor (Wien) 



Rudolf Men sc 



Umzug 



481 



DIE AKTION 



482 



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BEGEONUNG 

Unser Streit fuhr auf warts, . . bis die sausenden 
Drahte 

Plotziich niederzuckten, als ein Weib vorbeiging, 
. , Doch die lachelnd bald zum Freunde wieder- 
gekehrte 

Stirne bratist voll schnelleren Kampfes weiter... 

Alfred Wol fen stein 

TATNIANA 

Zwischen dem schmeichelnden Winseln des Tiers, 
Zwischen dem Geplapper forschender Kinder, 
Sprang ein Schicksal, heiB wie ein Funke 
Von deiner Lippe zu meiner. 

Tastend und unbestimmt 

Flackerte die Friihlingssonne im Blau. 

Glaube stromte mir aus dem Eis 
Der schattigen Hofe, 

Glaube aus Dir — 

Schweigsam und fest wuchs mir die Kraft. 

Aber das Eine bleibt: Du spendest, 

Du Quell — Aus Dir meine Macht, 

Aus Dir mein Stern, 

Du Licht fiber Wassem, 

Du Flam me der Schatten. 

Wenn Du mich laBt, mufi ich sterben. 

Max Pulvcr 




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K IT. Seiwert 



Origt nal-Holzschnitt 



DER TOD DES GRAFEN CHRISTOPH 
DES LOGES 

Von F. X. Saida 

Er ging nicht mehr ganz sicher und so fuhrten 
ifin zwei Diener mit stumpfen, rotlichen und aus- 
rasierten Gesichtern, ganz in graues Tuch ge- 
kleidet, hierher. Sie hatten ihn bisher eher be- 
gleitet als unterstfitzi; aber der Arzt machte sie auf 
die Moglichkeit eines Unfalls aufmerksam und so 
waren sie standig beunruhigt, standig auf der 
Hut und deshalb auch standig angespannt und 
argerlich. 

Noch im Vorjahr war er aUein hergegangen, nur 
manchma! von seinem Arzte begleitet — hierher, 
in diesen bunten Garten, der den Beschauer unver- 
sehens gleich dem versprengten Phantasiegebilde 
eines Wahnsinnigen festhielt, gleich einem Ge- 
spann von Launen, das denZiigeln entronnen war 
und sich nun zerschmettert den Blicken bot 
Es war da eine Lichtung in dem entferiitesten ver- 
lassenen Teile des Parks, die mit schiittern, jetzt 
gebleichten Grashalmen bewachsen und mit den 
mannigfachsten Baumen und Baumchen bestan- 
den war, mit groBeren, kleineren und ganz ver- 
schrumpften. Die einen waren jiinger, die anderen 
alter; einige aus unserem Himmelsstrich, andere 
exotische, welche hier schlecht gediehen; einige 
von ihnen schlieBlich schaffte, wenn das Wetter 
schon war, der Gartner aus dem Treibhaus, wo 
er sie zuchtete, hierher und stellte sie genau auf 
jene Stellen, die ihnen der greise Graf zugewiesen 
hatte, 

Und so siechten unweit von einer Gruppe statt- 
licher, zottiger nordlicher Tannen eingeschrumpfte 
Oliven-, Orangen- und Zitronenbaumchen in hol- 



zernen Blumentopfen hin, vor dem Nordwind ge- 
schiitzt und mit brciten Bliiten bliihend; dort brei- 
tete eine Mimose ihre biegsamen Gerten iiber 
einen dichten Myrtenstrauch aus, anderswo durch- 
wuchsen und mischten sich mit den Zweigen oder 
mit dem Dufte die Rose von Jericho mit einem 
Ailanthus, Lorhecrbaume mit japanischen Kame- 
lien; und neben stolzen unteilbaren Trauerobe- 
lisken von Cypressen, die in sich geschlossen 
waren wie eine kalte Wolke und dercn Blatter sich 
im Winde niernals rirhrten, gab sich eine Espe dem 
schwachsten Anhauch der Luft hin und es schien, 
als riefe sie ihn selbst hervor. 

Alle diese Baumchen und Straucher hatte Chri- 
stoph des Loges, der ein groBer Abenteurer, Lieb- 
haber und Weltmann war, von seinen weiten 
Reisen mitgebracht. Die Mehrzahl davon hatte er 
selbst in diesen seltsamen Garten eingepflanzt und 
so mit dieser diskreten, niemand anderem lesbarer 
Schrift den interessantesten Teil seiner Lebens- 
geschichte eingeschrieben — in diesem Betracht 
ein noch verschlossenerer Edelmann als Chateau- 
briand selbst, von welchem er, als junger Ge- 
sandtschaftsbeamter, diese Idee im Vallee aux 
Loups ubernommen hatte, wo er in den vierziger 
Jahren des verflossenen Jahrhunderts den groBen 
Diplomaten (der Dichter interessierte ihn nie) be- 
sucht hatte. Er erinnerte sich oft an den hohen 
Greis, beschwert von Alter, Ruhm und vor allem 
von einer unaussprechlichen Langweile und einer 
unfruchtbaren Trauer, wie er mit der kuhlen 
Wolke eines stillen Stolzes auf dem abgestorbenen 
Antlitz den jungen Kollegen durch seinen Garten 
fiihrte und ihm mit einer mude abgerissenen Geste 
die Cedern des Libanon und Pinien aus der Cam- 
pagne zeigte, die er von seinen Reisen heim- 



483 



DTE AKTION 






gebracht hatte, und er vermochte niemals zu 
glauben, warum dieser Mann noch seine Memoires 
d’outre-tombe geschrieben hatte, wenn er fur seine 
Erinnerung diesen einzigartigen Park geschaffen 
hatte. Um dies Nichtbegreifenkonnen war des 
Loges mehr ein Aristokrat vom alten Korn als 
der Dichter der „Ata1a“. 

Jeder Strauch und jeder Baum hatte seinen 
Namen, mit jedem war in des Grafen Erinnerung 
eine bestimmte Begebenheit verknupft oder min- 
destens ein bestimmter Eindruck oder ein Ge- 
fuhl: hier die Erinnerung an ein Grab, dort die 
an ein Bacchanal ; dort an eine Frau, da an einen 
Freund; hier an ein gebrochenes Versprechen und 
dort an eine getauschte Hoffnung; dort an eine 
bezweifelte Liebe und hier an einen ungemaBen 
HaB. 

Hier schimmerte im Sonnenlicht eine Birke aus 
polnischen Gefilden, welchc er Medslava be- 
nannte, Des Loges hatte sie aus dem Grabe einer 
schonen Frau gerissen, fiir die er sich geschlagen 
und die er wieder verlassen hatte, wonach sie 
bald gestorben war. Er hatte den winzigen Marz- 
schoBIing bei seinem zweiten Besuche in Maso* 
wien nachts aus ihrem verschneiten verlassenen 
Grabe gerissen, als er in Gesellschaft von be- 
trunkenen Kameraden in wilder Kavalkade von der 
Dorfschanke zum nahen Schlosse fuhr. Er 
schwenkte von der Landstrafie ab und fuhr auf 
den Friedhof; als er zuriickkehrte und seine Schar 
einholen wollte, hatte es ihn beinahe das Leben 
gekostet; das Baumchen fing derart heftig in dem 
beim Sattel befestigten Riemen zu schaukeln an, 
daB es das an eine solche Last nicht gewohnte 
Pferd aufschreckte. Es warf den Grafen ab, der 
erst am Morgen halberfroren und mitgebrochenem 
FuB aufgefunden w r urde. 

An einer anderen Stelle erinnerte eine verkiim- 
merte Pinie in einem Blumentopfe den Greis an 
ihre herrlichen bejahrten Schwestern, unter deren 
hohen horizontalen sonnenschirmformigen Kronen 
er zwischen die rotlichen Bliiten der Zaunlilie 
und auf die dunstzarten Blatter der Anemonen den 
miiden Leib seiner romischen Geliebten nieder- 
zulegen pflegte. Und alles von den unendlichen 
Fahrten in Kiistengewassern bis zur melancho- 
lischen Fahrt durch die Fiebercampagna, war fiir 




Josef Ebetz Eedcrzcicknung 



ihn in diesem unansehnlichen Baumchen einge- 
schlossen. 

Dort wieder ganz hinten straubte sich in kleinen 
Klumpen von feinen Nadelchen eine Larche. Sie 
war vor dreifiig Jahren ein ganz geringfugiges 
Baumchen im Waldschlag gewesen und hatte 
Christophs Standplatz in dem Duelle mit einem 
beruhmten Fechter bezeichnet. Damals hatte er 
nicht geglaubt, daB er heil zuruckkommen wiirde. 
Und aus der verwitternden Terrasse drangte sich 
das Sempervivum, das Fettkraut, cine Blume voll 
geheimer Macht, die Pflanze des biaugriinen 
Gottes, die Blute der Unsterblichkeit, aus 
Griechenland hierher verpflanzt, hervor. 

Es waren hier auch andere Baume und Straucher, 
welche der Greis mit den Blicken zu beriihren 
fiirchtete; er riB ihn wenigstens sogleich fort, 
als ob er sich an gliihenden Kohlenstucken ver- 
brannt hatte. Es gibt Erinnerungen, die man gem 
vermeidet, vielleicht, weil es uberfliissig ist. 
Hierher wurde also im Sommer taglich bei 
schonem Wetter Christoph des Loges, der ein- 
stige groBe Abenteurer, Liebhaber und Weltmann 
und nunmehrige siebzigjahrige schwachsinnige 
Greis mit hinfalligem Gange von zwei Lakaien 
mit stuir.pfen geroteten Gesichtern und irgend- 
einer brutalen Wut, die tief unter der rasierten, 
mehr als Maske gleichgiiltiger Haut verkrochen 
war, gefiihrt. Es gab Augenblicke, wo der Blick 
des alten Grafen eigentiimlich forschend auf diesen 
Gesichtern haften blieb und der Greis etwas 
zwischen seinen Zahnen zermalmte. Die Nagel 
unter diese Maske einkrallen zu konnen! LieBe 
sie sich abreiBen? Wiirde nicht viel Blut hervor- 
quellen? Ach, die Bestie! Als ob das Leben uberail 
tief unter die Oberflache, unter die Rinde, ge- 
krochen ware, sich hinter die Maske verborgen 
hatte. 

Hier pflegte er also schon und stolz auch in 
seiner Ruine auf dem Feldsessel zu sitzen, den 
einer von den Dienern brachte. Sein Kopf hatte 
immerwahrend etwas Lowenartiges in seinen 
grauen Locken und hervorspringenden Backen- 
knochen, mit sinnlichen verschmahenden Lippen 
und abweisendem Blick und wie er da mit ge- 
gesenktem Kopfe, mit am Stock gestiitzten Handen 
saB, machte er eher den Eindruck eines beleidig- 
ten Menschen, der an Rache denkt, als den eines 
bereits vom Leben Zermalmten. Nur die schwe- 
ren Augenllder, die schon zur Halfte seinen Blick 
verdeckten und sich mit Miihe hoben, und die 
tiefen Furchen quer liber die Wange sprachen 
eine durchaus eindeutige Sprache. 

Heuer versank er stets, sobald er in seinen Sessel 
fiel und die Diener fortgejagt hatte, in ein stilles, 
leidenschaftliches Traumen. Er lebte von neuem 
seine Jugend durch. Die jungeren Schichten seines 
Gcdachtnisses starben schon ab, zerfielen und 
deckten altere Schichten auf. Die langst von Ver- 
gessenheit verschlungenen Ereignisse und Bilder 
crgluhten und hauchten den Greis mit ihrer letzten 
Wiirme an, wie er in der gliihenden sommertichen 
Mittagshitze dasaB, welche das geronnene lassige 
Blut heftiger durch die Adern flieBen lieB. Seine 




486 



485 DIE AKTION 



Lippen pfiegten hierbei kalt und halbgeoffnet zu 
sein wie die Lippen eines Durstenden, in der 
Kehte fuhlte er ein Kratzen und die erloschenen 
Augen wurden vom Fieberfeuer entfacht. 

Es geschah, daB er an den Lakaien, der ihm zum 
Mittagmahle abzuholen kam, die Frage richtete: 
„Ist Lisa schon gekommen? Und vergiB nicht, 
heute abends das Haydnsche QuatuorM* 

Und Lisa verweste schon drei Jahrzehnte in der 
SchloBgruft, und die Spieler der Haydnschen Kom- 
positionen hatte schon friiher die Laune des Zu- 
falls in alle Weltrichtungen verjagt und ihre Kno- 
chen warf der Tod in den verschiedensten Fried- 
hofen herum. 

„Zu Befehl, Euer Gnaden, u antworteten aber die 
Diener, wie ihnen vom Arzte befohlen worden 
war und zwjnkerten einander dabei zu. 

Nur eines noch im wirklichen Leben vermochte 
den greisen Grafen zu erregen: der Anblick nack- 
ter FrauenfiiBe, die Waden der Arbeiterinnen, 
welche in der an diesen Teil des Parkes angren- 
zenden Baumschule arbeiteten und manchmal ge- 
notigt waren, an ihm vorbeizugehen. 

Da leuchtete das Auge unter den einst gewolbten 
Augenbrauen und unter den Wimpern loderte ein 
Blitz hervor und fuhr mit gierigem schnellen Fluge 
am FuBe von der Sohle hinauf bis zu den Hiiften, 
kritisch und kennerhaft, selbst in der Erregung, 
entlang. 

Heute, an einem heiBen Augusttage, wo die Luft 
vor Glut zitterte und Feuer vom Himmel nieder- 
stromte, saB der Graf wie sonst auf seinem Sessel. 
Er hatte in seinem gewohnlichen zaudemden Spa- 
ziergange seinen bizarren Park durchschritten, 
aber heute etwas griindlicher: Er blieb an Orten, 
wohin er niemals ging, von denen er sich absicht- 
lich abzuwenden pflegte,stehen. Erverweilte heute 
besonders iange vor dem Baumchen im bauchigen 
holzemen Blumentopf, welches der Gartner aus 
dem Glashaus brachte: vor der Taggiasca, der 
edelsten Olivenart, welche die steilen Abhange 
des Porto Maurizio an der ostlichen Riviera be- 
waldet. Lange blickte er das zugeschnittene 
Baumchen an, dann rochelte er greisenhaft stoh- 
nend und schob sich langsam zu seinem Sessel. 
Und in der Sonnenglut kamen ihm in den Sinn 
stufenformige hohe Terassen, die eine iiber die 
andere erhoben, bedeckt von herrlichen Oliven, 
hundertjahrigen Baumen, beredt wie ein ganzer 
Hain und personlich wie groBe Menschen, be- 
wohnt von Wald- und Gartengottheiten ; und 
Olivenmiahlen, im Moos und Farnkraut ver- 
sunken, von Wildbachen getricben und Frauen- 
hande, welche diese Parke gegriindet und diese 
Terrassen mit Arbeiten von Generationen und Ge- 
nerationen aufeinander geschichtet haben ; an ein 
Paar besonderes kleiner und leidenschaftlich urn- 
schlingender Frauenhande, immer bereit, nach 
dem Messer zu greifen und weiBe, zahmc und 
schmeichlerische FiiBe, welche er an ihren Gem- 
sentanzen uber steile Felsabhange verfolgt hatte 
und dann dieselben, weifien, zahmen, schmeichleri- 
schen FuBe zerschmettert und durch seine Schuld 
zerschmettert und schwarze mit heiBem Blute be- 




feuchtete und durch seine Schuld mit diesem Blute 
befeuchtete Felsenblocke und — 

Der Greis rochelte mit einem hohlen Stohnen, 
so wiist, daB er sich eine Sekunde lang selbst 
vor dessen vergeblicher Taubheit entsetzte, als 
ob es nicht ihm, sondern einem anderen gehorte. 
Er wuBte nicht, wie lange er so dasaB, ganz auf 
einen einzigen tragischen Punkt konzentriert. Er 
hatte vor seinem seelischen Auge dieselben 
weiBen, schmeichlerischen FiiBe, die von ihm zu- 
grundegerichteten FuBe* Er sah, wie sie sich 
schnell iiber Felsen bewegten, er sah sie im Tanze 
schwebend, er sah sie tot und erstarrt, irgendwie 
streng und drohend unter dem Nebel des leichten 
Rockes gezeichnet. Die Sonne raste und schlug 
im wilden Ansturm auf die Erde, die Zirpen geig- 
ten ihr metallnes, betauhendes Lied, das Blut 
gluhte in den Schlafen, aber alle diese inneren 
und auBeren Tone verschmolzen dem bitteren 
Greise im Getose des an felsige Riffe schlagen- 
den Meeres, von heiBem Blut befleckt, vom Blute, 
daB er siindhaft vcrgeudet 
Ein junges Lachen, das gleichsam iiber ihn zu 
perlen hegann, storte ihn aus seinem Traumen. 
Und gleichzeitig schwebte ihm vor dem Auge ein 
Paar winziger, leichter, grazios getragener, zah- 
mer und schmeichlerischer FiiBe und ergoB sich 
mit dem Lachen in einen einzigen Eindruck von 
irgend etwas musikalisch Leichtem und Unver- 
antwortiichem. Ein Dunst, wie von leichtem WeiB- 
wein, schlangelte sich dem Grafen um den Kopf 
und tauschte ihn mit wahnsinnigem Bangen. 

Eine Reihe junger Frauen und Maschen lief an ihm 
vorbei mit aufgeschiirzten Rocken, einige mit 
Rechen auf den Schultem. 

Etwa ein Dutzend Paare entbloBter FiiBe spielte 
und schwebte vor ihm, aber bloB ein Paar ge- 
horte ihm ; der Graf hatte sie unter tausenden 
erkannt 

Alles baumte sich in ihm auf. Seine Augen stiegen 
hervor, wurden tierisch und herrlich verwildert, 
die Adern schwollen an und der ganze Korper war 




■v"" 



487 



DIE AKTION 



488 



4 



plotzlich eine einzige verliingerte, tragische Geste, 
cine Geste des Durstes nach Leidenschaft Oder 
Tod, 

Als ob die ganze tote Jugend mit alter wilder 
Kraft in diesem schwachlichen Korper hinein- 
gefahren ware und ihn mit irrer, todlicher Span- 
nung erfullt hatte, indem sie jede Weile mit der 
Zertrummerung drohte. 

Die Madchen entsetzten sich vor diesem Theater 
mit animalischer Furcht und flohen von ihm mit 
wiister Eile wie von einer Katastrophe. 

„Rita! Rita!" stdhnte der Greis mehr denn mit 
der Kehle mit ganzem schauderndem Korper. 

Das erschreckte Madchen lief den steilen Ab~ 
hang herunter, der Graf ihm nach. 

Diese Jagd hinter der Jugend her dauerte nicht 
lange; sie verwandelte sich schnell in die Jagd 
nach dem Tode. 

Plotzlich fiel Graf Christoph dumpf iiber einen 
Baumstamm hin, mit der Schlafe auf einen Stein- 
block, wie ihrer hier mehrere verstreut waren. 

Er sturzte hin, ohne zu stohnen. 

„Sieh J da, das Ungeheuer, so alt und noch so 
siindhaft!" sagte einer von den Dienern, die von 
den Madchen zu der Leiche herbeigerufen worden 
waren. 

„Was willst du? Eine gute Mahre fallt beim 
Ziehen/' antvvortete der andere und grinste. Er 
ahnte nicht, daB er damit die ganze Philosophic 
des Falles des Grafen Christoph des Loges aus- 
sprach. 

Dann hoben sie den Korper auf und trugen ihn 
mit tragem Bedientenschritt in das SchloB. 

Er war schwer und sie blieben mit ihm oft stehen, 
indem sie sich den SchweiB abwischten und 
gahnten. 

(Autorisierte Obersetzung aus dem Tschechischen von O. Pick) 



WER HAT CALIGULA UMGEBRACHT? 

Fow Xaver 

„Mnester, vielgeliebter! Weifit Du etwas?" Cali- 
gula umklammert den Pantomimen ; muB sich fest 
an ihm halten; die langen, diinnen Beine tragen 
nicht mehr den dicken Kopf und den gedunsenen 
Bauch. Caligula kiifit den Pantomimen; kiiBt ihn 
wieder: „Mnester, weiBt Du was?" 

Der Pantomime weiB etwas 
Luft hat ihm viel zugeweht. 
trostet seinen Theaterherrn: 

Caligula allein hat Macht." 
zittert: „Gestern im Theater hast Du in der 

gleichen Tragodie die Rolle getanzt, die einst 
Neoptolemus in den Spielen 
Makedonier Konig Philipp . 

Mnester und fliistert ihm ins 
wurde". 



und schweigt. Die 
Pantomime Mnester 
„AUes ist machtlos ; 
Caligulas Kehlkopf 



tanzte, wobei der 
. Caligula kiiBt 
Ohr . . . „ermordet 



Mnester weifi etwas: In Olympia hat geste rn 
das Jupiterbild Hohn gelacht; in Capua ward 
das Capitol an des Marzes Iden vom Blitz ge- 
troffen; auch gcstcrn; und gestern hat am gleichen 
Tag, dem Jahrestag von Casars Ermordung, der 
Blitz die Wohnung des Aufsehers von Caligulas 
Palast vernichtet. Caligulas KuB auf Mnesters 
Wangen hat verraten, daB Caligula das Morgen 
aus dem Gestern ahnt. 



In enger Stube Cornelius Sabinus; und sieben Cen- 
turionen; hat jeder hundert Soldaten zu befehlen. 
Siebenhundert gegen Einen. Wer unterliegt? Der 
Eine! Cornelius Sabinus hat schlecht gerechnet. 
Der Eine ist kein Einziger; ist Hunderttausende, 
die mutlos sind und feig; die ihre Ruhe haben 
wollen; die noch zu essen haben; die sich masten 
vom Ungliick anderer. 

Wo seid ihr, Unmut, Zorn, Emporung? 

Wieder kiiBt Caligula den Pantomimen. „Ja?" 
„„Ja!"" Morgen tanzt der Pantomime einen an- 
dern Tanz; er hat es Caligula versprochen. 
Cornelius Sabinus allein in enger Stube. Die Cen- 
turionen? Befehligt jeder auf Befehl Caligulas hun- 
dert Soldaten. Warum auch nicht? Caligula zahlt 
guten Sold; hat — duckt euch, Centurionen! — 
schon von Verschvvorungen vernommen. Wer war 
beteiligt? Centurionen? Nein! Die haben, jeder, 
hundert Soldaten zu befehligen auf Befehl 
Caligulas. 

Schlaf; Sensation. Sie gonnen Caligula noch Zeit. 
Unter Caligulas FiiBen ruht ein zertretener hoher 
Rat sich aus. Vom Wort Caligulas betaubt schlaft 
ein miBhandeltes Volk. Zufrieden beide. Mag er 
zum Friihstuck taglich fiinfundzwanzig Kopfe 
fallen sehen ; solange es uns nicht trifft ™ nur 
keinen Biirgerkrieg! 

Was wird Caligula fiir morgen ersinnen? Fiir 
den nachsten halben Tag? Die nachste halbe 
Stunde? Wie interessant! Der Imperator! Im 
Tanzerinnenkleid! FuBklappern um die Knochel! 
Er tanzt Ballett! Trompeten schmettem dazu! „Ist 
es wahr? 11 „„Man sagt.“ “ „Bestimmt?“ 
„„Ich weiB. Zwei Uhr nachts hat er sich Consuln 
in den Palast kommen lassen; Publikum.'* “ „Das 
will ich auch sehen; wie stelle ich es an, in den 
Palast zu kommen ?“ 

Caligula als Gladiator. Gegner Holzschwert; Ca- 
ligula Eisenschwert. Caligula verliert. Dolch zu 
Hilfe! Caligula ersticht den Gegner. Todesschrei: 
„Hoch Imperator!" Der Gegner liegt im Blut. 
Prosit! Gastmahlsbelustigung. Wie interessant! 
„Du, ich verbiete mir solche Zartlichkeiten mit 
meiner Frau," schreit plotzlich Caligula. Der junge 
Ehemann wird ausgetacht. Die Mitfresser und Mit- 
saufer jubeln der durch Imperatorenwort plotz- 
lich vom Ehemann Geschiedenen zu. Gastmahls- 
spaBe; voll tiefen Ernst, den keiner wittert. 
Untertanigst erkundigen sich zwei Herren nach 
einem plotzlichen unmotivierten imperatorischen 
Lachen. „Esel!" lacht Caligula; „ein Wort von 
mir, ihr laBt euch geduldig die Kehle durch- 
schneiden!" Ein interessanter Mann, Caligula! 
Voll Witz und Geist und Oberraschung! 

Schlaf; Sensation! Behelfe einer langst verlotter- 
ten Gesellschaft. Behaltet euern Imperator! Ihr 
seid seiner wert! 

Cornelius Sabinus wacht. Sueht. Findet nicht. 
Sieht, wie das Herzblut Roms im Imperatoren- 
sumpf versickert. Weint: „Wer bringt Caligula 
um?" 

Centurio Cassius Chaerea bringt Caligula soldati- 
sche Meldung. Caligulas Antwort: „Ha, ha! Mit 
wie viel Hiindinnen gestern noch geschakert? 



489 



DIE AKTION 



Parole: Venus! Ab! HandkuB!“ Caligula verdeut- 
licht durch Handstellung die Obszonitat seiner 
Rede; streckt diese Hand dem Cassius Chaerea, 
dem Mann von reiner Lebensehrlichkeit; dem 
Mann, der keinen Flecken auf der Liebe duldet, 
entgegen: „Kusse!“ 

Centurio Cassius Chaerea — weigert sich? Nein! 
— kiifit des Imperators Hand. Des Imperators 
Hand? KuBt sich selber Rache auf das Herz. 
Sabinus weint nicht mehr. Chaerea kommt zu 
ihm: „Ich bringe Caligula um! Schamlos, im 
Gegenwillen zu der ganzen Welt als ihr Macht- 
haber sich aufzuspielen ; Schamloser, mit Men- 
schenblut stundlich der Macht sich zu ver- 
gewissern; schamlos noch mehr, — Chaerea preBt 
die Hand aufs Herz — auf seine Stufe mich 
hinabzudrucken !“ 

Der Tag darauf. Theater. Der Pantomime Mnester 
tanzt Caligulas Beruhigungstanz. 

Theaterpause. Chaerea's Schwert sitzt in Cali- 
gulas Hals. 

Reinheit der Seele, die keinen Flecken duldet, hat 
Caligula umgebracht. 

EIN BRIEF 
Von Carl Einstein 

Lieber Pfemfert! 

In einen Ruckzug, versiegeltes Fernbleiben, 
schickte man mir zwei Bucher; das eine war von 
ihrem Temperament verrotet, kraftige Hande 
schmissen in die vermordete Erde einen Pack 
Holzpapier, eine schnittige Hundepeitsche, ja viel- 
leicht ein noch nicht aufgestelltes Genickmesser, 
jagt am abgekurbelten Horizont hollischer Schlag- 
worte. 

Das andere, Summa, Bilanz. Man will summie- 
ren. Was denn? Die Zeit? Franz, eine Zeit, die 
wir schon langst abrichteten, vergaBen. 

Hingegen lhr Aktionsbuch. 

Im ganzen geht es hier um noch nicht Verwirk- 
lichtes. 

Also Zukunft. 

Aber um zu Realisierendes. Um Den ken, das 
Verantwortung enthalt. 

Ich gestehe, ich selbst lebe diesen Dingen etwas 
entfemt; denn erlaubte ich mir, sie zu lieben, 
ware ich tot. 

Jedoch bohrte sich mir aus Ihrem Buch nicht 
der Eindruck memorierter, ermudeter Drucker- 
schwarze, vielmehr griffen Leidenschaft, Sachlich- 
keit an. 

Vor allem. 

Bei Ihnen : Menschen, die lieben und Abanderung 
suchen. Ich rede nicht vom Literarischen, das bei 
uns kaurn existiert, weder aus dixhuitieme noch 
aus Kirchenvatem surrogiert werden kann. 

Ich rede von der ausgesprochenen Unertraglich- 
keit dieser Zeit, die schon lange vor dem Kriege 
ekelte. Das Elend qualte immer als gieiches. 

Ihr Buch ist deutlich. Konstatiert. Wie lange 
schon ist es her, dafi Deutsche es wagten, test- 
zustelJen, ohne theoretische weitfaltige Demora- 

hsierung. 






Ich meine, in diesem Buch veroffentlicht zu sein, 
muBte Ihre Mitschreibenden verpflichten. 
Absichtlich schreibe ich Ihnen nicht vom Litera- 
rischen; es ist mir nicht genug entschieden, wa- 
gend. Aber das ist nicht Ihr Fehler. 

Ich weifi, auch Sie liebten mehr Kiinftigeres und 

vorgerissene Syntax gebauter Typen. 

Aber doch: 

Sie gehen zur Verwirklichung neuer Zeit . . . 
Ungehindert. Ohne Archaismus. Ohne Klassik. 
Noch nie bei uns gewesen. 

Mogen sich Ihre Mitarbeiter vor flinker Termino- 
logie bewahren. DaB die pathetische Terminologie 
- unwahrhafte Phrase — eines voreiligen sozia- 

len Kriminalfilms sie nicht verrage. 

Denn sie haben noch nicht das Unmittelbare ge- 
fressen. 

Auch aus der Lektiire Flaubert ist es nicht zu 
gewinnen. 

Ich danke Ihnen, daB Sie eine kurze Arbeit von 
mir veroffentlichten. 

Ich schatze sie nicht, was niemanden angeht. 

In Ihrem Aktionsbuch veroffentlicht zu sein, ver- 
pflichtet mich. Fern bleiben mir die dicken Hefte 
gebildeter Journalisten, die ohne HaB und Liebe, 
im Unentschiedenen einer schleppenden Gram- 
matik kluge unverbindliche Jahrgange burgern. — 
Wie verachte ich trage Ruhe, 

Mit herzlichen GruBen 
Ihr Einstein 




Raoul Hausmann Original-Holzsch nilt 










iv: i 1 .-: i 1 .-: 



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DIE AKTION 



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LITERARISCHE NEUERSCHEINUNGEN 

Brief aus neutralem Landc 

Luxembourg, 15. S, 17. 
Werter Herr Franz Pfemfert, 

seit Uber 1100 leeren Nachten lauschen Sie, von WUste um- 
logert, nach gUtigen Sltminen. (Die Menschen waren in den 
Zeitlaufen gen 1917 sehr sellen gewordcn auf dem Planet Erde, 
Raubtiere gediehen prachtvoll im Blute der Tungsten, die Jour 
nalisten wischten unsern Christ mil Zeitungen ins Gesicht, um ihn 
solchermaBen zu tdlen . . . werden Kllnftige meinen.) 

Finer der menschlichsten Luxembourger komponierte ein treues 
Buch Uber Verhaeren : Mathias Esch, den Edeln der ,,Closerie 
des Lilas 1 ' stets lieber Kainerad. Enihalien wir uns jeder Meta- 
kritik Uber diese nicht ausschliefilich krilische Schrift. lhre 
Prosa ist Vulkan wie die Dichtung des groGen Westlers. Auch 
sehr klug wird der zweite, etwas historische Teil der Schrift 
wohl sein, ist doch der Lateiner Esch gescheiter als vielc andere 
Luxembourger. Und so voll Trauer (stellenweise), daft der Belgier 
nicht mehr lebt 1 Aber es laOt sich jetzt sterben in Europe, 
besonders wenn man aus herzloser Umgebung schetdct, um in 
den Tagen der BrUderlichkeit unsterblich zu werden. 

Eierr Esch, Ihr Buch ist wichtig fUr Luxembourg, die Kulturen; 
die KUnste; Ihr Buch ist lebendig inmiuen der Ruinen des 
Katastropbenjahres Neunzchnhundertsiebzehn. 

In ineiner Stadt erschien vor einer Weile die dUnne Monats- 
schrift: Voix des jeunes- llerausgeber ist die Association gene- 
rale des Itudiants luxembourgeois. Nicht alle diese Zwanzig 
jahrigen sind schon jung, kranken (noch itrnner!) an fatalster 
Komantik. Batty Weber entwarf einen Aufruf zur Einleitung. 
Dann : Ungedrucktes von Verhaeren, ein Manifest des ..Cenacle 
des extremes", Reitrage von Paigen, Clement, Conter, Ksch und 
so fort. 

Sic, Herr Pfemfert. werden das Unternehmen aus kleiner Pro- 
vinz sttltzen, wenn Sie horen, dafi es nicht nach Grenzptahlen 
oriemiert ist. 

Das werden Sie, Freund, der luxembourger Jugend nicht ah* 
schlagent sender Zweifel I 

llerzlichst Ihr ' pol Michela 



ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS 
LVI 

Ein gediegener Ko pf, 

„Ich bin froh, wenn mei Alter wieder im Feld is 1“ — „\Varum? M 
— „Mit seinen Granatsplittern im Schiidel zcrreiGt er mir alle 
Kopfkissen l w 

Aus der Krugsnummer 160 dfs ,, Ulk Wochenhei- 
lage zum „j Berliner TageblaW' (Chefredakteur 
Theodor Wolff). 

,,Der Gl&nz des Papsttums wttrde bei den Volkern wachsen, 
denen dieser Friede noch rechtzeitig die Erfolge in den Scholl 
wirft, die ihnen der Krieg nicht gebracht hat, und bei den 
anderen wtlrde trotzdem die unbestimmte Vorstellung einer 
segensreichen Fricdens macht, die grbUer ist als der 
eigene nationale Staat, die GemUter verwirren, Wir sind nicht 
so tbricht, dafi wir aus konfcssioncllen GrUnden ein 
Friedensangebot ablehnen. Destok hirer tun wirs aus GrUnden 
deutschef Zukunft und deulscher Verantwortlichkeit. Wir sehen 
in dem papstliehen Friedensangebot einc Brtlcke, auf rler sich 
die Allierlen gerne retten mochten. Man hsse dem Schwcrt 
das letztc Wort I Wir Deutsche haben es nicht angerufen. 
G ere cht aber ist’s, daii seine Entscheidung den Frieden be- 
stimme I Ungcrccht und unchristlich ware es, uns FrUchte 
zu entwinden, die wir gerade jetzt zu pllUcken jmstande sind. 
Wir gehen weder nach Stockholm noch nach Rom, sondern 
freuen uns an Fricdrichsruh und der Wartburg 4 *. 

Pfarrer D, Trnub, Landiagsabgeordneter der 
^f'ortschr, Yolkspnrtei 1 ', in der ,, Tuglichen Rund- 

schau ", 24, 8. 1917. 

Die BUhnen ptlegen die geschlechtlichen Angelegenheiten 
weiter . . , 

Es widert uns an, wenn wir, in unseren Graben liegend, in den 
Zeitungen die Anzeigen Uber die heimischen Thcateraufftihrungcn 
lesen, Wedekind, Strindberg, Schnitzler sind da Trumpf . . , 

Theodor Seidenfaden in der „ Westdeutschen Lehrer - 
Zeitung u , Coin, 29. Juli 1916. 



KLEINER BRIEFKASTEN 

Lieber Leser, umlangst habe ich aus Parvus* BroschUre ,,Soziale 
Bilanz des Krieges" diese Zeilen zitiert : 

„Alle Hochachtung vor den Heldenkimpfern der 
russischen Revolutionfire, aber bei dem Stun des 
Zarismus haben auch wir milgewirkt — die 
Sozialdemokratie der Zentralmachte, W i r zogen 
damit in den Krieg und w i r haben unser Ziel 
errcicht." (Seite 24,) 

Ich land die „Wir" des betriebsamen Herrn seltsam. Jetzt, 
den 14. 8., lese ich im ..VorwSrts" : 

,,Genosse Parvus-Helphand, der in Deutschland 
lebt, aber geborener Russe ist, ... ist von der 
russischen Regie rung in Anklagezustand versetzt 
worden, Er antwortet dnrauf mit einer krftftigen 
Streitschrift , . 

Ich kaufte mir die J( kraftige Streitschrift" des VorwSrts-Genossen. 
denn ich wollte wissen, ob die BroschUre mit den famosen 
,,Wir" Anlafi zur Anklagc gegeben hatte. Das wSre immerhin 
mdglich gewesen, da ja Herr Parvus in dUrren Worten behauptet, 
gegen RuQland in den Krieg ge zogen zu sein. Aber die Streil- 
schrifi sagt darUber nichts. Was der „Vorwarts" als „kraftig“ 
bezeichnet, sind simple Schimpfereien, die ein ntlchterner Fuhr 
matin nicht fertig brachte, ,,HalbverrUckter Narr Kerenski". 
,,Heuchler und Spitzbuben". Und so. Besonders schon klingt 
„Verrater der Revolution", von Herrn Parvus geschrieen, oder 
,,Abenteurer". n Positives" gibt diese Stelle : 

„Ihr Narren, was sucht ihr, ob ich Lenin Geld ge- 
geben habe? Gerade Lenin und die andern, die ihr 
namentlich aufftlhrt, haben von mir, sei es als 
Geschenk oder als Darlehen, kein Geld verlangt 
oder erhahen. Aber ich habe ihnen und vielen 
andern Schlimmeres als Geld und Dynamit ge- 
geben. Ich gehore mit zu denjenigen, die den 
revolutionaren Willen der russischen Prole lari er 
geislig genahrt haben, den ihr jetzt ausrotten 
mdchtet und nicht konnt.“ 

Die haufige Benutzung des Wortes j^arren" ist unvorsichtig ; 
unvorsichtig ist die Prahlerei, Lenin sei ein geistiger Zogling 
des Hera usgebers der ,,Glocke‘‘. Denn , .gerade Lenin" hat 
im Genfer ,,Sozialdemokraten" vom 20. November 1915 cine 
klare Meinung aber Parvus verofifentlicht : 

,, Parvus, der sich schon in der russischen Revolution 
als Abenteurer erwiesen hat, ist jetzt in der von 
ihm herausgegebenen Zeitschrift n Die Glocke" 
bis an die autierste Grenze hinabgesunken. Er 
verteidigt in unglaublich unverschamter und selbst- 
zufriedener Weise die deutschen Opportunisten. 

Er hat alles verbrannt, was er einst anbelete; er 
hat den Kampf der revolutionaren Slromung mit 
der opportunistischen und tbre Geschichte in der 
imernationalen Sozialdemokratie ,, verge ssen", Mit 
der Ungezwungenheit eines des Beifalis der Bour- 
geoisie sichern Feuilletonisten klopft er M&rx auf 
die Schuller und „korrigiert“ ihn ohne eine Spur 
gewi ssen h after und aufmerksamer Kritik. Und 
irgendeinen Engel behandelt er direkt mit Ver- 
achtung. Er verteidigt die Pazifisten und Inter* 
nalionalisten in England, die Nationalisten und 
Hurrapatrioten in Deutschland ... In den sechs 
Nummern seines Organs ist kein ehrlicher Gedanke, 
kein ehrliches Argument, kein einziger aufrich- 
tiger Artikel enthalten . . , Herr Parvus hat die 
eiserne Stirn, bffentlich zu erklaren, seine ..Mission" 
bestehe darin, als ideales Bindeglied zu dienen 
zwischen dem bewaffneten deutschen und dem 
revolutionaren russischen Proletariat. Es genttgt, 
diese Phrase eines Narren niedriger zu hingen, 
damit die russischen Arbeiter ihn auslachen." 

Diese Kritik hatte Parvus hindern sollen, dem lebenden Lenin 
so ungezwungen auf die Schulter zu klopfen wie dem toten Marx. 

Ludwig Rubiner. Heft 10 der in Zurich erscheinenden deutscheo 
„Internationa 1 en Rundschau 41 hat eine Bauchbinde, auf der das 
Wort n Sensationell l a steht; mit Recht steht, Denn unter den 
Lieferanten von „Dokumenten der Menschlichkeit 1 *, die Herr 




493 



DIE AKTION 



494 



Reran sammell, wird der Name Georg Bernhard kotnmemien 
Geschlechlem aufbewahrl. Dieses ist da zu lesen : 

„Georg Bernhard schreibt in der „ Yossischcn 
Zeitung" vom 10. April einen Uberaus einsichts- 
vollen Aufsatz ilber seine Exkursion nach der 
Schweiz. Er nennt seine Keise eine Badekur der 
Seele, die ruhiger stimmt, und er ftlhlt sich in 
seinen Anschauungen durch sie bereicheru Solche 
Reisen und solche Art der Berichlerstaunng sind 
gceignet, das Versiehenwollen liber die Grenzen 
hinttber kriftig zu fordcrn." 

% r ieIIeicht beeilt sich Herr Felix Beran, Aufsatze 211 zitieren, 
die Herr Bernhard vor und nach dem io. April in der ^Voss.*" 
veroffentlichte ? Ich will gern beiheifen, denn ich habe ein 
besonderes Archiv angelegt filr die Leismngcn der privilegierien 
Zeitung. Herr Beran lese auch Heft 29/30 der „ Aktion" ; vielleicht 
eignet sich, was ich dort von G. B. gab? Oder cr drucke, was 
Bernhards Zeitung den 19. Mai unter dem Titel „Gegen falsche 
Sentimentality" leitanikelte ' Oder was Herr Bernhard von 
Herrn Max Th. Behrmann durch die Roiationsmaschine wandern 
liefi : 

K. Z. Also hier die Fortsetrang zum Possenspiel Scheler. Die 
^Frankfurter Zeilung" vom 5*Juni druckt diese Zeilen: 

= [..Sutnma".] Herr Dr. Max Sch el er sendet uns 
mit dem Ersuchen um Wiedergabe folgende Zu- 
schrift : „In dem ^Summa** tlberschriebenen 

FeuiUetonirtikel der Nr. 149 Ihres hochgeschitzten 
Blattes bemerkt der mit „D" unterzeichnete Autor 
inbezug auf die seit kurzern in Hellerau er- 
scheinende Zeitschrift „Summa" u. a. Folgendes : 

„ Einer der Hauptmitarbeiter ist der kalholische 
Schriftsteller Max Scheler; die nachste Nummer 
wird ein Schreiben an S. H. den Papst Benedikl XV. 
eine europhische Verfassung betrcffend bringen." 

Es ist mir von Wert, festzustellen, dafl ich keines- 
wegs als Hauptmitarbeiter der„Sumnia" bezeichnet 
werden kann. Ich s&ndte ohne jede Vnrkenntnis 
des Inhalts des erslen und zweiten Ileftes vor 
Monaten zwei Aufsatze rein philosophischer Naiur 
fbr das I. und 2. Heft dem Herausgeber auf seinen 
Wunsch hin ein. Auch von dem Projekt 
eines Schreibens an S. H. den Papst, ein 
Schreiben, dem ich nach Inhalt und Abfassung 
vollig femstehe, war mir, bevor ich die ge- 
dmckte Voranzeige des 2. Heftes erhielt. nicht 
das Mindestc bekannt." 

Herrn Schelers Zuschrift hatte kurze Beine. Den 20. Juni 
schreibt die „ Frankfurter 11 : 

= [Summa — Dr. Scheler. j In einem voll- 

kotnmenen Widerspruch dazu steht nun eine 
Zuschrift von Franz Blei, die ebenfalls zum 
Abdruck zu bringen wir uns verpflichtet fohlen, 
wobet wir nur einige Worte aus prefigesetzlichen 
Grtlnden unterdrtlcken mtlssen, Die Zuschrift 
lautet : 

„Scit dem September 1916 habe ich von Dr. Scheler 
22 Briete und vier Telegramme in Angelegenheiten 
der „Summa" erhallen und einen Tag lang mit 
ihm in Leipzig konferiert, wohin er zu dem Zwecke 
von Miinchen aus katn. Seine Mitarbeiterschaft 
an der Zeitschrift ist also wohl nicht, wie er 
gl&uben machen will, das zufallige Ergebnis einer 
gelegemlichen Aufforderung, der er ahnungslos 
und gefallig nachkatn. Ihm vor dem Druck die 
Aufsatze vorzulegcn, bestand allerdings kein Anlafl, 
denn Dr. Scheler ist nicht der Herausgeber der 
weder kathotischen noch phanomenologischen 
„Summa a . Immerhin kennt er den Papstbrief vor 
seinem Erscheinen und schreibt mir dartlber am 



24, Mai ; „Rrief an den pRpst im erslen Teil gut, 
im zweilen unklar." Was den kleinen Aufsatz 
„Saulus" anlangt, dessen mifiverstehendc Kritik in 
tier „Frankfurier Zeitung*’ Dr. Scheler zu seinem 
Protest der Vorsicht, Hauptmitarbeiter zu sein, 
veranlatlt hat, so schreibt inir Scheler dartlber — 
und icb ziliere Vorder* und Nachsatz, damit man 
nicht gluube, ich reiOe aus dem Zusammenhang : 
„Autgabe des Publizisten ist voiler Perspektiven, 

Saulus wirklich ausgezeichnet ; aber es wird die 
juden toll argern. Doch w&rtim nicht ? Ihre 
Kantpersiphlage . . Es tut mir . . . leid, die . . . 
feststellen zu mtlssen. DaS B die Juden toll zu 
argern** das Motiv flir die Wiedergabe der Ritter 
schen theologischen Fragestellung war, wird nur 
ein schlechtes jlldisches oder christliches Gewissen 
behaupten, das Judenhafl oder Christenhafi cmp- 
lindet. Mit besiem Dank flir den Abdruck dieser 
Zeilen bin ich Ihr ergebener F. Blei," 

, . . Das p Summa W 'Heft mil dem Papstbrief ist bis 
zum heutigen Tage nicht erschienen, also mutl 
auch fUr den Fernstehenden Franz Bleis Antwort 
als Erledigung einer Liige gelten. Doch derartige 
Kleinigkeiten dtlrften kaum geeignet sein, die 
hofinungsvolle Laufbahn des grotlen zeitgemaflen 
Philosophen Scheler zu verschtluen. Der wird’s 
schon machen l 

Tom Nun mdchlen Sie noch wissen, wie sich die verschiedenen 
Sozialisten-Parteien Deutschlands zu Stockholm slellen? Dafl 
die Davidsbtlndler dort ihre „Internationalitat" zu reparieren 
hotTten, wird Ihnen bekannt sein. Dafl auch die „Unabhlingigen" 
hinpilgerten, war schon schwerer erklarlich. Die Gruppc 
„Spartakus“ lehnte jede Teilnahme ab. Wie sich die A.S.P. 
entscheiden wlirde, falls die Konferenz stattfinden sollte, miiflte 
nicht zweifelhaft sein. Uberhaupt ist der ganze Lfcrm um 
Stockholm wenig ernst zu nehmen. Sinn und Wert konnte 
diese Zusammenkunft doch nur dann haben, wenn die Tcil- 
nehmer eine tatsachliche, re ale Macht reprasentieren wtirden 
oder durch ihre Regierungen mil Vollmachten versehen wa* 
ren ! Preiscnd mit viel schonen Reden ihrer Wiihler Wert und Zahl — 
ist zu solchcm Zwecke Stockholm notig? Wir kennen die Weise, 
wir kennen den Text. Wir kennen auch die Verfasser. . . 

F. M. Der in Berlin erscheinende ^Deutsche Kurier" (der 
keine Telegram madresse haben will, sondern eine ^Drahtungs- 
anschrift**, der sich aber zu strauben scheint, reindeutsch : 
„Deutscher reitender Eilbote" zu heitlen) erheitert taglich meine 
Abende. Offener, brutaler, „alldeutscher* ist kein zweites 
Organ, kein andercs Blatt zerstbrt so schonungslos pazifistische 
Illusioncn. Ein Beispiel; I>a war die Reichstags-„Mehrheit u 
und der Vorstand dcr „Demschen Friedensgesellschaft" stolz 
auf jene Resolution vom 19. Juli. „Frieden del Ausgleichs und 
der Vcrstandigung" forderte die. „Schaltierungen der Auffassung" 
seien moglich, sagte Herr Michaelts. Die Auffassung des 
nationalliberalen „Kuriers' 4 (25. 8. 1917) schattierl also: 

r Ausgleich‘ bedeutet doch, dafl Ungleichheilen, die vorher 
da waren, beseitigl werden. Gibl es aber groflere Ungleich- 
heiten, als den ter r ilorial e n Besitz, wie er vor dem 
Kriege zwischen den groGen Machten verteilt war? . . . 
Und „Verstandigung“ I War etwa der Frankfurter Friede, 
bei dem unser Volk das eroberie Elsafl-Lothringen nach 
Hause brachte, kein Friede der „ Verstiindigung" ? Konncn 
wir uns nicht mit unsern Feinden schlielilich dartlber n ver- 
stfindigen", dafl sie uns im Wege des „ Ausgleichs" , abge- 
sehen von einer Kriegsentschadigung, Kurland und Littauen, 
die politische, militarische und wirtschaftliche Gewalt liber 
Belg ien, das Erzgebiet von Briey und andere ftlr uns not- 
wendige Werte liberlassen?" 

AN DIE Bl/TTEN ABONNENTEN: 

Diesem Heft ist ein numeriertcr und signierter Original! lolz- 
scbnitt von Ines Wetzel beigegeben. 



INHALT DER VORIOEN NUMMER: Vlastislav Hofman (Prag) : Dostojewskijs Portrat. Holzsclmitt (Titelblalt) / Margarethe 
Goetz (Zurich): Zwei Zeichnungen zur Zeit / Max Brod: Aus einer Szene „Der Genius des Krieges" / Myrrha Tunas: Heder- 
mausflug / Karl Sgraffoldo und Rudolf Hartig: Verse vom Schlachtfeld / Theodor Lessing: Europa und Asien / Anton Pirek: 
Der Totenhof (Zeichnung) / Felix Muller: Portrat des M, d, ,, A." Victor Fraenkl / Aus Bakunins Briefwechsel mit Herzen / 
Georg Tappert: Portrat (Zeichnung) / Karl Otten: Die Nachtwandlerin / Alfred Wolfenstein : Der Leichenwagen / Max Herr- 
mann: Der am Leben stirbl / Kura Adler: Sommergang / Alexei Kolzow: Frage (Deutsch von Otto Frhr. von Taube) / Lothar 
Homeyer: Original-Holzschnitt / Kurt Pinthus: Der Lyriker Wilhelm Klemm / Else Lasker-Schuler : Max Herrmann und ein 

Doppelportrat / Hans Koch: Traume / F. P,: Ich schneide die Zeit aus; Kleiner Briefkasten 




Fur Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten 
Inhalt verantwortlich: Franz Pfemfert, Berlin- Wil- 
mersdorf, Nassauische StraBe 17, Tel. Pfalzbg.1695 
Gedruckt bei F. E, Haag, Melle in Hannover. 
Dit AKTION erscheintjedenSonnabend. Abonne- 
meats kosten vierteljahrlich durch die Post, durch 
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WOCHENSCHRIFT FUR POUTIK, LITE R ATU R, KUNST 
TU. JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT Nft H 



INHALT: Felix Muller: Schiffe (Original-Holzschnitt) / Jean Paul: Die Ajinexionisten / Franz Mehring: Marxens junge Jahre / 
Felix Muller: Franz Mehring: (Federzeichnung) / Theodor Lessing: Europa und Asien / Otto Freundlich: Zeichnung / Wil- 
helm Schuler: Emte (Original-Holzschnitt) / Edlef Koppen und Rudolf Hartig: Verse vom Schlachtfelde / Max Krause: riolz- 
schnitt / Karl Otten: Verse f Alexei Kolzow: Herbst / Walther Eidlitz: Weinland / Jesa d'Ouckh: Rausch / Alfred Wolfen- 
stein: Neue Stadt i Georg Tappert: Portrait des Malers K. J. Hirsch / Max Brod: Notiz / Jurgen von der Wense: Finale / 
Franz Jung: Jehan. Eine Novel le / F. P„: Ich schneide die Zeit aus; Kleiner Briefkasten / Mitteilung an die Abonnenten 




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in Halbpergament gebunden, signiert, 








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