W0CHEN8CHRIFT FOR POUTIK. UTERATUR, KUN8T
1JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT NR l
INHALT: Hans Richter: Widmungsblatt ftir die AKTJON (Titelbild) / Ludwig burner: Jahreswende 1916 / Otokar Bfezina:
a j frm Werfel : Substantiv tmd Verbum / Geoi^ Tappert : Zeichnung / Max Elskamp: Abschied / Gathmann: Wir /
ns Blnabaum : Halluzinatorische Observation 2; Erotik / Franz Werfel: Die neue H6ite / Christian Schad: Zwei
Zdchnungen / Wilhelm Klemm, Gottfried Benn, Kurd Adler, Max Herrmann (Neisse): Gedichte / Hieronymus Sturgkh:
Zed Silvester-Poemata / Hans Richter: DSubler / Mynona: Groteske / Albert Ehrenstein: Traum / Japanischer Holzschmtt t
Fruu Piemfert: Herrn Theodor Wolff vom / Kleiner BriefVasten > leh schneide die Zeit aus / Erich Gehre: Landschaft
H EFT 50 PFQ.
AKTIONS-BUCHER DER AETERNISTEN
Band I :
FERDINAND HARDEKOPF
Lesestiicke
C
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A
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Band 2:
E I N S T E I
r k u n e e
F
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Band 3:
R A N Z J
p f e r
Ein Roman
A
Band 4:
N Z J
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Band 1, 2 und 4 kosten gebunden je M.
Band 3 kostet gebunden M. 3, —
2,
DIE AKTIONS
Band 1 :
L Y R I K
A914 — 1916
Eine Anthologie
Band 2 :
JUNGSTE TSCHECHISCHE LYRIK
Eine Anthologie
Jeder Band gebunden M. 3, —
WILHELM K L E M M
Verse und Bilder
Luxusausgabe M. 15,—
FRANZ J
Sophie. Der Kreuzweg
Ein Roman. Geb. M. 3,— ,
V N G
der Demut
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CARL EINSTEIN: BEBUQUIN ODER
DIE DILETTANTEN DES WUNDERS
Mil BegleUworten von Franz Blei und dem
Bildni* des Dichters von Max Oppenheimer
Preis M. 3, —
VERLAG DIE AKTION
KUNST -SONDERHEFTE
DER AKTION
„Neue Secession" / Richter-Berlin / Schmidt-
Rottluff / K. J. Hirsch / Hans Richter /
Wilhelm Morgner / Egon Schiele / Georg
Tappert — Heinrich Schaefer / Else von
zur Muhlen / Ines Wetzel
DICHTER
DER
SONDERHEFTE
AKTION
Franz Blei / Gottfried Kolwel / S. Fried-
laender / Alfred Lichtenstein / Paris von
Giitersloh / Heinrich Schaefer / Theodor
Daubler / Paul Adler / Franz Werfel
SONDERHEFTE „DIE VOLKER“
,, Rutland 1 1 (mit Geleitworten von Maximilian
Harden) / ,, England" / ,,Frankreich" / ,,Bel-
gien" / „Italien" / „Bdhmen'* / „ Deutschland"
DIE LYRISCHEN ANTHOLOGIEN
Jedes Sonderheft, gewohnliche Ausgabe,
kostet 50 Pfg.
Die Dichterhefte Heinrich Mann, Carl Ein-
stein, Hardekopf und die Erste Lyrische
Anthologie sind vergriffen und nur in com-
pletten Jahrgangen enthalten. Von alien
ubrigen Sonderheften ist eine kleine Zahl
(etwa je zehn Exemplare!) der Butten-
ausgabe erhaltlich. Jedes Heft kostet
nummeriert M. 2, —
KUNSTLER-POSTKARTEN DER AKTION
Es sind 80 verscbiedenc Drucke erschienen
Zeichnungen von Mopp / Kars / Schmidt- Roll luff / Schrimpf
I Klein / Richter-Berlin / Nadelman j Feininger / Harta /
Schiele / Mense / Melzer / Tappert / Else von zur
Mtlhlen / Hans Richter / Josef Capek / Morgner u. a.
ioo Stuck M. 3, —
portofrei gegen Voreinsendung des Betrages
VERLAG DIE AKTION
POLITISCHE AKTIONS-BIBLIOTHEK
Erstes Werk:
ALEXANDER
HERZEN
u n g
Deutsch von Otto Buek
Zwei Biinde. (446 und 338 Seitcn.)
drei Portraits
Mit
Gebunden M. 12,50, broschiert M. 10, —
Fur Abonnenten der AKTION nur direkt vom
Verlage : M. 8, — geb., M. 5, — broschiert
VERLAG DIE AKTION
,,Uebrigens empfehle ich Dir dringend zu lesen: M Aus
den Memoiren etnes Russen“ von Alexander Herzen.
Hochst lehrreich und schrecklich I"
Friedrich Nietxsche an Erwin Rohde.
Dies unvergangliche Memoirenwerk von einem der glin-
zendslcn und anziehendsten Geister, die RuQland je
hervorgebracht, ist von einer inneren Kraft durchdrungen,
wie sie nur eebten Dichterwcrken eigen ist. Als Volker-
psychologe und Mcnschcnkenner offenbart Herzen eine
Feinheit und Elastizitat des Begreifens, die nicht nur
auf Erfahrung, sondern auch auf Genialitat beruhen, Cber
Rutland und das russische Volk erfahn man aus diesen
Memoireo Wesentliches und Unvergefllichcs.
it NcUrland u Monatsbldtter.
Das Leben Herzens ist ein Roman, nicht nur die Tra*
godie eines der machtvollsten Publizisten, sondern ein
Zeitroman , . . Ein wichtiges, interessantes Werk.^
Xeue Frcie Presse, H'*Vn.
Alexander Herzen tritt in der vollen Kraft seiner Person-
lichkeit heme wieder vor uns hin, gleich als wolle er
der Idee, die sich an seinen Namen kntlpit, zum Siege
vorhelfcn. „I>*e tixlfe' 1 , Berlin.
WOCHENSCHRIFT FOR POLITIK, LITE R ATU R, KUNST
7. jahrgang HERAUSQEQEBEN VON FRANZ PFEMFERT 6 - JANUAR 1917
JAHRESWENDE 1916
(Pur die ACTION gedichtet)
Schnee deckt Erde. Bluttrunkene Erde deckt
Schnee ... —
GroBe Mutter, die du uns alle segnest,
Erde du, die riu uns alien und iiberall begegnest,
Toter, Getoteter, Sterbender, Lebender, Werden-
der Mutter du, Evoe!
Fahlsuchtige Nacht, einer tiefsten Sage ent-
sungen,
Stemgespaltene Stirn, aus der der Gott steigt,
leuchtet!
Gott! Du! Der! Du! Von den Zungen alter Weis-
sagungen befeuchtet! . . .
O! wundervoller schrie nie Zeit aus ihren Lungen.
Wundervoller nie ... War. Wahr. Wahr?
War? . . .
Immer rast seuchender Sommer, pestet Fruhling,
giftnebelt Herbst, totet Winterschw eigen. —
Erde? Mutter? tontest du uns deiner VerheiBun-
gen Geigen?
Wer? Irrsam dein Leib? Wem botest du Seele
deiner Sehnsiichte dar?
Wem?! Wann wieder zittert Zeit?
Umseelt Glutschaum Entseelter wundervollen
Kem?
Stdhnt Nacht, entsaugt sich seiner Wiederkehr
der Stern,
Der dich, uns, dich an Ewigkeiten reiht?! . . .
Segne uns Erde! Erde, du, flammendem SchoB
entsungen,
Da Gott aus unerhorten Einsamkeiten rief.
Begegne uns, Mutter du! Segne! begegne uns,
Erde! * . . tief,
Tiefer sauge uns ein entsturzende Kraft deiner
Lungen.
Ludwig Bdumer
PROLOG ZU FRANTISEK BILEKS VATER-
UNSER
Von 0 tol ar Bhtina
Ich will, daB man meine Worte nur auffasse als
das machtige Schweigen vor dem Gebet und als
die Konzentration der seelischen Krafte vor seiner
geheimnisvollen Arbeit. DaB sie das schmerzliche
Dammern seien, in welchem die Glut der irdischen
Lichter erlischt und in welchem die verborgenen
Luster des seelischen Zenits entziindet werden,
wie bei volistandiger Sonnenfinsternis, neben den
blutig quellenden Wunden der Protuberanzen, an
dem abgriindig vertieften Himmel die heilige Be-
wegung weiBer Sterne lodert, in den majesta-
tischen Perspektiven des Kosmos.
Ich will, dab ihr bis an jene Orte niedersteiget,
wo eure Seele sich mit den Seelen unzahliger
Briider in einem einzigen Schmerze begegnet,
gleich bittern Wurzeln, die sich durch das Dunkel
hindurchmuhen, aneinandergepreBt von der stei-
nernen, in innerem Feuer sich krampfenden Faust
der Erde. An die Orte, wo tausende Lippen sich
vereinen zu einem einzigen, entbrannten und in
derSehnsucht Wehklagen durch Aeonen atmenden
Lippenpaar und wo aus Millionen und AbermilH-
onen von Angesichtern gleich der Ausstrahlung
eines verborgenen Lichtes, Zug fur Zug, Strahl
um Strahl, das mystische Antlitz des Menschen
sich heraushebt, schmerzlich, liebreich und den
Zeittiefen entschimmernd wie ein sich nahender
Stern. Wir sind hier an den Orten innerlicher
Windstille. Ailes, w ? a$ die Seele scheidet, ist fern
hinter dem Horizont. Gleich einem stillen Schiff
treibt hier das Herz durch die Jahrtausende, ent-
fiihrt von den gliihenden Aquatorialstromen der
Liebe.
Neue Bereiche des Lebens tauchen an den Gesia-
den empor. Ins Unendliche weiten sich die strah-
lenden Perspektiven der Analogien. Die Sinne,
einer nach dem andem, bersten wie Knospen zur
Blute der Erkenntnis, der Sonne erschlossen. Die
Dinge erscheinen hier als Spiegel von SymboJen,
die geheimnisvolle Bewegung unsichtbarer Ereig-
nisse ins Sichtbare abspiegelnd. Jeder Stein und
jeder Baum unserer Wege, jeder Vogel, jede
Wolke und jeder Stern, fliegend im Blau iiber
ihnen, wird hier mit einmal zum Weiser eines
Wegs, der durch Jahrtausende fiihrt. Und die
glanzenden und schmerzlichen Visionen, die an
diesen Orten die demiitigen Seelen der Liebenden
3
DIE AKTION
4
besuchen, sind wie Bilder der einzelnen Phasen
des schwindeligen Werkes der Gnade, das sich auf
Erden und im Weltall entfaltet. Eine unendliche
Sehnsucht nach der Heimat erfaBt hier die Seelen,
jene ewige Sehnsucht der Menschheit, tausendmal
enttauscht und emeut in jedem Fruhlinge gleich
uberschwemmten Fliissen singend, eine Sehn-
sucht, die in die Zukunft alles legt, was die Gegen-
wart nicht zu geben vermag, die aus jedem zer-
triimmerten Stern wie aus einem zerschlagenen
Bienenstock den goldenen Schwarm der Bienen,
das sanftigende Lacheln illusiver Sterne fliegen
laBt und die aus der Hoffnung einen Strom ge-
macht hat, der alle Knospen des Lebens zur Blute
treibt.
Aus diesen Orten tretet hinaus in die bitteren,
stillen, versonnenen Garten des gegenwartigen
Werkes. Das Geheimnis des Gebetes wird euch
in neuem Lichte erstrahlen. Ihr werdet erkennen,
dafi es abspiegelt die ganze Geschichte der
menschlichen Seele auf Erden, vom ersten Schrei
der Zerknirschung und schmerzlicher Verbitterung
der irdischen Dinge bis zur ergebenen Hinnahme
des Lebens und der Freude und bis zum letzten,
ekstatischen hoheren In-den-Armen-Ruhen vor ei-
nem neuen sieghaftern und schweigsamern Wege.
Der gesamte klare Bogen geisugen Fluges, uber
die Jahrtausende gespannt, beginnt vor euch zu
kreisen. An jeglicher Stelle zittert an ihm in die
Zeiten der Glanz weinender und wie Turteltauben
singender Seelen. in der Blute eines blendenden
Regenbogens erhebt er sich reglos in der Bewe-
gung der Wolken, die durch seine Sphare hin-
durchgehen, — Alle diese Stadien findet ihr hier
abgespiegelt und eingefangen von einer gleicher-
maBen schmerzlichen wie mitleidigen und lieben-
den Hand. Ihr erschauet hier die Gesten einer
ewigen, stummen Trauer, demiitig hingenommen
wie die Wucht todlichen Schlages ohne Laut;
mystische Augen vervielfacht wie die Sterne eines
ganzen Kosmos von Schmerz; aber auch silbeme
Morgendammerungen und gliihende Augusttage
geistiger Ernte, wo die Herzen, gleich der Sonne
entflammt, das gesamte All mit Glanz zu erfiillen
sich sehnen. Die Umfahung der hochsten Liebe
ist hier in einer so tiefen und kiihnen Vision sym-
bolisiert, dafi vielleicht einzig die bildende Kunst
fahig ist, sie noch auszudriicken, denn das Wort
fande an solchen Stellen niemals den Mut, zu reden.
— Und wenn ihr bis hierher gestiegen seid, so
wird der symbolische Wuchs dieser Linien, der
vom Wirbelwind des Schmerzes geriittelte, in De-
mut gebrochene, entwurzelte Wald vor euch in
den Blitzen eurer Tiefen auflodern und rein, mit
einer einzigen, groBen, heiligen unbewegten
Flamme verbrennen, ein Siihnopfer, ewiges Feuer,
auf immer geschiirt von den Liebenden.
Und wenn ihr zu der Arbeit der Erde wiederkehrt,
in die Reihen ihrer Tagewerker, zu den Feuer-
essen eines Werkes, zu den im Nachdenken euren
Handen entfallenen Werkzeugen, zu eurer Saat,
zu den steinigen Feldern eures Erbguts, so erhebt
ihr euch wie erwacht nach starkendem Traum; im
Antlitz aller Briider, denen ihr begegnet, gewahrt
ihr den Abglanz eines geheimnisvollen Angesichts,
das Grauen und Heil ewigen Glanzens, und
ihr werdet es lieben. Die Wunden aller Her-
zen werden euch sein wie Rosenbetten, darinnen
schlummert und daraus sich erhebt der geistige
Mensch. Und ihr werdet einen neuen, fruchtbaren
Schmerz dulden, weil ihr begreifet, wie der Dich-
ter dieser Zeichnungen begriff, daB die Nagel der
geheimnisvollen Kreuzigung alle Zeiten und die
Hiinde aller Gefesselten, Verschiichierten, zu Bo-
den Gedriickten, nach dem Lichte Schmachtenden,
vor Durst Vergehenden durchdringen; aber auch
die aller Giitigen, SuBen, Briiderlichen, Mutigen,
neue Horizonte ErschlieBenden, allzu friih Gebo-
renen.
Und so dies Werk noch mit andern Worten zu
euch reden wird (starke Kunst redet zu tausend
Seelen in tausend Zungen), wisset, daB zahllose
Wege sind, auf denen unsere Seele dem Leben
dient. Und daB selbst in den Stimmen der Ableh-
nung und des Widerspruchs, den unsere Worte
erregen, die ununterbrochene Arbeit der Wahr-
heit auf Erden unterstiitzt wird. Und daB jedes
machtige, das ganze Wesen erschutternde Ereig-
nis, wie es die Begegnung mit einem starken
Kunstwerk ist, seinen verborgenen EinfluB auf
die geheimnisvolle Gipfelung, das Zusammen-
flieBen der Krafte und die Schopfung der geistigen
Blute der Erde hat.
(Deutsch von Otto Pick)
SUBSTANTIV UND VERBUM
Notiz zu einer Poetih
Von Franz Werfel
1
Den Wert des Verswortes macht seine assozia-
tive Potenz aus.
Eindeutigkeit ist der Tod des dichterischen Wor-
tes, ebenso wie sie das Leben der Prosa ist.
Das Prosa-Wort schlieBt eine Vorstellung ein,
die tausend grammatische und syntaktische Mit-
tel hat, sich mit anderen Vorstellungen in Bezie-
hung zu setzen. Das Vers-Wort ist diese Bezie-
hung selbst.
In der Prosa ist das Substantiv der Trager der
Betonung. „Er war Landarzt und lebte in einem
kleinen Flecken der Oberpfalz. u Auch die Beto-
nung beim Vorlesen ist damit gegeben.
In der Poesie ist der Trager der Betonung das
Verbum. Diese Unterscheidung ist selbstver-
standlich ungemein ubertrieben, aber nur durch
Obertreibung wird Wesentliches deutlich.
Das Substantiv des Verses ist vieldeutig, assoziativ,
symbolisch. Es ist ein GefaB, das es dem Leser
iiberlaBt, die eigene durch das Verbum des Dich-
ters aufgerufene Vision einzufiillen.
„Wo nehm ich, wenn es Winter ist?“
Dieser Winter ist tausenddeutig. Und gerade in
dieser Tausenddeutigkeit besteht sein iiberwah
tigend Konkretes. Konkret ist nicht, was sinnlich
eindeutig fa 8b a r, sondern was am assoziativsten
ist, was mehr Welt in sich hat. Das Substantiv des
Verses ist delphisch, es hat die innere vieldeutige
DIE AKTION
Oberdeutlichkeit, doch auch das Gedampfte des
Geheimnisses.
In der Deklamation bleibt es unbetont.
Das Verbum des Verses ist mehr, ais eindeutig.
Es ist uberbestimmt und gegen den Leser uner-
bittbch, denn es ist der Trager der Leidenschaft
und der Tat. Nicht ist es der Ausdruck eines
Tuns, sondem dieses Tun selbst. (Da rum ist wohl
die mittelbarste Verbalform, das Jmperfektum,
dem Verse fremd.) Das Vers verbum ist von klarer
sinnlicher Vision, dabei durchaus ubertrieben, er-
scheint gleichsam immer mit zusammengebissenen
Zahnen, oder die Hand auf dem Herzen!
„Im Winde klirren die Fahnen.“
Das Verbum des Verses ist im Tun ein Verbum
militans, im Leiden ein Verbum martyre, immer
aber cantabile oder furioso.
Ein guter Rezitator wird dabei fast immer alien
Ton auf das Verbum legen, denn es ist das dyna-
mische Regulativ, ZeitmaB und Manometer des
Verses, und dabei seine hochste Realitat.
In der Welt, die in der Sprache ihr Gleichnis hat,
leiht sich das Licht den Dingen. In der Welt, die
im Vers ihr Gleichnis hat, wirft sich das Licht
einzig aut die Bewegung, auf den Willen Oder
aut die Gelenktheit der Dinge, jedenfalls auf ihr
Zueinander. Die Dinge selbst bleiben gespentisch
und im Schatten.
In der Welt des Traumes ist es nicht anders. Den
Traum erleben wir, tiefer in ihm stehend, als wir
im Wachen stehn, zugleich doch feme fiber ihm
stehend. Im Traume ahnen wir die Er-
lebensart absoluterer Wesen, als wir es sind.
Die Gegenstande vereinfachen sich in ihrer Form,
und vervielfachen sich in ihrer Bedeutung. Sie
werden, indem sie scheinbar den Weg der Ab-
straktion beschreiten, zu den hochsten Realitaten
des Lebens, zu Sinnbildem. Dberzeugend zeigtdas
Strindberg im j.TraumspieF*. Die Kulissen einer
Dekoration verwandeln sich zu vielen wechseln-
den Bedeutungen. — Die Buhnentfire wird zur
Kontorture der Advokatenkanzlei, endlich zurTfire
des Geheimnisses selbst. Das Bleibende ist, da 6
immer Menschen vor ihr warten.
Die Orgel im Hintergrund der Kirche wird zu den
Basaltsaulen der Fingalsgrotte; gleich bleibt nur,
dab sie die Stimme der jammernden Menschheit
und die Stimme der Winde tont.
Im Zustand des Traumes und der Dichtung, in
absoluteren Zustanden, ist wirklich allein das
Geschehen, das Ding aber gleichnishaft und weh-
leidig zuriickgezogen.
II
Schon aus diesen unvoUkommenen Bemerkungen
erhellt, dafi die Erlebnisformen von Zeit und
Raum im Verse durchaus verschieden von den
gultigen Erlebnisformen sind.
Die dichterische Zeit ist paradox. Sie lauft ab,
ohne sich von der Stelle zu ruhren. Sie reimt,
ohne vom Fleck zu kommen, bis an jhr Ende.
Sie ist eine tumultuare Dauer. Auch hier lebt der
Bann des Traumenden, der das Ereignis voll-
bringt, ohne sich hewegen zu konnen. Das all-
gemeine Zeiterlebnis hat seine ausschlaggebende
Bedingung darin, dafi diese konventionelle Zeit
ein Abenteuer ist, nur unbekannte, trotz Hoff-
nung, Ahnung, Angst, SchluBfoIgerung anbe-
rechenbare Ereignisse auf ihrer FLache tragend,
durch das BewuBtsein stfirzt, daB sie ihrem We-
sen nach unvorhergesehen, daB sie Zukunft ist.
Ffir das hohere BewuBtsein des Dichters oder
des Traumenden ist aber das Zukfinftige, ehe
es noch eintritt, Vergangenheit. Das hat mit
Weisheit und hoher Einsicht in Kausalitaten nichts
zu tun, der Traumende und der Dichter erfahrt
hier die Ahnung eines gbitiichen Attributs, das
die Theologie „AlizeitIichkeit Gottes <( nennen
konnte. — Die Aufeinander-Folgen durchdringen
sich nach einem andem Gesetz, man mag an den
Schritt zweier gegeneinander gerichteter FfiBe
denken.
Die seltene Lebenserscheinung der faux con-
naissance, das plotzlich blitzhafte „Das habe ich
schon erlebt“, dieses Phanomen dauert in
der traumenden und dichtenden Seele, und ver-
laBt sie nicht Die Zeit, die im Verse dahingeht,
hat sich schon erfullt, ehe sie abgelaufen ist.
Sie erlaubt keine Hoffnungen, und wenn Hoff-
nung ausgesprochen wird, so ist ihr schon be-
wuBt, ob sie in Erfullung geht oder nicht. Von
diesem fiberschwebenden Wissen rfihrt die imma-
nente Schwermut alles Vershaften her. (Auch
Heiterkeit ist Schwermut.) Das normale BewuBt-
sein, je tiefer stehend, je mehr, ist sich nur des
Zufalls bewuBt, das dichterische BewuBtsein, je
hbher, je mehr, nur der Notwendigkeit. Das Re-
gime des Lebens heiBt: Zufall (TLXH), zugleich
das groBte Verbrechen der Kunst, deren Wert-
maB die Notwendigkeit (ANATKH) ist.
Georg Tappert
Zeichmmg
7
DIE AKTION
8
Ein Zeichen dafiir, daB die Bewegung, das Ge-
schehen innerhalb des Verses, ein dauernder Vor*
Rang, gteichsam ein ewiges Sturzen, ein uner*
miidendes Rasen ist, scheint mir die Art der
Anwendung des Participiums zu sein.
Das Participium ist die starkste dichterische Ver-
balform, denn es ist die Bejahung des Vorgangs,
der Moment, wo der Dichter dem Unerbittlichen
sich entgegenwirft, um das Geschehen unendlich
zu machen. Das Participium iibertrifft bei wei-
tem den infinitiv an Kraft, weil es zugreifend
ist, immer bestimmt, immer etwas faBt, und mit
Leidenschaft im Arm tragt, wahrend der Infini-
tiv abstrakt ist, einem blutlosen Theoretiker
gleicht, der im entscheidenden Augenblick aus-
reiBt. Das Particip ist die angemessene Aus-
drucksform der Trunkenheit, der Ekstase, der
Raserei, und der dazu polaren Spanmmgen, im*
mer aber mit einer kleinen weiblichen Betonung
von Resolutheit Oder Innigkeit.
Mir fallt dazu ein, daB Wagners Text zu Isoldens
Liebestod (fast bis zur Lacherlichkeit) Partici-
pien aneinanderreiht.
Eine sehr schone Stelle will ich aus einem Ge-
dichte der Lasker-Schuler noch hiehersetzen.
„Und meine Sehnsucht, hingegebene.“
Das Substantiv Sehnsucht ist hier mit hoher Ab-
sicht blaB, madchenhaft verzagend gewahlt, damit
ein ObermaB von Innigkeit auf dem Participium
ruhe: hi ngeg ebene!*) Es wird hier bis zur
Schwarmerei verstarkt durch die Form der Sub-
sta ntivierung und Postposition, beides an
die gottliche antike Grammatik gemahnend.
Die Hingcbung hier will nicht enden, will keine
Liebeserfiillung; sic ist sich mit ihrer Schwer*
mut genug, kaum daB sie die Lippen eines Schla-
fenden kussen will, um weiter zu wachen uber
Endymion, unverganglich in ihrem E-Laut.
Hier mochte zu besserem Verstandnis noch eini-
ges iiber die dichterische Bedeutung der Vokale
vorvveggenommen werden. Der E-Laut bedeutet
alles Ebene, alles unendlich als Flache in die
Feme Gestreckte. Das E hat den sehnsiichtig
starrcn Blick einer liebenden Fiirstin, die ihr
Hcrz verschlieBt: Ebene, Nebel, ewig, elend,
Schnee, Leere, Sehnsucht, Seele. Wie ist dies
alles ins Unendliche gerichtet!
Wundervoll korrcspondieren in dem zitierten Vers
all diese Bcdcutungen. Funf E-Laute treten in
Beziehung und sammeln sich in dem starren Lie-
besblick der Verbalform:
„Sehnsucht, hingegebene/*
Das Reimwort Ebene, endloser Blick bebenden
Maudes, weht unterirdisch mit.
An dieser Stelle ist die Sendung des Participiums
vollauf klar, die Verewigung des Zeitlichen.
Ill
Dichterischer Raum ist geometrisch gesprochen
die Beziehung aller Punkte zu alien Punkten, jedes
einzelnen zu jedem einzelnen; also im Verse die
Beziehung jeder Association zu jcder Association.
Vollendet wird ein Gedicht nur dann sein, wenn
*) Ein Wort nur, und die herrlichste Kantilene.
kein Teil ohne Gegenteil bleibt, kein Wort seine
Hande ins Leere strecken muB. Der dichterische
Raum ist absolute Gebundenheit.
Ich bin mir selbstverstandlich bewuBt, daB mit
dieser rationalen Formel nichts vom Geheimnis
ausgesagt ist. I>er dichterische Raum ist zu ver-
gleichen mit groBem hallenden Hausflur, mit dem
Innem eines Domes, wo jedes Lispeln, jeder
Schatten, jedes Bald und Gerat sein Echo hat.
Der Wert dieses Raums beruht in der Armut
seines Reichtums, in der Kargheit seiner viel-
deutigen Gestalt. Ebenso wie beim Substantiv im
Dunkel, im Ratsel, im ZerflieBen. Seine Gegen-
stande mussen sich sanft wehren gegen die Rase-
rei des Zeitlichen, so wie das Dunkel einer Kirche
sich gegen den Farbenrausch derfestlichen Menge
und gegen die Stiirme des Gesanges zu wehren
scheint.
Also der Raum eines Gedichtes, das die Dinge
deutlich und eindeutig aussagt, mag in ihnen die
Zeit triumphierend ihr Wesen vollenden, ein sol-
dier Versraum ist unvollkommen, weil er das
Gesetz der Beziehung nicht erfiillt und das Gegen-
standliche vereinzelt. (Dies ist oft der Fall in den
Gedichten von F.W.) Es liegt hier die tiefste Ge-
fahr des Pathetischen, die Entwurzelung. Wenn
das Gewebe nicht in uberbewuBter Logik sich
selbst halt und balanciert, so schnellen elastisch
die Faden einer nach dem andem zuriick, die so
entstehende Unruhe beginnt sich selbst zu miB-
trauen, und die Folge ist, wie bei jedem Selbst-
miBtrauen, Angriff, Appell nach auBen.
Das Extrem dieser Krankheit ist das b5s Rheto-
rische, das giinzlich undichterisch ist, weil es sei-
nen Raum aus abstrakten unassodativen Mauern
baut.
Alle lyrischen Revolutionen (in Ermangelung an-
derer) handeln von Abkehr und Wiederkehr zur
Strophe. Die Pramisse ist immer falsch, denn
sie heiBt „konventionelle Architektur'*. Der freie
Vers wird gegen die vierzeilige Strophe, die vier-
zeilige Strophe gegen den freien Vers immer wie-
der neu erschaffen. Ob aber geleugnet oder ge-
huldigt wird, diese konventionelle Strophe ist
durch keine adaquate, gleich machtige und all-
gemeine Form ersetzt, so verschweint sie auch ist.
Alle Reformen sind eben Reformen, geboren aus
Willkiir und nicht aus biologisch genialer Not-
wendigkeit. Es ist nicht wahr, wie vegetal isclie
Pantheisten meinen, daB man Gott am besten un-
ter freiem Himmel anbetet. Gottes-Dienst ohne
Gottes-Haus ist paradox. Gott muB Mensch wer-
den, um in Erscheinung zu treten. Die Grenze
ist die Bedingung der Dffenbarung.
Ich glaubean die Geburt einer neuen strophischen
Dichtkunst, die ganz frei sein wird von der scho-
lastischen Symmetric bisheriger Architektur, aber
ebenso frei von der Zufalligkeit der aus dunklem
Widerspruch kommenden, sidh selbst nicht bewei-
senden, immer auch anders mbglichen, permu-
tationsfreien Emeuerung. In der modernen Lite-
ratur haben solche Strophen Holderlin (in den
Hymnen), Poe und Swinburne geahnt.
DIE AKTION
9
»
MUSSET
Ton Andre Snares
Einziges Schicksal, dusterer Todeskampf: Musset
ist ziemiich jung gestorben, er war kaum 47 Jahre
alt: und doch hat er sein Werk um 17 Jahre
uberlebt. Man hat Angst, daran zu denken; und
dennoch ist es wahr, daB er mit 30 Jahren fertig
war mit schreiben. Vom zwanzigsten bis zum
dreiBigsten Jahre hatte er alles gemacht, was er
machen muBte. Er hatte nur noch zu verschwin-
den. Man regt sich auf uber solch einen Ober-
fluB, gefoigt von einer solch en Sterilitat. Man
begreift alsdann, warum Mussets Werk in seiner
Gesamtheit so reich erscheint und so vergeblich,
je nachdem man die Versprechungen betrachtet
Oder den vollendeten Fehlschlag.
Ein Kind ist niemals Kiinstler, ebensowenig wie
eine Frau. Die Kunst ist ein Gott, dem man allein
dienen muB, um ihn zu erkennen. Der Chorknabe
spiel t, wenn er die Messe bedient. Die Ehrfurcht
genugt nicht.
Der Geist bewahrt Musset, und selbst bisweilen
seine Verse, vor einer so klaglichen Leichtigkeit.
Er hat die Beweglichkeit und den reinen Akzent,
der aus der Touraine stammt. Obrigens ist er
sehr viel weniger leicht in der Prosa, wo er Reim
und Zasur verlassend seinen Rhythmus verandert.
Wenn man ihn nicht mehr wird lesen wollen, wird
man doch immer sein Theater lesen, das von einem
so reizenden Geschmack ist. Die Erfindung dabei
ist kostlich. Da ist er EHchter. Das Theater
Mussets ist das einzige seines Jahrhunderts: es
dauert fort durch die Erfindung und den Stil. Es
kommt von Rousard und Watteau. Alles darin
ist jung mit der sussen Bosheit der Jugend und
diesem grunen Reiz des Friihlings, der das Blatter-
treiben des Wunsches ist. Hier allein findet man
in Frankreich die Phantasie, die befliigelte An-
mut und den Reiz Shakespeares. Die Liebe geht
voruber, und ihr Schatten ist iiberall, dieser dop-
pelte Schatten bei Sonne und bei Mond, der
aus ein wenig narrischer Zartlichkeit gebildet ist
und lachelnder Melancholie.
(Deutsch von August Bruch er)
ABSCHIED
Vo n Max Ekkamp
Nun aber, ach, schon kam die Zeit
Zum Abschiednehmen — bis zum Flieder!
Von meinem Ha us, und seiner Glieder
Schattigstem, stets fur mich bereit.
Denn nun offen liegt jedem, in Leiden
Meine Seele, von keinem beklagt,
Fur das Wortlein, das hier ich gewagt
Aus meinem Gedanken an kiinftige Freuden.
Jetzt zur Strafe mir, oder zum Heil
(Denn noch betet dafiir die Gemeine)
In meinem Hofe schon liegen die Steine!
Und auf der Stirne die Fliege, mein Teill
Dann im Tage das Kunterbunte
Von Augen; Spahern (Noch ein? schon aus?)
Nach alien Fenstern in diesem Haus
Und von Kehlen, die grob sich ermuntern.
Zu verlachen in mein Gesicht,
Meinen Glauben, das stumme Geschleppe
Vor Pilatus. Und dieser (an meiner Treppe)
Wascht sich rein — und das Urteil mir spricht
(Berechtigte Nachdichtung von Paul Adler)
WIR
Das blonde Licht zerstaubt sich uber Trummer-
statten.
Wir stehen still und walten vor dem Blauen
mit Herzen, die nichts aus sich retten
als Angst des Endes und das letzte Grauen.
Ham GatHmann
Menachtm Bimbaum
Halluxination
11
DIE AKTION
12
m
DER NEUEN HOLLE VL OESANO
Von From WerfeL
Das Caf€ der Leeren
Wie um uns noch die riesige Babel rollte,
Auf Schienen tollte, in Kaminen schrie,
Hob mich mein Lehrer, wo’s schon femer grollte.
Kurzatmender die Strafie stieB und spie.
Ins Schattenatmen schwindend einer Treppe
Hort fern den Feind ich, mein Schritt, wie niel
Eh noch der Sinn sich selber unterschieden,
Stand ich in einem scheuBlich strengen Chor.
In Kreisen donnernd, die einandei 1 mieden.
Nach alien Seiten vor und hoch empor
Unendlich angereihte, kreisten hohnten
Schwarz Fliegenvolker ans verlorne Ohr.
Mit jedem Nu die Kreise schwarzer drohnten
Und stiegen auf und ab im lauten Rauch,
Den sie wie mit Metallen uberstohnten.
Auf einer Hohlung hohnte sein Qeschleppe,
In einer Odnis donnerte sein Beil,
Es war ein Saal und dennoch Rauch der Steppe.
Der Andere schrittlos sprach mir ein Verweil!
Ich sah vie! Wolkentum zu Haupten kochen
In das ein Licht schlug abwarts grauen Keil.
So war verwesender Himmei unterbrochen
In diesem Saal von einer Lamp Unmut
Mit Sklavenstrahlen kam sie angekrochen.
Die schlichen ab, wie ein Gepeitschter tut.
Ein Summen, Surren, ungeheures Sieden
Erfullte mich und Traum wie Kesselsud.
So war durchraumi des Saals verwester Bauch
Von einem Raum, den setbst das Grab nicht bildet,
Kein Atem der Natur glich seinem Hauch.
O Traum, in dem sich dieses Feld gefildet,
O Traum, da dennoch Saal im Nebel lag,
Sich Wiiste wiistete und Wildnis wildet . . .
Mein Atem, der ins Herz davor erschrak,
Begann zu wanken, daB ich fast erstickte,
Und meine Kreatur dem Schwall erlag.
Doch der Erhabene seinen Blick mir blickte,
Hob an die Gnade seiner Haltung mich,
DaB ich mich wusch, und endlos neu erquickte.
i
13
DIE AKTION
„Ist dir so fremde dieser Ort hier, sprich,
Da 8 sich das Leben qualt durch deine Kehle? u
So sprach er und befahl: „Sieh nur um dich!“
Alt im Gewolke wiederland sich Seele,
Und der Gestank war plotzlich mir vertraut,
Als ob ich selbst — ein Irrwisch — ihm entschwale.
An Tischen sitzend hab’ ich sie erschaut,
Mir fremd im Traura und Traums mir Tief-
bekannte,
Sie sa6en da von lauem Dunst umbraut.
Den Starrenden das schlaffe Antlitz spannte
Ein schiefes Grinsen mit verruchtem RiB,
Das nicht sich von gestulpten Munden wandte.
Das Haar im Weichselzopf, braun das GebiB
Von ihren Lippen hing in grofien Trauben,
Langsamer Fliegen eine Finsternis.
Nicht konnte Wachen sie des Schlafs berauben,
Kein Schiaf noch raffte je ihr Wachen hin,
Die Zeit um sie war sichtbar, war ein Stauben.
Ich aber fuhlte selbst mich mitten drin
In ihrem Qualm und trug den Kranz von Fliegen
Verfallenen Hauptes schon seit Anbeginn.
Ja, eine Wiiste war ich. Und kein Liegen
Kein Stehn und Wandeln fullte mein Gebein.
Kein Wort der Erde nennt mir das Versiegen,
Das sich in meine Quelle brannte ein.
Ich schwand und blieb. Ich war derLeib der Leere,
Nichts, nichtiger als Nichts, noch dessen Schein.
Im SchoB trug meinenLeib ich, fremde Sch were,
Wie harter Kot hing er an mir hi nab,
Und in mir starrte scheuBlich trage Sphare.
Unendliche Verwesung, Stank und Grab —
Dies jubiliert noch — hatte ich vergessen
Jegliche Riihrung Lebens, die es gab,
Als wire ich von je schon hier gesessen,
Unsterblich, wie die Hutte, die mich rief,
Nichts, dennoch seiend ! Spuk von GotterspaBen !
Christian Schad
Zeichnung
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DIE AKTION
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VERSE VOM SCHLACHTFELD
Aussicht
Ein blauer Rauch ringelt sich zart aus der Erde
Gleich daneben hangen Brombeerranken.
Ein Baum hat nur noch zvvei Arme.
Der Wind klappert in der losen Wildnis.
Laufroste kleben von Lehm. Die Ratte tritt heraus.
Uber die Faschinen des Grabens hangen verfaulte
Sandsacke
Die wieder zu Erde werden, von der sie ge-
nommen.
Die Baume sind bedeckt mit queren Striemen.
Der Unterstand ist Bauch eines Schiffes.
Sein Beton sieht aus wie vergroBerter Streusel-
kuchen.
Der Himmel erhebt sich in blauer Erhabenheit.
Granaten hauchen voriiber. Zaunkonig singt ein-
sam und hold.
DAS PLAKAT
Wilhelm Klemm
Friih, wenn der Abendmensch ist eingepfliigt
Und brockelt mit der kalten Stadt im Monde;
Wenn Logik nicht im ethischen Konnex,
Nein, kategorisch wuchtet; Mangel an Aufschwung
Bejahung stankert, Klammerung an Zahlen,
(Zumal wenn teilbar), Einbeinung in den Gang
Nach Krankenhaus, Fabrik, Registratur
Im Knie zu Hausbesitzverein; Geschlcchtsbejahung,
Fortpflanzung, staatlichem Gemeinsystem
Ingrimmige Bekennung, —
Trostet den Trambahngast
Allein das farbenprachtige Plakat.
Es ist die Nacht, die funkelt. Die Entriickung.
Es gilt dem kleinen Mann: selbst kleinem Mann
Steht offen Lust zu! Stadtisch unbeheiligt:
Die Einsamkeit, die Heimkehr in das Blut.
Rauschwerte werden offentlich genehmigt,
Entformung, selbst Vergessen der Fabrik
Soil zugestanden sein: ein Polizist
Steht selber vor der einen LitfaBsaulel —
O Luftung! Warme Schwellung! StirnzerfluB !
Und plotzlich bricht das Chaos durch die StraBen:
Enthemmungen der Locher und der Liiste,
Entsinkungen: Die Formen tauen
Sich tot dem Strome nach. —
Gottfried Bcnn
DER ABEND AN DEM FENSTER
Dies sind die seltsainsten von alien Sti'.nden,
in denen es von lichtgrau stiller Gute
aus dcinen Worten rann und rann
und gliihte.
Und alle Worte waren wie Gesang,
wie junger Madchen halbbewuBter Gang
und ebenso vor neuen Wundern bang ....
. . So sahn wir lachelnd sich die Dinge runden
und untersinken in dem schmalen Dampf
der abendlichen goldgezackten Stadt,
die ihre Briiste zu den Nebeln rang
. . In unsren Handen war vielleicht ein Kampf
urn diese Zeit .... sie hingen wartend mat t,
wie junge Kinder zahlten sie die bunten
weinroten Blumen und die blauen Gange
des Teppichs. Was die Kopfe sannen,
vergaBen wir. Es kamen nur Gesange
des Abends her. Es drangen
die ungelebten Stunden in uns ein
und traufelten wie uberbrannte Kerzen
auf unsre Hande ....
die sich finden werden.
So hab ich nun den Stolz der wachsenden Ge-
barden,
das Blut der ungestillten groBen Schmerzen
und jenes vvundersame Gluck, das viele starke
Stadte
wie wilde Hecken um dich bliihn, als hatte
ein Sehender sie hier gepflanzt, damit sich keine
der HaBlichkeiten noch hiniiberrette
und tciiber werde deine groBe Reine.
Kurd Adler
DEIN HERZSCHLAG HAT NICHT EINEN
WIDERHALL!
Was les ich Bucher, der ich alles dies schon weiB :
Wie man Kind ist, enttauschter Jiingling, Gatte,
Witwer, Greis . . .
Wie da und dort ein Buchstab' fehit im Alphabet
fur einen Laut, der aus gequalter Kehle weht!
DaB Bilder bleichen . . . daB in Kriigen Trug
im Brot Verzweiflung wachsen kann , , . daB wie
ein Zug
kaum angeschauter Vogel die Gedanken sich nicht
fassen
und die Veiiockungen sich erst nach deinem
Hollensturz erlosen lassen!
Und iiberall die Feinde warten, daB du fallst;
und iiberall aus nichts dir Schmahung spirit
vom Schild den letzten Schmuck vor Gott!
Im Kot der Gasse deines Dorfes walzt
der Einzige, der deinen Herzschlag fiihlt,
sich vor dem Pobel als ein Schanken-Spott.
Max Herrmann (Xeisse)
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DIE AKTION
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DIE GRE1SE
Von J ungem blieb uns nichts, von vielem Feuer
sind wir ausgebrannt,
Wir stehn allein im Traum der langen Abende,
Und nur die vveiBen Wurmer, weiche, mit den
Riisseln stetig schabende,
Leben in irgendeiner Tur und alten Wand * . ,
Was uber unsre Hande huscht, ist Grau und das
Verebben
Von tragem Blut, das blau durch hochgehobne
Adern geht,
Zuweilen wie von alizulanger Wandrung steht,
Zuweilen horcht, als rausche ihm das Knistern
weicher Schleppen. —
Und das rauscht lange noch in Schlaf und Schlag
der Uhren,
Und geht nicht welter und bleibt lange da und
stort
Den schmalen Leib, der keiner Beigelagerten mehr
angehort,
Der fremd in sich, vereinsamt, tief verschwiegen,
Sich manchmal aufbiegt, um noch lasiender zu
liegen
Auf kuhlen Damastdecken mit des in den Schran-
ken allzuvielen Lagerns gel ben Spuren.
Anton Schnack
ZWEI SILVESTER POEMATA
Yon Hieronymus Stiirgkh
{Far FVtmx Wrrftl)
Klagelied des Billard
Wie ich es has se griin zu sein!
Wie es mich traurig macht, ist nicht zu sagen.
Fallt denn den Menschen niemals ein,
DaB auch ein Billard sich will modisch tragen?
Warum nicht wie die Veilchen blau?
Selbst rosafarben ware nicht so graBlich,
Ja meinetwegen sogar grau,
Nur nicht mehr griin, — es macht mich dick und
haBlich*
Und dann das ewige Einerlei
Nichts als das eine griine Kleid zu haben,
Man wird davon ganz menschenscheu,
Man traut sich kaum auf Kohlmarkt mehr und
Graben,
Mit Fingern zeigt man schon auf mich,
Komm langsam ich die StraBe promenieren, —
$' ist eine Qual ganz fiirchterlich,
Man mocht doch gerne unbemerkt spazieren!
Die Ballade der StraBenlaterne
Es ist der reizendste Beruf zur Nacht,
Doch der langweiligste ist er bei Tage.
Sie ahnen nicht, wie stumpfsinnig es macht
— Versetzen Sie sich nur in meine Lage —
Man steht am Straflenrand, entbloBt vom Zwecke,
Egal ob in der Zeile, an der Ecke:
Man steht im Weg, ein Funktionar
Ohne Funktion. Ja, wenn da nur was war,
DaB man sich setzen konnte! Nein, man steht
Steif wie ein Pfahl. Von friih bis spat.
*
Dann aber, wenn das Dunkel niederfallt,
DaB wir wer sind, bekommen wir bestatigt
Von dem Passanten, der sich an uns halt,
Mancher verweilt und wird gar sehr vertraulich
Sagt Du zu uns, erzahlt von seiner lieben
Familie und was sie mit ihm trieben, —
Es ist im Ganzen nicht gerad erbaulich,
Doch intressant, besonders wenn man ledig.
Dann isfs ein Liebespaar, das bei uns halt,
Und gern zu dienen sind wir dann erbotig,
Wenn er das Geld in seiner Borse zahlt,
Teils weil sie gerne ins Theater girigen,
Oder weil sie schon irgendwo wie waren,
Und er, da andre Mittel nicht verfingen,
Die Sache abmacht nun mit gutem Baren, —
Ja ja, wir machen in der nachtgen Landschaft
So leicht wie gern die netteste Bekanntschaft.
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DIE AKTION
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Doch sind wir damit fur die Nacht entschadigt?
O Menschenfreund, beklage unser Los!
Bei Tag sind wir fur alle die erledigt,
Die nachts sich trosteten in unserm SchoB.
Alle acht Tage kommt ein stummer Knecht,
Legt eine Leiter an, putzt unsre Glaser,
Und ruckt in uns noch dies und das zurecht —
LaB Dich dies Dasein ruhren, lieber Leser!
Kein Werfel hat sich unsrer angenommen,
In keinem Jammes sind wir schon vorgekommen.
Geleit:
Wir armen Baume ohne Blatt und Ast,
Wir griinen nicht im Lenz und wir vergelben
Im Herbste nicht, sind immer ganz die selben.
Kein Vogel singt in uns, kein milder Gast
LaBt sich in unserm diinnen Schatten nieder, —
Wir armen Stiimpfe ohne Laub und Lieder!
EILOFF DER UNBUSSFERTIGE
Oroteshe von Mynona
„Nichts,“ sagte Adam ; er wischte sich den SchwciB
von der Stirn und lachte geargert. Wie leicht
hing nun der Himmel uber ihm, und in ihm
begann es zu klingen. Die boshafte Landschaft
stichelte um die Hiitte seiner Liebsten, einer
braunen Fee mit sogenannten Elfenknocheln, die
unmittelbar auf die Mannsleute wirken. Adam
kannte sich aus. Er hatte einen dicken Onkel,
genannt Midas (wegen komischer Eheaffaren);
der hatte Geld und gab ihm zu leben. Da hatte
er sich diese Braune erworben und lebte mit ihr
stillf riedlich unter Bauern dahin. Die Luft roch
Japamecher HoUschnitt
um die Vesper nach Diinger und Kaffee. (Jetzt
erlauben Sie mir eine kleine Abschweifung.)
In alten Zeiten, als es schummerig war, und die
Menschen sich noch nichts auf sich selber ein-
bildeten, ging einst ein Kind auf den Fischfang.
Es fing drei Aale, und die Familie wurde satt.
Nach dem FraB traumte der Vater:
Venus entstieg, es dammerte,
Mondiiberhaucht dem Meer,
Poseidon, der Belammerte,
Schnob dicht hinter ihr her.
Lila lali lilo
Er wog 380 Kilo!
Die Mutter:
Lag auf dem Estrich
Ein Haufen Mostrich?
Senftone, die trostreichen,
Verdichtet zum Breichen,
Wirkten so klostrig!
Du allein! Du allein!
Darfst mich frein!
Komm! Junker mein!
Diese kurze Unterbrechung leitet zwang-
los zum Folgenden iiber. Denn Adam- und die
Braune liebten es, in alte Zeiten (und auch son st)
auszuschweifen, und oftmals gingen solche Lieder
durch ihre Kopfe, zuweilen auch laut durch ihren
Mund. Vor der Jelangerjelieber-Laube sammelte
sich dann die Dorfjugend und sang den Refrain
mit, obgleich der Lehrer grim dazu sah. Der
Lehrer aB gern geschmorte Hagebutten; eine
Liebhaberei, in Verfolg deren er alien Respekt
einbuBte, Sie ahnen nicht ohne Grund, daB die
Braune auch dem Lehrer einleuchtete. Interessiert
Sie das Liebesgedicht eines Dorfschullehrers ?
Hier:
Dir! Und schon zischt Feuerschlange
Zwischen deinen sprodcn Knbcheln —
Dir! Wie lange schon! Wie lange
Gilt mein letztes Rocheln.
Lehrer sterben nie vor Liebe,
Sie beherrschen ihre Triebe —
Mochts in ihren Lustkaldaunen
Unaussprechlich auch posaunen —
Horst du nur ein leises Raunen!
Oh, du Niedliche!
Streng Appetitliche!
Hold Gemutliche!
Ubersudlicbe
Braune 1
DIE AKTION
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Bist meine Laune,
Mein Los, mein Bronnen,
Mein Sinnen und Sonnen
Adam fand dieses Gedicht im spinnwebdunnen
linken Strumpf des Madchens. Es tut mir leid.
In gewissen Fallen gibt es keine Konzessionen.
Er erhangte sich in der Scheune. Der Lehrer
schnitt ihn ab, es war ein Akt lautlosen Edel-
mutes, und Adam dankte ihm damit, daB er tot
blieb. Es war das Tages- und Nachtgesprach;
der Lehrer trostete die Braune stunden- und tage-
iang. Endlich kam Onkel Midas, um die Leiche
ins Erbbegrabnis abzuholen. Die Schuler sangen,
vom Lehrer dirigiert, ein trauriges Lied. Hier
ist es:
Wenn der Jiingling sich erhangt hat
Und des Lebens schmutzgen Becher
Sauberlich fein ausgeschwenkt hat,
Bleibt er immer noch ein Zecher.
Hei! Er liegt mit offnen Augen,
Offnem Munde, offnem Warns,
Endlos in sich einzusaugen
Tod mit Wollust leeren Schwamms
— — — am ms — — — anuns — — —
Hochgeboren, unbetagt
Liegst du bleich, von uns bekiagt!
Audi die Herzen durftger Bauern
Spuren ehrerbietges Trauern
Um des Midas selgen Neffen,
den sie jetzt aul Tod betreffen.
Ach! Nach sotchem Graunedebnis —
Ab mit dir ins Erbbegrabnis. —
Midas weinte. „Wer hat das Lied verfaBt?" er-
kundigte er sich. Der Lehrer verbeugte sich.
Midas wotlte heftig losschnauzen, kapitulierte vor
der Naivitat mit Glucksen, das sogar nach Bei-
fall klang. „Warum hat er sich erhangt ?“ —
Meldete sich die Braune Midas! Midas!
Midas sagteseinen Leuten: „Pfarrer Schnatzke soli
am Grabe sprechen; ich kame bald wieder/ 1
Dann schlang er seinen ausgemergelten Arm um
die verwaiste Braune. „Zwi$chen einem bluhend
schonen, aber toten Neffen und einem alten, aber
lebendigen Onkel ist die Wahl gar keine Qual,
nicht wah r?" Die Braune polkte sich die Tranen
weg und lachelte nicht schiecht. Midas — ge-
wonnenes Spiel! — verschwand mit ihr in der
Hutte. Weshalb das Schicksal ihn qualte, konnte
der Lehrer nicht entratseln. Tief in der Nacht las er
immerfort „ Wilhelm Tell“ (Auf die Feuerge-
fihrlichkeit „ Wilhelm Tells 1 ' muB immer wieder
hingewiesen werden .) Oegen Morgen brannte die
Hiitte ab. Um die eingeascherten Leichen von
Onkel und (sagen wir) Nichte tanzte der wahn-
sinnig gewordene Lehrer und rief (man weiB nicht
warum) : „Ich bin Eiloff! Eiloff der UnbuBfertige!
Eiloff ! Eiloff! Der UnbuBf “
TRAUM DES 888. NACHTREDAKTEURS
Von Albert Ehrenstein
Und Schahrazad bemerkte das Grauen des Tages
und hielt inne in der verstatteten Rede. Doch
a Is die achthundertachtundachzigste Nacht da war,
fuhr sie also fort: „lch vemahm, o gliicklicher
Konig, daB im Lande der besoffenen Strome aus-
nahmsweise ein geiemasiger Jiingling lebte, der
gem im Schlafe ertrank, und da er wenig ar-
beitete, Hunger trieb. Seine Sehnsucht und Be-
gierde ging gleichwohl nach dem Faulen uner-
reichbarer Gewiirze, und wegen dieser seiner
dicken Gewohnheit nannten ihn die Unglaubigen
Schinkenstem.
Als er eines Tages seinen Magen nach den Mar-
zipaninseln traumwandeln lieB, iiberfiel ihn ein
Schnellzug und lieB nicht ab, ihn davonzutragen,
bis alle Kohlen verdampft waren. „Dies ist nicht
das Land des Safrans und der Wohlgeriiche,"
jammerte der Entfiihrte, als er sich nach einem
wahnwitzig schrillen Pfiffe in einer robusten Halle
ausgesetzt sah. Weil es notwendig war, brach
er die Dammerung seines Geistes ab und suchte
nach einem Sofa, wo er sein Haupt niederlegen
konne. Weiter strichen seine Plane nicht, und
indem er an einem Hotelportier vorbeiging, er-
reichte er es, mehrere Meldezettel ausfiillen zu
diirfen. Nachdem er diese Damon en besiegt hatte,
warf er sich in den Schlaf, ob ihm vielleicht
die Deutung der zu erwartenden Traume seine
innersten Gedanken enthulle. Doch der Schlaf
spie ihn riicksichtslos, traumlos wieder ins Leben
a us, und als der Ungluckliche zum abertausend-
sten Male klaglich im Raume erwachte, veran-
staltete er einige Augenblicke der Besonnenheit.
Aber ehe er etliche Verniinftigkeiten ausgeheckt
hatte, verdrangte der Schrei nach einer Butter-
semmel das Gekrachz seiner Seele. Als er dann,
noch verdauungsmatt, seinen Kopf aufzusetzen
versuchte, fand sich dieser nicht, und so beschloB
er, seine Leiblichkeit vorlaufig dem Hin und Her
des Zufalls zu sChenken. Keinesfafls war er
jedoch geneigt, allzu hiindische Arbeit zu tun
und wollte lieber die Verhandlungen mit der
Erde abbrechen. Er begann also iiber die Ober-
flache der fremden StraBen als ein gemaBigter
und nicht ganz zielloser Spazierganger hinzu-
23
DIE AKTION
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gleiten. Seine Augen grasten ruhig die Er-
scheinungen ab und fielen schlieBlich in die
Blatter, aus denen sich zahlreiche Toren iiber den
Gang der Gestirne zu unterrichten versuchten.
Da schlug in ihn ein schnelles Erinnern, und
seine futterwitternde Geiemase, die ihm aus einem
Spiegel entgegengrinste, bestarkte ihn zu einer
seellosen Zeit in gewissen Betrachtungen.
Er besaB zwar keine Feder der Fiille, aber an
Schalttagen drangen tollkluge Worte aus ihm.
Wenn er auch bezweifelte, daB diese seltenen
Schalttage je ein ganzes Jahr anstecken wurden,
war er sich doch einer bescheidenen Kenntnis
einiger, aber bei weitem nicht aller Gesetze der
Interpunktion bewuBt, und verdammte sich kalten
Herzens dazu, von seiner Durchschnittssprache
zu leben. Dieszwecks legte er Zylinder an und
ehe er sich noch hatte warnen konnen, verscholl
er in einem Verlagsgebaude. Er hatte besser
getan, sich des Zephirs der Welt zu berauben.
Denn als er vor den Joumalisten der Zeit trat,
zersetzte ihn der Druckgewaltige folgender-
maflen: „Du gehorst zu den weltfremden Sirius-
ochsen und bildest dir zwar nicht den Besitz
des Stilmonopols ein, bist aber trotzdem stolz
darauf, als erster den Ipunkt unter dem I befestigt
zu haben. Ich kann jedoch nur eine recht-
schreiberische Schreibmaschine brauchen.“ Da
lieB sich der Verrater Schinkenstern sterben, er
antwortete: „0 Konig der Zeitung, ich hore und
gehorche. Ich war ein I frit von den Marids der
Dschann und bin bereit, den Eid auf das Zeilen-
honorar abzulegen. Ich habe es eilig, ins Nichts
zu hasten. Ich war mitunter die Zunge der Dinge.
Werde ich es weniger sein, wenn ich mich zur
Stimme des Rindviehs mache? Moge ich bald an
einem Druckfehler sterben !“ „Ich sehe, du ge-
horst zu den schwachen Zugtieren, die, statt ein
Ende zu setzen, ihren uniiberwindlichen Magen
anklagen, o Halbdichter!“
Es wird berichtet, daB der Geiernasige zunachst
als Besprechungsliterat versank, einer jener vielen
Kritikastraten und Verschnittenen wurde, die eifer-
siichtig den Harim. des Ruhmes bewachen. Er
ward eine kahle Negation, legte sein Gehirn blofi,
exhibitionierte mit der raschwachsenden Glatze
der Weisheit, aber seine Seele war im Ubersatz.
Er schrieb nur Kartoffeln, und die Worte der
Dichter verdienten, mit Nadeln in die Spitzen
seiner Augenwinkel geschrieben zu werden. Da
bemerkte er endlich das Graue seines Tages und
hielt inne in dem verstatteten Leben. Allah, iiber-
setzc ihn nicht!
ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS
XXXVIII
„Tod durch den Strang!* Vicr Worte wie Blei . . .
„Tod durch den Strang — was ist weiter da bei?
Nicht mehr, als daG man im Regiment
Einen Namen Loscht und weniger nennt.“
Der Richter winkt ah: „Wir loschen ihn schon.
Dein Deutschland soil folgen. Hinweg den Spion.“
Link sum in den Hof der Haftiing schwenkt.
Er Uehelt, wenn er des Richters denkt,
Er lachelt, wie er den Galgen gewahrt.
„Nur Wahnbild ist 's um die Todesart,
Ob tm Feld oder hier — ich fall vor dem Feind.
Mein Fahnenschwur hat nur ein Sterben geraeint.* —
Und er denkt der Tage, im Wald durchwacht,
Und der Nfichte, die er wandernd verbracht,
Und des Meeres, das er als Knecht durchquert,
Und der feindlicben Hfifen, von Panzern bewehrt,
Und des Forschens und Findens, jeder Schritt turn Grab —
Und der Klippe, von der er die Zeichen gab.
Es zogen vie! Dampfer mit Pulver und Stahl.
Da gab er das Zeichen zum e r s t e n Mai.
Voll Trtlmraer die See l Und die Brlider verschont —
Und wiedcr das Meer im verdunkelten Mond.
Vieltausend an Bord. Sein Zeichen schien . . ,
Und ein Sterbeschrei ! Und dann ftngen sie ihn.
Und willjg legt er den Weg zur tick,
Sein Auge leuchtet, als sSh es das Gltlck,
Als sSh es die Graven, die treu er bewahrt,
Als s&h es den Feind auf der Todesfahrt,
Des Vaterlands Feind, den er niederschlug t
O Eh re, o Ehrc, das sei dir genug ! — —
Hoch liber ihm b&umt sich der Galgenstock.
Er lachelt: „Ich trage kein Kreuz am Rock w . . .
Noch hort er im Ohr: „ Hinweg den Spion 1“
Der steht, als sittnd er auf goldenem Thron,
,, Deutschland soli leben 1 1* 1 und schreitet weit
Von der Leitersprosse zur Ewigkeit.
Bruchstuck ana einem Qedicht; „Der Spton* f doe
Herr R. Herzog am 24. Dezembcr des Jahres 1916
in der Weihnachtsnummer des n Berliner Lokal-
Anxeigeri 4 * drucken lassen konnte,
KLEINER BRIEFKASTEN
Iierrn Theodor Wolff, Chefredakteur des „Berlincr Tageblaits 1 *,
Seit dem Begin n dieser umfangreichen Zeit ist llinen wohl nie-
mals der Gedanke gekommen, Ihren Namen von der Stirn des
. B. Ts. u wischen zu lassen. Neunundzwanzig Monate lang haben
Sie eine Zeitung derartig geschickt zu redigieren vcrmocht, dafl
dieser Zeitung der „Ulk* eine p&ssende Beilage blciben konnte.
Nun ist gewiii die Mehrzahl der Menschheit von sanfter Nach-
sicht gegen ihr Leiborgan und vergiGt gern bei der Lektttre des
Abendblatts den Inhalt der Morgenausgabe. Wer jedoch, sets
aus Sympathie, seis aus edlerein Grunde, Blotter wie: „ Deutsche
Tageszeitung*, ^Berliner Tageblatt*, „Welt am Montag*, „Post u ,
„Vorw£rts*, „Tiigliche Rundschau 1 *, „VoG* und „Preuftische
Kreuzzeitung* seit dem Juli 1914 sorgsam gesammelt hat, um
diese Dokumente in eine anderc Zeit hintiberzubringen, wer,
etwa wie ich, nichts davon vergessen will und nichts vergessen
wird, Dem ist die Weihnachtsnummer 1916 des ^Berliner Tage-
blatts* eine grofic Oberraschung gewesen, denn auf dem 1, Bei-
blatt dieser papierreichen Fesipublikalion schrie eine feite
Oberschrift tlber drei Spalten hinweg: „Filr die Sicherung des
kllnfligen Kriedens*, und batten Sie, Herr T. W., cine von Ihnen
vcranstaltete Rundfrage und deren Resultate druckcn lassen.
Ich mufi schon gestehen, daG mich Ihre Rundfrage mehr tlber*
raschte als die Antworten, Sie batten (wahrscheinlich wiilirend
Sie die Hcrren Sudermann, Lovis Corinth, Bernstein, Salus und
Vesper um n zeitgemKGe* Bciirage filr die Weihnachtsnummer
bitten lieOen) die Briefe Leopold I. an die Prinzessin Viktoria ge-
lesen und don die SStze entdeckt : „Man mufl sich nicht darum
kllmmern, was die Zeitungen sagen. Deren Macht beruht auf
Ogen schlechtesler Art.* — Und nun grilbelten Sie angestrengt :
25
DIE AKTION
26
„Darf man sagen, dafl beute solche Klagen ganz unmoglich, oder
gam unbegtlndet wXren, da£S seither (Leopold schriebs 1836)
alle Schaden, die der Presse anbafteten, getilgt und alle Jour-
n&Hsien zu Httlem iro Teropel der Vblkerfrcundschaft ge worden
sind? w und Sie kamen, gewill nicht ohne Mtihe, zu der Erkennt-
nit: ,fEin Teil der Schuld an dem ungeheuren Werk der
Zerstorung lastet auf derjenigen Presse, die lange vor dem Kriege
Mined legte und alle Artcn gifiigex Case erfand“ und zu der
Frage: „ Kants zur kUnftigen BekSmpfung einer so gefahrlichen
Verse uchung irgend el was VV irk sanies geschchen Sie hMten
mich, oder alte JahrgSnge der AKTION befragen sollen, Aber
werm eine Ungewissheit dem Journal is ten begegnet, wird ailemal
eine Rundfrage, eine Enqueie draus. Sie sandien „einigen
leiicnden PersiSnlichkeiten der neutralen Presse “ ein Scbreiben,
in dem, nebeo anderen SStzen, zu lesen war:
. « . Immer wieder waren alle Bestrebungen der-
jenigen, die aufrichtigeine versohnliche Siimmung
in Europe schaffen wollten, durch eine vergiftende
journal isiische Gegenagiution gestfirt worden. Das
ged ruckle Wort, das ein Segen fttr die Menschheil
baue werden sollen, hat dazu beigetragen, unge-
beures Unglttck liber die Welt zu bringen, Nicht
wenige Ffihrer der bffen ilichen Meinung, deren
Kenntnislosigkeit oft so grofi ist wie ihre Gewissen-
losigkeit, haben ihre Freiheit und ihre Macht mid-
braucht, und siatt auf der Erde Licht zu verbreiten,
haben sie auf fried liche WohnstSUen die Brand -
fsckel geworfen.
Diejenigen, die in crnstcm Verantwortungsgefilhl es
ablehnen, dteVolkerinKatastrophen hineinzuireiben,
baben, wie icb glaube, die Pfiicht, einen deutlicben
Trennungsstrich xwischen sich und jenen anderen
zu ziehen und sich mil der Frage zu bescbaftigen,
ob es kein Miuei gSbe, die Menschheit gegen die
Gefahren, die ihr a us solchem Treiben erwacbsen
mils sen, zu schtitzen. Gewifi, es wird immer sehr
schwierig b lei ben, unberechttgte Polemik von be-
rechtigter zu scbeiden und zu sagen, wo
die achtuogawfirdige patriotiscbe
Aufwallung endet und wo die verbrecherische
chauvinist! sche Zttgellosigkeit beginnt. Es
wird auch immer schr schwer sein, den Wamungen
oder den verurteiienden Sprilchen eines Tribunates
eine AutorUSt zu verleiben, die von den rerhetzen-
den Elememen der Presse respektiert werden
mttBte, denn diese Elemenle finden leider bei der
Sensationslust, der Gedankenlosigkeit und der
Unerfahrenheit allzu vieler Leser eine wertvolle
UnterstiHzung . . .
. . Icb bin bemtiht, mhig zu bleiben und Ihnen gegen Uber den
etwas langatmigen Sul beizubeballen, docb Sie machen es mir
recht schwer. Denn was Sie, Journalist, den Journalisten ge*
schrieben haben, ist durch atis nicht die klare Frage, die gestellt
werden mutt. Jedenfalls hat die „Kretiz-Zeitung i4 sehr recht,
dagegen zu protestieren, daft Sie, blofi um vom „Trennungs-
strich'* reden zu konnen, in vagen Andeulungen gegen „einen
Tei! der Presse* ' polemisierten. Wenn jedoch das kooservative
Organ zu Ihrer Rundfrage bemerkt : „Danach kdnnte es schei*
sen, als ob auch in Deutschland eine vdlkcrverhetzende Presse
rorhanden gewesen ware*', so macht das Blatt Ihnen die Sache
ru leicht. Es handell sich n&mltch gar nicht sehr darum was
da mats war, als Sie, Herr T. W., Tolstoi in Leitartikeln
ehrten oder aus Paris Feuilietons sandten oder die Berner
Pttngstkonferenz mit liberatem Wohlwollen begrQflten. (Auch
der ,.Simpltcissitnus ;( hat damals Ahnliches geleistet.) — Lassen
Sie sich bitte aus Mosses Annoncenbureau die Auflageziffern der
rechtsstehenden Presse zusammenaddiert geben und die Abon-
ttentenziffem der liberalen und der sozialdemokraliscben BI£Uer.
— Dann wollen wir uns ttber die Gefthrlichkeit und Schuld der
Presse unterh&Uen. Und tun Sie bitte, was ich heute getan
habe : Le^en Sie vergleicbend ,, Berliner Tageblatt u und „Deuische
Tageszeitung 44 , „Vorwails‘ 4 , n Vossische Zeitung 44 und n T£gliche
Rundschau* 1 aus den ersten Monaten dieser Zeit. Gcwiii gibt
es Unterscheidungen. Die ^Deutsche Tageszeitung 4 * hat nicht,
wie Theodor Wolff, Herrn Harms die Moglichkeit gegeben,
revolutionize Hafigedichte von Herwegh ins Aktuelle zu liber*
tragen, hat nicht den WehbUrger Hermann Bahr, nicht die
Herren Sombarl, Kellermann, Emil Ludwig etc. in den poli-
tischen Teil gerufen, hat nicht — aber Sie werdens ja seibst
nach lesen ; es ist mir heute nicht mbglich und auch nicht
wichtig, all das aufzuzihlen, worin sich Ihr Blatt von anderen
Bliittern unterscheidet. Betonen m&chte ich nur, dafl dieser
Untgrschied Ihnen kaum das Recht gibt, solche Rundfragcn zu
veranstalten, die von den Blittern rechtsstehender Parteien
miflfillig aufgcnommen werden konnen.
Nina und Renate. Also in diesen Tagen wird endltcb er-
scheinen :
Dafi alle Freunde der AKTION auch fttr dieses Werk werben
werden, ist wohl sicher.
K. L. Ein Sonderheft fttr Ludwig Rubiner ist bereits ange-
kttndigt worden; Sie haben die Notiz ttbersehen, Alexander
Herzens ,,Erinnerungen‘ 4 konnen Sie «um Vorzugspreise nur
direkt beziehen, nicht durch eine Buchhandlung. Auch dies
war in jeder Nummer zu lesen.
Freunde. Ich suche fiir einen j ungen, kfirperlich nicht kr&ftigen
Dichter, der journalistische Betriebe vermeiden will, eine Existenz-
mbglichkeu. Wer weill etwasf Bitte an keine Kollekte
denken 1
BOCHERLISTE
EMILE ZOLA. Fruchibarkeit. Roman in sechs BUchern (Insel-
Verlag, Leipzig). M. 4,
ROUSSEAU. Bekenntnisse. VollstSndige Ausgabe in einem
Band (Ebenda). Leder M. 8.
EBERHARD BUCHNER. Kriegsdokumente, Bd. $ und 6
(Verlag Albert Langen, Mtlncben). Jeder Band M. 3,50.
Erich Ochre Landschaft {Holzschnitt)
IN HALT DER VORIQEN NUMMER. SONDERHEFT „FRIEDE AUF ERDEN 44 . RICHTERBERLIN : DIE H1RTEN AUF
dem Felde (Titelblatt) / Rembrandt: Die Anbetung der Hirten (Zeichnung) / Ein andachtiger Weihnachtsgesang (XVII. Jahrhun-
dert) / Heinrich Fischer: Weihnacht j Max Elskamp: Fur die Bektimmerten. Deutsch von Paul Adler / August Strindberg:
Eine Legende / Leo Tolstoi: Ein MSrchen / Albrecht Diirer: Die Anbetung (Holzschnitt) / Rembrandt: Die Flucht nach
Agypten. Nachtstuck / Patmore: Das Spielzeug. Deutsch von August Brucher / Josef Capek (Prag): Die Botschaf! (Zeichrungl /
R. de La Fresnaye (Paris): Friede auf Erden (Holzschnitt) / Simon Kronberg: Cham lam erzahlt sich Marchen / K. L. Heinrich:
Weihnachtstraumerei (Zeichnung) / Q. K. Chesterton: Weihnachten / Hans Richter: Weihnachtsmusik (Zeichnung) / Franz Schulz :
Der Weg zum Religiosen / Strohmeyer : Sentimental itat (Holzschnitt) / Arthur Segal (Ascona): Holzschnitt / nellmuth Wetzel :
Der groBe Exquisite vom Jahr danach / Wilhelm Klemiti: Verwundeter (Tusch zeichnung) / Werner Hahn: Weihnachtsfahrt /
Job. Urzidil: Emeuemng / Steinicke: Vers / Wilhelm Ktemm: Religion / Carl Einstein; Negergebet } Dtubler: DerSchwur/
Herbert Kfihn; Wir / Ich schneide die Zeit aus / Kleiner Briefkasten / Inhaltsverzeichnis des VI. Jahrgangs
(II
i
1
A
Fur Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten
Inhalt verantworttich : Franz Pfemfert, Berlin-Wil-
mersdorf, Nassauische StraBe 17. Tel Pf alzbg. 1 695.
Gedruckt bei F. E, Haag, Melle in Hannover.
Die AKTION erscheint jeden Sonnabend. Abonne-
ments kosten vierteljahrlich durch die Post, durch
Buchhandel oder Verlag (unter Kreuzb.) M. 2,50.
Abonnements fur das Ausland kosten M. 3, — .
Buttenausg., lOOnumerierte ExempL, jahrl. M. 40, — .
Verlag der AKTION, Be rli n-Wilm e rsdorf.
Unverlangten Manuskripten
ist Ruckporto beizufugen.
Alle Rechte vorbehalten.
WOCHEN8CHRIFT FOR POUTIK. UTERATUR, KUN8T
fll JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT NR |
INHALT: Richter-Berlin: Macedonier. Holzschnitt (Titelblatt) / Ludwig Rubincr; Das Mittel / O. R Nicolai: Heimatliebe /
Nietzsche an Overbeck / Oeoig Davidsohn: Lieber Franz Werfel / Richter-Berlin: Am Vardar (Holzschnitt) / Franz Werfel:
Des Trinklieds zweite Fassung / Richter-Berlin: Macedonische Landschaft und Macedonier (Zwei Holzschnitte) / Ludwig
Baumer: A us «Der Untergang* / Anton Schnack, Fritz Heckerling und Alfred Vagts: Verse vom Schtachtfeld / Richter-Berlin:
Macedonier (Federzeichnung) 7 Rudolf Fuchs, Umn, Herbert Kfihn, M. Morax-Korschelt, Franziska Stoecklin (Basel), Wilhelm
Klemm und Richard Huelsenbeck: Neue Verse / Wilhelm Stolzenburg (New York): Ansprache vor der Leiche eincs Cowboys f
Hoerle (Kdln): Notiz fiber Expressionismus und ein Holzschnitt / fianns Braun; Em Stenogramm / Ich schneide die Zeit
aus / Kleiner Briefkasten
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WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR, KUNST
7. jahrgang HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT 20. JANUAR 1917
DAS MITTEL
Fan Ludwig Mubiner
Die tiefste Erkenntnis fur den Weg 2um Tun des
Menschen steckt in der bekannten amerikanischen
Zeitungsan nonce :
I „Wenn ich Sie personlich
I sprechen kdnnte!“
Das ist es ja gerade, daB ich Sie nicht personlich
sprechen kann, Sie Armer Oder Gesattigter, Sie
Beamter Oder AusLander, Sie Furst, Minister Oder
verkrochener kranker Unterprofetarier! Konnte
ich Sie personlich sprechen, dann hatfe ich es
leicht, dann wiirde es schnell gehen, Sie Auge in
Auge zu bewegen, mit Bcnutzung alter Neben-
umstande, auf dem Wege durch Ihren Korper,
Aber Sie sind weit weg, nicht Nachbar, sondern
Mitmensch; ich muB also zu Ihnen von den Grund-
lagen des Mitmenschen a us sprechen. Einmalig*
keit des Sagens gilt nur von Mensch zu Mensch.
Allgemeinwesentliches muB, um glaubhaft zu wer-
den, immer wieder von neuem, unentmutigt: ein-
geredet, zugeredet, iiberredet warden.
Man kann aber nichts in der Welt durch einen
Bluff erreichen. Wenn Sie wollen, daB eine Starke,
ungewohnte, unangenehme Wahrheit zu vielen
Teilnahmslosen komme, so konnen Sie sie bei-
spielsweise unter dem Titel hinausgehen lassen:
„Hier werden Kinderwagen ver$chenkt!“
Die meisten Menschen werden erstaunt mit-
macheit, was Sie zu sagen haben, und viele, aus
Stagier, bis ans Ende. Wenn sie die Aufsch rift nur
tinmal mnerhalb Ihrer Rede aufgreifen und witzig
umpielen, werden Sie sogar als geistreich gelten.
Aber damit bleiben Sie eitimaiig. Damit werden
Sie nie: wirken. Es ist ein edles Geheimnis des
Weltgeschehens, daB Schwindel nichts hilft.
Schwindel: ist aber der Versuch, den Weg von
der Tragheit des Mitmenschen bis zur Annahme.
der Wahrheit mit einem Schlage zurucklegen zu
wollen, magisch. Schwindel: ist die Absicht, nach
Erregung dunkler Beunruhigung sich selbst be-
ruhigt ins Privatleben zuruckziehen zu wollen.
Schwindel: ist Ausiibung jeder Einmaligkeit
Nicht Schwindel, also wirksam, ist: sich zur Ver*
fiigung stellen. Einzig wirksam ist die Unermud-
lichkeit der Oberredung, das Immer-Wieder-Von-
Vorn-Anfangen, die Einstellung zum Mitmenschen
in Mitliebe. Nicht nur wissen, daB der Mitmensch
ist, sondern wollen, daB der Mitmensch sei.
Das beste Mittel, die Tragheit aufzuriitteln, ist,
noch tiefer als sie zu steigen. Das menschliche
Wahrheitsgesetz zu enthiillen: in dem Wunsche
des Mitmenschen von sich selbst, in seiner Pre*
stigeabsicht, in seiner Eitelkeit.
Wenn Sie die Eitelkeit des Mitmenschen wecken,
ihm elementare Versprechungen fur die Geltungs-
tendenzen seiner Person machen; wenn Sie ihm
sagen :
Sie sind schon!
Sie sind gut!
Sie sind frei!
- ~ dann wird er das nie ganz glauben konnen.
Aber er wird Sie nicht enttauschen diirfen. Er
wird danach handeln!
Jede Erweckung der Eitelkeit eines Mitmenschen
enthalt eine ungeheure Wahrheit fur die Zukunft:
die Erinnerung an die gottlichen MaBe, nach
denen der Mensch geschaffen ist.
Er wird danach handeln.
29
DIE AKTION
30
HEIMATLIEBE
Von G. F. Nicolai
Die Heimatliebe is t ein Erbteil, das wir schon
von den Tieren ubernommen haben. Je weniger
ein Organismus an die allgemeinen Bed ingun -
gen der Erde und je mehr er an die besonderen
seines Milieus angepaBt ist, desto mehr ist er
in seiner Heimat verwurzelt. In dieser Beziehung
gibt es in der Entwicklungsgeschichte ein Auf
Ab. Die niedrigsten Lebewesen, wie z. B. noch
heute manche Bakterien, bediirfen nur allgegen-
wartiger Bedingungen (Luft, Licht, Wasser und
einige wenige uberali vorkommende Nahrungs-
stoffe) zu ihrer Existenz und haben demzufolge
als ^Kosmopoliten 11 keine engere Heimat.
Aber alimahlich wird die Anpassung an bestimmte
Milieubedingungen immer intimer Der Eisch
muB im Wasser schwimmen, die Forelle
braucht zu ihrem Wohlbefinden sogar „sprin-
gende Quetlen". Der Affe kann nur in warmen
Waldern leben, der Orang-Utang sogar nur in
den tropischen Urwaldern des ostindlschen Ar*
chipels. Der Vogel braucht Luft, aber der Kondor
braucht auflerdem noch gewisse Bedingungen, die
er nur in den Anden findet.
Diese steigende Anpassung an ein bestimmtes
Klima, diese wachsende Bodenstandigkeit, die,
wenn wir dafiir ein Gefiihlsaquivalent anwenden
wollen, eben einer wachsenden Heimatliebe ent*
spricht, wird unterbrochen, als die junge Mensch-
heit sich das erste Werkzeug formt.
Es ist hier schon gezeigt worden, wie sich der
Mensch durch dies neue Prinzip in jeder Bezie-
hung Freiheit geschaffen hat; es genugt, auf die
ganz offensichtiiche Tatsache hinzuweisen, daB der
Gebrauch von Werkzeugen den Naturzwang der
Heimatliebe aufhebt, denn mit Hilfe seines Werk-
zeuges (im weitesten Sinne) lernt der Mensch sich
den verschiedenartigsten Bedingungen anzu-
passen. Im Gegensatz zu den festgewachse-
nen, unzahligen Werkzeugen der Tiere (Schna-
bel, Zahne, Wickelschwanze, Russel, GrabfiiBe
usw.) kann das menschliche Werkzeug in jedem
Augenblick weggelegt oder ausgewechselt wer-
den. Mit seiner „verschieden warmen Kleidung' 1
kann der Mensch in den Tropen leben und am
Nordpol, wahrend das Tier entweder eine kahle
Haut hat oder einen dichten Pelz.
Der Tiger muB Beute schlagen und darum in
wildreicher Gegend leben, denn die Krallen sind
ihm angewachsen; der Maulwurf muB graben
und darumr in die Erde kriechen, denn seinen
GrabfuB kann er nicht ablegen. Das Pferd mu 6
ein fluchtiges Tier sein und kann daher die Steppe
nicht verlassen, denn seinen Hut kann es zu nichts
and ere m brauchen, als zum Laufen. Der Mensch
aber kann das Schwert mit der Pflugschaar ver-
tauschen, er kann sich auch die Schnelligkeit des
Pferdes aneignen, indem er das Pferd selbst zum
Werkzeuge macht und sich auf seinen Rucken
schwingt; er kann diese Schnelligkeit sogar noch
dadurch potenzieren, daB er sich Eisenbahnen und
Dampfschiffe, Luftschiffe und Automobile baut,
und er kann Infolgedessen uberali leben.
Durch den freien Intellekt des Menschen ist also
die Kurve der Anpassung an gegebene Bedin-
gungen rucklaufig ge worden. Der Hochstste-
heude ist nicht mehr derjenige, der am genauesten
an ein bestimmtes Milieu angepaBt ist, sondern
derjenige, der am freiesten iiber die AuBenwelt
herrscht.
Die Heimatliebe des Menschen ist also ein Rest
unserer Tierheit, sie ist hervorgegangen aus der
Angst des Wilden vor dem Unbekannten; und
wenn auch dieser negative Ursprung bei uns mo-
dernen Menschen langst subiiimiert und mit post-
tivem Inhalt angefiillt ist, so lebt doch liberal]
noch diese negative Seite deutlich erkennbar.
Es wird keinem, der die Menschen vorurteilsfrei
zu beurteilen versucht, entgangen sein, dafi bei uns
die Heimatliebe in den meisten Fallen ein romanti-
sches Gefiihl ist, in dem mancherlei von Chateau-
briand und den vielen anderen lebt, die uns das
moderne Naturgefuhl erfunden haben.
Die naive Heimatliebe aber ist etwas ganz an-
deres, sie ist eine wirkliche Notwendigkeit und ist
bei tiefstehenden Volkern am groBten. Diese sind
wirklich mit der Heimat verwachsen, weil sie, aus
ihr herausgerissen, sich in der neuen Welt nicht
mehr zurechtfinden. Benihmt urn ihrer Heimat-
liebe Willen — und zwar schon zu seiner Zeit, als
der moderne Snobismus noch nicht die Verehrung
der Heimatkunst forderte — waren in Europa vor
allem die Schweizer Alpler, die ohne ihre Berge
und Kiihe nicht leben konnten, die Wolga-Fj-
scher, denen Miitterchen Wolga die Welt be-
deutet, und die Islander, die ihre rauhe Heimat
allem mitteleuropaischen Luxus vorziehen, alles
relativ primitiv gebliebene Volkerschaften. Und je
tiefer wir auf der Skala der Ethnologie hinab-
steigen, desto groBer wird dieser unbezwingbare
Hang zur „Heimat“.
Man hat sich oft gewundert, daB Sohne von Natur-
volkern (Indianer und Neuseelander z. B.) die ein
ngutiges Geschick 1 * in eine komfortable europa-
ische Umgebung versetzt hatte, dort nie heimisch
werden konnten, ja, daB selbst viele zivilisierte
Wilde, die sich bereits ganz gut angepaBt zu haben
schienen — und beispielsweise ihre Universitats-
studien mit Auszeichnung vollendet hatten —
doch bei der ersten Gelegenheit in ihren Busch
zuriickrannten und nackte Wilde wurden. Dies
ist aber garnicht erstaunlich, denn diese primi-
tiven Gehirne sind eben nicht imstande, sich in den
komplizierten neuen Verhaltnissen zurechtzufin-
den, haben also aus ganz natiirlichen Grunden eine
uns auf den ersten Blick unverstandliche „Heimat*
Hebe**.
Obrigens hat, wenn ich nicht irre, zuerst Macau-
lay darauf hingewiesen, daB zwar friiher in klei-
nen Staatsgebilden wie den griechischen Repu-
bliken, den Schweizer Kantonen und den deutschen
Reichsstadten Heimatsliebe und Vaterlandsliebe
identisch waren (denn hier reprasentierte die enge
Heimat wirklich einen einheitlichen Begriff), daB
aber in den heutigen groBeren Staatsgebilden hier-
von keine Rede mehr sein kann. Mit Recht sagt
Ratzel: „Der Deutsche hat zunachst nur ein
31 DIE AKTION 32
Verhaltnis zu seinem Land oder Landchen, das Bewohner dcr oberrheinischen Tiefebenc eher
braucht aber beim Altbayem nicht bis nach Fran- Heimat sein, als die Luneburger Heide.
ken und beim PreuBen nicht uber die Elbe west- So i$t denn die naturliche Heimatliebe notwen-
warts zu reichen.“ Andererseits findet der Be- digerweise auf das Enge gerichtet, und gerade
wohner der norddeutschen Tiefebene in dem asi- hochstehende Vo liter mit weitem Blick kennen
atischen Tiefland bis zum Jenissei verwandteres, diese angeborene Heimatliebe nicht mehr, weil
heimatlicheres Land als in ganz Suddeutschland, sie die Angst vor dem Neuen veriemt haben und
und der Suddeutschen naturliche Heimat erstreckt offnen Auges und Oh res die Schonheit der Welt
sich umgekehrt weit hinaus aus Deutschland nach in sich autzunehmen wissen. Die spateren gebil-
Suden und Western Ja, die Lombardei konnte dem deten Griechen waren in der ganzen damals be-
33
DIE AKTION
kannten Welt zu Hause, die Romer wiederum
liebten Griechenland mehr als ihr eigenes Land
— ja, sie nannten sich selbst oft genug Barbaren
— und Tacitus und andere fanden sogar ewige
Schonheiten und Gefiihlswerte in der terra nebu-
losa von Germanien. Wir Deutsche hatten von
alters her eine unbezwingliche Sehnsucht nach
dem Suden, und der Englander weifi, daB er in ge-
wissem Sinne imstande ist, sein Vaterland mit sich
rund um die Welt zu tragen. Gerade darum, weil
er auf englische Art in Skandinavien den Elch
jagt, in RuBland den Baren hetzt, in lndien Tiger
und in Afrika Lowen schicBt, gerade darum, weil
ihm das „Home, sweat home" nur noch eine
romantische Feiertagsidylle ist, gerade darum hat
er sich die ganze Welt zur „Heimat“ gemacht.
NIETZSCHE AN OVERBECK
Sils*Maria, d. 30. August 1887.
Lieber Freund,
der Sommer ist dahin; wir waren sogar schon
zwei Tage tiichtig eingeschneit, seitdem blieb es
frisch und streng, doch so hell, wie sich's meine
Gesundheit nur wunschen kann. Die Kalte ist
nicht mein Feind.
Ich habe oft an Dich gedacht, namentlich in Hin-
sicht auf Deinen Dresdener Aufenthalt, uber den
Du schwer genug hinweggekommen sein wirst.
Jetzt denke ich Dich auf irgend einer Hohe, nach-
sommerlich gesinnt und hoffentlich wieder etwas
von schmerzlichen Eindrucken hergestellt. Dein
Name ist diesen Sommer oft genug hier oben
von mir genannt worden: denn Basel war dies
Mai die langste Zeit das dominirende Element
in Sils, — namentlich durch eine Kopfzahl von 36
vertreten. Die gute Basler Welt zeigte sich gegen
mich ganz unverandert, sehr herzlich und sehr
respektvoll, ganz wie ich’s nur wunschen konntc.
Die Namen La Roche Ryhiner AIHoth usw. usw.
schwirrten mir Anfangs etwas vor dem Kopf,
allmahlich stellte ich mein Gedachtnis wieder ein;
namentlich Sally Vischer von Ehedem hat sich
prachtig die ganze Zeit iiber gegen mich bezeigt
(mit ihren Kindern Manfred, Eleonora, Sigis-
mund: wir haben iiber die schonen Namen ge-
lacht!) Insgleichen die Schwester von Andreas
Heusler. —Sodann ist FrI. von Sallis hier, jetzt
Doktorin der Geschichte (Abhandlung iiber die
Mutter Heinrich IV., Agnes von Poitou), welche
mit ihrer Freundin, der Tochter des Prof. Kym
zusammenwohnt. Endlich habe ich einen gele-
gentl. Verkehr mit einem Prof, der Matheniatik
aus Erlangen, Noether gehabt, einem gescheuten
Judcn, und dem alten Reichsgerichtsrath Dr.
Wiener aus Leipzig sammt Familie. I — — I
Meine englisch-russischen Damen haben mich von
Maloja aus besucht; MiB Fynn hat bei einem
dortigen Maskenbali den ersten Rang im succes
behauptet (sogar nach den Zeitungen), namlich
als russische Hofdame und als russische Bauerin.
Mit der alten Mansouroff geht es aber nicht zum
Besten. Eines Tags begriiBte mich ein alter Herr,
grauhauptig, mit seiner Frau: Prof, ClaB („Phi!o-
soph“) aus Erlangen: seine ersten Worte waren
„oh wie liebenswiirdig haben Sie mich exami-
niert! das werde ich nie vergessen" (er promo-
vierte seiner Zeit in Basel).
Noch habe ich Dir nicht fur die TertuIIianstelle
gedankt, ich habe von Deinen adnotat. dazu den
unbefangensten Gebrauch gemacht (namlich in
einer Abhandlung, die jetzt gedruckt wird): ein
Stuck der Stelle fand sich noch vor Eintreffen
Deines Briefes in meinen Manuscripten, aber es
war mir sehr wertvoll, sie in extenso zu bekom-
men. — Das Resultat vom Verkauf vom „Jen-
seits" ist sehr lehrreich; dies Mai ist Alles getan,
was ein geschickter und beliebter Buchhandler
zu Gunsten eines Buches thun kann; es sind eben-
falls gegen 60 Freiexemplare an Zeitschriften und
Redaktionen vertheilt worden. Trotzdem jammer-
licher AbschluB der Rechnung, buchstablich 106
Exemplare verkauft, Alles sonst remittirt. Kaum
der fiinfte Teil der Redaktionen hat Notiz von der
Zusendung genommen; entschiedene Zeichen von
Abneigung u. principieller Ablehnung gegen Alles,
was von mir kommt, fehlen nicht. Und nicht Eine
in Betracht kommende Anzeige! Ich sage dies
iibrigens nicht mit Verdrufi: denn ich verstehe es.
Trotzdem schien es mir notwendig, diesem „Jen-
seits" von mir aus etwas zu Hilfe zu kommen: und
so habe ich ein paar gute Wochen benutzt, um
in Gestalt von 3 Abhandlungen das Problem des
genannten Buches noch einmal zu pracisiren. Da-
mit glaube ich am Ende mit den Bemiihungen zu
sein, meine bisherige Litteratur „verstandlich“
zu machen: und nunmehr wird fur eine Reihe von
Jahren nichts mehr gedruckt, — ich muB mich
absolut auf mich zuriickziehen u. abwarten, bis
ich die Ietzte Frucht von meinem Baume schiitteln
darf. Keine Erlebnisse; nichts von auBen her;
nichts Neues — das sind fur lange jetzt meine
einzigcn Wiinsche. — Den 20. Sept, will ich nach
Venedig abreisen, um unserem braven K. wieder
Muth zu machen; er hatte einen schweren Som-
mer.
Ms. Taine hatte von Genf aus sehr liebenswiirdig
an mich geschrieben. (In Bezug auf ihn hat Rhode
in diesem Fruhjahr eine Rupelei gegen mich be-
gangen, nun, ich habe ihn griindlich darauf ge-
dient, vielleicht zu griindlich. Hinterdrein that
mir's leid.) Man schreibt mir, daB Dr. Johannes
Brahms sich auf das Lebhaftcste fiir meine Schrit-
ten interessiere — (Die Gesundheit bei strengster
Diat besser als andere Jahre: in summa 6 ganz
schlimme Anfallstage.) Ich halte an Sils test. Ich
habe keine Zeit mehr zu probiren — und keinen
Glauben daran mehr, zu finden . . . Empfielil mich
auf das Beste Deinerlieben Frau undderen Anver-
wandten! (Die Nachricht von der Munchener
Hochzeit kam in Gestalt einer schonen Karte zu
mir.) Treulich u. dankbar Dein N.
(Turin), Weihnachten (1888)
Lieber Freund,
wir miissen die Sache mit Fritzsch schnell tna*
DIE AKTION
36
chen, denn in zwei Monaten bin ich der erste
Name auf der Erde. —
Ich wage noch zu erzahlen, dab es in Paraguay
so schlimm als mdglich steht. Was hier in Turin
merkwurdig ist, daB ist eine vollkommene Fas-
cination , die ich ausiibe, obwohl ich der anspruch-
ioseste Mensch bin und Nichts verlange, Aber wenn
ich in ein groBes Qeschaft komme, so verandert sich
jedes Gesicht; die Frauen auf der StraBe blicken
mich an, — meine alte Hockerin iegt fur mich das
SuBeste von Trauben zuriick und hat den Preis
ermaBigt! , . . Er ist an sich Lacherlich ... Ich
esse in einer der ersten Trattorien, mit 2 unge-
lieuren Etagen von Salen und Zimmern. Ich zahle
fur jede Mahlzeit 1 Fr. 25 mit Trinkgeld — und
ich bekomme das Ausgesuchteste in der ausge-
suchtesten Zubereitung*) ich habe nie einen Be-
griff da von gehabt, weder was Fleisch, noch was
) (Am Rande): Moral: ich babe auch noch nie einen ver-
dorbenen Magen gehabt . . .
Bich ter -Berlin Uace<U>nUr (Holztchnitf)
¥
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37
DIE AKTION
36
Gemuse, noch was alle diese eigen tl ital. Spei-
sen sein konnen . . . Heute z. B. die delikatesten
ossobuchi, Oott weifi, wie man deutsch sagt, das
Fleisch an den Knochen, wo das herriiche Mark
ist! Dazu broccoli auf eine unglaubliche Weise
zubereitet. zuerst die allerzartesten Maccaroni. —
Meine Kellner glanzen von Feinheit und Entgegen-
kommen: das Beste ist, ich mache Niemanden
dummer ... Da in meinem Leben noch alles mdg-
lich ist, so notiere ich mir alle diese Individuen, die
in dieser unentdeckten Zeit mich entdeckt haben.
Ich verschwdre es nicht, da6 mich bereits mein zu-
kfinftiger Koch bedieni. —
Noch Niemand hat mich fur einen Deutschen ge-
halten ... Ich lese das Jornal des Debats, man
hat es mir instinktiv beim ersten Betreten des
ersten Cafes gebracht. —
Es giebt auch keine Zufalle mehr: wenn ich an
Jemand denke, tritt ein Brief vom ihm hoflich zur
Thfir herein . . . Naumann ist in einem pracht-
vollen Feuereifer. Ich habe den Argwohn, dab er
die Festtage hat drucken lassen. Es sind 5 Bo gen
in 2 Wochen mir zugeschickt worden. Den SchluB
von Ecce homo macht ein Dithyrambus von eincr
ganz grenzenlosen Erfindung, — ich dar! nicht
daran denken, ohne zu schluchzen.
Unter uns, ich komme dieses Fruhjahr nach Basel,
— ich habe es nothig! Zum Teufel, wenn man nie
ein Wort im Vertrauen sagen kann . . „
Dein Freund N.
BRIEF AN FRANZ WERFEL
Lieber Franz Werfel!
Deine Dichtung und Dich beachte und achte ich.
Darum bitte ich Dich: schreibe keine „Poetik“ und
auch keine „Notiz zu einer Poetik 14 wie in Nr. 1/2
der AKTION. So etwas ertragt man nur, wenn es
vom Universitats-Katheder aus dem Philologen-Ka-
theter traufelt. Was Kuno Fischern, Erich
Schmidten, Meyern mit den vielen Vornamen, Karl
Werdern, Max (Dessoir oder Hermann) und Mo-
ritz (Hartmann) recht ist, das ist Franz Werfeln
unbillig.
Bisher hat — Gott sei Dank — noch jeder Dichter
versagt, der sich — wie etwa Otto Ludwig — mit
der „Poetik“ verplemperte, und der kluge Lessing,
der kein Dichter gewesen sein mag, aber vom
Dichten ein wenig verstand, hat urn die „Poetik“
grofle Bogen Weges (nicht Papiers) gemacht und
sich Iieber auf die Kritik gelegt.
Solange der Mensch spricht, sieht, hort, riecht, fuhlt
und schmeckt, ohne sich torichte Gedanken dariiber
zu machcn, wie das alles zustande kommt, so
lange geht die ganze Geschichte hfibsth glatt und
nett von statten. Sobald er aber anfangt, in philo-
sophischem Autosadismus fiber all die „Wunder 44
jener psycho-physischen Akte zu studieren, zu
sinnieren, zu experimentieren, tut ihm beim Spre-
chen der Kehlkopf weh, schmerzen ihn die Augen,
wenn er ins Grime schaut, hat er Ohrensausen,
wahrend die Nachtigall schlagt, kriegt er Nerven-
zucken in den Nustern, wenn die Rosen bliihen,
zittert ihm die Hand, mit der er die Ruckenlinie
seiner Liebsten abtrommelt, und kann er kein
deutsches Schnitzel essen, ohne daB seine Zungen-
warzchen psychologisch-anaiytisch flimmern.
Die Sonne scheint, der Bach rieselt, der Wind
weht, der Dichter dichte! Wenn die Sonne fiber
ihr Sch einen, der Bach fiber sein Rieseln, der
Wind fiber sein Wehen zu denken beginnen
wollte, dann ware es Zeit, dafi wir uns alle, soweit
wir den Krieg uberleben, begraben lassen.
Selbstverstandlich will ich nicht etwa einer Dich-
terei das Wort reden, die alles gut sein laBt, wie
es aus dem Universum der Dichterseele auf den
Planeten irgendeiner Schreib-Materie nieder-
gekommen ist. Der Dichter soli feilen, verdichten,
hobeln, glatten, polieren. Aber ohne groBe „Ge-
lehrsamkeit 44 ! Einfach: weii dieses so noch klarer
ist, jenes so weit heller erscheint, viel Hebreicher
rieselt, kraftiger weht. Beileibe aber keine Er-
ziehung der Poeten zu Poetikern!
Dabei kommt glucklicherweise doch meist nicht
vie! Erschutterndes heraus, Iieber Franz Werfel,
der Du ja so gerecht bist, Deine Bemerkungen
selber „unvollkommen <( und Deine Unterscheidun-
gen , t selbstverstandlich ungemein ubertrieben** zu
nennen.
Darf ich Dich zitieren?
„Das Extrem dieser Krankheit ist das bos Rhe-
torische, das ganzlich undichterisch ist, weil es
seinen Raum aus abstrakten unassociativen Mau-
ern baut.“
Bravo!
*
Darf ich fragen, Iieber Franz Werfel, ob in der
Prosa wirklich i miner das Substantiv der Trager
der Betonung ist? Nehmen wir einmal: Der Dich-
ter kam, sah, siegte! Oder nehmen wir Dein Bei-
spiel und bauen den Sinn um, dann fallt die Beto-
nung, wohin Du witlst: auf Verben, Adjektiva,
Pronomina, Adverbia und sonstiges grammatika-
liches Gemuse. Lassen wir sie auf die Verben
fallen: „Kaum hatte er sich niedergelassen, der
junge Landarzt, da konnte er das Elend nicht
ertragen: er half den Weibern und hat spater im
Zuchthaus geendet/* — Wenn ich diesen Satz in
bezug auf seine Betonung sezieren sollte, dann
mfiBte ich in Gelehrsamkeit machen: Tone reden
von Haupttonen, Mitteltonen, Nebentonen, Zwi*
schentonen, Untertonen, und es wurde schlieBlich
nicht ein Krumchen mehr heraustonen, als daB
wir beide recht und unrecht haben, weil diese
Dinge — in der Poesie wie in der Prosa — keine
Fesseln ertragen als die durch den Sinn ge-
gebenen !
Lieber Franz Werfel! Das Imperfektum ist dem
Verse durchaus nicht fremd. Sprich Dir mal Goe-
thes „Erlkdnig“ vor: Von vorn bis hinten nichts
als Prasens. Wohl an die funfzig Mal. BloB ein
einziges Imperfektum. Im letzten Vers. Goe-
the war ja nicht unbegabt. „ln seinen Armen das
Kind ist tot“ hatte Ihm „fremd <4 geklungen, Ueber
Franz Werfel. Ebenso „fremd“, wie wenn er ge-
dichtet hatte: „Ich geh im Walde so fur mich
hin . . Oder: Sieht ein Knab’ ein Roslein stehn.
Ich will wiederum davon absehen, an Hunderten
JUcker-BmUn
Moctdonisdit Lanitckaft (HoUtrhnitt)
41
DIE AKTION
42
von Dichtern alter, neuer, jungster Zeit zu be-
vveisen, daB auch diese Dinge jeder Schemati-
sierung spotten. BIoB auf dies mochte ich doch
nicht verzichten: Franz Werfel den Poeten gegen
Franz Werfel den Poetiker zu Hilfe zu rufen. In
Nr. 1/2 der AKTION steht auBer „Substantiv und
Verbum 44 auch ein Qedicht von Franz Werfel:
Die neue Holie. Und darin (entschuldige, daB ich
gezahlt habe, aber das ist die gerechte Strafe
fur uns beide): 62 Imperfekta, von denen mir
auch nicht ein einziges „fremd“ an die Tur ge-
klopft hat.
Den schonen Vers der Else Lasker bewundern wir
gemeinsam. Aber was Du iiber die 5 E-Laute
sagst — es mag hier stimmen und da und dorten
auch. Die Verallgemeinerung indessen totet den
Wert dieses kleinen Hymnus. Denn erstcns klingt
das offene E so ganz anders als das geschlossene,
das stumpfe so ganz anders als das spitze, daB
schon hier alle erdenklichen Irrtums-Moglichkeiten
auf uns lauern. Wenn ich sage: „Ich saB im Cafe
und trank zehn Glas Tee u — wo, lieber Franz
Werfel, ist in den 3 E-Lauten dieses Satzes „der
sehnsiichtig starre Blick einer liebenden Fiirstin,
die ihr Herz verschlieBt“ ?
Man hat friiher viel Wesens gemacht von der
^audition co!oree“ — dem Farbenhoren. Die Ex-
perimental-Psychologen haben bald eingesehen,
daB es sich da um Dinge handelt, die keincrlei
Qeneralisierung vertragen und allerhochstens fur
eine bestimmte Sprache in ein bestimmtes „Sy-
stem“ gebracht werden konnten, Aber nicht fur
die Sprache der Menschheit iiberhaupt. Ange-
nommen: die E-Theorie von der Ebene oder Flache
ware richtig gilt sie auch furs Franzosische
(general), furs Italienische (pittore), Englische
(say), Alt-Griechische (TYXH, ANATKH)? Oder
starrt in jeder lebenden und in jeder toten Sprache
ein anderer Laut den sehnsiichtigen Blick der
liebenden Fiirstin?
Wenn Du dichtest, lieber Franz Werfel, vergiBt
Du keinc Farbe an ihren Platz zu setzen. Wenn
Du unter die Poetiker gehst, erzahlst Du uns aka-
demisch von Sprache und Licht, Bewegung, Willcn
und so weiter. Hier vergiBt Du Deine Farben,
und das ist schade, denn sie wiirden sich m!t
Deiner Theorie vom alleinseligmachenden Ver-
bum bos vertragen. Wohingegen ich mich, lieber
Franz Werfel, trotz diesem Diskurs zu Deinem Ex-
kurs mit Dir weiter gut zu vertragen die edle Ab-
sicht habe als der AKTION alter — kritischer
Freund
Georg Daridsohn
TRINKL1ED (Zweite Fassung*)
Wir sind wie Trinker,
Gelassen iiber unseren Mord gebeugt.
In delphischer Ausflucht
Wanken wir dammernd,
Welch ein Geheimnis da?
Was klopft von uuten da ?
*) Die erste Fassung siehe Franz Werfel-Heft.
Nichts, kein Geheinuiis da,
Nichts da klopft an.
LaB du uns leben!
DaB wir uns starken an letzter Eitle,
Die gut trunken macht und dumpf!
LaB uns die gute Liige,
Die Heimat, wohlernahrende!
Woher wir leben
Wir wissen nicht . . .
Doch reden wir hiniiber heriiber
Zufalliges und anderes Herz.
Wir wotlen nicht die Arme sehn,
Die nachts aus schwarzem Flusse stehn.
1st tiefer Wald um uns,
Glockenturm iiber Wipleln ?
Hinweg, hinweg.
Wir leben hin und her.
Reich du voll schwarzen Schlafes uns den Krug!
LaB du uns leben nur,
Und trinken Ia8 uns, trinken!
Doch wenn ihr wachtet.
Wenn ich wachte iiber meinem Mord!
Wie flohen die Fiifie mir!
Unter den Ulmen hier war ich nicht
An keiner Statte war ich.
Die Baume braunten sich,
Tarpeisch stiinden die Felsen.
In jedes Feuer wiirf ich mich.
Schmerzlicher zu zergliihn!
Trinker sind wir iiber unsern Mord,
Wort deckt uns warm zu.
Dammrung und in die Lampe sehn!
1st kein Geheimnis da?
Nein nichts da!
Kommt denn und singt ihr!
Und ihr mit Kastagnetten, Tanzerinnen!
Herbei! Wir wissen nichts.
Kampfen wollen wir und spielen.
Nur trinken, trinken laB du uns!
Franz Werfel
SCHLUSSCHOR AUS DEM ORATOR1UM
„DER UNTERGANG 1 *
Chor der Toten
DaB sind wir Toten, daB wir den Tag schaffen
aus den Morgenroten unseres Zerfalls,
DaB wir, Riesen der Abendrote, aufdonnern das
Tor der Nachte, der Nacht,
Zwischen deren Lippen, sturmwolkenumhaarter
SchooB, die neue Sonne wacht,
Deren Leib ragendstes Glockengestiihl klingender
Briiste zerschaumendsten Widerhalls ....
Wir Ubereinandergeschichteten, uns wachst
Grabraum ins Grenzenlose.
Wir wissen von dem Atem unserer Verwesung
nur, dafi er die Mauern unseres Unterirdischen ein**
reiBt,
DaB wir zueinander quilien, Feindtose, Friedlose,
das erste Geschlecht nach den an der Sonne Ver-
kommenden, zusammengeschw'eifit
Von der Inbrunst einer verjahrten Sehnsucht,
an deren Flammen die Schicksale aller gewesenen
Zeit zersprangen. Wir Schicksablose.
43
DIE AKTION
Und schuf Zerschmetterung den Bauch der Erde
zum Saal eines nie gewesenen Spiels,
Ausroeheln unserer Leiber uns die Wonnen fiber-
wachter Geburten urersten Anfangs der ewigen
Kindheit.
Sprofllinge nur des Geschehns, nicht SproBlinge
der Menschen mehr, gliiht aus den zerrissenen
Hohlen unserer Blindheit
Mehr als Antlitz von Himmel und Erde, gliiht das
Gesicht des ewigen erstemsten Ziels,
Wirbauen am Turm der Lautlosigkeit, von dessen
Zinnen der erste Schrei ertonen wird, der uns
weckt,
Der uns weckt, uns Wache der ersten Ankunft,
wir mauern die Saule des Lichts fiir die Herkunft
des Schreitens . . .
Wir warten, warten noch, Krieglose, Friedlose,
bis uns, ein Horn der Verkundung seligsten
Schreitens,
Der Gott, der urspriingfiche Gott des namenlosen
Lebens an seine atemsturmenden Lippen reckt.
Ludwig Bdumer
VERSE VOM SCHLACHTFELD
Schwester Maria
Marchen einer scheuen Knabenzeit wachten ihm
auf unter dem schxnalen Glanz ihrer Hande,
Primel sah er gelb im Waldmoos; oh seine Mutter
ging Iachelnd im Sommerlicht
Mit blauen BlumenstrauBen ; klein gingen die
Schwestern vorbei mit begluhtem Gesicht . . .
Bilder . . . Bilder . . . Sufi versang das Fieber
Regen ihrer schwebenden Worte, kuhlend
den Stachel der bosen Brande . . .
jubeiten Nachtigallen im Maibusch: wenn ihre
Stimme kostlich vorubersprach,
Waren Veilchen erbluht im Marzabend: wenn sic
im Zimmer war? . . .
Gold lag irgendwo: neigte sie seitwarts ihr glit-
zerndes Haar,
Sterne hingen seidig, gingen auf fiber ihm ihre
Augen, im Dammergemach . . .
Marchen wachten auf, Kinderfeste im Gartcii,
Nachenfahrten im Wasserrosensee,
Wilder Kuckucksruf im Wald und banges Ver-
steckspiel mit ihnen,
Den Nachbarskindern; Sterne im Oberflufi und der
Mond der Julinacht . . .
Unter der Schonheit ihrer Gfite mildete suB sich
das Feuer im Fieber . . . Madchen sah er
tanzen im Rotklee,
Mutter ging wandeln im Garten; kleine Frohligkcit
flog schmal in die Mienen.
Weit . . . weit im West traumte furchtbar die
Schiacht . , .
Anton S chna tk
Der Getotete
Dew graucr Rock vcrfiel.
Umgeworfen dein Herz,
Dem verlassenes Profil
Steht Lotte-warts.
Immer ruft der Kuckuck.
Der Vater schaut nach Osten;
Das Fremdeste wird Schmuck,
Wenn die Abende rosten.
GroB! — Aufwarts! — Gott
Fiel auf Dich, dafi du verwest;
Aus dir blfiht Gelb und Rot,
Du bist Wind und wehst.
Frit* Heekerling
Im Scherenfernrohr
Die Farben isolieren sich vor mir, zu denen ich
einst gehorte.
Kaltestes ausgeprefltes Bild, die Karbe, rollt sich ab,
erlosend aus zerbeulten Tone-Raumen.
Glaserner Kreis grenzt zentrifugale Angste ein,
links dammt rostig Eisenbahn, des Friedens
blitzende Sekante.
Vor einem alten Graben klafft die Fahne der
Ewigkeit,
ihr Tuch aus Wald und Feld, von Schussen zer-
fetzt,
Richter -Berlin
Macedonia
mmtmmrnmmmm
DIE AKTION
46
zerrissen die alten Nahte der Drahtleitungen.
Sommerfaden spinnen der Melancholie Verhaue
tiber dunkles Gras, um Tote blau und dicht
gegriint.
Der Rhythmus wehender Kornfelder unterbricht
sich um sie wie Riicken der Klagefrauen,
die dieses Jahr nicht Ahren lesen in Abendsonnen-
raumen Millets.
Alfred Vogts
ODE AN DAS NIMMERERWACHEN
O arge Welt, reiB mich nicht aus dem Arm des
Dampf deine Lust an mir! [Schlafs!
Es ist noch Zeit.
Seit ich bin, kenn ich nur deinen iiblen Odem,
und deine kuhlen Hande
und dein, vom Horensagen, gutes Herz.
Es ist noch Zeit. Noch voller Sterne wallt
der Himmel hin, Und Ost und Westen sind
noch kaum von sich zu scheiden.
Ich war soeben auf dem Weg zu Gott . . .
Mir war so ewig innen angeziindet . . .
Nun hast du mir’s vergallt —
Allesi
Komm, siifler Hai, wenn mich mein Atem schwellt!
ZerbeiB das Lot, woran ich Schweres hange,
daB ein Nichts emporschnellt, wenn sie dran wecken,
dieweil mich korallener Frieden trankt.
Rudolf Fuchs
NACHT
Schlaf tragt in Baum,
Klirrt Skelett.
Vergrabnes Blut greift an. —
Wenn Erde mondete gesichelt dem Gemiit,
Ergriinten Blatter Ohren,
Gestein brach auf und Profetie der Hohle.
Gedanken hammern Beile.
Gestirn faBt Aste.
Hund belli fremden Schritt.
Urian
WIEDERKEHR
Das alles war schon einmal iiber mir und schlug
mich tot.
Den Tag ergreifen welke Hande.
Die Finger kratzen. Pressen Not.
Grell wachsen, ragen, blahen Wande.
O Grauen. Hilfl Das alles war doch einsi?
Genau. Der Blick. Das Buch. Das Starren ini
Oesicht. --
Die Nerven stauen kr&B vereist,
Bis in* der Schrei aus alien Poren bricht.
Herbert Kuhn
DER BETRUNKENE
Schwarze Nacht greift an sinkende Wande.
Oaslichter schreien, werfen klirrende Kranze
aus bodenlosem Schacht.
Ein hoher Hof starrt aus iriiber Verwesung nach
Sternenlicht —
Fhicht den bunten Perlen, die seine Totenhand
sehnt.
Dacher ktappern mit unsicheren Augen,
Wurgen, gehassig, graue Dinge im Haus.
Auf leeren Wegen sinken Menschen in Traumc,
schlotternd, angstlich und einsam.
Af. Morax KorscheU
TRAUMTOD
Die Nacht braust um sich ihr schwarzes Lied,
Dabel tickt immer an die Scheiben der Regen.
O die Nacht mit ihrem bosen Gesang . . .
jetzt siohnt neben mir die kleine Schwester
Weil ihr ein finsterer Mann
In den weiBen Traum steigt.
Ober Wotkenwalder fahrt der Mond.
Sein Licht wallt in mein Zimmer
Und erzahlt von den Toten
Die da oben
Ihr Schattensein fiihren.
Und wie sie mit furchtbaren Handen
In die Stunden der Lebenden greifen.
Jetzt hat der finstere Mann die kleine Schwester
erwurgt!!
O die Nacht mit ihrem bosen Gesang . . .
. . . . Ich will sie auf eine Wiese tragen, die
ohne Ende.
Ich will sie in den weiten Mantel hiillen
Damit sie keiner ahnt,
Damit sie keiner anruhrt
Will ich sie in die stillste Erde tun.
Nur die schmalen Engel werden dabei sein,
Mit ihren Strahlenlichtern
Und das Lied von den Garten Gottes singen,
O das Totenfest meiner kleinen Schwester . . .
FranzisJca StoecHin
MOROENDAMMERUNG
Wieder erfullen sich die gewaltigen Rotunden mit
Licht,
Die griinen Rippen der Berge dampfen.
Panoramen dunsten empor. lm Gebusch
Silberfahl rauscht auf der Morgen wind.
47
DIE AKTION
48
Die schwarzen Schalen der Nacht sind leer.
Der dunkle Wein rollt schwer durch unsre Adem.
Schwarmerisch endete das Bachanal.
Ein groBer Stern sinkt ins Herz der Morgenrote.
Welke Rosen auf zerwuhlten Kissen!
Muhsam ordnest du dein goidnes Haar,
Schwer von Liebe* Unter den Wundern,
Die mir der wachsende Tag zeigt, bist du das
groBte.
Wilhelm Kkmm
SCHWEBENDE
Unsagbar Heilige, die ihr wie Schatten
durch unsere Traume mit den Gedanken geht
Lippen erstarren. Glieder ermatten.
Gott ist der Wind, der uber die Meere weht.
Schiffe und Hauser sinken im Wetter*
ihr, die ihr Wolken wie Bliiten begreift,
Sprenget die Hauser und Stadte wie Ketten.
Beten ist Faltenkieid, das uns umstreift.
Heilige wandert ihr, Augen im Lichte,
Raffet die Volker mit eiliger Hand.
Beten ist Zittern vor dem Gerichte:
Gott ist im Winde, Gott ist im Brand.
Kirch en zerstauben vor mutigen Schritten,
Seen und Lander zerklaffen vor Gott.
Nehmt die Geschenke und priifet die Bitten;
Orge! nun jammert mit dem Fagott.
Priester bereiten die steinernen Sarge,
Kerzen zerspringen wie Funken im Raum.
Heilige steigt ihr betend und denkend
ais eine Sonne durch unseren Traum.
Christ ist erstanden uber den Kreuzen;
Heere von Bettlern sammeln sich dort
Hure, geheiligt, harret in Demut,
Kundet ihr wieder ewiges Wort.
Richard Huehmheck
ANSPRACHE VOR DER LEICHE EINES
NEVADA- COWBOYS
Vor der Hulle unseres abgeschiedenen Freundes
wollen wir unserer Ruhrung Einsicht und unserer
Klage Einhalt gebieten ; dem, der hier liegt, ist mit
Tranen nicht gedient. Er wiirde auch die Absicht
vor der Ausfirhmng durchschauen und uns jeden-
falls davonfaufen. Boys, beschamen wir eine tote
Gestalt nicht!
Dieser Mann, der nur die atmende Natur geliebt,
die groBen Siedelungen und die Stadte aber mit
der Ehriichkeit des Waldgeborenen gehaBt hat,
soli den Weg r zum Grabe ungestort, ohne Gaffer,
ohae den vermaledeiten Larm der Bahnen in Ge-
gichertheit zu rucidegen*
Er hat von seinen Ritten nicht das Gold Alaskas,
wohl aber das giitigere Gold, ein fiir die Freiheit
dieses Landes schlagendes Herz zunickgebracht
Es war sein edelster Besitz, den viele neiden und
wenige in Nachfolge zum ihrigen erheben konnten.
Merket auf, Boys !
Einem solchen Toten ist kein Vorwurf, keine Un-
gezogenheit zuruckzugeben* Er, der hier vor uns
liegt, war ein Gentleman der Hilfsbereitschaft, die
er in der Handlung und den Werken seines Le-
bens wahr zum Ausdruck brachte. Dieser Mann
ist von uns fort und aus der Welt gegangen,
Wilhelm Stofoenburg (New* York)
EXPRESSIONISMUS, PICASSO, KUBISMUS
Jede Zeit hat ihre Notwendigkeit, ihr Gesicht,
ihren Ausdruck. Den Ausdruck der unsern hat
man Expressionismus genannt.
Dieser Zeitausdruck bewies sein Dasein und das
Neue seiner Erscheinung durch das Versagen der
uberkommenen Mittel ihm gegeniiber. Die Form
fehlte. Die Kiinstler waren verwirrt und malten
experimental, problematisch. Sie sympathisierten
mit Kinderzeichnungen, Negerkunst und schatzten
die Primitiven, — die durch ihre Urspriinglichkeit
eine Moglichkeit der Losung zu geben schienen —
aus optischer Wahlverwandtschaft Eine Losung
war aber nicht moglich, da die Kunstler nur zum
Tat$achlichen=Bild zuruckkehrten. (Bildhafte Dar-
steliung.) Das Neue geschah. In einem Kunstler
vollzog sich der Entwicklungsgang mehrerer Jahr-
hunderte: Picasso wandte sich ab von der bild*
haften Darstellung und kehrte — der wirkliche
Primitive — zum Ursachlichen zuriick==Bildebene.
Er gab auf ihr das Gesetz der bildhaften Gestab
tung und damit das Neue, die Losung der Form
des Zeitausdrucks Expressionismus^Kubismus.
Heinrich Hoerle (Kbln)
Htimieh Hoerle ( Klfln )
HolMUknitt
DIE AKTION
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49
SCHURNALIST WERDEN
Ein Stenogramm
Von Hanns Braun (1916)
Die jiingsten Tage standen unter dem Eindruck
des — wessen? in — wo?, ach, noch ist es gleich-
gtiltig:
Kalt drauBen. Der Wind klebt sich wie weiBes
Pech gegen die Fenster, und die Nasse schutzt in
Dachstuben . . . Dachstuben . . . wie stenogra-
phiert man: Dachstuben ... So; — vor Kalte
nicht. Hat das Sinn? Einerlei. Aber es gcschehn
einen Menge Dinge, die niemand erwarten konnte.
— Geistreich, was? — Weifte Kalkwande, weiBe
Kalkwande, schiefe weiBe Kalkwande . . . Haus-
dacher . . . Kamine . . . Sonnenrote . . , Verzeihen
Sie! Aber dies hier — miissen Sie wissen — ist
nichts als eine tollgewordene Stenographie-
iibung!
Ich werde Schurnalist!
Grausame Freude, das Wort zu graphieren, wie
man es sprechen muB; da fallt aller Kalk herunter,
alie Tiinche, wollte ich sagen; die stimmhafte
Halsbinde.
Pflichtgefuhl, herauf! Anfeurung der irr tan-
zenden Hand. Silbenrekordbrecher. Gedanken-
rennbahn. Taglich hinfort laBt du mich starten.
Jeder Punkt, jedes Komma ein Hindernis; ver-
flucht, ich mus einen neuen Rhythmus lernen, der
unaufhaltsam einfach vorne anfangt und hinten
aufhort. Sssst! (Sieht gut aus auf gabelsbergisch :
Leuchtrad, das saltomortal am Boden sich wal-
zend zuletzt als Rakete aufsteigt.)
Schweife ich ab? Hallo, mit ganzer Stim auf das
immer Nachstliegende gestiirzt, hier uber den
Holztisch.
Was also? — Richtig! Krieg. Das Wort, das ich
am oftesten werde zu kritzeln haben. Ich werd mir
Siegel daraus machen: Kr! etvva. Kr. Kr! Nicht
ubel.
Das also meine Zukunft: ich werd eine schwarze
Haube iiber den Ohren tragen, dran sind gespannt
die Drahte Europas. Ich spur sie, ich allein, ihre
Ungeheuerwege zu mir heranbrausen, singen, s:n-
gen: von Feindschaft, Not, Betrug, Wucher und
Mord.
Schicksale funken daher, auf letzte kalteste For-
meln gebracht, wo man die Summanden nicht
mehr erkennt. Unmenschliche, seltsame Dishar-
monien sind wie ein Kichern in den Drahten:
Kriiiiii! — Kr, kiirze ich.
Aufstehn werd ich miissen und hinab auf die kalte,
naB-fahle StraBe, unter die Existenzen der Mor-
gendammerung, zu den Sonderbaren, ja den Exi-
stenzen schlechthin: StraBenfeger, Miichmadchen,
Brotmadchen, Burschen mit karrierten Wollhem-
den, eine Halbdime, Dime, die sich nach Hause
mttht, zu bleich, um zu erroten . . . Fleifiige Leute,
jawoll! Erbarmlich fleiBig . . . Gesindel! Das ist
das Wort. WIR kennen uns alie! Wir hassen und
lieben und am meisten beneiden einander: der
Barkellner da, mit der Zigarrette im Maul, mit sei-
nem Pelzmantel, einem versoffenen hangen-
gebliebnen versetzten Pelzmantel; pfui Schande!
O wie wir alie einander hassen, wenn wir nicht
niude sind, WIR grtifien uns, soviel ist sicher.
In einen kahlen Raum (von Liebe leer) werd ich
treten, wo schwarz versammelte Manner beraten,
was dem Burger — um diese Stunde noch hor ich
sein Schnarchen — zum Morgengahnen vor-
zusetzen sei.
Ich! Ich werde Lust haben Unerhortes zu sagen,
daB mich alie bos verwundert anschaun: Haltst
uns auf, Zeitdieb, Scher dich. — Und werde un-
widerstehlich Lust haben . . . heraufringende —
Urwaldgestrupp — Wolken jagende vor derNacht,
von purpurner Scham jah iibergossen; Wasser-
ebnen kristallklingende . . ., o ihr ungeberdigen
ungebornen, o ihr Gedichte . . . wahrend die
Schreibmaschinen vor mir und um mich klappern
und klingeln, und die Stenogramme sich fur ihre
hastige Geburt rachen.
Du schamlose und verangstigte Lust am Geld, am
guten Fressen, Lackschuhen und seidnen Kra*
watten, konnte ich dich — Still! Dies soli ein
Grab sein.
Versprech es: werd meine Worte bewachen, meine
heimlichen, lieben, morgenhellen Worte, daB ste
nicht flattern, wo sie nicht diirfen: gefangne Para-
diesvogel — solange bewachen, bis sie entgoldet,
blaB, erstickt, entschlafen sind.
Aber dann, wenn mit ihnen ich selber tot bin, dann
hockst du, STOLZ, auf meiner Leiche und ktap-
perst mechanisch. Brav wirst meine Maschine
denken lassen: Wievielen doch bin ich Nahrer im
Geist! Wieviele konnt ich betoren! Tausende —
wenn ich nur will — verfuhre ich taglich. Die
Auflage derer, die an meinen Lippen hangen,
wachst von Jahr zu Jahr: Schwall zu meinen
FiiBen: die Masse, das Volk! Ich traume bisweilen
davon. (Hab ich's so nicht immer, als unklar
griiner, schreihalsig sentimentaler dichtender
Rotzloffel immer gewolit?)
LJnsterbiichkeit ? Ruhm? Wir wissen, wie sie ge-
macht werden, WIR. Ich kann mir mein Teil ver-
schaffen. Pah! Ich verzichte.
Und die Wahrheit? Sie wird mir vorkommen wie
eine dicke ungelenke Kochin, der ich herrischen
Befehl — Wonne der Tyrannei! — morgentlich
zuschreie, derb in die unbeholfenen Gelenke, bis
daB sie uns Kulinaria auftischt.
Denn ich werde sein in der Kiiche der Wahrheit.
Europa kennt, nein, Europa will keine bessere!
ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS
XXXIX
Bud&pest, i.Januar.
Beim Neujahrsempfang der Kegterungsparlei bielt MmisterprSai-
dent Graf Tisza eine Ansprache, in der er sagte:
„Ich Itann zwar die Amwortnote der Entente, da sie blofi durch
Zeilungsmeldungen bekannt geworden ist, in meiner verantwort*
lichen Stellung nicht zur GrundUge von Aufierungen machen.
Es ist ittr mich eine offene Frage, ob unsere Gegner tatsSchlich
unsere Anregung mit einer votligen Ablehnung beantworten
werden. Wenn unsere Gegner die vollkommen zwecklose and
unbegrtlndete MenschenschlKchterei fort set sen wollen, so irifft
uns dies weder unvorbereitet, noch unerwartet. Wir werden
den Kampf fortsetsen, bis es gelingen wird, entweder durch
unsere wetteren Erfolge die Oberzeugung von der volt-
51
DIE AKTION
52
komzDeuen ZwecVlosigkeit und Aussichtslosigkcii
des Krieges bei unsercn Gegnem zu crwecken, oder bis der
Selbsierhaliungstricb dcr zur Schlachibank gcschickten Nationen
sich gegen ihre Re g ierung e n we n dct und der vollkommen
:n-pck- und sussichlslosenFortsetrung des KriegesEinhslt gebietct.'*
Grat Tisza scblofi mil dcm Ersucbeu um weitercs Vertrauen,
das, ob nun der Fried* eintrcte oder dor Kriegszusiand weitcr
dauere, filr die Erfttllung der gro0en und schweren Aufgabcn
eine unerliflliehe Vorbedingung sei. Die Rede des Minisierprasi
den ten wurdc wiederhok von starkeui BeiftH untcrbrochen. und
Graf Tisza w&r Gegen stand sehr lebhaftcrOvationen.
.. Berliner TngtblafV' und , t Berlinrr Volksteitung"
2. Januar 291?
. . . Das einzige, was bisher faktisch und praktisch auf dcm
blutgetranktcn Boden Europas fur den Frieden herausgekommen
ist, war das deutsche Friedensangebot. Dieses Angebot ware
umnbglich gewesen, wenn es niebt in Deutschland eine Starke
Volksbewegung gibe, die kDr und fesi auf dem Boden der
I^andesverteidigung sleht und dabei unablassig auf den Frieden
hmdrangt. Mit Arbeitsgemeinschaftlern find Sparlakussen —
Kreditverweigerern a us taktischeo und prinzipiellen Grttnden —
konnie dieser Schritt nicht getan werden.
E» ist ja ein sehr einfaches Mittei der Propaganda, von der
Kegierung Dingc zu verlangen, von denen man genua weiO, dafi
sie sie nicht mnehen wird. weil sie sie nicht machcn kann, und
sie dann so htnzusiellen, dafi kein Hund mehr einen Bissen Brot
von ihr nehmen muchie. Das Geheimnis solcher alter Haus~
rezepte ist much uns nicht verloren gegangen, und wir zweifeln
nicht d&ran, dafi man durch ihre Anwendung die im Volk vor-
handene Mifistirnmung erheblich steigern kann.
.tus detn „ Vortciirta“ - Leitartiktl geqen die soxial-
dcmokratische Minderheit, 9. 7. 79/7
gibt unseres Erachtens (lberhaupt kein besseres Mittei zur
Hebung der Moral unserer Soldatcn als sie iirnner wiedcr da*
von zu (Jberzeugen, daB die Verlangerung des Krieges nicht
unsere Schuld, sondern die der Gegner ist.
Aus dem r Vons&rts‘\ 7. Januar 191?
. . . Uns aber, uns Leuten der Feder, die wir tiglich filr
Manner und Frauen, alt und jung, Arbeiter und Rentiers, Kfinsl-
ler und Diplomaten, Gelehrte und Industrielle, Kaufleute und
Bureaumidchen, Offiziere und Mannschaften, Weltdamen und
Hausfrauen, Halbweltdamen und Fabrikarbeiterinnen, filr arm
undreich,die wir filr jedermann ein scbmackhaftes Ragout geistiger
Nahrung, Zerstreuung und Unterhahung zu brauen haben, uns
bereitet es siets Freude und wohl auch ein wenig Genugtuung,
wenn wir wahrend der langen Slrafienbahnfahrt den einert und
den anderen unsere eigene Arbeit mit Interesse lesen schen.
Ej schmetcbelt unserer Eitelkeit, obwoht wir uns vollkommen
bewuOt sind, dafi wir nicht flir den einen oder anderen, son
dern fUr tausende und abertausende Menschen schreiben.
Aus dem FeuilWon der ft Sational- Zeiiung* 1 , Ber-
lin 12. 7. 1917 .
Das engliscbe Parlamentsmitgtied Midlay uber die engltsche
Kriegspresse.
(Telegram m unseres Korrespondenien.)
Haag, 28 . Dezember.
Oberst Midlay sagte in der Debatte fiber die deutschen Friedens-
vorschlage : ^Ich korame in dieses Haus nach einer Abwesen-
heit von fast einem Jahr an der Front . . . Aber wie steht es
mi: der Pressed Manchmal, wenn ich gewissc Blatter lese,
wtlnschte ich, alle Nachrichtenblfitter dfirften keine Nachrichten
bringen. Man sollte Riesenttberschriften abschaffen. Die b i 1 1 i ge
Presse ist dcr Hauplverbrecher und einige der schlimmsten Zei
tutigen sind gerade die, die die neue Kegierung stfitzen. Ihr
rtcksichtsloser Gebrauch von Ansdrlicken, wie ,Hunnenfreund‘
und ,V>rraier’ konnen einem (lbelmachen. Das ist unenglisch
and beweist innere Unausgeglichenheit. Diesen Ton findet man
rjicht an der Somme. “
KLEINER BRIEFKASTEN
Dr. 15. in R, , , In riner Zeiiung halt eine gewisse Geistes-
odor Gcsinnungsgruppc einen Monolog mit sich selbst; das ist
alles. Aber der Monolog ist unfruchtbar, frucblbar ist nur der
Dialog . . . Diesen alien wahrenSatz hatte ich nicht vergessen,
als irh im vorigen Heft dem Chef des ^Berliner Tageblatis“
zusjTach. \’oraus 7 uwissen war, dafi Herr Theodor Wolff schueigen
wllrde, aber dar&uf komint es doch wirklich nicht an. Die AKTION
ist keiue Zeiiung; im Gcgenteil. Und da ich immerhin hoffen
darf, dafi diese Seitcu noch dann n aktuelH sein werden, wenn
das vergessen ist, was die Tagespresse in filnfzig Jahren an
den Tag geben wird, da die AKTION also Dialoge mit anderen
Zeiten halt, so ist das augenblicktiche Ergebnis der Unter*
haltung vollkommen unwichtig.
Rend Schickele, Herausgeber der ,,Weiflen Blatter'*, tm Dezember-
heft Ihrcr abgeklarten Monatsschnft schreiben Sie; *Ichrufe
es seit zwei Jahren; balten wir zusammen, um Gotteswillen
hallen wir zusammen. Alle Teufel sind liber uns, auch die
Philosophen.* Da Sie es erst seit zwei Jahren rufen, bin ich nicht
gemeint. Da aber seit zwei Jahren die Hcrrrn Leonhardl,
Mflhsam, Hiller ti. a. m. Gleiches rufen, so dilrfte das Ziuam*
menhalten blofl noch ein technisches Problem sein.
Mir bat, vor zwei Jahren, als ich auch ihn auf dem anderen
b b
Ufer entdeckle, der Doktor Kerr Ahnliches in schon gebundener
Form zugerufen :
Ich bin kein Schlachtenhurrarufer,
Mir ist vor der Verviechung bsnge.
Die Welt ward unerbort betort.
Wir sitzen an dem selben Ufer;
Wir Uutcn an dem selben Strange —
beteuerte er. Im letzlen Drittel seiner Beichie heiflt es schlieBlich :
. . . RuBland, lieber Pfemfert,
Ist inir ein grimmer Grund des Grolls.
Und wenn’s mich dkhtert, wenn's mich kampfert,
Fahr" ich dazwischen aus Impols.
Und fttble doch in Sturm und Drang:
Ein Leid ist unterschweilig mang.
Wir ziehn zuletzt am gleicben Strang,
Alfred Kerr
. . , Und Ich babe diesen Doktor Kerr einst geliebt wie ich Schickele
einst geliebt und Herrn Mflhsam einst geschStzt babe, und dafi
der Gesang vom gleichen Strang dann im roten «Tag“ durch
fixe Gottliebkuplets erganzt worden ist (und noch ikglich erganzt
wird), erhbht seinen Reiz. Kfirzlich, als es Alfred Kerr wiedcr
dichtertc und kampferte. ist ein r RumSnenlied“ drsu* geworden,
von dem ich zwei Zeilen hierher setzen will:
,.Tn der Hauptstadl Bukurescht,
Wo sich kainer FiBc w 5 scht.“
Tja ; Und fuhte doch in Sturm und Drang; Ein Letd ist onter
schwellig mang.
Georg Davidsohn. Sie haben gesehen: Ihr Brief an Franz
Werfet ist prompt erschienen. Schade. dafi Sie als M. d. R,
nichts von dem sebonen Temperament hergeben, das Sie bier
als M. d. ,,A,“ zeigen!
H. F. Immer wieder mufi ich um Geduld bitten : Die Buch-
bindrrei hat ihr Versprechen, in den ersten Januartagen das
AKTIONSBUCH zu liefern, noch nicht erffillen konnen. Auch
die neuen Bande AKTIONSLYRIK (Gottfried Benn, Wilhelm
Klemm, Kurd Adler) blieben noch aus. Wie sehr ich das be-
lt) age, werden meine Leser verstehen, wenn ich venrate, dafi vier
weitere BSnde Tyrik, zwei AKTIONS-BCCHER DER AETER-
N1STEN und Ludwig Rubiner Werk: DER MENSCIJ IN DER
MITTE nahen!
Erstc Seite des M Berlin tr TagehlaW* t Abendaus-
pabe 28. 12. 2916.
INHALT DER VORIGEN NUMMFR: Hans Richter: Widmungsblatt fiir die AKTION (Titelbild) / Ludu-ig Baumer: Jahres-
vtnde 1916 / Ofokar Bfezina: Prolog / Franz Werfet: Substantiv und Verbtnn / Georg Tappert: Zeichnung / Max Elskamp:
Abschied / Gafhmann: Wir / Menachem Bimbaum: Halluzinatorische Observation 2: Erotik / Franz Werfet: Die neue
Hoik i Christian Schad: Zwei Zeichnungen / Wilhelm Klemm, Gottfried Benn f Kurd Adler, Max Herrmann (Neisse):
/ Hieronymus Sturgkh: Zwei Silvester- Poemat a / Hans Richter: Daubier / Mynona: Groteske / Albert Eh renstein :
r„nm / lananischer Holzschnitt l Franz Pfemfert: Herrn Theodor Wolff vom *B.T.« / Kleiner Brief kasten / Ich schneide die
iTium zelt aus / Erich Ochre: Undschaft
Fur Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten
Inhalt verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin- Wil-
mersdorf, Nassauische StraBe 17. Tel* Pfalzbg. 1695.
Gedruckt bei F. £. Haag, Melle in Hannover.
Die AKTION erscheint jeden Sonn abend. Abonne-
ments kosten vierteljahrlich durch die Post, durch
Buchhandel oder Verlag (unter Kreuzb.) M. 2,50.
Abonnements fur das Ausland kosten M. 3, — .
Buttenausg., lOOnumcrierte Exempt., jahrl.M. 40, — .
Verlag der AKTION, Berlin-Wilmersdorf.
Unverlangten Manuskripten
ist Rudcporto beizufugen.
AUe Rechte vorbehalten.
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WOCHENSCHRIFT FUR POLITIK, LITERATUR, KUNST
HI.JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT NR. i
INHALT: Felix MQIler-Dresden ; Original hoi zschnitt (Titelblatt) / Ludwig Rubincr; Ursprache und die zweite Erde / O. F.
Nicolai: Der Familiensinn / Stursa (Prag): Aktstudie / Aus Turgenjews Bnefweehsel mil Herzen / R. Bampi: Die Last (Zeich-
sung) / Franz Werfel: Petr Bezru€ f Beye: Der Zeitungsleser (Zeichnung) / Arthur Segal: Original holzschnitt / , Wilhelm
Klenrni: Zeichnung / Swinburne: Strophen aus „ Dolores" (Nachdichtung von Alexander Freiherr von Bemus / Walther Rilla:
Ballade vom GlQck / Alfred Wolfenstein : !m Bestienhaus / Albert Ehrenstein : StoBseufzer ( Edlef K&ppen: Nachts im
Zimmer l Heinrich Schaefer: Qual / Kurd Adler; Januar / Hans Koch, Andr£ Sutras und Marguerite Schurmann: Oedichle
in Prosa / Ich senneide die Zeit aus / Kleiner Briefkasten
VERL AG < DIE AKTION ' BERLIN -WILMERS DORF
HEFT 50 PFG.
POLITISCHE AKTIONS-BIBLIOTHEK
F R
A N
Z M E H R I N
G
D i e
Lessinglegendc
Gebunden M. 3,10
Die
G e s c
h i c h t e der deutsche
n
So
zialdemokratie
Vier Bande gebunden M. 20, —
1807-
-1812.
Von Tilsit nach Taurogge
n.
1S13-
*1816.
Von Kalisch nachKarlsba
d.
Jeder
Band gebunden M. 1,10
Verla
g J. H.
W. Dietz Nachf. , Stuttgart
WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR. KUN3T
7. jahrgang HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT 3. febr. tsi/
ZWEI FESTSTELLUNQEN
Yon Ludwig Rubiner
Ursprache
Dichtung ist ein Ausdruck der Esoterik. Von
einem kleinen Kreis fur einen kleinen Kreis. Eine
bessere Welt wird in ihren Geheimnissen allein
dem musischen Menschen eroffnet Bessere
Welt? Wir konnten sie brauchen. Aber diese da
gilt ais besser nur, weii sie ewig unwirklich bleibt.
Ausrede: Man verwirkliche im Gedanken. — Aber
welch ein Schwindel, dies! Das bloBe Denken ist
bestenfalls zur Leitung des Verwirklichens da,
zur Ordnung des geschaffenen Raums, aber nie
selbstschon Verwirklichung, selbst ganzlich raum-
los; ein Vorgang, der in unablassigem FluB von
tausend neuen Vorgangen verdrangt wird. Wahr-
haft unwirklich.
Wie feige sind Dichter! Wird tatsachlich einmal
ein Stuck Dichtung verwirklicht, hat tatsachlich
sich die Forderung des Menschen durchgesetzt
und die Welt geandert, neuen Raum gezeugt, neue
Lebensmoglichkeiten geschaffen, dann veriaBt ge-
wohnlich der Dichter seinen Posten (auf den er
nun erst stolz zu sein hatte!) und nennt sich
Prophet.
Wie ausweichend. Wie unverantwortlich!
Die Romantikerhypothese: „Dichtung die Urspra-
che der Menschheit" — ist Wechselfalschung.
Selbst wenn sie deskriptiv richtig ware, sie ist aber
zudem historisch und forme!! menschlich falsch.
Ein Verbrechen als Ausrede.
Was schiert uns die Ursprache, wenn wir tot sind!
Was schiert uns die Ursprache, solang nicht ein-
mai erhabene Aussagen von unserem Verhalten
zur Welt — mehr noch und einfacher — Be-
stimmungen fiber unser Leben Oder unseren
Tod!: in unmittelbarer Verstandigungssprache
fiber Ozeane und Drahtverhaue hinweg rufen!
Es gilt nicht: Jeden als musisch zu betrachten; —
es gilt geringstenfalls : Jeden musisch zu
machen.
Aufgabe einer ethischen Philologie: Intematio-
nalisierung des Ausdrucks. Die Lehre: Wichtige
Dinge ohne Wortkunst zu sagen.
Dabei scharfste Ablehnung eines MiBverstand-
nisses: Die gewaltsam erfundenen Sprachen, Vola-
piik bis Esperanto, sagen Kunstworte fiir Unwich-
tiges. In Wahrheit handelt es sich aber darum,
unsern Inhaltswert in die Welt zu sprechen, er
formt die Sprachen nach ihm; keine Obersetzung
wird ihm urn die geringste Spur seinen EinfluB auf
Menschen mindern konnen!
Ein wand: Die seelische Verarmung.
Gegen den Einwand, und fiir uns: Was ist Euch
wichtiger? Euer Leben zu retten, Oder Buntheiten
zu sehen!
Nur zu Selbstlebensrettern rede ich.
Die zweite Erde
Philolaos, ein Schuler des Pythagoras, dachte sich
das Schweben der Erdkugel im Raum so, daB eine
andere, feme Erdkugel unsichtbar ihr an einer
Schaukel das Gieichgewicht hielte.
Aber nicht anders ist heute noch die Vorstellung
der Kiinstler von ihrem Werk. Kunst an sich: ein
anderes, femes, fremdes Gebild ; eine zweite Erde,
Sinkt unsere Erde recht tief, dann schaukelt man
schnell hinauf zu der zweiten.
Welcher Mangel an Giite gegen unsere Erde!
Man hiipft zu einer andem, anstatt aus der alten
Erde eine neue zu bauen.
Doch noch bornierter ist der Aberglaube der
Kiinstler, anzunehmen, es geniige schon Mangel
an Giite, um eine zweite Erde — Kunst — zu
erschaukeln.
DIE AKTION
56
55
DER FAMILIENSINN
Von Q. F Nicolai
Die priinitiven Horden, in welche die Menschen
sich in alien Zeiten gliederten, danken ihre Ent-
stehung teilweise dem menschlichen Herden-
instinkt und teilweise dem Familieninstinkt. Bei-
des geht schon von Anfang an etwas durchein-
ander, und so ist es bis heute geblieben.
Der Familieninstinkt hat sich allmahlich immer
mehr erweitert und ist zum Rasseninstinkt ge-
worden, soweit man wenigstens bei einer Rasse
von einer gemeinsamen Abstammung sprechen
kann; wahrend der Herdeninstinkt ganz ein-
fach die Zusammenfassung einer grofieren Zahl
von Menschen als Kriegsbanden erzwingt und
dabei an sich mit einer gemeinschaftlichen Ab-
stammung nichts zu tun hat. Er bedeutet also ein-
fach die Tatsache, daB sich die Menschen in Mas-
sen wohler fiihlen als einzeln. Praktisch fuhrte
er allmahlich zu den sogenannten Mannerbiinden,
der Wurzel der spateren ^Gefolgschaften^ ; diese
Gefolgschafien bildeten dann ihrerseits die Grund-
lage fur die modernen staatlichen Gemein-
schaften.
Hier soil nur der grundlegende Familieninstinkt
abgehandelt werden; den aus ihm hervorgegan-
genen Rassen patriotismus will ich in einem
anderen Aufsatz betrachten.
Der Familiensinn war urspriinglich auf die Mutter-
liebe beschrankt; Mutterliebe ist neben dem FreB-
trieb vielleicht deralteste Instinkt, den wir kennen.
Aber wahrend Fressen eine rein egoistische Hand-
lung darstellt, ist die Mutterliebe der ursprung-
lichste Trieb, der etwas „Altruistisches“ in sich
enthalt, ohne doch vorlaufig aufgehort zu haben,
egoistisch zu sein, denn das Kind ist zwar bereits
ein „anderer“, aber die Mutter fiihlt es als etwas
zu sich selbst Gehoriges. Erst als sich die Mutter-
liebe zur Familienliebe und endlich zur allgemei-
nen Bruderliebe erweiterte, trat das altruistische
Moment schiirfer in die Erscheinung, jedoch ohne
dafi dabei das Gefiihl selbst seinen ursprunglichen
Charakter geandert hatte. Wir sehen nier wie so
oft, daB es in der Nalur keinen Anfang gibt und
daB sogar das scheinbar entgegengesetzte Neue
nur etwas aus dem alten Entwickeltes ist. Lange
glaubte man iibrigens, daB die Mutterliebe nur aus
dem Gefiihl hervorgegangen sei, daB ein Kind
Fleisch von meinem Fleisch, Blut von meinem
Blut sei. Aber etwas der Mutterliebe Analoges
existiert nachweislich auch dort, wo von Gefiihlen
noch gar nicht die Rede sein kann, da die Eltern
ihre Kinder gar nicht kennen, ja oft iiberhaupt
niemals sehen.
Allerdings sprechen wir dann im gewohnlichen
Sprachgebrauch nicht mehr von Mutterliebe, auch
nicht mehr von miitteriichen Instinkten, son-
dern von „der miitteriichen Fiirsorge der
Natur.“
Autenrieth hat hierfiir den schonen und passen-
den Namen „organischer Instinkt“ cingefuhrt und
will damit in tatsachlicher Beziehung sagen, daB
es sich bei diesen niederen Tieren nicht um Ab*
anderungen des Gehirns, sondem um Abande-
rungen des iibrigen Organismus handelt, die wir
deshalb auch nicht gewohnt sind, als psychische
Vorgange zu werten. Solcher organischen Mutter-
instinkte gibt es unzahlige.
Die Tatsache, daB ein Tier desto mehr Junge
hervorbringt, je kleiner und je schutzloser die
Jungen sind, gehort hierher; denn diese Massen-
produktion dient doch nur dazu, daB trotz aller
Verfolgung eben doch noch einige iiberleben.
Die Schaffung von Brustdriisen, die eine geeig-
nete Nahrung geben, die Schaffung von Kropfen
bei Vogeln, die damit vorverdauen konnen, die
Schaffung von Beuteln, in denen die Jungen ge-
tragen werden, das alles sind solche Tatsachen,
die in bezug auf den Erfolg mit der Mutterliebe
identisch sind.
Dann folgt eine Reihe von Tatsachen, die wir
bereits mit Instinkten in Zusammenhang bringen
konnen und die ebenfalls einzig und allein Mutter-
liebe bedeuten, aber auf den ersten Blick damit
nichts zu tun zu haben erscheinen. Hierher gehort
z. B. die Einfiihrung von Brunstperioden, die
uberall so liegen, daB die Jungen nicht in die
Kalte des Winters kommen, und junge, saftreiche
Pflanzen (resp. junge, leicht verdauliche Beute-
tiere) vorfinden.
Ahnlichen Zwecken dienen unzahlige Instinkte der
Insekten, die mit einer fast unglaublichen Vor-
aussicht beim Legen der Eier dafiir zu sorgen
scheinen, daB die kunftigen Larven unter pas-
senden Bedingungen auskriechen konnen, und
doch hat nie ein solches Insekt je die Geburt sei-
nes Kindes erlebt. Bei den hoheren Tieren, vor
allem den Vogeln und Saugern, werden dann diese
zwangsmaBigen Instinkte immer freier, d. h. immer
mehr psychisch, denn, da bei ihnen die Gehim-
tatigkeit immer mehr in den Vordergrund tritt,
muB das Gehirn die Sorge fur die Kinder iiber-
nehmen und damit das geschieht, muB notwendig
ein Gefiihl existieren. Das aber ist die Mutter-
liebe.
Die Mutterliebe kann also — wie die meisten
unserer sublimsten Gefiihlsvverte — in die Tier-
reihe bis zu dem Punkte zuriickverfolgt werden,
an dem sie noch ein organischer Instinkt war, also
eine rein tierische Eigenschaft. Dadurch wird ein
solches Gefiihl nicht minder wertvolk Aber wenn
wir sehen, daB es eben nur als Aequivalent frii-
hercr korpeilicher Eigenschaften auftritt, die ihrer-
scits teilweise bereits verschwunden sind, so wer-
den wir nicht mehr ohne weiteres von dem Ewig-
keitswert solcher Gefiihle iiberzeugt sein, ihre
Verletzung sinkt damit auf den Wert einer kor-
perlichen Verletzung herab, und wir lernen be-
greifen, daB unter Umstanden auch die Mutter-
liebe w'iederum durch andere hohere Einrichtun-
gen ersetzt werden kann.
Wenn die Menschheit einmal — was doch nicht
im Reiche der Unmoglichkeit liegt — von Gesell-
schaft wegen fur die Kinder sorgt, weil sie diese
Art der Versorgung als niitzlicher erkannt hat, so
ist die Mutterliebe nur noch ein rudimentarer In-
stinkt, der vielleicht sogar hindert, ebenso wie
der Blinddarm ein friiher niitzliches, heute un-
DIE AKTION
brauchbares Rudiment ist, das eigentlich nur noch
Krankheiten verursachen kann.
Aber wenn dies schon fiir die Mutterliebe gilt,
wieviel mehr fiir die daraus abgeleitete Familien-
liebe und endlich gar fiir die Rassenliebe. Denn
hier ist der instinktive Ursprung schon langst
nicht mehr rein. Hier mischen sich bereits durch-
aus menschliche und zum Teil recht wenig erfreu-
liche Komponenten mit hinein. DaB sich die
Mutterliebe zur Familieniiebe erweitern konnte,
beruht eben darauf, dafi nicht nur die Mutter das
Kind, sondern auch der Mann die Nachkommen
liebte. Die moderne Forschung hat langst gefun-
den, daB die monogame Ehe nichts Natiirliches
ist. Der Mensch ist von Natur polygam und phi*
loneistisch. Urspriinglich herrschte in den Hor*
den Promiskuitat zwischen alien Mannern und
Weibern, wie denn iiberhaupt alle Herdentiere
polygam sind und nur wenige einzeln lebende
Tiere, wie z. B. manche Vogel, die Monogamie
kennen. Wir wissen heute ganz sicher, daB iiber*
all auf der sogenannten Periode des Mutterrechtes
erst dann die Periode der Einehe folgte, als die
Frau als vvertvolles Arbeitstier in die Sklaverei
des Mannes geriet, und als der Mann sich an ihr
wie an jedem beliebigen Stuck Vieh sein Besitz*
recht sichern wollte. Gleichzeitig mit der Ver-
sklavung der Frau und deren Besitzergreifung
durch den Mann trat auch Privatbesitz an son-
stigen Giitern auf, fur den sich der Mann eben
durch Griindung einer abgeschlossenen „Iegiti-
men“ Familie einen legitimen Erben sichern
wollte. Die Heiligkeit der Familie beruht also
letzten Endes nur auf der Heiligkeit des Privat-
besitzes, und diejenigen Volker, die noch heute
den Besitz an materiellen Giitern am hochsten
achten, wie z. B. die Juden, halten auch noch
immer die Familie am heiligsten. Die Familien-
liebe hat also von Urbeginn an auBer der reinen
Quelle der Mutterliebe noch die triiben Quetlen
der Sklaverei und des Eigentums.
Rassenliebe ist nun aber nichts anderes als er*
weiterte Familieniiebe. Wir lieben die Menschen,
von denen wir wahnen, sie halten die gleiche
Aszendenz wie wir, von denen wir also annehmen,
daB sie mit uns eine groBe Familie bilden.
Eine Gemeinschaft von Menschen scheint uns
mehr als der einzelne Mensch, und so hat man
gemeinhin die Entstehung der Gemeinschaft auch
zeitlich in eine spatere Zeit gesetzt als die Mensch-
werdung.
Entweder glaubte man die Gemeinschaft sexuell
erklaren zu konnen: Der Mensch griindete die
Familie, es entstanden Sippen, diese schlossen
sich zu Dorfern und Stadten und diese wieder zu
Staaten zusammen.
Oder man erklarte es kulturell: gewisse Gewerbe,
z. B. der Ackerbau oder wie Schiller sagt „Ceres“
habe den Menschen zum Menschen gesellt.
All diese Anschauungen treffen, wie die Anthropo-
logie langst bewiesen hat, nicht den Kempunkt,
denn nicht der Mensch hat die Gesellschaft
^egriindet, sondern die Gesellschaft war
das Primare, und die Gesamthcit hat den
einzelnen erst entwickelt, mit anderen Wor-
ten: die Gesellschaft ist alter als der Mensch, und
schon im tierischen Zustand lebtcn die Vorfahren
der Menschen herdenweise.
Der Mensch ist also nicht nur als Ziel, sondern
schon von Urbeginn das Zwov tcgXitix6v des
Aristoteles, das gescllige Tier Die Verbriiderung
der Gesamtmenschheit der humanitare Gedanke
sind nichts Abstraktes, sondern hochste Realitat.
Wir haben also nicht zu erklaren, wie das mord-
lustige Tier zu einem friedliebenden Menschen
wurde, sondern umgekehrt wie es kam, daB das
gesellige Tier kriegeiisch ward.
Aber wenn auch dieser humanitare Instinkt der
Menschheit tief und von Ursprung an eingeboren
ist, so hatte er doch dauernd mit dem ebenso ein-
geborenen Instinkt des Egoismus zu kampfen.
Die Form fiir die Humanitat tragen wir in uns,
das Instrument, urn sie im hochsten MaBe zu be-
tatigen, ist vorhanden, aber wir Menschen wissen
noch nicht darauf zu spielen. Vorlaufig erklang
jene Musik kommender Harmonie noch niemals
rein auf Erden, nur begnadete Menschen horten
die leise Zukunftsmusik und begeisterten sich
daran.
So weist uns die soziale Sehnsucht der Menschheit
vorwarts einem Ideal entgegen, das aber nicht
vage und unbekannt im Nebel kiinftiger Entwick-
lung liegt, sondern das wir bereits heute — wenig-
stens mit geistigem Auge — absolut klar vor uns
sehen.
St ursa (Prog)
Aktstudie
DIE AKTION
AUS TURGENJEWS BRIEFWECHSEL MIT
HERZEN
Paris, den 30. Mai 1858.
Lieber Freund!
Zurne mir nicht fur mein Schweigen; ich muBte
genaue Erkundigungen iiber die Dir bekannte
Angelegenheit einziehen. Es hat sich folgendes
herausgestellt:
Die Quelle der Hindernisse ist nicht unsre hie*
sige Gesandschaft, auch nicht Francks Intriguen;
es sind einige norddeutsche Regierungen, die sich
mit dem Hinweis auf die vermeintliche Gefahr
Deiner Publikationen an die hicsige Polizei wand-
ten. Die Folge davon war die Verordnung an die
Buchhandler, Deine Publikationen iiberhaupt nicht
zu verkaufen; im Laufe von 14 Tagen geschah
es wirklich nicht, jetzt aber sind sie wieder erlaubt,
d. h. man sieht wieder einmal durch die Finger, —
und ich selbst sah die „Glocke" u. a. bei Franck
und in der rue de Rivoli; nur einige Nummem der
„GIocke“ (so Nr. 8 und 12), sowie die Briefe aus
Italien wurden endgiiltig verboten. Dies alles
wurde mir im geheimen mitgeteilt und mit der
Bitte, es nicht zu verbreiten; ich bitte Dich daher,
nicht dariiber zu sprechen, um so mehr, als die
Sache vorlaufig im richtigen Gleise ist. Die aus-
landischen Buchhandler in Paris befinden sich
vollstandig in den Handen der Polizei: ein Wort
— und man jagt sie von hier fort. Aber was, wie
es mir scheint, ungliicklicherweise, aus dem Ge-
leise gekommen ist — das sind unsre heimatlichen
Angelegenheiten. Die Reaktion hat endlich ihr
Haupt erhoben. Titow ist durch irgendeinen
Narren, Grimm, ersetzt, Kawelin entfernt worden.
Vor einigen Tagen versammelte Kowalewski samt-
liche Redakteure und hielt eine sehr nieder-
geschlagene Anrede an sie: „Ich bin alt, sagte
er, und kann nicht mit Hindernissen kampfen;
mir wird man nur vom Amte jagen, Ihnen aber,
meine Herren, kann es viel schlimmcr ergehen;
ich bitte Sie daher, aufierst vorsichtig zu sein".
Bald darauf begab er sich nach Moskau, um iiber-
all Verbote zu erlassen. Diese revirements waren
zu erwarten, aber man darf sie nicht iibertrieben
fiirchten. Was sie auch tun mogen, der Stein ist
bergab ins Rollen gekommen, und es ist unmog-
lich, ihn aufzuhalten. Ubrigens hoffe ich auF
Alexander Nikolajewitsch, obwohl leider wahr-
scheinlich seine Umgebung noch schlimmer ist,
als wir es dachtcn.
Ich griiBe alle Freunde und umarme Dich. Mitt-
vvoch reise ich nach RuBland; ich werde Dir aus
Berlin schreiben. Addio. Im lieben Vaterlaude
werde ich einen schweren Stand haben.
Dein I. Turgcnjew
Paris, rue de Rivoli 210, den 28. April 1862.
Lieber A. I.!
Ich antworte umgehend auf Dcinen Brief, nicht
um mich zu verteidigen, sondern um Dir zu dan-
ken und gleichzeitig zu erkliircn, daB ich, als ich
den Basarow*) schuf, nicht nur nichts gegen ihn,
sondern sogar eine gewisse ,,Hinneigung, eine
^4. ■ ,
•) Hauptfigur in Turgenjews «VaLer und Sohne«.
Art von Schwache** fur ihn hatte, so daB Kat-
kow in ihm die Apotheose des „Zeitgenossen“
erblickte und erschrak und mich daher uberredete,
nicht wenige mildernde Ziige ganz wegzulassen,
was ich jetzt bereue, getan zu haben. Und wie
soil nicht ein Basarow den „Mann mit dem parfii-
mierten Schnurrbart" und die anderen uberragen!
Es ist ein Triumph des Demokratismus iiber die
Aristokratie. Wenn ich die Hand aufs Herz lege,
fiihle ich mich vor Basarow nicht schuldig und
ich konnte ihn nicht mit einer unnutzen Anmut
ausstatten. Wenn man ihn nicht lieb gewinnt,
so wie er ist, mit alien seinen HaBlichkeiten, so
trage ich die Schuld daran, denn ich konnte den
von mir gewahlten Typus nicht bewaltigen. Es
ware ein Leichtes gew F esen, ihn als Ideal dar-
zustellen, aber schwierig war es, ihn zum Wolf
zu stempeln und dennoch zu entschuldigen, und
dies ist mir wahrscheinlich miBlungen; aber ich
mochte nur den Vorwurf der Gereiztheit gegen
ihn von mir ablenken. Denn es diinkt mich, daB
in dem Ganzen, in der Schilderung seines Todes
usw. ein der Gereiztheit gerade entgegengesetz-
tes Gefiihl durchschimmert, Aber, basta cosi, —
wenn wir zusammenkommen, werden wir einge-
hender dariiber sprechen.
In Mysticismus bin ich nicht und werde ich nicht
verfallen; — was Gott betrifft, so sage ich mit
Faust:
Wer darf ihn nennen,
Und wer bekennen:
Ich glaub’’ ihn!
Wer empfinden
Und sich unterwinden,
Zu sagen: Ich glaub* ihn nicht!
Ubrigens war dieses Gefiihl in mir Dir nie ein
o
Gelieimnis.
Auf Wiedersehen — wie Du auch iiber meine
Unpiinktlichkeit denken rnagst, eher wird der Erd-
ball platzen, ehe ich ohne Abschied von Dir ver-
reise. Bieibe gesund. Dein Iw. Turgenjew
Baden-Baden, Schillerslrafie 7,
Dienstag, 4. J uni/ 23 Mai 1867.
Ich danke Dir, liebster A. J., fiir Deinen Brief
und fiir die mir gesandte Nummer der „Glocke".
An Deiner Erzahlung „Aus jcner Welt“ erkannte
ich die Dir eigene Art, und obwohl ich selbst zu
den heiser gewordenen Tenoren gehore, las ich
doch allcs mit wahrem Vergniigen. Selbst „Trum-
mer eines Schiffes", wie Odipus sagt, fiihle ich
doch mit, wenn man meinen altgewordenen Holz-
korpcr zur „PerIe der Schopfung” erhebt.
Ich bin ja gern bereit, Dir einen Dienst zu erwei-
sen, aber es hat sich meiner eine groBe Faulheit
bemachtigt. Auch forderst Du in wenigen Worten
vieles: ich soil die alte und junge Gesellschaft
und dabei von drei Standpunkten aus beschreiben!
Ich werde mich bemiihen, etwas auszubruten, es
wild vielleicht Nutzen bringen.
Viclleicht kannst Du mich benachrichtigen, wer
Wyrubow ist, der zusammen mit Littre die ,, Revue
positive" herausgibt? Ich abonnierte auf diese
Zeitschrift, well ich Littre sehr hochschatze.
-i.j 9 -
3
DIE AKTION
62
►
Ein Exemplar von „Dun$i“ habe ich Dir nodi
damals zugleich mi t tneinem Brief geschickt Die
Kritik der „Stimme 4< habe ich gelesen und weifi
uberdies, daB alle — Rote und WeiBe, von oben
und von unten, auch von der Seite, besonders aber
von der Seite — uber mich schimpfen. Es erschie*
nen sogar Gedichte voll Entrustung, dies verbliifft
mich aber nicht; nicht weil ich mich fur unfehlbar
halte, sondem es fallt von mir ab, wie von der
i Cans das Wasser. Denke Dir, ich freue mich so-
t gar, daB mein beschrankter „Westmann“ Potugin
, gerade zur Zeit des panslavistischen Tanzes a la
' Kosack aufgetreten ist, wo Pogodin so flink mit
einer Harmonika in der Hand seine Pas hiipft.
Ich habe nicht ganz recht Dolgorukows Klatscherei
verstanden. Ich kenne nicht Deine Beziehungen
zu ihm, aber er ist einer von den wenigen, die
ich wider meinen Willen verachte. Verzeihe mir,
wenn Di ch dieser Ausdruck verletzt, es ist mir
schwer zu glauben, daB Du einen Menschen ach-
ten kannst, der verdffentlicht hat: wenn es euch
einfallen sollte, mir den ProzeB zu machen, so
werde ich sofort alle unsre Gesprache veroffent-
tichen. Die dritte Abteilung muB uber eine so
edle Entschlossenheit in die Hande klatschen.
GruBe Deine Kinder, falls sie sich noch meiner
erinnem, besonders Deine alteste Tochter. Bleibe
gesund. Dein ergebener Iw. Turgenjew
Baden-Baden, SehillerslraBe 7, den 12. Dezember 1867.
Lieber Alexander Iwanowitsch!
Ich habe Deine franzosische „Glocke“ erhalten
und durchgelesen. ich danke Dir, daB Du Dich
meiner erinnerst Was Deinen Aufsatz selbst be-
trifft, so ist dies doch ein alter Streit zwischen
uns, — meiner Ansicht nach ist weder Europa so
alt, noch RuBland so jung, wie Du es vorstellst:
wir sitzen in ein em Sacke und es steht uns keines-
wegs bevor, ein „speziell neues Wort“ auszuspre-
chen. Aber gebe Gott, daB Du hundert Jahre
lebst und Du wirst als letzter Slavophile sterben
und kluge, amiisante, paradoxale, tiefsinnige Auf-
satze schreiben, die man nicht umhin konnen wird,
bis zu Ende zu lesen. Ich bedauere nur eines, daB
Du es fur notig hieltest, Dich in ein Gewand zu
kleiden, welches Dir nicht vollig paBt. Glaube
mir oder nicht, wie Du willst, aber Deine Auf-
satze werden vergeblich die sogenannte Gegen-
wirckung auf das europaische Publikum auszu-
uben suchen . . .
Es erscheine zum Beispiel nur ein groSer russi-
scher Maler und sein Bild wird eine bessere Pro-
paganda sein, als tausende von Abhandlungen
uber die Fahigkeiten unsrer Rasse fur die Kunst
Die Menschen sind iiberhaupt ein rohes Ge-
schlecht, das gar kein Bedurfnis nach Gerechtig-
keit oder Unparteilichkeit hat; packe sie aber an
den Augcn oder an die Tasche ... so wird die
Sache anders . Obrigens, vielleicht irre ich mich
und Du hast recht, — wir werden sehen. Jeden-
fails ist der Moment kaum gut gewahlt; jetzt ist
wirklich die Frage aufgestelit: Wer siegen wird,
die Wissenschaft oder die Religion? Was hat
RuBland dabei zu schaffen?
Da Du das erste Exemplar von „Dunst“ nicht
erhalten hast, so will ich es von neuem versuchen
und ich schicke Dir ein Exemplar der Moskauer
Sonderausgabe, worin alle von der Katkowschen
Zensur gemachten Kiirzungen wieder erganzt sind.
Das Buch selbst wird Dir selbstverstandtich nicht
gefallen. Aber auf Seite 97 befindet sich die Bio-
graphie des Generals Ratmirow, die Dir vielleicht
ein Lachein abzwingen wird.
Und hiermit adieu; benachrichtige mich uber Dich
und Deine Familie. Ich lebe hier als Anachoret
und kann leider nicht auf die Jagd gehen. Wegen
einer ungeschickten Bewegung schmerzt mich das
Knie. Bleibe gesund. Iw. Turgenjew
VORREDE ZU DEN SCHLESISCHEN LIE-
DERN DES PETR BEZRUfi
Von Franz W erf el
Petr Bezruf gibt es nicht. Das heiBt, es gibt
nicht nur nicht einen Mann dieses Namens, son-
dern auch den gibt es nicht, der in irgendeiner
Nacht diesen Namen fiir sich erfunden hat. Petr
BezruC, das ist keine dichterische Person mit
Beginn, Entwicklung und Ende, das ist auch keine
Mythe, aufgestiegen aus Blut und SchweiB eines
kleinen erdruckten Volkes; Petr BezruC, das ist
der einmalige, unpersonliche, unerklarliche, letzte
Aufschrei eines zugrunde gerichteten Stammes.
Petr Bezruk, das sind jene siebzigtausend, die
hart vor Teschen sterben, die in Lysa ausloschen,
bei Leuten, in den Beskyden, bei Oderberg,
Schumburg ausloschen, im Feuerschwall der Wit-
kowitzer Hochofen verbrennen, in den Ostrauer
Revieren hohl werden vor Kohlenstaub und ver-
welken. Petr Bezru5, das ist ein kleiner Stamm
des tschechischen Volkes, der in den osterrei-
chisch-schlesischen Industriezentren in Sprach-
inseln verstreut hart um Sprache und um karge
fronende Existenz kampft.
R. Bampi
DU Last
r.-:
63
DIE AKTION
Die „schlesischen Lieder“ (slezsk£ pisne) des
Petr Bezruk diirften im Jahre 1903 zu Prag er-
schienen sein. Von dem pseudonymen Verfasser.
vermutet oder weiB man gar, daB er k. k. Staats-
beamter ist, und nach diesem Werke nichts mehr
geschrieben hat.
Es ist klar, daB dieser Mann weiB, daB seine Ge-
sange nicht aus seiner vereinzelten menschlichen
Person getreten sind, daB sie nichts mit ihm selbst
zu tun haben, ja es scheint, daB er mit ungeheu-
rem Erstaunen und Herzklopfen an eineni Kreuz-
weg jenem wilden, ihm fremden, fahrenden Petr
Bezruc begegnet ist, vor dem er sich zur Flucht
wandte, bis der ihn einholte, und ihm teicht und
gebieterisch das Haupt beruhrte. Der Dichter hat
im Auftrag gehandelt, er war das Instrument ver-
triebener Machte, der Auserwahlte grollender,
langst geschlagener, uralter Gottcr, die sich noch
cinmai im Sturm zusammenballten, und zu Haup-
ten der vergehenden Sippen im letzten Weh zu
heulen anhuben.
4 *
*
Unser Herz fuhlt connational mit alien Unter-
driickten aller Volker. Unser Geist haBt die
Macht- und SelbstbewuBtseinsform aller Volker.
Es ist ein tiefes Lebensgesetz des Geistes, daB er
wie Tag und Nacht niemals an einem Orte mit der
Macht sein kann. Ja, wenn sich selbst die Giite
anschickte Macht zu werden, er fiele vor ihr auf
die Knie und riefe: „Tu es nicht!* 4 — Die Macht
wird immer den Geist hassen miissen, wie er sie
haBt, denn die beste Macht selbst hat die Pflicht,
an einer erreichten Ordnung festzuhalten und sie
zu bewahren, wahrend der Geist jedes irdische
Reich auflosen muB. Die irdische Gerechtigkeit
wird zum Beispiel den Verbrecher nur in Jenem
sehen, der im weitesten Sinne der herrschenden
Ordnung widerspricht. Also: da das Eigentum
obwaltende Maxime ist, muB der Dieb ein Ver-
brecher sein. Aber ist fur den Geist der Dieb ein
Verbrecher? GewiB, er kann es sein! Die Perspek-
tive ist jedoch unendlich verschieden. Denn der
innerste Grundsatz der Macht-Gerechtigkeit ist:
„Wer gegen mich, wer mir schadlich ist, darf nicht
sein!** Das miiBte notwendig selbst der Grundsatz
einer kommunistischen Verfassung sein. Nur die
Konjugation der Macht kann sich verfeinern,
scheinbar den immer drangenderen Forderungen
des Geistes sich anpassen; ihr Prinzip muB immer
bleiben: die Erhaltung ihrer selbst. Das Prinzip
der Weisheit aber ist in memoria Cartesii: ewiger,
fruchtbarer Zweifel an sich selbst, unvergang-
liche Sclbstvernichtung.
Die Unterdriickung ist der unendiichste Stoff fur
den Dichter. Denn hier werden die gewaltigsten
schopferischen Krafte des Menschen angeriihrt,
Erbarmen und Zorn, von der kleineren warmen-
den Flamme des Mitleids bis zum Vulkan des
Irrsinns. — Dieser Stoff kann aber seine Unmittel-
barkcit verlieren, besonders in Zeiten, wo die
Macht so klug ist, die Eitelkeit des Dichters zu
fetieren, in Zeiten, wo der Dichter mit dem Pur-
sten geht. Denn in jeder Kunst steckt noch ein
groBer Rest von Korruptheit. Wenn es der aktu-
ellen Mondanitat gerade gelingt, dem Dichter eine
Haltung abzutrotzen, die sich zwar nicht mit ihr
identifiziert, aber in ungefahrlicher Sphare sich
halt, in sublimer Unnahbarkeit, dann entsteht das,
was man Klassizismus nennt. Stoff und Trieb
sind noch immer die gleichen! Denn man muB
sich einer Realitat erbarmen mit ganzer Seeie,
wenn man sie in eine vollkommene Gestalt bringen
will, und man erbarmt sich nur armer Wesen.
in solchen Zeiten wendet sich das irritierte Ge-
wissen des Dichters durchaus dem Ausdruck zu,
er nimmt seinen Schmerz und seinen Kampf der
Welt weg und konzentriert beide auf sein Werk.
Das im ehrlichsten Falle! Aber die klassische Lite-
ratur entgeht ihrer Strafe nicht, sie wird durch
ihren Platonismus zugrunde gerichtet. Sie beginnt
die Gesichte durch Ideen zu ersetzen, die unmittel-
baren Lebendigkeiten durch Abstraktionen ! Das
heiBtaber, ihr liegt nichts mehr am Herzen! Ebenso
wie dem hochentwickelten Kultur-lndividuum, das
durch Wohlstand gesichert ist, nichts mehr am
Herzen liegt, denn es empfindet die heiBesten
Fragen nur dialektisch! Aus welchem Grunde?
Aus Kalte, aus Lebensfeme, aus Interesselosig-
keit!
Diesem Schicksal entgeht die Literatur kleiner
Volker eher, wenn sie nicht rein provinziell ist,
und soferne diese Volker iiberhaupt geistig po-
tent sind. Warum beeinflussen die nordischen
Volker seit fast vierzig Jahren so stark die euro-
paische Literatur, wie vermochten sie es, die Son-
nenfinsternis eines Strindberg hervorzubringen?
Antwort! Sie waren durch keine klassische Ver-
gangenheit erblich belastet, die die Glieder ihrer
Sprache hofisch und allzu verbindlich gemacht
hatte. — Das politisch-moralische Temperament
der Franzosen hat nach der Revolution, und viel-
leicht schon in den Enzyklopadisten seinen Klassi-
zismus iiberwunden. Jedenfalls erstanden ihm im
vorigen Jahrhundert Manner, wie Flaubert, Zola,
Baudelaire. Einem groBen Volk, den Russen, blieb
der Klassizismus erspart. So scheinen es bloB
die Deutschen zu sein, die fortlaboriereri. Wohl-
gemerkt! Unter Klassizismus werden hier nicht
die „Klas$iker“ verstanden und bekampft, sondern
die Anschauung des Burgers vori Literatur, wenn
er mit einem gewissen eitclindolenten Blick die
Cottaschen Bande hinter dem Glas seines Biicher-
schrankes mustert. — Der Geist ist selbst in einer
Zwangslage, der er eriegen ist, wichtig genug,
daB Du und ich seinen Schutz mit dem Tode be-
zahlen. Es ist aber nicht zu leugnen, daB es gerade
der Klassizismus ist, der die Burger von der
Angst vor dem Geiste erldst hat Wodurch? Es
mag der eine oder andere Genius eine Konzes-
sion in seiner Haltung gemacht haben, wodurch
die Autoritat eine Stutze empfing. Der Burger hat
dafiir ein unendliches Feingefiihl. Er atmet auf.
Denn wodurch einzig er die GroBe ertragt, ist
der stille Trost, bei dem er sich innerlich die
Hande reibt: „Auch Goethe ist ein SchweinP*
Der intellektuelte Mittelstandspobel selbst erhalt,
und nicht jene tun es, die Autoritat (die bureau-
kratische und die wissensdiaftliche) auf ihrem
65
DIE AKTION
66
Throne. Er tut so, weil er fuhlt: „Diese sind mei-
nesgleichen, jene aber, die Genies, wollen etwas
von mir und mit mir; das ist aber unbequem und
stort nur meine Geschafte. Also fort mit ihnen,
solange sie leben! Ich bin aber nicht ungerecht
und werde mir ihre Leichen praparieren lassen.
Vorher will ich sie aber versuchen durch die
Hesperidenapfel der zeitlichen GroBe und Wohl-
fahrt."
Wer aber bei dieser Verlockung zu Falle kam,
hat, wie groB er auch sei t einen Verrat am Geiste
begangen.
Die KompromiBhaltung der Literaten, die Presse,
die immer mehr menschenverwustende Organi-
sation, in ihrem Gefolge die ganzliche Entwirk-
lichung der Gehirne, das Bildungsprivilegium ge-
wisser Stande, das, und tausend unbestimmtc
Grunde mehr, fuhren jenen unverbindlich erha*
benen Neutralisms herbei, jenes leidenschafts-
lose Festhalten an gebrauchlichen Architekturen,
jene unuberwindliche Nurbegrifflichkeit, die hier
Klassizismus genannt wird. Die bedeuten-
den und feurigen Geister der Zeit, die sich
ihm entziehen wollen, werden mit ihrem
Schmerz und Witz imaginar bleiben, im Leeren
hangen, denn sie tragen den schrecklichen Krank-
heitsstoff der Entrealisiertheit in sich. Sie mussen
sich die Dinge erst vorstellen mit dem Ungluck
Oder der Frechheit Schuchterner. Fremdheit ist ihr
produktives Geftihl.
Die Dichtung wird immer esoterischer werden,
sie wird in Gem einschaf ten, Biinden, Clique n
leben, weil sie die panbureaukratische Lebens-
haft der sozialen Abstraktion nicht mehr ertragen
kann.
Siebzigtausend sind die Stimme und siebzigtau-
send gilt die Stimme des Petr BezruC. Ihnen nur,
und nicht der anderen Well. In diesen Gedichten
wird nicht gedacht an Werk, Wirkung, Presse,
Ruhm, Bestatigung einer unregelmaB igen Existenz
— ail diese Versuchungen, all die Verwesungs-
stoffe im Charakter eines burgerlichen Dichters
haben hier kelne Nahrung. Denn hier ist in Wahr-
heit Sterbensschrei ! — Der Sterbensschrei eines
burgerlichen Dichters, sturbe er selbst an diesem
Schrei, wird Koketterie sein, Hier ist Notvvendig-
keit, nicht die notlose Notigung, die den burger-
Iichen Dichter zum Schreiben treibt (Welch ein
peinliches Eingestandnis entwirklichter Produkti-
vitaten ist es, Opiate zum Schaffen nicht entbehren
zu konnen.) Dieser Mann aber steht keiner Vision
gegen tiber, er ist keiner von jenen, die schlieBlich
doch nur etwas aussagen von dieser Vision, nein,
er ist der besessene, letzte, zusammengepreBte
Send! in g, die ganze Wirklichkeit eines untergehen*
den Stammes. — Warum sind alle Arbeiterdichter
undiskutabel, warum ist uberhaupt noch der So-
zialdemokratie kein Dichter erstanden? Weil sie
selbst nichts anderes ist als Abstraktion, eine tech-
nische Konstrukti on des technisch konstruktiven
Zeitalters . Ein kleiner Teil aber eines kleinen
Volkes , der bedruckteste Sklave dieser Technik,
bat die tiefe Einfalt und Mens chi ich keit gehabt
(die Welt mag es Unkultur nennen), bedruckt zu
werden und frei zu bleiben von der Bewunderung
fur die Bedrucker. Unseresgleichen bewundert
aber die Maschine, die uns beherrscht Nur von
ungebrochener Menschenwirklichkeit, nicht von
Nationalism us Oder irgendwelcher Parteiung,
konnte Petr BezruC entsandt werden, nur von den
alten, ohnmachtigen, durch den Sturm vs einen den
Oottern eines vergehenden B lutes.
Hier bleibt ein Wort iiber das Volk der Tsche-
chen ubrig.
♦ *
*
Die Tragik der mitteleuropaischen Volker und ihre
GroBe ist die Innerlichkeit. Es fehlt der Atem
der Atlantis, das Hymnische, das Verschworertum,
die Leidenschaft fur oder gegen den Nachsten,
da rum auch die Leidenschaft des Marktes. Kurz,
es fehlen die Revolution und der Roman, und alles
ist Lyrik. Hier sind die Zonen der schweren
Betten, wo jeder die Decken und Kissen iiber sich
hauft, damit ja sein Traum und seine Warme nicht
von ihm weiche. Wie leicht hatte es hier die
Macht, die keinen Widerstand fand, ihren Sitz
immer unnahbarer und uneinnehmbarer zu be-
festigen, so sehr, dafi die Menschen, die sich ihr
Leiden gar nicht eingestehen durften, in eine selt-
same Schlafkrankheit verfielen. Alle Versuche zu
erwachen endeten in der tiefen Gestaltungsunfahig-
keit des Schlaftrunkenen. Ein einziges dieser Vol-
ker wehrte sich und verteidigte seinen Versuch
so lange, bis es von der Macht vernichtet wurde
in seiner Seele. Das war das Volk inmitten der
Mitte Euro pas, das war das tragische Ges chick
der Tschechen inmitten der deutschen Tragik.
Der Hussitismus ist die unausloschliche, wenn
auch fiir Jahrhunderte zerstorte, schopfensche
DIE AKTION
Tradition des tschechischen Volkes. Seine Bedeu-
tung wird miBverstanden und mehr noch a!s das,
gefalscht! Er ist keineswegs der Ausbruch eines
lange zuriickgehaltenen Nationalhasses, als den
man ihn darzustellen beliebt, nein, er ist nichts
als die groBte und reinste Erhebung zu einem
heiligen Leben, die uns das spate Mittelalter be-
schert hat. DaB er schopferische Tradition ist,
beweist die merkwiirdige, rhythmische Uberein-
stimmung zeitlich so auseinanderliegender Gei-
ster, wie ChePicky, Comenius und Otokar Bfe-
zina. Unser Zeitgenosse Biezina scheint noch ein
Mann der bohmischen Kirche zu sein, einer von
den „Briidern des gemeinsamen Lebens“, oder
einer aus der „Unitas fratrum“. Seine Verse von
gewaltiger Strombreite sind ohne Dynamik, ohne
Steigerung, am Beginn nicht schmaler als an der
Miindung. Sie sind wie ein Herbeistromen von
Menschen an einen heiligen Ort, wie eine tiefe
Wallfahrt, die sich zu formen beginnt. Ein Gedicht
dieses Mannes hat schon im Dichterischen jene
Form, der fur das Leben der Menschen seine
Sehnsucht gilt. Jedes seiner Gedichte ist eine Ge-
meinde, eine hohe Bruderschaft. Frappant ist auch
die Ahnlichkeit zu dem inneren Stil des Comenius,
obgleich dieser zumeist lateinisch schrieb. Aber
man vergleiche nur die Titel, die der Verfasser
des „Orbis pictus“ seinen Biichern gab, mit den
Titeln des Bfezina: „Zentrum der Sicherheit“,
„Paradies des Herzens 44 , „Stimme der Trauer“,
nennt Comenius drei seiner Schriften; in einer
anderen versuchte er in seltsamer mystischer Ar-
chitektonik nach dem GrundriB des salomonischen
Tempels eine „Pansophia“ aufzubauen. Man denke
jetzt an die Titel Bfezinas: „Erbauer des Tem-
pels“, „Winde von beiden Polen“, Fiihlt man
nicht schon in diesen beilaufigen Merkmalen den
tiefen langsam vollen Glockenschlag des g eichen
Blutes? — Noch einmal sei betont, der Hussitis-
mus ist kein Negativum, keine nationalistische,
dem DeutschenhaB entsprungene Revolte, er ist
der heilige Drang eines ganzen Volkes zur Abkehr
und Wiedergeburt.
Studi?
Zeitkinder werden mir nicht glauben wollen* Denn
nichts ist dieser Zeit unbcgreiflicher als geistige
Entscheidung; darum auch sieht das Ressen-
timent der Zeit in der heutigen Geschichtschrei-
bung hinter allem Motive und volkswirtschaft-
liche Ursachen.
Unausdenkbar schrecklich waren die Leiden, die
dieses Volk fur seinen hohen Willen zum Gottes-
staat geerntet hat. Die jammervollste Zeit Mittel-
europas iiberragte in Bohmen an Jammer sich
selbst. Eine wahrhaft menschliche Gesittung, eine
einfaltige Lebensart, eine briiderliche Sammlung,
eine gute Mischung von deutscher Biederkeit und
slawisch endloser Demiitigkeit vor Gott und dem
Bruder, dies alJes aus der traurigen Heiterkeit
einer reichen, sanften Landschaft geboren, ein
Volk, eine Sprache wurde zerstampft von der
Macht und zugrunde gerichtet. Horen wir, wie
Herder diese Katastrophe beklagt. Er spricht von
der bohmischen Kirche: „Keine Gemeinde
Deutschlands ist mir bekannt, 44 so schreibt er,
„die mit so reinem Eifer fur ihre Sprache, fur
Zucht und Ordnung bei ihren Gebrauchen sowohl
als in ihrem hauslichen Leben, ja fur Unterweisung
und Aufkliirung im Kreise ihres Notwendigen und
Nutzlichen gesorgt, gestritten, gelitten hatte, als
diese. Von ihr aus entsprang jener Funke, der in
den dunkelsten Zeiten des hartesten geistlichen
Dcspotismus Italien, Frankreich, England, die Nie-
derlande, Deutschland wie ein Feuer durchlief
und jene vielnamigen Albigenser, Waldenser, Lol-
larden usw. weckte. In ihr ward durch Hus und
andere der Grund zu einer Reformation gelegt,
die fur ihre Sprache und Gegenden eine National-
reform hatten werden konnen, wie es keine in
Deutschland ward. Bis auf Comenius strebte da-
hin der Geist dieser slawischen Volker. In ihr ist
eine Wirksamkeit, eine Eintracht und Tapferkeit
gezeigt worden, wie auBer der Schweiz diesseits
der Alpen nirgends anders; und es ist kaum zu
zweifeln, dafl, wenn man sich vom zehnten, vier-
zehnten Jahrhundert an diese Tatigkeit nur eini-
germaBen unterstiitzt gedenkt, Bohmen, Mahren,
ja uberhaupt die slawischen Lander an der Ostseite
Deutschlands ein Volk worden waren, das seinen
Nachbarn andern Nutzen gebracht hatte, als den
es jetzt seinen Oberherren zu bringen vermag^.
Die Unvernunft und Herrschsucht der Menschen
wollte es anders. Ein (lias beweinenswurdiger
Umstande . . . <f
* *
*
Der groBe Dichter Otokar Bfezina ist die reine
Manifestation der scliopferischen Substanz des
tschechischen Volkes. In ihm lebt der mystische
Humanismus der taboritischen Republiken, jene
Miidigkeit im Pathos, die liber das voile MaB der
Polyphonic hinsclnvingend unsaglich herzensreine
Melodienlinie der Stnetana-Musik, Petr Bezruk
ist die Manifestation des tschechischen Schicksals.
Er ist grimmige Hussitenseele, die ihren Gott
verloren hat. Er mag nach der Niederlage von
Lipan dunkel mit zerflattertem Haar iiber sein zer-
brochenes Schwert gebriatet haben, ihm schlug^
die Fiamme ins Gesicht, in die der Jesuit die hun-
Wilkelm Kitmm
DIE AKTION
M
70
itAmend hohen Bucher warf, die fast fur immer
mt b^iache und ihre Dichtung verzehrten. Er
mt\\ das Brot in den Waldern, wohin die ver-
Qrubenheimer geflflehtet waren. in reg-
nerisebeu Nachten saB er auf elenden Fuhrwerken
unter den Auswanderern nach dem Westfalischen
Frieden. In Schweden belauschte er Komenskys
Gesprach mit Oxenstirn, in England wehte er
schutzend iiber gerettete Dokumente. Jetzt aber
taucht er wieder auf, Damon, Revenant und In-
karnation des Volk-Schicksals. Er schreit auf vor
Teschen, er jagt in der Nacht fiber die Felder des
Marquis Gero, sein entsetzliches Lachen hort man
von fern im Eisenlarm der Witkowitzer Hochofen,
in den Schenken singt man sein Lied von der
Marie Magdon und von Bernhard Zor. Denn er ist
uberall dort, wo das alte Schicksal herein bricht.
Und hier ist das uralte Schicksal wieder, hier,
in den schlesisch-mahrisch-polnischen Bezirken,
jenes Urschicksal, das die Sprache seit eh und je
zerstort und die schfitzenden Goiter vertreibt. Das
Schicksal jener hinsterbender Siebzigtausend ist
symbolisch fur das ganze Volk. Und darum er-
scheint dort der ewig umgehende Damon, darum
erscheint der dunkle, grimmige Petr Bezrufi.
Fur die Damonie seiner Erscheinung ist die
Sprache des Petr Bezruk der starkste Beweis. Es
ware muBig, sie durch Elementar-Vergleich und
Metapher umschreiben zu wollen. Eins sei nur
gesagt: In der Art, wie er Namen nennt, Witko-
witz, Lysa, Hrabin, Beskyden, Ostrawitza Iiegt
dichterische Entschiedenheit, eine Leidenschaft,
die diese Namen fiberwirklich macht, exempla-
risch, zu sagenhaften Statten. Ein ahnliches Ge-
fuhl mochten die Griechen haben, wenn sie The-
ben und Argos von der Szene genannt horten,
alltagliche Orte, die nun auf einmal verwandelt
waren in Traum-Bedeutung.
Arthur Stgol
Hohichnitt (vom Stock gedrutkt)
71
DIE AKTION
72
STROPHEN AUS DEM GEDICHT DOLORES
Von Algernon Charles Swinburne
Kaite Lider wie Schmucksteine huten
Harte Augen, fast sanft eine Stund;
Die schwerweiBen Glieder, Giftbliite
Der rote und grausame Mund,
Geht einrnal dahin ihre Glorie,
Was bleibt datin von dir, was ist dein,
O mystische, diistre Dolores,
Unsre Herrin der Pein?
Es gibt Sunden vielleicht zu entbinden,
Es gibt Taten vielleicht unentfacht.
Welches neue Werk willst du ausfinden?
Neue Siichte fur Tag Oder Nacht?
Welchen Bann, der nie Jene betorte,
Deren Leben wie Blatter verweht?
Marter unertraumt, unerhorte,
Unmafiig, unstet?
Im Raume von gestern und morgen,
AuBer Sicht, wenn auch Trugbild vom Tag,
Immer waren und werden sein Sorgen,
Nicht zum Spiel sind ihr BiB und ihr Schlag.
Magst du Leben und Liebe verschmahen —
Das schmerzt, doch umsonst wird es sein,
Als weisestes Weib bleibst du stehen,
Unsre Herrin der Pein.
Frucht fault, Liebe stirbt, Zeiten wandern,
Ein bestandiger Atem dein Brod,
Lebst eine Verwandlung zur andern,
Du bist frisch von den Kiissen vom Tod.
Entflammt und emeut von Ermattung,
Von fruchtloser, zuchtloser Wahl,
Unrein von verworfner Begattung,
Ptirstin giftig, fahl.
Man kleidet und schmuckt und verkappt uns,
Du bist edel und nackt und antik.
Libytina die Mutter, Priapus
Dein Vater Toskaner und Griech!
Wir spielen mit Liebe Ieichtlebig,
Sind storrisch und fiigen uns drein
Liebe stirbt, doch dich wissen wir ewig,
Unsre Herrin der Pein!
Umdichtung von Alexander Freiherr von Bemus
BALLADE VOM GLOCK
In grauen Tagen singende Melodie entfernter
Maien
Aufweint hinstromend genossener Freuden silber-
blauen Rausch.
Das war — das ging . . Erstes Alleinsein zu
Zweien
Umarmend Sonne glanzend Gefild in Leiber be-
seligtem Tausch.
An ewigem Himmel — Lacheln — der Mittag
ruhte
Hingebreitet Segnung uber entknospete Flur.
Leuchten ging auf Paradies Ahnung aus rau-
schendem Blute —
Meteor steil gen Spharen Musik schimmernde
Spur.
Sprachlos wallten auf hymnischer Lippe Gebete
Oh — einfaltigen Danks. Schweigen war ganz
erfullt.
Aus ungewuBten Bezirken Seins herwehte
Atem Gottes der sauselt im Zephir und aus den
Sturmen brullt.
Sterne tanzten verziickt im himmlischen Raum
Selbstvergessen und froh der Gewahrung seltener
Huld.
Taten geschahn — erhaben! — aus Bliiten zer-
staubtem Traum.
Herzschlag der Menschheit sanftester Ton war
rein von Schuld.
Das war — das ging . . Eilig auf golden er Kugel
rollte
Die hohe Gottin den Teppich der Gaben fliehend
ein.
Entlang verdunkelter Horizonte Drohungen grolltc
Donner — Verheifiung Leids. Firmamenteflamm-
ten blutenden Widerschein.
Qual knarrende Speichen kurbein muhsames Rad
der Welt.
Blindheit Geschick durch krampfhafte Zeiten
waltet.
Aus ewigen Wolken Fliigel Dammerung entfaltet
Die Fledermause — Gespenster — lautlos durch
Abende schnellt.
Verstorte Nachte Hirne zersplittern weh zer-
wachte
Die Ratseln starben ungeruhrten Geschehens.
Menschen Ahasvere voll heilig-unheiligen Schens
Rasen Ekstasen vergeblich — nie ausgedachte.
Bleiches Gesicht vor brausenden Fernen flackernd
kniet
Eingegraben erschutternden Denkens knallender
Not — :
Dem Nichtsl — fanatisch bestrahlt vom brau-
senden Rot
Des rasenden Lebens das schaumt in den Zenith.
Bleiches Gesicht — Visionen zerpeitscht es strahlt
transparent
Durch furchtbare Einsamfceit zerbrechende Qual — :
zu sein!
Tiefster Verlassenheiten aufdonnert einSchrei'n —
Verzweiflung Herzens, das Sehnsucht Gluckes ver-
brennt.
Bleiches Gesicht hypnotisch auf ruchlose StraBen
starrt
Die unter dem Kreuz mussen gegangen sein ohn
Ende.
Hoffnung erhabenen Seins ohn Ende narrt
Die segnend erhoben sind hilfreich getaltete Hande.
Steil in den Himmel, Gesicht! In den Zenith!
Schimmer vergangener Tage will sanft dich
kronen.
Dafi dich ein Blinzeln aus Gottes Auge sieht
Sehnsucht Orgel soli brausend ertonen!
In grauen Tagen singende Melodie entfernter
Maien
Aufweint hinstromend genossener Freuden silber-
blauen Rausch.
Das war — das ging . . Seele verstumm! Auf-
lausch
SiiBer Verheifiung spharischen Litaneien!
Walther Rilla
DIE AKTION
74
Ito&tSTlENHAUS
\A \ Taurig, rings umgittert von den Tieren,
Duicbs bniWende Haus am StoB der Stabe hin
und her,
Und bYicke weit in ihren Blick wie weit hinaus
auf Meer
in ihre Freiheit — die die schonen nie verlieren.
Der harte Takt der engen Stadt und Menschheit
zahlt
An meinen Zeh'n, doch lose schreiten Einsam*
keiten
Im Tigerknie, und seine baumgestreiften Seiten
Sind nur der ganzbewachsenen Erde eng vermahlt.
Ach, ihre reinen heifien Seelen fuhlt mein Wille ]
Und ich zerschmelze sehnsuchtsvoller ats ein
Weib,
Des Jaguars Blitze gelb aus seinem Sturmnachtleib
Empfangt mein Schneegesicht und winzige Pupille.
Der Adler sitzt wie Statuen still und scheinbar
schwer
— Und aufwarts auhvarts in Bewegung unge-
heuer,
Sein Auftrieb greift in mich und spannt mich in
sein Steuer,
— Ich bleibe still, ich bin von Stein, es fliegt
nur er.
Es steigen hoch der Elefanten graue Eise,
Gebirge, nur von Riesengeistern noch bewohnt —
Von Wucht und Glut des freien Alls bin ich
umthront.
Und stehe eingesperrt in ihrem wilden Kreise.
Alfred Wolfenstein
STOSSEUFZER
Ihr G otter von Rechts und Links,
wenn schon der Tag langen Ganges nicht vor-
ubergeht,
verschont meine schmerzzertobte Brust,
wenn sie nachtbefangen und ungewappnet ist.
Denn der Mond larmt am blutigen Himmel,
mich hetzen die Geister tagi gesehener Menschen,
gleichend gefleckten BullenbeiBern,
den Kroten unter den Hunden.
Ich, weilend im trauemden Forst,
kann nicht entrinnen,
urxfahig des Bergs,
des Erklimmens rettender Gipfel,
wo rciner die Luft ist,
und kein Gerede von Menschen,
den Kroten unter den Dingen!
Albert Ehren stein
NACHTS IM ZIMMER
Die Gaslampe rochelt wie eine sterbende Frau.
Stuhle erheben sich und konnen nicht helfen.
Irgendetwes murmelt zitternd der alte Ofen.
AuHriSt jeden Schall der rote Teppich.
Mit blinden Augen lauem still die Fenster.
Der Spiegel grinst wie die gemeinste Hure.
Unflatig kriechi das Sofa iiber die Dielen.
Die Glaser im Schrank schutteln sich und kichern.
Edlef Koppen
QUAL
Quille, quille rot erschaumend
in der inneren Nacht und rinne,
rinne, still es Blut.
Ist so suB das Sterben,
neige, neige nieder dich
bis auf meine Lippen,
weh verwundete Frucht
Trennen, trennen
meine feuchten Lippen
und der Zahne wciBes Blecken
ruhren, riihren
flimmernde Gefahr der Rander
deiner steilen Wunde.
Spring auf, spring auf
wild mein Blut,
der Lust Woge,
einzige Woge,
rauschend in den Schacht
verrauschend schnell
und ewig fallend
in die heimatlose Nacht
Heinrich Schaefer
JANUAR
Alle Hauser sind ganz scharf umrandert,
und der graue Himmel bangt vor Kalte.
Enge Baume zucken aus dem Felde
diinn, wie Korper von schwerkranken Kindem,
Selig, selig ist das Land verandert.
Lehnt sich kuhl und briinstig an Kaskaden
weiBer Wolken, die im letzten hintem
Ende dieser flachen Helle war ten,
Und sie offnen gierig ihre Scharten,
in die sich die starke Erde drangt,
marmorn, durstig, und sie will sich baden
in den Hiiften runder Wolkenstrange.
Jhre Liebe selbst bleibt rein, wie der Nomaden
stille, madchenwerbende Gesange.
Kurd Adler
75
DIE AKTION
GEDICHTE IN PROSA
Die Birke
Eine schlanke Birke wuchs im griinen Land. Um
sie her leuchteten die Tupfen gelber und blauer
Blumen. Und die Wolken hoben sich schimmernd
iiber den Rand des Hiigels.
Da fiel ein Weih ein mit rauschenden Fliigeln
und glanzenden Krallen. Und hielt in den Zwiugen
seines Hornschnabels cine wilde Taube. Aus
ihrem weiBen Flaum quollen Tropfen roten Blutes.
Die Birke schauderte es und jah ward sie krank.
Sie bog ihren Wipfel und rief den Namen des
Winds.
Und der Wind kam brausend geflogen und schiit-
telte die Birke, daB der Weih die geworfenen
Schwingen spreiten muBte.
Doch als der Kuckuck Quartier nahm in ihrem
Gezweig, da glanzte das Stammchen auf wie Seide
und die Blattchen zwitscherten in der prangenden
Sonne.
Hans Koch
Die Amsel
Zum erstenmal heute, bei mildem regnerischem
Wetter, wie es fast immer jetzt ist, unter den
feuchten Baumen, habe ich die Amsel gehort, als
der Tag sich neigte.
O siiBe Stimme. O laue Seele des Friihlings, den
keiner noch sieht und den dieses sanfte Geschopf
schon kennt und segnet.
Eine Melodie war es, kaum fur einen Augenblick.
Dann drei Tone fur sich, einer, noch einer und
noch einer. Und sie schwieg.
Oh, Amsel meine treue Seele. Oh Flote des April,
die der Februar schneidet in Liebeserwartung und
Hoffnung aut Frohlichkeit,
Wie suB und frisch deine Stimme ist, so rein und
so neu. Und wie sie wunderbarerweise alles auf
den ersten Schlag weifi! Ihr erster Versuch ist
ein Lied.
Der Seufzer eines Augenblicks hat er denn soviel
SuBigkeit? Die Liebc schluchzt, und dcr Augen-
blick ist suB,
Oh, meine Freude, meine Freude. In meinem
traurigen Herzen singst du, wenn ich selbst mor-
gen sterben muB. Die Dammerung kommt und
in meine Augen so viele, so viele laue Tranen!
Andre Suares
(Deutsch von August Bruchcr)
Antik
Einst eine wilde Kentaurin in Thessalien sprengtc
ich im Gefolge der riesenhaften Ungeheuer, ga-
loppierte mit ihren kranzgeschmuckten Scharen
durch die Mondnachte, trank das Wasser klarer
Quellen, sog den Duft der dunklen Salbei am See-
ufer ein, raste als erste iiber die hochsten Berg-
kamme . , . und mein Haar flatterte wie cine
Fahne im Abendwind.
Sie haben mich alle geliebt und sie haben mich alle
verfolgt, die Kentauren . . . sogar der alte Hink-
teufel Chiron mit seinem harten Bart, dessen bei-
Bender Geruch meine Nasenflugel aufbeben
lieB . . . O du kurzes Leben, versunken in Leiden-
schaft, als ich mich noch mit gehetztem Atem,
berauscht von meiner Schonheit, in die wachen
Abenteuer sturzte . . . Ich erinnere mich eines
Tages am Meeresufer. Das Meer schwoll still
wie die Glatte eines Saphirs. Da lag ich, durch-
bohrt vom Kieselpfeil eines jungen Satyrs, im
Sand, besat mit kleinen Seemuscheln, achzend vor
Schmerz, und horte verzweifelnd fern, ganz fern,
den Klang der schweren Hufe, der in die Felsen
hinauffloh . . .
Die steigende See feuchtete meine Kruppe, spiilte
iiber meine machiigen Flanken. In Stromen schoB
das Blut aus meiner tiefen Wunde, und vereist
von Schauern, in Schrecken erstarrt, fuhlte ich
wie der Tod mich wurgend umhalste.
Marguerite Schurmann
(Deutsch von Manfred Georg)
ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS
XL
Es wird also auch nach dem Frieden nbtig sein, den Ricmen
eng geschnallt zu halten. Wir werden weiter schsrf rationieren
roUssen. Wir werden weiter altes Brotgetreide, auch das tninder-
wertige, filr die menschliche Nahrung erfassen wttssen, und wir
werden bis Uber den Bicker hin den Konsum zu regeln haben.
Erleichterungen werden erst allmihlich eintreten und werden
dann mit grofier Befriedigung entgegengenommen werden. Man
mufl aber den Gedanken mit voile m Ernst erfassen, diS zunichat
wegen des Friedensschlusses eine Erleichterung auf dem Gebiete
der Lebensmittelversorgung — soweit es sich wenigstens um die
Massengttter handelt — nicht eintreten wird. Der Sehnsuchisruf
„Gebt uns Frieden, gebl unt mehr Brotl* hat keine innere
BegrUndung.
Unterst aa t ssekretar Michaelu den amilichen
n Deutschen Krieysnavhrichten* .
Die Preisprtlfungsstelle in Khln hat beschlossen, weibliche Hilfa-
krifte fttr die stidtische Poltzei einzusiellen Die Frauen sollen
vor allem die KleinhandeUpreise Uberwachen. Es wird dadurch
eine Anregung verwirklicht, die unser Kolner Parteiblatt wieder-
holt gegeben bat. Unsere Kolner Genossinnen werden selbst-
verstindlich darauf hinwirken, dafl auch aus ihren Reihen „Poli-
zistinnen** genotnmen werden.
Aus dent ,, Vonoarttf', 7, Januar 1917, wo die Notiz
mit der Ubcrschrift erschifn : ,, Qenossin Sckutxfrau' 1 *
. . . Wenn das Volk lelzte Irmanz sein soil, so ist damit nicht
gesagt, dafi es in alien Dingen die erste ist und dad keinerlei
Mafinahmen der Staatsleitung getroffen werden dilrften, be vor
das Volk ihnen lugestiramt hat.
Als Demokraten stehen wir auf dem Standpunkt, dafi keinerlei
Meinungsftufierung unterbunden und mit Strafe belegt werden
soli. Aber wir meinen auch, dafl ein Volk, je freier es i*t,
des to klarer die Grenzen erkennen soil, die zwischen bloflem
Dafttrhalten und fachmfinnischer Erwigung verantwortlicher
StelLen gezogen find.
Aus dem Leitartxhtl „Kriegfuhrung und Demokratie*,
de$ n VorwUrt9 u , fiaupt-Organ aer JPartei ScheuUt-
mann- Stamp fer, vom IS. 1. 1917.
DIE AKTION
77
78
KLEINER BRIEFKASTEN
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Leset* ich wctO, du liest seit Monaten aus dem Sumpfer-
tchen w VorwSns* nur, was ich hier ziih-re; deine Nerven haben
den Voneil davon. lleut hahe ich fJr dich (uml iur spatere
Tage) zwei „Vorwaris - - Pr*idukte, <l»e nebeneinandcr stehen
miissen:
Was soil noch die Zensur?
Die Zensur gehbrt zu den
Miiteln eines sich in
rase hem Tempo vollzie-
benden Niederwerfungs-
kriegs. Wo die Tat allein
eniscbeidet sollen Z wei fel und
Bedenken s eel iscb e E i n *
wirkungen. die den Erfolg
geflhrden, niedergehalien
werden. So wie man sich den
Krieg nie anders vorsiellen
konnie als cine rasch vor liber-
gehende Erschemung, so war
die Zeo'ur nie anders gedacht
denn ais cine vorubergehende
Madregel.
Anders kann sie auch gar nicht
vrirken. Dcnn die frcie Dis*
kussion setzt sich in einem
Lande, das einmal an sic ge-
wohnt war, immer wieder von
selber durch. Wir mochten
fragen: Gibt es irgendeine
Metnung (lber den Krieg
and die mit ihni zusammm-
hangenden Gegenstande, die
dem Volke nichr bekannt ist,
die von ihm nicht disku-
t i ert wird? . . .
Folgen die Parlamentsverhand-
lungen Sie stehen auch wihrend
des Kriegs unter ImmuniiSt,
und die Protokolle der Reichs*
tags- und Landiagsdeb<en ent-
b alien uisichlich jede Meinung,
die innerhalb des Volkes ver-
t re ten wird. . . ,
Und nun die Presse selbst? . . ,
In der letzten Zeit hatte
diedeutscbcPresse sicher
nicht erbeblich anders
Busgesehen, wennestiber-
haupt keine Zensur gege*
ben h&ite.
Urd nun baben wir noch das
deuische Friedensangebot er-
lebt and seine Ablehnung durch
die Gegner. Fiir alle Weit ist
damit klar ge worden, dafi
Deutschland gegen feindliche
Eroberungsabsichten einen Ver-
ieid>gungskrieg zu fuhren hat.
Die _ F rage - der Landesver-
teidigung, d ie immer h o c h-
■tens nur ftlr sehrverein-
selteCeister eine n Frage a
wir. ist damit ftlr das gante
Volk aufierb al b jeder Er*
An die Partei!
. . . Durch unsre Paneiorgani-
sation geht ein RiU. In ver*
hangnisvoller V cise haben sich
die Zu^tfindc innerhalb der
Partei enuvickeh. . . .
Zur groflten Freude atlerFeinde
der Partei und zum unabseh-
baren Schuden der P.trioi und
der deutschen Arbeiierschaft
redetc und stimmle schliefllich
nicht nur eine Minderheit der
RHchatagsfraktion gegen die
Mehrheit, sondern grtlndeie so-
gar eine besondere Fraktion.
Mil der Spaltung der Reichs-
tagsfraktion war in unverant-
wortlicher \Vt*ise das den k bar
schlimmste Beispiel fiir we it ere
Parteizerspliuerung gegeben
worden. Trotz alledem lieOen
es der Partei vorstand, der Par-
teiausschuft und die Reichstags-
frakiion bei Tadeln und ernsten
Ermahnungen, in der Erwar-
tung, daft die in der Opposition
stehenden Genossinnen und (Ie-
nos sen sich auf ihre demokra-
tischen Pflichtcn hesinnen und
femerhin Disziplin Uben
wtirden.
Dtese Erwartungen sind nach
jeder Rtchtung bin getSuscht
worden DieallgemeinenKriegs-
note, der Schmerz urn Verluste,
die Surge um Angehtirigc usw
— alles das hat, wie in alien
andern am Kriege beteiligien
Landern auch bei uns eine
Stimmung geschaffen, die von
der Opposition restlos ausge-
nutzt wird, um die Parteimehr-
heit und die Paneileitung zu
verdachtigen und die Leitung
dcr Partei einer Gruppe in die
Hande zu spielen, die schon
lange Zeit vor dem Kriege dar-
um gekampft hat. Unausgesetzt
hielten und hallen die ver
schiedenen oppositionellen
Gruppen — die Sozialdemo-
krattsche Arbeitsgemeinschaft,
die sogenannten I nternationalen,
die Spartakusan hanger usw. —
Konferenzen im Retche ab, um
sich zunachst opposiiionelle
St(Uzpunkte und im Anschlufi
daran eigene Organisationen zu
sclaffen. . . .
Parteigenossen : Die geschtl*
derten Zustknde sind ftlr die
Partei unerirSglich geworden ;
ort e r un g gesiellt. Ji-dermann
weiS, dafl das, was jetzt ge-
schieht, eben nur darum ge-
schicht, wed es anders durch-
aus nicht geht.
Diese Ati*fa>sung ist so ziem-
lich in der gnnren deuischen
Presse zum Ausdmck gekom-
men und das httue auch nicht
anders sem kbnnen, selbst
wenu man denjenigen mit
einer P ramie bedacht
hatte, der dazu etwas
andcres zu sagen wilOte. ...
Die Aufhebung der Zensur
kbnntc aber auch nicht ohne
Ktlckwirkung auf andere Lander
bleiben, die sich jerade jetzt
— nach der Ablehnung des
Fnedensangebots — den Luxus
einer vollkommcnen Prefifrei-
heit viel weniger gestatten kbn-
nen als wir. . . .
Z w a n g li r ft u c h t nur der,
der niederschlagen und
nchtnen will. . . .
Ah# dem Ldtartikel des
„ For itv * jenem , , C'en -
tratorgan der Soxialdtmo-
krntisehen Partei Deutsch-
lands‘* t IS, I. 1917.
sie mtlBten die Parlei zugrunde
richien wenn wir sie linger
d ulden woilten. Wir wullen
und dilrfen sie nicht langer
d u 1 d e n , , , .
Fs in ii B jetzt Klarheit in der
Partei geschaffen werden Wer
fernerhin zur sozialdemokrati-
schen Partei stehen und ibr
die Trcue halten will, der kann
nichts gemein haben mit dem.
was auf der Reichskonfrrens
der verschiedenen op posit to*
nellen Gruppen beschlossen
worden ist.
Es mufi jetzt Farbe bekannt
werden. Die Genossen und
Organisationen, die sich mit
den Beschltlssen der Reichs*
Sonderkonferenz der oppositio-
nellen Gruppen solidarisch er-
ktaren, kbnnen nicht gleich-
zeitig Mitglieder der sozialde*
mokr&tischen Partei sein oder
bleiben, Das eine schlieOt das
andre aus. . . ,
Am# dem selben „VoT‘
tcdrt8", SI. /. 1917. „Au/'-
ruf u eines TVites des Vor -
standee, der deutschen So~
tialdemokratie.
. . . Lichivoll werden diese , p VorwSrts'*-Darbietungen erst durch
den Sylvester- Auf»atz des Blattes. der von den ,,blirgerlichen (>
Parteien sagt:
„ , . . Sie, die uns vor dem Kriege vaterlandslose Gesellen nannten,
haben an uns, an der ganzen Bewegung, dcren Wesen sie ver-
kannten, ein Unrecht gut zu machcn, Mogen sie es tun, indem
sie aufhorcn, Fcinde unsrer Sache zu sein. u
Aber „unsre“ Sache ist ja unsre Sacbe, kbnnen die btlrgerlichen
Parteien antworten.
Doktor Alfred Kerr, Sie bedauern im roten n Tog u , da0 ich
Ihren Sang vom gieichen Strang nur gekdrzt titiert habe. Da
ich wohi mit Recht annehme, da3 sich das Bedauern auch auf
das niedliche n Kumnnenlied' > beziehl, so will ich Ihnen den Ge-
fallen bald tun. Heuie habe ich leidcr keinen Raum ttbrig.
F.L. Als Band 5 der AKTIOVS BOCHER DER AETERNISTEN
erscheint soeben: Carl Einsteins Bebuquin, vom Dichter neu
durchgesehen. Das gebundenc Exemplar kostet drei Mark. Als
Band 6 wird vorbereitet: Charles P^guy: Essays, dann folgen:
Heinrich Schaefer, Gottfried Benn.
Nina und Renatc. Die n:ichsten Biinde der Sammlung AKTIONS-
LVKIK sind: Goiifricd Benn. Fieisch. Gcsammehe Lyrik; Wil-
helm Klemm, V'erse; Kurd Adler, I. erne Strophen Dann kom*
men: Otio Pick, Ludwig Bautner, Karl Ouen, Herbert Ktlhn,
Rudolf Fuchs* Alfred Vagts, Walt her Rilla, Hermann Kasack,
Oskar Kanehl, Urzidii, Hugo Sonnenschein, Heinrich Nowak,
Paris von Glitersloh u. a. m,
N. W. Auch Druckfehler sind jetzt nicht vollig zu vermeiden,
obgleich ich sie wie einen korperlichen Schmerz empfinde und
die Druckerei keine Muhe scheui, mir Schmerzen zu eraparen,
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fiolzschwttc) i Ludwig Baumer; Aus «Der Untergang" / Anton Schnack, Fritz Herkeriing und Alfred Vagts: Verse vom
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StoecJflin (Basel), Wilhelm Klemm und Richard Huelsenbeck: Neue Verse I Wilhelm Stolzenburg (New York): Ansprache vor
^ines Cowboys / Fioerle (Koln): Notiz fiber Expressionism us und ein Holzschnitt / Hanns Braun: Ein Stenogramm /
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YU JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERTNR |
SONDERH
Gauguin:
Lyriier
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/ PAUL
Malcrd (Aus dem Nachl&fi) / Fdix Muller: Zwei Origin&l-Holzschnitte / K. Hugo Hilar: Eduard Vojan, der
cn Schauspielem / Felix Mflller: Original-Holzschnitt / Aus Turgenjews Briefs
cr: Aktstudie (Original-Holzschnitt) / Otakar Theer: Am Kreuze / Felix MOller: rlolzschnitt Mann mit Hund / Walter
jews Briefwechsel mit Herzen / Felix
RW ntr : Totengebet / Herbal Kflhn : Ende I Paul Hatvani : Klassisches Fragment / Felix MOller : Zwei Schwestem (Holz-
: ^
ipto
ON / Ich schneide die Zeit aus / Kleiner Briefkasten / An die Battenabonnenten
schnitt) / Kurd Adla: Da Triumph l Felix MOller: Hoizschnitt f Carl Einstein: Tdtlicha Baum / Wilhelm Klemm
Hilde SUdcr: Abisag / Franz Werfel:
aTcti
pfit/
Ex abrupto / Hans Koch: Eine Novel le } Felix Metier : Widmungsblatt fflr die
VER LAG * DIE AKTION / BERLIN -WILMERSDORF
50 PPQ^
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Si S-‘
AKTIONS-BUCHER DER AETERNISTEN
Band i :
FERDINAND HARDEKOPF
Lesestiickc
Band 2:
CARL EINSTEIN
Anmerkungen
Band 3 :
FRANZ JUNG
Opferung
Band 4 :
FRANZ JUNG
Saul
Band 5 :
CARL EINSTEIN
B e b u q u i n
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Band 3 und $ kosten gebunden je M. 3, —
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Fine Anthologie
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Die Geschichte der deutschen
Sozialdemokratie
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1807 — 1812. Von Tilsit nach Tauroggen.
1 .8 1 3— 1 8 1 6. Von K a 1 i s c h n a c h K a r l s h a d.
Jeder Band gebunden M. f.in
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Der Zusammenbruch
Jeder Band in Leinen gebunden M. 4 .
Verlng J. H. W. Dietz N a c h f.. Stuttgart
Im Insel-Verlag zu Leipzig
J RN
WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR. KUNST
7. JAHRGANG HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT 17. FEBR. 1917
Felix MSIler Origmal-Holsedmitt
81
DIE AKTION
82
SYNTH ET1SCHE NOTEN
Aus dem Nachlafi von Paul Gauguin
Die Malerei ist die schonste aller Kunste; in ihr
fassen sich alle Sinneseindrucke zusammen, be!
ihrem Anblick kann jeder nach dem Belieben
seiner Einbildungskraft den Roman erschaffen,
sich mit einem einzigen Blick des Auges die Seele
von den tiefsten Erinnerungen einnehmen lassen;
keine Anstrengung des Gedachtnisses, alles zu-
sammen mit einem einzigen Augenblick. Eine voll-
kommene Kunst, in der alle anderen Kunste ent-
halten sind, und die sie erganzt. Wie die Musik
wirkt sie auf die Seele durch das Mittel der Sinne,
die harmonischen Farben entsprechen den Harmo-
nien der Tone. Doch in der Malerei erreicht man
eine Einheit, die in der Musik unmoglich ist, wo
die Akkorde aufeinanderfolgen, und die Urteils-
kraft empfindet dadurch eine standige Ermudung,
wenn sie Anfangund Ende zusammenbringen will.
Kurz, das Gehor ist ein Sinn, der dem Gesichtssinn
unterlegen ist. Das Ohr kann nur einem Ton auf
einmal dienen, wohingegen das Auge alles zu
gleicher Zeit umfaBt und es nach Belieben ver-
einfacht
Wie die Literatur erzahlt auch die Malerei alles,
was sie will, mit dem Vorteil, daB der Leser un-
mittelbar das Vorspiel, die Inszenierung und die
Losung kennt. Die Literatur und die Musik ver-
langen eine Anstrengung des Gedachtnisses, um
die Gesamtheit zu wurdigen. Die erstere Kunst
ist die unvollkommenste und schwachste.
Man kann frei traumen, wenn man Musik hort,
wie wenn man ein Bild betrachtet. Liest man ein
Buch, ist man Sklave der Gedanken des Autors.
Der Schriftsteller mufi sich an den Verstand wen-
den, bevor er das Herz trifft, und Gott weiB, wie
wenig machtig ein von dem Verstand geleiteter
Sinneseindruck ist.
Das Gesicht allein bringt eine augenblickliche
Gefiihlswallung hervor.
Drum sind auch die Schriftsteller allein Kunst-
kritiker, sie allein verteidigen sich dem Publikum
gegeniiber. Ihre Vorrede ist stets die Verteidigung
ihres Werkes, als ob ein wahrhaft gutes Werk
sich nicht von selbst verteidigte.
Diese Herren flattern fiber die Welt hin in der
Art der Fledermause, die in der Dammerung mit
den Fliigeln schlagen und deren diistere Masse
einem durch alle Sinne geht. Tiere, unruhig tiber
ihr Schicksal, daB ein zu schwerer Korper sie am
Aufsteigen hindert. Werft ihnen ein mit Sand
gefiilltes Taschentuch hin, und sie schlagen sich
wie blodsinnig darauf herum.
Man muB horen, wie sie alle Menschenwerke
beurteilen! Gott hat den Menschen nach seinem
Bild gemacht, und das ist often bar schmeichelhaft
fur den Menschen. Dieses Werk ist nach meinem
Geschmack und ganz und gar so, als ob ich es aus-
gedacht hatte. Die ganze Kunstkritik ist darin
enthalten. Mit dem Publikum einer Meinung sein,
ein Werk nach seinem Bilde suchen. Ja, ihr Her-
ren Literaten, ihr seid unfahig, ein Kunstwerk zu
beurteilen, und sei es selbst ein Buch. Weil ihr
schon voreingenommene Richter seid; ihr habt
im voraus einen fix und fertigen Gedanken, eben
den des Literaten, und ihr haltet euch fur zu
wertvoll, um den Gedanken eines anderen zu be-
trachten. Ihr liebt das Blau nicht, denn ihr verur-
teilt alle blauen Bilder. Wie ein empfindsamer
melancholischer Dichter wollt ihr alle Stiicke in
Moll. Einer liebt das Graztose, er verlangt alles
in dieser Art. Ein anderer liebt die Frohlichkeit,
er hat keinen Sinn fur eine Sonate.
Um ein Buch zu beurteilen, ist Verstand und Bil-
dung notig. Um uber Malerei und Musik zu ur-
ieilen, braucht man auBer Verstand und Kunst-
kenntnis besondere Fahigkeiten, die Natur aufzu-
fassen, man muB mit einem Wort zum Kunstler
geboren sein ; aber viele sind berufen, und wenige
sind auserwahlt. Jeder Gedanke lafit sich for-
mulieren, doch mit den Regungen des Herzens ist
es nicht ebenso. Was fur Anstrengungen, um sich
zum Herrn der Furcht vor einem Augenblick der
Begeisterung zu machen; ist die Liebe nicht oft
unverhofft da und fast immer blind? Und zu be-
haupten, der Gedanke sei Geist, wahrend die In-
stinkte, die Nerven, das Herz ein Teil der Mate-
rie bildeten. Welche Ironie!
Das Schwankendste, das Undefinierbarste, das
Veranderlichste ist gerade die Materie. Der Ge-
danke ist der Sklave der Sinnesabdriicke.
Uber dem Menschen steht die Natur.
Die Literatur ist der menschliche Gedanke, be-
schrieben durch das Wort.
Wieviel Talent einer auch haben mag zu erzahlen,
wie Othello ankommt, um, das Herz von Eifer-
sucht verzehrt, Desdemona zu toten, meine Seele
wird niemals solchen Eindruck davon empfangen,
wie wenn ich Othello mit eigen en Augen gesehen
habe, wie er in das Zimmer hineingeht, die Stirn
von einem Gewitter bedeckt. Drum braucht ihr
auch das Theater, um euer Werk erst voll-
standig zu machen.
Ihr konnt mit Geschick einen Sturm beschreiben,
doch mir einen lebendigen Eindruck davon zu
geben, werdet ihr nie erreichen.
Die lnstrumentalmusik hat wie die Zahlen eine
Einheit zur Grundlage. Das ganze Musiksystem
beruht auf diesem Prinzip, und das Ohr hat sich
an alle Teilungen gewohnt; doch kann man eine
andere Grundlage nehmen, und die Tone, Halb-
und Vierteltone ergeben sich daraus in richtiger
Reihenfolge. Davon abgehend wird man Dishar-
monien erhalten. Das Auge ist weniger gewohnt
als das Ohr, diese Dissonanzen zu empfinden, aber
die Teilungen sind auch vielfaltiger, und fur die
groBere Komplikation hat man auch mehrere Ein-
heiten.
Bei einem Instrument geht man von einem Ton
aus. Bei der Malerei geht man von mehreren aus.
So beginnt man mit dem Schwarz und teilt es bis
ins WeiB — erste Einheit. Dies ist die leichteste
und darum auch die gebrauchlichste, folgiich die
am besten verstandene. Aber nehmt soviele Ein-
heiten, wie es Farben im Regenbogen gibt, tut
die hinzu, die von den zusammengesetzten Far-
DIE AKTION
t
bta gebWdet werden, und thr kommt zu einer
ttd\\ betrachtUchen Ziffer von Einhciten. Welche
Zatoenmenge, eine Arbeit, die wirklich vie! Kopf-
i«bttdien macht! Und es ist daher kein Wunder,
daB die Wissenschaft des Koloristen so wenig
vertiett ist von den Malem und so wenig verstan-
den vom Publikum. Aber auch welch ein Reich*
turn der Mittel, um in nahe Beziehung zur Natur
zu treten!
Man tadelt bei uns die ungemischten Farben
nebeneinander. Auf diesem Oebiet sind wir not-
wendigerweise die Sieger, tiichtig unterstutzt von
der Natur, die nicht anders zu Werk geht.
Ein Grun neben einem Rot ergibt kein Braun rot,
wie die Mischung, sondern zwei vibrierende Tone.
Setzt Cromgelb neben dieses Rot, und ihr habt
drei einander bereichemde Tone, die die Inten-
sity des ersten Tones erhohen: des Grun.
An Stelle eines Blau setzt ein Violett, und ihr
werdet in einen einheitlichen Ton verf alien, der
aber zusammengesetzt ist und in das Rot sich
wendet.
Die Kombinationen sind unbegrenzt Die Mi-
schung der Farben ergibt einen schmutzigen Ton.
Eine alleinstehende Farbe ist etwas Haries und
existiert nicht in der Natur. Sie existiert nur in
der Erscheinung eines Regenbogens, und die
reiche Natur sorgt daftir, sie auch nebeneinander
in einer gewollten und unverruckbaren Ordnung
zu zeigen, so als ob jede Farbe aus der anderen
hervorginge.
Nun, ihr verfugt iiber geringere Mittel als die
Natur, und ihr verdammt euch dazu, euch all die-
ser Mittel zu berauben, die sie in euere Hand
legt Werdet ihr jemals ebensoviel Licht haben
wie die Natur, ebensoviel Hitze wie die Sonne?
Und ihr sprecht von Obertreibung; doch, wie
wolR ihr ubertrieben sein, da ihr doch hinter der
Natur zuruckbleibt ?
Ja, wenn ihr unter ubertrieben jedes unausge-
glichene Werk versteht, dann hattet ihr in diesem
Sinne recht, doch ich will euch darauf hinweisen,
daB, so zaghaft und blaB euer Werk ist, es als
ubertrieben gelten muB, wenn in der Harmonie
ein Fehler ist.
Es gfbt eine Lehre von der Harmonie? — Ja:
Und zwar ist der Sinn des Koloristen genau diesc
naturiiche Harmonie. Wie die Sanger, singen auch
die Maler bisweilen falsch, ihr Auge hat dann
keine Harmonie.
Spater kommt durch Studium eine ganze Methode
der Harmonie, wofern man dies nicht mifiversteht,
wie auf den Akademien und meistens in den Ate-
liers. In der Tat hat man das Studium der Male-
rei in zwei Kategorien eingeteilt Man lernt zeich-
nen und dann malen, oder, was dasselbe heiBt,
in einem schon vorbereiteten Kontur koloriert
man, w/e etwa cine Statue nachtraglich bemalt
w/rd.
Ich gestehe, daB ich aus dicser Ubung bisher bloft
das eine begriffen habe, namlich daB die Farbe
nur etwas Nebensachliches ist. Sie miissen, mein
Herr, bevor Sie maJen, erst ordentlich zeichnen,
und das wird in einem hochgelehrten Ton gespro*
chen; iibrigens werden die groBen Dummheiten
immer in dieser Weise laut.
Werden Schuhe etwa als Handschuhe getragen?
Wollt ihr mir wirklich weismachen, die Zeich-
nung hange nicht von der Farbe ab und umge-
kehrt? Und zum Beweis unternehme ich es, euch
dieselbe Zeichnung je nach der Farbe, mit der
ich sie ausfiille, zu vergroBern oder zu verklei-
nern. Versucht doch, genau in denselben Ver-
haltnisscn einen Kopf von Rembrandt nachzu-
zeichnen und setzt das Kolorit von Rubens hin-
ein, ihr werdet sehen, welch ungestaltes Ding
ihr gleichzeitig mit der Disharmonie der Farben
erhalten werdet.
Seit einem Jahrhundert gibt man enorme Summen
aus zur Verbreitung der Zeichenkunst und man
vermehrt die Menge der Maler, ohne einen Schritt
vorwarts zu tun. Was fur Maler bewundern wir
augenblicklich ? Alle die, welche die Schulen ge-
tadelt haben, alle, die ihre Kenntnisse aus der
personlichen Beobachtung der Natur schopften.
Nicht einen .....
(Hier bricht das Manuskript ab.)
(Deutsdi von August Brucher)
EDUARD VOJAN, DER LYR1KER UNTER
DEN SCHAUSPIELERN
Von K Hugo Hilar
Als er das sechzigste Lebensjahr erreicht hatte,
da vermochte diese seltene Gelegenheit zu Jubi-
liiumsaufsatzen, die der Verdienste des grofiten
zeitgenossischen tschechischen Schauspielers ge-
dachten, nicht die Unzulanglichkeit der wertenden
Kritik gutzumachen, die Vojans gesamtes kiinst-
Ftlix Mxiller
Original * Hoix xchnitt
85
DIE AKTION
lerisches Schaffen verfolgt hatte: wiederum ward
er wie ehedem gepriesen mit den gleichen mecha-
nischen Superlativen, die keinen Unterschied zwi-
schen den Leistungen gelten Iassen, wiederum mit
den gleichen auf der Oberflache haftenden Ein-
wanden getadelt. Aber ob gefeiert oder verworfen,
uberall wird er mit denselben Gemeinplatzen als
der unsichtbare Gott definiert, den jeder be-
stimmt, ohne das einer ihn erkannte. Er entflieht
alien Gloriolen, iiber den kritischen Erwagungen
wiegt sich sein chimarisches und seltsamcs La-
cheln, verachtlich oder mitleidvoll, vver kann es
wissen, dasselbe ratselhafte Lacheln, das ihn als
Menschen niemals verlassen hat und das sich un-
vergeBIich alien seinen Masken aufgepragt hat.
In solchem Mafie ist ein Lyriker unter den tsche-
chischen Schauspielern ein Ratsel.
Und Eduard Vojan ist ein Lyriker der Schauspiel-
kunst, er ist Lyriker bis in die Tiefen seines We-
sen s, er ist Lyriker durch den Charakter alter sei-
ner Leistungen, und dieses Wort ist das ganze Ge-
heimnis seiner Kunst, die voll wilden Wider-
streits und metaphysischen Weitbiicks in ihrem
Stolze wie ein unverwundetes Gefuhl eingehiillt
ist und die dem Schauspielertyp, w r ie er in tech-
nischer Beziehung verstanden wird, ats der Er-
innerung an ein verachtungswiirdiges Handwerk
entschliipft.
Es mag Vojan vielleicht niemals darum zu tun
gewesen sein, verschiedene Menschen zu schaffen
(die Eitelkeit eines jeden Schauspielers) oder rich-
tiger das Aufiere der Menschen, als es ihm viel-
mehr stets urn ihr gemeinsames und gliihendes
Wesen zu tun gewesen ist. Darum vereinigte er
eher und vereinfachte, als zu unterscheiden, zu
individualisieren und zu vervielfachen. Mephisto,
Hamlet, Othello und Shylock, Wallenstein und
Borkman, alle hat er zur gleichen GroBe gefuhrt;
zur GroBe eines Gefiihles, einer Leidenschaft oder
Idee, des reinen Elements mit einem Wort, das
der Mensch in sich tragt als ewige Mitgift des
Schicksals und des Lebens. Und er ist ohne Zuge-
standnis dieser gemeinsamen GroBe des Ewig-
menschlichen nachgegangen und so zu seiner
eigenen, gleichzeitig geheimnisvollen und durch-
sichtigen GroBe gelangt: denn zugleich mit jenen,
die bei seinen Leistungen vor Bewunderung nicht
bis auf den Grund des Denkers sahen, waren sol-
che da, die unverziiglich die physischen Mittel und
somit die Unzulanglichkeiten des Schauspielers
durchblickten. Welch Iebendiges Feld fur den
Streit um seine GroBe! Nichtsdestoweniger steht
Eduard Vojan iiber ihnen vor den Augen aller, die
auf den gemeinsamen Quell jeder Kunst, auf das
ewige Feuer achthaben, dem das unversiegliche
Leben der Welt entlodert. Es ist die lyrische
Entflammung, in welcher der Mensch fur einen
Augenblick der Ewigkeit teilhaftig wird, indem
er zum Sinn der Welt vordringt. Es ist die namcn-
lose Flamme der Lust und des Schmerzes, ein
erhohtes Lebensgefiihl, in dem sich der Kiinstler
und auch sein Zuhorer erneuert. Es ist die Nost-
algic der Ewigkeit, der Gesang unbekannten
Anbeginns, die Sehnsucht nach maBloser Feme,
der unendliche Gesang des menschlichen Innern,
widerklingend in der Tiefe aller wahrhaft kiinst-
lerischen Werke. Eduard Vojan hat immer nur
diesem Gesang im Herzen aller wahrhaften
Dramen gelauscht, er hat immer eher diese innere
und geheimnisvolle Wahrheit der Dinge verfolgt,
als ihr physisches Antlitz. Daher das ausgespro-
chen subjektive Geprage seiner Schauspielerkunst :
Shylock bedeutet ihm nicht die Reproduktion eines
sonderbaren und halsstarrigen Greises, psycho-
logisch durchgearbeitet bis in alle Nuancen der
Gebrauche und rassenhafte Typizitat, was zum
Beispiel Shylock fur Novelli bedeutet. Sondem
ein in einigen groBen Ziigen skizziertes Symbol
menschlicher Verworfenheit, des Elends biirger-
licher Rechtlosigkeit, des unendlichen Leidens einer
zertretenen Rasse, dessen bittern Ton die liebliche
Schonheit des belmonter Himmels und die siiBe
Verwicklung zweier Liebespaare dampft. Als
zentrales Gesetz zieht sich durch alle wesentlichen
Leistungen Vojans dieser absolut machende Ly-
rismus, der seinen Hamlet zum Philosophen meta-
physischer Verzweiflung, Othello der durch Zwei-
fel vergifteten Liebe, Mephisto der menschlichen
Skepsis macht, im Francek oder Janosik den rudi-
mentaren Gesang des lauteren Bluts verdol-
metscht, mit einem Worte Individuen und Typen
nach einem pathetischen Gesetz darstellt, das
allem Lebendigen gemeinsam ist und die gliihende
Einheit des Alls bildet.
Die Zahigkeit und zugestandnislose Anstrengung,
mit welcher Vojan diesen lyrischen Akkord an-
schlagt und den Tiefen alien schauspielerischen
Materials, den Rollen und den eigenen physischen
Mitteln entlockt, sind nicht nur sprichwortlich,
sondern begrunden die Eigenart seiner schau-
spielerischen Technik: sie spannen zu auBerst sei-
nen Korper, die Gestikulation, Mimik, Stimme,
die ganze Klaviatur schauspielerischer Expression
an. Die grausame Macht seines Widens zwingt die
Muskeln zu auBerordentlicher Nachgiebigkeit,
zerbrdckelt und spitzt den Klang des Wortes,
wurgt die eigene Kehle, tyrannisiert die Mimik,
verdichtet die Bewegungen zu abrupten, jahen Ge-
sten, schleudert Dolche in Blicken und Lacheln.
Alle auBere Eigenart der schauspielerischen Tech-
nik Vojans beruht in dieser offenbaren Anspannung,
in diesem sichtlichen Zweikampf zwischen der ly-
rischen Inspiration, die innen verborgen ist, und
dem rebellischen Korper, der sie ver-
dolmetschen soil und es nie beredt ge-
nug tun wird. Es ware aber unvorsichtig, gerade
in ihr, so gute Fruchte sie auch ihrem Schopfer
eingebracht hat, den Vorzug von Vojans Kunst
zu erblicken. Der Grundzug dieser Technik ist
einfach eine physische Begrenzung, so wie als
aesthetische Begrenzung das UbermaB in jenen
einigen Gestalten erscheint, die der Kiinstler mit
dramatischer Eindringlichkeit, Macht des Intel*
lekts, lyrischer Heftigkeit iiberladen hat im Wider*
streit mit ihrem ornamentalcn, vom Dichter ge*
gebenen Charakter, wobei ich nur Juliens Bruder
oder noch eher Wildes Herodes nennen mochte.
Hier unterjocht in Vojan der Lyriker den Schau-
Mmitr
Original'Hokschnit
89
DIE AKTION
spieler, notigt ihm Leidenschaften und Ideen auf t
wo es sich nur um Masken und Figuren handelt.
Da er die Rolle nicht zu seinem Sprachrohr zu
machen vermag, vergewaltigt er sie aus Rache fur
die eigene Verge waltigung.
Doch gerade das sind nur die Ufer eines mach-
tigen und strahlenden Stromes, der unausschopf-
bar erscheint in der Glut innern Feuers und ent-
flammter Jugend — einer apollonischen Jugend,
die das unvergangliche Geschenk und Attribut
alter lautern Entflammtheit ist. Durch sie ist Edu-
ard Vojan zum unzertrennlichen Mitwirkenden an
der Entwicklung der modernen tschechischen dra-
matischen Poesie geworden, die aut der Szene nur
zum eigenen Schaden ohne ihn auszukommen ver-
mochte; durch diesen Lyrismus, der das Alltag-
iiche im Feuer der Ewigkeit auflodern macht, hat
Vojans Name die tschechische Schauspielkunst
im modernen, neupathetiscfhen Sinne begriindet,
Nach einer Periode des Naturalismus, der den
Schauspieler zum Feinde des Dichters rnachte, ist
kraft dieses vojanischen lyrischen Feuers auf der
tschechischen Szene der Schauspieler als ein Bru-
der der Dichter erstanden.
(Autorisierte Obersetzung von Otto Pick)
AUS TURGENJEWS BRI EFW ECHSEL MIT
HERZEN
Baden-Baden, Schillerstrafie 277
Freitag, den 17. Mai 1867
Liebster Alexander Iwanowitsch!
Du wirst Dich gewiB wundern, vielleicht auch
emport sein, wenn Du meinen Brief erhaltst. Aber
„alea jacta est**, wie der unverschamte Greis La-
martine zu sagen pflegte. Es fiel mir ein, Dir ein
Exemplar meines neuen Werkes zu schicken und
gelegentlich Dir ein paar Worte zu sagen.
Obwohl Du ganz richtig in Deinem letzten Briefe
an mich bemerkt hattest, daB wir uns eigen tlich
nie nahestanden, fand jedoch auch keine beson-
dere Entfremdung zwischen uns statt, da meine
groBen Vergehen sich bis jetzt nur, soviel ich mich
erinnere, auf drei Tatsachen beschrankten: 1, Mein
Name stand unter den Subskribenten fur die Ver-
wundeten im polnischen Kriege; 2. ich erkannte
Dich nicht, als ich Dir in Paris auf der StraBe be-
gegnete, und 3. die Moskauer Zeitung nannte mich
„einen teuren Gast**. Trotz aller Anstrengung
kann ich mich auf nichts mehr besinnen; denn
wessen mich der Republikaner, Fiirst Dolgorukow,
zeiht, namlich, daB ich ihm seine Visite nicht er-
widerte und daB ich auf dem brennenden Schiffe
um Rettung gefleht haben soli, das kann mir doch
nicht als eine politische Siinde angerechnet wer-
den. Und so schicke ich Dir mein neues Werk.
Soviel ich weiB, brachte es in RuBland die Reli-
giosen, die Hofleute, die Slawophilen und Patrio-
ten gegen mich auf. Du bist weder religios, noch
ein Hofmann, aber Du bist Slawophile und Patriot
und es ist moglich, daB auch Du in Zorn geratst.
Oberdies werden Dir wahrscheinlich auch meine
Heidelberger Arabesken miBfallen, — wie dem
auch sei, die Sache ist abgeschlossen. Eines er-
mutigt mich ein wenig. Auch Dir hat doch die
Partei der jungen Refugies die Wiirde eines Zu-
ruckgebliebenen, eines Reaktionars verliehen: So
hat sich denn die Entfemung zwischen uns ver-
mindert. Wenn Du mich nicht als einen Menschen
ansiehst, mit dem es so weit gekommen ist, daB
man mit ihm nicht mehr korrespondieren darf,
so gib es mir tiichtig oder persifliere ein wenig,
aber setze mich uber Dich und Deine Familie in
Kenntnis, das interessiert mich. Haltst Du aber
jegliche Beziehung zu mir fur unmoglich, so
empfange meinen AbschiedsgruB und meinen auf-
richtigen Wunsch, daB es Dir in allem gut gehen
moge. Iw. Turgenjew
Baden-Baden, SchillerstraBe 7 (nicht 277)
Mittvoch, den 22. Mai 1867
Ich schicke Dir meine Novelle, nachdem ich, lie-
ber A. I., Deine Notiz in der „Glocke“ gdesen
hatte: daraus kannst Du ersehen, wie wenig ich
bose geworden bin. In Deinem Brief an Aksakow
sagst Du, daB Dein 55. Lebensjahr voriiber ist.
Kunftiges jahr werde ich mein 50. zuriicklegen.
Diese Jahre sind ruhig, und was Du auch sagen
magst, wir sind Dank unserer Vergangenheit,
Dank unsrem Erscheinen in der Welt u. detgl. m .
immerhin einander naher und verstehen uns leich-
ter, als Leute verschiedenen Alters. Die Rechnung
ist sehr leicht zu machen. Das einzige, was an mir
nagt, das sind meine Beziehungen zu Katkow,
wie oberflachlich sie auch sein mogen. Aber ich
kann folgendes sagen: ich verdffentlichc meine
Sachen nicht in der „Moskauer Zeitung**, so was
wird hoffentlich nie bei mir vorkommen, sondem
im „Russischen Boten**, dcr nichts anderes als
ein Sammelwerk ist, keine politische Farbung hat
und jetzt das einzige Journal ist, welches vom Pu-
blikum gelesen wird und welches zahlt. Ich ver-
hehle es Dir nicht, daB diese Entschuldigung nicht
ganz fest auf den Beinen steht.
Du bist dcr langen Reden Petugins iiberdrussig
geworden und bedauerst, daB ich nicht die Halfte
davon hinausgeworfen habe. Aber stelle Dir vor:
ich finde, daB er noch nicht genug spricht, und in
dieser Meinung bestarkt mich die allgemeine Wut,
welche diese Person gegen mich erregt hat. Jo-
seph II. pflegte zu Mozart zu sagen, daB in seinen
Opern zu viele Noten vorhanden waren, — „keine
zu viel**, antwortete der letztere. Ich bin nicht
Mozart, noch weniger als Du Joseph II. bist, aber
ich wage zu denken, daB hier kein Wort zu viel.
Was im Auslande als ein Gemeinplatz erscheint,
kann bei uns die Leute durch seine Neuheit in Wut
bringen.
Unter den Heidelberger Arabesken verstehc ich
die Scenen bei Gubarjew. Mich freuen die guten
Nachrichten uber Deine Familie; ich litt wirklich
an langwierigen Gichtanfallen (ach und weh!) jetzt
aber bin ich fast gesund. DaB ich mit der Gicht
belohnt wurde, das ist eine entschiedene Emuui-
terung fur Zecher und Saufer: wie niichtern und
maBig war ich doch!
Und hiermit driicke ich Dir die Hand „in alter
kordialer Freundschaft** Iw. Turgenjew
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93
DIE AKTION
94
AM KREUZE
Von Oiahar Tkeer
Am Kreuze, zwischen den Schachern hing er.
Dort unten,
unter dem Feuer der FiiBe, in denen die Nagel
brannten,
drangt sich die Menge:
Fauste, Helme, Gesichter.
Vielleicht Freunde, vielleicht
Doch heute — so fremd.
Mude das Haupt, der Korper im Fieber, die Lippen
schmachtend.
Und unten die Stadt im Lichte der Nachmittags-
sonne.
Die Hauser alle so weiB, weiB, weiB, weiB.
Die Hauser so weiB.
Alles weiBes, weiBes Grauen — — — — —
Alles flimmerte im Blau, alles lud durch seinen
Schatten
in diesem Landstrich, der sein war.
SuB,
ist die Feuchte des Wassers, wenn sie vom See
streichet,
still
ist die Sprache des Schilfes am wetchen lifer,
wo im Moose du gleitest.
Und feierlich, gluhend, gesellig und tonend
ist die Freude Sohn Gottes zu sein,
O schones Land,
wo mit ihm er sprach, der Vater!
Wenn du die Hand erhebst,
zum Horizonte streckst,
weiBi du in seliger Geborgenheit, was zur Rechten
ist, was zur Linken.
So war es dort.
Und die Giite stand stets zur Rechten,
und zur Linken, faltig und mude krummt sich der
Teufel.
O schones Land!
Kraft seines Wortes harrten die Berge,
des Einen, Einzigen,
daB sie die Ufer verlieBen, in das Meer sprangen,
so, wie in Sommersglut du in das Bad strebst.
Und die Krankheit, die Siinde, die gierigen Leiden-
schaften
fletschten die Zahne
vor seinem Schatten auf der Flucht.
Warum tat es not zu verlieren
den Frieden der Berge, und die Tausende Augen
glaubig zu ihnen gewandt,
die Weizenfelder, betend im Flustern,
des Fischers der Seelen dichie Netze
und das Sell iff 1 ein, gefahrlos schwebend
unter der Pranke des Sturms?
Warum tat es not, zu treten
hieher, in die weiBe Holle der Stadt,
wo die Furcht auf der Schwelle der Hauser sitzt,
unfahig, unsichern FuBes
hinter der Gottheit zu gehn ?
Hier folgte der Tag dem Tage, dem Schatten
gleichend,
diebisch umschlich er sein Herz
und ein jeder
ein Stuck Gottheit ihm herabriB und stahl mit
dunkler Hand.
Hier entkleidete ihn ein Tag nach dem anderen der
Wiirde des Sohnes.
Hier erbluhte das Wunder nicht unter seinen
Handen,
da er sie ausstreckte, um zu segnen.
Hier vervvechselte sich die Rechte mit der Linken,
hier gewohnten die Augen daran, im Grau'n zum
Himmel zu sehn,
und die Stirne war schweiBbedeckt durch die
Zweifel.
Damit du Gott bleibest,
das ist ein Kampf — mit jeder Weile, jedem
Augenblicke,
und ein jeder siegreich.
Wenn du zweifel test
nur so kurz, als der Blick sich schlieBt vor uner-
wartetem Feuer,
offnet sich der Himmel und mit schrecklicher
Stimme
verleugnet er dich.
Und der Ruhm der Gottlichkeit,
dies leichte Gefieder, uber der Erde zu schweben,
die Hand in der gfitigen Hand des Vaters,
im Lichte zu sprechen, von der Ewigkeit gefolgt
sein, wie von der Schwalbe,
wandelt sich in Felsen, der in dir zerdriicket
das Menschtum, in dem du Zuflucht gesucht.
95
DIE AKTION
96
Hetit fruh bei Golgatha,
nicht unter dem Kreuze, nein, unter der Gottlich-
keit fiel er,
die er nicht mehr zu tragen vertnochte
Auf dem Kreuze, zwischen zweien Schachern
hing er
Mude das Haupt, der Korper im Fieber, die Lippen
schmachtend.
Jetzt sprangen die Augen vor Grau’n aus den
Hohlen,
auf schrie er mit schrecklicher Stimme: „Gott,
du mein Gott, wie hast du mich verlassen!“
Und starb.
(Nachdichtung aus dem Tschechischen von Maria Nachlinger)
TOTEN-GEBET
Dem Geddchtnis des Hoboken F. Karger
Hoboken F. Karger, f neunzehnjahrig, in den ersten
Dezembertagen 1916 als dienstpflich tiger deutscher
Soldat.
lhr Wolken, schwarz schwalende Fahnen der
Stadte,
hullt mir den Mund!, daB nicht (zerrissenster Ab-
grund)
mein Schrei euch trifft (Geliebte!) und ihr nimmer
noch bluhet !
. . . Da er, der Freund, im Schatten des todlichen
Tiers
sinnios in brandende Sonne sich fing; . . .
— : ach! und ein siiBes Wehn aus den Augen blond
entschwand . . —
... da er den gra&lichen Vogel wohl schaute,
der ihn
beflog, und seine Schultern sich mischten
sternigem Horizont, . . . und das Haupt ent-
schwebte! — ja: . . . sah er
sich und mich und uns gedreht im Taifun
drdhnender Saulen Europas?, — hob noch
tetzten Blick er zum Wald und trank schnell sich
nahernden Mondes Milch?
: — sahst, Hoboken, noch unser verschiittetes Ant-
litz,
denveil ein Mond dich schlurfte!, — — -
schwammst in der Quelle des Alls
(, klarster!) — ja; — und die Wimpern hingen,
Teppich mit Sternen bebliimt, duster zwischen
Aufgang und Niedergang!
. . . Lieber GenoB ! ... in weiter Abendrote
Wf deine goldene Hand, und die Nacht
(dem Helml) senkt sich hart und gnadig
auf dieser grausamen Schadelstatte brausend Ge-
fild f
Walter Eheiner
ENDE
Die Fltisse bluten. Erde bricht wehschreiend auf.
Die Hauser wanken in den Fundamenten.
Blau recken Frauen Arme steil hinauf.
Zerballt. Zerrissen, Hohnend Sakramenten.
Die Fahnen briillen grell durch breite StraBen.
Wir horen nichts. Wir sind in uns hineingejagt.
Wann war es, daB wir noch in Garten saBen?
Die Zeit zerfrifit uns. Wir sind abgenagt.
Herbert Kiihn
KLASSISCHES FRAGMENT
. . . Ewigen Untergangs trauernd, hor ich nicht
mehr dieses orphische Lied,
da es nun Leid ist und Orphens tot Und tot ist
das Lied.
Und auch der Krieger bricht hin und Helles ver-
sinkt —
was kreisest du noch, ohnmachtiger Helios?
Niemals wird Licht mehr auf Erden,
diese Erde erleuchtest du nicht.
Oh, wie hammert Hephaistos mir die Schlage des
Herzens!
Qualvoll erblick ich die Tempel zerfallener Zeiten,
keine sapphische Ode mehr gibt es,
und auch Anakreon schweigt.
Ewig betrauert den Untergang diese ewige Zeit,
die so veiganglich ist, daB sie niemals vergeht.
Meinem Haupte entsprungene Pallas Athene,
klage mich an; sieh, mein Wort ist verdorrt . . .
Paul Hatvani
Felix MUller Zwei Schwesttrn (HoUschnitt)
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DIE AKTION
98
DER TRIUMPH
Seltsamer, seltsamer Triumph!
In dieser eklen, peitschenden Nacht,
da der Regen sich wie ein unendliches Gewand
urn uns legte
und der Dreck uns bis zu den Ohren sprang,
die dunklen Sumpffelder wuchsen in den Himmel
und die kahle Schwarze stach uns — stach uns.
In dieser Nacht klangen heisere, verwiinschende
Worte —
breitgeflugeltes Elend . . . patsch — patsch —
patsch sang die schwere Finsternis.
Augen, in denen Wasser tropfte, brannten nach
Schiaf.
Fluche — Gekeuch — im zahen Brei stapften
Schritte von Storchen.
„Verflucht — die Sauerei!“
Patsch — patsch — patsch sang die schwere
Finsternis.
Ein unerbittlicher Leichenzug.
Oho! Hochzeitshell triumphierte in dieser Nacht
mein Leben wie nie zuvor.
In toller Wollust warf ich weiBe Astern in diese
Schwarze.
Die Hande meiner schonsten Freundin steckte ich
wie Grabkreuze in die Siimpfe.
StraBen mit Beeten und Baumen zog sich am
Himmel.
Eine unendlich einsame Leuchtkugel — — oh,
dieses ausersehene Restaurant,
Feitx j Wilier
Original* Houschnitt
in dem Kellner auf roten Teppichen um kleine
Tische frackten.
Tausend Verse Rilkes schrieb ich in den rinnen-
den Regen.
Ober den schweren FuBeri hatte mein Hirn sit-
berne Fliigel
Flog — Flog und sang ein Triumphlied;
und bewundernd und kostlich reich warf ich es
weg
in den aufspritzenden Schlamm.
Und jubelte in meinem Himmel, als ich sah,
daB Hunderte achtlos und keuchend voriibermar-
schierten.
Kurd Adler
TOTLICHER BAUM
Glasig Zerstiicken zerrt tauben Hals in quere
Masche.
Gefetzter schwert blattrige Luft.
Dein Fleisch nahrt Wind.
Auge blendet fremd Gestirn.
Verscherbter zackt in bergigem Schrei,
Gilb Wiese mit zersticktem Vorwurf.
Eitrige Silbe wolkt.
Zahn farbt rotgestotterten Dampf.
Tropfig Denken speit lockern Herbst.
Zerwesen krankt Fall;
Greist
Staubt
Wurzelt.
Griffe gegabett jammern dir den Ast.
Aufwirft HaB in kantenen Rauten.
Kreise bleiche Korner,
Hagelgurt.
Runde trages Gift.
Ersticken tiirmt.
Carl Einstein
SPAT
Die Zeit leckt langsam an unsren Hauptern.
Die Kette ohne Ende zieht voruber,
Jedes Glied hat ein sonderbares Gesicht —
Aber uber alien Augen das Staunen.
Der Silbemachen des Mondes beugt sich,
Eine Nacht ging wieder hin.
Ich bin wie immer allein mit dem Unbekannten
Wer gab mir das Gefiihl fur das Unerklarbare?
Die Sphinx gebicrt ncuc Sphinxe.
Der Stern schweigt. Die Stadt verdunstet.
Die Seele tatowiert sich mit groBartigen Sym-
bolen.
Der PaBgang des Herzens geht weiter,
Wilhelm Klemm
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■. \. v .-
>\i I % / 1~ h S I ! V I 1
J t \s f v L. i \ J t I j \J
DIE AKTiON
100
M&ISAG
K\s Abisag, die Zarte, David ward gegeben,
DaB ihres jungen Leibes Warme sie ihm brachte,
Erbebte sie ob der Entartung ihrer Nachte
Und \ag in Scham und Grauen ihrem Los ergeben.
Da sah sie seinen Blick, der sich um sie betrubte.
Und als der Konig giitig ihre Hande faBte,
Geschah es plotzlich, daB sie seine Augen liebte.
Sie wuBte jah, daB ihn ihr Herz erwahle . . .
Und fuhlte, wie sie in Erschfitt’rung tief erblaBte.
Und mit des Leibes Warme gab sie ihm die Glut
der Seele.
Eilde Stieler
EX ABRUPTO
Wir beginnen schon zu erkennen, daB wir, um
Psychologen zu sein, syrabolische Physiologen
sein mussen. Denn der schwindelhafteste Satz,
den es gibt, heiBt : „lch schaue anders aus, als
ich bin.“ Nein, ich sage dir: Wieviele Flecken du
auf deinem Anzug hast, soviel Flecken hast du
in Seel und Gewissen. (Die brauchen aber lange
noch nicht verwerfliche zu sein.) Alles AuBen ist
wahrhalt nur tiefsinniges Symbol der Wirklich-
keit. Leute, die viel purgieren, leiden an Ge-
wissen sfeigheit, die sich oft als Gewissenhaftigkeit
zeigen mag. Solche Menschen wollen immer,
seibst unter sehr groBen Opfern, alle Verant-
wortung von sich abwalzen, jedem Selbstvorwurf
entgehen. Im ubrigen leiden Leute mit Stuhl-
verstopfung auch an conscientia obstipata.
♦
Die Menschen konnen nichts dafiir . . . Man
bedenke doch, wie schwer es ist zu gehn, zu
atmen, die siebzig Kilogramm seines Korpers zu
schleppen, wie viele furchtbare Kampfe und Hin-
dernisse diese Beschaffenheit bei Tag und Nacht
zu ubenvinden hat . . .
Nein, die Menschen konnen nichts dafiir.
Franz Werfel
EIN TRAUM
Ich greinte tranenlos wie ein krankes Fjndelkind,
ich schnob vor Wut, ruttelte an den Eisenstaben,
ich stammelte gedankenleer die Gebete meiner
Kindheit: das war drei Tage lang. Dann uberkam
mich eine Mattigkeit, die Wollust war und hilf-
loses Schnattern. Ein ausgebranntes Lacheln ge-
rann in meinem Gesicht, und ich beschmierte
Boden und Wande mit meinem Kote.
Nun gab’s nur Eines noch: der ungewisse Tod.
Denn ich lag im „Gitterhaus der perlmutternen
Tranen“.
Hohe wie Tiefe waren erfiillt von den Ober*
schneid ungen eiserner Roste. Durch die grfin-
lichen Glas wande der Mauern, aus dem Licht-
schacht des Daches kam der triibe Tag herein-
gekrochen wie eine schlierige Schnecke. Aus dem
Grunde sprang das Klingen geschlagenen Eisens
herauf, eine Holle gebar sich Tag und Nacht in
den enfmenschten Schreien der Gefangenen, in
dem Rocheln der Gefolterten, in sfiBlichem Blut-
geruelt und deni (jestank versenkter Menschen-
haut.
Gegen Ende des vierten Tages warf man einen
Blutgesellen mir in die Gitterkammer. Erschnurrte
wie eine gescheckte Katze um die eisernen Stiitz-
saulen, lachte johiend auf und riB an den Hand-
schellen, daB die Ketten um die barenhaften Arme
baumelten, Er trat zu mir her und quetschte mit
derbem Griff meine Schulter. Ich starrte ins
Leere. Er hob mir das Kinn mit dem gekrummten
Finger und ich las mit den Augen ihm von den
gesperrten Lippen, ersah am Krallengriff seiner
Hande, dafi er seine Geliebte erdrosselt habe.
Zu was auch . . . Ich zuckte die Achsel und
kauerte gelassen in meinem Eck mit hochgezoge-
nem Knie.
Und die Stunde kam, da quiekend die schweren
Flugel der Gattertfir aufschlugen. Trage quirlend
schwebte just an einem Seilaufzug ein rohes Holz-
gerfist herauf. Vier Manner traten herein: der
Eine trug einen Turban fiber dem pockennarbigen
Mohrengesicht, ein blonder Flaumbart ffihrte eine
lederne Kurzhose fiber den Waden und auf-
gekrempelt das pludrige Hemd. Die beiden
Andern aber staken vermummt in Monchskutten :
die Augen flackten mit kalten Lichtern hinter
schwarzen Sammetmasken.
Kein Wort fiel. Die Bfittel hantierten in ihrem
Felix Muller
WidmungftbUitt fur die AKTION
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DIE AKTION
102
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AUtagswerk, die Kuttner standen in unbetonter
Langweile nebenaus.
Durch mein Hirn aber schlingerte es wie Tang
in tragem Oefalle: gilt es dir oder gilt es
mir? . . .
Da warden Blitz und Geschtlien Eins: Halb vor
mcinem Blick sackte eine dunkle Masse nieder,
ich sah erhoben zucken den klobigen Arm des
Schindhansgenossen, ein Blutwirbel drehte sich
mir in die Augen, ein fremdes Gelenk fuhr mir
zu Hand, zu sticB ich mit barter Faust, rollte hin
iiber einen Leib und schniirte eine Manns-
kehlc zu.
Schnell flog mein Blick zur Seite: der Andre war
schon fertig und hattc einem Folterknecht den
Brustkorb eingedriickt. Eben trat er hin und
drehte Einem der Vermummten, der wieder sich
zu rcgen begann, das Gesicht ins Genick.
Ich sprang empor, ein Blick ging Auge in Auge,
wir rissen zwei Leichen aus ihrem Plunder, ich
wart eine Kutte mir um, der Andre streifte in
seine Kniehose und warf die Armel auf. Dann
sicherten wir durch die offene Tiir.
Auf der Eisentreppe, wo des Tages letzter
Dammer filtrierte, schlurfte ein Dickwanst uns
entgegen: ein ruckhafter StoB — im dumpfen
Fade wumbte die rostige Plattform wieder. Wir
sprangen tiefer in das schummrige Duster,
huschten durch einen engen Gittergang, klappten
hart auf steinernen Fliesen, der alterszitterige
Pfortner lieB den Schliissel des Ausgangstores
mnspringen, wir schliipften durch, das Blut
rauschte mir im Ohre: kiihl und quack sprang die
Luft der Freiheit mir an die Stirn.
Zutatzend rifi der Genosse die Kapuze mir vom
Schadcl, stiefi mich lautlos die Gasse lununter
und verschwand selbst um die andre Eckc. Ich
lief auf nachtigen Steigen, schwenkte um Meiler
und Pfosteu, hetzte ein Stuck den Flufl hinunter,
balancierte iiber einen morschen Bruckcnsteg,
griff den rollenden Hut, nach dem ein wurdiger
Herr unbeholfcn sich buckte, im Sprunge auf und
streifte im Vorwartstorkeln den lastigen Monchs-
rock mir vom Lcibe. Meine Tritte hallten wider
vom Pflaster der totcn StraBen. Am Stadttor
drehte die Wache cben den zweiten Fliigel cin,
Hallo! raunztc ich den Flibustier an wie ein
Boxerhund, riB, da er zufaBte, ihm die Achsel
unter der Faust weg, sprang durch und keuchte
eine Pappelallee hinunter, in der dcr nachtige
Sturm die gereckten Wipfcl bog. Stechend
stricheu cin paar groBe Tropfen mir ins gliihendc
Gesicht. Dann strolchte ich im Hinschwinden
mciner letzten Kriifte die schwirnmende Chaussec
hinab, achzend, jappend, mit berstender Brust.
In einem verschlnfenen Gutshof schlug ein Ketten-
hund an. Ich hielt feldeinwiirts und ficl auf das
platte Gesicht: in eine Pulse jagtcn klopfend an
der schmierigen, kalten Erdc,
Da horte ich die Glocken wimmern aus dcr
Stadt, hell stieB der Ruf von Trompeten durch
die wiihlende Nacht heriiber, ich kroch in einem
Heuhaufen nnter und lacheltc seli^-zcrfahren.
ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS
\L1
3 m Xtjronjaal ber Ofencr $6ttig3l> urg.
Telegramm unsere* Sonderberichterstattcrs Dr. Leo Lederer.
I. Budapest, 28. Dezember (1916.)
. . . dehnt sich die licbtdurchflutete Stadt, aufschaumend in der
Freude dieser Kronungstage. Der ganze ungarische Adel fill It
neben einem groflen Teil der wohlhabenden Provinziatbevul-
kerung die Hauptstadt; alle Hotels sind von unten bis oben
bcsetzt, zehntausend Privatziramer sind der Stadt zu dem be-
merkenswerten Preis von fttnfzig bis hundert Kronen far den
Tag zur VerfUgung gestellt worden. Aber sie reichen kaum
aus, die Wtlnsche der schaulustigen Ankommlinge zu befrie
digen. In der beliebten Konditorei Gerbaud aber drohen
die Damen und Herren des Landadels den friscbgebackenen
Kriegsmillionaren und ihren brillantenbedeckten Gattinnen die
ersessenen Platze wegzunehnien. Wohl tragt ein groBer
Teil der Hofgesellscb&fi seit dem Ableben Kaiser Franz [osefs
Trauer, aber von dem Wirken der „Liga fur Einfachheii , die
ungarische Damen als kriegsgemiiflc Kampfgesellschaft gegen
den Modeluxus gegrtindet baben, ist nicht gerade viel zu merken.
Hi ber und Zobel, glSnzenden Seal und sanften Chinchilla,
Breitschwanz und Marder hat die Liga vor dem Tode nichi
bewahren konnen.
DrauOen in den Straflen herrscht das voile GetUmmel eines
J a hrmar ktfes te s. Rot-weifl-grline Fahnen wehen liber der
Stadt: Oper und Parlament, Donaukai und AndrassystraCe
prangen im nationalen Schmuck. Kleine Knaben schwingen
die bunte Flagge mit der ungarischen Krone. Unverfalschter
Jubel und echie Ilerzensfreude gliinzen in den Augen. Es ist
wunderbar, wieviel Begeisterungsfiihigkeit, Lebensfreude unci
stiirmische Energie nach zweieinhalb Jahren Krieg, fleischlosen
Tagen und lichtlosen Niichten in dieser Nation noch lebt. . . .
In den Vorzimmern des Tronsaalcs. Vor dem Thronsessel
aber vereinigt sich die Abordnung des Reichstags im Feat
tagskleid der ungarischen Gala zu einem Bild edel*
ster, farbenfroher Kunst. Aus schwarzem Samt und goldenem
Brokat, aus silbernen Schnallen und funkelnden Agraffen,
aus weiflen Reihern und schwerem edlen Zobel , aus
ziselierten Wehrgehangen und amelhystgescbmUckten Schwert-
knaufen, aus einem unerhdrten Reichtum an Farben und an
Formen isl dieses Galakleid des Volkes gebildet, . , ,
Schmat und unheimlich wie eine Veuetianer Dotchklinge steckt
der rassige Korper Julius Andrassys in der Scheide seiner
schwarzen Mente. In der kirschrolen Gala des Wi liens zur
Macht stcht ihm sein Gegner Stephan Tisza gegentiber. . . .
Wir geben hinnttber in die GemScher der Kbnigin, Matter
leuchten die Kerzen. . . Nur wenig erhoht steht ein
goldener Sessel vor der Mitte der Wand. Und schon
tritt auch die Konigin ein.... Ist es die zarte
Rote der Erregung, ist es die gehaltene Lebens*
freude, die aus den dunkeln Augen leuchtet,
sind es die sanften Wellen ttber der weiflen zarien
Stirn, die sie schdner erscheinen lassen als alle
ihre Bilder? . . . Von dieser Konigin . . . geht ein Strom
von jugendlicher freudiger Daseinsbejahung aus, der
seinen Eindruck nicht verfehlt. Mit heller Stimme, die die
fremdartige Aussprache des Ungarischen fast noch wohl-
lau tender macht, nimmt auch die Konigin die Auf-
forderung des Fllrstprimas, sich kronen zu lassen, an. Sie
spricht dieselben Worte, die Konigin Elisabeth, angebetet von
der ganzen ungarischen Nation, vor nun bald ftlnfzig Jahren
bei dem gleichen Anlafl gesprochen hat Konigin Zita kann
die Rivalin dieser groflen Toten werden. Die alien Magnalen
und die j ungen Heiflsporne der Nation sind von ihrer
neuen Konigin begeistert. Die ganze ritterliche Liebe dieses
Volkes fiir die Frauen bricht in den jubelnden Eljenrufen los,
die den Worten der Kdnigin folgen.
„Man wird ihr nichts abschlagen konnen, u sagt resigniert ein
alter Magnat der Opposition.
„Berlincr Taqeblatt*', Chefrcdaktenr Theodor Wolff ,
2%. 12. 1916, Leifartikd.
Das Krdnungsfest und die Ratgeber des Kcinigs
vo n Ungarn,
Telegramm un seres Sonderberichtersta tiers Dr. Leo Lederer.
I. Budapest, 30, December (1916.)
Zwischen den miuelaherlich grauen Mauern der Ofener Festung
Buda hoch oben ttber der Donau drangt sich das Volk, die
DIE AKTION
101
wbtmtungro des Krdnungsschauspiels geniefJend. . . . Immer
jiol c* eiwas zu schauen und 2u gaffen. Mil einer unglaublichen
Sotgtait und LAebe, die die ganze Tiefe des ungarischen na-
lionalen Etopfindens offenbart, rllstet sich das Volk zur Kronung
seines Kotiigs und seiner Konigin. Das ganze Land blickt nach
det stolzen Olener Burg, alle Gedanken hangen in diesen
Tfcgen an der teuren heiligen Krone Stephans I., die
morgen Ko nig Carl aufs Haupt gesetzt werden soil. Unterdem
Donnei der Kanonen und dem Gelaute der Glocken hat man
da* kostbaie Heiligtura mil den anderen Kroninsignien heute
nachmittag aus dem streng behttieten, Tag und Nacht bewachten
Kronzimmer in die Kronungskirche iiberflihrt. Gleich einer
Priozessin hat man sie in einen goldenen Wagen gehoben, den
sechs schneeweiBe Pferdc mit golddurchwirktem Zaumzeug
ziehen. Honvedkavallerie eroffnet und beschlieBt den Zug,
Tnbanten und Kxonwache scharen sich um den Wagen, in
einer glasernen sechsspinnigen Kutsche folgen die Kronhtlter
Graft n Bela Szecheny und Graf Julius Ambrozy mit den Ver-
trelera des Konigs. Graf Karl Khuen Hedervary und Graf Aurel
Dessewffy, in gToSer ungarischer Gala der Krone. ... In
feierlichem Zuge zieht die alte Krone die Kronungsstrafie hinauf
2 nr Math i ask irche,
Zweimal hat man Generalprobe der Kronung in der Kirche ge
halten. Gestern hat der Bischof Nemes die Rolle des Konigs
dargestellt, heute ist der Kbnig selbst erschienen, morgen wird
sich das Schauspiel vor den Augen der ganzen Nation wieder-
holen. In seiner Buntheit und seiner Prunklust hat es dennoch
einen tiefen Sinn. Ewig neue Kraft slromt aus der heiligen,
geheimnisvollen Krone in die Seele des ungarischen Volkes. . . .
Berliner Tageblatt te , Chefrtdakfmr Theodor Wolff,
SO. 12 . 16 , Leifartikel.
KLEINER BRIEFKASTEN
Nina und Renate. Neue Bucherschein ungen ? In alien Buch
und Papiergeschiften, auf alien Bahnhofen liegt, hSngt oder
steht jetzt, 1917, im dritten Jahr des Wellkrieges cine I) ruck -
schrift mit dem Titel:
Der nachste
W e 1 1 k r i e g
Jawohl: der nachste Weltkrieg! Sowas konnle jemandschreihen,
das gibt'a I Der Verlag Wilhelm Borngraber, Berlin, hates auf
den Markt gebracht. Die Bauchbinde, die dem Buche umge-
legt worden ist, schreit :
Das wichtigste Buch der Gegenwart!
Begeistert ist jeder.der es gelesen hat!
Eine Mark.
Dr. Werner Klinkhardt, Verlag, Leipzig. Sie senden mir mit
der Bitte um freundliche Besprechung einen illustrierten Prospeki
zu, der fllr einen rUstigen Handwerker Kunden werben soil.
Bisher ist es nicht liblich gewesen, daB der ernste Verlags-
buchhandel solche Geschlftazirkulare als Kunstbficher ausgibt,
doch wie Sie wtlnschen. Also ich soli freundlich besprechen,
was Herr Carl Sung fiber den Betrieb eines „neudeutschen
HohscbnitzmeUlers" zu sagen hat. n Der Weg des Genies ist ein
steiler, oft dornenvoller Aufstieg, u Schbn. „Da kam der grofie
Krieg. Aber much unter seiner Einwirkung legte der Kfinstler
die Hande nicht mtlfiig in den SchoB. Er wandte sich dem
ungeheuren Geschehen , . . auf seine Weise nachdrllcklichst
zu. . . — n Es ist die lange Reihe unserer Feinde, die er in
einzelnen Typen mit scharfem Blick in ihrer Wesenheit
erfafit und geformt hat. Mebrere Male hat er sich schon an
diesem Vorwurf erprobt, und es ist erstaunlich, welch e
Falle von Einfallen der M e ister hier ausgestreut hat. . . . u
— . . . B Den Reigen erdffnet Kbnig Nikita, der Ftlrst der
schwarzen Berge, auf dem vielgenannien Hammel reitend,
er, der Konig der Hammeldiebe. . .
Das Buch bringt 21 Seiten Text und etwa ebensoviel Bildchen.
Der Preis, M. 3, ist allzu niedrig, verehrter Verlag.
Heim l)r. L. Haas-Karlsruhe, M. d. R. In einem Artikel, den
Herr Theodor Wolff im Morgenhl&it des „B, Ts.*‘ vom 20. 1, 1917
abgedruckt hat, schreiben Sie in zeitgemafier Weise ilber „Das
Nationalitatenprinzip. 1 ' Ich plane niebt, alle Ihre realpolitischen
Konstruklionen nachzuprtifen, aber ein Satz hat sich in die
Zeitungsbetrachtung eingeschlichen, den ich aus der ungeeigneten
L'mrahmung herausholen will :
„Eintrachtig undglucklich leben in der Sc h we i z Deutsche.
Franzosen und Italiener, und sie lehnen hoflich, wenn es d&raut
ankomrnt weniger hoflich, mil guten Gewehren und guten Kanonen
die Anwendung des Nationalitatenprinzips auf ihre
Helmut ab; sie denken nicht daran, sich an Deutschland,
Frankreich und Italien vertcilen zu lassen.* 1
Haben Sie, Herr Haas, nachgedacht, weshalb das mit der „Ein-
tracht“ der Schweiz wohl soisi? Haben Sie da rflber nachgedacht,
weshalb in Amerika Deutsche und Englander und Osterreicber
und luliener und Schweizer und Russen und Polen, kurz alle
„Nationen h eintrachtig nebeneinandar leben und sogar Amerika
als „Heimat" bttrachten? Ein Politiker sollte wissen, daS die
guten' 1 Gewehre und Kanonen der Schweiz nicht gegen
sondern i Ur das ,,Nationalitatenprinzip‘ l bestimmt sind, denn
gerade die Schweiz, Herr, ist, wenn auch nicht das absolute
Ideal so doch ein Beispiel, wie in einem Staatswesen, das ketn
Nanonalstaat ist, die Freiheit der verschiedenen ,,NationalitSten" ,
also das ^Naticn&litStenprinzip' 1 , gewahrt werden kann. (Nur
die Anwendung dieses Prinzips hilt Amerika und die Schweiz
zusammen.) Ubrigens, Herr Dr- Haas, schieben Sie bitte die
„Realpolitik‘' fllr einige Minuten beiseite und forschen Sie nach,
wie es eigentlich moglich war, dafi in Paris, London, Wien,
Berlin, Petersburg, Rom einst die gesamten ,,Nationalitaten‘
nebeneinander leben konnten. Oder forschen Sie lieber nicht
nach, denn sonst konnten Sie zu dem EntschluB kommen, ftirderhin
M realpolitische*' Aufsatze zu unterlassen.
O. St. Ich erinnere Sie an Balzacs Wort: „Auflerhalb der liter.v
rischen Welt gibt es keinen Menschen, der die schreckliche
Odyssee kennt, auf der man zu dem gelangt, was man je nach
den Talenten Beliebtheit, Mode, Ansehen, Renommee, Berllhmt-
heit, Popularity nennen raufl.“ (Balzac: ,, Talent und Journa-
li sinus", AKTION, JAHRGANG III, Heft 10.)
Elischewa K. in M. Ich kann Ihnen die AKTION erst senden,
wenn Sie mir Ihre Adresse mitteilen, Welche Hefte haben Sie
erhalten ?
Georg Davidsohn. Geduld. Die nachste AKTION bringt Franz
Werfels Auseinandersetzung mit dem Autor des „Verlages der
Schriftcn von Karl Kraus* 1 , dann wird Werfels Antwort auf Ihren
Brief erscheinen.Lesen Sie inzwischen: „Wiewerdeichenergisch :,,
G, G. Der Verlag der Schriften von Heinrich Mann (Kurt
Wolff) und der Verlag der Schriften von Max Brod (Kurt Wolff)
ist auch der Verlag der Schriften von usw. usw,
W. U. Von Carl Einsteins „Anmerkungen*‘ ist eine sehr kleine
Zah! von besonders leichten, broschierten Exemplaren hergestelh
worden, jedes Exemplar wiegt inkl. Verpackung 125 Gramm.
Diese Ausgabe, die schnell vergriffen sein diirfte, istnurdirekt
vom Verlage zu beziehen und kostet M, 1,10 bet Voreinsendung
des Betrages.
H. N. Die Biittenaasgabe der AKTION kostet jahrlich 40 Mark ;
von jedem Heft werden 100 Exemplare hergestelh und numeriert.
Probedrucke werden zur Ansicht versandt. Es ist wichtig, da II
jeder Freund ffir diese Ausgabe Abonnenten wirbt. Folgende
Neuerung erhtiht den Wert sehr: die Buttennbonnenten erhalten
im Laufe des jahres mindestens sechs Kunstblatter (Handdrucke,
Steindrucke, Original-Radierungen und - Lithograph ien). Diese
Blatter gelangen nicht in den Handel !
DER BOTTEN AUSGABE DIESES HEFTES
ist ein Kunstblatt von Felix Mtlllcr beigegeben, vom KUnstler
signiert und numeriert.
INHALT DER VOR1GEN NUMMER: Felix Miiller-Dresden : OriginaUiolzschniU (Titelhlatt) / Ludwig Rubiner; Ursprache
und die zwelte Erde / G. F. Nicolai: Der Familiensinn / Stursa (Prag): Aktstudie / Aus Turgen jews Briefwechsel mit Herzen /
R. Bampi: Die Last (Zeichnung) / Franz Werfel: Petr Beznitf / Beye: Der Zeitungsleser (Zeichnung) f Arthur Segal: Ori-
iin&lhofz$chnitt / Wilhelm Klemm: Zeichnung / Swinburne: Strophen aus , .Dolores' 1 (Nachdichtung von Alexander Freiherr
von Bern us / Walther Rilla: Ballade vom Gluck / Alfred Wolfenstein: Im Bestienhaus / Albert Ehrenstein; StoBseufzer /
Edief Koppen : Nachts im Zimmer / Heinrich Schaefer: Qual / Kurd Adler : januar / Hans Koch, Andre Suares und Mar-
guerite Schfirmann: Gedichte in FYosa / Ich schneide die Zeit aus / Kleiner Briefkasten
Fur Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten
Inha!t verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin-Wil-
mersdorf, Nassauische Strafie 17. Tel. Pfalzbg. 1605
Oedruckt bei F. E. Haag, Melle in Hannover.
Die AKTION erscheint jeden Sonnabend. Abonne-
ments kosten vierteljahrlich durch die Post, durch
Buchhandel oder Verlag (unter Kreuzb.) M. 2,50.
Ahonnemcnts fiir das Ausland kosten M. 3,—.
Buttenausg., lOOnumerierte Exempl., jahrl. M. 40,— .
Verlag der AKTION, Berlin-Wilmersdorf.
Unverlangten Manuskripten
ist Riickporto beizufugen.
Alle Rechte vorbehalten.
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WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, UTERATUR, KUN8T
YD. JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERTNR. 3,
IN HALT : Homeyer: Der Maler Chagall (Titelblatt) / Charles P£guy : Persdnliche Erinnerungen anjturte / Wilhelm Morgner:
Federzdchnung / Q. F. Nicolai : Das Rassen problem / R, Bampi: Tuschzeichnung / Richter-Berlin : Macedonische Zigeuner
(Oririnal-Holzschnitt) / Osio Koffler: Der Ahne (Zeichnung) / Carl Einstein : Heimkehr / Karl Otten : Oesicht / Josef Capek (Prag):
Zeichnung / Albert Ehrenstein: Oedicht / Heinrich Schaefer: Zustand / Oskar Kanehl und Theodor Rudy: Verse vom Schlacnt-
feld / Xaver: Caligulas Tod / Hoerle: Holzschnitt / Franz Werfel: Die Metaphysik des Drehs. Ein offener Brief an Karl
Kraus / F. P.: Ich scnneide die Zeit aus; Kleiner Briefkasten
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AKTIONS-BUCHER DER AETERNISTEN
Band I :
FERDINAND HARDEKOPF
Lesestiicke
Band 2 :
CARL EINSTEIN
An merkungen
Band 3:
FRANZ JUNG
Opfcrung
Band 4:
FRANZ JUNG
Saul
Band ^ :
CARL EINSTEIN
B e b u q u i n
Band t, 2 und 4 kosten gebunden je M. 2, —
Band 3 und 5 kosten gebunden je M. 3,“
POLITISCHE AKTIONS-BIBLIOTHEK
Erstes Werk
ALEXANDER HERZEN
Erinnerungen
Deutsch von Otto Buek
Zwei Bande. (446 und 338 Seiten.) Mit
drei Portrats
Gebunden M, 12,50, broschiert M. 10, —
Filr Abonnenten der AKTION
nur direkt vom Verlage :
M. 8, — geb., M. 5, — broschiert
Zweites Werk:
LUDWIG RUBINER
Der Mensch in der Mitte
M. 3-
VERLAG DIE AKTION
DIE A K T I O N S
Band 1 :
L Y R I K
1914 — 1916
Fane Anthologie
Band 2;
JONGSTE TSCHECHISCHE LYRIK
Fine Anthologie
WILHELM
Verse
und
K L E M M
B i 1 d e r
Luxusausgabe M. 15,
A
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Sophie. Der Kreuzweg der Demut
Ein Roman. Geb. M. 3, — , geh. M. 2, —
Jeder Band gebunden M. 3,
VERLAG DIE AKTION
A N Z M E H
N G
EMILE ZOLAS ROMANE
Die Lessinglegende
Gebunden M. 3,10
Die Geschichte der deutschen
Sozialdemokratie
Vier Bande gebunden M. 20, —
1807 — 1812. Von Tilsit nach Tauroggen.
1 8 1 3 — 1816. Von Kalisch nach Karlsbad.
Jeder Band gebunden M. i,io
Fruchtbarkeit
Wahr h ei t
Arbe i t
Lourdes
Rom
Paris
Das Geld
Doktor Pascal
Der Zusammenbruch
Jeder Band in Leinen gebunden M- 4,
Verlag J, H. W. Dietz N ac hf., Stuttgart
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“ u K '
WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR, KUNST
7. JAHRGANG HERAUSGEG EB EN VO N FRANZ PFEMFERT 3. MAR2 1917
PERSONLICHE ERINNERUNGEN AN JAURfeS
Von Charles Pegny
Jaures 1905
Als Band 6 der AKTIONSBUCHER DER
AETERNISTEN wird Peguy: »Aufsatze" er-
scheinen. Dies ist ein Probest uck aus dem
Buche.
Wer hatte sich ihm nicht angeschlossen ? Und
wer, ihm angeschlossen, hatte sich nicht gehaiten
gefiihlt? Sein alter und gerechter Ruhm aus der
aiten Dreyfusaffare, der seinen alteren, seinen
nicht minder gerechten Sozialistenruhm vermehrte,
verdoppelte, umgab ihn nun noch mit dem Glanze
der Gute. Das war die Zeit, wo es offenkundig
wurde, daB Jaures gut war. Die Andren
konnten ihm andere Vorztige bestreiten, aber am
Ende hieB es stets; Er ist gut; man muB es ihm
lassen, er ist gut — Und das war auch die vier
Jahre wahrende Zeit, wo er, nicht mehr Deputier-
ter, aus der parlamentarischen Welt, ja beinahe aus
der ganzen politischen Welt ausgeschieden, in die-
sem Lande eine Stellung einnahm, die er niemals
wiedererlangt hat. Das war der gute FuBgiinger
und gute Plauderer Jaures, nicht der erhitzte, ver-
schwitzte Jaures der rauchigen Versammiungen,
noch dergerotete und leider arg mondane Jaures
der Salons der Vert eidigung der Republik; sondern
ein Jaures der freien Luft und der Herbstwalder,
wie er gewesen ware, wenn sich ihm niemals das
Unheil genaht hatte, ein Jaures, dessen Schritt auf
dem festen Boden der LandstraBe widerhallte. Ein
Jaures der lichten Morgennebel, deren Schimmer
den Fruh herbs t verschont.
Ein Jaures, der, wiewohl von den Berghangen der
Cevennen, von den Ufem der Garonne zu uns
gekommen, die vollkommene Schonheit der fran-
zosischen Landschaft restlos wurdigte. Ein
Jaures, der diese herrlichen herbstgoldenen Baume
der Ile-de-France bewunderte, zu sehn und anzu-
sehn verstand. Ein Jaures, der auf der Brucke
von Suresnes ans schlanke Gelander aus GuBeisen
oder sonst einem Metall gelehnt, den Blick gegen
Puteaux gerichtet, als moderner Beschauer die
ganze neuzeitliche industrielle Schonheit dieser
Seine-Partie zu bewundern wuBte; oder er stand,
von der anderen Seite aus betrachtend, das Ge-
sicht dem Strom e zugewendet, schaute, staunte,
beobachtete, sah, wie nur ein Franzose es zu sehen
vermag, die edelgeformten Windungen des Stro-
mes, der von der wundervollen Kammlinie der
Hugel herniederfloB. Er erklarte mir all dies.
Immer erklarte er alles. Er verstand wundervoll
zu erklaren, mit logischen, beredten, beweisenden
Griinden; zwingend. Das war es, was ihn verfiihrt
hat. Ein Mann, der solch hervorragende Gabe
des Erklarens besitzt, ist reif fiir jede Art von Ka-
pitulation; Kapitulationen bestehn im wesentlichen
darin, dafi man zu erklaren anfangt, statt zu han-
deln. Die Feigen sind Menschen, die von Erkla-
rungen uberstromen.
Ich babe einen poetischen Jaures gekannt. Eine
alte gemeinsame Bewunderung, zum Teil von
unseren Universitatsstudien herriihrend, verband
uns in dem gleichen Kultus der Klassiker und der
groBen Dichter. Er verstand Latein; er verstand
Griechisch, Er wuBte ungeheuer viel auswendig.
Ich habe das hohe Gluck genossen — und das ist
nicht jedermann zuteil geworden, — das Gluck,
dem vortragenden, deklamierenden Jaures zur
Seite zu gehn. Wie viele denn haben die Dichter
durch die machtig hallende Stimme Jaures kennen
gelernt? Racine und Corneille, Hugo und Vigny,
Lamartine und die Bbrigen, bis herab zu Villon:
er kannte alles, wovon man nur wuBte. Und er
kannte ungeheuer viel, wovon man nichts weiB.
Die ganze Phadra, w r ie mir schien, den ganzen
Polyeucte. Und Athalie. Und den Cid. Er ware
ein groBartiger Mounet gewesen, wenn das widrige
Schicksal sich nicht darauf versteift hatte, einen
Politiker aus ihm zu machen. Er war zum Klassi-
schen mehr durch eine toulousanische Neigung
fiir romische Beredsamkeit gekommen, wahrend
ich vielleicht mehr durch eine franzosische Nei-
gung fiir griechische Reinheit dazu gelangt sein
diirfte. Doch zu jener Zeit vertiefte man nicht
diese leichten Meinungsverschiedenheiten, Die
Geister waren in Einigkeit. Man blickte nicht alles
so kritisch an. Sosehr er urspriinglich Toulou-
saner war, er erhob sich leicht, natiirlich voll-
kommen zum Verstandnis und zum Geschmack
der ausgezeichneten Dichter aus dem Loi retale
und dessen Umgebung, welche die Essenz fran-
zdsischer Genialitat darstellen: du Bellay, der un-
sterbliche Ronsard. Er kannte die Sonette:
„Wenn du einst alt bist**, „Im Abendlicht der
Kerzen“. Wolle Gott, daB diese kompromittie-
renden Enthiillungen seinem politischen Ruhme
nicht zu sehr schaden. Es gab nur dann MiBtone,
wenn er sich erinnerte, daB er, der in der Normal-
schule ehemals ein ausgezeichneter Philosophie-
dozent gewesen war, es unternahm, den Philoso-
phen zu spielen. Dann nahmen diese Unterhal-
107
DIE AKTION
108
tungen bose Wendungen. Eines Tages hatte ich
das Ungeschick, ihm zu sagen, daB wir sehr regel-
maBig die Vorlesungen des Herrn Bergson am
College von Frankreich, zumindest die Freitag-
vorlesungen, besuchten, und ich beging die Un-
klugheit, ihm anzudeuten, daB man sie gehort
haben miiBte, um halbwegs im laufenden zu sein
iiber das, was vorgehe. Allsogleich in weniger
als dreizehn Minuten, hatte er mir einen Vortrag
iiber die Philosophic Bergsons gehalten, von der
er auch nur das erste Wort nicht kannte oder
nicht verstanden hatte. Bestimmt nicht. Doch er
war der Promotionskollege von Herrn Bergson in
der alten Normalschule, in der hoheren, gewesen.
— Dies war einer der Palle, wo er mich zu beun-
ruhigen anting. Das geniigte ihm. —
Er war so beredt, daB er oft, ohne es zu wollen,
stehenblieb, um noch beredter zu sein; und ob
er nun ging oder stand, machten die Leute in der
Stadt oft halt, um ihn sprechen zu sehn. Nicht
alle kannten ihn, obwohl er der beriihmteste Mann
in Frankreich war und damals im Zenit seines
Ruhmes stand.
In jenen Tagen, zur Zeit Ronsards und Heredias,
pflegte Jaures zu mir zu sagen: Sie, Peguy, Sie
haben einen Fehler. Sie haben die Manic, sich
das Leben von jedem Menschen ganz anders aus-
zudenken, als der Besitzer selbst es sich einteilt;
und an seiner statt fur ihn es einzuteilen. — Das
ist, well ich als einfacher Burger den notigen
Abstand habe. Mitten im einfachen Volke stehend,
sehc ich wie jedermann vide Dinge, welche die
QroBen nicht sehen.
Das letzte Mai, da ich Jaures in diesen Verhait-
nissen gesehn habe, und ich habe ihn seitdem
nie mehr, auch nicht in anderen Verhaltnissen ge-
sehn, war just wahrend der Monate, da er die
Zeitung vorbereitete, welche die „Humanite
worden ist. Die alten Leute entsinnen sich noch,
was alles man von dieser in Bildung begriffenen
Zeitung erhoffte. Die Zeitung Jaures’ l Inspateren
Jahren hatte man genug davon, Seit Jahren wuBte
man es, hatte man davon gesprochen, daB Jaures
einmal seine Zeitung griinden wurde. Nun end-
lich wurde man sic haben, sehn, wiirde man die
Zeitung Jaures’ wirklich zu sehn bekommen, Man
wartete. Man durfte nichts reden. Das wiirde eine
Zeitung sein, wie man noch nie eine gesehn hatte.
Die Zeitung Jaures’ eben. Das Wort sagte alles.
Das Wort gait alles. Man wiirde schaun, was
fiir ein Biatt die Zeitung Jaures’ sein wurde. Die
Anteilscheine liefen um.
In dieser Zeit geschah es, daB mir eines
Tages die Drucker, als ich kurz nach dem
Friihstiick in die Druckerei kam, sagten: Den-
ken Sie sich, Jaures war hier und hat nach
Ihnen gefragt! Sie waren nicht wenig stolz, die
Drucker, mir diese Botschaft zu iibermittein, weil
die Verehrung, welche einstmals die Untertanen
fiir den Konig von Frankreich hatten, nichts im
Vergleiche mit den Gefiihlen war, welche unsere
modernen Biirger fiir die grofien Fiihrer ihrer
Demokratie hegten,
Es war damals schon lange, daB ich Jaures, nach-
dem er wieder Deputierter geworden, nicht ge-
sehn hatte. Seine Kapitulation vor der Demago-
gie der Combisten und bald darauf seine Verbin-
dung mit ihr hatten endgiiltig eine Trennung voll-
zogen, deren Anfange in das Entstehungsstadium
unserer ersten Beziehungen zuriickreichten. Im-
merhin sagte ich mir, als die Drucker mir so be-
richteten, Jaures hatte nach mir gefragt, daB ich
schlieBlich der Jiingere war, ein ganz junger
Mensch im Vergleich mit ihm, daB ich ihm dem-
zufolge Achtung schuldete, daB ich auf seinen
ersten Schritt eingehen miiBte, daB unsere friihe-
ren Beziehungen niemals anders als hochst acht-
bar und untadelig gewesen waren, daB sie mir
stets in wertvoller Erinnerung bleiben wiirden —
daB ich mithin den zweiten Schritt machen miiBte.
Ich stellte mich bei ihm ein. Etwa am folgenden
Tage. Ich glaubte, daB er mir etwas zu sagen
haben werde. Er hatte es nicht. Er war ein ganz
anderer Mann. Gealtert, verandert, um Gott weiB
wieviel. Diese letzte Zusammenkunft war recht
unglueklich. Es ist etwas sehr Trauriges, w f enn
zwei Menschen, welche ein Stuck Leben miteinan-
der gelebt haben, nach einer langen, endgiiltigen
Trennung aus eigenem Antriebe oder durch die
Geschehnisse in die auBerliche Form dieses frii-
heren Lebens zuriickversetzt werden. Kein an-
derer Umstand wie eine derartige Wiederannahe-
rung grabt die eitle Staubesspur verfehlter Schick-
sale so tief ins Herz. Er ging. Ich begleitete ihn
trotz allem. Wir gingen zu FuB. Er trug Briefe
zur Post; oder Telegramme. Wir gingen, wir gin-
gen dahin durch die frostigen StraBen des 16. Be-
zirkes. Bei der Statue von La Fayette oder dort
in der Nahe hielt er einen Wagen an, um eine
Fahrt zu machen. Im Augenblick der Trennung
fiihlte ich wohl, daB es das letzte Mai sein wurde.
Eine tiefe Bewegung, fast Reue, machte es mir
unmoglich, ihn so zu verlassen. Im Moment die-
ses letzten Handedrucks kam ich auf das zuriick,
was seit dem vorigen Tage und seit dem Beginne
des Besuchs mein Gedanke gewesen war; ich sagte
zu ihm; Ich habe geglaubt, daB Sie mich gestern
in der Druckerei wegen Ihrer Zeitung aufgesucht
haben. — Etwas iibersturzt erwiderte er: Nein. —
Wenige Augenblicke vorher hatte er in erschopf-
tem l one gesagt: Ich mache Wege, Besuche. —
Er war und sah miide aus. — Die Leute wollen
nicht vorwarts. Die Leute sind miide. Die Leute
taugen nicht viel. Er war ermattet, gebeugt, ver-
braucht. Ich habe niemals etwas oder jemanden
so traurig, so trostlos, so untrostbar gesehn wie
diesen professionellen Optimisten,
Hatte er schon damals oder vielleicht schon seit
einiger Zeit, eben durch jene unternommenen
Schritte ein Vorgefiihl von dem bitteren Leben,
in das er eintrat? Dieser Tag, diese Zeit hatte eine
entscheidende Bedeutung in seinem Leben. Zum
letzten Male verlieB er das freie Leben, das ehr-
bare Leben, das Freiluftleben des einfachen Bur-
gers; das letzte Mai, unwiderruflich, er ging hin,
um unterzutauchen, um den Kopfsprung in die
Politik zu machen. Er war von einer groBen Trau-
rigkeit befallen. Er war Zeuge seines eigenen
DEE AKTION
110
m
Untergangs. Und da er von Natur aus beredsam
v?ar, beklagte er sich in seinem Herzen in bered-
tesler Weise. Die Hand in seinem Haare lieB die
Strahnen i\attem. Ich sagte zu ihm: Horen Sie
mich an. Sie wissen wohl, daB ich nicht verlange,
\hrer Zeitung beizutreten. Mein Leben gehort
ganz den „Heften M . Aber ich habe neben mir —
oder besser gesagt — es arbeitet an den Heften
eine Reibe junger Leute mit, die Sie beitreten
lassen kdnnten. Sie sind keineswegs beriihmt
Sie laufen dem Ruhme nicht nach. Doch sie sind
emst. Und sie haben die Tugend, welche in
den modemen Zeiten am allerseltensten geworden
ist: die Treue. Es ist nicht Treue, wodurch die
Manner Ihrer Umgebung glanzen. Hier aber, —
Sie wissen, welche Krisen, welche Note die
„Hefte“ seit fiinf Jahren durchgemacht haben:
nicht einer meiner Mitarbeiter hat mich im Stich
gelassen. So etwas ist mehr wert als alles, was
ich veroffentlicht habe. Es ist zweifellos das erste
Mai seit dem Beginne der dritten Republik, daB
so etwas vorkommt
Er war verlegen. Ich fuhr fort: Glauben Sie zum
Beispiel, daB es so ganz sinnlos ware, wenn Sie
den Anfang damit machten, den „Coste“ von La-
vergne im Fenilleton zu bringen? Nun begann
er mit verzweifelter Miene die Arme gegen den
Himmel zu erheben: Sie wissen genau, wie das ist
Ich hat te mein Personal vollzahlig, bevor ich an-
ting. Es ist leichter, Mitarbeiter als Kommandi-
tare zu finden.
Ich wuBte alles. Ein letzter Handedruck. Er stieg
schwer, wie gebrochen, in seine Bummeldroschke
ein. Seither habe ich ihn nicht wiedergesehen.
Ich habe also nie erfahren konnen, warum er am
Vortage plotzlich, nach einer tangen Pause und
ohne Ankundigung mich in der Druckerei auf-
gesucht hatte. Vielleicht war es im Augenblick vor
dem Wagnis, knapp vor dem entscheidenden
Schritt ins Unvermeidliche, ein geheimes Bedau-
ern, ein leiser GewissensbiB ? Im Augenblick des
Abschieds fur immer von einem Land, wo er
etwas Gluck und etwas Gewissensruhe gefunden
hatte, knapp vor dem Obergang in den Morast der
Politik, in die Sumpfe, ins Brackwasser der Tief-
ebene, ein letzter Grufi, eine letzte Gcsundheit,
eine letzte Fahrt ins alte Land der wahren Freund-
schaft.
(Autorisierte Ubersetzung von Gustav Schlein)
DAS RASSENPROBLEM
Von G. F. Nicolai
Die Rassenfrage ist eines der traurigsien Kapitel
tnenschlicher Wissenschaft, denn nirgends sonst
hat man — bewuBt oder unbewuBt — die „vor-
urteilslose** Wissenschaft so often in den Dienst
politischer Bestrebungen gestellt; wofur die Bu-
cher des Angfo-Deutschen Houston-Stewart Cham-
ber/am ein Beispiel sind. Bekanntlich hat dieser
Autor den Versuch gemacht, alle bedeutenden
Menschen der Weltgeschichte — inkl. Christus
und Dante fur di e g^rmanische Rasse zu rekla-
miere/i.
Betrachten wir aber die Grundtage, auf denen
diese Rassentheorien stehen, so sind sie recht
schwach :
1. ist es im allgemeinen nicht erwiesen, daB eine
reine Rasse besser sei als eine gemischte;
2, ist es im einzelnen unmoglich zu definieren,
was eine Menschenrasse sei.
Was den Wert einer reinen Rasse betrifft, so sagt
man, ein Rassehund sei wertvoller als ein StraBen-
koter. Und diese Tatsache hat wohl die eigen-
artige Meinung zur Folge gehabt, nach der auch
der reinrassige Mensch wertvoller sei als der ge-
misch trass ige.
Bei den Hunden, in geringerem MaBe auch bei
anderen Haustieren, ist diese Bewertung verstand-
lich, hat sich doch der Mensch aus der urspriing-
lichen Hunderasse allmahlich das zurechtgeziich-
tet, was er brauchte oder liebte. So zuchtete er
eine kleine und lange Rasse, mit krummen zum
Graben geeigneten Beinen, mutig, kraftig und
raubgierig — den Dachshund, den er zur Jagd
auf hohienbewohnende Tiere benutzte. Eine an-
dere Rasse zuchtete er sich groB und schlank,
mit langen Beinen — die Windhunde, die ihm die
Hasen jagten, und ahnlich hat er sich wachsame
Spitze, feinnasige Vorstehhunde, auf den Mann
dressierte Doggen bis hinauf zu den menschen-
rettenden Bernhardinern gezogen.
jede dieser Rassen hat nur ganz bestimmte Eigen-
schaften, wahrend die anderen verkummert sind,
so kann der Windhund nicht riechen, der Dackel
nicht gehorchen, und die Doggen sind bissig. Kurz,
biologisch sind diese reinrassigen Hunde durch-
aus nicht besonders giinstig veranlagt, aber der
Mensch will sie nun einmal so und deshalb er-
scheinen ihm Kreuzungen, bei denen die Spezia-
litat der einzelnen Hunde natiirlich verwischt ist,
als minderwertig.
DaB aber in rein biologischer Beziehung die rei-
nen Rassehunde minderwertig sind, geht schon
daraus hervor, daB gerade die hochst geziich-
teten meist ziemlich schnell wieder aussterben,
so haben die Bernhardiner nur vier Generationen
erlebt, und auch reine Mopse gibt es nicht mehr,
Wilhelm Morgnet * Landtchaft
Ill
DIE AKTION
112
#<
aber dafiir kommen immer wieder neue „reine
Rassen auf.
Bemerkenswert ist es allerdings, daB man die
Polizeihunde, die ihrer Aufgabe nach „vielge-
wandt“ sein miissen, nicht reinrassig nennt.
Reine Rassen sind eben nur dort zu gebrauchen,
wo es sich um Sepzialzwecke handelt und da man
nur den Hund zu so vielfachen, seiner Natur nach
eigentlich fern gelegenen Zwecken verwendet, so
hat der Begriff der reinen Rasse vornehmlich
beim Hunde Wert und Bedeutung.
Bei alien anderen Haustieren — (Pferden, Kiihen,
Ziegen, Schweinen usw.) ist gerade die kunst-
gerechte Kreuzung, die Veredelung, wie der Ziich-
ter sagt, die Hauptsache. Und selbst, wo man
im ganzen eine einigermaBen reine Rasse ziichtet,
muB man von Zeit zu Zeit das Blut auffrischen.
Nur die zum Sport (resp. in praktischer Beziehung
hauptsachlich gerade zur immer von neuem er-
folgenden Veredelung) gehaltenen Rennpferde und
einige Taubenspielereien machen Ausnahmen —
aber als Gebrauchspferd ist eben nur das Halb-
blut verwendbar.
Im Tierreich finden wir also kaum eine Stiitze
fur den Satz, daB die reinrassigen Volker vorzu-
ziehen seien und unter den Menschen konnen wir
gar keine Stiitze dafiir finden, weil es hier — ab-
gesehen vielleicht von einigen sehr tiefstehenden
Volkem — iiberhaupt keine reinen Rassen gibt.
In Europa wenigstens bilden alle Nationen ein
„Volkerchaos“.
Aber wenn man selbst sagte: Gut, die Volker
sind einmaf durch Mischung entstanden, aber nun
bildete sich eben aus diesen Kreuzungen im Laufe
der Zeit eine einheitliche Rasse, und diese alten
Rassen sind wertvoller als die jungen Mischungen,
so entspricht dies nicht den Tatsachen. Im Ge-
genteil, es ist eine merkwiirdige Erscheinung, daB
alle Volker, die groB geworden sind, in ihren
Sagen erzahlen, sie seien als Eroberer in ihr jet-
ziges Land gekommen, was zweifellos die Erinne-
rung an die immer wieder bestatigte Tatsache ist,
Die Schwangere
daB sich machtige Volker, die der Welt etwas
Neues zu sagen haben, immer dort bilden, wo
zwei Volkerfluten zusammenstoBen und sich ein
neues Reich erhebt. Es gilt dies auch fur die alten
Reiche des Ostens, aber um nur bei Europa zu
bleiben, aus jener groBen Volkerbewegung, die
wir als die dorische Wanderung und die grie-
chische Ko Ionisation des Mittelmeeres bezeich-
nen, ging Hellas und Rom hervor (Roms Weltreich
noch in ganz direktem AnschluB an die etrus-
kischen Wanderungen), aus den Sturmen der
Volkerwan derung bildete sich Deutschlands
mittelalterliches Weltreich. . . Aus den Araber-
ziigen ging in Spanien, (also nicht im Mutter-
lande!) das in jeder Beziehung bedeutsamste der
arabischen Reiche hervor und spater das spani-
sche Weltreich. Die Normannenziige des zehn-
ten Jahrhunderts nach Frankreich und England
wurden AnstoB fur die GroBe dieser Lander.
Dort, wo die aus dem German envorstoB des
zehnten bis zwolften Jahrhunderts iiber die Ost-
mark hinaus resultierende Mischung mit den unter-
worfenen Slawen am intensivsten war, entstand
PreuBen. In RuBland aber wurden um 1400 die
Slawen mit den Mongolen gemischt und seit-
dem bewegt sich dies Volk in aufsteigender
Linie.
DaB es nicht immer nur die Blutmischung ist, son-
dern daB auch die Aufriittelung schlummernder
Energien eine Rolle spielt, ist moglich, aber
jedenfalls widerlegt schon diese kurze Zusammen-
stellung die Vorstellung, als waren altere Rassen
irgendwie bevorzugt, —
Und wem diese alten Geschichten zu fern liegen,
der braucht nur auf die beispiellose Entwicklung
Amerikas zu blicken, wo unter unsern Augen aus
den zum Teil doch minderwertigen Absplit-
terungen des alten Europas mit allerdings
geringem, aber doch nicht zu verachtendem Ein-
schlag von Neger- und Indianerblut ein junges
lebensstarkes Volk entsteht. Ein Volk, das man
nicht mit Unrecht die neue Welt nennen kann.
Jedenfalls darf man ganz objektiv behaupten, der
Vorzug einer reinen Menschenrasse vor einer ge-
mischten ist durch nichts erwiesen oder auch nur
wahrscheinlich.
Was nun die Unterscheidung der einzelnen Rassen
anlangt, so ist es das Schlimme, daB wir kein ein-
deutiges Kriterium fiir die Definition einer Rasse
besitzen: Man hat deshalb alles mogliche heran-
gezogen, man hat versucht, durch historische
Fors chung die Menschen in Gemeinschaften glei-
cher Abstammung zu sondern, man hat sprach-
liche Verwandtschaften sowie andere kultu-
relle Ahnlichkeiten und Unterschiede herangezo-
gen und man hat endlich Rassen zu definieren
versucht auf Grund korperlicher Eigenschaf-
ten. Alles mit einer gewissen Berechtigung und
auch mit einem scheinbaren Erfolg, wenn wir uns
eben nur einseitig auf die betreffende Spezial-
forschung stutzen. Aber leider stimmen die auf
solch verschiedene Weise zusammengefaBten Vol-
kergruppen nicht uberein.
Es gibt historisch beglaubigte Volker, wie z. B.
42 . Bampi
113
DIE AKTION
114
die Germane n der Volkerwanderung, deren eigentlich entscheidend i$t, so kann sich jeder das
Nachkommen man aber in Italien und Afrika, in fur seine Sonderwunsche Passende heraussuchen,
Spanien und Byzanz suchen konnte. und was schlimmer ist und zu heilloser Verwiming
E s gibt sprachliche Gemeinschaften, wie z. B. gefuhrt hat: jeder, der auf Grund einseitiger Merk-
die „Deutschen“, zu der neben Germanen auch male ein „Vo!k“ abgegrenzt hat, versucht auch
Slawen und Kelten, ja Neger und Mongolen die anderen Merkmale dem anzupassen. So hat
gehoren. man gemeinschaftiiche Artmerkmale in dem gan-
Endlich gibt es anthropotogische Rassen wie z. B, zen Gebiet finden wollen, das einst von den StQr<
den langkdpfigen Nordtypus der Europaer, men der Volkerwanderung erschiittert wurde, man
der im wesentlichen um die Ost- und Nordsee hat das deutsche Oder slawische Sprachgeblet als
(mit Ausnahme von Potnmern, Westpreufien und Rasse zusammenfassen wollen und man hat die
Finnland) wohnt. Juden resp. Germanen als Kulturgemeinschaft auf-
Da nun niemand weifi, welche Methode fassen wollen.
115
DIE AKTION
116
Vor allem ist die historische Forschung zur
Erhebung sinnloser Anspriiche miBbraucht wor-
den.
Nun ist aber gerade die historische Forschung
fur die Rassenfrage vollig belanglos, denn wenn
in einem von Millionen bewohnten Oebiet auch nur
ein einziger Vertreter einer fremden Rasse iibrig-
geblieben resp. eingewandert ist, und dieser ein-
zige hat ^ravalierende 14 Artmerkmale (d. h. sol-
che Eigenschaften, die sich bei einer Kreuzung
mit Vcrtretern andcrer Rasse unbedingt vererben),
so wiirde durch fortgesetzte Kreuzung in we*
nigen Jahrhunderten die gesamte Bevolkerung
diese Merkmale des Einen besitzen.
Um dies einzusehen, mu!5 man bedenken, daB
(bei je 4 Kindern) ein Mensch in der 5. Generation
(also nach 125 Jahren) tausend Nachkommen hat;
nach 250 Jahren ist’s eine Million und nach 375
Jahren wiirde seine Nachkommenschaft annahernd
der Zahl aller lebenden Menschen entsprechen.
Die historische Tatsache, daB ein Volk zu einer
gegebenen Zeit reinrassig war und seitdem keine
wesentliche Zumischung fremden Blutes in sich
aufgenommen hat, ist also nur von relativ geringer
Bedeutung.
Ebenso hat die Sprachforschung zu nichts ge-
fiihrt, denn wir wissen, daB Volker unter Um-
standen in ganz kurzer Zeit eine neue Sprache
fast restlos annehmen, so sprechen z. B. die Sla-
wen der ostelbischen Provinzen fast liberal! gut
deutsch. Die urspriinglich turkisch - tatarischen
Bulgaren wurden von slawischer Kultur und Spra-
che so durchdrungen, daB sie jedes BewuBlsein
ihrer Abstammung verloren haben, umgekehrt sind
die in Gricchenland eingedrungenen Slawen vollig
hellenisiert worden.
Auch die Gothen in Spanien und der Lombardei
haben ihr Germanentum schnell und restlos ver-
gessen. Diese Liste konnte man beliebig ver-
langern. Dies el be schnelle Veranderlichkeit wie
in der Sprache kommt in noch hoherem Grade
alien anderen Kultureinrichtungen zu.
Der Ahne
Das Studium korperlicher Merkmale, das bei
Tieren fast ausschlieBlich zur Unterscheidung der
Arten dient, ist auch beim Menschen das einzige,
das wirklich greifbare Resultate gibt, und hat sich
auch bei der Unterscheidung der groBen Meti-
schenrassen in Weifie und Schwarze, Gelbe und
Rote gut bcwahrt. Bei der Abgrenzung der kleinen
europaischen Untervarietaten, die man oft genug
auch als Rassen bezeichnet, hat sie im wesent-
lichen versagt. Denn:
1. waren diese Volker wahrscheinlich iiberhaupt
niemals echte Varietaten, sie hatten keine Gelegen-
heit, sich dazu zu entwickeln, weil sie erst in rela-
tiv spaterer Zeit sich von dem gemeinsamen Stamm
der sogenannten indogermanischen Rasse abge-
spalten haben;
2. wird das Studium wesentlich erschwert, weil
man nicht weiB, ob die in Europa vorhandene
Urrasse, auf welche die Einwanderer stieBen, ho-
mogen war oder nicht. Gerade dieser Punkt
jedoch wird eine bessere Kenntnis der prahisto-
rischen Funde allmahlich aufklaren;
3. und das ist der Hauptpunkt, hat in historischer
Zeit eine so intensive Durchmischung stattgefun-
den, daB man liberal! nur noch Trummer der ein-
zelnen Volker erwarten darf.
Roms Legionen drangen zum Pontus, zur Ultima
Thule und weit iiber den Limes hinaus, und was
mehr ist, sie kolonisierten in hohem Mafie, wovon
z. B. die durchweg romischen Namen rheinischer
Stadte und die haufig genug romischen Profile
der rheinischen Madchen beredtes Zeugnis ab*
legen.
Dann sprengten schon vor der Volkerwanderung
kimbrische Horden weit nach Suden, es folgte
die Zeit, in der Germanen als romische Soldner
den Erdkreis durchzogen, bis sie endlich in der
Volkerwanderung als selbstandige Volker ganz
Europa durch wand crten. Und diese Volkerwan-
derungen haben nicht aufgehdrt, besonders im
ostlichen Zentraleuropa zwischen dem 15. und
30. Langengrad, also etwa in dem Balkan und in
dem iiber ihm aufgebauten Viereck (mit den Ecken
Stettin, Triest, St. Petersburg und Konstantinopel)
fanden Volkerverschiebungen statt, von denen die
kurlandischen und Siebenbiirgener Deutschen im
slawischen und rumanischen, die Szekler Magya-
ren im osmanischen, die Wenden und Tschechen
im deutschen Gebiet Zeugnis ablegen.
Aber auch sonst brachte Krieg und Frieden viel
Abwechslung. Geschlagen haben sich speziell
in Deutschland alle Volker Europas und der um-
liegenden Gegenden, ink!. Mongolen und Mores-
ken, Finnen und Magyaren. Aber viele von ihnen,
vor allem Spanier und Franzosen, Schweden und
Polen lagen oft lange in Deutschland, umgekehrt
lagen deutsche und Schweizer Landsknechte in
der ganzen Welt in Garnison und zeugten mit
oder ohne Gewalt Nachkommen.
Zu diesen sich aus der Historie ergebenden
Schwierigkeiten kommt eine weitere biologische
Schwierigkeit. An sich ist z. B. die Schadelfor-
schung eine ganz exakte Methode, nur wissen wir
nicht, ob und warum die Schadelmerkmale (eben-
Oaio Koffler
DIE AKTION
so wie and ere korperiiche Eigenschaften) variabcl
smd. W enn z. B. s wie durch Schadelfunde und sta-
tistische Aufnahmen leicht festgestellt werden
kann t in Deutschland die Rundkopfigkert, resp.
der brunette Typus allmahlich zunimmt, oderwenn
in Amerika unter den Weifien ein gewisser Indi-
anertypus neuerdings haufiger wird, so wissen
wir nicht, rum mindesten konnen wir es den Scha-
de\n nicht ansehen, ob dies darauf beruht, dafi ein
anfanglich in der Mtnderzahl vorhandener Volks-
bestandteil mit pravalenten Merkmalen (brunette
Rundkopfe oder echte Indianer) allmahlich „durch-
schlagt“, oder ob es sich dabei um Anpassungs-
erscheinungen an gewisse uns vorlaufig noch un-
bekannte Milieubedingungen handelt, oder ob
nicht etwa doch die Vermehrung auf klandestiner
Einwanderung beruht
Angesichts dieser Schwierigkeiten konnte man mit
Rerfit sagen, falls die Ethnologie die Rassenrein-
heit eines Volkes dartun wiirde, so ware das ein
zwingender Beweis von der Wertloslgkeit dieser
Methode. In Wirklichkeit hat aber die neue For-
schung griindlich dam it aufgeraumt Und wah*
rend fruher die meisten Volker auf ihren rassen-
reinen Ursprung stolz waren (wobei sie ihre Ab*
stamm ung meist auf einen Gott oder Halbgott,
zum mindesten auf einen beriihmten Helden zu-
ruckfuhrten), erheben wohl heute nur nodi Rus-
sen und Deutsche leidenschaftlichen Anspruch auf
Rassenreinheit, oder besser gesagt, ein beider-
seits viel zu ernsthaft genommener beschrankter
Teil dieser Volker, die Panslawisten und Alldeut-
schen und ihre wissenschaftlichen Vorkampfer.
Fur die Russen ist es auch nicht ganz richtig, aber
da sie ebenso wie die Skandinavier in ihrer ost-
lichen Abgeschlossenheit ziemlich unberuhrt ge-
blieben sind, so ist tatsachlich in Skandinavien
der europaische Nord typus (Germanen), und in
Ru Bland der europaische Os tty pus am reinsten
erhalten.
verschmaht und zergart,
friBt er.
Schamen zerbricht dich.
Innen ermattet
wirst du des Knaben Erde verspuren
Niemand griiBt.
Niemand ein Wort.
Nie ruft den Namen
Dir Stimme des Menschen.
Wtirge dir ein
Hungers Wege.
Auf warts ! da oben
klingende Ture.
VERHUNGERT.
Himmel griiBt zart,
Bietet dir Kommen und Schlufi.
GESICHT
Einstein
Da stohnt ein Mann in seinen Tod
Linden und Rosen dorren ab
Blauhimmel brokelt klirrend falb
Zu LuftkristalJen, die im Alb
Ihm seine Lunge wiirgen. Hier gahnet Grab
Lehmvoll aus Wiesengriin ins Abendrot.
Du siehst dein Zimmer an und weinst
Es kriecht heran wie Traum und preBt
Die Maske vor BewuBtseins Helle.
Ein Blinder fiihlt die Fronten lang.
O mochte eine halten her zu mir aus ihrem Gang.
Der Wein wird sauer, Milch gerinnt.
Wie bist du weit von dir, vom Kind.
Der Hastige muB vorbei geraten.
Die Glocken lauten, auch Fahnen wehen,
Viel Fenster singen, wie Vogel auf Alleen.
Herz schlage an, die Sterne wollen kreisen.
Earl Otten
HEIMKEHR
Krieche der Erde.
Krumm dich der Wolke.
Willst du das, Mann ?
In Scherben zerrieben, zum Irrsinn gezerrt.
Endloser Wanderer, all ein.
Tod lauft dich an,
Streut in rauchige Asche
AufriB und Runm.
Junges leuchtet geehrt
Jetzt nur Flecken, ein Wisch.
Dies alles.
Schwa nkst
Und streifst kaum
Gras, das die Hiifte umgrfint
Keuche zum Himmel.
Knochen, Feigen und Sklaven
Hungert es uns.
See/e verforen,
HBt es den Leichnam dir taumeln.
Deinen Scfiatten schreckt staubiger Abend.
Anderer Muscfieln,
Jouf 6apek (Prag)
Zeiehnung
119
DIE AKTION
120
AUF DER HARTHERZIGEN ERDE
Deni Rauch einer Lokomotive juble ich zu,
mich freut der weifle Tanz der Gestirne,
hell aufglanzend der Huf eines Pferdes,
mich freut den Baum hinanblitzend ein Eichhom,
oder kalten Silbers ein See, Forellen im Bache,
Schwatzen der Spatzen auf diirrem Gezweig.
Aber nicht bliiht mir Freund noch Feind auf der
Erde,
Feme Wege gehe ich durch das Feld hin.
Ich zertrat des Gebot
„Ringe, o Mensch, dich zu freuen und Freude zu
geben den andernl“
Duster umwandle ich mich,
vermeidend die Madchen und Manner,
seit mein welches, bluttranendes Herz
im Staube zerstieBen, die ich verehrte.
Nie neigt sich meinem einsam jammernden Sinn
die Liebe der Frauen, denen ihr Atmen ich dankte.
Ich, der Frostelnde, lebe dies weiter. Lange noch.
Feme Wege schluchze ich durch die Wiiste.
Albert Ehrenstein
ZUSTAND
Der moralische Schmutz stieg iiber alle Schranken.
In sich vollkommen ruht der Siindmorast.
Wir sind langst ertrunken. —
Von tieferem Wissen dunkelnd des Freundes Auge
leuchtete und verging.
Krachzend zerriB ein anderer.
Ein schwerer Atem zog die Schultern hoch dem
ungeheuren Wahnsinn,
Sein Blick stach grau
und die bombastische Psychose zersprang in ihre
Faulnis.
Noch kampft ein Letzter.
In tausend Trummern umher
reiBt hoch sein Geist sich
und seine Splitter stehen gespreizt, strecken wild
auf,
deuten ein irres Zusammen irgend —
zitternde Trane
an ihren jammerlichen Enden erbliiht —
Nie mehr erreichen sic die tief ersattigende
Kniipfung.
Nie mehr baut sich die selige Pyramide —
Wo wir lebten,
ein Riesenmordblock, Eisen rasierte leicht daher —
Wo blieben wir?
Satanchen blahen sich und konnen sich nicht
mehr halten.
Um unsere zerstorten Spanten purzelt ihr helles
Lachen.
Gespenstische Arme kriimmen in schauernder Luft
ein Schattentanz und Asche schwebt in schwachen
Tonen —
Wir existieren imaginar —
Heinrich Schaefer
VERSE VOM SCHLACHTFELDE
Aus dem Kriege
Nun dauert es so lange,
daB ich anfange zu verges? en,
wie sehr ich dir gut war.
Und wenn ich dich
zwischen den Wahnsinnen der Schlacht
im Traum treffe,
dann Ieuchten deine samtenen Augcn
lieb mir zu.
Und deine groBen Lippen locken meinen KuB.
Und deine Hiiften tragen,
was du mir versagst.
Auf deiner Blasse bliiht ein unerlostes krankes
Fieber.
Unirdisch kommt dein FuB,
an dem die rote Rose stak,
den ersten Tag, da ich dich sah,
Und deine Schritte reihen sich
wie Psalmenglieder.
Schwarze Frau, dein schwarzes Haar
fiihle ich weich an meiner Hand
und deine korperliche Ruhe ganz lebendig. —
Aber ich benehme mich ungelenk
und fremd und wie nicht mehr gehdrig
zu dir.
Der Traum an dich weckt mich in meinein Schlafe
auf.
Und wenn ich wache,
larmt um mich der kriegerische Tag,
in dem ich dich so oft verlor.
Bleib du mir treu.
In deinen Rauschen bleib mir treu.
Oskar Kanehl
Vorfriihling
Dreimal hab das Zelt ich wohl zuriickgeschlagen
Und hinausgelauscht in die Dammerung.
Ode lag das Land mit seiner Hugel Schwung,
Und der Morgen blaBte mud herauf, ein murrisch
Fragen. —
Im zerschossenen Walde pfeift ein Vogelein
Und mir ist, ein Ruch der Wiesen streife
Meinen Atem — da in laue Luft ich greife.
Und die Sonne kommt in fremdem, rotem Schein.
Theodor Rudy
m
die aktion
122
CMJGULAS TOD
Von Xaver
Saturn hatte Caligula seinen Gaul nicht zum
K(msu\ emennen sollen? Hat nicht ein Ratsherr,
der wahrend einer Auffiihrung im Theater un-
ma&ig gierig fraB, sofort das Amt eines Prafcors
angenommen? Caligulas Geschenk fur diese er-
go tzliche FreBvorstellung.
Hatte der Ratsherr nicht annehmen diirfen, Ein-
seitig! Eines Ratsherrn unwurdig.
Bitte! Ratsherren Iassen sich nicht lumpen. Im
Amtsornat, im Zirkus vor der Plebs wettlaufen;
Caligula zuliebe. Einseitigkeit ? Hie Ratsherren —
hie Caligula; einander vviirdig.
... „Wozu man Ratsherren noch anstellen kann?
Wozu? . . . Wozu? ... Ha, ha, ha! Wie ihre
Beine schlottern! Und haben doch tiichtig ge-
schmaust beim Liebesmahl, die edlen Herren! Zit-
tern vor ein paar Panthem und Leoparden und
Tigem? Gefallt Euch nicht soicher Nachtisch?
Ha, ha, ha! Die Viecher haben ja keinen Zahn
mehr im Maul gehabt ! 44 Caligula greift in die
Tasche und vvirft die Zahne der Tiere unter die
Herren. Die Herren! Bedanken sich untertanigst
fur Caligulas Gnade.
„Guteren Herrn kann es nicht geben , 44 winselt
vor Caligulas SchloB ein Herr; „wenn er nur nicht
stirbt, Caligula; er ist so krank! Will gern ver-
recken, wenn nur er am Leben bleibt . 44
„Hast, was Du willst; stirb ! <4 ruft des genesenen
Caligula Gnade. „Henker, voran ! 44
Man rechnet auf Gegenseitigkeit.
Ratsherren springen im Trab neben Caligulas Kut-
sche; sind Kellner, Schuhputzer Caligulas. Be-
amte des Reiches sitzen in Kafigen; kriechen auf
alien vieren.
Caligula wachst.
Ein Ratsherr wird mitten auseinander gesagt; die
Kollegen hindern es nicht.
Caligula wird noch groBer.
Einer will nicht zusehen, wie seine Kinder hin-
gerichtet werden ; ihm schickt Caligula eine Sanfte,
zur Schau ihn zu holen. Er kommt.
Caligula ist machtig groB gewachsen.
Einer muB kichern und saufen, bevor er zur Richt-
statt seines Sohnes gefuhrt wird. Einer wird im
Zirkus verbrannt; hatte Caligulas GroBe iiber-
sehen, hat nie bei Caligulas Genius geschworen.
Beamte des Staates toten sich selbst auf Caligulas
Wunsch. „Ob unter ihnen einer den andern um-
bringen wiirde; nur so? Das mochte ich zu geme
wissen . 44
„„Caligulas sehnlichster Wunsch, es zu wissen?
Caligulas sehnlichster Wunsch? Eilt Euch, Kol-
legen !“ 41 „Wir haben kein Schwert . 44 „„EiIt
Euch, Kollegen ! 44 44 Die Schreibgriffel der Kolle-
gen bohren sich in eines Amtsbruders Gesicht und
Brush Amtsbrudcr ist tot; wird von den Kollegen
zerhackt
Caligulas GroBe wird immer noch groBer.
„Gib die A xt, Opferstecher! Ich erschlage das
Opfertier Hoch in der Luft Caligulas Hand mit
der Axt. Caligula zertrummert den Schadel des
Opfers tech ers.
Rom ist still
„Ganz Rom, ich will Deinen einzigen Hals ! 44
Rom halt still.
f] Bin ich denn gar nichts mehr? Vernachlassigt
man mich? Hungersnot, Pest, Feuer, kommt! Sie
sollen Massen vernichten! Wenn doch ein Erd-
beben alle auf einmal verschlange! Wenn wenig-
stens alle Soldaten zusammen im Kriege vemich-
tet wiirden! Wie fad! Ich greife in Schlamm. Ihr!
Ihr Menschen, warum wendet ihr euch nicht an
die Richter? Alle Richter nehme ich euch fort!
Immer noch nichts gegen mich? Immer noch
nicht? Hoher Adel, eure altuberlieferten Abzei-
chen zerreibe ich unter meinen FuBen. Volk, dein
Geld ist mein! Ehepaare her! Die Weiber haben
an mir vorbei zu marschieren; die Manner haben
zuzusehen! Die will ich . . . die ... die ... die!
Deren Manner haben sich scheiden zu Iassen!
Immer noch nichts? Schlamm, Schlamm! . . .
Meer her! Felsen her! Jetzt rase ich gar
noch iibers Meer auf Pferdefufien, und mein Wort
zerbricht Felsen. Ebenen miissen Berge werden!
Berge sind Ebenen! Nicht flink genug schafft man
es mir. Kopf ab ! 44
Caligula sieht sich an: „Bin ich auch groBer als
ich? Mein Korper laBt sich in Weibskleider
stecken; laBt sich aufputzen, daB man ihn nicht
mehr fur menschlich halt. Mein Gesicht hat gol-
denen Bart; mein Arm schlagt mit Blitz, Dreizack
und Schlangenstab um sich — ich lasse es mir
von mir gefallen.
Heinrich Hoerle (Koln)
Holzschnitt
%
01
A
V
-f
123
DIE AKTION
124
Ich mische mich unter euch. Ich fechte, ich lenke
Wagen, ich singe, ich tanze — offentlich — bin
ich grofi, bin ich kiein?
Jupiter, Bruder, horst du mich?“
„„Ich hore dich schon, mein Bruder; aber es ware
mir lieber, du kamest von deinem Gegenuber zu
mir heriiber auf mein Kapitol.““
„Kopf ab fur deine Frcchheit!"
Auf der Jupiterstatue sitzt Caligulas Kopf.
„„So war es nicht gemeint, Bruderherz! Bitte,
bitie, wohne du bei mir in meinem Tempel auf
dem Kapitol. Bitte, bitte, komme sofort her-
iiber!““
„Der Affe hanselt mich.**
„„Bruderherz, Caligula, verzeihe, daB ich dich
im Augenblick noch fur einen Menschen gehalten
habe, der Beine zum Gehen und einen Boden unter
den FiiBen braucht.****
Hoch in der Luft Briicke vom SchloB zum Jupiter-
tempel; in drei Tagen gebaut. Caligula besucht
Briideri Jupiter. Alles glaubt, Caligula sei raum-
loser Gott und sei zu Jupiter hiniibergefiogen.
Man hat ihn nicht auf der Briicke gehen sehen.
Die Briickengelander waren sehr hoch.
„Woher stammst du, Jupiterl?**
„„Von Gottern.****
„Meinst du viclleicht, mein Blut sei vermenscht ?
Ich sage dir, ich schwore dir: Mein GroBvater hat
mit seiner Tochter meine Mutter gezeugt. Mein
GroBvater war selber ein Gott. Ich hore nicht
auf, meine Schwestern zu begottern . .
In einem unterirdischen Gang vom Theater zum
SchloB wartet ein Schwert; das fliegt Culigula ins
Genick. Feigheit! Caligula fallt zu Boden; schreit:
„Ich lebe noch!** DreiBig Schwerter fliegen auf
Caligula. Caligula schreit nicht mehr.
Caligula lebt noch: In seinem NachlaB sind zwei
Bucher als Manuskript; das eine tragt die Auf-
schrift „Schwert“; das andere „Dolch“. Caligula
hat nur zu wahlen. Untertanen sind da.
„Ein Gliick t daB dieser Caligula heut nicht mehr
lebt! Der? Der hieBe auch uns umbringen.**
„„ Caligula lebt noch!****
„Pfui!**
„„Du Schlammgebilde, du laBt ihn ja nicht tot
sein.****
„Pfui, pfui!**
„„Du, ich mochte Caligula sein! 4 ***
„Dreimal pfui!**
„„Und mochte verachten konnen, was den
SchweiB mir von der Sohle leckt und dazu spricht:
Das ist Gotterspeise! Verachten konnen den,
der lebt, weil meine Gnade ihm das Leben
laBt. 4 ***
„Du! Du !**
„„WiIlst auch Caligula sein?****
„Deine Hand! 4 *
Schon zwei Caligula! Die sehen sich an. Aus
diesem Sehen wachsen Caligula, hundert, tau-
send . . .
Alle wollen jetzt Caligula sein.
Alle sind Caligula geworden.
Jetzt ist Caligula tot.
DIE METAPHYSIK DES DREHS
Ein offener Brief an Karl Kraus von Franz Werfel
Motto:
Denn wer nur am Worte reibt sich
Wird gedruckt bei Drugulin in Leipzich.
Karl Kraus
Sie schreiben, Karl Kraus, in einer I4seitigen Explikation zu
einem kleinen Privatbrief, den ich Ihnen geschrieben babe, tat-
sSchlich folgende Satze: „Wenn ich nun wieder die Probe auf
Herrn Werfel machen mufite, so wlirde mir statt seiner Verse
die Kritik, die er an den meinen ttbt, vollauf gentigen, Er be-
zieht sie tatsachlich auf sich und beweist wohl schon damit
allein, dafl er es mil Recht tut. Ich kenne die seelische Wurzel
dieses Dranges, sich an meinem Wort zu reiben. . . .“
Wer reibt sich denn? Habe ich vierzehn Seiten zu Ihrem Ge-
dicht geschrieben, deren es allerdings nicht wert gcwesen wire?
Ich habe mit einigen Zeilen auf die Parodie eines meiner Ge
dichte reagierl, auf eine Parodie, liber deren Ethos Sie sich ruhig
von den alien Weimaranern einen Wink geben lassen mogen.
Ich beziche etwas auf mich, was selbst der Setzer nach dem
Textbild (wenn er das Gedicht „Vater und Sohn“ und die „Me-
lancholie an Kurt Wolff 4 an ein und demselben Tage setzte),
auf mich beziehen rnUfite, Sie erwahnen in Ihrem Aufsatz ein
Gedicht von mir, von dem Sie behaupten, es wire eine Ausein
andersetzung mit Ihnen, was zu erkennen aber gewifi eine inten-
sivere Reibung an meinem Wort fordert, als es Keibung von mir
gefordert hat, in Ihrer Parodie mich parodiert zu ftthlen, —
Sie kennen, Karl Kraus, die seelische Wurzel dieses Dranges
sehr schlecht, sonst wtlrden Sie Ihre Hysterie nicht in andere
hineininterpretieren, urn dann zu beweisen, dafi diese Hysterie
sich an Ihnen reibt. Sie reibt sich nur scheinbar an Ihnen, und
an einem Buchstaben hinge Ihr Leben, wenn Sie erkennten, daB
sie sich in Ihnen reibt. Aber Sie stecken ja in einem Panzer
vollkommener Konstruktionen und werden nie erkennen, so kann
ich Ihnen, ohne ein Morder zu sein, dies ruhig sagen.
Die seelische Wurzel all dteser Konstruktionen aber ist die Er-
scheinung des Drehs, jenes absoluten dialektischen Selbst
schutzes, mittels dessen jeder Vorwurf auf den zurUckflllt, von
dem er herkommt. Sie werden mir unzweifclhaft das psychoana
lytische Tatwamasi, das Sie mir gestem zur Ant wort gegeben
haben, auch morgen zur Ant wort geben. Diese Replik geht na
tllrlich in infinitum, denn der Dreh steht und fallt damit, daG
er das letzte Wort behalt.
So weit kommt es aber gar nicht. Die Psychiatrie geniigt mir
nicht. Ich will mich auch von der Physiognomik belehren lassen,
sehe Sie jetzt an einem Tische sitzen und frage: wer ist in
Aufregung, wer in Unruhe, wessen Blick ist voll liefer Irri-
tierung, wessen Gesten verraten einen ununterbrochenen Bela-
gerungszustand } Aber auch die vergleichende Literaturkunde
verschmlhe ich nicht und frage weiter: Wer ist in Angriff und
Verteidigung (die einzige Wahrhcii des K. u. K. Dienstreglemems
ist der Satz, dafi die beste Art der Verteidigung der Angriff ist),
wessen Werk ist davon beherrscht, sich geleugnet zu ftthlen,
wessen Einheit wird durch eine entfernteste Andeutung aus der
Balance gebracht, wer plfidoyiert jeden Schritt seines Lebens,
wer sieht die Dinge nur in einer Wendung gegen sich selbst ?
Wir wollen einen Gelehrten fragen auf wessen Seite die Krank*
heitserscheinungen der Hysterie sind I
Aber es ist mir nicht darum zu tun, Sie zu durchschauen, noch
Sie zu treffen in diesem und jenem Sinn. — Wje bezeiebnend
ttbrigens, daG in Ihrem Kopf gerade die Synonymitat dieses
Wortes auftaucht. —
Festslellen will ich in Ihnen nur den Drehpunkt, jenen meta
physischen Knacks, durch den es Ihnen gelingt, den peinlichen
Farmer des Ichs, den inneren Gegenspieler, aus sich hinaus in
die Welt 2U zaubern, bis Sie schlieGlich die Welt vor jenem
anderen feindlichen Ich nicht mehr sehn, oder besser jenes an-
dere feindliche Ich als die Welt sehn.
Sie verlegen den Schauplatz des schmerzlichsten, fruchtbarsten
und menschlichsten aller Kampfe extra muros, ziehen einem fik
tiven Feind entgegen, der Sie selbst sind, und behaupten, Sie
wSren nicht ftlhllos, wenn jener mit alien Pfeilen in der Brust
von daonen zieht, die er gegen Sie erhob und die doch nur
von aliem Anfang an in Ihrem eigenen Fleische stecken.
Aber der Feind, dessen Namen Sie nennen, erslaunt dariiber,
denn er hat weder einen Kampf gewollt, noch auch ftihlt er
irgendwelche Pfeile in seiner Brust.
DIE AKTION
126
Wirli die Well den Spiegel nach lhnen, den Sie, wie Sie be
hauplen, ibr vorhalten? Ich merke nichls davon, abcr fttrchle,
dafi Sie selbsi eine bose SpiegeUechterei ireibent Und wie steht
ea denn mil der Einheit, Karl Kraus? Shakespeare war und
\baie sich in Gestalt auf, wann hitte er aber begrttndet und PU-
doyers ftir sich gehalten ? Ich glaube nicht, dafi er so komplizierl
sein Verhaltnis zum Globe ■ Theater begrlindet hat, wie Sie es
z, B. begrUnden, dafi Sie Vortrage halten, wo doch niemand die
Veneidigung dieaer Tatsache von lhnen verlangt. Das ist eher
die Hahung des schlechten Gewissens, die Art Raskolnikows,
der vor dem Juristen, den er eben erst kennen gelernt hat und
der ganz harralos seine Zigarette raucht, alles mogtiche begrUndet,
wovon gar nicht gesprochen wird, und krampfhaft sein Alibi
nachzuweisen sucht. Zur Einheit des Wesens vor allem gehort
die Sicherheit. Der einheitliche Mensch ist sicher, seine Tat
ist die notwendige Blttte seiner Ganzheit, er kommentiert sie nicht,
denn er hat keine Instanz aufier sich und in sich, die ihn zur
Recfaenschaft ziehen wttrde. Karl Kraus aber rechtfertigt sich
unaufhbrlich. Spricht er mit uns — oder steht er einem ge-
heimen dunklen Tribunal in sich Rede? Stimmt etwas nicht,
muft etwas heruhigt werden, warum denn schmecken manche
Seiten der Fackel so verieufelt nach einem sublimtenen Alibi-
nachweis? Welch rtthrendes Gestandnis, dad Sie, Karl Kraus,
vor dem endgtthigen Abschiufl einer Arbeit einen Dummkopf
eventuell zu Rate ziehn, wenn Sie liber ein Wort oder ttber einen
Sau im Unklaren sind! Das ist ein Beweis daftlr, dafi Sie nur
fiktive Dus ertragen konoen, ein Beweis filr den tiefen Drang,
l hr alter ego aus sich hinauszupraktixieren, um zu einem Dialog
zu kommen, Sie wagen den eigemlichen Monolog auf Tod und
Leben nicht und suchen aus SelbsterhaUungstrieb scbeinbare
Dialoge auf, die Sie mit scheinbaren Partnern ftlhren. Das tun
tile, die in letzter Einsamkeit nicht mit sich allein sein ktinnen,
Die Einigen aber, die Scbopfer, die durch sich selbst fliegen
konoen ttber tausend Meeren, tun das nicht, und die Tolstois
such nicht, die im achtxigsten J&hre den Gerichtstag ttber sich
hahcn. Aber die Leeren tun es, die ichflUchtigen Selbstmords-
kandidaten, die Trinker und Morphinisten, kurz alle Feiglinge
und Drttckeberger des Zerfalls.
Des Einigen Zeichen vor allem aber ist die Freiheit, er kennt
keine Seitenblicke, er beherrscht sich und ist bedingt nur von
der Kreatur, in der er lebt. Sie aber, Karl Kraus, werden ge-
dreht von jenem Drebpunkt, es ist sehr leicht, Ihren Mechanis-
mus in Bewegung zu setzen, jeder schlechte Kerl kann Ihre Re-
gister ziehn, wenn er Sie grttflt, oder nicht gxttflt.
Und schliefilicb sind Sie der Sohn Ihres Volkes. Zeigen Sie mir
den Juden, der nicht dualistisch, zwiespiltig wire I Und vielleicht
ist dieses Ich und Du diese Duplizitat, diese Zwiesprache zwischen
^esen und Gewisseu der edelsle Besitz und die Bedingung,
aus der das Juden turn von Nietzsche das „eibische Genie unter
den Volkern* genannt wird. Der Jude erkennt den Zwiespalt
im Menschen als letzte Unerbittlichkeit, und deshalb verleiht er
our Gott das Attribut: Einig und Einzig.
Als echter Jude sehen S»e in dem Begriff der Einheit einen hbch*
sten absoluten Wert, aber der Dreh beginnt zu wirken, Sie
zaubem Ihre Dualitat aus sich hinaus und usurpieren die Ein-
heit in sich.
Aber in diesem Dreh sind Sie nicht nur der Sohn Ihres Volkes,
sondern vor allem der Sohn der Assimilation, jenes dunklen Zwan-
ges, alle Spur hinier sich verwischen oder persiflieren zu mttssen,
^Dorten 4 * zu sagen, und das ftir richtig halten ist simpel. „Dor-
ten u fttr falsch halten und es ankreiden, mag nicht weniger
naiv sein.
„Dort“ aber ftir richtig halten, und zu wissen, dafi n dorten“
jttdisch- deutsch sei, wo es doch nur boh tnisch -deutsch ist, weiter
aber noch zu wissen, und aus Pfiichtgeftthl, eh nocb der Ein-
spruch erhoben wurde, aus einem Dutzend zusammenhin gender
Belegstellen gelernt haben, dafi „dorten“ geheiligtes Deutsch sei,
und trotzdem keine andere Furcht hegen, als dafi man das b£h-
misch-deutsche „dorten“ fttr gutes Deutsch und nicht etwa fUr
jttdisch-deutsch halten konnte, — diese rttckerschaffende Analyse
eines Vers-Wones, dieserGrad von Komplikation, diese Windung
von Dreh ist allerdings eine nattonale Tat ersten Ranges, vor der
selbst die Botachaft der Ohnmacht die PSsse abvertangen mufi.
Nein, Karl Kraus, Sie sind sich ttber I hr Ichbin aehr wenig
im klaren. Wer dieses Ichbin, den Glaube n an seine eigene
ReaJitlr, erle bt bat, des sen Werk tfint ohne Unruhe. Wenn Sie
ein Ichbin waren , wttrden Sie weiter konjugieren und sagen:
Du bist. Sie aber wehren sich gegen das Wir sind, weil es
schmerzlicb ist, andere sein zu sehn und selbst nicht zu sein.
Ich bin, d. h. zugleich, ich bin unmittelbar und einfach. Wo
ist in Ihrer Lyrik nur ein unmittelbsrer, aus einer Existenz
und nicht aus einer Rason geborener Vers?
Nein, Bester, Sie begehn einen groben grammatikalischen
Schnitzer, wenn Sie sich ein Hauptworl nennen. Sie sind
allzusehr ein Zeitwort! Welcbe Uhr schlagt das Ghetto in
lhnen? Ich glaube die elfte und nicht die zwolfte Stunde,
Die zwolfte gcht einen Schritt in der Wahrhaftigkeit weiter,
erkennt den assimilatorischen Dreh und sagt nicht vestra culpa,
sondern mea culpa.
Das MeisterstUck dieser elften Stunde und Ihres Ichbins mufi
ich lhnen aber doch noch vorhalten. Sie kommentieren Ihre
Dichtung folgcndermafien :
„Die Zeile ,denn wer nur am Worte reibt sich* ist an und fttr sich
schlecht und der Reim auf Leipzich an und fttr sich billtg.
Truer wird er mir erst im Zusammenhang und Zusammenklang
derSphiren, die hier sachselnd und jttdelnd einander zusprechen.
Ein ,sich am Worte reiben* soil Gestalt bekommen und be-
kommt sie in einem klappernden: ,denn wer nur am Worte reibt
sich 4 , und dieses GerSusch ist, wenn’s auch Herrn Werfel unfafl-
bar scheint, zugleich mit dem Reim Leipzich dagewesen und
nicht diesem zuliebe erfunden worden. Dafi es keinen andern
Reim auf Leipzig geben kann, mufi etwas zu bedeuten haben,
und es klappert nicht durch mein Ungeschick oder durch mein
Versehen, sondern es klappert das, was dargestellt werden soil . 41
Ich will gar nicht von der Emwirklicbung der Sinne sprechen,
die, wenn ein reibendes Gerkusch Gestalt bekommen soil, einen
klappernden Vers m&chen. Auch die kttbne Bebauptung
dafi es keinen anderen Reim auf Leipzig geben kann als
, reibt sich 1 will ich nicht tragisch nehmen. (Den noch mufi ich
bitten, die wenig klappernde, allerdings nur einseitig skchsische
Tatsache, die ich unter den Strich seize, zur Kenntnis zu
nehmen).*) Selbst noch die Frage will ich unterdrllcken, wo denn
in alter Welt in den zitierten Versen der Zusammenhang und
Zusammenklang zweier Sphkren ist, die einander jttdelnd und
skchselnd zusprechen. Wo jttdelt denn der Vers: „denn wer nur
am Worte reibt sich 14 , and wo sfichselt der Vers: „wird gedruckt
bei Drugulin in Leipzich ? 44 Sie mttssen Ihr Ohr erst, diese Zeilen
sich vorsichselnd und vorjtldelnd, verge wait igen, um das zu
glauben.
Nein, all diese Dinge neb me ich hin, denn ich weifi, der Dreh
kann den Kommentar ins Unendliche weiter kommentieren.
Aber auch an die Leser dieses offenen Briefes wende ich mich
nicht, obgleich ich tehe, wie sie vor diesem Monstrum von Apo
logic erstaunen.
Ich stelle nur dieses Gebilde zwischen uns beide und frage:
Wttrden Sie, Karl Kraus, auch in einer Welt, wo es nicht um
Sieg und Niederlage geht, nicht um Rechthaben und Unrecht-
haben, „dorten, wo Dein Lieben unserem Lieben gleicht* 4 ,
in einer Welt der Wahrheit und nicht der beweisbaren Wahr-
heit, — und wenn Sie in jener Welt vor keinem anderen Rich-
ter st Unden, als vor sich selbst, aber wie es vom Richter ge-
fordert ist und geschrieben steht, mit dem Geftthl, ttber einem
glllhenden Abgrund zu hkngen, — wttrden Sie dort ttber diese
zwei Verse die Worte wiederholen: „Herr Werfel abnt gar
nicht, wie unbewufit hier das Gelingen und wie bewufit das
Mifitingen ist?“
Die Antwort, die Sie sich geben, wird die W r ahrheit ttber Sie
selbst sein I
Sie haben recht, es ist nicht an dem, ttber gutes Deutsch zu de-
battieren, und dafi Sie das selbsi sagen, gibt mir gute Hoffnung,
dafi in lhnen doch einige Zweifel an solcher Beweisftthrung leben,
*) Zeigte totter jemalt denn ein Weib lich
Ihrem Hus, ala Julcheu Schalxe (Leipzich)?
Doch der FaLche nahm turn Zcitvertreib sich
Juliancn. Die war nicht von Leiprich.
Julchen ho rtf, erfahxtz, ich reibt, untersch reibt sich
Auf zwei Abschiedtkarten ; Meiften — Leipzich,
Weiot ein weni;, trinkt mil Kaffee, traibt sich
Durch die Stra&et], Street*. Eutritcsch — Leipzig,
Laufc zur Pleiile, lachelt und enOeibt sich.
Hans wird wild, erwigt : Eatleibt etch — Leipzich?
Greift sich an den Kepf, ichneuzt, strati be rich, kneipt sich,
Blickt zum Himmel, der mondunbescheibl lich
Leicht vertropft auf Gautsch und Gohlis- Leipzig,
Hant verdammt sich, wird Asket and reibt sich
Nur am Wort, am Weib nicht mehr, entweibt lich,
Julit&c wirbt, tan it, schleift, tchreit, treibt sich
Einen Dolch ins Hen. Enchaudre, Leipzifl
Hans lacbt bitter bistig und verbleibt aich
Selbst zum Ekeh laatert und ▼erschreibt sich
Cans dem Teufel, speit Gott an, weil der iha
Nur enchuf, dali tick was rtiml auf Leipzictk
127
DIE AKTION
128
aber den gewollten oder ungewollten Dreh zu erkcnnen, das ist
schon wcniger ein philologisches Problem, als cine Frage des
Seelenheiis.
Vor mir liegt eine Tolstoische Schrift. Darin steht eine Notiz
aber den Umerschied der Schriftstellerei von Mann und Frau, die
hier gar nicht zur Sache gehort und nur utn einer Klammer
willen zitiert wird. Die zwei ietzten Satze tauten :
Der Mann aber eignet sich die literarischen Handgrifle an
und ist dann h inter seiner Manier nicht zu erkennen, man weiB
nur, dafl er dumm ist, Davon, was in seiner Seele vorgcht,
weifl man nichis, (Nicht gut, boshaft I)
Wie erhabcn, wie wundcrbar ist diese Klammer » Interjektion,
diese Zwiesprache mil sich, dieser Zwiespalt, diese schmerzliche
Kontrollel
Hier steht der Mensch sich selbst gegentlber in seiner Zwiefalt,
erkennl des Wortes Bctrug in seinem eigenen Ich, scblSgt sich
auf den Mund, und transponiert diesen moralischen Drang nicht
in einen okkuhen Drachen-Kampf mit dem Druckfehler, um an
des Wortes Schein zu leiden, stall an der eigenen Seele Schuld,
die sich im Worte oflfenbart.
Gern gebe ich Ihnen alle Qualen der Veranlwortung zu und
glaube sie Ihnen. Aber diese Qualen gelten keiner Wirklichkeit
weder in Ihnen noch aufler Ihnen. Sie gelten nicht den Menschen
und Dingen, die Sie zu W r orte bi ingen, sondern dem Worte selbst.
Wortdienst Gotzcndienst. Das Gewissen konzentriert sich auf
den Beistrich und nicht auf die wirkliche Beziehung. Auch hier
der grofle Dreh.
Es ist selbstverstiindlich, dafl ein konstruiertes Phanomen in eine
vorbereitete Konstruktion paQt, und ebenso selbstverstSndlich,
dafl die moralische Unsicherheit sich umsetzt in den Eifer um
das LUckcnlose, Geschlossene, Unwiedersprechende, Richtige des
Gebaudes. Auch das ist die Gesle der Verteidigung. — Was
aber bisher grofi war von Menschenwerk, war voll Widerspruch,
voller Ltlcken, denn die Baumeister wirkten nach anderem Ge-
setz als die Taschenspieler.
Ich gebe Ihnen ferner zu, Karl Kraus, dafl es mit alien Ver-
btndungen, die Sie eingehn, Ihnen furchib&r ernst ist.
Verbindungen sind es vietleicht, Verbundenbeiten aber nur so
lange, als der Popanz, den Sie sicb von Ihrem Nehenmenschen
machen, in die Konstruktion p&fit, denn diese Konstruktion darf
nicht zusammenbrechen, wenn Sie leben wollen, Ftir Sie gibt
es gar kein wirkliches Du, denn all die Dus, die Ihnen er-
scheinen, sind entweder leere Puppen oder mit Ihrem eigenen
Gegcnspieler aufgeflillte Puppen.
Aber Sie haben recht, Puppen entpuppen sich, und es kommt
einmal der Tag, wo Sie die leidenschaflliche Verehrung, die
Sie sich gezolll haben, mit der Puppe nicht teilen konnen.
Wehe, die Puppe hat eine eigene Mechanik, und sie entfahrt
den nackten Gegenspieler, dessen Blick und Mund nun nicht
mehr durch die leidenschaflliche Verehrung, die Sie ftir sich
hcgen, gedrimpfi und angenehm ill. Das alles ist Spuck, aber
er fiihn den Namen von Menschen, die noch im Fleische
wandeln.
Der Spuck, der in Ihrer Konstruktion meinen Namen ftlhrt,
mag nun allerdings gewaltig enitfiuscht sein, dass Sie nicht
mehr die Verehrung mit ihm teilen, die er Ihnen entgegen-
bringt, ebenso schwer mag es ihm fallen, sich ftir einen Schein
gehalten zu wissen ; auch ich verwehre ihm nicht mein Mitgeftihl.
Sie sollten es aber beim Schein bewenden lassen und nicht
darUber klagen, dafl der Schein getrogen hat ; auch die halb-
lauen Bemerkungen sind Uberfltlssig, die Sie dem Schein anheften,
und die nur eine Apologie ftir das einslmal dem Schein crteilte
Lob bedeulen ! Wozu diese Gespenster-Politik ? Wahrlich aber
der Gipfel der Narrheit ist Ihre Oberzeugung, dafl ich, oder
die Generation, die Sie in mir charakterisieren, nichts Besseres
zu tun babe, als vor Ihnen in Selbstbehauptung zu vergehn.
Ein Kind oder ein magerer Droschkengaut auf der StraGe kann
mich in alle Selbst verwerfung sltlrzen, ich brauche dazu nicht
einmal die Taisache, dafl mir einer die Wahrheit ins Gesicht
sagt, aber wie, warm und wovor soil ich mich selbst behaupten,
wenn Sic einem Gespenst an die Gurgel gehn! Sie haben
mit diesern Humor wirklich die Lacher auf Ihrer Seitel
Ihr Satz von meinem in die Nachslcntiebe zurtickgezogenen
Literatentum ist ein viel zu gelinder Vorwurf und verdreht
nur wieder den eigentlichen Vorwurf, der mir zu machen ware,
nkmlich den Vorwurf einer in Literatentum zurtickgezogenen
Nachstenliebe. Dreh, alles Dreh! Sie stehen eben auf dem
di&lektischen, alien wirklichen Fragen des Menschenwesens
entgegengesetzen Pol, und Ihr Paradox ist nur die verzwetfelte
Anstrcngung eines, der auf dem Kopf steht, sich auf die Beine
zu stellen. Dafl Sie Ihre Welt aus dem Zeitungsblatt erleben,
ist Ihr Schicksal, wie es in anderem Sinne das Sebicksal der
ganzen Zeitgenossenschaft ist. Und es ist kein Zweifel, daB Sie
unter alien lebenden Menschen, unter alien Sklaven der Zeitung
der Freigelassenc und Ihr groflter Durchschauer waren, wie kein
anderer geboren zum Propheten der Katastrophe, die liber
die Abonnenten aller Zungen hereinbrach. Wenn die Welt
nun idemi&ch mit der Zeitung ware, so konnten Sie sich getrost
den grbflten Verktlnder des Absolulen in ihr nennen, aber sie
ist es nicht, und so gestikulieren Sie in einem ganz dtlnnen
Reich, kein dichter, aber ein etwas dtchterer Schein unter
Scheinen. Es ist Ihre Tragik, vom Schein alles zu wissen und
nichts von der Wahrheit. So mogen Sie denn berufen sein,
was Schein im Wesen ist zu erkennen, und ebenso verdammt,
was Wesen im Schein ist, zu verkennen. Denn wo in anderen
Menschen das reine richtunggebende heilige Erlcbnis des Seins
und Nebeneinander Seins ist, dort rotiert in Ihnen ein durch
die Logik des Drehs bewegtes System von verzweifelier Symmetric,
das, indent es den Schein trifft, die Wirklichkeit verfehlt. Wenn
Sie ein wirklicher Mensch waren, und niebt nur der grofle
Antagonist, den sich der krciflende Schofi der Mutter Presse
gebar, dann wtirden Sie's auch mit uns ernst meinen, und die
Erkenntnis des Scheins wflrde andere Opfer von Ihnen fordern,
als den hbheren Interessenschutz einer Schreibiisch-Kokeiterie.
Ich nehme es ruhig hin, dafl Sie Ihr Wissen tlber mich aus
dem journatischen Waschzettel, der gerade im Umlauf ist, Uber-
nehmen und mich damit zu erledigen meinen, dafl Sie der
Trivialitat den satyrischen Tonfall geben. Sonntagsausflug in
den Kosmos, alliebend, lyrisch erbarmen . . . diese Tone sind
mir nicht neu . . . und daO Herr Presber Goethes „Leb wohl"
und Herr Leipzigcr Claudius' „leider H sagen kann, bestfirkt mich
nur in der Oberzeugung, dafl obige Wendungen durchaus in
Ihrer I.ebensluft atmen.
Wohingegen der Witz n Welipostgedichte w einzig und allein
der geistigen Sphare von Oskar Blumenthal angehoren dtlrfte
und auch Sie werden im Ernst nicht mehr behaupten, dafl der
Witz so schlecht ist, weil sein Gegenstand eben nicht besser
ist, und mir ftlrderhin den Rat geben, aus der Tatsache, dafl
Ihnen unbewufll schlechte Witze gelingen, meine Selbsterkenntnis
zu schopfen.
Was aber die n Feldpostbriefe M anbetrifft, so kann ich nur wieder
wiinschen, Sie mbchten sich doch zuverlassig von den weimarer
Dioskuren einen ethischen Wink geben lassen, ob ,,dorten“ der
rechte Ort ist, so schnell wehleidig zu werden und sich gleich
zu beklagen, wenn ein Feldpostbrief nicht traurig genug ist l
Sollte wirklich alles verdreht sein?! Oder ist es dennoch meine
Schuld, dafl ich nicht die gebilhrende Rlihrung aufbringe ftir die
Mdhe eines Mundes, der dorten die Gurgellaute nachspricht, die
dort und hier unterm Schicksalsgriff Ubrigbleiben !
Feldp. 431. Franz Werfel
ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS
XLII
Keine Beschlagnahme deutschen Kapitals und deut-
schen Besitzes in den Ver ei n igte n Staaten.
London, 10. Februar. (W. T. B.)
,, Daily Exprefl u meldet aus New- York : Der PrSsident habe
mitteilen lassen, dafl im Fall eines Krieges das deutsche K&pital
und der deutsche Besitz in den Vereinigten Staaten nicht be-
schlagnahmt werden wtirden.
Wenn sicb die obige Meldung bestatigt, wtlrde daraus folgen,
dafl die Vereinigten Staaten fUr den Fall eines Krieges mit den
Mittelmfichten die gehassigen Methoden des Wirtschaftskrieges,
mit denen England und die tlbrigen Ententestaaten die vorher
zwischen ihnen und ihren Gegnern unterhaltenen engen wirt-
schaftlichen Beziehungen fiir lange Zeit so gut wie vollig zer-
stbrt haben, nicht zur Anwendung bringen wollen. Eine
derartige, das private Eigentum aus dem Spiel lassende Art der
Kriegfdhrung ware in Anbetracht der vielen und slarken
Wechselbeziehungen wirtschaftlicher Natur zwischen den Ver
einigten Staaten und den MittelmHchien durchaus zu begriifien
und wtlrde den Beweis liefern, dafi ein notwendig werdender
bewaffneter Konflikt zwischen zi v i l i s i e rt e n Staaten
auch in For men geftihrt werden kann, die auf die Einzel-
individuen schonende Rtlcksirht nehmen und die
Wiederankntlpfung
eines geregelten Wirtschafuver-
DIE AKTION
130
Lehrs nach Btendigung des Konflikts in vcrhillnismaBig
Lurzer Zett ermogUchen . . . Man darf erwartcn, daB der
Giundsatz von T re u uod Glauben im internationalen
Pnxatv«k.ehr, den die amerikanische Regierung jetzt feierlich
verkundet, in alien Stadien des Konflikts von ihr aut-
rechterbaHen wird.
P. = Persius; ;u lesen im Hauptblatt (nicht Borsen-
fri/) der Sonntagsnummrr des ^Berliner Tageblatt'
0?ie/re<JaJfcfewr Theodor Wolff , den 11. 2, 1^17.
^etl bir, a Hinton burg!
Stugrltttt van $nl
1. tSkx etantl 6*1 * M »<B attton, btt oral aft vox Sint auf Law*?
XcMMi faan t Mtagvt SMrnoaoL Zunat, % toxoid tyagvt
i. ffier finmal 6Mbat will mtrtm,
Irt muji trfi ison Hint* auf lcmet>:
$a^rte wrt'n, $a^nc wrt’n, ufw.
:f. £>au tbn feft.
4. ibn tot.
6. Snglanb Wfg.
editlbwodb fkb'n.
T. Stramm gcftanbcii, ftratnm gcftartbtn’
Sebt, ba fommt bn Arncra! :
m
$«U bfcr. o (ixbrw&uTx, ftftift <tfl*
WuQrr tot fenl $uMabav|t
Side# [[tint Jtralfvttl iff tvfl^«nb Ml Artcgr# in Hamburg auf*
gefaumm. t# flammt r fyabt (<$ ntrgeitb# nfabrtn fdmurt. Ungtrufttt
war ri mit rfnart SSatt unter uni. $iit frtntm ganjen Bau Ifl ct bunbaui
tmbntQmliib. trite ©eifo aitftammt btm dlttren JtinbcrCtrtc : „JB*nn
wtr fa&ren auf ber Set".
Snut man Mel Tleinc fiieblein }um erften SJIale vorftngrn unb borfblcfcn
birt. fo Wirft Me fifttufttort'c ton „$tfl bir im Stegerttarn" ctnfa$ ergreifenb.
Cute ini JhnbtrtflinH^e Qbertragene Heine 3ubelcuorrttire. $<$ tctlr ei bier
mit fcteil eo tine bant bare Btrtl^erunfl unfetel €d)ulftnotnl auf ber Unterftufe
bvbeutct, bte ben ftfeinffen — bar aflrm in 3Jliibcbrn[<$uIrJi, gro&e ftrtube be*
reiica rotrb.
Aefpielt wirb baft fiieb fclge nbermafeeit : Sit Ainber gebtn bei ben Infebcr
Strobb* toiebtrtrljTfnbtn ffiorten „Ber efmnat Solbat Will werttft, ber muf
rrft von Atnb auf lernen" in geftbloffenem Areife berum. Bei ber jiedten
$AIfte tafien Re einanber lol, gr£tn im Jtceife ^intrreinanbtr b tr unb fUljreit
bit cntfvredjrnbcn SeWegungcn aul- So fdmtenfen fie bei ber X. Stro^b* ben
rt$tcn inn fiber bem Jtopf berum ; bei ber S. unb 4. f 4 la gen unb ftoHn fie
ibren Sorbermann \ bei ber o. mnd^tn fie tattmfl$ig eme unnactiabmlieb Wtp*
werfenbe Betvegnng mit ber reebtrn ^anb. Bei bet 7. Stropbt enbiidb bteiben
fie. nai^ bent ^mtern bei Jtrclfel gewenbet, auf ber € telle ftrben unb maepen
buri^ Snfegen ber ^icibten an ben Jtopf cine Ubrenbeieugunj, wotauf beim
Ctbfu>iatf $ ein vor bem Eplefc ertodbftel Finb, ba# rodbrenb bei Spiel#
aufctrtaJ& bei ftteifel gmartet bat, in biefen bineintritt unb unter &anbatilcgen
an ben flopf mit einer na<b ben Bterteln ber Vielobte fitb talttnffftlg Wteber=
belenbeit Berbeugung ber 9tetbe naeb aQe im Aceife Stetjenben begdlfit, bit
fttt|eln ben 9ru^ mit rtner entfpreebenben Ccrbeugung exietbern. Bier auf ben
lt*t.u Z an feegrilfet Wirt, fpielt bei ber SB te berbotung all Oeneral.
Aann t'eutfdilanb* Jtinbemeft unfetem {linbenburg cine febdnere ^uU
tigung barbringen all in biefetn Spiele?
Verkleinerte Wiedergabe tines Beitraqrs a us dem
6*. He fie da XI. Jahrgangts der „ M onatsschrifl
fur Schulge8ang t Zeitschrifi zur Htbung %md Pftegc
dee Schutgemnges, Organ des Vert ins der Musik-
lehrer an hoheren Uni tr rich t sans tal/cn Freuftens,
des I r eretns preufi. Seminar- Musiklehrer, der Musik -
lehrer an Sachsens Seminaren, des Vereins der
Qesanglehrer an den stddtischen hoheren Lehran-
s fallen zu Berlin u . Die Druckscitrift gibt heraus
in Qemeinschaft mit dem Kgl. Seminar oberlekrer
Ernst Paul „unter Mit wirkung her vorra gender Fach-
mdnner F. Wiedermann, Jfgl. Mustkdirektur und
Qesanglehrer am Leibniz- Gymnasium in Berlin.
Der Mitleiler des Lehrstoffes, Herr Jode, ist Qe-
sanglehrer.
Ein Forschungsinstitut ftlr Psychiatric.
MUnchen, 15, Fcbruar. (W, T. B.)
Die Krrichtung einer deutschen Forschungsanstall ftlr Psychiatric
in Mtinchen wird sich demnachst verwirklichen. Konig Ludwig
wurde tur Erforschung des Wesens der Geisteskrankheiten so-
wie zur Auihndung von Mitteln zu ihrer VerhtUung, Linderung
und Heilung ein Betrag von 1 700000 M. zur Verfiigung gesiellt.
In eincm Handschreiben an den Kuliusminister genehmigte der
Konig die Verwendung der obigen Mitlel zu dem gtnannten
Zweck und sprach den Sptndern ftlr den bckundelen Gemein*
sinn seinen be<onderen Dank &us
„ Berliner Tagcblatt " , 1H, 2. lhl? } Morgen- A usqabe.
KLEINER BRIEFKASTEN
Paul Block, Feuilletonredakteur des „B. Ts Unter der nied-
licbcn C’berschrift : „Fbrderung ist mehr als Geld a veroffent*
lichen und verantworten Sic in der Abendausgabe votn
19. Februar 1917 Zeilcn, die ich Ihrer Be&chtung empfeblen
wlirde, wtlflte ich nicht: der Fall ist hoffnungslos. Paul Block,
Herrscher unterm Strich der reichsten Annoncenzeitung, hat
diese Zeilen in Druck gegeben, nur did so zu tun, als ob er
so tSte. In dem gleichen *B. T.“, das noch jedes r ringende
Talent“, soweit es nicht zur wildwuchernden Gattung der
journalistischen Bcgabungen zu schieben Mar, preisgegeben hat,
in dem gleichen „B. T.“, das Georg Heym und Ernst Blafl und
Jakob van Hoddis und Alfred Lichtenstein und jeden kommen-
den Dichter durch Talentlose verspotten liefi, solange dieser
VVerdende nicht das Gltlck hatte, im Wannsee zu ertrinken, im
Schtltzengraben zu sterben oder gegen den Hohn des n B, Ti. u
sich durchzusetzen, im n B. T.“, das soeben einem Bierwitzigen
erlaubte, den sclbstlosen Forderer junger Dichtkunst, Franz Blei,
zu verulken, im „B. T - , das jahrelang die Forderungsarbeit
der AKTION totgescliM iegen hat, dort, in diesem selben, gleichen,
nKmlichen W B. T.“ wird gedruckt, es sei: „bares Geld unsern
Schriftstellern nicht itnmer so notig wie wirksame Fdrderung
Literaturpreise erreichen selten K&mpfende, son dem meistens
schon halb Durchgedrungene; woher soil auch die Oflentlichkeit
Talente kennen, die im Verborgenen bliihen, nein, verktlmmern - .
Wahrhaftig, das steht dort I Und Paul Block druckt kattbldlig
die Anregung: man mdsse einen n Verlag finanzieren u , der die
Tendenz hat, Druckwlirdiges „unabh£ngig von Verdienst** zu
veroffentlichen. Ich furchte, einer meiner Miiarbetter hat sich
init lhnen einen Scherz erlaubt, Herr Block.
Mu tile mcht jede Zeitung diese Tendenz haben?
Wann hat das „B, 1'.“ Jemals mitgeholfen, jungen Dichtern die
Offentlichkcit zu erkampfen? Welcher Tageblattleser bat durch
Sie erfahren, dafl grolie Dichiwerke junger existieren wie: Ein-
stein n Bebu(juin* i , Paul Adler n Elohim u , Franz Jung r Opferung**,
Diiublcr pNordlichi* 4 , Hardekopf ^Lesesthcke - , Rubiner „Das
himmlische Licht** dafi Namen wie Kurd Adler, Gottfried Benn,
J. T, Keller, Ludwig Baumer, Paul Boldt, Wilhelm Klemni, Oskar
Kanehl, Edlef Koppen, Alfred Vagts, Karl Otten, Piscator,
Heinrich Schaefer, Goll, Wolfenstein, Max Herrmann, Ernst
Stadler — um wahllos nur einige zu nennen — eine neue, starke
Dichtergeneration represent ieren ?
Jeder dieser Namen beweist (lbrigens, wie nebensachlich die
Giinnerschaft der „groOcn Presse** ist. Bleiben Sie ruhig bei
Oskar Blumcntbal, Kideamus und Paul Schiller, Aber tun Sie
nicht, als ob Sie anders latent
BUCHERLISTE
FRANZ WERFEL. Gesange aus den drei Reichen. Auswahl
aus: „I>er Weltfreund u , fl Wir sind“, r Einander“ und Neue
Gedichic. (Kurt Wolff, Verlag, Leipzig.) M. *,50.
ALEXANDER FREIHERR VON BERNUS. Das Reich.
Vierteljahrsschrift. (Hans Sachs -Verlag, Mllnchen.) Einzelbuch
M. 2,50.
INHALT DER VORIOEN NUMMER: SONDERHEFT FELIX MULLER-DRESDEN. FELIX MULLER: SELBSTPORTRAT
(TiteJblaft) / Paul Gauguin: Uber Malerei (Aus dem NachlaB) / Felix Miiller: Zwei Original-Holzschnifte / K. Hugo Hilar: Eduard
Voian derLvriker unter den Schauspielem / Felix Muller: Original-Holzschnitt / Aus Turgenjews Briefwechsel mit Herzen /
Felix Muller: Aktstudie (Original-Holzschnit / OtakarTheer: Am Kreuze / Felix Muller: Holzschnitt Mann mit Hund / Walter
Rheiner: Totengebet / Herbert Kuhn: Ende i Paul Hatvani: Klassisches Fragment / Felix Muller: Zwei Schwestern (Holz-
scim/ft) / Kurd Adler: Der Triumph / Felix Muller: Holzschnitt i Carl Einstein: Totlicher Baum / Wilhelm Klemm : Spat /
Hiide Stieler: Abisag / Franz Werfet: Ex abrupto / Hans Koch: Eine Novelle / Felix Muller: Widmungsblatt fur die
AKTION / Ich schneide die Zeit aus / Kleiner Briefkasten / An die Bfittenabonnenten
Fur Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten
Inhalt verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin- Wil-
mersdorf, Nassauische StraBe 17. Tel. Pfalzbg. 1 695.
Qedruckt bei F. E. Haag, Melle in Hannover.
Die AKTION erscheint jeden Sonnabend. Abonne-
ments kosten vierteljahrlich durch die Post, durch
Buchhandel Oder Verlag (unter Kreuzb.) M. 2,50.
Abonnements fur das Ausland kosten M. 3, — .
Buttenausg., lOOnumerierte Exempl., jahrl.M.40, — .
Verlag der AKTION, Berlin-Wiltnersdorf.
Unverlangten Manuskripten
ist Ruckporto beizufugen.
Alle Rechte vorbehalten.
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W0CHEN8CHRIFT FUR POUTIK, LITERATUR, KUNST
VII. JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERTNR ^
INHALT: Beyc: StraSenscene in Neapel (Titelblatt) / Johannes Fischer (Wien): Der Doppelgtnger / O. F. Nicolai: Ober
Rassenmischung / Willy Zierath: Zeichnung f Oeorg Tappert: Original-Holzschnilt / Jomar FGrste : Zeichnung / Aus Baku-
nins Briefwechsel mit Herzen / Paul Hatvani: Versucn fiber den Expressionismus / Felix M filler: Selbstmorder f Original- Holz-
schnit) / Fin Oedicht Friedrichs II., des Hohenstaufers (Nach dem lialienischen von Otto Frh. von Taube) / Wilhelm Klemm:
Mit schwarzem und blondem Haar . . / William Blake: Das entweihte Heiligtum (Aus dem Engiischen von Alex Frh. von
Bemus) / K. Teige: Zeichnung / Alfred Oruenwaid : Verse / Georg Qretor: Vision / Karl Otten: Besinnung / Arnold Berney:
Geschichte / Franz Werfel: Substantiv und Verbum. Eine Ant wort an Georg Davidsohn / Franz Jung: »Das Wesen der Oe-
schlechtlichkeit* / F. P.: Ich schneide die Zeit aus; Kleiner Briefkasten
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:xx
G
AKTIONS-BUCHER DER AETERNISTEN
Band I :
FERDINAND HARDEKOPI-
Lesestiicke
Band 2:
CARL EINSTEIN
An merkungen
Band 3:
Franz jung
Opferung
Band 4:
FRANZ JUNG
Saul
Baud 5 :
CARL EINSTEIN
B e b u q u i n
Band p, 2 und 4 kostcn gebunden je M. 2, —
Band 3 und 5 kostcn gebunden je M. 3, —
POLIT 1 SCHE AKTIONS-BEBLIOTHEK
Erstes Werk
ALEXANDER HERZEN
Erinneru ngen
Deutsch von Otto Buck
Zwei Bande. (446 und 33 ® Seiten.) Mit
drci Portraits
Gebunden M, 12,50, broschicrt M. 10, —
Fur Abonnenten der AKTION
nur direkt vom Verlage :
M. 8, — geb., M. 5, — broschiert
Zweites Werk (in Vorbereitung):
LUDWIG RUBIN ER
Der Mensch in der Mitte
M. 3, —
V E R L A G DIE AKTION
KUNST-SONDERHEFTE
DER AKTION
„Neue Secession" / Richter Berlin / Schmidt- Rouluff /
K. J. Hirsch I Hans Richter / Wilbel m Morgner / Egon
Schiele / Georg Tappert / Else von znr Mflhlen / Ines
Wetzel ! Felix Mlliler
DICHTER
DER
SONDERHEFTE
AKTION
Kran2 Blei / Gottfried Kblwel / Alfred Lichtenstein /
Paris Ton Gutcrsloh / Heinrich Schaefer / Theodor D£iibler
/ Paul Adler / Franz Werfel
SONDERHEFTE ,.DIE VOLKER"
„RuUland" (mit Geleitworten von Maximilian Harden) /
1 England" J „ Frankreich" / ^Belgien" / r ItaHen w / BSh
men" / r Deutschland"
Jedes Sonderheft, gewohnliche Ausgabe,
kostet 50PC — Biitten, numeriert, M.2, —
BOTTEN - AUSGABE DER AKTION
100 numeiierte Exemplare
Jahresabonnement : M. 40
Jcdem BtUtenabonnement werdcn jahrlich mindestens
acht Kuustblatier beigegcben, von den KUnstlern nuroc-
riert und signiert. Diese Beilagen komtnen nicht in den
Handel und stellen eincn Wert dar, der den Abonne-
mentsbetrag itbersieigtl Im Jahrgang 1917 werden
beigegeben : Blitter von Felix Muller / Max Opponheimer /
Ines Wetzel / Karl Jakob Hirsch / Richter-Berlin u a.
KONSTLER-POSTKARTEN DER AKTION
Es atnd 80 verschiedene Drucke erschienen
Zcichnungen von Mopp / Kars / Schmidt- Rottluff / Schrimpf
j Klein / Richter-Berlin / Nadelman / Feininger / Harta /
Schiele / Mense / Melzer / Tappert / Else von aur
Mtlhlen / Hans Richter / Josef Capek / Morgner u. a.
100 Stuck M. 3, —
portofrei gegen Voreinsendung des Bctrages
DTE AKTIONS
Band 1 :
L Y R I K
*9*4“ 1916
Eine Anthologie
Band 2 :
JUNGSTE TSCHECHISCHE LYRIK
Eine Anthologie
WILHELM
Verse
und
K L E M M
B i 1 d e r
Luxusausgabe M. 15,
A N
N G
Sophie. Der Kreuzweg der Demut
Etn Roman. Geb. M. 3, — , geh. M. 2, —
Jeder Band gebunden M. 3,
VERLAG DIE AKTION
W0CHEN80HRIFT FOR POUTIK, UTERATUR, KUN8T
7. JuHROAdO HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT ,7 - M * RZ
Johanna Pitcher ( Wien)
Dor Doppdganger ( Original- HoUtchniti)
133
DIE AKTION
134
OBER RASSENMISCHUNO
Von G. F. Nicolai
Vielleicht dankt Deutschland seine Fahigkeit,
die „Stimmen der Volker 1 * zu verstehen, dem
Umstand, daB Nachkommen aller europaischen
Volker in ihm Ieben. Zum mindesten durfte
eine solche Auffassung mehr innere Berech-
tigung haben als jene, wonach jede Volker-
mischung (das sogenannte Volkerchaos Chamber-
lains) von vornherein minderwertig sei. Doch
gleichviel, mogen die Ergebnisse dieser Rassen-
mischung gut Oder schlecht sein, — wir miissen sie
hinnehmen, denn an derTatsache selbst istnichtzu
zweifeln. Da aber das dicke Chamberlainsche
Buch ( — das mit falscher, irrefiihrender Dialek-
tik das Gegenteil, namlich die Reinrassigkeit der
Germanen, vertritt, oder zum mindesten in gewoll*
ter Absicht zu vertrctcn scheint — ) in Deutsch-
land ziemlich verbreitet ist, so mochte ich hier
mit einigen Worten darauf eingehen.
Es wird von alien Rassentheoretikern angenom-
men, daB von meBbaren Korpermerkmalen die
Schadelbildung, die Haar- und Hautfarbe
und die KorpergroBe die wichtigsten ethnolo-
gischen Merkmale sind. Auf Grund dieser drei
objektiven Hauptmerkmale hat nun Deniker ver-
sucht, die jetzige Rassenverteilung in Europa ob-
jektiv, d. h. nach den zum Teil ja in sehr groBcr
Zahl vorhandenen Messungen an Schulkindern und
Rekruten darzustellen. Er nimmt im ganzen zehn
Rassen an, darunter sechs Hauptrassen, und zeigt,
wie diese ohne Riicksicht auf Sprach- oder Staaten-
grenzen recht bunt iiber die gesamte europaische
Halbinsel verteilt sind, wobei die einzelnen Rassen
meist urn Meeresteile herum ausgebreitet erschei-
nen. So wohnen die Germanen im wesentlichen
urn die Ostsee und um die Irische See herum usw.
Die Resultate dieser Forschungen, die in dem
wertvollen Buche von Hirth nachgelesen werden
mogen, sind fur alle europaischen Volker interes-
sant. Doch soli hier nur aut Deutschland ein-
gegangen werden und auch nur auf das Gebiet
innerhalb der Grenzen des jetzigen deutschen
Reiches, denn an der Rassendurchmischung in
Osterreich durfte wohl niemand zweifeln.
Um die Ostsee saBen die alten Germanen und
drangen von dort gegen die ubrigen Lande vor.
Sie trafen dabei in Suddeutschland auf Kelten und
gegen Siidosten auf Slawen. Die Slawen, die noch
heute in Posen und Schlesien ziemlich rein sitzen,
haben zeitweilig ihrerseits nicht unbedeutende Vor-
stoBe gemacht und haben insonderheit durch ihren
erklarlichen Drang zum Meere hin bewirkt, daB
in Pommern und WestpreuBen die urspriinglich
germanische Pravalenz verschwunden ist. Durch
Suddeutschland zogen die Germanen hindurch,
um dann im fernen Siiden, der fur sie offenbar
nicht geeignet war, ziemlich bald und vollstandig
zugrunde zu gehen. In Suddeutschland hat sich
daher in Baden und Wiirttemberg die keltische
Rasse einigermafien rein erhalten konnen, wah-
rend sich im ubrigen die durch die Romerherr-
schaft bedingte Einwanderung der Adriavolker
und des rundkopfigen homo alpinus bemerkbar
macht. Es scheint, als ob hier die Romer gute
Lebensbedingungen fanden, denn ihr Typus ist
auch heute noch jenseits des alten Limes vorherr-
schcnd. Der groBte Teil des mittleren Deutsch-
lands aber ist Mischvolk, oder wie Chamberlain
so schon sagt, Volker-Chaos,
Auch Wilser bestatigt die historische Tatsache,
wenn er sagt: „Nur ein geringer Hundert-
s a 1 z unserer beutigen Volksgenossen hat an-
nahernd noch einen Schadel- und Knochenbau
wie die Gerippe aus den Reihengrabern der Wan-
derzeit* 4 , und an anderer Stelle: „Wollen wir
heutzutage noch echte Germanen finden, so
miissen wir zu unseren nordischen Brudervolkern
gehen (Schweden, Niederlander, Englander).
Deutsch nennt man die in diesem Rassengemisch
auf Grund gemeinschaftlicher Sprache und Kul-
tur entstandenen Eigentiimlichkeiten und Ge-
meinsamkeiten. Germanisch aber nennt man
die urspriinglich vorhandenen Eigentiimlichkeiten
eines Volkes unbekannter Herkunft, das heute so
mit anderen Volkern gemischt ist, daB es, zum
mindesten in Deutschland, nicht mehr existiert.
Deutschland ist also ein aut der gemeinsamen
Sprache und kein auf einer gemeinsamen Rasse
aufgebauter Staat, und es ist vollkommen irre-
fiihrend, wenn man Germanen und Deutsche iden-
tifiziert.
Es ist schwer zu sagen, wie Menschen wie Cham-
berlain zu ihren Ansichten gekommen sind. Wenn
man liest, daB er fur die abenteuerlichsten Dinge
(z. B. fur die Angabe, M daB Goten in groBen
Willy Zierath
Zeichnung
Qeorg Tapper t
Original- Hoi zschnitt
137
DIE AKTION
138
Zahlen das Judentum angenommen haben 4 *)
„einen gelehrten Fachmann der Wiener Univer-
sity* als Quelle anfuhrt, ohne jedoch seinen Na-
men anzugeben; wenn er in seinen „Kriegsauf-
satzen 4 * iiber Briefe berichtet, die er erhalten
haben will und deren Inhalt in geradezu kunst-
lerischer Form sich gegenseitig erganzt, so mufi
dem objektiven, kritischen Leser der Gedanke
kommen, daB in diesen Fallen der Autor, um der
gefalligen Form willen, den lnhalt unberucksich-
tigt gelassen hat, und es ware zu wunschen
gewesen, daB er wie sein grofler Lehrer Gobi-
neau, fur derartige Behauptungen auch die Form
des Romans gewahlt hatte.
Immerhin erscheint es auch denkbar, daB die
ganze alldeutsche Theorie iiberhaupt nur auf
einer hochst bedauerlichen Verwechslung beruht.
Man sagt, die iibrigen Nationen Europas seien aus
einem Gemisch der jeweils vorhandenen Urbevol-
kerung mit den durch die Volkerwanderung hin-
zugekommenen Germanen entstanden. In Deutsch-
land aber hatten sich Germanen mit Germanen
gemischt, hier sei die Rasse rein geblieben!
In Wirklichkeit hat, wie uns die Graber und Ske-
lettfunde beweisen, auch in Deutschland eine bis
ins Diluvium zuriickreichende Urbevolkerung ge-
sessen, die beim kimbrischen Durchzug und spater,
als der Strom der Volkerwanderung hereinbrach,
teihveise auswanderte, oder sich zum mindesten
in die Gebirge zuriickzog, teilweise unterging und
teilweise sich mit den Neuangekommenen ver-
mischte. Genau wie in alien iibrigen europaischen
Staaten hat diese Urbevolkerung auch hier schon
gelebt, als noch Rhinozerosse und Elefanten
Europa bevolkerten. Eine Mischung dieser Ur-
bevolkerung mit Kelten scheint, als die Romer
kamen, am Rheine gelebt zu haben. So lieb man-
chen das alte Scheffelsche Lied „Es wohnten die
alten Germanen zu beiden Seiten des Rheins* 4
Jo mar For tit Zeichnung
auch sein mag, — es ist falsch. Ariovist war der
Rasse nach kein Germane, sondern ein Kelte,
und wenn schon jemand damals auf beiden Seiten
des Rheins wohnte, so waren es die Kelten. Aber
Tacitus nannte diese Vdlkerschaften Germanen,
und dieser Name wurde dann spater auf jene
Vdlkerschaften angewandt, welche aus den Gegen-
dcn, in denen Ariovist gelebt hatte, in die damalige
zivilisierte Welt einbrachen. Dies waren Ostgotcn,
Westgoten, Vandalen usw. Seit dieser Zeit datiert
das MiBverstandnis, denn die Germanen des Ta-
citus und die der Volkerwanderung sind etwas
ganz anderes. Lange Zeit wuftte denn auch nie-
mand, was eigentlich Germanen seien. Noch im
12. und 13. Jahrhundert bezeichnete man eher
noch die Franzosen mit diesem Namen.
Dann aber kam ein anderer Name auf. In Frank-
reich hatte man schon friihzeitig die lingua romana
rustics im Westen und die lingua theodisca im
Osten (d. h. in Deutschland) unterschieden. Diese
Worte bezeichneten nur die Sprache, aber nicht
ein Volk, wie wir etwa heute, wenn wir von
jemandem sagen, er spricht hochdeutsch, nicht an-
deuten wollen, daB er zu einem bestimmten Volks-
stamm gehort.
Spater wurde aus dem nur adjektiv gebrauchten
theodisk das ahnlich lautende, aber dam it gar nicht
verwandte Substantiv Teutone gebildet. Dies
Wort, aus dem schlieBlich das Wort deutsch
wurde, bezeichnet gleich von vomherein keinen
rassenmaBigen, sondern einen Kultur- resp.
Sprachzusam men hang (denn die albeme Sage von
dem Riesen Theuto, dem gemeinsamen Ahnherrn
aller Deutschen, ist nachweislich im 13. Jahrhun-
dert erfunden worden). Deutsch waren die Ger-
manen, die Kelten und die Slawen, soweit die
deutsch sprachen.
Die Tatsachen, an welche hier ermnert ist, sind
an sich gar nicht kompliziert und werden auch,
wenn man genau zusieht, von alien Unbefangenen
als etwas selbverstandliches zugegeben, verwor-
ren werden sie — vor allem fur die breiteren
Massen — erst dadurch, daB man doch immer
wieder Germanen und Deutsche durch ein and er-
wirft. So sagt Ratzel z. B. in seiner popularen
Heimatkunde: „Es gab eine Zeit, wo im grdBten
Teil unseres Landes keine Deutschen wohnten 4 *
und weiterhin: „Es ist geschichtlich, daB Sud- und
Westdeutschland nicht von Deutschen bewohnt
war, als die Romer dorthin vordrangen. 4 * Trotz-
dem sagt er dann allerdings, dab jenes Volk, das
Tacitus geschildert, nur Germanen gewesen sem
konnten. Nun ist zwar nach Ratzel „Germanien“
ein weiterer Begrift als „deutsch 44 , aber die Kel-
ten kann doch auch Ratzel nicht unter den noch
so weit getaBten Begriff des Germanentums
rechnen.
Durch solche Unstimmigkeiten, wie sie hier bei
Ratzel vorliegen, wird Leuten wie Chamberlain
nur der Weg geebnet.
Zusammenfassend ist zu sagen : Es gibt in Europa
keine reinen Rassen, keine „guten Arten“ im
Sinne der Zoologie, nicht einmal konstante Varie-
taten.
DIE AKTION
140
*US DEW BRIEFWECHSEL BAKUNINS MIT
ALEXANDER HERZEN
Fur die FQLITISCHE AKTIOXS-BIBLIOTHEK be-
rtite ir Jt tiehe n anderen Btinden v or,' LassalUs Tagc*
buchfr und &akuni*<8 Brie ft. Am diesen hislorisch
leertvoUen Dokurncnten kommt cinTtil der AKTlOX
zum Abdvurk.
28, Juni IS66. Napoli
Corso Vittorio Kmanude — Casa Nohilt 2. piano
Secondo pahzzo doppo il Bersaglio
Freund Herzen!
Deine wenigen Worte habe ich durch B. erhalten,
und ich war erfreut, seine Bekanntschaft zu
machen. Wie es scheint, ist er ein anstandiger
Mensch. Mit seiner Comteschen Doktrin erin-
nert er mich an meine Jugend, wo ich in Hegels
Namen jeden Unsinn schwatzte, wie er dies ini
Namen des Positivism us tut. Doeh ist Comte
Hegel voraus, unverdienterweise hebt ihn unser
Freund auf die Stufe des Absoluten empor.
Du wirfst mir mein Schweigen vor. Lieber Freund,
nicht sehreiben mochte ich, sondern mich mit
Euch besprechen. Ich war bereits im Begriffe,
Euch in der Schweiz aufzusuchen. Die Mittel er-
lauben es mir nicht. Du aber bist reicher als ich
\X r ie ware es, H erzen — von Ogarjow spreche
ich nicht, er ist unbcweglich, — wenn Du Dich
entschliefien wolltest, mit Deiner Antigone Na-
talja Alexandrowna, wenigstens auf einen Mo-
nat Oder zwei, hierherzukommen. Ich sage nicht,
um mit mir zusammenzutreffen, — es ware zu
ambitios, — sondern nur so, um eine Vergnii-
gungsreise zu machen und Dich durchzuliiften.
In Genf ist es Dir so schwiil und eng und lang-
weilig, daB Du es verwiinscht hast. In Deutsch-
land herrscht Cholera und Krieg, nach Frank-
reich wird es Dich wohl schwerlich hinziehen,
vom Lago di Como kann gar nicht die Rede sein ;
in der Nahe desselben erschallen Kriegsrufe.
Keine einzige Stadt Norditaliens wird Dir jetzt
gefalien, alle sind vom Hauch der patriotischen
Luge verpestet; in Florenz aber ist das Leben
so teuer geworden, daB man dort einfach nicht
leben kann. Uberdies bleiben im Sommer nur
diejenigen in Florenz, die nicht fortkommen kon-
nen, so heiB, so schwiil, so den Augen schadlich
ist es dort. Dank dem Meere ist Neapel im
Sommer fast der frischeste Punkt in Itaiien und
zweifelsohne einer der billigsten. Wie ware es,
wolltest Du, z, B, auf einen Monat, Dich auf
Ischia niederlassen ; ich kenne keinen bezaubern-
deren, keinen angenehmeren Ort, im heiBesten
Sommer ist es hier frisch. Und wie biliig! Im
Hotel Grande Casamicciolo kostet ein Zimmer
nebst vollstandiger Pension 5 Frank pro Tag.
L'brigens kennt ja Natalja Alexandrowna diesen
Ort, und sie soli selbst sagen, wie gut es hier
ist — still, einsam, behaglich und siiB. Die
Friichte sind hier vorziiglich. Heida, Herzen,
komme her! Besiege nur den ersten Widerstand
der Tragheit, die leider mit den Jahren in uns
wac/ist. Hier ist alles still, die Geriichte iiber
den Krieg kommen wie aus der Feme her. Wir
werden zusammen einen stiilen, friedlichen, ge-
nuBreichen und vielleicht auch nutzlichen Monat
verbringen.
Adieu, umarme von mir den Abbe Sieves unsrer
russischen Bewegung, Freund Ogarjow, und
schleppc ihn, wenn moglich, mit Dir.
Euer M. Bakunin
28. Oktobcr 1869. Genf
Obermorgen fahre ich nach Lugano. Deinen
Brief habe ich erhalten und mit Aufmerksamkeit
gelesen.
Erstens. Da hast Du meine Antwort in betreff
Marx’: Ich vveiB so gut wie Du, daB Marx
uns gegeniiber ebenso schuldig ist, wie alle iihri-
gen, und daB er sogar der Urheber und An-
schiirer aller uns aufgebiirdeten Abscheulichkeiten
ist. Weshalb ich ihn also gelobt habe? Aus
zwei Grunden, Herzen. Der erste ist die Oe*
rechtigkeit. Wenn wir alle seine Abscheu-
lichkeiten, die er gegen uns begangen, beiseite
lassen, so diirfen wir, wenigstens ich, seine auBer-
ordentlichen Verdienste um den Sozialismus nicht
verkennen, dem er, es werden bald fiinfund-
zwanzig Jahre sein, klug, energisch und treu dient,
und worin er ohne Zweifel uns alien voraus ist.
Er war einer der ersten, man kann sagen, der
Hauptbegriinder der internationalen Gesellschaft.
Und das ist in meinen Augen ein ungeheures
Verdienst, das ich stets anerkennen werde, was
er auch gegen uns begehen mag.
Der and re Grund ist die Politik und nach
meiner Meinung eine vollkommen richtige T a k -
tik. Ich weiB, daB Du mich fur einen ziemlich
schlechten Politiker haltst. Halte es nicht fur
Eigcnliebe von meiner Seite, wenn ich Dir sage,
daB Du Dich irrst. Namlich Du schatztest und
schatzest mich nach meinen Handlungen in der
zivilisierten Gesellschaft, der Welt der Bourgeois;
hier benehme ich mich in der Tat ohne alle Be-
rechnung und ohne das geringste Zeremoniell,
mit scheltender, rucksichtsloser Aufrichtigkeit.
Doch weiBt Du, weshalb ich so mit ihnen um-
gehe? Weil ich keinen Groschen fur sie gebe
und keine produktive fortschrittliche Kraft in
ihnen anerkenne. Ich weiB sehr gut, daB diese
Welt noch zur Geniige materielle Mittel und or-
ganisierte staatliche routinierte Krafte hat, weit
mehr, als zu wiinschen ist. Aber man muB mit
dieser Macht kampfen; hier sind keine
Versohnungen, keine Abmachungen moglich,
weil sie wahrlich keine Zugestandnisse mehr,
keinen Schritt mehr vorwarts machen kann
und durch die Macht der Verhaltnisse zuriick-
gedrangt wird. Es mag fiir den einzelnen
gefahrlich sein, mit ihnen ganz offen und scho-
nungslos zu kampfen, es mag wohl fur den
Kampfenden mit groBen Unbequemlichkeiten und
Unannehmlichkeiten verbunden sein — ich er-
fahre es zum Teil an mir selbst — , aber fur
die Sache, fiir die Volkssache ist es niitzlich und
unentbehrlich, da mit das Volk die Frage klar
und bestimmt aufstellt und sie von jeder Bourgeois-
beimischung befreit. Das ist auch in dem Sinne
fiir den Kampfenden niitzlich und unentbehrlich,
141
DIE AKTION
142
indem sein aufrichtiges Verhalten zur Welt der
Bourgeois seine Stellung klar bezeichnet, seine
Aufrichtigkeit beweist und ihn im Volk festeren
Fu8 fassen laBt, !ch bin also mit Dir einver-
standen, dafi ich in der Bourgeoisgesellschaft und
in den Bourgeoisfragen kein Politiker und kein
Taktiker bin, Und ich will weder eines noch das
andre sein. Du wiirdest Dich sehr irren, wolltest
Du daraus schlieBen, daB ich mich ebenso un-
iiberlegt oder, richtiger gesagt, mit dersetben Be-
rechnung in der Welt der Arbeiter benehme. Das
ist die einzige Welt im Westen, an die ich
glaube, wie ich in RuBland an die der Bauern
und an die gebildete der riicksichtslosen Jung-
linge glaube, die in RuBland weder Platz noch
Beschaftigung findet, diese Vierzigtausend-Pha-
lanx, die bewuBt oder unbewuBt, ihrer Stellung
nach, zur Revolution gehort und um derentwillen
Du mir noch nicht aufgehort hast zu zurnen.
In dieser dunklen Welt, auf diesem einzigen Bo-
den, auf dem sich die Zukunft aufbauen wird,
hier erkenne ich Politik und Taktik an, erforsche
ich aufmerksam ihre schwachen und starken Sei-
ten, ihre klugen und dummen, hier bemuhe ich
mich, mich danach so zu richten, dafi die Volks-
sache gedeiht — das ist seibstverstandlich das
erste, das Hauptziel — und daB gleichzeitig meine
Stellung sich befestigt. Und als Beweis dafiir
mag Dir mein Benehmen gegen Marx, der mich
nicht ausstehen kann und, wie ich glaube, iiber-
haupt niemand auBer sich und den ihm Nahe-
stehenden liebt, meine Politik und Taktik in Be-
zug auf ihn dienen.
Marx ist zweifelsohne ein niitzlicher Mensch in
der internationalen Gesellschaft. Er ist hier eine
der sichersten, einfluBreichsten und klugsten
Stutzen des Sozialisinus, einer der starksten
Damme gegen das Eindringen irgend welcher
Bourgeoisrichtung oder Bestrebungen. Und ich
wiirde es mir nie verzeihen, vernichtete oder ver-
ringerte ich auch nur zur Befriedigung meines
personlichen Rachegefiihls seinen zweifellos wohl-
tatigen EinfluB. Es kann jedoch und wird wahr-
scheinlich vorkommen, daB ich mich bald in einen
Kampf mit ihm werde einlassen mussen, nicht
fur personliche Beleidigung, sondern einer prin-
zipiellen Frage halber, des Staatskommunismus,
dessen eifrige Verfechter er, sowie die von ihm
geleitete Partci, die englische wie die deutsche,
sind. Dann aber wird es einen Kampf, nicht
auf Leben, sondern auf Tod geben. Doch alles zu
seiner Zeit, und jetzt ist die Zeit dazu noch nicht
gekommen.
Ich schonte und erhob ihn auch aus Taktik, aus
personlicher Politik. Wie siehst Du nicht, daB
alle diese Herren insgesamt unsre Feinde sind
und eine Phalanx bilden, die man vorerst trennen,
zerstiickeln muB, um sie dann um so leichter
zu schlagen? Du bist gelehrter als ich, und Du
wirst daher besser wissen, wer zuerst gesagt
hat: divide et impera. Wollte ich mich jetzt in
einen offenen Kampf mit Marx stiirzen, so wiirde
ich drei Viertel von der Internationale gegen
mich haben, ich wiirde im Nachteile sein und den
einzigen Boden unter meinen FiiBen verlieren.
Wenn ich aber den Kampf mit einem Angriff
auf sein Gesindel beginne, so habe ich die Mehr-
zahl auf meiner Seite, und Marx selbst, in dem,
wie Dir bekannt, eine grenzenlose Schadenfreude
steckt, wiirde sehr zufrieden sein, daB ich seine
Freunde angriffe und sie libel zurichtete. Sollte
ich mich jedoch irren, und nahme er sie in Schutz,
so wiirde er doch zuerst einen offenen Krieg
beginnen, und ich wiirde zuriickweichen et
j’aurais le beau role.
Jetzt wollen wir iiber die Abfassung meiner Ar-
beit sprechen. Vaterchen Alexander Iwanowitsch,
stehe Pate bei diesem haBlichen Werke, gib deine
Feile dazu und hilf mir, es zustande zu bringen.
Es ist mir bei den jetzigen Umstanden einfach
zum Bediirfnis geworden, es herauszugeben.
Ich bin kein Kiinstler, und die literarische Archi-
tektur ist nicht meine starke Seite, so daB ich
wohl den geplanten Bau nicht bewaltigen werde,
oder daB mit mir dasselbe der Fall sein wird,
wie mit demjenigen, von dem man erzahlt, daB
er zuerst das Haus aufbauen und dann erst die
Fenster und Tiiren durchbrechen lieB.
Das erste kurze Kapitel: Etude sur les Juifs
allemands bildet nicht den Kern der Broschure,
es ist nur eine Art polemischen Vorworts, mein
Hauptziel ist, meine Tatigkeit wahrend der letzten
sechs Jahre zu erzahlen und zu erklaren, sowie
die Entwickelung der politisch-sozialen Ideen,
welche diese Tatigkeit begleiteten. Ich weiB, daB
mein Buch vieles Gute enthalten wird. Du aber
sei mir ein Wohltater und Pate in dem, was mir
abgeht, nicht als Idealist, sondern als Realist.
Nahmest Du die Sache als Idealist in Angriff,
so wurdest Du einfach mit meinem ganzen Na-
turell kurzen Prozefi machen, als mit etwas, das
Deinen Gewohnheiten und Ansichten wider-
spricht, und statt meines Buches wiirdest Du
Dein eigenes herausgeben. Ais Realist aber wirst
Du Dir sagen, was soli ich mit ihm anfangen,
den Alten werd’ ich doch nicht anders machen,
chassez le naturel, il reviendra au galop; be-
miihe Dich also nur nach Kraften, die natiir-
lichen Mangel der Broschure zu schleifen und zu
verringern. Du wirst Dir sagen, er soli sich
das Haus nach seiner Art und Weise bauen,
da er aber weder Asthetik noch Fahigkeiten fur
die Architektur besitzt, so werde ich ihm Fenster
und Tiiren durchbrechen; es wird doch immerhin
besser sein, als wenn er sich daran macht. Die
Arbeit ist langweilig, das weiB ich, aber nimm
sie auf Dich, ich sage nicht, aus alter Freund-
schaft, sondern aus der alten Gewohnheit des
Zusammenlebens und der gegenseitigen Achtung,
trotzdem wir manchmal einzeln arbeiteten und
manchen Streit nicht ausgleichen konnten. Eine
solche Gewohnheit, die sich nicht in der Welt
der Abgeschmacktheiten, sondern in derjenigen
der hochsten menschlichen Interessen gebildet,
kommt der Freundschaft gleich.
Es handelt sich namlich um folgendes: Auf
Grund der wenigen Bogen, die ich Dir schickte,
kannst Du noch nicht iiber das von mir geplante
DIE AKTION
144
Buch urtetten. Warte ein wenig, dieser Tage
werde ich Dir mehr Bogen schicken, und sobald
Du Dir eine endgiiltige Meinung gebildet hast,
wirst Du Oir sagen, was Du, urn das Erscheinen
des Buches zu fordern, in literarischer wie in
materiell administrativer Hinsicht zu tun ver-
magst und gedenkst. Wenn Du diese Arbeit
ubemimmst, so wird sie wohl zum Teil schwierig
sein, aber auch nicht ohne Interesse. Beim Lesen
meines Schreibens wirst Du vielleicht in edlem
Eifer entbrennen, vielleicht auch emport sein, und
Du wirst Dich entschlieBen, ein Vorwort zu
schreiben, selbstverstandlich kein schimpfendes
und absolut verneinendes. Sonst miiBten wir es
besonders drucken lassen.
Ich wiirde dann mit einem Nachwort kommen
und Ogarjow wiirde als jury d’honneur sein Urteil
fallen. Das Buch wird wohl etwas seltsam wer-
den, etwa in der Art von Notre dame de Paris,
nicht die von Hugo, sondern die Pariser, jeden-
falls wird es ein interessanteres und bedeuten-
deres werden, als die Werke des pomadisierten
Radikalismus und des „anstandigen“ Sozialismus.
Wenn die Bourgeois ihm auch den Riicken kehren,
so werden es die Arbeiter lesen, ich burge dafiir.
Fur mich jedoch ist das geniigend, da ich, ich
wiederhole es nochmals, kein andres Publikum
habe.
Adieu, und antworte vorlaufig durch Ogarjow
oder poste restante nach Lugano. Meine genaue
Adresse werde ich dir spater schicken.
Dein M. Bakunin
MIT SCHWARZEM UND BLONDEM HAAR
Mit schwarzem und blondem Haar sehen wir die
Volker
Und der Ernst der Jahrtausende beschattet die
Augen.
Wir saBen einsam an schweigendem Wasser,
Der Mond zog durch die Rhomben einer Eisen-
bahnbrucke.
Das ganze System reiste in die Nacht.
Die Maskenziige der Verzweiflung hinterdrein.
Nach dem Spinnengewebe der Sterne
Gab es erblindete Sonnen und verkohlte Himmel.
0 du, heraufgegurgelt aus dem Schlunde der
Ewigkeit,
Was sitzt du hier festgekrallt an deiner Stangc
Wie ein groBer Vogel, nackt und krank?
Gebt ihm ein Worterbuch, damit er nachsehe,
was Gott heiBt.
Wilhelm Klemm
VISION
Ihr saht die starre Maske abends,
1 hr standet angsterkaltet still.
Das fremde Auge, welches euren Blick
Verschlang, war wie ein Grab des Leids,
Darmnen tausendfacher Hunger nistet.
Und friih, als Morgenh often war,
Da saht Ihr wicdcr hin. — Ihr saht:
Ein totes Liicheln hatte in der Nacht
Gelahmt das stumrne Lippenpaar.
Georg Gretor
VERSE
Und auch die Nachte dieser Stadt
Sind unterhohlt von den stiirzenden Glocken.
Uns Nackten wehen in ihr Bad
Des Rausches von ruhlosen Lippen Flocken.
Wo du an uberlaubtem Tor
Weichere Hande nicht wolltest kiissen,
Habt Beidc ihr Schatten sehen mussen,
Und Schreie, da ein Gercchter verlor.
Ein dunkler Seim von krankem Baum
Ward uber das Pflaster zu spaltiger Glatturg,
Und ein Zuschlag sprang wie aus eiserner
Kettung
Einer toten Weiche in deinen Traum.
Alfred Gruenwold
BESINNUNG
Geborstne Glaser stocken
Des Himmels Unendlichkeit Flachen
Schall ist als ob die Glocken
Im Traume sprechen.
Eulen und Flederniause
Fallen ins Tageslicht —
Die Magde im dunklen Gehause
Riisten das Hochzeitslicht.
Jetzt konnen Blinde sehen
Und Kinder werden alt —
Steil stromen in eins die Alleer.
rauschend wie Wald.
K. Teigc Landschafl
14 3
DIE AKTION
146
Die Winde entstiirzen der Rose
heulend vvie ein Schwert,
Bleierne Angsthypnose
Die faulen Stadte durchquert.
Erinnerung sanftcs Oesicht inwcndig
Errichtet eine Saule
Und Demut wandelt mich lebendig
Wie Phonix licht aus Asch und Faule.
Karl Otten
EIN QEDICHT KAISER FRIEDRICHS II., DES
HOHENSTAUFERS (Nach dem Halienischen)
TU, wie der Vogel tut,
Den einer sich gefangen:
Der Iebt von dem Verlangen,
Das sich im Herzen findet
Und nicht schwindet, — dem einzigen Flucht-
begebren,
Weil Ahnliches mein Mut
Erhofft in lauter Schmerzen,
1st mir’s nicht wohl im Herzen:
Solch Liebe ist drin entziindet
Und solchc Sehnsucht, Frau, die mich verzehren,
Zu Euch zuruckzukehren.
Die alle Lust hinieden
Vereint und mich geschieden
Von allem Frieden — und von aller Freud:
Mir scheint, vie! Jahre waren
Dahin, seit wir geschieden,
Und Ruckkehr, — so gemieden, —
Mir kaum beschieden — um das alte Leid . . .
(Ubertragen von Otto Frh. v. Taube)
DAS ENTWEIHTE HEILIGTUM
Kapelle sah ich ganz von Gold,
Doch niemand wagte sich hinein,
Und viele standen weinend draufl,
Wcinend, trauernd, Andacht weihnd.
Da vor den Eingangssaulen weiB
Hob eine Schlange sich empor
Und sie sprengte und sprengte und sprengte
Die goldnen Angeln an dem Tor.
Und glitt die schonen Fliesen hin
Mit Perlen und Rubingegleifi
Und all ihr Scheinen zog sie lang
Und bis hinauf zurn Altar weiB.
Sie spie ihr Gift dariiber aus
Auf das Brod und auf den Wein
So sucht ich einen Schweincstall
Und legte mich dort hin zum Schwein.
William Blake
(Umdichtung von Alexander Freiherr von Bern us)
VERSUCH UBER DEN EXPRESSIONISMUS
Von Paul Hatvani
I
Der Expressionismus ist eine Revolution: damit
will ich nun keine Defination gesagt haben, son-
dern bloB ein Argument zu seiner Geschichte.
Denn, — mag es auch banal und akademisch klin-
gen — : Evolutionen in der Kunst konnen nur nach
Form und Inhalt, immer wieder nach Form und
Inhalt, definiert werden und niemals nach den
auBeren Umstanden ihrer Entwicklung. Geradeso
kann man auch sagen, der Expressionismus hatte
nun neuerdings das Ich entdeckt: diese Erkennt-
nis allein ist schon ein Bekenntnis zur Revolution,
wenn man darunter das maBlose, aber berechtigte
Uberhandnehmen eines Teiles iiber ein Ganzes
versteht. Im Impressionismus hatten sich Welt
und Ich, Innen und AuBen, zu einem Gleichklang
verbunden. Jm Expressionismus iiberflutet
das Ich die Welt. So gibt es auch kein AuBen
mehr: der Expressionist verwirklicht die Kunst
auf eine bisher unerwartete Weise. (Die konven-
tionellere „ungeahnte Weise** ware hier falsch:
dem Expressionismus steht ja die Ahnung naher
als die Erwartung, und so ist die eine Steige-
rung der andern.)
Nach dieser ungeheuerlicheu Verinnerlichung hat
die Kunst keine Voraussetzung mehr. So wird
sie el e men tar. Der Expressionismus war vor
Allem die Revolution fur das Elementare. —
II
Der Weg zum Elementaren ist die Abstraktion.
Allerkonsequenteste Abstraktion fiihrt bis ins Ele-
ment: iiber die Form hinaus, die sie zerstort, bis sie
im Ursprung des Inhaltes Iandet. Man darf nicht
sagen, dafi der Expressionismus den Inhalt vor
die Form stelle. Aber er macht auch die Form
zum In halt So wird auch hier ein AuBerliches
verinnerlicht, und iiber das vorherige Chaos trium-
phiert das Element.
Nichts ist reiner, moralischer, ethischer als die
Darstellung des Elementaren. Das Element kennt
kein Kompromifi; es besteht fur sich, in sich, aus
sich: es ist. Nur das Etement ist durch hloBes
Dasein wirkend: so erfiillt es sich in einer Idee
der Weiblichkeit. Der Mann schafft — das
Weib ist; der Mann beweist sich der Welt durch
das Bevvufitsein — das Weib wird von der Welt
bewiesen. So erhalt — das Element eine gei-
stigen Reflex vom Weibe, und der Expressionis-
mus eine sinnliche Beziiglichkeit zum Geschlecht.
Und da der Kiinstler doch im ewigen Gegensatze
zum Stoffe lebt, wird dieser weibliche Stoff des
expressionistischen Kiinstlers ein Urqueli seiner
erhohten Mannlichkeit.
Der Mann ist differenziert; der Kiinstler eine ho-
here Potenz davon; der Expressionist die vor*
laufig hochstdenkbarste. Das Weib ist das Ele-
ment.
Und im Anfang war das Element. —
III
Die Form wird beim Expressionismus zum lnhalt:
sie macht einen bedeutungsvollen Schritt liber
147
DIE AKTION
148
sich selbst hinaus. Das ist ein Gegensatz nicht etwa
zut Musik, sondem zu dem, das ich „ldee des
Musikalischen** (im Sinne Schopenhauers) nen-
ncn will: denn in der Musik wird auch der Inhali
formal. Aber „in Form aufgelost“.
Diese Transformation der Form in den In halt
bedingt die ungewohnliche Verdichtung des Ex-
press ionismus. Das expression is tische Kunstwerk
ist so konzentriert, dafi scheinbar fiir die Form
weder Zeit noch Raum fibrigbleibt. Der Inhalt
wachst fiber Zeit und Raum hinaus; er erfullt
seine Welt und bestatigt sich im Willen zur Ewig-
keit. So wird das Kunstwerk auf eine neue Art
unabhangig von Zeit und Raum.
Aber es Iebt eine eigene Dimension der Zeit.
IV
Rhythmus ist ein Zeit-Reflex auf das Kunstwerk.
Er ist die innere Periodizitat einer metaphysischen
Lebensbejahung und damit auch das sichtbare
Merkmal einer Kraft, die durch das Kunstwerk
wirkt. Das Kunstwerk ist ja wohl in erster Linie
Sein — dann aber auch Wirkung: und der Ex-
pressionismus vereinigt diese beiden Pradikate der
Kunsi
Im expressionistischen Kunstwerk e ist Sein und
Wirkung Eins geworden: so ist nun auch der
Rhythmus ganz ins Innere des Werkes verlegt
Ohr und Auge sind ausgeschaltet; aber das Be-
wuBtsein der Kunstempf indung ist ungeheuerlich
gesteigert. Hier ruht nun der Rhythmus im In-
halte selbst und hat mit der Form nichts mehr zu
tun.
(Dieses hat wohl den Philister am argsten gegen
den Expressionism us aufgebracht: der „goIdene
Mittelweg" ist ganz verschwunden, und die leicht-
fafiliche Gliederung in Klang, Reim, Ornament und
ewiger Wiederkehr ist nicht mehr zu erkennen.
Das sind aber Dinge, die dem Philister das Wesen
der Kunst ausmachen; der Expressionism us hat
Ihn da rum betrogen!)
Der Rhythmus des Expressionismus ist nicht mehr
Wirkung, sondem E reign is. Er ist nicht mehr
das scheinbare Wellenspiel eines toten Meeres,
sondem die ewige, unendliche Bewegung der
Strom e im Meer. —
V
Im Expressionismus, endlich, ist sich die Kunst
selbst In halt genug. Das ,,1’art pour l’art“ hat
sich zur Idee der „Kun$t an sich“ gelautert. Nicht,
ohne diesem ureigenen Inhalte eine radikale Um*
wertung zu bereiten.
Im Impressionismus noch war ein starrer Inhalt
In das Bewegliche der Form gekletdet: mit der
Form nun bat der Inhalt des expressionistischen
Kunstwerkes auch die Beweglichkeit erlangt.
So hatte die neue Kunst ihre erste grofie, fiber-
irdische Freude am Ausdruck der Bewegung. (Die
futuristische Malerei entlud sich vorerst in der
bewegten Darstellung des Raumes; nach und nach
hat jedes expression istische Kunstwerk die wider-
spruchsvoJIe Statik fruherer Kunstrichtungen in die
sinnreichere Dynamik unserer Anschauung ver-
wandelt. Die Bewegung ist ein Attribut des In-
halts geworden und also der Inhalt selbst.) Statik
und Dynamik: dieser Gegensatz ist im Expressio-
nismus bewuBt geworden. Und dieses BewuBt-
sein wird viel Abgestorbenes uberwinden ; es
scheint mir, als ware jetzt erst die letzte Stunde
des Naturalismus gekommen: der Expressionismus
hat seine Starrheit befreit und in Bewegung ver-
wandelt. —
VI
Bewegung als BewuBtseinsinhalt ist so eminent
neu, dafi wir gar keine Begriffe dafur haben.
Und da das Kunstwerk ein Sein gewordener Be-
wuStseinsinhalt ist, hatte es auch keine Methoden
fur die Bewegung. Hier vvurde der Expressionis-
mus zum erstenmale schopferisch : er schuf Raum
fur die Bewegung.
Der Raum ist ein Formproblem; — diese aber hat
der Expressionismus im Inhalte gelost. So kann
man etwa sagen, dafi der Expressionismus die
Form teilweise durch Bewegung ersetzt
habe, und hat damit schon sehr viel gesagt. —
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149
DIE AKTION
150
VII
Ein beachtenswertes Zusammentreffen geistiger
Erlebnisse: gleichzeitig fast mit der Geburt der
neuen expresstonistischen Kunst begann sich die
neue Relativitatstheorie (vor Allem Einstein)
der Naturwissenschaften zu bemachtigen.
Ich will hier auf diese groBte Abstraktion, die
menschlichem Denken auBerhalb der Kunst bis-
ber gelungen ist, nur kurz hingcwiesen haben.
Audi die Relativitatstheorie hebt jcdes Ding und
jedes Ereignis aus der Starrheit der Statik und
lost es in cine kosmische Dvnamik auf. Alles ist
Bewegung.
Ich will nur anfuhren, daB es zum Beispiel dem
Professor Einstein gelungen ist, die Newtonsche
Gravitationsanschauung durch cine neue zu er-
sctzen, die ich „psychozentrisch orientiert“ nennen
mochte: sie liebt alle Voraussetzungen der ultra-
— und intraphysikalischen Tragheit des Denkens
auf und lost das denkende Ich selbst in den Be-
wufltseinsinhalt „Gravitation“ auf.
. . . Und tut dies nicht auch jedes expressionisti-
sche Kunstwerk?
Der Expressionismus zwingt uns, alle Voraus-
setzungen unserer bisberigen Daseinswelt aufzu-
geben. Der Beschauer versetze sich in das Bild,
der Leser in den Gedanken, der Theaterbesucher
in die Handlung. Um nun die organische Einheit
des Bildcs, des Gedankens, der Handlung nicht
weiter zu storen, bedarf es jener Relativitat der
Anschauung, auf die es ja auch dem Physiker
ankommt. Man hat nichts weiter zu tun, als sei-
nen Standpunkt aufzugeben: die „psychozen-
trische Orientierung“ des Denkens und Fiih-
lens verbietet es, Standpunkte zu haben. So flieBt
alles dorthin zuruck, woher es einmal gekommen
ist: ins Bewu fits ein. —
VIII
Der Expressionismus stellt wiederum die Aprio-
ritat des Bewufitseins her. Der Kiinstler spricht:
Ich bin das BewuBtsein, die Welt ist mein Aus-
druck. Die Kunst vermittelt also zwischen BewuBt-
scin und Welt; oder, wenn man will, sie entsteht
im Werden des BewuBtseins. So ist also die groBe
Umkehrung des Expressionismus: das Kunstwerk
hat das BewuBtsein zur Voraussetzung und die
Welt zur Folge; es ist also schopferischer,
als es das impressionistische Kunstwerk sein
konnte. Dort „brachte“ das Kunstwerk die Welt
„ins BewuBtsein' 4 ; —
Der Expressionismus macht die Welt be-
wuBt. Er apperzipiert das Weltall und fuhrt es
in das Reich des Geistes ein. —
IX
Der Expressionismus stellt das BewuBtsein nicht
uber, aber immer in alles. Das ist seine einzige
Forderung und seine einzige Methode.
Das expressionistische Kunstwerk ist nicht nur
verbunden, sondern auch identisch mit dem Be-
wuBtsein der Kiinstler. Der Kiinstler schafft seine
Welt in seinem Ebenbilde. Das Ich ist auf eine
divinatorische Art zur Herrschaft gelangt.
. . , Und, getreu seinen rclativistischen Grund-
lagen, muB der Expressionismus auf jede starre
Defination seines Wesens verzichten, Alles, was
iiber ihn ausgesagt wird, ist durch ihn bestatigt.
Das Wort erlebt sich selbst, und da es einen
Begriff verfolgt, empfindet es sich als Bewegung:
jeder Ausdruck des BewuBtseins ist Bewegung.
Bewegung: darauf kommt es an. Der Expres-
sionismus hat die Bewegung entdeckt und
weiB, daB auch die Ruhe und das Gleichgewicht
und die ungeheure Tragheit der Welt und des
Schicksals nur Bewegungen sind. Und es ist letz-
ten Endes nur die Erkenntnis einer urspriinglich-
sten Form, wenn er von seiner Welt sagt:
Im Anfang war Bewegung. Denn auch das Wort
ist Bewegung, und im Anfang war das Wort!
DIE GESCHICHTE DES VINZENZ FLEIG
Eine Oroteske von Arnold Bemey
Vinzenz Fleig kam aus irgendeinem Dunstkreise,
der sich aus Luftgeriichen und Staub um die Erde
flocht. Er war weder alt noch jung. — Er — Vin-
zenz Fleig — gehorte gottlob keinem Jahrhun-
dert an — kam einfach aus irgendeinem Dunst-
kreis — war also kein Landsmann — kein Patriot
— kein Bekenner, einfach ein paradiesischer
Mensch ohne Manieren und darum einzigartig.
Er leant, hatte irgendwelche Mission, und ging.
Er hatte eine Mission. Eine glaskiare Sendung.
Man hatte zu ihm gesagt: Dieses entwickelt sich
noch. („Man“ meinte damit die Erde.) Alles
kampft noch und reibt sich auf. Alles ist noch
Anfang, Geh hin, Du hast Schangsen. Du hast
eine Oberdosis Vertrauen zu Dingen und Wesen.
Du warest wohl gcschaffen fur irgendein goldenes
Zeitalter — geh hin — versuch's, deine Oberdo-
sis hinzupflanzen.
Nein eines Tages — ging auch er zu sterben.
Vorlaufig aber soli ich doch etwas von seiner Sen-
dung sagen: Verstehen Sie? Also:
Die Uberdosis. Er hatte also das Recht, irgendwie
Schicksal zu haben. Menschen haben ja im all-
gemeinen kein Schicksal. Sie tappen einfach iiber
ein gewisses Stuck Boden — konstatieren, daB es
vom 20. Jahre ab ab warts geht — ferner, dafi
Fremde einfach Leid werden kann — sind plotz-
lich runzlig und miide, fallen hin wie Ieere Kon-
servenbiichsen bei der MBllabfuhr und rasseln
dann nochmal.
Nein — diese Leute sind die Anormalen, Ich meine
die mit Uberdosis. Sie machen — wie gesagt —
das Schicksal — schreiben es an die schwarze
Schultafel und siehe — alles — gedanken -
strich-los.
Vinzenz Fleig begann zu kampfen. Er nahm alle
Waffen, die die 2000 Jahre hervorgebracht und
kampfte.
Etwas walzte sich gegen Etwas. Die Erdrinde
quoll auf wie Zeitungspapier im Feuer. Millio-
nen kampften sehr toricht wider Millionen ;
alle Sterne lachten iiber die Konkurrenz,
die — sonst ein leuchtendes Vorbild — sich selbst
zerriB, zerfleischte und aufwiihlte. Vinzenz Fleig
stand mitten drin in dem Kampf. Er war der
Einzige, der das Ziel des tausendfaliigen Krieges
DIE AKTION
152
wuftte. Der somit wuBte, worum er kampfte.
Et war sich’s bewuBt, daB es sich um eine Kinder-
krankheit handelte, die da die Erde z. Z. mit-
machte. Schon freute er sich der kommenden,
seligen Jiinglings- bzw. Jungfernjahre. Er wuBte
ganz genau, daB das Geschiecht dieses Jahrhun-
derts dazu da war, Tradition zu machen, mehr
als alle die Geschlechter verflossener Jahrhun-
derte. Und so wie oft Kinderkrankheiten, gut
durchgelittene, — Gewahr geben fur fernere Ge-
sundheit — so sollte auch diese Periode fur die
Erde das sein, was man so im allgemeinen im
Feuilleton unter: „VerheiBungsvolIer Anfang“ ver*
steht.
Wenn ich vorhin sagte: Vinzenz Fleig stand mitten
im Kampf, so diirfen Sie sich das nicht vorstellen
— wie eine kubistische Zeichnung — so — hier ein
Arm und hier ein Auge und hier ein abgeschla-
gener Kopf — sondern eher wie ein Streckersches
Disticton — Sie kennen doch Hermann Strecker,
den Herrlichen? — Also Vinzenz Fleig stand
irgendwie gleichsam im Norden am Rande der
groBen Scheibe alien Erlebnisses — — er
stand im Norden — erlebte alles mit, stand darin
— aber doch noch nicht daruber — wie Leute es
tun, die Iange dasselbe crleben —
Nun bekam er aber eines Tages die Waffe in die
Hand gedriickt, jene Waffe, deren Vollendung
auf allem fuBt, was in jenen 2000 Jahren voll-
bracht.
Er sollte plotzlich auch auBerlich „kampfcn“. Man
sandte ihn auf irgendein Schneefeld, dort stand
er muhsam wie ein dicker Tropfen Blut auf einem
frisch gewaschenen Bettuch.
Er sah mit Einem, wie haBlich das Leid war.
Sah — irotz seiner nun eben durch das Nicht-
vorhandensein des auf den Kinderkrankheiten der
Erde beruhenden FuBenden — logisch-entstehen-
den — einstmals — sowohl mit als auch ohne kon-
fessionelle — insbesonderheitliche Prophezeiung
kommenden goldenen Zeitalters hart getroffenen
Oberdosis an Vertrauen zu Wesen und Dingen
sah — also daB er Mensch war — daB es einfach
von seinem 20. Geburtstage ab ab warts gehen
musse, weigerte sich einfach, das nun einmal pro-
phetenhaft angekundigte Schicksal auf sich zu
nehmen — verharrte torichterweise in der Freude
seiner Kindheit und machte linksum kehrt. Streckte
dem Leid die Zunge heraus. War sich iiber seine
Dosis Weltschmerz klar und zundete sich irgend-
eine Zigarette an, zog seinen Schafspelz an
und stieg in sein unterstes Seelenrevier. Dort
schrumpfte er ganz in Heimweh zusammen.
Machte sich in einer ostlichen Nacht plotzlich auf
den Weg, um heimzukehren. Er folgte dem Schie-
nenstrang, der iiber die Weichsel nach Siidwest
fuhrt und wanderte und wanderte. Neuschnee lag
und biies gewaltig nach Nordost. Jener aber ging,
gefestigt in seiner Freude — in seinem Beharren
am inneren Kindhaften — das das Leid nicht er-
duiden kann, gen Westen. Den 7 s6 in G abgehen-
den Schnellzug D 137 fiihrte Lokomotivfiihrer
Erich Emil Knalle. Er wurde spater freigespro-
chen. Vinzenz Fleig natiirlich wurde ilberfahren.
BRIEF AN GEORG DAVIDSOHN
Von Kranx Werfet
Licber Georg Davidsohn,
vorerst 1&0 mich fllr das gute Du danken, das Du mir gibst,
und erlaube, dafl ich es erwldere.
Wir gehn in unsere scheinbar selbstverslandlichen Grenzen ein-
gemummt, wie in einen riesigen Pelz; wie wohl tut da jeder
Aufblick und jede zerbrochene Zeremonie I
Du wtlrdest mich mit Recht getadelt habrn, wenn ich eine
^Poctik - geschrieben h&tte, d. h. ein Rczept der Dichikunst,
eine Gesetzgebung, eine Technik. (Obgteich ich auch darin
gute GewShrsleute anfuhren kbnnte.) Ich bin aber selbst schuld
an der IrrefUhrung, denn durch die akademUche Bezeichnung
an der Spitze meines Artikels*) habe ich vermutlich Dein Auge
irmiert und von Wesenilicherem abgelenkt.
Es gebt um etwas anderes Nicht um eine unbewiesene Philo*
logie oder um eine Unteriuchung der „psychophysischen Akte w ,
um irgend etwas im Universitiitssinn Wissenschaftiiches. Wohl
aber geht es um Erkenntnis.
Willst Du nun wirklich Deine Ansicbt aufrecht erhalten von
der „scheinenden Sonne 41 , dem „rieselnden Bach - , dem „wehen*
den Wind - und dem „dichtenden Dichter - ? Ich weiS nicht,
wie lange sich dieser I mum von der gedankenlosen nur
mediumistischen Natureracheinung des Dichters in der Welt
herumtreibt. Welch eine entehrende Deklassierung zum
vision&ren Kretin.
Dieser Irrtum beruht auf einer falschen Synonimii&t des Wortes
„Fruchlbarkeit tt , indem nlmlich die Fruchtbarkeit der Natur
der Fruchtbankeit des Geistes gleichgesetct wird.
Des Dichters Fruchtbarkeit heiflt Erkenntnis. Nenne mir eine
bedeutsame Dichtung, die letzten Endes nicht Gestaltung von
Erkenntnis wSre I
Nur das Beweismittel dieser Erkenntnis ist ein anderes, als
das Beweismittel der AllUglichkeit und der Wissenschaft. Die
Logik des Dichters heifit Symboiik. Es werden, um sie zu
erkennen, fltr die Beziehungen der Dinge nicht abstrakte Zeichen
gesetzt, sondern die Gleichnisse Der Gestaltungstrieb des Denkers
hat zwischen Evidenz und Ausdruck einen einfachen bewuflten
Weg zurtlckzulegen, er gestaliet in einer Algebra.
Beim Dichter fuhrt der Weg zwischen Evidenz und Ausdruck
durch unerhbrte I.abyrintbe, er gestaltet in einer der RealitiU
gleichsam Ubergeordneten Realitat in einer Welt, wo die Schnee*
flocke donnernd zu Boden fXUt und die Lawine lautlos nieder-
sttlrit,
Sein Geist ist also fruchtbar in einer fretnden Welt, die ihn
beherrscht und der er vollkommen delerminiert ist. Anderer*
seits nimmt se ; n Geist aber die ursprtlngliche ErschUilerung,
die erste Erkenntnis * Zelle aus dieser uns alien gemeinsamen
hiesigen Lebenswelt hintiber. Diese Dualit&i ist ihm bewuflt,
und da das Erstaunen sein unausldschlicher Anstofi ist, sollte
er sich da so schnell liber sich selbst beruhigen ?I Nein, das
Wort, das in ihm Fleisch wird, ififlt ihn nicht zur Ruhe kommen.
Denn er ist ein Mensch undkein n Bach der rieselt - , und mufi
sein Rieseln kontemplieren.
*
Die Sprache als TotalitKt ist eine ebenbtlriige, gleichaltrige
Schwester der Welt. Die Spracbe und die Welt, beide sind
unendlich. Wenn es auch nur einen beschrSnkien Schatz von
Ausdruck gibt, so ist doch der mdgliche Ausdruck grenzenlosl Es
gibt drei Wesenheiten : Gott, Welt, Sprache, Die Welt selbst,
ist die Sprache, die Gott spriebt. Baum, Strom und Berg,
jede geschloasene Form, jedes individuum inefabile ist ein
Wort Gottes. Desbalb auch ist die Welt unvollkommen, wcil
vollkommen nur das Sein, niemals aber der Ausdruck des
Seins sein kann. Unvollkommenheit jedoch heifil Unruhe. Altes
wird und stirbt, aber alles will vollkommen, das heiflt ewig und
voll Ruhe sein. Der Vollkommenheitstrieb ist das urerste Ele-
ment alles Lebens.
So aber bewegt sich die sterbliche Welt nicht nur in der ihr
immanenten Bewegung. die ihr Gott gibt, indem er sie aus*
spricht (im Organtschen Rhythmus), sondern sie widerspricht ihm
mit einer freien eigenen Bewegung, sie entgegnet ihm, sie
respondiert ihm Die Gesamtbcit dieses Responses heiflt
Sprache. Sprache ist also slier freie Ausdruck der Dinge,
Selbst im Stein mufl tin Minimum von Sprache sleeken. Be-
trachte nur einen Stein im Fallen. Die Verzo^erung. die wach-
aende Beschleunigung, obgleich durchaus im Gesetze der Gra*
*) Heft I /a der AKTION d. J.
DIE AKTION
viution, ergeben doch eine Geste von Widerstand, von Oberlegung,
Den noch 1st die Sprache etvu absolut Menschliches, j& das
Menschliche schlechtweg. Schopenhauer empiirt sich einmal
Uber die bibliscbe Trennung von Mensch und Tier. Abcr wie
das Tier durchaus im Menschen existiert, so existiert der Mensch
durchaus im Tier. Das Menschliche im Tier, und nicht nur
im Tier, sondern in der ganzen nicht menschlichcn Natur, ist
Sprache. (Welch ungeheure Ausdrucksfttlle, alle Fragen des
Hiob: hat doch der Blick eines Hundesl)
Erkenntnis der Sprache ist demnach Erkenntnis der uns zuglng-
lichaten Wesenheit in jener TrinitSt, Sprachphilosophie im
weitesten Sinn, die Deutung des freien Ausdrucka der Welt.
•
Jetzt schtlttelst Du den Kopf und sagst zu Dir : Was will dieser
Mensch ? Nicht genug, dafi er eine Poetik verfaflt hat, tischt er
mir noch eine wirre Theologie auf, als lebten wir im frtthen
Mittelalter. Eine Theologie mit elnem scholastischeo ens rea
lissimum ac purissimum, seinen erstarrten Wort - Geatahen and
deren Respons.
Gleichviel bitte ich Dicb, mir noch ein Stttck zu folgen, deon
ich habe nicht vergessen, dad ich Dir gegenttber einige Erkennt*
nisse, die unter dem Titel „ Substantiv und Verbum* 1 zusammen*
gefaQt sind, rcchtfertigen will.
Der Respons, die Sprache der Well, hat eine doppelte Rich-
tung, eine horizontale und eine vertikale, die kiebtung cum
Nebending bin, und die Richtung xu Gott empor.
Von der Sprache als nVerstlndigung" konnen wir in unserer
Gedankenfolge absehn, und wollen uns g&nz an die absolute
Sprache halten, mehr noch an ihre unbedingteste Form, die
dennoch gebundene Sprache heifit, an den Vers. Was konnen
wir durch den Vers erkennen ?
»
Wie in jeder starken Form des menschlichen Ausdruck* den
Stand der Geschichte und ihre Tendenz! Alle bisherigen Ge*
schichts-Methoden nehmen zum Grund ihrer Anschauung zuflllige
und meist verhUllende Relativitaten. Um nur zwei zu nennen,
die maierialistische und psychologische Methode bleiben bei ganz
unreinen Forme n des Menschheitsausdrucks stehn, bei der Wirt*
schaftsart und bei der Subiilitat der Reizbarkcit.
Niemals noch ist der Ausdruck, der Respons eines Zeitabschnitts
als Ganzes gefafii worden.
Wo ist aber auch der genialeMann dazu, dieses feinsteMetronom t
Denn es ha tide It sich um die Erkenntnis der rhythmiseben
Einheit in der Sprache, die die Welt gegen Gott fubrt.
Wie wenig sagen doch Begriffe wie Kapitalismus oder Libera-
lismus ! Sie bleiben bei einer spiiien Folge stehn und verwan-
deln sie in die Ursache, aus der sie Zustand und Entwtcklung
•bleiten, und mebr noch, sie machen von dieser willkllrlich ein*
gesetzieu Ursache den Ausdruck der Welt in einer Zeitgcnosscn.
schaft abhiingig.
Also der Rhythmus des XX. Jabrbunderts wird als eine Folge
der Kupitals'Wirtschaft angesehn, deren Ursache er doch ist.
Eine Gteichnisfrage aus dem Organischen? Bestimmt unser Tem-
perament unser Tun, oder das Tun unser Temperament? 1st
unsere Geste vom Herzschlag abhiingig, oder der Herzschtag
von unserer Geste?
Wir werden, um das Wesen des XX. jabrbunderts zu erkennen,
nicht von einem konstrukuven Vorurteil ausgehend seine Geste
definieren dlirfen. Wir mttssen den rhythmischen Grtlnden seiner
Geste nachgehn und uns fragen: Warum ist die Impression, die
Chemic der Dinge, die Vereinzelung, die mechanische Verge-
sellschaftlichung seine Geste? Einem guten Ohr milQten, wie
vor allem in der Musik, so auch in der dichLerischen Sprache
diese letzten rhythmischen Grlinde der sozialen Erscheinung deut*
licher tbnen, wie piotzltch das gewahig erwachende Ticken der
Tascbenuhr bei Nacht, und es mttGte so horen kbnnen, wie die
Hexe in der HOhle des Vesuvs, die das Rauschen des Feuer-
pumpwerks im Stamm des Berges deutet.
Um auf unseren Fall zu kommen, der Tonwert, den das Sub-
siamiv (als Idee nattirlich) in der Vers*Sprache einer Zeit hat,
mttGte uns verraten, wie die menschliche Seele dieser Zeit die
Idee des ^Eigentums u wertet, ob sie sich im Besitz sicher fuhlt
gegen die M&chte oder ob diese Sicherheit in die Wehen kommt.
In dem kleinen Aufsatx, dem Du mil Recht seine Bezeichnung
als Poetik vorwirfit, habe ich unbewuOt nicht* anderet unter-
nommen, als die Ahnung einer verlndericn Rhythmik des Welt-
ausdrucks in ein« Theorie des Ged icbls zu kleiden.
Die Grammatik ist mir mit zwei Symbolen zu Hilfe gekommen.
Substantiv und Verbum in diesem Zusammenhang waren mir
Symbol beillufig fur Ding tmd Motive. Aber mil dieser Deu*
lung, ftthle ich, wird das Gedeutete vergrobert.
Ich ahnte durch diese Theorie hindurch eine Entsachlichung,
Entsubstantivierung der Welt, ein Zeitaltcr der Verben (Tun und
Leiden mehr als Haben), Verwandlung, Auflosung der Realitat,
die das Substantiv verUfit, um im Verbum zu wohnep. Ftir diese
erabme Zeit z. B. wird Blume weniger Realitat sein, als Bllihen,
Auge weniger RealitSt als Liicheln, Weinen. BJicken.
Um das besser zu verstehn, mache Dich nur mit der neuen
Malerei vertraut. Also Zukunftsmusik, Ahnung, Hofihung viel-
leicht und Forderung. Der Irrtum war der apodiktische Schein
auf meinen Sateen, den Du natflrlich leicht mit allerhand Bel*
spielen, ja mit mir selber wiederlegen konntest.
Aber nach diesen kurzen Andeutungen, hoffe icb, wirst Du ftthlen,
dafi es mir nicht um Stthettsche Einsichten geht, sondern um
Erkenntnis des Menschen, wozu Du ja auch einem Autpr von
Versen das Recht nicht absprechen wirst,
V
Wenn ich diese Zeileo durchlese, ftthle ich wieder in akem
Schmerz, wie sehr uns alle das Wort vereinsamt und trennt,
und diB alles Zwiegesprttch nur ein Selbstgesprlch ist, das wir
aneinander vorbeifuhren.
Februar 1917 Franx Werfel
LITERARISCHE NfEUERSCHEINUNGEN
Grete Meisel-Hefl. Das Wesen der Geschlechtlichkeit (Ver-
lag Eugen Diederichs, Jena).
Diese zwei Blnde Geschlechtlichkeit wtlnschen die Meinung auf-
kommen zu lassen, als handle es sich um eine psychologische
und darstellerische Untersuchung der Spannung zwischen Physis
und Psyche im Einzelnen, die in der Beziehung zum anderen
Menschen sich als Geschlechtlichkeit erweist, Es wire nicht
notwendig, Uber die Pr&tention des W'erkrs auch nur ein Wort
zu verlieren, da erfahrungsgemit3 selbst lediglich die Erwahnung
Leser wirbt, wenn es nicht ein beispietlos treffender Ausdruck
der Zeit wire. Die Arbeit der Frau Meisel-Hefi enthalt nlm
lich abgesehen von dem Titel ttber das Wesen der Geschlecht*
licbkeit nichts, nicht ein einziges Wort. Man faOt sich an den
Kopf, daft eine Verfaiserin, der jahrelang in einer Atmospbare
der Intellektuellen gedient wurde, die Konjunktur benutzt und
vom Koitus schreibt In der Meinung, dam it dem Wesen der
Geschlechtlichkeit genug get an zu haben. Es ist bezeichnend
ftir diese Zeit, dad in der Entwicklung einer unser ailer Lebens
existenz als Problem bedrohenden Umwandlung der Lebensform
in Erlebentform eine Verfasserin den Eindruck erweeken kann,
als set der kbrperllch vollzogene Sexuslverkehr ein notwendiges,
mehr Oder weniger beschmutzendes Ubcl, gemildert dadurch,
dad der Mann xahlt, oder dad der Mann von Siaals- und Ord
nungswegen zum Zahlen gehalten ist. Es ist schwer, in Er*
innerung der Mtlben so vieler ausgezeicbneter Menschen, die
nicht nur ein Buch, sondern ihr Leben und ihr Lebensgllick
daran gesetzt haben, derartigen Gedankengang aus den Ver*
krampfungen und Bedrttckungen Schwacher und Niedergelretener
herauszulosen, nicht persbnlich beleidigend zu werden.
Naturgemfid ist jetzt in der Allgemeinheit der Glauben zurttek-
get ret en, dad die Geschlechtlichkeit die Quelle des menschlichen
Erlebens ist, dad Erleben gleich Freude gleicb zwingende Ent*
faltung des Menschendaseins ist, und dad die Wtrksamwerdung
dieses Erlebens die Gemeinschaft wird und ist. Gsr nicht zu
reden davon, dad darin die Auflosung ailer noch bestehenden
Verzweiflungen und Unsicherheiten der Menschen zueinander
sich vorbereitet. Stall dessen triumphiert in dem Buch buch*
stlblich rohe OberflSchlichkeit, Gerede ttber Monogam ie (ohne
zu wissen, dad Monogamie im Wesen der Differenzifcrungen der
Geschlechtlichkeit keine begriffliche Form mehr ist, der Koitus
bleibt nur eine fast Irmliche Bestaligung der Beziehung), Am-
menmlrchen Uber Enlartung.
Man glaubt in der Zeit des Dreifligjlhrigen Krieges zu leben.
Es ist ein wenngleich peinticher Trosl, dad derart beratene Men*
schen die Sklavenhorde minifestieren werden, die Handlanger,
zur Peitscbe bereit, falls sie sich glttcklich einleben, zufrieden
sind. Ja die Zufriedenheit , . . Dad aus dem schwitzenden .
stinkenden verkompromidten Chaos diejenigen Menschen, die sich
erleben wollen, freier und ungetrttbt herausstrahlen. Ein in der
T« bedrttekender Trow. j
DIE AKTION
156
ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS
XL1U
Krieg und Heidenmission
Der Vorlrsg, den Herr Pfarrer Dr. Bornemann aus Frankfurl a. M.
am Sonntag abend in der alien Trinitaricrkirche (Metz) fiber dies
Thema hiell, darf ein ganz hervorragendes Interesse in Anspruch
□ehmen, nichi allein wegen des hohen Wertes der Heiden-
mission an sich und des Verlustes, den die deutschen Missions-
gesellschaften im Kriege erlitlen haben, ... So ist er zweifcl-
los ein berufener L’rteiler darfiber geworden, wie und warum der
We It krieg fur die Hei d e n m iss io n Uberhaupi und die deut-
sc he im Besonderen wohl meist betrllbendc, aber doch sehr ver*
schiedenartige Folgen und Wirkungen gezeiligi hat und voraus*
sicbtlich zeitigen wird.
Der Redner ging von der Untersuchung aus, aus welchen tnneren
Grtinden die H e i denchristen in aller Well AnsloG an dem Well-
kriege nehmrn mufiten und genoinmen haben rum Schaden der
Mission. In Afrika fanden sie es von ihrem Standpunkt aus un-
begreiflich und unwilrdig, dafi christliche Volker, deren Venreter
ihnen Friedensapostel sein und selbst ihre kleinen Stammesfehden
wieder und wieder hat ten verb 11 ten wollen, einander mil Feuer
und Schwert zu vertilgen. End wenn so schon die Schwarzen
uneilten, wieviel mebr die Inder, deren Hauplreligion, der Bud-
dhismus und Brahmanismus, das Toten selbst von Tieren verab*
scheut. Vielfach herrschte bei den Heidenchristen die alterdings
mibverstandliche Auffassung, dafi Christus jeden
Krieg tiberhaupt verboten hatte Auch dafi selbst ihre
Friedensapostel, die Missionare, zum Schwert greifen, teilwcise
aktiv an dem blutigen Kriege teilnehmen mufiten, war ihnen an*
stofiig. den Indern noch besonders deshalb, weil der Soldat bei
ihnen durchaus nicht in Achtung sleht und die kriegerische Ge-
sinnung sich auf einzelne StSmme, wie die Gurkas und die Shiks,
beschrinkt. Dafi ihre Landsleute fortgefuhrl und, wie sie bald
erkannten, unter betrtlgeri schen Versprechungen zur europSischen
Schlachtbank gefilhrt wurden, war ihnen unfafibar.
Alle diese AnstoBe trafen nattlrlich das Chrisientum an sich und
damn die ganze Heidenmission. Die Englander sorgten aber
dafiir, dafi zunachst der Flucb des Kneges ausschlieflhch die
Deutschen und damit ihre Heidenmission traf, was ihnen urn so
leichter wurde, weil ihre schamlosen Lfigen ohne iede Mbglich*
kei; der Widerlegung tlberall da durch Rede und Presse ver*
breilet werden konnten, wo ihre Weltsprache den Verkehr be-
herTscht. Ob sie den Deutschen Kaiser in Wort und Schrift in
der schmachvollsten Weise verunglimpften, ob sie verbreileten,
das deutsche Volk sei entsiulichi in all seinen Stiinden und
Kreisen, es hange noch an Heidengottern — man sage dort ia
ganz otfen : der ahe Gott lebt nocht — , sei dabei aber von der-
aniger Machtgier, dafi ihr Volkslied sei: Deutschland tiber allcs!
Dann setzien die lUgenslrotzenden Kriegsberichte ein mit den
HundefUausenden von Deutschen, die schon in Belgien ge
fallen usw.
Selbst die Bewohner des schwarzen Erdteils kamen allerdings
schhefilich in die Lage, an der Wahrheit dieser englischen
Kriegsberichte zu zweifeln.
In Indien machte schon die Emden mit dem Ruf ihrer Heiden-
taten, aber auch der Ritlerlichkeit ihres Ka pi tins dem Glauben
an Englands Lilgen so jah ein Ende. da8 die Volksstimmung in
oh ttbertriebener Weise zu staunender Bewunderung fiir die Deut-
schen, ftlr Kaiser Wilhelm und fUr die Emden umschlug, die
drauf und dran sei, das engtische Indien zu erobern.
Wenn trotz alledem die Bevolkerung Indicns mit ihren 3 1 / a Mil-
honen Christen nicht die Gelegenhcit zu Aufslandcn benutzte,
so hat das seine guten GrOnde, , . . Mil oft rllhrender Treue
baben die indischen Heidenchristen in den schweren Tagen der
Verfolgung und der Vcrbannung zu ihren Missionaren gestanden,
und es ist zu hoffen, dafl das Werk der deutschen Mission von
den aus dem Lande selbst slammenden wohlunterrichteten chrisl-
lichen Lehrern und Ftlhrem ohne Unterbrechung und Schwiichung
fongefuhrt werden wird bis zu besseren Tagen.
, F rank fur ter -Zeitung* ) 11. 1. 19/7 .
KLEINER BRIEFKASTEN
Julius Meier-Graefe. In ihrem Feuilletonieil „Kunst und Leben*
list die „ Deutsche Tageszeitung* vom 19. 2. 1917 sich mit dem
Vortrag beschSfligt, den Sie acht Tage zuvor in Berlin tiber
Paul Cezanne zu halten fUr nUt/lich erachteten : Dr. Storck hatte
die Beschaftigung libernommen. Bit te, lesen Sie nach, weshalb
er seine Kritik tlberschreibt : r Heimliche Liebe*. Ich finde, der
Doktor Storck hat sich die Sache unndtig schwer gemacht. Er
kommt mil „ze iigemSfien* 1 Einwanden, die nattlrlich lacherlich
wit ken. Gegeti Meier Graefe, wenn er tiber Paul Cezanne kommt,
lasse man jenen Meier Graefe auftreten, den die Deutsche Tages-
zeitung im September 1 9 14 aus dem ..Berliner Tageblalt* lobend
ziiieren konnte. Ilie Meier-Graefe Ct*2anne ?: II le Meier-Graefe
der „Drei Gewinne - („B, T.“ 11. September 1914)!
G F. Ich habe das Buch „ England und die Sozialdemokratie u ,
das im Verlage der Annoncenexpedilion Max Kirstein, Berlin SW,
erschienen ist, noch nicht gelesen, ich knnn Ihnen fiber den
Inhalt nur sagen, was ich aus den Anzcigen des Verlegers we i lit
„Ein radikaler Sozialdemokrat ftlr den schrankenlosen U Boot-
Krieg gegen England mit einem Geieitwort von Julian
Borchard t, Preis 4, — Mark. u
Gg. S. Was der „Vorwfirts“ in seiner romantischen Art jetzt
siebenmal wijchentlich „die Schicksalsslunde der Partei* zunennen
liebt, verdient diese Bezeichnung nicht. Langst ist die Schick -
salsstunde vorllber, und das Holterdiepolier-Spiel „KHlrung w
sollie sachgemSfier benannl werden. Ich schlage vor: „Die
Schicksals-Minuten des Partei vorstands.* Denn von „Mehr*
heit“ und „Minderheit“ kann erst dann ernsthaft gesprochen
werden. wenn das Vorstandsfragment die Vertrauens-
frage an die Mitglieder der Partei (nicht an GewShhel) ge-
richtet haben wird Jeder andere Vereinsvorstand hatte, in
gleicher Situation, diese Probe lfingst gewagt! „Ihr beanstandet
unser Tun I Wir werden die Mitglieder befragen und beiseite
stehen, bis unsere Frage klar beamwortet ist. Wir kleben nicht.*
Auf diese Idee der ITabstimmung aber scheinl der Vorstand der
demokratischen Partei nicht kommen zu konnen. Er weifl vielleicht
nicht, dafi eine solche Abstimmung unter Benutzung der Feldpost
Seiche vorzunehtnen ware, Man sollte es ihtn schonend sagen.
Nina und Renate. Zeitungen konnt ihr lesen, ohne da bei Zeit
zu verlieren. Einige Wochen habe ich die ZweimaliSglichen und
die Wdchentlichen ungelesen tlbereinander schichten mtlssen.
In einer knappen Stunde konnte ich jetzt alles VersSumte nach*
holen. Die ersten Worte des ersten Satzes aus dem Leitartikel
des P B. Ts. u vom 10. 2 1917 —
„\Venn auch ftlr das Auge des Laien die augen*
hlickliche Kriegslage nichts besonders Intcres-
sames gibt, so sind doch . . .“
— und ich kenne den ganzen Inhalt. Oder ich nchme Heft 48
der groflen ^Glocke 44 dcs Herm Parvus zur Hand. — Herr
Stefan Grofimann schreibt gegen den tschechi schen Abgeord*
neten Kramarsch. „Dazu kam, wie erwiihrit, die Verheiratung
mit einer vornehmen und reichen Russin.“ „Die Entwurzclung
Kramarschs ist notwendig. Seine politische Wirksamkeit sieht
stch heute mindestens als eine lange Kette von Zweideu-
tigkeiten an.“ Das Wort Zweideutigkeiten unterstreicht
Herr Stefan Grofimann, dessen politische Wirksamkeit erst als
Sozialist und dann als Sozialdemokrat und dann als Thcalerleiter
und jetzt als Ullsteinredaktcur allerdings stets eindeutig gewesen
ist. — Am langsten verweile ich bei der „ Deutschen Tages-
zeitung*. Hier lese ich sogar die Wetterkritik und erkenne das
gegnerische Blatt, wenn cs dort hei Dt „der kaltestc Mhrz-
tag Berlins seit dem Jahre 1848.“
J. G. Carl Einstein Bebuquin ist, neubearbeitet, als Band 5
der AKTIONS BOCIIER DER AETERN1STKN erschienen.
D. A. Gottfried Bcnns Lyrikband ^Fleisch 4 * ist soeben als
Band 3 der Sammlung AKTIONS-DVRIK erscliienen Den
I'mschlag zeichnete Max ( )ppenheimer. Das Buch kostel, in
Halbpergament gehunden, M. 3, — .
DER Bt'TTEN A L’SG A BE DIESES HKFTKS
ist ein Kunstblatt von Max Oppenheimer beigegehen, vom
Kllnsiler signiert und numeriert.
fNHALT DER VORIOEN NUMMER: Homeyer: Der Maler Chagall ( I itelblato / Charles Peguy: Personliche Erinnerungen
an Jaures / Wilhelm Morgner: Federzeichmmg / O. F. Nicolai: Das Rassen problem t R. Bampi: Tusdizeithnung i Riclitei-
BerJin* Macedonische Zigeuner (Original-Holzschnitt) / Osio Koffler: Der Ahne (Zeichnung) > Carl Einstein: Heimkehr Karl
Otien - Gesicht /Josef Capek (Prag): Zeichnung / Albert Ehrenstein: Gedicht t Heinrich Schaefer; Zustand / Oskar Ranch! und
Theodor Rudy: Verse vom Schtachtfeld / Xaver: Caligulas Tod / Hoerle: Holzschnitt { Franz Werfel: Die Metapliysik des
Drehs. Ein offener Brief an Karl Kraus / F. P.: Ich schneide die Zeit aus; Kleiner Briefkasten
*
Fur Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten
Inhalt verantwortlich: Franz Pfemfert, Berlin- Wil-
mersdorf, Nassauische StraBe 17. Tel. Pfalzbg.1695.
Oedruckt bei F. E. Haag, Melle in Hannover.
Die AKTION erscheint jeden Sonnabend, Abonne-
merits kosten vierteljahrlich durch die Post, durch
Buchhandel oder Verlag (unter Kreuzb.) M. 2,50.
Abonnements fur das Ausland kosten M. 3, — .
Buttenausg., lOOnumerierte Exempl., jahrl. M. 40, — .
Verlag der AKTION, Berlin-Wilm ersdorf.
Unverlangten Manuskripten
ist Ruck porto beizufugen.
Alle Rechte vorbehalten.
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WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, UTERATUR, KUNST
ID. JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT NR. 13
INHALT: Josef Eberz: Aktstudie (Titelblatt) I Carl Einstein: Der Leib des Armen / Karel H!ava?ek: Aus der „Kantilene
der Rache M . Detttseh von Camill Hoffmann / Franz Werfei: Die Leidenschaftlichen / Vallotton: Bakunin (Holzschnitt) Maurice
Denis: Hinterlassenes von Ingres / Felix Muller: Federzeichnung / Q. F. Nicolai: Das Eigentumliche der Vdlker / R. Janthur;
bndschaft (Zeichnung) / Stursa (Prag): Federzeichnung / Iwan Ooil: Schneemorgen f Wilhelm Klemm: Schnee / Henriette
Hardenberg: Pein / Alfred Vagts: Verse vom Schlachtfeld / Max Oppenheimer: Federzeichnung / Simon Kronberg: Spur /
Adolf von Hatzfeld: Erinnerung / Strohmeyer: Geiger (Holzschnitt) / Heinrich Stadelmann-Ringen : Musik der Materie / August
Strindberg: Gerichtstage (Deutsch von Emil Schering) / Hermann Kasack: Zu Strindbergs Totentanz / F. P.: Ich schneide die
Zeit aus; Kleiner Brief kasten.
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acht Kunstblatter beigegcben, von den Kilnstlern nume-
riert und sigoiert. Diese Beilagen kotnmen nicht in den
Handel und stellen eincn Wert dar. der den Abonne-
■■
mentsbeuag Ubersteigt! Im Jahrgang 1917 werden
beigegeben: Blatter von Felix Mllller/ Max Oppenheimer /
Ines \Vet2el / Karl Jakob Hirsch / Richter-Berlin u a.
KtlNSTLER-POSTKARTEN DER AKTION
Es sind So verschiedene Drucke erschienen
Zcichnungtn von Mopp / Karg /Schmidt- Roitluff /Schrimpf
/ Klein / Richter Berlin / Nadelman / Feininger / Harts /
Schiele / Mense / Melzer / Tappert i Else von aur
Muhlen / Hans Richter / Josef Capek / Morgner u. a.
100 Stuck M. 3, —
portofrei gegen Voreinsendung des Betrages
DIE A K T I O N S
Band 1
L Y R I K
1914 — 1916
Eine Anthologie
Baud 2:
JONGSTE tschechische LYRIK
Eine Anthologie
WILHELM
Verse
und
K L E M M
B i I d e r
Luxusausgabe M. 15,
A N
N G
Sophie. Der Krcuzwcg der Demut
Ein Roman. Geb. M. 3,—, geh. M. 2, —
Jeder Band gebunden M. 3,
VERLAG DIE AKTION
WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, UTERATUR. KUNST
7.JAHRGAKG HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT "* RZ w
DER LEIB DES ARMEN
I
Ich sehe zu, wie es mir greist.
Grau stiirzt der Leib durch RegenguB in Wande.
Die Hand greift Blitz, der an der krummen Miide
Der Gelenke dunkelt.
In meiner FiiBe Furchen wachst Unkraut,
Ausgetretene Wege sind die hochgequollnen
Adern,
Die langsam in die abendiichen Felder rinnen.
II
Der Baum knickt trocken,
Dessen Schatten mich vermantelt.
Mein Hunger friBt sein Griin.
Luft rostet
Und Schatten eB ich Wiesenboden fort,
Quell trocknet an mir a us.
III
Regen kammt mich,
Wagen jagen mich,
Hunde angsten das zerriSne Kieid.
Hauser stoBen mich ins Irre
Durchs Zerbrochene.
Sparsame Blicke schleudem mich
Ins atemlose Freie.
Dunner Nebe! des Leibes
RoIIt entglittenen Weg.
Taut in die rasenden Horizonte.
IV
Blicke und Suchen
Zergriff mir das Kieid.
Hose alter denn ich,
Ein Fremder ging mit dir
Wohin, ich weiB nicht wohin.
So wolbte fremd Geschick die Hand um mich.
Und mein Gewand
WeiB alteres.
Und ist mir vorgeboren
Dem Enkel seiner Kleider.
Geeckt stoBt Luft mich auf,
Feindlicher Strahl zeigt schamlos meine Brust
Zuriickgezogenen Stilleseins.
Ich wollte ohne dieses all verharren,
Das ich nicht fassen darf.
Luft fingert mir die Haut.
Vertiert bin ich in nacktes Gelb gekleidet.
Mein Herz spielt mit der Wolke und den Platzen,
Entkleidet vor dem furchtbar Vielen,
Das ich nicht weiB.
V
So wirst du ganz mir magern,
Wegziehen Zehrung des Windes in riechende
Wolke,
In Graben sanft verstromen,
Unter Brucken gebeugt vernachten.
Immer ferner
Gehst du von mir.
Kaum noch bin ich.
Gehauchte Luft.
VI
Er gehort mir nicht,
Zahl ich ihn nicht;
Flieht mir in fettiger Wolke,
Umstrauchelt hohnisch was blieb
Hohle meines Gefuhls.
Blaut flach in einen Baum,
Fahne peitscht es mich nach.
Ach er verflieht.
VII
Blut kannte ich vorerst,
Jetzt ist es mir entfremdet
Und ich vergafi des raschen Rots,
Das meine Backe kranklich ausbarst.
Wohl halten Untergange vielleicht rot,
Doch sehe ich den Tag,
Da Licht ergreist in meiner truben Hand.
VIII
Fremd bohren alle
Mein Nacktes.
Ein jeder dringt durch Gange meines Hungers,
Ich wanke jedem Kauf und preisgegebne Feile.
Enger schnur ich mich zusammen.
Hunger speit mich iiber Dacher und durch
Mauern.
Ich taube Augen, daB sie UngefaBtes lidbedeckt
vergessen
Und die Pupille zirkelt in gedrangter Blindheit,
DaB ich Hande nicht mehr spiire.
IX
Die Hande kann ich nicht vergraben,
Die nach mir witterten
Mit der Gewalt des Gebers,
Die mir die Haut rasch offneten
Zu priifen
Herkunft und Weg.
Wohin, was weiB ich, wo ich gehe
In Hunger vernetzt.
DIE AKTION
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159
Und Haar, das Erde diingt,
1st mir ein spitzer Strauch.
Der Mond zeigt eine schmale stillberingte Hand.
Er bohrt sich ein.
Kann ich den Mond bezahlen?
X
EntflieBe Leib
Und zahle Luft,
Die mir zu atmen
Mit Recht verwehrt 1st.
Ich sinke eng in mich.
O Stein.
Ich gehe von dir,
Nicht mehr dich zu pressen,
Und lege, daft du mir nicht ziirnst,
Einen welken, kaum blutenden Finger
In deine Hohle.
Ich stehe spitz gerichtet
Auf den blauen Zehen.
Greift mich Luft und futtert mir das Kleid.
Wind weht in Stern.
Mich trifft er Taumelnden.
Geh mit ihm lieber mir genommener Leib.
Ich schneide dich von mir.
Und du verfallst
An Luft und Wanken stillen Baums.
Du gleitest weg
Ins Nahrende.
Was schreist du?
Carl Einstein
AUS DER „KANTILENE DER RACHE“
Die Ode unsres Landes will der Mond selb&t
nicht bescheinen,
Kein Duft, kein Odem weht, die Saat welkt zwi-
schen diirren Rainen, —
Nur stille, stille, Geusenvolk, — so war's be-
stimmt den Deinen.
Nichts scheucht die Ohnmacht auf, in der die
Glocken miide hangen,
Unmoglich Sturm zu lauten und — die Nacht
ist noch so lange —
Nur stille, stille, Geusenvolk, nur zahme du dein
Bangen.
Den Dolch der Rache in der Faust, reih dich
zu langer Kette,
Brich auf zum Marsch durch Nacht und Wind,
aus dem zufriednen Bette,
Nur stille, stille, Geusenvolk, weckst du die
Schlummerstatte.
Und schleich dich auf verlornem Pfad bis an die
Bruckenwache,
Auslose, weB erhobne Faust als erste nieder-
krache —
Nur eile, eile, Geusenvolk, nimm Rache fur uns,
Rache!
Karel Hlavatek
(Obersetzt von Cam ill Hoffmann)
DIE LE1DENSCHAFTL1CHEN
Mein Gott, es werden sein zu Deiner Rechten
Nicht die Wahrhaftigen und die Gerechten.
Doch alle, die in dreizehn Dezembemachten
Vor einem Fenster standen. Und Frauen, die sich
rachten
Mit Vitriol und dann im Gerichtssaal ergrauten.
Die Eifersuchtigen all, die ihr Blut stauten,
In Droschken weinten, in Salen sich erfrechten.
Die durchgefallenen tiefen Atmer,
Sanger, die mit bezechten
Gliedem dem Tod sich in die Grube schmissen,
Sie werden sein zu Dir emporgerissen,
Sie werden sitzen, Gott, zu Deiner Rechten.
Es werden wandeln in Deinen Garten
Nicht nur die Demutigen und die Beschwerten,
Nein alle, die leuchteten und verehrten.
Madchen, die in Konzerten erkrankten,
Weil ihre Wangen zu bleich sich verklarten.
Blicke aus Augen, die dankten . . .
Wahre Augenblicke zu nimmer verzehrten
Dauern aus Zeit in Deine Zeiten gehoben,
Werden sie Iodem weiter und loben,
Leichte Feuer wandelnd in Deinen Garten.
Es werden ruhen, Gott, in Deinen Tiefen
Nicht die allein, die Deinen Namen riefen.
Nein alle, die in den Nachten nicht schliefen.
Die am Morgen ihr Herz in beiden Handen
hauften
Wie Flamme und liefen,
Tiefatmend, blind in unbekannten Lauften.
Ein Kustenwind singt in Selbstmdrderb riefen.
Die Knaben haben Meere nicht verstanden.
So brannten sie sich ab in Hieroglyphen.
Nun knarrt ein RoB-Schild an den schiefen
Eisernen Kreuzen der Konfirmanden.
Wie sehr wir hier sind, sind wir doch vorhanden.
Die hier unruheten aus Deinen Tiefen,
Sie werden ruhen dort in Deinen Tiefen.
Franz Werfel
Vailotton Bakunin
DIE AKTION
162
bUNTERLASSENES VON INGRES
Von Maurice Denis
ttier, in methodischer Ordnung wiedergegeben,
eiaige Aphorismen, die wichtig genug sind, urn
die Doktrine Ingres zu charakterisieren. Diese
Aphorismen wurden teils den eigenen Schriften
Ingres, teils den Erinnerungen seiner Schuler ent-
nommen.
Vor allem die Notwendigkeit der Doktrine selbst:
„Poussin ware nie so groB ge worden, wenn er
keine Doktrin besessen hatte . .“
Ober das Kunstwerk:
„Wenn ich einen Sohn hatte, ich wiinschte, dafi
er das Malen nicht anders erlernt, als indem er
Bilder macht. 44
Uber die Natur und das Schone:
„Die hohere Natur 1st eine Herrin, sie bewilligt
alles denen, die an sie frei herankommen, und
ist nur geizig gegen verschamte Bettler. 44 (Flan-
drin.)
„Behalten Sie stets diese gliickliche Naivitat, diese
entzuckende Ignoranz. 44 (Amaury Duval.)
„Lieben Sie das Wahre, weil es immer auch
das Schone ist. 44
„Wenn Sie dieses Bein haBlich finden wollen,
ich weifi, Sie werden schon dafiir Grund haben;
aber ich sage Ihnen: Nehmen Sie meine Augen
und Sie finden es schon.* 1
„Wenn ich euch alle zu Musikern machen konnte,
ihr wiirdet als Maler dabei gewinnen. In der
Natur ist alles Harmonie . . . Heutzutage schreit
eine Anzahl von Kiinstlern gegen die Kompo-
sition, sie wollen keine Einteilung des Bildes
haben . . . die Natur des Zufalls, nichts als die
Natur, und darauf die Farben in Massen anhaufen :
das sind ihre Prinzipien. 44 (Baize.)
„Und was fur ein Genie Sie auch sein mogen,
wenn Sie bis zu Ende nach dem Modell, nicht
nach der Natur, malen, werden Sie zum Sklaven
des Modetls werden, Ihre Malerei wird nach
Sklaventum riechen. Die beste Probe des Gegen-
teils davon gab uns Raphael, weil er die Natur
solchermaBen beherrschte und sie so gut in sei-
nem Gedachtnis behielt, daB man sagen konnte,
nicht er habe ihr, sondern sie habe ihm ge-
horcht . .
Poussin pflegte zu sagen: „Ein Kiinstler lernt
eher, indem er die Sachen beobachtet, als indem
er sich bemiiht, sie zu kopieren; ja, aber es ist
notwendig, daB der Kiinstler seine Augen ge-
braucht. 44
Amaury Duval erzahlt, daB Ingres den Ausdruck
„chic 44 in seinem Atelier nicht dulden wollte. Er
erzahlt auch von dem Abscheu Ingres gegen Ana-
tomie und das Skelett.
„Anatomie ist eine furchtbare Wissenschaft ! Wenn
ich Anatomie erlernen muBte, wiirde ich niemals
ein Maler werden. 4 *
Er sagte:
„Machen Sie Linien, vie! Linien, aus dem Ge-
dachtnis, oder nach der Natur, auf diese Weise
werden Sie ein guter Kiinstler werden. 44
Folgende Bemerkung aus den Heften des Mont-
auban, die er dann in einem Artikel des Kunstlers
Delecluze wiedergegeben hat, kann man als giiick-
lich gelungene Formel seines Gedankens be-
trachten:
„ . . . Er horte mit seinen edlen Bemiihungen
nicht auf, die Natur mit der Wiirde der Kunst,
die er ausiibte, intakt zu bevvahren. Sogar in
den Portrats frappiert die Miihe, die er sich gibt,
seine Gedanken zu konzentrieren, indem er alien
Formen die moglichste Homogenitat verleiht ; die-
ser lnstinkt, der ihn zwingt, die hauptsachlichsten
Ziige de Geichts mit den Einzelheiten, die die
Tendenz haben, sich vom Ganzen zu emanzipieren,
in Einhett zu behalten. 44
Gber die antiken Meister:
„Die Meisterwerke der Antike sind mit denselben
Modellen gemacht worden, wie wir sie vor un-
seren Augen jeden Moment in Paris haben . . .
Man muB das Geheimnis des Schonen durch das
Wahre finden. 44 (Janmot.)
„Die Alten haben alles gesehen, alles verstan-
den, alles gefiihlt, alles gegeben. 44
„Die antiken Figuren sind nicht deshalb schon,
weil sie einer schonen Natur ahnlich sind . . . Die
Natur wird immer schon sein, wenn sie den
schonen Werken der Antike ahnlich sein wird.“
„Die Superioritat der griechischen Kunst zeigt
sich in der Meisterschaft der einfachen Hand-
werker, der Topfer z. B. Eine einzige Kompo-
sition einer schonen Vase wiirde einen modernen
Kiinstler beriihmt machen. 44
„Studieren Sie die Vasen, nur durch sie begann
ich die Griechen zu verstehen. 44 (Baize.)
Sein Ideal, schreibt Janmot, war die Antike durch
das Studieren der Natur wieder zu schaffen.
Felix MHUer Zeiehnuny
163
DIE AKTION
164
k
Von den Primitiven in Pisa, 1806, sagt er:
„Auf den Knien sollte man diese Leute kopieren!“
„lch weiB sehr gut, daB diese Figur (ein Werk
von Giotto) eine zu pointierte Nase und Fisch-
augen hat; aber selbst Raphael wiirde einen
solchen Ausdruck nicht erreichen.“
Lange vor der romantischen Epoche merkte
Amaury-Duval, daB er mittelalterliche Sujets dar-
stelle. Er hat sogar der Kunst dieser Epoche
eine gewisse naive Harte entliehen. (Charles VII.,
Francesca, Angelique.) Fiigen vvir hinzu, daB er
als erster in historische Szenen die Sorge um
Lokalfarbe und Archaologie einfuhrte ; in seinen
Heften findet man unzahlige liebevoll gezeichnete
Kostiimentwurfe nach Kupferstichen oder Bildern
der Primitiven.
Bei Raphael zog er vor allem die Disputa und
die Messe von Bolsene vor.
„RaphaeI, der Gott, das unvergleichliche Wesen,
der Absolute, der Unzerstdrbare, und Poussin
der vollkommenste der Menschen.
„Nahrt euch davon, meine Herren, nehmt davon
alles, was ihr nehmen konnt, das ist das himm-
lische Manna, das euch ernahren wird, das euch
starkt (Amaury-Duval).
Uber die Zeichnung:
„lch werde auf die Tiire meines Ateliers schrei-
ben: Schule fur Zeichnen, und werde Maler
machen.“
„Die Zeichnung ist die Ehrlichkeit der Kunst.
„Die Zeichnung enthalt alles aufler der Farbe . . .
Das ist der Ausdruck, die innere Form, der Plan,
das Modele.
,,Die Linie ist die Zeichnung, ist alles.
„Selbst Rauch muB durch einen Strich ausge-
driickt werden.
„Die Zeichnung ist alles, sie ist die ganze Kunst.
Das materielle Verfahren der Malerei ist sehr
einfach, man kann es in acht Tagen erlernen;
durch das Studieren der Zeichnung, durch die
Linien erlernt man die Proportion, den Charakter,
die Kenntnis der menschlichen Naturen, der ver-
schiedenen Alter, ihrer Typen, ihrer Formen, das
Modele, welches die Schdnheit des Werkes voll-
endet.
„Der Ausdruck ist der wesentliche Teil der Kunst
und ist eng an die Form gebunden.
„Es gibt keine korrekte oder unkorrekte Zeich-
nung, es gibt nur schone und haBliche Zeich-
nungen und das ist alles. (Janmot.)
Was er Anfangern beibrachte, war nach Amaury-
Duval die Linie und die MaBe, d. h. die Be-
wcgung, die er selbst so leicht erfaBte, weiter
die Silhouette der Schattenmasse, indem er die
Augen halb schloB.
,,Die ganze Figur, die Ihr darstellen wollt, sollt
Ihr in den Augen, im Geiste behaiten; die Aus-
fiihrung ist nichts anderes, als die Erfiillung des
Bildes, das schon bewaltigt und vorgeahnt ist.
Man muB der Form Gesundhcit geben.“
Uber die Malerei:
,,Eme Sache, die gut gezeichnet ist, ist auch ge-
niigend gut gemalt.
„Es kam noch nicht vor, daB ein grollcr Zeichner
nicht die Farbe gefunden hatte, die nicht genau
dem Charakter der Zeichnung angepaBt ware.
„Die wesentlichen Qualitaten der Farbe sind am
meisten im Ensemble der Massen und dem
Schwarz des Bildes enthalten.
„Die Farbe, der animalische Teil der Kunst . . .
„Vor den Rubens verseht euch mit Scheuklappen,
wie man es mit Pferden tut.“ (Amaury-Duval.)
„Meine Herren, gebt WeiB in die Schatten hin-
ein“ (id.)
„Man soil nicht bei einem Schatten einer Kontur
die Farbe um den UmriB herumlegen, man soil
sie darauf legen.
„Schmale Reflexe, Reflexe, die die Konturen ver-
langern, sind der Erhabenheit der historischen
Malerei unwiirdig.
„Die Kunst, die Gegenstande der Malerei her-
vorzuheben, was vide a!s das wichtigste Moment
eines Bildes betrachten, war es nicht, worauf
der groBte Kolorist Tizian seine Aufmerksam-
keit ienkte. Maler niedriger Qualitat machen dar-
aus ein Geschrei, ebenso wie die Menge der Lieb-
haber, die die groBte Befriedigung empfinden,
wenn sie eine Figur sehen, um die, wie sie sagen,
man herumgehen konnie.
,,Man ist erst zu Ende, wenn man uber der Voll-
endung steht.
„Man muB die Geschicklichkeit verwenden, indem
man sie verachtet, und trotz allem, wenn man da-
von fur 100 000 Francs besitzt, muB man noch
fur zwei Sous dazulegen."
Ingres predigte die Natur, man solle sie in Zeich-
nungen ubersetzen. Aber die Zeichnung ist keine
Kopie des Modells, vor allem muB man die Schdn-
heit suchen. Und was ist Schonheit? Das ist
das, was man bei Raphael und den Griechen her-
ausliest.
,,Wenn man sich Rechenschaft uber die Uber-
treibungen eines Menschen gibt, ist der Wider-
spruch zwischen den zwei oder drei Prinzipien,
den Phrasen, Gebarden, der Stimme und welcher
Betonung, mit dem er sie abwechselnd aufstellt,
nicht so groB.“
Dieser vollbliitige, machtige, entschiedene Tou-
louser liebte seine Schuler wie eigene Kinder.
AnlaBlich eines Skizzenwettbewerbs schrieb er:
„Man hat eine furchtbare Ungerechtigkeit began-
gen, ich bin davon ganz krank geworden; wenn
man euch miBhandelt, miBhandelt man meine Kin-
der.“ Er sagte von Flandrin, dem das erstemal
der Preis von Rom verweigert wurde: „nun haben
sie das Lamm erwiirgt.“ Dieser Mensch, der
beim Gedanken, seinen Rat zu verkaufen, weinte,
umarmte, gestikulierte und sich emporte, war einer
von denen, die alle auBeren Mittel, den ganzen
notigen EinfluB besitzen, um Meinungen jungen
Leuten vorzuschreiben. Alle Kiinstler, die sich
ihm naherten, bewahrten eine unvergeBIiche Er-
innerung an das Gefiihl, das jedes Wort von
ihm, jede Bewegung, jeden Blick erfiillte.
Seine Schuler empfitigen diesen Unterricht; jeder
seinem Temperament gemaB, jeder in ganz ver-
schiedenem Sinn, dekorativen, katholischen, goti-
schen, philosophischen, literarischen, neugriechi-
165
DIE AKTION
166
schen und natural istischen. Manche verstanden
ihn besser, als er sich selbst verstand. Amaury-
Duval erzahlt in bezug darauf eine typische Anek-
dote vom Maler Granger, der behauptete, Odipus
sei idealisiert, wahrend Ingres, vor Wut schau-
mend, beteuerte, er sei nur nach der Natur ko-
piert. Er wunderte sich dariiber und nachtraglich
auch iiber den Mangel an Logik bei Ingres. Er
glaubte, sagt er, uns die Natur kopieren zu lassen,
in Wirklichkeit lieB er uns sie kopieren, wie er
sie sah. Die meisten nahmen seinen Rat an,
ohne deutlich das Prinzip hervorzuheben.
Am an ry- Duval baute darauf seine Theorie von
der subjektiven Umgestaltung.
Er erinnert sich an den Vorwurf, den man der
Odalisque Pourtales (jetzt im Louvre) gemacht
hat, daB sie drei Wirbelbeine zuviel habe und ant-
wortete: „Wiirde sie denselben Reiz haben, wenn
die genauen Verbal tnisse eingehalten waren? Hier
ist das Wort des Odilon Redon zu zitieren, vor
Paolo und Francesca, der sie mit der gewagten
geometrischen Bewegung eines Krebses, der seine
Beute fangt, umfaBt: Ingres hat Monstrositaten
geschaffen !
Und doch! Es ist bemerkenswert, daB er, in*
dem er die Natur und ihr ideal predigte, doch
Schuler zu erziehen vermochte, die nach ihrer Art
ihre Fahigkeiten entwickelten, Janmot, Fiandrin,
Mottez oder Signol, die sich nicht begniigten, das
Model! zu umschreiben, und der, indem er zu
kopieren glaubte, Dichtungen der Naivitat, der
Strenge, der GroBe und der Emphase geschaffen
hat. —
(Autorisierte Obersetzung von Maria Einstein)
DAS EIGENTOMLICHE DER VOLKER
Yon G. F. Nicolai
Es gibt Milliarden von Menschen und es gibt in
jedem der heutigen Kulturvolker Millionen von
Menschen; und wenn auch, wie Schleiden einmal
sagt, kein Blatt dem anderen ganz gleicht, und
wenn auch jeder Mensch innerhalb dieser Milli-
onen etwas Besonderes hat, was ihn als Person-
lichkeit unbedingt singular erscheinen laBt, so
konnen bei der groBen Zahl der Menschen diese
Unterschiede doch nicht gar zu groB sein, und
vollends in bezug auf die praktische Verwertung
des einzelnen fur die Zwecke der Allgemeinheit
erganzt ein Mensch den anderen. Ebenso aber ist
es mit den Kultumationen. In ihr haben dadurch,
daB im Durchschnitt alle Menschen unter an-
nahernd gleichen Bedingungen aufgewachsen
sind, die einzelnen ein gewisses gemeinschaft-
liches Geprage erhalten. Und dieses Gepragc
kann man als das Eigentiimliche des betreffenden
Volkes betrachten.
Von diesen Kultumationen aber gibt es hochstens
ein Dutzend. Und von diesem Dutzend ist keine
entbehrlich, denn man muB nicht glauben, daB
es irgendein Volk gibt, das sowohl Religion wie
Kunst, Wissenschaft wie Politik, Technik wie
Handel, kurz, alles Menschliche besser verstande
aJs aJJe andern Volker zusammen.
Durfte man Paradey missen wollen, weil man
Helmholtz besitzt, oder Lamarck, vveil nun Dar-
win geboren ist? —
Ersetzt Bismarck Napoleon, oder Washington
Cromwell? Jesus aus judaa und Francesco d' As-
sisi sind aus der christlichen Religion ebensowenig
wegzudenken wie der deutsche Luther oder der
russische Tolstoi.
Der deutsche Mathias Griinwald hat die Kar-
freeitagstragodie anders gesehen als der Flame
Rubens, der Italiener Mantegna anders als der
spanische Greco. Aber wer kann sagen, welches
das tiefste Schauen war? — Eine Entscheidung
ist ebenso unmoglich wie die, ob die Trauben
von Burgund, vom Rheingau oder von Hispanien
den besten Wein geben. Es sind dies wie der
russische Kaviar, der Seibling vom Konigssee, der
Bernstein OstpreuBens und vieles andere spe-
zifische Landesprodukte, die nirgendwo anders
gedeihen.
Auch industriell kann jedes Land etwas Beson-
deres hervorbringen. Die Lyoner Seide, das
schlesische Linnen, die englischen Kattune, die
russischen Pelzwaren sind oder waren doch be-
rtihmt.
Es ist wahr, die Industrien wechseln durch irgend-
welche technische Fortschritte einzelner Lander:
Einst war die Damaszener Klinge die beriihmteste,
dann gait der Degen aus Toledo als der beste.
Ihm folgte die hohe Entwicklung des englischen
Stahles, und heute ist Deutschland erfolgreich be-
miiht, diesem den Rang abzulaufen.
Aber nie kann ein Volk in allem das Beste leisten,
nie kann ein Volk das Genie der anderen Volker
entbehren. Es ist richtig, daB z t B. Deutschland
in einer groBen Zahl von Industrien heute sich
ruhig neben anderen Volkern sehen lassen
kann ; aber darum diirfen wir die anderen Volker,
die unsere Lehrmeister waren, nicht vergessen
wollen. Uberdies kommt doch immer wieder
etwas, worin sie uns voraus sind. Man denke
nur gerade an die Instrumente des neuzeitigen
Verkehrs: Die Automobile kamen aus Frank-
i2. Jantkur
Landsrhttft
167
DIE AKTION
168
reich, die Aeroplane aus Amerika, Unterseeboote,
die Funkentelegrahie aus Italien.
Gewisse Einzelheiten werden immer aus dem Aus-
lande bezogen, wie z. B. jetzt Lumiereplatten
aus Lyon, Tabloids aus England, Gummischuhe
aus Rutland, Strohhute aus Italien. Manches kauft
man in der Fremde, weil man es zu Hause nicht
produzieren will, manches aber auch, weil man es
nicht produzieren kann, und zwar nicht etwa,
weil es an Rohstoffen mangelt, sondern deshalb,
weil in gewissen Beziehungen das technische Kon-
nen anderer Lander weiter vorgeschritten ist.
Auch Deutschland ist in vielem von anderen Lan-
dern jiingerer Industrie schon eingeholt, vielleicht
sogar iiberholt worden. Es ware muBig, im ein-
zelnen vergleichen zu wollen, welches Volk ge-
wisse Dinge besser macht, aber die auBerordent-
lichen Erfolge Amerikas auf dem Gebiet des Ma-
schinenbaus (Prazisionsmaschinen und in der Elek-
trotechnik) liegen klar vor Augen.
Wie der einzelne schon langst nicht mehr fahig ist,
sein Leben sich ohne Hilfe der anderen zu ge-
winnen, so sind auch die Volker aufeinander an-
gewiesen. Vor allem, es wiirde eine Verarmung
bedeuten, wenn jedes Volk nicht freudig von allem
anderen lernen und annehmen wollte. Es ist
schon bedauerlich genug, daB in letzter Zeit mehr
und mehr der Unfug einreiBt, fur jede Erfindung
sich einen nationalen Erfinder zuzulegen, aber dies
ist noch eine sehr harmlose Eitelkeit. Schlimm
ware es, wenn wirklich jede Erfindung ein
dutzcndmal gemacht werden muBte.
Dies alles ist so selbstverstandlich, daB beispiels-
weise Guizot in seiner Geschichte der europai-
schen Zivilisation sagt: „Sie ist zwar im all-
gemeinen in den verschiedenen Landern Europas
relativ gleichformig, aber doch unendlich mannig-
Stuf§a Zcichnung
faltig und in keinem Landevollendet. Ihre
Elemente miissen bald in Frankreich, bald in Eng-
land, bald in Deutschland und bald in Spanien
aufgesucht werden.“
Diese Mannigfaltigkeit bei relativer Gleichformig-
keit ist auch heute noch unbestreitbare Tatsache,
und die Frage nach der Berechtigung eines ex-
k 1 u s i v e n Patriotisms sollte daher unter ernst-
haften Mannern eigentlich nicht diskutiert werden,
denn nur ein Wahnwitziger konnte die Gesamt-
heit der Nationen streichen wollen, um seine
eigene allein an deren Stelle zu setzen.
Neben seinen Vorzugen hat jedes Volk auch seine
Fehler: die Fehler seiner Vorziige, denn es gibt
kaum eine gute Eigenschaft, die nicht wie ihren
Schatten auch einen Nachteil notwendig bedingte,
Wer sehr wohltatig ist, kann nicht sparsam sein,
wer die Gute zum Prinzip seines Lebens gemacht
hat, kann nicht immer der Klugheit folgen, wer
den Erfolg an seine Fersen zwingt, kann nicht
die feinste Bliite der Kultur verkorpern und ahn-
liches mehr. Der fur ubersinnliche Dialektik und
ethische Gesetzgebungangelegte Semitische Stamm
beispielsweise, der friih zu vergleichsweise reinster
Auspragung der Gottesidee gelangte, verbot, ein
Bildnis seines Gottes zu fertigen, tat deshalb die
Kunst in Bann und hatte, wie Emil du Bois Rey-
mond einmal sagt, den Gotterbildner Phidias ge-
steinigt. So ist es liberal], und ein jedes Volk
hat gute und schlechte Eigenschaften, die, wenn
man genauer zusieht, einander notwendig bedin-
gen. — Darum kann ein Volk auch meist seine
Fehler nicht ablegen, ohne gleichzeitig seine Vor-
ziige zu verlieren.
Es widerspricht dem durch die ganze Natur hin-
durchgehenden Gesetz der Okonomie, alle Vor-
ziige zu besitzen, und wenn diese Sehnsucht, der
Menschheit Krone zu erringen, auch unser bestes
Teil sein mag, so laBt sich mit dem faustischen
Wort: „ich will*' doch nicht alles machen —
immer kommt ein Mephistopheles und flustert uns
ins Ohr, man konne nicht:
Alle edlen Qualitaten auf seinen Ehrenscheitel
haufen,
Des Lowen Mut, des Hirsches Schnelligkeit,
Des Itaiieners feurig Blut, des Nordens Dankbar-
keit,
LaBt ihn Euch das Geheimnis finden,
GroBmut und Arglist zu verbinden.
Und Euch mit warmen Jugendtrieben,
Nach einem Plane zu verlieben.
Mochte selbst solche einen Herren kennen,
Wiird ihn Herrn Mikrokosmos nennen.
Wer aber diese tatsachliche Unmoglichkeit ein-
gesehen hat, der wird nicht von s einem Volke
glauben, daB es alle edlen Qualitaten in sich ver-
einige, sondern er wird sich freuen, wo immer
er etwas Gutes und Schones sieht, und wird
sich zu der Goetheschen Weisheit durchr ingen,
um endlich auch in bezug auf andere Volker
sagen zu konnen:
Was je ihr gesehn,
es sei wie es wolle,
es war doch so schon.
m
DIE AKTION
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^
SCHNEEMORGEN
Der Schnee, der zu Morgen die Stadt befiel, war
wie eine schauernde Erinnerung der vergang-
nen Nacht:
Goldene Stempailletten, bunte Karnevalsbander,
rote Liebesblumen: erblaBt war all die Pracht.
Aber die Stadt lag da wie ein geschliffener Dia-
mant; das siebenfarbige Licht brach sich von
alien F lachen los.
Die Platze schuttelten die schattengrfinen Domi-
nos.
Die StraBen, orangehell unter den triefenden La-
ternen, krummten sich wie trockene Schalen.
Steinrunzlige Kirchen funkelten im Purpur der
Morgenstrahlen.
Blaue VergiBmeinnicht bliihten in erwachenden
Fenstern auf.
Die Reiterstatue trug Schneesilber auf Pallasch
Mantel und Knauf,
Die ersten Menschen, die das sahen, glaubten in
ein glasernes Paradies zu treten.
Schnee schluchzte in die Stadt wie ein stummes
Seufzen, ein inneres Beten.
Es staubte inniges, sinniges Leid
Cber die harte Wesenheit
Wie schmerzliches Lacheln, wie eine geschminkte
Pierrotmaske lag der Schnee,
Wie ein trostlos trauriges Weh,
Ein mfider Schnee,
Ein gutiger Schnee.
Ein grublerisches Sinnen und Spinnen:
Gedanken fiber ein Totenlinnen.
Iwan Ooll.
SCHNEE
Die Hauser werden ganz klein. BlaBrosa und
blau.
Die Allee geht leise fiber eine Hohe im Norden,
Dunstig und wolkenlos steigt der Himmel auf,
Aber das WeiB, das WeiB liegt weit auf den
Feldern.
Wo vereinzelt die alten Weiden —
Und eine Wolke von Krahen sich senkt,
Das Auge muB immer wieder in die Sonne blinzeln
Und ein Glockchen schiafert fiber die Ebene.
Nichts. Einsamkeit im W*iB. Verschneites Land.
Sonne drfiber hin.
Schnee der Jahre ist ins Herz gefallen —
Schon und rein. Und die Luft ist leichter als jc.
Wilhelm Klemm.
PEIN
Der Mond steht auf meiner Seele,
blaue Gesfaffen meines Versenkens
zucken aus Ecken hervor.
Ich warte ungestort auf fremdes Schleichen in
meinen Wegen,
auf fable Lichter, die in mich leuchten wollen.
Ich starre nach den blauen Flammen-Recken
und finde meinen gepeinigten Leib.
Mondespfeile toten mich und die Tat.
Ich weiB nicht, wann der Tag kommt
und seine Schatten bringt . . .
Henrietle Hardenberg
MEINE ABENDE
Zu zierlich deuten Schachtelhalme kalte Vorzeit
an,
amphibisch schleppt mit Wolken sich der Himmel.
Ein elegischer Gedanke nimmt die Klage der
Prothesenfruhlinge vorweg
unter Baumen, Kruppeln ohne die weichen Hande
ihres Laubs, die den Bruch der Wolken-
Darme zuruckdrucken,
die im Donner ausbrachen auf den Schlachttisch
der Erde
und hinter Hfigel lautlos polterten, wo in Ko-
lonnen Pferde auf steifen Beinen ster-
ben.
Abendfarben trocknen, blau und roter Schorf sinn-
loser Operationen,
deren Chloroformwattemaske, Wiesennebel,
dampfend sich in das zerspannte Ge-
sicht der Nachtposten druckt.
Mich Oberwachen anhohlen Sorgen erdengrau,
mich weht Einsamkeit an wie Wind der Sand-
schwalben verlassene Nester.
Max Opptnhefmer
Studie fur ^Operation*
171
DIE AKTION
172
In einem Panzer, von Schlachten schwer ge-
buckelt und gehammert, erhalt mich Ge-
wohnheit, eiserne.
Fauste in zerschwungcnen Augenhohlen aufwuh-
len das Gesicht
zu der Toten Stirnen-Angesicht, erhaben und ge-
drilckt ewig edle Urnenform,
in die versprengte Halme von den Grabenrandern
Mondlicht traufeln.
Alfred Vagts
SPUR
Da ich mich im elliptischen Dank erinnere,
stiert mein Gefuh!, verziickt in Brennpunkten, auf,
die zueinander krank sind von kreisenden Augen.
Und traf einmal am Tor eines toten Gehofts
ein Licht, verdruckt infam meiner Liebe zu mir,
o, nackt im Kranze der Nacht, die Feldwege fraB.
Erstand es den Flimmer a!s Dank gerdteter Augen,
die in des Blutes Gufl geachseSt stehn,
stumm an der Grenze vorn Sinn, die Gott urn*
stellte?
Simon Kronberg
ERINNERUNG
Wisse: Ich trat aus Kreisen des Seins
iiber zu einer Frau,
glaubte: Tag, Nacht, Ich und Stern sei eins,
und eine Frau zerriB meines schonsten Traumes
Blau,
Selig waren die Stunden, da meine Tiefen ruhten
in ihren haltenden Handen und ihrem Schofi,
Einsam kam ich aus einer Frau, und im Fluten
der Stunden laB ich manchmal mich leise los.
Wiege mich sanft in schoner tonender Welle,
in der Erlosung grenzenloser Minuten,
gehe traumend im Geruch der Stalle,
und habe Angste, die nach innen verbluten.
Adolf von HaUfeld
MUSIK DER MATER1E
Von Heinrich Stadelmann-Ringm
Du weilst als Mensch unter Menschen.
Den einen Menschen durchgfiiht Leidenschaft; den
andern Menschen macht Herzenskalte trag; ein
Mensch kriimmt sich beim Sturm der Welt auf ihn ;
ein Mensch zerreifit, was urn ihn ist; ein Mensch
zieht Kreise in sich selbst hinein; ein Mensch
treibt mit Peitschen die Sterne zum Tanzen an;
in einen Menschen schliipfen Bilder von auBen in
der Welt; in einem Menschen zeugen sich Bilder,
die niemals gewesen sind.
Viele, viele Menschen; sind: Ein Mensch.
Urbild der Welt, wo bist Du?
Ach, daB ich Auge, Ohr und Nase habe! DaB ich
schmecken kann und tasten muB! Alles ist ein-
zetn. Zerfasert lauft die Welt urn mich. Singt
ein klagend Lied; will wieder Eines sein.
Horch! Musik!!
Die tausend, tausend Menschen schwingen tau-
send, tausend Weisen. Die Steine, Einzelweitteile,
haben sich in ihnen autgelost, und jeder einzelne
Stein singt sein feines Lied. So fein, daB du es
nicht mehr horen kannst mit Ohren; daB du es
nur horen kannst mit dem Gefuh!, Musik der
Steine! In einem Menschen schwingt Natrium vier
billionenfach in einer einzigen Sekunde; maskiert
seinen Gesang; malt; in Gelb. In einem Menschen
schwingt Kalium sechs billionenfach in einer ein-
zigen Sekunde; maskiert sich; malt; breit Griin,
Blau, Violett, wenig Rot. In einem Menschen
hiipft das vermaskete Lied von Rot zu Gelb, zu
Orange, zu Griin, zu Blau, zu Indigo, zu Vio-
lett . . .
Die maskierten Lieder wollen nicht als Farbe
aus dem Menschen; die Farben setzen wieder
eine Maske auf; wandeln sich zum Auf und Nieder
des Charakters; zur Seele.
Es schwingen Seelen alle Weisen, die jeder ein-
zelne Stein zu schwingen hat, wenn er, sich ver-
fluchtigend, zuruck will zu den Briidern; wenn
alle Briider nicht mehr Briider, wenn alle Briider
ein einziger Vater werden wollen.
Ein klagend Lied! Musik von ungezahlten Rhyth-
men, die einzeln unsicher flatternd, sich erganzen
zum Einheitssang des Lebens: „Ach, daB Alles
einzeln ist!"
Leidenschaft, Tragheit des Herzens; vernichtet
Werden, Vernichten; Reflektieren iiber sich und
Welt; Handeln, Handeln; Sehen, Schauen: In
vielerlei Menschen. Vielerlei rhythmische Gesange
von vierhundert Billionen Schwingungen bis sechs-
hundert Billionen. Sinnlich unhorbar. Horbar
nur durch Vererbung, die bis zum ersten AusfluB
des Welteneinsseins sich erstreckt; die schreit:
„Ich will zuruck!"
Der Schrei hat sich zerkliiftet zu feinen, feinsten
Schwingungen. Sie klingen alle, alle fein zusam-
men; riickwarts treibend zur Gewesenheit.
Das ist das Lied der Wurmer; das Lied der Sterne ;
das ist das Lied der Menschenseele.
Das ist das Lied der Steine; ist der Materie Musik.
Strohmeyer
Qcigtr (Hohschnitt)
73
DIE AKTiON
174
QERICHTSTAGE
Jon August Strindberg
In dem nordlichen Turm der Kirche Notre Dame
de Paris hatte der Turmwachter sein Zimmer, Es
war aber zu einer Buchbinderwerkstatte einge-
richtet, denn das Amt war am Tag nicht beson-
ders driickend, und die Stunden der Nacht ver-
g'mgen mit Schlaf oder ohne Schlaf, da sich nie-
mand darum kiimmerte, diesen jetzt iiberflussigen
Kirchendiener zu beaufsichtigen.
Niemand ging in die Kirche, die verschiedentlich
beschadigt war, und niemand kam auf den nord-
lichen Turm hinauf, denn im siidlichen hingen die
Glocken, und dort wurde der Dienst etwas stren-
ger genommen, denn bei alien auBerordentlichen
Gelegenheiten sollte die Sturmglocke lauten.
Mit dem Glockner auf dem siidlichen Turm unter-
hielt der Wachter eine Art telegraphische Verbin-
dung; bei ruhigem Wetter konnten sie auch mit-
einander plaudern; wenn es aber windig war,
muBten sie Sprachrohre benutzen.
Die Werkstatte hatte sich im Laufe der Jahre zu
einem sehr gemiitlichen Raum entwickelt. Ihre
siidliche Seite nahm ein einziges groBes Bucher-
gestell ein. In rotem Maroquin mit Goldschnitt
glanzte da die Enzyklopadie in der ersten Auf-
lage 1751 — 80 mit ihren fiinfunddreiBig Banden.
Dort standen Voltaire, Rousseau, Montesquieu,
Locke, Hume, alle, die vorhanden sein muBten.
Auch Zeitungen, Moniteur, Pere Duchesne und
Marats L'ami du Peuple. Diese letzte war in
etwas fettiges Leder gebunden, das einer
Schweineschwarte glich und sich geworfen hatte.
Eine andere Wand war mit Graviiren bekleidet,
teils kolorierten, teils unkolorierten. Sie hingen in
chronologischer Reihenfolge von links nach rechts,
von oben nach unten, so daB man die ganze Revo-
lution in Bildschrift sehen konnte. Schwur im Ball-
haus am 20. Juni 1 789 mit Mirabeaus Portrat;
Brand der Bastille und Kopf des Kommandanten;
Jakobinerklub mit Marat, Saint-Juste, Couthon,
Robespierre, Verbriiderungsfest auf dem Marsfeld;
Flucht des Konigs nach Varennes; Lafayette;
Girondisten; Hinrichtung des Konigs und der
Konigin; WohlfahrtsausschuB mit Danton und
dem ausgeheckten Robespierre; Schreckensherr-
schaft; Charlotte Corday totet Marat in der Bade-
wanne; Robespierre noch einmal; Fest des hoch-
sten Wesens; Voltaires Begrabnis; Robespierre
wieder, jetzt am neunten Thermidor. Dann be-
gpnnt Bonaparte und das Direktorium, gemischt
mit Pyramiden und Alpen.
Mitten im Zimmer stand ein sehr groBer Tisch;
auf der einen Seite befand sich das Werkzeug des
Buchbinders und auf der andern Schreibzeug. Das
TintenfaB saB in einem Schadel, und das Lineal
war ein Unterarm: der Briefbesclnverer war eine
Guillotine, der Federhalter eine Rippe.
Der Buchbinder selbst, ein Hundertjahriger mit
einem Apostelbart, saB und schrieb unter einer
Laterne, die von der Decke hing. Niemand als er
war im Zimmer zu sehen.
DrauBen sturmte es, und die Dachpfannen klap-
perfen zmveiien; es war kiihl im Zimmer, aber
nicht kalt, denn ein Kamin brannte in einer Ecke,
in der man die Geratschaften des Turmwachters
sah: ein groBer Wolfspelz, ein Sprachrohr, einige
Flaggen und eine Laterne mit verschieden ge-
farbtem Glas.
Der Alte schob die Brille auf den Scheitel, blickte
auf und sprach, ohne daB man sehen konnte, mit
wem :
— Bist du hungrig?
Eine Stimme hinter dem Biichergestell antwortete:
— Ziemlich!
— Frierst du?
— Nein, noch nicht!
— Warte noch eine Weile, ich muB gleich hin-
aus und eine Beobachtung machen.
— Woran schreibst du?
— An meinen Erinnerungen!
— 1st es ruhig in der Stadt?
— Ja! Aber sie sind nach Saint-Cloud hinaus-
gezogen.
— Dann kommt es bald zum Klappen!
— Zum Klappen kommt es nicht, aber wir konnen
cine Proklamation erwarten. Schweig jetzt, ich
muB hinaus und tclegraphiercn! Essen sollst du
dann bekommen und auch etwas zu trinken, viel-
leicht auch eine Pfeife Tabak.
Es wurde still hinter dem Biichergestell, und der
Alte zog den Pelz an, entziindete die vielfarbige
Laterne, griff nach einem Sprachrohr und trat
auf den Altan hinaus.
Es war sehr dunkel, aber der Alte kannte seine
Menagerie drauBen auf der Balustrade; er liebte
seine Steinungeheuer, die Eule, den Greifen, die
Gorgo, und er muBte sie jedesmal, wenn er an
ihnen vorbeiging, streicheln. Das Untier aber mit
dem Korper eines Menschen, den Bocksfiifien und
den Hornern auf dem Kopf floBte ihm etwas
Respekt ein, wie es dort stand, auf die Hande sich
stiitzend wie ein Priester, und, vorniiber geneigt,
der gottlosen Stadt zu predigen oder Strafgerichte
auf sie herab zu schleudern schien. Neben ihm
suchte er seinen Platz, als er mit der Laterne zu
signalisieren anting. Aber der Wind war so heftig,
daB der Alte schwankte und „den dort“ um den
Leib fassen muBte, um sich festzuhalten.
Nachdem er eine Weile gestanden und mit der
Laterne manovriert hatte, immer hinaus in den
Raum spahend, richtete er sich plotzlich in die
Hohe, lieB die Laterne fahren und setzte das
Sprachrohr an den Mund. Sich an dem steinernen
Gelander haltend, wandte er sich dem siidlichen
Turm zu und schrie:
— Halloh, Francois! Halloh!
Nach einer Weile antwortete eine Stimme aus
dem Dunkel:
— Qui vive?
— Mont-joie-Saint-Denis.
— Sacre! antwortete man von driiben.
— Laute die groBe Glocke! Laute, der tausend!
Der Wachter blieb noch eine Weile stehen und
betrachtete die gefarbten Lichter im Kirchturm
von Saint-Cloud, und um ganz sicher zu sein,
wiederholte er das Signal, worauf er zur Ant-
wort erhielt;
173
DIE AKTION
176
— Richtig verstanden!
Der Alte seufzte: Geschehe dein Wille, Herr des
Himmels! Darauf wollte er in die Turmkammer
zuriickgehen, aber im selben Augenblick faBte der
Wind seine Kleider so heftig, daB er den Arm des
Behornten ergreifen muBte, um sich fest zu halten,
Aber die Figur hatte sich gelockert, gab nach
und machte eine kleine Bewegung.
— Der auch! sprach der Alte in seinen Bart.
Nichts halt, alles gleitet fort, nichts bleibt, worauf
man sich stiitzen konnte!
Er hockte sich nieder, um nicht fortgeweht zu
werden, und kriechend erreichte er die Tur der
Turmkammer, die er aufriB.
— Die Revolution ist aus! rief er dem Biicher-
gestell zu.
— Was sagst du?
— Die Revolution ist aust — Treten Sie vor,
Sire!
Er faBte das Buchergestell an und drehte es wie
eine Tur in ihren Angeln. Man sah einen kleinen
hubschen Raum im Stil Ludwigs XV., und hervor
trat ein dreiBigjahriger Mann mit feinem aber
blassem Gesicht und von traurigem Aussehen.
— Sire, griiBte der Buchbinder demiitig, jetzt ist
Ihre Zeit gekommen und meine geht zu Ende!
Die Revolution ist aus! Was an diesem acht-
zehnten Brumaire in Saint-Cloud geschehen ist,
weiB ich nicht; eins aber weiB ich: Bonaparte
ist ans Ruder gekommen!
— Jaques, antwortete der Edelmann; ich will
deine Gefuhle nicht verletzen, aber ich kann meine
Freude nicht verbergen . . .
— Verbergen Sie sie nicht, Sire! Sie haben mich
vom Schafott gerettet, und ich habe Sie gerettet:
danken wir uns gegenseitig und Iassen Sie uns
quitt sein!
— DaB dieses blutige Spektakel zu Ende geht,
daB diese Gemiitskrankheit . . .
— Sire! Nicht so . , .
Und seine Augen begannen zu funkeln. Darauf
aber schlug er um:
— Lassen Sie uns die letzte Mahlzeit zusammen
essen, aber in Liebe wie Mitmenschen; Iassen Sie
uns von der Vergangenheit sprechen, um uns
dann in Frieden zu trennen. Heute abend sind wir
noch Briider, aber morgen sind Sie der Herr und
ich der Diener.
— Du hast recht! Heute bin ich ein Emigrant,
aber morgen bin ich Graf.
Der Alte setzte ein kaltes Huhn vor, einen Kase
und eine Flasche Wein, und die beiden nahmen
Platz am Tisch.
— Diese Flasche, Sire, ist Anno 89 abgezapft;
sie hat eine Geschichte, und darum . . .
— Hast du keinen weiBen? Ich kann den roten
Wein nicht trinken.
— Mogen Sie die Farbe nicht?
— Nein, ich sehe nur Blut! — Du hast ein Weib
und vier Sohne verloren . . .
— Warum soli man dariiber weinen! Sie fielen
auf dem Felde der Ehre . . .
— Dem Blutgeriist !
— Ich nenne das Blutgeriist das Feld der Ehre!
— Aber Sie wtinschen weiBen! Gut, Sie sollen
ihn haben! Sie ziehen die Farbe der Tranen vor;
ich die des Blutes!
Er offnete eine Flasche WeiBvvein.
— Suum cuique! Der Gcschmack ist verschieden!
— Wir konnen also wieder atmen und nachts
ruhig schlafen! Das war das Schwerste dieses
Jahrzehnts, das vergangen ist; der Verlust des
Nachtschlafes. Die Furcht vorm Tod war schlim-
mer als der Tod!
— Das Schwerste fur uns — verzeih den Aus-
druck — war, zu sehen, wie Staat und Gesell*
schaft auf den Kopf gestellt wurden; wie die
Roheit oben saB . . .
— Warten Sie! Ludwig XIV. bezahlte zwei Kam-
merherrn zwanzigtausend Livres jahrlich, dafiir
daB sie jeden Morgen seinen hohen Nachtstuhl
untersuchten und hinaustrugen; weiter in Roheit
konnten die Sanskulotten nicht gehen. Marie An-
toinette ging nachts mit Junggesellen aus und
trank die Nacht durch, so daB sie um 11 Uhr
am folgenden Vormittag erschopft nach Haus
kam; das war roh von so einer feinen Person!
— * Du darfst heute abend flunkern, Jacques, aber
morgen nimm den Kopf in acht!
— Und wie ich im Gerichtssaal saB, als die
Konigin eines unerlaubten Verhaltnisses zu ihrem
Sohn angeklagt wurde, glaubte ich nicht an die
Anklage; spater aber horte ich . . . Ja, Sie wissen
ja, wie die Mutter mit ihren Kindern spielen; es
beginnt mit Spiel im Bett am Morgen, aber die
Grenze ist unmerklich fur den Verlauf der Ge-
fuhle . . . und da der Dauphin selbst bekannt
hat — die Sache war wohl nicht ganz richtig!
— Nein, Ihr diirft nicht so sprechen von diesen
hohen Personen, die den Martyrertod gelitten
haben , . .
— Halt, halt! Der Konig war, was man einen
netten Kerl nennt, aber die Konigin war ein Weib-
stiick! Doch beide wurden gerechterweise zum
Tode verurteilt, alle beide! — Sehen Sie, wenn
Turgot hatte bleiben konnen, ware die Revolution
nicht gekommen. Alle die Reformen in Staat,
Kirche und Gesellschaft, die wir — verzeihen
Sie den Ausdruck — dann durchgefiihrt haben,
hatte Turgot auf seinem Programm. Die Konigin,
die es nicht leiden wollte, daB der Minister ihre
Apanage beschrankte, intriguierte ihn fort; und
der Konig half ihr dabei. Das war ein groBes
Verbrechen! Das zweite war der Sturz Neckers.
Dann regierte die Konigin mit den Hofdimen! So-
wohl der Konig wie die Konigin suchten den
Auslander gegen ihr eigenes Land zu erheben ; der
Briefwechsel in dieser Sache wurde gefunden,
und damit waren die Verrater des Vaterlandes
zum Tode verurteilt! Sprechen Sie nicht von
Martyrern, denn dann werde ich bose! Ich werde
namlich bose, wenn ich eine Luge hore, und
dann kann ich mich nicht mehr beherrschen.
Der Graf legte die Hand an den Degen.
— Stecken Sie Ihr Schwert in die Scheide, jun-
ger Mann, sonst . . .
Sie saBen sich am Tisch gegeniiber und spriihten
Feuer iibereinander.
DIE AKTION
-Die Ursachen, fuhr der Alte fort, die kann
man im Paradies suchen, aber wir haben es hier
nur mit den nachsten zu tun, und die kennen
wir. Die Revolution war ein jungstes Gericht,
das Vommen muBte, ebenso wie es in England
kam, genau hundert Jahre vorher, auf den Punkt,
\m.
— Aber Cromwells Republik war nicht von
Dauerl
— Das ist wohl diese auch nicht! Aber sie kommt
wieder! Lassen Sie uns lieber von etwas Schonem
sprechen, an diesem letzten Abend. Ich habe
alles mitgemacht, ich habe ein starkes Gedachtnis
und kann nichts vergessen: was mir aber durch
all die dunklen Tage hindurch scheint, das ist
der Tag auf dem Marsfeld, das Verbruderungsfest
vom vierzehnten Juli anno QO ! Zwanzigtausend
Arbeiter sollten das Marsfeld roden; als sie aber
bis zum festgesetzten Tag nicht fertig wurden,
zog ganz Paris hinaus. Da sah ich Bischofe,
Hofmarschalle, Generale, Monche, Nonnen, Da-
men der Gesellschaft, Arbeiter, Matrosen, Ab-
fuhrleute und Dirnen, alle nebeneinander mit
Hacke und Spaten den Boden ebnen. Und schlieB-
lich fand sich der Konig selbst ein, um an der
Arbeit teilzunehmen! Das war die grofite Ni-
vellierungsarbeit, die die Menschheit ausgefiihrt
hat; die Hohen wurden abgetragen und die Sen-
kungen ausgefullt. SchlieBlich war das groBe Frei-
heitstheater fertig. Auf dem Altar des Vater-
tands wurden Feuer von wohlriechenden Holz-
arten angeziindet. Talleyrand, Bischof von Autun,
mit einem Gefolge von vierhundert weiBgekleide-
ten Priestern, weihte die Fahnen ein. Der Konig,
in Zivilanzug, und die Konigin saBen auf der
Estrade, und „die ersten Burger des Staates“
legten den Eid auf die Verfassung ab. Alles war
vergessen, alles war verziehen. Eine halbe Mil-
lion Menschen, auf einer Stelle versammelt, von
einem Geist beseelt, fuhlten sich an diesem Tag
als Briider und Schwestern. Wir weinten, wir
fielen uns in die Arme, wir kuBten uns. Wir
weinten bei dem Gedanken, wie erbarmlich wir
gewesen und wie gut und wohlwollend wir in
diesem Augenblick waren. Wir weinten vielleicht
auch, weil wir ahnten, wie gebrechlich alles war.
Und nachher am Abend, als Paris auf StraBe
und Markt hinaus zog! Die Familien aBen Mit-
tag auf dem Trottoir; Alte und Kranke wurden
unter freiem Himmel hinausgetragen; Speise und
Wein auf Staatskosten verteilt. Das war das
Laubhuttenfest, die Erinnerung an die Auswan-
derung aus der agyptischen Knechtschaft; das
war Saturns Fest, die Wiederkehr des goldenen
Zeitalters . . . Und dann . . ,
— Kamen Marat, Danton und Robespierre . . .
— Ja! Robespierre, der verhaBteste, war nicht
schlechter als Ludwig XI. und Heinrich VIII.
— Ein Morder . . .
— Der Richter ist nicht Morder, und der Henker
auch nicht . . .
— Aber das goldene Zeitalter verging, wie es
kam!
*— Doch es kommt wieder.
— Nicht mit Bonaparte!
— Nein, nicht mit ihm, aber durch ihn . . .
— Wer ist er?
— Ein Korsikaner, im selben Jahr geboren, als
Frankreich sein Land nahm. Er wird es rachen,
und da er sich nie als Franzosen fuhlen kann,
wird er unser Land nur fiir seine Zwecke be-
nutzen. Aber trotzdem, trotz seiner unerhorten
Selbstsucht, trotz seinen Lastem und Verbrechen
wird er der Menschheit dienen, denn alles dient!
— Und nachher?
— Wer kann das sagen! Wahrscheinlich geht
es gut wie bisher: bald vorwarts, bald etwas
Ruhe, und dann wieder vorwarts!
— Und dann taucht das Alte wieder auf . . .
— Ja, wie der Ertrinkende. Dreimal kommt er
in die Hohe, um zu atmen, das vierte Mai aber
bleibt er auf dem Grund. Oder wie die Wieder-
kauer: kleine Auf s to Be, Wiederkauen, und dann
hinaus durch die Speiserohre, wenn alles Gegen-
wartige in den Kreislauf aufgenommen ist!
— Glaubst du an die Wiederkehr des goldenen
Zeitalters?
— Ja, ich glaube wie Thomas, wenn ich gesehen
habe! Und ich habe gesehen! In dem Augen-
blick, an den ich eben erinnerte, auf dem Marsfeld,
da sah ich! Wir ahnten die Zukunft, wir waren
sicher, daB wir eine Offenbarung aus der femen
Zukunft gesehen hatten, aber wir waren unsicher,
ob sie sich jetzt gleich einstellen werde.
— Wie lange sollen wir warten?
— Wir sollen nicht dasitzen und warten, sondern
wir sollen arbeiten! Dann vergeht die Zeit. Die
Gelehrten sagen, der Hugel Montmartre habe eine
Million Jahre gebraucht, um sich aus dem Wasser
abzusetzen! Nun, unsere Geschichte ist nur drei-
tausend Jahre alt; in dreitausend Jahren kann die
Menschheit iiber ihre Vergangenheit nachdenken,
und in sechstausend vielleicht ist es zu merken,
daB eine Verbesserung eingetreten ist! Wir sind
ungeduldig, Herr, und hochmiitig. Und doch geht
es schnell. Vor dreihundert Jahren ist Amerika
entdeckt, und jetzt ist es europaische Republik.
Afrika, Indien, China, Japan sind eroffnet, und
die ganze Erde gehort bald Europa! Sehen Sie,
jetzt ist die VerheiBung an Abraham: „In deinen
Samen sollen alle Geschlechter gesegnet werden. u
auf dem Wege, sich zu erfullen ; auf dem Wege,
sage ich!
— Die VerheiBung an Abraham?
— Ja, haben nicht Christen, Juden und Muha-
medaner Teil an der VerheiBung?
— Christen aus Abrahams Samen?
— Durch Christus, der von Juda war, sind wir
geistig von Abraham. Ein Glaube, eine Taufe,
ein Gott und aller Vater!
— Ich habe dich angehort, und ich muB sagen:
dein Glaube ist groB und der hat dich erlost!
— Wie er die Menschheit erldsen wird!
Jetzt verstummte das Gesprach, denn die GroB-
glocke begann im sudlichen Turm zu lauten. Sie
iibersturmte den Sturm und sie erfullte die Ram-
mer mit ihrem Geton, erschutterte den Tisch,
die Stiihle, so daB die beiden Menschen zitterten.
170
DIE AKTION
180
Der Alte machte einen Versuch zu sprechen, aber
sein Gast horte nichts, sah nur, daB sich sein
Mund bewegte. Der Alte erhob sich und zeigte
auf eine Gravure von den vielen.
Sie stellte Anacharsis Clootz vor, den Philan-
thrope^ den Philosophen, wie er sich im Konvent
einfindet mit einer Schar aus alien Volkern der
Erde, schwarzen, gelben, weiBen, kupferroten
Menschen, und ersucht, die als Burger in die
Weltrepublik aufzunehmen.
Der Graf lachelte zur Antwort, halb mifitrauisch,
halb freundlich nachsichtig.
Der Alte versuchte zu sprechen, er war aber
nicht zu horen. Aus der Tiefe der Jahrhunderte
schien das Gelaut zu kommen, das alte Jahr-
hundert aussingend, das neue einlautend, das in
einigen Wochen begann; das neunzehnte Jahr-
hundert seit der Geburt des Erldsers, der ver-
sprochen, wiederzukommen, und es vielleicht in
der einen oder andern Weise tun wird.
Der Graf saB da und befingerte den Briefbe-
schwerer, die Guillotine. Er ergriff ihn plotzlich
und fragte eine Frage mit den Augen f vvorauf der
Alte mit einem Nicken ja antwortete. Der Brief-
beschwerer wurde mit einer schnellen Bewegung
in den Papierkorb geworfen.
Da schwieg die GroBglocke, das Zimmer wurde
ruhig, und die Arme iiber der Brust gekreuzt,
sprach der Alte wie in einem Seufzer der Dank-
barkeit aus:
— Die Revolution ist aus.
— Diese Revolution!
— Triibsal gibt Geduld; Geduld gibt Erfahrung;
Erfahrung gibt Hoffnung; Hoffnung laBt nicht
zuschanden werden!
(Deutsch von Emil Schcring)
ZU STRINDBERGS TOTENTANZ
R&tsel — ? Toriclu bleibt, nach Problem, Tendenx xu fragen.
Zeichcn des Unverstandnisses, Inhalt zu posaunen. Regisiratur
Uber Aufbau, tbeatralische Requisiten: Mosaikarbeit; literarische
Malichcn (lohnend ! htlbschl), Kechenschaft tlber QualiUU : immer
unbeholfenc Kriiik, so blendend auch journalistische Routine sich
versucht, hinreichend, Gonnern und Zeitgenossen unter die Arme
zu greifen, UberflUssiger Kommenlar.
Hinnehmen des Gegebenen, daS Buchliches sich zerlose, Aus-
druck der Szene, sei er Erftlllung. - —
So ragst du, Mann, durchsichtig dir selbst, urn doch, lassig, das
Gcrippe der Rlarhcit immer unfehlbar zu ertragen, in mystische
Augenblicke zu fallen. Undurchsichtig deiner Umgebung, die
sich begnllgt, dein Wesen in Monotonie, Agonie erklSrend zu
stempeln, —
Der Mann,*im Wissen, dafi Wortc Wiederholungen sind, giihnL
leer. Unwllrdig, so sein Lebcn hinzubringen. Was ich fuhle,
banaler Geschmack im Mund, da ich es redete. Am gram trial i~
kalischen Gesetz zerbricht alles. Bleibt der Naturlaut: wir
werden uns peinlich. Erinnerung stellt sich vor, driickt Gegen-
wart platt, Rcsignieren — ? Sich absperren ira Turm — ; Ein*
samkeit bleibt Monopol Goues, Unmoglich also, grade zu bleiben,
weil Trieb treibt — bedingt durch Menschen, an die uns Worte
keiten, obgleich wir sie Uberwanden?! Ja und nein. Denn
dieses wird: ich tpiele mit dem Fluch, den die Existenz Mann
mir mitgibl. Die Wirkung von Wortcn, Satzen ist unverkennbar,
Erzwungen ist, dafi ich schamlos genug werde, sie auszunuisen.
Die Gefahr scheint grdfier, als die Annahme zul&ssen mbchte,
diesen Zusiand als Leben anzuschen, Gewifi: ich wich vor
nichts zurttck, ich nahm eine Frau. Zwang etwa sie tnicb zur
Ehe, so, dafi das Spiel in wirkliche Unterhaliung brdenkUch
ilbergriff? Rechnung, Kleinkram, Kartenspiel, Worte heute,
morgen, gestern, es ist immer dasselbe; sogar der Effekt des
Tanzes, UeiOt das Langeweilel?
Leidet der Mann? Die Frau behauptet es von sich. Da btilzt
ihm Triumph zu. Gehetzt: ich leide nicht an mir, denn ich
habe iiberwunden, rage allein, selbsliindig, unabhingig von
Menschenpack, ich lejde an ihr, da ich sie liebe. Ich kann
nicht gleichgllltig sein, also bin ich abh&ngtg. Ich bin Sklave,
also ihr Tyrann.
Selbsttauschung als tragischcr Punkt.
Stockt die Maschine — ? Denn da wieder greift Radchen in
Kadchcn : Szene ; BloGe in Liebe und Hafi steigert Ausbruch,
Yorgezeichncier Gang der Handlung, die Monotonie, rasilos, kreist,
Es ist, in der Tut, uneriraglich. Und so sterben ? Niemalsl Ich
habe Kinder, o nein, nur Werkzeuge, nach Bedarf — . Ich bin
verkeitei, unbeireit, ich versirickte mich im Garn meines eigenen
Spieles. Kommt das W under? Dafi ich bin als Mensch, als ge*
wohnlichster, aber als Leben — — —
Nur fremde, unbekannte Brulaliifit, die etgene Ohnmacht er
zwingt, kann Lfisung bn n gen, Knolen durchhauen.
Vielleicht ist der Tanz eigene Wollust, keine Routine.
Der Mann sttirxt in ihm hint Ohnmacht des Todes. Wie fried-
lich. Wie rein. Keine Menschen, die ich bertihrte, und die mei-
nen Atem nun ausstofien, sind da. Alleinl Lieber Tod. . , .
Aber: Erwachen. Trieb oder Verzweiflung. Umgebung hockt,
unbeiroffen von seiner Erneuerung. Schoner Anfang des alien
Spieles zu besserer DurchfUhrung. Ich glaube nicht an Worte,
also gebe ich LUgen als Feststellungen; die Wirkung wird trap*
pant sein.
Solange das Bewufitsein des Todes wach ist, vcrjtingt sich das
Leben. Herrlich, prSchtig, wie Frau und Freund tanzen, wim-
mern. Da juckt der Kitzel, sich ins Letzte zu spannen. Er ver
lien die Balance und wird kindisch. Er beichtet. „Mein B ruder
benutzt so Starke Worte! Wir haben alle Nachsicht notig! 1 *
Noch bleibt sein Triumph Wirkung auf die Aufienstehenden.
Sie glauben an seinen Damon. Harlekinade der Frau schcitert
an seiner elementaren Macht der Vorsehung. Ich sprlthe kein
Gift, ich verteidige nur die Festung der Maske. Bisher war
Bluff, SchreckschuO gewesen, zwar wirkungsreich, aber impotent ;
Amusement, Laune aus Freiwilligkeit. Jetzt drangt Verantwor
lung zur Tat. Herrschsucht, weniger verdrangtes Motiv infoige
der Gnade als erslarrteste Entwicklung: Gollwcrdung. Sicher-
lich tk.il ft zur Realisierung die SchwEche, deren Frau und Freund
Zeuge waren, dieser Moment, da er sich nicht me hr ertrug,
Selbsterkenmnis ihn blofistellte, schSmiger Rest leitet Uber turn
Zusammenbruch, der ftlr Wei teres Daucreinsieltung wird. Keine
Bosheit haft el, anstrengste Sicherung endlicher Position. Auch
die differenzierteste Sexualilat ist iiberwunden. Vampyr, die Welt
in sich zu saugen, um sie nie wieder zu gebSren. Selbstver-
schuldete Ohnmacht macht bisweilen rabiat, Indessen, da die
Konzenlrierung ungeheuer ist, bleibt kein Schniitpunkt seines
Kreises vergessen. Wahnsinn liegt nahe, ware aber Ausflucht:
korrekt bis zum Ende; „durch Beharrlichkeit, Pfiichuretie, Ener-
gie und — Ehrlichkeit. “ Alle um ihn schmelzen, runden sich,
wechseln bis zur Verzermng, ER, grade Linie, unabSnderlich,
Dokument niegesehener unerhorter Notwendigkeit. —
„Ein wenig Gltlck macht uns besser, aber nur Unglfick macht
uns zu Wolfen. u Unnbtig, zu erinnern, dafi nur die Frau so
sprechen darf. Alle ihre Worte und Handlungen bestStigen,
dafi sie der Tragbdie des Mannes unverstandlich zusieht, an
ihr nicht Anteil hat. '
Sie leidet an der Unbefriedigtheit, nicht ganx so aufrichtig mehr
wie der jUngling und der Backfisch, sie leidet an ihrem Zustand,
der sich schon sofort umsetzt in Hafi, Mitleid, Liebe; sie ver*
wendet ihn, wie sie ihn braucht, immer unselbstSndige Puppe.
Man wird nicht argerlich Uber die Mech&nik, die die Personen
der Frau und des Freundes (auGer den Nebenpersonen) erstehen
l&flt. Denn die Tragbdie ist des Mannes, ein Monolog — ■ am
starksten in der stummen Gebarde (I. vierter Akt, erste Szene)
— die Reden der Muspieler sind nur technische MiUel zu seiner
Darstellung. Man entschuldigt die Unterbrechung. Die Frau
redei Bellelristik, also Gleichgtthiges. Sie konnte in jedem Augen*
blick auch das Gegenteilige sagen, die Tragbdie des Mannes
bliebe davon unberlihrt. Sie hat keinen eigenen Monolog, daher
auch ihre Unzulanglichkeit, als Erscheinung zu fesseln. So ver-
liert sie stets den Faden; mufl sie den Mann nicht zur Ver-
zeihung rUhren? Ironie setzt sich in Resignation um. Anfang
— Ende: nur ein Ausschnitt: „Durchsireichen und Weitergehen.**
Sentimentale Vcrscihnung ztvischen Weinen und Lachen, scheint
es der Frau. Ekelt den Mann so viel Kitsch nicht? Nein: in
der Bejahung seiner Sendung bereiiet er nur das Kommende vor.
Niihrt, wahrend Tod ihn umschattet, seine Kraft. Noch knarren
> ■. ■: > > ^ v' ' i > < > ■:
5 v. :■ 5 i: :i ■! j: . : v,
> v. c j ■■■■■■: ■: ■: < m <
> ■■. < ■: c v ^ v v J > > \ >
181
DIE AKTION
182
3 ie Sch*rniere seiner Beine, aber sic gehorchen, ruckweise sent
sich NViUe durch. Yom Slehauf zur Marionette. Klug gcnug
immer, seioen Horizont zu erfilNen.
Helfen Satze des Freundes zur Erklarung? Und: lollte diese
Eiastizitii nicbt zu erledigen sein? Prablerei, wenn er sich in
alles schickt ; ^Ich habe schon Schlimmeres durchgemachl. u —
Triumphierender Mann, zielhaft, nicht geplagt von Unersiitllich-
keit, Beherrscher der Insel — »ich selbst ganz durchzusetzen,
sollte es unmoglich sein ohne Bundesgenossen, auch nur als
Werkzeug — weil er die Insel libernahra, nicht selbst schbpfte!?
Trilgt Blick des Blutes; Judith? Zerstort impulsive Nai vital ab-
geschlossene Berechnung? Der Mann wird zerschmettert. Durch
die Tatsache und durch lurchtbare Erlcenntnis; in Vcrtrauen ver-
blendet seizte er Selbstvcrstandliches voraus, ohne sich zu ver
gewissern. Uberliefl den letzten Trumpf dem Partner, desaen
SelLstbewuCtsein unterschiitzend.
Nachlasstgkeit oder KompromiB? Theatralische Losung oder — *
Kronung ?
Tausend NSchte quellen Weib. Eine Sekunde Lang: Familien-
vater. — Zucken, Spucken, Krampf.
Die Entscheidung ist nahe. Habe ich vollendet ? Weist die
starre Linie auf einen Stern?
Fraulein Judiths Vater sagte . „Verzeih ihnen, derm sie wissen
nicht, was sie tun.** War nicht alles schon einmaL?
Iipmer aller Antwort Iautet: „Unbegreifltch I . .
D« ist zur Gcnttge erwiesrn. Hermann KoMack
ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS
XLIV
Petersburg v o m 9. bis ium 14. Mfirz
Telegr. unseres Korrespondenten
Bern, 17. Marz
Der Petersburger „Temps ,, -Korrespondetn gibt folgende knappe
Schilderung der Ereignisse vom 9 * his zum 14. :
Freitag 9. Marz: Emstellung des Trambahnverkchrs, Straflen-
umtage unter den Rufen: , p Wir wollen Brot!‘\ Plilnderung
von Backereien, Belastigungen von Polizeibeamten.
Son na bend, 10. Marz: Der Generalstreik der Trambahn-Ange
stellten und F'abriken; der Streik dehnt sich rasch aus, Laden
werden geschlossen, Kosakenabieiiungen durchstreifen die Stadt.
Die Polizei ist bemtlht, die Menge zu rerstreuen. An diesem
Tage fallen die ersten Opfer, da Polizei und Kosaken von ihren
Waffen Gebrauch machcn.
Sonntag, 1 r. Marz: Der Zar und Ftlrst Golitzyn unterzeichnen
das Dekrel der Y r erugung der Duma, Keine Zeitung ist er-
schienen. Das Dekret wird bffentlich angeschlagen. Die Duma
geht dartlber hinweg und fabrt fort zu silzen, U m MiltemacbL
bildet sich das Exekutivkomitee. Wahrend des Tages begeben
sich ganze Regimenter zur Duma, um ibre AnhSngerscbaft an
dir Revolution zu dokumenlieren.
Montag, 12. Marz: Rodzianko sendet im Namen der provi-
sorischen Regicrung ein Telegram tn an die roiiitfirischen Haupt-
chefs an der Front und teilte ihnen mil, dafl die ehemalige
kaiserlicbe Regicrung nicht mehr existiert. Die Revolutions-
truppen und die bewaffnete Menge besetzten mehrere Regierungs-
gebiude Wo kaiserlicbe Truppen Widcrstand leisten, ent-
spannen sich Karapfe. Die Maschinengewehre spieUen. Nach
kurzem Kampfe gaben die kaiserlicben Truppen nach und
»ieilen sich auf die Seite der Revolution Sre. Die Pcter-Paul-
Festung ergibt Sich ohne Widerstand. Polizeigefangene, ’die
seit langen jahren dort eingeschlossen sind, werden voa der
bewaffneten Menge befreit. Sie wuflten im ersten Augenblick
nicht, was rorgeht. Das Gefingnis Kresty, wo die Arbeiter*
miiglieder des kriegsindustrielten Komitees eingespeirt waren,
wird im Sturme genommen, ebenso das Arsenal von Petersburg,
dessen Waffen nach der Peter-Paul-Festung Uberftlhrt werden,
die zur Aktionsbasis der Revolulionflre ge worden ist. Die ersten
Verhaftungen werden vorgenomtnen, zurtftchst die des Reichs-
ratsprasidenten Schtcheglowitow. Er wird nach der Duma
transpouiert, wo man ihn im Ministerpavillon in Gefangenschaft
selzt.
Dienstag, 13. Marz; Die Revolution ist auf ihrem Hohepuukt.
Die bisher treuen Regimenter der kaiserhehen Regicrung ent-
fatten die rote Fabne, Die Truppen zieheu zum Duma-Gebaude,
wo ihnen Rodzianko ftlr ihren Patriotismus dankt. Wahrend des
Tages ist die SchielJerei in den StraOen ziemlich hrftig. Die
ehemalige Regierung stellt Maschinengewehre und Polizeiagenter
auf die Dacher der Hauser und selbst auf die KirchtUrme, vor
wo aus die Menge beschossen wird Die revolutionaren Truppen
anlworten durch Bombardement der betreffenden HSuser. Diese
SchieOerei dauerte mehrere Tage und wurde selbst nachts nicht
unterbrochen. Der Ministerpavillon im Taurischen Pa last wird
voller Gefangener. Stiirmer stirbt dortselbst aus Angst, Die
Maflnahmen der provisorischen Regierung werden vom ganzen
Volke gebilligt.
MiUwoch, 14. Marz: Die Revolution ist so volkstllmltch gewor-
den, dafl alle Welt role Fahnchen triigt. Die Straflen sind votl
von Frauen und MSnnern aus alien Schichten der Bcvblkerung.
Eine Gruppe von journalisten hat ein Blatt herausgegeben, das
in den StraOen umsonst verteilt wird. Moskau und Charkow
haben sich der Revolution angeschlossen. Die meisten Minister
sind verhaftet. Pokrowsky, der Minister des AuQeren des Ka-
binetts Golitzyn, befindet sich noch in Freiheil und verhandelt
mit den Botschafiern, um sie liber die Situation aufzuklaren,
Der Justizminister Dobrowolsky flieht auf die italienische Bol-
schaft und biuet von don aus telegraphisch Rodzianko um seine
Festnabme, um auf diese Weise sein Leben zu retten. Am
Abend erschien ein vom vielen Umherirren erm tide ter Mann
vor dem Taurischen Palais und erklarte: „Ich bin der ehema-
lige Minister des lnnern Prolopopow und bin gekommen, mich
den Handen der provisorischen Regierung zu tibergeben/ 1 Das
Marineministerium, dafl noch immer von einer Kompagnie
verteidigt worden war, wird von dieser im Sliche gelassen und
die Revolution&re ergreifen von ihin Besitz.
„ Berliner Atlgemeine Zeitung* , IS, Marz 1917
KLEINER BRIEFKASTEN
F. B., Rostock. Nein, Senna Hoy ist nicht in Warschau ge*
storben, sondern im GefSngnis zu Meschtscherskoje bei Moskau,
am 29. April 1914. Lebte er heute, so ware er also jet zt frei.
K, G. Franz Blei wird eine neue Zeitschrift her&usgeben, M Sum-
mi" genanm,
Nina und Renate. Die Abkllrzung I. S. D, bedeulet Internatio-
nale Sozialisten Deutschlands und dies wiederum bedeulet etn-
fach: Julian Borchardt, Denn es heiflt Ubertreiben, wenn jem and
behauptet, der Julianische Bund bestehe noch aus zwei Mitgliedern.
Herr Borchardt ist Haupt und Gemeinde, und das Vorwort zum
Erdmannbuch, mil dem er sich scinen wirkungsvollen Abgang
von der politischen BUhne schuf, wird diese Gemeinde gutheiften.
O, T. Meinen Aufsatz ,,Es ist nichts geschehen“ veroffentlichte
ich den 30. Oktober 1912 (AKTION II. Jahrgang, Heft 44).
Gg, St. Der dritte Band der Sammlung AKTIONS - LYRIK,
Gottfried Benn „Fleisch“ t ist in einer kleinen Auflage erschienen
und kann deshalb nur an Abonnenten abgegeben werden,
die das Buch direkt vomVerlage beziehen mils sen. Preis; Halb-
pergament M. 3, — .
B. L. Max Oppenheimer darf und wird es sehr piepe sein, dafl
der Kunstkritikus der Frankfurter Zeitung ihn persbnlich zu ver-
unglimpfen sucht.
A. R. Das nachste Sonderheft, t ,Ostern", erscheint in achtTagen,
dann werden diese Sonderhefte folgen : Ludwig Rubiner, Alfred
Wolfenstein, Wilhelm Klemm, Max Oppenheimer.
MIT DIESEM HEFTE
schlieflL das erste Quartal 1917. Soil in der Zustellung eine
Unterbrechung nicht eintrelen, dann mufl das Abonnement so-
fort erneuert werden !
INHALT DER VORIGEN NUMMER; Beye: StraBenscene in Neapel (Titelblatt) / Johannes Fischer (Wien); Der Doppel-
canger / G. F. Nicolai: Ober Rassenmischung j Willy Zierath: Zeichnung / Qeorg Tappert: Onginal-Holzschnitt / lomar
Forsle- Zeichnung / Aus Bakunins Briefwechsel mit Herzen / Paul Halvani: Versuch fiber den Expressionismus / Felix Muller:
Selbstmdrder (Original-Holzschnit) / Ein Oedicht Friedrichs II., des Hohenstaufers (Nach dem Italienischen yon Otto Frh. von
Taube) / Wilhelm Klemm: Mit schwarzem und blondem Haar . . / William Blake: Das entweihte Heiligtum (Aus dem
Englischen von Alex Frh. von Bernus) / K. Teige: Zeichnung / Alfred Gruenwald; Verse / Georg Gretor: Vision / Karl Otten :
Bestnnune / Arnold Bemey; Geschichte / Franz Werfel : Substantiv und Verbum. Eine Antwort an Georg Davidsohn / Franz
Jung: ..Das Wescn der Geschlechtlichkeit* / F. P, : Ich schneide die Zeit aus; Kleiner Briefkasten
Fur Herausgabe, Sch riffle itung und den gesamten
Inhalt verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin-Wil-
mersdorf, Nassauische Strafie 17. Tel. Pfalzbg.1695.
Gedruckt bei F. E. Haag, Melle in Hannover.
Die AKTION erscheint jeden Sonn abend. Abonne-
ments kosten vierteljahrlich durch die Post, durch
Buchhandel oder Verlag (unter Kreuzb.) M. 2,50.
Abonnements fur das Ausland kosten M. 3, — .
Buttenausg., lOOnumerierte ExexnpL, jahrl. M. 40, — .
Verlag der AKTION, Berlin-Wilmersdorf.
Unverlangten Manuskripten
ist Ruck porto beizufugen.
Alle Rechte vorbehaiten.
WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR, KUNST
fH JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERTNR £
SONDERHEFT OOLGATHA / INHALT: BEYE: AUFR1CHTUNQ DES KREUZES (TITELBLATT) f GEN GOLOATHA
Holzschnitt aus dem Jahre 1495) / ]. S, Machar: Auf Goigatha / E. Anger: Am Kreuze (Holzschnitt) / Lindstaedt: Oster-
egende / August Brucher: Judas j $ trohmeyer:
: Die Kreuzabnahi
Karl Brand
Kreuzabnahme f Waldemar
* nui
sr: Kreuzigung (Holzschnitt) / Max Herrmanh-Neifie : Des Erldsers letzter Sieg /
Ohly: Kreuzabnahme (Holzschnitt) / Georg Gretor: Vision / Felix MO Her: Ori-
ginaj-Holzschnitt / Rudolf Fuchs: Erwachend / Ludvig B5 timer: Und da der Eine ging . . I Felix Muller: Kreuzigung (Feder-
“- 1 , ■* - " imkehr / Heinrich Nowack:
/ Jos
ncng / Heinrich Stadeimann-Ringen : Zwei Stttcke / Maurice de Guerin: Del Xentauer / F. P.: Ich schneide die Zeit aus;
zeichnung) / Richard Huelsenbeck: Die Dichter der Mans / S. Bo u Ska: Maria / Wilhelm Klemm: Heimkehr
/ Ernst Kaljen : Federzetchnung / Albert Ehrenstein: Ende / Raoul Hausmann: Der Mensch j Josef Eberz: Federzeich-
Elczid
Kleiner Briefkasten
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HEFT 50 PFG.
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Jedes Sonderheft, gewohnliche Ausgabe,
kostet 50 Pf. — Biitten, numeriert, M.2, —
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100 numerierte Exemplare
Jahresabonnement : M. 40
Jedem BUttenabonnement werden jahrlich mindestens
acht Kunstblliuer beigegeben, von den Kilnstlern nume-
riert und signiert. Diese Beilagen kommen nicht in den
Handel und stelien einen Wert dar, der den Abonne*
mentsbetrag ilbersteigt! Im Jahrgang 1917 werden
beigegeben; Blatter von Felix Mttller/ Max Oppenhetmer/
Ines Wetzel / Karl Jakob Hirsch / Richter-Berlin u a.
KONSTLER-POSTKARTEN DER AKTION
Es sind 80 verschiedene Drucke erschienen
Zcichnungtn von Mopp / Kars / Schmidt- Rottluff /Schriropf
/ Klein / Richter-Berlin / Nadelman / Feininger / Harta /
Schiele / Mense / Melzer / Tappert / Else von sur
Mtlhlen / Hans Richter / Josef Capek / Morgner u. a.
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portofrei gegen Voreinsendung des Betrages
DIE AKTIONS - LYRIK
Band I :
1914 — 1916
Eine Anthologie
Band 2:
JONGSTE TSCHECHISCHE LYRIK
Eine Anthologie
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Verse und Bilder
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Sophie. Der Kreuzweg der Demut
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Jeder Band gebunden M. 3,
VERLAG DIE AKTION
WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR, KUNST
7 . jahrgang HERAUSQEQEBEN VON FRANZ PFEMFERT 7 APRIL .917
Om Golgatha (Holzschnitt atu cUm Jahrt 1495)
AUF GOLGATHA
Von J 8 . Machar
Zur dritten Stunde war es, da sie aufgerichtet,
das Kreuz zwischen den Kreuzen.
Von der Mfih gerotet
auf die verstampfte, blutgetrankte Erde
die Soldner niedersaBen. Teilten die Kleider,
und um den Rock, atis einem Stuck gewebet,
wurfelten sie.
Aus der Menge viele
kamen herbei, sahen zur Hohe,
schuttelten die Kopfe: Haha, haha,
nun st eig vom Kreuz herunter, da du doch ein
Konig !
Den Tempel niederreiBen wolltest du, in dreien
Tagen ihn errichten,
nun, hilf dir seiber! —
Standen hier auch Priester
Gesetzgeber mit iangen weiBen Barten
und sprachen zu einander: Wahr ist's. So. So.
Da er andern half, hilf er sich seiber. —
Und aus der Feme sahen viele Frauen,
die ihm gedienet, frfiher, zu Galila,
Salome, Maria und Magdalena
und die mit ihm nach Jerusalem kamen.
Am Kreuze hing er, Verbrechern zugezahlet,
nackf und geschert. Am zerpeitschten Korper
klebte geronnen Blut. Rote Bachlein flossen
von Hand und FuBen, tropften auf die Erde.
Die Augen, die der Schmerz geweitet, blickten
in die Feme
fiber die weiBe Stadt hin, fiber Hfigel, Walder,
zum Kamm der Berge, in deren SchoB liegen
die blauen Wasser galilaischer Seen.
Den Kopf er neigte.
Da klang ihm zum Ohre
der Flugel Rauschen. Doch es war nicht des
Vaters Engel
mit dem Kelch der Labung seiner mfiden Seele,
der bose Geist spreizte die Fledermausflfigel
hin durch die Luft, flog zu ihm nieder.
Er muBte dulden, daB sich Satan setzte
auf dies sein Kreuz, ihm zu Kopf sich neigte,
denn sein mfider Geist war nicht mehr eines
Kampfes fahig.
Und Satan sprach: „Elender Dulder,
auf dem Holz des Kreuzes sehen wir uns wieder.
Und heut zuletzt, Denn heut ist es entschieden.
Der Kampf beendet.
WeiBt du, vor drei Jahren,
dort in der Wfiste, wie ich dich getragen
auf einen hohen Berg und dir gezeiget
machtige Reiche, alien Ruhm der Welt,
und alles dir versprach, wenn du dich neigend
mir dich beugen wfirdest? Du verschmahtest.
Kunden gingest du das Reich des Himmels
den Schwachen, Armen. Reinen Herzens woll-
test geben
du Schatze, welche nie vergehen.
Einfaltgen Seelen wolltest weisen den Weg
du zu dem Ruhm des Vaters. Von der Stirne
der Geschlechter loschen den Fluch Adams.
Zum Tode gingst du in Ergebung,
gleich einem Lamm, das seinen Mund nicht off net,
dein Blut hast du wie Tau vergossen, damit
sich deine junge Saat erquicke.
Jesus von Nazareth, sieh diese Mengen,
die unter deinem Kreuze wallen!
Vor kurzem, da voll Ruhm du einzogst
in diese Stadt, Palmen sie streuten
unter die Hufe deines Esels, riefen dir zu,
und nannten dich Sohn Davids,
denn sie meinten, daB dieses Gottesreich
beganne, daB die ersehnte Zeit gekommen
des Honigs und des Hafers. Du verschmahtest
wieder.
Die enttauschte Menge in der Wut der Rache
Kreuzige! schrie ins Ohr nun dem Pilatus.
%
■v.x- - ’
185
DIE AKTION
186
Jetzt hier sie gehen, schiittein mit den Kopfen
und spotten: Seht, hier hangt der Juden Konig!
Er soil sich helfen! Oottes Sohn wollte er sein,
doch scheint es, daB der Vater sein vergessen. —
Und der Vater hat vergessen!
Schau den Himmel,
wo du ihn im vollen Glanze sitzend wahntest:
wolkenlos, still und klar er lachelt
mit seinem fuhllos blauen Lacheln,
wie vor dir, so auch nach dir. Und die Vogel,
die durch die Liifte fliegen, all die Tiere ringsum,
die aut der Erde sich bewegen, nur nach einem
Gesetze
lebten und leben: nach dem Meinen.
Selbst regiere ich. Sitze in den Herzen, in den
Seelen,
mich vertreibt niemand, nichts,
nicht du und nicht dein Vater. Dein Reich Gottes
ist ein Trauzn. Und diesen lasse ich den Men*
schen auf ewig.
Schau, wie unterm Kreuze der Romer Centurio
f emachlich spricht mit dem weisen Gesetzgeber!
o wird es immer sein. Die zwei sind Erben
jetzt
deiner Worte, deiner Traume. Der eine andert
seine Gotzen,
der andere seinen Jehova fiir deinen Namen
und weiter lebt die Welt nach meiner Ordnung.
Wer starker ist, den Schwachen aufzehrt.
Und so auch die Menschen. All die weite Welt
gehort zu meinem Reiche. Denn ich bin das
Leben.
E. Anger
HoUschnitt
Warum nur nahmst du damals nicht die Reiche
alle,
den Ruhm aus meinen freigebigen Handen?
Dein junges Leben nicht hier enden wiirde
in schmachvoller Pein; voll ausleben konntest
du es
zum eignen Gluck, zum Wohl von Millionen,
Und was brachtest du? Tod satest du und Zwie-
tracht.
Selbst der Erste fallst du. Und fiir deinen Na-
men, deine Traume
hundert und hunderte von Leuten noch ihr Blut
vergieBen
auf Kreuzen, in Arenen und Schafotten.
Und bis es scheinet, daB dein Traum gesiegt hat,
dann Opfer brennen werden sie in deinem Namen,
in deinem Namen werden Kriege wiiten,
in deinem Namen werden Stadte fallen,
in deinem Namen Landschaften vemichtet,
in deinem Namen wird man fluchen,
in deinem Namen Sklaven machen
an Geist und Korper.
Sieh den Centurio
und den Geber der Gesetze! Morden wird der
eine
in deinem Namen, und der Zweite wird ihn
segnen
in diesem. Millionen elender Geschopfe
bezahlen deinen Traum mit ihrem Gute,
ihrem Leben.
Und iiber dem vergoBnen Blute
dein Traum von Gottes Reich, dem ewgen,
vom Ruhm des Himmels wird dann schweben
wie ein Phantom, das Ersatz sein soli den Toten
und Lockung den Lebenden bis an des Weltreichs
Ende!
Warum nur nahmst du damals nicht das Reich
der Welten
und seinen Ruhm, denn mein ist das Leben,
ich das Leben selbst, Herr iiber atles.
Und ewig sitze ich in Ewigkeit in alien Herzen
und in alien Seelen V*
Und damit erhob sich Satan. Offnete
die Fliigel,
die dunklen Fliigel einer Fledermaus,
mit Windeseile wuchsen sie in furchtbare Breite.
Ober ganz Oolgatha,
1
2 2
rx /
Kt ¥'
i
187
DIE AKTION
188
N
der Stadt, dem Tale, all den Hugeln,
uber das ganze Land und feme Berge,
uber die blauen Wasser der Seen von Galilaa,
uber feme Reiche, Meere,
hingen die schwarzen, diistern Fliigelhaute,
Und groBe Dunkelheit war uber aller Erde,
die bebte.
Und zuletzt sah um sich
der Blick Jesu, dann rief er mit machtger Stimme:
Eloi, Eloi, lama asabthami t
und hauchte aus die Seele.
(Aus dem Tschechischen ubersetzt von Maria Nachlinger)
OSTERLEGENDE
Yon Lindstaedt
Vor Festesanfang
Haben Jesu Jiinger
Osterlamms gute, zutrauliche Seele,
Osterlamms wolliges, molliges Leibchen
Vor den schwarzen Schuppen gelockt.
Verlogenen Gebarden unaufrichtiger Manner
Zogert es nach, Gehorsamsopfer, bis es Johannes
folgt,
Dem guten Hirten,
Seinem groBen Bruder.
Aber am Tor steht Judas:
Der hat das Schlachtemesser schlecht verborgen.
Da hat sich Lammchen ledig seiner Pflicht gef&hlt
Als Menschenbruder
Und ist weggesprungen drei Spriinge weit.
Doch Judas schleudert ihm die Pranken seiner
Fauste ins Genick:
Lammes Lieblichkeit ist ganz verschwunden.
Blode glotzt das dumme Schaf.
Am Abend, als das Mahl bereitet war,
Sah Christ der Herr Verworrenheit der Ziige
Im Antlitz seiner Zwolf, draus las er klar
Die Missetat des Tags und eines jeden Anteil.
Und nahm die Sunde auf sich.
Und hat dann Zug um Zug hinweggehaBt
Verzerrung ihrer Leiber.
Und hat die also Reinen so geliebt,
Da 6 noch am selben Abend ein umflorter Glanz
aufleuchten konnte.
Sein Tischgebet war dies :
„Gott zeig den Weg mir
Mord lebendigen Fleisches aus der Welt zu
tilgen."
Als drauf die Jiinger in ihn drangen
Ein zweites Lamm zu schlachten fur den nachsten
Tag,
Sprach Christ, der Herr, sein nahes Ende wissend:
„E$set mein Fleisch. Trinket mein Blut."
Sie aber entsetzten sich.
„Die gute Gabe meines heiFgen Willens ist euch
verwerflich“
Sprach der Herr „und lieber wollet ihr dem Lamm
Den innigsten Besitz, sein Fleisch und Blut
Durch Raub entreifien und durch Mord.
Mein Fleisch ist wahrhaft eine Speise,
Und mein Blut ist wahrhaft ein Trank."
Sie aber entsetzten sich
Und Petrus sprach, sie wiirden ihn verlassen.
Da nahm der Herr das Brot, segnete es, brach
es und sprach:
„Dies ist mein Fleisch."
Und dann nahm er den Kelch mit Wein,
Segnete ihn und sprach:
„Dies ist mein Blut.
Tuet das zu meinem Andenken."
Und er aB und trank mit ihnen.
JUDAS
Da kroch die noch liebende Stimme zu ihm,
Der andern Gefliister klagte harter
Und klirrt am Tisch: Ach mochte er doch
Gleich uns sein! — Aber der Herr saB still.
Wie suB bewahrte Flamme zehrt er
Jn goldener Lampe. Und hieB nur den Jiinger
Ihm Feind zu sein: Das einer kummere
Und traure, der die Goldtaube loschen muBte.
August Brucher
189
DIE AKTION
190
DES ERLOSERS LETZTER SI EG
Seine siillen Augen sind Krystalle,
die des Tages dunkles Kreuz bewahren —
aufgehangt in seinen hellen Haaren
schaukelt klingend unsers Abends Halle.
Aber als ein Sturm mit den Gestirnen
unsanft spielt, birst seines wolkenbleichen
Angesichtes Schild und ziingeli Zeichen,
die bedrohn, und Wunder, welche ziimen.
A us der Brust, die plotzlich aufgebrochen
rot Vulkan ist, sprengt das Herz Verbluten
unter den entbrannten Dornenruten
seiner schmerzhaft steilgebaumten Knochen.
Doch zwei Hande bleiben, die erblindet
auf dem griinen Hirtenstabe rasten,
daB zur Nacht, die zartlich sie betasten
alles wieder seinen Frieden findet.
Max Herrmami-Neifie
DIE KREUZESABNAHME
Und das Herz barst, daB die Erde sich aufriB
in Schmerz,
wie ein Fetzen irgendeiner Mumie sich wild auf-
reiBt.
Und Maria ging in Tranen durch die Stadt,
ein alter Jude dachte an sein totes Kind
und lachte, da sein Schmerz ihn fraB.
Gefallt ward das Kreuz. Wie man dem Baum
die Krone nimmt, trennte man Christus vom
Kreuze.
Blutumspritzt starrte das weiBe Kreuz leer
und der Himmel verzog sich in schwarzer Wut,
denn ein Herz weinte und Mutterschmerz
zerstampfte die lockere Erde des Fcldes.
Karl Brand
VISION
Nun bliiht das Herz.
Verhangnisse verschonen
Bluten, welche Herzen kunden,
Die iiber Sonnen thronen.
Bluten werden Zungen ziinden,
Und Zungen werden Bluten munden.
Nun bliiht das Herz.
Der quale Keim brach in den Tag,
Und Tagen waren
Von Wurzeln,
Die gierig
In Erde fraBen
Durchgeschlagen.
Doch die Wurzeln tragen.
Sie tragen einen Baum
Mit rotem Kelch und schwarzem Blutenstaub;
Und dieser Baum, der in die Tage brach,
Wird sich mit Leid,
Mit silberklarem Zitterleid belauben.
Er wird sich schwer mit voller Frucht betrauben,
Die den Damon erfiillen wird
Und iibersattigen
Mit fleischgewordner Qua!;
Die ihn erfiillen wird
Mit Geist und Blut
Mit Blut und Blut
Mit Geist und Geist. —
— Und Geist und Blut sind Gift.
Nun bliiht das Herz.
Georg Gretor
ERWACHEND
Mit bis zum Himmel aufgespitztem Ohr
lausch ich im MiBtraun diinnen Morgenschlafs,
ob nicht ein Haher stirbt, nicht eine Glocke birst,
ob aus der Harmonie der Spharen nicht
ein halber Ton herab mit Zischen fahrt.
Und die allweg in mir verschollen sind,
die Wege all, wo je die Sohlen klangen,
(Spriihvogel jubel warts von Luft zu Luft sich
schwangen)
*
entfliehen noch im letzten Traumeswind.
Als Mose ausgetraumt im Blauen stand,
lag da vor ihm mit Brausen und mit Beben,
Ftlks MSOmr
Original- HoIuc>mitt
m
DIE AKTION
194
mit Liebesfluren das gelobte Land —
Ihm war wie Chrysopras ein Schaun gegeben,
und lodernd lachte selbst der fernste Strand.
Mehr, mehr, verirrtes Blut, was willst du mehr?!
Ich sage dir in mir, verruchter Ahasver:
es kamen viele Tausend wohl Ins Land,
sie teilten es, sie aben es, ein jeder Milch und
Honig fand,
kein Mensch verdarb.
Nur einer kam zu schaun und starb.
Im Silberhauch der Helie
zeuch auf, Gesell — laB ab vom Raub!
Schon seh ich Staub
auf meines Herzens Schwelle.
Rudolf Fuchs
UND DA DER EINE GING . . .
Und da der eine ging, und sich verlor . . .
Christus,
sie alle haben deine muden FiiBe
Und die Grimassen deines Grams . . . die
Garten warten :
Es sturzen Nachte, knatternde Standarten,
Und viele Mutter gehn und irren sich in SuBe.
Ihr! Ich! Ihr habt nicht mehr von mir als zu-
gelarmte
Graber und die satte
Die satte Trauer Eurer Vater, meiner Vater.
Ftlix Muller Federxeichnung
Unangetastet noch wie immer
Bin ich der Himmel iiber Euch, Mond meiner
Abende, taglicher Sch immer
Der Mahr, der Euch umschlingt, umschlungen
hatte.
Es dampfen Taler Mitleid zwischen uns und Berge
fluchen,
Und selig lachelnd hiite ich das Kreuz der
Wege . . .
Wenn ich erst meine Hande auf Euch lege . . .
Wenn Eure Enkel sich in Enkelinnen suchen , . .
Doch seid Ihr meine Not! So seid gesegnet!
Schirmt Eure Hande iiber Euch, Ihr diirft nicht
sehn,
Wie meine Wunder . . . : Alter Auferstehungen
Geschehn,
Wie sich mein Gott Euch kniend herbegegnet.
Ludwig Baumer
DIE DICHTER DER MARIA
Die helie Frau erscheint in hellem Bild.
Vor einem Bild erwarten wir das Ende:
Ein Engel schlagt das Land um seine Hande.
Aus hohen Baumen schon die Flamme quillt.
Die Dichter aber wandern unentwegt;
Sie trifft nicht Fluch und nimmermehr Ver-
weisung.
Der Tod erstarrt Willkommene Vereisung.
Sie warten auf die Stimme, die sie schlagt.
Die Dichter gehen unentwegt an Fliissen.
Die Wolke rundet sich um Leib und Stim.
Von Zartlichkeit sind Stadte hingerissen,
Es muB die Holle sich dem Geist enhvirm.
Richard Huelsenbeck
MARIA
Euch Frauen ehre und lieb ich, euch reine Wesen
und schwache —
Schwesterliche Seelen in den Garten des Un-
sichtbaren !
Nicht mit der Liebe des Despoten, der eueren
Schwanennacken drucket hernieder,
Werkzeuge der Wollust fur die eigene, niedrige
Wonne, zum Ergotzen,
stille, verblassende Monde fiir seine feurigen
Sonnen,
nicht mit der siindigen Liebe, die euch hernieder
reiGet vom Throne,
euch Frauen, liebe ich mit dem Gefiihle des Mit-
leidenden,
mit zarter, verstehender, weiblicher Seele.
Ehrwiirdige Mutter, in Schmerzen stillend den
Samen des Volkes,
mutterliche Blicke, Liebkosung opfervoller Hande,
Martyrerinnen der Wiege, Madonnen unter dem
Kreuze.
DIE AKTION
W5
*
Euch Frauen eh re und lieb ich, euch reine Wesen
und schwache!
Jungfrau en, bad end des Korpers Lilien in gluhen-
der Luft,
weiBe, kuhle, wachseme Schonheiten der Kapellen
und Dome.
Jungfrauen, Kerzen am Altare des Hochsten,
Kerzen, die brennen mit ewigem, unbewegtem
Lichte.
Noli me tangere ! sprechen eure Augen, die tiefen.
Wurde der Mutter, unberiihrbare Heiligkeit der
Jungfrauen!
In einer Verkorperung kenne ich dich und beuge
mich dir im Staube:
sehe dich auf dem Monde, den die Schlange mit
ihrem Korper umwand,
die Erldsung der Schwa chen, die groSe, leuchtende
Rechtfertigung der Sunder,
Strahlen der Sonne flieBen und regnen aus dem
Glanz deiner Hande,
Maria ist dein Name und Konigin sein ist deines
Amtes.
Sigismund Bouska
(Aus dem Tschechischen Qbersetzt von Maria Nachlinger)
HEIMKEHR
Die Stadt liegt strom fiber wie ein Silbergeschmeid.
Avegiocken summen vom groBen Dom.
Bracken aus mach tiger Romerzeit
Reiten auf dem bebenden Strom.
Von den Bergen zieht eine reisige Schar.
Eisen schuttert. Der Wappen bunte Zacken
Kehren heim. Eine Fahne weht klar
Mit dem rosa Kreuz, und die Helme hangen im
Nacken.
Schiffe schweben voruber, man gruBt sich. Rebe
winkt.
Kruzifix ladet zur An da chi Junge Saat
Wogt. Die Schwarzamsel singt.
Sie ziehen wie auf rosenbestreutem Pfad.
Sie kommen aus fernem Morgenlandstraum,
Sonnenverbrannt. Die fremden Landschaften losten
Und verwickelten sich vor ihnen wie Banner. Sic
sahen’s kaum,
Denn sie sind Muter des Heiligsten und des
GroBten.
Und sie ziehn in die Stadt und sie steigen zum
Dom hinan,
Oberreichen knieend dem Bischof das kostbarste
Gut:
Ein KsLStchexit das leer ist bis auf einen einzigen
Spahn
Von Chris ti Kreuz, rot und duftend nach seinem
Blut
Wilhelm Klemm
ELEND
In die Winterkalte, in der die Nachte weinen
und achzen,
jagt mich ein Sturm.
Von Golgatha fliegen Raben auf und krachzen.
Irgendwo ist viel Leid geschehn. —
Ober den Stadten der Menschen
flattert es in dunklem Fliigelwehn.
Der liebe Gott hat den Himmel versperrt
und weint.
Der Mond stirbt; sein Antlitz ist von Qualen
verzerrt.
„Der Mond ist
sagt jemand, ziindet eine elektrische Bogen-
lampe an,
und beginnt unsinnig lustig zu werden.
Heinrich Nowak (Wien)
E. Kallen
JTederteichnung
V
'■VvW
197
DIE AKTION
ENDE
Ich stand am Kriegsstrand,
blutige Wellen schaumten zu mir.
O war ich in Samarkand
und nicht hier.
Immer noch kampfen
auf dem Dunghaufen die Hahne.
Es glauben die Tauben,
daB unter ihren Spriingen die Erde erdrohne.
Kann ihren zornigen Blutgeifer nichts dampfen?
Rausche, o Wasser!
Ich hore das Meer.
Ober Europa
aus Urzeiten kommend zu Zeiten
ergieBt sich grollend das Meer.
In den Tagen der Zukunft
rein von Menschenameisen sturzest du einst
oder es schluckt dich, Erde, die Sonne.
Albert Ehrenstcin
DER MENSCH ERGREIFT BESITZ VON SICH
Von Raoul Hausmann
Wille als Egoismus ist lacherlich. Der vollkom-
mene Mensch besitzt wesentlich Demut. — Aber
noch ist der vorteilhafteste Vorteil des Dostojewski
nicht erkannt, Hier ist noch der Mensch des
selben Dostojewski, der eine Minute zu spat
kommt. Darum miissen alle Annies und Diotimas
sterben. Der Mensch steht noch vor der letzten
Erlosung von der Gefangenschaft des Herzens.
Sein Mut macht noch vor sich selber halt. Bei
Dostojewski wird dieser Mensch w'ahnsinnig, bei
Holderlin einsam, bei Aage van Kohl ist sein Tod
die Befreiung. (Strindbergs Idee, man miiBte fiir
alles Gute und Bose irgendwie quittieren.) Wenn
nun aber dieser Kampf zwischen Tod und Zukunft
diese Minute errat, die Bereitschaft des Herzens
erfaBt, wenn diese Annies und Diotimas starker
sind als der Tod, dem sie nahe waren — wie
miiBte dann das so stark und demiitig eroberte
Leben die Quittung ausstellen?
Aber nicht jedermann ist Adam, dem Weib und
Welt neu, primar, entgegenstehen. Erkenne: Eva,
die groBe Jungfrau-Mutter, Maria mit dem Kinde,
dies zugleich Adam. Im Menschen kampft Geist-
Seele mit sich selbst, Geist Adam haBt darum Seele
Eva, weil sie seines innersten alleinigen Gottes
Mutter ist, damit auch seine. Durch welche Tode
muB ihr beider HaB, bis sie sich als ewiges
Widerspiel, als clair-obscur erkennen!
Denn schon im altesten Indisch heiBt es: die
Mutter ist nur der Schlauch (also SchoB), das
Kind ist des Vaters Ebenbild, es gehort ihm, der
es gezeugt hat. Es legt ein Mann auf des Vaters
Ebenbild Weib die Hand, nun schafft er noch-
mals als Adam die Welt des Weibes, des Eben-
bildes mit dem Kinde, das er aber wieder
selbst ist. Um es aber sein zu konnen, muB das
erste Bild, Urbild, Adamsbild, Vaterbild, vernichtet
sein bei beiden. Dann im SchoB des Weibes
schafft er sein Ebenbild, sich selbst, so wird Eva
seine Mutter.
Doch die Frau schwieg von Anbeginn der Welt.
Diese Wissende. Diese aus Scham Liigende. So
fand der Mann ihre Erlosung nur in der Vergewal-
tigung. (Liebe als Kampf und TodhaB der Ge-
schlechter bei Nietzsche.) Die Frau, die sich be-
freit hat, die sich sah, b e v o r sie Eva ward, wird
den Gleichkampf der Geschlechter, ihre strah-
lende Erlosung, herbeifiihren — sie weicht nicht
mehr, sie hat den Mann erkannt und geht ihm ant-
wortend entgegen.
Noch ist Gott in dir Iebendig als Zwang, Macht
und Zufall. Des Vaters Adam. Gott herrscht als
Kind in seiner Mutter, die er zu seinem Geschopf
machte. — Er herrscht uber uns durch die Gewalt
des AuBer-uns. Aber besiege ihn, zwinge ihn,
von Deiner Stelle zu weichen, und er und die
Welt werden neu in Dir erstehen: Du selbst bist
Gott-Adam und Du, Weib-Eva die Jungfrau
Mutter!
HerausreiBen das falsche Geschlecht aus dem
Gipfel Gottes, des integersten Seins in des Men-
schen Brust: vernichten die Vorherrschaft des
Mannes als der Gott, der Konig, der Vater.
Mann als Abkommling, AusfluB, des gemeinsamen
Seelenquells des gottlichen G run des, Ableitung,
Einzelung wie Weib so Mann — keine Vorherr-
Joief Ebtr%
DTE AKTION
199
200
schaft, die Gewalt ware, sondern Ausgleich; Ent-
zweiung im Handeln, zuriickfiihrend auf gleichen
Grund. Welt — Geist — Gewalt will endlich
demutige Einsicht: Gewalt lost auf, es erstcht
gegeneinander iiber die Welt Adams, die Welt
Evas, gleichermaBen teilhaftig des innersten Ur-
sprungs, Formen der gottlichen Seele.
ZWEl STOCKE
Yon Heinrich Stadelmann-Ri ngen
Der N a r r
Als der Narr noch nicht ein Jahr alt war, aB und
trank er, schrie und sonderte Unbrauchbares ab;
sonst hatte er nichts zu geben und nichts zu neh-
men.
Seine Aufnahmen und Abgaben steigerten sich mit
den jahren.
Als er zehn Jahre alt war, muBte er viel lernen;
das gab er in zehnjahriger Jahresreihe wieder
von sich, wie er es aufgenommen hatte.
Vom zwanzigsten Jahr ab nahm er zehn Jahre lang
Gift zu sich, das er in den nachstfolgenden zehn
Jahren wieder auszuscheiden versuchte.
Mit vierzig Jahren nahm er ein Weib auf; es
kostete ihn zwanzig Jahre, bis er es wieder ab-
gegeben hatte.
Mit sechzig Jahren versuchte der Narr zu er-
grunden, was Aufnahmen und Abgaben fur ihn
bedeuten. Als er zehn Jahre lang daruber nach-
gedacht hatte, wurde er plotzlich unterbrochen.
Ich bin zornig
3ch hab* mir ein Fell auf die Trommel gespannt,
Von einem Kalb;
Ganz straff.
Dann hab' ich zwei Schlegel mir selbst geschnitzt,
Aus Eichenholz;
Ganz stark.
Jetzt hau* ich aufs Fell, daB es donnert im Ohr.
Ich hor' nichts mehr
Von der Welt.
Mein Zorn, der springt auf die Trommelhaut.
Bis sie zerplatzt.
Mitsamt der Welt,
DER KENTAUER
Yon Maurice de Gxt&rin
Ich habe in den Hohlen dieser Berge das Leben
empfangen. Wie der FluB dieses Tals, dessen
Tropfen im Urspmng aus irgendeinem Felsen
rinnen, der in einer tiefen Grotte Tranen vergieBt,
so fiel der erste Augenblick meines Lebens in die
Finstemis eines zuriickgezogenen Aufenthalts,
ohne dessen Stifle zu storen. Wenn unsere Mutter
sich ihrer Niederkunft nahern, entfernen sie sich
zu den Hohlen und im Hintergrunde der wil-
desten, im dichtesten Schatten gebaren sie, ohne
eine Klage zu erheben, Friichte, schweigsam wie
sie selbst. Ihre kraftige Milch laBt uns ohne
Siechtum oder zweifelhaftes Ringen die ersten
Schwierigkeiten des Lebens uberstehn; jedoch
gehen wir aus unseren Lochem spater als ihr
aus euren Wiegen hervor. Dies geschieht deshalb,
weil bei uns die Meinung verbreitet ist, daB man
die ersten Zeiten des Daseins bew r ahren und
einhiillen miisse, als Tage, die von den Gottem
erfiillt seien. Mein Wachstum verlief fast ganzlich
in den Schatten w r o ich geboren ward. Die Statte
meines Aufenthalts lag so weit in der Unzugang-
lichkeit des Gebirges, daB ich die Seite des Aus-
gangs nicht gewuBt hatte, waren nicht bisweilen
die Winde in diese Offnung abgelenkt, und hatten
sie nicht Frische und plotzlichen Aufruhr hinein-
geworfen. Bisweilen kehrte auch meine Mutter
zuriick von dem Duft der Taler umgeben oder
von den Fluten rieselnd, die sie aufsu£hte. Oh
diese Riikkehr, ohne daB sie mich jemals iiber
Taler noch Flusse unterrichtete, aber die doch von
deren Ausstromungen begleitet war, beunmhigte
meinen Geist, und ich streifte ganz erregt in
meinen Schatten umher. Welches ist dieses
DrauBen, wohin es meine Mutter zieht, und
w r elche Macht regiert dort, die sie so haufig zu
sich ruft? Aber was empfindet man dort so
Gegensatzliches, daB sie jeden Tag verschieden
bewegt davon zuruckkommt? Meine Mutter
kehrte heim, bald von einer tiefen Freude beseelt,
bald traurig und sich schleppend und wie ver-
wundet. Die Freude, die sie mitbrachte, kundigte
sich von feme an in einigen Ziigen ihres Laufes
und verbreitete sich aus ihren Blicken. Ich emp-
fand ihre Mitteilung in meinem tiefsten Innern;
aber noch viel mehr gewann mich ihre Nieder-
geschlagenheit und zog mich noch weiter hinein
in die Vermutungen, wo mein Geist zu schweifen
pflegte. In solchen Augenblicken beunruhigte ich
mich iiber meine Krafte, ich erkannte darin eine
Macht, die nicht einsam bleiben konnte, und in-
dem ich nun anting meine Arme zu schtitteln
und in den gcraumigen Schatten der Hohle
meinen Lauf zu vervielfaltigen, bemiihte ich mich
an den Schlagen, welche ich ins Leere fiihrte und
in dem Ansturm meiner Schritte zu entdecken,
wonach meine Arme sich ausstrecken und meine
FiiBe mich tragen sollten.
Seitdem habe ich meine Arme um die Biiste der
Kentauren und um die Korper der Helden und um
den Stamm der Eichen geschlungen; meine Hande
haben die Felsen, die Gewasser, die unzahligen
Pflanzen und die zartesten Eindriicke der Luft ge-
priift, denn ich erhebe sie in den blinden, ruhigen
Nachten, damit sie den Hauch der Liifte be-
lauschen und daraus ihre Zeichen nehmen, meinen
Weg zu prophezeien; meine FiiBe, sieh doch,
Melampus! wie sie verbraucht sind. Und nun
201
DIE AKTION
202
ganz erstarrt wie ich bin im auBersten Alter, gibt
es dennoch Tage wo ich im vollen Licht auf den
Gipfeln in Aufruhr gerate uber das jugendliche
Umherlaufen in der Hohle und in derselben Ab-
sidit meine Arme schwinge und alles was mir
an Schnelligkeit geblieben ist, verwende.
Diese Storungen wechselten mit langer Abwesen*
heit jeder unruhigen Bewegung. Alsdann besaB
ich kein anderes Gefuhl mehr in meinem ganzen
Wesen als dasjenige des Wachstums und der
Stufen des Lebens, die in meinem Busen auf-
stiegen. Da ich die Liebe zu der Heftigkeit ver-
loren, und mich in eine vollkommene Ruhe zu-
riickgezogen hatte, kostete ich ohne Anderung
die Wohltat der Gotter, die sich in mich ergoB.
Die Ruhe und die Schatten walten iiber dem ge-
heimen Reiz des Gefuhls vom Leben. Ihr Schatten,
die ihr die Hohlen dieser Gebirge bewohnt, ich
schulde eurer schweigsamen Sorge die geheime
Erziehung welche mich so stark emahrt hat und
ich verdanke es euch, unter eurem Schutz das
Leben ganz rein genossen zu haben und so wie
es mir aus dem Busen der Gotter entgegenkam!
Ais ich aus eurem Asyl in das Licht des Tages
hinabstieg, wanktc ich und begriiSte es nicht,
denn es bemachtigte sich meiner mit Heftigkeit,
indem es mich berauschte wie ein unheilvoller
Trank, der plotzlich in mich hineingegossen
wurde, und ich fuhlte, dafi mein Wesen, bis dahin
so fest und so einfach, erschiittert war und viel
von sich selbst verlor, als ob es sich in den
Winden hatte zertrennen miissen.
Oh Melampus! der du von dem Leben der Ken-
tauren wissen willst, durch welchen Willed der
Gotter bist du zu mir gefiihrt worden, dem
altesten und traurigsten von alien? Es ist lange
her, daB ich nichts mehr von ihrem Leben fiihre.
Ich verlasse nicht mehr diesen Berggipfel, wo
mich das Alter festhalt. Die Spitze meiner Pfetle
dient nur mehr die festwurzelnden Pflanzen aus-
zuroden ; die ruhigen Seen kennen mich noch,
aber die Strome haben mich vergessen. Ich werde
dir einige Punkte meiner Jugend mitteilen; aber
diese Erinnerungen, die aus einem geschwachten
Gedachtnis kommen, schleichen sparlich, wie der
GuB eines geizigen Trankopfers aus einer be-
schadigten Urne fallt. Ich habe dir leicht die
ersten Jahre dargestellt, da sie ruhig und voll-
kommen waren. Das einfache Leben erfiillte mich
allein, das wird behalten und erzahlte sich ohne
Miihe. Ein Gott, der gebeten wurde sein Leben zu
erzahlen, bra elite es in zwei Worte, oh Melampus!
Der Gebrauch meiner Jugend war schnell und an
Aufregung reich. Ich lebte von der Bewegung,
und iCh kannte keine Grenze fur meine Schritte.
In dem Stolz meiner freien Krafte irrte ich umher
und dehnte mich iiber alle Teile dieser Einode
aus. Eines Tages, als ich einem Tale folgte, was
nur wenige Kentauren unternehmen, entdeckte
ich einen Menschen, der auf dem jenseitigen Ufer
des Flusses entJang ging. Das war der erste,
der sich meinem Anblick bot. Ich verachtete ihn.
Das ist hochstens, sagte ich mir, die Halfte m eines
Wesens! Seine Augen scheinen den Raum mit
Traurigkeit zu messen. Ohne Zweifel ist dies
ein von den Gottern niedergeworfener Kentauer,
den sie verdammt haben, sich so hinzuschleppen.
Ich ruhte mich oft zu meinen Tagen in dem Bett
der Fliisse aus. Eine Halfte meiner selbst, die
im Wasser verborgen war, bemuhte sich die
Stromung zu bewaltigen, wahrend ich die andere
ruhig erhob und ich meine tragen Arme iiber den
Fluten trug. Ich vergaB mich so inmitten der
Wogen und gab der Gewalt ihres Laufes nach,
der mich in die Feme trieb und ihren wilden
Gast zu alien Reizen der Ufer fuhrte. Wieviel
mal bin ich, von der Nacht uberrascht, den Stro-
mungen unter den Schatten gefolgt, die sich aus-
breiteten und bis auf den Grund der Taler den
nachtlichen EinfluB der Gotter legten! Mein feu-
riges Leben maBigte sich dann bis zu dem Punkt,
daB nichts mehr als ein leichtes Gefuhl meines
Lebens blieb, das iiber mein ganzes Wesen mit
gteichem MaBe ausgegossen war, wie in den Ge-
wassem wo ich schwamm, der Schein der Gott-
heit, welche die Nachte durcheilt. Melampus,
mein Greisenalter vermiBt die Strome; friedlich
in ihrer Mehrzahl und eintdnig verfolgen sie ihr
Geschick mit mehr Ruhe als die Kentauren
und mit einer wohltuenderen Weisheit als die
der Menschen ist. Als ich ihren SchoB verlieB,
folgten mir ihre Gaben, die mich tagelang be-
gleiteten und sich nur langsam zuriickzogen, nach
der Weise wie sich Wohlgeriiche verlieren.
Eine wilde und blinde Unbestandigkeit bestimmte
meine Schritte. Mitten im heftigsten Lauf uber-
kam es mich, meinen Galopp abzubrechen, wie
wenn ich einen Abgrund vor meinen FiiBen ge-
troffen hatte oder einen Gott vor mir aufgerichtet.
Diese plotzlichen Stillstande lieBen mich fuhlen 9
wie mein Leben von Aufwallungen bewegt wurde,
worin ich mich wieder befand. Ehemals habe
ich in den Waldem Zweige abgeschnitten, die
ich beim Laufen iiber meinen Kopf hielt; die
Schnelligkeit des Laufens hob die Beweglichkeit
des Laubes auf, das nur mehr ein leichtes Beben
von sich gab ; aber bei der geringsten Ruh e
kehrten Wind und Bewegung in den Zweig zu*
203
DIE AKTION
ruck, der sein dauerndes Rauschen wieder an-
niramt So zitterte mein Leben bei der plotzlichen
Unterbre chung der ungestiimen Laufe, die ich
(hirch die Taler unternahm, in meinem ganzen
Leib. Ich horte es kochend gehn und das Feuer
rollen, das es in dem heftig durchmessenen Raum
gefangen hatte. Meine sturmisch bewegten
Flanken kampften gegen seine Wogen an, von
denen sie innerlich geprefit wurden und kosteten
in diesen Sturmen die Wollust, die nur von den
Ufern des Meeres gekannt wird, ohne EinbuBe
ein Leben in sich zuschlieBen, das bis zum Gipfel
gestiegen und zornig erregt ist. Unterdessen be*
trachtete ich, den Kopf gegen den Wind geneigt,
der mir Kuhlung brachte, den Gipfel der Berge,
die in einigen Augenblicken in die Feme gerikkt
waren, die Baume der Ufer und das Wasser der
Flusse, diese in kriechendem Laufe dahingetragen,
jene an den SchoB der Erde gebunden und allein
durch ihr Astwerk beweglich, den WindstoBen
ausgesetzt, die sie seufzen lassen. „Ich allein“, sagte
ich mir, habe freie Bewegung, und ich trage mein
Leben wie es mir gefallt von einem Ende zu dem
anderen dieser Taler. Ich bin gliicklicher als die
Strome, die von den Gebirgen fallen, um nicht
mehr wieder hinaufzusteigen. Das Rollen meiner
Schritte ist schoner als die Klagen der Walder
und die Gerausche der Welle; es ist das Drohnen
des irrenden Kentauren, der sich selbst leitet.“ So
fuhlte ich, wahrend meine erregten Flanken die
Trunkenheit des Laufes besaBen, dariiber noch
hoher den Stolz, und wahrend ich den Kopf um-
drehte, hielt ich einige Zeit an, um meine damp-
fende Kruppe zu betrachten. Die Jugend gleicht
den grunenden Waldern, die von den Winden ge-
schuttelt werden: sie wirft von alien Seiten die
reichen Geschenke des Lebens heran, und immer
herrscht irgend ein tiefes Mur mein in ihrem Blatt-
werk.. In der Verlasenheit der Strome lebend, un-
aufhorlich Cybele atmend, sei es in dem Bett
der Taler, sei es auf dem Gipfel der Berge,
sprang ich uberall herum, wie ein blindes ent-
fesseltes Leben, Aber wenn die Nacht, die mit der
Ruhe der Gotter erfullt ist, mich auf dem Abhang
der Berge fand, fiihrte sie mich zu dem Eingang
der Hohlen und beruhigte mich, wie sie die
Wogen des Meeres beschwichtigt und lieB in
mir die leichten Schwingungen aufleben, die den
Schlaf fern hielten ohne meine Ruhe zu storen.
Auf der Schwelle meines Zufluchtsortes ausge-
streckt, die Flanken in der Hohle verborgen, und
den Kopf unter dem Himmel, folgte ich dem
SchauspieJ der Schatten. Da loste sich das fremde
Leben, das mich wahrend des Tages durch-
drungen hatte, von mir ab tropfenweis und kehrte
Cybeles friedlichen SchoB zuriick, wie nach dem
RegenguB die Uberreste des Regens, die an den
Blattern hangen, herunterfallen und sich mit den
Wassern vereinigen. Man sagt, daB die Meer-
gotter in der Dunkelheit ihre tiefen Palaste ver-
lassen, sich auf die Vorgebirge setzen und ihre
Blicke uber die Wogen streifen lassen. So pflegte
ich zu wachen, wahrend ich zu meinen FiiBen
eine Weite des Lebens hatte, dem besanftigten
Meer ahnlich. Dem deutlichen und vollen Dasein
wiedergegeben, schien es mir, als ob ich soeben
geboren ware und wie wenn die tiefen Wasser,
die mich in ihrem SchoBe empfangen hatten, mich
auf der Hohe des Gebirges zuriicklieBen, wie
einen Delphin, der von den Fluten Amphitrites in
den Syrten vergessen wurde.
Meine Blicke gingen frei und erreichten die ent-
ferntesten Punkte. Wie die immer feuchten Ufer
waren vom Untergang der Sonne her in den Ge-
birgszug Lichtschimmer gepragt, die von den
Schatten schlecht verwischt wurden. Da lebten in
der blassen Klarheit nackte und reine Gipfel. Da
sah ich bald den Gott Pan, immer einsam, herab-
steigen, bald den Chor der geheimen Gottheiten
oder irgend eine Bergnymphe vorbeikommen, die
von der Nacht berauscht war. Bisweilen durch-
flogen die Adler des Olymp den hohen Himmel
in den fernen Gestirnen oder unter den beseelten
Waldern. Der Geist der Gotter, der machtig
daherfuhr, storte plotzlich die Ruhe der alien
Eichen.
Du verfolgst die Wei6heit, Melampus! welche die
Wissenschaft von dem Willen der Gotter ist, und
du irrst unter den Volkern umher wie ein vom
Schicksal verfiihrter Sterblicher. Es gibt in diesen
Gegenden einen Stein, welcher sobald man ihn
beruhrt einen ahnlichen Ton von sich gibt, wie
die Saiten eines Instrumentes, die zerreiBen; und
die Menschen erzahlen, daB Apollo, welcher seine
Herde in diese Eindde trieb, als er seine Leier
auf diesen Stein gelegt hatte, darin die Melodie
zuriicklieB. Oh Melampus! die irrenden Gotter
haben ihre Leier auf die Steine gelegt, aber keiner
— keiner hat sie da vergessen! Zu den Zeiten, da
ich in den Hohlen wachte, habe ich bisweilen
geglaubt, ich konnte die Traume der schiafenden
Cybele iiberraschen und die Mutter der Gotter
wurde von den Traumen verraten einige Geheim-
nisse verlieren ; aber ich habe niemals etwas
anderes als Tone erkannt, die sich in dem Hauche
der Nacht auflosten oder Worte undeutlich wie
das Kochen der Strome. „Oh Macareus! sagte
mir eines Tages der groBe Cheiron, dessen Ahern
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DIE AKTION
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ich verfolgte, wir sind beide Kentauren der Ge-
birge, aber wie sind unsere Gewohnheiten doch
entgegengesetzt! Du siehst es, alle Sorgen meiner
Tage bestehen in der Suche nach Pflanzen, und
Du gleichst jenen Sterblichen, die auf den Wassern
oder in den Waldern einige Stticke der Schalmei
gesammelt und an ihre Lippen gefiihrt haben, die
von dem Gotte Pan zerbrochen wurde. Von da
an treten diese Sterblichen die aus diesen Triim-
mern des Gottes einen wilden Geist eingeatmet,
oder vielleicht eine geheime Wut gewonnen haben
in die Wildnis ein, stiirzen sich in die Walder,
streifen an den Wassern entlang, begeben sich in
die Gebirge unruhig und von einer unbekannten
Absicht getragen. Die von den Winden geliebten
Rosse im fernsten Skythenland sind nicht scheuer
als du, noch trauriger am Abend wenn der Nord-
wind sich zuriickgezogen hat. Suchst du die
Gotter oh Macareus! und die Herkunft der Men-
schen, der Tiere und den Ursprung des Welten-
feuers? Aber der alte Ocean, der Vater aller
Dinge behalt diese Geheimnisse bei sich, und
die Nymphen, die ihn umgeben, beschreiben
singend einen ewigen Chor vor ihm, urn zu be-
decken, was aus seinen im Schlafe geoffneten
Lippen entweichen konnte. Die Sterblichen, die
durch ihre Tugend die Gotter riihrten, haben aus
ihren Handen Leiern empfangen, um die Volker
zu entziicken, oder neue Samenkorner sie zu be-
reichern, aber nichts aus ihrem unerbittiichen
Mund.
In meiner Jugend erweckte Apollo in mir Neigung
zu den Pflanzen und lehrte mich, aus ihren Adern
die wohltuenden Safte zu ziehen. Seit der Zeit
habe ich treu die groBe Wohnung dieser Berge
bewahrt, unruhig, aber unaufhorlich zum Auf-
suchen des Einfachen, Naturlichen gewandt, teile
ich die Krafte mit, die ich entdecke. Siehst du
von hier den kahlen Gipfel des Berges Oeta! Der
Alkide hat ihn gepliindert, um seinen Scheiter-
haufen zu errichten. Oh Macareus! die Halb-
gotter, Kinder der Gotter, breiten die Haut der
Lowen iiber die Scheiterhaufen und verzehren sich
auf dem Gipfel der Berge! Die Gifte der Erde
stecken das von den Unsterblichen empfangene
Blut an! Und wir Kentauren, durch einen kiihnen
Sterblichen in dem SchoB eines Dampfes, einer
Gottin ahnlich, gezeugt, was durften wir an Hilfe
von Jupiter erwarten, der den Vater unserer
Rasse mit dem Blitz erschlagen hat? Der Geier
der Gotter zerreiBt ewig die Eingeweide des
Werkmannes, der den ersten Menschen bildete.
Oh Macareus! Menschen und Kentauern erkennen
als Urheber ihres Blutes Rauber an dem Vor-
recht der Unsterblichen an, und vielleicht ist
alles was sich auBerhalb dieser selbst bewegt nur
ein Raub, den man an ihnen veriibt hat, nur eine
leichte Scherbe ihrer Natur, in die Feme getragen
wie der Samen, der umherfliegt, durch den all-
machtigen Hauch des Schicksals. Man erklart,
daB Aegeus der Vater des Theseus unter der
Wucht eines Felsens am Ufer des Meeres Erinne-
rungen und Zeichen verbarg, an welchen sein
Sohn eines Tages seine Geburt erkennen konnte.
Die eifersiichtigen Gotter haben irgendwo die
Zeugnisse fur die Abkunft der Dinge vergraben ;
aber an das Ufer welches Oceans haben sie den
Stein gerollt, der sie bedeckt, oh Macareus !“
Dies war die Wahrheit, zu welcher mich der groBe
Cheiron fiihrte. Dem letzten Greisenalter unter-
worfen nahrte der Kentauer in seinem Geist die
hochsten Gesprache. Seine noch kiihne Brust
war kaum an seinen Flanken eingef alien, auf
denen er machtig aufstieg, nur in leichter Neigung,
wie eine Eiche, die von den Winden trauernd ge-
beugt wird; und die Kraft seiner Schritte lit t
kaum unter der EinbuBe der Jahre. Man hatte
sagen mogen, er besitze noch Reste der ehemals
von Apollo empfangenen Unsterblichkeit, die er
diesem Gott bereits wiedergegeben hatte.
Was mich betrifft, oh Melampus! So neige ich
mich ins Greisenalter ruhig wie der Untergang der
Gestirne. Ich bewahre noch Kiihnheit genug, um
die Hdhe der Felsen zu erreichen, wo ich mich
aufhalte, sei es die wilden und unruhigen Wolken
zu betrachten, sei es vom Horizont die reg-
nerischen Hyaden kommen zu sehen, die Plejaden
oder den groBen Orion; aber ich merke, daB ich
zuriickgehe und mich schnell verliere, wie ein
Schnee, der auf den Wassern schwebt, und daB
ich mich in Kiirze mit den Stromen vermischen
werde, die sich in den weiten SchoB der Erde
ergieBen. (Ins Deutsche ubertragen von August Brficher)
ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS
XLV
Das Unschuldslamni.
Es ist immer daftir gesorgt, dafl ein wenig Humor da ist, auch
in den ernstesten Situationen. Zugleich mit der Antworinote der
Entente an Wilson hat denn auch Briand ■- im Beisein des
vertnuliich vor Ktthrung zerflieflenden belgischen Ministers des
Aufiern — eine Note der belgischen Regierung (ibergeben: dms
kleine Schersspiel nach der groBen Heldentragodie der Vierrer-
bmdsakiion. Den SuBeren UmstSnden entspricht der Eindruck
dieses schon an Umfang bescheidenen Ndtchens, Ldst die Ed-
tentenote beim Leser grimmige Entschlossenheit und lodernden
Zorn aus, so macht die naive Dummdreisugkeit dieses Ndtchens
hochstens Lkchein oder Kopfschiltteln.
Man wird es dem LSndchen von rund 29000 Quadratkilometern
Bodenflache — ein Dritiel des Kijnigreichs Bayern — unbesehen
glauben, daB es „ebenso wie die Ementem&chte a niemals Er-
oberungspliine gehabt hat. Sie waren ihm wohl auch schlccht
genug bekommen, Aber wenn es dann mit fast kindlicher Ver*
logenheit seine peinliche Loyalitat in der Beobachiung seiner
Neuiraliiatspftichten hervorhebt, so geht das nach den VerCflent-
207
DIE AKTION
208
lithungen der Dokumente aus den Briisseler Archivcn (urn im
Etdiner Volkiton iu reden) denn doch liber die Hutschnur.
Schwarz auf weifi besitzen wir die Bcweise dafur, daB das „neu-
tr»le“ Belgten den englischen und franzbsischen Truppen den
Durchmarsch durch sein Gebiet zugesagt halt® und seine Truppen
mil jenen zu vereinigen entschlossen war. Mufl man Kinder von
soleb irotiiger Verlogenbeit nicht stau alter Auseinandersetxungen
einfach derb beim Ohr n eh men ?
Zumal wenn diese Kinder noch weiter wi&sentlich falsche An-
schutdigungen erbeben, die die deutscbe Vciwaltung des be-
setzten Landes als „Barbarei a und Menschenschliichierei brand-
marken sollen. Oder soli man sich wieder halb humoristisch
daroit abfinden, wenn man die rUbrend hilflose Gebiirde sieht,
mit der der arme Benjamin des Vierverbandes utn die ftlr»prechende
Stimme des gToBen, gulen Onkels Jonathan bri der — einmal
doch kommenden — Friedenskonferenz fleht? Mit einer Gebarde,
die im aicberen Port erwachsener Obbut mit der einen Hand
Trinchen und Rotznlschen wischt und den HolzsSbel in der
anderen tapfer den bbsen Buben die Zunge ausstreekt, die den
kletnen Gernegrofl verhauen haben. Sol he das nicht ein ganz
passcodes Bild sein, um diese „T&l a dem Gedachtnis der Zeit-
genoasen einzupragen ?
^ Berliner Volks x eilu ng '* , Chefredakteur Otto Nuschke,
Verlagu. Druck Rudolf Mosse, Morgenblatt Id. 1.191 7.
Wie beute stirbt so mancher Held
Oft ent nach groBen Schmerzen
Mit Lieb ftlr Heimat, Vaterland
In seinero wunden Herzen —
So starb auch cinst der Konigsohn,
Doch nicht im Kriegsgewiihle —
Nein, Hafl und Rachsucht, Spott und Hohn
Vollflihrten blutige Spiele.
Der Heiland einst, Herr Jesu Christ,
Der Liebling aller Armen,
Der Lehrer, Troster jeden Volks,
Der stets ein lieb' Erbarmen — ■
Er ward geknechtet und verhdhnt,
Mit Geifleln hart geschlagen,
Mit spitzem Stachelreis gekrdnt,
Hat er das Kreuz get ra gen.
Doch nicht genug, das Volk wollt' mehr,
Den Tod hat sichs erbeten
Und das Gesetz mit atlem Rrcht
Mit FttQen hart getreten.
So starb einst Jesu —
Ftlr die Lieb', die er ins Volk gelragen
Mit unsagbar erduld'nem Schmerz
Wurd’ er ans Kreuz geschlagen.
Wie mancher Held stirbt auch wie er
Durch Mcuchelmord und Ttlcke,
Des Feind’s gepriesene Kultur
Ging 1 angst in tausend Sttlcke,
So stebn heut drauBen in dem Feld
Millionen der Kameraden,
Ein jeder fleht zu Gott dem Herrn,
Er m&cbte ihn begnaden.
Ftir diese Teuren, liebes Volk,
Seid Ibr hierher gebeten;
Des Heilands Leidensweg soli Euch
Ein Ans pom sein zum Leben.
Bruch- Stuck am dem „Prolog H , mit dem die ,,Ober-
ammergauer Passionsepiete 1 ' jetzt in die versehie-
denm H a up Uftiid ten Deutschland s ihre Theater-
vorstellungen einleiten. Jed ein Besucher der Vor -
stelluwqen in Dresden wurde etn gedrucktes Exem-
plar der Dichtung mit in die Wohnung gegeben.
KLEINER BRIEFKASTEN
Dr. Alfred Kerr. In der Kritik, die Sie im roten ,,Tag“
?otn 31. 3 1917 liber Ren£ Schickeles Theaterstiick „Hans
im Schnakenloch* drucken lieiien, behaupten Sie:
„Schickele, Rend wacht in einer Munatsschrift, ob er es
weiO oder nicht weiB, miBtrauisch liber solche, die tief
im Weltenwirrwar, und er haljt ihn mil Fug so wie ich,
vaterlandischer Wwllungcn hinreichend verdachtig sind.**
Die denunzierliche Tendenz dieser Behauptung ist wahrlich
nicht sehr tief im Worlwirrwar vcrsteckl, denn Sie sagen das
ja nicht filr die Leser der AKTION, sondern filr die Abonnenten
des Scherlschen „Tags u . Nun aber i si die Behauptung erwetslich
falsch 1 Denn Herr Schickele wacht garnicht „miUtrauisch tiber
Solche“, imGegentei!, er hat durch seine eigenen Gedichte und
durch die Namcn seiner Mitarbeiter Kauder, Scheler, Leonhard
etc. gezeigt, daB er nicht zu wachen wllnscht! Werden Sie, Herr
Kerr, zogern, den Satz n Schickele wacht Uber die Verdachtigen 11
zu widerrufen? ... In der selben Krilik beichteu Sie dieses:
„Im Frieden vaterlandische Beteuerungen binzubreiten,
ist unntltz. Im Frieden mag man sein Land bekampfen:
ihm zusetzen,"
Ich bin nicht oriemiert, aber es mag vielleicht wirklich ein
undankbares Unternehmen sein, „im Frieden vatertkndische
Beteuerungen hinzubreiten. 11 Dennoch oder gerade deshalb,
Herr Doktor, werde ich Denen, die sich mit ihren Beteuerungen
nicht nach zufalligen auBeren Umsianden einrichten, meine
Achtung nicht versagen. I>a habe ich zum Beispiel einen erz-
konservativen Menschen gekannt: Adolf Petrenz, Redakteur
der „Tiiglichen Rundschau**. Wir waren die erbiuertsten poli-
tischen Gegner, aber er war ein konsequenter Kerl. Der hat
seine „ Beteuerungen* 1 nie nach dem Rezept des „Simplizis-
simus* und des Alfred Kerr formuliert. Und als dann diese
Zeu kam, die er als seine Zcit begrilflte, da ging er hinaus
und fiel, Sie, Herr Kerr, reimen jetzt tausend zeitgemaUe
Liedchen und Sie werden 5 pater tausend andere Liedchen
machen! Das sind Sie. Aber von Herrn Schickele sagen Sie
vorwurLvoll: ..Er bringt ttberhaupt kein Opfer.“
A. Bl. Danke schon ftlr den Hinweis. Ich hatte den „Vorwarts u
voin 17. Miirz achtlos beiseite gelegt — wer kann dieses Blau
tagiich lesen? — und so beinah den Artike) „Die wirtschaft-
lichen Crundlagen der Revolution 1 * zu genieOen versiumt Das
ware ein Verlust gewesen, denn eine ktihnere Geschicht^h gende
ist sehen geschrieben worden. Diese Satze:
„Die neue russische Regierung wird den hciligen Krieg
RuOlands ausrufen, den revolutionaren Krieg. und die
aus dem Boden gestampften Massen Carnots haben be-
wtesen, was revolutionare Hecre leiden und duldcn Uonrcn.
Aber am Ende haben nicht diese revolutionaren Heere
gesiegt, sondern der ordnende militXrische Absolut ismus
Napoleons.**
diese Satze kann unmoglich eine einzelne redaklionelle Kraft
des „Vorwfirts“ erbaut haben; auch Herr Stampfer nicht. llier
ist das Wirken des vereinigten Redaktionsiabes zu verspiiren,
hier wird, zum ersten Male im Leben des verbesserten „Vorwarts u ,
Geschichte gcmachtl Vor dem 17. Marz 1917 hat jeder
Geschichtsschreiber den „ Massen Carnots’* bedeutende Siege
nachgesagl. Die Revolutionskriege began neti 1792 mit dem
Siege von Valmy, den auch Goethe begrtiOt hat. Die Katnpfe,
behaupten alle Geschichisbdcher, ^endeten mil dem volligen
Zusammenbruch der kont re revolutionaren Armee 1 *, trotz detn
»Verrat der Aristokratie und der Vendee 1 *. PreuOen schlofi 1795,
Oesierreich 1797 Frieden, Napoleons Staatsstreich, mit dem
der * Absolutismus* erst began n, geschah 1799 — erzKhlen
die Bflcher. Aber nach den neuen n Vorwirts**- Entdeckungen
i't alles zweifelhaft geworden.
INfHALT DER VORIGEN NUMMER: Josef Eberz: Aktsiudie (Titelblatl) ' Carl Einstein: Der Leib des Armen / Karel Hlavd?ek:
Aus der M Kanti)ene der Rache*', Deutsch von Camill Hoffmann / Franz Werfei: Die Leidenschaft lichen / Vallotton: Bakunin
(Holzschnitt) / Maurice Denis: Hinterlassenes von Ingres / Felix Muller: Federzeichnung / G. F. Nicolai: Das Eigenlumliche
der Volker / R. Janthur; Landschaft (Zeichnung) / Stursa (Prag): Federzeichnung / Iwan Goll: Schneemorgen / ’Wilhelm
Klemm: Schnee / Henrietle Hardenberg: Pein 7 Alfred Vagts: Verse vom Schlachtfeld / Max Oppenheimer: Federzeichnung j
Simon Kronberg: Spur / Adolf von Hatzfeld: Erinnerung / Strohmeyer; Geiger (Holzschnitt) / Heinrich Stadelmann-Ringen:
Musik der Materie / August Strindberg: Gerichtstage (Deutsch von Emil Schering) / Hermann Kasack: Zu Strindbergs Toten-
tanz / F. P.: Ich schneide die Zeit aus; Kleiner Brief kasten
Fur Herausgabe, Schriftlcitung und den gesamten
Inhalt verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin-Wil-
mersdorf, Nassauische StraBe 17. Tel. Pfalzbg. 1695
Gedruckt bei F. E. Haag, Melle in Hannover.
Die AKTION erscheint jeden Sonnabend. Abonne-
ments kosten vierteljahrlich durch die Post, durch
Buchhandcl oder Verlag (untcr Kreuzb.) M. 2,50.
Abonnements fur das Ausland kosten M. 3, — .
Biittenausg., lOOnumerierteExempl., jahrl.M.40,— ,
Verlag der AKTION, Berlin-Wilmersdorf.
Unverlangten Manuskripten
is! Riickporto beizufugen.
A 1 1 e Rechte vorbehalten.
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WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR, KUNST
HI. JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERTNR. If
SOiVDERHEFT LUDWIO RUBINER INHALT: Felix Mfilier: Widmungsblatt (THel) / Hans Richter: Widmungsblatt und
Pori rat Ludwig Rubiners / Ludwig Rubiner: Der Kampf mit dem Engel / Wilhelm Lrhmbruck: Ludwig Rubiner (Feder-
aeichnung) / F. P.: Ich schneide die Zeit a us; Kleiner Briefkasten / Beil age fur die Bfittenausgabe : Kunsiblatt von Hans Richter
LMERSDORF
' .-A, -A. aV w, ^
U M i a ! ! f U ( n
I . 1 :'. 1 :-:- jVAp* jp:!-:..
^ I ) W
; W 1 ' ■: \
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Band t :
L Y R I K
i 9 i 4 — 1916
Eine Aothologie
Band 2 :
JUNGSTE TSCHECHISCHE LYRIK
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Verse
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Luxusausgabe M. 15,
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Sophie. Der Kreuzweg der Demut
Ein Roman. Geb. M. 3, — , geh. M. 2 , —
Jcder Band gebunden M. 3,
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Band 1 :
FERDINAND HARDEKOPF
Band 2 :
CARL EINSTEI
Anmerkungen
Band 3:
FRANZ J U N
Opferung
Band 4:
F F A N Z JUN
Saul
Band 5 ;
CARL EINSTEI
B e b u q u i n
Band 1, 2 und 4 kosten gebunden je M. 2,
Band 3 und 5 kosten gebunden je M. 3,
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M. 8, — g^b., M 5, — broschiert
Zweites Werk (in Vorbereitung):
LUDWIG RUBIN ER
Der Mensch in der Mitte
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VERLAG DIE AKTION
K U N S T
DER
SONDERHEFTE
AKTION
„N«ue Secession" / Richter- Berlin / Schmidt- RottlufT /
K. J, Hirsch / Hans Richter / Wilhelm Morgner / Egon
Schiele / Georg Tappert / Else von zur Milhlen / Ines
Wetzel / Felix Muller
DICHTER
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SONDERHEFTE
AKTION
Franz Blei / Gottfried Kolwel / Alfred Lichtenstein /
Paris von Gtltersloh Heinrich Schaeicr / Theodor Daubler
) Paul Adler / Franz Werfel
SONDERHEFTE „D I E VOLKER"
„RuCland J (mit Geleitworten von Maximilian Harden) /
^England - / „Frankreich“ / ,,Bcigien“ / „lialien M ; Boh-
men“ / „ Deutschland -
Jedes Sonderheft, gewohnliche Ausgabe,
kostet 50 Pf. — Butten, numeriert, M .2, —
BUTTEN - AUSGABE DER AKTION
100 numerierte Exemplare
Jahresabonnement : M. 40
Jedem BUttenabonnement werden jahrlich mindestens
acht Kunstblatter beige^eben, von den Klmstlern nume-
riert und signiert. Diese Beilagen kommen nicht in den
Handel und stellen einen Weri dar, der den Abonne-
mentsbeirag tlbersteigt! Im Jahrgang 1917 werden
beige^eben: Blatter von Felix Muller / Max Oppenheimer /
lues Wetzel / Karl Jakob Hirsch / Richter-Beriin u a.
KUNSTLF.R-POSTKARTEN DER AKTION
Es sind 80 verschiedene Drucke erschienen
Zcichnungen von Mopp ! Kars / Schmidt RottlufT /Schrimpf
/ Kl ein ; Richter Berlin / Nadclman / Feininger / Harta /
Schiele / Mense / Melzer / Tappert / Else von zur
Mtihlen / Hans Richter / Josef Capek / Morgner u. a.
100 Stuck M. 3, —
portofrei gegen Voreinsendung des Betrages
211
DIE AKTION
212
DER KAMPF MIT DEM ENGEL
Von Ludwig Rubiner
Jeder Mensch kennt einmal im Leben das Wissen
von seinem ganz Menschlichen : Von seinem gei-
stigen Ziel, zu dem er auf der Erde gehen muB,
um sein Schicksal als geistiges Wesen zu erfiillen;
in das Schicksal wurde er hineingeboren. Alle
Menschen kennen in Wahrheit das geistige Ziel
des Menschenlebens. Alle Menschen sind beteiligt
an dem Ziel, die Erde zu einem himmlischen Reich
zu machen, zum wahren Staate Gottes, in dem jede
irdische Verrichtung auch einen geistigen Sinn
hat; den Sinn da zu sein selbst fur den fernsten
Nebenmenschen ; aber in dem jede geistige Aktion
auch eine ganz reale irdische Handlung ist, und
nicht mehr fremd und verurteilt zu parasitar ok-
kultem Sonderleben, Von diesem Ziel des gei-
stigen Lebens wissen alle Menschen, aber sie
kennen es oft nicht mehr, weil sie es verschiittet
haben und vergessen.
Einmal im Leben steht die Offenbarung des Gei-
stes vor jedem Menschen, wie der Engel vor Ja-
kob. Da geschieht: die Menschen entziehen sich
dem Engel! Entweder sie fliichten vor ihm, sie
bleiben ihm fern, die Tragheit beharrte, und der
Mensch wird Untermensch. Oder sie gehen ganz
zum Engel iiber, sie kennen vor seinem Flug nur
noch die Engelwelt, sie vergessen ihre Geburt
auf der Erde, die Existenz der anderen Menschen,
die Vornehmheit siegte, und der Mensch wird
Obermensch. Beides ist nur eine Ausflucht. Bei-
des laBt das blutende Dasein und Leiden der
Erde unberuhrt, und in jedem dieser Falle siegt
weder Mensch noch Engel, sondern das losge-
lassene, damonische Element der Natur siegt und
bricht in chaotischer Zerstorung gegen den Uber-
menschen und den Untermenschen gleich vernich-
tend heran. So wird der Kampf mit dem Engel zu-
gleich ein Kampf mit den Gegnern des Menschen
sein, mit den Tragen und den Vornehmen.
Wir aber leben auf der Erde, und die Erde ist
unsere Aufgabe. Wir konnen weder Tier noch
Engel werden, und wir diirften es auch nicht
Uns ist das Geschick gegeben, Mensch zu sein :
Die Mitte der Welt So bleibt uns nichts iibrig,
als unablassig zu ringen, daB unsere geistige Welt
uns stets als das wahre und erreichbare Ziel
der Erdenbahn gegenwartig bleibe. Wer der Ge-
segnete des Geistes sein will, muB um den Segen
kampfen. Nicht, um selbst iiber das Menschliche
hinaus zu kommen, miissen wir mit dem Engel
kampfen, sondern nur, um ins kleinste Blutkorper-
chen hinein das Menschliche ganz erfiillen zu
konnen.
Die Fiihrer und Berater der Menschen wissen
das Ziel, zu dem sie fiihren. Aber ihr Kampf mit
dem Engel ist, daB sie unablassig die ganze Erd-
fiille scheinbar kleiner Realilaten durchzusetzen
haben, daB sie, aus dem Geiste, unzahlige split*
ternde Erdhaftigkeiten verwirklichen miissen; daB
sie Beamte der Menschheit sind, wo sie ihre Ver-
kunder sein wollen.
Fur die Erde, fur unsere von Blutkratem zer-
locherte Erde, kampfen wir mit dem Engel. Aber
daB wir bis zuletzt uns nicht entzogen, daB wir uns
erhoben zum Aufstand fur die Erde, dies schon
schlieflt die Segnung des Engels ein. Wer das
Ringen um das geistige Ziel des Menschen zu Ende
kampft, der findet zuletzt daB sein Ende kein
Ende ist, kein ruhender AbschluB. Sondern jedes
seiner Worte, jede seiner Taten, jede seiner Kor-
perhaltungen, jeder Teil seiner geistgeleiteten
GliedmaBen geht, als frei und losgelost von ihm,
in die Welt ein, weiBflammend und stark unter den
Menschen wie tausend neue Engel, die mit tau-
send neuerweckten Menschen ringen werden.
II
Marsch zur neuen Zeit
Es ist notig, im Namen anderer zu sprechen.
Jeder muB selbst entscheiden, und von Stunde
zu Stunde neu, ob er in einem „Wjr“ vertreten
sein will. Diese Entscheidung, wohin die Men-
schen gehen wollen, ist gut Mancher diirfte sich
wohl durch eine angemaBte und allzu kiinstliche
Entscheidung in seinem Fortkommen gehindert
fiihlen; bei andern wieder kann unter Umstanden
die Gemeinschaft da sein, doch keine Sympathie zu
ihr. In jedem Fall ist schon das Entscheidenmiis-
sen ein fruchtbarer Akt, der selbst bei getrennten
Wegen die gegenseitige Lauterkeit verbiirgt. Man
ist schlieBlich doch nie allein; so fiktiv ist keine
Kameradschaft, daB man nicht ganz genau wiiBte,
wer in der Welt auf uns zahlen will! Mit jedem
„Wir“ und „Uns“ wird, trotz allem, fiir Freunde
und Kameraden gesprochen, die wirklich leben,
und die eine Partei der geistig Unbedingten bil-
den, nicht nur in unserer nachsten Nahe. Aber
auch nicht unerreichbar oder unsichtbar.
Die Forderung ist: den Kampf mit dem Engel
aufnehmen! Die Forderung bedeutet: Wir kon-
nen gar nicht menschenhaft konsequent genug*
sein. Aber der Fordemde muB aus seiner For-
derung zuerst die Konsequenzen fur sich selbst
ziehen.
Hyanen heulen ringsum. Wer von uns ins Un-
bedingte schaut, wird angefallen. Wer ins Un-
bedingte schaut, selbst durch ein Prisma; wem
selbst es nur aufs Farbenspiel des Prismas an-
kommt auch der Troubadour noch wird ange-
fallen.
Frondeure, liebe Briider, wir miissen zusammen-
halten. Auch der Mitlaufer meint es mit Euch noch
besser als die Hyanen. Wir sind eine kleine Kara-
wane, die Wiiste ist groB. Sollen wir die Kamele
verachten?
Jede Fronde hat Mitkampfer. Begabte auf fabel-
haftem Schreibtischniveau. — Die weithin spie-
gelnde Glaskugel auf dem Springbrunnenstrahl
fallt immer wieder ins Niveau zuriick. Unndtig,
sie zu stoBen. Der Mitlaufer springt zu uns her-
auf, er furchtet, den AnschluB zu versaumen. Aber
er fallt noch im Sprung ab; er begnugt sich mit
dem Ruf des Gesprungenseins. Nennt ihn nicht
Verrater. Er ist keiner. Er spiegelt ja nur.
DIE AKTION
Freunde, Ihr habt Rechi Wir konnen gar nicht
endgultig genug, gar nicht auBerst genug sein.
Wir konnen uns das Letzte gar nicht weit genug
setzen. Unser alter Ziel„ auch das Eure, ist zuge-
standenermaBen eine Fiktion, die wir selbst uns
schufen.
Benedetto Croce, der Neapolitaner und ein
heutiger Humboldt, in seiner „ Historiographic 0 :
„Vergessen wir nie, daB erst wir selbst die Tat-
sachen schaften! 1 * Der Ton liegt auf dem
schaff en.
Feststellungen atlein, auch die profundesten, for-
dem weder Euch noch uns. Es kommt darauf an,
daB wir unser ZieL, unsere Tatsache: unsere
Schopfung! bewuBt wirklich vor uns hinsetzen.
Immer mussen wir glauben — urid je deutticher
alles um uns sich neigt — immer sicherer, daB
nichts uns helfen wird, wenn nicht eine ungeheure
Umgrabung des BewuBtseinszustandes des Men-
schen vorhergeht. Diese Anderung des BewuBt-
seinszustandes — die , , Anderung der Welt u —
aus dem Dumpfen ins Menschliche ist moglich.
Also notig.
Gestehen wir, noch lange nicht haben wir sie mil
alien Mittein vertreten. Zu dieser Anderung kon-
nen wir nur aus einer ungeheuren, ganz absoluten
Liebe kommen, die uns selbst iiberlegen ist. Jedes
Wort, das wir sprechen, dtarfte nur das belichtende
Transparent einer wirklichen Handlung sein, und
miiBte eine brennende, doch unendlich selbstver-
standliche Gute tragen.
Statt dessen findet man nur das Brennen. Man
trifft allein die Belichtungen an. Aber: redne-
rische, schriftstellerische, agitatorische Arbeit ist
nichts, das fur sich da sein diirfte. Politik der
Politik wegen: hat uns bis hither gefiihrt. —
Wir sagen die offentlichen Worte. O torichte und
erdenverfluchte Vornehmheit des Denkers! Wir,
die wollen, denken, veroffentlichen: Wir haben
das Wollen, Denken, Veroffentlichen den Rou-
tiniers, den Dilettanten den Lumpen iiberlassen.
Wir waren feige. Wir waren fahrlasig, Untatig.
Lieblos. Vornehm. Jene wurden verstanden. Wir
nicht. Wir haben das gewollt. Diese Clubmen-
Feinheit war niedrigvon uns. Wenn es eine Siinde
gibt, und es gibt sie, so haben wir sie begangen.
Wir haben zu Menschen gesprochen, wir haben
mit der Schaufel in der Hand am Weinberg ihres
BewuBtseins graben wollen: in einem unerhort
eingewickelten Denk-Chiffernsystem, in einer
Philosophengrammatik, die nur Universitats-
kathedern verstandlich ist; in einem Signalfeuer,
das voraussetzte, der Empfanger habe seinen eige-
nen Privatleuchtturm und sei eingestelit auf das
Alphabet dieser Raketensprache.
Aber man denke, welche unermeBliche Giite dazu
gehort: verstandlich zu sein, immer wieder gedul-
dig von vorn anzufangen, bis ans Ende lesbar —
das heiBt doch: menschlich! — zu bleiben.
Also? Als Aufrufer — Ausrufer sein! Welche
fifr/p vL^Irhes Entstromen der machtigen Liebe
zum unbekannten Andem kann aus dem Leit-
ariikd kommcn.
Man denke daran, und man wird uns mit Recht
verwerfen.
Wir diirfen uns nicht wundern, wenn uns eines
Tages der Journalist beschamt. Wenn einer
kommt, menschlicher als wir alle, entschiedener,
aut gefahrlicherem Posten und mit tieferer Gefahr-
dung seiner Umwelt, mutiger als wir, und darum
wirksamer fur Anstandiges. —
*
In Kritiken, Briefen, AuBerungen vemimmt man
stets nur: Die Veroffentlichung ist schon — ist
nicht schon. Ist tief — ist flach. Ist realistisch —
ist mystisch. Ist harmlos — ist gefahrlich. Aber
alle diese Urteile sind nur dumpfes Ge-
rede. Wiirde jemand eine wirkliche Kritik iiben
wollen, so muBte sie, unter den vielen moglichen
Anleitungen, mindestens so aussehen: „Wenn
Sie es ernst meinen, dann gehen Sie zu
diesen und jenen Erben Treitschkes und reden
Sie ihnen zu. Allein die Tatsache Ihres Erschei-
nens wird die hochste Verbliiffung hervorrufen,
und Sie haben schon halb gesiegt. Aber nur halb.
Wichtig ist, daB Sie stets bewuBt sind, der Teil
zu sein, welcher die groBere innere Sicherheit hat,
und die Gerechtigkeit auf seiner Seite. Nur nie
sich durch die wohlstudierte Freundlichkeit des
Anderen gewinnen iassen; nie ausgleiten in Aner-
kennung des angeblichen Auch-Standpunkts des
Andern; nie in Mondanitat verfallen, wie die Car-
riere - Demokraten ! Auch nie irgendwelchen
spezialistisch sicher hingeschnurrten Antworten
ein vermeinilich „hohnisches Schweigen' 1 (das nie
wirkt!) entgegensetzen, was nur intrigante Damen
tun diirfen, die man im Hauptzimmer abfertigt,
und die auf der Hintertreppe Gift spritzen. Viel-
mehr, wenn Sie den Leuten gegeniiberstehen,
seienSie sicher, daB Sie ein neuer, heutiger Typus
sind, noch unbedingter, geladener noch mit gutem
und bosem Zeitenablauf, noch wissend hinge-
rissener als es ehemals die Urchristen waren.
DaB Sie alien Gefahren entgegengehen. Und daB
Sie nur eintreten diirfen mit der hochsten Be-
sinnung auf Ihre geistige Berufung. Tun Sie alles,
was physisch auf die Menschen wirkt. Reden Sie
laut und leise, taktvoll und taktlos. Singen Sie,
beten Sie, rutschen Sie auf den Knien durchs Zim-
mer. Nur zeigen Sie, daB Sie die Person von der
Sache nicht trennen!“
Was hat denn Fronde iiberhaupt fur einen Sinn,
wenn nicht den, die Menschen zu stellen! Sie zu
erinnern, daB sie mindestens so anstandige We*
sen sind, wie wir selbst. Und daB nur ihre, deran-
standigen Wesen, Zahl groBer sei als die unsrige.
Und daB sie preiswiirdiger seien als wir, denn sie
wurden einfach durch uns daran erinnert, daB
sie geistige Wesen, Sohne Gottes seien. Wir aber
muBten uns selbst erinnern.
*
Es gibt, seit Herrschaftsfragen existieren, zwei
Strome des WoLlens: Den freiheitlichen, der sich
meistens von einer positiven Naturvorstellung tra-
gen laBt, und den konservativen, der fast immer
ein gottliches Recht zu Hilfe nimmt. Zuweilen
dreht das Verhaltnis auch um, wie in neuerer Zeit.
215
DIE AKTION
216
Es ergibt sich der immerhin ungewohnte Zustand:
Wir Freiheitsmenschen der Fronde berufen uns
heute so von Grund aus auf cin gottliches Recht,
daB wir als Mittler zwischen uns und Gott nicht
einmal die Natur mchr zulassen konnen. Dagegen
die konservativen Elemente unter den Denkern
sind so entsetzt uber unsere Naturferne, daB sie
uns sogar mil spinozist schen Mittein angreifen.
(Ein mcrkwiirdigcs U be rskreuz- Verbal nis, das nur
erweist, wie sehr es dem konservativen Geist
ledig ich aufs Bewahren tines irgendwann einge-
burgerten Denkinhalts ankommt, auch wenn der
einmal selbst rcvolutioniir wirkte.)
Mifiverstandnisse sind grober Unfug. Es gibt
keine Mifiverstandnisse.
Immer noch kann man sich nicht darubcr beru-
higen, dafi wir der Kunst ihr Primat nahmen.
Mufi es wiederholt werden? Kunst ist ein Aus-
drucksmittel. Es kommt darauf an, was ausge-
driickt wird. Miissen Beispiele genannt werden,
daB nur Inhalt: Dienst an der Sache, gilt? DaB
— iibertragen auf unsere, vollig andere und neue
Welt — nur der politisch-religiose Homer, nur
der politisch-religiose Dante bleibt! DaB
nur die Kirchenmus k, die wahrhaft dienende,
existiefl DaB uns der Zcitgenosse der vorletzten
Generation, etwa Richard StrauB, ebenso fern-
steht wie scin Cousin Paul Lincke! Nur die grofien
Dienenden konnen Fiihrer sein! Dafi uns die
aufierordentliche abcr indirekte Malerei Manets
anodet aber dafi ein neucr P saner Maler vom
„Triumph des Tcdes * unser Mann ware — allein
er wiirde zum Triumph ganz andcrer Zuslande als
dem Tode ffihren, Wie erst, wenn die grofien Die-
ner in Musik, die Palaestrina, Heinrich Schfitz,
Bach, wenn sie Heutige waren, neu und erstmalig,
und, in unserer Zunge, uns leiteten mit zu neu er-
standenem Leben aus dem Geiste auf Erden.
Wenn sie uns heute sagten, wie jene Musiker den
Ihren: so sollt Ihr Euer Ffihlen lenken!
Mufi man immer wieder zeigen, dafi jene Beispiele
unserer Gegner, die hohlkopfig gegen uns dar-
legen sollen, „Gesinnung allein sci nichts, [an-
geblich], wenn die kiinstlerische Fahigkeit
mangle u , — daB jene Beispiele falsch sind 1 Weil
Gesinnung sich nie am Unvollkommenen nach-
weisen laBt, sondern stets nur da, wo sie bis zu
Ende spricht.
Man mufi es immer wieder zeigen. Und doch ist
es nicht sehr wichtig. Wenn wir immer wieder
rufen miissen: „Kunst an sich ist nichts. Der ln-
halt ist alles!“ so bewiese das nur, daB unsere
Inhalte diirftig sind.
Waren sie es nicht, dann ware die Diskrepanz
nicht moglich. Dann wiirde der Wert, das Gott-
liche, Geistige, Heilige (was eben ja man allein
„lnhalt“ nennen kann!) schon langst das dienende
Ausdrucksmittel, seine bloB variationale Anwen-
dung, deutlich bestimmt haben. Ein ganz selbst-
verstandlicher Vorgang wiirde das sein. — Aber
so mufite man erst noch laut rufen. Wonach
cigentlich? Nach Herrschaft der Geisb'gen —
oder, nur boshaft, nach Machtlosigkeit der Die-
nenden ?
Indes, wie blind waren unsere Gegner, als sie nicht
sahen, daB wir nur schamhaft verschleiert spra-
chen. Sei es nun enthiillt: Wir, wir gaben der
Kunst — indem wir sie aus dem angemaBten In-
haltswert vertrieben — erst wieder den Inhalt.
Wir gaben ihr, deren Existenzberechtigung wir
verneinten, erst wieder neue Existenzmdglichkeit,
neue Geburt, neues Sein, neuen Quell, neue Auf-
gaben. Wir befreiten sie von der Wiederholung,
diesem Totgebaren, und fiihrten sie zur Schop-
fung. Und frage man einen groBen Dichter, einen
bedeutenden Musiker, sogar einen Maler von
Zwang — sie werden das bloBe Tun urn der
ruhenden Seligkeit des Tuns willen als die sinn-
lose Behauptung armlich leerer Nachahmer er-
kennen, die iiberernahrte Selbstbetatigungssucht
saturierter Erben, w r uchernd an ubernommenem
Kapital. Den wirklichen Schopfern sind ihre Kiin-
ste nur Verstandigungszeichen. Doch nicht das
Zeichen, selbst nicht die Verstandigung ist wich-
tig. Wichtig ist, wo ruber man sich verstiindigt.
Wir sind gegen die Musik — fur die Er-
weckung zur Gemeinschaft.
Wir sind gegen das Gedicht — fur die
Aufrufung zur Liebe.
Wir sind gegen den Roman — fur die An*
leitung zum Leben.
Wir sind gegen das Drama — fur die An*
leitung zum Handeln.
Wir sind gegen das Bild — fur das Vorbild.
So weit die kommenden Kunstler auch von uns
entfernt scin werden, dennoch werden sie nichts
ohne uns sein. Sie werden nicht aus eigener Ab-
sicht der Person sein konnen, sondern alles nur
aus Inhalt. Und sind sie nur einigermaBen
Mensch, dann werden sie auch nicht Kunstler
sein, sondern Mitteiler, inspirierte Geber, Aus-
rufer der ewigsten Forderungen von Menschen-
sinn. Auch das kleinste Vaudeville wird ohne uns
nicht moglich sein!
*
Wir sind Wollende und Fordernde. Propheten
haben es gut bei uns, weil sie nur unsere Forde-
rungen ins Kommende zu versetzen brauchen.
Aber wir selbst sind keine Propheten; wir fanden
es unlauter, selbst Prophet zu sein; denn Prophe-
tie, das hieBe: unser Wollen als einen bestehenden
Zustand zu betrachten. Wir fanden es unlauter,
uns mit der Realitat von morgen zu begniigen.
Wir sind keine Beschreiber.
Wir sind Rationalisten.
Wir sind die Menschen, welche verkiinden, daB
das Geschlecht dieser Erde ein geistiges Ge-
schlecht ist. DaB wir Wesen aus gottlichem Strahl
sind. Und daB wir uns danach zu richten haben*
Wir verkiinden, daB wir unsere Abkunft von Gott
nicht vergessen diirfen. Und wenn wir sie ver-
gessen sollten; selbst wenn uns die Erinnerung-
an unsere hohere Existenz schwande; auch wenn
unsere Geistigkeit — das ist die Sprache der We-
sen gottlicher Geburt — uns nur als eine Fiktion
erschiene: Noch dann miissen wir die Wiirde des
Geistwesens Mensch als letztes und erstes Ziel
des Lebens vor uns setzen.
217
DIE AKTION
218
Das ist Rationalism us.
Zidsetzen ist Rationalismus,
Kern Ziel setzen ist: Siinde.
Man glaube uns doch, daB wir unsere Erdheit,
unsere Tierheit, unsere Natiirlichkeit ebensogut
kennen wie unsere Gegner. MuBten wir nicht
tausendmal den Weg durch unser Dasein zuruck-
legen, hin zu unserm Unbedingten ?
Unsere Gegner fordern in lacherlicher Unwissen-
heit, daB wir bei unserm Dasein verweilen. DaB
wir zufrieden seien. Darum so lacherlich, weil
sie, die gegen das Fordern sind, unversehens
selbst fordern, nur unversehens.
Aber wir versehen uns des Daseins und d^r Nafcur,
des Bestehenden, des Gegebenen und Seienden
besser, als die darin versinken. Denn wir brechen
durch im unmittelbaren Aufstand unseres Wesens
zum Geist.
Das Ziel selbst nur zu nennen ist schon ein unge-
heurer Griff in die Welt.
Allein nie diirfen wir die furchtbarste Mahnung
in Vergessenheit fallen lassen: Das Dasein
selbst existiert nicht; das Bestehende exi-
stiert nicht. Wir machen ailes erstl
Unsere starkste Forderung, die der Rationalisten
— und welche uns iiber das Niveau bloBer erbarm-
licher Rechner erhebt — ist die Forderung: Ab-
kurzung der Qual. Ausschaltung des Bestehenden,
das sich an uns breit macht, das nur durch uns
geschaften wurde, durch unsere naive Zubitligung
seiner Existenz. Es ist grausigstes Hindernis, in
die Langezerrung der Leiden, Damm vor unserem
Vordringen zum Menschentum. Wir fordern Aus-
schaltung!
Abschaffung.
*
Wir brauchen die Anderung der Welt. Aber ohne
eine Anderung unseres BewuBtseinszustandes aus
dem geduldig Dumpfen ins menschenartig Helle
wird uns eine einfache formelle Umschiebung
der Tatsachen nichts helfen. Die Arbeit an der
Anderung unseres BewuBtseinsstandes, diese Gi-
gantenarbeit: uns dem Leben im Urzellenstand zu
entreiBen, und das Leben im Geiste, das Leben
zu Gott uns vorzusetzen; das Leben nicht im
Relativen, welches uns fesselt, sondern zum Abso-
iuten, welches uns frei macht diese erbittert-
ste aller Tiefbohrungen, diese Umwuhiung von
Ewigkeit her ist
Rationalismus.
*
Das schopferische Leben besteht nicht von allein.
Wir miissen es erst schaffen.
Rufen wir fur uns einen Bruder auf, den unsere
Bruder hier iiber zwei Jahrtausende griiBen wer-
den. Herodot. Er war fur uns. Er war fiir die
Menschen da, er war doch w r ohl, wie wir, Welt-
verbesserer, Rationalist. Ein Wort Herodots, das
in unserm Mund erst Leben und Wirksamkeit
haben word:
„LaBt nichts unversucht. Denn es geschieht nichts
von selbst, sondern der Mensch erlangt ailes erst
durch seine Unternehmungen!“
m
III
Die Gegner
Nun, da wir alle so vie! durchgemacht haben,
darf da noch einer sein, der Menschentum fiir eine
Phrase hielte?
Nun, da Millionen Zufriedener wissen, wie Hun-
ger ist, darf da noch einer sein, der nicht jedes
Mittel zur ewigen Beseitigung des Hungerns gut-
hieBe ?
Geist ist die AuBerungsform Gottes gegeniiber
dem Menschen, und die darum eine Gemeinsam-
keit fiir alle Menschen bildet. Geistige sind die
Menschen, welche durch diese Gemcinsamkeit vor
dem Absoluten sich in einer besonders groBen
Verantwortlichkeit gegenuber den andcren Men-
schen verpflichtet fuhlen. (Im Gegensatz zu alien
modernen Mystikern, die behaupten, ein Privat-
abkommen mit Gott zu haben, das sie aller han-
delnden Verantwortung iiberhebt.)
Man hat gegen die Geistigen ailes unternommen.
Man hat uns bekampft, man hat uns denunziert,
man hat uns zu sehr — zu wenig — radikal, demo-
kratisch, sozialistisch genannt. Man hat uns Ver-
rater geheifien, man hat uns ignoriert, man hat
uns gelesen, verlacht, aufgenommen, benutzt.
Nur nicht verwunden.
Aber wie klaglich sind unsere Gegner. Diese
Blumentdpfchen von Denkern! Da ist das un-
sichere Schafchen, das ailes mitmeckert, den Frie-
den und den Krieg, Volkstum und Dynastie; das
sich nie entscheiden kann trotz des historischen
Kotelettebartchens, das an einen alten tapfer unbe-
dingten suddeutschen Land genossen demokrutisch
erinnern soil. Es rettet sich stets in die List, aus
purer Angst, vors Gericht des Geistes geladen zu
werden urid seine Ausfiucht ist, wohlwollend die
Geistigen liingst dagewesen zu finden. Aber jener
ahnt gar nicht, wie dagewesen wir erst ein Jahr-
hundert spater sein werden! — Heran springt
der ubliche wilde Kriegsindianer, der dem Staat
empfiehlt, uns zu fusilieren. — Aufzug, wankend,
des umstiindlichen Stammlers, der zweeks Emp-
fehlung seiner eigenen, heiser vorsichtigen Po-
stillen, undeutlich Lrbittcrtes gegen uns hustet. —
Mit forschem Zinnsoldatenschritt marschiert, ei-
ner fiir sich, der Kulturkonservative, von nieman-
dem als seinem eigenen EntschluQ zur politischen
Reprasentation beauftragt, trocken, intelligent,
und vielleicht nur durch massiv kapitalistische
Umgebung bei allzu dicker Naivitat geblieben.
Er findet es gewohniich unerhort, die bloBe Kon-
statierung dessen was ist, zu verlassen. Eine Dis-
kussion, die keine ist, denn unser Ziel ist ja ge-
rade die stromende, zeugende Fruchtbarkeit, ge-
genuber einer Konstatierung des Seienden —
welche uns bloB Nehmen, Wucher und Selbst-
genuB bedeutete.
Schiefe Kopfe, gute Herzen, achtbare Leute. Sie
sind entriistet. Und selbst wenn sie uns in der
Hitze minutenweise den Tod wunschen, so kann
man sich iinmer noch mit ihnen freundlich hin-
setzen und ihnen zeigen, wie fahrlassig sie han-
deln. Wir wissen den Moment, wo sie zusammen-
brechen werden und mit stumpfer Miene ein-
DIE AKTION
220
sehen, wie sie persdnlich fast verbrecherisch ge-
handelt batten. Oder seht unseren Gegner, den
Erlebnisphilosophen ; er denkt begeistert alies mit,
wie e$ auf ihn zustdflt, den Krieg, den Frieden,
den Waffenstillstand ; turd er wird sein Lebens-
werk schaffen als eine „Philosophie der Conjunc-
ture, tief ehrlich, immer von neuem aus der Bahn
geworfen. Er bait es fur gut, das Gegebene —
das jedesmal ihm blindlings ohne sein Zutun Ge-
gebene — zu bejahen, und aus dem einen Moment,
der eben herrscht, die ganze Welt zu entdecken.
Er halt das Erlebnis nicht fur die Lehre des
Lebens, nicht fur den Weg, den wir durchs Mate-
rial hindurch zum Unbedingten nehmen miissen,
sondem fur sein ZieL Er ware sogar bereit, uns
das Erlebnis zu verschaffen — in der Meinung,
wir wiiBten nichts davon. Die alte schlechte Vor-
aussicht der Nur-Methoden-Menschen, dem an-
dern das Erlebnis verschaffen zu wollen: sie ver-
wirklicht sich im besten Fall als Intrigue! — Und
herzu tiigen sich die letzten Widersacher: der un-
schopferische Schreiber, der Phantasielose, der
Talentarme; das grobe ungefiige Handgelenk; der
ungeistig Geistgelahmte. Der literarische Couleur-
friseur im RenommierschmiB-Stil. Der gebildete
Reisebrief-Lakai der Zeitungen. Gasmaske her vor
den Feuilletonrulpsem des vollgeschlemmten Ka-
jutenbauches aus finnigem Ferkelchenmaul. Die
religiosen Reiseredner furs Hapag- Dessert. Die
mihelm Lthmbruelt Ludwig Rubiner
Antithetiker des Lebens: Zionisten aus JudenhaB.
Imperalisten aus barbarossaschem Humpenritter-
tum. Der armliche Passagierpublizist, der die Erde
autgeteilt hat nach Novellenmotiven, Romanstof-
fen, Joumalbriefen, und zahneknirschend sie zei-
Ienmessend absuchen muB, urn amtlich nachweis-
bar iiberall seinen Bleistift aufgepflanzt zu haben.
Die Exoten-Wippchen der nordlichen und siid-
lichen Halbkugel. Und zuletzt die erlogenen
Freunde, die mitgehen nicht fur die Sache, nicht
fur den Geist als Unbedingte; sondem urn, gut
berechnet, in der Gesellschaft der Zukunft gesehen
zu werden; um der Gegenwart sich als Vermittler-
postchen zu empfehlen!
Droschkenkutscher her, StraBenreiniger her, Stein-
setzer her, Dienstmadchen her, Waschweiber her;
Mob, Unterproletariat, Verzweifelte, Unorgani-
sierte her, die nichts zu verlieren haben; Besitz-
lose, ganz Besitzlose her! Menschen her! Her zu
uns, wir sind fur Euch da! Die Zeit geht dem
Ende entgegen. Einmal wird der himmlische Ho-
rizont wieder an die Erde stoflen, und der Umkreis
unserer Augen wird wieder den Glauben sehen,
das Wissen von gottlichen Werten. Dann werden
die, welche in Europa ihren Mund auch nur ein
einziges Mai haben das Unrecht sprechen lassen,
fiir immer in der Jauchegrube des Vergessens er-
sticken. Aber sie sind keine Gegner. Nur Mit-
laufer der vergangenen Zeit; Mitwiirmer der Ver-
wesung; Mitgeriiche der Auflosung.
Wo ist unser Gegner, der Gegner? Ich vermisse
den Teufel. Warum ist er nicht da? Der Inbegriff
des Elementaren, zustoBend Erlebnishaften, der
geschleuderten Seele, des Isoliertseins! Der In-
begriff der Welt — gegen den Geist! Der Inbegriff
des Einzeltums gegen die hohen, sudlich licht-
bauenden Bogen des Allgemeinen, Wo blieb der
Teufel ?
Aber der Teufel ist nicht mehr da. Er zerfloB,
als wir ihn erkannten, als wir ihn benennen konn-
ten; als wir aussprachen, daB nicht der Sturm,
das Getriebene, das damonische Element, das Wo*
gen der Seele: daB nicht er menschenhaft sei,
sondern der Geist. In unserm Kampf mit dem
Engel wird zur selben Zeit auch gewirkt die Be-
schworung des Teufels, In unserer neuen Zeit
des Absoluten ist der Herr des Relativen nicht
mehr Feind. Und von ihm blieben nur diinne,
erstarrende Blutstropfen zuriick: die Tanzer, San-
ger, Schauspieler; die Kiinstler, die Reizbet^uber.
Unwissend ihrer selbsi, im Absterben. Der matte
Bleichblut-Tod einer zusammengefallenen Luxus-
welt.
Ihr, die Ihr uns geistig Freund seid, Ihr konnt
den Einzelnen nicht trennen von den wenigen
Anstandigen des heutigen Tages, von Kameraden,
mit denen man sich nicht zufallig zusammenfand.
Und wenn es mit rechten Dingen zugeht, dann
werden wir Genossen die mitlaufenden Amtskan-
didaten iibeireden, das Amt fahren zu lassen,
und sich um ihre ewige Seligkeit zu kiimmern,
die da ist: ihre Haltung vor dem Auge der Ewig-
keit. Wenn es aber mit un rechten Dingen zugeht,
221
DIE AKTEON
222
dann nsussen wir versuchen, sie recht zu machen.
“ Herodot: „Laftt nichts unversucht!** — Und
wean sich heraussteltt, daB jene bei unrechten
Dingen verbleiben wollen, daB sie nur die Ober-
hand suchen, daB ihnen die Sache gieichgiiltig
und mir der Strelt wichtig ist; da8 ihnen das Ver-
gnugen kunstierischer SchluBfolgerungen lieber ist
ah der Ruf der Menschlichkeit; daB sie nur bloBe
Themen behandeln (Sch rifts teller), und nicht
Handhingen vertreten; und daB sie auch nur
fiber ihre Themen denken, schreiben, drucken,
reden, ohne im geringsten ihren personlichen Leib
mit ihren Worten zu identifizieren ........
Wenn also sich herausstellt, daB jene nur ruch-
lose Betrachter sind, anstatt Zeuger zu sein, —
dann ist da mit nur ein gravierender Beweis gegen
uns selbst geliefert. Dann ist der Beweis gelie-
fert, dab wir selbst nur zu vornehm, zu eitel, zu
lau waren. DaB wir selbst nichts getan haben,
urn irgendeinen Menschen von der Wurde des
geistigen Lebens zu uberzeugen. DaB wir nicht
uberzeugen, well wir selbst kein Beispiel geben.
DaB wir ohne personliches Beispiel nicht Fuhrer
sein kdnnen. Und daB nur die Fuhrer das Recht,
die Fahigkeit und den Standpunkt zu einem Le-
i>ensurteil uber andere haben (auch wenn sie
darauf verzichten). — Ein Urteil, abgegeben aus
Hochmut, ist gar nichts wert, es andert nichts.
^wingend ist nur ein Urteil aus Liebe.
Die politischen Farteien haben fur den Mann, der
ihr Programmatiker ist, einen wilden Ausdruck
von der Rennbahn: sie nennen ihn „Einpeit$cher“.
Es kommt aber zuerst nicht darauf an, Meinungen.
einzupeitschen, sondem sie zu vertreten. Es
kommt zuerst darauf an, seine Meinung selbst zu
sein. Es gibt kein Privatleben. Es gibt nur den
offentlichen Menschen. Entweder wir sind offent-
liche Menschen — oder wir sind nichts. Entweder
wir sind dffentliche Menschen oder wiederum
wird in den nachsten hundert Jahren alles nieder-
gestampft, niedergeschossen, niedergebrannt, was
wie bisher nur gelernt hat, die Person von der
Sache zu trennen. Entweder wir sind offentiiche
Menschen — oder wiederum hundert Jahre bleibt
das geistige Leben, die Sache — ohne die Person
— nur ein Zungenschlag, ein Demutsspiel fur
alte Damen. Entweder wir sind offentiiche Men-
schen — oder wir bleiben Suppenesser, Schla-
fer, Vergnugungsreisende mit verschmitzten Denk-
reservaten, und schlieBIich Gerippe, deren Exi-
stenz nie uber eine, von Komplikationen beglei-
tete Stoffwechseltatigke it hinaus gegangen ist.
Glauben wir aber: es gibt schon offentiiche Men-
schen! Es gibt schon Fuhrer. Also wird es auch
in alien Landern der Erde bald mehr geben. Jeder
Mensch ist gcschaffen, ein Fuhrer zu sein. Jeder
Mensch ist unersetzlich. Der offentiiche Mensch
keimt die Unersetziichkeit des Bruders. Der
offentiiche Mensch fuhrt uns zum Leben im Geiste.
Aber Leben im Geist ist zuerst Leben auf der Erde,
w/rk/iches Leben, Lebendigsein im Fleisch. Und
nur wenn wir zuerst selig sind uber die Existenz
des Nebenmenschen, werden wir dem Neben-
meoschexz Fuhrer sein.
IV
Der Fuhrer
Der Fiihrer ist liberal] von dem groBen, bebenden
Volkergeschopf umgeben, das unaufhoriich seine
Gestalt und seine Substanz andert. Immer liegt
es zittemd um ihn.
Er ist kein besonderer Mensch, er denkt einfach,
er ist nicht merkwurdig und schon.
Er hat schon den faitigen Schauspielermund, er
hat den kurzen wichtigen Schritt, der uber viele
Tribiinen geht Er weiB langst, wie er seinen
Augen kommandieren kann, und er muB auf neue
Register der Erregung sinnen wie der Akrobat
auf neue Trap ezsp rung e. Er merkt bei ailem,
wie er der Mitmensch seiner Genossen ist, und
er ist jede Sekunde darauf gefaBt, daB aus der
ungeheuren Menge, zu der er spricht: einst ein
Bruder aufsteht, der noch zum ersten Male und
unabgenutzt den Mund off net. Und der ihn zu
einem Hauflein Asche verwandelt, weii in seiner
Hand die wahren Blitze Gottes ruhen. Doch bis
dieser Augenblick eintritt, wird er selbst, mit alien
Mitteln, mit der abgenutzten Wahrheit, mit da-
gewesenen Blitzen und den groBen unermudltchen
Beteuerungen vom Wissen: seine Pflicht tun.
Er weiB sich eine kleine, Storungen unterworfene
Blutsaule. Er kennt seine Kleinheit. Um ihn herum
liegt die Ewigkeit. Um ihn, uberaU, steht die
GewiBheit so sicher wie die Horizonte, die sein
Auge uberkreist in der Feme. Um ihn, uber ihn
strdmen die Saftstrahien des Absoluten, sie schie-
Ben in eine kristallene Glocke rund uber den Erd-
Hans Richter
Ludwig Rubiner
223
DIE AKTION
224
m
ball hinaus; fern und blaB ziehend wie die durch-
scheinende MilchstraBe schwebt die unbedingte,
gottliche Wahrheit um den Menschenball.
Der Fiihrer weiB, wie fern und wiederholt er ist.
Er will zur Ewigkeit. Er will, daB sein Schritt
mit der Drehung der Erde gehe (dcr Schritt des
Magiers). Er will, daB seine geballte Faust ab-
gestorbene Planeten zu Himmelsstaub driicke. Er
will, daB seine Augen, die den Blick der Menschen
aufwarts blitzen, eine StraBe wahrhaft ins unhe-
dingt Zukiinftige bauen; er will, daB die Worte,
die sein Mund als Fackeln auswirft, die zwar
flammen aber nur aufs Geratewohl ziinden, vvahr-
haft unabanderlich in die Welt gefallene Tatsachen
seien.
Er will nichts anderes als die Ewigkeit. Aber er
weiB, daB er ihr namenlos fern ist. Er weiB, daB
die Menschen um ihn in einer grauenhaften Un-
gewiBheit leben, und daB er sie nur aufrecht er-
halt, indem er ihnen von Zeit zu Zeit die Ewigkeit
nennt. Aber er, was ist er denn? Ist er anders
als jene? Auch er kann sich ja nur der Ewigkeit
erinnern. Er kann sie nicht geben.
*
Kein Mensch von uns alien will vollkommen allein
auf der Erde sein. Niemand will der Einzige sein
— und um sich, unter sich, neben sich die Kugel
leer von Menschen. WuBten wir es je, dann gewiB
heute, daB es keine Ubervolkerung der Erde
gibt. Die Freiheit, die jeder Mensch auf der Erde
will, heiBt keinem, dafi es um ihn ode sei. Im
Gegenteil. Mit ihr meint man die Kraft: inmitten
der Menschen vollkommen den Raum lebendig
zu schaffen, in den man geboren wurde. Dies
heiBt: seinen Platz ausfullen. Freiheit ist kein
Begriff, der mit Moden oder intellektuellen Zeit-
stromungen kommt und dann wieder alt und
wertlos wird. Freiheit ist ein ewiges und abso-
lutes Ziel. Dieses Ziel schiieBt als etwas ganz
Selbstverstandliches das Wissen um die Uner-
setzlichkeit jedes einzelnen Menschenlebens ein.
Nur der sinnlos teuflischste Bureauindustrialis-
mus konnte zu der Entwertungsformel vergan-
gener Jahre kommen: „Kein Mensch ist uner-
setzlich 4 *. In Wahrheit ist keiner ersetzlich. Denn
mit dem Tode jedes Menschen wird jedesmal
von neuem eine ungeheure und unausgeschopfte
Moglichkeit zu fleischgewordener Liebe vernich-
tet. — Aber zur Freiheit, zur Fahigkeit seinen
Platz als Bruder des Menschen auszufiillen, ge-
hort das Wissen von der Einmaligkeit dieses
Platzes. Wir miissen einmal ihn ganz und allscitig
stark sehen; es bleibt uns nichts iibrig, als aus
alien unseren vorhandenen Kraften einen unsicht-
baren Turm zu bauen, von dessen riescnhoher
Spitze wir unsere eigene Bestimmung in der Welt
schauen, als ware sie der Liniengang einer klei-
nen, bewegten Schachfigur. Dies ist das Wunder,
an das wir glauben. Es ist nichts anderes, als daB
wir in aller unserer gesammelten Energic vor das
Absolute treten wollen. In dem Moment, wo wir
zu Gott gehen, sehen wir uns selbst.
Aber dieser Augenblick wird uns nicht geschenkt;
wir miissen alles selbst tun. Unseren Weg zu Gott
wollen wir in einem Nu zurucklegen. Doch die
Fahigkeit dazu ware selbst schon gottlich. Man
miBtraue den Mystikern, die ihre angebHche Ein-
heit mit Gott bezeugten ; sie waren entweder hin-
gerissene Beschreiber von bloBen Seelenzustan-
den, oder sie driickten sich aus Wortmangel falsch
aus, oder sie irrten. Wir sind selbst nicht Gott,
nicht absolut, sondem Geschopfe der Absoluten.
Wir sind einfach Menschen. Wir sind nicht selbst
Geist, sondern w'ir sind geistige Wesen.
Zwischen dem Absoluten und dem Menschen gibt
es Stufen, und sie konnen dem Menschen helfen,
zum Bew'uBtsein des Absoluten zu kommen. Doch
nur, wenn er stets nicht sie erreichen will, sondern
das Absolute selbst. Der Mensch muB auch mit der
Hilfe kampfen, die jene Zwischenexistenz ihm
gewahrt. Der Kampf mit dem Engel ist allein
der Weg zu Gott.
*
Der Fiihrer befremdet uns immer von neuem ein
wenig. Vor uns wird er nie eine gewisse Lacher-
lichkeit los. Gleich darauf entziickt er uns, weil
er von Dingen sprach, die die unsrigen sind.
Doch dann bemerken wir, daB die Wege, auf
denen er unser Bruder ist, uns lange selbstver-
standlich sind. Neuer Grund, ihn gering zu
schatzen, und wir verurteilen uns, da wir bereits
die Nennung eines uns w r erten Ideenkreises als
Teilung des gleichen Interesses nahmen. Wir ach-
ten den Fiihrer nicht, weil er nicht unser Leben
teilt, und dennoch Fiihrer ist.
Aber wir sind im Irrtum. Es ist der lrrtum der
Vornehmheit. Unsere Vornehmheit — die Be-
quemlichkeit und Feigheit ist — hat das Leben
in bloBe Themen aufgeteilt. Der Fiihrer befrem-
det uns, weil ihm nichts Thema ist, sondem
alles Idee. Er denkt nicht, wie wir fahrlassig
Zuriickgezogenen, ii b e r eine Idee nach, son-
dern er denkt in einer Idee. Er scheint uns
beschrankt zu sein, doch seine Begrenzung laBt
in Wahrheit nur diejenigen unserer Lebensange-
legenheiten zu sich, die ihm zu vvirklichen Lebens-
leitern werden. Wir erw r arten vergeblich, daB er
unsere bequeme Allseitigkeit zum Ausgang des
Fiihrertums nehme. Wir erwarten dies darum,
weil wir selbst nichts fiir unsere Angelegenheiten
tun, sondern sie nur betrachten wollen. Unsere
Vornehmheit kommt daher, dafi wir die Tat f ii r
uns immer einem Anderen zuschieben wollen.
Wir erwarten, daB der Fiihrer unsere Sache tue,
die w'ir selbst noch nicht einmal entschieden ha-
ben. Wir schatzen ihn gering, weil ihm unsere
Revolten in der Tasche — und die uns selbst
nur Ausfliichte sind — nicht am Herzen liegen.
Wir wiinschcn von ihm, daB er unsere Vorstellun-
gen in greifbare Wirklichkeit setze, jetzt gleich,
bis heut Mitternacht; unsere VorsteUungen, zu
DIE AKTION
226
deren Verwirklichung wir selbst keinen Schritt
getan haben. Wir wiinschen von ihm das„Gleich
Jetzt und uns selbst gewahren wir ewigen
Aufscbub.
Dabei vergessen wir: Er ist der Fiihrer! Er
fuhrt auch uns.
Aber wohin fiihrt der Fiihrer? Er fiihrt zum
Geist. Fiihrer sein, heiBt, zum Geist fuhren.
Allein zum Geist. Wer nicht zum Geist fiihrt,
kann vielleicht ein begabter Vortanzer sein, aber
nie ein Fiihrer.
Er fiihrt uns zum Geist auf alien Wegen, die
des Geistes sind: Der Umkreis, den wir Politik
nennen, ist seine Bahn, die Ermoglichung un-
serer menschiichen Gemeinschaft.
Der Geist ist das Palladium der Ge-
meinschaft.
Die Materie ist das Abzeichen der
I s o I a t i o n.
Man sagt, die Unterscheidung: hier Geist — dort
Materie — — sei eine nur schulmaBige Bequem-
lichkeit. Sehr gut! Jene Scheidung ist auch
falsch, solange sie nur deskriptiv gemeint ist
und behaupten will, sie stelle vollzogene Tat-
sachen dar. Aber sie ist herrlich: sie ist schopfe-
risch, wenn sie eine Forderung ist. Nur mit
dieser Forderung, allein durch sie, leben wir: Seid
geistige Wesen! Stammt von Gott ab!
Wenn unser Leib jetzt am Leben bleibt, so haben
wir die Gelegenheit, gerade noch Blicke aus den
schmalen Luken eines schauerlich versinkenden
Zeitalters hinaus in eine neue Zeit ru tun. Aus
dem Zeitalter der sinnlosen Welt — urn es ge-
nau zu sagen, wie denn eigentlich die „Materie <4
aussieht: sie sieht aus wie die Welt, das Sein,
das Gegebene, das fur uns ewig Gewesene.
Die Welt liegt da vor uns, urn von uns geknetet,
geformt, gestaltet zu werden, stets von neuem,
nach gottlichem Plan, dessen Zeiger wir sind.
Aber wie menschvergessen, wie ursprungs- und
gottvergessen ist es, sich von der Welt, der Ma-
terie, kneten, formen, gestalten zu lassen. Als
sei man selbst Untermaterie. Die Elemente dran-
gen in uns hinein, jene Macht, die man damonisch
nennt. Nur der Ungeistige wird vom Damoni-
schen ubermannt. Alles, was an uns erlebt, das
Seelische, das Aufiergeistige an uns, ist ungott-
lich. O sinnlosestes, chaotisch blutendes Zeit-
alter, das nun zusammenbricht, Zeitalter des Er-
iebens, der Seele, des Elementenspieles! Es ge-
schah das grofie Sichpassivmachen. Sichaufteilen
aJs Objekt f Lir Gelegenheiten. Jedes fremde Ob-
jekt zwischen sich und Gott treten lassen, ohne
dazu etwas zu tun. Das Ereignis — den Accident
— den Rohstoff des Lebens, die Natur, wie
einen Billardball an sich stoBen lassen, und im
Anprall erst das Ich vermuten. Zeitalter des ewi-
gen Nehmens! Denn Erlebnis — in riickschla-
gender Rache ausgesetzt sein dem damonisch
Elementaren — ist: Nehmen. Wahrend doch
unser Leben die Liebe ist, und wir zu geben
haben, geben, geben, geben, und um so mehr, je
geringer die Zahl der Menschen auf der Erde
wird, und wir einsamer werden. Das vergehende
Zeitalter versuchte, das bloBe Bild des Lebens
zu genieBen, ohne es selbst zu schaffen. Aber
wir haben zu leben, um mit unserem Leben der
Welt geben zu konnen.
Grausamer Millionentod ist die Gipfelung des
elementarischen Zeitalters. Heraus aus dem Ele-
mentaren, aus der Seele, aus der Vereinzelung!
Heraus aus dem Treibenlassen, aus dem Besitz
des Gewesenen, aus dem Erlebnis! Seid gott-
liche Wesen. Geht in die neue Zeit des Geistes.
Seid Fiihrer zum Geist.
W ir haben die Erbsiinde, sie heiBt heute
fur uns: Isolation. Sie ist Insichsein, Einzelner
sein, Seele sein, Nehmender sein.
Wir haben aber auch die Erbliebe. Und
die ist: Geben; Schopfer sein; Genosse, Mit-
mensch, Kamerad, Bruder sein. Die Erbliebe
heifit; Gemeinschaft!
Nichts wird von unserm Kampf mit dem Engel
uns erspart. Keine Mythologie steht zu unserer
Hilfe mehr da. Zwischen uns und Gott hat
nichts Gewesenes mehr Platz.
*
Der Mensch machte es sich leicht. Er formte
eine Wachspuppe nach seinem Bilde, beweglich,
lebensgrofi mit Vollbart, langem Haar und
Schlapphut. Sie steht auf ihrem Wachsfiguren-
postament im Fiirstensaal des Panoptikums. Der
Mensch dreht das Uhrwerk auf, sie hebt mit
knackendem Ruck eine Trompete krachzend an
den starren Mund, darnach stofit sie diinne,
rostige Laute aus, die vorbereiteten Ohren ahn-
lich klingen wie , .Revolution, Revolution ! u Eine
ungeheure Wachsfigurengebarde schuttelt den
Mantel iiber der Holzschulter zurecht. — Der
Mensch steht befriedigt vor seinem Werk. Noch
ist er nicht totgeschossen ; so geht er hochst an-
geregt schlafen.
Der Mensch schlaft. Kein Fiihrer ist fur ihn da,
denn er selbst wollte nicht Fiihrer sein. Unter-
dessen stehen die Fiihrer der Damonen grinsend
bereit, gigantische Metzgergesellen, geschiirzten
227
DIE AKTION
228
Arms, machtig mit erdachsengroBen Maschinen-
gewehren, die Fleischfetzen und Totenklumpen
bis zu den Sternen hochspritzen werden.
*
Die Dinge sind so einfach. Dennoch muB man
um sie kampfen. Was wir wollen, ist gar nicht
neu. Es ist nur evvig.
Der Fiihrer will immer wieder alles in der Welt
plotzlich, mit einem Ruck und auf einmal andem.
Er sieht, daB dies nicht moglich ist. Aber er sieht
auch, daB der sichere Glaube, trotzdem sei es
moglich, ndtig ist, um auch nur einen kleinen
Schritt zuriickzulegen. Der Kampf mit dem Engel
besteht darin: Nicht zu resignieren.
Resignation ist Vornehmheit
Nicht vornehm sein!
Immer wieder steht der einfache Mann — auf
den wir herabsehen — als Fiihrer da. Immer
wieder sind wir die, welche vom Volksmann ge-
fiihrt werden, da wir nicht selber fiihren!
Der einfache Mann, der Fiihrer, ist weder talent-
los, wie wir glauben mogen; noch ungenial, wie
wir ihn zwecks verbitterter Karikatur einschatzen ;
noch ist er absonderlich zufallig. Sein Taj ent, seine
Gabe, sein Genius, seine Notwendigkeit, ist: der
vollkommene Mut, sich ganz hinzugeben, nicht
Eigener im Besitz einer Seele zu sein; ganz er-
fiillt noch im letzten Blutstropfen Vertreter des
Geistes zu sein. Auch auf riickstandig kind-
lichen Irrtumern noch der gerechte Fiihrer zu
Geistigem zu sein. Nichts ubrig zu lassen von
sich fur einen anderen als den offentlichen Men-
schen. Kein Privatleben, keine Privatansichten,
Privatfreunde, Privatfreuden mehr. Gleichviel
was er sonst hatte sein konnen, und wie in
einem anderen Leben seine Gemiitseinstellung zu
uns gewesen ware (eine Perspektive der Un-
wirklichkeit, nach der wir ihn falschlich beurtei-
len) ; gleichviel: Er ist der offentliche Mensch,
und das ist er ganz. Dies ist, gesehen vom
obersten Turm der Menschenschicksale, seine
gottliche Stellung in der Welt. Er erfahrt oft
erst sehr spat, in der hochsten Krisis der Mensch-
heit, daB er gottliche Gesetze ausfiihrt. Er
k&mpft mit dem Engel, um seine Besitzlosigkeit
zu wahren, um nicht abzufallen zu dem Para-
sitenluxus des Augurentums ; um trotz seines
Hindurchschlupfens durch eine neuere und viel-
verbrannte Haul von Menschenkenntnis, dennoch
mit der Unmittelbarkeit des scheinbar Naiven
auf das Geistige und Absolute hinzugehen.
Wir sehen nicht, wie er kampft. Seine Robust-
heit erschreckt uns, und seinen gottlichen Platz
in der Welt erkennen wir erst, wenn er unsere
eigenen Unterlassungen vertritt und mit auf sich
nimmt. Wenn er laut unsere Sache fiihrt, die
Sache des Geistes.
Doch unser eigener Kampf mit dem Engel liegt
auf der umgekehrten Bahn. Wir miissen herab-
steigen. Jeder Schritt, den wir aus unserer er-
haben skeptisch iiberwissenden Isolation herab
in die heilige Vulgaritat tun, vollzieht einen Teil
unserer Aufgabe in der Welt. Heraus aus un-
serer Seele! Hinab in die Allgemeinheit! Wir
ringen mit dem Engel, weil wir ihn uns ein-
verleiben wollen. Wir wollen selbst der Engel
sein — und konnen uns nicht entscheiden, ob
aus Hoheit oder Tragheit. Aber wir sind, im
schonsten Fall, nur einfache Menschen. Wir kon-
nen nicht aus uns heraus Gesetze diktieren. Uns
diktiert sie der Geist, und wir sprechen sie nur
gesetzgeberisch aus, in Not, weil kein anderer
da ist, der es zeugnishaft und bekennend tate.
Aber um Gesetze aussprechen zu konnen, um
fiihren zu diirfen, miissen wir sie vom Munde un-
seres Lebensengels ablesen. Ablesen die Gesetze
vom Munde des Volkergeschopfes. Nichts mehr
darf an uns bleiben von Oberlegenheit, Nur
Heiligkeit darf noch bei uns sein; aber mehr
noch ist der Weg durch die Gosse. Erst wenn
wir freiwillig vor der tiefsten Gewohnlichkeit an-
gekommen sind, erst dann sind wir befugt, Plane
zum geistigen Leben zu zeichnen: Fiihrer zu sein.
Zum Engel sprechen: „Ich lasse dich nicht, du
segnest mich denn!“ ist immer wieder der Akt
hochster, hoffnungslosester Verzweiflung, und
dennoch muB es immer wieder unternommen
werden. Immer ziehen wir im Kampfe mit
dem Engel den kiirzeren. Der Engel fahrt da-
von, wir behalten blaue Fleck e. Aber erst die
Wundflecke aus dem Kampfe, erst die ganze
Haut ein einziges grofles brennendes Wundmal
des Kampfes ; erst die ganze Notwendigkeit einer
Erneuerung der Haut: Erst da ist die Segnung
des Engels.
Erkennen wir: Nicht die einzelne, nur stets un-
erfiillte Wunschsekunde, sondern der ganze, viel-
zeitige Umfang und die Gestalt des langen Kamp-
fes erst ist in Wahrheit unser Fiihrertum!
*
Nicht eher werden wir unsere neue Erde bauen,
als zwischen Gott und uns kein Ding mehr liegt,
an dem wir uns zuriickhalten konnen. Wir miissen
ganz besitzlos sein. Jeden Besitz miissen wir
erkannt haben als unsere Flucht vor dem Men-
schentum. Aber die letzte Barrikade gegen das
DIE AKTION
230
Leben im Geiste, gegen die unbedingte Freiheit
iu Gott, gegen unseren Weg zum Absoluten: ist
die Seele.
Das Denken, der Wille, die Verwirklichung sind
untrennbar voneinander. Aber schon das Den-
ken, das nur mit unserem Leibe sich vollig decken
muB, um uns zu geistigen Wesen zu machen,
errichtet uns Hindernisse auf dem Wege zum
Geist. Unsere Feigheit vor dem Verwirklichen-
mussen rettet sich zu den niederen Anwendungs-
arten des Denkens. Die niederen Anwendungs-
arten des Denkens, da wo es aus seinem Leben
als Aktivitat des Geistes herabgleitet in un-
geistige Surrogatprozesse, sind, auf der Seite der
Abstraktion: der Formal ismus ; auf der Seite des
Figurlichen: das Bild, die Vorstellung. Mit dem
Formalismus und mit der Vorstellung lassen wir
ktinstlich Naturgegebenes schaffen. Wir stellen
das schon Vorhandene noch einmal dar; so er-
zielt unsere Angst vor der Verwirklichung, daB
durch den Mangel an Verwirklichungsursprung
die isolierende Schranke — Machtgefuhl, Ver-
teidigung des Besitzes — nur noch grofier wird.
Aber diese Zwischenfalle konnen nicht unsere
stetig sich erneuende Besinnung auf das geistige
Schopfertum des Denkens, auf seine Menschen-
formung, aufhalten. Denn so erschopflich und
endlich die Natur ist, so unerschopflich ist das
Denken. Ware auch die Natur — wie pan-
theistische Begeisterung besinnungslos behauptet
— unerschopflich, so wiirde sie der Verwirk-
lichung des Denkens nicht ihre gewohnlichen,
heftig einmaligen Hindernisse bieten, sondern
grad we is infinitesimale. Aber das geschieht nicht.
Sondern zwischen dem vorangehenden iiblichen
Auftreten von Hindernissen und ihrem ebenso
spateren Nachfolgen tritt jener heilig erhabene
Fall auf, in dem die Verwirklichung des Denkens
hindemislos ausgeiibt wird. Man nennt diesen
Fall der hindemislosen Verwirklichung: den
Glucksfall. (Die Tatsache des Glucksfalles er-
weist die Erschopflich keit der Natur. Hier sei
gleich bemerkt, warum kein Pantheismus uns ge-
stattet ist, selbst im — nicht zutreffenden ! —
Fall, die Natur ware hochwertig schopferisch.
Jede Gfeichsetzung Gottes mit der Natur und
der Welt; jede Representation Gottes durch einen
kosmischen ProzeB; jeder solche Determinismus:
ist ein Beiseiteschieben des Ethischen.) Aber
der Glucksfall ist kein Zufall. Vielmehr, er ist
das Wunder . Und jedesmal, wenn der Mensch
ij- Denken g*anz mit sich identifiziert, wenn das
Geistige so um ihJi Spbare bildet, daB die Natur
auf ihre Endlichkeit sich zusammenziehen muB,
dann perlen um ihn — unglaubhaft fur die bloB
elementar naturabhangigen Zuschauer, aber glaub-
haft selbstverstandlich fur die Mithandelnden —
die Wunder auf.
Die Welt konnte voller Wunder sein. Aber die
Seele halt uns von ihnen zuriick. Nicht das Gei-
stige des Menschen, nicht sein wollendes Denken
in Wirkung wartet auf das Wunder; das Den-
ken tut das Wunder. Sonderiich die Seele wartet
auf das Wunder. Die Seele wartet auf das Wun-
der, weil sie von ihm eine Bereicherung erhofft.
Bereicherung des Besitzstandes. Die Seele ist
vom Denken abgesondert, geflissentlich. Sie ist
nicht da, um zu verwirklichen ; sogar, sie will
nicht verwirklichen. Sie will in sich sein. Die
Seele ist ein Zufluchtsort, eine geheime Ecke.
Ein Schatz. Ein Besitz. Eine Machtfiille. Ein
Uberlegenheitsmittel. Ein Gegebenes. Ein Er-
reichtes. Ein Ausruhplatz.
Es kommt aber darauf an, keine Zuflucht mehr
zu haben. Es kommt darauf an, daB wir in die
vollkommenste Verzweiflung gehen, wo wir nichts
mehr zu retten haben. Kein Geheimnis mehr.
Kein Fursichsein. Kein Privatleben. Es kommt
darauf an, zu verwirklichen. Es kommt darauf an a
Besitz, Macht, Gegebenheit zu vernichten, um das
BewuBtsein von der Existenz Gottes zu er-
reichen.
Die Seele ist unsere totendste Ausschweifutig.
Immer wieder sucht sie uns das MaB der Welt
anzulegen, wenn wir die gottliche UnermeBlich-
keit des Geistes menschenhaft anrufen. Immer
wieder, wenn wir schopferisch fur das Menschen-
tum werden, sucht die Seele uns zu Einzelzellen
zu machen, stolz auf das Vereinzelungstum ihrer
Zelle.
Der Geist ist die Gnade Gottes. Er ist fremd
alien unreinen Wesen.
Die Seele steht im Banne des Teufels.
Der Kampf mit dem Engel ist auch unser inni-
ger Wille, das weltgebundene Sonderwesen der
Seele aufzuheben, und die reine Lichtfortsetzung
des Geistes zu werden.
Will man handgreiflich sehen, was die Vertretung
des Teufels, die Vermenschlichung der Welt ist?
die Seele?
Die Seele kennt nicht Werte. Nicht Recht noch
Unrecht. Nicht den Ursprung der Handlungen
noch ihr Ziel. Sie kennt nur Wirkungen, und sie
nimmt alle als gleichen Sinnes an. Sie wird
darum stets zur Apotheose der Gewalt bestrahlt,
denn die Gewalt beruft sich auf Macht, Geheimnis
231
DIE AKTION
232
und inneren Besitz. Gevvalt findet stets als ihren
dunklen Anwalt die Seeie.
Aber der Geist allein leitet, auch in der Ietzten
Bedrangnis noch seiner Blutzeugen und offent-
lichen Miinder, die Verteidigung des Rechts.
Der Privatmensch gibt sich der Seeie hin. Aber
fur uns gibt es kein Privatleben mchr. Wir,
die Offentlichen, die Geistigen, die Menschen:
die Geistesmenschen — wir miissen in unserm
Kampf mit dem Engel den Weg durch die
Seeie nehmen, wie wir den durch die Welt neh-
men mussen. Offnen Augs, lichtumflammt vom
Geist mussen wir durch das Dunkel. Auch die-
ser Weg wird uns nicht geschenkt.
Wir erinnern uns, daB wir die Welt geformt
haben zu einem Glied des Geistes. Wir Wesen
des Geistes.
*
Nun haben wir alles von uns abgetan, das uns
noch band. Wir stehen nackt da, und selbst un-
ser Leib, der mit Wunden aus dem Kampf be-
deckt ist, ist uns nur noch wert als Mittel,
unser Geistiges durch seinen Raum zu verwirk-
lichen. So sind wir ganz herabgestiegen von
unserm Adels-Sockel, wo w r ir als Vornehmer, als
Seeie, als Personlichkeit, als Einzelner standen.
Wir stiegen bis zur Ietzten Tiefe, die uns gerade
noch vom Tod trennt. Wir haben nichts mehr
von unserm Besitz aufzugeben und zu verlieren,
wir sind besitzlos geworden, Wir haben nichts
mehr zu bewahren: Nun konnen wir geben, so
unerschopflich wie der Geist durch uns strahlt.
Zum erstenmal sehen wir.
Fuhrer, du fahrst auf aus dir, wie ein entflammtes
Ziindholz, klein. Schwankend diinn im groBen
T aglicht-Umkreis.
Vor dir atmet das Volkergeschopf vorfiihlend
und ruck die Glieder, in brauner Angsteshaut.
O steh grade, halte die Augen entgegen, streck'
die Hande!
Du siehst die Locher aus den Augen schaun, die
Arme tastend, Leiber hilfegedrangt, die Kopfe
bleich und viel, als blicktest du lang in den
schmerzenden Spiegel.
Sieh dein Gesicht groBwachsern dir entgegen,
Das Blut lauft iiber die Augen vom erdig weiBen
Haar,
Hungerfalten um deinen zerknirschten Mund, der
breit aufklappt zum Schrillen.
Sieh dein Gesicht weich und rund, rot, fleischig,
zahnlos, sanft erschreckt bei der Geburt,
Sieh dein Gesicht erstaunt rasend eh du Mann
wirst.
Sieh dein Gesicht in der Abendstunde der schwe-
sterlichen Nachdenklichkeit.
Sieh die Augen spiegelnd iiber Nasen, die ge-
kriimmt sind in Jahrtausendgestalt,
Sieh die Augen blaB ausgelaugt von Verfolgun-
gen,
Sieh den Mund, der faltig blieb von den Flammen
der Scheiterhaufen, den Mund, der diinn ist
von den Uberfallen der Truppen, er schloB
sich nicht seit den Handschellen der Ge-
richtsdiener.
Ftihrer, sieh dein Ewigkeitsgesicht. Schmal, Bru-
derlich,
*
Der Fuhrer steht klein, eine zuckende Blutsaule,
auf der schmalen Tribune. Sein Mund ist eine
rundgebogene Armbrust, ein ungeheurer Ruck
iiber ihm schnellt ihn schwdngend ab. Gottes StoB
hat die Krummnase dieser schwachlichen Saule
in die zitternden Massen geschw'ungen. Seine
Glieder sind helle fliegende Wesen geworden,
losgelost von ihm, unter seinem Wink, die iiber-
all unter den Massen auftauchen und bei den
Menschen eifern. Seine Ringerarme kreisen weit
hinein, iiberzeugend wie schlanke weiBe Leiber,
ins feindliche Menschenfeld. Seine Augen wer-
fen im Horizontschwung leuchtende Fliigel. Hohl
befliigelt schweben seine Ohren rosig auf bleier-
nem Volksgeschrei, die hellen Fliigel tragen den
Thron seines Kopfes sanft hoch iiber Steinwiirfe
und graue Beleidigungen. Der leuchtende Ball
seines Kopfes schwebt gewoben aus verflochte-
nen Engelswesen durch den blauen Raum, und
schiittelt wie Wolkengefieder blitzende Himmels-
kuppeln auf die Menschenschultern herab. Die
Engelswesen der Augen pfeilen zu den schwirren-
den Bruderaugen weitum im riesigen Kreis. Die
Engel Gliedersaulen, Arme, Zunge und Lippen
verschlingen sich wie Zweige im wehenden Baum.
Der Fuhrer spricht. Um ihn schweben auf und
ab, ins Weite und zuriick, ringend verschlungen
seine Engel auf kristallenen Bergen. Pfingst-
flammen flieGen schmalbrennend auf den riesi-
gen Erdwald der Menschenhaupter herab.
Fuhrer, sprich!
ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS
XLVI
Der Feind nimmt Fleiflig die Gelegenheiten wahr, seine
Eroberungen aufzuz&blen Wenn diese Mitzchen sch Tarz
auf wet0 gedrucki sind, finden sie verzUckte Leser genug
and das Narhdenken ttber die seltsamen Dinge bteibi vor-
laufig den Sifiben der Engender und Franzosen Uberlassen,
die sich immer noch nicht recht zu men und zu helfeti wissen.
Noch haben sie vom Rtlckzug der Ancre VerlusLlisten cu-
sammentustellen f indenenganzgrausigeEinzelsuminen vorkommen.
233
DIE AKTION
234
So liegen beispielsweise vor Bucquoy in einem engen Rautn
weil mchr ats tausend tote Englander, Bei all dirsen
N'schhuisgcfechten rachte sich ein hlindes Anlaufen der Haufen
mil schweren Opfern. Man mufl Ubrigens bei dieser Gelegen-
heit eine Unwahrheit der Englander durchslreichen : es gab um
Bapaume keinerlei Gefechie, F.mige Mann von uns sind in
dem Gelande geblieben, das ist absolut alles und von einer
Erobtxung durch heiUen Kampf ist Lein \\brtch°n wahr.
Der fetndhche Yormarsch geht langsam weiier. Es sind ihm
gehiutie Schwicrtgkeiten in den Weg gelrgt, und a u Herd cm
wiuern die anziebenden Truppen begreillicherweise ilbcrall
Fallen und schreckhche Dinge. Die Englander erzahlen von
mit Sprengstoffen gefillhen deutschen Siahlhelmen, und einer
erfand das neue Marc hen von zurtickgelassenen deulschen Ktlll-
federn, die nichis anderes seien als Hollcnmaschiiien. Man
kann ja ganz gui verstehen, dafi die ungeheuren AusmaGe der
deutschen Zersiorungsarbeil ein Gruseln autkommen laisen und
dafi der nachziehende Feind Spukgestahen tlher der kohlenden.
rauchenden, stinkenden \\ Usie ste^t, die wir verlassen haben.
Wie im Kaum uer alien Ancresiellungen ist in den Sommegelanden
der Nachmarscli des Feindes Uberaus schwierig gemacht. Die
Sirafienkreu* ungen sind in groBtem Umfange gesprengt, und
auf alien fahrbaren Wegen liegen Raurnkroncn. Siamme und
in den Orischaftsbereichen gauze Hauserzeilcn. Der Feind
mud zuerst ausgtebige Raumungen von>ehmen, wenn er seinei
Truppe mu Proviant, Arullerie und Munition wieder nach'
k^mmen soil. Yersuche. neben den StraSen zu fahren. wird
er wohl schon wirder aufgegeben haben. Die Friihjihrnwi timing
halt uns. das Terrain in Brei zu verwandeln. Die Urunnen sind
gesprengt, verunreinigt, verstopft. Es ist zwischen Ancre und
Oise eine Wuste entsunden, die auf lange Zeit mchis von alien
Lebensbedingungen geben kann, Alles Noidurftig*ie mull der
Gegner auf langen Strecken anlahren, und bevor er semen
F uhrparxs diese aulierordentliche Belaslung zuteilen kann, mud
er viele Tausende von Arheiiskraften mobil machen, um nur
eimgermaSen durch das Chaos durchzufinden und die primi*
tivsten Quartiergelegenheiten zu geben. Der Feind steht vor
Autgaben. die alle seine bisherigen Muhen und die fabelhaften
Opfer an Menschen, Geld und Zeit glatt auf das Verlusikonto
schreiben und kaum zu Bruchteilen filr die neue Lage der
Dinge nutzbar machen.
D<gegen haben wir Prachtvolies gewonnen: Unsere front hat
• ich bewegt und erfrischt. Erreicht ist die Befreiung aus
dem starksten Druck. aus Schlamm und Grabennot, in den
freien sicheren Halt . , .
Leitartikel i'on Mitttrorh. 21. \ftirx 1917 „ Berliner
TageblatV* . C>>efredaktrur Tin odor Wolff. Dir Liter-
schrift sifht, vetkirinert. so aut:
$cr iHiictyifl
jttjifdirn Slncre unb Cite.
tarfe feinMidjc Serfuftc. — $ie SdjrotfrtgfcUtn M
fcutMtdfto SBorniarfdjel, — $ie SDiifte. —
$ie beulfdie Sront erfrifdjt.
Xclegramm unfereS Jtrieg$berid>tetftatter#
Georg Queri.
<5) . . . aJidti.
. . , Werden noch viele Trommelfeuer der Schlacht folgen
mdssen. die jetzi bei Arras rast? Dafl die Slitnmung in Frank-
reich sich am Voraberd dieser Kampfe nicht zum Fnedlichen
gewandelt hatte, zeigl die Senatssilzung vom 31. Mitre, die mit
Berichten und Erkiarungen ither die Verwdstungen der geriumten
Sommegebiete ausgefdlli war. Man kann die Keden des Se-
nators Cheron und des Justizmimsti-rs Viviani, deren olTentlicher
Anschlag in alien Gemeinden beschlossen wurde, hicr mcht
wiedcrgeben, aber kaum jcmals seit Bcginn des Krieges hat
sich die Leidenschaft in solchen Ausbrtlchen Luft gemacht.
Nur neben bet sei erwahnt, dafl die franzosische Presse, um die
Erhitzung der Geister zu sieigern, dem Publikum sagt, deutsche
Zeitungen hiitten die Not und den Kummer der obdachlosen
Bevolkerung gehohnt. Der n Temps u behauptet, das Berliner
Tageblait* 4 habe die grofle Wtiste „mit Liebe 1 * geschildert.
Maurice Barres schreibt im „Echo de Paris - , wir hatien „mit
der Freude von Kannibalen u in der Ausmalung dieser Leiden
geschwelgt. Georg Queri, dessen gut m 11 1 ige r M i 1 le i dst on
so mi&deutet wird, hat gewtB beim Anblick der armen Men-
schen und Stiitten keinerlei FreudengefUhle verspUrt. Lad
dieses Hiatt ist nicht der Platz, wo gegenilber fremdem UnglUck
kannibahsche Instinkte erlaubt und tlblich sind . ,
Theodor Wolff. Chefredakteur des n Berliner Tage -
blatt u , Leitariihel 10. April 1917.
KLEINER BRIEFKASTEN
R. L. DaG — nach der Rede Bethmann-Hollwegs und nach
der ErklSrung Haases auch Herr Ebert namens und im Auf-
trage der deutschen Sc^zialdemokratie Sondergruppe Kolb David-
Scheidemann der russischen bozialdemokratie tur Revolution
w gratulierte J , habe ich natiirlich gelesen. Gelesen habe ich, wie
Parvus in seinem Ariikel „Der Steg der russischen Revolution 11
(..Glocke*' Nr 52) die Miflerfolge des russischen Heeres erklart;
,,Die tteleren GrUndc des Mifterfolges liegen in den zwei
groflen Rechenfehlern, die man in KuGland und anderorts
seit Anfang des Krieges gemacht hat. Der erste Rechen-
fehler war die Ubcrschatzung Kufilands Rutland war
noch nicht genug industnell durchgebiidet, um den Welt-
kampf siegreich durchflihren zu konnen. Man konnte
doch nicht wahrend des Krieges selbst dieses Kiesen-
reich mit den Eisenbahnen verschen, die ihm zum weii-
aus groliten Teil noch fehlten. Und damn waren auch
die bchranken Air die Industrie und den Ackerbau ge-
geben. Der zweite Fehler war die Unlerschiitzung
Deuischlands und der Mittelm^chte. Man bildete sich
einen Kampf gegen die Ptckelhaube und die Junker ein
und stiefl auf die deutsche Industrie und die deutsche
Sozialdemokratie."
E. B., Rostock, Ich habe im Heft 11/12 von Herrn Stefan
GroGmann, dem groBen Ullsieinfeuiltctonisten, sprechen mdisen.
Der hatte sich tlber Kramarsch geaufiert (man lese den Brief-
kaslen). Wenn Grobmann einmal so grofl sein wird wie
Hermann Bahr, weiflbariig und vielletcht gar Chefredakteur
der T ,V r jss“, dann will ich ein Buch tiber ihn schreiben. Ein
dUnnes Buch. Beginnen werde ich mit dem Wiener Anarchisten
GroGmann, der dann in Berlin beim ^Sozialist 1 * mitarbeitete.
Und als Geleitwort werde ich einige Zeilen wihlen, die, mit
den Buchstaben S. G. gezeichnet, 1895 in der Wiener „Zukunft“
erschienen :
pin einer kalten, dumpfen Stubi: kannsl Du zur Not Schuhe
machen, schrifistellern kannst Du urtcr stelen Entbehrungeo
nicht. — Nicht etwa nur, weil man dann der Schrift die Ent-
behrung des Autors ansieht, Du verlier;>i die Lust am Reden,
Du mbchtcsl liebcr eine zeillang schweigen, so wirst Du ein
gezwtingener, unlust iger, schlechter Schriftsteller.
fa. der Schriftsteller mufi gliicklich sein und er braucht mehr
Glilck als der Schuster oder der Schneider. Und darum gibt ea
fiir jeden armen Schriftsteller einmal die Alternative: Ein
Charakter sein und versauern oder ein Verriiter und gltlcklicher
werden. -
H. R. Ich empfehle Ihnen die Zeitschrift n Arbeiterpolilik“,
eine W ochenschritt fur wissenschaftlichen Sozialismus. Das
Blatt erscheint in Bremen (Aumunder Sir. 33) und kostet monat-
lich 60 Pfg. Lassen Sie sich Air 20 Pfg. eine Probenummer
kommen.
J.VHALr DER VORIUEN* NUMMER: SONDbRHtET GOLGATHA. BEYE: AUhRICHTUNG DES KREUZES (TITEL-
bfoit) / Gen Golgatha (Holzschnitt aus tiem Jahre 1495) / J. S. Machar: Auf Golgatha / H. Anger: Am Kreuze (Holzschnitt^ /
lindstaedt: Osterlegende i August Brucher: Judas / Strohmeyer: Kreuzigung (Holzschnitt) / Max Herrmann-NeiUe: Des cr-
/o 5 crs /efzier S/eg . Karl Brand: Die Kreuzabnahme / Waldemar Ohly: Kreu/abnahme (Holzschniu) / Georg Gretor: Vision/
Felix MuDer: Onginal-Holzschnitt / Rudolf Fuchs: Erwachend / Ludwig Baunier: Und da der Eine ging . . ( Felix Muller:
Kreu/iguntf (Fcderzei chnung) i Richard Huelsenbeck: Die Dichter der Maria S. BouSka: Maria i Wilhelm Klemm: Heimkehr/
tfemnch Nowack: Elend / Ernst Kallen: Federzeichnung 1 Albert Ehrensiein: Ende / Raoul Hausmann: Der Mensch / Josef
Federzeich n ung / Heinrich Stadelmann-Ringen: Zwei Stiicke / Maurice de Guerin: Der Kentauer / F. P.: Ich schneide
die Zeit aus; Kleiner Brief kasien
Fur Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten
Inhalt verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin-Wil-
mersdorf, Nassauische StraBe 17. T el. Pfatzbg. 1695.
Gedruckt bei F. E. Haag, Melle in Hannover.
Dit AKTION erscheint jeden Sonn abend. Abonne*
ments kosten vierteljahrlich durch die Post, durch
Buchhandel oder Verlag (unter Kreuzb.) M. 2,50.
Abonnements fur das Ausland kosten M. 3,—.
Buttenausg., 100 numerierte Exempt, jahrl. M. 40,—.
Verlag der AKTION, Berlin- Wil m e rsdorf.
Unverlangten Manuskripten
1st Riickporto beizufugen.
Alle Rechte vorbehalten.
*
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I 1.
'KJ 1
WOCHENSCHRIFT FUR POUTIK, LITERATUR, KUNST
fn. JAHR.HERAUSQEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT NR S
INHALT; Oeorg Tappert: Original-Holzschnitt (Titelblatt) j Franz Werfcl: Neue Sprfiche des Landstreichers Laurentin /
Heinrich Schaefer: Zu Nietzsches Umwertung / Josef Eberz: Zeichnung / 0. F. Nicolai: Die International tit dcr Kultur /
Ines Wetzel: Original-Holzschnitt / Oeorg uretor: AKTIONS-Briefe I St K. Neumann: Zirkus / Rudolf OroBmann: Zirkus
(Zeichnung) / Strohmeyer: Seiltlnzerin (Original-Holzschnitt) / Wilhelm Klemm; Stufe / Walther Rilla: Scheidung der Oeister /
Rolf Henkl: Oesicht / Elise H. Ullmann: Buddha / Hanns Braun: Rasimir Edsch. Eine Novelle / Josef Capek (Prag): Toilette
(Holzschnitt) / Waldemar Ohly : Maske (Holzschnitt) / F. P. : Ich schneide die Zeit aus; Kleiner Brietkastes
DIE AKTIONS
Band I :
L Y R I K
Eine Anthologie
Band 2:
JUNGSTE TSCHECHISCHE LYRIK
Eine Anthologie
Verse
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Luxusausgabe M. 15,
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Sophie. Der Kreuzweg der Demut
Ein Roman. Geb. M. 3, — , geh. M. 2 , —
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AKTIONS-BUCHER DER AETERNISTEN
Band I :
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Lesestiicke
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Band 2:
L E I N S T
m e r k u n g
Band 3:
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Opferung
Band 4:
A N Z J U
Saul
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Band 5 :
CARL EINSTEIN
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Band 3 und 5 kosten gebunden je M. 3, —
POLITISCHE AKTIONS-BIBLIOTHEK
Erstes Werk:
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HERZEN
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Otto Buek
Zwei Bande.
(446 und 338 Seiten.)
drei Portrats
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nur direkt vom Verlage:
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Zweites Werk (in Vorbereitung);
LUDWIG RUBINER
Der Mensch in der Mitte
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VERLAG DIE AKTION
KUNST-SONDERHEFTE
DER AKTION
„Neue Secession 11 / Richter-Berlin / Schmidt- RottlufF /
K. J. Hirsch / Hans Richter j Wilhelm Morgner / Egon
Schiele / Georg Tappert / Else von mr MUhien / Ines
Wetzel / Felix Muller
D I C H T E R
DER
SONDERHEFTE
AKTION
Franz Blei / Gottfried Kolwel / Alfred Lichtenstein /
Paris von Gtltersloh / Heinrich Schaefer / Theodor Daubler
/ Paul Adler / Fram Werfel
SONDERHEFTE ,,D I E V OLKER"
„Rufilfttid u (mit Geleilwortcn von Maximilian Harden) /
^England 14 / „Frankreich u / „lielgien u / „Italien u / Boh-
men 4 / „Deutschland“
Jedes Sondcrheft, gewohnliche Ausgabe,
kostet 5oPf. — Biitten, numeriert, M.2, —
BUTTEN - AUSGABE DER AKTION
100 numerierte Exemplare
Jahresabonnement : M. 40
Jedem Btittenabonnement werden jahrlich mind es tens
acht Kunstblatter beigegeben, von den Ktinstlern nume-
riert und signiert. Diese Beilagen kommen nicht in den
Handel und stellen einen Wert dar, der den Abonne-
mentsbetrag abersleigtl Im Jahrgang 1917 werden
beigegeben: Blatter von Felix Muller / Max Oppenheimer /
Ines Wetrel / Karl Jakob llirsch / Richter-Berlin u. a.
KaNSTLER-POSTKARTEN DER AKTION
Es sind 80 venchiedene Drucke erschienen
Zcichnungen von Mopp / Kars / Schmidt-Rottluff / Schrimpf
/ Klein 1 Richter-Berlin / Nadelman / Feininger / Hart* f
Schiele / Mense / Melzer / Tnppert / Else von xur
Mtlhlen / Hans Richter / Josef Capek / Morgner u. a.
100 Stuck M. 3, —
portofrei gegen Voreinsendung des Betrages
WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR. KUNST
7 . jahrgang HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT *• mai 1917
AUS DEN LAURENTINISCH EN SPROCHEN
Von Franz Werfel
Der Nichtige
Wer aber ist, und wahr ist,
Er blickt sich um . . .
Da liegt die goldene Wandrung seines Vormit-
tags:
Dort war ich, was ich hier bin.
Hier bin ich, was ich dort war.
Adler des Mittags heben ihn hin.
Schritt und gute Luft in den Lungen.
Wer aber nichtig ist,
Er biickt sich um . . .
Da schwebt der Staub, stockt Schotter-Hohn:
Bin ich der Nebel, der ich dort war?
Hinweg, du Nadimittag!
Luge will Vergessenheit.
Schuld erseufzt Vernichtung.
Urn Dammerung fleht ein Schatten.
Der Fluch
Es ist ein Fluch iiber uns.
In uns heiBt er: Boser Wille.
Nur Absicht ist in Deinen Augen,
Da rum wird Emsicht ihnen nicht zuteil.
Du siehst, nur was Du willst, zu sehn,
Du siehst, Dich zu verrnehren, in die Welt.
Das heiBt Leben.
Boser Wille ist in Deinen Handen,
Zweck zwackt Deine Finger.
Was seufzt Du! — Wiiste!?
Die Welt ist leer, weil sie von Dir so voll ist!
So lebst Du ohne Gnade.
Doch willst Du wissen
Geheimnis der GroBe, Geheimnis der Genien:?
Lebe aus Gottes Hand!
Der Scheideweg
Imraer, immer winkt uns von einer Seite
Der schwammige Backentaschen-Baal,
Bauch-Baal, Schlauch-Gotze der Rhinozerosse.
Sau-Geist und Lau-Geist der Moraste,
Der Wampen-Wal und Wanst-Bowist,
Der Riissel-Schnuffler wohliger Jauchen-Gase.
Immer winkt er, der dreizehnte Tod,
Der Schfuck-Tod, der Kot-Tod,
Der Wuchrungs-Wucherer, Rulpser-Ruppel,
Ba8geigen~Baal und Schwarzsuff.
Hieher zu mirl
Ruft euch der Gott, der eine Sehne ist
Der Morgen-Abendgott der A-Saite.
Der Sehnen-Gott, der nie des Sehnens versi egt.
Der Gott, der nicht arm wird an Herzklopfen.
Der feurige Gott der Aufwarts-Tonleiter.
Der einfache Gott,
Der Gott des Anti-Vakuums.
Der Wellen-Tanzmeister und Wasserwandler.
Der Uberwinder der Speckwaagen,
Der Ketzer der Kanzleien,
Der Ungebeugte von Hauptbiichern,
Der sich erbarmet, des Rubriken-Straflings !
Der Dreizack und Dreschflegel
Ober den Gesetzen!
Die Erdolquelle,
Der Molch und Salamander in Baals Nabelfoch.
Der Hexenmeister
Ich bin der alt-wilde Hexenmeister,
Der ausgewitzte Magier und Teufels-Trotz,
Der Lux und Urlist-Zauberer!
ZerbeiB ich zornig meine Schifferpfeife,
Erstickt wo ein Gerichtshof.
Immer tret ich in den Schadelkreis,
Persisch hohe Spitz-Tiara auf dem Kopf.
In meinem Katz-Falleisen klappert
Viel Wolfsherz, Eulenauge, Krotenmilz,
Schwarzes Mondkorn streu ich auf meine Feuer.
Mit meinem Ahriman-Stab lock ich das Volk:
Die Sporen-GroBen, den behangten Staats-TroB,
Die grauen Goldzahn-Satrapen,
Die zwinkernden GroB- und Klein-Ladenhiiter,
Die fetten Maul-Gestank-Vetteln,
Die buntrock-geschaftigen Geist-Storer lock ich!
Sie kommen!
Herbei, herbei, hereinspaziert, Herren und
Damen !
Ich lasse euch tanzen nach meinem Taktstab.
Zehntausend Stunden miisset ihr tanzen!
Zehntausend Stunden zuckt mein Zorn,
Bleibt lustig meines Gottes Wohlgefallen !
Tanz, tapp, tritt fehl du Asthma,
Verwackle BIutverkalkungs-Gottlasterer !
Ich bin der alt-wilde Hexenmeister,
Der Lux und Urlist-Zauberer.
Ich keuche vor Musik.
Edler Rache SchweiB tropft von der Stirn mir.
— Erquickt, o Tropfen, diese Wiistenei! —
Doch du Geliebter tanz,
Tanz du Seuchen-Dung,
Taktlos du Akt-Aas und Verordnungs-Furz !
Tanzt, tanzt nach meinem Stab Gold-Galgenvogel !
A
: S
237
DIE AKTION
238
Ich breche nicht den Bann,
Zu Tode tanz ich euch!
Wie kitzelt euer Todes-Angstschrei
Mein Hokuspokus-Hohngelachter ! I
Laurentins' Eins-Zwei-Drei-Lied
Eins ist Got!.
Eins ist Nichts.
Eins ist das Unvergleichbare.
Eins heiBt: Ohneherzschlag.
Eins heiBt: Ohnmorgen-Ohngestern.
Eins heiBt: das Dochnichtheute.
Eins nennt sich: Ungebiirtig todlos.
Eins ist: Die Windstille des Mittelpunkts.
Eins ist: Die Saulen-Ruhe.
Eins ist: Die leichte ungebeugte Freude.
Eins tanzt nicht,
Eins blickt nicht,
Eins lacht nicht,
Eins weint nicht,
Eins scheut nicht,
Eins scheint nicht,
Eins stirbt nicht
Warum stirbt nicht Eins?
Weil Eins sich selbst nur lebt.
Zwei ist Mensch,
Zwei ist Schmerz.
Zwei ist, was lieben muB,
Weil es nicht Eins ist.
Zwei ist, was suchen muB,
Weils hier und dort ist
Ein Baal bockt uber zwei
Wie heiBt er? Er heiBt Baal-Zwiel
Wie heiBt sein Baaldienst?
Zweck, Zweifel, Zwist und Zwang.
Zwei ist heut und morgen,
Zwei ist Gift und Giite,
Zwei ist suB und bitter,
Zwei ist viel Verrat!
Zwei ist, was immer tanzen muB,
Zwei trifft sich im Tanz,
Zwei lost sich im Tanz.
Zwei ist das Nicht-Rechte,
Zwei ist die Lugennot,
Zwei ist die Todesfurcht,
Zwei ist das Sterbenssehnen.
Zwei stirbt.
Warum stirbt Zwei?
Weil Zwei sich selbst nicht lebt
Drei ist Geburt
Drei ist Kind.
Drei ist der hohe Trost,
Drei ist Erlosungsglut
Eins zeugt ins Zwei.
Drei springt aus Zwei.
Drei singt mit goldenem Mund.
Eins ist weiB,
Zwei ist rot,
Drei ist blau.
Drei ist der Prinz des Dreiklangs.
Drei ist der Fiirst des tiefen Atems.
Drei ist des Menschen Tat
Drei ist des Menschen Sohn.
Drei, Drei durchdringt sich selbst
Mit Laub und Stern und Stab.
Geheimnisvolier Schritt
Aus alien Feuern steigt.
Drei ist Erz-Michael,
Besieger aller Zwei,
Triumph-Eins, die da kommt
Dann heiBt es: Drei ist Eins.
Drei Strophen hat dies Lied.
BEMERKUNG ZU NIETZSCHES UMWER-
TUNG
Von Heinrich Schaefer
Dafl das hochste Bemiihen eines geistigen Lebens
der Herausarbeitung dieser Lehre dienen muflte.
DaB der konzentrierteste dionysische Enthusiasm
mus auf die Herausschleuderung dieses merk-
wurdig ins „uberethisch“ Unethische gedrehten
Ethos eingestellt war. DaB einem Geiste exklusiv
aristokratischer Kultur die totliche Notwendigkeit
wurde, die „Idee“ des blanken Brutums aquivalent
zu verkorpem und zur Vollkommenheit auszu-
bauen, was an Rohheit und apriorischer Geist-
armut rings aus jedem Munde gemeiner Allge-
meinheit elementarisch stammelt. — Es ist er*
staunlich. Wo von Natur die europaische Mensch*
heit heute wie in den Zeiten katholischen Glaubens
mit den Grundsatzen des Sieges und des Rechtes
des Starkeren aufernahrt und mit der Verachtung
des in christlichem Sinne Guten durchtrankt er-
scheint! Wo in jedem Augenblick des privaten
und offentlichen Lebens die ihren Namen einzig
verdienende Immoral ihren Sklavenaufstand zum
Gelingen bringt und es vielmehr einem geistigen
„Herren“geschlecht vorbehalten scheint, der Welt
das luxuriose Geschenk der Moral zu bieten !
Wie wenig scheint zu diesem die Masse prade-
stiniert! Wie sehr ist Nietzsche ihr Ausdruck
und Sturmpilot! Sein unter iibermenschlichem
Kraftaufgebot als gelungen vorwegempfundener
„Umwertungsversuch“ hat sich langst als Wert-
losigkeit gewertet, unniitz, ohne Erfahrung eines
hoheren Lebens. Wie zur Niedrigkeit verurteilt
bleibt diese Sublimierung der triebhaft geltenden,
ganz unerwachten Naturgesetze! Wie bar des
pythischen BewuBtseins dieser Eitelste des Gei-
stesl Wie beraubt des ins Obersinnliche verant-
wortlichen Gefuhls! — Wohingegen wir sagen:
Sittlichkeit ist Emporung. Die „Ordnung“ hat
sich ihren Namen angemaBt. Den Morder be-
straft sie aus der verirrten Ahnung eines Hohern.
Aber sie bestraft auch Jesus. Das ewige Rom
triumphiert und kreuzigt ihn in jeder Stunde. Auf
seinen gottlichen Brecher hauft es die verdam-
mendste Schmach wie auf seinen adaquaten Ver*
wirklicher, den Barrabas.
Der Versuch einer wahren Umwertung hatte mit
herkulischer Gegenanstemmung, mit iiberwalti-
gendster Anstrengung, mit der fliegendsten Zuver-
sicht des noch nie dagewesenen Sieges im Geiste
aller derjenigen zu geschehen, die in der offent-
lichen Meinung Europas jahrhundertelang brutali-
siert, bannbelegt, roh und mitleidlos verurteilt,
unsagbar hochmutig verschwiegen, ausradiert und
239
DTE AKTION
240
stummerstickt, kurz, unter bestialischer Aus-
nutzung des Naturgesetzes in die materielle Nicht-
existenz gedrangt wurden. Also historisch. im
Geist der „Trojaner“ und Perser, der Etrusker,
Osker, Samniter, der ewigen Opfer — und mensch-
lich im Geiste der unzahligen Zerschmetterten,
der namenlosen Abgeschlachteten immer seit den
Zeiten Assurs und Babels, denen die irdischen
Herzen nur theoretisch allgemein hinsterben kon-
nen in Mitleid langst zu spat, ohne Hilfe, Geist
des ungehort in den Raum des Nichts gestohnten
Verendens! Geist der absoluten und nichts an-
deres gelten lassenden Pein der Qualung, die
ihren eigenen Mund vernichtet! Das Gesamturteil
der Menschheit steht zur Revision. Wie groB ware
das Werk! Des Lebens „Nachtseite“ zu ver-
wandeln in den Tag! Das „negativ“ Genannte als
ein uberirdisch Positives zu erweisen! Wie iiber
die Brust schmetternd die Aufgabe! Wie iiber-
menschlich die Liebe! Wie totlich schwach das
aufarbeitende Herz!
Einer solchen Betrachtungsweise diirfte gegen-
wartig in Europa das Verstandnis angebahnt sein.
DIE INTERNATIONALITAT DER KULTUR
Yon G. F. Nicolai
Es haben wohl alle emsthaften Kulturmenschen
empfunden, daB „spezialis ierte Kultur“ keine
wahre Kultur ist.
So sagt, um nur einige Beispiele anzufiihren —
Kant: Kultur sei „Hervorbringung der Tauglich-
keit eines vernunftigen Wesens zu beiiebiger
ZweckmaBigkeit“ und Fichte meint ahnlich, aber
etwas unklarer, „Kultur sei die Ubung aller
Krafte auf den Zweck der volligen Frei-
heit“.
Am bestimmtesten und anschaulichsten aber
spricht es Nietzsche aus: „Kultur sei die Ein-
tracht einander wider»trebender Krafte“.
Ein Maler, ein Musiker. ein Bildhauer kann
ebensowenig die Kultur reprasentieren wie ein
Wissenschaftler, ein Techniker, ein Philosoph.
Aber auch die Gesamthcit eines Standes vermag
an sich keine Kultur zu bilden, sondern das groBe
Gebaude einer Kulturperiode besteht eben in der
Tatsache, daB all die genannten Machte — und
noch viele andere sich zu einem Organismus
vereinigen, in dem keine der zahlreichen Tell-
erscheinungen an ihrer freien Entfaltung gehemmt
wird.
Wie man nun einem Organismus — also z. B.
einem Menschen — nicht die Hand abschlagen
kann, ohne das Gehim in Mitleidenschaft zu
ziehen, nicht das Gehim verletzen, ohne die
Hand zu beschadigen, wie man iiberhaupt kei-
nen Teil andern kann, ohne das ganze zu
andem, so wird auch die Kultur minderwer-
tig, wenn einer ihrer Teile leidet. Wer es
sich nur ein wenig iiberlegt, wird sofort fin-
den, wieviel Musik in alien andem Kiinsten und
Wi&enschaften steckt — man denke nur an den
Ursprung der Tragodie und der Lyrik, an Pytha-
liras and an die Religionen.
W wenn iiberhaupt etwas in unserer zerris-
senen Zeit eine Einheit ist, so ists die Kultur. —
Und sie ist es und wird es sein, — trotz der zer-
rissensten Zeit, denn sie ist notwendig einheit-
lich aus sich selbst. Die Kultur kann niemand
zerreiBen weder in Raum noch Zeit: Kein Brand
von Alexandria, kein Brand von Byzanz, kein Fol-
terknecht und kein Stuhl Petri, kein Krieg und
keine selbstgewollte Entmannung einzelner soge-
nannter Kulturtrager — immer wird die Hand da
sein, welche die Fackel hiniiberreicht von heute
zu morgen — und von Land zu Land.
Nur der einzelne Mensch kann der Kultur un-
treu werden — aber vielleicht ist selbst das nicht
moglich. Vielleicht ist das, was die Zeit uns
zeigt, nur das Abfallen einer zivilisierten Schale,
die wir fur Kultur genommen, von einem zucht-
losen Herzen.
Die Kultur ist jedenfalls ein einheitlicher Organis-
mus, dessen Arme die Welt umspannen.
Jeder Organismus kann je nach der Betrach-
tungsweise in verschiedener Weise eingeteilt wer-
den: Man kann nach Korperregionen (Arme,
Beine, Rumpf, Kopf usw.) oder nach Organ-
systemen (BlutgefaBe, Nerven, Verdauungsorgan
usw.) also System e, die alle obengenannten Kdr-
perregionen mehr oder weniger gleichmafiig
durchziehen.
So ists auch mit dem Kulturorganismus! — Man
kann ihn einteilen nach Kulturregionen in grie-
chische und romische, deutsche und romanische,
Josef Eben Zeichnurtg
241
DIE AKTION
242
slawi-sche und chinesische Kultur usvv. Aber man
kann ihn auch einteilen nach Kuitursvstemen in
geistige, naturwissenschaftliche, technische Kul-
tur usw., die dann ihrerseits alle Regionen mehr
oder vveniger gleichmaBig durchziehen.
Dieses Hineinwachsen einer Kulturzone in die
andere (diese „Querschichtung“ der Kultur) hat
gerade in neuerer Zeit durch die intensivere
Moglichkeit eines internationalen Verkehrs immer
groBere Wichtigkeit gewonnen.
Die technische Kultur ist in einer Beschran-
kung auf Landesgrenzen iiberhaupt nicht mehr
denkbar: Post und Telegraphie, Ei<senbahn und
Dampferverkehr sind ihrem Wesen nach Weltein-
richtungen und die Bestimmungen daruber zei-
gen die deutliche Tendenz einer immer weiterge-
hcnden Vereinheitlichung.
Wo diese internationalen Bestimmungen selbst
in relativ belanglosen Dingen noch fehlen — wie
z. B. in der Frage, ob ein Auto rechts oder links
ausweichen soil empfindet es jeder Beteiligte
wie einen Anachronismus.
Auch die wissenschaftliche Kultur ist langst
nicht mehr national. Die Meteorologie, die inter-
nationale Bestimmung der Atomgewichte, die in-
ternationale archaologische Forschung, die Erd-
bebenforschung, die Astronomic, sind ziemlich
wahllos herausgegriffene Beispiele, die aber je-
dem, der diese Wissenschaften kennt, zur Ge-
niige beweisen, daB sich hier gewisse Organisati-
onen unabhangig von aller Nationalist iiber die
Welt ausgebreitet haben; aber auch eine nationale
Medizin, Jura oder Padagog'k waren Undinge.
Der geschilderte Zustand kommt gleichsam offi-
ziell dadurch zurGeltung, dafl es bereits zahlreiche
inte rnationale Amter gibt, die von der Ge-
samtheit aller Nationen verwaltet werden, die
wichtigsten, die politischen Anstrich haben, hat
man ihrer Unverletzlichkeit halber auf die drei
Staaten Schweiz, Belgien und Holland verteilt,
deren Neutralist garantiert war.
In Bern, Telegraphenbureau (1865), Weltpost-
verein 1874, Schutz des industriellen (1863) und
geistigen (1886) Eigentums.
In Briissel, Bureau der Zolltarife (1890), Skla-
venhandel (1890), Zuckerkommission (1902).
Im Haag, Schiedsgerichtshof, Oberprisengerichts-
hof.
Bei den internationalen Instituten glaubte man
offenbar, dieser Vorsicht nicht zu bediirfen. Denn
man konnte es sich wohl kaum vorstcllen, dafi
auch Manner der Wissenschaft ihre internationale
Arbeit verleugnen wiirden.
So befindcn sich in Deutschland zwei Amter:
das Potsdamer Institut fur Erdmessung (1864)
und das StraBburger fiir Erdbebenforschung
(1903).
In Frankreich cbenfalls zwei: das MaB- und
Gewichtsbureau in Sevres (1875) und das inter-
nationale Pariser Sanitatsarnt auch mit mehreren
Sukkursalen im Orient (1893)
Das internationale Institut fiir Meeresforschung
(1902) befindet sich in Kopenhagen und das fiir
Landwirtschaft in Rom (1905).
AuBerdem gibt es zahlreiche internationale Ver-
einbarungen, nach denen die Verwaltungen der
einzelnen Lander sich richten. Fried fixhrt deren
86 an, die sich iiber Handel und Verkehr, Recht
und Polizei, Wissenschaft und soziale Bestrebun-
gen, Krieg und Politik erstrecken.
International ist dann heute ferner jener groBe
Teil der Kultur, den man Zivilisation nennt. Inter-
national sind die Sitten, die Moden, die Tanze,
die Gassenhauer. Dem kann sich niemand ent-
ziehen. Zwar haben jedesmal, wenn der Deutsche
sich in den Krieg sturzte, die Zuriickgebliebenen
beschlossen, eine deutsche Mode zu grunden.
Es ist niemals etwas daraus geworden.
Wie die Menschen, so sind auch die Hauser in-
ternational und leider farblos. Paris unterscheidet
sich heute — auBer durch seine historischen Bau-
ten — kaum noch von London, Berlin oder Pe-
tersburg; Bukarest, Konstantinopel und Madrid —
haben vielleicht noch gewisse Eigenarten, aber
auch hier ist die Tendenz sich zu internatio-
nalisieren unverkennbar. Ein „modernes“ Viertel
in Mailand, Berlin oder Stockholm konnte man,
wenn man nicht die StraBenschilder liest, iiber-
haupt nicht mehr erkennen.
Ja selbst die Hafenviertel in Hongkong und Ham-
burg, in Port Said und New York sind abgesehen
von AuBerlichkeiten fast identisch; dieselben Ma-
trosenkneipen und dieselben Kinos, dieselben in-
ternationalen Dirnen und dieselben Schiffsleute;
ebenso zeigen die vornehmen Viertel Uhlenhorst
und der Hongkong Hill vielmehr Ahnlichkeit unter
sich als mit dem je entsprechenden Hafenviertel
Sankt Pauli und Hongkong-Harbour.
Es ist ja die Klage des eindringlichen Reisenden,
daB, wenn man sich heute nicht in die Einsamkeit
der Pampas, der Steppen, der Tundren oder Ur-
walder vergrabt, man den Cookschen Standard-
Hotels kaum entfliehen konne.
So bliebe nur die Kunst.
Zwar ist auch sie in der Realitat international
geworden: Die neueste Operette wird in den
Hauptstadten Europas fast gleichzeitig aufge-
fiihrt, Caruso kann kaum noch als Italiener be-
zeichnet werden. Tolstoi, Ibsen, Bernhard Shaw
haben sich in alien Landen ihre Schule geschaf-
fen.
Es gibt Querschicht ungen, (z. B. Naturalismus,
Impressionismus bis bin zum Futurismus) die
in alien Landen ziemlich gleichzeitig tonangebend
waren, selbst die sogenannte Heimatkunst ist in
Wirklichkeit ein in alien Landen gleichzeitig auf-
getretener internationaler Snobismus. Aber bei
der Kunst konnte man doch wenigstens ernsthaft
von einer nationalen Verinnerlichung sprechen,
denn Kunst ist etwas Traditionelles und weist
auf die Vergangenheit.
Aber die Menschen fehlen, die solche retrospek-
tive Kunst machen konnen. Die Erziehung ist
international. Der Knabe sieht und lernt iiberall
dasselbe und wenn er selbst in der verlorensten
Provinz aufgewachsen ist, seine geistige Nahrung
war uberall sehr ahnlich und mit Recht sagt der
im einsamen Forsthaus markischer Siimpfe auf-
243
DIE AKTION
244
gewachsene selige Dehmel, zehn Volkern mm
mindesten danke er sein biBchen Hirn. Und so-
bald der junge Kiinstler gar beruhmt geworden 1st,
ergreift ibn das internationale moderne Leben
rettungslos.
Die Versuche des Virdango-Bundes, die aite aus-
gesprochen deutsche Kunst, die eben mir in den
abgeschlossenen engen Stadten des Mittelalters
wachsen konnte, neu zu beleben, sind gescheitert
wie ahnliche Bestrebungen in anderen Landem.
So 1st die gesamte Kultur heute international ge-
worden ihrem Wesen nach.
Naturlich gibt es Ausnahmen, — Aber man soil
sich nichts vormachen, auf die kommt es nicht
an.
AKTIONS-BRIEFE AUS NEUTRAL1EN
Yon Georg Gretor (Zurich)
1. Das Symbol Schweiz
Die Schweiz ist mehr denn eine Realitat: sie ist
ein Symbol. Keine Realitat wird uns dieses Sym-
bol zu truben vermdgen. Wir werden uns nicht
wie die Mehrzahl der Fremden von ihr diipieren
lassen. Jeder verschuldet seine Disillusionen
selbst, durch naive Voreingenommenheit und
mehr durch ungeschicktes, unzulangliches Er-
kennen und eitles Urteil.
Die Fremdenpsychologie wird ein anderes Mai
analysiert werden. Heute seien die gesetzma Bigen
Vorbedingungen und die abstrakten Begriffe ge-
nannt, die das Symbol der Schweiz tragen. Nicht
/jus Wetzel
Holzschnitt
245
DIE AKTION
eine besondere Menschengattung hat ihn hervor-
gebracht; e$ ist aus den Bedingungen des Landes
erwachsen. Die mehrsprachliche Zusammen-
setzung, die verschiedenen Mundarten, die kirch-
liche Pari tat, die bundesstaatliche Organisation
ohne Hegemonie eines Kantons, alles bedingt,
dab hierzulande gemeinschaftsbildend wirkt, was
anderswo antinational erscheint. Die Vorausset-
zungen der Entwicklung nationalen Lebens im ub-
lichen und im iiblen Sinne fehlen hier, Eine solche
Mentalitat wiirde die Eidgenossenschaft bald in
ihre drei Sprachgrenzen, vielleicht in ihre 22 Kan-
tone auflosen. Man kann nicht mit Worten wie
unschweizerisch im Sinne von, sagen wir „un-
russisch", Oder „ wider das Volksempfinden" Pro-
paganda machen, da nicht zu ersehen ist, ob der
Begriff franzosisch, deutsch oder italienisch de-
finiert werden soli. Das Volksempfinden ent-
wickelt sich unter verschiedenen Bedingungen und
Gesetzen in jedem Tale; unterscheidet sich in
der Ebene von den Talern, in den Stadten von den
Landern, in den westlichen von den ostlichen und
so fort. Wo man dennoch diese ungliicklichen
Begriffe fur irgendeinen Zweck aufzuhetzen ver-
sucht, werden sie Karikatur und fiihren ad ab-
surdum.
Aber jeder Staat braucht eine „Idee“. So muflte
man in der Schweiz hoher greifen. Man fand die
demokratische Freiheit. Sie tragt zwar ein etwas
bauerliches Gewand, bedriickt aber kein Gewissen.
Es ist auf alle Falle ein gtinstiges Zeichen fiir ein
Gemeinwesen, wenn die meisten Behorden der
offentlichen Meinung voran sind und weitherzigere
Ansichten als das Volk vertreten.
Diese Freiheitsidee aber ist nur ein Mittel, eine
Form ohne Gehalt, die Volkswohlfahrt fordernd,
aber den Gebildeten und Intellektuellen der
Schweiz nicht geniigend. D i e miissen sich nach
anderem umsehen. Hierbei leuchtet als ,,nationa-
les“ Gut sogleich die Idee auf, fur die alle Gebil-
deten, Gebildete in alien Landern leben, das
Verlangen geistiger Neubefruchtung bestehender
Kulturen durch Synthese. — Ein iibernationales
Gut. Solches vermag Eigen art auszumachen, die
sich von der „Eigenart“ anderer Volker qualitativ
unterscheidet. Das nationale Gebahren aller Vol-
ker enteignet sie bis auf die Nieren. In dem
Bestreben, sich auf diese Weise voneinander
abzuheben, werden sie sich gleich wie eine HaB-
lichkeit der anderen; Dummhcit, Einbildung und
HaB haben keine Rassenmerkmale. Das ist das
tragische Los derer, die sich in der nationalen
Frage zu unterbieten suchen.
Das iibernationale Gut fuhrt, wie alles GroBe,
iiber sich selbst hinaus. Geisdges und kunstle-
risches Neuerkeimen und Entfalten findet stets
nur jenseits der Gewohnheitsgrenze statt.
Wahrend die Schweiz diplomatische Vertretung
von GroBmachten bei Grofimachten ubernommen
hat, erschlieBt sich ihr die Moglichkeit einer kul-
turellen Vormachtsteilung. Fur die genugen ein
Dutzend begabter und mutiger Geister.
Seit dem Bestehen der Schweiz hat sich in ge-
fahrdeten Zeiten geistiges Leben in ihre Grenzen
gefluchtet und darin befruchtend gewirkt. Auch
gegenwartig fuhlen sich psychisch differenzierte
und schopferische Naturen von ihr angezogen.
Sie machen dem Lande gleichviel Eh re, wie die
Fliichtlinge der Hugenottenverfolgung, der 48er
Jahre, des Sozialistengesetzes und des zum Mythos
gewordenen RuBIands. Ihr Leben ist ein kunst-
lerisches Ferment, an Mogiichkeiten reich. Sie
bilden die Vorbedingung einer fruchtbaren inneren
Kolonisation, die dem vergeistigten Wesen der
Schweiz entspricht. Die intensive Kulturdruch-
dringung und Steigerung dieser hebt die Re-
alitat ihrem Symbole entgegen.
Der ProzeB schwebt; er ist im Werden.
Schilderungen von Menschen und ihrem Schaffen,
von Schweizern und Auslandern, Trager dieser
Ideen und Mogiichkeiten, werden ihn in Sicht-
barkeit an dieser Stelle fordem.
ZIRKUS
Von Stanislav K. Neumann
Ich bin entziickt von den bunten Plakaten;
Sie locken, wie wenn geschminkte Madeln lacheln.
GroB und Klein geht staunend voriiber,
Streichelt glucklich mit den Handen dariiber.
In Lebensillusionen, die sie plotzlich umfacheln,
Gaffen die Leutchen sie freudig an.
Larmend fiel in das Stadchen ein,
Uberfallend die schwarzen Tafeln brutal,
Larmend fiel in die Dorfer ein,
Entfachend gedrucktes Leben uberali,
Papiernes Bengal!
Tore, Zaune und Wande
Steckt es in helle Brande,
Uber Felder und Walder posaunt sein Schall,
Sein Alarm signal !
Ich bin entziickt von den bunten Plakaten:
Weil sie der Wind bringt wie exotische Traume,
Wie Bliiten fremdlandischer, seltener Baume,
Weil sie die Menschlein aus den Hausern jagen.
Und eines Tages rufen sie die Menge
Zum Bahnhof. Dort stehn im Gedrange
Die begierigen Burger, die sich stoBen und redeen.
Bis der Waggons bunte Beute ausgeladen,
Bis das fahrende Volk sich ergibt ihren Gnaden,
Ein Mummenschanz farbiger Flecken.
Durchs Spalier dieser Bande
Von Zuschauern aus billlgem Lande,
Von ehrsamen Leuten
Und Lausbuben von alien Seiten,
Als Travestie des Lebens, der Tropcn Sumpf,
Des verarmten Naturkonigs Triumph,
Und zwanzig, dreiBig, vierzig Pferde;
Funf Teile der Welt begegnen sich drinnen
Und alles verbindet die breite Hose vom Clown.
Ich liebe diese Welt,
247
DIE AKTION
248
Die Abends, von Massen bombenvoll, sich unter-
haH,
Diese Web von Glut und Musik, von Larm und
Dimst,
Diese Welt, deren Lichtspalten langen Fun ken
gleich
Im Dunk el ergluhn wie ein b runs tiger Zapfen-
streich,
Wie die Strahlen einer feurigen Wasserkunst.
Und ich hor das leuchtende Tor ins Weite hallen,
Und seh wie es fadelt auf Schntire der Menschen
Krallen.
Die Glocke ruft.
Von den Trichterwanden der Riesenrotunde
Durchkreisen unzahlige Augen die Manege in der
Runde.
Die erhitzte Luft erfullt wilder Duft.
Wir segeln, ein Schiff im Meeresstrom,
Auf den Masten sind alle Flaggen gehiBt,
Die Brise weht, wie Nektar mild,
An Bord ist ein Fest, die Nacht ist suB,
Mit Champagner sind alle Glaser gefullt,
Das Schiff ist besessen von tollem Galopp,
Der Abend betaubt uns, der Abend ist wild.
Mein Liebdien, komm . . .
Der Pferde Trab und der Peitschen Hiebe
Erwecken Instinkte und Triebe,
Begierig vibrieren die Nustern,
es lauern die Sinne lustern,
Wir fliegen durch die Welt
Trotten in tragem Trab uber glattes Oestein,
Mit Zebras, Karaeelen, Braunen und Rappen,
Schwa rze und Gelbe, in Turbanen und Kappen,
Mischlinge und MiBgeburten,
Mit Eseln und Affen an Ledergurten
Zum Stadtchen kommen sie angefahren,
Exotische Proben aus fremden Landern,
Durch Europa gewohnt herumzuschlendern,
Ein buntes Knaul, das sich aufrollt und schliefit,
Krank im Herzen, aber stolz im Gebahren,
Denn die Menge gafft.
Diese hysterische Sippe,
Professionsharlekinade,
Die halb tierisch, halb menschlich
Auf ihrer Promenade
Sich blaht mit fletschenden Zahnen und dem
Kauderwelsch fremder Welten,
Mrt ihrer SinnJichkeit auf schwulstiger Lippe,
Sie schlangelt sich bin ; es wiehern die Pferde,
es brulH das Getier —
Una tiles verschwindet in den Zelten.
Schon wie ein Dorn, geheimnisvoll, machtig
•fete schon die Zelte hoch aufgeschlagen ;
Es konnte ein riesenhaft Tier sein, das ungelenk,
trachtig,
Und doch so selten ist, daB ein junger Gott
Es melkt, urn seinen Durst zu verjagen.
Ich liebe diese Welt,
Die wie Frauen im letzten Monat von Frucht
geschwellt.
Fur Zinshausbewohner birgt sie die seltensten
Dinge der Erde,
In Stallen, Garderoben, Kafigen, Magazinen,
Raubtiere, Madeln, viel Buntes zu schau’n,
Ich liebe der Peitschen Knall, der Mahnen weiBes
Traumen,
der Hengste pustenden Blitz und j3he$ Sich-
Baumen,
Der Japaner kreisenden Ball, der Elefanten be-
dachtiges Konnen
In dem entfernte Vergangenheit melancholisch
mimt Gegenwart,
Ich lieb der Kameele Galopp, der Bajazzos SpaBe
und Rennen,
Der Lowen Sprung und Gebrutl, des Bandigers
wachsame Art,
Der Reiterin lieblichen Walzer, der weiBen Eis-
baren Ranke,
Der vornehmen Hunde Gespann, exzentrischer Mit-
siker Schwanke,
Die englischen Girls und der rasenden Leiber
spriihenden Glanz,
Ihr Schreien, ihr Springen und ihren wilden Tanz,
Rudolf Grof matin
Zirkus
249
DIE AKTION
250
Strohmeyer : Seiltdnzerin
Der Kraftmenschen stahlerne Muskeln und Zahne
ohn jeglichen Trug,
Von Hangetrapezen und Ringen der Menschen-
kometen Flug,
Gekreisch anstatt Spornen, Kiisse von Hohn
Und Stille, wenn rings vor Angst die Herzen stehn,
Applaus und Musik.
Ich liebe den Zirkus. Ich liebe sein Wirren,
Das ununterbrochen durch Europa muB irren
Mit Blitzen und Glitzen, mit Schcllcn undGellen,
mit Tanz und Glanz und Tand,
Weil er, ein bunter Traum, uns eines grauen
Tags iibermannt,
Weil er brutal ist, wic des Feuerwerks gliihen-
des Beben,
Und cin schoner Kampf ist urns Leben.
Und ich liebe den Zirkus,
Weil er im Herzen zum SchluB mir wecket die Lust,
In den Schatten der matten Laternc, in den Stall
mich zu schleichen,
Zu schmiegen zum Nacken des braven Kameels
meine Brust,
Wie er so rubt der stille Nomade, und traumen...
Und traumen von weitem, weichem Wiistensand,
Von weiBen und braunen Karawanen, Oasen und
Palmenbaumen,
Von gliihender, grausamer Sonne . . .
(Deutsch von J. V. Lowenbach)
STUFE
Bis auf den Grund ist die Welt entgottert.
Uber prunkende Ruinen der Religionen,
Uber zahm gewordene Philosophen
Gingen wir hin, rasend vor Wahrheitsliebe.
Aber die Gotter sind Vorhange. Hinter jedem
offnen sich
Neue Ozeane, neue Arenen der Seele, neue Stern-
arkaden,
Hdher, schoner und reiner. Denn alles ist Stufe
Und Mensch sein, heiBt erkennen.
Deckt auf die verborgenen Gesetze der Progres-
sionen,
Die zitiernd nach dem Nichts oscillieren, es er-
reichen, hindurchgehen,
Zuriickpendeln in endliche Werte, und unauf-
haltsam
Hinausschwingen ins unendlich groBe!
Wilhelm Klemm
SCHEIDUNG DER GEISTER
Uns sprengt Zerrissene von Einsamkeiten wiist
— nur Worte spottisch sehr Gespenster uns um-
schwanken
Erhaben, ja! — uns sprengt Getrenntseins Qual
Von euch selig im Licht, die Leben griiBt.
(Ihr nicht verpflichtet hartestem Gedanken
Gesattigte an Freuden Freunden vollem Mai).
Die grofie Stadt sie tosend mufi durch uns ge-
gangen sein.
(Ob Dome Filigran nach uns Gesange tout — ? . .
Hinstaubend Frauen-Zartlichkeit wir uberwinden.
Oh — Lacheln auch der Madchen siiBer Wein
Uns dient — mit Dornenkrone sanft gekrdnt —
Uns lauter schweigend ausgeschieden finden.
Maschinen Larm Echo uns steil erregt.
Der dunklen Gassen Stachel schmerzJich lockt.
Asphalte Sonnen fahl elektrisch iibersungen
Der Nerven Appetit galvanisch sie bewegt.
Wir Not Entbehrung schmetternd angepfloekt
Ekstatisch aufgevveckt aus Seins Erniedrigungen —
Wir durch die Ather Sternen jah entgegenschnellen
Utopisch Suchende Lebens grellste Melodie —
Das Paradies! Zerflammend des Gewesencn
Schlamm der heult
MuB unerhbrt sich neuer Kontinent erhellen
DaB Satter feiste Ruhe panisch flieh
Uns Hungernde in Geistes blanke Lust verknault!
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DIE AKTION
4
Uns Hungemde? die sprengt Getrenntseins Qual
Von euch die Freunden leben zartlich hingestreckt.
Wir abseits stehn Zerfressene heiOen Leids
Chaos in uns . . ! Wir starben — leuchten fahl.
Euch drohend Schatten die Fanfare weckt
Wenn aufbliiht — bald! — uns fabelhaften Ca-
seins Reiz!
Walther Eilla
GESICHT AUS DEM GBWIRR DER STADT
WIEN
An einem grauen Tage sah ich auf,
Gequalt und iiberspannt vom Stechend-Larm der
Stadt um mich.
Da fiel von oben eine bange Kiihle in mein Wesen
Und oben zogen hohe Haufen grauer Wolken
Durch ihre Gegenwart allein zermalmend alles
Kleine.
Tiefst sank in mich der Anblick, alles ringsum
schvvand
Und nur mehr dies war da: Ich starren Auges
und der Wolken steter Zug.
Und sieh, da wuBte ich: Ein ungeheueres Ge-
schehen
Brutet liber der Welt.
Es wird ein Ungeheures geschehn
Und sich in unsre miiden Stirnen graben
DaB dorten der Erlauchtheit Stempel stehn
Weil unsre Taten nach uns leben gehn
Und wir das Leben nicht verstanden haben.
Rolf IJenhi
BUDDHA
. . . Doch in indien lebt ein goldner Buddha
Tausend Hande hat der goldne Buddha
Und die jungen Vogel nisten dort,
AHe Blatter, die da bleich geworden,
AUe Augen, die in Tranen betten,
Jeden Hund mit triefend altem Kiefer,
Nimmt der Buddha in die tausend Hande.
Sieh, wir beten zu den tausend Handen!
Tausend Hande miissen warmen konnen,
Denn sie sind ein ungeheures Mitleid.
Elise H, Ullmann
RASIMIR
Von Hanns Braun
Widmung an einen Zeitgenossen
Rasimir sprang mit beiden FiiBen friih morgens
aus dem Bett und balbierte sich.
Es lautete stark. Die Schaffnerin knallte die Tur
auf, mude, aber sehr giitig: Herr Ede-Edsch . . .
II Rono! O Gott! Und mit einer tiefen Kopf-
beuge beschrieb sie ihre Emphase gegen das
Linoleum. Die Uhr schlug silbern.
Rasimir kostete die niederstiirzende Pause und
witterte mit geblahten Nasenfliigeln die Angst,
die das Tor spaltete. Dann hob er groB und
feierlich die Hand mit dem Messer.
Fraulein Eff trat vor die Braue des Eingangs und
verhielt. Senkte auch den Kopf, der geformt wie
eine mongolische Zwiebel und Augen springen
machte, wie der schwarze Panther im Zoo von
Kopenhagen.
Rasimir spiirte, wie der Tisch und ein klotziger
Josef Capek: Toilette
Stuhl, der zwischen ihnen stand, machtige Tren-
nung auftrieb. Er wurgte Kehllaute. Seine be-
waffnete Rechte formte endlich, mit unbandiger
Anstrengung, ein lindes Zittern.
Die Effin begann, stockend, wie es weibliche
Pflicht war. Ihre Stimme ionte diinn, wie Sper-
berschrei; leis; und olig wie Pfirsichseim. Aber
es gahrte darunter Drangen und Kraft, Kraffft.
Rasimir unterbrach sie jah. Seine Wucht damp-
fend trat er auf sie zu und neigte sie, die Hande
um ihre Schlafen blatternd, gegen seine Brust.
Alsdann begann es sie, mit einem Blick nach der
Stutzuhr, zu entkleiden. Diese schlug abermals:
siebenhundertzwanzig Stunden des Tages, die
rasend vorbeitanzten, silbern, auf blauem Gold-
grund.
Jene zitterte stumm unter der Elektrizitat seiner
Hande. Das Messer klemmte bedrohlich zwi-
schen seinen Fingern.
Er! Er . . War iiberall ganz nackt. In weiBen
Katarakten fiel das Licht iiber seine Muskeln,
die straff ineinanderspielten. Sie zuckten biswei-
len, wie Gewitternahe, unter den sehr schonen
und heroischen Gesten, die er, ohne zu wimmern,
vollzog. Seine Arme schwebten auf ihrer Starke
knorrig hinaus. Mitten auf dem Gewolbe seiner
Brust, wo eine Mulde die Rippen anteilte, sproBte
Blondes.
Uber seine Schenkel auch stromte es seidig hinab.
Bander aus Stahl hefteten Wade zu FuB und
warfen blaue Schatten.
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DIE AKTION
254
Er! Er . . War uberall ganz nackt.
Sie — wurde es.
Er atmete den Duft ihrer Linnen und hielt schnau-
bend ein, Das war Geruch baltischen Tang-
wassers, wie es die Strandweiber auf Rfigen
schaumig schlugen. Tausend und zwei Fragen
wirbelten, wie Sandhosen in der Wuste, gegen
die Himmelsdecke seines Schadels. Aber er
zwang sie, dafl sich der Wirbel legte.
Sie, nackt indessen, fragte bescheiden den Re-
gungslosen, Bohrendstummen, frierend beinahe,
wahrend Schauer von Hitze gegen die Wande
ihres Leibes klatschen und Rote austrieben: Wo-
hin , ,
Mit der Faust mahlte er die tolpische Stirn. Ruh-
rung quirlte in seinem Busen.
Sie stieB einen kleinen, aber sehr gliick lichen
Schrei gegen sein Ohr. Denn er hatte sie un-
versehens aufgehoben und senkte sie auf wage-
rechten Armen mit iangsamer Lust auf sein noch
warmes Lager.
Als sie Festes unter sich spiirte, wand sie sich
biitzschnell und lag dann ganz still, die Arme
fiber dem Gesicht verschrankt.
Er sah erstaunt ihre Bewegung: sie erinnerte
ihn an den jahen Wirbel eines Delphins, den er
vier Jahre vorher auf Capri von einer Klippe aus
beobachtet hatte. Es barst ihm eine Trane unter
der roten Wimper vor Begluckung iiber die ele-
mentare Irdischkeit des Weibes und er stiirzte
iiber sie hin.
Zwang sie, mit rasender Mannlichkeit, scheinbar.
(Nichts dergleichen geschah.) Auf einem Segel-
schiff umkreiste er rasch viermal die Erde, im-
mer den Aquator lang, Sein Schlafzimmer hieB
„Sudseeinsel“. Seine Bettstatt: „Caramuzzal“.
Wahrend sie in stillen Seufzern sich erging, ohne
die Arme zu entschranken, mit den Ellbogen die
Spitzen ihrer Briiste gegen den Leib driickte gleich
Rebenkeltem, taumelte er sich wund an brunstigen
Schreien. DaB die Glaser im Raume schepperten.
Fauchte auf Tierriicken durch bellende Phanta-
sien.
Unvermittelt hielt er ein.
Sie loste das Geflecht ihrer Arme, gleichsam
lauschend, und schaute ihm dunkel unter die
Brauen.
Nun drang der Gedanke empor, der ihn halten
gemacht. Er steltte den Hals mit Gurgeln auf-
warts, wie die Schildkroten der Goldkiiste, und
schwappte ein unmaBiges Gelachter gegen ihren
Bauch.
Sie entschliipfte unversehens der Beleidigung. Ihn
schwemmte es gegen die leere Matratze. Sein
Blick jagte nach dem Messer, das ihm den Ballen
der Hand zerschnitt. Dann schlingerte es ihn
wieder hinab.
Die Effin war langst und leis davongegangen.
Aber jemand stellte sich vor: Mein Name ist
Schmatt. Mein Vater war der beriihmte Orgel-
virtuose Schmatt; beachten Sie, bitte.
Er sah sie mit schwimmenden Augen an, ver-
wundert. Denn sie machte unendlich feiste Lip-
pen bei ihrem Namen. Von ihrem Flachhut
schwankten Dolden uberreif dunkler Kirschen.
Sie knickte ein, als er seine Hande uber ihre
Schultern legte, und schielte nach dem Messer,
das auf ihr lag. Er aber achtete ihrer nicht,
sondern klagte sich an und raufte sich die Haare
auf seiner Brust: Die Baume! Die Bau-au-aume!!
Ich werde Mich erschlagen mit dem Schenkel der
Eselinnen !
Bis an seine Augen warf sie ihren Blick. Nicht
doch, murmelte sie, miBverstehend. Aber als sie
seine Entriicktheit gewahrte, da beugte sie sich
aus seinen gewaltigen Armen und entknfipfte sich
heimlich.
Er breitete seine Arme, beterisch: O Ekstase!..
tase!
Du bist klug! rief sie ihm zu und schabte an
seinem Bauch. Klfiger sogar als mein Vater!
Ich opfere dir alles! Nimm es hin, Gorillastarker!
Aber lehre mich deinen Ton, o Meister!
Er sah auf sie nieder, bacchischen Blicks. Ver-
stehst du mich denn? fragte er mit giitigem
Zweifel.
Sie zog verschamt die Wimpern fiber ihre Ent-
bloBung. Stehend, ein Strumpf noch schwarzte
ihr linkes Bein. Die Brfiste hingen, wie Schnee-
wachten, nachbarlich fiber dem mfirben Bauch.
Auf seiner Stirn schwoll Striem und Muskel. Mit
entsetzlich schoner Bewegung packte er den Rund-
tisch und stulpte ihn zu Boden. Setzte die Ferse
auf die verkehrte Platte und riB mit einer Hand
das Dreibein heraus.
Sie begriff. Noch ehe er*s niedersausen lassen
konnte, entfloh sie mit einem Schrei nackt auf
die StraBe.
Er beschritt, schweiBend, den Raum. Das Mes-
ser kerbte sich ihm in die Hand, ohne daB Blut
floB. Er spiirte es nur. Die Uhr iickte ihm leere
Zeit in die Ohrmuskeln.
Da fuhr er denn fort, sich zu balbieren.
Geriihrt sah er im Spiegel, daB ihm der Flaum
stun dl ich porte. Seine Hand kurvte gewaltig.
Strome von Blut entperlten seiner Haut und ran-
nen ihm fiber das Gesicht; mit dem Schaum der
Seife zu feurigem Gischt sich verbindend, trach-
tigen Abendwolken vergleichbar.
Lassig streifte er ihn mit gestrecktem Finger von
den Wangen ins Becken. Sein Wollen stillte den
Schwall. Feiertagig stieg sein Antlitz aus reiben-
den Tuchem. Die Hitze des Mittags sott in
seinen Adern.
Da trat Frau Sudlander ein, bauchig, brustflach
und mit bartigen Wangen. Sie liebte die Kunst.
So haBlich hatte sich ihm das Ebenvergangne ge-
atzt, daB diese ihm schon dfinkte. Er schritt
mit erbotigen, in den Schultern gehobenen Armen
auf sie zu.
Sie bannte ihn drei Schritte vor ihrem Leib. Hal-
ten Sie mich nicht fur kleinlich, sprach sie, ich
kenne Leben und Welt, stamme ich doch nicht
minder aus Darmstadt. Aber dennoch, bitte, be-
decken Sie sich. Es stort Asthetisches.
Rasimir griff, lachelnd, nach einem winzigen
meergrunen Trikot und bestulpte das Notwen-
digste. Wieder kurbelte ihm eine Frage in der
Stimhohle. Er sah zum Fenster und es war ihm r
als roche er den Harn tibetanischer Kamele.
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255
DIE AKTION
256
Ich bin, verehrter j linger Meister, unterbrach si e
ihn, gekommen um Ihren Rat. Meine Tochter
ist . . .
Wie?, schnellte er a uf warts, Sie haben ... Ist
sie hfibsch?
Man sagt es.
Ich liebe Judinnen! jubelte Rasimir. Auch halbe.
Sie haben ekstatisch a lies, was ich nicht habe.
Wann werden Sie mich vorstellen?
Gemach, teurer Meister — sie hatte glfickliche
Wangen — ich wollte Ihren Rat. Meine Toch-
ter ist — sage ich's? — hysterisch.
Rasimir, ohne Grund, schien unmaBig beleidigt
Was solFs? Mir das! grollte er mit gewittri-
gen Lefzen. Ich, ein Athlet, ein Timur, ein
Gottseibeiuns. Versuchen Sie Anspielungen, Ma-
dame? Ich pfeife darauf mit all meinen sechs
Mundungen, verstehen Sie !
Sie flatterte: Meister, was ist Ihnen? Ich ver-
stehe nicht. Verzeihen Sie. Reden Sie doch.
Sagen Sie; bah! Nur einmal wenigstens. Und,
bei Gott, warum haJten Sie immer das furchter-
liche Messer in der Rechten?
Da kroch, wie Sonne fiber Blattspitzen, Lacheln
fiber seine tonernen Zuge. Er saugte die Unter-
lippe von den Zahnen und striegelte mit der Lin-
ken das Kinn. Dann hob er sehr langsam die
Klinge und machte unzweideutig eine schabende
Bewegung gegen ihren Bart.
Sein Gelachter uberschrie donnemde Tfiren. Er
peitschte sich vomfiber. Spie Kot, der in Elek-
tronen zerspritzte. Sah Licht unterseeisch durch
Wellen blutigen Schaums, aufwartsringend.
Sprengte sich, luftschnappend, den Trikot in zwei
Fetzen vom Leib. Seizte sich auf ein Wiegen-
pferd, das in der Ecke gestanden, und jagte
kreisum durch die Steppen Asiens.
Auf der Strafie sammelte sich Publikum, welches
der Schutzmann des Reviers beruhigte.
AIs er wieder zuruckkehrte in die weiBen Segel
seiner Caramuzzal, lag ein zartes Magdlein er-
wartungsvoll darin. Unvermittelt fiel er in ein
hektisches Weinen von tiefer Inbrunst. AIs die
Quellen seiner Bresthaftigkeit versiegten, erschrak
er nicht, ein and res Magdlein zu erblicken.
An der Tur entstand heftiges Drangen. Es ge-
schah das Brausen sich u be rsturze rider Wellen,
die in Reihen daherkommend mit den zurfick-
flutenden kampfen muBten. Schreie gellten aus
den Fenstern; drunten lauschte die Fremdenrund-
fahrt in sieben Sprachen. Ein Filmoperateur kur-
belte eifrig, bis ihn Rasimir mit der groBen Zehe
aus dem Fenster stieB.
Da trat sie herein, jene ersehnte, geffirchtete,
wunderherrliche: silbeme Monde unter die Brfiste
geschminkt und den Nabel mit Hennah gerotet.
Am Rucken tief leuchteten zwei untergehende
goldene Sonnen und das Antlitz schwieg zitronen-
gelb, aus dem dunklen Reiche der Kaiserin
Tschmg — Tschai-po. Sie schritt auf die Cara-
muzzal los und legte sich schweigend in ihre
T/efe
Rasimir schrie auf und warf sich zitternd zu
fioden. Sie sfreichelte mit der Hand seine Mahne.
Seine Antwort enthauchte pythischen Dampfen:
Die Zeitgenossen — oh!
Komm, sagte sie einfach.
Nicht doch! Er stellte seine Hand agyptisch
gegen sie. Mit dem kuhlenden Rucken des
Messers streifte er sich die Wirbelsaule abwarts.
Es ist sfiBer zu begehren ohne Erfullung. Kost-
liches Wissen! In Sehnsucht sterben — ver-
klartester Tod!
Funfzig Augen phosphoreszierten in Ehrfurcht.
Komm, ftusterte es in der Caramuzzal.
Da hockte er sich aufrecht, in die Stellung des
Domausziehers. Fittiche schlugen um sein Haupt.
Zerfetzt schrie er auf: Kraft! Krafft! Das ist
es. Ekstatisches Gottsein. Nimmermehr werde
ich sterben, ich, der sehr kleine Bruder meines
Bruders Holofernes. Allzeit und rasend leben.
In tausend Leiber taglich meine Kraft floBen!
Bis die Welt, mein GefaB — es sei denn! —
an mir zerspringt: c’est la guerre! Zu deutsch:
Das ist die Wahrheiti
Da lachte es gellend auf und die goldnen Sonnen
brannten dicht vor seiner Stirn: vor ihrem Feuer-
hauch sank er dahin, taumelte abwarts. Der
Tod quoit um ihn auf, wie leere Kissen, ein Uhr
nachts. Sein mach tiger Atem zitterte scheidend
aus den Fenstern ins Kalte hinaus. Leis bebten
noch eine Weile Holz, Glas und Metall im Raume.
Mit beiden FuBen sprang, eine Stunde fruher
morgens, obschon unheilbar tot, Rasimir aus der
Caramuzzal.
Der tote Rasimir balbierte sich.
Woldemor Ohfy
Moske
257
DIE AKTION
258
ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS
XLVII
Anlafrlich des Jubilaums des Cbefredakteurs Wynecken in
Konigsberg i, P. 1 st diesem cin Schreibcn des Ministers des
Innern von Loebell lugegangen, in dem es u. a. heiflt: „Wie
hocb ich den nationalen Beruf der deutschen Presse werte,
brauchc ich nicht zu betonen. Eine erfolgreiche journal is Use he
Arbeit, die, wie die Ihrige, unbeschadet aller besonderen poli-
lischen Meinungsbitdung den Patriotismus und das National-
geftlhl unverrilckbar als die bestiramenden Krafte anerkennl und
zum Ausdruck bringt, ist ftlr den Staat ein unentbehrliches
Mittel zur Erhallung seiner Kraft und der Erreichung seiner
Zwecke.“
Notiz des tf Berliner Tageblatts u und aller anderen
Zeitungcn 6. Januar 1917.
KLEINER BRIEFKASTEN
Freunde, ungekum gebe ich hier den Leitartikel wieder, den
der „Vorwarls w in seiner Nummer vom Dienstag den 3. April
1917 veroffentlichte ; denn es ware schade, wenn auch nur ein
Leser der AKTION sich mit den Bruchsttlckcn begntlgen
mtlOte, die in der nichtsozialdemokratischen Presse zu lesen
waren. Ich mochte feststellen : was hier gesperrt gedruckt wird,
ist auch im Original gesperrt.
„ZUR AUFKLAKUNG NACH RUSSLAND
Republik und Monarchie
In alien Landern h«t der bUrgerliche Imperialismus den Ver-
such gemacht, die proletarisch-revolutionaren Bestrebungen vor
seinen Wagen zu spannen. Inwieweit dieser Versuch gegltickt
oder miOlungen ist, soil hier nicht untersucht werden. Aber
in alien Landern hat sich filr die Sozialdemokratie die gleiche
schwierige Lage ergeben, Sie soil den Imperialismus daheim
bekampfen, sie soil aber dabei auch nicht die Verbtindete des
Imperialismus auf der anderen Seite werden.
Wie die deutsche Sozialdemokratie dieses schwierige Problem
zu losen versucht hat, ist bekannt. Daheim wird sie wegen
ihrer Friedensarbeit von Eroberungspolitikern und Bis-ans-Ende*
Kriegern als ihr g c fah rl i chste r Feind bekiimpft, Drauflen
behaupiet man von ihr aber, sie hatte sich dem btirgerlichen
Imperialismus mit Haut und Haaren verkauft. Beschuldigungen,
die in der Htlze eines Bruderkampfes unbedacht erhoben wurden,
dienen dazu, diese Behauptung zu statzen, die Verstandigung
zwischen den sozialdemokratischen Parteien der verschiedenen
Lander zu hintertreiben, die Verwirrung zu steigern, die Friedens-
aussichten zu verschlechtern.
Jetzt soli aber die russische Sozialdemokratie vor den
Wagen des btirgerlichen Imperialismus gespannt werden, und
als Zaumzeug verwendet man dabei sehr geschickt die demo-
kratische Ideologic. Den russischen Sozialisten wird gesagt,
der Kampf der Entente sei ein Kampf um die Deinokralie, und
er dtlrfe niebt ruhen, solange nichf Deutschland Republik ge-
worden sei.
Nach Behauptungen der franzbs ischen Presse soil
auchGenosseTscheidse erklarthaben, das russische
Proletariat kbnne erst nach der Absetzung der
Hohenzollern mit Deutschland gehen.
Dazu sei folgendes bemerkt:
Zunachst : Die Forderung nacli der deutschen Republik kann
nur von den Deutschen selbst, nicht aber von Russen,
Franzosen, nicht von w Untertanen u des Konigs von England
oder des Konigs von lialien erhoben werden. Kein Volk
hat das Recht, einem anderen seine Staatsform mit Gewalt
aufzudrangen, und kein Volk tut klug, wenn es einen solchcn
Versuch unternimml, weil diese Staatsform eben dadurch, dafl
sie bloG aufgedraingt wird, auch entwertet wird. Jetzt soli
das russische Volk durch allgemeine Abstimmung dartlber ent-
scheiden, ob es monarchiscb oder republikaniscb regiert scin
will. Wir deutschen Sozialdemokraten werden uns sehr freuen,
wenn diese Entscheidung zugunsten der Republik ausfalh, aber
den Gedanken, dafl diese Entscheidung durch auflere Gewalt
getrofFen werden solhe, halten wir fttr absurd. Was filr KuG-
land gilt, gilt auch ftlr Deutschland.
Weiter: tJber die Wunsche des deutschen Volkes hinsichtlich
seiner Staatsform sind wir einjgermaflcn unterrichtet. Bei den
letzten Reichstagswahlen im Januar 1912 wurden in geheiincr
Wahl 12188000 Stimmen abgegeben, d&von waren 423S000
sozialdemokratisch. DaG alle Wahler, die sozialdemokratisch
stimmten, uberzeugle Kepublikaner waren, mdchten wir keines-
wegs behaupten; dafl die restlichen 7 949 000 Wahler es nicht
waren, darf man wohl als gewifl annehmen. Im Reichstag
sind von 397 Abgeordneten 286 entschiedene Monarchisten.
Unter solchen Umstanden gibt es ftlr erne demokratische Partei
wie die Sozialdemokratie nur eine Moglichkeit: ihre Grund-
siilze zu vertreten und der Mehrheit ihr Recht werden zu lassen.
Man soil also die Starke der Monarchie in Deutschland nicht
unterschatzen. Uber ihre Zukunft wollen wir nicht prophezeien.
Nur das eine soil gesagt sein; Findet die Monarchie in dieser
Zeit kluge Ratgeber, dann kann sie sich fdr alle absehbare
Zeit stchern und festigen. Das deutsche Volk ist in seiner
Mehrheit nicht antimonarchisch, es ist aber zweifellos in seiner
Mehrheit demokratisch gesinnt, es will das gle iche Wahl •
recht zu alien Ver tre tun gskbrpern , es will Selbstver*
waltung und parlamen tar isch es System. Kurz, es will
das, was in anderen Monarchien Ungst verwirklicht ist. Gegnerin
dieser Reformen ist nur eine dtlnne Schichl, die vorgibt, sie
wolle die Monarchie schtitzen, die aber in Wirklichkeit nur
um ihre eigene Herrschaft k&mpft.
Sobald die Monarchie die Wtinsche des Volkes erfllllt, ist aller
republikanischen Agitation der Boden unter den Ftifien weg-
gezogen. Die Frage, ob Monarchie oder Republik, wllrde dann
noch viel weniger Diskussionsihema sein, als sie es jetzt schon
ist, Und alle W&hrscheinlichkeit spricht daftlr, dafl es so
kommt. Wenn auch noch Schwierigkeiten zu Uberwinden sind,
so werden sie — voraussichtlich sogar schon in kUrzcster Zeit
— Uberwunden werden, ohne eine Spur von gewaltsamem Um*
sturz und ohne Umsturz der Monarchie.
Die Methoden des politischen Fortschrilis sind in den ver*
schiedenen Landern vcrschieden, und kein Volk sollte dem
anderen Vorschriften dartlber machen wollen, wie es zu seinen
politischen Rechten kommen soil. J eder Ver such i n di eser
Richtung miiflte den Krieg unabseh bar verlangernl
Das heutige Ruflland sieht in der monarchischen Staatsform
En glands und It aliens keinen Grund, die freundschaftlicben
Beziehungen zum englischen und zum italienischen Volk zu
losen. Wie sollte ibm da die beutige Staatsform Deutschlands
ein Hindernis sein, auch zum deutschen Volke wieder in freund-
schaftliche Beziehungen zu treten?
Tscheidses Ausspruch ist, wenn er tiberhaupt richtig wieder*
gegeben ist, jedenfalls vor dem Bekanntwerden der deutschen
Erklarung gefallen, dafl Deutschland nicht daran denke, der
freiheitlichen Entwicklung KuGlands auch nur das geringste in
den Weg zu legen und dafl es keinen anderen Wunsch habe,
als mit Ruflland bald zu einem filr beide Teile ehrenvollen
Frieden zu gelangeo. Auch der Vorschlag des Grafen Czernin,
noch mitten im Waffenlarm zu einer a 1 Igemeinen Friedens-
konferenz zusammenzutreten, konnte damals in Ruflland noch
nicht bekannt sein. Es erfllllt uns mit Freuden, dafl seitdem die
Stimmen ruhiger und freundlicher zu uns heriiberkl ingen.
Die russische Sozialdemokratie erfllllt nach unserer Uberzeugung
ihre grofle Mission nur dann, wenn sie den Volke riraum
vom nahenden Frieden verwirklichen hilft und wenn sie
es dem deutschen Volk ttberlaflt, {Ur seine eigene Fretbeit zu
sorgen, Nach diesem Krieg wird es kein Volk in Europe
geben, das nicht, sei es unter welcher Staatsform immer, frei
seine eigene Geschicke beslimmen wird. Und keines wird eine
Rdckkehr zu dem furchtbaren Zustand wllnschen, dessen end*
liches Ende alle aus ganzem Herzen herbeisehnen l u
Dies ist der Aufsatz, den ich ein historisches Dokument nennen
wlirde, wenn erwiesen ware, dafl die Herren rings um den
„Vorwarls" die deutsche Sozialdemokratie vertreten, was min-
destens zweifelbaft ist. Sind es die Vertreter, dann werden
wir bald Ruhe im Lande haben. Welch kompliziertc Ange*
legenheit ist dann doch das Eiproblem des Kolumbus, vergltcben
mit dem Problem Sozialdemokratie 1 Noch am 2. Juli 1914
behauptete der „Vorwans u , als er gegen Kaiserhoch* Wtinsche
des Herrn Heine polemisierte: „Die sozialdemokratischen Massen
in Deutschland wissen, dafl ihre Panel republikaniscb ist, sie
wollen keine Verhttllung ihrer Ziele M ; jetzt wird, nach dem*
sei ben „Vorwarts°, bald, „ aller republikanischen Agitation der
Boden unter den Ftiflen weggezogen“ sein, einfach durch die
nahende Wahlreform. Die Monarchie kann sich damit „fur
alle absehbare Zeit sichern und festigen u . Ich wundere mich,
dafl der „Vorwarts 4 als Motto zu dieser Kundgebung nicht die
Schluflsiitze jenes Leitarlikels verwendete, den er am 26. Sep-
tember 1916 gedruckt hat: *Der Geisl der alien Internationale
beftndet sich in Deutschland im siegreichen Vormarsch. Sein
endgUltiger Triumph ist bereiti ge»ichextl w
*
DIE AKTION
260
Cg. Sit. id M. Kurt Martens Artikelreihe n Flugschriften Uber
den Krieg“, die das „Literarische Echo** verb ffentl ich t, hat
meinem Papierkorb schon viele unaufgeschnittene Drucksachen
zugeftihrt ; ich babe Zeit und Raum gewonnen. Manche Dinge,
eiwa die unx&hligen Neuheiten des Herrn Fendrich, lasse ich
ja ohnehin nicht in meine Wohnung; Martens beweist mir, dafi
ich gut daran tue. Anderes hingegen, das ich fllr spatere Arbeiten
nicht entbehren m&chie, brauche ich, dank Bttrger Martens,
jetrt nicht xu erduldeo ; seine Andeulungen genllgen mir vor*
iaufig. So wenn er (Heft 13 LE.) von der Uruckschrift des
Herrn Wolfgang Heine, „Zu Deutschland* Erneuetung", plaudert:
^Darin, dafi er gleich zu Beginn Gefuhlspolitik ablehnti
soli ten vernUnftigerweise die Manner alter Parteien ihm
folgen. ,Die Pfitcht und das gute Recht der Deutschen
xu klmpfen und xu siegen, ganx gleichgtiltig welche
Fehler etwa ( 1 ) auch die deutsche Politik vor dem Kriege
gemacht hat 1 , wird bekanntlicb von den linksstehenden
Sozialdemokraten bestriuen. Wolfgang Heine wehrt
sich an vielen Stellen seines Buches heftig gegen die
Vorwtirfe der Sozialdemokratischcn Arbeitsgemeinschaft,
die sich iiber das .Umlernen' der ehemaligen Fraktions-
freunde befremdet zeigt. Die Reichsregierung und die
bfirgerlichen Parteien konnen Kdpfe wie den Wolfgang
Heines, Scheidetnanns, Stidekums usw. als Mititreiler
ja nur willkommen heiflen, und zumal die fortschrittliche
Volks part ei wird bald freundlich auf thren Blnken zu
sammenrttcken. Mil dem frtlher so grimmig befehdeten
Militarismus sdhnt sich Heine auf Grund des .Notwehr'-
Gedankens aus ; den Glauben an die rote Internationale
scbeint er vollig verloren zu baben; in der Konkurrenz
zwischen , Potsdam und Weimar 1 , d. h. zwischen mili-
tirischer und geisttger Kultur spendet er auch ,der
gToOen Zeit Potsdams 4 warme Anerkenaung. — “
W. R. Aber 1 aber’! Da hat ja Frauiein Renate B. trotx
seiner Jugend (xu Neugierigen gesagt: Renate kann bald thren
ersten Geburtstag feiem; Nina Einstein hingegen wird in
spatestens fanfzeho Jahren heiratsfthfg sein . .), trotx seiner
Jugend ein bes seres Gedlchmis, ,,Wortel Wortel Keine
Taten!" ist weder ein Ausspruch von Scheidemann, noch ein
Ztimf des Lensch. Jener andere Heine, dem das Weber lied
und ahnliche Delikte zut Last gelegt werden mttssen, der in
Paris ruhende Heine hat auch diese Worte xu verantworten.
Strmfmildernd ist allerdings, dafi er sie in einem unpolUischen
Liebesgedicbt drucken liefi.
Lieber Leser, lies, bitte, den ..Briefk&sten" in Heft 7/S des
fn often jahrgangs nochmals. Dort habe ich das Gedicht
wiedergegeben, das ein Herr Julius Schiller dem ..Frlnkischen
Kurier“ eingesandt hatte und das der Redakteur dieses Blattes
unter dem Titel l) Soldatenlos ,< als neue Schopfung veroffent-
lichte, obwohl es eine dreiste Abschrift des auf alien Kinder*
spiel platzen bekannten Liliencronscben „Tod in Aehren" war.
Herr Schiller hat damais geschwiegen. Jetzt meldet er sich.
Er sendet mir zu seiner Rechtfenigung die Zeilen ein, mit
denen Herr Dehmel sich im ,, Berliner Tageblatt" Nr. 132 gegen
Professor Bexzenberger zu „rechtfertigen‘ l sucht. Herr Schiller
hat in diesem Falle recht. Professor Bezzenberger zeigle im
Sonntagsblait der ^Konigsberger Hart. Ztg " Dehmel als Pla-
giator. Herr Dehmel ist nicht kleinlaut ge worden. Ich erklfire
nunmehr in atler Form: Liliencrons ,,Tod in Aehren 11 ist von
Julius Schiller und heiQt ,, Sol date nlos u . Genllgts? Vielleicht
vereinigen sich die Schiller, Dehmel mit Herrn Siegfried Jacob'
sohn? Herrn Karl Broger, Dichter der grofien Glocke des
Herrn Parvus, kann ich den Rat nicht geben, denn Herr
Broger ist doch zu sehr Eigenbrdger, er w&lzt fremde Ideen
gar eigenartig aus. Der japaniscbe Dichter Sakine hat, vor
75 Jahren, der Welt ein lyriscbes Kiel nod geschenkt;
„ G 1 o c k e n.
Die Glocken schmolz man zu Kanonen um !
. . . Nun klingt nicht mehr beim ersten Stemenschein
Tbr heJJes Abendlied ins Land hinein.
Die H 8 he n sind, die Tiler stumm.
Die Blumen selbst, die auf dem Fetsen wohnen,
Vergessen, wartend auf den Nachtgesang,
Des Welkens gar . . .
Voll blubt der Bergeshang,
Seit man die Glocken umschmolz zu Kanonen l"
,, Glocken?' 4 Herr Broger dichtet (Glocke Nr. 53) wuchtiger.
Er legt los:
„Die G 1 ocken kanonen.
Im Gesttihl
hoch Uber dem wimmelnden Jahre gehangen,
hoch Uber dem wimmelnden WellgewUhl,
Wiege und Tolenschrein
ging in ihr klingendes Glockenleben ein
und schltef in threm Schall gefangcn.
Diese wilde Zeit
reifit die Glocken vom Turm,
stellt sie als Haubitzen breit
fUr den wirbelnden FrUhlingssturm.
Uber des Krieges Blutallar
drohnt die Kanone, die einst Glocke war. Usw. usw,
Wie wire es, Herr Parvus, wenn die , .Glocke" aucb die
, .Glocken 41 druckte? Paul Enderling, der das Gedichl 1905
Ubersetzte, wtirde sich wahrscheinlich nur freuen.
, . . Dies hatte ich geschrieben, als das n Berliner Tageblatt"
(Morgenausgabe, 25. April 1917) aus dem Hauptausschufi (sprich:
Budgetkommission) des Reichstags berichtete, zur Beralung des
Heeresetats sei folgender neuer Antrag gestellt worden:
„Groeber und Genossen (Zentr.) auf eine dem
Metallwert voll entsprechende VergUtung der
Kirchengemeinden fUr die von der Militiirver-
waltung enteigneten Kirchenglocken und auf
Lieferung von Glockenmetall gegen Rtlckzahiung
der VergUtung nach Beendigung des Krieges sowie
auf Gewlhrung von Unteratiitzungen an bedUrftige
Kirchengemeinden zur WiederanschafTung der
Glocken,"
Lieber Leser, in Mtlnchen gibt Herr Karl Graf ▼. Bothmer
neuerdings eine Zeitschrift heraus „ftir Ordnung und Recht".
Also mit einem eigenartigen Program m. Das erste Heft brachtc
einen Leit&rtikel Uber fl Die Unmoral der Moralisten u . Gegen
— Kriegsgegner. Hier ist der Weisheit Schlufi:
„Wir beharren darauf: Der pazifistisch-internationalisLische
Gedanke ist ein Ausflu& menschlicher und vblkischer
Unmoral. 11
Ich habe das Heil der Welt nie von Ha&ger Platonikern erwartet.
Der n pazifistisch - internationalistlsche Gedanke" atlein —
wie oft ist das vor dieser Zeit hier gesagt worden 1 — vermag
Kriege nicht aus der Welt zu scbaffen. Aber dafi er ein Aus-
flufi der Unmoral sei, dies auszusprechen, im dritten Jahre des
Volkermordens, wahrlich, dazu gehort Mutt
W, W. Es ist nett, dafi jetzt der „VorwSrts“ gegen Hardens
„Zukunft" das Bannwort „bUrgerlich" schleudert. Wie wfcrs,
Herr Stampfer, wenn das Zentralorgan fttr politische Klugheit
sich entschlosse, einige Aufsfitze dieser bUrgerlichen Zeitschrift
(etwa; „Ftlr die bessere Welt" aus Nr. 28, oder: „ Am tausend-
sten T»g“ aus Nr. 30) durch Nachdrucken „niedriger zu hlngen"?
vielleicht als dusteren Hintergrund zu gebeo zu den lichtvollen
Aufsiitzen der Proletarier Lensch und SUdekum?
K. O. Der dritte Band der Sammlung DIE AKTIONS-LYRIK:
Go t tf rie d Be n n : Fleisch ist bereits erschienen. Erkostetge*
bunden M. 3, — . Der vierte Band: Wilhelm Klemm: Verse uod
die Anthologie „Der Hahn" gelangen in dieses Tagen zur
Ausgabe, ebenso kornmt jetzt (endlichl): DAS AKTIONS-
BUCH, kommt: Lu d wi g Rubi ner: Der Mensch in der Milte.
Der „Hahn“ kostet M. 2, — , die Ubrigen Werke jedes M. 3, — . Die
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Richter’ Widmungsblatt und Portrdt Ludwig Rubiners / Ludwig Rubiner: Der Kampf mit dem Engel / Wilhelm Lehm-
l_ ir L. 'r Rubiner (Federzeichnung) / F. P.: Ich schneide die Zeit aus; Kleiner Briefkasten / Beilage fur die Biittenaus-
orucx. l-uaw K ga be; Kunstblatt VQn Hans Richter
Fur Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten
In halt verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin- Wil-
mersdorf, Nassauische StraBe 17. Tel. Pfalzbg.1695.
Qedruckt bei F, E. Haag, Melle in Hannover.
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Alle Rechte vorbehalten.
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INHALT: Richter- Berlin : Original- Holzschnitt (Titelblatt) / Charles P6guy: Clemenceau / Kurt Pinthus: Ober Kritik f Carl
Einstein: Qedenken des Andre Derain / Arm in T. Wegner: Die Ertrunkenen / Josef Capek (Prag): Ori ginal-H olzschn i tt /
Herbert Ktihn: Die Tage fallen ab / Charlotte Wohlmuth: Qedicht / C6 1 estin a Tucher: Mondnacht / Paul Hatvani: Fest-
steliung ! Heinrich Hoerle : Ober Kubismus / Wilhelm Schuler: Hirsche (Ori ginal-H olzschnitt) / Wilhelm Stolzenburg (New
York): westwirts / H. von Rebay; LinoleumsUinitt / Simon Kronberg : Rabbi Chasan, Ein Sttick Prosa / Franz werfel:
Theologie. Fine Erzahlung / Christian Schad: Portrait / W, E, Burckhardt Du Bois: Die Litanei von Atlanta (Deutsch von
Arthur Holitecher) / Marg. Moll: Portrftt / Literarische Neuerscheinungen / F. P.: ich schneide die Zeit aus; Kleiner Brief kasten
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Band I :
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DER AKTION
„Neue Secession a / Richter- Berlin / Schmidt- Roll! u AT /
K. J. Hirsch / Hans Richter / Wilhelm Morgner / Egon
Schiele / Georg Tappert / Else von zur Mtihlen / Ines
Wetzel / Felix Muller
D I C H T E R
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SONDERHEFTE
AKTION
l-'ranz Blei / Gottfried Kolwel / Alfred Lichtenstein /
Paris von Gutersloh j Heinrich Schaefer / Theodor DSubler
j Paul Adler / Franz Werfel
SONDERHEFTE „DIE VOLKER"
w kuUUm!” (mil Geleitworten von Maximilian Harden) /
„ England” / n Frankreich“ / „Itelgien“ / n Italien” / Boh-
men* 4 / „ Deutschland”
Jedes Sonderheft, gewohnliche Ausgabe,
kostet 5oPf. — Biitten, numeriert, M.2, —
BUTTEN - AUSGABE DER AKTION
loo numerierte Exemplare
Jahresabonnement : M. 40
Jedcm BUttenabonnement werden jahrlich mindestens
acht Kunstbl&uer beigegeben, von den Ktlnstlern nurne-
riert und signiert. Diese Beilagen kommen nicht in den
Handel und stellen einen Wert dar, der den Abonne-
mentsbetrag Ubersieigtl Im Jahrgang 1917 werden
beigegeben: Blatter von Felix Mllller / Max Oppenheimer /
Ines Wetzel / Karl Jakob Hirsch / RichterBerlin u a.
KtJNSTLER-POSTKARTEN DER AKTION
Es sind 80 verschiedene Drucke erschienen
Zcichnungen von Mopp / Kars / Schmidt- Rottluff / Schrimpf
/ Klein / RichterBerlin / Nadelman / Feininger / Hart a /
Schiele / Mense / Melzer / Tappert / Else von zur
Muhlen / Hans Richter / Josef Capek / Morgner u. a.
IOO Stuck M, 3, —
portofrei gegen Voreinsendung des Betrages
WOCHENSCHRIFT FUR POUTIK, LITERATUR. KUNST
7.JAHRGANG HERAUSGEQEBEN VON FRANZ PFEMFERT »• mai tsiz
CLEMENCEAU 1904
Von Charles Peguy
Clemenceau liefert ein noch trefflicheres Beispiel
als Jaures fur die Gefahr der Parlamentspolitik;
nicht nach allmahlicher Annaherung, nicht mil
langsam anroKenden Wellen ergreift und dutch -
dringt ihn die Flut der parlamentarischen Poll-
tik; dazu ist er viel zu stark; er kennt sich selbst
zu gut; und kennt die Verhaltnisse zu gut; die
Parlamentspolitik ist das tagliche Brot seines Le-
bens; er kennt die Parlamentspolitik und die Mit-
teldieser Pol i tik vollkommen; er war lange Depu-
tierter; er ist Senator; und seine politische St el
lung hat fast imtner den politischen Grad, den er
erreicht hatte, uberragt; seine politische Wirksam-
keit aber hat fast immer seine offizielle Stellung
um vieles uberragt; auch kennt er die Politlk
durch und durch und ist fast niemals — wie Jau-
res — von den Ehren, die sie zu verleihen scheint,
uberwaltljgft ; auch sichert ihn sein Charakter ge-
gen geplante Uberraschungen, gegen snobbish -
sche Ubergriffe; die Politik ist der naturliche
Nahrstoff seines Lebens, seines Schreibens und
Redens. Ganz plotzlich, halb willkurlich, halb
unwillkurlich, macht der impulsive Mann mit den
ungjaublich dauerhaften Freundschaften und
Feindschaften, — welche seine Feinde fur Rach-
sucht erklaren, — macht er Ausfalle, die im vollen
Sinne verstanden, seine ganze Politik fiber den
Haufen werfen wurden. Das kommt eben daher,
da8 er unter uns in Geist und Geste so etwas wie
einen jener alten Republikaner reprasentiert, von
denen ich gesprochen habe. Das kommt im beson-
deren und im allgemeinen von seinem Tempera-
ment her, welches unlenkbar ist und Ver-
steilungen nur schwer ertragt — miteingeschlos-
sen, ja in erster Linie die Verstellungen des Herm
Clemenceau. Oder viehnehr ist sein ganzes Tem-
perament das markante Beispiel eines Tempera-
ments aus vergangenen Tagen. Ungemischt ver-
korpert er das Temperament der alten Republi-
kaner, weil sie dieses Temperament in sich hatten
und weil er selbst einen solchen in sich tragt.
Diese Ausfalle sind cs, welche ihm die bestandige,
eigensinnig treue Freundschaft seiner alten An-
hanger und Bewunderer bewahrt haben. Denn
so alt er ist, so viel er gelebt, so zahlreiche poli-
tische Wechselfaile er erlitten hat, verstand er
sich doch das zu erhalten, was Jaures nicht mehr
besitzt: Freundschaften und Bewunderung; per-
sonliche Freundschaft und Bewunderung von Leu-
ten, welche er kennt und die ihn nicht verlassen
haben, die ihn regelmaBig besuchen; Freundschaf-
ten und Verehrerschaften, die zweifellos wertvoller
sind als solche von Leuten, die er nie gekannt
hat, die ihn im stillen lieben und bewundern;
kein Mann hat heutzutage noch soviele ungekannte
Freunde unter den ehrlichen und verstandigen
kleinen Leuten; selbst heute entzundet er auf den
ersten Blick, im ersten Ansturm Freundschaft und
Bewunderung unter ganz jungen Leuten, Sozia-
listen, die seinem urwuchsigen, ungegorenen Ra-
dikalismus den Vorzug geben vor der eitlen Rhe-
torik eines Parlaments-Sozialismus; sie wissen
wohl, was ihm alles fchlt ; doch sie lieben sein ur-
wuchsiges Temperament; sie haben andere Theo-
rien, andere Methoden der Praxis, doch sie lieben
diese Eberausfalle und jahen Angriffe, diese uber-
raschenden Wendungen, diese Scherze a la Vol-
taire, a la Diderot; denn er vertritt nicht nur den
Typus einer vorhergehenden Generation, seine
Art reicht weit zurfick in der Tradition des fran-
zosischen Geistes; er ist klar, offen; Philosoph
ist er nur im Sinne des 18, Jahrhunderis; aber
in diesem Sinne ist er genau das, was man damals
einen Philosophen nannte; in der wissenschaft-
lichen und philosoph is chen Arbeit gerade so weit
bewandert, um nicht in sie vertieft, eingedrungen
zu sein; gerade so weit, hinreichend wissend,
hinreichend unwissend, um Exposes verfertigen
zu konnen; er ist fur alle seine Freunde und Be-
wunderer, fur die einen und fur die anderen,
fur die Jungen und Alten, nicht wie ein verwohn-
tes Kind, sondem was viel lustiger, verjungender,
kostlicher ist, wie ein verwohnter Papa, ein alter
Onkel, welcher seine schlechten Viertelstunden
< .7 ■ < y ^ s y 'A. i >
< \ > ■ > 7 ■■ < < S ✓ v < s 7 \ > :: > < i >
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263
DIE AKTION
264
hat, dem man aber in seinen guten Momenten
nicht widerstehn kann. Diese guten Momente —
sind eigentlich die bosen Streiche des alten Poli-
tikers; denn der gewohnliche Inhalt seines politi-
schen Wirkens in Parlament und Regierung ware
nur geeignet, ihn zu verdammen; was ihn rettet,
was ihm die Sympathie der Mittelpartei zufiihrt,
selbst wo sie sich bereits entmutigt fiihlt, das
sind seine Augenblicke des Selbstvergessens, seine
Uniiberlegtheiten; wenn die Natiirlichkeit und mit
ihr die Aufrichtigkeit wieder durchbricht; das sind
seine bosen Streiche, seine GroBmauligkeiten,
Prahlereien, SpaBe and Abfuhren, seine Rappel-
launen und Clownspriinge. Es wird ihm viel ver-
ziehen werden, denn er hat viel gespaBt.
Er hat offensichtlich nicht immer den Respekt,
den wir den politischen Machthabern schuldig
sind; er versteht nicht immer zu ziitern und zu
gehorchen, wie es sich gebiihrte. Diese seine
chronische Respektlosigkeit z, B. gegen politische
Kundgebungen, die ihn unterbrechen, hat seiner
parlamentarischen Laufbahn viel geschadet; eben-
dies jedoch erhebt ihn in der Schatzung der an-
standigen Leute, in der Achtung der freien Man-
ner; man versichert, daB nur ein ubler Scherz
gegenuber einem Abgeordneten es verschuldet
habe, daB er nicht President der Kammer ge-
worden sei; solche Ziige gereichen einem Mann
zur Ehre.
Die Politik erscheint ihm, wie so vielen anderen,
zweifelsohne als notwendiges Ubel; die Politik
lafit ihn, wie sie es alle, die sie betrieben, tun
liefi, schlechte Handlungen begehn; die ihm gar
nicht gleich schauen; er ist aus Combismus und
gevvissermaBen um seine schone „Rede fur die
Freiheit“ vergessen zu machen, zu widerrufen,
von ungerechter Heftigkeit gegen die Manner ge-
wesen, welche sich weigerten, der combistischen
Demagogie beizutreten; er hat Handel mit man-
chen gesucht, die es nicht verdienten; er hat
den harmlosesten Menschen gescholten, den hin-
gebendsten, ehrlichsten Dreyfusisten, Herrn Ga-
briel Monod; und der Wortlaut so gut wie der
Gegenstand und der AnlaB dieser Streitsache ha-
ben jene sehr iiberrascht, sehr betrubt, die ein
wenig darin eingeweiht waren, aus welcher par-
lamentspolitischen Kombination die Begnadigung
des Dreyfus zugleich mit der Amnestie hervor-
gegangen ist.
Es gibt noch immer gewisse Tage, gewisse Stun-
den, wo das alte Blut des vormaligen Repubii-
kaners ervvacht: das Temperament des alten Un-
zahmbaren gewinnt die Oberhand; die Politik
des Senators Clemenceau argert ihn auf einmal
mehr als alle anderen Politiken; weil er darinnen
steckt; er schickt alle Riicksicht zum Teufel; und
halt eine dieser unpolitischen, unparlamentarischen
Reden, welche die Kombinationen iiber den Hau-
fen werfen, die Vereinbarungen zerschlagen, die
Angstlichen verriickt machen; er weiB nichts von
Disziplin; er jagt seine Freunde in Schrecken;
und wie wir alle, wir beharrlich Freisinnigen, fiihri
er das Spiel vor, das unsterbliche Spiel der Re-
Aktion,
In diesen Augenblicken findet der alte Redner
in seine Rollen der groBen Komodie zuriick, die
einstmals der Schrecken jener grotesken Politiker
waren, die man Parlaments-Marionetten nennen
konnte; der Sohn Voltaires und Diderots wird
auch wieder der Sohn Molieres; man versichert
mir, daB es in jener Sitzung am Dienstag, den
17. November, richtige groBe klassische Komodie
gab; man war hundert Meilen weit weg vom
Senai; es war ganz der alte franzosische Kampf
— durchaus nicht romisch, wie man mir glauben
mag — der Kampf des rechtschaffenen Mannes
und des Lebens gegen die Herrschaft der Schule;
es war das alte Dictum von Montaigne und Ra-
belais, von Descartes und Moliere, Pascal und
Rousseau gegen unsere Feinde, die Geiehrten; und
man sagt, daB der ehrenwerie Herr Lintilhac, auf
seinem Platze sitzend, dieseibe jammervolle Miene
machte wie Thomas Diafoirus auf seinem Arm-
siinderstuhl; er bemiihte sich vergebens, die ersten
Angriffe abzuwehren; rasch zum Schweigen ge-
bracht, verhielt er sich still, bis zum Ende.
(Autorisierte Ubersetzung von Gustav Schlein)
OBER KRITIK
Von Kurt Pinthus
Wenn ich Geist als Bewegung des BewuBtseins
zum Zweck der Vervollkommnung bestimme, so
ergibt sich, daB der Kritiker nicht nur Propagator
des geistigen Werks (anderer), sondern voraus-
sturmendster Gebarer, Aufpeitscher, Veikorperer
des Geistes selbst zu sein hat,
Freilich seien als Kritiker nicht verstanden die
Deskribenten und Hintergriinder, nicht analy-
tische Nacherzahler oder salbadernde Verdunkler,
nicht historische Einreiher und Abhangigkeits-
schniiffler, — die alle in der Finstemis ihrer fun-
ken- und gedankenleeren Hirne sich sonnen unter
der stolzen Demut, Karrner zu sein.
Es ist selbstverstandliches Erfordernis, daB der
Kritiker die Histone, die Tatsache beherrscht, —
nicht um sie zu besitzen, sondern um sie ver-
schwinden zu lassen. Nicht mit Luft, sondern mit
Stcinen baut der Architekt, nicht der Steine halber,
sondern um der Idee vermittelst der zu ordnenden
und zu andernden Materie Gestalt zu schaffen.
Das Material der ReaJitat ist erforderlich, um sie
zu beseitigen, damit der Idee Verwirklichung ge-
geben werden kann. Der Kritiker hat die Aufgabe,
265
DIE AKTION
266
das Kausalitatsgesetz, kraft seiner Kraft, aufzu-
heben durch eine andere KausaJitat, — die Kausa-
litiit derTatsache zu verbessern durch die derldee.
Er feuert den Kunstler an, durch das Werk zu be-
wirken, dafi erkannt sei: Realitat, Ens sei das Ima-
ginare, Spiel- und Werkzeug; der Geist als Movens
das Reale.
Man konnte einwenden, daB das Kunstwerk, iiber
das der Kritiker spricht, schon nicht mehr Realitat
der Tatsache sei, sondern bereits geformter Geist,
Strahl der Idee. Dem ist zu entgegnen, daB sich
der Kritiker zum Werk verhalt wie der Kunstler
zur Realitat. Wie der Kunstler die Realitat als Aus-
drucksmittel braucht, um aus sich eine neue,
hohere Realitat sichtbar zu machen, so braucht
der Kritiker das Werk . . . nicht um sich am Werk,
sondern um das Werk an seinem Geist zu entziin-
den. Hiermit soli nicht die absolute Willkiirlich-
keit des Kritikers statuiert, sondern die Wechset-
wirkung bezeichnet werden, durch welche die
Kritik sich erzeugt.
Denn Kritik ist nicht Selbstzweck, auch nicht Zen-
sierung des Kunstwerks, sondern Entziindung,
Schopfung, Wirkung, entspringend aus dem ge-
heimnisvollen Dreieck, dessen Seiten sich aus
Kunstler, Publikum und Kritiker bilden; so daB
die drei Winkel entstehen, die sich unaufloslich
selbst einander in die Arme werfen, da jeder ihrer
Schenkelarme gleichzeitig der des andern ist, und
die zum Zentrum hin jene sich ballende magische
Kraft schleudern, durch die bewirkt ward, daB
ehrfurchtige Menschheit seit alters in dieser Figur
das strahlende, ziindende Auge Gottes sah.
Der Kritiker ist der Kunstler iiber den Kunstler;
das Werk auflosend kniipft er neu die Idee, laBt
sie wirken, indem er untersucht, was der Kunstler
will und was er kann. Und mit diesem Augenblick
ist er nicht mehr nur Kunstler. Weil er das Werk,
das des Kiinstlers geziigelte Willkiir ins Absolute
stellt, in Beziehung zum Publikum sowie wiederum
zum Schopfer bringt, weil er dem Werk Sinn und
Ziel gibt, . . . wird er Politiker! Er zieht die flam-
mende Unie vom Menschen, der das Werk schuf
— iiber den Menschen, den dieser schuf — zum
Menschen, fiir den er es schuf. Diese Trinitat wan-
delt er zur Einheit durch Sichtbarmachen der Idee.
Er laBt das Ethos auferstehen, aus dessen Glut das
Werk nicht nur erwuchs, sondern das ihm auch
die Form gab. Er sucht nicht das Kunstvollste.
sondern das Wertvollste, das Wesentliche. Er
wertet. Wertet das Werk fur die Kunst und die
Menschheit. Wirkt. Und damit ist die Idee seiner
Existenz verwirklicht.
Im Kritiker also fiigt sich der kiinstlerische und
der politischc Mensch zu vollkommenster Harmo-
nie. Das ist sein tragischer und zugleich be-
g/iickender Beruf.
Seine Arbeit birgt nicht die konzentrierte Ruhe des
Wissenscha f tiers und die Sicherheit, welche die
Beherrschung des Spezialgebiets gewahrt. Er
*tnnt nicht die Erlosung durch das Schaffen,
tfe das Gluck des Kiinstlers ausmacht. Die
^rscheinung-en der Kunst geben ihm nicht Ge-
nuB, sondern schleudern ihn pausenlos in
die krampfhafte Ruhelosigkeit seines Berufs.
Er bohrt Tunnel ins Unendliche belichtet mit
schnellem Handgriff Horizonte. Er klari das
Dunkel im Kiinstler; er wirbt fiir das Werk ande-
rer, indem er es aufleuchten laBt im Strahl seines
Geistes; er wird durch Dienen Fiihrer und ver-
schleudert sich zu ziindenden Atomen, um die
Idee zur Wirkung zu bringen. Er ist nicht der
asthetische, sondern der ethische Mensch.
Denn er ware verloren und verrucht, wenn er nur
Schongeist ist. Er muB durch alle StraBen des
Lebens, durch alle Schluchten der Verdammnis,
alle Paradiese der Begliickung getrieben sein, die
Mannigfaltigkeit und Menschlichkeit aller Mensch-
heit erfiihlt haben, Tragodien und Bilder miissen
tausendfach in ihm zerbrochen sein, Gedichte und
Symphonien seine Scele durchrauscht, unzahlige
Schicksale sein Herz zermiirbt, unendliche Ideen
sein Hirn zerpfliigt haben . , . die Geselligkeit
spie ihn aus, die Einsamkeit zerschmetterte ihn,
und aus Parteien und Freundschaften, die ihn
binden und beirren, hat er sich wiederum in die
Einsamkeit retten miissen ... bis er richtet, er-
richtct, vernichtet. Erst der Gepriifte dart priifen,
erst der Wert-volle werten. Und, da dieser tra-
gische Mensch zu erweisen hat, daB der Geist jene
promesse de bonheur Stendhals bedeutet, wird er
zur furchtbarsten GeiBel des Kiinstlers, der
Menschheit und seiner selbst
Er namlich ist es, der den Menschen rastlos auf-
peitscht, den Aufschwung aus dem Sumpf des
effektiven Zustandes zu dem in der Idee bereits
erreichten Hochstand zu wagen. Er ziichtigt den
saumigen Kunstler; wacht, daB der Burger
nicht triumphiere. Er hetzt den Geist aufs Publi-
kum; beunruhigt, qualt, reizt, lockt die Mensch-
heit, indem er Wesen und Werk des Menschen
zerlegt, priift und wertet Seine Aufgabe ist: Auf-
riittelung! Aufriitteln zur Vervollkommnung!
Sein Ziel zu erreichen, wird jedes Mittel zur Wir-
kung ihm Pflicht. Er laBt aufwirbeln den Sturm
der Beredsamkeit, stoBt ins Horn des Zornes,
jagt dem Uberraschten Witze und Ironien ins Ge-
sicht, laBt Lieblichkeit lauten, das Pathos der Pro-
pheten erdrohnen, den Schrei der Reklame leuch-
ten, filmt Zukunftslandschaften, ruft Beispiele der
Historie und Tatsachen der Wissenschaft auf, illu-
striert mit Anekdoten, wolbt Briicken iiber Epo-
chen, bohrt mit Analysen letzte Tropfen des Le-
bens. Er ist der am wenigsten spezialisierte,
er ist der umfassendste, der expansivste, explo-
sivste Mensch. Und noch seine Negationen sprii-
hen positive Forderungen,
Doch treibt nicht HaB seinen Kampf, sondern
Sehnsucht nach Vollkommenheit Giite scharft
sein Wort, Mitgefiihl starkt seine Stimme. Er
wird fiir die Menschheit, was der Pastor einst fiir
die Gemeinde war. Durch diesen Menschen, der
Paradox und Harmonie zugleich ist, wird das
Tragheitsgesetz im irdischen Dasein aufgehoben,
da seine Leidenschaft die Idee in Bewegung und
Verwirklichung umsetzt.
Der Einwand, der hier umrissene Typus des Kri-
267
DIE AKTION
268
tikers existiere nicht, spricht nicht gegen diese
Bemerkungen, sondern Iaflt urn so fordernder die
Notwendigkeit seiner Erscheinung erkennen.
GEDENKEN DES ANDRE DERAIN
I
Ernstes Sptiren
Dammrig Prufen.
Tag faflt Dunkel
Blickt voller Naeht.
Nacht empfing
Auftakt und Herz,
Griindet in gewagtem Dammern.
Herz tagt schwebend,
Stromt
In das Klopfen lebendig tonenden Bechers.
Stiller Strahl ist nachtig gehiitet.
Lebens Ekstase
Kraft der Schopfung
Kannte als Erster
Der Mensch.
Freude sprang vom Mann.
II
Ich suche in groBem Ernst
Suche in Dammerung. Taste.
Riihre Grenzen, Tag und Licht.
Blicke in Nacht.
Nacht empfing Samen der Nacht, das Herz.
Feste der Nacht
Stand in sich
Selbst im Dammern.
Es wachst verwolkt ein Saft,
durchsaftet Teile des Lebens.
Becher des Lebens schlagt.
Schatten hiiten zierlichen Strahl.
Der Mensch kannte als Erster
Schopfende Kraft, Ekstase des Lebens,
Freude sprang aus dem Menschen
— Aus tiefem Schweigen hinein in den Laut -
So die Herkunft des Menschen.
Jaweh, der Weitsichspannende
Fiillte Feme des Himmels.
Zauber geschaffenen Lebens
Lief und wuchs Ekstase
Lag in gluckhafter Stille,
Seliger Ruhe.
III
Ich weine, rufe
Hohe Wogen
Der See. Ich schreie
Dem bittern Gott
Des Meers,
Den Ungetiimen,
Die dort sich bergen ;
Zu aller Siegeln.
Kommt zu begraben
Mich Geschwarzten
In Trauergewand.
Ich nachte
Die Woge
Zu Leid.
Erlaubt mir zu schlafen
Gleichvvie der Tote.
Ich rufe die ungeheuern
Muscheln des Meers,
Dich Turm der Woge
Endlosen Gebriills.
Kommt, schlingt zu Grund
Mich der lodert und schreit,
Machtigen Geist erfleht;
Komme
Vollende zehrenden Wunsch.
O laB die Himmel dammern
Trauerkleid.
LaB mich liegen
Schlaf des Tods.
IV
Die Flut des Lebens gleitet
Schnell hin ; mischt sich und jedes
In Eins, weit ausebbenden Schaum.
Schlafender Himmel
Lichte.
Rote
Erde, erwache
Wirf deine Kraft in mich
Sprenge die Tur
Letzter Heimat,
Wo Ruhe und
Friede des Himmels mich warten.
Sonne fall! und verhangt
Dammrigen Abend. So will ich
Vorspringen nach
Der heiligen Insel.
Weile Stimme des mir
Eigenen heiligen Vogels
Hoch iiber Sternen.
Deine Stimme weint
Doppelten Laut.
Schleudere, wirf mich
In dunkle Nacht
Endloser Dammerung, wo
Ich mich strecke
Zwischengespannt den Grenzen.
Ruhe mich zu befrieden
Meinem Geschick.
V
GruG dir Mariam.
Weile ein wenig,
Dir zu sagen
Was Tote sprechen von Lacheln und Runzeln,
Wie es die Jahreszeit schenkt,
Zwei Jahre kein Brot
Zwei Jahre in Not
Diirftig und bitter.
Dann gilbt dir die Ernte
Menge des Korns.
Doch Mariam
Bist kraftig
Zu wahlen, zu Iassen
Seltenes Gut,
Was Leben verstattet.
Wcnn Schlaf kehlt den Leib,
Geist iiberfallt dich
269
DIE AKTION
270
Weist
Die Zeichen lebendiger Saule,
Eigen es Omen.
Still verrat sie
Himmlisches Ereignen;
Not und Hunger,
Gemeinen taglichen Tod.
Einstein
DIE ERTRUNKENEN
Wenn ich des Abends am einsamen Flusse schreite,
Tont aus den Wellen dunkler Klagen Gesang,
Und der Ertrunkenen Stimme gibt mir Oeleite
Durch die Nacht, durch den Tag, auf brautlichem
Gang.
Wir, wir schreiten im Blau, im regnendem Lichte,
Von Sternen ist hoch, von Himmel das Haupt
iiberdacht
Und wir bilden den Tag und wir haben feme
Gesichte;
Sie aber wohnen in Schweigen und ewiger Nacht.
Versunkene Schiffe, beladen voll modernder
Schatze,
Ankern sie tief in der Flusse gleiBendem Grand,
Sie streifen der Fischer schleppend gefullte Netze,
Algen und Schleiche nisten in ihrem Mund.
Furchtbar hebt sich der Berg der geschwollenen
Leiber,
Von Wasser geblaht, ein triefend gefullter Sack,
Von den Fischen benagt die entbloBten Briiste
der Weiber,
Vergangener Schonheit entsetzliches Wrack.
Blasen steigen auf aus den pilzuberbluhten
Weichen —
O weiBe Schaluppe, mit Ratten und Froschen
bespannt,
Es sitzen auf ihrer Mutter gedunsenen Bauchen
Die Ungebornen und segeln hinab in das Land.
Ich grufie euch, der Liebe verratene Pfander,
Im Tanzkleid, im strohgeflochtenen Hut.
Und iiber mich durch der Brucke finstres Ge-
lander
Fallt Laternenlicht auf eure einsame Flut.
Im Abfall und Spulicht der eingestiirzten Kanale
Schwimmt eurer Haare flattemd geloster Tang,
Und es tastet die Hand um der Speicher zer-
fallende Pfahle,
Aus ersticktem Jammer hebt sich ein sABer Ge-
sang.
HaB, Hunger, Verzweiflung, Ekel und Reue
Ebben dahin um der Hafen betrammerten Strand,
Und sie halten die Stadt, ihre Brunst und stur-
mischen Schreie
Mit der dunklen Wucht ihrer Stille gebannt.
Schw'eigend walzt sich der Strom, um die frie-
renden Kusten
GieBt Abend schwarz sein geronnenes Blut.
An den versunkenen Inselbriisten
Saugf still wie das Kind am Busen der Mutter,
die Flat.
Aftnin T . Wegner
Josef Capek Rolzschnitt
DIE TAGE FALLEN AB
Die Tage fallen von uns ab
Wie leere Beeren.
Wir tragen sie nicht mehr.
Wir kennen ihre Stelle nicht,
Und unsere FuBe linden keinen Weg.
Schal, hohl z erf alien sie.
Ganz fern,
Herbert Kuhn
WO SCHLAFT DEIN BLUT?
Wo schlaft Dein Blut?
Starb es mit Deiner Mutter,
Oder welkte es im fremden Atein eines Mad-
chens? . . .
Du kannst mich nicht bereiten.
Mein Blut kann nur in Erde reifen . . .
Aber Deine Blicke sind nicht Schollen:
Sie kommen vom Grabe Deiner Mutter,
Oder aus dem fremden Atem eines Madchens.
Charlotte Wohlmuth
271
DIE AKTION
272
MONDNACHT
Blanke Gondel uber blauen Nachten,
Bra ch ten Deines Lenkers Ruderschlage
Schlanke Fracht mir bald zum rechten Hafen,
Sehnend miidet schon des grauen Denkers
Stime in das schwanke Morgens chlafen,
Und des jungen Henkers Beil,
Lehnend in der Schatten dunkler Hege,
Uberspiegelt das Licht aus blauen Nachtcn,
Drin die blanke schwanke Barke gleitet —
Mondhell ist die enge Welt geweitet.
ColesUna Tucker
FESTSTELLUNG
Wir erleben eine Erneuerung der Trivialitat. Die
Ereignisse der Zeit gehen wieder einmal ins Ele-
mentare des Gefiihls uber und versuchen es, mit
neuen, ziichtigen Kurven die Wege des Daseins
zu bezeichnen. ^Sentimental" ist kein Schimpf-
wort mehr, seitdem man wieder weiB, daB es von
^sentiment" abzuleiten ist . . und bald wird
sich auch eine brauchbare Ethymologie fur die
„ Banalitat" gefunden haben.
Es ist ein fur alle Mai zu merken, daB sich alle
geistigen Gefiihlsereigmsse im Rhythmus der
Sprache vorbereiten: zehn Jahre nach dem Ent-
stehen des Danilo-Entr£eliedes in der „Lustigen
Witwe", etwa, brach der Weltkrieg aus und die
Diplomaten hatten das Nachsehen. Die Folge
wird wohl ein gesteigertes Interesse der Psycho-
logic fiir die Operette sein ; oder, im iibertragenen
Sinn, eine schon langst erwartete Allianz des
Scheins mit dem Sein.
Man miiBte wieder einmal feststelfen, was Scherz,
Satire und Ironie bedeuten . . denn uber das
flache GleichmaB im Ernst der Zeit kann hoch-
stens ein Attribut der kosmischen Situationskomik
hinweghelfen.
Ironie steht dem „Ernst der Zeit" am nachsten,
Satire trifft ihn ins Antlitz und Scherz scherzt
bloB dariiber hinweg; der Ironiker schaltet das
Temperament an, der Satiriker aber poienziert
es: alles Andere ist gut und heilig, solange es
mit Leidenschaft geschieht!
Die neue Banalitat lebt von den Abfallen der
Vergangenheit. Sie gefallt sich in Posen anmutig-
ster Langeweile und tut „geistig" vergnugt. Sie
hat etwa die Kunstwartperspektive zur Voraus-
setzung und ist ganz und gar antiphilistrds : ein
KompromiB ist uber ein Dasein geschlossen, das
seinen Geist sozusagen hygienisch sterilisiert hat.
Die geistige Revolution „Jugend" verlauft im
Sande. Die neue Banalitat bricht alle Spitzen
ab und richtet sie gegen sich selbst: man freut
sich geradezu der jungen Kunst und in illustrierten
Blattem sind die Photographien „un$erer jungen,
revolution a ren Kiinstler" zu finden.
Die wahre Kunst aber rettet sich in ein Post-
skriptum der Zeit: ihre Zeit kommt, bis die neue
Trivialitat alt geworden sein wird.
Paul Hatvani
NOTIZ UBER KUBISMUS
Ende des vierzehnten Jahrhunderts erfand irgend-
wer die Perspektive, — die Moglichkeit, Raum-
lichkeiten der Natur optisch auf der Bildebene dar-
zustellen.
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273
274
DIE AKTION
Gebunden war die Darstellung an die Lokalitat
des Objekts und an die Bestatigung des Objekts
durch die Lokalitat, die geschah mittels der Per-
spektive, durch welche Jahrhunderte lang Raum
imitiert wurde. In diese falschen Raumlichkeiten
setzten Kunstler ihre tatsachlichen Objekte.
T atsachlich ist die Objektbestatigung — ursachlich
die Bestatigung des Raumes. (Und das Ursach-
liche kommt in Betracht, — weil es die Moglich-
keit der neuen Logik unierstfitzt.) Gleichnis: Tee-
tasse, benfitzt als Tennisball, ist nicht falsche Be-
statigung des wirklichen Objekts, sondern des ur-
sach lichen Raums, den die Tasse einnimmt, —
woraus sich das Wertvolle des Ursachlichen er-
gibt und das Irriiimtiche der Raummalerei vor
Picasso hervortritt — und die notwendige, kom-
mende Beachtung der Bestatigung des Raumes.
Picasso, der wirklich Primitive, gab die Moglich-
keit der Raumgestaltung auf der Ebene. (Siehe
„Notiz fiber Expressionismus" DIE AKTION vom
3. 4. 17.) Seit seiner Tat ist die wirkliche Schop-
fung moglich. Picasso schafft auf der Bildebene
den Raum ffir sein Objekt, und es geschieht die
absolut kfinstlerische Schopfung: der Raum wird
wirklich durch seine Bestatigung mit dem Objekt,
das sich manifestiert durch dies Geschehen, Leben
gebiert durch die dazu notwendige Bewegung.
Raum, Objekt und Leben, Drei-Einheit der ku-
bistischen Schopfung, so wirklich, wie die Drei-
Einigkeit Gott Vater, Sohn und hi. Geist mystisch.
Picasso gab die Moglichkeit der neuen Bildge-
staltung, doch gelang es ihm nicht, Bilder zu
malen. In seinen Versuchen geschieht die Objekt-
ersetzung, statt der gestaltenden Objekt-Einheit.
Die ersten kubistischen Bilder gibt Marc Chagall,
der naive Maler, mit der reinen Geste des Kindes.
Seine Bilder sind marchenhaft und schon.
Die kommende Malerei hat ihre Entwicklung zu
nehmen — wissend der Kunstler:
Pablo Picasso, der Primitive, — Marc Chagall,
der Naive!
Heinrich Hoerle
WESTWARTS
Jack London-San Francisco
zum Gedachtnis.
Morgen reise ich irgendwohin. Gleichgiltig wo-
hin. Irgendwohin. Vielleicht nach einer fernen
Stadt westwarts. Jedenfalls zu Menschen . . .
Gebirgsschluchten gigantischen Bauwerks stan-
den auf, Sturm saugend. Salven, Salven in den
Broadway schleudernd . . .
Done rndes Eisengerust heiBt Hochbahn.
Spukhaft graues Bauwerk Aquarium.
Skyscraper*) blast Rauch . . .
... Ins Buch der Kinder diesen Satz:
Der grode Strom tragt wie einst das Canoe des
roten Afannes. Der Hudson schwemmt wie einst
die Baume der Urwalder vorbei . . .
Ins Buch der Kinder auch diesen Satz:
Gestalten wie dunner grauer Rauch urn Glut
und Flam me „ . -
Jwolkenkntzcr.
Selbstgesprach:
Morgen reise ich nach einer fernen Stadt west-
warts. Ich werde den Pazifik schauen!
Gesicht:
Staubwande stehen wie Berge auf. Wind- und
und Wasserhosen marschieren. Orkane fegen ost-
Hches Land . . .
Wilhelm Stolzenburg-New York
RABBI CHASAN
Ein Stuck Prosa
Von Simon Kronberg
Die Messe begann. Jfidische Lieder fielen wie
Coriandoli in einen gewohnlichen Tag.
Darinnen sa8 Chasdn. Rieb Stuckstunden des
Lebens; die trockene Semmel menschlicher Mel-
dungen. In der Warme seiner Zeit goB Blut fiber.
Chasin brach das Brot.
Und der Knabe begann. Seit die Gasse kochte.
Wie Nacht durch Mauern und Menschen. Ge-
rausch der Scham.
Das Lied ist reif zur Erde. Die Gelocktheit alter
Linie formt Kranz urn Herren Traum, der kaum
vergaB. Da erst verlieB Chasdn die warme
Stube. —
1m langen Gang sann Schwarze hinzu. Bewog
zur Wette. Abgeschlossen und eingeleitet ist die
Arbeit des finsteren Gehirns. Wie vor Gott und
Menschen. Alleingelassene lastern. Die Luft der
Gasse ersann dreimal dreckigen Weg. —
So zum Morgen folgt Chas£n, als eine Blfite fiel,
275
DIE AKTION
276
Christian Sehad
Zcicknung
Frau des taubsten Tages. Kinder antworten im
Singen, daB Tod mit Trommeln ein Vergniigen
sei; Chasdn zuerst, daB Stunden fielen, gleiches
Tik-tak im Sand. Er schloB im Verschmerzen
unter Lidern. —
Grau taut auf. Ein Befehl seines ersten Herrn
der Natur. Schon gefalteter Vorhang der wallt.
Singen ohne Abbruch. Selbstverstand der Stimme
seines Landes mit einzelnen Baumen. Jung ist
der Blick fiber Hie-und-da-Grun. Umziehen mit
Faden der Freude die Hummel, dick in der Luft.
Chasdn gewann, klirrt Lieder. So schuttem
T raume in der geiben Sonne. Er lobt Gott. Cha$£n
gewahrt den Grundsatz „Wir“.
THEOLOGIE
Von Franz Werfel
Und siehe, Gott erschuf die Welt, damit er ein
Du fande fur sein Ich.
Doch kaum war die Welt fertig, geriet sie in
eine Bewegung, die nicht Gottes war, die nichts
mit der selbstliebenden Bonhomie seiner allabend-
lichen Spaziergangsschritte zu tun hatte. Da er-
faBte Gott ein Zorn uberaus, und er sprach zur
Welt: „Was tust Du, was tummelst Du Dich,
was rasest, was trippelst Du? Schuf ich E>ich
nicht, daB Dein Bestehen ein Vergehen in uns sei,
daB Du ewiglich anschauest die Frfihlinge meines
inner en Rollens, Dich schmiegen in die Glocken-
stfirme meiner Spiele? Schuf ich Dich nicht,
daB ich im Grunde Deiner Augen mich selber
anschauen kann?“
„Um Gotteswillen halte mich nicht auf,“ sagte
die Welt. „Wenn Du wfiBtest, was ich alles
im Kopf haben muB! Wenn ich mich nicht darum
kummere, geschieht nichts. Der Schulknabe Jakob
Bausewang hat sein Lehrbuch der lateinischen
Syntax zu Hause vergessen. Es gibt zur Zeit
58 937577 Kriege. Das Senegal-Rhinozeros Nr,
793 hat einen Darmkatarrh. Auf Kassiopeia V
tritt eine wichtige Erosion ein. Ich habe soviet
im BewuBtsein, nicht eine Sekunde Zeit! Ich
muB immer in mich hineinschauen. Man kann
sich ja auf niemanden verlassen. Es geschieht
ja sonst gar nichts. “
„ Willst Du von diesem oden Humbug nicht auf-
blicken?* 1 sprach der Herr, indem er sich an
den Kopf faBte. „Was sollen nur diese dumpfen
Halluzinationen der Ffinf-Uhr-Stunde meines
Schlafwachens? Wehe ihnen, daB sie sind! Willst
Du mich nicht ansehn?! Sieh mich an! Ich
will aus Dir nur zurucktonen. Ich will in Dir
mich ffihlen, wie ich vollkommen bin! Liebe mich,
liebe mich!“
„Was fur Worte richtest Du an mich, o Herr, 1 *
erwiderte die Welt. „Wie kame ich zu Dir? Du
bist ein Herr! VergiB nicht, daB ich aus der Hefe
des Volkes bin. Mein Los ist Arbeit. Etwas an-
deres kann ich nicht, als arbeiten. Ich bin unge-
bildet, habe nur die Elementarschule besucht.
Aber ich darf langer nicht reden. Es geschieht
sonst nichts, es kommt nichts vor sich. Dort
und dort und dort . . . u
Er stohnte auf: „So verfluche ich Dich, daB Du
nicht seist! Was irritierst Du mich mit Deinem
Larm? Ich befehle Dir, sei nicht, sei nicht!**
Die Welt sagte, indem sie rasch nebenbei eine
Bratpfanne reinigte: „Ich hange nicht am Leben.
Ich bin nicht schuld daran, daB Du Deine Hallu-
zinationen nicht zurucknehmen kannst, daB ich
vor Deinen Augen schuften muB. Selbst mir ist
Arbeit keine Freude. Aber es muB etwas ge-
schehn. Wenn ich nicht zugreife, geschieht
nichts. *‘
„Warum muB etwas geschehn ?“
„Das weiB ich nicht. WeiBt Du J s?“
„Nein! — Aber warte, Du willst mich ver-
hdhnen!“
Gott faBte seinen Spazierstock, schwang ihn fiber
sein Haupt und jagte die Welt wutend durch eine
uberaus groBe Zimmerflucht. Immer knapp hinter
ihr her schrie er: „Du sei ich, Du sei ich, Du
sei ich!** Die Welt hielt ohne viel Keuchens und
Anstrengung gleichen Abstand von ihrem Ver-
folger. Sie war ein ausgesprochenes Phlegma.
Die Verfolgung setzte sich schlieBlich fiber eine
mittelmaBige Haustreppe fort. Mieter fuhren aus
ihren Wohnungen, schimpften und warfen wieder
die Tfiren zu.
Wahrend der Ruf Duseiich scharf das Getrampe!
der Schritte fiberschallte, fand das verfolgte Weib
noch Zeit, hier eine blinde Klinke mit einem
Strich blank zu wischen, dort eine Schale oder
ein Papier aufzuheben, und in seinem etwas breit-
hfiftigen Lauf das ganze Haus in Ordnung zu
bringen.
DIE AKTION
DIE LIT AN El VON ATLANTA
Von W. E, Burekhardt Du Bois
(W. E. Burekhardt Du Bois ist der Verfasser der
Romane; „Die Seele des schwarzen Volkes" und
„Der Zug nach dem Silbernen VlieB" und Heraus-
geber der Zeitschrift der Jungen Neger „The Crisis")
O schweigender Gott, dessen Ruf feme im Nebel
und in der Unergriindlichkeit weilt in diesen
schrecklichen Tagen und unsere hungrigen Ohren
nicht erreichen kann, Hore uns, guter Herr!
Horch zu uns nieder, deinen Kindernr unsere
Gesichier dunkel vor Zweifel, sind zum Hohn
geworden in deinem Heiligtum. Mit emporge-
reckten Handen stehn wir vor deinem Himmel:
Wir flehn zu dir, hor uns, guter Herr!
Wir sind nicht besser als unsere Briider, Herr
wir sind nur schwache und menschliche Menschen.
Wen n die Teufel unter den Unsrigen ihreTeufelein
tun, verfluche dann den Tater und seine Tat: ver-
fluche du sie, wie wir sie verfluchen, tu ihnen an,
was und mehr aJs sie je getan haben der Unschuld
und der Schwachheit, den Frauen und den Heimen!
Hab Mitleid mit uns elenden Sundern!
Und doch, wer tragt die Schuld? Wer hat sie
erschaffen, diese Teufel? Wer zog sie groB im
Verbrechen und mastete sie mit Unrecht? Wer
hat ihre Mutter verfiihrt, entehrt und wegge-
worfen? Wer kaufte und verschacherte ihre Ver-
brechen und wurde reich und fett vom Erl os ihrer
Zwietracht? Du weiBt es, guter Gott!
Wozu beten wir? 1st er nicht tot, der Gott der
Vater? Haben nicht die Seher in Himmelshallen
seine Ieblose Form und Leiche steif im rollenden
schwarzen Rauch der Siinde liegen sehn, zwischen
den endlosen Reihen von nickenden Gespenstern
des bittern Todes? Wach auf du Schlafer!
Von Lust des Fleisches und Blutlust
Befrei uns, groBer Gott!
Von Lust an der Macht und Lust am Golde
Befrei uns, groBer Gott!
Von vereinter Luge des Despoten und der Bestie
Befrei uns, groBer Gott!
Eine Stadt wand sich in Wehen, Got t unser Herr,
und aus ihrer Flanke sprang das Zwiltingspaar
Mord und Schwarzer HaB. Rot wars zur Mitter-
nacht. Klang, Krachen und Schrei von Tod und
Wut erfullie die Luft und zitterte unter den
Stemen, zu denen die Turme deiner Kirchen
stumm hinauf zeigen. Und all dies, um die Gier
der Gierigen zu stillen, die sich hinter dem Schleier
der Rache verborgen halten.
Neig dein Ohr zu uns, o Herr!
Verstort sind wir und verzerrt von der Leiden-
schaft, irr vom Irrsinn eines gehetzten und ver-
hohnfen und gemordeten Volkes; angepreBt an
Margarethe Moll Portrii t
die Armstutzen deines Thrones heben wir unsere
gefesselten Hande und klagen dich an, Gott, bei
den Gebeinen unserer geraubten Vater, bei den
Tranen unserer toten Mutter, beim Blut deines
gekreuzigten Christ: Was soil dieses bedeu ten?
Verrate uns die Absicht! Gib uns das Zeichen!
Schweig du doch nicht, o Oott!
O verzeih den Gedanken. Vergib das wilde
las tern de Wort. Du bist ja immer noch der Gott
unsrer schwarzen Vater, in deiner Seele sind die
weichen Schatten des Abends, die sammtenen
Tone der tiefen Nacht eingeschlossen. Wohin?
Nord ist Gier und Slid ist Blut. Innen der Feigling,
auBen der Lugner. Wohin? In den Tod?
Amen. Willkommen dunkler Schlaf!
Wir neigen unsre Kopfe und horchen nieder zum
leisen Weinen der Frauen und der kleinen Kinder
unter uns. Wir flehen dich an, hor uns, guter Gott!
Unsere Stimmen sinken in Schweigen und in die
Nacht.
Hor uns guter Gott!
In die Nacht, o Gott eines gottlosen Landes.
Amen!
In Schweigen, o schweigender Gott
Selah!
(Deutsch von Arthur Holitscher
279
DIE AKTION
280
u
LITERARISCHE NEIJERSCHEINUNQEN
Paul Pal gen. La Route Royale, Poeraes. (Verlag Victor Buck,
Luxembourg.
Der „Luxemburger u Norbert Jaques hat (in deutscher Sprache)
hamischc Bdcher drucken lassen, Bci S. Fischer und seit dem
heulenden Anfang der enlmenschten Zeit. In Luxembourg —
TrefTpunkt und Dilemma zweier Kulturen — hat jetzt der
Ingenieur Paul Palgen (franzosische) Gedichtc verbffenllicht :
La Route Royale. In blauduftende Dammerung der symbo
listischen Wunderwelt geht ein zierlicher Weg . . . : koniglich,
fur feingestimmte Dichterseelcn : So die Gedictue der Jugend
Palgens. Man wird delikat-diskret erinnert an Pauvrc Lelian
und den leisesten von alien, Maeterlinck, Dochl Sphinx Kunst
stellt neue Probleme, expressionistische, wie gejubelt wird.
Palgen in der Voie douloureuse (dem zweitcn Teile seiner Samm-
lung) zeigt schon tastendes Verstandnis fUr diese letzte voll-
kommenste Forderung.
Luxembourg hat nun zwei echte Dichter der franzosischen Manier:
Marcel Noppeney und Paul Palgen. Auf der anderen Seite unserer
Doppelkultur stehen die Europiier Nikolaus Welter und Batty
Weber, Verlretcr einer altcreu Kunstrichtung. Als Vermittler
sei Franz Clement genannt. lm Cenacle des extreme agitieren
filr die AKTIONSziele : Augustus van Werwckc und Pol Michels.
Nationalistische Dialektdichtung (als hemmender Moment) und
der Jaques zahien nicht, Pol Michels (Luxembourg).
ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS
XLVIII
Wenn man berilcksichtigt, mit welchcr Geduld und Ausdauer
Frauen allc Mtlhsale des Kricges ertragen haben, wie sic trolz
gelegentlichen Zornausbruches geduldig die Schwierigkeiten der
Ernahrung und der BeschafTung der Nahrungsmittcl ertragen
hahen, so wird die Frauenwelt aus dem Kriegserlebnis einen
aufierorordenllichen Gewinn davontragen, nicht nur fur die
Lehenszeit, sondern auch einen Gewinn ftir die gesamte Zukunft,
der sich erst nach Jahrzehnten zeigen wird und ricsengrofi
wiegt gegenttber den verhaltnismaftig geringen Schadigungen,
die den Nerven der Frauen in dieser Zeit erwachsen sind.
Dr. Albert Moll in einem Vortragc . Laut ,,Bcrliner
Tageblatt**, 17. 2 . 19I? h Morgen- Ausgabe .
KLEINER BRIEFKASTEN
Es war nattlrlich vorauszuwissen, lieber Ixscr, dafl der hoch-
wohilobliche „VorwUris u mcinen zarten Wink, Aufsatze aus der
blirgerlichen .Zukunft w (durch Nachdruck) „nicdriger u zu hanged
nicht bcachtcn wtirde. Gut. Dann will ich die Arbeit uber-
nchrocn. Hicrsei wiedergegeben, was, liber eingleichcs Theme,
die „btirgerliche“ Zcitscbrift gedruckt, was die „proletarische“
Zeitung gejubelt hat. Aus dem sozial-demokratischcn Zeniral-
organ jubcit cs also:
preuftens /lufcrfkfjung.
. . . Der Auferstehungstag des driitcn Kriegsjahres 1917 —
wird er dereinst in der Geschicbtc als der Auferstehungstag
des alien PreuQens zu neuer Fntwicklur.g dasielien > Er hat
uns eine Verheiflung gebrncht, die freilich noch nicht die Auf-
erstehung selbst ist, aber cine Verheiflung, die hoffnungs-
vol 1 e r un d zuk u/i ft ssi c h ere r ausschaut, a 1 s allc frUhcrcn
Anktlndigungen zusamtnen.
Die konigliebe Botschaft an den prcuflischcn Miuisterprhsidenten,
deren Text uns in s pater Nach 1st unde dbennittelt
wird, ist diese neuc Verb ci Cun g. „Die Botschaft hor’ ich
wohl, allein inir fchlt der Gl#ube, w das ist ja auch ein Odtcr
wort, das wir bci frUberen Anktlndigungen oftmals und lei der
mit Recht gesprochen haben ! es sei nur erinnert an die Thron-
rede des Jahres 1908.
Aber angesicbls der j e t z i g e n Anktlndigung dUrfcn
wir hoffnungsvoller und vert rauensvo Iter in die
preuCische Zukunft blicken. Diese Ankuudigung kann
unmbglich wieder in das wesenlosc Nichls der verhallten Worlc
und verstaubten Akten zurucksinken. Dafur sprechen drei ge-
wichiigc Momeme : ihr fcicrticher Ernst, die Zeitumstandc,
in denen sie zu uns gelangt, vor allem aber der innere Geist,
der aus ihr spricht.
Betrach'en wir zunachst die Form. Der Monarch selber
setzt sich fur die Neuorientierung in PrcuOcn ein. Gegcntibcr
den bisberigen Anktlndigungen des Ministerprasidenten lieB sich
einwenden, dafl sie ihn nur filr seine Person binden, daC sein
Nachfolger sie verleugnen und abschtltteln ktinnie. Dieser
Einwand entfallt jetzt. Denn dadurch, daB die Stelle, welche
iiber Bleiben und Wechscl der Minister entscheidct, die Garantie
filr die Durchflihrung der Neuorientierung tibemioimt, ver-
pflichtet sie sicb, auch im Falle eines Ministerwechsels keinen
Mann mit der Leitung der preufiischen Staatsgescbafie zu be-
trauen, der nicht mindestens in demselben Mafle die innere
Reform betreibt, wie Herr von Bethmann-Hollweg dies
getan hatte.
Die Umstande *. Wir brauchen hier keine Worte zu verlieren.
Vergegenwartigen wir uns nur, dafi der Ministerprasident selber
die Neuorientierung als eine Lebensnolwendigkctt fdr das
deutsche Volk bezeichnet hat, ohne deren ErlUllung es in Zu*
kunft nicht mehr wtirde existieren konnen,
Schliefllich der Geist! Wir stehen hier vor einem Bruch der
Regierung mit jenem gefKhrlichen, falschlich auch altpreuflisch
genannten Geiste, der bishcr die Fortcntwickelung unserer
imieren Zustandc wie ein unerlragliches Bleigewicht hemmte.
Diese Botschaft ist entgegen dem Geiste der bureaukratisch-
rcaktionaren Verknocherung, die in unseretn stagnierenden Ver-
fassungszustanden bisher einen sicheren und bequemen Hort
fand; sie setzt nicht eine schlecbte Tradition fort, die unsern
Staatswagcn auf ein falsches Gleis und vor eine Gefahr gc-
schoben hat, deren Grofie wir erst jetzt voll erkennen.
Betrachten wir, was uns die Botschaft verheifSt. Eine grtlndliche
Reform des Dreiklassenwahlreqhts, also das, was von
uns stets als der springende Punkt unserer inneren Folitik
angesehen worden ist. Daneben eine Reform des preuflischen
Henenhauses, deren Einzelheiten sehr unbestimmt sind. Das
direkte und geheime Wahlrecht wird ausdrUcklich zugestanden,
Dagegen bleibt die Frage des Gewichts der einzelnen Slimme
offen. Aber wenn die Botschaft selber ausspriebt, dafl filr ein
Klassenwahlrecht kein Raum mehr ist, nach dem, was uns der
Krieg gelehrt hat, so mufi eine solche Begrtlndung g anz von
selber zu der allein mbgHchen logiseben Konsequenz des
gleicben Wahlrecbts fUhren . . .
Unsere Aufgabe mufl es angesichts der Regierungsbotschafl sein,
alle politischen KrSfte des Volkes ftlr eine moglichst energische
und nachhaltige Durchflihrung der Reform mobil zu machen . . .
Je energischer die Regierung die Initiative ergreift, einen desto
starke ren Rtlckhatt wird sie an der Volksbcwegung finden. Und
je starker die Volksbcwegung anschwillt, je unzweideutiger und
machtvoller sie sich kundgibt, desto entsebiedener und muti ger
wird die Regierung ihre Bahn beschreiten konnen.
Das gilt auch von den politischen Parteien. Nur von der Soztal-
demokralie allein weifl man genau, was von ihr in der inneren
Politik zu erwarlenist . . . Audi ein Teil des btlrgerlichen
Liberalismus kommt als Korlscbriusfaktor in Betracht, aber
schon hier fehlt es nicht an schwankenden Gestalten, nament-
licb wenn man den rechten F'ldgcl der Nat iona 1 1 ibera 1 e n
betrachtet , , .
Notiger als je ist in dieser Situation die Einhcit und Ge-
schlosscnhcit der Arbciterbewegung. Mit tietstem Schmerz mufl
es jeden ehrlichen Freund ihres Fortschreitcns erftlllen, dafl
gerade dieser Augenblick sie ittnerlich gcspalten anirilTl. Aber
ebenso notwendig ist cs zum Siege der Volksbewcgung, dafl
die Arbeiterscbaft an ihrem Willen der Vaterlandsveriei-
digung unverbrilchlich festhalt. Gerade diese verstandige
und einsicbtsvollc Haltung der Arbeiterscbaft im Kri egc
hat die Neuorientierung erst aus einer Parteiforderung zu einer
allgemeinen Volksforderung emporwachsen lassen.
Wir haben oft betont, dafl unser Verteidigungswille unberilhrt
1st von inneren Fragen . . . Aber es freut uns, dafl die
deutsche Regierung in dem Augenblick, wo der neue Fei nd
die altcn abge standenen Phrasen vom Kampf der
Freiheit und Demokratie gegen Absolutismus und
Militarismus neu auf warm t, mit dieser Botschaft der
A uflcnwclt einen deutlichen Bcwcis gibt, daB das deutsche
Volk seine innerpclitische Fortentwickehmg selber besorgt und
keine BegUlckung von auflen her braucht, zumal keine, die auf
Kanonenkugeln und Panzerschiffen geritten kommt!
Freilich, noch mehr freuen als die Versprechung wtirde uns
die Tat! Die Regierung halt die Tat wahrend des Krieys-
zustandes fdr unmbglich, Zugestchen konnen wir ihr, dafl,
soweit eine Bin dung ftlr die Zukunft Uberhaupl mbglich
ist, sie uns gegeben worden ist.“
Also htipfen die Hauptsatze dcs ,.,Vorwarts ,l *Leitartikels vom
S. April 1917, Die -j"j"pbtlrgerliche ,,Zukunft‘ l , vom Geiste des
Erfurter Program ms weniger erfullt, hat diesen Aufsatz gebrachl;
281
DIE AKTION
282
Fit die benece Welt.
„Minn«rttolx vor KGnig»thruB*u,
Brfldor, f Alt* m Out and Blut . .
In einem Krl&B,, den (wie, vor dem g&nzen Stilbild, schon
der erste Nebensatz lehrt) Herr von Beth maun entworfen
hat und dem (wie amtlich betheuert wird) alle preuBischen
Slaatsminister zugestimmt haben, nennt der Deutsche Kaiser
den Krieg ein „Ringen um den fieatand des Reiches" und
ein ErlebniB, das „mit erhabenem Ernst eine neue Zeit ein-
JeiteL* Dem Reichskanzler und preuBischen Ministerpriiai-
denten „liege es ob, den Erfordernissen dieser Zeit mit den
rechten Mitt ein und zur rechten Stnnde zur Erfiillung zu
verhelfen.* 4 Die rechte Stunde werde schlsgen, vrenn die
Krieger heimgekehrt sind und „selbst am Fortschritt der
neuen Zeit mitrathen und mitthaten konnen. 4 * (Gemeint ist
wohl der Fortschritt „in“ neue Zeit, die ja dann erst be-
ginnen soil ; und der scherzhafte Gleichklang der Wdrter
„mitrathen, mitthaten* 4 soli wahracheinlich andeuten, daB man
warten musse, bis die Manner der sichtharsten That, der dos
Korpers, im Rath mitreden konnen.) Von den rechten
Mitteln wird nnr eina erwshnt: „die Umbildnng des PreuBi-
schen Landtagea* 4 , fiir die, „auf des Konigs Weisung, schon
an Beginn des Krieges Vorarbeiten gemacht worden sind.* 4
Warum wir erst jetzt, nach den Vorgangen und Erorterungen
des Marzmon&ts, nach der russischen Revolution und der
Rede Wilsons iiher Freiheit, erfahren, da 6 „ schon zu Be-
ginn des Krieges**, als jede Staatsbehorde mit drangender
Arbeit uberbiirdet war, fiir die Landtagsreforra vorgcsorgt
wrurde. tduB der Ministerprasident erklaren ; auch, welcho
betrachtliche „Vorarbeii a nach den langen Jahren des
Schwatzes fiber Wahlrecht und Pairsachub, Erste und Zweite
K&ramer noch nothig war. Der Konig wiinscht, daft die
Wahl geheim sei, nicht durch Wahlmanner, nicht in Wahler-
klassen bewirkt werde. Die Zahl der PreuBen, die daran
gezweifelt haben, kann nur klein gewesen sein. Wer sich
erinnert, daB vor neun Jahren die zahm Liberalen „das all-
gemeine, gleiche, direkte Wahlrecht mit geheiraer Stimm*
abgabe* 4 und die dem Rechtsanapruch geniigende Aenderung
des Wahlbezirksumfangcs gefordert haben. wird glauben,
daB mit geheiraer, unmittelbarer, von dcr Klassenachranke
befreiter Wahl selbat der (nach Riamarcks Ausdruck) Hyper-
konservative sich abgefunden hat und sie nur, vor dem
Auge der Galerie, noch bekampft, um mit der Geberde ihm
gefkhrlicheren Versuch einzuschiichtem. „Das Herrenhans - ,
aagt der Erl&fi, „wird den gewaltigen Anforderungen der
kommenden Zeit besser gerecht werden konnen, wenn ea in
weiterem und gleichmaftigerem Umfang als bisher aus den
verschiedenen Kreisen und Berufen des Volkes fiihrende,
durch die Achtung ihrer Mitbtirger ausgezeichnele Manner
in seiner Mitte vereinigt." Nur den Anforderungen der kom-
menden Zeit? Nicht unserer? Unter den ^Rezepten*, die
ich am ersten Tag des Jahres 1911 hier veruffentlichte, war
auch dieses : „Am Abend vor der Eroffnung der neuen Land-
tagssession wird bekannt, daB der Konig aus besonderem
V ertranen vierzig PreuBen in das Herrenhaus berufen wolle.
Davon gehoren dreiBig der Industrie, dem Gewerbe und
Handel an; die iibrigen sind Techniker, Handwerker und
auf hohere Betriebsposten gelangte Lohnarbeiter. In dem
Kommentar wird d&r&uf hingewiesen, daB eine Zeit, in der
Deutsch lands Gesammthandel Waaren im Werth von fast sech-
zehntausend Millionen Mark in Bewegung setzt, die Pflicht er-
zeagt habe, den Vertretern dieses Handels und der ihm verbiin-
deten Berufe auch im Herrenhaus des groBten und gewerblich
stiirksten Bundesstaates den ihrer Leistung angemessenen
Platz zu schaffen. Die Besetzung dss Herrenhauses miisse
der Struktur des preuBischen Staates entsprechen, die heute
ein erweitertes Vertretnngrecht fordere, weil sie nicht mehr
rjx richtigem Ausdruck komme, wenn, auSer den Prinzen des
Koniglichen Hauses, dem pririlegirten Adel, den Inhabem
der groBen Hofamter, den Domstiften, Provinzial- und
Familienverbanden, dem alten und befestigten Grundbesitz,
nur die grofieren Stadte und Universitaten in der Krsten
Kammer Sitz und Stimme haben. Auch den Korperschaften
der Industrie und des Handels sei fortan das Recht zur
Presentation zu gewahren und die Zahl der aus besonderem
Vertrauen vom Konig zu berufenden Person en zu erhdhen.
Die Novelle zur Verfassung werde dem Landtag sofort zu-
geben und der Regierung wie der Mebrheit die erwiinschte
Gelegenheit zu dem Beweis bieten, daB sie zeit gem aBe Re-
fonnen nicht feig aufschiaben und den um die Wirthschaft-
entwickelung verdienten Schichten das ihnan gebuhrende
politische Recht nicht vorenthaiten wollten." Die Berufung
von Kiinstlem (der Palette, des Wortes, des MeiBels) und
Gelebrten, die, naturlich, in einem Herrenhaus wiirdig ver-
treten sein muBten, hatte ich nicht empfohten, wei] ich ge-
wiB war, daB die von Gunst, nicht die vom Genius Begna-
deten PreuBen peers wiirden. Neues bringt also der ErlaB
nicht. War der Zweck Beiner Veroffentli chung, zu zeigen,
daB der Kaiser mit dem Kanzler, der Konig mit dem Minister-
prasidenten iibereinstimmt und daB Herr von Bethm&nn
nichts Anderes begehrt als die Minister Von Loebell und
Von Schorlemer, die nicht bo oft den Pfeilen Alldeutscher,
den Schleudera des Junkergrolles ausgeaetzt sind?
Ob dieses Zicl erreicht wird und der VorstoB gegen die
wenigen Steljen aufhort, an denen Herr von Bethm&nn nicht
verwundbar ist (gegen die anderen hebt sich kaum je ein
Schwert) : fiir Deutschland und PreuBen ists heute belanglos.
Wichtig und erfreulich scheint mir in dem ErlaB das offene
BekenntniB, daB B fiir die freie und freudige Mitarbeit aller
Glieder unseres Volkes** im Deutschen Reich noch nicht
Raum ist. Wie aber sollen dann die M im Feld stehenden
Millionen Volksgenossen am Fortschritt der neuen Zeit mit-
rathen und mitthaten* 4 und warum soil die „Umbildung des
Landtages" h inter die Heimkehr der Krieger verschoben
werden? Wenn der Glaube wiche, der Krieg, den das
Deutsche Reich gegen tausend Millionen Menschen fiihrt,
sei mit militarischen Machtmitteln zu enden, kdnnte vielleicht
noch in diesem Jahr die Vorhandlung iiber den Friedens-
schluB beginnen. Die wird, da alle Erdtheile mitsprechen
und die gr»iBten Fragen der Menschheit zu beantworten sein
werden, viele Monate dauern ; und mindestens zweifelh&ft
ist, ob schon vor ihrem AbschluB die Demobilisierung des
Heeros durchgefiihrt werden kann. Im giinstigsten Fall
w’iirde dcr Entururf der Lamltagsreform im letzten Drittel
des Jahres 19L8 in die Parlamente der LeipzigerstraBe ein-
gebraebt. Berathung in zwei Kammern, zwei Kommissionen
(die sich vor Kile wohl hiiten werden); wahrscheinlich Ab-
lehnung, Auflbsung, Wahl, Pairsachub, neue Berathung.
Mies miiUte recht glatt gchen, damit die Sache noch 1919
fertig wiirdc. Und bis daliin boII r fiir die freie und freudige
Mitarbeit unseres Volkes** in PreuBen, nach der Ueber-
zeugung des Kbnigs und seiner Minister, nicht Raum sein?
Gerade in der Zeit ungeheurcr Entacheidung? Das ist nicht
mfiglich. In Irrthumsdickicht leht, wer glaubt, die deutsche
Kriegsmannschaft wiinsche solchen , Aufschub. Diirfte sie
abstiinmen : heute noch wiirde Manches anders, Wesentliches ;
und jede Wandlung stiinde unter dem Zeichen vemiinftiger
Demokratic. Kben so thbricht wie die Zumutbung, der im
Vorrecht Wohnende, Adel, GroBgrundhesitz und alles ihm
Verl kundete solle aus freiam Willen, ohne Wehrversuch, die
bequeme Recht ssch an ze raumen, die zu erobern der Gegner
nicht stark nder nicht kiihn gonug ist, ware der Wahn, eine
V olksahstimmung, ein Plebiszit oder Referendum wiirde
nicht mit Riesenmchrheit die Demokratisierung des Staats-
wesens fordem. 1st denn irgendwn noch ein junger Schopfer-
konf dagegen ? Zweifelt irgendein sachkundig Unbefangener,
daB alle Millionen, die den Briillero, Amokliiufem, Seicht-
schreibern fiirs Ewig-Oestrige von gemiisteten Kriegsliefer-
anten zur Griindung neuer Tageblatter und Zeitschriften
hingekleckert wiirden, in schnell flieBcndes Wasser geworfen
witren? ^Ein miindiges Volk hat das Recht, sich selbst zu
regiren. Darf die Regirung, die den Aufmarach einer
feindlichen Menschenmilliarde und den Weltvorwurf rohen
Vulkerrechtsb ruches nicht vermeiden konnte, der Staatskunst
einer Demokratie sich iiberlegcn wahnen ? Blutstrdme haben
alles Bedenken weggeschwemmt, Jubelt oder stohnet: hinter
jedem Kriegsausgang steht die GewiBheit, daB Deutschland
nur noch vom Volkeswillen regirt werden kann. Wenn die
im Vorrecht Wohnenden mit der Dehnung des PreuBen-
wahlrechtes aus der Klemme kamen, diirftcn sie ihr Gluck
dem eines Manncs vergleichen, der auf der hdchsten Sprosse
der Henkersleiter hiirt, er sei nur verurtheilt, sich schleunig
rasiren zu lasscn. Ganz andere Umpflilgung n&ht. Sputet
Euch, die Ihr Fiirsten berathet ! Wer Nothwendiges schnell
gewahrt, meidet den Schein unwiirdigen Zwanges. Obne
das Recht, zur Gestaltung deutschen Schicksals mitzuwirken,
das Lebcn, die Ha bo, die Hoffnung der Kinder dafiir ein-
setzen : Das war gestern.* 4 Vor acht Tagen ists hier gesagt
worden. Muthig vorbedachte und rasch wirkende Handlung
brauchen wir; nicht neues Vereprechen. Jedes Zaudem
283
DIE AKTION
284
kann morgen VerhangniB werden. Febler sogar mussen
dem Staatsmannsgeist zinsen ; der Belagerungzustand, in
desseu Dauerdiktatar (weil sie jedes Streben, das wiirdigste,
nach Verstiindigung mit der feindlichen Menachheit hindert)
ich den iiefsten, gefahrlichsten Febler innerer Kriegspolitik
sehe, erleichtert den Regirenden die Umschiehtung des
Staatsgrundes ; der Kampf uni den Landtag und die Reichs-
tagsrechte, der octroi einea Wahlrechtea wiirde ihnen jetzt
nicht so unbequem wie in fesaelloser Friedenazeit Nicht
ala den von Huld zu gewahrenden Lohn seines Wohlverhaltens
fordert das Volk den zu fruchtbarer Mitarbeit ndthigen
Raum, sondern ala das ihm gebiihrende Recht. Und laut
wamt PreuBen s Geschichte vor dem Verauch, es mit undeut-
lichem Veraprechen abzuspeisen.
In den harten Jahren der Kriege gegen Bonaparte hatte,
unter Steins, dann unter Hardenbergs Einwirkung, Friedrich
Wilhelm der Dritte sich dem Gedanken an Volkarecht,
Volksvertretung, Ersatz des Absolutiamus durch Verfassung
sacht befreundet, Ala der Minister Wilhelm von Humboldt
in dem Entwurf zur Verfassung einea Deutschen Reiches
(unter osterreichischer Spitze) den Landtagen der Einzel-
staaten nur beratheude Stimmen gewahren wollte, schalt der
Freiherr vom Stein diesen Willen zu „elendem Recht", das
von Bayern und den Kleinstaaten iiberboten werde, und
schrieb: „In PreuBen vereinigen sich alle Elemente, die eine
ruliige, verstandiga Bewegung Verbiirgen: Nationalitat, Ge-
wohnheit und erprobte Bereitwiiligkeit, Abgaben zu leisten,
Opfer zu bringen, Besonnenheit, gesunder Menschenverstand,
*tlgemcine Bildung. Warum soil PreuBen nicht deutlich
Grundsatze aussprechen, die zwei Drittel von Deutschland
sc bon angenommen baben, die daa Vertrauen zu ihm mebren
und aeinen EinfluB atarken ? Oesterreicb kann aus vielen
Griinden nicht gleiche Grundsatze aussprechen: wegen der
Fremdartigkeit seiner Bestandtheile, dea niederen Zustandea
seiner alJgemeinen Bildung, der Maximen seiner Regirung
und Regenten, und es mag aua diesen Griinden eine Aus-
nahme maehen. Warum aber soli PreuBen eine ihm selbst
so nachtheilige und fur daa iihrige Deutschland so gefahrlicbe
MaBregei wahlen?" Spater: ,,Von PreuBen haugt das
Wohl Deutschland? ab. Die PreuBen sind verstandige,
geschaftsfahige, durch ein geschichtlichea Leben gepriifte,
treue, tapfere, fromme und besonnene Manner. Die Vcr-
tretung eines solchen Volkes beschrankt den Regenten nicht,
sondern erleuchtet und at ark t ihn. Du ist ihm noting; denn
die relative Schwache der preuBiachen Mon archie gegen die
Nachbarstaaten kann nur durch moraliscbe und intellektuelle
Kraft ersetzt werden." Vergebens. Der Konig widerstrebte
jedem wirksamen Parlamentsrecht und schrankte sich in
stete Erneuung unklaren Vcrsprechens. In Wien, wahrend
des Kongreaaes, uberredete der Staatskanzler Harden berg
ihn, „Beinem treuen Volk ein Zeichen dankbaren Vertrauens
zu geben“. Der Wortlaut der Koniglichen Verordnung vom
zweiundzwanzigsten Mai 1815 erinnert an den des Kaiserlichen
ErUsses vora siebenlen April 1917; auch die Umstande, die
in beiden Fallen den EntschluB erwirkten, sind ahnlich :
lange Kriegadauer und Nothwendigkeit neuer, nun doppelt
acbwerer Opfer. Der Konig verspracb, die Provinzialstande
wiederherzuatellen und von ihnen dann den Landtag wahlen
zu Lassen. Am siebenlen April (soils ein Lostag PreuBens
werden?) hatte ihn, auf den Antrag dea Oberschlesiers
Eisner von Gronow, die n Interimistische National represen-
tation 44 ersucht, eine endgiltig wirksame Volksvertretung zu
sebaffen. M on ate, Jahre lang geschah nichts Rechtes, Die
altstandige Partei und ibr Wortfiihrer im Ministerium, der
ehrliche Feudalist Klewiz, redete und schrieb gegen den
Verfassungsplan als gegen eine dem Gesamtstaat drohende
Lebensgefabr. Der gute Geist von 1813, hieB es, tniisse
erbalten werden. (Heute werden Gesellschaften gegrundet,
die den Schutzengrabengeibt von 1917 erhalten sollen und
in denen der Herrgott, wenu er den Schaden besiebt, Zecher,
Spieler, FreBgierige und eitle Schwatzer in Mehrzahl findet.)
Der Kiinig babe zwar aein Wort verpfandet, die Art und
den Tag der Einlosung in Dunkel gelassen. Stein schrieb:
„Die militarisehe Maschinerie sah ich am vierzehnten Oktober
1806 (am Tag von Jena) fallen; vielleicht wird auch die
Schrcibmaschinerie iliren vierzehnten Oktober haben. Der
Staat ist nicht ein landwirthschaftlicher und Fabriken-Verein,
sondern aein Zweck ist religios-sittliche, geistige und korper-
liche Entwickelung; durch seine Emrichtungen soil ein
kraftiges, muthiges, sittliches Volk, nicht nur ein kunstreiches,
gewerbefleifiiges, gebildet werden. “ Was Vernunft rieth.
haftete nicht im Obr der allzu Machtigen. Professor Max
Lehmann, der riihmenswertbe Biograph des groBen nassau-
ischen Freiherrn, sagt: „Die reaktionare Fluth, eben so sehr
dem reprasentativen wie dem nationalen Gedanken feind,
vcrschlang nicht nur die deutsche Verfassung, sondern schlug
ihre Wogen auch in die deutschen Einzelstaaten. Der Konig
von PreuBen lieB sich aus der Bahn d ran gen, die er mit
der Verordnung vom zweiundzwanzigsten Mai 1815 betreten
hatte. Er und seine Rathgeber, Fiirat Wittgenstein und
Hardenberg, trieben die Furcht vor demagogischen Umtrieben
so weit, daB sie ihren Staat verpflichteteu, auf Reichsatande
zu verzichten. Friedrich Wilhelm gewahrte 1823 (acht Jahre
nach dem fcierliehen Vcrsprechen) nur Provinzialstande und
behielt die Entscheidung der Frage, wann eine Berufung der
allgemeinen Stands erforderlich sein werde, seiner landes-
vaterlichen Fursorge vor. u Glimmender Unmnth lodert in
Zorn auf. Hundert Zeitschriften umheulen die Frage der
Volksvertretung. Von tausend Zungen kommt die Anklage,
der Konig babe sein Wort gebrochen. Er atirbt, ehe er
diese Beschuldigung entkraften will. Und erst nach der
wirren Revolution vom Marz 1848 lost Friedrich Wilhelm
der Vierte, ein Hirnkranker, vollig das Wort ein, das sein
Vater, dreiunddreifiig Jahre zuvor, nach Kriegsnoth und Sieg,
auch da nicht zum ersten Mai, dem Volk verpfandet hat.
Nie wieder darf, nie wieder kann es so werden. Als in der
frankfurter Paulskirche Joseph Maria von Radowitz das
Schicksal des Fiirsten und Staatmannes beseufzt hatte, der,
an einer Zeitenwende, Alles zu spat oder zu friih tun miisse,
mahnte Jakob Grimm : „Wir Deutsche sind ein geschaftigea,
ordentliches Volk, doch diese loblichen Eigenschaften scblagen
auch bei uns oft in Fehler um. Wenn das Pedantische in
der Welt unerfunden geblieben ware, hatte der Deutsche es
erfunden. Der bekannte Satz: ,Vorgethan und Nachbedacht
hat Manchen in groBes Leid gebracht 1 , dieser Satz kann auf
uns Deutsche in politischen D ingen sehr selten angewendet
werden; vie! of ter ein anderer: Lang Bedacht und schleclit
Gethan : ist der deutsche Schlendrian. 44 Der Worte sind
genug gewechselt. Jeder Wache, nicht durch Eigensucht
Geblundete sieht, daB die Sintflut (auch die Bibelscbreib&rt
fl Sundfiut“ wiirde hier passen) dieses Krieges zu raschem,
griindlichen Umbau der Arche zwingt. Wer das Staats-
geschaft leiten, ob und wann Friede oder Krieg sein solle,
muB fortan das als miindig bewahrte Volk eutsebeiden; alien
Lebensfragen deutscher Nation selbst die Antwort finden.
Dann ist es Herr seines Schicksals, verantwortlich und darf
nicht Andere anklagen, wenn eB in Leid sinkt. Parlamenta-
rische Regirung ist an dem Tage gesichert, wo eine in
Neuwahlen haltbare Fraktionenmehrheit beschliefit, nur den
Mannern ihres Vertrauens Geld zu bewilligen und mit anderen
den Geschaftsverkehr abzubrechen. Herr von Bethmann, der
zuerst gesagt hatte, die offentllche Wahl sei (weil sie „die
gottgewollten Abhangigkeiten 44 zum Auadruck bringe) un-
entbehrlich, die indirekto nicht langer ertragbar, ist 1910
fur geheime und indirekte, 1917 fur geheime und direkte
Wahl eingetreten; stets mit dem selben Pathos der Freuds
an Feierlichkeit. Er wiirde, wenn es sein miiBte und eine
Mehrheit ihn ale Vertrauensmatm kiirte, auf diesem Weg
vorwarts schreiten. E lease ern und Lothringem gab er daa
allgemeine, alien gleiche Recbt zu geheimer und unmittel-
barerWahl: will er wagen, es PreuBen zu weigem? In einer
Zeit ungehemmter Freiziigigkeit und wachsenden Wander-
triebes wird der Vergleich eines weiter reichenden Wahl-
reohtes mit cinem enger begrenzten, das in dem selben Reichs-
verband gilt, immer Grund zu Unzufriedenheit geben. Ini
fiinften Lebensjahrzehnt des Reiches darf jeder ihm An-
gehorige fordern, daB der Umfang seines politischen Rechtes
nicht kleiner sei als seines Nachbars. Die VerheiBung des
Wahlgesetzes vom Mai 1869, dafi mit der Volksziffer auch
die Zahl der Abgeordneten steigen solle, darf nicht langer
unerfiillt bleiben ; noch im Reich, wider den Willen der Vcr-
fassung, ein Zustand fortdauern, der ermoglicht, daB drei-
hunderttauaend GroBstadter zwei, dreihunderttansend Land-
bewohner siebenundzwanzig Vertreter in den Reichstag ah-
ordnen. Ein Industriestaat mit ubergewichtiger Agrar-
vertretung ist ein nur kiinstlich, durch Gewalt und Unwahr-
haftigkeit, zu crhaltcndcs Gcbild. Den durch Kopfzahl uml
Leistung er stark ten Stadten darf der Zuwachs politischen
Rechtes nicht bestritten, dem der Volksgesundheit dienst-
baren Landkreis ilieaes Recht nicht entkraftet werden. Blut-
Fur Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten
Inhalt verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin- Wil-
mersdorf, Nassauische Strafie 17. Tel. Pfaizbg. 1605.
Gedruckt bei F. E. Haag, Melle in Hannover.
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(Titelblatt) / Alfred Wol fen stein: Ober Lebcndigkeit der Kunst / Josef Eberz: Zeichnung / Alfred Wolfenstein: Allegro der
Finstemis / Rudolf Mense: Zeichnung / Alfred wolfenstein: Vorsptel; Dunkel des Den kens / Waldemar Ohly: Maske / Alfred
Wolfenstein: Andante der Freundschaft; Durch die Schwirze der Erde / F. P.: Ich schneide die Zrit aus; Kleiner Bricfkasten;
Bemerkung zu diesem Son der heft / Beilage ffir die But tenausgabe : Felix Mfiller: Original-Lithographie
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Schiele / Georg T-ippen / Else von zur Mtlhlen / Ines
Wetzel . Felix Muller
DICI1TER
D E R
S O N D E R H E F T E
AKTION
Franz Blci / Gottfried Kiilwel / Alfred Lichtenstein /
Paris vnn Giltersloh / Heinrich Schaefer / Theodor I>iiubler
/ Paul Adler / Franz Werfel / Ludwig Rubiner
SONDERHEFTE ,,D I E V O L K E R‘*
,Rutlland“ (mil Geleitworten von Maximilian Harden) /
„ England* / n Frankreich w / „Bc!gien“ / „ltalicn u / Boh-
men“ / ..Deutschland 11
Jedcs Sondcrheft, gewohnliche Ausgabe,
kostet 50 Pf. — Butten, numeriert, M.2, —
BUTTEN - AUSGABE DER AKTION
100 numerierte Exemplare
Jahresabonnement : M. 40
Jed eni KUnenaVionnemcnt warden jiihrlicb ini ndes tens
acht Ku nstbliiuer beige^cben, von den Kiinstlern nume*
riert und signiert. Diese Hcihigcn kommen nicht in den
Handel und siellen eineti Wert dar, der den Abonne-
ment^betrag ttbersteigt! Ini jahrgang 1917 werden
heigegeben: Blri iter von Felix Muller / Max Oppenheimcr /
lnes Wetzel / Karl Jakob Hirsch / Richter-Berlin u a.
KUNSTLER-POSTKARTEN DER AKTION
Es sind 80 verschiedene Drucke erschienen
Zcichnungtn von Mopp / Kars/ Schmidt-Rottluff /Schrimpf
; Klein / Richter Berlin / Xadelinan j Feininger / Hart* /
Schiele / Mensc / Melzer / Tappert / Else von zur
MUhlcn / Ilans Richter / Josef Capek / Morgner u. a.
I OO Stuck M. 3, —
portofrei gegen Voreinsendung des Betrages
WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK. UTERATUR, KUN8T
7 . JAHRGANG HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT 2. JUNI 1917
UBER LEBENDIGKEIT DER KUNST
Yon Alfred Wolfensttin
I Das Buch
Das unsichtbare Verhaltnis des Geistes zum Leben
auf der Erde nimmt im Kunstler besonders sicht-
bare Gestalt an. Das Jenseits, verachtet und ge-
furchtet vom nackten Kaufmann, Lebemann, Ty-
rannen, — das Diesseits, verachtet und gefiirchtet
vom Priester, Asketen, Sonderling; schweben als
dunkle Wolken uber den Einseitigen, die den
Dichter aufatmend begruBen muBten . . .
Aber das unsichtbare Verhaltnis der Dichtung
zu den Lebendigen verlangt gleichfalls nach einer
sichtbarsten Gestalt, 1st diese . , . das Buch?
Oft scheint uber dem festgelegten Worte, ober-
halb seines optimistischen Willens zur Wirkung,
noch ein anderer Ausdruck leidend zu liegen:
Als fliehe es in den Urheber zuriick; als konne
nur dessen lebendige Gegenwart seine ganze Dich-
tung geben!
Nicht fur jede, aber fur eine ewig (heute beson-
ders stark) wiederkehrende Art der Kunst wird
dies gelten. Von welchen Instrumenten der Ver-
mittelung sieht sie sich gefangen: Kann das Buch
jemals eine voile AuBerung sein, dem Dich-
ter und der Dichtung ebenbiirtig? Blickt es nicht
mit taubstummem Gesicht in das vollkommene
Gesicht des Lesers? Nicht nur Kunst, auch ein
kiinstlicher Zwang schwebt uber beiden, sich ein-
ander anzupassen; das Buch gewinnt falsches
Leben, — der Leser ein Surrogat der dichteri-
schen Stimme. Wie ein Gespenst des Geistes
muB das Buch, wahrend es mit der Erscheinung
seiner Geheimnisse riihrt, zugleich durch eine
Raumleere erschrecken, die seine Gestalt durch-
zieht. Es ist mehr als ein Ding, — doch soviel
weniger als der Geistl
Darum hat es zvvei Gegner: den Gewaltmenschcn
und den Dichter. Die Faust verachtet immer
das Fehlen einer Faust, sie haBt die unsichtbare
Stirn, — die aus den Worten eines Werkes uber
sie hinwegsieht. So richtet sich die Gering-
schatzung der Zeitgenossen, als Genossen der
bloBen Zeit, vielfach gegen die unbesitzbare, nicht
nur augenblickliche Ruhe des Buches.
Aber aus einem Gegenteil der Verachtung: . . .
aus Unzufriedenheit kann der Dichter es ver-
werfen. Staff seiner Klange und Bewegungen
ziehen die schattenhaften Buchstaben, wie flache
Photographien seines Schwunges, voriiber. Seine
Dichtung ruft nach seiner Dimension. Er
mochte das Buch, — dem der Machtmenseh den
Rucken kehrt, — in sein zugewendetes Gesicht
wieder einschmelzen: Jenem anderen scheint es
nicht Gewalt genug, ihm aber nicht all seine
Kunst. Seine Kraft und Wirkung bleibt an der
zufalligen, unaufgelosten Einrichtung Buch frag-
mentarisch.
Denn sein Weg — reicht bis in die Mittei-
lung; auch diese gehort zum Schaffenswerten.
Das Buch tauscht ein Erleichtern und Verkiirzen
des Weges vor; und bringt an ein ganz anderes
Ziel.
Und so peinigen ihn, den nach wahrer AuBerung
Diirstenden, die Gedanken an den Leser, den im
abgeschnittenen Zimmer nur die Buchstaben an-
flustern.
II Lebendige Mitteilung
Die Jiingeren aus unserer Zeit, durch die grofie
Offenheit Berlins begiinstigt, haben von ihren
Anfangen an solche Verkorperung (nicht schau-
spielerische, sondern dichterische) — mit beson-
derer Freude ausgefiihrt. Ein Raum, der den
Rhythmus der zerstreuten Zimmer iiberspannt, voll
scheinbar Fremder, die Freunde werden konnen:
ein Raum aller unmittelbar menschlichen Wellen
kann das Buch wie eine NuBschale versenken.
DaB er es gedichtet hat, — mit dieser Erinne-
rung uberlafit der Dichter sich und seine Gestalt
den Andern, ohne Furcht, in einem Meer zu
vertropfen. Denn Dichten ist eine Art zu lieben.
Manche freilich werden sich nicht gern auf diese
Tribune stellen, weil sie allzuviel verlieren wiirden.
Nicht etwa die von ihrem Korper Gehemniten
(deren Oberwindung Kunst werden konnte); —
aber wie Gespenster wiirden jene dort stehen,
deren Kunst statt in ihrem Leben in ihrer Tech-
nik oder „in sich selbst u bodenlos wurzelt. Es
sind die seit iangem so Zahlreichen, die mehr
konnen, als sie sind. Es sind auch jene
Unsichtbaren, die sich in den Glauben „Die Kunst
fur die Kunst** verfliichtigen und ihr Reich der
Worte als eine Wirklichkeit an die Stelle des
Lebens setzen wollen (tyrannisch wie sonst nur
Staatsmiinner). Sie machen es sich zum Gesetz,
den Stoff zu einer angeblich kunstreichsten Form-
an-sich auszusaugen ; wcnn der Pokal leer sei,
klinge er um so voller — . Sie lieben das Buch
derartig, daB sie mit Recht noch den Buchein-
band ihrer Kunst zuzahlen.
Sie miissen naturlich die Moglichkeit verab-
289
DIE AKTION
scheuen, daB ein Mensch auch mit alien Mitteln
seiner geistigen und sinnlichen Gegenwart, mit
seiner Stimme, die die Noten erst in Musik er-
hebt, mit der Belebung seines Kopfes, mit der
Sphare voll Ethos und Pathos zwischen ihm und
den Andern, mit seinem hervorblitzenden Ge-
wissen — nicht schauspielerisch, son-
dern dichterisch — den wahren Aufbau
seiner Dichtung voilendet!
HI Die Abgewandten
Das ist die Kunst, die schon in ihrem Ursprung
voraussetzt, — dafl sie nicht in die Einsamkeit
aufgehn wird. Auch die Dichtung des ganz von
der Welt Abgekehrten, mag seine Einsamkeit von
ihm gesucht Oder Schicksal sein, ist ein Ruf ge-
gen die Einsamkeit; ihr Klang und daB sie
erklingt, ist ein Zeichen ihrer wahren Bestimmung.
Sie gilt dem Gemeinsamen. Wohnte ein Kiinstler
inderWiiste und ware es gewifi, dafi niemalsmehr
ein Vers von ihm unter die Menschen dringen
konnte: er wurde nicht aufhoren, so zu dichten,
als sprache er zu Menschen; — wenn es Kunst
bliebe und nicht Religion wurde. Ja, er konnte
gerade auch dort bis zum Ende Kiinstler bleiben
und nicht Gottgeweihter werden.
Dies bedeutet, dem Kiinstler ist Menschenlosig-
keit ebenso undenkbar wie Gottlosigkeit! Er kann
keinen Zufall darin sehen, daB es mehr als
Einen auf der Welt gibt. Worin aber besteht
dies M i tmenschliche seiner Kunst? Nicht etwa
nur im allgemein Menschlichen. Sondern es ist
Beseelung und Eingebting von der Oberwelt, eine
Nahe, verbunden mit den Menschen so innig wie
mit dem Gottlichen, ein irdischer Sturm uber
seinem Drang, ein schopferischer Wirbel auch
von den Menschen her und zu ihnen hin.
Diese Kunst vermag nicht nur selbst, sondern
auch in ihrer Wirkung Menschen zu gestalten.
Wozu der SchoB des Weibes noch nicht genugte,
Menschen bringt sie ans Licht einer endgiiltigen
Geburt. Nochmals gehen sie durch einen sie
machtiger prufenden Organismus, durch den
mannlichen Geist, durch den Astralleib seiner
Kunst!
Sehr fremd sind daher diesem Kiinstler die von
der Welt Abgewandten. Der religiose Eksta-
tiker kennt nur die eine Seite — und wenn er
aus sich heraus geht, — findet er sich nicht
unter den Andern, sondern mit Gott allein. Er
tragt nicht wie der Dichter eine Fackel aus Fin-
sternis hinaus, um der Erde zu leuchten, er tritt
in ein Licht, das schon da ist und nur von ihm
in seiner Absonderung erblickt wird.
Was sollte er dort tun, oder auch nur sagen?
Der Unangesprochene verwirft auch die Sprache.
Er, in beziehungsloser Steilheit seines Glaubens,
sieht sich im Schweigen vollkommen. Seine Selig-
keit ist: nichts, selbst die Sprache nicht, auBer
sich und Gott zu denken. Weshalb spricht er
dennoch seine Visionen aus? Er weiB es nicht
und es erfreut ihn nicht. Eine gotterfullte Men-
schenleere widerhallt von seinem Stammeln; was
sollte er dort wirken? Er will nichts, und nicht
dies schmerzt ihn, sondern vielleicht nur die Un-
vollstandigkeit seines Schweigens.
Der Dichter aber ist ein Freund der AuBe-
rung. Sie ist sein Gluck, das zwar nichts Tragi-
sches in ihm auflosen, es nur wie ein'm Strudel
uberflieBen kann; — aber an sich unlosbare Ge-
heimnisse und Leiden miinden dennoch be-
gluckend fur ihn und die Andern hinaus.
Es gibt allerdings auch asketische Kiinstler, —
die zwischen solcher Freiheit des Dichters und
jener jenseitigen Entruckung stecken bleiben, als
Gefangene ihrer wuchernden Seele. Die Be-
driickung durch eine iiberwiegende Innerlichkeit,
in unserem Norden merkwiirdigerweise ebenso
haufig wie die Bedruckung durch eine iibermach-
tige Gewaltsamkeit, — bringt die Welt ebenso
gut um Friichte wie die Roheit! Wir sehen selbst
Schauspieler, statt der auBersten Darstellung zu
huldigen, auf ihr innerlichstes Sein gewissermaBen
vervveisen, ihr Mienenspiel, statt es auf den sicht-
barsten Gipfel zu bringen, in die tiefste Seele
verlegen, und so an Stelle der eigenen Leistung
beinahe die des Zuschauers erzwingen. Die Bio-
graphic eines beriihmten Schriftstellers berichtet:
Ihn habe es schon ganz befriedigt, seine Romane
vollstandig im Kopf zu entwerfen; nur unter wii-
tenden Tranen habe er, vom Verleger gezwun-
gen, seine Werke auch niedergeschrieben. Dieser
(dennoch nicht Kalte) ist wie eine Madonna, die
Gott nur genieBen und nicht auch den Erldser
zur Welt bringen mochte —
Den Kiinstler muB es zur Mitteilung seines Lebens
zwingen — wie zum Leben selbst. Er bleibt in
keinem Jenseits, er ist kein die Wirklichkeit
fliehender Diener Gottes, er setzt auch nicht als
zweiter Gott eine tyrannische Kunstwelt an die
Stelle der Wirklichkeit: Er bewirkt wie ein guter
Engel die Vermittelung aller Welten.
IV Der Wirkende
Um dieser allseitigen Lebendigkeit widen, — da
er mit doppeitem Gesicht und immer neuen Grif-
fen in die urspriinglichste Unruhe die Welt von
unten bis oben durchsprengt: — ist ihm der ver-
hartet nur auf das „R e a 1 e“ Gerichtete nicht
weniger fremd als die nach einer anderen Seite
Abgewandten! Diese entziehn sich der Kunst wie
allem — : Der Realpolitiker aber weiB iiberhaupt
nichts von ihr, weil er den Geist nicht kennt.
Das An-sich, das er kennt, ist die Ordnung. Er
laBt in seinen Mischungen der Natur mit der
Praxis alle lauen, talmigeistigen, schwarzweiBen
Dinge und die Eisen- und Goldmenschen am
besten gedeihen. Er ist der Verrater an der
Schopfung. Das Chaos zwar ist scheinbar vor-
iiber, sein Herr war das Dunkel; eine neue Ein-
ode aber ist die Zivilisation mit den kiinstlichen
Lichtern als ihren Herren. Sie lassen die HaB-
lichen und Seelenlosen thronen, die Herzen zu
Schollen aus Geld gefrieren, die Hande in fremde
Arbeit haltlos versinken, zu Kriegen miB-
brauchen — .
Wer darf dieser Atmosphare der Sumpfe und
der Erstarrungen feindlicher sein als die Brin-
291
DIE AKTION
292
gerin der Erregungen! Die Atmosphare der Kunst
ist der absolute Gegensatz zu diesen Toden der
Welt, mag deren immer neue Maske Zivilisation
Oder sonstwie heiflen.
Da rum soli man, — denken viele, zur Kunst
„f luchten 14 — . Hier aber trennen sich gerade
die Arten der Kiinste. Und Eine empfangt die
Fliehenden durchaus nicht idyllisch, — sondern
fuhrt sie erneut dem Leben zu, einem besseren
Leben allerdings, denn sie geht gleichzeitig mit
und wirkt auf die Realitat. Sie ist zu alien
Zeiten dagewesen, aber vielleicht immer Ieben-
diger anschwellend; und die heute Iebende
Jugend bekennt sich sturmischer als jemals zu
ihr. Diese Kunst ist nicht eitel auf ihren Gegen-
satz zum Dasein, sie wiirde ihn hingeben, wenn
er nicht ewig sein sollte, — sie gibt ihn hin!
Sie stromt Atmosphare in die andere Atmosphare,
sie redet an und reicht die Hand, sie bestraft den
Schopfungsverrat durch den Anblick ihrer
Leidenschaft.
Zwar bedeutet der „Inhalt“, ob er tatvoll sei
Oder nicht, wenig gegen den Iebendigen Grad
der Kunst, — aber auch dieser bedeutet noch
wenig gegen den Iebendigen Grad einer Kunst,
die gleichzeitig einen tatvollen Inhalt gestaltet!
Es gibt einen Wetteifer zwischen Form und In-
halt, den eine tatgleich bewegende Wirkung kro-
nen kann.
Ein Vorbild der realen Bewegung ist die Kunst.
Das Geschaft der Gewalthaber ist, den Men-
schen in Facher zu zerteilen, einen Stern in Unter-
tanigkeit und Ausland, die Gerechtigkeit in Ge-
horsam und Krieg, die Wahrheit und das All in
lauter unschopferische Stiicke zu zerteilen, aus
denen niemals („allmahlich“) das Endgiiltige her-
vorgehen konnte. Die zivile Wirklichkeit, heute
nach all ihren Regain aufmarschiert (nach Regeln
der „Kunst des M6glichen“) wagt nicht die Wahr-
heit! Sie furchtet den Verbrecher, statt den Men-
schen zu wagen, liebt und furchtet die Waffen
statt des Gewissens, schwitzt um Geld, statt alles
natiirliche Gluck zu wagen.
Die Kunst dagegen meint in jedem Augenblicke
Alles. Sie entsteht aus unaufhorlichem Herauf-
holen des Ersten und Vorwegnehmen des Letzten,
Sie ist der Klang des Zusammenpralls
dieser beiden Krafte. Die real Regierenden aber
mischen halb und halb. Sie grunden aus Natur-
kraft und Geist sandige Mittelreiche, wischen Ufer
und Brandungen mit 01 weg. Aus den Leiden
eines Heilands und der Ordnung wird das Mittel-
ding Kirche gebaut, aus der Urspriinglichkeit und
der Ordnung die Schule, aus Schicksal und Ord-
nung das Gefangnis. Und iiberall Freiheit und
Demut in die Ebene der Pflicht zusammenzu-
stampfen, — ist die Pflicht des von Geburt Ge-
ebneten.
Aber wie es den Realkiinstler gibt, der sein
Schreib- und Malmaterial aus dem Fach oder
Zweck entnimmt: so konnte umgekehrt ein gei-
stiger (nicht nur gewaltiger) Politiker, ein fur
die Menschheit handelnder Christus, das Ge-
heimnis des Lebens so stark beriihren wie ein
groBer Kiinstler, Es gibt cine Hohe, wo der
Unterschied der Mittel, mit denen sie er-
stiegen wurde, aufgehoben scheint und nur d i e
Hohe sich spiiren laBt. Die menschliche Tat
und das menschliche Kunstwerk iibergipfeln da
einander, sie wirken briiderlich verwandt gleich
reinen Bergen und reinen Wolken. Und sie ver-
einigen sich in den keinen Augenblick lang stok-
kenden Verwirklichungen der Utopien.
V Der Aufldsende
Da die Kunst ein Beispiel fur das Leben gibt:
so gebe der Kiinstler durch sein Leben ein Bei-
Jotef Eber%
Zcichnung
293
DIE AKTION
294
spiel fur seine Kunst, Nieht auch durch ihn darf
der Hieb gehen, der vom ewig neugebildeten
Heere des Ungeistes durch den Menschen hin-
durch gefiihrt wird, um seine Gestalt in ungleichc
Tcile der Seele und des Wirkens zu zerlegen. Dies
scheint selbstverstandlich, doch wenn wir den
reinen Grad dieser Selbstverstandlichkeit mei-
nen, wollen wir es schallend in die Zeit des baren
oder verkleideten Spekulantentums rufen.
Fanatismus gerade dieser Wahrheit! Fanatismus
des Dichters, auf jeder Stufe seiner Wirkung
auch selbst zu stehen, — seine gesamten inne-
ren Geister einander priifen und durch einander
sturzen oder steigern zu lassen. Entfacht von
Einheit! — wahrend die Fachmenschen der Zeit
auch vor dem Erfolge nicht haltmachen, den
lediglich ihr nackt uber sie hinausragendes Talent
fiir sich erringen will. Innige Umfassung des
Daseins, aus der nicht nur Sprache oder Leben
sondern der Sprecher hervorgeht!
Wir sahen ihn unahnlich dem in G'ott Schweigen-
den oder im Besitz Verstummenden, auch dem
in seiner Kunst Schwelgenden oder nur mit sich
selber Redenden unahnlich. Seine Hingebung
zwar gleicht auch nicht dem Hinschmelzen des
Geschlechtes, sondern sie ist ausstrahlende, doch
im Kern fiir sich und so auch fiir die Andem
b I e i b e n d e Freundschaft. Eines, das in die Ver-
gewaltigung der Liebe mitversinkt, gibt die
Freundschaftlichkeit in der Kunst niemals hin:
das schopferische BewuBtsein.
Dafiir aber lost sie alles ubrige Irdische auf, im
eigenen Innern wie rings in den Andern und in
der weiter umringendcn Welt: Einschmelzung der
Seele um des Geistes willen, Auflosung der Kor-
per um ihrer Wiedergeburt im Geiste willen, Be-
waltigung der Welt um ihrer Schopfung willen,
des Lebens um der Belebung willen.
Diese tatig steigende und geistig steigernde Kunst
ist die (ewig) jiingste. Doch nur als Kunst
i s t s i e T a t — . Ihr Gesetz ist das Gegentei! jenes
Satzes: Kunst sei Natur minus x, je kleiner das x,
desto groBer die Kunst . . .
Ihr Ethos fuhrt die Welt der menschlichen Losung
entgegen. Ihre Elemente sind sich wunderbar
glcich: Auch der Unterschied zwischen ihrer
Form und ihrem Sinn ist aufgehoben, noch ihr
Klang ist ein Stuck ihrer ethischen
Aufgabe. Und sie macht mit auflosendem
Feuerkreis auch vor ihrem lebendigen Trager
selbst nicht halt; crgreift aus einem Zentrum
auch ihn, im innersien Ringe seiner Welt.
So gehore er selbst zur Kraft und Stimme seines
Werkes. Er trage es vor, — zu den Menschen.
So zeige er sich als seine gauze Kunst.
Das Buch steht in der Feme, an den stilleren
Hausern, nicht wie eine Fahne auf Halb-
mast, — doch auch nicht stuimvoll und nkht so
nah umfangeiul und bewegend wie das Herz des
Fiihrers selbst.
Er sei der Ausdruck seiner Menschenkunst, wenn
er es wagen darf. Und nur wer es wagen darf,
kann glucklich rnachen.
ALLEGRO DER FINSTERNIS
Von Alfred Wolfenstein
Der schneidende Schlag
Des Sonnenrandes fall t den Tag,
Ein Friedhof wolbt sich, bleiche schvverc Men-
schenbetten,
Verwachsen mit des Dunkels wuchernden Ketten.
Da aimet Schlaf uber Toten, . . doch nur einen
Augenblick,
Sie wenden sich um . . : schon klirrt das Licht
wie Schliissel zuriick.
. . So springen ewig auf und nieder
Die zitternden Lider.
Sie offnen sich weit und jubelnd, als sei es der
jiingste Morgen,
Die Kniee sturmen . du bleibst uns, Fiimmel,
nicht langer verborgen!
Hinaus in schwingendem Lauf . . .
Doch nur ein Gefangnis tut sich auf.
Ist dies denn Tag, . . der langsam bis zur Mitte
zwischen zwei Nachten graut
. . Und ehe der Fiimmel den Gipfel traf, schon
niederschaut?
Die Morgendammerung
Lafit los, . . da packt ihn Abenddammerung.
Ach Trauer, wenn der Hoffende wieder ab warts
schleift,
Kein Auge aus den Wolken seinen Blick be-
greift . . .
Der Erde Wande
Empfangen fruchtlos seine Lende.
Zwar lang ist seine Kette, stundenweit darf er
gehn,
Die feinsten Korner der Wuste trinken, der Schat-
ten hellsten Rand sehn . .
Und Kerkermauern,
Die ihn doch iiberall zuletzt belauern.
Da schliigt verdurstcndes Gewimmel den Stein
nur harter,
Rings starren arme Wartende und arme Warter,
In Nebel und Staub
Bricht atemlos der Rule Laub.
Da irrt die Stirn, in dauernden Ring des Ratsels
geschmiedet.
Die hochgewachsene Freiheit ewig unbefriedet
Schleicht hin und her,
Vom dumpfen Punkt der Erde schwer.
Da schreit ein Mund, wie bleiches Segel sturm-
gestrafft:
Ihr Ufer der Welt . . weichet! von mir, der zau-
bernden Kraft!
Und seine eigene Sturmesunruh
Wirft ihn der Tiefe zu.
Hohlaugig steht am Turn pel elncr wic atn Meer,
Die Seele vol! Gebirg und Gcstirn, die Flugel leer,
Und viele hungernden Hande brullcn
Um ihn: Uns fullen! fiillen!
Gib Luft, o Gott, gib Licht, . . Licht!
Das blaue Gewolbe riilirt sich nicht.
DIE AKTION
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Da wird zu Stahl und Explosion ihre schluchzende
Miene.
Wie Zangen und Krallen greifen die Seelen nach
der Maschine.
Und kreisen wie wiitende Sterne empor,
Es schwindet vor ihnen der Wall um der Liifte
offenes Tor, . .
Doch in dem schlammig weichen Ozeane
Kein neues Land, kein Ziel winkt ihrer Fahne.
Die diistere Kugel wird kleiner, . . doch groBer
kein Stem! . . sie fliegen
Zuriick, . . die Erde bleibt kleiner! . Noch enger
die Enge, zu liegen,
Noch wtister und naher,
Sehn sie Bespieene und Spaher:
Du grundloses Gesicht, . . du lacherlich geformtes
Menschengesicht,
Hinweg mit dir! du dumm gegliederter Korper!
Taubes Loch, das spricht
Lnd Bauche, mehr gefullt als meiner,
Mit Vogelschadeln kleiner!
Du Rachen, gereckt vom WeiBen bis zum
Schwarzen Meer!
Und dieser mit der zahl’os scharfen Finger Heer!
Und der mit leichten Knieen,
Die aller Gerechtigkeit entfliehen . . .
Und seid ihr herrlicher als wir, . . so schenkt
uns Licht!
So seid denn Gott! und rettet uns, besitzet nicht
So slier . . .
Ah, was wir suchten, haltet ihr!
Erkenntnis und Freiheit und Gluck, wir reiBen’s
aus ihnen!
Und saugen ihre Lebensluft, unserm Atem zu
dienen,
Heraus das Geheimnis der Welt! Mit des Feindes
Him
Zerspalten wir dieses dunkle Gestirn!
Da hammern ihre Herzen aufeinander los,
Es spitzen sich der Manner Arm und Kopf und
Schofi
Zu Waffen,
Nach neuem Ebenbild sich umzuschaffen . . .
Die Lander fluten
Hervor mit drangendem buntem Bluten,
Zu gelbem Sumpf zusammengurgeln die spren-
genden Herden .
Doch groBer will der Raum der Welt fiir sie
nicht werden.
Und schleudern Feuer, bringen die eigene Flut
zu Fall,
Vertrocknen das Blut mit grellstem Flammenan-
prall:
Doch tiber alien Glutgebarden
Heller will das Licht der Welt nicht werden.
Und srammeln: Macht Platz! laBt Wenige ubrig,
. Ja6t mich allein
Die Allmacht sammeln! . . O losende Lichtung!
Gewaltig schmeizt ein
Der Menschen verdunkelnde Masse! . . Lafit
Einen iiber alle Erden! . .
Doch freier will die Luft der Welt nicht werden.
. . Und siehe, einer
Steht hier und da auf Insein ein wenig reiner,
Er wiihlt, die Wahrheit zu finden, nicht in der
Andern Brust,
Und doch nicht einsam ubrig, ihrer schmerzlich
bewuflt.
Erfuhlt die Nacht
Nicht nur von Gott hereingebracht,
Und nicht mit ferner Himmelshilfe zu ergriinden,
Doch auch mit Holle niemals lichter zu entziinden.
Auf Ebenen
An meinem Mund riittelt der Sturm,
Aus Ebenen zackt mein weiBer Mund,
Schultern des Sturms schwingen Luft und Nichts,
Mich trifft die Mitte seines Geistgesichts.
Alb
Der Turen stumme Karusselle schwenken
Die Straften ins Cafe um, . , Wolken drehn
Sich in den Rauch herum, . . die Sterne renken
Sich in die dicken Birnen um, . . die Wiinsche
stehn
Auf Tischen nun . . . Es schwarzen Traume sich
und Feen . . .
Die Turen quirlen in der Brust mit unerbetenen
Geschenken.
. . Herein mit langcn Beinen tritt einmal ein Weib,
Den diinncn Gang wie Messer biegend,
Durch ihre Bluse starrt ihr knochiger Leib
Wie aus zwei vorgequollenen Augen, hart und
wiegend,
Zu ihrer Freundin spricht sie . . wie zu mir . .
mit blinzelndcm SchoR, . .
Sie schickt an meinen Platz ihr steifes Fingern
Wie einen Ring, die Lippen bauchen sich und
schlingem,
Nicht bose, haBlich nur und ahnungslos . . .
Und Unruh tastet iiber meinen Leib .
Es konnte eine Tiir des Chaos in mich geben,
Und plotzlich iiberwaltigt miiBt ich irgend ein
Weib
Mit mir verschmelzen, alles Licht vergessen, mit
ihr leben.
See
Der See erbleicht vom langen Starren ins Gesicht
Des blauen Gottes, der er spiegeln muB! Wer
spiegelt sein Gesicht?
Die schwere Sonne, — nur ein Schatten, schlagt
entzwei
Die trocknen Ufer, — ihn verhartet sie zu Blei,
So qualt dich Himmel! — aber stiirme! und es
schwankt
Das Bild der Ubermacht und sinkt, die Tiefe rankt
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DIE AKTION
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Sich an sich selbst empor, die hohle Woge schwillt
Von sich! und schleudert an die Wolken jetzt
ihr Bild.
DUNKEL DES DENKENS
Schlaf ein . . Erwach . .
Dazwischen ragt die Welt
Fur sich . .!
Wie Turme wachsend „ . . Oder zart vielleicht
wie Gras . . .
Verworren . . . oder klares Glas . . .
Du siehst es nicht . .
Des Bettes weicher Riicken tragt
(Dein willig Ding . . doch nicht dein Freund)
Dich schimmernd durch die Fremde hin und
schaut . .
Und schweigt dich an, wenn Morgen graut.
Und ruhst du nicht,
Dann siehst du Sterne nur
Den Tag zersplittert spiegeln, siehst
Doch niemals, niemals, wie es sei,
Wenn du nicht bist! siehst an der Nacht vorbei . .
Du atmest Wald . . . Schlaf atmet auch,
Du brennst wie Tag im Tagesbrand,
Nachts richtcst du dich tagend auf . . .
Ach ewig Sonnendunkel . . .
Ein Tier ist suB
Und spielt mit seinem Schwanz
Und tanzt und nie zerreifit es sich . . .
Doch du, nach deiner Stirae schlagen
MuBt du, und Honig ihr versagen.
VORSPIEL
Von Alfred Wolfmstein
Am Fenster seiner dunklen Stube ein Mensch, vor seinen
Schultern erheben sich die knochigen Dachlinien zum
Himmel, eine voll Dunkel gesogene Fahne steht
zwischen noch roten Wolken; aufhorendes Qlocken-
Iluten.
Ewigkeit scheint zu Ende —
Erstarrung greift iiber in mich —
Mauern, von der kaltesten Glocke, die je-
mals schallte, gebaut, — Mauern, mit feierlich
krachendem Hammern kreuz und quer in den
zuckenden Ather geschlagen ! — und abgebrochen !
— ja, einzig, einzig nur des h alb aufgebaut, um
vom Erze der Waffen, gleich sinnlos wie Glocken,
wieder abgerissen zu werden — : So auf und
nieder windet sich nun blutaufwirbelnd die StraBe
des Bosen zum Triumph.
Grenzen! so Iange von stachligen Miindern, von
Stimmbandern plump wie Faustknochel gemauert,
— noch einmal schwingt ihr aus — — und
verstummt, uberschritten nun von den Haltlosen,
Armen, von den Volkern, die man trennte, dam it
sie zusammenstoBen konnen.
Ich aber, — den FuB zum Tanze der Freiheit
erhoben, die auf Erden beginnen wollte, stehe nun
beschamt und erstarrt. —
Zwar ist mir das Schicksal guns tig, ich brauche
mit keinem Schrei der Vers turn melung oder des
Sieges zu diesem Opferfeste beizutragen — :
Meine feme Heimat, der letzte Erdteil umgibt
mich mit seiner Sudsee von Freiheit. Aber was
ist dieser glatte Vorteil der Neutralist gegen
die lunge grime wilde Freiheitsinsel, die wir uns
gemeinsam erschaffen wollten, — ihr Versinken-
den!
Als ein Gespenst der Freiheit stehe ich da, —
sehe nun den Krieg meine Luft von Gesichtern
wie von Apfeln leer fressen — und tue nichts,
kann nichts tun, flustere hier nur Fetzen der zer-
storten Musik.
Schwer wie ein Tornister liegt das Zimmer hinter
m j r _ _ Konnte ich doch diese Tanzhaltung
aus meinem Riicken brechen Aber es flu-
stert: — mache doch Verse . . . Dichter, ver-
gewaltige den Mund der armen dummen Stunde
mit deinem Geschlecht . . . zu etwas Anderem
bist du nicht gezwungen, im Krieg oder Frie-
den . . . Suche deine Neue Welt auf, sonne dich,
genieBe die Nacktheit. Lasse die Wilden dir ihre
sanften Sudseemarchen erzahlen . . . von dem
Madchen, das auf die Tannen floh, und als der
Bedranger kam, wuchsen die Baume mit ihr in
den Himmel . . . Hier inzwischen lass . . .
Wie mich das Dunkel vergiftet! Aber kann ich
etwa zu euch gehoren, von Waffen Beladene und
Begeisterte? Triefend in Schnee erscheinen mir
jetzt meine Feuerpalmen, — aber auch euer Tu-
mult heute, in dieser neutralen Stadt, von alien
Parteien Europas bewohnt, eure Kriegserklarung,
schlagt wie ein Eismeer gegen mein Blut. Ihr
wart schon furchterlich verandert, meine Freunde,
jetzt nicht meine Feinde, — jetzt nichts! Gesichts-
loses Gewimmel, das sich heute am Bahnhof so
Rudolf Mentc
Zeicknung
299
DIE AKTION
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schnell den Riicken wandte, — wo die Bahnen
alle Sprachen, Farben, Kuppelungen zerrissen, —
um mit aller Macht, mit nichts als Macht vor eure
Lander gespannt gegeneinander zuriickzuwalzen.
Schauerlich, wie mir lauter Unbekannte zunickten,
so daB ich mich vergeblich nach Erinnerungen
umwandte, als gruflten sie einen anderen.
Wie soil ich euch nun ansehen, wie gegen euch
handeln? Ein neues Gefuhl beruhrt mich, es bildet
ein neues wilderes Haupt auf meinen Schul-
tern HaB gegen die Hassenden!
Jener Kamerad, mit dem ich vor einigen Tagen
durch den See schwamm, — zwischen wasser-
glatten Fischen und landstumpfen Kahnen — wir
beseelt! — aus unseren gleichen nackten Be-
wegungen und dem Ausdruck unserer verschie-
denen Gesichter, freudig einsam jn den Himmel
getaucht, aus sofchem Obereinander von Tren-
nung und Obereinstimmung stieg da uns beglei-
tend die Musik klarster Menschlichkeit. Aber —
stolz auf den gemeinsamen SchweiB im vollge-
stopften Eisenbahnzug, mit einem platten Lacheln
des Vordergrunds wie ein intimer Schauspieler,
den Mund bereitwillig in diesen neben ihm groh-
lenden Gesang gezerrt wie in ein uberall einiges
leeres Loch, so winkte er heute der Menge zu,
sinnlos verschmolzen!
Ihr habt nur die Hoffnung niedergejubelt — .
Warum laBt sich bloB die eine Seite eurer Seele
blicken? Ich begreife es nicht, — moge Vater-
landsliebe euch anziehen, eure ganze Wahrheit
ist sie doch nicht, — weshalb treibt euch nicht
das Entsetzen gleichzeitig ebensoweit aus ein a n-
der? Seht die Vergeblichkeit, das Leben durch
Mord zu vermehren, und die Unablosbarkeit jeder
Schuld, — seid jung und gebt nicht den Landern
die Macht uber die Menschen: So konnte es viel-
leicht noch geschehen, — aus dem Beieinander
von Burgerlichkeit und echtestem Schrecken, von
BewuBtlosigkeit und unuberwindlichem Gewissen
konnte Trauer statt Begeisterung aufsteigen —
Gedanke, daB es noch Zeit ware! DaB solche
Wolke Trauer, tiefe Trauer, wie sehr der Mensch
sich vergessen konne, schwer wie Europa in euch
zuruck sanke, euch wieder umstimmte — —
Laut bin ich, ein stahlerner Geist klopft an die
Wand, — wer bin ich, daB ich jetzt noch Fragen
stellen darf. Fragen sind vorbei.
Nein — Iauter, lauter will ich sein, hilft es auch
nichts mehr. Fur mich, — hartnackig und kindlich
nur noch fur mich selbst, im Trubel der Erwach-
senen. MuB die Jug end, die am Leben eures
Staates niemals teilhatte, nun den Tod von ihm
erleiden? Die Jugend ertrauinte sich, wahrend
ihr traumlos riistetet und traumlos schlieft, eine
Insel, belachelt von den Wilden Europas, die
keinem Staate auf Erden gehoren sollte. Eine
feurige Insel, sprengkraftig von der Seele her!
Nun wird sie versinken, die Zuflucht aller guten
Geister, kaum mit den Ufern aus den Siimpfen
hervorgetaucht. Die Mutter wenigstens trauem
vielleicht, denn eure Kinder wurden von ihr vor
allem erwartet. Vorbei an der Falltiir der Kafige,
die vor eurem SchoB bestandig lauert, konnten
sie einem freien Inselreich zugeboren werden.
Nun behieltet ihr die Gezeichneten vielleicht lieber
im Dunkel zuruck.
— Was stachelst du dich mit Erinnerungen, rechne
nun mit den Grenzen ! Mit den Fratzen, die sie
einander schneiden, aus der Ewigkeit der Hori-
zonte schnorkelig herausgeknotet. Sieh wie sie
heranwimmeln, wundere dich nicht, sie kommen
jetzt alle nur zu dir. Sie sind ja klein, nicht einmal
Gefangnismauern, wuchtig gebauchte, du hast
dich ja geirrt, sie sind nur St riche, abstrakt im
Gehirne der Staaten, speiend auch leicht wieder
ausgeloscht. Doch — nicht ganz — , wie Wiir-
mer windet es sich zu mir heran, ein Knauel
von alien Landern, wo ihr nun uberfliissig seid,
— ein Turm von Wurmern um mich herum,
— und mein FuB hat nun ein Recht, nicht mehr
zu tanzen, das Recht des Gefangenen. Spater
werdet ihr ja wieder abziehen, — euch entschul-
digen, — neue Freiheit
Aber ich werde es nicht vergessen konnen —
O Ekel, Ekel —
Es dringt in mich ein — Mich selbst durch-
kreuzen sie, teilen mich selbst feindlich gegen mich
auf, durchgrenzen mein Herz —
Ich friere — gelahmt — — Aber sieh doch, du
kannst ja durch alle Lander passieren, — ein
unsichtbar machender Ring liegt an dir, du kannst
durch Tod und Zwang hin und her gehen, nie-
mand befiehlt dir, alles weicht zuruck, nur ein
paar Blicke flustern: du bist reich, wir sind
arm — —
Ihr Liigner, ich hasse euch, laBt mich allein —
— — Einsamkeit! Einsamkeit!
Eine Gipfelwuste ragt herein — und winkt mir
eisig — hinauf — —
S t i m m e:
Die Tiir stand weit often, wie ausgehoben, ich
klopfte ins Dunkel, verzeihen Sie. Von meinem
Berge herab komme ich geradeswegs zu Ihnen,
nur von den vollgestauten StraBen etwas abge-
lenkt. Auch die Einsamkeit ist jetzt schwarz von
Menschen, in ihr zu bleiben hat keinen Sinn
mehr, zumal man sie auch herabbringen kann.
Der Jungling:
Wie mein Spiegelbild kam es mir einen Augen-
blick lang entgegen, als ich ein weiBes Gesicht
leise aus dem Korridor auftauchen sah.
Der Andere;
Sie riechen den Schnee in meiner Haut. Auch im
schwulsten August bestehen die Gletscher. —
Aber ich finde Sie zu meiner Verwunderung trau-
rig, wie Mutter von scheidenden Soldaten — ?
Ist Ihnen denn jetzt nicht zumute, als seien Sie
von einem anderen Stern? Sie schiitteln leise
den Kopf, aber Ihr Stick verliert doch wieder den
Glanz von Briiderlichkeit, den erst meine Frage
kurz hereinbrachte — .
Sie sehen mich hier, Ihnen Klarheit zu bringen — .
Der Krieg stoBt Sie, den Dichter und den Mit-
menschen, pendelnd zwischen schoner Ferne und
jaher Teilnahme hin und her, — zwischen Ihrer
leidenden und Ihrer tatigen Natur. Es ist nur
schade, daB Sie eigentlich schon entschieden
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DIE AKTION
302
haben, denn Sie wiegen sich allzu leidvoll und
vertraulich auf Ihrem Zwiespalt hin und her.
Wie ist es moglich, dafi Sie nicht die Tat wahlen?
Verkunder des Menschentums — : immer dem
Orte des schrecklichsten Aufruhrs sich zu-
zuteilen, sind Sie ja als wahrer Mensch verpflich-
tet — ; so sind Sie jetzt Europaer
Der Jiingling:
Die Stimme . . . weich . , . und abstoBend hart . . .
macht mich schwindeln . . . Finsternis dehnt die
leere Gestalt mit leeren Satzen in die Winkel aus-
einander, die plotzlich atemlos zum bohrenden Fel-
sen zusammenriickt. Wie aus der eigenen Kehle
ruhrt mich die Stimme an . . . und ich mochte
nicken ... da enthauptet sie mich . . .
Der Andere:
Du fiihlst, Du sollst Deine eigenen Schranken
verlassen, aber es verwirrt Dich doch noch, dafi
Du frei bist, — daB nicht Du sondern ich von
Geburt zu diesem Chaos gehore. Nun, diese
Schwierigkeit braucht uns nicht zu schrecken, ich
werde Deine Seele und Deine Sache zu der mei-
nen machen —
Erinnerst Du Dich nicht mehr, was ich bei un-
serer Begegnung vor meinem Blockhaus sagte?
Der Jungling:
Dies Gleiche, wie jetzt, daB ich aus der Ein-
samkeit hinweggehen und die Menschen suchen
solle . . .
Der Andere:
Ja, nur scheinst Du es miBzuverstehen. LaB es
Dir naher zeigen.
Gehst Du unter die Menschen nur, um sie zu
lieben? Hast Du noch nie die StraBen aufge-
sucht, weil Deine Wande Dir noch nicht ode
genug waren? Mit hohnischem Blick, mit Wonne
das dumme Gewimmel betrachten, die sinnlose
Form menschlicher Gesichter, die Barte und
Nasen, die Augen flach wie Porzellan, — und
ungeschickte, zankische, langweilige Worte im
Sumpf Deines feindlichen Lachelns abfangen, —
das belebt uns neu! Sieh die HaBlichkeit der
Dicke oder der Dunne, gleichviel: die Unmog-
lichkeit, Dir zu gefallen, die roten Haare, den
tolpatschigen oder leichten Gang, die Buckel oder
die glatten geistreichen Stirnen, — alles findest
Du gleich dumm, denn Du bist ihr Feind und
zeigst es ihnen. Wie wird auch jedes Lacheln
mit wegwerfendem Blick zerschlagen. Und eine
sichere Haltung, den Stock unter den Achseln,
wenigstens mit dem Ellbogen einmal anstoBen zu
konnen !
Genug, denn so etwas darf Dich jetzt nicht mehr
zufriedenstellen. Auch die machtlosen Kriimmun-
gen der Grenzen vor uns zu betrachten, mit ver-
schrankten Armen, auch dieser GenuB ist noch
allzu dichterisch. Einen groBeren bringe ich Dir:
den GenuB einer Tat! Die formaien Erhebungen
der Seele waren gut und schon, erkenne aber
endlich, ihre Zeit ist vorbei. Eisblumen liegen
auf Deinen Lippen, nur gezwungen liefie sich
Deine Seele jetzt zu Gedichten bewegen! Auch
wird der Larm rings herum allzu groB.
Aber verachte Deinen Mund, erhebe die Hand
und die Tyrannei wird rings gedampft und
Deine eigene Erstarrung bricht. Der Tanz Deiner
alten Freiheit ist nur abgelaufen, es gilt ihn ge-
waltiger zu erneuern.
Der Jiingling:
Wicder scheinen die dr6henden Worte mit feiner
freundlicher Nahe zu enden . . . Aber ich weiB,
es ist ein Keil, dessen Spitze klaffender in mich
dringen wird.
Diese Tat soil den Menschen feindlich sein . . .
und will sie strafen . . . Wofiir?
Der Andere:
Ich strafe sie dafiir, daB ich dabin.
Der Jiingling:
. . . Fiir ihre Unvollkommenheit, glaube ich. Aber
sind nicht Wenige nur, seltsam Wenige schuldig?
DaB der Krieg ein dumpfer Aufwartsdrang der
armsten Volker sei, ihre einzige bittere Moglich-
keit, einmal im Leben mit den anderen in Be-
riihrung zu kommen ... ich glaube es nicht.
Sind sie nicht in Wahrheit die hilflos zuckenden
Mittel derer, die einen Willen haben? die ihr
nichts als Willen auftiirmen zu Eisen, Kasernen,
Festungen, Harte und die Haufen gegeneinander
schleudern . . . um zu sehen, was nach dem Zu-
sammenkrachen iibrigbleibt . . . Die Massen der
Menschen sind weich, Ehrgeiz beherrscht ihre
Dammerung nicht, die schweren Quellen aus der
Mitte der Erde durchflieBen sie noch breit . . .
De r Andere:
So kommst Du mir endlich entgegen ! Empfinde,
wie unser HaB im Blut jener Schuldigen minde-
stens, — jener Wenigen, sich die Hand reicht.
Die Spitze meines Berges brach ich ab und stiirze
liber die Rander mit Eis und Schneefohren und
besitzlos wiitenden Stiirmen, mit den kalten Ar-
men der Horizonte und Augen von blau und
weiB gefarbt, und bringe die Lava der Gletscher
herab, auf der Erde neu zu ergliihen, deren
Inneres entgegenbrennt:
Wo sind meine Briider, die Attentater? Sie wer-
den nicht spurlos verschwunden sein, die Heere
der Einzelnen, erzbereit vom Ursprung der Welt
an, die Hande, die schwarz durch die Vorhange
der Tyrannen stieBen, die Hollenmaschinen,
magnetisch angezogen von Waffen — —
Nun lass mich Dir niiherkommen, mit meinem
groBen Plane, — den Wanden wachsen jetzt
Ohren, feine, ungeheure, friiher nur eine dumme
Redensart. Uber alle Lander verteilen wir die
Genossen, — wir wissen ja und werden es immer
neu erfahren, wen wir toten miissen —
Und es zerplatze und hiipfe rings um den Krieg
ein grelleres unerschopfliches Feuerwerk und be-
strahle die Zeit und in aile Ewigkeit uns und -
Was sind nun gegen dies Fest und Siidlicht der
Tat — Deine Gedichte!
Bis endlich die Volker sich allein gegeniiber-
stehen. Mag es sich dann zeigen, ob Deine Mas-
sen gutmiitig Versohnung feiern konnen, — oder
ihre fuhrerlose Dummlieit sich dann nur unge-
heurer zerfleischt und die Schopfung in W'iiste
umkehrt. Was kummert Dich mein Wunsch, —
bis dahin sind wir eins. Erst wollen wir die
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DIE AKTION
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Weft reif machen zu einem Entweder — oder,
in dieser einzigen Zeit! Dann stehen wir uns
allein gegenuber Darum komme ich ?u Dir.
De r J tin gling:
Ich weiche nicht ... ich fasse nur den furchter-
lich geraden StoB halb in meiner Brust ... ich
will fragen . . . Auch Jene sind Menschen . . .
Der Andere:
Hast Du vergessen, daB Du die Revolutionen
besungen hast? Enthusiastische Totung, wie sie
mir kaum der Krieg bringen wird — — . 1st die
Barrikade ein Beichtstuhl? Deine bleichere Stirn
fliistert, hier stecke ein tiefes Problem. Aber ich
beseitige Gedanken wie die Gedichte. LaB die
Wiiste Dein Blut reinigen, die herrliche Eiseinsam-
keit, wo die Sonne geschlossenen Blickes aufstieg,
wo ich blinkend liber die weiten Flachen starrte
wie uber das WeiBe des eigenen Auges, die den
Horizont zersagten, - von keinem Lebenden auf-
gehalten, von keinem Gott im geoffneten Himmel.
Die niemals umgestimmte, fur mich und fur sich
ewige Wiiste! Sie stachle Dich gegen die Ent-
tauschenden, gegen die Veranderlichen, die sich
schlagen und vertragen Wie der Wclttei! zu-
sieht, daB der Weltteil zerbricht und im Lande
sich der Schonste mit dem Scheufilichsten ver-
einigt, der Feindseligste mit dem VerhaBtesten,
anstatt jeder gegen jeden zu kampfen! Warum
haltst Du sie fu r Menschen? Ihre Eigenschaften,
glaube mir, sind bloBer Schein, in ihnen sitzt
weder HaB noch Freundschaft noch Zweifel, son-
dern nichts! Wolltest Du niemals sehen, daB
auch das Geld sie schon immer in seine Uni-
form steckt, sie zusammenschweiBt und voll ein-
miitigen Abscheus gegen die anderen, sich ebenso
Liebenden fiihrt? Enttauschungen ! Enttauschun-
gen! gedenke ihrer, der Briicken, die Du allzu
oft von Horizont zu Horizont schlugst, — und
sahst, scheinbar angelangt, ihre Enden nur ins
Leere ragen! Denn der Mensch ist nicht da, --
nur sein Schicksal oder sein leerer Wille, die aus
ihm machen, was gerade an der Ordnung ist.
Das Gespenst kannst Du vernichten !
Der Jungling:
Es ist wahr, alles wahr . - . aber Dein Gefiihrte
bin ich nicht . . . nur Dein stummer Sklave . . .
Und der Ton Deiner Stimme . . . macht mich
zweifeln . . . und fast aufspringen und zur Ver-
teidigung meine Arme vor sie breiten . . . Wenn
Du es sagst, feindselig, ist es da noch wahr?
Aber ich sehne mich nach Klarheit und gern
und demiitig wiirde ich dem Gew'altigsten folgcn.
Zeige mir Deine ganze Gewalt.
Der Andere:
Mit Dir kann ich sprechen, keine Wand trennt
uns, keine Haut. Du kannst nicht andere gegen
mich verteidigen wollen, denn ich bin Du. Hore
vom gewaltigsten Triumph:
Wenn die Einsamkeit siegt, — dann als letztes
BewuStsein zu leben — !
Die Erde der Volker und Tiere ist bleich wie
ein Mond — —
Die Geister alle liegen als Sand da — —
Mich zu denken als letztes BewuBtsein der
Welt
Alies in mich nehmend — — —
Was ist Euer Wille zur Macht gegen die Ein-
samkeit des Alls in mir!
Kann ich dann jemals sterben, wenn ich alles
bin - — —
Aber ich spiire Dich zwischen meinen Knien
flustern:
„Wenn kein Haupt mehr da ist, Dich an-
zuhoren, Dich anzusehen, — — konnte
Dich dann nicht plotzlich der vergebliche
Schmerz nach Menschen mit Liebe er-
fullen?"
Nur dann! nur dann!
Der Jungling:
So bist Du entlarvt! Auch Dein Geist, auch
Deiner ist auf den Menschen gestellt, er ist Dein
Wunsch, — nicht Du, der Mensch ist das Letzte
auch fur Dich! Du kehrst zu ihm zuriick, seine
Herrlichkeit ist grofier als die Deine, — Du
wendest Dich nach dem Menschen um, — wenn
es zu spat ist! Denn Du konntest ihn nicht be-
leben, Du bist kein Schopfer.
. . . Aber auch ich, freue ich mich vergebens?
Bleibt Dein sterbendes Gift noch stark genug, daB
ich mich nicht aufrichten kann . . . die Erde noch
leer fur meine suchenden Finger?
Stimme:
Im Dunkeln . . .? (Licht flammt auf.) Und allein?
Der Jungling:
Du bist es . . .
Die Frau:
Und kniest am Boden?
Der Jungling:
Auf dem Grunde des Ozeans Flammende, Eis-
fliisse nimm, lose auf . . . laB vom Gipfel in deine
Tiefe springen . . .
Die Frau:
Heute bist du allein? Ich glaubte kaum daran,
dich zu treffen.
Der Jungling:
Bleibe bei mir.
Die Frau:
Dein Mund ist so bleich, und biegt sich diinn wie
geschliffen, deine Hand liegt daran, als hielte
man eine Sichel! Weshalb so verzweifelt? Aber
deine Wildheit sieht schon aus!
Ja . . . ersetze die Zeit, die drauBen rast, sei
stark zu mir wie die ganze Stadt!
Der Jungling:
Wer?. . .
Voll Schnee gewirbelt durchknirschen mich meine
Wege und sind es nicht mehr . . . Kannst du
mir helfen?
Warst du mein Freund, wenn deine ufervolle
Bewegung durch mich ging? Ich war glucklich
in deiner Umarmung, dachte ich — spater, —
denn wer vermochte es zu denken, wahrend meine
Brust uber alle Horizonte gewolbt untrennbar
mit dir zusammenfiel ?
O verzeih mir, daB ich warte, unsicher . . , Ein
Geist iiberkam mich . . . er hat nicht gesiegt,
nein, aber da er mich nicht zerteilen konnte, so
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DIE AKTION
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schiittelte er mich zusammen, ein kalter StoB
im Davonfliegen triibt meine Seele milchig . . .
Nun suche ich mich in dieser Auflosung.
Aber hilfst du nicht etwa ihm?
Die Frau:
— Oder komm mit mir hinaus.
Der Jiingling:
Sei gut, denke dich in mich . . . Ich mochte
mich sehen, so wahr wie Qott es sich wiinscht.
Furchtbar ist der Schatten gewesen, den ich im
Glas oder Eis von mir gespiegelt sah.
Und deine Wogenflache . . . Spiegelt sie je?
Weicht sie nicht und schlingt sich im Riicken um
mich, daB ich versinke, unkenntlich?
Kann deine Liebe nicht anders, nicht mensch-
licher sein?
Die Frau:
Komm mit mir hinaus.
Der Jiingling:
Ich will niemand sehen.
Die Frau:
Wenn du die aufgeregten StraBen sehen wiirdest,
wo man nicht auf Steine zu treten glaubt, die
Hauser fahren wie Schiffe durcheinander, vor
den Plakaten kreisen und schreien die Leute,
Musik nirgends mehr, aber man denkt, von alien
Seiten spiele Musik, trotzdem nicht unruhig — :
aufregcnd! Die Menge bedruckt nicht, nur auf
wenige Arten Gesichter schmilzt sie zusammen,
Karusselle, die sich umeinander drehen, nur in
verschiedener Richtung und anderem Tempo, die
biederen Leute aus dem Lande, die verwirrt An-
kommenden, die eilend Fortgerufenen. Der muf-
fige Bahnhof voll Jugend und Umarmung, die
schmutzigste Gasse in Stromung. Und doch
komme ich zu dir, obwohl ich dich den gan-
zen Krieg iiber haben kann . . . Aber deine
Stehlampe ist anstrengend nach den funkelnden
Augen. Und du liebst sonst das GroBe, Leiden-
schaftliche! In uns ist jetzt die SudHchkeit ! Wie
haltst du diese Stille aus, wenn ein Gewitter
herrscht, das niemals wiederkommt. Ach, hin-
reiBend, unerschopflich umschlingend sind die
StraBen . . . es ist ganz gleich, dort, ob Freund-
schaft oder Feindschaft . . . alles sucht sich nur
stark und bezwingend zu zeigen, als wolle es
nur erregen, nur reizen und lieben!
Der J u n gl i ng:
In das Zimmer starrt es herein, den Kopf schnei-
dend in den Schultern, die Glaser blinken vor
toten Augen, seine Hande steifen sich vor
Freude . . . spaten Triumph hofft er noch zu
feiern . . . einsamsten GenuB . . . einer Begattung
beizuwohnen . . .
Aber er laBt mich nur dir auf den Grund sehen.
Nein, du machst mich nicht zufrieden. Ich will
nicht bose zu dir sein . . . doch lau hinabzuschmel-
zen in deine weite, aber alles einebnende, alles
genieBende Liebe . . . ich, der MenschenbewuBte,
wie in Algentiere, stohnende Muscheln, lichtlosc
Erde verquollen zu liegen, fern von mir . . ist
das nicht ebenso schlimm wie in Einsamkeit zu
erstarren? . . .
Die Frau:
Du bist schwach, wunschst Gesellschaft und wie*
der nicht. MuB man als Dichter in allem andem
schwach sein? Warst du ein Soldat, du wiirdest
jetzt wissen, was du tun sollst. Sei dir klar,
niemand hat es von jetzt ab so schwer wie ein
Dichter. Was kann man iiberhaupt jemals mit
Worten erreichen? Die Dichter beherrschen die
Sprache am besten, aber was ist sie gegen die
Wiinsche, die man hat und sich oft erfullen kann,
durch Liebe und Stillschweigen!
An deiner Stelle wiirde ich Soldat! Es konnte
dir vielleicht auch sehr gut stehen . . . Aber mit
deiner Neutralist und Traurigkeit wirkst du jetzt
beinahe wie eine Frau.
De r J ii ngling:
Echo einer Stimme . . .!
Doch — du bist es ja nicht, nicht du kannst mir
begegnen . . . auch nichts Ubermenschliches . . .
auch nicht das Gute, das gibt es nicht . . , : aber
der Gute miiBte sein... damit ich mit ihm
leben kann.
Hier herrscht die Sonne nicht mehr. Ein weiBes
Licht schreit und schweigt im furchterlichen, von
Menschen eingesetzten Theater, — aber es macht
auch die Schatten und Winkel verschwinden. Und
drauBen — —
Stimme:
Ich komme auf einen Augenblick.
De r J tingling:
Du — ? Ich glaubte dich nicht mehr da.
Der Freund:
Ich bleibe hter, fiir immer.
Der Jiingling:
Du gehst nicht in dein Land?
Der Freund:
Mein Land ist eine Ursache des Krieges. —
Aber ich helfe diesem neutralen Volk.
Der Jiingling:
Seltsam ist es —
Der Freund:
Glaube nicht, daB ich es betone. Nur mein erstes
Gefiihl! aber ich folge ihm wie einem Fiihrer.
Mein Geist — hat zugleich einen Korper! Mein
Geist sinkt aus meinem Kopf heraus, wenn nicht
beide von einer Sache aufrechterhalten werden,
und ware es die kleinste.
Emporung ist auch ein Schwingen meiner Arme!
Darum kann ich dem Kriege nicht ausweichen.
Allzu notwendig fuhle ich meine Gestalt.
Sie ist die Form der Erde, und mit ihr begegne
ich der Erde!
Lachelnd bin ich soeben an den Milizsoldaten
entlanggegangen, wie sie sorgsam ihr relativ gutes
Gewissen schultern, und will mit ihnen dies Land
vor alien anderen schiitzen.
Der Jiingling:
Nicht dies finde ich seltsam. Du bist da! Du
belebst mit mir die Welt — Ich sehe, daB deine
Augen, Mitgeist, die meinen sehen. Deine Hand
driickt sich test in meine und hebt mich doch
nicht auf! Wie dein Mund mich befeuert, nicht
befiihlt, deine Stirn nicht weichlich verschwindet,
wenn sie mich denkt!
DIE AKTION
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Das ist herrlich, sich nicht fremd zu sein und
doch nicht derselbe; ein Wald von gegenseitigem
Wachstum zu sein. Der gleiche gute Boden laBt
un$ durch parallel geschiedene AtherstraBen auf-
wartsschieBen, die sich erst leuchtend im Unend-
lichen schneiden! Von dort zuckt Feuer mitein-
ander vertauscht und beschwingend in un$ bis
zur Erde zuruck.
Ja, Einsamkeit, da alle Welt in mich einschrumpft,
— Begattung, die haltlos mich selbst in sich ein-
saugt, beide laBt ihr vom Geist nicht viel iibrig.
Aber du, Freundschaft, verbrennst mich wie die
Sonne !
Ich sehe es dir an — — — Aber du muBtest
noch wirklich zu mir treten. Klaffend wie der
Raum zwischen dem unsichtbaren Meer der Un-
geborenen und der unsichtbaren Todesebene auf
der anderen Seite, — groB wie die lebendige
Stadt, die dazwischenragt, unsagbar verschieden
ist es, ob ich dich, Mitmenschen, nur denke oder
du sichtbar vor mir erscheinst.
Jetzt bin auch ich wieder ein Stern wie du, ein-
ander erhellend, jeder als einzige Welt.
Noch einen Augenblick, — unsere Stirnen er-
scheinen im Weltraum der Freundschaft.
Leb wohl
Mir ist frei wie einem Wald, in dem seine Holz-
faller tot liegen.
jetzt anders allein !
Wenn ich jetzt das Licht auslosche, wird das
Dunkel von mir abprallen, meine Hande greifen
nicht nach mir, das Bild des Weibes bleibt an
der Wand.
Ich hore noch einen dunnen Wurm die Worte
pochen: Der Starke ist am machtigsten allein —
O die Starke des Machtigen — !
Aber die Starke des Schopfers ist nicht allein!
er . . . von den Menschen bewohnt . . . und am
dichtesten, wenn er allein ist . . fur sie, fur
das Werk fur sie. Allein unter Gott . . . aber
Gott ist nicht nur ein Mensch!
Dies sollte mir genommen und entehrt werden:
das Wort, — dies erschaffende Alleinsein der
Dichtung! Dem Krieg soil die Gelegenheit nun
geiingen, die Jahrtausende lang erlauerte: den
Geist in das Nichts hiniiberzuziehen !
Aber auch jetzt werden die Wahrhaften frei blei-
ben! Zu ihnen spricht die Dichtung zuerst, denn
zur Kunst kann man niemanden zwingen.
Aber der Mund, der von Freundschaft weiB, wird
bald hallender sprechen! Freiheit! Freiheit! Zur
neuen Welt und zur Jugend der alten.
Geist der Freundschaft, gehe und rufe das neue
All auf.
(Ende des Vorspiels)
ANDANTE DER FREUNDSCHAFT
Du bisf es . . I Und ich schlieBe schon
Wie gern mein Buch, den geisterblassen Ton,
Mein Zimmer auch, das schwer durch rauchte,
Von alizuviel Verkorperung gebauchte.
Die Strafte schallt und schwingt in unserm Oange
Wie eines Vogels enge Stange,
Wenn ihn ein Menschenmund zum Singen bringt.
Der Sternenhimmel wie entgittert winkt.
Den Schritten offnet endlos sich die Nacht,
Zur Hohe endlos ragt der Hauser Macht,
Die endlos tief in Baume sinken,
Die Blatter, wie Gestirn und Fenster, blinken.
Die Wiesen wolben sich, ein Himmel
Der Erde, bunt ins Horizontgewimmel,
Weit bliiht das Dunkel auf, Sehn uber Sehn . . .
Und dennoch mit der Erde FiiBen gehn.
O Schrei, der mich in Not befiel:
„Grenzen der Welt, macht auf!“ O jenseits ist
kein Ziel!
Was sucht ich endlos irrer Leere zu!
Die weitere Welt, o Freund, bist Dul
So fahre, Ather, hin alleine,
Venus und Mars und Jupiter sind Scheme.
Hier kreist ein Stern nicht nach Gesetzen fest,
An dessen freies Reich sich fliegen laBt.
Du Dunkel, das ich nie durchbrach:
Hier kommt ein Nachklang zu mir, den er sprach,
Hier regt das Dunkel selbst die Lippen, sendet
die Hand den Briidern, stirngeblendet.
Stark zuckt der Strom hindurch, . . wir horen
Die Vielen, die in gleichen Ganges Choren
Nun dasind, und die schwere Erde weihn
In ihre klaren Takte ein.
Und unser Schritt stellt pfeilerhaft
Zahllose Dome vor uns auf , . und rafft
Sie weg. Denn wir sind luftiges Werden,
Des groBen Geistes Kolonie auf Erden.
O daB er in das Chaos nicht nur Einen
Pflanzte . wie fiihlen wir's! Und Lachen,
Weinen
Nicht fur die Wiiste stromen laBt,
Und uferlosen Ruf in Ohren faBt.
Der nah in weites Geisiesmeer
Miinde . wie rufen wir J s! DaB unser Mehr
kein Zufall ist, . . ein Tanz auf vollem Balle .
Wie schlagen's unsre Herzen alle!
Von feinem Schlage donnem unsre Bruste,
Und unsres Saaies zweifclhaft Geruste
Zertanzen wie auf Gipfelspitzen wir,
Ein Jeder stark von sich . . und dir und dir.
Denn uber aller Freude . . Kraft!
Wie zwischen Sternen sich der Himmel strafft,
Wolbt Freundschaft . . Tat! wolbt iiber uns die
Tat,
Haucht immer neuen Stern den Pfad.
So dehnt sich Raum der Welt, durch euch
gefiihrt . . .
Entladet euren Raum der Geister . riihrt
Einander an . . und Licht springt immer weiter
Aus euch hervor, ihr Gluthaupt tragenden
Schreiter.
Alfred Wolfenstein
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DURCH DIE SCHWARZE DER ERDE
Von Alfred Wolfenstein
I hr geht auch an des Sternes dustren Stellen
harmlos hin t
AIs seien’s Fenster und man hat das Licht darin
Nur ausgemachi. AIs seien’s Augen seelenguter
Nacht.
Doch hinter euch durchhallt ein andrer Schritt
die Nacht,
Der plotzlich abbiegt, . * denn ein alter Wald
steht vor ihm da.
Wo eure lustige Menge bloB schlafende Hauser
sah.
Den Andem schluckt die Erde ein und schwarzes
Meer,
Ihn schleudem abenteuerlich Sterne kreuz und
quer,
Finsternis verschlingt die blaue Wiederkehr.
Durch unterirdische Fliisse schwimmt er heillos,
... wo die Stadt
Noch ihre hell durchfahrenen Tunnel legt, be-
grenzt und glatt,
Sie klingeln hin und lcehren leuchtend wieder um
zur Stadt.
Er aber reiBt geschaftige StraBen zu sich nieder
in den Orund
Der Schwerkraft! eckige Marsche der Hauser und
Heere schmilzt er rundl
Die kunstlich erhellten Herzen verloschen in sei-
nem zermalmenden Mund!
Und dann erst, , . unten die Strome durchrie-
seln sein Blut,
. . Er sturmgetaut, er Dunklem und Schwerem
gut
Geht krachend dann erst auf, und wirbelt nun
von Glut!
Waldemar Ohly
Maske
ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS
XLIX
Der Mordprozess Friedrich Adler.
Von unserem Son derberichicrsi after
Dr. Leo Ledercr,
L. Wien, Mute Mm.
Der Schriftsteller Dr. Friedrich Adler, 38 Jahre alt, gehoren
in Wien, konfessionstos verheiratct, hat am 2t. Oktober 1916
gegen den Ministerprasidenten Dr. Karl Graf Sttlrgkh in der
Absicht ihn zu loten, durch Abgabe mehrerer Revolverschiisse
in hei mttic kiacher Weise auf cine solche Art gehandelt,
dass dessen Tod darauf erfolgen muflte Dr. Friedrich Adler
ist am Tatort selbst verhaftet worden, die Gutachten der Psych i
ater haben seine Zurechnungsfahigkeit erwiesen. Seine ErklS-
rung er habe den Mord aus polttischen GrUnden began gen,
lfcsst seine Tat nicht weniger verwerflich erschetnen. Die
^Propaganda der Tat" wird in der menschlichen Gesellschaft
niemals Duldung finden kbnnen. Es kann keinem Zweifel
unterliegen, daO Dr. Friedrich Adler wegen Meuchelmordes
nach § 136 des Strafgesetxbuches zu bestrafen ist. Das enthebt
den Gerichtshof gleichwohl nicht der Aufgabe, sich mit den
Beweggrttnden seiner Tat zu befassen, zu untersuchen, aus
welchen Quellen jener Wille str&mte, der die drei lodlichen
Revolverkugeln nach dem Haupt des Ministerprffsidenten lenkte.
_ Berliner Tagcblatt‘\ Chefredakteur Theodor
Wolff, Morgen- Ausgabe Sonnabend, den 19. Mai
1917. Das Zitierte ( die Worte „ heimtiickiseher *
und „men8chlichsn te habe ieh unter stricken , nicht
Herr Lcdercr) ist auf der selben Seite abgedruckt,
die den ausfdhrtichen Vcrhandlungibericht bring t.
Nach Verlesung der Anklageschrift ersucht der President den
Angeklagten Adler, vorzutreten.
Der Pr£sident fragt: ,,Bekennen Sie sich schuldig?'*
Adler antwortct mit erhobener Stimme: ,,Ich bin schuldig in
demselben Masse wie jeder Offizier. der getfitet hat oder den
Auftrag zum Toten gegeben bat, nicht mehr und nicht weniger."
Aus dem in alien burgerlicken B Id t tern vom 19. Mai
gleichlautend wiedergegebenen Bericht uber den
Bsginn der Verhandfung ,
Wien, 20. Mai.
Der Prozess gegen Dr. Friedrich Adler endcte, wie gemeldet,
mit dessen Verurteilung zum Tode. Adler nabm das Urteil
gefafit entgegen.
Nach den Plaidoyrs des Staats&nwalts und des Verteidigers er-
bat sich
der Angeklagte Adler noch einmal das Wort:
„Ich weiO, welches Urteil meiner harrt. Ich werde aus diesem
Saale gehen nach dem Urteil, in dem Geiste unserer alien
Hymne, die ftir mich nicht Worte sind, aondern Evangeliura:
„Nicht z&hten wir die Feinde, nicht die Gefahren all*, und
wSr’s zum Tod, denn unare Fahn’ ist rot." Ich weiB nicht,
ob ich bald slerbe, oder ob das Scbicksal mich zu endlosem
Vegetieren verurteilt. Aber wenn es ernst wird mit dem Sterben,
dann habe ich nur den einen Wunsch, dafi ich meine Nerren
und Stnne so zusammenhalte bis zu jenem letzten Augenblick."
Adler las dann von einem Notizblatt tiefbewegt mit zitternder
Stimme folgendes: „Und wenn ich jetzl Abschied nehme von
alien, die ich geliebt habe und deren Liebe mein Glttck ge-
wesen ist, von alien Freunden und Kampfgenossen in alien
Teilen der Welt, dann erinnere ich sie zum Abscbied und zum
Trost an die Tiefe und die Reinheit des Ostergrufles: ,, Nicht
alle sind tot, die hegr&ben sind, denn sie tbten den Geist nicht,
ihr Brttder. M
Nach viertelsltlndiger Beratung erschien der Gerichtshof wieder
im Saal. Der President vcrkttndete das Urteil, In der
BegrQndung des Urteils
fahrte der Vorsitzende aus, der Gerichtshof sei zu der Ober~
zeugung gelangt, dafl die Tat des Angeklagten die TaL eines
einzelnen Fanatikers gewesen sei. Was das Motiv der Tat an-
langt, hat der Gerichtshof von vornherein jene Motive ala
richtig angenommen, die der Angeklagte selbst mnge-
geben hat.
„ Berliner TogtblatV 1 } Morgenausgabt 21. 5. 1917.
Der Prozess Adler.
Jeder dsterreichische Sozialdemokrat sah vor dem Kriege in
Deutschland das Vaterland der internationalen Sozialdemokrat ie,
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311
DIE AKTION
312
da* Land seiner Vorbilder, den Hort seiner HofTnungen. Alt
sich in den ersten Augusttagen des Jahrcs 1914 von alien Seiten
die Un wetter iiisammeniogen, gall die Sorge vielcr osterreichi-
scher Genossen vielleicht mehr noch deni Nachbarhaus als dem
eigenen. Sie beteten nicht zu den Gotiern der Alldcutschcn,
mit denen sie vielmehr in heftigs’em Kampfe lagen, aber sie
liebten das Land der Marx und Lassalle, der Rebel und Lieb-
Itnecht, der starksien Organisations und der glanzendsien
Wahlerfulge. Dieses Land sollte nicht zugrunde gehen!
So billigten es die Oaterreicbischen Genossen durchaus, dafi die
deutschen Sonaldemokraten sich am 4. August lilr die Vertei-
digung des Reiches erkiarten, und die ,, Wiener Arbeiierzeitung* 1
feierte diese Abstimmung in einem begeisterten Aritkel als den
Tag des deutschen Volkes
Friedrich Adler war wahrend des Kriegcs semen Weg allein
gegangen. Er sab die Dinge mit anderen Augen als die osier-
retchiscben Genossen, und das Starke Geffihl fUr die gesihicht-
liche Not wendigkeit des Verteidigungskampfes, das sie erf til 1 te ,
war seiner Seele fremd Er sah nur das Unheil des Kriegcs
nnd das Elend der osteireichischen Zustande . » . Er hat zwei
Tage Ung gegen einen Vater, den er liebt, und gegen seinen
Anwalt, den Verteidiger ib unzahligen Prozessen, in denen die
osterreichischen Genossen das Gegenteil von Feigheit bewiesen,
un sein Recht auf den Gal gen (1m Original gesperrt ge-
drucki) gekampft Und es ist wahrlich nicht j.Herostraien"-
noch sonstiger Kuhm, den dieser bescheidene Mensch dabei
sucht, sondern er will nichts anderes, als durch seinen Opfer-
tod den Beweis erbringen, dafi etne grofie Idee wichtiger ist
als ein einzelner Mensch, ,,Ob wahrend des Krieges in Oster*
reich ein Mensch mehr oder weniger aufgehangt wird, hat keine
Bedeutung . . . Ich habe ein Bekenmnis zur Gewalt abgelegt.* 1
Hier ist der Punkt, wo sich die Geister scheiden. Diedeutsche
Sozialdemokratte ....
Aus dem Leitartikei des ,, Vortrarts" vom SO. Mai
1917 . In diesem Artikel wird wimer von Fritx
Adler gesprochtn; ich habe , aus Orunden des Qe-
fuhls, den Fthlcr beseitigt.
KLEINER BRIEFKASTEN
O. St. Die Freundschaft von roanchen Leuten ist wie unser
Schatten, welcher stets in unserer NShe ist, solange wir in der
Sonne gehen, aber verschwindet, sobald wir ins Dunkel ge-
langen, sagt ein englisches Sprichwort.
H. B. in R. Ich kann nur den Satz wiederholen. mit dem ich
meine Registrier- Arbeit „Ich schneide die Zeit aus“ einleilete :
Me ine Antworten waren, bevor diese Zeit mir ihre Fragen
ftteHte. Sie wollen nun horen, was ich zur n Unabhangigen
Sozialdemokratie“ sage? Imjahrgang II der AKTION, am 1. Mai
19x2. schrieb ich dieses:
DIE HAASEATEN
I
Der sozi al demokrati sche Parlament wed ner Haase ist unter den
Radikalisten seiner Partei ungefahr der Gipfel, Kein Bebel;
kein hi nrei Bender, selbstiindiger Geist ; keine aufragendc Perstin-
lichkeit; eher ein Temperament aus politischer Unklarheit ; eher
ein Cbarakter aus Eigensinn. Innerhalb der Fortschriulichen
Volkspartei hatte dieser Konigsbcrger Advokat vielleichl mtihelos
den Kadikalismus eines Mtlller Meiningen produzicren konnen;
zum sozialistischen Revolutionar. den er jetzt agiert, fehlt ihm
beioah alles. Man muB Herrn Haase erlcbt haben, wenn er
auf Parteitagen die starre Unentwegtheit marxistischer Onhodoxie
gegen revisonistische Diplomaienkiinste veneidigte, wenn er
mit stotternden Gesten und schriller Slimme dem revolutionaren
Prinzip beisprang, wenn er dem gefahrlicheren (well intelligen-
teren) Doktor Frank entgegentrat ! Nie hat eine gute Snche
einen schlechteren Vertreter gehabt. Rosa Luxemburg hat, in
Jena, einem Haufen boswilliger Anderswoller gegenilber sich
Gehbr zu verschaffen gewuBt : das Geliichter derer um Kolb
verkroch sich unbeholfen, als diese Frau, die auf dem Podium
gitnz Leiclenschafi, ganz Idealismtis, ganz Feuer ist, als diese
Sozialistin ihre Wortc in den Saal schlittete.
Herr Haase ist auch in den Momenten bewegtester Hande der
Advokat vor der Zi v ilka miner.
II
lmmerhin : wir hahen in Haase den Reprasentanten des radikalen
FlUgels zu seiien und nicht in Rosa Luxemburg .
( 1 111 Abschnitt ill beklopfie ich, wie sich die Haasealen im
Reichstag bei deu iJebaitcu (lber die „ Wehrvorlage“ benommen
haiten. Und ich schloss meine Krltik wbrllich:}
IV
Nein, die deutsche bozialdemokratie ist keine Garantie des
Wellfriedens.
. . Habcn sich die Haascaten schon dadurch einen besscren Ruf
verdient, dafi sie sich aus der Scheidemann-Gcmeinschaft drangen
lie2en' Ich kann’s nicht zugeben. Sie selbst flatten es vorgezogen,
dnn zu bleiben; „Etnigkett w fiber alles. Und sie werden
wieder zusammen kommen: das Wasser (zwischen Kautsky,
Haase, Henke etc. und dem wahren Sozialismus) ist viel zu
tief . . .
Lieber Leser, das Pfingstfest war bisher der liberalen Presse ein
Anlafi, Pasioren als Leiiartikler vorzuftlhrcn. In diesem J&hre
versagte unser r B. T.“. Keinen Pastor zu Pfingsten; und in der
Ausgabe von Sonnabend, den 26. Mai, diese denkwfirdige Notiz;
„Forlfall des Kirtihenzetiels. Nach einem Beschlufi der
,Vereinigung groOstadtischer Zeilungsverleger“, der durch
die gegen wiinige Papierknappheit veranlafit wurde, nehmen
wir m Uebereinstimmung mit den der Verelnigung an-
geschlossenen Zi*iumgen von einer Verfiffentlichung des
Ktrchenzettels vorlSuhg Abstand.**
Das mit der Papierknappheit kann leicht als Vorwand enthUllt
werden: man versuche, den Kirchenzettel als Inserat ins Tage-
blatt und in die anderen Papicre zu bringen; es wird glalt ge*
lingen. (Von Papierknappheit zu reden und dann den Roda-
Roda-Koda zu drucken, ist ein Witz fur sich.) . . Also das
Mosseblait ohne Pfingspredigt, — doch nicht verzagent — : der
^Vorwarts" hat sich gleich zwei Pasioren ffir seine Pfingstaus-
gabc gcleistet : Stampter, ohne Kanzel, und Herrn Pastor em,
H. Tech, dessen Leiianikel also ausklingt:
w Die Orthodoxie des Verfassers dieser Zeilen wird
niemand in Zweifel 2iehen, hoffentlich auch nicht seinen
Pair lotismus 1 “
Freunde, eine gme Nachricht: Seit den Maitagen 1917 gibt
Ludwig Rubincr in der Schweiz eine Zeitschrift heraus, „Zeit-
Echo“, die ich dringrndempfehle. (Zeit*Echo Verlag Benteli A.*G.,
P.fimpl itz B«'rn ; Einzelheft 5° Pfg , durch jede Ruchhandlung.)
Freunde? DAS AKTIONbBUCH ist nun an alle Besteller ex-
pediert worden. Wer Nachbestellungen zu machen wUnscht, tue
es sofort. denn die Auflage ist fast vergriffen! Das Werk kostet
drei Mark (352 Seiten mu Beitragen von mehr als 140 AKTIONS-
Autoren). Zweihundert Exemplare sind in Halhpergament
gebunden, handschrifilich numerierl und sigaien, zum Preise
von M 0. — erschienen. Auch diese Ausgabe ist nahezu ver-
griffen.
BEMFRKUNG ZU DIESEM WOLFE NSTEIN-H EFT : Es
wird erganzl durch das, was frtihere Heftc (seit 1912) von Alfred
Wo 1 ten stein grbracht haben und was kommende Helte von ihm
bringen werden. Dann durch das Versbuch „ Die gottlosen
Jahre“. das S. Fischer verlegt hat. Schliefilich durch den Woi fen-
’slem des AKTIONS RUCHES. Ich schStze in Alfred Wolfen*
stein den treuen Kameraden und deu Dichter. Ein Nachwort
zu diesem Heft (von Ludwig Rubiner) bringt die nSchste Nummer,
so die Post will.
AN DIE ROTTEN -A BONN ENTEN. Diesem Sonderheft liegt
eine Original Lithograph ie von Felix M filler- Dresden bei, vom
Kitnsib-r signiert.
INHALT DER VORIGEN NUMMER: Richter-Berlin: Origiiial-Holzschnitt (Titelbbtt) t Charles Peguy: Clemenceau / Kurt
Pinthus: Uber Kritik / Carl Einstein: Gedenken des Andre Derain / Armin T. Wegner: Die Ertrunkenen / Josef Capek
(Prag); Original-Holzschnitt / Herbert Kiihn: Die Tage fallen ab / Charlotte Woliltnulh : Gedicht / Colestina Tucher:
jMondnacht Paul Hatvani; Fests'ellung / Heinrich Hoerle: Uber Kubismus / Wilhelm Schuler: Hirsche (Original-Holz-
schnift) / Wf/helm Stolzenburg (New York): Westwarts / H. von Rebay: Linoleums.hnitt / Simon Kronberg: Rabbi Chasan.
Ein Stuck Prosa / Eranz Werfel: Theologie. Eine Erzahlung / Christian Schad: Portrat / W. E. Burckhardt Du Bois: Die
Utanei von Atlanta (Deutsch von Arthur Holitscher) / Marg. Moll: Portrat / Literarische Neuerscheimingen / F. P.: Ich
schneide die Zeit aus; Kleiner Brief kasten
Fur Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten
Inhalt verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin- Wil-
mersdorf, Nassauische StraBe 17. Tel. Pfalzbg. 1605.
Oedruckt bei F. E. Haag, Melle in Hannover.
Die AKTION erscheint jeden Sonnabend. Abonne*
ments kosten vierteljahrlich durch die Post, durch
Buchhandel oder Verlag (unter Kreuzb.) M. 2,50.
Abonnements fflr das Ausland kosten M. 3—.
Buttenausg., 1 00 numerierte Exempt., jahrl. M. 40, — .
Verlag der AKTION, Berlin-Wilmersdorf.
Unverlangten Manuskripten
ist Ruck porto beizufugen.
Alle Rechte vorbehalten.
i
■i : - I 1 ,: 1 '.-
; ; ^ j m \ ) )
/
XXX
WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR, KUNST
YU. JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERTNR H
SONDERHEFT JOSEF CAPEK. INHALT: JOSEF CAPEK: MADONNA (TITELBLATTZEICHNUNO) / ALEXEI KOLZOW:
Russischc Volkslieder / Theodor Lessing: Europa und Asien / Josef Capek: Medusa (Zeichnung) / Arthur Holitscher: Die
Russin / Josef Capek: Frauen torso (Chnginal-Holzschnitt) / Georg Gretor: Zweiter A KT IONS* Brief aus der Schweiz / Carl
Einstein: Negerlieder / Edief KSppen, Maximilian Rosenberg, Wilhelm Klemm, Ludwig Baumer und Rudolf Hartig: Verse
vom Schlachtfeld / Josef Capek: Frauen port rit (Holzschnitt) / Rudolf von Kapri: Bei Brixen / Josef Capek: Das Madchen
(Holzschnitt) / Heinrich Stadelmann-Ringen : Das neue Drama / Josef Capek: Frauenportrftt (Federzeichnung) / Heinrich Schaefer:
Hoch sich windende Ranke /Josef Capek: Zwei M&nnerportr&ts (Holzschnitte) / Fr. Tucny: Zu diesem Josef Capek~Hcft / Lud-
wig Rttbiner: Uber Alfred wolfenstein ; F. P.: Ich schneide die Zeit aus; Kleiner Briefkasten / Beilage der Butten- Ausgabe :
Capek: Original-Stemdruek
VERL.AG ' DIE AKTION > BERLIN -WILMERS DORF
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Band 2 :
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Gesammelte Lyrik
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Verse und Bilder
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Sophie. Der Kreuzweg der Deraut
Ein Roman. Geb. M. 3, — , geh. M. 2 , —
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Jeder Band gebunden M. 3,
VERLAG DIE AKTION
aktions-bOcher der aeternisten
Band I:
FERDINAND HARDEKOPF
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Band 2:
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Anmerkungen
Band 3:
FRANZ JUNG
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Band 4:
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Band 1, 2 und 4 kosten gebunden je M. 2, —
Band 3 und 5 kosten gebunden je M. 3, —
POLITISCHE AKTIONS-BIBLIOTHEK
Erstes Werk:
ALEXANDER HERZEN
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Deutsch von Otto Buek
Zwei Bande. (446 und 338 Seiten.) Mit
drei Portr&ts
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M. 8, — geb., M. 5, — broschiert
Zweites Werk (in Vorbereitung):
LUDWIG RUBINER
Der Mensch in der Mitte
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VERLAG DIE AKTION
SONDERHEFTE
AKTION
KUNST-SONDERHEFTE
DER AKTION
„Neue Secession* / Richter-Berlin / Schmidt- RotilufF /
K. J Hinch / Han* Richter / Wilhelm Morgner / Egon
Schiele / Georg Tappert / Else von zur Mtfhlen / lnes
Wetzel / Felix Muller
DICHTER
DER
Franz Blei / Gottfried Kdlwel / Alfred Lichtenstein /
Paris von Gutertloh / Heinrich Schaefer / Theodor Diubler
/ Paul Adler / Franz Werfel / Ludwig Rubiner
SONDERHEFTE „DIE VOLKER"
,RuBland u (mit Geleitwortrn von Maximilian Harden) /
„ England* 1 / „Frankreich“ / n Belgien“ / „Italien“ / Boh*
men u / n Deutschland u
Jedes Sonderheft, gewohnliche Ausgabe,
kostet 50 Pf. — Biitten, numeriert, M.2, —
BOTTEN - AUSGABE DER AKTION
100 numerierte Exemplare
Jahresabonnement : M. 40
Jedem BUttenabonnement werden jkhrlich mindestenz
achl KunstbUtler beigegeben, von den KUnstlern nume-
riert und signiert. Diese Beilagen kommen nicht in den
Handel und stellen einen Wert dar, der den Abonne-
memsbetrag Ubersteigtl Im J&hrgang 1917 werden
beigegeben: Blatter von Felix Muller / Max Oppenheimer /
Inez Wetzel / Karl Jakob Hirsch / Richter-Berlin u a.
KONSTLER-POSTKARTEN DER AKTION
Et sind 80 verschiedene Drucke erschienen
Zeichnungtn von Mopp / Kars / Schmid t-Rottluff/Schrimpf
/ Klein / Richter-Berlin / Nadelman / Feininger / Harta /
Schiele / Mense / Melzer / Tappert / Else von zur
Mtthlen / Hans Richter / Josef Capek / Morgner u. a.
100 Stuck M. 3, —
portofrci gegen Voreinsendung des Betrages
WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR. KUNST
7. JAHRGANG HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT 16.JUNI 1917
GEDICHTE
Von Alexei Kolzow
Der Mensch
A lies, was der Herr geschaffen,
1st so herrlich und so gut,
Doch herrlicher als der Mensch
1st nichts auf dem Erdenrunde.
Bald mag er sich setber hassen,
Halt sich bald fur wert und gut,
Liebt, entliebt sich, fur ein Weilchen
Leben bangt er ohne Mut;
Gibt er Freiheit seinen Wiinschen
Trankt die Erde er mit Blut;
Gibt er Willen seinem Wollen
Baumt sich unter ihm die Flut.
Doch verandert er sein Streben,
Fullt mit Liebe sich sein Geist,
Lischt vor seiner Schonheit jede
Andere noch so heile Glut.
Lied
Singe, Nachtigall, nicht
Unterm Fenster mein,
Fliege fort nach dem Wald
Meines Heimatlands,
Werd dem Fenster Du hold
Meines Magdeleins,
Flote zartlich ihr 2U,
Wie mir dd zu Mut,
Wie ich feme von ihr
Werde vvelk und durr,
Wie auf Steppen das Gras
Vor dem Herbst verdorrt,
Ohne sie ist mir nachts
Gar der Mondschein blind,
Geht mir Tags ohne Glut
Gar die Sonne hin,
Ohne sie, ach, wer nimmt
Mich noch freundlich auf,
Wessen Brust gibt dem Haupt
Eine Ruhestatt?
Ohne sie, wessen Wort,
Das mich lacheln macht,
Welches Lied, welcher GruB,
Der zum Herzen spricht?
Warum, Nachtigall, singst
Du am Fenster mein,
Fliege fort, fort zu ihr,
Meinem Herzensschatz!
Rausche nicht, Du Korn
Rausche nicht, Du Korn,
Mit der reifen Frucht,
Singe, Schnitter, nicht
Von der Steppe breit,
Frommt mir doch zu nichts,
DaB mein Gut ich mehr,
Frommt mir doch zu nichts,
DaB ich reicher werd.
Sammeln mocht der Bursch,
Sammeln schvveres Gut,
Nicht zur eigenen Lust,
Seinem Herzensschatz,
Lieblich war mir da,
In ihr Auge schaun,
Ihre Augen, drin
Stille Liebe sann.
Doch erloschen sind
Diese hellen nun,
Mit des Grabes Schlaf
Schlaft die Holde schon!
Mehr als bergeschwer,
Dunkler als die Nacht,
Legte sich aufs Herz
Schwarzes Sinnen mir!
Lied
Winde wehen,
Wilde Winde wehn,
Wolken gehen,
Dunkle Wolken gehn,
Und verdeckt ist
Drin das Tageslicht,
Und verdeckt ist
Drin der Sonnenschein.
In der Feuchtnis
Hinter Nebeln liegt
Eitel Nacht, die
Nur noch schwarzer wird.
Soldier Tage,
Wo die Schauer gehn,
315
DIE AKTION
316
*
Einsam hausen
1st dem Herzen kalt:
In der Bmst tut
Ihm so dringend Not
Feuerseele,
Schones Magdelein!
Mit ihr Winter
1st wie Sommerzeit,
Und im Elend
Kummer kummerlos!
Die S t ra 3 e
Eine StraBe so breit
Liegt vor mir schon so lang,
Doch gelang mir auf ihr
Noch kein Lauf, noch kein Gang.
Wer denn halt mich zuruck?
Was verlaB ich so schwer?
Warum strebt ich noch nte
In die Feme bisher?
Kam mein Lebensgeschick
Denn verwaist auf die Welt,
Oder ward mit dem Gluck
Ihm nur Zwietracht bestellt?
Bin nach Jahr und nach Haar
Ja noch lange kein Greis,
Viel Gedanken im Haupt,
Und das Herz gar so heiB!
Habe Knecht, habe Gut
Im VerschluB, das da harrt,
Und der Rappe im Hof
Steht gesattelt und scharrt:
Auf, hinan — wie mein Wunsch! —
Doch mein Wille zu flau,
DaB ich Leute und Land
In der Feme beschau,
DaB in Not und Gefahr
Fur mich selber ich steh,
Vor dem Wetter, das droht,
Nicht zum Riickzuge geh,
DaB ich lachle beim Fest,
Wenns im Herzen mir weh,
DaB mit Nachtigallslied
Ins Verderben ich geh!
Lied des Greisen
Und so sattl ich mein RoB
Mir, mein schnelles RoB,
Sprenge fort, fliege hin
Wie der Falke leicht,
Uber Feld, iiber Meer
In die Weite fern,
Hole ein, hoi zuruck
Mir die Jugend mein,
Lange an — wieder bin
Ich der einstige Bursch,
Gehe wieder verliebt
Schonen Dirnen nach!
Aber wehe, kein Weg
Ins Vergangene fuhrt
Hebt doch niemals im West
Sich der Tag empor!
Vor dem Bilde des Heiland
Vor Dir hab ich, mein Gott,
Ausgeblasen mein Licht,
Und das hochweise Buch
Schlug ich zu mit Verzicht,
Brennt Dein himmlisches Licht
Doch unloschsam und klar,
Deine endlose Welt
Liegt dem Blick offenbar,
Und mit Liebe zu Dir
Senk ich tief mich darein,
Steh mit Tranen im Blick
Vor dem Antlitz voll Schein.
Ohne Sieg hob die Welt
Wider Dich sich empor,
Ohne Sieg, daB ihr Spruch
Dir das Sterben erkor.
An dem Kreuz unterm Dorn
Flehtest ruhig und sacht
Bis zum Tod Du fur die,
So Dir Obels gebracht.
Das groBe Geheimnis
Wolken bringen Wasser,
Wasser trankt die Erde,
Erde tragt die Frucht.
Sterne gibts in Fiille,
Und in Fiille Leben.
Bald ist licht, bald finster
Die wunderbare Natur.
In den Zweifeln alternd
Ober das groBe Geheimnis
Gehn unwiderbringlich
Die Jahrhunderte nieder,
Und die Ewigkeit fragt
Jegliches Jahrhundert:
^Welches war das Ende?“
„Frage Du ein anderes,“
Antwortet ein jedes.
Doch ein kiihnes Haupt sturmt
Im Gebet zur Vorsicht:
„Schenke dem Gedanken
Das Geheimnis der Schdpfung!“
Antwort — neu Geheimnis, —
Wunder der Natur, mit
Stille oder Sturm die
Gedanken staunen machend.
Was wird einst geschehen
Kiinftig mit dem Weltall?
Brenne, Lampe, heller
Vor dem Kreuzesbilde:
Schwer ist mir das Denken,
Siifl mir das Gebet.
(Aus dem Russischen ubertragen von Otto Frhr. von Taube)
317
DIE AKTION
318
EUROPA UND ASIEN
Von Theodor Lessing
lm Herbst 1914 (!) hielt Doktor Theodor Lessing, Dozent
der Philosophic in Hannover, einen akademischen Vortrag
fiber Europa und Asien. Er hat ihn zu einem Buch er-
weitert, aus dem ich, heute bcginnend, Stucke veroffent-
lichen werde.
I
Die B evolk e ru ngsf rage
Schatzen wir die Anzahl aller Menschen auf Erden
auf 1600 Millionen, so leben davon 900 Millionen,
also mehr als die Hatfte, in Asien, obwohl das
kleine Europa etwa fiinf Mai so dicht bevdlkert
ist, wic das weit geraumigere Morgenland. Mit
einem nicht allzu kiihnen Bilde konnte man sagen,
daB unser Weltteil zu Asien sich verhalte, wie
das Gehim zum ubrigen Leibe. Und wie das
Gehirn droben im Haupte frei leicht und selbst-
herrlich die ganze schwere Korpermasse zu len-
ken berufen ist, so scheint dieses kleine vorge-
schobene Inselchen Europa, das an dem unge-
heurem Rumpfe der alien Erde, ein winziges
Kopfchen auf massigen Korper, befestigt liegt,
dennoch befugt, die Herrschaft iiber alle Men-
schenwelt anzutreten. Nicht nur Wissen und Kon-
nen, Komfort Zivilisation Maschinenwesen, son-
dem im weitesten Sinn alles das, was man mit dem
zweifelhaften Worte Kultur bezeichnet, scheint
nur dem europaischen Menschen, dessen Sprosse
ja auch der amerikanische und australische
Mensch ist, scheint nur dem weiBhautigen Men-
schen von mittellandischer Rasse eigen tumlich zu
sein. Dieser „kaukasische Mensch** steht seit drei-
hundert Jahren im begriffe, die ganze Erde zu
unterwerfen und hat seit hundert Jahren diese
Vorherrschaft der ganzen Erde fiihlbar gemacht.
Im Jahre 1800 gab es auf Erden etwa 900 Millio-
nen Menschen, von denen 175 Millionen europa-
ischer Abkunft waren. Gegenwartig, 1914, gibt es
etwa 1600 Millionen, von denen etwa 520 Milli-
onen europaischen Blutes sind. Dieses besagt,
daB das Menschengeschlecht innerhalb eines Jahr-
hunderts beinahe sich verdoppelt hat, daB aber
diese Verdoppelung im wesentlichen nur auf Rech-
nung der europaischen Volker zu setzen ist. Denn
wahrend vor hundert Jahren etwa ein Sechstel
der Menschheit europaisch war, ist es heute mehr
als ein Drittel.
Hier nun bletbe dahingestellt, welche Folgen dies
Bevolkerungsgesetz fur die Zukunft der Erdbe-
wohner haben mag. Da die Erde 136 Millionen
Quadratkilometer Flachenraum darbietet, so
wiirde, wenn die Vermehrung der europaischen
Menschen in kiinftigen Jahrhunderten genau so
weiterginge, wie sie im letzten Jahrhundert vor
sich gegangen ist, in etwa tausend Jahren auf
jeden Quadratmeter Erdbodens ein europaischer
Mensch zu sitzen kommen. — (Nahme man die
nichteuropaischen Menschen hinzu, so saBe auf
jedem Quadratzentimeter Bodens ein sogenannter
Mensch.) —
II
Kampf um die Macht
Die nationalen I deale europaischer Volker und
Herrscher, in deren grauenhaftem Machtkampfe
Jotff Captk Medusa (Zeichnuny)
Europas zartere Geistigkeit verbluten wird,
mlissen kunftig diese Massengewalt und Mas-
senvermehrung begiinstigen. Denn nur dasjenige
Volk kann Sieger bleiben, welches die meisten
Sohne in die Welt setzt, die meisten Kolonien
begriindet und mit seiner Sprache, seinen
Landessitten, seiner Menschenart den grofiten Teil
der Erdoberflache an sich reiBt und iibermachtigt;
kraft seiner Kraft und kraft jener Macht- oder
Erfolgentscheide, die jenseit der ideellen Pro-
bleme des Wertes verharren. — Dem Phiioso-
phen, der als auswertender Geist keine politi-
schen Ideale zu verfechten hat, ja den Begriff
politisches Ideal als so sinnlos-widerspruchs-
voll empfindet, wie den verwandten Begriff einer
,normativen Staatsgewalt 1 , mbge man zu gute
halten, daB er Zeitalter erhofft, wo Gewissen und
Seele des Einzelnen nicht als ,Kanonenfutter fiir
des Machtwahns abstrakte Hlusionen*, oder, wie
man gegenwartig sagt als ,Menschcnmaterial fiir
das Reichsgeschaft* in die Welt wissenden Schmer-
zes hineingeboren wird. So sei auch dies dahin-
gestellt, ob wirklich die Vorherrschaft dessen,
was wir Europaer Kultur nennen und mit edlen
Worten als „1deal“ und „sittliche Aufgabe* 4 der
Staaten zu schildern lieben, ob sie wirklich das
Ziel, sei es das natiirliche, sei es das vernunft-
gebotene Ziel der Geschichte ist.
Gleicht Europa dem Gehirn, das grofle Asien
dem schweren unbewegtem Leibe der Erde, dann
319
DIE AKTION
320
scheint im Augenblick (Dezember 1914) das
Apostelwort zu gelten; ,Ihr seid das Salz der
Erde. Wo nun das Salz dumm wird, womit soil
man salzen? Es ist zu nichts hinfort niitze,
denn, daft man es hinaus schutte und lasse es
die Leute zertreten/
Ein Weltbrand ist entfacht! Die groBen wie
die kleinen Staaten Europas entpuppen sich
als ebenso viele machtwillige Bestien, deren
jede hinter den Wandelbildern Kultur und Idee
versteckt, ein moglichst grofies Stuck Erdober-
flache an sich reiften und erraffen will, deren
jede immer den an deren als den Storenfried,
den Menschheitfeind empfindet und vor der
groften Fabelerzahlerin Geschichte anzuschwarzen
versucht. Ausgehungerten blind rasenden Wol-
fen gleich, jeder vor jedem bangend, haben sie
sich so in einander festgebissen, daft erst die
Erschopfung a 1 1 e r oder jener Zufall, den vvir
von nachhinein ,historisches Fatum 4 nennen, dem
Verbrechen des Menschen am Menschen, dem
iAifibrauch des Menschen durch den Menschen
das Ende bereiten wird.
Wahrlich, ein Weltbrand ist entfacht, der nicht
etwa Jahre, auch nicht Jahrzehnte, der ein gan-
zes Jahrhundert schwalen und fortlodern muft, als
ob nur auf Trummern Europas schlieftlich
erbliihen konnte jenes Traumland der Bruder*
liebe, davon Buddha sagt: ,Wer ist der Feind?
Wer der Bruder? atman ist nicht in Mir und
nicht in Euch, sondern Wir in Ihm. 4 — Der
Historiker aber, der den praktischen, wirklichen
Menschen kennt und seine sogenannte Weltge-
schichte, ach! er kennt auch des Menschen Un-
heilbarkeit und Unlenkbarkeit durch jede andere
Gewalt als durch die der nackten Not und bru-
talen Notwendigkeit. Er blickt in Europas Zu-
kunft, wie Johannes auf Patmos in das Dammern
apokalyptischer Grauel. Asiens Stern sieht er
im Steigen. Und schon aus naher Gegenwart
konnte statt der getraumten Gehirnkultur Euro-
pas ein Wiedererwachen Asiens hervorbliihn, als
Wiedererwachen dunkel instinktiver, unergriind-
licher, elementarer Krafte der Seele. Weil wir
aber auf solche Wandlungen Europas gefaftt sein
mussen, so miissen wir Asiens Seele kennen;
anders und besser, als sie bis heute in Europa
gekannt wird. Und dazu tut not, daft wir den
Glauben ablegen, unsre europaischen Lebensfor-
men seien die einzig moglichen, unsre Kultur
sei die Kultur, unsre Religion d i c Religion und
unsre Berufung auf Erden sei es, 900 Millionen
Menschen, die vollkommen anders und viel lebens-
naher denken und f uhlen als wir, zu unsrer Logik,
unsrer Politik, unsrer Wissenschaft und ange-
beteten Kunst zu erziehen.
NADJA STRASSER: DIE RUSSIN
Von Arthur Holitscher
Dieses Buch *) platzt mitten hinein in die aktuelle
Frage: kann uns die russische Revolution niitzen
oder wird sie uns schaden? Es macht uns mit
*) Erschienen im Verlag S. Eischcr, Berlin.
den heiligen und genialen Frauen Vera Figner,
Geftja Helfmann, Sonja Perowski bekannt in einem
Augenblick, in dem den Gemutern hierzulande die
Erkenntnis aufdammert, daft man ja die Frauen
ganz gut fur a!I die Organisationen der Kriegshilfe
und der Staatsarbeit gebrauchen kann! Und es
lehrt uns den Einfluft der russischen Martvrerin
•m
auf die Triebkrafte der Intellektualitat erkennen
in diesen Zeitliiuften, in denen sich Leute den
Kopf damit zerbrechen: welche Rolle wird der
Dame in der Salon-Geselligkeit nach dem Kriege
zugeteilt sein?
Die Russen wallfahrten jetzt nach Jasnaja-Pol-
jana zum groften Schatten. Aber die Asche der
irdischen Gottinnen, die Nadja Strassers Buch
nennt, ist uber das unermeftliche Reich verstreut
und die Pilger miiftten auf den weiten Wegen, die
nach den dstliehen Stcppen fuhren, Halt machen,
ebensogut wie auf den Petersburger Briicken zur
Peter-Pauls-Festung, zur Schlusselburg, ja mitten
auf den Straiten der Stadte, wo unter einem
Pflasterstein Blut in Granitsplitter gebettet ist, auf
Knien die Ritcn der Auferstehung feiern. Und sie
werden es tun. Denn die Antlitze der Frauen, die
fur die russische Freiheit gestorben sind, sind
Antlitze von Ikonen.
Die franzosische Revolution hat die Schalen um
Frauenseelen in einer Explosion zersprengt. Die
groften Frauen des Thermidor g'ommen auf, ver-
spruhten im Dunkel wie Feuerwerk. Was war
die franzosische Frau zwei Jahrzehnte spater, unter
Bonaparte? Der Thermidor der Russin wahrte
hundert Jahre. Wahrend der soeben verflossenen
Wochen mengte sich kein Frauenschrei in das
grofte Aufbriillen der Befreiung. Aber wie ferner
unterirdischer Gesang halite die Erinnerung an
wunderbare Wortklange durch das Getose durch,
Namen von Legcndenwesen durch woben das Ge-
tose mit Musik, Jugendklang — Vera Sassulitsch!
Sie stehen „in des Despotismus Triimmer einge-
graben 4 * wie Puschkin an Tschaadajew schreibt.
In marchenhafter Reinheit schweben sie iiber den
Wirrnissen der Gegenwart. Wir lernen aus den
Ereignissen heute im besten Faile Ergebnis und
Niederschlag kennen. Dort oben aber schwebt
Giite, Liebe, ehrgeizlose Wahrheit, der Trieb!
O, es waren Stunden des Daseins, in der Gegen-
wart von Frauen dieses Schlages verlebte, Stun-
den die zahlen im Vergehen armlicher Jahre. HaB
und Liebe lebten zu vervielfachtem Leben auf im
Innem, aus Rede und Schweigen schoft Rauschen,
bew r egte Fliigel, Rausch! Was blieb iibrig? Weni-
ger als nichts — Traurigkeit. Denn jene Stunden
waren ja nicht in dem fernen, furchtbaren
RuBIand verlebt worden, dem Abgrundsland,
Traumkontinent, sondern in dem von Schein-
kultur, Scheinfreiheit gefalschten Westen Europas.
Und die Bitternis, Traurigkeit, miide Resignation
wurde durch die Erkenntnis verursacht: DaB der
Aufschwung, der aus dem Herzen, dem durch-
gliihten Verstand dieser Frauen kam und iiber-
strdmte, fruchtlos verebben muBte, daB keine Tat
321
DIE AKTION
322
a us ihm entstand, im besten Fait etwas bessere
Literatur, das Rad der Welt nicht um ein Spei-
chensegment vorwarts gedreht wurde — und in
ihnen selbst, diesen russischen Frauen, wie ver-
kummerte da das Hohe, Erhabenste: die angriffs-
frohe Giite, der grenzentose Opfertrieb! Aus dem
Buch uber die Russin erfahren wirs: der Polare
Mensch fehlte, die massive Mauer, der urgriindige
Widerstand, ob er nun aus dem grausamen, mi!
Sadismus groBgefutterten Cynismus der Herr-
schenden aufstand oder der stupiden sklavischen
Exekutive der Macht, dem Tschin. Im Westen,
in der Scheinkultur, der Afterfreiheit konnten diese
russischen Frauen nicht gedeihen, da gabs keine
Polaren Menschen, und der Aufschwung blieb
stecken in zaher KompromiBatmosphare, im Libe*
ralisrnus, wissenschaftlicbem Sozialismus, Bildung
und Oberflachlichkeit Man sah sie, diese Rus-
sinnen am Ende selber schwanken und zerfallen, in
dem Dilemma: Peter Altenberg Oder Lassalle auf-
gehn — dem Lassalle selbstredend, der sein erstes
romantisches Abenteuer mit der Grafin Hatzfeld
hatte und sein zweites mit der Helene Donniges.
Aber aus Nadja Strassers Buch steigt der Ge-
schmack, die unendliche Wiirze jener Daseins-
stunden wieder auf, in der Gegenwart russischer
Frauen verlebter Stunden, denen schale Burger-
lichkeit folgen muBte, nach denen das Leben um
einen Ton niedriger schwang, etwas Unwieder-
bringliches fortgeflogen war, jugend vielleicht.
„Sie sind harter als wir, weil sie weicher sind,“
sagt von ihnen Tyrkin seinem Freund Ki-
baitschitsch. Manches Buch lehrt erkennen, wie
viel man in seinem eigenen Leben vertan, verloren
hat, wie viel der Alltag unrettbar verschlang. Das
Exempel der Martyrerinnen lehrt es. Die Frauen-
rechtlerinnen sollten das Buch lesen. Auf ihrer
Ebene harren und warten die heiligen Schatten
Perowski, Sassulitsch, im Fleische wartet das
schon verklarte Miitterchen Breschkowski und
die Anderen! Wo wird das RuBland, das im
Marz 1917 in Bewegung genet, stehen bleiben?
Wird dort die Soziale Republik? Waren die Opfer-
tode nicht vergeblich? Geht die letzte, hochste
Hoffnung nicht in Erfiillung, dann, glaubt es nur,
ist die Reihe der Martyrerinnen des Gedankens
nicht abgeschlossen. Das tiefe, unerschopfte We-
sen, die Heiligkeit des mystischen Volkes der
beiden unzertrennlichen Kontinente Europa-Asien
wirkt weiter und fort, sie werden nicht stehen
bleiben an der Pforte der Erldsung. Aus dem
Osten schlagt jetzt der Pulsschlag iiber den lauen
Westen, diesen unglucklichen Westen, den die
groBte Katastrophe nicht aus seiner Gemachlich-
keit zu riitteln vermag. Jawohl, es bleibt abzu-
warten, wie vie! oder wie wenig uns die russische
Revolution zu helfen vermag. Kommt der Frie-
den aus der Himmelsrichtung, woher ihn niemand
crwartet hat? Die Russin wird an der Befrei-
ung der Welt ihren Anteil im gleichen MaBe
haben wie er ihr an der Befreiung ihres eigenen
Landes zugestanden wird
Josef Capek Frauen tor so
AKTIONSBRIEFE AUS DER SCHWEIZ
Von Georg Gretor
El
Die Predigt eines Kandidaten
In der Schweiz gibt es sogar unter den Theologen
interessante Kopfe.
DaB von der Kanzel die Achtung Derer gepre-
digt wird, die mit dem christlichen Grundsatz:
„Du sollst nicht toten“ Ernst machen, ist nicht
selten und auffallig. Aber wirklich Geistiges von
Geistlichem frei, Religioses von Kirchlichem eman-
zipiert, freier Sinn von Freisinn nicht gelahmt,
findet sich nur in der Jugend.
Die Probepredigt des Kandidaten der Theologie,
p yf — e j n Bestandteil des Examens — sei
aus kirchlicher Verganglichkeit gelost.
„Jesus Christus und diejenigen, die seinen Glau-
ben verbreitet haben, sind Opfer des Massenin-
stinktes geworden, den die Zeitungen heute das
f Gesunde Volksempfinden‘ nennen. Seine Predigt,
jedes Wort seiner Lehre war krankhaft, denn er
verkiindete die Wirklichkeit des Unsichtbaren und
die Jrrealitat des Dinghaften. Er predigte schwach-
liches Vergeben und krankhafte Feindesliebe. Er
verlangte die Vorherrschaft des Geistes und der
Seele, und diese Vorherrschaft ist stets gesund-
heitswidrig. Gesund lebt nur das reine Tier und
der Hahn bleibt Symbol der Moral: Feder um
Feder, Auge um Auge. Der erste Mensch war
:■ -! 1 ,
323
DIE AKTION
324
eine tierische Dekadenz. Aber jede Entwicklung
ist Verfall minderer Lebenstormen. Hohere erset-
zen. Der Erhaltungsinstinkt der Minderwertig-
keit, dieser gesundeste par excellence, wehrt
sich heimtuckisch und mit Gift. — Aber er muB
gebrochen werden, soil Leben weiter bestehen.
Verfall ist niemals aufzuhalten, doch es gibt Faul-
nis, wenn er sich langsam vollzieht. Verfall ist
so wenig zu verhindern wie personlicher Tod.
Wo Trieb und Mut zu ncuer Zeugung fehlen,
stirbt Leben aus. Verstandnislosigkeit, Zogern,
Bremsen, Hemmen rassischer und soziologischer
Notwendigkeit, ist Verbrechen wider das kei-
mende Leben. — Der Verfallene fiihlt nur Verfall,
indes der Chaotische aus Vollem schopft. —
Die tierischen Erhaltungsinstinkte, durch mensch-
liche Dekadenz, d. h. seelische und geistige Dif-
ferenzierung, abgeschwacht, oktroyiert dem Ein-
zelnen die Organisation seiner Gemeinschaft. Der
Staat. Die Funktionen des Staates, sind Objek-
tivierung derjenigen Instinkte, die durch die
Menschwerdung im Prinzip iiberwunden worden
sind. Die grofite Virtuositat hierin entfaltete der
Romische Staat. Er gab geistlosesten, mechani-
schen Staats- und Rechtschutz alien Machtigen.
Die rdmischen Tugenden hielten alle religiosen
und seelischen Komplexe von ihren Biirgern fern,
die sie erregen und verfeinern und somit zur
Einbufie ihres Machtgefiihles und Bediirfnisses
fuhren konnten.
Das romische Reich ist das in blutigem Marmor
in die Weltgeschichte gesetzte Denkmal der abso-
luten Staatsidee. Sein Verfall zeigt den Irrtum
und die Luge des Axioms, daB Geist und Ge-
wissen einen Korper brauchen, um zu wirken.
Je mehr Leiblichkeit vorherrscht, um so ohnmach-
tiger, um so verganglicher wird sie. Die Luge
des Realen fiihrt immer zum Opfer, zum
finalen Schwund des Geistes und des Gewis-
sens. Sobald der Korper seinen Sinn verliert,
lost er sich auf; mechanisch, chemisch, trotz
Pflege und Korperkult
Die Vergotterung des Realen wurde im rdmischen
Reiche unter dem Zeichen der Staatstugenden
betrieben. Der klassische Verfall seiner Macht
wurde nicht aufgehalten von den immer verspa*
teten schonen Seelen, von den Guten, die nie
aufhoren, gestrige Tugenden zu predigen. Der
Verfall wurde beschleunigt von einem klei-
nen, schwachlichen, unsympalhischen Juden. Aber
er hob aus ihm rein und unversehrt menschliches
Leben in neue Gestalt empor. Er lehrte: das Un-
sichtbare ist wirklich, das Korperliche irreal. Fluch
und Verganglichkeit sind dem beschieden, der
seine Seele dem Korper unterordnet, der sein Ge*
wissen irdischen Pflichten preisgibt. Unsterblich
ist, wcr in letztem moralischen Mute seinen Kor-
per verkummern laBt; gottliche Intervention wird
ihn erhaltcn und sein geistiger Same wird bliihcn
fiber den Leichen und Triimmerfcldern derer, die
ihrem Fleische und ihrer Scholle leben.
Das ist das Bild Christi, das unverratene, des
Verratenen, Ausgelieferten, von seinen Behorden
Gckreuzigten. Und kame Er heute unter uns,
unser gesunder Instinkt, der Erhaltungstrieb un-
serer Minderwertigkeit wiirde sich gegen ihn,
den Verfeinerten und Kranklichen emporen. Ge-
bildete nennen ihn einen Traumer, einen Tage*
dieb, einen gefahrlichen Ideologen, einen Phra-
seur, Hochstapler, den Antichrist, den Dekadent.
— Man liefert ihn wieder dem Pobel aus, er fin*
det sein Ende stets immer wie einst, gelyncht
oder am Galgen.“ —
Noch ist nicht bekannt, ob der Kandidat die
Prufung besteht.
NEGERL1EDER
Nachdichtungen von Carl Einstein
I
Sterbelied,zumVertreibenderGeister
Der Sohn ging in die Felder, zu sehen, beendeten
die Baume die Reife.
Die Baume sind reif. Die Geister irren umher.
Die Zeit ist gekommen.
Die Nacht beginnt. Der Gefangene ist frei.
Der Gefangene ist frei. Geht zum jenseitigen
Ufer.
Er schaut nicht riick warts, schaut nicht riickwarts.
Der Schatten deckte das Feuer der Hiitte. Ich
sehe einen Funken, schwirrt
wie der Gliihw'urm, dreht sich,
umfliegt das Gehor. Ja.
Stamm der Fan
11
Vater, ach ach. Warum Vater verlaBt du deinen
Herd.
Ein Mann, Vater, totete Dich.
Ihr werdet seinen Tod rachen.
Dein Schatten geht zum andem Ufer.
Himmel gliiht. Augen dunkeln.
Wasser fallt vom Baum. Tropfen Tropfen.
Ratte wich aus ihrem Loch.
Seht hier das Haus meines Vaters. Rfliickt Toten*
krauter,
Ein Mann blickt jetzt die unsichtbaren Dinge.
Stamm der Fan
111
Der Tod macht keine Ausnahme. Kein Mensch
meidet des Todes Gericht. Wir brechen auf, wir
gehen — sehen, wir gehen schauen Amusu im
Grab. Der Tod reiBt auch uns aus dem Haus.
Am Mittwoch, acht Uhr lautet Havo’s Telephon:
Di gada.
Ama rief an: „Na, wath is the matter ?**
Es sagtc: Eben ging Amusu ins Totenreich.
Ama rief: „Wie! My God. Wath is the sick?
Amusu ging in das Totenreich.
( Verfasser : Kanyi Eweh)
DIE AKTION
325
VERSE VOM SCHLACHTFELD
Schreie
Schreie brechen uns nieder.
Irrende Rufe umkrallen uns.
Des W eltenwahnsinns Orgeldrohnen riittelt Tage
und Nachte.
Wie eine Mutter deckt sich der Hi mm el um seine
Baume:
sie sollen das Grauen nicht sehen!
bettet in Schnee seine Blumen:
sie sollen nicht schaudem!
Aber wir stehen ganz, ganz allein.
Oh Leben! LEBEN!!
Waram hast du uns veriassen!!
Edlef Koppen
M ousson
Und langsam nur gewohnte dich die Zeit
An Biider, blutgefarbt zuerst und neu;
Doch vor dem Taglichen erlischt die Scheu.
Verglasien Auges starrt das fremde Leid.
Denn reden Leichen? Pferde, die den Huf
Erstarrt nrni Himmel stredcen, wahrend Kot
Dem offnen Leib entquillt? Nur tot, nur tot!
Zuletzt verhallt der Unerldsten Ruf.
Wir ritten nachts. Mattrote Sich el scheint.
Da dringen Stimmen, die du nicht betorst
Vom Schlachtfeld her: Der Nachtwind stohnt und
weint ;
Du gtaubst, daB du verworrene Worte hdrst —
Und plotzlich weiBt du, da8 auch dies versteint
Und BQd wird, wenn du eintnal wiederkehrst.
Maximilian Rosenberg
St elltxng
Die Maschinengewehre repetieren ihre nacht-
lichen Rollen.
Manche gurgeln hastig ihren Vers herunter.
Perlen rein, oder verhallen dunk el
Ober riesige Bahnen. Kn at tern ein rasches Terzett.
Eines klopft funfmal sehr bestimmt.
Funfmal zirpen die Geschosse uber uns weg.
Qeisterhaft. Man macht seine Verbeugung.
Aber wie hoch ist der Sternhimmel uber den
Graben !
Selig steigen die Leuchtkugeln auf,
Vor zerschossenen Baumen, schweigsamen
Ruincn.
Wie der Novemberwald duftet! Nach Nacht und
NuB.
Wie iange soilen wir noch verzaubert sein!
Wilhelm Rlemm
326
J osef Capek Frauentorso
Fruhlingstag
Wirrdunkle Stimmen schwelgen. In Halmen
stehen griine Schreie, zittem.
Eine Sonne fallt auf die Erde, singende Flut und
Ausbreiten,
In das sich Schatten deichen. — Es geht ein
herrschsiichtiges Schreiten
-p- +
Uber das Land, um das Vielfaltige seiner Sehn-
sucht zu wittern.
Ein Wald steht still. Angst in seinem Gesicht
uber Ankunft seines Erreichens.
Hoch stammt seine Not die Quelle der Wurzeln.
Nackt! Nackt! Entkleiden
SproBt a us hageren Leibem. Wildes, unsagbar
wildes Sich-leiden
Graut, rostet, gerinnt und wartet seines Zeichens.
Zimmer sturzen aus Hausem. Menschen grenzen-
los. Ewiges Verschwenden
Des Ewigen: Es mogen wohl Berge weichen, und
Hugel fallen. —
Sturm. Sonne. Sturm, und leisestes aller Lallen
Des Tages zu seinem Abend: Ich will enden.
Ludwig Bdumer
Manchmal . . .
Manchmal ist es, daB wir Bruder treffen
Die wir schon ein Jahr und viele Monate nicht
gesehen
DaB wir von den Eltern reden
Wo wir in den Zimmem gfucklkh und zufrieden
waren.
327
DIE AKTION
328
►
DaB wir dann durch fremde Stadte gehen
In glanzenden Cafes zusammen sitzen
Und schweres Leben mud bereden.
DaB dann wieder alles, was erlebt
Und schon wie ins Vergessen tief gesunken war
Noch einmal jah aufflammt und dann in Nachten
unsre Traume stort,
Viele von uns waren stark die Klage ganz heiseit
zu tun
Aber wenn sie Briider oder Freunde treffen
Steht es wieder auf und Wort wird Klage um die
toten Kameraden.
Und die Dinge die sie einst berieten
Haben Glanz und Kraft verloren
Dann traumen sie vielleicht in Nachten
Von dem Angriff einer wilden indischen Brigade
Und sind ganz aufgeregt am Morgen wieder ihre
Siimme zu.
Rudolf Hartig
BEI BRIXEN
Der Siiden war die suBe Dominante.
Lazerten huschten zierlich hin und her:
wie um den Steintrog, den die holde Mar —
o me verbluhter Liebe Rosenspur! —
das Grab der Julia Capuletti nannte.
Giuliettas Grab, Verona und Venedig:
Erinnerung umwob uns zauberfadig.
Die erste Palme . . . Siidlands Konifere . . .
Aufflog der Seele Wunsch in den Azur,
daB die verruchte Zeit versunken ware!
Rudolf von Kapri
DAS NEUE DRAMA
Von Heinrich Stadelmann-Ringen
Die Zeit. Ein Ruck — Entdeckung, Erfindung,
neuer Gedanke — die Zeit ist alt geworden;
wird neu.
Die Antike: Ein unabanderlicher Schicksalswille
Ienkt des Menschen Handeln. Wer sich auf-
baumt gegen diesen Wilien, bewuBt oder unbe-
wuBt, den trifft Schuld. Solche Schuld wird
Knotenpunkt im antiken Drama, Die Losung des
Knotens im antiken Drama ist vom Ideal M s c h d n“
diktiert, das Einfiigung will; eine Harmonie der
Form; auch der Form des Menschenlebens. Die-
ses Schonheitsideal fCihrt zur Einfugung des Men-
schen willens in den Schicksalswillen.
Die chris tlich-kirchliche Zeit: Eine neue Auffas-
sung iiber das Menschenleben wirft den antiken
Schuldbegriff beiseite. Die Kirche konstruiert sich
einen neuen; unterschiebt ihm das Ideal jjgut 44 .
Will Schuld durch Suhne und Versohnung zum
Ausgleich bringen; will derart die Menschenseele
fahig zur Einfugung in ein Ganzes machen, jen-
seits dieser Welt.
Jahrhunderte vergehen. Die Naturwissenschaft
fangt zu sprechen an. Die fordert durch ihr Er-
kenntnisstreben ein neues Ideal; das heiBt
„w a h r“. „Wahr“ fiihrt dazu, Innerlichkeiten
bloBzuIegen, frei werden zu lassen. Entdeckung
des Menschen! Der Mensch wacht auf; sieht
sich verschleppt.
Jetzt hat der Krieg (in diesem Falle ein Sammel-
wort fur vielerlei Vorkommnisse), gegen seine
Absicht, begonnen, die Wirkung des Ideals ^wahr 44
zu unterstiiizen; hat „Gesetze << , die sich als Boll-
werk vor die freie Entfaltung der Menschenseele
legten, als umstoBlich gekennzeichnet und hat Er-
ziehungsUigen aufgedeckt.
Was des Menschen ist, beansprucht heut der
Mensch fiir sich. Verlangt sein u nverfa Is ch tes
Menschenleben. Will Beziehungen vom Menschen
zum Menschen aufsuchen, die seiner freien Ent-
faltung gedeihiich sind. Ein mit SelbstbewuBt-
heit Fordernder tritt er auf.
Schuld? Dies Wort paBt nicht mehr in die neue
Zeit. Die Naturwissenschaft, die die neue Zeit
zu einer andern Beschaffenheit gemacht hat,
kennt nur das Ideal „wahr“. Was hat „wahr 4<
mit „Schu!d“ zu tun?
DIE AKTION
330
„lch bin!* 1
Schuld? Nein! Recht! Darum ein neucs Drama!
Fort mit dem MiBbrauch von Jesus* Gesellschafts-
lehre! Fort mit dem dunkeln Popanz, womit die
Kirche fiirchten machen will! Fort das Ein-
schuchtern von Mensch enleben auf der Erde! Fort
mit den Drohungen von Strafen fur Ungehorsam
noch liber das Erdenleben hinaus! Fort das un-
wiirdige Verbot, das Menschen zu Maschinen
macht! Fort mit der Macht (Tauschung!) kraft-
loser Menschen!
„KIarheit will ich! 11 ruft der neue Mensch. Der
Mensch von heut und morgen will unverhangenen
Auges hinter die Kulissen des Welttheaters
sehen; will im Vorwartssturmen sich nicht mit
Schuld beladen lassen. Weifi wohl, da6 er
schuld 11 (Ursache!) an etwas sein kann; weist
auch Mgut* 1 und M schon u als Werte nicht zuriick
(jedoch als Ideale!). Hat erkannt, daB als ideal
ihn nur das Ideal „wahr“ fordern kann. Der
Mensch von heut und morgen will erkennen;
will sich befreien. Will die Stellung seines
Ich zur Welt bloBlegen; die Stellung zu sich,
zu andern Menschen und dem Kosmos. Will
sehen, was die Einzelheiten auseinander halt und
was sie eint.
Ein Drama ohne Schuld? Die hergebrachten Kon-
flikte sind im Aussterben. Beim Graben nach
Wahrheit ist ihnen die Wurzel, der Autoritats-
glaube an Sachen und ldeen, abgestochen wor-
den. Jetzt gilt Kraft gegen Kraft. Recht auf Kraft,
die menschliche Innerlichkeit bedeutet
Auf! Sucht die Kraft, die Menschenwahrheit in
euch und die Wahrheit in der Welt! Das sind
unsere Note und unsere Notwendigkeiten!
Der neue Dramatiker spurt nach Beweggriinden
der Menschen zu ihren LebensauBerungen. Diese
Beweggriinde heiBen: Liebe, HaB, Eifersucht,
Verachtung, Enttauschung, Betrug, Banalitat usw.
Sind Gestalten, stark genug, dem Drama den
Lebensnerv geben zu konnen. Diese Bewcg-
grunde sind etwas Zusammengesetztes aus tau-
send einfachen Grunden. Arbeitet der neue Dra-
matiker mit den zusammengesetzten Grunden,
dann schafft er das Drama vom Menschen in seiner
Stellung zum Menschen; werden ihm die elemen-
taren Lebensgriinde Ausgangspunkt, dann erhebt
er das Drama vom Menschen zu kosmischer
GroBe.
Die Losung des Konfliktes im neuen Drama kann
folgtich nur durch Erkenntnis geschehen; die be-
deutet Befreiung. Das neue Drama ist ein Er-
kenntnis- und Bef reiungsdrama.
Inhalt des neuen Dramas? Das Leben. Immer.
Dieser fnhalt wird aus den Lebensgrunden, die
alien Menschen gemeinsam sind, als Menschlich-
keiten. Darum wird das neue Drama ganz un-
personlich sein. Sein Schopfer tritt hinter das
Erschaffene zu ruck.
Die InnerJichkeiten, die sich im neuen Drama
durch die LebensauBerungen kund geben, konnten
in mystische, geschichtliche, moderne oder in
phantastische Gestalten verlegt werden; nicht
aber diirfte die LebensauBerung der Ausgangs-
punkt des Dramas sein.
Aus Grunden etwas herausgestalten ergibt etwas
Anderes, als durch Griinde Gewordenes nach-
ahmen. Hier tritt der Unterschied von Wahrheit
und Wirklichkeit deutlich hervor. Nicht d'e „fer-
tige Welt 11 (Menschen) da drauBen diirfte der
neue Dramatiker zum Muster nehmen; sie auch
nicht herausheben, „wie sie ihm vorkam 11 , „wie
er sie erschaute. 11 Nicht ein Vorkommnis aus
der menschlichen Gesellschaft zu einem drama-
tischen Stoff „dichterisch umbilden 11 ! Nicht „Tat-
sachen andern! 11 Nicht „idealisieren !“ Aus eige-
nem Lebenserlebnis heraus miiBte der neue Dra-
matiker schaffen.
Poet-Dichter und -Macher; in Obersetzung des
Wortes. Wir trennen hier den Macher als Er-
zeuger vom Macher, der ein Nachformer ist.
Darum unterscheiden wir zwischen „n a t u rl i ch 11
und „naturalistisc h“. Das neue Drama „na-
tiirlichen 11 Stils ist das innere Ebenbild vom Men-
schen.
Der neue Dramatiker stellt Gleichnismenschen auf
die Biihne; mogen sie auch moderne Anzuge
tragen.
Josef Capek Frauenportrdi (Federteichnung)
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331
DIE AKTION
332
Gleichwie der Mensch in dieser Welt ein Gleich-
nis ist der Losung aus Kampf von vielen und —
wie lange schon! — einander bedrangenden Ge-
walten, kann des dramatischen Dichters Mensch
auf der Biihne nur ein Gleichnis der Lebensgrunde
aus dem Geist des Dichters sein.
Die Notwendigkeit des Geschehens verlangt vom
Dichter Folgerichtlgkeit bis zum letzten; mag da-
bei auch die Stoff setzende Innerlichkeit bis zu
letzten Fragen einer Mystik sich erstrecken. Durch
diese strenge Folgerichtigkeit (gefordert vom
logischeu Ideal „wahr“) wird das Drama etwas
„Gewachsenes“ ; nichts Frisiertes, Gebiigeltes.
Wie kommt das neue Drama zustande und wie
prasentiert es sich?
Nicht Aufrollung einer vorgeschriebenen, vorge-
zeichneten Fabel! Die Fabel ist schon Fertiges;
Josef Captk
Portrat ernes Marxnes
sie wird nicht ; sie ist. Derneue Dramatiker
bautvon innen heraus; tritt nicht von aufien
her an eine Sache oder ein Ereignis. Will ernst-
lich Wesenheiten; nicht Gegenstand. Schafft dtr-
art echtes Ausdrucksdrama; Kunst; Geschopf.
Die Tragodie der Enttauschung wird einen andem
Bau haben als die der Treue usw. Die Lebens-
griinde, als Rich tl ini en des Dramas, bestimmen
dessen Bau.
Der Ausgestaltung des neuen Dramas hegt ein
bewegiiches „Gesetz“ zugrunde. Der neue Dra-
matiker als Schopfer darf bei seinem Dramenbau
jede mogliche Architektur anwenden, vorausge-
setzt, daB er die Innerlichkeit in ganzer Folge-
richtigkeit zum A usd ruck bringt. Deshalb kann
er sich nicht an die hergebrachte Form der Akte
halten; er wird seelische Bilder aufrollen, worin
die Hauptmomente der dramatischen Geschehnisse
gekennzeichnet sind. Diese Bilder sind, wie durch
Strahlung, test untereinander, unsichtbar verbun-
den. Eine Einheit.
Die Sprache im neuen Drama? Kiirze; Knappheit;
Breite; Dithyrambus . . . Je nach Notwendigkeit,
um die Innerlichkeit zu versinnbildlichen. Auf
jeden Fall Obersichtlichkeit
Schmuck? MuB in der Sache selbst liegen. Kein
Aufkleben von Verzierung! Witz? Desgleichen.
„Gewachsenes 4t .
Aus aliem ergibt sich ein „n a t ii r I i c h e r S t i l“.
Der lauft entgegengesetzt den Weg vom „natura-
listischen".
Wer schreibt solche Dramen natiirlichen Stils?
Das tun Niichternheit und Leiden-
schaf tlichkeit, die Griinde des Er-
kenntnisstrebens und des Befreiungs-
dranges; die Temperamente unserer
neuen Zeit!
Was will das neue Drama? Will es unterhalten?
Erziehen? Aufregen? Spannen? Es will wirken
durch seine Wahrheit furs groBe Ziel, das Mensch
heiBt. Den einen Horer mag es unterhalten; den
andern beunruhigen; einen erziehen; einen in Ek-
stase bringen . . . Das hangt von den Men&chen
ab, die im Theaterraum sitzen.
Was wiirde zu solchem Drama der Kritiker (von
gestern) sagen? Der Kritiker? Der lispelt ver-
legen in sein Gehirn hinein: „Da versagt mein
MaBstab**. GewiB. Denn das lebendige Gefuge
des neuen Dramas, geworden aus dem Erlebnis
vom Leben, laBt sich nicht mit starren, toten Ge-
gensfanden messen. Vielleicht halt er es mit dem
erprobten Literaturhistoriker, der sprach: „Warten
wir, bis diese Dinge sich bewahrt haben 1“
HOCH SICH WINDENDE RANKE
Von Heinrich Schaefer
Blocke prallen. Kosmos angefiillt mit Blocken
mengt die Blocke, wirft rumorend krachend split-
tend durch einander, drangend allher ineinander
Mittelpunkt auf einen Block, auf einen fullend
eingefugten, ruhgehangten Kosmos-Block.
Durch einander kurvzackstechend wandem bre-
\iSS'
■ ( • " ;
u n. i m
•,v- ■■■■
DIE AKTION
chend streckend imtner stehen luckenlose Risse,
dennoch Risse, schwarze Blitze ewig wandelnd
ihre Zackgestalt.
Und von unten und aus Dunkeln 1st ein Frucht-
grund hoch gehoben, dranget her, schwarzer Feit-
schlamm, weiBe Kiesel, schwellend, wall end, uber-
all erknisiem quillend die Fruchtbruste im vul-
kanischen Mutt e rland.
Schon Beruhrung mit den Block en und die ersten
SchoUen fetzen wie gebaggert und die ersten
Schlisse sind gefegt in das vielbuckelnde Mutter*
land.
Schreien, schrilles Kratzekreischen, Drechsel-
achreien der geschnittnen Kiesel, bebend in sich
zdgemd zieht zuriick das weiche Land.
Aber immer, immer Fruchtgrundmassen neu auf
neu gebarend drangt das Dunk el — Pressung,
ReiBung, Schmerzen, Schreien, Werfen in Erbau-
mung hinaus entbogen ohn Entrinnen verwachsen,
Sterben zwischen ReiBung, Pressung — Durch
muB. Durch muB. Krampf in sich zusammen
zuckend duckt der Muttergrund, alle Muskeln
innenwarts gezerrt, geknauelt um den Knorpel
seiner Kraft — irr glitzen fiebemd weiBe Kiesel
starrer Schreck, in schoner Streuung weit liberal!
die weiBvereisten Augen an dem dunklen Leib
des ungeheuren Urgrundmutterbails —
Plotzlich Kuppe, wachsend ein Berg, aller Leib
getrieben in alleinzige Mutterbrust, steiget stoBt
und rammend stoBt — Durch muB. Alles durch*
get rage n muB ein Wachstum baumgebandigt rund
im saftigen Holze einzig zusammensiehn, o Wun-
der! — was widersteht dem Eisenzackgebirge,
hingetragen am Bug der sausen Erde — h in ein
in die knallende Muhle der Bldcke —
Siehe, siehe, was erstand — alle Frucht gesam-
melt in die Spitze war ein Keim, geborgen in die
auBerste Kuppe hoch, die Kimme Diamant, der
Kronschatz, edler Stein und wild gehauen winz-
ger Stilt auf breitgeschwollner Woge er ais StoB,
er als StoB an den Feind — hell blaffend ihm
entspritzt ein grunes Halmchen steht test und
spitz.
Aber donnemder mit Gebriill und Krachen in sich
groHender das wehe Pein- und Messerwerk ge-
schuttelt — wilder rucken knarren die Hobel
seiner Schneidekanien gedreht, kopfen den Berg
und sprengen die SchoUen, Blut schiittet, mahen
das junge, saf tige, kaum lugende Kind, das
HaJmchen.
Aber in das Wilde wilder wogender wirft sich
aus rotem Sprudeln ein Berg und griines Spitz-
chen zungelt, fuhlert und siicht, ziickt zuriick.
lauert, sticht, schnell SchuB in voruberfliegenden
RiB ist es geschlupft, hiipft, wachst schnell und
schnell in Langung muB es sich ziehen, in das
rasende Chaos der Bldcke willig geklemmt mit*
gerissen muB es rasen.
— und die letzte Kraft zu wachsen und zu nahren
reifit in sich hoch der gute, gute, blutende Mutter-
berg treibt, treibt —
Durch das Bldckechaos blotzt und plumpert Mord
und Tod. Quaderpfeiler kreisend und das Stan-
genwerk der Weltmaschine knackt das Harte,
kerbt das fliehende Weiche tief, Bruch und Blut.
Suche, such, von dem enfziindeten Muttergrund
auBerst nie getrennt, Trennung nie gewillt, halt
immer Faden diinn, zieh Fett und Schleim, glan-
jogtf Capek Portrtit tints Manncs
r-i
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335
DIE AKTION
336
zend durch die treue Wurzel dein wird Liebe dir
gesandt, flammt in dich ein, eiastisch klopft dein
Pulsschlag gut, verwandle dich, durch Feindschaft*
wand in schlanken Pilz erdehne dich, doch bringe
dich, doch lebend immer schlinge dich, eidech-
sengut und schlangle hurtig — durch Rillen rinnt,
durch Karst und Klamm klettert und dreht, in-
mitten zermalmendem Tod gestummelt, gcschnit-
ten wachst und iebt armes, diinnes Gras, was
Stamm ist, Baum und weiter Wipfetmond, wachst
und lebt, dranget gedrangt und weiB nicht und
stemmt, fiillt rohrigsten Stieg, auf glimmert Licht,
stoBt dornigste Miindung, Saft spritzt in das
Brockeln, aus letzter Quetschung, aus giftigem
Zahnemund, der beiBt und schleiBt, ringelnd
ersteht, entrinnend eilig, in Freiheit erholend
raschauf raschauf, hoch in Saule fein ist die Ranke
erwunden, quiriet und vveht, rotierender Qualen
erdrechselt erdreht, was halt sie? was hebt?
in einsamem Raume spielen Spiralen und ihnen
erschwebt stracks trotzt die Spitze spitzender in
dem eisigen Lichte, wo Leben erfriert — o hu-
schendes Leben! o ewiger Tod! — entschwindet
vergeht —
Bemerltung zu diesem Josef Capek*Heft
Auf die Frage, warum such bei uns Tschechen einc Bewegung
wie der Kubismus entstehen und sich entwickeln kann, mufj
geantwortet werden, dafl die Geschichte einer Revolution, wie
der Kubismus sie ist, nicht einem einzigen Volke ihre voile
Entwicklung verdanken kann, Bei uns darf sein Entstehen als
der Ausdruck eines allgemeinen, niemals feilschenden Enthu-
siasmus, und einer reinen Seele betrachtet werden. So wie zu
unserer Tradition die Kampf e um die Gesetze der neuen Welt
und um die geistige Wiedergeburt durch die Reformation ge*
horen, so spielt sich auch in diesem Falle der Kampf um ein
neues Seben und Offenbaren bei uns ab. Es handeit sich um
cine Demonstration gewisser allgemeiner Weligesetze.
Aus dem Kampf um das Rechl auf die Existenz dieser neuen
Form ertbnt bei uns das Gebet um das, was das Volk immer
persbnlich am schmerziicbsten geftthlt hat — das Gebet urns
Le b e n.
Der Maler will nicht, daft nur das Stoffliche und Gegen-
siSndliche sei. Der neue Mensch erregt sich religios und ist
andSchtig. Denn wiewohl er auch lebendlg ist, ftthlt er sich
doch schwfichlich und klein: Uber ihm hangt die abgrund-
liefe Last des GegenstSndlichen und aus dieser Gewaltigkeit
ergl&nzt seine Sehnsucht und sein Gebet, es w£ren keine leb-
losen Dinge mehr, es m&chte die tote Maierie sich beleben,
es geschehe das Wander des Auflebens, es mbge das Geheimnis
des Lebens entstehen,
Von der bildnerischen Seite sehen wir, man ist um Anmutig*
keit bemttht: die Linie wird inniger und reicher an Reinheit,
die Konstruktion geschieht in einfacher Farbe, in klar gesetzten
Kitchen. Aber in den Vordergrund treten hier aufierdem auch
andere umstttrzlensche Quellen kllnstlerischen Schaffens.
Zum Gcgenstande des neuen Schaffens wird die Welt der Vorstel-
lungen und Erinnerungen der Kindheit der Secle. In dieser
elementaren Welt haben die Dinge eine eigene hbhere Realitat
und Lebendigkeit, eine hohere geistige Wirklichkcit und cine
tiefere R¨ichkeit, als in der stnnlichen Augenblicklichkeit
und Sentimentalitat des Impressionismus und Naturalismus der
eben abgelaufenen Zeit. Zu diesen verborgenen ursprElnglichen
Quellen der menschlichen Seele ftthren, wie mir scheint, Capeks
Bilder.
hr. Tu 6 ny
(Oberseut von J. Fleischner)
Ueber Alfred Wolfenstein
Als Wollensteins ersles Gedichibuch erschien, ,,Die gottJosen
Juhre’* (S, Fischer, Berlin 1914), da konnte man meinen, hier
sei ein stiller Dichter,. mensch' und kreaturliebend, cdel im
Versuch uns das Daseinsrecht jedcs Geschopfs zu lehren aus
dessen eigenem Auge, Blut and Bau:
P f e r d.
Htlglig gehohlt und gehoht liegt sein Rucken
Leblos drttckend auf sleilen Gitedern
Wie auf stummem Sluhl .... bloflc Fleiscbe btlcken
Sich zu Steinen, die die dumpfe Last erwidern . . .
. . . Pltitzlich bewegt vor sich vorwtrts hasten
St&rken, daran die fremden Willen laut saugen
. . . Vorn eingesperrt in den knochigen Kasten
Summt sein armes Hirn an die Locher der Augen.
Und hier, aus dem Abschnitt „Das neue BewuBtsein“, ganz
liebend, neufranziskanisch :
Die Gedanken schlagen zusamtnen (ftir welches Fest ?) im
Geltut.
Und unten pfeift die Strafle vor Schnellsein (was ibr
Ziel ?)
Die Trams sprtihen am Draht und klingeln von Menschen
voll Geftlhl,
Dieser herrliche Blick vom Pferd (aber wtlOt ich, was ihn
so freutl)
Aber spaler las ich von ihm den Vers:
An meinem Mund rllttelt Sturm
und diese Prosasiitze:
Ein Dichter sein bedeutet, selbst an die Stelle eines Qe-
dichtes treten zu konnen . . . Wer selbst als sein Gedicht
auftritt, hat nur sick darzubringen . . . Die Schusse^ die
aues beim alien lassen, sollen ubertonende Stimmen zu
horen bekommen Die W a f/en, die alles beim. alien
lassen, sollen, wie von einem gewaltigen Magneten, von
der Gestalt des ganz sichtbaren Kuns tiers angezogen und
den chaotischen fidnden entrissen werden,
Danach wufite ich, da Q er einer von den unsrigcn ist. Ein
Direkter, der sich entschlossen hat, seine Person fttr die Liebe,
fttr die Gemeinschaft, fttr die hobere Ordnung einer neuen
Welt hinzugeben. Aber, die das mit mir wuflten, das waren
nur Wenige; wir Minderheit, die seit Jahren gettbt ist im Laster:
hinter den Zeilen zu horchen,
Ein Dichter von diesem Wollen hat Verplichtungen. Nieroand
darf langer meinen, daft es seinen Versen gleichgttltig wfire,
wenn Thessalien Krieg auf den Mond trttge I (Gleichgttltig
seinen Versen, und nur seine m Frivatleben ein leidenscbafi-
licher Abscheu.) Wolfenstein werde offentUch, Er sage den
Geist an, unter dem er stebt. Seine Freunde sind da.
Ludwig Rubiner
ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS
L
Italienische Wutausbrttche. Beihmanns Rede.
Drahtbericht uns. Korrespondenten.
Lugano, X. April. Die italienischen KriegsbI&tter
ergehen sich, wie nicht anders zu erwarten war, in hasserftllllen
Beschimpfungen Deutschlands als Antworl auf die Rede Belh-
mann-Hollwegs. „Corriere della Sera* nennt diese eine ,, hinter-
listige Verbeugung vor der russischen Revolution 0 . Aus
Rtlcksicht auf das Dr&ngen der freiheitlichen Parteien im
eigenen Lande habe das Haus Hohenzoltern durch den Mund
des Kanzlers den in der Gefangenschaft weilenden Zaren ver-
leugnet, wie Petrus Christus verleugnete ; netn, schlimmer noch :
verralen, wie Judas. Wilhelm II. lasse heule Steine auf den
gefallenen Zaren werfen, weil dieser die hundertjahrigc Freund-
schaft zwischen den Romanows und Hohenzollem vergessen
habe. Welch eine Ktthnheit! Die tragische Schuld des Zaren
war es, sicb den liberalen Nationen genShert ohne vom preussischen
Militarismus und Unterdrflckungsgeist gelassen zu haben. Das
Blau hofft, dass die Petersburger Arbeiter nicht vergessen
werden, dass die Revolution erst moglich wurde, nachdem das
alte Regime die preussische Untersttttzung verloren hatte. Die
Rede Bethmann- Hollwegs sei nichts als ein Lttgengewebwe und
ein Fallsirick far das neue Kussl&nd. Auch „Secolo“ nennt die
Rede einc ungeheuerliche Lttge, darauf berechnet, dem russischen
Volke zu schtncicheln. Das rdmische Regierungsblatt „Giornale
d' Italia u gibt ebenfalls der Meinung Ausdruck, dass Bethmann-
Dollweg sich mil seiner Rede in erster Linie an die demo
kratischen Parteien im eigenen Lande habe wesden wollen.
DIE AKTION
338
urn fieien Zorn zu damp fen. Die Basis seiner Rede sei absolul
Msch uud wider spruchsvoll. Seine scheinbaren Schmeicheleien
gtgentiber der Revolution und seine heuchlerische und unbe-
itimmte Friedensofferte an den demagogischen Pazifismus babe
den Zweck, indirekt die katastrophische Tendenz zu begtinstigen
und so den preussiseben Konservativen ein Pfand ftlr den
Ruin der Revolution zu geben. Die Befestigung der freiheitlichen
Zustande in Kussland und die Einsicht des russischen Volkes
warden aber alle diese Machenschaften zuschanden machen.
Wer schimpft, bat unrecht.
KrUgtztitu.ng dta ,,Ber lintr Lokal-Anzeiger t“ 2, April 1917.
KLEINER BRIEFKASTEN
F. J. Icb mtisse w anerkennend“ registrieren, dafi das ,,B, T. u
ein Beiblatt „Das junge Geschlecht" seiner Phngstnummer mil'
gegeben babe? Dieses , junge Geschlecht 11 reprasentierten dort
diese funf Autoren: Franz Werfel, Heinrich Mann und Georg
Kaiser einerseiis, der secbzigjihrtge Kulturaufrufumerzeichner
Carl Hauptmann und Herr Hasenclever von jener Seite, Sind
Sie ernatlich der Meinung, Herr Block drucke Mann und Wer-
fel, u.m ftlr diese Dichter ein Publikum zu werben ? Ach, es
ist der alte Trie, den ich hier oft (zuletzt im Heft 9/10 d.J.)
kennzeichnele : hat sich ein Autor durchgekampft gegen Hobn
und Totschweigen der Presse, dann naht Herr Block (oder Fritz
Enge 1), um mit „Namen“ zu prunken, Wie aber das „n«men
lose“ junge Geschlecht votn r B. T. u behandelt wird, daftlr
bringt jeder Tag neue Beweise. Da bat Herr Block verbffent-
licht: n Fdrderung ist mehr als Geld**. Einer der besten
Dichter der AKTION, (den das Tageblau feiern wllrde, hStte
er, wie Georg Heym, das Gltlck, katastrophal aus dieser Kul-
turmenschheit befreit zu werden), lieO daraufhin Herrn Block
einige Kostbarkeiien zusenden. Der Feuilletonchef, der den Ein-
sender als AKTJONS-Aulor nicht erkennen konnle, reagierle :
REDAKTION DES BERLINER TAGEBLATT
ABTEILUNG FEIJILLETON
Alle Zuitoduagta »a upi sind lt An die Rediktion
d#« lintr Ttgeblitt FEUILLETON* * iti
: BERLIN SW 1 9, 19. Mirz 17.
BKRLXBLA Jerusaletasr Strait 45—49
Werter Herr,
es spriebt eine entschiedene Begabung aus diesen Gedichten —
aber wie soli eine Tageszeitung in dieser Zeit der aufiertten
Raumnot solcbe Verse dmcken? Ich wllrde Ihnen raten, sich
an die ^Akiion* cu wenden, deren Herausgeber zwar mit dem
„ Berliner Tageblatt“ ewig im — einseitigen! — Kriege liegt,
aber ftlr junge Dichter Stimroung bat, Berufen Sie sich aber
nicht auf micb; das wllrde Ihnen nur schaden. Allenfalls
kbnnen Sie auf die verknocherte Feuilletonredaktion des „ Berliner
Tageblattes* 1 schimpfen; wenn Sie dadurch bei Herrn Pfemfert
etwas erreicben konnen, haben Sie memen Segeo datu.
Mit Hochacbtung
Paul Block.
Niedlich. Fbr ^entschiedene Begabungen a hat das Papier keinen
Raum, das tnunier die Fulda und Genossen druckt und dabei vorgibt,
das „ junge Geschlecht“ fordern zu wollen.
Obrigens xahlen auch Kttnstler zu diesem Geschlecht, und das
Moaseblatt bat in Fritz Stahl einen Kunstkritikus. Junge Maler
mils sen Bilder verkaufen, mllssen „marktfahig tt werden, um in
dieser Gesellschaft vegetieren zu kdnnen. Das weifl selbst
Herr Stahl. Jetzt entdeckte er, dafi die stets von ihm ver-
lachten Jtlngsten sich (wieder gegen die Presse!) eine Gemeinde
erklmpft haben. Eine Versteigerung, die, den 5. Juni 1917,
in Berlin stattfand, zeigle es. Wie zieht sicb Herr Fritz Stahl
aus der A flare ?
Herr Fritz Stahl jauchzt im ,,B. T." t Abendausgabe vom 6. Juni
1917: F. St. Die Versteigerung der Gaierie Flechtheim hat
sum ersten Male Werke der neuesten Richlung der Probe der
Auktion unierworfen. Es ist hier tlber die Sammlung nicht
vorher gesprochen worden, um die Freisbildung, die dies-
mal eine gewisse grundsatzliche Bedeutung hatte, nicht zu
bceinflussen. Ftlr die Betracbtung des Resultats ist es wicb
tig, darauf hinzuweisen, dafi es sich nicht um eine Auslese
handelte. Auch soli nicht vergessen werden, dafi die Ver-
meegung alter und neuester Bilder vielleicht unvoneilhaft
gewesen ist. Selbsl Werke berilhmter Meister, wie tier „Zuave“
von Van Gogh (19000 Mark), haben nicht so vie! gebmchl,
wie sie im Zusammenhang einer anderen Auktion erzielt h St ten.
Trotz alledem muii man feststellen, dafi die Preise ftlr die Bilder
der jtingsien Schule im ganzen sehr niedrig waren . . . Die
einzige Ausnahme bildete ein Gemalde von Marie Lau-
rencin, das setnen Preis von 3000 Mark wo hi dem frtlh
gezeigten Imeresse einer sehr za hi u ng sfah igen Familie
verdankt. Dieses bescheidene Resultat ware nicht weiter
auffallend, wenn es nicht in so schreiendem Gegensatz zu dem
Ruhm stande, den die Wortfilhrer der lelzten Ismen den
Malern gespendet haben. Diese j ungen Ktlnstler haben ftlr sich
allein mehr Zeitschriften und woribegabte Fllrsprecher zur
Verfligung, als alle anderen zusammengenommen. Es wird
seit Jahren fUr sie und gegen die Unglaubigen des neuen
Glaubens so viel Larm und Geschret gemacht, wie niemals
frUher in der Kunstkritik gehort worden ist . . . Da ist es
doch wohl cm Beweis fttr die KUnstlichkeit der ganzen Be-
wegung, wenn in einer Auktion nicht einm&l dieselben Preise
wie im Handel erreicht werden . . .
Herr Fritz Stahl gibt also offen zu, Vorbesprechungeo zurtlck-
gehalten zu haben, um „die Preisbildung nicht zu beeinflussen“ !.
Er gibt zu, die Versteigerung habe eine „gewisse grundsKtz-
liche Bedeutung“. Und da ihm das Ergebnis einen Strich
durch seine gesamte Kritik machte, deutete er es einfach um 1
Mutig verschwieg er, dafi ein Aquarell von Liebermann 1 100 Mark,
eine Zeichnung von Picasso 2000 Mark brachte. Er spricht
vor dem q zahlungsfahigen M Tageblattpublikum von n sehr nied-
rigen Preisen", als sei das ein Einwand gegen die Kunst und nicht
vielmehr gegen die Bilderkaufer, Er nennt (bei seinem Hin-
weis auf Marie Laurencin) eine (falsche) Zahl als ,, einzige
Ausnahme". Dabei muflte die Ubrige Presse, die auch nichl
ftlr jtlngste Kunst schwSrmt, der Wahrheit entsprcchend ganz
anders berichten! Hier zwei Ziiate.
In der „B. Z.“ vom Donnerstag, den 7 . Juni, war zu lesen:
Die erste Auktion jtlngster Kunst.
Zur Versteigerung der Gaierie Flechtheim am Kurftirstendamm.
Es hat sich bei dieser ersten Versteigerung der „jtingtten u
Kunst um nicht weniger gehandelt, als um den Beweis daftlr,
wie weit diese Kunst tlberhaupt marklflihig und m&rktmdglich
ist. Der Beweis ist gegltlckt. Von heute ab ist keine
Tfiuschung mehr moglich tlber die Tatsache, dafi ein Publikum
ftlr unsere neueste Kunst da ist, und dafi dieses Publikum ftlr
seine Cberzeugung bereits Geld ausgibt, also zu ihr Vertrauen
hat. Denken wir an die ersten Vcrsteigerungen zurtick, mit
denen die Iunpressionislen zur Zeit ihrer ersten Ausstcllungen
die Offentlichkeit zu erobern versuchten. Schon damals hat die
revolutionise Kunst versucht, auf dem Wege fiber die Auktion
cum Marktwert zu kommen. Buret weiil interessant zu er-
zahlen, wie klaglich diese Versuche scheiterten, wie schflne
Werke, entscheidende Werke der Manet und Monet, der Picasso
und Sesley im Preise zwischen 50 und too Francs schwankten.
Wie sieht dem gegentlber nun die Rechnung des „Expressio-
nismus* aus? Picassos wurden mit mehr als 3000 und 4000 Mark
bezahlt, ein grofies Bild von Marie Laurencin ging nicht
unter 3600 Mark weg; die allerdings auffallend schdne Wein-
ernte des Schwcizer Amiet stieg bereits auf 2100 Mark, die
Madonna von Deni-? auf 1000 Mark, ein Derain auf 1820 Mark,
ftlr eine grofle Bronze des Italiener Fiori 2450 Mark, ffir
Landschafien von Friefi 700 bis 1000 Mark.
In der „Tag1ichen Rundschau* (fi. 7 .) : Versteigerung der Ga-
ierie Flechtheim stand mit semen Werken der neueren Kunst
im Zeichen zahlreichen Besuches, reger Anteilnahme der Bieten-
den und guter Preise. Auch ftlr Arbeiten von recht frag-
wtlrdiger ktinsilerischer Natur wurden nnsehnliche Sum men
gezahlt. Als bezeichnend fUr die NVertschatzung Ubermodemster
Kunst mogen angeftlhrt sein, usw.
Doch genug Bemerkt sei nur noch, dafi die bekannteren
jtlngsten Deutschen nur sparlich venreten waren. Kein Bild
von Max Oppenheimer Oder Kokoschka, keine Arbeiten von
Kichter-Berlin, Tappert, Schmidt Rott luff, Cesar Klein, Morgner,
Pechstein, Hans Richter, Schritnpt, K. J. Hirsch. Dennoch
erbrachte die Versteigerung Herrn Stahl den Beweis ftlr die
,, KUnstlichkeit" der ganzen Bewegung".
INHALT DER VORIOEN NUMMER. (SONDERHEFT ALFRED WOLFENSTEIN) : A. H. PELLEGRINI; ALFRED
Wolfenstein, Portrat (Titelbiatt) / Alfred Wolfenstein; Uber Lebendigkeit der Kunst / Josef Eberz: Zeichnung / Alfred Wolfen-
stein: Allegro der Hnstemis / Rudolf Mense: Zeichnung / Alfred Wolfenstein: Vorspiel; Dunkel des Denkens / Waldemar Ohiy:
Maske / Alrred Wolfenstein: Andante der Freundschaft; Durch die Schwarze der Erde / F. P.: Ich schneide die Zeit aus; Kleiner
Briefkasten; Bemerkung zu diesem Sonderheft / Beilage fur die Buttenausgabe: Felix Muller: Original-Lithographie
I
Ffir Her&usgabe, Schriftleitung und den gesamten
Inhalt verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin-WIl-
mersdorf, Nassauische Strafle 17. Tel. Pfalzbg.1695.
Oedruckt be! F. C. Haag, Melle in Hannover.
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Unverlangten Manuskripten
ist Rflckporto beizuftigen.
Alle Rechte vorbehalten.
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WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, UTERATUR, KUNST
VI JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT NR. 26
INHALT: Georg Tappert: Landschaft. Original-Hotzschiiitt (Titelblatt) / Franz Mehring: Michael Bakunin / Osio Koffler:
Oondelfahrt (Federzeicnnung) / Theodor Lessing: Europe und Asien / Max Krause: Ein Argument (Federzeichnung) / H. Anger:
Holzsdinltt / Herbert K&hn: wiederkehrende / Franz tobler: Kinderkreuzfahrt / Antonin Sova: wenn nun . . . / Paul Bold!:
Die Sprccher / Horax Traubel : Oh mein toter Kamerad / Raoul Hausmann : Holzschnitt / Felix MQller : Holzschmtt / Kolzow :
Der ventummte Dichter / Alfred WoUenstdn: Hingebung des Dichters / K. J. Hirsch: Original- Holzschnitt / JQrgen von der
Wense; Angdegenbeit / Heinrich Stadelmann-Ringen : Sophus Emanuel. Eine Novclle / w. Schuler: Holzschnitt / Xaver:
Caligulas Hinterlassenschaft / Felix M tiller : Xavers Portrftt / Simon Kronberg: Erdbeben / Franz Jung: Einffihrung in den
Roman Zuflucht / F. P.: Ich schneide die Zeit a us; Kleiner Briefkasten
VERLAQ > DIE AKTION < BERLIN -WILMER S DORF
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WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK. LITERATUR, KUNST
7.JAHRGANG HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT 30. JllNl 1917
MICHAEL BAKUNIN
Von Frans Mehring
Unter den revolutionaren Charakterkopfen de$
neunzehnten Jahrhunderts nimmt Michael Baku-
nin einen hervorragenden, aber keinen unbestrit-
tenen Platz ein. Und solange es Philister auf die-
sem ErdbalJ gibt, wird ihm sein geschichtlicher
Ehrenplatz wieder und wieder bestritten wer-
den.
Bakunin gehorte zu jenen „grenzenlos-genialen
Naturen“, von denen Goethe einmal spricht, Na-
tural, die dem Philister ewig ein Argernis und
eine Torheitsind, aus dem einfachen Grunde, weil
er sie nicht verstehen kann und nicht einmal ver-
stehen darf, ohne sein kostbares Dasein aufzuge-
ben. Wobei es naturlich nicht darauf ankommt,
ob dieser Philister sich die Nachtmutze des poli-
zeifrommen Staatsbiirgers uber die Ohren zieht
oder jener Philister das Lowenfell eines Marx
um seine schlotternden Gebeine zu hangen ver-
sucht.
Bakunin hatte hundert Fehler und Schwachen,
und namentlich lebte er, um seiner revolution a ren
Anschauungen willen schon fruh von Familie und
Vaterland verstoBen, in ewigen Geldnoten, die
ihn in den Fragen des irdischen Mammons recht
unbekummert machten, was der richtige Spie-
fier am wenigsten verzeiht. Aber wenn er und
seinesgleichen nun diese oder ahnliche Siinden
Bakunins an den Fingem herzahlen, so wird, wer
sich anders noch auf menschliche Grofle und
menschliche Schuld versteht, entweder mit Las-
salle im allgem einen antworten : I hr habt ja in jedem
Punkte recht, aber eben daB Ihr in jedem Punkte
recht habt, ist Euer Unrecht, oder mit Bjelinski,
dem beruhmten russischen Kritiker und jugend-
freunde Bakunins, im besonderen: „Michae! ist
in vielem schuldig und sundhaft, doch gibt es
etwas an ihm, das alle seine Mangel uberwiegt —
das ist das ewig bewegende Prinzip, das in der
Tiefe seines Geistes lebt.“
Dies „ewig bewegende Prinzip 1 *, wie es Bjelinski
oder „der Satan im Leibe**, wie es Bakunin selbst
grobschlachtiger nannte, oder wie man es wohl
am treffendsten ausdruckt, der revolutionare
Sturm, der in ihm lebte, war Bakunins Starke
und — wie es bei jedem ganzen Mann zu sein
pfiegt — seine Schwache. Jeden Funken des Auf-
ruhrs, den er zu entdecken glaubte, schurte er zu
heller Flamme, aber es ist oft genug vorgekom-
men, daB er in tote Asche blies, die ihm selbst
in die Augen staubte. Wenn er sich bei dem Dres-
dener Maiaufstande von 1849 — nach dem Zeugnis
seines spateren Gegners Marx — als „fahiger
und kaltbliitiger Leiter“ bewahrte, so hatte er
sich ein Jahr vorher fur den abenteuerlichen Frei-
scharenzug begeistert, den Herwegh aus Paris
nach Deutschland plante, und noch zwanzig Jahre
spa ter hat er sich von dem russischen Fluchtling
Netschajew, einem wild energischen, aber vor den
verwerflichsten Mitteln, vor Falschung, Raub und
Meuchelmord nicht zuriickschreckenden Agitator,
in einer Weise betoren lassen, die mehr als alle
seine sonstigen MiBgriffe seinem Ansehen gescha-
det hat.
Bakunins Eigenart verrat sich schon in seinem
literarischen Erstling. Als Sohn einer alten, ange-
sehenen Adelsfamilie sollte er die standesubliche
Militarlaufbahn einschlagen, wurde aber durch das
ode Garnisonleben so angewidert, daB er schon
mit zwanzig Jahren den Offiziersrock auszog. Er
wollte sich nun der wissenschaftlichen Laufbahn
widmen und genet in einen Kreis junger Leute,
die die Probleme der deutschen Philosophic eifrig
erorterten. In dem Studium unserer klassischen
Philosophen ist Bakunin zum Revolutionar ge-
worden. Um Kant, Fichte und Hegel an der
Quelle zu studieren und zugleich in ihrem Geiste
zu wirken, siedelte er 1339 nach Deutschland uber,
wozu ihm nicht die Familie, die ihn fortan am
Hungertuche hielt, sondern ein ige Freunde die
Mittel gewahrten,
Wie er von einem ungestumen Drange der Propa-
ganda beseelt war, so hatte er die Gabe, daB die
Menschen auf seine Stimme hdrten. Man hat
ihn wohl einen „groBen Bezauberer" genannt. Ar-
nold Ruge, der die Deutschen Jahrbiicher, das Or-
gan der Junghegelianer, in Dresden herausgab,
schrieb begeistert: Jt Dieser liebenswiirdige junge
Mensch uberholt alle alten Esel in Berlin.** In der
Zeitschrift Ruges veroffentlichte Bakunin seine
erste literarische Arbeit uber die Reaktion in
Deutschland, unter dem Pseudonym Jules Elysard.
Merkwiirdigerweise entging sie dem Rotstift des
Zensors, der viel harmlosere Sachen unbarmherzig
mordete.
In diesem Aufsatz wies Bakunin schon nachdrikk-
lich auf das unterirdische Grollen der sozialen
Revolution hin, auf die arme Klasse, das eigent-
liche Volk, das die im Vergleich zu ihm schwache
Reihe seiner Feinde zu zahlen, das die wirkliche
&
341
DIE AKTION
342
*
Gewahrung seiner ihm langst zugestandenen
Rechte zu fordern beginne. . . „ln RuBland selbst,
in diesem endlosen und schneebedeckten Reiche,
das wir so wenig kennen und dem vielleicht eine
groBe Zukunft bevorsteht, — in RuBland selbst
sammeln sich dunkle, Gewitter verkiindende Wol-
ken. Oh, die Luft ist schwiil, sie ist schwanger von
Sturmen. . , LaBtunsdem ewigen Geiste des Herrn
vertrauen, der nur deshalb zerstort und vernich-
tet, weil er die unergriindliche und ewig schaf-
fende Quelle alles Lebens ist. Die Lust der Zer-
storung ist zugleich eine schaffende Lust. 44 Der
letzte Satz wurde zu einer Art gefliigelten Wortes
unter den Junghegelianern, die noch kein poli-
tisches oder soziales Programm hatten; fur Baku-
nin selbst ist er der Grundakkord seiner ganzen
Lebensarbeit geblieben, obgleich er schon auf
das Erwachen „der armen Klasse 44 , „des eigent-
lichen Volkes 44 , als ein Unterpfand der Wieder-
geburt hinwies, wovon die Junghegelianer noch
nichts ahnten.
Die angesehene S tel lung, die sich Bakunin in die-
sen Kreisen erworben hatte, gab sich auch darin
kund, daB er zu den Paten der Deutsch-Franzo-
sischen Jahrbiicher gehorte, zu deren gemein-
samer Herausgabe sich Ruge und Marx 1843
nach Paris begaben, als eine drakonische Zen-
sur ihnen ein offentliches Wirken in Deutschland
umnoglich machte. Ein Briefwechsel zwischen
Marx, Ruge, Ludwig Feuerbach und Bakunin,
gleichsam als Programm, leitete das erste Doppel-
heft des Untemehmens ein. Es ist das einzige
geblieben, da die beiden Herausgeber sich bald
iiberwarfen, wegen der entschiedenen Wendung,
die Marx zum Kommunismus nahm. Bakunin
schlug sich auf seine Seite, Noch fast dreiflig Jahre
spa ter, als er rait Marx schon in heftiger Feind-
schaft lebte, hat er bekannt, wie haufig er im
Jahre 1844 in Paris mit dem um vier Jahre jun-
geren Manne verkehrt habe, aus Bewunderung
nicht nur fur dessen Wissen, sondern auch fur
den leidenschaftlichen Ernst, worn it Marx der
Sache des Proletariats ergeben gewesen sei. „Marx
war damals der bei weitem Extremere von uns
beiden, und auch jetzt ist er, wenn nicht extremer,
so unvergleichlich gelehrter. Ich hatte damals
keinen Begriff von der politischen Okonomie
und war noch in den metaphysischen Abstrak-
tionen befangen, und mein Sozialismus war rein
instinktiv. Er dagegen, obgleich jiinger als ich,
war schon Atheist, gelehrter Materialist und be-
wuBter Sozialist. Gerade damals arbeitete er die
Grundlagen seines jetzigen Systems aus. 44 Seines
Systems oder richtiger seiner Weltanschauung, in
die sich Bakunin leider nie hineinzuleben ver-
mochte, so oft er auch Marx als groBen Den-
ker gefeiert hat.
Bakunin hat es nie verstanden, den revolutionaren
Sturm und Drang seiner Natur in die geregelten
Bahnen wissenschaftlichen Denkens zu leiten. Er
hat am Ende nie einen Begriff von politischer
Okonomie gehabt, und sein Sozialismus ist immer
rein instinktiv gewesen. So vermiBte er an Marx
„den Instinkt der Freiheit 44 , den er an Proudhon
entdeckte: „Proudbon betet Satan an und verkun-
det die Anarchie 41 . Nicht als ob Bakunin den
franzdsischen Sozialisten iiber Marx gestellt hatte;
er sagte im Gegenteil, Proudhon sei ein „ewiger
Widerspruch 44 , der bestandig mit den Phantomen
des Idealismus kampfe und sie niemals zu besiegen
vermoge. Aber die blendenden Paradoxen Proud-
hons rissen ihn immer wieder hin, so die SchLag-
worter der Anarchie und des Foderalismus, das
traumerische Gebilde eines Gesellschaftszustandes,
der nach Zertriimmerung aller staatlichen Herr-
schaftsformen die Menschheit in freien Gruppen
produktiver Arbeiter einigen solle.
Noch hatte sich das garende Chaos seiner Ge-
dankenwelt nicht geklart, als die Revolution von
1848 ausbrach. Erst in Paris, dann in Berlin und
Breslau, dann in Prag, endlich in Dresden warf
sich Bakunin mit seinem ganzen Ungestiim in
ihre Strudel. Nach der Niederlage des Dresdener
Maiaufstandes wurde er gefangen, zum Tode ver-
urteilt und zu lebenslanglichem Gefangnis begna-
digt, dann an Osterreich ausgeliefert, hier wieder
zum Tode verurteilt und zu lebenslanglichem Ker-
ker begnadigt, endlich nach RuBland ausgeliefert,
wo er im Alexeiraveiin der Peter-Pauls-Festung
ein Grab bei lebendigem Leibe fand. Hier und
spater in der Fe stung Schlusselburg, wohin ihn der
Zar Nikolaus im Anfange des Krimkrieges br ingen
lieB, aus Angst, daB ihn die englische Flotte
befreien konne, hatte er unsagliche Quale n zu
erdulden. Aber gebrochen haben sie ihn nicht.
„Heiter war und blieb er nach alien ausgestan-
denen Leiden, die jeden andem zehnmal zer-
malmt hatten; nur er, der Gigant, schuttelte die
Last von sich ab und zeigte den erstaunten Freun-
den stets wieder das lachelnde Gesicht auf dem
gewaltigen Rumpfe 44 — so schreibt einer seiner
Biographen.
Als der Zar Nikolaus gestorben war, verschwor
sich dessen Nachfolger zwar auch, Bakunin nie-
mals freizulassen, aber als sogenannter „Zar-Be-
freier 44 tat er ein iibriges, indem er den gefurch-
teten Revolutionar nach Sibirien verbannte. In
den sibirischen Eiswiisten hat Bakunin, zuletzt in
halbwegs ertraglichen Verhaltnissen, noch vier
Jahre geschmachtet, bis ihm im Juni 1861 die
Flucht gel an g. In abenteuerlicher Weise entkam
er iiber Japan und Nordamerika nach London,
wo er im Dezember desselben Jahres eintraf*
nachdem er 30000 Werst in sechs Monaten zuriick-
gelegt hatte.
Ober ein Jahrzehnt war er dem europaischen Le-
ben entfremdet gew'esen, und er muBte sich erst
allmahlich wieder hineinleben. Es war naturlich,
daB er seine erste Zuflucht bei den russischen
Fluchtlingen in London suchte und fand, die, wie
Herzen und Ogarew, die Gefahrten seiner Jugend
gewesen waren. Aber im Grunde hatte er wenig
mit ihnen gemein: sein Panslawismus, soweit da von
uberhaupt gesprochen werden konnte, blieb immer
revolutionar; von dem Rasonnieren auf den „ver-
faulten Westen 41 und der Verherrii chung der rus-
sischen Dorfgemeinde wollte er nichts horen.
Er brach mit Herzen zwar nicht personlich, aber
DIE AKTION
politisch, und nahm fur mehrere Jahre seinen
Aufenthalt in Italien, zumal in Neap el.
Er hatte dies Land gewahlt des milden Klim as
und des wohlfeilen Lebens willen, zumal da ihm
Deutschland und Frankreich verschlossen waren,
dann aber auch aus politischen Grunden. Er sah
in den Italienern die natiirlichen Verbiindeten der
Slawen gegen den osterreichischen Zwangsstaat,
und die Heldentaten Garibaldis hatten schon in
Sibirien seine Phantasie entzundet. An ihnen er-
kannte er zuerst, daB die revolutionare Flut wie-
der im Steigen begriffen sei. In Italien land er eine
Menge von Geheimbunden ; er fand hier eine de-
klassierte Intelligenz, die stets bereit war, sich in
allerlei Verschworungen einzulassen, eine bauer-
(idle Masse, die stets am Rande des Hungertodes
schwebte, und endlich ein ewig bewegliches Lum-
penproletariat, so die Lazzaroni in Neapel. Diese
Klassen erschienen ihm als die eigen tlichen Trieb-
krafte der Revolution, eine Auffassung, die urn so
starker in ihm wurzelte, als die Dinge in seiner
russischen Heimat ahnlich lagen. Allein wenn
Bakunin in Italien das Land sah, wo die soziale
Revolution vielleicht am nachsten auflodem werde,
so muBte er bald seinen Irrtum erkennen. Noch
war in Italien die Propaganda Mazzinis uberm ach-
tig; mit seinen verschwommenen religidsen
Schlachtrufen und seinen straff zentralisierenden
Tendenzen kampfte Mazzini nur fur die biirger-
lidie Einheitsrepuhlik.
In diesen italien is chen Jahren nahm die revolu-
tionare Agitation Bakunins bestimmtere Forme n
an. Bei seinem Mangel an theoretischer Bildung,
der sich mit einem OberfluB an geistiger Beweg-
lichkeit und ungestumer Tatkraft verband, wurde
er immer sehr stark von der Umwelt beeinfluBt,
worin er lebte. Der religios-politische Dogmatis-
mus Mazzinis trieb um so scharfer seinen Atheis-
mus und seinen Anarchismus, die Verneinung
jeder staatlichen Herrschaft hervor. Dagegen farb-
ten die revolution a ren Oberlieferungen jener Klas-
sen, die ihm die Preisfechter der allgemeinen Um-
walzung waren, um so starker auf seine Neigung
zu den Waffen ab, mit denen die „ Revolution are
der vorigen Generation** gekampft hatten. Er
stiftete einen revolutionaren Geheimbund, einen
„Verein der sozialistischen Demokratie* 4 , der sich
zunachst aus Italienern rekrutierte und besonders
„ihe widerwartige Bourgeoisrhetorik der Mazzini
und Garibaldi* 4 bekampfen sollte, aber sich bald
auf international em Fu8 erweiterte.
Um sich breiteren Ellenbogenraum zu schaffen,
siedelte Bakunin 1867 in die Schweiz iiber und
suchte seine Propaganda in die Friedens- und Frei-
heitsliga zu ubertragen, eine internationale Orga-
nisation der radikalen Bourgeoisie, die damats
entstanden war, aber weder ein langes noch ein
ruhmliches Leben gehabt hat. Natiirlich blitzte
Bakunin bei ihr ab, und nunmehr trat er 1868 in
die internationale Arbeiterassoziation ein, die 1864
gegrundet worden war und in London ihren Ge-
ueralrat hatte, dessen leitender Kopf Karl Marx
war. Nun begann die bewegteste Peri ode im Le-
ben Bakunins, jener groBe Kampf, aus dem Baku-
nin nur als todmiider Mann hervorgehen sollte.
Diesen Kampf in all seinen wechsetnden Phasen
zu schildern, ist auf beschranktem Raume unmdg-
lich ; es muB geniigen, die entscheidenden
Gesichtspunkte des erbitterten Ringens hervor-
zuheben.
Zunachst muB die leider von Marx selbst genahrte
Vorstellung zuriickgewiesen werden, als sei
Bakunin ein „sehr gefahrlicher Intrigant* 4 gewe-
sen, der sich aus personlicher Eitelkeit und
Herrschsucht in die Internationale gedrangt habe,
um sie zu beherrschen und eben dadurch zu zer-
riitten, Bakunin war alles andere eher als ein
^Intrigant 14 , seine Fehler lagen so ziemlich aHe
nach der entgegengesetzten Richtung. Aber wenn
man auch davon absehen will, so ist die Vorstel-
lung, daB ein gefahrlicher Intrigant aus niedrigen
Beweggriinden eine historische Erscheinung, wie
die Internationale, habe zerrutten konnen, wenn
nicht unsinnig, so doch ganz unmarxistisch.
Es ist aber auch unzutreffend, daB Bakunin mit
seinen theoretischen Unklarheiten in der Inter-
national verwirrend und verwiistend gewirkt
habe. In alien theoretischen Fragen hatte die In-
ternationale einen sehr weiten Mantel; war es
doch ihr Zweck, die verschiedenen Arbeiterpar*
teien der verschiedenen Nationen zunachst unter
einer Fahne zu samtneln, um erst aus dem gemein-
samen Zusammenwirken ein gemeinsames Pro-
gramm sich entwickeln zu lassen; aus den Proto-
kollen ihrer Kongresse kann man heute noch er*
schen, wie kunterbunt die Ansichten selbst in den
wichtigsten Eigentumsfragen auseinander und ge-
geneinander gingen.
Der wirkliche Stein des AnstoBes war die Frage
der Organisation. Bakunin wollte das anarchi*
Osio Kofi Ur Qondelfahrt
345
DIE AKTION
346
stische Ideal der Zukunft schon in der Gegenwart
verwirklicht sehen; die Internationale solite sich
von der ^Autoritat** des Generalrats lossagen und
in freie Gruppen auflosen, und diese Gruppen
sollten aller politischen Tatigkeit absagen, die
nicht unmittelbar auf die Zerstorung des Staates
abziele. Marx hat den eigentlichen Streitpunkt
klar und scharf in den Worten zusammengefaBt:
„Die Anarchie ist das groBe Paradepferd Baku-
nins. Alle Sozialisten verstehen unter Anarchie
dies: Ist einmal das Ziel der proietarischen Bewe-
gung, die Abschaffung der Klassen, erreicht, so
verschwindet die Gewalt des Staates, die dazu
dient, die groBe produzierende Mehrheit unter
dem Joche einer wenig zahlreichen ausbeu-
tenden Minderheit zu erhalten, und die Re-
gierungsfunktionen verwandeln sich in ein-
fache Verwaltungsfunktionen. Bakunin greift
die Sache am umgekehrten Ende an. Er prokla-
miert die Anarchie in den Reihen der Proletarier
als das unfehlbarste Mittel, die gewaltigen, in den
Handen der Ausbeuter konzentrierten, gesell-
schaftlichen und politischen Machtmittel zu bre-
chen. Unter diesem Vorwande verlangt er von
der Internationalen in demselben Augenblick, wo
die alte Welt sie zu zermalmen strebt, daB sie ihre
Organisation durch die Anarchie ersetze.“
Es liegt auf der Hand, daB Marx die entwickeltere
Form des proietarischen Emanzipations-Kampfes
vertrat. Er handelte und sprach aus dem Geiste
des groflindustriellen Proletariats, wie es sich
in England, Frankreich und Deutschland ent-
wickelt hatte oder zu entwickeln begann. Aber
Marx hatte unrecht, von einem „Vorwande u Ba-
kunins zu sprechen und ihn als „Sektenstifter“
anzuklagen, der nur Unheil und Verwirrung stif-
fen konne. Bakunin handelte und sprach ebenfalls
aus dem Geiste des Proletariats, namlich des-
jenigen Proletariats, wie es sich in Italien, Spanien,
RuBIand, auch Belgien, und selbst im stidlichen
Frankreich und der romanischen Schweiz regte.
Er hatte sogar eine viel groBere Anhangerschaft
hinter sich als Marx, dessen starkste Stiitzen wank-
ten, als die deutsche Arbeiterbewegung durch
den siegreichen Krieg gegen Frankreich zuriidk-
gedrangt und die franzosische im Blut der Pari-
ser Kommune erstickt wurde, wahrend die eng-
lischen Trade Unions durch ihre gesetzliche Aner-
kennung auf die Iiberale Seite zuruckgedrangt
wurden.
Dagegen spricht auch nicht, daB Bakunin im Herb-
ste 1872 auf dem Haager KongreB aus der Inter-
nationalen ausgestoBen wurde, teils wegen seiner
den Bund zerstorenden Tatigkeit, teils auch wegen
einer personlich ehrenriihrigen Tatsache. Bei die-
sem G erich tsve rf a hren ging es, gelinde gesagt,
sehr tumultuarisch her. Von dem Fiinfer-AusschuB,
der nach einer ganz fliichtigen Priifung mit vier
gegen eine Stimme den AusschluB Bakunins be-
antragte, den die Mehrheit des Kongresses un-
besehen genehmigte, entpuppte sich einer der vier
bald als Spitzel, was allein geniigte, das gauze
Verfahren null und nichtig zu machen. Nun gar
die personlich ehrenriihrige Tat, die Bakunin be-
gangen haben solite, beschrankte sich darauf, was
erst nach Jahrzehnten aufgedeckt wurde, daB er
bei einem Verleger mit ein paar hundert Rubeln
VorschuB hangengeblieben war. Der wirkliche
Tatbestand geht daraus hervor, daB der marxi-
stische Zweig der Internationalen nach dem Haa-
ger KongreB nur noch sparliche Lebenszeichen
von sich gab, wahrend ihr bakunistischer Zweig
noch mehrere Kongresse abhalten konnte, bis er
gegen Ende der siebziger Jahre ebenfalls ein-
schlief.
Nicht an Bakunins Intrigen ist die erste Inter-
nationale untergegangen, sondem an geschicht-
lichen Gegensatzen, die in dem europaischen Prole-
tariat selbst entstanden waren und sich zunachst
nicht ausgleichen lieBen. Man mag es Bakunins
Schuld nennen, daB er dabei die unentwickeltere
Form des proietarischen Emanzipationskampfes
vertrat, aber es ist keine Schuld im moralischen
Sinn des Worts, die seinen Ruhm schmalern konnte,
ein echter Revolution ar gewesen zu sein, der sich
im Kampf fur die Arbeiterklasse aufgerieben hat
und in ihren Jahrbiichem mit vollen Ehren ge-
nannt zu werden verdient
Und wie schwer hat er seine Schuld gebuBt! Bis
auf den Tod durch rastlose Arbeit erschopft, zog
er sich bald nach dem Haager KongreB von der
offentlichen Tatigkeit zuriick; nach wenigen Jah-
ren wirtschaftlichen Elends und schwerer Krank-
heit ist er am 1. Mai 1876 in Bern gestorben. Es
war verstiegene Rhetorik, als der franzosische
Historiker Michelet schrieb: „Wenn Deutschland
Deutschland werden wird, wird man diesem Rus-
sen dort Altare errichten/ 4 aber es ist nachgerade
an der Zeit, daB die Deutschen, die sich an dem
Andenken des seltenen Mannes am schwersten
^ versiindigt haben, die allzulange gestundete Schuld
einlosen, mehr noch zu eigener Ehre als zu Ehren
Bakunins.
Max Kraust
Ein Argument {Ftdtrxtichnuny)
947
DIE AKTION
348
EUROPA UN D ASIEN III *)
Yon Theodor Lessing
Der Mensch in Asien
Wir treten in eine Welt, wo wir den Europaer
vergessen und uns daran erinnern miissen, daB
das schopferische Leben andere Fragen birgt, als
Fragen nach Volkerwachstum und Politik andere
Werte als die der Tiichtigkeit, der Leistung, des
Wissens Oder Konnens. Um die Geisteswelt des
Morgenlandes mit dem Gefuhle zu begreifen, miis-
sen wir festhalten, daB alle Mystik, auch die der
christlichen Kirche, ihre Wurzeln in dunkle Mut-
tergrunde Asiens senkt. Wenn wir im Stolz auf ge-
sunde Nuchtemheit wissender Verstandesfeinung
den europaischen Menschen fur der Erde Licht-
bringer halten, so liegt im Glauben asiatischer
Menschheit die Sache umgekehrt Das Wort
Europa kommt von dem assyrischen I rib oder
Ereb und ist dasseibe Wort, welches im Grie-
chischen der Nachtwelt, dem Erebos seinen Namen
gegeben hat. Nach Meinung der asiatischen Vol*
ker heiBen wir die Finsteren; unser Erdteil der
finstere ErdteiL Die hoheren BewuBtseinskrafte
des immer geselligen, immer zwischenmensch-
lichen Verstandes sind der Notausgang langer
Dunkelheiten. Wir waren im Gegensatz zu jenen
inmitten farbiger Lichtnatur lebenden Menschen
der tropischen Sonnenlander seit Jahrhunderten
in Rauch und RuB, hinter Mauern und Steinen
eingekafigt. Hunderttausende sahen das dunkle
Jahr entlang keine Wiese, keinen Berg, keinen
Wald. Die Kalte, Nasse, Feuchte des Klimas,
das unbestandige, ungesunde, unwirtliche Wet-
ter der sogenannt gemaBigten Zone hat unser
Fnnenleben gestaltet, hat es gewcckt und wach,
so wie das Tier wach und erfinderisch wird,
wenn man es den Gefahren der N o t preis-
gibt. Dagegen scheint es, als ob jene Kin-
der einer geneigteren Natur noch im enge-
ren Zusammenhang mit Tier und Pflanzc,
Wolke und Wind verblieben sind und nicht gieich
uns, kritisch-orientierend der Welt gegeniiber-
stehn. Die elementarisch-miterlebende Erfassung
der Gegenwelt durch Form und Gestalt, d. h durch
Mitahmen ihrer Lebensbe w egungen, ur-
spriinglicher als alles ethische oder logische Be-
u r t e i 1 e n , laBt den Menschen unmittelbarer das
Wesen seiner Umwelt als sein eigenstes
Leben verspuren, gleich wie einem Kinde die
Welt, welche es wahrnimmt, nur ein Stuck seines
eigen en Lebens ist, oder das eigene Leben,
ungeso ndert, unentfremdet noch in die Welt seiner
Wahrnehmungen hineinflieBt. Wir aber schritten
abseits von Natur, da sie feindlich uns gegenuber-
tra t und wurden sekundare Menschen in dem
gleichen Sinne, in welchem BewuBtsein und Den-
ken sekundar gegeniiber den vorbewuBten Er-
lebnissen sind. Ja oft scheint es, als ob die
Menschen Asiens reichere Empfindungsweisen be-
sahen, Sinne, die durch einseitige Ausbildung
denkend beurteilenden Intellektes allmahlich ent*.
hehrhch geworden sind. Der weiBhautige Mensch
•} 1 und II s iebe voriges Heft.
wird in den Sprachen Indiens und Persiens der
blasse oder abgeblaBte genannt, grad als wenn
die braunen, schwarzen, gel ben, (Tagmenschen
nennt sie die Anthropologie), ein ursprung-
li c h e r e r Menschenschlag seien Jener hat unter
den gluhenden Strahlen der Tropensonne Leben
und Seele empfangen, dieser erhielt vom Vegetiren
hinter steinerner Hauser Schranken: Gpist und
BewuBtheit. Wir, die blonden und blassen Vol-
ker, in sonnenarmen Landern aus Frost und Nebel
geboren, sind das BewuBtsein der Erde.
Das ist unsere Tugend! Denn nur Not des her-
beren Kampfes hat aus uberschwanglichem Er-
leben aller Lebensfulle Zucht und Berechnung,
Vernunft und haushalterische Fursorge her\ f or-
gepeitscht. Bemerken wtr doch ahnlichen Unter-
schied innerhalb Europas zwischen den romani-
schen Volkern des Siidens und uns germanischen
Nordlandern. Der sudeuropaische Mensch, sinnen-
froher, leichtlebiger, heiBbliitiger, mehr in Augen-
blick und Gegenwart lebendig, steht dem Mutter-
hause Asiens immer noch nah. Darum haben
die besten Kenner Griechenlands, haben Hol-
derlin, Hamerling, Burkhardt, Nietzsche, die mach-
tige verhaltene Leidenschaft antiker Kunst aus
ihrem asiatischen Ursprunge erklart, wahrend der
rational bandigende, zielstrebige Geist der Ord-
nung Apollons Mitgift, Europas eigenstes Wesen
verkorpere. Aber unsre Tugend, ordnender Geist
ist zugleich auch Grenze; so wie Krankheit
zwar eine Lebensstorung, aber zugleich das
Mittel zur Dberwindung dieser Lebensstorung
349
DIE AKTION
350
Baoul Eau$mann Original'EoUsdmiii
ist Wir haben tins aus dem Leben herausge-
griibett, die Nabelschnur zerreiBend, die uns mit
umfassenderen Qewaiten jenseit von BewuBtseins-
wirklichkeit zusam men band. Asiens Volker dage-
gen wurzein in unausme&lichem Leben. Daher be*
sitzen sie Fahigkeiten, die den europaischen Men-
schen so unbegreiflich anmuten, wie manche Sinne
der Tiere, etwa wie die Fahigkeit der Schmetter*
iinge iiber viele Meilen hinweg sich durch Dufte
zu vers tan digen oder wie die merkwiirdige Gabe
der Zugvogel, iiber Meere und Erdteile bin im
Raume sich zurechtfinden, dieselbe Palme in Agyp-
ten, dieselbe Eiche im hannoverschen Land immer
wieder aufsuchend, iiber tausende Meilen hin. --
Die Geheimwissenschaften (Theurgie, Theosophie,
Occultism us) entwickeln manche vitale Mdglich-
keiten der Seele, vor denen unsre groBe Gehim-
kultur als vor unfaBbaren Ratseln steht. Samnyasi,
Gosain, Soufi, Mahadma indie ns, sowie die J unger
der Yoggaphilosophie besitzen die Gabe, Herz-
schlag und Puts, Atem und Eingeweide vollkom-
men der Willkiir menschlichen Widens zu unter-
steflen. Tage- ja wochenlang lassen sie skh leben*
dig eingraben, monatelang leben sie von einer
Handvoll Reis oder Datteln, ja von ein paar Trop*
fen Wassers. Ihre Selbstbeherrschung im Ertragen
freiwilliger Martern, ihre Verachtung des Lebens,
Leidensfahigkeit und Todesbereitschaft tibersteigt
unsre europaischen Begriffe. BiiBertaten und
Selbstkasieiungen, die uns als Wahnsinn an-
sprechen und nur aus Krankheit und geistiger
Umnachtung des Ich erklarlich scheinen, gehoren
in Asien zu taglichen BuBubungen. Ta ten der
Selbstaufopferung, die in Europa kaum geglaubt
werden, sind in China und Japan gewohnUche
Erscheinungen. Alles in allem lebt der Mensch
Asiens in anderem Naturzusammenhange, naher
der Scholle und Kraften der Scholle, einfaltiger,
sicherer, ja aus innerster Verwandtscha't wisstn*
der iiber vorbewuBte Quellen, die das Leben
lenken, wissender als wir mit unsrer Natur dko-
nomisierenden Wissenschaft und der stolzen Logik
des BewuBtseins. Wohl denken wir iiber das
Metaphysische aber leben weniger Metaphysik,
vielmehr ist das profane Europa eine einzige
Selbstbeziiglichkeit des Menschen. Hier wurde
der Mensch Krone und Ziel alles Lebendigen.
Des zum Zeichen pflanzte er, wohin er kommt,
naturverachtend und naturtibermichtigend, das
Kreuz und das Anbild des aus Leiden ver-
geistigten Menschensohnes auf die
Trummer lebendiger Schopfung.
W1EDERKEHRENDE
Wir hangen hohl an nackten Kreuzen.
Von Leid uni k Lamm ert, dunkler Scham.
Die Augen sieinem aufgetan
In Schwa rzes, das die Erde nahm.
O, Sterne, klagend in die Nacht,,
O, Blumen betend, Gladiolen.
I hr rettet uns nicht mehr.
Wir sind verloren.
Wir haben der Welt den Tod gebracht.
Herbert Kuhn
KINDERKREUZFAHRT
Ob Berge kreisen starr e Abendsonnen.
Der Tag lischt aus. Wildwind geht blau und kalt,
Hier liegt das Tal, von trtibem Glanz umronnen :
Ein Kinderheer, das durch den Bhitsee wallt.
Sie ziehn mit kargen Strahlen ubergattert.
Sie wandem unbeirrt und schmerzverzuckt,
Von Schwarmen boser Vogel eng umflaitert,
Tief in das giftdurchspulte Tal gebtickt.
Die Raben schnarren. Gelbe Diinste stechen,
Ein hohler Schrei bohrt schrillend in ihr Oh r t
Bald werden die verklarten Glieder brechen,
Die Dunkeldampfe quellen laudos vor.
Was konnen ihre armen Lieder taugen ?
Sie schwanken aus der Flut bemuht und schrag,
Sie dringen langsam durch die Aussatzlaugen,
Ein Lichtgeruch zerspaltet ihren Weg.
Franz Tobler
-.w .— -/i ■■■*■:■
351 DIE AKTION 352
WENN NUN DIE FREUDE KAME . . .
Wenn nun die Freude kame, ruhig, naiv, er-
st aunt . . .
Besinnet euch, dffnet die kotbesudelten Fenster,
der Seeie Festtag hebt an, Stille strahlet der Mor-
gen . . .
Wenn nun die Freude kkme, wie Feierabend vor
Festcn,
da Bliiten der Baume in Liebe dem Mondglast
sich offnen,
im Stemglanz, rein gefegt, die Schwellen leuch-
ten . . !
Die freie, weite Melodie, die Melodie der Ver*
sohnung,
die Melodie der Verzeihung zoge durch a'le auf-
gertssenen Fenster,
durch Glockengedrdhn, Hosannah, Hosannah zur
Feier der Seeie.
Sie kame, die Schwingen gehoben, die aus weich-
sten Geweben gewoben,
aus Ookl und Scharlach und blaulichen Tinten
ungeahnter Fernen —
wenn min die Freude kame, ruhig, naiv, erstaunt.
Anion Sow
(Aus dem Tschechischen ubcrsetzt von G. S torch)
EWE SPRECHER
Mundmann, du Sprecher vor dem Rochel-Ende:
Das Boot in Handen, ruderfingerkraus,
Wir machten auf dem Meere Fische aus.
— Und nun rahmen mich ein Zehen und Hande.
Ichbild, der Mtiskel, knitted a Is Zwangsjacke.
An Nervenschauern bin ich fast erstickt.
Ein Raumrauber, der vor dem All erschrickt;
Im Tischgesicht, im Bratfisch, im Ge&chmacke.
Los* we hen wird Ich: hirnher nach hirndort.
In Ohren-Rosen sinken vom I du winger.
Im Hautereiz wimmeln nicht mehr Sprachfinger.
Der Mischiing Mensch probiert herber das Wort.
Und losspredien die Munde der Bekenner.
Heraus, was da ist: soviet Herz fur Frankreich.
Einen Gedanken schreien alle klangreich:
Es gibt die vielen totgeschossenen Manner!
Paul Boldt
OH MEIN TOTER KAMERAD
Von Horax Traubel (Amerika)
Oh mein toter Kamerad — mein groBer Toter!
Ich saB bei dir am Bett — es war bei Tagesende —
/ch bode das Tropfen des Regens auf dem Dach
des Hauses:
Das Licht ward schattig — verging, verging —
Aucft du vergingst, vergingst —
Du und das Licht, ihr Genossen im Leben, jetzt
auch Genossen im Tod,
Zogt euch zuriick in den Schatten, trugt sonst-
wohin den Segen eurer Sonnenstrahlen.
Felix Muller Original- Holuchnitt
Ich saB bei dir am Bett, ich hielt deine Hand:
Einmal schlugst du deine Augen auf: Oh Biick
des Erkennens! oh Biick des Beschenkens!
Von dir zu mir ging da die Forderung der Zukunft,
Von dir zu mir in jeder Minute, von deinen Adem
in meine,
Aus der Stromung, als du hinaustriebst mit der
Flut,
Von deiner Hand, die meine beriihrte, von deiner
Seeie, die meine berubrte, nah, oh so nah —
Die Himmel mit Sternen flimmt,
Trat ein, glanzte auf mir und aus mir, die Macht
des Fruhiings, der Same der Rose und des
Weizens,
Wie von Vater zu Sohn, wie von Bruder zu Bruder,
wie von Gott zu Gott!
Oh mein groBer Toter!
Du warst nicht gegangen, du h attest verweilt —
in meinem Herzen, in meinen Adem,
Reichtest durch mich, durch andere, durch mich,
durch alie zuletzt, unsere Bruder,
Eine Hand der Zukunft
(Autorisierte Uebcrsetzung von August Briicher)
353
DIE AKTION
354
w
DER VERSTLJMMTE DICHTER
Von Alexei Kolzow (urn 1830)
Mit Seherseele,
Vom Stempel der Grofie
Die Stirne bestellt,
So kam er, der Knabe,
Zum Wunder der Welt.
Die irdischen Gottinnen,
Listige Frauen,
Sie lockten den Knabcn
Mit prachtigem Traume,
Betrogen die Liebe
Verstellten Liebkosen^,
Entzimdeten kiissend
Die Rote der Wangen
Und raubten das Lacheln,
Das seelische Licht.
Vergebens verbarg er,
Verwahrte vergebens
Begeisterungsgaben
Fiirs irdische Leben
Vor bitterer Welt.
Vergebens mit tonendem
Paradiesesliedc
Erfullte er die hcimischen
Haine und Felder.
Die Ode blieb still.
Die Menge, sie wich
Vor dem Blick des Profeten,
Erkannte das hohe
Gefiihl, der Begeisterung
Glut und die Kraft nicht,
Die schaffende, an.
Zum Lachen schien Lust ihr
Und Leiden des Dichters.
Ja, war er entbrannt von
Verachtlichem Brande,
Dann hatte mit Kiissen
Wie eine Bachantin
Ihn ganz sie bedeckt
Mit Schwesterentzucken,
Unreinem, ihn schmahlich
Fur ewig gestempclt.
Gen Morgen bezaubert,
Gen Mittag betrogen,
Bekleidet mit Nebel
Des Abends und Schatten
Des ratselnden Lebens,
Blickt gleichmiitigen Geistes
Der Dichter verstummt . . .
Du glaubst ihn gefallen, —
O nein! Du bemerktest
Nur nicht den erhabnen
Gedanken, im Blicke
Die segnende Glut.
(Aus dem Russischeu iibersctzl von Otto frli. v, Taube)
HINUEBUNG DES DICHTERS
Von Alfred Wolfenstein (1917)
Wie die Wolke durchflammt, Wolke durchdrohnt,
zwischen Haupt und Boden
Zuckt eines Menschen sprechender Mund,
Blitzende Zahne roden
Dickichte nieder: da schnellen die Blumen empor
luftig und bunt.
Hore die Stimme, o taubeste Trauer,
Schwarz wie Gestriipp unterm Ozeangrund!
Klangloser Vogel, zu singen beginne, im rund-
lichen Bauer,
Es singe dich freier des Menschen Mund!
Doch wie im Traum blau iiber dem Dach seiner
Donner,
Uber den eigenen Lippen noch unerlost wartet
er selbst, der Dichter,
Sturm, von der Sonne versammelt, regnet
nicht auf in die Sonne!
In dem gewitterverbauten Himmel gliihen oben
noch lechzend die Lichter.
Gliihn weiter . .! Den Sturm zu versammeln be-
gliickt nicht genug!
Worte wie Boten, entfesselt, mit eigener Schwere
hinab
FlieBen in horchender Menschen Krug,
Worte, erstanden aus ihm, . . ihn verlasscnd als
sei er ein Grab.
Wahrheit, so blicke von oben in seine Seele,
Nic wird sie leerer, verkunde es, menschlicher
mochte sie sein!
Ruft er die Liebe mit Worten aus, ruft seine
hellere Kehle
Liebe nur wirkiicher in ihn herein!
Atmet er Verse: nur noch lebendiger schwillt
seine Brust!
DaB er vor Scham und Freude inmitten der
Sprache aufstehen
Mochte, um fort in die Wiiste oder zu irgend
einer Lust
. . . Nein, den Menschen noch naher zu gehen!
Bis es am Schlusse von unten
Donnert, von unten nun: Du!
Antlitze, rot wie Gedicht und beriihrtes Gewolk^
Blitzen nun seiner Entschleierung zu.
Nah wie Umarmung . .! Erdenwind reicht ihm
die Hande
Durch das ganz offene Tor.
Sprache verrollt, die Arme erhebt er, nun erst
am Ende
Geht sein schwerer Vorhang vor ihm selbst
empor.
357
DIE AKTION
358
ANGELEQENHEIT
Von Hans Jurgen von der Wense
Das Kino platzte. AufstieB der sanguinische Lift.
Noch das „moi“ im Atem, ward er blind. In
Gedarmen dann vibrierte unaufgehorte Atona-
litat, und — eingeweicht eingefleischten Kissen —
zerschoB das Letzte, DrauBen heiser vor Entfer-
nung, drinnen dumpf vor Prima und flauer Ver*
dauung, im Drinnen — DrauBen: Hier: klopfte im
Magen das Gemut; Ironie-Saccharin fur „Charak-
tcr^-Zucker.
Da er irp peinlichen Auge zwischenhin ver*
schwemmter Verwesung duckte: „es mensdit“,
bog sich Rakete Erkenntnis . . . und pluralisch
tatterte der Apparat
Nadelte ihn neulings gellenden Unrats ausgereck-
ter Tropfen, stahl er Kontakt, sich zu Indifferenz
orientierend. Sah seines Nabels laszives Hin-
hocken bis ins Moranenkrematorium internster
Erdherzhohlen. Platterte durch diese Notausgange
staatlich subventionierten Betruges : Dableiben des
Daseins, (diese Kinos, Betten, Klaviere und Revol-
ver) in die biigelnde Wut gisch tiger Geysire,
die von nicht zu sentimentalen Sonnen beblauten
Gelande inkarnierter Negationen. War schon in
einer Seidenbarke, einem Laken eisleiser Blake
eingeschlafen, (fuhlt : durch Mauer raucht joviales
Gespenst), als ihn aufbleckt steiles Gerochel miB-
handelter Trompete.
NeudurchnaBt von kompliziertem Kitsch: o der
Faust stein erner Gesang im Taschengrab, o Verrat
zu Heimat geoffneter Arme verlorener Sohne,
W. Schuler
In* Caff (Ori§\nal-H«lzschniit)
o Schwur: in Liebe immer (iinmer schlechter) Be-
handlung.
Stand in Flammen — ein Feuerwehrmann.
Zu spat; schon zage klagte im ewigen J ungling
ewiger Sonnenaufgang, da zum viertenmal der
Graf verreckte (10 Uhr 52).
AbstieB der sanguinische Lift, Das Kino platzte.
SOPHUS EMANUEL
Von Heinrich Staddmann- Bingen
„Es werde Licht!"
„Warum hast Du nicht gerufen: Ee werde ein
Auge?"
Sophus Emanuel patscht den Oberschenkel und
lauft im Zimmer hin und her. „l$t dies recht?
Oder nicht recht? Antwort!"
Ruhe, Ruhe, Sophus Emanuel, gequalter Ant-
wortsucher!
Sophus Emanuel nimmt erne Zigarette aus der
Schatfitet; ein Streichhotz aus dem Behalter.
„Habe ich dazu ein Recht ?“ Er bringt das Streich-
holzfeuer in Verbindung mit der Zigarette. Schon
wieder: „Wo 1st das gottgeschaffene Auge fiir
das gottgeschaffene Licht; das Licht, das mein
Tun beleuchtet? Das Auge, das mich erkennen
laBt? Tor! Licht und Auge sind ein Eines; was
soli ich mit der Halbheit Licht beginnen?“
Das Streichholz ist verkohtt; die Zigarette ist
nicht mehr. Zwei Dinge sind im Raum ge-
wesen.
„fch wirtschafte hier, al$ ob ich ein Recht dazu
hatte! Zum Verzweifeln! Antwort, Antwort!
Wenn ich Niere ware, oder Leber! Niere, Leber
zerreiBen Molekule zu Atomen; bauen neue Mole*
kule; kraft ihres Seins. Oberiegen nie, ob sie
rechtiich tun. Gluckliche Harn- und Gallebereiterl
Zu euch kommt kein Licht; darum vermiBt ihr
nicht das Auge und schiebt die Dinge im R&ume
skrupellos dahin, dorthin. Ich, Sophus Ema-
nuel, wiirge alles untereinander, mit BewuBt-
sein! BewuBtsein, Licht! Und dafiir kein Auge!
Tue ich un recht? recht ?"
Sophus Emanuel schreibt und zeichnet. Schafft
neues aus dem Chaos seines Selbst; wie Niere,
Leber. Verflucht! Mit BewuBtsein!
Ruhe, Ruhe, Sophus Emanuel, gejagter Antwort-
sucher!
„Habe ich ein Recht auf Schreiben und auf Zeich-
nen? Auf Gestaltung meines Chaos? Verfluch-
tes Licht !" Sophus Emanuel sucht wieder, sucht
umsonst nach einem Auge fur das Licht, etas
sein Tun bestrahli „Jedes Ding im Raum hat
ein Recht auf eigenes Sein; unantastbares Recht
so spricht das Licht zum Augenlosen; tf darum
gestalte!" Und wieder spricht das Licht: „Hor
wol, Sophus Emanuel, ein jedes Ding hat Recht
auf Sein; darum gestalte nichts!"
Sophus Emanuel war wiitend. Er warf das Tin ten-
faB zu Boden; das Papier zerriB er; die Feder
stiefi er stumpf.
Erldsung!
Erlosung?
Sophus Emanuel hatte wieder mit den Dingen
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DIE AKTION
360
im Raum gewirtschafiet, als ob er bestimmtes
Rccht dazu hatte: Tintenklexe; Papicrschnitzd ;
Stahtf ederstuck e.
Hier ist man hcrgesetzt; mitten in die Dinge
hinein. WeiB nicht, tut man recht, tut man nicht
recht. 44
Sophus Emanuel schloB die Augen. Den An fang
suchte er. Er begann: „Am Anfang schuf Gott
Himmel und Erde . . . Augenloser! Wirtschafte-
test, als ob Du ein Recht dazu gehabt hattest.
StelHest aus dem Chaos DEINES Seins Dinge
im Raume auf, Himmel und Erde. Und die be-
nutzest Du! Zerstorst sie wieder und baust sie
wieder auf. Sind die was anderes t als mein Ge-
schriebenes und mein Gezeichnetes ?“
Er drohte mit der Faust: „Als meine Streichhd!-
zer und meine Zigaretten ? 44
„Gott, Niere, Leber, Ich! Alle wirtschaften sie
im Raum; augenlos; wissen da rum nichts vom
Recht und Unredit auf ihr Tun. Eines Ohn-
machtigen Verzweiflungsschrei: Es werde Licht! 44
Weiter im Anfang: „Und es ward Licht. Und
Gott sah, d&S das Licht gut war . . .“
Sophus Emanuel: „Er sah? Sah? Hast DU viel-
leicht heimlich DIR ein Auge geschaffen? Und
mir hast DU es vo rent hal ten ? Ich verzichte auf
DEIN ^ottliches Licht, DU! Ich habe kein Auge,
mit DEIN EM Licht zu erkennen, was recht ist
und was nicht recht ist/ 4
Blendlaternenlicht lauft durch ein Zimmer. Diebs-
licht. Was er niitzen kann, nimmt er an sich; ein
Dieb; fragt nicht nach Recht und Unrechl Dinge
sind im Raum gewesen.
„lch will Licht, das meinem Menschenauge taugt.
Ich bin. Es werde Menschenlicht! 44 . . . Sophus
Emanuel sieht Diebe, PIQnderer, Rauber, Schan-
der, Morder auf der Erde rasen.
Zerstampfte Garten. Zersplitterte Wiilder. HSuser
brennend. Uber Schutt verfolgte MenschenftiBe.
Zermalmte Weiberseelen; zcrstlickte Mannerlciber.
Paradies der Augenlosen.
Ein Schrei: „Wo ist das Auge?“
CAL1GULAS HINTERLASSENSCHAFT
Von Xaver
„Caligula tot? 44
Bange Frage. Gesinnungsbohrer ?
„Darf nicht tot sein; ist nicht tot. Hoch Caligula!
Guter Vater! 44 Sie rufen es. Sie fiihlen es?
Die es riefen, fuhlten nicht. Die es fuhlten, riefen
nicht; die handelten. Soldaten, die Treuen um
Caligula — Laufschritt! Marsch, marsch! — ren-
nen zur unterirdischen Galerie zwischen Zirkus
und Palasi Dort liegt Caligulas Leiche. Rachel
Soldaten, die Treuen um Caligula, zerhacken
lebendiges Menschenfleisch, alles, was in Nahe
kommt. Umsonst. Caligula bleibt regungslos.
w Wo ist ein neuer Herr fur unsere Treue?“
Ein Vorhang zittert. Morder dahinter? Soldaten-
hinde reiBen Vorhang fort. Soldatenhande zerren
eme MiBgeburi vom Menschen, Korperk rappel,
GeistesJtrupp^i au * ^ en Soldatenschild: „Hoch
Imperator Claudius/ 4
& zittert auf erhobenen Sol daten hind en Sol-
Fdix M Oiler
Xaver* PortrOt
datenschild; dr auf zittert Furcht. Furcht steht
auf, wachst. Hat lange Arme; die wachsen langer.
Furchts Arme wachsen in Jahrhunderte hinein . . .
Nero . . . Galba . . . Sie zittern auf Soldaten-
schildern . . .
Caligulas Hinterlassenschaft.
ERDBEBEN
Von Simon Kronberg
Denn die Erde trinkt Blut, ohne zu erbrechen.
Sie saBen und weinten harte, trockene Tranen.
Die Brust hinauf in den Hals, hinab tie! in den
Leib, Bauch, strahnig an den Schenkeln, krampfig
in den FuBen. Siebzig Juden, Gerechte der Welt,
nie wird ihre Zahl kleiner . . .
Von Kerzen brennt nur noch der Docht, tief in das
Holz der Tempelbreiter. Geruch nasser Tucher
wiihlt an Einem, an Anderen. Zerbrochen ist die
Aufrechte jiidischer Manner. Einer: „Geht zu
Gott, fragen! 44 GroBes Gewein aus durchnaBten
Knochen. VerstoBen, wollen alle hdren. Tag
brock t von den Wanden, zu fruh geborene Worte,
alle Hande fallen zitternd.
Rabbi, Altester, Steinklopfer am Rand der Gasse,
ist blind, lacht auf einmal; und Neunundsech-
zig: zwei Konige, Fursten, Talmud junger, ein
Schneider, gehohnte, aussatzige Menschen und
Hausierer lachen auf einmal. Sehen nach einer
Richtung spulende Schwikle. m Hort? Gott ist! 144
Rabbi erhebt sich. Ncunundsechz ; g erheben sich.
Rabbi nimmt den Menschen, speit ihn an. Neun-
undsechzig speien nach dem Menschen. Rabbi
zerfetzt das Pergament. Rauch kommt von der
Welt. Neunundsechzig lachen gewahnsinnigt.
„Rabbi! Rabbi! Ja-amaud Ha-Maftir/ 4 Schwarz
reden alle Worte Die Erde: „Kratzt mir das Blut
DIE AKTION
362
361
von den Augen, ich werde blind." O, liber das
Gesieht des Rabbi ein Ratsel. Er geht in Socken.
Neunundsechzig gehen in Socken. Rabbi und
Neunundsechzig tanzen. Staub speit in die Kehlen.
Liederstickenisch . . .
Die Nacht trinkt Siebzig miihsam. —
EINFOHRUNG IN DEN ROMAN: ZUFLUCHT
Van Frans Jung
DrauBen rollt unabanderlich die verdammte Bahn.
Verzweiflung schwillt. Die Flut. Die Verzweif-
lung. Unzweifelhaft die Flut. Die ungeheuere
Flut. Die Verzweiflung — Eine Spinne lauft die
Kante runter. Merkwiirdig schmale, entsetzliche
Spinne* Lebewesen wie alle — * die Menschen,
ein guter Mensch, eine liebe gute Spinne. Das
Hirn pfeift. Eingeklammert. Laftt uns beten, lacht
eins. Lachen die Leute: Ruhe! Ihr lieben, guten
Leute — das Him pfeift. Ich liebe dicli. Und
dich — und dich, Liebe. Die Bahn. Die Spinne.
Kreist wieder das Blut — schwellend — Flut —
weit hinaussehnend zu mir selbst, fern im Osten.
Will fort, schrei doch jemand: ich halte es nicht
mehr aus. Fast nicht mehr — aus!
Lachelnd blatternd in gaukelnden Erinnerungen :
Keinen Larm machen, denn das Gluck straft.
O ihr Gliicklichen. Der Schimmer ist schwer zu
tragcn, das Gluck in mir. ReiBt, bohrt, schlagt alles
nieder, zerpreBt! Und keinen Larm. Die Bahn
rollt. Draufien schweben Baume, Bliiten, gleitende
Sehnsucht in starrer Schwere der Akazien. Gibt
sich wer den wehen Ruck — ? Die Ellbogen gegen
das Licht. Licht an die Wand driicken, zerquet-
schen. (Nicht doch zerquetschen). Mehr Mord!
Larm!! Matten raus, Stuhl, Zigarrenkiste, Spiegel,
spiegelnd den Triumph der Fratze traneniiberkol-
lert — ah — lebend liebt auch der Mensch . . .
Mensch? Lebewesen?? Spinne??? Das Gluck
ist da. SachgemaB. Steigt auf den Stuhl. Meine
Verehrten, das Gluck, und schneidend, und eisig.
Immer den Kopf hinhalten, das Geriiste hinstellen,
Knochen. Tod, mehr Liebe, Jelanger-jelieber,
Schall und den nicht mehr wegzuleugnenden Haar-
hut. Weinend! Auf dieser verfluchten Erde. Ba!d
aber geht’s wirklich — bald aber wirklich, bald
nicht — wirklich nicht mehr, bald!
So — wenn schon einer am Boden, he!!, wenn
schon einer am Boden liegt, vielleicht von der
Trambahn angefahren und dann noch unter die
Rader, sage ich — Der Zuschauer hat direkt
einen neuen Inhalt, der Zuschauer ist davon er-
fiillt, der Leser, der Autor, alle Autoren, gerade
die anderen Autoren . . .
unter die Rader!
Solange die Bahn rollt! In jener winzigen Ent-
spannung, die das Grauen allein ist, die Angst
flattert, und von ganz weit her in sich befestigte
Gebcte murmeln, die doch eine Mauer zwischeu
uns Menschen trennt. Widerlich gefestigt — aber
eine ganz kurze Entspannung und widerlich.
Steh-hen, ? Feststehn!? Die Fiut steigt. Lieber
keine Entspannungen mehr. Steigerungen. Boden
liegen, gewiirgt werden. DaB fur jeden das Gluck
sichtbar wird. Vom Chaos des Gliickes zer-
stampft. Zerfetzt taumelnd in Allmachtlgkeit —
Im Blut die Fanfaren meines jiingsten Gerichts.
(Bahn kreist, Blut rollt, Hirn kantert eine Spinne).
ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS
LI
Ein Befreierslfick der Entente.
Die Abdankting des Griechenkonigs erxwungen.
Die Entente ftihrt bekannttich den Kreuzzug fur Freiheit und
Detnokratie. Sie hat jetzt xum eratenm&l ein Sttlck ihres viilker-
begiUckenden Programms durchgesetzt : in Griechenland
wurde der Kdnig abgesetzt, der Kronprinz von der Thron-
folge ausgeschlossen. Das griechische Volk ist jetzt alio
„befreit u . . .
Also dem unterdrllckten griechischen Volk muSte gegen seinen
absolutislischen Herrscher die Freiheit zurtlckerstattet werden,
Zu diesem Zweck raubte die Entente dem griechischen Volke
— nicht dem Herrscher — seine Kriegsflotte. D&rauf
wurde dem Volke — nicht dem Herrscher — das wich-
tigste Ausrttstungsattlck der Armee, die A r t i 1 1 e r i e , fort-
genommen, die halbentwaffnete Armee in Peloponnes tntermert.
Dann raubte die Entente dem Volke — nicht dem Herrscher
— die gcsamte, fttr das kleine Land sehr betrfichtliche Handets-
fiotte . . . Nachdem dies alles geschehen war, kam end 1 ich
die Freiheit an die Reihe, wurde der K6nig durch einen Ein-
griff in die souveranen Rechte des Staates abgesetzt, Heil der
Entente I Die Griechen sind jetzt ein vollig freies Volk ■—
von verbungernden, ohnmiichtigen Bettlem.
„Voruxirts‘‘, crwtt Seite Hauptblatt 14. Juni 1917
Einen eigenartigen Antrag hat die VorwKrts-Buchdruckerei und
Verlagsanstalt Singer & Co., Feller, Petersburger PJatz 4, an die
Grundeigentumsdeputaiion der Stadt Berlin gerichtet. Sie legt
dar, daO ihr Betrieb auSerordentlichen Rackgang habe; die
Zahl der Abonnenten auf den Vorwkrts und der Buchhandel
in der Spedition sei auflerordentlich zurdckgegangen, Es falle
ihr unter diesen UmstSnden die Zahlung der Miete sehr schwer.
Sie bitte deshalb, die Miete von nur 800 M. far die R&ume —
einen Laden, eine Stube und eine Kttche — auf 600 M. zu
erraafligen. In der Grundeigentumsdeputaiion erregte dieter
Antrag einer Firma, die frtlher einen nach Millionen zihlcnden
Jahresumaatz hatte, das lebhafteste Befremden. Man wies darmuf
hin, da 6 MietermJiCigungsantrSge von Kriegerfrauen, kleine n
GescaSfisleuten, Restaurateuren usw. wfihrend des Krieges be-
grei fitch seien und nach Moglichkeit Entgegenkommen nach
Prttfung der Sachiage gefunden hJitien. Grolie Firmen ratiflte
die Selbstachtung vor solchem Verlangen nach Gemeindemitteln
abhalten, wenn sie etwa vorUbergehend in Verlegenheiten ge-
raten sollten. Derartige Antrfige mttfiten ja auch grundsSttlich
abzulehnen sein. Eine Ausnahme bei dem Vorwarts zu machen,
der frtlher Millionenverdiensle notorisch gehabt habe, gehe
keineswegs an. Die Berliner Steuerzahler seien nicht dazu da,
ein Defizit zu decken, das eine Firma mil oder ohne ihr Ver-
schulden erlitten habe. Es erlibrige sich deshalb auch, Vor-
legung der Bticher der Bittstellerin zu stellen. Der Antrag
wurde mit alien Stimmen gegen die des Abgeordneten Bajner,
der lebhaft fdr den Liebesgabenantrag eintrat, abgelehnt.
Deutsche Tcgcszeitung, 15, Juni 19 J 7
Der n V orwSr ts u im Kriege. Die nVorwKrts 41 -Filial e am
Petersburger Platz 4 hat, wie die „ Deutsche Tageszeitung“ einen*
Bericht der „Letpziger Volkazeitung a eninimmi, an die Gmnd-
eigentumsdeputation der Stads Berlin die Bitte gerichtet, die
Miete von 800 M, fttr ihre RSume auf 600 M. zu ermkBigen,
da die Zahl der Bezieher des ^Vorw&rts" wie der Buchhandel
in der Spedition auflerordentlich zurdckgegangen seien. Der
Antrag sei mit alien Stimmen gegen die eines Vertreters der
sozi&ldemokratischen Mehrheit abgelehnt worden . . . Oafl
Unternehmungen, die durch den Krieg gelitten haben. Mieis-
nachlasse ansuchen und auch bewilligt erhalten. ist ein allt&g-
Ucher Vorgang. DaU aber der Antrag der genannien ,Vor-
wkrts d -Fitiale abgelehnt wurde, ist in hohem Mafle dem Eifer
des Siadtverordneten Artur Stadthagen zu danken, der gegen
den Antrag gesprochen und gegen ihn gestimmt hat.
„ VbrwdrW*, 16. Juni 1917
363
DIE AKTION
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KLEINER BRIEFKASTEN
Die Papiemot, Freunde, ist jetzt ein ergiebiges Them* der
Pr(si6. Diesel ben Rotziionsmsschincn, die sonst tlber
jede Not Trostendea zu drucken wufiten, schleudern sehr drohende
Proteste in die Welt, weil nun such die Ullstein, Mosse,
Scherl & Co. zu Einschrankungen gezwungen sind. Mit einem
Pathos, sis ginge es urn die Dinge der Menschheit, wird den
Abonneaten vordeklamtert, wieviel Inscrstenseiten nicht verksuft
werdea konnten, wihrend gleichzeitig durch Abdruck von Bei-
tragen der Ed. Schmid, Rods Roda etc, Pspier vergeudet wird.
In den letzteo drei Jshreo, die ishllose Existenzen serbrschen,
ging es der Presse nach Wunsch; jetzt stohnt sie, sis seien un-
gedruckt gebliebene Inserste eine Gefshr fttr die Kultur. —
lch nehmc die Sonnugsnummer (24. Juni) des „B. Ts.“ zur Hand :
16 Seiten Annoncen, 7>/ t Seiten Textbeigabe (die leicht auf
iwei bis drei Seiten zusammenzustreichen gewesen wire.) Und
Shnlich die Ubrigen w groflen“ Blatter Berlins. Ein betrichtlicher
Teil der Inserste erscheint Uberdies an einem Tage glcich
Isutend in alien Blatlem. Hier, wenn irgendwo, sehe ich den
Weg fttr die r ,KriegswirtschaftssteUe fttr das Zeitungsgewerbe*,
Papier zu gewinnenl Man trenne an alien Orten, wo m eh re re
Annoncenplantagen existieren, das Inseratengeschkft vom Presse -
bctriebe und grtmde eine offizielle reine Annoncenzeitung I 1st den
Zeitungsunternehmern die Verquickung von Presse und lnserai
verboten, dann wird, wer Inserste aufgeben oder lesen will,
zur Annoncenzeitung greifen und dort nicht durch Text gesldrt
werden. Ein einziger Son n tag wttrde soviet Papier frei machen
wie die Zeitungen in einer Woe he fttr den Nachrichiendienst
benotigen, Der Vorscblag ist leicht diupchftthrbar. Das Publikum
wird die annoncenfreien Wochen sicher ertragen ktonen. Die
Zeitangsbesiizer wtlrden nicht mitmschen ? wtirden nicht drucken )
Aber das ware ja — —
Renate. Das n B.T, u vom 23. Juni (Abendauag.) bringt diese Zeilen :
Hap ns Heinz Ewers, der Amcrika nicht ver-
lassen kann, bittet uns durch einen in DKnemark
etngetroffenen Bekannten, seinen Freund en in
Deutschland mitzuteilen, dafi er unter seinem
u nfrei w il 1 i gen Exll in dieser Zeit leidet, sich
aber korperlich wohl befindet. Er ist zurzeit
mit der Cbersetzung einer irisch-amerikaoischen
Operette „Eileen“ (von Victor Herbert) be-
sebifligt. Er wirkt nach Mbglichkeit far die
deuische Sache; sein Heimweh und sein Be-
dauern, untStig dem gewahigen Ringen des
deutschen Volkes zuschen zu mils sen, wird durch
die Unmtjglickkeit selbst des schriftlichen Verkehrs
mil der Heimat noch verschirft.
Herr Hanns Heinz Ewers, der sich aber ktirperlich wohl be-
hndet, weilt sen Juni 1914 in Amerika, das 1917 in den Krieg
eingetreten ist.
Freunde! Soeben gelangten zur Ausgabe: Ludwig Rubiner:
Der M ensc b in der Mitte und Band 5 der Semmlung AKTION S-
LVRIK; Der Hahn (eine Anthologie), Jedes Werk kostet
54,3, — . Pflicht der Freunde ist, energisch fttr die Verbreitung
der Bficher zu wirken !
F. B. Vom AKTIONSBUCH sind nur ganz wenig Exemplare
in Halbpergament gebunden worden; das Exemplar, numeriert
und signiert, kostet M. 6, — , (Auch die ungebundenen Exem-
plare [a M. 3, — ] sind nahexu vergriffen I)
K. F. Irn Feuilleton der „Mlinchener Neuesten“ No. 237 wird
liber Kunst geplaudert. Ftlnf lange Spatten so:
„Der aristokratische Charakter der Kunst muss notwendig um
so ach&rfer hervortreten, je mehr sie der brei ten Masse zugedacht
wird. Nicht dafi sie sich einer besondereti gesellschafttichen
Klasse vorbebielte oder gar Alleinbesitz einer Gilde ware, aber
sic bevorztigt Auserwihlte, und von ihr gilt das wundersame
Wort : Wer da hat, dem wird gegeben werden. Die zahlloseu
Versuche unserer Zeit, den Pegasus ins Joch zu spannen,
Lieber Leser, von M. d. n A. M Victor Fraenkl, erbalte ich diese
Zei len :
Berlin W. 57 Potadamerstr, 86 b
den 19. Juni 1917
am 1058. Tag des Krieges.
Lieber Freund Pfemfert,
die jetzigen ZeitlSufte dunken mich besonders geeignet, den
lange gehegten Ged&nken einer Gesellschaft fllr tiuddhis-
mus und b udd h i st ische Forschung — unter Aur
schlufi von Anh&ngern theoaophischer Rich tungen —
in die Tat umzusetzen. Leisten Sie, bitte ich, der Sache da-
durch einen Dienst, dafi Sie in der AKTION die hier fol-
genden SItze verGffentlichen, mit welchen ich viele Anfragen
und Meldungen programroatiich beantwortet habe!
Ich danke Ihnen herzlich und grtlfie Sie 1
Ihr
Victor Fraenkl
Hier die SKtze:
Die zu grttndende Buddha-Vereinigung will auf den Mahnruf
antworten, den sonderlich unsere Tage der Biuemisse und der
Qualen an die Menschen ergehen lassen, Nicht zu milder
Skepsis soli ein Zusammenscblufl erfolgen. nicht zur Spielerei
mit Eufierlichem Myslicismus, sondern zur Selbsleinkehr, zur
Selbstbesinnung durch die Weisheit des Inders Siddhartba, der
in der Mahabodhi-Nachl zu dem Buddha geworden ist.
Der Buddhismus versagt nicht, wfihrend Orgien des V61ker-
hasses raien und Ozeane von Menschenblut dahinstrdmen. Er
beschonigt nichts und nennt schwarz, was diese Far be hat; er
vertrostet nicht auf Paradiese aufierhalb des jammertals der
Erde und verheifit nichts, was er nicht zu hahen vermag. Un-
erbiuliche Folgerichligkeit ist sein Kennzeichen, er opfert nichts
der klingenden Phrase oder einem Kompromifi. Herb sind in
seiner „Predigt von Benares* die Lehren vom Leiden, von
dessen Entstehung, von dessen Aufhebung und vom Weg dazu.
Der Lohn aber dafttr sind tiefe Erkenntnisse, mittels welcher man
die nimmer mhenden, st&ndig flieflenden und wechselnden Er
scheinungcn zu begreifen und den Weg zur Ret lung aus dem
Sam saru, der Welt des leidvollen Entstehens und Vergehens,
zu finden vermag. Nicht etwa mit dem Ziel der Selbstver-
nicht ung, sondern der Selbslbeherrschung, die nicht n Sttnde < *
schilt, was „Letden u ist, die zur Loslbsung von Neid, Gier,
Zorn, Unduldsamkeit, Hafi emporklimmt, die das Toten ver-
abscheut und sich mllht, die Liebe zu alien Wesen „den starken
und solchen, die in der Welt zittern* werktagig zu tlbcn.
Jahrhunderte vor Jesus Christus hat der Buddha durch den
Karma-Gedanken das Walten einer ausgieichenden Gerechtigkeit
dargetan. Er hat nicht eine ttbernatlirliche Often barung, keinen
Ubermenschlichen Hetland, nicht den Glauben an eine ewige
Scligkeit in einem Jenseits zu Hilte genommen. Durch seine
Ethik, die auf Beobachtungen und Tatsachen gegrUndet ist, hat
der Buddha die Pforten zur Erlbsung vom Leiden und zur selb-
stKodigen Heiligung gesprengt.
Mit seinen Lehren und der standig zu vertiefenden Forschung
in ihrem Schrifttum soil sich die neue Gesellschaft zunkchst be*
schiftigen.
Wer zu ihr kommen will, braucht sich nicht zur Befolgung
buddhistischer Vorschriften zu verpflichten ; was von ihm er-
wartet und gefordert wird, ist das Sire ben, an ernsten Erkenntnis-
arbeiten mitzuwirken,
Haben Sie nach diesen Darlegungen ein ehrlichet Interesse an
der GrUndung, so wollen Sie es mich freundlichst wissen lassen I
MIT DIESEM HEFT
schtiefit das zweite Quartalf Abonnementserneuerungen mttssen
so fort erfolgen, soil in der Zustellung keine Unterbrechung
eintreten. Dies gilt auch fur Feldpostabonnenten I Den Lesem
im Auslande sei empfohlen, das Abonnementsgeld einzusenden;
Nachnahmen verteuern den Preis unnotig!
INHALT DER VOR1GEN NUMMER. (SONDERHEFT JOSEF CAPEK): JOSEF CAPEK: MADONNA (T1TELBLATT-
zekhnung) i Alexei Kolzow: Russische Volkslieder / Theodor Lessing: Europa und Asien / Josef Capek: Medusa (Zeichnung) /
Arthur Holitscher: Die Russin / Josef Capek: Fraucntorso (Original-Holzschnitt) / Oeore Oretor; Zweiter AKTIONS-Brief
aus der Schweiz / Carl Einstein: Negerlieder / Edlef Koppen, Maximilian Rosenberg, WUnetm Klemm, Ludwig Baumer und
Rudolf Hartig: Verse vom Schlachtfeld / Josef Capek: Frauenportrat (Holzschnitt) / Rudolf von Kapri: Bei Brixen / Josef
Capek: Das Madchen (Holzschnitt) / Heinrich Stadelmann-Ringem Das neue Drama / Josef Capek: Frauenportrat (Federzeichnung)
-'Heinr/ch Schaefer: Hoch sich windende Ranke / Josef Capek: Zwei Mannerportrats (Holzscnnitte) / Fr. Tucny: Zu diesem Josef
Cap ek-Heft / Ludwig Rubiner: Ober Alfred Wolfenstein / F. P.: Ich schneide die Zeit aus; Kteiner Briefkasten / Beilage der
^ But ten- Ausgabe: Capek: Originat-Steindruck
Soeben erschicn Band 3 der Sammlung:
DIE AKTIONS-LYRIK
HERAUS6EGEBEN VON FRANZ PFEMFERT
DAUB LER/DER HAHN
EINE ANTHOLOOIE
VERLAG DIE AKTION/BERLIN-WILMERSDORF
Das Titclblatt zeichnete Felix M ii 11 e r
Preis des Werkes in Halbpergament M. 3
Ktir Heraasgabe, Schriftleitung und den gesamten Inhilt verantwortlich : Frans Pfemfcrt, Berlin •Wilmersdorf, N assauisc keatraaae 17.
Gedruckt bei K. E. Haag, Me lie in Hannover. Abonnements kosten vierteljthrlich dorch die Poet, dorcb Buchhandel oder Vesiag
(unter Kreusbaod) M. 2.50, far das Aiuland M. 3, - , Biittenauigabe, 100 niimcrierte Exemplar e, jAhrJich M. 40. Verlag der ACTION,
Berlin 'Wilmersdorf. Alle Rechte vorbe bakes.
A
'ti /
WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, UTERATUR, KUNST
Hi. JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT NR. g
IN HALT: Raoul Hausmann: StraBc (Titelblatt) / Theodor Lessing: Europa und Asien / Aus Bakunins Brief en / Waldemar
Ohly: Holzschnitt / Josef Eberz: Federzeichnung / Charles P£guy: Renan / Rudolf Mense: Der Flufi (Federzeichnung) /
Mopp: Vol taire_(Federzrich n ung) / Franz Werfei : Oebet { Albert Ehrenstein : Verschmachten / Carl Einstein: Kr&nke / Wil-
helm Kletnm: liefer Abend / Alfred Wolfenstein: Des Freundes Haupt / Kurd Adler: Verheifiung / A. B. N. Sissenicn: Oc-
dicht / Hans Richter: Musik (Tuschzeichnung) / W. Schuler; Holzschnitt / Karl Otten: Unzullnglicne Opfer. Fine Familien-
blatt-Novelle / Erich Oehre: Holzschnitt / Franz Jung: Finanznovellen / F. P.: kh schneide die Zeit aus; Kleiner Briefkasten
VERLAQ * DIE AKTION ' BERLIN. WILMERSDORF
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AKTIONS-BOCHER der aeternisten
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Band 2;
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Anmerkungen
Band 3:
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Band 3 und 5 kosten gebunden je M. 3, —
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100 numerierte Exemplare
Jahresabonnement : M. 40
Jedem Buttenabonnement werden jahrlich raindestens
acht KunstblSuer beigegeben, von den KUnstlern nume-
ric rt und signiert. Diese Beilagen kommen nicht in den
Handel und stellen einen Wert dar, der den Abonne*
menlsbetrag Ubersteigt! Im Jahrgang 1917 werden
beigegeben: Blatter von Felix Mailer f Max Oppenheimer /
Ines Wetzel / Karl Jakob Hirsch / Richter-Berlin u a.
KUNSTLER-POSTKARTEN DER AKTION
Es sind So verschiedene Drucke erschienen
Zeichnungtn von Mopp / Kars/ Schmidt -RoUlu IT /Schrimpf
/ Klein / Richter-Berlin / Nadelman / Fetninger / Harta /
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Mtlhlen / Han* Richter / Josef Capek / Morgner u. a.
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K. J. Hirsch / Hans Richter / Wilhelm Morgner / Egon
Schiele / Georg Tappert / Else von zur MUhlen / Ines
Wetzel / Felix Muller
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7 .JAHRGAN 6 HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT 14. JULI 1917
m
EUROPA UND ASIEN
Ton Theodor Leasing
IV*)
Die H auptge i s t esm ach 1 e Asiens
Es ware jedoch eine falsche Verallgemeinerung,
wenn wir die Geisteswelt Asiens als Einheit auf-
fassen und schlechtweg der sogenannt europa-
isehen Kultur entgegenstellen wollten.
Innerhalb Asiens sind wiederum verschiedene
Krafte, ungleiche Ideale am Werk. Der Brahma-
n ism us mit 220 Millionen A n hanger n; der Bud-
dhismus mit 420 Millionen, der Ahnenkult des
Shintoism us, (sicherlich an 20 Millionen Anhanger
zahlend), diese eigentliche Religion Japans, wel-
ches Land der kluge Kopf Asiens ist, wie lndien
sein groBes mutterliches Herz; endlich der Islam
mit 240 Millionen.
Betrach ten wir das Wesen dieser vier groflten
asiatischen Geistesmachte.
1. Der sogenannte Brahman ismus — (br&hman,
(Mana] ist das indische Wort fur S e i n , wel-
ches weder mit unserm Begriff Da sein, noch
mit dem Begriffe Lehen [&tman] iibereinkommt,) —
ist der ungeheuerste Naturkult, die gewaltigste
Lebensreligion, die die Erde kennt. Eine Reli-
gion, vollkommen ohne Gottesbegriff und ohne
Ethik; denn dort wo alles Lebendige als gott-
lich und gotterfiillt verehrt wird und das Leben
in alien seinen EntauBerungen Gegenstand der
Andacht ist, da gibt es keine sittlichen Wertleitern
und logischen Rangstufen.
Unser deutsches Wort Gott kommt von Gut! —
Gott, so nennen wir das Gute; und darin zeigt
sich, daB christliche Religiositat eine sittliche Re-
ligiosity ist, oder, wie ich besser sagen konnte,
eine Wertreligiositat!, das heiBt eine Glaubigkeit,
welche Nor men und Ideale fur Menschen auf-
stellt und uber das Leben sittliche Urteile, das
heiBt, Schatzungen und Auswertungen abzugeben
trachtet. Aber neben und im Gegensatz zu alien
Wert religion en stehen Naturreligionen, welche
nicht uber das Leben normierend urteilen, son-
dem mit dem Leben E i n e s sind in einem tie-
feren Sinn, als die immer ethische und das heiBt
auch immer zwiespaltige (dualistische) Religiosi-
tat europaischer Menschen.
Die Welt der Vielheit ist nur ,,Schleier der Maja.“
Hinter dem BewuBtseinsschleier ist alles Eines.
-Mensch kann zu Tier, Tier zu Mensch werden.
*) I, II und HI siehe die Hefte 24/25, 26.
Pflanze und Tier, Wind und Woge sind dem
Morgenlander Schwester und Bruder. Als Ge-
genstand der Furcht und Ehrfurcht erfiillt ihn
die unendliche Fruchtbarkeit des Lebens, die in
alien nur moglichen, ewig wan del bar dahin-
flieBenden und vor keiner Phantastik zuriick-
schreckenden Formen und Gestalten verehrt und
angebetet wird, in Affe und Schlange, Mango-
baum und Dattelpalme, Lingam und Lotos, Fratze
und Saule; am liebsten in ungeheuerlichen Got-
terbildern, die tausend Arme, tausend Kopfe, tau-
send Bruste haben, trachtig von Leben, strotzend
von zeugenden Kraften des Lebens, so wie der
Dschungel oder Urwald, der nahe den Tem-
peln solcher Gutter liegt. Das sind fratzenhaft
wiiste Gotter, die kein geringerer als Goethe
miBverstand, weil er mit sittlich Ithetlschem MaBc
Euro pas ihnen ebenso wenig nahen durfte, als
einem Urwald von Menschen! ei be rn, den der opale
Pinsel des groBen Rubens auf die Leinwand
schmettert Auch die Verehrung Kamas, — ver-
mutlich Ursprung des Dionysosdienstes in Hel-
las — Indiens Freudenkult und die Hingabe des
Weibes aus religidsen Weihen erklart sich aus
dieser Anbetung der ewigen lebencjigen Frucht-
barkeit. Die Religion Brahmas kennt keinen sitt-
lichen Imperativ, also keinen Dualismus. Eben
darum (ich kann diesen Gedanken hier nicht
begiiindend ausfuhren) bedarf sie jenes starren,
ein flir alle Mai beschlossenen Kastenwesens
und Traditionalismus, welcher alle auswertende
Einzelvernunft und ihr sittliches Pathos fraglos
dahinlebenden Mensch engeschlechtem vollkom-
men ersetzt.
Wenn man behauptet hat, daB Religion eine An-
gelegenheit der Einzelseele sei, Privatsache und
allerpersonlichstes Leben, so gilt diese Behaup-
tung streng genommen doch nur fur die N a t u r -
tatsache Religion, fur jene Allbeseelung, der aus
Busch und Baum das Bild lebendiger Fulle wieder-
strahlt, jenes A 1 1 erlebnis, welches Gefiihl und Ah-
mung, den vorbewuBten Muttergrund alles Seelen-
lebens, zum Trager hat. Demgegenuber aber
erziichtet der ZusammenschluB der Menschen zur
Gruppe, die Entstehung der Stadt, des Verkehrs,
des Geldes, des Zwi&chenmenschlichen und Sozi-
alen die Notwendigkeit eines Bruches in und mit
der Natur, jenes Wertreich, welches wir Ver*
nunft oder Sittlichkeit nennen. Erst das Gruppen-
und Gemeinschaftsleben tragt uber schnell dahin-
sterbenden Einzelwesen dieses Uber- uud Unper-
367
DIE AKTION
368
sonliche empor, das a!s Allgemeines und alien Ge-
meinsames die Einzelseele iiberdauert und ver-
zehrt, den idealen Oberbau iiber allem Seelischen :
den Geist. — Mit dem Geiste aber erb'uht eine
ganz andere Art von Religion, die universale
Religion der sittlichen Bindung. Von diesem Wan-
del der Naturreligion und des mythischen Fuhlens
zu denkender und wertender Beurteilung der
Welt zeugt die zweite der groBen Gelstesmachte
Asiens, der Kultus Japans, dessen Staatswesen
dem europaischen verwandt 1st: der sogenannte
Shintokult.
2* Shinto, auf deutsch etwa: Weg der Gotter, ist
die zur Staatenbildung giinstigste, ich mochte
sagen erzieherisch kliigste Religiosiiat der Erde.
Sie griindet auf Familiensinn und Gruppenge-
fiihlen* Nicht in der Natur, in Baumen des Ur-
waldes, nicht in seltenen Tieren und Pflanzen,
nicht in Gleichnissymbolen der schopferischen
Lebensfulle sucht sie den Gott, sondern, ohne
Tempel und Pagode, im Menschengemiite, so
innig-zart, daB des Christentums Sitte und Ge-
wohnung oft dagegen barbarisch anmuten.
Sie weiht die Hutte des armsten Paria zum
Tempel heiligen Gefuhls. Da steht der kletne
Hausaltar mit vielen Tafelchen und Papierstreifen,
Waldemar Ohly
Holuchnitt
auf denen die Namen der Toten prangen, der To-
ten, welche nach dem Heimgang einen neuen Na-
men erhalten; da wird in silberner Kapsel die
Nabelschnur verwahrt, die das Kind mit der Mutter
verband; da verwahrt man Grabsteine der Ahnen,
als das Heiligste, was das Gernut kennt; und
wir Europaer wissen nicht, was wir einem from-
men Ostasiaten antun, wenn wir einen alten Stein
umstiirzen, den der Shintoglaubige ebensowenig
antasten darf, als der Chinese ein Stuck bedrock-
ten oder beschriebenen Papieres vernichten. —
3. Noch naher aber, ja am nachsten steht unserm
europaischen Denken die dritte asiatische Gei-
stesmacht, der Buddhismus, einem gereinigten
Christentume so nahe verwandt, daB der Gedanke
Wahrscheinlichkeit gewinnt, der in ihm den Mut-
terschoB des Christusgtaubens sieht, ja mit an-
nahemder RIchtigkeit auch den Namen Christus
vom indischen Krischna Oder Schiwa herleitet.
Denn die Kerngedanken Buddhas sind durchaus
ethisch-dualistisch und der Buddhismus 1st eine
Wert religion, die zum Brahmanismus gemein-
sam mit dem Christentum in Gegensatz steht.
Denn wahrend der Brahmane alle Formen und
Gestalten fur den Ausdruck des einen Brahma,
ihre Vielheit und Unterschiedlichkeit aber fur
bloBe BewuBtseinstauschung und „Schleier der
Maja*^ halt, setzt der Buddhist wie der Christ
Weltordnung und Weltzie! zur Erklarung der Un-
terschiede ein und nennt die eine Lebensform
„besser“ als die andere. Inmitten des ewig-
wandelbaren Flusses des Lebendigen baut somit
der Geist stolz und still am Felsen des Ge-
setzes: Buddhas oder Christus , Anbild ruhig
und wandellos erhohend, inmitten des fruchtbar
zeugenden Lebenselementes, welches der lebens-
nahere Brahmaglaube ausschlieBlich verherrlicht.
Damit aber tritt der menschliche Gedanke
aus dem Leben heraus, um zuletzt alles Leben
in sich, als in sein „Nirvana <f wieder zuriickzu-
schliirfen und „im Geiste zur Erfullung zu
bringen.^
Ich betrachte zwei Grundgedanken als das We-
sentliche. a) Zunachst den Gedanken des Karma.
Jeder Lebenslauf wird vorbestimmt durch Blut
und Same, vorbelastet durch Erbsiinde und Erb-
schuld, vorentlastet durch BuBe und Heiligkeit.
Wir leben auf Erden Himme! und Hollen; ernten,
was Vorgeschlechter in uns gesaet haben, saen,
was Nachgeschlechter ernten mussen. Mag man
das nun mit europaischer Naturwissenschaft an
Hand Darwinischer Gesetze mit den Schlagworten
Vererbung und Anpassung banaler und klarer
machen; mag man die christlichen Mysterien
tiefinnerer Gerechtigkeit oder geschichtlicher Ne-
mesis oder mag man endlich die Aufforderung
zu Askese und Heiligkeit darin suchen; Karma
ist der Glaube, daB Natur (vom Menschen
aus gesehen) ein Kleid ist, gewoben aus
Tat. Gewesenes wirkt im Lebenden und
Alles lebt in alien. Nicht wie der Brahmane
glaubt unterschiedlos im ewigen Formen wechseL
sondern nach Gesetzen der Zucht, die dem
Leben einen ,Sinn* geben. Also nicht ein kos-
)
i
t
369
DIE AKTION
370
misches Allgefuhl (wie im Brahm), sondern ein
Sittliches wirkt in den Glaubigen Buddhas —
b) Buddhas zweiter Kerngedanke ist der von der
Wiedergeburt, nach Gezeiten aonenlanger
Zwischenruhe in imrner neuen Formen. Auch
dieser Gedanke der Wiedergeburt ordnet sich dem
sittlichen Ideale zu, da wir ja selber in der
Hand haben, zu bestimmen, als was wir wieder-
geboren werden. Wer sieh iiber die gemeine Ord-
nung der Seelen hinauserzog, dem bleibt Natur
die Wandlung in eine hohere Ordnung der
Wesen schuldig; wer seine geistigen Keime
vertrocknen Oder verschiitten lafit, dessen Los
ist Versinken in das niedere Reich der ele-
mentarischen Krafte; er mag als Blatt oder Blume,
Kafer oder Kiesel weitervegetieren; ewiges Ver*
gessen ist sein Teil, und seine Wiedergeburt als
geistiges Wesen zu geistigem Werk ist
auf so lange versperrt, bis auch sein Leben sich
neu emporgearbeitet hat aus allverschlungenen
Ketten pflanzlich-tierischer Existenzformen zu Ge-
danke und wertendem Geist. In ihren erhabensten
Gebilden ist diese G eistes religion Asiens so
tiefsinnig, daB Schopenhauer vollkommen recht
hat, von ihr weit eher noch als vom Brahmanismus
zu sagen, daB es platte Geschmackiosigkeit sei,
wenn wir Europaer christliche Missionen nach In-
dien schicken, um Brahmanen und Buddhisten zum
Glauben an den dreieinigen Gott zu bekehren;
sinnvoller scheine ihm, daB der Kaiser von Siam
Missionare nach Europa sende, um Europa zum
Buddhismus zu bekehren. —
4. Noch eine vierte groBe Geistesmacht Asiens
gilt es zu begreifen, den semitischen Islam. DaB
die Tiirkei gegenwartig in Deutschland ebenso
mit einer Gloriole umstrahlt wird, wie sie vor
wenigen Jahren noch zum Schreckgespenst euro-
paischer Vorurteile diente, hat unser hier ganzlich
unpofitisches Urteil nicht zu kiimmern. Was — so
fragen wir — ist das Wesentliche in der Geistes-
welt Mahomets? Und die Antwort macht uns
geneigt, die islamitische Geisteswelt nicht nur
fur uneuropaisch, sondern als im tiefsten anti-
europaisch zu betrachten. Denkende Beobachter,
die lange in Vorderasien Iebten, stimmen darin
iiberein, daB der Tiirke zu unsrer Art Gedank-
lichkeit, europaischem Geschaftsverkehr, Technik
und Wissenschaft gerade vermoge seiner reli-
gidsen Tugenden verdorben sei. Seine Reli-
giosity ist kontemplativ. Sie erfordert groBe stille
Betrachtung des Lebens ohne die aktiven Zwecke
und Ziele, die der europaische Mensch wie einen
Zwangpanzer iiber das Leben wirft, Wir sehen
ruhige patriarchalische Manner und blumenhafte,
wie Kinder bluhende Frauen auf den Kirchhofen,
den Grabsteinen ihrer Vorfahren, (der Statte, die
der Tiirke pflegt, wie wir unsre Laubengarten), —
da sitzen sie in der Sonne, die Frau den Tee berei-
tend, der Mann die Wasserpfeife rauchend. Ihr
Ziel? Die Meeresstille des Gemiites. Eine
schmerzlose Gleichgiiltigkeit gegeniiber dem
Leben. Ihr fester Glaube: das Kismet, wonach
der Mensch der Spielball ubergeordneter Krafte
ist. Nicht wie das Karma der Inder ein Gedanke
an Erbsiinde und Erbentlastung, sondern ein Ge-
danke des logischen Optimismus: „Alles hangt
mit allem zusammen. Es hat alles so kommen
soilen, w r ie es kam.“
,Du, der durchs Leben wird geschlagen wie ein
Schlagelballen,
Du, der Du in die Lust des Weines und der
Huri gefallen,
Du bist gefallen auf des Ewigen GeheiG,
Er ist es, der es weifi, der's weiB, der’s weifl. 4
AUS MICHAEL BAKUNINS BRIEFEN
16. November 1869
Mein lieber Ogarjow!
Ich habe Comte erhalten; ich danke Dir; auch
erhielt ich Deine beiden Briefe. Ich antworte
Dir auf beide zusammen. Du gibst Dich um-
sonst der Wehmut hin, und vergebens wiihlst
Du in Deiner Seele, um verschiedene Abscheulich-
keiten darin zu entdecken. Zweifelsohne wird
jeder ohne Ausnahme, der ebenso in seiner Seeifi
wiihlt, etwas Unreines in sich finden.
Weshalb aber solltest Du Dich dem iibermaBigen
Wiihlen in Deiner Seele hingeben? Das ist doch
auch eine vollkommen unniitze Beschaftigung der
Eigenliebe, Reue ist wohl gut, wenn sie nur
Josef Eb*rz
371
DIE AKTION
372
etwas verandern und bessern kann. 1st dies aber
nicht der Fall, dan n ist sie nicht nur nutzlos,
sondern auch schadlich. Vergangenes kann man
nicht zuriickrufen. Nicht bereuen und nicht be-
dauern sollen wir, sondern alles sammeln, was
in uns an Kraft, Geist, Verstand, Gesundheit,
Leidenschaft und Willen von unsern Fehlern und
Drangsalen noch verschont geblieben ist; das
alles miissen wir konzentrieren, um dem einzig
ersehnten und letzten Ziele zu dienen, der Re-
volution. Warum fragst Du, ob wir sie erleben
werden oder nicht? Das vermag niemand zu er-
raten. Wenn wir sie auch erleben, Ogarjow,
so wird das uns personlich geringen Trost
bieten, andre Leute, neue kraftige, junge, wer-
den uns von der Erde verdrangen und uns Iiber-
fliissig machen.
Dann werden wir ihnen den Platz raumen. Sie
mogen dann schalten und walten, wir aber wer-
den fur immer in einen tiefen Schlaf sinken. Bis
dahin sind wir aber zweifelsohne niitzlich; sam-
meln wir also unsre ganze Kraft, unsre Fahig-
keiten, die dank den Gottern noch nicht ganz in
uns erstorbene Leidenschaft und arbeiten wir oline
Rast und Ruh bis zum letzten Atemzug, ohne
nutzlos in unserm Innern zu wuhlen ; dabei
miissen wir mit uns selbst wie mit verdorbenen
und zum Teil zerbrochenen Instrumenten 'am-
gehen, die man mit Kenntnis und Geschick be-
handeln muB, ohne Unmogliches und Unerreich-
bares von uns zu fordern, ohne iiber die eigenen
Schwachen in Verzweiflung zu geraten, sondern
wir miissen diese stetig und nach Kraften maBi-
gen. Das, Ogarjow, soli unser Leben ausmachen.
Damit es uns aber behaglicher wird, schlieBen
wir uns fest aneinander an, Ogarjow, auch zwei
alte Leben vermogen Licht und Warme hervor-
zubringen und Kraft zu schaffen, wenn sie sich
eng aneinander schmiegen. — Willst Du? Ich
bin bereit.
Wenn Maria die Schwindsucht hat, so soil sie
sich nur schonen. in ihren Jahren kann man
mit Schwindsucht lange leben. Vielleicht ist es
Rudolf Mentt Der /7u/?
doch keine Schwindsucht? Sie soil sich nur
schonen, sie ist a very good lady,
Besuche die Schenke, aber nur mit MaB. Du
bist nicht zum Anachoreten geboren, ein Asket
warst Du nie und wirst Du nie sein, Nur mit
MaB. Darin, Bruder, liegt, wie es scheint, das
ganze Geheimnis.
Ich bin froh, daB auch Shukowski sich so
von Dir angezogen fuhlt. Glaube mir, daB dieser
Mensch ein goldenes, liebevolles, treues Herz hat.
Er ist immer bereit, das letzte wegzugeben. Zwar
hat er keinen Charakter, — er ist zu weich, zu
erregbar, er hascht nach Eindriicken und liebt
selbst, Eindruck zu machen, aber er ist klug und
faBt schnell und gut auf. Er ist eine ganz kiinst-
lerische Natur, sei mit ihm herzlich und ziehe ihn
zu Dir heran, soviet Du kannst, FeSle ihn so,
daB er uns ganz gehore. Das wird niitzlich und
auch mdglich sein. Zu diesem Behufe und ohne
ihm irgend welche ernsthaften Geheimnisse an-
zuvertrauen, vertraue ihm im groBten Geheimnis
einige geringfiigige, aber anscheinend sehr ernste
Angelegenheiten an, z. B. daB ich in Lugano
bin, daB ich Dir das Recht gegeben hatte, es
ihm zu sagen, mit der Bitte, er moge es niemand
mitteilen mit Ausnahme seiner Frau Ada, die,
ich versichere Dich, die einzige Frau meiner Be-
kanntschaft ist, die ich in die geheimnisvollste
Sache einweihen konnte. Sie ist klug, aufier-
ordentlich klug, edel bis zur Donquichotterie, treu
und verschwiegen wie das Grab und keineswegs
demonstrativ, sie hat einen dem ihrer Schwester
ganz entgegengesetzten Charakter. Dazu ist sie
auBerordentlich witzig, eine gute Beobachterin,
sie sieht alles, schreibt sich’s hinter die Ohren
und lachelt nur vor sich hin , . .
Mein Freund, wir sind alt, deshalb miissen wir
klug sein, Wir besitzen keinen jugendlichen Reiz
mehr, dafur aber Verstand, Erfahrung, Menschen-
kenntnis, das alles miissen wir im Dienste der
Sache anwenden.
Dein
M. B.
RENAN
Von Charles Peguy
Unter alien modernen Historikern war vornehm-
lich Renan dazu ausersehn, die ungeheueren
Schwierigkeiten odcr Unmoglichkeiten metaphysi-
scher oder physischer, menschlicher oder natur-
licher Art zu erkennen, welche der Begriindung
einer wirklich modernen Geschichtswissenschaft
entgcgenstehn. Er gehorte keineswegs zu den
Historikern, welche nicht meditieren. Man konnte
im Gegentei! beinahe sagen, daB die Meditation
sein natiirlicher Zustand und iiberdies sein lieb-
ster war. DaB sie den Grund seines Wesens seines
geistigen und gemiitlichen Lebens ausmachte. Er
war Bretone. Er war Katholik gewesen. Er war
von katholischer Rasse. War Katholik und —
im allgcmeinen Sinne — Christ ein wenig langer
373
DIE AKTION
374
geblieben, als er e$ glaubte, um vieles langer
als er es sagte, bedeutend langer, als er es zu
verstehn gab, und unendlich viel langer, als man
uns immer vorgesagl hat Er war ein Mann der
Meditation. Er hatte eine hinreichend lange Lehr-
zeit priesterlichen Lebens hinter dich. Und er
war nicht der Mensch, eine Lehrzeit zu vergessen.
Er war im Grunde und unter einem gewissen
auBeren Schein von Heiterkeit voll Traurigkeit,
von einer gesunden, heilsatnen Traurigkeit. All
diese Scheingewander von Heiterkeit waren fur
seine Traurigkeit nichts als Hiillen der Scham.
Zuiveilen fast schamlose. In Ermangelung der
Oabe der Tranen barg er tief in sich, unterhalb
alles auBeren Schemes, aller Scheinbarkeiten, in-
mitten so vieler Unaufrichtigkeiten, man durfte
beinahe sagen, inmitten aller 6einer Unaufrich-
tigkeiten, unter alien Mondanitaten barg er ewig
unzerstorbar diese angeborene, iibersinnliche Gabe
der Traurigkeit Eine lange Erfahrung, eine per-
sonliche Erfahrung religiosen Lebens hatte ihn
unwiderstehlich zur metaphysischen Meditation
gefiihrt; eine standige Besorgtheit lacherlich zu
werden, auch vor sich selbst und demzufolge der
Genarrte zu sein, auch durch sich selbst, trat
bei ihm fast vorteilhaft an die Stelle einer gewissen
Wahrheitsliebe, wie es auch. bei vielen andern,
weniger schuldlosen, vorkommt. All dies fiihrte
ihn dazu, bei seinen taglichen Beschaftigungen
zu meditieren, eben fiber den Zweck dieser Be-
schaftigungen. O nein, die Metaphysik war ihm
nichts Fremdes. Er wufite, was Metaphysik war.
Ganz genau wuBte er es. Er brauchte sie.
Das ist der Grund, warum ein Mann wie Renan
eine fast einzigartige Mischung darstellt; seine
unaufhorlichen SpaBe, Spottereien, oftmals unbe-
scheiden, entsprangen dennoch immer nur der
Bescheidenheit und waren Hiillen.
Ihre Kleider sind einfach verfertigt; denn in diesem
milden Klima tragt man nur ein feines und leichtes
Stuck unzugeschnittenen Stoffes, das ein jeder
sittsam in langen Falten um den Leib legt, in der
Form, die ihm eben zusagt. Das ist, wie Fenelon
es gibt, dieser Renan des 17. Jahrhundert, eine
treffende Zeichnung unseres Renan. Alle Monda-
nitaten, alle Schwachen, alle Zugestandnisse an
das Jahrhundert: nur Hiillen. Und im Organisraus
tief drinnen der metaphysische Ernst.
Nirgends tritt dieser Ernst bei Renan so sehr zu-
tage wie in dem merkwiirdigen und merkwurdig
umfangreichen Buche, in Form und Inhalt einzig
dastehend unter seinen Werken, dem er selbst
den Titel gegeben hat: Die Zukunft der Wissen-
Max Oppenkeimer Voltaire
schaft (Gedanken von 1848). Ein Testament vor
dem Leben — dies sind vielleicht die aufrichtig-
sten Testamente — ein Testament vor der
Schwelle seines Manneslebens : hier spricht einer
zu uns: Hoc nunc es ex ossibus meis et caro da
came mea. Eine Zeugenschaft, noch vor dem
Leben abgelegt, um nach s einem Ende veroffent*
licht zu werden, veroffentlicht zum Abschhifl
seines Lebens, weil das Leben sich lang hinzog,
weil der Tod zu nahen zogerte, weil die geleug-
nete Ewigkeit auf dich warten lieB. Oder besser
eine Zeugenschaft zwischen zwei Leben, ein Testa-
ment nach Vollendung, nach einer ersten fur end-
giiltig gehaltenen Vollendung des priesterlichen
und religiosen Lebens, zugleich aber eine Veiv
pflichtung, ein Versprechen, Bekenntnis, Gelubde
vor Beginn des zweiten Lebens, vor dem Eintritt
in die wissenschaftliche Laufbahn.
(Autorisierte Obersctzung von Gustav Schlein)
DAS GEBET MOSIS
(Neue Fassung)
Nicht vierzig Tage, vierzig Nachte,
Nicht vierzig Jahre und abervierzigl
Nein vierzig Leben, vierzig mal vierzig Leben!
Dies noch zu wenig. Ich will mich rtihren nicht!
O Sohne, Knechte, stiitzt mir die Arme auf,
Die Arme mir empor, hort ihr, Knechte Sohne!
Die Arme stemmt mir empor, stiirmt mich hinauf.
Horst Du, ich bin kein Bittender, ich bin der
Alte Furchtbare, Dein alter Kampfhahn bin ich,
Dein Tiireinschlager, Dein Glaubiger-Ungetum !
Ich lasse nicht ab, ich riittle an Dir, ich renne
Dich ein!
Ich bin der alte Festungsstiirmer, Du zitterst, Du
kennst mich.
Verrammte Dich, versammle nur um Dein Haupt
die EHener der oberen Feste und der
unteren Feste,
Die Engel der Lehre, die Engel der Vollstreckung,
sie taugen Dir nicht.
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DIE AKTION
376
Ich lasse nicht ab, ich zerschmeiBe Dei tie Walle,
ich saufe Deine Graben aus, ich schleife
Dich.
Ich fahre in Deine Ordnung, ich werfe mich kopf-
iiber in Dein Walten, Du widerstehst mir
nicht.
Ich beiBe mich in Deine Brust, ich flechte mich in
Dein unbildliches Feuer, ich hammere mit
Fausten an Deinen Mund!
Ihr Sohne Knechte werft mich empor! Fiihlt ihr
den bruderlichen Orkan?
Auf, auf! Du wirst mich nicht los, wie Du Dich
auch windest.
Ich halte Dich, Du mein Feind, Du mein Vater
an Deincm Saum unwiderstehlich!
Ich befehde die Rotte um Deinetwillen, Du mein
Widersacher!
Ich befehde Dich um der Rotte willen, Du mein
Vater!
Ich habe keinen, nicht Dich und nicht die Rotte!
Ich kampfe nach oben und nach unten,
Ich tobe auf einem Berg zwischen Dir und ihnen.
Ich bin nicht wohlgeneigt. Lache nie. Ich bin
T rompetenschrei, Unversohnlichkeit,
Feind alien Ausgleichs!
Ich fuhre keinen Frieden herbei, denn mein
Schwert schlagt Himmel und Erde!
Ich lasse Dich nicht, Du wendetest denn an alien
Enden !
Ich bin die Wahrheit, die nicht vertrieben wird,
die Gerechtigkeit, die man nicht zur Seite
nimmt.
Ich will mich an Deine Majestat hangen mit mei-
nem AuBentum.
Auf auf, ihr Knechte Sohne, baumt meine kriege-
rischen Fauste auf!
Du entgehst mir nicht in Deiner Unendlichkeit!
Du muBt mir Rede stehn mit zitternden Lippen!
Ich fordere Dich vor Dein Gericht, Richter!
Da ist keine Flucht mehr, ist kein Ausweg.
Du erscheinst — Ich knie Deine Welt ins Nichts.
Ich schlage Dich mit Deinem Namen.
Du erscheinst, Du rechtfertigst Dich, Du wen-
detest denn !
Franz W erf el
VERSCHMACHTEN
Reifer Vater, noch keine Rettung mir,
der in der Wiiste lagert?
Nichts als den breiten Sand,
der mich umweht?!
Fernab den gazelle naugigen,
mondwangigen Brauntochtern der Oasen
kriimmc ich mich im Durst.
Nur in den Ohren rauscht mir
das Geschwatz eines Baches,
der Madchen Silberrede,
die nicht verstummt.
Ihr schlanken Palmen voll SiiBe,
jungen Stuten der Zelte,
soil ich euch niemals ftihlen,
heifier als der Sand,
am Abend,
wenn die Kameele verschwunden sind,
und nur der Himmel Sprache halt
mit seinen Sternen zu mir?
Albert Ekrenstein
KRANKE
I
Hohle knauelt
Augapfel brandet in barometrigem KanaL
Verrostet schwimmt ein hohler Hammer in den
Adern.
Luft entziindet kuglig,
Erstickt in Bandern Schlamms.
Schlingt bleiern hoch zur Schadelbriicke
Faltet an Zimmerdach
Verwirrten Kinderdrachen.
Ich klimme an der Schnur
Quirliges Insekt.
Entschaie den Russel
In kurzbodigen Teich.
Mich ebnet Kranke in verspiegeltes Zergrauen.
II
Angst um den blinden Mond
Rostet das Auge kurvender Eidechse.
Aufschwillt mein Herz,
Ballont iiber Pflasterstein ;
Eitriger Erde
EinpreBt er den Nabel.
Ich werfe in den Schrecken
— Queruber die Sichel —
In zackiges Seufzen des Skorpions.
Es verwankt verdorrten Horizont
Auf Seilen.
III
Gitter umbohren Locher
der Gedanken.
Vages Verwildern.
Him
Carl Einstein
TIEFER ABEND
Ich sehe viele Gesichter am Himmel,
Aber eine Stimme behauptet, daB sie alle eins
seien.
Zauberhaft und unausdenklich
Sind diese Versuche und Immerwiederversuche.
Der Himmel wird violetter,
Der Mond geht auf wie ein groBes BewuBtsein.
Ich wanderte lange bergauf
Durch eiserne Walder und Dornenhecken der
BuBe.
Nun wird es Friede um stolzumschattete Augen.
Die Nacht schreibt ihre ewigen Gesetze,
Oh wie still sind in dieser Hohe die Felsen —
GroBe Stuhle, in denen man einschlaft.
Wilhelm Klemm
377
DIE AKTION
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DES FREUNDES HAUPT
Die Strome, gegen die wir schwimmen,
Die weichen Traume, die uns trinken,
Gebirge der Gewatt, auf die wir klimmen,
Die Frauen auch, in deren Sternen wir versinken
Mit halben Stimmen:
Wir bieten uns den Wiidnissen und SiiBigkeiten
Der Erde hin, . . sie kussen uns mit Keulen,
Verkorpem und zerpfiucken uns, verbreiten
Die GUeder als ein sufies Chaos durch die ganze
Seeie .
Daruber dennoch steht des Freundes Haupt voil
Saulen !
An deinem Geist IaB meine Stimme widerhallen,
An mir IaB deine Gedanken
Verstarkt und marmorleicht und
turmbeschwingt erschallen,
Und unsrer Klarheit Wolbungen
In einer einzigen Tat gekreuzt
die Erde uberranken! 7
Alfred Wolfeneiein
VERSE VOM SCHLACHTFELD
Granaten huschen gespenstisch
heriiber und hiniiber.
Letzte Sonne warmt
frierende Baumgerippe und zerwiihlten Boden
und blutende Fauste,
um SchieBeisen verkranipft.
Schwefel, Feuer, Blausaure
geifern um FuBbreitcn Erde.
Ein Sterbender haucht den letzten Schrei:
„Mutter!“
Irgendwo in einer zerschossenen Kirche
traumt ein altes Gebetbuch
vom Christentum
A, B. N. Smenich
VERHEISSUNG
Tage springen auf
mit lichtendem Glanz,
von VerheiBungen schwer.
Meine Hande fasten
begierig das GroBe
und gleiten hinab
und ahnen Geschick
flutender, rauschender Gebarden.
Und greifend spielend
den schweren Ball
aufsteigender Sonnen*
Zittemdes Gluck
ahnt sich vorbei.
Farben zerflieBen
werden zum Rahmen
zersinkender Dinge,
verklingender Kopfe,
zerrinnender Wunsche.
Auf b reitem Feld
schleicht schweren Schritts
mit brechendem Riicken
raudgraue, fressende
gestaltenlose Einsamkeit
Ein bitteres Schreien
Tief hinten im Hals
zerbricht den Tag,
der weise und lachelnd
sich selbst begrabt.
Kurd Adler
r*
fi
Han* Richter
Mu*ik
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DIE AKTION
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W. Schuler
Die Lesende
UNZULANGLICHE OPFER
Eine Familienblatt-Novelle von Karl Otten
I
Die groBe Stadt troff von Regen. Die Bazare
und Kasernen, die Tore und Palaste schwammen.
Wie durch Glas glitzerten Automobile und Wagen.
Alles wirbelte mit den Tropfen, die niederhiipften,
feurig und behend. Als seien sie gliicklich, ihr Los
zu erfiillen. Schwarze Kuppelschirme reihten sich
wie ein Zug schwankender Schildkroten anein-
ander. Die Blumen und Gesichter, die Federn und
Pelze der Frauen frostelten. Die Kleider waren
traurig verschlungen. Gelb knirschte Schleim auf
den Wegen. Lachen spritzten gelb vor Radern
auseinander. Viel Papier trieb durch die Gossen
in die Unterwelt der Kanale. Wie bunte Leichen.
„Mar* war dem Ende nie naher“ murmelten die
Misanthropen in den Bart. Die Hoffenden aber
sammelten sich vor dem Wetterhauschen, Ein
Mann mit rotseidenem Kragenschoner sagte plotz-
lich zu einem Fremden mit goldener Brille: „Ich
werde meinen Sohn veranlassen, daB er den Laub-
frosch oben auf der Leiter festbindet . 44
„Wenn Ihr Sohn das nicht aus sich tut, nutzt es
nichts, Herr Doktor.“
Der errotete bis in seinen Kragenschoner und
sagte gefaBt:
„lch will ihn ja gar nicht zwingen, meine ideen
zu reaiisieren, aber er hat eine gliicklichc Hand.
Einnial zog er ein Los des Heimes fur gefallene
Madchen. Da hab ich zweihundert Mark ge*
wonnen . 44
„Hoffentlich kommt er nicht spater in die Lage,
sie den gefallenen Madchen mit Zinsen zuriick
zu zahlen . 44
Dort erwarteten Katharina und Maria die Tram
und Horten dies Gesprach. Katharina riickte den
Mantel iiber ihren schweren Leib zurecht
„Ich kann es noch nicht fassen , 44 sagte sie, „ich
will nicht. Ich denke im Bogen um das Haus her-
um. Wenn nur die Tram karne. 4 *
„Den einen trifft es wie die anderen. Die Frau
Goldstaub hat Gluck, Wie sie wutend war, wenn
Franz dich besuchte. Und wie sie hantierte, wenn
dieser liederliche Fetzen in ihrer Kammer lungerte.
Dann Kaffee, Braten, Schnaps, Wein. Am andem
Tag war sie gelb und blau wie ein abgegriffener
Schmetterling. Ich habe dieses Weib gehaBt. Man
hatte dem alten Kerl einen Streich spielen sollen,
nur um dich zu rachen. Was wird Franz tun,
wenn du niederkommst ? 44
„Ich weiB es noch nicht. Er ist ein guter Mensch.
Aber manchmal konnte ich ihn iiber den Haufen
schieBen. Diese Manie, mich fiir den Lohn aller
Schlechtigkeit auf Erden zu halten. Als ob ich
das fuhlen konnte! Wenn ich mich vor dem
Spiegel anschaue, packt mich die Wut, weil doch
alles gegen seinen Willen spricht. Als ich ihm
sagte, daB ich seit drei Monaten schwanger sei
— — — er wackelte mit dem Kopf von rechts
nach links und juckte sich auf der Glatze. Das
war scheuBlich. Dann sahen wir uns nicht an —
wohl zwei Stunden, sprachen nicht, es war eine
ungeheure Last so zu sitzen mit alien Gliedern
und Augenund Zunge. Nur das Herzschlagt. Das
war eine furchtbare Zeit, nicht Zeit, nein, es
war so alles nur furchtbar getrankt mit Herze-
leid. Alle Welt war da. Jedes Brett im Boden
ein Ungliick. Jeder Stuhl, jede Blume, der Vor-
hang und die Lampe Mord und Totschlag. Und
plotzlich fragte er mich, wie alt ich sei. Er wuBte
das genau. Und wenn er dieses halbe Jahr irgend
etwas sagte, dann merkte ich: dieser Feigling, diese
Angst, und ich dachte, es muB in mir aufstehen
und schreien, daB er ein schlapper Hund ist. Ich
sagte ihm einmal, wollen wir nicht von der Briicke
springen? Da sah er mich an (weiBt du, so ein
Mann kann einen mit den Zahnen und dem
Schnurrbart ansehen) und packte mich um den
Leib und kiiBte mich, Heute weifi ich, daB er
doch im letzten ein Hund ist und mich nicht hei-
raten will . 14
Maria horte zu und dachte, sie hat Fieber, Das
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%
381
DIE AKTION
382
wird bald zu Ende sein. Ich muB mich hiiten,
keiner ist sicher, nur der Wache. Die Tram kam
durch den Regen geschwommen, blau und klir-
rend. Die beiden Madchen druckten sich fest an-
einander. Katharina stohnte bei den Stoflen des
W'agens. Sie war geduckt unter ihren Hut, den
kleine Rosen umbluhten, als zdge sie den Kopf a us
der Schlinge. Maria sah gerade vor sich hin,
starr. Irgendvvie war es ihr peinlich da zu sitzen.
Sie hatte ein Gefiihl von Schuld. „Aber das bin
doch ich nicht; was hat das Ganze mit mir
zu tun/*
Sie fuhren eine Haltestelle weiter, gingen zuriick.
Beide preBten sich wiitend und entschlosscn, ja
lachelnd durch das eiserne Tor zwischen kleinen
Blumenrabatten. Der Kies knirschte.
„lch fiihle jetzt erst, in dem Gartchen, daB ich
mich von jenen drauBen lose. Man zahlt mich da-
zu, w'eil mein Vater mit ihnen lebt, weil ich ein
blaues Kleid trage und einen braunen Mantel.
Wie alle. Aber ich ziehe mich jetzt so zusammen,
dafl ich ihnen absterbe. Ich schame mich nicht.
Was vorher war bleibt so in mir — ich habe
Franz eigentlich dazu gebracht, sich ganz aufzu-
losen und jetzt findet er sich nicht mehr, und
verlafit mich. Ach, Marie, es ist so leicht, wenn
man weiB, daB die Nachte bei ihm schoner waren
und starker als alles; das ist dann doch nur
Dreck und wenn es noch so voll goldener Ele-
ganz daher fahrt“
Man sah ihr nicht mehr an, daB ihr Vater Maurer
war und zwischen Frau und sieben Kindern in
einem dumpfen Loche fast verhungerte. Sie hob
sich nicht hoher als ihr Kind, das noch schlum-
merte, aber daB sie die Liebe kannte und ersehnte,
bis in das innerste Gehirn, das stieg auf.
Und sie blahte die Niistern, als der Arzt fragte,
wie sie heiBe.
Eine Nonne kam und fiihrte sie fort. Lachelnd
reichte sie ihrer Freundin die Hand.
In der Kuche erzahlte Maria. Sie log, erklarte,
Katharina — habe geredet, um irgend etwas for t-
zuschaffen. Das sei herzlos. Man habe doch Er-
fahrung genug, um zu wissen, daB es keine Klei-
nigkeit sei. Frau Goldstaub horte zu und strich
an ihrem Rock entlang, als reibe sie ihre
Hande ab.
„Gott,“ sagte sie, „sie hatte wissen konnen, daB
es sehr schon, aber auch sehr gefahrlich ist,“
und Jachefte mit den Goldplomben. Kessel zisch-
len mit weiBen Dampfen. Die andern Madchen,
mit roten Handen und weichen dicken Gesichtern
schniiffelten liistern heruber. Einige kicherten.
Maria ging auf ihr Zimmer, legte sich auf die
Chaiselongue und betrachtete das Bild ihres
Vaters; der war Backer in einer kleinen Provinz-
stadt und schickte ihr am ersten und funfzehnten
je fiinfzig Mark. Sie pflegte das Geld schnell auszu-
geben fur irgend etwas. Wenn sie ein paar Mark
besaB, war sie sich nie klar daruber, was damit
tun. Striimpfe, Hemden, Ringe, Schuhe — dann
war nichts mehr da. Dabei hatte sie noch gelogen
und ihrem Vater gesagt, sie verdiene nichts, musse
Wohnung und Essen zahlen. Unmuiig w'andte sie
sich ab und zog die Schuhe aus, ubersah aber
ein Loch im Strumpf. Dann streifte sie den
Rock hinauf, krummte die Beine und schlum-
merte ein.
Ill
Werner Lebchen war Student. Er unterschied
sich von den Theologen und Juristen dadurch, daB
er Medizin studierte. Als er aus dem Cafehaus
trat, ruckte er den hellen Mantel mit den Schul-
tern empor und hielt sie hochgezogen. Sein Kra-
gen war nicht ganz frisch und dabei sah es auch
amerikanisch athletenhaft aus. Lebchen war ein
moderner Mensch. Er hatte keine Ahnungen.
Hochstens die, daB der SchluB des Monats uner-
quicklich sein wiirde. Er mufite seinem Vater
schreiben und um Geld bitten. Der war Ziegelei-
besitzer und Mitgriinder des Ringes. Durch
billigere Lieferung hatte er sich eine groBe Kund-
schaft gesammelt und sie bei der Verteilung trotz
Protestes kleiner Firmen auch behauptet. Die
muBten zum Teil fallieren. Vater Lebchen kaufte
sie auf und vereinigte in den Generalversamm-
lungen der Aktionare und Besitzer drei Zehntel
aller Stimmen auf seine Anlagen. Dadurch bekam
der Alte cine Art finanziellen GroBenwahns und
eine iiberragende Stellung in der Familie. Ja, er
behandelte alle Leute seiner Bekanntschaft so,
als sei er ihr familiares Oberhaupt. Diese Uber-
legenheit des Vaters Ieuchtete dem Sohne ein.
Er benahm sich auch vaterlich. Eines Tages, er
vergaB ihn nie, es war sein Triumphtag, ging er
zu schonen Madchen. Er muBte warten. Da ging
die Tlir — Sein Vater. Werner dachte, das Zim-
mer fliege durcheinander -- Spiegel, Facher, roter
Pliisch und Kavaliere. Der Alte grinste und setzte
sich in eine andere Ecke. Wartete. Da kam die
Madame und bat Werner lachelnd einzutreten.
,,Ach, mein Herr,“ er verbeugte sich gegen seinen
Vater, „vvurden Sie vielleicht vorangehen, Sie
haben sicher weniger Zeit.“ Werner erschien eher
und wartete im Vorzimmer. Sie unterhielten sich
383
DIE AKTION
384
und er erntete Lobspruche, weil er es fertig ge-
bracht hatte, drei Mark herabzuhandeln. Vater
Lebchen bewunderte ihn seitdem als eine Art
Don Juan, der in der Liebe Finanzpolitik treibe.
Der Abend war sanft und miide vom Regen.
Kristallklare Blaue schnitt durch das Tor. So daB
die Bremer Lampen des Warenhauses sich gram-
ten, Werner blieb vor einem Fenster stehen und
grinste uber die Wachsmodelle, die oben Busen
und Korsett und unten Holzbiigel waren. Da
stand ein Madchen bei der Blumenfrau am Ein-
gang und kaufte ein StrauBchen Maiglockchen,
Steckte es an die Jacke. Sie ging an den Drosch-
ken vorbei und streichelte plotzlich ein Pferd uber
die Stirne. Das fiel ihm auf. Sie streichelte ein
Pferd, einen dummen, bidden Droschkengaul.
Also ging er i hr nach. Sie war so groB wie
er und schmal in den Hiiften. Aber als sie die
Rocke hob, sah er ein Loch im Strumpf. Da sprach
er sie an, lud sie in die Lichtspiele ein. Er machte
ein Wortspiei und sprach sehr Hochdeutsch, eine
Leistung fur einen Sachsen. Namentlich seitdem
er ein Jahr gedient hatte, sprach er fast, als ob
er aus Berlin sei, obwohl sein Regiment in Halle
an der Saale lag; er liebte aber diese Stadt nicht
und spottelte uber die Walfische, die es dort
gabe. Werner hatte keine Ahnung, was aus einer
Begegnung werden kann, Seinem Vater war es
ebenso ergangen. Er hatte genau so gut irgend
eine andere Frau treffen konnen. Hatte dann
andere Kinder gehabt, Hatte andere Spiele der
Liebe von seiner Frau verlangt. Aber die Gegen-
wart war maBgebend.
,,Wissen Sie, weshalb Sie mir auffielen?** fragte
Werner im Kino. „Ich bin namlich Mediziner,
man hat einen Blick! Weil Sie das Pferd strei-
chelten/*
„Ach, das Pferd lachelte; es hat so geregnet, da
waren Blumen, ich kaufte mir Strumpfe, da stand
ein braunes Pferdchen und lachelte. Und da muBte
ich es streicheln/*
Werner kicherte und sagte, sie leise mit dem
Arme driickend:
„Sehen Sie, die Frau bleibt auBen. Das steht
fest, Sie wollten einfach etwas streicheln. Was
aber streichelt man? Was man liebt, Sie haben
aber niemanden. Daher das Pferd. 1 *
Ein Herr mit einer Brille sagte nebenan halblaut
zu einer reiferen Dame: „Oder den Esel — **
Das Madchen wandte sich entriistet um, und leise
flusterte er ihr ins Ohr: „Dieser SpieBer.**
Dann waren beide ganz vertieft in das Drama, das
rund flirrte. Leute briillten lautlos, lachelten, man
pfliickte Blumen — eine Dame wurde von einer
Schlange gebissen. Ah, die Prophezeiung
Es schien geschrieben.
„Nanu,** sagte Werner, „welche Prophezeiung?**
Ein Herr gebardet sich rasend, winkt Arzte mit
Barten herbei, hoffnungslos, ratselhaft! schiitteln
die Kopfe.
„Gibts ja gar nicht, ausbrennen, saugen, Milch — “
„Milch ist fur viele Menschen der einzig richtige
*
Zustand,** knurrte der Herr mit der Brille.
Ein Inder mit Ketten und Schlangen. Die schone
Dame mit der Vergiftung schaudert, will sterben.
Nur der BiB dieser Schlange
Werner argert sich und sieht nicht mehr hin.
Spricht kein Wort mehr, in der Pause schaut
er das Madchen genau an. Sie hat warme ver-
schleierte Augen und einen roten geschweilten
Mund. Den Kopf lehnt sie etwas linkisch von
ihm ab.
Obernachtigt und verfilmt tratcn sie aus dem
Kinemathographenth eater.
„Das ist wie ein Traum, der einen einschlafert,**
meinte das Madchen. Werner schlug eine Wirt-
schaft vor, um Abendbrot zu essen. Er aB frech
drauflos, grinste einigen Bekannten zu und trank
drei Glas Bier. Sie saB da und rutschte mit dem
Messer vom Teller ab und wurde feuerrot.
„Ich habe sie ja so in der Hand . . dachte
Werner. Dann gingen sie Arm in Arm, leise
wankend, iiber die weitentteerten StraBen. Er
las Lichtreklamen vor. Da gab es irgendwo ein
so gemtitliches Lokal. Mit Wein allerdings. Man
saB in kleinen Kabinen. Werner hob mit dem
Knie ihr linkes Bein hoch und kniff hinein. Sie
schrak zusammen. Der Speichel driickte ihn im
Halse, Ein ekelhaftes Gefiihl der Aufregung ent-
nervte ihn. So trank er einige Glas Wein; sie
schluckte, wiirgte.
„Es ist natiirlich scltsam, daB wir hier sitzen. Als
kennten wir uns schon seit unserer Kindheit und
feierten Verlobung. Dabei weiB ich nicht mal
Ihren Namen.** Er lauerte, was da wohl komme.
„Ich weiB doch auch nicht den Ihren/*
, ,Wemer Lebchen,** sagte er, weil ihm rechtzeitig
die Visitenkarte an der Tiir einfiel. Sonst pflegte
er Leberecht AllenStein zu sagen.
„Werner,“ lachelte sie freudig, „so heifit doch
mein Bruder/*
„Und Sie?**
„Ich — ** sie zogerte das so hin, als fiele ihr
schwer, den Namen zu sagen, „Regina Laasen/*
,,Regina ist hiibsch, Konigin — Konigin meines
Herzens — ** flusterte er selig. Wiirde sie Kleo-
patra oder Schwanhilde gesagt haben, hatte er
auch nichts gemerkt. Sehr spat fuhren sie im
385
DIE AKTION
386
Auto nach Hause. Regina war schon im Wagen,
als er dem Kutscher seine Adresse sagte. Dabei
wiederholte er zweimal dritter Stock. Er war
schon ziemlich betrunken. Als sie in seinem
Zimmer standen, war er rasch gefaBt und um-
schlang sie. Sie straubte sich nicht, war aber
etwas enttauscht, da sie Felle und einen Spiegel
mit Goldrahmen erwartet hatte. Und vor allem
ein Bett mit seidenen Vorhangen. Werner dagegen
spahte in den Spiegel fiber der Kommode und
hakte ihr dabei die Taille auf.
Als er am Morgen erwachte, war er ganz fern
und dumm. Er wandte sich und sah plotzlich in
ein wirres Knauel blonder Haare, die scharf
rochen. Er erhob sich und bemerkte auf dem
linken Oberschenkel Reginas ein Muttermal in
Form eines Sternes.
Sie besuchte ihn dann noch einige Male, obwohl
ihm diese Anhanglichkeit peinlich war. Dann
reiste er nach Hause, weil seine Schwester
heiratete, blieb die Ferien dort und bezog in
der Universitatsstadt eine neue Wohnung in
einem ganz andern Viertel. Er mufite jetzt auf
der Frauenklinik arbeiten, die ziemlich weit vor
der Stadt lag. Trotz alledem erreichte ihn eines
Tages ein Brief, der nachgesandt war. Er zeigte
eine gehakelte, ihm fremde Handschrift auf
schlechtem Papier. Er zuckte die Achseln und
warf ihn ins Feuer. Darin befolgte er die Regeln
seines Vaters.
IV
Werner spezialisierte sich schon zum Frauenarzt.
Vielleicht weil er, ahnungslos, vor nichts zurfick-
schreckte, lange Hande und starken Bartvvuchs
hatte. Vielleicht auch, weil sein Vater es als sehr
aussichtsreich hingestellt hatte. Jedenfalls ver-
stand er sich gut mit seinem Professor, der Spe-
zialist fur Entbindungen war, und er genoB schon
eine Art Ruf bei ihm, weil er rigoros und kuhl
agierte.
Man stand eines Morgens in dem sehr hohen
und schmalen Zimmer, wo die Patientinnen vor-
gefuhrt wurden. Das Zimmer war weiQ und
hungrig; man hatte, durch die Hohe und lacher-
liche Schmalheit verfuhrt, den Eindruck, als musse
man eigentlich auf den Wanden gehen. Oben
jedoch sammelten sich die Schreie in Echo. Denn
es stand hier nur ein Schrank voll schoner Etuis
und langer Nickelzangen. Hier pflegten die kom-
plizierten Falle erledigt zu werden. AuBer dem
Stub] war heute noch ein groBer Operationstisch
aufgestellt. Werner witterte Blut und flusterte zu
Philipp: jjKaiserschnitt.* 1 Der Professor sprach.
Kurz und weltfremd. Vielleicht war es auBerste
Objektivitat, die fiber allem Schmerz urteilte. „Seit
drei Tagen Wehen. Schon Fieber. Doch hilft
keine Massage. Na, Sie werden sehen.“ Er klin-
gelte. Zwei Warter mit behaarten Handen in
gestreiften Anzugen rollten auf einer Bahre eine
Frau herein. Ihr Gesicht war verhullt. Werner
drangte sich vor. „Ja, Herr Lebchen,“ nickte der
Professor, „kommen Sie her, Sie werden helfen
mussen.“ Die Schwangere stohnte, ihre ge-
fesseiten Arme quollen aus den Riemen, rot-
gluhend, als blase sie der Schmerz auf. Da er-
blickte Werner am linken Oberschenkel der Frau
ein Muttermal in Gestalt eines Sternes. Er ward
bleich und zitterte.
„Na, was ist Ihnen denn? Sie dfirfen nicht zittern,
die Maske bitte.“ Werner schlug das Tuch vom
Gesicht der Frau zurfick und stulpte die Maske
mit Chloroform darauf; er sah einen furchtbaren
Blick, ein gesprengter Mund verzerrte Worte zu
dumpfem Rocheln. Er rfickte die Maske fiber die
Augen. Die schlossen sich und der Blick ver-
knirschte fiber die aufgedunsenen Ziige, die skh
in Schlaf entspannten und geordnet lagen um die
gipsige Maske. Regina! Sein Herz hammerte,
stanzte ihm das Wort in Fleisch und Knochen.
Aber er half ganz ruhig, Durch Blut und SchweiB
hob er seinen Sohn ans Licht. Die Mutter wachte
nicht auf. Es traf ihn wie ein FuBtritt, „Sie ist
hin — tot — ich Vater — u Er raste hinaus zu
Philipp! Man muB reden! Sich besaufen! Er
erzahlte ihm die Geschichte.
Erich Qehrc
Holzschnitt
r
H
387
DIE AKTION
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„lrrst du nicht? Muttermale wie Sterne gibt es
eben wie die Sterne. Ich habe selbst so eins.
Und das Gesicht war so verzerrt und verschlagert
und zerkratzt — “
Sie gingen zusammen ins Bureau der Klinik
und fragten nach dem Namen des Madchens.
Nummer 763.
Der Warter blatterte umstandlich: „Maria Woll-
mayer.“
„Ha t siehst du; deine Regina denkt nicht daran,
ein Kind zu haben. Erst recht nicht von dir.“
Werner schwieg. Dann lachte er bose und stol-
perte iiber seine eigenen Worte, die irgendwo
tief unten auftauchten: #t Da hat mich das Luder
ja belogen.“ Auch Philipp lachte.
Zu Hause rifl Werner die Visitenkarte von der
Ture. Des Nachts sprach er auf der StraBe ein
Madchen an, mit einem Madonnengesicht. Er be-
trank sich, hieB Eduard von Kellermann. Das
sagte er ihr aber erst, als sie in seinem Zimmer
stand und sich auskleidete.
FINANZXOVELLEN
Aus dem Kreise ernster im werktatigen Lebcn stehender
Klinstler heraus sagt der Prospekt, ich meine die Quadriga,
schrieb ein ungenannt bleiben wollender Schriftsteller zwei
Novellcn, beide verlegt bei Eugen Diederichs in Jena. Die eine,
der Fenriswoif, bevorwortet von einem Verfasser eiserner So*
nette, behandelt das Problem wirtschaftlicher Beziehungen und
wtlnscht nach dieser Richtung hin als Revolutionierung der
Kunslform angesehen zu werden. Man erfafart nicht, warum.
Die Darstellung einer Handlung bleibt guie S. Fischer*
Epik, auch wenn sie in der Aneinanderreihung von Geschafts-
briefen sich vollzieht. Ks gehdrt Uberdies schon ein gutes
Teil Naivilat dazu, zu glauben, die Taktik von Pressebespre-
chungen, Einkreisen von Geschaftsgegnern, ein biflschen Doppel*
itlngigkeit, sei was weiC Gott besonderes — wo es doch
Standard ist. Man mUBtc sich anders eher fragen, wie tlber-
haupl sonst ein Geschiift 2ustande kommt. Und daO eine Order,
die ein Banklehrling zu schreiben hat, ftir den Kunden indi-
viduell poliert, in schone glatte Kormen eingewickelt, wirklich
mehr Leben sprUht als die anerkanntermafien Ichenspriihenden
Aufsatze eines Herm Kasimir Edschmidl, sollie bald jeder
wissen. Es ist gar kein Grund da fur den Verfasser, ungenannt
zu bleiben. Die Praktiken, die da aufgezeigt werden, sind
harm! os genug, und ich behaupte, dafl eine so geleitete Bank
bei groflen GeschSften erheblich ins Hintertreffen kommen
diirfte. Troizdem staunt die ganze deutsche Presse, von der
B, Z. bis zur Voss. (Sie inerkens nicht mal, daU nicht sic
schreiben, sondern der Sessel — wenn sich wenigstens einer
gebost hatte.) FinanznoveUe, in dieser Apotliese nicht ohne
Witz.
Leidcr verabsKumt der jenenser Vcrlag eine entsprechende rol-
gerung zu ziehen. Die der zweiten Novellc: „Das Wcllreich
und sein Kanz!er“ vorausgeschickten Kiitiken liber den Fenris-
wolf lasscn noch die einheitliche Leilung vermissen. Sie wir
ken verworren, nicht gentlgcnd abgestimml, der Leser bekommt
kein richtigcs Bild von der latigkeit eines Reklatncchefs. Es
genllgl nicht allein, daG dns Niveau dieser zweiten Novelle aus
der AtmoSphare sympathischer Geldpolitik in zeiigematie Ethik
saml Weltkrieg und Mcnschbeitsduse), vcrbumlcn mit einem
Frachtraumcorner, umgesctzt wird. Gecornert wird jederzeit
und sowie es uberhaupt in irgcndciner Ware irgendwie mdglich
ist. JnsofiTn ist auch die Pradikatverleilung Weltkrieg und
Kanzler nur Anlehnung an Rechtsvcrhahnisse. die gang und
gebe sind Dagcgen erhebt in dieser Novellc auch die Liebe
ihren Anspmch. Ein Dnktor Kcchtsanwalt, der die Sache
schicbcn sol!, spUrt noch etwas mehr als Geld und Macht-
politik in sich, das wird mit verquickt, und endet nicht ohna
fur den Leser zurtlckbleibende 2wiespaltige Auffassungen vorder*
hand in einer Heilanstalt. Diese Novelle hat schon etwas, das
in manchen Fischer Btichern nicht ist, so eine gewisse Kotnik
zu sich selbst, die ins Leben, auch darstellerisch, fiihrt. Be 1
merkenswert ist, daG der VVirtschaftspolitiker der Frankfurter
Zeitung, Herr Feiler, in einem Feuilleton gerade das nblehnt
und zu Gunsten des Fenriswolf verwirft. Man beachtc das be*
senders, denn man wird in der Meinung besiarkr, es konnte
die phychische Beunruhiguug doch noch einma! Staal und
Wirtschaft, Presseverkehr, Borse und Weltkrieg wirkungsvoll
— in Bewegung versetzen, wenn man so sagen dark
Franx Jung
ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS
LI1
1 m Hauptquartier des Kronprinzen
Der Hauptschriftleiter der Konigsberger Allge-
meinen Zeitung, Herr A. Wyneken, berichtet fiber
einen Besuch im Hauptquartier des Kronprinzen :
Kronprinz Wilhelm ist tagstlber und manche Nachtstunde an
der Arbeit, und, soweit die PHicht nicht gemeinsam mit seinem
Stabschef ihn an die GeschSftss telle fesselt, vorn bei seinen
Truppen. In den Abendsiunden aber pflegt er den Kreis seiner
unmittelbaren Umgebung um sich an der Tafel zu versammeln.
Am ersten Tage unseres Aufenthaltes im Hauptquartier durften
wir einer gtltigen Einladung des Kronprinzen folgend, an der
kleinen Tafelrunde teilnehmen, und hier war es, wo ich Ge-
legenheit hatte, ihro in langerem Zwiege sprach naher zu
treten . . .
Bald wandte die Unterhaltung sich emsteren Dingen zu. So
sprachen wir m&nches Uber den Krteg, und da brach dann das
heilige Feuer und der bittere Ernst durch, mit dem der Kron-
prinz von seiner hoben Stellc aus in die Ereignisse eingreift.
Immer wieder sprach er mit Begeisterung von der fiber jedes Lob
und jede Bewunderung erhabenen Haltung „seiner Leute M ,
Er erzahlte mir bei diesem Anlafl auch, dafl er kilrzlich, als
zehn bayerische Abgeordnete die Front be’such t, Gelegen*
heit gehabt habe, sich mit einem Sozialdemokraten zu
unicrhahen. Er habe es flir nlltzlich gehalten, die sen Herrn
in die Vorderste Linie zu bringen, und sei erfreut gewesen
liber den gewaltigen Eindruck, den dieser Mann aus dem
Volke von den bitteren Leiden der RiesenleisLungen und dem
nicht umzubringenden Siegeswillen der Truppen heimgebracht
habe. Er, der Kronprinz, habe empfunden, dafl der Herr
mit sehr ernsten Gedanken, vielleicht gar mit einer
ncuen Weltanschauung den Heimweg angetreten ...
Auch in der inneren Politik weiil Kronprinz Wilhelm gut
Bescheid, ktlmmert sich um alles und steckt aus sehr be-
slimmten Anschauungen und Auffassungen heraus auch sehr
bestimmle Ziele. Allerdings im vollsten Freimut und vollster
Unbefangenheit des Urteils und fern von jeder vorgefafRen
Meinung. oder gar Parteimcinung . . . Aus manchen seiner
guten und klugen Worte ging hervor, dafl es des Volkes
Wohl ist, das seinen Wflnschen und Gedanken die Richtung
gibt, und dafl er sich eifrig bemilht, die Bedtlrfnisse des Volkes
zu erforschen, seine Stimmungen zu erkennen, die Zeichen der
Zeit zu prlifen und nach dem Wege zu suchcn, der ibre Be-
friedigung und ErfUllung bringen konnte. Dahin gehdrt auch
neuerdings seine Neigung, Manner verschiedener Richtungen,
auch der sozialderaokratischen, Gelegenheit zum Austausch der
Ansichten zu geben . . B. Z. am Mittag, 7. Juni 1917
Filrstin und Soldat. Die Groflherzogin Luise von Baden
trat beim Besuche der Verwundetenlazaretle in Mannheim an
das Beet eines besonders schwer verwundeten Kriegers aus
Westpreuflcn, des Unteroffizters Otto Radmacher, welchen am
31. Juli d. J. eine Schrapnelladung auf den Schlachifeldern im
Osten niedergestreekt hatte. Nach huldvoller BegrUflung sprach
die Filrstin dem Verwundeten gegenflber die Absicht aus, dai
ihm soeben aus dem Korpcr entfernte Geschofl in Gold fassen
zu lassen und ihm als Andenkcn zunickzugebcn. Auf die
dankbare Zustimmung des Befragten nahm die hohe Frau die
Kugel in ihrer Handtasche mit, Der junge Held erlag seinen
Wunden, aber die FUrstin gedachte seiner tlber das Grab hin
aus. Dieser Tage ging den Eitern (der Vater pension ierter
Lehrer in Schellmdhl bei Danzig, tut aber wiihrend des Krieges
wieder Schutdiensi) ein Beileidsschreiben dcs groflherzoglichen
Hofin:irsch:tllamies zu, welchem die Ehrengabe der Gfofiherrogin^
bcigefiigt war. Fott*, Berlin, 0.1. 1916
Soeben erschien Band 2 der Sammlung:
P0L1TISCHE AKTI ON S- BIBLI OTHER
H E R A U 8 G E G E B E N VON FRANZ PFEMFERT
LUDWIG RUBINER
DER MENSCH IN DER MUTE
VERLAG DIE AKTION/BERLIN-WILMERSDORF
Preis des Werkes M. 3
Fiir Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten Inhalt verantworllich : Franz Pfemfert, Berlin -Wilmersdorf, Nassaaischestrasse 17.
Gedruckt be! F. E. Haag, Melle in Hannover. Abonnemcnts kosten viertelj&hrlich durch die Post, durch Bachhandel oder Verlag
(uoter Kreoiband) M. 2.50, fur das Ausland M. 3. — , Biiltenausgabe, 100 numcrierte Exemplare, jahrlich] M. 40. Verlag der AKTION,
Berlin -Wilmersdorf. Atle Rechte vorbehalten.
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W0CHEN8CHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR, KUN8T
YD. JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT NR f Q
SONDERHEFT ALBERT EHRENSTEIN. INHALT : KUBIN: ABENTEUER (TITELBLATT) / ALBERT EHRENSTEIN:
Mcnschlichkeit / Alfred Kubin: Frau Sonne (Zeichnung) / Albert Ehrenstein: Aus den Ansichten des Extern torialen / Rudolf
Mense: Aktstudie (Federzeichnung) / Albert Ehrenstein: Dialog und fflnf Oedichte j Alfred Kubin: Der Kater (Federzeichnung)
/ Albert Ehrenstein: Die Katemovclle / Kurt Pint h us: Bemerkungen fiber Albert Ehrenstein / Victor Fraenkl : Eine wichtige
Schrift / F. P.: Ich schneide die Zeit aus; Kleiner Briefkasten / Beilage ffir die Bilttenausgabe: Original-Radierung von
Christian Schad
VERLAO > DIE AKTlON < BERLIN-WILMERSDORF
SONDERHEFT ALBERT EHREN8TEIN
mm
HEFT 50 PFQ.
:hVsi
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AKTIONS-BUCHER DER AETERNISTEN
Band i :
FERDINAND HARDEKOPF
Lesestucke
Band 2 i
CARL EINSTEIN
Anmerkungen
Band 3:
FRANZ JUNG
Opferung
Band 4:
FRANZ JUNG
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Band 5:
CARL EINSTEIN
B e b u q u i n
Band 1, 2 und 4 kosten gebunden je M. 2, —
Band 3 und 5 kosten gebunden je M. 3, —
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POLITISCHE AKTIONS-BIBLIOTHEK
Erstes Werk:
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Erinnerungen
Deutscli von Otto Buek
Zwei Biinde. (446 und 338 Seiten.) Mit
drei Portr&ts
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DIE AKTIONS
Band I :
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1914 — 1916
Eine Anthologie
Band 2 :
JONGSTE TSCHECHISCHE LYRIK
Eine Anthologie
Band 3 :
GOTTFRIED BENN: FLEISCH
Gesammelte Lyrik
Band 5 :
DER HAHN. E i n e A n t h o 1 o g i e
Jeder Band gebunden M. 3, —
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K L E M M
Verse und Bilder
Luxusausgabe M. 15,
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Ein Roman. Geb. M. 3, — , geh. M, 2, —
Das AKTIONSBUCH
M, 3, — , in Halbpergament gebunden, signiert,
M. 6, —
V E R L A G DIE AKTION
KUNST
DER
SONDERHEFTE
AKTION
n Ntue Secession** / Richter Berlin / Schmidi Rotiluff /
K. J. Hindi / Hans Richter / Wilhelm Morgner / Egon
Schiele / Georg Tappcrt / Else von zur Muhlen / Ines
Wetzel / F'elix M tiller
UICHTER
D K R
SONDERHEFTE
AKTION
Franz Blri / Gou fried Kdlwel / Alfred Lichtenstein /
Paris von Guiersloli / Heinrich Schaefer / Paul Adler /
Franz Werfel / I.udwig Rubiner / Alfred Wolfensiein
SONDERHEFTE „DIE VOLKER"
„RuQland“ (mit Geleitworten von Maximilian Harden) /
n England'* / ,,Erftnkreich w / „Belgien u / ^Tlalien” / Bbh-
men** / „ Deutschland 1 *
Jedes Sonderheft, gewohnliche Ausgabe,
kostet 5oPf. — Butten, numeriert, M. 2, —
BCTTEN • AUSGABE DER AKTION
100 numerierte Exemplare
Jahresabonnement : M. 40
Jedem Bttttenabonnement werden jahrlich mindestens
acht KunstbUtter beigegeben, von den Ktlnstlern nume-
ric rt und signiert. Diese Beilagen kommen nicht in den
Handel und stellen einen Wert dar, der den Abonne-
mentsbetrag Ubersteigtl I>em Jahrgang 1917 werden
beigegeben: Blatter von Felix Muller / Max Oppenheimer /
Josef Capek / Karl Jakob Hirsch j Richter- Berlin u a.
KUNSTLER-POSTKARTEN DER AKTION
Es sind So verschiedene Drucke erschienen
Zeichnungtn von Mopp / Kars /Schmidl-Rottluff / Schrimpf
/ Klein j Richter-Berlin / Nadelman j Feininger / Hart a j
Schiele / Mense / Melzer / Tappert / Else von zur
MUhlen / Hans Richter / Josef Capek / Morgner u. a.
IOO Stiick M. 3, —
portofrei gegen Voreinsendung des Betrages
WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK. LITERATUR. KUNST
7 . jahrgang HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT zs.juli 1917
MENSCHLICHKEIT!
Von Albert Ehrenstein
Diesen Aufsatz verSffentlicht Ludwig Rubiner in
der zweiten Nummer seines ^eit-Echos 1 ' (in der
auch die Tolstoianerbriefe abgedruckt sind). Ob-
gleich ich hoffe, da8 alle Freunde das .pZeit-Echo'*
lesen, soli der Aufsatz auch hier stehen: dieses
Sonderheft ware ohne thn unvollstlndig. F. P.
Bittere Erinnerung lebt auf in mir der
Tage des Volksschulers, den auf dem Wege zur
Schule schuldlos das „Geh zum Teufi, Saujud
vafluchta** der Kameraden traf und durchstach.
Dieses Schimpfwort — wie wohl jeder Jude —
empfangen zu haben gleich den ahnlichen Lieb-
kosungen „Moses, Salomon, Samerl" entsinne ich
mich, auch der in Wien an jeden kleinen lsrae-
liten von Gassenjungen gerichteten Frage „Ju-
derlach-he ! was kosten die Floh?** Darauf folgte
dann die Versicherung, daB die Sara Lause babe.
Trotz gegen diese Klein welt mag es gewesen
sein, die mich, dem Gebote der frommen GroB*
eltern gehorsam, in Wien oder in der ungarischen
Slowakei, wo es noch weniger an drastischen
Beschimpf ungen fehlte, vor katholischen Prozes-
sionen in die Toreinfahrt trieb, das Kreuz nicht
gruBen zu mussen. (Dies war Flucbt: Zionis-
mus.)
Sehr fruh entwickelte sich eine ungemein starke
Abneigung gegen Jesus Christus in mir; ich fand,
es werde eine unverdient kraftige Reklame fiir
ihn getrieben mit tausend Kirchen, Kapellen und
Kreuzholzern, ihm zu Ehren, den ich von Anbe-
ginn fur den ,,stinkerten Saujuden** und die rest-
liche Insektensprache verantwortlich machte.
Wenn mir ein Gstanzel entgegenscholl, wie:
„Jud, Jud! spuck in Hut, sag der Mutter, das
ist gut!* 1 — der Untergymnasiast schon trug die
feindlichen AuBerungen nte den naiven Beleidi-
gern nach, ins Herz drang ihm die Wut gegen
den Urheber, der ihm verraterisch, zu eigener
Erhohung, im Tode sein Volk mit Blutschuld
befleckt zu haben schien.
Das Judentum selbst sprach zu mir mit heiligen
Klangen, die ich kaum verstand, ergreifenden
Zeremonien 1 die mich in Gebetmanteln umrausch-
ten, mit Riemen banden.
Die Schonheit des Seders lieB mich aber keines-
vvegs die blutige Schattenseite: Beschneider und
Schachter vergessen, noch gar die pharisaischen
„Religionslehrer** und Rabbiner, Schachter, die
den kindlichen Glauben beschnitten.
Zum Wesen meiner Religionslehrer gehorte, daB
sie hebraische Fibeln und Grammatiken verfaBt
hatten, deren Erwerb den hauptsachlichsten Teil
des nichtigen Unlerrichts bildete; sie bevorzugten
wohlhabende, unwissende Schuler vor armeren,
die jenes hebraische Wissen besaBen, das die
Lehrer selbst nicht vermittelten. Es gab Matu-
ranten, die ihre Bibel noch nicht einmal buch-
stabieren konnten und gleichwohl mit vorziig-
lichen Noten traktiert wurden, nur weil sie judi-
sche Geschichte, historischen Schweiel phrasen-
reich wiedergeben konnten — hie und da
schwamm in die Sprechstunde des darob bril-
lantinebegliickten Professors ein edelsteinbehan-
genes, seidenrauschendes Haufchen Ganse-
schmalz, die Frau Kommerzialrat.
Ein iibler „Trost**: Ich sah, auch anderen Reli-
gionen waren Pedanten, Schwindler, Gauklcr,
nicht gesalbte, doch salbungsvolle Scheinheilige
als Priester beschieden. Den Zusammenhang des
synagogalen Wunders zu erkennen, blieb mir nicht
erspart. Die Ernennung der Gegenstande mei-
nes schmerzlichen Argers und karikaturistischen
Vergniigens geschah nicht ohne EinfluBnahme
jenes geschaftetriefenden Konsortiums „kaiser-
licher Rate**, das in gewissen Kultusgemeinden
zu herrschen pflegt.
So wurde der Assimilant, der Vollblutaffe mit
Monokel und eisernem Kreuz, gezuchtet, das
Protzensohnchen, das fruh anhob mit den Worten
„Gestern hab ich den ganzen Nietzsche geschenkt
gekriegt** oder „Mein Vater ist Sammler; er hat
sechstausend Spazierstocke**, enden wird nach un-
gliicklichem Feldzug, am Pogromtag unter dem
losgelassen „Do Juden san schuld“ briillenden
Volk.
Trotzdem: Exzessiver Zionismus ist fiir mich
nicht der Weg zur Erfiillung. Ein jiidischer Na-
tionalpark, ein Indianerterritorium, eine Reserva-
tion, in der stati wilder Bisons gemiiBigte lsrae-
liten verwahrt werden, etwa unter der miiden
Herrschaft eines mittlerweile zum Dachingiscohn
3Q3
DIE AKTION
394
avancierten kaiserlichen Rats und Grofirabbiners
— das ware Flucht, Flucht ins Herbarium. Und
neue freiwillige Kasernierung, Uniformierung des
Judentums. Die blutige Polemik zwischen den
beiden mehr und weniger demokratisch ge-
schminkten Warenhausertrusts und Plutokratien
konnte gezeigt haben, wohin der MiBbrauch na-
tionalen Gefiihls und des Besitztriebs ftihren
mufite. Ein Altersheim fur dem Antiscmitismus
Weichende, weite Siedlungsgebiete fur Vertrie-
bene pogromliebender Horden, dies ist denkbar,
muBte es sein. Aber den Juden asiatisch zu neu-
tralisieren, hiefle, wichtigste Blutkorper, adler-
starken Sprengstoff der europaischen Menschheit
entziehen. Es gibt eine hohere Dienstpflicht als
die allgemeine, nationale, konfessionelle, wirt-
schaftliche. Das Reich Gottes auf Erden wird
nicht dadurch naher gebracht, daB sich eines der
wenigen gotttragenden Volker „selbstandig“
macht, in engstem Weltbezirk wie die anderen
Volkercommis etabliert, sich lokalisiert.
Man jammere nicht allzusehr iiber die Diaspora!
In welcher entsetzlichen Diaspora haben nicht
Moses, die Propheten, Sokrates, Christus, Buddha
gelebt! Palastina ist nicht die Entelechie, son-
dern ein entwundener, iiberwundener Zustand.
Historizismus will neue Inzucht treiben, Blut-
schande mit dem Mutterlande.
Wenn ich Jude bin: victrix causa Dis placuit,
victa Catoni! Wenn ich vom Gottesreich sprach,
konnte es einem neokatholischen Urchristen ein-
fallen, mich hier miBzuverstehen und fiir sich
zu reklamieren. Aber diese Richtung mochte ich
ebenso ablehnen, wie es mir nicht beifallt, dem
Judentum hochste Potenz, messianisches Auf-
bliihen in aller Zukunft zu prophezeien, wenn es
sich quietistisch, allzu palastinensisch durchaus
auf sich zuriickzoge — nur weil vor ein paar Jahr-
tausenden Rauber, Habiri, agyptische Soldner sich
der Stadt Ursalima und nach und nach des gan*
zen Landes Kinahi fiir einige Zeit bemachtigten.
Wenn ein geohrfeigter Knabe dem andern zu-
ruft: „Kumm in meine Gassen!“ — ist dies Wil-
len zur Heimatkunst, zur Bodenstandigkeit, und
ich habe die Nase voll von all den volkischen
Erd- und Blutgeriichen, historischen Revanche-
und Ohrfeigenszenen. Innere Kraft wird sich un-
ter hohem AuBendruck am starksten manifestie-
ren — ware es den Hebraern tropisch*gut ge-
gangen, hatten sie keine Tiefspur im Wusten-
sand hinterlassen.
Soil ich noch von dem Unethischen konfessio-
neller, rassenhafter Sonderbestrebungen sprechen,
soweit sie einem egoistischen Wunsch ,,Mir soli
es gut gehen!“ entwuchsen?
Wo sind die Hcitigen, die in euch aufgerichtet
hat der Herr, mit denen Er Gebote gezeugt
hat?
Wo sind die Propheten Gottes? Wo seid ihr:
Mausche, Jehauschua, Muchamedun? Dahinge-
schwunden seid ihr zum Schiilerschreck euerer
Unvertraglichkeit wegen, im Jahzorn der Feld-
herrn-Rachsucht euerer Rede: „Du sollst keine
falschen Gotzen haben auBer mir .* 4
Da ihr mit eueren Lehren schwanger ginget, bes-
ser ware es gewesen, ihr waret auf dem Monde
niedergekommen mit solch blutigen Speisege*
setzen, Kreuzigungen, HolzstoBen, heiligen Krie-
gen und Kreuzziigen !
„Du sollst nicht toten!“ rollt den Sinaidonner
der Herr wider Mausche. Aber Mausche war
harthorig, ein Krieger und Viehschachter, ver*
stand nicht das Wort, einging er nicht in das
verheiBene Land, seine sterbenden Augen sahen
es nur von fernem Berge. Und immer noch tanzt
sein Volk, das weiBe Volk urn das lebende, be-
bende Kalb und schlachtet es. Verschollen bist
du, Schrei des Jesaja: „Wer einen Ochsen
schlachtet, ist ebenbiirtig dem, der einen Mann
erschliige; wer ein Schaf schlachtet, ist gleich
dem, der einem Hund den Hals brache!**
Und der vor Jehauschua herlief die Nacht: Jo-
chanan war bedeckt von Kamelhaar, frafl Heu-
schrecken fur sich, unschuldiges, grimes Getier
des Feldes. Es kam die Uber-Antwort — der
Heuschrecken-Henker w f ard liberantwortet seinen
Henkern, es metzgete eine Metze sein Haupt,
wie das Kind Grashupfern ein Bein bricht.
Gber dem Saugling Jehauschua vvurden geschwun-
gen von Mirjam Brandopfer, Sundopfer: zwei
junge Turteltauben dem Tode.
Nicht mied der Sohn Davids blutiges Mahl: aus-
teilte er unter Gaste unstrafliche Fische, schuld-
los-schuldigen Raubfisch und algenfromme.
Er richtete an Gerichte von Fischen und Oster-
lammern, so ward er gerichtet. Mit dem letz-
ten Hauch des Gerichteten gedieh der harteste
Teufel vor dem Richtbaum und erkannte: „Das
Holz dieses Kreuzes ist gut, ich werde es in
Speere spalten. 1 *
Weh iiber Verwickler der Nabelschrtur — von
den Schachtern der Wiiste bis zu den Schachtem
der Chassidim kenne ich nur einen groBen Ge-
rechten und Wisser des Gesetzes der gleichen
Aktion und Reaktion: jenen Kronprinzen, der kein
Annexionist war.
t ,Lebendiges umzubringen hat der Fiihrer ver-
worfen, Lebendiges umzubringen liegt ihm fern:
dem Asketen Gotama, ohne Stock, ohne Schwert,
fiihlsames Herz, Teilnahme hegt er zu alien Ie-
benden Wesen: Liebe und Mitleid.
Nicht Gegebenes zu nehmen, hat er vervvorfen ;
vom Nehmen des Nichtgegebenen halt er sich
fern; Fleisch nimmt er nicht an; Ziegen und
Schafe nimmt er nicht an; Hiihner, Schweine
395
DIE AKTION
396
und Hinder mmmt er nicht an, der Asket Go-
tamo Buddha.**
MuB wieder ein Kronprinz kommen, der — und
nicht gerade zur Schonung des geschwachten
Viehstands — ein Nichttoter und Spinatesser son-
der alle Lacherlichkeit ware? Es diirfte dies-
mai kein Kronprinz sein. —
Die Bibel spricht vom Fleische: „Wo Aas ist,
sammeln sich Adler.** Moge es geschehen! Zu
beenden den verbissenen Giftkampf zwischen der
kosmopolitisch arrivierten Anglokratie und einer
mediterranen Autokratie; zu beenden den christ-
lich-friedlichen Wettbewerb zwischen der domi-
nierenden, alleinseligmachenden Paketfahrt dieser
Erde und einem Agrar- und Industrieverband,
der solche Konkurrenz unter seine U-boot-
maBigkeit bringen mochte. Man rede nicht all-
zuviel von der Demokratie, bisher herrschte sie
nur in Neuseeland, bislang steht zu befurchten,
daB Eurasien (oder wenn man will: Barbaropa)
nach dem Krieg ein einziger Veteranenverein sein
wird. Deswegen mochte, alter Leiden ungeach-
tet, ich den Juden, einen der besten Streiter Got-
tes und der Menschheit, aus dieser aufreibenden
Dienstpflicht noch nicht in den vegetativen Ruhe*
stand, in den nabelbeschaulichen, lebenfristenden
Ackerbau entlassen, auf Milch- und Honigfliissen
dahinzutreiben.
Und, letzten Endes: wozu die vielen Stammgott-
heiten und Spezial-Baale der vielen Volker? Hat-
ten die Konfessionslehrer samtlicher Sekten sich
darauf „beschrankt** T den Kindern als Inbegriff
aller Religion nur zwei Satze ins Herz zu trei-
ben, in die innerste Seele zu giefien, waren wir
aller Kriege und Ismen enthoben. Ich meine die
Spriiche: „Du sollst nicht toten“ und „Behandle
deinen Nachsten wie dich selbst**.
ANSICHTEN EINES EXTERR1TORIALEN
Yon Albert Ehrenstein
Nun erst, da ich einige Zeit auf dem Erdbatl zu-
gebracht habe, vermag ich meinem Auftrag gemaB
Rapport zu erstatten. Ich verschmahte es Sonnen-
tag fur Sonnentag zu melden, was ich erkundet
habe, urn nicht in die Lage zu kommen, anfangliche
Meinungen bei nach und nach errungener besserer
Einsicht berichtigen zu miissen. Hier alles des Ge-
sehenen und Gehorten, von dem Mitteilung zu
machen mir der Miihe wert schien. Ja, es ist
wahr, was unsere Weisen erstaunlich friih ge-
ahnt, die Gelehrten spater hypothetisch behauptet
haben: die Erde ist von Lebewesen bewohnt.
Doch nicht so, wie sie annahmen, daB die Ge-
schopfe Hauptsache waren, was zu versichern
diese selbst nicht rniide werden. Vielmehr deucht
mir, als ware die Erde selbst genau so wie unser
Wande/stern ein einziges riesiges Lebewesen mit
hautgleichen Atmungsorganen; grunen Waldern
und Wiesen, Furchen und Fallen: Ebenen und
und Gebirgen, Ausscheidungen in Fliissen und
Vulkanen und so fort. Ein einigermaBen empfind-
liches Sentiment vermag ein Seiendes, das seine
Existenz nicht fiihlt, leblose Materie, nicht zu
fassen und nimmt gern nur noch nicht entdeckte
Lebensregungen an, wo der Realist nichts als
toten Stein sieht. Aber auch die neueren Lehren
unserer Weltkorperkunde scheinen mir auf eine
nicht geringe Vitalitat der Gestirne hinzudeuten.
Wie haufig liest man von den gliihenden Um-
armungen lichterloh-brennend-liebend-vereinigter
Doppelsterne und iiber die Treulosigkeit der leicht
fertigen Kometen gibt es unter den verlasscnen
Asteroiden nur eine Stimme. Wer weiB denn,
ob nicht die Gravitation in Schranken gehaltene
Sexualitat ist, zumindest kann niemand exakt das
Gegenteil beweisen. Wessen Exhibition die Erde
ist, bleibt unbekannt — aber dies spricht noch nicht
gegen ihren geschlechtlichen Charakter. Doch ab-
gesehen von solchen mehr vagen Spekulationen,
ein Hauptgrund fiir meine Ansicht von der Le-
bendigkeit der Erde: das eitle Ding dreht sich
zunachst mit einer rasenden Geschwindigkeit um
sich selbst, hernach kriecht sie um die Sonne.
Wohl um ihr hierdurch ihre Zuneigung auszu-
driicken. Das nun tuen ihre Kreaturen, die auf
ihr schmarotzenden Mikroorganismen, ihr nach,
sogar die vomehmsten, die Menschen. Ein jeg-
licher von ihnen dreht sich zuvorderst mit einer
rasenden Geschwindigkeit um sich selbst, ver-
neigt sich, verbeugt sich unaufhorlich vor sich,
hernach kriecht er um irgendeine Sonne. Ein
zweiter Grund fiir die Nebensachlichkeit der
Menschen und Tiere: diesen ohnmachtigen Wesen,
wenigstens den mir bekannten, mehrminder an
der Oberflache Haftenden mi&lang es, in das Erd-
A If red Kubin Frau Sonne
397
DIE AKTION
398
innere zu dringen, sie ritzen bloB die Rinde mi t
ihren Messern und iiberziehen sie mit ihren Ge-
weben, weit arger — sie wissen sich wider die
Taten und Emotionen der Erde keineswegs zu
helfen. Ein Glied isi erkrankt, ein Landstrich
zittert und bebt in fiebrischem Keuchhusten,
Zellen und Teile schieben sich iibereinander und
vernichten dabei allerlei handgreifliches Leben,
das ratios nicht auf Abwehr sinnt. Ein Geschopf
aber, das sich nicht zu verteidigen weifi, es nicht
kann, ist das schwachere, minderwertige, von dem
zu erzahlen sich nicht lohnt, und ich tue es nur,
weil es mir geboten wurde; mich personlich wiirde
allerdings eine andere Untersuchung mehr reizen.
Ob riamlich nicht, gleich den aus Erdsaften
emporgetriebenen Waldern, auch die beweglichen
Dinge, die man Tiere nennt, bloB Korperteile der
Erde sind, Lcbensfunktionen noch unbekannter
Artausiibend geradein ihren Wanderungen, jeden-
falls inniger mit der Erde verkettet, zusammen-
hangend, als daB man ihnen Selbstandigkeit zu-
gestehen konnte, eine uber die Gebundenheit von
Parasiten hinausgehende Unabhangigkeit . . .
Ich komme schon dem Befehle nach und widme
mich derSchilderung des Lebendsten derErddinge,
des Menschen. Nicht so machtlos wie den Erd-
beben Oder den Oberschwemmungen, der Friih-
lingsbrunst der Strome gegeniiber, noch lange
aber nicht Herr uber die Wind und Wetter ge-
nannten Lebensprozesse der Atmosphare, unfahig
sich anders zu schiitzen, hat sich der Mensch
aus Bergsteinen, Waldholz und Pflanzensehnen
\
Aktstudie
Hauser und Zelte gebaut, nach seiner Art jeder
eines fur sich, nicht alle eines fur alle. In solche
Hauser und Hiitten ziehen sie sich zuriick, um
Dinge zu verrichten, die auBerhalb zu tun sie sich
schamen. Schamen — dies ist uberhaupt eine
ihrer Lieblingsbeschaftigungen, denn sonst wiirden
sie nicht ihre Korper gleich MiBbildungen mit
Hiillen bedecken, die ihnen Leichenfarbe ver-
leihen. Sie schamen sich einzelner ihrer Korper-
teile. Ob darin etwa einige Abwechslung statthat
und sie sich am Ende zwei Aonen lang ihrer
Ohrmuscheln schamten, dann wieder den Pfoten
unsterbliche Scham weihten, dieses liefi sich nicht
ergriinden, weil ihre Geschichtswerke nicht so-
weit zuriickgehen. Gegenwartig aber, das heiBt:
solange sie noch nicht zu Konserven fur unsere
nach der Kapella fliegenden Truppen verarbeitet
sind, gegenwartig schamen sie sich ihres Fort-
pflanzungstriehes, nehmen jene Transsubstanth*
tion, durch welche sie sich vervielfaltigen, nicht
offentlich vor, statt, wenn sich in ihnen schon
Skrupel gegen diesen regen, ein anderes, mehr
vegetatives Verfahren ausfindig zu machen. Aber
soweit wollen sie wieder nicht gehen. Wie glan*
zende Namen sie in ihren Verschonerungsvereinen
fur ihre Bestrebungen auch ersinnen mogen: jeder
ihrer Wege fiihrt am letzten Ende unweigerlich
zur Begattung. Es ist, als ob die auf der Erde
vorherrschenden Naturgesetze nicht auf eine ge-
schmackvolle Auslese, sondern auf glatt-mecha-
nische Vermehrung Wert legten. Alle sind stets
von der Furcht beseelt, das Menschengeschlecht
konne jahlings aussterben, und behiiten darum
ihre Generationsraumlichkeiten auf das so rgfal-
tigste. Deswegen tragen sie ihre Geschlechts-
teile immer bei sich und uberzeugen sich moglichst
oft von dcren Vorhandensein. Ihr Dasein ist trotz-
dem unerquicklich, da es bei ihnen nur zwei Ge-
schlechter gibt — die Hauptursache ihres haufigen
Lebensuberdrusses. Denn gebricht es einmal an
Vielfaltigkeit, Abwechslung und Permutation der
erotischen Beziehungen — durch desto rastlosere
Kommunikation laBt sich die Ewigkeit der Lust
nicht erzwingen.
Vielleicht ist die Art der Organisation des Men-
schen das Mangelhafte, so mancherlei Widersinnig-
keiten Zeugende. Die vornehmsten Sinneswerk-
zeuge haben bei ihm den Sitz hart aneinander, an
einem Ort, in einem einzigen Knochen. Also daB
eine Durchbohrung des Auges erhebliche Ver-
letzungen des Gehirnes nach sich zieht, Storungen
wieder des einem einzigen Organe innewohnenden
Denkvermogens den ganzen, leider nicht homo-
genen Korper dem Verderben preisgeben, haufig,
wenn durch irgend eine Krankheit das Worte-
sprechen erschwert oder unmoglich gemacht
wurde, das Gleiche auch bei der Schallbildung
statthat. Das Auffallende: nicht einmal solchc
Menschenkasten, denen vie! daran liegen muB,
die Beobachtung des Mienenspieles zu erschweren,
nicht einmal die Diplomaten arbeiten an einer
Verlegung des Mundes. In vielen ihrer Siechen-
hauser war ich, nirgends kamen sie ihren Blinden
und Tauben mit jener kleinen Empfindung zu
Rudolf MdUfe
3gg
DIE AKTION
400
Hilfe, die bei uns auf dem Jupiter jedes Tier kennt.
Um solche Leidende zu heilen, bedarf es doch
nur eines Transform a tors, der die Lichtwellen in
SchalKvellen umwandelt oder umgekehrt, und man
kann nach Herzenslust mit den Ohren sehen, mit
den Augen horen. Sie aber konnen nicht einmal
mit ihrem Gehirne denken und verfolgen ein-
ander — vielmehr, da sie alle aus einer Materic
geschaffen sind, sich seibst mit dem Speiche! ihres
Hasses.
Keineswegs ausschliefilich Glaubens- oder Farhen-
intervalle bringen bei den ZweifuBlern die Gase
des Unverstandes zur Entzundung, nein, Ver-
schiedenheit der Sprache, ja der Mundart hat den
gleichen Effekt, und die meisten Volker argern sich
aneinander in zwei oder mehreren Stammen. Und
nicht bloB die Wanderratte, wenn sie einer Haus-
ratte begegnet, auch der Burger von Buxtehude
hat an jenen, die Schildas Triften bewohnen, ge-
waltiglich auszusetzen. Wenn sie nun in Scharen
zusammenkommen, diejenigen von Schilda und die
von Buxtehude, dann, ihre Herrscher hinter sich
herfuhrend, trachten sie einander den Garaus zu
machen.
Es gibt zwei Arten von Menschen, Raubtiere und
Haustiere. Dazwischen innesteht noch eine
Sorte von Lebewesen, selber hochst kummerlich
gedeihend, aber von den anderen wegen ihres
Wohlgeruches und der ungemeinen Kostlichkeit
ihrer Milch ab und zu durch leere Worte aufge-
niuntert: sogenannte Blattlause. Man heiBt sic
auch Kunstler. Die gefahrlichsten Raubtiere,
morderischer denn Panther, verschmahen es, das
Blut der Ausgesogenen in Nahrung zu verwandeln
und lassen es sich an dem Geruche der Er-
schJagenen genug sein.
DaB man den Menschen eine Spur von Ver-
nunft zutrauen soli, wie unsere Femrohrgelehrten
wollen, wird man daher schwerlich begrunden
konnen. Am Leben ist ihnen nichts gelegen.
Wenn z. B. zwei aus dem Volke der westlich an
die Garamanten angrenzenden Kimnierier mitein-
ander einen Streit haben, sei es um die Leiche
des jiingst verstorbenen Kafers, sei es um den
angeblichen Besitz des Weibes, gehen sie hin in
den Wald und oft kehrt keiner von beiden gesund
und heil wieder. Bei uns auf dem Jupiter gab es
vor Zeiten eine Gattung Tiere, die in solchen
Fallen einander das linke Hinterbein abzubciBen
suchten. Dann aber ergriff sie Scham, und an
dieser Scham starben sie, fuhlend, die in ihrem
friiheren Vorgehen bekundete Anlage werde sich
niemals ausrotten lassen.
Auch sonst ist der Rechtssinn bei den Menschen
verbildet. Von dem ersten Eigentfimer fallen ge-
lassene Tramwaykarten darf kein zweiter ge-
brauchen, bei Witwen aber ist das gestattet.
Dafi maBige Korper- und Geistesdispositionen
von Ahnen auf eine Nachkommenschaft fiber-
gehen, konnen sie nicht verhindem, die solche
Eigenschaften durch eine herrliche Ffigung der
Natur oft uberzuckernde Vererbung von Glficks-
gutern mochten sie abgeschafft wissen. Logisch
wiederum sind sie in ihrem Benehmen den
Herrschern gegenfiber. Da die Menschen sich von
einer anderen Tiersorte, den Affen, abzustammen
riihmcn, welches konnte mehr, zugleich groflte
Erinnerung ihrer Herkunft und rfihrendste Be-
zeigung ihrer Ehrfurcht vor Ubergeordneten sein
als folgendes: sie hlillen sich mit Vorliebe in Ge-
wander, die auch eben jene Affen am besten
kleiden. Allen Hoheren nahen die Untertanen
mit schwarzen Kiibcln des Hauptes. Schmuck
tragen alle sehr gerne, als ob durch fremde Dinge,
die sich auf ihrem Korper befinden, sie seibst
zum Besseren verandert wurdcn. Diese Leute
also haben diese Sitten, andere Leute aber haben
andere.
Es konnte auf der Erde Wesen geben, die wenig
bemerkt, sich von der den Alternden und Kranken
entschwindenden Kraft nahren und, eine Zukost,
an den Taten der Menschen freuen, gleichwie
diese seibst sich mit dem Gesange der Vogel
masten. Ich habe keines dieser unbekannten Ge-
schopfe wahrgenommen. Wenn sie uberhaupt be-
standen, sind sie mit ihren Opfern zugrunde ge-
gangen. Denn derzeit sind die Menschen aus-
gestorben. Konnen aber wann immer aus den
hier gegebenen Bestandteilen neu erbaut werden.
Ihren Tod habe ich ganz zufallig veranlaBt. Am
Nevado Llullaillaca, den ich, um euch auf dem
Jupiter cin Zeichen zu geben, crflogen hatte,
wegen einer Dummheit: mein Vorrat an der Sorte
von Meteorsteinen, die ich zu kauen pflege, war
ausgegangen — auf diesem Berge angelangt, zog
ich das gewdhnliche Schallhorn, dessen wir uns
im Weltenverkehr hedienen, aus der Westentasche
und nieste daniher. Langsam, leicht und leise wie
ein Kahn verglitt der Ton. Fur meine Ohren. Fur
irdische aber! Ich vermag nicht diesen den Men-
schen gewordenen Eindruck zu schildern. Das
Gebriili wuchs ins Uncndliche, erstarrte zu Ricsen-
pilzen und Felswanden, zerbrach Gebirge, alles
Wasser wurde zu Eis. Plotzlich schlug Stille ein
wie ein Donnerschlag: das Zeichen, dafi mein
Signal eine Station erreicht hatte und durch ein
empfangsbestatigendes Gegengeniese vernichtet
worden war. Auf das Eintreten dieser Erscheinung
waren meine Sinne gespannt gewesen und so hatte
ich der irdischen Umwiilzungen nicht acht gehabt.
Nichts atmete mehr. Die meisten waren wohl
bereits infolge des ftirchterlichen Echos wahn-
sinnig geworden, und der von meiner Schalniei
ausgesandte Luftstrom hatte, in den wildesten
Zyklonen und Antizyklonen sich ergehend, allem
Leben das Ziel gesetzt. Der Menschen schwachlich
Ringen war geendigt. Und fiber den Maulwfirfen,
welche alle fur unsittlich halten, die Augen be-
sitzen, fiber ihren Leibern und den Leichnamen
der stillen Baren und friedlichen Kaninchen lagen
verstreut die geronnenen Blfiten und Blatter der
Baumc. Da nun aber diese Dinge schon so weit
sind, stelle ich den Antrag, mein unschuldiges
Weltenhorn in einem der jovialischen Museen aus-
zustellen, kommenden Generationen zum Zeugnis,
mit welch unvollkommenen Mitteln auch wir schon,
und zwar nebenbei, verhaltnismaBig Grofies aus-
zufuhren imstande waren . . .
401
DIE AKTION
402
GEDICHTE
Von Albert Ehrenetein
DIALOG
Dichter
Mein Herz, du bist zu weltenwarm,
zu zitternd jedem Wind,
der irgend einem armen Menschenarm
Erstarren, Lahmung sinnt.
Ich bin nicht Gott, ein Dichter,
und sch little mein Haupt,
Alt bist du, o Konigin.
So hat Schonheit keinen Sinn?
Konigin
Wohl, ich war das Weib: der Zukunft Gasse.
Korper dorren, Verse sterben,
schwinden hin zu neuen Erben.
Was ist Form und was ist Masse?
Beide
Blutsaulen, Heersaulen unverdrossen vorwarts-
eilen,
rasch zu verrinnen unterm Gewolbe der Nacht.
Blutumflossen geboren,
als Leichen in Siimpfe gefroren,
mit erhobenen Handen im Winde schwankend
Schilf,
wo kein „Hilf!“ hilft,
schallt keiner Frage Antwort.
Sinnlos Erstandene, sinnloser Zerriebenel
O Blut auf dem Kreuzholz der Wiege und Bahre,
wem gehort die vorbeigetriebene,
wozu die geschlachtete Herde der Jahre?
WALSTATT
Weifl weint der Schnee auf den Ackern,
bitterlich schwarz sind die Witwen,
griin warst Du, o Wiese des Fruhlings,
gelb verkrummt sich das Herbstlaub,
grauer Soldat im Felde,
rot sinkst Du hinab zur hiindischen Erde,
unter des Himmels unverfrorenem Blau.
Mit glockenhell donnernden Schwingen
senkt er sich nachtig ins Tal.
Fliigelschlag wcgblast die feig glimmernden
Sterne,
iiber die Rochelnden reckt sich vampyrisch der
Roch,
Verwundete, Leichen sind seine Nahrung.
FRUHLING
Die Sonne weint ihren Kummer in Wolken aus,
der Regen scheint aufs Dach und glanzt,
erbleichend fletscht die Zahne der Mond,
der Teufel lenzt.
DER WALDESALTE
Aus schwarzem Gebirg wuchs er hervor,
sein Scheitel zerfetzte die Sonne,
die versandenden Meere ging er hindurch
in eisernem Trott,
von Speeren umhaart, der Racher, der Waldesalte.
Ausbrach er Gebriill :
„Nicht ehrtet ihr das griine Haus,
darin sich Nachtigallen wiegten.
Es hat die Seele keinen Bosporus, noch Vogeseit
Zweitausend Jahre lagen brach.
Noch nicht kennt ihr Christus.
Ihr stochert frech mit einem Span
vom Kreuz den Zahn.
So haben Kraft und heben
die grauen Heerwurmer ihre blindgeborenen
Schlunde.
Ihr trostet euch mit der streichelnden Henkers-
mahlzeit,
: euere Weiber, die Saue Gottes,
pflegen Wunden, schicken die blassen
Krieger vom Mordfeld zum Mordfeld.
So bin ich euch der Weihnachtsbaum
des roten Zimmermanns von Beth Lechem!"
Seine Haare starrten,
: eisweiBe Mastbaume,
und spieBten, umblutete SpieBe,
die nachtgeschlagenen Heere.
Klaglich blokten Kanonen.
DER TROST STETS NUR BEIM TROSTER
BLEIBET
Ist es die Nacht, die sich schon nieder neiget,
zerreiBt mich bald mein wildes Herz?
Vom Tode sprach ein weiBes Haar.
Nicht halten Gotter ihn im Gange auf.
Die Uhr zu schlucken und ewig zu werden,
gelang keinem. Drum glaub ich schier an ein
Madchenkleid
zerbrosle dumpf die gute Zeit.
Verliebt in zart tanzenden Gang,
witternd weiBe Ruhc, Gefilde kostlicher Haut,
sing ich: n Wemi ich deine Augen fange,
in deinem milden Garten schlaF ich lange.**
Durchtone ich im Sonnenfieber die krieg-
entmenschten Auen,
gern strauchelnd auf dem miiheschweren Weg
zu Gott
von einem Walde weiB ich schon zu traumen,
der Regen naht mit nasser Stirn,
Leuchtkafer irrl ichtern zickzack durch die duftende
Luft.
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DIE AKTION
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Umspinnt mich dann mit altem Tag die steineme
Stadt,
zerrinne ich in Trauer:
Der Trost stets nur beim Troster bleibet,
in Frauen, Wald, Gott, Sonne und Leuchtkafern.
DER DICHTER UND DER KRIEG
Ich sang die Gesange der rot aufschlitzenden
Rache,
und ich sang die Stille des wakiunibuchteten Sees ;
aber zu mir gesellte sich niemand,
steil, einsam
wie die Zikade sich singt,
sang ich mein Lied vor mich.
Schon vergeht mein Schritt ermattend
im Sand der Muhe.
Vor Mudigkeit entfallen mir die Augen,
miide bin ich der trostlosen Furten,
des Obersdireitens der Gewasser, Madchen und
StraBen.
Am Abgrund gedenke ich nicht
des Schildes und Speer es.
Von Birken umweht,
vora Winde umschattet,
entschlaf ich zum Klange der Harfe
Anderer,
denen sie freudig trieft
Ich rege mich nicht,
denn allc Gedanken und Taten
triiben die Reinheit der Welt.
DIE KATERNOVELLE
Von Albert Ekrenstein
O Mensch, sei lieb
nicht nur zu Dir!
Was stiefl und trieb
das arme Tier
den kleinen, schwarzer Kater fort?
Im Leben hilft nur selige Tat
— zu spat wird Reue wort !
Seine Eitern habe ich nidit gekannt. Auf unserem
Hofe ist er nicht aufgewachsen. Es muB ihm aber
jedenfalls hundeschlecht gegangen sein, denn fiir
gewohnlich verlassen Katzen das Haus ihrer Ju-
gend absolut nicht Der arme junge Teufel
kam zu mir, rieb sich an meinen FuBen und bat
mich instandig urn meine Protektion. DaB er zu
mir kam, ist ein Wunder. Fremde Kater sind sonst
sehr scheu. Er war total verhungert und etwas
raudig. Da nahm ich ihn auf. Denn auch ich
war raudig. Ich hatte bei der Matura nicht ge-
ahnt, daB man zur Fullung von Thermometem
aufier Weingeist und Quecksilber auch Toluol
verwenden konnte. Und ich wuBte noch eine
Menge derartiger Toluole nicht Nachprufung. Ich
bin atlein und zahle die Blatter, die von den
Bitumen fallen. Ich lasse das Fenster offen: es
ware mir em Erlebnis, wenn mich eine Miicke ste-
chen wollte. Wie gesagt, brachte er ein schwar-
zes Fell iiber sich. Beim Gesinde hieB er des-
wegen Zigeuner: Czigan. Ich nannte ihn Kerouen,
Thomas Kerouen. Die zwei Namen diirfen nicht
befremden. Meine Kater haben immer Vor- und
Zunamen. Ich fiille sogar einen Meldezettel fur
sie a us. In Hochachtung vor den Menschen.
Er war noch jung, etwa ein Jahr alt Oft spielte
er mit einem kleinen, braunen Hund namens
Libor.
Tagsiiber war er im Bureau — auf den Frucht-
boden gab es Legionen von Mausen, die ihn nicht
zu Atem kommen lieBen. Er blieb bei ausgezeich-
neter Verkostigung so mager wie zuvor. Man wird
fragen, viele Leute wird es interessieren, was
Kerouen gegessen hat. Nun, so opulent wie bei
hanseatischen Mahlzeiten ging es nicht her. Es
gait fiir ihn die gewohnliche, auf Milch, Milchbrei,
einfache Mehlspeisen, Suppen, Griinzeug, Fleisch-
abfalle, Huhnerknochen beschrankte Katzen-
diat. Aber wenn er nach erfolgreicher Jagd durchs
offen e Fenster zu mir aufs Sofa sprang, zu spinnen
begann und die durren, von Staub bedeckten
Flanken an mir zu reiben versuchie, dann konnte
ich ihn unmoglich mit dieser ordinaren Haus-
mannskost abspeisen.
Ich hatte nicht so gut zu ihm sein sollen. Das
w*are fiir uns beide besser gewesen. Bei Licht
schien er ein alltaglicher Geselle, m der Nacht
wirkte er leicht unheimlich. Ich muBte ihn einige
Zeit hindurch bei mir im Kabinett iibernachten
Iassen. Er fing die Mause weg, gut — doch wenn
ich aus schweren Alptraumen erwachte, saB der
schwarze Damon mit den grunglitzernden Augen
auf meiner Brust und schnurrte irgendeinen Sieges-
hymnus. Ich lieB ihn nicht mehr ins Kabinett.
Aber damit er nicht glaubte, ich gonnte ihm
etwa die darin befindlichen Mause nicht, st elite
ich Fallen auf. Fing sich ein Tierchen, ging ich
mit der Falle zum Brunnen, ersaufte die Maus und
wartete mit ihr dem Kater auf. Kerouen hatte
sonderbarerweise keine Aversion gegen Mause-
fallen, es fiel ihm nicht ein, die Konkurrenz zu
Alfred K*bin Der Kater
K
A
\
405
DIE AKTION
406
zertrummern, er lebte offenbar in der Idee, das
seien in seinen Diensten stehende Vorrichtungen,
tributary Instrumente, die ihm aus irgendwelchen
Griinden Nahrung zu liefern hatten. Andererseits
brachte er sie mit mir in Konnex, er lieB sich nichis
schenken, revanchierte sich regelmafiig: ab und zu,
wenn er eine besonders feite Maus erwischt hatte,
schleppte er sie zu mir, legte sie vor meinen FuBen
nieder und sah mich an. Um ihn nicht zu belei-
digen, muBte ich die Maus annehmen.
Wenn es besonders heiB war, pflegte ich nach
Tisch im Schatten der Mauern auf einer Wiese zu
schlafen, die hart am Hinterhause lag. Hie und
da besuchte mich Kerouen. Er staunte iiber die
Flugsprunge der Heuschrecken, hupfte in drol-
ligen Schwiingen hinter ihnen her und manchmal
gelang es ihm sogar, eine zu haschen. Die graten-
artigen Beine biB er weg, das tibrige behagte ihm.
Seine Besuche waren also nicht ganz uneigen-
ntitzig. Ich fiihlte mich dadurch nicht gekrankt,
sondern ging noch einen Schritt weiter: ich
machtc ihn auf die Frosche aufmerksam. Aber
er verschmahte selbst die jiingsten, zartesten, be-
hendesten, lieB sie unbehelligt ihren Weg ziehen
zu den seligen Sumpfen. Ich machte ihm keinen
Vorwurf daraus. Ich bin iiberzeugt: die Katzen
haben dieselbe Abneigung gegen Froschschenkel,
wie wir sie gegen Hundefleisch besitzen.
Ich habe eine aufregende Bekanntschaft gemacht.
Sie heiBt Miaulina, tragt eine blaue Seidenschleife
um den Hals und beschaftigt drei Kater. Kerouen
ist einer von ihnen. Miaulina und Kerouen geben
sich hie und da auf der Wiese ein Rendezvous.
Es ist ihm also gar nicht eingefallen, meinet-
wegen die Wiese zu besuchen! So ein Kerl!
Audi wir haben eine neue Wirtschafterin be-
kommen. So sehr ich mich gegen aufdringliche
Parallelismen straube: Kerouen und ich scheinen
Schicksalsgenossen zu sein. Sie heiBt graBlicher-
weise Sabine, tragt einen Rosenkranz um den
Hals und beschaftigt, soweit ich sehen kann, nur
zwei Kater. Ich hatte also das Recht, zu Kerouen
„Et$ch!“ zu sagen. Wenn ich es unterlasse, liegt
das daran, daB der eine Kater fur zwei ausgibt.
Es erhoht die Freude des Wettbewerbs, so der
Konkurrent ein Cousin ist. Kompliziert und ge-
fahrlich wird die Sache erst dann, wenn der Be-
treffende nicht nur Cousin, sondern auch Haus-
lehrer ist. Ich habe mich ja der neuen Wirt-
schafterin noch nicht entschieden genahert, es
ware mir aber sehr peinlich, falls mich Robert
einma! bei ihr trafe und sagte: ,,Hugo! Geh
lieber Physik lernen. u Als ob das nicht die wahre
Physik ware.
Ich sah Radierungen von Rops durch, als Sabine
in mein Kabinett trat. Schnell klappte ich die
Mappe zu, damit sie mich frage, warum ich die
Mappe so schnell zugeklappt habe. Natiirlich fiel
sie hinein. Ich verweigerte die Auskunft. Sic
sagte: „Sie werdcn mir’s schon zeigen, Herr
Herrensein!“ Ich zweifelte nicht daran.
Robert hat einen grofieren Schnurrbart. Er ist
auch drei Jahre alter und bald Reserveleutnant.
Zwischen scrnem und meinem Kabinett liegt
Sabines Schlafzimmer, Sie schlaft nicht allein, zu
ihren FuBen, auf einem Strohsack, schnarcht das
Kiichenmadchen. In der Nacht begann der Trampel
zu schreien. Ich eilte ins Schlafzimmer, da horte
die Neidische auf, zu briillen: sie wies auf
Sabines Bett — es war leer. ,,Der Herr Robert
hat sie zu sich ins Kabinett getragen!“ heulte
die Magd.
Auch Kerouen ging es nicht gut. Seinen Ge-
schmack billigte ich nicht, Miaulina war eine
ANerweltskatze und zog ihm einen machtigen,
graugestreiften und einen einaugigen Kater vor,
der einen lichtbraunen, grobkarierten Anzug trug.
Sie lief ihnen schnurrend und spinnend entgegen,
warf sich auf dem Riicken hin und her, als ware
ihr Riickgrat gebrochen, bot ihnen werbend den
Bauch, walzte sich wolliistig und schrie ab-
scheulich. Der schmaehtige Kerouen siegte nicht
immer in den Kampfen und dann geschah es
oft, daB sich ein fremder Kater im Hinierhofe
breitmachte und die ganze Nacht hindurch in
der Brunst wie ein Schwein grunzte, wie ein
Hund murrte, wie ein Kind klagte. Kerouen hatte
das Seinige getan, der faulen Miaulina oft eine
Riesenmausgebracht, aberMausesind in derLiebe
nicht das einzig Ausschlaggebende. Und nach so
einer Nacht, die von dem frechen Miauen, von
dem unverschamten Gewinse! des graugestreiften
Katers erfiillt gewesen, war der besiegte und
verschmahte Kerouen immer sehr melancholisch
gestimmt: er kam wieder zu mir. Ich wuBte,
daB ungliickliche Liebe vernichtet, und trachtete,
ihm nach Kraften zu helfen. Kaum Nacht
iiber die Erde gefallen war, ob nun Regenschauer
uns anprusteten oder aus blauhinhallendem
Himmel der Mond uns sein kalkweiBes Licht
ins Gesicht schlug, Kerouen und ich zogen zu
Felde, gingen nach dem Hinterhofe. Er lief
murrend einige Schritte voraus, lieB mich nicht
nahekommen, ich schlich bewaffnet hinterdrein.
Irgendwo im Dunkel ruhte gewohnlich Miaulina
und eilte Kerouen entgegen. Sie hatte fur jeden
Liebhaber dieselben Formalitaten, das Weitere
allerdings muBten die Kater untereinander aus-
machen. Im Hinterhalte lagen handliche Jauche-
oder Wasserkiibel, aber weder intelligente Giisse
noch Stein wiirfe, durch welch e die armen Kerle
mit unbarmherziger Sicherheit von ihren Dachern
weggefegt wurden, vermochten die fremden Kon-
kurrenten auf die Dauer zu verscheuchen. Miaulina
besaB irgendwelche, fur mich nicht sichtbare
Reize: fur jeden Kater, der, aus seiner Hohe
gestiirzt, mit ladierten Rippen ausschied, fandert
sich schnellstens zwei Remplacanten ein. Und
gelang es einmal meiner strategischen Umsicht,
die ganze Katerherde zu eliminieren, dann war
regelmaBig auch Miaulina verschollen. Ihr in
Feindesland zu folgen, iniquo loco mit den Neben-
buhlern zu kampfen, wagte Kerouen nicht recht,
er war ja noch klein, erst ein Jahr alt, und bei
einer derartigen Gelegenheit hatte einst ein Gour-
mand, ein alter, weiser Kater untersucht, wie
ein Ohr Kerouens schmecke. Die Leiden des
jungen Kerouen konnte ich also auf diese Art
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DIE AKTION
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nicht lindern. ^aterchen,'* sagte ich, „$iehst du,
mir geht es auch nicht besser. In vierzehn Tagen
aber wird Robert zur Waffenubung einriicken,
dann werde ich vvohl Sabine Rops zeigen konnen.
Obrigens besitze ich grofle Konnexionen. Jetzt
soil die zweijahrige Dienstzeit cingcfiihrt werden.
Vielleicht laBt es sich unter Einem durchfuhren,
daB auch die alteren Kater zur militarischen Dienst-
leistung einberufen werden. Ich will dem Kriegs-
minister einen diesbezuglichen Vorschlag unter-
breiten.“
Man glaube nicht, ich habe mich etwa aus Selbst-
losigkeit Kerouen angeschiossen, Ich lud ihn ein,
wieder bei mir im Kabinett zu schlafen, damit
ich mir nicht ganz verlasse vorkomme. Er nahm
an und Punkt zehn Uhr gingen wir taglich zur
Ruhe. Wenn ich die Tur offnete, gestattete ich
ihm immer den Vortritt, denn er war mein Gast.
Mause lieB ich ihn nicht mehr fangen, dies ware
mir wie Eigennutz und Entwiirdigung der Freund-
schaft erschienen. Ubrigens war ja nicht mehr
die alte Wirtschafterin da, die streng darauf
achtete, daB die Katzen ihr Futter verdicnten.
Die Alte hatte sich sehr vor den Mausen ge-
fiirchtet. Als ob so eine Maus sich nichts Besseres
wufite, als ihr zwischen die Beine zu geraten.
Wie gesagt: es paBte mir nicht, daB mein Freund
arbeiten sollte wie ein gewohnlicher Mausfanger.
Da er aber doch Sachverstandiger war, ernannte
ich ihn zum Inspektor. Urn ihn aufzuheitern,
schaffte ich neuartige Fallensysteme an und
demonstrierte sie ihm. Er sah sehr intelligent
zu und schlug en passant die Krallen ins Draht-
geflecht, wie um dessen Starke zu priifen. In
der Folge brachte er weder mir, noch Miaulina
Mause: er war ja Industrieller.
I in ubrigen benahm er sich jedoch keineswegs wie
ein Parvenu. Es fiel ihm langst nicht mehr ein,
in der Nacht auf meiner Brust zu hocken, sondem
er saB bescheiden und manierlich zu meinen FiiBen
auf der Decke. Er wurde recht zutraulich und
lief mir den ganzen Tag nach. In der Wohnung.
Denn mir auf die Gasse zu folgen, vermochte ich
nicht bei ihm durchzusetzen. Wenn ich ihn gewalt-
sam hinaustrug, begann er zu kratzen. Ebenso-
w'enig wollte er mir im Hofe Gesellschaft leisten.
Sein Grundsatz schien: im Hause diene ich, auBer
Hause bin ich mein eigener Herr. Nicht etwa,
daB er mich ignoriert hatte; es waren Reste von
Wildheit, der unbandigen Freiheitsliebe derkatzcn-
artigen Raubtiere, die in seinem Benehmen zutage
traten Die spitzfin digs ten Versuche, ihn durcn
Delikatessen auBer Hause an mich zu ziehen,
nutzten nichts ; er verzehrte das Gebotene und
war dann nicht mehr fur mich zu sprechen, ver-
schwand. In mir aber lag der Wunsch und Trieb,
alles zu knechten — ich heiBe nicht umsonst
Herrensein. Ich wollte ihn nicht brechen, aber
ins Unendliche biegen, seine Seele aus ihrem
Reiche jagen, sie uber alle ihre Grenzen hinaus
an mich bringen.
Ich habe meinen besten Freund verraten. Es war
nicftf der erste Verrat, den ich beging, und ich
verr/ef auch nicht das Gute um des Besseren
willen. Feigheit und Eigensucht, die schamvolle
Furcht, von dem Freunde besiegt zu werden an
Grofle der Ergebenheit, mit einem Wort: mein
niedriges Trachten trieb mich zum Mord. Ge-
schah mir etwas, vergriff sich jemand an mir,
wurde mir irgendein geringfugiges Leid getan,
schrie ich Zeter und Mordio, erzahlte Fremden,
Gleichgultigen und Ubeiwollenden meine Qualen.
War aber ich der Herr und hatte die dominierende
Position inne, drangte sich da ein liebesdurstiges
Herz an mich, sich an mir zu warmen, und war
es selbst ein Herz, um das ich inbriinstig geworben
hatte — ich vergafl es nie, ich konnte es nicht
verzeihen, daB ich so lange ohnmachtig unten
hatte werben, dienen mussen, und beforderte das
Herz, das Freundesherz, mein eigenes Herz mit
einem FuBtritt auf den Dungerhaufen. —
Durchs Dorf zum nahen Steinbruch zieht taglich
ein Mordskerl, ein beriichtigter Raufbold, mit
seinem wilden Riesenrofi. Der Brandfuchs heiflt
,,Teufel“. Der grausame Knecht reizt ihn un-
aufhorlich, dann wird das Pferd ungebardig,
schlagt aus, beiBt, laBt niemanden nahekommen.
Wenn das rote Ungetiim besonders stark tobt,
schwingt der Lummel seine Nagelpeitsche, reiBt
an dem Stachelzaum, bis der gebandigte Hengst
das Baumen aufgibt, mit blutiggerissenem
Riicken, blutendem Maulc stiilsteht. Dann briillt,
lacht, grinst, hohnt der Bauernkerl triumphierend:
„Halloh! der Oberteufel bin i!“
Mir stand kcin hollisches Pferd, nur ein armer,
kleiner, magerer Kater zur Verfiigung, nichtsdesto-
weniger konnte ich mit groBerer Berechtigung
in die Welt schreien: „Halloh! der Oberteufel
bin i! u Ich habe mich nicht geschamt, das kleine
Tier zuschanden zu reiten. —
Im Nachbarhause lieB ein junger Slowak seine
Schwermut in eine Harmonika stromen. Zu tun
gab es nichts. Ich stand mitten im Hofe und
lauschte. Erst in drei Tage sollte Robert ein-
riicken. Mittlerweile war nichts zu machen. Ich
dachte daran, auf achtundvierzig Stunden weg-
zufahren, mir belanglose Dinge anzusehen, den
ZusammenfluB zweier Strome etwa, den Flug der
Kiebitze iiber die Sumpfe hin, vielleicht auch
waren einige Wildenten zu schieBen. Da kam
Sabine auf mich zu. Und gleich darauf, von einer
anderen Seite her, hier einer provokanten Gluck-
henne, dort mit einem groflen Satze einer Kot-
lache ausweichend: Kerouen. Es war das erste-
mal, daB er mich im Hofe aufsuchte. Mir gait
es, nicht dcr Miaulina, nicht den Heuschrecken,
jetzt gait es mir, Aber es war nicht Liebe. Es
war Eifersucht. Etwas Weiches schmiegte sich
werbend an meine FiiBc. Ich stellte nicht vor,
ich sagte nicht: „Dies ist Kerouen. Thomas
Kerouen. Der Kater meiner Seele, der einzige
Kater, der existiert.“ Ich schamte mich meines
Freundes, wollte die Gefuhlsweichheit meiner Seele
verstecken wie eine geflickte Stelle im Gewande.
Ich tat hart und tyrannisch. Und er war zu
mir gekommen!
Ein FuBtritt — - etwas Schwarzes iiberschlug sich
in der Luft, wirbelte einen Augenblick zappelnd
409
DIE AKTION
410
iiber dem Diingerhaufen und fiel dann auf einen
psychisch minderwertigen weiBen Hahn nieder,
der emport „Kotkotkodutot“ schrie. „HaIIoh! der
Oberteufel bin i!“
Der Arbeiter Janku auf dem Fruchboden droben
sah zu und grinste meiner Roheit Beifall. Der
Kater, vergeltungsweise auch einmal von Jauche
iiber und iiber bedeckt, lag zunachst ganz still,
schrie nicht wie jener Pariahahn und war auf
einmal verschwunden. Sabine besaB die iiber-
triebene Freundlichkeit, mir mitzuteilen, Robert
habe einen langeren Aufschub seiner Waffen-
iibung erwirkt.
Ich verneigte mich und ging — ging in der
Richtung, die Kerouen eingeschlagen hatte. Aber
er war nicht mehr zu erblicken, hatte sich mit
seinem Leid verkrochen. Mein Opfer war ver-
geblich gewesen und nun wollte auch er mich
nicht sehen. Und ich hatte ihm doch so gern
die ganze Sache erklart! Diese meine Untat war
nicht die erste. Die Kindheit und Jugend von
Verbrechern muB Dinge enthalten, die den spateren
Befriedigungen irgendwie analog sind. Und sie
enthalt sie auch. Ich habe schon friiher Katzen
umgebracht. Als Kind habe ich uralte oder ganz
junge Katzen, mit denen ich einige Zeit gut Freund
gewesen, pldtzlich gepackt und aus der Hohe
von Stiegen und Boden in die Tiefe geschleudert,
um zu kontrollieren, ob sie auch richtig auf die
Fiifle fallen. Man nenne das nicht kindlich-grau-
same Experimentiersucht, die fruh der Gottheit:
dem Lesebuch den Glauben kiindigt. Bei Katzen,
die im kraftigsten Alter standen, unterlieB ich ja
derartige Proben, weil ich wuBte, sie konnten
sie bestehen,
Es ware ubrigens ein Irrtum, anzunehmen, ich
hatte Kerouen durch jenen FuBtritt getotet. Er
erfreute sich auch fernerhin der besten Gesund-
heit. Ich habe ausdriicklich hervorgehoben, daB
Kerouen sich nicht iiber schlechte oder wenig
reichhaltige Kost zu beklagen hatte. Als Knabe
liebte ich einst ein schwarzes Hahnchen, es starb
— und dies war teilweise meine Schuld — jung
und ohne Leibeserben zu hinterlassen. Nichts-
destoweniger diirfte mich jedermann verstehen,
wenn ich sage, ich hatte Kerouen gewissermaBen
mit den Knochen und Uberresten dieses Hahn-
chens gemastet, indent ich ihn oft mit Hlihner-
braten traktierte. Jede junge Freundschaft wird
von den Resten der alten, in Feindschaft ver-
wandelten ernahrt, Zumal, wenn sie bereits wieder
briichig zu werden droht. Also lebte Thomas —
ich war taktlos genug, jetzt intimer zu werden
und Kerouen beim Vornamen zu rufen — er
lebte wie ein Grandsigneuer, es ging ihm nichts
ab. Kein Kater der Welt diirfte so viele Maus-
fallen besessen haben wie er. Und gar an dem
Tage, wo er zum Kommerzialrat ernannt wurde,
ging es hoch her. Aher er wollte nicht mehr,
er war meiner und dieser Welt miide.
Denn sonst hatte er nicht tun konnen, was er
mir tat. Kerouen hatte es doch wahrlich nicht
notig und auch das Verbotene konnte ihn nicht
reizen, dazu stand er ethisch zu hoch: er war
uberfiittert. Ich hatte mich endlich doch ent-
schlossen, hatte gepackt und war weggefahren,
mir endlich belanglose Dinge anzusehen, den Zu-
sammenfluB zweier Strome, den Flug der Kie-
bitze iiber die Siimpfe hin — aber bevor ich
noch daran gehen konnte, kam die Nachricht:
„Kerouen schwer erkrankt!“
Was war ihm Wurst und Speck! Es ist nicht
denkbar, daB er nach derlei Dingen gegiert hatte.
Gut: er hatte dem Arbeiter Janku taglich aus dem
abgelegten Rock Fruhstiicks wurst und Mittags-
speck gestiebitzt. Aber doch nicht, um diese
unsaglich gem einen Sachen zu verzehren. Vul-
gar war sein Geschmack nie. Nicht einmal aus
Freude an Metier, an diesem mannlichsten
Metier, brach er ein, nein! er stahl, um
dafiir halbtot, tot gepriigelt zu werden. Er
hatte mir noch immer nicht den FuBtritt vergeben.
Der Freund hatte ihn verlassen, da verlieB er
den Freund. Er machte sich meine Abwesenheit
zunutze, um sich zu entfernen. Es sah wie ein
Zufall aus, der Arbeiter Janku spielte dabei die
lacherliche Rolle eines Werkzeugs. Kerouen hatte
bemerkt, wie Janku den Fusstritt beifallig be-
grinst hatte. Friiher hatte Janku sich nicht unter-
standen, iiber Kerouen auch nur despektierlich
zu denken. Aber er hatte zugesehen, als ich den
Kater miBhandelte — und Kerouen seinerseits
hatte ihn dabei gesehen, lief zu dem Arbeiter
und stahl ihm die Wurst. Zu anderen Zeiten
hatte Janku Schadenersatz verlangt und nicht
selbst den Richter gespielt. Nun aber besaB er
ein neues Erlebnis, faBte meinen langst zuriick-
genommenen FuBtritt als Auffordemng und Er-
laubnis auf, dem Kater den Rest zu geben. Den
komplizierten Windungen unserer Benehmens
nachzuirren, war er nicht geschaffen, er gehorchte
einem Weltgesetz. Wen der Herr tritt, erschlagt
der Knecht. Nein, Janku trug nicht schuld, und
dann war er schon dreiBig Jahre im Hause, ihn
konnte man nicht entlassen. Sicherlich hatte er
geglaubt, mir einen Diensi zu leisten. Warum
auch, sagte er, war der faule Czigan nicht nach
den Mausen der Welt gelaufen, statt ihm den
Speck zu stehlen?
Ein Steinwurf hatte dem armen Kerouen den
Kopf zerschmettert, den Leichnam auf ein Stoppel-
f eld geschleudert. Er lag unweit einer Mauer
— wie die Kater, die ich um seinetwillen von den
Dachern herabgeholt hatte. An seinem diinnen
„Es ist erreicht^-Schnurrbart klebten sparliche
Tropfen geronnenen Blutes. Das Rot seines
Blutes war ein anderes als das des Ziegels, von
dem er sich toten lieB. Die Pfoten hatte er ein fur
alle Male dezidiert von sich gestreckt, ein Rabc
aber bekannte sich zu ihm, flog vom Weingebirg
heran auf seinen Leichensdnvingen, stieg her-
nieder, krachzte ruhmredig und verkiindete die
Annexion. Kerouen sollte also noch jemandem
zugute kommen. Moge er, dachte ich, moge ihn
der Rabe zu sich nehmen, vielleicht kann er da-
mit wieder einen Propheten in der Wiiste speisen.
Aber fiir diesen Zweck stank mein Frevel wohi
schon allzusehr zum Himmel, der Rabe erhob
4U
DIE AKTION
412
sich bald wie rachekrachzend und iiberliefi mich
wieder meinem Opfer. Jn der Selbstmorderecke
des Bauemfriedhofes, wo die Wanderer und Zi-
geuner ruhen, wollte ich Czigan nicht beerdigen
tassen. Wo sein Grab liegt, darf nur ich wissen.
Er hinterlieB — wie gewohnlich — - nur wenig,
und hatte es vorher schon anstandshalber sorg-
faliig zugescharrt. Soweit ich die Menschheit
kenne, wird sie sich nicht darum kiimmem.
Der Nachbar hat mich auf Schadenersatz ver-
klagt. Ich habe Miaulina mit einem Flobertge-
wehr erschossen. Sie soil nicht triumphierend
des Lebens genieBen, wahrend Kerouen verwesen
muB, Der Sabine habe ich gekiindigt, nicht ohne
ihr vorher Rops gezeigi zu haben. Dies alles
war Rache fur Thomas Kerouen. Doch was
konnten die armen Katzen dafiir? Sie ahnten
nicht, was sie verbrachen. Sie konnten nicht
anders. Aber ich, ich! Wie kann ich mich
zuchtigen ?
Er hat es eilig gehabt, er hat sich auf und davon
gemacht, ohne sich auch nur Zeit zu nehmen,
seinen Schnurrbart zu putzen, vom Blute zu rei-
nigen. Aber ich will mich vom Blute reinigen,
ich will meine Tat siihnen, Eine Zeit lang hockte
wohl des Nachts auf meiner Decke ein schwarzes
Gespenst, verwaiste Mausfallen begannen zu
rasseln — Kerouen drohte mich zu ersticken,
mir die Kehle zu durchbeiBen. Ich fahre auf,
aber dann ist alles wieder verschwunden und der
Schlaf kehrt zuriick. Klein, auBer allem Ver-
haltnis zur Schuld ist die Strafe und groB sind
die Gewissensbisse, Wenn ich den Kater wenig-
stens eigenhandig umgebracht hatte! Doch er
hat mich umgebracht, ich habe mich unsterblich
blamiert. Und ich kann mich nicht rachen: ein
armseliges Tier iibertraf mich an Seelengrofle,
vollzog geschickt das Harakiri und mir lieB es
das Leben. Kerouen, Kerouen !
Ich habe mich dem Kommissariat gestellt. „An
meinen Handen klebt Blut/* sagte ich, ,,ich habe
meinen Kater erschlagen.** „Sie waren doch der
Herr/* behauptete der Polizist, sie durften
machen was sie wollten.** Dann fiel es ihn an,
ich sei nicht recht bei Trost, und er rief den
Beamten. Ich blieb bei meiner Anzeige. „Derart
feine Rechtsbegriffe machen ihnen alle Ehre, Herr
Herrensein, aber wohin kame an da/* „Das
ware auf dieser Erde nur logisch**, erlaubte ich
mir einzuwerfen. Da geriet der Beamte in Rage.
„Sie sind reif furs Jrrenhaus!'* Ich brauche also
die Nachpriifung nicht zu machen. (Hier ging
es ohne Toluol.)
Mir bleibt nichts ubrig, als vor Leuten zu warnen,
die ein Tagebuch fuhren. Wenn ihnen cin Freund
erschlagen wird, wissen sie, daB das Rot seines
Blutes ein anderes ist als das des Ziegelsteins,
der ihn entfernte. Ich war niedertrachtig genug,
diese Geschichte zu schreiben, die Leute werden
sie ausgezeichnet finden, man wird nicht den
Verkehr mit mir abbrechen, man wird weder mir
noch sich ins Gesicht spucken. Alle Menschen
sind so wie ich- Ich stelle die Menschheit.
BEMERKUNGEN t)BER ALBERT EHRENSTEIN
Ehrenstein, ewiger Schlemihl, Uumelt durch die Unendlichkeiten
des Alls und stfirzt fiber einen Pferdeapfel; bricht nicht das Ge
nick, wird nicht in seligere Welt der Erlbsung befbrdert, sondern
hlngt nun zwischen Htmmei und Erde, wehrlos, hoffnungsioi,
in einem Chaos, von dessen Firmament unendliche Qualen un-
barmherzig auf ihn herniederstrahlen.
Er ist angeschmiedet an den Felsen Lcid, und der Geier Schmerr
hackt mit tausend feinen Stichen breite Strbtne der Klage und
Verfiuchung aus seinem Herzen, Er schopft ins bodenlose Fa8
des Herzens Geffihle, die augenblicks ins unbegrenzte Nichts
zerrinnen. Er streckt sehnsflchtig die Arme nach den Fiiichten
der Lust aus, die fortschnellen, ehe noch er sie bertihrt. Er
wSlzt den Stein Sehnsucht ewig vor sich her, der immer entrollt
und wolltlslig die Ffifle des Wandernden zermalml.
Albert Ehrenstein, bitterer Neffe von Vischers A. E., ewiger
Schlemihl, der Graue rollte zusammen und enttrug dir die F&hig-
keit, dich zu freuen und Freude zu bereiten den andern. Unstet,
nicht da, nicht dort, schrcist du ungchbrt durch leeren Raum,
schweifsi, w&hrend we i fie Zeit auf dich herabschneit, lichtlos,
schattenlos umher, denn nicht gltlht in der Brust dir schonster
Giitterfunke und nicht ist dir gegeben, im Schatien deines Glficks
zu ruhen.
Schopenhauer stieg herab und segnete seinen liebsten Sohn. Dem
aber, in Wien aufwachsend, ward in zarter Seele der Segen ftlhlbar
in frfiher Jugend als Fluch, so dafl sein erstes Gedicht ist wie
sein letztes: Leid, Klage, Verfluchung, Hohn, Vemichtung. —
Leid des Daseins ist die einzige unendliche Melodie in Ehren-
steins Gedichten, Erzablungen, Phantasien, Schrcien, Balladen,
Hymnen. Dies ist die tausendfache Wurtcl des Leids: „AlIe
Gedanken und Taten trtiben die Keinheit der Welt“.
Weisheit des Orients bestrehh und verdUstert das zermfirbte Hen
des ostwestlichen Juden, der durch die Demfitigungen der Jahr-
hunderte, durch Erinnerung an biblische Triumphe, durch
zwingende und erzwungene Familien und Handelsgeftlhle, durch
das Martyri um der Idee bis in den Zusammenbruch der Gegen-
wart geschleift ist.
Bewegung und unseres Tuns Unvollkommenheit zerstbren GlUck
und Sinn des Daseins. Des Menschen unerstickbare Gefdhle
werden durch Widerwmrtigkeiten der Wirklicbkeit zerqualt und
verpestet. Das Geschlechtliche aber lockt zu wildestem Htndeln,
weckt die zUckendste Gier zur Vereinigung mit der Unvollkommen-
heit des Andem, stfirzt drum in elendeste Erniedrigung und Enl*
t&uschung , , . „unseliger Wollustrausch** wandelt -Diener des
Lichts in Anbetcr des Nichts 14 . . .
Einzige Rettung ist: die Geffihle niederzuschlagen, um nicht von
ihnen niedergeschlagen zu werden. Keiner noch predigte so
beseligt wie Ehrenstein die Verneinung des Geffihls; keiner
vollbrachte mit so selbstmorderischer Inbrunst die Befreiung von
den Gefllhlen durch Zerknirschung, Verhohnung, Ertdtung, nach-
dem er emtfiuscht die Unmfiglichkeit ihrer Erftillung erkannt hat.
Auch Gbtter, selbst tinvollkommen, kbnnen nicht Menschen er-
losen; hochste Entwandlung ist deshalb nicht Seligkeit einer
anderen Welt, die cbenso emtauschen kdnnte wie die der irdischen
Kealitit, sondern: im Wind verwehter Staub zu sein.
In Ehrensteins Werk trostet sich der Weltschmerz nicht am stiffen,
melancholischen Sentiment. Gegen Heine schreit er: Nit klang
mir das deutsche Wort ,ich liebe dich'l u ”
Auch keine heroische Ekstase enlrtlckt den Leidenden, wiewohl
ihm die heroische Landschaft, der heroische Mensch, das Helden-
lied aller Zeiten und Vblker sehr vertraut sind. Denn sofort
sttlrzt die Landschaft in ihrer Unvollkommenheit zusammen zu
einem Trllmmerhaufen, Uber den tier Wind des Hohns pfeift und
Satyr grimmige Flbiendisharmonien htnblfist. Der gottliche Held
■tolpert Uber seine Unzulanglichkeit und fiber die Tficke des Ob-
jekts, — den Kleinen ein Spott und Mitlcidender — und des-
halb ihresgleichen.
Welt und Mensch wird desillusioniert. Die Welt offenbart sich
als schlechteste aller moglichen Welten . . . dts Leben als
unsinnige Pleite.
Um die unentrinnbare Furchtbarkeit des Leids, die LIcherlich*
keit der Tat zu erweisen, entrollen sich kosmische Landschaften,
antike und orientalische Panorama der Mythologie und Heroen-
geschichte , . , Riesen, Zauberer, hfirsten, Prinzessinnen prunken;
wfiste Phantasien strotzen Uppig auf; ungeheuerliche Lagen,
Babeltiere, Urgewachse wuchern, buntgewirkte Teppiche wild
und strahlend uber die Horizonte ... Um so schauerlicher,
erregender, lacherlicher, demfitigender ist dann der Sturz ins
Kontrastgeftihl. Denn all dies wjtchst empor, um sofort wieder
ins Menschlich-Kleinliche zu schrumpfen, sich ins NiedertrScbtig-
413
DIE AKTION
414
Boshaftc zu verknllllen. Die pb&maslitche Mythologie der Historic
verkrflppelt sich augenblicks zu Satyrspiel und Groteske; die
heroische und orientalische Situation isi nur Paraphrase der AH-
tfcgUchkeit ; der Held verwinzigt sich turn erbarmlichen Spiefler ;
die grofle Wunderweh, in die ein Steinchen der Realitat falh,
zerplalst plolzlich, Uberschwemmt uns mit Kaskaden des Hohns
und ersauft uns itn Meer des l.eids.
Die Ekstase wird Ironie und die Ironie Methaphysik.
Denn wie das Grofle schrumpft, Unzulanglicbkeit der Welt und
des Geschebens urn so eindringlicher erkennen zu lassen, wachst
kleiner Schmerz fiber die gestorte Vollkoinmetiheit, schwillt
Demtltigung, Lacherlichkeit und Alpdruck des Alltags zum un
geheuren Mylhos des Leids empor, olTenbart sich in der Qual
der kleinsten Krcatur das Unsterbliche, wird der Schlemihl zum
tragi sc hen Heros. EinunendltchesWechselspiel also: die mythische
Welt und der Heldengesang verlacherlichen sich sum Nebbich-
bezirk alltflglicher Unzulanglicbkeit, — und das kleine bill ere
Leid irdischen Lebens gebiert, das Welt&ll full end, ungeheuerliche
Visionen seltsamer Erscheinungen und ewiger, allgemeiner Be*
deutungen.
Im gleichen Wechselspiel verschiebt Ehrenstein das Bcdeutungs-
gewicht des einzigen Worts. Begriffliche und bildlicb gewordene
Wttrter mussen pldtzlich wortlich verstanden werden, und prasseln
aerschmetternd und hohnend, ungewbhnt unserem Aug' und Ohr,
auf uns nieder. Grellvorstellbare Adjektiva und Verba gcsellen
sich tttckisch zum heroischen Substantiv und enthttllen plbixlich
miserable Unbedeutendheit, zerreifien ernllchternd die Illusion.
Und umgekehrt erhebl ein Epitheton aus den Heldcnliedern, eine
weitblickerfiffnende Neubildung die Bezeichnung des allt&glichen
Leids ins Allgemein-Bedeutsame, ins Ewige. Es konimt darauf
an, die Bedeutung des Bewufltseininhalts durch die zerslorende
und verherlichende Macht des Wortes umzustUrzen, die Kontrast-
wirkung der ursprtinglichen Vorstellung und Vision hervorzu-
locken, damit der Leser beunruhigt und aufgcrtUleh wird. Die
romantische Ironie lebt, ins Ungewdhnliche gesteigert, zu neuer,
schrecklicher Wirksamkeit auf.
Weil Ehrenstein zum fanatischen Verachter der aufgezwungencn
KealitSt wird (wer noch wagte zu sagen: „Real ist alles, nur
die Welt ist’s nicht 14 ), weil er ganz und gar Ausbruch dcs Welt
leids, Schrei in der Wtlsle, Klage und Anklage ist, weit er furcht-
barstes Uneil dem unvollkommenen Sein spricht, und weil sein
ganzea Werk durch Sehnsucht nach dem Vollkommenen empor
geschleudert ward — wird er den noch auch von denen begrtiflt,
weiche nicbt durch die Verneinung, sondern durch Steigerung
des Willens und Geftlhls die Welt zu tlberwinden hoffen.
Denn unerhort bisher in der deutschen Dichtung sind jenc furcht*
baren Verfluch ungen des Daseins, der beschmutzten Gefllhle, der
geschSndeten Sehnsucht, jene fakalische, genit&lischen Schimpf
reden gegen den Mifibrauch des Lebens der Menschcn und der
Gescblechter untereinandar, jene umsttirzenden Verhohnungeo
verwilderter und armseliger Brauche in Staat und Familie.
Das Erstlingsbuch „Tubuisch" zeigt, wie sich die zarte Seele,
Qua ten und Wirren des Kosmos im engsten Raum durchlebend,
verbilterte. — Und noch aus Hymnen der Verzweiflung und des
Hohns, aus Strophen der Zerknirscbung, aus dem Taumcl skurriler
Assoziationcn, aus zusammengeballter, verkrampfter, geist- und
vorstellungsreichstcr Prosa, aus tntlhsam und wild hervorgestofiencn
Versen hallen zarte Lieder, Elegien sliflester Musik, Sprdche klarster
Weisheit, in denen sich Bild und Melodic des Herzens offenbart,
bevor es die Unmbglichkeil reinen Seins erlitlen und erkannt
hattc . . . bis es reif ward, sich ins Urleid, Urlied der irdischen
Kreatur zu relten. Kxirt Pinthus
Eine wichtige Schrift
Lieber Leser, Du weiflt es, dafl Universilatsprofessoren und
Geistlicbe als Dekorateure des Krieges am We rk sind. Philo-
sophen und Theologen, sonst unfreundlich gegeneinander, sind
Zeltgenossen geworden und drehen Beruhigungs- und HoffnuDgs-
pillen. Etwelche preUen den Krieg als Stufe zum Aufstieg;
andere psalmodieren von gbltlicher JSchickung und Fiigung und
weisen dem gequiilten Volk Troslwege zu einem bcsscren Jen-
aeits. Da abcr holt ein Mann aus dem Woislicitschacht des
Ostens, insonders aus dem Buddhismus, dns Melall, aus dem er
den Panzer gegen das Leiden und die Waflb zu seiner Uber*
windung schiniedet. Georg Grimm, der Verfasscr des Ruches
-Die Lebre dcs Buddha — die Religion der Yernunft" ist cs
und nennt seine neuc Schrift ..Das Leiden und seine Uber*
windung im Lichte der altindiscben Weisheit." (Einhorn-Verlag
in Dachau 1917). Ein Umschlag — gelb, wie die Farbe der
Gewandung buddhtStischer Mdnche — birgl ein schmachtiges
Bbchlein von 42 Seiten ; in dem engen Kahmen aber steckt
eine FUlle iiberwSLigender Gcdanken, die meisterlich herausge-
arbeitet und dargelegt sind.
Grimm packt das Problem rait der Zange .Schopenhauers, der
vom Leiden als von gehemmtem Wollen spricht. Da an such)
er der Frage, weshalb unser Wille siets von neuetn durchkreuzi
werde, die Antwon und findct sie in der Verganglichkcit aller
Objekte des Wollens. Niemals vermoge jemand dem Leiden cu
enirintien, dessen Umfang proportional der GroGe und Stfirke
des Willens und Begehrens sei. Mil dem Wissen von der Ent*
stebung hange das Miuel zur Aufhebung zusammen ; sei Leideo
durchkreuzles Oder ge he mm tea Wollen, so liege die Befreiung
in der Vermeidung dcs Wollens. Grimm zeigt, dafl dessen
Artung dem Wesen des Individuutn entspreche, und schlieflt
vom ersteren auf das letztere. Da die VergSnglichkeit der Ob-
jekte des Wollens es iramer wieder zusammenbrechen IteOen,
widerspreche seiner Natur alles VergSngliche, Dieses sei gegen
unser Wesen, das vielmehr die Unverg&nglichkeit besitze. Zu
unserem wirklichen SeEbst kfinne mithin nichts von dem ge*
bfiren, was an uns erkennbar sei, d. b. nicht der K6rper, die
Empfindungen, Wahrnehmungen, Gemlltstiiiigkeiten, die satmUch
fortgesetzt neu entstUnden und vergingen. Unser Verlangen nach
diesem Kbrper, nach den Empfindungen usw. bedinge das Hfingeti
und Haften an ihm, wfihrend wir uns in W r irklicbkeii jenseiu
der verganglichen Erscheinungen als das Unverg&ngliche be-
ffinden. Grimm weist auf die Folgerungen hin, die sich daraus
fur die Stellungnahme gegen Uber dem sog. seelischen und kor
perlichen Leiden ergeben, und ftthrt dann aus, dafl, wenn der
Kbrper mit dem Wesen nichts zu schaffen ha be, die Erzeugung
nicht unseren wirklichen, sondern lediglich den Anfang un seres
Korpers bedeute, So klopfen wir an das Tor der uralten Lehre
von der Wiedorgeburt ; es tut sich auf und erschlieflt die Er-
kenninis, dafl die Palingeneaie mit dem immer wiederkehrenden
Begehren eines Korpers, durch den man zum Genufl der Erschei*
nungen der Welt kommen wolle, zusammenhfinge. Das Ver-
langen nach ihnen seize voraus, dafl man sie schon einmal
empfunden und wahrgenommen, also bereits vor dem gegen-
wSrtigen korperlichen Organismus einen anderen besessen haben
mffsse, mittels dessen man in der Welt ge wesen sei. So fUge
sich Glied an Glied in der Kette von der anfanglosen Ver
gangenheit bis zur endlosen Zukunft. Sobald indessen der
Wille zu einem Korper, also das im Tode geschehende Er
greifen eines neuen Keimes aufhdre, kbnne kein ueuer korper-
licher Organismus entstehen. Das Heraustreten aus der Leideni-
welt sei voltendei; man habe sich auf das unvergingliche Teil
von sich zurflckgezogen und das Nirwana erieicht. Den Weg
zu ihm bahne die stetig zu vertiefende Erkenntnis, dafl alles,
weil verganglieh, Leiden bringe und uns nicht angemessen sei.
So in nuce der Inhalt der Grimmschen Schrift, die zu studieren
wertvoller ist, als die Lektflre von Berichten Uber Ministerkrisen
und Wahlrechisreformen. Der Verfasser geleitet zur Hobe der
Buddha- Lehre und erweiat, wie verfehlt es ist, den Buddhismus
der Passivitilt zu zeiben, Wer zu dem grofiten Inder ateht,
kampft und ringt in und mit sich, um der Fulle des Leidens
Herr zu werden. Er wird, wie mich dUnkt, sich auch um eine
solcbe Gcstaltung der Daseinsrerhflltnisse der anderen mtlhen,
daG sie die Bahn zur Erkenntnis der Wabnbegriffe zu betreten
vermogen, um zu einer Losldsung vom Haften an den leid*
bringenden Erscheinungen der Welt zu gelangen.
Was das im Hinblick auf alle die Trugbegriffe und Lflgenge*
bilde bedeutet, die die Gevatterinnen eines Krieges sind, ergibt
sich von selbstT Victor Fraenkt
ICH SCHNE1DE DIE ZEIT AUS
LIU
Wir baben — um eine kleine Auswahl aufzuzflhlcn -- - nicht
den leiseslen Druck auf unsere VcrbUndeien Iiatien und
RumSnien ausgellbi. Wir haben uns bei den Belgiern ent-
schuldigt, dafl wir von unserem vert rag sm 5 Big fest
gelegten D urch in a rs ch srech t Gebrauch inachten.
Wir haben dem betgischen Kdnig mehrfach den Frieden unter
allergUnstigsten Bedingungen „ohne Annexionen und mit Ent
schSdigungen" angeboten. Wir haben mit dem nmerikanischen
Prasidcmen wie mit einem Freunde verhandell Wir haben . . .
Aus dem Leitartikel Varlamentarische Staatskunst"
des Herm Georg Bernhard, „ I 'oss. Ztg u 18, Juni
1917
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DIE AKTION
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KLEINER BRIEFKASTEN
Freunde, tnanchmal ist es doch wichtig, Zeilungen zu lasen.
Ktlrxlich, den 14. Juli 1917, ersah ich aus dcm .Berliner
Lokal*Anzciger u :
„Kein Deutscher, der auch nur eine Spur voo
nationalem Eropfinden hat, wird die Wochc, die
hinter uns liegt, nicht alt eine der furchlbarsten
seines Lebens betrachten. -
Lnd der in Berlin wirkende „ Deutsche Kurier 1 *, gegen den
die .Deutsche Tageszeitung** Himbecrlimonade ist, versicherte
mir am gleichen Tage :
.Wir ha ben eine furchibar ernste Woche durch-
lebt. Neben dem Verlangen nach einer inneren
L'mwltzung grbflten Stils und von unberechenbaren
Folgen erhob das Gespenst einei faulen Ver
siandigungsfriedens (im Original gespern)
drohender ats je sein Haupt. Die Mehrheii des
Reichttagt liefl sich von ibm emschtichtem."
Die Mehrheit des Reichstaget? tie, die drei Jab re lang? Var-
wirrt las ich nun den Leitartikel dieses deuttchen Kuriert:
.Was aber wilt die angebliche Mehrheit der an*
geblichen Volksvertrelung? Ihr sogenanntet
.Frierfensprograrom* verrStes mil einer zynischen Un-
verfrorenheit, die sofort einen Sturm der Ent~
Histung entfacht und damit die jetzt abgetchlossene
Krise auSerordentlich abgektlrzt haben wttrde,
falls ihr Wortlaut tchon gleich ru Anfang be*
kannt ge worden wire; ihr national wttrdeloser,
erb&rmlicher Wortlaut, der zur Hauptsacba
besagt :
,Der Reichstag erstrebt einen Frieden der Ver*
stEndigung und der dauernden Versohnung der
Vblker. Mit einem solchen Frieden sind er
zwungene Gebietserwcrbungen und politische,
wirtschaftliche oder finanzielle Verge wahigungen
unvereinbar.
Der Reichstag weist auch alle Plfine ab, die auf
eine wirtschaftliche Absperrung und Verfe indung
der Vfilker nach dem Kriege ausgehen. Die
Freiheit der Meere mufl sichergestellt werden. Nur
der Wirtschaftsfriedc wird einem freundschaftlichen
Zusammenleben der Volker den Boden be*
re i ten.
Der Reichstag wird die Schaftung internationaler
Rechtsorganisattonen tatkraftig fordern/
Es wire ein Hohn auf alle politische Vernunft,
es wire ein Schlag ins Gesicht des wahrhaften
gesunden Volksempfindens, wenn Ausgabe und
Annahme einer solchen Reichstagsenlschliefiung
den jlmmerlichen Versuch machte — — w
.Aogebliche Mehrheit der angebtichen Volksvertretung** —
das ist zwar Zeitungsjargon, aber die Herren Heine,
Ebert, David, Stresemann, Stidekum, Scheidemann und Kollegen
sind tatsachlich keine .Voiksvertreter" mehr, sondern M. d. K i
von eigencr Gnade \ das „Volk w hatte diese Herrschaften
nur fttr ftlnf Jahre mit der Vertretung betraut gehabt, Dafi der
deutscbe Kurier das .Friedensprograrara* so he fug bekimpft,
ist mir weniger verstindlich. .Erzwungene Gebiets-
erweiterungen M : mit dieter Formel wird ein politischer
Kopf doch etwas anfangen kbnnen t (von den anderen Schon*
heiten des Meisterwerks zu schweigen). Ich bitte die aufge-
regten Herren von der Rechten, sich freundlicfast die von der
Mehrheit (inch Scheidemannfraktion) energisch abgelehnte
Resolution der „Unabh&ngigen u anzusehen (abgedruckt im „Vor
warts* vom 20. Juli 1917). Sie werden dann den Wert der
angenommencn Kundgebung ermessen konnen und sich be-
ruhigen . . .
Die unndtige Erregung wirkte schon gar zu stilblUtentreibend.
Der n Lokal&nzeiger u z, B., der eben die furchibarste Woche
seines Lebens hinter sich hat, erinnerie an Michaelis' Auftreten
im Preuflen pari ament und schrieb (15. 7. 1917):
„Mit jener Rede vom 7. Mkrz, aus der jedcr,
der tie hone, die Klaue des Lbwen sptlrte,
die von gluhender Valer tandsl i ebe ge*
tragen war, und aus der ein eiierner
Wille iprach, hat sich Dr. Michaelis das Vertrauen
aller Parteien erworben "
Uli. In jener Rede, die er den 19. juli im Reichstag gehahen
hat (und in der er auch den Namen Liebknecht verwenden
zu mtlssen glaubte), hat Herr Scheidemann (nach dem ofhziellen
Ste nogram m und den Presscberichten) von dem .unerschrockenen
Verfahren" des .Vorwlrts** gesprochen. Zu recht! Denn es
ist ein .unerschrockenes Verfahren*, den Lesern Uglich irgendein
.bcdeutsames geschichtlicbes* Ereignis zu servieren. Das reiBt
bei dem Stampferblait seit Dezember 1916 nicht ab. Der
.Vorwirts" ist direkt ein Museum gcworden ftlr sllerhand
„Bedeutsames“, „Geschichtliches u , .Fundamentals** , n Bedeu-
tuQgsvolles**, .Ungeheures** usw,
Ich habe jetzt nicht den Raum frei, dies vollstlndig zu ceigen.
Hier nur Proben aus dem Monat juli.
Herr Paul Rohrbach (ftlr dessen Blatt die Zeitsch rift der .Deulschen
Friedensgesellschaft u gegenlnseratengebtlhren Propaganda macht). .
Herr Paul Rohrbach und einige andere Konservative, durch
das glatte Funktionieren des Reichstags sicher geworden,
empfehlen in einem Schreiben das Reichstags wahlrecht ftlr
Preutien. Dazu der .VorwXrts** (Leitartikel 3. 7. 1917);
.Es sind M Inner von anerkannt konservativer
Grundauffassung, die diesen geschichtlich
bedeutsamen — — **
Am 1 1. juli raunt eis Leitartikel des Stampfer:
n Die sozialdemokratische Parte i Deutschlands kann
vielleicht in absehbarer Zeit vor das Problem des
Ministerialismus gestellt sein. . . . Man kann sagen:
Der Eintriu von Sozialisten in die deutsche
Regierung wtlrde an sich (von Stampfer unter-
strichen !) schon einen so ungeheuren Urn*
schwung bedeuten, da 8 sich alles andere
daraus von selbst erglbe**.
Tags drauf ruft es fiber die ganze erste Seite : .Gleiches Wahl*
recht in Preu8en u ; es wird der Erla8 an Bethmann*Hollweg
abgedruckt.
Erst am niichsten Tag, den 13. Juli, hat der „VorwXrts“ die
Faasung wiedergefunden und leitartikelt:
.Die Einfllhrung des gleichen Wablrechts in
Preutten bedeutet eine fundamentale Urn-
w<ung (im Original gesperrt!) nicht nur fUr
Preutien selbst, sondern ftlr das ganze Reich. .
Den 14. Juli erlebt der Leser eine .Reichswende**; well
ein Kanzler durch einen anderen ersetzt werden soil.
Den 18. Juli. .Ein geschichtliches Dokument* 4 lock: die (Jber-
schrift und im Text heiflt es noch klarer:
.Unter den gestern abends ausgegebenen Druck-
sachen des Reichstags bcfindet sich als be*
scheidene Nummer 933 ein bedeutsames ge*
schichtliches Dokument: . . .**
Gemeint war jene von Fischbeck, Ebert, Mttller-Fulda, David,
Mayer Kaufbeuren. Sudekum, Scheidemann und anderen umer-
zeichnete .EntschUeGung*, gegen die der tt Kurier* ohne Grund
wetterte, Tja: so .unerschrocken* 4 lebt der .VorwXrls alle
Tage.
an die BCTTEN ABONNENTENI
Diesem Sonderheft ist beigegeben eine O rigi nal ra d i er ung
von Christian Schad, vom Kdnsller signiert und numeriert.
INHALT DER VORIGEN NUMMER: Raoul Hausmann: StraBe (Titelblatt) / Theodor Lessing: Europa und Asien / Aus
Bakunins Briefen / Waldemar Ohly: Holzschnitt / Josef Eberz: Federzeichnung / Charles Peguv: Renan / Rudolf Mense:
Der FluB (Federzeichnung) / Mopp: Voltaire (Federzeichnung) / Franz Werfel: Gebet / Albert Enrenstein: Verschmachten /
Carl Einstein: Kranke / Wilhelm Klemm: Tiefer Abend / Alfred Wolfenstein: Des Freundes Haupt / Kurd Adler: VerheiBung /
A. B. N Sissenich : Ocdicht / Hans Richter: Musik (Tuschzeichnung) / W. Schuler: Holzschnitt / Karl Otten: Un/.ulangliche
Opfer. Eine Famiiienblatt-Novelle j Erich Oehre: Holzschnitt / Franz Jung: Finanznovellen / F. P,: Ich schneide die Zeit
aus; Kleiner Briefkasten
FOr Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten
Inhalt verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin-Wil-
mersdorf, Nassauische StraBe 17. Tel. Pfalzbg.1695.
Oedruckt bei F, E. Haag, Melle in Hannover.
Die AKTION erscheint jeden Sonnabend. Abonne-
ments kosten vierteijahrlich durch die Post, durch
Buchhandel oder Verlag (unter Kreuzb.) M. 2,50.
Abonnements fur das A us land kosten M. 3, — .
Buttenausg., lOOnumerierte Exempl., jahrl. M. 40, — ,
Verlag der AKTION, Berlin-Wiltn ersdorf.
Unverlangten Manuskripten
ist Ruckporto beizufugen.
Alle Rechte vorbehalten.
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WOCHENSCHRIFT FUR POUTIK, LITERATUR, KUN8T
TIi. JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT NR fi
INHALT: Otto Freundlich : Holzschnitt <Tiie1bIatt) / Heinrich Stadelmann-Ringen : Vorspiel; Rede des KuHurministers bei
Eroffnung der neuen Universidit / Raoul Hausmann: Notiz und Federzeichnung / Aus Bakunins Briefwechsel mit Alexander
Herzen / Rudolf Mense: Tuschzeichnung / Vlastislav Hof man (Prag): Dostojewskij (Holzschnitt) / Karel Hiavacek: Aus der
Kantilene der RacHe / A, Krapp: Der Dichter Ludvig Baumer (Holzschnitt) / Ludwig Baumer, Oscar Schiirer, Wilhelm
Klemm, Franz Lindstaedt und Rudolf Mense: Verse vom Schlachtfelde / Claire Studer (Lausanne): Gefailener Sohn / Franz
Blei: Die HSnde Gottes / Alfred Wolfensteii : Die Stirn f Josef Eberz: Aktstudie / Iwan Goll: Das Fenster / Felix Muller:
Portrat r Jurgen von der Wense: Sternblaue Wimper / Anna Maria Martin (Zurich): Die Mode und der Burger / Christian
Schad (Genfi: Cabaret! (Holzschnitt) / Xaver: Caligula hat regiert / Otto Beyer: Original-Holzschnitt / F. P : Ich schneide
die Zeit aus; Kleiner Briefkaslen / Kunstbeilage fur die Buttenabonnenten : Max Oppenheimer: Original-Holzschnitt
VERLAG * DIE AKTION ' BERLIN -WILMERSDORF
HEFT 50 PFG
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AKTIONS-BUCHER DER AETERNISTEN
Band I :
FERDINAND H A R D E K O P F
POLITISCHE AKTIONS-BIBLIOTHEK
Band 2:
CARL EINSTEI
Anmerkungen
Band 3 :
FRANZ J U N
O p f c r.u n g
Band 4:
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Saul
Band 5 :
CARL EINSTEI
B e b u q u i n
Band 1, 2 und 4 kosten gebunden je M. 2,
Band 3 und 5 kosten gebunden je M. 3,
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Erstes Werk :
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Deutsch von Otto Buck
Zwei Bande. (446 und 338 Seiten ) Mit
drei Port rats
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Band 1 :
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Band 2 :
JUNGSTE TSCHECHISCHE LYRIK
Eine Anthologie
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GOT T F R 1 E D BRNN; FLFJSCH
Gesammelte Lyrik
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DER HAH N. Eine Anthologie
Jeder Band gebunden M. 3, —
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Verse und Bilder
Luxusausgabe M, 15,
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„Neue Secession 11 f Kichur Berlin f Schmidt-RottlufT /
K. J. Ilirsch / Hans Rtchler / Wilhelm Morgner / Egon
Schiele / Georg Tappert / Else von zur Mtihlen j Ines
Wetzel / Felix M tiller / Josef Capek
DICI 1 TER
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SONDERHEFTF,
AKTION
Franz Rlci / Gottfried Kolwel / Alfred Lichtenstein /
I’aris vun Giitersloh / Heinrich Schaefer / Paul Adler (
Franz Werfel / Ludwig Kuhiner / Alfred Woifenstein /
Albert Ehrenstcin
SONDERHKFTE „DIE VOLKER"
.Kutiland** (mit Geleitworten von Maximilian Harden) /
„ England* / p1 Frnnkreich u / „I 5 clgien u / „Italien“ / Boh’
men 41 / ^Deutschland*
Jcdes Sondcrheft kostet 50 Pf.
BUTTEN - AUSGABE DER AKTION
100 numerierte Exemplarc
Jahresabonnement : M. 40
Jedem Btttten&bonnement werden jahrlich mindestens
acht Kunst blotter beigegeben, von den Kfinstlern nume-
rtert und signiert. Diese Beilagcn kommen nicht in den
Handel und stellen einen Wert dar, der den Abonne-
raenisbetrag tibersteigt! Dem Jahrgang 1917 werden
bcigegeben : Blatter von Felix Muller / Max Oppcnheimer /
Ines Wetzel / Karl Jakob Hirsch j Richter-Berlin / Josef
Capek / Christian Schad u a.
KUNSTLER-POSTKARTEN DER AKTION
Es sind verschiedene Drucke erschienen
Zcichnungen von Mopp / Kars / Schmidt-RottlufT / Muller
I Klein / Richter-Berlin / Nadelman / Feininger / Hart a /
Schiele f Mense / Melzcr / Tappen / Else von zur
Mtlhlcn / Hans Richter / Josef Capek / Morgner u, a,
IOO Stiick M. 3, —
portofrei gegen Voreinsendung des Bctrages
WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR, KUN8T
7 . jahrgang HERAUSQEQEBEN VON FRANZ PFEMFERT « august mi
VORSPIEL
Es lodert,
Es brennt.
Es dampft,
Es spritzen die Funken.
Die Gluten walzen sich
Durch den Bau.
Die Hitze wuhlt
In den Speichern der Kraft.
Die Klammem des Gefuges haben sich schon
gelockert . . .
Mensch!
Deine Zeit ist gekommen . . .
Heinrich Stadel m ann-Bingen
REDE DES KULTURMINISTERS BEI EROFF-
NUNG DER NEUEN UNIVERSITAT
Das neue Haus ist aufgetan.
Zutritt hat jeder, der frei ist, die Fulle des Leben-
digen, ergriffen mit lebenssuchtigen Armen, in
sich autzunehmen. Damit er fortwahrend neue
Lebenswerte schaffe.
Willkommen alle, denen Leidenschaftlichkeit das
Leben schurt; willkommen alle, die niichterner
Betrachtung nahe sind !
Hort!
Ihr sollt vom Menschen wissen! Vom Menschen,
der auf der Erde wohnt; vom Menschen, dessen
Geist durch alle Weltenraume dringt!
Der Mensch! Das ist der Anfang und ist das
Ziel der Lust, die hier, in diesem Haus, zur Ar-
beit drangt.
Im All schafft die Bewegung; aufbauend und zer-
legend.
Aufbauen und Zerlegen sind hier die Arbeits-
hande.
Zerlegt den Menschen! Baut ihn wieder auf!
Ist Mensch das endliche Erzeugnis des kosmischen
Geschehens, dann mtiflt Ihr in ihm alles finden,
was im Anfang war; was nach dem Anfang kam;
und was aufs Letzte weist. Macht aus den feinst
zerlegten Menschenteilen Licht, Luft, Tier, Stern!
Zerlegt Stern, Tier, Luft, Licht und macht daraus
den Menschen!
Ein groBes Gleichnis des zugteich Werdens und
Vergehens sei Euch der Mensch fur das noch
groBere Gleichnis dieses Form zeugenden Wech-
selspiels, das AH!
WiBt Ihr, wie vielfach in der Form das Gleichnis
des Werdens und Vergehens wiederkehrt? Dies
zu ergriinden, ist dieses Haus erbaut.
Ein Einziges, ein Ganzes ist der Kosmos; darin
ein Einziges, ein Ganzes, gleichwie der Kosmos,
ist der Mensch. Das Werden und Vergehen ist
da und dort in gleicher Weise vielfach tausend-
mat zu finden; und alles steht, da und dort, mit
allem fortwahrend in Beziehung. Im Organis-
mus Mensch erlebt sich das Wesen des ganzen
Kosmos wieder.
Bleibt nicht an Einzelheiten hangen; sie sind nur
sinnvoll, wenn sie dem Ganzen zugehoren.
Ein Vorkommnis als etwas Einzelnes im Menschen,
wie im Kosmos, muB betrachtet werden, wie das
Ganze; von alien Seiten aus. Das Ganze hat viel-
fach Flachen, sich von Euch bespiegeln und be-
sehen zu lasscn. Die Flachen alle erganzen sich
zu einem einzigen Etwas. Ihr werdet liberal!
was anderes ersehen; wie Ihr gerade Standpunkt
gewinnt. Der Standort der Physiologie zeigt eine
andere Flache, als es der Standort der Physik
und andere Standorte tun. Stellt Euch auf
alle Standorte! Ihr werdet endlich liberal! das
Andere im Grunde als das Nanriiche erkennen.
Ihr werdet wissen, daB, was von verschiedenen
Standorten aus verschiedene spezielle Namen hat,
vom universalen Standort aus nur einen einzigen
Namen gewinnen kann. So werden alle nutz-
losen Reden vermieden.
Speziell diirft Ihr nicht sein, nicht werden! Uni-
versal sei Euer Ziel! Sind Geologie und Lehre
vom Gedachtnis in Wahrheit Verschiedenheiten?
Greift Padagogik nicht tief in Chemie hinein?
Kann Psychologie ohne Anatomie bestehen? Juris-
prudenz ohne Entwicklungslehre? Bringt nicht der
Handelswissenschaft groBen Gewinn die Psycho-
logie? Konnt Ihr Botanik ohne Mineralogie be-
greifen? Es gibt nicht Einzelheiten; es gibt ein
Einziges nur.
Immer ist es der Mensch, dem Ihr beim Lehren
und beim Lernen immerfort begegnet. Er ist
dieses Einzige, wovon ich spreche. Die Einzel-
heiten nehmt zur Priifung auf die Notwendig-
keit des Zusammenschlu&ses zum Einzigen!
ich rufe die Erzieher auf: Erzieher! Ihr seid
Historiker der Praxis in der Gegenwart. Euch
ist es in die Hand gegeben, seelische Vererbung
auszustreuen. Die Saat, die von Euch geht, tragt
Frucht, wird Saat, tragt wieder Frucht, wird
wieder Saat; wird Frucht und Saat in Einzelnen,
die alle wieder den Neukommlingen von Eurer
Aussaat geben. Drum haltet hoch die Autoritat
des Rechtes des kosmischen Geschehens!
DIE AKTION
420
Befragt Chemie! Sie sagt Euch beispielsweise,
warum der Mensch im Augenblick mit seinem
Geist nicht fassen kann, was I hr ihm gebt. Hort
auf Physik, auf Klimatologie! Die wissen, Euch
vom Grunde mcnschlichen Befindens zu berichten.
Physiologie gibt Euch eine Fulle von Deutlich-
keiten in dem Bild, das Ihr bearbeitet. Beseht
den feinen Bau, worein Ihr Eure Aussaat sat;
Anatomie weifi viel davon zu sagen. Damit Ihr
wisset, was ihr tut.
Erzieher mussen die geistig Reichsten sein. Da-
mit die Armut unter den Menschen ein Ende
nehme. In Erziehern flute fortwahrend Werden
und Vergehen. Darum mussen sie Kinder, Jting-
linge, Manner sein; zuglcich. So schaffen sie
den Menschen Weitherzigkeit und geistig groBe
Zuge.
Ihr Arzte! Totet, was dem Leben sich widersetzt!
Erwurgt den Schwachgeist; reiBt seine Palaste
ein, wo brauchbare Menschen siechen, wenn sie
im Ringen um ein tagliches Stuck Brot die eigene
Kraft an idiotischen Gehirnen zerreiben! Arzte!
Befreit den Menschen! Das sei Euer Ruf in Euch!
Lehrer des Rechts im Menschen! Fragt, was ist
Unrecht; dann erfahrt Ihr, was Recht sei. Seht
in Euch selbst! Dort findet Ihr, was Verbrechen
ist. Ihr, die Ihr vom Menschen Verantwortungs-
gefiihl verlangt, lernt verstehen ! Verbrechen ist
hemmungsloseste Lebensleistung. Was unter-
scheidet Euch, wenn ein Verbrecher vor Euch
steht, von ihm? Die Nuchtcrnhcit. VergeBt nie:
Taten springen aus dcr Leidcnschaft; Nuchtem-
heit liifit u ber Taten reflektieren. WoIIt Ihr, daB
ein Verbrecher Achtung hat vor Eurcr Niichtern-
heit, der er in Augenblicken ermangelte; so habt
auch Achtung vor der Leidcnschaft, die einen
Menschen rcizte zur Tat. So predigt Ihr durch
Euern Spruch Gerechtigkeit; Gerechtigkeit, spricht
das Geschehcn beim Werden und Vergehen, heiBt
in der Sprache des Lebens Ausgleich; Ausgleich,
der zum Einssein fiihrt.
Die Ihr von den Volkern und Nationen, den ge-
w'esenen und den scienden, von den Gemein-
schaften der Menschen und von Massen zu be-
richten habt, Euch ist es zugeteilt, das groBe
Problem zum Ausgangspunkt zu nehmen, das
von alien Menschen als einem einzigen Menschen,
dem Menschen handelt. Die abertausendfaltigen
wahrnehmbaren Vcrschiedenheiten, die Menschen
gestern, heut und morgen zeigen, sind Ausdruck
menschlicher Moglichkciten. Ein einziger Mensch;
er kann als Korper nicht in alien Zeiten und in
alien Raumen sein. Das Menschenwesen hat
sich verteilt und hat abertausendfiiltig Formen
angenommen. MuB da, muB dort, muB heut,
rnuB morgen andern AnstoBcn begegnen, die das
Mensclientuni in immer wieder andere Formen
zw'ingen. Zerlegt den Menschencharakter mit
Hilfe der Umgebung, die um den Menschen war
und ist; denn des Menschen Geist und Korper
bauen sich mit Hilfe der Umwelt auf und sind
mit ihr ein Einziges. Daraus folgert: Viele Men-
schen mit gteichcn Korper- und Geisteserleb-
nissen, ein Volk, ha ben, wie der einzelne
Mensch, Recht auf Selbststeuerung fur die Lebens-
fiihrung. Es ergibt sich leicht: Volk verdirbt,
wenn andere als ihm kosmisch eingewurzelte Ge-
setze aufgezwungen werden. Doch, vergefit nicht
zu sagen, daB diese Komplexe von Menschen
nur einen Teil menschlicher Moglichkeiten zum
Ausdruck bringen. Alle menschlichen Komplexe
zusammen ergeben erst den Menschen. Darum:
Die Faden, die vom einen zum andern laufen,
hebt heraus; gebt sie zur Kenntnis und Erkennt-
nis! Damit unter alien Menschen Beziehungen
erwachsen, die dem Ausbau des Menschen for-
derlich sind. Und sprecht: Alle Menschen sind
e i n Mensch.
Philosophen! Eure erste Arbeit: Zerschlagt die
Schubfacher!
Dieses Haus ist Universitat! Euer Standort ist
mitten im Geschehen des Lebens, im Werden
und Vergehen. Dort ist Anfang und Ende der
Welt, wovon Ihr sprechen sollt. Dort ist die
Kraft, die sich zur Form geballt hat, die Ihr
selber seid. Steigt tief in Euch hinab; die Niich-
ternheit begleite Euch, dazu die Leidenschaft-
lichkcit! Darnach erhebt Euch aus Euch selbst
und werdet weit; so weit wie das AH, das Ihr
zu durchwandern habt. Klar glanzen Eure Augen
und hell spricht Eure Freude, wenn Ihr erkannt:
„Ich bin wie Du". Sprecht es zum All! Sprecht
es zum Menschen! Seid Theologen, wenn Ihr
Euch selber sucht, als Absucher der Griinde alles
Werdens! Bittet den Mathematiker, daB er durch
Zahl und Linicngefiige Euern Fund verdeutliche!
Ihr Philosophen seid die Vorarbeiter fur die
Kunst.
Sehet! Kunst ist ein Mensch! Lebt. Hat Werden
und Vergehen zugleich. Hat Vererbung; hat
Geschichte. Als Einzelvorkommnis im Menschen;
als flutendes Ereignis im Mensch he itsgeist. Kunst,
Mensch im Menschen!
Kiinstler! Kommt in dieses Haus nur, wenn Ihr
strauchelt. Wenn Euer unbewuBtes Wissen von
allem, was hier gelehrt wird, sich verdunkeln
will. Schafft abertausendfaltig aus Euch heraus,
was die Weit um Euch noch nicht schaffen
konnte. Ihr habt den Ruf in Euch, die aber-
tausendfaltigen Formen im Kosmos zu vertausend-
fachen. Durch Eure eigene Kraft, die Kraft vom
Kosmos ist.
Ihr Arbeiter in Wissenschaft und Kunst! Das
Drama vom Lebendigsein der Welt, das in der
Menschenseele sein starkes Echo fand, lost sich
in Ruhe des Erkennens und Bekennens auf, wenn
Ihr Zerrissenheiten dieser Welt, die zu Euern
eigenen Zerrissenheiten wurden, in Niichtemheit
und Leidenschaftlichkeit, nach ihren eigenen Not-
wendigkeiten, eint.
Euch Allen, die Ihr hier seid, ruft mein Verant-
wortungsgefuhl zu: „Seid Ichmenschen!" „lch!“
ruft aus! „lch! Ich bin. Ich bin ein Mensch;
ich will vom Menschen reden; will von mir
reden!'* Seid ehrlich und ruft wieder: „Ich kann
nicht anders als von mir zu reden !" So werdet
Ihr von der Wahrheit reden.
Seid rucksichtslos ! Das heiBt: Seid wahr! So
421
DIE AKTION
422
nur konnt Ihr alle Riicksicht verkiinden. Es
wird das Ich, von dem Ihr redet, Kristall gleich,
vor alien Menschen sich verkorpert zeigen. Es
wird das Werk aus Euch — das seid Ihr selbst
— als Wahrzeichen echter Menschlichkeit, samt-
licher Menschen Besitztum sein; wird ein Er-
kenntnisstiick fur jeden einzelnen der vielen
Menschen.
Leben sei all Eure Lehre, sei ein Werden und
Vergehen zu gleicher Zeit; sei Zerlegen, sei
Bauen! Lehre sei Euch alles Leben irn Kosmos;
Lehre von der groBen Einheit durch jegliche
Bewegung. Hort das Spiel des Cello; seht des
Meeres Flut und Ebbe! WiBt, ein gleiches ist
es, was Euch da und dort das Herz erfreut.
Ungleich ist nur die Materie, worin Bewegung
lauft. Spiirt tief ins Herz des Kosmos; dort
findet Ihr das Eure; findet eines jeden Menschen
Herz. Alles atmet gleiches Leben. Nur der
Intervalle Dauer, Schlagkratt und Wurfweite der
Bewegung sind sich nicht immer gleich. Sind
ungleich, damit sie alle ein einzig groBes Gleiches
erzeugen; ein einzig groBes Zusammenklingendcs;
ein einziges Geschehen. So groB wie Kosmos;
so groB wie Mensch.
Alle! Lehrt das Recht vom Werden und Ver-
gehen; das Recht des Lebens. Baut darauf die
Lehre von deni Recht des Menschen. Auf daB
Empfanglichkeit und Mitteilsamkeit zum groBen
Menschengut, allgemein, werde.
Unser Herr ist das Leben, das Werden und Ver-
gehen, der uns Kultur zu schaffen heiBt. Ich
bin der Diener dieses Herrn; bin der Kultur-
minister. Kultur will sagen : kosmische Schopfung,
durch Menschcngeist geleistet. Minister will be-
deuten: Diener. Dem Geistesleben diene ich.
Das neue Haus ist aufgetan!
Es fuhre Euch durch seine Raume der Mensch!
Heinrich Stadelmann-Ringen
NOTIZ
Aus der Sphare der innersten, hochsten Realitat
flieBt alles „Wirken“ in die Realitat der „Welt“
als einer Fiktion. Die Auswirkung in der Welt*
Menschlichkeit; Zeit -Welt iiberhaupt gehorcht
der Stimme des Geistes, der wahren Realitat,
die „Sinn 4< , ^Bedeutung 44 , „Wert“ ausstrahlt und
zu riickstrahlt, erkennen laBt durch das Spiel „sirm-
Ioser“ Organe „Zufal]“, die unersehiitterte Richt-
quelle, ewige Schopfer-Pcrson, Geist-Gott.
Nur die Realitat der Geist-Sphare ist wirklich. Die
Realitat der „Welt“ ist Schein. Die Balance der
Oeistsphare, das innerste Ich, Gott-Person, darf
darum nicht zur Tauschung fiihren: die Mensch-
Person sei mit ihr identisch — erkannt muB wer-
den ihr ungeheuerer Gegensatz, ihr Zusammen-
hang als Durchdringung der Welt mit Geist.
Der Organismus: Mensch, auf dieser Erde, die
tausendfach verflochtenen, sich durchkreuzenden
Gedankensysteme (Regierungsformen, Kapital-
wirtschaft, biirgerliche Gesellschaft als ebensovicle
Machtwillen), bilden ein Geisterreich so ungeheucr
schwer erschutterbar, beharrend, daB seine Fehler,
.Anderungen die daraus sich erzwingen, sich dem
Raoul Hausmatit i
Shid>c
Gottgeist entgegenstemmen, balancierend, dem Be-
wuBtheitsblitz in der Gott-Person langsam, aus-
weichend Wage halted, seine Realitat zuerst liber-
taubend in der Welt. Der Fiihrer im Geist-Reich
besitzt unmittelbar sofort den Sieg; die Materie,
Mensch-Realitat bedarf noch langer, blutiger Be-
sinnung - in diesem ewigen Augenblick steht die
wahre Welt, als einem Zugleich und Gegenein-
andervon inncrstem Sein und auBercm Gcschchen,
auf der Schneide des Traums — zum Erwachen.
Die Erkenntnis der schcinbaren Ohmnacht, weiter-
wirkcndcn Macht des gespenstigen Geisterreichs,
der Fiktion, der Isolation des Menschen - - uin-
kehrend in Besitzergreifung, den neuen am Geist-
himmel crscheinenden Geist-Staat, Idee der Neu-
schopfung des Menschen, grenzenlos All-Verant-
wortung ist das ewige Wirken des Geistes, Gottes
im Menschen, auf der Erde; als solche ewig neu!
wiederkehrend.
Raoul Hausmann
AUS BAKUNINS BRIEFWECHSEL MIT
HERZEN
( 1 862)
Lieber Herzen!
Du besitzest entschieden weder die Fahigkeit,
meine Gedanken, noch die, meine Worte zu be-
greifen. An der Niitzlichkeit und Notwendigkeit
eines Biindnisses mit den Polen zweifelte ich nie.
Dies konntest Du selbst bezeugen. Wenn ich
aber Zweifel hegte, so war es ausschlieBIich an
423
DIE AKTION
424
eurem Glauben an dasselbe, und wenn Du gestern
auf meiner Stirn Wolken erblicktest, so waren
es nicht Martjanowsche, sondern von der Besorg-
nis verursacht, daB sich euer wieder im letzten
Augenblick Bedenken bemachtigen wiirden. Habe
ich tnich geirrt, um so besser. Was die Meinungs-
verschiedenheit mit Martjanow betrifft, so ist
es mir leid um ihn, der Sache selbst tut es keinen
Eintrag, da ich von ihrer Notwendigkeit und
heiligen Gerechtigkeit unerschiitterlich uberzeugt
bin.
Ich schicke Dir den „Daily Telegraph**, worin
ein Artikel tiber RuBland und ein andrer iiber das
Riot im Hydcpark enthalten ist. Du bist mir
vvohl, wie es mirscheint, 10 Schilling schul-
dig. Wenn ja, so schicke sie mir. An Pad-
levvski werde ich schreiben, wie ihr befehlt.
M. Bakunin
3. Oktober 1862.
Herzen, ich bin durchaus nicht der Meinung,
daB man auf das Schreiben des Warschauer
Komitees mit einem Brief an die Offiziere ant-
worten darf. Nach meiner festen Uberzeugung
miissen wir auf ein Dokument mit einem Doku-
ment, d. h. mit einem Schreiben an das Komitee
antworten, worin unsere Grundsiitzc und Hoff-
nungen in betreff RuBIands, KleinruBlands und
Polens dargelegt und das mit unsern d r e i Namen
bestiitigt sein soil*). Mir scheint, daB dies die
Gerechtigkeit und unsre Wiirde erfordern. Im
Biindnisse mit den Polcn nehinen wir die p r a k -
tische Verantwortlichkeit auf uns, so daB wir
*) 1( Damit bin ich durchaus nicht einverstanden." Zuschrift
von der Hand Ogarjows.
uns nicht zu verstecken brauchen, sonst wird die
Bescheidenheit als Feigheit und als Wunsch, sich
nicht zu kompromittieren, erscheinen. Das frag-
liche Schreiben mufi, wie ich glaube, ebenso kurz
wie das der Polen sein und in wenigen Worten
unser politisches Programm aussprechen. In
derselben Nummer konnten wir dann auch das
Schreiben an die Offiziere veroffentlichen, welches
einen Kommentar zum ersteren bieten wiirde.
Gestern bestiirzte mich das Vergniigen, mit
dem Du Dich mit dem Journal Mieroslavvskts ein-
verstanden erklartest, namlich, daB die „G!ocke“
eine rein abstrakt-zerstorende Richtung ohne
jeden Plan fur die Zukunft, ohne jedes praktische
Zeithatte. Erstens ist das ungerecht: die„GIocke‘*
predigt seit lange das Selbstbestimmungsrecht
der Semstwos, die representative Selbstverwal-
tung in Landgemeindcn und Provinzen und end-
lich die Foderation derselben. Dieses Prinzip
und Ziel sind klar, bestimmt, praktisch, vollig
ausreichend, um die strengsten praktischen For-
derungen zu befriedigen, — und gebe Gott, daB
die Polen uns ein Programm vorwiesen, welches
ebenso praktisch ware wie das unsre: Nun, hatte
Mieroslawski wirklich recht? Es ware doch un-
verzeihlich schlimm, Herzen. Ich wiederhole
abermals, Bescheidenheit wiirde als Feigheit be-
zeichnct werden, wenn Du Dich nicht jetzt zu
einer offenen praktischen Handlung ent-
schlieBen solltest. Der Vorwurf anmaBenden
Selbstvertrauens wird Dir immerhin anhaften —
es gibt doch Neider und Feinde — aber die
Ehre der ehrlichen und offenen Handlung wirst
Du nicht haben. Du hast eine Macht, eine un*
geheure Macht geschaffen, — und diesc Ehre
Rudolf A/V use
Auf Deck
425
DIE AKTION
426
wird Dir niemand rauben. Jetzt liegt die gan/e
Frage darin, was Du aus dieser Macht machen
wirst RuBland fordert jetzt eine praktische Lei-
tung zum praktischen Ziele. Wird dies die
^Glocke 1 * leisten Oder nicht? Wenn nicht, so
wird sie vielleicht in einem oder einem halben
Jahre ihre Bedeutung und ihren EinfluB ver-
lieren und die ganze von Dir geschaffene Macht
wird vor dem ersten besten, kiihnen, anmafien-
den Knaben zusammenstiirzen, der aus Unfahig-
keit, so zu denken wie Du, sich erdrei sten
wird, es besser tun zu wollen. Schwinge also,
Herzen, Dein Banner fur die Sache, schwinge
es mit der ganzen Dir eigenen Vorsicht, mit jed-
mogiicher Klugheit und Takt, doch schwinge es
kiihn- W'ir aber werden Dir folgen und mit Dir
gemeinschaftlich arbeiten.
Wann werden wir uns sehen? Antworte.
M. Bakunin
(1862.)
(Dies das Konzept des fraglichen Vorworts )
Indem wir in einer besonderen Broschiire die
wichtigen Dokumente, welche die neue Ara der
russischen wie auch der polnischen Bevvegung
bezeichneteu, veroffentlichen, nauilich: das
Schreiben des polnischen Volksko-
mitees a n die Redaktion der „G 1 o c k e“,
ihr Antwortschreiben an das p o I -
nische Komitee, die Ant wort auf das
Schreiben der Offiziere der russi-
schen, im Konigreich Polen einquar-
tierten Heereund endlich die Adresse
dieser Heere an den GroBfiirsten
Konstantin Nikolajewitsch, — bitten
wir unsre russi&chen Freunde, Zivilisten und Mt-
litars, diesen Dokumenten besondere Aufmerk-
samkeit zu schenken. Durch sie wird dem un-
gliickseligen, freihcitsfeindlichen MiBverstandnis,
das bis jetzt die Verteidiger der russischen Volks-
sache und die der Befreiung Polens trennte, ein
Ende gesetzt. Von nun an wollen wir, mit auf-
richtigerem Vertrauen zueinander, gemeinschaft-
lich erfolgreicher und kraftiger vorgehen. Polen
und Russen, wo und unter welchen Umstanden
wir uns auch begegnen mogen, im Kampfe oder
in der Verbannung, machtig oder vom Ungliick
getroffen, wir wollen einander zu brudertieher
Hilfe fur die heilige, gemeinschaftliche Sache
die Hand rerchen, Wir wollen zusammen streben,
das schimpflich driickende Petersburger Joch ab-
zuschutteln, das in gleichem MaBe auf den russi-
schen und polnischen Landen lastet. Wenn wir
ihnen aber die Freiheit wieder erobert habcn,
dann mogen sie selbst ihre Grenzen und Biind-
nisse bestimmen, sowie die Formen ihres kiinf-
tigen erneuten Daseins, auf Grund des gesetz-
lichen und zweifellosen Rechtes, auf Grund des
freien Willens der Volker.
Zum SchluB wollen wir unsre Oberzeugung aus-
sprechen, daB, solange Polen in Ketten liegt, das
zur Rolle eines Henkers verurteilte RuBland nicht
einmal einen Schatten von Freiheit erblicken wird.
Michael Bakunin
'*y
Vlastislav fiofman ( Prnq)
AUS DER „KANTILENE DER RACHE“
Ein Abend, Schwarze Wolken ziehn
Durch diirres krankes Land dahin
Bis zum Angelusliede . . .
Sie knien nieder auf der Flur,
Wo sie ironische Natur
Anlachelt, still und miide.
Ein Abend, siindhaft, mud und spat,
Und niemand teilt ihr Nachtgebet.
Die schwarzen Wolken ziehn zum Dom,
Der in der Feme schlaft am Strom,
Und senken ihre Hande...
Allein die Glocken sind verstummt,
Und keine, die noch hell aufsummt
Aus Ohnmacht ohne Ende.
Ein Abend siindhaft, mud und spat,
Die Glocke selbst spricht kein Gebet.
Die frommen Wolken zieben fort
Vergeblich noch von Ort zu Ort
Auf ihrer Trauerreise.
Mein hoffnungsloses Lacheln nur
Auf der verlassen stillen Flur
Ironisiert sie leise:
Ein Abend, siindhaft, mud und spat,
Bei uns spricht niemand ein Gebet.
Karel Hlavaeeh
(Deutsch von Camili Hoffmann)
427
DIE AKTION
428
A. Krapp
Ludwig Bdumtr
VERSE VOM SCHLACHTFELDE
Wir singen
Das tut uns der Schlaf, er kiihit uns nicht.
Er ist wie ein Krampf mit weh end en Tatzen,
Schnurt
Uns die Hande an den Leib, laBt Seele verrocheln,
Und schaukelt grinsend und pestartiger Geruch
auf unserm grauweifien Gesicht.
Und der Tag: Lichtlos und zerknoch erodes Atnuen,
Holen
Und Peitschen in willig widerwilligen Mord. Un-
sere Arme flattern
Unsere Augen rollen weit vor uns her, werden
spitz, stechender,
Muder, schluchzen zuruck. Andere kommen,
miissen, Alle FiiBe frieren an die Bohlen.
Wenn einmal ein Mond kame, ein Mond mit silber-
n en Hornern . . .
Wir Unterirdischen, wir haben langst unsere Welt
verloren,
, . . Grinsen . . . eure . . .
Ein Mond mit silbernen Hornern . . .
Wir sind von keiner Mutter mehr, sind ein Anfang
von seltsamsten Tieren
Und fiillen unsere Bauche mit eisemen Kornem.
Ludwig Baumer
Besonnte Schlacht
O gelbe Sonne, wer hat dich vergiftet?
Den roten Dorfern gehorst du nicht mehr,
Nicht ihren bliihenden Garten, den rosenverhan-
genen
Und nicht mehr den goldreifen Feldem, die sonst
dich glanzwicgten im A h re n sang.
Den Menschen gehorst du nicht mehr und nicht
meinen lichtfrohen Augen,
Dafi sie fremdirren und hungern in Grauen
o Sonne!
Den blitzenden Rohren gehorst du in staubigen
Buschen
Und plotzlichen Fahnen, die schreiend der Erde
entwachsen im Einschlag der Grimmigen.
Schrecklicher Fahnensturm!
Stahl ist dein liebloser Brautigam worden, heulen-
der Stahl in den Luiten, Stahl in den Blumen.
Berstendes Eisen hat all dein Gefunkel geraubt
und zuckende Herzen
Klagen in Angsten ein Obersturm hab dich in
Wirbel gerissen, zerschmettert,
In Triimmern und gluhenden Brocken umrast uns
dein Untergang
Du arme vergiftete Sonne.
Oscar Sckurer
Pause
Die Sonne geht unter, orangen wie ein Gastmahl.
Die nackten, weiBen Schultern sind doch das
schonste !
Erinnerst du dich noch an das leise Lachen?
Man saugt sich hin an der siiBen Moglichkeit.
Horch, die Kanonen hallen zusammen,
Der Wind blast. Es ist ode geworden auf der
Welt.
Der Feind ist vor uns. Ein Tag kann kommen
Man denkt voruber an seiner Moglichkeit.
Wit helm Klemm
Der G ef a 1 1 en e
Du liegst auf dem Bauch.
Schwer hebt entseelter Kopf sich an
Und bietet mir unkenntliches Gesicht.
Aber dein Leib ist f s.
Das linke Bein fehlt.
Wem wars im Weg?
Dem Kanonier, der die Granate schoB?
Nein. — Oott?
Wes Schuld riB er es ab von deinem Leib?
Schuld deiner oder meiner,
Der weiB,
Weswegen dir dies Bein fehlt.
Weswegen so, nicht anders, du liegst?
Gott? Gott? Nein Gdtze!
Wah ns chaff en Schreckbildi
Tyrann
Den gute Frauen ewig meiden:
Er ubernimmt sich maBlos. —
Gott ? Gott ist gut ?
Franc Lindstaedt
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DIE AKTION
430
O e d i c h t
Weg, weg Gcwoge der Schlachtf
Dunke! und Blut auf gerotetem HiigeL
Genug des Rasens!
Ruhen will ich am lichten Hugel,
Im sanften Gewoge mich wiegen
Deines Busens, Geliebte
Mordens miide bin ich!
Jammer traf mich, fremder Jammer
Tiefer als Tod.
Welt jammer, Weltleid!
Wie brach mich, wie zerbrach mich
Der Kreaturen Unseligkeit.
Aug des zerstummelten Pferdes
Dein unsaglicher Strahl
ZerreiBt mir die Nachte,
Ich bin zerstuckt,
Seele, meine Seele, wo find ich dich wieder?
Herz, mein armes Herz, wohin?
Schlafen will ich,
Mordens miide, so miide bin ich.
Im Schatten deines Busens schlafen,
Geliebte!
O ratselhaft schon ist deine Wange,
O Wunder dein Auge.
An seiner Wimper verebbt der Donner der
Schlachten,
Sie senkt sich, senkt sich zum Schlaf,
Zum Schlaf.
Rudolf Men$e
GEFALLENER SOHN
O larmende StraBe im Abendzimmer,
Zerbrochenes Rufen und wildes Geflimraer
Der heiBen Glocken und Fahnen.
Der schon fur dich zu wachsen beginnt.
Glaube an mich: dein letzer Schrei lacht
Rot aus tausend Miittern: dein Tod erwacht!
Claire Sluder
DIE HANDE GOTTES
Gewaltiger,
Dessen unerbittliche Rechte iiber diese Deine
Spielkugel Erde
Hinstreicht,
Und ihre miihsalig gebauten Ameishiigel und
Biberbaue
Zur Flache glattet der uranfanglichcn Einform,
DaB weglos, ziellos verrennet
Was in den Bauen und Hiigeln hauste,
Aas und Lebendes seines Gleichen unter den wim-
melnden FiiBen nicht achtend
Gew'altiger, deB' Antlitz wir hier nicht, dessen
beide Hande wir hier nur sehen,
Du allcin weiflt, warum Deine harte Rechte so
tut iiber uns;
Verschlossen bleibt es uns Menschen immerdar,
Und wir ertragens.
Haftet denn Hoffnung nicht aufgehoben den
betenden Blick
An Deine Linke,
Die Du, dem liebenden Herzen nah,
Verborgen noch triigst im Busen?
An Deine gtitige Linke,
DaB sie aus ihrer Hohle die Grube falte und
hinhalte,
In die wir Wunde uns bebend verkauern?
Franz Blei
DIE STIRN
Himmel baut sich um die Brust mir bis zum
Kiefer,
. . . Wie aus durchbrochenem Dach
Ragt mein Auge frei hinaus, die Hiifien giirtet
tiefer
Wiese und Luff als grimes und blaues Gemach.
Ach, sie flattern dich von den Hausem hin,
Durch deinen Tod konnten sie bliihn —
Nicht hast du mehr milden Abend an.
Und die Narzissen der weiBen Morgen,
Nicht mehr das GroBe der Sorgen,
Nicht mehr das Bunte der Lacheln.
Wohin bist du verklungen, mein Lied?
Dich sucht jede Trane, die man nicht sieht,
Und jeder Tag, der vor dir kniet.
Helle Kindersonne, die aus mir stieg,
Wohin bist du untergegangen?
Du wirst wieder einmal prangen!
Ich schlage deinen schwarzen Abend, Kind,
Mit dem jungen Erstsommerwind
Wie tin Mantel um den kleinen B ruder,
Josef Ebert
Aktstudie
431
DIE AKTION
432
Aber schrankenios ... in welche Raume giihn
die Gipfel meiner Mienen?
. . . Adler und Strome und Wald
Atmen unten ... In den irdischen Maschinen
Pliegt es, blutet und schallt:
Doch es klingt nur klein wie schweigendes Stau-
nen, wie in Wanden
Ein bescheidenes Spiel . .
Riesig iiber Himmelsschultern, Bergeslenden,
Schwebt die Stirn . ., Sonne auf schmachtigem
Sliel,
Drache, unerschopflich iiber seinen Halsen,
Mond iiber Ebbe und Flut,
Gewittergebirge iiber alien einzelnen Felsen,
Reicht die Stirn in die Glut!
In das Schicksal reicht die Stirn . . . und kann
nicht siegen,
Aber singen ... bis sie dem Schicksal gleicht an
Glanz,
Blitze und Sonne entlang, Spiraien durchfliegen,
. . . Bis sie ganz oben mit Menschenstirnen sich
trifft im Tanz!
Alfred Wolfensiein
Felix Miiller
Fortrat (Holttchniii)
DAS FENSTER
Ein Fenster, allein, im Nachtdickicht drunten, ver-
loren im Gestriipp der Schatten wie eine
leuchtende Erdbeere,
Wie ein siiBes VerheiBen, eine lichte Verzeihung
fur all die Leiden, die die Nacht enthalt,
Eine strahlende Frucht im Raum der Welt, kleines
Fenster, das ich von meinem Balkon aus
pfliicke und auf zitternden Handen verehre:
Bist du ein Stern, auf dem Millionen Sehnsuchts-
menschen wohnen, ein femes Chaos, iiber
dessen Glanz ich schluchze ?
Oder ein kleines Mansardengliick mit zerbrech-
lichen Dingen aus Blech und Porzellan, Post-
karten an der Wand, papiernes Schicksal um
den Spiegel gewunden?
DichF ich rosigen Wunsch in das matte Glanzen,
das ungewisse?
Setz' ich zwei Menschen hinein, die sich so grofi
und gliicklich diinken wie die ersten der
Schopfung?
Nichts unterscheid' ich, nicht die qualmende
Lampe, die engelliaft iiber dem Meer des
Estrichs fliigelt,
Nicht das wogende Schiff des Bettes mit den ge-
raff ten Segeln, dem geschweiften Bauch und
weiBzischender Spitzengischt:
Nur des Vorhangs doppelgefliigelter Schmetterling
stoBt und rauschi mit Ungeduld ans harte
Fensterkreuz.
Du kleine Welt, du ganze Welt, traumfern iiber
dem stiirmischen Boulevard drunten,
Wie eine Uferblume mit klarem Kelch iiber der
ewig zitternden, ewig anprallenden Stromung,
Du kleiner heller Kosmos, in dem jetzt vielleicht,
aus bebender Nacht der herrlichste Men-
schenbruder mirgeboren wird!
Iwan Go 1 1
STERNBLAUE W1MPER
Sternblauer Wimper musikalisches Gestad
Entlegensein verwundbar.
Harfe und Stall in die Wolken gestellt.
Glocken-Obdach. Omphale.
Oberuns: warmt windleicht ein Rosenwald,
WeiB der maBlose Odem des Monds.
Gtiihe Kometen begleiten das moosglatte Melos.
Alles abhanden . .
Nur schneit eine guldene Birke. Bebt.
Jurgen von der Wense
DIE MODE UND DER BORGER
Von Maria Martin (Zurich)
Vor einigen Jahren spottete man in Deutschland
iiber eine sparlich ausgefallene Manifestation Pa-
riser Suffragetten. Die Franzosin, sagte man,
wiirde nie gefahrlich werden; sie habe ja die
schoneren Hiite.
Man irrte.
Ein schoner Hut ist ein Kunstwerk, fast so selten
wie dieses* Vorurteil gegen Mode kennzeichnet
433
DIE AKTION
434
*
eines Volkes Tiefstand. Der Untiefe verachtet
sie und Unreine entnehmen ihr nur das sexuelle
Moment, Indessen spiegelt sie den Gesamtgehalt
der Epoche. Sie illuminiert Zeitgenossen und
Zeitinstitutionen in ihrem Vergehen und Ver-
sprechen. Wie alle Kunst unterliegt sie dem be-
wegenden Gesetz. Expressionismus ist ihr Wesen,
und ihr Sinn ist Expression. Unfahigkeit verrat
sich in der Silhouette. Ein haBlicher Hut ist eines
Madchens Leichenstein, der ihren Geist begrabt,
und manche ist gestorben an einem unmodernen
Kleid.
Die Kokette dient dem Geist, und er dient ihr.
Wenn sie lachelnd iiber die StraBe schreitet,
wird Geist nicht minder als wenn der Unsterb-
liche ihre Schonheit kiindet. Geist laBt sich in
Schleifen binden.
Die suchende Geste nach den Massen der Schon-
heit, nach stetig flieBenden Gesetzen, immer neuen
Rhythmen und Stromungen, ziellos, zeitios, aber
niemals zutallig, nicht blind und nicht taub, das
ist Mode. Da sie das Verganglichste ist, ist sie
von ewiger Dauer. Sie ist von alien Errungen-
schaften des Menschengeistes dem Fallgesetz am
wenigsten unterworfen: da rum bringt sie Tugen-
den zu Fall.
Sie tut mehr. Sie organisiert Schonheit. Und
Schonheit ist ein starkes Gift wie Geist, Eine
Christian Sckad (Genf)
Cabarett ( Roltschnitt }
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435
DIE AKTION
436
furchtbare Waffe mifihandelten Geistes ist sie in
den Handen der Frau. Nur mit ihr ist das Tier
zu bandigen. Im Zierrat Finer, die Viele racht,
bleibt der Burger verblutend hangen. Das Mann-
chen erschieBt sich nicht um der Kontrollierten,
nur um der Preziosen willen. Manchmal aber
auch totet das gereizte Tier. (Und der deutsche
Professor iibersetzt Kurtisane mit „Weibchen“.)
Mode pervcrtiert den Burger; aber sie einigt
Volker. lhre Moral ist die von morgen. Der
leichteste Stoff wird Herr des schwersten. Sie
ist ein revolutionares Gewissen der Menschheit,
weil alle ihre Gesetze in eigener Vervollkomm-
nung ruhen: in ihr ziehen sich die Machtigen
den Keim heran, der ihre Macht zerstoren wird.
Sie ist Gefahr, Aufruhr und Verbrecherin. —
Die Mode zieht das Leben selbst in ihren Kreis.
Diese Wirkung des Geistes, eigenste und elemen-
tarste, ist fur den Burger peinlich, weil sie die
zcrstorendste ist, „Eaction directed. Er, der sich
gern als Liebhaber der Kiinste aufspielt, verpont
sie und verbiindet sich gegen sie mit Padagogen,
Polizisten und Parlamenten.
CALIGULA HAT REGIERT
Von Xaver
„Puppchen! (Pupum). Stern !'* (Sidus) haben sie
ihn genannt; haben es laut geschrien; dazu die
Mauler gespitzt, als gelte es, Feigen auszuzullen.
Caligula denkt lachend an seinen Einzug in die
Hauptstadt. Sie hatten ihn am liebsten auf den
Arm und in den Arm genommen. Ihn! Den
Imperator !
„Ob man der Bande trauen darf? Wie haben sie
es ihrem lieben Liebling, dem General Sejan ge-
macht? Dem freundschaftlichsten Freund der
hohcn und der niedern Welt? Mit sechshundert
Sonnen hatten sic ihn beleuchtet, erwarmt, wenn
es so viele gegeben hatte. Im Handumdrehen
haben sie ihn zerrissen. Fische im FluB haben
sich ihn schmecken lassen. Brrr! Ich kenne
das Gesindel. Wie nenne ich eure sufie Liebe zu
mir? Verkehrter HaB, der meinem GroBvater
gait.
Gottverdammter — beugt die Knie! — gottseliger
GroBvater, Imperator Tiberius, ich weiB heut
noch nicht, in welcher Ecke meines Korpers
so viel Wasser vcrborgen war, dafl ich Stunden
lang — mein Volk ist Zeuge! — Biiche von Triinen
iiber deincn Heimgang weincn konnte. Tja! Ich
wollte doch regieren nach des Hochseligen Tod! 4<
Plarrt weiter, Romer! Euer ,,SchoBkind“ (alum-
num), euer ,,Klemchen“ (pullum) heiBt ihr ihn?
Er kennt euch bcsser, als ihr selbst euch kennt.
„Mein vielgeliebtes Volk! Ich stelle dir eine
alte Konigsburg wieder her (. . . regiam resti-
tuere . . .); ich stifte dir einen Jugendtag (. . . diem
juvenalem . . .) fur vaterlandische Spiele; ich gebe
dir das verlorene Recht zuriick ( . . . suffragia
populo reddere...); ich... Ha, ha, ha! Was
will ich! Regieren! Regicren will ich! Wil! Im-
perator sein!^ Rom ist's zufrieden; hat sich den
Freiheitsstolz Iiingst vom Gcsicht gestreift.
Caligula regiert. „Behandle ich die Herde gut,
Nvird sie beim Regieren mich nicht storen.“
Caligula regiert unaufhorlich.
,,Vielleicht, vielleicht erinnert sich die Herde an
die Zeit, wo noch keiner war, der regiert hat;
und konnte... Nein! Nein! Sechshundert Nein!
Bei meiner Schwester-Frau Drusilla! Ich schwore
es: Herde soil Herde bleiben! Ich bin Ich. Ich
will regieren, damit ich bleibe Ich!“
Caligula regiert lustlich unaufhorlich weiter; un-
aufhorlich mehr; unaufhorlich starker. Das Ro-
mervolk? Es ftihlt am eigenen Leibe Caligula re-
gieren.
„Stumpfb6cke! Werden sie es bleiben? Wer weiB,
eines Nachts steht ein Kerl mit einem Dolch vor
meinem Bett. Noch bin ich Mensch; verwund-
bar. Vorsicht! Ist schon bekannt geworden,
was Tiberius iiber mich vorher gesagt? Ich
wiirde mit meiner Art regieren dem Romervolk
eine Natter, der ganzen Welt ein Phaeton und
steckte die Erde in Brand? Dreimal Vorsicht !“
Caligula will regieren. Darum Edikt:
„Sowie der Hirt einer Herde Ochsen, Ziegen oder
Kleinviehs nicht selbst ein Ochs oder sonst ein
Mitglied der Herde, sondern ein Mensch ist, der
an Wiirde und Fahigkeit hoch iiber den von ihm
beherrschten Tieren steht, ganz ebenso hat man
zu glauben, daB auch Ich, als Oberhirt der vor-
ziiglichsten von alien Herden, der Menschenherde,
ein von den Individuen meiner Herde vollig ver-
schiedenes, nicht menschliches, sondern unend-
lich hoher begabtes gottliches Wesen bin!“
(„KaMTcep y a P x<ov £XXu>v Ciocov &Y£Xapx at ?
(3oux6Xoi xal aix6Xot xal vopeTg 5uxt eiaEv,
fiuxe alyes 5yce 5pve;, aXX’ £vd*pw7:oi xpetxovo;
poEpag xal xaxaaxeufjs imXixovxe;, tpdnov
aYcXapx^Ovia xdtjil xfj; ApEaxtj^ AvO'pto^wv y£ , j0 ’ j *
dtY^^s voptax6ov Bta^peiv, xal xax* Svd-pajrcov
elvaL pet^ovo? xal $eiox£pac pofpa; xexux>j x ^ v at- u )
Caligula kichert in den Schlund hinein; dreht die
Augapfel zu den Wolken; redet: „Ist es so recht,
ehrwiirdigster, erlauchter Ahnherr Oktavian?
Freust Du Dich droben im Elysium ?“
Caligula regiert. Die Menschenherde lichtet sich;
der Uberrest wird fahl und faul.
,,Glaubt an mich, ihr Menschenherdentiere! Dann
glaube ich auch euerm „Puppchen“, „SchoBkind“,
„Kleinchen“, „Stern“.
Ruhe im Romeriand; Caligula kann ungestort
regieren: Spiegelgefecht ohne Binden und Ban-
dagen bis zur Abfuhr
Hohlspiegel grinst Krummspiege! an. Krumm-
spiegel hohlt sich; wirft gehohltes Krummgesicht
auf Hohlspiegel. Der macht sich krumm ; wirft
krummes Hohlgesicht auf Krummspiegel . .
Halt! Warum Halt? Die Waffen sind ungleieh:
Das eine Gesicht weiB von seinem Betrug; das
andere weiB von seinem nicht
Verlogener Spiegel Spiegelspiel.
Rom ist verdorrt.
Caligula hat regiert.
Otto Btytr
Original’ HolzschniU
43 Q
DIE AKTION
440
ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS
LIV
Einc Unterredung russischer Journaliiten mit
Scheidemann.
( Bench t ftir das „ Berliner Tageblatt.“)
Auflerhalb Deutschland wird bei Erorterungen liber ElsaB-
Lotbringen fast i miner vergessen, da 6 es itch um ein Land
handelt, das bis auf etwa IO Prozent kerndeutsch ist und in
dem nur etwa 1 1,5 Prozent der GesamtbevBikrrung tlberhaupt
Franzosisch verstehen. Elsafl Lothringen wurde im 17, Jahr-
h undent gewaltsam durch Frankreich von Deutschland loagerisscn,
1870 von Deutschland zurlickgenomroen, Desbalb ist es absolut
unverstandlich r daB auch die franzosischen Sozialisten sich in
der elsafi’lothringischen Frage $0 vollkommen solidarisch er-
erkl&ren mit den national istischen Kreisen Frankreichs . . .
Ich glaube, dafl in der elsafl-lothringischen Frage alle Deutschen
eines Sinnes sind.
Gegentiber der in den EntenlelSndern verbreiteten Anschauung,
dafl die deutsche Regierung, gesthtzt auf einfluflreiche Kreise,
imperial istische Tendenzen
verfolge, antwortete Scbeidemann : ^Deutschland hat wfihrend
44 Jahren Frieden geh<en . , , Es ist richtig, dafl es bei
unsauch einfluflreiche Kreise gibt, die imperial!*
stis che Kr i egszi e le aufgestellt ha ben. Tatsache ist aber
auch, dafl diese Kreise in Deutschland nicht den Einflufl
gewinnen konnten, den sie in England und Frankreich immer
roch haben. Das deutsche Volk fuhrt den jetzigen
Krieg lediglich zu seiner Verteidigung gegentiber
den aggressiv'imperialistischen Kriegszielen, die von feind-
lichen Regierungen wiederholt und noch bis in die letzte Zeit
verkUndet worden sind.
Es will mir Ubrigens scheinen, dafl das deutsche Volk auf seine
Regierung bereits einen erheblich grBBeren Einflufl auszuUben
vermag, als das in den sogenannten demokratischen Staaten der
Fall ist. Das geht nicht nur aus den Parlament aver-
handlungen hervor . . . Ich kann Ubrigens nur wtlnschen,
dafl die Demokratisierung auch in England, Frankreich
und A m e r t k a fortschreite, wo die Rcgierungsmacht im Besitz
einer kleinen imperialistisch-kapiialistischen Interessen-
schicht ist, aus deren Handen die Masse des minder bemittelten
Volkes ihr Schicksal entgegennehmen mufl. In Deutschland
iat der EinfluB der Demokraiie wenigstens stark
genug, zu verhindern, daB diese imperial istisch und nationals
stisch orientierten Kriegspolitiker das Heft in die Hand be-
kommen. Erst wenn auch jene anderen Lfinder wirklich
demokratisiert sind, das heiflt die Massen des Volkes
entscheidend sind, werden wir hoffen dtirfen, einen Zustand
dauernder friedlicher Besiehungen zwischen den Vblkern zu
erreichen. a
^Berliner lhgeblatt u , 21. Juni 191 7, Morgen - A utgabe.
. . . Wir ktinnen, was ge&chehcn ist, nicht ungeschehen
machen. jedoch die Pfiicht treibt uns, den Weg zu suchcn,
der uns aus dem endtosen VStkermord hinausfllhrt, Und da
ist mir das, dessen ich mir schon zuvor bewuflt war, in Stock-
holm erst recht zur unerschlltterlichen Uberzeugung ge worden,
Es geht nicht ohne eine durchgre i fende Demokrati-
sierung Deu tsch lands ! (Im Original gesperrt.)
Es sind nicht die Feinde, es sind die — ach so selfenen —
Freunde drauflen, die uns immer wieder sagen : Ihr mtlflt end*
lich einmal heraus aus Euren innerpolitischen Zustanden ! Ihr
uidOt der Welt zeigen, dafl der Unterschied zwischen ihr und
Euch nicht so grofl ist, wie er scheint, und dafl er nicht un-
tiberbrtlckbar ist, Ihr seid eines der tfichtigsten, der gebildetsten
Volker der Welt, und Ihr dtirft nicht lfinger Regierungg* und
Verfassungsfnrmen ertrager, die dem Kindheitszustande der
Vblker angepaflt sind. Erst wenn thr das tlberwunden habt,
ist der Weg gefunden, den Ihr sucht : der Weg zur VerstXndigung
der Volker,
Daheitn aber gibt es wieder Leute, die folgendermaflen zu uns
reden; Wenn die Feinde unsere inneren Zust&nde anschwlrxcn,
so ist das nur eine Kriegslist, um Deutschland zu entnerven
und seiner besten Kraft zu berauben. Zumal jetzt reform ieren,
hiefle sich dem Willen der Feinde unterwerfen und sich von
ihnen in unsere inneren VerhSllnisse dreinreden lassen. Also
erstens tlberhaupt nicht, und zweilens gerade jetzt erst recht
nicht I . . .
Wir aber sagen: Tiefgreifcnde, weilhin sichlbare Reformen
unserei inneren Staatslebens sind jetzt notig, und es ist keine
weitere Verschiebung des Termt n s statthaft (im Ori-
ginal gesperrt), wenn unser Volk nicht den schwersten Schaden
leiden soil . . .
Der selbe Herr Philipp Scbeidemann. Leitartikcl.
„Draufien und daheim ", „Vorwdrts u 24, Juni 1917,
„Ich kann auch gar nicht so klug sein, denn Ihr alle wiflt,
dafl ich ein sehr einfacher Arbeiter gewesen bin, der sich sein
biflehen Wissen . .
Der selbe Herr Philipp Scheidemann r Soz . Dem,
Part ext ag Jena, 16, Sept, 1913. (ProtoJeoll Seite 328,)
KLEINER BRIEFKASTEN
Lieber Leser, ich hatte die vorstehend gedruckten Zitate ge-
rade zusammengestellt, da sprach, rundreisend:
Scheidemann iiber „Deutsch lands Zukunft"
„. . , Die Arbeit fur den Frieden gleicht einer Hilfsexpe-
d it ion, die auf der Suche nach verungliickten Menschen
hoch im Gebirge nicht die steile Bergwand hinauflaufen
kann, sondern sich erst miihsam die Stufen ins Eis
schlagen muB. Zwei solche Stufen sind die Wahl-
rechtsbotschaft vom 11. Juli und das Friedens-
programm des Reichstags vom 19. Juli. Beides waren
Erfolge, die man noch vor Wochen kaum fur moglich
gehalten hatte. Das ist aber noch nicht genug. Als
der Reichstag wieder 2usammentrat, sagten wir: So geht
das nicht wetter... Und die deutsche Presse darf nicht zum
Instrument von Leuten gemacht werden, die den Reichstags-
beschluB am liebsten ganz aus der Welt schaffen wiirden.
Presse und Parlament geh6ren zusammen ... Im Osten
ist ein kritisches Stadium eingetreten. Denken Sie sich,
ein solches Ungliick ware der deutschen Armee
widerfahren und die Regierung kdnnte das auf das
Schuldkonto einer so zial istischen Partei in Deutschland
setzen ! Hier huben Sie den SebtUssel zum Verstflndnte
unsere r Haltung! (Im ,,Vorwarts" Fettdruck.) , .. Nur
eine erb5rmliche Demagog ie kdnnte verlangen, daB wir
dem Lande die Mit tel versa gen, weil war hunger n mussen,
Oder weil Zeitungen und Versammlungen verboten werden.
Unsere parlamentarische Arbeit w'ahrend der letzten
Wochen hat gute Fortschritte gezeitigt, in der Wahlrechts-
vorlage und in der Friedensresolution . .
Nach den Berichten dee „ Vorwarts* 1 und des ,,i9er-
linei m 1 hgeblatt" (27. Juli 1917) iiber eine Auffuhrung,
bei der Herr Scheidemann, zeitenteprcchcnd, mir
gegen Ear ten zu besich tigen xcar.
Dr. W — f. Houston Chamberlain, etwa der konservative
Parvus Englands, bemuht sich seit August 1914. Seine
Kriegsbroscnuren, die sich auf dem Niveau von Fendrichs
SiiluDungen halten, wirken wie der heutige ,,Simplicissi-
mus". Jetzt hat Mister Chamberlain etnen Zeitungsaufsatz
iiber „Demokratie und Parlamentarismus" im ..Chemnitzer
Tageblatt" drucken lassen (und die Berliner Presse druckt
ihn nach). Solche Wahrheiten stehen auf und wandeln :
„Der Parlamentarismus ist das Grundiibel
unsrer Zeit. Wissenschaftlich betrachtet ist
er ein Ungeheuer: alien wissenschaftlichen
Erfordernissen — der genauen Sachkenntnis,
der leidcnschaftlichen Erwagung, der streng
folgerechten Methodik u$w. — schlagt er ins
Gesicht; volkisch betrachtet ist er ein Wahn-
sinn: kein Mensch auf Erdcn besitzt ein
, Recht* auf Wahlzettel, und kein Mensch
auf Erden wird um -ein Titelchen besser,
weiser, gliicklicher dadurch, dad ihm dieses
Recht verliehen wird . . .
Deutschland — zu hohen Dingen befahigt
und berufen — ist heute auf Irrw'ege geraten
und zu einem Sklaven des Revoiutionsideals
herabgesunken ; und doch ist dieses Ideal,
vor dem sich fast alle verneigen, so grund-
falsch, so unglaublich albern, daB kiinftige
Oeschlechter nicht begreifen w'erden, w r ie
es mSglich war, selbst die Vernunftigen unter
uns so lange zu narren . . .
Der Tag ist nicht mehr fern, wo man auf
Fur Herausgabe, Schriftleitung und den gesamien
Inhalt verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin-WiF
rnersdorf, Nassauische StraBe 17, Tel. Pfalzbg. 1695
Gedruckl bei F. E. Haag, Melle in Hannover,
Die AKTION erscheint jcden Sonnabend. Abonne-
ments kosten vierteljahrlich durch die Post, durch
Buchhandel oder Verlag (unter Kreuzb.) M. 2,50.
Abonnements fur das Ausland kosten M. 3,—.
Biittenausg., lOOnumerierte Exempl.,jahrl.M.40,— .
Verlag der AKTION, Berli n-Wil rnersdorf.
Unverlangten Manuskripten
ist Riickporto beizufiigen.
A 11c Rechfe vorbehalten.
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WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR, KUNST
YU. JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT NR. ||
INHALT: Vlastislav Hof man (Prag): Dostojewskijs Portrat. Holzschnitt (Titelblatt) / Margaret he Goetz (ZOrich): Zwei
Zeichn ungen zur Zeit / Max Brod: Aus einer Szene „Der Genius des Krieges" / Myrrha Tunas: Fledermausflug / Karl
Sgraffoido und Rudolf Hartig: Verse vom Schlachtfeld / Theodor Lessing: Europa una Asien / Anton Pirek: Der Totenhof
(Zeichnung) / Felix Muller: Portiit des M. d, „A/' Victor Fraenkl / Aus Bakunins Briefwechse! mit Herzen / Oeorg Tappert :
Portrat (Zeichnung) / Karl Often; Die Nachtwandlerin / Alfred Wotfenslein: Der Leichenwagen / Max Herrmann: Der am
Leben stirbt / Kurd Adler: Sommergang / Alexei Kolzow: Frage (Deutsch von Otto Frhr. von Taubc) / Lothar Homey er:
Original-Hol2schnitt f Kurt Pinthus: Der Lyriker Wilhelm Klemm / Else Lasker-Schfiter : Max Herrmann und ein Doppel-
portrat / Hans Koch: Traume / F. P.: Ich schneide die Zeit aus; Kleiner Briefkasten
VERLAG < OIE AKTION > BERLIN -WILMERSOORF
HEFT 50 PFG.
AKTIONS-BUCHER DER AETERNISTEN
Band I :
FERDINAND HARDEKOPF
Lesestii c k e
Band 2;
CARL EINSTEIN
Anmerkungen
Band 3:
FRANZ JUNG
Opferung
Band 4:
FRANZ JUNG
Saul
Band =; :
CARL EINSTEIN
B e b u q u i n
Band 1, 2 und 4 kosten gebunden je M. 2, —
Band 3 und 5 kosten gebunden je M. 3, —
POLITISCHE AKTIONS-BIBLIOTHEK
Erstes Werk:
ALEXANDER HERZEN
Erinnerungen
Deutsch von Otto Buck
Zwei Bande (446 und 338 Seiten.) Mit
drei Portr£ts
Gebunden M. 12,50, broschiert M. io, —
Fur Abonnenten der AKTION
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Zweites Werk (soeben erschienen!):
LUDWIG RUBINER
Der Mensch in der Mitte
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V E R L A G DIE AKTION
DIE AKTIONS
Band I ;
LYRIK
1914 — 1916
Eine Anthologie
Band 2:
JUNGSTE TSCHECHISCHE LYRIK
Eine Anthologie
Band 3 :
GOTTFRIED BENN: FLEISCH
Gesammelte Lyrik
Band 5 :
DER HAHN. Ein e A n tho logi e
Jeder Band gebunden M. 3, —
WILHELM
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und
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Luxusausgabe M. 15,
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Sophie. Der Kreuzweg der Demut
Ein Roman. Geb. M. 3, — , geh. M. 2, —
Dae AKTIONSBUCH
M. 3, — , in Halbpergament gebunden, signiert,
M. 6, —
V E R L A G DIE AKTION
KUNST -SONDERHEFTE
DER AKTION
„Neue Secession* 1 / Richter-Berlin / Schmidt- RoUlufT /
K. J. Hirsch / Hans Richter / Wilhelm Morgner / Egon
Schiele / Georg Tapper! / Else von zur Muhlen / Ines
Wetzel / Felix Mllller / Josef Capek
DICHTER
DER
SONDER II EFTE
AKTION
Franz Blei / Goufried Kolwel / Alfred Lichtenstein /
Paris von Gutersloh / Heinrich Schaefer / Paul Adler /
Franz Werfel / Ludwig Rubiner / Alfred Wolfensiein /
Albert Ehrenslciii
SONDERHEFTE „DIE VOLKER“
„Ruiiland a (mit Geleitworten von Maximilian Harden) /
^England 11 / n Frankreich M / „lfelgicn u / „ltalien“ / llbh-
men* 1 / „Deutschland“
Jedcs Sonderheft kostet 50 Pf.
BUTTEN - AUSGABE DER AKTION
100 numerierte Exemplare
Jahresabonnement : M. 40
Jedcm BUttenabonnement werden jiihrlich mindestens
acht Kunst blatter beigegeben, von den Kunstiern nume-
riert und signiert. Diese Beilagen kommen nicht in den
Handel und stellen einen Wert dar, der den Abonne-
menlsbetrag Ubersteigtl ]_>em Jahrgang 1917 werden
beigegeben: Blatter von Felix Mllller / Max Oppenheimer /
Ines Wetzel / Karl Jakob Hirsch / Rich ter- Berlin / Josef
Capek / Christian Schad u a.
KUNSTLER-POSTKARTEN DER AKTION
Es sind verschiedene Drucke erschienen
Zcichnungcn von Mopp / Kars / Schmidt- Rollluff / Mllller
/ Klein / Richter-Berlin / Nadelman / Feininger / Hart* /
Schiele / Mense / Melzer / Tappert / Else von zur
Muhlen / Hans Richter / Josef Capek / Morgner u, a,
IOO Stuck M. 3, —
portofrei gegen Voreinsendung des Betrages
WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITERATUR. KUNST
7.JAHRGANG HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT 25. AUGUST 1917
Margarethe Goetz
Zeichnung
AUS EINER SZENE: „DER GENIUS DES
KRIEGES"
Von Max Brod
„Wche denen, die Boses gut nennen und Gutes bose,
Die Finsternis 2U Licht machen und Ucht zu Finsternis,
Die bitter zu sfifl machcn und sfiB zu bitter. "
Jesaja 5, 20.
Der Genius des Krieges (spricht)
Niemand gerettet. — Denn ihr alle seid
Die Schuldigen. In eure eigne Handarbeit,
Die ihr gedankenlos an Sommerabenden
Schwatzhaft und mild verstummend wobt, seid ihr
Gefangen, Hebe Damen, und verstrickt
in alle Torheit, die ihr je dabei geplappert.
In eure Modebiatter und Kostiime,
In eure geistlos widerliche Narrheit pfeift
Ihr heute euren letzten Atem aus,
Erstickt von Borten, Federn, Hausfraudummheit
Und was ihr arglos triebt
Und weiter treibt, indes Verderben schwillt,
Das sticht zuriick mit arger Schlangenwindung,
Ihr wiBt garnicht, wie bos ihr selbst euch seid.
So harmlos und so bos. — Die ihr den Gatten,
Der Sohne hingeworfne Schar beweinet,
Ob ihr nur wiBt, im Augenblick der Nachricht,
Der gliihenden, es wiBt, daB ihr sie selbst,
Ihr selbst getotet habt. Mit eurem Lacheln
Mit euren Kleidchen, Witzchen, Nichtigkeiten
Getotet habt. — Das ist die Art der Welt,
Die, einer tollen Feuerkugel gleich,
Durch ihr Geleise rollt. LaBt ihr sie los,
Springt sie euch an. Man muB sie wacker halten.
Und ihr habt losgelassen, liebe Frauen.
Nun brennt es tiichtig, was?
Und bruht auch euch,
Ihr siiBe Dichterjugend, die im eignen Selbst
Nach Reinheit strebt. Und gut und unvermischt
Wollt ihr die goldne Lyra eurer Seele
Garberigewaltig klingen lassen, riicksichtslos,
Denn jede Rucksicht dampft das edle Saitenspiel.
Nur daB das Echte, so in sich gedreht,
Gar leicht zu Falschheit und Bequemlichkeit
Und das Gefiihl zu bidder Wirrnis sinkt.
So in euch selbst gewickelt naht ihr euch
Der Schicksalskugel, deren wilde Flamme
Wie Lockenhaar um einen Tollkopf, wie
Demantner B!ick von tausend Spaheraugen,
Ein Glanz, doch unhold euch, entgegendroht? —
Die Damen wollten wie in einem Spiegel
Sich in dem Ball besehn, da brach er auf,
GoB seine Lavafliisse fiber sie.
Der Kaufmann wollte ihn in Mfinzen schneiden,
Er riB sich los aus Qual und KrallenfleiB
Mit einem Ruck. — Und ihr, was wollt denn ihr?
Ihr wollt ihm garnicht nahn, ihr nur auf euch
Und eurer eignen Seele Glanz Bedachten?
Ihr stoBt ihn weg sogar? — Er kehrt zuriick
Und, merket, diirren Reisig friBt er auf.
Ihr dachtet, er beschmuizt? O mehr! er friBt,
Ein wildes Tier. Jetzt briilit ihr! O zu spat!
Ihr wart so tapfer, daB ihr feige vvurdet,
Ihr wart so reinlich, daB ihr heucheln muBtet,
So fuhlend. - Aber wart ihr je gerecht,
Kraftvoll mit offnem Aug, mit Einsicht hilfreich ?
Ich darf euch schelten, denn in eurem Tiegel,
Ihr drei, ward ich gezeugt, — mir nicht zur Lust,
Zu ungewissem Sein vielmehr. Ich leide,
Ich bin so miide, ohne Lebenskraft,
DaB ich zerfiieBen mochte. Doch ich weiB,
Wenn ich zerflieBe, - wer wird mich erkennen?
Schon heute, da ich noch in guter Fulle
Vor euch aufstehe, scliielt ihr mir vorbei
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445
DIE AKTION
446
Und fragt: „Wer is t denn schuldig? — Wir doch
nicht. —
Wir haben ihn nicht in die Welt gesetzt. — **
Drum bin ich da, drum halt 1 ich mich noch auf-
recht,
Damit ihr endlich eure Elternschaft
Einseht, von Riitseln und DamoneneinfluB
Nicht fabelt und von Wundern femer Spharen.
Ach, wiiBtet ihr, — es gibt Damonenwelten,
So selige, auf Riicken griiner Beige,
In Silberwiesennebel und Gewolk,
Wohin nicht eurer kuhnsten Phantasie
Oberste Flugelspitze anstoBt, — dort
War ich ein wilder, doch gelehriger,
Noch unvollkommner Geist und freute mich
Mitten im Engelchor der Unterweisung.
Auf unsrer Moosbank saBen wir und horten,
Wir Reifenden, dem Cherub Lehrer zu.
Da greift wie eine Teufelsfaust ein Bann,
Ein Zauberlied, in unsern Himmel ein
Und ruft. Und rufet mich, gerade mich
Unseligen, — ein Lied aus Menschenlippen,
Von euren Lippen war's. Und schaudemd sptire
Ich kalten Bandern gleich die Klange mich
Umwickeln, meine zarte Aureole,
Die tauerfrischte, werdenden Gefiiges,
Kaum noch an zarte Atherluft gewohnt,
Mit rauher Kraft zusammendrucken, — ach,
Und jeder Klang fiigt Fleisch und Knochen mir,
Fiigt sie wie Maurerhand die Ziegelsteine,
Fiigt einen schandlich ungelauterten
Gefangnisleib um meine Sehnsuchtsseele.
Margaret hr Goetz Zachnung
Ganz eingemauert bin ich, einen Schacht
Fiihl ich um mich, den es mit Obermacht
Mich aus mir selbst hinaus, hinunter reiBt.
Das habt ihr mir getan. Ein andres war's,
Von Gott mir zugeteilt. Ich ahn es kaum.
Ich war so jung und frohlich, voll von Saft,
Und irgend eine Tugend, unbekannt
Den Hutern der Geheimnisse, nur Ihm
Bekannt, und kaum erst vorbereitet
In meiner Brust, nur wie die Frucht im Kern
Drangend und holder Nahrung gierig, wuchs
In mir, das fiihlte ich, — Jetzt bin ich da,
Unsinnig, vor der Zeit. Ich schlage bos
Um mich wie ein Unausgeschlafener,
Ich tobe wie ein schlechtgelauntes Kind
Und spreche aus dem Fieber. Ach, mein Bestes,
Geradheit, Mut und Kraft, wie habt ihr mir
Die Tugenden aus ihres schonen Wachstums Bahn
Gerissen, ach, mein Bestes in mein Argstes,
Mitgift und Burgschaft hdherer Bestimmung
In schwarend Gift zersetzt. Die nur fur euch
Im All der Krafie federnd
Auf fernen gottgewuBten Stufen kuhn
Zur Hilfe vorbereitet lag, — o meine Kraft,
Die gute, habt ihr wirr im Eigennutz
Zu euch herabgezogen, ungeduldig
In Gang gesetzt das fiirchterliche Uhrwerk,
Schamlos, ehe es fertig war, vorwitzig,
Ohne Vertrauen in die wahrhaftige
Wortlos sinnvolle Absicht meines Vaters,
An die ihr nicht geglaubt. Was wolltet ihr
Die ihr mit frevelndem Beschworungswort
Zu diesem falschen Ungetum mich machtet,
Mir Leben gabt, des alien Leben feind,
Nur Dauertod, erstarrte Hinschwund ist?
Sagt an, was wolltet ihr, ihr bosen Pfuscher?
O dafi ihr wenigstens verstundet, was
Ihr siindigtet, an mir, an euch, daB sich
Aus zitternden zerknirschten Lippen endlich
Das groBe Schiboleth, das mich erkennt,
Entrange, mir die Freiheit, euch den Frieden
Und vorbedachtes Heil, wie es der GroBe
Im ersten trunknen Schopferblick gesehn,
Uns beiden gabe. Schaut, zu ihm schaut auf,
O sprecht die Wahrheit, rufet, rufet mich
Bei meinem rechten Namen, — ach wie geme
Verschwand’ ich dann.
Doch allzufest gekettet
Bin ich. Und ihr an mich. Niemand gerettet!
FLEDERMAUSFLUG
Von Myrrha Tunas
Unruhige Schleifen zucken im Dammergrau,
Fledermausflug. Rastloses Jagen, Zogern im Wen-
den, unstates Hasten in Sehnen nach leuchtendem
Ziel, das Nachtschleier schwarz schelten: Fleder-
mausflug.
~~„Was zuckt dort hinten? Siehst du die graue
Gestalt? Sie zeigt die Zuge einer Frau
„Mutter war sie eines Sohnes.“
„Mutter ? <4
„Mutter. Siehst du nicht den Darnengiirtel rings
um ihren Leib?**
447
DIE AKTION
448
1*1
*
„Domengurtel! Dornen? Mutter! 44
„Mutterdornen. Tranen kannst du nicht mehr
sehen, wurden ja zu Blut und Dornen. Blut er-
starrte, Dornen blieben/ 4
„Fiel ihr Sohn in Schuld — “
„Totend wurde er getotet. War er ja der erste
Sohn von einer Mutter, der im Kriege fiel/ 4
„0 Leid und Not! 4 *
„Am Himmelstor stand sie, die Leichnamstiicke
mit der Hande Magerkeit umkrallt: hier, Herr,
mein Sohn! Ein Stiickchen Seele fehlt. 44
„Nun konnt Gott keine Ruhe geben? 44
„Sie irrt umher, zuckt hierhin, zuckt dorthin. S i e
sucht den Fleck, den keine Trane
n a B t e.“
„Keine Trane? 44
„Dort ist das Seelenstuck des Sohns, dort darf die
Mutter ruhn/ 4
„Ruhen? Sternenfernes Mutterlos. 44
„Und dann soil Frieden sein fur Menschen/ 4
„Frieden? Sternenfernes Menschen los. 4 4
„ Frieden, immer Frieden. Siehst du sie fliegen und
suchen ? Zuckt hierhin, zuckt dorthin — und sucht,
sucht/ 4
„Und tragt die Ziige einer Frau/ 4
— Unruhige Schleifen zucken in dammergrauer
Luft. Fledermausflug. Jagen, Hasten, Wenden,
Suchen nach leuchtendem Ziel, das Nebelschleier
verhiillen — —
VERSE VOM SCHLACHTFELD
Traum im Trichter
Tragst Du verstorte Seele noch den Schaum
der femsten Stunden in die stets verdrangte
Andacht, die Dir verblieb als vages Kaum?
Vertraumst Du nicht die Tat in triib gemengte
Bedacht, Dir unbekannt wie dies Gesicht
im Ieeren Spiel, das Dir der Tag behangte,
Siehst Du darin der Torheit und des Alters Gicht?
Denk an die Stunden, da sich Dir erhellte
Dein morgenfriihes warmgestrahites Licht,
Da Dir kein Zweifel noch den Sinn verstellte,
Der Dir die Welt zeigt durch ein t rubes Glas.
O daB des Vogels Flucht im Blut zerschellte,
Als er gefangen in den Gittem saB,
Vereinsamt, krank, versiichtet und verkommen
Das Futter weigerte, das er am liebsten fraB —
Weh! Jenes feme Licht ist ganz Dir nun ver-
glommen.
11
Ich lag im Traum, der Welle war und Schaum
Und mich bedrangte, Erdliches verdrangte,
Ich sah die Weite, sah den Himmel kaum,
Und war dem grunen Licht das Eingemengte,
Das ganz mit Schaum esspitzen mein Gesicht
Und weiBen Schleimesschleiern es behangte, —
Schwer wie Gewicht lag’s auf mir und wie Gicht,
Und nichts die grasig-grune Nacht erhellte:
Sie stand und wogte so im eignen Licht.
Wie oft sich auch das Auge mir verstellte, —
Es war nicht lebend mehr, war wie aus Glas,
An dem die Welle brach und sich zerschellte —
Ich wuBte nur, am tiefsten Grunde saB
Das Scheuel, dem ich sinkend muBt’ verkommen
Und seiner Fresse ein willkommner FraB
Erwacht sah ich des Morgens klares Licht ent-
giommen.
Karl Sgraffoldo
Stimme aus der Hohe:
Wollen wir doch nun, du lieber Kamerad im
kreidigen Mantel an der Schiefischarte, alles
Traumen weit wegtun und nur dem leben, was
Harte befiehlt!
Moge die Mine, die hoch daherzieht, fallen, wohin
sie fallt; zittern wir nicht, betten wir den
Toten, den sie uns riB, in Erde und Ruhe!
Aber die driiben im kreidigen Grabenstrich, tun
sie nicht so wie wir und leiden, frieren in
gleicher Not,
Haben Vater und Frauen zu Haus und waren
einstmals ganz lachelnde Kinder,
Gingen einst auch mit Biichern zur Schule, saflen
wohl horchend denen zu FiiBen, die Weise-
stes lehrten.
Bruder und Menschen, vergaBen wir’s doch im
Trauern um Freunde. —
Aber du druben, der du ein anderes Kleid tragst
und nach anderer Richtung hinhorchst die
Lieben zu horen.
Spuren wir nicht eines Herzens Schlag, das uns
Gott gab alle Menschen zu lieben?
Otto Freundlick
Holzschn itt
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449
DIE AKTION
Sei, wie du bist! Seist du im Khaki, im blauen
Tuch oder Turban oder Stahlhelm oder in
lehmfarbencr Mutze,
Wollen wir nicht aufeinander zugehn und wieder
uns Briader heiben?
Da wir doch Menschen sind, leidend, zerqualt
und einstmals ein Gleiclies ertraumten in
Kindheit und Liebe?
Wollen wir nicht die tiefdunklen Unterstande auf-
reifien, die wir aus Furcht voreinander ge-
baut?!
Oder aus den Oraben herausgehn, bis in die
Mitte, wo kein Verhau ist!
Und hin alles stellen: Gewehre, Granaten, Minen-
werfer und Gasflaschen, Handbomben und
Feuerspeier.
Und hinknien und beten: Herr, gib uns wieder
die Liebe!!
Rudolf Hartig
EUROPA UND ASIEN
Von Theodor Less in g
V Europa und der ,F o r t s c h r i 1 1*
,,Bezahlten wir des Lebens Wissen mit dem Leben selbst,
Zu Geist verblabt? Sind wir ein Geisterreich ?"
Die Geistesmachte Asiens ; welche wir schilder-
ten, zielen allesamt auf ewiges Leben: zeitlos-
ruhend-unbedingt. Europas Wissenschaften und
Religionen dagegen sind fur Zeit und Wirklich-
keit eingerichtet; das heiBt, fiir die relative, be-
grenzte menschliche BewuBtseinswelt! Sie
sollen, nach dem Wort eines europaischen Theo-
logen „schon jetzt und hier dem bedrangten
Menschenkinde zu einem wiirdigen Leben und
frohlichem Sterben behiilflich sein.**
So kommt es denn, dab tiefer-denkende Asiaten,
indem sie an Hochschulen und Universitaten Eu-
ropas alle Hilfsmittel des „Komfort$“ und der
Lebensubermachtigung mit grober Gelehrigkeit
und Nachahmungsgabe sich aneignen, dennoch
zuweilen im Innern eine gewisse Mibachtung der
europaischen „Kultur (< verspuren. Sie fuhlen
insgeheim heraus, daB alle unsere gewaltigen
Systeme zuletzt nur Gliickseligkeitslehren ihrer
Autoren sind, die auf ,befriedigende Weltanschau-
ung* als auf die Norm menschlichen Griibelns und
Erkenncns hinschielen. Ihr Wert dient dem Leben,
ihre Wahrheit der Wirklichkeit, und doch wissen
wir gar nicht, ob das Leben mit dem Wert,
die Wirklichkeit mit der Wahrheit notwendig
in Harmonie stehen mub. Das ist vielleicht nur
eine ,monisti$che* Uberzeugung, die der alteren
Weisheit Asiens vollkommen fremd ist*).
Ein clirwurdiger Freund, Max Schneidewin hat schon 1891
den hier in Rede stehenden phiiosophischen Gegensatz foU
gendermaBen formuliert: Der n wissenschaftliche Geist"
entspricht so reclit der Gesinnung der occi dentalischen
Volker; der Lust des Einzelnen am geistigen Leben und Be-
wegung mit dem Wettbewerb der eigenen Beteiligung daran;
er ist die Luft unserer Universitaten. Der ph ilosoph isch e
Geist ist daneben ein unveriilg bares Ekdiirfnis der ernstesten
Vcrnuuft selbst, sofmi sie rein sich sclber folgt, in deni
groben Carneval keine Rolle bcausprucht und nicht vom
— Ein seit hundert Jahren bei uns allverbreitetes,
in Asien aber unbekanntes Schlagwort bemantelt
fiir Europas denkende, nicht denkende Intelligen-
zen die Blobe dieses Aberglaubens an Wissen-
schaft, narnlich das Schlagwort: Forts chritt
oder Entwicklung! Wo immer es verwendet
wird, da kommt ein gewisser anschaulicher Mate-
rialismus der Wcltbetrachtung zum Ausdruck. In
Deutschland verschuldete die grobe Wirkung He-
gels (1807), in England der nicht minder mach-
tige Erfolg Darwins (1839), dab der Begriff „Ent-
wicklung'* zum Kern des gesamten geistigen
Lebens wurde. Die Natur wurde seit Darwin,
die Geschichte seit Hegel mit einem hochst
naiven Vertrauen so betrachtet, als seien Sinn,
Wert, Fortschritt, Entwicklung nicht etwa nursinn-
gebende und logifizierende Ideen, nein! hochst
gewisse, erfahrungsgemabe Tatsachen dieser
hochst gewissen, erfahrungsgemaben ,WirkIich-
keitL Besonders im Englischen wird das Wort
evolution gleich als ob sich das von selbst ver-
stunde, immer im Sinne von melioration ge-
braucht.
Was nun b e s a g t Das ? — Wenn wir nicht irren,
be?agt es, dab eine Untermengung von Tatsache
und Wert, Wirklichkeit und Idee eingetreten
ist, aus der das europaische Denken nicht her-
ausfindet.
Das bemerken wir mit schauderndem Entsetzen
in diesem Augenblick!
„Geschichtliche Notwendigke:t u ist das Zauber-
wort des gegenwartigen Europa ge worden.
Selbst das Sinnlose, Widersinnige, Verruchte be-
ginnt fiir Millionen als logisch sanktioniert und
ethisch gerechtfertigt zu gelten, wofern es ihnen
nur als ,geschichtlich-not\vendig‘, das heiBt als
genetisch begriindet eingeredet wird. Und ge-
rade Europas denkende Seelen, deren ganze Le-
bensarbeit darin bestehen sollte, die Sphare des
wertenden Geistes von Vertriibungen durch blofl
historische „Notwendigkeit u rein zu halten, hul-
digen diesem Historismus und kapitulieren mit
einem Schlage vor , Geschichte* und ,Notwendig-
keit*, wofern nur ihre Geschichte und ihre
Notwendigkeit in Frage stehen.
Diese Preisgabe der phiiosophischen Einsicht und
Wiirde an den Dienst der Wirklichkeit von Natur
und Geschichte wird von nachhinein nicht nur als
erzwungene Politik oder praktischer Sinn ent-
schuldigt, nein! wird geradezu als Pflicht und
Forderung, sittliche Opfertat und Begeistcrung fiir
das Ideal in den Himmel erhoben. Immer wieder
wird historische Veranderung, (die doch zu-
nachst nie etwas Anderes ist als Funktion der je-
weiligen Notstande), so hingestellt, als ob
sie schon eo ipso eine von der Vernunft zu billi-
gende, vom Gewissen zu bestatigende i d e a 1 e
Forderung in sich schlosse, (besonders dann,
wenn die geschichtiichen Veranderungen im Sinn
der volkstumlichen I nstinkte, der privaten Wun-
sclic vor sich gehen). —
R.iusch der mcnschlictiLMi Din^e unmebeit ist. (Das goldene
Abe der Philosophic, die Ein'eitung zu dem Werke Philo-
sophic im Umrib von Adolph Steudel).
451
DIE AKTION
452
w
Ich will hier nun keineswegs jeden Begriff ge-
schichtlichen Fortschritts anzweifeln, j e d e Form
historischer Entwicklungen leugnen. Ich wiinsche
auch keineswegs zu bestreiten, daB die sogenann-
ten .Errungenschaften 4 Europas: Dampfschiffe,
Eisenbahnen, Telegraphen, Telephone, Luftschiffe,
Dynamos, Automobile, Lenkbalions; ferner: Par-
lamente, Konstitutionen, Zeitungen, Universitaten,
Volksschulen in der Tat dem ganzen Mcnschen-
geschlechte Outer und Werte ubermitteln. Aber
es handelt sich hier nicht um wirtschaftlichen und
politischen, uberhaupt nicht um bloB funktio-
nellen Wert, dessen Wert immer erst an hand
einer reineren und unbedingteren Sphare der Giil-
tigkeit gemessen und bestimmt werden muBte.
Denn alles Politische, Wirtschaftliche, Historische
liegt diesseits der Sphare reinen Wertes. Es wird
in aller Ewigkeit, so lange als Menschen auf der
Erde leben und was immer auch an diesen Men-
schen vor sich gehen mag, blofie Funktion ihrer
Notstande, Notausgang ihrer Verhaltnisse, derb
gesagt, Index ihrer menschlichen Geschafts- und
Nutzlichkeitserw'agungen sein. Was aber ist der
Nutzen alle dieses Nutzens, was der Wert aile
dieser Werte? 1m praktischen Leben regie rt
Not! Und was auch immer geschieht, Europas
internationaler Demokratismus nicht minder, als
der im Augenblick kurzsichtig und kurzatmig auf-
gebluhte Nationalismus der Volker, Monarchic
wie Republik, Anarchie wie Sozialismus, alfes
muB Funktion der Not bleiben! Alles Qerede von
GroBe und Heldentum der Zeiten zersch elite
immer wieder am ehernen Felsen der Not! —
Wir verachten wahrlich jede Skeptik, jede Vernei-
nung gegenuber den einzig wichtigen, einzig das
Leben lebenswert machenden groBen Gewalten
des Gemutes! Aber zu oft haben wir gesehen,
daB Meinungen, Bekenntnisse, Uberzeugungen
ganzer Volker von heut auf morgen sich anpaBten
an die sogenannte .praktische 4 Oder .historische
Notwendigkeit 4 (diese Notiiige aller Charakterlo-
sigkeit, Dummheit, Unselbstandigkeit und Eitel-
keit der Menschen). Wir haben es erlebt, daB
die Vertreter der Geldmacht, wie die der Waf-
fenmacht von heute auf morgen sich in ,Demo-
kraten* wandelten, ja den radikalsten Sozialismus
als Trumpf ausspielten, wofern damit fur sie
,bessere Geschafte 4 zu gewartigen waren. Wir
haben nicht weniger oft erlebt, daB die unabhan-
gigsten Anarchisten und Revofutionsmanner in
Stadt und Land von heute auf morgen sich riick-
verwandelten zu Hutern von Thron und Altar,
sobald nur s i e hinter den Altaren zu stehen, s i e
auf die Thronsitze zu gelangen eine Aussicht
erhielten.
Hinter .politischer Geschichte 4 der Volker und
Staaten je Hoheres, Tieferes je zu suchen, als das
„Mysterium des Fressens und Gefressenwer-
dens 4< , das ware eine unverzeihliche Unbesonnen-
heit und nicht erlaubte Primitivitat fur den, der
durch das Studium der curopaischen Geschichte
hindurchging, Auch das hochste, echteste, gott-
erfullteste Pathos, das aus dem Bestialen: Krieg
und Revolution, etwas Sittliches zu gestalten
vermag, konnte uns in dieser Skepsis niemals
irremachen *).
Wo denn sind gegenwartig, Herbst 1914, die
Heroen europaischen Fortschritts? Wo Europas
Sozialisten? die zur Wahrung des Zwischenvol-
kischen berufenen Denker und Dichter? die zu
reinerer Menschlichkeit geborenen Frauen? Wo?
— O getrost! Alle: Sozialisten, Frauen, Denker
und Dichter, alle alle werden morgen oder uber-
morgen wieder die Markte mit Fortschriit, Ent-
wicklung, Sittlichkeit und Humanitat versorgen,
wenn keine Gefahr dabei besteht beim Verkauf
von Sittlichkeit, beim Handel mit Humanitat er-
wischt und fusilier! zu werden. Dieser ,Fortschritt (
— Funktion des Selbsterhaltungs- und Selbstaus-
heilungswillens — ist keine Besonderheit Eu-
ropas! Er ist die unvermeidliche Lebenswaffe
des Menschen, jedes Menschen, so weit er Ver-
treter seiner Lebensgruppe ist, sei es in Europa,
sei es in Asien. —
Aber ein a n d e r er , ungleich tieferer Gegensatz
tut sich vor uns auf! Das Morgenland traumt und
atmet in einer Substanz des Lebens, darin der
Mensch und seine BewuBtseinswelt ein fur alle
Mai eingesenkt ruht: zeitios und unbedingt! Wir
dagegen, in Europa, denken auch das, was hin-
*) Dieses wurde ini Herbst 1914 gesagt
Anton Pirek
Der Totenhof
■i
■x.
:? -■
I)
453
DIE AKTION
454
t e r der Welt steht, das ,Metaphysische‘, als einen
„historischen ProzeB“ und somit eigentlich als
zcitlich. Wir benennen es mit Worten wie
Weltgeist, Weltwille, WeltbewuBtsein, Energie.
Immer aber mit Worten, die Tatigkeit und
somit Wandel in sich schlieBen, als Spiegelbild
unsrer eignen aktiven, immer arbeitenden, immer
auf Ziele hinstrebenden Lebendigkeit, Selbst Scho-
penhauer und Spinoza, die beiden beschau-
I i c h s t e n Denker Europas, suchen im Weltwesen
weniger ein zeitlos uberwirkliches S e i n , als zeit-
lich wirkendes Lebendigsein.
Nach alledem mochte ts uns bedtinken, als ob
das Denken des Morgenlandes gleich einem lie-
benden Weibe vertraulich hingegeben der Natur
sich ans Herze schmiege, wahrend das BewuBt-
sein des Abendlanders gespannt und kriegerisch
ihr gegeniibersteht, immer auf der Lauer,
herauszufinden, wie die Natur arbeitet, wo*
durch er ,hinter die Natur kommend', in den
Stand gesetzt wird, sie nachzubilden. ja sogar
zu verbessern, was denn freitich aus aller bunten
Lebendigkeit Europas zuletzt doch nur einen ge-
spenstigen Golem hervorlockt: die Mas chine,
die wie das vergeistigte Gespenst des Lebendigen,
wie ein Vampyr nun das Leben in sich aufsaugt.
Denn auch unsre bauende und neuschaffende
Kunst ist wie die Syntese der Chemie eben ,kunst-
lich‘, auf mechanische Zerlegungen, atomi-
sierendc Zerstiick el ungen des Lebendigen voran-
gewiesen.
Darum begreifen wir nicht die schlichte Anbetung
der schlichten groBen Symbole von Geburt, Zeu-
gung, Fruchtbarkeit, Leben und Tod. Und begrei-
fen nicht, daB das Morgenland als seine groBten
Menschen solche verehrt, die durchaus gar nichts
getan, geleistet, geschrieben und gemacht haben,
sondern gleich Buddha und Laotse nur der Betrach-
tung des groBen lebendigen Einen mit alien Sinnen
nachlebten: unbewegt, heilig, wandellos, ohne
Werk. Wir aber finden unsre Rechtfertigung, ja oft
unsre Entschuldigung im W i rk e n. Gleichen wir
nicht dem Vogel StrauB in der Wuste, welcher
eigentlich von der Natur zum Vogel bestimmt
ist, mit Fliigeln, die ihn dazu befahigten, leicht
und frei in Licht und blauem Ather zu leben?
Er aber hat einen zu schweren, massigen Korper,
und sobald er sich auf semen Flugeln ein wenig
erhebt, so zieht ihn alsbald der schwere und
trage Leib wieder nieder zur gewohnten Erde.
Da macht er denn aus der Not eine Tugend!
Weil er nicht als hochster unter den Vogeln
fliegen kann, so lernt er wenigstens als schnell-
stes unter den Erdgeschopfen Iaufen. Und dann
riihmt er sich vor alien Fliegenden: „Seht mich
an, meine Erfahrung, meine Wissenschaft! Wer
von Euch kann im Sande der Wuste so schnell
iaufen wie Ich?“ —
Gerade darum also, weil wir Mhlen, was wir
verloren haben, reiten wir Lebensarmeren auf dem
Begriffe ,, Leben In der jiingsten europaischen
Philosophic, (ich erinnere nur an den vielzitier-
ten Begriff der Evolution creatrice), wurden zu
Lieblingsformeln aller Orakel dieser Zeit Be-
griffe wie diese: Leben, Lebensphilosophie, un-
mittelbare Anschauung, adaquate Evidenz, Lebens-
macht, Lebensgewalt, Intuition des Lebendigen. —
Und nichts hort man in so vielen Tonarten im
gegenwartigen Europa wiederhallen, wie das
widerwariige Lebenspreislied Fichtes:
, Nichts hat unbedingten Wert und Bedeutung
als das Leben. Alles iibrige Denken, Dichten,
Wissen hat nur Wert, insofem es sich auf
irgendeine Weise auf das Lebendige bezieht,
von ihm ausgeht Oder in dasselbe zuriickzu iau-
fen beabsichtigt/ —
Indem der Europaer solche ,Lebensbekenntnisse*
spricht, denkt er zweifellos nicht an das asiatische
br£hm (denn wie sollte Denken, Dichten, Wissen
uberhaupt es anfangen, aus br&hma je herauszu-
treten?) nein! er denkt an atma*). Denkt an
Macht, Gluck, Weltherrschaft, Reichtum, Starke,
Erdenphilosophie, Menschheitsnutzen. Die Herr-
lichkeit dieser aktivistischen Philosophic gilt aber
gerade so lange, als die Erde und auf der Erde
der M e n s c h dauert. Das geniigt vollkommen
— dem Europaer-
*) Die dcutschc Ubcrselzung des Oupnek' hat, nach Anquetil
Du perrons lateinischer, verdeutscht atman sehr schon als
N da$ daseinslose Dasein",
455
DIE AKTION
456
AUS BAKUNINS BRIEFWECHSEL MIT
HERZEN.
4. April 1867. Napoli.
Vico Bella donna a Chiaja No. 9, 2 piano.
Lieber Herzen!
Der Oberbringer dieses Briefes, der beruhmte Ge-
lehrte und Genfer Professor Claparede, wiinscht
sehr Deine Bekanntschaft zu machen, and mit
Vergnugen gebe ich ihm diesen Brief, da ich iiber-
zeugt bin, daB Du an der Bekanntschaft mit ihm
viel Vergnugen finden wirst. Er gehort nach
seinen Gedanken und seiner Richtung zu uns;
es ist ein klarer Kopf, eine gerade und ehrliche
Seele. Er ist sehr krank und diese Krankheit
lahmt oft seine Tatigkeit. Ich wiederhole noch-
mals, ich bin sicher, daB ihr, Ogarjow und Du,
mir fur diese Bekanntschaft dankbar sein werdet.
Du bist in Itaiien gewesen, ich hoffte, daB der
Wunsch, Dich zu erwarmen, Dich auf einige Tage
nach Neapei ziehen wurde. Ich ware selbst zu
Dir nach Florenz gekommen, hatte ich Geld ge-
habt Doch wie gewohnlich fand sich keins bei
mir. Die Sonne von Neapei war diesmal nicht
verlockend genug fur Dich, und mein Wunsch,
Dich zu sehen, ging nicht in Erfiillung. Vielleicht
wird es mir gelingen, im Juni oder Juli nach
Genf zu kommen, wo mir Claparfcde einen Zu-
fluchtsort bietet.
Bevor Du diesen Brief erhaltst, werde ich Dir
7 Franken, den Abonnementsbetrag fur die
,,Glocke“, schicken. Es heiBt, daB die letzten
zwei Nummern, die ich nicht zu Gesicht bekam,
wegen der Korrespondenzen aus RuBIand sehr
interessant seien.
Schon geht es jetzt in RuBIand zu! Euer gott-
gesegneter Schuler*) hat schon tange Nikolai iiber-
troffen. Obrigens bin ich froh, Ich habe der Re-
gierung nie irgend welchen Fortschritt zugetraut,
nie habe ich an den Siaatssozialismus geglaubt.
Ich bin froh, daB sich Regierung und Staat ent-
puppen und sich so zeigen, wie sie anders nicht
sein konnen. Wie stumpf auch das Bewufitsein im
russischen Volke ist, es wird doch endlich auf*
wachen; und da es in unserm Staate nichts Or*
ganisches gibt — alles ist nur Sache der Me-
chanik — , so wird der Anfang des Zusammen-
sturzes schwierig sein, aber nichts wird ihn dann
aufhalten konnen ; das Reich wird in Stucke gehen,
daran zweifle ich nicht, ich wiinsche nur, daB
es noch zu unsern Lebzeiten geschieht.
Was macht Ogarjow? Wie ist seine Gesundheit?
Schon t er sich genug und ist ein gescheiter Arzt
um ihn? Ich driicke ihm und Dir die Hand, Na-
talja Alexejewna meinen ehrerbietigen GruB. Viel-
leicht wird es mir doch gelingen, euch kiinfti*
gen Sommer in Genf zu sehen.
8. April 1867. Napoli.
Vico Bella donna a Chiaja No. 9, 2 piano
Lieber Herzen!
Ich wundere mich, daB Baxt, der mehrmals bei
uns war. Dir nicht meine Adresse gegeben hat.
Du darfst wann und wie immer in meinem Namen
*) Hier ist wohl Alexander II. gemeint.
Georg Tap pert Port rat
antworten, ich stelle ihn Dir zur volien Verfii-
gung. Nur weiB ich nicht, von welchem Artikel
in der „Gk>cke“ Du sprichst; ich habe keine ein-
zige Mirznummer der „Gk>cke“ erhalten und
begann bereits zu denken, daB Du mir fur irgend
etwas, selbstverstandlich ohne Verschulden
meinerseits, bose geworden seiest und Tchor-
zewski ersucht hattest, mir eure Zeitschrift nicht
mehr zu schicken. Ich war bereits im Begriff,
euch 7 Franken zu schicken, mit der Bit te, mich als
Abonnenten zu betrachten. ich bitte Dich, schicke
mir die beiden Marzhefte und erklare mir, w'orum
es sich eigentlich handelt.
Es ist ganz naturlich, daB ich Deinen vorletzten
Brief nicht erhalten habe, Du hast ihn poste
restante adressiert und er liegi noch hiibsch ruhig
auf der Post. Jetzt erst werde ich ihn holen. Wenn
mir der Angriff verletzend erscheinen sollte, so
werde ich auBer Deiner Antwort, die ich Dich bitte,
in meinem Auftrage, aber nicht direkt mit meinem
Namen unterzeichnet, zu verdffentlichen, selbst
eine Antwort schreiben, in welcher ich darin mit
Dir ubereinstimmen werde, daB man in Bezug
auf solches Vieh keine Skrupel haben soil.
In etwa zwei Wochen wird Professor Clapar&de
nach Genf kommen ; er ist ein Genfer, eine zoo-
logische Beruhmtheit und ein in alien Hinsichten
vortrefflicher und auBerordentlich kluger Mensch ;
er teilt alle Hauptpunkte unsres Glaubensbekennt-
nisses, und man darf sagen, er gehort ganz zu
uns, nur ist er krank und durch die Krankheit
matt. Ich bin iiberzeugt, daB ihr, Ogarjow und
Du, mir fur diese Bekanntschaft sehr dankbar
sein werdet. Wie geht es Ogarjow? Er soil mir
auch ein paar Worte schreiben. Freunde, wenn wir
auch scheinbar verschiedene Wege wandeln, so
gehen wir doch ein jeder nach bestem Verstande
ehrlich und unermudlich demselben Ziele zu, —
457
DIE AKTION
458
0
ich personlich habe nie aufgehort, der Eurige zu
sein.
Apropos, habt ihr das Oktoberheft der „Situa-
zione italiana“ erhalten und gelesen? Ich schicke
Dir mit gleicher Post das Programm des neuen
Journals, das bald in Neapcl erscheinen wird.
Es sollen Dich nur nicht die charlatanhaften Ver-
sprechungen am Schlusse und die vorsatzliche Aus-
lassung sozialer Fragen im Programm des Jour-
nals erschrecken, das hauptsachlich ein soziales
sein wird.
Ich driicke Ogarjow die Hand, griiBe ihn sowie
Natalja Alexejewna und Lisa von mir und meiner
Frau und erwarte Ant wort.
Euer
M. B.
Ich habe die Nummern 233 -234 und neulich die
Nummer vom 1. April, von den Zwischennummem
nur eine erhalten.
DIE NACHTWANDLERIN
Man sah sie erst als weifie Taube
zwischen Fensterflugel geklemmt
Lieblich mit offnem Haar und Spitzenhemd
vor Mondlicht schmelzend, reife Traube —
Oespenst in Phosphor griin, gelahmt,
aufschwelend ohne Schatten, von den Traufen
die weiBen Beine spreizen unverschamt —
kiihn iiber Borde und Gesimse laufen —
Sie vvuchs hinmagernd lang in kalte
Wachsarmut einer steifen Kinderpuppe,
Verkugelt das Gelenk bizarr in Ekstase —
steigt auf von Schwebcndem gespannte, diinne
Blase
und flattert grelle Wirbel Sternschnuppe
in Finsternis drohnend auf frierende Asphalte.
Karl Often
DER LEICHENWAGEN
Die Sonne
Verbrennt im Ebenholze;
Es giiihen Leder und Metall
Der leblos ziehenden Pferde; . .
Aus vier Laternen
Funkelt der Morgen und schwebt
Fruchtlos neben dem kalten Dochte,
Springt in das Glas . . und zuriick . .
Und beflackert die Mitte wie eine Lampe.
Aus dem Sarge lodert die unwirkliche Sonne.
In den Augcn des Kutschers vor sich hin
Dammert ein Ziel . . .
Hinter ihm ragt eine Hand aus dem Innern:
Wohin?
Bin ich wirkliche Erde?
Alfred IVolfenstein
DER AM LEBEN STIRBT
In Herzenskalte eingekerkert, hoffnungsleer
harr* ich der Stunde, die Vernichtung heiBt.
Die Sommernacht laBt ihren Regen schwer
herniederwuchten auf den mildgekampften Geist.
Schwer wie ein Leichentuch. Wie Gottes Mantel,
der
im Sturm die Sterne in den Abgrund reiBt.
Ich harre, starr, ein Stein. Ach, allzu sehr
ist mein Gemiit verwittert und vergreist.
Mit keinem Wesen weiB ich mir ein Wort,
mit keinem Ding ein Dach gemeinsam mir.
Sehnsucht erblindete und Demut ist verdorrt.
Kommt ihr zu meiner Mutter, kiindet ihr:
Er will nicht, daB es ihn auch nur im Traum noch
gibt!
Er will nichts, als den Henker, der ihn weder
haBt, noch liebt!
Max Herrmann
SOMMERGANG
Des reifen Sommers Starke war im Ruch
der Baume, Graser und im sanften Blatt.
Ganz ausgeloscht war jede Qual der Stadt,
der Staub, der Werktag, das Gelarm, der Zug,
der Gierigen. Und wie ein Bilderbuch
fiir Kinder nichts als Wort und Farben hat
und keinen Sinn, ward Melodie die Tat,
um die ein junger Wind die Laute schlug.
Des Landes Weite und der Acker Kraft,
der hellen Dorfer hingegebene Rub',
die diinnen Straucher und der groBe Blick
iiber der Berge hei&e Leidenschaft
kam und verschwand. Verwirrt erinnerst du,
Sonntag, der Waldrand und ein dunkles Gluck.
Kurd Adler
FRAGE
Kannst Du denn
Der Sonne rufen:
Hore Sonne,
Bleibe stehen,
DaB am Himmel
Du nicht wan deist,
Auf die Erde
Du nicht leuchtest.
Tritt ans Ufer,
Schau das Meer;
Kannst Du es denn
Irgend zwingen,
DaB das Wasser drin
Erkalte,
DaB es hart,
Zu Stein gefriere?
Und mit welcher
Reckenhaften
Kraft vermagst Du
Diesen Erdball
Aufzuhalten,
DIE AKTION
460
Seine Kreisbahn
Und sein Drehen ?
Ach wie kann ich
Auf der Welt denn,
Die bewegt ist,
Wunschlos bleiben!
Und was tun mil
Wikfem Wollen,
Sundigem Sinnen,
Leidenschaft ?
Denn in diese
Erdenscholle
Pflanzte Himmels-
Kraft das Leben,
Und es lebt darin
Als Konig.
Von der Wiege
Bis zum Qrabe
Streiten, kampfen
Geist und Erde:
Erde straubt sich
Gegen Dienen
Und vermag sich
Nicht zu freien;
Doch zuwider
Ist dem Geiste,
Sich der Scholle
Zu vermahlen.
ist viel Zeit
Bereits v erf lessen ?
Soli viel weitere
Noch vergehen?
Wann wird jener
Kampf sich enden?
Wer wird siegen?
Gott mags wissen.
Dieser Mare
SchluB bleibt dunkel,
Und mein Haupt
Hat den Verstand nicht,
Gottes Taten
Zu durchschauen.
Hinterm Grabe
Schweigt die Rede,
Ewiges Finster
Deckt die Feme.
Werd ich leben
Tief im Meere,
Werd ich sein
Im fernen Himmel,
Friiherer Statte
Mich entsinnen,
Was als Mensch ich
Einstmals dachte,
Oder alles
Dort vergessen
Ohne Sinn,
Ohne Gedachtnis?
Was wird dann
Mit mir geschehen,
Weltenschopfer,
Herr der Natur?
Alexei Kolzow
Lothar Homey er Original- Holzschnitt
461
DIE AKTION
462
DER LYRIKER WILHELM KLEMjM
Von Kurt Pin thus
(Aus eincm Brief)
. . . Da Sie, lieber Freund, im Bauch des Krieges
eingehohlt, mich bitten, Ihnen einen Dichter zu
nenneti, der nicht kleine Liiste und Leiden wort-
reich Ihnen beichtet, noch Natur- und Stadte-
stimmungen genieBerisch schildert, sondern der
Sie von Larm und Wirrnis dieses gepeinigten
Planctcn radikal erlose, — so antworte ich:
Wilhelm Klemm scheint auf Erden zu sein, um
fur Sie zu dichten. Nach grotesk-gewaltsamen
Aufschwungen entfaltete sich rasch in edler Reife
sein groBes Talent zu Phantasieen, die jenen dehn-
baren, die menschlichen Ausdrucksmoglichkciten
fassenden Seidenpapierballon zentrifugal zer-
sprengten.
Wilhelm Klemm verlaBt die irdisehe Landschaft
und die aus Sinneseindriicken und Wirklichkeits-
erlebnissen sich ergebenden Inhalte unsres Be-
wuBtseins; sein Geist gebiert einen neuen Kos-
mos, in deni Dimensioned Naturgesetze und Kau-
salnexus nicht vorhanden sind. Tausend neue lyri-
schc Mittel schaffend, vertausendfacht er die lyri-
sche Wirkung, Der Kreis seiner Vorstellungen
hat den Radius unendlich, und der Dichter bewegt
sich in der flieBenden Unendlichkeit dieses Kos-
mos mit derselben selbstverstandlichen Sicherheit,
mit wclcher der Burger Wohnstube und heimat*
liches Waldchen durchschreitet.
Man mag ihn einen kosmischen Dichter nennen,
aber er unterscheidet sich von dem, was gemein-
hin als kosmischer Dichter auftritt, weil er nicht
Sonnen, Sterne und unverstellbare AusmaBe um
sich streut, und so menschliche Sehnsuchtsgefiihle
schwatzerisch - hymnisch und betriigerisch ver-
sclnvimmen lafit, sondern er laGt vage BewuBt-
seinsdammerungcn zu klarst anschaubaren, sach-
lich prazisierten Vorstellungen aufwachsen.
Manche einzelne Zeile seiner Gesange ist ein Ge-
dicht fiir sich . . . Millionen dieser schimmern-
den Verse scheinen im Dichter zu ruhen, und jede
leise Bewegung fugt sie fast automatisch zu neuen
Gebilden zusammen wie des Kaleidoskops bunte
Steinc.
Doch nicht wird die phantastische Vision um ihrer
selbst willen geformt. Sondern: der Menschen
Aneinander - Gebundensein ist nun gelost, die
schweifenden Gefiihle, die unsere Urspriinge um*
kreisen und zu geahnten Ziclen streben, die Ab-
straktheiten, die ungreifbar unsern Geist durch-
flatterii, werden als schimmernde Realitat und als
rcvolutionierendes Ereignis in unser BewuBtsein
geriickt, wie sonst nur schwindende Traume uns
fiir Augenblicke bcgliicken.
Anders sind seine Kriegsgedichte: Da reiht er in
monotoner Folge kurz konstatierend Tatsachen
des Elends aneinander, sodaB dieser stets dunkle
Tropfenfall unsre Herzen zerweicht und zermurbt.
Wertvoller ist seine Lyrik, von der ich bisher
sprach. Wie das Gefiihj von seiner iiblichen Aus-
drucksform, so wird hier die Erscheimmg von
ihrem Umrifi befreit, sie „vcrsinkt in den Abgrund
ihrer Moglichkeit 4 ', sie verliert ihre Grenzen, dehnt
sich traumerisch ins Unendliche Oder rollt sich
zusammen zu mikroskopisch - deutlicher Konzen-
triertheiL Der Mensch ragt himmelhoch durch
den Raum und ,,ganze Welten fallen in den
Furchen seiner Gewander hinab“. Titanische
Verfluchungen losen sich zum siiBen Abendlied.
Aus dem Getiimmel und uberirdischen Ver-
knupfungen visionarer Landschaften und phan-
tastischer Wesen aber strahlt uns das Auge einer
milden Weisheit an, die wciB, daB unsere groBten
Wunder sind: eine geheimnisvolle Liebe, halb
Weib, halb Stern und im Dickicht der Ratsel die
Hoffnung. Aus den magischen Wanderungen und
dem Getose der Geburten tont das milde Gelaut
einer fast melancholischen Erkenntnis. Ein gei-
stiges Herz befreit sich von seiner Irdischkeit
und tut so das Seinige zur Erlosung des Menschen.
Diese Gedichte sind nicht kurzatmig hysterisch
hervorgestoBen, nicht zerflieBen sie unplastisch
in der Art der kosmischen Stammler, nicht zeigen
sie die gehammerte Starrheit Heymscher Visio-
nen, sondern fiber ihnen schimmert der feierliche
Stern Holderlins, antiker Form sich nahernd ent-
stromt ihre ruhige Rhythmik einer gelassenen
Hand. Nicht drohnen eherne Akzente in unsere
Ohren, sondern ihre kaum betonten Hebungen er-
zeugen jenes Gleiten, das es unserm Geist leicht
macht, ins Unendliche zu schweifen.
Lieber Freund, der Sie jetzt dort stehen, wo ein
paar Quadratmeter der armen Erde wert gehalten
werden, daB um deren (vermeintlichen) Besitz erst
Dutzende dort faulen miissen, Ihnen wird Wilhelm
Klemms Lyrik wieder die Allmacht des mensch-
lichen Geistes offenbaren, der, da ihm die Erde
geraubt ist, eine Welt sich schafft, in der jene
Erde nur ein schwebender Punkt, die Erd-
Geschichte ein fliehender Gedanke ist, die aber
von der grenzenlosen Bewegung der Gestaltungen
eben dieses Geistes in Ewigkeit erdonnert und
leuchtet.
(Wilhelm Klemms Verse sind als Band 4 der Sammlung
DIE AKTIONSLYRIK erschienen; das Buch kostet M. 3,—)
MAX HERRMANN
Er ist der grime Heinrich, und alle glauben es,
wenn ich das sage. , t O ja, er ist der grune
Heinrich. a Seine Augen sind griin, sein Haar
ein geschorener griiner Wiesenfleck; seine Ei-
dechsennase — immer schlangelt sie sich. Und
sein griiner Primancrmund schwellt noch an vor
Erwartung. Und seine Seele ist griin und tief,
ein heller Schilfieich, man kann daraus Schach-
telhalme, Leuchtkafer, Jesusblumen und gespren-
kelte Blatter fiirs Herbarium sammeln. In seinem
Dachzimmer, ich nehme an, er wolint mit seinem
Lenlein schrag unterm Hutrand des Hauses, leben
sicher viel Kreaturen in Glasern, Kroten, Fische,
Quabben — und in Spiritus die Paradiesschlange
zu sehen! Und noch lauter GroBknabendinge. Len-
lein, die Griinheinrichfrau ist eigentlich ein Heili-
genmadchen, betet den griinen Heinrich an. Der
ist ganz klein, tragt einen Hiigel auf dem Riicken,
so daB man ihn erst, wenn man mit ihm redeti
463
DIE AKTION
464
will, besteigen muB und es viel schwieriger fallt,
zu ihm zu gelangen wie zu Menschen, die all-
taglich in die Hohe, manche nach unten, auf-
geschossen sind. Grunheinrichs Mutter hat gerne
Marchen gelesen, und ihr Sohn kam in ihrer
Traumwelt zur Welt; ihre Augen mogen wie
bei Kindern groB geglanzt haben, als auf ein-
mal der griine Heinrich in ihren Handen lag mit
einem Stern in der Schlafe, wie ihn nur Dichtern
von Gott selbst verliehen wird. Der griine Hein-
rich ist ein Dichter, und seine Gedichte sindgrofle
pietatvolle Wanduhren, schlagen herrlich, wenn
er sie vortragt.
Else Lasher -Schuler
ZWEI TRAUME
Fan Hans Koch
1
Als Turmwachter saB ich zwischen zerschlissenen
Dielen und morsehem Gebalk. Femhin im Land
hoben die Schachte sich schwarz wie Sarge, die
Schlote schnitten dicht und schlank in den gelben
Horizont, und von den Essen warf sich immer
wieder rot ein Schein in den schwalenden Abend,
Leuchtend stand in rundlichen Tupfen bliihender
Pfirsich im dunkelnden Land.
Am hjimmelsrand aber stand aufgerichtet eine
steile, braune Riesenwolke, die Sternlein sprangen
funkelnd auf in schauervoller Tiefe des Blaus,
aus den StraBen, von den Platzen der wirren
Vorstadt drang machtvol! und dunke! der
Hymnengesang feiernder Arbeitermassen, als sei
er gekommen: Der neue Gott.
Da ward meine armselige Turmkammer von
weiBem Lichte erfullt, und ein krauskopfig Eng-
lein mit Hemdchen und Stutzfliigeln sprach also:
Hosiannah, die Mutter Gottes hat wieder der
Storch ins Bein gebissen!
II
Full te der Tag mit seinem matten Schimmer
mein Zimmerlein, dann sah ich wohl die schwar-
zen Fliegen unter dem Lampenhang der hohen
Decke kreiseln. Sie waren meine stummen
Freunde, denn sie kamen zutraulich nieder-
geflogen, kletterten iiber mein Gesicht, ruhten
aus auf meinen Handriicken, darauf die dunkeln
Haare wie Kellerpflanzen wucherten.
War Nacht, dann lag ich wach bei mir allein,
ohne bunte Erinnerungen, ohne Wunsch und
Sorge. Nur wenn der Mond sein kreidiges Licht
iiber die Tapete fiihrte, schreckten Fratzen in
meine leere Seele.
Ich lag geduldig in meinem Bett, Riicklings,
wenngleich mich Kreuz und Fersen schmerzten.
Da sie durchgelegen waren, muBten sie mich
schmerzen, ich fiihlte es langst. Aber der Schmerz
war stumpf und stetig.
Und wiederum hatten zur Nacht die Stunden der
Turmuhren wie eine frostelnde Schildwacht ihre
Rundgange abgetan, das Zwielicht der Friihe hing
gleich Spinnweben in den Ecken, da stand ein
Besuch neben mir im Zimmer. Es war ein alter,
langstverschollener Schulkamerad aus der Prima
von damals. Der fliigellahme Kneifer wippte vor
seinem schiefen Blicke, die oligen Haarstrahnen
warfen das harte Licht des Morgens in blinden
Spiegeln her, der unruhig steigende Gurgelknopf
tat, als ob es eine Riihrung niederzuhalten galte.
Aus einer BegriiBung machte er weiters keine
Umstande, der Besuch. Er kramte kopfhangerisch
eine Wachstuchmappe aus und legte mir vorsichtig
ein Dutzend Puppen auf das Federbett: paus-
backige, runde Dinger in buntem Putz, kleine
Madels in kurzen Kleidchen, grofle Damen in ge-
bauschter Seide, fesche Ammen und Kinder in
leinenduftigen Steckkissen.
So mtihsam es mir wird: ich stiitzte mich in den
Ellbogen auf, meine hagern Finger fahren aus,
talpern iiber die porzellanenen Glieder. Und kh
drehe die blonden Kopfchen rundum, zerre an
Hiiteu und Miedern und wiihle hastig unter die
steifen, knisternden Rockchen alle . . .
Die Krankenschwester ist unversehens herein-
gekommen und packt wiitend Beine, Bander,
Zdpfe und Hoschen in ihre geraffte Schiirze, und
ihre rasselnde Stimme sagt mir, der Priester kame
sogleich mit dem heiligen Ole.
Dann drikkte sie mich zuriick in die hohen Kissen.
Und wie ich gequalt und einsam auf dem Hinter-
kopf liege, brach iiber eins das Begreifen in mir
auf, daB ich ein alter, abgelebter Mann geworden
war.
Und da ich weinen mochte, konnte ich's nicht
mehr.
ft
P ■:
465
DIE AKTION
WH*
iCH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS
LV
Litton Sang,
KLEINER BRIEFKASTEN
Freunde, die neue Fried eoskundgebung des Pepstes (die sich,
in ihrem Hsuptleil, wcnig unterscbeidet von jeaer Friedens-
re solution der ^Unabhlngigen*, die der deutsche Reichstag ab*
gelehnt hat) gibt jetzt der tf Parlametitsmehrheit w Gelegenheit,
den Sinn der „historischen EntschlieOung" vom 19, Juli 1917
zu enthUllen. Nach den Presses! i inmen, die bis heute, den 19. 8.,
zu hbren sind, dllrfen wir asf allerlei gefafit sein. „ Wir kommen
aus den FriedenserOrterungen nicht heraus“ , stdhnt der „ Deut-
sche Kuricr* (17. 8.); die „Po*t w fUrchtet n unnatiouale Einflttsse
in die deutsche Politik“ (17. 8.); die Kundgebung sei n keioe
ktrchliche, sondem eine politische Hand lung* klingt's im Chore.
GewiS isi der Friedensvorschlag des Papsles ein politischer
Akt und kein Gebet. Andernfalls wiirde sich der Statthalter
Christi nie zu dem Satz entschlossen haben:
„Alle Welt erkennt ja an, dafi die Waffen-
ehre sowohl auf der einen wie auf der andcrn
Seite unverletzt lst. u
Dteaer Satz bedeutet eine Konsession an alle K r i e g ftlhrenden
und an den Krieg an sick. Vielleicht ist er wirkungivoller
als Gebete ?
bet dbtiitu* ber Oberammergauet
gjaniansfniele, als feibgrauer £anb*
ftutmnumn bei cittern batjerifdjen
Sifenba^nbotailUm.
Berl. IU.-Ges.
Aus der n Deu tsch en Illustrierten Zcituvg u f Berlin ,
10. Jahrg. Nr. 42.
„£}&s Selbstbestimmungsrecht der Volker*, sngewandl auf Elsa 6-
Lothringen, ktinme doch nur besagen, dafi das deutsche Volk
selber bestimmen soil, ob ElsaO-Lothringen nach wie vor betm
Reiche bleiben soil oder nicht. Man lasse also die 65 Miilio-
nen des deutschen Volkes einschliefilich Elsafl* Lothringen
dartlber abslimmen.*
Nicht aus finer Bierzeifung, sondem aus dem Leit-
artikel der in Berlin erscheincnden grope n n Qlocke <{
des Far vu 8 vom 11. August 1917. Verfasser:
Herr Paul Lensch t Doktor der Staatswissenschaften
tmti noch Beichstagsmitglied ( durch Verlangerung
der Leqislaturperiode). Herr Lensch hat das Ru-
manistische Gymnasium in Potsdam und die Uni-
versitdten in Berlin und Strapburg besucht. Geb .
den 31. III. 1873 zu Potsdam , diente er 1893} 96
betm 4 . Gardertgiment zu Fup in Berlin. Lebt
in Neubabelsberg.
Wir wollen die Frage nicht untersuchen, ob wir die Regierung
des Zaren and die franzbsischen Chauvinisten als die Yertreter
eines reinen Gerechtigkeitideals betrachten konnten . . . Aber
beilSt es nicht das erste Gesetz des Lebens verneinen, wenn
man von einem Volke verlangt, es solle das Gerechti gkeits-
geftshl liber den Selbsterhaltungstrieb slelien? Es
sollte die Niederlage der eigeneri Armeen und das Eindrtngen
der feindlichen in das eigene Land begrtifien, weil damit einem
vcrmcinttichen Oder wirklichen Recht Gentige getan ist ? . . .
Der Friede wird kommen, wenn die Annexionisten tiler Linder
so besiegt sein werden, wie es die deutschen schon heute
„ Vorwdrts u f 31. Juli 1917, Leitartikel „3LJuW\
Die Unterstreichungen sittd von mir t das Ausru-
fungszeichen hinter tt sind“ ist zitiert.
Hoffentlich gibt es in Deutschland keinen einzigen ernslbaflen
Menschen mehr, der damn denkt, nach dem Kriege Belgien
wicderherzustellen, wie es vor dem Kriege war.
Wenn es dort einen andersdenkenden Politiker gibe, so wire
kein Stein schwer genug, uni ihn an seinen Hals zu binden,
und kein Meer tief genug. um ihn darein ?u werfen.
Das frtihere Belgien wiederhemistetien, wire fttr Deutschland
dasselbe, wie wenn es sich zum Scherz einen Krebs aufs Herz
impfte. So darf diese Voraussetzung ohne weiteres und end-
gtiltig ala abgetan gelten.
Das Schwert hat, Gott und Deutschland sei Dank, Flandern
von Wallonien gelrennt ; der Diplomutenspeichel wird sie nicht
w'icder aneinander kleben konnen.
Leitartikel dcs m Deutscher Knrier", Berliner Ta yes-
organ der laid Vorwarts ver nicht rtf n Anna iontstev ,
vom ?. August 1917.
Nina. In der „Voss. Ztg", Morgen-Ausgabe, 21.
1917, wird an leitender S telle uber „Dreistundige
ratungen" (so ist die amtliche Meldung von der K<
tion uberschrieben worden) u. a. benchtet :
ak-
„Zum ersten Male traf der Kaiser auch mit
sozialdemokratischen Abgeordneten als offi-
ziellen Vertretern der sozialdemokratischen
Par lei zusammen. Von der sozialdemokrati-
sehen Fraktion waren nimlich die Abgg.
Scheidemann, Ebert, Dr. David, Dr. Suae-
kum und Molkenbuhr erschienen. Dr. SQde-
kum trug Leutnantsuniform. Die
iibrigen Herren hat ten zum Teil Gehrock,
zum Teil Straftenanzug angelegt.
Die Unterhaltung zwischen aem Kaiser und
den Erschienenen war sehr angeregt. Sie
beruhrte alle schwebenden Fragen."
Die Beratung beruhrte ,,alle schwebenden Fragen". In
der aus demselben Ullsteinbetrieb stammenden „B. Z.
am Mittag" wird, einige Stunden spa ter, widersprochen :
„Die gestrige Begegnung des Kaisers mit
den Fiihrern der Reichsiagsfraktionen wird
von alien Beteiligten als ein sehr erfreu-
liches Ereignis bezeichnet, obwohl, wie uber-
einstimmend mitgeteilt wird, ihm eine
B e d e u t u n g fur die schwebenden p o I i-
t i s c h e n Fragen nicht zukommt Seine
Wirkung soli und wird sich nur altgemein
auf die kunftigen Bezi eh ungen zwischen
Regierung und Par lament erstrecken. Es war,
nach der Meinung der Abgeordneten, eine
schdne politische Oeste des Kaisers."
Der Sat2 korrigiert, scheint mir, die „ubereinstimmenderT‘
Mitteilungen wesentlich. Ober die Kleidung ist die , r B.
Z." anderer Ansicht als die „Voss.''. Zwar oestStigt sich :
„das MitgUed der sozialdemokratischen Frak-
tion Dr, Sudekum, der die Leutnantsuni-
form mit dem Eisernen Kreuz trug . .
Dann jedoch erfahren wir:
,,Die anderen Abgeordneten waren im Oeh-
rock erschienen."
Herr Scheidemann hatte mithin nicht zum Teil Geh-
rock, zum Teil StraBenanzug angelegt. Die ( ,B. Z." be-
halte das Wort:
„Die Eingeladenen stellten sich im Saale
nebeneinander auf, dem Eingang zunachst
das Reichstagsprasidium, dann die Abgeord-
neten von Westarp bis Trampczynski, dann
die Staatssekretare, Minister und Bundesrats-
mitglieder. Staatssekretar Dr. Hetfferich stellte
die Abgeordneten fraktionsweise vor, und
schon Dei dieser ersten BegruBung ent-
wirkelfe sich zwischen dem Kaiser und den
1
'W
;>
r
r.-!
467
DIE AKTION
468
Vorgestellten ein tebhaftes Oesprach.
Nach der Vorstellung entwickelte sicn eine
zwanglose Unterhaltung.
Die Ereignisse der ietzten Tage, cbenso die
alle politischen Kreise unmittelbar beschatti-
genden Eragen wurden nicht b e r ii h r t ,
wohl aber bewegte sie sLch um Angelegen-
heiten und Ereignisse des K r i e -
ges... Mit den sozialdemokratischen Ab-
geordneten sprach der Kaiser iiber Stock-
Holm.
Die politische Bedeutung der Begegnung
zwiscnen dem Kaiser und den Abgeordneten
wird uns aus parlamentarischen Kreisen da-
hin gekennzeicnnet, dad sozusagen die ge-
se llschaf 1 1 iche Par la m e n ta r is i e -
rung begonnen habe, der nun die poli-
tische folgen kann.
Des Kaisers erstes Oesprach mit Scheidernann
wird, so hofft man, eine gute Briicke ge-
schlagen haben. Die Offenheit, mit der
Kaiser und Abgeordnete miteinander spre-
chen konnten, kann nur gut gewirkt haben,
mag auch das Gesprach selbst die schwe-
benden innerpolitischen Eragen nicht
zum Gegenstande gehabt haben.
Fur den neuen Reichskanzler bedeutet die
Unterhaltung dcs Kaisers mit den Abgeord-
neten eine grofle Unterstutzung des Pro-
gram ms und nach auBen hin bezeugt sie
vor aller Welt erneut die innere Geschlosscn-
heit des deutschen Volkes. Nicht zuletzt ist
mit dieser Begegnung ein von politischen
Kreisen seit langem gehegter Wunsch er-
fullt worden, die von einer freien Aus-
sprache zwischen dem Kaiser und den
Abgeordneten eine klarende und alle
Teile befriedigende Wirkung erwartet haben.
Es war ein gesellschaftlich politischer
Akt, dessen Bedeutung in Abgeord-
neten kreisen sehr hoch eingeschatzt wird."
Ich beschaftige mich jetzt nicht mit Politik und bin
bloB durch die Beteuerung des Reporters, es set eine
unpolitische Angelegenheit, zur Lektiire veranlaBt worden.
Jetit schwanke ich: soli ich dem Anfang des Benefits
glauben? Oder dem Schlufl? Erst versichert man mir
,,Qbereinstimmend", dem erfreuiichen Ereignis sei „eine
Bedeutung fur die schwebenden politischen Eragen n i c h t u
beizumessen. (Da von bin ich ohnehin fest uberzeugt
gewesen.) Aber dann wieder war es ,,ein gesellschaftlich
politischer Akt, dessen Bedeutung in Abgeord-
netenkreisen sehr hoch eingeschatzt wird". Erst: ,,Die
alle politischen Kreise unmittelbar beschaftigenden Era-
gen wurden nicht beruhrt". Dann endet der Satz:
„wohl aber Angelegenheiten und Ereignisse des Krie-
ges". Gehoren diese Dinge nicht zu den ,,alle politi-
schen Kreise unmittelbar beschaftigenden Eragen"? Und:
, .Stockholm"; auch nicht? ,,GroBe Unterstutzung des
Program ms" des neuen Kanzlers. Dann ware doch uber
dieses Programm ein Wortchen zu reden gewesen! Der
Herr Reporter konstatiert eine ,,klarende und alle Teile
befriedigende Wirkung". Mir ist alles ungeklart ge-
blieben.
Torn. Ich weiti nicht, welche der verschiedenen Sozinlisten-
parieicn PcuischUnds Sie meinen. Es gihi die „Mehrheits“*
gruppe Scheidernann, die sich in siebcnuruldreiGig verschiedcne
Kichtungen bewegt ; es gibt die Un.’ibhringigen ; die tiruppe
p Spartakus" ; die itnaginiiren InternalioiialisLeii-Sozi.tlisteo (Herr
Horchardt); die von Herrn Kadek lilr Bremen- Hamburg prujek
tierte Parte i ; es gibt die A. S. P. (aktivc Sozialtsten Partei), die
jetrt ihren Partcitag abhahen soli. Also welche?
An die Mit-Arbeiter und Frcunde. Wohin die „Einheit u fuhrt,
wenn sie auf Kristen der Keinheit aufrechterhalien bleibt: die
deutsche Sozialdcmokratie zeigte es. Es soil und darf nur
Huben oder Drllbcn geben I Wer eine Gemeinschaft fiir tnbg-
lich halt mit den Leonhard, Mtihsain, Hiller, Klabund usw, (eine
ausflihrliche l.iste wird folgen), der bleibe freundlichst der
AKTION fern!
O, U. Heinrich Mann, den ich bisher zu meinen Mitarbeitern
z£hlte, ist Mitglied der „ Deutschen Gesellschaft 1914“ gc worden ;
er selbst hat es mir bestatigt, als ich danach fragte.
K, Z. Franz Bleis Brief liber Herrn Dr. Max Scheler hat die
^Frankfurter Zeitung - den 20. Juli gedruckt. Da Ihnen (und
vielen) die niedliche AfTare unbekannt geblieben ist, will ich
die Behauptungen des Philosophen und Franz Bleis Erwiderung
im nachsten Hett veroffenilichen.
L. R, Alexander Moissis „Offcner Brief* 4 ist in der „B. Z. ant
Miitag* 4 erschienen ; ich besitze das Exemplar der Zeitung.
Liebcr Leser, in das Zentralorgan scheint der durch den Frei-
herrn von Stumm charakterisierte berlihmte Redaklcur der „Post**
eingetreten zu sein. Die Stampfer politik wird schbner mil
jedem Tag:
„Die „Tagliche Rundschau** erinnert daran, dali der neue Liiter-
staatssekretar seinerzeit als Redakleur der sozialdemokratischen
Magdeburger „ Volksstimine** wegen Majestatsbeleidigung verur-
teilt wurde. Das ist richtig, . .
Der Magdeburger MajestStsheleidigungsprozeli gehurl zu grauen-
haftesten Blattern aus der Geschichle der deutschen Sozinlisten-
verfolgung. Dam als, obgleich das Sozialistengesetz schon
aufgehoben war, stand noth jeder aktive Sozialdemokrat itnler
einem tatsachlichen Ausnahmezustand und mit einem Fufi im
Cefangnis. Trotzdem nun die Ernennung eines ..vorbestraften* 4
sozialdemokratischen Rertakteurs zmn I’nterstaatssekretar erfolgt
ist, bleibt noch viel zu tun, um Deutschland zu einem Land
wirklicher Gesinnungsfreiheit zu machen,‘*
Am dem Lcitartikel „/>(> neue Rtyientng und die
Parteien*\ 7 t S. 1917
Ich verraag da ntchL mehr auszuweichen, Freunde : ich inuG
eine besondere Ecke einrichten :
H. G. Der sechste Band der Sammlung AKTIONS-BOCHER
DER AETERNE STEN , Charles P6guy, Aufsatze, wird
bald erscheinen, auch Theodor Lessings Werk n Europa und
Asien 11 wird schnell fertiggestellt werden. Im Druck: Heinrich
Schaefers Roman „Gefangenschaft u und Kurd Adlers Gedichte.
S. F. NatUrlich erhahen neu hinzutretende Biittenabonnenten
slmtliche Kunstbeilagen nachgeliefcn.
INHALT DERVORIGEN NUMMER: Otto Freundlich : Holzschnitt (Titelblatt) / Heinrich Stadelmann-Ringcn : Vorspiel; Rede
des Kulturministers bei Eroffnung der neuen Universitat / Raoul Hausmann : Noti 2 und Federzeiehmmg / Aus Bakunins Bt iefwechsel
mit Alexander Herzen / Rudolf Mense: Tuschzeichnung / Vlastislav Hofman (Prag): Dostojewskij (Holzschnitt) , Karel Hlavacck:
Aus der Kantilene der Rache / A. Krapp: Der Dichter Ludwig Baumer (Holzschnitt) / Ludwig Haunter, Oscar Schiirer, Wilhelm
Klemm, Eranz Lindstaedt und Rudolf Mense: Verse vom Schlachtfelde ! Claire Stnder (Lausanne): Gefalltuter Sohn / Eranz
fiiei : Die Hande Gottes / Alfred Wolfensteiu: Die Stirn / Josef Eberz: Aktstudie / [wan (loll: Das Fensier . Felix Muller:
Portrat / Jurgen von der Wense: Stemblaue Wimper / Anna Maria Martin (Zurich): Die Mode und der Biirger / Christian
Schad (Genfj: Cabaretl (Holzschnitt) / Xaver: Caligula hat regiert / Otto Boyer: Original-Hol/sdinitt / E. P. : fch schneidc
die Zeit aus; Kleiner Briefkasten / Kunstbeilage fur die Biittenabonnenten: Max Oppenheimer : Original-Holzschnitl
■v.x:
1
Fur Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten
Inhalt verantwortlich : Franz Pfemfert, Berlin- Wil-
mersdorf, Nassauische S trade 17. Tel. Pfalzbg. 1695.
Oedruckt bei F. E. Haag, Melle in Hannover.
Die AKTION erscheint jeden SonnabendL Abonne-
ments kosten vierteljahrlich durch die Post, durch
Buchhandel Oder Verlag (unter Kreuzb.) M. 2,50.
Abonnements fur das Ausiand kosten M. 3, — .
Buttenausg., lOOnumerierte Exempt., jahrl.M. 40,—.
Verlag der AKTION, Berlin-Wilm ersdorf.
Unverlangten Manuskripten
ist Ruckporto beizuftigen.
AUe Rechte vorbehalten.
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WOCHENSCHRIFT FUR POUTIK, UTERATUR, KUNST
Til. JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT NR. |g
INHALT: Beye: Portrat eines Mantles (Titelblatt) / Charles Peguy: Das Elend / Strohmeyer; Zwei Holzschnitte / Ulrich
Steindorff: Heilige Nacht / Iwan Goll: Meeting der funften Klasse / Christian Schad: Origin at- Holzschnitt / Jurgen von der
Wense: Expansion f Heinrich Schaefer: Stimme / Libero Altomare: Die Hauser sprechen / Arthur Segal: Onjinal-Holzschnitt /
Claire Studer: Sonntag / Karl Oiten: Erinnem an Skutari / Mense: Federzeichnung / Albert Ehrenstein: Tiefe Nacht / Paul
Hatvani: Fluch / Carl Figdor: Die Tochter Sauls / Alfred Wolfenstein: Begegnung / Max Pulver: Tatniana / F, X. Saida:
Eine Novelle / Josef Eberz: Aktstudie / Otto Balsam: Amazonen / Xaver: Wer hat Caligula umgebracht? / F. W. Seiwert:
Original -Holzschnitt / Carl Einstein: Brief / Raoul Hausmann: Originai-Holzschnitt / Pol Michels: Ueber ein Buch /
F. P. : Ich schneide die Zeit aus; Kleiner Briefkasten / Beilage fur die Buttenausgabe : Originai-Holzschnitt von Ines Wetzel
VERLAG > DIE AKTION ' BERLIN -WILNIERSDORF
HEFT 50 PFG.
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WOCHENSCHRIFT FOR POUTIK, LITE R ATU R, KUNST
7 .JAHRGANG HERAUSGEQEBEN VON FRANZ PFEMFERT s. sept. 1917
DAS ELEND
Von Charles Peguy
Man verwechselt fast immer das Elend mit der
Ou rftigfk e i t ; diese Verwechslung ruhrt daher, daB
Elend und Durftigkeit einander benachbart sind;
benachbart sind sie zweifellos; jedoch auf ver-
schiedenen Seifen einer Grenzlinie gelegen; das
ist namlich jene Grenzscheide, welche, psvcholo-
gisch betrachtet, das wirtschaftliche Leben in zwei
Gebiete sondert; diesseits derselben ist die wirt-
schaftliche Existenz nicht gesichert, jenseits der-
selben ist die wirtschaftliche Existenz gesichert.
Erst bei dieser Grenzlinie fangt die Sicherheit
der wirtschaftlichen Existenz an; diesseits von
ihr hat der Notleidende entweder die GewiBheit,
daB sein Existenzminimum nicht gesichert ist
oder er hat uberhaupt keine GewiBheit dariiber, ob
es gesichert ist oder nicht und muB das Risiko
auf sich nehmen; das Risiko hort eben bei dieser
Grenze auf ; jenseits davon hat der Arme oder der
Reiche die GewiBheit, daB sein Lebensunterhalt
gesichert ist; jenseits dieser Grenze herrscht Ge-
wiBheit, Gesichertheit; Zweifel und negative Ge-
wiBheit teilen sich unter die Existenzen, welche
diesseits der Linie bleiben; diesseits ist alles
Elend: Elend des Zweifels oder Elend der Ge-
wiBheit; die erste Zone jenseits ist die der Durf-
tigkeit; sodann reihen sich die allmahlich an-
steigenden Zonen des Reichtums an,
Viele wirtschaftliche Probleme, moralische, sozi-
ale, selbst politische wiirden zuvorderst eine Kla-
rung erfahren, wenn man diese Unterscheidung
beriicksichtigen oder besser noch als wesentlich
anerkennen wollte. Wir werden darauf zuriick-
kommen, vvenn wir kdnnen. Wir werden unter-
suchen, ob diese Grenzlinie tatsachlich besteht,
ob diese Unterscheidung zurecht besteht, in wel-
chem Mafie und unter welchen Bedingungen.
Es wiirde sich zweifel! os ergeben, daB diese
Grenze nicht allgem ein besteht, daB sie nicht
feststehend, nicht in alien Fallen feststellbar und
in den festges tell ten Fallen veranderlich ist;
imraerhin wiirde es sich zeigen, daB sie auch heute
in einer sehr groBen Zahl von Fallen nachweis-
bar ist; daB sie eine wesentliche Bedeutung inner-
halb fester Gesellschaftsgefiige, daB sie noch
immer ziemliche Bedeutung in einem schwanken-
den Gefiige hat, wie es die zeitgenossische Gesell-
schaft darstellt. Selbst heute, wiirde man erkennen,
wird eine groBe Anzahl von sozialen Existenzen
dadurch bestimmt, daB sie verurteilt sind diesseits
dieser Grenze zu bleiben; und eine betrachtliche
Anzahl wird dadurch bestimmt, daB sie liber diese
Grenze ohne Gefahr der Riickkehr hinaus sind,
Eine ganze soziale Zone ist dadurch bestimmt, daB
sie jenseits dieser Grenze gelegen ist, gerade noch
driiben, ohne sie bedeutend in der Richtung gegen
den Wohlstand iiberschritten zu haben, aber auch
ohne Gefahr des Ruckfalls. In gleichem Sinne
wiirde man die hochbedeutsame moralische und
soziale Krise untersuchen, die das Alter von sie-
benundzwanzig Jahren befallt: infolge welcher die
ungeheure Mehrheit aller Revolutionare zu Kon-
servativen wird und cs verbleibt, sei es daB sie in
den konservativen Parteien Konservatismus be-
treiben, sei es, daB sie, wie gemeiniglich, den
Konservatismus innerhalb der vorgeblich revoluti-
onaren Parteien betreiben, in Form von Oppportu-
nismus oder durch UbermaB und Oberbildung,
sei es, daB sie jenen offentlichen und privaten Kon-
servatismus betreiben, der darin besteht, der Ak-
tion selbst nach anfanglichem Interesse regelmaBig
auszuw eichen ; man wiirde zur Erkenntnis gelan-
gen, daB das Verlangen nach GewiBheit, das Be-
diirfnis nach Sicherung, Gesichertheit, Ruhe ein
gewichtiger moralischer Faktor ist; man wiirde
entdecken, dafl dieses Bediirfnis als beachtens-
wertes Element vielen religidsen Neigungen inne-
wohnt; man wiirde sich schlieBlich iiberzeugen,
daB wir iiber einen Menschen, jung oder erwach-
sen, solange er nicht das Alter dieser Krise iiber-
schritten hat, weder ein Urteii noch eine be-
stimmte Vermutung aussprechen diirfen,
Alles diesseits der Grenze ist das Gebiet der
Not; driiben beginnt das Gebiet der Durftigkeit
und endigt bald; auf diese Weise sind Not und
Durftigkeit Nachbam; sie sind in quantitativem
Sinne einander naher benachbart als gewisse
Stufen des Reichtums es denen der Diiiftigkeit
sind; wenn man nur nach der Qualitat miBt, ist
ein Reicher von dem Durftigen weiter entfernt als
ein Diirftiger vom Notleidenden; aber zwischen
Not und Durftigkeit schiebt sich eine Grenze:
der Diirftige ist vom Notleidenden durch einen
Unterschied der Qualitat, des Wesens getrennt.
Viele Probleme bleiben unklar, weil man diesen
Umstand nicht erkannt hat; so schreibt man der
Not die Tugenden der Armut gut oder schiebt um-
gekehrt der Armut die Verfehlungen der Not in
die Schuhe; wie man andrerseits der Niedrigkeit
■■.V'
471
DIE AKTION
472
die Vorziige der Bescheidenheit zuschreibt oder
umgekehrt der Bescheidenheit die Entwiirdigun-
gen der Niedrigkeit ankreidet
Man gestatte mir einen Vergteich aus der Theolo-
gie: die Holle wird im Wesen als eine Art gott-
licher Exkommunikation dargestellt; der Ver-
dammte ist ein aus Gottes Nahe Verbannter; er
ist durch Gott auBerhalb der christlichen Gemein-
schaft gestellt; er ist der Gegenwart Gottes be-
raubt; er erleidet die Abwesenheit Gottes; die
verschiedenartigen, unzahlbaren, jammervollen
Strafen, an denen sich die Einbildung seit jeher
erregt hat, werden alle iiberragt von dieser einen
Strafe der Abwesenheit, welche die mit nichts ver-
gleichbare Kapitalstrafe ist; ferner ist die Holle als
ewig charakterisiert; das will sagen, als unend-
lich in der Zeit oder als unendlich in dem, was als
Zeit erscheint, wodurch eigentlich die Zeit aus*
geschlossen wird; in dieser Hinsicht kennzeichnet
sich also die Holle dadurch, daB sie keine Hoff-
nung zulaBt; der Horizont des Verdammten ist
von einer unendlichen Schranke umgeben; die
Holle ist ringsumschlossen; nicht eine einzige
Hoffnung dringt durch, nicht ein einziger Schim-
mer von Licht.
Hingegen wird das Himmelreich im Wesen als
die Verwirklichung der gottlichen Gemeinschaft
dargestellt; der Erkieste i&t von Gott erkiest, in
der christlichen Gemeinschaft zu verbleiben; er
empfangt die Gegenwart Gottes; die zahlreichen
Wonnen, in denen sich die Einbildung ziemlich un-
niitzer Weise ergangen hat, werden gekront von
diesem Lohn der Gegenwart, welcher der mit
nichts vergleichbare Preis aller Wonnen i&t, fer-
ner ist das Himmelreich als ewig charakterisiert;
damit ist es iiber jede Gefahrdung erhaben. Der
Horizont des Auserwahlten liegt offen da, in un-
endlicher Weite; weder Verzweiflung noch Zwei-
fe] vermogen irgendwie einzudringen.
p h
(Autorisierte Ubmclzung von Gustav Schlein)
Strohmeyer Original- H olzsch n itt
HEILIGE NACHT
In StraBen, die des Reichtums Raderschwung
Zum Spiegel der Geduckten schliff,
Die hungernd gehn,
Steht feierlich
Ein nacktes Volk,
Die Masse ist Gebet, ist SchoB,
Entgegendrangend ihrem Got t.
Erfiillt sein und Erfiillung reichen
1st das Verlangen ihrer harten Hande,
Die iiber alle Grenzen sich entgegenstrecken.
Und feierlich,
Die Narben ihres Elend grell gefarbt,
ReiBt sie aus Steigen abgetretenen Basalt,
Die Asphaltschminke vom Gesicht der Stadte,
Und baut Altare aus gestiirzten Hausern,
In denen Wucher mit der Liebe hurte,
Bis Krieg aus jedem Kinderlachen schrie.
Steintiirme wachsen an den StraBenkreuzen,
Minarette,
Und junge Stimme schwingen auf
Und rufen sich die voile Stunde zu.
Ulrich Stein dor ff
MEETING DER FONFTEN KLASSE
Von Iwan Goll
Ihr Mitmenschen! So seid ihr alle gekommen,
durch die abendgehohlten StraBen, durch die Tun-
nels der Stadt: Ihr Gedriickten, ihr Fliichtigen
aus der Zwielichtwohnung, aus hafigefiillter Ka-
serne und dumpfem Schlafloch! Euch alle, meine
Briider, hat mein weher Ruf durchdrungen! O,
ihr muBtet waten durch das grelle Gold des Boule-
vards. Ihr wurdet vom gelben Gezisch der Kinos
angespieen. Es war so weit, so weit bis auf
diesen offenen Abendplatz. Und nun?
Hier steh ich, der ich euch rief. Da steh ich auf
holzerner Estrade und habe nichts in den Handen
als den groBen Himmel, nichts in den Augen als
den Glauben an euch, und nichts zu verschenken
als ein Wort, ein einziges, schallendes, tiefes Wort.
Erwartetet ihr mehr? Glaubtet ihr mich bereit,
euch das Giftmittelchen HaB einzuimpfen? Ein
Advokat wtirde euch mit grandioser Geste an
seine Brust drucken? Oder ich sei ein Metzger-
junge, der je nach Bedarf ein Kilo oder ein
Viertelpfund Befriedigung an jeden verteilt, ein
bifichen Klassenkampf, ein waar Phrasen vom Ka-
pitalismus und von Lohntarifen?
Meine Mitmenschen, wie habt ihr euch geirrtl Ich
rief euch alle und habe doch nichts im Munde
als ein einziges Wort, das wie eine blutige Sense
iiber meine Lippen streift. Schaut mich nicht so
an: Ich bin kein Prophet. Ich bin ein Mensch.
Ich bin ein einsamer, nackter Mensch wie jeder
von euch. Stiirzt mir nicht zu FiiBen! Schluchzet
nicht! Jeder von euch konnte dasselbe tun und
auf diese Tribune steigen und konnte die Mensch-
heit befreien helfen. Er brauchte nur wie ich sein
aufgeblutetes Herz zeigen und das eine Wort aus-
sprechen.
Das eine Wort, das ihr ja alle wiBt. Das Wort,
das mehr Geist enthalt als die Literatur des ge-
473
DIE AKTION
HH
474
samten neunzehnten Jahrhunderts, das mehr Re-
volte ist als al!e Appells und Proklamationen
eurer bisherigen Fuhrer, ein Wort, das sich um
die runde Erde wolbt wie der nachtliche Himmel,
dunkel und so voller goldener Moglichkeiten doch.
Ein Wort!
Ihr alle kennt es so gut, auch wenn ihr es immerzu
verschweigt. Ihr fahrenden Zigeuner, die den
bunten Wagen hinter der SchieBbude stehen lieBet.
Du, zynischer Apache. Du Nachtasylenschlafer.
Strafling, dem die Nummer der Zelie noch immer
weiB auf schwarz vor den Augen flimmert. Dienst-
madchen, das in seiner Schwangerschaft nachher
am Kana! ein dichtes Weidengestrupp aufsuchen
wird. Du rchgef alien er Student, der trotz Mytho-
logie und Phiiosophie an diesem einen Wort, das
unausgesprochen blieb, nicht scheitern kann.
Ich konnte ubrigens dies Wort wie ein Zauberer
auf dem Markt aus der Tasche ziehen und vor-
gaukeln lassen. Ich konnte es euch hinwerfen
wie ehedem der Ritter seine goldene Borse unter
das FuBvolk. Aber es ist nicht notig, es aus*
zusprechen. Es gilt nur, davon zu wissen, bewuBt
zu sein, daB ein jeder es in sich tragt, wie der
Christian Schad
Origin al-Iiolzsch nitt
■v ■: > ■! y
«■ V- : : ^
S
475
DIE AKTION
476
W
Chirurg behauptet, daB ihr alle Lungen in euch
tragt.
Schon brodeln eure dumpfen Stimmen. Schon be-
wegen sich eure schweren FiiBe. Eure Hande
sind gezackt. Ich fuhle, ich fuhle, ihr habt mich
verstanderr. Wie konnte es anders sein? Ihr alle
seid ja selbst schon einmal an diesem Wort ge-
storben. Ihr alle waret Kriegsmenschen. Ihr sahet
Vervvundete beschamt ihre Eingeweide mit den
Handen verbergen. Sahet Familienvater sich toll
iiber grunende Jiinglinge stiirzen. Und den Toten
saht ihr ins verglaste Auge, und das Wort stand
erstarrt auf ihrem schwarzen Mund.
Ich brauche es euch nicht zu sagen. Ich habe in
euer Antlitz gesehen. Ich habe euer Herz gepruft
an diesem goldenen Abend. Ich weiB f ihr seid bei
mir, wie ich bei euch bin. Ich weiB, schon ist
das Wort kein Wort mehr, schon ist es Tat,
Sinn und Erleichterung: Schon ist es die Menschen-
liebe selbst!
EXPANSION
Schwinde dich hin ins gliihende Griin,
Taufe mit Tau so glockigen Leib:
Liebenden leuchtet nur keuscher
imirmelnder Miicken Besinnsamkeit,
schwarmt in den SchoB nur erwarmter
schliipfender Falter Verhaltenheit.
Sanft vor Zertrummerung drohnendes Blut —
weih deinen Leib, wir losen ihn auf:
schluchzende Briiste in rauschendem Gerank
und den duldigen Ruch emporten Gelocks.
Atem kracht iiber kochendem KuB,
Nachhall der Nacht — wir glauben uns hinaus:
Rausch und Bewaldung rennen wir ein
Brich uns Brandung, Welt: stimm an!
Jurgen von der Wense
SriMME
Wurm, ich suche Dich
und Du bist Ich und Du entgehst mir nicht —
Dem warmen Zelleuloch,
daraus das Wolkchen Deines Atems bricht,
und dem Jahrhundertgrund
Strohmeyer
Original- Holzschnitt
entkriechst Du heute ungeborstner Kraft
und sprengst den Ringelturm
und ruttelst Dich zu langer Wanderschaft —
Ich sag Dir: Stehe, Mensch!
Verdammtes Zeichenwerk, aus Dir gebrannt —
sprachlos — der Menschheit bar —
Stumpfes GefaB, toll in die See gesandt —
was wirbelnd Du ertragst
und kochend speist — du wagst es nicht!
Die Palmeninsel! Vogelschaaren ziehn
und schluchzend kuBt das Meer — Du fragst
es nicht!
Tot sind Aonen! In den Steppen Du,
Zeiten — und Menschenvoll,
wenn Du erschallst, kein Lebendes hort zu — !
Heinrich Schaefer
DIE HAUSER SPRECHEN
Von Lthero AUomare
Wir sind ans Kreuz geschlagene Traume,
Im Erdreich festgeheftet
Mit weiten Wurzein.
Festnagelt uns die blode Tragheit
Der Menschen, die so gern
Sich lebend zwischen unserm Mauerwerk be-
graben
Und in der Kammem dumpfer Luft
Wie einen lastigen Floh schnell jede Kuhnheit
knicken.
Sie kaufen uns mit Gold
Wie ihre Huren.
Auf Monatsmiete sind sie unsere eifersiichFgen
Herrn
Und geizigen freiwilligen Gefangenen.
Sie schmucken uns, sie lieben uns,
Sie malen uns mit frohen Farben an;
Sie brauchen uns zur Wiege und zum Stall
Und FreBtrog: und im Tod erst
Verlassen sie uns wider Willen.
Wir sind Treibhauser
Und dumpfige Aquarien,
In denen blasse Qualkn
Und kummerliche Pflanzen siechen.
Und MiiBiggang und Wollust
Behangen in angstvollem Geiz
Unsre geheimsten Wande
Mit ihrer Liebe Spinnennetzen.
O Menschen, gebt uns frei!
Macht endlich uns dem Boden gleich!
Ihr seid geschaffen, umzuschw'eifen
Auf Bergen, iiber Meere, in der Luft!
Euch ziemen hiftige Wohnungen,
Hauser, beweglich — unbestandig
Wie all die Wiinsche, die euch plagen
Wie kiihne Winde, um
Die alte Zifferblatt-Schildkrote Zeit zu argern.
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DIE AKTION
Der Sonne rauben
Den leuchtend gelben Schatz der Elektrizitat
Metallne Flugpagoden.
So, Menschen, will es das Oeschick:
Der alte ruBige Kamin
Verwandelt sich zum gliihenden Motor,
Das windgeduckte Dach
MiBgonnt der Schwalbe ihre FlugeL
O Qua!, so unbeweglich dazustehn,
Wenn alles rings sich froh bewegt:
Das Leben scheint uns ein phantastisch Riesen-
karussell.
Wir sind die Pfahle:
Steif, festgeham inert, unbewegt
O Qua!, so dazustehn
Und langsam zu verfaulen
Unter der schmutzigen Hand der Zeit!
Kein Fieber darf uns
Die gichtischen, verkalkten Knochen warmen,
Nur ab und zu bewegt ein ErdstoB uns,
Nur ab und zu fullt Feuer uns mit trunkener
Freude
Und Sehnsucht, flammenlodernd zu vergehn!
(Aus dem Italienischen iibersetzt von Else Hadwiger)
SONNTAO
Sonntag, lachelnde Verbriiderung:
Du Fluchtling aus der Stadt, Vertraulicher du
im Wartesaal kleiner Stationen,
Arthur Segal
QriginaLholzsch nitt
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. ! ■■■■ ■ *
DIE AKTION
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479
Still und verbrannt ragen die roten Kerzen deiner
Fabriken in dich hinein,
Und ihre Maschinen liegen tot in den steinemen
Sargen.
Du hoffender Verkaufer der Ecken mit Blumen
und Zuckerzeug,
Du bunter Luftballon der Kinder, du fliegst im
Karussell rund um die Welt.
Du Schicksalserwartung kleiner Madchen,die sich
lange fur dich sammeln,
Du Freiheitsgeste der Redner in durstigen Salen
und Volksgarten,
Du bunte Strand promenade der Bader, flatternde
Fahne der Qu&is,
Aus denen du mit weiBen Segeln in den Werktag
fahrst:
Du friedlicher Menschengott im blonden Bart,
der einmal die Welt umarmte,
Sonntag, lachelnde Verbruderung!
Claire Studer
ERINNERN AN SKUTARI
Wie Bliitenschafte weiBer Kallen
st eigen Minarets von Moscheen,
die dunkelschwere Garten sehn.
Wenn durch den singenden Abend Bliiten fallen
wird des Mondes Kugel iiber der Fontaine stehn
uifd Fraun in Blumenseide iiber Briicken gehn.
Der Knauel wirren Volks spult summend im Basare
hallend unter den ausgeloschten Gangen,
In Stapeln prunkt die Farbe bunter Ware
und schone Huren mit geschwarzten Brauen
singen und betteln im Gedrange
in des sie lassig auf die Tamburine hauen.
Karl Often
T1EFE NACHT
Wie lang schon darb ich vor dem Paradiese,
schlichte Sehnsucht nach der guten Wiese,
bravem Schlaf in treuer Bucht
Herr, gib mir die Bliite, mir die Frucht.
Wills! du, o Gott, mich niemals giitig griiBen?
Almosen gibst du Bettlem, Sohnen des Weges,
kiihles Wasser der Forelle,
Seelenantlitz meinem Madchen;
mir nur, daB ich Tran an Trane weine,
Uhu mit den Eulen werde
— selig sind die Schottersteine,
nachbarlich umfangt sie Erde.
Ratten, fresset meine Eingeweide,
zerspell mich, Fels, ertrank mich, Furt!
Was starb ich nicht vor der Geburt?
Aufstrahlt mir nie das Land der Freude.
Albert Ehrenstein
FLUCH
Dunklem Tag Erwachtes:
Grau uns Umhiillendes:
Spuk der Zeit:
Ich speie dich an, Fluch des Tags,
ich fluch e dir, Zeit des Fluchs,
zertrummere deine Hymnen, Untergang,
deine Eisen opfert Irrsinn,
ersauf im Blut, Blutsaufer,
vermodere im Massengrab deiner Fluche,
rette dich . . .
Ich fluche. Got t hort dich nicht!
Paul Hatvani
DIE TOCHTER SAULS SPRICHT:
Schimmernde Saule
in gewundenem Leid
strebe ich vviinschend
geschlossenen Auges
in Flammen gequalter Finstemis
zu den Traumen deiner Haupter empor,
Ach ich neige mich zitternd
im Beben gebogenen Schilfcs,
rieselndes Licht empfangensbereit,
kollernd zwischcn Perlen von Tau
und gerctteten Amcthysten erstickten Murmclns
Gluten unter den Lidem,
sinkender Sonne Nachtahnung
Liebesgeslohn von Mensch und Tier,
aufzuckenden Abends
zersprungene Hoffnung
und letzte Krampfe schwelgender Herzen.
Die blaue Blume zittert im Morgenreif,
Girlanden erster Strahlen sind in ihre Krone ge
geflochten.
Das unendliche Moosbett trieft
und die blaue Blume zittert im Morgenreif.
Carl Figdor (Wien)
Rudolf Men sc
Umzug
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DIE AKTION
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0
BEGEONUNG
Unser Streit fuhr auf warts, . . bis die sausenden
Drahte
Plotziich niederzuckten, als ein Weib vorbeiging,
. , Doch die lachelnd bald zum Freunde wieder-
gekehrte
Stirne bratist voll schnelleren Kampfes weiter...
Alfred Wol fen stein
TATNIANA
Zwischen dem schmeichelnden Winseln des Tiers,
Zwischen dem Geplapper forschender Kinder,
Sprang ein Schicksal, heiB wie ein Funke
Von deiner Lippe zu meiner.
Tastend und unbestimmt
Flackerte die Friihlingssonne im Blau.
Glaube stromte mir aus dem Eis
Der schattigen Hofe,
Glaube aus Dir —
Schweigsam und fest wuchs mir die Kraft.
Aber das Eine bleibt: Du spendest,
Du Quell — Aus Dir meine Macht,
Aus Dir mein Stern,
Du Licht fiber Wassem,
Du Flam me der Schatten.
Wenn Du mich laBt, mufi ich sterben.
Max Pulvcr
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K IT. Seiwert
Origt nal-Holzschnitt
DER TOD DES GRAFEN CHRISTOPH
DES LOGES
Von F. X. Saida
Er ging nicht mehr ganz sicher und so fuhrten
ifin zwei Diener mit stumpfen, rotlichen und aus-
rasierten Gesichtern, ganz in graues Tuch ge-
kleidet, hierher. Sie hatten ihn bisher eher be-
gleitet als unterstfitzi; aber der Arzt machte sie auf
die Moglichkeit eines Unfalls aufmerksam und so
waren sie standig beunruhigt, standig auf der
Hut und deshalb auch standig angespannt und
argerlich.
Noch im Vorjahr war er aUein hergegangen, nur
manchma! von seinem Arzte begleitet — hierher,
in diesen bunten Garten, der den Beschauer unver-
sehens gleich dem versprengten Phantasiegebilde
eines Wahnsinnigen festhielt, gleich einem Ge-
spann von Launen, das denZiigeln entronnen war
und sich nun zerschmettert den Blicken bot
Es war da eine Lichtung in dem entferiitesten ver-
lassenen Teile des Parks, die mit schiittern, jetzt
gebleichten Grashalmen bewachsen und mit den
mannigfachsten Baumen und Baumchen bestan-
den war, mit groBeren, kleineren und ganz ver-
schrumpften. Die einen waren jiinger, die anderen
alter; einige aus unserem Himmelsstrich, andere
exotische, welche hier schlecht gediehen; einige
von ihnen schlieBlich schaffte, wenn das Wetter
schon war, der Gartner aus dem Treibhaus, wo
er sie zuchtete, hierher und stellte sie genau auf
jene Stellen, die ihnen der greise Graf zugewiesen
hatte,
Und so siechten unweit von einer Gruppe statt-
licher, zottiger nordlicher Tannen eingeschrumpfte
Oliven-, Orangen- und Zitronenbaumchen in hol-
zernen Blumentopfen hin, vor dem Nordwind ge-
schiitzt und mit brciten Bliiten bliihend; dort brei-
tete eine Mimose ihre biegsamen Gerten iiber
einen dichten Myrtenstrauch aus, anderswo durch-
wuchsen und mischten sich mit den Zweigen oder
mit dem Dufte die Rose von Jericho mit einem
Ailanthus, Lorhecrbaume mit japanischen Kame-
lien; und neben stolzen unteilbaren Trauerobe-
lisken von Cypressen, die in sich geschlossen
waren wie eine kalte Wolke und dercn Blatter sich
im Winde niernals rirhrten, gab sich eine Espe dem
schwachsten Anhauch der Luft hin und es schien,
als riefe sie ihn selbst hervor.
Alle diese Baumchen und Straucher hatte Chri-
stoph des Loges, der ein groBer Abenteurer, Lieb-
haber und Weltmann war, von seinen weiten
Reisen mitgebracht. Die Mehrzahl davon hatte er
selbst in diesen seltsamen Garten eingepflanzt und
so mit dieser diskreten, niemand anderem lesbarer
Schrift den interessantesten Teil seiner Lebens-
geschichte eingeschrieben — in diesem Betracht
ein noch verschlossenerer Edelmann als Chateau-
briand selbst, von welchem er, als junger Ge-
sandtschaftsbeamter, diese Idee im Vallee aux
Loups ubernommen hatte, wo er in den vierziger
Jahren des verflossenen Jahrhunderts den groBen
Diplomaten (der Dichter interessierte ihn nie) be-
sucht hatte. Er erinnerte sich oft an den hohen
Greis, beschwert von Alter, Ruhm und vor allem
von einer unaussprechlichen Langweile und einer
unfruchtbaren Trauer, wie er mit der kuhlen
Wolke eines stillen Stolzes auf dem abgestorbenen
Antlitz den jungen Kollegen durch seinen Garten
fiihrte und ihm mit einer mude abgerissenen Geste
die Cedern des Libanon und Pinien aus der Cam-
pagne zeigte, die er von seinen Reisen heim-
483
DTE AKTION
gebracht hatte, und er vermochte niemals zu
glauben, warum dieser Mann noch seine Memoires
d’outre-tombe geschrieben hatte, wenn er fur seine
Erinnerung diesen einzigartigen Park geschaffen
hatte. Um dies Nichtbegreifenkonnen war des
Loges mehr ein Aristokrat vom alten Korn als
der Dichter der „Ata1a“.
Jeder Strauch und jeder Baum hatte seinen
Namen, mit jedem war in des Grafen Erinnerung
eine bestimmte Begebenheit verknupft oder min-
destens ein bestimmter Eindruck oder ein Ge-
fuhl: hier die Erinnerung an ein Grab, dort die
an ein Bacchanal ; dort an eine Frau, da an einen
Freund; hier an ein gebrochenes Versprechen und
dort an eine getauschte Hoffnung; dort an eine
bezweifelte Liebe und hier an einen ungemaBen
HaB.
Hier schimmerte im Sonnenlicht eine Birke aus
polnischen Gefilden, welchc er Medslava be-
nannte, Des Loges hatte sie aus dem Grabe einer
schonen Frau gerissen, fiir die er sich geschlagen
und die er wieder verlassen hatte, wonach sie
bald gestorben war. Er hatte den winzigen Marz-
schoBIing bei seinem zweiten Besuche in Maso*
wien nachts aus ihrem verschneiten verlassenen
Grabe gerissen, als er in Gesellschaft von be-
trunkenen Kameraden in wilder Kavalkade von der
Dorfschanke zum nahen Schlosse fuhr. Er
schwenkte von der Landstrafie ab und fuhr auf
den Friedhof; als er zuriickkehrte und seine Schar
einholen wollte, hatte es ihn beinahe das Leben
gekostet; das Baumchen fing derart heftig in dem
beim Sattel befestigten Riemen zu schaukeln an,
daB es das an eine solche Last nicht gewohnte
Pferd aufschreckte. Es warf den Grafen ab, der
erst am Morgen halberfroren und mitgebrochenem
FuB aufgefunden w r urde.
An einer anderen Stelle erinnerte eine verkiim-
merte Pinie in einem Blumentopfe den Greis an
ihre herrlichen bejahrten Schwestern, unter deren
hohen horizontalen sonnenschirmformigen Kronen
er zwischen die rotlichen Bliiten der Zaunlilie
und auf die dunstzarten Blatter der Anemonen den
miiden Leib seiner romischen Geliebten nieder-
zulegen pflegte. Und alles von den unendlichen
Fahrten in Kiistengewassern bis zur melancho-
lischen Fahrt durch die Fiebercampagna, war fiir
Josef Ebetz Eedcrzcicknung
ihn in diesem unansehnlichen Baumchen einge-
schlossen.
Dort wieder ganz hinten straubte sich in kleinen
Klumpen von feinen Nadelchen eine Larche. Sie
war vor dreifiig Jahren ein ganz geringfugiges
Baumchen im Waldschlag gewesen und hatte
Christophs Standplatz in dem Duelle mit einem
beruhmten Fechter bezeichnet. Damals hatte er
nicht geglaubt, daB er heil zuruckkommen wiirde.
Und aus der verwitternden Terrasse drangte sich
das Sempervivum, das Fettkraut, cine Blume voll
geheimer Macht, die Pflanze des biaugriinen
Gottes, die Blute der Unsterblichkeit, aus
Griechenland hierher verpflanzt, hervor.
Es waren hier auch andere Baume und Straucher,
welche der Greis mit den Blicken zu beriihren
fiirchtete; er riB ihn wenigstens sogleich fort,
als ob er sich an gliihenden Kohlenstucken ver-
brannt hatte. Es gibt Erinnerungen, die man gem
vermeidet, vielleicht, weil es uberfliissig ist.
Hierher wurde also im Sommer taglich bei
schonem Wetter Christoph des Loges, der ein-
stige groBe Abenteurer, Liebhaber und Weltmann
und nunmehrige siebzigjahrige schwachsinnige
Greis mit hinfalligem Gange von zwei Lakaien
mit stuir.pfen geroteten Gesichtern und irgend-
einer brutalen Wut, die tief unter der rasierten,
mehr als Maske gleichgiiltiger Haut verkrochen
war, gefiihrt. Es gab Augenblicke, wo der Blick
des alten Grafen eigentiimlich forschend auf diesen
Gesichtern haften blieb und der Greis etwas
zwischen seinen Zahnen zermalmte. Die Nagel
unter diese Maske einkrallen zu konnen! LieBe
sie sich abreiBen? Wiirde nicht viel Blut hervor-
quellen? Ach, die Bestie! Als ob das Leben uberail
tief unter die Oberflache, unter die Rinde, ge-
krochen ware, sich hinter die Maske verborgen
hatte.
Hier pflegte er also schon und stolz auch in
seiner Ruine auf dem Feldsessel zu sitzen, den
einer von den Dienern brachte. Sein Kopf hatte
immerwahrend etwas Lowenartiges in seinen
grauen Locken und hervorspringenden Backen-
knochen, mit sinnlichen verschmahenden Lippen
und abweisendem Blick und wie er da mit ge-
gesenktem Kopfe, mit am Stock gestiitzten Handen
saB, machte er eher den Eindruck eines beleidig-
ten Menschen, der an Rache denkt, als den eines
bereits vom Leben Zermalmten. Nur die schwe-
ren Augenllder, die schon zur Halfte seinen Blick
verdeckten und sich mit Miihe hoben, und die
tiefen Furchen quer liber die Wange sprachen
eine durchaus eindeutige Sprache.
Heuer versank er stets, sobald er in seinen Sessel
fiel und die Diener fortgejagt hatte, in ein stilles,
leidenschaftliches Traumen. Er lebte von neuem
seine Jugend durch. Die jungeren Schichten seines
Gcdachtnisses starben schon ab, zerfielen und
deckten altere Schichten auf. Die langst von Ver-
gessenheit verschlungenen Ereignisse und Bilder
crgluhten und hauchten den Greis mit ihrer letzten
Wiirme an, wie er in der gliihenden sommertichen
Mittagshitze dasaB, welche das geronnene lassige
Blut heftiger durch die Adern flieBen lieB. Seine
486
485 DIE AKTION
Lippen pfiegten hierbei kalt und halbgeoffnet zu
sein wie die Lippen eines Durstenden, in der
Kehte fuhlte er ein Kratzen und die erloschenen
Augen wurden vom Fieberfeuer entfacht.
Es geschah, daB er an den Lakaien, der ihm zum
Mittagmahle abzuholen kam, die Frage richtete:
„Ist Lisa schon gekommen? Und vergiB nicht,
heute abends das Haydnsche QuatuorM*
Und Lisa verweste schon drei Jahrzehnte in der
SchloBgruft, und die Spieler der Haydnschen Kom-
positionen hatte schon friiher die Laune des Zu-
falls in alle Weltrichtungen verjagt und ihre Kno-
chen warf der Tod in den verschiedensten Fried-
hofen herum.
„Zu Befehl, Euer Gnaden, u antworteten aber die
Diener, wie ihnen vom Arzte befohlen worden
war und zwjnkerten einander dabei zu.
Nur eines noch im wirklichen Leben vermochte
den greisen Grafen zu erregen: der Anblick nack-
ter FrauenfiiBe, die Waden der Arbeiterinnen,
welche in der an diesen Teil des Parkes angren-
zenden Baumschule arbeiteten und manchmal ge-
notigt waren, an ihm vorbeizugehen.
Da leuchtete das Auge unter den einst gewolbten
Augenbrauen und unter den Wimpern loderte ein
Blitz hervor und fuhr mit gierigem schnellen Fluge
am FuBe von der Sohle hinauf bis zu den Hiiften,
kritisch und kennerhaft, selbst in der Erregung,
entlang.
Heute, an einem heiBen Augusttage, wo die Luft
vor Glut zitterte und Feuer vom Himmel nieder-
stromte, saB der Graf wie sonst auf seinem Sessel.
Er hatte in seinem gewohnlichen zaudemden Spa-
ziergange seinen bizarren Park durchschritten,
aber heute etwas griindlicher: Er blieb an Orten,
wohin er niemals ging, von denen er sich absicht-
lich abzuwenden pflegte,stehen. Erverweilte heute
besonders iange vor dem Baumchen im bauchigen
holzemen Blumentopf, welches der Gartner aus
dem Glashaus brachte: vor der Taggiasca, der
edelsten Olivenart, welche die steilen Abhange
des Porto Maurizio an der ostlichen Riviera be-
waldet. Lange blickte er das zugeschnittene
Baumchen an, dann rochelte er greisenhaft stoh-
nend und schob sich langsam zu seinem Sessel.
Und in der Sonnenglut kamen ihm in den Sinn
stufenformige hohe Terassen, die eine iiber die
andere erhoben, bedeckt von herrlichen Oliven,
hundertjahrigen Baumen, beredt wie ein ganzer
Hain und personlich wie groBe Menschen, be-
wohnt von Wald- und Gartengottheiten ; und
Olivenmiahlen, im Moos und Farnkraut ver-
sunken, von Wildbachen getricben und Frauen-
hande, welche diese Parke gegriindet und diese
Terrassen mit Arbeiten von Generationen und Ge-
nerationen aufeinander geschichtet haben ; an ein
Paar besonderes kleiner und leidenschaftlich urn-
schlingender Frauenhande, immer bereit, nach
dem Messer zu greifen und weiBe, zahmc und
schmeichlerische FiiBe, welche er an ihren Gem-
sentanzen uber steile Felsabhange verfolgt hatte
und dann dieselben, weifien, zahmen, schmeichleri-
schen FuBe zerschmettert und durch seine Schuld
zerschmettert und schwarze mit heiBem Blute be-
feuchtete und durch seine Schuld mit diesem Blute
befeuchtete Felsenblocke und —
Der Greis rochelte mit einem hohlen Stohnen,
so wiist, daB er sich eine Sekunde lang selbst
vor dessen vergeblicher Taubheit entsetzte, als
ob es nicht ihm, sondern einem anderen gehorte.
Er wuBte nicht, wie lange er so dasaB, ganz auf
einen einzigen tragischen Punkt konzentriert. Er
hatte vor seinem seelischen Auge dieselben
weiBen, schmeichlerischen FiiBe, die von ihm zu-
grundegerichteten FuBe* Er sah, wie sie sich
schnell iiber Felsen bewegten, er sah sie im Tanze
schwebend, er sah sie tot und erstarrt, irgendwie
streng und drohend unter dem Nebel des leichten
Rockes gezeichnet. Die Sonne raste und schlug
im wilden Ansturm auf die Erde, die Zirpen geig-
ten ihr metallnes, betauhendes Lied, das Blut
gluhte in den Schlafen, aber alle diese inneren
und auBeren Tone verschmolzen dem bitteren
Greise im Getose des an felsige Riffe schlagen-
den Meeres, von heiBem Blut befleckt, vom Blute,
daB er siindhaft vcrgeudet
Ein junges Lachen, das gleichsam iiber ihn zu
perlen hegann, storte ihn aus seinem Traumen.
Und gleichzeitig schwebte ihm vor dem Auge ein
Paar winziger, leichter, grazios getragener, zah-
mer und schmeichlerischer FiiBe und ergoB sich
mit dem Lachen in einen einzigen Eindruck von
irgend etwas musikalisch Leichtem und Unver-
antwortiichem. Ein Dunst, wie von leichtem WeiB-
wein, schlangelte sich dem Grafen um den Kopf
und tauschte ihn mit wahnsinnigem Bangen.
Eine Reihe junger Frauen und Maschen lief an ihm
vorbei mit aufgeschiirzten Rocken, einige mit
Rechen auf den Schultem.
Etwa ein Dutzend Paare entbloBter FiiBe spielte
und schwebte vor ihm, aber bloB ein Paar ge-
horte ihm ; der Graf hatte sie unter tausenden
erkannt
Alles baumte sich in ihm auf. Seine Augen stiegen
hervor, wurden tierisch und herrlich verwildert,
die Adern schwollen an und der ganze Korper war
■v""
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DIE AKTION
488
4
plotzlich eine einzige verliingerte, tragische Geste,
cine Geste des Durstes nach Leidenschaft Oder
Tod,
Als ob die ganze tote Jugend mit alter wilder
Kraft in diesem schwachlichen Korper hinein-
gefahren ware und ihn mit irrer, todlicher Span-
nung erfullt hatte, indem sie jede Weile mit der
Zertrummerung drohte.
Die Madchen entsetzten sich vor diesem Theater
mit animalischer Furcht und flohen von ihm mit
wiister Eile wie von einer Katastrophe.
„Rita! Rita!" stdhnte der Greis mehr denn mit
der Kehle mit ganzem schauderndem Korper.
Das erschreckte Madchen lief den steilen Ab~
hang herunter, der Graf ihm nach.
Diese Jagd hinter der Jugend her dauerte nicht
lange; sie verwandelte sich schnell in die Jagd
nach dem Tode.
Plotzlich fiel Graf Christoph dumpf iiber einen
Baumstamm hin, mit der Schlafe auf einen Stein-
block, wie ihrer hier mehrere verstreut waren.
Er sturzte hin, ohne zu stohnen.
„Sieh J da, das Ungeheuer, so alt und noch so
siindhaft!" sagte einer von den Dienern, die von
den Madchen zu der Leiche herbeigerufen worden
waren.
„Was willst du? Eine gute Mahre fallt beim
Ziehen/' antvvortete der andere und grinste. Er
ahnte nicht, daB er damit die ganze Philosophic
des Falles des Grafen Christoph des Loges aus-
sprach.
Dann hoben sie den Korper auf und trugen ihn
mit tragem Bedientenschritt in das SchloB.
Er war schwer und sie blieben mit ihm oft stehen,
indem sie sich den SchweiB abwischten und
gahnten.
(Autorisierte Obersetzung aus dem Tschechischen von O. Pick)
WER HAT CALIGULA UMGEBRACHT?
Fow Xaver
„Mnester, vielgeliebter! Weifit Du etwas?" Cali-
gula umklammert den Pantomimen ; muB sich fest
an ihm halten; die langen, diinnen Beine tragen
nicht mehr den dicken Kopf und den gedunsenen
Bauch. Caligula kiifit den Pantomimen; kiiBt ihn
wieder: „Mnester, weiBt Du was?"
Der Pantomime weiB etwas
Luft hat ihm viel zugeweht.
trostet seinen Theaterherrn:
Caligula allein hat Macht."
zittert: „Gestern im Theater hast Du in der
gleichen Tragodie die Rolle getanzt, die einst
Neoptolemus in den Spielen
Makedonier Konig Philipp .
Mnester und fliistert ihm ins
wurde".
und schweigt. Die
Pantomime Mnester
„AUes ist machtlos ;
Caligulas Kehlkopf
tanzte, wobei der
. Caligula kiiBt
Ohr . . . „ermordet
Mnester weifi etwas: In Olympia hat geste rn
das Jupiterbild Hohn gelacht; in Capua ward
das Capitol an des Marzes Iden vom Blitz ge-
troffen; auch gcstcrn; und gestern hat am gleichen
Tag, dem Jahrestag von Casars Ermordung, der
Blitz die Wohnung des Aufsehers von Caligulas
Palast vernichtet. Caligulas KuB auf Mnesters
Wangen hat verraten, daB Caligula das Morgen
aus dem Gestern ahnt.
In enger Stube Cornelius Sabinus; und sieben Cen-
turionen; hat jeder hundert Soldaten zu befehlen.
Siebenhundert gegen Einen. Wer unterliegt? Der
Eine! Cornelius Sabinus hat schlecht gerechnet.
Der Eine ist kein Einziger; ist Hunderttausende,
die mutlos sind und feig; die ihre Ruhe haben
wollen; die noch zu essen haben; die sich masten
vom Ungliick anderer.
Wo seid ihr, Unmut, Zorn, Emporung?
Wieder kiiBt Caligula den Pantomimen. „Ja?"
„„Ja!"" Morgen tanzt der Pantomime einen an-
dern Tanz; er hat es Caligula versprochen.
Cornelius Sabinus allein in enger Stube. Die Cen-
turionen? Befehligt jeder auf Befehl Caligulas hun-
dert Soldaten. Warum auch nicht? Caligula zahlt
guten Sold; hat — duckt euch, Centurionen! —
schon von Verschvvorungen vernommen. Wer war
beteiligt? Centurionen? Nein! Die haben, jeder,
hundert Soldaten zu befehligen auf Befehl
Caligulas.
Schlaf; Sensation. Sie gonnen Caligula noch Zeit.
Unter Caligulas FiiBen ruht ein zertretener hoher
Rat sich aus. Vom Wort Caligulas betaubt schlaft
ein miBhandeltes Volk. Zufrieden beide. Mag er
zum Friihstuck taglich fiinfundzwanzig Kopfe
fallen sehen ; solange es uns nicht trifft ™ nur
keinen Biirgerkrieg!
Was wird Caligula fiir morgen ersinnen? Fiir
den nachsten halben Tag? Die nachste halbe
Stunde? Wie interessant! Der Imperator! Im
Tanzerinnenkleid! FuBklappern um die Knochel!
Er tanzt Ballett! Trompeten schmettem dazu! „Ist
es wahr? 11 „„Man sagt.“ “ „Bestimmt?“
„„Ich weiB. Zwei Uhr nachts hat er sich Consuln
in den Palast kommen lassen; Publikum.'* “ „Das
will ich auch sehen; wie stelle ich es an, in den
Palast zu kommen ?“
Caligula als Gladiator. Gegner Holzschwert; Ca-
ligula Eisenschwert. Caligula verliert. Dolch zu
Hilfe! Caligula ersticht den Gegner. Todesschrei:
„Hoch Imperator!" Der Gegner liegt im Blut.
Prosit! Gastmahlsbelustigung. Wie interessant!
„Du, ich verbiete mir solche Zartlichkeiten mit
meiner Frau," schreit plotzlich Caligula. Der junge
Ehemann wird ausgetacht. Die Mitfresser und Mit-
saufer jubeln der durch Imperatorenwort plotz-
lich vom Ehemann Geschiedenen zu. Gastmahls-
spaBe; voll tiefen Ernst, den keiner wittert.
Untertanigst erkundigen sich zwei Herren nach
einem plotzlichen unmotivierten imperatorischen
Lachen. „Esel!" lacht Caligula; „ein Wort von
mir, ihr laBt euch geduldig die Kehle durch-
schneiden!" Ein interessanter Mann, Caligula!
Voll Witz und Geist und Oberraschung!
Schlaf; Sensation! Behelfe einer langst verlotter-
ten Gesellschaft. Behaltet euern Imperator! Ihr
seid seiner wert!
Cornelius Sabinus wacht. Sueht. Findet nicht.
Sieht, wie das Herzblut Roms im Imperatoren-
sumpf versickert. Weint: „Wer bringt Caligula
um?"
Centurio Cassius Chaerea bringt Caligula soldati-
sche Meldung. Caligulas Antwort: „Ha, ha! Mit
wie viel Hiindinnen gestern noch geschakert?
489
DIE AKTION
Parole: Venus! Ab! HandkuB!“ Caligula verdeut-
licht durch Handstellung die Obszonitat seiner
Rede; streckt diese Hand dem Cassius Chaerea,
dem Mann von reiner Lebensehrlichkeit; dem
Mann, der keinen Flecken auf der Liebe duldet,
entgegen: „Kusse!“
Centurio Cassius Chaerea — weigert sich? Nein!
— kiifit des Imperators Hand. Des Imperators
Hand? KuBt sich selber Rache auf das Herz.
Sabinus weint nicht mehr. Chaerea kommt zu
ihm: „Ich bringe Caligula um! Schamlos, im
Gegenwillen zu der ganzen Welt als ihr Macht-
haber sich aufzuspielen ; Schamloser, mit Men-
schenblut stundlich der Macht sich zu ver-
gewissern; schamlos noch mehr, — Chaerea preBt
die Hand aufs Herz — auf seine Stufe mich
hinabzudrucken !“
Der Tag darauf. Theater. Der Pantomime Mnester
tanzt Caligulas Beruhigungstanz.
Theaterpause. Chaerea's Schwert sitzt in Cali-
gulas Hals.
Reinheit der Seele, die keinen Flecken duldet, hat
Caligula umgebracht.
EIN BRIEF
Von Carl Einstein
Lieber Pfemfert!
In einen Ruckzug, versiegeltes Fernbleiben,
schickte man mir zwei Bucher; das eine war von
ihrem Temperament verrotet, kraftige Hande
schmissen in die vermordete Erde einen Pack
Holzpapier, eine schnittige Hundepeitsche, ja viel-
leicht ein noch nicht aufgestelltes Genickmesser,
jagt am abgekurbelten Horizont hollischer Schlag-
worte.
Das andere, Summa, Bilanz. Man will summie-
ren. Was denn? Die Zeit? Franz, eine Zeit, die
wir schon langst abrichteten, vergaBen.
Hingegen lhr Aktionsbuch.
Im ganzen geht es hier um noch nicht Verwirk-
lichtes.
Also Zukunft.
Aber um zu Realisierendes. Um Den ken, das
Verantwortung enthalt.
Ich gestehe, ich selbst lebe diesen Dingen etwas
entfemt; denn erlaubte ich mir, sie zu lieben,
ware ich tot.
Jedoch bohrte sich mir aus Ihrem Buch nicht
der Eindruck memorierter, ermudeter Drucker-
schwarze, vielmehr griffen Leidenschaft, Sachlich-
keit an.
Vor allem.
Bei Ihnen : Menschen, die lieben und Abanderung
suchen. Ich rede nicht vom Literarischen, das bei
uns kaurn existiert, weder aus dixhuitieme noch
aus Kirchenvatem surrogiert werden kann.
Ich rede von der ausgesprochenen Unertraglich-
keit dieser Zeit, die schon lange vor dem Kriege
ekelte. Das Elend qualte immer als gieiches.
Ihr Buch ist deutlich. Konstatiert. Wie lange
schon ist es her, dafi Deutsche es wagten, test-
zustelJen, ohne theoretische weitfaltige Demora-
hsierung.
Ich meine, in diesem Buch veroffentlicht zu sein,
muBte Ihre Mitschreibenden verpflichten.
Absichtlich schreibe ich Ihnen nicht vom Litera-
rischen; es ist mir nicht genug entschieden, wa-
gend. Aber das ist nicht Ihr Fehler.
Ich weifi, auch Sie liebten mehr Kiinftigeres und
vorgerissene Syntax gebauter Typen.
Aber doch:
Sie gehen zur Verwirklichung neuer Zeit . . .
Ungehindert. Ohne Archaismus. Ohne Klassik.
Noch nie bei uns gewesen.
Mogen sich Ihre Mitarbeiter vor flinker Termino-
logie bewahren. DaB die pathetische Terminologie
- unwahrhafte Phrase — eines voreiligen sozia-
len Kriminalfilms sie nicht verrage.
Denn sie haben noch nicht das Unmittelbare ge-
fressen.
Auch aus der Lektiire Flaubert ist es nicht zu
gewinnen.
Ich danke Ihnen, daB Sie eine kurze Arbeit von
mir veroffentlichten.
Ich schatze sie nicht, was niemanden angeht.
In Ihrem Aktionsbuch veroffentlicht zu sein, ver-
pflichtet mich. Fern bleiben mir die dicken Hefte
gebildeter Journalisten, die ohne HaB und Liebe,
im Unentschiedenen einer schleppenden Gram-
matik kluge unverbindliche Jahrgange burgern. —
Wie verachte ich trage Ruhe,
Mit herzlichen GruBen
Ihr Einstein
Raoul Hausmann Original-Holzsch nilt
iv: i 1 .-: i 1 .-:
491
DIE AKTION
492
LITERARISCHE NEUERSCHEINUNGEN
Brief aus neutralem Landc
Luxembourg, 15. S, 17.
Werter Herr Franz Pfemfert,
seit Uber 1100 leeren Nachten lauschen Sie, von WUste um-
logert, nach gUtigen Sltminen. (Die Menschen waren in den
Zeitlaufen gen 1917 sehr sellen gewordcn auf dem Planet Erde,
Raubtiere gediehen prachtvoll im Blute der Tungsten, die Jour
nalisten wischten unsern Christ mil Zeitungen ins Gesicht, um ihn
solchermaBen zu tdlen . . . werden Kllnftige meinen.)
Finer der menschlichsten Luxembourger komponierte ein treues
Buch Uber Verhaeren : Mathias Esch, den Edeln der ,,Closerie
des Lilas 1 ' stets lieber Kainerad. Enihalien wir uns jeder Meta-
kritik Uber diese nicht ausschliefilich krilische Schrift. lhre
Prosa ist Vulkan wie die Dichtung des groGen Westlers. Auch
sehr klug wird der zweite, etwas historische Teil der Schrift
wohl sein, ist doch der Lateiner Esch gescheiter als vielc andere
Luxembourger. Und so voll Trauer (stellenweise), daft der Belgier
nicht mehr lebt 1 Aber es laOt sich jetzt sterben in Europe,
besonders wenn man aus herzloser Umgebung schetdct, um in
den Tagen der BrUderlichkeit unsterblich zu werden.
Eierr Esch, Ihr Buch ist wichtig fUr Luxembourg, die Kulturen;
die KUnste; Ihr Buch ist lebendig inmiuen der Ruinen des
Katastropbenjahres Neunzchnhundertsiebzehn.
In ineiner Stadt erschien vor einer Weile die dUnne Monats-
schrift: Voix des jeunes- llerausgeber ist die Association gene-
rale des Itudiants luxembourgeois. Nicht alle diese Zwanzig
jahrigen sind schon jung, kranken (noch itrnner!) an fatalster
Komantik. Batty Weber entwarf einen Aufruf zur Einleitung.
Dann : Ungedrucktes von Verhaeren, ein Manifest des ..Cenacle
des extremes", Reitrage von Paigen, Clement, Conter, Ksch und
so fort.
Sic, Herr Pfemfert. werden das Unternehmen aus kleiner Pro-
vinz sttltzen, wenn Sie horen, dafi es nicht nach Grenzptahlen
oriemiert ist.
Das werden Sie, Freund, der luxembourger Jugend nicht ah*
schlagent sender Zweifel I
llerzlichst Ihr ' pol Michela
ICH SCHNEIDE DIE ZEIT AUS
LVI
Ein gediegener Ko pf,
„Ich bin froh, wenn mei Alter wieder im Feld is 1“ — „\Varum? M
— „Mit seinen Granatsplittern im Schiidel zcrreiGt er mir alle
Kopfkissen l w
Aus der Krugsnummer 160 dfs ,, Ulk Wochenhei-
lage zum „j Berliner TageblaW' (Chefredakteur
Theodor Wolff).
,,Der Gl&nz des Papsttums wttrde bei den Volkern wachsen,
denen dieser Friede noch rechtzeitig die Erfolge in den Scholl
wirft, die ihnen der Krieg nicht gebracht hat, und bei den
anderen wtlrde trotzdem die unbestimmte Vorstellung einer
segensreichen Fricdens macht, die grbUer ist als der
eigene nationale Staat, die GemUter verwirren, Wir sind nicht
so tbricht, dafi wir aus konfcssioncllen GrUnden ein
Friedensangebot ablehnen. Destok hirer tun wirs aus GrUnden
deutschef Zukunft und deulscher Verantwortlichkeit. Wir sehen
in dem papstliehen Friedensangebot einc Brtlcke, auf rler sich
die Allierlen gerne retten mochten. Man hsse dem Schwcrt
das letztc Wort I Wir Deutsche haben es nicht angerufen.
G ere cht aber ist’s, daii seine Entscheidung den Frieden be-
stimme I Ungcrccht und unchristlich ware es, uns FrUchte
zu entwinden, die wir gerade jetzt zu pllUcken jmstande sind.
Wir gehen weder nach Stockholm noch nach Rom, sondern
freuen uns an Fricdrichsruh und der Wartburg 4 *.
Pfarrer D, Trnub, Landiagsabgeordneter der
^f'ortschr, Yolkspnrtei 1 ', in der ,, Tuglichen Rund-
schau ", 24, 8. 1917.
Die BUhnen ptlegen die geschlechtlichen Angelegenheiten
weiter . . ,
Es widert uns an, wenn wir, in unseren Graben liegend, in den
Zeitungen die Anzeigen Uber die heimischen Thcateraufftihrungcn
lesen, Wedekind, Strindberg, Schnitzler sind da Trumpf . . ,
Theodor Seidenfaden in der „ Westdeutschen Lehrer -
Zeitung u , Coin, 29. Juli 1916.
KLEINER BRIEFKASTEN
Lieber Leser, umlangst habe ich aus Parvus* BroschUre ,,Soziale
Bilanz des Krieges" diese Zeilen zitiert :
„Alle Hochachtung vor den Heldenkimpfern der
russischen Revolutionfire, aber bei dem Stun des
Zarismus haben auch wir milgewirkt — die
Sozialdemokratie der Zentralmachte, W i r zogen
damit in den Krieg und w i r haben unser Ziel
errcicht." (Seite 24,)
Ich land die „Wir" des betriebsamen Herrn seltsam. Jetzt,
den 14. 8., lese ich im ..VorwSrts" :
,,Genosse Parvus-Helphand, der in Deutschland
lebt, aber geborener Russe ist, ... ist von der
russischen Regie rung in Anklagezustand versetzt
worden, Er antwortet dnrauf mit einer krftftigen
Streitschrift , .
Ich kaufte mir die J( kraftige Streitschrift" des VorwSrts-Genossen.
denn ich wollte wissen, ob die BroschUre mit den famosen
,,Wir" Anlafi zur Anklagc gegeben hatte. Das wSre immerhin
mdglich gewesen, da ja Herr Parvus in dUrren Worten behauptet,
gegen RuQland in den Krieg ge zogen zu sein. Aber die Streil-
schrifi sagt darUber nichts. Was der „Vorwarts" als „kraftig“
bezeichnet, sind simple Schimpfereien, die ein ntlchterner Fuhr
matin nicht fertig brachte, ,,HalbverrUckter Narr Kerenski".
,,Heuchler und Spitzbuben". Und so. Besonders schon klingt
„Verrater der Revolution", von Herrn Parvus geschrieen, oder
,,Abenteurer". n Positives" gibt diese Stelle :
„Ihr Narren, was sucht ihr, ob ich Lenin Geld ge-
geben habe? Gerade Lenin und die andern, die ihr
namentlich aufftlhrt, haben von mir, sei es als
Geschenk oder als Darlehen, kein Geld verlangt
oder erhahen. Aber ich habe ihnen und vielen
andern Schlimmeres als Geld und Dynamit ge-
geben. Ich gehore mit zu denjenigen, die den
revolutionaren Willen der russischen Prole lari er
geislig genahrt haben, den ihr jetzt ausrotten
mdchtet und nicht konnt.“
Die haufige Benutzung des Wortes j^arren" ist unvorsichtig ;
unvorsichtig ist die Prahlerei, Lenin sei ein geistiger Zogling
des Hera usgebers der ,,Glocke‘‘. Denn , .gerade Lenin" hat
im Genfer ,,Sozialdemokraten" vom 20. November 1915 cine
klare Meinung aber Parvus verofifentlicht :
,, Parvus, der sich schon in der russischen Revolution
als Abenteurer erwiesen hat, ist jetzt in der von
ihm herausgegebenen Zeitschrift n Die Glocke"
bis an die autierste Grenze hinabgesunken. Er
verteidigt in unglaublich unverschamter und selbst-
zufriedener Weise die deutschen Opportunisten.
Er hat alles verbrannt, was er einst anbelete; er
hat den Kampf der revolutionaren Slromung mit
der opportunistischen und tbre Geschichte in der
imernationalen Sozialdemokratie ,, verge ssen", Mit
der Ungezwungenheit eines des Beifalis der Bour-
geoisie sichern Feuilletonisten klopft er M&rx auf
die Schuller und „korrigiert“ ihn ohne eine Spur
gewi ssen h after und aufmerksamer Kritik. Und
irgendeinen Engel behandelt er direkt mit Ver-
achtung. Er verteidigt die Pazifisten und Inter*
nalionalisten in England, die Nationalisten und
Hurrapatrioten in Deutschland ... In den sechs
Nummern seines Organs ist kein ehrlicher Gedanke,
kein ehrliches Argument, kein einziger aufrich-
tiger Artikel enthalten . . , Herr Parvus hat die
eiserne Stirn, bffentlich zu erklaren, seine ..Mission"
bestehe darin, als ideales Bindeglied zu dienen
zwischen dem bewaffneten deutschen und dem
revolutionaren russischen Proletariat. Es genttgt,
diese Phrase eines Narren niedriger zu hingen,
damit die russischen Arbeiter ihn auslachen."
Diese Kritik hatte Parvus hindern sollen, dem lebenden Lenin
so ungezwungen auf die Schulter zu klopfen wie dem toten Marx.
Ludwig Rubiner. Heft 10 der in Zurich erscheinenden deutscheo
„Internationa 1 en Rundschau 41 hat eine Bauchbinde, auf der das
Wort n Sensationell l a steht; mit Recht steht, Denn unter den
Lieferanten von „Dokumenten der Menschlichkeit 1 *, die Herr
493
DIE AKTION
494
Reran sammell, wird der Name Georg Bernhard kotnmemien
Geschlechlem aufbewahrl. Dieses ist da zu lesen :
„Georg Bernhard schreibt in der „ Yossischcn
Zeitung" vom 10. April einen Uberaus einsichts-
vollen Aufsatz ilber seine Exkursion nach der
Schweiz. Er nennt seine Keise eine Badekur der
Seele, die ruhiger stimmt, und er ftlhlt sich in
seinen Anschauungen durch sie bereicheru Solche
Reisen und solche Art der Berichlerstaunng sind
gceignet, das Versiehenwollen liber die Grenzen
hinttber kriftig zu fordcrn."
% r ieIIeicht beeilt sich Herr Felix Beran, Aufsatze 211 zitieren,
die Herr Bernhard vor und nach dem io. April in der ^Voss.*"
veroffentlichte ? Ich will gern beiheifen, denn ich habe ein
besonderes Archiv angelegt filr die Leismngcn der privilegierien
Zeitung. Herr Beran lese auch Heft 29/30 der „ Aktion" ; vielleicht
eignet sich, was ich dort von G. B. gab? Oder cr drucke, was
Bernhards Zeitung den 19. Mai unter dem Titel „Gegen falsche
Sentimentality" leitanikelte ' Oder was Herr Bernhard von
Herrn Max Th. Behrmann durch die Roiationsmaschine wandern
liefi :
K. Z. Also hier die Fortsetrang zum Possenspiel Scheler. Die
^Frankfurter Zeilung" vom 5*Juni druckt diese Zeilen:
= [..Sutnma".] Herr Dr. Max Sch el er sendet uns
mit dem Ersuchen um Wiedergabe folgende Zu-
schrift : „In dem ^Summa** tlberschriebenen
FeuiUetonirtikel der Nr. 149 Ihres hochgeschitzten
Blattes bemerkt der mit „D" unterzeichnete Autor
inbezug auf die seit kurzern in Hellerau er-
scheinende Zeitschrift „Summa" u. a. Folgendes :
„ Einer der Hauptmitarbeiter ist der kalholische
Schriftsteller Max Scheler; die nachste Nummer
wird ein Schreiben an S. H. den Papst Benedikl XV.
eine europhische Verfassung betrcffend bringen."
Es ist mir von Wert, festzustellen, dafl ich keines-
wegs als Hauptmitarbeiter der„Sumnia" bezeichnet
werden kann. Ich s&ndte ohne jede Vnrkenntnis
des Inhalts des erslen und zweiten Ileftes vor
Monaten zwei Aufsatze rein philosophischer Naiur
fbr das I. und 2. Heft dem Herausgeber auf seinen
Wunsch hin ein. Auch von dem Projekt
eines Schreibens an S. H. den Papst, ein
Schreiben, dem ich nach Inhalt und Abfassung
vollig femstehe, war mir, bevor ich die ge-
dmckte Voranzeige des 2. Heftes erhielt. nicht
das Mindestc bekannt."
Herrn Schelers Zuschrift hatte kurze Beine. Den 20. Juni
schreibt die „ Frankfurter 11 :
= [Summa — Dr. Scheler. j In einem voll-
kotnmenen Widerspruch dazu steht nun eine
Zuschrift von Franz Blei, die ebenfalls zum
Abdruck zu bringen wir uns verpflichtet fohlen,
wobet wir nur einige Worte aus prefigesetzlichen
Grtlnden unterdrtlcken mtlssen, Die Zuschrift
lautet :
„Scit dem September 1916 habe ich von Dr. Scheler
22 Briete und vier Telegramme in Angelegenheiten
der „Summa" erhallen und einen Tag lang mit
ihm in Leipzig konferiert, wohin er zu dem Zwecke
von Miinchen aus katn. Seine Mitarbeiterschaft
an der Zeitschrift ist also wohl nicht, wie er
gl&uben machen will, das zufallige Ergebnis einer
gelegemlichen Aufforderung, der er ahnungslos
und gefallig nachkatn. Ihm vor dem Druck die
Aufsatze vorzulegcn, bestand allerdings kein Anlafl,
denn Dr. Scheler ist nicht der Herausgeber der
weder kathotischen noch phanomenologischen
„Summa a . Immerhin kennt er den Papstbrief vor
seinem Erscheinen und schreibt mir dartlber am
24, Mai ; „Rrief an den pRpst im erslen Teil gut,
im zweilen unklar." Was den kleinen Aufsatz
„Saulus" anlangt, dessen mifiverstehendc Kritik in
tier „Frankfurier Zeitung*’ Dr. Scheler zu seinem
Protest der Vorsicht, Hauptmitarbeiter zu sein,
veranlatlt hat, so schreibt inir Scheler dartlber —
und icb ziliere Vorder* und Nachsatz, damit man
nicht gluube, ich reiOe aus dem Zusammenhang :
„Autgabe des Publizisten ist voiler Perspektiven,
Saulus wirklich ausgezeichnet ; aber es wird die
juden toll argern. Doch w&rtim nicht ? Ihre
Kantpersiphlage . . Es tut mir . . . leid, die . . .
feststellen zu mtlssen. DaS B die Juden toll zu
argern** das Motiv flir die Wiedergabe der Ritter
schen theologischen Fragestellung war, wird nur
ein schlechtes jlldisches oder christliches Gewissen
behaupten, das Judenhafl oder Christenhafi cmp-
lindet. Mit besiem Dank flir den Abdruck dieser
Zeilen bin ich Ihr ergebener F. Blei,"
, . . Das p Summa W 'Heft mil dem Papstbrief ist bis
zum heutigen Tage nicht erschienen, also mutl
auch fUr den Fernstehenden Franz Bleis Antwort
als Erledigung einer Liige gelten. Doch derartige
Kleinigkeiten dtlrften kaum geeignet sein, die
hofinungsvolle Laufbahn des grotlen zeitgemaflen
Philosophen Scheler zu verschtluen. Der wird’s
schon machen l
Tom Nun mdchlen Sie noch wissen, wie sich die verschiedenen
Sozialisten-Parteien Deutschlands zu Stockholm slellen? Dafl
die Davidsbtlndler dort ihre „Internationalitat" zu reparieren
hotTten, wird Ihnen bekannt sein. Dafl auch die „Unabhlingigen"
hinpilgerten, war schon schwerer erklarlich. Die Gruppc
„Spartakus“ lehnte jede Teilnahme ab. Wie sich die A.S.P.
entscheiden wlirde, falls die Konferenz stattfinden sollte, miiflte
nicht zweifelhaft sein. Uberhaupt ist der ganze Lfcrm um
Stockholm wenig ernst zu nehmen. Sinn und Wert konnte
diese Zusammenkunft doch nur dann haben, wenn die Tcil-
nehmer eine tatsachliche, re ale Macht reprasentieren wtirden
oder durch ihre Regierungen mil Vollmachten versehen wa*
ren ! Preiscnd mit viel schonen Reden ihrer Wiihler Wert und Zahl —
ist zu solchcm Zwecke Stockholm notig? Wir kennen die Weise,
wir kennen den Text. Wir kennen auch die Verfasser. . .
F. M. Der in Berlin erscheinende ^Deutsche Kurier" (der
keine Telegram madresse haben will, sondern eine ^Drahtungs-
anschrift**, der sich aber zu strauben scheint, reindeutsch :
„Deutscher reitender Eilbote" zu heitlen) erheitert taglich meine
Abende. Offener, brutaler, „alldeutscher* ist kein zweites
Organ, kein andercs Blatt zerstbrt so schonungslos pazifistische
Illusioncn. Ein Beispiel; I>a war die Reichstags-„Mehrheit u
und der Vorstand dcr „Demschen Friedensgesellschaft" stolz
auf jene Resolution vom 19. Juli. „Frieden del Ausgleichs und
der Vcrstandigung" forderte die. „Schaltierungen der Auffassung"
seien moglich, sagte Herr Michaelts. Die Auffassung des
nationalliberalen „Kuriers' 4 (25. 8. 1917) schattierl also:
r Ausgleich‘ bedeutet doch, dafl Ungleichheilen, die vorher
da waren, beseitigl werden. Gibl es aber groflere Ungleich-
heiten, als den ter r ilorial e n Besitz, wie er vor dem
Kriege zwischen den groGen Machten verteilt war? . . .
Und „Verstandigung“ I War etwa der Frankfurter Friede,
bei dem unser Volk das eroberie Elsafl-Lothringen nach
Hause brachte, kein Friede der „ Verstiindigung" ? Konncn
wir uns nicht mit unsern Feinden schlielilich dartlber n ver-
stfindigen", dafl sie uns im Wege des „ Ausgleichs" , abge-
sehen von einer Kriegsentschadigung, Kurland und Littauen,
die politische, militarische und wirtschaftliche Gewalt liber
Belg ien, das Erzgebiet von Briey und andere ftlr uns not-
wendige Werte liberlassen?"
AN DIE Bl/TTEN ABONNENTEN:
Diesem Heft ist ein numeriertcr und signierter Original! lolz-
scbnitt von Ines Wetzel beigegeben.
INHALT DER VORIOEN NUMMER: Vlastislav Hofman (Prag) : Dostojewskijs Portrat. Holzsclmitt (Titelblalt) / Margarethe
Goetz (Zurich): Zwei Zeichnungen zur Zeit / Max Brod: Aus einer Szene „Der Genius des Krieges" / Myrrha Tunas: Heder-
mausflug / Karl Sgraffoldo und Rudolf Hartig: Verse vom Schlachtfeld / Theodor Lessing: Europa und Asien / Anton Pirek:
Der Totenhof (Zeichnung) / Felix Muller: Portrat des M, d, ,, A." Victor Fraenkl / Aus Bakunins Briefwechsel mit Herzen /
Georg Tappert: Portrat (Zeichnung) / Karl Otten: Die Nachtwandlerin / Alfred Wolfenstein : Der Leichenwagen / Max Herr-
mann: Der am Leben stirbl / Kura Adler: Sommergang / Alexei Kolzow: Frage (Deutsch von Otto Frhr. von Taube) / Lothar
Homeyer: Original-Holzschnitt / Kurt Pinthus: Der Lyriker Wilhelm Klemm / Else Lasker-Schuler : Max Herrmann und ein
Doppelportrat / Hans Koch: Traume / F. P,: Ich schneide die Zeit aus; Kleiner Briefkasten
Fur Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten
Inhalt verantwortlich: Franz Pfemfert, Berlin- Wil-
mersdorf, Nassauische StraBe 17, Tel. Pfalzbg.1695
Gedruckt bei F. E, Haag, Melle in Hannover.
Dit AKTION erscheintjedenSonnabend. Abonne-
meats kosten vierteljahrlich durch die Post, durch
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WOCHENSCHRIFT FUR POUTIK, LITE R ATU R, KUNST
TU. JAHR.HERAUSGEGEBEN VON FRANZ PFEMFERT Nft H
INHALT: Felix Muller: Schiffe (Original-Holzschnitt) / Jean Paul: Die Ajinexionisten / Franz Mehring: Marxens junge Jahre /
Felix Muller: Franz Mehring: (Federzeichnung) / Theodor Lessing: Europa und Asien / Otto Freundlich: Zeichnung / Wil-
helm Schuler: Emte (Original-Holzschnitt) / Edlef Koppen und Rudolf Hartig: Verse vom Schlachtfelde / Max Krause: riolz-
schnitt / Karl Otten: Verse f Alexei Kolzow: Herbst / Walther Eidlitz: Weinland / Jesa d'Ouckh: Rausch / Alfred Wolfen-
stein: Neue Stadt i Georg Tappert: Portrait des Malers K. J. Hirsch / Max Brod: Notiz / Jurgen von der Wense: Finale /
Franz Jung: Jehan. Eine Novel le / F. P„: Ich schneide die Zeit aus; Kleiner Briefkasten / Mitteilung an die Abonnenten
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£in Roman.
Geb. M, 3 , —
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3» ►
in Halbpergament gebunden, signiert,
M. 6,—
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