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Full text of "Die Deutsche Novelle Der Gegenwart"

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2)ie beuffc£>e Dröselte 
ber ©egetmarf 





Sie beu£frf>e 3^01> e IIe 
ber ©egentparf 

3H i t einem 3 1 ? a tf> rp p r t 
\) e r a u ö g e g e E> e n ppn 

^ann 0 3IC artin CHjier 



S) e u f f d£> e 25uc^«©emeinfc^af£ 

®. m. b. 


Berlin 




Wk IDUdjte t>ork&alten 


De c Gongee 

©on Jli carba $ud) 


GC^urcf) bie breiten miberhaüenben Gänge bes Gefäng» 
niffes San Calitflo gingen on einem toormen Srüh» 
(ingsoormittage ber <£arbina( JTfojjamori unb ber TTCet« 
fler ber päp|?lichen .Kapelle, ©on Drajio, ber feinen 
Stammbaum auf ben berühmten rörmfcfjen ©icfjter ju» 
rücfführte, beibe Günfiltnge bes Papfies Snnogenj be 9 
3efjnten. Sie roaren im Begriff, einen jungen 3Tienfcf)en 
aufjufurfjen, ber be 9 JKorbe 9 angeHagt unb in Gefahr, 
ba 9 £eben ju oerlieren, bem Äarbinal burch feine Geliebte, 
bie fcfjöne ©onna Diimpia, empfohlen roorben mar. ©iefe 
©ame, bie burcf) -Senat mit einem Ottobuoni aus Hein» 
bürgerlichem Stanbe gehoben mar, hatte ben 3ufammen» 
hang mit ihrer im Schatten meiterlebenben Santilie nicht 
oerloren unb pflegte ihn befonbers, roenn fie ficf) in ihren 
neuen Derhältniffen beeinträchtigt unb un 3 ufrieben fühlte. 
Als nun eine ihrer Xanten gu ihr gefommen mar unb fie 
angefleht hatte, bas bebrohte £eben bes einzigen Sohnes 
ju retten, rooju fie oermittels ihres Sreunbes, bes Äar» 
Sinais JTlajjamori, mohi imfianbe fei, mar fie nicht nur 
oon JTiitleib, fonbern oon 6 hrfurcf)t für bie Srau ergriffen 
morben, bie, oon ben Xobesfchmerjen ber UTiutter burch» 
bohrt, ein geheiligtes Scf)i<#fal gu erfüllen fchien, roährenb 
fie felbfl nie geboren noch bie eheliche Treue bemahrt hatte 
unb jeht fogar an ihrem geifflichen Sreunbe bie £uft ju 
oerlieren begann. 3hrem herb erteilten Befehl hatte ber 
-Karbinal fich nicht entziehen fönnen, obroohi er bie ITCög» 
üchfeit, Jrjilfe ju fchaffen, in biefem Salle für ausgefcf)(of* 
fen hielt. 

69 mar nämlich ber junge £ance(otto — fo ber 
©etter Olimpias — burch feinen oerftorbenen ©ater, einen 


5 


Kaufmann, ber Gläubiger eines flnoerwanbten bes Pap« 
fies unb hatte ftcf> tm Aufträge feiner JTlutter, narfjbem 
öerfcfjtebene JTlahnungen nicht gefruchtet hotten, felbfl tn 
bas j?aus bes Schulbners begeben, um ihn jur Zahlung 
aufjuforbern. ©a ber Sperr ftcf> Burjweg weigerte, feiner 
Berpfitchtung nachjuBommen, ober fie gar leugnete, ent» 
(tanb ein lebhafter IBortroechfel, tn beffen Berlaufe ber 
JTepot einige feiner £eute herbeirief unb ihnen befahl, ben 
unoerfchämten Oranger ju ergreifen unb ihn burcf> bas 
Senfler auf bie Straße ju werfen. So aufs äußerße ge» 
reijt, hatte £ance(otto, inbem er fich ber JRänner, bie roh 
über ihn herfielen, ju erwehren fuchte, einen berfelben auf 
ben Tob oerwunbet. Sooiel llrfache ber ablige Sperr aud) 
hatte, ben Borfall ju oerbergen, machte er ihn hoch an* 
hängig, um fich bes täßigen Gläubigers 3 U entlebtgen unb 
ju feinem Glücf trafen mehrere Umßänbe jufammen, 
burch welche bte «Richter gegen ben flngeflagten eingenom* 
men würben. 

Unter ben Papieren £ancelottos fanb fich außer aller« 
(ei oerbotenen pf>tlofophifch e « Schriften ein Spottgebicf)t 
auf ben Papfl, unb fo liebenswürbig unb empfinbungs« 
ooll Gnnojenj ber 3ehnte in mancher Bejahung auch war, 
fo hätten bodf) fogar feine oerwöhnteflen Bertrauten flcf> 
Jäher ltngnabe oerfehen müffen, wenn fie ein gegen ihn 
gerichtetes IBi^wort ju oerteibigen gewagt hätten. Bor» 
nehmlirf) feine Schwäche, fi<h für einen Oichter ju halten, 
mußte oon jebermann gefchont werben, unb nichts hätte 
ihn baoon abgehalten, in bemjenigen einen JTCörber unb 
.Seher ju fehen, ber mit oiel Geifl unb Bontifchen Xöenbun» 
gen feine fapph'tfchen Oben parobiert hatte; benn bies war 
bie 5orm, ln bie er bie Ergießungen feines Chrißenherjetts 
oorjugsweife einjufleiben liebte. 

Das Gebicht war „Oie römifche Sirene 7 ' betitelt unb lau* 
tete etwa fo: „Segle nicht an ber römifchen «Süße oorüber, 
Dbpffeus, ober fuß bu es bennoch, fo oerfäume nicht, beine 
Ohren mit IBachs ju oerBleben, bamit bu ben Gefang bes 
Papßes nicht oerntmmß. Spörteft bu ihn, fo würbe bich 
ein foliher Schauer ergreifen, baß bu nicht mehr imßanbe 


6 


wärefl, bein Scfjiff gu lenfen unb elenb fcheitem würbeß." 
6s wäre tollfühn geroefen, ficf) eines JRannes anguneh* 
men, ber bie Unoorfichtigfeit gehabt batte, eine folrfje Äecf* 
f)eit nicht nur aufgufchreibcn unb bei fich ftnben gu (offen, 
fonbern fogor feine Urbeberfcfjoft gugugeßehen. 

Unter biefen Untßänben fcfjritt «Rarbinal JTiaggamori 
mit. bekümmerter JTiiene neben feinem Sreunbe Oragio her, 
ihm fetne Sorgen unb Bebenfen mitfetlenb. ,,3cf) fonn 
Oümpias Xettnofjme für bie Xante nicht anbers ols liebens* 
wert finben," fogte er, „obfcfjon tcf> barunter leibe. 3f)t 
JTütgefühl für ihre Berwanbten macf)t ihr Jperg ungugäng* 
lieh gegen meine flnfprüehe, bie trf) ihrer Süßeren JTliene 
gegenüber faum gettenb gu machen wage. BJie (eicht tnirb 
bie Xugenb gum Seinbe bes Glücfs, unb wie ferner 5(1 es 
beswegen, gum Sreunbe ber Xugenb gu werben. 3cb fann 
mir feinen gtücftichen Hbfchluß biefer Angelegenheit oor* 
(leiten, ba ich mich burchaus nicht in ben Progeß einmifchen 
fann, ber fchon gu o’tete Xorheiten bes Befiagten ans Sieht 
gebracht hat, unb ba hoch bie unberatene Olimpta ihre 
3ärt(ichfeit für mich an feine .Rettung gefnüpft hat." 

Oragio gab gu, baß es eine heifte Sache fei unb fügte 
bei, er fönne fi<h nicht genug freuen, baß feine Ueranla* 
gung ihn oor bem unhei(oo((en Ginfluß ber UJeiber be* 
fcf)ü£e. „Tlach meinem 0afürhatten", fagte er, „wiegen 
bie Vergnügungen, bie uns bies ßefcf>(ecf)t bereiten fann, 
bie flrgerniffe unb Gnttäufchungen nicht auf, bie aus fei* 
nem Umgänge fließen." 

Oer Äarbinat feufgte (latt ber Grwiberung, ohnehin war 
ingwifchen ber ihnen oorangehenbe UJärter oor einer ber 
oielen Xüren flehengeblieben, bie auf ben Sang führten, 
unb gab ihnen ein 3eichen, baß fie am 3ie(e feien. 

Bei ihrem 6intritt richtete fich ber Gefangene oon feiner 
Pritfche auf, fah bie Jremben oerbu^t unb ntiß(aunig an, 
fprang bann auf unb fagte mit höflichem Gruß, baß er 
feß gefchlafen habe unb fich nicht fogleich auf feine Sage 
habe befinnen fönnen. „Oie barmhergige Jlatur hat mir 7 ', 
fagte er lachenb, „bie Gabe reichttrfjen Schlafes oerliehen, 
womit ich bie 3eit oerfcheuchen fann, ba mir feine Gele* 


7 


genfjeit gegeben wirb, fle mir burch Arbeit ober Unter* 
fjaltung gu befreunbcn." 

„Die Säfjigfeit, gu fehlafen, beutet ouf ein freies Ge» 
wiffen", bemerfte ber .Karbinal, worauf ber junge JTtann 
erroiberte: ,,©as habe ief> freilief); ich möchte ben JTlefjlforf 
fefjen, ber fief) non efjrtofen Schürfen mit Süßen treten 
(iefSe, of>ne fief) gu wehren. Wäre meine 3unge fo fehlerlos, 
tote meine ^önbe ohne JTiafel finb; aber bie ifl fo be* 
fefjaffen, baß fle alles ausfpricf)t, was burch mein Gehirn 
gueft, als ob fie eine 6locfe wäre, an bie ber Striegel ber 
Gebanfen beßänbig anfcf)lüge. ©a wirb benn manches 
laut, was ben £euten Herbruß erregt; fpräcften alle aus, 
was fie benfen, fo f>ötte tcf> gu oiele Gefinnungsgenoffen, 
als baß man fie alte einfperren ober ihnen allen ben «Äopf 
abfchlagen formte." 

„3f>r rebet nicht eben wie ein bußfertiger Sttnber", fagte 
©on Dragio nicht ohne Wohlgefallen an bem hübfehen 
0üngling, beffen JTiunterfeit burch feine jammeroolle £age 
nicht gebrochen gu fein fcf)ien. 

„Was wollt 3hr, mein Sjcrv'i" entgegnete er gutrauluh. 
„Einen JTiorb höbe ich nicht begangen; foll ich gerfnirfcht 
fein, weil ich nach Maßgabe meines Derßanbes über bas 
HJunber bes ©afeins nachgebacht, ober etwa gar, weil ich 
einen unbebeutenben Hüft über Seine ^jeiligfeit gemacht 
habe? 3ch mache wohl auch einmal einen frechen Scherg 
über bie höchßett ^errfchaften im ^immel, bie hoch ehr» 
würbigere Häupter finb als ber JJapß, ohne baß ich mich 
beshalb ber Sünbe geihe; benn was für Abbruch Int es 
ihrer Herrlichkeit, wenn ein Grbenwurm, ihnen faß unficht» 
bar, ein wenig baran gupft? 3ch bin nur ein armer Scf)tuf» 
fer, ben man leicht bes £ebens unb ber £hre berauben 
fann, unb bin hoch ben Jlichtem nicht böfe, bie mich täg» 
lieh als einen blutbürßigen «Raufbolb unb Jlebellen traf» 
tieren." 

©er Äarbittal, welcher ingwifchen »erlegen feine weis 
ßen Jtägel betrachtet hotte, fogte, inbem er eine emße 
JTliene annahm: ,,©ie Gerechtigfeit bes Sjeili gen Hafers 
bürgt bafür, baß Euch fein Selb wiberfährt, wenn 3l>r fo 


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fcfjulblos feil», tote 3f»r behauptet. Spättet 3f)V nt<f)t burcb 
Suren JTtutwillen bie Anwartfcbaft auf Gnabe oerfrfjerjt, 
fo möchte tcf) Surf) raten. Surf) mit Eurem Anliegen gang gu 
ben Siifien Seiner j?eiligfeit gu werfen." ©a ber junge 
JTCarm nicht fogteid) antwortete, fetjte Oragio im Tone 
roof)tmeinenber Xtberrebung f)ingu: „TDürbet 3f»r nicfjt we* 
nigflens bas (eibige Gebid)t, bas Surf) ber Teufel einge« 
geben bat, gurürfnehmen ?" 

„HJarum nicht?" antwortete £ancetotto. „Am ßebflen 
auch alte Gebiete Seiner JpeiUgfeit, wenn idp es fönnte." 

6s war ©on Dragio unmöglich, bas fielen gurücfgu* 
Ratten; ber «Karbtnal inbeffen fpürte nur einen fd) wachen 
Anreig gur Jpeiterfeit, ba bas Bewußtfein ber löiberwärtig» 
feit feiner £age in ihm fortwätjrenb junatjm. 

Wie ber arme junge 3Tienfd> wafjrgunetjmen begann, 
bafi ber Befucf) burrf) ein gewiffes 3ntereffe an feiner Be* 
freiung oerantafit war, färbte bie erwad>enbe Hoffnung 
feine blaffen ©Sangen um einen Spa u<h röter, unb burd) 
fein oortjer fo gelaffenes Benehmen gitterte »erhaltene lln» 
ruhe. Db es niefjt wirffamer wäre, fragte er, inbem er feine 
Blirfe gwifdjen ben beiben Herren b>n unb Iper geben ließ, 
wenn feine ©lütter ficb an bie 6nabe bes Papfles wenbete? 
Sie würbe altes tun, was itjn retten unb ihn ifjr wieber* 
geben fönnte. Auf ihr Betreiben wären gewiß aud) bie 
beiben sperren mit fo oiet gütigem Anteil gu if>m ge* 
fommen. 

©er «Karbinal nirfte unb ließ einige ©Sorte falten, wie 
bie £iebe ber ungtürflicfjen $rau gu ihrem Sohne niefjt nach* 
taffe, obwohl er if>r fo fdjweren «Kummer bereite. 

„Sticht burcb meine Scbutb," fagte £ancelotto frei unb 
freunbti«b; „wäre icb aber noch fo f<f>utbig, fo würbe ich 
an ihrer £iebe hoch nidjt gweifetn; benn id) bin noch in 
ihrem jpergen, wie ich einfi in ihrem £eibe war, unb Gott 
fetbfl mit feiner Allmacht fönnte mich nicht berausreißen." 

EJäljrenb er btes fagte, hotten feine Augen fich gefeuchtet 
unb waren babureb gtängenber unb bunfter geworben, unb 
ben beiben sperren fiel es je0t auf, baß biefe Augen unge* 


9 



wohnlich fcf)mal unb lang waren, fo tote bie älteren Dtater 
bie Augen ber Cherubim unb ber oerflärten Jpeiligen gu 
bilben pflegten. Oos gciflfjaft Schwebenbe, fpielenb Süße, 
bas ihnen eigen toor, mochte boburcf) bebingt fein, baß bie 
Meinen Pupillen ben irbifcfjen fiecbenfchaften feinen Berßecf 
gu gewähren unb bie Dielt)eit ber bunten unb oeränbetw 
liehen 6rbenbinge nur oon ferne fpiegeln gu fönnen 
fcfjienen. 

3ngwifchen Rotten bie fcharfßchtigen Augen Sancelottos 
erfaßt, baß bie sperren hoch nicfjt eigentlich barauf aus« 
gingen, ettoas DJirffantes für ihn gu tun, unb bie frohe 
UJelle ber Hoffnung ficferte langfam toieber gurücf. DJenn 
bie Sperren, fagte er nach einer JJaufe, einen Auftrag an 
feine JTiutter übernehmen wollten, fo möchte er fie bitten, 
ihr einen Büffel feiner Spaart gugußetten, ber ihr als ein 
lebenbiges Stücf oon ihm teuer fein toürbe. 3hm toürbe 
jeboch toeber ein JTIeffer noch fonß ein fcharfe9 Gnßrument 
in bie Jpänbe gegeben, fo baß er ohne ihre Jrjilfe nicht im» 
ßanbe fein toürbe, fich Spaart abgufchneiben. 

Oer Äarbinal gog ein mit Schntelg unb farbigen Steinen 
oergiertes filberne9 Büchschen aus bem toeiten Ürmel, 
toorin ein Meiner Spiegel, eine Schere, ein Stücf JBath9, 
eine Seile gunt Glätten ber Slägel unb bergleichen enthal« 
ten toaren, öffnete es unb blicfte unfchlüffig hinein. DJäh« 
renb er gögerte, bemächtigte fich Oon Oragio ber Schere 
unb beugte fich über ben Äopf bes jungen JTiannes, um 
ben erforberiichen Schnitt gu tun, toobei er mit einer lieb» 
fofenben Bewegung in bie ein wenig geringelten faßanien» 
braunen $aare griff. 

Bei biefem Anblicf fiel es bem Äarbinal ein, baß bie un» 
glückliche Diutter in ber Befinnungslofigfeit ihres Schmer* 
ges gewimmert hatte: „Gr iß ja noch ein Äinb! Gr hat 
£öcfchen wie etn Üinbl", unb es berührte ihn überaus pein* 
lieh, bie Älage mit eigenen Augen beßätigt gu fehen. 3lach» 
bem er fich leicht geräufpert hatte, fagte er, baß er Sorge 
tragen werbe, bas Anbenfen in bie Jpänbe ber JTTutter ge» 
langen gu taffen, unb baß er gern etwas tun würbe, um 


£0 


bte Sage bes Gefangenen ju erleichtern. Ob er D3ünfcf)e 
in betreff bes Gffens höbe? Ober womit ihm fonfl gebient 
Ȋre? 

HJas bas Gffen angehe, fagte Sancelotto, fo werbe er 
burch feine JTXutter bePöfiigt, bie ihm mehr £ecferbiffen oor* 
fe£en taffe, als er bewältigen Pönne. Bücher, etwa ein 
Bänbchen Gebicfüe, mürben ihn wohl erfreuen, am (iebften 
würbe ihm aber fein, wenn er einen Gefährten gugefellt 
bePäme, mit bem er ein wenig ptaubern unb lachen Pönnte. 
Oiefer GebanPengang brachte ihn barauf, baß er feine 
6ä(ie, oon benen namentlich ber Äarbütal augenfcheintich 
fehr niebergefchtagen unb burch bie trübfelige Umgebung 
bebrücPt war, bisher nicht eben gut unterhalten habe, unb 
er begann ein munteres Gefcfjwäh, wobei aus ben fchmaten 
Augen bie unfchutbige Schelmerei eines übermütigen $na» 
ben bli£te. 6r erjählte Schulflreicfje aus bem geglichen 
Kolleg, bas er befucht hatte, oon £ehrern unb oon bem 
flbt eines gemiffen Flößers, ber ihn als einen jungen J?ei» 
ligen angefehen habe unb noch immer barauf warte, ihn 
als JTooigen einfreten ju fehen. Gr habe ben guten JTlann 
oft befucht unb ficf> im Älofler wohl gefühlt; aber lange 
halte er es in ber Abgefcffiebenheit nicht aus, bem Getüm* 
mel bes £ebens gujufehen, fei ihm bie liebfie Befcf)äftigung; 
je toller es um ihn her gugehe, beflo fHlter unb behaglicher 
fühle er fich im Gnnern» 

Dann fei bie enge 3elle freilich nicht ber rechte flufent» 
halt für ihn, meinte Dragio teünehmenb; aber ber junge 
JTiann erwiberte, es fei immerhin fo arg nicht, wie es ben 
flnfchein habe. Sein Senffer gehe auf ben JFjof, wo bie 
gur Gefangenfchaft Berurfeilten fich gu gewiffen Stunben 
ergehen bürften unb untereinanber hanbelten, lachten, 
lärmten unb janPten, wie wenn BiehmarPf auf ber piagga 
JTaoona wäre. 3wifchenhinein Pönne er fchlafen, unb 
fchliefißch befinbe fich in einer nicht weit entfernten 3elle 
ein Unterfuchungsgefangener, ber eine fo fchäne Stimme 
bcfi£e, bafS man fich einbilben Pönne, fdf>on int Parabiefe 
gu fein, wenn man ihn fingen höre. 

Oie Paufe, bie hierauf entßanb, benu£te ber .fiarbinal, 


li 


um £ancelotto gu fragen, tote es benn in Sp inficht ber Jle* 
ligion mit ihm beflellt fei. Db er auf bas Qenfeits oor* 
bereitet fei, ober ob er ettoa oon einem oerftänbigen Gei|l* 
liefen über ben f»eiligen Glauben belehrt gu toerben 
wünfefje. 

©er junge IRann fchüttelte lacfjenb ben «Kopf unb fagte: 
„3<f> habe Augenblicfe, too ber Glaube mief» mitten in Got* 
tes Schoß trägt, unb ich f»abe Stunben, too ich gtoeifle unb 
benfe, bis meine Gebanten an jenes frfjtoarge Xor flößen, 
bas fie nicht burchbringen unb überfleigen fönnen. ©as 
oermag fein Priefler gu änbern, unb ich möchte es auch 
nicht, ©en pia£, ber in ber toeiten DJelt für meine Seele 
ifl, toerbe ich erreichen; hat ja hoch Gott bem JTJaultier ein* 
gepflangt, btiJladft ben rechten E3eg, unb einer «Ka£e, bas 
Spans gu finben, too fie hingehört, ©ie Herren müffen nicht 
um mich beforgt fein, noch foll meine JTlutter fief) um mich 
grämen. Soll ich flerben, fo mu(J ich öurcf) ein paar bittere 
Stunben htnburd), bie ebenfo fchnell oorübergehen toerben 
tote manche anbere / bie ich auch überflanben habe. HHe 
toohl wirb mir aber hernach fein, toenn mir Gott einen 
Anteil an ber hintmlifchen Uollfommenheit getoährt! ©ann 
toerben meine neugemachten, allgegenwärtigen unb alltoif^ 
fenben Augen auf bie Dertoimmg unb bas ^änberingen 
unb 3ähnefletfchen ber 3Ttenfcf)en fnnunterfehen unb 
lachen, bafS ich auch einmal mitten bagtoifchen war unb 
oon armfeligem Schlachtoieh gum Tobe oerurteilt unb auf 
bas Schafott gefchleppt würbe." Sein frifefjer feuchter 
TRunb lächelte babei mit befonberer £ieblicf)Beit, bie man 
faum wehmütig nennen fonnte, weil fie allgu unbefangen 
war. 

Als bie beiben Herren bie 3elle oerlaffen unb ber BJär* 
ter bie Tür abgefchloffen hatte, winften fie biefem, baß er 
nunmehr entlaffen fei, unb gingen langfam ben Gang f)in* 
unter, ©er «Karbinal tupfte ficf> mit bem Xafchentuch unb 
fagte, es fei jammerfchabe, baß ein folcher «Knabe fo gu 
Salle gefommen fei. IDas fei ba gu machen? ©er JITorb 
fönne fchließlicf) nicht ungeflraft bleiben, er fähe feinen 
Ausweg. 


12 


„Ein allerliebfler {Junge," fogte ©on Oragio nachbenf* 
tief), „unb fcfjeint durchaus nichts Strafwürbiges begangen 
gu haben. 3cf) hätte £ufl, micf) feiner angunehmen unb ihn 
Sen Uralten biefes gottoergeffenen Xribunals gu entreißen, 
wenn ficf) nur ein gwecfmäfjiger DJeg bagu finben ließe." 

„Tltir fef>lt ber JTtut, mief) oor Dlimpia fefjen gu Iaffen, 
wenn icf) feine Hoffnung bringe", fuhr ber Äarbinal be» 
fümntert fort, „ltnb wie, wenn icf) gar bie JTlutter mir 
oor Augen flelle! Df)nef)in werbe icf) biefe Srau nie mefjr 
oergeffen fönnen, bie ausfaf), als ob fie taufenb 3af>« ge* 
(ebt unb Scf)mergen gelitten f)ätte. Bie faf> aus wie ein 
oerwitterter Stein, unb wenn fie gu weinen unb gu freien 
anf)ub, fo war es, wie wenn ein Berg ficf) bewegte unb 
Jeuer auswürfe." 

„So, fo," fagte ©on Oragto, „icf) f>atte fie mir als ein 
anmutiges DJeib oorgeßellt mit füßen Sippen unb gärt» 
ücfjen Augen." 

Dfjne biefen Einwurf gu beachten, ging ber Äarbinal in 
feinen Betrachtungen weiter: „BJas man if>r aucf) fagen 
mochte, fie fchrie: „JTiein Äinb, bas ich geboren habe! JTtein 
fjarabiesoogef! JTCeines J-Jergetts ^erg! JTCein Eingeweibe! 
Es iß mein, ich muß es wieberhaben!", als ob bas Grünbe 
wären, mit welchem ficf» etwas burchfe^en ließe." 

,,©as iß," fiel ©on Oragio ein, „wie alte Srauen finb. 
©ie fe£en ihren Eigenwillen ber offenfunbigen Jlotwenbig» 
feit entgegen unb Iaffen ßcf> burch Bernunft nicht belehren." 

©er Äarbinal nicfte oerffänbnisooll unb nahm Anlaß, 
in behutfamen Anbeutungen über bie £aunenf>aftigfeit ber 
©onna Oßmpia gu flagen, bie fie in le^ter 3eit wie eine 
Aranfheit überfallen habe, währenb fie fonß üebeood unb 
oerträglich wie ein Engel gewefen fei. BJas ihr fonfl eine 
wittfommene 3erflreuung gewefen fei, gefalle ihr nicht 
mehr, fie liebe Einfamfeit unb trübe Gebanfen, unb bie 
Bergweiflung Jener unglücfüchen Xante oermehre Ihren 
Xieffinn. Sie werbe es ihn entgelten Iaffen, wenn ber pro* 
geß bes Jungen JTtawtes Übel austaufe, als wenn er etwas 
bagu gu tun oemtäge; fo fäf)e er einer unfrohen 3ufunft 


13 


entgegen. Oa mürbe es bas befle fein, meinte Oragio, bie 
launifche ©ante gu meiben unb bequemere Gefellfchaft auf* 
gufucfjen; allein ber Äaröinal fagte, bie Srau f>abe ficf) 
hoch um Ifjn oerbient gemacht, unb er batte ficf) oerpflicf)tet, 
nun, ba fie offenbar franf unb bes Beiflanbes bebürftig 
fei, bei ihr ausguharren. Gr mar befcfjämt, inbem er bies 
fagte, benn er fühlte, baß fein Sreunb feine XBorte für 
eitel Ausflucht unb ihn für einen oeriiebten Toren hielt* 

Als bie Sreunbe, in bies ßefpräch oertieft, in bem breiten 
unb fahlen, miberhallenben Gange auf unb ab gingen, oer» 
nahmen fie plä^tich ben ßefang einer JItänner/timme unb 
blieben augenblicflicf), oon bem Gtang berfelben betroffen, 
flehen. Gs mar ein üolfslieb, bas mit fo oiel -Rraft unb 
Sicherheit gefungen mürbe, als ob es oon ber Bühne eines 
großen Theaters her tönte, unb mit fo oiel Seibenfchaft, als 
gölte es, ein gaubernbes JTläbchen gu einer Gntführung mi(> 
ßg gu machen. JTtaggamori unb Oragio fahen einanber, oor 
Staunen unb Bergnügen errötenb, an, unb als ber Sänger 
bem Abfchluß einer Strophe eine Äabeng folgen ließ, hiel* 
ten fie ben Atem an, beforgt, ob bie fchminbelnbe Sigur 
auch gu einem glücklichen Gnbe gebracht mürbe. 

IBährenb ber ©auer bes Siebes näherte fi<h ein mache* 
habenber Solbat unb machte JTtiene, bem Sänger Schmei* 
gen gu gebieten, mie bas ben Borfcfjriften bes Gefängniffes 
entfprocf)en hätte, trat jeboch roillig gurücf, als bie beiben 
Jperrfchaften ihm einen Xöinf gaben, fich ruhig gu oerhal» 
ten. Oiefen riefen fie heran, fomie bas Sieb gu Gnbe mar, 
um Ausfunft über bie XBunbererfcheinung gu erhalten. Oer 
Sänger fei ein Bauer, melbete ber Solbat, bem megen 
mehrfachen TTCorbes ber fJrogeß gemacht merbe; er fei ein 
milber unb böfer -Kerl, ber ben JTlunb nur gum fluchen 
öffne, aber ber unerforfchtiche Gott habe für gut befunben, 
ihn mit einer Stimme gu begnaben, mie fein Gngel ber 
himmlifchen ^eerfcharen fie herrlicher befi^en föttne. 3lie» 
manb habe ben jllut, ein fotches BJunber ber Jlatur gu 
unterbrücfen, barum ließe man ihn fingen, momit auch 
ber Oireftor einoerßanben fei, ber manchmal felbjl, menn 
er in ber Röhe fei, (lehenbleibe, um guguhören. 


14 


£6 man ihn nicht oeranlaffen fönne, meiterguf Ingen? 
fragte Oon Oragio. Jiein, fagte ber Solbat, wenn man 
ihn um etmas bäte, mürbe er es besmegen unterlaffen, toeü 
er bösartig unb mtfStrauifrf) fei. 6s fönne ein Tag oor* 
übergeben, ohne bafj er bie Stimme erbebe, anbere JTiale 
böre er flunbentang nicht auf; bas fei oon feiner £aune 
abhängig. 

„3cb fann mi<b nicht begnügen, oon ber Steile gu geben, 
ohne ihn noch einmal gehört gu hoben/' fagte Oon Oragio, 
„fonfl mürbe ich morgen mähnen, bafi ntt<h meine Ginbil» 
bungsfraft genecft hätte." 

fluch ber Äarbinal geigte fuh nach einer Hüeberbolung 
bes Genuffes begierig. Sie ermogen eben, ob fie nicht ben* 
noch oerfuchen follten, ben Gefangenen gu einem Dortrage 
gu bemegen, als ber Gefang oon neuem begann, um fie 
nicht minber als ber erfle gu entgütfen. 

„3ch höbe einen Tenor mie biefen noch nie in meiner 
Kapelle befeffen", fagte Oon Dragio. 

Oer Äarbinal fiimmte ihm bei; er höbe grnar bie unoer= 
gleichliche Schulung bes berühmten Jliignotta nicht, bie 
llnfehlbarfeit bes flnfa0es unb bie Gleichmäfjigfeit bes 
Organs beim fln* unb flbfchmellen bes Tones, aber an 
Äraft, Schmelg unb Süfiigfeit laffe er alle anberen hinter 
pch. „3ch mürbe jebergeit", fo fchtofj er, „eine Stunbe lang 
auf einem Beine flehen, um ein fotches Äongert in mich 
aufnehmen gu fönnen." 

„JTfein Sreunb," fagte Oon Oragio, „Uh höbe feine 
Jluhe, beoor ich nicht Jtäheres über biefen JTiann erfahren 
habe, begleite mich augenblicftich gum Oireftor, bamit mir 
Schritte tun fönnen, um uns biefer Äoflbarfeit gu oer« 
fichem." 

Oer Oireftor betätigte bie flusfage bes Solbaten unb 
führte fie bahüt aus, bafS es fuh in biefem Salle um einen 
ermiefenen mehrfachen JItorb aus «Rachfucht honbte; es 
habe nämlich ber Derbrecher, «Ronco mit Jlamen, bie 6e> 
mohnheit gehabt, nachts bie Äüf)e feines 3Ta<hbarn gu mel> 
fen, unb mie nun ein Junger Bube, ber Sohn eines in ber 
Jlähe mohnenben Pächters, bem Geheimnis auf bie Spur 


IJ 


gekommen fei unb ben 6efd)äbigten, beffen rätfelfjafter 
JTtilcfjmangel im Oorfe befanntgetooröen fei, barauf auf* 
merffam gemacht f>abe, fo f>abe er fid) anfängüd) ruf)ig 
oerl>alten, als ob bie Sadfje nur ein Sdjerj unb bes fluf« 
Gebens md)t roert fei, aber nad) ad)t Tagen nidyt nur ben 
Buben, ber if)n angegeben, fonbern aucf> beffen Bater unb 
JHutter forote eine alte Großmutter, bie alle biefelbe ^ütte 
beooof)nten, mit einem JTieffer umgebracfjt. Oie Gntrüßung 
über bie Tat fei allgemein, unb ber JTCenfd) fjabe ben Tob 
oerbient unb toerbe tf)m nid)t entgegen; aud) fei ifjm nichts 
baran gelegen, ber «Kerl fei fo toilb, bafj er faum einen 
Unterfdjieb jtoifd)en £eben unb Tob gu machen toiffe. 

Oas fei ein feltfamer Bericht, fagte Oon Dragio; man 
müffe bod) annefjmen, baß ein alter £>aber gtx>ifd)en ben 
Familien befianben f>abe, toie es bei folgen Jlad)el)anblun» 
gen meiflens ber Sali fei, unb unüberlegt unb empfinblid) 
müffe ber JRann aud) fein. £r f)ätte £ufi, einmal felber mit 
itftn gu reben, um ber Sacfje auf ben Grunb gu tommen. 

Oer Oireftor gucfte bie fldjfeln unb fagte, bie Herren 
Jlid)ter f)ätten fid) fcf>on genug JTIüfje mit if)m gegeben, 
bie Befiie fei beffen nicf)t teert; jebod) fei er bereit, bie 
Jrjerrfd)aften l)ingufüf)ren, möcfjte if)nen aber raten, nid>t 
of)ne einen JBärter f)ineingugef)en, ba man fid) oon einem 
folgen fJatron bes Sd)ltmm(ten müffe getoärfig fein. 

fln biefen Jlat l)ätte ber &arbinat fid) gern gehalten, 
allein Oon Dragio lad)te f>od) auf unb fagte, feine fräftige 
Gefialt retfenb unb feine breite Brufl aufbiäfrenb, er ge« 
traue fid) tool)(, es mit einem maisfreffenben Bauern auf» 
gunef>men. 

flud) roar es in ber Tat nicfjt eben Surdjf, toas ben 
JTieifler ber Kapelle überlief, als er mit feinem Sreunbe 
bem Unf)olb gegenüberfianb, ber fie mit einem fcfjnellen 
Blitf mißtrauifcf)en paffes flreifte, um fogleid) toieber 
ßumpffinnig oor fid) f)ingufiieren; fonbern oielntefrr ein 
untoillfürlidjes Grauen oor bem böfen Blitf, beffen bas 
5d)eufal mächtig fein fonnte. Borger getroffener Berab» 
rebung gemäß begann ber Äarbinal, nadjbem er oerfd)ie» 
benemal angefe^t f>atte, unb fagte, fie feien im Begriff, bie 


16 


Dränung ber Gefängniffe ju unter fucf)en; ob er, ber Ge* 
fangene, über irgenb etwas <Älage ju führen bube? ob er 
ben Befucf) eines Geglichen empfangen habe? ob er geneigt 
fei, irgenbeoelcfje Geftänbniffe ju machen ober feine Jleue 
in ben ScfjofS einer oertrauenswürbigen Perfon geifHicfjen 
Charafters ju ergiefSen? 

Die Antwort Jloncos auf bie forgfäitige flnrebe bes 
Äarbinals beflanb barin, bafi er fnurrte unb mit bem 
Daumen nach ber Xür beutete, worauf ber Äarbinal oon 
neuem einigemal anfe0te unb fortfuhr, er, Jlonco, fei eines 
graufamen unb unerflärlidjen üerbredjens angefiagt; ob 
er oielleicf)t jur Erhärtung feiner llnfcf)ulb ober jur Der* 
minberung feiner Schulb etwas beijubringen habe, was 
Berwirrung ober Scham ben Gnquifitoren gegenüber ihn 
pielieid>t gehinbert hätte ausjufprechen? Der jrjeüige Bater 
habe oiel mein Sreube an einer erlöflen ltnfdjulb als an 
ber Beflrafung eines Schuftigen unb bef>ne feine TTiilbe 
auch über biejenigen at»s, bie burcf) Unbesonnenheit, gäh» 
jorn ober flnfüftung bes Xeufels wiber ihren IBillen ju 
einer böfen Xat fjingeriffen worben feien. 

„pefi unb .Krebs über ben päpfllicfjen Sauflall!" giftete 
Jlonco jwifcfjen ben 3öf)nen fjeroor, inbem er einen wiiben 
Blicf auf bie Xür warf unb wieberum nach ber Xür beu* 
tete, fo bafi ber Äarbinal unwtllfürlicf) einen Schrift gurüdf* 
wich, wie um einen pia£ jenfeits ber Hörweite fotcfjer 
Scfjimpfworte ju gewinnen. 

Don Drojto, ber bas Bebürfnis füllte, feinem Sreunbe 
ju Jrjilfe ju fommen, fagte: „IBeber ber ^eilige Bater noch 
feine Diener, mein jreunb, wollen bir übel, wie bu oor» 
ausjufe^en frfjeinfl. BJir wären nicht an biefer Stelle, wenn 
wir beinen Xob fucfjfen, ben bu allerbings oerbient ju 
haben frfjeinfl. Gott ber flllwiffenbe hot birf) mit einer 
fchänen Stimme begabt unb birf) baburcf) nach unerforf«h* 
lirfjem Befchtufi ausgezeichnet. löte wäre es, wenn bu uns 
noch eine Probe biefer wunberherrßchen Äunfl gäbefi, ber 
bu mächtig bifl, unb bie beweift, bafi mehr Göttlichfeit in 
bir wohnt, als beine Xaten, beine HJorte unb felbfl bein 
flnbßcf oermuten laffen." 


2 SE>ie beutfd&e Lobelie. 


17 


Ob nun Roneo biefe IBorte als eine Berf)öf>nung auf« 
faßte, aber ob er bas Gefpräd) überhaupt als eine Be« 
läßigung empfanb, er fdjrie in ausgelaffener XBut: „$in* 
aus! hinaus! Ober td) werbe eud) etwas fingen, baß eud> 
bie £umpenfd>äbel gerp(a$en füllen!" unb begleitete bie Auf* 
forberung mit einer fo brofjenben 6ebärbe, baß bie beiben 
Herren es für bas beße hielten, fi<f> gunäd)ß gu beftfjeiben 
unb ben Rüdgug anjutreten. JTIit bem Schwünge bes Xri« 
umpfjes unb ber Berad)tung fpucfte Roneo hinter Ujnen 
fjer. 

Äarbinat Rtaggamori war fo erfcfjrorfen, baß er nicf)t 
fofort weitergefjen fonnte, fonbern an bem näd)ßen Sen« 
ßer bes Sanges ßef>enblieb, um £uft gu fdjöpfen unb ftef> 
ein wenig gu erholen. 

„B?as für ein Tier!" fagte Dragio. „Jüan muß gugeben, 
baß unfere Bauern niefjt aiet mt|r als Bief) finb unb bie 
Anforberungen, bie man an fie ßellt, banad) bemeffen." 

„Cr f>at eine wölfifefje Pbpfiognomie," fagte ber «Rar« 
binal, „unb td) möd)te wetten, baß er ein echtes BJolfs» 
gebiß befiel. Cs fd)eint in ber Xat nötig, baß bie Jltenßf)» 
f>eit oor einem folgen IDüterid) befd)ü£t werbe." 

Seine lebten BJorte würben burcf) bie Stimme Roncos 
übertönt, ber eben jetjt wieber gu fingen begann, oielletd)t 
aus Xro£, ober weil if>m bie £obfprüd)e ber oomel>men 
Herren bennotf) gefdjmeidjelt Ratten. 

„Göttltcf), göttüd)!" flüßerte Oon Dragio. „Oiefes BJun» 
berwerf oon Stimme barf niefjt gerßört werben! 3d) werbe 
nicf)t JTiüfje nod) Äoßen freuen, ße mir gu retten." 

Xlnter ben gefdßoffenen Augenlibern bes taufd>enben 
«Rarbinals perlten Xränen fceroor. „BJeldjer JBofßlaut 
quillt nod) aus bem Rainen ber göltet" i)audbte er. „O 6e» 
beimniffe ber Allmacht! Jeber Xon iß rein, weief) unb lau* 
ter, wie ein Xropfen Xau, ber fid) in ber Srüfje auf 
«Rnofpen wiegt. XBas wirb Seine jpeüigfeit fagen, wenn 
ße biefen Gefang f>ört!" 

3n großer Crregung oerließen bie Sjtrrtn bas Gefängnis 
unb ließen fi<f> in ber bereügef>altenen Sänfte gu bem 

x8 


ßalaß bes Äarbinals tragen/ um über bie gunächß oorgu» 
nehmenben Schritte gu beraten; benn barin (Ummten fie 
überein/ baß ber rare Vogel für bie päpßlühe Kapelle 
burchaus erworben werben muffe. Jtacfjbem fie ficf> bei 
einem Glafe guten HJeins in einem Meinen wohnlichen 6e» 
marf)/ beffen JVänbe mit frönen Teppichen aus flreggo 
oerhängt waren/ oon ben oerfcfjiebenen heftigen Einbrüf« 
fen bes Vormittags erholt hatten, festen es ihnen nicht un« 
möglich, bas Tribunal gu einem jreifpruch bes loftbaren 
«Jtonco gu bewegen. Sie hatten in Erfahrung gebracht/ baß 
ein gewiffer 6uibobalbo bie Verteibigung bes Verbrechers 
führe, unb mit biefem befchloffen fie, fief) gunächft ins Vers 
nehmen gu fe£en. Oon Oragio nämlich hatte ihn in einem 
befreunbeten $aufe lennengetemt unb fich gut mit ihm 
unterhalten, obwohl ber flboofat ein Sreibenfer unb Seinb 
bes Klerus war. Oa er aber feine flnficf)ten nicht äußerte, 
außer wenn es am pta^e war, bie formen ber Jleiigion 
mit großem flnßanb in acht nahm, fobalb er fich beob» 
achtet mußte, unb bagu ein fröhlicher unb gewanbter 
JTtann war, fo lonnten auch Ge'tßliche feinen oorurteils« 
lofen Verflanb unb feine gefelügen 6aben genießen unb 
waren es gufrieben, einftweilen in gutem Einoernehmen 
mit ihm gu bleiben. Es traf fich glüdlich, baß ber flboolat 
gerabe bamals im Sinn hatte, eine Villa gu taufen, beren 
ausgebehnter Garten fich Öen ^anitutus hinaufgog, baß 
er aber ben hohen Preis, ber bafür geforbert würbe, nicht 
gahten tonnte ober wollte; benn baburch bot ftch bie er« 
wünfehte JTtögtichteit, ben nühlichen JTiann burch eine Ge« 
fälligteit gu gewinnen. Ohne 3aubern fugten bie Sreunbe 
ben flbootaten noch am felben Tage auf unb baten ihn, 
an bie Betanntfchaft mit Oon Oragio tnüpfenb, ihm bie 
Summe, beren er gum Erwerb ber Villa benötige, oor» 
ßreefen gu bürfen. Sie hofften, fagte Oon Oragio, fich ba* 
burch ein Anrecht auf gütiges Entgegentommen feinerfeits 
gu oerbienen, wenn fich bas, was fie oon ihm wttnfchten, 
mit feiner Ehre unb anberen Jtütffcchten oereinigen ließe. 
Ttach biefer Einleitung ergählte er oon feinem Sämb im Ges 
fängnis, fprach oon ber Vorliebe bes ßapßes für JTIufif, 


2 * 


19 



insbefonöere bie menfchliche Stimme, unb oon feinem 
DJunfcf), eine fo überaus feltene Äraft für bie päpftlicfje 
.Kapelle gu gewinnen, ;umal bamit ein JItenfcf)enleben ge» 
rettet unb auf eine nu^brtngenbe, oielleicht ruhmoolte 
Bahn gebracht würbe. 

©er Aboofat erwiberte, er habe bereits oon ber frönen 
Stimme bes «Konto gehört, ftdf) aber nicht fonberlicf» bafür 
intereffiert; er trage jebocf) gern bagu bei, bem ^eiligen 
©ater ein ©ergnügen gu bereiten, auch fei es fowiefo feines 
Amtes, bie ©erbrechet gu oerteibigen unb womöglich gu 
retten. 3mmerf)in fei bas im oorliegenben Salle ftfjwie« 
rig, weil ber Bauer überwiefen unb geflänbig fei unb oiel 
gu fhtmpffinnig ober gu roh, um Schritte gu feiner «Ret» 
tung gu tun ober gu unterfiü^en, wenn folcfje überhaupt 
erfinblich wären. JTacf) einigem Befinnen fuhr er fort, es 
liefen ficf) wohl DJege gum 3iel ausbenfen, wenn man 
fefl entfchloffen fei; es fei fdjon monier freigefprorfjen, 
ber ben Tob ebenfowofjl wie ber fcfjlimme Jlonco oerbient 
hätte; oon bem präfibenten bes Tribunals, JHonfignor 
Aloifio, fei es nur allgu begannt, bafi feine Stimme feil 
fei, freilief) um fein Geringes, wohingegen ber weltliche 
Beifi^er für ein billiges Trinfgelb gu hoben fei. ©a fei aber 
©on petronio, ein unzugänglicher ©tarnt, beffen einzige 
Gitelfeit unb £icbhaberei feine Xtnbefterfjlicfjfeit fei, ber (lets 
ben Sittenrichter fpiele unb emfig aufpaffe, bamit ja nicht 
etwa unter feiner JJlitwirfung etwas Ungebührliches 
unterliefe. ©Jenn man fich biefem mit wohlgemeinten An» 
erbietungen irgenbwetcher Art näherte, fo würbe man oon 
oomherein alles oerberben; wie man ihn aber umgehen 
ober übertifien fönne, bagu fönne er noch feinen plan 
abfehen, wolle bie Sache aber bebenfen. Gin Xlbelftanb fei 
es auch, bafi ber Progef} im oollen Gange fei unb nur 
noch ein ©erhör flaftgufinben habe, worauf ber Urteils» 
fpruch bei ber Klarheit bes Salles nicht auf fich warten 
taffen würbe. 3nbeffen ermutigte er bie beiben Bittfieller 
bamit, bafi guter «Rat fich oft über Jtacht einflelte, unb 
gab ihnen anheim, fich einflweilen mit bem Präfibenten 
in Ubereinftimmung gu fe$en, offen gegen ihn gu fein unb 


20 


etwa eine Art Rtitmiffen bes Papßes angubeuten, was 
feiner Befliffenheit einen gebeti)lidf)en Schwung geben 
würbe. 

Jltonfignor fUotfto war etn pracfjtßebenber JTtann unb 
Weiteren Temperaments, ber gern gut lebte unb auch 
anberen Gutes gönnte, wenn er nur Gelb genug gur Ber» 
fügung butte, beffen IRangel bas einzige war, was feine 
£aune auf bie Dauer gu trüben oermocf)te. Als er inne» 
würbe, baß Äarbinal JTlaggamort unb Don Dragto ifjm 
einen erheblichen 3ufluß bes geflöhten JTietalls gu eröff» 
nen gebacbten, nahm er fie mit lauter unb glängenber Gafl* 
lichfeit auf, führte fie burch bie pomphaft ausgeflatteten 
«Räume feines Kaufes, geigte ihnen eine Sammlung cf)tne* 
fifcher Porgellane unb oerfprarf) für feine Perfon, einem 
fo billigen unb harmlofen XBunfcfje ohne fteintiche Beben» 
fen entgegengufommen, führte aber, wie ber flboofat, ben 
unbefiedf)Iichen Don Petronio ins Selb, ber, feiner fchrul* 
lenhaften Gitelfeit guliebe, jeben Berfurf), ben armen Sün* 
ber burchf<h(üpfen gu laffen, oereiteln würbe. „Jtach mei» 
ner JTleinung", fagte er behaglich, „ifl bie Gerechtigfeit bet 
Gott, ber es nicht immer für gut befinbet, uns gu erleuch» 
ten. B3te furg ifl bie «Kette oon Urfadf>e unb IBirfungen, 
ber wir folgen fönnen! 3Xun ja, man urteilt nach feiner 
«Kurgfichtigfeit unb glaubt, etwas Großes getan gu haben, 
wenn man einen Dieb ober .Räuber aufhängt. IBie oft 
biefer ein frommes £>erg im Bufen hatte, ein guter Bater 
ober ebler Sreunb war, währenb fein fogenanntes Opfer 
auf bem Grunbe ber Seele, wohin fein ßerbtiches fluge 
blicfen fann, bie Sarbe ber $ötte trug, wer mag bas wif» 
fen? llnfer guter Petronio hingegen begreift nur ben Buch» 
[laben unb meint, unfere Grbe gu oerbeffem, wenn bie 
Paragraphen recht in flnwenbung fommen." 

Jtachbem oerfct>iebene Ginfälle, um gum 3iele gu gelan« 
gen, oorgebradjt unb oerworfen waren, trennten ficf) bie 
Herren, ohne gu einem Gntfchluß gefommen gu fein, mit 
ber Befürchtung, baß ihnen ber Sänger bennoch entgehen 
würbe. 3nbeffen empfing Don Oragio noch 8« fpäter 
flbenbfhmbe einen Brief bes Präfibenten, ber fo lautete: 


21 


6s fei tf)tn plöhlicf) ein eigenartiger/ aber wohl tunlicher 
Einfall gefomnten. DJenn man nämlich ben Pefronto 
fönnte glauben machen, «Htchter unb flboofat feien be» 
flogen, um ben Jlonco, ber gwar ein ungebilbeter Bauer, 
aber brau unb nichts als bas Opfer tücfifcfjer Jlänfe fei, 
an ben Galgen gu bringen, unb fie alle ihre «Holle gut fpiel» 
ten, auch ber flboofat fich willig finben laffe, fo fei gu oer» 
hoffen, bafi Oon Petronio feine Äraft einfepe, bie oer» 
meintliche Xtnfchulb gu retten, fo bafi ihnen nach einem 
Kampfe oon getoiffer ©auer nichts erübrige, als gu ihren 
eigenen Gunflen nachgugeben. 

Oas Einoerflänbnis ber Beteiligten untrbe fcfjleuntg f)tr» 
geflellt. JTtaggamori unb Oon Oragto fargten nicht mit 
bem Gelbe, inbem fie nicht gmeifelten, ber Zeitige Bater 
mürbe ihnen am ScfjlufJ reichlich erfepen, toas fie auf bie 
flusbilbung eines fo erlefenen Sängers würben oenoen* 
bet hoben. Gutbobalbo, ber flboofat, trug Sorge, bafi 
Oon Pehronio burch «ne anonpme 3ufchrift auf bas Un* 
wefen aufmerffam gemacht mürbe, bem biesmal ein hilf* 
tofer Bauer gum Opfer fallen follte, unb bafi bie JTacf)» 
rieht oon feinem Jpausfauf fich oerbreitete, unb nahm ben 
launigen 6lütfmunf<h, ben ber Präfibent ihm in Gegen» 
wart bes oerfammelten Tribunals bagu machte, hänberei« 
benb entgegen. 6r fetbfi, fagte ber Präfibent, höbe auch 
im Sinne, ftch eine befchetbene Sreube gu machen. Oer 
frangäfifche Gefanbte, ber oon feinem Äönig abberufen 
fei unb «Horn gu oerlaffen gebenfe, wolle eine golbene «Ra» 
roffe mit oier Pferben oerfaufen, unb er höbe ein flnge» 
bot barauf gemacht, wiffe aber noch nicht, ob es ange» 
nommen fei. Oie Summe flüflerte er bem flboofaten 
tächetnb ins Ohr, wie er benn überhaupt es fo einrichtete, 
bafi bie Mitteilung als eine oertrauliche, burch ben gu* 
fälligen £auf bes Gefprächs entlocfte erfreuten mußte. Pe» 
trortio, ber bie Herren fcharf beobachtete, fäumte nicht, ihre 
fo pläplich auftretenbe Berfchwenbung mit ber fchmach* 
oollen .Hechtsbeugung in Einflang gu bringen, gu ber fie 
fich bem empfangenen Briefe nach hotten bereitfinben laf» 
fen. Um fieser gu gehen, lenfte er fetbfi bie «Hebe auf 


22 


•Konto unb fagte, mit bem mürben fie hoffentlich beute 
ju 6nbe fommen; benn man folle barauf galten, in einer 
fo Karen Sache menigflens feine 3eit ju oerlieren. Oer 
Präfibent fümmte bei, unb ber flboofat fügte mit Hebens* 
mürbig feherjenber 3ronie fjirtgu, er miffe toofjl, bafi er 
bie Herren «Richter, bie gern 3eugen einer breiten 6ntfal* 
tung feiner Berebfamfeit mären/ bamit enttäufcfjte, habe 
aber boeh befcfjtoffen, biesmat fchleefjtmeg of>ne meitere 
BJorte um ein gnäbiges Urteil ju bitten, ba er ft cf) mit ber 
Berteibigung eines fo oermorfenen Übeltäters nief)t oer* 
unseren molte. Oas töne anbers, fagte Petronio mit Jlacf)* 
brucf, als er, Guibobalbo, fuf) juoor habe oemehnten laf* 
fen. 6r habe bamals gefügt, ber Grunb, ber ben «Konto 
jum JRorbe getrieben haben folle, fei ju geringfügig, um 
eine folcf>e Untat ju erflären, aucf) mürbe ein gemeiner 
Berbrecher bie Bluttat ju leugnen oerfucfjen, um fein £eben 
ju retten; es laffe ftcf> alfo ermägen, ob nicf)t ber äugen» 
fcheinlich halb blöbftnnig gemachte Bauer bas Bferfjeug 
mächtiger fei, bie (jef) nebft ihren flbficf)ten unb Bütteln 
im ^intergrunbe hielten. 

Oer flbuofat lachte FünfHicf) oerlegen: „Oa fehen bie 
Sperren" fagte er, „roie meit idf> ben Pflichteifer getrieben 
habe! Jlun aber fä>eint es mir beffer, an ber Grenje ber 
Eöfticf)feit haltjumaihen, bie ich euch fcfmlbe, männern, 
bie leicht einfehen, bafi mächtigen nicht mit ber Grmorbung 
einer unfchulbigen Pächterfamilie nodf) mit ber Einrichtung 
eines «Konto gebient fein fann, unb bafi bas, mas ich ba* 
mit oorbrachte, nichts als bie Lebensarten unb Blut* 
mafiungen maren, bie ein geübter flboofat flets im Borrat 
haben ntufi." 

„Sie, mein Teurer," fagte ber Präftbent mit heiterer 
miene gegen Oon petronio, „mlttern überall ltngerecf)tig* 
feiten, meil 3hr grofimütiger Trieb, Berfolgten beijuflehen, 
(ich bie Gelegenheit jum Eanbeln fchaffen mufi. fleh, bie 
Schlechtigfeit ifl meniger intereffant, als Sie meinen! 6r* 
leben mir es nicht alle Tage, bafi bas rohe Geftnbel unter» 
einanber rauft unb flieht? BJir brauchen feine Sabeln ju 
erfinben, um bas begreiflich ju machen." 


23 




Oon Petronto, ben nichts mehr beleibtste, ols wenn man 
if»rt nicht ernfl itöbm, begann nun einen unmittelbaren 
Angriff, wobei er ftcf) fortwäbrenb bas Anfeben eines ruf»» 
gen, unbeeinffufjbaren Geiftes gu geben fucbte. An bem 
Scbitffal bes «Ronco fei nichts gelegen, fagte er, bas fei 
fomtenflar. £r fei nid» oiel mefjr als ein Xier, fei es nun, 
bafi Stumpfftnn ober bafj «Roheit feine JTTenfcfjlidjfett ge» 
flört habe. JTtan möge nitf» glauben, ba(S er Teilnahme 
für «Ronco Ijabe, für ihn felbfi toie für anbere fei es oiel» 
ieitf» bas befle, wenn er ber 3eitlicf)feit enthoben würbe. 
Solche «Rütfftcbten würben if>n aber niemals abfjalten, ber 
Wahrheit natbgutrocbten unb bas «Reef» in Ausübung gu 
fe£en. OTur um J \xdft unb IDafjrfjeit fjanbele es fuf> für 
alle, nicht um bas DJof» oon Klägern ober Befragten, 
oor allen Gingen niif» um bas eigene. 6r wolle nichts oon 
jenem «Ronco wiffen, wolle nicht wiffen, ob er BJeib unb 
Äinb, Berwanbte ober Jreunbe habe. Eine berartige 6e» 
ftnnung fei gwar bem jetzigen 3eitalter fremb, um fo mehr 
werbe er baran feflftalten. €r werbe niemals Eanbgüter 
faufen ober «fiunfifammlungen anlegen fönnen, oiel» 
leid» flifte er nief» einmal Gutes mit feiner Jpanbtungs* 
weife; es fei tf)m genug, ber Wahrheit unb Gerecbtigfeit, 
auf bie er oerpf[icf»et fei, ohne Gewinn gebient gu haben. 

Oie Gegner ließen eine gewiffe Gercigtbeit merfen, unb 
es entfpann ftch ein Streit, ber noch im Gange war, als 
«Ronco oorgefübrt würbe. SMefer batte ftcf) guoor nie fo in 
Anfprutf) genommen gefef>en, benn Oon Petronto ließ je* 
ber Srage, bie ber Präftbent an ihn richtete, eine anbers ge* 
fe£te folgen, bie ben 3we<f batte, bie bisher liflig oerfcf)üt» 
tefe XOafjrfjeit ans £icf» gu förbern. So oiel batte ber IDilbe 
ingwifeben gemerft, ba|J man ftch oon i)oi)er Seife feiner 
angunebmen begonnen batte, ja gerabegu auf feine Be» 
freiung binarbeitete, unb feine oielberebete Stumpf» unb 
«Roheit binberte ibn nicht, biefe Ausftif» als angenehm gu 
empfinben unb feinen geifern, foweit er fie oerflartb, in 
bie Jrjänbe gu arbeiten. 3uweilen begriff er ben Sinn ber 
freug unb quer an ihn geflellten Sragen fo gut, bafj er 
Antworten gab, bie bie «Richtigkeit feiner früheren Aus» 


24 


fogen in Jrage flellten unb eine böfe Derwirrung in ben 
bisher fo glatten rogefj brachten. Bei folgen Gelegen« 
ijeiten warf Don JJetronio jebesmal einen ernflen, (eiben« 
fcfjaftltrf) forfcfjenben Blicf auf feine ©Jiberfacher, bie flcf) 
fc^einbar mef>r oertoirfelfen unb erbeten unb gegen Jlonco 
heftig unb beinahe brobenb losfuhren, woburcf) fle ihn in 
eine folcfje Gemütsloge verfemten, bie für ihren 3toetf eben 
bie richtige war. ©emt er fing allmählich an, fich für eine 
anfehntidhe Perfon gu haften, unb wenn er fcf>on vorher 
mit fleh unb feiner Untat burchaus gufrieben gewefen war, 
fo glaubte er je^t vollenbs, bafj er fich nichts von bent 
großmäuligen Tribunal brauche gefallen gu (affen, bas 
keineswegs beffer unb wahrfcheinficf) bümmer fei als er. 
6r gab nun gwar feine Grffärungen, mit benen fleh etwas 
hätte anfangen (affen, aber er bejahte bas, was ihm ©on 
fjecronio fleißig in ben IRunb legte, bafj er bas ©erbrechen 
nicht aus eigenem Antriebe begangen habe, fonbem, bafj 
er bagu angefüftet, eigentlich gezwungen worben fei, aber 
nicht fagen bürfe, oon wem, unb fchlofj bamit, man möge 
ihn gum Tobe verurteilen, er fei es gufrteben, hoch fei er 
unfchulbig unb weniger ein JHörber, als biejenigen fein 
würben, bie ihn an ben Galgen brächten. 

So fdjnell inbeffen gaben bie ©erfchwörer nicht nach, 
vielmehr flellten fle fleh an, als wären fie erpicht barauf, 
ben «Honco gu liefern, unb erhoben gegen ©on Petronio 
ben ©orwurf, als habe er bem Juchs, ber fchon in ber 
Jalle gewefen fei, ein Türlein geöffnet unb halte fle un» 
nüherweife bei einer nebenfäcf)üchen unb üblen Sache auf. 
©aburch reiften fte biefen immer mehr, fo bafj er fleh fefl 
vornahm, ber fahren iöafjrheit gum Siege gu helft»/ was 
es ihm auch für IRühe unb ©erbriefjlichfeiten eintragen 
möchte. 

©er 3ufal( wollte, bafj es ©on Petronio gelang, einen 
bisher nicht befanntgeworbenen Umflanb gu ermitteln, 
bafj nämlich fowohl ber JRörber wie ber Grmorbete Be« 
fl£er freien Bauerngutes waren unb vor 3 Q hren einmal 
mit bem j?erm, oon bem fle bas £anb in Pacht hatten, in 
Streit gewefen waren, weil er fle gang unb gar gu abhän« 


25 



gigen Portern hotte berabbrücfen wollen. 6s unterlag 
für Petronio faum einem 3weifel, baß biefer Jperr, ein 
Albobranbini, ficb ber b eiben f>alsfiarrigen Jliänner, bie 
itftn gu trogen wagten, auf einmal gu entlebigen oerfucfjt 
batte, inbem er fie gegeneinanberbebte, unb obwohl er bar« 
auf oergicbfete, ben Scbulbigen gu entfernen, ber jebenfatls 
gu mächtig/ fcfjfeu unb geriffen war, um ftd) fangen gu 
laffen, fo wollte er ibm bocb bas Opfer abjagen/ fowenig, 
es an (ich ber Xeilnabme wert fein mochte. 

mittlerweile batte ber JTCeifter ber Kapelle, Oon Dragio, 
eine enbgültige Ausfpracbe mit «Ronco, ber fleh auf oieles 
3ureben bereit finben ließ, wenn er freigefproeben fein 
würbe, als Sänger in ben Oienß bes ^eiligen Hafers gu 
treten. Er oermoebte nunmehr feine «Holle beffer gu fpie* 
len unb gebärbete ficb tagtäglich breifier, fo baß bas ge« 
famte Xribunal enbticb ben Augenbitcf berbeifehnte, wo 
es bie Bürbe feines Schüblings würbe abwerfen fönnen. 
Oie Sreube unb Genugtuung war auf allen Seiten gleich 
groß, als ber Sreifprurf) erfolgte, wenn auch ber Präfibent 
unb ber Aboofat ficb nichts baoon merfen ließen, fonbern 
3ngrimm unb Befchämung gu oerbeblen fchienen, um ficb 
befto beffer gu belufiigen, wenn fee unter ficb waren. 

Eingig Äarbinal JTtaggamori machte böfe 3eiten burch; 
benn bie üble Saune feiner Jjjerrin Olimpia nahm gu, feit 
er in ber Angelegenheit ihres jungen Hefters nichts aus« 
gerichtet batte. Er mochte noch fo febr beteuern, baß er 
alles Erbenfliche unternommen habe, ihn gu retten, baß 
aber bie Gerechtigfeit ihren Sauf hätte nehmen müffen, unb 
baß es ihn nicht minber als fie betrübe; fie bebarrte babei, 
er hätte es ficb feine JTlübe fofien laffen, weil feine Siebe 
gu ihr felbßifcher JTatur fei unb nur genießen, nicht wir» 
fen ober opfern wolle, unb fie beftrafte ihn burch eine burch 
nichts gu erhellenbe Xraurigfeit. Oer Jammer ihrer un» 
glücklichen Xante, fagte fte, habe ihr auf einmal bie Augen 
für bas Elenb bes Sebens eröffnet, fo baß fte ficb an ben 
irbifeben Oingen nicht mehr ergäben unb nur in ber Sj in» 
gebung an Gott einigen Xroß finben fönne. Dörflich war 
fie feiten mehr gu $aufe angutreffen, fonbern hielt ficb 


26 


fcfjtoarg gefleibet in «Rtrcfjen auf, wo fte balb oor biefem, 
balb oor jenem Altar ft<h in Xränen auflöfie. Empfing fte 
ben Sreunb einmal, fo forberte fte ihn auf, oon geifitichen 
Gingen mit if»r ju reben, unb wenn er ihr auf biefem Ge» 
biete nicht genugtun tonnte, hielt fie ihm mit großer Bitter» 
feit oor, bafi er feinen Beruf nicht oerflefje, unb lief? ihn 
merfen, bafi er nichts oiel Befferes als ein Heuchler unb 
Betrüger fei. Sie füllte ft cf) tiefunglücflich unb alles beffen 
beraubt, was früher ihrem Oafein Jrjalt unb 3nf)alt gege» 
ben hatte. Es fehlen if>r, als fei ifjr JRann, oon bem fie nun 
fcf)on lange getrennt lebte, im Grunbe oiel annehmbarer 
gewefen als ber Äarbirtal, infofern, als er (ich boef) für 
nichts Jrjöheres ausgegeben fyxtte, als er war. UJenn fie 
fleh bie 3eit jurürfrief, wo JTiajgamori ihre Siebe erregt 
hatte, fo oermochte fte in allen jenen Szenen, bie jwifchen 
ihnen oorgefallen waren, ben 3auber ber Poefie nicht mehr 
ju finben, ber fie früher in ihrer Eütbilbung oergolbet hatte. 
BJas toar baran, fo bachte fte nun, anberes unb Ebleres 
gewefen, als was fleh alltäglich in jebem Hüntel abfpiett 
unb oft genug ju Gelächter unb Efel reijt? BJie fehr fte 
fuh bemühte, etwas Befonberes unb Ausgezeichnetes an 
bem Äarbinal zu finben, ihr Gewiffen wollte ihr nichts 
fagen, als bafi er eine unfeufche Beflie fei wie bie anberen 
JRänner auch, mit bem ltnterfchiebe, baß fein geifllicher 
Beruf ihn noch bazu zu einem gteisnerifchen Sügner machte. 
Sie hätte ihn amtiebflen nicht mehr gefehen; wenn fte ihn 
Zuweilen bennoch t>er beiwünfehte unb feinen Befuch an» 
nahm, fo tat fte es hauptfächlich, um ihn fühlen zu taffen, 
was fte oon ihm bachte, unb wie unglüeflicf) fte fei. 

Ein fchweres Begängnis war es für ben itarbinal, bafi 
ber oerbüflerte Gemütsjufionb ber fdf)önen Olimpia fte ihm 
noch weit liebenswerter erfreuten Uefi als früher. 3f>r 
Blirf, ba er fo feelenooll geworben war, zog ihn mehr an, 
als es je ihr ftnnlief) erglühenber getan hatte, unb ihre be» 
mütige Xrauer, bie ihn hätte abmehren fotten, reizte mit 
feinem TTCitleib unb feiner Bewunberung zugleich feine auf* 
richtigflen Siebesempfinbungen. Hüeoiel reicher unb erha* 
bener erfcf>ien fte ihm, feit fie feiner nicht mehr beburfte! 


27 



DJcnn er jufah/ tote milbe unb oerflänbnisooll fie mit ar* 
men £euten umging — benn fie fuef)te nun Gelegenheiten, 
um ftcf> Jlotleibenben mohltätig ju ermeifen —, menn er 
hörte, mie flug unb frei fie über alle üerhältniffe bes £e* 
bens ju reben mußte, fo fam fie ihm mie eine Iöieber* 
geborene oor, ihm meit entrüeft unb hoppelt begehrens* 
mert. 6r gab fi<h JTiühe, auf ihre neuen Gebanfengänge 
einjugehen, ohne baß er etwas anberes als Spott unb 
Bitterfeit babei geerntet hätte. Otimpia fanb biefe Beßre* 
bungen, bie nicht ber Sache galten, fortbern nur ein Aus¬ 
fluß feiner üerliebtheit mären, lächerlich ober gar abßo* 
ßenb unb mürbe burch (te in ber Itteinung beßärft, baß 
ber «Rarbinal ein feichfer feuchter fei. . 

3n ber Hoffnung, bie ihm Gntfchlüpfenbe ju feffeln unb 
ihre meltlichen 3ntereffen mieber ein menig anjufachen, er* 
jähIte ber Äarbinal ihr oon bem munbermürbigen Sänger, 
ben fein Sreunb ©on Drajio fürglich fennengelemt unb 
für ben päpßlichen ©ienß ermorben höbe, ©iefer Sänger 
fei, erjählte er, burch mibrige Schirffalsfälle oerfolgt unb 
unter hö<hß feltfamen llmßänben oon ©on Drajio entbeeft 
morben, bie auch ihm noch Geheimnis mären. Gemiß fei, 
baß er bie herrluhße Stimme beft^e, bie Je ein italienifches 
Dhr bejaubert höbe unb bie burch bie forgfältige Ausbil* 
bilbung, ber fie Je£t unterjogen merbe, noch geminnen folle. 
©ie TRittel bajü hätten Drajio unb er hergegeben, ba ber 
Sänger burch bie ermähnten Sd)icffalsfchläge mittellos ge* 
morben fei; es reue fie aber bas Dpfer nicht, ba Jeber Xon 
aus ber gefegneten Äefße ebleres Golb als bas fei, mas fie 
bafür ausgegeben hätten. Wenn Dlimpia ihn ju hören 
geneigt fei, fo molle er eine Gelegenheit baju in feinem 
^aufe oeranflalten. 

3nbeffen Dlimpia mar ju fehr in ihre fchmermütigen An* 
fchauungen oerfenft, um ftch irgenbmelche 3erßreuungen 
gefallen taffen ju mögen; nichts mar ihr recht, mas fie ba* 
oon entfernte, nur bas millfomnten, mas fie barin be* 
ßärfte. Schöner Gefang märe ihr mof)l lieb, fagte fte, aber 
ju teuer erfauft, menn fie ihn im Beifein anberer, etma fo* 
gar unter gefeiligen 3urüßungen hören müffe. Äönne ber 


28 


Sänger ße auffucfjen unb ihr feine Äunß oorfiiijren, ohne 
ße in ihrer einfamen Befc^aulirfjfeit ju ftörm, fo wäre es 
möglich, bofi fte öenuß baran fjätte- Das wußte ber Äar» 
binal nun nicht einjurichten; benn einmal wußte er nicht, 
ob Jlonco, ber ft 6) übermütig unb habgierig entfaltete, 
ohne weiteres unb namentlich ohne bie flusßcht beträgt* 
lieber Borteile baju oerßehen mürbe, unb jubern hätte er 
für bas Benehmen feines Schüblings nicht einjufle^en ge* 
wagt, wenn berfelbe ohne 3wartg unb flufßcht allein mit 
einer Dame getoefen wäre. So mußte er auf eine Gelegen* 
f>eit warten, um DIimpia mit bem BJunbermanne begannt 
ju machen, unb eine folcfje bot ftcf) benn auch, als ber Ge» 
fangmeißer, ber ihm Unterricht erteilte, feine Stimme für fo 
gefault erflärte, baß feiner Borfiellung bei ^>ofe nichts 
mehr im IBege ßef>e. 

Der JJapß batte 3 ur Teilnahme an bem Äonjert, bas in 
feinen Gemächern flattfinben follte, einen Meinen gewählten 
.Kreis mußMiebenber Sreunbe um ficf) oerfammelt, unter 
benen Äarbinal JTlajjamori, als um ben Sntnb fo fehr oer* 
bient, nicht fehlen burfte. fluch war ihm bereitwillig ge* 
ftattet worben, feine Sreunbin DIimpia mitjubringen, bie 
eine Ginlabung bes ^eiligen Stuhles ausjufehlagen ß<h 
bemt hoch nicht getraute. Sie wählte jwar eine Jrifur unb 
Äleibung, bie, bunfel unb fdfßicht, gegen bie früher oon ihr 
geliebte reichliche flusfehmüefung weit abßach, unb hielt 
fcch auch befcheiben unb faß fchamhaft im ^intergrunbe; 
aber baß ihr partes Sleifch um fo lieblicher aus bem Schat* 
ten heroorleudjfete, hatte ße burch biefe Beranßaltung hoch 
nicht (ßnbern fönnen. 

Gnnojenj war ein feiner, Meiner alter Sperr mit einem 
jierlichen Geßcht, mit etwas unbeutlichen flugen, einer ge» 
bogenen jugefpi^ten OTafe unb einem bünnlippigen, meiß 
freunblichen ÜTunbe. Gr nahm bie Jputbigung ber Gäße 
gefchwinb entgegen unb ließ einem jeben einige feherjenbe 
BJorte jufommen, wobei ihm aber bie Ungebutb wegen 
ber beoorßehenben Borführung anjumerfen war. Als es 
eine TRinute über bie 3eit war, auf welche man ben Sän* 
ger beßellt hatte, würbe ein neroöfes 3uefen um feine 


29 


Augen (lcf)tbar, unb Diajjamort blicfte ängfilicf) oon ber 
foftbar oerjierten Uf)r, bte auf bem Uiarmorfamtne fianö, 
jur Jlügeltür; er atmete auf, al9 btefe ftch öffnete unb ©on 
Orajio, eintretenb, um bte 6f)re bat, ben Sänger «Konto 
oorfielien ju bürfen. «Konto batte fi<h in ber 3eit feiner 
Vorbereitung eine «Ri(f)tf<f)nur feines Kinftigen Betragens 
gemacht, bie einfach, aber nichtsbefhnoeniger ausnehmenb 
jtoecfmäfitg »ar: nämlich ben Beifall bes Papfies ju er* 
»erben unb einjig barauf fein beflänbiges Augenmerf ju 
richten. Don biefem Borfa£ befeelt, ging er flracfs, bie 
Augen mit einer getoiffen einbringlichen ipeftigfeit auf bas 
erhabene 3iel gefiellt, auf ben alten fyerrn ju, fiel oor ihm 
nieber, füfite ihm bie Säifje unb oerharrte in biefer Stel* 
tung, inbem er bie Arme oor ber Brufl faltete, ©iefe finb* 
liehe Gebärbe inbrünfüger Eingebung rührte 3nnojenj fo 
fehr, bafj er umoillfürltcf) bie Sippen auf bie Stirn unb bie 
«fjärtbe auf bie breiten Schultern bes oor ihm fnienben 
JTtannes brüefte, »orauf er ihn mit ermunternben DJorten 
begrüßte unb aufjufiehen unb ftcf) ju fe£en aufforberte. 
Safi fürchtete ber alte ijerr, bas erfchütternbe Gefühl, (ich 
jum erflenmal tn feiner Gegentoart ju befinben, fönne ben 
Sänger ber 3Tiacht über feine .Kehle berauben; es jeigte 
(Ich ober, bafS ber fiarfe JTtann mit ber Eingebung bie ltn» 
befangenheit eines Äinbes oereinte, benn ohne burcf) bas 
leifefle 3ittern beeinträchtigt ju »erben, rollten bte erflen 
Töne »ie große glänjenbe Perlen in ben Saal. 3nfolge 
einer Anordnung bes Orajto fang er juerfl bas Dolfslieb, 
bas er unb JTTajjamori im Gefängnis oon ihm gehört hot* 
ten, unb bos ohnehin ols et»as Heues unb Befrembliches 
Auffehen erregte unb Ginbruc? machte. 

6s »or, als ob ber Stab eines 3auberers bie Jperjen ber 
3uhörer berührt höbe; einem jeben tauchten liebe Xräume 
auf, aller fchönße Augenblicke, beren (ie ftcf) erinnerten ober 
bie fte erhofften, unb bie einen füfjeren ©uft aushauchten, 
als ber jerfleinernben IDirflichfeit übrigjubleiben pflegt. 
Olimpia übertam ein getoaltfamer Schmerj, ber aber nicht 
nieberbrttcfenb »ar »ie ber, bem fte feit'oielen DJochen in 
»echfelnber Art hingegeben »ar, fonbem burchbringenb 


30 


unb angenehm, als eine Araft, bie fte über bos gemeine 
£eben emporjutragen frfjien. Sie füllte, toas fte einfl als 
JHöbcfjen geroefen mar/ toas fte non ber 3uhmft erwartet 
unb toas fte felbfl hätte leiflen unb erringen motten, unb 
mit ber fchrecHichen £inficht jugleicf), rote roeit fte non bte» 
fern 3iele obgerott^en roar, glaubte fte ju roiffen, bafi es 
nur auf fte anfomme, roieber bie reine, flarfe unb freubige 
Seele oon bamais ju roerben. Sie hörte nicf)t auf, ihre 
Beziehungen ju JTtajjamori ju bereuen, aber fte tabeite 
fleh in biefem Augenblick, bafi fte tfjn mit ijjärte behanbelt 
hatte, ba hoch nicht er allein, fonbern auch fte gefünbigt 
habe, unb ba er ihr hoch nicht bie Jftöglichfeit rauben 
fönne, aus ben 3rrroegen, auf bie er fte geführt, jur Älar* 
heit aufjufleigen. €s erfchien ihr roie ein löunber, bafi 
fie froh ihres IBiberflrebens in bie Jlähe bes JTCannes ge* 
bracht roorben roar, beffen Stimme ihr fo tröfllith rourbe, 
unb ber ihr baburch fafl roie ein Abgefanbfer 6ottes er» 
fcheinen roollte. Aus bem HJinfel, roo fte pia£ genommen 
hatte, fonnte fie ungeflört feine helbenhafte Gefialt beroun» 
bem unb bas bunlle Ant(i£, beffen IBilbheH-fie erbeben 
machte. 

«Honco roar bei ber forglichen Pflege, bie er fleh feit 9«* 
raumer 3eit hotte angebeihen taffen fönnen, nur auf bie 
Art fehöner geroorbm, roie aus einem fchäbigen hungrigen 
XDolf ein roohlgenährter rolrb; aber bies genügte, um auf 
aller Augen einen blenbenben unb überroältigenben £in» 
bruef ju machen. Oie Begeiferung roar allgemein; hoch 
machte niemanb bem ^eiligen Bater bas «Herf)t flreitig, fte 
juerf ju äußern. Oer Heine Sperr fafl mit geröteten BJan* 
gen ba, Hopfte hi* unb ba in bie 4>änbe, rief: „Braoo! 
braoo!", roiegte ben Äopf unb unterbrach ou<h roohl ben 
Gefang mit Ausrufen bes Gntjücfens: „Ah! XBelcher An» 
fa^t BJelche Süfiigfeit! Weld)e Erfindung!", roenn bie 
Aabenjen roie aus bem Süllhorn bes liberftuffes aus fei* 
nem JTtunbe flrömten. £s oermehrte bie Berounberung 
Olimpias, bafi ber Sänger feinen Blicf auf bie Gefellfchaft, 
gefchroeige benn in ihren JPinfel roarf; er fchien nur für 
ben Jpeiligen Bater ba ju fein uetb auf feinen ZBinf ju 


fingen ober gu fchwetgen. Einem Ergenget mußte fie if>n 
Dergleichen, ber, in ooller Pracht geriißet, bemutooll ben 
Befef)l bes J?errn ber ^eerfcfjaren erwartet 

Erß als bie ßefellfcfjaft aufftanb unb auseinanberging, 
fiel ein Blicf bes Sängers auf fie, ber mehr als Gleich* 
gültigfett, ber nieberfcfjmettembe Berachtung ausgubrücfen 
fehlen. Sie fcfjlofS baraus, baß er wiffe, in welchen Begie* 
hungen fie gu Äarbinal JRaggantori geflanben höbe, ja 
feiner JTIeinung nach noch flehe, unb baß er fte aus biefem 
Grunbe für eine Berworfene holte, was fie ja im Grunbe 
auch fei. 

3n BHrfüchfeit hotte ber Sänger weber fie noch fort fl 
eine oon ben 3uf)ärerinnen beachtet, ba es ihm gunäcfjß 
nur um ben jJapfl gu tun war unb er überhaupt an ben 
oomehmen Oamen noch feinen Gefchmacf gewonnen hotte. 
Allmählich jeboch flellte fich bas Berßänbnis bafür ein, 
unb nunmehr fonnte ihm bie Berehrung nicht unbemerft 
bleiben, mit ber bie fchöne Dlimpia gu ihm aufblicfte. 6s 
fchmachelte ihm nicht wenig, baß bie Geliebte bes Äarbi* 
nals JTtajgamori ihn biefem angefehenen, einflußreichen, 
liebenswürbigen unb gebilbeten JTianne oorgog, ben gu 
beteibigen er ohnehin einen lebhaften Antrieb in fiel) oer» 
fpürfe. 3* mehr feine Stellung beim Papß unb in Jlom 
ftch befeßigte, beflo unleiblicher würben ihm bie beiben 
Herren, benen feine Bergangenheit fo wohlbefannt war, 
fo baß er mit bem Gebanfen umging, fte, wenn ftch ein 
Anlaß bäte, aus Jlent gu entfernen. 

3n ben erßen Tagen, bie bem Äongert folgten, war 
JTtaggamori hochbeglütft über ben Erfolg. Schien es hoch 
bie geliebte Srau weich unb gugänglief) geßimmt gu hoben. 
Ilm fo fchneibenber war feine Enttäufchung, als fie tym, 
wenn auch in gütigen BJoTten, ihren unerfchütterlidf>en 
Entfchluß mitteilte, jeben Berfehr mit ihm abgubrechen, 
ba fie ein neues, t einer es £eben in 6ott nunmehr beginnen 
wolle. 

©a er fah, baß jeber Berfuch, fie ihrem Borfafc abfrün« 
nig gu machen, f(heiterte, ergab er fich unb rang bereits 
mit bem JJIane, ihr rtachgueifern, um ihr wenigßens in ben 


32 


«Regionen ber Entfagung wteber gu begegnen, als er burch 
JTecfereien Befannter ouf bie garten Jähen aufmerffam ge* 
macht würbe, bie gwifcfjen bem Sänger unb ber Büßerin 
(>tn unb her gingen. IBar er aucf) übergeugt, baß bei Olim« 
pia nichts oorlag als bie Schwärmerei einer empfänglichen 
Seele für bie Stimme, in ber etwas Göttliches finnfällig gu 
werben fcf)ien, fo gweifelte er hoch billig, ob ber gewalt* 
tätige Bauer einer ähnlichen Erhabenheit ber Empfinbung 
fähig fei, bem er oielmehr bie flbftcfjt gutraute, bas UJeib 
in bie Jlieberungen feiner Sinnlichkeit herabgugiehen. 

Oies würbe ihm gur Gewißheit, als oerlautete, ber Sän* 
ger f>abe oor einigen Tagen um Urlaub gebeten unb fol* 
chen auch erhalten, um irgenbwo am JTteere ober im Ge» 
birge feine Stimme gu fronen, was gu beren Erhaltung 
oon ben flrglen für burchaus notwenbig erflärt worben 
fei. Außer ftch eilte ber Äarbinal gum ]Japße, um ihn bar* 
über aufguflären, welche Gefahr feiner JTCeinung nach eine 
eble Sreunbin bebrohe, unb wie freoentlüh bie Güte bes 
hulboollen Gebieters mißbraucht werbe. 

Oer alte Jperr rnerfte faum, baß es ftch um einen An* 
griff auf feinen £ieb(ing hanbelte, als feine £ippen fith 
ärgerlith gufammenfniffen. Er felbß litt unter beffen be* 
oorßehenber Abwefenheit, hotte feiner Bitte aber bennoch 
willfahrt unb ein Beifpiel ber Selbßoerleugnung gegeben; 
mußte er bem geifloollen 3auberer nicht einmal ein Aben* 
teuer, in bem er fich austobte, geßatten? XBar er bo«h felbß 
jung gewefen! linb wieoiel mehr als ein anberer beburfte 
ber Jeurige, ber 3ünbenbe, ber Berfchwenber 3ufuhr neuer 
Kräfte, bie ihm, bem Papß, unb allen, bie ihn hörten, 
wieber guteil werben würben! BJenn er fich oorßellte, wie 
ber löwenhafte JTCann bas erßemal, bie Arme über ber 
Bruß gefreugt, oor ihm niebergefniet war, fo pflegten ihm 
Tränen in bie Augen gu treten. OTiemals war er feitbem 
oon biefer finblichen unb ritterlichen Eingebung abgewi« 
chen. Obwohl fyifyiQen Temperaments unb hcxhfahrenben 
Sinnes, wie er benn im Umgang mit anberen JTienfchen 
oft burch gügetlofe £aune unb Grobheit überrafchte, nahte 
er fich ihm, öem ^eiligen Bater, bem gierlichen Keinen 


3 ®te fccutfö« StefceHe. 


33 


JTtanne, nte ohne Untermürfigfett, nahm er non if)m jeben 
Tobet mit Befcheibenheit unb Gebulb entgegen unb rief 
in jeber Angelegenheit fein Urteil als bas böcbfte, gleich* 
fom non 6ott felbfl ausgefertigte an, bem fich gu beugen 
ihm augenfchetnltch fomohl Sufi toie Pflichtgebot mar« 

3nbem er ftcf> in feinem Seffel gurüeffepte, betrachtete 
3nnogeng ben «Rarbinal erflaunt unb bat um eine Erflä* 
rung bes Anteils, ben er an bem Urlaub unb ber «Reife 
bes Sängers nähme. Ein menig errötenb fagte ber «Rar* 
binat, es fei bem ^eiligen Dater nietleicht nicht befannt, 
ba(5 «Ronco ben Ausflug in Begleitung einer ©ante gu 
machen gebenfe, einer ©ame, mit ber er meber tn oer* 
manbtfchaftlicher noch in ehelicher Beziehung flehe, foniel 
ihm befannt fei. 

„Unb mas meiter?" fragte ber Papfl fühl. „Sollten 
Sie, mein Sreunb, niemals eine Jleife mit ©amen ohne 
nermanbtfchaftliche Beziehung unternommen höben? Ober 
toenn Sie, ein Geiflluher, ein ©iener Gottes, es nicht ge¬ 
tan höben, txmrum follten Sie einem Sänger btefc Freiheit 
mißgönnen ? /# 

©er «Rarbinal gitterte oor Berlegenheit, Angft unb Ent* 
täufchung. „üergeihen mir Eure ^errlichfeit," fagte er, 
„menn bie Sorge um eine Srau, bie mir teuer ifl, unb über 
beren ^eil gu machen ich mich oerpflichtet hölte, mich gu 
meit hingeriffen hat." 

Beoor er noch mehreres htngufügen fonnte, unterbrach 
ihn ber Papfl, inbem er fagte: „Gut, gut! Uberlaffen Sie 
es münbigen trauen, fich felbfl gu fchüpen, menn fie über* 
haupt bes Schußes bebürfen ober ihn münfehen. 3cf) höbe 
es flets fo gehalten, baß ich meinen Untergebenen in Sa* 
milienfachen freie j?anb ließ, benn bies ifl ber Punft, mo 
aus ^errfchaft Tprannei mürbe/' 

3la«h biefer 3ured^tmeifung mürbe ber «Rarbinal nicht 
ungnäbig entlaffen; }a, ber Jpeiltge Hafer geichnete ihn beim 
nächflen Empfang mit liebensmürbigen IBorten aus; aber 
als er nach einigen Tagen an bte Spipe einer JTtiffion gur 
Befehrung ber Reiben in 0apan geflellt mürbe, tonnte er 


34 


nicht umhin, barin mehr bcn Xöunfcf) bes Papfles, tf>n gu 
entfernen, als einen Beweis feiner Hochachtung gu fefjen. 

Oas Bewufjtfein feiner Hntauglicfjfeit ju einer folgen 
Aufgabe toar fo flarf in ihm, baff er es wagte, bem Papfl 
feine Befürchtungen bieferhatb gu unterbreiten; bocf> be» 
ruhigte ihn biefer mit bem Hinweis auf feine mannigfachen 
Talente, benen, wenn fie ber Glaubenseifer unter flü^e, 
nichts unmöglich fein werbe, unb auf bie Jllärtprerfrone, 
ble er ftcf> im heften Sali erwerben fönne. 

Oon Oragio hielt fich etwas länger, fcfjItefSlicf) jebocf) 
muffte ber unentwegte Jlonco auch ihn gu flürgen, inbem 
er ihn burch fortwährenbe HTcberfetjlichfeiten unb &rän» 
fungen bähen brachte, fich beim ^eiligen Bater über ihn 
gu behagen. Als biefer ihn bamit abwies unb ihm oiel» 
mehr empfahl, fich einem fo herrlichen Äünfller, ber 3ierbe 
feines frjofs, gegenüber nicht gu überheben, braufle Oragio 
auf unb rief aus: „BJie? Bon biefem Bieh, bas ich aus 
bem Bioraff gezogen höbe, foll ich mich ungerecht oer* 
höhnen laffen?" mit welcher unbefonnenen Äußerung er 
bie Gunfl feines Jrjerm oollenbs oerfcherjte. Denn wie er 
fich wegen bes beleibigenben Ausbrucfs rechtfertigen wollte, 
bebachte er, baff er ben wahren Jpergang feiner Befannt* 
fchaft mit jlonco nicht wohl enthüllen fonnte, ohne fich in 
oerhängnisootte JTttffhelligfeiten gu oerwirfeln, unb muffte, 
ba er fich über fein Benehmen nicht ausreben fonnte, als 
oerteumberifcher Schmäher ober ungegähmter Tollfopf ba» 
flehen. Oie es gut mit ihm meinten, waren ber Anficht, 
baff er es noch für 6nabe unb Glücfsfall anfehen müffe, 
als ber Papfl ihn nach bem Meinen f?ofe oon Succa emp* 
fahl, mo er gwar in fchmalen Berhältniffen, aber hoch ohne 
JTot unb Gefährbung fein Oafein friflen fonnte. 

Schlimmer unb beffer gugleich erging es feinem Sreunbe 
JTtaggamori, ber gwar mancherlei Entbehrungen unb To* 
besgefahr gu beflehen hotte, aber, wenn foldfje oorüberge» 
gangen war, auch Augenblicfe bisher ungefannter Selig» 
feit feierte, unb über beffen liebe unb traurige Bergangen» 
heit bie oielen abfonberüchen Cinbrücfe, bie er empfing, 
einen bunten Schleier webten, ber fie unbeutlich machte. 


3 * 


3 J 



3umeilen, menn er in frentber Ginfamfeit am Geflabe bes 
Dgeans gmifchen namenlofen «Hiefenbäunten unb vorüber* 
hufchenbem Getter in ber ©äntmerung ficf> erging, erinnerte 
Um, er xpufSte nicht rote, ein lieblicher i^immelsglang gu 
feinen Raupten an bie fchntalen länglichen Cherubsaugen 
jenes jungen £ancelotto, mit benen er frei in parabiefifchen 
Sphären auf bie oerlaffene Grbe hinabfehen mollte. Biel* 
leicht, bachte er, lächelt er über bie Bermorrenheit, in bie mir 
armen Toren oerflricft finb, toenn er fi<h nicht lange fchon 
ermübet meggemenbet hett gu ben gelöflen Geheimniffen ber 
BJeltregierung* Auf Augenblicfe fchmieg bann bas Jrjeirn* 
meh nach ber golbenen «Rüfte 3taliens, bas ihn in Stun* 
ben, too er allein mar, gu begleichen pflegte, unb er bachte 
mit bänglicher Sehnfucht an bie JTIärtprerfrone, bie feine 
Arbeit unter ben böfen Reiben ihm eintragen fonnte, unb 
bie vielleicht, oon unsichtbaren Jpänben bereitgehalten, fchon 
über ihm fchmebte* 


36 


$ln SomiHenfnlÖ öon 6o y o 

Don Paul Ernfl 


langen fahren machte icf> eine .Keife burcf) Spa« 
-%_ snien cf) f)ieU mtcf) eine löette in Saragoffa auf 
uni) befugte oon bort in größerem limfreis mehrere 
£anbfcf>aften uni) Orte. Diefe Ausflüge nahmen oft mehrere 
Tage in Anfprucf). 

Auf einem folcfjen Ausflug,, ben icf) allein jtt Pferbe 
gemalt batte, tarn icf) an einem Abenb in ein Dorf/ wo 
icf» nacf) ben Aus fünften, bie mir geworben, ein ertrag« 
liebes Xtnterfommen erhoffen burfte. 3cf> fanb aber nur 
einige Bauernhöufer oor, beren Bewohner wof>l freunblicf) 
unb f)öflicf) waren, aber bem JTorblänber mit feinen frent» 
ben Gewohnheiten unb notwenbigen Anfprücfjen fein 
3iacf)tlager bieten fonnten. Einer ber Bauern fagte %u mir: 
„Äontmen Sie, J?err. 3cf) geleite Sie jum Grafen. Es wirb 
für if>n eine Efjre fein, einen fo ausgezeichneten Jremben 
unterbringen ju bürfen." 

Das Schloß fianb auf einem Jpügel, beffen helfen ficf> 
fchieferten, mit grauen, fenflerlofen JTiauern unb bidfen 
Türmen. IBir dritten über bie 3ugbrücfe in ben J?of. 
6rauer .Hafen wucf)S bürffig jwifrfjen runben Pflafier» 
(leinen, ltnfere Schritte hallten leer; bie Türen ju ben 
BJirtfchaftsgebäuben waren fefl ©erriegelf, unb bas Gras 
hob oor ihnen feine Jlifpen. 

„Die Jrjerrfehaft war früher fef>r reich," fagte ber Bauer, 
„aber wie bas fo geht, bie neuen 3eifen finb gefommen. 
3et)t i|l nur noch ber Graf ba. Er ifl unoerheiratef, unb bie 
Samilie flirbt mit ihm aus. Dann fällt ber Befitj an ben 
&önig. Es finb faß gar feine Grünbe mehr babei." 

BJhr traten burcf) eine eifenbefchlagene eichene Tür in 
bas XBofmgebäube. 3n einer gewölbten Jpalle hingen an 


37 


ben HJänben Rüßungen unb Jofjrtfn, an einem häßlichen 
jrjafenbrett bagwifdjen ein Jrjut, ein Regenmantel unb eine 
3agbf(inte. Gin JTtäbcfjen oon gwölf 3<*f)ren mit fd>wargen, 
flauen Augen fam uns barfüßig entgegen, fprang wie 
ein Rät)d)en oor uns bie Treppe hinauf unb führte uns in 
bas 3immer bes Grafen. 

Gr ßanb auf, unb id) entfdjulbigte micf). ©er Graf gab 
mir bie J?anb, menbete ficf) mit banfenben XDorten gu bem 
Bauern, baß er micf) gu if>m geführt, unb entließ ihn. 
Dann festen mir uns einanber gegenüber. 

©er Graf toar ein Sperr oon etwa fünfgig 3af>ren, mit 
einem langen, fcf>wargen, etwas ergrauten Bart, f)Ocf)ge< 
wad)fen, mit fd>wermütigem Gefidüsausbrucf. Gin 
Sdjreibtifd) aus bunflem Gicfjenholg ßanb in ber JTtitte 
bes 3immers, barauf ein Rrugißy. ©er Graf hafte in einem 
alten Bud) gelefen, bas nod) aufgefdjlagen balag. Auf bie 
geweißten IBänbe fiel burd) bas offene Jenßer ber letjte 
Sonnenßrafjl. 

3<f) ergäf)lte if)m oon meiner Reife, oon meinen Geban» 
fen unb Ginbrücfen. ©er 6raf nidfte gufjörenb mit bem 
Ropf unb griff fid) einmal in ben Bart. 

Gr fagte: „3a, icf) bin nicht oiel aus meinem Spa ufe ge* 
fommen. 3n Salamanca war id) als Stubenf, auch einmal 
gwei XÖocfjen in JTiabrib. ©as iß nicf)t richtig gewefen, id) 
weiß es mof)l." 

IBir fpradjen weiter. 

Ginmal fagte er: ,,©urd) Sie wirb mir manches flar. 
Sie ßnb bürgerlich, nidjt wahr? Sie wiffen oon 3fjren 
Gltern, 3f)ren Großeltern, nachher oerfdjtoimmt alles. 5ür 
mich war es nicht gut, baß id) guoiel oon meinen Bor« 
fahren wußte, ©as fnnberte micf). Ginen anbern f)ätte es 
oielleid)t nicht gef>inbert. 3d) habe in ber Jpalle unten eine 
$af)ne, bie aus ben JTtaurenfriegen ßammt, unb icf) weiß 
allerlei oon ben Borfaf>ren. Sie waren Rrieger unb ^of* 
leute unb Staatsmänner. JTiein Bater hat fd)on fein gan* 
»es £eben für fid) f)ier oerbracfjt. 3cf) bin fein eingiger Sofjn, 
3d> habe nid)f geheiratet. IBesf)alb war jjas fo mit meinem 

38 




Xfattr und mir? JTJeine Borfahren waren alle gute £eute, 
Id) bin es aud)." 

6s war, als wenn er gu ft d) felber fprä«f>e: „6s ifl ja 
heute eine andere 3eit. Srütjer herrfchte der Adel, da waren 
im Adel aud) die Befien. Das ifl nun deute nicht mehr. 
Alles ändert ftcf>. Gefdjlechter fommen und gehen. 6s ifl 
nid)t fo, daf} id) einen dummen AdelsdUnlet gehabt fjdtte. 
Aber id) weif} aud)/ was der Adel bedeutet bat, was er noch 
deute bedeutet." 

Oer Graf fad plö£licb gu mir auf: „Sie oerachten die 
heutige 3eit aud), nidf)t wahr?" 

3<h erwiderte idm: „3a. Aber icd glaube nicht —" 

„3d) weif}, was Sie fagen wollen", unterbrach er mtd). 
„3dd höbe feinen dummen AdetsdUnfel. Oie 3eit des Adels 
ifl offenbar gu 6nde, das fpüre id) an mir, denn fonfl 
wäre id) ein anderer JTlenfd). 3Tur, ich möchte wiffen, wie 
das gefchehen ifl, daf} das BJiffen oon meinen Borfahren 
mich fo drücft, daf} es mich unfähig für das £eben ge» 
macht hot. Oenn fo ifl es doch. Oder ifl es nicht fo?" 

Oas barfiif}ige Jftädchen \)u]d)te herein und rief uns 
gum 6ffen. HJir traten in ein fleines 3immerchen mit ge» 
wölbter Oecfe. 6in glänzendes, fcharf gefniffenes Tifch* 
tuch war gebreitet, darauf flanden filbeme Teller. IBir 
af}en die Suppe. Oas Jltädchen nahm die geleerten Teller 
ab und brachte auf einer filbernen Schüffel ein gelochtes 
Sühn. Oer Graf gerlegte es. An den JBänden ringsum 
waren HJappen gemalt, in den 3wifchenräumen Eaubwerf 
und üfle. Oer Graf gof} mir BJein in das Glas, er felber 
tranf nur Xöaffer. 

„Oie £eute im Oorf hoben ihren Gottesacfer", fagte er. 
„3hre Borfahren hoben da unten ihre tyiitun gebaut, als 
mein Borfahr in den Turm gog, der noch aus der «Römer* 
geit flammt, welcher der ältefle Teil diefes Gebäudes ifl. 
UJenn im Oorf unten einer flhrbt, fo wird er im Gottes» 
acfer begraben, ein SjÜQtl wird über dem Grab aufge» 
worfen und mit Jlafen belegt, und die £eute wiffen, unter 
diefem Sügel Hegt unfer Bater oder Oheim* ©ie £eute, die 
das wiffen, werden älter und flerben fchHef}lich auch, und 


39 



ber Jpügel ftnft ein. ©te 6nfel wiffen nocf) oon tf>m. Aber 
ol(mäf)Ucf) wirb bcr hügel bem übrigen Boben gleicf), unb 
julef^t weiß niemanb mefjr, baß bort ein Grab war. Spä* 
ter wirb bann einmal bort wieber ein 6rab gegraben, unb 
es finben ficf) vielleicht nocf> ein paar Änorfjen; fie werben 
in baa Gewölbe ber <Kircf)e geworfen, wo otefe anbere 
Änorfjen liegen. 3a, biefe £eute im Dorf finb wie bas Gras 
auf ber BJiefe, bas blüf)t unb oergef)t. 6s iß Unnatur, 
wenn ber JTIenfcf) ntefjr fein will." 

6r faf) mid) fragenb an: „haben Sie nicfjt aucf) fcfjon 
gebaut, baß bie üornefjmfjeit.bocf) eigentlich Gntartung 
iß?" 

3cf) machte wof)l ein erßaunfes Gefickt. 6r fuf>r läcfjelnb 
fort: „3a, bas Botf prarfjert unb fhacfjert, um ju effen unb 
%u trinfen unb ficf) fort^upffanjen, unb wenn ein JRann 
feine Äinber f)orf>gebrac^t f>at, bann legt er ficf) f)tn unb 
ßirbt. Oabei f>at er immer ein gutes Gewiffen. ©as fcfjtecfjte 
Gewiffen, ja, bas ßellt ficf) ein, wenn ber JTCann aus bem 
Bolf oornefjm wirb. ©as fjabe icf> ja nicht. Aber was ich 
habe, bas iß etwas S(f)fimmeres. Sehen Sie, icf) fjabe eine 
fcfjnurrtge Bifbung. 3<h f)abe nichts gefefjen unb fenne 
nichts, aber icf) habe oiel gefefen unb oiel gebaut. Sie finb 
nun ber erße Oeutfhe, mit bem icf) fprecfje. 

3cf> finbe, bie Oeutfhe« finb bie bürgerlihße Nation 
oon ber BJeft. JReine üorfafnren haben gegen bie Pro» 
teßanten gefämpft; nun, bas war bie fpanifcfje Oon» 
quicf)Otterie. Oie Oeutfcfjen haben ben Proteflantismus in 
bie BJelf gebracht unb bas fcf)Iecf)te Gewiffen. Oie Gnglän» 
ber, bie finb ja aucf) profeßanten, aber fie haben ein gutes 
Gewiffen. Oie Oeutfhen finb bas bürgerlich fie Uolf oon 
ber BJelt. BJas für Augen werben bie Oeutfhen machen, 
wenn er fl einmal bie Arbeiter bie ^errfchoft befommen! 
3h fönnte mit ihnen fertig werben, aber Sie nicf>t." 

BJir führten fein Gefpräcf). JTtan merfte es, baß ber 
Graf immer für ficf) gelebt fjatte. 6r fonnte feine Unter» 
Haltung führen, nicht auf bie Gebanfen bes anbern ein* 
gehen. 6r fpracf) nur immer aus ficf) heraus; er bähte 
laut. 


40 


Aus bem Metnett Speifegimmer führte ein Türken in 
einen großen Saal, An ben DJänben gingen Jamilien» 
bilber. Xtnter ihnen flanb f)ier unb ba einmal ein Stuf)!, 
fonfl mar ber .Raunt gang leer. 

3<h fcf>ritt auf ein großes Bilb gu, aus bem Gnbe be 9 
18 . 3 af)rf)unberts, auf bem eine gange Samilie bargeflellt 
mar: ein breitfehultriger, flattltcfjer JTtann mit lebhaftem 
Ausbrurf, ett»a 9 gerötetem Gefidf)t, feine Gattin, eine be* 
f)äbig oolle Dame, mütterlich unb freunblieh, unb gefm 
Äinber, oon benen bas jüngffe noch oon ber Amme getra« 
gen mürbe, inbeffen ber öftere .Knabe, mit flugen Augen 
unb frifcfjem Gefickt, ein Buch in ber JFjanb f>«lt unb ben 
Bater um eine Grflärung bat. „Gin 6 opa!" rief ich aus. 
Der Graf lächelte über meine jreube unb mies auf eine 
fleine «Rabierung, bie unterhalb bes großen Bifbe 9 hing: 
„Diefelbe Dame als junges 3Ttäbrf)en, fünfgefjn Jaf>re jün* 
ger, auch oon Gopa." 

llberraf(f)t oerglich icfj bie beiben Bilber. Ja, bas mar 
basfefbe 6 eficf)t, nur finblicf) unreif, fcf)lummernb unb oer* 
träumt. „Die Srau muß in ben fünfgehn Jahren oiel erlebt 
haben?" fragte trf). Gr fächelte. „3cf) mill 3f>nen bie Ge* 
jd)id)te ergählen." 

„JTtein Af>n Don Gnrique mar am Sof gu TRabrib efroa 
um 1770 . Damals mar eine feinbfefige Spannung gmi* 
fcf)en Spanien unb Portugal entßanben, unb ber .König 
oon Portugal fehiefte einen feiner Herren, Don JITanuel 
mit JTamen, um gu erflären unb beigulegen. Gr hatte mit 
bem llnterf)änbler eine recht unglückliche BJaf)l getroffen, 
benn Don TRanuel, ein blutjunger unb unerfahrener Kerl, 
ber gubem mohl nicht gerabe ber geißreichße Jltann feines 
Bolfes fein mochte, oerlepte alle £eute burch feinen uner» 
träglichen Hochmut, unb menn nicht bie Anorbnungen, 
bie er aus £iffabon erhielt, fo beflimmt unb bie frieb» 
liehen Abfichten in JTlabrib fo fefl gemefen mären, fo hätte 
e 9 bamals gu einem ltnglüef Jommen fönnen 

Sie müffen oon Don Gnrigues Temperament urteilen 
nach biefem Bilb, bas ihn boef) fchon in reiferen Jahren 
oorfiellt. 


41 


Als Oon JTtanuel mieber einmal eine feiner Unoer* 
frf)ämtf)etten oorbrachte, fragte er ifjn: ,Sperr, finb Sie 
eigeotlich gefommen, um bem «König ben «Krieg ju erflä* 
ren? Sie fönnen fieser fein, baß jeher Spanier gum 
Srfjtoert greift, um bie Ehre feines Königs gu rädern' 
Don JTIanuel hatte eine fcharfe Erroiberurtg auf ber dünge 
unb begann eben feine Antroort. Aber bas ßefpräcf) fanb 
im Dorgimmer bes Königs ßatt. Oer König hörte bie lau* 
ten Stimmen, öffnete bie Tür, ernannte fogleith bie Sage 
unb fpraef) gu Oon Enrique: ,3d) befehle Eud), begebt 6u<h 
fofort in Eure Ufofjnung unb oerlaßt fie ni<f>t oor brei« 
mal oierunbgmangig Stunben/ Oon Enrique grüßte unb 
ging. Oann fpraef) ber «König gu Oon JTtanuel: ,3cf) bitte, 
entfd)ulbigt bie Ungefchicflicf)?eit. Schreibt meinem fönig* 
licken Detter oon Portugal, baß icf) feinem Abgefanbten 
mohlgemogen bin/ Oon JTtanuel blähte fief) ficfjtlicf) unb 
oerneigte fid> tief. Oer «König ging mieber in fein 3immer 
gurücf. 

Eine Stunbe nad) bem Dorfall befam Oon 6nrique ein 
Schreiben Oon JTtanuels: Oon Enrique habe ihn beleibigt, 
unb als portugiefifefjer Ebelmann müffe er if>n bafür 
gültigen. Er toolle für biefen 3mecf feine Eigenßhaft als 
Gefanbter ablegen unb ermarte if>n biefe Jtacht— ba bas 
Gebot ber Ehre bem Gebot bes «Königs oorgehe — gu einer 
beßimmten Stunbe, bie er angab, an einer Stelle, bie er 
ihm gleichfalls beßimmte, mit ben JDaffen in ber j?anb 
unb mit feinen 3eugen. 

Oon Enrique mar in einer peinlichen Sage. Ttahrn er 
bie Sorberung an, fo hotte er ben 3orn feines Königs gu 
befürchten, ber ihm mit Jlecht oortoerfen fonnte, er ßhaffe 
burch feinen Ehrenhanbel eine potiüfche Gefahr, benn ber 
©ummfopf fonnte natürlich nicht felber einfach feine Ei« 
genfehaft als Gefanbter ablegen, unb toenn er unterlag, 
fo mar fein Sperr in ihm gefränft. JTahm er bie Sorberung 
aber nicht an, fo trompetete Oon JTtanuel überall aus, 
er fei ein Seigting. llnb bas iß nun ber fchmache Punft 
bes flbels: Oem Abligen fann es nicht gleichgültig fein, 
mas anbere über ihn benfen, mögen fie auch bie größten 


42 


Starren fein* Don Enrique mar aber auch nicf>t ber TRann 
banacf), eine oorurteilsfreie Prüfung angufiellen. Oie IBut 
fcfjofi ihm in ben «Kopf, als er ben Brief las, unb er lief? 
burcf) ben Überbringer befteüen, er werbe ficf) pünftlich 
an bem beflimmten Drt einfinben. 

Jlun, bie beiben Herren trafen ficf) alfo. 3n bem 3wei- 
fantpf brachte mein Ahn feinem Gegner eine gefährliche 
BJunbe bet. Er forgte noch gufammen mit ben 3eugen 
bafür, bafi er in feine HJohnung geführt unb oerpflegt 
tourbe, unb bann begab er ficf) toieber in feine 3immer* 
haft, um bem «König JTTitteilung oon feinem ltngehorfam 
gu machen. Er fchrieb alles in einem ausführlichen Brief 
auf, fiegelte ihn ein, pacfte feinen Oegen bagu unb liefi 
beibes burch einen Sreunb bem «König Überbringern 

©er «König hätte wohl eine Art finben fönnen, meinem 
Ahn gu oergeihen, ber fdf)liefilich in einer 3wangslage ge* 
toefen war, unb auch ber «König oon Portugal hätte wohl 
eingefehen, bafi nicht bie Abficht oorlag, ihn gu beleibigen. 
Aber wie folche Herren finb, alles, was if)re Abfichten 
burchfreugt, ergeugt eine Berflimmung bei ihnen. Oer «Kö¬ 
nig befahl, meinen Ahn in ein Gefängnis gu fepen, too er 
für unbeflimmte 3eit feflgehalten werben foflte. 

3u ber Ehre Oon JTIanuefs mufi ich berichten, bafi er 
alles tat, feinen Gegner gu befreien. Er liefi bem «König 
fagen, er felber habe alle Sdf)ulb an bem Borfall, er habe 
auf feine Gefanbteneigenfchaft oergichtet, unb er bitte, fei¬ 
nen Gegner, ber ihn in ehrlichem «Kampf befiegt, losgu- 
laffen. Aber biefe Sürbitten nüpten bei bem ergürnten 
Sürfien nichts. 

3n biefer 3eit gefchaf) es, bafi ein alter $err, Oon Pebro, 
mit feiner eingigen Tochter Elena an ben S?of fam. Oon 
Pebro war ein oornehmer TTIann, ber recht begütert war, 
unb Elena war feine eingige Erbin. Oon Pebro hatte bie 
Abficht, unter ben jungen Jperren am J?ofe einen Gatten 
für fie ausgufuchen." 

Oer Graf nahm bie «Rabierung oon Gopa in bie i?anb. 
„Oies ifl fie. Sie fefjen ein liebreigenbes Geficht, ein —" 
er unterbrach fich unb hängte bas Bilb wieber an feinen 


43 


Jlagel. 6trt fpöftifcfjes Sögeln fjufcfjtc über fein Geficht. 
„Oas Bilb iß fo Irbenbig, als wäre es eben geäpt. 3<f> 
ertappe mich babei, baß ich alter JTlann in meine jugenb» 
Öcf>e Urgroßmutter oerliebt bin. 6s ifl ein mißbrauch, 
baß foirfje Silber gezeichnet werben/ bie jung bleiben, in* 
beffen bie 3eit oergefjt. Aber wenn nach runb hunbertunb* 
breißig 3af>ren bas Gefichtchen in ber 3eirf>nung noch fo 
wirft, bann fönnen Sie fich benfen, welken Einbruch es 
machte, als e9 (ebenbig war. Alle Sperren bei Jpofe follen 
bamats in fie oerliebt gewefen fein. 

Gopa war bamals ein junger Blaler in JTlabrib, ber 
burrf) feine Silber fein Brot oerbiente. Don fJebro benupte 
feinen Aufenthalt baju, firf> malen ;u (affen, babei faf) 
Gopa wohl beffen Tochter unb fertigte bie 3ei<f>nung an, 
nach ber er bie «Rabierung machte. Sie fehen, bas Blatt 
iß bem Alten gewibmet. Vielleicht iß es auch in feinem 
Auftrag fyvQtfltttt, ba9 weiß ich nicht. Jlun, jebenfatls 
gab 6opa Abzüge ber platte heraus. Sie würben oon ben 
oerliebten jungen Herren gefauft unb oerbreiteten fich am 
ä?ofe. 

Ein Jreunb, ber Oon Enrique in feinem Gefängnis be« 
fucbte, brachte es mit. Oon Enrique hatte eine gewiffe 
«Rolle am Jpofe gefpielt, unb es wäre wohl möglich ge* 
wefen, baß er bie Bielumworbene für fich errungen hätte. 
/IBelches Pech!' fagte ber Sreunb. ,UJenn bu frei wärß, 
bann fönnteß bu eine gute Jrjeirat machen. So wirb fie bir 
wohl ein anberer wegfchttappen/ 

Sie fennen bie romantifdhen Gefchichten, in benen fich 
einer in ein JTTäbchen nofch beffen Bilb oerliebt. Sie finb 
ja nicht immer ganj wahrfcheinlich. Aber benfen Sie fich 
ben jungen JTlann, ber wochenlang allein in feinem Ge* 
fängnis fipt, nur burch feiten erlaubte Befuche oon Sreun« 
ben oon ben Borgängen braußen hört, unb bem nun be« 
geißerte Schilberungen oon ber Schönheit unb Anmut bes 
jungen JTläbchens gemacht, Gefchichten oon JTlännem er« 
Zählt werben, bie in ße oerüebt finb, ber enblich bann bas 
geißreiche Blatt in bie Jrjanb befommt, auf bem ein Blei* 
ßer flüchtig unb locfer bie reijenben 3üge feßgehalten; 


44 


dann fönnen Sie fiel; gewiß oorßellen, wie in langen, ein* 
famen Stunden fich Iräume fpinnen und das Gefpinß fich 
entwiefeft, tote der junge JTtann ftcf> als £iebhaber in allen 
möglichen Sagen fief)t und Antwort tote Bewegung des 
JTTädchens dichtet; wie alle die (uftigen ©orßellungsge» 
bilde/ otelleicfje gunächß nur als Spiel befrachtet für den 
gezwungen müßigen güngling, fief) ftf>rtell mit allen fei» 
nen Gefühlen/ Sehnfücfjten und Trieben oereinigen, und 
wie denn fo eine wirfliche Verliebtheit h er °usfommt. 

Sie müffen auch denfen, daß die JTienfchen damals bei 
un9 noch anders waren, als fie heute find. Gin Jjjerr wie 
mein flhn ßand dem JRittelaifer näher als unferen 3eiten. 
Jpeute hätte ein folther junger Jrjerr die «Hechte ßudiert und 
wäre in einer amtlichen Steilung, und es gehörte gu feiner 
Bildung, daß er manches geiefen hätte. 3n feinem Ge» 
fängnis würde er Bücher h°ben und entweder fi<h in fei» 
nem ©Jiffen oeroollfontmnen oder, je nachdem, gute ©ich» 
ter oder dumme «Homarte iefen. ©as war damals anders, 
wenigfTens bei uns gulande. JTTein flhn hatte nicht fhtdiert 
und las auch nicht, ©afür hatte er eine £aute bei fich, 
und feine Gefühle, die feinen andern Ausweg finden fonn» 
ten, ergoffen fi d) in. eine felbßgedichtete «Komange über fein 
Gefängnis und feine Siebe. 

©on JTlanuel erholte fich ingmifchen oon feiner ©Junde. 
Sein erßer Gang war an den Sjof gum Äönig, dem er gu 
Süßen fiel, um nochmals felber Vergebung für feinen 
Gegner gu erflehen, ©er Äönig erwiderte ihm, daß er ©on 
Gnrique gewiß nicht gum Tode oerurteilen tperde, aber er 
halte es für angemeffen, daß er doch noch einige ©Jochen 
JTluße habe, um ungeßört über feine Handlung nachgu» 
denfen. ©on JTlanuel wurde oerlegen; er begann fo unge» 
fähr gu oerßehen, was der .König über ihn felber denfen 
mochte. 

©ie Herren am Jfjof hatten naturgemäß andere flnfich» 
ten als der .König. ©on JTlanuel o>ar bei ihnen nicht beliebt 
gewefen wegen feines Benehmens; aber daß er fo frifch 
und frei den Gefandten oergeffen und oom £eder gegogen 
hatte, das oerfchaffte ihm bei den jungen JTTännern doch 


45 


wieber einen Stern im Brett. JTtan oergafj, was man 
früher an if>m ausjufe^en gehabt, unb fanb in tf>m einen 
offenen, mutigen unb ehrenhaft gefinnten «Ritter. Blutoer« 
lufl unb Kranfenlager Ratten if>n etwas gebleicht unb ihm 
eine intereffant erfrf>etnenbe JTtübigfeit gegeben, unb bie 
Beftfjämung über bas unausgefprochene Urteil bes Kö* 
nigs bewirkte, bafj er weniger laut war. So fanb er fiel) 
benn auch bei ben Damen fef>r beliebt unb angefefjen. 
JTtan tonnte fagen, bafj Don JTtanuel als ber erfte JItann 
in ber ^jofgefellfchaft betrachtet würbe. 

6s war natürlich, bafi er feine flufmerffamfeit auf bie 
gefeierte Donna Elena richtete, ba(i biefe bie flufmerffamfeit 
bes gefeierten Don JTtanuel befonbers fyod) einfcfiätjfe. 
Beibe waren junge Seute, in bem Alter, ba man beiratet, 
unb fo fam es benn teilet, bafj Don JTtanuel mit bem 
alten Don JJebro einig würbe. Der .König fab bie Ehe 
gern, benn Don JTtanuel fianb an bem £iffaboner jrjof 
ln flnfehen, unb er nahm an, bafj er an if>m unb feiner 
6attin Sreunbe haben werbe. 6s lagen feine 6rünbe ju 
einem langen BrautfTanb oor, unb fo würbe benn bie 
jrjoibgeit mit allem 6lanj, wie es bamats war, angemeffen 
gefeiert. 

flm Tage nach ber jporfjjeit fagte ber König ju Don JTta» 
nuel: ,3«f> habe nun 3f>ren HJunfcf) erfüllt, Don Enrique 
ifl aus feiner Jpaft entlaffen. 3cf) wünfehe, bafi er junärf)fl 
noch $of unb Jjauptflabt rneibet; er ifl heute auf bem 
XDege ju feiner Befi^ung, wo er ficf> ein halbes 3 a h r lang 
bie 3eit mit 3agen oertreiben mag, ehe er wieber nach h» e * 
fomrnt/ 

So oerflrichen einige JTtonate, in benen bas junge Paar 
oermutlid) recht glütflich war, inbeffen Don Enrique fich 
hier bei feinem Bater aufhielt, oermutlich atlerhanb Be* 
lehrungen bes alten Jrjerrn ausjuflehen hatte unb ben Un» 
mut über bie getäufcfjte £iebe unb bas gleichmäßige £anb» 
(eben ju überwinben fuchte, inbem er auf 3agb ging. 

3n ber Eintönigfett feines £ebens, bei bem feine burch 
nichts fonfl befchäftigte Borflellungsfraft fich beflänbig 
mit feiner £iebe ju ber Jtiegefeljenen befchäftigte, fam er 

46 


auf ben Gebanfen, tn Berfleibung f)etmlt<f) nacf) JRabrtb 
ju reifen/ um wenigfiens einmal in feinem geben bes An» 
licfs ber Geliebten teilhaftig ju werben, benn es lief bie 
«Rebe, baf} fie mit ihrem Gatten, beffen Senbung beenbet 
war, bemnächfi nadf) Portugal gehen roerbe. 

Gin junger Bauer, fein JTiilchbruber, hing ihm treu an. 
Oiefer oerfcf)affte ihm einen bäuerlichen flnjug. ©a bie 
Bauern feinen ©egen trugen unb bie heimliche Sahrt boch 
nicht ohne Gefahren mar, fo flecfte jeber ein paar piflolen 
in bie Xafche. fln einem frühen JTtorgen, als alles noch 
fchtief, fehlen fich bie beiben auf ihre JTlaultiere unb ritten 
fort. 

Sie fanben In JTtabrib in einem bäuerlichen Gaflfjof ein 
ltnterfommen. ©er ©iener funbfchaftete bie Gelegenheit 
aus, unb balb fanb fich, baf} bie junge $rau bes ©on 
Jltanuel bie Gewohnheit hatte, ju einer beflimmten JTach* 
mittagsfhtnbe in einem Sommerhäuschen ihres Gartens 
ju fihen unb auf bas 6efchwäh ihrer ©ienerin ju hören, 
©er Gärtner würbe burdf) eine reichliche Gabe beftochen, 
unb ©on Enrique unb fein Getreuer oerflecften fich hinter 
einem bichten £orbeergebttfch, burch bas fie einen BlidP auf 
bas Räuschen hatten. 

©onna Glena fam mit ihrer ©ienerin, bie prächtig gefücfte 
Riffen trug. Sie hielt einen roten Sonnenfchirm aufge* 
fpannt, unb bie Sonne warf burch ihn einen rötlichen 
Schein auf ihre weif}gefleibete Geflalt unb ihr anmutig be» 
wegtes Gefleht. Gin Springbom raufchte unb btihte, bie 
Bäume flanben füll, unb bas Schwaben unb £achen ber 
©ienerin flang heiter unb unbeforgt fefjon non weitem an 
bas ©he ber £aufchenben. 

©ie ©ienerin richtete in bem offenen Räuschen auf ber 
Banf ein bequemes £ager, für fich felbfl warf fie 
ein .Riffen auf ben Boben. ©onna Glena machte es fi<h be» 
haglich auf ihrem £ager. Sie legte bie Arme unter bas 
ßöpfchen unb behnte fich ntit halbgefchloffenen Augen» 
übern, beren DDimperfchatten jcerlich auf ihre jarten BJan* 
gen fielen. Sie betrachtete ihre golbenen Schuhe, locferte 
einen, fchnellte ihn in bie J?öhe unb fing ihn mit bem 5uf}e 


47 


wieber ouf. ,TBas nteinß bu?' fragte fie bie Dienerin ,Set 
ehrlich- Sog* mir bie IBahrheit. Bin icf) fcfjöner gewor» 
ben*?' Das JHöbchen ouf bem «Riffen beugte ficf> oorwurfs» 
oott jurücP unb fyob bie j?änbe: ,Aber, Herrin, wie Pönnt 
3f)r fo etwas fogen! Biel fcfjöner feib 3f)r geworben!' Ein 
glücPlicfjes £äcf)eln überf)ufd)te Donna Elenas Befielt oon 
ben Augen t)er bis jum JTiunb unb blieb in ben JTiunb» 
winPeln fi^en. Sie fcfßoß bie Augen, unb ihre JTüßern 
blähten fief). 6s war, als ob fre bie Antwort einfaugen 
wollte. JTCit geläufiger 3unge pries bas JTCäbdjen nun ihre 
Schönheit im eingelnen unb fpraef) facf)?unbig oon JTafe 
unb JTiunb, oon paaren unb 3äf)nen, oon Jrjänben unb 
Süßen unb oon atlerfjanb 6injelf»eiten fonß, bie ifjr be» 
Pannt geworben beim AnPleiben, bis Donna Elena errötenb 
rief: ,$öre auf, höre auf!' unb bas JTläbcfjen, luftig la» 
cf>enb, fcf)wieg. 

Jlacf) einer Pleinen JJaufe fagte bas JTläbcfjen fcfjmei» 
cfjelnb: er rin, icf) t>abe bie Abfcfmft ber «Romange be» 
Pommen, bie ber arme Don Enrique gebietet f>at, als er 
im Gefängnis faß unb 6ucf> unglücPlicf) liebte, weil er Euer 
Bilb gefefjen. Soll icf) fie fingen?' Schon ßimmte fie bie 
£aute. 

Die Herrin antwortete nief)t, unb ihr Schweigen als Auf» 
forberung nehmenb, begann bas JTiäbchen gu fingen." 

Der Graf fdpwieg eine XDeile. Dann fagte er: „3a, burcf) 
bie norbifefjen BölPer iß bie BJelt anbers geworben. An» 
bertf>a(b 3ah r hunberfe iß es f)er, baß mein Af)n, als Bauer 
oerPleibet, hinter ber Eorbeerfjerfe faß unb fein £ieb hörte, 
wie es bie Dienerin ber Geliebten oorfang. Auf biefer «Ra» 
bierung iß biefe Geliebte in all ihrem jugendlichen «Reig 
feßgehalten, auf bem Samilienbilb iß fie als JTCufter unb 
reife Srau gemalt. Jlun iß fie feit über hundert fahren 
tot, unb ihr in ein Poßbares «Rleib gehüllter Körper ruht 
unten in unferer Gruft. 3dj bin ihr gang entfernter 6nPet, 
unb oon biefen gehn «Rinbern auf bem Bilbe f)ier iß Peine 
einzige JlachPomntenfchaft mehr übrig außer mir. Die 
JBelt oon bamals iß oerfunPen. linb hoch fühle ich alter 
JTCann ein jugenbliches «Rühren im Jpergen, wenn ich ntir 


48 


oorftetle, tüte ntetn Ahn fein £ieb bört unb bie Geliebte 
habet fiebt. Das tfi borf) bloß Jtatur, es iß nichts anberes, 
ats tnenn ber 5inf auf einen Aß flattert unb feinen Schlag 
hören läßt, um bas HJeibd)en ju feffeln. JTtein Ahn mußte 
menig unb batte tüobl noch toeniger gebaut IDietriel meiß 
ich, toieoiel habe icb gebaebt! Deshalb bin ich mobl ber 
£e£te meines Gefcblecbts, unb ich fann nicht ertoarten, baß 
ein Sohn mich befuebt unb feine &inber mitbringt." 

6s batte mir jumeilen gefebienen, als ob bie Gebanfen 
bes Grafen in Sprüngen gingen» 3Tun mürbe mir immer 
klarer/ baß bas nicht ein fprungbaftes Denfen toar, fon« 
bern ein oerfebiebenartiges Aufleuchten oon einzelnen 
punften aus feinem £eben. 3cb baebte mir: 6r bat mobl 
reibt mit feinem Urteil über unfere heutige 3eit. Sollte 
nicht auch unfer fefigefcbloffenes Denfen ein mißbrauch 
fein? Diefer JTtann bat fein £eben immer benfenb beob* 
achtet; nun hält er ein Selbßgefpräcb, ln bem ber Gehalt 
feines £ebens immer burebfeheint BJenn man bie eingelnen 
Gebanten oerbänbe, fo erhielte man ein Scbicffal, ein inne* 
res Scbicffal — bas Scbicffal bes oornebmen JTtannes in 
ber bürgerlichen Gefellfchaft, ber nicht mehr nach feinen 
Trieben leben fann unb baburdf) abßirbt. 6r ift tüie eine 
pflanje, bie in falfche 6rbe gefegt iß. 

Aber taoie? j?atte er nicht recht/ als er fo betonte, baß ich 
bürgerlich bin? 3cb hätte mobl nicht bie Torheiten bes Don 
Enrique begangen. Aber ertappe ich ntich nicht auf einer 
füßen unb (affigen Sehnfucbt, roenn ich bäre, toie er hinter 
ber fiorbeerheefe laufcht? 3ß es fo, baß auch ich oergeffen 
möchte? 3df> toeiß nodf) oiel mehr unb habe noch nie! mehr 
gebaebt als ber Graf. Ufas hilft mir bas nun? BJie felig 
iß ber Dogel auf feinem 3toeig, ber feinen Schlag febmet« 
tert! Unb ich? JTlir ifl, als müßten mir bie Tränen ßür* 
jen, wenn ich an ben Jinfenfcblag benfe, an 0[ugenb, £ie* 
besforheit, an Selbßoergeffen unb £eben ohne Denfen. 

3cb toeiß nicht, ob ich non meinen Gebanfen etroas oer* 
raten habe. Der Graf fuhr fort: 

„Das 3Ttäb<ben beenbete bas £iebeslieb, bie Augen Donna 
Glenas hatten fi<b mit Tränen gefüllt. ,Armer Don 6n* 


4 St« bentfö* mbtXte. 


49 


rique', fprorf) fie leife. Dann lochte fie auf: ,Tß\t locker« 
lic^> iß es bocf>, toenrt bie JRänner fo «m «ns oerjraeifeln! 
1008 haben fte oon uns?' Sie beantmortete bie 3tage mit 
einem Sah, ben eine junge Stau aus ntebrigern Stäuben 
beute nic^t fogen mürbe, meil er ihr unanßänbig fchiene. 

10ährenb bie beiben biefes Gefpräch führten, tarn Don 
JItanuel. Das JHäbchen oerßummte, auch bie iperrin mar 
oerlegen. Don JTTanuel mar ohne Arg gefommen. Ais er 
bie Verlegenheit ber beiben bemerfte, mürbe er mißtrautfcf). 
,1009 iß gemefen?' fragte er. Donna Siena fu«hte ihn 3 « be» 
gütigen. Sr fpäfjte mit ben Augen umher, ging hinter bas 
Gebüfch, unb ba fah er ben oerfleibeten Don Enrique mit 
feinem Diener fuh erfchrocfen aufrichten. Er erfannte 
feinen Gegner fofort, er hotte mohl auch oon ber Verliebt» 
heit unb ber Äomanje gehört, piöhßch erfaßte ihn eine 
btinbe Eifer fucht; er 30 g ben Degen unb brang auf Don 
Enrique ein. ^alt!' rief Don Enrique, ,icf> habe feine an» 
bere IVaffe', unb hielt bas gelabene jßißol oor. Aber Don 
JTCanuel hörte nichts. Schon mar bie Spi£e feines Degens 
nur menige 3oII oon ber Brufl be 9 anbern entfernt, ba 
fchofi ber. Die «Kugel traf mitten in ba 9 S?er%. Don Jlla» 
nuel ßieß einen Schrei aus; ber Xob fcfmitt ihm ben Schrei 
ab. Er fiür 3 te oomüber 3 « Boben. 

/Schnell, fchneK, mir müffen uns retten, fyevxV rief ber 
Bauer. JVit großen Sprüngen eilten bie beiben an ben 
Stauen oorbei, bie fprad)Ios baflanben unb noch nicht 3eit 
gefunben hotten, bas Gefchehene 3 U faffen. Als bie Slüch« 
tigen bie JTlauer überfütterten, hörten fie ben erßen Schrei. 

Don Enrique floh mit feinem Diener nach 5ranfrei<h. 
Durch bie Vernehmung bes Gärtners ßellte fidf) fchnell her* 
aus, baß Don Enrique ber JTiörber gemefen mar. Der 
er 3 Ürnte .König ließ befanntmachen, baß er bem Xobe oer» 
fallen fei, menn er es magen follte, 3 urtt<? 3 ufehren. 

Donna Elena mar bie Erbin ihres getöteten Gatten, bem 
fehr große Bedungen in Portugal gehörten. Aber fie 
mochte nicht in bem fremben fianbe leben unb 30 g mieber 
3 « ihrem Vater, mit bem fie erß oor ein paar JTionaten oon 
ihrem Jpaufe fortgereiß mar. .Kaum mar fie mieber einige 


50 


XDodjjen mit ihm jufammen, ata Dort pebro in eine f)t^ige 
unb fernere Äranffjeit oerfiet, bie ifjn in einigen Tagen 
bahinraffte. So ftanb fie benn ohne Satten unb Bater 
allein in ber JBett; aucf) nähere Berwanöte hatte fie nicht. 
Sie war fefjr reich, ganj unabhängig, jung unb fcf)ön; aber 
fie wußte nicht, was fie mit ihrem £eben beginnen foltte. 
So bßeb fie benn unfchtttffig, ptanenb, oerwerfenb unb 
alterhanb toirre 3ufunftshoffnungen hegenb in ihrer alt* 
gewohnten Umgebung, too altes feinen alten Sang weiter« 
ging. 

Die heutigen JTtenfchen hoben bie Borflellung, baß bie 
£iebe folch ein fefler Begriff iß wie etwa baa Bterecf ober 
ber .Kreis, unb Donna Siena würbe nun wohl eine 
trauernbe XSitwe gewefen fein, in fchwargen Äteibern unb 
langem fchwarjen Schleier. Sie bachte naturgemäß oiet 
an ihren toten Satten, an bas £eben mit ihm, bas hoch oiet 
freier war als ihr früheres unb jehiges £eben, an Befuge, 
Sefle, Borfüt>rungen alter Art, an bas bewegte Dafein in 
JItabrib überhaupt, unb ein heftiger Srott befiel’ fie, baß 
bas altes burrf) Don Snrique jerßört war. Ss fonnte wohl 
gefchehen, baß fie in plöhtichem 3orn auf ihre erfchrocfene 
6efeIIfchafterin tosfuhr unb ihr Borwürfe machte, bafi nie« 
manb fich um fie Himntere, baß fie als junge Srau in 
bem alten «Raffen ihr £eben oerbringen fotte, bafi bie JTtän» 
ner alte bumm feien, unb bafi bie Sefellfchaftertn auch 
feinen Berftanb habe. Diefe befreujigte fich bann ober hielt 
ihr auch befchwörenb bas «Rrujifij oor, um bie UJut ju 
bannen, bie aus ber Jperrin fprach. 

3ngwifchen hatte Don Snrique in bem fremben £anb ein 
oerbrießliches £eben. Spanier unb Sranjofen werben ßcf) 
nie oerflehen. JTtenfchen unb Einrichtungen fanten ihm 
lächerlich unb oerächttich oor, unb es reijte ihn altes fo, 
baß er ben Sranjofen gegenüber ungefchicft unb oertegen 
war. Sine fotche £age war ganj banach angetan, feine ro» 
mantifche £iebe ju Donna Stena ju erhalten unb ju oer« 
flärfen. Taufenbmat fprach er mit bem treuen Diener altes 
burch, wie es getoefen war in bem Sarten, was Donna 
Stena gefagt hatte, ob fie errötet war, als bie 3ofe bas £ieb 


4 * 


fang. 6r fragte/ ob fie tf>n wohl gefehen habe, ats er mit 
Don JTianuel fämpfte, ob fte oielleicht noch wtffe, tote er 
ausfehe, ob es toofjl möglich fei/ baß fte ben JTiörber ihres 
Gatten lieben fönnte. 

fln einem flbenb fagte er gu bem Diener: /JTiorgen früh 
reiten toir ab. 3<f) will Donna 61ena wieberfehen. XDtr oer» 
fteiben uns a(s Bauern wie bamals. JTiemanb wirb uns 
ernennen, wenn wir oorficbtig finb/ 

Der treue JTtann bereitete in ber Ttacht alles oor für 
eine heimliche JUicffehr nach Spanien, unb fo machten jttf) 
bie beiben am anbern JTiorgen auf ben XBeg. 

Unterwegs führten fte atterhanb Gefpräche. So fagte 
Don Enrique: ,Die Siebe ifi bas Borrecht ebter Seelen unb 
hochgeborener Perfonen. Du würbefi fehr irren, Gü, wenn 
btt annäbmefi, baß bas, was unferetns fühlt, auch in 
euren Greifen fein fönnte/ Gil war bamit im allgemeinen 
einoerflanben, fanb aber hoch, baß Ausnahmen oorfämen. 
So hotte fich ber SdFmtgenfohn in ein JTIöbchen oerliebt, bas 
fchon einen anbern hotte unb ihn besbolb nicht wollte. €r 
war fchwer front geworben. BJohl war er burch einen 
flugen flrgt gerettet worben, aber er hotte hoch nachher 
nicht geheiratet, obgleich er ben fchönßen $?o f im Dorf 
hotte unb ihn jebes JTtäbchen gern genommen hätte. Unb 
wäbrenb bie beiben folche Gefpräcbe führten, ging bie 
Sonne auf, unb bie Bögel begrüßten fie mit anmutigen 
unb heiteren Siebern. Die Jltauttiere fihnauften unb fcf)üt* 
telten bie fchelienbehangenen Äöpfe, unb ber Tau oer* 
fchwanb oor ben Strahlen ber Sonne gufehenbs oon ben 
XBiefen. 

Die beiben Jleiter gelangten ohne Unfall über bie Grenge 
unb gogen weiter. Schließlich tarnen fie in bas Dorf, wo 
bas &aflett ber Donna 61ena lag. Da war ein großes 
XBirtshaus mit einem befliffenen HJirt. ^ier fehrten fie 
ein. Sie ließen fich ein 3immer geben unb tarnen bann 
in bie .Küche hinunter, um bas 6ffen gu beßetlen. Der UJirt 
fagte, baß er ihnen einen oorgüglichen Äantnchenpfeffer 
oorfe£en tönne. Sie waren einoerßanben unb warteten, 
baß er gubereitet würbe. 3ngwifchen fefcte fich ber Uttrt 


J2 


ju ihnen, um fie mit Gefprärfjen unb Erzählungen gu un« 
terhalten. 

Als fie gegeffen batten unb roteber auf ihr 3immer ge» 
gangen toaren, fpracf) ber lüirt gu feiner Sr au: ,JTIit btefen 
beiben Jleifenben hat es eine Beroanbtnis. Sie oerbergen 
ein Geheimnis. Sie finb nicht, toas fie fcheinen roollen. 
IDeshalb oerlangten fie ein 3immer für fich allein, fiatt, 
roie roirPliche Bauern, im allgemeinen Schlafraum gu über« 
nachten? S>a fl bu gef eben, tote ber eine ben anbern be» 
biente? Jrjaß bu gefehen, roie ber, ber bebient mürbe, in 
beinern Äaninchenpfeffer fjentrriflocfjerte, als ob er nicht 
gut genug für ihn fei? Oer iß feinere Speifen geroohnt. 
3<h fehe an ihrem Sattelgeug, baß fie aus Sranfreich ge* 
fommen finb. Sie tnollen hier fpionieren, fie finb heimliche 
flbgefanbte bes Königs oon Sranfreidj. Aber idf> roerbe 
fchon hinter ihre Schliche fommen, unb unfer .König fnif* 
fert nicht, rotnn matj ihm roichtiqr .Tlacbricbten bringt/ 

Es Pann für einen Gaffroirt immer toichtig fein, toas 
feine Gäfle mifeinanber fprechen. So roar ln bem Sjaua 
auch eine Einrichtung, burch bie unfer IDirt in bequemer 
£age bie beiben betaufchen Ponnte, als fie bie Kleiber ab» 
legten, um ins Bett gu gehen, bei roelcher Gelegenheit, roie 
er aus Erfahrung mußte, häufig ber Tageslauf besprochen 
roirb unb Entfchlüffe für ben folgenben Tag gefaßt toerben. 

,3T?orgen roerbe {<h fie roieberfehen' fagte Oon Enrique, 
inbem er feine S)o\tn ausgog unb an einen Hagel bängte. 
,IBirb fie mich erPennen? Unb roenn fie mich erPennt, roirb 
bann ber Groll auf ben JTiörber ihres Gatten übermächtig 
fein?' 

Oer IDirt fpi£te bie Ohren. 

öil gähnte. ,Oer Äanfnchenpfeffer roar gut. Etroas 
fchärfer hätte er fein fönnen. Er muß im Gaumen 
brennen.' 

fln ber IBanb hing eine Saute. Oon Enrique nahm fie, 
fehle fich im 4pemb, mit nacften Beinen auf ben Bettranb 
unb fchlug ein paar Töne an. Sie war oerßimmt, unb er 
fchraubte. 


53 


,3cf) wette meinen Äopf, baß Oonno Steno Cuer Graben 
nicht erfennen', fagte Gil. 

Oer IDirt wußte genug. £eife 30 g er ficf> aus feinem 
Uerftecf, fjufcfjte mit nagten (Füßen bie treppe hinunter 
unb rief feiner (Frau ju: >Scfmett ben Sonntagaanjug, bie 
guten Schuhe! 3cf> muß gteicf> oufa Schloß/ Seine Srou 
fragte erregt, er antwortete: ,Befümmere bu bi<h um beine 
töpfe, ich muß oufa Schloß, frfjnetÜ' 

Cr fom eben noch oor bem Zubettgehen ouf bem Schloß 
on unb berichtete bem Jpauahofmeißer, baß Oon Cnrique 
bei if>m wohne, bofi er mit einem oerböchtig ouafehenben 
Jftonn gefommen fei, unb bofi er bie Abficht höbe, Oonra 
Cteno ju entführen. Aber er, ber IDirt, höbe gewacht. 
Oonno Cteno fönne ihn gefangennehmen unb ihn für ben 
JTCorb unb bie geplante Cntführung ben Gerichten ouatie« 
fern. Cr liege im Bett unb fchlofe, unb wenn mon jtel» 
bewufit oorgehe, fo fönne mon ihn mit bem Genoffen 
feiner ©erbrechen ohne Gefohr oerhaften. 

Oer j?au 8 f)ofmetffer führte ben JTCann fogteich ju 
Oonno Cteno. 

Sie hörte bie Crjahtung, unb ihre Augen büßten. ,Oer 
Unoerfchomte!' rief fie oua. ,3ß es ihm nicht genug, mich 
jur BJitwe gemocht %u hoben? IDitt er mich noch weiter ina 
Ingtücf bringen? IBUt er fich on meinem llngtücf weiben? 
Aber' — unb hier nahm fie einen Keinen fpitjen ©otcf>, 
ber ouf ihrem Xifchcfjen tag unb fchwong ihn — ,er fott 
fehen, baß auch XGeiber 3Ttut hoben fönnen. Xtiemanbem 
will ich meine (Rache onoerfrauen. Geh felbß will meinen 
^>aß in feinem Btute fühlen/ Alte Jltänner bea Scfjloffea 
würben oufgeboten; ihnen ooron ging mit beflügeltem 
Schrift Oonno Cteno. Oer Jpauahofnteißer tief? bie Cm* 
geinge bea Gafthoufea beferen, unb teife erflieg mon bie 
Treppe. Oer IDirt öffnete bie Tür bea Schtafjimmera mit 
einem (TCachfchtüffel, unb Oono Cleno, in ber £infen eine 
£aterne, in ber (Rechten ben Ootch, fchritt hinein, hob bie 
£ateme, um boa Gefi<f>t bea fchtofenben Oon Cnrique ju 
beleuchten. Sie wor entfchloffen, bem JTIörber ben Ootch 
in boa S?er% ju flößen. 


54 


Aber a(s fie ihn fo ruhig im erfhn Schlaf, mit bem Aus» 
brucf bes frieblUhflen 6ewiffens oott ber Welt liegen fof), 
ba oerfagte if)r plöhlicf) ber Wille. Es frfjten ihr, als fönne 
[ie nicht ben Scf)lafenben ermorben. Sie rief ihn mit 3Ta» 
men: ,Don Enrique, erwacht, macht £u i) bereit! 7 

Don Enrique fcfjlug bie Augen auf/ tiefblaue Augen, 
unb fah fie in feiner Schlaftrunfenheit erflaunt an. piöh* 
(itf) überflog feine 3üge ein Ausbrucf bes f)ötf)fien Ent« 
gücfens. ,Donna Elena! 7 rief er unb breitete bie Arme toeit 
aus. Sie flaute ihn entgeiflert an, unb ber Dolch fiel Mir« 
renb auf ben Boben. 

Die JTIänner ftilrgten oor, um fiel) auf Don Enrique gu 
werfen. $<xl t! 7 rief fie aus. ,Da(B ihm feiner ein £eib gu» 
fügt! Jlef)mt ü>n gefangen unb führt ihn aufs Schloß!' 

BJieber flellt fiel) bie Schwierigfeit heraus, gu beflimmen, 
was /Siebe 7 ifl. Jüan muß wohl fagen: bie junge ?rau 
war in ben fahren, wo fie empfänglich für bie Siebe eines 
JTtannes war; fie war eine junge IBitwe unb batte erfah* 
ren, wa9 bas 3ufantmenleben mit bem JTCann iß, unb Don 
Enrique liebte fie gärtlicf» unb war ein fchöner unb fiatt» 
lieber 3üngling — wie hätte fie imßanbe fein follen, if>n 
gu töten ober ihn oon anbern töten gu laffen? 

Don Enrique unb fein Begleiter würben gefeffelt unb 
auf bas Schloß geführt. Donna Elena gab Anweisung, fie 
nicht im Gefängnis untergubringen, fonbem tn feßen unb 
vergitterten 3immern, fo baß ber Diener immer feinem 
Sperrn bie nötigen Jrjanbreichungen leißen fonnte. 

Sie hätte je£t an bas nächße fönigliche Gericht fchreiben 
müffen, um ihm bie Gefangenen ausguliefern. Aber oon 
Tag gu lag fdjob fie bas auf. Sie wollte fich oorher erß 
noch über alle Umflänbe bes Jltorbes oergewiffem, bamit 
pe bem Gefangenen nicht etwa unrecht tue. 3br Gemahl 
fei fehr hifßQer Otatur gewefen, unb es fei hoch möglich, 
baß Don Enrique urfprünglich gar nicht bie Abficht gehabt 
habe, ihn umgubringen, baß oielmehr ber JTTorb nur in 
ber Berteibigung gegen einen unerwarteten Angriff ge« 
fchehen fei. Schlief?lieh fei her Berbacht Don TRanuets auch 
beleibigenb für. fie gewefen, benn eine Srau aus gutem 


55 


<$aufe melß bocf), roas fte ftcf) unb ihrem Satten fcfjulbtg iß. 
<jeben flbenb befcf)toß fie, gu bem Gefangenen gu gelten unb 
tf>n g« fragen, tote er gu ferner £eccf)tfertigfett gekommen 
fei; aber bann freute fie fid) bocf» immer unb fcfjob bas 
Gefpratf) mit ihm töieber auf. 

So roar nun Don Enrique etma feit einer GJocfte im 
Sef>loß ber Donna Elena gefangen. Er mürbe gut gehalten, 
es fehlte ihm nichts als bie Freiheit. Deren JTlangel mar 
if)m atlerbings hoppelt ferner, ba er mußte, baß er unter 
einem Darf) mit ber 6e(iebten oermeilte. Der JTtann, ber 
ihn unb feinen Diener oerforgte, brachte ihm eine £aute, 
unb er brürfte feine 6efüf)le unb Gebanfen in einer neuen 
Jlontange aus. Die 3ofe laufcf)te unter feinem Senfier unb 
mußte fie balb ausmenbig; fie trug fie ihrer Herrin oor, 
bie unmillig errötete, unb fchmärmte oon bem blaffen Ge* 
ficfjt unb ben oerliebten Augen bes «Ritters, benen fie, bie 
3ofe, nichts mürbe oertoeigem fönnen, menn fie fo gärt* 
lief) geliebt mürbe. 

Da gefchah es, baß ber «König in bie JTäf)e oon Donna 
Elenas ödfloß tarn, unb ba er Don JJebro immer f>ocf) 
gefcf)Q0t hatte unb bas fernere £os ber ohne jeben Stf>u£ 
bafleftenben unb unerfahrenen löttme if)m naheging, fo 
befcfßoß er, eine jlacfjt hiergubleiben, ftdf) narf) allem gu 
erfunbigen unb gu fef)en, ob er nicht, als ber natürliche 
Dormunb, ihre Berhältniffe mieber in Drbnung bringen 
fönnte, etma burcf) eine Jpeirat mit einem orbentlidjen 
JTtann, bei bem fie mit ihrem großen Beßfj gut aufgehoben 
mar. 

Er mürbe empfangen, mie es fid) gebührt, unb mie es 
ber Ehre enffpradj, bie er ermies. Er gab Befehl, baß er 
mit Donna Elena allein fpeifen motle, unb fo mürbe im 
großen Saal nur für ihn unb bie Dame bes Kaufes ein 
Xifd) gebeeft. 

Als fie allein maren, brachte er bas Gefpräd) barauf, baß 
fie bocf) nicht bauernb fo leben fönne, baß eine Srau nicht 
imßanbe fei, eine fo große Bermaltung gu führen, baß bie 
oornehmen Familien auch für ihre Erhaltung forgen müß* 
fen, benn fie «tfören ja bie eigentlichen Stü£en bes Königs. 

J6 


Die hocherrötenbe Donna Siena merfte gar moht, mohüt» 
aus ber König rooüte. 

Sie hatte Don Enrique nur ein einziges JTtal gefehen, bei 
bem £tcf)t ihrer £aferne. Aber fie batte früher ftfjon man» 
cbes von ibnt gehört, unb je£t batte bie Dienerin immer 
oon ihm gephmaht. So mar benn ailerbanb Traum unb 
Horpetlung um fein Bilb geranft. Jüan mürbe unretbt 
tun, roenn man plump irgenbeine Ab ficht, einen GeöanPen 
annäbme; aber es mar bo<b fo, bafi fi<b bie Geflalt Don 
Enriques immer oor ihre Augen fchob, als ber .König feine 
lüorte oorbrachte. 

Sie ermiberte nichts auf bie fragen bes Königs, fonbem 
pe erzählte ihm unoermutet, Don Enrique, ber burch ein 
3TlifJoerflänbnis in Kampf mit ihrem oerftorbenen Satten 
geraten fei unb ihn babei getötet habe, fei in ihre Gegenb 
gekommen; pe habe es für ihre Pflicht gehalten, ihn gefan» 
gengunepmen, unb bitte ben König, bafi er ihn oor fich 
fommen taffe, um ihn über feine Tat gu befragen. 

Der König mar guerfl oermunbert unb geärgert über 
bas Abfcbmeifen ber Jrau. Aber bann merfte er ihre Her« 
(egenheit, ihr Erröten, unb es burchblipte ihn: Da ifl ja ber 
Eheherr fchon gefunben! Er unterbrüefte ein £äche(n unb 
befahl, bafi ihm ber Gefangene fofort oorgefüfjrt merbe. 

Don Enrique fam. Donna Elena fafi blutttbergoffen 
bem König gegenüber unb (löcherte mit ber Gabel auf 
ihrem Teiler herum. Auch Don Enrique mürbe rot bis an 
bie Schläfen. 

Der König panb auf, unb eine eigene Jlührung über bie 
beiben jungen £eufe über fam ihn. Er fagte: ,Don Enrique 
hat jugenbliche Torheiten begangen, bie ein linglücf gur 
#o!ge hatten. 3cp habe ihm längp oergiepen. JTun befehle 
ich Euch, Donna Elena, bafi auef) 3pr ihm feine Tat oer» 
geipt, bie er nicht mit Abficht unb Überlegung getan hat. 
ltnb als Euer fiepnsperr, ber berechtigt ifl, über Eure j?anb 
gu oerfügen, bamit Eure Güter Diener für mich erhalten, 
gebe ich Euch bem Don Enrique als Gattin.' Er nahm ihre 
), bie pe ihm millenlos Üefi, unb legte pe in bie i?anb 
Don Enriques, ber ihn mit runben Augen grofi anfap." 


17i 



Oie €rjäf)lung toar beenbet, unb ber Graf fcf)toteg eine 
Steile. 3cb fab auf bas yamiltenbifb, auf bie blüfjenbe 
Srau mit ben gefunben unb (»eiteren Dinbem, auf ben 
ffattfidjen JTiann. 

„3a, eine große Familie tourbe es", fagte ber Graf. 
„3ebem ber Äinber fiel aus bent großen Befitj ein Erbe 
ju, unb bas Blut ber beiben fönnte beute in bunbert, ja in 
taufenb oornefjmen JTtännern unb Srauen pulfen. flnbert» 
halb 3o()>'f)unberte finb es (»er, baß bie beiben if)ren €(>e* 
bunb fcf)loffen unb ber älteße geboren tourbe, beffen fester 
Sproß ich bin. 3(f) bin ber leiste; unb oon feinem ber an» 
bern «ßinber leben beute noch Jlacbfommen. 

JBenn itf) ßerbe, bann toirb bas, toas ()ier oon meinen 
Borfabren \)tt noch oereint iß, in alle Dichtungen jerßreut 
werben. Oiefes Bilb toirb bann toobl nach JItabrib in bas 
Jltufeum fontmen. Oie Jlabierung nimmt man toabr» 
fcbeinlicb aus bem Dabmen unb oergleicbt fie mit bem 
Stücf, bas man in ber Äupferßicbfammlung bat? Öen bef« 
feren flbbrucf bebält man, unb ber anbere toirb oerfauft 
unb fommt in ben JFjanbel. Bielleicbt legt ibn ein Samm» 
ler in tforbanterifa kt feine JITappe. Xlm bas große Bilb 
berum aber ßeben bie JTtufeumsbireftoren unb Dunßbißo» 
rifer unb geben ibr Urteil ab — ja, bie UJelt iß bürgerlich 
getoorben. fluch JItabrib iß ja jept eine Großßabt oon 
heutiger Art mit neuen Stabtoierteln, Straßenbahnen, elef* 
trifebem Sicht, unb balb toirb toobl auch Spanien feine 
flrbeiterregierung hoben, unb in Bolfsbocbfcbulen toirb 
man bem bilbungsbungrigen Proletariat mitteilen, baß 
Gopa ein großer JTtaler getoefen iß." 


58 


iS t o n i a 

Bon JBUhelm Schüfet 


^ 7%* la 2>Ie Serapionabrüber bea «Rammergerichtarata 
V Spof fntonn wieber einmal in ihrer HJeinßube faßen, 
ea ging aber jum Gnbe bea JTConata, unb ihr Dafein mar 
ftort in ber treibe, tarn oon ber Straße ein ältlicher Sperr, 
ber mit bent rechten $uß fünfte unb ficf) barum bei febem 
linfen Schritt in bie Brufi warf, fonft aber in feinem «Kot» 
wemgefuht feinen Xrübfinn jur Schau trug. 6r festen gar 
nicht ju tniffen, in maa für einen f)öllifcf)en BJinfet ihn ber 
naffe Oftoberminb wehte; wie einer fkf>, ju ben Seinigen 
beimfommenö, furjmeg an ben Xifdf) fe^t, nahm er ben 
Stuf)! ein, ben ber gefertigte SpifyiQ gerabe neriaffen hatte, 
weil if)n ein Brief aua Breslau abrief. So faf>en bie Brüber 
in iljrer «Kunbe ganj unoermutet einen Oteuling baffen, 
ber fröhlichen flugea bie Heine Gefellfcfjoft abmuflerte unb 
nur fein 6eni<f fleifte, ata er ben fpäfjenben Bogetbtitf bea 
^ammergerichtarata an feiner UJefle gleichfam bie «ftnöpfe 
abjählen fah. 6r hielt/ feiner Xabellofigfeit ficher, ben Blirf 
aua, beßellte mit allem llmßanb feiner gepflegten JTatur 
einen «Koten, prüfte bie JBärme unb foflete erft mit rollen» 
ber 3unge, beoor er ben erflen befriebigenben Schlurf 
nahm. 

Der aber fo ohne Ahnung feiner Gefellfchaft, unb trofc 
ihrer erffaunten Gefiel;ter ber eignen IBUrbe gewiß, mit ben 
Serapiortabrübern am neunten Dftober ju Xif<h faß, war 
fein Geringerer ata ber Bürgermeifler oon Oranienburg 
an ber Spavel, ber am felben flbenb feinen 6eburtatag ju 
feiern gebachte unb biefe Dienßreife nach Berlin mit Bor* 
bebacht eingelegt hotte, feine 3unggefel(enf<haft ein höher ea 
Dafein fchmerfen ju taffen ata ben ^jonoratiorentifcf) feiner 
Äteinbürgerßabt. JBeber oon feiner BJürbe noch oon 


59 


folgen Abficbten mußten bie Seraptonsbrüber oorläufig 
bas geringfte. Sie faf)cn nur einen fianbbürger an ibrent 
XifdF) einen röteren Xropfen trinfen, als fie ihn felber in 
i^ren untätigen Gtäfern babatten. Aber fie gönnten jebem 
bas Seine; unb ba ihnen anbere Dinge am Jpergen ober 
bo<b auf ber 3unge tagen als biefes rafierte Jtotxoeinge* 
ficht/ fuhren fie batb toieber fort, mit boshaften IBi^en 
unb hartem Gelächter, mit böhnifeben Seufgern unb mef)* 
ntütigen Augenauffcbtägen bie gelohnte Smchsjagb gu 
machen. Jtur bem Äammergericbtsrat fchien eine gallige 
£aune an ber £eber gu batfen. DJie ein flruppiger Geier fafi 
er mit feinem Bogelgeficbt ba, unb toenn er fi<h über ben 
toirren «Kopf (trief)/ roobei er ben langen S^als reefte, fielen 
bie toeifien 3tpfel an feinem jpembfragen auseinanber, als 
ob es toirftich gtoei Jpatsfebern mären. 

Don all ihren Gefpräcben oerflanb ber JTtann aus Ora* 
ntenburg nur etngelne Sä^e, bie anfeheinenb bei biefen $er* 
ren einen anbern Sinn hatten als fonfl in ber oernünftigen 
EJett. Es fam ihm recht albern oor, mie fie ben BJorten 
bie Jpätfe oerbrebten unb bei ben oerrücfteflen Dingen 
grofimächtig bie Arme oerfebränften. Aber es fiel ihm hoch 
auf, baß oon ben Xifchen am Senfler unb fonfl in ben 
Ecfen, mo bie anbern Gäfle gleicbfam als Abfall ber Xafet« 
runbe bafaßen, neugierige Blirfe unb borebenbe Ohren an 
feinen Herren ettoas Befonberes fanben. Unb mo fich etma 
ein Glas fyob, einen oon ihnen mit einem Scbtucf gu be* 
grüßen, mar fafi ein toenig Ehrfurcht babei. Batb begann 
ben Bürgermeifler bie Jleugierbe gu fi^etn, bei toem er ba« 
fäße, oieüeicht aus ^öbtrn Äreifen? So fpitjte er fetber bie 
Dt>ren unb fanbte bie Augen runbum im Gefühl befonbe* 
rer Dinge. Bor altem ber mit bem Bogelgeficf)t reigte ihn 
febr, ber, alter Gegentoart febeinbar abtoefenb, mit \)o\)\tn 
Bticfen bafaß; unb banach ber mit bem btanfen Schäbet 
baneben, ber um fo emfiger gufjörte, hoch fetber fein IBort 
fprach, auch nie eine JTCtene oergog, toie menn bies altes 
nicht an feine Gelaffenbeit rührte. 3rgenbmte fam es bem 
JTtann aus Oranienburg oor, als ob bie anbern nur Spaß* 
mach er toären für biefe beiben* Unb toeil er fetber als 


60 


Bürgermeifler gu fragen nirf>t ungemofmt mar, legte er 
fchliefilicf) feinem Hacf)bar gur fiinPen leife bie ^anb auf 
ben firm, inbeffen fein Finger unter ber Xtfd)Pante gegen 
ben Geier Popf geigte: ob es erlaubt fei, gu fragen, toer bie» 
fer Sperr toäre? 

Der Jlacfjbar batte gerabe bie $änbe breit auf ben Xifcf) 
gelegt, ficf> herghaft ausgulacfjen unb bie Xränen flanben 
if)m noch in ben oerfniffenen Augen, als er ficf) artig if)m 
gumanbte: Das eben fei ber Sperr Crnfl Xfjeobor Amabeus! 

3Tlit biefer XJornamenfülle mar aber bem Bürgermeifler 
toenig gebient; er hörte über bie IBichtigPeit in bem Slüfler* 
ton fort, breite bie Augen nocf) meiter nacf) linPs unb 
fragte, als ob nach bem Nebenbei nun bie j?auptfacf)e 
Päme, mit gerungetter Stirn nacf) bem JTiann mit bem 
blanPen Schöbet. 

„Der anbre ifl Xietf!" fagte ber Hatfjbar. llnb meil if>m 
einer gerabe ben Jte|l aus ber Slafcfje in fein längfl leeres 
Glas fcf>enPte, fcf)ob er ben Arm fort, mit Anbacfü ben 
lebten Xropfen gu trinPen. So faf) er nicht, bafS bem Srager 
ber JTCunb offen blieb oor Chrfurcfjt unb Staunen. Der 
Bürgermeifler oon Oranienburg Ponnte nicht miffen, baf5 
biefer Xietf gar nicf)t £ubmig, ber Dichter, fonbem Srieb* 
rief), fein Bruber, ber Bilbhauer, mar. Aufierbem batte er 
Xiebge oerflanben, unb bas mar freilich ein Harne, ber 
feinem Glüef bas Spunblodf) auffebtug. Denn Xiebge mit 
feiner „Urania 7 ' mar feiner Bilbung ber ragenbe Gipfel. 
Cr achtete fonfl bas JJoetenoolP nicht, unb er hatte bas Buch 
nur gePauft, meil er in bem Hamen Urania ein Geheim» 
nis feiner Stabt Oranienburg fucf)te. Unb ob er barin ge» 
täufcht mar, fo viel BJeisbeit in fo fcf>önen BJorten bei* 
fammen gebrueft, batte er nicht für möglich gehalten. Unb 
mie es fo geht, in ben 3af>ren, ba er bas Buch fafl aus» 
menbig lernte, mit feinen Berfen manche «Rebe befliefenb, 
irgenbmie mar ihm bas U unb bas O in bem Hamen ein* 
faltig gemorben, fo bafS er nicht oon ber Urania fpraef), 
ohne fich felber als ihren Bürgermeifler gu fühlen, unb 
nicht oon Oranienburg, ohne tn einer befonbem Sphäre 
ber Bilbung gu fein. 


61 


llnb nun war ihm bas Gefügt wiberfahren, ben Dieter 
fo frfjöner BJorte, bas Süllhom a(( feiner IDetsfjett leib* 
fjaftig gu fefjen. Oie Augen würben ihm feucht, unb fafl 
hätte er unter bem Xifcf) bie f?änbe gefaltet über folcf) 
ein 6eburtstagsgefcf)enf. 3«/ er pries mit innigen Worten, 
bie ihm inwenbig wie Perlenfrfjnüre abrollten, bie Sügung, 
baß er ber innern Stimme fo beharrlich gefolgt war. So 
mußte ber Oichter ausfehen! barfjte er bann unb legte nach* 
benftich bie flache $anb auf ben Xifch, fo baß ber Geier ben 
Äopf hob: Oiefer gewaltige Schäbel! Oiefe oerfonnenen 
flugen! Oiefer apollinifche JRunb! Xtnb weil ihm bei bie* 
fern BJort eine Erinnerung fant, hob er fein Glas unb 
tranf es mit einem innigen Blicf auf ben Oichter leer bis 
auf ben Grunb. 

Oarttber gefcf>ah es, baß ber Bürgermeißer oon Ora* 
nienburg fich feiner felbß fcfjämte, unb biefe ihm peinliche 
Scham begann mit bem Schiefen, baß er bas Glas feines 
Oichters fcf>on lange leer fah, inbeffen er fetber ben bräun» 
liehen Jlotwein genoß. Oas follte nicht fein, flagte bie 
innere Stimme, unb er hörte ihr leibmütig gu, baß ber 
Oichter im fieeren haftet, inbeffen wir Bürger bie Sülle 
haben! Xtnb weil er gewohnt war, für feine Bürger gu 
benfen, ging fein Entfchluß fogleich in bie Borfehung ein: 
3ch muß feinen'Stolg fchonen! fagte er feß unb fing mit 
ßch felber ein rafches dwiegefpräch an; unb ob er bie .Köpfe 
rafch gählte unb einer Bowle ben Borgug gab unter fo 
oielen, war bas fein geringer Bebacht, nur bie Uernunff, 
ber Stunbe würbig gu fein. 

llnb fo fäumte er nicht: furg unb beßimmt, wie er feines 
Amtes als JTteißer ber Bürger gu walten gewohnt unb 
geübt war, gog er ben «Rocf glatt, einen Gang aus ber 
Stube gu tun. Sie werben mich anbers oermufen! bacf>te 
er fchmungelnb, als er fich braußen im Slur gleich nach 
finfs gur Anrichte wanbte, ben Kürt oertraulich gu 
fprechen. Oer hotte Berßänbnis, wie er es brauchte; nicht 
länger, als bie Bermutung 3eit nötig hatte, unb alles war 
war fchon nach feinen KJünfcfjen georbnet. Oer eingige, 
bachte er wieber, inbem er ben Stuhl nahm, fich l*ife nach 


62 


{»eiben Seifen oerbeugenb, ber einzige, bent itf) ben 3ufa(( 
tiefer für m'tcf) fo frönen Begegnung mißgönne, iß neben 
bem ©itf)ter ber JTionn mit bem Bogetgefiäjt! Aber er foll 
— unb nun mar er mit feiner TBürbe ganj im reinen — 
mir feinen Augenbticf mein ftf)önea Geburtatagafeß ßören! 
Jüit einem oolten Biicf faf) er ben louernben Stören» 
frieb on. 

XBie ein fteinea Saß ferner unb mit bem £öffel »er* 
fjeißungaootl flirrenb, fam bie Borate herein, oont HJirt 
mit Anßanb fetber getragen unb mit einem f)öflitf)en Seuf» 
3 er ob ifcrer Scfnoere, aucf) einem bisfreten Blitf gegen ben 
Spenber, ben Serapionsbrübern oor if>re fcfjnuppernben 
JTafen geßettt. „Sie muß nod) jiefjen", fagte ber Wirt unb 
faf) in bie Jlunbe, als fenne er feinen Beßetler, rüfjrfe nod) 
einmal oorfirfjtig um unb ließ bie Jr>anb oon bem £öffel, 
ficf) fiegesgeroiß ju empfehlen. 

6 s mar ßilt in ber Stube gemorben. Bon ben Tiftfjen 
am Senßer unb fonß in ben Gtfen faf) erßaunenbe 6 f)r* 
furcht ben bicfen Porjettanbaucf) im ^erjenfic^t btinfen. 
llnb erß ata ber Aufmärter fam mit ber ftirrenben Platte 
oolt Gtäfer, jebent pfiffig junitfenb, ata er bie balbootfe 
Stoffe bea Bürgernteißera mit einer tiefen Berbeugung 
abräumte, bie emsige £eere ber anbern nur raffenb, fing 
ein Berßänbnia an, in ben fjöfticf) abroartenben Augen gu 
lächeln. 3Tur ber «Rammergeri<f>tarat f)afte bie Arme oer» 
fcfjränft, aber bie JTüßem bläfjten ficf) teife, unb toie einen 
fcfjmarjen Straf)! füllte ber Bürgermeißer bie unheimlichen 
Augen jum brittenmat auf fitf) gerichtet. Aber furj unb 
beßimmt, toie er feinea Amtea ju malten gemohnt unb 
geübt mar, ßanb er junt anbernmat auf, ficf) mieberum f)öf» 
lief) nach betben Seifen oerbeugenb, unb fing — nod) ein* 
mal mit rafcfjem Biicf jäfjtenb — in froher 6 emeffenf)eif 
an, bie Gtäfer ju füllen. 

Das le£te mar oott, alte oortreffticf) gemeffen, unb ber 
£öffel Tag mieber ßtll in bie Bomte oerfenft — irgenbmo 
fnarrte ein Stuhlbein oergebena, ben Bann ber Gnoartung 
ju brechen —, ata ber fettfame Spenber fein 6 taa nahm 

63 


unb mit «Refpeft über ben furgen $u(i auf fein linfes 
Stanbbein gurücftrat: „Bleine Herren", fagte er fcf>li<f>t 
unb oerbeugte ficb toieber, ala wollte er eine Jlebe begin- 
nen; aber er fanb nur noch ein eingiges HJort, gegen ben 
Dichter gletcbfam btnfnienb, weil er auf feinen furgen Sufi 
oortrat, bem füllen JTiann mit bem leucbtenben Schabet 
fein Glas einen Schritt näbergubringen: „Urania!" fagte 
er nur unb ließ bas U unb bas D in einem erf fingen; unb 
als fie Um alle noch f<f)toeigenb anfiarrten, weil feiner bas 
«Rätfel begriff — fie fpüren bie 6b r furc t)t, backte er flolg 
unb begtücft —, fcbwang er fein Glas in einem gierigen 
Bogen, bie gange «Runbe gu grüßen, trat oor ben JTteiffer, 
ibm tief ins oerfonnene Auge gu bliefen, unb tranf fein 
Glas mit 3nnigfeit leer bis auf ben Grunb. 

Solange mar um fein feltfames Xun eine läcbetnbe Stille 
getoefen, toeil ntentanb ben fomifeben jperrn unb feine Ber- 
gücfung oerflanb. 0e£t fuhr ein pfeifenber £aut in bas 
3immer. BJte bie Äa£e auf eine Blaus fpringt, butte ber 
&ammergeri<f)tsrat fein 6las in ber J?anb, unb bie anbern 
flanben ibm bei mie auf ber JTtenfur, nur ber oermeint- 
liebe Dichter blieb ft^en, toeil ibm ber «Kammergericbtsrat 
bie Ärallenbanb auf ben blanfen Äopf legte: „IBtr toüfS- 
ten bie 6bre böb^r gu febäben," fagte er bünn unb war 
aus einem Geier leibhaftig ein «Kater gexoorben, ber ge- 
bucfelt unb febtturrenb baflanb, „wenn wir Uranias Auf¬ 
trag wüßten!" 

Bor bem böbntfeben BTann gerbraeb bem Spenber bas 
löort unb bie IDürbe. „Der Bürgermetfler oon Oranien¬ 
burg bittet bie Herren," fagte er raub, „mit ihm feinen 
Geburtstag gu feiern!" 6r lief? bas D unb bas 11 noch 
einmal einfältig flingen, er fenfte gum anbernmal fein 
leeres Glas gegen ben Dichter, ber feine Gelaffenbeit unter 
ber «Kralle bes «Kammergericbtsrates in einem bämifeben 
Grinfen oertor, er fd)wenfte noch einmal ben gierigen 
Bogen gegen bie «Runbe, aber bas 6cbo, bas er fi<f> 
träumte, blieb aus. Als ob ein Unheil bte JTIänner er- 
flarrte, fianben fie ba mit oollen Gläfern unb grübelnben 
Stirnen* Sollte ber JTeib, fo fuhr ein fester bem 

64 


Bürgermeißer burd) fein Gefßm, mir meine Stunbe ger* 
ßören? ©ann übermannte au cf) U)n bie Grßarrung. 

Jlur ber .Kammergerirfjtarat lief? wieber ben pfeifenben 
£aut frören, bte Äafre fratte bie JTtaus: „Urania!" fagfe 
autfr er unb fenfte fein Glas gegen ben Dicfrter, inbem er 
bte $anb oon feinem «Kopfe ließ: „Urania!'* bann unb 
ftfrwenfte ben gierlitfren Bogen, mit gellenbem S ?ofrn bie 
Jlunbe gu grüßen; aber bann bratfr ifrrn ber £ oft in 
3nnigfeit um, als ob nun aucfr ifrn ber feltfame 3auber 
bes IBortes befiele: „Urania" fagfe er füll unb tranf fein 
6fas teer bis auf ben Grunb. 

So Ratten bie ßummen Serapiottsbrüber gwei Bergücfte 
ßatt einen, unb bte Bowle ßanb auf bem Tifcfr, im Äergen« 
litfrt blinfenb gu einer Seier, bie feiner oerßanb. Einige 
Ratten gu laefren oerfucfrt unb anbre bte .Köpfe gefcfrüttelt. 
JTur ber oermeintlitfre Dichter faß gang ofrne Gelaff enfreit 
ba: „Oaß ber Teufel bem Tiebge feine papieme Urania 
frole!" fagfe er roilb unb frieb fein Glas auf ben Xifcf), bafl 
ber HJein fprifrte. Oer Bürgermeißer oon Oranienburg 
füllte feine Geburtstagsfeier in Jjjofrn unb Befcfrämung 
oerfinfen; aber au<f> er wußte nitfrt ntefrr als bie anbern, 
bis ber Äammergericfrtsrat gum briftenmal aufßanb. 

„£iebe Serapiottsbrüber," begann er unb oerwies einem 
Uatfrbam gur Jlecfjten ben gornigen £ärm, „wenn bie 6öt« 
ter fid) einen Spaß machen wollen, fcfrlüpfen fie lißig in 
unfre Seelen. ÜJir benfen bas Beße gu tun, aber fcfron 
brefrt ifrre Tütfe uns fanft bas Genitf um. Gin eingiges 
IBort, tücfifcfr oerönbert, frat es oermocfrt, baß wir mit 
biefer gefegneten Bowle gu ifrrent Gelöster bafifren! Als 
biefer JTtann aus Oranienburg, bem bie Götter ben Spaß 
unb wir bie Bowle oerbanfen, unfern Sreunb Conteffa bei* 
läufig fragte, wer botfr biefer ^jerr mit ber ©enferßirn fei, 
Ratten bie Götter ifrm aucf) frfjon bie Schlinge gelegt. UJie 
fann man Tietf Reißen, ofrne ber große £ubwig gu fein! 
Unb wie fann man ein ©icfrter fein, ofrne Tiebge gu Reißen! 
Oeffen Urania f>at es bem Bürgermeißer ntefrr angetan, 
will es mir f«feinen, als unfer Jreunb Tietf, ber nur ein 
Bilbfrauer iß unb bem wir bennocfr bie Bowle oerbanfen." 


5 SDte beutfcfte Lobelie. 


6 5 


So weit batte ber .Rammergerichtsraf mit Sanftmut ge» 
fprodjen, als ber oermeintüche Dichter auffianb unb fein 
Glas gegen ben Btann aus Oranienburg fenfte: „Urania", 
fagte auch er unb fchwenfte fein Sias, mit bem UJort im 
jierliefen Bogen bie Jlunbe ju grüßen: „Urania", bann 
unb tranf fein Glas mit Gelaffenheit leer bis auf ben 
Grunb. Da brach ber £ämt aus Serapion los, unb bie oiei» 
erfahrenen XDänöe ber UJeinflube hielten faurn bas 3ubel« 
gefchret aus, bas ben tobblaffen Bürgermeifler umtofle. 

Aber ber £ammergerichtsrat blieb als Äapellmeifler in 
bem Höllenlärm flehen: „Jluhe, Serapionsbrüber!" rief 
er unb hob Öen fiöffel als laftfiocf. Unb als fie barüber 
oon neuem losbrachen, lief} er fie tofen, um banach weiter 
ju fprechen: „Da habt ihr nun, Sreunbe, gefehen, was 
unfre Unflerbüchfett heißt! URr holen bie Gngel unb Xeufel 
aus unferer Seele herauf, Bluftl, UJorte, Bilber unb Steine 
baraus für bie Bienfchheit ?u büben; wir [teilen fie flolj 
oor bas Publifum hin unb machen ben £euten norf» unfre 
Berbeugung baju, wenn fie ftatfehen. Aber bie £eute — 
bies, meine Sreunbe, wollen wir nicht mehr oergeffen — 
hören Oranienburg, wenn wir Urania fagenl Denn bie 
£eute finb Bürger unb hoben ben XBerfettag ihrer Ge* 
fchäfte, inbeffen wir burch bas Stoppelfelb unfrer UJinb« 
oögel fpringen. BJenn fie am Sonntag bie gute Stube ber 
Bilbung aufmachen, fehen wir burch bie Jenfler hinein; 
aber wir rnüffen artig bie Blühen abnehmen. 

Ginmal — ihr Sreunbe toißt es wie ich — fchwebte ber 
Geifl über ben BJaffem, aber nun fchwimmt er bem Bür» 
ger auf ber Suppe, unb bie Fettaugen finb wir, meine 
Sreunbe! Dem Bürger gu fehmeefen ifl unfer 3wecf, barum 
rnüffen wir fanft fein wie Bianbelöl, wohlriechenb wie 
Blajoran, füß wie Zeigen unb Sahne. Denn nicht Bah» 
rung finb wir, nur bas Geroürj für bie Suppen unb 
Sofien, Braten unb Schaumfpeifen, wie fie bas £ecfermaul 
liebt. BJollfen wir felber bie Speife oorflellen, würben fie 
fpuefen unb niefen unb bauchübet werben. Darum, meine 
Srreunbe, hot uns ber Tiebge in feine Ißaßete getan: bie 
Hefe ber IBeisheit, bie Blüch ber fanften Gefühle, «Rofinen 


66 


unb JRanbeln in nahrhaften Htehlteig gerührt unb ollea 
im $ett ber eblen 6efinnung gebacfen. Urania hot er bie 
braune jJaflete geheißen, unb biefer JTtann aus Oranien» 
bürg fagt euch, mte fchmacfhoft fie ifl! 

Xlrania aber mar jene JTlufe, bie ber Kunfl ben Stern» 
bimmel brachte. Unb biefer Sternhimmel ifl — oergeßt 
bas nicht, meine Sreunbe — bas etngige Sinnbilb ber 
Gmigfeit, bas auch ber Bürger erb lieft. £aßt ihm, ich bitte 
euch fehr, bas braune Gebäcf! Denn feht, er Pann ja nur 
effen; mas foll ihm ber Jrjimmel, ben er nicht oerbaut! Kür 
gmar, mir fönnen trinfen, unb manches JTlal maren mir 
trunfen in feiner unenblichen Tiefe. Dann fonnten mir füe» 
gen, mie bie bunfeln Jtach ff alter tun, unb bie Sternbilber 
maren bie Blüten ber Kielt, mit unfern JUiffeln baraus bas 
6ericht unb Gemürg unfrer einzigen Kahrung gu faugen. 
3Tun feht: hier bringt Urania uns mieber, mas mir ihr 
raubten. Dem Bürger bie braune Paflete, uns aber bie 
ßebtiche Bomle hot ber braoe Tiebge in ihrem Kamen be* 
reitet. Jliecht bodf) hinein in ben Topf! Birgt er nicht mehr 
mie nur 6eträttf für ben Klagen? 3fl er nicht Geifl? S)at 
fich bie hraune haftete nicht herrlich oermanbelt? Unb ifl 
es fein Senbling bes etoigen Kings, uns miebergubringen, 
mas bie Urania in einer Paflete gebaefen ihm nach ©ra» 
nienburg brachte? ©enft an ben tücfifchen Gott, ber in bie 
Seele oon biefem reblichen Ktann hier gefchlüpft ifl, unb 
banft ihm, inbem ihr fröhlich mit ihm feinen Geburtstag 
gu feiern beginnt! Jrjebt euer Glas unb fenft es mit mir oor 
bem Spenber: Urania lebe! Unb fchmenft es mit mir in 
ber Kunbe, barin nun Urania meilt, unb leert es bis auf 
ben 6runb auf biefen Jperrn Bürgermeifler, ber Uranias 
Senbling aus Oranienburg ifl!" 

So fprach ber Kammergerichtsrat unb hotte ben ßöffel 
längfl in bie Bomle gefenff; fo taten banfbar bie Sera» 
pionsbrüber mit ihm. Unb bie oon ben JFenflern unb aus 
ben 6c?en traten hergu unb fenften bie Gläfer unb fchmenf» 
ten fiejierlich, bie Kunbe gu grüßen, unb tranfen fie leer bis 
auf ben Grunb. ©ent aber bie 6hre gefchah, er hotte ben 
Spott unb bie JJreifung gehört mie bos U unb bas D, 


67 


5 * 


unb olles war if>m ous UJirrfal in Einfalt oerflungen. 
3f)m lief eine Xröne mit in fein Glas, roeltf) eine Gärung 
Urania tf)nt auf Öen Geburtstagstifcf) legte: DJenn bte in 
Oranienburg müßten! bacf>te er flolj unb trat auf fein 
Stanbbein jurürf unb neigte fiel) f)öflicf> ttarf) ßnfs unb 
rechts, beoor er fief) fefjte. 


68 


$ ii * Amulett 

Kon 3afob IKaffermann 


vYV^unberbar, ba|3 ein fiebert nicht erltfcftf wie eine 
•4 Stamme ohne Jtahrung, wenn es nichts enthält 
als 3Tot unb JTlühe, feine Sreuben barbtefet, fein Ans* 
ruhen ertaubt, feine Schönheit unb fofl auch feine $off» 
nung hat. Oer JTlenfch ifi ein gebulbiges unb ju (eiben 
fähiges Gefcfröpf unb was er trägt, gebt oft über bas JTtafS 
ber .Kraft btnaus, mit ber ihn bie JXatur ausgefiattet bat. 
llnb viele tragen es unb murren nicht einmal; Griffen fie 
von anbern fiofen nicht ober finb fie ooll oon ihrer BefKnt* 
mung, ba(J ihr Jperj oon jebem Aufruhr frei bleibt unb 
fie fiel) mit fchoreigenber Gelaffenheit in bas bunfel ltnab« 
änberüche fügen? Diefen Gang jum Grabe hin, jum Xobe 
hin, beffen Sinn fie nicht faffen, fo orie ihnen ber Sinn 
ihres armen Dafeins verborgen ifi? 

Chrifüne Schierling xoar aufgetvachfen in fchmuhigen 
Grofjflabtgaffen, hatte Kater unb Jliutter nie gefannt. Grfl 
«rar fie in einem DJaifenhaus gevrefen, bann hatte fie ber 
Kormunb ju fich genommen, bann «rar ber Kormunb ge« 
florben, bann hatte fie Dienfi tun müffen bei einem Her» 
uralter. KJaffer fchleppen, IKäfcfre wafchen, Seuer anjün» 
ben, Äinber warten, Stuben fcheuern, bas «rar ihr Ge» 
fchäft vom frühen JTiorgen bis in bie fpäte Stacht. 

Wev fönnte alle bie Käufer nennen, «ro fie arbeitete, 
alle bie Familien, beren Brot fie af5, alle bie Xreppen jäh» 
len, bie fie auf» unb abgerannt, alle bie Schimpfreben, mit 
benen fie von ihren Verrinnen bebacfrt würbe. Sie wechfelte 
häufig ben P(a|, nicht ber Drang fal «regen, ber fonnte 
fie nirgenbs entgehen, fonbern «Teil ihr oon 3eit ju 3eit 
bo<h ber Gebanfe fam, fie fännte ihre Sage oerbeffem. 

Dies erwies fich aber als eine trügerifche Hoffnung. Die 


69 



Großbürgerin mißtraut einer JTtagb, bie beim .Kleinbürger 
war, unb fo mußte fie immer toieber bei ben geringen £eu» 
ten llnterfcfjlupf furfjen. Bbtoeilen mären es gute £eute, 
bisroeiten fcfjlechte, je nacf)öem. Bismeilen blieb man ihr 
ben £of>n fchulbig, bistoeilen mußte fie ^ungern. Oort 
toaren .Kinber, bie fie quälten unb boshaft oerfolgten/ bort 
Aftermieter, bie unoerfchämt mürben, menn fie am Abenb 
nach Jpaufe Pamen. Da mar bie $rau PranP, bort mar fie 
eine JTtegäre, ber man nichts recht machen Ponnte; ba mar 
ber JTtann ein Saufbolb, ba betrog er feine 6f)ef)älfte mit 
anbern JBeibem, unb es gab beßänbig 3anP unb Streit. 

3 i)V maren alle Arten non 3Ttenfcf)en bePannt unb alle 
Arten bes 3ufammenlebens oon JHenfrfjen. Sie Pannte bie 
oerfcfjämte Armut, bie trag iß, unb bie fleißige, bie jebent 
Angriff bes Srf)i(ffals tro0t. Sie hatte Siebe gefefjen unter 
erbärmlichen Xrümmern ehemaligen Glücfs, unb ^aß, ber 
jeben £uftf>auch oerpeßef, ben irjaß gmißhen üater unb 
Sohn, jroifchen Jltann unb BJeib, gmißhen Bruber unb 
Schmeßer. Sie Pannte bie Sprache bes Jteibs, bas Gift 
ber Berleuntbung, bie Jlaferei ber Berjmeiflung, bie 
Stummheit ber JTtelancholie unb bie Schauber, bie bas 
Berbrecfjen umgeben. 

Sie mar bei einem 3ucPerbäcfer gemefen, bei einem 
Schuhmacher, bei einer Äupplerin, bet einem oerPrachten 
SabriPanten, bei einer Hebamme, bei einer XrafiPantin, 
bei einem BranntmeinfchänPer. 3n manchen Xräumen er» 
ßhienen ihr bie Käufer, in benen fie gemeilt hotte, aber 
nicht eines ums anbere, ober jetjt biefes, bann jenes, fon* 
bern alle auf einmal, in einer alpbrucPhaften BerPlamme» 
rung, Bienengelten gleich. ©a fah ße enbios oiele Stiegen 
unb enbios oiele Xüren. 6s herrfdjte Geruch oon Betten, 
oon Sett unb oon fchlechtem .Kaffee. Beßänbig mar £ärm, 
überall mar £ärm. Singen, Pfeifen, ^ämmem, Schreien 
unb £achen; Säugüngsgemimmer unb jpunbegebell, Pot» 
tern unb Schaufeln, Slucfjen unb Stöhnen. Xlnb alles mar 
ohne Sonne unb ohne Jpintmel. 

3n einem Bett hatte fie feiten gefchlafen, meiß auf einem 
Strohfacf ober einer 3Ttatra£e neben bem $erb. ©a Proch 


Ungeziefer über ihre j?änbe unb bas Gefichf, fobalb es 
finfler war. Einen Jlaurn für fich hotte fie nur bei bem 
Sabrifanten gehabt, ober bas war ein elenber üerfchlag 
in ber TTCanfarbe gewefen, wo ber DJinb hereinblies unb 
in falten Hätten bas J^erj im £eibe fror. 

3roifcf)en ihrem gwangigfien unb einunbgwangigßen £e* 
bensjafjr hotte fie bei einem JTiajor gebient. Er würbe 
Jperr JTtajor genannt/ ln DJirfltchfeit war er ein herunter» 
gefommener alter JTTann, ber fich burrf) Meine Agenturge* 
f«hafte ernährte unb außerbem eine fümmerliche fJenfion 
genoß. Solang er gefunb war, hörte fie fein freunbticfjes 
DJort oon if>m; als er aber franf würbe unb Cfmßine if>n 
pflegen mußte, würbe er fleinlaut, unb wenn fie fortging, 
jammerte er um fie, bis fie wieberfam. Chrißine hörte feine 
Atagen an unb fah, bafi es mit ihm gu Enbe ging. Dis er 
feinen lob nahe füllte, rief er bas JTtäbcfjen an fein Bett 
unb fagte gu if>r: „Gott lohne bir, was bu an mir getan 
fjaff. 3rf) fann’s nicht. Damit bu aber nicht gang teer oon 
meinem Sterbebette gehß, will ich bir bas Amulett f<hen» 
fen, bas mir meine felige JTlutter umgehängt ho t, als ich 
in ben «Krieg gegen ble 3taliener gog. Dielleicht bringt es 
bir mehr Glücf als mir." Bei biefen DJorten griff er unter 
fein wollenes Jrjetnb, öffnete ben Berfcfßuß eines Stahlfett* 
chens unb brachte eine JTTünge gum Dorfchein, bie an bem 
«Kettchen hing« Sie war fo groß wie ein Gulbenßücf unb 
hatte eine grünfpänige Sarbe. Chrißine bebanfte fich. Gleich 
banach houchte ber JTtajor feinen testen Seufger aus. 


Seitbem trug fie bie JTtünge beßänbig auf ihrer Brufl. 

3ef>n 3af>re fpäter erreichte fie enblich eine höhere Staffel 
be9 fog’talen Sebens; fie trat bei einem jübifchen Ehepaar 
in ©ienß. ©er JTtann hieß Simon Saubefeber, war ur* 
fprünglich ^aufierer gewefen, bann hotte er es gu einem 
«Rleiberlaben in ber äußerßen Dorßabt gebracht, wo er bie 
5abrifarbeiter mit billigen Angügen oerforgte, unb oor 
furgem hotte er in ber Stiftgaffe ein Gefchäft errichtet, bas 
fich DJarenhaus gum «Ratfer oon ößerreich nannte, ©ie 


7 1 


£eufe toaren finberlos, es gab nicht übermäßig otcl Arbeit 
bei ihnen, auch toaren es ruhige ÜTlenfchen, uni» Chrcfiine 
erfuhr oon ihnen eine anftänbige Behanblmtg. Aber bas 
X0icf)tigfie toar, bafj fie ihre eigene Kammer erhielt. 

Sie fchmücfte bie fahlen HJänbe mit 31luflratconen aus 
3eitfchriften; ba hing ber Äronpring Jlubolph/ ber Sürfl 
Bismarcf mit bem Jleiihshunb Tpras unb eine ©arfiellung 
ber Seef(hlacht bei Trafalgar; bie Silber toaren mit JTägeln 
befefiigt, unb jtoifchen XOanb unb Papier ragten fleine 
Tannenreifer unb oergilbte Blumen heraus. Über bem 
Bett hing bie Photographie bes Jttajors; fie geigte ihn als 
jungen Seutnant unb toar ebenfalls mit BlattwerP um* 
fränjt. Sin hochbeiniges Tifchchen toar mit einem £innen 
bebecft, unb barauf lagen, tiebeootl georbnet, allerlei An» 
benfen unb Gefchenfe aus früherer 3eit, ein Pfirfidf) aus 
UJad)3/ ein Singerhut in einem rotfeibenen Behälter, ein 
Porjellanjtoerg, ber unter einem Pilg Pauerte, ein Gebet» 
bu<h mit gotbenem Äreuj unb eine .Kette gelber Glas* 
perlen. 

3utoeilen, toenn fie au9 bem £att9 ging, um GinPäufe 
ju ma<hen, begegnete fie im Slur ober auf ber Stiege einem 
Sotbafen, einem Äorporal oon ben ©eutfchmecfiern. Gr 
hatte einen fchtoarjen aufgebrehten Schnurrbart, bicfe £ip» 
pen, ein gutrafiertes runbe 9 Äinn unb munter glänjenbe 
Augen. Als fie ihn bas jtoeite 3TIal fah, falutierte er, beim 
brüten 3TIat lachte er fie an, beim oierten JITat begann er 
ein Gefpräch/ unb fie erfuhr, bafj er feine Schtoefler be» 
fuchte, bie in bem j?aus toohnte unb mit bem Schtoerfuhr» 
toerPsbefiher Grieshacfer oerheiratet toar. Gr hiefi Äaliyfu 9 
3off, hotte fich bei ber Truppe aPtioieren laffen unb hoffte, 
es balb jum Selbtoebel ju bringen. 

3Tach unb nach tourbe ChrifRne gutraulich, unb fie oer» 
abrebeten für einen Sonntag einen gemeinfamen Spanier» 
gang. Sie fuhren nach Sieoering, gingen burch ben Srüf»* 
lingstoalb nach DJeibfing unb Porten bei anbrechenber 
CunPelheit ju Sufi in bie Stabt gurücP. Oer Korporal hatte 
fich mit feiner Sdhtoefler unb beren JTtann oerabrebet, fie 
traten in ein Pleines IBirtshaus unb nahmen an einem 


72 


Xifch piaf}, an bem fcfjon acfjt ober gehn perfonen faßen. 
Chrißine fannte $rau Grieshacfer oom Sehen, fte fe^te 
fidf) neben fte «nb grüßte fcfjücfjtern. Oer Korporal führte 
halb bas große XDort unb geriet mit 6riesf)arfer in einen 
feigen Streit barüber, ob ber Saljburger Schnellzug in 
ber Station JTeulengbach hielt ober nicf)t. 

Auf bem JTachhoufetoeg ging £aliftus 3off mit 
Chrißine Arm in Arm, unb unter bem Schuh ber Ounfel» 
heit nahm er fitf) einige täppifcfje 3ärtlicf)feiten heraus. 
Chrißine aber mar mübe, benn es war bie erße fhmben» 
lange DJanberung, bie fie feit oielen fahren gemacht hotte. 
Oie Augen fielen if>r fcfjon unterm Tor gu, unb als ber 
Korporal junt Abfchieb einen «Kuß oerlangte, gehorchte fie, 
ohne fiel) babei toas ju benfen, unb füßte ihn auf bie biefen 
Sippen, fo baß ber Schnurrbart fie unter ber JTafe Adelte. 
Srau 6riesfjacfer lachte, ber Schwerfuhrwerfer pfiff be« 
beutungsooll. 

Sange 3eit ging Chrißine mit bem «Korporal, ohne baß 
fie feine Geliebte toar. 6r ßeuerte natürlich auf biefes 3iel 
los; fie toiberßanb, nicht toeil fie Angß gehabt hätte ober 
irgenbtoelchen Preis auf ihre Eingabe fe^te, fonbern toeil 
fie nach bem, toas ihm fo begehrenswert fchien, nur ge» 
ringes Oerlangen hegte. 

Äaliftus 3off ärgerte fich; er fagte, fie holte ihnt jum 
beßen, unb brohte, bie jreunbfchaft abzubrechen. Ooch 
fam er immer toieber, febesmal mit neuen Angriffswaffen. 
6r prahlte mit feiner JRannliifjfett, beutete geheime Oor» 
Züge an, bie er befaß, unb fprach oerächtlich oon anbern, 
bie nur fo ausfähen, als ob fie ganze «Kerle toären. BJenn 
bann Chrißine oerficherte, fie glaube ihm, unb tro^bem 
unempfinblich blieb, tourbe er rabiat, legte bie rechte $anb 
auf bie «Rocfbruß, bie linfe an ben Griff bes Seitengewehrs 
unb fchwor, fie müffe bie Seine werben, ober er werbe fich 
unb fie erfchießen. 

Ste geigte oiet «Ruhe, wenn er tobte; bas imponierte 
ihm. Es hotte *« »hm hte Jftemung gebtlbet, ihre $aTt» 
näcfigPeit fei auf ihre früheren Grlebniffe im Oerfehr mit 
JRännern jurüefjuführen, unb er tat, was ihnt möglich 


73 



toctr, um fte ju überzeugen, baß er für feine Perfon eine 
Ausnahme non ber «Regel fei. Groß war baljer fein Cr» 
ßaunen, als er feinen 3rrtum einfefjen mußte unb erfuhr, 
baß es ficf) mit ihrer XJergangenfjett ganj anbers oerhielt. 

£s war an einem Sontmerabenb, unb fie gingen oom 
«Kahlenberg burch bas ^ügelgelänbe gegen Jlußborf ju. 
Por i^nen unb hinter ihnen gingen £iebespaare; manche 
fangen/ manche flüßerten, unb juweilen oerfchwanb eines 
feitab vom BJege. flus bem Xüalb, oom «Ranb ber DJein« 
berge unb aus ben zahlreichen Schenfen tönten bie Stirn« 
men fonntäglicf) forglofen Bolfes. Oer Tltonb (Heg über 
ber Stabt empor, bie £uft war fchwül. Oa geriet Cfirißine 
langfam ins Erzählen, ihre 3unge löfie fich, ihre bumpfen 
Sinne entwanbten fi<h einer Seffet, bie feit ber «Kinbheif 
nicht oon ihr gewichen war, fie erzählte oon ihrem £eben, 
unb wo fie überall gewefen, unb wie fchwer fie es gehabt, 
«ftalijtus 3off hörte juerfl mit gutmütiger Jrjerablaffung 
gu, als aber bas, worauf er wartete, immer noch nicht 
Konnten wollte, entfchloß er fich, feiner Hngebulb unb 
ihrer Uergeßlichfeit burch eine berbe 5rage ju helfen. Sie 
antwortete fopffchüttelnb, mit beriet habe fie fich niemals 
abgegeben. 6r fht^te, blieb flehen unb fchaute fie mit offe» 
nem 3Tlunb an, benn ber Gebaute an eine fotche JTlög* 
lichfeit war ihm nicht bloß neu, fonbern im erflen flugen» 
blicf auch unbegreiflich; fo unbegreiflich, baß er fich mit 
einer geringfchähigen Gebärbe bagegen ßräubte unb nur 
bie bunfle Iraurigfeit ihres HJefens unb ihrer Stimme 
ihn oerhinberte, feine 3weifel energifch ju äußern. 

Sie wieber begriff feine lleberrafchung nicht, ba fie hoch 
bas Bewußtfein hatte, weber je gelogen noch fich o er (teilt 
ju haben, „fleh ja," fuhr fie fort, „man fieht gar manches, 
mehr ab einem lieb iß, unb bie £uß oergeht einem." 

©aran lag es bei ihr, am 3uoielfehen; unb bas fleh war 
berebt genug. Ufo fie gewefen, waren bie lüänbe bünn, 
bie «Riegel roßig, unb feiner fchämte fich oor bem anbern; 
^eiliges würbe grobe Jlotburft, 3arfeßes graufamer 
3wang. PJenn fie ß<h umfchlungen hielten, wie etenb wa» 
ren fie ba noch, wenn eine Jtacf)t fie über bas Gemeine 



hob, tote freublos toaren fie fcfjon in Öer nächßen. j^ocf^eit 
war tote tob, fielen bie Schleier; Geburt ein Grauen, lims 
6elb hoberte, am 6elb flebte, am 6eib oerbarb alles; ohne 
Gelb toar junger, Gntfe^en, üergwetflung unb JKorb. 
Ginmal toar neben ber £Ucf>e, too fie fcf)lief, eine JJroßi» 
tuierte erflogen toorben, bie fich fjunbert fronen gufant« 
mengefpart hotte. Chrißine batte bas 6eficf)t ber Getöteten 
gefe^en; fo oiel Siebesoorrat fonnte in feinem JTCenfchen 
fein, baß nach biefem flnblicf Hoffnung, unfcfjuibige Gr« 
toartung, heimlicher 6laube hätte lebenbig bleiben fönnen. 
Cs toar bie aufgeriffene Schwärze ber Unterwelt, bas un» 
abtoenbbare üerfjöngnis felbfi. 

fluch bies erjäf)lfe Cfjrtffine in ihrer einfachen flusbrucfs« 
toeife; unb toie fie nachher oor Gericht hotte ausfagen müf» 
fen unb ihr bie 3eugenfd>aft ihrer ifjerrin, ber Äupplerin, 
oerberblich geworben toar. Da hatten fie eines flbenbs jtoei 
3uf)ätter auf einen Bauplab gelocft unb auf fie eingefchla« 
gen, baß fie bis jur Jltttternacht im Blut gelegen toar. 

ßalqrtus 3off toar allmählich fleinlaut geworben. Gr 
fpürte bie UJahrheit, ja noch mehr, er fpürte, bafi biefes 
JTIäbchen unwahr gar nicht fein fonnte. Cs befiel ihn eine 
Ahnung, baß fie fo hoch über ihm ßanb, wie er bisher ge« 
wähnt hotte, über ihr ju flehen, unb es würbe ihm ein 
wenig bange inmitten feiner folbatifcften Größe unb Ge» 
walt. 

Sein Schweigen rührte Chrißine, benn fie erriet ben 
Grunb. „3<h möchte noch nicht heimgehen/' bat fie plöblich 
unb fchaute fich um. Sie waren im Gifer ber Unterhaltung 
oom Sauptweg abgefommen, unb es war nun ganj ein» 
fam um fie. Der JHonb war ins Gewölfe gefchlüpft, tief 
in ber Donauebene büßten bunßumflort bie Sichter ber 
Stabt; Chrißine ließ ficf) ins Gras nieber, «ßaltytus fe£te 
fich neben fie unb fing an, teife unb melobifch ju pfeifen. 
„Du fannß’s aber gut/' fagte Chrißine. — „3a, bas hob 
ich gut gelernt", erwiberte er unb lehnte ben «Sopf an ihre 
Bruß. 

* * 


* 


75 


Ungefähr bis gegen EJethnachten gelang es Chrifline, 
ihre S<htoangerfd)aft gu oerbergen. Als Srau Eaubefeber 
merfte, tote es mit if)r (lanb, nahm fie fie ins Gebet, aber 
Chrifline blieb eigentümlich oerflocft. Sie gab gu, toas nicht 
geleugnet toerben fonnte, fonfl aber toar toenig aus ihr 
herausgubringen. Xßofrin fie gehen toollte, toenn ihre 
Sfunbe fam, toufjte fie nicht, unb gutgemeinten Jlat toies 
fie ab. 

Die Seute im Jrjaus unb auf ber Gaffe betrachteten fie 
neugierig; in manchen Blicfen las fie JTCifleib, in manchen 
irjohn. Äalijtus 3off toar im Anfang ziemlich beflürgt ge« 
toefen, als ihm aber Chrifline toeber Bortoürfe machte/ 
noch ein unglückliches Geficfjt geigte, noch Selb oon ihm be« 
gehrte, oerfchtoanb feine Sorge, unb er toar Chrifline auf« 
richtig banfbar für ein Benehmen, bas ihn fogar bes 
3toanges enthob, bie JTCiene flechten Getoiffens gur Schau 
gu tragen. 

3n einer Stacht im JTlärg gebar Chrifline einen Knaben. 
Am Abenb, ats fie bie erflen Schmergen gefpürt, toar fie 
gu einer Jpebantme in ber JTachbarfchaft gegangen, mit ber 
fie fith ein paar läge oorher fchon oerflänbigt hotte. Gleich 
als fie fam, mußte fie fünfgehn Äronen erlegen, bann 
burfte fie bableiben, unb bas XGeib richtete ihr ein Säger 
her. 

Bier Tage toar fie bettlägrig, bann fagte bie Hebamme, 
bafj fie nun toieber gefunb fei unb aufflehen fönne. Sie 
flanb auf, fühlte fich aber noch recht matt. Ben Säugling 
mufjte fie einfltoeilen bei ber 3rau laffen; am Sonntag 
follte fie herüberfommen, unb bann toürbe man Jlat hol« 
ten, toas mit bem Äinb gu gefchehen höbe. „UJie toirbs 
benn heißen?" fragte bie Jpebamme. Chrifline ertoiberte, 
es fotle gofeph heißen. 

Ourch bie Bermittlung ber Sjtbaxnmt tourbe eine 5rou 
in Crbberg ausfinbig gemacht, bie bereit toar, bas Äinb 
gegen ein geringes Entgelt in Äofl unb Pflege gu nehmen, 
©ie Jpebantme brachte es felbfl hin, unb am Sonntag bar* 
auf ging ChrifHne mit bem Aorporat nach Erbberg, um fich 
gu oergetoiffem, ob bas Äinb in guten Jjjänben fei. ©ie 

76 



$rau, bie es fjatte, toar eine 1Bäfcf)trin, unb fie gefiel Cf>ri* 
fline gong unb gor nicf)t. Sie f>atte felber oier Heine Äin» 
ber, unb *ie IBofmung toar fcfjmu^tg unb büfler. 

3toei löge fpäter ging Cfmftine toieber nacf) 6rbberg. 
Df>ne oiel gu reben, forberte fie ber IBäfcfjertn bas Äinb 
ab unb naf)m es mit gu Saubefebers. 6s fcfjrie aber bie 
gange Jiacfjt erbärmücf), Simon £aubefeber tourbe im 
Scfjlaf leflört unb oerbot, bafj ber Säugling im ^aus 
bleibe. Da mußte ftcf) Cfjrißine nacf) einer anbern Unter* 
funft umfefjen; fie erinnerte ftcf) oon einem früheren 
©ienßplafc f>er einer Gärfnerstoitroe, bie if>r einige Sreunb* 
licfjfeiten ertoiefen fjatte, gu ber ging fie f>in, unb bie toar 
aucf> willens, an bem Äinb gegen eine mäßige Vergütung 
JTiutterfielle gu oertreten. 6s tourbe getauft, bas Gericht 
beßellte if>m einen Borntunb, Äaliftus 3off f)ätte Alimente 
galten müffen, fjatte aber fein Gelb, unb fo mußte Ctmflme 
alles aufbringen. 

©a bie Gärtnerstoitoe nicfjt toeif toofjnte, lief fie f)äuftg 
am Abenb f)tn, um ficf) nacf» if>rem Qofepf) gu erfunbigen. 
©ent Anfcfjetn unb ben XBorten ber 5rau nacf) fjatte ficf) 
bas Äinb über nichts gu beflogen, aber jebesmal, toenn 
Cfjrißine es faf), gog ftd) if>r £erg gufammen, benn es faf> 
f<f)lecf)t aus, 1>atte eine gelbe ijjaut unb trübe Augen. Als 
ein oerfloffen toar unb bas Äinb gu fränfeln begann, 
gab fie es gu einer Butterf)änblerin nach Jpe&enborf, einer 
Srau Tomafef, unb bort blieb es aucf>, benn fie toar beffer 
als if>re Borgängerin unb fjatte ein wenig £iebe für bas 
beimatlofe TBefen. 

* 

3Tacf> toie oor führte ber Äorporal Cfjrifline geben gtoei* 
ten Sonntag aus, aber aufs £anb gingen fie nur nodj fei» 
ten, trotjbem ficf) bies Cf>rißine am meifien toünfcf)te, fon» 
bren fie ßatteten guerfl bem 3ofepf) einen Befucf) ab, unb 
bann ßrebte Soff gu einer Kneipe am Beubaugürfel, too 
er getoöfjnHcf) feinen Sreunb, ben Srifeur Poliofa, traf. 

Poltofa unb 3off Ratten ficf) in einer Tangbube im J3ra» 
ter fennengelernt; es toar nocf) nicfjt lange fjer. Sie f>atten 


77 


ftrf) um ritt JTtäbel geganft, tote Äaliytua gong offen Cf)ri> 
ßine ergäbtte; aber bann batten fte gefeiten/ baß an bem 
Jftäbel nichts Befonberea toar, ba batten fte Trieben ge* 
fcf)loffen, waren gufammen weggegangen/ unb fo, beim 
Scf)lenbern in ber OTacfjt, batte jeber bea anbern Jrjerg ent» 
beeft. 

Oer Srifeur Poliofa lag bem Äorporal beflänbig in ben 
Obren, er folle botf) bas iotbatenleben aufgeben, unb baa 
war ber Grunb, weshalb Chrißine, bie ben JTtann anfangs 
nicht batte (eiben fömten, ifjn allmählich mit günßigeren 
flugen betrachtete. 6s würbe oiel ftirt* unb (»ergerebet über 
ben Punftj aber <£att;tus 3off war ber Stimme ber Ber* 
nunft ungugängticfj. 

Gr fagte, er fei nun einmal gum Solbaten geboren, er 
fei es mit £eib unb Seele. Poliofa, ber unter feinen Be* 
fannten für einen belefenen unb gebilbeten .Kopf galt unb 
fid) auch bemgemäß ausgubrücfen wußte, hielt ihm ent* 
gegen, baß, wie bie 3eiten befchoffen wären, baa Solbat* 
fein bloß als eine müßige Spielerei angefehen werbe, unb 
baß ein JItann oon .Ralijtua 3offa PörperÜchen unb geißi* 
gen Gaben, f>ier gwinferte polioPa ber aufmerffam (au* 
fthenben Chrißine fcf;tau gu, in jebem anberen Sa<h Gr» 
PlecPKchea (eißen, ja Jogar gur Ätobtbabenbeit gelangen 
Pönne. 

„Oaa nu(jt euch alles nichts," antwortete Äalcjrtus 3off, 
hüb trag bea «Raifers «Kocf, unb babei bleibf’s. llnb wenn 
ber Äaifer nicht Solbaten brauchen täte, fo hätt’ er uns 
fchon felber abgebanft. XBarum foll ich mich bie gange 
B3o<he um ein paar läufige Äronen fchinben? JItein Bett 
unb meine JITontur hob ich, mein jreffen unb Saufen 
hab ich, unb außerbem ßell ich auch ®as oor. So bli0* 
ftmber fühlt ficf) Peina wie unfereiner, wenn man am 
Sonntag aus ber Äaferne gu feinem Schah fpagiert." Gr 
faßte Chrißine berb um bie Schultern unb gwicfte ihren 
flrtn, baß fie auffchrie. „llnb bu, PolioPä," wanbfe er ßch 
an ben jrifeur, „geht’s bir benn gar fo großartig, froh? 
bem bu bie IBeisheit mit Eöffeln gefcblucft haß?" 

78 


t 


„3a, Ja, fcfjon," gab PolioPa etwas betreten ju unb 
ßrid) fid) feine Piinßterifcf) gelobten Spaarbüföel aus ber 
Stirne, „aber bas ift meine eigene perfönlicf)e Stfjulb fo» 
jufagen. XDär id) nichts weiter als ein Barbier, fo fy'ätt 
icf) fcbon längfi meinen £aben auf ber Jlingßraße unb ein 
f)alb 0u0enb Gehilfen unb eine Srau Gemahlin. Aber id) 
bin {>alt ju ettoas ^oberem geboren, fjab meine Antbi« 
tionen, Sortuna bat mir nicf)t bas Seifenbecfen unb bas 
Aafiermeffer in bie BJiege gefegt/ 7 6r ßtt£te bas £aupt in 
bie J?anb, unb feine Meinen, oerlebten Änopfaugen bücften 
melanrf)olifcf) ins £eere. 

Cbrißine oerßanb feine «Rebe nicht. 6s toar if>r aber be» 
ßirnrnt, baß fie if)n beffer foltte begreifen lernen. 3n ber 
jweitfolgenben KJoifje bePatn fie ein rofenrotes Brief eben, 
bas feine llnterfcbrift trug, unb worin er fie unb Sreunb 
&ali;tus ju einer am Sonntag flattfinbenben Xbeaferoor« 
ßellung bes Hereins „Scbtoarjamfeln" einlub. 6s follten 
bie „Jläuber" gegeben werben, unb PolioPa batte bie 
Äolle bes Äarl barjußellen. 

3ur bejeidmeten Stunbe fanb fief) Cbrißine mit «Ralijtus 
in ber „Golbenen Birne" ein. 0a fie niemals guoor in 
einem Ibeafer gewefen war, machten fcf)on ber Saat, bie 
oielen £icf>ter, bie gepulten Iltenfcben, ber gemalte Borbang 
einen tiefen Ginbrutf auf fie. Als ber Borbang aufging 
unb bas Stücf begann, als ein «Raum ficfjtbar würbe, ber 
bis je£t oerborgen gewefen, unb ficb in if>m frembartig 
ausfetjenbe, frembartig fpreebenbe JTienfrfjen bewegten, ba 
paefte fie unwillfürlicf) Äalijtus’ Arm unb feufjte oerwun» 
bert unb erfcf)ro<fen. 

6s bauerte gientlicb lange, bis if>r bie $anblung ju Sinn 
unb Bilb erwuchs. Allmäblirf) faßte fie bas Geßbeben auf, 
unb i^re atemlofe Teilnahme wanbte f id) oöllig bem un* 
glücf lieben unb berrßeben Äart 3Tloor ju. Als er auf bas 
Pobium trat, gewaltig, in einem Jjjut mit nicPenbet jeber, 
mit bti^efcfjleubernben Augen, bie Arme wie BJinbntüfjlen* 
flttgel warf unb mit einer Stimme, baß bie £uft erbebte, 
gegen bie 3Tienfif)beit raße, ßieß -Raliftus Soff Cb rißine 
an unb tüftelte if)r ju: ,,©as iß er. 0as iß ber PoßoPa." 


79 


Chrißüte formte es formt glauben, ©ocf) tn ber Gr» 
fcf)ütterung ihres Gemüts lößen ficf) 3meifel unb Staunen, 
unb gegen bas Gnbe bes Stücfs fonnte fie bie Tränen 
nicht mefjr jurücfhatten unb fchluchgte fo, baß bte £eute 
ftcf> nach tfjr umbref)ten unb ber Korporal tn Berlegenheit 
geriet. BJährenb bes Ausbruchs oon Sthmerj mürbe if>r 
rounberlich mof)l; es fam ihr buntpf ju Bemußtfein, tote 
feiten fte gemeint hotte, ja, fie erinnerte ficf) eines folgen 
Falles gar nicht, unb fie entpfanb etroas mie Genuß unb 
Jreube babei. 

„Atfo je 0 t merben mir uns ben Poltofa holen", fagte 
Äalijtus 3off natf) bem fünften Aft taut, irtbent er ficf) 
erhob unb ßotg um ficf) bliifte, als mode er bem ganzen 
Publifunt 3 U oerßefjen geben, baß er ber Jreunb bes f)Ocf>« 
bemunberten Äünßlers fei. „Jarnos hat er feine Sache ge* 
macht, famos. Gute £unge, ba fönnt ifjn ein General brum 
beneiben." 

Chrißine moltte nach $aufe gefjn. Als Ausrebe fagte 
fie, if>r fei fcf>lecf)t, unb ba Äaltyfus 3 off ungehalten mürbe, 
bat fie bringlicf) unb f «haute if>n flef>enb an. Gr jucfte bte 
Acfjfeln unb ließ fie flehen. JUit feiner tärmenben JRunter» 
feit manbte er ficf) ju einer 6 ruppe oon Befannten potio* 
fas, unb alsbalb trat aucf) biefer hmju, mieber in feinem 
alltäglichen Gemanb, abgefchminft unb ein menig bleich 
im GefidF)t. Gr brücfte allen bie jrjanb unb lächelte eitel. 

Jroh, ihn noch gefehen ju hoben, eilte Chrißine hmmeg. 
Auf ber Straße mef>te ein falter BJinb. Sie fpürte ihn 
nicht. 3f»r 3nneres mar marm oon Berehrung, oon einer 
neuen «Kraft, einer neuen Sehnfucht 


Potiofa merfte bie Beränberung tn Chrißines IBefen, 
beutete fie aber anfangs falfch. „Xöas iß benn mit beiner 
Chrißin, marum iß fte benn fo bös auf mich?" erfunbigte 
er ficf) eines Tages bei «Kaliytus 3off. 

„TKe Chrißin? Bei ber f>oß bu mas Schönes angericf)fet 
mit ber Äontöbi", ermiberte ber .Korporal; „bie iß ganj 
meg feitbem, ganj meg, fag ich bir/' 


80 


©a ging bem Jrtfeur ein £tcfjt auf« 

Xtnb er fcfjaute fich Chrißine genauer an. Sie mar nicht 
Übel, ung eadftet ihrer breiunbbreißig 3af>re. 3f)r flufpuh 
unb if>r Gefaben freilief) waren unfefjeinbar und altgu be» 
frfjeiben, unb if>r Gefickt mit ben weichen £ippen unb ben 
traurig btiefenben flugen war angiehenber, als man es 
fonß bei biefem Stanbe finbet. 

potiofa oerfpürte £uß, eine Erwartung gu erfüllen, 
beren Gegenßanb feine, au cf) non ihm felbfl oergötterte 
Perfon toar. UTtit angenehmem Stäuber malte er fief) aus, 
baß er in bem ©afein ber armen ©ienßmagb bie «Holte 
bes jperrfcfjers fpieten würbe, unb wäfjrenb er bie Bart» 
floppetn feiner Äunben einfeifte, fcfßoffen fief) feine flugen 
poetifd) träumenb. ©aß er, um Chrißine gu gewinnen, ben 
Jreunb hintergehen mußte, oerurfachte ihm weiter feine 
Sfrupel. 

BJie groß war baher fein Berbrüß, als er bei bem erßen 
Schritt, ben er gegen Chrißine unternahm, eine fcfmöbe 
3urerf)tweifung erfuhr. Sie fah ihn erßaunt an, unb er 
war ooflfontmen eingefchüchtert. flm nächßen Sonntag be« 
grüßte ihn Äatiytus 3off mit einem freunbfchaftHrfjen 
JUppenßoß unb rief tacfjenb aus: „Potiofa, bu biß ein fat» 

S fjer 3?unb." ©er SFrifeur würbe oor Bertegenf>eit unb 
rger grün unb getb unb gerbrach ß<h ben «Kopf, was er 
nun anfangen fotle. ©er Äorporat fdh'ten bes Jltäbchens 
oerbammt ficher, anbererfeits toar Chrißine pfö^Itcf) im 
IBert geßiegen, ba er fie burchaus nicht fo wütig gefunben, 
wie er geglaubt hotte. Gr begog alfo einen Poßen im J?in» 
terhatt unb befchtoß, bie Sache oorfühtiger angupaefen. 

©och feine Gebutb würbe auf eine horte Probe geßettt. 
Cr hotte Chrißine burch feine grobe Annäherung oerte^t. Cs 
war ein 3wiefpalt in ihrem Gefühl für Potiofa; fein Bitb 
war ihr etwas Xöeiheoottes unb ©eures; wenn fie an ihn 
bachte, würbe ihr bie Bruß weit unb bie Seele warm; 
feine perföntirfje JTähe aber erfchrecfte unb enttäufchte fie, 
unb fie fuchte bann ben anbern Potiofa, oon bem fie 
träumte. 3hrent Äalijtus bie ©reue gu brechen, bas fam 
ihr bei attebem gar nicht in ben Sinn, fln biefen JTtamt 


6 Die beutfSe SobeHf. 


81 


hielt fle ficf> für gebunben, fo lange, bis er felber ße oon 
fich ßieß. Sie wußte, baß er femerfects es mit ber Treue 
nidfjt genau nafmt, aber fie richtete nicht barüber, fte maßte 
fich nicfjt an, barüber gu richten, fie betrachtete ficf) als fein 
Eigentum, über weiches er tierfügen tonnte nach feinem 
IBillen, ja, nach feiner £aune. 

3nbeffen tarn bie 3eit, wo ber «Raifer, wie Äaltyfus Soff 
es gefagt, feine Solbaten brauchte, ©er Erghergog»Thron* 
folger war ermorbet worben, unb bie Serben forberten bas 
Jtelcf) h^aus, forberten bie BJelt heraus, llnb ber Duffe 
machte mobil, ber Snglänber ßanb brohenb auf, unb alles 
£anb, bas folange Öen Srieben beherbergt hatte, fchauberte 
in ber Ahnung millionenfachen Tobes. 

©a mußte benn enbtich auch ein Poliofa begreifen, was 
ber Soibat iß, unb wogu er frommt, ©enn alle anbern 
begriffen es gleichfalls, ihr ganges Der trauen wanbte fich 
bem Derteibiger ihres 6utes gu, ber nun felber feiner Be» 
ßimmung inne würbe unb, nach altüberlieferter XBeife, 
ben .Krieg als ein fröhliches Abenteuer gu nehmen ß<h an* 
fchicfte. ©aß bies Außerße fich ereignen fönne, war ihm 
freilich nie in ben Sinn gefomnten, unb bett Ernß bei« 
©inge faßte er noch nicht. Am bangßen war ben Srauen 
gumute; um ihre bergen bunf eiten fchon bie Schatten ber 
outunft. Ein ßhmergtiches Erßaunen war in ihrer Seele, 
unb unbewußt fonberten ße ihr Tun oon bem ber JTtän» 
ner, bas ihnen geheimnisoolt unb freoelhaft bünfte. 

Es würbe mancher gum gelben, ber fleh einer folgen 
XDenbung nicht oerfehen batte, unb manche £iebe würbe 
wteber neu, bie oon ber Gewohnheit ausgetilgt fehlen. 3n 
einer Dacht, bie Chrißine ohne gu fchtafen oerbrachte, fliefte 
ße bie IBäßheßücfe, bie Äalijtus Soff mit ins Selb nahm. 
Er hatte Eile, benn bas Regiment follte fchon am folgenben 
Tag auf bie Bahn marßhieren. Sie hätte oiel mehr für 
ihn tun mögen, unb wenn Uebenber Dorfah Säben feßer 
Bnüpfen fönnte, wären bie $emben unb Tafchentücher un* 
gerretßbar geworben. 3®/ ihr war bang gumut, unb ihr 
Serg war umbunfelt; hoch gebachte ße mit Jlührung bes 


82 


JTlanries/ an beffen Sef)i<ffal eingig bas ihre bing> unb ber 
nun ausgog, viellei d>t auf JTimmercvieberfebr. 

fluch fie batte in feinem Berufe niemals bie Gefahr ver» 
mutet, im entfernteren nicht. Gin fo leichtes £eben, fo forg* 
los, fo fpagiergängerifch; unb ba9 ihre baneben, tote hart, 
voller Plage, voller Gram. Sie batte es ihm Übelgenom* 
men, baß er fo in bie Hielt bineinlacbte unb nicht fäen unb 
ficb mühen cvollte; unb je0t follte es ihm vergolten tverben; 
von einem Tag auf ben anbern fonnte es aus fein mit 
ihm, bie Äuget xvar fcfjon gegoffen, bie ifjn treffen fonnte, 
unb traf fie ihn, tvie gut bann unb gerecht, baß ihm fein 
Äummer bas Öafein gefcfjroärjt batte. 

Sie fagte fief) tvof)t gebnmat vor: icf> tvill ihm bie Treue 
batten. IBarum nur? Sie batte feinen böfen Gebanfen ba» 
bei, fi<b fürchtete ficb nidbt. Sie gab ficb fetbß bie Ber« 
ficberung, ibm bie Beruhigung. 3bre Sebnfucbt tvar tveit 
tveg von ibr; in ben enttegenßen Träumen nur (ocfte Äart 
JItoor. Sie tvar fo trocfen, fo rubig; vor bem Ungeheuren 
ber BJelterfcbüfterung venvunbert*anbäcbtig. Xtnb hoch, 
fettfame fltenfcbennatur, umfaßt bu, umfaßt bub f<bon 
alte9, tva9 unerlitten in bir feimt? 

Srüb am morgen fanb Äatijtus 3off eine halbe Stunbe 
3eit, um mit ihr ben Änaben gu befugen. Das gebt vier» 
jährige Äinb batte eine fable Gefichtsfarbe, unb at9 ihm 
fein Bater ein Stücken Schofotabe gab, bas er mitge* 
brachh leuchteten feine Augen gierig. Srau Tomafef, bie 
Pflegemutter, fagte, es fei nicht gu fättigen, bagu lachte 
Äalijrtus 3off, aber Cbrißine verfpürte 3tveifet bei biefer 
Jtebe, bas vertaffene Gefchöpf tat ihr leib, bas IBort mutter 
ftang an feinem Jttunb fo fremb, unb fie überlegte, tvie 
fie es anßetten fotlte, um bas Äinb gu fi<h gu nehmen. 

Um BTittag ging fie auf ben Bahnhof, unb ber Srtfeur 
begleitete fie. mit ängßtich gefalteter Stirn ßubierte er bie 
flufgebotsptafate an ben Jltauern. „Satt bich cvacfer, 
Soff', fagte er beim flbfcbieb gu Äatiftus. 

„Servus, Poßvfa, alter Scbaumfcblager", ertvtberte ber 
Äorporat munter, unb gu Cbrißine fich tvenbenb, fagte er 

6* 83 


k 


mit oufgeriffeiten Augen unb (Irengem Ion: „Eebwohl, 
Xinerl, unb bofi bu mir treu bleibfl." 

„llnb bu, bofj bu gefunb bleibfl/' flammette fie, fcfjoufe 
\S)n an, f «haute wieber weg, unb ihr BlicP verlor firf) im 
Gewühl ber öolbaten. 


PotioPa, als ein TRann, ber auf Profit bebacfjt mar, 
flrebte banacf), ben piaf), ben Äaliytus 3off leer gelaffen, 
wenigflens infofern ausgufüllen, als er firf) bes 3ufluffes 
oon 3Tafuralien verfilterte, ben ber Korporal aus ber 
-Rüche bes löarentausbefiters genoffen hatte. geben flbenb 
Pam er gu ber Stunbe ans Jpaustor, in ber Chrifline gum 
GreifSler ging, unb um fein 3iel gu erreichen, befrfjritt er 
PünfHirf) getounbene XOege ber BerebfamPeit, ber fcherghaf» 
ten unb elegifchen Anfpielung, tote toenn fein Blagen ber 
BJärf)ter feiner Spmpatfjie unb ber örfm^engel bes Ab* 
toefenben toäre. 

©effen beburfte es bei Chrifline nirf)t; ber heimlich Pett 
nicht unb ber £tfl nicht. ©ie Cßmaren, bie fie .Raliftus ge» 
geben, fjattc fie oon bem, toas if>r gugemeffen toar, 
erübrigt; gu Peiner 3eit fjatte fie bas Pertrauen ihrer Jperr» 
fcfjaft mißbraucht unb firf) auf .Raub unb ©iebftafrf oer» 
legt. Sie mar bebürfnisios auch im ßffen, fe^t mehr noch 
als früher. Hier felber Pocht, toirb balb fatt. ©och b'ättt 
fie nicht gewagt, bem Srifeur angubieten, toas ber Äorpo» 
ral folange genoffen f)Qtte; er frf)ien ihr t f)orf)flef)enb, gu 
(lolg f)ierjtt, unb als er felbfl bas erfle BJort fprarf), war 
fie gwar überrafrfjt, erfüllte aber gern feinen BJunfrf). 

PolioPa war ein Seinfrf)mecPer. Jleifrf) burfte nicht gu 
fett fein, gu mager aurf) nicht; oon JTlehlfpeifen frfjä^te er 
nur Iorten unb mürbes GebäcP; Jüurfl unb -Käfe war 
unter feiner XBUrbe. 

Eines Tages erfurfjte er Chrifline um ein ©arteten oon 
oiergig fronen. 3nfotge bes Krieges war fein Gefcfjaft 
gurürfgegangen, bie entnahmen floffen oon ÄJoche gu 
XBotte bürftiger. 

84 


Oaß ft cf) Cf>rtßine etwa fünfhunbert «Kronen erfpart 
hatte, wußte er von «Kalijtua 3off. Aber er wußte auch, 
baß her «Korporal, fo feicfjtftnntg er fonß war/ es ft cf) jum 
ßrengen Grunbfah gemacht batte, oon biefem ßhweroer» 
bienten Gelb bie Singer ju taffen. Poltofa bacfjfe ntinber 
ehrenhaft; nad) jeber Gelegenheit pirßhenb, bte ihm einen 
Genuß oerfprach, war er noch oiet gieriger unb jäher, 
wenn er fich in 3tot befanb. 

Chrißine war ju gutmütig unb mißtraute ihm ju wenig, 
um feinem naih «Kaoaliersart oorgebrachten Verlangen ein 
Bebenfen ober gar eine Weigerung entgegenjufehen. Als 
fie ihm bas Gelb einhänbigte, jerfnüllte er bie beiben 
Scheine, ßecfte fie in feine Weßentaßhe unb machte ein 
Geßtht, wie wenn ihm eine alte «Rechnung bejahlt worben 
wäre. 

Oie Srtß, nach welcher er bas Gelb hatte jurttcfgeben 
wollen, oerßrich, unb ßatt fein Wort ju hatten, forberte 
er neuerbings eine Summe oon jwanjig Äronen. Aus ben 
fechjig fronen würben fmnbert, aus ben fmnbert jwei* 
hunbert, bann breihunbert, bann oierhunbert, unb fo ging 
es bis jur Jteige. Sünfjefm 3af>re hafte es gebauert, bis 
bas Gelb beifammen gewefen war; oier TRonate bauerte 
es bloß, unb es war bahin. Poltofa führte batb biefen, 
batb jenen Xtmßanb an, ber ihn ihre Spilft in Anfpruch ju 
nehmen jwang; bie Steuer war fällig, ber Wirt hatte feine 
Gebutb mehr, ber Sifmeiber wollte pfänben. 3m Anfang 
hatte er bas Gelb wirftich benuht, um feiner bebrängten 
£age aufjuhelfen; als er es aber fo leicht fanb, in ben Be« 
ßh oon Chrißines Grfpamiffen ju fommen, bitbete er fich 
ein, bie Duette fei unerßhöpftich, unb oergeubete, was ße 
ihm gab, in Gefetlßhaft tußiger Kumpane. 

£r gehörte ju ben Gewohnheitsfpietem bei ber Sotto* 
«Kolleftur unb fprach oon einem bemnächß ju erwartenben 
Haupttreffer mit ber Sicherheit, mit ber man auf ein Banf» 
guthaben hinweiß. Aud) erjähtte er oon einem reichen, 
aber geijigen Onfet, ber irgenbwo in Böhmen auf einem 
großen Anwefen faß, mehrere Säcfe oott Golb im «Kelter 
oergraben hatte unb beffen Xob täglich 3 U erhoffen fei. Gr 

»5 



ßhwörmte oon bem großartigen £eben, bas er bann füb* 
ren wolle, unb eines Sonntags beficfjtigte er fogar mit 
Cbrißine eine Büla in jrjieging unb fagte, mit ber 3unge 
fcfmalgenb, auf bas Käufer! oerfpUre er ßbon lange £uß, 
fobalb ber böfjmifcfje Dnfel abgefra£t fei, werbe er ficb’s 
faufen. 

* * 

* 

Cfmßine glaubte alles; bas fjeifit, fie glaubte, wie man 
glaubt, wenn man fi<h oor ber XDabrbeit fürchtet. Als fie 
Poltofa ben größten Xeil ihrer Sjtabt ausgeliefert batte, 
wußte fie ungefähr, was für eine Bewanbtnis es mit fei» 
nen Besprechungen unb feinen Scbtoüren batte. Sie fab, 
baß er nichts arbeitete, unb baß es mit ihm bergab ging. 
Oie Rächte brachte er in Äneipen gu, unb ben lag über lag 
er in ben Sehern, Als fie JRutter geworben war, batte Cbri» 
ßine er ft angefangen, ficb ihres Spargrofcbens gu freuen; 
es war ihr liebßer Gebanfe, baß bas Gelb einßens bem 
0ofepb nüben, feine erßen Schritte auf ber barten Eebens* 
bahn erleichtern würbe; wie follte fie bem Äinb gegen« 
übertreten, wenn es Äleiber unb BJäfche unb Schube oer» 
langte unb Bücher gum fernen, unb fie batte nichts, war 
bettelarm wie als blutjunges Oing? BJas follte fie ihm 
fagen, was follte ber «Knabe oon ihr benfen, unb wie würbe 
es ihm ergeben? 

Sie gürnte JJoltofa nicht. 6r war noch immer ber Ge» 
genßanb ihrer tiefen Berebrung. 6r war es burcb ein Ge» 
feig ihrer Ratur, fraft einer gebeimnisootlen Beharrlich» 
feit ihrer Seele, bie bas einzige Bilb höherer JTienfchenart, 
welches fie in einer Stunbe bes Glücfs empfangen hatte, 
nicht mehr gu laffen oermochte. Oawiber hatte auch ber 
Berluß bes 6elbes feine 3Tlacht, fo graufam er ße berührte. 
Sie wiegte ficb in ben IBahn, Äalij-tus werbe ihr bas Gelb 
wieber oerfchaffen, wenn er gurücff ehrte; ße meinte, jjo» 
liofa werbe bann ben JTiut gu Ausreben nicht finben unb 
alles erfe$en. 

3nbeffen bereitete es ihr hoch Sorge, baß ße feit feinem 
Ausgug nichts oon Aalijtus gehört hatte. Gr hatte ihr wer» 

86 


fproeben, regelmäßig ju frfjreiben, unb noch feine 3 eile 
|>atte fie oon ihm erhalten. 3t>vt eigenen Briefe blieben 
unbeantwortet. JRan fab fcfjon oiele Berwunbete auf ben 
Straßen; fie blicften alle fo ernß unb mübe brein; oft 
trieb es fie, einen ju fragen, aber fie baffe Angß baoor. Oie 
£eute raunten fidf) beunrufjigenbe 3Tacf)ricf)ten gu, in ben 
abenblicben Berfammlungen beim Greißler tourbe unoer* 
bohlen geäußert, es ßei>e fcf)Iecf)t braußen, unb wenn fie 
ficf) an Poliofa wanbte, machte er ein Geficf)t, als befäme 
er jeben JRorgen bie wicf)tigßen Oepefcfjen oom General* 
ßab, unb fagte mit einer ößerreicbtfcben Sreube am eigenen 
ltnglücf, bie Sache werbe ein böfes Gnbe nehmen. 

3f>t banger BItcf irrte weit fort, unb in ber Jtarfjt betete 
fie für bas £eben oon «fialtjtus. 3 f»r Jperg fcfjlug matter, 
wenn fie feiner gebaute, als gäbe fie ihn fef)on halb oer* 
loren. Jlaufcfjte bann bas Blut wieber auf, fo fcfjoß if>r 
wilb unb f)«iß ber Gebanfe an ihren 3ofepf> in ben Sinn, 
unb fie warf bie Arbeit beifeite unb lief ju Srau XomafeP, 
um bas Äinb ju feben. Oa fab fie nirf)t ein racbitifcbes 
Änäblein, ein blaffes, oerf(bü(btertes, fonbern etwas oer* 
beißungsooll Gmporblübenbes, ein BJefen, bas ibr unbe» 
ßritten unb uneingefcbränft 3 « eigen war unb bas fie 
ptöblicb üei’le über alles Blaß. 

Sie faßte nun ben Borfab, bes Gelbes wegen noch ein» 
mal mit poliofa 3 U fpre(ben. 6 s war ein Jtacbmittag im 
Oejember, als fie biaging, grauer, triefenber JTebel bing 
in ben Straßen. PoltoPas £aben war gefcbtoffen, fie ging 
junt näcbßen Xor; ber Jrifeur wobnte bort in einem erbge* 
fcböffigen 3immer. 

Sie traf ein. Poliofa lag angefleibet auf bem Bett unb 
rauchte. Oie BJänbe waren mit Photographien oon Schau* 
fpielern unb Scbaufpielerinnen bebeeft. Auf bem Tif«b ßan« 
ben leere Bierflafcben, Äaffeegefcbirr, eine £ampe mit 3 er* 
brocbenem Stur 3 unb ein paar fdfjmubige Stiefel. 

Poliofa erhob neugierig ben Äopf unb fragte, was fie 
wolle. Oa oerlor Cbrlßine ben Blut, ihn 3 ur Jlebe 3 U 
ßellen. 


87 


Cr oerfcfjränfte bie Jpänbe hinter bem Äopf «nb ßarrte 
gegen bte 3intmerbecfe. „Der Äaüfhts »fl tot", fogte er 
gang unvermittelt. 

Cbrifline war es, als rinne if>r alles Blut aus bem $irn. 

Gr fyabe es von Srau 6riesf)a(fer erfahren, fuhr poliofa 
fort, unb biefer fei es oon einem 3ugfüf)rer berietet wor* 
ben, ber beim felben Regiment gewefen. Cr feufgte unb 
fcbtoß bie Augen. 

Cbrifline rührte fid) nicht. Jlacf) einer KJette breite fie 
ficf) um unb verließ lautlos bas 3immer. Potiofa fprang 
vom Bett empor, riß bie Xür auf unb rief fie beim Flamen. 

Sie teerte jurücf unb flanb mit berabbängenben Armen 
oor if)m. 

„3e^t g’börfl mein", fagte er. 

Sie antwortete nicht unb ging fort. 

ßriesljacfers waren umgegogen, fie wohnten je^t in 
HTeibling. Am Abenb fufjr Cbrifline hinaus. Oie Srau 
empfing fie freunblicf). Auch ifjr TTtann war im Selb, unb 
fie war feit langem ohne Ttatf)ricf)t oon ihm. HJas «Kalif* 
tus betraf, fo fonnte fie nur wieberfjolen, was fie oon bem 
3ugfüf)rer wußte. Sie fe^te ficf) an ben Xifrf), brücfte bie 
Scbürge oor bas Geficfjt unb weinte. 

©ann erfunbigte fie fkb, wo bas «fiinb fei unb wie es 
if)m gebe. Oa Cbrifline traurig oor ficf) b»n fab/ fagte fie, 
fie möge ibr bocf> ben Buben bringen. Cbrifline oer» 
fpracf) es. 

* * 

* 

lim biefe 3eit lag Aaliftus 3off auf einem Scf>lacf>tfelb 
in Polen. Cin 6ranatfplitter batte if>m ben rechten Arm 
weggeriffen. Oer Jlotoerbanb, ben if)m ein oerwunbeter 
Aamerab angelegt, batte bie Blutung nicht gu ßillen oer« 
mocbt. Bon brennenben Schmergen gequält, tag er in einer 
naffen TRulbe unb wartete, baß man ibn auffinben unb 
ins Selbfpita! tragen würbe. 

Oie 6ef<f)übe waren oerßummt; oon überall t>er, oon 
nab unb fern brang Stöhnen unb Kümmern an fein Dbr. 

88 


6r bockte an IDten, wo er ein fo luftiges unb forgtofes 
£eben geführt, an Cbriftine unb bie Spagiergänge mit ihr, 
unb an feinen Meinen Sohn mit bem großen Äopf unb ben 
fur<f)tfamen Augen. Dorf) ber Gebanfe an Cbriftine oer» 
brängte alle anbern Dorfteilungen. 6r f aff fie fo genau 
unb fo beutlirf), als hätte er erfl oor einer Stunbe mit ihr 
gefprocfjen. 3n ben fecfjs JTtonaten, bie feit feinem Ab« 
fcbieb oerfloffen waren, war fie ihm fein eingigesmal fo 
gegenwärtig gewefen wie }e£t, wo er auf ber fflammigen 
Erbe lag unb ficf) nicht rühren fonnte. 

Sie flaute ihn mit einem oorwurfsooüen Blicf an, ber 
ihn erfdjretfte. 6s fcfjten ihm, baß er fcf)Iecf)t gegen fie 
gehandelt batte, aber worin biefe Scf)Ie<f)tigfett beftanb, 
vermochte er nicht gu ergrünben. 

Als es 3Tacf)t würbe, f>ob er ben Äopf unb gewahrte 
bunfle Geflalten, bie fidf) oor bem bewölften J?immel be» 
wegten. £s waren Sanitätsleute. 6r wollte rufen unb 
fonnte nicht. Sie gingen ooriiber. Seine Stirn bebetfte fiel) 
mit faltem Schweiß. 

Die JDunbe fing an, immer ärger gu brennen. 6r taflete 
mit ber linfen Jrjanb bin, bie Singer fühlten ficf) naß oon 
Blut an. HJas wirb mit mir gefcf)ef>en? barfjte er; unb was 
wirb mit ihr gegeben? Sein £erg war plö0(icb ooll unge» 
fannter 3ärtlicbfeit für Cbrifline. 

Jltit Anftrengung f)ob er oon neuem ben -Kopf. Das 
Selb war übe. Uber bem Sluß flimmerte fabler Jttonb» 
febein gwifeben bem febweren Gewölf. Da froeb an ber 
6rbe ein unförmlicher klumpen baber, ein klumpen, ber 
ftarf atmete, laut fcfjnüffelte, f>cifer unb gierig grungte. 

£s war ein febwarges Schwein, groß wie ein Bär, mit 
bängenber DJampe, fotftarrenben Borften unb wilbfun* 
felnben Augen. Utabrfcbeinßcb hatte es im «Kober lange 
gehungert unb war ausgebroeben, um fi<b auf bem 
Scf)lacbtfelb JTabrung gu fueben. 

Äeucbenb wälgte ficf) ber klumpen heran. Äalijrtus 3off 
fpürte einen beißen i?au<b im Geficf>t. Das Schnüffeln 
Hang freubig unb ungebulbig; ber Geruch bes frifeben BIu» 
tes wirfte beraufebenb auf bas Xier. Don Entfern ge» 


89 



läf>ntt, überlegte «Kalijtus, tote er ficf) bes Angriffs erwef)» 
rett foltte. .Keine oon ben Scfjlacfjten, in benen er gefämpft, 
f>atte folgen Scfjretfen unb Scfjauber in ifjrn erwetft. 

XÖie gef)t benn bos gu? fufjr es if)nt burcf) ben Äopf; 
toorunt muß icf) benn bo liegen unb toie ein Stücf Btef) 
frepieren? DJorum iß benn mein Arm weggeriffen? 3d> 
bin ein .Krüppel, für etoig ein .Krüppel. EJarunt borf 
benn bas fein, biefes gange fürchterliche Clenb, bas auf ein» 
mal in ber EJelt f>errfrf)t? 

Cr machte eine Bewegung mit ber Schulter; bas Srfjwein 
ßu£te. Dann näherte es fiel) abermals, mit oermefjrtem 
Ungeßüm. Cr wieberfjolte bie Bewegung, es grungte gor» 
nig unb fließ ben Jlüffel in fein Gefickt, hierauf begann 
es mit einem gräßlichen Gerauft am Blut gu leefen; noch 
eine UJetfe, unb es würbe bie Jpauer ins Sleifcf) wühlen. 
CPel unb Bezweiflung flößten .Kalijtus le£te Äräfte ein. 
Cr fu^r mit ber £htfen an feinem £eib entlang, ergriff 
ben ^latagan, 30 g ihn aus ber Scheibe unb bohrte bie 
blanPe BJaffe tief in ben Baucf» bes Schweins. 

©as Tier ßieß einen marPerfcfjütternben Schrei aus. Cs 
war ein Schrei, ber bie fcfjweigenbe Jlarfjt, bas gange $im> 
ntetsgewölbe erfüllte unb wie ein rafenbes Aufbrüllen bes 
©ämons flang, ber bie JlTenfthheit in feinen .Klauen hielt. 
.Kalijtus 3off ftfjwanben bie Sinne, aber burcf) ben Schrei 
bes Schweines waren bie firgte unb ifjre Gehilfen aufmerf» 
fam geworben; fie farnen alsbalb oon ber anbem Seite 
bes Jlüßchens herüber, gewahrten bas im Tobesframpf 
tangenbe Tier unb fanben ben leblofen «Körper bes oer» 
wunbeten JTTannes. 


Chrißine hielt ifjr Berfprecfjen unb brachte Jofepf) gu 
5rau Griesfjarfer, bei ber er auef) blieb. Srau TomefeP war 
fef>r erb oft hierüber unb oerlangte plötflid) Cnffcfjäötgung 
für allerlei Auslagen, bie fie gehabt haben wollte. Cfjri« 
flirte mußte lange flreiten, bis jene fid) enbltcf) mit einem 
Teil ber ungerechten Jorberung gufrieben gab, unb ba fie 


90 


für ihren Pflegebefohlenen eine echte Anhänglichfeit ju 
empfinhen fehlen, erbot fich Chrifüne oon Trau Grieshacfer 
hie Erlaubnis, ha|3 hie lomafef an Bonntogen has Älnh 
befuchen bttrfe. 

Trau Grieshacfer übernahm hen «Knaben gern, ttnb fle 
fagte, er fähe «Kalixtus ähnlich. Cs wohnte noch eine 
Schwerer bei ihr, Srau Wanhl mit JTarnen, eine hagere, 
fchweigfame Perfon, hie fleh ölet mit hem Knaben be* 
fchäftlgte, aber habel fo tat, als möge fle ihn nicht leihen. 

Wenn hie oier trauen beifammenfafSen, hielten fie wäh* 
renh hes Gefprächs hie Bticfe, jehe mit anherm Gefühl, auf 
hen ju ihren föißen fpielenhen 3*>feph gerichtet. Bisweilen 
fam auch Poliofa, aber er war nicht mehr her anregenhe 
Spaßmacher oon ehehent, fonhern brütete finfler oor fi<h 
hin oher griff ju Jperrn Grieshacfers 3iehhamtonifa unh 
gab feiner übten £aune unh feinem Peffimismus mufifa» 
lifchen Aushrucf. ©ann hrängte er Chrifüne, fie folle mit 
ihm ins Wirtshaus gehen, unh auf ihre Weigerung ging 
er jornig feines Wegs allein. 

Ginmal folgte fie ihm unh rehefe ihm ju, nicht ins Wirts» 
haus ju gehen. Jpöhnifch erwiherte er, was er henn oom 
£eben habe ohne has Wirtshaus. Wenn er ihr juliebe 
etwas unterlaufen folle, müffe fie auch ihm juliebe etwas 
tun. ©aoon möge er nicht wieher anfangen, fagte Chri» 
füne, ha werhe ihr ganj elenh ums J?erj, er folle hoch an 
hen armen &aliftus henfen. 6i was, oerfe^te er, tot fei 
tot, unh wen hie Grhe oerfchtungen habe, hen gebe fie nim* 
mer heraus. Sperre fie fich noch länger, fo müffe er eben 
faufen. 

Chrifüne war hes Schwabens mühe unh fragte fich im 
3nnem, warum fie fooiel Aufhebens oon einer urtbeheu» 
tenhen Sache mache, wem ju ©anf? ©urfte fie fich foftbar 
machen unh jieren, wenn her oerjweifelte 3Ttenfct> gerahe 
haran fein ©erlangen hing? 

3hre Sinnesänherung witternh, ergriff Poliofa ihren 
Arm, unh feine Stimme fchmelchette. Aber in feinen Wor» 
fen lag hie jpnifche Gleichgültigfeit hes ©erfommenen, her 
fein 3iet unh feinen Glauben mehr hat, unh hem has allge« 


9i 


meine Selben her Jltenfchheit nur ben üormanb gibt, im 
Jleoter niebriger Genüffe ju roilbern. 

Cf>rifline ging mit ihm in fein unaufgeräumtes 3intmer, 
unb fie (egten ficf) in ba9 fcfjmu^tge Bett. Sie gab ftcf) ihm 
()in, mie man ein Opfer oollgieht, unb ihre XraurigPeit 
mar groß, benn bas Btlb ber Sehnfucht, bas er einfi in ihr 
erroecPt batte, oerblaßte unb oerfan? mit biefer Stunbe. 

llnb als fie oon bem JTianne megging, fühlte fie fi<b oon 
einer nagenben llnrube um ihren 3ofepb ergriffen. 3f>r 
mar, als f>abe fie bem Äinb einen unheilbaren Seelen* 
fcbaben jugefügt, ihre GebanPen oermirrten fich, unb fie 
batte Peinen Schlaf unb Peine Jlube mehr. Dabei traute fie 
fi<h nicht in bas Jpaus, roo ber «Knabe mar; jeben Xag lief 
fie f)in, unb menn fie in ber Jtäfye mar, Pebrte fie miebei) 
um. Sie fürchtete feinen flnblirf; fie fürchtete, auf feinem 
Geficht alle bie Selben unb Entbehrungen ju lefen, bie fie 
ficb einbilbete; fie oerlor bie £u(l an ber Arbeit, unb es Pam 
fo meit, baß bie gebulbige $rau Saubefeber ihr ben Dienfi 
aufPünbigte, unb in biefer 3eit entbecPte fie außerbem ju 
ihrem Schrerfen, baß fie fchmanger mar. 

Einen Xag, beoor bie «Künbtgungsfriß abgelaufen mar, 
fagte Srau Saubefeber, bie JTtitleib mit ihr hatte, fie Pönne, 
bis fie eine neue Stelle gefunben habe, getrofi bleiben. 
Chrifline antmortete aber, fie gehe überhaupt nicht mehr 
in Stellung, fonbem fie merbe je£t ihren 3ofeph j$u fich 
nehmen unb mit ihm leben. TXfie fie folches bemerPflelligen 
mollte, ohne ju bienen, bas fagte fie nicht, bas mußte fie 
auch mahrfcheinlich nicht. 

flm anbern JTtorgen pacPte fie ihre JpabfeligPeiten in ben 
hölzernen Äoffer, bie «Kleiber, Schürfen, |>emben unb 
Strümpfe; bie Bilber an ber löanb, ben mächfernen Pfir* 
fich, ben rotfeibenen Behälter mit bem Jingerhuf, ben Por* 
jellanjroerg, bas Gebetbuch unb bie GlasperlenPette. Dann 
ließ fie fich ihren £ohn attsjahlen, oerabfcf>iebete fich oon 
ber ^errfchaft, bie fo gut gegen fie gemefen mar, unb rief 
ben Sohn ber ^jausmeiflerin, bamit er ihr ben Äoffer tra* 
gen helfe. 6r fragte fie, mohin es gehe, unb fie antmortete, 
jum Srifeur PolioPa gehe es. 


92 


polio Pa bereitete ihr feinen unfreunbltcfjen Empfang, ba 
fie Gelb mitbracbte fowie auch einige Gegenflänbe non 
HJert, bie man oerpfänben fonnte. 

Er gab fcfjarf acht auf tfjre .Heben, ba er entfrfrfoffen war, 
firf) weber Ermahnungen, noch Borwürfe gefallen gu 
(affen. 

Als fie firf) baran machte, in bas wüfle Ourcfjeinanber 
ber Stube ein wenig Drbnung gu bringen, fab er ifjr mit 
mifibilligenben Blicfen gu. 

Am flbenb teilte ifjm Cfjrifline mit, baß fie ihren 3ofepb 
oon Srau Griesbacfer abfjolen werbe. Er braufle auf unb 
erflärte, ber BanPert fäme ihm nicht ins J?aus. Cijrifüne 
erbleichte unb antwortete ruhig, bann mttffe fie eben mit 
bem 0ofepb anberswo(;in gehen, ©a oerßummte Polio Pa, 
unb erß nach einer IBeile fragte er, wieoiel fie nocf) an 
barem Gelb befi£e. Cfjrifline erwiberte, es feien fünfunb* 
breißig fronen unb etliche geller. Er fd)ien beflürgt unb 
erfunbigte firf) nocf) einmal, ob bas alles fei. Sie nirfte. 
Jlun, fo fönne fie ihm ^ebenfalls nocf) bas Gelb für ben 
3in9 borgen, meinte er. Sie war baju bereit. 

„Berflucht, oerflucf)t, wie wirb’s uns nachher gehn!" 
murmelte ber Srifeur. 

0 biefe Jtacf)t, £eib an £eib, Crtot an 3Tot! ©iefe froflige, 
naffe, bumpfe, enblofe JIacf)tl 

„Berflucht, oerflucht!" murmelte PolioPa wieber, ehe er 
einfrfjlief, unb Praßte feinen tocfigen Äopf. Chrifline aber 
frfjaute ihre roten 4>änbe an unb barfjte an bie oiele Arbeit, 
bie fie fchon bewältigt batten unb bie fie noch bewältigen 
fonnten. ©a war if)r nicht mehr fo fef>r angfl. 

lim fecfts Uhr erhob fie fich (eife, aber Poliota hatte fie 
gebärt, patfte fie rauh am Arm unb fagte, fie folle hoch 
in bes Teufels Jlamen ben Banfert (affen, wo er fei. Chri* 
füne blicfte firf) um unb antwortete mit feibenfcbafflicbem 
Emfl, eher wolle fie hin werben, als baß fie ihr £inb noch 
einen Tag länger unter fremben £euten taffe. 

Sie wufch firf) unb fleibete fich an, unb als fie fertig war, 
fagte fie, ihr ganges £eben hinburch habe fie fi<h gefchun« 
ben für frembe £eute, nun wolle fie einmal oerfpüren, wie 


93 


es tue, wenn matt firf) für eigenes Sletfrf) unb Blut frfjinbe. 
Dabei nahmen ifjre 3üge einen Ausbruct feuriger 3ärtürf>* 
feit an. 

3eborf) Poliofa ftf)Itef frfjon wieber. 

6s mar cd )t Uf>r, als fie in 5rau Briesfratfers Stube 
trat. Aufgeregt tarn if)r btefe mit ber «ftunbe entgegen, Äa* 
(tjfus fei unoermuteterweife gurü<fgefef>rt. llnb wie ba* 
ntals, ba fie bie fatfcfje Tobesnarfjrirfjt fyattt beßätigen 
müffen, fe^te fie fitf> an ben Xtfrf» unb weinte in U)re 
Srf)ürge hinein. 

Diefe Dränen floffen ntrfjt aus bem Übermaß ber 
Sreube. Die JTiiene ber Srau «erriet nod) etwas anberesi 
als Jreube über bie £eintfef>r bes Brubers. 

Jlarfjbem fie ftrf) gefaßt f>afte, ergäfjlte fie, geflern abenb 
gegen fieben Uf>r f>abe es geläutet, unb ba fei er auf ein« 
mal bageflanben. Er f)abe gleirf) gefragt, was mit Cf)ri» 
fline fei, benn ein Äamerab, ben er gu Haubefebers gefdjicft, 
f>abe tf>m gefagt, baß fie bort nirf)t mefjr im Dienß ßef>e. 
Er wolle nun felber hingegen, oielleirf)t fönne if)m ber 
Jpausmeißer fagen, wo fie wäre. 

Cf>rißtne, bie bisher wie eine Bilbfäule geßanben war, 
fing an gu gittern unb mußte ftrf) an ber DJanb feßfcalten. 

Sünf JTionate fei er in einem Spital an ber Brenge ge» 
legen, ergäf)(te Srau 6rtesf)acfer weiter. Einen anbern 
frf>reiben (affen, bas fyibt er nirf)t gewollt, unb felber ftfjrei« 
ben habe er nirf)t getonnt. Sie feufgte. Es war ein Seufger 
oon einer jcfrfimmen Art. 

Plö^lufc tief Cfjrißine: ,,3ofepf)!" Unb wieber: ,,3o» 
fep^t" 

Der Attabe mit bem abnorm bitten Äopf geigte ftrf) auf 
ber Schwede. Der Bliit, mit bem er feine JTtutter betratf)« 
tete, war ßupib. 

Cf)rtßtne tniete f)in unb umfrf)(ang if>n. Sie f>ob if>n auf 
i^re Arme, flaute wilb um ftrf), unb efce $rau 6riesf>atfer 
fragen ober if>r in ben DJeg treten tonnte, war fie mit bem 
ßnaben aus bem 3tmmer unb aus bem $aus geeilt. 

3Iur fort, frf>oß es if)r fiebenbf>eiß burrf) bas Jpirn, nur 
fort aus biefem Heben, fort aus biefer BJelt. 


94 


flls fie gu Poliofa gurücffam, war eben feer jpausoer« 
toalter bei ifem gewefen. 6r f)atte feen 3ins begafeit, feenn 
Cferifline featte «fern am flbenfe nocfe bas Gelfe gegeben. 6r 
faß in Unterfeofen am Xifcfe, featte feie 3eitung ttor ficfe unfe 
überlas wiefeer unfe wiefeer feas neueße ^eeresaufgebot, 
feurcfe welcfees aucfe er gur JTtußerung gerufen wurfee. 

Seit HJocfeen featte er ficfe feaoor gefürcfetet. Jlun war es 
foweit; unfe er feacfete an feas langweilige unfe anfhrengenfee 
Seben in feer «Käfer ne; er feacfete an feas graufame Gefcfeicf, 
gegen feas es feinen Cinfprucfe gab: auf feas Scfelacfetfelfe 
transportiert unfe totgefcfeoffen gu werfeen. 

Cr featte einen alten, oerroßeten «Reooloer aus einer 2afee 
genommen unfe neben feie 3eitung gelegt. 

Xinßer blicfte er Cferifline an, feie mit feem Änaben auf 
feem flrm feaflig eintrat. Cr wollte fcfeelten, weil fie fort« 
gegangen war, ofene für fein Xrüfeßücf gu forgen, fea ßieß 
fie fcfeon mit feeiferer Stimme feie HJorte feeroor, feie ifen 
fafet unfe fhmtm macfeten. Cine XÖeile flierte er in feie 2uft, 
feamt befeauptete er, es fei erlogenes 3eug, er feabe über 
ÄaUytus' Xofe oerläßltcfee JRelfeung. Cferifline umflam* 
merte mit iferer freien irfanb feine Sefeulter unfe bericfetete 
fcfenellatmenfe, was fie oon Xrau Griesfeacfer erfaferen 
featte. 3fere Crregung, ifere Beflommenfeeit, ifere ficfetbare 
Ctual wirften mefer als feie DJorte. Oie «Racfee fees Äorpo« 
rals war gu fttrcfeten. flußerß gu fürcfeten war feiefer 
JRenfcfe, feer nun Blut genug featte fließen fefeen, um leicfe» 
terfeings nocfe einen Xotfcfelag aufs Gewiffen gu nefemen. 

„Ou mußt feicfe gufammenreißen, feaß wir weg fönnen", 
fagte Cferifline mit flacfemben Blicfen. Sie fügte feingu, 
Äalijtus fönne fefeen DToment gur Xüre feereintreten, fea 
}a feer ^ausmeißer bei 2aubefefeers wiffe, gu wem fie ge« 
gangen fei. 

BJäferenfe ficfe Poliofa fertigmacfete, griff Cferifline nocfe 
feem «Reooloer unfe ßecfte ifen in feie Xafcfee iferes «ftleibes. 

Balfe waren fie auf feer Straße. Cferifline trug nocfe im« 
mer feen Knaben, obwofet ifer flrm fcfeon tafem war. Po« 
liofa taufte bei einem Greißler Brot unfe Specf unfe oer« 
geferte beifees im Gefeen. 


95 


An ber Stabtgrenge formte CfjrifKne mit ihrer Saß nicht 
me^r weiter, fie ließ 3ofeph neben fich laufen unb führte 
Um an ber Jpanb. Polivfa fragte unwirr f cf), warum fie 
es fo eilig habe, fie gab ifjm feine Antwort. 

Sie irrten auf ber Schntelg herum, famen bann ins 
£iebf>artsta( unb auf ben Galibinberg. Polivfa fragte, wo» 
f)5n fie eigentlich wolle, fie gab ihm feine Antwort. Gr 
folgte ihr, weil er nicht wußte, was er ohne fie hätte an* 
fangen folten, unb weil ihr ßärferer Hülle feine Feigheit 
unb «Katlofigfeit begwang. Gr haßte fie, aber ihr guwtber» 
juhanbeln wagte er nicht. Gr fagte, fie habe ihm bas £e» 
ben verleibet unb ihn gugrunbe gerichtet, hoch als fie eine 
noch fcfmetlere Gangart anfchtug, befchieunigte er gleich* 
falls feinen Schritt. 

Auf einer HJiefe in ber Bähe bes Steinhofs fanf Chri* 
ßine erfchöpft hin* Gs würbe Abenb, vom grauen JTtärg» 
himmel fiel Jlegen. 3°f e Pb weinte eine Seitlang vor fich 
hin, bann fcfjlief er ein. Polivfa legte fich in ber Bähe un» 
ter einen Jrjolgßoß. 

Oie Bergweiflung in Chrißines Gemüt war wie Sturm 
unb Branb. Sie fcfjaute in bas Gefecht bes Knaben unb 
fchauberte vor bem £eben barin. Alles Gewefene flieg noch 
einmal vor ihr empor, unb fie fchauberte vor ber fchwar* 
gen Jpoffnungstofigfeit, bie bavon ausßrömte. 3|>r war, 
als öffne fich ein gefräßiges JTiaul über bem ^jaupt bes 
Knaben, unb biefe Borßellung war fo beutlich, baß fie (aut 
fchrie. Sie nahm ben Jlevoloer aus ber Tafche, probierte 
an ihm h*rum, fpannte ben $ahn, unb plöblich fragte 
ein Schuß. 

Sir felbß war getroffen. Bon ihrem linfen Df>r träu« 
feite Blut. Polivfa war aufgefprungen. Bon wabnfimti« 
ger Angß erfaßt, baß fie vielleicht ßerben würbe, ohne 
ihrem Äinb ben lebten £iebesbienß erwiefen gu haben, wie* 
berholte fie ben Jpanbgriff, ber ihr vorhin gelungen. 6f>e 
polivfa herangefommen war richtete fie ben £auf ber 
BJaffe gegen ble Schläfe bes Knaben, unb ein gweiter 
Schuß frachte. 

9Ö 


Poliofa riß if>r Öen Keooloer au9 ber J?anb. Sie brei» 
tete bie Arme über ben .Körper bes Knaben unb würbe 
ohnmächtig. Seltfamerweife fpürte fie toäfjrenb ihrer Df>n» 
macht, baß 3°feph tot war. Als fte bte Augen auffrfjlug, 
fab fte froh ber ©mtfelhetf bas bleiche Kinb neben firf). 
Poliofa flanb oor if»r unb weinte. Sie fagte: „UJir ntüf* 
fen bas Kinb begraben/' Poliofa blicfte fie furrfjtfam an 
unb erwiberte, er wolle nichts bamit gu fchaffen t>abt n, 
er gef>e in bie Stabt gurücf unb werbe fie angeigen. 

Aber es erwies fiel), baß er no<b immer wie burcb Sau» 
berei an fie gefeffelt war. Sr fagte, er fei unfcbulbig, unb 
fie müffe es beßhwören. Sie feboch grub mit einem Stüc# 
£olg ein £orf> in ben feuchten BJalbboben. Sie (egte ben 
Knaben hinein unb becfte ihn mit Erbe unb £aub gu. $ier» 
auf betete fie fnienb mit gefalteten Jrjänben, unb als fie 
aufßanb, wunberte fte firf>, baß fie no<b lebte. 

Sie oerließen ben UJalb unb famen gu einem Brun# 
nen. ©ort wufcb Chrißine ihre blutige BJange mit BJaffer. 

©er Gebanfe an ben DTtorb trieb fie betbe gu ben Uten» 
fcben gurücf. Ums JRorgengrauen gelangten fie in bie 
innere Stabt, traten in ein Meines Kaffeehaus unb labten 
fich. ©ann brachen fie wieber auf, gingen ins 5rang*3o» 
fephs»£anb unb burchßreiften planlos bie praterauen. Sie 
wußten nicht, was fie tun foliten, fein JBort würbe gwi» 
fchen ihnen gewechfelt. 

Sie fauften firf) Brot unb Käfe, Chrißine wollte nichts 
effen. ©ie Obacht oerbrachten fie im dreien, unb am JTtor* 
gen begann wieber ba9 furchtbare UJanbern. So machten 
fie es fünf Xage unb fünf 3Iärf)te. 3n ber fünften 3Tarf)t 
flüchteten fie oor bem Kegen in eine Scheune, ber J?unb 
frfrfug an, ber Bauer entbecfte fie, wollte ben Genbarmen 
holen, ba eilten fte hinweg, fo fchnell bie Süße fonnten. 

Chrißine ßürgte gu Boben. Sie fpürte fogleich, baß bte 
Srucht in ihrem £eibe getroffen war, unb nun wußte fie 
auch, was fie feit bem Xob ihtes 3ofeph s noch Qm £eben 
gehalten hatte. Sie oermochte nicht aufgußehen, Poliofa 
betrachtete fie unb rührte firf) nicht. 


7 2>te beutftfje StobelU. 


97 


„KJoa biß benn bu für einer!" acfjgte fie. Da entlub fiefj 
in ifjm eine finnlofe K?ut gegen bas IKeib, unb er f cf) lug 
mit Säußen auf fie ein. die fcf)rie unb frf)rie, enblich lief} 
er ab unb f>a(f if>r auf bie Beine. fUs fie bie Stabt erreicht 
Ratten, führte er Chrißine gu einer Eabentreppe unb be* 
faf>l if)r, ficf> niebergufehen unb auf ihn gu warten. 6r 
ging fort unb fefjrte nicht mehr gurüdf. 

Chrißine füfjlte große Schmergen. ein alter Arbeiter blieb 
fielen unb fragte/ was if>r fehle. Sie bat ihn, er möge 
fie gur Straßenbahn begleiten. 6r h>alf ihr unb führte fie 
hin unb ergählte, baß ihm gwei Söhne im Selb gefallen 
feien. 

JTCif unföglither JTUihe fam fie in bas Sriesharferfthe 
j?aus. Da war es aber mit ihrer .Kraft oorbei. 

3m Sieber würbe fie nach bem Kinb gefragt; im Sieber 
bekannte fie, was mit bem Kinb gef<hef>en war. 

Srau Grieshacfer benachrichtigte bie Pofigei. 

KJarurn hier nicht enben? Spannt fich aus fotcher oer» 
lorenen Sinßernis noch ein Bogen in bie Hoffnung? Cs 
weilen feine Genien bei biefem Scf)tcffal, bie Geßirne wan» 
beln fremb unb falt über ihm. Xlnb boch iß fein Ausgang 
umleuchtet non einem Glang/ bem wenig 3rbifd>es mehr 
anhaftet/ unb oor bem bie 6efpenßer unb Dämonen er* 
fehroefen entweichen, als ob bas enthüllte Antlih ber Ge» 
rechtigfeit Slammen gegen ße fpeie. 

Als Chrißine im 3nguifitenfpital lag unb nach Tagen 
tobähnlicher Bewußtlofigfeit bie Augen öffnete, fah fie an 
ihrem Bette einen JTiann in Uniform fi^en, ber nur einen 
Arm hatte. Sie erfannte in ihm Kalijfus 3off. 

Sein Geficht hatte einen 6mß, ben es in früherer 3eit 
niemals befeffen. Die Klangen waren nicht mehr fett, bas 
Kirnt nicht mehr glängenb unb runb, ber Schnurrbart war 
nicht mehr in bie ^öhe gebreht. 6r war giemlich bleich, unb 
fein Blicf hatte etwas bunfel Grßauntes, als herrfefje gwi* 
fchen bem Kalijrtus 3off oon einß unb non bem je£t ein 
unergrünbliches Geheimnis. 

98 


Cfjrifline langte fcheu nach feiner Jpanb. 3f>re £ippen 
6 ebten, fie flaute ihn an tote Öen <Kirf)fer beim lebten 
Gericht. 

„Sei fHlI/' fagte «ftalijtus 3off, „ich weif? fcfjon alles/' 

Alle jarbe wich aus ihrem Geficfjt; fie fab aus wie bas 
«Kiffen, auf bem fie lag. Oie rechte $anb erfjebenb, beutete 
fie mit bem 3 eigefinger geiflerhaft nach oben. 

«Kalijrtus 3off nicfte. „Gräm btcf) nicht, Xinerl," fagte 
er, „ich weifj fcfjon alles." Seine Stimme (lang oeränbert. 

Sie fuchte ooll Angfl feinen Blitf unb gitterte unter ben 
Oecfen. 

Gr beugte fich 3 U ihr nieber unb fuhr fort: „3cf> bin btr 
toieber gut." 

Sie gitterte noch ärger unb umklammerte mit ihren 
$änben feine eine. 

„3<b bin bir wieber gut," fagte er, „unb wenn bu beine 
Straf abgefeffen ha(l, nachher betrat’ ich bi«h." 

Chriflines «Kopf fiel juriicf. 6 twas heilig ^eifjes, heilig 
Süßes überflrömte fie. 

6 s war bas erfle Jllenfchenwort, bas fie oemahm, bie 
er fie TTCenfchengüte, bie fie erfuhr, bas erfle reine Glücf, 
bas fie genoß. lim beffentwillen oerlohnte es fich, fo ge» 
lebt unb fo gelitten ju haben, wie fie gelebt unb gelitten 
hatte. Je 0 t begann ein neues Sein. 

Oa fie aber fühlte, baß fie flerben mußte, 30 g fie bas 
Amulett, bas fie fo oiele Jahre am J?ats getragen, unter 
bem i?embe h*roor unb reichte «ßalijtus bie JTtünje famt 
bem Kettchen mit einer Gebärbe banfbarer 3ärtlicf)feit unb 
mit bem £ächetn eines BJeibes, bas, wenn auch erfl in ber 
Tobesflunbe, enblich 00 m Strahl ber £iebe berührt worben 
ifl. 


7* 


99 


3m JJceffelfrfien «Bottentynutf 

Bon Jjjerntann Jjjeffe 


(Ws war in Öen gtaanjtger Jahren bes vorigen Jahr* 
^^✓fcunöerte, unb wenn bie Mtläufte barnals onbere 
waren als freute, fo festen bo<b bte Sonne unb lief ber 
DJtnb nie frt anbers über bas grüne, friebeoolle Tai bes 
Hecfars als beute unb geflern. 6‘tn feböner freubiger Srüf)« 
fommertag war über bte fllb her auf ge fliegen unb flanb 
feflltcf) über ber Stabt Tübingen, über Schloß unb "Wein» 
bergen, über Stift unb Jlecfar, fpiegelte fiel) im frifrfjen, 
blanfen Tluffe unb ftriefte fpielenbe, jarte löolfenfcbatten 
über bas grellfonnige Pflafler bes JTtarftplatjes. 

3m theologischen Stift war bie lärmenbe Jugenb foeben 
oom 3TIittagstifcf)e aufgeflanben. 3n plaubemben, lachen* 
ben, flreitenben Gruppen fcfjlenberten bie Stubenten burrf) 
bfe alten badenben Gänge unb über ben Spof, ben eine 
garfige Scbattenlinie in ber Quere teilte. Sreunbespaare 
jlanben in Tenflern unb offenen Türen beieinanber, aus 
fronen, ernflen, heileren ober träumerifeben Jünglingsge« 
fiebtern leuchtete ber f<böne, warme Sommertag wiber, unb 
in abnungsooll burebgtühter Jugenb fbeafrlte ba manche 
noch fafl fnabenbafte Stirn, beren Träume noch freute le* 
benbig finb, unb beren Hamen beute wieber oon banfbaren 
unb febwärmerifeben Jünglingen oerebrt werben. 

fln einem Äorriborfenfler, gegen ben Hecfar hinaus* 
gelehnt, flanb ber junge Stubent Gbuarb JTlörife unb bluffe 
jufrieben in bie grüne mittägliche Gegenb hinaus, ein 
Scbwatbenpaar febwang ficb jaucbjenb in laumfcfcfpiele* 
rifdhem Bogen bureb bie fonnige £uft vorbei, unb ber junge 
JRenfcb lächelte gebanfenlos mit ben eigenwillig bübfeben, 
geträufelten Sippen. Qem etwa 3roanjig jährigen, ben feine 
Sreunbe feiner unerfcböpfücb frobfprubelnben Saune wegen 


ioo 


liebten, begegnete es nicht feiten, baß in fronen, guten 
Augenblicken tfjm plö^ücb bie gange Umgebung gu einem 
oergauberten Btlbe erfiarrte, in bem er mit ßaunenben 
flugen flanb unb bie rätfelhafte Schönheit ber BJelt wie 
etne JTtalmung unb faß wie einen feinen heimlichen 
Schmerg entpfanb. BJie eine bereitßehenbe Salglöfung 
ober ein kaltes, flilles BJintergewäffer nur einer leifen Be» 
rührung bebarf, um plötzlich in Ärißallen gufammengu» 
fließen unb gebannt gu erßarren, fo war mit jenem 
Schwalbenfluge bem jungen ©ichtergemüt plöhticf) ber 
ftecfar, bie grüne 3eUe ber füllen Baumwipfel unb bie 
fchwachbunfiige Berglanbfchaft bahinter gu einem o erklär» 
ten unb geläuterten Bilbe erflarrt, bas mit ber erhobenen, 
feierlich milben Stimme einer höheren, bi<hterifcf)en IBirf* 
licfjfett gu feinem garten Sinn fpracf). Schöner unb h er g* 
lieber fpielte bas Eicht in ben ferneren laubigen BJipfeln, 
fee(ifcf>er unb bebeutfamer floß bie Äefte ber Berge in bie 
oerfcfßeierte Serne hinüber, geifüger lächelten oom Ufer 
Gras unb Gebüfche herauf, unb bunfler, mächtiger rebete 
ber firömenbe SlufS wie aus urwelthaften Götterträumen 
her, als werbe Baumgrün unb Gebirge, Slußraufchen unb 
BJolkengug bringlich um Grlöfung unb ewigen Jortbeßanb 
in ber Seele bes ©ichters. 

3locf) oerßanb ber befangene Jüngling bie flehenben 
Stimmen nicht gang, noch ruhte ber innere Beruf, ein oer» 
Härenber Spiegel für bie Schönheit ber BJelt gu fein, er fl 
halb bewußt in ben Ahnungen biefer frönen, heiter nach* 
benflichen Stirn, unb noch mar bas BJiffen um eine oer» 
einfamenbe Ausgeichnung nicht mit feinen Schmergen in 
bes ©ichters Seele gebrungen. BJoht floh er oft aus folgen 
geiflerhaft gebannten Stunben plöhlidf) mit BJeh unb Trofl* 
bebürfnis gu feinen Jreunben, oerlangte in ausbrechenber 
Ginfamfeitsangfl nach Blufik unb Gefpräch unb innigfler 
Gefelligfeit, hoch war noch bie unter hunbert Eaunen oer« 
borgene Schwermut unb bas in allen Sreuben weiter bur* 
e Xlngenttgen feinem Bewußtfein fremb geblieben, 
ltnb noch lächelte JTTunb unb Auge in ungebrochener £e» 
bensfrifche unb oon jenen geheimen 3ügen ber Gebunben* 


IOI 



heit uni fiebertsfcheu, bie wir im Bilbe des geliebten ©ich« 
tera fennen, war noch ferner in bas reine öeficfjt gefom* 
men, es fei benn als ein oorübergleitenber Schatten. 

3nbem er ftanb unb flaute unb mit jarten, witternben 
Sinnen ben jungen Sommertag etnfog, für flugenblitfe 
ganj allein unb abgerüeft unb außerhalb ber 3eü, fam ein 
Stubent in lärmenber löUbfjeif bie Treppe herabgerannt. 
6r fab ben Berfunfenen (leben, fam mit flürmifchenSähen 
einbtrgefprungen unb fchfug bem Träumer b e ftiQ beibe 
Jpänbe auf bie fcbmalen S(buttern. 

Grfcfjrotfen unb aus tiefen Träumen gerüttelt toenbete 
Jftörife fief) um, Abwehr unb einen Schatten oon Beleibi* 
gung im Gefleht, bie großen, milben flugen noch oom 
Glanj ber furjen Gntrücfung überflogen. ©och alsbalb lä* 
cbette er wieber, griff eine ber um feinen £als gefegten 
$änbe unb hielt fie fefl. 

„DJaiblinger! 3<h hätte mir’s benfen fönnen. Wo rennfl 
bu wieber bin?'' 

BJilbefm BJatbtinger blitzte ihn aus hellblauen flugen 
an, unb fein ootter, aufgeworfener JTtunb oerjog ft<b 
fcbmoltenb wie ein »erwähnter unb etwas btafierter BJei» 
bermunb. 

„HJoIjin?" rief er ht feiner heftigen unb rafllofen Art 
„XÖohin fott ich benn fliehen, oon eu<b präbeflinierten Pfaf* 
fenbäuchen weg, wenn nicht ju meinem djineftfiben <Jte» 
fugium braufSen im BJeinberg, ober oie(teidf)t lieber gleich 
bireft in meine Kneipe, um meine Seele mit Bier unb XOetn 
ju überfchwemmen, bis nur bie bäcbflen Gebirge noch aus 
bem ©retf unb Schlamm herausragen. D JTtewigef, bu 
warft ja noch äer einzige, mit bem ich gehen fönnte, aber 
weißt bu, am 6nbe bifl auch bu bloß ein Jrjeimtücfer unb 
fauler Phitifler. Jtein, ich habe niemanb hier, ich habe 
feinen Sreunb, es wirb nächflens gar feiner mehr mit mir 
gehen wollen! Bin ich nicht ein ^answurfl, ein Ggoifl unb 
wüfler Saufbotb? Bin ich nicht ein 3ubas, ber bie Seelen 
feiner Sreunbe oerfauft, jebe für einen ©ufaten an ben 
Berleger Srantfh in Stuttgart?" 


102 


Jttörife läcfjelte unb faf) bem Jreunbe in bas erregte, 
toilbe Geficfjt, bas ihm fo oertraut unb fo merfwürbig toar 
mit feiner 3Ttifcf>ung oon brutaler Offenheit unb patfjett» 
fd&er Schaufpielerei. Oie langen toef)mben £otf en, mit toel* 
tfjen XOaiblinger in Tübingen aufgetreten toar, unb bie 
if>m fooiel Jlufjm unb Spott eingebracf)t hatten, waren 
jetjt gefallen. 6 r fjatte fie fich fürjUch, in einer gerührten 
Stunbe, oon ber 5rau eines Befannten mit ber Schere ab* 
frfjneiben laffen. 

„Ja, HJaiblinger," fagte JTtöriPe (angfam, „bu machft 
es einem eigentlich nicf)t leicht. Oeine £o<fen f>afE bu ge* 
opfert, aber bafi bu bir oorgenommen f)afi, oor JTiittag 
fein Bier mehr 3 U trinfen, bas f>afl bu, fcheint’s, toieber 
oergeffen." 

„fleh bu! 3 e 0t fängfl auch bu bas JJrebigen an! 6 s ifl 
ein 6 lenb. 3ch aber fage bir, bu wirft eines Tages in einer 
ftinfigen £anbpfarre ft£en unb wirft fieben Qahre um, bi« 
Tochter beines $errn Patrons bienen unb einen Bauet) 
babei befommen, unb wirft bas Gebäcf>tnisbeiner befferen 
Tage oerfaufen um ein £infengericf)t unb wirft beinen 3 U * 
genbfreunb oerleugnen um einer Gef)altsaufbefferung wil* 
len. ©enn fiefje, es wirb eine Schanbe unb Tobfünbe fein, 
für meinen Sreunb ju gelten. JTTewigel, bu bift ein Jpeims 
licf)tuer, unb es ifl mein $lucf>, bafi icf» bein Jreunb fein 
rnufi, benn bu fjältfl mich für einen Uerworfenen, unb 
wenn id) in ber üerjweiflung meiner Seele ju bir fomme 
unb mief) an bein i^erj werfe, bann wirffl bu mir oor, 
bafi i«f> Bier getrunfen habe. Ttein, icf) f>abe nur einen 
Sreunb, nur einen einjigen, unb gu bem will icf) geben. Oer 
ifl meinesgleichen, unb bas ^jentb f)ängt ifjm aus ben Sj 0 * 
fen, unb er ifl feit jwanjig fahren fo oerrüeft, wie icf) es 
balb aucf) fein werbe." 

6 r f)<elt inne, neflelte hoflig an feinem langherabhäru 
genben J?alstucf)e, bas er unter bie BJefle flopfte, unb fuhr 
plöhlich oiel fünfter unb beinahe bitfenb fort: „Ou, ich will 
jum Jpölberlin gehen. Äommfl bu mit?" 

JTtörife geigte mit ber ^janb burchs offene tFenfler, mit 
einer unbeflimmten weiten Gebärbe. 


103 


„Ott gucP’ einmal hinaus! Oos ifl fo fcfjört, täte bas 
olles int Trieben Hegt unb bie Sonne atmet. So f>ot e9 ber 
Sölberlin oucf) einmal gefefjen, wie er feine Obe oom 3leP» 
Portal gebietet bat. — ga, icf) Pomme mit, natürü 6)." 

Sr ging ooran, UJaiblinger ober blieb einen flugenbücP 
fielen unb blicPte hinaus. Oann legte er, im 3?a<beiten, bem 
Sreunbe bie Sonb ouf ben flrm unb nicfte mehrmals nach» 
benflicf), unb fein unfietes Seficbt war füll unb gefpannt 
geworben. 

„Bifl bu mir bös?" fragte er Purj. 

JTtöriPe lachte nur unb ging weiter. 

„ 00 , es ifl frf)ön broufjen," fuhr EJaiblinger fort, „unb 
bo bot ber Sölberlin oielleicbt feine fdjönflen Soeben gebirf)* 
tet, wie er onfing, bos 6riedf)en(onb feiner Seele in ber Sei* 
mot ju fueben. Du oerflebfl bos oueb, unb beffer 0(3 icb, 
bu Pannfl fo ein Stütf Schönheit gang fliit oufnebmen unb 
wegtragen unb bann einmal wieber ousflroblen. Oos Pann 
i d) niebf, noch nicht, itb Ponn niebt fo rubig unb flill unb 
gebulbig fein. UieIIeicf)t einmal fpöter, wenn icb rubig unb 
ousgetobt unb olt geworben bin." 

Sie traten ouf ben Stiftsbof unb Übertritten bie 
Scbotfengrenje, XBaibtinger nahm ben Sput oom Äopfe 
unb atmete begierig bie worme Sonnenluff. fln ölten 
(lillen Raufern oorbei, beren grüne ^oljlaben ouf ber 
JTCittagfeite gegen bie Jpifje gefcf)loffen waren, gingen fie 
bie Söffe hinab bis jum Soufe be9 Scbreinernteiflers 3im» 
mer, wo eine fauber gefettete £abung oon frifeben tonne» 
nen Brettern in ber blonPen DJärnte glänjte unb buffete. 
Oie Soustüre flonb offen unb olles war füll, ber JHeifler 
hielt noch JTCittagspaufe. 

Als bie günglinge itt9 Sous traten unb ficb jur Treppe 
wonbten, bie $u be9 wobnfinnigen Dichters SrFerjimmer 
binouffübrte, öffnete ficb itt ber bunPeln Sousflur eine 
Tür, aus einem burebfonnten Stübcben her brong weiches 
Eicht in Strahlen heraus, unb barin erfebien ein junges 
JTtäbcben, bie Tochter be9 Schreiners. 

„SrüfS Sott, gungfer £otte", fagte JHöriPe freunblicb. 


104 


Sie f4>oute einen Augenblicf licfjtblinb in ben fcfjatti« 
gen Jlaum, bann fant fie näher. 

„Grüß Gott, 3f>r Herren, Acf), Sie finb’s? Grüß Gott, 
$err UJaiblinger. 3<», er iß broben." 

„Xöir motten ifjn mit fpagieren nehmen, toenn toir 
bürfen", fagte BJaibtinger mit einer einfcbmeicbetnben 
Stimme, bie er gegen alle jungen unb fjübfcben JTiäbtfjen 
im Gebrauch fyatte. 

„‘Das iß recht, bei bem fchönen KJetfer. Geben bie Herren 
toieber in9 Preffelfcbe Gartenbaus?" 

„3aroof)l, Jungfer Eotte. Äann if>n oie(fei<f)t fpäter je* 
manb bort abboten? 3cb frage nur. DJenn’s nief>t gut gebt, 
bringen mir ibn felber roieber. 

„D borf), icb fomme bann febon. Daß er nur nicht ju 
lang in ber beißen Sonne bleibt, es tut ihm nicht gut." 

;,Oanfe, icb mitl bran benfen. Atfo auf XOieberfeben!" 

Sie oerfebmanb unb mit ibr flob bie Sintflut hinter bie 
Stubentür gurücf. Oie beiben Stubenten ßiegen bie Treppe 
hinauf unb fanben bie Türe ju ^ötöertins 3immer f)alb> 
offen ßeben. JTiit ber leichten Scheu unb Befangenheit, 
melcbe fie tro£ mieberbolter Befucbe jebesmal oor biefer 
Schmede empfanben, näherten fie ficb langfam, BJaiblin* 
ger pochte an ben Türpfoßen; unb ba feine Antmort her« 
ausfam, febob er bie leife in ben Angeln reibenbe Tür be* 
butfam meiter auf, unb beibe traten ein. 

Sie fahen in bem fef>r einfachen, aber hübfeben unb lieh* 
ten Jlaum, beffen Senßer auf ben JTecfar gingen, bie hob« 
Geßalt bes Unglücflidjen in ein Senßer gelehnt, auf ben 
unmittelbar unter bem Grfer bahinßrömenben Stuß blif* 
fenb. ^ölberlin ßanb ohne Jlorf in ^embärmeln, ben 
fchlanfen S?al& bloß, bas ^aupt leicht gegen ben Stuß 
hinabgebeugt. Jtahe beim Senßer ßanb fein Schreibtifcb, 
Gänfefebern ßafen in einem Behältnis, eine lag quer über 
mehrere betriebene Papiere fßnmeg gelegt. Gin fcbmacber 
Euftjug lief oom Senßer her unb raffelte in ben Blättern. 

Bei bem Geräufcb menbete ber Oübter ficb um, er nahm 
bie Gingetretenen mahr unb bliefte ihnen aus feinen fcf)ö* 


105 


nen, reinen Augen entgegen, inbertt fein Bürf auf JTtörife 
fiel, Öen er nicht gu erfemten fefjien. 

Berlegen machte biefer einen Meinen Bürfling unb fagte: 
„Guten Tag, Sperr Bibhotfjefor. löte gebt es 3hnen?" 

Der Dichter fdjlug ben Blicf gu Boben, lief} bie noch auf 
bem Senfiergefima ruljenb jpanb finfen unb oerneigte fid) 
tief, inbent er unoerßänbiiche, bcmiitige JBorte murmelte. 
IBieber unb raieber oerneigte er fiel) in fcbauerlicfcernfl» 
baffer Ergebenheit, bürfte fein fchönea, fchmarf) ergrautes 
jjaupt tief hinab unb legte bie ^änbe über ber Brufl gu» 
fommen. 

XBaiblinger trat oor, legte ihm bie j?anb auf ben Arm 
unb fagte: „£affen Sie’s gut fein, oerehrter Jjjerr Biblio* 
thefar." 

Jlocbmals bürfte jpölbertin fich tief unb murmelte halb» 
laut: „3a, königliche JRajeßät. BJie Eure JTTojeflät bes 
fehlen/' 

llnb inbem er XBaiblinger in bie Augen fah, erfannte 
er ihn, ber fein Sreunb unb häufiS" Befucfjer toar; er 
hörte auf, feine Bezeugungen gu machen, lief} fich hie 
Jpanb fchütteln unb mürbe ruhig. 

„BJir toollen fpagierengehen", rief ber Stubent ihm gu, 
ber biefem Äranfen gegenüber ettoas oon feinem reigbar 
ungleichen HJefen oerlor unb im Umgänge mit bem oer« 
ehrten Schatten eine ihm fonfi faum eigene Güte unb fanfte 
Überlegenheit geigte, toie er benn überhaupt gu feinem 
JRenfchen in einem fo gleichmäßigen unb (iebenben Ber» 
hältnis lebte toie gu bem geiflesfranfen Dichter, ber mehr 
als breißig 3af)re älter toar, unb ben er balb fanft unb 
fchonenb toie ein gutes Äinb, balb ernß unb oerehrenb toie 
einen eblen Sreunb angufaffen mußte. 

JRit Bermunberung unb ©erlegener Führung fah nun 
ber Stubiofus JRörife gu, mie fein ungeßümer unb hoch* 
fahrenber Sreunb fich mit feltfam garter Teilnahme unb 
mit einer gemiffen Übung unb Gefchirflichfeit bes franfen 
JRenfchen annahm. IBaiblinger fd)ien fich 5« ^ölberlins 
Stube genau ausgufennen. Bon einem Jlagel hinter ber 
Türe brachte er bes BJahnfinnigen Gehrorf, aus einer 

106 



Schublade fern wollenes Spalatud) fjeroor und f>otf dem 
folgfanten Äranfen in feine Äleider tx>te eine JTCutter dem 
Jßnde. 6r roifcfjte mit feinem Xafrf>entucf)e den Staub oon 
Hölderlins Änien, er furf)te deffen großen fcfjroarjen $?ut 
heroor und bürflete ihn forgKcf) rein, und dagwifchen redete 
er if)m ju und ermunterte ifjn befiändig: „Sofo, Sperr B« s 
bliotbefar, je£t hoben mir’s gleich, jawohl. So, fo ifl’s 
recht, fo i|l’s gut. Dann gehen mir an die £uft hinaus und 
ju den Bäumen und Blumen, es ifl fthön Wettet heut. 
So, je0t noch den Sput ouf, s’il vous platt“ XBorauf der 
alte Hichter nichts erwiderte als etwa einmal in höflicf)» 3 er» 
flreutem Xone die HJorte: „euer Gnaden befehlen es. 
Je vous remercie mille fois, Sperr oon DJaiblinger." Gr 
lief} fich betreuen und hielt willig fland, und fein ehr« 
würdiges Geficht mit den nur teilweife gerflörten adlig» 
fchönen 3ügen fchien bald ooll gerfhreuter 6leichgültigfeit, 
bald in einer heimlich belufligten, hohen Überlegenheit gu* 
jufefjauen. 

JTtörife war an den Schreibtifch getreten und las, ohne 
das Blatt jedoch in die Hände ju nehmen, flehend in einem 
der offentiegenden JTtanuffripte. 3n metrifch tadellofen, 
wohlgebauten Herfen fland da ein Stücf oon des jerflörten 
Hichtergeifles Schattenleben aufgejeichnet: flüchtige, oon 
törichtem ltnfinn unterbrochene ßedanfen und Etagen, da» 
jwifrf)en Bilder ooll reiner Hnfchauüchfeit, in feiner emp» 
findlichen, fein gepflegten Sprache ooll JTiufif, aber immer 
wieder geflört und oemichtet durch plögtich dajwifchenge* 
ratene löorte und Sä£e eines ledern*pedantifchen Äanglei« 
fliles. 

„So, je0t fönnen wir ja gehen", rief XBaibtinger, und 
Hölderlin folgte ihm fogleüh willig, nicht ohne noch im 
Sehen gu wiederholen: „Her Sperr Baron befehlen. 6uer 
Gnaden untertänig gu Öienflen." 

Hager und groß fchritt Friedrich Hölderlein hinter 
BJa'tblinger her über den umgäunten H°f «nd durch Öie 
Gaffe, den großen H ut bis dicht über die flugen hrrab» 
gezogen, leife oor fich hin murmelnd und fcheinbar ohne 
einen Blicf für die BJelt. Bei der Jtecfarbrücfe aber, wo 


107 



Keine barfüßige Büblein fauerten unb mit einer toten 
Cibechfe fpielten, blieb bie fchlanfe, mürbevolle Geßalt einen 
flugenbltrf flehen, «m oor ben beiben Äinbern tief ben 
S?\xt gu giehen. JTiörife ging neben ihm, unb ba unb bort 
blicfte man aus Jenßern unb Haustüren bem grotesfen 
Keinen 3uge nach, borf) ohne viel Erregung unb JTeugierbe, 
benn jebermann fannte ben verrücften Dichter unb mußte 
non feinem Schicffal. 

Sie ßiegen an f)übftf)en bufcfjigen Gartenfjägen unb 
TBeinbergmäuerchen vorbei ben fonnigen Dßerberg hinan. 
Boraus ging ßattlich bie fraftvolle, ßro£enbe Geßalt 
BJaiblingers, meiner längß aus Grfahrung mußte/ baß 
Sölberlin niemals oorangefje unb einer Führung bebürfe. 
Oiefer frfjritt (angfam unb ernßhaft, ben Blicf am Boben, 
unb neben ihm ging ber garte JTiörife fjer, gleich feinem 
.Kameraben fcfjmarg gefleibet. Jn ben Oliven ber .Rebberg« 
mauern blühte ba unb bort blauroter Storrfjfcfjnabel unb 
meiße Schafgarbe, baoon riß 4?ölberlin gumeilen einige 
Stengel ab unb nahm fie mit ficf». Oie J^e fehlen ihn nicht 
angufechfen, unb als fie oben haltmachten, blicfte er bet* 
friebigt um fi«h- 

Jrjier ßanb bas chinefifche Gartenhäuschen bes Dberhel» 
fers JJreffel, bas im Sommer ßets an Stubenten unb je^t 
fcf>on feit längerer 3eit an TBaibfmger vermietet mar. Oie« 
fer gog einen großen Schtüffel aus ber Xafche, ßieg bie 
paar Steinßufen gum Gingang empor, fchtoß bie Xür auf 
unb manbte fich mit einer feierlich ehtlabenben Gebärbe an 
ben Gaß. 

„Xrcten Sie ein, $err Bibüothefar, unb feien Sie miß« 
fomrnen!" 

Oer Oichter nahm feinen ^ut ab, ßieg hinan unb trat 
in bas Keine Räuschen, bas er tängß fannte unb liebte. 
.Kaum mar auch XGaibtinger eingetreten, fo manbte er fi<h 
an biefen mit einer tiefen, refepeftvollen Berbeugung unb 
fprach mit ptehr £ebf>aftigfeit als fonß: „Guer Gnaben ha* 
ben befohlen. 3cf> empfehle mich 3f>nen, iperr Baron, Gure 
^errlichfeit mirb mich in ©ero l)of)tn Schuh nehmen. Votre 
tres humble serviteur.“ 


Darauf trat er oor ben Scfjretbttfrf) unb ßarrfe mit an« 
gelegentlichem 3ntereffe nach öer BJanb empor, wo HJatb« 
linger in großen griechischen Schriftzeichen ben geheimnis* 
oollen Spruch „6in unb All" angebracht hotte. Bor biefem 
3ei<hen oer»eilte er minutenlang in gefpannter JTachbenf* 
lichfeit. JTlörife, in ber leifen Hoffnung, ihn je^t einem 
6efpräcf) zugänglich ZU finben, näherte fich ihm unb fragte 
behutfam: „Sie Scheinen biefen Spruch Z u fennen, Jperr 
^ölberlin?" 

6r mich ober alsbolb gurücf unb oerfchanzte Sich in fein 
unburchbringliches ^öflingsjeremoniell. 

„JItajeßät," fogte er mit großer Seierlichfeit, „biefes 
fann unb borf ich nicht beantworten." 

6r trug ben unorbenttich zufommengerafften Blumen« 
ßrouß noch in ber Jpanb, ben er nun (angfant mit ben Sin» 
gern zerpflücfte unb in bie Xafchen feine9 .Rocfes ßopfte. 
BJährenbbeffen roar er an bas breite, niebere Senfler ge» 
treten, ba9 über ben (ichten BJeinberg unb bie tiefer lie» 
genben Gärten hinweg eine »eite ßüle Ausficht auf bas 
Slußtal unb auf bie hohen Berge ber Alb barbot. 3n ben 
Anblicf ber heilen, friebeoolien Sommerlanbfchaft oerfun* 
fen, blieb er ßehen, tief bie reine, oon Sonnenfchein unb 
•Kebenblüte erfüllte £uft atmenb, unb an feinen entfpann» 
fen unb beglücften IRienen »ar zu merfen, baß biefem 
Schönen Bilbe feine Seele noch in ber alten 3arfheit unb 
heiligen empfänglichfeit offenßehe unb Antwort gebe. 

IBaibUnger nahm ihm ben Sput aus ber jrjanb unb 
Sprach ihnt zu, fiel) oufs Geftnts bes Senßers zu fefcen, 
»a3 er fogleidf) tat. Darauf erhielt erß ^ölberün, bann 
JTiörife oom Hausherrn eine »ohlzubereitete Xabafspfeife 
überreicht, unb nun faß ber franfe Dichter begnügt unb 
Zufrieben rouchenb, frf)»ieg unb blicfte ruhig in bas fom» 
merliche Xal hinaus. Sein raßlofes JTlurnteln »ar oer* 
ßummt, unb oielleicht hotte fein ermübeter Geiß z u Öer» 
hohen Sternbilbern feiner Grinnerung zurücfgefunben, 
unter »eichen er nicht bie furze herrliche Blüte feines Gebens 
gefeiert, unb beren Jtamen feit zwei {Jahrzehnten niemonb 
mehr ihn hotte nennen hören. 


109 



Scfjweigenb batten bie Sreunbe eine Weile ben Äauch 
0U8 ihren Pfeifen gefogen unb bem flillen JTiann am Jen* 
fler jugefchaut. Dann erhob fi(h Waiblinger, nahm ein 
Schreibheft ju Jpänben, bas auf bem Xifcf) lag, unb be« 
gann mit feierlicher Stimme: „Bereiter S)txx Bibliothe» 
far, es ifl 3hnen wohl befannt, bafj mir brei ein Kollegium 
oon Dichtern oorflellen, wenn auch feiner oon uns jungen 
Anfängern fich mit bem Dichter bes unterblieben Jrjpperion 
Dergleichen barf. Was fönnte nun natürlicher unb fcfjäner 
fein, als baß ein jeber oon uns ettoas oon feinen Gebieten 
ober Gebanfen oortrage? 3n biefem £eft hier höbe ich 
allerlei aus 3f>ren neueren Schriften gefammett, fyexx Bi« 
bliothefar, unb ich bitte Sie herjlich, lefen Sie uns ettoas 
baraus oor!'* 

6r gab ^ölberlin bas Schreibheft in bie Jpanb, bas bie» 
[er fogleüh roieberjuerfennen fchien. Gr flanb auf, begann 
in bem Keinen «Raum hm unb toiber ju fcfjreiten, unb 
plöhltch h«b er mit lauter Stimme unb mit einer getoiffen 
ergreifenben Keibenfchaft an, Solgenbes oorjulefen: 

„Wenn einer in ben Spiegel flehet..." 

JBährenb bes £efens hotte fein Pathos fich noch immer 
gefleigert, unb bie Stubenten toaren ben feltfamen, ju= 
weilen tief unb fcf)rerflich<bebeutfam lautenben Worten 
nicht ohne Bangigfeit unb geheimen Schauber gefolgt. 

„Wir banfen 3f)nen", fagte JTiörife. „Wann hoben Sie 
bas gefchrieben?" 

^ Allein ber Äranfe liebte es nicht, gefragt ju werben, er 
ging nicht barauf ein. Statt beffen hielt er bem Qüngling 
bas Schreibheft oor bie Augen. 

„Sehen Sie, Roheit, hier fleht ein Semifolon. 6uer 
jpoheit Wunfch ifl mir Befehl. Non, votre Altesse, bie Ge» 
btchfe bebürfen bes «Kommas unb bes Punftes. 6uer Gna« 
ben befehlen, bafj irf> mich jurücfjiehe." 

Damit fepte er fich ojieber ins Senfler, begann an ber 
erlofchenen Pfeife gu fangen unb richtete feinen Blicf auf 
ben fernen «Roßberg, über welchem eine lange, fchmale 
Wolfe mit golbenen «Räubern flanb. 


IIO 


„Du hafl bocf) auch etwas gunt Borlefen?" fragte IBaib* 
linger feinen Jreunb. 

JTiörife fchüttelte ben Äopf unb fuhr mit ben Fingern 
burcf) fein blonbes, frauenhaft gartes Jrjaar. 3n feinem flei« 
nen Stehpult ©erborgen bewahrte er feit furgem gwei neue 
Gebiete auf, welche „fln Peregrina" überfchrieben waren, 
unb oon benen feiner feiner Sreunbe wußte. BJohl wußten 
einige pon ihnen um bie fonberbare romantifche £iebe, 
beren fchönes Seugrtis jene Sieber waren; por XÖaiblmger 
aber hatte er nie bapon gefprochen. 

„Du biß ein Querfopf", rief HJaiblinger enttäufcht. 
„Xöarum höltß bu bi«h ©or mir fo perborgen? Sjltr oben 
hat man ben fjerm auch feit HJothen nimmer gefehen! Der 
Souis Bauer macht e9 gerabefo. 3f)r feib perfluchte $eig» 
(inge, 3hr Xugenbhelben!" 

JTiörife wiegte unruhig feinen Äopf h*n unb wiber. 

„IBir wollen uns Heber oor bem bort nicht ganfen", 
fagte er leife mit einer Gebärbe gegen bas Xenßer. „Ufas 
inbeffen ben Xugenbhelben betrifft, ba f>afl bu bUh ge» 
täufcht. JTCein BJerter, ich bin le£te Xöoche wieber einmal 
acht Stunben im Äarger gefeffen. Das follte mich rehabi» 
litieren. Unb nächfiens fann ich bir auch wieber einmal 
etwas oorlefen." 

UJaiblinger hatte feinen Jrjembfragen weit aufgefnöpft 
unb ben Jiocf ausgewogen, feine mächtige, bunfel behaarte 
Bruff fchaute bur«h ben jpembfpalt. 

„Du bifl ein Diplomat," rief er feinbfelig, „man weif} 
nie, wie man mit bir fleht. Aber ich will es jegt wiffen, bu. 
XBarunt weichet ihr mir alle aus? BJarum fommt feiner 
mehr ins chinefifcfje Gartenhaus? UJarunt läuft mir ber 
Gfrörer baoon, wenn ich ihn anreben will? fleh, ich weif} 
ja alles! flngfl habet ihr, elenbe lumpige Stiftlersangß! 
3hr feib wie bie .Hatten, die ein Schiff oor bem Untergang 
perlaffen! Denn baf} ich nä<hflen9 einmal aus bem Stift 
herausgeworfen werbe, bas wiffet ihr ja beffer als ich. 
3ch bin gegeichnet wie ein Baum, ber gefällt werben foll, 
unb ihr gieht euch gurilcf unb fehet gu, bie Jjjänbe in ben 
Xafchen, wie lang icfj’s wohl noch treibe. Unb wenn fie 


ui 



mich bann abfägen, bann feib if>r bie Schlauen unb fönnt 
fagen: $aben wir’s nicht fcfjon lange gefagt? BJenn ber 
Bürgersmann eine rechte Sreube hoben foll, bann muß 
einer gef>enft werben, unb ber bin icf). Xlnb bu, bu ßef)ß 
auef) bei benen brüben, unb oon bir iß es nicf>t recf)t, bu biß 
bocf) bei Gott mehr afs bie gange «Hotte. Bu unb icf), wir 
fönnten miteinanber bas ganje Patf in bie £uft fprengen. 
Aber nein, bu fjoß beinen Bauer unb beinen 4f>artlaub, bie 
laufen bir nach unb bilben ficf) ein, fie wären auch fo eine 
Art oon Genius, wenn fie ficf) an beinern Jeuer wärmen, 
llnb icf) fann allein bleiben unb an mir felber erßitfen, bis 
icf) faput bin! Gs iß nur gut, baß icf) ben jpölbertin habe. 
3cf> glaube, ben haben fie auch feinerjeit im Xübinger Stift 
faputt gemacht." 

„3a, ba muß icf) lachen", fing JHörife befänftigenb an. 
„Bu fcf)impfß, icf) fäme nimmer %u bir ins Gartenbaus. 
Aber wo fi£en wir benn grabe je£t? Xlnb icf) bin auef> 
manchmal ben Dßerberg fjeraufgeßiegen, aber ber Büüb« 
linger hotte in ber Betfei unb beim Eammwirt unb in 
anberen Äneipen ju tun. Bielleicf)t iß er aucf> f)tcr brinnen 
gefeffen unb hat bloß nicht auftun mögen, fo wie er’s ein« 
mal bem £ubwig Uf>lanb gemacht f>ot." 

Gr ßretffe bem «Rameraben bie $anb hinüber. 

„Sieh, Bülheim, bu weißt, baß ich nicht immer mit bir 
einoerßanben fein fann — bu biß es ja felber nicht. Aber 
wenn bu meinß, ich höbe bich immer gern, ober wenn bu 
gar befjaupteß, mir fei mein Plätzen im Stift ju lieb, unb 
ich höbe Angß, für beinen Sreunb ju gelten, bann muß ich 
einfach lachen. £ieber foll man mich brei Xage in ben «Rar» 
ger fe^en, als baß ich an meinem Sreunb ben 3ubas mache. 
BJeißt bu’s jeh't?" 

BJaiblinger brütfte bie hingebotene J?anb fo heftig, baß 
fein $reunb fchmerglicf) ben OTiunb oersog. Stürmifcf) fiel 
er ihm um ben Jpals, ber ficf) feiner faum erwehren fonnte, 
unb plöhlicf) hotte er bie Augen ooll Iränen, unb feine um* 
fcfßagenbe Stimme flang hoch unb fnabenhaft. 

„3cf> ojeiß ja," rief er fcfjluchgenb, „ach, *<h uttiß, ich bin 
beiner gar nicht wert. Bas bumme Saufen hot mich her» 


112 


untergebrarf)t. Du weißt jo mrf)t, tote elenb irf) bin, bu 
fennß bas olles nirfjt, toas irf) burdjmarfje unb toas mirf) 
norf) tötet, bu fennß bas UJeib nirf)t, biefe wunberbare 
rätfel^>ofte Srau, an ber irf) mirf) oerblute" 

,,3rf) fenne fie fcfcon", meinte Ebuarb trösten, unb er 
barf)te, mit einer ((einen Erbitterung gegen ben Sreunb, an 
feine eigenen Srfjmergen um JJeregrina. 

„Du fennß fie nic^t, fag’ ist), toenn bu fie aurf) gefefcen 
f>äß unb ifjren Flamen weißt. Du, iß fie nirf)t wafmfinnig 
frf)ön? Äann fie benn ettoas bafür, baß fie eine (fübin 
ifl, unb fönnte fie fo rafenb frfjön fein, toenn fie’s nirfjt 
wäre? 3<f> oerbrenne an if>r, irf) fann nitfct lefen mef>r, 
frfjlafen, nirfjt bitten, erfl feit irf) if>ren Bufen gefügt 
unb an ifjrem Jpals geweint f>abe, weiß irf), toas Srfjirf« 
fal iß." 

„Srfßrffal iß immer Siebe", fagte JTCörife (eife, unb 
barf)te mef>r an peregrina als an ben Sreunb, beffen ßiir* 
menbe Selbßenfblößung if)m quälenb war. 

„flrf) bu," rief jener fdjmerglirf) unb fanf in feinen Si£ 
gurürf, „bu biß ein ^eiliger! Du ßel)ß überall nur wie 
ein XOärf)ter babei unb f)aß überall nur Teil am Srfjönen 
unb 3arten, unb nirf)t am J?äßUrf)en unb Giftigen. Du biß 
ein ßiller guter Stern, aber üf>, irf) bin ein dornet, ist) bin 
eine wilbe nu^Iofe Sarfel unb oerbrenne in ber JIarf)f. Xlnb 
i<f> will es aurf) fo, irf) will oerflarfern unb oerbrennen, es 
iß 0«t fo unb iß nirf)t frfmbe um mirf). lOenn irf) nur oor* 
fjer norf) einmal etwas 6utes unb Großes frfjaffen fönnte, 
nur ein einziges, ebles, reifes UJerf. €s iß ja alles nichts, 
was ii> gemacht fjabe, alles frf)warf) unb eitel unb in mir 
felbß befangen! Der bat es gefonnt, ber bort brüben im 
Senßer! Der l>at feinen ^pperion fßngeßellt, ein Sternbilb 
unb ein Denfmal feiner großen Seele, llnb bu fannß es 
ttutf), bu wirß in aller Stille gute unb große BJerfe frf>af« 
fen, bu Unf)eimtirf)er, bem irf) nie gang in’s Jperg fefjen 
fann. Df), irf) fenne fie alle, ben Pßger in Stuttgart unb ben 
Bauer unb alle miteinanber, ist) fyxbe fie burrf)frf)aut unb 
ausgeteert unb oerbraucbt — wie Jlüffe, wie Jlüffe! 
3tur bu f)aß immer ßanbgefxtlten, nur bu f>aß bein Ges 

113 


8 55>ic beutfcße JtotoeHe. 


tjeimnts in bir bewahrt! ©ich fenn’ id) noch immer nicht, 
bid) fann ttf) nicht auffnaefen unb oerbrauchen! JTtit mir 
gebt es fcf)on abwärts, unb bu flehfl noch im Anfang. JTiir 
wirb es geben wie unferem Jfjölberlin, unb bie Äinber wer* 
ben mich ausiacben. Aber icb habe feinen ^pperion ge* 
bicbtet!" 

JTiörife war fef>r emfl geworben. ,,©u hofl ben Phaeton 
gebietet," fagte er gart. 

,,©en Phaeton! ©a wollte icb grie<hif<h fein, unb wie 
»erlogen, wie wiberßcb ifl bas 3eug geworben! Sprich 
nur immer oom Phaeton! ©ir fann idj’s nicht glauben, 
wenn bu ihn noch tobfl, bu flehfl fo hoch über biefer Spotts 
gebürt! Jtein, er ifl nichts wert, unb ich bin ein Stümper, 
ein jantmerooller Stümper. 

6s gebt mir immer fo, ich fange eine ©t<f)tung in fytlltr 
Jreube an, es glüht unb fprubett in mir unb läßt mich 
Tag unb 3la<ht nicht los, bis ich ben Strich unter bas lebte 
.Kapitel gemacht höbe, ©ann mein’ ich XDunber, was ich 
geleiflet hätte, unb nach einer BJeile, wenn ich’s wieber an* 
fehe, ifl alles fab unb grau ober alles grell unb falfch 
unb übertrieben. 3ch weif}, bei bir ifl bas gang anbers, 
bu machfl wenig unb brauchfl 3eit bagu, aber bann ifl 
es auch gut unb fann fich fehen taffen. Bei mir wirb aus 
jebem Ginfall immer gleich ein Buch, unb ich muf} fagen, 
es gibt nichts herrlicheres als fo fich h*ngufHirmen unb 
ausgugiefien im Jlaufch unb Seuer bes Schaffens. Aber 
nachher! nachher! ©a fleht ber Satan ba unb grinfl unb 
geigt ben Pferbefuf}, unb bie Begeiferung war Schwinbet, 
unb ber Ale Jlaufdf) war 6inbilbung. 6s ifl ein 5tuch!" 

,,©u muf}t nicht fo reben", fing JTiörife gütig an, bie 
Stimme oolt oon Trofl. „BJir finb ja noch Äinber, wir bür* 
fen noch jeben Xag bas wegwerfen, was wir geflem ge* 
macht unb fchön gefunben hoben. XOir müffen probieren 
unb lernen unb warten, ©er Goethe hot auch Soeben ge» 
fchrieben, oon benen er nichts mehr wiffen will." 

„Natürlich ber Goethe!" rief BJaiblinger gereigt. ,,©as 
auch fo rin «Ritter oon ber Gebulb, oom Abwarten unb 
3ufammenfparen. 3<h «tag ihn nicht!" 


114 


plö^firf) hielt er imte, unb beibe 3ünglinge flauten oer» 
rounbert auf. Jrpölberlin fjottc feinen Jenfierpla^ oertaffen, 
burcf) bie laute, heftige Unterhaltung beängfitgt, nun fianb 
er unb fchaute JTiörife an, fein Gefickt gucfte unruhig, unb 
feine hagere, lange Jigur fah bebürftig unb teibenb aus. 

Da beibe betroffen fchmiegen, neigte fiih ^ölberlin über 
JTlcmBes Stuhl/ berührte ihn oorficfjtig an ber Schulter 
unb fagte mit fonberbar f>of)ler Stimme: „Rein, Euer 
Gnaben, ber Sperr von Goethe in DJehnar, ber Sperr oon 
Goethe — ich Bann unb barf mich barüber nicht äußern." 

Das gefpenfiifche Dajroifchentreten bes DJahnfinnigen 
unb fein fdfjeinbares Gingehen auf ihr Gefpräch, bas bei 
ihm äußer fl feiten mar, hatte bie Sreunbe unheimlich be» 
rührt unb beinahe erfchrecft. 

Seht fing Jpötberßn roieber an, burch bie Bleine Stube 
gu wanbern, traurig unb geängßet hin unb h er B u vooru> 
bem wie ein gefangener großer Bogel unb unoerflänbßche 
bunBle DJorte oor fich hin gu reben. 

„DJir hatten ihn gang oergeffen!" rief DJaibßnger ooll 
Jteue unb «oar wie oerwanbelt. DJieber nahm er fich bes 
Dichters wie ein fanfter Pfleger an, führte ihn ans Senßer 
gurücB, lobte bie flusficht unb bie herrliche £uft, brachte 
bie am Boben liegenbe Pfeife wieber in Orbnung, trößete 
unb begütigte mütterlich. Unb wieber gewann JttöriBe ben 
anfprurf)8ooIlen unb unbequemen Jreunb, ba er ihn fo 
herzlich unb güteooll bemüht fah, non neuem fchntergooll 
lieb unb machte fich ßille Dorwürfe, ihn feit langem wirB« 
ßch oemachläffigt gu haben. Gr Bannte DJaibßngers phan> 
tafßfche llbertreibungsfucht unb bas unheimlich rafche Auf 
unb Ab feiner Stimmungen, aber was er non feiner ge« 
fährtichen 3übin burchs ^pörenfagen mußte, mar freilich 
bebenBÜch, unb bes Jreunbes nortger Ausbruch hatte ihn 
ernßtich geängßigt. Der garte unb empfinbtiche JTtöriBe 
hatte in DJaibßnger ßets ein Borbitb unnermüßßchen 3«* 
genbübermutes unb üppig fchwettmber Äraft gefehen; 
nun aber machte ber oon TrunB unb feeßfeher Selbflger« 
ßörung befchäbigte unb entßellte JTlenfch auch ihnt einen 
beängfHgenben GinbrucB, als gehe er oergweifetnb auf 


8 * 




einem abfchüffigen pfabe tiefer unb tiefer, einem unholben 
Scf)icffal entgegen, fluch bie feltfame Vertrautheit, ja 
Sreunbfchaft bes Sreunbea mit bem Geifles fronten erfaßen 
ifjm heut* 1 « einer unheimlichen Bebeutfamfeit. 

Srieblicf) faß inbeffen ber Sreunb neben feinem armen 
Gaße im Senßer, ber ßro£enb Junge neben bem ergrauten 
unb erlofchenen OTtann, Sie tiefer gerücfte Sonne fhrahlte 
«ärmer unb farbiger am Gebirge roiber, im Xale fuhr 
ein langes $Ioß aus Xannenßämmen ben Sluß hinab* 
wärts, Stubenten faßen barauf, fchwangen bütjenbe Xrinf* 
fel<he im Sonnenlicht unb fangen ein fräftigsfrohes £ieb, 
baß es bis in bie fülle Jrjöhe herauffchallte. 

IHörife trat gu ben beiben unb blüfte mit hinaus. Schön 
unb milbe lag bie geliebte Gegenb gu feinen Süßen, mit 
blanten £irf)tern blihte ber Itecfar herauf, unb mit ber 
fatten lauen £uft wehte Gefang unb ungebärbige Jugenb» 
iuß rote mit warnten £ebensatem herauf* HJarum faßen 
fie hier fa arm unb beraubt, biefe Dichter bes Ubers 
fchwanges, ber alte unb ber junge, unb warum ßanb er 
felber, oon f«hwanfenber Sreunbßhaft, unb oon einer be* 
fchämenb hoffnungslofen £iebe erfchüttert, fo unbefriebigt 
unb traurig baneben? BJar bas nur feine Gntpfinblichfeit 
unb Schwäche, baß er trüben Stimmungen fooft unter« 
lag, ober war es wirtlich bas Schicffat ber Dichter, baß 
ihnen feine Sonne fcheinen tonnte, beren Schatten fie nicht 
in ber eigenen Seele fammeln mußten? 

STlitleibig bachte er bem £eben Jrjölberlins nach, ber einß 
nicht nur ein Dichter, fonbem auch ein begabter Philolog 
unb ho<h 0 *ßmtter Ergieher gewefen war, mit Schiller im 
Verfehr geßanben unb als J^ofmeißer im Jpaufe ber Srau 
oon Äatb gelebt hatte. Jrjölberlin war, gerabe wie TRörife 
auch, ein 3ögting bes theologifchen Stiftes gewefen unb 
hätte Pfarrer werben follen, unb bagegen hatte er fich ge« 
ßräubt, wie auch JTCörife fich bagegen gu ßräuben gebachte. 
Seinen Hüllen nun hatte er burchgefe^t, aber wie hatte bie 
Hielt ben untreu geworbenen Stiftler, ben garthergigen, 
f<hücf)ternen Dichter empfangen? JIief>ts war ihm gewor» 
ben als Armut, Demütigung, junger, Jfjeimatloßgfcit, bis 


er aufgerteben mar unb ber jahrzehntelangen «Rranfheit 
oetfiel, melche mentger ein TBafmfinn ju fein festen als 
eine Ermübung unb f>offnungsIofe .Refignation bes oer« 
brauchten Geifies unb Jrjerjens. ©a faß er nun, mit ber 
göttlichen Stirn unb ben noch immer ergreifenb retnbltcfen» 
ben Augen, bas Gefpenfl feiner fetbß, in eine taube, ent» 
micfelungstofe «fiinbhett jurüefgefunfen, unb menn er noch 
Bogen oollfcfjrteb, aus benen jumetlen ein mahrhaft ftfjö« 
ner Tiers mie ein helles Auge aufbRcfte, fo mar es bocf> 
nichts mehr als bas Spiel eines «fiinöes mit bunten JTio» 
faiffleinen. 

IBie JTlörife fo ergriffen unb nacfjftnnenb hinter ben 
beiben ßanb, menbete ^ölberltn fitf) if>m ju unb flaute 
eine IBeile flarr unb furfjenb in bas femjügige, überaus 
jart belebte, etmas meiefje Jüngüngsgeficht, beffen Stirn 
unb Augen ooll oon Geiß unb ooll oon feetifefjer Äinbbeit 
roaren. Bielfeicfjt füllte ber Alte, mie ähnlich if>m felbfl 
biefer Junge fei, oielleirfjt erinnerte ihn bie .Reinheit unb 
befeelte jpelligfeit biefer Stirn unb ber tiefe, nocf> feines 
jarteßen Rauches beraubte Jünglingstraum in biefen 
herrlichen Augen an feine eigene Jugenb; bod> ifl es 
jmeifelhaft, ob nicht auch biefe einfache Gebanfenfolge 
f<f)on ju ermübenb für fein ©enfen mar, unb oielleicht 
ruhte fein unergrünblicher, emfler Blicf nur in rein finn« 
liehen Dergnügungen am Schönen auf bem Geficht bes 
Stubenten. 

BSährenb f*e alle brei eine TBeile fchmiegen unb jeber 
ben JTachhull ber oorigen lebhaften Ausfprache in fich fort» 
fchmingen fühlte, fam ben TBeinberg herauf bie Jungfer 
Hotte 3immer gefliegen. IBaibünger fah fte oon meitem 
unb fchaute bem ^eranfommen ber fräftigen JRäbchen« 
geflalt mit (Klient TJergnügen ju, unb als fie näher fam 
unb ihm, ber fie mit lautem 3uruf begrüßte, mit Hücheln 
juniefte, tat er einen Sprung burchs anbere Senfler unb 
ging ihr bie lebten Schritte entgegen. 

„6s ifl mir eine Ehre/' rief er überfchtoenglich unb mies 
einlabenb bie Steinflufen hinan» „es ifl mir eine Ehre, in 
biefer £laufe auch einmal ein fo hübßhes Fräulein be« 


grüßen gu bürfen. kommen Sie (jerein, werfe Jungfer 
Softe, brei 'Oicfjfer werben gu 3f>ren Süßen fnien." 

©03 JTiöbcfjen lachte, unb Ujr gefunbes ßefirfjt glühte rot 
com rafdjen Berganßeigen. Sie blieb auf ber Weinen 
Treppe ßefjen unb fjörte bem Ge töne bes Stubenten be» 
lußigt ju, Rüttelte bann ober furj ben blonben «Kopf. 

„Bleiben Sie lieber ßefjen, Jperr BJoibtinger, irf) bin nicht 
ons «Knien gewöhnt, llnb geben Sie mir meinen ©idjter 
heraus, itf> habe genug on bem einen." 

„Aber Sie werben borf) wenigßens einen flugenblicf 
fjereinfommen? 6s iß ein Tempel, Sräulein, unb feine 
«Räuberhöhle. Sinb Sie benn gor nicht neugierig?" 

„3ch famt’s ousfjolten, Jfjerr BJoibtinger. Eigentlich fyxb’ 
ich ntir einen Tempel immer anbers oorgeßetlt." 

„So? llnb wie benn?" 

„Jo, bas weiß ich nicht. Jebenfotts feierlicher unb ohne 
Tabafroucf), wiffen Sie. JTein, geben Sie fief) feine JTiühe 
mehr, es iß jo hoch nicht 3fjr 6rnß. 3cf) fomme nicht hinein, 
ich muß gleich aueber umfefjren. Bringen Sie mir nur 
ben ^ötberlin heraus, bitte, boß ich ihn heintbringen 
fonn." 

Hoch einigen weiteren Schergen unb Umßönblichfeiten 
ging er benn hinein unb winfte bem «Kranfen gum Auf* 
bruch, gob ihm feinen ^ut in bie Jpanb unb führte ihn 
gur Tür. ^ötbertin fchien ungern weggugehen, man foh 
es feinem Bticf unb feinen gögernben Bewegungen on, hoch 
fogte er fein BJort ber Bitte ober bes Bebouerns. JRit ber 
höftich^tabettofen Artigfeit, hinter welcher er feit fo nieten 
Jahren fich ®or alter BJelt oerfefjangte unb oerborgen hielt, 
wenbete er fich mit Bticf unb Uerneigung erß on JTtörife, 
bann on BJoibtinger, fcfjritt fotgfam gur Tür unb wonbte 
fich &ort mit einer lebten Berbeugung um. „Empfehle mich 
Euer Eygetleng gong ergebenß. Euer Ejgelleng haben be» 
fohlen. Ergebender ©iener, ©ero ^errfchoften." 

Sreunbtich nahm ihn braußen Sötte 3immer bei ber 
Jpanb unb führte ihn hinweg, unb bie gwei Stubenten 
btieben auf ben Stufen ßefjen unb fofjen ben hinweg» 
gehenben noch, n>ie fie gwifcfjen ben «Reben ben Berg hinab* 


gingen unb rafcf> Heiner würben, ber lange feterltcfje JTCann 
an ber jpanb feiner jungen Pflegerin. 3gr blaues «Rteib 
unb fein großer fcgwa^er $ut waren noch lange ju fegen. 

JTtörtPe fag, toie fein Sreunb mit traurigen BlidPen bem 
entfcgroinbenben llnglücPlicgen folgte. 3gm lag baran, ben 
empfinbticgen unb erregten JTtenfcgen ergeitemb ju 3 er* 
(treuen; auch wollte er felbß es oermeiben, in ber JUigrung 
einer unbewachten Stunbe alljuviel von feinem 3nneren 
ju enthüllen, benn lüaiblinger hotte feit JTionaten aufge* 
hört fein unbebingter Der trauter ju fein. JTtöriPe, ber an 
einfamen Tagen (hmbenlang einer grunblofen lüegmut 
nachhängen Ponnte, liebte es nicht unb hütete fich bavor, 
biefe Seife feines Pompligierten XÖefens anberen ju geigen, 
am wenigsten biefem Jreunbe, ber felbfl fo gern in einer 
faft wiberlicgen Preisgabe feines 3nnerflen gu fcgwetgen 
liebte. 

Äurg entfchloffen, ben Bann gu brechen unb fich felbfl 
famt bem Äameraben auf bie heitere Seite bes Eebens 
ginüberguretten, fcglug er fich Matfchenb aufs «Knie, fegte 
ein geheimnisvolles Geficht auf unb fagte im Tone fehlest 
geheuchelter Gleichgültigleit: „Übrigens, biefer Tage höbe 
ich einen ölten BePannten wieöergetroffen." 

BJoibUnger fah ihn on unb fah fein bewegliches Geficht 
vom leife guefenben BJetterleucgten gervorbreegenben S«» 
mors überflogen, bie gePräufelten JTlunbwinfel fpielten wie 
probenb in farPaßifcgen Sattungen, bie mageren HJangen 
fpannten fich über ben ßarPen BacfenPnocgen in fpigbübi* 
feger £aune unb bie eingePniffenen Augen fegienen vor ver» 
galtener TRunterPeit gu Pniflern. 

„30, wen benn?" fragte ÜJaibltnger in froger Span* 
nung. „Äomm, wir wollen gineingegen." 

3m Stübchen 30g JTtöriPe bie Jenflerlaben halb 3U, baß 
fie in woglig warmer Dämmerung faßen. 6 r ging elafltfcg 
gin unb ger, plöglicg blieb er vor Züatblinger flegen, lacgte 
luftig auf unb fing an: „ga, weiß Gott, ber JTTann nennt 
fieg Bogelbunfl, JTtufeumsbirePfor goaegira flnbreas 
IJogelbunfl aus SamarPanb, unb er behauptete, auf einer 
wichtigen, äußer(l wichtigen, folgenreichen Gefcgäftsreife 3 U 


fein. Er font non Stuttgart mit Empfehlungen oon Schwab 
unb JRatthiffon — unmöglich ihn abguweifen —, unb er 
wollte noch am felben Abenb mit Egtrapofl nach 3ürich 
»»eiterreifen, wo er oon hochflehenben Gönnern mit lln« 
gebutb erwartet werbe. Jlur ber «Ruf biefes entgücfenben 
TTCufenfipes, fagte er, unb ber fpegielle «Ruhm unb Glanj 
bea theologifchen Stifts, biefer ehrwürbigen Pflangflötte. 
ber ejfgellenteflen Geifier, habe ihn oeranlaffen fönnen, 
feine eilige Jleife für wenige Stunben gu unterbrechen, unb 
er bereue es nicht, nein wahrlich er hoffe es nie gu be» 
reuen, obwohl feine Sreunbe in 3üruh, JTiailanb unb 
Paris ihm feine Stunbe bes 3ufpötfommens oergetyen 
würben. 3n ber lat, Tübingen fei gang charmant, unb 
oornehmtich fo gegen flbenb in ben fllleen am Jtecfar 
herrfche ein gerabegu raoiffantes Jpeltbunfel, oon einer 
höchfl pittoresfen ©elifateffe, fogufagen romantifch'poe» 
tifch. Oer Emir oon Belutfcfnflan, oon bem er beauftragt 
fei, bie Abbitbungen alter fchönen Stäbte Europas in 
Äupferflich gu fammetn unb Seiner Roheit mitgubringen, 
er werbe entgücft fein, unb wo benn ein guter Äupfer» 
(lecher wohne, un bon graveur sur cuire, aber oerfleht fich 
ein JTTeifler, ein rechter Äünfller ooll esprit unb Gemüt. 
3a, ob es übrigens hier warme Quellen gebe? Glicht! Er 
glaube hoch baoon gehört gu hoben. Xlnb ob ber ©icfjter 
Schubart noch lebe — er meine jenen Xingtücflichen, ber 
oon Sriebrtch bem 6ütigen an bie Jpottentotten oerfauft 
worben fei unb bort bie afrifanifche Jlationalhpmne ge« 
bichtet höbe. Dh, er fei geflorben? Helas, ber Beflagena* 
werte! — 3nbeffen war mir hoch gang fonberbar gumute, 
wie ber «Kerl feine Suaba herunterraffelte unb bagu mit 
ben langen bünnen Jungem an feinen filbemen Jlocf» 
fnöpfen brehte. ©u ho fl ihn fchon gefehen, bucht’ ich 
immer, biefen ©ireftor Bogelbunfi mit feinen warmen 
Quellen unb feinen langen bünnen Spinnenfingem! ©a 
holt ber JTtann eine ©ofe aus feinem blauen langen Tuch* 
rocf, ber ihm hinten bis an bie Schuhe hinab ging, eine 
©ofe heraus, unb wie er fie auffchraubt unb in ben ge« 
fpenflifchett J^änben breht unb eine Prife nimmt unb bagu 


120 



in feiner heillos aufgeregten Bergnügtheit fo fjell und f>od) 
gu metfern beginnt, und tote er dann fo füß und äußer fl 
angenehm gu lächeln weiß und mit den Fingernägeln auf 
der ©ofe den Parifer JTiarfcf) trommelt, da iß rnir’s wie 
im Traum, und icf) quäle mich und rätfle t)erum wie ein 
Kandidat im Ejamen, wenn’s brenglicf) wird, daß ihm der 
Schweiß ausbricht und die Britlengläfer antaufen, ©er 
i?err 0ooä)im Andreas Bogeldunß aus Santarfanb ließ 
mir aber feinen Augenbücf gunt 3lacf>benfen, ordentlich 
als wiffe er, wie mir zumute fei, und habe feine türfifcf>e 
Freude dran und woite micf) ja noch recfjt lange fcfjmoren 
(affen. Bon Stuttgart ergählte er, und oon den amänen 
Gedichten des Sperrn Jltatthiffon, die er ihm eigenhändig 
oorgelefen höbe und welchen eine gewiffe intereffant«pifante 
Bteichfüchtigfect oon Kennern nicht abgufprechen fei, und im 
gleichen Atem fragt er aufs angelegentluhße, ob die direfte 
Poßroute nach 3üri<h über Btaubeuren führe, er höbe näm» 
lieh oon einem Stücf Blei gehört, das dort irgendwo liegen 
müffe und das oortrefflich in feine erßflaffige Sammlung 
oon Sehenswürdigfeiten paffen möchte, ©en Bodenfee ge« 
denfe er dann aucf> aufgufucf>en, um dort en passant am 
Grabe des ©oftors JTiesmer feine Andacht gu oerriehten. 
Bon dem tierifchen JTIagnetismus nämlich fei er ein alter 
treuer Anhänger, wie er denn auch dem Profeffor Stelling 
die Befanntßhaft mit dem Geiß des universi oerdanfe und 
überhaupt ein Freund der Bildung dürfe genannt werden. 
IBenigßens höbe er die Phantaßeßücfe oon Jrjoffmann ins 
Perßfche überfe£t und laffe alle feine Kleider in Paris 
arbeiten, fei auch oont feligen päfcha oon Affuan mit 
einem wertoollen Orden deforiert worden. Gr ßelle einen 
Stern dar, deffen 3acfen oon <Rrofodilgäf)nen gebildet wur* 
den, und früher höbe er ihn gern auf der Bruß getragen, 
einß aber einer Berliner Hofdame damit beim Tangen den 
Jpats oerwundet, weswegen er auf das Tragen diefer hüb« 
fcfjen ©eforation feitdem refigniert habe. Aber indem er das 
jagt, fährt fich der Jjjerr JTtufeumsdireftor mit der flachen 
$and fachte über den Scheitel, und das tat das JTtännlein 
fo fofend und gephirhaft, daß ich am ein <S?aar breit hötte 


121 



hinaustachen müffen. Denn je£t (onnte ich ihn — wer 
war’s?" 

„HJtfpel!" rief Hfaiblinger entgürft auf. 

„JUdjtig geraten. Gs war IBifpel. Aber er hatte (tcf) oer« 
änbert, bas muß tcf) fagert. Gang teile begann ich atfo 
meine Gntbecfung angubeuten unb fagte oorerfl, mir fei, 
ich habe if>n fcfjon früher einmal gefef>en. 6r fächelt. Gr 
fei gum erfienmal in feinem £eben in biefem fcharmanten 
£anbe unb in biefer entgücfenben Stabt, beren Bitb in 
Äupferßtcf) mitgunehmen er übrigens ja nicht oergeffen 
bürfe, aber obfchon er fef>r bebauere, firf) nicht erinnern 
gu fönnen, möchte es ja both immerhin wohl möglich fein, 
baß ich ihn fef>on gefrf>en hätte. 3n Berlin o teilet ef)t? Ober 
am Gnbe in Petersburg? Jtein? Ober in Uenebig? Auf 
Äorfu? JTieht? 3a, bann tue es ihm teib, es müffe tnoht 
ein angenehmer 3rrlum bes Jrjerm JTtagißers fein. — 
,3Tein/ fagte ich, ,je£t fällt mir’s ein, es i(t inDrptib gerne« 
fen!' — Gr ßu£t einen Augenblick. Drptib? 3a, richtig, ba 
fei er auch einmal gewefen, als Gefellfehafter bei bem alten 
Äönig Xttmon, ber aber teiber ingroifchen geflorben fein 
foll. ,t>a fennen Sie oielleicht auch meinen Jreunb IBifpel?* 
frage ich je£t unb fef>e ihm gerabe in bie Augen. — 3<h 
fann fchtoören; er war’s, aber meinfl bu, er hätte mit 
einer IBimper gegueft? Ttichts bergteichen! IBi — IBips — 
IBipf fagt er nachbenMich, unb tut, als fönne er ben wilb» 
fremben JTamen abfotut nicht ausfpreehen." 

„Großartig!" jubette IBaibltnger, „bas fieht ihm gleich, 
bem IBinbbeutet, bem Bogelbunß! Aber was hat er benn 
eigentlich oon bir gewollt?" 

„Ach, nichts Befonberes," lachte Jüörife, „ich ergäbt* 
bir’s bann. Aber jetjt muß ich ritten Augenblick hinaus» 
gehen." 

Gr ßieß bie £aben wieber auf, gotben lag ber Abenb 
braußen unb bie Berge blau im ©uft. 

Gr ging hinaus, fam aber f<hon nach einer JTTinute wie» 
ber gu* Tür herein, oollfommen oerwanbett, bas Gefleht 
feltfam fehlaff mit füßtich gugefpi£tem JTTunbe, bie Augen 
leer unb raßtos, bas $aar ein wenig herabgeßrichen, mit 


122 


fcf)mebenÖen oogelartigen Belegungen der Hrrne und 
Spänne, mit auswärts gefpreigten Süßen auf den 3ef>en 
hüpfend, gong BJifpel. Oagu hotte er eine f>ofje r feltfant 
fabe Stimme angenommen. 

„Schönen guten Abend, Jperr JTtagißer, fing er an und 
machte ein weltmännifches Kompliment, den i^ut mit den 
Singerfpi^en der £infen am Jlande faltend. Schönen gu* 
ten Abend, ich höbe die 6hre und das Vergnügen, mich 
3f>nen als den Jltufeumsbireftor Bogeldunß aus Samar» 
fand oorgußetten. Sie erlauben roof>1, daß i<f> micf) ein 
wenig bei 3f)nen umfefje? Gin angenehmer Aufenthalt hier 
oben, en effet, erlauben Sie mir, 3f)nen gu diefem bebigiö* 
fen Tusfulum gu gratulieren/' 

„lOas führt 3hn denn t)tr, BJifpel?" fragte nun BJaib* 
linger. 

„Bogeldunß bitte, Oireftor Bogeldunß. Auch muß ich 
ergebenß bitten, mich nicht mit 6r angureben, nicht meiner 
unbedeutenden Perfon wegen, fondem aus Jlefpeft oor 
den dwerfen hohen und dißinguierten Jrjerrfchoften, in de* 
ren Oienßen gu ßehen ich die 6f) re höbe." 

„Alfo, Jperr Oireftor, womit fann ich dienen?" 

„Sie find der Sperr JTlagißer BJaiblinger?" 

„Aber ja." 

„Sehr gut. Sie find Ouhter. Sie find ein praftifches Genie. 
— D bitte, feine überflüffige Befcheidenheit! Jüan iß oon 
3hren BJerfen unterrichtet. 3ch fenne 3h« unßerblichen 
BJerfe, mein Jperr. Born Tage im Phaeton oder die Gries 
chenlieder der Unterwelt. JTein, bemühen Sie fid) nicht, 
i cf) bin gang unterrichtet." 

„Alfo weiter, gum Teufel, Sie Oireftor in der Oberwelt!" 

„Oie sperren JTtagißer gehören ins Tübinger Stift! Oa 
möchte ich sang ergebenß nachfragen, ob der Jjjerr denn 
dort auch gufrteden iß?" 

„3ufriedcn? 3m Stift? Oa müßt’ ich ein Bieh fein. 3n» 
deffen hot die Sache gwei Seiten: die Herren oom Stift 
find nämlich mit mir ebenfowenig gufrieden wie ich mit 
ihnen." 


123 


„Sehr gut, tres bien.Berehrteßer! Ganj tote 1<S) mtr’s 
gewünfcf)t habt. 3cf) bin nämlich in ber aimablen £age, 
bem tyerrn JKagißer eine recht angenehme Berbefferung 
feiner llmfiänbe offerieren ju fönnen." 

„Df), fef)r oerbunben. Dorf ich fragen...?" 

3Ttörife*BJifpel trat einen Meinen Schrift jurücf, fe£te 
oorficfjftg feinen J?ut o«f ein Bücherbrett nieber, führte 
mit ben firmen bie fublimßen $(ugbewegungen ous unb 
flötete im f)öcf)f{en Disfant, bocf) geheimnisvoll gebämpf« 
ten Tones: 

„Sie fehen in mir, Bereiter, einen befcheibenen JTtann, 
einen JITann ton wenig Berbienßen oielleicfjt, aber einen 
JTtann, ber bas Seine ohne «Ruhmrebigfeit ju tun weiß, 
unb ber fcf>on bie höchflen ^errfdfjaften ju bero 3ufrieben* 
heit bebient hot* Erlauben Sie mir, mich ganj furj ju faf» 
fen, wie es einem Jlianne gejiemt, beffen 3eit überaus 
foßbar iß. 3cf) trage bie ßhmeichelhafteßen Empfehlungs» 
briefe von ben sperren JTCatthiffon unb Schwab in meiner 
Tafcfje. Es honbeit ficf) um eine nicht unwichtige flngele* 
genheit. 4?ören Sie unb achten Sie wohl auf meine BJorte! 
3cf> fuche einen Erfah für Sriebrich Schiller." 

„jür Schiller? 3a, mein werter JTtann-" 

„Sie werben mich oerfiehen, ja ich fchnteichle mir, Sie 
werben mich billigen, 4?ören Sie! 3u ben heroorragem 
ben JTtännern, bie bas 3f>re ohne Jluhmrebigfeit ju tun 
wiffen, gehört ber fjerr £orb Soy in £onbon, einer ber 
bißinguierteßen unb reichten JTiänner von Englanb, Prior 
von Großbritannien, Sreunb unb Bertraufer Seiner Blaje» 
ßät bes Königs, Schwager bes ITCinißers ber Sinanjen, 
Pate bes Prinyen 3afob von Cumberlanb, Beßrer ber 
Graffchaft-" 

„3a, ja, fchon recht. Unb was ifl mit bem S)txxn £orb?" 

„Der £orb weiß meine Talente ju ßhähen, ja ich barf 
mich feinen Jreunb nennen, i?err JTCagißer. Es war ein* 
mal auf einer fjofjagb in IBales, ba ßellte er mich bem 
Baron &aßteworb oor mit ben BJorfen: ,Diefer JTiann 
iß ein 3uwel, lieber Baron." Ein anberes JTlal, als bte 


124 


Pringeffin Uiftoria gerade gur Welt gefommen war — 
ich war damals oott Spanten gurücfgefehrt —" 

„Gut, gut, aber fahren Sie fort! ©er £orb Soj —" 

„©er £orb Soj ift ein ungewöhnlicher JTiann, Sperr 3TIa» 
gifier. 3ch batte damals die Ehre, ihn in feinem eigenen 
IBagen jur 0agd begleiten gu dürfen. 6s war eine Sucf)8* 
jagd, mein $err, und der Suchs wirb in England gu Pferde 
gejagt, es ifl das £ieblingsoergnügen des Adels, fluch 
der berühmte £orb Cfteflerfield foll ein großer Suchsjäger 
gewefen fein, ebenfo £ord Bolingbrofe. Er flarb an Blut* 
oergiftung." 

„kommen Sie doch 8«r Sache, Sperr 1° 

„3ch bin (lefs bei der Sache. £ine Suchsjagd ifi fogar 
eine gang fcharmante Sache, wennfchon oielleicht eine ruffi* 
f<he Büffeljagd noch intereffanter fein mag. 3th h°be einer 
folgen Büffeljagd im Ural beigewohnt Aber, um mich 
furj ju faffen, die großen Herren in England hoben fon» 
berbare und foftfpielige Paffionen. 3ch fannte einen ^errn 
oon der Dflinbifchen Kompanie, der tat nichts anderes, als 
baß er wegen eines Schmerges im linfen Bein alle Ärjte 
oon gang Europa gu fidf) fommen ließ. 3ch empfahl ihm 
damals den £eibargt des Äurfürflen oon Braunfchweig — 
nun höbe ich feinen Flamen oergeffen —" 

„IBetchen jtamen? ©es Äurfürßen?" 

„Jtein, des £eibargtes. 3ch bin untrößtich, ich hätte es 
niemals für möglich gehalten. Er war ein gefchicfter 
JTienfch, der fein Randwert oerfland. übrigens hot er dem 
Sperrn in England doch nicht helfen fönnen. Es war für 
mich ein rechter embarras. — Aber Sie hoben mich unter* 
brochen. fllfo, es hondelt fi<h darum, einen £rfa£ für 
Sriedrich Schiller gu finden, ©er £ord Sof will nämlich 
einen deutfchen ©ichter in feiner Sammlung hoben. 3ch 
felbft höbe ihn bagu überredet. Sie wiffen, ich bin gewiffer* 
maßen felbfl ein Stücf oon einem bomme de lettres, und da 
ich mancherlei «Keifen mache und oielerlei Befanntfchaften 
habe, fonnte ich die nicht gang unintereffante Beobachtung 
machen, daß fehr oiele oon den deutfchen ©ichtern Schwa* 
ben find, und daß fehr oiele oon diefen fchwäbifchen ©ich* 


125 


tern bem theologifcfjen Stift angehören, unb baß fef>r viele 
von ihnen wenig mit ihren Glücfsumßänben gufrieben gu 
fein fcfjeinen. Eh bien, ba bachte ich mir, icf) fönnte bem 
£orb So$ einen f<hwäbifcf)en Dieter beforgen. 6r begahlt 
bie «Reife unb gibt 2000 Xaler jährlich* JTteine Grfunbi* 
gungen im fluslanbe haben gu bem «Refultat geführt, baß 
Sriebri<h Schiller ber berühmtefle fchwäbifche Dichter ifl, 
unb ich bin nach 3ena gereift, um ihm meine Jlevereng gu 
machen. £eiber erfuhr ich, baß Jperr Schiller fchon vor län» 
gerer 3eit geßorben fei. £orb Soj t»Ul aber einen tebenbi* 
gen Dichter haben-" 

JKitten im Sah hielt JTlöriPe plöhlich inne. Don ber 
Stabt herauf fchtug bie StiftsKrchenuhr, bie Sonne flanb 
fchon tief. €s war fieben Uhr. 

„Das gibt urieber eine 3lote", rief JTlöriPe ein wenig 
befiimmert. „DJir Pommen immer rechtgeitig ins Stift, 
unb ich habe eben erfl im Äarger gefeffen." 

„fleh was/' meinte IDaiblinger, „e9 ifl bloß fchabe um 
ben BJifpel. Die bumme «Rirchemihr! Jiotnm, wir fangen 
noch einmal an/' 

Aber JTlörife fchüttelte ben Äopf, er war plöhlich ernüch« 
tert. Bebächtig (Irich er feine Staate gurecht unb fcfßoß 
einen flugenblicP bie Augen, fein Gefecht fah mttbe aus. 

„Äommfl bu mit?" fragte er bann. „IDenn ich beim 
Xorwart ein bißchen bettele, läßt er uns vielleicht hoch noch 
hinein.'* 

IDaiblinger flanb unfehlüffig: $ene fcfjörie 3übin, fein 
böfes Schief fal, erwartete ihn auf ben flbenb. 6r hatte fie 
feit einer Stunbe gang oergeffen, er hatte fich feit langem 
nicht mehr fo wohl gefühlt. 6inßweilen begann er bie £a» 
ben gu fließen, JTlöriPe half mit, bann traten fie beibe 
aus bem bunPel geworbenen Gartenhaus in ben warmen 
flbenb, ber auf ben fleinemen Xreppenflufen rötlich glühte. 

Jlun oerfchloß IDaiblinger bie Xüren oon außen. 

,,3lein," fagte er, währenb er ben Schlüffel abgog, „ich 
bleibe t)eut abenb braußen. Aber ich begleite bich noch in 
bie Stabt. 6s iß f)ilbfcf> gewefen heut nachmittag, ich *»ar 
fchon lang nimmer fo vergnügt. TDeißt bu, es geht mir 


126 


fcfunb bu mußt mir’s nicht nach tragen, wenn Itf> bi<h 
oietleic i)t ein wenig ongefcfjrien habe. 6s gilt olles mir fei« 
ber, auch roos etwa on bich abreffiert mar, unb wenn bu 
fehlest non mir benfß, fo Bannß bu hoch nicht fcfjlecfjtcr 
oon mir benBen, als ich’s felber tue/' 

Sie gingen im flbenblicfjt bergabwärts ber Stabt entge* 
gen, bie mit raucfjenben Kaminen unb fcf>rcrg befonnten 
Dächern beleihen unb eng um bie mastig ragenbe Stifts* 
fircfje her gebrängt lag. 

„Du, fomm lieber mit ins Stift!" fing JRörife nach einer 
Paufe bittenb an. „6s ifl nicht wegen bem Torwart. Aber 
mir Bönnten bann ben flbenb etmas miteinanber lefen, im 
ijjpperion ober im ShaBefpeare, es märe hübfch." 

„3a, es märe hübfch"/ feufgte HJaiblinger. „Aber icf» 
habe eine üerabrebung, es geht nicht. HJir wollen balb wie* 
ber einmal gufammen frier braunen fein, bann mußt bu 
auch beine Gebiete mitbringen. 6s finb hoch gute 3eiten 
gemefen, wie ber Bauer unb ber Gfrörer noch Barnen, unb 
wie mir ba im Gartenbaus unfere Äinbereien getrieben ha* 
ben. BJer weiß, wie oft mir noch beteinanber fein Bönnen, 
gar lang Bann’s nimmer bauern. $ür mich iß in Tübingen 
Bein Boben mehr." 

„So mußt bu nicht benBen. Du haß je^t eine 3eitlang 
ein bißchen müß gelebt unb bir Seinbe gemacht, bas Bann 
alles mieber anbers werben." 

Seine Stimme Blang leicht unb trößlich, aber ber Sreunb 
fchüttelte überzeugt ben mächtigen «Kopf, unb fein eigen« 
williges, etmas gebunfenes Gefixt mürbe bitter. 

„Sag’ felber, was hätte ich fchließlicf) baoon, wenn ße 
mich wirBlich im Stift behielten! Am 6nbe müßte ich mein 
Eyamen machen unb Pfarrer werben. BtBar EJaibttnger! 
Pfarroerwefer HJaiblinger! 3cf> weiß ja nicht, was einmal 
aus mir werben foll, aber bas nicht, bas gang gewiß nicht! 
3u lernen iß frier auch nicht oiel, unfere Profefforen finb 
ja Eeimfieber, vielleicht ben Jpaug ausgenommen. Hein, ich 
laß es barauf anBommen! 3ch muß es auf eigenen Süßen 
probieren, wie ber arme Jpölberlin feinergeit auch/ unb ich 
bin ßärBer als er. 3ch bin nicht fo rein unb nobel wie er, 


127 


ober ich habe mehr «Kraft unb ein heißeres Blut, Am beßen 
wär’s, ich ginge gleich je£t baoon, freiwillig, man fann 
nicht jung genug anfangen, wenn man fich fein eigenes 
£eben erobern will. Aber bu weißt ja, was mich in Xübüt« 
gen f)ölt — an biefer Siebe will i cf) groß werben ober gu» 
grunbe gehen!" 

Er fcfjwieg plö^Iicf), als habe er guo'tel gefagt, unb an 
ber nächßen Ecfe bot er bem anbern bie J?anb. 

„fllfo gute JTarfjt, JTCörife, unb einen Gruß an ben 
IDifpel!" 

„Öen will ich ausrichten." 

Sie hatten fi<h bie jfjänbe gefchüttelt, ba wanbte JHörife 
fi i) noch einmal gurücf. Er blicfte bem Jreunbe ooll in bie 
Augen unb fagte mit einem ungewöhnlich ernßhaftenTon: 
„Du barfß nicht oergeffen, was für Gaben bu haß! Glaub 
mir, man muß auf uiel oergidf)ten fönnen, wenn man 
groß werben unb etwas «Rechtes fchaffen will/' 

Öarnit ging er, unb fein Jreunb blieb ßefjen unb fah 
ihm nach, wie ber fchmächtige 0Ung(ing nun mit plötzlicher 
^aß gegen bie Burfagaffe unb bas Stift fjirteilte. Gr, 
BJaiblinger, ber fonß feine Ermahnungen oertrug, war 
für biefe IDorte unenbüch banfbar, benn er fühlte wohl 
ihren heimlichßen, fößlichßen Sinn: Daß JTiörife an ihn 
glaube. Das war für ihn, ber fooft an fich irre warb, ein 
Troß unb eine tiefe Jltafmung. 

Sangfam ging er weiter nach bem J?aufe feiner fchönen 
0übin, ber fatalen Scfjtoeßer bes JJrofeffors JTtichaelis. 

3ur felben Stunbe ging SFriebrich ^ölberlin in feinem 
Erfergimmer raßlos auf unb nieber. 6r hatte feine Abenb» 
fuppe pergehrt unb ben Teller, wie es feine Gewohnheit 
war, oor bie Tür auf ben Boben geßettt. Er mochte nichts 
in feiner «filaufe bulben, was nicht fein Eigentum war unb 
gur Enge feines in fich gurücfgegogenen Dafeins gehörte, 
nicht Teller noch Glas, nicht Bilb noch Buch. 

Öcr JTachmittag ffang ßarf in ihm nach: Das geliebte 
ßitte Räuschen im BJeinberg, bie wieber fommerfatte £anb» 
fchaft, Slußblinfen unb Stubentengefang, Anblicf unb Ge» 
fpräch ber beiben 3üngHnge, namentlich jenes fchönen, gar» 


128 


ten, beffen ttamen er nicht wußte. Unruhe trieb ihn, ob er 
fcf>on mübe war, immer wieber auf unb ab, hin unb her, 
unb manchmal blieb er am Senfter fielen unb flaute oer» 
loren in ben flbenb. 

HJieber einmal batte er beute bie Stimme bes £ebens oer* 
nommen, unb fie Mang fremb unb aufreijenb in feiner 
Scbattenwelt nach- Qugenb unb Schönheit, geifKges Ge* 
fpräch unb ferne Gebanfenweiten batten ju ihm gefprochen, 
gu ihm, ber einß Schillers Gaß unb ein Gelabener an ber 
Tafel ber 6 ötter gewefen war. Aber er war mübe, er oer* 
mochte nicht mehr nach ben goibenen $äben ju greifen, 
nicht mehr bem oielßimmigen Gefang bes £ebens ju fol* 
gen. 6 r oermochte nur noch bce bünne, oereinjelte JTCelobie 
feiner eigenen Uergangenfjeit ju hören, unb bie toar nichts 
als unenbliche Sebnfucht ohne Erfüllung gewefen. Gr war 
alt, er war alt unb mübe. 

Beim lebten £icht bes btnßerbenben Tages nahm ber 
franfe JTCann nochmals bie Jeher jur J^anb, unb unter 
wirre, Mangtofe Uerfe, mit benen ein baliegenber Bogen 
groben Papiers beberft ßanb, fcbrieb er mit feiner fchönen, 
eleganten ^anbfchrift biefe für je, traurige klaget 

„Oas Angenehme biefer IBelt hab* ich genoffen, 

Oer (fugenb Jreuben finb wie lang! wie lang! oerfloffett. 

April unb JTlai unb (Julius finb ferne — 

3<h bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne." 


JTicht lange nach biefer 3eit mußte BJilhelm BJaiblinger 
bas Stift unb Tübingen oerlaffen. Gr ging nach 3talien 
unb iß arm unb oerlaffen als ein Äomet unb Abenteurer 
in Jtom oerlofchen unb oerfchotlen. 

* * 

• 

üTtörife oerblieb im Stift, fonnte fich am Gnbe ber Stu* 
bienjeit aber nicht entfließen, Pfarrer ju werben. Jlach 


g ®ie beutMt Stoben«. 


129 



miflglüsften Derfutfjen als 3ournalifl mußte er bocf) gu 
Äreuge friecfjen, aber wie er nie ein ganger Pfarrer würbe/ 
fo ifl U>m nie ein ganges fieben unb 6lü<f guteil geworben. 
Unter örfjmergen befdjieb er füf) unb formte In erbarbten 
guten Stunben feine unoerwelflitfjen Gebiete. 

Sriebricf) jpölberlin blieb in feinem Xilbinger Grfergint« 
mer unb &at norf) gwangig 3af)re in feiner toten Oäm» 
Rterung fortgelebt. 



Hec D \ (ö t 11 unö öle Hielt 

Von Start «Hötlger 


Ö-, ler Dieter batte f«b erhoben oon feinem abfettigen 
*Sig unb flattb mm/ aber ein wenig oornübergebeugt. 
Unb/ war es nun bas Geräufeb in ber »title btefes Augen» 
blicfs ober eine magifcbe 6rf(f>einung: fafl alte faften 
if>n... 6r fprarf) aber fo: „Der DJert bes JHenfcben ifl 
nie quantctatio ju benteffen. £r fann nicht wie ber Äeffet» 
brucf oom UTianometer non bem Tun feiner Xage abge* 
tefen werben. Der HJert eines Jllenfcben ifl gleißt einem 
oerfttloffenen JJuwel unb ifl ru^enbes Sein. Der IDert 
eines Jlienft^en bemifit ficb nach bem JTlafi, in bem er 
Gott in ficf) bat ober ihn erfebnt..." 

Der Affeffor wanbte ficb an Dngeborg, ble neben if)nt 
fafi unb fagte: „Um Gotteswillen — was will ber? J^at 
ber Xf>eologie fhibiert?" Das JTIäbcben aber fdjüttelte feine 
JDorte wie ein läfHges Gefumme ab unb flarrte ben Jltann 
an... Der batte eine Jlaufe gemacht unb Iäcbclte. — 

„Dielteicbt finb meine IBorte 3bnen Iäcf)erticf) /y / fagte er 
weiter. „Wie oft bin leb ausgelacbt worben . . . Aber 
fcbließlicb fann unfereins boeb nur reben, was man ifl 
unb meint. Atfo: Der Dlert eines JTtenfcben, fagte ich, 
fann nur fo ungeheuer ferner gefeben werben... weit er 
Sein ifl unb nicht Xat. Die Xat fann mit ihm in Derbin* 
bung flebn, bebingt ihn aber nicht. 6s fei ein Jliettfcb, unb 
er tue nur Gutes, er gebe täglich bie Jj>älfte feines 6r* 
werbs ben Bebttrftigen, er fränfe niemanb, er gehe bei* 
feite, wo 3anf ifl in IBorten ober Xaten. So fann biefer 
3Henf<b boeb ber werttofeflen einer fein, bie Je ba waren; 
fo fann er boeb ein Dtenfcb fein, ber oor bem Angeficbt 
Gottes nicht ba ifl. Denn wer ift für ihn ba? Das ifl ber 
Schaffenbe. llnb wer ifl ber Schaffenbe? Der ba £iebe 


9* 


131 


. 


hat. Plichts als Siebte. Siebe aber iß eben bas, was ich 
nannte bas ruhenbe Sein. Siebe iß gteicfjbebeutenb mit bem 
IPeitgeiß unb bem XPeltßnnen. Siebe iß bas innere aller 
©inge. llnb wo etwas in ber XOelt mit ficf) unb ber XPelt 
uneins iß, ba mangelt’s ber Siebe. — Unb wo ein JTlenfch 
(eibet, ba (iebt ifjr ihn nitfjt; unb wo einer bttrßet in feiner 
Seele, unb ihr wißt es unb reicht ihm nicht Jpanb unb 
JTlunb, ba hobt ihr nicht Siebe, ©0 feib ihr gang ohne XPert. 
Unb gäbt ihr, was ja fooft gefcfjieht, irgenbwem unb bem 
Sernßen 6ruß unb Teilnahme unb bem Plächßen nicht, fo 
feib ihr ohne Xpert. Plicht, baß ich fage, ber Xpert fei nach 
bem mehr ober minber großen Tun gu meffen. — Unb fo 
füge ich hingu: es fei ein JTlenfch, ber irre oie( unb oer* 
fäume oiel unb tue an ßch ober an anbem, an Steemben 
unb Sreunben nicht, was gu tun not fei, etwa weil er 
noch in ßch gefpalten fei, ober weil er leibe an ßch ober 
gu ßheu fei unb er höbe hoch Siebe, fo hot er ben Xpert, 
ben ein JTlenfch oor Gott hoben muß, unb Gott wirb ihn 
Tennen. Plehmet ein Beifpiel. 3ch war ein JTlenfch, °rm 
unb cinfam, unb hotte wenig 6emeinfchaft mit ben JTlen« 
fchert. 3ch liebte bort, wo ich nicht wieber eliebt würbe, 
unb würbe geliebt, wo ich es nicht fah... löar ich etwas 
JTlinberes benn heute, ba ihr meine Geßaltungen unter# 
irbifcher Plöte unb Sehnfüchte in meinen Büchern hobt? 
3ß mein Xpert geßeigert, feit ich »berufen" bin oon ber 
Stimme, gu reben unb gu fdfjreiben? — Bin ich boburch ein 
anberer?... Plein! XPar ich, was ich heute bin, nicht ßhon 
als — Äinb? — So fef>t hoch, bas Äinb, mit bem mich 
heute faß nichts mehr oerbinbet a(s ein Blicf, ben ich hin* 
ttberfenbe wie übers JTleer (wie in ein Unerreichbares) 
— bies Äinb, was war es ? — Aber in Gottes Blicf iß fein 
XPert, ben niemanb fah, wohl bewahrt, ©enn fo wir bas 
nicht fo gu benfen oermöchten, müßten wir oergehen in 
namenlofer Traurigfeit. — ©as Äinb liebte ein JTläbchen, 
als es gehn 3oh« olt ojar, unb bas JTläbchen war weiß, 
blonb unb blau, ba es in feines Baters Garten herauf# 
fam. Aber biefe Siebe blieb unerfüllt wie alle große Siebe, 
unb fo warb ber XPert nicht gefehen. —" 


132 


S?\cr war toterer eine Paufe; einige bauten: er ifl gu 
6 nbe — was hot er gewollt? Unb ber JTialer fprorf) leife 
gur Sängerin: „VJorauf will er hinaus?" Oie gucfte bie 
flcf)feln unb fah ben 3Iienfcf)en an. — 6r aber fpracf) wei* 
ter: „VJir ntüffen noch weiter. 6s fei ein Jlienftf), oer« 
worfen — wie etwa folche, bie ihren Aörper oerfaufen 
(JItänner ober IVeiber), ober wie folrfje, bie ihren Geiß oer* 
kauften emß («nb bie waren fchlimnter), unb bas Public 
htm nannte fie Dichter unb Äünßler — fo fönnen fie noch 
XDert haben, wenn anbers fie noch einen SunPen ber Siebe 
haben... Unb fie noch hoben einen SunPen bes Bewußt« 
feine ihrer Verworfenheit. Oenn fo ich weif), baß ich vex: 
worfen bin, bin ich’s noch nicht gang. Ober fcf>on nicht mehr 
gang. Unb fo ich noch Siebe habe, bin ich nicht aus bem 
6 efichtefelb Gottes gerücft. — Gott aber — Gott aber, fage 
ich" — unb ba fchwanb bae Sächetn oon feinem JTCunb, 
unb er trat einen Schritt in bie Gefellfchaft hinein, „Gott 
richtet anbers!... Oenn bei Gott ifl eine anbere Gerechtig» 
Beit benn bei ben JHenfchen. Gott fiehet ben IVert bes JTlen» 
fcfjen an, bie ruhenbe Perle in feiner Seele. 6s werben 
oor ihn treten gwei JTCänner unb werben fprechen, ber 
eine: Sieh Jrjerr, ich «oor ein guter Vater ber Äinber unb 
ein treuer Gatte meiner Sr au, ich war nie untreu, ich höbe 
bas JTteine bewahrt, ohne je bem anbern gu nehmen; ich 
habe bie ßinber in Sitten gut aufgegogen. — Siehe mich 
an,Jperr! So wirb ber^err reben:3ch fehe bichnoch nicht; 
es rebet eine Stimme aus bem TUchts gu mir. Ou hafl bei» 
ner Srau nie Ubles getan, ich weiß; aber ich fehe beine 
Perle noch nicht; wo ifl bein IVert? IVo ifl beine große 
Siebe?... Unb ber anbere Jltann wirb fprechen: 3ch höbe 
ber 3Tieinen unb ben ÜTleinen Schmergen gemacht... Siehe 
S)trr, bu weißt, mein Jrjerg war heiß; ich (lebte bie eine — 
unb banach gefchah es, baß ich auch bie anbere liebte, unb 
ba waren es ihrer gwei. Unb es war ein Schmerg uns 
allen breien, unb es hätte bocf> wohl eine Seligkeit fein 
mögen... Unb banach wußte ich, baß ich alles liebte, was 
f<hön war, unb baß mein 4rjerg fehnte, groß gu werben—: 
wie eine Sonne Uber alles hin. Sieh,, ich höbe oft geflan« 


133 



öen unö gefragt, warum bas fo alles fei. Unb f)abe es 
nicht gefunben. ©er Jperr wirb fagen: Geh ein ju beines 
Jrjerm Sreube — Ijättet ihr oermocf)t, bort fchon nur ber 
Stimme eures Jpergens ju folgen, fo (>ättet if»r bort fchon 
meine Seligkeit gehabt. Gel) ein, fiel), ba finb fie f<f>on 
alle, bie bu liebteß unb bie bir fchön erfcfnenen; nimm 
fie an bie Jrjanb, fjter wirb euer feines eine £iebe bem 
anbern neiben. — ©enn bas follß bu wiffen, baß icf> weif}, 
wie bu nicf)t ohne UJert warft, unb baß bein D3ert war, 
baß bu fehnteß unb liebtefi unb leiben fonnteß um beiner 
£iebe unb beiner Sehnfucht willen. — 
llnb es werben Äinber fommen unb fcfjeue ©läbchen« 
feelen unb werben nicht wiffen, was fie reben follen; eben 
ba fie fcfjeu finb unb ju befrfjeiben finb, um ihren Ißert 
felbß red)t ju glauben, werben fie alfo nur ftumm ba* 
ßefm; unb ber £err wirb fagen: 3cf> fel>e wofjl euren DJert 
unb eure ruhenbe Perle, gefjet ein. Gehet ein! ©enn bie 
Größe bes ©Wertes eines JTienfcf)en fann nicht gemeffen 
werben an ber lat unb ben Taten, fonbern iß ruhenbes 
Sein. — llnb es werben fommen bie Scfjaffenben, bie 
ber ©Jelt gegeben haben bas 3f)re, auf baß fie reicher fei 
unb fcfjöner unb lebenswerter, llnb wirb fommen, ber in 
Gewalt unb ©lacht unb Araft ©Jerf auf ©Jerf türmte, 
Shafefpeare wirb fommen unb Strinbberg, unb bie ©iel* 
heit unb Größe ihrer ©Jerfe wirb hinter ihnen aufßehen, 
bergehoch... llnb bei ihnen werben ßehen anbere, faß 
namenlos, bie ber ©Jelt gaben fleine, winjige Schönheiten, 
bie aber auch £iebenbe unb Schaffenbe waren; unb wer» 
ben nicht geringer gefunben werben oon bem Blicf Gottes 
als bie Großen, unb 6r wirb fagen: Gehet alle ein, ich 
fehe wohl eure Perle unb euren ©Jert im ©erborgenen 
ahn. llnb iß fein llnterfchieb unter euch» Sehet hinein, 
ihr werbet bort alles finben, bas euch lieb unb fchön war, 
alle Seelen oon ©Ingen unb ©tännern unb Jrauen, unb 
euer Jperj wirb allen ßrahlen, benn es iß groß unb licht 
wie Sonne. — llnb wirb eure £iebe, weil ihr oieles lieben 
müßt, febem einzelnen nicht geringer fein. — llnb werben 
alle hineingehen, auch bie <ftinber mit unb bie ©läbchen* 


134 


feelen, bie ba noch nichts toten noch tun fonnten; unb 
«oerben olle g 1 e i cf) gewertet fein." — 

Seife trat ber Dichter gurücf unb bucfte nteber mt großen 
Seffel. Er faf) oor fi<f> nteber ouf feine Jrfönbe. Seine Ge* 
liebte lächelte fcfjneU nach ihm f>irt unb bann in bie 6 efelt* 
frf)oft hinein. Oie faß ßumnt. Oie Stille war faß pein« 
lief)... 3Tur baß ein paar JTiänner abfeits farbonifcf) lä« 
«heben unb ein Jlüßern begannen. Oer alte Freiherr 
wiegte teife ben Äopf unb begann nach einem Jläufpern: 
// 3f)re HJortC/ Jperr Ooftor, ßef)en in fo wenig ober in gar 
feiner Beziehung gum Seben, wie wir es lernten unb ge« 

wohnt ßnb, baß ße uns gang fremb anmuten-." Oer 

Oichter bliefte frfjräg auf: „Ja, ja. Xlnb bo«h —" 

„— unb wenn man fie recht oerßeht, wirb man ihnen 
auch oft wiberfprechen ..." Oer Oichter niefte wieber. Er 
hätte fagen fönnen: ich weiß! fchwieg aber, Jpafte auch 
Suß, fjingugufügen: Jrjört ihr benn nicht? 3cf> meine bo«h 
bie reine JTatur, fo wie ße Geiß gu werben oermag unb 
geworben iß... XETarum oerßeht ihr nicht — ben 6eiß... 
Er fchwieg aber. 

3ngeborg hatte eine feine <Köfe auf ihrem Geßcht — aber 
ße fah immer gerabeaus. Oer Oichter fah feine ber Oa« 
men an. Er hatte bas Gefühl/ irgenbwelches Empßnben 
für feine ßhönßen 6 ebanfen müßte ba in ihnen fein... 
in einigen... Xlnb Charlotte unb 3nge unb Anna mußten 
ihn wohl gang oerßefjen; er fah aber niemanben an. Auch 
DTiagbalena unb Elfe, fügte er in Gebanfen htngu. Aber es 
war bie Bangigfeit in ihnen... bie Surcht... er mußte 
auch wohl baoon noch reben. Es würbe hoch wohl nies 
manb gu ihm ßef)n, wenn es fich barum banbeite, eins 
malErnßes fachlich oor ben Jüenfchen ausgufprechen. 
Angeficht gu Angeficht. 

Jliagbalene unb Charlotte faßen nebenemanber, neigten 
ihre Gefichter einanber gu, unb Charlotte flüßerte: „Sie 
fühlen’s hier bo<h nur wie Prooofatton oon ihm, unb er 
paeft hoch nur feine Oichteribeen aus. Es iß nur peinlich; 
er iß nicht für ße, unb fie finb nichts für ihn." — JTlagba» 


lena antwortete ganj (elfe: „(Barten wir ab, was braus 
wirb. Gr läßt ftcf) nicht furgerfjanb abmurffen.'* — 

„Aber, Gott, es wirb bo<h nur unerquuflich werben..." 

„(Bas b«|3t unerquicflicf)? 6s iß wenigßens nicht lang« 
weilig/* ©er Sretfjerr fprach: „Jlobuße Gemüter fönnten 
3i>re (Borte gefährlich beuten/ weit fie nicht wiffen, an 
welche «Realitäten fie fie binben fotten..,,3<h fpreche 
nicfjt für robuße Gemüter, i?err Baron.'* „3<h weiß, icf) 
weiß, unb hoch — es fommt barauf an, testen Gnbes« 
was Sie im £eben, in ber «Realität wollen..." 

„3<h bin (ein Sojialreformer, (ein Gefellfchaftsreformer. 
Ob man mich einen 6tf)t(er nennen will? Cs ßef)t in jeber* 
manns Belieben. 3cf) füfjfe mich aber außerhalb a 11 biefer 
Kategorien. 3cf> bin — eine Stimme... 6ine Stimme.. /' 
6 r brach ab unb bacf)te: „Ah, itf) werbe ben JTiunb nicht 
mehr auftun... Ah, fcheußüch, bies Gef übt..." 

©er Affeffor begann, gang getaffen unb mit einer Xrof* 
(enbeit in ber Stimme; auf feinem Gefixt ßanb eine un* 
gebeure Korreftheit... ©er Dichter hotte Gefallen an ihm 
unb bacbfe: 6r iß einSpmbol! JTian muß mit ihm rechnen. 
Spmbote finb eben ba, ob im Guten, ob im Schielten, 
©er Affeffor nicfte leicht nach bem Jreiberm hinüber: 
„(Benn wir eingeben wollen auf bas, was ber Jperr ©o(tor 
fagte (er legt, wenn ich recht oerßebe, (Bert barauf, Pro« 
biente, 3u(unftsträume, 3u(unftsfpiegelungen mit berfet« 
ben Offenheit in altem Umgang ausjufprecfjen, wie es bie 
Dichter fonß nur in ihren (Berfen tun), ich foge, es fommt 
barauf an, was gewollt wirb! Sperr Baron fagte es fchon 
— was foll reatifiert werben? llnb ba taffen bie (Borte 
oon eben, fo poetißh fie erfühlt fein mögen (ber Dichter 
fchmunjelte in fuh hinein), nur eine ©eutung gu... (in 
ber Kunßpaufe hielten alle ©amen ben Atem ein wenig 
an, obwohl fie genau wußten, was folgen würbe) bie 
(Borte fönnen in ber Profis nur bebeuten: Auflöfung bes 
3eltgewebes unferer gefellfchaftlichen unb ßaatlicften Bin» 
bung, auch wenn fie nicht fo gemeint finb. Die JRenfchen 
werben aber in ber Prafts aus fotchen (Borten bas ma» 
chen... Denn fo fchön bie (Borte über bie £iebe gemeint 


136 


fein werben — man weiß bo<h nicht recht, meint ber Dich* 
ter mit feiner großen £iebesoerbrüberung nur eine Art 
Sreunbfci)oftsbunb ober begreift er bie Gefcf)fecf)terltebe mit 
ein. Uielletcfjt ifl er fo gütig, uns noch einiges Jlafjere — 
(unb er fcf)(oß mit einem liebenswtirbigen Blicf ju ben Da* 
men hin), wir werben gern hören — •—" 

Oer Dichter bacfjte: Daß bicf) bas JTiäusIein beifit. Dich 
fi£elt nicht nur beine Jleugierbe, mich über ein frfjweres 
Thema ausjttholen. Ou willß mehr. Einer, ber, frfjeint’s, 
immer aufs Ganje gebt. — 

Aber er lächelte feinem HJiberfacher freunblich ju. IDol* 
ien feben, was öadblirfjfeit oermag, badfjte er, unb begann. 

„3<b geflebe, wenn unfereins fo!rf>e Dinge anfcblägt, fo 
meinen wir erfimal ben Ton! Jlieine JBorte hatten ju* 
nächfl gar nii)ts .Reales, noch feine Aar umriffene Ge* 
ftattung im Auge.. 

Oer Affeffor ftrabfte. „HJir fönnen 3bnen jubiüigen, 
bafi ba ein Problem liegt in 3bren DJorten. Aber pro* 
bteme, bie blofi erfühlt, nicht aber auch b u r <b b a <b t finb, 
follten oietleicht bocb beffer erfl ein noli me tangere fein..." 
3ebt firablte ber Dichter. Oie £eutfeligfeit bes Gegenüber 
oerbrofi ihn gar nicht. £r fprach (mit aller Befcbeibenbeit, 
beren er fähig war): „Das Gefdf)ledf)t ber Dichter, bas ba 
über bie fogenannte rauhe löirflichfeit ben fcfjönen Schein 
log (bie Dichter lügen guoiet, fagte DTiehfcfje), bies Gefcf)lecf)t 
ber Dichter ifl attsgeflorben; fie finb alle babm gegangen, 
baher fie waren unb bahtn fie gehörten. Erbe ju Erbe, 
Staub ju Staub. Des Geifies blieb oon ihnen fein Sünf* 
chen... Beleihen Sie gütigfl, baß ich ein wenig aushole. 
3eht finb bte Dichter an ber Jleihe, bie nur wahr fein 
wollen. Aufgetan ifi fdjon bas Tor bes 3eitalters, wo bie 
3Tlenfchen fleh gewöhnen, in „bie Augen bes Ulirfli* 
chen" gu feljen... ohne Angfi. Aber bie Angfi werbe ich 
noch einiges fagen... f o notwenbig ifl bas. Aber erfl oom 
Problem. Xüas gewinnt Stimme im Dichter? Das £ e i b 
ber Hielt unb bie Sehnfucht. ltnb was meint bie Sehn* 
fucht? Die Schönheit. Aber nicht bie, fo ba £üge ifl, nicht 


137 



ben „fcfjönen Schein" uni» „Schleier" über olles £ebena 
Ungeßaltete unb Ungeformte unb Hngefcfjlachte f)inge» 
breitet — fonbern bie Schönheit, bie in bes Eebetts i^öher* 
bilbung befielt. Die aber wirb nicht erbost, fonbern erlebt 
unb erfühlt. Das Erleben ftf)ltefjt alles Geißige in fich. 
fluch bas Denfen unb flnfchauen; wo blofi gebacht wirb, 
ooltjieht fich eine untergeorbnete Beßhäftigung oon Jften» 
fchen, bie oielleüht etwas Befferes tun füllten." — jr?ier er* 
iaubte fuh auch ber Dichter eine Meine Äunßpaufe, obwohl 
er fonfi gegen folche Äünßlichfeiten war. Er wußte, baß 
}e&t alles auf ihn einßürjen würbe. — Er fühlte richtiges 
Entjücfen... 

Drei, oier ber Herren fprachen ju ihm herüber... Er 
hörte ju unb fagte bann gelaffen: „Bleiben wir bei bem 
jpaupteinwanb. Sie führen mir bie Ph‘lofoph en an. Blei* 
ben wir bei $ant. Es iß ein 3rrtum, wenn Sie meinen, 
ber fei bloß benfenbes Gehirn gewefen. IDas Äant geßat« 
tete, waren große Erlebniffe unb Erßhtttterungen feines 
3nnem. Er, wie jeber Phtlofoph, war fo gut Dichter wie 
Denfer. Er war bie große Einheit. Äetne <Recf)enmafchine, 
bie rein logifih bes Eebens Sinn ausrechnet... Er hatte in 
fich bie große Xragif ber er, bie ein flltumfaffenbes wollen, 
finben wollen, jur Erlöfung ber JTIenfchheit unb ihrer 
felbß." — 

„Das gibt es auch — bas flllumfaffenbe?" würbe ihm 
gugerufen. 

„Gewiß", antwortete ber Dichter. „Jtur iß es unb fann 
es nicht fein ein „Spßem ber ]?hMofopbi e " — benn wir 
wiffen, wie bas Sieben fouoerän über alte Spßetne hm* 
wegfehreitet. Das Elmgenbe iß immer nur eins: Das 
£eben fetber unb bie £iebr... Unb bamit fomnte ich 3 um 
Anfang gurücf... JBir bürfen, wenn wir an ber 3ufunft 
bauen, nicht, niemals, genau, real, fagen (unb fön« 
nen es auch 8°r nicht): fo unb fo möge oon nun fortan 
bas £eben ausfehen... IDir ßnb hoch feine Diftatoren, bie 
bas £eben furjerhanb umgeßalten wollen! IBir oermöch* 
ten es bann auch nicht, wenn wir fo wären. Sonbern wir 
geben ben Ion, auf ben bes JTIenßhen Sühlen eingeßimmt 

138 


fein muß, an, utt9 gu gewährleißen, daß Schönheit des 
Seins machfe.. ." 

„3u oerfchwontmen", tönte es üjm entgegen... 

Gr lächelte. „JVie denn? Oas Sehmergendße iß jedem 
TRenfchen die Ginfamfeit. 3cf) meine nicht d i e Ginfamfeit, 
die er immer wieder brauefit, um gu fid) fetbß gu finden 
und in der er weiter wäd)ß. Sondern die, in der er mit 
feinem beßen empfinden oerlaffen iß. Oie fcf)öne große 
Gemeinfchaft braucht jeder Schaffende. lind jeder iß rei« 
eher, als er feiber weiß. So oiete IVurgeln ßnd ihm 
nun noch abgefchnitten, da er nieht heraus tommen darf 
mit dem, was er meint, fefmt und möchte ... fei es int 

Guten oder im Schlimmen-- JVüßten wir doch erß 

einmal, was jeder möchte. XVas wiffen wir oon der Ge* 
fchlechterßebe? Vielleicht iß fie noch nicht fo bald an der 
Jleihe wie anderes. Vielleicht auch gerade fie. Aber das 
tann ja auf fich beruhen. 6s gibt jftenfehen, die einfam 
find oon Jtatur und an e i n e m Genüge haben. Gin JTiann 
an einer Trau. Und umgetehrt. Aber es gibt die andern, 
die anders fühlen. Gs gibt aber oor allem die, welche oor 
allem feetifch lieben, mit Ginßhluß der Grotif oder ohne 
Ginfchluß der Grotif... Grß aber muß man doch einmal 
fehen, was alles da iß! 3m übrigen dente ich, bleibt es 
dabei, daß dem oiel oergeben werde, der oiet geliebt hat." 

Plöhtich fenfte er fein Stäupt und fprach gu einem f^erm 
mit goldenem «Kneifer hinüber: „Jtein, das iß feine 
Blasphemie... Jtein! Jtein! IVir wiffen nur, fo wir ehr» 
lieh find: daß das£eben heute, wie es iß, fo oft die Untreue 
bedingt. JVährend wir das £eben fo denfen möchten, daß 
es nur die Xreue bedingt... HJann?" 

„IVenn Eiebe und Schönheit frei werden?" 

Oas fragte eine helle Stimme aus der Gcfe des 3immers. 
„Gben dann," fagte der Oichter, „nur meine ich die Trei» 
heit, die fich gebunden fühlt bei einem jeden in ihm 
felbß: an die Güte des Jürgens, an ein heiliges JTlitfühlen, 
an das Bedürfnis, behutfam mit dem Sergen des an» 
dem gu fein, (jeder behutfam mit dem Sergen oon einem 
jeden, auf daß feiner feinem wehe tue... 3<h rede mit 


139 


Bewußtfein ntcf)t oon Pflicht, benn tote oft bies UJort 
ber Borwanb geroefen iß, fjeiligftc «Rechte abfeits füf)lenber 
Jperjen ju erbroffeln, baoott will irf) oucf> nicht reben." 


Aber es fant, tote er’s hoch im Xiefßen geahnt batte: bas 
ßefpräcf) oerlief im Unfruchtbaren. 3n einer großen HUrr* 
nis oon löorten oerfnäuelte ficf> alles, toas er Har unb gut 
gefühlt batte. So blieb bei ben metflen eine IBilbnis oon 
guten unb mißlichen Cmpfinbungen... Bis Charlotte bie 
«Rettung fanb, an ben Slügel ging unb ju fpielen begann, 
Chopin, ein paar Jtocturnos, unb bann Beethooen... unb 
ba toar alles htnweggefpült, unb es blieb nur bas Cr* 
fchauern. 

So toar ber Dichter hoch nid)t mehr baju gefommen, 
von ber flngfi ju fprethen. Als er aber hernach im Abenb 
unter ben Platanen ßanb, auf bem «Kiesweg, gleich unter 
ber Terraffe, im «Kreis berer, bie feinem fjerjen fchon ettoas 
nähergefommen toaren, fragte 3nge auf einmal: „Sinb 
Sie traurig?" Cr fah fie an unb toiegte bas Jrjaupt: „Xrau* 
rig — faum! Aber bie Schwermut hat immer burch mein 
£eben geweht, bod) iß fie eine ßrunbßimmung unb folgt 
nicht aus bem einzelnen, zeitlichen Begebnis... freilich, 
toäre mein £eben anbers gelaufen, oon allem Anfang an, 
b. h- hätte ich früher oermocht, mich 3“ geben, toie ich ooar, 
hätten Jlienfchen früher geglaubt an mich, hätte auch i«h 
früher an mich geglaubt... Aber mein £eben lief eben fo, 
toie es lief..." 

Clfe fagte: „BJir hätten 3hnen toohl beißehen follen... 
6 s iß toohl alles im unflaren geblieben." 

6 r aber fprach: „Dies fagt mir ja, baß ihr mich ge* 
hört habt." — Sein Blicf glitt fuchenb über bie weichen 
Srauengeßalten hin. „$ür bie JTiänner bin ich — JTarr, 
vielleicht ein weichlicher. Aber meine Stärfe weiß — 
ich! — Bielleicht ber junge Sabrifant unb ber Stubent wä* 
ren imßanbe, mich ju finben, aber fie getrauen fief» noch 
nicht. — Jticht wahr, es gab einmal bie Älafßf unb gab 


140 


EJeimar...? Oos iß lange far... Sehr lange. Aber eoas 
ntarfjt’s? llnb was war Xöeimar? Glich ts, banacf) ju 
fernen lohnte. EJar hoch ba auch ein jeber allein. Xlnb 
gumat bie Beßen. Berber oor alten unb Qean Paul... 
Suchte bocf) jeber nur bas Seine. Jtein, es toar fein Bunb. 
llnb fo toar textlich au<h feine Schönheit. EJir wollen fein 
neues EJeimar erfehnen unb auch feinen 3enaer .Kreis. 
Jpölberlin unb Brentano gingen oon ba aus unb enbeten 
beibe (entlief) namenlos einfam. — EJas wir erfehnen bürf* 
ten, ifl etwas 3arteres, aber auch EJirflicheres, etwas 

Schöneres, aber auch Stärferes-" Charlotte fagte: 

„3eigen Sie es uns. ♦. bamit wir wiffen, was Sie meinen/' 
llnb 3nge faßte leife feine J?anb: „3a, geigen Sie es!" 
llnb 6 er trüb, ihm gegenüberßehenb, fagte aud): „3a, fag 
altes; bu quälß bief) bamit herum, bis in ben Traum beiner 
Jläd)te / wenn ich bicf> manchmal belaufche..." „Tufl bu 
bas?" fragte er finnenb. — 

llnb fuhr fort: „Aber ich fann nichts bagu, baß ber 
3weifel in mir ifl. könnten bie JTtenfchen, fönntet ihr 
Armut ber Seele unb Eerfrembung unb EJeltfchwere auf 
euch nehmen? Ach, wer fagt, baß nicht immer wieber bie 
Angfl auffleht? Angfl oor ben UTtenfchen unb bem ßeben! 
lEas nü£t es euch, baß ich füge, olle Angfl hohe es nur 
mit Phontomen gu tun? Oaß fie ein Jlichts ifl? Oaß bort, 
wenn ihr hinttbergetrefen wäret, ber große Trieben unb 
bie große Schönheit fein würben, unb feine Angfl bort 
mehr hinüberlangt...? EJas nü£t es euch?" 3nge fagte 
leife: „3a, wenn wir glaubten..." 

6 r neigte fein Gefielt. — „3ch bin mübe unb will oiel 
Ounfel ber Jlacht auf mich bedien, toarm gu ruhen..." 
llnb wanbte ficf> unb ging. Seine Geliebte folgte ihm. Oie 
anbem blieben fchweigenb flef>n. — 

Gertrub faßte auf bem Heimweg feinen Arm unb fagte: 
„Ou oerfchwenbeß bich! 6s iß alles gwecflos. Auch wiffen 
fie oielleicht nicht, wohin bu willß." — „3a, bu haß ja 
ein «Red)f, fo gu fprechen. Ou biß anbers als ich. llnb 
magß oielleicht recht hoben. Aber warum ertrag ich bie Gin* 


famfeit fo fdfjmer? Jüan iß ja auch ju jmeien einfam. Jüan 
tft auch ju jtoeien noch ©iel uneins mit ficf) felbß." 

„Du biß es!" 

„3a/ ich meiß, bu meniger. DJeü bu um bes Gliicfes 
mitten mit mir alles anbere, alles £eiben unb alles 3n*fi<f>* 
fetbß«uneins«fein leicht erträgfl. XBarum brenn* icf> benn 
nad) £eben, nach ber JTtufif bes Jleigens auf grünenber 
BJiefe?" 

„3<b rate, mach bas tot in bir — wirf beine löerfe bin« 
aus ins Jlamentofe unb märte bes übrigen." — 

„3 d) bab mir bas felber fchon geraten. IBie oft! Xöenn 
bu aber es rätß, hör’ icf) hoch ni(bt meine Stimme." — 

„Ob/ nun toirfl bu bitter!" fagte fie unb manbte ficf) ab. 

„0 nicht, nicht, es i|t nur bie Trauer* 7 , fagte er unb faßte 
faxt Jpanb. Sie farnen ßbmeigenb nach ^>aus. 


Er batte auf einen flbenb ben Stubenten, ben 3?abrtfan« 
ten, 3ngeborg, Elfe, Charlotte, Jllagbatene, Tbefla unb 
Erifa geloben; er roollte norm fjaus, unter ben Birfen, 
oorlefen. Aber es mürbe nichts braus. Bis auf Tbefla, 
Charlotte unb ben Stubenten (ber bat, jemanb mitbringen 
ju bttrfen) fchrieben alle ab. Er mußte, baß er ju fpät ge« 
laben batte, baß bas flbfchreiben nicht £aune mar; trob* 
bem blieb eine ßarfe Bitterfeit in ihm. Gegen flbenb bes 
Tages fam noch ein Geteilter, bas bie beiben ©amen auch 
noch oerbinberte, ju fommen. Jlur ber Stubent fam mit 
einer befannten ©ame halb burcfjnäßt an. So marb es ein 
fiiller flbenb. Sie faßen im 3immer, ba es braußen noch 
ju naß mar oom Oiegen. ©ie Bäume bufteten herein. Erß 
ging bie Seit mit Heben babin; hinter feinen Xöorten gin» 
gen bie Gebanfen bem Unlösbaren nach: toarum bas 
Jlichtßimmenbe unb Trennenbe immer unter ben Illen* 
fchen fei... ©as Gefpräcb, bem 3ufammenbang ber Äünße 
nachgebenb, interefßerte ihn nun julegt nur menig, er 
fühlte ja unerfchütterlich in fich, in ber Einheit feiner Seele, 
mie bort aller Schönheit Urfeim fei — ob es nun bie Töne 
feien ober ber Bitbausbrucf — ober beibes geeint in ber 


142 



Sprache, in ber Dichtung — was atfo war noch ju jagen? 
fite aber ber Stubent Bann frf)ön treuherzig unb gleich* 
wohl fcf)ü(f)tern ihn bat, botf) etwas ju lefen — war ihm 
bie eigene Stimmung unrecht, unb er ging bin unb f>olte 
bie Kerfe, bie mit einer großen Schwermut, aber auch in 
Srieben enben.- 

Das Sutten blieb borf> — bie DTäcfjte waren immer noch 
bas Schwerfle. £r mußte ftef) immer felbß befcf)wiif)tigern 
Ein anberer hätte es hoch ßhroer oermocht. 6r fragte jirf), 
ob es ^errfdf)fu(f)t fei, baß er bie JTlenfchen ju einem 
Jlhpthmus bringen ober zwingen wollte... llnb er glaubte 
hoch ?u finben, baß es tiefßes Seinen in ihm fei. llnb 
bann fragte Es in ihm: IDillß bu nur bas Deine?! llnb 
antwortete p<h felbß: Das Kleine unb nicht bas Kleine! 
Das Kleine, foweit es auch bas ber anbern iß. Das iß 
meine Selbßfucht — ich will bie höhere, oergeißtgfe Gebens» 
form. 3<h will ben Geißmenfchen, bie intenfioere £iebe, bie 
oerfeinerte ErotiP. 3ch will bie XJertiefung bes Glücfs unb 
bie Erweiterung ber ßlürfsmöglichfeiten bes Klenfehen. 
Kluß ich barum wie ein Bettler burchs £eben gehn? llnb 
wenn ich bas alles will, muß ich nicht felbß beginnen? — 
llnb bin hoch einer ber Ausgefchloffenßen — troh aller 
£iebe, bie ich oft nicht fah, unb manchmal fah, unb oor ber 
ich hilflos ßehe wie mit leeren ^änben... XDarum bas 
alles? XDarum bin ich ungefchicPt? XDarum muß ich gleich» 
wohl wollen? — Obwohl es Selbßfucht iß, will ich auch 
felbßfüchtig fein ... auf b i e f e XDeife, ja! — 

Dann wieber ärgerte ihn alles Grübeln unb fragen 
unb bie fchtaflofen Stunben ber Kacht. 3<h bin ein 3biot, 
fagte er ju fich; alles fo wichtig ju nehmen, ju benPen, 
anßatt bloß ju (eben... llnb fanb, baß alles Jlachben* 
Pen ju nichts führe als nur jur JTlelancholie. 3mmer bloß 
leben unb tun unb fchaffen! Aber bie leeren Stunben Pa» 
men bo«h; unb ba oerfuchte er’s, am Xag §u fchlafen in 
folgen Stunben. llnb bas gelang. Aber es war nur eine 
halbe £r(öfung. 


143 


fln einem regengrauen JTachmittag tag er auch fo; unb 
in ber Äüfjle biefes Tages mar es füß ju [djlafen. Gertrub 
mar braußen im HJalb; er hotte nicht mttgefjen mögen, ba 
er mtrflirf) miibe mar oon einer fcfjlerfjten 3Tad)t. JUäre ihm 
ju biefer 3eit in feinem Straffen ein Jleues, Großes ge» 
lungen, nach bem er fudjte, etroa bie monumentale epifche 
Darßellung, fo f>ätte es if>n ablenfen fönnen. Denn feine 
Arbeitsleißung litt unter bem Grübeln nur menig. Aber 
bann fragte er fcfjon mieber, menn bie Arbeit ßocfte: ifi ba 
ein 3ufammenf>ang? jroifchen bem Jlicfjtftnben in ber 
Äunß unb bem fieben? — Aber bann fah er an, was er 
geleifiet batte, mte er bie Sprache gemacht batte ju bem, 
mas f’te in ltrjeiten geroefen mar: bie Einheit oon pia» 
ßif unb JTIelobie, mußte, baß er, mit ganj menigen 
anbern, bie Spraye aus ber Berfumpfung rettete. 3?o<h 
mar’s nicht offenbar, aber bies mußte fo offenbar unb 
Mar merben, mie ber Tag unfehlbar fommt hinter ber 
Obacht. Auch fanb er manchmal, es möchte bas Jinben 
bes Epos unb banach bes Dramas nur ruhig langfam 
angehn... Denn ba er metaphpfifch fo tief bas HJerben 
fühlte, mußte fein innerer Glaube fich ja oon 3eit ju 3eit 
fojufagen automatifch mieberherßellen. 

Er lag alfo unb fcfßief unb mürbe burch heftiges Klopfen 
aufgeßört. Er hörte Stimmen, ging fchlaftrunten auf ben 
Äorribor hinaus unb ßanb Gertrub unb 3ngeborg gegen« 
über; bie lachte ihn, faß fchien’s, ein menig ängßlicf) an; 
hinter ihr fchaute bas Gefielt ihrer ganj jungen Schmeßer 
heroor, bie er ein paarmal fchon gefehen hotte* Er tön 
cfjelte unb oerfchmanb im Schlafzimmer unb (am halb 
frifch mit hellen Augen mieber. 

Die beiben Schmeßem ßanben noch int 3immer; Gertrub 
oerfchmanb in ber jftüche. So ßanben bie brei. 

„Alfo ba feib ihr", fagte er. ♦. unb fah fie an. Trat bann 
auf bas junge JTtäbchen ju unb fagte: „XOie alt biß bu?" 

„Achtjehn!" 

Er manbte ß<h an 3ngeborg: „Jung! DJie? Selig jung? 
Aber Mug, paß mal auf, ich tu eine Srage an fie..." 


144 



„Sptfbt, bu heißt bocf) #ilbe —: ich glaube/ bu bift ein 
fluges JTlöhchen. Alfo hör’, finbefi hu’s fonherbar,, wenn 
ein Dieter lieben will/ was fcf)ön ifi in ber Hielt?" 

6 r batte ben firm leicht auf ihre Schulter gelegt. Sie 
lächelte ihn fchön unb Jung an. „3ch finbe nichts fetbfi« 
oerftänblicher als bas!" 

Cr fah 3ngeborg an, bie wartete. — 

„Unb weiter, kleines, bafj ein dichter manchmal wohl 
möchte, etwas Schönem auf bie Jpanb ober bie Klange ober 
aufs Spaar Kiffen, auch auf ben JTCunb —?" „XParunt 
foll er nicht bürfen. — 3ch benf mir, ober man fönnte 
fich’s fo benfen, baß ber «Rünfller einen ßarfen Uerbrauch 
oon £eben unb Crinnerung in feinen UJerfen hat, baß er 
barum fooiel fucfjen unb fehen unb lieben muß!" 

©er ©ichter antwortete nicht; er füfite bas JTtäbchen 
gang einfach auf Spaat, Stirn unb JTlunb... ©ann fagte 
er unb lächelte: „3ch wußte, bafj bu ein Kuges Ä’tnb biß. 
Aber bei ber 3ngeborg barf ich bas nicht machen." 

„©aoon weif} ich nirf)ts", rief Jpilbe... „3ch fenne gwar 
feine anbern ©ichter, aber ich glaube, fie ftnb alle fo." 

Sie nahm fanft feinen Arm oon ihrer Schulter, fprang 
aus bem 3immer unb war fort — in bie Äüche hinüber. 

©er ©ichter ßanb oor 3ngeborg; fie hatte ein wenig bie 
$änbe gehoben, war’s gtir Abwehr, war’s, um fie bargu* 
reichen? 

„3ch wollte bie inbifchen Sprüche mttbringen, bie ich aus 
meinem Buch für Sie abfchreiben wollte, aber Ich habe oer» 
geffen..." 

„Cin anbermal", fagte er unb fam noch einen Schritt 
näher. „3ft Äleinchen nicht lieb unb flug?" 

„XEJenn ich Papier unb Tinte unb Seher befäme, fchrieb 
ich’s gleich auf," fagte 3ngeborg eifrig, „ich weif} bie 
Sprüche auswenbig..." 

„Äannfl bu haben." £r wenbete furg ab, an ben Tifch, 
brachte Papier, Tinte unb Seher unb rücfte einen Stuhl 
gurecht. Sie fing an gu fchreiben; er fchaute gu. Auf ein» 
mal warf fie bie Seber hin: „3<h fann bie Berfe boch nicht", 
rief fie unb lachte. €r hatte gerabe ben Arm um ihren 

*45 


10 »le »«llfCbe JlooeOe. 



Spols gelegt/ fie bog ben Äopf jurürf, faf) if>n an-da 

toar bas JTleer, bas JTieer — Blttf in Blicf unb Geficfjt an 
Gefickt. — HJie ein Stürzen, Sinfen unb Sicf)f)alten... an 
iljrem JTIunb, ^>als unb «Huben ber Stirn auf atmenber 
Brufl... 

Bis er, wie non füttern «Hegen aufwacbenb, füllte: fie 
weinte. Seife glitt bie $anb übers J^aar. Aber fie frfjob 
if>n weg... Stanb auf unb wollte geben.-llnb 

QtttQ » ♦ ♦ 


3He $ludH o u $ fl t m 

Don Alfred ©öblln 


/V^rouer, enblofer Dfiefenplon. S<h»er oerfcfjattete £uft. 

^ /gautlofc Schmetterlinge Int hellen Älee, Lupinen, per» 
wachfenea, wüßes Ginßergebüfch, flarre Jpaferhalme. .Keine 
Buche im oerfinfenden, fchwammigen Boden, feine Aloe, 
Palme. 3n der Seme — wie »eit — eine tiefe, fchwarge 
Jlegfamfeit, Tauchend an das J^imntelsbach, eine mattblin* 
fende Blaffe, Bletallmaffe oon Blei und 3inn, ungeheuer. 
Schwache £inien, Biegungen, ein .Knie umriffm, oon einer 
Jpüfte eine Saite abwärts gefpannt, Bewegung, wie der 
Sturj einer Sandlawine, ©er «Kumpf, wo mochte der 
«Kumpf fein, ©ie Arme, wo mochten fie fich, dis )U wet» 
eher S}ö\)t fich erheben, deines .Kopfes fehlen diefe Blaffe, 
diefe XBolfenwanb gu bedürfen. 3f>r Anblicf fo erfchütternd, 
3ungen lähmend. .Kein 3ch fonnte hier beflefjen bleiben, 
ticffle Bewußtlofigfeit flrömte die Blaffe aus. 

Gefauert auf einer bebiümten Bodenwelle, die eigenen 
«Knie mit den Armen umfchQngend, mitten im fahlen 
Grün, ein junger, bärtiger, blaffer Btann. 3m Purpur* 
mantel, eine Äaifer frone auf dem rotblonden, dünnen 
Jpaar, fo oon Brillanten bildend, daß die HJiefe weithin 
flimmerte; die Sinflemis durchbrochen oon diefen furcht« 
bar einfamen Bilgen. ©ie .Krone im mächtigen fchwebend 
wie eine Ampel, an unfichtbaren Äetten. 6r trug die ftaifer* 
frone der irdifchen IBelt, er hotte fie niemandem gurücfge« 
(affen in der IBelt. öfter nahm er fie ab, während er fich 
nach rechts und ßnfs fchaufelte. ©ie garten durchbluteten 
jrjänbe wie in glühende Afcfje getaucht, glücflich fein Ge« 
ficht, oor der Bruß hinter den beiden Goldfpangm raffelte 
das oerweifte Sträußchen Blagdalenens. 


10 * 


147 



Einmal trug er nufc Dtefe Ärone. Einen fommerltcfjen 
JTlantel oon Beilchenf rbe hatte er Da, bte JFjaare fielen 
ihm fnabenhaft über Die unruhige Stirn ouf ben bloßen 
Dürren Späte, in ben oon BJirbeln Durchfurchten Olacfen. 
Seinen Olacfen hielt OTtaria mit beiben weichen firmen um* 
fchloffen, toährenb fie fniete unb ihr gerfnüllter blauer 
JTtanlel losgelaffen rückwärts Über Serfen unb Sußfohlen 
fiel; $elligfeit einer Ollorgenbämmerung ging oon ihr aus. 
Sie fnieten nebeneinanber, (Herten abwärts/ (Herten bie 
Erbe an. Oie Erbe geöffnet/ bie £änber rauchten, (fefus 
weinte/ OTtaria fonnte ihn nicht befänftigen. „Wie wäre ich 
Dein Sohn/ OTtaria," atmete er, „wenn ich mich beruhigen 
fömtte." Sie trocfnete ihr Gefleht/ ihr bernfleingelbes langes 
f?aar fnotete fie über Stirn, Augen unb Olafe, OTtunb, glitt 
blinb gegen bas ferne furchtbare Schweigen. Unter Dem 
falten Spaud) warf fie fich hin. Dumpf bie Spaart gerbet* 
ßenb, barmte fie wie fchon taufenbmal um bie Erbe. .Rein 
£aut. Schärfer, fcfjneibenb bie &älte. Sie wich. 

Als 3*fus bie OTlutter fommen fah mit Dem ungeöffne* 
ten Gefleht, weiße Blafen über ben Armen, bie $änbe 
glangrot gequollen, Der Ollunb mahlenb, f<hob er ihre 
Spaare in Die Späht, rieb fie warnt, Gefleht an Geficht. Spob 
ihre ^änbe oon feinen Schultern ab. ORaria fprach fein 
HJort, lag allein mit Dem Geficht im Gras. 

Der Haler ließ ihn gehen, noch nie hatte ber Sohn mit 
folcher 3nbrunfi ben glasharten Boben gu feinen Süßen 
gefüßt. 

Unb bann gefchah bas Unerhörte, baß 3efus oer* 
fchwanb aus bem Fimmel, bem Ungeheuren aus ben 
Augen oertoren, OTtaria oergweifelt geworfen auf ben Olüf* 
fen gweier Xßilbgänfe, Damit Gott ihr Schreien nicht hörte 
oor bem Gefchrei ber Bögel. Sie ging ihn fuchen über Die 
Eänber, lief, tief, bie Gänfe trugen fie über bas XBaffer, fie 
fanb ihn in Patäflina. &lein, in einen graugrünen Jlocf 
gefleibet, in armfeßgen Sanbalen froch er gwifchen Tage* 
töhnern, ^anb wer fern; ein rötlicher Spihbart nach oorn 
umgebogen war ihm geooachfen; feine Augen fo (irahlenb 
blaßblau, baß man fah, blefe Augen fonnten niemals wei* 

148 


nett. JTIaria fcfjridte oor 6ntfe0en, als ftc tf>n an bem mage= 
ren Jpats, langfamm Schritt erfannte, baß es bis über 
Me Berge nach flffon unb bis über bas JTleer nach «Rbobos, 
Epbien, Ci)ios gehört würbe. 

llnb bas ungeheure BJefen oben aus überweltlichem 
Sinnen burcb ihr Stöhnen geroecft, erfannte im fpri* 
f<f)en £anb ben Sohn, ber bie f)irtfmPertbe Srau bei ben 
S«bultern 3f>n hungerte plöplicf) auf nach bcm fln* 
blicf. Seinen «Rumpf warf er tief oor, baß ein Äracben er« 
fcftolt, Berßen, Splittern eherner Gebirge. BJas fagte bies 
Stöhnen? Ratten fie bie Göttlich fett fatt, wollten fie JTlen* 
fcf>en werben, trieb es fie nach neuen Geiüßen? Gs frfjwelte 
‘•um ihn, ber 3orn rauchte über feine Bruß, er füllte ficf) 
gezwungen, wegjublirfen, feine Schulter fcfjob ficf) jurürf. 

Die beriefelten ebenen, JTiänner, Strafen, Alleen tra» 
genb, oerbrannte Berge, Täler oerfenfenb mit fcbwgrjen 
IBalbungen, hinunterfchiebeob gegen bie Slüffe, grüne 
Dfioenfjaine, EOeibenpflanjungen, Selber mit JTiais, ßar* 
rem 3u«ferrof>r. UJarme Euftßröme über ben Städten, am 
beißen Galiläifdjen JTleer £eu in Stapeln. Unter ben Ge» 
besten ber ebene JTIaria. Sab fi<h btinb an ihrer Bosheit, 
Jlieferigfeit, an ihrem Gram, ihrer Betäubung. Das Eager 
bereiten, abnehmen, Gebete gießen über bie oerframpften 
Jrjerjen. Körner trunffücbtig bes JTIorgens mit harten 
Schritten über bie eroberten Straßen ftirrenb, bie Tuntfa 
wattenb, hob« Schnürfchube, narfte &nie, Beradf)tung um 
bie feeren glatten Sippen. Schlaue fchwarge Pbönijier aus 
flachen Galeeren oom JTleere aufgefliegen, feitfchenb mit 
JTlaßij, ßelfen Brofaten, tofen Seibenßoffen. Ausge* 
fogene fcheue JJubäer. «ftfagenbe mit Ausfap. Jperan JTlen* 
fchenherben unter griechifdjem Gefchrei oom Eibanon ge* 
trieben, .Rubel fanfter Änaben, plattgefichtiger JTläbcben, 
Tataren, Stooenen oom Schojarjen JTieer, unter Beitfchen» 
hieben, Stocffchlägen hinüber auf bie SMaoenfchiffe. 

Als Jefus bie JTiänner auf ben prächtigen Seibenfchuben 
fab, gefaibt bie jpaare, Bärte mit Golbfäben burchftocbten, 
als bie Srauen fummenb bie Tempeffhifen herunterfiiegen 
in bunten langen Gewänbern, anfcbmiegenben Geweben, 


149 


hängenden wetten flrmeln, fbenfte er feiner Jliutter ein 
rofenrotea vielfältiges .Kleid mit Brofatgürtel und einer 
gläfernen Scfjnalle, darüber legte er einen meergrünen 
JTtantel mit Goldborte, blumenbeflirft, dermelingefüttert, 
gwei Perlenfcfjliefjen hielten idn über der Brufl jufammen; 
der daubortige 6eidenf«f)leier oon der dünnen Stirnfpange 
gehalten, baufbte fiel) fein neben den angegilbten HJangen 
oor den bittenden £ippen. Sie warf die Ateider, Perlen, 
Gürtel geflumpt oon fief) oor die .Kinder. ©erat er felbfl, 
der eingeborene Sodn Gottes, der fib oerleugnete, da<f>te 
an nicf)ta als fucf>en unter Sflaoen, Bettlern, Kranfen, 
«Reiben, Gelehrten. £r bliefte ifjnen unter die Äugen. So* 
weit oergaß er firf)/ daß er lote erwerfte, die dorf) glürflib 
waren, dafj fie if)r Srfjicffal oon der Erde dinweggerafft 
batte, Iote nob einmal ju dlefem £eben, als bcttte er ein 
gang neues ©afein für fie oor. Gr frfjien eine neue Hielt 
fboffen gu wollen unter den JTtenfrfjen, den Uberwurf>er* 
ten, ein Hmfböpfer, Gegenfböpfer. 

* ©ie Erregung wurf)9 in dem bimmllfb*tt oben. BJar 
dies eine Uerfbwörung wie oor grauen Seiten? Sbon rie« 
feiten, drehten fib die grauen TRaffen, das JTletall fräu» 
feite, fyob fib, rollte ab in bläulib flammenden Spiralen. 
3m Grimm dielt er an fib/ es follte fib olles bis ju Ende 
erfüllen. 

Es gefbof)/ toie er gefürbtet dotte. $ier wollte jemand 
die JTtenfben umgießen, gegen idn, gegen Gott. JTtaria 
und 3efus liefen flrm in flrm über die £änder, fbtenen 
nibt gu wiffen, oon wo fie flammten/ nur die göttliben 
JlTäbte, die in idnen wohnten, ju oerfbütten. BJas dot 
Sprien in jenen lagen gefeden, wetbe Slamme doubte 
Jltenfben, liere, pflangen an. 

lind wie die Bitterleit in Gott wubS/ wurde 3efus füller. 
Er oeränderte fib/ es legte fib über idn die fonderbare 
«Hude, mit der JTiaria nibt fertig wurde, fo daß fie fib 
an jenen Abfbied erinnerte im j^immel, an die tiefe 3n» 
brunfl des flbfbtebs 3efus* oon feinem Uater. ©ie flngfl 
wurde fie nibt los, wie fedr er fie berudigte. Er fbenfte 


150 



ifjr neue Perltnfcfjufje, liebfofenb bat, brängfe er fie, if>n 
feine fchmupigen HJege allein treten ju (affen. 

llnb ba mürbe ifjm plöplich über 3tacht Mar, unter einer 
Spfomore jmißhen feinen ßhlafenben Begleitern hinge« 
ßrecft, mährenb bie funfelnöen 6 eßirne (angfam Uber bie 
ßhmarje ^immelsmölbung htnaufßiegen: baß fie ihn nicht 
mollten, bie JTtenßhen, baß fie ihn nicht mochten, feine 
£iebe nicht, Jltariaa Siebe nicht, Unb bafi er fte reijte, meit 
er nicht oon ihnen ging. 

Seine «Ruhe mürbe tiefer. Ala ber Tag tarn, ließ er nicht 
ab ju tun mie oorher. Er reijte fie meiter mit plan, oh, er 
mar fein «Rebell; er mußte, bafi t>iex für Siebe fein piap 
mar; er hatte etmaa anberes oor. JUarla flehte ihn an, fein 
menfchlid^es «Rleib oon fsch ju merfen. ltnb jäh mar er ent« 
hüllt, als er im Jlegen bei Galiläa auf einem HJeinberg 
fie an bie Bruß 30 g unb fagte: „könnte ich es, märe ich 
bann bein Sohn?" Sie marf fleh ißn, jerriß ihr Gefleht. 
Sie oerließ ihn, fuhr gum Sjimmel, in bie ftähe bes Un» 
gef) euren fuchte fie ju bringen, feine Schulter ju berühren 
um Beißanb. Aber ber ^immtißhe mar nur glücklich über 
ihr Kleinen; biefe mar feine Abtrünnige unb mar ju tief 
gefpannt ‘Denn er fühlte, fein Sohn begann auf Erben 
ju ihm ju fprechen. Gr fühlte, maa bort gefchah, meffen 
fich fein Sohn unterfing, gefchah für ihn, unb baß es 
für ihn mar, maa er bort fprarh, fo mie ber Sohn jum 
Kater fpricht, ehrerbietig unb ßolj, fetbßänbig, Gottes 
Sohn ju Gott bem Kater. KHe 3efua nicht nachließ. HJie 
er feine JTtutter trößete, bie ßch entfept oon ben JTtenßhen 
abmanbte, bie JTtenßhen ju ermeichen fuchte, ßch oor ihr 
ßinb ßellte, flagenb. Er beßhmor fie, er gäbe nicht nach. 
Sie meinte über bie JTtenfdjen h* n , bies fei ein Gott, ihr 
Sohn, ber ßch oerleugne. „3«h hat»’ es nicht gemollt," ßhrie 
fie, „bies gab ich Wr nicht auf ben BJeg." Sie faßte ihn bei 
ber $<mb, jerrte ihn oor bie Strafhäufer, jeigte ihm bie 
fchmerjgeborßenen Gefangenen, Pein, JTiarter ber «Rieht» 
ßätte. Er lächelte. Das Kolf höhnte über ben Gott aus bem 
Sißherborf Paläßinas, es gäbe fchon ju oiel Götter. Er 
ging feinen HJeg. Äeinen Singer bemegte her Kater. 



So tief batte 3efua ben Scbnterj nicht oermufet, tote ber 
ifi, ben JTtenfchen erleiben fönnen, ben er an bem Quer* 
bäum oor bem Stobttor erlitt. Oer Bater, in einer t&fa 
mutig millenlos, fonnte ni d)t toegfefjen. So tief mar 3 cfus 
JTtenftf) gemorben, bafi er auffchrie, am ^oij ijängenb: 
„Bater, bafi bu mich oerlaffen?" Xlnb botf) nicf>t nach gab 
unb nicht bie göttliche JRaafe Uber fein Gefleht 30 g. Sein 
JTtunb oertrocfnet, bie abgebrebten Äugen fifcbmeifi über* 
(tautet, fein £eib aufgeriffen. 6 s mar nicht nur bas £eutf>* 
ten am Fimmel, bas fcbmefelgelbe, bas anjeigte, Gott t)abe 
firf) bewegt. 

3efus fuhr auf jum Fimmel. 3Ttit Scbrecfen faf>en es, 
bie ihn angenagelt batten. Uber ben Sufi Gottes lag er 
gefrttmmt, zertrümmert, eine meiche Blaffe. Oer ijimmel 
unb bie Gwigfeiten batten nie folgen flugenblirf erlebt mie 
biefen. 

„3tb b^be bicb nitbt oerlaffen", tönte es in feinen Obren. 
Gr röchelte aus ber Grftarrung auf, fanf ferner jufammen. 
Golbene Blicfe auf feinen blutrünfiigen geborfienen Schul» 
fern, entfleifchtem Schabet, burchlöcberten firmen, heftiger 
atmete er, lächelte betäubt in bie Steine hinein, meinte, 
firecfte ficb lang bin. „JTlaria," feufjte er, „meine JTTutter." 
„3<b höbe bich nicht o erlaffen", tönte es. Gr fchlofi bie 
Äugen. Gr mufite, bie JTienfcbbeit fonnte gerettet merben. 


152 


Ueronlfa* # 6 f df i e 0 

Bon Robert JTtufil 


PXohannes; oon ba an füllte Johannes eine furchtbare 

V_jEetrfjttgFeU, an bem xoas er wollte/ haarfcfmrf noch 

oorbeigugreifen. JTCan fennt manchmal etwas nicht/ bas 
man im Dunfein will/ aber man weif}, bafS man es oer« 
fehlen wirb; man lebt bann fein £eben bahin wie in einem 
oerfperrten 3immer, in bem man fich fürchtet. 6s äng« 
fügte ihn manchmal etwas/ wie wenn er einmal plötzlich 
gu winfeln anfangs fönnte, auf vier Gliebern gu lau* 
fen unb an Beronifas paaren gu riechen; folche Borfiel« 
langen fielen ihm ein. Aber nichts ereignete fich. Sie gin* 
gen aneinanber oorbei; fie fahen einanber an; fie wechfet* 
ten belanglofe ober fuchenbe XBorte — täglich. 

llnb einmal gwar war ihm bas plöhlich wie eine Be« 
gegnung in ber Cinfamfett, um bie bie wirre, regeltofe 
Bähe mit einem Schlag fefl unb wie gewölbt wirb. Bero* 
nifa fam bie Treppe herunter, an ber unten er wartete; 
fo flanben fie oereingelt in ber Dämmerung. Unb er bachte 
gar nicht, bafi er oon ihr etwas begehren wollte, aber wie 
wenn fie beibe, wie fie baflanben, eine phantafie in einer 
Aranfheit wären, fo anbers notwenbig erfchien ihm, bafS 
er ba fagte: „.Komm, gehen wir gufammen fort." Doch 
fie antwortete etwas, wooon er nur oerfianb: ...nicht 
lieben... nicht heiraten... ich fann Demeter nicht oer« 
laffen. 

llnb noch einmal wiebetholte er feinen Berfuch, er fagte: 
„Deronifa, ein JITenfcf), aber manchmal fchon ein BJort, 
eine BJämte, ein ^auch ifl wie ein Steimhen in einem 
BJirbel, bas bir plö^lich ben JTüttelpunft angeigt, um ben 
bu bich brehfl.. .wir müßten gemein fam etwas tun, bann 
fänben wir es oietteicht..." Doch ihre Stimme hatte noch 


*53 


mehr etwas £üßernea ols jenes JTtal, ba fie ihm bas gleiche 
geantwortet fjatte wie }egt: „So unperfönlirf) fann wof)! 
gar fein IRenfcf) fein, fönnte nur ein Iier... ja, oielleccht 
wenn bu ßerben rnüßteß..Unb bann Jagte fte nein. 
Unb ba faßte tf)n wieber bies, was eigentlich fein Ent* 
fcfjluß war, Jonbern eine Bifton, nichts toas fich auf bie 
10irfti<hfeit begog, fonbern nur auf ficf) felbft wie eine 
JlTufif, er fagte: „3<h gef)« fort; gewiß, oietleicf)t werbe icf) 
ßerben." Aber auch ba wußte er, baß es nicf)t bas war, 
was er meinte. 

Unb ßünblidj tn biefer 3eit fucfjte er ficf) «Rechenfcfjaft 
gu geben unb fragte ficf», wie fie in IBahrheit fein mußte, 
ba fie fooiel oermocfjte. Er fagte manchmal: DeronifU, 
unb fühlte an ihrem Jlamen ben Schweiß, ber baran haf¬ 
tet, bas bemtttige, rettungstofe ^jinterhergehen unb bas 
feuchtfaite Sicf>*mit*einer«flbfonberung*begnügen. ltnb er 
mußte an ihren JTamen benfen, fooft er bie Meinen gwei 
£öcfch«n über ihrer Stirn oor fich faf), biefe Meinen, forg* 
faltig wie etwas Srembes an bie Stirn geMebten £öcfcf)en, 
ober ihr £ächetn, manchmal wenn fie gu breien bei Tifcf) 
faßen, llnb er mußte fie anfehen, fooft Demeter fprach; 
aber er ßieß immer wieber auf etwas, bas ihn nicht oer* 
flehen ließ, wie ein JTtenfch gleich ihr gum TRittelpunft 
feines leibenfehaftlicf>en Entfchluffes geworben fein fonnte. 
llnb wenn er nadjbachte, war fcfjon in feiner früheren 
Erinnerung etwas (ängß Berflacfertes wie ber Duft oer» 
löfcfjter bergen um fte, etwas Umgangenes wie bie Be* 
fuchsgimmer im ^jaus, bie reglos unter £einenbegügen unb 
hinter gefchloffenen Borhängen fcf>tiefen. Unb nur wenn er 
Demeter fprechen hörte, Dinge fo grauenhaft gewohnt unb 
farblos wie biefe oon niemanbem genügten JTTöbel, er* 
fchien ihm bas altes wie ein £aßer gu britt 

Unb trog allem mußte er fpäter, wenn er an fie bachte, 
immer nur hören, wie fie nein fagte. Dreimal fagte fie 
plöglich nein, unb er hörte fie gang unbekannt barin. Ein* 
mal war es nur leife unb bennoch ft<h merfwürbig fchon 
aus bem Borherigen (jerauslöfenb unb burch bas ^aus 
gehoben, unb bann, bann war es wie ein Schlag mit ber 


154 


Peitfrf)« oder tote ein befinnungslofes SichfeflMammem, 
aber bann axtr es noch einmal leife, gufantmengefunfen 
unb faß wie ein Schmer) über XBehtun. 

llnb guweilen, jept frfjon, wenn er an fie backte, war ihm, 
als ob fie fehön wäre. Bon einer hächß gufamntengefehten 
Schönheit, bie man fo leicfjt gu bewundern ©ergeffen unb 
wieder häßlich finden fann. llnb er mußte benfen, wenn 
fte oor ihm aus dem ©unfel des Kaufes auftauchte, bas 
ficf) hinter U>r gang fonberbar ohne Bewegung wieder gu» 
fammenfdjlofJ, unb mit ihrer maihtoollen/ ungewöhn» 
liehen Sinnlichfeit — wie mit einer fremden Äranfheit be* 
haftet — an ihm ©orilberglitt, er mußte bann jedesmal 
benfen, baß fie ihn wie ein Tier empfand. 6r fühlte es 
unbegreiflich unb furchtbar in feiner größeren XDirftich* 
feit, als an bie er gu Anfang geglaubt hatte, llnb auch 
wenn er fie nicht fah, fah er alles mit übermäßiger Oeut» 
tichfeit oor fich, ihren hohen XOuchs unb ihre breite, ein 
wenig flache Bruß, ihre niedrige, wölbungslofe Stirn mit 
den dicht unb finfler gleich über diefen fremden, fünften 
Eöcfchen gufammengefchloffenen paaren, ihren großen, 
wollüßigen JTiunb unb den (euhten $laum fehwarger 
der ihre Arme bebeefte. llnb wie fie den Äopf ge« 
fenft trug, als ob ihn der feine Irjals nicht tragen fönnte, 
ohne fich gu biegen, unb die eigentümliche, \ 1 fchamlos 
gleichgültige Sanftmut, mit der fie den £eib ein wenig her* 
oorbrüefte, wenn fie ging. Aber fie fprachen faum mehr 
miteinander. 


Beronifa hotte plöhtich einen Bogel rufen gehört und 
einen andern ihm antworten, llnb damit endete es. 3Ttit 
diefem Meinen gufälligen Cretgnis, wie das fo manchmal 
geht, endete es, und es begann das, was nur mehr für 
fie war. 

Denn dann hufchte, oor fich tig, haßig, wie die Berührung 
einer fpitjen, fchnellen, weißhaarigen 3unge, der Geruch 
des hohen Gräfes und der HHefenblumen an den Geflehtem 
entlang, llnb das lehte Gefpräch, das fich trag hingegogen 
hatte, wie man etwas gwifchen den jingern bewegt, an 




baa mtm tängß nicht mehr benft, brach ob. Ueronifa war 
erfcfjrotftn; fie merfte erß nachträglich/ wie eigentümlich fte 
erfchrocten war/ an ber Jlöte, bie ihr je£t ins Geßcht (lieg, 
unb an einer Erinnerung, bie mit einemmol, über oiele 
3ahre hinweg, wieber ba war, unoorbereitet, beiß unb le* 
benbig. £9 waren in ber testen 3eit alterbings fo oiele 
Erinnerungen gefommen, unb eo war ihr, als ob fie biefen 
Pfiff fchon in ber Jtacht oorher gehört hätte unb in ber 
Jlacht ooroorher unb in einer Olacht oor oiergefjn Xagen. 
Unb ihr war auch, 0I9 ob fie fich irgenbwann früher fchon 
mit biefer Berührung gequält hätte, oielleicht im Schlaf«. 
Sie fielen ihr ein in ber testen 3eit, biefe fonberbaren 6rin» 
nerungen, immer wieber, fie fielen linf9 unb rechts oon 
etwas in ihr «in, baoor unb bahintcr, wie nach einem 3ie( 
giehenbe Schwärme, ihre gange Äinbhect, biesmal aber 
wußte fie mit einer faß unnatürlichen Gewißheit, baß eg 
bas «nichtige felbfl war. £9 war eine Erinnerung, bie fie 
mit einemmal ernannte, über oiele (fahre hinweg, enblich, 
ungufammenhängenb, h«»ß unb noch tebenbig. 

Sie liebte bamal9 bie Staate eineg großen Bemharbiner» 
hunbes, befonbero bie bort oorne, wo bie breiten Bruft« 
musfeln bei jebent Schritt über ben gewölbten .Knochen 
wie jwei j?Ugel heroortraten; es waren ihrer bort fo über» 
mächtig oiele unb fo golbigbraune, unb bas war fo fehr 
wie unabfehbarer Aeichtum unb ruhig Grengenlofes, baß 
fich bie flugen oerwirrten, wenn man fie auch gang ruhig 
nur auf einen Slecf gerichtet ließ. Itnb währenb fie fonß 
nichts empfanb als ein eingiges, ungeglieberte9, ßarfes Ge* 
fühl bes Gernehabens, Jene gärtliche Äamerabfchaft eines 
otergehnjährigen JTläbchens unb wie für eine Sache, war 
es h^«« manchmal faß wie in einer £anbßhaft. BJenn 
man geht, unb ba iß ber UJalÖ unb bie XBiefe unb ba ber 
Berg unb bas Selb unb in biefer großen Orbnung febes 
nur wie ein Stefanen fo einfach unb fügfam, aber furcht» 
bar gufammengefeht ein febes, wenn man es für fleh an» 
fchaut, unb oerhalten tebenbig, fo baß man plöhtich in 
ber Bewunberung flngß befommf wie oor einem Xier, 
bas bie Beine angieht unb reglos liegt unb lauert. 

156 


Aber einmal, als fie fo neben ihrem $unbe lag, war 
ihr eingefallen, fo müßten bie JUefen fein; mit Berg uttb 
Xal unb BJälbern oon paaren auf ber Brufl unb ding* 
oögetn, bie in ben paaren f(baufetten, unb Meinen Saufen, 
bie auf ben Singoögebt faßen, unb — weiter wußte fie 
es nid)t, aber es brauchte noch fein Gnbe ju haben, unb 
wieber war alles fo bintereinanbergefttgt unb eins in bas 
anbere gepreßt, baß es nur wie eingef$tt<f>tert oon fooiet 
Gewalt unb Orbnung fHIlgubatten fehlen. llnb fie backte 
beimtief), wenn fte zornig würben, müßte bas plögtieb in 
fein taufmbfättiges Seben fefjreienb auseinanberfabren unb 
einen mit furchtbarer Sülle überfefjütten, unb wenn fie 
bann in Siebe über einen berfielen, müßte es wie oon Ber* 
gen ftampfen unb mit Bäumen rauften, unb Meine 
webenbe fjaart müßten einem am Seibe geroaebfen fein 
unb fribbetnbes Ungeziefer unb eine in Setigfeit über et* 
was gang Unfagbares freifebenbe Stimme, unb ibr Atem 
müßte bas altes in einen Schwarm oon Tieren einbütten 
unb an fieb reißen. 

Unb als fie ba bemerfte, baß es ihre fteinen fpigen 
Brüße gerabefo f)ob unb fenfte, wie biefer zottige fitem 
neben ibr auf unb nieber ging, wollte fie es pfögticb ni<bt 
haben unb f>lc(t an fieb, wenn fie fonß etwas herauf» 
befebwären fönnte. Aber als fie fieb ntebt mehr bagegen ju 
ßemmen oermoebte unb ibr Atem bo«b wieber fo ju geben 
begann, wie wenn ibn biefes anbere Seben tangfam an 
fieb geige, febtoß fie bie Augen unb begann wieber an bie 
Jliefen ju benfen, in einem unruhigen 3ieben oon Bitbem, 
aber oiet näher fegt unb warm wie oon niebrig babin* 
fhreiebenben BJolfen. 

Als fie bann lange battaeb bie Augen wieber öffnete, 
war altes wie früher, nur ber $unb ßanb }e0t neben ihr 
unb fab fie an. Unb ba bemerfte fie mit einemmat, baß 
fieb lautlos etwas Spibes, .Kotes, tu/hoeb Gefrümmtes aus 
feinem meerfebaumgetben Blies beroorgefeboben hotte, unb 
in bem Augenbtief, wo fie fieb Je|)t aufriebten wollte, fpttrte 
fie bie lauwarme, guefenbe Berührung feiner 3unge in 
ihrem ßeftefjt. Unb ba war fie fo eigentümlich gelähmt 


*57 


gewefen, tote... tote wenn fie felbß amf) ein Tier wäre, 
und tro£ der abfcdeulicden flngfi, die fie empfand, durfte 
ficd etwas ganj f)ei(J in ifjr jufammen, als ob je^t und 
je$t... wie Dogelfdjreien und Slügelflattern in einer Jperfe, 
bis es ßill wird und weicf) im £aut wie oon Jedem, die 
iibereinandergieiten... 

Xtnd das war dies oon damals, gerade diefes fonber« 
bar fjeifie 6rfcfjrerfen war es, an dem fie je^t plöfyüd) 
alles wiedererfannte. Denn man weif? nirfjt, woran man 
es füf)tt, aber fie fpttrte es, baß fie |e0t, nacf) Qadren, in 
genau der gleichen UJeife erfcfjrorfen war wie damals. 

lind dort ßanb, der deute norf) abreifen follte, ^ofyxn» 
nes, und da ßanb fie. Das waren bis dieser an drei» 
jedn oder oiergedn Qadre, und idre Brüfie waren längß 
nicdt rnedr fo fpi£ und neugierig rotgefcdnäbelt wie da» 
tnals, fie d aften ficd ein ganj Nein wenig gefenft und 
waren ein bißcden fo traurig wie jwel liegengelaffene 
Papiermildcden auf einer weiten Jläcde, denn der Bruß* 
forb datte ficd flctcf) in die Breite geflrerft, und das fad aus, 
wie wenn der «Kaum um fie daoongewacdfen wäre. Aber 
fie wußte das faum, weil fie es im Spiegel fad« — wenn 
fie narft war, im Bade oder beim llmfleiben, denn fie tat 
fcdon längß dabei nur medr das, was eben jur Saide ge« 
dörte —, fondern fie fpürte es bloß fo am Gefüdl, weil 
idr mancdmal oorfam, als fyättt fie ficd früder in idre 
Kleider einfedließen getonnt, ganj feß und naed allm Sei» 
ten, wädrmd es }e£t nur war, wie wenn man ficd mit 
idnen beberfte, und wenn fie ficd erinnerte, wie fie fi<d 
felbß, fo oon innen deraus, fpürte, uoar das früder wie 
ein runder, gefpannter TBaffertropfen und je^t längß wie 
eine Heine, weiddgeränberte £a<de; fo ganj breit und fcfjlaff 
und fpannungslos war dies Empfinden, daß es wodl 
überdaupt nichts als Xrägdeit und müde £äffigfeit ge» 
wefen wäre, fy'ättt es ftid nicdt mamdmal angefüdlt, wie 
wenn fiid etwas unoergleiidliid ZBeiides ganj, ganj lang* 
fam in taufend järtlud oorficdtigen Salten oon innen far 
an fie fcdmiegte. 

lind es mußte bloß irgendwann einmal gewefen fein, 

ij8 


baß fie bem Seben näherßanb unb es beutlicfjeT fpürte, tote 
mit ben ipänben ober tote am eigenen Seite, aber $on 
lange hatte fte nicht mehr gemußt, tote bas mar, unb batte 
nur gemußt, baß feitf>er ettoas gekommen fein mußte, toas 
es oerbecfte. llnb batte nicht gemußt, mas es mar, ob ein 
Traum ober eine flngfl im UJachen, unb ob fie oor ettoas 
erfcfjrocfen mar, bas fie gefehen batte, ober oor ihren eige* 
nen Augen; bis heute* Denn ingtoi hen hatte fich ihr 
fchmaches alltägliches Seben über btefe Ginbrttcfe gelegt unb 
hatte fie oermifcht mie ein matter, bauernber HJinb Spuren 
im Sanb; nur mehr feine eintönigfeit hotte in ihrer Seele 
geflungen, mie ein leife auf« unb abfchmellenbes Summen. 
Sie fannte feine ßarfen Sreuben mehr unb fein ßarfes 
Seib, nichts, bas fich merftich ober bteibenb aus bem übri» 
gen herausgehoben hätte, unb allmählich toar ihr ihr Seben 
inaner unbeutli<her gemorben. Die Tage gingen einer mie 
ber anbere babin, unb eines gleich bem anberen famen bie 
3ahre; fie fühlte mohl noch, baß ein jebcs ein menig h«n» 
megnahm unb ettoas hingutat, unb baß fie fich longfam 
in ihnen änberte, aber nirgenbs fe£te fich eines flar oon 
bem anberen ab; fie hatte ein unftares, fließenbes Gefühl 
oon fich fetbß, unb menn fie fich innerlich betaßete, fanb 
fie nur ben IDechfel ungefährer unb oerhüllter Sormen, 
mie man unter einer Derfe ettoas fich bemegen fühlt, ohne 
ben Sinn gu erraten. 6s toar allmählich/ wie menn fie 
unter einem meiihen Tuche lebte, gemorben ober unter einer 
6(ocfe oon bünngefchliffenem Sporn, bie immer unburch* 
fichtiger mürbe. Cie Dinge traten meiter unb meiter gurücf 
unb oerloren ihr Geficht, unb auch ihr Gefühl oon fich felbß 
fanf immer tiefer in bie Seme. 6s blieb ein leerer, unge* 
heurer «Raum bagmifchen, unb in biefem lebte ihr Äörper; 
er fah bie Dinge um fich, er lächelte, er lebte, aber alles 
gefchah fo begiehungslos, unb häufig froch lautlos ein 
gäher £fel burch biefe Hielt, ber alle Gefühle mie mit einer 
Teermaste oerfchmierte. 

llnb nur als biefe feltfame Bemegung in ihr entßanb, 
bie fich hatte erfüllte, hatte fie baran gebacht, ob es nun 
nicht oielteicht mieber mie oorbem merben fönnte. llnb 


fpäter hatte fie roofjl auch barem gebaut, ob es nicht Siebe 
fei; Siebe? lang» fcf>on märe bie gefommen uttb (angfam; 
(angfam märe fie gekommen. Xlnb hoch für bas 3eitmaß 
ihres Sehens gu rafch, bas 3eitmaß ihres Sebens mar noch 
langfamer, es mar gang (angfam, es mar barnals nur 
noch mie ein Iangfames öffnen unb HJieberfchließen ber 
Augen unb bagmifchen mie ein Blicf, ber fi«h an ben Gingen 
nicht halten fann, abgleitet, (angfam, unberührt oorbei» 
gleitet JHit biefem Blicf hatte fie es fommen gefehen unb 
fönnte barum nicht gtauben, baß es Siebe fei; fie oercib« 
fcheute ihn fo bunfel mie a((es Srembe, ohne j?aß, ohne 
Schärfe, nur mie ein fernes Sanb jenfeits ber Grenge, roo 
meich unb troßtos bas eigene mit bem $bnme( gufammen« 
fließt. Aber fie mußte feither, baß ihr Beben freubios ge« 
morben mar, mell etmas fie gmang, a((es Srembe gu oer» 
abfeheuen, unb mährenb ihr fonß nur mar mie femanbem 
ber ben Sinn feines Tuns nicht meiß, bünfte fie Jefjt 
manchmal, baß fie ihn bloß oergeffen haben unb fich olel- 
(eicht erinnern fönnte. llnb es quälte pe etmas IBunber» 
bares, bas bann fein müßte, mie bie nahe unter bem Be« 
mußtfein treibenbe Erinnerung an eine michtige oergeffene 
Sache, ltnb es begann bies a((es barnals, als Johannes 
gurüeffehrte unb ihr gleich im erßen Augenblicf einfiel, 
ohne baß fie mußte mogu, mie Gemeter ihn einß fcfjlug 
unb Johannes gelächelt hatte. 

Es mar ihr feither, als fei einer gekommen, ber bas 
befaß, mas ihr fehlte, unb ginge bamit füll burch bie oer* 
bämmembe Einöbe ihres Sebens. Es mar nur, baß er ging 
unb bie Ginge oor ihren Augen fich gögemb gu orbnen 
begannen, menn er barauffah; es fam ihr oor, manchmal 
menn er über ft<h erfchrocfen lächelte, als ob er bie IBelt 
einatmen unb im Selbe halten unb oon innen fpttren 
fönnte, unb menn er fie bann mieber gang facht unb oor« 
pchtig vor ftch hinßellte, erfchien er ihr mie ein Äünßler, 
ber einfam für fich mit fliegenben «Heifen arbeitet; es mar 
nicht mehr. Es tat ihr bloß mef>, mit einer blinben Ein* 
bringtübfeit ber Uorßellung, mie fchön alles in feinen 
Augen oielleicht mar, fie mar eiferfttchüg auf etmas, bas 

160 


er bloß oielleüht füllte. Denn obgleich unter ihren Blirfen 
jebe Orbnung wieber gerfiel unb fie gu ben Dingen nur 
bie gierige £iebe einer JTiutter für ein «Kinb hotte, bas gu 
(eiten fie gu gering iß, begann ihre mübe £äffigfeit je£t 
manchmal gu fchwingen wie ein Ion, toie ein Ion, ber im 
Dbr Hingt unb irgenbwo in ber UJell einen «Raum roölbt 
unb ein Eicht errtgünbet... ein £icf)t unb JRenßhen, beren 
ßebärben aus oerlängerter Sehnfucht befielen, tote aus 
£imen, bie über fi<h hinaus oerlängert fich erß weif, weit, 
faß erß im Unenblidjen treffen. Er fagte, es finb 3beale, 
unb ba befam fie JTiut, baß es wirflich werben könnte. 
Unb es war üielleicf>t nur, baß fie fi<h fchon in bie ^öfje 
gu richten orrfuchte, aber es fchmergte fie noch/ wie wenn 
ihr «Körper franf wäre unb fie nicht tragen fönnte. 

Unb bamals gefchah es auch, baß ihr alle anbern Er» 
innerungen eingufaden begannen bis auf bie eine. Sie 
famen alle, unb fie wußte nicht warum unb fühlte nur 
an irgenb etwas, baß eine noch fehlte, unb baß es nur 
biefe eine war, um beretwillen alle anbern famen. Unb 
es bilbete fich in ihr bie Uorßellung, baß 3ahannes ihr 
bagu helfen fönnte, unb baß ihr ganges £eben baoon ab* 
hinge, baß fie biefe eine gewinne. Unb fie wußte auch, 
baß es nicht eine «Kraft war, was fie fo fühlte, fonbern 
feine Stille, feine Schwäche, biefe fülle, unoerwunbbare 
Schwäche, bie wie ein weiter «Raum hinter ihm lag, in bem 
er mit allem, was ihm gefchah, allein war. Aber weiter 
fönnte fie es nicht ftnben, unb es beunruhigte fie, unb fie 
litt, weil ihr immer, wenn fie fchon nahe baran gu fein 
glaubte, baoor wieber ein Tier einfiel; es fielen ihr häufig 
liere ein ober Demeter, wenn fie an 3ohannes badete, unb 
ihr ahnte, baß fie einen gemeinfamen Seinb unb Der» 
fucher hatten, Demeter, beffen Uorßellung wie ein großes 
wuchernbes Gewächs oor ihrer Erinnerung lag unb beren 
Kräfte an fich fog. Unb fie wußte nicht, ob bas alles in 
biefer Erinnerung feinen Grunb hatte, bie fie nicht mehr 
fannte, ober in einem Sinn, ber fich oor ihr erß bilben 
follte. UJar bas £iebe? Es war ein UJanbern in ihr, ein 
3ieherw Sie wußte es felbß nicht. Es war wie Gehen auf 


35 ig bcutfdfte HobeHe* 


161 


einem DJeg, fcfjeintmr einem 3iel gu, mit einer langfam 
bie Schritte gögern laffenben Erwartung, oorher, irgenb* 
einmal, plötzlich einen gang anbern gu finben unb gu er* 
Bennen* 

Xlnb ba oerftanb er fie nicht unb mußte nid)t, toie fcfjtaer 
es toar, biefes fchwanfenbe Gefüf>I non einem £eben, bas 
ficf> auf etwas, bas fie noch gar nicf>t Bannte, für if*n unb 
fie aufbauen follte, unb begehrte fie mit einer gang ein* 
fachen UJirflichfeit, gur $rau ober irgenbwie* Sie fonnte 
es nicht faffen, es erfchien if>r finnlos unb im flugenblicf 
faß gemein* Sie fjatte niemals ein gerabehingielenbes Be* 
gehren gefpürt, aber nie fo fef>r toie bamals erfdnenen ihr 
bie JTtänner nur als ein üorwanb, bei bem felbfl man fich 
nicht aufhalten foll, für etwas anberes, bas fidf) in ihnen 
nur ungenau oerförpern fonnte* Unb fie fanf plö^licf) 
wieber in ftcf) gurüdf unb fauerte in ihrer Jinflernis unb 
flarrte ihn an, unb erßaunt empfanb fie biefes Sicf)*in*ficf)* 
Berfcf)liefSen gum erffenmal toie eine finnliche Berührung, 
ber fie ft cf) lüflem oor Bewußtfein hirtgab, es gang nahe 
feinen Augen unb bocf) ihm unerreichbar gu tun* Es 
flräubte fi<h etwas in tf>r toie ein weiches fniflernbes 
«Rahenfell gegen ihn, unb als fäf>e fie einer Bleinen, 
gli^ernben «Kugel nach, ließ fie ihr Jtein aus ihrem Ber* 
(Tecf heraus unb oor feine 3Hiße rollen. * * Unb bann fchrie 
fie, als er es gertreten roollte* 

Unb ba nun, je£t, als ber flbfehieb fchon unwtberrufluh 
gtoifchen ihnen aufgerichtet flanb unb mit gtoifchen ihnen 
ben lebten BJeg ging, toar es gefchehen, baß plöfylid), mit 
polier Beflimmtheit, in XJeronifa auch biefe oerlorenfte Er* 
innerung emporfprang* Sie fühlte nur, baß fie es fei, unb 
txmfjte nicht woran unb toar ein toenig enttäufcht, weil 
fie an nichts ihres 3nhalts erfannte, warum fie -es fei; 
unb fanb fich nur toie in einer erlöfenben «Rühle. Sie 
fühlte, baß fie fchon einmal in ihrem £eben fo toie }e£t oor 
Qohannes erfchrotfen toar, unb oerfianb nicht, toie es gu* 
fammenhing, bafS ihr bas fooiel bebeutet hoben fonnte, 
unb toas es in 3ufunft nun follte — aber es toar ihr 
mit einemmal, als flttnbe fie toieber auf ihrem BJege, bort, 

162 


auf bem gleiten Punft, wo fie ihn einß oerlor, unb fie 
empfanb, baß in biefem flugenblicf bas toirflicfje Erleb» 
nis, bas Erlebnis an bem wirfüchen 0of>annes, feinen 
Scheitelpunft Übertritten hatte unb beenbigt toar. 

Sie (>atte in biefem flugenblicf ein Gefühl tote ein flus» 
einanberfallen; obwohl fie ganj nafje beieinanberßanben, 
war ihr fo fcbrög/ als fänfen unb fänfen fie ooneinanber 
weg; Beronifa fab nach ben Bäumen feitlicb ihres EJegs, 
fie flanben geraber unb aufrechter, als ibr natürlich ge» 
fchienen hätte. Xlnb ba glaubte fte, ihr Olein, bas fie oor» 
bem nur oerwirrt unb aus Ahnung gefprocfjen batte, erfl 
oollenbs ju fühlen, unb begriff, baß er feinetbalben je^t 
fortfubr unb es hoch nicht wollte, llnb es würbe ihr eine 
XOeile lang babei fo tief unb fchwer, wie jwei Körper 
nebenetnanberliegen, nur mehr fo eins unb bas anbre, ge* 
trennt unb traurig unb jeber nur bas, was er für ficb iß, 
weil es ja hoch beinahe fjtngabe geworben wäre, was fie 
fühlte; unb es fam irgenb etwas über fie, bas fie Hein 
unb fchwaeb unb ju nichts machte wie ein i?ünbchen, bas 
flagenb auf brei Beinen hinft, ober wie ein jerfchliffenes 
Fähnchen, bas hinter einem £uftf>auch baherbettelt, fo ganj 
löße es fie auf, unb es war eine Sehnfucfjt in ihr, ihn pi 
halten, wie eine weiche wunbe Scfmecfe, bie mit leifem 
3ucfen nach einer ^weiten fucht, an beren 2eib es fte oer» 
langt, aufgebrochen unb ßerbenb ju fleben. 

Aber ba faf> fie ihn an unb wußte faum, was fte bachte, 
unb ahnte, baß bas, was fie einzig baoon wufite, vielleicht 
— biefe plöhliche Erinnerung, bie blanf unb allein in ihr 
lag — überhaupt nichts war, bas man aus fich felbß 
begreifen fonnte, fonbern nur baburch etwas, baß es — 
irgenbeinmal burcf) eine große flngfl an einer Bollenbung 
gehinbert — feitljer oerhärtet unb oerfchloffen fleh in ihr 
oerbarg unb einem anbem, bas es hätte werben fönnen, 
ben BJeg oerfperrte unb aus ihr herausfallen mußte wie 
ein frember Äörper. Denn fchon begann ihr Gefühl für 
(Johannes ju finfen unb abjuflrömen — in breiter, be» 
freiter Slut brach etwas lange wie tot unb machtlos 
barunter Gefangnes aus ihr heraus unb riß es mit fich, 


11 * 


163 


— unb ott feiner Stelle wölbte ftcfc weit aus ber in if)r 
bloßgelegten Seme ein feuchten, etwas pfeiterlos Steigen* 
bes, etwas enbios Gehobenes unb wie burcb Xraumne0e 
gufammenbangoerloren Glitjernbes empor. 

llnb bas 6efpräcb, bas fie außen noch führten/ würbe 
fur§ unb ficfernb, unb wäbrenb fie ftcf> noch bamit ab* 
müßten, füllte Beronifa, wie es fcfjon gwifd>en ben HJor* 
ten ju etwas anberem würbe, unb wußte enbgüitig, baß 
er fortreifm mußte, unb brach es ab. 6s erfcfjten tf>r alles, 
was fie noch fagten unb oerfucbfen, umfonß getan, ba 
es entfliehen wer, baß er Weggehen unb mcf )t mehr wie* 
berfebren foUte, — unb weil fie empfanb, baß fie gar 
nt(bt mehr wollte, was fie fonß vielleicht bocb noch getan 
hätte, gewann bas baoon Itbriggebliebene mit einer jöben 
IDenburtg einen ßarren, unoerßänblicben flusbrucf; fie 
wußte faum einen Sinn unb eine BegrUnbung bafür, es 
war fcbnell unb hart, eine Xatfacbe, ein Gefaßt* unb Ge» 
worfenwerben. 

llnb wie er ba im Gewirr feiner BJorte noch immer oor 
ibr ßanb, begann fie bas Unjureicbenbe feiner Gegenwart, 
feines wirtlichen Bei*ibr»feins ju filblen, es brücfte fcbwer 
auf etwas in ibr, bas ficb mit ber Erinnerung an ibn fcbon 
irgenbwobin erbeben wollte, unb fie ßieß überall an feine 
£ebenbigfeit, wie man an einen toten Körper ßößt, ber 
ßarr unb feinbfelig unb allm Bemühungen wiberßebenb 
iß, ihn jur Seite ju fcbieben. llnb wie fie merfte, baß er 
fie noch immer fo bringenb anfab, erfcbien ihr 3°f)annes 
wie ein großes erfcböpftes Tier, bas fie nicht oon ficb ob* 
weiten tonnte, unb fie fühlte ihre Erinnerung in ficb rote 
einen Meinen, beißen, umflammerten Gegenßanb in 0än* 
ben, unb mit einemmal hätte es ibr beinahe bie 3unga 
gegen ihn berausgeßreeft unb war ein fonberbar jwifeben 
Slucbt unb £octung geteiltes Empftnben, faß wie bie Be* 
bröngnis eines IBeibcbens, bas nach feinem Uerfolger 
beißt. 

3n biefem flugenblicf aber bub wieber ber BJinb an, unb 
ihr Gefühl weitete ficb i n ib m unb löße ficb oon allem bar* 
ten ICiberßanb unbJFjaß, ben es, ohne ibn aufougeben, wie 

164 


etwas fefjr DJeitfjes in f!cf) einfog, bis oon ihm nur ein 
ganz oerlaffenes Entfern jurürfblieb, in bem ficf) Bero» 
nifa, wäfjrenb fie es empfanb, gleuhfam felbfi jurürfüefj; 
unb alles anbere ringsumher warb jittember oor Ahnung, 
©as Unburchficßige, bas bisher wie ein bunfter Hebel 
auf ihrem £eben gelaflet hatte/ war plö^lich tn Bewegung 
geraten, unb es frfjien ihr, als ob formen lang gefugter 
Gegenßänbe fah wie in einem Soleier abbrttcften unb 
wieber oerfchwänben. Unb nichts noch ;war hob fo fein 
Geficß heroor, bafj bte Singer es halten fonnten, alles 
wich noch jwifchen ben leife taflenben UJorten aus, unb oon 
nichts formte man fprechen, aber es war jebes XBort, bas 
nun nicht mehr gefagt würbe, f<hon oon ferne wie burch 
einen weiten Ausblicf gefehn unb oon jenem merfwttrbig 
mitfchwingenben Her flehen begleitet, bas alltägliche Jrjanb* 
tungen auf einer Bühne gufammenbrängt unb ju 3ei* 
eben eines im flachen Äiefelgeflerf)t bes Bobens fonfl nicht 
fießbaren UJeges auftürmt. XOie eine ganz bünne feibene 
JTtasfe lag es über ber Hielt, ßlt unb filbergrau unb be* 
wegt wie oor bem 3erreißen; unb fie fpannte ihre Augen, 
unb es flimmerte ihr baoor, wie wenn fie oon unfaßbaren 
Stößen gerüttelt würbe. 

So flanben fie nebeneinanber, unb als ber Xöinb immer 
ooller über ben BJeg fam unb wie ein wunberbares, wei* 
<hes, buftiges Tier fich überallhin legte, über bas Geficß 
ln ben Harfen, in bie Adjfelhößen ... unb überall atmete 
unb überall weiche famtene Spaart ausflrecPte unb fich bei 
jebem Erheben ber Brufl enger an bie Jpaut brürfte... täfle 
fich beibes, ihr Entfeßn unb ihre Erwartung, in einer mtt* 
ben, fchweren HJärrne, bie fhtmm unb blinb unb langfam 
wie wehenbes Blut um fie ju freifen begann. Unb fie 
mußte plößich an etwas benfen, was fie einmal gehört 
hatte, baß auf ben JTtenfcßn JTtillionen Heiner DJefen 
fiebetn unb mit jebem Atmen ungezählte Ströme oon £e» 
ben fommen unb gehn, unb fie zauberte eine IBeile er* 
flaunt oor biefen Gebanfen, unb es omrb ihr fo warm' 
unb bunfet wie in einer großen, purpurnen XBoge, aber 
bann fühlte fie nahe in biefern heißen Blutßrom ein zwei* 



tes, und tote fie auffab, fland er oor U>r, und feine $aare 
teerten im Hünbe gu if>ren gitternden paaren herüber, und 
fte berührten einander frf)on gang leife mit ihren bebenden 
Spieen; da patfte fie eine (nirfegende £ufl, wie wenn fitf) 
taumelnd gwei Schwärme tiermengen, und fie f)ättc ifjr 
£eben aus fief) berausreifien mögen, um in fjeifjer, fehlen« 
der Jinflemis ihn rafend oor Xrunfenfteit gang damit gu 
iiberfiäuben. Aber ifjre Körper flanden fieif und fiarr und 
ließen blofi mit geftbloffenen Augen gefcfjefjen, toas da 
heimlich oor firf) ging, als dürften fie es nicht toiffen, und 
nur immer leerer und müder wurden fie, und dann fanden 
fie ein wenig gufamnten, gang fanft und ruf)ig und fo 
flerbensfiitt gärtlüb, wie wenn fie ineinander oerbluten 
würden. 

lind wie der XCünd firf) f>ob, war ihr, als fliege fein Blut 
an tf>r unter den Jlörfen hinauf, und es füllte fie bis gum 
£eibe mit Sternen und .Reichen und Blauem und Gelbem 
und mit feinen Jaden und tagendem Berühren und mit 
einer reglofen HJollufl, wie wenn Blumen im JBinde (lef)n 
und empfangen. Und norf> als die untergebende Sonne 
durch den .Rand ihrer Jlörfe frfjien, fland fie gang trag und 
füll und frf)amIos ergeben, als ob man es fef)en fönnte. 
Und nur gang, gang oergeffen dachte fie frf)on an jene grö* 
fiere Sebnfucfjt, die fitf) noch erfüllen follte, aber das war 
in diefem Augenblicf blofi fo leife traurig, wie wenn weit 
weg die Glocfen läuten; und fie flanden nebeneinander und 
hoben fid) grofi und ernfl — wie gwet rieftge liere mit 
gebogenen Jlücfen in den Abendbimmel. 


166 


tf p i f o 6 t dom teufet $ c e 

XJon Stefon 3weig 


VV m Ufer bes Genfer See9, in ber Jiöfje ber Heinen 
\Schweiger Stabt Billeneuoe, würbe in einer Som» 
mernacfjt bes Jahres 1918 ein Jifcher, ber fein Boot in 
ben See hmausgerubert batte, eines merfwttrbigen Gegen« 
flanbes in ber JTiitte bes BJaffers gewahr, unb näher» 
fomntenb erfannte er ein Gefährt au 9 tofe gehefteten Bai* 
fen, bas ein nacfter Jliann in ungefrfjirfter Xöeife mit 
einem als Jluber oertoenbeten Brett oorwärtsgutreiben 
oerfurf)te. Staunenb fleuerte ber Sifcher heran, half bem 
Grfchöpften mitleibig in fein Boot, becfte feine Blöße not* 
bürftig mit Jietyen unb oerfucfjte bann mit bem frofijittern* 
ben, frfjeu in ben HJinPel bes Bootes gebrücften JTtenfchen 
*u fprecfjen; aber biefer antwortete in einer fremben 
Sprache, oon ber nicht ein einziges IBort ber feinen glich* 
Balb gab ber hilfreiche jebe weitere JRühe auf, raffte feine 
Siehe empor unb ruberte mit rafchen Schlägen bem 
Ufer ju. 


3n bem JTtaße als im frühen Sichte bie Umriffe bes 
Ufers aufglängten, begann auch bas flntlih bes nacften 
JHenfchen fi<h ju erhellen; ein Knbliches Sachen fchälte fich 
aus bem BartgewUhl feines breiten ÜTlunbes, bie eine 
hanb h°ä fi<h hinüber, unb immer wieber fragenb unb 
halb fchon gewiß flammelte er ein IBort, ba 9 wie Jloffipa 
Hang unb immer glücffeliger tönte, je näher ber «Kiel gegen 
bas Ufer fließ. Cnblich fnirfchfe ba 9 Boot an ben Stranb, 
bes Sifchers weibliche flnoerwanbte, bie auf bie naffe Beute 
harrten, flohen freifchenb, wie einfl bie JTtägbe JlaufiPaas, 
auseinanber, ba fie bes nacften TRannes im Sifcfjernehe 
anfichtig würben; allmählich erfl, oon ber feltfamen Äunbe 


167 


angelocft, fammelten ficfj oerfchiebene JRänner bes Oors 
fes, betten fid) alsbalb toürbeberoufjt unb omtseifrig ber 
toacfere HJeibel bes Ortes jugefellte. 3f)tn war es aus 
reicher Erfahrung ber Ärtegsjeit unb mancher 3nflruftion 
fofort gewiß, baß bies ein ©eferteur fein miiffe, ber oom 
franjößfcben Ufer herbeigefchwommen mar, unb fcf>on 
rüßete er junt amtlichen Uerfjör, bos ober balb on BJürbe 
unb Xöert burcf) bie Xatfarfje oerlor, baß ber nacfte JTlenfch 
(bem injroifcfjen einige, ber Bewohner eine Qotfe unb eine 
otoilcfjfjofe jugeworfen) auf ode trogen nichts als immer 
roieber ängfllirfjer unb unsicherer feine Sroge „Jlofftpo? 
Jloffipa?" wieberholte. Ein wenig ärgerlich über feinen 
Jliißerfotg, befahl ber HJeibel bem Sremben burcf) unntiß* 
oerßänbüche ßebärbe, ihm ju folgen, unb umjof>It oon ber 
injwifcf)en ermatten Gemeinbejugenb würbe ber noffe, 
nacftbeinige JHenfcf) in feiner fdf)lottrigen £ofe unb 3<*cfe 
auf bas fimtsbous gebracht unb bort oermahrt. Er wehrte 
ficf) nicht, fprocf) fein BJort, nur feine gellen Augen waren 
bunfet geworben oon Enttäufcfjung, unb feine fyofytn 
Schultern bucften ficf) wie unter gefürchtetem Schlage. 

Oie Äunbe oon bem menfcf)licf)en Sifdjfang hotte ficf) 
injwifchen bis ju ben nahen Rotels oerbreitet, unb einer 
ergbhUchen Epifobe in ber Eintönigfeit bes Tages froh, 
famett einige Oamen unb Herren, ben wilben JTCenfchen 
ju betrachten. Eine Oame fchenfte ihm ein Äonfeft, bas 
er mißtrauifch wie ein Affe liegen ließ, ein -f>err machte 
eine photographifche Aufnahme, alfe fchwapten unb fpra« 
cf)en Iuflig um ihn herum, bis enbfich ber JTtanager eines 
großen Goflhofes, ber lange im Auslanb gelebt hatte unb 
mehrerer Sprachen mächtig war, an ben fchon ganj Her« 
ängfiigten bas BJort nacheinanber in Oeutfch, 3talienifcf), 
Englifch unb fcfjltefjlich «Huffifch richtete. Aaunt, baß er in 
ber lebten Sprache ein BJort an ficf) oemommen, jucfte 
ber Berängßigte auf, ein breites Sachen teilte fein gutmü» 
tiges Geficht oon einem Ohr bis junt anberen, unb plöb* 
lirf) ftcher unb freimütig erjähtte er feine ganje 6efcf)i<hte. 
Sie war fehr lang unb fehr oerworren, nicht Immer auch 
in ihren Einjetberichten bem jufältigm Oolmetfch oerflänb» 


168 


tief), doch in der IBefenheit war das Scfjirffal diefes JTten» 
fchen bas folgende: 

Cr hatte in «Rußland gefämpft, war dann eines Tages 
mit taufend anderen in Waggons oerpaeft worden und 
fefjr weit mit ihnen gefahren, dann wieder in Schiffe oer* 
laden und noch länger mit Urnen gefahren durch Eänder, 
wo es fo f>etfS war, daß, wie er fagte, einem die «Knochen 
im $teifch weich gebraten wurden. Schließlich waren fte 
wieder irgendwo gelandet und in HJaggons oerpaeft wor« 
den und Ratten dann pliS^Ucf) einen $ügel ju (türmen, 
worüber er nichts Höheres wußte, weil ihm gleich ju An* 
fang eine «Kugel ins Bein getroffen habt. Den 3uf)örem, 
denen der Dolmetfeh «Rede und Antwort überfe^te, war fo* 
fort flar, daß diefer Flüchtling ein Angehöriger Jener ruffi* 
fchen Dbifionen in Frankreich war, die man über die halbe 
Cr de, über Sibirien und BJladimofloef an die franjöftfrfje 
Front gefehlt hatte, und es regte fief> mit einem gewiffen 
JTiitieid bei aden gleichzeitig die JTeugier, was ihn oer* 
mocht habe, diefe feltfame Flucht ja oerfuthen. JTiit halb 
gutmütigem, halb lißigem Eächetn erjählte bereitwillig der 
Jluffe, faum genefen, habe er die Pfleger gefragt, wo «Ruß* 
land fei, und fie hätten ihm die «Richtung gedeutet, deren 
ungefähres Bild er durch die Stellung der Sonne und der 
Sterne fiel) bewahrt hatte, und wie er dann heimlich ent* 
wichen fei, nachts wandernd, tagsüber in drjeufchobem oor 
den Patrouillen fi<h oerßeefend. Gegeffen habe er Früchte 
und gebetteltes Brot, jehn Tage lang, bb er endlich an 
diefen See gekommen fet. 3Tun wurden feine Crflärungen 
undeutlicher; es fchien, daß er, aus der Stäbe des Baifat* 
fees flammend, oermeint hatte, am andern Ufer, deffen 
bewegte Ebnen er des Abends erblicfte, müffe «Rußland 
liegen, jedenfalls hatte er f«h aus einer $ütte jwei Bai* 
len geßohlen und war auf ihnen, bäuchlings liegend, mit 
JF>ilfe eines gleichfalls entwendeten Steuerruders weit in 
den See btnausgefommen, wo ihn der Fifcher auffand. Die 
ängßtiche Frage, mit der er feine unflare Crjähbmg be* 
fchtoß, ob er fchon morgen daheim fein fönne, erweefte, 
faum überfehl/ durch ih re Unbelebrtbeit erß lautes Ge* 

169 


Vddyttr, bas aber balb gerührtem JItitleib mich/ uni» jeher 
flopfte hem unficher unh faft Möglich um fich Bltcfenben 
ein paar Gelbmünzen ober Banknoten ju. 

3nja)ifchen mar auf telephonifche Berflänbigung aus 
JTiontreuj ein böserer Polizeioffizier erfdf)ienen, her mit 
nicht geringer 3Tiühe ein Protokoll über hen Borfall auf« 
nahm. 

Denn nicht nur, hafi her zufällige ©otmetfch fich ata 
unjulöngücf) ermtes, baih murhe auch hie für einen BJefi« 
länher ganz unfaßbare llnbilhung hiefes JTtenfchen flar, 
heffen JBiffen um [ich felbfl nicht hen eigenen Bornamen 
Borts überfchritt, unh her oon feinem ^eimatborf nur 
äußerfi ©ermorrene ©arftellungen ju geben oermochte, 
etma hafi fie £eibeigene hes Türflen JRetfcherffi feien (er 
fagte £eibeigene, obmohl hoch feit einem JTCenfchenalter 
hiefe Tron abgefchafft mar), unh hafi er fünfzig BJerfl 
oom grofien See entfernt mit feiner Trau unh hrei Äin« 
hem mohne. ©ie Beratung über fein Scfncffal begann, 
inhes er mit fhmtpfem Blicf gehucft inmitten her Streiten« 
hen (tanh; hie einen meinten, man müffe ihn her ruffifchen 
Gefanhtfchaft in Bern übermeifen, anhere befürchteten oon 
folcher JTtafjnahme eine Jlücffenbung nach Tranfreicf), her 
Polizeibeamte erläuterte hie ganze Srfjmierigfeit her Trage, 
ob er als ©eferteur ober als papierlofer fluslänher behan« 
heit merhen folle, her Gemeinhefchreiber hes Ortes mehrte 
gleich oornherein hie JftöglichBeit ab, hafi gerahe fie 
hen fremhen Gffer zu ernähren unh z« bergen hätten. 6in 
Tranzofe fchrie erregt, man folle mit hem elenhen Durch« 
brenner nicht fooiel Gefehlten machen, er folle arbeiten 
ober zurüeffpehiert merhen, zmei Trauen manhten f>eftig 
ein, er fei nicht fchulh an feinem Hnglücf, es fei ein Ber« 
brechen, Blenfchen aus ihrer Heimat in fremhes £anb ju 
oerfcf)icfen. Schon hrohte aus hem zufälligen Anlaß ein 
politifcher 3mift fich z« entfpinnen, al9 ein alter fytrx, ein 
Däne, plö^licb bazmifchenfuhr unh energifch erBlärte, er 
bezahle hen Unterhalt hiefes JTtenfchen für acht läge, in» 
Zmifdhen follten hie Behärhen mit her Gefanhtfchaft ein 
ubereinfommen treffen, melche unermartete £öfung fo« 


170 



wohl bte amtlichen als bte prioaten Parteien oollPommen 
3ufrtebenflellte. 

UJäfjrenb ber immer erregter werbenben DisPuffion 
batte ficf) ber feheue Blicf bes Flüchtlings allmählich er* 
hoben unb hing unoerwanbt an ben £ippen bea einjigen 
in biefem Getümmel, bea Tltanagers, oon bem er wußte, 
baß er ihm oerflänblich fein Scf)t<#fal fagen Pönnte. Sumpf 
fcf)ien er ben IBirbel ju fpüren, ben feine Gegenwart er» 
regte, unb gan3 unbewußt, als je£t ber IDortlärm ab» 
fchwoll, f>ob er burch bie Stille bie Jrjänbe flehentlich gegen 
ihn auf wie Frauen oor einem ^eiligenbtlb. Das «Hüh* 
renbe biefer Gebärbe ergriff unwiberftehlich jeben eingel* 
nen. Der Jlfanager trat herjüch auf ihn ju unb beruhigte 
ihn, er möge ohne flngft fein, er Pönne unbehelligt f)itr 
oertoeilen, unb im Gafihof mürbe für bie nächße 3 eit für 
ihn oollPommen geforgt werben. Der «Ruffe wollte ihm bie 
$anb Püffen, bte ihm ber anbere rürftretenb rafch entjog. 
Dann wies er ihm noch bas Ttachbarhaus, eine Pleine 
Dorfwirtfchaft, wo er Bett unb Ttahrung finben würbe, 
wieberholte bie 1 )er%lid)e Beruhigung unb ging bann, ihm 
noch einmal freunbüth juwinPenb, bie Straße ju feinem 
jpotel empor. 

Unbeweglich flarrte ber Flüchtling ihm nach/ unb in bem 
Tltaße, als ber einzige, ber feine Spraye oerftanb, firf) ent* 
fernte, oerbüflerte fich wieber fein fchon erhelltes Gefielt. 
TTtit oerjehrenben Blicfen folgte er bem Gntfchminbenben 
bis hinauf 3U bem hochgelegenen Sjotel, ohne bie anbern 
TTCenfcben 3U beachten, bie fein feltfames Gehaben beflaun« 
ten unb belachten. Als ihn bann einer mitleibig anrührte 
unb in ben 6afthof wies, fielen feine ferneren Schultern 
gleichfam in ficf) jufammen, unb gefenPten Hauptes trat 
er in bie Xür. Titan öffnete ihm bas Schan^immer. Cr 
brüefte fich an ben Xifch, auf ben bie TTtagb 3um Gruß ein 
6las Branntwein flellte, unb blieb bort oerhangenen Bltcfs 
ben ganjen Bormittag unbeweglich fi£en. ltnabläffig fpäh* 
ten 00m Fenßer bie DorfPinber lytrzin, lachten unb fchrien 
ihm etwas 3U — er hob nicht ben .Kopf. Cintretenbe betrach* 
teten ihn neugierig, er bfieb, ben .Kopf an ben Xifch gebannt. 


mit Prummern Jlürfen fi£en, frfjamfmft und frfjeu. lind als 
mittags jur Cffensjeit ein Schmarrn £eute den «Kaum mit 
£ad)en füllte, Hunderte HJorte ii>n umfrfjwirrten, die er 
nirfjt oerfland, und er, feiner Sremdfjeit entfe^lirf) gewahr, 
taub und fhtmm inmitten einer allgemeinen Bewegtheit 
fafi, gitterten if)m die jjände fo fef>r, da(S er Paum den 
£öffel Suppe beben Ponnte. piö^lirf) lief eine dicfe Xräne 
die BJange herunter und tropfte ferner auf den Xtfrf). 
Srf>eu fof> er firf) um. Oie andern Ratten fie benterPt und 
frf>wtegen mit einemmal. lind er frf)ämte firf): immer tiefer 
beugte fi<f> fein fernerer, fh-uppiger Äopf gegen das 
fchwar^e ^otj. 

Bis abends blieb er fo fi^en. JTienfrfjen Pamen und gut* 
gen. Cr füllte fie nirf)t und fie nidjt mef>r if>n: ein Stü<f 
Spotten, fafi er im Schatten des Ofens, die jpände frf>wer 
auf den Xifcf) gefüllt. Alle oergafien if>n, und Peiner oon 
ihnen merPte, daf} er firf) in der Dämmerung plötjlirf) auf» 
hob und den BJeg gegen das Jrjotel dumpf rote ein Xier hin« 
auffrf>ritt. Cine Stunde und §wei fland er dort oor der 
Xür, die UTtü^e deoot in der Jpand, ohne Jemanden mit 
dem BlitP an}urüf)ren: endlich fiel diefe feltfame Geflatt, 
die flarr und frfjroarj tote ein BaumflrunP oor dem Hcfjt- 
funlelnden Cingang des Jpotels im Boden rourjelte, einem 
der £aufburfrf)en auf, und er holte den JTlanager. BJieder 
flieg eine Pteine JpetligPeit in dem oerdiiflerteri Gefirf)t auf, 
als feine Sprache ifjn grüßte. 

„Blas toillfl du, Boris?" fragte der JTtanager gütig. 

„ 3 h* toollt oerjeihen," flammelte der $lürf)tling, „ich 
roollte nur wiffen — ob trf) narf) S au fe darf." 

„Geroiß, Boris, du darffl narf) $aufe", lächelte der Ge» 
fragte. 

„morgen frfjon?" 

3 Tun ward aurf) der andere emfl. ©as £ärf)eln oerflog 
auf feinem Gefixt, fo flehentlich toaren die BJorte gefagt. 

„Jlein, Boris, |e£t norf) nirf)t ... Bis der Ärieg oor» 
bei tfl." 

„lind warnt? BJann ifl der .Krieg oorbei?" 

„Oas weif} ich nirf)t; wir JTtenfdjen wiffen es nicht." 


173 


„ltnb früher? Äann ich nicht früher gehen?" 

„Bein, Boris/' 

„3fl es fo »eit?" 

„3a." 

„Biele Tage noch ?" 

„Biele läge." 

,,3cf) »erbe boch geben, ^err! 3cf) bin flarf. 3cf) »erbe 
nicht rnübe." 

„Aber bu fannfl nicht, Boris. 6 s ifl noch eine 6 ren 3 e ba» 
3 »if<hen." 

„Sine ßrenje?" £r blicfte flurnpf. Oos IBort »or ihm 
fremb. 

©onn fagte er »ieber mit feiner merf»ürbigen £art» 
näcfigfett: ,,3cf) werbe hlnttberfchwintmen." 

Oer JTTonoger lächelte beinahe. Aber es tat ihm botf) 
»eh, unb er fagte fanft: „Bein, Boris, bas gebt nirf>t. Eine 
ßrenje, bas ifl frembes £anb. Oie Blenfchen laffen bich 
nicht burdf)/' 

„Aber ich tue ihnen hoch nichts! 3cb habe mein Gewehr 
roeggeworfen. BJarum follen fie mich nicht ju meiner Srau 
laffen, wenn ich fie bitte um Chnfli willen ?" 

Oer JTtanager »urbe immer ernfler. Bitterfeit flieg in 
ihm auf. „Bein," fagte er, „fie werben bich nicht hinüber» 
laffen, Boris; bie JRenfchen hören je 0 t nicht mehr auf 
Chrifli IBort." 

„Aber, was foll ich tun, Jjjerr? 3cb fann boch nicht fnw» 
bleiben! Oie JTtenfchen oerflehen mich b* e * nicht, unb ich 
oerflehe fie nicht/' 

„Ou wirfl es fchon lernen, Boris." 

„Bein, £err," er bog ben «Kopf tief, „ich fann nichts 
lernen. 3cb fann nur am Selb arbeiten, fonfl fann ich 
nichts. X0as foll ich b'ttr tun? 3cb will nach Jpaufe! 3eig’ 
mir ben IBeg!" 

„Gs gibt je£t feinen IBeg, Boris." 

„Aber, Sperr, fie fönnen mir boch nicht oerbieten, ju mei* 
ner Srau hetmjufehren unb ju meinen Äinbern! 3ch bin 
boch nicht Solbat mehrl" 

„Sie fönnen es, Boris." 


*73 


„Unb ber 3ar?" 6r fragte es gang plö^liifj, gitternb oor 
Erwartung unb Efjrfürdjtigfett. 

„Es gibt feinen 3aren meljr, Boris. Oie JTtenfrfjen fjaben 
ifjn abgefe^t." 

„Es gibt feinen 3aren meljr?" Oumpf flarrte er Öen 
anbern an. Ein le^tes £irfjt erlofrfj in feinen Biitfen, bann 
fagte er gang mübe: „3rfj fann alfo nirfjt narfj Jjjaufe?" 

„3e&t nirfjt. Ou mußt warten/ Boris." 

„£ange?" 

„3rfj weiß nirfjt." 

3mmer büfierer würbe bas Gefickt im Ounfet. „3<fj Ijabe 
frfjon folange gewartet! 3rfj fann nirfjt meljr warten. 3eig’ 
mir ben BJeg! 3rfj will es borfj oerfurfjen!" 

„Es gibt feinen UJeg, Borts, An ber Grenge nehmen fie 
bitfj fefl. Bleibe f)kr, wir werben für birfj Arbeit finben!" 

„Oie JTIenfrfjen oerßefjen mirfj fjier nirfjt, unb irfj oer» 
flefje fie nirfjt", erwiberte er fjartnäcfig. „3cfj fann fjier 
nirfjt leben! Jrjilf mir, Ifjerr!" 

„3dj fann nirfjt, Boris." 

„Jrjilf mir um Cfjrißi willen, Jperr! Jpilf mir, trfj fann 
nirfjt meljr!" 

„3rfj fann nirfjt, Borb. .Rein JRenfrfj fann }e0t bem 
anbern fjelfen." 

Sie ßanben einanber fhtmm gegenüber. Boris brefjte 
bie Jltü&e in ben fpänben. „Xöarum fjaben fie micfj bann 
aus bem Jrjaus gefjolt? Sie fagten, irfj müffe Jlußlanb 
oerteibigen unb ben 3aren. Aber «Rußlanb ifl borfj weit 
oon fjier, unb bu fagß, fie fjaben ben 3aren... wie fagß 
bu?" 

„Abgefe^t." 

„Abgefetjt." Sinnlos wieberfjolte er bas Wort. „Xöas 
folt irfj je0t tun, Jjjerr? 3rfj muß narfj Jpaufe! JTleine Äinber 
frfjreien narfj mir. 3rfj fann fjier nirfjt leben! Jpilf mir, fjilf 
mir, Jjjerr!" 

„3cfi fann nirfjt, Borb." 

„llnb fann niemanb mir fjelfen?" 

„3#&t ntemanb" 


174 


Der «Hüffe beugte immer tiefer bas Sjoxupt, bann fagte 
er plö^Iicf) bumpf: „3d> banfe bir, J?err" unb manbte ftrf) 
um. 

Gang langfam ging er ben DJeg hinunter. Der JTCanager 
faf) ibm lange narf), rounberte fUf> no d), bafi er nicf)t bem 
Gaflfjof jufdjritt, fonbem bte Stufen fjtnab an ben See. 
6r feufjte tief unb ging mteber an feine Arbeit im Jjjotel. 

ein 3ufall mollte es, bafS ebenberfelbe Siftfjer am nä<f)* 
flen JTtorgen ben narften £etcf)nam bes ertrunfenen auf» 
fanb. €r batte forgfam bie gefcfjenfte JFJofe, JTtübe unb 
3atfe an bas Ufer gelegt unb mar ins DJaffer gegangen, 
mie er aus if>m gekommen, ein Protokoll mürbe über ben 
Dorfall aufgenommen unb, ba man ben JTamen bes 
Sremben nirf)t fannte, ein billiges Jrjoljfreuj auf fein Grab 
geflellt, eines jener Meinen Äreuje über namenlofem Scf)i(f« 
fal, mit benen jetjt Guropa bebetft ifl non einem Gnbe bis 
junt anbern. 


*75 



Da* fj a u * de* 01 i $ t t * 

Bon 3ofef Ponten 


Cjr>0 bie Stait p<h Ins ßanb jerfrümelte, wohnten 
*^^^'wir. Jlirfjf im Brtiffeler Steinweg — in einer ob* 
gängigen Seiten(h-aße, bie fic^t gegen ein Gebirge totfief. 
Gin phwarges Gefängnis log ouf ber einen Seite über 
«Rleinleutegärten, auf ber onbent/ hinter Ärautfelbern, ein 
rotes Srauenfloper. liefe ousjementterte JRouerjpIinber 
aufgeiaffener Gasfeffei waren bo, bie ieicfyen ertranfter 
fjunbe unb Äo^en trieben ouf bem giftigen BJoffer. Ser* 
ner gab es eine fjerrentofe Gfeuburg unb einen oerwilberten 
Porfroolb, in bem ein "Bad), aus bem unbefannten Gebirge 
fontmenb, über ^jinbemiffe tofle; ein gewaltiger Steinfarg 
ous ber «Ritter» unb Boroötergeit fionb in einer moopgen 
grufeligen Ärppta, auch ein Jtömeraltor ober Grobpein 
mit bem Jlanten irgenbeines JTiorcius toar bo — einerlei! 
©enn olles bas toar nicfjt ^olb fo merfwürbig als bos 
Sonberborpe: bos Sjaua bes flrjtes. 

©os Jpaus bes Atgtes war bos merfwürbigpe Saus ouf 
ber IDelt. Aber bie Gropen füllten nichts oon feinem 
Steuer! ©os JITilchmäbchen, aus bem Bauernhöfe ber 
Burg fcereinfa&renb, lieferte bort in ber Sriif>e bie TTTilch, 
ber Popbote, ous ber Stobt f>erousfommenb, fpäter bie 
Briefe ob. S* n unb toieber fam auch irgenbein 3*ntonb, 
läutete, würbe obgefertigt, ging. Auf bos 3iei>en am Äfin* 
gelfnopfe, ouf bos mon oon broufjen nie einen Gtorfenfon 
hörte, würbe bie Tür fpoltweit geöffnet — bie Sperrfette 
blieb oorgelegt. Gin Arm nahm herein unb reifte hinaus 
— wieber oerfcfpop [ich bie Xttr. ©ap bie JTtenphen ficf) 
oor biefer Xür fo furj obfpeifen fiepen, ohne Uerbarf)t ju 
fchöpfen! ©oP bie Polizei bos jpaus nicf)t beobachtete! 
Aber es follte uns JJungens — wir waren fchon jiemfich 


emmcfjfen, feiner mar jünger als gehn Jafjre — fcfjon recht 
fein! DJir mürben bte unbegreifliche Berfäumms nach« 
|) 0 len! Oos jpaus mar unfer «fjaus, unfer fcfjrerfücfjes 
Geheimnis! DJir mürben heimliche Seme fein! DJir mürben 
bas Geheimnis eines Tages lüften, unb bie DJelt follte 
frf>aubernb erfennen, an melcf) fcfjrerflicfjen, vielleicht bluti» 
gen Oingen fie ahnungslos vorübergegangen mar.. ♦ 

DJir belagerten bas J?aus heimlich viele JTTonate, ben 
gangen Sommer eines langen Jahres hindurch, von früh 
im Srühling an, als mir mieber auf bie Strafe hinaus« 
gelaffen maren. DJir hatten einen heiligen Gib über einer 
toten Ra£e, einer brennenben «Serge unb bem in einem 
Ameifenbau nacftgenagten Schübel eines JHarbers gefchmo« 
ren. DJir hatten mit einer Rabel aus bem Arme hervor* 
geholte Blutstropfen gegenfeitig getrunfen unb gang fürch* 
terlich gefchmoren. JReine Brüber maren ausgefchloffen, 
ihnen traute ich nicht — mer traut feinen Brübem? DJir 
maren ihrer fieben ober acht, männlichen Gefchiechts, nur 
Annchen, bas mar ein DJeib. Aber fie fcf>lug fich tvie ber 
Stärffle von uns unb benahm fich überhaupt fo grunban* 
flänbig, bafS fie hätte ein JTlann fein fönnen. 

DJir hatten einen befHmmten Plan ausgearbeifef, mo* 
nach immer einer von uns, bie vertracfte Scfmlgeit natür« 
lieh ausgenommen, auf DJache mar. Oie etgentlirfjc «Kriegs» 
geit maren bie Serien, unb gegen Gnbe ber großen Som« 
merferien ging benn auch bas vor fich, mas ich in biefer 
Gefchichte ergäfjlen mill. Oas Jrjaus lag in ber langen 
Strafe für fich allein, als Reihenhaus mit großen naeften 
Giebelmauern; aber merfmürbigermeife blieb es allein lie* 
gen, fooft auch fonfl rin Jleubau errichtet mürbe; fiets 
lehnte er fich an einen anbem Bau ober Blocf an. Als 
Söhne von Jttännern bes Baugemerbes fiel bas uns auf. 
DJir machten uns bebeutenbe Augen unb mitten nach <*uf« 
märts mit bem «Kopfe. 

Oie Senfler bes Grbgefchoffes fah man fiets mit inneren 
£aben verfchloffen, bei Rocht unb Tag. DJir hätten bitter? 
gern einmal in bas 3immer an ber Straße geflaut. DJas 
mochte barin vor fich 9 e h en —? 


12 ®te beuttefc« Jtowlh. 


177 



Pah, mir tourten es: gräßliche “Dinge, bie uns unge« 
heuer fpannten... 

3 laef) hinten, ins Ärautfelb hinein, 30 g eine JTCauer. IBir 
oerfuehten, über fie in ben Garten, ^of ober mas bahinter 
fein mochte, 31 t flauen, unb bo mir feine £eiter onlegen 
burften, um nicht Auffefjen 3 U erregen, fo machten mir eine 
Ppromibe oon £eibern: 0afob (lieg, in bie jrjänbe ber ßar« 
fen Anna tretenb, auf bie Schultern 0of>onn8, melier ber 
fräftigße mor, unb auf 0 afob (lieg £ombert; bo ober auch 
biefer noch nicf)t on bie JRauerfrönung reichte, fo Heiterte 
i<f> — ber fleinfle, ober nicht feigfle ber Gaffenjungen! — 
an ber JItenfcfjenleiter hoch; fcf)on flonb icf> oben ouf bem 
roacfelnben Gebäu unb roollte über bie «Krone bltrfen — 
ba flür 3 te ber £eiberturm in ficf) hinein. 0ohann, bos Erb» 
gefcfjoß, hatte nachgegeben (er behauptete fpäter, Annexen 
habe ihn gefielt, ober bos mor nicht mohr, er mor einfach 
fchiopp gemefen!). 3ef) fah plöhlicf) — es mar am Abenb 
— bie Sonne tm Dflen untergehen, bann ein Seuermerf 
oon Sternen unb Sinflernis. Als idf) mieber 3 U mir tarn, 
log ich mit gebrochenem Bein im Bette. 3mor heilte ber 
Bruch fchnell aus, ober es gingen hoch bie halben Serien 
barüber hin. Als ich gegen beren Enbe mit noch eingefchien« 
tem Beine oor ber Sefhtng mieber erfchien, mar bie aflge« 
meine £age unoeränbert. ©er Seinb mar ober unabfäffig 
beobachtet morben. 

Einen Angriff oon ber Gartenfeite gaben mir ouf. Glicht 
megen ber lächerlichen JUauerhöhe, bie mir biesmal be> 
gmurtgen haben mürben (benn 0 ohann hatte mährenb ber 
gon 3 en 3eit meines Sernfeins rohes Ochfenblut 00 m Jlteh« 
ger getrunfen unb behauptete, je 0 t fräftig genug 3 U fein), 
fonbern meil bie JRauerfrone mit aufrechten Slafcfjenfcher» 
ben in 3ementbettung gefpieft mor. Diefe abf<heulicf)e 
BJehr, bie uns gegen alle guten Sitten 3 U o er flößen fehlen, 
gob es felbfl brüben ouf ber JRauer bes Gefängnishofes 
nicht. 3n ber Jläf>e (lanb ein müber Pflaumenbaum, giem* 
lieh hach/ aber fränflief). JTtichael, ein Äletterer mie feiner 
oon uns, gelangte ouf ben Pflaumenbaum; aber mie er 
fi<h auf einem Afle oormärtsfehob unb bie £aubfrone aus» 

178 


einanberbog, um tn ben S°f gu blicfen, brach ber Aß, 
3TEicf>aeI ßürgte ab unb würbe ebenfalls besinnungslos gu 
Bett gebraut. 6 r fpucfte Blut unb flarb halb barauf, 
{ebenfalls fd)ieb er aus unfern Unternehmung aus. 

Das Anbeißen auf biefer Sette gaben nur auf. 6 s mar 
flar, nur im geraben Angriff fonnte bas Saus genommen, 
bas Geheimnis ber ßummen Blauem gelüftet werben. 
Ginbringen oon oorn! Ourch bie Xür! Oa fagte JTiichael 
— er lebte bamals noch, fpucfte aber fcfjon heftig Blut — 
i cf) müffe ber fein, ber es täte. Alle ßimmten bei, befonbers 
Annchen. Oas allgemeine 3utrauen fcfjtoellte mich nicht 
wenig, ich nahm wortlos an — fefjob aber bie Ausführung 
oon einem Tag auf ben anberen hinaus. 3ch erntete oiel 
Ghre oorauf, Annchen Hißte mich oor oerfammelter JTtann* 
fchaft; aber bie Bereitwilligfeit, mir Gfjren auf Borfchuß 
gu geben, nahm fchnell ab, unb bie Ungebulb, meine Xat 
gu fehen, gu. 3 cf) fam in bie f)öcf)ße innere Bebrängnis, 
benn — ich merfte, baß ich feige war. Aber was halfs? 
Johann, als größter unb ßärfßer, fanb bereits freche 
BJorte. Oie Xat brängte! Oie Ausführung bes Bunbes» 
befchluffes würbe nach einer furgen entfchloffenen Jlebe 
0ohanns, ber mich mit Achtung bebroht hotte, auf ben 
übermorgigen Abenb angefegt. 

3cf> ging heimlich in bie Kirche unb betete lange auf ttaef» 
ten Änien gu meinem Schuh* unb Ttamenspatron, bem 
heiligen Subertus, Bifchof oon £üttich. 3n ben Opferßocf 
warf ich einen Grofchen. Jlun fonnte nichts fehlen! 

£e£ten Stoß unb Schwung gab ber JTIonbfcheinabenb. 
Oer Argt, bas war ber Befi 0 er bes Saufes, war am DTlor» 
gen oerreiß, wie bie Späher glaubwürbig gemelbet hatten; 
feine Äinber waren aileingeblieben. Ufas wir am Abenb 
bes Xages fahen, fonnten wir uns nicht erflären, aber es 
war fehr merfwürbig. BJir waren nach bem Abenbeffen 
noch einmal herausgefommen unb ßanben bei JTtonbfchem 
in ber nachtleeren Straße oor bem Saufe. BJeiß oon 
Blonb war bas Saus. Oa fahen wir Gefpenßer hinter ben 
Scheiben! £eibhaftige Gefpenßer! Gefpenßer in langen 
£eintüchern, welche ungeheure Arme reiften. Balb war e 9 


12 * 


179 


ourf), ate mürben bletch' Ääfe aus bem fhtßeren 3nnem 
bes Jpaufes an bie Senßer getragen, an bte Senßer ber 
höheren Stocfroerfe, benn bas Erbgeßhoß blieb oerßhlof« 
fen — rußig unb grabesßill lag e9 töte immer guoor. ©te 
Ääfe mürben ab« unb jugetragen, fie mürben aucf) riefig 
groß unb bann mteber Mein, e9 mürbe bamit non ben Ge» 
fpenßern bas feierliche Äreuj gemacht, mie bie prteßer es 
mit ber JRonßranj tun. ©09 erßhien uns als eine unge« 
heure Gottesläßerung! Johann ßieß mich in bie Jltppen, 
fagte leife unb grimmig: „TRorgen!" JTtir mar es eisfalt 
im JUicfen, unb ba ich oor 3ähneMappern nichts ermibem 
fonnte, ntcfte ich nur ftumm. Alle beßaunten mich «nb 
hielten fich in achtungsoolter Entfernung. Ein Schuhmann 
bummelte burch bie Straße, aber ber lüächter ber Orb» 
nung — fthöne JBächter, biefe Schuhleute! — fah an bent 
S)oxx\t nichts Auffälliges, betrachtete oieimehr uns auf 
Berbachtsmeife, beruhigte fich aber batb unb ging, laut 
ben JRonb angäfmenb, baoon. 3cf) mar beinahe ohnmäch« 
tig, bemühte mich febocf), nichts ju benfen, gar nichts mir 
oorjußellen, befinnungslos ju merben. 3m Taumel 
riß ich mich gufammen — fieh ba! ich fühlte mich ein 
ganjer JRann. 3ch fagte: „Auf morgen, £eute!" JTIit feßer 
Stimme fagte ich bas unb ging nach Jrjaufe. „Auf mor« 
gen!" fagten bie anbem halblaut, unb alle oerloren ft<h. 
“Die Straße mar balb leer, möhrenb bie Gefpenßer meiter 
fpuf ten... 

Jrjabe ich uns übrigens fchon oorgeßellt? Alfo mir 
hießen, fathoüfcf) unb biblifch, einfach unb fchlicht: Johann, 
jjafob, 0ofef, peter, Sranj, JRicßael (ber Ausgeßhiebene), 
£ambert, Hubert unb Anna. Jtamen mie Emil, Bruno, 
^ilbegarb unb anbere führten in ber Borßabt nur bie Äin* 
ber aus proteßantifchen ober fonßmie ungläubigen Santi« 
lien, unb TRenßhen mit folgen Bornamen maren uns oer« 
bächtig. Alfo auch bte Äinber bes Arztes. Emil f)icß ber 
Ülteße. Er mar ein aufgefchoffener 3unge, fein Sjaar mar 
ßrohgelb, lang unb mit BJaffer forgfältig an ben Schäbel 
geMebt. JTtit BJaffer geßrählfe £aare hatten auch bie 
anberen jmec ober brei Meinen Jungens unb bie JRäbchen. 

180 


DJte bie anbern 3ungens ^tefjert, wußten wir nicht. Oie 
Äinber gingen nicht in unfere Schule. Sie gingen über» 
fjoupt in feine Schule, benn es i)teß, baf} ber Argt unfere 
Schulen, überhaupt alle Spulen, für erbärmlich unb über» 
ftiiffig halte unb feine Ätnber gu jpaufe unterrichte. Ob* 
gleich bas non ber llberflüffigfeit ber Schulen ficf) hören 
lief), fo fonnte es uns hoch nichts helfen. Oie JTtutter war 
tot. Oas war ein fonberbarer Äerl, ber Argt! Er hatte 
feine Praxis, er mochte non Sott weif} weichem Einfom* 
men leben, fehr einfach unb fehr fparfam, benn bie Familie 
war nicht genährt wie wir unb unfere Uäter. fluch ber 
Argt trug bas J?aar, langes graues ipaar, mit waffernaffer 
Bürfte fefl an ben Äopf geflrtegeit. IBir hatten ihn feit 
JRenfchengebenfen in einem langen altertümlichen «Kocf ge« 
fehen, ber einmal grün gewefen fein mochte. Sehr feiten 
erfchien er auf ber Strajle, unb bann immer mit feinen 
Äinbern. Er führte gwei feiner 3ungen an feiner rechten 
unb iinfen Jrjanb — lächerlich, unfere Uäter hätten uns 
einmal an bie ^anb nehmen foiien! —, bas halbe Ou£enb 
JHäbchen, auch alle mit angeflatfcf)tem £aar, gingen j?artb 
in Jpanb oorauf. Oft hatten wir im Jrjofe ober Sorten 
lachen hären, Ballfpieien, Jleifenfchiagen — ber Alte 
fpielte mit feinen Äinbernl DJenn unfere Uäter bas mit 
uns getan hätten — lächerlich; erflens hatten unfere Uäter, 
ben gangen Tag auf ihren Bauten befchäftigt, bagu feine 
3 eit, unb gweitens... nein, wie ungemütlich, wenn unfere 
Alten mit uns hätten fpielen wollen! Ais wir am JTionb* 
abenb nach fya ufe gefommen waren, brachte ich bas St* 
fpräch bei Xifch auf ben Argt unb bie Samtlie. Oer Uäter, 
ber nur beim Effen für uns gu fprechen war, fagte, mehr 
gur JTiutter als gu uns, baf} ber „Sonberfing" (ber Argt 
nämlich) eines Begräbniffes in ber Familie wegen nach 
Oftlanb gereift fei, oon wo er oor fahren hergefommen. 
Oie fonfl faß immer flumme TRutter frug bagwifchen, 
ob benn bie „Blauen" (nämlich bie Proteßanten) auch ihre 
Toten begrüben? Sie habe gehört, baf} fie fie oon wüben 
Uögein freffen Uef}en. Oer Uäter lachte aufgeflärt unb 
fagte, ber Sonberiing glaube, baf} bie TTlenfchcn oon JTatur 



gut feien, büß fte nur burch bie öffentliche 6rjtef)ung fcf)te<f)t 
mürben. Baß Schläge bei -Kinbern nichts hälfen — babei 
blinzelte er meinem Bruber Jftattbias ju, Uber ben her 
Sehrer ficf> beflogt hotte —, baß -Kinber nie groufam feien/ 
ober burch bie Schule unb bos Beifpiet ber 3Ttttntenf<hen 
groufam mürben. Biefen unb onbern Itnfinn höbe ein 
oerrücfter Pbilofopb gelehrt, unb nach ben £ehren biefes 
Phifofophen giefje ber JTorr feine -Rinber ouf, unterrichte 
fie felbß, holte fte non jebem BerPefjr mit ber Außenwelt 
ab, fpiele mit ihnen unb führe fie in bie Jiotur fpajieren. 
6 r höbe es gut, fönne es pcg leißen — mir fchien, boß ben 
Bater etwas wurmte —, er fei ein &apitaliß (ober was 
für einer! lochte ber Boter berb ouf), er lebe nur für feine 
ßinber. Als meinem Boter bicfe BJorte entfahren waren, 
ärgerte er fich offenbar über ß<h felbß, bünjelte JUatthtos 
wieber ju, ber ßumm aufßanb unb ins Jlebenjimmer 
folgte. Balb härten wir ben Stocf ouf nocftes Blotthios* 
ßeifch Plotfchen, unb JTiattbcas fchrie jämmerlich. BJir 
machten uns nichts baraus, benn bas gefchah uns onbern 
auch oft genug, wenn ber £ehrer fich über uns bePlagt 
hotte, ober aus toufenb minberen Anläffen. JTTafthtas war 
auch nach bem legten Schlage fofort ßili, Pam ins 3immer 
jurücf, wifchte bie Tränen ab unb war wieber tußig. BJir 
würben bann ju Bett gefchicft, bie JButter räumte ben Xifch 
ab, unb ber Bater ging an feinen 3eichentifch. -Kaum im 
Bette, fchüef ich ein. 

Ber Tag war ba! Als ich aufwachte, war ich fofort bet 
ootter Bewußtheit. 6r war es, mein Tag! 3cf> niefte ihm 
oertraulich burchs Senßer hinaus ju unb fprong mit bei» 
ben Süßen aus bem Bett, fuhr in bie S?oJe, wufch mich ge» 
hörig, frühßücfte wie fonß unb befchäftigte mich ben Tag 
über irgendwie, richtete unfern j^ofbunb ob, reparierte 
SreimarPen, reinigte bas Album (wenn ich on obenbs ge» 
bacht hätte, wäre mir fehlest geworben) tftiemanb merfte 
mir etwas an. 3ch ließ mich bei ben Äomeraben nicht bliP* 
Pen. BJohl fab Ich oom Senßer aus, baß ße ben ganjen 
Tag burch bie Straße ßrichen unb mit ben Augen 3 wifchen 
bem Arjtbaufe unb ber XBohnung meiner eitern wechfel» 


182 



ten. 3cf) mußte, }ebe irgenbmie oerbäcf)tige öeränberung 
mürbe mir gemeldet «erben. 6s mürbe aber nichts gerne!« 
bet/ unb niemanb lief} ficf) fefjert. 3of)ann fanbte mof)l einen 
Boten mit ber Srage, ob icf> oielIeicf>t franf fei. 3cf) fertigte 
ben Boten furj ab mit bem Befcf)eibe, icf) fei bocf) nicfjt 
3 of)ann. Damit mar es bann gut; icf> faf), mie 3of>ann oon 
ben anbern ausgelacf)t mürbe unb nacf) Jpaufe ging. Jtur 
Annexen tarn jur Äaffeeftunbe unb überbracf)te meiner 
JTIutter einen Äucfjen als Gefcf>enf ber U)ren. JTCeine JTlut* 
ter, banfbar aufgeräumt/ fcfmitt Um fogteuf) an, unb Ann» 
cfjen oerfucfjte mit uns. Sie faß mir gegenüber unb blin« 
jette mir, mäfjrenb fie meiner JTIutter erjäf)lte, mieoie! Gier 
if>re JTIutter in ben Äucfjen gefcf)lagen fjabe, in geheimer 
TJJe'tfe ju. (Das ftärfte micf) mätfjfig.) Dann ging fie. 

Eangfam fam bie Dunfelf>eit. JTacf) bem Abenbbrote ging 
ber Bater jum Regeln, bie JTIutter ju Annas JTIutter fort. 
TBir maren frfjon ju Bett gefcfßcft, aber icf) machte mir nocf) 
bies unb bas ju fcfjaffen, unb a(s bie eitern fortgegangen 
maren, betrat icf) — icf) mußte felbfl nicf)t mie — bie 
Straße. 

6 s mar JTacf)t. Dunfel. Der JTlonb fßnter birfen HJotfen. 
Die £uft mar lau. 6s mar angenehm marm. 

•Raum mar icf) ins Sreie getreten, ba tauchten aus $aus« 
türen unb IBinfeln bie üerfcfjmorenen auf. Johann juerft. 
Cr (acf)te f)öf)nifcf). Aber ein Bticf in mein Geficf)t — er 
mürbe fef>r ernß unb ärgerte ficf). 3«f> überließ ben Tropf 
ficf) felbfl. Annexen trat neben micf), faßte micf) bei ber 
£anb unb führte micf), of)ne ein lBort ju oerßeren unb 
micf) anjubßcfen, oor bas ^aus. Dort fa& fie mir ooß ins 
Geficfjt, [teilte micf) mit beiben Jrjänben mie eine Sigur mit« 
ten in bie Straße unb oerließ micf). (Da ßanb icf) nun — 
maf>rf>aftig; es mar fcf>recfluf>!) 

Die «Ranteraben maren uns gefolgt, in unauffälligen 
Gruppen unb mit oergebenen Abßänben oerftef)t ficf). 
Einige Ratten aus TJerlegenfjeit einen Singer im JTtunbe. 
5cf) faf), baß Peter größere Angft tyxtte als icf), ber Geifer 
floß ifmt am Singer entlang aus bem JTtunbe in ben 
Arme!. (Peters Angft macfjte mir fonberbaren JTlut.) Die 



Äanteraben jerßreufen ftcf) in bte «Kleinleutegärten hüben 
unb bte Ärautfelber brühen. Rieht fern; ich mußte, nie» 
ntanb mürbe rrticf» im Stiche laffen. Jlur gohann, glaube 
ich, ber feige Sunb, hat ftcf) gebrücft. 

Ote Strafe mar leer, Auch ber Schulmann fam heute 
nicht. (Später f)abe tcf> gehört, flnn«f>en habe bie Uorfichf 
gebraucht/ unfern Rlitoerfchmorenen Sronj — ber mußte 
nämlich „Dnfel" jum Schutjmann fagen — ju beßimmen, 
ben Schulmann bis JTtittemacht mit Aartenfpiel aufjuhal» 
ten.) ürüben, unter ber Gefängnismauer, hörten mir einen 
Solbaten auf feinen Jiagelfrfjuhen um bas Gefängnis 
tropfen. 

IBie mir jumute mar? Das roeiß ich nicht mehr; i«h 
glaube, mir mar gar nicht jumute. 3cf) mar ja befinnungs» 
los! 3<h machte bie größten Anßrengungen, es ju bleiben. 

O« hatte ich an ber dünget geriffen! BJie es 
gekommen mar, meiß ich nicht — ich hatte an ber Klingel 
geriffen. 3<h hörte eine Schelle im leeren Saufe bellen. 
Bor bem Tone fuhr ich entfett jufammen. 3ch habe bei 
ber ganzen Unternehmung nie mehr gejittert als in bem 
Augenblicke, ba brinnen bie Schelle gellte. DJie follte es auch 
nicht fein? Sonß hatten mir hoch nie eine Schelle ant» 
morten hören, menn braußen jemanb mit einem Klingel» 
juge frug. Aber ich bachte an Annchen unb buchte auch, 
glaube ich, an Ehre» Pflicht unb alterhanb männliches! 3ch 
hatte mich mieber in ber Jr>anb. 3cf) riß aufs neue ben 
^tingeljug, biesmal fräftiger. Aber noch immer rührte (l<h 
im Saufe nichts. Da riß ich bie Klingel milb mie ein 
Befeffener. 

6 s half! 3m jmeiten Stocf mürbe ein Senßer geöffnet, 
unb 6mil rief in bie Straße hinab: „BJer iß ba?" 

Das hatte ich nicht ermartet. 3cf> hatte eine bunfle 
Ahnung, antmorten ju müffen: nientanb, ober beffer, 
überhaupt nicht ju antmorten, aber ich rief in meiner Per* 
mirrung: ,,3cf)!" 

„3ch! 3ch! BJer iß 3ch?" rief 6mil. 

Öa fchämte ich mich furchtbar megen meiner bummen 
Antmort, trat in ben Türbogen jurücf, machte mich, mit 

Z84 


bern Jlücfen mich an bie Xür preffenb, bünn, fo bafj 6mil 
mich nicht fcfjen fomtte. 6mtl rief in bie DTarfjt hinaus: 
„BifT bu es etwa, Bater?" 

Äeine Antwort oon mir. ©amt rifj id) toieber wie toll 
an ber .Klingel. 3 d) frfjellte nicht mehr, id) läutete, ltn* 
unterbrochen. ({Jebe Surcht war hin!) 

©as SenfTer mürbe oben gefchloffen, unb es bßeb eine 
TBeile füll, fluch ><h gab «Ruhe. 6ntil mußte hoch 3eit hoben/ 
in feine £ofe gu fahren unb heruntergufommen. 

6 rfl in biefem flugenblicf überlegte ich mir, was ich 
eigentlich wollte. 3n bas J?aus fommen, ja! Aber was 
bann? Böfes tun? D nein! eigentlich mar ja mein Ber* 
fprechen ausgeführt, meine oerpfänbete 6hre eingelöfl, 
menn id) ins ijaus gebrungen mar. IBenn es mir gelungen 
mar, oielleicht nur bis in ben Hausflur oorgubringen. Aber 
mas bann? Damit mar bie Sache benn hoch nicht erlebigt, 
bas mar flar. ©och mit gefagt, Böfes tun? Jtiemals! 3ch 
hatte ja auch fein JTteffer, fein Seuerjeug. 3cf> wollte nicht 
morben, nicht fiehlen — o nein! llnfere Bäter, unb be» 
fonbers mein Bater, waren angefehene Bürger, fluch wohl* 
habenb mar mein Bater, unb gu (Tehlen hotten mir nicht 
nötig. 3ch taflete meine Xafchen in ber Suche nach etwas 
ab, um mir fogufagen oom EJerfgeug meine Aufgabe bif» 
tieren gu (affen. 6ott fei ©anf, ich hatte ja eine JTtasfe! 
Natürlich hotte ich eine JTtasfe! Eine fcfjroarge oon Saft» 
nacht, flnnchen hotte fie geflem bei ber lebten Beratung 
noch auf meinem Seficht angeprobt, ©as eine Schlufibanb 
mar fchobhaft geroefen, fie hotte bie JTtasfe mitgenommen 
unb ein neues barangenäht. BJir trugen überhaupt — 
bas hätte ich übrigens nicht oergeffen bürfen gu fogen — 
bei unfern heimlichen 3ufammenfünften unb Beratungen 
immer JTtasfen. Schwarge, gelbe, rote. Ohne JTtasfen 
mären mir ja feine Berfcfnoorenen gemefen. ©er Schwur 
in Ehren, aber bie tfjauptfache mar hoch bie JTtasfe! ltnb 
wie nötig mar mir je£t bie JTtasfe; unbebingt nötig! 3cf) 
burfte ja nicht erfannt werben. Cmil hotte gmar nicht meine 
Stimme erfannt, aber er hotte mich hoch ficher oft genug 
in ber Straße gefehen. 6r burfte mich um feinen Preis ber 

185 


HJett erf ernten! 6 t f>ötte mich Ja feinem Hafer angegeben/ 
unb ber f>ätte micf) angejetgf. HJäre oietleicht gar ju met« 
nem Hafer gefommen. Jltc^f ausjubenfen! 3<f> fürcf>tete 
nicht bie Stocffjicbe Haters, mein Si^fletfrf) roar baoon ge* 
gerbt, aber meinem Hafer öffentlich Unef>re antun — eher 
märe icf) in bas giftige HJaffer bes Gastanfs gegangen ju 
ben toten ^unben unb .Rahen! 

3 cf) 30 g bie fcbmarje JRasfe an. 6 s toar pemlid) »arm 
barunter. Sie Hielte auch an ben IHimpem. 3ch brummte 
oor mich hin, um feßjußellen, ob icf) — für alle Sälle! — 
meine Stimme oeränbem fönnte. Das hätte ich beute, flatt 
mit Bafletn unb Jli<f)tstun ben Xag bur<b 3 Ubringen, üben 
follen, Teufel! Aber nun mar es 3 U fpät. 3<b oerfucf)te, fo 
Hef 3 U fprerfjen, mie ber Hafer fprach; bocf) bas gelang 
nicht. Herbammt, aber egal! 3cb mürbe frfjon nirf)t erfannt 
»erben, icb f>atte Ja auch nichts Böfes oor... 

3m 4>aufe blieb es füll. 3<f> riß mieber an ber Glocfe unb 
[(baute ber Drbnung halber bie Straße f)irtaitf unb hinab, 
ob nicht hoch ber Schulmann ober irgenbmer fäme. Aber 
unnötige Sorge, niemanb fant, unb märe Jentanb gefom* 
men, bie Herfchmorenen in ben Ärautfelbem hätten mi«b 
gemarnt — ber Pfiff für fotcf>e Sälle mar eingeübt morben 
—, menigßens auf Annchen mar Herlaß. 

Da ... hörte ich etmas hinter ber Tür. Slüfiern. 6 mil 
unb feine größte Scfjmeßer mo«bfen hinter ber Xür flehen. 
3cb hatte bas leife Schleifen nacfter Sohlen gehört, meinte 
i«h- ^ 6 s mar mir auch, als fähe ich ben fchmachen £icht* 
fchein einer .Rerje im Schlüffelloche. Die beiben fllteßen 
flanben gemiß hinter ber Xür, gitternb oor Surcht, unb 
»arteten. 3cf) »artete oor ber Xür. $efmar meine Ge* 
bulb 3 U 6 nbe. 3ch riß mieber furg unb energifch am 
61ocfenflrang. 

„HJer iß benn ba — 3 um Xeufel?" frug fofort bie 
Stimme 6 mils hinter bem Brette. Daß 6 mit „jum Xeufel" 
fagte, gefiel mir ^außerordentlich. 6 r mar ein mürbiger Geg» 
ner. 3ch mürbe ihn anßänbig behanbetn. Daß er herunter* 
gefommen mar, im nachtfchlafenben Jr>aus, unb bie 
Scfweßer mit ihm (hoch bas mürbe Annexen ficher auch 


186 


getan hoben), mar aller 6f)re mert. Aber baf} er „jum 
Teufel" fagte, mar einfach groß! 

3rf> antmortete natürlich nicht. 3tf> hörte mein Jrjerj fo 
(aut Hopfen — ich meinte/ bie Amber milfiten es burch 
bas Türbrett hören. 

„Biß bu es borf), Bater?" frug je0t Emil. „Biß bu 
etma früher jurürfgefommen V‘ 

Äeine Antmort oon mir. 

„&r iß fortgegangen"/ l)örfe ich bas JTläbrfjen flüßem. 
3<b belehrte fie anbers, fyal 3 d) riß bie Alingel. 

„6s mirb ber Poßbote fein", fagte 6mil beiläufig — es 
mar beuttich, mie er feine llnrube bef>errfrf)te. jcf) hörte 
Jteßeln an ber Sperrfette. Aber bie Tür mürbe nicht ge» 
öffnet. 

„Sfobtn Sie ein Telegramm?" frug 6mil laut, /,6s mirb 
Öem Bater etmas jugeßoßen fein*'/ fagte er prachtooll fa<h» 
lieh unb brüberlidf) ruhig jur Schmefier. „flngßige bicf> 
ni<f)t, 4?ilbegarb, mir müffen es tragen." 

Gleich mürbe bie Tür aufgehen! 3cf> brüefte mich in bie 
6 cfe jmifchen ber JTiauermanbung unb bem linfen Tür« 
ftügel, ber fefl bleiben mürbe, menn ber rechte fich öffnete. 

„Aber jum genfer, fo reben Sie bocf)t" brüllte je£t 6mil. 
(herrlich: genfer! JTicht mahr?) „tyaben Sie 3hre 3unge 
oerloren ober finb Sie befoffen?" („Befoffen" mar ent» 
fchieben etmas roh.) 

„Bielleicht ifl ber JItann flumm", entfchulbigte leife Jpil» 
begarb. 

„Bielleicht..." brummte jornig 6mil unb liefi bie Sperr* 
fette fallen. Sie fchlug (aut miber bas $)olj ber Tür. „j)il* 
begarb, (>a(te bie Äerje", fagte Cmil brinnen laut unb un» 
befümmert. „IBill hoch fe(>en, roer ju nachtfchlafenber 
3eit ..." fagte ber Jrjelb noch. £in Schlüffel arbeitete im 
Schlöffe. 

3e0t mürbe es fommen! (3<h fühlte, ich war fühn mie 
ber Teufel!) BJenn bie Tür fich öffnete, mußte ich um 
jeben Preis hinein. 

t>ie Tür ging auf. Sofort hotte ich eine J?anb unb eine 
3erfe im Spalte. 3<h glitte an einem Türflügel entlang unb 

187 


fcbob mich mit meiner rückwärtigen Breitfeite, inbem id> 
©orn auf oier Jingern unfern Pfiff in bie Ttacbt Riefte, 
Öen gegerbten Körperteil ooran, in bas 3nnere bes Kaufes. 

3m 3Tu waren bie Berfcfjworenen ba. Alle masfiert 
Erfler war Jafob, {weiter Annexen. 3<b warf mich herum, 
unb wir fluteten ins j?aus. „6s finb nur Kinber", hörte 
irf) Emil rufen. Das ärgerte mief). 

Emil unb Jpilbegarb waren im Jpentbe. Oben auf bem 
Treppenabfab flanben Eilbarb unb Xbusnelba — Ja, fo 
hießen fie! 3m Augenblick fannte icb »b^c Ttamen! —, bie 
beibe noch jung waren, oielleicbt im Alter non Abc« 
Schüßen. Sie febrien unb flüchteten. Emil war ein fiarfer 
großer Junge, faß ein Erwaibfener unb in meinem Alter. 
Er (lanb guerfl flarr. Dann warf er ficb wie ein £öwe in 
bie Schar ber Einbrecher. Aber unfer waren ju oiete, feine 
Kraft brach, er würbe in ben Keller geftoßen unb ber 
Schlüffe! abgejogen. ^ilbegarb blieb unbeachtet. Sie febrie 
in merfwürbigem Sifiefton, hielt waefer bie Kerje hoch, 
wäbrenb wir Emil erlebigfen, Somit wir beffer feben fönn« 
ten, unb febrie gleichmäßig. Kein 3weifet, fie würSe fo noch 
baßeben, wenn wir {urücffämen, naebbem wir bas $aus 
unterfucht batten. Denn bas taten wir! 3uerß bas 3immer 
neben ber Haustür im Erbgefchoß, bas mit ben oerfchloffe* 
nen Senßern, mit ben ewigen Soljlaben, bas tms oon ber 
Strafe fiets fo unoerfchämt berausgeforberf hatte. Das 
3immer irgenbwelcber Blaubartgeheimniffe! löir fielen 
auf bie Tür, wir fprangen hinein. Das ging febr einfach, 
bie Tür war nicht ©prfcbloffen, — bas 3lmmer leer. 3m 
matten ßicf>tfcf)ein oon j)ilbegarbs Kerje im $lur fchien 
uns feine fyofye Seen ungeheuerlich. £eer? £eer, bas ge« 
beimnisootte 3immer ? Keine abgefebnittenen Köpfe, feine 
aufgereihten 3ebennäget, feine Sfatpe, feine Bütten oott 
roten Blutes? £eer —? (Sehr natürlich, es war bas löarte« 
{immer für bie Patienten gewefen, bas ausgeräumt wor« 
ben war, als ber Arjt feine Prajis aufgegeben batte, um 
fich ausfchliefilich bem £eben mit feinen Kinbern ju wib» 
men. So fam es nachher heraus.) Aber uns erbofle fie 
mächtig, bie £eere unb OTücbternbeit bes rätfetbaften Kau» 


188 


mes. 3urücf in Öen Stur/ an bie anbere Xür! ©ort wür* 
ben bie Bütten fielen! Auch biefe Xür gab wiberßanbstos 
nad). ©as hintere 3immer war, tote wir fofort erfennen 
tonnten, bas Stubierjimmer bes Hafers, bie IBänbe toaren 
mit Büchern bis an bie ©ecfe zugebaut. 3Titr, ber ich an ber 
Spi£e toar, fcfjlug baoor ein fo gewaltiger Jlefpeft in bie 
6 tieber, baß Id) UJaff erbrang befarn unb im Flurwinfel 
an oorgefebener örtlich feit, bie id) leicht fanb, austreten 
mußte. Uber mir auf ben Ireppenßufen polterten fcfjon 
bie Schuhe ber Semebrüber hinauf. 3cf) hinterher unb balb 
toieber oorauf. 3immer nach 3immer tat ftch auf, im erßen 
6 t od toaren bie XBohnräume unb bas Schlafzimmer bes 
Paters. JTirgenbwo etwas Befonberes, Auffälliges, fo 
etwa... fagen wir eine Kapelle jum Gögenbienß mit inbi* 
(«hen Golbfiguren, eine Geißelfammer, eine Reliquien» 
fapelle für bie abgeßorbenen einbalfamierten Jpausfaben. 
Aber wir fanben ein geweißtes 3immer mit Xurngeräten, 
fchwebenben «Reefs, Sfranteln, ^olj* unb Gifenßäben für 
Freiübungen. «Kann man unfere Gnttäufcfiung oerßehen? 
©ann fann man auch unfern 3om begreifen, Unferer 
Unternehmung war fojufagen ber ßttliche Boben entzogen, 
©er fogenannte Saal im erßen Stocf war finßer, febwarz. 
Aus Angß fingen wir an zu fchreien. ©aburch Z u Hiut 
gefommen, fchrien wir unausgefebt, währenb wir f)öh c r 
ßürmten. Unten fchrie Jpilbegarb in ihrem hohen Xon, oben 
fchrien bie «ftinber (benn im zweiten Stocf fcfjliefen bie Äin« 
ber, nach oorn bie Knaben, nach braten bie JRäbchen). Xhus* 
nelba hatte nicht oerfäumt, ihre «Kerze auf bie Xreppe z« 
ßetlen, als fie flüchtig gegangen war, fo baß feiner oon 
uns ein Beinunglücf erlitt. Sie unb 6'tlharb waren in bie 
Betten zurücfgefrochen. UJir ßampften, raufchten, beulten 
bur<h bie 3immer. ©a fanben wir unferen Xriumpf). Unfer 
Genügen war oollfommen! Jjjin unb ber, hin unb b**/ 8** 
fprungen, getanzt unb bie Äinber in ben Betten gefchrecft. 
©ie einen weinten, bie anberen, ben &opf unter ber ©eefe, 
fchrien, baß es wie aus einem «Keller Wang; bas jüngße 
lag wie leblos ba. Aber es würbe nicht ßerben, ba toar 
feine Gefahr! 6s würbe ßcb fchon erholen. Cin Junge im 

189 


Bett (>atte bas Dtachtlichh ein Irinfglas mit öl unb 
S(f)rotmmbocf)t barauf, in ber Jjjanb unb fab uns entgei« 
ßert ju. IDir tanjten einjeln unb in Gruppen; toir tanjten 
auch im Greife; wir miiffen nicht fc^Iecfjt ausgefcbaut 
haben: oor bem Gefixt bie fchmarjen, rotem gelben JTtas* 
Jen, ber eine eine bunte Detfe, oom Boben aufgenommen, 
ber anbere ein weißes £afen umgefchlagen, aus einem Bette 
geriffen. llnb 6ef<f>rei wie in einer ^ejennacht. Da batte 
ich einen großartigen Einfall. 3eb befahl — mar i(b nicht 
ber Anführer? — alle 3ungens foUten fi<b an bie Jrjänbe 
faffen, Anna in ber JTiitte auf einen Schemel nieberhocfen. 
£s gefchah; wir liefen, tanjten, fprangen, roßen um fie, 
je länger, um fo heftiger, unb fangen: 

Die Anna faß auf einem Stein, einem Stein, 
einem Stein, 

bie Anna faß auf einem Stein — 
einem Stein! 

Sie fämmte fi<b ihr golbenes Sjaar, golbenes 
$?aa r, golbenes J^aar, 
fie fämmte fich ihr golbenes £aar — 
golbenes 4?aar! 

llnb als fie bamit fertig war, fertig war, fer* 
tig war, 

unb als fie bamit fertig war — 
fertig war! 

Da fing fie an ju weinen, weinen, weinen, 

ba fing fie an ju weinen — 

weinen! 


Sag, Anna, warum weineß bu, weineß bu, 
weineß bu, 

fag’ Anna, warum weineß bu — 
weineß bu! 


3cf) weine/ weü ich fierben mufj, fierben mufj, 
fierben mufj, 

ich weine, wett ich fierben mufj — 
fierben mufj! 

fluffcfjrei bes Meinen Qungen: bas 7l<id)tüd)t war ttmt 
ins Bett entfalten; bas DI batte ficf) in bte £afen er« 
goffen; bas Bett fianb in flammen. 

Gefcfjrei unb Sntfe£en! Die Berfcf)worenen f(offen burtf) 
bie Tür ab unb bie Treppen hinunter. Sine Karaffe XOaffer 
ins Bett gegoffen — aber es holf nichts mehr. 

Bei bem grellen Seuerfcfjein fprangen bie Kütber oon 
ihren Sägern, auch bie, welche mit bem .Kopf unter ber 
Derfe gelegen hotten. Den fleinflen flarren Qungen rifj ich 
aus bem Bette; ho! er fianb fofort auf feinen Beinen unb 
fonnte laufen wie bie anberen. Die Kinber fchwammen ben 
Berf<f)worenen nach bie Treppe hinab. Sin Griff oon mir 
burcb alle Betten, um mich gu überzeugen, bafj fie teer 
waren — oh, es würbe fcf>on niemanb gu Schoben fom» 
men! — auch ich fprang aus bem brennenben 3immer. 
Die Treppe hinabgeflogen! Unten (iefjen fie eben ben Smil 
frei, unb attes, Berfehxoorene unb Kinber, weifje Jpemben, 
jchtoarge JTiasfen bttrcheinanber, ergoß fid) burch bie 
Haustür hinaus. 

Die Strafje war (eer unb bunfel. Aber bie Senfler bes 
oberfien Storfes waren rot unb bie Strafje unheimlich er* 
leuchtet. Der Solbat brüben neben bem Gefängnis fchofj 
Alarm in bie £uft, unb batb läutete auch im Klofler flür» 
mifch bie 6lorfe. Die Berfchworenen floben nach Jpaufe. 
Auch ich. 3ch fam in bie IBohnung; ber Kater war noch 
nicht oom .Kegeln baheim. Kleiber ab unb hinein ins Bett. 
3ch (iefj mich burch ben oom £ärm ber JTacht erwachten 
Hiatthias aus oerflelltem Schlaf werfen. 

Jrjei, bas war ein £eben in ber Strafje! Aus bem gweiten 
Storf fnallten je£t bie flammen. Die Feuerwehr rafle her« 
an, $arfe(n lohten, fchweiten; rot flammten bie Srghelme 
ber Seuerleute. Schläuche gufammengefchraubt, balb flieg 
ber Strahl, birf wie ber Stamm bes Pflaumenbaumes, oon 



dem TTCicfael (ber Erledigte) abgeßürgt war, aufwärts unb 
fcfte in die Siammen. IBeißer Dampf! Die Straße füllte 
ficf mit fcfwargen JTtenfcfen. poligei war aucf ba unb 
machte ficf) wichtig... 

6 s iß wirflicf niemanb gu Schaben gefommen. Die Ätn* 
ber würben oon mitleidigen Santilien für bte tfacft auf« 
genommen; ber Bater, gerade oom Regeln feimfommenb, 
brachte Silfarb gu uns. 3cf räumte ifm mein Bett ein. 
Alles tabelte ßreng ben Argt, ber feine Äinber allein gelaf» 
fen. Der gweite Stocf brannte aus. Aber icf förte am näcf« 
fien Xage oon Bater, baß bas Spxua gut oerficfert fei unb 
alfo aucf) ber Argt feinen Schaden erleiden werbe. Df, 
ber Bater fcfimpfte nicf)t fcflecft auf ben oerrücften Dof« 
tor! 6r fönne frof fein, baß ifm feine „BSangenbude'* 
— fo fagte Bater — oon ber Belieferung fefön wieder 
aufgebaut werbe. Unb die Bauleute befämen aucf) eüoas 
gu tun. Der 3om auf ben Argt war groß in ber gangen 
Borßabt. Jtiemand glaubte ben Grgäfiungen ber Binder. 
6 s feien nur alles ^aliuginationen ber kleinen gewefen, 
die ficf) oerlaffen gefüflt unb fefreefliefe Xräume gefabt 
fätten. Dabei fei denn eines, bas aus Angß fein Jtacft* 
lieft angegttnbet, irgendwie unoorfieftig gewefen. Selbß 
6 mi(s deutlicf er 6rgäf tung würbe fein Glauben beigemef« 
fen, um fo weniger, als die poligei beßimmt erflärte, es 
fei in ber gewiffen Ttacftßunbe fein JTCenfcf in ber Straße 
gewefen. Tticfts fam feraus... 

3Iocf lange f at es damals in ber Jtacf t gebrannt. Die 
Dampffprife fat einen XeUf oon lBaffer auf ben gweiten 
Stocf gepumpt. Die BJolfen lagen rot. Die Slammen fcfno* 
ben wie eine iperde oon IBilbpferben. Die Dacf fparren ger« 
barßen fnaltenb. 6s regnete glüfenbe Jtägel. 3cf fonnte 
bas alles oom Senßer aus fefr fcf ön fef en. €s war groß« 
artig! 


192 


Daniel u n Ö Ö e t H n \ f e t 

Bon Crnfl BJeifS 


\ n biefer Jlacht träumte ber Äa'tfer oon Babplon tn 
feinem taufenbfenfirigen Palafie. 

©tefer 5ürfl war ber fchönfle, tlügfte, reichfle JTtann 
feiner 3eit unb ber glücffeligfie. 3Torf) im After oon fünfzig 
(fahren fyattt er bas Ausfehen unb ben frohblüfjenben 
JRunb, ben lichtflrahlenben Blicf ber erflen 3«genb. 

©ie mit ifjm geboren waren, bie mit ihm in bie erfien 
Schlachten gegogen unb, auf ben Armen ber fiegreichen 
Krieger getragen, im TTIittagsfubel gurücfgefefjrt waren 
— bie Gewaltigen unb bie Jläte feines «Keines, bie Jreunbe 
feines Augen Jpergens, affe waren fchon gealtert, mübe, 
perglommen, fpötabenbliche Seelen. 3n matter «Kühe fager» 
ten fie im grünen ©ämmer, im fühlen 3nnern ihrer weiten 
Schlöffen Cr, ftebufabnegar, «ftaifer oon Babplon, begatt« 
berte alle Blenfchen um ihn burch ben Smaragbglang 
feiner fnabenhaften, fchmalen Augen, hoch über bem Ge« 
wölfe feines fchwargblauen Bartes, burch bie gewichtlofe 
Anmut feines königlichen Ganges, burch fein leifes Herr« 
fcherwort. JTie oor ihm noch nach ihm hat bie bewohnte 
Crbe einen £önig feiner Art gefehen. Cr, ber riefige, h°h s 
JTtann, hielt fleh aufrecht auf bem Xfyron unter bem ge« 
blumten Baibachin, feine Sinfe, fo gart gegüebert, faßte 
einen elfenbeinernen Stab mit filbernen Jlingen, bas 3ei» 
chen feiner JTtacht. Cr trug feine IBaffe, mitten im Gewühl 
ber fchwarg gepangerten Trabanten weilte er ohne 
Schwert, er faß fchlicht unter ben anbem, fprach Jlecht oom 
frühen JTIorgen an, empfing bie Heerführer, Statthalter, 
Satrapen, bie JTtinifler bes Hmtfes, bie Priefler, Iraban« 
ten, bie Dberflen beT Sflaoen unb Sflaoinnen, bie Scf>ap« 
meifler, Steueroerwalter, bie Gefanbten ber fremben Böl* 


13 SDt* fceitfftfe Tabelle. 


193 


fer, befugter uni) oerbünbeter Stämme, laufcfjte allen 
fremben Sprachen unb ben eintönigen ÜJorten ber Dol» 
metftfjer, blitfte fte an unb lä$elte, wäfrrenb in ben Saiten 
feines weiten, fommerlitfjen Gewanbes feine Eieblingstiere, 
ifabeiifarbene UJinbfpiele ruhten unb mit ifjrer blauroten, 
langen 3unge bie Meinen 5üße beffen Uebfofien, oor bem 
bie Grbe gitterte non ifjrem Aufgang bi9 gum Untergang, 
be9 Sjtxxn non Babplon, .Kaifers oon Werften, Scf)af)3 ber 
beiben gtüiflicfun Arabien, Sultans ber Gewürghtfeln, 
JTToguls oon Jnbien, Königs über 3uba unb i^re längfi 
gerßörte Sefie, Qerufalem. 

Abenbs ritt er auf feibenen Sattelbecfen fein feingfie» 
briges Pferb. Oie ungefcfjmürften 3ügel läffig in ber Ein» 
fen. JTiit ber rechten ^anb flreifte ber riefige JTiann bie 
Slanfen bes fjodjatmenben Tieres, er f>afrf)te eine Blume, 
bie aus bem in JTiillionen rotmmelnben Bolfe feiner Diener 
unb Untertanen if)m gugeworfen tourbe, wenn er o{)ne Be» 
gleitung au9 ben Toren feines Ijojjen Srfjloffes burcf) bie 
HJacf)ttürme ritt, oorbei an Paläßen, Gartenmauern unb 
Bafaren, über bie f)o<b gezwungene Brürfe, bie über bie 
UJaffer Babptons füf)rt. Sein ebles Gefickt toar angef>au(f)t 
oom roten Staube, ber fyod) in ben Straßen ber niemals 
raftenben Stabt lag. 

Jüan nannte ifm ben Sommerfttrß, ben geregten £ö» 
nig, ber nid)t mit bem Tobe flraft notf) aucf) mit JTiartem 
peinigt. 6r f)iefS ber Uolfserwä&lte, bie Quelle ber ^olb» 
feligfeit, bas Jjjerg ber armen BJelt unb if>r Trofl. 

An feinem ^ofe waren taufenb flrgte, aber er war nie 
franf. Gr fjatte taufenb Tafelgenoffen, längfi befiegtc Sür» 
flen, lanbfrembe Satrapen, breigefjn Häuptlinge ber brei» 
gefjn oerbannten Stämme Gfraels, gweitaufenb JTtame* 
lurfen, unjäf)lige Didßer, Sänger, Priefler, Blumengttcfcter, 
Düftebereiter, Äörfje, Jleitfnetfjte, Seibenweber, Golb» 
Zrniebe, Sattler unb Scfjneiber, unb niemanb gäfßte bie 
Hanbwerler aller Gewerbe, bie in bem Abglang feiner mit* 
ben 3läf>e wohnten, fein Brot aßen unb feinen HJein 
tranfen. 


194 


Er gog ötc längßen, geraben Straßen burcf) fein £anb. 
Cr erbaute an feinen Slüffen Oämme, um bie Bewäfferung 
ber Selber gu oerbeffern, er ßiftete oiele öffentliche Bäber, 
bie Greife fammelte er in flfpien, unb bie Bettler ließ er 
nicht ohne Obbach unb Brot. Gr ließ Brüten aus weißem, 
weit herbeigetragenem Stein unb bunflen, eifenßarfen f)öl* 
Jemen Bohlen in bas Bett ber Slüffe fchlagen. Gr ließ 
Tempel errichten, mit golbenen Bilbern barin unb fupfer» 
nen «Roßen für bie Opfer, unb er opferte allen Göttern 
unb banfte allen für fein Gtütf unb fein Gefegnetfein. 

Gr fannte ber JHenfchen IHefen unb ihre böfen Gebart» 
fen unb ihre guten gugteich. So teilte er Strafe aus unb 
£of>n unb wog richtig mit ber XBage, bie ihm oerliehen 
war. 

Gr gog gegen Sürßen gu Selbe, unb bie ßarfe Seße 3eru» 
falem wiberßanb ihm nicht. Das geblenbete 6ef<hlecht 0u* 
bas würbe in ihrem lebten .Röntg geblenbet. Oer heilige 
Berg ging in .Rauch unb Slammen auf, bie oerßoßene Ge* 
meinfchaft ber 3uben würbe in 3ebefia, 3°jofim unb Ra» 
hei noch einmal oerßoßen, fie würben im Schlangenoer» 
lies gehalten, ben falten, giftigen Tieren gleich, nach 
Schlangenart befleibet mit «Regen unb getrotfnet mit XOinb 
unb gefüttert mit eflem toten Gewürm, bis jur 6eburt 
bes Sohnes, bes reinen Prirtgen Gottes, ber Oaniel hieß* 
Oocf) JTebufabnegar führte nur bas Schwert eines anbern, 
er fannte bie Jtamen ber Bölfer alle nicht, bie ihm unter» 
tan waren, noch bie ihm bienen mußten, nachbem fie felbß 
Könige unb Sperrtet gewefen. So würbe iburch bie blinbe, 
leichte, freubige J?anb bes JTebufabnegar bas Gefchlecht 
3ubas geßraft unb bie JTacf>fommen Oaoibs oerfümmert. 

Sein IJolf war reich unb gufrieben bis gu biefer 3eit, 
alle Jpäufer ooll Gefreibe, Sjyab unb Gut, itarnet, Pferb, 
Gfel unb «Rinb, J?erb unb Hausgerät. Bis gunt lebten Oie* 
ner bes Äaifers hotte jeber Äleib, Oecfe, Teppich unb HJanb» 
behäng, oor bie Senßer gu fpannen gegen bie JFjlhe, Golb, 
Silber, Gifen, Äupfer, Schmucf für bie Srauen, «Ring unb 
.Rette, Gewürg unb feine Speife aller Art. £ange herrfchte 
Srieben in ben fchönen Gärten unb £achen in ben Gaffen. 

T 9? 


13 * 


Alles war gefegnet unteT bem gefegnefen ^errfdjer. Olea 
ifl öle Gefehlte DTebuPabnejars bis ju feinem Traum. 

3n berfelben Jtocf)t, bo bas £id>t Gottes Daniels f>oF>e 
Stirn firelfte unb in feinen blauen/ Haren Augen auf» 
ging mit wtffenbem Glanj, ba Parn über ben Äaifer ein 
Traum unb ein böfes Gefleht. 

IDie tief er im weiten, hoben, offenen Sommerfaal fcf) tief, 
ben Kopf oon Seibe umf(f>meiif)elt, auf £einwanb t»om 
reinflen Saben ben Körper gebettet, auf ber ferneren Fai* 
(erlichen £ager(latt, Geburt unb Sterbelager feines Ge» 
fcf)lecf)tes: Gewappnete ju feinen ^äupten, Jtetfige ju fei* 
nen Süßen, alle unerbittlichen ^jerjens unb nie übertroffen 
in U»rer Treue; Dienerinnen, golbäugige, über feine linPe 
i?anb gebeugt. JTIit ihren herabfatlenben buftenben Siech» 
ten feine friegerifche Jtechte befchattenb, fpät in ber Jtacht. 

6s war nicht froher Schlaf, ber ihn berfte, ba er (lohnte 
unb bitter feufjte, ba feine fonfl fo freubenoolle Stirn in 
EJellengewittern gefurcht war, ba feine $änbe über ber 
hoch atmenben Bru(l in einem Knäuel fich oerfchlangen, 
Jlattern gleich, bie auf h*tfiem, fanbigem Boben Fniflernb 
fich paaren. Seine £ippen, gebörrt im (Irömenben, Peuchen» 
ben 4?auch, waren bleich über bem fchwarjblauen GewölF 
feines Bartes. 

Jüan wollte ihn werfen unb löfen, brachte Sarfeln unb 
auf £euchter geflerfte wohlriechenbe dichter, man rief ihm 
ins Ohr unb fcf)lug mächtige Glorfen vergebens. Aber in 
ber JTlitte ber Jlad)t erhob er fich, Kaifer oon Babplon, 
richtete fich auf im hell beleuchteten Saat, fafjte bie Säulen, 
bie baumflarPen Streben, bie bis an bie getäfelte Derfe 
reichten, als wären es Stämme oon Bäumen im UJalbe, 
er taflete an ben glatten, fchön befangenen BJänben wie 
blinb. Seine offenen, fmaragbfarbenen, fchmalen, Pnaben» 
haft gefchnitfenen Augen in büflerem Seuer, feine Ohren 
oerfchloffen, feine Schritte im Gemache, fchleppenb jur Tür 
unb jurürf, wie gefangen, an eine .Kette gefchloffen. Die 
XDächtcr riefen im pof e, bie Jlachtrunbe fcfjlug an bie 
Glorfen, gegen bas tief, ruhig tönenbe 6rj; ben ^weiten, 

196 


den JTTorgengang fünbeten fie an, ober immer noch irrte 
er, ber einfl glücffelige Sürfl, wie ein Jrember, ein Ge« 
blenbeter, ein Träumenber, nie gu weifen, ein Toter, nie 
3 U beleben, burcf) bas weite, fühle Sommergentarf). Oben 
in ber oon neun JTiauern umgürteten, weißen faif er liehen 
Burg auf ben immergrünen ^ügeln, über bem Teiche, 
über ben ßotgen Pappeln, ben buftenben Beeten, auf ber 
Spi£e ber mächtigen Stabt gwifcfjen ben Strömen ber 
UJelt, Babplon. 

3 ept fefjrte er ficf) gu ber fiagerflatt, aber nicht um gu 
ruhen. 6 r ergriff bie oier aus 6 rg gegoffenen, tief in ben 
Boben eingeiaffenen £öwentapen, bie Stüpen bes Bettes 
unb if>ren auf ewige 3eiten gegrünöeten Unterbau, eine 
nach ber anbent, rüttelte an ihnen unb lockerte fie nicht. 
Dann griff er bem ehernen £öwen in bas aufgeriffene 
JTiaul, er ßemmte [ich mit beiben -Knien mächtig gegen bie 
Brufl bes fchweren, riefigen Tieres, er brüefte bie Daumen 
beibe bem £öwen in bie ehernen Augenhöhlen, flöhnenb hob 
er bas ungeheure Tier aus bem Boben, ber in feinen 
Grunbfefien bebte. So entwurgelte er bie £agerßatt unter 
furchtbarem brachen, bis ins Beben ber JTiauern. fofyt be* 
tub er fich mit ber gangen £aß. Uber feinen Jlatfen, ben 
Äopf in bes -Äaifers Haupthaar gebettet, ragte ber Pupferne 
£öwe, bie feibenen Riffen, bie leinenen Betten hingen f)tr» 
ab über feinen gebeugten, bienenben «Hülfen, fo fchleppte 
er bie £agerßatt an bie Pfoßen beim Senfler. JTiit ben 
3ähnen faßte er bas SenflergehHnge, ben fein gewirften 
Teppich, raffte ihn unb öffnete bas jenßer. 6 r trug bie 
fihwere £aß auf bem «Rücfen, hoch feine Gewänber am 
£eibe. Bloß fein oom gefenften Raupte tief herab» 
wallenber Bart, in golbenen 5unfen oom -Kergenglang her 
metallifch erfunfelnb, betfte bes nacften Sürßen JTebufaÖ« 
negar aufgehobene Schorn. Sein «Rücfen glängte in hefti¬ 
gem Schweiß unter ber unföniglichen Bürbe. 

3 n feinen Jpänben wanfte bas ungeheure Gewicht bes 
oier fähigen, gleißenben Tieres, eingebettet in bie fünßlich 
gewirften Riffen, auf benen er geruht hotte bis jeht. 3Tun 
ruhte olles auf feinen Achfeln. 


197 



Unter ben Senflern bunfelten bte herrlichen, buftenben 
Gärten. £ichtgefpiegelt im ooaten Teuf) fchwanften bte 
hohen Pappeln mit ihren Hebengebinben, bie Palmen mit 
blauen, üppigen Blüten in ben lüinfeln oerrauf cfjenb, 
gähnte ^trfdfje wollten füll in leichtem, febernbem Gange 
jur Hachttränfe eilen, Hachtoöget, aneinanbergefchmiegt 
tote fchwarge, glängenbe Ärüge, hielten ficf) im bitten 
£aube geborgen, hellere Hebet famen oon weitem, in faum 
erfennbarer Seme fchimmerte bie feuchte J^öfjle ber Sthlan» 
gen, wo bie Könige ber 3uben fotange gehäuft, weiter noch 
im Umfreis fchwebte bie ungeheure, für feinen Bfitf ganj 
ju burthmeffmbe, herrliche Stabt Babplon, an bem [eiben* 
gtängenben Stuffe gelegen, oon facfeltragenben JTTännern 
jur 3Xad)t burthfehriffen unb treu bewacht. Unter ben 
leicht gehäufelten löolfen am Hanbe bes Jrjimmels, faum 
noch ju ahnen im gartfehwebenben Schimmern, im mor» 
genfrühen Hebel über bem Sluffe ber aufgebenbe Tag. 

3n biefe Tiefe ließ ber Äaifer bie Stätte feiner Hube 
fallen. Schmettemb ftürjte bas Grj burch bie Pfoflen ber 
Senfler, über bie aufraufchenben 3wetge ber Pappeln flat» 
terte e9 hinab, ba9 leicht gewirfte Gewebe feftwamm licht 
im erwadf>enbm JTtorgen auf bem fcfuoargen Gewäffer bes 
Teiches, J^otj mit golbenen Jtänbern, Äiffen wie Schwäne 
gebaufcht, unter Schilf gebüeft unb oerflecft. Oer riefige 
^errfdfjer aber brüefte [ich fcf)eu in bie leeren XBinfel, er 
oerlor [ich jwifchen ben Spuren ber ausgeriffenen HJur« 
jeln unter bem leeren Baibachin. Seine einft Waren flugen 
waren getrübt, bie mächtigen, fchänen firme aufgeftüpt 
auf bie im Srofl gitternben bläulichen .Knie. BJachenb unb 
fchiafenb gugteich. So flarrt er burch bte Gewalten ber Sei» 
nen unb ifi nicht unter ihnen. Gewaltige beugen [ich gu 
feinm J?äupten, Jleifige beten gu feinen Süßen, jpotbfelige 
liebfofm feine Hechte, unb jugenblich Schöne weinen über 
feiner £infen. Seine Sohlen finb fchwarj. 3h« erweeft 
nichts. Gr mht, wie ein Tier in ber ZBitbnis feine Glieber 
um [ich fchlingt, naeft auf bem naeften Gflrich, ben bie 
Süße ber eitenben Oiener befchmupt haben. Seine Treuen 
rufen ihn: £ieber Äaifer, erwache! er antwortete nicht, fo 

198 



war er oerßört. Denn Jrieben war um ifyn bis gu Me* 
fer Stacht. JRtt feinem wallenben, fchwargblauen Barte 
wärmt er feine narften Süße, benn e9 friert ihn fefjr. So 
Bauert er bis tm morgen, ba er oöllig erwart. 

3n bäfem 5euer blinBte am morgen fein Blirf, in halt* 
(ofem 3ittern faßt feine j[>anb nach bem elfenbeinernen 
Stabe mit ben fUbernen Hingen, bem 3etrf)en feiner macht. 
6r hüllt ficf) in bie rafcf>elnben fcbarlachfarbenen Hieiber 
feiner tiebßen, jüngßen SBlaoin, oerbirgt fi<f> bi9 gu ben 
flugen unb winBt allen, bamit fie geben. Sein 5uß flößt 
ooll Xlngebuib nach ben IBinbfpieien, bie an fdjön gewirB* 
fer Hoppei gebunben gu ihm bereingefübrt werben. Dann 
fcblögt er mit bem Stabe ben Boben, ruft ben böchßen ber 
Heicbsoerwefer unb gebietet ifjm: Sorbere gufammen auf 
eine Stunbe alle bie Sternbeuter unb HJeifen, 3auberer 
unb Cfjaibäer, bamit fie oor mich treten unb mir meinen 
Traum fagen foilen. Bor flbenb folien fie oor mein fln* 
gefidf)t Bommen, benn ich oermödjte nicfjt gu fcfjlafen noch 
Hube ju finben, ebe icb weiß, was mir geträumt bot. 

Bor flbenb oerfammeiten ficb bie Sternbeuter, Cbalbäer, 
3auberer unb BJeifen unb füllten ben weiten Sommer* 
faal mit bem oerflümmelten Gßricb unb ber ausgeriffenen 
Stätte feines Schlafes, llnter ihnen war Daniel, ber Sohn 
3ojaBims, bes oertriebenen Hänigs oon 0[uba, er, ber Pring 
Gottes. Der Haifer fpra«f) gu ihnen: ,,3cf) batte einen 
Traum, ein böfes Gefickt. 3<h will wiffen, was e9 für ein 
Traum gewefen iß. 

man wollte mich werfen, ich hörte e9 nicht, man wollte 
mir £i<bt günben, ich fab cs nicht, ich wollte ruhen unb 
ben Trieben ber Stacht Boßen unb habe mein £ager aus 
bem Boben geriffen unb mein Hiffen Über bie Bäume ge* 
ßürgt. BJas war mein Traum? Sprecht unb fürchtet euch 
nicht 

3ch habe immer in Hlarbeit gelebt. Stun bat mich etwas 
oerßört, fo baß ich riecht mag Hat halten, Hrieg führen, 
Trieben fchließen, in meiner Stabt Hecht fprechen, effen, 
trinBen, noch meine Siebße Bofen, noch mich bes Gutem 
freuen, bas Böfe einbämmen, noch mich wafchen, mein 

199 



fyaar falben, meine Augen ergeben, meine Brufi in Jreube 
öffnen unb aufatmen, es fei benn, bafj ihr mir fagt, meine 
£ieben, was mir geträumt hat, biefe 3Tatfit, in biefem 
Saal/' 

Da fpracfjen bie Chalbäer auf chalbäifch jum Äaifer: 

Äatfer, Gott oerleibe bir (anges £eben. Sage beinen 
Änecfjten ben Xraum, fo toollen roir if»n bir beuten." 

Der Äaifer antwortete ben Cfjalbäern: „Es ifl mir ent» 
fallen. 

XDerbet if>r mir meinen Xraum nicf>f ameigen, ben irf) bte 
le^te 3tacf)t geträumt habe »ie nie einen Xraum juoor, fo 
toerbet ifjr umfommen, meiner DTiilbe uneraehtet, eure 
Käufer follen fcfjänblicf) jerflört werben unb eure lüeiber 
oerfloßen unb eure Äinber mit ihnen. 

XUenn ihr aber meinen Xraum finbef unb if>r ihn an» 
jeigt, foltt if)r 6efrf>enfe unb Gaben oon mir hoben. Denn 
ich hungere nach Trieben. 3f>r folit grofie Gf>re oon mir 
erhalten, benn ich bürfle fehr, ju erfennen, toas war." 

Die Sternbeufer unb Chatbäer antworteten: „Der b°b e 
Jrjerr fage feinen «Rnedfjten ben Xraum, fo wollen mir ihn 
beuten. Gs ifl fein JTtenfch auf Grben, ber fagen fönnte, 
toas ber «Raifer forbert. So ifl fein ^errfcher, toie groß 
unb mächtig er fei, ber fotches oon einem BJeifen, Stern» 
feher unb Chalbäer forbere. Denn toas ber .Raifer forbert, 
ifl ju hoch. Cs gibt auch fonfl niemanb, ber es bem floljen 
Jr>erjen ber BJelt, bem .Raifer DTebufabnejar, fagen fönnte> 
ausgenommen bie Götter, bie nicht bei ben Jltenfchen 
wohnen." 

Da ergürnte fi<h ber .Raifer, erblaßte unb warf feinen 
Stab in bie Jleihe ber Sternbeufer unb traf ihrer einen ins 
Auge, bas ausrann. Doch toagte niemanb, ju flüchten. 
Denn er war ergrimmt, wie man ihn nie gefannt hatte 
bie Xage feines £ebens bis }e£t. 

Daniel fürchtete fich nicht, er trat oor ben .Röntg unb 
beugte fich oor ihm. 

Der kaifer blirfte ihn an unb fragte: „BJer bifl bu?" 
Denn er fannte ihn nicht. 


200 


„3cft war ein Äupferfdjntieb, ein jrfonbwerfer unfern bes 
Ataffers, in ber engen Straße, wo bie Äarawanen muft 
bent glücflicften Arabien geftert. 3cf> woftnte tief in bem 
niebern Aiertel am Sluffe befcftatfet. Dort traf mieft ber 
i?err, ber Gott meines Aolfes, rief mir ju. 3cft wollte einer 
fein wie alle, hungrig mit ben hungrigen unb gefättigt 
mit iftnen, wacft mit ben AJacften, träumenb mit benXräu» 
menben unb erwacftenb mit iftnen, meine Meinen XOerfe 
aus Äupfer gebreftt unb bie feinen Säben in ber Stamme 
gejogen, unb bas übrige AJerf in meiner J^anb, wie alle 
es feftaffen in unferem Viertel. 3cft rief nuftt Gott, aber 
er rief mieft. Denn was wäre itft, bafj ieft wagen wollte, 
Gott ju nennen? BJenn ieft AJaffer oerlangte, gab er mir 
föfllieftflen AJein bie Sülle. Aber laß mieft allein, ftofter 
Äaifer, mit bir, lege bieftt bein Oftr an meinen JTlunb, unb 
ieft will bir alles oerfünben, ba mir nieftts oerborgen ifl." 

Oer Äaifer entlief} alle, bie iftn fonfl nieftt oerliefien bei 
Tag unb bei JTacftf. 3n bie Arme bes fcftlanfen, ruftigen 
Knaben Oaniel feftmiegte fieft ber riefige JTlann, er oer* 
barg in ber Gllbogenbeuge bes 3üngltngs fein mübes, 
oerhörtes Stäupt, fein feftwarjblauer Bart flreifte bie glat» 
ten, falten, fterrlieft gerunbeten Änie bes Änaben, unb 
blidfte ber AJeltfürfl empor, bann faft er Oaniels gewaltige 
Augen ooll jarteflen, blauen Glanjes über fieft leucftten, 
unb er faßte Sreunbfcftaft unb £iebe ju iftrn, unb er ftob 
mit feiner Äaiferftanb bie «Reiftte bes Änaben Oaniel ju 
feinen Augen unb fragte: „Äannfl bu benn bie oerflof» 
fenen Xräume jurürflenfen mit ber Jrfcnb wie mit einem 
3auberflabe?" 

„$ofter Äönig, bu träumtefl, bu trügefl biefe ganje 
AJelt auf bem Sunbament beiner Seftultern. 6bene, Ge» 
birge, AJaffer unb £anb, SlufSufer unb Bäcfte, bie burift 
AJälber riefeln, unb AJüflen, bie noeft niemanb betreten 
ftat, Käufer, barin ju woftnen, einzeln unb in unerntefi» 
lieften Stabten wie Babplon, Gerät in ben niebern Jütten, 
JUifhmg unb Grj um bie Glieber ber Ärieger, Selber, 
Srü(ftte, Getreibe in Samen, gefammelt in ben Aornftäu» 
fern, alles georbnet, wie bie AJelt ftier georbnet ifl, unb ge* 


201 


recht, tote bu es gerichtet fjafi in ben 3of)ren ber 6?errfcf>aft, 
olles (lanb ouf Beinen betben flarfen Schultern aufgericf)« 
fet, olles, toos JItenfchen bauen, toos fie befipen unb oer» 
(ieren, olles, toos lebt unb ft<f> trn tfjergfchlag regt, es 
toor of>ne Ausnahme ouf beine Schultern geloben, barnit 
bu es trägfl, unb bu hattefl es über bir unb fonntefl es 
oon unten f>er fef>en, tote es wuchs, tote bie Raufer aufge» 
richtet tourben, unb ber überholte Turm, in neun Stocfroer« 
fen rogenb, oon Treppen umgürtet, mott burcfjleuchfet mit 
Seuer, prächtig unb überherrlich; toie bte SFelber ficf) be* 
grünten, toie bie gerben fidf) oermehrten unb bte Uölfer on 
ben reichen Ernten ficf) föttigten unb noch übrigbehielten, 
unb Sriebe toor überall, bis fie flarben unb onbere OTten« 
fcf>engeftf)le(f)teT bie Türen ber Speicher auftaten, unb ans 
bere Gefdf>ledF)ter ficf) ihres £ebens freuten, bis es gu Enbe 
toor. Oos beine ober toor nicht gu Enbe. Ou toarfl ouser* 
toohlt unb oon ben onbern gef (hieben, toie ich es bin, Do« 
niel, 3o}aKms Sohn, unb bennocf) ooterlofe BJeife unb 
mutterlos, obgleich meine iTCutter noch lebt. Allein flau» 
beft bu unter Seiner £a(l, unb bu trugfl fie allein, toeil fie 
bir aufgetan toor/' 

„Sprich toeiter," fogte ber Äoifer, „bu fagfl, toie es 
toor." 

„So toor es bir gegeben, felbfl biefe Kielt gu tragen, bir 
allein, fie gu orbnen als 3Tteifler ber Klugheit, bie Tiere gu 
jähmen, bie üölfer im Kriege gu fcheiben unb bie Stämme 
im Bunb gu oereinen als £önig. Brücfen gu fchtagen über 
bie Ströme als Baumeifier, biefe Stobt Bobpion, bas 
IBunber ber Kielt, aufgurichten aus gebrannten 3iegelh, 
mit gefchüffenen Steinen fie gu gieren, Tempel gu errichten 
unb Sinn gu fliften in ollem, toos bu trugfl ouf biefen gtoei 
Schultern. Ou f)afl bie Hielt nicht gerufen: aber fie rief 
bich: fei bu mein i?err! So ifl bein Turm ber feit 

JTlenfchengebenfen. So huttefl bu Gewalt über alles unb 
trugfl es freubig, bu toarfl mutig, flarf, fröhlich/ ohne Sou» 
bem, bu hörtefl ouf feinen Gott, bficftefl in Träume nicht. 
Oein fluge fchaute flor, beine Jrjänbe erfaßten milb, toos 
fie toirften, bein Bort toor geglättet, beine Stirn frieblich, 


202 


Öelne 3 unge mit HJetsfjeit gefegnet int Geriet unb im Selb» 
friegsplan, beine Sippen ooll Siebfofungen, menn bu bei 
ben ©einen meiltefl, fo roarfl bu gefegnet wie nur je ber 
JHenfcfjen einer, Sieg, Sreube unb Jrieben, .Kraft, Gefunb* 
beit. Klarbeit, gerechtes Gemicht, fenfrechtes JTiafJ, Speife 
unb Tranf, Schäle, Quroelen, Kornfpeicher, Übriges, was 
bes 3T?enfcf)en Sjtxi münfcht. fluf beinen Schultern bie 
löelt. 3n beinern 3nnern aber löeisheit, JTttlbe unb Ge* 
malt über alles/' 

,,©as mar mein Traum, aber mein Seben auch- 4?eute 
ruhe icb int leeren, bunflen Gemache, einem fremben Kna» 
ben auf bie Knie gefcbmiegt, oerfförten Gefirfjts unb ooll 
Üngfl oor ber fünftigen JIacf)t. Wo ifl meine Scham, mein 
Stolj, mein fönigliches Scbmeigen?" 

„©ein Traum mar fo: Über bir 30 g, mie eine löolfe 
ins 6 emitter gief>t, ein jmeiter Jlebufabnegar auf. 3 n 
Stürme gefleibet, nicht in feine Seinmanb mie bu. Gs mar 
fein JItenfcf), fonbern etmas anberes, mie es bie löelt noch 
nicht gefef>en t)at. ©u marfl es felbft, fyöfyer als ber erfle, 
ferner mie ein Stein, ohne eigene IDärme, marm in ber 
DJärme, falt im Eife, frieblos, ba er oon einem Enbe ber 
JÖelt jum anbern rollte ju bir unb nichts oerfchont, auch 
fich nicht, unb ooller Trieben, ba er oon nichts meifS, auch 
oon fich nicht. 

So ifl ber tieffle Trieben nicht bei ben Königen, nicht bei 
ben Göttern. Glaube es nicht! OTur bei ben Steinen, fei es, 
bafi fie flehen unb ragen mie Säulen, morauf man Seben* 
bes geben läfSt, fei es, baf$ fie am Fimmel, aneimanbers 
gefettet, als Geflirne in blauen Sichtern bafnnjiehen. ©iefer 
Stein trug beine 3üge, Kaifer Dlebufabnejar, bu toarfl 
cs aber nicht, ©enn bu fjattefl flngft oor feiner Schmere, 
obgleich bu hoch bie übrige löelt ohne 3ittern auf beinen 
Schultern trugfl, bu batefl, oerfchone mich, unb flebtefl, lafi 
mich ausgehen unb lebenb entnommen, unb fnietefl oor 
ihm mie nie oor einem JTlenfchen ober König ber Öleiche 
ober 6ott bes Rimmels, bie bu fanntefl; mit Jlarnen nur 
fanntefl bu fie unb nicht oon flngeficht. Er aber, ber anbere 
Jlebufabnegar, erbarmte fich nicht. Er mar mie Erbe, bie 


203 


fpricfjt. Aber er fchwieg noch, unb bu fahfl nur feine £ip* 
pen bewegt unb bie Arme erhoben. 6r rofie burcf) bie 
£üfte, bis fie brannten, er burcf)brtchf mit «Sracfjen unb 
Donnern bein fefigegrünbefes Sjaua, achtet nicht ber Decfe 
fjier oben mit ben golbenen 3terafen, f$ont ntdfjt bie Äfei« 
8er auf beinern «Äörper, lief? bie Deinen nimmermehr leben, 
er fiel auf bich, unb bu fafjtefl if>n in beinen beiben Armen 
auf, unb ihr würbet beibe eins unb oon nun an eine neue 
Gefiatt. Du hobft bith auf, unb ihr beibe wichet oon ban» 
nen, unb bas Bolf erfannte euch nicht mehr, unb man 
nannte euch mit neuem Damen unb gitterte fe|>r. 

Aber was bu auf beinen Schultern getragen hattefl, war 
alles oernichtet, benn bie Stäbte waren gerflampft, bie Dör* 
fer fah man nicht mehr, wo fie geflanben hatten. Don un* 
ten, wie Äinber eine Schlange anjfaffen unb fie gerreiflen, 
hatte ber Sturm bie Brücfen aufgehoben unb fie gerriffen, 
bie fchönen Bäume, an ben Jlüffen gepflanzt, mußten oer« 
borren, bie Blumenbeete im faiferlichen Garten gertrefen 
fein. Das Bieh war oerhungert, unb bie JTtenfchen litten 
gro(le Dot. Da war fein gerechtes Gericht gwifchen ben 
Toren, fein gutes JTtafJ auf ben Tifchen ber ^änbler, fein 
gerabes Senfblei in ben ^änben ber DTeifler, feine Pferbe 
unb Äiihe in ben Ställen, fein Gerät in ben Jütten, feine 
Drbnung in ben Gefefjen unb in ber DJelt fein Sinn. X0o 
Babplon war, fyiefb ber Drt: UJüfte unb oerfluchter Ort. 

Das höfl öu .gefehlt, bis bu erwachteft." 

„BJar bas mein Traum, fo h<*be ich ihn felbft mir ge* 
beutet. Denn ich t)abt bie eherne Stätte meiner «Ruhe aufge* 
hoben, meine ^eimat gur Dacht aus bem Boben geriffen 
unb aus ben Senftem geftürgt, bis alles im Teiche unter 
ben Pappeln oerfanf. 3ch war ruhig bis heute nacht unb 
gefaßt bis gu biefem furchtbaren Traum. Jüan hat meine 
jrjanb nie gittern fehen, benn ich h a & e auch über mich 8 e * 
herrfcht. Je^f aber laß es mich bir teife fagen, ich fürchte, ,ich 
bin oerflört für immer. Du bifl jung. Du biß wiffenb. Du 
biß flar unb träumfl nicht. Jpalte mich feß, benn es wütet 
in mir, bamit ich nicht Jpanb anlege an mich. Soll ich fein 


204 


tote ein 3rrer, ber bie Schelle trögt, bamit man p(f) »or 
ihm hüte, ein Befeffener, mich feffafi nicht erfennen, (eben* 
bigen £eibes geblenbet fein, bann will idF> nicht fein. Sieber 
toitt ith flerben, als ba|i man mich oon mir in Stütfen 
reißt. Bleibe bei mir, fdjöner, fluger -Knabe Daniel, benn 
itf> fiircfjtc micf). 3d) will bir ein Gheengewanb antun, bir 
ein £anbhaus bauen, ein Sommerbäuathen am «Ranbe ber 
JItauer, hier unter ben Senflern, näher bei mir, im Sthat» 
ten ber Pappel, am Xlfer bes Teiles, tot» es fühl ifl unb 
ber Staub nirfjt hinbringt wä-brenb ber 3eit ber Dürre. Der 
.Knechte follfl bu oier haben ober oierjig ober oieTfjunbert 
unb alles, tooran bein Sptr% Sreube haben fann. Du follfl 
mein leiblicher Bruber fein, benn ber eigene Bruber oerläfjt 
einen nitht! Wein -Reith magfl bu (latt meines Sohnes 
oon mir überfommen, toenn bu mith fjetlfl unb fegnefl 
mit bem flärfflen Segen beines Gottes. Denn ein Gott hat 
bUb htraufgebratht burth bie Wachttürme, bie Wege bes 
Palafles bis hier in meinen Saal, unb ein Gott hat mein 
armes Jr>aupt bir auf beinen Schoß gelegt unb meine Ge» 
banfen oor bir ausgebreitet, wie man ein jufammenge* 
rolltes .Reisblatt ausetnanberrollt. Du mußt einer fein, 
ber bei ben 6öttern roohnt, ber fpricht, wie fie bort fprecben. 
So fannfl bu allein mich (Öfen, wenn ich gebunben bin, 
mith heilen, wenn ith franf bin. Du fannfl mith fegnett. 
Denn ith bin oerflutf>t. Weine Wacht ifl bem anbern ein 
Greuel. Allen bin ith ein gereihter -König, man heißt mith 
ben Sommerfürfl, bie Quelle ber Jpolbfeligfeit, bas Jperj 
ber armen Hielt unb ihren Xrofl. 3<h war es einmal, both 
bin ith es nitht mehr/' 

„So fann ich bith both nicht heilen, wärefl bu au<h franf. 
Das hat mir mein Gott nicht gegeben. Bifl bu gebunben, 
mag ein anberer bith löfen. Bifl bu oerflucht, fo bleibe oer* 
flucht. Wag fein, ich habe Wohlgefallen an bir gefunben, 
benn ith hatte nie Haler, Wutter, noch Sreunb, noch Ge« 
führten. 3th möchte benn Gutes gerne an bir tun. Aber es 
ifl mir oerfagt. Denn nitht ju heilen, nicht ju löfen, nicht 
ju fegnen bin ith in bie Welt gefommen, fonbern nur um 
ju fünben, ju beuten, alles ju wiffen, nichts ju hm als ben 


205 


Dienß meines Spttm. Denn er hat mich auserwählt, wäh* 
renb icf> fchlief, non meiner Jpanbwerfsarbeit ermübet." 

„Du biß jung/' fagte ber Äotfer, „bief) onjufef>en i(l 
fchön. Bleibe nur bei mir. Klar bies ber letjte Xraum ober 
i(l Schwereres für mich noch aufgehoben? Ber laß mich 
nicht. 6s iß flbenb geworben. 3<h will bir bas ßhönße 
Brot brechen, ben reinßen JBein fchenfen, bas weicfjße Bett 
betten. Sei mein Gaß. Darum bitte ich bich/ Äatfer oon 
Babplon, bich, Daniel, bas wiffenbe Ätnb, Sohn bes ge» 
bienbeten Königs 3ojaKm, bich, ben lichten jßrinjen bes 
finßern Gottes, ber Ttebufabnejar mit Jtebufabnejar be* 
[traft/* 

,/Ich will bei bir bleiben, Äaifer oon Babplon, neben bir 
gehen, ju beinen Süßen fipen auf ben unterßen Stufen 
bes Xhrones. Aber oon beinern Brote nicht effen, beinen 
Klein nicht trinfen, beine Srauen nicht berühren, rein blei» 
ben, meinem Gotte ju Ehren, ber Daniel fegnet mit Da» 
niel/* 

„So fei es, wie bu es willß**, fagte ber ßaifer, unb 
Daniel lebte neben ihm. 


206 



&uguß und feine Hluttec 

Don Osfar £ocrfe 


CC^Xurrf) überfchwengliche £iebe jur JRuffer unb außer» 
fc- ;C gewöhnliche UngefdjicMichfeit jeicfjnete ficf) fluguß 
Stieofärjler feit feinen früfjeßen Tagen aus. Sein erßes 
größeres Scfjicffal, erlitten im ^weiten £ebensjahre, oer» 
einigte fchon biefe beiben JRerfmale feines IDefens unb 
machte fie im Meinen Äircfjborfe allbekannt. 

Seiner TTTutter ^ütte befaß jwei 3ugänge jum Boben, 
einen oom Jlur unb einen oon ber Sd^Iafßube her. Sie 
£ufe bes ^weiten war für gewöhnlich burcf) einen Oecfel 
geßhloffen unb ber Stubenbecfe angeähnficht. Als bie Xöeif)» 
nacht nabe mar, ßuf;l ber JTachtwächter einen Tannen» 
ßrunf unb brachte ihn ber HJitme. Oie hörte fogleich auf, 
in ben roten Jeberbeutel gu greifen unb Pfülmen oon ben 
Pofen ju rupfen unb ßieg, ben weihnachtlichen Engel», 
Schaum» unb jfcttenßaat ju holen, auf ben Boben. Oamit 
fluguß nichts merfe unb in ber IBohnßube bleibe, gab fie 
ihm ein paar lange Jeberfiele in bie ipanb, wollte bie Slur» 
treppe hinanßeigen, ben JHtterfram über bie anbere Treppe 
leife in bie Schlafßube tragen unb biefen IBeg wieber gu» 
rücftun, als fomme fie oon braußen herein. Oas £ufen» 
breft fonnte ße nicht in feine üeißen (egen, fotange ihr firm 
belaben war. Sie fe£te baher ben umfangreichen Äarton 
facht auf ihr Bett unb wollte gerabe bas £o<h fchließen, als 
plöhlich fluguß bartn auftauchte unb mit großem ßeflap« 
per unb 6 ef ehr ei herunterholperte. 3wifchen ihm unb ber 
TRutter webte unjemißbar immer etwas wie ein feines 
JRariengarn, auch burch JTtauern unb Jemen hin* Oas 
Äinb hatte fi<h bie Jlurtreppe mühfam hinaufgearbeitet, 
war blinblings über ben Boben gerannt unb in bas £och 
geßürjt. 6r fchlug fich auf ben breiunbjwanjig Stufen 


207 


blutig unb tourbe franf unb oerfcf)wollen ins Bett gelegt 
Cr pfiffe auch wohl ßerben fönnen, unb es toar baher fein 
BJunber, toenn feine JRutter, bie eben erfl ihren JTtann 
oerloren, toährenb ber nächften Tage fefjr ungtticflich 
fchwieg unb feine minber beteiligte Tante ben Borfall im 
Dorfe gefcfjäftig oerbreitete. 

Damit toar ber Grunb oon flugufis Stellung ju feiner 
Hielt gelegt: bie JRutter tote einen Engel anjufefjen, bie 
Tante 3 U Raffen, oon beiben biefe Gefühle erxoibert ju fin* 
ben unb im JTtunbe ber Dorfleute ein Gefpött unb Getäch» 
ter ju fein. 

Sür bas le£te festen if>n bas Srf)t<ffaf burch feine JTtiß* 
geftalt befiimmt ju haben. 6 r hotte einen DJafferfopf, ber 
ihm groar mit Glücf ausgepumpt toorben toar, fo baß er 
oernünftig wie bie anberen Äinber fich enttoicfelte, aber 
oon roher ober oerßecfter Graufamfeit gegen fchulblofe 
Berunßaltung finb bte toenlgflen JHenfchen frei, unb fann 
man fagen, baß biefe Graufamfeit (lets ein Unrecht fei 
unb nicht oieltei<f)t ein Benmßttoerben eigener Äraft unb 
6 efunbheit? Sreilief) toirb ba auch bie 3ärtli«hfeit finge* 
höriger zärtlicher. Unb bie £iebe ber JTlutter flugufis hotte 
nichts Demütigenbes. 5rau Stieofärjler toar inbeffen arm 
unb geriet mit ihrer Schwerer, bie bei ihr im engen $aufe 
roohnte unb ettoas Hermögen befaß, oft in 3wiß, wenn 
es fich um Gelbausgaben honbelte, zumal für flugufl. Die 
HJittoe tourbe baburch ju f<f»roff gegen ihre Schweßer unb 
fafl hötfchelig gegen ihren Sohn, flugufl lernte gegen bie 
Tante Unbehaglichfeit fühlen in bem JTtaße, toie fie ihm 
unbarmherzig oorfam unb ihn oerflatfchte. 

Hngefchicft toar ber HJafferfopf wirfHeh. 6 r toar ein 
Einffer, unb toeil er oerfehloffenen JTlunbes feinen HJeg 
ging, tourbe er balb ber bumme flugufl bes Dorfes. Daß 
er im Jpeufchober oerfanf unb am Jrjofenboben heroorge» 
jogen toerben mußte, baß ber Schwamm feiner Schiefer» 
tafel an einem ju langen Binbfaben penbelte unb ihn 3 U 
5all brachte, mußte er überhart büßen. Die fleinen Ge* 
häffigfeiten ber £eute quälten ihn nachträglich fef>r, unb im 
weichen, oon ber JTlutter liebeooll aufgefchüttelten Bett 


tag er oft tote auf einem großen OTeffetfiffen. ttÜe er occt 
auf bte erbe, feine Äanteraben oiel auf ben Jpimmet fahen, 
— ihre Gefinnungert waren oerfcfjieben wie bie Sorben bes 
Rimmels unb ber Erbe. 

Ser mißgefchicfte «Knabe hatte unter alten Äameraben 
bas JTIißgefchicf, beim 3ufd)auen eines Steinfprengens 
oon einem abgefptitterten, fdfjarffantigen «Keil getroffen gu 
werben unb bas rechte fluge gu oerlieren. Sie ungefcfjitfte 
rechte Jpanb unb bie gerieftere tinfe flreicfjetten bie «Kinn» 
fpitje ber Srau Stieofärgler. Sie fuhr bafür mit ihrer Jrjanb 
burrf) bie rötti<f)>btonben Jpaare bes lüafferfopfes unb 
frf)ä0te fief» fetig/ wie einen fo weiten XDeg bie Singer gu 
frauen Ratten. 

Sie Schute war füT flugufi eine Qual. 3ur Erholung 
lernte er im gwötften £ebensjahre bei ber JTiutter febni^en, 
fcf)Uchte Jpolggegenßänbe, beßimmt, auf bem 3ahrmarft 
feilgeboten gu werben unb im bunfetflen Künfel ber Gliche 
ober unter ben Xifchen witber «Kinberßuben traurig gu oer* 
fchroinben. Sein oerftorbener Kater, ein bürftiger «Kätner 
unb Gelegenheitsarbeiter, batte folgen «Kram einß mit ber 
JTiutter hergußetten begonnen. Seine Bube hatte ihren reget» 
mäßigen pta£ oor ber «Kutßherfneipe am JTIarftplah ber 
3Iacf)barßaöt erhalten, wo Srau Stieofärgler fie noch im» 
mer auffchtug. Gs erquiefte flugufi, mit bem getiebteflen 
BJefen bei einer Befcfjäftigung gu fi£en, bie gwifchen ihnen 
beiben btieb, unb fotch wunberßhöne Singe gu fertigen. 
Sie unbefannten £eute, bie fie fauften, fpotteten nicht wie 
bie Sörfter; oft flaunten fie über bie Klare, unb bas machte 
ihn im flitlen beleihen flotg unb froh, itnb ber ^anbet 
brachte einigen Gewinn, fo baß ber Xante bas Xrutjre<f)t 
ihres Beutels auf eineKIeite genommen war. fluguß geigte 
fich bei ber Schnitzarbeit merfwürbig gefchieft. Sie Jpänbe 
waren in jenen Stunben feine Seele, unb bie JTiutter wußte 
bas. Sie freute fich, *°ie bas Jpolg oon flugufls £iebe gu 
ihr ergäbtte: Gs entßanben Quirle mit ben regetmäßigßen 
3acfen, ohne Xabet gerunbete Stampffeuten, wohtausge* 
höhlte Jrjolgtöffel in alten Größen, wie ein fo hoher Grab ber 
Kottenbung oon nur mit bem JTIeffer bearbeiteten Gegen» 


14 $te beirtfd&e Lobelie. 


209 


ßänben irgenb oerlangt »erben tonnte. $ür bie kleinen 
unter ben Äinbern »urben ßeife Pferbe aus »eifern i?ol§ 
mobeltiert unb Schafe, bie jtd) von ihnen nur burcf) einen 
Orufel aufgeflebter XUolIe unterfchieben, fo»ie Puppen/ bie 
auch ben Xufrf) faßen ju füllen betonten in Blutflecfen auf 
ber Batte unb beulenblauen Augen. — Alles »ar Anfang* 
Ucf)feit an bie TRutter. 

Oas erwies fitf) beutlicf) genug, als Auguß, »eil er in 
^olj mit 6 lUit ju arbeiten oerßanb, jum benachbarten 
Xifäßer in bie £et>re gegeben »urbe. Berbarb er nicht all» 
guoiel, fo lag er feinem Jrjanbmerf mit Xrägheit ob, Oer 
JTteißer machte fein ^efß baraus unb ßhalt. 

Einmal hotte Auguß ein Sargbrett um ein Jpaarbreit 
ju für; geßhnitten, ein paar HJochen fpäter ben Seim in 
einer Sargecfe fo ßarf aufgetragen, bafj er breüg heroor» 
quoll; beibe JTTale nahm Auguß mit feiner JITutter fo»ie 
ber JTTeißer am Begräbnis teil; beibe JTTale erfuhr bie 
Xrauergefellßhaft (beim Heimgänge oom Sriebbof) aus 
behaglichen Bemerfungen bes Xifthlers, »as ber Sehrling 
oerfehlt. Oiefer fühlte fith beloben, als hätte er ben Xoten 
felbß geßhänbet. Oie JITutter faßte ihn feßer an ber ^>anb. 
Oaheim fagte Jrau Stieofärjler: 

„Auguß, »enn ich ßerbe, für mich mathß bu nitht ben 
Sarg, »enn bu es ihnen nicht gut genug ßhaffß. — Sie 
follen bich nicht tränten unb mich in ber 6 rbe.'* 

„JTein, JITutter. — 3<f> fann nicht in Spolj arbeiten." 

„Ach, bu fannß fchon." 

„Aber es iß nicht unfer liebes S? 0 I 3 ." 

„Auguß — »enn es für mich »äre?" 

„Ou »irß ja nicht ßerben." 

„JTTein Cinaug." 

„JTTein 3weiaug." 

Oas »ar ßhon im XBinter. 3u X0eil>nachten fchenfte 
$rau Stieofärjler bem Sohne ein Paar Äropfßiefel. Bier 
forgfältig gewölbte Seberringe trennten bie Schäfte oon 
ben eigentlichen Schuhen, unb bie Schäfte waren auf bas 
fauberße abgeßeppt, geßhweift befchnitten unb am Jlanbe 
mit hellblauen Sinien bemalt. Auguß ßellte bie Stiefel auf 


210 


ben ^etllgabenbtifcf) unb flreic falte batb fie, batb bte JTlut» 
ter. Oie Seiertage gerflörten fein Glttif. 

Oo flugufl in ber Ätrrfje gang oorn unter ben Äonfir» 
ntanben faß unb bie Stimme bes Pfarrers unabgefcbwäcbt 
fjörte, tonnte er wäbrenb ber Anbacbt gwar bie Gebanten 
an feinen (folgen Befig unterbrücfen, aber fobalb bas legte 
flmen oerflungen mar, ba<f)te er: 3n was für gutem £eber 
(leiten meine Jüfie boü&t Cr betam Selbflgefüfjl unb war» 
tete niifct, bis bie JTlutter aus bem Gebränge gu i&m (lief?. 
Ir blieb mehrmals auf ber Straße flehen unb muflerte 
eine Stiefel, flampfte beutlicbe Spuren in ben Schnee, um 
fore gewirf)tigen formen rttifwürts gu betrauten, unb bie 
cfjmugigflen Sifmeeftumpen naf>m er mit ben Singem 
orgfam non ben Sorten, wenn fie fl«f> aßgu frfjwer bort 
angebrtttff Ratten, j)atbwü<bfige Burfcfjen (achten fon aus, 
bis bie JTlutter gu fom brang unb if>n fortgog. 

Oie Sreube an ben neuen Stiefeln war oergältf. 5rau 
Stieofärgter befeuerte flugufl gum Geburtstage ein Sinnig* 
meffer, bas frumrn war wie ein Gntenbats. flugufl wollte 
es oortäuflg nlifjt benugen, trug es aber immer bei ficb 
unb gog f)örf>(l plögiief) mitten im Oorfe bas Futteral aus 
ber Xafrfje unb würbe babei wieberum bdud)fl. flugufl 
fegte fiif) gu $aufe f>art nieber an ben Tiftf) unb fpieite 
wie abwefenb geräufeboott mit bem JTleffer. Oie JTlutter 
fragte nacf> feinem Äummer. 

* bin eben ber burnrne flugufl", entgegnete er berb. 

Sie (teilte ficf> nur hinter fon. Sie empfanben beibe eine 
ausgebrenbe Srfjwüle, bie gu febweigen gwang. 

Xlnb fie blieben in biefem fümmerlHben Seben, bis bie 
JTlutter fi<b tränt nieberlegte unb fühlte, bafi es gum Tobe 
war. Sie batte ben Sobn oft am Bett, wenn er aus ber 
Arbeit tarn, ber trofllofen Scbreinerarbeit, unb weit ein 
Tiftbler einmal Särge bauen muß, wenbeten ficb ber bei« 
ben Gehanten ohne Scbeu wieber babin. Sorge um ben 
Sobn unb Groll gegen bie oerbittemben JTtenftben fpülten 
ber JTlutter no<b einmal jenes HJort oon ber £ippe: 

„UJenn iib flerbe, für mich maebfl bu niibt ben Sorg." 
flueb ibr war bie grobe Tifcbterei ein Sinttbilb ber groben 


14* 


2ZZ 


Xöelt im Gegenfah gur traulichen Hausarbeit geworben, 
too weiße Späne Sie Seelen ber Meinen Geräte umfchlüpf» 
ten unb oerßecften. 

„ Jlein, Jliutter." 

Gin langes Schweigen oerlieh ber «Hebe unb Gegenrebe 
einen bitteren Jlachbrucf. 

„Aber wirß bu ßerben, Jliutter?" 

Sie ging barauf nicht ein. 

„Jüan xoürbe es wohl auch fowiefo nicht oon bir oer* 
langen/' fagte fie, „aber bu würbeß es gern machen?" 

Gr nicfte fchwer mit feinem HJafferfopf. 

,/Jch mache bir lieber aus unferm S)oii —". Gr brach 
ab, wie oon Grauen gefaßt. 

Gr fah fcheu ju ihr hin. Sie wanbte ben Blicf in ben gel» 
ben flbenb unb lächelte. Gr fchaute nun an ihr oorbei ins 
Dfenfeuer unb lächelte auch. 

fluguß war oötlig oertaffen. Daß bie Jliutter abgefchie» 
ben fei, begriff er in ben erßen Stunben nach bem ltnglücf 
nicht; er felbß tarn fich oor wie in ein frembes Dorf in 
frembem £anb entrücft. Gr faß am Bett ber JTlutter unb 
fhreichelte ihr wie im £eben bie Äinnfpihe. Jlur wenn bie 
Xante ab« unb guging, gucfte feine Hunb oom mütterlichen 
Geficfjt gurücf, unb baß fie gurücfgucfen mußte, füllte ihn 
mit H Q ß Qtgen bie frembe Berwanbte. Der breite Gang, 
bie brollig oerjerrte Schmergensmiene ärgerten ihn. 

„Gehß bu nicht gum Xifchler?" fragte bie Xante. 

„Jlein", antwortete er. 

„Das brauchß bu auch nicht", fagte fie milbe unb ging 
hinaus. 

Gr buchte barüber nicht nach, fonbern begann bie JTlut* 
ter wiebeT gu ßreicheln. Gr hörte bie Xante nebenan mit 
bem Xifchler reben, unb nach einer UJeile traten beibe gu 
ihm herein. 

„Jla, je£t brauchß bu bis gum Begräbnis nicht gu arbei» 
ten", fagte ber,Xifchler, fchwieg ein wenig, betete, gog bann 
lautlos einen 3ollßocf aus ber Jlocftafche, nahm ber Srau 
Stieofärgler bas JTlaß gum Sarge unb entfernte fich. 


212 


„Jltutfer, [ollß bu toirflicf) in einen Sorg?" bacf>te 
fluguß, „unb frembe £eute [ollen lf>n bir machen? Bloß 
wir oerflef)en jo gu frfjni^en. Oos DJerf ihrer fremben 
ipänbe wirb btcf) gubecfen gang unb gar, baß nichts gu 
fef)en bleibt? Oos BJerf ihrer ^änbe wirb bicf) mir weg* 
nehmen? BJo ich bir felbß bie Bretter [ägen fönnte?" 

„Aber bie £eut’ gum Begräbnis eintaben mußt bu", 
unterbrach bie Xante [eine Betrachtungen. „Donnerstag 
vormittag iß es." 

BJie, er [ollte bie fremben £eute holen, bamit [ie ihm 
bie JTCutter wegnähmen im Sarg aus frembem Jjjolg von 
feinbticher Jfjanb? 6r [chiittelte beßimmt ben Äopf. 

„fluguß," fuhr bie Xante fort, „[oll ich vielleicht im 
Dorfe umherrennen, unb ber junge £ümmel fijjt gu 
£aufe?" 

fluguß fchwieg. 

Als [ie in ber Xür war, [chluchgte ihr fluguß mit röcheln» 
ber Stimme nach: 

„3TTuß [ie benn in einen Sarg?" 

„BJas benn [onß?" 

„JRuß benn einer aufs Begräbnis fommen?" 

Die Xante erwiberte: „Du biß bo«h wohl nicht recht ge» 
[cheif. BJerben wir [ie benn verfcf>arren wie einen frepier* 
ten Jrjuttb?" 

„IlJarum mü[[en ße benn babei [ein?" fragte fluguß. 

„Blich möchteß bu wohl am liebßen auch hier loffen unb 
gang allein folgen? — £aß hoch uns anbere gehen unb bleib’ 
b u hier, bann biß bu uns ja los." 

3Ttit biefen UJorten war [ie hinaus. 

fluguß blieb gurttcf, er überließ [ich fhmbenlang [einer 
Xrauer. Sie war gerreißenb unb hoch bumpf, voll wühlen* 
ber Gebanfen unb bo<h gebanfenmübe. Schließlich er[chien 
bie Xante unb rief giemlich gütig: 

„Cffen!" 

Cr folgte nicht. 

Sie brachte ihm bie Scf>ü[[et herein, [e^te [ie neben ihre 
auf einen Stuhl unb fagte beinahe bittenb: „3ß!" 


213 


©a ergriff er ben £8ffel unb führte ifjn gum JTtunbe, 
aber jeber Blitf gehörte ber Jltutter. Berfcfjüttefe Suppe 
nefcte bas Bett ber Toten. 

Oie Tante trug bie leere Scf)üffel hinaus unb fam mit 
einem rotbunten Bett wieber, bas fie an Stelle bes wei« 
(Sen über bie Tote breitete, Hugu(l faf) ifjr (iarr gu unb 
meinte bann leife unb fle^enb: „IBarum trägfi bu if)r bas 
Seiertagsbett f)inaus?" 

„HJarum f>a(l bu es befüjmu&t?" 

„Sie nimmt es bocf) gang gewiß nicfjt Übel, Tante/' 

„Jtein, wentTfie tot ifi — wie foll fie wof>l." Sie feufgte. 

„£a(S es bocf) ba", fagte er gebroden unb breitete ifjr 
hilflos bie Arme nadf). 

„Aber, Muguft, fief> bocf>, wie es ausfiefjt", tröflete fie 
unb war hinaus. 

„Aber i <f> f>abe es i(>r bocf) begogen, Tante, irf) f)abe 
es —'* 

Sie borgte flüchtig gurücf. „IBas?" 

„Saß es if)r bocf)/' 

Sie murmelte etwas oon: erfl trorfnen. 

Oer .Knabe fenfte feinen bitfen Äopf in bas rotbunte 
Bett unb oerfjarrte in quätigem ^inbrüten, bis bie Tante 
if>n aufflörte: 

„Jtun gef) gu ben Jtacfjbarn." 

6r wor (Hll. 

„Cs ift bocf) Seit." 

„Xöarum follen fie mir bie JTtutter roegnebmen?" Oa« 
bei Mang ein wlnfelnbes, tierfjaftes BJeinen hinter feinen 
gefcfüoffenen 3äf)nen fjeroor. 

„Xtm Gottes willen, Augufl!" wimmerte bie Tante, if)n 
rüttelnb. 

er faf> fie f>ei(J an. 

Sie (trief) ifjm nun naef) ber IBeife ber Jltutter burcf) bas 
j?aar, rebete oiele JBorte, woraus er nichts befielt, brachte 
if>m fd)ließlicf) bie Scfjirmmüfce unb bie Aropfftiefel, 
(«dürfte ifjm nochmals ein, was er ausguridjten f)ätte, unb 
fefiob if>n pefilicf) fanft gur Tür hinaus. Beim näcf)ften 
3?aufe breite er um unb fragte: 


214 


„ 22 ? a 8 foll tcf) fagen?'' 

Dann oerfchtoanb er richtig ln ber Tür eines Jtachbar» 
Kaufes. 

Er vollbrachte ben Jlunbgang. Als er jurürffam, toar er 
jerbrochen oon Gefühlen tiefer Demütigung. So toar er 
Senn oon Tür ju Tür getoanbert toie einer, ber jum Bet« 
teln gejooungen toirb. ÖJie er innerlich bie rings oernom« 
menen, nur halb gehörten unb fchon halb bergeffenen 
HJorte blutig untereinanber rührte! Jtur bie eine üufSe» 
rung, bafi man fich toerbe beeilen müffen, um oom Jahr» 
marfte re<htjeitig jum Begräbnis heim ju fein, hatte ihn 
mehr als anbere gequält. Als ertoiefe man feiner JHutter 
eine 6 nabe, xoenn man bie 22 ?ürfe(buben bes IHarftes ein« 
mal oerfäumte! Er aber, er hatte mit biefem Gange feine 
JHutter im Stich gelaffen: Jebe Einlabung toar eine neue 
Jtränfang für fie. Aus beiben Augen, bem fehenben toie 
bem btinben, fielen Tränen, als er toieber an ben ßetcf)» 
nam trat. 

Die JHutter toar in feiner Abtoefenheif getoafchen unb 
aufgebahrt toorben. Sie erfchien ihm heiliger. Ettoas tote 
Turcfjt 30 g fein ^erj einen Augenblick jufammen. Das ifl 
bie Berührung mit ben anberen! ging es ihm bur<hs Jpirn. 
Er rührte mit brei Singern leife an bie Jpäfelei bes Sterbe* 
Heibes, fniete nieber unb betete. Dann fafS er auf allen 
Stühlen ber Stube herum, ging hin unb toieber, toiegte 
feinen großen Äopf in fchmer 3 tichen Gebanfen unb flrei* 
chelte ber JHutter bie Äinnfpi^e, manchmal fafl reibenb. 

Als er fich fpät nachts nieberlegte, begriff er nicht mehr, 
toie er bie fremben £eute hatte einlaben fönnen, ihm feine 
JHutter toeg 3 unehmen. 

Am anberen JHorgen brachte er einen Armvoll S°lj 
oom Boben, fu<hte fein neues Schnihmeffer hervor, rücfte 
einen Schemel an bie Bahre unb formte einen ^ofglöffel. 
Die Tante erfunbigte fich flaunenb nach Öem 3toed biefes 
Beginnens. Er müffe hoch ettoas tun. Aber jefjt? fragte 
bie Tante toeiter. Jlun Ja, es fei ihm gerabe eingefallen. 
Sie fammelte ^> 0(3 unb Spähne 3 ufammen unb toollte fie 



htnausnehmen. Stein, fie rnüffe ihn (affen. — Jüarum 
nur? — 

„Übermorgen ifl 3ahrmarft", preßte er gewaltfam her» 
oor. 

,,©u willft bo<h nicht etwa am Begräbnistage behter 
JTtutter auf ben 3af)rmarft?" 

Stein, baran hotte er ernfHicf) nicht gebacht/ nur bie Ar» 
beit, bie eine oerfchömte Bermittlerin feiner fchönfien Ge* 
fühle gewefen war, noch einmal an ber Seite ber ihm €nt» 
riffenen oerrichten wollen, hoch hotte ih m ber Sltarft un* 
befiimmt oorgefchtoebt bie gange fdjlaffofe Stacht hinburch, 
fo baß er ftd) feiner gur Ausflucht bebiente. Allein bie 
Srage ber Xante erfchien ihm als rohe unb unoerantwort* 
liehe Bergewaltigung feines 3nnern, unb wie eine Abwehr 
ber gangen BJelt, beren Belüftung er fich nicht entringen 
tonnte, entfuhr ihm bie Antwort: 

„jawohl, ich werbe hin!" 

„Pfui! — fo etwas nur gu reben", warf ihm bie Xante 
oon ber Seite ins 6eficf)f unb fammelte ben «Reft bes $?olges 
heftig ein. 

Augufl fließ ihr bie Bürbe aus bem Arm unb flanb 
breitbeinig, mit gefalteten Jrjänben unb fratjenfehneiben* 
bem JTtunbe oor ihr. 

Sie rief oerhalten: „BJarte!" unb fchlug bie Xür gu. 
Sie fürchtete fich ober. 

Er fchichtete bas Jrjolg auf ben Schemel unb fchob ben 
Jliegel ber Xür ins Schloß. Als bie Xante aufmachen 
wollte, oerhielt er fich flül. 6r tat bie 3eit über nichts, fon* 
bem laufchte, ängflete fich unb trieb in beflemmenbem 
3wange eine traurige £erbe fhtmpfer Blicfe über bas Ge* 
ficht ber JTtutter. Auch einem gweiten Jlütteln an ber Xür 
öffnete er nicht. Gegen Abenb oernahm er nochmals 
Schritte, unb wie er an ben Stimmen ernannte, flanb nun 
bie Xante mit bem Xifchler braußen. Sie probierten ben 
©rüder, Augufl flürgte an bie Bahre ber JTtutter unb fchrie 
laut oor 3om. ©ie beiben im Slur flüflerten unb brumm» 
ten, beoor fie fich entfernten. Sie wußten wohl mit bem 
-Knaben unb feinem Gemütsguflanbe nichts gu beginnen. 


216 


Augufl war beruhigt. £r (egte ficf) feine Arbeit bequem 
nuf öen Schoß, nachöem er öie Campe angefietft batte, 
fcf>nitt öen holbferßgen Söffet gu 6nÖe unö bettete ihn 
»ei d) auf öie Bruß öer JTlutter. AnÖere Älöbcfjen fcfjienen 
ihm gu Quirlen geeignet/ unö beim Schlage gehn (agen 
fünf Stücf fauber neben öem Söffet unö beöecf ten öie JTiut» 
ter bis an öen jpals. Jtocf) ein fcfjon beinahe oollenöetes 
Ecfbrett für Öie Äüche, öas gum Ginßetfen oon mancherlei 
Gerätßielen öurchlöchert war, befcfmipfelte er hier unö öort 
unö fenfte auch Öiefea flüchtig (ächelnö öer JRutter ans 
S?tr%. ©a es jeöoch einen ziemlichen Ctnörucf in öas Toten« 
tuch machte, überlegte er fich, öie ©inge allefamt feien gu 
fchtoer, unö pachte fie befjutfam auf Öen Gröboöen in Öie 
Jlähe Öes Ofens. JTur einen Keinen Söffet neßelte er öer 
Toten unter öie $üße. 

£r hoffte, ohne es fich öeutßch gu Bewußtfein gu führen, 
öie Tante werbe feine Arbeit am nächßen JTlorgen per* 
brennen, ihm öamit gwar einen Keinen Scfjmerg bereiten, 
jeöoch auch ®om $ortmühen unö öer unfeßgen Qual Öer 
Jriarftgeöanfen erlöfen. 6r blieb lange im Bett, ihr 3eit 
gu (affen. Als er aus feiner .Kammer heroorfam, (ag noch 
a((es wie pertaffen, öas UollenÖete, öas JTCaterial unö 
DJerfgeug, öie Späne. 

©ie Stauer öes Geöanfens, öaß öie große Gruppe öer 
ihm Seinößchen mit ihrem J?otge gu Grabe gog unö er 
mit Öem feinen gu JTtarfte, gewannen im Caufe öes Tages 
eine magifche Gewatt über ihn. Jlahmen fie öen £eib öer 
JItutter mit, fo begteitete ihn ihre Seele. So Küge(te er es 
fich, wenn auch nicht öeutßch, h erau9 , unö erbachte fich 
JHärchen pon £eib unö Seele, wie er öiefe Begriffe: „£rfb" 
unö „Seele" in Öer Schute aufgefaßt hotte. 

Die fotgenöe 3Tacf)t war noch wirrer als öie jüngfhter* 
gangene. ©ie Träume waren fchrecfßch: feine JTtutter, eine 
JUefin, würgte ihn, unö er fchlug fie. 

Gegen JHorgengrauen flanö er leife auf, gog Öen Äar» 
ren aus öem Schuppen, beluö ihn, machte fich reifefertig, 
warf Öer eingigen Äuh eine neue Streu unter, lief gwifchen* 
ein gur JTlutter, horchte auf öer fchlafenöen Tante Atem* 


217 


güge unb wußte bei altem nur falb, bafi es feine Süße 
waren, welche bie Erbe traten, unb feine ^jänbe, welche bie 
Türen aufmalten. 6s war noch faum grau braußen, fo 
war er oorgefahren, trat nochmals fchnett gur JTtutter, 
gab ihr einen Äuß auf bie Stirn unb ging bann. 

6r fcf)tug in ber Stabt fein 3elt auf. Die Bubenbepger 
wunberten ficf) über ben .Knaben, ber bebachtfam, ohne 
aufgufchauen, bie Stangen gufammenfegte unb fie an 
ben Stetten, wo tf)m bie JTtutter Serben gegeigt fatt e, 
untereinanber mit Striefen befeßtgte. 6r (am gußanbe unb 
fegte fitf) brinnen im 3elt auf feinen Äüchenßuht. Sangfam 
flieg bas Sonnenlicht tjerab auf bas graue Steinpflaßer 
innerhalb feiner £einewanb. Die Quirle waren über fei* 
nem stopfe angebracht, leuchteten mattweiß unb waren 
wie Sterne am IBeihnachtsbaum. Aber bie JItitchbretter 
hatte er hinter fich flrahtenförmig oereinigt: fie waren lang 
unb gr ß unb wie eine Sonne, bie aus bem Äalenber in 
bie IBirfüchfeit gefegt ifl. Auguß fah unter feine Jahre 
jung aus, wie er gwißhen feinen DJaren fchweigenb auf bie 
Käufer wartete, fchon flunbentang. Je länger fie ausblie« 
ben, beflo ßhlimmer (itt er oor llngebutb. ltnb bie innere 
Quat oerharrte wie ein totes JTTeer. 

Auf bem Tonbanfbrett oor ihm flanben ln ausgerich* 
teter Jleihe, eins bicf)t neben bem anbern, gehn jener fiel* 
fen Pferbchen. Auf ihnen ritten begehrlich bie Bticfe oor* 
beiwanbernber Knaben unb JTTäbchen. Augufl bemerkte es 
wohl. 6r beugte fich f<htießtich mit einmal über bie 
Schranfe, faßte ein rotjärfiges, fchorargäugiges Äinb im 
Alter oon etwa oier Jahren unb gab ihm ein Pferb mit 
ber Bemerfung: bas fcfjenfe ich bir. Das Mang wie ein 
gugerauntes, oerMärtes Geheimnis. Sie nahm bas Pferb* 
böefthen gögernb, flanb (litt, fah ihn ein XBettchen an unb 
fnifte bann tief. Aus einer Entfernung oon fünf Schritten, 
mitten auf bie Straße wie gebannt, mußerte fie ihn bann 
noch lange, währenb ber JTtenf<henf<hub an ihr oorüber* 
brängette. Auguß empfanb burch bas weggegebene 6e* 
fchenf eine füße Befchwerung feiner Seele. Das würbe bie 
JTtutter toben, unb er faßte ptägtich nicht, wie ße heute 


218 


nicht neben ihm flehen fömtte, bicf)t neben ihm, f>ier ouf 
bem Steinpflafler, im bunfelbrounen «Korf unb blauen 
Schal. Cr ließ nach unb nach .Knaben unb JItäbcf>en auch 
bie übrigen Pferbe entgeitlos mitnebmen. 

£ange 3 eit fanb er feinen Käufer. JTian nahm wof)l an, 
ber .Knabe fei nur jur Aufficfjt jurürfgelaffen, berweil ficf> 
bie Ärämerfrau entfernt batte, wie er jo auch unaufmerf» 
fam mit niebergefcfjlagenem Blicfe unb bisweilen beweg* 
ten £ippen bafaß unb mit gefalteten 4 pönben wie ein ju* 
genblicfjer Tltöncb in feiner Cinfiebelei. 

Cr bebaute, baß bie IRutter leblos in ber Stube rufje 
unb bie Begräbnisleute ficf) oerfammelten. 

Sie Jßutter erwacbte mit einmal unb rief ihn. Sie £eute 
entfetten ficf). Sie achtete bes nicht, fonbern fab ficf) nur 
nach if>m um, unb weil er nicf)t ba war, legte fie ficf) wie» 
ber in ben Sarg unb 30g felber ben Sexfel auf ficf) nieber. 
Jüan orbnete ficf), als wäre nichts gefächen, unb 30g wirf« 
lief) 3um .Kirchhof« — ZBaren bie Glocfen atts bem Sorf 
nicht 3U hören? — 3 f>m würbe bange. Cr fcf>loß bie Augen 
unb wünfebte, alles möchte boeb nicf)t wahr fein, unb öff¬ 
nete bie £iber, ba trotteten bie JTIenfcben in ihren JTtänteln 
wie oorber, unb viele faben 3U ihm herein. 

Giner forberte enblicf) ein Äücbenbrett. Als Auguß bas 
Gelb einflecfte, fcbneu3te er ftcf> bie Jtafe unb weinte. Sie 
Aäufer faben’s unb meinten, er weine, weil er nichts tos 
werbe. Gin Anbrang entflanb oor feinem 3 elte. Jüan nahm 
ihm oiet ab unb (egte fogar öfter einige Pfennige Uber 
ben Preis bin* 6r reichte oerwirrt unb baßta mehrfach 
oerfebrte Singe, fchluchjte aus Beflommenfieit oor ber 
Sülle 3ubrängenber JT?enfcf)en auf unb hörte fchon Ber» 
mutungen über ficb unter ben Umflebenben tun. Gr be« 
meißerte ben S<f)mer3 nicht mehr. Gilig! eilig! brängte es 
in ihm. IBäre er bie Singe los! .Könnte er b«m! Ufas 
brauchte er überhaupt weiter 3U oerfaufen! BJ03U bie Sor» 
bernben befriebigen! Bur fcbnell fort! 

Gingen nicht bie Glocfen? — 3 °/ man läutete. 

Gr (ifpelte beim Berfau*en ratlos: ,, 3 'bt bommeln fle 
fchon!'* 


IBas if>m fei, fragten mehrere Stimmen. 

,,3cf) muß nacf) Jpaufe", fcfjlucfjjte er rauf), bie Olafe 
fcfjneugenb. „Sie bommeln ja f<f)on fo laut/* 

„Otun ja, es iß bocf) Donnerstagsanbacfjt." 

69 entlaub ein fragen burcfreinanber. Ein alter OTtann 
»erlangte nocf) einen Quirl. „Olein, nein," toefjrte er ent» 
fcfßeben ab, „irf> muß nacf) Jrjaufe." Eine $rau fucf)fe 
ifjn rüf>rfelig gu trößen, mußte aber in ein £a<f>en f)in» 
ausprußen. 

Er begann eilig fein Seit abgubrecfjen. Er wicfelte bas 
Segeltucf), bie Sparren unb bie übriggebliebenen BOaren 
toifb burcfjeinanber, wollte nur baoonfommen. üorfjer 
mußte er einem poügißen lang unb breit Olebe fielen; 
bas befcf>wicf>tigte if>n ein wenig. Dorf) bann faßte er ben 
Jrjanbwagen am Deicf)felfreug. — Er mußte nocf) einmal 
ablaben, weif bie Pfahle quer tagen unb bas Gefährt fo 
unmöglich burrf) bie bidftfgefülften Straßen gu (feuern war, 
aber auf ber Cf>auffee trabte er, baß if>m ber fitem ausfe^te 
unb er einen Sticf)frf)merj im llnterleibe befam. 

Dennocf), als er im Dorfe anfarn, war oon einem Bes 
gräbnis nichts mef>r gu fef>en, nur Matfcf)te nocf) ber Xoten» 
gröber auf bem Hircf>f)of ben frifcfjen IpUget gured)t. 
fluguß ging im Schritt, aus angenommenem Stolg gegen 
bie £eute, aber es würbe ein Siebenmeifenfcfjritt, benn er 
fdjämte ficf) oor allen Senßern unb fcfjraf auf, wenn fein 
DOagen über einen Stein raffelte. Dann glaubte er, jemanb 
fjielte if)n an unb wollte if)n prügeln; — er fjätte es guge» 
laffen, weil er es oerbient glaubte. 

3u $aufe war bie Stube leer. Er faf) Haßen unb Hißen 
an, als wäre bie OTtutter bort f)ineingefcf)loffen unb »er» 
funfen. Ein faber Gerucf) fom bisweilen auf. Die beiben 
Stühle, auf benen ber Sarg geruf)t fratte, ßanben nocf) 
mitten in ber Stube, fluguß legte ßrf) gwifcfjen if)nen auf 
bie Erbe unb ßöfrnte. 

Die Xante tat ben OTTunb ni(f)t auf, wanberte mit if>rer 
brotligen Xrauermiene f)in unb fcfjien bas frampfoolfe 
Hinn immer f)öf>er gu giefjen — balb fcfjnappte bie über* 
ßef>enbe Oberlippe gu unb fcfßucfte es in ben JTlunb. 


220 


fluguß fyatte baa Bebürfnis, ficf) irgenbwie oor tf)r gu recfjt* 
fertigen. BJie ober? Unbewußt tot er ea, inbem er ficf) 
obenba if>r gegenüber oor bie £ampe fefcte unb if)r fein 
(jeltbefcfjienenea Geficfjt barbot. 6r flarrte unabläffig, fie¬ 
berhaft ins £icf>t. Gleich auf ben Äirchhof gu gef>en, brachte 
er nicht fertig. Cr erroortete erfl nocf> ben Pfarrer, ber if)tn 
Borijoltungen machen würbe, ben £ef)rer, ben Xifcfüer, fo» 
oiele onbere, unb bann mürbe oucf) bie Xante gu reben 
beginnen, unb er würbe nicf)t einen Uerfucf) machen, ficf) 
gu oerteibigen. llnb bann! 

Jliemanb fam, nur bie JRutter, ein farbiges UJinbge» 
biibe, fcf)webte hinter if)nt. 

6r ging gu Bett, nocf> als überall im Dorf baa Sicht 
brannte. 

Gnblicf) f)örte er bie Xante in ihre Kammer geften. 

Äaum war bie Xür ins Schloß gefrf>nappt, fo fprang er 
auf. BJie geißesabwefenb rif} er bie Stiefel fjinter ber 
Spinbfrone f>eroor, herunter, unb gog fie über bie Süße. 
6a waren bie Äropfßiefel. Oie anberen, bie er taga an ben 
Süßen gehabt, ßanben unter bem Bett. 6r f>atte ficf) gar 
nicht angufleiben beabficf)tigt, fonbern nur bas Scf)ni£mef» 
fer aus bem Spinbe fjerausgreifen wollen, aber in Ge» 
banfen an bas gweite Gefcfjenf ber JTtutter bas erfle ge» 
pacft. Oocf) befann er ficf), gog bas Jlteffer aus bem Sutte» 
ral, fcf>ritt gittemb ans Senßer, f>ob ben linfen flrm, macfjte 
eine gurürfgeßemmte Sauft unb fucfjte nacf) ber Pulsaber. 
Oas JTleffer war oöllig fcfjmarg in ber flemlofen Itacftf. 

fluguft ftanb unb ftanb. Oie Stiefel f>atten if>n er werft; 
fie ließen if>n forgen, beim Gef>en nicht gu poltern — eine 
nafje, irbifche Sorge. Xlnb bas Jlteffer rettete if)n oom Xobe. 
Oer JTtutter Gaben brachten if)m linbernbe Sgenen bes £e* 
bens gurürf, unb allgemarf) oerbreitete ficf) in if)nt eine füße 
JBefjmut. 6r taßete ficf) auf 3ef)enfpitjen bis gum Bett, fehle 
ficf) auf ben Jlanb unb fpielte mit bem Sutteral bes Jltef» 
fers. Beim Grwacf>en am näcf>ßen JTTorgen lagen Stiefel 
unb JReffer oor if>m in ber Sonne — gum gweitenmal Ge» 
fcfjenfe feiner JTtutter. 


221 


Biele Qafrre fjtnburcf) arbeitete er nun weiter, an groben 
Xifcfjen unb Särgen wie am Äleittgeug, unb bie XDeth» 
nacfjtsfichte betrachtete er mit bem Gebanfen, baß ihre 
Seele beibes berge. Sein innerer 3wiefpalt im HJeltemp« 
finben hat ficf> immer mehr jugetan, fo baß er einmal wirf» 
lieh ben fcherjhaften Berfuch machte, einen Sarg unb einen 
£öffel aus bemfelben Stamme ju fefjaffen unb foleher» 
maßen bas hölzerne Grabgut ber JRutter ju oereinigen. 

Schließlich erjählten bie £eute oon einer frohen unb tap» 
feren Gewohnheit bes alten Schreinermeißers Auguß 
Stieofärjler: Qeber Sarg feiner Arbeit mußte ihm ein paar 
Abfälle für Äinberfpieljeug ausliefern/ unb oon jeber 
XCJiege oerwahrte er bie Jpobel* unb Sägefpäne, um fie 
ins Äopffiffen eines Xotenfch reines ju fchütten Jlülb, nah 
unb fcf)ön wie inniges Spiel lagen £ebens Anfang unb 
Gnbe oor feinen Augen. 


323 


tftcißarfec 

BonAlbrechtSchaeffer 


hrifiacfer hieß ein IRenfcf). Er mar um bie 3eit un* 
\£/ ferer Gef<f)icf)te ungefähr ferfjjig 3aljre alt, unb fein 
Harne toar nicf)t eigentlich Chriflacfer, fonbem etwas an» 
bers. Aber weil er ihn fpäter mit Erlaubnis ber Dbrigfeit 
oeränberte, benn ber ursprüngliche Harne war nicht eben 
fchön, fo fei er auch beswegen mit biefer lebten Sorm feines 
Hamens genannt. 

Diefer Chriflacfer flanb in einem öffentlichen Dienß. Er 
hatte ben Xitel eines «Rates, obwohl feine Arbeit weniger 
barin beflanb, jemanbem ober etwas ju raten/ als in 
lauter burchaus nicht rätfelhaften unb feßgelegten Dingen: 
Sehreiben, ^Rechnen, Drbnen oon 3af)len ober Papieren 
ober Aften, was nicht näher befchrieben ;u werben braucht, 
hiermit oerbrachte er bie meiße 3eit feines Xages, fogar 
mehr baoon als unbebingt nötig war; benn er h«tte fein 
3 uhaufe als fi<h felbft, unb bas war ;u bürftig, um fich ba» 
nach ju fehnen, wie man balb fehn wirb: weshalb er tag» 
lieh auch noch ein mehr ober minber großes Stücf feiner 
Sreijeit in bem oertrauten Dun ft feiner Schreibßube, über 
feinem Stehpult am Jenßer oerbrachte. Dies ßanb Ubri» 
gens oom Xenßer aus (infs, fo baß er, ba man fich beim 
Schreiben mehr nach (infs als nach rechts ju wenben pflegt, 
feiten einen BUcf hinaustat; wo benn freilich auch nicht oiet 
mehr 3 U fefjen gewefen wäre als bas Sicht. 

Xtnfere Gefrf>tcf)te beginnt mit bem Augenbticf, wo Chrift» 
aefer beim morgenbliäjen ^erantreten an fein Pult ein 
Blatt barauf fanb, bas eine etwas ungewöhnliche Heuig» 
feit enthielt. Es war nämlich eine Anweifung oom Jltini» 
ßerium felbß, bie unter Einbeulung auf geonffe gefell» 
fchaftliche Beränberungen ber 3eit ben öffentlichen Beam* 


223 



ten im Derfef>r mit bem JJubliPum eine bisher nicfjt üfaücfje 
3uoorPommenheit gur Pflicht machte. Als Chrißacfer biea 
(ad/ bemerPte er, beffen 6etoof;nheit es fonß toor, nichts gu 
bemerfen, baß bie fein3imnter teilenden Schreiber hinter 
feinem «Rücfen, obmohl er fie got nicht fehen Ponnfe, mit 
ihren Sehern innehielten unb ihn beobachteten. Cr los in» 
folgebeffen bie Anmenbung breimal unb fonnte ße aus» 
menbig, allein/ mie alles, roas er machte/ nur mit bem 
IJerßanb: in feinem toefentlichen Qnnern hotte er bef<h(of» 
fen, Peine Kenntnis baoon gu nehmen. Aber, bies mufi 
angegeben »erben, er mar ßch nicht etma befonberer litt» 
höflichfeit ober gar Grobheit in feinem Benehmen gegen 
anbere bemußt; er mar, mie er mar, unb bachte niemals 
baräber nach. 

öies mar am Samstag, Am Sonntagnachmittag gog 
er bie bem läge entfprechenbe «Kletbung an unb ging — 
ba es fchönes BJetter mar, nur mit 4put unb StocP burch 
bie Stabt, in beren älterem StabtteU er oier Xreppen eines 
alten Kaufes erPIetterte, um fchließlich, bunhaus nicht 
atemlos, an einer Tür gu Kingein, bie ein reinliches JTtäb* 
chen ihm auftat. 6(eich barauf ßanb er in einem altmobifch 
eingerichteten, oon ber 3Tacf)mittagsfonne erfüllten 3im* 
mer unb begrüßte eine ihm gleichaltrige alte Dame, bte in 
Senßerfonne unb farbigen Blumenßöcfen mit einer ruhb 
gen SreunblichPeit faß unb feine Begrüßung facht ermi» 
berte. 

Oies mar bie Schmefier eines großen Aßronomen, bef* 
fen £eben unb Arbeit fie als fleißige Gefährtin geteilt, ber 
fte aber vor einem Gahrgefjnt oerlaffen unb in einer etmas 
ratlofen CinfamPeit, meil XlntätigPeit gurücfgelaffen hotte. 
Doch blieb ße in einem Iebenbigen, nicht nur fchriftlichen, 
fonbern auch perfönlichen BerPehr mit vielerlei JTlenfchen, 
gelehrten unb ungelehrten, bie fie oerehrten; unb an ben 
Sonntagnachmittagen oerfammelten fleh manche baoon, 
jung unb alt, um ihre nicht alternben Augen unb mitunter 
fo viele, baß man ftch ojunbern Ponnte, mie Chrißacfer es 
unter ihnen aushielt. Cs läßt ßch auch nicht begrünben, 
allein er mar ba; benn bie alte Srau mar eine Qugenb» 


224 


freundin oon ihm und möglich ermeife der einzige noch 
flimmernde llberrefl ous lebendigeren Tagen. 6r hatte 
einen Sil), bequem genug, in einer 6cfe des 3immers, auf 
dem er gemeinhin flillfaß, fobald Gäfle erfchienen, und 
den niemand ihm flreitig machte. Übrigens fam er immer 
fo früh, daß er die Treundin eine DJeile für fi<h allein batte, 
wobei er freilief) wenig gu ihrem Gefpräch beitrug, fondern 
nur mit einer feltenen Äußerung des Beßätigens ihrem 
bunten 6rgäf)len oon £rmachfenen und hindern, Runden 
und ©ienflboten, wiffenfrfjaftltcfjen und andern Jteuig» 
feiten guhörte. BJenn irgend jemand die Alte fragte, war» 
um fie den Griesgram in ihrer Jtäf>e ertrage, antwortete 
lie in ihrer unwiderfprechlichen Sacfjtfjett, fie fenne if>n nur 
als geduldig und teilnehmend, und was er fonfl etwa 
treibe, gehe fie gar nichts an. 

An diefem Sonntag fand Chrißacfer bereits einen Gaß 
oor; und gwar nicht nur dies, fondern einen gang fremden, 
und gwar obendrein auf dem ihm hö<hß eigenen Si£; und 
fd)ließli$ war es nicht einmal eine menfehliche, fondern 
eine Tiergeßalt, nämlich ein ungewöhnlich großer grauer 
£ater, der fleh auf dem Si^ftffen ausgeßreeft hatte. 3<h 
weifi nicht, ob Chrißacfer ihn f<hön fand; aber er hatte die 
gange nur oerfleinerte Jttajeßät eines gelagerten Tigers 
und war überdies unter der .Kehle und der Schwangmurgel 
mit je einem weißen Tlecfen oergiert. Chrißacfer, in gögem» 
dem Jlähertreten, fagte: „XBas ifl denn das?" DieTreun* 
din überhörte die eigentliche Albernheit diefer Trage und 
beantwortete fl« mit der fachlichen Grftärung, es fei ein 
finnifcher .Kater; fein hiefiger hätte diefes tiefe und weiche 
Grau, noch auch ö*efe Größe. Chrißacfer, je£t oor dem 
Tremdling flehend, beugte flcf) über ihn und bemerfte nach 
einer JUeile: „6r flinft." Die Treundin antwortete nichts, 
und nach einem Schweigen fuhr Chriflacfer fort: „6r ߣt 
auf meinem Stuhl." 

„3age ihn weg", befahl die Trau. 

Chriflacfer uderte, denn es war ihm peinlich, oielleuht 
nicht nur ein Tier, fondern überhaupt etwas £ebendiges gu 
berühren. IDeil aber das Tier durchaus feine JTXiene 

225 


15 $te beutfd&e S&obeBe. 



machte, ßcb etwa oon Chrißacfers Bticf weggaubern gu la|« 
fen, beförderte er es mit einem plötzlichen Aufwallen ber 
llngebulb unb mit einer Art Hieb feiner oollen 4panb gegen 
bas Hinterteil Ijolb frfjiebenb oom Stuhl herunter. Oer 
Äoter flog gegen ein Xifch<hen, oon bem Xifrf)rf)en flog et« 
was 3erbrerf)licf)e8; ber .Kater quietfcfjte, unb bie alte Oame 
blicfte mißbilligend über if>re Brille hinweg. Chrißacfer 
jebocf) fe£te ftcf); bie Sreunbin begann nach wenigen Augen« 
blicfen unbeeinflußt bas gewohnte Gefpräcf). Als fpäterhin 
6äfle gekommen waren, als man um ben runben Xifrf) 
faß unb Xee tranf, bemerfte Chrißacfer mit großem TTtiß« 
fallen bie allgemeine Anerkennung unb 3uneigung, bie bas 
Xier ftcf) erfrf)lirf), nur oermittels feines Borbanbenfeins. 
6s würbe oon jebermann gefüttert unb geßreichelt, aus« 
genommen natürlich oon Chrißacfer, ber fiel) oielmehr ge» 
wiffermaßen etwas barauf jugute tat, baß ber Aufbring« 
li<f>e ßcf) an jebermann heranmachte, außer an it>n- piö£« 
(ich aber batte er ein frf)were9, wenn auch weiches Gewicht 
auf feinem Schoß unb erfannte erßaunt ben .Kater, ber 
auch bereits über ben Xellerranb oor ihm mit Heiner 3unge 
hinweglangte. 

Oiefe Bertraufichfeit eines erflärten Sreinbes war fo un* 
oerfchämt, fo unüberßeigßch, baß ße Chrißacfers BJib be« 
täubte, er ben Beleibiger bei ber &ef)le paefte, aber auch 
ßhon auffchrie unter einem brennenben JUß über feiner 
Hanb. Gr aber faßte bo«h fräftiger gu, trug auffpringenb 
bie Beßie gum offenen Jenßer unb ßhleuberte ße hinaus. 

Alles fchrie auf, unb gwei Äinber, bie am Xifrf) nicht 
Plah batten unb auf einem Stuhl jufammen faßen wie 
ein ßameßßher 3wi(ling, umfchlungen unb rechts unb 
linfs ein Bein feitwärts aufgeßeflt, riffen atiseinanber unb 
ßürgten, gum Senßer bas eine, bas anbere gur Xür. Chriß» 
aefer, feltfam mit etwas niemals Gmpfunbenem über» 
goffen, beugte ßch über bas Äinb hinaus unb fah in ber 
Xiefe ber Straße unten bie Äa£e gang ßUl, aber, fooiel aus 
ber Höhe frfßen, ߣenb. llnb im nächßen Augenblick war 
ße oerßhwunben. Chrißacfer wanbte ßch langfam gegen 
oiele empörte Augen um, bie jeboch auswichen, als ihre 


226 


Blirfe ftrf) mit Cbrißarfers freujten. 69 mar ßifl. Aber nach 
einer ZBeile rourbe bas Geräufcf) ber B?obnungstür hörbar, 
bie Stritte bes «Ktnbes tappten, allein beoor es felbß 
bar mürbe, fab Cbrißarfer burrf) bie Xürfpalte einen grauen 
Schatten beranftbleieben, ber aber unter allerlei JHöbeln 
bintoeg an ber IBanb unter bas große Sofa oerfthroanb. 
Die toeiblicben Anmefenben fielen auf bie Änie, um ibn 
beroorjulorfen. UJäbrenb ber allgemeinen Bermirrung 
oerfcbtoanb Cbrifiacfer. 3m Treppenhaus, too er mabr* 
nahm, baß er gitterte, unb um feine brennenbe, aber faunt 
blutenbe Jrjanb fein Xafcbentucb mirfelte, erftbien ihm bas 
Tier toieber, oon oben gefeben, in ber Tiefe ߣenb; unb 
Cbrißarfer fcbnob mit einer gemiffen Hochachtung ein 
Sachen: Sie fallen immer auf ihre Biere. 

Bon ben nächßen Tagen iß nichts ju erzählen, außer 
baß am Donnerstag ber BJocbe ein Cbrißarfer, fooiet 
er mußte, ganj unbefannte9 Sthulftnb auf ihn §ulief — 
es mar aber bie eine Själ fte bes 3mittings —, ihm bie 
3unge herausßrerfte unb rief: „ütfth, bie Äa£e iß mieber 
gefunb! Sie iß ganj mieber gefunb!" IBorauf es umbrehte 
unb baoontief mit fpringenbem Tornißer unb fliegenben 
Haarjöpfen. Cbrißarfer, nicht ganj erflärlichermeife, er« 
innerte ßch in ber nächßen Sefunbe an ben Geßchtsaus* 
brurf ber ^ugenbfreunbin in Jenem Augenblirf, mo er fith 
nach ber Hinrichtung bes «Raters oom Senßer roeg um* 
manbte; einen bei unoeränbertem Geßcf)t eigentlich leeren, 
aber brobenben Ausbrurf, burch ben, mie aus ben Augen« 
Öffnungen einer Jltasfe, Augen auf ihn bßrften, bie breißig 
unb mehr 3°& re jünger maren; gefaben, mie man eine 
BJaffe gefaben fühlt, mit Erinnerung an ein ganj ähn« 
Hches Gefchehen. Aber Cbrißarfer ließ es nur aufbtinfen 
unb fchloß oor ihm ben Blirf. 

BJas gefthah am fommenben Sonntag? Cbrißarfer be« 
trat bas befannte 3immer, man Öarf vielleicht fagen mit 
etmas befchleunigtem puls. Das erße, mas er fab, mar 
ber «Kater, ber mitten auf ber leeren Stäche bes Teppichs 
ßanb, augenbtirfs jebotb megfprang, fehtnbenfang mie 
tollgemorben im 3immer umherjagte unb plöblith mit 


IS» 


227 


fchmetternbem Älirren burcf) eine Senflerfcf)etbe ins Sreie 
fcf>oß. Cfjrißacfer ßanb bas $erg, unb feine Augen oer* 
öunfelten ficf). 6r umfite nicht, wie lange er (lanb, aber 
öanacf) machte er fefjrt unb oerliefi 3immer unb ijaus. 
Auf ber Xreppe begegnete ihm niemanb, unb auch unten 
mar niemanb gu fef>en. 

eine plöhücf) geißesfranf geworbene ober felbflmörbe» 
rifcfje Äa£e iß, gurnal *° e nn 3rrßnn ober Selbßmorb in 
einer, obfcfjon nicht anguerfennenben Begiehung gu einem 
fleljt, eine fiörenbe Sache; unb wenn Chrißacfer ihrer, als 
er fchlaflos im Bette lag, auch gerabe nicht bachte, fo bachte 
er anbere Ginge, bie fchlaflos machen fömten. Gie Äam» 
mer, in ber er lag, war faum halb fo breit wie lang, war 
fahl, «nb fein furges Bett — er fcf)licf aus Sparfamfeit 
noch in bem Änabenbett, in bem er ßebgehnjäfmg beim 
Tobe feiner JAutter fcfjlicf — flanb in ihrer hinteren ^älfte, 
fo bafB er im Siegen über bas Smfienbe hinweg gegen bas 
(leine hochßhenbe Jenßer fah. Cr war hoch nun eben im 
Ginbämmern, als ein (ühier Jpaucf) ihn bie Augen wieber 
auffchlagen liefi, unb er erfannte, baß bas Senfler fleh nüt 
beiben Slügeln geöffnet hotte. 6s war nichts ltngewöhn» 
liches baran, wenn er tatfächlich unterlaffen hotte, es gu 
oerriegeln, unb ber UJinb es aufgebrüc(t hotte. Aber es 
war (ein HJinb, unb er erinnerte fich nicht, ben Jliegel 
oergeffen gu hoben; unb als hätte er im Augenblicf bes 
Siberhebens noch gefehen, wie bie Slügel fleh fonft in ber 
JTlitte teilten unb nach innen brehten, fo hotte er bie nicht 
geheure Borflellung einer großen unb gebieterifchen j?anb, 
bie bas Senfler gegen ihn aufßhlug wie ein Bucf>, Cr lag 
eine HJeüe noch ßill auf bem Jiücfen, oor Augen bas bleich 
erhellte Bierecf im Gunfel; fdßoß bie Augen wieber, ba er 
aufflehn wollte, wie man mitunter in bem Augenblicf einer 
Bewegung, bie man machen muß, oielmehr bie anbere 
macht, bie man im gleichen Augenblicf machen möchte, 
llnb als er fie wieber öffnete, war bas bleiche Quabrat 
faß ungefüllt oon bem fchwargen Schattenriß, bes Katers. 

Chrißacfers Jperg ßanb mit einem fchlagenben Jlucf ooll» 
tommen ßill, als wäre ein B(i£ burchgefahren, aber ein 


32$ 


fcbmarger. £r rang lange nach Atem, f;örte fein Df)r ooll 
oon Saufen, bann tangfam frfjmere ^>erjfrf)läge, ein Aus* 
fe0en unb plö^ftcf) babütßürgenbes Srfrfctgen. Still faß bas 
Tier. llnb bann brach an Cbriftatfers Schläfen ber Srf)meiß 
aus; er fcbtoß bie Augen. 

3m Dunfel, ba nichts mef>r (tcbtbar mar, fämpfte (ich 
C^riflarfer gu bem Befrfjluß burrf), es fei eine jpaltugination 
gemefen. Aber er öffnete tro^bem bie Augen ungegähtte 
JTlinufen lang nicht, um ber Halluzination genügenb 3eit 
gu taffen, ftch gu entfernen. Als er frf>tießtich ben Bticf auf 
bas Sen ft er magte, mar es in ber Tat leer, vernahm er 
aber gugteich einen teifen unb leisten Salt unb tourte, ba 9 
Tier mar im «Kaum, ihm burrf) fein Bett oerborgen. €r 
blieb (litt, jeborf) über feinen gangen Körper hin mar feine 
Jpaut in Bemegung, ats ob fit in mingigen Tieren tebenbig 
mürbe, um fortgutaufen. Jrjörbar mar nichts ats bas 
Df)renraufrf)en. Plä^ticf) mußte er fein öe(irf)t auf bie 
Seite menben unb neben feiner Bettffatt f)inunterfef)n; 
unb ba flanb bas Tier. Stanb, f (bäuerlich groß, ben dürfen 
gemötbt, ebenfo ben Srfjmang, unb ben .Kopf runb erhoben. 
Chriftacfer fielen bie Augen gu. 6r öffnete fte, unb bas 
Tier faß auf bem Bettranb. 3e£t frfjien ber le£te Augen« 
blitf gefommen, mo entroeber altes gufammenfHirgen 
mußte ober eine ^anbtung getan roerben. Allein Cf>rifl* 
acfer blieb füll mie bisher, grabe ausgeftrerft auf bem 
."Hülfen, bie Jpönbe an ben Seiten unb mit etmas gefpreig* 
ten Süßen, an beren Sorten er bas S ?ofg bes Sußbrettes 
fteben füllte. 3Tun fab er burcb bie Klarheit ber oottfom« 
menen Betäubung ben .Kater mit ber ibm eigentümlichen 
lautlofen XJorftcht bie Pfoten erbeben, über bas nä<b fftie* 
genbe Bein binmeg gegen bas Sußenbe bes Bettes (teigen 
unb fid) enblitb bort hintegen, gufammengerottt, fo baß 
Cbrißarfer auf beiben Schienbeinen bie mei<be Bürbe oer» 
fpürte. 3To<b magte er nicht gu atmen, aber bann fam 
iangfam etmas mie ein meines, tauttofes Sichobtöfen unb 
Abfallen oon feiner Bruß, ähnlich mie man eine meiche 
Jttaffe oon Schnee oon einem Dacbranb fleh obtöfen fleht; 
unb tangfam banacb fam fein Äöroer- feine Seele, fein 


229 


ganzes Sein mit HJärnte, ^erjgang, Atemgang wieber in 
Drbrn 3ugleirf) mit einem unen&lidjen Atemjug, Öen 
er entlief}, füllte feine Brufi ficb mit Grlöfung — tote toenn 
ju einem JTtörber am Xobesntorgen ber genfer fäme, um 
if>m ju fagen, er fei frei. Cbriftacfer lächelte mit einer fafl 
ftfjlud^jenben Ueriegenbeit; unb toenig fpäter entfrfjtief er. 

Cbriflacfer fab int Traum auf eine IBanb gemalt bie 
Oreieinigfeit, ein Jliefenauge im Dreiecf, bas mit fur<bt» 
barem Orofjen um fleh ju freifen begann unb babei, wäb* 
renb bas ©reiecf ficb fchmal unb fpi£ in bie Spöf)t fcfjob, 
ju ber jufammengerollten Sigur bes Äaters tourbe. Oafj 
feine eigenen Beine, jtotfcfjen benen bas Tier flcb gelegt 
batte, bies Oreiecf bilbeten, wußte Cbriflacfer im Traum 
nicht; allein bie Grfcbeinung hotte nun ettoas Berubigenbes 
unb lief} ibn burcb ficb btnburcb fcbtoeben in bas Traum» 
tofe. 

Ob bas, toas Cbriflacfer an ber nächtlichen Crfcheinung 
bes Tieres entfett botte, bie Cinbilbung toar, ber burchs 
Senfler gefprungene .Rater fomme ju ihm, um ficb ju 
rächen; ober es fei nur ein ihm ähnliches Tier, bas ber 3u» 
fall ins Senfler getrieben; ober — unb biefe Sinbitbung 
batte oermutlich bas llbergetolcht — es toar ber Getfl ober 
Oämon eines 3erfcbmetterten, ber ihm erfehien: bas batte 
er am morgen oergeffen. llnb toeil fein erfler Blicf beim 
Erwachen ben Befucher nicht fanb, tneber jtoifchen feinen 
Süßen, noch fonfltoo, fo toar es nur natürlich, baf} er im 
frifchen JTTorgenglanj unb fonberbar frifcben Beftf} feiner 
Gtieber befchloß, bas Jtacbfereignis für geträumt anjus 
feben. Oie Geräufche feiner Auftoartefrau toaren im 3le» 
benraum hörbar, ein 3ei<hen für ihn, baf} es hohe 3eit 
war, feiner täglichen Pflicht nachjugeben. Als er aber fer» 
tig angefleibet fein IBobnjimmer betrat, lag ber Jlachtgafl 
eben bort, wo fein Auge ihn fucbte, nämlich auf bem Si£ 
feines am Senfler flebenben Obrenflubtes. Oie Tür war 
jwar wäbrenb ber jlacht gefcfjloffen gewefen; aber immer» 
bin war es möglich/ baf} er, jum Äammerfenfler hinaus 
unb jum morgens geöffneten IBobnjimmerfenfler hinein, 
bortbin gefunden hotte. Oie aufwartenbe Alte, bie oötlig 


230 


taub war utti> infolgebeffen nicht fpracf), auch bie Anwefen* 
|>eU Cfmflacfers erfl eine UJeile fpäter bemertte, äußerte 
nichts über ben Srembling. Cfjrifiorfer (lanb oor if»m unb 
fagte, was er ju bem erflen ober eigentlichen Äater gefagt 
hotte: 6r fünft. Ober oielmehr fogte er nicht fo, fonbern 
er fogte: „Du fünf fl." llnb biefer £out ber Annäherung 
war bem Xon eine9 JTluftfinflruments ju oergleichen, bos 
mitunter bos Schweigen einer gangen £onbfrf»aft gu be* 
freien unb feinen lautlofen 3nf»olt ausgufprechen oermog. 
Denn bos 3immer toor morgenhell, fouber unb glängenb, 
bie £uft innen oollgefogen mit bem freieren Atem bes 
Draußen unb bur<hfprengt mit Anbeutungen oon monnig» 
fadjer Seme in 6rb* unb Pflangenöüften. Cfmflacfers 
Du on bos Xier toor in HJahrheit feine erfte Anrebe an ben 
unter ben Senflern liegenben Garten. 

6r feQte ft 6) gu feinem mageren Äoffee unb feilte feine 
Semmel mit bem Äoter, ber gu biefem 3toe<f anfam. 3u 
feinem Gerßenaufguß tranf er aus Sparfamfeit feine 
Tlülcf). Jlun warb ihm flor, baß JUiltf) erforberlich toäre, 
unb er ging gur Xür, um ber Aufwartefrau bestoegen 
einen Auftrag gu geben. Den Slur befretenb, hörte er bie 
Älingel unb öffnete, obwohl bies einer ßrengen Gewöhn* 
heit guwiberlief, mit eigener Jpanb. Draußen ßanb ein flei« 
nes, bunfelhaariges, gefunbbäcfiges unb burcfjaus unoer» 
legenes JTtäbchen, bas einen Äniy machte unb fagte: „Jllut* 
ter läßt oielmals banfen." 

„Xöofür?" fragte Cfmflacfer unb hatte erröten müffen, 
Wenn er ftd) oöllig bewußt gewefen wäre, baß biefes ber 
erße echte Danf war, ben er feit 3ahren befam; benn 
Scheinbanfe hörte er freilich jeben Xag mehr als genug 
aus bem JTTunbe feiner «Klienten. Daß er gerabe nun fra* 
gen mußte, wofür, war bejeirfjnenb. — Das Äinb antwor« 
tefe nicht gleich, oergog fein Gefleht gum £achen, unb bie 
runbe IKfton eines Äa^enfopfes fchwebte ptö^lUh feltfam 
hinburch, als es fagte: „HJeil Sie heute nacht füll waren." 
Darauf fnijte es wieber unb lief bie Xreppe hinab. Chriff» 
acfer mußte ficf> an bie JTIilch erfl burch ben Anblicf bes 
Äaters wieber erinnern, ba er oergeßlich ins 3immer gu« 


231 


rücfgegangen war, unb er begab fleh noch einmal hinaus 
unb erlebigte feinen Dorfa^. HJoran er bachte, toar bien, 
bafi in bem 3immer unter bem feinen bie JTTutter bes Äin» 
bes franf (ag; bafi er felber bie Gewohnheit batte, wäbrenb 
ber Jladyt gu erwachen, gu oerfrfjiebenen Stunben, einmal 
um elf, einmal oielteicht um gwei; banarf) aufgufleben unb 
eine beliebig lange 3eit in feinem DJobngimmer auf* unb 
abjufcf)lürfen — nicht unnüp. Oenn in biefen Stunben 
toar er ber £afl träger feiner 3ufunfts träume, bie er, beute 
mel>r, beute minber, angenehm bebrücft oon ihren bppotbe* 
larifehen ober Pfanbbrief» ober Sparfaffen*5iguren, bin 
unb ber fcbleppte. Oie .Kranfe barunter batte ibn am geflri* 
gen Tage bitten taffen, bie9 einguflellen, unb toenn es auch 
ungewiß toar, ob er gefolgt märe, batte er es jebcnfalls 
über bem nachmittäglichen Ereignis mit bem Äater oer* 
geffen» Siebe ba, aber ber .Rater felbfl batte bie Erfüllung 
bes löunfebes beforgt unb ibn mit Grauen unb mit Erlö» 
fung in Schlaf oerfenft. Er aber batte ben OanP bafür in 
Empfang genommen. Cbriflacfer bacf)te: furios! 

Auf bas .Kommen ber TTtilcf) fonnte er nicht warten, 
batte aber ber Srau begreiflich gemacht, bafi fie für bie 
JSabe befKmmt fei; er fonnte alfo beruhigt feines XDeges 
ins Amt geben. Oort war e9 nun wie immer. Aber e 9 war 
gang anbers. Cbriflacfer nahm ben £euten, bie mit An* 
liegen gu U)m famen, ihre Papiere ober ibr linoerflänbms 
ober ihre .Klagen ab, mit wenigen Xöorten ober gang 
fchweigfam, ober fchliefilicb feine gange Ausfunft in eine 
eingige farblofe Derorbnungsrebe gufammenbünbelnb, fo 
beute wie immer bisher. Allein wenn er fprach, bann war 
es etwa fo, wie wenn, gwar ungefchicft, aber auf einem 
nicht mehr oerflimmten «Rlaoier gefpielt würbe. Xtnb fo* 
gar wenn er fefjwieg, Cbriflacfer bemerfte e9 felbfl, fo war 
bas Schtoeigen feine Äluft, fonbern ein Strom, fein Ab* 
bruch, fonbern eine Paufe, nicht abwebrenb, fonbern — 
nein, angiebenb nicht, aber eben nicht abwehrenb. Cbrifls 
acfer, wie gefagt, bemerfte nicht nur bies, fonbern auch, 
bafi feine Schreiber es merften; unb feins oon beiben war 
ihm guwiber. 


232 


6r pflegte mittags nicht nach $aufe gu gehen, fonbern 
in einem nahen Speifehaus gu effen, bemach auf feinem 
burdj ein ßiffen erweichten Amtsfiuf>l eine halbe Stunbe 
bie Augen gu fließen unb ftcfj bie übrige Jreigeit mit Af« 
ten gu oertreiben, Auch am Abenb, tote tf>on berietet/ 
blieb er tneiß natf) Amtsfchluß an feinem Pult; unb beute 
gögerte er feinen Heimgang länger als gewöhnlich hinaus, 
obtool)! er burchaus bie Abficht butte, es nicht gu tun, unb 
bie 3eit über beßänbig eines Empfinbens war, baß er 
felbfl wieber unb wieber quer bur«b ficb h*nburch ging. 
6s bunfelte bereits, als er fein 3immer betrat, aber er ge< 
wahrte bo<b feinen 6afl bort, wo er ihn am morgen ge» 
funben hatte, auf bem Si£ feines Ohrenßuhls. Chriflacfer 
ging hin gu ihm unb fagte: ,,3tf) habe nur einen folgen 
Stuhl; gwei fönnen nicht barauf fitjen, ausgenommen ber 
eine unten unb ber anbere oben. Auf blr mag ich nicht 
fihen; willß bu auf mir?" 

6r hob bas weiche Tier mit ben untergefcbobenen S?än- 
ben, fehte fich unb legte es auf feine «Snie, wo es, feine 
£age nur wenig in bas ihm Bequemere oeränbemb, liegen 
blieb. XDas aber Chrißacfer geht auf fich liegen hatte, bas 
hatte gwar einer -Ka0e Eeßalt, aber es war etwas anbe» 
res: unb es lag auch nicht auf feinen Änten, fonbern auf 
feiner Brufl. Was es war, wußte Chriflacfer lange 3eit 
nicht, aber wir fönnen für ihn wiffen, baß es fein bis« 
heriges £eben war, bas mit feiner Bergeslafl, fonbern nur 
mit einer fchmergliehen, aber weichen bebrücfte. Sich lang» 
fam auflöfenb in ihren Orucf, oergaß er langfam bie £aß; 
benn fein Auge warb offen für bie Eeßalt. Er fah fich als 
Knaben, als TTtann, finblich unb alternb; fah bie Schatten 
eines nie wirflich gefehenen Baters unb bie etwas füm» 
merliehen Figuren ber JTtufter unb einer übermütterüchen 
Schweßer oor ihm, wie fie ihr Dafein für bas feine tn 
fchöpften unb auf bie gütigße HJetfe oon ber Welt ein 
riefig IJerfehrtes gogen aus einer oerfehrten Wingigfeit oon 
Äeim. Er fah ben fetbßfüchtigen Jforbernben oergärtelt gu 
einer JTttßbefchaffenheit oon nur noch forbernber Selbß* 
fucht. Wohlhabenheit war feine in bem Jpausßanb, unb 


233 


fo mar Denn bas Beße für tf)n, «Kleib ober Speife, toas tn 
ben Kräften feiner Sorgerinnen ßanb, immer mangelhaft 
unb bot Anlaß gum jrjerabfe0en, gum dritteln unb OTör« 
geln; unb als Chrißacfer ermachfen mar, ba mar er oer» 
machfen. Jlotf) einmal fam eine leichtere $riß, eine eigent» 
liehe OTiärchengeit, too mie auf ben 3auberfprutf) ber Elfen 
im $ügel ber BucM fiel, unb ber Ärummgemefene grabe 
ßanb in ber fehnfüefjtigen Schlankheit bes Engels, ber in 
ihm lange oerborgen getoefen. Oie 3ugenbfreunbin er» 
fchien, glühenb in ber gleichen, mehr als irbifchen Srifehe, 
bie mir bodj nirgenbs füßer erfüllt faf>en als auf ber Erbe, 
unb in einer unangreiflichen Xabellofigfeit, bie mit ßlücf 
ttbermältigte. Spattt aber Chrißacfer je an einem Elfen» 
hügel geflanben? Spattt er überhaupt jemals gemußt, baß 
er bueflig mar? Olein; unb ber niemals roirflich gemefene 
Ausmuchs, ber oon 3auber niemals oertrieben toar, ent« 
faltete fein unrebtuhes 6eheimnis mieber, unmahmehmbar 
ba gu fein. Oenn in feinem JTtäbehenleib fleht ein anberer 
Jpimmelsgefanbter als ber, an ben mir glauben. Cf)riß* 
aefer mar’s imßanbe unb gergmeifelte unb gernörgelte fief) 
auch &ie Bollfommenheit. Oiefe aber mar oon fräftiger 
Olatur unb feljte fi<h mit allen BJaffen gur BJehr. Chriß« 
aefer fah bie häßli<hß' Cpoefje feines £ebens mie einen 
Sumpf unb — geißergleich ober mie OTTünchhaufen am 
3opf fich felber herausreißenb — lanbete er in bem JRaunt 
bes oergmeifelten Enbes, ooll oon 6eräten ber Aßronomie. 
Er ßanb barin unb fah gmifcfjen fich unb ber gerßörten 
Bollfommenheit in OTläbchengeßalt am Boben bie gerßörte 
magifche, oielmehr magifch gemefene Spiegelfcheibe bes 
Xeleffops, hingefchleubert oon feiner j?anb unb gerfplittert 
mie ein OTienfchenalter banach eine Jenßerfcheibe burch bie 
Slucht bes oon ihm gefcheuchten Xiers. Oanach entfernte 
Chrißacfer fich für immer oon allen Geßirnen ober auch 
nur oon einem eingigen, feinem guten. 

Oiefes fah Chrißacfer, her Betagte, im 3auber einer auf 
feinen «Knien liegenben «Rahe. Bielleicht, ba es mittlermeile 
Olacht um ihn marb, meinte er; oielleicht lächelte er nur. 
Ober oieüeicht meinte er nur — unb lächelte bann. Sein 


234 


£eben ging »etter nach biefer Jlaä)t, mir glauben, auf eine 
etmas anbere HJeife. Jüan möge nicht eine unüberjeu» 
genbe üufjerücf)feit barin fefjen, bafi Cfjrifiacfer amtlichen 
Orts barunt einfatn, ben oerunflaltenben erflen Äonfo* 
nanten feine9 JTamens bur<h bie jmei f)ödF)fl oerfrfjönern* 
ben ju erfe^en, mit benen mir ihn brauchten. 6s mürbe U>m 
gefiattet, obgleich mit einem £ä<heln ber Bewürbe — nicht 
fo fefjr megen ber Xatfacf>e, als megen ber nicht befonbers 
amtlichen Sorm feiner Eingabe. Oenn zur Begrünbung 
ber ünberung mar unter anberem angeführt, bafi er, ber 
Unterzeichnete, gcoar immer ein Chriftacfer gemefen fei, es 
aber heute erfl miffe, meil bie Saat aufging. 


235 


Des Goldene 

Do« Bruno Srtmf 


i. 

3 ot>annes flbrecht, ber Gehilfe bes Begirfsgeometera, 
ein hünenhafter Junger JTiann, ging von Sengenau 
nach Diesbach, um eine Bermeffung oorgunehmen. 6s 
mar brei lthr an einem heißen, wotfenlofen Qulinachmit« 
tag, unb ber BJeg hotte feinen Schatten. 3n bem Körper 
bes'jungen JTCannea fiebete unb brängte bas Blut, er fchritt 
mächtig aus unb fühlte mit Sufi ben Schweif} unter feinen 
unfommerlid) bunflen .Kleibern riefeln. 

6r hatte ungefähr bie Jpälfte feines Ganges gurücfgelegt, 
ba fah er, gleich hinter ber Stelle, wo ber XBeg nach Jrjoch» 
berg abgweigt, im Selbe ein junges JTtäbchen arbeiten. Sie 
war gang allein in ber heißen fummenben öbe, unter ber 
teuihtenben Glocfe bes Rimmels. IBie fie ben Schritt bes 
JTCannea härte, richtete fie fich auf, legte bie Jrjanb über bie 
flugen unb fah gu ihm hin. 6s war ein gang junges ©ing 
noch, aber fchon HJeib, braun, fefl unb erregenb. Sie lachte 
unb nicfte, flbrecf)t fchof} bas Blut in bie flugen, er fühlte 
einen Xaumel unb fchritt über bie Stoppeln gu ihr hin, ehe 
er es wuf}te. B3as bann gefprochen würbe, bas oermochte 
er niemals gu fagen, auch fpäter oor bem Xlnterfuchungs* 
richter nicht. Gewif} ifi, baß er bie Xafche mit ben 3nflru» 
menten fallen Bef} unb feinen flrm um ben Jlücfen bes 
TRäbchens legte. Sie trug nur ein jrjemb, bas f>etf3 war 
unb feucht. Bon ihrer jungen Äraft ging ein jrjauch aus, 
ber ihm bie Gebanfert nahm, ein jrjauch, in bem er gugteidj 
ben fltern ber immer jungen, fruchtbaren 6rbe einfog. 6r 
tüf}te fie, fie Bef} es lachenb gefcfjehen unb öffnete weit 
ihren gefunben, törichten JItunb, er rif} an ben Änöpfen 
ihres $embes unb nahm ihre Brüße heroor, bie fchon reif 
waren, fefl unb hoch* 


236 



Seine große 6nthaltfamfeit in Dem Meinen Ort, wo er 
als Beamter gu Jlücfftcfjten gelungen toar, (fand gegen 
iijn auf als ein Jeinb, 6er junger feiner fiebenunbgtoangig 
3af>re oernlrfjtete in einem flugenbltcf fein £eben. 6r flanS 
oor ihr 6a, niebergebücft, f>atb auf 6en .Knien unb batte 
fein Geficht in ihre Brufl eingewühlt, flugen un6 JTtunb 
babenb in ihrem jungen Ouft. Dann lag fie auf 6er Erbe, 
gwifchen gwei Garben, unb er Uber ihr, nicht entfchloffen, 
fie gu befi^en, fonbern oon einer ungeheuren, bumpfbrau« 
fenben Gemalt in bies Srfntffal geflogen. JXun er fl begann 
fie fleh heftig gu wehren. Aber er hatte nicht mehr bie «Klar* 
heit, biefen löcberflanb in feinem Ernfl gu begreifen, bas 
Blut bröhnte mit Sturmglocfenton in feinen Ohren, feine 
flugen waren gefchloffen, fein JTtunb flammelte, feine 
mächtigen JTTanneshänbe hielten als unempfinbliche «Klatn* 
mem bie Beute. 6r wußte nicht mehr, wo er war, nicht 
was er tat, nicht wen er befaß unter ber fengenben Glut 
bes Geflims. 


3 . 

flm folgenben lag erfchien ber Bafer bes Jüäbchens 
bei bem Gemeinbefchreiber unb erfuchte ihn, eine Straf» 
angeige an bie Behörbe abgufaffen. Berßänbiges 3ureben 
half nicht, auch nicht, baß ber Xäter, oon Scham unb Jleue 
überwältigt, fich gu jeber Sühne bereit erMärte, baß er fich 
oerpflichten wollte, bas überfallene JTtäöchen nach wenigen 
(fahren gur Srau gu nehmen. Es ßimmte ben hartgeßirn» 
ten Bauern ebenfowenig um, baß bie kleine fich oon ber 
anfänglichen Beflürgung fofort erholt unb gleich ont erßen 
Jflorgen ihr Jpeimjagen unb .Klageführen eine Oummheit 
genannt hatte. 

XBas Johannes flbrecht gum Berberben würbe, war ein 
bösartiges 3ufammentreffen: ber Bauer war oor (urgent 
bei einem Grengflreit oon ber Bermeffungsbehörbe ins lln» 
recht gefegt worben, unb (ein Angebot, noch weniger aber 
irgenbdn Gefühlsgrunb hätte ihn baoon abhalten (önnen, 
biefe unoerhoffte Jlache ausgufoßen. 


237 


So ging bas Scfjicffat fernen Schritt. Die Poligeibehörbe 
bes Ortes, bie erß bie Der^aftung abgelehnt fratte, mußte 
ft<h nacf) telegrapf)ifrf)er Xöeifung gu ihr bequemen, 3 °* 
Cannes flbrerfjt mürbe als llnterfucfjungsgefangener in 
bte Stabt gebracht unb ßanb n ad) gehn Eöorfjen oor bem 
Srf)tDurgertcf)t. 

3i)m festen fein Stern. Denn bas JTtäbcfjen, beffen Auf» 
treten ifjm oermutfich Jltilberung ber Strafe, oielletchf einen 
Sreifprurf) ermirft fjätte, lag mit einer fiebrigen Erfran» 
fung baheint im hochgetürmten Bett, unb ßatt eines mttnb» 
liehen Berichtes biente bas protofoll ihrer erfien flusfage, 
beffen naefter 3 nf)alt bocf) recht belafienb mar. Strafmeh» 
renb fenfte ber ltmßanb ihrer großen JJugenb bie BJage 
unb mehr noch ber ihrer Erfranfung. Denn obmohl fie ßch 
einfach an einem füllen Septemberabenb bei oerfpätetem 
Baben erfüllet hatte, führte abficfjtsooll ber Staatsanmalt 
unb mit ihm, irrenb, bie Gefcf)toorenen btes fiebrige .Rranf« 
liegen auf Abrechts Überfall gurüef, ben bte robuße Jlatur 
bes TRäbcfjens feit langem fcfjon oerrounben hatte. 3 ofnm» 
nes flbre<f)t mürbe gu groeijähriger 3uehthausßrafe oer» 
urteilt 

3* 

Sr entßammte einer ßrenggerichteten Proteßantenfami« 
fie unb naljm feine Gefangenftfiaft als eine geregte, nicfjt 
gu fyarte Sühne bemütig h*n. Seine Eltern lebten nid)t 
mefjr, bie eingige Schmeßer mar in einem entfernten Xeil 
bes £anbes oerheiratet unb mürbe eine bürgerliche Ein« 
büße nicht gu oerminben hoben; biefer Xlmßanb gemährte 
ihm einigen Xroß. 

Über ben Berluß feines Amtes brauchte er nicht ge« 
trößet gu merben. Er mar ein ßarfer unb froher JTtenfch 
oon JTatur aus, unb feine fleinfiche Xätigfeit hotte ihn 
niemals gefreut. B3of)l mar es fchön, mit mächtigen Scf)rit« 
ten über bie Straßen gu manbem, oon Dorf gu Dorf, burch 
leuchtenbe Glut ober ßampfenb burch hochgelagerte Schnee» 
moffen. 3eboch in ber Amtsßube bie ängßfiche Arbeit über 
ben Äotoßerblättem mar menig nach feinem bergen, unb 

238 


auch mtt ben TReßgeröten oerwinfelte Grengen gu jiefjen 
gtotfchen Heinlichen, netbifcfjen Bauern, war nicht fein Be* 
ruf. Aden gehörte bie bampfenbe nährenbe Erbe, es war 
Anmaßung unb war lächerlich, fie in Stufen gu fcfjnet* 
ben unb biefe StücMjen mit 3iffern unb Settern gu be» 
nennen. 6r war gum Bauern geboren, benn er liebte ben 
Boben unb wünfchte ficf), ihn mit feinen unverbrauchten 
Kräften gu wenben unb frudjtgeugenb gu oerwanbeln. 
llnb er hatte oft, in ber engen Gaffe feines Amtes tra* 
benb, baoon geträumt, wie er in unerfcfjloffenen Sänbern 
überm 3Iieer werbenb allein wäre mit ber unberührten, 
oerheißenben Schotte. 

3n folgen Hoffnungen lebte er auch nun unb türgte 
fich mit ihnen bie öbe feiner Strafgeit. Er faß mit ben 
anbern fhtmm im triften Arbeitsfaal, er fchnitt Schuh* 
fohlen gurecht mit feinen (tarfen Fingern, unb währenb 
fein Blicf fhmtpf auf ber fchmuhiggrauen hörferigen Platte 
bes Uferftifches gu haften fehlen, hob fich tat leuchtenben 
Sicht fein tropifcher Befih oor ihm auf: ein niebriges (an* 
ges weißes Haus, nah an einem mächtig giehenben Strome 
gelegen, weitauf, weitab Selber mit Halmen, Stauben unb 
großblättrigen Äräutern, fein Eigentum, oon ihm ber fahr« 
taufenbalten HJilbnis abgerungen, unb bureh bie ßarfen 
Sarben ber Abenbflunbe gu ihm h*rwanbelnb ein uttge* 
heurer 3ug oon Jtinbern unb Schafen, größer als bie 
unfern, fchöner als bie unfern unb mit fettfam geboge* 
nen, geklungenen Hörnern. 


4« 

Oie Tiere, bie er befi^en unb pflegen würbe, erfüllten 
oft feinen Sinn. Er hatte in feiner gutmütigen Art bie 
wortlofe Äreatur alljett geliebt; aber nun war es ihm, 
als habe er fich burcf) feine wilbe Tat oon ben Jttenfchen 
gefchieben unb fei fünftighin auf jene einfacheren Erben* 
gefchwißer noch mehr oerwiefen. Glicht mit Sreunben, 
faum mit einer Srau beoölferte er bie 3uhmft feines Se* 
bens; ln f einen Träumen fuhr er bichtwolligen BJibbern 


239 



durchs Wies, bte Jlinber brüllten lelfe, wenn er fie freunb« 
lief) beim gottigen Stirnhaar griff, unb ein großer fchwar» 
3 er J?unb oon neufunblänbifcher Jlaffe f)telt fich treu unb 
eng neben ihm, toenn er ben eroberten Befifc burebßreifte 
im weißen tropifrf)en £id)t. 

Sold)« Bilber bewahrten ihn nicht baoor, unter feiner 
Cktfamleit gu (eiben. Do<h niemals oerfudjte er einen 3u* 
fammenbang mit ben anberen Sträflingen gu finben. UJas 
er getan batte, toar ber IBabnfinn einer JHtnute, war bie 
ilbervoältigung bureb einen böfen Geiß, es batte mit bem 
.Kern feines Xöefens nichts gu fchaffen, er wollte nicht fen» 
nen, nicht fich nahe wlffen, was in biefem Haufe an fchlim« 
men Trieben (ebenbig war. 6 r hatte gefehlt, nun büßte er 
es, er burchfchritt eine gweijäbrige Grabesßille, in ber er 
allein war mit feinem Gewiffen; jenfeits locfte ein neuer 
Tag. Jüan guefte bie Achfeln über ihn, oerfuchte nicht mehr 
mit ihm gu flüßem, wenn man im Hahnentritt ben halb* 
ßünbigen Gang auf bem 3ucf)tbaubof abfoloierte, unb 
hatte ihn oergeffen, währenb er nahe war. 

Gingig fein BJärter fchien oon tätiger Abneigung gegen 
ihn erfüllt gu fein. Dies geigte fich halb. Jltanche ber Sträf» 
Ünge nämlich, bie fich oertrauenswürbig führten, würben 
oor bie Stabt gu Erbarbeiten hinausgeführt, unb 3<>ban» 
nes, ben es fef>r nach £uft unb Anßrengung oerlangte, 
erbat biefe Erlaubnis. Drei Tage lebte er in ßürmifeber 
Hoffnung. Dann fam bie Abfage. llnb fie ging ficherlich 
nicht oon bem Dtreftor aus, ber ben guchtoollen Gefange» 
nen wohl fannte. 

„Du wirß fchon bei uns im H aus bleiben müffen", 
fagte ber ZDärter, als er ihm morgens auffcf)loß gum Gang 
in ben Arbeitsfaal. Er fab Abrecht einen Augenblicf an unb 
fügte bann giftig b'ngu: „Du Saupelgl" 

5- 

Diefer XBärter war ein Keiner, gebrungener JTCenfch mit 
fehr htrgen Armen unb ungeheuren Hänben. Uber ber 
Stirn, bie gwei Singer breit unb allgeit rot war, ßanben 


240 


graubtonbe Sorten aufrecht, bte gelben Augen lagen ganj 
flach an ber Oberfläche des Gefichts. Das 6rfd>recfenbe aber 
war/ gtoifcf)en ben ©oggenfinnlaben unb bem militärifchen 
Schnurrbart, ein fchmal unb fcfjarf gezeichneter JTCunb, ein 
harter blaffer Strich mitten in ber elenben Banalität biefer 
Sralje, ber ohne 3ufammenhang mit bem übrigen unb 
mie geborgt ober geflöhten erfdjien. 6s batte ettoas lln» 
heimliches, wenn biefes JRünbchen fich auftat, um ein ge* 
meines löort ;u entlaffen. Jüan fah bei biefer Gelegen» 
heit zwei «Reihen Heiner, fpi£er, regelmäßiger 3äfme, bie 
überaus fchmu£ig maren. 

Oiefer Schließer, ein »erheirateter Blann, hoch ohne «Kin» 
ber, nicht mehr jung, ber lange (fahre hinburch als Unter» 
Offizier Oienfl getan battt, mar nicht gleichmäßig hurt 
gegen bie ihm ausgelieferten Sträflinge. 6s gab löege, 
eine Art nlebriger Bertraulichfeit mit ihm herzuftellen. Ser» 
oilität freilich »erlangte er immer, hoch bereitete es ihm 
Genugtuung, bem einen ober anbem Eiebling bas £eben 
ZU erleichtern. So ging bie Sage, baß er einem oft rürf» 
fälligen ferneren Betrüger fogar BJeißbrot, BJein unb 3i» 
garetten beforge, ja baß er mit biefem gemeingefährlichen 
Schtoinbler, einem Berberber »on BJitmen unb BJaifen, 
in beffen firaffreien 3mifchenzeiten famerabfchaftlich-»er» 
fefjre. 

Johannes Abrecht hotte feinen Äerfemteißer eigentlich 
niemals recht angefehen. Gr mar folgfam, er untermarf 
fleh, aber ln feiner Ilnterorbnung mar nichts fJerfönliches, 
er fanb fich mit bem Schließer ab mie mit ber bitfen Blauer 
unb bem 3ellenfchtoß, gegen bie eine Auflehnung gleich 
finnlos mar. Beeilet cf)t brachte eben biefe Haltung ben 
BJächter zur BJut, ihn, ber fich «tmas barauf zugute tat, 
gerabe »on feinen gebilbeten Häftlingen michtig genommen 
ZU merben. JTtöglich auch, baß ben JTlann, ber brunten in 
feinem Äellergelaß eine bürre, unfinnliche unb hömifche 
Srau fi£en hotte, Abrechts Bergehen neibootl empörte. 
IBahrfcheinlicher, baß bie Bosheit unb Graufamfeit feiner 
Tlatur nur zufällig unb mahllos Abrecht gegenüber her* 
»orbrach, ben er fo gelaffen unb unangreifbar feine Strafe 


13 ®f« beutfie ff!ob*a«. 


24 T 


abbüßen faf). Cr lauerte barauf, Ujm fcfjaben, lf>n oerf)öh* 
nen unb oerßören gu tonnen. 

eines Abenbs im gmeiten Frühjahr trat er einmal an 
bas Gucfloch, um ben Gehaßten gu beobachten. 6s mar 
halb acht Uf>r unb bie 3e((e noch hell. Johannes ßanb in 
feinem geßreiften Mittel mitten im Jlaum unb manbte bem 
jüaußher bas gefrorene Hinterhaupt gu. 6r blicfte auf« 
märts nach ber hochgelegenen Senßerlufe, gmifchen beren 
Gitterßäben ein Baumtoipfel mit ungleich gegacften Blät« 
tem fichtbar mar unb bahinter ber rotgltthenbe flbenbhim* 
mel. 6iner ber menigen Bäume nämlich, mit benen ber H®f 
bepflangt mar, eine hochßämmige lllme, ragte in fünf ober 
fechs JTTeter Cntfernung gerabe oor biefer 3ellenlufe auf, 
unb borthin fchaute Johannes flbrecht erhobenen Hauptes 
unb fo angeßrengt laußhenb, baß ber flusbrucf auch von 
rücfroärts gu erfennen mar. 

Oer Schließer legte fein Ohr an bas Sehloch unb oer« 
nahm Uogelgegmitßher, fchmetternbe rhpthmifche £aute. 

Oer 6efangene ßanb unb gab fich h* n * ©**9 mar feine 
Sreube feit UJochen, in ber Srühe unb am flbenb. Auf bie 
IDieberfehr biefer Bogelrufe hatte er feit bem Sjerbft ge» 
märtet, ben langen, finflem, ßtnAnlofen JBinter hinburcf). 
Cr hörte nicht nur Meine Böge! fingen, menn er fo ßanb> 
bie IBäiber unb Gärten unb ebenen ber gangen Crbe fan» 
gen ihm gu, bie Tiere ber Crbe grüßten ihn; in biefen £au* 
ten mar bas KJachfgebefl ber Hunbe, mar H a huenfchrei 
unb bas fanfte Kleinen ber £ämmer, mar bas Kliehern 
mitber Pferbe unb ber bumpfe «Ruf ber Büffel in einer 
künftigen, erträumten H e ‘ mat überm JTieer. Oie Freiheit 
grüßte ihn unb bas £eben nach bunfler Buße. 

Oer UJärter fchioß auf unb trat ein: „S," fagte er nach 
einer Stille, „Bongert läßt bu btr oormachen, bu Sau« 
bär? JTlarfch, fußh bich! Oa!" llnb er mies auf bie Prit» 
fche, bie er eine Stunbe guoor beim Abfperren ber 3elle 
oon ber IBanb h*runtergefrf)toffen hatte. 

Oer Gefangene gehorchte. Oer KJärter oerließ ben 
Jlaum, fam faß augenblttflich mit einer Trittleiter mieber, 
erßieg fie unb fchioß mit brachen bie Öffnung. Oann 

242 



horchte er mit Anflrengtmg empor unb grcmaffcerte un» 
luftig, ba man ben Uogelgefang noch immer ©ernannt, 
wenn auch nur als ein fernes, fernes, gärtltches, trauriges 
Jlufen. 

„Dir wirb man bafür tun/' bemerfte er mit ^of>n, „fag 
ihnen nur Abieu, beinen JITuflfanten, bu Sauigel!" 

3t»ei Xage barauf würbe bem Sträfling eine anbere 
3 e((e angetoiefen, burch beren £ufe ber (eere Jjimmel her» 
einftfjten. 3n ungeheuren Abftänben nur faf) Johannes bie 
Schwalben in ber t>elltn öbe oorübergucfen. 


6 . 

Gin halbes Jahr noch trennte ihn oon feiner Cntlaffung, 
llnb nun er fl begann feine Strafe ihn wahrhaft gu quälen. 
Jtun erfl lernte er bas grauenoolle erwachen fennen, ben 
erfien Blicf in einen untragbar entfallen unb häßlichen 
Tag, bem noch fo oiele gleiche folgen follen bis gum Tag 
ber Befreiung. Sein Plan für biefen ftanb fefl. Cr würbe 
»or bas JTtäbchen h»ntreten, bem er Gewalt gugefügt unb 
würbe bei ihr unb bei ben eitern nochmals anhalten. Spra« 
chen fie ja, war es gut, fprachen fie nein, wie gu oermuten 
blieb, fo würbe er ihr bie Jpälfte feines Meinen üermögens 
als jrjeiratsgut überfchreiben. JTtif bem JTefl aber, fürs 
erfle oor Triangel fl eher, würbe er brüben überm JTteer 
ein £eben ber freien Arbeit beginnen, neu geboren. 6r 
würbe fo wenig Spuren hinter fich laffen wie bas Schiff, 
bas ihn hinüfaerfuhr, Spuren im Jlteertoaffer ließ. 

Seine Abfichten alfo hatten fich nicht oeränbert, aber in 
feine Sehnfucht nach Freiheit, bie fanft unb gefaßt ge» 
wefen war, mifchte fich üergweiflung unb J?aß. ©iefetn 
£aß gegen ben JTtenfchen, ber ihn peinigte unb fehmähte, 
wollte er entrinnen, oon ihm noch mehr als oon «Heue unb 
Xrauer unb JITafel erhoffte er Teilung in ber £uft bes 
JTteeres unb ber tropifd^en £änber. Äaum wagte er mehr 
ben JTtenfchen angufefjen, aus Jurcht oor ber eigenen un« 
bänbigen JTatur, bie ihn fchon einmal fo unheilooll über» 
wältigt hatte. JTtif niebergefchlagenem Blicf flanb er oor 


16* 


243 


ihm ba, ;ucf>too(( unb unterwürfig, ltnb ßünbtich faß wie« 
berholte er ficf> ben Sah, ber ihm Troß war unb jeffel: 
„Bin icf) er fl frei, fo werbe ich ben ba niemals wieber* 
fe^en, niemals, niemals l" 

3njwif<^en wuchs fein Berlangen nach ber Bähe leben« 
bigen Blutes. 6 s feinte fitf) nacf) bem löeibe. Aber es 
waren nicht grobe IBünfche, bie in lf>m fluteten: fonbern 
3 ärtlicf)Feit, fanfte Gemeinfchaft, gefcfrenfte unb empfan« 
genbe Güte war, was ihm als bas 4F>errlichße erglänjte. 
BJenn if>m bie Meine Braune oom fommerlief>en Acfer er» 
laubte, bas Unrecht an ifjr ju fühnen, — welch ein £eben 
wollte er ihr bereiten, in wie fcfjü^enben Armen follfe fie 
ruhen. Oft war fie in feinen Gebanfen, 3ug für 3ug 
glaubte er fie ju fennen unb 3 U lieben, bie er boeh faum 
rec tft wahrgenommen batte in ber weißen Glut oon Sonne 
unb Jlaufcf). UJarb fie’s aber nicht — nun, er würbe eine 
anbere finben, brüben im neuen £anb. Xlnb fein Berlangen 
formte ein fchmales jartes Gefdjäpf mit buftenbem, bunf» 
lern Jrjaar, bas aus großen Augen gut unb oertrauenb 
ju ihm auffaf)* Ach, es brauchte ja gar feine Srau ju fein, 
gar fein Blenfdjfcnwefen, nur irgenbein Stücf £eben, bas 
er warten unb f<hüt)en fonnte! Bur ein Jpunb brauchte es 
3 U fein, ber fleh an fein Änie brürfte, nur ein jahnter Bogel, 
gar fein Blenßhenwefen, nur irgenbein Stücf £eben, bas 
freunblirf) unb gläubig in feiner Bähe fchlug. Bur nicht 
mehr allein fein mit biefen toten Blauem unb ihrem teuf» 
lifchen Schließer! 6 s fam fo weit mit ihm, baß er bes 
Bachts feine Techte ipanb fi<h aufs S}t rj legte unb mit ber 
linfen ben puls ber rechten faßte, um fo hoppelt ein £eben 
ju fpüren. 

Sommer war ba, unb mit jebem Tag glaubte 3©han» 
nes Abrecht, nun fei bas Blaß erfüllt, nun fönne ber ©urß 
nach bem Eebenbigen nicht höh** ntehr ßeigtn, nun feien bie 
Grenzen menfchlichen £eibens erreicht für ihn. IBohl fagte 
er r«h vor, baß balb, baß in wenig mehr benn h«nbert 
Tagen bas 6 nbe gewiß fei, wohl ßellte er mit erzwungener 
Überlegung fein Schicffal neben bas ber Taufenbe, bie län» 
ger, bie lange, bie ewig 3 U fchmachten hatten; feine Jlech» 

244 


nung drang ihm Ins Blut, und er litt. Oie (lummen, fdjlim* 
men Häupter der Sträflinge in der JBerfflatt ju betrauten, 
mar (eine Erleichterung; auch 1>atte der Jeinb es erreicht, 
daß er non fieben Xagen drei in der oälttgen Abgefcf)lof« 
fenheit feiner 3el(e jubringen mußte. Oa gefdjah das 
BJunber. 


r- 

Eines Abends (am er aus dem Arbeitsfaal jurücf. Oer 
BJärter, der mit ihm eingetretrn mar, fd)loß die Pritfche 
non der löanb, die (rächend in ihr Stornier niederfiel, 
blitfte fi<h um, fand roiitend (einen Anlaß jur Befcfjimp« 
fung und fchlug die fcbroere Xür hinter ficf) ju. Sein feind« 
feliger Schritt oerhallte. 

0ohannes Abrecht blieb eine HJeüe flehen, das Gefecht 
dem Geoiert erblaffenden Sommerabendhimmels gugemen* 
det, das leer oon Gefchöpfen mar, und (ehrte fich dann 
matt der öden EinfamPeit des Gelaffes gu. Sein Blicf fiel 
auf die traurige Eagerflatt. 

Oa fah er mitten auf der rauhen, graubraunen UJoll» 
deefe grüngolden leuchtend ein lebendes, ein fleh bemegen* 
des Kleinod. 0ohannes griff mit beiden fänden nach fei« 
nem bergen. 

Es mar ein «Rätfel, mie der £auf(öfer hrreingePommen 
mar. Ourchs Senßer fliegen (onnte er nicht, fooiel mußte 
Johannes oon der Tlatur diefer Arten; mie unmahrfchein« 
lieh aber, mie über alle Begriffe erjlaunlich und beglüP« 
(end, daß er den löeg über die 3e(lenfchmelle gefunden 
haben follte, der fo feiten offen ßand. 0a, es mar ein 
UJunber gefchehen. 

Johannes näherte fich leif*, ols mollte er den Schmalen, 
kleinen nicht fchrecPen, er ließ fich ohne £aut an der armen 
Bettßatt nieder, lag in feinen Sträflingshofen auf den 
.Knien und fah aus großer Jläf)c mit glücPlichen Augen auf 
dies lebende, fich regende GefchenP. Oer .Kleine f)ob müh» 
fam eins feiner fechs feingliedrigen braunen Beinchen um 
das andere und ßrebfe über den rauhen mirren Silg der 


?45 


©erfe f)tntotg. JTiamfjmal hielt er reflgniert unb ermttbet 
on. Seine grttngolbenen Slügelberfen glänzten im Abenb* 
fidjt, fein JXötfenfrf)ilb«f)en glttbte und flimmerte als bas 
föflücbfle 3uroel. Seine 5üf)Ier arbeiteten gart unb laut» 
lofer als irgenb etroas it» ber Hielt, unb feine freiliegenben 
Augen bücften untrer. 

©u fannfl mtcf) gemif} nid>t fef>en, bu ni i)t, barf)te $0* 
Cannes, id) bin ja tote ein Berg für birf), tote eine Berg« 
fette, Äletntr, Äletner. Aber icf) fann bicf> fefjen, mir brtngfl 
bu Sreube unb ben GrufJ ber 5reif)eit, bu biflja fo fd)ön. 
©orf) uoenn bu aud> f>äf$ H<f> m'drefl unb röd)eft unb micf> 
ßäd)tft, i d) märe bir bod> gut unb naf>e, unb bu fäßcfl bo<b 
in meinem Jpergen. £afi btcf) berühren, lafS mirf) bas leben« 
bige Golb beiner Slügel anrübren, mein Ijolber Meiner 
DJobltäter! — Unb er flrecfte bebutfam eine gitfembe 
Jfjanb aus. 

©a aber geftbab bas groeite KJunber: ber Ääfer fdjien 
ibn roabrgunebmen, ibn, ben JTCenfcf)en in feiner fUf>(enben 
Gegenmart. €r f<bien gu fluten. ©ann machte er unbe« 
Rolfen im Mettenben Silg eine Klenbung unb fam auf 3o* 
Cannes Abrerf)t gu, gerabenmegs auf bie Bruff bes fnien» 
ben JTtannes. 


8 . 

Hier oermag gu fagen, ob e9 möglich ober ob es Kn» 
bifdjer Traum ifl, ein 3nfeft gu gäbmen, gu gemimten unb 
jum Aameraben gu machen. XDas miffen mir benn! IBir 
mlffen nid)t, mas ln ben Jpotjfafern bes Afles oor fid) 
gebt, ben mir überm Änie abbred>en, mir miffen nid)t, ob 
ber Stein fcbidfaüos gerfplittert, ben ein Äinberarm ge» 
f<b(eubert hat. IBir miffen nichts. IBir mafcfjen uns ben 
Scblaf ous ben Augen unb betreiben unfere Gefcfjäfte mit 
grimaffenboftem 6mfl unb beigen unfern Aörper mit Jtab* 
rung unb umarmen ein JBeib, beffen Biutmärme uns ge* 
fällt unb bas uns fo fremb ifl mie Baum unb Stein unb 
Tier, unb (egen uns am Abenb nieber gur tieferen ©untpf* 
beit. IBir miffen nichts. 

246 


(Johannes Abrecht glaubte, baß er firf» ben Meinen Gol» 
benen gemonnen habe, unb alfo mar es fo. ©er mar nun 
fein £eben. ©ie Tage, bie in ber Cingelhaft oerbracf)t mer* 
ben mußten, mären nun bie fcfjöneren. Aber auch bie anbe* 
ren, an benen er er fl abenbs au9 ber DJerfflatt gurücf» 
fehrte, toaren erträglich, benn eine Crmartung erfüllte unb 
fürgte fie. 

Er hatte gtt fämpfen um feinen frf)tmmemben Befitj. 
JRit ganger Seele horchte er auf ben Schritt bes Schließers, 
ber fie beibe nicht überragen burfte, unb er ocrgicfjtete mit 
f ©urffqualen auf feinen Xrunf lÖaffer, benn es gab fein 

Berfled in ber 3elle außer bem BÖafferfrug. ©en entleerte 
er heimlich, ohne Geräufch, unb bort, in tönerner liefe 
unb Seuchte, faß nun ber Golbene tagelang unb »artete, 
©ort faß er bei Gräfern unb armen Blüten, bie ihm fein 
menfchücher Sreunb oon ben Sängen im Suchthaushof 
heimfich heraufbrachte. 

Sie fpielten. ETte liebfofenb Metterte ber Schlaufe über 
bie Singer bes JItanne9, facht taßenb, nimmer erfchrecft. 
Unb rafpelte an einem ^älmchen, fog an einer £ömen* 
gafmblüte, bie ber JTtamt ihm hinhiett. 

Johannes Abrecht hatte nicht an feinem Berflanbe ge» 
litten. Cr mußte, toen er liebte: ein armes geringes «Käfer» 
tier, beffen £eben gu Cnbe ging mit biefem Sommer. Aber 
mit biefem Sommer ging ja auch bie eigene Qual gu Cnbe, 
bis an bie Schmede bes £ebens mürbe ihn ber mingige 
Gefährte aus Golb geleiten unb ihn bann entlaffen gu all 
ben 6efcf)öpfen braußen, bie Johannes tätig gu lieben ge» 
bacf)te. UJas oerfchtug es benn, moher bie Sreube fam; im 
lebten Augenblick oor ber fchmargen Bergmeiflung mar fie 
gu ihnt gefommen, mie follte er beuteln unb oerneinen 
unb fich mehr münfchen oor bem lebenben «Rletnob, bas 
fo tröfllich fchintmerte im Eicht ber fcheibenben Sommer» 
tage. 

3ch fann bir nicht genug £iebe geigen, Atemes, Äoß* 
bares, bachte er, ich fann bir nicht genug 6utes tun, benn 
alles oerßehß bu nicht» Aber menn btt nicht mehr lebß 


247 


unb beine Armeen bewegß, gutoel, bontt werbe Id) noch 
mit meinen flarfen Armen bie Erbe Heben unb betreuen/ 
uon ber bu toteber ein .Krümdjen geworben biß. 


9- 

Xtm bie JTiitte eines Tages ber Eingelhaft fniete 3of)<m» 
nes Abrecf)t bei feinem Sreunb auf bem ßeinernen Boben. 
Er fjatte ben Speifenapf oor ßcf> hingeßellf, unb auf beffen 
«Ranb machte nun ber Golbene fpielenb bie Jlunbe. JTtanch» 
mal l)ielt if>m 3of)annes quer ben 3eigefinger entgegen/ 
bann fht|}te bas Tierchen/ fd)ien feitwärts gu äugen unb 
bewegte wie nerfenb bas oorberße, fürgeße Paar feiner 
Gtieber. 

©te Tür fnarrte unb fiel wieber gu. gohannes fprang 
empor unb faf> mit löblicher Angß bem IDärter ln bas 
böfe Gefidjt. ©effen Stirn war röter als fonß, bie flachen 
Augen ffimmerten, unb ber Heine TTtunb war nichts als 
ein fcf>arfer, bleicher Strich. Abred)t wußte fogleid), baß 
nichts mehr gu oerbergen war, baß jener ihn beobachtet 
hatte. Ungefd)icft unb flehenb hob er ferne Arme, nicht 
oiet anbers als ber Äleine, ben er fchütjen wollte. 6r oer* 
fuchte gu fpred>en. 

„0alt’s JTtaul," fagte ber Schließer, „geig, was bu ba 
haß!" 

„D nicht, o nicht!" fagte Abrecht mit oerfagenbcr 
Stimme. „Tun Sie ihm nichts." 

©er IDärter bücfte fich, hob bas Tierchen auf, bas er« 
wartenb an ber gleichen Stelle fi0engebtieben war, faf> 
flüchtig hin auf bas frabbelnbe ©ing in feiner Sauß, ließ 
es bann gleichmütig fallen unb gertrat es mit einer ©re« 
hung bes Süßes. JTtan hörte ein Änirfchen. 

,,©ir wirb man’s beibringen, bich gu antüßeren!" 

3ohannes Abrecht war auf ben Schemel in ber Ede ge« 
funJen. Er faß ba, bas Gefickt in ben Jpänben oerborgen, 
unb rührte fich nicht Er faß eine halbe JTUnute, bie OTägel 


243 


In bie Schläfen eingefrallt, unb fyttlt fein Jpaupt, feinen 
£eib, fein 3cf) mit ungeheurer Gewalt auf bem Sih gurücf. 

„JRarfcf), puh* «3 auf!" fagte ber IBärter unb ßieß ihn 
an. flbrecht erhob fich mit gu Boben gerichteten Blicfen 
unb nahm gehorfam aua ber 6cfe ben UHfchluntpen. 

©er Äleine mar gut gertreten. ÜTian fah einen giemllch 
großen Jlecf auf bem 6ßrtd), ßhwargen Gtieberbrei unb 
ein toenig Biutfaft oon unbeßimmter Sarbe. llnb nur ein 
toingiges Gcfchen ber einen Slügelbecfe war unoerfehrt ge» 
blieben unb blihte grüngolben im Schmuh ber Bemich* 
tung. 

Johannes wifchte forgfam bas 6ange fort, ohne bie 
flugen gu erheben, ©er Schließer fanb nichts mehr gu 
fagen, fah fich noch einmal um unb ging baooh, wenig 
befriebigt. 


io 

6r wußte nicht, ber JTCann, wie nah in Jener halben 
JTiinute ber ©ob an feiner haarigen Gurgel oorbeigeßrichen 
war. 6r wußte nicf)t, ber Tropf, warum ficf> Abrechts 
^änbe fo wütenb in bie eigenen Schläfen eingefrallt hotten. 
6r hotte einem Gefangenen einen 3eitoertreib weggenom» 
men, pflichtgemäß, baßa. 

©er beße 3eitoertreib auf biefer Grbe aber Iß ber Spafb. 
333er weiß bas benn nicht! ©as wiffert feit alters bie 
©ummtäpfe aller Rationen, bie ihre öbe JTluße bamit aus« 
füllen, anbere Nationen gu hoffen unb gu fchmähen. 333ie 
aber foll ber ootlenbs £angeweile noch fühlen, Ja über« 
houpt ben 3eitablauf, beffen Jperg einmal ln ben unterßen 
teuflifchen Grunb eines anbem Ipergens getaucht iß unb 
aus biefem Schacht wieber aufgefaucht, als ein €imer ge» 
füllt bis gum «Jtanbe mit Jlacheoerlangen. 

3wei JTXonafe trennten ben Sträfling Abrecht non feiner 
Gntlaffung. Sie waren nicht mehr für ihn als eine furge, 
oon Bränben burchloberte macht. 6r ßanb unb ging unb 
arbeitete unb fäuberte fich unb fein Gelaß, ohne 3wang 


249 



unb ohne Anteil, unb fpürte mit entfehlicfjer £ufl, wie bie 
Tlamrnt tiefer unb tiefer in fein 3nneres fraß. Stunben« 
lang tonnte er auf feinem Schemel fcorfen ober unter öer 
Siljbecfe im Dunfel liegen unb 6inen Sa£, Einen Gehanten 
in fich bewegen. Sünjtgmal unb fünfhunbertmal tonnte 
er fich fhtmm bie gleichen löorte toieö er holen: ZDie tann 
ein JÜenfcf) bas tun? Gin foicher JTtenfd) barf nicht leben. 
Solch ein JTtenfcf) oerpeßet bie Hielt! 

Aber er wußte auch, baß ber anbere bereits nicht mehr 
lebte. Sein Urteil war gefprochen. 3n Jener halben JTtinute 
war es fchwer gewefen, ihn nicht ju töten. Aber nun war 
es leicht, nun foflete es gar feine JRühe mehr ju war» 
fen, nun lag fogar eine Art oon bitterer IPoItuß barin, 
ben Teufel unterm fichern Beil noch umherlaufen ju laf* 
fen, übermütig unb wie unbebroht. 

DTein, er war nicht wahnfinnig geworben in feiner Spoft. 
Auch als er ben Golbenen hegte unb liebte, war er es ja 
nicht gewefen. 3n jebem Augenblicf fah er, was mit ihm 
oorging: er liebte einen fleinen glänjenben Ääfer, ber 
nichts war unb altes bebeutete. Auch je£t wußte er wohl, 
baß nur Geringes gefchehen war: jemanb hatte ein 3nfeft 
vertreten. Älar hätte er ju fagen oermocht: was ba ge» 
flehen iß, baß einer einem wehrlofen Gefangenen bie eine, 
einzige, armfelige Jreube oemichtet, ohne Sinn, nur um 
wehe ju tun, bas iß fein großes Ereignis. Aber biefes Gr« 
eignis bebeutet alles, was auf ber Grbe haffenswert iß, 
oerachtenswert, oertilgenswert. niemals iß auf Erben et» 
was Geringeres, Xlnbebeutenberes gefchehen unb niemals 
etwas Größeres unb Böferes unb Schauerlicheres, llnb 
wenn ich blefen UJächter töte, wenn ich biefem Uiebrtgßen 
ber Jtiebrigen ben gemeinen Spats jubrücfe ober ihm ein 
JTteffer in ben Schlunb ßoße, fo töte ich ben Teufel, fo jer« 
trete ich äer Schlange ben Äopf, unb barum muß es ge» 
fchehen unb barum wirb es gefchehen, unb barum weiß ich 
nicht unb will nicht wiffen, was jenfeits biefer Tat für mich 
liegt, unb barum hungere ich nach ih* unb barum giere 
ich nach ih*> «nb barum oollfiihre ich fie. Amen. Amen. 
Amen. 


250 


II. 


Johannes flbrerfjt ging durch die Straßen des Außen« 
quartiers der Stadtmitte ju, fugend, auf ungefährem 
XBege. Seine Kleider faßen ihm ungc tohnt locfer am 
£eibe, nur die Stiefel fchienen ihm fchtoer. Oer Süjhut 
fchmanfte unficher auf feinem feinhaarigen Raupte. 3n 
der $and trug er einen Meinen Eederfoffer. 

6 s mar etn fcböner, mÜdfonniger $erbßntorgen, und 
fogar ffier draußen batte die Stadt ein freundliches Ge» 
ficht. Oie JTtenfchen fafjen (ußig aus, und die faufenden 
DJagen der eleftrifchen Bahn Mingelten hell. Schon nach 
ettt paar 6 cfen glaubte Johannes roeit gegangen 3 U fein, 
hier dachte roobl Miner mehr daran, tooher er femmen 
fönne. Und ohne feinen J?ut abjunehmen, hielt er einen 
jungen JTtenfchen an und fragte ihn nach der Uhr. „Biel» 
leicht toiirden Sie mir auch das Oatum fagen," fügte er 
mit teifer Stimme htoju. ©er andere ßu£te. „Oer neun* 
undjamngigße September iß", fagte er und machte, daß er 
daoonfam. 

So hotten fie ihn 30 m Tage oor der 3eit entlaffen. 6 in 
fonderbares Gefchenf mar das eigentlich nach diefen 3 roei 
Jahren. Und nacf>denMl<h ging er meiter. Schließlich ßand 
er mit feinem Äöfferchen, das er eng an fich drücfte, auf 
der oordern Plattform eines eleftrifchen XBagens. £eute 
ßiegen auf und fprangen ab, feiner beachtete ihn, das Ge» 
mtthl auf den Straßen murde immer heiterer und dichter. 
£ange folgte er mit den Blicfen einem J^andfarren, der an 
einer 6 cfe ßand, gan 3 ooll mit herrlichen Pfirfichen. Jeder 
fonnte dort betreten und ßch für ein menig Geld oon 
den ßhönen Jrüchten faufen. 6 r blicfte in feinen Geld* 
beutet, in dem 3 ufammengefa(tet eine größere Summe lag. 
6 r hotte fich mohl oerfehen — damals. 

Hieltetcht mar der XBagen mit den Pßrßchen die Urfache, 
daß er am großen JTTarftplah ausßieg und fich » n einem 
der alten Gaßhäfe, die dort liegen, ein 3 immer anmeifen 
ließ. 6 r ßieg mit dem j?ausfnecht die fchmale, gemundene 
Xreppe empor, auf der es nach Gemüfe und nach oer* 


251 


fchüttetem Eanbmein roch, unb flanb bann pod), fafl 
unterm Giebel, in einer einfachen Stube. JTotf) einmal 
mürbe er gebürt. 6s mar mieber ber ^ausfnerfjt, feurfjenb, 
mit einem flnmelbejetfel in ber ^anb. Qohannes Rbvedft 
füllte if>n umflänbltcf) aus unb benu£te babei, ohne nach» 
ubenfen, einen erfunbenen Jtamen, ben einer fremben 
Stabt unb toillfürlirfje Daten. 6r merfte, mie ihm bie Bud)< 
(laben frember mären nach ber jmeijährigen 6ntroöhnung. 

Dann ging er baran, (einen Meinen leisten Äoffer aus» 
jupacfen, unb es mürbe ifjm feltfam jumute, als er bie 
Iöäfcheflücfe herausnahm unb bie jrnei Bürfien unb bie 
Seife Unb ben Äamm unb einen Meinen Spiegel unb bas 
Äafiergeug unb alles, mas ba fo forgfältig jufammen» 
gedichtet lag, mie für eine Bergnügungsreife oon jmei 
Tagen. Dort im Laufe mar ihm ni$fs gelaffen morben 
oon bem JTtitgebradjten. Unberührt fjatte bas Äöfferchen 
pebenbunbert Tage lang im Speicherraum geflanben, oer» 
fehen mit einem 3eftel, ber eine 3ellennummer trug unb 
ein Datum. 

Der träge Gebanfe fam U)m in ber Betäubung bes 
neuen Tages, als fei nicfjt nur fein Äoffer, als fei auch 
er biefe ganje 3eit über beifeite geflellt gemefen, habe ge» 
märtet unb feinerlei Gfiflenj geführt, unb als müffe es 
nun möglich fein, am gleiten fünfte bas fiebensfeil mie» 
ber anguMtttpfen. 

BJar bas fo? Bein, bas mar nicht fo. 


12 . 

6r trat ans offene Senfler unb legte beibe ipänbe um 
bas 6ifen ber niebem Baluflrabe. Drunten mar freubiges 
Gemüht oon Farben unb Ställen. Der Plat} jrotfcfjen bem 
alten, gejarften .Hathaus unb ber ungleichen Läuferreihe, 
ju ber fein Gaflhof gehörte, mar ganj bebecft oom Durch» 
einanber bes IHarfttags. 3n ber burchfonnten Äüf>le be» 
megten fich bie JTtenfchen heiter ju ihren Gefchäften; oon 
5rücf)ten unb Blumen unb blättrigen Pftanjen leuchteten 


alte Berfaufsfiänbe, 5reunblid)leit Fjerrfrfjte, JTlangel war 
fern, unb bas £eben festen leitet. 

Deutlich unb nafje lag bies alles vor Johannes ba unb 
gleichwohl non ihm abgetrennt, nicht 3 « ergreifen, nicht als 
Jlealität, in bie man ntit wenigen Stritten gelangen 
fonnte. Dies war bie Hielt, bie wirdiche, bies war bas 
JTlenfchenbafein, aber er hotte nicht teil baran, noch nid>t. 
DJäre er bie alte Gaßhausßiege hinunter gegangen unb hin* 
ausgetreten auf biefen fonnigen piah, gewiß wäre bies 
alles oor ihm gurürfgewichen, unb in ber Ferne hätte bas 
heitere 6 etriebe weitergefpielt. 

Schöne Früchte waren ba; welch gütiges, reiches Wert 
hatte bie Sonne getan, währenb er felber oor ihr oerbannt 
war. Solch eine fchöne Frucht war aufgefpeidjertes, feß» 
geworbenes Sonnenlicht, bas fonnte er fich nicht faufen 
— noch nicht! Da ffcrnb auch wieber ein Äorb mit Pfir« 
fichen. Ein Pfirfich, bas war bie Bollenbung. Die Jlatur 
wollte einmal seigen, wie groß unb ijtnlid) fie fei, unb ba 
brachte fie fpielenb bas Äößlichße heroor: einen Pfirfich 
ober einen Schwan ober ein rofiges Stücf Ärißall. 3n ber 
Schule, einß, hotte man ihn gelehrt, was bas IDort Pfir* 
fich befagte. Perfifche Frucht befagte es. perfien! Sein 
Traum oon JTleerfahrt, Frembe unb füblicher 6 lut 30 g 
hinter Schleiern an Johannes oorüber. 3to<h burfte er bie 
Jpänbe nicht attsflrecfen, um ben Schleier 3 U 3 ertei(en, 
aber bie Stunbe war nahe. 

Er ermunterte fich nnb bliefte gefammetter in bie aus» 
gebreitete Fröhlichkeit. Da fah er an einem ber Derfaufs» 
ßänbe ben ^änbler mit feinem Jpunbe fpielen. Es war 
ein gefunber JTlann oon fünfzig Jahren, in einem wolle* 
nen Mittel unb mit einer iöollmühe auf bem Schöbe!; ber 
$unb ein deiner luftiger Scherenfchleifer, mit oiel 3 U gro* 
ßen, hängenben Ohren unb einem 3 U langen Schwans. 
Er hatte fleh an einem Gemüfeforb in bie ^öhe gerichtet, 
unb ber JFfönbter neefte ihn mit einem Bünbel JTtobrrüben. 
Der Schwade ging auf ben Sehers ein, balb erhob er bas 
rechte unb balb bas linfe feiner farsen Uorberbeine unb 
patfehte mit ber Pfote brollig nach bem gelben Bunb. JTCit 


253 


tintmmal ober ctmrf fein Jrjerr bie Jlüben fort, pacfte ben 
Äleinen fefl bei einem Df>r unb lad)te if)nt mit feiner freunb» 
licken Gr imaffe gang nahe in fein fchwarges Gefecht. Oa 
rifl ber fid) (os unb fing an, aus Jüetbesfräften bellenb 
unb juchgenb einen $reubentang um ben Berfaufsßanb 
ausjufüfjren. 

Oiea aber faf) 3of)onnes bereits nid)t mefjr. HJie er bas 
^ünbcfjen fpielenb bie furgen Borberglieber bewegen faf), 
war mit einemmal ber Soleier oor feinen Augen gerrtffen, 
er wußte, was if>n noch oon ber Hielt unb non ber 3ufunft 
trennte. £r hörte jenes Anirfchen auf bem Steinboben, er 
hörte jene mitleiblofen, unfagbar gemeinen löorte, er faf) 
jene gelben Augen unb fah jenen 3Ttannsßiefet in feiner 
Drehung. Oie Welt war wieber »oll oom Peßhaud) bes 
böfeßen, bes unter (len JHenftfjen unb 3°f) Q m«9’ Blut wie« 
ber angefUtlt mit bem ungeheuerßen S°ß unb unbeirr« 
barer .Rachgier. Äein Ginwanb, feine Überlegung, feine 
Borausfid)t fonnte ßanbhalten oor biefem Stärfßen, oor 
biefer jlotwenbigfect. 6^er mochte man ein Seil aus# 
fpannen, um bas JTCeer gu bämmen. 

,,3cf) werbe ihn töten", fagte er oor fief) f)in. 3um erßen* 
mal fprad) er atts, was er feit IBochen wußte unb wollte. 
Behutfam fcf)(oß er bas Jenßer unb oerriegelte bie Xür, 
als fönnte einer oon braußen in feine Gebanfen entbrechen. 
Oann ließ er fid) in ber JUitte ber Kammer am leeren 
Tifdje nieber, ၜte bie Stirn in bie ^anb unb begann 
ruh'tg, georbnet, gu planen. 


*3- 

Am nädjßen Tage halte er ein ausführliches Gefpräch 
auf bem Auswanberungsbureau. Bon bort begab er fich 
nach bem Aonfulat jenes fübamerifanifchen Staates unb 
würbe oon bem B eamttn, einem beutfehen f?erm in oor* 
gerüeften 3obren, höflich belehrt. Oann erß löße er feine 
Schiffsfarte für ein nicht fef>r entferntes Oatum unb orb* 
nete auch bas Jlötige in bem £agerraunt, wo feine Jpabe 
oerwahrt würbe. 


Am Abend begann er feine Jlachforfchungen. Allein ea 
bedurfte oerfchiedener und metfjodifcher Streifjüge, um 
feine Xat unfehlbar oorjubereiten. 

3Ttcf>t ferne Dort dem 3uchthaus, ein kleines Stücf weiter 
draußen an der halber (teilten Uorflabtflraße, befand ficf> 
die löirtfcbaft „3ur Eintracht". Sie war der Erholungsort 
für das IHachtperfonal. ^ier faßen die Xöärter beiein» 
ander, bei Bier und Sfat, aus diefer niedrigen und mufft* 
gen Schanffhtbe, darin es ihnen wohl war, fehrten fie 
jurücf jum forreften Oienß oder jur feigen Befriedigung 
ihrer böfen Iriebe. Abendetang umßreifte Johannes den 
Drt, jroeimal auch fehrte er hier ein, tranf unerfannt und 
ßitt feinen Schoppen und hörte die einfältigen «Reden der 
^erfermeißer. Jta<h diefen «Reden hätten fie ebenfogut S}UU 
macher fein fönnen oder Steuerboten oder 3igarrenoer* 
fäufer. 

JHit einer befondern Sorgfalt ßudierte er den BJeg, 
der jum Gefängnis jurürfführte. IBar man die Straße 
ßadtwärts ein Stütfchen hinaufgegangen, fo bog jur £in» 
fen eine fchmale Gaffe ab, die jroifchen der äußern 3ucht» 
hausmauer und einem langen, fchwargen £agerfcf)uppen 
hindurchleitefe. Auf diefem Pfad gelangten die EJärter an 
den hintern Eingang jur Anßalt. 

Johannes fannte die Xagesordnung des Kaufes, auth 
den Xurnus jener abendlichen Erholung im XBtrtshaus 
hatte er rafch feßgeßellt, es galt nur das eine: den Der* 
urteilten ohne Begleitung ;u treffen. Um ficher ju gehen, 
lauerte er ihm probeweife auf. 

6egen die neunte Stunde toar er in der Gaffe. Er (fand 
in der Xürnifche des Schuppens, eng in die Sinflemis ge» 
drückt, und wartete. Ein Stücf oon ihm entfernt brannte an 
einem Eifenarm, der aus der 3uchthausmauer ragte, trüb 
eine Öllaterne. Jeder, der ftcf> oon der Straße her näherte, 
war deutlich ju ernennen. Ein XBärter fam bald, ein gro* 
ßer höherer JTlann: wie er unter dem £ampenticht hin* 
dtnrchfchritt, unterfrfned Johannes den freundlichen und 
ernßen flusdrucf feines langen Gefichts. 


255 


IBarum fonnte ber nicf>t mein Kerfermeifler fein, backte 
er ruf>tg, bann läge jegt nicf)t ber furchtbare ©rucf auf 
meinem bergen. — Oer JTtann ging fietigen Schrittes oor» 
über, bort an ber Pforte läutete er, ihm würbe geöffnet, 
unb bie Xür fiel gu. 

„3a, ben hätte ich nicht töten mttffen", fagfe ber £auf<her 
oor fi<h h^. Cr buchte bies mit einem füllen Bebauern 
über bas ihm felbfl auf erlegte Schief fal, aber ohne jebes 
JTlitleib mit bem Berbammten. Ufas er oorhatte, war ja 
nicht bas Crgebnis eines Cntfchluffes, ber auch gu änbem 
war; hier gab es feine 23af>l. 3 e °er JTlenfch, ber unnenn* 
bar Böfe, er flanb gwtfchen 3ohannes unb ber IBelt. Cs 
war nicht möglich, auch nur einen Schritt in bas Oafein 
hinausgutun, ehe biefe JBanb niebergeriffen war. Cigent« 
lieh fianb fie gar nicht außerhalb, biefe IBanb, fie war 
nicht ein Stücf JTtann, bas unter bem freien Jpimmel auf« 
ragte, fie ftanb in flbrecfjts Blut als ein furchtbar biefer 
Klumpen ober Knollen oon ^afj unb Cfel unb Berath* 
tung. 3hm war es all bie läge, als lebe er nur auf Bebin« 
gung unb Jrifl, als fei ihm nur eben fo oiel Kraft gelaffen, 
um bie Xat gu tun, unb als werbe er erfl bann, wenn ber 
klumpen gerflört unb fortgewafchen fei, frei wieber atmen 
unb fchlurfen unb wollen unb lieben fönnen, als werbe 
erfl bann wieber fein Blut ruhig unb mitbe burch ben 
gangen «Körper freifen. 

3hnt fiel ein, wie ehemals baheim einer feiner Schul« 
fameraben fchwer franf gewefen war; ber flrgt hatte oon 
einer Blutoergiftung gefprochen unb hotte bem Buben eine 
SSlberlöfung burch bie Äbern geleitet, ba war er genefen. 
3ohannes erinnerte fi<h beutlich an ben Cinbruef, ben ihm 
bas bamals gemacht hotte; wie in feiner Borflellung ein 
mattfehimmember, fühlenber Silberflrom jenem burchs 
Blut floß unb alle giftigen Keime fanft mit fich fortnahm 
unb tilgte. 3°, fo würbe auch ihm gumute fein, wenn 
bie Xat ootibracht war. 

3n biefem flugenblicf fah er fein Opfer fommen. Kurge, 
ftampfenbe Schritte bogen in bie Gaffe ein, unb fchon er« 
bliefte flbrecht bort unter ber Sateme, für einen Augen« 


256 


blirf f>el( beleuchtet, bas platte, gemeine Gefickt, bie Augen, 
Öen Schnaujbart, bte Kinntaben. «Rafcfj Pam er näher, 
ahnungslos unb fingenb. Johannes hörte bte UJorte eines 
Gaffenhauers in ber furchtbaren Stimme. 

„Cs braucht ja nicht grabe Flanell §u fein'', fang er 
unb war an Abrechts reglofer Perfon f<hon oorüber. 

„6s Pann ja auch eoentuel! fein", hörte 3ohannes noch. 
Gin Sachen pacPte ihn ttber ble SinnlofigPeit biefes Xejtes, 
ben ber bösartige ©untmPopf gewif} entfiel!te; ootl ohn 
unb fpaß unb triumphierenber HJottufl lachte er laut los, 
weil ber ba in oergnügter Stumpfheit fo Schulter gegen 
Schulter an feinem eifemen Schüffal oorüberflreifte. 

Gs läutete ba hinten, es warb aufgetan, unb bumpf 
bonnernb fchlug hinter bem bort bie Pforte ju. 


14 - 

Am änbem morgen fuhr er mit ber Kleinbahn hinaus. 
6s ging erfl burcb bie höflichen Sieblungen ber Bann« 
meile, bann eine fchwache Stunbe burch freunbliches, welli* 
ges Sanb. Gr oerliefS ben 3ug unb fdFjritt auf ber Sanb« 
ftrafje gegen $ochberg. 

Jperbfltich braun unb oerlaffen lagen bie Selber in ber 
Ptaren Suft; Johannes fchritt fafl behaglich aus in feiner 
bunPlen, wärmenben Kteibung. Tlicht lange unb er ftanb 
an ber Stelle, wo facht aufwärtsführenb bie Seitenfirafäe 
nach ^ochberg abbiegt. 

^ier war es, buchte 3ohannes Abrecht, unb blicffe auf 
bas leere, fchweigenbe Selb, auf bie Bobenwelle, bte ba» 
mals ootl oon reifem Korn gewefen war, unb an ber fich 
fein SchicPfal entfchieben hatte. 

Xöäre ich ein Stttnbchen fpäter gegangen, bachte er, mein 
Seben würbe fich nicht oeränbert haben. Ober hätte ich 
einen anbem DJeg genommen, ober wäre es weniger h*i|3 
gewefen, ober hätte bas Kinb baheim Kartoffeln fchälen 
müffen. An folgen llmflänben hängt nun ein Oafein. Gin 
3ufa(( alles, ein 3ufall bös unb gut! 


17 Sie bcutfc&e hobelte. 


2 57 


Aber wöf)renb er fo backte uni» auf feie vergebenen 
Stoppeln fjinfal), ba wußte er aucf) fcf>on, baß es töricht 
war, von 3 ufall gu fprecfjen. 6 s toar ja gar ntcfjt möglich, 
jenes Ereignis unb biefe gwei 3af)re in GebanPen gu tilgen, 
fein £eben toar magifrf) gewiefen, magifrf) gebogen wor» 
ben, narf) bunPler gewaltiger Soßung, Jpatte er benn aucf) 
nur bie Säf)igPeit, bas Gefrfjefjene anbers gu roünfcfcen, 
fagte nicfjt ein gemeinter 3nßinPt in feiner Bruß 3a unb 
nJiüfommen gu jeber UJanbtung, gu jebem Gefcfjicf ? Er* 
lebte er nicfjt gefaxt unb bejafcenb feinen Soll unb feine 
Strafe, ben ÄerPer unb bie neue Sretfjeit, bas heimatlos» 
toerben unb bie Grüße bes ltnbePannten? IBillPommen 
Bös unb Gut! 

©ocf> nicf)t willPontmen! Eins nirf)t: nirfjf ber Abgrunb 
bes Jrjergens, nirfjt bas Gemeine, nirf)t bas Graufame, nirfjt 
ber f)ätnifcf)e Xeufel, nicf)t ber, ber ben BJefcrlofen martert! 
Alles, alles, alles iß fßnguneljmen, iß gu ertragen, iß gut» 
gufjeifjen, alles läßt ficf) umfaßen mit $reunbfrf>afts» 
armen, altes ßrf) einfcfjßeßen in eine fcfjitffalbereite Brufl: 
tiefer Sturg unb Elenb unb junger unb Srfjmerg unb 
Berlaffenf)eit unb Berloren&eit unb Berßoßenfjeit, aber 
bies nicf)t, jener nief>t, er nicht! — Bor 3of>annes’ Augen 
roallte roter ©unß auf. Er faf) bie Stelle feines Srfßcffats 
nirf)t mef)r, fie toar if>m nichts mefjr. 

Er machte ficf) frei unb frf>ritt ben BJeg nacf> ^ocfjberg 
f>inauf. 3m Orte fragte er narf) bem Jpaufe bes Bauern 
unb ging burrf) bie Straßen, non niemanb beachtet. 
IBenige Ratten if)n f)ier gePannt, unb bie JTlenfcfjen ver» 
geffen. Bafl) ßanb er oor bem £of, ber nicf)t befonbers 
ßattßrf) toar unb nirf>t ämtlirf). 

3n ber Stube faß ber Bauer am Iifrfje. 3of)annea 
nannte feinen Jlamen, ofjne Erregung, aber auf einen 
Übeln Empfang gefaßt. Es gefrf>af) jeboef) nicfjts. „3a", 
fagte ber Jllann nur, „toas iß benn?" 

3of>attnes trug mit Purgen BJorten feine Srage vor. 

„3a", fagte ber Bauer unb war notf) immer nief>t auf« 
geßanben, „ba weiß irf) nirfjt . . . Oie Gefrf>irf)te iß ja ver= 
geffen, es war' vielleicht nirfjt gut, wenn man ba wieber 

258 


anfinge. ltnb gu 3f)rem Amt werben Sie ja auch nimmer 
fommen?" 

„Dein, freilief)' 7 , fagte flbreeht unb bliefte auf ben ruf)i* 
gen Jliann. HJo war beffen 3orn f>in, ber if»n in bie Der» 
breef)erhelle gefdjleubert batte? 3wei Jaijre waren bie 6wig» 
feit. IDar einer noch ber gleite JTlenfcb nach gwei 3obren? 
Er felber füllte ja nichts beim flnblicf bea einfiigen Sein» 
bea. 

„JTlörfjten Sie bie 3obomta feben?" fragte ber nun, „ich 
fann fie 3fmen rufen/' Sr (lanb auf unb ging über ben 
Jr>of gum Eingang bea Schuppens; Johannes fab burtf)a 
Senfier, wie er bort ßebenblieb unb ina Xor bineinfpracb. 

3ofjanna f)ief5 fie. Das batte 3of)annea flbreeht oergeffen 
gehabt ober niemala gewußt. Aber nun fehlen ea if>m, 
ata fönne frfjon biefpr Jiamenagleirfjfjeit wegen gar feine 
Derbinbung gußanbe fommen. Ea war gewiß nicht oer» 
nünfüg, aber irgenbwie frfjien ihm bie Unmöglich feit 
burrf) biefen Hmßanb beftegelt. Dies war ihm nicht be» 
ßimmt. 

Das JRäbeben trat ein mit bem Dater. flbreeht f>ätte pe 
frfjtnerlicf) wiebererfannt, fie wäre if)m oermutlicf) nicht ein» 
mal aufgefallen in einer Schar oon anberen. Er fab ein 
bo<f>aufgef<boffenea Oing, nicht bübßb, nicht f)äf31i<f), auch 
nicht befonbera braun oon Jrjaut nun im ^jerbße, währenb 
feine Erinnerung fi<b hoch gerabe an biefer Gebräuntbeit 
folange feßgebaften hotte. Derlegen ßanb pe ba, büefte 
feitwärta, unb legte ihre Jpanb in bie feine. 

Er fpra<b: ,,3cf) möchte Sie um Dergeibung bitten wegen 
bamats, Sräulein 3ohonna." 

Sie wußte gang offenbar nlchta gu fagen unb murmelte 
fchließüch, holb unoerflänblief): 

„Ea war nicht fo fchlimm." 

„3ch hob« 3hrem Dater f<hon gefagt, baß ich gern alles 
an 3hnen gutmachen möchte. 3ch höbe gefragt, ob er boeb 
vielleicht will, baß wir uns heiraten." 

Sie bliefte ihn gum erßenmal an, auch pe hotte ihn ja 
niemala recht gefeben, unb wunberte fieb wohl über bas 
ernße, fchmak Jliännergepcht. Dann murmelte fie: 


17 * 


259 



„3rf> weiß nirf)t, 4?err Abrerfjt ... Oie £eute l)aben’s 
frf>on beinahe oer gef fett!" 

„60 ifl aurf) norf) ein anberer ba, ber fie fjeiraten tollt", 
fagte ber Dater oon fernem Stuf)! f>er, „fte ifl bloß no<f> 
ju jung, er fl ftebjefjn." 

„So", fogte Abrerfjt, „bo wünfrfje icf) Glücf. 60 ifl frfjön, 
baß irf) 3f>nen botf) nic&t 3f>r £eben oerborben f)obe. 3rf) 
habe otel an Sie benfen ntüffen, Sröulein 3of>anno — 
bort." 

Sie liefi nun bie Augen fefl ouf if>m fjaften. „Jpaben 
Sie’s fefjr arg gelobt?" fragte fie leife. 

„flcf) nein", fagte er nage, ltnb bann braute er, oöllig 
frei nun unb mit feinen Gebanfen fcfjon faurn mef)r in bie* 
fer Stube, fein anbres Anerbieten oor, nannte bie Summe 
unb fragte 303 eimal, ob bies fo vtd>t fei. 3 of)anna frf>aute 
if>n neugierig unb ein wenig töricht an bei feinen BJorten; 
aber ber IJater ließ ftcf) alles mehrmals auseinanberfe^en, 
of)tte Oanf unb of>ne Grflaunen, fo als Ijanbelfe es ftdj 
um eine Sarfje, auf bie er lange mit Anfprurf) gerechnet 
f)ätte. Als bies erlebigt war, floate baa Gefprärf). 

„Oie Srau unb mein Soljn finb in ßengenau auf bem 
JTlarlt", fagte ber Dater enblicf). „Aber mögen Sie mrf)f 
einen Äaffje, £err Abrecf>t?" 

3 of>annes lernte ab, allein bas JTläbrfjen war frfjon 
braußen, frof) offenbar, baß bie Situation p<f> auflöfle. 
Darf) wenigen JTiinuten fam fie 3 urü<f, mit tarnten unb 
einer Xaffe unb mit einer Art oon fef>r weißem Brothirfjen, 
einem bicfen, buftenben £aib. 3 of)annes aß unb tranf, unb 
bie beiben faf>en if>m 3U. 6 efprorf)en würbe fafl nichts 
mefjr, benn man f>afte firf) nirftts mefjr 3 U fagen. 

Scfjliefilt d) 30 g Abred)t fein $af)rplanf>eft aus ber Tafele. 
„BJenn irf) Sie l)infaf)re, bann friegen Sie norf) ben 3ug 
um brei 1 Ifyv fecfjjefm", fagte ber Bauer. DJieber oerfucftte 
3 of)annes abgulefmen, mit ein wenig trübem Spott im 
fersen. Aber wieber war ber Bauer frfjon auf bem DJeg, 
um ein 3 ufpannen. 

„Dater, uf> fafjr’ mit' 7 , rief if>m bie Iorf)ter nacf). 


260 


Bo fuhren fie denn gur Station; oorne raubend der 
JTCann, neben tf)m das JRäbel, auf der (»intern Banf 
3 of)annes, gang allein, wie ein ^>err. Gr blicfte auf den 
SUicten des Bauern, auf den fcfjntäleren der Tochter im 
Umfcf)lagetueb und auf ihren mit gelben Blumen ge« 
fdjmücften Jput, den fie ihm gu 6f»ren aufgefe£t hotte, und 
der tellerartig und ungefcbicft gang oben auf ihrem «Äopfe 
fdjroanfte. 

So fuhren fie durchs Dorf, fo fuhren fie die 3weigßraße 
hinunter. Sie famen gur «Kreugungsßelle, fie tarnen gu 
jenem welligen Seid. Aber weder Bater noch Totster blirf* 
ten nach dem braten Stücf £and hinüber, das ihnen ge» 
(»orte, und (Johannes, der nun in feinen Gedanfen vor« 
geneigten Jrjauptes dafaß, merfte erß lange 3eit fpäter, 
daß fie vorüber waren. 


15 - 


Um fünf Uf>r war er wieder in feinem Gaßbof, um acht 
machte er ficb durch die Dämmerung der Straßen auf 
feinen JBeg. Cr fpürte den mild fühlen Abend nicht, er fab 
nichts von dem Treiben der JTlenfcben, die ihrer Berufslaß 
ledig ficb auf Genuß oder «Hube freuten. Gr wanderte gu 
Suß die weite Strerfe, um feinen Gliedern Befcbäftigung 
gu geben, und mußte ficb gügeln, um nicht nach dem 3iele 
gu rafen. 

Alle die Tage ja batte er ficb gegügelt und begwungen, 
batte er die in ibm wühlende Glut gugefchüttet und nieder« 
gehalten, um mit Saffung das JTofwenbige gu ordnen. 
Stun aber, da er der Slamme ihren «Haub freigab, da fie 
aufgüngeln und oergehren durfte, nun bedeutete jeder 
Augenblick des löartens Ärampf und Qual. Stun war 
fein Körper nichts andres mehr denn ein Gefäß der Jlache, 
fein Auge nur fpäbende Angel, feine J?and nur fiebere Blaffe 
und Tod. Gin peinooll fefmendes Bedangen war fein gan* 
ges 3cb. So giert der vom Schmerg Gefolterte nach dem 
Gnde feiner Slot, fo der rafend Berliebte nach dem einen 
£eibe, fo der Berfchmachtende im lochenden BJüßenbrand 


261 


rtocf) bem XrunB, ber nicht Bommen farm. Sein Xrunf aber 
war bereit, er toar ihm gewiß, bies tobenbe lieber war 
ju füllen, unb bie Stillung toar nahe. 

3Tun rannte er borf) unb toar an feinem Siet, lang ehe 
es flug toar, bort ju fein. Aber frfjon berfte bie frilfje 3Tarf)t 
if>n »öllig ju, reglos ßanb er in feiner JTifrfje, unb enblicf) 
berufjigfe i) auch fein fitem unb fein tobenbes £erj, fo 
baß er in bie Stille hmaushorcfjen Bonnte. Jliemanb ging 
oorbei, traurig ßanb bie Gefängnismauer, bie £aterne 
flimmerte öb\ 

flbrecf)t fühlte in feiner Xafdje nach bem griffeßen 
JTteffer, unb toie bie j?anb es fanb, wußte er auch fcf)on, 
baß er es nicht gebrauchen werbe. .Kein drittes follte gwi* 
fchen feinem lebenbigen 3cf>, bas fich rächte, unb jener 
Sra 0 e ßehen, nichts, auch Bein Gifen. 

„3ch erwürge ihn", fagte er flüßernb oor fich h»«. 6 r 
ballte im Sinßern bie rechte Jauß mit aller .Kraft, bie ihn 
erfüllte. „3ch bin ßarf, einen Steinblocf Bönnfe ich 3 er* 
fpalten", fprad) er wieber, aber er wußte nicht, ob feine 
Sippen bie UJorte ausgebilbet hatten. 

3hm fiel ein, baß er nun feinen plan hoch nicht befolge. 
3n feinem 3immer am JTiarft lagen bie Gegenßänbe jur 
Bermummung, lag ein falfcher Bart, ben er ficf) oorforg* 
lieh befchafft, lag überbSes eine £aroe aus fchwarjem Stoff. 
Aber wäre auch beibes nicht einfach oergeffen gewefen, er 
hätte es hoch nicht brauchen mögen. 6 r ßanb feinem 
Scforffal gegenüber am großen Xag, am Xag ber 6 r» 
füttung, er hätte ihm nacBt gegenüberßehen mögen. 

«ültf oilber Klarheit horch tt er nach rücfwärts in bie 
3eit. Als fpräche bie gemeine Stimme an feinem Ohr, ihm 
gerabewegs ins $irn hinein, fo hörte er fie: 

Oir wirb man’s beibringen, bich ju amüfieren, bu Sau* 
tgel. 0 4 tr wirb man bafür tun. Jttarfch, pufc es auf . . . 
Unb bas Änirfchen. 

©a Barnen Schritte in bie Gaffe, wirr unb ungleich. Unb 
Abrecht fah beim £aternenfchein jwei ber 3uchthausbeam» 
ten rebenb miteinanber nadf) Jpaufe gehen. 


262 


Er erbltrfte ben mit bem fangen menfcfjlicfjen Geficfjt unb 
einen Unbefonnten. Sie waren worüber/ läuteten/ oer* 
fcfjwanben. 

JBenn nun autf> jener nicfjt allein fam! XOie tettf>t war 
bies bocf) möglich, tro£ alter Borausficf)t. Dein, es fcfjien 
nur mögticf, es würbe nicf)t fein. Oie ungeheure, unwieber* 
bringlictje flnfpartnmtg biefer Stunben, nie unb nimmer 
fonnte fie oerloren fein. So tourbe nicfjt werfet)roenbet in 
ber DJelt! 

Don biefem flugenblitf an ftanb er tn oöttiger Seftigfeh 
ba, in ber Stille bes Tobes, unb harrte. Er war ein eiferner 
JTtusfel, nichts anberes mehr, unb oätßg, oöttig bereit. 


16. 

Br fam. Oer Schritt erftang, ben 3of>amtes aus ober 
Kerfergeit fannte, getjaeft, t>art unb feinbfetig. 3a, ba fam 
er, allein. 3oi)onnes faf) ihn unter ber £aterne hinburcf)* 
gehen, nun hatte er noch gwangig Stritte gu tun, nun noch 
fünf. 3of)annes ftanb unb war etn HJerfgeug, eine 3ange, 
bereit gu frfjnappen unb gu parfen. 3«*/ nun hatte er ihn, 
gelobt fei ber Fimmel, enblicf), enblid)! 

JTtit einem «Jlucf, einem Sprung war er aus bem Berftecf 
heraus, hatte mit feinen beiben j)änben ben Sehtb an ber 
Kehl« unb rifi ihn herum. Oer wollte auffcf)reien tnt grau* 
figen Scfjrecf, aber ber £aut warb ihm l>inuntergeprefSt, er 
fc^tug um fief), wollte greifen, wollte treffen, aber bie ftei* 
nernen Säufte hielten if)n würgenb in ber Entfernung, unb 
feine furgen Arme hieben bie £uft. Oie Xtniformmü^e war 
gu Boben gefallen, ber Schein ber £aterne fiel grell auf 
bas furge Sjaar, bas ficf> borftig gu fträuben f<f)ien, unb 
auf bas oergerrte <5eficf>t. 

Unb 3of><mnes faf) if>n. DJofjl war feine gange -Kraft tn 
ber Klammer feiner Säufte oerfammelt, aber fein fluge 
blieb flar, unb fein Seift erfamtfe, in finfterer .Ruhe. 

Schweigen fjerrfcf)te. Kaum brang ein Gurgeln aus ber 
Kehle bes JTtenfcfjen, ein piepfen gleich bem einer JTtaus, 
gleich bem eines gang flehten Xters war alles, was er f>er* 


263 


oorbradjte. Sein Heiner JTCunb ßanb offen als ein runbes 
£o 6), unb gwifcfjen ben fpi^tgen frfjmu^igen 3äf)nen be* 
roegte ftd) rafttos, eilfertig bte 3unge. Die flauen flugen 
aber, fie traten heroor, fie gingen heroor, es war als müß» 
fen fie überlaufen unb ausrinnen in ber nädjßen Sefunbe. 
Johannes faf) bas alles, er faf) ben JTtenfdjen ba oor fi<f> 
fchwanfen, roanfen, er wußte, baß Ohnmacht unb Enbe 
nur norf) bas Hierf einer fürgeßen Spanne fei, unb baß 
feine Äraft wof)l genüge, um bies 6nbe gu erreichen. Jtein, 
er würbe nicht erlahmen, Spier fianb, mit ben Säuflen an 
ber Gurgel bes Böfen, mehr als ein eingelner JTienfcf), ber 
fid) rächte. 

3n Johannes’ bergen war laflenbe Stille. Der Drucf, 
ber ungeheure, frfjmergfjafte Drucf, ber Drang nad) Er* 
löfung burd) bie rädjenbe Tat, er war nod) immer ba; um 
ihn abguwerfen, brauchte es Tob, festes Jlödjeln, le£te 
3ucfung. Diefe wilbe, bumpfe Seljnfudjt war es, bie fei* 
nen würgenben Saußen bie Äraft gab. Ja, nun f>tefS es, gu 
Enbe preffen, nun f)iefS es abfdßießen, nun f)<eß es töten. 

Unb ba fing Johannes an gu reben. llber bie ausgerecf* 
ten «Hädjerarme hinweg fprad) er bem anbem in feine 
gemarterte 5ra 0e hinein, mit flarer, falter, gebänbigter 
Stimr e, unb hörte fid) felbfl in feltfamer Srembheit. 

„Spc >e ich bich, höbe ich bief), bu! Ufeifit bu, wer ich bin? 
Du mußt flerben. Siehß bu, was i«h mit bir tue? JTlit 
meinen Säuflen preffe ich bir bas £eben aus. 3tur ein paar 
flugenb liefe lebfl bu noch, unb bie finb fchrecflich- Über 
lange nicht fdjrecflid) genug. Denn bu bifl ja ein Teufel, 
bas unterfle gemeinße 6efd)öpf bifl bu! Ein Stüef Schuft, 
fo graufig, fo fd)eußlid), baß es feine Strafe für bich 8«bt. 
Totwürgen iß ja nicht genug, nichts iß genug für bich. 
Jebes Glieb müßte man bir eingetn gerbrechen, bie Spaut 
müßte man bir in .Kiemen gerfd>neiben, bas Sleifch 
müßte man bir mit 3angen herausreißen, bu Quäler, bu 
genfer, bu feiger, gemeiner Schinberfnedjt! DJas hoben 
fie bir getan, bie bort büßen? XBas höbe ich öir getan? 
JTteinß bu benn, bu Teufel, es gäbe in biefer Hielt gar 
feine Gerechtigfeit, meinß bu benn, bir ginge alles fo fpinl 


264 


Aber bu btß am Cnbe. Du baß juoiel getan. Du biß ja 
gar fein JTtenfcb, bu biß ja bie Schlange, bu btfl ja alles 
Clenbe unb Schlechte in ber Hielt, oon beinern Ißeßfyaud), 
bu Stürf flas, iß ja bie Hielt ooll, man fann ja nicf)t mef>r 
atmen, folang bu noch ba biß! Aber i<f> löfrf)’ bi<b aus, 
icb tnürge bicf> ab, bu barffl nicht mehr fein!" 

Cr mußte fitf) nach oonoärts beugen unb merfte, baß 
ber anbere in bie Änie gebrochen tnar. Cr lag ba oor ihm, 
bas purpurrote Geficfjt in oief)if4>er Bergtoeiflung nach 
oben gemenbet, bie flugen oerbrebt, halb gebrochen fdjon, 
ben fab^enben JTtunb offen mit roeit ^eroorlecfenber 
3 unge. Johannes fab ibn, unerfebttttert, ungerührt, ja mit 
fieigenber HJut. Cr oerfuefite, ben Drucf feiner löblichen 
Säufle noch ju oerßärfen, alle Gemalt bes paffes, ber Her« 
adjfung, ber überßanbehen fieiben preßte er in fie hinein, 
llnb niebergebüeft fpie er feine DJorte gegen bie fierbenbe 
£aroe, nun nicf>t mehr flar, nun nicht mefjr gebänbigt, 
fonbern mit einer unmenfcfjUt^en Stimme, bie (reifste unb 
umfrftlug. 

„Äennß bu mich notf), bu, femtß bu mitf> notf), ober bifl 
bu hinüber? flugen auf, fiel) midf)! 3tf) bin’s, ben bu ge« 
martert f>afl, unb ber bttf» nun abtut! 3cf), ber Sträfling 
aus ber 3elle breiunbneunjig! HJetßt bu noch, bie Höget, 
bie Singoögel? 3°/ i«f> habe fie fingen hören, bie flehten 
Högel, ja, mitf) bat bas gefreut, mitf), ber bid> je£t ermor« 
bet, bat bas gefreut. Unb ba bifl bu bingegangen unb bafl 
mir bie £ufe gugefeblagen, unb tneil man’s botf> nod) ge* 
hört bat, bifl bu jum Direftor gelaufen unb bafl mitb in 
ein anberes £otb gefperrt. Unb bu bafl mich geßoßen, unb 
bu baß mitb gepufft, unb bu baß mitb angeßbrien, unb 
bu baß mitb ausgeböbnt, unb bu baß mir bas Cffen bm« 
geßbmiffen, unb bu baß mitb beßbmubt, unb bu baß mitb 
geplagt unb gefoltert — mitb/ einen toebrlofen Trtann, 
einen »nebrlofen, toebrlofen Hlann. Da, oerretfe, ba toürge, 
ba ftbnappe nach £uft, ttacb beinern lebten JTtaulooll £uft! 
Da, ba, ba, fpürß bu müh? Aber bu follß autb genau 
tniffen, tnofür bu ßirbß. Soll itb btr’s fagen? Sür einen 
Ääfer ßirbß bu, für einen flehten Ääfer... Xöar itb benn 


265 


nicf)t ein armer, armer JTlenfcb? 3rf) batte Ja nichts auf 
ber Welt 3<h war ja nabe baran, oerrücft ju »erben, 
Jtocf) einen Xag ober jwei, unb i cf) wäre gewiß verrtictt ge* 
worben. ltnb ba fom eine Meine Sreube für micf), eine 
«Rettung. Ufas war’a benn für eine Jreube, bu? Gtn Ää* 
fer war’s, ein 3nfeft, ein Ding fo Hein, faunt ju fefjen. 
Unb baa batte ttf) lieb, unb auf baa freute icf> micf), unb 
mit bem fpielte ich unb fprarf» icf) unb braute ea fertig, baß 
es mich fannte, unb biefea armfeiige Ding toar meine 
ganje BJelt, bas toar mein allea — ich armer, armer 
JTlenfcf)! Unb baa f>afl bu mir genommen, baa, bas baß 
bu auf ben Boben geftfjmiffen unb baß ea vertreten mit 
beinern gemeinen brecfigen JTlanns(liefet! 3(1 fo etwas 
möglich, i(l fo einer wie bu gefcfmffen oon Gott, barf ber 
leben? Jlein. Der muß weg. Dem fein fitem mufi (IUI 
fein. Da gib U)n f>er beinen Atem, ben lebten..." 

Unb immer bie JTlarmorfäufle um bie 6urget bes oer» 
löfcbenben Jrjenfers, ;ifcf>te er if>m m graufiger 3Tad)äffung 
mit beffen einfligem Xonfall ins 6efirf)t: 

„Was baß bu benn ba? ßib’s f)er, was bu baß. Dir 
bringt man’s noch bei. Da, pu£ es auf!" 

Jllit einemmal aber, mitten im Donner unb Dunfl feiner 
Jlacbe, gefcfjaf) bas Große mit Johannes Abrecftf, bas 
Göttliche gefcfjaf) mit ihm. Gr fab, wie ber JTlenfcf) ba unter 
if>m in feiner flgonie fcfjwacb, bewußtlos, oerfinfenb, feine 
beiben Arme bewegte. Gr fab biefe beiben furjen Arme 
bUfebeifcbenb, gnabeflebenb, mit unficberen, armfetigen Be* 
wegungen fidb rübren, gwei Xaßer eines oergebenben We» 
fens. So winft ein franfes Äinb oertangenb mit ben ürm* 
eben, fo regt eine Meine unbewußte .Kreatur bie bünnen 
Gßeber. 

Durch Johannes’ ^im unb £eib unb ^änbe ging ein 
Strom, ein mitber, löfenber, erlöfenber Strom. Sein Griff 
loderte ficb unb gab frei, feine JTlusfeln alle fpannten fi<b 
ab, bureb feine Bruß webte es wie tüble £uft oon JTleer 
unb Sternen. Unb wäbrenb ber JTlenfcb brunten lautlos 
nach oorne fanf, richtete fich Johannes empor, er atmete 
tief, ein 3ucfen wie oon XBeinen ober £ächeln lief über fein 


266 


mageres 6efi<f)t, er lernte flcf> aufrecht an bte Gefängnis* 
mauer. 

So ßanb er, Me tobbringenben Jrjönbe ftarf» auf bie 
eigene Bruß gepreßt. Jlur toenige Augenbütfe flanb er fo/ 
flugenbliefe, Me eine unbeßimmbar furje ober lange 3eit 
für if>n mährten, unb eine unfaßbar mächtige, milbe Gr* 
neuerung burcfjflrömte mit ifjrer Silberflut fein erlößes 
3<f). Gr oermocfjte niefjt ju benfen, fpäter, fpäter mürbe er 
benfen fönnen, er gab fiel) f»n unb mürbe burc$ma((t unb 
mürbe geteilt/ unb ein Glücf ofjne Jlamen mar fein, 6r* 
leucfjtung, Befreiung unb Barmfierjigfeit. 

Cr öffnete feine Augen unb beugte fiel) nieber ju bem, 
ber ba auf bem Antli^ lag. Sanft naf>m er ifjn bei ben 
Schultern unb richtete ü)n auf. Oie Bruß bes DTtannes f>ob 
fi<#>, feine 3üge, bei no d) gefrfjloffenen £ibern, maren in 
Regung, gofjannes fniete neben i f>m nieber, lernte ben 
ferneren £eib in feinen Arm unb blitfte ben 3urürffef)ren* 
ben an. Oas öbe £id)t ber £aterne bedien if)n. 

Abre«f)t t>ielt biefen Körper mit jrjönben, bie ßcf) nirf>t 
erinnerten, er faf) biefen JTtann mit Augen an, bie i^n nie 
gefef>en Ratten. Gin armes feltfames JTtünb<f>en ßanb [falb 
offen in biefem Geficfß, ein ,ftinbermünbcf)en mit Meinen 
fptyen 3äf)ncf)en, beffen untere £ippe mef)mütig f>erabf)ing. 

Gr begann mit oorfitätigen Singem bie Schläfen bes 
JTtannes ju mafßeren, mä&renb fein linfer Arm ifjn ßetig 
ßü£te. Unb n ad} menigen Stritten frfjon öffnete jener bie 
Augen. Sie maren trübe, fafjen no6) nicfjts unb fcfjloffen 
fief) mieber. Gr gurgelte unb röchelte. Cannes fu^r fort 
in feiner JTtü&e, tangfam, metfjobifcf), genau, als märe er 
allein auf ber UJelt mit biefem Grroarfjenben, als führte 
nirgenbmo ein BJeg in bie Straßen ber JTtenfc&en. Jltancf)» 
mal nur mußte er innefjalten unb aufatmen, um einer 
Glücffeligfeit ^err ju merben, bie if>n fcfjmatf) machen 
mollte. 

Unb plö0li(f> merfte er, baß jener ifm anfaf>, baß bas 
£eb;en oöllig in lfm jurürfgefefjrt mar. Gr füllte einen 
JBiberßanb im ganzen £eib bes Gefräftigten, er ließ ifm 
los, ßanb tangfam auf unb trat ein menig jurütf. 3m 

267 



BficP bes anbern erPannte er bie Xobesar.gß, gerne fjäffe 
er if>n beruhigt, ifm getrößet, ober er mußte, baß bies nicfjt 
fein Ponnte, unb ließ ii>n läefcelnb, oerjicfuenb, gewähren. 

Da erfjob aud) jener fief) mit löonPen. Er lernte firfj 
briiben on bie JTtauer bes Schuppens, immer weit offenen 
Blirfs, bie $änbe (unter fief) gefpreijt. linb fo begann er, 
fi(f> baoonjutaßen, immer noef) gewärtig, fein llberwinber 
werbe ifjm folgen, fef)ob er ftcf) langfam baoon, in ber 
Jlicf)tung ber Pforte. Da ging aucf) 3of)amtes fßnmeg, 
finnenb, oerfunPen, nocf) feines neuen 3ußanbs nicf)t 
mächtig — in ber Jltrfjfung ber Kielt. 


l 7* 

IBofß wenbeten fief), wäfjrenb er bafßngütg gegen bie 
JTiitte ber Stabt, feine GebanPen auf ben 3urttefbleibenben, 
mit fanftem erbarmen unb mit ber Sreube, baß jener 
notf) lebe. .Keine Sorge mifef)te ficf) (»nein, ber anbere 
Pönnte if)m nae£fef)en Taffen, ifm oerfolgen, oerfjaften. So 
würbe ber Sdßcffalsabenb nicf» enben. BJar’s aber aucf) 
anbers, er würbe es (»nnefjmen, nichts Ponnte bas änbern 
an bem f»mmlifcf)m Ertrag biefer Jlacf». Dfme Jurcf» 
ging er baf)tn unb wußte bocf) nief)t, wie ganj er gefcf)üftt 
war. 

Denn ber anbere, angetangt bei bem Pleinen Xor unb 
eingelaffen in fein £ogis, bacf)te roafjrlicf) niefjt an üerfol» 
gung. 3ittemb, frierenb, legte er fiel) nieber. 6r ließ fief) 
oon feiner Srau einen Tee aufgießen, fie braute if>n brum« 
ntenb ans Bett unb faf> je£t erß fein armfelig oerßörtes 
Geficfjt. Sie befragte if)n, ofme Einbringlicf)Peit freilief), 
benn fein Ergeben berührte fie wenig. Er aber wagte nicf» 
ju ergäf)len. Jlod) war es ifmt, als Pönnte bas Scfjrecfficfjc 
wieber aufßef>en unb bafein, wenn man es nannte, fef»on 
füfjlte er wieber bie Steinfauß an feinem j?als unb grub 
fief) unter bie Äiffen, (»er in feinem Bett nocf) oon flngß 
unb Graufen gefcf)ütte(t. 

Erß fpät in ber Jtacf», als er aus bem Schlaf mit 
Schreien auffufjr, gab er eine ErPlörung. Aber tote bie 


268 


Srau nun anfing, fuh gegen Öen JTliffetäter ju empören 
unb feifenb oerlangte, man müffe ihn faffen unb flrafen, 
ba wehrte er ab, notier Cntfe£en, unb feine Änechtshänbe 
fpreijten ftcf) im Jlarferticht ber Äerje. 

„Uein, nein!" fchrie er, „wenn fte Um fangen, bann 
lomrnt er toieber ju mir unb bringt mich um in ber 3etle!" 
llnb er lief} bie $rau frfjroören, bafj (einer non ihr bas 
Gefchefmis erfahren werbe. Um Jluhe ju hoben, oerfprach 
fie es. 

Hm nächflen Tag blieb er (ran(, unfähig aufjufhhen. 
Cr fcf)Iotterte, wenn fich norm JFenjier bie Blätter ber Ulme 
bewegten, non ber man t)kv bie unterften flfte faf>. Cr 
fchrie auf, wenn bie Xür ging unb feine 5rau hereintrat 
ober ber Hnfialtsarjt. Unb auih als er nach wenigen Xa» 
gen bas Bett oerliefi unb fich anfchicfte, toieber &er(er* 
meifler ju fein, blieb er nerwanbett Cr fitrch tete fi<h nor 
feinen Gefangenen, er wagte faum mit einem allein $u 
bleiben unb fuhr jufammen, wenn eine Schtafprltfche, bie 
er felbfl losfchlofj, raffetnb nieberfiel in ihr Scharnier. 

Batb würbe es Mar, bafi er bem ©ienfl nicht mehr ge» 
wachfen war. ©ie Berwaltung, ber er als ein pflichttreuer 
Beamter galt, bemühte fich unb fanb einen Sofien für ihn 
in bem flrmeemufeum bes £anbes. ©ort ging er nun um» 
her, flumm unb äng|Kich, jwifchen ben 3eichen oerfcholle» 
nen «Ruhms unb ben UJerheugen einer Jlof)eit, beren 5orm 
fich gewanbett hot. ©er Dienfi war leicht, unb er hotte 
mehr freie Stunben als ehemals, aber bies würbe ihm 
nicht jum £eil. Cs war (eine Sreube für ihn, frühjeitig 
heimju(ommen in bie noch engere ©ienflwohnung, bie ihm 
nun juflanb. ©enn feine Srau, lieblos unb hämifch fchon 
juoor, war notier JRifJmut unb Bitterfeit gegen biefen 
JTCann, ber nun auch fein einjiges, feine militärifche Sorfch* 
heit, oerloren hotte, ber übellaunig unb fchrecfhaft bei ihr 
fafj in bem ärmlichen Gelaß, unb beffen Gegenwart fie 
baran hinberte, bie mautfertigen Xreppenfhmben mit ben 
Nachbarinnen ausjutoftcn, bie ihr Bergntigen gewefen 
waren. 


269 



Sie gürnte ibm oucf), weil fein Gebrerf>en fie nötigte/ 
auf i>en Pfennig gu feben. Oenn bie neue letztere Sfel* 
lung war geringer begablt unb fein Jtebenoerbienß ntrfjr 
ber Jlebe wert. Ufas ftcf) in biefes Jpeeresmufeum hinein* 
fanb, bas waren nicf)t £eute, bie freigebig XrinPgelber oer* 
teilten: ba9 waren fjalbwücf)ftge Kinber aus ben Spulen/ 
entweber rubelweife mit ihren £ef>rem ober ohne flufficfjt 
in Meinen Xrupps, fefjr bereit, Unfug gu fliften; bas wa» 
ren Kleinbürger unb Meine Beamte, beren Kümmerlicfjfeit 
ftrf) an ben Sieden alten Blutes unb an ben großen JBor* 
ten ber Sahnen tücber erregten, ober Solbaten mit ihren 
5Dienfbnäbd>en. Kam aber je einmal ein anfebnlicber 
Srember, ber mit wachen Augen an bem Gtoriengerüm* 
pel oorüberfcbritt, unb erbat ber ficf) Befcf)eib, fo gab biefer 
B3äcf)ter eine Ponfufe, Purge unb unfreunblicbe Antwort, 
bie aflgu beutücf) nterPen Heß, baß er nichts wußte. Oa 
Heß ihn benn ber Befuc^er mit einem Kopfniden ßefjen, 
unb ber Armfelige fcfjlicf) weiter burcf) bie froftigen Säle, 
unter ben bunten Se^en oon Stanbarten unb Sahnen bin 
unb gwiftben all bem roßigen Blutgerät: Partifane, Kar» 
taune unb JTlorgenßern. 


18 . 

Johannes Abrecbt war weit fortgelangt gegen bie innere 
Stabt bin unb fanb ficb wieber auf einer Banf mitten in 
ben gepflegten Gartenanlagen eines großen, ^eiteren 
Planes. 6s war einer ber gebämpft frf)önen Xage, mit 
benen bie gute ^abresgeit Abfcbieb nimmt, unb oiele 3Tten* 
fcben waren noch warf) unb genoffen ben Abenb. Auf ben 
Sanbwegen um Johannes bet war es füll, oereingelte 
Paare nur bewegten fi<b mit Slüßem, aber braußen an 
ben Straßen, bie um ben Gartengrunb liefen, faßen bie 
£eute im Sreien oor ben Jleßaurants mit bunten Geträn» 
Pen oor ficb unb plauberten unb lachten. Das Plang fcbön 
aus ber Seme, gumal melancboltfcb munterer Geigenton 
oon irgenbwober alle bie Stimmen begleitete unb oerPlärte. 
Oie weit berausgeßellten £einwanbmarPifen ber Jtcßau» 


270 


ranfs und die feltenen großblättrigen pflangen der Anlage 
gaben dem piafj etwas Sremdländifc^es, Cntrücftes, und 
fremdländtfrf) innig und glühend war auch die Smaragd* 
färbe des furgen, dichten «Hafens, den non fyofyen TRaßen 
draußen die Bogenlampen mit ihrer unwirtlichen Jlamme 
beßrahlten. 

(Johannes faß und blicfte oor fi<h hin, und Friede war 
in feiner Bruß. Cr war einen ungeheuer weiten HJeg ge» 
gangen, er fiand an einem 3iel gu furger, wonneooller 
Jlaß, die ftiße BTattigfeit eines lang Gequälten, nun Cr* 
lößen, füllte fein $erg, und der filbeme Älang der entfern* 
ten Biolinen und der Stimmer des weichen Jlafens floß 
damit gufantmen. Cr fah hin Uber die Heine, unirdifche 
XOiefe und mußte lächeln, und einige fchöne XUorte tarnen 
ihm in den Sinn, ein Bers wohl/ den er aus der Binder* 
Seit wußte: 

„Jrjier weidet der Sriede feine weißen £ämmer/' 

Cr faß und ruhte. Die JTacht fchritt oor, die Stimmen 
oon draußen wurden fpärlicher, einzelner, das IRuftfgetön 
war oerßummt, ohne daß er es merfte, das £icf>t oon 
manchen IRaßen oerlofch, über das fmaragdene Gras leg* 
ten ficf> die braunen Schatten, ein fühler Atem durchßrich 
die Gebüfche. 

IBas iß mit mir gefdjehen heute abend, dort in der Gaffe, 
dachte 3°honnes Abrecht, und richtete pcf) in die ^öfje, 
was war das für ein Augenblicf? 3ch werde es nie mehr 
wiffen. Cs iß etwas, das ficf> meinen Gedanfen gang ent« 
jieht, ich hübe ja auch niemals gelernt gu denfen. Aber 
wäre ich auch gelehrt und u»ife, ich tönnte es doch nicht 
mehr gufantntenbringen, denn es liegt wohl außerhalb 
aller JBorte und oberhalb der Bernunft. 

BJas iß es gewefen? 3<h hoßte ihn und wollte ihn täten, 
da hob er feine Arme und bewegte fie fo. ♦. lind da habe 
ich olles oerßanden. XOar es, weil er feine Arme fo bewegt 
hat, daß ich on den Goldenen denfen mußte? 3a, auch 
darum. So hot der Goldene feine braunen Glieder geregt, 
wenn wir gufammen gefpielt hoben, lind dann hot der 
IBärter ihn ger treten. Aber das war es nicht allein. XBie 


271 


er feine Arme fo bittend f)ob, da fad er aucfj aus rote ein 
Heines Kind in feinen Kiffen. Geroif} (>abe icf) das aucf) fo 
gemailt/ früher, gu Jpaufe, als icf) Hein roar. UTir find ja 
alte gar mcfjt fo fefjr ooneinander getrennt/ roie roir immer 
glauben/ wo ifl denn die Grenge? Hier will ficf) da oer* 
nteffen, gu fcfjeiben und abgufondern und gu fagen: fo ifl 
der, und fo ifl das, und dies ifl gut, und jen’s ifl f<f)lecf)t? 
3a, folcf) ein Gefühl ifl es ungefähr gewefen, was dort in 
der Gaffe mit einemmal in micf) eindrang und was mir fo 
lind und mild durcf) die Adern rann roie erlöfendes Silber. 
Aber es roar nocf) etwas Befferes und Grüneres, glaube 
icf>, nur läßt ficf)’s nicf)t fagen. 

Oer HJärter roar einmal ein Heines Kind und in dem 
Augenblick, als er flerben foltte, da roar er’s wieder, und 
für das, was bagroifcfjenliegt, fann er nichts. Er weif) 
toainfcfjeinlicf) gar nidfrt, dafi er bös ifl und graufam, und 
meint, er tue das «Rechte. Und der Heine Goldene, der micf) 
getröflet f>at in meiner 3elte, er ifl ja aucf) nicf)t bloß gum 
Xroft und gur Scfrönfjeit da, und lcf> weif} gang gut, daß er 
fiel) fonfl nicf)t oon Blumen ernährt, die ifmt einer bringt, 
und daf} er niefjt geduldig in einem IBafferfrug fi$t, fon* 
dem daf} er die Heineren Käfer jagt, und daf} er «Raupen 
frif}t und roinjige Scf>necfen und roef>rlofe, naefte löür« 
mer, und icf>, roer bin denn icfj, daf} icf) urteile: dies ifl gut, 
und dies ifl böfe und marfje micf) gum «Richter und maefje 
micf) gum Jläcfjer? Ein JTiäbel f>ab’ icf) überfallen im Seid 
an einem f)eif}en Xag, und f>eute f>abe icf) einm JTiord be» 
geben wollen. 3cf) f>ab’ ifm nicf>t begangen, aber was f>at 
micf) abgef>alten davon? Ein Wunder, die Gnade. Sreificf), 
icf) glaube gu roiffen, daf} icf) tro£ IBollufl und Xotfcf)lag 
doef) etwas anderes bin als jener. Einen 20ef)rlofen quä» 
len, das möchte icf) roof>l nicf)t. JRag fein. Aber roof)er 
neunte icf) das 6efe£ und das Urteil, wo flefjt der «Richter» 
fluf)l, vor den man das alles tragm fann? 

Gibt’s ein Gericht? Hier weif}, für welches Of>r alle die 
Stimmen gufammenftingen. Oa ifl das Gute ein f)etter 
Xon, da ifl das Böfe ein dunfler, mächtiger Baf}. Hier 
weif}, roer weif}. 3(1 uns nicf)t felber manchmal, roar mir 


272 


nicht btute tn ber Gaffe, als hörte ich auf einen Augenbtitf 
bie Harmonie. Als bränge ein Purjer, herrlicher $all burrf) 
eine rofcf) geöffnete Xürl Da wiffen wir plötjlicf), wie Mein 
unb eng unb buntm alles war, was wir gebaut unb ge* 
urteilt haben... 

3a, ^ute abenb iß mir nun, als wüßte irf), wo mein 
IBeg führt, als fönnte ich ihn nie mehr oerfehlen. Als 
freiße bie IQahrheit filbern in meinem Blut unb fei nicht 
mehr fortguwefchen für biefes ganje £eben. Aber tff bas 
nun fo? Äenne ich }e£t beffer bie Kräfte, bie in mir am 
HJerfe finb, Penn’ icf) nun beffer meinen Meinen pta£ im 
großen plan? 

Äenn* ich ben feinen? UJarum würbe er fo erfchaffen, 
er, bcn ich töten wollte? Xöarum hat er biefen JTiunb unb 
btes Äinn unb bies Auge? BJer ifl er benn, was foll er 
benn hier? €r lebt unb hanbelt unb weiß nichts oon fich 
unb frf)wmbet bahin, was iß’s bann gewefen? — £eben 
iß’s bann gewefen, £eben! UHllPommen Bös unb Gut! 

Gin flarfer löinbßoß fuhr burch bie BUfche unb Bäume. 
3ohannes atmete tief. 

3a, fo iß’s. So iß’s. häßlich unb ^enrlich, Bös unb 
Gut — willkommen, willPontmen! D £ebeni Hoch bin 
ich Jung. Du breiteß bich oor mir aus, große, leuchtenbe 
Stäche mit allen beinen Gefahren unb Ungeheuern. Auf 
einem JTteerfchiff fahre ich hinaus, mit 3ugenbPräften noch 
unb neu gefegnet unb gan$ bereit, bich/ Gewaltiges, ju 
grüßen unb bich Sreunb ju heiße«, famt alten, allen, alten 
beinen 6efchöpfenl 


m 


18 fcsutfd&e KobeIte. 


3M e 4 t 6 y 11 e 0 o u t a in 

Bon Jltaj Äreü 


AL^ftober 1859 ß Qr & Me Äomteffe Baurain, ein altes 
v JTtäbchen. bas im Schatten ber Tuilerien tote oiele 
ihres Stanbes auf bie Jleflauration ber Bourbonen gehofft, 
unter ber Glut biefes Jpimoartens ein eigenes £eben oötlig 
mißartet unb oergeffen batte. 

©er Jleffe Anbrö Baurain toar fefjr erßaunt, einen 
Jladjlafi oorjufinben, ber feine Annahmen beträchtlich 
übertraf. Jleben unerheblichen 6 elb fiel ihm bas £anbgut 
Cbaiuit in P 6 rigorb ju. Äein JTtenftf) fjotte oon biefem 
Beßb eine Ahnung gehabt, auch ber flatfchbaften JTlagb 
toar er entgangen, man batte oon feiner «Reife ber Baurain 
baf)in gehört, unb nun plö£licf) toar, aus bürftigen Ein» 
fünften unb jufäiligen 6 enüffen gufammengefpart, bie Bi» 
fion eines länblicben Befi£es oorbanben. Einmai, batte bie 
Baurain gemeint, toürbe ber Graf oon Cbamborb «König 
fein, unb unter ben £üien fönnte ein Schloß unb eine ^err* 
fcbaft entfleben. Es toäre ihr größter Ebrgeij getoefen, 
ihren Abel als Stü$e ber Monarchie ins £anb fnnausgu» 
tragen. 

Als elenber Xorfo hätte öiefe 3bee geenbet unb als eine 
erfcbüttembe Armfetigfeit, beren ganje Tiefe man nur be* 
griff, toenn man bie £ehmhütten oon Chatuit fab. Gin 
Biehhalter fümmerte ficf> um nichts, es toar ber fargfie 
Boben biefer £anbf<baft, bie Sonne jerbrannte immerju 
bie Briefen. Bas Dbß eines ungepflegten Gartens (iahten 
fich bie Buben, toöhrenb in Paris bie Baurain ihr trocfenes 
Brot aß unb in einem Jrjinterjimmer bem lob entgegen» 
fchrumpfte. Ein JTIann ohne Hnfprüche, ein Bauer, gan 3 
hingegeben bem Acfer unb ber 3ucht geringen Biehs, 
mochte hier oielleicht ein £eben ohne materielle ^öhepunfte 


274 


führen. Jüan mußte mit ber Sonne um bie Wette laufen, 
tonnte mit getrümmfen Jlütfen bte Surcfjen abfchreiten 
unb oielleicht gefunb bleiben- ©arüber hinaus ßanb nichts 
ju erwarten, unb bie Auffahrt fönigiuger lOagen märe 
felbß bem Gehanten nach nur ein löig gemefen- Oie alte 
Oarne hatte im leßament noch einen (egten Scfjerj per* 
fucfjt: 

„JTlögen Bie, lieber Oleffe, ba unten bie Xrüffe(n fin* 
ben, ju benen itf) 3hnen jroei Sememe hinterlaffe." 

AnbrS, oon ben bourbonifchen Sfrupeln ungeplagf, faf> 
nur bas plus. Ging es nicht beffer, fo tonnte man bie 
Älitfcfje oerfaufen, unb bas £eben in Paris mar für einen 
oergnügten JTlonat fichergeßellt. JTlit biefem murmßichi» 
gen Erbteil begann fein Aufßieg. 

Cfjaluit felbfl mar ein Ort, eine flehte Stabt beinahe, 
in ber man am £eben oorbeifchüef unb beshalb bie mun» 
berbarflen Oinge faf). Sott ging mitunter noch fic^tbar 
burrf) bie Gaffen. JTtan flanb oertraut mit ihm unb er* 
tannte ihn an, mo man in Paris, £pon, Borbeauj lfm 
ftfjon außer Äurs gefegt gatte. Alles Sonberbare gegärte 
in ben Berehg biefer minbfcgiefen Raufer, baju Srau 
JTionacre. 

Sie ganbelte mit Seife, Äergen unb öl. früher mar 
noch eine Seilerbagn habet gemefen. BJer ficg igrer Spot* 
patgie erfreute, fanb in einem Jpinterjhnmer .Rat für alle 
bistreten Angelegengeiten. Srau JTionacre las ntcgt aus 
^affeefag noch ; ug fie bie harten, aber fie mußte immer 
Befcheib, fie eruierte ben Gänfebieb, marnte oor allju gro* 
ßen £iebesgoffnungen, tünbigte Jpagelfchlag unb Jleblaus 
an, unb gatte in jeher Affäre eine fo fichere ipanb, baß 
fie jum 3nbegriff ber JTlütterlicgteit anftieg, ben fie niegt 
entmeigte; bas geißt fie nahm für igre JTteinungen feinen 
Sou unb ließ es immer babei bemenben, baß man igr im 
HJinter etmas gur Seuerung, im tyer bß einen Äorb 
Dbß fegiefte, im Sommer mürbe fie ju fleinen Wahrten 
über £anb mitgenommen, unb im Srügiing gingen igr 
bie Blumen nicht aus. Oas genügte igr oöllig. Sie hätte 
felbß bas nicht oerlangt, menn man es ihr oorentgalten 

2 75 


18 * 



hätte. Senn fie behauptete, fein Jflecfjt gu höben, ein Ge« 
fchäft aus biefem magifcfjen EJiffen gu matten. Sie be* 
fannte flets, baf} fie in Äorrefponbeng mit ben Geiflem 
Abgegebener ftünbe, unb es wäre ßrofanation, bie JTtei« 
nun gen, JTtitteilungen, Singergeige, bie ifjr aus jener 
fremben Sphäre aufgegwungen würben, in Gelb urngu* 
fefcen. 

Anbr6 hatte fef>r halb Sufi bei Srau Jltonacre gefafit, 
unb bie außerorbentliche ^öflicfjfeit, mit ber er fie bef>an<= 
bette unb i(>r Keine flufmerffamfeiten erwies, wie er ihrem 
6 efcf)äft gu oerbienen gab unb mit feinen Anliegen über 
Ginrichtung bes 6utes gu ifjr fam, bamit gewann er fie 
fe&r fcfjnell unb oollflänbig. Anfangs tat fie nichts, ihm 
ihre offulten Oienfle angubieten. Sie batte eine gewiffe 
Scheu, biefem JTienfcfjen, ber fo befonbers fchien unb eine 
gang ungewöhnliche Glegang an fid) batte, mit einer Sache 
gu fommen, bie fie allen hingab, befonbers aber, über bie 
fie felber nicht recht flar war, unb in ber fie beinahe etwas 
3rres unb IJerbächtiges gu fühlen meinte. 

Cs war ein hahnebüchener ©iebflahl auf feinem fleinen 
Gut gefchehen, ber ihn aufgeregt gu ihr führte: man hatte 
ihm gwei «Kummete über Jiacht weggenommen, hatte 
fämtlichen £afer für feine Pferbe über ben of geflreuf 
unb unter heftigem Sthabernacf aus feinem h^bfehen 
Seoresferoice, bas noch aus ber Sontainebleauer 3eif ber 
Daurains flammte, ausgerechnet fämtliche lintertaffen bei« 
feite gebracht. 

„3a, ich weif}/' fagte Srau Jltonacre, „weshalb Sie gu 
mir fommen/* Gr hatte noch gar nicht ben JTtunb aufge* 
macht. „Se^en Sie fich Mtia* HJir werben es gleich ha*, 
ben!" 

Sie fperrte bie Tür nach bem £abcn ab. JPährenb fte 
mit einer langen Stricfnabet langfam in ber irjaartolte 
herumfrahte, ftarrte fie mit einem öngfltich taufchenben 
Auge auf ben Xifch. Sie fe£te fich, eine löetle gefefjab gar 
nichts. Anbrö war gefpannt, er glaubte nicht fehr an biefe 
«Rünfle, bie er für eine Sabel hielt. 3m Augenblicf oergaf} 
er gang feine Angelegenheit unb meinte ber «Richter eines 

276 


Projeff cs 3 « fein, in bem fi<f> ein bortnäcfiger Berbrecber 
feit)er ben Sangftoß gab. Oie Petroleumlampe Uber it>r 
penbette gai toenig. Oie Älopftöne tarnen. Cr börte fie 
felber. Srau JItonacre oeränberte if)re Haltung nicht, nur 
Hnbr 6 würbe aufgeregt. 

„HJas hören Sie?" fragte er. 

Sie runjelte bie Brauen, er oerflanb, bafi fie nicht ge* 
flört fein woUte. Oann fing fie an ju fcbreiben, ber Jlap* 
port toar bergeftetlt. 

flb, fie wirb lange fTreiben fönnen, toas bot bas auf 
ficf), fie wirb mich bttpieren wie alle biefe «ftlatfcbbafen, 
unb am Cnbe ifl fein Simfe Crnflboftigfeit babinter. 

Sie ftbrieb ungemein flüffig, if>re grobe $anb 30 g fcbnell 
über bas Papier bin, man hätte ben roten, ferneren Sin* 
gern ni<bt biefe Cleganj jugetraut. flts fie aufbörte unb 
etwas erfcfjöpft jurücf in ben Seffel rutftbte, mit bem Sin¬ 
ger bas Papier leicht oon fi<b fcbnippenb, erfcbraf er bocb: 
hier war bie fjanbfcbrift ber alten Baurain. Cr botte pe 
feiten gefeben, aber niemanb fonfl fcbrieb biefe etwas fpi* 
nöfen ängfiücben 3üge ohne fetten Strich, mit ein wenig 
XDib unb einer Meinen Oofis Sartasmus. Oiefe Schrift 
fpiegelte ben Cbarafter ber oerflorbenen Oame bis in bie 
feinften Salten wieber. 

J^ier (ianb bie genaue Betreibung ber beiben Täter, 
eines Unechtes mit einem oerfHintmelfen Obr unb eines 
jrjausmäbcbens, bas er wegen bummer £iebf<baften fürj» 
Iicf> oor bie Tür gefegt botte. Cs waren auch noch BJarnun* 
gen gegen eine britte Perfon ausgefproeben. 

flnbrö ging biefen Oingen na«b, es war fein XBort ju* 
oiel, bie Oiebe würben gefaxt, bie Cegenflänbe am bejeief)* 
neten Drt gef unb en, ber britte Oerbäcbtige im JRoment 
einer neuen Tat gepaeft. 

Aber als alles wieber jur Jtabe gefommen war, ttabm 
er es nicht emfl. 3ur JTlonacre meinte er, es fei febr nett 
oon ibr getoefen. Um auf bie richtige Säbrte gu bringen, 
er glaubte nicht anbers, als bafi fie oon ben Oingen bureb 
irgenbeine Scbwabbaftigfeit XBinb befommen bobe. Seine 
Parifer Sfepfis war 3 U febr elngefreffen, 3ufä(Ie unb raffi* 


277 


nierte Gaunereien foltten if>n nicht oerblüffen. 6ine Ge» 
legenfjeit, biefer Srau feßer auf ben 3ahn gu fügten, würbe 
fomrnen. 

Gme lUeile lang befcfjäftigfe er fie nur mit Unerheblich» 
feiten, als wolle er fie arglos machen. Dann tarn er Änall 
unb Salt mit einem großen Anliegen heraus, beffen Trag» 
toeite unb Uergmeigtheit fie faum gang überfehen tonnte: 
es fei nötig, fein Meines Gut mit allerhanb Steuerungen 
gu oerforgen, man müffe lanbmirtfchaftliche JTtafcfjinen 
non ber lebten Äonßruftion faufen, bie Ställe feien gu er» 
weitern, bann eine DJafferleitung gu (egen, überhaupt bas 
Gange müffe, wenn es fiel) lohnen folte, auf einen brei» 
teren 3ußanb gebracht werben. Sonfl täte er beffer, gu oer» 
taufen unb bie paar Fronten in Paris aufgueffen. IDar, 
was biefe Srau tat, ein Schwtnbel, fo mürbe fie gewiß 
oerfuchen, ihn, an bem fie intereffiert mar, mit Meinen 
6 ef«häften unb für fpäter gewiß mit allerlei üieferungen, 
hier gu holten* BJar aber etwas an ber Sache, fo mochte bie 
Baurain mit ihren mpßifcf>en Borfchlägen herausrücfen. 

Die Baurain tat es. Die Älopfgeidjen tarnen. Srau JTto» 
nacre fchrieb, fie würbe blaß oon ber Anßrengung unb 
ßöhnte leife in fich hinein, manchmal wifchte fie mit ber 
j?anb über bas Geficht, als lägen Spinngewebe barauf. 
£s ging lange fo. Anbr6 hoitte in ber Sofaeife, bie Dunfei» 
heit regte ihn eigenartig auf. Gr wollte bem Schriftgug 
folgen unb faf> angefpannt auf ihre Jjjänbe, aber es ging 
oiel gu f<hnell. Sie fe^te bisweilen in ber 3eite ab, bas 
allein ernannte er, es würben «Kolumnen oon 3ahlen, Sta« 
men. 

Als er bas Papier befam, las er Anweifungen, wie er 
ben Brocten Vermögen, ben bie Baurain ihm neben bem 
Gut hinterlaffen hatte, gur Börfe bringen folle, wie hoch 
mit ^ppothefen er Chatuit noch belaßen bürfe, um Be» 
triebsmittel gu betommen. Dann hätte er JTteyifaner unb 
Xürfen gu faufen gu ben unb ben Beträgen, Berliner unb 
englißhe Aftien. Sie gab Termine an, bis gu benen bie 
Stücfe gu halten feien, bann müffe er ebtgelne begegnete 
Partien abßoßen. 6s ergäbe fich ein Gewinn in ber unb 

278 


der $öf)e, mit dem er Weiterarbeiten müffe. Oie Borfcf)läge 
waren ungemein fachlich gehalten, ihre flffurateffe wer» 
blüffte ihn. 

Hnbr 6 wippte neroös mit dem SätfS und fcfjeuerte auf 
feinem pia£ herum. OafJ die JHonacre über die diffijilfien 
törfenbegriffe orientiert war# hielt er jwar nicht für un* 
möglich? aber immerhin für umoahrfcheinllch. IBas ihn 
mehr erflaunte, war die genaue Bezeichnung feiner Her* 
mögenswerte, die oon ihren Sängern aufgefehrieben da* 
ftanden. DJaa tonnte fie oon diefen Oingen wiffen, die in 
einem fJarifer Schubfach oenoahrt läge und deren Jlas 
men und 3iffern er felber nur oage im Gedächtnis hafte! 

Jüan follte es oerfuchen, dachte er. Oer SpafB wiegt 
einen Berlufl auf. Und wenn das alte JTtäbchen dahinter 
flecft — ah? was wiffen wir Jltenfchen über die Geifier der 
flbgefchiedenen, was wiffen wir, ju welchen mpflifchen 
Jleften und höhnen Beflimmungen wir uns auflöfen. 
Unfere Subflanj fann fich oerflüchtigen, fa, aber unfere 
geifligen Sunftionen haben Hufgaben ju erfüllen. Gr fam 
fich tieffinnig oor, als er diefen Gebanfen gefaßt und fich 
felber und feine Jleugierde damit befriedigt hatte, lind 
er fchtoß: was wiffen wir, was eine Xante Baurain noch 
mit uns oorhat! Sie fann fich mit Bonaparte oerföhnen, 
um ihr armfelig jerfloffenes £eben im Abglanz meiner 
£aufbahn dennoch anfieigen zu fehen. 

Gr fniff Öen 3ettel zufantmen und ging. Gs war eine 
3Tleile bis zum Gut. 3mmerhin, dachte er, während er in 
den hart gewordenen XOegrinnen fchlürfte, man wird es 
nicht fehr hoch anfangen. Oiefe alte JTJonacre hat irgend 
etwas läuten hören, fie fann mir etwas aufhängen wollen 
und hofft, ich fei der 6impet, auf ihre Spielereien herein* 
zufaHtn. 

flnbrö faß noch eine Stunde lang auf einer IBagendeich* 
fei, die fcf>räg in feinen $of ragte. Gr hatte eine £aterne 
jwifchen den fänden baumeln, und manchmal fiel der 
trübe Schein auf die buntgemalte JRabonna am Scheu« 
nentor. 


279 


6 r oerfucf)te ben erßen Borfcfjlag. Ißlö^üd) war er fin« 
fißh unb mußte ntcht, tote er btefe Gehöfte anpa«fen follte. 
6 s mürbe ihm fcfjmer, bie Sä£e ricfjtig aufs Papier gu 
bringen, er ßolperte fdjon bei ber Anrebe an ben Banfier, 
unb e9 bauerte gmet Xage, bis er ben Börfenauftrag auf« 
getrieben hatte. Dann martete er mit allen Spannungen 
bes Spielers. Oie 3eitungen famen unb batten tf>r befon« 
beres 3ntereffe für ifjn auf einer Seite, bie et bisher über« 
haupt nicht gefannt batte. 6s riß ibn mit Sieber herum, 
er batte fogleich alle Erregungen ber Börfe im Blut, unb 
3nßinfte toaren ba, bie er ftcf) nie batte träumen taffen. 

3uerß toar es eine Siucht oon 3ablen unb Begriffen, in 
bie er feine rechte Orbnung bringen fonnte, aber er 
machte gerabegu einen Jlucf unb gerriß in ficf) biefe JTebel. 
0 a9 mejrifanißhe Papier fiel in leichten Meinen Sprüngen, 
bas brachte ihn maßlos auf, unb fchon gab er alles oer« 
loren. Aber am fünften Xage manbte ßch bie Sache, bie 
Spefulation befam großes Sormat. Oann hielt es plöfj« 
lief) an einem Punft an, ber Pegel rührte fich nicht. Anbr6 
erinnerte fich, &aß bie Baurain einen Berfaufstermin ge* 
nannt hatte, bie 3eit mar ba, er folgte. Äaum batte er 
feinen Gemimt eingeßricben, ba flog bie 3TUne auf. 

6 r oerfuchte es mit anberen Borfcblägen. Balb fanb er 
fich gurecht, balancierte bie Chancen gegeneinanber, folgte 
aber gurneiß bem inneren Xrieb, biefer gmeiten Stimme 
bes 3cf)S. 6s ßachelte ihn, ihr gu miberfprechen, im lebten 
flugenblicf mollte er bie Oispoßtionen ber Baurain um* 
ßoßen, fo ßcher fühlte er ßch ßhon. Oann gehorchte er hoch 
unb fam mit bem oerfprocf>enen Geminn heraus. Oie 
Gleichheit ojar ungeheuerlich, faß marf es ihn um. 6r 
magte gar nicht naebgubenfen, menn er es hoch tat, fe^te 
eine Xrübung ein, bie ihm bie Ohtge ins ltnfeharfe entgog. 
6 r mußte ihnen ben £auf laffen. 3mar beglücfte ihn bie 
fchnetle Häufung ber JRittel, aber eine IBeile mehrte ßch 
feine naioe BTännlichfeit, einer fotchen JTIagie ausgeliefert 
gu fein. Schließlich glitt er fogufagen mit sollen Segeln 
in ein Abenteuer, bas ihm entgegengefommen mar, bas 


280 


fich an ihn längte, unb bas neben allem JJrttfelnben noch 
bie Annehmlichkeit batte, lufratio gu fein. 

6 s würbe feine Gewohnheit, febe BJoehe einmal ober 
öfter gu Srau TRonacre gu geben, fich in ihr grünes Sofa 
ju werfen unb auf eine Antwort ber Xante Baurain gu 
warten. Sie JRottacre f>atte firf> manchmal geßräubt, if>r 
war es ein blaspbemifches Unternehmen/ bie Abgefcbie® 
bene in biefe profanen Getbgefcfjäfte gu oerwicfeln. Sas 
warf ihren tiefßen Glauben um, fie empörte f«b, aber 
ihre Schwäche oermochte nicht, ben leibenfchaftlichen An« 
fhtmt biefes Spielers abguwehmt. Anbrö gab ihr (eine 
Setails mehr über feine Erfolge, es war unnüh, fie auf 
ben Grunb feiner Unternehmungen fehen gu taffen. Alles, 
was fie mit ftiegenben Jrjänben auf bie 3ettel fcfjrteb, war 
gu bunt für fie, gu oerworren, als baß fie hütte Aar fehen 
tonnen. 

6 s war immer um bie Spätnachmittage. Ser Jlaunt 
hatte an fich f<hon wenig Sjeltigteit, gegen ben Garten gu 
war er mit einem Meinen Barorfgitter um bie Jenßer oer« 
riegelt, unb BJein unb Geißblatt wucherten grün herein. 
Eine breite Petroleumlampe frfjwang über bem Scheitel ber 
3rrau, weifte bort einen gelben Schein. Sie fah Anbr6 faum 
an, niemals in bie Augen, folange fie 3nßrument war. 
Bisweiten würbe fie, was nicht in ihrer Jiatur lag, ärger« 
lieh« Sarum fümmerte fich Anbr6 inbeffen nicht, weber ihr 
3uftanb noch bie Schwantungen ihrer Jleroen waren für 
ihn ba; unb ob fie fahrig war ober gefammett, bas jging 
ihn nichts weiter an. Er war gang unb gar ein befeffener 
JTtenfrf), ber nichts anberes wollte, als feine Papiere an 
ber Börfe placieren unb hierfür tobfichere Xips haben Sas 
war alles. Er oergaß oollfommen ben fonberbaren IBeg, 
ben fie gu ihm nahmen; bas Gefchäft nur galt, unb wie 
es gußanbe tarn, betraf ihn nicht. 

Sie Borausfagen ber Baurain erfüllten fich mit einer 
Eyaftbeit, bie ihm bennoch bisweiten Angß machten. Sann 
oerfuchte Anbrö einen eigenen BJeg gu gehen unb geriet in 
Berluß. Er beachtete biefe Signale unb gab alle Siet« 
föpfigfeit auf, bas JUicfgrat war ihm gebrochen. Es hatte 


281 


nichts als biefes mpflifchen ^Rapports beburft, if>n in eine 
unerhörte AbhängigPeit gu werfen. 

Das Gut Cfjoluit würbe non ^anbwerPern weggefegt, 
ber befrfjeibene Stallbeßanb oerfchleubert, bos JRobUtar 
oerfieigert. 6s oerging Pein ^af)t, unb man hätte an ble 
Crfüllung traumhafter DJünfcf;e benPen Pönnen: Anbr6 
baute fich ein wunberoolles Befi^tum, bas allen heimlichen 
GebanPen feiner ffüngtingsgeit Gefialt gab. Gin Schloß in 
•Renaiffanceftil griff mit gwei Slügeln in ben Ißaxt hinein, 
dahinter lag bie ÖPonontie, ber nichts fehlte, was für ihren 
Bebarf oollPommen war. Seine JÖcPer reichten bis gur Dor* 
bogne. Gr ließ fich Schaluppen bauen, eine 0a<ht unb einen 
Pichten $afen, es war als Spielerei gebaut, aber ba er 
nichts mehr in Pleiner Sorm betreiben Ponnte unb ln allem 
eine große Jrjanb hatte, würben es Anlagen oon 3Ttußer« 
gültigPeit. UTian fprach nicht nur in ben benachbarten 
Arronbiffements baoon. Das JRinißerium nannte ihn ein 
BeifpieL JTapoleon erwähnte bei ber Gröffnung einer lanb* 
wirtfchaftltchen Ausßetlung bie Güter oon Chaluit als 
einen nationalen Sfolg, er bePorierte ben Beßrer. 

Breit bot ftch ihm bie 3uPunft att, mit ber er in phan« 
taßifchen Träumen einmal gefpielt hatte. Cr bachte nun 
nach Paris gu jief)en unb bie große Jlolle feines Gelbes 
unb GlücPes gu halten. 

Aber es blieb ber Sali Jltonacre. Ohne fie Ponnte er nicht 
fein. Seine Unternehmungen würben ins UngtücP um* 
ßhtagen, wenn er biefen «Rat nicht mehr hätte. Cs war ihm 
fchon gang gur Gewohnheit geworben, bie 3eicf)en ber Bau* 
rain jebergeit in Gmpfang gu nehmen unb ihnen blinb* 
lings gu gehorchen, unb wenn bie Dinge in Sluß waren 
unb er nichts gu fragen hatte, fo Pam er mit ber £uß unb 
J?>aß bes Spekulanten hoch gu ihr. Trieb er fich «in paar 
Tage in Paris umher, einen BlicP in bie DJelt gu werfen 
unb bie leichten Seiten mitgunehmen, fo hatte er Peinen 
Genuß; er würbe gehest oon ber elenben Surcht, etwas 
gu oerpaffen, einen Tip nicht rechtgeitlg gu bePontmen. Ber* 
ßimmt über fein Ausbleiben, hätte ie Baurain gang 
fchweigen Pönnen. Die JTtonacre Ponnte ßerben, tmb alles 


282 


würbe gu 6nbe fein. 6r fof) ntcf>t, bafi es genüg war, was 
er befafl/ unb bafj aus bem Sefefj ber Trägheit heraus bie» 
fer Beftfc fi<h galten unb befefligen werbe, wenn man ihm 
Hegen unb Sorgfalt gab. Das Spiel hatte ftcf) überfragen 
unb er mit ihm. 

6 r backte heran, bte JRonaere mit nach Paris gu neh* 
men; ftf)UefJlief> fprach er es aus, er wolle für fie forgen, 
fie fotte es wunberbar haben In einem eigenen ^aus ttaf>e 
bei ben Xuilerien; fie werbe ben «Raifer unb bte Paraben 
fefjen. 6r Sprach auch non einem pia£ in ber Oper unb oon 
IBagenfahrten feben nachmittag ins Bois be Boulogne. 
Xlnb wenn fie irgenbeinen BJunfch habe, fo werbe er for» 
gen, bafj man ihn erfülle. 

Uber ba geigte es fich plöhlich, bafj biefe Srau oon allem 
nichts oerflanb. Sie hatte feine Ahnung oon Selb unb was 
es bebeutete, oon. ben erflaunlidjen JRögticfjfetten, bie man 
fttf) bamit auftun fonnte. 3t>r Jj^origont blieb Chaluit, über 
ein Meines Dampfboot, bas einmal bie Dorbogne herauf« 
puffte, oerlor fie ben Äopf. Der «Raifer war etwas weithin 
Abflraftes, bas man nieht fef)en fönne, auef) wenn man in 
Paris wohne. llnb mit ben übrigen Dingen mußte fie 
nicht einmal bem Hamen nach etwas angufangen. 

Als Anbr6 if>r crgählte, gu welker ungeheuren Aus* 
behnung fein Bermögen burdf) bie «Ratfchläge ber Baurain 
gekommen fei, würbe fie plö0ticf> fcfjeu unb fing an gu 
weinen. Sie oerflanb feinen Deut, unb ber Prunf eines 
Bouleoarbhotels, ben er oor U>r aufrifj, machte ihr äefften 
Schrecfen, fie befam Angfl, fith in folthe Sachen hirtein» 
gubenfen. Das nächfle JTtal mufjte er fie giemüch unfanft 
gwingen, überhaupt fi«h an ben Xtfd) gu fe£en. Sie rebel» 
Berte, fie werbe mißbraucht, fie feifte unb fuhr auf Sitg* 
huhen fahrig im 3immer umher. Aber als fie bas weiße 
Blatt oor ftch fah unb ben Griffel, war fie wieber bei ber 
Sache, flrich bas Jrjaar gurütf unb leefte am Stifte Der 
magere £ichtf<hein fiel auf bas Papier. Da war fie ooltenbs 
geblenbet, fd>wieg. Unb bte «Rlopftöne famen. 

3tt einer wüfenben BJelle würbe Anbrös Bermögen auf 
eine ungeheure 4?öl>e hiuaufgefchnellt. Da gab er es auf, 

283 


an Paris ju benfen, unb würbe ganj Sflaoe biefes flrbtU 
fcns in einem «Kreis oon Gelb unb Papier unb Deoifen unb 
Coupons, oon 3 af)Ien, cyotifcfjen Begriffen unb befiialt» 
ftfjen 5 Bttnf<ben einer fouoeränen Hielt. Bon feinem 
Scbreibtifcb aus fonnte er in bie parfbäume fefjen, aber 
biefes Grün war tot, unb ber leichte Schauer eines IBinbes, 
ber über ben «Hafen ging, würbe nicht Bilb noch Borfiel* 
lung in ihm. Gr wufite genau, wie man aus JBeijen JTlil» 
Itone» prägte, wie man JTiärfte fontrollierte unb ben Ge* 
genfpieier neroös machte, baf? er oerlor, was man oon 
Ö)m gewinnen wollte«. Aber er fonnte feine jwei JTZinuten 
in einem Boot fifcen unb mit ber Jpanb burrf) bas Schilf 
flreicf)en, es langweilte ihn, ferne Gebanfen gingen fofort 
ben XBeg, biefe Schäfte unb Kolben umjufepen unb einen 
Jpanbetsartifel großen Stils baraus ju machen. 

Gs gefcfjaf) wof>l einmal, baf? ihn fcbauberte, unb eine 
Jpanb fuhr eifig in feine Brufl hinab. Dann frf>wamm er 
nächtelang im Xrunf, lief? SVeunbe fommen unb XDetber 
unb aus Paris bie Xän3erinnen oom Barietö, lief? reife 
BJeine über bie 6läfer flief?en unb barf)te, alles müffe 
fid) in biefem «Kaufet) erlöfen. Aber wäbrenb bie IBollufi 
fief) entlub, jagte ifjn ein 6eräufcb hoch, bie Jliufifer muf?* 
ten fcf)wetgen, er meinte, jemanb habe geflopft, bie 
Jfrauen riffen Um an fief), unb bie Düfte füf?er Parfüme 
rangen um fein Gefügt. Gr fcfjüttelte alles ab unb flanb 
grau unb jerquält mitten unter ben blübenben £eibern. 

Gr batte ein GefKit, unb feine Farben fiegten, wo er 
fie einfepte. Diefe Unbebingtbeit feines Glücfes batte etwas 
Grauenhaftes. Jüan fannte Anbr6 in ben Euyusgefcbäften 
ber «Hue be «Hiooli als einen fafl mpftifeben Auftraggeber, 
ber etwas oon bem Spleen ber panfees batte aber man 
fannte ibn, ohne ibn ein einziges JTial gefeben ju haben, 
eine unbedingte Bereitfcbaft erfüllte feine Befehle. Der 
«Kreis aus reftlofer Grgebenbeit, ber aus ben JTianifefia* 
tionen bes alten Fräuleins Baurain feinen Ausgang nahm, 
fe£te ftcb in biefen Eieferanfen, Jreunben, Xrinfern, Dir* 
nen, Deputierten, 3 ournaliflen, Banfleuten fort: biefes 
ä tout pnx bes fiegreicben Börfenmannes, ber ju fommam 

284 


beeren gewohnt t(l unb Jeben «Rücffchfag neu in eine oor« 
teilhafte «Rechnung umfchaltet. Anbr6 fragte auch int tief* 
(len llnterberoußtfein nicht mehr nach ben «Raffeln biefes 
«Rapports, bas toar eine Sache wie Äartenfpiel, 3 igaretten* 
breijen, Befuehelaufen. Xlnb um ihm herum machte man 
fich feine Gebanfen; wiefo ber einflige Slaneur aus gweif* 
flaffigen fJartfer Salons ficf> hinaufgefehwungen habe in 
einen feenhaften Beftg. Jüan nahm bas hin wie bie Tf)efe, 
baß Gelb aus .unergrünblichen «Referooiren ficf) oermehre, 
wo es fich gu fammetn nur ben erjlen Anlaß oorgefunben 
habe. Sie beugten fich ßhontlos oor einem Saftor, mit 
brtn man eben rechnete, ben man nicht liebte, weil man ihn 
ausgunugen glaubte, unb ber hoch nicht ausgunugen war, 
weil feine Jltcttel ins Grengenlofe liefen. 

3 eher wartete, baß Anbr6 fyeirattn werbe. 6r fonnte fich 
bie Tochter eines ^ergogs faufen, bas Joubourg St. Ger* 
’main hätte nicht mit ber IBünper gegucft, ihn bort ein« 
giehen gu fehen. Unter bem liberalen Äaifertum JTapo* 
leons waren £eufe groß geworben unb in bie Ariflofratie 
aufgeriicft, beren ^erfunft oom Geruch ber fallen um» 
wittert war. 3 Tlan nahm hier nichts mehr Übel. Aber Anbr6 
hatte nicht einmal eine JTlaitreffe, er hatte nicht einmal 
3 eit, fich um Srauen länger als eine Biertelßunbe gu be* 
fümmem. Das erlebigte er furg unb fchweigenb. Der &ai* 
fer ließ ihn gu einem Jener pompöfen Empfänge in bie 
Tuiterien laben. Aber er fagte ab, ohne wahren Grunb, 
benn baß er franf fei, glaubte niemanb. 6r machte fich 
auch nichts baraus, eine Äränfung gu prooogieren. Er ritt 
felbß gur Poft unb gab bie Depefcfje auf. 

3 Tiargu 6 rite Bellanger, bie ber Äatfer in biefer 3 eit fehr 
liebte, wttnfchte Baurain wie einen 3 irfusaft in ber 
gu fehen. Jtapoleon fegte alle $ebel in Bewegung, feine 
Spröbigfeit gu brechen, beren Xlrfache er nicht heraus* 
finben fonnte. Er bot ihm feine Staatstoagen an, bamit 
er nach Btarrig fäme, unb fdjitfte ihm bas Offigiersfreug. 
Anöre fah ben Boten mit guefenbem Gefleht eine IBeile 
lang an, als fuche er aus llnterßem heraus feflgu* 
(leiten, was eigentlich tos fei Dann meinte er teife, ber 

285 




JTlonorcf) folle bas nicht oerlangen; wenn e9 ber ^ofroün» 
fd)e, werbe er ein Äinberafpl für P^rigorb ßiften, in bent 
man taufenb Pfleglinge unterbringen fönne, unb es folle 
an nichts fehlen; er wolle auch jtoangig löaifenmäbdjen 
ausflatten, unb wo man UJofjlfätigfeit oerlange/ ba folle 
man if)n fogleid) benachrichtigen. Aber er fönne nicht forn* 
men. ltnb er batte baju einen Ausbrucf oöttigen Grfdjöpft* 
feins. Auf feine Srage fonfl wegen ber Jleife fei er ein* 
gegangen unb, als er mit bent 5 ufi fcfjon im Steigbügel 
geftanben fei, f)abe er nur noch gerufen, man möge ihn 
ber 6nabe bes «ßaifers empfehlen. 

6 r ritt immer im Salopp unb würbe bie Segenbe ber 
Cfjauffee oon Cfjaluit. 

Oie .Rollen waren oertaufcfjt. Ufas bie alte Paurain mit 
ihrer fleinücfjen Sparfamfeit nicht batte in bie ausgemer« 
gelten Singer befommen fönnen, eine JTtadjt, eine 6el» 
tung, ein Schloß unb Gunfl, war über ihn ausgefdjüttet; 
er batte bie ^änbe auf ben Globus legen fönnen, unb lang* 
fam wäre bas flüffige Jener ber .Kugel nach feinem Hüllen 
gefirömt. Aber er hatte ben Xöillen nicht unb aud> nicht 
ben Sinn. Seine 3 bee war nur bas Spiel bes Jrjäufens, 
ber große Coup oon ZOod>e ju löoche, hinter bem nichts 
flanb oon einem 3 beol ober einer ntenfd)lid)en Jreube. 
Alles war einer llppigfeit oerfallen. OieOerfe feines Speife* 
faales hatte Baubrp mit gigantifchen JTlalereien belegt, 
BUber ber EJellen, aus benen bie ewige Denus weiß unb 
fleifchßch (Keg. 6r biß auf feinen Jlägeln herum unb fah 
Körper unb Körper machtooll über ben ptafonb fich 
fireden. Jjjier war er nichts unb faß beziehungslos gwifchen 
ben Gegenßänben, bie er herangefd)leppt hatte. 

SUr oierunbjwanjig Stunben in Paris, hatte er im 
Soper bes Db6on, als man guerß Augiers „Contagion" 
gab unb 6ot als Segarb nicht mit ber £angeweite bes pub* 
lifurns fertig werben fonnte, eine Srau gefehen, bereu 
Glan; feine Augen burchbrad). 6r wußte nicht, woher biefe 
Grfchütterung ihn befiel. Jlie hatte bas Gefchlecht etwas ln 
ihm ausgemacht. Sie fam bie Sreitreppe herunter, weiche 
gezwungene Schultern, fchlanfe lüften, rotes Spaax unb 


2S6 


ein fcfjwarjes heftiges Auge; ober ber DTIunb toor ber eines 
Äinbes. Sie trug naije^u feinen Scfjmucf. Anbr6, gewofjnt, 
olles in 3iffern, 3af)len, BJorte umgubenPen, toar fofort 
babei: weither Summe es bebürfe, ben großen ©iantanten 
bes TKaljarabfcfjas non ©jaipur, oon bem man jetjt überall 
fpracf), in if)r Jjjaar ju Rängen. Aber er fam bomit nuf)t 
weiter. ©er warme Sjxxui) tf)rer Jrjaut flricf) oorüber. ©o 
überfiel if>n groufom feine GinfamPeit, er fjafte fie nie be» 
merft, jetjt faf) er, wie groß ber ^of)lraum war, ber ifjn 
umgab. Bielleicfjt ließ er ficf) mit Golb ousfüllen, ober bos 
mußte einen erßicfen. DJeber £eben nocf) |örtlid>es Blut 
freiflen in ifjnt, unb er würbe bos bo nicfjt foufen fönnen. 

Gine üerjücfung trifft if>n, er weiß biefen Augenblicf 
tong, was JTlufif iß. Seine Jrjanb rnadjf einen Bogen über 
* bie Jnenfcf)en f)in, unb olles fiat eine tiefe, leucfjtenbe .Kraft. 
Sein &)zr% fpttrt, wie bas Blut in bie Äommern fcfßeßt. 
Dloger £eteffier, ber hinter if)nt ßef>t, fiefjt biefen auf blühen» 
ben Bticf, er nirft nur: aurf) fie fei ju foufen. 

©o jerbroef) olles, unb ber einzige JTtoment feines £ebens 
toor worüber, in bem if)nt oor ficf) geefelt fjotte, oor feinen 
jufommenfrfjorrenben SHngern, oor ber £aß, bie ifm täglich 
brüefenber in ben Staub bog. Gr toortete, bis biefe ©ome 
om Porto! in iljren ©Jagen flieg, fjatte ben Umgang nocf) 
nicfjt über bie Schulter gezogen, unb bos Sjaar ftoeferte 
im JTlärgobenb. 

„JTlabame," fogte er hinein unb griff naef) bem Schlag, 
„man müßte fcfjon biefen ©iamanten, af), Sie toiffen bocf> 
— ober toenn tef) borüber rtacfjbenfe — 3f)re Stirn, JTias 
bome, unb 3f>r JRunb —" 

Gr oerirrte ficf) oollenbs, weil er im Schweigen unb Brü* 
ten feit 3of>ren wortfcfjwacf) geworben war. Anbrö ließ 
ben Schlag los, feine $anb war ofrne BJillen, bie Pferbe 
jogen an. Gr fonnte nicf)t mefjr bos Geftdjf biefer Srou 
erfennen, unb wenn er es bebadjte, befom er bie 3üge nicfjt 
mef)r jufommen. Bielleicfjt jefm JTltnufen lang ßonb er 
noef) unter bem gtüfjenben £icf)ferbogen bes Portals, ©ie 
Kutfcfjer fcfjnaljten, eine -Kette oon Gquipogen glitt oor« 
über. Anbrö füllte, boß feine DJimpem ficf) foeften. 


287 


©er Sommer 1870 fam f)eiß, unb bas .Korn fcfjmoll 
f^on auf bett fl (fern, als man 00m «Krieg fpracf). Dicfe 
IBolfen gogcn oon Borbeau; herauf, fein B 3 inb batte fie 
gurechtgefchliffen, fte reißen gang langfam über ben blaffen 
Fimmel, unb man hätte an nichts anberes benfen mögen. 
Aber bie 3 üge fegten hinüber nach £pon unb hinauf nach 
Burgunb. ©epefrfjen oergerrten bie 6efichter ber Srauen. 
©ie Jleferoißen gogen fingenb gu ben Bahnhöfen, unb in 
Paris/ toährenb man flattemb bie Sahnen auf30g über 
ben Palais unb mit Jleoeille unabläffig bie Bouleoarbs in 
einen taumelnben 6efang riß, fchallte ber Schritt ber Came» 
lots gu biefem heiferen „fl Berlin! fl Berlin!", mit bem fie 
gum gweiten TTtale napoleonifch in ben Dflen aufbrachen. 
Jüan toar wieber gang Station, man war Sieg unb unge« 
heuere 3 uoerficht. ©ie Söffer mürben in ben .Kellern ange» 
fchlagen, unb ber große Strom blutenben BJeins fchüttete 
fidf> aus in bas frangößßhe Jrjerg. 

flnbrö traf bie XBitwe tftonacre nicht in ihrem £aben. 
£r warf bie lüren unb rief laut nach ihr. $ier toar es 
wichtig, er fpürte bie Cntfcheibung unb ben gang großen 
Coup, ber nur einmal in feine $anb gelegt mürbe, pacfte 
man es richtig, fo machten einen bie Jpeereslieferungen gum 
tfülliarbär. Auf biefe JUchtigfeit fam es an; nur bie ßbpi* 
tinifche Baurain fonnte wißen, wohin bie Kraniche bes 
lBeltgefchehens reißen. 

fluch im Äergenlager war bte tflonacre nicht, unb in 
ber «Raffinerie fragten tfläufe. Gr fragte auf ben Gaffen, 
mitten auf bem tflarft ßanb fie ßhtießlich, unanfehnlich, 
er meinte, ße fei fehr oerfallen unb mager geworben; bie 
Kleiber hingen locfer über ihrem £eib. Sie geßifulierte mit 
ben anberen, bie IBelt war oon weit her mit Kanonen* 
fchüffen hereingebrochen. Aber bie tfionacre glaubte nicht, 
was ba ergählt würbe, ihre Meine enge Stirn begriff nicht bie 
Bielfatt unb ©ummheit, bas Gefchöft unb bie 3 ornesaus> 
brüche, bie in weiten ©teilen bie Meine ßorbogne hinter f«h 
ließen. Als man ihr ßmpte Beifpiele oorhielt, oon Cinbrü* 
chen in ihr $aus unb Gegenwehr, ba erfaßte fie es, unb mit 
breitem Pathos warf ße ß<h ber Begeiferung in bie Arme, 


288 


fc&rie etwas oon 5 er Xrifotore, in bie dngefjüllt fie einmal 
Gegraben fein möchte. 

flnbrö wartete, fie fratte ihn gefefjen, aber 5 iefe wirf« 
Itcfje Hielt Gatte fie fo feß gepacft, 5 afJ jenes artbere blaß 
hinter iGr fortrutfchte. 6r(l als er bicht jwtfcGen 5 ie Ceute 
trat, 5 ie iGnt plah macGten unb froG waren, bafi er je0t 
ju iGnen hielt, faf> fie ihn an. flnbrS gab ein paar 3 Ttei» 
nungen Ger, bann laoierte er, warf fragen auf, über bie 
man fi(G breit ausließ; wäGrenbbeffen brängte er bie 3 Tio« 
nacre ab. 

Später Gotte er fie an iGrern Xifch. Oie £ampe brannte 
niiGt, eine üble 6 itft bebrücfte ben «Kaum, bas ganje 
£ager rotG, bie Äerjen, bie Seifen, öle unb Jpanf, unb alles 
* war ein breiiger Ounfi. ^ätte man ein StreicGGolj in bie 
£uft geGalten, fo Götten bie fcGweren «Rüche Seuer fangen 
rnüffen. Oie Jltonacre rebete (aut, natürlicG werbe alles 
gut ausgeGen; nun, bas müffe man fagen, franfreich Gobe 
nie fowenig ju risHeren geGabt wie biesmal. Oer «ftaifer 
fei ein nobler Jliann, er wiffe, was er täte, man fönne fich 
unbebingt auf iGn oerlaffen. Uber biefer Btsmarcf, ein 
läiGerlicGer Gernegroß in ÄanonenfHefeln — aG, wie rafcG 
werbe er in feiner angemaßten «Rüftung erßicfen, näcG« 
(lens werbe ficG bas geigen. Ob ber Jperr Graf es nicht auch 
glaube? 

flnbrö räfelte ficG int Sofa herum. £r brannte auf et« 
was gang anberes. Ttatürtid), bas fei ja feine frage, aber 
es ginge iGn nicGt oiel an; er wünfche feine 6efcGäfte gut 
unb glatt ausjufüGren. Oas fei nicht weniger Patriotis* 
mus, man müffe ben Betrieb flott in Sang Gölten, bie 
Selbwirtfchaft, bann bie J?o<Göfen, bie Gruben, SifenbaG« 
nen, bie Spinnereien, ben immenfen $eeresbebarf. Sie 
wiffe bo<G, was bas bebeute, nicGt waGr? £s gäbe Sol« 
baten, bie man an bie front fcGtcfe, fie legten ficG auf ben 
Bauch unb fcGöffen unb rücften oor, bis man in Berlin 
flänbe. Oamit werbe ber «Krieg äußerlich geführt, fie lie« 
ßen iGr Blut, man lüfte natürlich ben $ut oor ihnen, & la 
bonne G<ure! Sie fchlügen ficG tüchtig, unb es (ohne ficG... 
Uber bahinter in ben Soffen unb GefcGäftsGäufern pjürbe 

289 


19 2>ie bcutfi^e Lobelie. 



teifer mit ben ungeheueren IDöffen bes Gelbes unb ber 
XBaren ein gweiter Ärieg gefchlagen, auf ben Bomnte es 
nicht weniger an. Ober glaube fie, Srau JTlonacre, bafS 
bas eine unwichtige Sache fei? 

flnbrö blühte auf/ er hatte fich in eine löorthihe hinein* 
geworfen/ bie an ihm ungenannt war. Gr fragte fich auch 
nicht/ warum er etwas oor biefer $rau oerteibigte, was 
gar nicht angegriffen war/ unb ernannte nicht/ baß er einen 
fernen «Huf in fich fetber nieberhe£en wollte. 

,/HJas benn tut bas Sjttr,“ fuhr er fort, „wenn bie 
Granaten ausgehen, weil bie Subrifen ausgelöfcht fittb, 
bas |eißt weil aus ben Gruben (eine <Kof)len mehr Bom» 
men unb fein Grg geförbert wirb? Oie preußifche Spring* 
flut überfällt euch, man ftiehlt eure Äerjen unb wicBelt 
ben lebten laben Spagat um euren Jrjals!" 

Sie fah ihn bumm an. Das ging weiter, als fie je ge* 
ahnt hatte. Aber es mochte richtig fein. Baurain Bannte bie 
XDelt, es war gut, auf ihn gu hören. 3um erfien JTtale be« 
Bam fein Treiben eine Gloriole in ihren Augen. 

Dann aber fei bas nicht bas eingige, entwicBelte Anbr6 
noch; ber Jriebe werbe Bommen, man werbe bem gefchla» 
genen Gegner — benn gefchlagen werbe er hoch — bie 
Türen ooltenbs einbrücBen, man werbe feine JTiärBte oBBu* 
pieren. Die Solge würben gang ungeheuerliche Abfa£ge* 
biete fein. Das werbe ein größeres SranBreich geben! 3n* 
beffen, fotle man warten, bis biefer Triebe ba fei, wenn* 
gleich es fich nur um ein paar BJochen hanbeln Bönne? 
Ober gerabe beshalb: man müffe fich m bie Arbeit ßür« 
gen, bie 3nbußrie bereit machen, flü^en, ihr Büttel aus 
allen Jleferooiren gubröngen, um fofort aus bem Bollen 
über bie Grengen gu werfen, wenn man er fl am «Rhein 
flünbe. 6s Bäme nur barauf an, rechtgeitig gu wiffen, 
was h‘« wichtig werbe, „fragen wir bie alte Baurain!" 
fchloß er. 

Das hatte er niemals fo refpeBtlos gerufen: bie alte Bau» 
rain, wie man oon einem alten $if<hweib unten an ber 
Dorbogne rebete. Unb bamit hotte er ber JTlonacre ben 
Stift in bie 4?anb gebrücBt unb ßanb oor ihr breit als ein 


290 



Tor, in bas bie Sülle eines neuen Sommers eingefallen 
«»erben fonnte. 

Oie DJitrce backte feinen Augenblick nach, fie batte alle 
Kontrolle über ficb oertoren, ber Jlaufcf» ber Trompeten 
unb bie fcbmellenben IDorte Anbräs hotten fie gerbrücft, 
unb fie t»ar nur noch 3nßrument. Sie fcbrieb furg, fafl 
baflig, bas Papier fcfjrie leife unter ben (teilen grabenben 
Strichen, in benen bas Blut ber Baurains ficb mpftifcb 
aus ibr preßte. Sie fcbrieb einige Jtamen aus totbringi* 
fcben ^üttenroerfen, oon JHetallfabrifen unb flaatlicben 
Unternehmungen. Oas mar alles. Aber bie Jtamen mären 
hartnäckig unterflricben, gweintal, breimal, bas mußte b«I» 
ßen: fyitx war nicht ausguweicben, bie Summen, bie ber 
Settel angab, gingen ins Pbontaßifcbe. Anbr6 gucfte, als 
er fie las, er 0atte für Anlage ober Gewinn noch nie in 
biefe Sphären geßreift. Oas machte ihn gum Gott, unb er 
fab fein ipaus mit ben Schäden JTZontegumas gefüllt, ber 
Dßen fcbtoamm herein auf gewaltigen Schiffen. Gr atmete 
tief, unb einen Augenblick rührte fein Jjjirn an ben HJabn» 
finn, ber bie Grengen bes Begreiflichen überflutet unb ein» 
gebt ln bie großen JZebet ber Bergerrung. 

Oa fcb«>or er ficb, er «»erbe gang «on biefem Sluch fleh 
löfen, ber ihn erßicfen machte; er «»erbe, wenn bies ge» 
fchafft fei, ficb langbin in ein Boot legen unter ben blaffen 
HJimpeln,^bie fein IBappen trügen, bann fönnten bie 
Srüblingsoögel pfeifen unb JTtöwen ihre Schwünge um 
bie Gaffel gieben. JTtit ungeheurer Schnelligkeit entmtcfel« 
ten ficb Bilber, bie «on Äeig unb gauberbaften Serben 
waren; er atmete tangfam, unb bie gange milbe Güte, bie 
möglich iß in biefer eit, trat ein in feine ßungen. 

Als er feine Aufträge telegraphiert hotte, ritt er bebäcb» 
tig gurücf. Gin Heiner fommerlicher «Kegen ging in filber» 
nen Tropfen über ihn bin, er febmeefte ihn wohlig auf bem 
Jpanbrücfen; er hotte folange nichts gemerft oon bem, was 
gefchab, er war nur immergu Gelb gewefen. Oann «erftel 
er einem guten Schlaf. Als er erwachte, war es mittag. 

Anbr6 faß bie Tage banach in einer merhoürbigen Stille 
auf ber Terraffe. Seine Haltung war weich unb aufgelöß 


19 * 


291 


tote e9 nientanb an if>m farmte. 6r faf) öftere nacf> bem 
löetter. Jüemals trat er an ben Schreibttfcf). Oie JTtamfett 
traf lfm Im Garten, wohin er fonß feiten fam. 6r fuhr 
mit ber ^anb über bie oott erblühten «Kofenßäntme, baß 
ficf) bie fchweren Blüten fchmerjltcf) entblätterten, bann lag 
e9 wie Blut ju feinen Süßen, er faf) lange f>in unb ging 
weiter. IBagen unb Gärten unb bie Boote auf bem Sluß 
mußten inflanb gefegt werben. 69 war al(e 9 nocf> ganj 
unverbraucht, man hatte nur ben Staub herunterjufegen. 

piöhüch riß er bao Pferb aua bem Stall, eine ifabett» 
farbene Stute, bie er in Satten großer 6ile ju reiten pflegte. 
Sie trug ben 3 aum noch nicht, ate er fle bem Burfchen au9 
ber Jpanb 30g, fich auffchwang unb auo bem H°f trieb. 
Gleich hinter ber öfonomie traf er ben Xelegraphenboten. 

6r griff in bie hochgehobene j?anb, feine Augen oer« 
brehten fich mef>rmal9 fchnett, er fonnte BJorte unb 3 if« 
fern nicht lefen, ba9 Blut f<hoß in bie Pupille, ba fcfjlug 
er mit einem Schrei nach oorn gegen ben Pferbef>al9. 

Oen JTiann berührte eg wenig. Uietteicfjt war ein JTTörfer 
über einen Bruberleib gefprüht, man hotte ben Solbaten 
irgenbwo oerfcharrt unb alle Spur verwifcht, ehe biefer 
hier eine Ahnung befam, baß eg ju 6nbe war. So etwas 
gefchah je£t oft, man mußte ea hinnehmen, biefes Schief» 
fal fehmeeft unabänberlich fchlecht. 6r brehte fich ohne einen 
Gruß um. Sein Schritt hatte eine aufreijenbe Gleichgültig» 
feit. 3 n ben Senßern ber Bauernhäufer flanb brennenb 
bao flbenblicht. 6r taufchte Scfjerje aug mit ben £euten, 
bie auo aufgeworfelter 6rbe Kartoffeln gruben, bie 3u» 
rufe flochten fich jur Kette eine holbe JTleile weit. Oann 
fam ein IBalb, bie Sonne jerßäubte jwifchen ben Kronen, 
unb alleo Himmelsblau hing in winjigen Se0en barüber. 
Oas grüne Ounfel war ganj warm. 6r baeftte nicht an 
ben JTCenfchen, bem er unwiffenb eben einen Pfeil in bie 
Stieren gejagt hatte. 

©achte nicht, bann hörte er. 0emanb fe£te feuchenb 
hinter ihm fytr. 69 war bag Schnaufen eine9 Ebers. Oie* 
fer Baurain machte tierifch ganj breite Schritte, er war un* 
beholfen, maß bie Straße nicht ab, fefttug gegen einen 

292 


Stamm und taumelte quer über die Jlinne. JTCtf gefpreigten 
Jingern griff er bei jedem Xa(t feines Jußes weit tjor, 
als fei er blind. Das <S?aar ßand ßeil über der Stirn, um 
die Dfjren fiel es franfig herunter. Ilberroand man die erfle 
Turcfjt, fo mußte man das Gefpenß belaßen. Seine fingen 
waren aus den $öf)len oorgefcftwollen, da faß (ein Blut 
mefyr in der Jpaut, und es fdjien, als ob eine Jtteile 10 eg 
das $ett gwif<f)en den Jtippen weggefcfjntolgen hätte. Diefes 
Gelaufe mar ein Grauen. Dumm f)interf>er trabt das 
Pferd, flndrö mar gwangig Schritte geritten, hatte es ge» 
fcftfagen, aber mef>r fjolte er nlcf>t aus if>m heraus, nun 
fprang er wieder herunter, und als ein Statten ttrollte 
das Xier dicf)t an feiner Jerfe narf) in 3 ic(ga(f und allen 
Sprüngen diefes BJeges. 

Uber den Ort fiel ein Gewitter f>er, aber flndrS oergaß 
das Pferd, fprang dur<f> die Xür gur JTionacre. Das Pferd 
rodf> mit der S<f)nauge in den Gang, der Jlegen wufcf) if>m 
den Bug glängend, als fei es aus der Schwemme fjocbges 
ritten. 

„Jlufen Sie die Baurain!" f<f>rie Andr 6 in den £aden. 
Gr hatte norf) gar ni d)t gefefjen, ob jemand dort war. Die 
Jltonacre fprang auf. „ 3 efus JTlaria —!" 

„galten Sie das Blaut! Die Baurain! Berßefcen Sie 
nicf>t?" 

Gr f>atte gang oergeffen, wie alles gufamnten&ing, auf 
einmal war die JTlonacre die Baurain, die Gefickter mecfj» 
feiten, das Jltundßürf wurde felber der Geiß und der Be» 
fehl, dann oermifcfjte ficf) altes, und er mußte firf> fogar 
auf die JTanten befinnen. Gr faf) tief und lange fucfjend 
in das Gefixt der Srau, befcfjmu^te es mit taufend Ge» 
danfen und wifcfße altes wieder weg durcf) einen 3 weifel. 
„IBie fef>en Sie aus?" Da war er pfö^ticf) angelangt und 
wußte, daß fie nur der gemeinte 3 ugang war gur Baurain. 

„ 3 ünden Sie die Sampe an! Jlufen Sie das Bieß, das 
Bieß!" 

Cr (niete fcfjon im Sofa und (läpperte in entfe£lid)em 
Srößeln, die Beine hatte er gang eng f>eraufgegogen gegen 
den Bauet) wie ein «Rind, das bald weinen würde, Born 

293 



Gong f)er fdjoll ber S?uf feines Pferbes, ber gegen ble Tür« 
bofßen fließ. ©te JRonacre goß öl auf bie £ampe. 6s ging 
ntcfjt fcfjnell genug, unb Tropfen flatfcf)ten auf ben Tifcf). 
Anbrä gifcf>te mit ber Jleitpeitfcfte burtf) bie £uft. 

„XOonn benn nun!" rief er, ober es mar faß feine 
Stimme in if>nt. Sie merbe feinen guten 6mpfong fjoben, 
meinte er gmifcf)en ben 3äf>nen burcf). DJos fjatte |tcf) biefe 
Srf)t»inMerin in feine Gefefjäfte gu mifcfjen. 6r fuf)r bie 
3Ronacre on: ,,B5o3 erloubte ficf> biefe IJaurain, mir .Rats 
fcfßäge gu geben? J?ot fotcf) ein HJeib je ©erßanben, mos 
Gelb ifl? BJo f>aben Sie fie?" 6r firerfte bie Jpanb ous, 
unb ber Schotten baoon griff langfam über ben Tifcf). 
©er JRonacre gingen bie Strähnen ins Gefixt, baß es 
ousfof), ols gälten fitf) bie Jurcfjen ©erboppelt unb ein 
namenlofes Alter fei mit ollen 3ügen bes Glenbs über 
fie gefommen. „Gott wirb abmifcfjen olle Tränen!" betete 
fie f)i$ig, Anbrä follte es nirfjt f>ören. Sie mußte fponton, 
er ßanb ouf ber onberen Seite unb gtoubte nichts. 3f>re 
flngß pfiff burcf) bie 3of)nlürfen. 

Baurain mor gong rufßg gemorben. 6r fingerte in ber 
Tafele unb fifcf>te einen Graphit heraus. „fUtons!" 

©a fdjrumpfte fie gufammen mie ein Äinberbolfon, nur 
gab fie feinen £out, er [af> es unb mortete auf biefen Ton; 
fie f)ing gang frfjfaff im Stufjl, eine Jpütfe, ous ber man bie 
5rucf)t gefernt f)Otte. 

„AI)," fogte er unb fjatte ein £äcf)*tn, „Sie mollen mief) 
betrügen, Sie f>oben biefes BJeib on ben jingern, Sie f>af» 
ten als .Kupplerin gu tfjr, es iß boef) fo, unb meil icf) fein 
Gelb mefjr f>abe, meinen Sie, ber Spaß iß gu 6nbe. Jo, 
f>ier — fein Sou iß mef>r bo! Alles ouf eine .Karte gefegt! 
Coeur ©ome! Unb Pique Aß fom heraus! Jleiner Tifdf)! 
Schlag ins Genicf! IBas mollen Sie noef)! Jlufen Sie JRa» 
bame, rufen Sie bie .Komteffe, icf) mill es if)r ins Geprfjt 
fagen." 

©ie £ampe fcf>monfte noef) immer, bo nafmt bie JRona* 
cre ben Griffel. Anbrä mollte bie Scf>riftgüge ©erfolgen, 
ober bie Spiegelfcfjrift ©erriet lf>m nicfjts. Als er fjinter fie 
trat, bro<f> fie ob unb fefjob bos Blatt gonj) an bie .Kante. 


294 


6m wertig Blut trot in if)r Gefickt, unb Anbr6 mußte ben« 
fen, fie iß einmal ein fjübfrfjes JRäbrf>en gewefen. Oie un« 
gefußten «Küffe biefer ^afjrc fielen ifjm ein. Oann fcfjrieb fie 
weiter. 3n feinem ^irn ßanben bie Bütten mit Gelb in 
einem ßarren «Regiment, ßanben Fabrifen, S?od)öfen, 
Äorn branbete über fltfer, unb Schiffe fcfrfingerten im 
Sturm ber Dgeane. Sie fuhren braußen nocf) unter feinem 
Flamen unb wußten ntcfjt, baß if>m feine pianfe mefjr 
gehörte. Seine i?anb griff gegen bie Augen, als fei es gu 
f>ell, als gerßöre ein ßicfjt feine Sefjfraft. Oer «Rütfen gab 
narf), er bracf) in bas Sofa gurüdf. Seine 3unge frfjmecfte 
Galläpfel. Oie JRonacre faf), baß er ni(f)ts als einen toten 
Stfjetn in ber 3ris hatte, fie glaubte, ein Kleinen floate 
heraus, unb rief. Aber er l)örfe ni<f)t. Schließlich ging fie 
hinaus, bie Schelle über ber Xür batte gefrfjeppert; man 
wollte fie, unb f)ier war alles fertig. 

KJas es benn gäbe? rief Anbr6 plö^licf), unb feine 6r* 
innerungen frfjwanften burefjeinanber. Oie £ampe l>atte 
blaues £tcf)t. 6s rorf> nach Orangen. An ber UJanb ber 
Stich oon Fontainebleau unb bem faiferli«f>en Abieu oor 
ber Garbe gerßhmolg. 6in JTigger tangte grinfenb feinen 
Cancan, er 1>atte eine «Krone aus Golbpapier auf unb 
rauchte bie h°® Qnna * Oajraifrfjen wirbelte ber Spaf)i fein 
Gewehr aus ben «Rahmenleißen, bie Bajoneftfpi^e gleite 
gegen bas Sofa, Anbrö fühlte ben Stich feftr tief in ber 
hüffe. 6r wirf) aus, ber ptüfcf) mußte aus Granit fein, unb 
wofjitt er trat, gab ber Boben eine Reifere JTtufiP. Oa befam 
er ben KHfcf) gwifdfjen bie Finger. 

Sein Sper$ erhob fi<h tangfam, benn bies ging if)n etwas 
an, aber es bauerte furchtbar lange, ef>e bas Bewußtfein 
ben «Kanal bis gu ihm abgelaufen hatte. 6rß ßreiffe es 
gegen eine Platte mit «Krebfen, man präfentierte ihm «Kerf)* 
nungen, bie er unterfrf>rieb, er ßanb in einem Parf, burcf) 
ben Flieber brachen 6lrf>e mit maffigen Schaufeln auf ihn 
gu. 6r brefjte ben 3ettel burrf) bie Finger, es würbe ein 
Xaftßocf baraus. Oa faf) er bie S°rtbf<hrtft ber Baurain. 
„Altes Fälfrf)ung!" 3n ungeheurer Gefcfjwmbigfeit frf)al* 
tete er bas «Rab ber gef>n 3af>re gurücf unb glaubte unter* 


*95 


wegs in biefem rafenben Ablauf gu fehen, täte falfcf) bic 
Margen ineinanbergriffen. Er las: 

„Sie, mein JTeffe, waren einem 3rrfum oerfallen, ber 
grob unb ftf»iecf)t war. Jüan hat feinen Sinn für eure 
6 efcf)äfte in unferer Ebene. 3war fief)t es mir nicht gu, 
morafiftfje Entrüfhing gu geigen. Aber bie £eibenfcf)aft 
unb Armut meiner £ebensgeit war noch fefjr als Erfah* 
rung in mir. 3nbem icf) fie ausflrahlte, gab ich 3f>nen 
bie OTtägßchfeit, im Spiel auf eine ^öf)e gu treiben, bie 
icf) einmal gu einem heiligen 3 wecf erwünfcf)te. ©och be» 
friebigte ein harmlofer HJohlfianb Sie nicht, Sie oer=> 
fielen ber Gefie bes Gelbes. 3nbem Sie alfein bas JTtafi* 
lofe gelten liefjen, wollten Sie mich gwingen, bie Alraune 
3ljrer Äaffenfchränfe gu fein, ©a fcfjitfte icf) bie Qagb 
in einen eifigen JÜtf)er hinauf, Sie fühlten nicht einmal, 
wie bie £uft um 3f>ren S?ala gufamntenfror. 3e£t habe 
ich bie TReute gurücfgepfiffen. 3Tian jongliert nicht mit 
uns XDefen ber großen Stille. £eben Sie wohl!" 

Anbrfi flrecfte bie Jrjanb aus, weil er meinte, jetttanb 
habe 3 U ihm gefprochen. ©as 3immer war leer. An ben 
Xifchfanten hörte er Singer flopfen, ein -Kaug f«f>rie aus 
ben JJolffem, £ouisbors regneten aus ber £ampe, unb 
überall fchrieben fpinnenhafte ^änbe einen ^Rapport 
nteber. 

Er fchrie: „Schweig hoch, alte ©ime!" Aber es pochte 
feltfam unb regelmäßig. Seine $änbe frallten fi<h in bas 
Sofa; als er nichts aus ben fJolfiern herausgreifen fonnte, 
fchti^te er mit bem Xafchenmeffer bie grünen Bcgüge freug 
unb quer auf, ohne baß eine Eule ins 3immer geflattert 
wäre. 3 itternb trieb er ben ©och* in ber £ampe hoch/ baß 
ber 3 plinber plante unb eine branbige Schwärze heraus* 
blatte. XDährenb er herumtapfle, tigerten Sunfen unb «Ruß 
fein Geficht. Er fcfüug nach bem JTigger, ber wieber OTa» 
poleon war unb bie Jrjanb an ber Bruft 1)iel t, bie Scheibe 
bes Bilbes gerbrach, ©a rannte er fort. 

3m Slur prallte er gegen bie JTfonaere unb pacfte fie, er 
befam ihre fcf>laffe, warme Brufl gwifchen bie Singer unb 

296 


gögerte einen flugenblicf; bas HJarme ging ihm fett» 
fam burch bie Glieber, als f;abe er non mütterlichen Oin» 
gen eine ftynung. BJeil aber alles Bewußtfem non Blühen 
unb Sühlen in flnbrb abgebroffelt mar, erreichte es nicht 
mehr fein Jpirn. Seine jpanb riß burch if>r S)aax, ein altes, 
'hart unb rauh geworbenes 5} aar. Oa gog er fie fort burdh 
ben Sturfchacht nach ber Straße. Sie fließ mit Meinen Sau» 
flen in feine Seiten/ aber jebesmal gerrte biefes Sträuben 
an ihrem Jpaar, unb fie wimmerte wie eine £a£e. Das 
pferb oor bem ipaus fpifcte bie Ohren/ es wanbte fich unt. 
flnbr6 lief hinaus. 

3n ber Serne würbe eine Xrommel gerührt/ Taft einer 
3eit, ber bumpf unb groß burch ben gangen Jrjintergrunb 
Ö*«0- 

Oie £eute ßanben gefnäult gufammen. Oas Xrommeln 
fchnurrte näher. Oa waren «Konffribierte, £eute ohne JTton» 
tur, ein Sahnenträger unb ein fchmu^iger Seibfolbat, unb 
einer, gang jung noch, hatte eine gerbeulte Xrompete, bie 
unter feinen Berfuchen gerfe^te £aute oon fich Q<*b. 6s war 
gang bunfet, man fah nur Schatten, bie Bli£e bes Gewit» 
fers fuhren flach über ben Jporigont. 

„Oer Äaifer iß gefangen!" fagte ber Schuhmacher Jto* 
querolle gu flnbr4, unb merfte nicht, baß in beffen Stngem 
wimmernb biefe Srau h*ng. 

Gebrüll brach oom OTtarft auf, fchlug in BJellen näher, 
„Bioe la Jt4publique!", brach in bie Gruppen ein unb tau» 
melte fort. 

Oie Xrommel fam je£t ooll in Xaft. flnbrös Pferb fe£te 
über bie Straße, herrenlos, es verlor auch noch ben Sattel. 
Jloquerolle fagte: „Oie iß Sranfreich, bies Pferb../' Sie 
waren nun alle babei, fchrien unb vergaßen ben 3ufam« 
menbruch unb bauten nur noch baran, auf ein neues 
£eben htngumarfchieren. 

„Xöas meinen fie?" fragte flnbr4. UTiemanb hörte. „6i 
nun/' flüßerte er in feine hohle Sauß, „biefe Meine ger» 
fchrumpelte Baurain, biefe bumme Meine Baurain!" 

3hr fagt: „Bitte la <H4publique!? Bin ich nicht mehr 
ba?" 


297 


Oie Straße war nur norf) Trommeln, bie gange Stabt 
war es unb bafjtnfer bas gange Jranfreicf). JTtan faf) ficf) 
gar ni<f)t nach ihm um. 

flnbr 6 riß bie JTtonacre fjocf), erß mit ben paaren, bann 
ßemmte er plöblicb, ein Athlet, fie quer über feinen «Kopf. 
,lothringer Hochöfen 54 ! Kanonen 255 ! ^anffpinnerei 
oon Toulon 480 !" 6 r firniß ben Körper aufs pf taffer 
unter bie £eute. Oie Trommel fcfjlug oor ihm. „Xöie biefe 
Uaurain flopft", frfjrie er unb ßerfte firf) bie Finger In bie 
Obren. „3<b will bas nicht! Schweigen foll fiel'* Aber als 
man weiter anfchlug, ging er gegen ben Trommler los. 

Oa rannte ber gange J?aufe über ihn weg. 


i e c & No 

Don Arnolb llü£ 


OO ts Jlicfjorb Troll neun ßof)re olt war, holte ft cf) feine 
VDIutter JTIaria, bie EHtwe eines Chemifers, bei Jti» 
cfjarbs £ef>rer «Rat, was mit bem Äinbe ju beginnen fei. 
Cinwanbfrei be 9 Knaben Begabung/ fo war bie Aus fünft, 
bas Borwärtsfommen auf ber höheren Schüfe oöllig frag» 
los. Bebenflicf) bleibe fein Charafter. JTtaria Troll nlcfte 
f<f)ön unb fchwermütig in ihrer IDitmentracht, bie fie im* 
mer noch trug, weil fie ihrer anmutigen Blonbhett fleibfam 
war. Aus fecf)S ober fieben 3ufcf)riften biefes Wohlwollen» 
ben £ef>rers wußte fie, baß JUcfjarb ungewöhnlich reijbar, 
ja, gefährlich rof> fei. Sie wagte nicht mehr, fo füf>n wie 
fie e 9 nach ber britten 3ufcf)rift getan, bie Artung be 9 Äin» 
bes als üblich jungenhaft unb im Äerne gefunb ju beuten, 
benn furj nach jenem Brief war es gefcf>ehen, baß bas 
Äinb, rafenb über ben mütterlichen Uerweis, fäntpfertfth, 
finnlos»jomig gegen fie losgefprungen war, unb feine für 
fein Alter ohnehin bebeutenbe JSraft war burch bie IDuf fo 
graufig geßetgert, baß biefe jierliche Srau ihn wie einen 
ebenbürtigen Gegner befämpfen mußte unb nur ntühfam 
befiegte. 3n faum ßillbares BJeinen brach naih bergleichen 
Bönbigungen ber Änabe aus, unb JTIaria wähnte, fo heiße 
Tränen fönnten einem oergtfteten Born ftcherfich nicht ent* 
quellen. 

Oer fiehrer fprach fehr behutfam, taßete in feinen t?ra* 
gen wie mit Arjthänben, gab 3 U erwägen, baß JUcharb 
ßets ber Angreifer fei, baß bie OTlitfchüler in großer Furcht 
oor ihrem fräftigen Tprannen ihm nicht einmal einen 
Spipnanten ju geben wagten, unb baß... €r fragte un* 
enblich liebeooll, wie benn $rau Trolls oerßorbener Jltann 
... Aber nein, unmöglich, oöllig unmöglich, Un JTiann war 


299 


feelengut. So, unb weiter jurücf? Sie lächelte. JTte etwas 
befanntgeworben. Er fefje bie So d)t wof)l hoch gor ju 
fbtfler unb ju wichtig on, JUdjarb fei ein Bengel, gewiß, 
gewiß, ober nach Borfaf>ren ju frogen? Ttein, bas ffinge 
jo nach Äriminafpfpcfjotogie. ein wenig verlebt fragte fie 
je^t äbfchließenb nach ber geeigneten Schule. empfehle 
firf) eigentlich bie BeßalozzuOberrealfcfmle, bie in ihrem 
BJofmbejirf fiege? Jüan rebe mancherlei Itngünßiges non 
biefer Anßalt; man foge, baß bie Herren Beßrer bort „rot // 
feien, ober man fprecfje auch non einem einzigartigen 3ug 
ber Jllenfcbticbfeif, ber gerabe biefe Schule auszeicfme. Der 
£ef>rer riet faß heftig jur fje(iolojjif<f)ule als zur einzigen, 
bie für ein Äinb wie JUcfjorb überhaupt in Troge fomme. 
Jtie, nie bürfe er in ÄorporoIsf)önbe geraten, nur Bater» 
f)änbe, Baterbänbe fönnten hier Reifen. Bei biefem XDort 
errötete ber UTtann, ober fie merfte unb witterte nichts. 

So fam ber Änabe in bie Peflalozziföutc, füllte ficf) fo» 
fort fef>r wobt, würbe gerobezu nerwöbnt, benn er war ge» 
fcbeit, bübftb, gepflegt, unb baß feine fcbarfgrauen Augen 
ein wenig fcbielten, war noch ein 3auber on ibm. Einige 
£ebrer beßrltfen übrigen», baß er fcf>te(e, unb gaben nur 
ZU, baß feine Augen ungleich groß unb unfpmmetrifcb 
gegeneinanbergeßetlf feien. TRan buibete, baß er immer 
abgetenft f«f>ien, unb es war in ber Tot nur Schein, benn 
über bie tänbelnben, baßetnbcn Ttnger hinweg borcbte er 
febr aufmerffam unb begriff vorzüglich. 3®» f<hie* un» 
beimlicb war oftmals fein Erfoffen, es war ein Ergreifen, 
ein Sugriff, ein An*fi<b*beran*reißen, ein Jlaub, unb 
manchmal fprong er auf, weil ein neues BJiffen in ibnt 
oufgefprungen war, unb fefjrte feine Beuigfeit fiommenb 
in bie Älaffe, fab ßcf> babei nad) ollen Seiten um, ober 
nicht eitel, fonbern berrifcb, als gebühre ihm atemtofes £ou» 
fcben oller. Die £ebrer fob er hierbei feltfanterweife nur 
flüchtig on, als fönten fte faum in Betracht. Dafür fprü* 
benb, tobernb gegen bie 3ttitfchüler; er warf feine Blicfe 
wie Steine heraus, zielte, traf, wollte jerfcfjmettern mit 
biefen Bticfen. 

Bolb war er bei ben Äinbern unbeliebt; vielleicht erwie» 


300 



fett tfmt bie £ef>rer guoiel unbebaute Jleoereng, oielleichf 
au<f> witterten bie in oller 3ungf>unbel)aftigfeit noch JTIäßi* 
gen boa frf;recflich Jliaßlofe in ihm, ben JTtaffenwiber» 
forfjer oon Bluts wegen. 3Tocf) anfänglichen 3weifäntpfen 
ßritt man nur noch mit Schifane gegen ihn. Jüan tüftelte, 
nur um tftn neugierig gu machen, oergönnte aber ben gies 
rigen £außh eräugen nicht einen Brofamen bes albernen 
Geheimniffes. Ober man fpielte unb ließ ihn nicht mit* 
fpieten. Cr oergichtete, tief aber bafür Primanern in bie 
Beine, balgte fich mit ihnen unb mar fo betörenb tapfer, 
baß fie ihn liebten. «Raunt fpürte er es, fo toar er mißoer* 
gnügt, fonnte bie Großen nicht mehr brauchen. 

3n einer JJaufe warf er einen Stein ins SFenßer bes 
£ehrerjimmers, freute fich an ber ungeheuerlich anwach» 
fenben Xlnterfuchung, trieb fich wie ein (fagbhunb an ber 
Peripherie bes Schülerflumpens herum, ber fich im J?of 
um ben fluffichtslehrer brobelnb ballte, unb enblich fprang 
er mit fchmettember Gewalt jwifchen rechts unb Unfs 
Strauchelnben mitten ln ben «Kreis unb melbete fich: „3ch 
war es, ich wollte Ubers Jpaus werfen." Oer £ehrer war 
ärgerlich über bie bröhnenbe flnfamntlung, in beren JTtitfe 
er, wie er fehr gut wußte, nicht anbers als lächerlich wir* 
fen fonnte, unb gab bem 3ungen eine Ohrfeige. 3ugteich 
fpottete er: „So ein Änirps will übers Jrjaus werfen? 
Frechheit!" „BJas?" fcf>rie «Kicharb tobenb, griff einen 
liefet, traf herrlich übers j?aus — es war eine gewaltige 
£eiflung — unb rief: „Abfuhtlich fchmiß ich ins Senßer 
rein, abftchtlicf)! 7 * hierauf weinte er unerhört heftig, fo baß 
ihm ber £ef)rer felber freunblich gufprach. 6r aber hoßte 
ihn oon Stunbe an, obwohl es Or. J?auptmann war, ben 
alle liebten. Jüan achtete ihn befonbers wegen feiner 
lBi^igfeit, jeben fecfen flnwurf eines 3ungen lenfte er ge* 
niaßfch ins errötenbe Gefleht bes braßen Schüßen rnrücf. 
Als gang befonbers jugenbhaft galt gerabe biefer JTtann, 
unb fo gut auch «Rinber wittern, wenn es gilt, bie Schwä« 
cfjen ihrer Herren gu entbeefen, ihnen entging boef>/ baß 
biefer freundliche, geißreiche, oerßänbnisoolle JTTann ber 
eitelße ihrer £ehrer war. 


101 


3m nächßen 3o^re würbe £>r. Jpauptmann JUcfjarbs 
Älaffenlehrer uttb unterrichtete im öeutfcfjen unb Cngli* 
fcfjen. Jlach einer D 3 ocf)e war er von bem £naben völlig 
überwunben, in feine Jähigfeiten verliebt/ von feinem 
Temperament entgücft, von feiner BJilbheit ein bißchen 
fentimentablprifch beraufcht, unb er braute für biefen £ieb» 
iing ben Jlamen „ber 5>ämon" ouf, ber natürlich) nur un« 
ter ben fiehrern gebraucht würbe. 6 r erklärte in fcharfer 
Sormulierung, bafi Scfmlgucht gum Verbrechen werbe, fo* 
bolb eine wahrhaft bämonifche JJcrfönlichfeit ficf) if>r un» 
terwerfen folle, unb fchrieb JUcharb ungewöhnliche DJil» 
lenafraft gu. hierin wiberfprath ber ßeifflicfje: „3<h fehe 
ben 3ungen fchon lange voller Sorge an," fagte er, „was 
er fo fräftig vollführt, bas gelingt ihm gerabe, wenn er 
nur fehr fcf;wach will. Alle feine deinen Untaten gefche» 
hen im Sommer, unb groar gegen 6 nbe bea Vormittage, 
weil er bann mübe ifl." hierüber unterhielten ficf) bann bie 
Herren fo h e f% unb flug, baß fie ben lebenbigen 3 ungen 
über ben toten Theoremen halb vergaßen. 

Ala bie wohltätige Quäferfpeifung auch in ber Pefla* 
logjifchule begann, würbe Jlicharb, ala Sohn einer DJitwe, 
gu ben Bebürftigen gerechnet, unb ea fiel auf, wie gierig er 
aß: er fraß, fcfjlang, ßampfte Jleisbrei unb biefen Äafao 
mit BJeißbrot in fiel) hm««* ©r. ^auptmann, ber gwei* 
mal wöchentlich bie Aufficht führte, fanb auch hierin noch 
jperrlich?eiten. „Solche 3ähne müßten alle haben, mit fol» 
«hen 3ähnen beißt man fich burch." JUcharb fah fort, wenn 
er ^auptmanna Augen fpürte. Cr würbe bann wahrhaft 
häßlich unb glich, er, ber unfinnig Tapfre, einem feigen 
jpunbetier. ^auptmann ßreichelte ihn einmal übera tyaar, 
baa er liebte, unb Jlicharb gitterte fo, baß ber &a?ao aua 
feiner Schüffel fprang, unb ßierte wie irrfinnig genau auf 
ben Bauch bea Mehrere, fo baß viele lachen mußten. 

An jenem Tage, ea war ber 29 . Auguß, in ber gleichen 
Biertelfiunbe gefchah bann noch etwaa Unerhörfea: 6 in 
größerer 3«nge ßieß verfehentlich Jlicharb, ber ein weißea 
Äreug am ürrnel trug, weil er geimpft war, unb Jlicharb 
fchrie wie fchwerverwunbet: „Oenfß bu, baa tut nicht 


302 


toef) ?'* Jtein, es formte wahrlich nicht fonberlicf) weh getan 
haben, bennoch fchlug Troll, ehe S Q uptmann es hmbem 
formte, mit feinem Gßnapf fo fürchterlich auf ben großen 
Jungen ein, baß ber nieberbrach, aus fiaffenber IBunbe 
entfc^Ucf) blutenb, fo fcfjrecflich unb efelhaft, baß einige 
Ätnber ftcf) übergaben, ats bas ftfjöne .Rnabenblut über 
bie Sliefen floß. Großes Bemühen natürlich um ben Ber« 
wunbeten, aber fief>e, <Ricf)arb trat mit feinem Blechnapf, 
an bem noch Blut unb Jpaare hafteten, an ben Speifefeffel 
unb rief ben Schüler, ber bie Äelle hanbhabte, jeljt aber 
unter ben erfchrocfenen Gaffern ßanb, mit frecher lauter 
Stimme: „Gib mir Jleues, ich habe meine Portion ausge« 
fchütfet/' Oer Gerufene trat auch mtrflich, wie behebt, an 
bas fleine Scheufal heran, um ju willfahren, ba fprang 
Ooftor Sauptmann auf. „Ou toiibes Tier!" fchrie er ra« 
fenb unb fchlug «Richarb ins Geficht, oiele JTtale. 

JRaria Troll mürbe in bie Schule gebeten, unb als 
Sauptmann fie fah, erfannte er, baß er JUcharb bisher toie 
ein oerfleibetes 3Tiäb<hen geliebt hatte; er fanb Saar, 
JTtunb unb bas £icf)t ber Augen an biefer Srau wieber 
unb liebte fie. Oaher oerfocht er in ber £ehreroerfamm« 
lung fanatifch einen oerföhnttchen Stanbpunft. Gr erflärte 
bie Hoheit aus einem JTtangel an Phantafie, aus Erregbar» 
feit, aus tatfächUchem Schmerzgefühl ber Gmpfßelle. Gr 
toies barauf hin, baß ein Elfjähriger einen Sninfjehnjähri* 
gen angegriffen habe, er, ein „roter" £ehrer unb Sriebens* 
freunb, geriet faß in Bergöfterung helbifcher Art. Blanche 
lächelten ba ein toenig. Oer Oireftor ließ fich ©erführen, 
auch fah er gum erßenmal «Richarbs naturgemaltiges BJei» 
nen, er bachte an bie eigenen «Kinber unb bie Bätfelart 
jegliches Blenfchen. Aber als er ben Knaben fanft be» 
rührte, oertoanbelte fich «Richarb fofort in einen feigen, hoch 
bifßgen S un b. 

Oer Kaplan fprach in ber Jleligionsßunbe ju ihm: „Ou 
biß tapfer, brum fei auch jetjt tapfer, wenn ich bich table. 
Ott barfß beiner BJut nicht nachgeben, bu hätteß ben 
Sannemann ja totfchlagen fönnen. S)öxt bo<h: bu wärß 
ein JRörber geworben, bas mußt bu mal ganj genau be» 


303 


benfen. einen JRenfcfjen fo febr fragen, baß er nie wieber 
atmet, nie mehr ble Augen aufmaebt, nlcf)t mefjr nach 
Jpaufe tarnt, bie eitern warten unb warten: Äommt er 
nicht enbllrf) gum JIKttageffen? fyxl er etwa Arreß? Jtein, 
er bat nicht Arreß, totgefdf>(agen iß er non einem tapfem 
jungen, bem er aus Uerfef>en an ben 3mpfblattern web* 
getan bat." „Gr bat mich boeb geßoßen," beult* Jücharb, 
„leb mußte Ibn bauen." „Aber boeb nicht fo! Jliebt fo 
beßialifch! ©enf boib nur, wenn bu Gefebwißer bütteß. 
Brüber ganfen fief) boeb oft! UKe oft bat mich mein Bru« 
ber Otto gehauen unb ich ihn, unb Ich bin fogar .Kaplan 
geworben... ©u wilrbefi ja beinen eigenen Bruber er» 
febtagen, bu würbefi gu einem Kain werben, bu würbeß 
ja Abel erfblagen, Jlicharb 1" ©er Knabe (Kerfe ihn an. 
„3«b bin ber eingige gu Jjjaufe", flüfierte er, wieberbolte 
es bann fettfam triumpbierenb: „3<b bin ja ber einzige!" 
©a beging ber Kaplan, ben bie Augen bes Kinbes fottber« 
bar entfebten, bie Xlngefcfjicftirfjfett, baß er fagte: „JUir 
wollen alle für ihn beten/' Sie gehorchten, aber Jlicharb 
brüllte: „Jtein, nein!" ©er Kaplan feftritt mit gefalteten 
<f?änben bis an feinen Banfplab unb fagte mit guefenben 
läppen: „Beleibige Gott nicht!" Aber Jlicharb warf ben 
Kopf auf bie Banf unb wimmerte: „Jlein, nein!" ©en 
Kaplan faßte fo große Surcht, baß er oon feinem eigenen 
Gebet nichts wußte, nur noch Bangigfeit war in feiner 
Seele unb ein gang oergagter Auf f ehr ei: „Gott, Gnabe!" 

3« ber näcbßen Stunbe, im Gnglifcben, oerwecbfelte ein 
Schüler bas BJort „no“ mit „not“, ©r. ^auptmann fchalt 
ungebulbig „©aß no ,fein' beißt, fönnteß bu enblieb wif* 
fen!" Unb plöblieb, wunberbar, machten alle in ßebanfen 
ben gleichen Bßortwib, brebten (ich nach Jlicharb Iroll um, 
unb einige Tiefen fogar leife: „No, nol“ ipauptmann 
fonnte ßcf) bas nicht beuten, unb auch Jlicharb fühlte ßcb 
nicht getroffen, er war gang bei ber Sache, er war nicht im» 
ßanbe, Kain im „fein" gu oernebmen, batte Blut, Bruber» 
morb, Gebet fchon wieber oergeffen. Bon ba an batte er 
ben Spi^namen JTo. Jüan blieb ihm bie Grflärung fchul« 
big, warum man ihn fo nenne, unb er erriet bie KJabrbeit 


304 


nicht unb freute fttf) fogar ein wenig, baß er enbltcf) eine« 
ltlfnomen hotte. 

SFafl genau ein 3af>r banach würbe Troll wieberum junt 
flngeflagten. 6 r hotte einen jungen JTtenfchen feiner 
Straße, feinen JITitfchüler, mit bem Tafcbenmeffer in ben 
Oberarm 'geflogen. Xlrfarfje ober Anlaß: eine bumme 
DTetferei: ,,©u fjafl ja fo bübfthe Jrjaare, bu brennfl fte bir 
wohl?" 

3n biefer Äonferenj fagte ©r. £efoe, ber Biologe« ber 
jugleirf) Scfjularjt mar, etwas Graufiges: Bb jur oor* 
jäfjr n üuäferprügelei höbe er JUcfjarb Troll nur bem 
JTamen nach gefannt. Damals fei er aber neugierig ge« 
toefen, unb bei feiner üuäferauffufjt JTlittroocbs, ja, ba fei 
ihm, ganj fpielertfcfj eigentlich, ber Ginfall gefommen, bie» 
fen blutbürßigen gelben aus ben 42 3 ungen ^erausju« 
finben, unb jtnar etnjig unb allein auf Grunb ber pfjpfio* 
gnomifcfjen Derbrerf)ermerfmale. Grabe bamals hätte er 
einen einfcfjlägigen fluffap irgenbtoo in einer ülußrierfen 
3eitung, alfo feinem «oiffenfcf)aftticf>en Organ, burchgelefen. 
„Xlnb alä ich in alle jroeiunboierjig Paar «ftnabenaugen 
gefefjen hotte," fpracb er, „fühlte icf>: ber f)ier, biefer hüb» 
fcfjc Burfcfje hier, mit ben eigentümlichen Äugen, ber muß 
es fein. ,3Bie f>ei(3t bu benn?' fragte ich. ^Ricfjarb Troll/ 
fagte er, unb fab mich fo blanf an, baß icf) ihm auch gut 
fein mußte, wie College Jrjauptmann es noch beute iß. 3e» 
benfatts feine völlige Hnbersbaftigfeit fühlte icb bamals. 
©as möchte ich ju bebenfen geben, es fommt mir nach trag» 
Beb graufig oor." 

„Die JTiörbermerfmale?" rief Jpauptmann erfiuft. 

„3a, bie JTierfmale bes fogenannten geborenen JTTör» 
bers." 

©ies BJort war toie ein locfrer Blocf, ber an ber ©etfe 
lauert,’ alle ^armlofen brunten fürchterlich ju jermalmen. 
UJtlbfänge, Taugenichtfe, Tunichtgute, ja, fie hotten hu» 
mane JTamen für manchen fragwürbigen Burfchen, aber 
einen geborenen JTTörber fannten fte noch nicht, ©ie Bäter 
unter ihnen waren wie oon Jrofl befallen, ihre Jpänbe 
fpielten erregt, weil bie ^erjen fo bebten. „IBir tragen 


20 bnrtfifie SfafreE*. 


305 



eine ungeheuere Uerantmortung 77 , fagte jernanb leife. Oer 
Oireftor faf) melf aus, er fenfte ben &opf. Cr hatte foeben 
für ben .Knaben fprecfjen mollen, je£t fürchtete er fid> Ein» 
mal noch um Gnabe für »h« bitten, einmal noch Hoffnung 
machen, roeit bo<h bas Seben fo rätfelhaft fei, reich an fön» 
ßerniffen, reich an Jähen Erhellungen Soeben noch fogen 
mollen: „JTleine Jperren, ßoßen mir ihn nicht hinaus. 
DJenn irgenbmo, bann bei uns . . 3efyt fchämte er fleh 
faß. Er »artete auf Jrjauptmanns Stimme. 3rgenbein 
3omiger fchrie es heraus: „Oie Sentimentalität muß eine 
Grenge haben, föinfhunbert 3ungen gegen einen! 7 ' Oas 
löße, ermutigte, beraufchte. Oie Angß oor fünftiger Untat 
fpornte bie JTtänner gu Unerbittlichkeit. „3ugegeben, er 
iß franf! UJir flnb fein .Rranfenhaus, mir ßnb eine 
Schule! 77 Schließlich brei, oier, fünf Stimmen gugleicf>: 
„Geborener JHörber! 7 ' Unb oier anbere Stimmen bagu: 
„Geborener JItörber! 77 Unb bann grollte ein gucf)ttofer 
Chor in Jtotmehr bas fchrecfliche UJort. ©er Oireftor fagte 
mübe: „3ch benfe, mir fönnen gur Abßimmung fchreiten. 77 

Als hoch noch ©r. Jpauptmann ums UJort bat, niefte 
ber Oireftor hoffnungslos. UJie einen Seinb fahen ihn alle 
an. «Rechthaberei, Eitelfeit, Sophißeret, Glattheit bes £ite» 
raten fcfjienen Ihnen plöhtich an ihm enttarnt. BJill er o* 
nig in einen Äeffel foefjenben Gifts träufeln unb uns gu« 
reben: Xrinft? j^auptmann mar fo erregt, baß er lange 
nicht fprechen fonnte. Enblich: „3ch bitte gum leptenmal 
um Ttachficht für «Richarb Xrotl. 3cf> merbe feine JTlutter 
heiraten, ich merbe fein üater fein. Seit bem Kriege iß er 
oaterlos. 3ch glaube feß, baß ich ihn behüten fann. BJenn 
Sie ihn aber Je£t ausßoßen, merbe ich ihn nicht behüten 
fönnen. 7 ' 

Sie fchmiegen befchämt. Sonberbar, rührenb unb auch 
lächerlich: plögtich hatten bie oorigen DJorte bes 3omes 
nicht mehr fo böfen Xon, ber Steinbtocf in ber Oecfe mürbe 
plöhlich gu meichem Xuch? Oiefe braoen JHänner, bie fo« 
eben bas JTtpßerium bes JKörbers geahnt hatten, coagten 
nicht unfollegial gu fein. Oer «Knabe 3Io mar plöhlich bas 
Äinb eines oon ihnen. „Unter biefen Umßänben . ♦." 

306 


UJic töricht zaghaft tönte öle oertraute «Rebewenbung ootl 
nttlben -Klanges! „Oos änbert ja allerbings . . ." 

So blieb ber Änabe 3lo in ber Schule. 

Oer ©ireftor ließ ihn ju ßcf> berufen unb fagte: „Einer 
beiner £ef>rer wirb bein Bafer werben; er Hebt bidj tängß 
wie ein Bater." „Bier?" lallte .Richarb. „4?err Or. Haupt« 
mann", antwortete ber ©ireftor unb ärgerte ßcf) ein wenig, 
weü er im Augenbltcf nicf)t wußte, ob bie Bezeichnung 
„Herr" in biefem 3ufammenhang nicht uietleicfjt ßint» 
mungsßörenb fei. Jücharb fcfjrie: „3Iein, nein! J^err OU 
reftor, oerbiefen Sie es tf)tn! TRetne JRutter hat mir noch 
gor nichts gefagt, fie bat flngß! Jtein, nein!" 

Oer -Knabe Bo log oor Or. Hauptmawt auf ben flnien: 
„Sie bürfen meine JRutter nicht heiraten." Er fchwor gan$ 
f mb lieh: „3ch gebe 3hnen mein Ehrenwort, baß ich je^l 
immer anßänbig fein werbe." Hauptmann antwortete: 
„Oeine JRutter würbe fehr unglücklich fein, wenn bu es 
uns nicht erlaubß, benn ße liebt mich fo fehr, wie ich ße. 
BJitlß bu ße unglücklich machen? Bür werben uns fchon 
»ertragen, wir brei." 

Sür bie Bloche, in ber bie ^ochjeit ßattfmben follte, 
würbe ber 3unge oom Unterricht beurlaubt unb ju einem 
Bruber JRarias, einem Sörßer, gefehlt, flm Hochzeitstage 
fuhr er eigenmächtig in bte Stabt zurücf. Oer Bruber tele» 
graphierte, hoch bie beiben glücklichen JTienfchen öffneten 
fein Telegramm; zu albern oiele tagen mit Glücfwünfchen 
geßapelt. 3n ber Bacf>t fchüef «Richarb auf ber Treppe. 
JRorgens gegen acht flingelte er. 

„JBer iß benn ba?" fragte ber Bater oon innen. 

„3ch" 

„IBer ich? «Rifhorb, bu?" 

„3a", fchluchzte er. 

fltö ber neue Bater öffnete, fchoß «Richarb ihm mit einer 
pißote burch ben £eib unb war ein JRörber. 


20 * 


307 



Die 1 u t t e t 

Bon fltfreb XPotfenflein 


| | ber ben befonnten Jriebhof frocf) ber £eicf)engug be* 
- Vbaort oon bccfen fcf)margflrahlenöen Ritten bem 
Schatten ber Gräber gu. ©er Sohn ber Toten folgte mit 
rafchem Scfjritt bem ©arge. UJenn fein heftiger regeUofer 
Gang aus ben «Keiften fiel, gucfte bie gefenfte Stirn oon 
ber ÜTtäfte bes Sarges unb bie Schultern f(hoben fich ge* 
bannt unter bas bunfle $olj. ©ie Träger ftrecften fchnell 
ihre Arme aus, eine Jpanb Hopfte ihm auf bie Schulter unb 
brücfte ihn mieber in ben 3ug, ber mit ruhigen Hebungen 
unb Senfungen feiner Glieber über ben Sanb fnirfihte. 

©as nachnäfelnbe Harmonium o er flammte, bie XGege 
mürben enger, ©ie £eute nicften unb fahen hinab auf fleife 
Tflarmorfcftriften, Gitferfpiften, ftängenbe Bäume, niebrige 
Stabt ber Toten. ©Jären mir allein, bacftte er unb flarrte 
nach bem fantigen Jpaupt bes 3uges, bas auf oier JTacfen 
ooranfchmanfte, fprühenb blirfte »ie Sonne aus ben oier 
metallenen Gcfen. — JRuffer, fjöllifcfje drallen fcftarren an 
meinem bergen — Engel pochen marnenb oon ber anberen 
Seite — fie alle mollen Xlntreue. ©och fürchte bu nichts, 
ich öffne nur bem, ber mir mehr Schmergen, mehr Schmer* 
gen bringt! 3cft höre, mas bu mir brei bleiche Tage unb 
Jläcftte lang gugeflüflert als bu noch unoer* 

fchtoffen lagfl, in unferem falt ftallenben 4paufe —: 3cft 
höre, mie bu es immer noch aus beinern Äaflen mifb unb 
oergmeifelt fchreifl, bafi ber blaue fymmd in «deinen 
©hren gerbtrfl — ©enn es bleibt menig 3eit, bis fie bei* 
nen JTtunb oerflopfen. ©h, ich oerflehe buh gut, menn ich 
auch jung unb oermirrt bin. ©u oerlangfl nach mir — 
Ober oerlange ich nach bir —? Es ifl nicht genug, bies finb* 

308 



liehe Brennen in meiner Bruß, nicht genug. 3ß großer 
Srfjmerj fo erträglich groß? So hat mich mancher Stein 
eines Qungen geßhmerjt, i>er mich an ben Äopf traf. IBie 
groß tß ber Xob? Abenteuerlicher «Hiefe — butbe ich, ba|3 
ein bequemer $Ugel aus bir wirb? ltnb biß hoch Xob bes 
einen £eibes, ber mich geboren hat. Jltutter, ich toanble 
unb rage, freuje frech deinen nun höljernen £eib. 3eh löße 
mich einß aus bir, bamit bu allein ßürbeß! So iß es 
in ber Orbnung, murmeln hinter mir bie Jllunbtoinfel ber 
falfchen Xrauer — 

Cr brehte ßch um. Gebämpfter XBortßhwall, Jtebel fiel* 
ner Unterhaltung 30 g in langen Schwaben heram Aber 
wie mit boppeltem Antlih oorroärts gewanbt, fing er aus 
ber Spur bes Sarges eine getragene Stimme auf:... Jltein 
£inb, bu gehß mit ihnen, nicht mit mir... Stein, Jltutter, 
ich bin fein Berräfer... ltnterßheibeß bu bich ©on ihnen, 
wie bu’s wünßhteß?... Jltefjr, wünfchte ich, mehr, hoch 
fiel) meine bebrücfte Bruß... 3<h fehe beine Bruß wie eine 
blühenbe IBiefe unter eiligen XBolfen ßch ausbreiten — 
lebenbig — unb hier ein Scfmeefelb, bir ßhon unähnlich, 
beine Jltutter ... Sieh, Jltutter, ich gehe rafch bir nach ... 
lim beine Xrauer rafch er ins Grab ju ©erfenfen, mit Be» 
wegungen unbefangen unb frifch ... Du biß hart, Jltutter, 
ich fühle fie ja felbß mit BJiberwitlen, biefe Glieber, bie bir 
gehören unb fidf) ruchlos bewegen: So fomm, laß bich oon 
ihnen nicht mehr oerhöhnen, ßeig auf in meinem Blute mit 
gefpenßißhem Jtechtl'3cf) |oll ßerben wie bu! IBenn auf 
ber ößlichen Crbe ber £iebenbe nach bem Jpingegangenen 
ßch oerbrennt unb bie 3ufallsorbnung bes Xobes nicht 
bulbet: 3ch will noch mehr tun, geliebte Jltutter, brechen 
auch biefe Orbnung jwifchen ber fjugenb unb bem Alter ... 

CusWieb ßehen. Aber höre, ftüßerte er, auch graufam wie 
ber Jpprann auf bem Scheiterhaufen — wünfchte ich ju» 
gleich mit mir alle biefe §u oerbrennen! 3ißhenb, brum» 
menb, freifchenb fammelte ßch bas friebliche Getöfe ber 
fchwatjenben Jteihen unter ben Ahornen unb Afajten, unb 
machte hinter ihm halt. 3n tierißh unbefangener llnterhal» 
tung, baß bie Bögel barüber lautlos hinjufliegen fchienen, 


3°9 


fof) er ein $eer oon fremben Geficf)fern onrürfen: Aua auf« 
geriffetten Augen, geneigten Ohren, gappelnben JTtünbem, 
flirnrunjelnb ober läcfjelnb Jlocfjbar on OTachbar ange« 
fnüpft, fcfttooll ihre Sprache burcf) bie geamnbenen JBege 
unb tocrbelte fern mit bem gefühllosen Srf)toonje bes 
3uges ben Staub auf. 

^ter hotte er fie alle beifammen, eine enblofe unbetei» 
ligte JTtenge fchlofS fich burch bie Blauer hinöurcf) bem 
Jriebhof an. Sie reichte bte in bie gefefjäffige Stabt ju» 
rücf, fie brängte fich ohne Sinn bte ju biefen bunflen 
BJegen oor unb türmte bie Sinnlofigfeit bes Gebens ring9 
um ihn unb um biefen Xob auf. Ufas tat ihr Gefchrei oer« 
roanöt unb oertraut mit ihm? 6ht größeres ßlücf toar es, 
ber Xoten ähnlich ju fehn als ben lauen Sümpfen biefer 
Geflehter. Xlnb gurgelte es nicht felbfl unter ihren grün* 
bumpfen Oberflächen, bafj bie Hielt nun ju Gnbe fei? 

©a parfte er fie, toie fie aus HJolmungen, £äben, Sehen« 
fen ahnungslos, aus Arbeit, JTluftf unb £iebe unerfchöpf« 
lieh hwomoimmelten unb oor bem aufgäfmenben Grabe 
jurüeffanfen in entfe^ter XGellenbeosegung: Xlnb ooller 
£ufl, bem Xobe ber geliebten JTlutter noch einen Sinn ju 
geben, inbem er auch bem ungeliebten Schmält ein Gnbe 
machte — ja, Xob ju fein —, fchleuberte er fie hinab. 
Blaffe nach Blaffe ber fremben Geflehter — bie toohl aus 
Xobesangfi noch fo menfchlich oerbunben ihn anfahen, hoch 
in HJahrheit öbe, überflüffig, oergänglich gegen 

bie Xote. ©ie 6rbe aber frf)lucfte lachenb alles, als fei es 
nichts, fie ergab noch feinen Jpüget: Bte er julefü fich felbfl 
unb 0)09 nun fchon oergangen toar, Spiele, Bücher, Xänje 
unb JBanberungen, fuchenbe ©ämmerungen, läge unb 
Jlächte mit Sreunben unb Sührern, alle er fie ^errlidjfelt 
hinabfehüttete — bie Arme ganj ooll genommen fchüttete 
er bas Jpaus ber Äinbheit hinab, bew mit ihr gerfieli auf 
bunten Stühlen Gefpenfler alter innigen Gefpräcfje, hohl 
ber fingenbe unb bonnernbe Slügel an ber leeren HJanb, 
ber 6arten troefen, bie Xreppen fliegen nicht mehr, bie 
IBege brachen ab — bie oerflümmelte Hielt opfere ich bir 
nun ganj — 


310 


Cr fuhr auf. HJie ein leblofer Doge! fanf ein fcfjtoarjer 
£eib langfam oon ben Acbfeln unb roten Bacfen ber £eute 
bernieber jur Erbe. Sie öffnete ficf) bafür, es fanf toeifer 
unb fcfjmanb unter ben Siifien binroeg. Aber bie JTtenfcfjen 
blieben oben, fie orbnete ficf) in birfent Äranj um bas 
ecfige £ocf). XBorte begannen ju raffeln, mit tr offenen unb 
metallenen Blumen, ©amt fchmebten oon allen Seiten Arme 
unb Stiele ber Spaten auf ihn ju unb boten U>m Erbe. Bin 
SufJ trat ungebulbig gegen feinen, ein JTtunb jifcfjte: Es 
ifl bas £et)te!... bb er bie Erbe nahm unb jmifcben ben 
Fingern f)inabflie(Jen KefS. Sogleich polterten bie Schollen 
ifjre erlöse paufenbe Scf)lu(Jmufif, bie Spaten fcfjnitten ein, 
fie fcbarrten unb toölbten bie Erbe, flatfcfjenb. Setrappet 
30 g um ben Drt herum, über Bretter unb Sanb Hang es 
ab, unb balb mar fein Schritt mehr 3 U hören. £eifes Reuten 
oon einer £erbe geretteter Dpfertiere lief hinter ber tiefen 
roten Sonne um ben Jrjorijont, BJeiterfjeulen bes £ebens. 
— Bine große Ebene lag t>ier toof)l bi 9 gum fäorigont 
bin — nur bicht oor ibm machte ber Boben einen bürten 
Bucfel. ©er falte Geruch oon Tulpen fUmbaber — er fab 
einen Schotten neben ficf) liegen unb brebte ficf) um: Ein 
Baum, niemanb ging mehr jmifchen ben Gräbern. 

Er flanb biuabgebücft, lange, ba näherten ficf) noch 
Schritte. Ein alter behaglich fchletchenber Jliann fam, 
neben bent eine Schlange IBaffer auf bie Blumen fpie. Au 9 
feiner Pfeife quollen bicfe löolfen in bie £uft, mo noch 
Bienen unb Schmetterlinge lautlos flogen. Schturfenb unb 
raufchenb hämmerte es oorüber, unb eine oollfommcne 
Stille folgte. 

Aber eingegtoängt gmlfchen jmei breiten Jlüflern, bas 
Geficht an bie Borfe gepreßt, in ahnungsooller Jreube 
über fönen rafchen Sprung in bies Perflerf: mie ein Äinb 
hätte er noch einen anbem befragen mögen, toarum er 
ficf> oerborgen hatte —! ©och er mußte es fcf>on, bie Ent« 
fcheibung hatte fcfjon in ihm gelegen, jefyt mar fie bell 
o)ie ein Sifcf) aus bem lange oerbecfenben Schlamm herauf* 
gefHegen. Sein Blut unb feine Seele fprubelten gang in 
biefem Sprung. Er allein mar hier auf bem bämmernben 


Jriebfjof, unb er allein blieb f>ier, was follten tfjr anbere 
Opfer — 

6 r winfte hinüber, balb würbe bas Xor gefcfjloffen wer» 
ben, bann fam er. Aus ber träge fortfcfirettenben Dämme« 
rung 30 g er firf) in ben alten tieferen 3riebf)of gurürf. 
3tebelf)afte blinbe Slüget fireiften bort fcfjon untrer, bie 
Gräber würben niebriger, jerfreffener Efeu unb fcarte 
Spinnweben in Dornen fpannten firf) oor bie SüfSe. 
Die Steine begannen ficf> ju neigen, grau unb nanten* 
los, ber Jriebfjof fanf mit fcf>iefen Äreujen in Grä» 
berfjaufen Hein unb flruppig jufantnten, als feien f>ier 
alte 3t»erge begraben: bis alles ju leeren Beeten oertoifcfjt 
lag. BJeiter no<S) fanf es, burcf) j?öf)ten, Pfüfcen unb 
S$äcf>te fielt hinunter, in bittere Dämpfe oon £aub unb 
oergangenem steifet) hinein führte ber BJeg, ins innere, 
Jlüffe fitferten burcf) bie o>acf)fenbe unterirbifrfje Jtacfjt — 

6 r f)ielt an unb wartete, an einen leife wiegenben Baum 
gelernt. Jern faf) er in ber Jlicfjtung bes Grabes ein £icf)t 
aus ben Straften fjereinblinfen, bas er fief) merfte. 6 f)er» 
nes Starren flang wie eine Glocfe oon ber TTiauer f>er: 
bas Xor bräunte unb fiel ju. .Rings um bie JTCaue* fcf>lu< 
gen bie Itfjren, er f>orrf)te — 

6 s regte fief) auef) in ben unterirbifefjen Gelaufen — 
in ben Xlfjren ber Gwigfeit — Die Dämmerung bebte, er 
flarrte f)in: ^ob firf) nirfjt bas Grab bort unter bem ftei» 
nen £lcf>t, f)Ob fief) wie ein Berg — oon innen aufgeffoßen 

— oon einer erflieften Stimme-Die Blumen fcfjnell* 

fen ab, regneten naf)e f)eran, geifterfjafte J?änbe fingen fie, 
feierlich fenften fie fief) auf fein ^aupt unb fcfjmücften 
es — Der naefte ^ügel fcfjweifte firf) unb ging auf, aus 
feinem ScfjofS auferflanb eine weifSe unbewegte Geflalt. 
So füllte er auef) fief) felbft eifemfefl werben, um bem 
jief>enben TRagnefen gerabe ans S?tr$ ju fliegen. 3m 
frfjroarjen Sful)l mit golben betriebener fleinerner £ef>ne 
flreefte fie bequem bie Beine aus: Schönes £ärf)eln faf) if)n 
burcf) bie gefefrfoffenen Augen teuflifcf) an unb bog ifjren 
ITtunb auf, if)re Brauen nieber, wie einanber fpiegelnbe 
JTIonbe. Aus bem Schwung ber 3Täfe fief) entfaltenb wie 


313 


ein Socket frf>t»ebfe bie Stirn mit tangenben Slecfen bemalt, 
aus zauberhaftem hinter grunbe traten GebanPen uor unb 
breiteten fi4> in fcfnllernben ranblofen Sorben gleich einer 
Uberfcf)wemmung aus. Darüber wie große 3rrlirf)ter gucf» 
ten burtf) bas Jpaupt bie Seuer einer anberen Hielt. 3af)l* 
lofe Arme, göttlich gefaltet auf ben Scfjenfeln, oerfcfjränft 
über ber Braß, an «Knie unb Dtfange gelernt, leer in bie 
£uft erhoben, famen aus ben Schultern unb lüften, piöh' 
lieh umfchlang fie ihn, mit oollem Hmfaffen — gleich bem 
erßen erßicfenben Eintritt in ben HJeihraucf) ber hiwtntel« 
nahen Kirche, gleich ber erßen Umarmung — 

Doch es würbe milber, je näher fie ihn gog: Sie worf 
bie Jltaste ab, fie lächelte aus hellen unbefangenen BJim* 
pern. Die JTtutter toar es, fo fyatte fie oft feltfam oer* 
toanbelt bie Augen gefchloffen, wenn er bei ihr faß. 3<h 
muß oor bir ßerben, flttßerte fie... HJarum fagß bu 
bas?... HJeil bu mich noch allgufehr liebß: 0eber wirb 
geboren, bamit er allein lebt... 3m bämmernben 3immer 
fein Äinn in ihren Schoß gebrüeft, ben Arm blinb um 
ihren ^jals geklungen, fo fühlte er in eine gute bunfle 
fjöhle fich gurütffinfen, wo noch Schimmer ber erßen 
Sterne niebertropfte. Don biefer erßen tiefen Sj>öt>le prallte 
ber .Kampf ab, ber tagsüber wütenb fefjon in feine Jju» 
genb griff. Hfie herrlich unb feltfam, baß fie folange nach 
meiner Geburt noch lebt —! Sie brüefte ein wenig fpöttifd) 
feine Jrjanb, benn er hotte gefagt: DJenn bu ßirbß, töte 
ich mich... Durch ihr in garten Bogen aufßrebenbes Ge* 
ficht gwifchen ben fchmaten Schultern ßhwebfe er, wie 
burch ein hohes JTCittelfchiff bem Schimmer ihrer Augen 
gu, fah gebannt hinein wie in bie Gwigfeit. Sie fchüttelte 
ben .Kopf, aber fie niefte fefjon zugleich... 3cf> oerlaffe bich 
nicht, fagte er... unb wäfjrenb fie ihn abwehrte, fühlte 
er hoch oerwanbelte Arme um feine Bruß unb JFjüfte fich 
fchlingen, Öffnungen brängten fich ouf, fie fogen willig 
feine fchwämterifchen BJorte, mit Sragen fchienen fie ihn 
gu binben: HJenn ich ßerbe —? heftig griff er in feine 
Xafche: BJenn bu ßirbß, erfchieße ich mich! Schon mit gang 
befriebigtem JXicfen beugte fie fich ouf feinen JTCunb, ber 


313 


Stuf)! fcfjaufeftt ins öunfel geworbene 3intmer gurücf, er 
beugte fich nach, ouf ihrem JTlunb, er faulte, ob nicht 
botf) eine anbere Antwort fönte — Äam nicht aus ber 
liefe eine onbere? Gr taumelte oorgeneigt — er ging — 

6 r ging, bie JBaffe fefl in ber Jrjanb, bie er trunfen aus 
ber Xafche gezogen batte. Seine «Rnie waren noch ffeif, 
forgfam beobachtete er bas Sicht, bas ihm bie «Richtung 
geigte. Ss hing wie nahe über bem Grabe, währenb es 
jenfeits ber JTlauer hi n * er einem Senfler flanb, beffen 
Äreug grau mitfehimmerte. ©ort festen fie firf) je^t um 
bie Xifcfje, effen bampfte, bas fo gut ans Seben binbet, 
Xüren fcfjlugen hin unb her, Slügel, bie bie HJänbe auf* 
heben, behagliches Sleifcf) unterhielt fich, fang unb legte 
fich gufammert — ©er Sriebhof flieg, in Geäfl, er war 
fchwellenbes Geäber auf ber 3Ta<ht. ©ie Blätter floppten 
eingeln auf unb gu, fie geigten ihre blinfenben dürfen, ootl 
oon bem toten Saft, ben ihre DJurgel aus biefer 6rbe fog. 
Jjjier wie ber leblofe Baum gu wurgeln! ben BJinb gu emp» 
fangen unb unfehutbig nur burch ihn fich gu regen — ohne 
Berantwortung für bie nichtigen Bewegungen bes eigenen 
BJillens — nur mit ben unfuhtbaren Gebärben bes 
BJachstums an ber oergangenen Erbe JTahrung gu fau» 
gen —! Cr machte größere Schritte, er fah oor fich bie 
weißen winfenben Xtmriffe unb einen Jpügel barin, wie 
bie Brufl einer $rau — 

piöfjlicf) (lolperte er unb fiel. Als er auffprang, war bas 
Sicht oerfchwunben. Gr brehte fich um, alles war bunfel. 
Gr begann gu taffen. Uberall traf er Öffnungen fleiner 
BJege, bie «Richtung freifte um ihn, nicht mehr gu erraten, 
©iefe XUolfen lagen auf bem ipimmel. Gr wartete. Sie 
fchoben fich bichter ineinanber. 

Gr begwang fich unb fing an, langfam burch bie ©unfel* 
heit oor fich hin 3« greifen. 3n feine emporgeflretfte 
J?anb unb in bie anbere unten flreicf>enbe legten fid) enblos 
Säulen unb Stämme, marmorn unb roflig Stäbe, 5igu* 
ren, Schalen, «Ranfen, geferbte Xafefn. Gin Grab ohne 
Stein fam nicht. Jtiebergebürff, auf bie «Knie geworfen, 
enblich unten friechenb, um nichts gu ttberfehen, fuhr er 


314 


burch Schlamm unb Sanb, unb füllte bas Oicficht ber 
JRonumente über fich nur wachfen. Oie XOcge freugten 
einanber in finnlofer JTienge, verfchwanben wie Augen» 
blicfsmücfen unb lehrten wimmetnb wieber. 6r fjätte jeben 
non if)neft nehmen wollen, jeber, faum betreten, verwirrte 
ihn unb machte ifjrt ungläubig. £s würbe ein gögernbes, 
haftenbes Sueben — obwefenb unb bo<b auf biefer gongen 
£rbe gleicbgeitig fucfjte er, bolb tauf enbf ach gerfchnitten. 
DJöbrenb ber Sriebbof ficf> ibm groufont entgog, prägten 
feine Sornten fi<h ben jrjänben höhnifch ein, non «Kiefeln 
wie mit Abbrücfen bes Gräberfelbs gebügelt. Unb jetjt — 
fenfte f«h nicht wieber ber Jrtebbof — war es nicht wieber 
im «Kreis ber ölte Abhang, ber gur «Solle führte —? Dürr 
brobette 6rob on Grob mit immer älterem JTiober ge* 
füllt — Cr traf in Stacheln, je£t in teufllfch lebenbe iJTiaffe, 
feuchte £ippen, gwei Steine gruben fich in feine j?anb, er 
fchrie unter bent Bi|3 — Soffungslos hielt er on, flemmte 
fich gegen ben Abhang. 

Aber bie bumpfen Düfte mohnenb aus bem Boben »er* 
wehrten gebe .Ruhe unb trieben ihn: Suche! bie Jtad)t geht 
vorbei —! JTiit einem Jlucf auf bie 3ehen gefiellt fdF>n«(lte 
er fich ob. Durch Dunfl, burch Geflräud) unb 3weige 
faufle er vorwärts, gepeitfcht, fiel, fiie(5 on IBänbe, warf 
fich gurücf, warf ficf) fopffchüttelnb weiter. Die Ge* 
fchoffe ber Sinfiernis hogelten feinem Sturmlouf entgegen, 
bie fieinerne £uft fchmetterte auf ihn ein mit JTZarmor» 
fugein, Gifenfreugen. Bon Gitterfpifjen blutenb losgeriffen, 
fchweißtriefenb hoch über Anhöhen unb £öcher, auch wo 
es nichts gu überfpringen gob, befinnungslos fchoffen feine 
Süfie fchon wie jlügel hin. Dos £eichenfelb, gong mit bem 
bichten, fuchenben Beh feiner Sprünge übergogen, gitterte 
unter bem aufbrecfjenben irjimmel voller Sterne. 

Unb fchon war biefes einfame ^inrofen unter ben Ster* 
nen nicht mehr finnlos unb traurig wie vorher. Berwan» 
belnb rann bie wilbe Bewegung burch feine Getenfe, fie 
trat über verborgene Schwellen, wo hinter ben Xüren ber 
Brufl unb ber Stirn länger, bie 5äifie feiner unfichtboren 
Kräfte, wartenb flanben: unb mitgeriffen in bie weiten 


Ääume (limmten fie ein in £auf unb JTtufif. DJie Änie, 
S ?oor unb Äinn langte innen ber Quell einer BJanblung, 
ber bergige Sriebfjof ging in HJellen, ein TReer frfjlug über 
ben 6runb ooller feigen: Seine Bewegungen/ non ber 
Toten ihm geboren/ fcfjufen nun aufgelöß ficf> felbß um. 
Durch bie Seifen ber Gräber flutenb, über Gnfc^riften, Bit»« 
men unb ßtippen, bie Sunfen bes Rimmels fpiegelnb, gwi* 
fcfjen benen IBrorfe fcfjwanfenb oerfanfen, flob er auf unb 
ob, unb feine Glieber turnten ficf) in eine neue Sretheit. 
Trunfen fcfjwang, fcfjaufelte unb Momm er unb wußte 
nicf)t, war er noch auf blefem Selbe — flog er wie oom 
Sprungbrett über bie JTTauer fcfjon auf XBiefen — flricfjen 
aus ben H3of>nungen bie erwachenben Träume ber JTten* 
fcfjen —, bis er noch einmal, gurücffliegenb wie ein Ball, 
irgenbwo mit fingenbem fitem gwifdjen ben Gräbern 
lag* 

«Cr feucfjte, er flrecfte fich aus. Cr berührte auf bem Bo« 
ben ein eifernes Meines Ding —: bie BJaffe, fjier oerloren, 
als er geflolpert war. Dann gleich einer g erbrochenen JTta« 
fcfjine neben einer glürflicfj bampfenben begann es neben 
feinem Atmen gu Mappern unb gu giften, oor feinen 
fcfjwimmenben Augen liefen Jpimmel unb Crbe in bleicfjen 
Zeigen burcfjeinanber: Die Decfel ber XOolfen waren ge* 
borßen, Mtodfjige Sternbilber fliegen auf, Jlebel unb Änor* 
pel, rings nicften unb frängten fi<f> mit bleicfjen Schleifen 
Sfelette über ben Fimmel. Sie warfen narfj ihm bie Speere 
leerer Singer, fjeulenb fanfen fte im Bogen wie «Kafeten 
heran, ben erflen oergangenen brängten gafjllofe nach, 
gtmt wuchtigen Angriff fich gu oerfchmetgen: Aber jämmer* 
licfje £ücfen blieben überall, öbe JTacfjt weinte burcfj bie 
£ächer bes gebrocfjnen Gewühls, mit harten Schultern unb 
Schößen prallten fie ooneinanber ab unb bilbeten gwifchen 
fich nur ohnmächtige Wählen wie im 3nnern ihrer Äörper. 
Da fnicften fie ein, in taufenbfachm armfeligen £emuren» 
gelenfen, bie aneittanber nicht mehr h'ranreichten, unb 
frocfjen gu ihm unb hielten ihnt leer fcfjmeichelnb wie 
Äah«t beinerne Bacfen hin, baß er fie mit feinem Sleifcfj 
anfülle — 6r fprang auf — 

316 


6 r flrecfte bie Arme aus: Denn bort — ein Strom, ber 
tote ein XOunber aufwärtsfirömte, er festen aus bem oer» 
funfenen bergen bes £icf)ts: Ein flamnternber «Kern, an« 
brängenb gegen bie Erbe mit ihren Gefpenflem unb JTien« 
fcf)en, flieg burcf) ein Blutbab ber Treube unb fanbte riefen* 
haft wehenben fegenben Brucf oor fich f>er. 

Er öffnete ben JTtunb, Bälle flarfer reiner £uft flogen 
herein, bie Dual follte enben, unb er brauchte fief) nicht mehr 
gu rühren: 6s follte etwas für ihn gefchehn. BJie ber IDan* 
berer nachts fleh bas £icht angttnben lief}, unb als es wie* 
ber ertofeh, ein anberer fam unb es angünbete, unb als 
es wieber erlofch, gu fich fprach: 3e^t warte ich flatt auf 
JHenfchen auf ben morgen Gottes —: fo brannten nun 
bie Schatten in ben Bäumen unb Steinen aus, bie Erbe 
raufchte, wie ein rafcher fahrenbes Schiff, Bogelflimmen 
barüber. Eine le0te BJolfe rerfte fich unb geigte mit begei« 
flertem Finger borthin, wo ber J?immel oulfantfcf) auf* 
ftanb. llnb er, auf bie 3e{>en fich flellenb unb mit ber win* 
gegen Bewegung eine unermeßliche Strecfe in ben Hielten* 
raum wachfenb: traf fe^t am Jporigont ben giiihenben 
Gipfel ber Sonne. 

Oberhalb ber Erbe war morgen. ^>ier fam allein für 
ihn ber Tag. Schon fah er bie fleinen Jrjügel auf ber Brufl 
bes abgeflorbenen »Reiches liegen, an benen er in biefer 
Jlacht nur bie Bergängßchfeit gefühlt hatte. Unflerb* 
lichfeit fpornte nun wieber fichtbar bie Schöpfung, unauf« 
haltfame feurige Leiterin fehle herauf aus bem flbgrunb 
unb gerrif) Ihm bie lebten JTebel ber «Rinbhect — mit flgur 
ber 3ugenb. 

Bern riefenhaft lächetnben flntlih ber Sonne entgegen nur 
wenige Schritte ging er: benn gang nahe fanb er bas Grab. 
Er bliefte hinunter, fein ^erg fchwebte über bem toten 
bergen. Er füfjte es noch einmal innig, hoch bleich wie 
ein JTConb aus fchwargem Gewäffer fcfßen es empor, wäh* 
renb ber JTlunb bes Tages fich heifi ou f feinen Üacfen 
fenfte. Bann aber war es, als fchtöffe fich ein feltfamer 
Ofling, unb als fei er noch immer nicht entronnen. Hße gww 
fchöne Trauen, bie eine aus ber Grube fich h e &enb, bie 


317 


andere aus dem blauen Gewölbe ftcf) bücfend, reiften fie 
einander mit fchrägen Blirfen die «Bände. Stocfend begann 
er wetterjugehn, dte runde «Kette ihrer Arme umfcf)lof 3 
ifm'bei jedem Betritt: Glich diefes £icf)t mit den gewölbten 
Brauen des Rimmels, dem er juging, nicht doch dem ©un« 
fei, das mit der Toten aus dem «Rund der Gr de auf f ah? 
3TaJ)m der Spuf des £ebens fein Gnde, da der morgen 
an den Xotenacfer fließ und jufantmen mit dem frijlal» 
lenen Grab des ütf>ers nur der Xotenacfer ringsum wuchs? 

Gr fcfjritt an der JTtauer entlang. Ghern und diinn und 
leicht wie ein Bogel bing das Xor darin. Gs war noch ge» 
Stoffen — und doch, es war offen, wie fein Jrjintmel fein 
fonnte, Sturm webte hindurch wie über freies JTCeer. Slü» 
gelnde Stimmen jubelten heran: XBunderß du dich, noch 
immer gefangen? ©u ließeß etwas für dich gefchehen — 
aber du haß noch nichts getan! Atme in den anwehenden 
Tag er ft, dich jeugend! 6 s braufte und flang in der 
mufchel feines Ohrs: Stelle dich an einen Ort außerhalb 
der toten UJelt, und du wirft fie bewegen! 

©a fchienen die toten greife entbannt fi<f> aufjutun. Und 
jwifchen dem Jubel der Gngel fchlug über die Scherben 
und 3acfen der JTtauer auch der erwachende Arbeitsfturm: 
eine Stadt, eine IBelt oon JItenfchen, die er im Eeichenjuge 
einfam wütend für die tote JTtutter hatte hinopfern wollen. 
Jlun flatterte aus der Unbefanntheit ihrer 6 efi<hter eine 
beglüefende Ahnung der IBelt ihm ju, wie eine Sahne der 
Befreiung, die ihn oom allju Jtahen befreite — £iebe ju 
den Unbekannten, 3 U den Bielen, oon der JTtitfter er|t je£t 
entwöhnte £iebe. 

Seine Arme, die wie Quellen aus den Schultern fpran» 
gen, (egten fich auf die «Klinfe. Bon anwogender Srifche 
nur durch die dünne bebende XBand getrennt, wartete er 
auf Öffnung. 



3Ut Reife 3 u f i <ft f e 1 6 fi 

Von.fiafimlrEbf<hmib 


CCAoifp coar In «Äanaba on einer Stelle geboren/ welche 
<*m' : 'bas Df>r eines Äinbes nie oergißt, gwifcfjen einem 
Strom unb bem Urwalb. Sie brauste i^ren Vater nicht gu 
befielen, baß er fie ihr £eben fetbfl in bie Ipanb nehmen 
lief). Seine JTlittel gefiatteten ihr jebe Saune, bas £eben gu er* 
proben. 3n ben JKärchen, bie mir im entgücfenbfien Teil 
unferes £ebens hören, gogen bie jungen «Ritter aus, bas 
fürchten gu lernen. Sie taten es, weil ihre Eyißeng unan* 
greifbar toar, unb ihrer Xapferfeit nichts anberes übrig* 
blieb, als in bie DJälber gu reiten unb liebenswürbige 6 e* 
fpenffer gu erwarten. 6 in JTtäbcf)en, bas über eine unge» 
wohnliche Klugheit, Schönheit, riefige TRittel unb einen 
bebingungslofen Stolg oerfügte, hatte im 3 ahre 1910 nicht 
mehr biefe JTtöglichPetten, bie Sprache ber Vögel fennengu» 
lernen. 6 s blieb ihr nichts übrig, als auf einer gefahr* 
loferen Jleife bas £eben gu fuihen, bas ihr bie JTIacht ihres 
Vaters oorenthielt. fln bie Sprößlinge behüteter großer 
Käufer fchlägt bas Schtcffal nicht feine Xrommel. Daifp 
reifte, mit ben Erinnerungen einer gewaltigen Sehnfucht 
an ihre Jpelmat belafiet, benn (eine JTiufif ber IVelt brachte 
aus ihrem Ohr bie oereinte Jftelobie ihrer IVölber unb bes 
£orengo. Oies ifi eines ber größten ßeheimniffe ihrer 
jpanblungen. 6 in gweites war eine Vifiön, bie fcf)on ihre 
Äinberträume burchleuchtet hatte, bie ßeflalt eines TTtannes 
ber mit brutalen 3ügen in ihrem Xraum erfchien, ben fie 
haßte, obwohl fie merfte, wie alles in ihr gu ihm brängte, 
unb ber immer bie 3 üge unb bie Sigur bes Ergengels am 
Schluß annahm. Sie nannte ihn JHonfep. Oa bies in 
einem inbianifchen OiafePt XVolf bebeutet, enthüllt fich 
eine neue Ph a f c ihres £ebens rafch. 3n Europa warf fie 


319 


ficf) in alle Strömungen/ bie biefes cf)aotifche £anb ifjr totes. 
Schließlich waren es ein holbes ©upenb JTCänner, bie ifjr 
©afein umworben, oon benen nur gwe't BJöIfe blieben, bie 
fie besten, ©en Srangofen £e Beau, ben OTorweger «Hofen» 
franp unb ben Schotten JReir 6Iisf)o übertoonb fie rafcf) 
mit ihrem Staturell, bos [ich in feinem Stolg nicht gu beu» 
gen oermochte. 3f>re erfte £iebe war |<hon in Äonaba Caf* 
pare Spmes gewefen, ben fie auch nie oergaß. ©en ©eut» 
(chen Stefan oerriet fie ben Behörben, als fie fürchtete, 
baß er ihr HJefen gu beherrfchen begann, fln biefem PUnft 
fängt biefe Gefrfjicfjte einer Läuterung an, bie £äuterung 
einer Srau, bie Heber flerben wollte als leiben unb fich 
unterwerfen, bie in oerhängnisooüe Beziehungen einge» 
fpannt war, bie oon Sefmfucht gu ihrer Jpehnat oergehrt 
warb, währenb fie mit XOolluß bie frentbe BJeft bereite, 
bie Sefchichte einer Srau, bie über bie XOelt ihre 3ugenb 
wieber fucht unb auf ber 3agb nach bem Glücf oon einem 
Ergengel entführt iß, was aHerbings ein Xraum iß. 


Als ©aifp burch einen Brief Stefan ben frangöfifchen Be* 
hörben oerraten hotte unb er abgehoit war aus jenem 
Meinen £anbf)aus, welches bie 3uf(ucijt bes JTiannes war, 
ber eines ber fühnßen Jilillionenoerbrechen hinter fich 
hatte, ging bie erfle UJanblung in ihr oor. Sie hatte feinen 
3weifel, baß Stefan um ihre Schulb wußte. BJie bie ©inge 
lagen, fonnte er oergeihen. ©enn er hotte ©aifp entführt 
unb hielt fie wie eine Gefangene. 3hr Berrat u>ar if>r Schlag 
in einem Ärieg, ber um ihre £iebe ging. Sie liebte biefen 
JTtann, ber bie Energie felbfl war, ohne 3weife(, aber fie 
beßanb barauf, es nicht einmal fich felbfl eingugefiehen. 
3n bem flugenblicf bes Berrats liebte fie ihn grengenlos. 
Sie oerlor ben Berflanb beinahe. Sie erlangte in Paris 
bie Erlaubnis, Stefan gu fehen. Er weigerte fich, fie 3 U 
empfangen. Sie fchrieb ihnt Briefe unb wartete eine 
BJoche. 

©ie Briefe famen gurücf. Eine Stacht lag fie erflarrt wie 
Eis. ©iefe Stacht entflieh über ihr £eben. ©iefe Stacht brach 


3*0 


fie auf mie eine Srucfjt unb fror fie mieber ein. flm Jttors 
gen mar fie ein anberer JTlenfcf). Sie f)ätte ficf) einen anbes 
ren Flamen geben fönnen. 

Als fie ein Bein aus bent Bett fe£te, fiel fie oor Scf)mäcf)e 
gurücf in Of)nmacf)t. Sie oerfucfcte es immer roieber. Sie 
BJimpern fenften ficf) tief unb fcfjneibenb über if>re Brauen. 

Sie gog ficf) am ßfoßen f)odf), immer in falber Df)n« 
macfjt. 6s gelang if>r gu fereilen. Oie 3ofe führte fie ins 
Bab. Als bas faftfcf)äumenbe BJaffer fie ummailte, ließ 
fie ficf) fofort ben Xelepfjonf>örer geben. Sie rief ben heften 
Berteibiger an, ben (färb bamals befaß: „Jleimen Sie 
an?" fragte fie gitternb. 

,,BJenn Sie meine Bebingungen annef)tnen." 

,,3<f) neunte an." 

,,flf)..." Sie fanf in bas BJaffer gurücf. Sie fefjob bas 
Gummibarett Uber bie Jpaare unb tauchte gang unter. Oie 
£üf)le machte fie tebenbig. Jlafcf) fprang fie heraus unb 
ließ ficf) anfleiben. 

flm flbenb tafte if>r Xelepfjon. Oer flnroalt teilte mit: 
ber Gefangene lef>ne ifjn ab. Sie biß bie 3äf)ne gufammen. 

Sie oertangte üm gu fef)en. 6r mar in einem anberen 
Gefängnis gur Unter fucf)ung. £r burfte feine Bifite am 
nehmen. Sie fcf)rieb ifmt; ,,BJarum meiff Ou ben flboofaten 
ab, ber JRme. Steinbeil mit ben roten paaren ins £eben 
gurüeffpraef). XBarum..." 6r antroortete nicf)t. 

Oer £ufembourggarten rauf cf) te auf mie ein fcfjreienbes 
Xier. £s mürbe Jperbfl. 3n oioletten blauen Oampffäulen 
lagen bie £icf)ter ber Bouleoarbs. Oer fleine Springbrunnen 
ber Source mürbe bunfler. Oas Blut ber Alleen flricf) in 
einen ttberjagten jpimmet. Xäg(icf) feftritt fie binburcf). Oie 
Xrommelroirbel ber BJacfjen fnatterten um if)r Df)r. 3f>r 
Gang mar feltfam, fie oerfcf)ränfte bie Arme oor bem £eib 
unb f)iett bie Singer feß. Sie ging geben Xag gu bem Ge« 
fängnis. 

3n ben 3iäcf)ten fcfjrieb fie Briefe. Sie erflärte. ,,3cf) 
liebte Oicf)", fcfjrieb fie. „Äonnte icf) anbers ba als ber Ge* 
recf)tigfeit folgen? Bin icf) oom Gfenb oerf«f)ont? 3cf) liebe 
©icf) mef>r mie ge. BJarum fagft Ou nicf)t basfelbe. 3cf) oer* 


21 Sie beutfd&e SRobeUe. 


321 



riet ©icf). -Kann es ©ttf> frönten, wo Ou weißt, worum icf) 
es «tot. 3cf) wäre glürflicf), wenn Ou mir olles Hnglücf 
gäbeß ber Hielt. 3d) würbe es nehmen, wenn es oon Oir 
fäme unb Oeiner Hebe/' 

Oie £abenfcbe'tben würben fiebrig oor $erbß. Oie Blot» 
ter glitten gefcf)üttelt ouf ben Boben. 3f>r Sufi rührte fie 
raufdfjenb ouf. Oie Abenbe gfuteten mit gelben Rebeln unb 
frühen falten £aternen. Oie IBagen fuhren in fleinen 3üol» 
Fen oon Ounß. 

Sie ßbrieb: „Befrfjmu^e micf). 3<f> will }ebe 6miebrigung 
trogen. 3<f) forbere nicht, baß Ou mich tiebß. Soge, baß 
ich Oi«f) elenb motfjfe bis an Oein 6nbe. Uber laß mein 
BJort, bos Oicf) fucht, nirf)t verzollen. 6s gebt nur no<b 
Oir." 

Ourcf) ben £uyembourg gef>enb, bie J?änbe oerFreugt, fab 
fie bie große Sontäne. BJilbe graue Ballen oon IBolFen 
fcbwanben im Süben. ZBeicbe Oämmerung nifiete in ben 
Alleen. Oie ßarren Rappeln bebrobten ben ^jimmel, ouf* 
gereift. Oann fiel langfom ber Schnee. 

Sie wacbte ouf nocbts unter einem Iraunt. Oas Äiffen 
war feucbt oon Iränen. Sie gitterte oor 61ü(f. Rur bie 
fleine £ampe brebte fie ouf. Sie rief>tete ficb ouf in bie 
Änie, ihre SchenFet brücften bie runb aufßeigenbe HJabe, 
fie faltete ben Spiegel auseinanber, unb barüber gebeugt 
fcbnitt fie bie Staate ob bis gum Ratfen. Sie ßblug fie ein 
unb tat fie in eine Snoeloppe. Oarouf fcbrieb fie: meine 
$aare. 

Oer Brief fam gurücf. Oie große Straße unten brauße 
gebämpft, ein witber roter ^immet bäumte über ber Stabt. 

Run legte fie ben Äopf feß in ben Racfen: 

Sie begab ficb &i* Rächt noch bem 3ußiggebäube. 3br 
Auge fud)te. Ounfel wie Glas rollte bie Seine oorüber. 
Sintflut fprengfe bo«b oon ben Brücfen hinauf in bie Racbt 
Brefchen in bos Ounfel. 

Sie fah einen Schatten. 6r löße ß<h oon einer Pforte unb 
glitt an ihr oorbei. Sie brücfte ihre J?anb feß in feine. 
Oas Papier fnitterte. Sie fam in einen IBocf)träum im 
Heller, ein Gas brannte frei. Sie legte etwas ouf ben Xif<h 


322 


unb ging hinaus. 3f>r JTlunb warb frfjön in biefen Togen. 
Oie £ippen faßen oufetnonber tote gwei Tiere fo fefl. Oie 
JUigel ber 3iafe bebten einonber gu, fie gogen fich gufant« 
men. Oie Brauen, gärtlicf) in Seibe fcf)immernb, erhoben 
ficf) im Oreiecf unb (lürgten ineinonber in einer biegfamen 
gefcfjmeibigen Umarmung. 

Sie trat in bas Bureau ihrer Gefanbtfchaft. Sie trat burcf) 
brei «Räume. Sünf JRtnuten fprath fie mit einem eleganten 
^erm mit ejotifch ffimmernbem fluge. Sie fetjte ein Teie» 
gramm auf an ihren Bater. Oarauf gab if>r ber ^>err feine 
«Rarte mit einigen BJorteru 

Sie fuhr bie Cfjamps etpfäes hinunter, Bäume finden 
vorüber. Sie fuhr in einer Schleife in bas ungeheure 
Baffin ber JJtace be ta Concorbe. Sie bogen, glitten unb 
gelten. Sie flieg aus unb ging über bie Teppich flufen 
eines Tümifleriums. Sie geigte ifjre «Rarte. Sie flanb in 
einem Salon. 

Ein fcfjöner JTiann in fchwargem Schnurrbart, der fein 
elegifches Geficfjt hinunter fiel bis tief gum «Rinn, trat ein. 
Cr fiupte, als er fie fah. Sie legte ein Bünbei in einem 
perlgeflicften Ctui auf ben Tifcf). Cr verbeugte fich, fcfjlug 
babei bie Augen weich gu ihr auf, Iecfte mit bem Blirf 
über ihren ^ais. Sie trat an ihm vorbei. 6in größerer 
Salon. Sie wartete eine Stunbe unb lernte bie Teppiche 
austvenbig, bie blaue Seibe ber gezwungenen Stühle. 
Sine brongene Qungfrau ritt auf einem Brabanter fühn 
vor ihr. 

ein fchntaler, grauer Jperr traf ein. 6r xvar nicht groß. 
Cr trug benfeiben Schnurrbart unb ein bunfeigeranbetes 
Blonofei an einer fchwargen Schnur. 6r fam näher, bis 
er fie genau fah, f<hob ihr einen Seffel gurecht unb fepte 
fich ih r gegenüber. Oann las er bie «Rarte unb fah fcf>orf 
barüber tveg auf fie. 

„Cs hanbelt fi«h um einen flusiänber. 3n ber Tat?" 

Sie nicfte. 

6r notierte ben Flamen. Cr vergog feine JTtiene, flanb 
auf, ging ans Jenfler unb murmelte ben Oiarnen noch ein» 


21 * 


323 



mal. Sie faf> geradeaus. 3n einem «Kamin fnallte ein 
Bucfjenfdjett. 

Dann »andte fid) der Jlücfen oom Senfler und fam gu* 
rücf. Sein 6eficf)t trug eine garte Jpöflidjfeif. Gr begann gu 
reden oort Gefeflfdjaft und Säurten, fanadifcfjer Jagd. Er 
lobte die 3er|treuung der Oper, die nun die Ballette »ie* 
der belebte. 6r fragte forglid)/ ob U)r XBagen toarte und ob 
fie pelge darin fjabe bei der «Kälte. Sein Auge bli£te auf 
in Erinnerung. Er fannte ü)ren Onfel, den tfforquis Sri* 
baurt. Er fragte fie nad) feiner Quadrille. Sie gab if)m 
Antwort auf Antwort, er führte. Sie gab fie widerwillig 
mit falten Sippen, wartend. 

©ann fcfjlug er mit der weißen J?and, die n‘td)t »elf 
»ar, leicfjt auf das «Knie feines ttbergelegten Beines. Sein 
Bli(f bohrte fiel) in den ifjren: 

,,©arf i«f) 3f)nen den Abend meinen Ulagen f dürfen?" 

Sie fland auf. ©ie Augen dielt fie offen, ©ie Jpände 
oerfnoteten prf) ineinander gu einem weißen Ballen, ©ie 
Sippen »aren eine weiße Sinie. 

©ann fenfte fie unmerflid) den Kopf und ging hinaus. 
Er läutete rafd>. Eine Seifentür ging auf, ein fafadufarbi» 
ger Page... fie frf>ritt hinaus. 

Am TRorgen oerließ fie gerfnitterten Kleides den Heben* 
raum eines «Keßaurants des Bouleoard des Capucines. 
Sie dielt einen Augenbürf fröflelnd. Ein TTtann in einem 
fermeren Pelg füßte ifjre $and. Sie flieg in ifjren XOagen. 

3wei Xage fpäter erhielt fie die Hacfmcfü: der Gefan* 
gene »eigert fiel), Sranfreicf) gu oerlaffen. 

3Tiit einem Paffepartout j ng fie in das Gefängnis. 
Auf dem Gang gab id* ein löärter einen Brief. Sie lernte 
pd> an das oergitterte Senfler und brad) if)n auf. Er 
fdjrieb: „BJenn id) ein IDort bitten darf: laß mied, »ie 
id> bin." 

Sie fefjrte um. Als fie fjinaustrat, lagen fd>aufelnd die 
3»eige der Kaflanien in einem füßen HJind. 3f)re Knofpen 
»aren aufgebrodjen. Gin dünner, grüner Abgtang fpiegelte 
fdjTOärmerlfd) in dem flamingonen Jlofa der Suft. 3n gro* 
ßen, goldenen Spiegeln der Sonne [landen gewölbte Jpäu« 


324 



fer. ©ie Bahnen flürgten braufenb in bas garte £icf)t. ©uf* 
tige, f)eile IBolfen paffierten ben ijjimmel unb gitterten. Cin 
Jpunb i)ob firf) in ber Xür, beijnte bie Beine narf) hinten 
unb bie Scheibe be 9 6 eftirn 9 in einem Äreis auf fei« 
nem JTiaul. 

Sie nahm bie $änbe ausetnanber, bie ficf) gefaltet, als 
feien fie oerroacfjfen, unb fjielt bie Arme ein wenig abfeits 
oom «Körper. ©a war e9, al9 ob bie Sonne ficf) in fie ftürge. 
Sie fab fitf) um. Auf bem Afpbalt lag ber Srübüng unb 
rauf cf) te in ber füfjen £uft. 

Sie flieg in ben IBagen. Alle Autos, bie ficf) freugten, 
waren offen. Auf ben Pelgen unb bem Samt lag bie 
Sonne mit warmem Slang, ©ie Aoenuen bufteten unge* 
fjeuer. Sie bref)te bie Jpänbe in ben Gelenfen unb fog bie 
£uft ein. 

Pfö^litf) fcf)(ucf)gte fie oor Glücf. Sie f>ob bas Papier 
unb las es. Jlirf)f 9 war umfonfl, if)r Opfer rühmte fie: 
fie f>atte ein 3eicf)en oon if)m unb lächelte wieber. Cs 
war nur ein Sa£. ©ocf) e 9 war genug. 

Sie (lieg ab unb fcfcrieb auf ba 9 JTtinifterium: ,,3cf) oer« 
gicfjte auf bie «Kompenfation." 

Sie warf ben Brief ein. ©ann lief? fie pacfen. 

Olun famen if)r Blüten fcfjon entgegen in ber prooence. 
©09 blaue Banb be 9 Jrjorigonts locfte mit ungewiffen 
Scheinen, ©ie BJagen rollten, bie 3 üge brauflen immer 
nur ben einen Flamen. Sie gab ficf) f)in unb fanb ifjn in 
ben ©ingen. 

BJartenb auf ifm, freute fie ntcf)f bie 3 eit. 

©en 3 ettel trug fie in einem metallenen Ctui, ba 9 fie 
am Armbanb trug. 69 brannte tf)re Jpaut unb machte bie 
Sef)nfucf)t wieber flill im BJarten. 

Sie reifle JHonafe. Sie reifte gwei 3af)re. Ste lag auf 
Gletfrfjern in bie Sonne f)ineingeflrecft. ©ie Sfunben floffen 
über fie f)tn, fie fürstete fie nidf)t. Sie war nocf) jung, in 
Oer gweiten Raffte ber 3wangig. Sie fcfjrieb an Stefan 
nicht mehr. Sie hörte fein Urteil. 69 beglückte fie bie 3abl 
ber 3abre, bie fie warten follte. Sie reifle weiter. 


3f>r HJagen ^erteilte bie ebenen. Oie fruchtbare Brette ber 
ITCittellänber ßreute blonbe ernten unb IBälber oor fie 
aus. Sie fuf>r am fübtichen Sfranb unb mollüßig blauem 
Jjimntel. Sie mar oiel unter JTZenfchen. Bei einer Jlegatta 
trug ihr Boot eine Sahne an ber Gaffel: Stefans rotes 
Tuch: mit ber ringlofen filbernen Sauft, bie Abern jer* 
mühlten. 

3hre Sippen lagen herb aneinanber, als ob fie firf) lieb* 
ten. 31>r Blicf trug einen Keinen Trofj. Sie fah feine 
DTlänner. 

Auf einem JFJafenbamm einmal fprach ße abenbs im 
Juni ein JTTann an, als fie oom Boot fam, bas braußen 
toeit anferte. 6 r roch nadf) Schnaps. Seine «Rteibung mar 
oerlubert, fein Auge allein trug ein Seuer, bas ben 3Ttuf 
trug gegen bas Seben. Oies oerbanb ihn ihr. Sie fah län* 
ger in fein Geficht, als ber «Kode jiemte. 6 r rifS fie an ftrf). 
3n feinem Griff noch sögerte fie furj, bis fie ihn unter bas 
$inn bie J?anb ßieß unb rafcij baoonging. Sie oergaß es. 
Sie gab ftcf» hm bem Treiben, bas fie mitnahm mie in 
einer IBolfe. 

Sie machte fieh feine Geßalt mehr. 6 h fie einfchlief, tarn 
aus ber Traumnähe feine fefie umriffene Sigur unb 30 g 
ihre Brüfte an feine mächtigen «Rippen, baß fie oerfchmel» 
jenb in ben Schlaf fuhr mit gelöflen Gliebern. 6 in Gefühl 
bes HJartens, feüg allem überhoben, füllte fie nur noch. 
Sie mußte ßrahtenb, baß ihre 3eit fam, unb bie Sicher» 
heit erfüllte ihr iperg. 3hr 3iel ßanb in Sehnfucht mie ein 
bunfler Stern über ihr unb banb ihr Auge. 

Oas Bilb bes OTTannes glitt ihr aus ben irjänben. Sie 
reiße fchmeifenb. 6 in ©ampfer fchäumte blaues TReer oor 
ihr jurücf. Sie trat in ein meißes Spaua mit Sahnen. Auf 
einem Baifon ßehenb, hob fie bie jpänbe fchräg über bie 
Stirn. Sie fah nichts als JTieer. 

Am JTIorgen fchritt ße hinunter. Oer Sanb hämmerte 
meiß, unb bie «Rühle ber £uft ßanb mefenlos um ße er* 
ßarrt. 

Als fie nahe ben BJellen mar, oolljog es füh. 3n ihr 
Gefühl bes JBartens fchob fich eine anbere Sigur. 3m Oer» 

326 


lauf ber 3eif oerlor ficf) bie GPflafe für ben Berratenen. 
Di)ne bafS fte es gemerPt, (>atte bie Gewalt bes 3ugenb» 
geliebteh fte toieber burcfjbrungen. Sie flonb ouf einer 
Xöoge unb faf) fte an, unb fte füllte fte mitten in ifjrem 
Gefüf)l. 3f)r eigentlicfjfies Grieben fcf>uf ficf) bie H3irPltcfj* 
Peit. Oos löarten oujf Stefan toor ein Sutten nacf) ber 
größeren £iebe: nacf) Co f p or e. 

Cofpares Bilbnis formte ficf) lange ftf)on unter ber 
Rillte ber onberen Gefialt. 

Sie ging borouf gu mit toogenber Bruft. 3f)re weißen 
Scfjuf )t traten ins Blaffer. Oie Küfile toucfjs tf>r in ben 
Körper. Sie trat jurttcP unb gab ficf) f)in ber £uft, bie nun 
fanft bie Sttrn if)r beflricf). Sie ging jurücf in bas £anb 
unb Pef)rte toieber an bas JTCeer, bas nidf)t einmal fcfjäumte. 
3f)r S?tr% unb ifjr Körper flrecften ficf) toofjlig in bas Blau 
unb bie 8uft bes JTieeres, bie fie umgaben mit ber Blollufl 
ber XOeite. Sie fcf>Iof5 bie fingen. Gin $ifcf>erfcf)rei jer» 
trümmerte bie Stille, ber Fimmel toogte. Sie faf) auf in 
bie alte Älarfjeit. Um bie SFifcfjerboote banb ficf) ein bunP= 
ler ßranj. 

Sie läcfjelte. 

3f)re £ippen löflen ficf) unb lagen gefcf)toungen fcfjön 
nebeneinander, ols hätten fie ficf) genoffen unb toarteten 
innen oereint auf neue Beflügelung. Sie tourbe fcfjöner 
an fluge unb J?als. 3f)re Brüfle f)oben ficf) mit tf)rem Stolj 
unb if)rer Haltung. Ste fcfjritt toie in fiets oon if)r felbfi 
bejauberter £uft. 

Sie änberte if)r £eben ni<f>t nacf) außen. Sie brafjtete 
nicfjt. Sie lebte fern jeber Unrufje unb Grregung. Oas alte 
XDarten blieb, nur mit einer anberen flilleren Sigur, bie 
nicfjt auslofcf). Oer Jrjorijont if>res ^erjens gebar fie immer 
oon neuem unb (feilte fie in bie Jrifcf)e ber blauen IRorgen. 
Sie grüßte oon Borgebirg unb Segel. Oie Gefialt lag auf 
bem Berbecf ber Oampfer, in ber Arena ber glüfjenben 
Prooence flanb fie plö^licf) in if)rer Soge. .Keine XBolPe mit 
fierabfallenbem Schotten, Peine Slut überfcfjauerte biefe 
Jlufje. 


327 


An biefem Sfranb blieb fic lange. Oie JTtonafe glitten 
an ber Brandung ber fiüfte entlang. Sie faf> bie XDelt nicht 
mehr. Oie IBelt mar in ihr felbß befefügt. Sie genoß bas 
Gefühl ber enbltcben «Ruhe unb 3uoerficbt, nur lebenb in 
ber Schönheit ber £anbfd)aft unb bem füßen JTieer ihrer 
Empfinbung. 3&r h er i fdjlug in febent Gefcfjeijenen nur 
ben Xrommelfcblag ihrer (IUI geworbenen öef)nfucf)t. 

3b* 3ug fuhr nach Süben. 3br £eben blieb fcbweifenb 
offne linrafl. Sie fragte nach nichts, was fte fudjte. Ge« 
bulbigt oon JRännern, entflieh fte ficf) für feinen. 3n ihr 
3immer flürjten halluzinierte, bie if>re Sdjenfel begehrten. 
Sie wies fte hinaus mit einem leifert £acf)en. Sie fucfjte 
nicht. Sie fuhr auf Skiffen unb faf> frembe 
große Stäbte unb XBolfen barüber. 

3n höngematten lag fte am Xlfer (liller großer Ströme. 
3m Bogen ber Bobs, am Steuer, fcbwang fte aus Schweiger 
Schluchten gu Xal. 3hr OTiunb rief bie Signale ber großen 
kennen. 3n ifjr S)aar bogen fiel) Blumen, Jleif, Sturm. 

3m Süben Italiens, unter freiem ^irrtmcl arxjtfcfjen öl» 
laternen, fab fie eine Oper auf einer Scfjimerenbüfme. 6 ine 
armfelige Sängerin feuchte in ber weiten Jlacfjt. Sie 
hörte bas Gelabter ber trauen unb bie geißlofen «Reben 
ber JTCänner. „XDas fpotten Sie?" fragte fie einen hageren 
Oid)ter, „finb 3f)re Berfe nicf)t ooll oom JUitleib?" 6 r 
fdjloß bie Augen. Am anbern Xag oerließ fie bas Meine 
ließ ber gelben S^äu^tr. DJocfjenlang, liebeootl bem bunten 
Xreiben fitfj oertaufdfjenb, fang fie bie «Rolle ber Oper auf 
ben Meinen Bühnen. löas unten faß unb oorbeigog, war 
ein Strom, eine Blaffe, waren £i<f)ter unb Augen. Sie fab 
fie ungenau. 3licf)ts Außeres befam Gewalt über fie. 3n 
allem Grieben blieb bie gleiche £age ber Seele. 3f>r Geficfjt 
würbe tiefer unb fcfjöner. 

BJieber im Sommer erreichte fie Paris. 

3m IBagen ßeljenb, im wogenben Ouft ber Aoertue 
IBagram, fefjort umftnfenb, fab fte Cafpare, ber oorbei« 
ing. 3bre Geflehter erbleichten, hingen faffungslos oer» 
ßrieft ineinanber. Sein 5uß blieb gelähmt. Jlur ihre Augen 
umfchlangen fich. 

328 



Sie wollte beit JTtunb öffnen, ©ie Sippen hielten ft cf) feft. 
Sie fchrie gu bem Sührer, bafj er halte. Äein Saut. 3hr 
flrnt bebte ein wenig, aber er erreichte nicht bie Schulter 
be9 Chauffeurs, ©er ©Jagen fuhr fie oorbei irt9 Gewühl. 
Sie neigte ben blaufcfjtoargen «Kopf gurüd im jrjotel. 
©ie 3ähne aufeinander, gab fie bie ©ummer bes fanabw 
fchen Älubs. Sie erfuhr bie flbreffe Cafpares. Sie gab feine 
©ummer. Sie hörte eine Stimme, ©ie Stimme einer Srau. 
Sie nahm alle «Kraft gufammen, bie fie fo weit getragen, 
groang bie ©tusfein gum Unerhörten unb fagte ihren 
©amen, ©un fprach bie Stimme lange: er war oerreift, 
gang oor furgem, jeber Anruf war ihm gu melben, er gab 
jebe Stunbe feine neue flbreffe, aus jebent «Reflaurant tefe« 
phonierte er. Cr rief bereits breimal an au9 Calais. Sie 
würbe gang ruhig. Sie gab ihre Hummer, legte bie Jpänbe 
auf bie Sehne bes Seffeto, bie Siber fielen gu, fajt fchlief fie. 
©amt rafte bas Xelephön. 

Sie wollte aufflehn, aber wie blaues Gewölf umfpannte 
fie unfichtbar ber «Raum. Sie fah auf ein wogenbes paar 
junger brauner Brüfte, auf benen Perlen fchäumten. Sie 
fah auf flürmenbe Senben, bie mit gefchmeibigem Stolg 
in große Beine glitten, ©ie «Robe raufchte um fie wie ein 
Xier. 

3hr flrm hielt herabgefunfen ben ^örer am «Knie, 
©ann lächelte fie unb hob ihn. Sie fagte leis ihren ©a* 
men. ©ann blieb atemlofe Stille, 
piöhlich jagte gang aus ber Seme feine Stimme auf. 
„Calais.“ 

„Da ifp." 

„3ch irrte. 3<h glaubte bir nachgufahren." 

„3ch bin hier." 

,,©u bleib ft“... atemlos. 

//3a." 

„3ch fah beinen ©Jagen." 

„3a... mein ©Jagen." 

„3cf> fahre bie ©acht gurücf." 

„Cs ift winbig braußen." 

„©ein ©Jagen fuhr rafch" 


329 


„Gs war ein gewöhnlicher ©Jagen. Du fäfyrft ntcfjt mit 
ihnen?" 

3n Slufen fam bas Gemach auf fie gu. 3f)r 8}t rg frf)Iug 
gegen bie ©Jänbe. 

„Jpallo,.. ©aifp." 

„Ga... i(l... gute... Jlacfjt." 

©er $örer fanf herunter gunt Änie. 3fyr TRunb flanb 
ein wenig geöffnet. Sie fog bie Sefunben guritcf bes lang 
fcfjon beendeten Gefprärfjs. Sie ging gunt Xifef) unb legte 
Bücher genau aufeinanber. ©arauf (lellte fie eine Bafe. 

„©Teichen Ilnfinn fyabtn wir gerebet", fagte fie, bebenb 
por Glücf. 

„Gr fommt!" 

Sie griff nach ber Stelle: „©er ©Jagen." ©raufjen 
3Ta«f)t. 

©er Ttlonb lag atif ber Cfjauffee rtefertgrofj jwifcfjen 
ben Bäumen. Sie fuhren barauf gu. Gr hob fidf), unb fie 
fuhren in bie Schleife. JTTanbelbäume fianben reglos in 
ber fommerlicfjen JTacfjt. ©ie Gärten (lanben unbewegt, 
jebe in ber runben ©Jolfe ihres eigenen ©ufts. Sie füllte 
faum ben ©Jinb, ber wie ein fliegenbes 4j>aar fi<b um fie 
legte. Sie fuhr in eine riefenbaft breite Straße mit Ulmen. 

6s war fein Geflim mehr am Fimmel, ©ie JTacfjt braute 
leis por ficf) f)in. ©ie große fü&ne Sront eines Scf)loffes 
baute fid) in bie bunfle Bläue. Seine belle £inien gogen 
bie «Räuber ab gegen bie ©acht. Gin ^of mit Pflaßer* 
(leinen gähnte mit wogenben Schatten, ©er Sali pon Son* 
tänen perbanb ficf) mit fernem Braufen eines oerfcf)lafenen 
Parfs. JTlilifjige Särbung brang burcf) bie ©ämmerung. 
©as war ©erfailles, bie Senfler brachen auf. BJie lag ber 
JTiorgen über ihm bell unb tönenb. DJie empfanb fie 
unfagbar bie £uft. 

„3urütf." 

Sie fab hinter (i«b, als fie burcb bie Porte be St. Cloub 
fuhr, ©a flanb am Gnbe ber Allee eine rote Sonne. 

Sie fcblief brei Stunben, nahm ein Bab unb legte ficf) 
lefenb auf ben ©iwan. 


330 


Ilm neun Pom eine -Sorte: Cofpore Spmes. 6r ßanb 
einen Augenbücf, ofjnc ftcf> gu rühren oor bem Xepptcf). 
Oie bunPte Umrahmung ber Xür umfloß ihn. Seine Stirn 
mar noch flöfjfem mit einer garten JRelancholie. Seine 
meiße ^FjanS, Sie gu ßhreiben mußte unb ben 3üge( re« 
gierte, fotlt ben fyut gegen bie Jrjüffe. Sein S?aar über 
ber bellen Stirn mar fdjmorg mit einem Stimmer gur 
Oltoe. 

Oonn fob ße nur noch bie graue JpelligPeit unter fei» 
nen BJimpem, bie ßarP ousbrecbenb bur<b feine Xraurig» 
Peit lobte. 

Sie ßanb auf, ging rubig auf ibn gu. 3t>rt -Köpfe tebn» 
ten gueinanber. Oie Sonne banb ihre Xöangen mit einem 
ungerreißbaren golbenen «Ring. Oie Arme floffen inein« 
anber. Oie lüften fcbmiegten ftcb gufammen, bie Bruß 
Pam in einen leifen jpergßhlag. Ohne Saß fie ficb Püßten, 
oerßhmolgen fie gu einer eingigen $igur. 

Sie bog ben JtacPen bo<b non feinem 6efi d)t unb fpraib 
mie aus ihm gu ficb, mie aus ibr gu ibm, es Plang mie bas 
gleiche. Sie fyörte ßaunenb feine Stimme unb fpracb es 
felbß gleicbgeitig mit £iebe: 

„Jlun biß bu ba/‘ 

„3a Oaifp." 

„Jlun biß bu ba ... nun gibt es nichts anberes mehr. 

„Jlicbts, mas uns trennt/' 

„Jlun fahren mir gu mir." 

„3a — Oaifp." 

Schon ßanbcn gepacft ihre Äoffer. Sie fuhren gurücp, 
-Kanaba entgegen. 6in Schiff ßhiug bie grünücb»braune 
See gur böchßen Erregung. Sie beßieg es an ber Seite 
Cafpares. 6s mar ihre lebte Jahrt bem Gtücf unb ber 
Jlube entgegen. Sie ßanb mit ihm an ber «Reeling. Sie 
fühlte feinen Arm. Sie lächelte in ben nebet, bie UJelt fiel 
hinter ße. 

Oie Xage rannen oorüber, fie fpürte ße nicht. Sie lebte 
nur bem Augenblicf, in bem ße metfer ßrömte. 3br Ge« 
fühl oereinigt mit bem Cafpares taßete nach ihm: 

„Biß bu rnttbe?" 



,,3cf) bin gliitfltd)." 

Sie fcf)liefen ßeftcfjt on Gefleht. Jlicfjts burfte in einen 
fjtneihge^en, non bem bas anbre nicht roufjte. JTid)ts fjtn* 
ter ihnen beflemmte fie in ihrer Berfchmeijung. Äein Ge* 
banfe fam in eines, bas ben anberen nicf;t wie ein Strahl 
jugletcf) burcf)fuf)r. 

So fam bie Stille über (ie, inbem fie (ich erfüllte, ©er 
Slug felbff ber JTiötnen fcfjlug Schatten in ihre Seele. 

„Siehfi bu bas Boot?" 

Tränen famen ifjr / fie fah es nicht. 

„6s war eine Xäufchung." 

Er amnbte fiel) jur Seite. Sie lächelte ifm an. 

3i)r Süllen nahm Xiefe an, bie fie nicht geahnt. ©urcf) 
tf)n oerrouefjs fie allem. 

Sie lag bie Jlächte, bie faf)lblau if>re Überfahrt um* 
fpannten, unter feinem ÄufS. ©urcf) bas Glas tnogte enb» 
los bas Jlieer. ©er f)immel nahm fein Enbe. Sie beugte 
fid; hinüber. XOieber mar es, als fie fpraef), als ob er rebe: 

„Jlun fehlt mir nichts mehr." 

Er faf> in if)r Auge, ohne ju fprecfjen. 

Unter biefem Blicf oermuchs fie tangfam allem, unb 
£anbfd)aft, Schiff unb JTionb fcfjaufelten in ber fanften 
UJelle ihres Gefühls, ©er Schlag ihrer Jperjen tnar gleich 
unb pflanjte ficf> fort, als ob er bie Erbe burchbränge. 
Alles befam teil unb oertnob fiel) hinein. 3f»r Glücf toucf )9 
füll über fie. 

©ie 3Tacf)t, beoor fie £anb faf)en, befüeg fie bas ©ecf, fie 
fcfjlicf) fief) au9 ber Sabine, ©as JTteer lag um fie in be* 
täubenber Jlulje. Sie lefjnte gegen bie Jleeling. Jtur ba9 
Stampfen ber 3Ttafcf)inen pochte in bie DJeite. Gepeinigt 
oom Glücf, bas aus if)r hinausfchroolt, toanbte fie ben 
Äopf gegen bie IBellen, bie ohne Paufe groß unb foflbar 
gegen bas Schiff anliefen, fie folgte ihnen weiter unb tnei* 
ter, unb plö^licf) in biefer ungeheuren «Ruhe überfiel fie 
Surcfjt. Sie fenfte ben Äopf. 

©a flanb Cafpare hinter ihr. Sie erbleichte oor Bexne* 
gung. Sie machte einen Schritt, als ob fie jum erftenmal 
ifjn fähe. 3hr Jüunb traf feinen, als feine Arme fie ntänn* 


332 


lief) und flähfern fdf>on umwanden. Seine Sippe fuhr über 
die Socfe ihrer Stirn. 

Unfähig gu reden/ falten fie hinaus. Oie 3Tacf)t ging tie« 
fer auseinander oor ihnen. Sie nahm fein Ende. 

„a<h will dich lieben." 

„3ft es nicht tote gum erflenmal?" 

flus marmorn erglühender flchfel fah fie übemältigt 
Dom Glürf hinüber. 

Oas Sicht band ihre .Köpfe gufammen. Sangfam löflen 
fich Xränen und blieben an den Sidem. Blau fpannte fith 
gwifchen die JTtafle. Gr gog den firm um ihren Jtacfen. 
Schläfe an Schläfe... 

Oer borgen brach glühend über die Oämtnerung. 
BJeifie Segel floaten mit Sichtern am Jporigont. Cafpare 
fland am Berdecf. 

Sie bogen in den Sorengo. fitem der Jpeimat diefen gan» 
gen Xag umfchotl fie. XDieder (landen oor fie getürmt die 
Säulen der Klippen. Unter dem Oonner geiöfter .Kanonen 
(loben Schwärme oon JHötnen in die Suft mit (leigenden 
Spiralen, bb in der fallenden Oämtnerung fie oerfläubten 
wie .Hauch. 

Sie (land mit Cafpare am Bug: 

„BJir find da." 

Seine Stimme war neben ihr: 

„Bangt dir?" 

„3lein. Ou bifl da." 

Oa fielen die flnfer. Oie 3TTaf<hinen flampften. 3m 
weifiwirbelnben Oampf der Schornfleine legte das SaHreep 
(ich an die er fie Spi£e des Strandes, der dunfel in Xer* 
raffen (ich aufhob. 

Sie fchritten hinüber. „Jrjier fland ich ob Kind." 

Cafpare wandte fl<h um, toie um die Koffer befchäftigt. 
Sie fah ihn die Jpand danach flrecfen — mit einer unoergefi* 
liehen Bewegung. 3hr Brief flrich über die Kundung des 
Sandes. Oie Bäume raufchfen unfichtbar im Ounfel über 
ihr. 

Sie wandte (ich um. Oa gefchah das XBunder, das diefe 
Cpoche ihres Sebens abfehtofS und ihr die Ginfi<ht über ihr 


333 


£ebert gab, bas fooiel heißt tote: bie £äuterung. Sie faf) 
bas Schiff mit aufgerecften Segeln, einer unßerblichen 6r* 
fcheinung gleichend, firf) non ihr löfen unb gurücffrfjweben 
in bie ©ätnmerung bes JTteeres. 

flus bem Schatten eines Gefährts fam eine $igur. 

Ttod) eije fie begriff, baß fie allein war, prallte if>r fluge 
bagegen. 3f>r Änie ßürgte auf ben Boben. ©er Äopf bog 
firf) wie ein Bufrf). 

©ie ^janb bes Jremben bog ihren Äopf in bie 

6 s würbe bell um feinen JTtunb, fie faf) feine 3äf>ne. 
Sie erfannte bie Sigur ihrer Äinberträume. B o 11 f cf)ei* 
nenblagbiesma(bas£ä(f)eln besGrgengels 
weißglühenb um fein Gefickt. Sein Scheitel war 
blonb auf bie Seite gezogen. JTtit einer unbegreiflichen Be» 
wegung fagte er: „JTteine 3eit iß ba." 

Sie gitterte unb ließ ben «Kopf finfen, er fiel auf bie 6rbe. 
3n ihrem fluge lag ber Schimmer bes feinen. Sie faf> ge* 
bienbet nicht bas Gras, bas in ihr Geficf)t firf> legte. Sie 
wimmerte in bie 6rbe: „JTtonfep ..." 

„Steh auf," fagte ber Grgengel, ben fie mit ber Sprache 
ihrer Äinbheit JTtonfep nannte. 

3h* Schrei gellte: „Cafpare." 

©ie Bäume raufrf)ten im ©unfel gefaltet unb bogen fi<h, 
ohne baß fie fie faf>. 

©er lirwalb bröhnte aus ber iPerne. ©ie Stämme wieg» 
ten ftrf) aneinanber. Böget fchrien bumpf aus bem Schlaf. 
Sie weinte wie ein Äinb ein bilnnes ©Jemen. 3hre Änie 
festen fich auf ben Boben, fie ßü$te fich mit ben j^änben. 
Auf ben oieren Hämmerte fie ftch an bie 6rbe, ihr Äopf 
ßieß in einen Bufcf). 

Eine Stimme fagte: „3<h parlamentiere nicht mehr." 

©a hörten bie Änie auf gu fliehen. 

©ie $aare hingen gerwühlt in bas Gefixt, fie bog ben 
Äopf hinauf, unb ihr JTtunb oergerrte fich in ßaß: 
,,©u. ♦brüllte fie. 

„Steh auf." 

Seine Stimme hotte bie furchtbare 6ewalt einer anberen 
JBelt, beren Güte ben ©onner hot, mit bem bie BJahrheit 


334 


grauenhaft fein fann. Oas JHäbcfjen fpürte ben entfehlich* 
(len Bergewaltiger. XOo fie ftcfj am 6nÖe mahnte ihres un» 
ruheoollen lüeges, erfchten erfl ber große 3erßörer. Aber 
ba fie feinen Sinn nicht gleich oerflanb, warf fie fich ihnt 
mit aller Äraft entgegen. 

3hre Eenben rourfjfen grab. Sie wagte, ihm in bas Gefleht 
ju fehen. Sie fchleuberte auffcfjreienb ihren Blicf in fein Ge* 
ficht. Oie bunflen Brauen jerfdjlugen fich flach tat Oreiecf 
gueinanber gefreugt. Oas graue Eicht brach aus ihrem 
Auge unb fprengte bie ©unfelheit unb flammte oor XOut. 

Allein fein Auge gerfcfjoß es wie einen Spiegel. Sie (lanb 
ohne Befinnung. 3hr Blicf fiel gufammen. Sie wanbte 
fich ihnt gu mit einem JTeigen ber Ach fei. 

6r fing fie auf. Seine Eippe fing ihre in einer graufa« 
men Umarmung. Gr pacfte fie um bie ijjüfte. Oann warf 
er fie neben fi<h in bie Potfier bes Xöagens, ber mit auf« 
heulenben IRotoren in bie Jtacf)t hinaus (ließ. 3f>re Älei* 
ber fchtoanben unter feinen Jrjänben. Oie Eiber gefchloffen. 
gab fie jebern Orucf feiner £>anb nach* 

6r Hißte ihren Eeib, ber unter feinen Singern fich run» 
bete toie eine Jrucht. 6r Hißte alle Strahlen ber tätowierten 
großen Sonne, bie um ihren Jlabel lag. Oie feinen roten 
Striemen begannen aufgubrennen mit breiten Jlänbern. 
Sein Jltunb mar ohne Erbarmen. Sie fühlte fich gang nur 
glühen unb leben an ihrem Eeib. Unb währenb bas SFeuer 
ber Augen ertofcf), ßanb in ber gweifachen Oämmerung 
bes Jlaums ihr Eeib toie ein Geßirn mit einem .Ärang non 
Strahlen, bie fich an ben XDänben brachen. 

Oas raufchenbe JReer fiel mit ben Schiffen hinter ihr 
gurücf. Oas Eanb ber Jpeimat brach auf mit ben UJäl* 
bern. Oiefer IRann hielt fie, baß fein Gebanfe ihr Jrjirn 
fanb. Uergehenb an ihm, entflammt oon feinen Äüffen, 
bie ihr Blut burchjagten, brachen bie Augen ihr. Sie fchtug 
ßöhnenb unter ihm bie jjjänbe oor bie Augen unb rief oer* 
zweifelt: Cafpare. 6r Hißte fie xoilber. Sie gab fich ihnt hin 
unb fchrie burch bie Senßer: 

„Cafpare..." 


335 


Sein JTtunb bedpte ben ihren. Sie jaudjjte. Sie füllte 
nichts onberes um ftd), ober ihr iperg hielt fefl tro£ ber 
IHa^t feiner Umarmung, unb blinb fcftrie fie toieber: 

' . pe ♦ « ♦ re “ ™* 

Sie fanf gurücf, erfcfjöpft, in bie Polfier. 3hre Sippe toar 
feucht unb rot. Sie bebte. 

„“Du toirfl ihn nie mehr fef>en." 

Sie fagte fefl in ifjr deinen: 

„3cf> habe if>n ollein geliebt." 

©a ließ ber Erjengel ihrer Äinberträume bie Brutalität 
fahren, bie if>n ben JTtännern ihres Sehens ähnlich, xoenn 
auch riefig überlegen machte. Ctroas oon bem Engel 
Filippo Sippis fam in fein Geficfjt. 

Seine jpanb traf ihr Änie mit einer beruhigenben Be« 
rührung: 

„Er war bein Phantom oom Gtücf. Begreife bies nur. 
Es hat bein Seben geblenbet bis heute. Du fannß aber nicht 
über bein Scf)itffal." 

Sie fah ihn fefl an unb fragte leis: 

„das will ein Seben oon mir, bas mir alles jemißt?" 

„Schau auf bein Jrjerj." 

Sie lächelte mit ben TRunbxoinPeln, bie fich nach unten 
bogen: 

„3(1 es nicht ooll Sehnfucht?" 

©er dagen jog aus bem dalb. Sie fahen ben 3Ttonb 
über bie Scheiben feurig fchxoingen. ©a flog ihr aus bem 
fchranfenlofen ©unPel Der Rächt hinter fi<h xoie ein Echo 
mit ber Stimme bes dalbes ihr le£tes dort bonnemb 
jurücf: 

©ie Sehnfucht. 

Sie fah auf, frtumphierenb unb erfchrecft. Sie fah ben 
Engel lächeln: „Schau." 

©ie helle JTtonblanbfchaft jog fich jufammen. 3m her» 
untergetaffenen Senfler bes flutos gerann fie jum Spiegel, 
gart tote Silber, eine metallene platte. 

3hr Geficht oerfing fich barin. 3hre eigenen Augen fahen 
fie aus biefent Spiegel an, ber eigene «Kopf bilbete fich ihr 

536 


entgegen. Sie fab bie 3tafe, tm dürfen efmas fübner, bte 
Schläfen eingebogen unter bem Sjaar tute oon gu großer 
Sebnfucf)t. Das gange Gefickt faf) auf fie, fein Soleier oer* 
»irrte es. Cs »ar if>r nicfjt mehr fremb. 

Sie fämpfte einen jpergfcf)lag mit bem JTtunbe, ber fie 
anfaf). Dann lächelte fie. Sie mußte nicht mef>r »einen. 
Die Saite be»egte ficf) leife gitternb. 

Sie »ar fo fef>r ooll £eib, baß fie ben .Kopf neigte unb 
fie anfaf). Da neigte ficf) bas Bitb in bem Spiegel if)r ent* 
gegen. Cs fam auf fie gu, unb ber bittere JTZunb »urbe 
geünber, je näher er if>r fam, um fo froher. Sie »ehrte 
ficf) nicht mehr, unb fo oerfcfjmofgen fie facht miteinanber 
»ie g»ei Schatten. Sie gingen ineinanber ein. 

3f)r fluge »urbe oor ßiller IXJef)mut leuch tenb. Sie fenfte 
ficf) gurüd?. 3n einem füßen Strom burd; liefen fie alle 
Scf)mergen, bie fie erlitten, alles £eib, gegen bas fie gef>a» 
bert. Sie füllte ficf) in ihrer Trauer tief bebrücft. Sie faf) 
gurücf, roo ber Spiegel »ie eine £anbfd)aft ficf) auffcf)fug. 
Sie faf) bie JTIänner, bie ihr £eben beßimmten: Sie fab 
Cafpare traurig. Sie irrte fucfjenb nach Stefan burcf) bie 
Crbe... 

Dann faf) fie anbere, bie in ben Spiegel fauchten. „3cf) 
habe »ef>e getan'*, fagte fie. Sie faf) £e Beau oerfcf)»inben, 
aber er trug ein £äcbeln in feinem Auge ooll Geiß. Glücf 
fam über fie immer linber. 

3f>r fluge traf ben Sremben. Cr beugte ficf) über fie: 
„3lun begreifß bu?" 

Sie blicfte auf ihren Gürtel, in bem Stefans Safjne 
ßecfte, im roten Tucf) ber Piraten bie ringlofe ßlberne 
Sauß... fein Gefickt mefjr »ie fein XDappen. Die £inie 
ber Aber burcbȟblte bas Silber bes Gelenfes. 

Da ßanb fein .Kopf in bem Spiegel. Quaörattfcf), ge* 
bartet bog fid> bas .Kinn um bie XBangen. Der Schatten 
g»ifcben feinen Schläfen über ber Stirn, ber ibn ibr ent* 
femte, glängte ein »enig. Aber Die Brauen lief bie $alte. 
Cr ßanb oor JTionfep. Die Stäche feiner Stirn roanbte ficb 
unbefiegt gegen ibn. Da fab fie, er lächelte. „3<h fyxbe bicb 
nie oerßanben", flüßerte fie. Sie begriff ihn. Cs »ar 


22 $te beuifd&e Lobelie. 


337 


fcfjüocrcr fern Schtcffal gu tragen, ata ea gu befämpfen. 3Tt!t 
fchmerglicher Berhaltung, groß, fcfjtoanb er oon ihr, ber 
fein £eben, brutaler unb wilber ata ein anberea, fo befiegte. 

Sie flaunte, ata hätte fie nie gefefjen. 3n alle Poren trat 
if>r baa £eben näher. 3f)r war, fie fähe gunt erftenmal. 

£e Beau fianb in bem Spiegel. Jtofenfran£. 6rif JIteir 
Glifha. Alle, b'te ihr £eben gefüllt, gogen oorüber. An jebem 
Äopf würbe ihr Gefitfjt noch fliller. Auf jebea Stirn fianb 
ber Schatten unb glänzte mit einem entfagenben Triumph. 

Sie mürbe mübe in ben Augen, bie nicht weinten, ©a 
fianb mit großem $euer im Blicf ber .Kopf bea, ber bie ltn* 
rafl oererbte in ihr Blut. Sie faf) ihren Ahnen. Gr war 
fchön wie ein Sott. Seine Schläfe war hart unb gebogen. 
Seine Brufl umfchlug eine BJolfe. ©er heiße Geruch feinea 
£ebena färbte gebunfelt baa monbfilbeme JTtefall. Gr trat 
heroor. ©er JTlunb lachte oor Begehren. Gr neigte ft<h ein 
wenig. 

©a flüfterfe fie feinen 3Tamen gärtlicf) unb empfanb ihn 
überall: eine Aber burchrann fein Geficht, baß ea gucf te unb 
ruhig warb. Seine Stirn glühte furg in einem fchweren 
Schein, er hotte oiel getragen. 

„Xöäre es fchön, wäre es nur erträglich ohne bies?" 

Sie fah mit heiterem Blicf in bea Grgengeta Auge. 

©ann fagte fie: 

„Cafpare?" 

©a befam fein .Kopf ben bunflen Glang, ber richtete, 
wieber: 

„Schweig", rief ber Gngel ungebulbig unb. flreng, 
„Xöillfl bu gurücf in bie Torheit beiner Sehnfucht?" 

Sie fah ihn on. 3hr war, fie oerflehe ihn gang. Sie lä» 
«helfe unb legte bie j?anb in bie feine. 6a gab nichta, waa 
fie nicht begriff, fo war fie oott £iebe, baa le£te gu begreifen. 

,,©u hottefl nie 3eit, blch gu befinnen. Schau in mein 
Geficht: biß bu gereift an bem Glücf, baa ea nicht gibt, unb 
baa bu fuchtefl? Jlein, bu wuchfefl an bem, waa bu oer* 
lorfl. ©u nahmfl nur, bu genoffeß. ©u unterwarfß bi«h 
nie/' 

Sie gitterte unb fah tf>n immer an. 

338 


„3*." 

Er wurde milder: 

„3ef) weiß, du warf} gut aus Siebe manchmal. Aber nur, 
wenn du (iebteß. Don da aus nur fafjft du die IDelt. Ou 
tatef} \d)led)t auch aus Siebe. Begreif/} du, daß dies nicf)f 
das leijte iß?" 

Sie niefte: „3a." 

„XDeißt du, warum ich nicht litt, als es dir fehlest ging 
und du ßhrieß, daß du deine Kindheit erßrebteß. So Ieicf>t 
iß das nicht. Weißt du, warum der Engel die ltnbefüm» 
mertf>eit deiner Sagend nid)t gurücftrug in deine Bruß...? 

Ou mußteß erß leiden. Ou mußteß dich befömpfen. Ou 
mußteß fo tief fallen, daß dir nichts mehr blieb und du 
dann erß das Ewige gewahrteß, weil du fefjr weit oon ihm 
entfernt warß. Erß wenn du dich lange unterwarfeß, erß 
dann fefjrt Uber das llberwundene die Scf)Iic^tf)eit deiner 
Kindbett gurüef. 

Begreif/} du die Seiden, die du befämpft fraß, ßatt daß 
du ße liebteß?" 

„Aber'', fagte Oaifp weinend, „icf) liebe fie." 

„Es ßnd die Keinen erß. JTtit den ßeigenden fahren 
werden ße größer. Oie wilden werden erß fommen." 

Sie lächelte: „3<h bin bereit." 

3(>r war, es entfalte fiel) ein Seben in if>r, das ße nach 
außen durdf)dringe in einem unbefannten Gefühl. ©as alte 
Gelebte ßhwand lang/am als Traum. Oas, was ße gelebt, 
tarn mit neuen Gefühlen. 

„IDas willß du mehr oon mir?" fragte ße. 

Sie faf> ein Sätteln in feinem fefjon undeutlichen Gefickt: 

„3<h will nichts mehr nun", fagte er. „3eh wollte dir 
nur Beine Prüfung erfparen." 

„BJer biß du?" fragte fie erfchauernd. 

Es war dunfel im XBagen. Sein Geftcfjt glängte nicht 
mehr. Sie fah feinen JTtund nicht mehr deutlich. Es war 
fo, als fage er: 

„Ou... felbß-dein... Schieffal." 

Sie wagte nicht aufgufehen. Es überfiel ße wie mit 
Bleien. Aber ihr Auge hatte eine ßitte Äraft. Sie hob die 


22 * 


339 


£iber. Gang ooll JTtilbe ftrafjltc fte graues £i<ht gart in 
bte Dämmerung. Da faf> fte fein Gefecht fich oerbrettern, 
als fchwimme es in ben «Raum. 

6s würbe ein «Kopf wie aus XOacfjs gegoffen fo runb, 
ohne Braue, ohne flusbrucf wie eine .Kugel... Cfjarafter 
nirgenbs unb an jebem Drt. Äinn war wie Stirn, unb 
wenig ünberung beflanb ihm gwifchen Df>r unb Jtafe. Auf 
bem Gefecht frf)webte bas £ä$e(n wie eine Klage, bie tfjr 
£eben mafj. 

Da fai) fie gum erflenmal hinein unb ertrug es. 

Da wich es oon if>r langfam unb gart. Das Gefickt tä» 
ehelte ooll Güte, Auch ber Grgengel, ber ihren Traum feit 
ber Äinbheit bewahrt batte, wicf) nun aus ihrem £eben, 
beffen 0agb nun gu 6nbe ging, nacfjbem er als flärffter 
ber Klölfe ihr ben llnfinn ihres £ebens bewies, inbem 
er ihr Srieben brachte. 6r hatte, flug wie alle Abgefanbten 
Gottes gewartet bis gum 6nbe unb erfl gefprochen, nach* 
bem fie alles erlebt hatte. 

Klee in einem bumpfen Traum lag fie im Klagen. 

Sie fah ihren Partner faunt mehr. 3f)r eigenes Heines 
£ebensfpiel fah fie beenbet in einem ungeahnten Sinn. 

Der le£te KJolf, ber fie gum 3iel gehest, bafj fie ihr £eben 
begreife, oerlief? fie. Jtoch fchwanfte bas £äei)eln. Dann 
lofcf) ber lebte Partner aus wie ber Glang auf feinem Ge« 
ficht mit ber beenbeten Beftimmung. 

Sie war allein, bie 3ugenb hinter fich... große Geflime 
über ihrem Blicf, bie fie erflaunten. 

Sie weinte nicht mehr, bie £ippen oerflärt, ben Äopf 
hingegeben jebem ßefchicf, bas fomme, bafj fie barin reife. 
5f>re Klangen waren milb. Der Blicf in bie eigene Brufl 
gefehrt. 

So fah fie bie £anbf<haft in ber Stacht oorüberbraufen. 
Aber fie war mit ihr oereinigt wie noch nie. Stiller, 
wunfchlofer empfanb fie jebes Ding. Sie gog fie nicht mehr 
in ihr Glücf. Sie oerflanb fie. Sie fühlte ben Schmerg bes 
Spalters, ber ihre £aterne flreifte. Sie fpürte bas Schleifen 
bes Klinbes an ihrem $aar. Die .Kronen ber Bäume, bie 
fich im Dunfel über ihr falteten, bogen fich in ihr. Sie 


340 


hörte baa Sterben ber «Rebe aus Öen HJölbern gu ihr Pom* 
men. Oer bomternbe itrwalb fpielte gebömpft auf ihr. 
Sie füllte ficf) gittern bis ouf ben lebten Grunb. 3T£ef)r 
erglängte ifjr Geficbt oor £iebe, eins füblenb ficf) «nb oer* 
bunben ftbmerglicb oller «Kreatur. 

Ste föloß bie Augen. Ste legte ficf) gurüc? in ben Ufa» 
gen, bie großen longgeformten 6lieber belebten fid) fcbön. 
Sie f)ob bie unoerfefjrte Bruß über bem gezwungenen 
£eib. Oie «Räber flogen über ben Boben ber Heimat, fie 
fpürte es nicht. Sie faf) in bos Spiel ber 6eßirne: 3of>re 
ber «Reife, bie bunfel borüber ficf) bogen. Sie lächelte. Sie 
füllte tief, wie ßorP fie fei gunt £ieben unb wie tief fie bereit 
fei, es war fefjr oiel noch oor bem Tob. 

Oo umwehte ihr oerfunPenes Geficbt ein «Kaufeben: wie 
oon gwei ungeheuer entfalteten Jlügeln umbrauße fie bie 
£uft. Oie SüßigPeit erbulbeten £eibes burebbrang plö0licf> 
ihre Abern mit unbefebreiblicbem Glücf. Cs war wie bie 
Seligfeit ihrer 3ugenb. Sie Pebrte, anbers, in fie gurüeP, 3n 
ihr felbß war eine unerbittlich weiche Stimme: „6s gibt 
Peinen llnterfcbieb bes DJeges. Jlur bas 3iel iß bas gleiche, 
©u baß bie Oemut. Geb, lebe. HJas bu nun berübrß 
auch, iß meine Spur/' 6s war ihr faß, ße ßblafe, aber ber 
JTtonb ßanb feurig über ihrem Gefickt. 


341 


$et 1 e % t t Kaffee 

Bon Klabunb 


^Vjer fotfcrlitfjc Knabe toaste auf. Cr fchtug ben gelb* 
eibenen XJorfjonc jurücf. Cr Iaufcf)te toie ein H«fe, 
ber JTiänncfjen macht. Oie regelmäßigen fltemjüge ber 
fchlafenben Oiener unb Cunuchen brangen aus bem Bor« 
jimmer burrf) bie bünne Sanbelfjotjtoanb 3 « ihm. 6 r erhob 
ficf); eine funfloolle europäifcfje Ufjr, ein SchmieÖ, ber auf 
einen flmboß fjämmert, begann fieben gu fcfjlagen. Cr läu« 
tete mit einer Weinen golbenen 6 loefe, bte auf einem JTiafja* 
gonitifd)(f)en neben Bern Jtufjebett lag. Oie Flügeltüren 
totsten auf, unb ber Dberhofmeißer, ein JTIanbarin lebten 
Grabes, erfcf)ien. Jieunmal berührte feine Stirn ben Boben 
cor bem Kaifer, ber in roten £eberfrf>ul)en, einem gelben, 
mit Spmbolen beßieften JTCantel auf einem Blaufuchsfelt 
flanb. Orei Oiener fprangen toie aus bem Bauch bes fet¬ 
te« JUanbarinen heroor: ber erfie offerierte eine Taffe mit 
Tee, ber jooeite eine Schale mit Konfitüren, ber britte eine 
£acfbofe mit 3igaretten. Oer Kaifer nippte im Stegen am 
Tee. Cr betrachtete aufmerffam bie Frühlingslanbfchaft, 
bie auf ber Taffe abgebilbet toar: blüfjenbe flprifofen» 
bäume, barunter ein £iebespaar, in ber Ferne ein 
Teich, eine 6 onbeI, im Hintergrund ein SjilQel mit einer 
Pagobe. Oer Kaifer fräufelte bie £ippen, als er bas £iebes* 
paar fah, in ltnfchutb jeber Seligfeit hingegeben. Gine 
Falte burchbrach feine glatte, finbliche Stirn. Oer Oiener, 
ber bas Teebrett hielt, jitterte. Kaum oermochte er fief) auf 
feinen bebenben Knien ju holten. Oer Kaifer ßellte bie 
Taffe nieber, baß fie flirrte. Cr machte eine H an bbetoe* 
gung. Oie brei Oiener fchnellten jurücf. Oer biefe JRanba» 
rin erneuerte ben neunmaligen Kotau. Oann fpraef) er, 
mit ju Boben gefenften Bliefen: „Oie Taffe, in ber ber 


342 


. Diener pttatt 9 n 9 *^ ee fwoierte, erregte bas JTüß* 
faden 6uer ^imnttifchen JTiajeßät. 3cf) »erbe Befehl geben, 
ben Diener ausjupeitfchen." Der «Katfer überhörte bie ge« 
flüfierten Worte: „£aß 4r>i fontmen." 

Spi, bte Amme, watfchelte auf ihren gefchwoltenen Süßen 
gerbet. Die Augen bes Knaben leuchteten, als er fie ah, 
„3ief> mich an, Sp i." „IDelches Geraanb befehlen 6uer 3Tia» 
jeßät? Das himmelblaue, mit Orangenbtüten beßtcfte? 
Das fchwarje mit ben Sternen unb hintmtifctjen Siguren? 
Das braune mit ben Darfieilungen bes Acferbaues unb 
ber Biehjucht? Das purpurrote mit ben Spmboten ber 
gtürflicften £iebe?" — Der .Knabe mar erblaßt. 6r ßampfte 
mit bem 5uß bem Blaufuchs auf ben präparierten Schabet, 
baß er fnacfte. Die Amme fah fcfjief oon unten, bie Arme 
bemütig über bem coet<f)üchen Bauch gefaltet, ju ihm ent* 
por. 6r manbte fich nach ber BJanb unb jerbrücfte eilig 
eine Träne, bie eines Gaffers unb Gottes nicht toürbig war. 
„Jüan hot mir Sep*pen genommen. JTCan hot mein Sptx% 
oerwunbet." Die Amme fchwieg. „Ats ich geßern nacht, 
oon jtoei Eunuchen begleitet, bie Gemächer ber Äaiferin, 
meiner Srau Gemahlin, auffuchte, trat mir ein 3eremo* 
nienmeißer, ein bürrer, fragmürbiger Intrigant mit einem 
neunmaligen .Kotau unb einem Grinfen bes Bebaüerrts 
entgegen: 3hre JTiajeßät, bie Srau .Kaiferin, toäre in brin* 
genber poiitifcher Jltiffion am fpäten Abenb ju 3t)rer JTta* 
jeßät ber .Kaiferinmttme Tfje*hi in ben Sommerpataß be» 
rufen worben. Jüan habe mir foeben einen Boten gefchicf t. 
Der Bote höbe mich nicht mehr erreicht. 3Tun fage fetbß, 
was für eine potttifche JTtifßon fann $ep*pen, bie ein 
Äinb iß, fünfzehn Jahre alt unb noch ein Jahr jünger 
als ich, in ihre Weinen unwiffenben £änbe nehmen? Diefe 
Jrjänbe finb baju ba, mich 8« ßreicheln, wenn ich Schmer» 
jen höbe. BJann wirb Tfje*hi, bie böfe BJarjenfröte, mir 
5ep«pen, meine £ibe(te, wieber fchicfen? Sie wirb fie oer* 
fchfingen, wie ße altes oerfchtingt, was in ihre 3Iäf>e 
fommt. llnb babei foßümiert fie fich ats .Kwanpin, ats 
Göttin ber Barmherjigfeit! Sie martert mich, nur weit ich 
ber Äaifer bin unb weit fie JJläne mit mir oor hot, bte 


343 


bunfel finb tote bie Anfrfjläge ber Oämonen bes Horbens." 
Sji fcf)toieg nocf) immer. Sie tat, als fjabe fie nichts oon 
ben HJorten bes «Kaifers gehört. 

Oer .Kaifer trat an ein Jenflef. Gin junger Gärtner toar 
baoor befdjäftigt, Strauber ju befcfmeiben. ,,3<f) toill fei» 
nes oon biefen faiferlicf)en Geooänbem mef)r am £eibe t>a> 
ben" — ber «Knabe fnirfcfjte voie ein Pferb in ber «Kanbare 
— n$?h gef) ju bem Gärtner ba, gib if)m einige .Käfcf) unb 
oerfi(f)ere ifm meiner faiferlicf)en Gnabe: er foil mir feine 
«Kleiber leifjen." $i toollte ettoas fagen. Oer «Kaifer fdjnitt 
if>r mit einer fcfjarfen Jfjanbbetoegung bie DJorte ab, ef>e 
fie ben JTCunb ©erließen. Sji toatfcf)elte oon bannen. Sie 
fam mit ben f<f>mu£igen £appen jurücf. Oer «Kaifer toar 
entjücft unb flatfcfjte in bie 4?änbe. Gr warf fie fiel) über 
unb befaf) fief) im Spiegel. „Gnblicf) fefje idf) einmal toie 
ein JRertfcf) aus — toas meinfl bu, Sjii’i DJenn icf) in biefer 
JTtasfe unter meine Armee trete — werben fie in mir ben 
«Kaifer erfennen?" Gr riß bas Senfter auf, fprang in bie 
Sträurfjer unb Stauben unb war oerfcfjwunben. Sji fcfjrie 
roiber alle Gtifette auf. Oann froef) fie jammernb jum 
Dberfjofmeifier, ber fofort einige JRanbarine erfler «Klaffe 
hinter bem «Kaifer fjerfcf)icfte. — 

Oer «Kaifer fdjlug fi<f> burcf) Seitentoege unb Geflrüpp. 
Gr fam an einen oerfallenen Xurm; flieg if>n hinauf unb 
faf) f)inab. Oas £anb lag nocf) oor bem erflen Jrüijling. 
Bäume, Käufer, Briefen, Oärfjer, «Kuppeln, Grbe, Jpimmel: 
alles gelb in grau unb grau in gelb, monatelang fefjon 
f>errfcf)ten biefe Farben über f?efing. Sie ermübeten if>n. 
Gr feinte fiel) naef) blauem JTteer, naef) grünen EJiefen, 
naef) roten £ippen, naef) ben roten bemalten £ippen feiner 
fleinen «Kaiferin — beren £ippen rot unb jart waren wie 
bie £ippen ber gefjeintnisoollen Göttin im Xempel ber Gnt» 
fjaltfamfeit, bie nur er fannte. Gr f>atte fie entbeeft eines 
Xages in einem l>alboerfcf)ütteten Getoölbe, bas jerfcfjlagen 
worben war oon ben 6efcf)offen ber fremben Barbaren. 
Sie toar bie befie, bie reinfie, bie fef)önffe Göttin. Gr betete 
ju if>r in allen fcfjmerglicfjen Stunben feines Oafeins. — 
Oer «Kaifer lag auf bem Xurm, auf bem peljiges, grau« 


344 


fübernes JRoos wucherte, Oo hörte er UJefjflogen unb faf> 
in einen. Spof, mo ber Diener, ber ihm früh ben Xee feroiert 
hatte, mit Bambushieben regaliert mürbe. Uber bie gelbe 
ipaut floffen Heine, bellrote Blutbarfje. Der Äoifer empfanb 
ein leifes IBoblbefjagen, als er bas «Rot in all bem Grau 
unb Gelb auffchimmern fab. Cr flieg ben gebrechlichen 
Xumt hinab, wobei er eine Siebermaus ins Xageslicf)t 
fcheuchte. Cr ging meiter burch bie unenbtichen Gärten. 
6r ging meiter burch Heine 3ppreffenhaine, an £otos* 
teilen, Keinen Xempeln, JTIarmorbauten oorbei, an 
£anbfd)aften, bie er noch nie gefehen. Cr flieg auf einer 
Brücfe empor, bie fich mie ein Äantelrücfen mälbte: in 
neun Bögen Uber neun Kanäle. Huf ber Jf?öbe ber Brücfe 
blieb er, an bas Gelänber gelehnt, flehen unb blicfte hinab, 
mo bie Gärtner im Xeich bie alten £otospflangen oerfepten 
unb jungen .Raum gaben. 3n ber JTCitte ließen fie eine 
Heine ZOafferflraße für bie Gonbein unb £ufljad)ten fret. 
JRanche ber Gärtner flanben bis jum Jlabel im löaffer. 
Cinige fangen ein monotones £ieb: 

Lotosblüte, 

Xocf)ter bes Rimmels, 

£uflgeborne, fiuflerforne, 

löte balb oeröuftefl, oerblühfl, oerfaulfl 

fluch bu — 

Ciner ber fluffeher fah jufätlig jur Brücfe empor unb ent* 
beefte ben Äaifer in ber Gärtnertracht. Cr fchmang feinen 
Bambusflab: „S)t, bu Saulpelj, bu £ump, bu Xagebieb, 
millfl mie ber Äaifer oom Xhron gufehen, mie anbere arbei* 
ten! herunter mit bir, fonfl laffe ich Wf bie Baflonabe auf 
bie Sußfohlen geben!" Der Äaifer lachte unb tief bie Brücfe 
auf ber anberen Seite fünf hinab. Cr fanb einen .Kahn 
tofe angefettet unb flafte fich auf bas anbere Ufer. Cnten 
unb IBaffertauben begleiteten feinen filbernen Xöeg. 6r 
fprang über eine JBiefe, bann in ein bichtes Sarngebüfcf». 
3n einer £lchtung marf er fich ju Boben unb fchlief fofort 
ein. 

Als er aufmachte, faß ein JTIäbchen neben ihm, vielleicht 
fiebjehn Jahre alt. Sie lächelte oerlegen unb fragte fich 


345 



ihren grinbigen «Ropf. Sie war fjübftf), ober fchntuptg unb 
oerwahrfofi. „Störe icf) bich in beinen Xräumen? Oie 
UJinbe be9 Sübens mögen bir gemogen fein unb bir gört» 
(irfjer als bie Jjjanb einer Geliebten über bie Stirn fireicfjen." 
„JTlögen bie Oämonen bes Jlorbens bir immer fern bfei» 
ben unb möge Ämanpn aus bem filbernen «Rrug, ben fie 
in ihrer Einfen f)ä(t, bir einig bo9 DJaffer bes Eeben9 ou9 
ben püquellen fpenben. 3cf) freue mich, bir gu begegnen." 
Oer Äoifer richtete ficf) ein wenig ouf. Eibellen flogen über 
tf>m f)'m, gelbe Schmetterlinge, bie wie flotternbe Jüan* 
barine ausfahen. „Ou bifl wof>f oon beiner flrbeitsflette 
weggelaufen?" Sie blicfte ihm forfcfjenb ins Gefickt. „3eig 
beine $änbe." Sie nahm feine Jrjänbe. „Sie finb gort, ofs 
batten fie nie gearbeitet, llnb f)ier: wa9 bebeuten biefe 
Jlinge?" Oer «Raifer erfcfjraf. Gr hatte bei feiner üerwanb* 
fung oergeffen, bie faiferlichen Jlinge: ben riefigen in Bril» 
fönten gefaßten Saphir, ben Jling ber neun heiligen Perlen 
abgufegen. Gr fächelte oerlegen: „Oie Steine finb foffcf). 
3d> habe fie mof in ber Oorflobt einem Xänbler für ein 
paar «Räfdf) abgefauft." Oa9 JTläbchen breite feine j?anb 
mit ben Steinen in ber Sonne, bie ba9 Gebüfrf) gu burcf>* 
brechen begann. „Aber fie finb hübfcf) unb gtängen gierftcf). 
Schenf mir einen Jling! TTJenn bu magfl, will ich bich ba» 
für Beben/' Oer «Raifer bachfe: wenn ich bie Jlinge oon 
mir gebe, bin ich fein «Raffer mehr. Sie gehören gu ben 
3nfignien bes «Raifertums. Jahrfmnberte haben bie Söhne 
bes Rimmels ben bfauen Saphir af9 Spmbof bes j?im* 
metsgemölbes getragen, unb jept foff tcf> ihn einem fchmut« 
gigen JTläbchen hinwerfen, beffen Uater ein Jlicffchahfufi 
unb beffen JTCutter ein JTläbchen aus einer nieberflen Xee» 
fchänfe ifl. Gin JTläbchen, bas ich nicht fenne, ba9 ich nicht 
Bebe, unb oon bem idf) mich auch, bie Götter mögen mich 
behüten, nicht Beben faffen werbe. Oas ben unermefjßchen 
DJert bes Jlinges nicht einmal ahnt unb ihn bem erflen 
beften JTlanbfchufolbaten ober Xortenbäcfer weiter oer* 
fchenfen wirb. — Oer Gebanfe ber Sinnfofigfeit biefes Ge* 
fchenfe9 unb ber tiefen Sefbflerniebrigung unb Oemüti» 
gung entgücfte ihn aber berart, baß er ben Jling mit bem 

346 


Sopfjtr oom Finger firetfte, eine Sefunbe gauberte, unb 
• if>n bann tf>r an bie Jpanb ffecfte. Ste pfiff oor Sreube tote 
eine S?a felntaus unb legte feine beiben Jjjänbe an ihre jun* 
gen Brüfie. „BJer bift bu?" fragte er. „3<h biene als 
Äürfjenmäbrfjen im Sommerpataff ]Jiü Schau 3fjrer er» 
fjabenen JTTajefiät ber $rau Kaiferinroitme Xfje«f)i." Oer 
Kaifer fprang auf bie Beine. ,,3cf) fjobe bir einen «Ring 
gefcfjenft, unb menn er auch nidf)t otel XUert befitjt, fo bifl 
bu mir bocf) einen Meinen Gegenbienft fcfjulbig. 3cf) bin 
augenbficflirf) ohne Stellung, ber Gärtnerberuf besagt mir 
nic^t mehr recht, bring mich 3« beinern Küchenmeifler. Gr 
foll mich als .Küchenjunge anfiellen. Jltit meinen Kennt» 
nifen ber Gemüfe unb Pilje unb Srüchte unb Salate per» 
mag ich ‘hot gemifj bientich ju fein." Oas JTtäbchen 
Matfchte in bie Jrjänbe: „Komm." XBenige Schritte hinter 
ber Sarnherfe mar bie Blauer bes ]Jalafigartens. 3n ber 
JTlauer mar eine mingige Öffnung, burch bie fich beibe 
burchjmängten. Jlocf) einige Schritte burch eine Jjjecfen» 
rofenhecfe, unb fie fianben auf ber Strafje an ber großen 
Blauer. Oie Strafje mar oon Gefchrei, faufenben «Rief» 
fchah9, Jrjänblern, GauMem, Cfeln, räubigen Jpunben, trip* 
pelnben Srauen, jaulenben Kinbern, Strafjenmufifanten 
belebt. 3elfe unb Buben maren errichtet. Jrjier pries einer, 
einen fpi^en, unmahrfcheinlich oerfilgten S?ut auf bem 
Kopfe, Sunbeherg an Stäbchen gebraten an. Jrjier gab es 
Gfetefleifth, Srofchfchenfel in meifjer Gierfauce. J?ier mar 
eine Bäcferei oon «Retshtchen unb 3ucfertorten. Gs roch 
nach fchlechtem öl unb rangigem Jett. OTach Blofchus, nach 
Knoblauch. 3Tach Sroiebeln, bie jeber britte im BTtunbe 
faute. Oen Jrauen bot ein Krüppel, bem beibe Beine fehl» 
ten, unb ber in einem Meinen Jrjoigmagen fich mit gmei 
Stäbchen oormärts bemegfe, Otied)Mffen an. Gin Ber» 
bredjer, eine hölgerne Kraufe um ben $?ala, mürbe oon 
Solbaten oorübergetrieben. Gr grtnfle frech unb höhnte bie 
Borübergehenben mit unflätigen «Rebensarten, unter be* 
nen „Xochter einer Schilbfröte" noch bie gertngfle mar. 
IBahrfager unb 3auberer batten ihre Buben. Oer eine 
fagte aus «Reisförnern, ber anbere aus £tnien ber Jjjanb, 


347 


ber britte ö«s ben 3ei<hm bes Rimmels wahr. Je nach ber 
flnjahl ber «Käf<h beforn man Böfes ober Gutes geweis« 
fagt. Oie «Reichen Ratten insgefamt Glürf «nb Seligfeit ju 
emärtigen. Aus Teefcfjänfen flang Gitarrenmufif. Eine 
Xheatergruppe fptcltc unter freiem Spimmel eine fjiflori* 
frfje Xragöbie „Oer lepte «Kaifer ber JTtingbpnaflie." Oer 
Äaifer (am gerabe gurecht, um gu fefjen, rate ber fe£te 
aus ber JTtingbpnaflie fich bie Schnur umlegte. Er frfjau* 
berte ein wenig. Spatte ihm ber £iferaf, ber ihn in Gefchichts* 
wiffenfcfjaft unterrichtete, bas furchtbare Enbe ber JTtings 
oerheimlicht? Ober phantafierte ber Schaufpieler nur, ein 
grell gefchminfter Burfche mit ben Allüren eines £ufl» 
fnaben? Bei einem ©rachenoerfäufer faufte ber &aifer 
einen Papierbrachen. Er lief? ihn über ben Buben empor* 
(leigen, ben heiligen gelben Orachen. XOilb unb ungebörbig 
tangte er im DJinbe. Oa rifi bie bünne Schnur, kopfüber 
fchoß ber Orache gu Boben unb war oerfchwunben. Oer &aU 
(er erfchraf wieberum. BJas waren bies alles für üble Bor* 
bebeutungen? Oer lepte «Raifer ber JTtingbpnaflie, ber hei* 
lige Orache, ber er(l fleil emporflieg, um plö^ltcf) untergu* 
gehen. BJar ber Saben, an bem Chinas Gefcfjicfe hingen, 
fo bünn unb leicht jerreifjbar? Oer «Raifer traf auf einen 
HJahrfager gu: „Sag mir bie Waf)rf)eU! // Oer BJahrfager 
wog bie paar föifch in feiner Jpanb. Es war ein 3auberer, 
ber in einer «Ruine bes Puan ming puan, bes alten Som* 
merpatafles, häufle. Er flrich (ich feinen Bart unb fagte: 
„BJenn man bie JBinb* unb BJaffergötter beunruhigt, fo ifl 
Sturm unb wilbe Slut gu erwarten. JTtan erhöhe ft<f> nicht 
gu ben Göttern, wenn man nur ein JTtenfch ifl. Oie Xernpel 
baue man Hein, bafl fie fich ber Erbe anfchmiegen: beflo 
eher finbet ber Geifl bes Rimmels gu ihnen. Bon Uten* 
fdhen, bie mit hatten unb BJanjen gu häufen gezwungen 
finb, ifl feine friebfertige Gefinnung gu erwarten. JTtan 
mache bie JTtenfchen gtücfücher, fo werben fie beffer wer* 
ben. ©er Große opfere fich um ein kleines, ber kleine um 
ein Großes auf. Oas Opfer ifl ber Sinn bes £ebens unb 
ber Sinn bes Xobes. Oie 6nabe träuft oon ben Göttern 
wie Spart einem Baumflamm." 

348 


©er Äoifer ;ing rtocfjbertflicf) oon bannen, hinter ihm 
trippelte bas Äücfjenmäbchen, ben blauen Saphir eitel in 
ber Sonne brefjenb. Sie führte ihn gu einem Seitentor bes 
neuen Palaßes, wo ein DTIanbfrfmfolbat, gu bem fte tn 
gewiffen Begebungen gu ßehen fcfjien, BJacf)e 6r 

faute Xabaf unb fpurfte träge oor ficf) bin. Der Äaifer trat 
auf ibn gu unb oerneigte ficf): „JTtein älterer Bruber möge 
©ergeben, wenn fein jüngerer Bruber ibn tn feinen JTie» 
bitaüonen ßört. 3cb bin einer UJilbgans begegnet unb 
ihrem Slug gefolgt. 3cf> toäre entjürft, bicb als meinen 
Sreunb begrüßen gu bürfen, benn icf) gebenfe bie Stellung 
eines Äücf)enbeamten in biefem erlauchten Jpaufe angu« 
nehmen/' „Tritt nur ein", jagte ber Solbat, ein wenig 
barftf), aber ni<bt unfreunblicb/ ber bübfcbe 3unge Qefiel 
ihm: „Du fommß gu einer wunberlichen Stunbe. S t jätteß 
bu an einem ber ^aupftore Einlaß begehrt/ man hätte 
bicb nicht t)ereinQelatfm" „Was bebeutef beine Olebe, 
Chang?" fagte bas JTläbchen, „bu machß mich gang ängfl« 
lieh." „Oie Pfeile, bie ben ßolgen JVeif>er treffen toerben, 
finb fchon gefpipt. Das bunte .Kleib bes faiferlichen Pfauen 
wirb balb oerblaffen. 6s ifl «Reoolution in ber Stabt." 
„Jleoolution?" fragte ber Äaifer unb mußte ficf) bas Xöort 
flarmachen. „löarum Jleoolution unb gegen wen?" „Ge« 
gen wen anbers als gegen ben Äaifer," fagte ber Solbat, 
„haß bu bicb nie mit Politif befebäftigt?" ©er Äaifer 
fihüttelte ben .Kopf. „Politif iß bas, was bie alte, böfe 
Äaiferinwitwe Xfge»hi betreibt. 6s fann nicht gut fein." ©er 
Solbat rungelte bie Stirn: „Sei nicht fo oorlaut. ltnb fprich 
oor allem oon 3t)rer JTiajeßät ber Äaiferinwitwe in einem 
anbern Xon. Bielleicht biß bu gar felbß ein Jleoolutio* 
när?" ©er Äaifer lächelte aus feinem bleichen Geficht h Er * 
aus. ©er Solbat fuhr, ohne eine Antwort gu erwarten, 
fort: „6s finb einige £iteraten gweifelhafter Grabe, Jlechts* 
anwälte unb Oledfjtaoerbreber, aus bem Auslanb, aus 
Amerifa gurütfgefommen. Sie haben ficf) bie 3öpfe abge* 
fchnitten unb tragen 3plinber unb Gehröcfe wie bie weißen 
Barbaren. OTun wollen fie, baß wir alle uns bie 3öpfe 
abfehneiben unb 3ptinber unb Gehröcfe tragen: beshalb 


349 


iß Jleoolutlon. Berßehß bu bas?" ©er Äaifer ntrffe. „Ste 
flefjen alfo mit ben weißen Barbaren im Bunbe. QU finb 
Berräter unferes Bolfes. IBie entfehltcf)." Oer Solbat 
nicfte. Er fputfte ben braunen Saft Im Bogen an bie 
JRauer. „Sie haben geheime Gefellfchaffen gegrünbet unb 
im Bolfe agitiert gegen ben Äaifer unb bte Äaiferimoittoe 
im Flamen ber JTtenfchenrechte: ber Freiheit, ber ©emo* 
fratie, bes Selbßbeßimmungsrechtes ber Bölfer." ©er 
Äatfer buchßabierte oor fich hin: «ber Uten—fchen—rech— 
te— 4 . . toas bebeutet benn bas? China iß hoch ein .Kai» 
ferreich feit 3af)rtaufenben. Oer Kaifer ifi Sohn bes Sjim* 
mets, ber JTtitfler gtoifchen ben JITenfchen unb Schang»ti, 
bem Geiß bes Rimmels. B3ie wollen fie mit ben Göttern 
oerfehren, wenn fie feinen Kaifer mehr haben?" „£ieber 
3unge," fagte ber Solbat gärtÜcf), „jeber will eben ein Kai» 
fer fein unb perfönlicf) mit bem Geiß bes Rimmels in Ber» 
binbung treten." Oann lachte ber Solbat unb machte mit 
ber rechten .fjanb eine Gebärbe bes 6e(b;ählens unb Gin» 
fäcfelns. „Beim heiligen Oelphin, bu bifl aber fchtoer oon 
Begriffen: oerbienen wollen fie — bas, was bte Jüan» 
barine als Stelloertreter bes Kaifers bisher oerbient haben, 
bas wollen fie felbfl oerbienen. Xael! Xael! Käfcf)! Ääfch! 
Kwai gau für bie Keinen £umpen, nachbem bie großen 
abgetreten finb." 

Oer Kaifer toar oerblüfft oon ber Suaba bes Solbaten, 
bie auf ihn einftürmte. Gang begriff er ihn nicht. Seit toann 
hanbeife es fich int £eben bes 3Ttenfchen um Xael ober 
Käfch? Bas toaren hoch gang nebensächliche, lächerliche 
metallifche Begriffe, mit benen man ipunbeherg am «Roß, 
einen Papierbrachen, oielleicht auch eine Jrau faufen 
fonnte. Aber ber Geiß bes Rimmels — toas hatte er mit 
Xaels gu tun? Oas Jltäbchen brängte: „Komm nur herein. 
Oas Xor toirb balb gefcfßoffen unb bu mußt toiffen, wo* 
ran bu biß." Oer Kaifer oerbeugte fleh oor bent Solbaten, 
bat, ihn Seiner Jpochwofßgeborenen Samilie gu empfehlen 
unb folgte bem JTiäbchen. Oas Jltäbchen führte ihn gunt 
Küchenmeißer BJang, ber mit frebsrotem Geßcfjt in einer 
Xerrine rührte. „3ch bringe Euer ipochwotßgeboren einen 


350 


btenßeifrigen Änecht." Oer Äatfer trug feinen UJunfcf) mit 
Anßanb oor. „JXun gut," fagte ber gutmütige IDang, ber 
nie nein fagen konnte, auch ben Srouen gegenüber nicht, 
er ahnte, baß burcf) Annahme bes «Küchenjungen gum 
minbeßen bei JToa etwas für if)n heraus« ober herein* 
fpringen werbe. „Jtun gut, mir wotlen’s mit bir probieren. 
&annß bu auch ferneren? Ou haß ein hübfches, gelecktes 
6efkht, fo als lecke bi«h beine JTiutter, bie Ka^e, jeben Sag 
breimal ab. Jüan könnte bicf) bei J?of präfentieren." Oer 
tfaifer hatte bie JTIanieren ber Oiener bei ben feinen ßubte« 
ren können. Cr glaubte bei Jpofe ßtlgerecht aufmarten gu 
können. „Jtun gut. IDir werben fehen. Jloa wirb bi<h gum 
Bekleibungsmeißer bringen." 

Gerabe, als ber &aifer in bie kleibfame, weiße Xracf)t 
ber Diener gehüllt würbe, entßanb eine Aufregung im 
Palaß, bie ßd) non ben Soren ins 3entrum ber 6emächer 
ber Äaiferinwitwe unb oon ba in alle Seitenflügel ßrah* 
(enförmig fortpflangte. Oer £aifer war aus bem alten 
Palaß oerfd>wunben unb tro<} eifrigßer Sorfcbungen nicht 
aufgufinben. Jltan hatte ihn in ben neuen Palaß in Sicher« 
heit bringen wollen: er war gewiß ben «Kebellen, ben oer* 
fluchten .Republikanern unb irrfinnigen Anhängern ber 
weßlichen Barbarenibeologie, in bie j?änbe gefallen. Oie 
&aiferinwitwe war außer fi<h. Sie fchlurfte in ihrem Ge* 
heimgemach, bas oon Parfüm betäubenb roch, aßhmatifch 
aufgeregt auf unb ab. Png, ber Dbereunuch unb ihr Ber* 
trauter, immer hinter ihr her wie ein Büchlein hinter ber 
ijjenne. „Png, was foll ich tun?" Sie tat einen 3ug aus 
einer Opiumpfeife, bie in einer Ccke tag. „Cr iß baoon* 
gelaufen. Das iß es. Cr iß felber ein 'Rebell, ber Sohn bes 
Rimmels, Png. Cin ungeratener Qunge Iß es, bem wir 
immer no(h guoiel nachgefehen haben. BJas wirb er tun? 
Cr bekommt es fertig, fid) gu ben Jlebetlen gu fchlagen unb 
gegen mich gu konfpirieren: als kaiferlicher .Republikaner, 
als republikanifcher Äaifer. Sfchang*tü»tfi, ben fie gu ihrem 
Präfibenten machen wollen, iß ein alter Jlarr unb Äna* 
benfchänber. Cr wirb fich in ben Äaifer oerlieben, unb wir 
haben bie Beßherung." Sie fchnaufte fchwer unb fah wie 


35i 



ein großer brauner tProfcf) aus, ber auf £anb frfjtoer atmet 
„9ng, was macht bie junge Äaiferin?" „Sie hat ficf) in ben 
Scfjlaf geweint/ JTlajefiät." „Sinb bie Xöad)en oerftärft? 
3(1 für ben Jall eines Abzuges burcf) ben geheimen unter» 
irbifchen Sang alles in Orbnung?" „Alles in Orbnung, 
JTlajefiät!" Oie Greif in lief} ficf) jammernb auf ein Riffen 
fallen unb griff nach fanbierten Jlüffen, bie in einer Schale 
auf einem Xifch<hen fianben. „9ng, was wäre aus ien 
JTtanbfchus geworben/ wenn idh nicf)t gewefen wäre/' Sie 
wiegte wie ein JTiarabu ben .Kopf. „löir muffen ben Kaifer 
wieber haben, fo ober fo. 3um Glücf ifl bie junge Kaiferin 
fcbwanger. Oaf} fie einen Sohn gebärt: bafür werbe ich 
forgen ..." — 

Oie junge Kaiferin liefj ficf) bas Abenbeffen in ihrem 
Schlafzimmer feroieren, wäf>renb fie auf bem Kang lag. 
Zufällig fiel if)r Blitf auf einen ber Oiener. Sie fenfte bie 
Jöintpern, befahl ben Eunuchen unb zwei Oienern, bas 
Sintmer ju oertaffen. Oer britte blieb. „Äwang*fü! / ' rief fie 
leibenfä>aftlicf) unb brüefte ihn, ber faum 3eit hatte, bie 
Paftete beifeite ju (teilen/ an if>re Bruft. „Oie Htinbe bes 
Sttbens fraben bid> ju mir gewebt. löte oerlangte mich 
nach bir! JTticf) unb bein Kinb!" Sie führte feine jrjanb 
unter bie Oecfe, wo er unter ihrem (eibenen Jrjemb bie 
erfle Jtegung (eines Kinbes (pürte. Sine Träne wollte wie» 
ber in fein Auge. Sr bef>errfdf>te ficf). „3cf) bin oerfolgt unb 
weif} nicht oon wem. 3rf) bin geraubt unb weif} nicht W03U. 
3hre JTlajefiät bie Kaiferinmitme lief} mir fagen, alles ge» 
fchehe gu meiner perfönlichen unb ber Opnaflie Sicherheit. 
6s tobte ein Aufflanb in ber Stabt. Jlieber mit bem Kaifer, 
riefen (ie. 3(1 bas wahr, Kwang*fü? löas hafl hu ihnen 
getan? Ou fannft boch niemanbem Böfes tun?" Oer Kai* 
(er judte bie Achfeln: „Aber oielleicfjt bin ich böfe, oietleicht 
bin ich für bi? Aufrührer bas böfe Prinzip, unb bas ifl’s, 
was fte oernichten wollen. Jüan hat micf) aufgezogen in 
bem Stauben/ baf} ich bes Rimmels Sohn (ei/ ber Stell« 
oertreter Gottes auf Srben: aus ber Snabe bes Seiftes 
heraus. Jpabe ich mir biefe Snabe erworben, erfämpft? 
Wo höbe ich ein Opfer gebracht? $ep»pen: ich bin ein arm» 


352 


feliger ITCenfch, ni d>ta weiter. 3cf) habe nie etwas getan: 
toeber Gutes noch Böfes. 3 e £ ( ntiifSte icfj eine Xat tun: 
aber welc&e?" 6r fiel in Sinnen. Sep*pen fireicfjelte feine 
Stirn: „Du biß aus bem alten Palaß geflogen in ber 
Xracf)t eines Dieners?" Der &aifer lächelte: „D nein. D3o* 
oor hätte lcf> fließen follen? 3cf) wußte nichts oon ber 
Rebellion, als ich oon jpaufe wegging im Gewanb eines 
Gärtnerburfcfjen. Das Sd)irffal iß oor mir hergelaufen. 
Als ich hier anfam, war es fchon ba unb berichtete mir in 
Geßaft eines Solbaten ber Xorwache, was gefcfjehen." Die 
Äaiferin flreicfjelte feine Jpanb, ihr Xaßfinn oermißte eine 
golbene Unebenheit, fie jog bie Jrjanb erfchrecft herauf: 
„<Rwang«fü, wo iß ber himmlifche Saphir? bas Spmbol 
beiner Äaiferfraft?" — Der «Äaifer fämpfte: ,,3 : ep;pen 
— wirß bu mich begreifen? 3ch hübe ben Stein oerfchenft, 
erbleiche nicht, Sep=pen, ganj einfach, ja eigentlich finn* 
unb gwecflos oerfchenft. Die Perfon, bie ben Stein empfan» 
gen hat, weiß gar nicht, was es mit ihm für eine Bewanbt» 
nis hat. Unb habe ihn oerfchenft, weif, ja weil ich an bie 
Xrabition ber 3ahr(mnberte nicht mehr glaube, fonbern 
nur noch an mich. Dielleicht glaube ich auch nicht an mich, 
oielleicht zweifle ich nur an mir: aber 6taube unb 3weifei 
finb ja Äinber eines Hafers. Gntweber bas Äaiferfum be» 
ßeht ahne ben Jling in mir — ober es beßeht gar nicht. 
Dielleicht haben wir es fchon oerloren. Unb überbies — 
er lächelte höflich — Öen «Ring mit ben neun heiligen Per» 
len befipe ich ja noch." — Die «Kaiferin lag ba, bie Augen 
gefcfßoffen, Xränen gwißhen ihren DJimpem. 6r oerließ 
fie auf ben 3ehenfpipen, burcfjfchrift im Dominanter bie 
Reihe ber Eunuchen, bie oor ihm auswichen, ohne JU 
wiffen warum. 6r oerließ bei feinem Sreunb, bem Sol* 
baten ber britten Seitenwache, ben Palaß, gelangte bur<h 
bas £och in ber JTtauer in ben Parf bes alten Palaßes unb 
fchlicf) auf Seitenwegen jum Schloß. Das Senßer ju fei» 
nem Schlafzimmer ßanb offen. Er fchwang fich hinein. Er 
hörte im Dorjimmer bie Diener unb Eunuchen aufgeregt 
wifpern. Er warf fich An gelbes Gewanb über unb fchellte. 
Die Xüre ging auf, Diener mit £eu<htern erfchienen. Der 


23 $le beutfc&e Lobelie. 


353 


Aaifer fianb in her JTtitfe bes ^Raumes: „Jluft mir S*/ 
bie flmrrte!" 

IDie ein Sauffeuer oerbreitete ficb bie 3ta<bri<f)t, bafi ber 
Äoifer toieber ba fei. IDang gerftbmetterte oor Sreube bei* 
nab feine Stirn im .Kotau. Gr hätte feinen «Kopf perloren, 
toenn ber Äaifer nie i)t gurütfgefebrt märe. 

Sl matfd>elte oerfcf)iafen, fehlest gedämmt unb unatts* 
geträumt berbei. 3br Gefielt batte noch einige bunbert 
Klüngeln mehr als am lag. „S}\, falbe mir bas Saar, öle 
mir ber. .Körper, fleibe micf> in bas fibtoarge Getoanb, bas 
mit ben Sternen unb ^immelsfiguren beflieft ifl. 3eb habe 
einen f>eiIiQctt Gang gu tun." „Cuer JTtajeflät: bas 
febtoarge Getoanb ifl bas Getoanb bes faiferlicben Opfers 
gur interfonnentoenbe oben auf bem JTtarmoraltar." — 
„Xu, toie tef> bir fage." 

Jlocb einmal rief ber Äaifer bas Gottesgeriebt an. 6r 
wählte bas Bambusorafel, neun Bambusfläbe oerfebiebe* 
ner Sänge. Gr gog gefebloffenen Auges einen Stab. Gs toar 
ber fürgefle. Gott batte gefproeben. Gefalbt, geölt unb ge* 
febmürft, ein perlenbiabem auf bem Saupt, ein golbenes 
Ärummfcbtoert an ber Seite, fcf>rttt ber Äaifer aus bem 
Palafl unb bie heilige breigeteiite Strafje gum Xempel auf* 
toärts. Gine Äräbe freugte feinen HJeg. Das erfie JTlorgen* 
rot hämmerte herauf. 3m Srübwinb läuteten bie ßlotftn 
unb GIö<f(ben unjäbliger Pagoben. Gr fcf>ritt ben mittleren 
XDeg, ben Xöeg, ber nur oon ben Geiflern befebritten toer» 
ben burfte, unb ben feines IRenfcben Sufi bisher gegan* 
gen. Cr burebguerte bie Salle ber Cntbaltfamfeit. 3n einer 
oerborgenen Jlifcbe fianb bie .Kwanpin aus pabe. Oie 
Sippen rot gefebminft toie Sep»pen, bie linfe Brufl leiebt 
entblößt. Oer .Kaifer füfite bie Uber bem Sergen fidf> toöl* 
benbe Brufl. Gr febritt toeiter bie neun mal neun JItarmor» 
flufen gum Opferbttgel empor. Als er oben angetangt toar, 
bßcb er aufatmenb flehen. Äeine ITCmifler unb TRiniftran» 
ten, feine länger unb Xängerinnen, Cböre unb Jltufiffa* 
pellen waren bei ibm toie fonfl beim nächtlichen Opfer 
bes Äaifers gur 3eit ber HJinterfonnenwenbe. 3n ben 
Stemenmantet gehüllt toie Jener, ber über ihm thronte, 


354 


unb beffen Gletthnis unb Senbbofe er toar, flonb er allein 
unb einfant feinem Gott gegenüber unb bof ihm flolj unb 
bemütig gugleich bas Opfer feines Seibes unb Gebens. Orei» 
mol fniete er oor if>m nieber. JTeunmal beugte er bie Stirn 
im «Kotau. S<f)ong«ti, ber ßeifl bes Rimmels, fom im 6e» 
fponn ber JTiorgenröte über ben Jjjorigont gefahren. Oa 
öffnete ber Äaifer ficf) mit bem golbenen Schwert bie Aber 
om Sjala unb lief? fein Blut in bie JlTarmorfcfjafe rinnen. 
Oos Blut bes ^immeisfobnes oermifdjte ficf) mit ben b(uti< 
gen Tränen, bie ber Geifi bes Rimmels aus ber morgen* 
röte bwnieberxDeinte. — Oie fedjgefjn Tore Pefings fliegen 
aus bem Staub ber Rächt. Oort, im 3entrum bes Paiafles, 
flanb bas innerfle Tor, bas Tor ber fnntmlifcfjen «Reinheit, 
bas er nicht batte betreten bürfen. Oie voeflüchen Jpügel 
hoben fi<h aus ber Oämmerung. Auf bem Bahnhof lief 
ber fibirifche CyprefS ein. Um biefe Stunbe ffürmfen bie 
Rebelten ben patafl. Sie fanben ben «Kaifer, bas «fjaupt 
über bie DTtarmorfchale gebeugt unb fie mit beiben JF>än» 
ben umflammernb. Oie «Kaefertmmftoe unb bie junge «Kai« 
ferin hotten ben Sommerpalaff bureh ben geheimen unter« 
irbifchen Gang oerlaffen unb befanben ficf), oon faifer» 
liehen Truppen umgeben, auf ber $(ucht außerhalb pe» 
fings. Jioa fchenfte ben Jting mit bem blauen Saphir bem 
Solbaten ber britten Torwache. 6s toar berfefbe, ber als 
General TuOBei fpäter bie Gefchicfe Chinas einige 0ahre in 
feiner Jrjanb holten follte. — 


355 


6t$ JJeÜegritto Äotojji 

Don Otto 3aref 


I ^ellegrino «Katajji, ber junge preisgefrönte Dichter, 
irrte burcf) bte Schwüle ber neapolitanischen Dächte. 
Des Xages fcfjrieb er in feinem 3 tmmer bie glühenben 
Jamben feiner Xragöbien, fdjaute er in bebenber Grwar« 
tung in bie abenblitfjen Sefie am £ofe ber Sängerin Jlotca. 
3{>re Stimme plätfrfjerte in feinen glatten Herfen unb bas 
Auftauchen ihres XDefens fräufelte ben Slufi ber Gebanfen. 
Aber, in fpäter Dacht, fam er aus ben Dtarmorhallen ihres 
Palaßes, beraufcht oon bem Hlirbel üppiger Xänje, ge« 
bienbet oon bem Sauber ihres Ganges unb ber blenbenben 
Pracht ihrer Pagen: bas erfle Anfehtagen bes JReeres 
gegen ben harten Stranb ber Bucht, bas bunfelfie Auf leuch» 
ten bes Orion über ben Giebeln ber Stabt, über bem üefuo 
bas fchtoörgliche Glimmen ber ewigen HJolfe — unb Sefi, 
Xanj, Grlöfung unb bie Jlocca felbft flohen aus feinem Be» 
umfitfein, für immer oerfprengt unb oerloren in ber fref» 
fenben £eere bes oom Geifle 3ergrämten. Dafür 30 g nicht 
ein in fein leeres Gefühl. Ginfamfeit blieb, ber Schnterj bes 
Schaffenben unb fein Gebtlbe ber Hielt berührte ihn. Pelle« 
grino «Ratajji fpottete bann ber Schönheit, bie er fah. „XBas 
foll mir bas. Dacht über Deapet, bie mir ben Scf>muh »nei« 
ner Jreube enthüllt, aber mich, gerfiörte fie bie fühlenben 
Stunben bes Xefles, oerßößt, ohne mich oor ihrem Altar ju 
Boben ju jwingen." Gr wußte: in biefer Hielt gab es fein 
6 lücf für ihn; unb was er oon ber anberen Hielt hielt — 
nun ja, er fpottete nicht öffentlich barüber, bie Eücfen ber 
großartigen Dichtungen mußte man mit bem Damen Got« 
tes oerßopfen. Gr bacf>te oft: „TDarum bin ich tn Deapel 
geboren; wäre ich ein Deutscher unb müßte Dichter fein — 
es gäbe noch eine Sehnfucht für mich: Deapel. DJie aber: 


356 


ln Tteapel ©W>ter fein?" ltnb, mit ber großen Geße feiner 
©ramen: >,3cb werbe ßerben. D Jteapel, bu wrrß mich 
ßerben fefjen." Xlnb, nacf)öem er Stunben am jrjafen oer* 
»eilt fyattt, ohne baß es ihm nur einmal gelang, bas 6lütf 
ber Schönheit gu empfinben, raße er plöfjlicb auf: ,,3cf) 
will es! ©as örfjtcffal! ©as, was größer iß als id>! 3<b 
will enblirf) fo tief unter tauchen, baß ich mich oergeffe; nur 
gang befeffen bin oon einem Großen, Gewaltigen, bas in 
micf) tritt unb bem icf> nicht begegnen will mit blaffer 3ro* 
nie unb mit bem f>öf(i<f>ert Äopfnirfen bes BJiffenben. 
3rgenbwo, gebest, blutenb, franf: aber nur einmal auf« 
geben in einem Schieffal! Xlnb bann: Sterben!" Auffprtn* 
genb aus ber morbenben Schönheit ber Ttaeht, ßürgte er 
in bas rote 5euer gtttbenber Sampions, mitten in ben Gaf» 
fen bes $afens; atmete TTlußf oon Bläfem, genoß ben ge* 
bebnten Sing*Sang einer gefehminften Perfon unb fog, 
in ben gerfepten jJolßem am Iifcbe ber Äafehemme, ben 
Geruch brüllenber JTlatrofen unb bas brünßige Gelächter 
betrunfener ©irnen ein. Sab unb fab, immer fiebernb, 
mit Jlaubtieraugen, flcf> in bas Tteue einfraltenb, hungrig, 
wabnfinnig oor Sebnfuefjt: gu fipen, betört gu fein unb 
blöbe gu flauen. Bis er, ein wenig ruhiger, plö£lt<b 
wußte: 3ebt genieße ich; — aber in biefem XDtffen fdfjon 
blaß erfcbraf, baß ein bonrfeharfes Berßeben auch biefe 
Stunbe bes Bergeffens bewachte. 

Als £ärm neben ihm ertönte, würbe er ßill. 6r lachte 
oergnttgt, in reger Erwartung auf ben Ausgang bes Xu» 
multes wartenb. Aus einem Berßecf war ein bärtiger 
Jifcher auf ben jungen JTlatrofen, ber neben ihm faß, ge* 
fprungen unb riß ihm bas brünette, loefere BJeib aus ben 
Armen, ©er Gonbelier, aus beffen offenem Jjjembe mp* 
ßifcheXätowlerungen frauenhaft leuchteten, riß bas Trieffer 
aus ben Stiefelßbäften unb toarf ßcb über ben Angreifer; 
es gelang ihm, bas BJeib, bas grell lacbenb feine Sreube an 
bem Kampfe geigte, an ficb gu reißen; er fcbwang, wäbrenb 
er mit tiefem Griff ben iinfen Arm um Öte Geliebte fcbtang, 

bas JTteffer wilb über ber Bruß bes Bärtigen,-unb 

fanf, oon einem Scbl°9 in bas Genicf getroffen, lautlos 


357 


gufammen. Oer Sifcfjer geigte böfmifch grinfenö Öen blute« 
gen OoIch, Öen er in Öen Säußen oerborgen hielt* Blut 
fpri£tc auf/ überf<f)wemmte Öie oerfcfjmu^ten Xifcf>tilcf>er 
unö Öas Beinfleiö Öer Brünetten, Öie fcfjon, blaß, aber be* 
raufest unö eitel, öte JHusfeln öes Siegers quetfchte. Oie 
Gäße, faum berührt oon öem Ereignis, fcf)toasten nun 
ettoas leifer unö oerließen (angfam Öas £ofal. Oer XBirt 
ftfjleppte mit Öem Bärtigen Öen Getroffenen ins Sreie unö 
warf ifjn in Öie Jl<xd)t. ßöfcfjte öann Öas £icf>t öer Ampeln 
unö wollte öie Xür oerfcfjließen. Oa er fl erwachte pellegrino 
aus feinem Xaumcl, fcfjrie auf in wa^nfinniger Angß unö 
wäre in irr finniger IBut gegen Scf)ränfe unö Stühle ge« 
taumelt, ()ätte öer XBirt ihn nicht gepacft unö gur Xür ge« 
f(hoben. „Qi), öas Schwein hot Blut am ürrnel", maulte 
er; unö: „Jlun los; unö fauber gewaf«hen!"'llnÖ öer ©ich» 
ter Jlataggi trat in öie leere Gaffe, wanfte gurücf, fließ 
gegen öie oerriegelte Xür, fprang wieöer in öie ungewiffe 
Slnßernis öer Straße, unö ßotperte über Öen .Körper öes 
BerblufenÖen. Er ßarrte; fanf neben ihm nieöer. Sanö fich 
in fchwerer ©unfelbeit neben einem SterbenÖen, öer fein 
£eben öem flugenblicf oerf<henft hotte, fü$ öas Jlicf)t3 einer 
Stunöe, für öie 6(ut eines «Kaufcbes opferte. „XBas bin i(h 
neben öir", flüßerte er, hoßig, ohne Klang. „Oas £eben: 
was iß es nun. Schief fal erlebte ich* Aber: boß öu es ge» 
ßbaffen; unö mußt alfo ßerben öafür? Oöer: hot es öith 
gepacft, überrafcht, eröroffelt; befiegt? — Jlein, ich ertrage 
öas nicht. 3<h will helfen; helfen! 3<b will es überwältigen, 
will größer fein. Oir, öir guliebe, aus £iebe, ja! Ein 
JTienfth blutet. XBer hilft ihm?! IBer hilft mir! DJpr hilft 
mir!!'* 

„Schreien Sic nicht fo. £ier! Angefaßt/' Pellegrino er« 
fror, als öie Geßalt eines JTtannes, öer bei Öem 3üng« 
ling hocfte, ihn erfchrecfte. Oen Kopf öes Blaffen hielt jener 
in Öen Jrjänöen, taßete feine Bruß ab, faß war es, als lieb» 
foße er fein fraufes Jpaar. StanÖ p(ö£(i<b auf: ,Nehmen 
Sie ihn alfo. Bei öen Süßen! So!" Xlnö Pellegrino, wit* 
lenlos unö feinem Befehl gehorfam, trug öie £aß öes Bur» 
fchen einige Schritte in öie ©unfetheit, tappte nun bölgeme 


Stufen empor, berührte bie BJanb eines Jpaufes, folgte 
bem Boranfcgreitenben burcg eine fnarrenbe Xür; unb nun 
immer furge, gerriffene Treppen aufwärts, göger unb 
göger. Qegt, unter bem Dacg wogt, ben Äörper abgeflellt; 
ber anbere entgünbet ein deines Siegt, öffnet ben «Kaum; 
fie tragen noeg einmal. Dann finb fie angelangt. 

3m Äergenliegt, bas ber feltfame JTlenfeg in ber niebri» 
gen Daegfammer angünbet, ernennt Pellegrino mit Scgref* 
fen ben bärtigen 5ifcger. Cr will auffcgreten, prefit aber 
bie Jjjanbfläcgen gegen bie Sippen, fügft babei bas füfje 
Blut bes Berwunbeten; fucfjt nacf> feiner IBaffe, aber fügrt 
fie niegt bei ficg. Stegt unfcglüffig im «Raum. — Der Siftger 
framt beim Sicgtfegecn nacf) IBatte unb Scharpie. HJirft, 
wägrcnb er bie XDunbe bes Burfegen freilegt unb aus» 
wäfcgt, bagrot fegen: „fragen Sie niegt! fragen Sie niegt, 
mein Jperr!" Xlnb flögnt plöglicg laut, tiergaft, fegmerg» 
ooll auf; roeegfelt immer oon neuem bie blutgetränkten 
Segen mit frifeger Seinroanb unb rebet bagu, gang meid) 
unb unterwürfig: „3<g bin feglecgL Aber: id) bin niegt 
fcglecgt, mein Sperr. Sie müffen bas oerflegen. Einer mufi 
bas oerflegen. BJer finb Sie? Ogne 3weife(, was wir einen 
Gebilbeten nennen, Alfo werben Sie bas fennen." llrtb, 
auf ign gufpringenb: „Sagen Sie, Jperr, teg befegwöre Sie! 
Sagen Sie, ifl baslöagnfinn? — Der bort gat feinen Ber» 
banb. Cr fcgläft fegt rugig. IBir fönnen ein wenig gegen, 
kommen Sie, gum Baifon, bort!" — Cr nimmt bas Siegt 
unb gegt, Pellegrino an ber J?anb mitgerrenb, öffnet bie 
Xür gum Baifon, ber niebrig unb abfegüffig in bie JTacgt 
ginausfpringt, mit weitem Ausblicf in ben aufgegenben 
Blorgen; in ber Xiefe, fenfreegt barunter, ber breite .Kanal 
ber Stabt. — 

„TBagnftnn, mein Sperr, bas ifl es. XBagnfinn, ja. Aber 
nidgt ber Ütagnfinn ber Siebe. Bein, icg liebte biefe Perfon 
niegt. 3<g bin oergeiratet, ja, icg gäbe Äinber; og, gübfege 
.Kinber, unb icg bin rugig, wenn icg fie fege; fo feltfam 
rugig, gebänbigt möcgte icg fagen. Jletn, icg gaffe ben JIten« 
fegen, bas ifl es. 3cg gaffe alles: bas Seben, aueg mein 
Seben, ja, aueg .meines; unb bas IBeib, aueg mein XBeib; 


359 


obgleich fte gut ifl unb jung. Aber ich f)offe fit auch fie; 
alles; bie JTleffen in ber Äirche, ben Taumel bet Stabt unb 
bie Jlulje ber Bürger. Bor allem aber bie glücklichen JTlen« 
fcfjen baffe icf). Das Glücf, bas icf) oor mir faf), bas u>ar 
es; ben 3ungen hätte ich morben fönnen. — Sie iß nicht 
fcf)limm, bie BJunbe; er blutete etwas, aber er wirb leben. 
Sehen Sie: jefct, je£t, in feiner Obnmacbt, ba liebe icf) ibn. 
BJirb er leben — leb werbe ibn oon mir geben laffen unb 
werbe febweigen. Aber: Dann febon, in biefem Augenblick 
f<bon baffe l«b ibn." 6f febwieg. Der röcbelnbe Atem bes 
Äranfen warb bbrbar. Dabunb erbiet, begann ber JItann 
wieber bafiiger gu reben: „3<b bin nicht ungebilbet, mein 
Jrjerr; ich bin gewohnt, neue Bücher gut gu lefen unb habe 
mehr nachgebacbt, als — als — bie Glürflichen bort oben. 
Übrigens, feit gehn 3abren, lefe ich nicht mehr; nein, mein 
Urteil ifl fertig. Die BJelt ifl für mich lein Jlätfel mehr, 
llnb gu bem Geheimnis, bas ich erlannt habe, fam noch 
feiner! 3n allen Büchern fanb ich es noch nicht. Das ifl 
es: ber Spaßl Den habe ich mir gerettet, ich allein. 3<h gang 
allein! Das habe icf) allein erbaut, oerfleben Sie bas, mein 
Jrjerr; unb banach lebe ich!" Dann, (angfam, mit weiche« 
rer Stimme: „Jlur bie baffe leb nicht, bie Äinber, nein, 
biefe nicht. 3ch liebe fie unfagbar, unb febe ich fie, fo habe 
ich JTIitleib mit ihnen, ja; Sie müffen es mir glauben! 3ch 
habe JTIitleib, bafi fie OHenfcben werben müffen." €r ging 
etwas auf unb ab, blieb flehen unb beutete auf ben Bur« 
fchen: „Sehen Sie, als ber in feinem Blut gufammenfanf, 
blaß, fraftlos, regungslos unb ohne Bewußtfein, — ba 
fab ich bas Äinb Tn ihm; unb liebte ihn. Ob, ich n>i(( ihn 
pflegen, ja; bann aber foll er mir nicht mehr begegnen!" 
Dabei fanf er neben bem Äranfen nieber, rücfte bie Aiffen 
über feinem &opfe gurecht, nahm bie Tücher oon ber 
BJunbe unb wenbete fich um, neues Berbanbgeug gu 
boten. Dabei fab man, als -Rergenlicbt bas Gefleht erhellte, 
er batte Tränen in ben Augen. — 

Die naffen Sappen preßte er auf bie BJunbe, legte bie 
Tücher barüber, wollte nun leife auffleben. Da entfiel ihm 
ein fauberer Seinenlappen, ben er in ber $anb hielt: u 3d) 

360 


bin ungefchtcft", fagte er gutmütig, unb holte ble «Äerge. 
„Hun, nun, ich werbe es finben." Sab oor fi<h bin, taßete 
ben Äörper ab, ßreifte über bte J^olgbiete, (eucbtete bem 

Jüngling ins Gefidrjt-unb läßt bie Äerje fallen, f(breit 

auf, fpringt gurücf, ßürgt wilbrafenb bur<b bas 3immer; 
finft plöbticb «n furchtbarem Kleinen gufatntnen. — pelle» 
grino, über ihn gebeugt, hörte aus gerhacften, erßicften 
Kehllauten, heraus: „Er — tfl — tot! Er — iß — tot!!" 
©er ©icbter günbete bas Eicht toieber an unb flarrte in bie 
wäcbferne Bläffe bes Jünglings. Unb fcblucbgt auf: „Alfo 
febe ich bas Schief fal! Sehe es. Unb frage, frage wieber 
... Aber: fann ich noch fragen? Erßarre ich nicht? .Keine 
Träne höbe ich? — 3cf) bin fcblecbtü 3cf> werbe fierben — 
benn: 3eh höbe feinen Sehmerg unb feine Träne." 

Heben ihm fagte eine eifige Stimme: „Kür werben ihn 
begraben." ©er Jifcber, febr ruhig — im flacfernben Eichte 
fehlen es, als lächle er — nahm ben Eeichnam, unb Pelle» 
grino half ihm babei. „UJobin", fragte er. — „3n bas 
Grab", fpricht ber Bärtige, gang ßill unb ehrfurchtsooll. 
Geht auf ben Baifon gu, öffnet ihn, tritt hinaus: „Sehen 
Sie, bas i(i Heapel; bie Sterne, ber Defuo unb bas Jlteer. 
©as iß bie Ewigfeit. Sühlen Sie nicht, baß ich nicht 
baffe, in biefem Augettblicf. 3<h würbe ihn nicht h‘ er be» 
graben fonß. Äinber unb Tote — liebe ich* .Kommen Sie; 
Sie müffen gang heraustreten, fo; noch mehr! Unb nun — 
geben Sie acht — h e ben Sie an; es iß gut fo. JTun, los* 
gelaffen!" Sie hatten ben Körper fchwebenb über bem nie» 
brigen Gitter gehalten. Jegt, ber Eeichnam finft mit bump* 
fern Eaut in bas KJaffer bes Kanals. — 

©er TRann, an bie JTtauerwanb gelehnt, begann fofort, 
febr innig unb ruhig: „3cb höbe 3hnen nicht alles gefagt. 
3ch h°br 3hnen gefagt, baß auch i<h Hlitleib hoben fann. 
©as hoben Sie gefehen, nicht wahr? Sie hoben es ge* 
feben! Sie werben fortgeben oon hier unb glauben: ber 
4?aß regiert nicht! So werben Sie benfen; ja, gewiß, bas 
müffen Sie. Aber ich höbe 3fmen nicht alles gefagt. Je^t 
hören Sie: 3ch fönnte es 3(>nen fagen, wie es wahr iß. 
©aß ich ber Sohn bes Grafen ponti bin, bes berühmten 

361 



Ponti, ber für fein IJaterlanb peben S<hlocf)fen fiegte. Aber 
bann fam ber Pöbel, oerbrannfe feine Güter unb jerrifi 
feinen £eib. llnb roir Ätnber, icf), mit breijefjn 3af>ren, 
fanben in bem Sorge bes großen Uaters ein jerfKicfeltes 
Gerippe. Seitbem, bos mürben Sie begreifen, fjaffe icf) bie 
JTlenfchen. Aber: bies ifl es nicht allein. Glauben Sie nicht, 
baß bies nur eine JTCöglicf)Pett mar, bas faßliche ju 
fefjen? 3cf) mar begnabet, in früherer Äinbf>eit bas Böfe 
ju erfahren. DJas icf) erlebte, mar nicf)t bie Gefcfjicfjte bes 
Grafen Ponti. Bürger unb Jtarren erleben nichts afs Ge» 
fcf>icf>te, menn fie in bas £e£te bücfen. Das Sieben, ben Sinn 
erlebte icf). Selben Sie: feitbem höbe icf) gefaßt, als Änabe 
"fcf)on. llnb aucf) micf) fjaffe icf) feitbem; aber icf) lebe, icf) 
ertrage es, ju leben, benn icf), icf) allein meiß, mofür icf) 
lebe. — 3cf) allein meiß, mofür man lebt. — llnb nun, 
jum Schluß, aucf) bas jage icf) 3f)nen, benn Sie merben 
es nicf)t meiter erjäf>len", (unb er lächelte plö^licf)): „Gin 
3al)r barauf, an einem heißen Sommertag entberfte icf>: 
icf) liebe; Einen f)übfcf>en Änaben; icf) füllte, mie icf) blaß 
mürbe, menn icf) if>n fal>. XÖir fuhren jufdmmen hinaus; 
aufs JTieer. 3cf) faf) if)n nur an; er ruberte. llnb bann jfam 
biefer Tag: Diefer Änabe, ben ich liebte, lag franf in einem 
armfeligen Bett. Damals mar ich noch reich; ein !e$tes 
Gut meines Uaters, im Teffin, blieb uns unb gehört noch 
heute ben Pontis. 3cf) ging täglich ihn befuchen; pflegte 
ihn, rief örjte herbei, forgfe für ihn. Als er gefunb mar, 
gingen mir jmei burcf) bie Straßen. 3cf) fannte ein Sjaua, 
mo mir allein fein lonnten, eine Stube unter bem Dach» 
firff, nahe bem JTieer — ber Dime einer Scf>enfe gab ich 
ein Xrinfgelb, unb ich erhielt ben Scfjtüffel. Dort jog ich ben 
jungen aus; er mar nur Banfbarfeit unb tat, mas ich 
mollte. 3<h befahl: „Geh hinaus, ich mill bicf) im JRonbticf)t 
fehen." llnb er, er trat auf ben Baifon, benn ich höbe if)nt 
bas £eben gerettet, llnb Öort, als er nacft unb gefunb in 
bie Jlacht ragte, ba: pacfte ich ihn, marf ihn über bas 
Gitter, in bie Tiefe. — llnb biefes nur, nur beshatb, meil 
ich JTlitleib bemiefen hotte unb nicht bie Äraft befaß, auch 
ihn, auch ben Änaben ju hoffen. — Sie mollen nun mif» 

363 


fett/' fuf>r er fef>r rufjig fort, „was aus mir würbe? 01), 
man oerjagte mirf) natürlich); es fam auf. Aber 16) war 
gu jung, man fonnte mi<f> nuf>t /trafen. Sefcen Sie — 
Das anbere ifl belanglos, nur biefes i/i mistig — feitbem 
fjabe \6) mid& oon bem 3immer nie getrennt; es ifl bie» 
fes 3immer unb bies ifl ber Baifon. Unb nun wiffen Sie 
es; es tut mir nichts, bafi Sie mirf) angeigen fönnen. Das 
berührt mief> nirf)L Sie biirfen es tun, irf) f>inbere Sie nirf>t 
baran. 36) will, bafi Sie es wiffen: irf) fcinbere Sie nirfjt 
baran. — Aber'' — unb plö^Ucf) frf)Tie er unb flemmt 
fit!) breit oor bie Tür. „Aber: baß au<f> Sie, au6) Sie mirf) 
im JTlitCeiÖ gefef>en f>aben: bafttr werben Sie flerben/' Xlnb 
in bemfetben Augenblirf flürgt er ben Jlürfen bes Dichters 
über bie Brüfhtng, frfjlägt mit ber frfjroeren .Kraft ber 
häufle auf fein Jjjaupt; ber Jlumpf gleitet nun ofjne IBiber» 
flanb über bas Gitter, frfjwebt furg in ber £uft unb finft 
in bie Tiefe. — 

So flarb pellegrlno «Kataggi, ber junge, preisgefrönte 
Dlrfjter, ber burcf) bie 0Tärf)te JTeapels Irrte, fein Srfj'uffal 
gu furfjen. — 


363 



Ute öeutfifjc HoUellc Occ (Segentooct 

Cin JTacf) ra o r t pon Jrjanns Jllartin Elßer 


• Tify der 3ufall führte öle Dichter und die Jlooellen 
Vbiefes Banbeo gufammen. Sondern bewußter plan 
und flarer XDiHe. Geboten werben follte die beutfefje 3lo* 
peile der Gegenwart mit dem gongen Berantwartunga« 
gefüllt für den Anfprucfj, der in der Maren Übergriff liegt, 
aus dem Erlebnis und lötffen heraus, daß man jept wie« 
der oon einer deutfdjen Jlooelle im großen Sinne fprecfjen 
fann. 

Oie Ausßrafßungen jener 3eit, da des £efers Sehnfucf>t 
nach Eroberung didfjterifcfjer und geifliger Bereicherung an 
der Jlooelle oorüberging, find noch nicht oerblafit. 3ntmer 
lebt in toeiten greifen noch die Abneigung gegen die Auf« 
nähme diefer fnappen Profafunßwerfe. 3mmer regt fieh 
noch das Borurteil gegen die Jlooelle als einer innerlich 
und äußerlich unbefriedigenden epifchen Gattung. Oie 
deutfehe Jlooelle der Gegemoart wird diefe Abneigung 
überwinden, toeil fie nichts mehr gu tun huf mit jener 
fonoentionellen, unter heutigen Oichtern unmöglichen Art, 
in der ein fl ein Paul S e Pfe feine Xriumphe feierte. 

Damals ging die Jlooelle oon einem äußerlichen Sor* 
menbegriff aus. Sie hotte ihn der altitalienifchen, der alt« 
frangöfifchen Epif entnommen, ohne deren geißige, feelifche 
Haltung, ohne deren HJefensgehalt, innere £ebendigfeit, 
Blutfülle beachten, gcfchweige denn anflreben gu Minnen. 
Ilm einmaliges unerhörtes Ereignis gruppierte fidf» der 
Tauber gearbeitete, glatt ergählte Stoff, um jenen ^epfe« 
fchen „Sollen", der gwei Generationen hindurch als Aenn» 
geichen der Jlooelle angefehen wurde. Jüan hielt fi<h mit 
diefer Forderung nach „einer fich ereigneten, unerhörten 
Begebenheit 1 ' an Boccaccio, Goethe, Aleiß, man oerfnüpfte 


3 6 4 



bamif Spielhagena Jorberung, baß bie Jlooelle es nur 
mit fertigen C^orofteren unb einem ÄonfliPt jur Offen« 
barung biefer C^arnPtere ju tun bube. JTian wollte auf 
biefem DJege jum objePtioen Erjä^ler, ben man für ben 
Plafftfchen hielt, werben unb warb bamit jum blutleeren. 
Oenn biefe gefdßoffene Jlooelle alter Art würbe nur Oicf)* 
tung, wenn bie PerfönlicfjPeit bes Oicf>ters unb bas er« 
lebte £eben fo ßarP in fie einßrömte, baß fie ifjre Beßim* 
mung von hier aus unb nicht oon ihrer äußeren Sorm 
her erhielt. Oie 6 oethefcfje, «fileißfcfje, DJithelm Jlaabefche, 
ßottfrieb Äellerfche Jlooelle ifi — wohl eingefpannt in 
bie übernommene Sorm — groß allein burch bie Perfön» 
lichPeit ihrer Berfaffer unb beren natürlicher Einheit mit 
ber Sorm. DJenn bie Größe ber PerfönlichPeit, bie .Kraft 
bes Erlebens oerfagte, warb biefe Jlooelle ju einer leeren 
Sorm, wie in oielen DJerPen paul Jrjepfes unb feiner 3 eit» 
genoffen. 

Als bie Entwicflung bes 19 . Qahrhunberts bann bie 
Jlichtung jur materiellen ObjePtioität im wiffenfchaftlieh 
analpfierenben Jlaturalismus, in ber fejierenben Analpfe 
bes Jmpreffionismus oerßärPte, löße firf) bie, Jlooelle wie 
felbßoerßänblich auf. Oie gefamte Epoche bes Jlaturalis» 
mus oon Arno Jjjolg bis Qohannes Schlaf, oon Gerhart 
jpauptmann bis Subermann Pennt bie Jlooelle nicht: fie 
hatte fich in bie 3 ußanbsfchilberung oerloren. DJofß pflegte 
bie Xrabition ber Plaffißhen unb realißifchen 3eit noch bie 
.Kunßform, bie aber nur bichterifche Bebeutung wie in 
IDilbenbruchs «Kinbernooellen burch XlrfprünglichPeit bes 
Erlebens begann. 

Erß als um bie 3ah r hunbertwenbe bie JTlacht bes JTla« 
terialismus in Äunß unb DJiffenfchaft ju jerbröcfeln be» 
gann, als ber Geiß in feiner SelbßänbigPeit unb bluthaften 
XlrfprünglichPeit wieber fein Jrjiaupt erhob, begann bte 
Jiooelle oon neuem aufjubauen. freilich, juerß noch recht 
jage: burch Anfdßuß an bie alte ober jüngere Irabition, 
an bie altitalienifche, altprooenjalifche Jiooelle bes JTlittel» 
alters mit P a u l E r n ß, an bie realißifche Gottfrieb Äeller» 
JlooeUe mit Jlicar ba jpuch fowie fpäterhin noch an bie 

365 




lebensfefle, finnerfüllte flnefbote beutfcher Dolfsepif im 
JTlttfelalter mit IDilhelmSchaefer. 

Spier begann bie beutfche Jlooelle ber Gegenmart. IDenn 
fie auch guerfl in ben in ben neugiger 3af>ren her* 
oorgetretenen JTooellen ber 1864 geborenen Jlicarba 
4? u cf) ficf) formal noch an bie Schüfe Gottfrieb Leders, in 
(bes 1866 geborenen) p a u 16 r n fl feit 1900 erfcfjelnenben 
Gefehlten nocf) an bie altitalientfchen, altprooengalifchen 
Dorbilber unb in bes 1868 geborenen «Rheinlänbers DJII* 
f)eIm Scfjaefers 1908 herausgebrachte Dnefboten an 
bie alfbeutfche Gpif anfcf)loß, fo gefdjaf) biefe Jtachfotge bocf) 
ni<f)t mehr au 9 äußerlichem jormaltsmus unb mit bem 3 ief 
abfoluter, miffenfcf>aftltch>rationalifiif(her Objeltioctät, fon* 
bem in erfühlter Spntf>efe ber Subjeftioität bes einzelnen 
Dichters mit ber hißorifchen Sorm. Die brei Dichter über» 
nahmen bie alte 5orm, fomeit fie ihnm biente, ihr 3nneres 
ausgufprecf>en. Jlicarba Jrjueh toirfte ihre gange feelifche 
Jlomantif in bas Äelterfehe Getoanb, Paul Grnfl feine 
fcharfe ßeifiigfeit in ben Brotat ber Jrührenarffance unb 
DJilhelm Scfjaefer feine Befeelung unb feinen 4r)umor ln 
bie Dolf 9 tum 9 form. Diefe brei Dichter befreiten bie Jto» 
pelle oon ber jorberung ber Objeltioität bei oorerfl noch 
gemährter objeftioer Saffung. IDenn mir beute JUcarba 
S}u<f)8, Paul Gmfls, DJilhelm Schaefers in biefemBanbe 
gebrachte Jlooellen lefen, erleben mir fie nicht mehr als 
Beifpiel eines Jlooellenflils, fonbern als flusbrucf be* 
flimmter geifltger ptrfönlichfeiten, bie in einem «Kultur» 
freis leben unb gmar blutooll, geiflig leben. Sie hoben 
infolgebeffen im meiteren Derlaufe ihres Schaffens bie 
allgemeine Generationentmicflung gur Sehnfucht hi» 
aucf) mitgemacht: bas JTlotio „bes Sängers" mte bas bes 
„?ami(ienbi(bes oon Gopa" mie fchließtich bas ber „ltra» 
nia" ifl bas JTlotio ber Sehnfucht gum Geifie, gum Unenb*. 
liehen, gur Freiheit, gur Seele, gu Gott. f 

Der Durchbruch im umfaffenben JTTaße erfolgte bann| 
burch bas DJerf einer Dichtergeneration, oon ber mir hier, 
3atob DJaffermann (geb. 1873 ), Hermann 
#effe (geb. 1877 ) unb Äarl «Röttger (geb. 1877 ) 

366 


bringen, fietyt ifl oom AnfrfjtufJ on eine ältere $orm ober 
oon beten Erneuerung feine «Rebe mehr, fonbern bie 3lo» 
oelle roöchfl unmittelbar aus bem neuen Erleben unb Be* 
fennen heraus. 2 Bof)l Ratten biefe ©icf)ter ln ^ugenbroerfen 
noch Xrabitionelles gebracht/ tote etroa ipeffe mit 4peimat* 
bUbem in Gottfrieb Kellers Stil, aber unaufhaltsam brach 
bie Soslöfung oom «Realen, materiellen fich Bahn. Das 
Subjeft allein beherrfcht fortan bie Jlooelle. ©er JTlenfch 
{fl im ©ichter erwacht unb offenbart fich felbfl. Jtun aber 
nicht gur impreffioniflifchen Afribie einer pfpchologifchen 
flnalpfe, fonbern auf Grunb feines Verhältniffes gum Etoi* 
gen ; gur 3 bee, auf 6 runb feines IBefens. materiell tfl bas 
Elementare bes JTCenfchen Stoff ber Jtooelle, ibeell aber 
fein Sehnfuchtsjiel in ber Siebe, in ber Güte, in Gott. 
BJaffemtanns „Amulett" enthüllt ben Sieg ber Siebe unb 
in ihm bes JTtenfchen unb bes Sebens Sinn, ipermann 
Reffes Xttbinger JTooelle bringt erfimalig ben Jlamen 
i-jö Iber lins herbei unb bamit bie reine, über bas materiali* 
fiifche ©afein erhabene Geifligfeit unb Äarl «Röttger fchil» 
bert flar bas jept gütige Verhältnis bes ©ichters gur 
IBelt, bas oorerfl oom Bürger, oom JTtenfchen bes Alltags 
nicht oerflanben, nicht erfaßt toirb. 

hiermit ifl bie beutfche JTooelle ber Gegenwart geboren. 
Seit etwa 1910 ifl ihre Entwicklung flarer unb flarer ge* 
toorben. ©er .Krieg, bie JTachfriegsgeit hat biefen BJeg gum 
Abfoluten oerfürgt. ©ie 3nnerlichfeit allein beflimmt je£t 
nicht nur Gehalt, fonbern auch bie Sorm ber JTooelle. ©ie 
3nnerlichfeit fo unmittelbar wie möglich ausjubrücfen ifl 
eingig Aufgabe ber JTooelliflen toie aller ©ichter, wie aller 
Zünftler. An bie Stelle bes flaffigifüfchen Sormalismu®, 
bes realiftifchen 3mpreffionismus, bes analpfierenben Pfp* 
chologismus ifl ber Ejrpreffionismus getreten. Bei ber 
fcharfen Abgrengung unb fieberen Klarheit feines Offen» 
barungswiltens einer burch Generationen unterbrüeften 
unb oerfchwiegenen 3nnenwelt unb beren Bejahungen gu 
ben ewigen 3been ber Güte, ber Siebe, bem Erleben Gottes 
genügte bie Sprache ber oorangegangenen Stilperioben 
nicht mehr: bie Sehnfucht nach unbedingter DJahrbaftigfeit 


367 


im Ausbrusf ber Snnenmett führte borurtt JUT »ölttgert 
Umroöljung unb Erneuerung ber Sprache unb bes Stils. 
3roei Dichter, ber 1878 geborene, ober erß feit 1915 on bie. 
breitere Öffentlichkeit gelongenbe Alfreb O ö b l in unb 
ber 1890 geborene, mit feinem erßen Buch „Oie fecfja 
JTCünbungen'' ebenfalls 1915 heroortretenbe Äofimir 
Ebfchmib mürben hier Süfjrer unb Borbilö für bie 
Sprache ber Efßafe. Sie tourben es ober nicht nur tm 
formalen, äußerlichen Sprorfjfinne: fie fonnten bie er» 
neuerte Sprocke nur geben, toeil fie auch innerlich erneuert 
mären; ihre Sprache unb ber Gehalt ihrer Epif maren eine 
natürliche Einheit, mie grabe bie hier gebrachten JTooellen 
„Slucht aus bem S} immel" unb „Oie «Reife ju fich felbß" 
mit feltener Sülle unb Schönheit betoetfen. 

Ubermunben mar mit biefer entfehiebenen Jpelmfehr jum 
Geifle unb ju Gott, mit biefem Erleben bes Emigen unb 
llnenbßchen alle 3 ioi(ifationsbehabenj, alle Seffelung an 
bas JTiaterielle ober nur Sinnliche nach ber Art ber $er» 
jogin »on Affp*«Romane Heinrich JTtanns, Ubermunben 
mar bie £rife bes 3nbioibualismus im Gegenfap ber Bür« 
ger unb Äünßler nach Art Thomas JTianns, übermunben 
bie JTlitleibtheorie Gerhart Jpauptmanns gegenüber ber re* 
alen unb fojiafen Umroelt. Thema marb jept ber JTienfcf) 
an fich in feiner abfoluten JTatur, mie etma «Robert 
JTCufil (geb. 1880 ) ihn grabe in feinen Urfräften offen» 
hart, mie auch Stefan 3 meig (geb. 1881 ) ihn in ber 
tiefen Berbunbenheit bes Jluffen mit feiner jrjeimat ent» 
beeft ober mie 30 fef Ponten (geb. 1883 ) ihn mit faß 
graufamer unb bo<h großartiger Selbßoerßänblichfeit in 
ben Äinbem erfchaut. Oiefe abfolute JTatur erfährt aus 
ihrer Sehnfucht jum Emigen heraus, im geißig fehenben 
JTienfchen immer bie große Ermecfung, bie große Xlmfehr 
3 um Abfoluten, jum Gbeale, ju Gott. Oie Oichter merben 
nicht mübe, balb in ber HJelt ber «Realität, batb im farbigen 
Jleiche ber Phantafie, balb burch bie Größe ber Schlichtheit, 
balb burch ben Jlaufch ber Efßafe biefe ltmhehr ju geßal* 
ten: Ernß XBeiß (geb. 1884 ) mie Älabunb (geb. 
1891 ) in ihren orientaüfehen unb oßafiatif<hen Äaifer» 

368 


träumen, Dsfar Soerte (geb. 1884) unb Albre<f>t 
Schaeffer (geb. 1885) *** & er HJelt ber Armut unb bes 
Alltags, Bruno 5 r a n f (geb. 1887) un ^ «HIaj ÄreII 
(geb. 1887) in ber XOelt bes Grauens unb ber Senfation, 
Arnolb ltlit} (geb. 1888) unb Alfreb 10olfen* 
fl ein (geb. 1888) (mt «Reitze ber Äinbheit, ber Gnttoicf« 
lung unb Otto 3ar e f (geb. 1898) in einer &iflorifd)en 
Jlenaiffanceroelt, in ber bas ^iflorifcfje aber n«ht mef)r 
profefforal»floffiich gegeben, fonbem Sebenselement ifl. 
llnb wie audj immer bie Dichter im «Kerne ju bemfelben 
Sebensfeim unb ©afeinsfem oorflofien, niemals finb fie 
fi<h gleich: Brüber finb fie nur barin, bafi fie Oief>ter allein 
ju fein oermögen aus IBahrhaftigfeit oor ihrem Geroiffen, 
aus Eingabe an if>r Blut unb Urmenerleben, aus Berttnt* 
wortungsgefttbl gegen Gott, aus Jrjerjensgüte unb 6ef>n« 
fuef)t nach Siebe. Trägheit bes ^erjens wohnt nicht in 
if>nen. Sie finb beraufcht oon ber IBeite, Größe, UJilbfjeit 
unb Schönheit bes Seberts unb fie anerfennen bies Seben 
um bes JTtenfcben toiUen, fie anerfennen ben JTtenfchen 
um feiner Sefjnfurf)t ju Gott willen. 

So ifl bie beutfdfje JTooelle ber Gegenwart fjeute toie* 
ber eine Offenbarung 00m BJefen bes beutf<f>en JTtenfchen 
unfern Seit wie aud), ba fie nur bas Abfoiute gelten läßt, 
bes beutfefjen JTtenfchen überhaupt. Sie hat ben I 0 eg jum 
llnoergängtirfjen gefunben, lebt nur im llnoergänglichen 
unb toirb barunt, wie alle große unb wahre «Kunfl, in 
ihren reifflen Stütfen unoergänglich fein. 


369 




Seite 


DUtttrba£u<B (gtB. 18. 7. 1864): ©tr ©ängtr .... 5 

$aul<Ernft (gtB. 7. 3. 1866): (Sin gamilunbtlb ton ©op« . 37 

98Bil$tIm ©<Batftr (gtB. 20. 1. 1868): Urania . . . 59 

3aloB3Bafftrmann (gtB. 10. 3. 1873): ©a« Imulett 69 
£trmann Jp t f f t (gtB. 2. 7. 1877); 3 W ^rtffelfiBttt 

©arltnBau«.100 

Karl Dtöttger (gtB. 23. 12. 1877); ©tr ©i<Bttr unB Bit 

SEBelt.131 

3U f r t b © 8 BI i n (gtB. 10. 8. 1878): (Die glu<Bt au« btm 

.147 

DtoBtrt ÜHufil (gtB. 8. 11. 1880): Sötrenifa« 3fBf4«tb 153 
@t(fan3tt>ttg (gtB. 28. 11. 1881): (Epifobt vom ©tnftr 

@«.167 

3oftf $onfttt (gtB. 3. 6. 1883): ©a« J&au« bt« Ärjtt« 176 
<E e n fl 5B t i g (geb. 23. 2. 1884): ©anul nnb btr tfaiftr 193 
Oblar Sotrlt (gtB. 13, 3. 1884): 3(uguft ©titblärjltr 

unb ftiut SHutttr.207 


3UBrt<Bt ©<Batfftr (gtB. 6. 12. 1885): ©B«M« • 223 
SSruno 5*«»! (gtB. 13.6. 1887): ®tr ©albtnt . . . 236 
9)1 ar ÄrtII (gtB. 24. 9. 1887): ®it ©iBbUt »aurain . . 274 
Xrnolb UUff (gtB. 11. 4. 1888): ©tr ÄnaBt ölo . . . 299 
3f If rtb SEBolf tnfltin (gtB. 28. 12. 1888): ©it 9Jlutttr 308 
jUftmir ® b f <B nt t b (gtB. 5. 10. 1890): ®tt Steife ju 

fi<B ftlbfi.319 

ÄlaBunb (gtB. 4. 11. 1891): ©tr Itglt Äaiftr .... 342 

Otto Sattl (gtB. 20.2.1898): ©a« ©<B«Ifal bt« ?)t«t- 

grino SXatajji.356 

J&a»»«®Urtt»eifUr (gtB. 11.6. 1888): ©itbtulfat 

Olcwttt bt* ©tgtnwart. öta$»#rt.364 


379 










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Bildung und Wissen 

Deri, Max, Das Bildwerk. Eine Anleitung zum Erleben von 
Werken der Baukunst, Bildhauerei und Malerei. Mit 
vielen Abbildungen. (20) 

Wagner, Richard, Briefe und Tagebuchblätter an Mathilde 
Wesendonk, Herausgegeben von Geh. Rat Prof. Dr. 
R. Sternfeld. (23) 

Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Herausgegeben 
von Dr. A. Ruest. (24) 

Kügelgen, Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Heraus¬ 
gegeben von Geh. Rat Dr. R. Sternfeld. (25) 
Schopenhauer, Die Grundprobleme der Ethik . Eingeleitet 
und mit Anmerkungen versehen von Dr. Chr. Herr¬ 
mann. (26) 

Ranke, L. o., Historische Charakterbilder . Herausgegeben 
von Geh. Rat Prof. Dr. R. Sternfeld. (27) 

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Land und Leute in China. 32 Bildtafeln. (28) 
Gottstein, Prof. Dr., Modernes Heilwesen. Gesundheitslehre 
und Gesundheitspolitik. (29) 

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ausgabe mit Sachregister. 2 Bände, die nur zusammen 
abgegeben werden. (38/39) 

Leben des Benvenuto Cellini. Von ihm selbst geschrieben. 

Übersetzung von J. W. Goethe. Mit 5 Vollbildern. (40) 
Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Mensch¬ 
heit. Herausgegeben von A. Beil. (45) 

Plaßmann, Prof. Dr. J., Das Himmelsbuch. Versuch einer 
Darstellung der Hauptlehren der Astronomie für weitere 
Kreise. Mit 74 Abbild, und einer Sternenkarte. (48) 
Beyer, Dr. Alfred, Der Sieg des Denkens. Gesunder 
Menschenverstand und Alltagsleben. (51a) 

Beyer, Dr. Alfred, Technik des Denkens. Probleme der 
naiven Vernunft. Mit vielen Abbildungen. (Als Er¬ 
gänzung zu „Der Sieg des Denkens“ Nr. 51a.) (51b) 

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Kirnt, der Denker und Erzieher. Herausgegeben in Ver¬ 
bindung mit der Kant-Gesellschaft von Dr. Ch. Herr¬ 
mann, (53) 

Freiherr vom Stein . Ein Lebensbild. Herausgegeben von 
Dr. H. M. Elster. (61) 

Loti, P., Reise durch Persien . Mit 8 Bildtafeln. (62) 

Deutsche Mystik. Eingeleitet und ausgewählt von Dr. 
L. Schreyer. (71) 

Feuerbach, Anselm, Ein Vermächtnis. Neue Ausgabe mit 
einer Einführung über das Leben und Schaffen des 
Künstlers von M. Fleischhack. Mit 16 Kunstdruck¬ 
bildern. (72) 

Schomburgk, Hans, Wild und Wilde im Herzen Afrikas. 
Mit vielen Abbildungen nach Originalaufnahmen. Mit 
einem Vorwort von Carl Hagenbeck. (73) 

Jacques, Norbert, Im Kaleidoskop der Weltteile. Mit 
17 Bildern und einem Nachwort von Dr. Hanns Martin 
Elster. (82) 

Brehm, A. E., Das Leben der Tiere. I. Band: Die Säuge¬ 
tiere. Neu bearbeitet und mit Anmerkungen versehen 
von Fritz Bley. (85) 

Jugendschriften 

herausgegeben vom Berliner Lehrerverband 

Gfimm, Ausgewählte Märchen. Herausgegeben von A. Sa- 
muleit, mit Bildern von Hans Baluschek. (30) 

Deutsche Sagen. Die Auswahl besorgte E. Jaedicke, die 
Bilder zeichnete E. Feyerabend. (31) 

Andersen, Ausgewählte Märchen. Die Auswahl gab E. Guder 
heraus. Mit Bildern von A. W. Baum. (32) 

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