2)ie beuffc£>e Dröselte
ber ©egetmarf
Sie beu£frf>e 3^01> e IIe
ber ©egentparf
3H i t einem 3 1 ? a tf> rp p r t
\) e r a u ö g e g e E> e n ppn
^ann 0 3IC artin CHjier
S) e u f f d£> e 25uc^«©emeinfc^af£
®. m. b.
Berlin
Wk IDUdjte t>ork&alten
De c Gongee
©on Jli carba $ud)
GC^urcf) bie breiten miberhaüenben Gänge bes Gefäng»
niffes San Calitflo gingen on einem toormen Srüh»
(ingsoormittage ber <£arbina( JTfojjamori unb ber TTCet«
fler ber päp|?lichen .Kapelle, ©on Drajio, ber feinen
Stammbaum auf ben berühmten rörmfcfjen ©icfjter ju»
rücfführte, beibe Günfiltnge bes Papfies Snnogenj be 9
3efjnten. Sie roaren im Begriff, einen jungen 3Tienfcf)en
aufjufurfjen, ber be 9 JKorbe 9 angeHagt unb in Gefahr,
ba 9 £eben ju oerlieren, bem Äarbinal burch feine Geliebte,
bie fcfjöne ©onna Diimpia, empfohlen roorben mar. ©iefe
©ame, bie burcf) -Senat mit einem Ottobuoni aus Hein»
bürgerlichem Stanbe gehoben mar, hatte ben 3ufammen»
hang mit ihrer im Schatten meiterlebenben Santilie nicht
oerloren unb pflegte ihn befonbers, roenn fie ficf) in ihren
neuen Derhältniffen beeinträchtigt unb un 3 ufrieben fühlte.
Als nun eine ihrer Xanten gu ihr gefommen mar unb fie
angefleht hatte, bas bebrohte £eben bes einzigen Sohnes
ju retten, rooju fie oermittels ihres Sreunbes, bes Äar»
Sinais JTlajjamori, mohi imfianbe fei, mar fie nicht nur
oon JTiitleib, fonbern oon 6 hrfurcf)t für bie Srau ergriffen
morben, bie, oon ben Xobesfchmerjen ber UTiutter burch»
bohrt, ein geheiligtes Scf)i<#fal gu erfüllen fchien, roährenb
fie felbfl nie geboren noch bie eheliche Treue bemahrt hatte
unb jeht fogar an ihrem geifflichen Sreunbe bie £uft ju
oerlieren begann. 3hrem herb erteilten Befehl hatte ber
-Karbinal fich nicht entziehen fönnen, obroohi er bie ITCög»
üchfeit, Jrjilfe ju fchaffen, in biefem Salle für ausgefcf)(of*
fen hielt.
69 mar nämlich ber junge £ance(otto — fo ber
©etter Olimpias — burch feinen oerftorbenen ©ater, einen
5
Kaufmann, ber Gläubiger eines flnoerwanbten bes Pap«
fies unb hatte ftcf> tm Aufträge feiner JTlutter, narfjbem
öerfcfjtebene JTlahnungen nicht gefruchtet hotten, felbfl tn
bas j?aus bes Schulbners begeben, um ihn jur Zahlung
aufjuforbern. ©a ber Sperr ftcf> Burjweg weigerte, feiner
Berpfitchtung nachjuBommen, ober fie gar leugnete, ent»
(tanb ein lebhafter IBortroechfel, tn beffen Berlaufe ber
JTepot einige feiner £eute herbeirief unb ihnen befahl, ben
unoerfchämten Oranger ju ergreifen unb ihn burcf> bas
Senfler auf bie Straße ju werfen. So aufs äußerße ge»
reijt, hatte £ance(otto, inbem er fich ber JRänner, bie roh
über ihn herfielen, ju erwehren fuchte, einen berfelben auf
ben Tob oerwunbet. Sooiel llrfache ber ablige Sperr aud)
hatte, ben Borfall ju oerbergen, machte er ihn hoch an*
hängig, um fich bes täßigen Gläubigers 3 U entlebtgen unb
ju feinem Glücf trafen mehrere Umßänbe jufammen,
burch welche bte «Richter gegen ben flngeflagten eingenom*
men würben.
Unter ben Papieren £ancelottos fanb fich außer aller«
(ei oerbotenen pf>tlofophifch e « Schriften ein Spottgebicf)t
auf ben Papfl, unb fo liebenswürbig unb empfinbungs«
ooll Gnnojenj ber 3ehnte in mancher Bejahung auch war,
fo hätten bodf) fogar feine oerwöhnteflen Bertrauten flcf>
Jäher ltngnabe oerfehen müffen, wenn fie ein gegen ihn
gerichtetes IBi^wort ju oerteibigen gewagt hätten. Bor»
nehmlirf) feine Schwäche, fi<h für einen Oichter ju halten,
mußte oon jebermann gefchont werben, unb nichts hätte
ihn baoon abgehalten, in bemjenigen einen JTCörber unb
.Seher ju fehen, ber mit oiel Geifl unb Bontifchen Xöenbun»
gen feine fapph'tfchen Oben parobiert hatte; benn bies war
bie 5orm, ln bie er bie Ergießungen feines Chrißenherjetts
oorjugsweife einjufleiben liebte.
Das Gebicht war „Oie römifche Sirene 7 ' betitelt unb lau*
tete etwa fo: „Segle nicht an ber römifchen «Süße oorüber,
Dbpffeus, ober fuß bu es bennoch, fo oerfäume nicht, beine
Ohren mit IBachs ju oerBleben, bamit bu ben Gefang bes
Papßes nicht oerntmmß. Spörteft bu ihn, fo würbe bich
ein foliher Schauer ergreifen, baß bu nicht mehr imßanbe
6
wärefl, bein Scfjiff gu lenfen unb elenb fcheitem würbeß."
6s wäre tollfühn geroefen, ficf) eines JRannes anguneh*
men, ber bie Unoorfichtigfeit gehabt batte, eine folrfje Äecf*
f)eit nicht nur aufgufchreibcn unb bei fich ftnben gu (offen,
fonbern fogor feine Urbeberfcfjoft gugugeßehen.
Unter biefen Untßänben fcfjritt «Rarbinal JTiaggamori
mit. bekümmerter JTiiene neben feinem Sreunbe Oragio her,
ihm fetne Sorgen unb Bebenfen mitfetlenb. ,,3cf) fonn
Oümpias Xettnofjme für bie Xante nicht anbers ols liebens*
wert finben," fogte er, „obfcfjon tcf> barunter leibe. 3f)t
JTütgefühl für ihre Berwanbten macf)t ihr Jperg ungugäng*
lieh gegen meine flnfprüehe, bie trf) ihrer Süßeren JTliene
gegenüber faum gettenb gu machen wage. BJie (eicht tnirb
bie Xugenb gum Seinbe bes Glücfs, unb wie ferner 5(1 es
beswegen, gum Sreunbe ber Xugenb gu werben. 3cb fann
mir feinen gtücftichen Hbfchluß biefer Angelegenheit oor*
(leiten, ba ich mich burchaus nicht in ben Progeß einmifchen
fann, ber fchon gu o’tete Xorheiten bes Befiagten ans Sieht
gebracht hat, unb ba hoch bie unberatene Olimpta ihre
3ärt(ichfeit für mich an feine .Rettung gefnüpft hat."
Oragio gab gu, baß es eine heifte Sache fei unb fügte
bei, er fönne fi<h nicht genug freuen, baß feine Ueranla*
gung ihn oor bem unhei(oo((en Ginfluß ber UJeiber be*
fcf)ü£e. „Tlach meinem 0afürhatten", fagte er, „wiegen
bie Vergnügungen, bie uns bies ßefcf>(ecf)t bereiten fann,
bie flrgerniffe unb Gnttäufchungen nicht auf, bie aus fei*
nem Umgänge fließen."
Oer Äarbinat feufgte (latt ber Grwiberung, ohnehin war
ingwifchen ber ihnen oorangehenbe UJärter oor einer ber
oielen Xüren flehengeblieben, bie auf ben Sang führten,
unb gab ihnen ein 3eichen, baß fie am 3ie(e feien.
Bei ihrem 6intritt richtete fich ber Gefangene oon feiner
Pritfche auf, fah bie Jremben oerbu^t unb ntiß(aunig an,
fprang bann auf unb fagte mit höflichem Gruß, baß er
feß gefchlafen habe unb fich nicht fogleich auf feine Sage
habe befinnen fönnen. „Oie barmhergige Jlatur hat mir 7 ',
fagte er lachenb, „bie Gabe reichttrfjen Schlafes oerliehen,
womit ich bie 3eit oerfcheuchen fann, ba mir feine Gele*
7
genfjeit gegeben wirb, fle mir burch Arbeit ober Unter*
fjaltung gu befreunbcn."
„Die Säfjigfeit, gu fehlafen, beutet ouf ein freies Ge»
wiffen", bemerfte ber .Karbinal, worauf ber junge JTtann
erroiberte: ,,©as habe ief> freilief); ich möchte ben JTlefjlforf
fefjen, ber fief) non efjrtofen Schürfen mit Süßen treten
(iefSe, of>ne fief) gu wehren. Wäre meine 3unge fo fehlerlos,
tote meine ^önbe ohne JTiafel finb; aber bie ifl fo be*
fefjaffen, baß fle alles ausfpricf)t, was burch mein Gehirn
gueft, als ob fie eine 6locfe wäre, an bie ber Striegel ber
Gebanfen beßänbig anfcf)lüge. ©a wirb benn manches
laut, was ben £euten Herbruß erregt; fpräcften alle aus,
was fie benfen, fo f>ötte tcf> gu oiele Gefinnungsgenoffen,
als baß man fie alte einfperren ober ihnen allen ben «Äopf
abfchlagen formte."
„3f>r rebet nicht eben wie ein bußfertiger Sttnber", fagte
©on Dragio nicht ohne Wohlgefallen an bem hübfehen
0üngling, beffen JTiunterfeit burch feine jammeroolle £age
nicht gebrochen gu fein fcf)ien.
„Was wollt 3hr, mein Sjcrv'i" entgegnete er gutrauluh.
„Einen JTiorb höbe ich nicht begangen; foll ich gerfnirfcht
fein, weil ich nach Maßgabe meines Derßanbes über bas
HJunber bes ©afeins nachgebacht, ober etwa gar, weil ich
einen unbebeutenben Hüft über Seine ^jeiligfeit gemacht
habe? 3ch mache wohl auch einmal einen frechen Scherg
über bie höchßett ^errfchaften im ^immel, bie hoch ehr»
würbigere Häupter finb als ber JJapß, ohne baß ich mich
beshalb ber Sünbe geihe; benn was für Abbruch Int es
ihrer Herrlichkeit, wenn ein Grbenwurm, ihnen faß unficht»
bar, ein wenig baran gupft? 3ch bin nur ein armer Scf)tuf»
fer, ben man leicht bes £ebens unb ber £hre berauben
fann, unb bin hoch ben Jlichtem nicht böfe, bie mich täg»
lieh als einen blutbürßigen «Raufbolb unb Jlebellen traf»
tieren."
©er Äarbittal, welcher ingwifchen »erlegen feine weis
ßen Jtägel betrachtet hotte, fogte, inbem er eine emße
JTliene annahm: ,,©ie Gerechtigfeit bes Sjeili gen Hafers
bürgt bafür, baß Euch fein Selb wiberfährt, wenn 3l>r fo
8
fcfjulblos feil», tote 3f»r behauptet. Spättet 3f)V nt<f)t burcb
Suren JTtutwillen bie Anwartfcbaft auf Gnabe oerfrfjerjt,
fo möchte tcf) Surf) raten. Surf) mit Eurem Anliegen gang gu
ben Siifien Seiner j?eiligfeit gu werfen." ©a ber junge
JTCarm nicht fogteid) antwortete, fetjte Oragio im Tone
roof)tmeinenber Xtberrebung f)ingu: „TDürbet 3f»r nicfjt we*
nigflens bas (eibige Gebid)t, bas Surf) ber Teufel einge«
geben bat, gurürfnehmen ?"
„HJarum nicht?" antwortete £ancetotto. „Am ßebflen
auch alte Gebiete Seiner JpeiUgfeit, wenn idp es fönnte."
6s war ©on Dragio unmöglich, bas fielen gurücfgu*
Ratten; ber «Karbtnal inbeffen fpürte nur einen fd) wachen
Anreig gur Jpeiterfeit, ba bas Bewußtfein ber löiberwärtig»
feit feiner £age in ihm fortwätjrenb junatjm.
Wie ber arme junge 3Tienfd> wafjrgunetjmen begann,
bafi ber Befucf) burrf) ein gewiffes 3ntereffe an feiner Be*
freiung oerantafit war, färbte bie erwad>enbe Hoffnung
feine blaffen ©Sangen um einen Spa u<h röter, unb burd)
fein oortjer fo gelaffenes Benehmen gitterte »erhaltene lln»
ruhe. Db es niefjt wirffamer wäre, fragte er, inbem er feine
Blirfe gwifdjen ben beiben Herren b>n unb Iper geben ließ,
wenn feine ©lütter ficb an bie 6nabe bes Papfles wenbete?
Sie würbe altes tun, was itjn retten unb ihn ifjr wieber*
geben fönnte. Auf ihr Betreiben wären gewiß aud) bie
beiben sperren mit fo oiet gütigem Anteil gu if>m ge*
fommen.
©er «Karbinal nirfte unb ließ einige ©Sorte falten, wie
bie £iebe ber ungtürflicfjen $rau gu ihrem Sohne niefjt nach*
taffe, obwohl er if>r fo fdjweren «Kummer bereite.
„Sticht burcb meine Scbutb," fagte £ancelotto frei unb
freunbti«b; „wäre icb aber noch fo f<f>utbig, fo würbe ich
an ihrer £iebe hoch nidjt gweifetn; benn id) bin noch in
ihrem jpergen, wie ich einfi in ihrem £eibe war, unb Gott
fetbfl mit feiner Allmacht fönnte mich nicht berausreißen."
EJäljrenb er btes fagte, hotten feine Augen fich gefeuchtet
unb waren babureb gtängenber unb bunfter geworben, unb
ben beiben sperren fiel es je0t auf, baß biefe Augen unge*
9
wohnlich fcf)mal unb lang waren, fo tote bie älteren Dtater
bie Augen ber Cherubim unb ber oerflärten Jpeiligen gu
bilben pflegten. Oos gciflfjaft Schwebenbe, fpielenb Süße,
bas ihnen eigen toor, mochte boburcf) bebingt fein, baß bie
Meinen Pupillen ben irbifcfjen fiecbenfchaften feinen Berßecf
gu gewähren unb bie Dielt)eit ber bunten unb oeränbetw
liehen 6rbenbinge nur oon ferne fpiegeln gu fönnen
fcfjienen.
3ngwifchen Rotten bie fcharfßchtigen Augen Sancelottos
erfaßt, baß bie sperren hoch nicfjt eigentlich barauf aus«
gingen, ettoas DJirffantes für ihn gu tun, unb bie frohe
UJelle ber Hoffnung ficferte langfam toieber gurücf. DJenn
bie Sperren, fagte er nach einer JJaufe, einen Auftrag an
feine JTiutter übernehmen wollten, fo möchte er fie bitten,
ihr einen Büffel feiner Spaart gugußetten, ber ihr als ein
lebenbiges Stücf oon ihm teuer fein toürbe. 3hm toürbe
jeboch toeber ein JTIeffer noch fonß ein fcharfe9 Gnßrument
in bie Jpänbe gegeben, fo baß er ohne ihre Jrjilfe nicht im»
ßanbe fein toürbe, fich Spaart abgufchneiben.
Oer Äarbinal gog ein mit Schntelg unb farbigen Steinen
oergiertes filberne9 Büchschen aus bem toeiten Ürmel,
toorin ein Meiner Spiegel, eine Schere, ein Stücf JBath9,
eine Seile gunt Glätten ber Slägel unb bergleichen enthal«
ten toaren, öffnete es unb blicfte unfchlüffig hinein. DJäh«
renb er gögerte, bemächtigte fich Oon Oragio ber Schere
unb beugte fich über ben Äopf bes jungen JTiannes, um
ben erforberiichen Schnitt gu tun, toobei er mit einer lieb»
fofenben Bewegung in bie ein wenig geringelten faßanien»
braunen $aare griff.
Bei biefem Anblicf fiel es bem Äarbinal ein, baß bie un»
glückliche Diutter in ber Befinnungslofigfeit ihres Schmer*
ges gewimmert hatte: „Gr iß ja noch ein Äinb! Gr hat
£öcfchen wie etn Üinbl", unb es berührte ihn überaus pein*
lieh, bie Älage mit eigenen Augen beßätigt gu fehen. 3lach»
bem er fich leicht geräufpert hatte, fagte er, baß er Sorge
tragen werbe, bas Anbenfen in bie Jpänbe ber JTTutter ge»
langen gu taffen, unb baß er gern etwas tun würbe, um
£0
bte Sage bes Gefangenen ju erleichtern. Ob er D3ünfcf)e
in betreff bes Gffens höbe? Ober womit ihm fonfl gebient
Ȋre?
HJas bas Gffen angehe, fagte Sancelotto, fo werbe er
burch feine JTXutter bePöfiigt, bie ihm mehr £ecferbiffen oor*
fe£en taffe, als er bewältigen Pönne. Bücher, etwa ein
Bänbchen Gebicfüe, mürben ihn wohl erfreuen, am (iebften
würbe ihm aber fein, wenn er einen Gefährten gugefellt
bePäme, mit bem er ein wenig ptaubern unb lachen Pönnte.
Oiefer GebanPengang brachte ihn barauf, baß er feine
6ä(ie, oon benen namentlich ber Äarbütal augenfcheintich
fehr niebergefchtagen unb burch bie trübfelige Umgebung
bebrücPt war, bisher nicht eben gut unterhalten habe, unb
er begann ein munteres Gefcfjwäh, wobei aus ben fchmaten
Augen bie unfchutbige Schelmerei eines übermütigen $na»
ben bli£te. 6r erjählte Schulflreicfje aus bem geglichen
Kolleg, bas er befucht hatte, oon £ehrern unb oon bem
flbt eines gemiffen Flößers, ber ihn als einen jungen J?ei»
ligen angefehen habe unb noch immer barauf warte, ihn
als JTooigen einfreten ju fehen. Gr habe ben guten JTlann
oft befucht unb ficf> im Älofler wohl gefühlt; aber lange
halte er es in ber Abgefcffiebenheit nicht aus, bem Getüm*
mel bes £ebens gujufehen, fei ihm bie liebfie Befcf)äftigung;
je toller es um ihn her gugehe, beflo fHlter unb behaglicher
fühle er fich im Gnnern»
Dann fei bie enge 3elle freilich nicht ber rechte flufent»
halt für ihn, meinte Dragio teünehmenb; aber ber junge
JTiann erwiberte, es fei immerhin fo arg nicht, wie es ben
flnfchein habe. Sein Senffer gehe auf ben JFjof, wo bie
gur Gefangenfchaft Berurfeilten fich gu gewiffen Stunben
ergehen bürften unb untereinanber hanbelten, lachten,
lärmten unb janPten, wie wenn BiehmarPf auf ber piagga
JTaoona wäre. 3wifchenhinein Pönne er fchlafen, unb
fchliefißch befinbe fich in einer nicht weit entfernten 3elle
ein Unterfuchungsgefangener, ber eine fo fchäne Stimme
bcfi£e, bafS man fich einbilben Pönne, fdf>on int Parabiefe
gu fein, wenn man ihn fingen höre.
Oie Paufe, bie hierauf entßanb, benu£te ber .fiarbinal,
li
um £ancelotto gu fragen, tote es benn in Sp inficht ber Jle*
ligion mit ihm beflellt fei. Db er auf bas Qenfeits oor*
bereitet fei, ober ob er ettoa oon einem oerftänbigen Gei|l*
liefen über ben f»eiligen Glauben belehrt gu toerben
wünfefje.
©er junge IRann fchüttelte lacfjenb ben «Kopf unb fagte:
„3<f> habe Augenblicfe, too ber Glaube mief» mitten in Got*
tes Schoß trägt, unb ich f»abe Stunben, too ich gtoeifle unb
benfe, bis meine Gebanten an jenes frfjtoarge Xor flößen,
bas fie nicht burchbringen unb überfleigen fönnen. ©as
oermag fein Priefler gu änbern, unb ich möchte es auch
nicht, ©en pia£, ber in ber toeiten DJelt für meine Seele
ifl, toerbe ich erreichen; hat ja hoch Gott bem JTJaultier ein*
gepflangt, btiJladft ben rechten E3eg, unb einer «Ka£e, bas
Spans gu finben, too fie hingehört, ©ie Herren müffen nicht
um mich beforgt fein, noch foll meine JTlutter fief) um mich
grämen. Soll ich flerben, fo mu(J ich öurcf) ein paar bittere
Stunben htnburd), bie ebenfo fchnell oorübergehen toerben
tote manche anbere / bie ich auch überflanben habe. HHe
toohl wirb mir aber hernach fein, toenn mir Gott einen
Anteil an ber hintmlifchen Uollfommenheit getoährt! ©ann
toerben meine neugemachten, allgegenwärtigen unb alltoif^
fenben Augen auf bie Dertoimmg unb bas ^änberingen
unb 3ähnefletfchen ber 3Ttenfcf)en fnnunterfehen unb
lachen, bafS ich auch einmal mitten bagtoifchen war unb
oon armfeligem Schlachtoieh gum Tobe oerurteilt unb auf
bas Schafott gefchleppt würbe." Sein frifefjer feuchter
TRunb lächelte babei mit befonberer £ieblicf)Beit, bie man
faum wehmütig nennen fonnte, weil fie allgu unbefangen
war.
Als bie beiben Herren bie 3elle oerlaffen unb ber BJär*
ter bie Tür abgefchloffen hatte, winften fie biefem, baß er
nunmehr entlaffen fei, unb gingen langfam ben Gang f)in*
unter, ©er «Karbinal tupfte ficf> mit bem Xafchentuch unb
fagte, es fei jammerfchabe, baß ein folcher «Knabe fo gu
Salle gefommen fei. IDas fei ba gu machen? ©er JITorb
fönne fchließlicf) nicht ungeflraft bleiben, er fähe feinen
Ausweg.
12
„Ein allerliebfler {Junge," fogte ©on Oragio nachbenf*
tief), „unb fcfjeint durchaus nichts Strafwürbiges begangen
gu haben. 3cf) hätte £ufl, micf) feiner angunehmen unb ihn
Sen Uralten biefes gottoergeffenen Xribunals gu entreißen,
wenn ficf) nur ein gwecfmäfjiger DJeg bagu finben ließe."
„Tltir fef>lt ber JTtut, mief) oor Dlimpia fefjen gu Iaffen,
wenn icf) feine Hoffnung bringe", fuhr ber Äarbinal be»
fümntert fort, „ltnb wie, wenn icf) gar bie JTlutter mir
oor Augen flelle! Df)nef)in werbe icf) biefe Srau nie mefjr
oergeffen fönnen, bie ausfaf), als ob fie taufenb 3af>« ge*
(ebt unb Scf)mergen gelitten f)ätte. Bie faf> aus wie ein
oerwitterter Stein, unb wenn fie gu weinen unb gu freien
anf)ub, fo war es, wie wenn ein Berg ficf) bewegte unb
Jeuer auswürfe."
„So, fo," fagte ©on Oragto, „icf) f>atte fie mir als ein
anmutiges DJeib oorgeßellt mit füßen Sippen unb gärt»
ücfjen Augen."
Dfjne biefen Einwurf gu beachten, ging ber Äarbinal in
feinen Betrachtungen weiter: „BJas man if>r aucf) fagen
mochte, fie fchrie: „JTiein Äinb, bas ich geboren habe! JTtein
fjarabiesoogef! JTCeines J-Jergetts ^erg! JTCein Eingeweibe!
Es iß mein, ich muß es wieberhaben!", als ob bas Grünbe
wären, mit welchem ficf» etwas burchfe^en ließe."
,,©as iß," fiel ©on Oragio ein, „wie alte Srauen finb.
©ie fe£en ihren Eigenwillen ber offenfunbigen Jlotwenbig»
feit entgegen unb Iaffen ßcf> burch Bernunft nicht belehren."
©er Äarbinal nicfte oerffänbnisooll unb nahm Anlaß,
in behutfamen Anbeutungen über bie £aunenf>aftigfeit ber
©onna Oßmpia gu flagen, bie fie in le^ter 3eit wie eine
Aranfheit überfallen habe, währenb fie fonß üebeood unb
oerträglich wie ein Engel gewefen fei. BJas ihr fonfl eine
wittfommene 3erflreuung gewefen fei, gefalle ihr nicht
mehr, fie liebe Einfamfeit unb trübe Gebanfen, unb bie
Bergweiflung Jener unglücfüchen Xante oermehre Ihren
Xieffinn. Sie werbe es ihn entgelten Iaffen, wenn ber pro*
geß bes Jungen JTtawtes Übel austaufe, als wenn er etwas
bagu gu tun oemtäge; fo fäf)e er einer unfrohen 3ufunft
13
entgegen. Oa mürbe es bas befle fein, meinte Oragio, bie
launifche ©ante gu meiben unb bequemere Gefellfchaft auf*
gufucfjen; allein ber Äaröinal fagte, bie Srau f>abe ficf)
hoch um Ifjn oerbient gemacht, unb er batte ficf) oerpflicf)tet,
nun, ba fie offenbar franf unb bes Beiflanbes bebürftig
fei, bei ihr ausguharren. Gr mar befcfjämt, inbem er bies
fagte, benn er fühlte, baß fein Sreunb feine XBorte für
eitel Ausflucht unb ihn für einen oeriiebten Toren hielt*
Als bie Sreunbe, in bies ßefpräch oertieft, in bem breiten
unb fahlen, miberhallenben Gange auf unb ab gingen, oer»
nahmen fie plä^tich ben ßefang einer JItänner/timme unb
blieben augenblicflicf), oon bem Gtang berfelben betroffen,
flehen. Gs mar ein üolfslieb, bas mit fo oiel -Rraft unb
Sicherheit gefungen mürbe, als ob es oon ber Bühne eines
großen Theaters her tönte, unb mit fo oiel Seibenfchaft, als
gölte es, ein gaubernbes JTläbchen gu einer Gntführung mi(>
ßg gu machen. JTtaggamori unb Oragio fahen einanber, oor
Staunen unb Bergnügen errötenb, an, unb als ber Sänger
bem Abfchluß einer Strophe eine Äabeng folgen ließ, hiel*
ten fie ben Atem an, beforgt, ob bie fchminbelnbe Sigur
auch gu einem glücklichen Gnbe gebracht mürbe.
IBährenb ber ©auer bes Siebes näherte fi<h ein mache*
habenber Solbat unb machte JTtiene, bem Sänger Schmei*
gen gu gebieten, mie bas ben Borfcfjriften bes Gefängniffes
entfprocf)en hätte, trat jeboch roillig gurücf, als bie beiben
Jperrfchaften ihm einen Xöinf gaben, fich ruhig gu oerhal»
ten. Oiefen riefen fie heran, fomie bas Sieb gu Gnbe mar,
um Ausfunft über bie XBunbererfcheinung gu erhalten. Oer
Sänger fei ein Bauer, melbete ber Solbat, bem megen
mehrfachen TTCorbes ber fJrogeß gemacht merbe; er fei ein
milber unb böfer -Kerl, ber ben JTlunb nur gum fluchen
öffne, aber ber unerforfchtiche Gott habe für gut befunben,
ihn mit einer Stimme gu begnaben, mie fein Gngel ber
himmlifchen ^eerfcharen fie herrlicher befi^en föttne. 3lie»
manb habe ben jllut, ein fotches BJunber ber Jlatur gu
unterbrücfen, barum ließe man ihn fingen, momit auch
ber Oireftor einoerßanben fei, ber manchmal felbjl, menn
er in ber Röhe fei, (lehenbleibe, um guguhören.
14
£6 man ihn nicht oeranlaffen fönne, meiterguf Ingen?
fragte Oon Oragio. Jiein, fagte ber Solbat, wenn man
ihn um etmas bäte, mürbe er es besmegen unterlaffen, toeü
er bösartig unb mtfStrauifrf) fei. 6s fönne ein Tag oor*
übergeben, ohne bafj er bie Stimme erbebe, anbere JTiale
böre er flunbentang nicht auf; bas fei oon feiner £aune
abhängig.
„3cb fann mi<b nicht begnügen, oon ber Steile gu geben,
ohne ihn noch einmal gehört gu hoben/' fagte Oon Oragio,
„fonfl mürbe ich morgen mähnen, bafi ntt<h meine Ginbil»
bungsfraft genecft hätte."
fluch ber Äarbinal geigte fuh nach einer Hüeberbolung
bes Genuffes begierig. Sie ermogen eben, ob fie nicht ben*
noch oerfuchen follten, ben Gefangenen gu einem Dortrage
gu bemegen, als ber Gefang oon neuem begann, um fie
nicht minber als ber erfle gu entgütfen.
„3ch höbe einen Tenor mie biefen noch nie in meiner
Kapelle befeffen", fagte Oon Dragio.
Oer Äarbinal fiimmte ihm bei; er höbe grnar bie unoer=
gleichliche Schulung bes berühmten Jliignotta nicht, bie
llnfehlbarfeit bes flnfa0es unb bie Gleichmäfjigfeit bes
Organs beim fln* unb flbfchmellen bes Tones, aber an
Äraft, Schmelg unb Süfiigfeit laffe er alle anberen hinter
pch. „3ch mürbe jebergeit", fo fchtofj er, „eine Stunbe lang
auf einem Beine flehen, um ein fotches Äongert in mich
aufnehmen gu fönnen."
„JTfein Sreunb," fagte Oon Oragio, „Uh höbe feine
Jluhe, beoor ich nicht Jtäheres über biefen JTiann erfahren
habe, begleite mich augenblicftich gum Oireftor, bamit mir
Schritte tun fönnen, um uns biefer Äoflbarfeit gu oer«
fichem."
Oer Oireftor betätigte bie flusfage bes Solbaten unb
führte fie bahüt aus, bafS es fuh in biefem Salle um einen
ermiefenen mehrfachen JItorb aus «Rachfucht honbte; es
habe nämlich ber Derbrecher, «Ronco mit Jlamen, bie 6e>
mohnheit gehabt, nachts bie Äüf)e feines 3Ta<hbarn gu mel>
fen, unb mie nun ein Junger Bube, ber Sohn eines in ber
Jlähe mohnenben Pächters, bem Geheimnis auf bie Spur
IJ
gekommen fei unb ben 6efd)äbigten, beffen rätfelfjafter
JTtilcfjmangel im Oorfe befanntgetooröen fei, barauf auf*
merffam gemacht f>abe, fo f>abe er fid) anfängüd) ruf)ig
oerl>alten, als ob bie Sadfje nur ein Sdjerj unb bes fluf«
Gebens md)t roert fei, aber nad) ad)t Tagen nidyt nur ben
Buben, ber if)n angegeben, fonbern aucf> beffen Bater unb
JHutter forote eine alte Großmutter, bie alle biefelbe ^ütte
beooof)nten, mit einem JTieffer umgebracfjt. Oie Gntrüßung
über bie Tat fei allgemein, unb ber JTCenfd) fjabe ben Tob
oerbient unb toerbe tf)m nid)t entgegen; aud) fei ifjm nichts
baran gelegen, ber «Kerl fei fo toilb, bafj er faum einen
Unterfdjieb jtoifd)en £eben unb Tob gu machen toiffe.
Oas fei ein feltfamer Bericht, fagte Oon Dragio; man
müffe bod) annefjmen, baß ein alter £>aber gtx>ifd)en ben
Familien befianben f>abe, toie es bei folgen Jlad)el)anblun»
gen meiflens ber Sali fei, unb unüberlegt unb empfinblid)
müffe ber JRann aud) fein. £r f)ätte £ufi, einmal felber mit
itftn gu reben, um ber Sacfje auf ben Grunb gu tommen.
Oer Oireftor gucfte bie fldjfeln unb fagte, bie Herren
Jlid)ter f)ätten fid) fcf>on genug JTIüfje mit if)m gegeben,
bie Befiie fei beffen nicf)t teert; jebod) fei er bereit, bie
Jrjerrfd)aften l)ingufüf)ren, möcfjte if)nen aber raten, nid>t
of)ne einen JBärter f)ineingugef)en, ba man fid) oon einem
folgen fJatron bes Sd)ltmm(ten müffe getoärfig fein.
fln biefen Jlat l)ätte ber &arbinat fid) gern gehalten,
allein Oon Dragio lad)te f>od) auf unb fagte, feine fräftige
Gefialt retfenb unb feine breite Brufl aufbiäfrenb, er ge«
traue fid) tool)(, es mit einem maisfreffenben Bauern auf»
gunef>men.
flud) roar es in ber Tat nicfjt eben Surdjf, toas ben
JTieifler ber Kapelle überlief, als er mit feinem Sreunbe
bem Unf)olb gegenüberfianb, ber fie mit einem fcfjnellen
Blitf mißtrauifcf)en paffes flreifte, um fogleid) toieber
ßumpffinnig oor fid) f)ingufiieren; fonbern oielntefrr ein
untoillfürlidjes Grauen oor bem böfen Blitf, beffen bas
5d)eufal mächtig fein fonnte. Borger getroffener Berab»
rebung gemäß begann ber Äarbinal, nadjbem er oerfd)ie»
benemal angefe^t f>atte, unb fagte, fie feien im Begriff, bie
16
Dränung ber Gefängniffe ju unter fucf)en; ob er, ber Ge*
fangene, über irgenb etwas <Älage ju führen bube? ob er
ben Befucf) eines Geglichen empfangen habe? ob er geneigt
fei, irgenbeoelcfje Geftänbniffe ju machen ober feine Jleue
in ben ScfjofS einer oertrauenswürbigen Perfon geifHicfjen
Charafters ju ergiefSen?
Die Antwort Jloncos auf bie forgfäitige flnrebe bes
Äarbinals beflanb barin, bafi er fnurrte unb mit bem
Daumen nach ber Xür beutete, worauf ber Äarbinal oon
neuem einigemal anfe0te unb fortfuhr, er, Jlonco, fei eines
graufamen unb unerflärlidjen üerbredjens angefiagt; ob
er oielleicf)t jur Erhärtung feiner llnfcf)ulb ober jur Der*
minberung feiner Schulb etwas beijubringen habe, was
Berwirrung ober Scham ben Gnquifitoren gegenüber ihn
pielieid>t gehinbert hätte ausjufprechen? Der jrjeüige Bater
habe oiel mein Sreube an einer erlöflen ltnfdjulb als an
ber Beflrafung eines Schuftigen unb bef>ne feine TTiilbe
auch über biejenigen at»s, bie burcf) Unbesonnenheit, gäh»
jorn ober flnfüftung bes Xeufels wiber ihren IBillen ju
einer böfen Xat fjingeriffen worben feien.
„pefi unb .Krebs über ben päpfllicfjen Sauflall!" giftete
Jlonco jwifcfjen ben 3öf)nen fjeroor, inbem er einen wiiben
Blicf auf bie Xür warf unb wieberum nach ber Xür beu*
tete, fo bafi ber Äarbinal unwtllfürlicf) einen Schrift gurüdf*
wich, wie um einen pia£ jenfeits ber Hörweite fotcfjer
Scfjimpfworte ju gewinnen.
Don Drojto, ber bas Bebürfnis füllte, feinem Sreunbe
ju Jrjilfe ju fommen, fagte: „IBeber ber ^eilige Bater noch
feine Diener, mein jreunb, wollen bir übel, wie bu oor»
ausjufe^en frfjeinfl. BJir wären nicht an biefer Stelle, wenn
wir beinen Xob fucfjfen, ben bu allerbings oerbient ju
haben frfjeinfl. Gott ber flllwiffenbe hot birf) mit einer
fchänen Stimme begabt unb birf) baburcf) nach unerforf«h*
lirfjem Befchtufi ausgezeichnet. löte wäre es, wenn bu uns
noch eine Probe biefer wunberherrßchen Äunfl gäbefi, ber
bu mächtig bifl, unb bie beweift, bafi mehr Göttlichfeit in
bir wohnt, als beine Xaten, beine HJorte unb felbfl bein
flnbßcf oermuten laffen."
2 SE>ie beutfd&e Lobelie.
17
Ob nun Roneo biefe IBorte als eine Berf)öf>nung auf«
faßte, aber ob er bas Gefpräd) überhaupt als eine Be«
läßigung empfanb, er fdjrie in ausgelaffener XBut: „$in*
aus! hinaus! Ober td) werbe eud) etwas fingen, baß eud>
bie £umpenfd>äbel gerp(a$en füllen!" unb begleitete bie Auf*
forberung mit einer fo brofjenben 6ebärbe, baß bie beiben
Herren es für bas beße hielten, fi<f> gunäd)ß gu beftfjeiben
unb ben Rüdgug anjutreten. JTIit bem Schwünge bes Xri«
umpfjes unb ber Berad)tung fpucfte Roneo hinter Ujnen
fjer.
Äarbinat Rtaggamori war fo erfcfjrorfen, baß er nicf)t
fofort weitergefjen fonnte, fonbern an bem näd)ßen Sen«
ßer bes Sanges ßef>enblieb, um £uft gu fdjöpfen unb ftef>
ein wenig gu erholen.
„B?as für ein Tier!" fagte Dragio. „Jüan muß gugeben,
baß unfere Bauern niefjt aiet mt|r als Bief) finb unb bie
Anforberungen, bie man an fie ßellt, banad) bemeffen."
„Cr f>at eine wölfifefje Pbpfiognomie," fagte ber «Rar«
binal, „unb td) möd)te wetten, baß er ein echtes BJolfs»
gebiß befiel. Cs fd)eint in ber Xat nötig, baß bie Jltenßf)»
f>eit oor einem folgen IDüterid) befd)ü£t werbe."
Seine lebten BJorte würben burcf) bie Stimme Roncos
übertönt, ber eben jetjt wieber gu fingen begann, oielletd)t
aus Xro£, ober weil if>m bie £obfprüd)e ber oomel>men
Herren bennotf) gefdjmeidjelt Ratten.
„Göttltcf), göttüd)!" flüßerte Oon Dragio. „Oiefes BJun»
berwerf oon Stimme barf niefjt gerßört werben! 3d) werbe
nicf)t JTiüfje nod) Äoßen freuen, ße mir gu retten."
Xlnter ben gefdßoffenen Augenlibern bes taufd>enben
«Rarbinals perlten Xränen fceroor. „BJeldjer JBofßlaut
quillt nod) aus bem Rainen ber göltet" i)audbte er. „O 6e»
beimniffe ber Allmacht! Jeber Xon iß rein, weief) unb lau*
ter, wie ein Xropfen Xau, ber fid) in ber Srüfje auf
«Rnofpen wiegt. XBas wirb Seine jpeüigfeit fagen, wenn
ße biefen Gefang f>ört!"
3n großer Crregung oerließen bie Sjtrrtn bas Gefängnis
unb ließen fi<f> in ber bereügef>altenen Sänfte gu bem
x8
ßalaß bes Äarbinals tragen/ um über bie gunächß oorgu»
nehmenben Schritte gu beraten; benn barin (Ummten fie
überein/ baß ber rare Vogel für bie päpßlühe Kapelle
burchaus erworben werben muffe. Jtacfjbem fie ficf> bei
einem Glafe guten HJeins in einem Meinen wohnlichen 6e»
marf)/ beffen JVänbe mit frönen Teppichen aus flreggo
oerhängt waren/ oon ben oerfcfjiebenen heftigen Einbrüf«
fen bes Vormittags erholt hatten, festen es ihnen nicht un«
möglich, bas Tribunal gu einem jreifpruch bes loftbaren
«Jtonco gu bewegen. Sie hatten in Erfahrung gebracht/ baß
ein gewiffer 6uibobalbo bie Verteibigung bes Verbrechers
führe, unb mit biefem befchloffen fie, fief) gunächft ins Vers
nehmen gu fe£en. Oon Oragio nämlich hatte ihn in einem
befreunbeten $aufe lennengetemt unb fich gut mit ihm
unterhalten, obwohl ber flboofat ein Sreibenfer unb Seinb
bes Klerus war. Oa er aber feine flnficf)ten nicht äußerte,
außer wenn es am pta^e war, bie formen ber Jleiigion
mit großem flnßanb in acht nahm, fobalb er fich beob»
achtet mußte, unb bagu ein fröhlicher unb gewanbter
JTtann war, fo lonnten auch Ge'tßliche feinen oorurteils«
lofen Verflanb unb feine gefelügen 6aben genießen unb
waren es gufrieben, einftweilen in gutem Einoernehmen
mit ihm gu bleiben. Es traf fich glüdlich, baß ber flboolat
gerabe bamals im Sinn hatte, eine Villa gu taufen, beren
ausgebehnter Garten fich Öen ^anitutus hinaufgog, baß
er aber ben hohen Preis, ber bafür geforbert würbe, nicht
gahten tonnte ober wollte; benn baburch bot ftch bie er«
wünfehte JTtögtichteit, ben nühlichen JTiann burch eine Ge«
fälligteit gu gewinnen. Ohne 3aubern fugten bie Sreunbe
ben flbootaten noch am felben Tage auf unb baten ihn,
an bie Betanntfchaft mit Oon Oragio tnüpfenb, ihm bie
Summe, beren er gum Erwerb ber Villa benötige, oor»
ßreefen gu bürfen. Sie hofften, fagte Oon Oragio, fich ba*
burch ein Anrecht auf gütiges Entgegentommen feinerfeits
gu oerbienen, wenn fich bas, was fie oon ihm wttnfchten,
mit feiner Ehre unb anberen Jtütffcchten oereinigen ließe.
Ttach biefer Einleitung ergählte er oon feinem Sämb im Ges
fängnis, fprach oon ber Vorliebe bes ßapßes für JTIufif,
2 *
19
insbefonöere bie menfchliche Stimme, unb oon feinem
DJunfcf), eine fo überaus feltene Äraft für bie päpftlicfje
.Kapelle gu gewinnen, ;umal bamit ein JItenfcf)enleben ge»
rettet unb auf eine nu^brtngenbe, oielleicht ruhmoolte
Bahn gebracht würbe.
©er Aboofat erwiberte, er habe bereits oon ber frönen
Stimme bes «Konto gehört, ftdf) aber nicht fonberlicf» bafür
intereffiert; er trage jebocf) gern bagu bei, bem ^eiligen
©ater ein ©ergnügen gu bereiten, auch fei es fowiefo feines
Amtes, bie ©erbrechet gu oerteibigen unb womöglich gu
retten. 3mmerf)in fei bas im oorliegenben Salle ftfjwie«
rig, weil ber Bauer überwiefen unb geflänbig fei unb oiel
gu fhtmpffinnig ober gu roh, um Schritte gu feiner «Ret»
tung gu tun ober gu unterfiü^en, wenn folcfje überhaupt
erfinblich wären. JTacf) einigem Befinnen fuhr er fort, es
liefen ficf) wohl DJege gum 3iel ausbenfen, wenn man
fefl entfchloffen fei; es fei fdjon monier freigefprorfjen,
ber ben Tob ebenfowofjl wie ber fcfjlimme Jlonco oerbient
hätte; oon bem präfibenten bes Tribunals, JHonfignor
Aloifio, fei es nur allgu begannt, bafi feine Stimme feil
fei, freilief) um fein Geringes, wohingegen ber weltliche
Beifi^er für ein billiges Trinfgelb gu hoben fei. ©a fei aber
©on petronio, ein unzugänglicher ©tarnt, beffen einzige
Gitelfeit unb £icbhaberei feine Xtnbefterfjlicfjfeit fei, ber (lets
ben Sittenrichter fpiele unb emfig aufpaffe, bamit ja nicht
etwa unter feiner JJlitwirfung etwas Ungebührliches
unterliefe. ©Jenn man fich biefem mit wohlgemeinten An»
erbietungen irgenbwetcher Art näherte, fo würbe man oon
oomherein alles oerberben; wie man ihn aber umgehen
ober übertifien fönne, bagu fönne er noch feinen plan
abfehen, wolle bie Sache aber bebenfen. Gin Xlbelftanb fei
es auch, bafi ber Progef} im oollen Gange fei unb nur
noch ein ©erhör flaftgufinben habe, worauf ber Urteils»
fpruch bei ber Klarheit bes Salles nicht auf fich warten
taffen würbe. 3nbeffen ermutigte er bie beiben Bittfieller
bamit, bafi guter «Rat fich oft über Jtacht einflelte, unb
gab ihnen anheim, fich einflweilen mit bem Präfibenten
in Ubereinftimmung gu fe$en, offen gegen ihn gu fein unb
20
etwa eine Art Rtitmiffen bes Papßes angubeuten, was
feiner Befliffenheit einen gebeti)lidf)en Schwung geben
würbe.
Jltonfignor fUotfto war etn pracfjtßebenber JTtann unb
Weiteren Temperaments, ber gern gut lebte unb auch
anberen Gutes gönnte, wenn er nur Gelb genug gur Ber»
fügung butte, beffen IRangel bas einzige war, was feine
£aune auf bie Dauer gu trüben oermocf)te. Als er inne»
würbe, baß Äarbinal JTlaggamort unb Don Dragto ifjm
einen erheblichen 3ufluß bes geflöhten JTietalls gu eröff»
nen gebacbten, nahm er fie mit lauter unb glängenber Gafl*
lichfeit auf, führte fie burch bie pomphaft ausgeflatteten
«Räume feines Kaufes, geigte ihnen eine Sammlung cf)tne*
fifcher Porgellane unb oerfprarf) für feine Perfon, einem
fo billigen unb harmlofen XBunfcfje ohne fteintiche Beben»
fen entgegengufommen, führte aber, wie ber flboofat, ben
unbefiedf)Iichen Don Petronio ins Selb, ber, feiner fchrul*
lenhaften Gitelfeit guliebe, jeben Berfurf), ben armen Sün*
ber burchf<h(üpfen gu laffen, oereiteln würbe. „Jtach mei»
ner JTleinung", fagte er behaglich, „ifl bie Gerechtigfeit bet
Gott, ber es nicht immer für gut befinbet, uns gu erleuch»
ten. B3te furg ifl bie «Kette oon Urfadf>e unb IBirfungen,
ber wir folgen fönnen! 3Xun ja, man urteilt nach feiner
«Kurgfichtigfeit unb glaubt, etwas Großes getan gu haben,
wenn man einen Dieb ober .Räuber aufhängt. IBie oft
biefer ein frommes £>erg im Bufen hatte, ein guter Bater
ober ebler Sreunb war, währenb fein fogenanntes Opfer
auf bem Grunbe ber Seele, wohin fein ßerbtiches fluge
blicfen fann, bie Sarbe ber $ötte trug, wer mag bas wif»
fen? llnfer guter Petronio hingegen begreift nur ben Buch»
[laben unb meint, unfere Grbe gu oerbeffem, wenn bie
Paragraphen recht in flnwenbung fommen."
Jtachbem oerfct>iebene Ginfälle, um gum 3iele gu gelan«
gen, oorgebradjt unb oerworfen waren, trennten ficf) bie
Herren, ohne gu einem Gntfchluß gefommen gu fein, mit
ber Befürchtung, baß ihnen ber Sänger bennoch entgehen
würbe. 3nbeffen empfing Don Oragio noch 8« fpäter
flbenbfhmbe einen Brief bes Präfibenten, ber fo lautete:
21
6s fei tf)tn plöhlicf) ein eigenartiger/ aber wohl tunlicher
Einfall gefomnten. DJenn man nämlich ben Pefronto
fönnte glauben machen, «Htchter unb flboofat feien be»
flogen, um ben Jlonco, ber gwar ein ungebilbeter Bauer,
aber brau unb nichts als bas Opfer tücfifcfjer Jlänfe fei,
an ben Galgen gu bringen, unb fie alle ihre «Holle gut fpiel»
ten, auch ber flboofat fich willig finben laffe, fo fei gu oer»
hoffen, bafi Oon Petronio feine Äraft einfepe, bie oer»
meintliche Xtnfchulb gu retten, fo bafi ihnen nach einem
Kampfe oon getoiffer ©auer nichts erübrige, als gu ihren
eigenen Gunflen nachgugeben.
Oas Einoerflänbnis ber Beteiligten untrbe fcfjleuntg f)tr»
geflellt. JTtaggamori unb Oon Oragto fargten nicht mit
bem Gelbe, inbem fie nicht gmeifelten, ber Zeitige Bater
mürbe ihnen am ScfjlufJ reichlich erfepen, toas fie auf bie
flusbilbung eines fo erlefenen Sängers würben oenoen*
bet hoben. Gutbobalbo, ber flboofat, trug Sorge, bafi
Oon Pehronio burch «ne anonpme 3ufchrift auf bas Un*
wefen aufmerffam gemacht mürbe, bem biesmal ein hilf*
tofer Bauer gum Opfer fallen follte, unb bafi bie JTacf)»
rieht oon feinem Jpausfauf fich oerbreitete, unb nahm ben
launigen 6lütfmunf<h, ben ber Präfibent ihm in Gegen»
wart bes oerfammelten Tribunals bagu machte, hänberei«
benb entgegen. 6r fetbfi, fagte ber Präfibent, höbe auch
im Sinne, ftch eine befchetbene Sreube gu machen. Oer
frangäfifche Gefanbte, ber oon feinem Äönig abberufen
fei unb «Horn gu oerlaffen gebenfe, wolle eine golbene «Ra»
roffe mit oier Pferben oerfaufen, unb er höbe ein flnge»
bot barauf gemacht, wiffe aber noch nicht, ob es ange»
nommen fei. Oie Summe flüflerte er bem flboofaten
tächetnb ins Ohr, wie er benn überhaupt es fo einrichtete,
bafi bie Mitteilung als eine oertrauliche, burch ben gu*
fälligen £auf bes Gefprächs entlocfte erfreuten mußte. Pe»
trortio, ber bie Herren fcharf beobachtete, fäumte nicht, ihre
fo pläplich auftretenbe Berfchwenbung mit ber fchmach*
oollen .Hechtsbeugung in Einflang gu bringen, gu ber fie
fich bem empfangenen Briefe nach hotten bereitfinben laf»
fen. Um fieser gu gehen, lenfte er fetbfi bie «Hebe auf
22
•Konto unb fagte, mit bem mürben fie hoffentlich beute
ju 6nbe fommen; benn man folle barauf galten, in einer
fo Karen Sache menigflens feine 3eit ju oerlieren. Oer
Präfibent fümmte bei, unb ber flboofat fügte mit Hebens*
mürbig feherjenber 3ronie fjirtgu, er miffe toofjl, bafi er
bie Herren «Richter, bie gern 3eugen einer breiten 6ntfal*
tung feiner Berebfamfeit mären/ bamit enttäufcfjte, habe
aber boeh befcfjtoffen, biesmat fchleefjtmeg of>ne meitere
BJorte um ein gnäbiges Urteil ju bitten, ba er ft cf) mit ber
Berteibigung eines fo oermorfenen Übeltäters nief)t oer*
unseren molte. Oas töne anbers, fagte Petronio mit Jlacf)*
brucf, als er, Guibobalbo, fuf) juoor habe oemehnten laf*
fen. 6r habe bamals gefügt, ber Grunb, ber ben «Konto
jum JRorbe getrieben haben folle, fei ju geringfügig, um
eine folcf>e Untat ju erflären, aucf) mürbe ein gemeiner
Berbrecher bie Bluttat ju leugnen oerfucfjen, um fein £eben
ju retten; es laffe ftcf> alfo ermägen, ob nicf)t ber äugen»
fcheinlich halb blöbftnnig gemachte Bauer bas Bferfjeug
mächtiger fei, bie (jef) nebft ihren flbficf)ten unb Bütteln
im ^intergrunbe hielten.
Oer flbuofat lachte FünfHicf) oerlegen: „Oa fehen bie
Sperren" fagte er, „roie meit idf> ben Pflichteifer getrieben
habe! Jlun aber fä>eint es mir beffer, an ber Grenje ber
Eöfticf)feit haltjumaihen, bie ich euch fcfmlbe, männern,
bie leicht einfehen, bafi mächtigen nicht mit ber Grmorbung
einer unfchulbigen Pächterfamilie nodf) mit ber Einrichtung
eines «Konto gebient fein fann, unb bafi bas, mas ich ba*
mit oorbrachte, nichts als bie Lebensarten unb Blut*
mafiungen maren, bie ein geübter flboofat flets im Borrat
haben ntufi."
„Sie, mein Teurer," fagte ber Präftbent mit heiterer
miene gegen Oon petronio, „mlttern überall ltngerecf)tig*
feiten, meil 3hr grofimütiger Trieb, Berfolgten beijuflehen,
(ich bie Gelegenheit jum Eanbeln fchaffen mufi. fleh, bie
Schlechtigfeit ifl meniger intereffant, als Sie meinen! 6r*
leben mir es nicht alle Tage, bafi bas rohe Geftnbel unter»
einanber rauft unb flieht? BJir brauchen feine Sabeln ju
erfinben, um bas begreiflich ju machen."
23
Oon Petronto, ben nichts mehr beleibtste, ols wenn man
if»rt nicht ernfl itöbm, begann nun einen unmittelbaren
Angriff, wobei er ftcf) fortwäbrenb bas Anfeben eines ruf»»
gen, unbeeinffufjbaren Geiftes gu geben fucbte. An bem
Scbitffal bes «Ronco fei nichts gelegen, fagte er, bas fei
fomtenflar. £r fei nid» oiel mefjr als ein Xier, fei es nun,
bafi Stumpfftnn ober bafj «Roheit feine JTTenfcfjlidjfett ge»
flört habe. JTtan möge nitf» glauben, ba(S er Teilnahme
für «Ronco Ijabe, für ihn felbfi toie für anbere fei es oiel»
ieitf» bas befle, wenn er ber 3eitlicf)feit enthoben würbe.
Solche «Rütfftcbten würben if>n aber niemals abfjalten, ber
Wahrheit natbgutrocbten unb bas «Reef» in Ausübung gu
fe£en. OTur um J \xdft unb IDafjrfjeit fjanbele es fuf> für
alle, nicht um bas DJof» oon Klägern ober Befragten,
oor allen Gingen niif» um bas eigene. 6r wolle nichts oon
jenem «Ronco wiffen, wolle nicht wiffen, ob er BJeib unb
Äinb, Berwanbte ober Jreunbe habe. Eine berartige 6e»
ftnnung fei gwar bem jetzigen 3eitalter fremb, um fo mehr
werbe er baran feflftalten. €r werbe niemals Eanbgüter
faufen ober «fiunfifammlungen anlegen fönnen, oiel»
leid» flifte er nief» einmal Gutes mit feiner Jpanbtungs*
weife; es fei tf)m genug, ber Wahrheit unb Gerecbtigfeit,
auf bie er oerpf[icf»et fei, ohne Gewinn gebient gu haben.
Oie Gegner ließen eine gewiffe Gercigtbeit merfen, unb
es entfpann ftch ein Streit, ber noch im Gange war, als
«Ronco oorgefübrt würbe. SMefer batte ftcf) guoor nie fo in
Anfprutf) genommen gefef>en, benn Oon Petronto ließ je*
ber Srage, bie ber Präftbent an ihn richtete, eine anbers ge*
fe£te folgen, bie ben 3we<f batte, bie bisher liflig oerfcf)üt»
tefe XOafjrfjeit ans £icf» gu förbern. So oiel batte ber IDilbe
ingwifeben gemerft, ba|J man ftch oon i)oi)er Seife feiner
angunebmen begonnen batte, ja gerabegu auf feine Be»
freiung binarbeitete, unb feine oielberebete Stumpf» unb
«Roheit binberte ibn nicht, biefe Ausftif» als angenehm gu
empfinben unb feinen geifern, foweit er fie oerflartb, in
bie Jrjänbe gu arbeiten. 3uweilen begriff er ben Sinn ber
freug unb quer an ihn geflellten Sragen fo gut, bafj er
Antworten gab, bie bie «Richtigkeit feiner früheren Aus»
24
fogen in Jrage flellten unb eine böfe Derwirrung in ben
bisher fo glatten rogefj brachten. Bei folgen Gelegen«
ijeiten warf Don JJetronio jebesmal einen ernflen, (eiben«
fcfjaftltrf) forfcfjenben Blicf auf feine ©Jiberfacher, bie flcf)
fc^einbar mef>r oertoirfelfen unb erbeten unb gegen Jlonco
heftig unb beinahe brobenb losfuhren, woburcf) fle ihn in
eine folcfje Gemütsloge verfemten, bie für ihren 3toetf eben
bie richtige war. ©emt er fing allmählich an, fich für eine
anfehntidhe Perfon gu haften, unb wenn er fcf>on vorher
mit fleh unb feiner Untat burchaus gufrieben gewefen war,
fo glaubte er je^t vollenbs, bafj er fich nichts von bent
großmäuligen Tribunal brauche gefallen gu (affen, bas
keineswegs beffer unb wahrfcheinficf) bümmer fei als er.
6r gab nun gwar feine Grffärungen, mit benen fleh etwas
hätte anfangen (affen, aber er bejahte bas, was ihm ©on
fjecronio fleißig in ben IRunb legte, bafj er bas ©erbrechen
nicht aus eigenem Antriebe begangen habe, fonbem, bafj
er bagu angefüftet, eigentlich gezwungen worben fei, aber
nicht fagen bürfe, oon wem, unb fchlofj bamit, man möge
ihn gum Tobe verurteilen, er fei es gufrteben, hoch fei er
unfchulbig unb weniger ein JHörber, als biejenigen fein
würben, bie ihn an ben Galgen brächten.
So fdjnell inbeffen gaben bie ©erfchwörer nicht nach,
vielmehr flellten fle fleh an, als wären fie erpicht barauf,
ben «Honco gu liefern, unb erhoben gegen ©on Petronio
ben ©orwurf, als habe er bem Juchs, ber fchon in ber
Jalle gewefen fei, ein Türlein geöffnet unb halte fle un»
nüherweife bei einer nebenfäcf)üchen unb üblen Sache auf.
©aburch reiften fte biefen immer mehr, fo bafj er fleh fefl
vornahm, ber fahren iöafjrheit gum Siege gu helft»/ was
es ihm auch für IRühe unb ©erbriefjlichfeiten eintragen
möchte.
©er 3ufal( wollte, bafj es ©on Petronio gelang, einen
bisher nicht befanntgeworbenen Umflanb gu ermitteln,
bafj nämlich fowohl ber JRörber wie ber Grmorbete Be«
fl£er freien Bauerngutes waren unb vor 3 Q hren einmal
mit bem j?erm, oon bem fle bas £anb in Pacht hatten, in
Streit gewefen waren, weil er fle gang unb gar gu abhän«
25
gigen Portern hotte berabbrücfen wollen. 6s unterlag
für Petronio faum einem 3weifel, baß biefer Jperr, ein
Albobranbini, ficb ber b eiben f>alsfiarrigen Jliänner, bie
itftn gu trogen wagten, auf einmal gu entlebigen oerfucfjt
batte, inbem er fie gegeneinanberbebte, unb obwohl er bar«
auf oergicbfete, ben Scbulbigen gu entfernen, ber jebenfatls
gu mächtig/ fcfjfeu unb geriffen war, um ftd) fangen gu
laffen, fo wollte er ibm bocb bas Opfer abjagen/ fowenig,
es an (ich ber Xeilnabme wert fein mochte.
mittlerweile batte ber JTCeifter ber Kapelle, Oon Dragio,
eine enbgültige Ausfpracbe mit «Ronco, ber fleh auf oieles
3ureben bereit finben ließ, wenn er freigefproeben fein
würbe, als Sänger in ben Oienß bes ^eiligen Hafers gu
treten. Er oermoebte nunmehr feine «Holle beffer gu fpie*
len unb gebärbete ficb tagtäglich breifier, fo baß bas ge«
famte Xribunal enbticb ben Augenbitcf berbeifehnte, wo
es bie Bürbe feines Schüblings würbe abwerfen fönnen.
Oie Sreube unb Genugtuung war auf allen Seiten gleich
groß, als ber Sreifprurf) erfolgte, wenn auch ber Präfibent
unb ber Aboofat ficb nichts baoon merfen ließen, fonbern
3ngrimm unb Befchämung gu oerbeblen fchienen, um ficb
befto beffer gu belufiigen, wenn fee unter ficb waren.
Eingig Äarbinal JTtaggamori machte böfe 3eiten burch;
benn bie üble Saune feiner Jjjerrin Olimpia nahm gu, feit
er in ber Angelegenheit ihres jungen Hefters nichts aus«
gerichtet batte. Er mochte noch fo febr beteuern, baß er
alles Erbenfliche unternommen habe, ihn gu retten, baß
aber bie Gerechtigfeit ihren Sauf hätte nehmen müffen, unb
baß es ihn nicht minber als fie betrübe; fie bebarrte babei,
er hätte es ficb feine JTlübe fofien laffen, weil feine Siebe
gu ihr felbßifcher JTatur fei unb nur genießen, nicht wir»
fen ober opfern wolle, unb fie beftrafte ihn burch eine burch
nichts gu erhellenbe Xraurigfeit. Oer Jammer ihrer un»
glücklichen Xante, fagte fte, habe ihr auf einmal bie Augen
für bas Elenb bes Sebens eröffnet, fo baß fte ficb an ben
irbifeben Oingen nicht mehr ergäben unb nur in ber Sj in»
gebung an Gott einigen Xroß finben fönne. Dörflich war
fie feiten mehr gu $aufe angutreffen, fonbern hielt ficb
26
fcfjtoarg gefleibet in «Rtrcfjen auf, wo fte balb oor biefem,
balb oor jenem Altar ft<h in Xränen auflöfie. Empfing fte
ben Sreunb einmal, fo forberte fte ihn auf, oon geifitichen
Gingen mit if»r ju reben, unb wenn er ihr auf biefem Ge»
biete nicht genugtun tonnte, hielt fie ihm mit großer Bitter»
feit oor, bafi er feinen Beruf nicht oerflefje, unb lief? ihn
merfen, bafi er nichts oiel Befferes als ein Heuchler unb
Betrüger fei. Sie füllte ft cf) tiefunglücflich unb alles beffen
beraubt, was früher ihrem Oafein Jrjalt unb 3nf)alt gege»
ben hatte. Es fehlen if>r, als fei ifjr JRann, oon bem fie nun
fcf)on lange getrennt lebte, im Grunbe oiel annehmbarer
gewefen als ber Äarbirtal, infofern, als er (ich boef) für
nichts Jrjöheres ausgegeben fyxtte, als er war. UJenn fie
fleh bie 3eit jurürfrief, wo JTiajgamori ihre Siebe erregt
hatte, fo oermochte fte in allen jenen Szenen, bie jwifchen
ihnen oorgefallen waren, ben 3auber ber Poefie nicht mehr
ju finben, ber fie früher in ihrer Eütbilbung oergolbet hatte.
BJas toar baran, fo bachte fte nun, anberes unb Ebleres
gewefen, als was fleh alltäglich in jebem Hüntel abfpiett
unb oft genug ju Gelächter unb Efel reijt? BJie fehr fte
fuh bemühte, etwas Befonberes unb Ausgezeichnetes an
bem Äarbinal zu finben, ihr Gewiffen wollte ihr nichts
fagen, als bafi er eine unfeufche Beflie fei wie bie anberen
JRänner auch, mit bem ltnterfchiebe, baß fein geifllicher
Beruf ihn noch bazu zu einem gteisnerifchen Sügner machte.
Sie hätte ihn amtiebflen nicht mehr gefehen; wenn fte ihn
Zuweilen bennoch t>er beiwünfehte unb feinen Befuch an»
nahm, fo tat fte es hauptfächlich, um ihn fühlen zu taffen,
was fte oon ihm bachte, unb wie unglüeflicf) fte fei.
Ein fchweres Begängnis war es für ben itarbinal, bafi
ber oerbüflerte Gemütsjufionb ber fdf)önen Olimpia fte ihm
noch weit liebenswerter erfreuten Uefi als früher. 3f>r
Blirf, ba er fo feelenooll geworben war, zog ihn mehr an,
als es je ihr ftnnlief) erglühenber getan hatte, unb ihre be»
mütige Xrauer, bie ihn hätte abmehren fotten, reizte mit
feinem TTCitleib unb feiner Bewunberung zugleich feine auf*
richtigflen Siebesempfinbungen. Hüeoiel reicher unb erha*
bener erfcf>ien fte ihm, feit fie feiner nicht mehr beburfte!
27
DJcnn er jufah/ tote milbe unb oerflänbnisooll fie mit ar*
men £euten umging — benn fie fuef)te nun Gelegenheiten,
um ftcf> Jlotleibenben mohltätig ju ermeifen —, menn er
hörte, mie flug unb frei fie über alle üerhältniffe bes £e*
bens ju reben mußte, fo fam fie ihm mie eine Iöieber*
geborene oor, ihm meit entrüeft unb hoppelt begehrens*
mert. 6r gab fi<h JTiühe, auf ihre neuen Gebanfengänge
einjugehen, ohne baß er etwas anberes als Spott unb
Bitterfeit babei geerntet hätte. Otimpia fanb biefe Beßre*
bungen, bie nicht ber Sache galten, fortbern nur ein Aus¬
fluß feiner üerliebtheit mären, lächerlich ober gar abßo*
ßenb unb mürbe burch (te in ber Itteinung beßärft, baß
ber «Rarbinal ein feichfer feuchter fei. .
3n ber Hoffnung, bie ihm Gntfchlüpfenbe ju feffeln unb
ihre meltlichen 3ntereffen mieber ein menig anjufachen, er*
jähIte ber Äarbinal ihr oon bem munbermürbigen Sänger,
ben fein Sreunb ©on Drajio fürglich fennengelemt unb
für ben päpßlichen ©ienß ermorben höbe, ©iefer Sänger
fei, erjählte er, burch mibrige Schirffalsfälle oerfolgt unb
unter hö<hß feltfamen llmßänben oon ©on Drajio entbeeft
morben, bie auch ihm noch Geheimnis mären. Gemiß fei,
baß er bie herrluhße Stimme beft^e, bie Je ein italienifches
Dhr bejaubert höbe unb bie burch bie forgfältige Ausbil*
bilbung, ber fie Je£t unterjogen merbe, noch geminnen folle.
©ie TRittel bajü hätten Drajio unb er hergegeben, ba ber
Sänger burch bie ermähnten Sd)icffalsfchläge mittellos ge*
morben fei; es reue fie aber bas Dpfer nicht, ba Jeber Xon
aus ber gefegneten Äefße ebleres Golb als bas fei, mas fie
bafür ausgegeben hätten. Wenn Dlimpia ihn ju hören
geneigt fei, fo molle er eine Gelegenheit baju in feinem
^aufe oeranflalten.
3nbeffen Dlimpia mar ju fehr in ihre fchmermütigen An*
fchauungen oerfenft, um ftch irgenbmelche 3erßreuungen
gefallen taffen ju mögen; nichts mar ihr recht, mas fie ba*
oon entfernte, nur bas millfomnten, mas fie barin be*
ßärfte. Schöner Gefang märe ihr mof)l lieb, fagte fte, aber
ju teuer erfauft, menn fie ihn im Beifein anberer, etma fo*
gar unter gefeiligen 3urüßungen hören müffe. Äönne ber
28
Sänger ße auffucfjen unb ihr feine Äunß oorfiiijren, ohne
ße in ihrer einfamen Befc^aulirfjfeit ju ftörm, fo wäre es
möglich, bofi fte öenuß baran fjätte- Das wußte ber Äar»
binal nun nicht einjurichten; benn einmal wußte er nicht,
ob Jlonco, ber ft 6) übermütig unb habgierig entfaltete,
ohne weiteres unb namentlich ohne bie flusßcht beträgt*
lieber Borteile baju oerßehen mürbe, unb jubern hätte er
für bas Benehmen feines Schüblings nicht einjufle^en ge*
wagt, wenn berfelbe ohne 3wartg unb flufßcht allein mit
einer Dame getoefen wäre. So mußte er auf eine Gelegen*
f>eit warten, um DIimpia mit bem BJunbermanne begannt
ju machen, unb eine folcfje bot ftcf) benn auch, als ber Ge»
fangmeißer, ber ihm Unterricht erteilte, feine Stimme für fo
gefault erflärte, baß feiner Borfiellung bei ^>ofe nichts
mehr im IBege ßef>e.
Der JJapß batte 3 ur Teilnahme an bem Äonjert, bas in
feinen Gemächern flattfinben follte, einen Meinen gewählten
.Kreis mußMiebenber Sreunbe um ficf) oerfammelt, unter
benen Äarbinal JTlajjamori, als um ben Sntnb fo fehr oer*
bient, nicht fehlen burfte. fluch war ihm bereitwillig ge*
ftattet worben, feine Sreunbin DIimpia mitjubringen, bie
eine Ginlabung bes ^eiligen Stuhles ausjufehlagen ß<h
bemt hoch nicht getraute. Sie wählte jwar eine Jrifur unb
Äleibung, bie, bunfel unb fdfßicht, gegen bie früher oon ihr
geliebte reichliche flusfehmüefung weit abßach, unb hielt
fcch auch befcheiben unb faß fchamhaft im ^intergrunbe;
aber baß ihr partes Sleifch um fo lieblicher aus bem Schat*
ten heroorleudjfete, hatte ße burch biefe Beranßaltung hoch
nicht (ßnbern fönnen.
Gnnojenj war ein feiner, Meiner alter Sperr mit einem
jierlichen Geßcht, mit etwas unbeutlichen flugen, einer ge»
bogenen jugefpi^ten OTafe unb einem bünnlippigen, meiß
freunblichen ÜTunbe. Gr nahm bie Jputbigung ber Gäße
gefchwinb entgegen unb ließ einem jeben einige feherjenbe
BJorte jufommen, wobei ihm aber bie Ungebutb wegen
ber beoorßehenben Borführung anjumerfen war. Als es
eine TRinute über bie 3eit war, auf welche man ben Sän*
ger beßellt hatte, würbe ein neroöfes 3uefen um feine
29
Augen (lcf)tbar, unb Diajjamort blicfte ängfilicf) oon ber
foftbar oerjierten Uf)r, bte auf bem Uiarmorfamtne fianö,
jur Jlügeltür; er atmete auf, al9 btefe ftch öffnete unb ©on
Orajio, eintretenb, um bte 6f)re bat, ben Sänger «Konto
oorfielien ju bürfen. «Konto batte fi<h in ber 3eit feiner
Vorbereitung eine «Ri(f)tf<f)nur feines Kinftigen Betragens
gemacht, bie einfach, aber nichtsbefhnoeniger ausnehmenb
jtoecfmäfitg »ar: nämlich ben Beifall bes Papfies ju er*
»erben unb einjig barauf fein beflänbiges Augenmerf ju
richten. Don biefem Borfa£ befeelt, ging er flracfs, bie
Augen mit einer getoiffen einbringlichen ipeftigfeit auf bas
erhabene 3iel gefiellt, auf ben alten fyerrn ju, fiel oor ihm
nieber, füfite ihm bie Säifje unb oerharrte in biefer Stel*
tung, inbem er bie Arme oor ber Brufl faltete, ©iefe finb*
liehe Gebärbe inbrünfüger Eingebung rührte 3nnojenj fo
fehr, bafj er umoillfürltcf) bie Sippen auf bie Stirn unb bie
«fjärtbe auf bie breiten Schultern bes oor ihm fnienben
JTtannes brüefte, »orauf er ihn mit ermunternben DJorten
begrüßte unb aufjufiehen unb ftcf) ju fe£en aufforberte.
Safi fürchtete ber alte ijerr, bas erfchütternbe Gefühl, (ich
jum erflenmal tn feiner Gegentoart ju befinben, fönne ben
Sänger ber 3Tiacht über feine .Kehle berauben; es jeigte
(Ich ober, bafS ber fiarfe JTtann mit ber Eingebung bie ltn»
befangenheit eines Äinbes oereinte, benn ohne burcf) bas
leifefle 3ittern beeinträchtigt ju »erben, rollten bte erflen
Töne »ie große glänjenbe Perlen in ben Saal. 3nfolge
einer Anordnung bes Orajto fang er juerfl bas Dolfslieb,
bas er unb JTTajjamori im Gefängnis oon ihm gehört hot*
ten, unb bos ohnehin ols et»as Heues unb Befrembliches
Auffehen erregte unb Ginbruc? machte.
6s »or, als ob ber Stab eines 3auberers bie Jperjen ber
3uhörer berührt höbe; einem jeben tauchten liebe Xräume
auf, aller fchönße Augenblicke, beren (ie ftcf) erinnerten ober
bie fte erhofften, unb bie einen füfjeren ©uft aushauchten,
als ber jerfleinernben IDirflichfeit übrigjubleiben pflegt.
Olimpia übertam ein getoaltfamer Schmerj, ber aber nicht
nieberbrttcfenb »ar »ie ber, bem fte feit'oielen DJochen in
»echfelnber Art hingegeben »ar, fonbem burchbringenb
30
unb angenehm, als eine Araft, bie fte über bos gemeine
£eben emporjutragen frfjien. Sie füllte, toas fte einfl als
JHöbcfjen geroefen mar/ toas fte non ber 3uhmft erwartet
unb toas fte felbfl hätte leiflen unb erringen motten, unb
mit ber fchrecHichen £inficht jugleicf), rote roeit fte non bte»
fern 3iele obgerott^en roar, glaubte fte ju roiffen, bafi es
nur auf fte anfomme, roieber bie reine, flarfe unb freubige
Seele oon bamais ju roerben. Sie hörte nicf)t auf, ihre
Beziehungen ju JTtajjamori ju bereuen, aber fte tabeite
fleh in biefem Augenblick, bafi fte tfjn mit ijjärte behanbelt
hatte, ba hoch nicht er allein, fonbern auch fte gefünbigt
habe, unb ba er ihr hoch nicht bie Jftöglichfeit rauben
fönne, aus ben 3rrroegen, auf bie er fte geführt, jur Älar*
heit aufjufleigen. €s erfchien ihr roie ein löunber, bafi
fie froh ihres IBiberflrebens in bie Jlähe bes JTCannes ge*
bracht roorben roar, beffen Stimme ihr fo tröfllith rourbe,
unb ber ihr baburch fafl roie ein Abgefanbfer 6ottes er»
fcheinen roollte. Aus bem HJinfel, roo fte pia£ genommen
hatte, fonnte fie ungeflört feine helbenhafte Gefialt beroun»
bem unb bas bunlle Ant(i£, beffen IBilbheH-fie erbeben
machte.
«Honco roar bei ber forglichen Pflege, bie er fleh feit 9«*
raumer 3eit hotte angebeihen taffen fönnen, nur auf bie
Art fehöner geroorbm, roie aus einem fchäbigen hungrigen
XDolf ein roohlgenährter rolrb; aber bies genügte, um auf
aller Augen einen blenbenben unb überroältigenben £in»
bruef ju machen. Oie Begeiferung roar allgemein; hoch
machte niemanb bem ^eiligen Bater bas «Herf)t flreitig, fte
juerf ju äußern. Oer Heine Sperr fafl mit geröteten BJan*
gen ba, Hopfte hi* unb ba in bie 4>änbe, rief: „Braoo!
braoo!", roiegte ben Äopf unb unterbrach ou<h roohl ben
Gefang mit Ausrufen bes Gntjücfens: „Ah! XBelcher An»
fa^t BJelche Süfiigfeit! Weld)e Erfindung!", roenn bie
Aabenjen roie aus bem Süllhorn bes liberftuffes aus fei*
nem JTtunbe flrömten. £s oermehrte bie Berounberung
Olimpias, bafi ber Sänger feinen Blicf auf bie Gefellfchaft,
gefchroeige benn in ihren JPinfel roarf; er fchien nur für
ben Jpeiligen Bater ba ju fein uetb auf feinen ZBinf ju
fingen ober gu fchwetgen. Einem Ergenget mußte fie if>n
Dergleichen, ber, in ooller Pracht geriißet, bemutooll ben
Befef)l bes J?errn ber ^eerfcfjaren erwartet
Erß als bie ßefellfcfjaft aufftanb unb auseinanberging,
fiel ein Blicf bes Sängers auf fie, ber mehr als Gleich*
gültigfett, ber nieberfcfjmettembe Berachtung ausgubrücfen
fehlen. Sie fcfjlofS baraus, baß er wiffe, in welchen Begie*
hungen fie gu Äarbinal JRaggantori geflanben höbe, ja
feiner JTIeinung nach noch flehe, unb baß er fte aus biefem
Grunbe für eine Berworfene holte, was fie ja im Grunbe
auch fei.
3n BHrfüchfeit hotte ber Sänger weber fie noch fort fl
eine oon ben 3uf)ärerinnen beachtet, ba es ihm gunäcfjß
nur um ben jJapfl gu tun war unb er überhaupt an ben
oomehmen Oamen noch feinen Gefchmacf gewonnen hotte.
Allmählich jeboch flellte fich bas Berßänbnis bafür ein,
unb nunmehr fonnte ihm bie Berehrung nicht unbemerft
bleiben, mit ber bie fchöne Dlimpia gu ihm aufblicfte. 6s
fchmachelte ihm nicht wenig, baß bie Geliebte bes Äarbi*
nals JTtajgamori ihn biefem angefehenen, einflußreichen,
liebenswürbigen unb gebilbeten JTianne oorgog, ben gu
beteibigen er ohnehin einen lebhaften Antrieb in fiel) oer»
fpürfe. 3* mehr feine Stellung beim Papß unb in Jlom
ftch befeßigte, beflo unleiblicher würben ihm bie beiben
Herren, benen feine Bergangenheit fo wohlbefannt war,
fo baß er mit bem Gebanfen umging, fte, wenn ftch ein
Anlaß bäte, aus Jlent gu entfernen.
3n ben erßen Tagen, bie bem Äongert folgten, war
JTtaggamori hochbeglütft über ben Erfolg. Schien es hoch
bie geliebte Srau weich unb gugänglief) geßimmt gu hoben.
Ilm fo fchneibenber war feine Enttäufchung, als fie tym,
wenn auch in gütigen BJoTten, ihren unerfchütterlidf>en
Entfchluß mitteilte, jeben Berfehr mit ihm abgubrechen,
ba fie ein neues, t einer es £eben in 6ott nunmehr beginnen
wolle.
©a er fah, baß jeber Berfuch, fie ihrem Borfafc abfrün«
nig gu machen, f(heiterte, ergab er fich unb rang bereits
mit bem JJIane, ihr rtachgueifern, um ihr wenigßens in ben
32
«Regionen ber Entfagung wteber gu begegnen, als er burch
JTecfereien Befannter ouf bie garten Jähen aufmerffam ge*
macht würbe, bie gwifcfjen bem Sänger unb ber Büßerin
(>tn unb her gingen. IBar er aucf) übergeugt, baß bei Olim«
pia nichts oorlag als bie Schwärmerei einer empfänglichen
Seele für bie Stimme, in ber etwas Göttliches finnfällig gu
werben fcf)ien, fo gweifelte er hoch billig, ob ber gewalt*
tätige Bauer einer ähnlichen Erhabenheit ber Empfinbung
fähig fei, bem er oielmehr bie flbftcfjt gutraute, bas UJeib
in bie Jlieberungen feiner Sinnlichkeit herabgugiehen.
Oies würbe ihm gur Gewißheit, als oerlautete, ber Sän*
ger f>abe oor einigen Tagen um Urlaub gebeten unb fol*
chen auch erhalten, um irgenbwo am JTteere ober im Ge»
birge feine Stimme gu fronen, was gu beren Erhaltung
oon ben flrglen für burchaus notwenbig erflärt worben
fei. Außer ftch eilte ber Äarbinal gum ]Japße, um ihn bar*
über aufguflären, welche Gefahr feiner JTCeinung nach eine
eble Sreunbin bebrohe, unb wie freoentlüh bie Güte bes
hulboollen Gebieters mißbraucht werbe.
Oer alte Jperr rnerfte faum, baß es ftch um einen An*
griff auf feinen £ieb(ing hanbelte, als feine £ippen fith
ärgerlith gufammenfniffen. Er felbß litt unter beffen be*
oorßehenber Abwefenheit, hotte feiner Bitte aber bennoch
willfahrt unb ein Beifpiel ber Selbßoerleugnung gegeben;
mußte er bem geifloollen 3auberer nicht einmal ein Aben*
teuer, in bem er fich austobte, geßatten? XBar er bo«h felbß
jung gewefen! linb wieoiel mehr als ein anberer beburfte
ber Jeurige, ber 3ünbenbe, ber Berfchwenber 3ufuhr neuer
Kräfte, bie ihm, bem Papß, unb allen, bie ihn hörten,
wieber guteil werben würben! BJenn er fich oorßellte, wie
ber löwenhafte JTCann bas erßemal, bie Arme über ber
Bruß gefreugt, oor ihm niebergefniet war, fo pflegten ihm
Tränen in bie Augen gu treten. OTiemals war er feitbem
oon biefer finblichen unb ritterlichen Eingebung abgewi«
chen. Obwohl fyifyiQen Temperaments unb hcxhfahrenben
Sinnes, wie er benn im Umgang mit anberen JTienfchen
oft burch gügetlofe £aune unb Grobheit überrafchte, nahte
er fich ihm, öem ^eiligen Bater, bem gierlichen Keinen
3 ®te fccutfö« StefceHe.
33
JTtanne, nte ohne Untermürfigfett, nahm er non if)m jeben
Tobet mit Befcheibenheit unb Gebulb entgegen unb rief
in jeber Angelegenheit fein Urteil als bas böcbfte, gleich*
fom non 6ott felbfl ausgefertigte an, bem fich gu beugen
ihm augenfchetnltch fomohl Sufi toie Pflichtgebot mar«
3nbem er ftcf> in feinem Seffel gurüeffepte, betrachtete
3nnogeng ben «Rarbinal erflaunt unb bat um eine Erflä*
rung bes Anteils, ben er an bem Urlaub unb ber «Reife
bes Sängers nähme. Ein menig errötenb fagte ber «Rar*
binat, es fei bem ^eiligen Dater nietleicht nicht befannt,
ba(5 «Ronco ben Ausflug in Begleitung einer ©ante gu
machen gebenfe, einer ©ame, mit ber er meber tn oer*
manbtfchaftlicher noch in ehelicher Beziehung flehe, foniel
ihm befannt fei.
„Unb mas meiter?" fragte ber Papfl fühl. „Sollten
Sie, mein Sreunb, niemals eine Jleife mit ©amen ohne
nermanbtfchaftliche Beziehung unternommen höben? Ober
toenn Sie, ein Geiflluher, ein ©iener Gottes, es nicht ge¬
tan höben, txmrum follten Sie einem Sänger btefc Freiheit
mißgönnen ? /#
©er «Rarbinal gitterte oor Berlegenheit, Angft unb Ent*
täufchung. „üergeihen mir Eure ^errlichfeit," fagte er,
„menn bie Sorge um eine Srau, bie mir teuer ifl, unb über
beren ^eil gu machen ich mich oerpflichtet hölte, mich gu
meit hingeriffen hat."
Beoor er noch mehreres htngufügen fonnte, unterbrach
ihn ber Papfl, inbem er fagte: „Gut, gut! Uberlaffen Sie
es münbigen trauen, fich felbfl gu fchüpen, menn fie über*
haupt bes Schußes bebürfen ober ihn münfehen. 3cf) höbe
es flets fo gehalten, baß ich meinen Untergebenen in Sa*
milienfachen freie j?anb ließ, benn bies ifl ber Punft, mo
aus ^errfchaft Tprannei mürbe/'
3la«h biefer 3ured^tmeifung mürbe ber «Rarbinal nicht
ungnäbig entlaffen; }a, ber Jpeiltge Hafer geichnete ihn beim
nächflen Empfang mit liebensmürbigen IBorten aus; aber
als er nach einigen Tagen an bte Spipe einer JTtiffion gur
Befehrung ber Reiben in 0apan geflellt mürbe, tonnte er
34
nicht umhin, barin mehr bcn Xöunfcf) bes Papfles, tf>n gu
entfernen, als einen Beweis feiner Hochachtung gu fefjen.
Oas Bewufjtfein feiner Hntauglicfjfeit ju einer folgen
Aufgabe toar fo flarf in ihm, baff er es wagte, bem Papfl
feine Befürchtungen bieferhatb gu unterbreiten; bocf> be»
ruhigte ihn biefer mit bem Hinweis auf feine mannigfachen
Talente, benen, wenn fie ber Glaubenseifer unter flü^e,
nichts unmöglich fein werbe, unb auf bie Jllärtprerfrone,
ble er ftcf> im heften Sali erwerben fönne.
Oon Oragio hielt fich etwas länger, fcfjItefSlicf) jebocf)
muffte ber unentwegte Jlonco auch ihn gu flürgen, inbem
er ihn burch fortwährenbe HTcberfetjlichfeiten unb &rän»
fungen bähen brachte, fich beim ^eiligen Bater über ihn
gu behagen. Als biefer ihn bamit abwies unb ihm oiel»
mehr empfahl, fich einem fo herrlichen Äünfller, ber 3ierbe
feines frjofs, gegenüber nicht gu überheben, braufle Oragio
auf unb rief aus: „BJie? Bon biefem Bieh, bas ich aus
bem Bioraff gezogen höbe, foll ich mich ungerecht oer*
höhnen laffen?" mit welcher unbefonnenen Äußerung er
bie Gunfl feines Jrjerm oollenbs oerfcherjte. Denn wie er
fich wegen bes beleibigenben Ausbrucfs rechtfertigen wollte,
bebachte er, baff er ben wahren Jpergang feiner Befannt*
fchaft mit jlonco nicht wohl enthüllen fonnte, ohne fich in
oerhängnisootte JTttffhelligfeiten gu oerwirfeln, unb muffte,
ba er fich über fein Benehmen nicht ausreben fonnte, als
oerteumberifcher Schmäher ober ungegähmter Tollfopf ba»
flehen. Oie es gut mit ihm meinten, waren ber Anficht,
baff er es noch für 6nabe unb Glücfsfall anfehen müffe,
als ber Papfl ihn nach bem Meinen f?ofe oon Succa emp*
fahl, mo er gwar in fchmalen Berhältniffen, aber hoch ohne
JTot unb Gefährbung fein Oafein friflen fonnte.
Schlimmer unb beffer gugleich erging es feinem Sreunbe
JTtaggamori, ber gwar mancherlei Entbehrungen unb To*
besgefahr gu beflehen hotte, aber, wenn foldfje oorüberge»
gangen war, auch Augenblicfe bisher ungefannter Selig»
feit feierte, unb über beffen liebe unb traurige Bergangen»
heit bie oielen abfonberüchen Cinbrücfe, bie er empfing,
einen bunten Schleier webten, ber fie unbeutlich machte.
3 *
3 J
3umeilen, menn er in frentber Ginfamfeit am Geflabe bes
Dgeans gmifchen namenlofen «Hiefenbäunten unb vorüber*
hufchenbem Getter in ber ©äntmerung ficf> erging, erinnerte
Um, er xpufSte nicht rote, ein lieblicher i^immelsglang gu
feinen Raupten an bie fchntalen länglichen Cherubsaugen
jenes jungen £ancelotto, mit benen er frei in parabiefifchen
Sphären auf bie oerlaffene Grbe hinabfehen mollte. Biel*
leicht, bachte er, lächelt er über bie Bermorrenheit, in bie mir
armen Toren oerflricft finb, toenn er fi<h nicht lange fchon
ermübet meggemenbet hett gu ben gelöflen Geheimniffen ber
BJeltregierung* Auf Augenblicfe fchmieg bann bas Jrjeirn*
meh nach ber golbenen «Rüfte 3taliens, bas ihn in Stun*
ben, too er allein mar, gu begleichen pflegte, unb er bachte
mit bänglicher Sehnfucht an bie JTIärtprerfrone, bie feine
Arbeit unter ben böfen Reiben ihm eintragen fonnte, unb
bie vielleicht, oon unsichtbaren Jpänben bereitgehalten, fchon
über ihm fchmebte*
36
$ln SomiHenfnlÖ öon 6o y o
Don Paul Ernfl
langen fahren machte icf> eine .Keife burcf) Spa«
-%_ snien cf) f)ieU mtcf) eine löette in Saragoffa auf
uni) befugte oon bort in größerem limfreis mehrere
£anbfcf>aften uni) Orte. Diefe Ausflüge nahmen oft mehrere
Tage in Anfprucf).
Auf einem folcfjen Ausflug,, ben icf) allein jtt Pferbe
gemalt batte, tarn icf) an einem Abenb in ein Dorf/ wo
icf» nacf) ben Aus fünften, bie mir geworben, ein ertrag«
liebes Xtnterfommen erhoffen burfte. 3cf> fanb aber nur
einige Bauernhöufer oor, beren Bewohner wof>l freunblicf)
unb f)öflicf) waren, aber bem JTorblänber mit feinen frent»
ben Gewohnheiten unb notwenbigen Anfprücfjen fein
3iacf)tlager bieten fonnten. Einer ber Bauern fagte %u mir:
„Äontmen Sie, J?err. 3cf) geleite Sie jum Grafen. Es wirb
für if>n eine Efjre fein, einen fo ausgezeichneten Jremben
unterbringen ju bürfen."
Das Schloß fianb auf einem Jpügel, beffen helfen ficf>
fchieferten, mit grauen, fenflerlofen JTiauern unb bidfen
Türmen. IBir dritten über bie 3ugbrücfe in ben J?of.
6rauer .Hafen wucf)S bürffig jwifrfjen runben Pflafier»
(leinen, ltnfere Schritte hallten leer; bie Türen ju ben
BJirtfchaftsgebäuben waren fefl ©erriegelf, unb bas Gras
hob oor ihnen feine Jlifpen.
„Die Jrjerrfehaft war früher fef>r reich," fagte ber Bauer,
„aber wie bas fo geht, bie neuen 3eifen finb gefommen.
3et)t i|l nur noch ber Graf ba. Er ifl unoerheiratef, unb bie
Samilie flirbt mit ihm aus. Dann fällt ber Befitj an ben
&önig. Es finb faß gar feine Grünbe mehr babei."
BJhr traten burcf) eine eifenbefchlagene eichene Tür in
bas XBofmgebäube. 3n einer gewölbten Jpalle hingen an
37
ben HJänben Rüßungen unb Jofjrtfn, an einem häßlichen
jrjafenbrett bagwifdjen ein Jrjut, ein Regenmantel unb eine
3agbf(inte. Gin JTtäbcfjen oon gwölf 3<*f)ren mit fd>wargen,
flauen Augen fam uns barfüßig entgegen, fprang wie
ein Rät)d)en oor uns bie Treppe hinauf unb führte uns in
bas 3immer bes Grafen.
Gr ßanb auf, unb id) entfdjulbigte micf). ©er Graf gab
mir bie J?anb, menbete ficf) mit banfenben XDorten gu bem
Bauern, baß er micf) gu if>m geführt, unb entließ ihn.
Dann festen mir uns einanber gegenüber.
©er Graf toar ein Sperr oon etwa fünfgig 3af>ren, mit
einem langen, fcf>wargen, etwas ergrauten Bart, f)Ocf)ge<
wad)fen, mit fd>wermütigem Gefidüsausbrucf. Gin
Sdjreibtifd) aus bunflem Gicfjenholg ßanb in ber JTtitte
bes 3immers, barauf ein Rrugißy. ©er Graf hafte in einem
alten Bud) gelefen, bas nod) aufgefdjlagen balag. Auf bie
geweißten IBänbe fiel burd) bas offene Jenßer ber letjte
Sonnenßrafjl.
3<f) ergäf)lte if)m oon meiner Reife, oon meinen Geban»
fen unb Ginbrücfen. ©er 6raf nidfte gufjörenb mit bem
Ropf unb griff fid) einmal in ben Bart.
Gr fagte: „3a, icf) bin nicht oiel aus meinem Spa ufe ge*
fommen. 3n Salamanca war id) als Stubenf, auch einmal
gwei XÖocfjen in JTiabrib. ©as iß nicf)t richtig gewefen, id)
weiß es mof)l."
IBir fpradjen weiter.
Ginmal fagte er: ,,©urd) Sie wirb mir manches flar.
Sie ßnb bürgerlich, nidjt wahr? Sie wiffen oon 3fjren
Gltern, 3f)ren Großeltern, nachher oerfdjtoimmt alles. 5ür
mich war es nicht gut, baß id) guoiel oon meinen Bor«
fahren wußte, ©as fnnberte micf). Ginen anbern f)ätte es
oielleid)t nicht gef>inbert. 3d) habe in ber Jpalle unten eine
$af)ne, bie aus ben JTtaurenfriegen ßammt, unb icf) weiß
allerlei oon ben Borfaf>ren. Sie waren Rrieger unb ^of*
leute unb Staatsmänner. JTiein Bater hat fd)on fein gan*
»es £eben für fid) f)ier oerbracfjt. 3cf) bin fein eingiger Sofjn,
3d> habe nid)f geheiratet. IBesf)alb war jjas fo mit meinem
38
Xfattr und mir? JTJeine Borfahren waren alle gute £eute,
Id) bin es aud)."
6s war, als wenn er gu ft d) felber fprä«f>e: „6s ifl ja
heute eine andere 3eit. Srütjer herrfchte der Adel, da waren
im Adel aud) die Befien. Das ifl nun deute nicht mehr.
Alles ändert ftcf>. Gefdjlechter fommen und gehen. 6s ifl
nid)t fo, daf} id) einen dummen AdelsdUnlet gehabt fjdtte.
Aber id) weif} aud)/ was der Adel bedeutet bat, was er noch
deute bedeutet."
Oer Graf fad plö£licb gu mir auf: „Sie oerachten die
heutige 3eit aud), nidf)t wahr?"
3<h erwiderte idm: „3a. Aber icd glaube nicht —"
„3d) weif}, was Sie fagen wollen", unterbrach er mtd).
„3dd höbe feinen dummen AdetsdUnfel. Oie 3eit des Adels
ifl offenbar gu 6nde, das fpüre id) an mir, denn fonfl
wäre id) ein anderer JTlenfd). 3Tur, ich möchte wiffen, wie
das gefchehen ifl, daf} das BJiffen oon meinen Borfahren
mich fo drücft, daf} es mich unfähig für das £eben ge»
macht hot. Oenn fo ifl es doch. Oder ifl es nicht fo?"
Oas barfiif}ige Jftädchen \)u]d)te herein und rief uns
gum 6ffen. HJir traten in ein fleines 3immerchen mit ge»
wölbter Oecfe. 6in glänzendes, fcharf gefniffenes Tifch*
tuch war gebreitet, darauf flanden filbeme Teller. IBir
af}en die Suppe. Oas Jltädchen nahm die geleerten Teller
ab und brachte auf einer filbernen Schüffel ein gelochtes
Sühn. Oer Graf gerlegte es. An den JBänden ringsum
waren HJappen gemalt, in den 3wifchenräumen Eaubwerf
und üfle. Oer Graf gof} mir BJein in das Glas, er felber
tranf nur Xöaffer.
„Oie £eute im Oorf hoben ihren Gottesacfer", fagte er.
„3hre Borfahren hoben da unten ihre tyiitun gebaut, als
mein Borfahr in den Turm gog, der noch aus der «Römer*
geit flammt, welcher der ältefle Teil diefes Gebäudes ifl.
UJenn im Oorf unten einer flhrbt, fo wird er im Gottes»
acfer begraben, ein SjÜQtl wird über dem Grab aufge»
worfen und mit Jlafen belegt, und die £eute wiffen, unter
diefem Sügel Hegt unfer Bater oder Oheim* ©ie £eute, die
das wiffen, werden älter und flerben fchHef}lich auch, und
39
ber Jpügel ftnft ein. ©te 6nfel wiffen nocf) oon tf>m. Aber
ol(mäf)Ucf) wirb bcr hügel bem übrigen Boben gleicf), unb
julef^t weiß niemanb mefjr, baß bort ein Grab war. Spä*
ter wirb bann einmal bort wieber ein 6rab gegraben, unb
es finben ficf) vielleicht nocf> ein paar Änorfjen; fie werben
in baa Gewölbe ber <Kircf)e geworfen, wo otefe anbere
Änorfjen liegen. 3a, biefe £eute im Dorf finb wie bas Gras
auf ber BJiefe, bas blüf)t unb oergef)t. 6s iß Unnatur,
wenn ber JTIenfcf) ntefjr fein will."
6r faf) mid) fragenb an: „haben Sie nicfjt aucf) fcfjon
gebaut, baß bie üornefjmfjeit.bocf) eigentlich Gntartung
iß?"
3cf) machte wof)l ein erßaunfes Gefickt. 6r fuf>r läcfjelnb
fort: „3a, bas Botf prarfjert unb fhacfjert, um ju effen unb
%u trinfen unb ficf) fort^upffanjen, unb wenn ein JRann
feine Äinber f)orf>gebrac^t f>at, bann legt er ficf) f)tn unb
ßirbt. Oabei f>at er immer ein gutes Gewiffen. ©as fcfjtecfjte
Gewiffen, ja, bas ßellt ficf) ein, wenn ber JTCann aus bem
Bolf oornefjm wirb. ©as fjabe icf> ja nicht. Aber was ich
habe, bas iß etwas S(f)fimmeres. Sehen Sie, icf) fjabe eine
fcfjnurrtge Bifbung. 3<h f)abe nichts gefefjen unb fenne
nichts, aber icf) habe oiel gefefen unb oiel gebaut. Sie finb
nun ber erße Oeutfhe, mit bem icf) fprecfje.
3cf> finbe, bie Oeutfhe« finb bie bürgerlihße Nation
oon ber BJeft. JReine üorfafnren haben gegen bie Pro»
teßanten gefämpft; nun, bas war bie fpanifcfje Oon»
quicf)Otterie. Oie Oeutfcfjen haben ben Proteflantismus in
bie BJelf gebracht unb bas fcf)Iecf)te Gewiffen. Oie Gnglän»
ber, bie finb ja aucf) profeßanten, aber fie haben ein gutes
Gewiffen. Oie Oeutfhen finb bas bürgerlich fie Uolf oon
ber BJelt. BJas für Augen werben bie Oeutfhen machen,
wenn er fl einmal bie Arbeiter bie ^errfchoft befommen!
3h fönnte mit ihnen fertig werben, aber Sie nicf>t."
BJir führten fein Gefpräcf). JTtan merfte es, baß ber
Graf immer für ficf) gelebt fjatte. 6r fonnte feine Unter»
Haltung führen, nicht auf bie Gebanfen bes anbern ein*
gehen. 6r fpracf) nur immer aus ficf) heraus; er bähte
laut.
40
Aus bem Metnett Speifegimmer führte ein Türken in
einen großen Saal, An ben DJänben gingen Jamilien»
bilber. Xtnter ihnen flanb f)ier unb ba einmal ein Stuf)!,
fonfl mar ber .Raunt gang leer.
3<h fcf>ritt auf ein großes Bilb gu, aus bem Gnbe be 9
18 . 3 af)rf)unberts, auf bem eine gange Samilie bargeflellt
mar: ein breitfehultriger, flattltcfjer JTtann mit lebhaftem
Ausbrurf, ett»a 9 gerötetem Gefidf)t, feine Gattin, eine be*
f)äbig oolle Dame, mütterlich unb freunblieh, unb gefm
Äinber, oon benen bas jüngffe noch oon ber Amme getra«
gen mürbe, inbeffen ber öftere .Knabe, mit flugen Augen
unb frifcfjem Gefickt, ein Buch in ber JFjanb f>«lt unb ben
Bater um eine Grflärung bat. „Gin 6 opa!" rief ich aus.
Der Graf lächelte über meine jreube unb mies auf eine
fleine «Rabierung, bie unterhalb bes großen Bifbe 9 hing:
„Diefelbe Dame als junges 3Ttäbrf)en, fünfgefjn Jaf>re jün*
ger, auch oon Gopa."
llberraf(f)t oerglich icfj bie beiben Bilber. Ja, bas mar
basfefbe 6 eficf)t, nur finblicf) unreif, fcf)lummernb unb oer*
träumt. „Die Srau muß in ben fünfgehn Jahren oiel erlebt
haben?" fragte trf). Gr fächelte. „3cf) mill 3f>nen bie Ge*
jd)id)te ergählen."
„JTtein Af>n Don Gnrique mar am Sof gu TRabrib efroa
um 1770 . Damals mar eine feinbfefige Spannung gmi*
fcf)en Spanien unb Portugal entßanben, unb ber .König
oon Portugal fehiefte einen feiner Herren, Don JITanuel
mit JTamen, um gu erflären unb beigulegen. Gr hatte mit
bem llnterf)änbler eine recht unglückliche BJaf)l getroffen,
benn Don TRanuel, ein blutjunger unb unerfahrener Kerl,
ber gubem mohl nicht gerabe ber geißreichße Jltann feines
Bolfes fein mochte, oerlepte alle £eute burch feinen uner»
träglichen Hochmut, unb menn nicht bie Anorbnungen,
bie er aus £iffabon erhielt, fo beflimmt unb bie frieb»
liehen Abfichten in JTlabrib fo fefl gemefen mären, fo hätte
e 9 bamals gu einem ltnglüef Jommen fönnen
Sie müffen oon Don Gnrigues Temperament urteilen
nach biefem Bilb, bas ihn boef) fchon in reiferen Jahren
oorfiellt.
41
Als Oon JTtanuel mieber einmal eine feiner Unoer*
frf)ämtf)etten oorbrachte, fragte er ifjn: ,Sperr, finb Sie
eigeotlich gefommen, um bem «König ben «Krieg ju erflä*
ren? Sie fönnen fieser fein, baß jeher Spanier gum
Srfjtoert greift, um bie Ehre feines Königs gu rädern'
Don JTIanuel hatte eine fcharfe Erroiberurtg auf ber dünge
unb begann eben feine Antroort. Aber bas ßefpräcf) fanb
im Dorgimmer bes Königs ßatt. Oer König hörte bie lau*
ten Stimmen, öffnete bie Tür, ernannte fogleith bie Sage
unb fpraef) gu Oon Enrique: ,3d) befehle Eud), begebt 6u<h
fofort in Eure Ufofjnung unb oerlaßt fie ni<f>t oor brei«
mal oierunbgmangig Stunben/ Oon Enrique grüßte unb
ging. Oann fpraef) ber «König gu Oon JTtanuel: ,3cf) bitte,
entfd)ulbigt bie Ungefchicflicf)?eit. Schreibt meinem fönig*
licken Detter oon Portugal, baß icf) feinem Abgefanbten
mohlgemogen bin/ Oon JTtanuel blähte fief) ficfjtlicf) unb
oerneigte fid> tief. Oer «König ging mieber in fein 3immer
gurücf.
Eine Stunbe nad) bem Dorfall befam Oon 6nrique ein
Schreiben Oon JTtanuels: Oon Enrique habe ihn beleibigt,
unb als portugiefifefjer Ebelmann müffe er if>n bafür
gültigen. Er toolle für biefen 3mecf feine Eigenßhaft als
Gefanbter ablegen unb ermarte if>n biefe Jtacht— ba bas
Gebot ber Ehre bem Gebot bes «Königs oorgehe — gu einer
beßimmten Stunbe, bie er angab, an einer Stelle, bie er
ihm gleichfalls beßimmte, mit ben JDaffen in ber j?anb
unb mit feinen 3eugen.
Oon Enrique mar in einer peinlichen Sage. Ttahrn er
bie Sorberung an, fo hotte er ben 3orn feines Königs gu
befürchten, ber ihm mit Jlecht oortoerfen fonnte, er ßhaffe
burch feinen Ehrenhanbel eine potiüfche Gefahr, benn ber
©ummfopf fonnte natürlich nicht felber einfach feine Ei«
genfehaft als Gefanbter ablegen, unb toenn er unterlag,
fo mar fein Sperr in ihm gefränft. JTahm er bie Sorberung
aber nicht an, fo trompetete Oon JTtanuel überall aus,
er fei ein Seigting. llnb bas iß nun ber fchmache Punft
bes flbels: Oem Abligen fann es nicht gleichgültig fein,
mas anbere über ihn benfen, mögen fie auch bie größten
42
Starren fein* Don Enrique mar aber auch nicf>t ber TRann
banacf), eine oorurteilsfreie Prüfung angufiellen. Oie IBut
fcfjofi ihm in ben «Kopf, als er ben Brief las, unb er lief?
burcf) ben Überbringer befteüen, er werbe ficf) pünftlich
an bem beflimmten Drt einfinben.
Jlun, bie beiben Herren trafen ficf) alfo. 3n bem 3wei-
fantpf brachte mein Ahn feinem Gegner eine gefährliche
BJunbe bet. Er forgte noch gufammen mit ben 3eugen
bafür, bafi er in feine HJohnung geführt unb oerpflegt
tourbe, unb bann begab er ficf) toieber in feine 3immer*
haft, um bem «König JTTitteilung oon feinem ltngehorfam
gu machen. Er fchrieb alles in einem ausführlichen Brief
auf, fiegelte ihn ein, pacfte feinen Oegen bagu unb liefi
beibes burch einen Sreunb bem «König Überbringern
©er «König hätte wohl eine Art finben fönnen, meinem
Ahn gu oergeihen, ber fdf)liefilich in einer 3wangslage ge*
toefen war, unb auch ber «König oon Portugal hätte wohl
eingefehen, bafi nicht bie Abficht oorlag, ihn gu beleibigen.
Aber wie folche Herren finb, alles, was if)re Abfichten
burchfreugt, ergeugt eine Berflimmung bei ihnen. Oer «Kö¬
nig befahl, meinen Ahn in ein Gefängnis gu fepen, too er
für unbeflimmte 3eit feflgehalten werben foflte.
3u ber Ehre Oon JTIanuefs mufi ich berichten, bafi er
alles tat, feinen Gegner gu befreien. Er liefi bem «König
fagen, er felber habe alle Sdf)ulb an bem Borfall, er habe
auf feine Gefanbteneigenfchaft oergichtet, unb er bitte, fei¬
nen Gegner, ber ihn in ehrlichem «Kampf befiegt, losgu-
laffen. Aber biefe Sürbitten nüpten bei bem ergürnten
Sürfien nichts.
3n biefer 3eit gefchaf) es, bafi ein alter $err, Oon Pebro,
mit feiner eingigen Tochter Elena an ben S?of fam. Oon
Pebro war ein oornehmer TTIann, ber recht begütert war,
unb Elena war feine eingige Erbin. Oon Pebro hatte bie
Abficht, unter ben jungen Jperren am J?ofe einen Gatten
für fie ausgufuchen."
Oer Graf nahm bie «Rabierung oon Gopa in bie i?anb.
„Oies ifl fie. Sie fefjen ein liebreigenbes Geficht, ein —"
er unterbrach fich unb hängte bas Bilb wieber an feinen
43
Jlagel. 6trt fpöftifcfjes Sögeln fjufcfjtc über fein Geficht.
„Oas Bilb iß fo Irbenbig, als wäre es eben geäpt. 3<f>
ertappe mich babei, baß ich alter JTlann in meine jugenb»
Öcf>e Urgroßmutter oerliebt bin. 6s ifl ein mißbrauch,
baß foirfje Silber gezeichnet werben/ bie jung bleiben, in*
beffen bie 3eit oergefjt. Aber wenn nach runb hunbertunb*
breißig 3af>ren bas Gefichtchen in ber 3eirf>nung noch fo
wirft, bann fönnen Sie fich benfen, welken Einbruch es
machte, als e9 (ebenbig war. Alle Sperren bei Jpofe follen
bamats in fie oerliebt gewefen fein.
Gopa war bamals ein junger Blaler in JTlabrib, ber
burrf) feine Silber fein Brot oerbiente. Don fJebro benupte
feinen Aufenthalt baju, firf> malen ;u (affen, babei faf)
Gopa wohl beffen Tochter unb fertigte bie 3ei<f>nung an,
nach ber er bie «Rabierung machte. Sie fehen, bas Blatt
iß bem Alten gewibmet. Vielleicht iß es auch in feinem
Auftrag fyvQtfltttt, ba9 weiß ich nicht. Jlun, jebenfatls
gab 6opa Abzüge ber platte heraus. Sie würben oon ben
oerliebten jungen Herren gefauft unb oerbreiteten fich am
ä?ofe.
Ein Jreunb, ber Oon Enrique in feinem Gefängnis be«
fucbte, brachte es mit. Oon Enrique hatte eine gewiffe
«Rolle am Jpofe gefpielt, unb es wäre wohl möglich ge*
wefen, baß er bie Bielumworbene für fich errungen hätte.
/IBelches Pech!' fagte ber Sreunb. ,UJenn bu frei wärß,
bann fönnteß bu eine gute Jrjeirat machen. So wirb fie bir
wohl ein anberer wegfchttappen/
Sie fennen bie romantifdhen Gefchichten, in benen fich
einer in ein JTTäbchen nofch beffen Bilb oerliebt. Sie finb
ja nicht immer ganj wahrfcheinlich. Aber benfen Sie fich
ben jungen JTlann, ber wochenlang allein in feinem Ge*
fängnis fipt, nur burch feiten erlaubte Befuche oon Sreun«
ben oon ben Borgängen braußen hört, unb bem nun be«
geißerte Schilberungen oon ber Schönheit unb Anmut bes
jungen JTläbchens gemacht, Gefchichten oon JTlännem er«
Zählt werben, bie in ße oerüebt finb, ber enblich bann bas
geißreiche Blatt in bie Jrjanb befommt, auf bem ein Blei*
ßer flüchtig unb locfer bie reijenben 3üge feßgehalten;
44
dann fönnen Sie fiel; gewiß oorßellen, wie in langen, ein*
famen Stunden fich Iräume fpinnen und das Gefpinß fich
entwiefeft, tote der junge JTtann ftcf> als £iebhaber in allen
möglichen Sagen fief)t und Antwort tote Bewegung des
JTTädchens dichtet; wie alle die (uftigen ©orßellungsge»
bilde/ otelleicfje gunächß nur als Spiel befrachtet für den
gezwungen müßigen güngling, fief) ftf>rtell mit allen fei»
nen Gefühlen/ Sehnfücfjten und Trieben oereinigen, und
wie denn fo eine wirfliche Verliebtheit h er °usfommt.
Sie müffen auch denfen, daß die JTienfchen damals bei
un9 noch anders waren, als fie heute find. Gin Jjjerr wie
mein flhn ßand dem JRittelaifer näher als unferen 3eiten.
Jpeute hätte ein folther junger Jrjerr die «Hechte ßudiert und
wäre in einer amtlichen Steilung, und es gehörte gu feiner
Bildung, daß er manches geiefen hätte. 3n feinem Ge»
fängnis würde er Bücher h°ben und entweder fi<h in fei»
nem ©Jiffen oeroollfontmnen oder, je nachdem, gute ©ich»
ter oder dumme «Homarte iefen. ©as war damals anders,
wenigfTens bei uns gulande. JTTein flhn hatte nicht fhtdiert
und las auch nicht, ©afür hatte er eine £aute bei fich,
und feine Gefühle, die feinen andern Ausweg finden fonn»
ten, ergoffen fi d) in. eine felbßgedichtete «Komange über fein
Gefängnis und feine Siebe.
©on JTlanuel erholte fich ingmifchen oon feiner ©Junde.
Sein erßer Gang war an den Sjof gum Äönig, dem er gu
Süßen fiel, um nochmals felber Vergebung für feinen
Gegner gu erflehen, ©er Äönig erwiderte ihm, daß er ©on
Gnrique gewiß nicht gum Tode oerurteilen tperde, aber er
halte es für angemeffen, daß er doch noch einige ©Jochen
JTluße habe, um ungeßört über feine Handlung nachgu»
denfen. ©on JTlanuel wurde oerlegen; er begann fo unge»
fähr gu oerßehen, was der .König über ihn felber denfen
mochte.
©ie Herren am Jfjof hatten naturgemäß andere flnfich»
ten als der .König. ©on JTlanuel o>ar bei ihnen nicht beliebt
gewefen wegen feines Benehmens; aber daß er fo frifch
und frei den Gefandten oergeffen und oom £eder gegogen
hatte, das oerfchaffte ihm bei den jungen JTTännern doch
45
wieber einen Stern im Brett. JTtan oergafj, was man
früher an if>m ausjufe^en gehabt, unb fanb in tf>m einen
offenen, mutigen unb ehrenhaft gefinnten «Ritter. Blutoer«
lufl unb Kranfenlager Ratten if>n etwas gebleicht unb ihm
eine intereffant erfrf>etnenbe JTtübigfeit gegeben, unb bie
Beftfjämung über bas unausgefprochene Urteil bes Kö*
nigs bewirkte, bafj er weniger laut war. So fanb er fiel)
benn auch bei ben Damen fef>r beliebt unb angefefjen.
JTtan tonnte fagen, bafj Don JTtanuel als ber erfte JItann
in ber ^jofgefellfchaft betrachtet würbe.
6s war natürlich, bafi er feine flufmerffamfeit auf bie
gefeierte Donna Elena richtete, ba(i biefe bie flufmerffamfeit
bes gefeierten Don JTtanuel befonbers fyod) einfcfiätjfe.
Beibe waren junge Seute, in bem Alter, ba man beiratet,
unb fo fam es benn teilet, bafj Don JTtanuel mit bem
alten Don JJebro einig würbe. Der .König fab bie Ehe
gern, benn Don JTtanuel fianb an bem £iffaboner jrjof
ln flnfehen, unb er nahm an, bafj er an if>m unb feiner
6attin Sreunbe haben werbe. 6s lagen feine 6rünbe ju
einem langen BrautfTanb oor, unb fo würbe benn bie
jrjoibgeit mit allem 6lanj, wie es bamats war, angemeffen
gefeiert.
flm Tage nach ber jporfjjeit fagte ber König ju Don JTta»
nuel: ,3«f> habe nun 3f>ren HJunfcf) erfüllt, Don Enrique
ifl aus feiner Jpaft entlaffen. 3cf) wünfehe, bafi er junärf)fl
noch $of unb Jjauptflabt rneibet; er ifl heute auf bem
XDege ju feiner Befi^ung, wo er ficf> ein halbes 3 a h r lang
bie 3eit mit 3agen oertreiben mag, ehe er wieber nach h» e *
fomrnt/
So oerflrichen einige JTtonate, in benen bas junge Paar
oermutlid) recht glütflich war, inbeffen Don Enrique fich
hier bei feinem Bater aufhielt, oermutlich atlerhanb Be*
lehrungen bes alten Jrjerrn ausjuflehen hatte unb ben Un»
mut über bie getäufcfjte £iebe unb bas gleichmäßige £anb»
(eben ju überwinben fuchte, inbem er auf 3agb ging.
3n ber Eintönigfett feines £ebens, bei bem feine burch
nichts fonfl befchäftigte Borflellungsfraft fich beflänbig
mit feiner £iebe ju ber Jtiegefeljenen befchäftigte, fam er
46
auf ben Gebanfen, tn Berfleibung f)etmlt<f) nacf) JRabrtb
ju reifen/ um wenigfiens einmal in feinem geben bes An»
licfs ber Geliebten teilhaftig ju werben, benn es lief bie
«Rebe, baf} fie mit ihrem Gatten, beffen Senbung beenbet
war, bemnächfi nadf) Portugal gehen roerbe.
Gin junger Bauer, fein JTiilchbruber, hing ihm treu an.
Oiefer oerfcf)affte ihm einen bäuerlichen flnjug. ©a bie
Bauern feinen ©egen trugen unb bie heimliche Sahrt boch
nicht ohne Gefahren mar, fo flecfte jeber ein paar piflolen
in bie Xafche. fln einem frühen JTtorgen, als alles noch
fchtief, fehlen fich bie beiben auf ihre JTlaultiere unb ritten
fort.
Sie fanben In JTtabrib in einem bäuerlichen Gaflfjof ein
ltnterfommen. ©er ©iener funbfchaftete bie Gelegenheit
aus, unb balb fanb fich, baf} bie junge $rau bes ©on
Jltanuel bie Gewohnheit hatte, ju einer beflimmten JTach*
mittagsfhtnbe in einem Sommerhäuschen ihres Gartens
ju fihen unb auf bas 6efchwäh ihrer ©ienerin ju hören,
©er Gärtner würbe burdf) eine reichliche Gabe beftochen,
unb ©on Enrique unb fein Getreuer oerflecften fich hinter
einem bichten £orbeergebttfch, burch bas fie einen BlidP auf
bas Räuschen hatten.
©onna Glena fam mit ihrer ©ienerin, bie prächtig gefücfte
Riffen trug. Sie hielt einen roten Sonnenfchirm aufge*
fpannt, unb bie Sonne warf burch ihn einen rötlichen
Schein auf ihre weif}gefleibete Geflalt unb ihr anmutig be»
wegtes Gefleht. Gin Springbom raufchte unb btihte, bie
Bäume flanben füll, unb bas Schwaben unb £achen ber
©ienerin flang heiter unb unbeforgt fefjon non weitem an
bas ©he ber £aufchenben.
©ie ©ienerin richtete in bem offenen Räuschen auf ber
Banf ein bequemes £ager, für fich felbfl warf fie
ein .Riffen auf ben Boben. ©onna Glena machte es fi<h be»
haglich auf ihrem £ager. Sie legte bie Arme unter bas
ßöpfchen unb behnte fich ntit halbgefchloffenen Augen»
übern, beren DDimperfchatten jcerlich auf ihre jarten BJan*
gen fielen. Sie betrachtete ihre golbenen Schuhe, locferte
einen, fchnellte ihn in bie J?öhe unb fing ihn mit bem 5uf}e
47
wieber ouf. ,TBas nteinß bu?' fragte fie bie Dienerin ,Set
ehrlich- Sog* mir bie IBahrheit. Bin icf) fcfjöner gewor»
ben*?' Das JHöbchen ouf bem «Riffen beugte ficf> oorwurfs»
oott jurücP unb fyob bie j?änbe: ,Aber, Herrin, wie Pönnt
3f)r fo etwas fogen! Biel fcfjöner feib 3f)r geworben!' Ein
glücPlicfjes £äcf)eln überf)ufd)te Donna Elenas Befielt oon
ben Augen t)er bis jum JTiunb unb blieb in ben JTiunb»
winPeln fi^en. Sie fcfßoß bie Augen, unb ihre JTüßern
blähten fief). 6s war, als ob fre bie Antwort einfaugen
wollte. JTCit geläufiger 3unge pries bas JTCäbdjen nun ihre
Schönheit im eingelnen unb fpraef) facf)?unbig oon JTafe
unb JTiunb, oon paaren unb 3äf)nen, oon Jrjänben unb
Süßen unb oon atlerfjanb 6injelf»eiten fonß, bie ifjr be»
Pannt geworben beim AnPleiben, bis Donna Elena errötenb
rief: ,$öre auf, höre auf!' unb bas JTläbcfjen, luftig la»
cf>enb, fcf)wieg.
Jlacf) einer Pleinen JJaufe fagte bas JTläbcfjen fcfjmei»
cfjelnb: er rin, icf) t>abe bie Abfcfmft ber «Romange be»
Pommen, bie ber arme Don Enrique gebietet f>at, als er
im Gefängnis faß unb 6ucf> unglücPlicf) liebte, weil er Euer
Bilb gefefjen. Soll icf) fie fingen?' Schon ßimmte fie bie
£aute.
Die Herrin antwortete nief)t, unb ihr Schweigen als Auf»
forberung nehmenb, begann bas JTiäbchen gu fingen."
Der Graf fdpwieg eine XDeile. Dann fagte er: „3a, burcf)
bie norbifefjen BölPer iß bie BJelt anbers geworben. An»
bertf>a(b 3ah r hunberfe iß es f)er, baß mein Af)n, als Bauer
oerPleibet, hinter ber Eorbeerfjerfe faß unb fein £ieb hörte,
wie es bie Dienerin ber Geliebten oorfang. Auf biefer «Ra»
bierung iß biefe Geliebte in all ihrem jugendlichen «Reig
feßgehalten, auf bem Samilienbilb iß fie als JTCufter unb
reife Srau gemalt. Jlun iß fie feit über hundert fahren
tot, unb ihr in ein Poßbares «Rleib gehüllter Körper ruht
unten in unferer Gruft. 3dj bin ihr gang entfernter 6nPet,
unb oon biefen gehn «Rinbern auf bem Bilbe f)ier iß Peine
einzige JlachPomntenfchaft mehr übrig außer mir. Die
JBelt oon bamals iß oerfunPen. linb hoch fühle ich alter
JTCann ein jugenbliches «Rühren im Jpergen, wenn ich ntir
48
oorftetle, tüte ntetn Ahn fein £ieb bört unb bie Geliebte
habet fiebt. Das tfi borf) bloß Jtatur, es iß nichts anberes,
ats tnenn ber 5inf auf einen Aß flattert unb feinen Schlag
hören läßt, um bas HJeibd)en ju feffeln. JTtein Ahn mußte
menig unb batte tüobl noch toeniger gebaut IDietriel meiß
ich, toieoiel habe icb gebaebt! Deshalb bin ich mobl ber
£e£te meines Gefcblecbts, unb ich fann nicht ertoarten, baß
ein Sohn mich befuebt unb feine &inber mitbringt."
6s batte mir jumeilen gefebienen, als ob bie Gebanfen
bes Grafen in Sprüngen gingen» 3Tun mürbe mir immer
klarer/ baß bas nicht ein fprungbaftes Denfen toar, fon«
bern ein oerfebiebenartiges Aufleuchten oon einzelnen
punften aus feinem £eben. 3cb baebte mir: 6r bat mobl
reibt mit feinem Urteil über unfere heutige 3eit. Sollte
nicht auch unfer fefigefcbloffenes Denfen ein mißbrauch
fein? Diefer JTtann bat fein £eben immer benfenb beob*
achtet; nun hält er ein Selbßgefpräcb, ln bem ber Gehalt
feines £ebens immer burebfeheint BJenn man bie eingelnen
Gebanten oerbänbe, fo erhielte man ein Scbicffal, ein inne*
res Scbicffal — bas Scbicffal bes oornebmen JTtannes in
ber bürgerlichen Gefellfchaft, ber nicht mehr nach feinen
Trieben leben fann unb baburdf) abßirbt. 6r ift tüie eine
pflanje, bie in falfche 6rbe gefegt iß.
Aber taoie? j?atte er nicht recht/ als er fo betonte, baß ich
bürgerlich bin? 3cb hätte mobl nicht bie Torheiten bes Don
Enrique begangen. Aber ertappe ich ntich nicht auf einer
füßen unb (affigen Sehnfucbt, roenn ich bäre, toie er hinter
ber fiorbeerheefe laufcht? 3ß es fo, baß auch ich oergeffen
möchte? 3df> toeiß nodf) oiel mehr unb habe noch nie! mehr
gebaebt als ber Graf. Ufas hilft mir bas nun? BJie felig
iß ber Dogel auf feinem 3toeig, ber feinen Schlag febmet«
tert! Unb ich? JTlir ifl, als müßten mir bie Tränen ßür*
jen, wenn ich an ben Jinfenfcblag benfe, an 0[ugenb, £ie*
besforheit, an Selbßoergeffen unb £eben ohne Denfen.
3cb toeiß nicht, ob ich non meinen Gebanfen etroas oer*
raten habe. Der Graf fuhr fort:
„Das 3Ttäb<ben beenbete bas £iebeslieb, bie Augen Donna
Glenas hatten fi<b mit Tränen gefüllt. ,Armer Don 6n*
4 St« bentfö* mbtXte.
49
rique', fprorf) fie leife. Dann lochte fie auf: ,Tß\t locker«
lic^> iß es bocf>, toenrt bie JRänner fo «m «ns oerjraeifeln!
1008 haben fte oon uns?' Sie beantmortete bie 3tage mit
einem Sah, ben eine junge Stau aus ntebrigern Stäuben
beute nic^t fogen mürbe, meil er ihr unanßänbig fchiene.
10ährenb bie beiben biefes Gefpräch führten, tarn Don
JItanuel. Das JHäbchen oerßummte, auch bie iperrin mar
oerlegen. Don JTTanuel mar ohne Arg gefommen. Ais er
bie Verlegenheit ber beiben bemerfte, mürbe er mißtrautfcf).
,1009 iß gemefen?' fragte er. Donna Siena fu«hte ihn 3 « be»
gütigen. Sr fpäfjte mit ben Augen umher, ging hinter bas
Gebüfch, unb ba fah er ben oerfleibeten Don Enrique mit
feinem Diener fuh erfchrocfen aufrichten. Er erfannte
feinen Gegner fofort, er hotte mohl auch oon ber Verliebt»
heit unb ber Äomanje gehört, piöhßch erfaßte ihn eine
btinbe Eifer fucht; er 30 g ben Degen unb brang auf Don
Enrique ein. ^alt!' rief Don Enrique, ,icf> habe feine an»
bere IVaffe', unb hielt bas gelabene jßißol oor. Aber Don
JTCanuel hörte nichts. Schon mar bie Spi£e feines Degens
nur menige 3oII oon ber Brufl be 9 anbern entfernt, ba
fchofi ber. Die «Kugel traf mitten in ba 9 S?er%. Don Jlla»
nuel ßieß einen Schrei aus; ber Xob fcfmitt ihm ben Schrei
ab. Er fiür 3 te oomüber 3 « Boben.
/Schnell, fchneK, mir müffen uns retten, fyevxV rief ber
Bauer. JVit großen Sprüngen eilten bie beiben an ben
Stauen oorbei, bie fprad)Ios baflanben unb noch nicht 3eit
gefunben hotten, bas Gefchehene 3 U faffen. Als bie Slüch«
tigen bie JTlauer überfütterten, hörten fie ben erßen Schrei.
Don Enrique floh mit feinem Diener nach 5ranfrei<h.
Durch bie Vernehmung bes Gärtners ßellte fidf) fchnell her*
aus, baß Don Enrique ber JTiörber gemefen mar. Der
er 3 Ürnte .König ließ befanntmachen, baß er bem Xobe oer»
fallen fei, menn er es magen follte, 3 urtt<? 3 ufehren.
Donna Elena mar bie Erbin ihres getöteten Gatten, bem
fehr große Bedungen in Portugal gehörten. Aber fie
mochte nicht in bem fremben fianbe leben unb 30 g mieber
3 « ihrem Vater, mit bem fie erß oor ein paar JTionaten oon
ihrem Jpaufe fortgereiß mar. .Kaum mar fie mieber einige
50
XDodjjen mit ihm jufammen, ata Dort pebro in eine f)t^ige
unb fernere Äranffjeit oerfiet, bie ifjn in einigen Tagen
bahinraffte. So ftanb fie benn ohne Satten unb Bater
allein in ber JBett; aucf) nähere Berwanöte hatte fie nicht.
Sie war fefjr reich, ganj unabhängig, jung unb fcf)ön; aber
fie wußte nicht, was fie mit ihrem £eben beginnen foltte.
So bßeb fie benn unfchtttffig, ptanenb, oerwerfenb unb
alterhanb toirre 3ufunftshoffnungen hegenb in ihrer alt*
gewohnten Umgebung, too altes feinen alten Sang weiter«
ging.
Die heutigen JTtenfchen hoben bie Borflellung, baß bie
£iebe folch ein fefler Begriff iß wie etwa baa Bterecf ober
ber .Kreis, unb Donna Siena würbe nun wohl eine
trauernbe XSitwe gewefen fein, in fchwargen Äteibern unb
langem fchwarjen Schleier. Sie bachte naturgemäß oiet
an ihren toten Satten, an bas £eben mit ihm, bas hoch oiet
freier war als ihr früheres unb jehiges £eben, an Befuge,
Sefle, Borfüt>rungen alter Art, an bas bewegte Dafein in
JItabrib überhaupt, unb ein heftiger Srott befiel’ fie, baß
bas altes burrf) Don Snrique jerßört war. Ss fonnte wohl
gefchehen, baß fie in plöhtichem 3orn auf ihre erfchrocfene
6efeIIfchafterin tosfuhr unb ihr Borwürfe machte, bafi nie«
manb fich um fie Himntere, baß fie als junge Srau in
bem alten «Raffen ihr £eben oerbringen fotte, bafi bie JTtän»
ner alte bumm feien, unb bafi bie Sefellfchaftertn auch
feinen Berftanb habe. Diefe befreujigte fich bann ober hielt
ihr auch befchwörenb bas «Rrujifij oor, um bie UJut ju
bannen, bie aus ber Jperrin fprach.
3ngwifchen hatte Don Snrique in bem fremben £anb ein
oerbrießliches £eben. Spanier unb Sranjofen werben ßcf)
nie oerflehen. JTtenfchen unb Einrichtungen fanten ihm
lächerlich unb oerächttich oor, unb es reijte ihn altes fo,
baß er ben Sranjofen gegenüber ungefchicft unb oertegen
war. Sine fotche £age war ganj banach angetan, feine ro»
mantifche £iebe ju Donna Stena ju erhalten unb ju oer«
flärfen. Taufenbmat fprach er mit bem treuen Diener altes
burch, wie es getoefen war in bem Sarten, was Donna
Stena gefagt hatte, ob fie errötet war, als bie 3ofe bas £ieb
4 *
fang. 6r fragte/ ob fie tf>n wohl gefehen habe, ats er mit
Don JTianuel fämpfte, ob fte oielleicht noch wtffe, tote er
ausfehe, ob es toofjl möglich fei/ baß fte ben JTiörber ihres
Gatten lieben fönnte.
fln einem flbenb fagte er gu bem Diener: /JTiorgen früh
reiten toir ab. 3<f) will Donna 61ena wieberfehen. XDtr oer»
fteiben uns a(s Bauern wie bamals. JTiemanb wirb uns
ernennen, wenn wir oorficbtig finb/
Der treue JTtann bereitete in ber Ttacht alles oor für
eine heimliche JUicffehr nach Spanien, unb fo machten jttf)
bie beiben am anbern JTiorgen auf ben XBeg.
Unterwegs führten fte atterhanb Gefpräche. So fagte
Don Enrique: ,Die Siebe ifi bas Borrecht ebter Seelen unb
hochgeborener Perfonen. Du würbefi fehr irren, Gü, wenn
btt annäbmefi, baß bas, was unferetns fühlt, auch in
euren Greifen fein fönnte/ Gil war bamit im allgemeinen
einoerflanben, fanb aber hoch, baß Ausnahmen oorfämen.
So hotte fich ber SdFmtgenfohn in ein JTIöbchen oerliebt, bas
fchon einen anbern hotte unb ihn besbolb nicht wollte. €r
war fchwer front geworben. BJohl war er burch einen
flugen flrgt gerettet worben, aber er hotte hoch nachher
nicht geheiratet, obgleich er ben fchönßen $?o f im Dorf
hotte unb ihn jebes JTtäbchen gern genommen hätte. Unb
wäbrenb bie beiben folche Gefpräcbe führten, ging bie
Sonne auf, unb bie Bögel begrüßten fie mit anmutigen
unb heiteren Siebern. Die Jltauttiere fihnauften unb fcf)üt*
telten bie fchelienbehangenen Äöpfe, unb ber Tau oer*
fchwanb oor ben Strahlen ber Sonne gufehenbs oon ben
XBiefen.
Die beiben Jleiter gelangten ohne Unfall über bie Grenge
unb gogen weiter. Schließlich tarnen fie in bas Dorf, wo
bas &aflett ber Donna 61ena lag. Da war ein großes
XBirtshaus mit einem befliffenen HJirt. ^ier fehrten fie
ein. Sie ließen fich ein 3immer geben unb tarnen bann
in bie .Küche hinunter, um bas 6ffen gu beßetlen. Der UJirt
fagte, baß er ihnen einen oorgüglichen Äantnchenpfeffer
oorfe£en tönne. Sie waren einoerßanben unb warteten,
baß er gubereitet würbe. 3ngwifchen fefcte fich ber Uttrt
J2
ju ihnen, um fie mit Gefprärfjen unb Erzählungen gu un«
terhalten.
Als fie gegeffen batten unb roteber auf ihr 3immer ge»
gangen toaren, fpracf) ber lüirt gu feiner Sr au: ,JTIit btefen
beiben Jleifenben hat es eine Beroanbtnis. Sie oerbergen
ein Geheimnis. Sie finb nicht, toas fie fcheinen roollen.
IDeshalb oerlangten fie ein 3immer für fich allein, fiatt,
roie roirPliche Bauern, im allgemeinen Schlafraum gu über«
nachten? S>a fl bu gef eben, tote ber eine ben anbern be»
biente? Jrjaß bu gefehen, roie ber, ber bebient mürbe, in
beinern Äaninchenpfeffer fjentrriflocfjerte, als ob er nicht
gut genug für ihn fei? Oer iß feinere Speifen geroohnt.
3<h fehe an ihrem Sattelgeug, baß fie aus Sranfreich ge*
fommen finb. Sie tnollen hier fpionieren, fie finb heimliche
flbgefanbte bes Königs oon Sranfreidj. Aber idf> roerbe
fchon hinter ihre Schliche fommen, unb unfer .König fnif*
fert nicht, rotnn matj ihm roichtiqr .Tlacbricbten bringt/
Es Pann für einen Gaffroirt immer toichtig fein, toas
feine Gäfle mifeinanber fprechen. So roar ln bem Sjaua
auch eine Einrichtung, burch bie unfer IDirt in bequemer
£age bie beiben betaufchen Ponnte, als fie bie Kleiber ab»
legten, um ins Bett gu gehen, bei roelcher Gelegenheit, roie
er aus Erfahrung mußte, häufig ber Tageslauf besprochen
roirb unb Entfchlüffe für ben folgenben Tag gefaßt toerben.
,3T?orgen roerbe {<h fie roieberfehen' fagte Oon Enrique,
inbem er feine S)o\tn ausgog unb an einen Hagel bängte.
,IBirb fie mich erPennen? Unb roenn fie mich erPennt, roirb
bann ber Groll auf ben JTiörber ihres Gatten übermächtig
fein?'
Oer IDirt fpi£te bie Ohren.
öil gähnte. ,Oer Äanfnchenpfeffer roar gut. Etroas
fchärfer hätte er fein fönnen. Er muß im Gaumen
brennen.'
fln ber IBanb hing eine Saute. Oon Enrique nahm fie,
fehle fich im 4pemb, mit nacften Beinen auf ben Bettranb
unb fchlug ein paar Töne an. Sie war oerßimmt, unb er
fchraubte.
53
,3cf) wette meinen Äopf, baß Oonno Steno Cuer Graben
nicht erfennen', fagte Gil.
Oer IDirt wußte genug. £eife 30 g er ficf> aus feinem
Uerftecf, fjufcfjte mit nagten (Füßen bie treppe hinunter
unb rief feiner (Frau ju: >Scfmett ben Sonntagaanjug, bie
guten Schuhe! 3cf> muß gteicf> oufa Schloß/ Seine Srou
fragte erregt, er antwortete: ,Befümmere bu bi<h um beine
töpfe, ich muß oufa Schloß, frfjnetÜ'
Cr fom eben noch oor bem Zubettgehen ouf bem Schloß
on unb berichtete bem Jpauahofmeißer, baß Oon Cnrique
bei if>m wohne, bofi er mit einem oerböchtig ouafehenben
Jftonn gefommen fei, unb bofi er bie Abficht höbe, Oonra
Cteno ju entführen. Aber er, ber IDirt, höbe gewacht.
Oonno Cteno fönne ihn gefangennehmen unb ihn für ben
JTCorb unb bie geplante Cntführung ben Gerichten ouatie«
fern. Cr liege im Bett unb fchlofe, unb wenn mon jtel»
bewufit oorgehe, fo fönne mon ihn mit bem Genoffen
feiner ©erbrechen ohne Gefohr oerhaften.
Oer j?au 8 f)ofmetffer führte ben JTCann fogteich ju
Oonno Cteno.
Sie hörte bie Crjahtung, unb ihre Augen büßten. ,Oer
Unoerfchomte!' rief fie oua. ,3ß es ihm nicht genug, mich
jur BJitwe gemocht %u hoben? IDitt er mich noch weiter ina
Ingtücf bringen? IBUt er fich on meinem llngtücf weiben?
Aber' — unb hier nahm fie einen Keinen fpitjen ©otcf>,
ber ouf ihrem Xifchcfjen tag unb fchwong ihn — ,er fott
fehen, baß auch XGeiber 3Ttut hoben fönnen. Xtiemanbem
will ich meine (Rache onoerfrauen. Geh felbß will meinen
^>aß in feinem Btute fühlen/ Alte Jltänner bea Scfjloffea
würben oufgeboten; ihnen ooron ging mit beflügeltem
Schrift Oonno Cteno. Oer Jpauahofnteißer tief? bie Cm*
geinge bea Gafthoufea beferen, unb teife erflieg mon bie
Treppe. Oer IDirt öffnete bie Tür bea Schtafjimmera mit
einem (TCachfchtüffel, unb Oono Cleno, in ber £infen eine
£aterne, in ber (Rechten ben Ootch, fchritt hinein, hob bie
£ateme, um boa Gefi<f>t bea fchtofenben Oon Cnrique ju
beleuchten. Sie wor entfchloffen, bem JTIörber ben Ootch
in boa S?er% ju flößen.
54
Aber a(s fie ihn fo ruhig im erfhn Schlaf, mit bem Aus»
brucf bes frieblUhflen 6ewiffens oott ber Welt liegen fof),
ba oerfagte if)r plöhlicf) ber Wille. Es frfjten ihr, als fönne
[ie nicht ben Scf)lafenben ermorben. Sie rief ihn mit 3Ta»
men: ,Don Enrique, erwacht, macht £u i) bereit! 7
Don Enrique fcfjlug bie Augen auf/ tiefblaue Augen,
unb fah fie in feiner Schlaftrunfenheit erflaunt an. piöh*
(itf) überflog feine 3üge ein Ausbrucf bes f)ötf)fien Ent«
gücfens. ,Donna Elena! 7 rief er unb breitete bie Arme toeit
aus. Sie flaute ihn entgeiflert an, unb ber Dolch fiel Mir«
renb auf ben Boben.
Die JTIänner ftilrgten oor, um fiel) auf Don Enrique gu
werfen. $<xl t! 7 rief fie aus. ,Da(B ihm feiner ein £eib gu»
fügt! Jlef)mt ü>n gefangen unb führt ihn aufs Schloß!'
BJieber flellt fiel) bie Schwierigfeit heraus, gu beflimmen,
was /Siebe 7 ifl. Jüan muß wohl fagen: bie junge ?rau
war in ben fahren, wo fie empfänglich für bie Siebe eines
JTtannes war; fie war eine junge IBitwe unb batte erfah*
ren, wa9 bas 3ufantmenleben mit bem JTCann iß, unb Don
Enrique liebte fie gärtlicf» unb war ein fchöner unb fiatt»
lieber 3üngling — wie hätte fie imßanbe fein follen, if>n
gu töten ober ihn oon anbern töten gu laffen?
Don Enrique unb fein Begleiter würben gefeffelt unb
auf bas Schloß geführt. Donna Elena gab Anweisung, fie
nicht im Gefängnis untergubringen, fonbem tn feßen unb
vergitterten 3immern, fo baß ber Diener immer feinem
Sperrn bie nötigen Jrjanbreichungen leißen fonnte.
Sie hätte je£t an bas nächße fönigliche Gericht fchreiben
müffen, um ihm bie Gefangenen ausguliefern. Aber oon
Tag gu lag fdjob fie bas auf. Sie wollte fich oorher erß
noch über alle Umflänbe bes Jltorbes oergewiffem, bamit
pe bem Gefangenen nicht etwa unrecht tue. 3br Gemahl
fei fehr hifßQer Otatur gewefen, unb es fei hoch möglich,
baß Don Enrique urfprünglich gar nicht bie Abficht gehabt
habe, ihn umgubringen, baß oielmehr ber JTTorb nur in
ber Berteibigung gegen einen unerwarteten Angriff ge«
fchehen fei. Schlief?lieh fei her Berbacht Don TRanuets auch
beleibigenb für. fie gewefen, benn eine Srau aus gutem
55
<$aufe melß bocf), roas fte ftcf) unb ihrem Satten fcfjulbtg iß.
<jeben flbenb befcf)toß fie, gu bem Gefangenen gu gelten unb
tf>n g« fragen, tote er gu ferner £eccf)tfertigfett gekommen
fei; aber bann freute fie fid) bocf» immer unb fcfjob bas
Gefpratf) mit ihm töieber auf.
So roar nun Don Enrique etma feit einer GJocfte im
Sef>loß ber Donna Elena gefangen. Er mürbe gut gehalten,
es fehlte ihm nichts als bie Freiheit. Deren JTlangel mar
if)m atlerbings hoppelt ferner, ba er mußte, baß er unter
einem Darf) mit ber 6e(iebten oermeilte. Der JTtann, ber
ihn unb feinen Diener oerforgte, brachte ihm eine £aute,
unb er brürfte feine 6efüf)le unb Gebanfen in einer neuen
Jlontange aus. Die 3ofe laufcf)te unter feinem Senfier unb
mußte fie balb ausmenbig; fie trug fie ihrer Herrin oor,
bie unmillig errötete, unb fchmärmte oon bem blaffen Ge*
ficfjt unb ben oerliebten Augen bes «Ritters, benen fie, bie
3ofe, nichts mürbe oertoeigem fönnen, menn fie fo gärt*
lief) geliebt mürbe.
Da gefchah es, baß ber «König in bie JTäf)e oon Donna
Elenas ödfloß tarn, unb ba er Don JJebro immer f>ocf)
gefcf)Q0t hatte unb bas fernere £os ber ohne jeben Stf>u£
bafleftenben unb unerfahrenen löttme if)m naheging, fo
befcfßoß er, eine jlacfjt hiergubleiben, ftdf) narf) allem gu
erfunbigen unb gu fef)en, ob er nicht, als ber natürliche
Dormunb, ihre Berhältniffe mieber in Drbnung bringen
fönnte, etma burcf) eine Jpeirat mit einem orbentlidjen
JTtann, bei bem fie mit ihrem großen Beßfj gut aufgehoben
mar.
Er mürbe empfangen, mie es fid) gebührt, unb mie es
ber Ehre enffpradj, bie er ermies. Er gab Befehl, baß er
mit Donna Elena allein fpeifen motle, unb fo mürbe im
großen Saal nur für ihn unb bie Dame bes Kaufes ein
Xifd) gebeeft.
Als fie allein maren, brachte er bas Gefpräd) barauf, baß
fie bocf) nicht bauernb fo leben fönne, baß eine Srau nicht
imßanbe fei, eine fo große Bermaltung gu führen, baß bie
oornehmen Familien auch für ihre Erhaltung forgen müß*
fen, benn fie «tfören ja bie eigentlichen Stü£en bes Königs.
J6
Die hocherrötenbe Donna Siena merfte gar moht, mohüt»
aus ber König rooüte.
Sie hatte Don Enrique nur ein einziges JTtal gefehen, bei
bem £tcf)t ihrer £aferne. Aber fie batte früher ftfjon man»
cbes von ibnt gehört, unb je£t batte bie Dienerin immer
oon ihm gephmaht. So mar benn ailerbanb Traum unb
Horpetlung um fein Bilb geranft. Jüan mürbe unretbt
tun, roenn man plump irgenbeine Ab ficht, einen GeöanPen
annäbme; aber es mar bo<b fo, bafi fi<b bie Geflalt Don
Enriques immer oor ihre Augen fchob, als ber .König feine
lüorte oorbrachte.
Sie ermiberte nichts auf bie fragen bes Königs, fonbem
pe erzählte ihm unoermutet, Don Enrique, ber burch ein
3TlifJoerflänbnis in Kampf mit ihrem oerftorbenen Satten
geraten fei unb ihn babei getötet habe, fei in ihre Gegenb
gekommen; pe habe es für ihre Pflicht gehalten, ihn gefan»
gengunepmen, unb bitte ben König, bafi er ihn oor fich
fommen taffe, um ihn über feine Tat gu befragen.
Der König mar guerfl oermunbert unb geärgert über
bas Abfcbmeifen ber Jrau. Aber bann merfte er ihre Her«
(egenheit, ihr Erröten, unb es burchblipte ihn: Da ifl ja ber
Eheherr fchon gefunben! Er unterbrüefte ein £äche(n unb
befahl, bafi ihm ber Gefangene fofort oorgefüfjrt merbe.
Don Enrique fam. Donna Elena fafi blutttbergoffen
bem König gegenüber unb (löcherte mit ber Gabel auf
ihrem Teiler herum. Auch Don Enrique mürbe rot bis an
bie Schläfen.
Der König panb auf, unb eine eigene Jlührung über bie
beiben jungen £eufe über fam ihn. Er fagte: ,Don Enrique
hat jugenbliche Torheiten begangen, bie ein linglücf gur
#o!ge hatten. 3cp habe ihm längp oergiepen. JTun befehle
ich Euch, Donna Elena, bafi auef) 3pr ihm feine Tat oer»
geipt, bie er nicht mit Abficht unb Überlegung getan hat.
ltnb als Euer fiepnsperr, ber berechtigt ifl, über Eure j?anb
gu oerfügen, bamit Eure Güter Diener für mich erhalten,
gebe ich Euch bem Don Enrique als Gattin.' Er nahm ihre
), bie pe ihm millenlos Üefi, unb legte pe in bie i?anb
Don Enriques, ber ihn mit runben Augen grofi anfap."
17i
Oie €rjäf)lung toar beenbet, unb ber Graf fcf)toteg eine
Steile. 3cb fab auf bas yamiltenbifb, auf bie blüfjenbe
Srau mit ben gefunben unb (»eiteren Dinbem, auf ben
ffattfidjen JTiann.
„3a, eine große Familie tourbe es", fagte ber Graf.
„3ebem ber Äinber fiel aus bent großen Befitj ein Erbe
ju, unb bas Blut ber beiben fönnte beute in bunbert, ja in
taufenb oornefjmen JTtännern unb Srauen pulfen. flnbert»
halb 3o()>'f)unberte finb es (»er, baß bie beiben if)ren €(>e*
bunb fcf)loffen unb ber älteße geboren tourbe, beffen fester
Sproß ich bin. 3(f) bin ber leiste; unb oon feinem ber an»
bern «ßinber leben beute noch Jlacbfommen.
JBenn itf) ßerbe, bann toirb bas, toas ()ier oon meinen
Borfabren \)tt noch oereint iß, in alle Dichtungen jerßreut
werben. Oiefes Bilb toirb bann toobl nach JItabrib in bas
Jltufeum fontmen. Oie Jlabierung nimmt man toabr»
fcbeinlicb aus bem Dabmen unb oergleicbt fie mit bem
Stücf, bas man in ber Äupferßicbfammlung bat? Öen bef«
feren flbbrucf bebält man, unb ber anbere toirb oerfauft
unb fommt in ben JFjanbel. Bielleicbt legt ibn ein Samm»
ler in tforbanterifa kt feine JITappe. Xlm bas große Bilb
berum aber ßeben bie JTtufeumsbireftoren unb Dunßbißo»
rifer unb geben ibr Urteil ab — ja, bie UJelt iß bürgerlich
getoorben. fluch JItabrib iß ja jept eine Großßabt oon
heutiger Art mit neuen Stabtoierteln, Straßenbahnen, elef*
trifebem Sicht, unb balb toirb toobl auch Spanien feine
flrbeiterregierung hoben, unb in Bolfsbocbfcbulen toirb
man bem bilbungsbungrigen Proletariat mitteilen, baß
Gopa ein großer JTtaler getoefen iß."
58
iS t o n i a
Bon JBUhelm Schüfet
^ 7%* la 2>Ie Serapionabrüber bea «Rammergerichtarata
V Spof fntonn wieber einmal in ihrer HJeinßube faßen,
ea ging aber jum Gnbe bea JTConata, unb ihr Dafein mar
ftort in ber treibe, tarn oon ber Straße ein ältlicher Sperr,
ber mit bent rechten $uß fünfte unb ficf) barum bei febem
linfen Schritt in bie Brufi warf, fonft aber in feinem «Kot»
wemgefuht feinen Xrübfinn jur Schau trug. 6r festen gar
nicht ju tniffen, in maa für einen f)öllifcf)en BJinfet ihn ber
naffe Oftoberminb wehte; wie einer fkf>, ju ben Seinigen
beimfommenö, furjmeg an ben Xifdf) fe^t, nahm er ben
Stuf)! ein, ben ber gefertigte SpifyiQ gerabe neriaffen hatte,
weil if)n ein Brief aua Breslau abrief. So faf>en bie Brüber
in iljrer «Kunbe ganj unoermutet einen Oteuling baffen,
ber fröhlichen flugea bie Heine Gefellfcfjoft abmuflerte unb
nur fein 6eni<f fleifte, ata er ben fpäfjenben Bogetbtitf bea
^ammergerichtarata an feiner UJefle gleichfam bie «ftnöpfe
abjählen fah. 6r hielt/ feiner Xabellofigfeit ficher, ben Blirf
aua, beßellte mit allem llmßanb feiner gepflegten JTatur
einen «Koten, prüfte bie JBärme unb foflete erft mit rollen»
ber 3unge, beoor er ben erflen befriebigenben Schlurf
nahm.
Der aber fo ohne Ahnung feiner Gefellfchaft, unb trofc
ihrer erffaunten Gefiel;ter ber eignen IBUrbe gewiß, mit ben
Serapiortabrübern am neunten Dftober ju Xif<h faß, war
fein Geringerer ata ber Bürgermeifler oon Oranienburg
an ber Spavel, ber am felben flbenb feinen 6eburtatag ju
feiern gebachte unb biefe Dienßreife nach Berlin mit Bor*
bebacht eingelegt hotte, feine 3unggefel(enf<haft ein höher ea
Dafein fchmerfen ju taffen ata ben ^jonoratiorentifcf) feiner
Äteinbürgerßabt. JBeber oon feiner BJürbe noch oon
59
folgen Abficbten mußten bie Seraptonsbrüber oorläufig
bas geringfte. Sie faf)cn nur einen fianbbürger an ibrent
XifdF) einen röteren Xropfen trinfen, als fie ihn felber in
i^ren untätigen Gtäfern babatten. Aber fie gönnten jebem
bas Seine; unb ba ihnen anbere Dinge am Jpergen ober
bo<b auf ber 3unge tagen als biefes rafierte Jtotxoeinge*
ficht/ fuhren fie batb toieber fort, mit boshaften IBi^en
unb hartem Gelächter, mit böhnifeben Seufgern unb mef)*
ntütigen Augenauffcbtägen bie gelohnte Smchsjagb gu
machen. Jtur bem Äammergericbtsrat fchien eine gallige
£aune an ber £eber gu batfen. DJie ein flruppiger Geier fafi
er mit feinem Bogelgeficbt ba, unb toenn er fi<h über ben
toirren «Kopf (trief)/ roobei er ben langen S^als reefte, fielen
bie toeifien 3tpfel an feinem jpembfragen auseinanber, als
ob es toirftich gtoei Jpatsfebern mären.
Don all ihren Gefpräcben oerflanb ber JTtann aus Ora*
ntenburg nur etngelne Sä^e, bie anfeheinenb bei biefen $er*
ren einen anbern Sinn hatten als fonfl in ber oernünftigen
EJett. Es fam ihm recht albern oor, mie fie ben BJorten
bie Jpätfe oerbrebten unb bei ben oerrücfteflen Dingen
grofimächtig bie Arme oerfebränften. Aber es fiel ihm hoch
auf, baß oon ben Xifchen am Senfler unb fonfl in ben
Ecfen, mo bie anbern Gäfle gleicbfam als Abfall ber Xafet«
runbe bafaßen, neugierige Blirfe unb borebenbe Ohren an
feinen Herren ettoas Befonberes fanben. Unb mo fich etma
ein Glas fyob, einen oon ihnen mit einem Scbtucf gu be*
grüßen, mar fafi ein toenig Ehrfurcht babei. Batb begann
ben Bürgermeifler bie Jleugierbe gu fi^etn, bei toem er ba«
fäße, oieüeicht aus ^öbtrn Äreifen? So fpitjte er fetber bie
Dt>ren unb fanbte bie Augen runbum im Gefühl befonbe*
rer Dinge. Bor altem ber mit bem Bogelgeficf)t reigte ihn
febr, ber, alter Gegentoart febeinbar abtoefenb, mit \)o\)\tn
Bticfen bafaß; unb banach ber mit bem btanfen Schäbet
baneben, ber um fo emfiger gufjörte, hoch fetber fein IBort
fprach, auch nie eine JTCtene oergog, toie menn bies altes
nicht an feine Gelaffenbeit rührte. 3rgenbmte fam es bem
JTtann aus Oranienburg oor, als ob bie anbern nur Spaß*
mach er toären für biefe beiben* Unb toeil er fetber als
60
Bürgermeifler gu fragen nirf>t ungemofmt mar, legte er
fchliefilicf) feinem Hacf)bar gur fiinPen leife bie ^anb auf
ben firm, inbeffen fein Finger unter ber Xtfd)Pante gegen
ben Geier Popf geigte: ob es erlaubt fei, gu fragen, toer bie»
fer Sperr toäre?
Der Jlacfjbar batte gerabe bie $änbe breit auf ben Xifcf)
gelegt, ficf> herghaft ausgulacfjen unb bie Xränen flanben
if)m noch in ben oerfniffenen Augen, als er ficf) artig if)m
gumanbte: Das eben fei ber Sperr Crnfl Xfjeobor Amabeus!
3Tlit biefer XJornamenfülle mar aber bem Bürgermeifler
toenig gebient; er hörte über bie IBichtigPeit in bem Slüfler*
ton fort, breite bie Augen nocf) meiter nacf) linPs unb
fragte, als ob nach bem Nebenbei nun bie j?auptfacf)e
Päme, mit gerungetter Stirn nacf) bem JTiann mit bem
blanPen Schöbet.
„Der anbre ifl Xietf!" fagte ber Hatfjbar. llnb meil if>m
einer gerabe ben Jte|l aus ber Slafcfje in fein längfl leeres
Glas fcf>enPte, fcf)ob er ben Arm fort, mit Anbacfü ben
lebten Xropfen gu trinPen. So faf) er nicht, bafS bem Srager
ber JTCunb offen blieb oor Chrfurcfjt unb Staunen. Der
Bürgermeifler oon Oranienburg Ponnte nicht miffen, baf5
biefer Xietf gar nicf)t £ubmig, ber Dichter, fonbem Srieb*
rief), fein Bruber, ber Bilbhauer, mar. Aufierbem batte er
Xiebge oerflanben, unb bas mar freilich ein Harne, ber
feinem Glüef bas Spunblodf) auffebtug. Denn Xiebge mit
feiner „Urania 7 ' mar feiner Bilbung ber ragenbe Gipfel.
Cr achtete fonfl bas JJoetenoolP nicht, unb er hatte bas Buch
nur gePauft, meil er in bem Hamen Urania ein Geheim»
nis feiner Stabt Oranienburg fucf)te. Unb ob er barin ge»
täufcht mar, fo viel BJeisbeit in fo fcf>önen BJorten bei*
fammen gebrueft, batte er nicht für möglich gehalten. Unb
mie es fo geht, in ben 3af>ren, ba er bas Buch fafl aus»
menbig lernte, mit feinen Berfen manche «Rebe befliefenb,
irgenbmie mar ihm bas U unb bas O in bem Hamen ein*
faltig gemorben, fo bafS er nicht oon ber Urania fpraef),
ohne fich felber als ihren Bürgermeifler gu fühlen, unb
nicht oon Oranienburg, ohne tn einer befonbem Sphäre
ber Bilbung gu fein.
61
llnb nun war ihm bas Gefügt wiberfahren, ben Dieter
fo frfjöner BJorte, bas Süllhom a(( feiner IDetsfjett leib*
fjaftig gu fefjen. Oie Augen würben ihm feucht, unb fafl
hätte er unter bem Xifcf) bie f?änbe gefaltet über folcf)
ein 6eburtstagsgefcf)enf. 3«/ er pries mit innigen Worten,
bie ihm inwenbig wie Perlenfrfjnüre abrollten, bie Sügung,
baß er ber innern Stimme fo beharrlich gefolgt war. So
mußte ber Oichter ausfehen! barfjte er bann unb legte nach*
benftich bie flache $anb auf ben Xifch, fo baß ber Geier ben
Äopf hob: Oiefer gewaltige Schäbel! Oiefe oerfonnenen
flugen! Oiefer apollinifche JRunb! Xtnb weil ihm bei bie*
fern BJort eine Erinnerung fant, hob er fein Glas unb
tranf es mit einem innigen Blicf auf ben Oichter leer bis
auf ben Grunb.
Oarttber gefcf>ah es, baß ber Bürgermeißer oon Ora*
nienburg fich feiner felbß fcfjämte, unb biefe ihm peinliche
Scham begann mit bem Schiefen, baß er bas Glas feines
Oichters fcf>on lange leer fah, inbeffen er fetber ben bräun»
liehen Jlotwein genoß. Oas follte nicht fein, flagte bie
innere Stimme, unb er hörte ihr leibmütig gu, baß ber
Oichter im fieeren haftet, inbeffen wir Bürger bie Sülle
haben! Xtnb weil er gewohnt war, für feine Bürger gu
benfen, ging fein Entfchluß fogleich in bie Borfehung ein:
3ch muß feinen'Stolg fchonen! fagte er feß unb fing mit
ßch felber ein rafches dwiegefpräch an; unb ob er bie .Köpfe
rafch gählte unb einer Bowle ben Borgug gab unter fo
oielen, war bas fein geringer Bebacht, nur bie Uernunff,
ber Stunbe würbig gu fein.
llnb fo fäumte er nicht: furg unb beßimmt, wie er feines
Amtes als JTteißer ber Bürger gu walten gewohnt unb
geübt war, gog er ben «Rocf glatt, einen Gang aus ber
Stube gu tun. Sie werben mich anbers oermufen! bacf>te
er fchmungelnb, als er fich braußen im Slur gleich nach
finfs gur Anrichte wanbte, ben Kürt oertraulich gu
fprechen. Oer hotte Berßänbnis, wie er es brauchte; nicht
länger, als bie Bermutung 3eit nötig hatte, unb alles war
war fchon nach feinen KJünfcfjen georbnet. Oer eingige,
bachte er wieber, inbem er ben Stuhl nahm, fich l*ife nach
62
{»eiben Seifen oerbeugenb, ber einzige, bent itf) ben 3ufa((
tiefer für m'tcf) fo frönen Begegnung mißgönne, iß neben
bem ©itf)ter ber JTionn mit bem Bogetgefiäjt! Aber er foll
— unb nun mar er mit feiner TBürbe ganj im reinen —
mir feinen Augenbticf mein ftf)önea Geburtatagafeß ßören!
Jüit einem oolten Biicf faf) er ben louernben Stören»
frieb on.
XBie ein fteinea Saß ferner unb mit bem £öffel »er*
fjeißungaootl flirrenb, fam bie Borate herein, oont HJirt
mit Anßanb fetber getragen unb mit einem f)öflitf)en Seuf»
3 er ob ifcrer Scfnoere, aucf) einem bisfreten Blitf gegen ben
Spenber, ben Serapionsbrübern oor if>re fcfjnuppernben
JTafen geßettt. „Sie muß nod) jiefjen", fagte ber Wirt unb
faf) in bie Jlunbe, als fenne er feinen Beßetler, rüfjrfe nod)
einmal oorfirfjtig um unb ließ bie Jr>anb oon bem £öffel,
ficf) fiegesgeroiß ju empfehlen.
6 s mar ßilt in ber Stube gemorben. Bon ben Tiftfjen
am Senßer unb fonß in ben Gtfen faf) erßaunenbe 6 f)r*
furcht ben bicfen Porjettanbaucf) im ^erjenfic^t btinfen.
llnb erß ata ber Aufmärter fam mit ber ftirrenben Platte
oolt Gtäfer, jebent pfiffig junitfenb, ata er bie balbootfe
Stoffe bea Bürgernteißera mit einer tiefen Berbeugung
abräumte, bie emsige £eere ber anbern nur raffenb, fing
ein Berßänbnia an, in ben fjöfticf) abroartenben Augen gu
lächeln. 3Tur ber «Rammergeri<f>tarat f)afte bie Arme oer»
fcfjränft, aber bie JTüßem bläfjten ficf) teife, unb toie einen
fcfjmarjen Straf)! füllte ber Bürgermeißer bie unheimlichen
Augen jum brittenmat auf fitf) gerichtet. Aber furj unb
beßimmt, toie er feinea Amtea ju malten gemohnt unb
geübt mar, ßanb er junt anbernmat auf, ficf) mieberum f)öf»
lief) nach betben Seifen oerbeugenb, unb fing — nod) ein*
mal mit rafcfjem Biicf jäfjtenb — in froher 6 emeffenf)eif
an, bie Gtäfer ju füllen.
Das le£te mar oott, alte oortreffticf) gemeffen, unb ber
£öffel Tag mieber ßtll in bie Bomte oerfenft — irgenbmo
fnarrte ein Stuhlbein oergebena, ben Bann ber Gnoartung
ju brechen —, ata ber fettfame Spenber fein 6 taa nahm
63
unb mit «Refpeft über ben furgen $u(i auf fein linfes
Stanbbein gurücftrat: „Bleine Herren", fagte er fcf>li<f>t
unb oerbeugte ficb toieber, ala wollte er eine Jlebe begin-
nen; aber er fanb nur noch ein eingiges HJort, gegen ben
Dichter gletcbfam btnfnienb, weil er auf feinen furgen Sufi
oortrat, bem füllen JTiann mit bem leucbtenben Schabet
fein Glas einen Schritt näbergubringen: „Urania!" fagte
er nur unb ließ bas U unb bas D in einem erf fingen; unb
als fie Um alle noch f<f)toeigenb anfiarrten, weil feiner bas
«Rätfel begriff — fie fpüren bie 6b r furc t)t, backte er flolg
unb begtücft —, fcbwang er fein Glas in einem gierigen
Bogen, bie gange «Runbe gu grüßen, trat oor ben JTteiffer,
ibm tief ins oerfonnene Auge gu bliefen, unb tranf fein
Glas mit 3nnigfeit leer bis auf ben Grunb.
Solange mar um fein feltfames Xun eine läcbetnbe Stille
getoefen, toeil ntentanb ben fomifeben jperrn unb feine Ber-
gücfung oerflanb. 0e£t fuhr ein pfeifenber £aut in bas
3immer. BJte bie Äa£e auf eine Blaus fpringt, butte ber
&ammergeri<f)tsrat fein 6las in ber J?anb, unb bie anbern
flanben ibm bei mie auf ber JTtenfur, nur ber oermeint-
liebe Dichter blieb ft^en, toeil ibm ber «Kammergericbtsrat
bie Ärallenbanb auf ben blanfen Äopf legte: „IBtr toüfS-
ten bie 6bre böb^r gu febäben," fagte er bünn unb war
aus einem Geier leibhaftig ein «Kater gexoorben, ber ge-
bucfelt unb febtturrenb baflanb, „wenn wir Uranias Auf¬
trag wüßten!"
Bor bem böbntfeben BTann gerbraeb bem Spenber bas
löort unb bie IDürbe. „Der Bürgermetfler oon Oranien¬
burg bittet bie Herren," fagte er raub, „mit ihm feinen
Geburtstag gu feiern!" 6r lief? bas D unb bas 11 noch
einmal einfältig flingen, er fenfte gum anbernmal fein
leeres Glas gegen ben Dichter, ber feine Gelaffenbeit unter
ber «Kralle bes «Kammergericbtsrates in einem bämifeben
Grinfen oertor, er fd)wenfte noch einmal ben gierigen
Bogen gegen bie «Runbe, aber bas 6cbo, bas er fi<f>
träumte, blieb aus. Als ob ein Unheil bte JTIänner er-
flarrte, fianben fie ba mit oollen Gläfern unb grübelnben
Stirnen* Sollte ber JTeib, fo fuhr ein fester bem
64
Bürgermeißer burd) fein Gefßm, mir meine Stunbe ger*
ßören? ©ann übermannte au cf) U)n bie Grßarrung.
Jlur ber .Kammergerirfjtarat lief? wieber ben pfeifenben
£aut frören, bte Äafre fratte bie JTtaus: „Urania!" fagfe
autfr er unb fenfte fein Glas gegen ben Dicfrter, inbem er
bte $anb oon feinem «Kopfe ließ: „Urania!'* bann unb
ftfrwenfte ben gierlitfren Bogen, mit gellenbem S ?ofrn bie
Jlunbe gu grüßen; aber bann bratfr ifrrn ber £ oft in
3nnigfeit um, als ob nun aucfr ifrn ber feltfame 3auber
bes IBortes befiele: „Urania" fagfe er füll unb tranf fein
6fas teer bis auf ben Grunb.
So Ratten bie ßummen Serapiottsbrüber gwei Bergücfte
ßatt einen, unb bte Bowle ßanb auf bem Tifcfr, im Äergen«
litfrt blinfenb gu einer Seier, bie feiner oerßanb. Einige
Ratten gu laefren oerfucfrt unb anbre bte .Köpfe gefcfrüttelt.
JTur ber oermeintlitfre Dichter faß gang ofrne Gelaff enfreit
ba: „Oaß ber Teufel bem Tiebge feine papieme Urania
frole!" fagfe er roilb unb frieb fein Glas auf ben Xifcf), bafl
ber HJein fprifrte. Oer Bürgermeißer oon Oranienburg
füllte feine Geburtstagsfeier in Jjjofrn unb Befcfrämung
oerfinfen; aber au<f> er wußte nitfrt ntefrr als bie anbern,
bis ber Äammergericfrtsrat gum briftenmal aufßanb.
„£iebe Serapiottsbrüber," begann er unb oerwies einem
Uatfrbam gur Jlecfjten ben gornigen £ärm, „wenn bie 6öt«
ter fid) einen Spaß machen wollen, fcfrlüpfen fie lißig in
unfre Seelen. ÜJir benfen bas Beße gu tun, aber fcfron
brefrt ifrre Tütfe uns fanft bas Genitf um. Gin eingiges
IBort, tücfifcfr oerönbert, frat es oermocfrt, baß wir mit
biefer gefegneten Bowle gu ifrrent Gelöster bafifren! Als
biefer JTtann aus Oranienburg, bem bie Götter ben Spaß
unb wir bie Bowle oerbanfen, unfern Sreunb Conteffa bei*
läufig fragte, wer botfr biefer ^jerr mit ber ©enferßirn fei,
Ratten bie Götter ifrm aucf) frfjon bie Schlinge gelegt. UJie
fann man Tietf Reißen, ofrne ber große £ubwig gu fein!
Unb wie fann man ein ©icfrter fein, ofrne Tiebge gu Reißen!
Oeffen Urania f>at es bem Bürgermeißer ntefrr angetan,
will es mir f«feinen, als unfer Jreunb Tietf, ber nur ein
Bilbfrauer iß unb bem wir bennocfr bie Bowle oerbanfen."
5 SDte beutfcfte Lobelie.
6 5
So weit batte ber .Rammergerichtsraf mit Sanftmut ge»
fprodjen, als ber oermeintüche Dichter auffianb unb fein
Glas gegen ben Btann aus Oranienburg fenfte: „Urania",
fagte auch er unb fchwenfte fein Sias, mit bem UJort im
jierliefen Bogen bie Jlunbe ju grüßen: „Urania", bann
unb tranf fein Glas mit Gelaffenheit leer bis auf ben
Grunb. Da brach ber £ämt aus Serapion los, unb bie oiei»
erfahrenen XDänöe ber UJeinflube hielten faurn bas 3ubel«
gefchret aus, bas ben tobblaffen Bürgermeifler umtofle.
Aber ber £ammergerichtsrat blieb als Äapellmeifler in
bem Höllenlärm flehen: „Jluhe, Serapionsbrüber!" rief
er unb hob Öen fiöffel als laftfiocf. Unb als fie barüber
oon neuem losbrachen, lief} er fie tofen, um banach weiter
ju fprechen: „Da habt ihr nun, Sreunbe, gefehen, was
unfre Unflerbüchfett heißt! URr holen bie Gngel unb Xeufel
aus unferer Seele herauf, Bluftl, UJorte, Bilber unb Steine
baraus für bie Bienfchheit ?u büben; wir [teilen fie flolj
oor bas Publifum hin unb machen ben £euten norf» unfre
Berbeugung baju, wenn fie ftatfehen. Aber bie £eute —
bies, meine Sreunbe, wollen wir nicht mehr oergeffen —
hören Oranienburg, wenn wir Urania fagenl Denn bie
£eute finb Bürger unb hoben ben XBerfettag ihrer Ge*
fchäfte, inbeffen wir burch bas Stoppelfelb unfrer UJinb«
oögel fpringen. BJenn fie am Sonntag bie gute Stube ber
Bilbung aufmachen, fehen wir burch bie Jenfler hinein;
aber wir rnüffen artig bie Blühen abnehmen.
Ginmal — ihr Sreunbe toißt es wie ich — fchwebte ber
Geifl über ben BJaffem, aber nun fchwimmt er bem Bür»
ger auf ber Suppe, unb bie Fettaugen finb wir, meine
Sreunbe! Dem Bürger gu fehmeefen ifl unfer 3wecf, barum
rnüffen wir fanft fein wie Bianbelöl, wohlriechenb wie
Blajoran, füß wie Zeigen unb Sahne. Denn nicht Bah»
rung finb wir, nur bas Geroürj für bie Suppen unb
Sofien, Braten unb Schaumfpeifen, wie fie bas £ecfermaul
liebt. BJollfen wir felber bie Speife oorflellen, würben fie
fpuefen unb niefen unb bauchübet werben. Darum, meine
Srreunbe, hot uns ber Tiebge in feine Ißaßete getan: bie
Hefe ber IBeisheit, bie Blüch ber fanften Gefühle, «Rofinen
66
unb JRanbeln in nahrhaften Htehlteig gerührt unb ollea
im $ett ber eblen 6efinnung gebacfen. Urania hot er bie
braune jJaflete geheißen, unb biefer JTtann aus Oranien»
bürg fagt euch, mte fchmacfhoft fie ifl!
Xlrania aber mar jene JTlufe, bie ber Kunfl ben Stern»
bimmel brachte. Unb biefer Sternhimmel ifl — oergeßt
bas nicht, meine Sreunbe — bas etngige Sinnbilb ber
Gmigfeit, bas auch ber Bürger erb lieft. £aßt ihm, ich bitte
euch fehr, bas braune Gebäcf! Denn feht, er Pann ja nur
effen; mas foll ihm ber Jrjimmel, ben er nicht oerbaut! Kür
gmar, mir fönnen trinfen, unb manches JTlal maren mir
trunfen in feiner unenblichen Tiefe. Dann fonnten mir füe»
gen, mie bie bunfeln Jtach ff alter tun, unb bie Sternbilber
maren bie Blüten ber Kielt, mit unfern JUiffeln baraus bas
6ericht unb Gemürg unfrer einzigen Kahrung gu faugen.
3Tun feht: hier bringt Urania uns mieber, mas mir ihr
raubten. Dem Bürger bie braune Paflete, uns aber bie
ßebtiche Bomle hot ber braoe Tiebge in ihrem Kamen be*
reitet. Jliecht bodf) hinein in ben Topf! Birgt er nicht mehr
mie nur 6eträttf für ben Klagen? 3fl er nicht Geifl? S)at
fich bie hraune haftete nicht herrlich oermanbelt? Unb ifl
es fein Senbling bes etoigen Kings, uns miebergubringen,
mas bie Urania in einer Paflete gebaefen ihm nach ©ra»
nienburg brachte? ©enft an ben tücfifchen Gott, ber in bie
Seele oon biefem reblichen Ktann hier gefchlüpft ifl, unb
banft ihm, inbem ihr fröhlich mit ihm feinen Geburtstag
gu feiern beginnt! Jrjebt euer Glas unb fenft es mit mir oor
bem Spenber: Urania lebe! Unb fchmenft es mit mir in
ber Kunbe, barin nun Urania meilt, unb leert es bis auf
ben 6runb auf biefen Jperrn Bürgermeifler, ber Uranias
Senbling aus Oranienburg ifl!"
So fprach ber Kammergerichtsrat unb hotte ben ßöffel
längfl in bie Bomle gefenff; fo taten banfbar bie Sera»
pionsbrüber mit ihm. Unb bie oon ben JFenflern unb aus
ben 6c?en traten hergu unb fenften bie Gläfer unb fchmenf»
ten fiejierlich, bie Kunbe gu grüßen, unb tranfen fie leer bis
auf ben Grunb. ©ent aber bie 6hre gefchah, er hotte ben
Spott unb bie JJreifung gehört mie bos U unb bas D,
67
5 *
unb olles war if>m ous UJirrfal in Einfalt oerflungen.
3f)m lief eine Xröne mit in fein Glas, roeltf) eine Gärung
Urania tf)nt auf Öen Geburtstagstifcf) legte: DJenn bte in
Oranienburg müßten! bacf>te er flolj unb trat auf fein
Stanbbein jurürf unb neigte fiel) f)öflicf> ttarf) ßnfs unb
rechts, beoor er fief) fefjte.
68
$ ii * Amulett
Kon 3afob IKaffermann
vYV^unberbar, ba|3 ein fiebert nicht erltfcftf wie eine
•4 Stamme ohne Jtahrung, wenn es nichts enthält
als 3Tot unb JTlühe, feine Sreuben barbtefet, fein Ans*
ruhen ertaubt, feine Schönheit unb fofl auch feine $off»
nung hat. Oer JTlenfch ifi ein gebulbiges unb ju (eiben
fähiges Gefcfröpf unb was er trägt, gebt oft über bas JTtafS
ber .Kraft btnaus, mit ber ihn bie JXatur ausgefiattet bat.
llnb viele tragen es unb murren nicht einmal; Griffen fie
von anbern fiofen nicht ober finb fie ooll oon ihrer BefKnt*
mung, ba(J ihr Jperj oon jebem Aufruhr frei bleibt unb
fie fiel) mit fchoreigenber Gelaffenheit in bas bunfel ltnab«
änberüche fügen? Diefen Gang jum Grabe hin, jum Xobe
hin, beffen Sinn fie nicht faffen, fo orie ihnen ber Sinn
ihres armen Dafeins verborgen ifi?
Chrifüne Schierling xoar aufgetvachfen in fchmuhigen
Grofjflabtgaffen, hatte Kater unb Jliutter nie gefannt. Grfl
«rar fie in einem DJaifenhaus gevrefen, bann hatte fie ber
Kormunb ju fich genommen, bann «rar ber Kormunb ge«
florben, bann hatte fie Dienfi tun müffen bei einem Her»
uralter. KJaffer fchleppen, IKäfcfre wafchen, Seuer anjün»
ben, Äinber warten, Stuben fcheuern, bas «rar ihr Ge»
fchäft vom frühen JTiorgen bis in bie fpäte Stacht.
Wev fönnte alle bie Käufer nennen, «ro fie arbeitete,
alle bie Familien, beren Brot fie af5, alle bie Xreppen jäh»
len, bie fie auf» unb abgerannt, alle bie Schimpfreben, mit
benen fie von ihren Verrinnen bebacfrt würbe. Sie wechfelte
häufig ben P(a|, nicht ber Drang fal «regen, ber fonnte
fie nirgenbs entgehen, fonbern «Teil ihr oon 3eit ju 3eit
bo<h ber Gebanfe fam, fie fännte ihre Sage oerbeffem.
Dies erwies fich aber als eine trügerifche Hoffnung. Die
69
Großbürgerin mißtraut einer JTtagb, bie beim .Kleinbürger
war, unb fo mußte fie immer toieber bei ben geringen £eu»
ten llnterfcfjlupf furfjen. Bbtoeilen mären es gute £eute,
bisroeiten fcfjlechte, je nacf)öem. Bismeilen blieb man ihr
ben £of>n fchulbig, bistoeilen mußte fie ^ungern. Oort
toaren .Kinber, bie fie quälten unb boshaft oerfolgten/ bort
Aftermieter, bie unoerfchämt mürben, menn fie am Abenb
nach Jpaufe Pamen. Da mar bie $rau PranP, bort mar fie
eine JTtegäre, ber man nichts recht machen Ponnte; ba mar
ber JTtann ein Saufbolb, ba betrog er feine 6f)ef)älfte mit
anbern JBeibem, unb es gab beßänbig 3anP unb Streit.
3 i)V maren alle Arten non 3Ttenfcf)en bePannt unb alle
Arten bes 3ufammenlebens oon JHenfrfjen. Sie Pannte bie
oerfcfjämte Armut, bie trag iß, unb bie fleißige, bie jebent
Angriff bes Srf)i(ffals tro0t. Sie hatte Siebe gefefjen unter
erbärmlichen Xrümmern ehemaligen Glücfs, unb ^aß, ber
jeben £uftf>auch oerpeßef, ben irjaß gmißhen üater unb
Sohn, jroifchen Jltann unb BJeib, gmißhen Bruber unb
Schmeßer. Sie Pannte bie Sprache bes Jteibs, bas Gift
ber Berleuntbung, bie Jlaferei ber Berjmeiflung, bie
Stummheit ber JTtelancholie unb bie Schauber, bie bas
Berbrecfjen umgeben.
Sie mar bei einem 3ucPerbäcfer gemefen, bei einem
Schuhmacher, bei einer Äupplerin, bet einem oerPrachten
SabriPanten, bei einer Hebamme, bei einer XrafiPantin,
bei einem BranntmeinfchänPer. 3n manchen Xräumen er»
ßhienen ihr bie Käufer, in benen fie gemeilt hotte, aber
nicht eines ums anbere, ober jetjt biefes, bann jenes, fon*
bern alle auf einmal, in einer alpbrucPhaften BerPlamme»
rung, Bienengelten gleich. ©a fah ße enbios oiele Stiegen
unb enbios oiele Xüren. 6s herrfdjte Geruch oon Betten,
oon Sett unb oon fchlechtem .Kaffee. Beßänbig mar £ärm,
überall mar £ärm. Singen, Pfeifen, ^ämmem, Schreien
unb £achen; Säugüngsgemimmer unb jpunbegebell, Pot»
tern unb Schaufeln, Slucfjen unb Stöhnen. Xlnb alles mar
ohne Sonne unb ohne Jpintmel.
3n einem Bett hatte fie feiten gefchlafen, meiß auf einem
Strohfacf ober einer 3Ttatra£e neben bem $erb. ©a Proch
Ungeziefer über ihre j?änbe unb bas Gefichf, fobalb es
finfler war. Einen Jlaurn für fich hotte fie nur bei bem
Sabrifanten gehabt, ober bas war ein elenber üerfchlag
in ber TTCanfarbe gewefen, wo ber DJinb hereinblies unb
in falten Hätten bas J^erj im £eibe fror.
3roifcf)en ihrem gwangigfien unb einunbgwangigßen £e*
bensjafjr hotte fie bei einem JTiajor gebient. Er würbe
Jperr JTtajor genannt/ ln DJirfltchfeit war er ein herunter»
gefommener alter JTTann, ber fich burrf) Meine Agenturge*
f«hafte ernährte unb außerbem eine fümmerliche fJenfion
genoß. Solang er gefunb war, hörte fie fein freunbticfjes
DJort oon if>m; als er aber franf würbe unb Cfmßine if>n
pflegen mußte, würbe er fleinlaut, unb wenn fie fortging,
jammerte er um fie, bis fie wieberfam. Chrißine hörte feine
Atagen an unb fah, bafi es mit ihm gu Enbe ging. Dis er
feinen lob nahe füllte, rief er bas JTtäbcfjen an fein Bett
unb fagte gu if>r: „Gott lohne bir, was bu an mir getan
fjaff. 3rf) fann’s nicht. Damit bu aber nicht gang teer oon
meinem Sterbebette gehß, will ich bir bas Amulett f<hen»
fen, bas mir meine felige JTlutter umgehängt ho t, als ich
in ben «Krieg gegen ble 3taliener gog. Dielleicht bringt es
bir mehr Glücf als mir." Bei biefen DJorten griff er unter
fein wollenes Jrjetnb, öffnete ben Berfcfßuß eines Stahlfett*
chens unb brachte eine JTTünge gum Dorfchein, bie an bem
«Kettchen hing« Sie war fo groß wie ein Gulbenßücf unb
hatte eine grünfpänige Sarbe. Chrißine bebanfte fich. Gleich
banach houchte ber JTtajor feinen testen Seufger aus.
Seitbem trug fie bie JTtünge beßänbig auf ihrer Brufl.
3ef>n 3af>re fpäter erreichte fie enblich eine höhere Staffel
be9 fog’talen Sebens; fie trat bei einem jübifchen Ehepaar
in ©ienß. ©er JTtann hieß Simon Saubefeber, war ur*
fprünglich ^aufierer gewefen, bann hotte er es gu einem
«Rleiberlaben in ber äußerßen Dorßabt gebracht, wo er bie
5abrifarbeiter mit billigen Angügen oerforgte, unb oor
furgem hotte er in ber Stiftgaffe ein Gefchäft errichtet, bas
fich DJarenhaus gum «Ratfer oon ößerreich nannte, ©ie
7 1
£eufe toaren finberlos, es gab nicht übermäßig otcl Arbeit
bei ihnen, auch toaren es ruhige ÜTlenfchen, uni» Chrcfiine
erfuhr oon ihnen eine anftänbige Behanblmtg. Aber bas
X0icf)tigfie toar, bafj fie ihre eigene Kammer erhielt.
Sie fchmücfte bie fahlen HJänbe mit 31luflratconen aus
3eitfchriften; ba hing ber Äronpring Jlubolph/ ber Sürfl
Bismarcf mit bem Jleiihshunb Tpras unb eine ©arfiellung
ber Seef(hlacht bei Trafalgar; bie Silber toaren mit JTägeln
befefiigt, unb jtoifchen XOanb unb Papier ragten fleine
Tannenreifer unb oergilbte Blumen heraus. Über bem
Bett hing bie Photographie bes Jttajors; fie geigte ihn als
jungen Seutnant unb toar ebenfalls mit BlattwerP um*
fränjt. Sin hochbeiniges Tifchchen toar mit einem £innen
bebecft, unb barauf lagen, tiebeootl georbnet, allerlei An»
benfen unb Gefchenfe aus früherer 3eit, ein Pfirfidf) aus
UJad)3/ ein Singerhut in einem rotfeibenen Behälter, ein
Porjellanjtoerg, ber unter einem Pilg Pauerte, ein Gebet»
bu<h mit gotbenem Äreuj unb eine .Kette gelber Glas*
perlen.
3utoeilen, toenn fie au9 bem £att9 ging, um GinPäufe
ju ma<hen, begegnete fie im Slur ober auf ber Stiege einem
Sotbafen, einem Äorporal oon ben ©eutfchmecfiern. Gr
hatte einen fchtoarjen aufgebrehten Schnurrbart, bicfe £ip»
pen, ein gutrafiertes runbe 9 Äinn unb munter glänjenbe
Augen. Als fie ihn bas jtoeite 3TIal fah, falutierte er, beim
brüten 3TIat lachte er fie an, beim oierten JITat begann er
ein Gefpräch/ unb fie erfuhr, bafj er feine Schtoefler be»
fuchte, bie in bem j?aus toohnte unb mit bem Schtoerfuhr»
toerPsbefiher Grieshacfer oerheiratet toar. Gr hiefi Äaliyfu 9
3off, hotte fich bei ber Truppe aPtioieren laffen unb hoffte,
es balb jum Selbtoebel ju bringen.
3Tach unb nach tourbe ChrifRne gutraulich, unb fie oer»
abrebeten für einen Sonntag einen gemeinfamen Spanier»
gang. Sie fuhren nach Sieoering, gingen burch ben Srüf»*
lingstoalb nach DJeibfing unb Porten bei anbrechenber
CunPelheit ju Sufi in bie Stabt gurücP. Oer Korporal hatte
fich mit feiner Sdhtoefler unb beren JTtann oerabrebet, fie
traten in ein Pleines IBirtshaus unb nahmen an einem
72
Xifch piaf}, an bem fcfjon acfjt ober gehn perfonen faßen.
Chrißine fannte $rau Grieshacfer oom Sehen, fte fe^te
fidf) neben fte «nb grüßte fcfjücfjtern. Oer Korporal führte
halb bas große XDort unb geriet mit 6riesf)arfer in einen
feigen Streit barüber, ob ber Saljburger Schnellzug in
ber Station JTeulengbach hielt ober nicf)t.
Auf bem JTachhoufetoeg ging £aliftus 3off mit
Chrißine Arm in Arm, unb unter bem Schuh ber Ounfel»
heit nahm er fitf) einige täppifcfje 3ärtlicf)feiten heraus.
Chrißine aber mar mübe, benn es war bie erße fhmben»
lange DJanberung, bie fie feit oielen fahren gemacht hotte.
Oie Augen fielen if>r fcfjon unterm Tor gu, unb als ber
Korporal junt Abfchieb einen «Kuß oerlangte, gehorchte fie,
ohne fiel) babei toas ju benfen, unb füßte ihn auf bie biefen
Sippen, fo baß ber Schnurrbart fie unter ber JTafe Adelte.
Srau 6riesfjacfer lachte, ber Schwerfuhrwerfer pfiff be«
beutungsooll.
Sange 3eit ging Chrißine mit bem «Korporal, ohne baß
fie feine Geliebte toar. 6r ßeuerte natürlich auf biefes 3iel
los; fie toiberßanb, nicht toeil fie Angß gehabt hätte ober
irgenbtoelchen Preis auf ihre Eingabe fe^te, fonbern toeil
fie nach bem, toas ihm fo begehrenswert fchien, nur ge»
ringes Oerlangen hegte.
Äaliftus 3off ärgerte fich; er fagte, fie holte ihnt jum
beßen, unb brohte, bie jreunbfchaft abzubrechen. Ooch
fam er immer toieber, febesmal mit neuen Angriffswaffen.
6r prahlte mit feiner JRannliifjfett, beutete geheime Oor»
Züge an, bie er befaß, unb fprach oerächtlich oon anbern,
bie nur fo ausfähen, als ob fie ganze «Kerle toären. BJenn
bann Chrißine oerficherte, fie glaube ihm, unb tro^bem
unempfinblich blieb, tourbe er rabiat, legte bie rechte $anb
auf bie «Rocfbruß, bie linfe an ben Griff bes Seitengewehrs
unb fchwor, fie müffe bie Seine werben, ober er werbe fich
unb fie erfchießen.
Ste geigte oiet «Ruhe, wenn er tobte; bas imponierte
ihm. Es hotte *« »hm hte Jftemung gebtlbet, ihre $aTt»
näcfigPeit fei auf ihre früheren Grlebniffe im Oerfehr mit
JRännern jurüefjuführen, unb er tat, was ihnt möglich
73
toctr, um fte ju überzeugen, baß er für feine Perfon eine
Ausnahme non ber «Regel fei. Groß war baljer fein Cr»
ßaunen, als er feinen 3rrtum einfefjen mußte unb erfuhr,
baß es ficf) mit ihrer XJergangenfjett ganj anbers oerhielt.
£s war an einem Sontmerabenb, unb fie gingen oom
«Kahlenberg burch bas ^ügelgelänbe gegen Jlußborf ju.
Por i^nen unb hinter ihnen gingen £iebespaare; manche
fangen/ manche flüßerten, unb juweilen oerfchwanb eines
feitab vom BJege. flus bem Xüalb, oom «Ranb ber DJein«
berge unb aus ben zahlreichen Schenfen tönten bie Stirn«
men fonntäglicf) forglofen Bolfes. Oer Tltonb (Heg über
ber Stabt empor, bie £uft war fchwül. Oa geriet Cfirißine
langfam ins Erzählen, ihre 3unge löfie fich, ihre bumpfen
Sinne entwanbten fi<h einer Seffet, bie feit ber «Kinbheif
nicht oon ihr gewichen war, fie erzählte oon ihrem £eben,
unb wo fie überall gewefen, unb wie fchwer fie es gehabt,
«ftalijtus 3off hörte juerfl mit gutmütiger Jrjerablaffung
gu, als aber bas, worauf er wartete, immer noch nicht
Konnten wollte, entfchloß er fich, feiner Hngebulb unb
ihrer Uergeßlichfeit burch eine berbe 5rage ju helfen. Sie
antwortete fopffchüttelnb, mit beriet habe fie fich niemals
abgegeben. 6r fht^te, blieb flehen unb fchaute fie mit offe»
nem 3Tlunb an, benn ber Gebaute an eine fotche JTlög*
lichfeit war ihm nicht bloß neu, fonbern im erflen flugen»
blicf auch unbegreiflich; fo unbegreiflich, baß er fich mit
einer geringfchähigen Gebärbe bagegen ßräubte unb nur
bie bunfle Iraurigfeit ihres HJefens unb ihrer Stimme
ihn oerhinberte, feine 3weifel energifch ju äußern.
Sie wieber begriff feine lleberrafchung nicht, ba fie hoch
bas Bewußtfein hatte, weber je gelogen noch fich o er (teilt
ju haben, „fleh ja," fuhr fie fort, „man fieht gar manches,
mehr ab einem lieb iß, unb bie £uß oergeht einem."
©aran lag es bei ihr, am 3uoielfehen; unb bas fleh war
berebt genug. Ufo fie gewefen, waren bie lüänbe bünn,
bie «Riegel roßig, unb feiner fchämte fich oor bem anbern;
^eiliges würbe grobe Jlotburft, 3arfeßes graufamer
3wang. PJenn fie ß<h umfchlungen hielten, wie etenb wa»
ren fie ba noch, wenn eine Jtacf)t fie über bas Gemeine
hob, tote freublos toaren fie fcfjon in Öer nächßen. j^ocf^eit
war tote tob, fielen bie Schleier; Geburt ein Grauen, lims
6elb hoberte, am 6elb flebte, am 6eib oerbarb alles; ohne
Gelb toar junger, Gntfe^en, üergwetflung unb JKorb.
Ginmal toar neben ber £Ucf>e, too fie fcf)lief, eine JJroßi»
tuierte erflogen toorben, bie fich fjunbert fronen gufant«
mengefpart hotte. Chrißine batte bas 6eficf)t ber Getöteten
gefe^en; fo oiel Siebesoorrat fonnte in feinem JTCenfchen
fein, baß nach biefem flnblicf Hoffnung, unfcfjuibige Gr«
toartung, heimlicher 6laube hätte lebenbig bleiben fönnen.
Cs toar bie aufgeriffene Schwärze ber Unterwelt, bas un»
abtoenbbare üerfjöngnis felbfi.
fluch bies erjäf)lfe Cfjrtffine in ihrer einfachen flusbrucfs«
toeife; unb toie fie nachher oor Gericht hotte ausfagen müf»
fen unb ihr bie 3eugenfd>aft ihrer ifjerrin, ber Äupplerin,
oerberblich geworben toar. Da hatten fie eines flbenbs jtoei
3uf)ätter auf einen Bauplab gelocft unb auf fie eingefchla«
gen, baß fie bis jur Jltttternacht im Blut gelegen toar.
ßalqrtus 3off toar allmählich fleinlaut geworben. Gr
fpürte bie UJahrheit, ja noch mehr, er fpürte, bafi biefes
JTIäbchen unwahr gar nicht fein fonnte. Cs befiel ihn eine
Ahnung, baß fie fo hoch über ihm ßanb, wie er bisher ge«
wähnt hotte, über ihr ju flehen, unb es würbe ihm ein
wenig bange inmitten feiner folbatifcften Größe unb Ge»
walt.
Sein Schweigen rührte Chrißine, benn fie erriet ben
Grunb. „3<h möchte noch nicht heimgehen/' bat fie plöblich
unb fchaute fich um. Sie waren im Gifer ber Unterhaltung
oom Sauptweg abgefommen, unb es war nun ganj ein»
fam um fie. Der JHonb war ins Gewölfe gefchlüpft, tief
in ber Donauebene büßten bunßumflort bie Sichter ber
Stabt; Chrißine ließ ficf) ins Gras nieber, «ßaltytus fe£te
fich neben fie unb fing an, teife unb melobifch ju pfeifen.
„Du fannß’s aber gut/' fagte Chrißine. — „3a, bas hob
ich gut gelernt", erwiberte er unb lehnte ben «Sopf an ihre
Bruß.
* *
*
75
Ungefähr bis gegen EJethnachten gelang es Chrifline,
ihre S<htoangerfd)aft gu oerbergen. Als Srau Eaubefeber
merfte, tote es mit if)r (lanb, nahm fie fie ins Gebet, aber
Chrifline blieb eigentümlich oerflocft. Sie gab gu, toas nicht
geleugnet toerben fonnte, fonfl aber toar toenig aus ihr
herausgubringen. Xßofrin fie gehen toollte, toenn ihre
Sfunbe fam, toufjte fie nicht, unb gutgemeinten Jlat toies
fie ab.
Die Seute im Jrjaus unb auf ber Gaffe betrachteten fie
neugierig; in manchen Blicfen las fie JTCifleib, in manchen
irjohn. Äalijtus 3off toar im Anfang ziemlich beflürgt ge«
toefen, als ihm aber Chrifline toeber Bortoürfe machte/
noch ein unglückliches Geficfjt geigte, noch Selb oon ihm be«
gehrte, oerfchtoanb feine Sorge, unb er toar Chrifline auf«
richtig banfbar für ein Benehmen, bas ihn fogar bes
3toanges enthob, bie JTCiene flechten Getoiffens gur Schau
gu tragen.
3n einer Stacht im JTlärg gebar Chrifline einen Knaben.
Am Abenb, ats fie bie erflen Schmergen gefpürt, toar fie
gu einer Jpebantme in ber JTachbarfchaft gegangen, mit ber
fie fith ein paar läge oorher fchon oerflänbigt hotte. Gleich
als fie fam, mußte fie fünfgehn Äronen erlegen, bann
burfte fie bableiben, unb bas XGeib richtete ihr ein Säger
her.
Bier Tage toar fie bettlägrig, bann fagte bie Hebamme,
bafj fie nun toieber gefunb fei unb aufflehen fönne. Sie
flanb auf, fühlte fich aber noch recht matt. Ben Säugling
mufjte fie einfltoeilen bei ber 3rau laffen; am Sonntag
follte fie herüberfommen, unb bann toürbe man Jlat hol«
ten, toas mit bem Äinb gu gefchehen höbe. „UJie toirbs
benn heißen?" fragte bie Jpebamme. Chrifline ertoiberte,
es fotle gofeph heißen.
Ourch bie Bermittlung ber Sjtbaxnmt tourbe eine 5rou
in Crbberg ausfinbig gemacht, bie bereit toar, bas Äinb
gegen ein geringes Entgelt in Äofl unb Pflege gu nehmen,
©ie Jpebantme brachte es felbfl hin, unb am Sonntag bar*
auf ging ChrifHne mit bem Aorporat nach Erbberg, um fich
gu oergetoiffem, ob bas Äinb in guten Jjjänben fei. ©ie
76
$rau, bie es fjatte, toar eine 1Bäfcf)trin, unb fie gefiel Cf>ri*
fline gong unb gor nicf)t. Sie f>atte felber oier Heine Äin»
ber, unb *ie IBofmung toar fcfjmu^tg unb büfler.
3toei löge fpäter ging Cfmftine toieber nacf) 6rbberg.
Df>ne oiel gu reben, forberte fie ber IBäfcfjertn bas Äinb
ab unb naf)m es mit gu Saubefebers. 6s fcfjrie aber bie
gange Jiacfjt erbärmücf), Simon £aubefeber tourbe im
Scfjlaf leflört unb oerbot, bafj ber Säugling im ^aus
bleibe. Da mußte ftcf) Cfjrißine nacf) einer anbern Unter*
funft umfefjen; fie erinnerte ftcf) oon einem früheren
©ienßplafc f>er einer Gärfnerstoitroe, bie if>r einige Sreunb*
licfjfeiten ertoiefen fjatte, gu ber ging fie f>in, unb bie toar
aucf> willens, an bem Äinb gegen eine mäßige Vergütung
JTiutterfielle gu oertreten. 6s tourbe getauft, bas Gericht
beßellte if>m einen Borntunb, Äaliftus 3off f)ätte Alimente
galten müffen, fjatte aber fein Gelb, unb fo mußte Ctmflme
alles aufbringen.
©a bie Gärtnerstoitoe nicfjt toeif toofjnte, lief fie f)äuftg
am Abenb f)tn, um ficf) nacf» if>rem Qofepf) gu erfunbigen.
©ent Anfcfjetn unb ben XBorten ber 5rau nacf) fjatte ficf)
bas Äinb über nichts gu beflogen, aber jebesmal, toenn
Cfjrißine es faf), gog ftd) if>r £erg gufammen, benn es faf>
f<f)lecf)t aus, 1>atte eine gelbe ijjaut unb trübe Augen. Als
ein oerfloffen toar unb bas Äinb gu fränfeln begann,
gab fie es gu einer Butterf)änblerin nach Jpe&enborf, einer
Srau Tomafef, unb bort blieb es aucf>, benn fie toar beffer
als if>re Borgängerin unb fjatte ein wenig £iebe für bas
beimatlofe TBefen.
*
3Tacf> toie oor führte ber Äorporal Cfjrifline geben gtoei*
ten Sonntag aus, aber aufs £anb gingen fie nur nodj fei»
ten, trotjbem ficf) bies Cf>rißine am meifien toünfcf)te, fon»
bren fie ßatteten guerfl bem 3ofepf) einen Befucf) ab, unb
bann ßrebte Soff gu einer Kneipe am Beubaugürfel, too
er getoöfjnHcf) feinen Sreunb, ben Srifeur Poliofa, traf.
Poltofa unb 3off Ratten ficf) in einer Tangbube im J3ra»
ter fennengelernt; es toar nocf) nicfjt lange fjer. Sie f>atten
77
ftrf) um ritt JTtäbel geganft, tote Äaliytua gong offen Cf)ri>
ßine ergäbtte; aber bann batten fte gefeiten/ baß an bem
Jftäbel nichts Befonberea toar, ba batten fte Trieben ge*
fcf)loffen, waren gufammen weggegangen/ unb fo, beim
Scf)lenbern in ber OTacfjt, batte jeber bea anbern Jrjerg ent»
beeft.
Oer Srifeur Poliofa lag bem Äorporal beflänbig in ben
Obren, er folle botf) bas iotbatenleben aufgeben, unb baa
war ber Grunb, weshalb Chrißine, bie ben JTtann anfangs
nicht batte (eiben fömten, ifjn allmählich mit günßigeren
flugen betrachtete. 6s würbe oiel ftirt* unb (»ergerebet über
ben Punftj aber <£att;tus 3off war ber Stimme ber Ber*
nunft ungugängticfj.
Gr fagte, er fei nun einmal gum Solbaten geboren, er
fei es mit £eib unb Seele. Poliofa, ber unter feinen Be*
fannten für einen belefenen unb gebilbeten .Kopf galt unb
fid) auch bemgemäß ausgubrücfen wußte, hielt ihm ent*
gegen, baß, wie bie 3eiten befchoffen wären, baa Solbat*
fein bloß als eine müßige Spielerei angefehen werbe, unb
baß ein JItann oon .Ralijtua 3offa PörperÜchen unb geißi*
gen Gaben, f>ier gwinferte polioPa ber aufmerffam (au*
fthenben Chrißine fcf;tau gu, in jebem anberen Sa<h Gr»
PlecPKchea (eißen, ja Jogar gur Ätobtbabenbeit gelangen
Pönne.
„Oaa nu(jt euch alles nichts," antwortete Äalcjrtus 3off,
hüb trag bea «Raifers «Kocf, unb babei bleibf’s. llnb wenn
ber Äaifer nicht Solbaten brauchen täte, fo hätt’ er uns
fchon felber abgebanft. XBarum foll ich mich bie gange
B3o<he um ein paar läufige Äronen fchinben? JItein Bett
unb meine JITontur hob ich, mein jreffen unb Saufen
hab ich, unb außerbem ßell ich auch ®as oor. So bli0*
ftmber fühlt ficf) Peina wie unfereiner, wenn man am
Sonntag aus ber Äaferne gu feinem Schah fpagiert." Gr
faßte Chrißine berb um bie Schultern unb gwicfte ihren
flrtn, baß fie auffchrie. „llnb bu, PolioPä," wanbfe er ßch
an ben jrifeur, „geht’s bir benn gar fo großartig, froh?
bem bu bie IBeisheit mit Eöffeln gefcblucft haß?"
78
t
„3a, Ja, fcfjon," gab PolioPa etwas betreten ju unb
ßrid) fid) feine Piinßterifcf) gelobten Spaarbüföel aus ber
Stirne, „aber bas ift meine eigene perfönlicf)e Stfjulb fo»
jufagen. XDär id) nichts weiter als ein Barbier, fo fy'ätt
icf) fcbon längfi meinen £aben auf ber Jlingßraße unb ein
f)alb 0u0enb Gehilfen unb eine Srau Gemahlin. Aber id)
bin {>alt ju ettoas ^oberem geboren, fjab meine Antbi«
tionen, Sortuna bat mir nicf)t bas Seifenbecfen unb bas
Aafiermeffer in bie BJiege gefegt/ 7 6r ßtt£te bas £aupt in
bie J?anb, unb feine Meinen, oerlebten Änopfaugen bücften
melanrf)olifcf) ins £eere.
Cbrißine oerßanb feine «Rebe nicht. 6s toar if>r aber be»
ßirnrnt, baß fie if)n beffer foltte begreifen lernen. 3n ber
jweitfolgenben KJoifje bePatn fie ein rofenrotes Brief eben,
bas feine llnterfcbrift trug, unb worin er fie unb Sreunb
&ali;tus ju einer am Sonntag flattfinbenben Xbeaferoor«
ßellung bes Hereins „Scbtoarjamfeln" einlub. 6s follten
bie „Jläuber" gegeben werben, unb PolioPa batte bie
Äolle bes Äarl barjußellen.
3ur bejeidmeten Stunbe fanb fief) Cbrißine mit «Ralijtus
in ber „Golbenen Birne" ein. 0a fie niemals guoor in
einem Ibeafer gewefen war, machten fcf)on ber Saat, bie
oielen £icf>ter, bie gepulten Iltenfcben, ber gemalte Borbang
einen tiefen Ginbrutf auf fie. Als ber Borbang aufging
unb bas Stücf begann, als ein «Raum ficfjtbar würbe, ber
bis je£t oerborgen gewefen, unb ficb in if>m frembartig
ausfetjenbe, frembartig fpreebenbe JTienfrfjen bewegten, ba
paefte fie unwillfürlicf) Äalijtus’ Arm unb feufjte oerwun»
bert unb erfcf)ro<fen.
6s bauerte gientlicb lange, bis if>r bie $anblung ju Sinn
unb Bilb erwuchs. Allmäblirf) faßte fie bas Geßbeben auf,
unb i^re atemlofe Teilnahme wanbte f id) oöllig bem un*
glücf lieben unb berrßeben Äart 3Tloor ju. Als er auf bas
Pobium trat, gewaltig, in einem Jjjut mit nicPenbet jeber,
mit bti^efcfjleubernben Augen, bie Arme wie BJinbntüfjlen*
flttgel warf unb mit einer Stimme, baß bie £uft erbebte,
gegen bie 3Tienfif)beit raße, ßieß -Raliftus Soff Cb rißine
an unb tüftelte if)r ju: ,,©as iß er. 0as iß ber PoßoPa."
79
Chrißüte formte es formt glauben, ©ocf) tn ber Gr»
fcf)ütterung ihres Gemüts lößen ficf) 3meifel unb Staunen,
unb gegen bas Gnbe bes Stücfs fonnte fie bie Tränen
nicht mefjr jurücfhatten unb fchluchgte fo, baß bte £eute
ftcf> nach tfjr umbref)ten unb ber Korporal tn Berlegenheit
geriet. BJährenb bes Ausbruchs oon Sthmerj mürbe if>r
rounberlich mof)l; es fam ihr buntpf ju Bemußtfein, tote
feiten fte gemeint hotte, ja, fie erinnerte ficf) eines folgen
Falles gar nicht, unb fie entpfanb etroas mie Genuß unb
Jreube babei.
„Atfo je 0 t merben mir uns ben Poltofa holen", fagte
Äalijtus 3off natf) bem fünften Aft taut, irtbent er ficf)
erhob unb ßotg um ficf) bliifte, als mode er bem ganzen
Publifunt 3 U oerßefjen geben, baß er ber Jreunb bes f)Ocf>«
bemunberten Äünßlers fei. „Jarnos hat er feine Sache ge*
macht, famos. Gute £unge, ba fönnt ifjn ein General brum
beneiben."
Chrißine moltte nach $aufe gefjn. Als Ausrebe fagte
fie, if>r fei fcf>lecf)t, unb ba Äaltyfus 3 off ungehalten mürbe,
bat fie bringlicf) unb f «haute if>n flef>enb an. Gr jucfte bte
Acfjfeln unb ließ fie flehen. JUit feiner tärmenben JRunter»
feit manbte er ficf) ju einer 6 ruppe oon Befannten potio*
fas, unb alsbalb trat aucf) biefer hmju, mieber in feinem
alltäglichen Gemanb, abgefchminft unb ein menig bleich
im GefidF)t. Gr brücfte allen bie jrjanb unb lächelte eitel.
Jroh, ihn noch gefehen ju hoben, eilte Chrißine hmmeg.
Auf ber Straße mef>te ein falter BJinb. Sie fpürte ihn
nicht. 3f»r 3nneres mar marm oon Berehrung, oon einer
neuen «Kraft, einer neuen Sehnfucht
Potiofa merfte bie Beränberung tn Chrißines IBefen,
beutete fie aber anfangs falfch. „Xöas iß benn mit beiner
Chrißin, marum iß fte benn fo bös auf mich?" erfunbigte
er ficf) eines Tages bei «Kaliytus 3off.
„TKe Chrißin? Bei ber f>oß bu mas Schönes angericf)fet
mit ber Äontöbi", ermiberte ber .Korporal; „bie iß ganj
meg feitbem, ganj meg, fag ich bir/'
80
©a ging bem Jrtfeur ein £tcfjt auf«
Xtnb er fcfjaute fich Chrißine genauer an. Sie mar nicht
Übel, ung eadftet ihrer breiunbbreißig 3af>re. 3f)r flufpuh
unb if>r Gefaben freilief) waren unfefjeinbar und altgu be»
frfjeiben, unb if>r Gefickt mit ben weichen £ippen unb ben
traurig btiefenben flugen war angiehenber, als man es
fonß bei biefem Stanbe finbet.
potiofa oerfpürte £uß, eine Erwartung gu erfüllen,
beren Gegenßanb feine, au cf) non ihm felbfl oergötterte
Perfon toar. UTtit angenehmem Stäuber malte er fief) aus,
baß er in bem ©afein ber armen ©ienßmagb bie «Holte
bes jperrfcfjers fpieten würbe, unb wäfjrenb er bie Bart»
floppetn feiner Äunben einfeifte, fcfßoffen fief) feine flugen
poetifd) träumenb. ©aß er, um Chrißine gu gewinnen, ben
Jreunb hintergehen mußte, oerurfachte ihm weiter feine
Sfrupel.
BJie groß war baher fein Berbrüß, als er bei bem erßen
Schritt, ben er gegen Chrißine unternahm, eine fcfmöbe
3urerf)tweifung erfuhr. Sie fah ihn erßaunt an, unb er
war ooflfontmen eingefchüchtert. flm nächßen Sonntag be«
grüßte ihn Äatiytus 3off mit einem freunbfchaftHrfjen
JUppenßoß unb rief tacfjenb aus: „Potiofa, bu biß ein fat»
S fjer 3?unb." ©er SFrifeur würbe oor Bertegenf>eit unb
rger grün unb getb unb gerbrach ß<h ben «Kopf, was er
nun anfangen fotle. ©er Äorporat fdh'ten bes Jltäbchens
oerbammt ficher, anbererfeits toar Chrißine pfö^Itcf) im
IBert geßiegen, ba er fie burchaus nicht fo wütig gefunben,
wie er geglaubt hotte. Gr begog alfo einen Poßen im J?in»
terhatt unb befchtoß, bie Sache oorfühtiger angupaefen.
©och feine Gebutb würbe auf eine horte Probe geßettt.
Cr hotte Chrißine burch feine grobe Annäherung oerte^t. Cs
war ein 3wiefpalt in ihrem Gefühl für Potiofa; fein Bitb
war ihr etwas Xöeiheoottes unb ©eures; wenn fie an ihn
bachte, würbe ihr bie Bruß weit unb bie Seele warm;
feine perföntirfje JTähe aber erfchrecfte unb enttäufchte fie,
unb fie fuchte bann ben anbern Potiofa, oon bem fie
träumte. 3hrent Äalijtus bie ©reue gu brechen, bas fam
ihr bei attebem gar nicht in ben Sinn, fln biefen JTtamt
6 Die beutfSe SobeHf.
81
hielt fle ficf> für gebunben, fo lange, bis er felber ße oon
fich ßieß. Sie wußte, baß er femerfects es mit ber Treue
nidfjt genau nafmt, aber fie richtete nicht barüber, fte maßte
fich nicfjt an, barüber gu richten, fie betrachtete ficf) als fein
Eigentum, über weiches er tierfügen tonnte nach feinem
IBillen, ja, nach feiner £aune.
3nbeffen tarn bie 3eit, wo ber «Raifer, wie Äaltyfus Soff
es gefagt, feine Solbaten brauchte, ©er Erghergog»Thron*
folger war ermorbet worben, unb bie Serben forberten bas
Jtelcf) h^aus, forberten bie BJelt heraus, llnb ber Duffe
machte mobil, ber Snglänber ßanb brohenb auf, unb alles
£anb, bas folange Öen Srieben beherbergt hatte, fchauberte
in ber Ahnung millionenfachen Tobes.
©a mußte benn enbtich auch ein Poliofa begreifen, was
ber Soibat iß, unb wogu er frommt, ©enn alle anbern
begriffen es gleichfalls, ihr ganges Der trauen wanbte fich
bem Derteibiger ihres 6utes gu, ber nun felber feiner Be»
ßimmung inne würbe unb, nach altüberlieferter XBeife,
ben .Krieg als ein fröhliches Abenteuer gu nehmen ß<h an*
fchicfte. ©aß bies Außerße fich ereignen fönne, war ihm
freilich nie in ben Sinn gefomnten, unb bett Ernß bei«
©inge faßte er noch nicht. Am bangßen war ben Srauen
gumute; um ihre bergen bunf eiten fchon bie Schatten ber
outunft. Ein ßhmergtiches Erßaunen war in ihrer Seele,
unb unbewußt fonberten ße ihr Tun oon bem ber JTtän»
ner, bas ihnen geheimnisoolt unb freoelhaft bünfte.
Es würbe mancher gum gelben, ber fleh einer folgen
XDenbung nicht oerfehen batte, unb manche £iebe würbe
wteber neu, bie oon ber Gewohnheit ausgetilgt fehlen. 3n
einer Dacht, bie Chrißine ohne gu fchtafen oerbrachte, fliefte
ße bie IBäßheßücfe, bie Äalijtus Soff mit ins Selb nahm.
Er hatte Eile, benn bas Regiment follte fchon am folgenben
Tag auf bie Bahn marßhieren. Sie hätte oiel mehr für
ihn tun mögen, unb wenn Uebenber Dorfah Säben feßer
Bnüpfen fönnte, wären bie $emben unb Tafchentücher un*
gerretßbar geworben. 3®/ ihr war bang gumut, unb ihr
Serg war umbunfelt; hoch gebachte ße mit Jlührung bes
82
JTlanries/ an beffen Sef)i<ffal eingig bas ihre bing> unb ber
nun ausgog, viellei d>t auf JTimmercvieberfebr.
fluch fie batte in feinem Berufe niemals bie Gefahr ver»
mutet, im entfernteren nicht. Gin fo leichtes £eben, fo forg*
los, fo fpagiergängerifch; unb ba9 ihre baneben, tote hart,
voller Plage, voller Gram. Sie batte es ihm Übelgenom*
men, baß er fo in bie Hielt bineinlacbte unb nicht fäen unb
ficb mühen cvollte; unb je0t follte es ihm vergolten tverben;
von einem Tag auf ben anbern fonnte es aus fein mit
ihm, bie Äuget xvar fcfjon gegoffen, bie ifjn treffen fonnte,
unb traf fie ihn, tvie gut bann unb gerecht, baß ihm fein
Äummer bas Öafein gefcfjroärjt batte.
Sie fagte fief) tvof)t gebnmat vor: icf> tvill ihm bie Treue
batten. IBarum nur? Sie batte feinen böfen Gebanfen ba»
bei, fi<b fürchtete ficb nidbt. Sie gab ficb fetbß bie Ber«
ficberung, ibm bie Beruhigung. 3bre Sebnfucbt tvar tveit
tveg von ibr; in ben enttegenßen Träumen nur (ocfte Äart
JItoor. Sie tvar fo trocfen, fo rubig; vor bem Ungeheuren
ber BJelterfcbüfterung venvunbert*anbäcbtig. Xtnb hoch,
fettfame fltenfcbennatur, umfaßt bu, umfaßt bub f<bon
alte9, tva9 unerlitten in bir feimt?
Srüb am morgen fanb Äatijtus 3off eine halbe Stunbe
3eit, um mit ihr ben Änaben gu befugen. Das gebt vier»
jährige Äinb batte eine fable Gefichtsfarbe, unb at9 ihm
fein Bater ein Stücken Schofotabe gab, bas er mitge*
brachh leuchteten feine Augen gierig. Srau Tomafef, bie
Pflegemutter, fagte, es fei nicht gu fättigen, bagu lachte
Äalijrtus 3off, aber Cbrißine verfpürte 3tveifet bei biefer
Jtebe, bas vertaffene Gefchöpf tat ihr leib, bas IBort mutter
ftang an feinem Jttunb fo fremb, unb fie überlegte, tvie
fie es anßetten fotlte, um bas Äinb gu fi<h gu nehmen.
Um BTittag ging fie auf ben Bahnhof, unb ber Srtfeur
begleitete fie. mit ängßtich gefalteter Stirn ßubierte er bie
flufgebotsptafate an ben Jltauern. „Satt bich cvacfer,
Soff', fagte er beim flbfcbieb gu Äatiftus.
„Servus, Poßvfa, alter Scbaumfcblager", ertvtberte ber
Äorporat munter, unb gu Cbrißine fich tvenbenb, fagte er
6* 83
k
mit oufgeriffeiten Augen unb (Irengem Ion: „Eebwohl,
Xinerl, unb bofi bu mir treu bleibfl."
„llnb bu, bofj bu gefunb bleibfl/' flammette fie, fcfjoufe
\S)n an, f «haute wieber weg, unb ihr BlicP verlor firf) im
Gewühl ber öolbaten.
PotioPa, als ein TRann, ber auf Profit bebacfjt mar,
flrebte banacf), ben piaf), ben Äaliytus 3off leer gelaffen,
wenigflens infofern ausgufüllen, als er firf) bes 3ufluffes
oon 3Tafuralien verfilterte, ben ber Korporal aus ber
-Rüche bes löarentausbefiters genoffen hatte. geben flbenb
Pam er gu ber Stunbe ans Jpaustor, in ber Chrifline gum
GreifSler ging, unb um fein 3iel gu erreichen, befrfjritt er
PünfHirf) getounbene XOege ber BerebfamPeit, ber fcherghaf»
ten unb elegifchen Anfpielung, tote toenn fein Blagen ber
BJärf)ter feiner Spmpatfjie unb ber örfm^engel bes Ab*
toefenben toäre.
©effen beburfte es bei Chrifline nirf)t; ber heimlich Pett
nicht unb ber £tfl nicht. ©ie Cßmaren, bie fie .Raliftus ge»
geben, fjattc fie oon bem, toas if>r gugemeffen toar,
erübrigt; gu Peiner 3eit fjatte fie bas Pertrauen ihrer Jperr»
fcfjaft mißbraucht unb firf) auf .Raub unb ©iebftafrf oer»
legt. Sie mar bebürfnisios auch im ßffen, fe^t mehr noch
als früher. Hier felber Pocht, toirb balb fatt. ©och b'ättt
fie nicht gewagt, bem Srifeur angubieten, toas ber Äorpo»
ral folange genoffen f)Qtte; er frf)ien ihr t f)orf)flef)enb, gu
(lolg f)ierjtt, unb als er felbfl bas erfle BJort fprarf), war
fie gwar überrafrfjt, erfüllte aber gern feinen BJunfrf).
PolioPa war ein Seinfrf)mecPer. Jleifrf) burfte nicht gu
fett fein, gu mager aurf) nicht; oon JTlehlfpeifen frfjä^te er
nur Iorten unb mürbes GebäcP; Jüurfl unb -Käfe war
unter feiner XBUrbe.
Eines Tages erfurfjte er Chrifline um ein ©arteten oon
oiergig fronen. 3nfotge bes Krieges war fein Gefcfjaft
gurürfgegangen, bie entnahmen floffen oon ÄJoche gu
XBotte bürftiger.
84
Oaß ft cf) Cf>rtßine etwa fünfhunbert «Kronen erfpart
hatte, wußte er von «Kalijtua 3off. Aber er wußte auch,
baß her «Korporal, fo feicfjtftnntg er fonß war/ es ft cf) jum
ßrengen Grunbfah gemacht batte, oon biefem ßhweroer»
bienten Gelb bie Singer ju taffen. Poltofa bacfjfe ntinber
ehrenhaft; nad) jeber Gelegenheit pirßhenb, bte ihm einen
Genuß oerfprach, war er noch oiet gieriger unb jäher,
wenn er fich in 3tot befanb.
Chrißine war ju gutmütig unb mißtraute ihm ju wenig,
um feinem naih «Kaoaliersart oorgebrachten Verlangen ein
Bebenfen ober gar eine Weigerung entgegenjufehen. Als
fie ihm bas Gelb einhänbigte, jerfnüllte er bie beiben
Scheine, ßecfte fie in feine Weßentaßhe unb machte ein
Geßtht, wie wenn ihm eine alte «Rechnung bejahlt worben
wäre.
Oie Srtß, nach welcher er bas Gelb hatte jurttcfgeben
wollen, oerßrich, unb ßatt fein Wort ju hatten, forberte
er neuerbings eine Summe oon jwanjig Äronen. Aus ben
fechjig fronen würben fmnbert, aus ben fmnbert jwei*
hunbert, bann breihunbert, bann oierhunbert, unb fo ging
es bis jur Jteige. Sünfjefm 3af>re hafte es gebauert, bis
bas Gelb beifammen gewefen war; oier TRonate bauerte
es bloß, unb es war bahin. Poltofa führte batb biefen,
batb jenen Xtmßanb an, ber ihn ihre Spilft in Anfpruch ju
nehmen jwang; bie Steuer war fällig, ber Wirt hatte feine
Gebutb mehr, ber Sifmeiber wollte pfänben. 3m Anfang
hatte er bas Gelb wirftich benuht, um feiner bebrängten
£age aufjuhelfen; als er es aber fo leicht fanb, in ben Be«
ßh oon Chrißines Grfpamiffen ju fommen, bitbete er fich
ein, bie Duette fei unerßhöpftich, unb oergeubete, was ße
ihm gab, in Gefetlßhaft tußiger Kumpane.
£r gehörte ju ben Gewohnheitsfpietem bei ber Sotto*
«Kolleftur unb fprach oon einem bemnächß ju erwartenben
Haupttreffer mit ber Sicherheit, mit ber man auf ein Banf»
guthaben hinweiß. Aud) erjähtte er oon einem reichen,
aber geijigen Onfet, ber irgenbwo in Böhmen auf einem
großen Anwefen faß, mehrere Säcfe oott Golb im «Kelter
oergraben hatte unb beffen Xob täglich 3 U erhoffen fei. Gr
»5
ßhwörmte oon bem großartigen £eben, bas er bann füb*
ren wolle, unb eines Sonntags beficfjtigte er fogar mit
Cbrißine eine Büla in jrjieging unb fagte, mit ber 3unge
fcfmalgenb, auf bas Käufer! oerfpUre er ßbon lange £uß,
fobalb ber böfjmifcfje Dnfel abgefra£t fei, werbe er ficb’s
faufen.
* *
*
Cfmßine glaubte alles; bas fjeifit, fie glaubte, wie man
glaubt, wenn man fi<h oor ber XDabrbeit fürchtet. Als fie
Poltofa ben größten Xeil ihrer Sjtabt ausgeliefert batte,
wußte fie ungefähr, was für eine Bewanbtnis es mit fei»
nen Besprechungen unb feinen Scbtoüren batte. Sie fab,
baß er nichts arbeitete, unb baß es mit ihm bergab ging.
Oie Rächte brachte er in Äneipen gu, unb ben lag über lag
er in ben Sehern, Als fie JRutter geworben war, batte Cbri»
ßine er ft angefangen, ficb ihres Spargrofcbens gu freuen;
es war ihr liebßer Gebanfe, baß bas Gelb einßens bem
0ofepb nüben, feine erßen Schritte auf ber barten Eebens*
bahn erleichtern würbe; wie follte fie bem Äinb gegen«
übertreten, wenn es Äleiber unb BJäfche unb Schube oer»
langte unb Bücher gum fernen, unb fie batte nichts, war
bettelarm wie als blutjunges Oing? BJas follte fie ihm
fagen, was follte ber «Knabe oon ihr benfen, unb wie würbe
es ihm ergeben?
Sie gürnte JJoltofa nicht. 6r war noch immer ber Ge»
genßanb ihrer tiefen Berebrung. 6r war es burcb ein Ge»
feig ihrer Ratur, fraft einer gebeimnisootlen Beharrlich»
feit ihrer Seele, bie bas einzige Bilb höherer JTienfchenart,
welches fie in einer Stunbe bes Glücfs empfangen hatte,
nicht mehr gu laffen oermochte. Oawiber hatte auch ber
Berluß bes 6elbes feine 3Tlacht, fo graufam er ße berührte.
Sie wiegte ficb in ben IBahn, Äalij-tus werbe ihr bas Gelb
wieber oerfchaffen, wenn er gurücff ehrte; ße meinte, jjo»
liofa werbe bann ben JTiut gu Ausreben nicht finben unb
alles erfe$en.
3nbeffen bereitete es ihr hoch Sorge, baß ße feit feinem
Ausgug nichts oon Aalijtus gehört hatte. Gr hatte ihr wer»
86
fproeben, regelmäßig ju frfjreiben, unb noch feine 3 eile
|>atte fie oon ihm erhalten. 3t>vt eigenen Briefe blieben
unbeantwortet. JRan fab fcfjon oiele Berwunbete auf ben
Straßen; fie blicften alle fo ernß unb mübe brein; oft
trieb es fie, einen ju fragen, aber fie baffe Angß baoor. Oie
£eute raunten fidf) beunrufjigenbe 3Tacf)ricf)ten gu, in ben
abenblicben Berfammlungen beim Greißler tourbe unoer*
bohlen geäußert, es ßei>e fcf)Iecf)t braußen, unb wenn fie
ficf) an Poliofa wanbte, machte er ein Geficf)t, als befäme
er jeben JRorgen bie wicf)tigßen Oepefcfjen oom General*
ßab, unb fagte mit einer ößerreicbtfcben Sreube am eigenen
ltnglücf, bie Sache werbe ein böfes Gnbe nehmen.
3f>t banger BItcf irrte weit fort, unb in ber Jtarfjt betete
fie für bas £eben oon «fialtjtus. 3 f»r Jperg fcfjlug matter,
wenn fie feiner gebaute, als gäbe fie ihn fef)on halb oer*
loren. Jlaufcfjte bann bas Blut wieber auf, fo fcfjoß if>r
wilb unb f)«iß ber Gebanfe an ihren 3ofepf> in ben Sinn,
unb fie warf bie Arbeit beifeite unb lief ju Srau XomafeP,
um bas Äinb ju feben. Oa fab fie nirf)t ein racbitifcbes
Änäblein, ein blaffes, oerf(bü(btertes, fonbern etwas oer*
beißungsooll Gmporblübenbes, ein BJefen, bas ibr unbe»
ßritten unb uneingefcbränft 3 « eigen war unb bas fie
ptöblicb üei’le über alles Blaß.
Sie faßte nun ben Borfab, bes Gelbes wegen noch ein»
mal mit poliofa 3 U fpre(ben. 6 s war ein Jtacbmittag im
Oejember, als fie biaging, grauer, triefenber JTebel bing
in ben Straßen. PoltoPas £aben war gefcbtoffen, fie ging
junt näcbßen Xor; ber Jrifeur wobnte bort in einem erbge*
fcböffigen 3immer.
Sie traf ein. Poliofa lag angefleibet auf bem Bett unb
rauchte. Oie BJänbe waren mit Photographien oon Schau*
fpielern unb Scbaufpielerinnen bebeeft. Auf bem Tif«b ßan«
ben leere Bierflafcben, Äaffeegefcbirr, eine £ampe mit 3 er*
brocbenem Stur 3 unb ein paar fdfjmubige Stiefel.
Poliofa erhob neugierig ben Äopf unb fragte, was fie
wolle. Oa oerlor Cbrlßine ben Blut, ihn 3 ur Jlebe 3 U
ßellen.
87
Cr oerfcfjränfte bie Jpänbe hinter bem Äopf «nb ßarrte
gegen bte 3intmerbecfe. „Der Äaüfhts »fl tot", fogte er
gang unvermittelt.
Cbrifline war es, als rinne if>r alles Blut aus bem $irn.
Gr fyabe es von Srau 6riesf)a(fer erfahren, fuhr poliofa
fort, unb biefer fei es oon einem 3ugfüf)rer berietet wor*
ben, ber beim felben Regiment gewefen. Cr feufgte unb
fcbtoß bie Augen.
Cbrifline rührte fid) nicht. Jlacf) einer KJette breite fie
ficf) um unb verließ lautlos bas 3immer. Potiofa fprang
vom Bett empor, riß bie Xür auf unb rief fie beim Flamen.
Sie teerte jurücf unb flanb mit berabbängenben Armen
oor if)m.
„3e^t g’börfl mein", fagte er.
Sie antwortete nicht unb ging fort.
ßriesljacfers waren umgegogen, fie wohnten je^t in
HTeibling. Am Abenb fufjr Cbrifline hinaus. Oie Srau
empfing fie freunblicf). Auch ifjr TTtann war im Selb, unb
fie war feit langem ohne Ttatf)ricf)t oon ihm. HJas «Kalif*
tus betraf, fo fonnte fie nur wieberfjolen, was fie oon bem
3ugfüf)rer wußte. Sie fe^te ficf) an ben Xifrf), brücfte bie
Scbürge oor bas Geficfjt unb weinte.
©ann erfunbigte fie fkb, wo bas «fiinb fei unb wie es
if)m gebe. Oa Cbrifline traurig oor ficf) b»n fab/ fagte fie,
fie möge ibr bocf> ben Buben bringen. Cbrifline oer»
fpracf) es.
* *
*
lim biefe 3eit lag Aaliftus 3off auf einem Scf>lacf>tfelb
in Polen. Cin 6ranatfplitter batte if>m ben rechten Arm
weggeriffen. Oer Jlotoerbanb, ben if)m ein oerwunbeter
Aamerab angelegt, batte bie Blutung nicht gu ßillen oer«
mocbt. Bon brennenben Schmergen gequält, tag er in einer
naffen TRulbe unb wartete, baß man ibn auffinben unb
ins Selbfpita! tragen würbe.
Oie 6ef<f)übe waren oerßummt; oon überall t>er, oon
nab unb fern brang Stöhnen unb Kümmern an fein Dbr.
88
6r bockte an IDten, wo er ein fo luftiges unb forgtofes
£eben geführt, an Cbriftine unb bie Spagiergänge mit ihr,
unb an feinen Meinen Sohn mit bem großen Äopf unb ben
fur<f)tfamen Augen. Dorf) ber Gebanfe an Cbriftine oer»
brängte alle anbern Dorfteilungen. 6r f aff fie fo genau
unb fo beutlirf), als hätte er erfl oor einer Stunbe mit ihr
gefprocfjen. 3n ben fecfjs JTtonaten, bie feit feinem Ab«
fcbieb oerfloffen waren, war fie ihm fein eingigesmal fo
gegenwärtig gewefen wie }e£t, wo er auf ber fflammigen
Erbe lag unb ficf) nicht rühren fonnte.
Sie flaute ihn mit einem oorwurfsooüen Blicf an, ber
ihn erfdjretfte. 6s fcfjten ihm, baß er fcf)Iecf)t gegen fie
gehandelt batte, aber worin biefe Scf)Ie<f)tigfett beftanb,
vermochte er nicht gu ergrünben.
Als es 3Tacf)t würbe, f>ob er ben Äopf unb gewahrte
bunfle Geflalten, bie fidf) oor bem bewölften J?immel be»
wegten. £s waren Sanitätsleute. 6r wollte rufen unb
fonnte nicht. Sie gingen ooriiber. Seine Stirn bebetfte fiel)
mit faltem Schweiß.
Die JDunbe fing an, immer ärger gu brennen. 6r taflete
mit ber linfen Jrjanb bin, bie Singer fühlten ficf) naß oon
Blut an. HJas wirb mit mir gefcf)ef>en? barfjte er; unb was
wirb mit ihr gegeben? Sein £erg war plö0(icb ooll unge»
fannter 3ärtlicbfeit für Cbrifline.
Jltit Anftrengung f)ob er oon neuem ben -Kopf. Das
Selb war übe. Uber bem Sluß flimmerte fabler Jttonb»
febein gwifeben bem febweren Gewölf. Da froeb an ber
6rbe ein unförmlicher klumpen baber, ein klumpen, ber
ftarf atmete, laut fcfjnüffelte, f>cifer unb gierig grungte.
£s war ein febwarges Schwein, groß wie ein Bär, mit
bängenber DJampe, fotftarrenben Borften unb wilbfun*
felnben Augen. Utabrfcbeinßcb hatte es im «Kober lange
gehungert unb war ausgebroeben, um fi<b auf bem
Scf)lacbtfelb JTabrung gu fueben.
Äeucbenb wälgte ficf) ber klumpen heran. Äalijrtus 3off
fpürte einen beißen i?au<b im Geficf>t. Das Schnüffeln
Hang freubig unb ungebulbig; ber Geruch bes frifeben BIu»
tes wirfte beraufebenb auf bas Xier. Don Entfern ge»
89
läf>ntt, überlegte «Kalijtus, tote er ficf) bes Angriffs erwef)»
rett foltte. .Keine oon ben Scfjlacfjten, in benen er gefämpft,
f>atte folgen Scfjretfen unb Scfjauber in ifjrn erwetft.
XÖie gef)t benn bos gu? fufjr es if)nt burcf) ben Äopf;
toorunt muß icf) benn bo liegen unb toie ein Stücf Btef)
frepieren? DJorum iß benn mein Arm weggeriffen? 3d>
bin ein .Krüppel, für etoig ein .Krüppel. EJarunt borf
benn bas fein, biefes gange fürchterliche Clenb, bas auf ein»
mal in ber EJelt f>errfrf)t?
Cr machte eine Bewegung mit ber Schulter; bas Srfjwein
ßu£te. Dann näherte es fiel) abermals, mit oermefjrtem
Ungeßüm. Cr wieberfjolte bie Bewegung, es grungte gor»
nig unb fließ ben Jlüffel in fein Gefickt, hierauf begann
es mit einem gräßlichen Gerauft am Blut gu leefen; noch
eine UJetfe, unb es würbe bie Jpauer ins Sleifcf) wühlen.
CPel unb Bezweiflung flößten .Kalijtus le£te Äräfte ein.
Cr fu^r mit ber £htfen an feinem £eib entlang, ergriff
ben ^latagan, 30 g ihn aus ber Scheibe unb bohrte bie
blanPe BJaffe tief in ben Baucf» bes Schweins.
©as Tier ßieß einen marPerfcfjütternben Schrei aus. Cs
war ein Schrei, ber bie fcfjweigenbe Jlarfjt, bas gange $im>
ntetsgewölbe erfüllte unb wie ein rafenbes Aufbrüllen bes
©ämons flang, ber bie JlTenfthheit in feinen .Klauen hielt.
.Kalijtus 3off ftfjwanben bie Sinne, aber burcf) ben Schrei
bes Schweines waren bie firgte unb ifjre Gehilfen aufmerf»
fam geworben; fie farnen alsbalb oon ber anbem Seite
bes Jlüßchens herüber, gewahrten bas im Tobesframpf
tangenbe Tier unb fanben ben leblofen «Körper bes oer»
wunbeten JTTannes.
Chrißine hielt ifjr Berfprecfjen unb brachte Jofepf) gu
5rau Griesfjarfer, bei ber er auef) blieb. Srau TomefeP war
fef>r erb oft hierüber unb oerlangte plötflid) Cnffcfjäötgung
für allerlei Auslagen, bie fie gehabt haben wollte. Cfjri«
flirte mußte lange flreiten, bis jene fid) enbltcf) mit einem
Teil ber ungerechten Jorberung gufrieben gab, unb ba fie
90
für ihren Pflegebefohlenen eine echte Anhänglichfeit ju
empfinhen fehlen, erbot fich Chrifüne oon Trau Grieshacfer
hie Erlaubnis, ha|3 hie lomafef an Bonntogen has Älnh
befuchen bttrfe.
Trau Grieshacfer übernahm hen «Knaben gern, ttnb fle
fagte, er fähe «Kalixtus ähnlich. Cs wohnte noch eine
Schwerer bei ihr, Srau Wanhl mit JTarnen, eine hagere,
fchweigfame Perfon, hie fleh ölet mit hem Knaben be*
fchäftlgte, aber habel fo tat, als möge fle ihn nicht leihen.
Wenn hie oier trauen beifammenfafSen, hielten fie wäh*
renh hes Gefprächs hie Bticfe, jehe mit anherm Gefühl, auf
hen ju ihren föißen fpielenhen 3*>feph gerichtet. Bisweilen
fam auch Poliofa, aber er war nicht mehr her anregenhe
Spaßmacher oon ehehent, fonhern brütete finfler oor fi<h
hin oher griff ju Jperrn Grieshacfers 3iehhamtonifa unh
gab feiner übten £aune unh feinem Peffimismus mufifa»
lifchen Aushrucf. ©ann hrängte er Chrifüne, fie folle mit
ihm ins Wirtshaus gehen, unh auf ihre Weigerung ging
er jornig feines Wegs allein.
Ginmal folgte fie ihm unh rehefe ihm ju, nicht ins Wirts»
haus ju gehen. Jpöhnifch erwiherte er, was er henn oom
£eben habe ohne has Wirtshaus. Wenn er ihr juliebe
etwas unterlaufen folle, müffe fie auch ihm juliebe etwas
tun. ©aoon möge er nicht wieher anfangen, fagte Chri»
füne, ha werhe ihr ganj elenh ums J?erj, er folle hoch an
hen armen &aliftus henfen. 6i was, oerfe^te er, tot fei
tot, unh wen hie Grhe oerfchtungen habe, hen gebe fie nim*
mer heraus. Sperre fie fich noch länger, fo müffe er eben
faufen.
Chrifüne war hes Schwabens mühe unh fragte fich im
3nnem, warum fie fooiel Aufhebens oon einer urtbeheu»
tenhen Sache mache, wem ju ©anf? ©urfte fie fich foftbar
machen unh jieren, wenn her oerjweifelte 3Ttenfct> gerahe
haran fein ©erlangen hing?
3hre Sinnesänherung witternh, ergriff Poliofa ihren
Arm, unh feine Stimme fchmelchette. Aber in feinen Wor»
fen lag hie jpnifche Gleichgültigfeit hes ©erfommenen, her
fein 3iet unh feinen Glauben mehr hat, unh hem has allge«
9i
meine Selben her Jltenfchheit nur ben üormanb gibt, im
Jleoter niebriger Genüffe ju roilbern.
Cf>rifline ging mit ihm in fein unaufgeräumtes 3intmer,
unb fie (egten ficf) in ba9 fcfjmu^tge Bett. Sie gab ftcf) ihm
()in, mie man ein Opfer oollgieht, unb ihre XraurigPeit
mar groß, benn bas Btlb ber Sehnfucht, bas er einfi in ihr
erroecPt batte, oerblaßte unb oerfan? mit biefer Stunbe.
llnb als fie oon bem JTianne megging, fühlte fie fi<b oon
einer nagenben llnrube um ihren 3ofepb ergriffen. 3f>r
mar, als f>abe fie bem Äinb einen unheilbaren Seelen*
fcbaben jugefügt, ihre GebanPen oermirrten fich, unb fie
batte Peinen Schlaf unb Peine Jlube mehr. Dabei traute fie
fi<h nicht in bas Jpaus, roo ber «Knabe mar; jeben Xag lief
fie f)in, unb menn fie in ber Jtäfye mar, Pebrte fie miebei)
um. Sie fürchtete feinen flnblirf; fie fürchtete, auf feinem
Geficht alle bie Selben unb Entbehrungen ju lefen, bie fie
ficb einbilbete; fie oerlor bie £u(l an ber Arbeit, unb es Pam
fo meit, baß bie gebulbige $rau Saubefeber ihr ben Dienfi
aufPünbigte, unb in biefer 3eit entbecPte fie außerbem ju
ihrem Schrerfen, baß fie fchmanger mar.
Einen Xag, beoor bie «Künbtgungsfriß abgelaufen mar,
fagte Srau Saubefeber, bie JTtitleib mit ihr hatte, fie Pönne,
bis fie eine neue Stelle gefunben habe, getrofi bleiben.
Chrifline antmortete aber, fie gehe überhaupt nicht mehr
in Stellung, fonbem fie merbe je£t ihren 3ofeph j$u fich
nehmen unb mit ihm leben. TXfie fie folches bemerPflelligen
mollte, ohne ju bienen, bas fagte fie nicht, bas mußte fie
auch mahrfcheinlich nicht.
flm anbern JTtorgen pacPte fie ihre JpabfeligPeiten in ben
hölzernen Äoffer, bie «Kleiber, Schürfen, |>emben unb
Strümpfe; bie Bilber an ber löanb, ben mächfernen Pfir*
fich, ben rotfeibenen Behälter mit bem Jingerhuf, ben Por*
jellanjroerg, bas Gebetbuch unb bie GlasperlenPette. Dann
ließ fie fich ihren £ohn attsjahlen, oerabfcf>iebete fich oon
ber ^errfchaft, bie fo gut gegen fie gemefen mar, unb rief
ben Sohn ber ^jausmeiflerin, bamit er ihr ben Äoffer tra*
gen helfe. 6r fragte fie, mohin es gehe, unb fie antmortete,
jum Srifeur PolioPa gehe es.
92
polio Pa bereitete ihr feinen unfreunbltcfjen Empfang, ba
fie Gelb mitbracbte fowie auch einige Gegenflänbe non
HJert, bie man oerpfänben fonnte.
Er gab fcfjarf acht auf tfjre .Heben, ba er entfrfrfoffen war,
firf) weber Ermahnungen, noch Borwürfe gefallen gu
(affen.
Als fie firf) baran machte, in bas wüfle Ourcfjeinanber
ber Stube ein wenig Drbnung gu bringen, fab er ifjr mit
mifibilligenben Blicfen gu.
Am flbenb teilte ifjm Cfjrifline mit, baß fie ihren 3ofepb
oon Srau Griesbacfer abfjolen werbe. Er braufle auf unb
erflärte, ber BanPert fäme ihm nicht ins J?aus. Cijrifüne
erbleichte unb antwortete ruhig, bann mttffe fie eben mit
bem 0ofepb anberswo(;in gehen, ©a oerßummte Polio Pa,
unb erß nach einer IBeile fragte er, wieoiel fie nocf) an
barem Gelb befi£e. Cfjrifline erwiberte, es feien fünfunb*
breißig fronen unb etliche geller. Er fd)ien beflürgt unb
erfunbigte firf) nocf) einmal, ob bas alles fei. Sie nirfte.
Jlun, fo fönne fie ihm ^ebenfalls nocf) bas Gelb für ben
3in9 borgen, meinte er. Sie war baju bereit.
„Berflucht, oerflucf)t, wie wirb’s uns nachher gehn!"
murmelte ber Srifeur.
0 biefe Jtacf)t, £eib an £eib, Crtot an 3Tot! ©iefe froflige,
naffe, bumpfe, enblofe JIacf)tl
„Berflucht, oerflucht!" murmelte PolioPa wieber, ehe er
einfrfjlief, unb Praßte feinen tocfigen Äopf. Chrifline aber
frfjaute ihre roten 4>änbe an unb barfjte an bie oiele Arbeit,
bie fie fchon bewältigt batten unb bie fie noch bewältigen
fonnten. ©a war if)r nicht mehr fo fef>r angfl.
lim fecfts Uhr erhob fie fich (eife, aber Poliota hatte fie
gebärt, patfte fie rauh am Arm unb fagte, fie folle hoch
in bes Teufels Jlamen ben Banfert (affen, wo er fei. Chri*
füne blicfte firf) um unb antwortete mit feibenfcbafflicbem
Emfl, eher wolle fie hin werben, als baß fie ihr £inb noch
einen Tag länger unter fremben £euten taffe.
Sie wufch firf) unb fleibete fich an, unb als fie fertig war,
fagte fie, ihr ganges £eben hinburch habe fie fi<h gefchun«
ben für frembe £eute, nun wolle fie einmal oerfpüren, wie
93
es tue, wenn matt firf) für eigenes Sletfrf) unb Blut frfjinbe.
Dabei nahmen ifjre 3üge einen Ausbruct feuriger 3ärtürf>*
feit an.
3eborf) Poliofa ftf)Itef frfjon wieber.
6s mar cd )t Uf>r, als fie in 5rau Briesfratfers Stube
trat. Aufgeregt tarn if)r btefe mit ber «ftunbe entgegen, Äa*
(tjfus fei unoermuteterweife gurü<fgefef>rt. llnb wie ba*
ntals, ba fie bie fatfcfje Tobesnarfjrirfjt fyattt beßätigen
müffen, fe^te fie fitf> an ben Xtfrf» unb weinte in U)re
Srf)ürge hinein.
Diefe Dränen floffen ntrfjt aus bem Übermaß ber
Sreube. Die JTiiene ber Srau «erriet nod) etwas anberesi
als Jreube über bie £eintfef>r bes Brubers.
Jlarfjbem fie ftrf) gefaßt f>afte, ergäfjlte fie, geflern abenb
gegen fieben Uf>r f>abe es geläutet, unb ba fei er auf ein«
mal bageflanben. Er f)abe gleirf) gefragt, was mit Cf)ri»
fline fei, benn ein Äamerab, ben er gu Haubefebers gefdjicft,
f>abe tf>m gefagt, baß fie bort nirf)t mefjr im Dienß ßef>e.
Er wolle nun felber hingegen, oielleirf)t fönne if)m ber
Jpausmeißer fagen, wo fie wäre.
Cf>rißtne, bie bisher wie eine Bilbfäule geßanben war,
fing an gu gittern unb mußte ftrf) an ber DJanb feßfcalten.
Sünf JTionate fei er in einem Spital an ber Brenge ge»
legen, ergäf)(te Srau 6rtesf)acfer weiter. Einen anbern
frf>reiben (affen, bas fyibt er nirf)t gewollt, unb felber ftfjrei«
ben habe er nirf)t getonnt. Sie feufgte. Es war ein Seufger
oon einer jcfrfimmen Art.
Plö^lufc tief Cfjrißine: ,,3ofepf)!" Unb wieber: ,,3o»
fep^t"
Der Attabe mit bem abnorm bitten Äopf geigte ftrf) auf
ber Schwede. Der Bliit, mit bem er feine JTtutter betratf)«
tete, war ßupib.
Cf)rtßtne tniete f)in unb umfrf)(ang if>n. Sie f>ob if>n auf
i^re Arme, flaute wilb um ftrf), unb efce $rau 6riesf>atfer
fragen ober if>r in ben DJeg treten tonnte, war fie mit bem
ßnaben aus bem 3tmmer unb aus bem $aus geeilt.
3Iur fort, frf>oß es if)r fiebenbf>eiß burrf) bas Jpirn, nur
fort aus biefem Heben, fort aus biefer BJelt.
94
flls fie gu Poliofa gurücffam, war eben feer jpausoer«
toalter bei ifem gewefen. 6r f)atte feen 3ins begafeit, feenn
Cferifline featte «fern am flbenfe nocfe bas Gelfe gegeben. 6r
faß in Unterfeofen am Xifcfe, featte feie 3eitung ttor ficfe unfe
überlas wiefeer unfe wiefeer feas neueße ^eeresaufgebot,
feurcfe welcfees aucfe er gur JTtußerung gerufen wurfee.
Seit HJocfeen featte er ficfe feaoor gefürcfetet. Jlun war es
foweit; unfe er feacfete an feas langweilige unfe anfhrengenfee
Seben in feer «Käfer ne; er feacfete an feas graufame Gefcfeicf,
gegen feas es feinen Cinfprucfe gab: auf feas Scfelacfetfelfe
transportiert unfe totgefcfeoffen gu werfeen.
Cr featte einen alten, oerroßeten «Reooloer aus einer 2afee
genommen unfe neben feie 3eitung gelegt.
Xinßer blicfte er Cferifline an, feie mit feem Änaben auf
feem flrm feaflig eintrat. Cr wollte fcfeelten, weil fie fort«
gegangen war, ofene für fein Xrüfeßücf gu forgen, fea ßieß
fie fcfeon mit feeiferer Stimme feie HJorte feeroor, feie ifen
fafet unfe fhmtm macfeten. Cine XÖeile flierte er in feie 2uft,
feamt befeauptete er, es fei erlogenes 3eug, er feabe über
ÄaUytus' Xofe oerläßltcfee JRelfeung. Cferifline umflam*
merte mit iferer freien irfanb feine Sefeulter unfe bericfetete
fcfenellatmenfe, was fie oon Xrau Griesfeacfer erfaferen
featte. 3fere Crregung, ifere Beflommenfeeit, ifere ficfetbare
Ctual wirften mefer als feie DJorte. Oie «Racfee fees Äorpo«
rals war gu fttrcfeten. flußerß gu fürcfeten war feiefer
JRenfcfe, feer nun Blut genug featte fließen fefeen, um leicfe»
terfeings nocfe einen Xotfcfelag aufs Gewiffen gu nefemen.
„Ou mußt feicfe gufammenreißen, feaß wir weg fönnen",
fagte Cferifline mit flacfemben Blicfen. Sie fügte feingu,
Äalijtus fönne fefeen DToment gur Xüre feereintreten, fea
}a feer ^ausmeißer bei 2aubefefeers wiffe, gu wem fie ge«
gangen fei.
BJäferenfe ficfe Poliofa fertigmacfete, griff Cferifline nocfe
feem «Reooloer unfe ßecfte ifen in feie Xafcfee iferes «ftleibes.
Balfe waren fie auf feer Straße. Cferifline trug nocfe im«
mer feen Knaben, obwofet ifer flrm fcfeon tafem war. Po«
liofa taufte bei einem Greißler Brot unfe Specf unfe oer«
geferte beifees im Gefeen.
95
An ber Stabtgrenge formte CfjrifKne mit ihrer Saß nicht
me^r weiter, fie ließ 3ofeph neben fich laufen unb führte
Um an ber Jpanb. Polivfa fragte unwirr f cf), warum fie
es fo eilig habe, fie gab ifjm feine Antwort.
Sie irrten auf ber Schntelg herum, famen bann ins
£iebf>artsta( unb auf ben Galibinberg. Polivfa fragte, wo»
f)5n fie eigentlich wolle, fie gab ihm feine Antwort. Gr
folgte ihr, weil er nicht wußte, was er ohne fie hätte an*
fangen folten, unb weil ihr ßärferer Hülle feine Feigheit
unb «Katlofigfeit begwang. Gr haßte fie, aber ihr guwtber»
juhanbeln wagte er nicht. Gr fagte, fie habe ihm bas £e»
ben verleibet unb ihn gugrunbe gerichtet, hoch als fie eine
noch fcfmetlere Gangart anfchtug, befchieunigte er gleich*
falls feinen Schritt.
Auf einer HJiefe in ber Bähe bes Steinhofs fanf Chri*
ßine erfchöpft hin* Gs würbe Abenb, vom grauen JTtärg»
himmel fiel Jlegen. 3°f e Pb weinte eine Seitlang vor fich
hin, bann fcfjlief er ein. Polivfa legte fich in ber Bähe un»
ter einen Jrjolgßoß.
Oie Bergweiflung in Chrißines Gemüt war wie Sturm
unb Branb. Sie fcfjaute in bas Gefecht bes Knaben unb
fchauberte vor bem £eben barin. Alles Gewefene flieg noch
einmal vor ihr empor, unb fie fchauberte vor ber fchwar*
gen Jpoffnungstofigfeit, bie bavon ausßrömte. 3|>r war,
als öffne fich ein gefräßiges JTiaul über bem ^jaupt bes
Knaben, unb biefe Borßellung war fo beutlich, baß fie (aut
fchrie. Sie nahm ben Jlevoloer aus ber Tafche, probierte
an ihm h*rum, fpannte ben $ahn, unb plöblich fragte
ein Schuß.
Sir felbß war getroffen. Bon ihrem linfen Df>r träu«
feite Blut. Polivfa war aufgefprungen. Bon wabnfimti«
ger Angß erfaßt, baß fie vielleicht ßerben würbe, ohne
ihrem Äinb ben lebten £iebesbienß erwiefen gu haben, wie*
berholte fie ben Jpanbgriff, ber ihr vorhin gelungen. 6f>e
polivfa herangefommen war richtete fie ben £auf ber
BJaffe gegen ble Schläfe bes Knaben, unb ein gweiter
Schuß frachte.
9Ö
Poliofa riß if>r Öen Keooloer au9 ber J?anb. Sie brei»
tete bie Arme über ben .Körper bes Knaben unb würbe
ohnmächtig. Seltfamerweife fpürte fie toäfjrenb ihrer Df>n»
macht, baß 3°feph tot war. Als fte bte Augen auffrfjlug,
fab fte froh ber ©mtfelhetf bas bleiche Kinb neben firf).
Poliofa flanb oor if»r unb weinte. Sie fagte: „UJir ntüf*
fen bas Kinb begraben/' Poliofa blicfte fie furrfjtfam an
unb erwiberte, er wolle nichts bamit gu fchaffen t>abt n,
er gef>e in bie Stabt gurücf unb werbe fie angeigen.
Aber es erwies fiel), baß er no<b immer wie burcb Sau»
berei an fie gefeffelt war. Sr fagte, er fei unfcbulbig, unb
fie müffe es beßhwören. Sie feboch grub mit einem Stüc#
£olg ein £orf> in ben feuchten BJalbboben. Sie (egte ben
Knaben hinein unb becfte ihn mit Erbe unb £aub gu. $ier»
auf betete fie fnienb mit gefalteten Jrjänben, unb als fie
aufßanb, wunberte fte firf>, baß fie no<b lebte.
Sie oerließen ben UJalb unb famen gu einem Brun#
nen. ©ort wufcb Chrißine ihre blutige BJange mit BJaffer.
©er Gebanfe an ben DTtorb trieb fie betbe gu ben Uten»
fcben gurücf. Ums JRorgengrauen gelangten fie in bie
innere Stabt, traten in ein Meines Kaffeehaus unb labten
fich. ©ann brachen fie wieber auf, gingen ins 5rang*3o»
fephs»£anb unb burchßreiften planlos bie praterauen. Sie
wußten nicht, was fie tun foliten, fein JBort würbe gwi»
fchen ihnen gewechfelt.
Sie fauften firf) Brot unb Käfe, Chrißine wollte nichts
effen. ©ie Obacht oerbrachten fie im dreien, unb am JTtor*
gen begann wieber ba9 furchtbare UJanbern. So machten
fie es fünf Xage unb fünf 3Iärf)te. 3n ber fünften 3Tarf)t
flüchteten fie oor bem Kegen in eine Scheune, ber J?unb
frfrfug an, ber Bauer entbecfte fie, wollte ben Genbarmen
holen, ba eilten fte hinweg, fo fchnell bie Süße fonnten.
Chrißine ßürgte gu Boben. Sie fpürte fogleich, baß bte
Srucht in ihrem £eibe getroffen war, unb nun wußte fie
auch, was fie feit bem Xob ihtes 3ofeph s noch Qm £eben
gehalten hatte. Sie oermochte nicht aufgußehen, Poliofa
betrachtete fie unb rührte firf) nicht.
7 2>te beutftfje StobelU.
97
„KJoa biß benn bu für einer!" acfjgte fie. Da entlub fiefj
in ifjm eine finnlofe K?ut gegen bas IKeib, unb er f cf) lug
mit Säußen auf fie ein. die fcf)rie unb frf)rie, enblich lief}
er ab unb f>a(f if>r auf bie Beine. fUs fie bie Stabt erreicht
Ratten, führte er Chrißine gu einer Eabentreppe unb be*
faf>l if)r, ficf> niebergufehen unb auf ihn gu warten. 6r
ging fort unb fefjrte nicht mehr gurüdf.
Chrißine füfjlte große Schmergen. ein alter Arbeiter blieb
fielen unb fragte/ was if>r fehle. Sie bat ihn, er möge
fie gur Straßenbahn begleiten. 6r h>alf ihr unb führte fie
hin unb ergählte, baß ihm gwei Söhne im Selb gefallen
feien.
JTCif unföglither JTUihe fam fie in bas Sriesharferfthe
j?aus. Da war es aber mit ihrer .Kraft oorbei.
3m Sieber würbe fie nach bem Kinb gefragt; im Sieber
bekannte fie, was mit bem Kinb gef<hef>en war.
Srau Grieshacfer benachrichtigte bie Pofigei.
KJarurn hier nicht enben? Spannt fich aus fotcher oer»
lorenen Sinßernis noch ein Bogen in bie Hoffnung? Cs
weilen feine Genien bei biefem Scf)tcffal, bie Geßirne wan»
beln fremb unb falt über ihm. Xlnb boch iß fein Ausgang
umleuchtet non einem Glang/ bem wenig 3rbifd>es mehr
anhaftet/ unb oor bem bie 6efpenßer unb Dämonen er*
fehroefen entweichen, als ob bas enthüllte Antlih ber Ge»
rechtigfeit Slammen gegen ße fpeie.
Als Chrißine im 3nguifitenfpital lag unb nach Tagen
tobähnlicher Bewußtlofigfeit bie Augen öffnete, fah fie an
ihrem Bette einen JTiann in Uniform fi^en, ber nur einen
Arm hatte. Sie erfannte in ihm Kalijfus 3off.
Sein Geficht hatte einen 6mß, ben es in früherer 3eit
niemals befeffen. Die Klangen waren nicht mehr fett, bas
Kirnt nicht mehr glängenb unb runb, ber Schnurrbart war
nicht mehr in bie ^öhe gebreht. 6r war giemlich bleich, unb
fein Blicf hatte etwas bunfel Grßauntes, als herrfefje gwi*
fchen bem Kalijrtus 3off oon einß unb non bem je£t ein
unergrünbliches Geheimnis.
98
Cfjrifline langte fcheu nach feiner Jpanb. 3f>re £ippen
6 ebten, fie flaute ihn an tote Öen <Kirf)fer beim lebten
Gericht.
„Sei fHlI/' fagte «ftalijtus 3off, „ich weif? fcfjon alles/'
Alle jarbe wich aus ihrem Geficfjt; fie fab aus wie bas
«Kiffen, auf bem fie lag. Oie rechte $anb erfjebenb, beutete
fie mit bem 3 eigefinger geiflerhaft nach oben.
«Kalijrtus 3off nicfte. „Gräm btcf) nicht, Xinerl," fagte
er, „ich weifj fcfjon alles." Seine Stimme (lang oeränbert.
Sie fuchte ooll Angfl feinen Blitf unb gitterte unter ben
Oecfen.
Gr beugte fich 3 U ihr nieber unb fuhr fort: „3cf> bin btr
toieber gut."
Sie gitterte noch ärger unb umklammerte mit ihren
$änben feine eine.
„3<b bin bir wieber gut," fagte er, „unb wenn bu beine
Straf abgefeffen ha(l, nachher betrat’ ich bi«h."
Chriflines «Kopf fiel juriicf. 6 twas heilig ^eifjes, heilig
Süßes überflrömte fie.
6 s war bas erfle Jllenfchenwort, bas fie oemahm, bie
er fie TTCenfchengüte, bie fie erfuhr, bas erfle reine Glücf,
bas fie genoß. lim beffentwillen oerlohnte es fich, fo ge»
lebt unb fo gelitten ju haben, wie fie gelebt unb gelitten
hatte. Je 0 t begann ein neues Sein.
Oa fie aber fühlte, baß fie flerben mußte, 30 g fie bas
Amulett, bas fie fo oiele Jahre am J?ats getragen, unter
bem i?embe h*roor unb reichte «ßalijtus bie JTtünje famt
bem Kettchen mit einer Gebärbe banfbarer 3ärtlicf)feit unb
mit bem £ächetn eines BJeibes, bas, wenn auch erfl in ber
Tobesflunbe, enblich 00 m Strahl ber £iebe berührt worben
ifl.
7*
99
3m JJceffelfrfien «Bottentynutf
Bon Jjjerntann Jjjeffe
(Ws war in Öen gtaanjtger Jahren bes vorigen Jahr*
^^✓fcunöerte, unb wenn bie Mtläufte barnals onbere
waren als freute, fo festen bo<b bte Sonne unb lief ber
DJtnb nie frt anbers über bas grüne, friebeoolle Tai bes
Hecfars als beute unb geflern. 6‘tn feböner freubiger Srüf)«
fommertag war über bte fllb her auf ge fliegen unb flanb
feflltcf) über ber Stabt Tübingen, über Schloß unb "Wein»
bergen, über Stift unb Jlecfar, fpiegelte fiel) im frifrfjen,
blanfen Tluffe unb ftriefte fpielenbe, jarte löolfenfcbatten
über bas grellfonnige Pflafler bes JTtarftplatjes.
3m theologischen Stift war bie lärmenbe Jugenb foeben
oom 3TIittagstifcf)e aufgeflanben. 3n plaubemben, lachen*
ben, flreitenben Gruppen fcfjlenberten bie Stubenten burrf)
bfe alten badenben Gänge unb über ben Spof, ben eine
garfige Scbattenlinie in ber Quere teilte. Sreunbespaare
jlanben in Tenflern unb offenen Türen beieinanber, aus
fronen, ernflen, heileren ober träumerifeben Jünglingsge«
fiebtern leuchtete ber f<böne, warme Sommertag wiber, unb
in abnungsooll burebgtühter Jugenb fbeafrlte ba manche
noch fafl fnabenbafte Stirn, beren Träume noch freute le*
benbig finb, unb beren Hamen beute wieber oon banfbaren
unb febwärmerifeben Jünglingen oerebrt werben.
fln einem Äorriborfenfler, gegen ben Hecfar hinaus*
gelehnt, flanb ber junge Stubent Gbuarb JTlörife unb bluffe
jufrieben in bie grüne mittägliche Gegenb hinaus, ein
Scbwatbenpaar febwang ficb jaucbjenb in laumfcfcfpiele*
rifdhem Bogen bureb bie fonnige £uft vorbei, unb ber junge
JRenfcb lächelte gebanfenlos mit ben eigenwillig bübfeben,
geträufelten Sippen. Qem etwa 3roanjig jährigen, ben feine
Sreunbe feiner unerfcböpfücb frobfprubelnben Saune wegen
ioo
liebten, begegnete es nicht feiten, baß in fronen, guten
Augenblicken tfjm plö^ücb bie gange Umgebung gu einem
oergauberten Btlbe erfiarrte, in bem er mit ßaunenben
flugen flanb unb bie rätfelhafte Schönheit ber BJelt wie
etne JTtalmung unb faß wie einen feinen heimlichen
Schmerg entpfanb. BJie eine bereitßehenbe Salglöfung
ober ein kaltes, flilles BJintergewäffer nur einer leifen Be»
rührung bebarf, um plötzlich in Ärißallen gufammengu»
fließen unb gebannt gu erßarren, fo war mit jenem
Schwalbenfluge bem jungen ©ichtergemüt plöhticf) ber
ftecfar, bie grüne 3eUe ber füllen Baumwipfel unb bie
fchwachbunfiige Berglanbfchaft bahinter gu einem o erklär»
ten unb geläuterten Bilbe erflarrt, bas mit ber erhobenen,
feierlich milben Stimme einer höheren, bi<hterifcf)en IBirf*
licfjfett gu feinem garten Sinn fpracf). Schöner unb h er g*
lieber fpielte bas Eicht in ben ferneren laubigen BJipfeln,
fee(ifcf>er unb bebeutfamer floß bie Äefte ber Berge in bie
oerfcfßeierte Serne hinüber, geifüger lächelten oom Ufer
Gras unb Gebüfche herauf, unb bunfler, mächtiger rebete
ber firömenbe SlufS wie aus urwelthaften Götterträumen
her, als werbe Baumgrün unb Gebirge, Slußraufchen unb
BJolkengug bringlich um Grlöfung unb ewigen Jortbeßanb
in ber Seele bes ©ichters.
3locf) oerßanb ber befangene Jüngling bie flehenben
Stimmen nicht gang, noch ruhte ber innere Beruf, ein oer»
Härenber Spiegel für bie Schönheit ber BJelt gu fein, er fl
halb bewußt in ben Ahnungen biefer frönen, heiter nach*
benflichen Stirn, unb noch mar bas BJiffen um eine oer»
einfamenbe Ausgeichnung nicht mit feinen Schmergen in
bes ©ichters Seele gebrungen. BJoht floh er oft aus folgen
geiflerhaft gebannten Stunben plöhlidf) mit BJeh unb Trofl*
bebürfnis gu feinen Jreunben, oerlangte in ausbrechenber
Ginfamfeitsangfl nach Blufik unb Gefpräch unb innigfler
Gefelligfeit, hoch war noch bie unter hunbert Eaunen oer«
borgene Schwermut unb bas in allen Sreuben weiter bur*
e Xlngenttgen feinem Bewußtfein fremb geblieben,
ltnb noch lächelte JTTunb unb Auge in ungebrochener £e»
bensfrifche unb oon jenen geheimen 3ügen ber Gebunben*
IOI
heit uni fiebertsfcheu, bie wir im Bilbe des geliebten ©ich«
tera fennen, war noch ferner in bas reine öeficfjt gefom*
men, es fei benn als ein oorübergleitenber Schatten.
3nbem er ftanb unb flaute unb mit jarten, witternben
Sinnen ben jungen Sommertag etnfog, für flugenblitfe
ganj allein unb abgerüeft unb außerhalb ber 3eü, fam ein
Stubent in lärmenber löUbfjeif bie Treppe herabgerannt.
6r fab ben Berfunfenen (leben, fam mit flürmifchenSähen
einbtrgefprungen unb fchfug bem Träumer b e ftiQ beibe
Jpänbe auf bie fcbmalen S(buttern.
Grfcfjrotfen unb aus tiefen Träumen gerüttelt toenbete
Jftörife fief) um, Abwehr unb einen Schatten oon Beleibi*
gung im Gefleht, bie großen, milben flugen noch oom
Glanj ber furjen Gntrücfung überflogen. ©och alsbalb lä*
cbette er wieber, griff eine ber um feinen £als gefegten
$änbe unb hielt fie fefl.
„DJaiblinger! 3<h hätte mir’s benfen fönnen. Wo rennfl
bu wieber bin?''
BJilbefm BJatbtinger blitzte ihn aus hellblauen flugen
an, unb fein ootter, aufgeworfener JTtunb oerjog ft<b
fcbmoltenb wie ein »erwähnter unb etwas btafierter BJei»
bermunb.
„HJoIjin?" rief er ht feiner heftigen unb rafllofen Art
„XÖohin fott ich benn fliehen, oon eu<b präbeflinierten Pfaf*
fenbäuchen weg, wenn nicht ju meinem djineftfiben <Jte»
fugium braufSen im BJeinberg, ober oie(teidf)t lieber gleich
bireft in meine Kneipe, um meine Seele mit Bier unb XOetn
ju überfchwemmen, bis nur bie bäcbflen Gebirge noch aus
bem ©retf unb Schlamm herausragen. D JTtewigef, bu
warft ja noch äer einzige, mit bem ich gehen fönnte, aber
weißt bu, am 6nbe bifl auch bu bloß ein Jrjeimtücfer unb
fauler Phitifler. Jtein, ich habe niemanb hier, ich habe
feinen Sreunb, es wirb nächflens gar feiner mehr mit mir
gehen wollen! Bin ich nicht ein ^answurfl, ein Ggoifl unb
wüfler Saufbotb? Bin ich nicht ein 3ubas, ber bie Seelen
feiner Sreunbe oerfauft, jebe für einen ©ufaten an ben
Berleger Srantfh in Stuttgart?"
102
Jttörife läcfjelte unb faf) bem Jreunbe in bas erregte,
toilbe Geficfjt, bas ihm fo oertraut unb fo merfwürbig toar
mit feiner 3Ttifcf>ung oon brutaler Offenheit unb patfjett»
fd&er Schaufpielerei. Oie langen toef)mben £otf en, mit toel*
tfjen XOaiblinger in Tübingen aufgetreten toar, unb bie
if>m fooiel Jlufjm unb Spott eingebracf)t hatten, waren
jetjt gefallen. 6 r fjatte fie fich fürjUch, in einer gerührten
Stunbe, oon ber 5rau eines Befannten mit ber Schere ab*
frfjneiben laffen.
„Ja, HJaiblinger," fagte JTtöriPe (angfam, „bu machft
es einem eigentlich nicf)t leicht. Oeine £o<fen f>afE bu ge*
opfert, aber bafi bu bir oorgenommen f)afi, oor JTiittag
fein Bier mehr 3 U trinfen, bas f>afl bu, fcheint’s, toieber
oergeffen."
„fleh bu! 3 e 0t fängfl auch bu bas JJrebigen an! 6 s ifl
ein 6 lenb. 3ch aber fage bir, bu wirft eines Tages in einer
ftinfigen £anbpfarre ft£en unb wirft fieben Qahre um, bi«
Tochter beines $errn Patrons bienen unb einen Bauet)
babei befommen, unb wirft bas Gebäcf>tnisbeiner befferen
Tage oerfaufen um ein £infengericf)t unb wirft beinen 3 U *
genbfreunb oerleugnen um einer Gef)altsaufbefferung wil*
len. ©enn fiefje, es wirb eine Schanbe unb Tobfünbe fein,
für meinen Sreunb ju gelten. JTTewigel, bu bift ein Jpeims
licf)tuer, unb es ifl mein $lucf>, bafi icf» bein Jreunb fein
rnufi, benn bu fjältfl mich für einen Uerworfenen, unb
wenn id) in ber üerjweiflung meiner Seele ju bir fomme
unb mief) an bein i^erj werfe, bann wirffl bu mir oor,
bafi i«f> Bier getrunfen habe. Ttein, icf) f>abe nur einen
Sreunb, nur einen einjigen, unb gu bem will icf) geben. Oer
ifl meinesgleichen, unb bas ^jentb f)ängt ifjm aus ben Sj 0 *
fen, unb er ifl feit jwanjig fahren fo oerrüeft, wie icf) es
balb aucf) fein werbe."
6 r f)<elt inne, neflelte hoflig an feinem langherabhäru
genben J?alstucf)e, bas er unter bie BJefle flopfte, unb fuhr
plöhlich oiel fünfter unb beinahe bitfenb fort: „Ou, ich will
jum Jpölberlin gehen. Äommfl bu mit?"
JTtörife geigte mit ber ^janb burchs offene tFenfler, mit
einer unbeflimmten weiten Gebärbe.
103
„Ott gucP’ einmal hinaus! Oos ifl fo fcfjört, täte bas
olles int Trieben Hegt unb bie Sonne atmet. So f>ot e9 ber
Sölberlin oucf) einmal gefefjen, wie er feine Obe oom 3leP»
Portal gebietet bat. — ga, icf) Pomme mit, natürü 6)."
Sr ging ooran, UJaiblinger ober blieb einen flugenbücP
fielen unb blicPte hinaus. Oann legte er, im 3?a<beiten, bem
Sreunbe bie Sonb ouf ben flrm unb nicfte mehrmals nach»
benflicf), unb fein unfietes Seficbt war füll unb gefpannt
geworben.
„Bifl bu mir bös?" fragte er Purj.
JTtöriPe lachte nur unb ging weiter.
„ 00 , es ifl frf)ön broufjen," fuhr EJaiblinger fort, „unb
bo bot ber Sölberlin oielleicbt feine fdjönflen Soeben gebirf)*
tet, wie er onfing, bos 6riedf)en(onb feiner Seele in ber Sei*
mot ju fueben. Du oerflebfl bos oueb, unb beffer 0(3 icb,
bu Pannfl fo ein Stütf Schönheit gang fliit oufnebmen unb
wegtragen unb bann einmal wieber ousflroblen. Oos Pann
i d) niebf, noch nicht, itb Ponn niebt fo rubig unb flill unb
gebulbig fein. UieIIeicf)t einmal fpöter, wenn icb rubig unb
ousgetobt unb olt geworben bin."
Sie traten ouf ben Stiftsbof unb Übertritten bie
Scbotfengrenje, XBaibtinger nahm ben Sput oom Äopfe
unb atmete begierig bie worme Sonnenluff. fln ölten
(lillen Raufern oorbei, beren grüne ^oljlaben ouf ber
JTCittagfeite gegen bie Jpifje gefcf)loffen waren, gingen fie
bie Söffe hinab bis jum Soufe be9 Scbreinernteiflers 3im»
mer, wo eine fauber gefettete £abung oon frifeben tonne»
nen Brettern in ber blonPen DJärnte glänjte unb buffete.
Oie Soustüre flonb offen unb olles war füll, ber JHeifler
hielt noch JTCittagspaufe.
Als bie günglinge itt9 Sous traten unb ficb jur Treppe
wonbten, bie $u be9 wobnfinnigen Dichters SrFerjimmer
binouffübrte, öffnete ficb itt ber bunPeln Sousflur eine
Tür, aus einem burebfonnten Stübcben her brong weiches
Eicht in Strahlen heraus, unb barin erfebien ein junges
JTtäbcben, bie Tochter be9 Schreiners.
„SrüfS Sott, gungfer £otte", fagte JHöriPe freunblicb.
104
Sie f4>oute einen Augenblicf licfjtblinb in ben fcfjatti«
gen Jlaum, bann fant fie näher.
„Grüß Gott, 3f>r Herren, Acf), Sie finb’s? Grüß Gott,
$err UJaiblinger. 3<», er iß broben."
„Xöir motten ifjn mit fpagieren nehmen, toenn toir
bürfen", fagte BJaibtinger mit einer einfcbmeicbetnben
Stimme, bie er gegen alle jungen unb fjübfcben JTiäbtfjen
im Gebrauch fyatte.
„‘Das iß recht, bei bem fchönen KJetfer. Geben bie Herren
toieber in9 Preffelfcbe Gartenbaus?"
„3aroof)l, Jungfer Eotte. Äann if>n oie(fei<f)t fpäter je*
manb bort abboten? 3cb frage nur. DJenn’s nief>t gut gebt,
bringen mir ibn felber roieber.
„D borf), icb fomme bann febon. Daß er nur nicht ju
lang in ber beißen Sonne bleibt, es tut ihm nicht gut."
;,Oanfe, icb mitl bran benfen. Atfo auf XOieberfeben!"
Sie oerfebmanb unb mit ibr flob bie Sintflut hinter bie
Stubentür gurücf. Oie beiben Stubenten ßiegen bie Treppe
hinauf unb fanben bie Türe ju ^ötöertins 3immer f)alb>
offen ßeben. JTiit ber leichten Scheu unb Befangenheit,
melcbe fie tro£ mieberbolter Befucbe jebesmal oor biefer
Schmede empfanben, näherten fie ficb langfam, BJaiblin*
ger pochte an ben Türpfoßen; unb ba feine Antmort her«
ausfam, febob er bie leife in ben Angeln reibenbe Tür be*
butfam meiter auf, unb beibe traten ein.
Sie fahen in bem fef>r einfachen, aber hübfeben unb lieh*
ten Jlaum, beffen Senßer auf ben JTecfar gingen, bie hob«
Geßalt bes Unglücflidjen in ein Senßer gelehnt, auf ben
unmittelbar unter bem Grfer bahinßrömenben Stuß blif*
fenb. ^ölberlin ßanb ohne Jlorf in ^embärmeln, ben
fchlanfen S?al& bloß, bas ^aupt leicht gegen ben Stuß
hinabgebeugt. Jtahe beim Senßer ßanb fein Schreibtifcb,
Gänfefebern ßafen in einem Behältnis, eine lag quer über
mehrere betriebene Papiere fßnmeg gelegt. Gin fcbmacber
Euftjug lief oom Senßer her unb raffelte in ben Blättern.
Bei bem Geräufcb menbete ber Oübter ficb um, er nahm
bie Gingetretenen mahr unb bliefte ihnen aus feinen fcf)ö*
105
nen, reinen Augen entgegen, inbertt fein Bürf auf JTtörife
fiel, Öen er nicht gu erfemten fefjien.
Berlegen machte biefer einen Meinen Bürfling unb fagte:
„Guten Tag, Sperr Bibhotfjefor. löte gebt es 3hnen?"
Der Dichter fdjlug ben Blicf gu Boben, lief} bie noch auf
bem Senfiergefima ruljenb jpanb finfen unb oerneigte fid)
tief, inbent er unoerßänbiiche, bcmiitige JBorte murmelte.
IBieber unb raieber oerneigte er fiel) in fcbauerlicfcernfl»
baffer Ergebenheit, bürfte fein fchönea, fchmarf) ergrautes
jjaupt tief hinab unb legte bie ^änbe über ber Brufl gu»
fommen.
XBaiblinger trat oor, legte ihm bie j?anb auf ben Arm
unb fagte: „£affen Sie’s gut fein, oerehrter Jjjerr Biblio*
thefar."
Jlocbmals bürfte jpölbertin fich tief unb murmelte halb»
laut: „3a, königliche JRajeßät. BJie Eure JTTojeflät bes
fehlen/'
llnb inbem er XBaiblinger in bie Augen fah, erfannte
er ihn, ber fein Sreunb unb häufiS" Befucfjer toar; er
hörte auf, feine Bezeugungen gu machen, lief} fich hie
Jpanb fchütteln unb mürbe ruhig.
„BJir toollen fpagierengehen", rief ber Stubent ihm gu,
ber biefem Äranfen gegenüber ettoas oon feinem reigbar
ungleichen HJefen oerlor unb im Umgänge mit bem oer«
ehrten Schatten eine ihm fonfi faum eigene Güte unb fanfte
Überlegenheit geigte, toie er benn überhaupt gu feinem
JRenfchen in einem fo gleichmäßigen unb (iebenben Ber»
hältnis lebte toie gu bem geiflesfranfen Dichter, ber mehr
als breißig 3af)re älter toar, unb ben er balb fanft unb
fchonenb toie ein gutes Äinb, balb ernß unb oerehrenb toie
einen eblen Sreunb angufaffen mußte.
JRit Bermunberung unb ©erlegener Führung fah nun
ber Stubiofus JRörife gu, mie fein ungeßümer unb hoch*
fahrenber Sreunb fich mit feltfam garter Teilnahme unb
mit einer gemiffen Übung unb Gefchirflichfeit bes franfen
JRenfchen annahm. IBaiblinger fd)ien fich 5« ^ölberlins
Stube genau ausgufennen. Bon einem Jlagel hinter ber
Türe brachte er bes BJahnfinnigen Gehrorf, aus einer
106
Schublade fern wollenes Spalatud) fjeroor und f>otf dem
folgfanten Äranfen in feine Äleider tx>te eine JTCutter dem
Jßnde. 6r roifcfjte mit feinem Xafrf>entucf)e den Staub oon
Hölderlins Änien, er furf)te deffen großen fcfjroarjen $?ut
heroor und bürflete ihn forgKcf) rein, und dagwifchen redete
er if)m ju und ermunterte ifjn befiändig: „Sofo, Sperr B« s
bliotbefar, je£t hoben mir’s gleich, jawohl. So, fo ifl’s
recht, fo i|l’s gut. Dann gehen mir an die £uft hinaus und
ju den Bäumen und Blumen, es ifl fthön Wettet heut.
So, je0t noch den Sput ouf, s’il vous platt“ XBorauf der
alte Hichter nichts erwiderte als etwa einmal in höflicf)» 3 er»
flreutem Xone die HJorte: „euer Gnaden befehlen es.
Je vous remercie mille fois, Sperr oon DJaiblinger." Gr
lief} fich betreuen und hielt willig fland, und fein ehr«
würdiges Geficht mit den nur teilweife gerflörten adlig»
fchönen 3ügen fchien bald ooll gerfhreuter 6leichgültigfeit,
bald in einer heimlich belufligten, hohen Überlegenheit gu*
jufefjauen.
JTtörife war an den Schreibtifch getreten und las, ohne
das Blatt jedoch in die Hände ju nehmen, flehend in einem
der offentiegenden JTtanuffripte. 3n metrifch tadellofen,
wohlgebauten Herfen fland da ein Stücf oon des jerflörten
Hichtergeifles Schattenleben aufgejeichnet: flüchtige, oon
törichtem ltnfinn unterbrochene ßedanfen und Etagen, da»
jwifrf)en Bilder ooll reiner Hnfchauüchfeit, in feiner emp»
findlichen, fein gepflegten Sprache ooll JTiufif, aber immer
wieder geflört und oemichtet durch plögtich dajwifchenge*
ratene löorte und Sä£e eines ledern*pedantifchen Äanglei«
fliles.
„So, je0t fönnen wir ja gehen", rief XBaibtinger, und
Hölderlin folgte ihm fogleüh willig, nicht ohne noch im
Sehen gu wiederholen: „Her Sperr Baron befehlen. 6uer
Gnaden untertänig gu Öienflen."
Hager und groß fchritt Friedrich Hölderlein hinter
BJa'tblinger her über den umgäunten H°f «nd durch Öie
Gaffe, den großen H ut bis dicht über die flugen hrrab»
gezogen, leife oor fich hin murmelnd und fcheinbar ohne
einen Blicf für die BJelt. Bei der Jtecfarbrücfe aber, wo
107
Keine barfüßige Büblein fauerten unb mit einer toten
Cibechfe fpielten, blieb bie fchlanfe, mürbevolle Geßalt einen
flugenbltrf flehen, «m oor ben beiben Äinbern tief ben
S?\xt gu giehen. JTiörife ging neben ihm, unb ba unb bort
blicfte man aus Jenßern unb Haustüren bem grotesfen
Keinen 3uge nach, borf) ohne viel Erregung unb JTeugierbe,
benn jebermann fannte ben verrücften Dichter unb mußte
non feinem Schicffal.
Sie ßiegen an f)übftf)en bufcfjigen Gartenfjägen unb
TBeinbergmäuerchen vorbei ben fonnigen Dßerberg hinan.
Boraus ging ßattlich bie fraftvolle, ßro£enbe Geßalt
BJaiblingers, meiner längß aus Grfahrung mußte/ baß
Sölberlin niemals oorangefje unb einer Führung bebürfe.
Oiefer frfjritt (angfam unb ernßhaft, ben Blicf am Boben,
unb neben ihm ging ber garte JTiörife fjer, gleich feinem
.Kameraben fcfjmarg gefleibet. Jn ben Oliven ber .Rebberg«
mauern blühte ba unb bort blauroter Storrfjfcfjnabel unb
meiße Schafgarbe, baoon riß 4?ölberlin gumeilen einige
Stengel ab unb nahm fie mit ficf». Oie J^e fehlen ihn nicht
angufechfen, unb als fie oben haltmachten, blicfte er bet*
friebigt um fi«h-
Jrjier ßanb bas chinefifche Gartenhäuschen bes Dberhel»
fers JJreffel, bas im Sommer ßets an Stubenten unb je^t
fcf>on feit längerer 3eit an TBaibfmger vermietet mar. Oie«
fer gog einen großen Schtüffel aus ber Xafche, ßieg bie
paar Steinßufen gum Gingang empor, fchtoß bie Xür auf
unb manbte fich mit einer feierlich ehtlabenben Gebärbe an
ben Gaß.
„Xrcten Sie ein, $err Bibüothefar, unb feien Sie miß«
fomrnen!"
Oer Oichter nahm feinen ^ut ab, ßieg hinan unb trat
in bas Keine Räuschen, bas er tängß fannte unb liebte.
.Kaum mar auch XGaibtinger eingetreten, fo manbte er fi<h
an biefen mit einer tiefen, refepeftvollen Berbeugung unb
fprach mit ptehr £ebf>aftigfeit als fonß: „Guer Gnaben ha*
ben befohlen. 3cf> empfehle mich 3f>nen, iperr Baron, Gure
^errlichfeit mirb mich in ©ero l)of)tn Schuh nehmen. Votre
tres humble serviteur.“
Darauf trat er oor ben Scfjretbttfrf) unb ßarrfe mit an«
gelegentlichem 3ntereffe nach öer BJanb empor, wo HJatb«
linger in großen griechischen Schriftzeichen ben geheimnis*
oollen Spruch „6in unb All" angebracht hotte. Bor biefem
3ei<hen oer»eilte er minutenlang in gefpannter JTachbenf*
lichfeit. JTlörife, in ber leifen Hoffnung, ihn je^t einem
6efpräcf) zugänglich ZU finben, näherte fich ihm unb fragte
behutfam: „Sie Scheinen biefen Spruch Z u fennen, Jperr
^ölberlin?"
6r mich ober alsbolb gurücf unb oerfchanzte Sich in fein
unburchbringliches ^öflingsjeremoniell.
„JItajeßät," fogte er mit großer Seierlichfeit, „biefes
fann unb borf ich nicht beantworten."
6r trug ben unorbenttich zufommengerafften Blumen«
ßrouß noch in ber Jpanb, ben er nun (angfant mit ben Sin»
gern zerpflücfte unb in bie Xafchen feine9 .Rocfes ßopfte.
BJährenbbeffen roar er an bas breite, niebere Senfler ge»
treten, ba9 über ben (ichten BJeinberg unb bie tiefer lie»
genben Gärten hinweg eine »eite ßüle Ausficht auf bas
Slußtal unb auf bie hohen Berge ber Alb barbot. 3n ben
Anblicf ber heilen, friebeoolien Sommerlanbfchaft oerfun*
fen, blieb er ßehen, tief bie reine, oon Sonnenfchein unb
•Kebenblüte erfüllte £uft atmenb, unb an feinen entfpann»
fen unb beglücften IRienen »ar zu merfen, baß biefem
Schönen Bilbe feine Seele noch in ber alten 3arfheit unb
heiligen empfänglichfeit offenßehe unb Antwort gebe.
IBaibUnger nahm ihm ben Sput aus ber jrjanb unb
Sprach ihnt zu, fiel) oufs Geftnts bes Senßers zu fefcen,
»a3 er fogleidf) tat. Darauf erhielt erß ^ölberün, bann
JTiörife oom Hausherrn eine »ohlzubereitete Xabafspfeife
überreicht, unb nun faß ber franfe Dichter begnügt unb
Zufrieben rouchenb, frf)»ieg unb blicfte ruhig in bas fom»
merliche Xal hinaus. Sein raßlofes JTlurnteln »ar oer*
ßummt, unb oielleicht hotte fein ermübeter Geiß z u Öer»
hohen Sternbilbern feiner Grinnerung zurücfgefunben,
unter »eichen er nicht bie furze herrliche Blüte feines Gebens
gefeiert, unb beren Jtamen feit zwei {Jahrzehnten niemonb
mehr ihn hotte nennen hören.
109
Scfjweigenb batten bie Sreunbe eine Weile ben Äauch
0U8 ihren Pfeifen gefogen unb bem flillen JTiann am Jen*
fler jugefchaut. Dann erhob fi(h Waiblinger, nahm ein
Schreibheft ju Jpänben, bas auf bem Xifcf) lag, unb be«
gann mit feierlicher Stimme: „Bereiter S)txx Bibliothe»
far, es ifl 3hnen wohl befannt, bafj mir brei ein Kollegium
oon Dichtern oorflellen, wenn auch feiner oon uns jungen
Anfängern fich mit bem Dichter bes unterblieben Jrjpperion
Dergleichen barf. Was fönnte nun natürlicher unb fcfjäner
fein, als baß ein jeber oon uns ettoas oon feinen Gebieten
ober Gebanfen oortrage? 3n biefem £eft hier höbe ich
allerlei aus 3f>ren neueren Schriften gefammett, fyexx Bi«
bliothefar, unb ich bitte Sie herjlich, lefen Sie uns ettoas
baraus oor!'*
6r gab ^ölberlin bas Schreibheft in bie Jpanb, bas bie»
[er fogleüh roieberjuerfennen fchien. Gr flanb auf, begann
in bem Keinen «Raum hm unb toiber ju fcfjreiten, unb
plöhltch h«b er mit lauter Stimme unb mit einer getoiffen
ergreifenben Keibenfchaft an, Solgenbes oorjulefen:
„Wenn einer in ben Spiegel flehet..."
JBährenb bes £efens hotte fein Pathos fich noch immer
gefleigert, unb bie Stubenten toaren ben feltfamen, ju=
weilen tief unb fcf)rerflich<bebeutfam lautenben Worten
nicht ohne Bangigfeit unb geheimen Schauber gefolgt.
„Wir banfen 3f)nen", fagte JTiörife. „Wann hoben Sie
bas gefchrieben?"
^ Allein ber Äranfe liebte es nicht, gefragt ju werben, er
ging nicht barauf ein. Statt beffen hielt er bem Qüngling
bas Schreibheft oor bie Augen.
„Sehen Sie, Roheit, hier fleht ein Semifolon. 6uer
jpoheit Wunfch ifl mir Befehl. Non, votre Altesse, bie Ge»
btchfe bebürfen bes «Kommas unb bes Punftes. 6uer Gna«
ben befehlen, bafj irf> mich jurücfjiehe."
Damit fepte er fich ojieber ins Senfler, begann an ber
erlofchenen Pfeife gu fangen unb richtete feinen Blicf auf
ben fernen «Roßberg, über welchem eine lange, fchmale
Wolfe mit golbenen «Räubern flanb.
IIO
„Du hafl bocf) auch etwas gunt Borlefen?" fragte IBaib*
linger feinen Jreunb.
JTiörife fchüttelte ben Äopf unb fuhr mit ben Fingern
burcf) fein blonbes, frauenhaft gartes Jrjaar. 3n feinem flei«
nen Stehpult ©erborgen bewahrte er feit furgem gwei neue
Gebiete auf, welche „fln Peregrina" überfchrieben waren,
unb oon benen feiner feiner Sreunbe wußte. BJohl wußten
einige pon ihnen um bie fonberbare romantifche £iebe,
beren fchönes Seugrtis jene Sieber waren; por XÖaiblmger
aber hatte er nie bapon gefprochen.
„Du biß ein Querfopf", rief HJaiblinger enttäufcht.
„Xöarum höltß bu bi«h ©or mir fo perborgen? Sjltr oben
hat man ben fjerm auch feit HJothen nimmer gefehen! Der
Souis Bauer macht e9 gerabefo. 3f)r feib perfluchte $eig»
(inge, 3hr Xugenbhelben!"
JTiörife wiegte unruhig feinen Äopf h*n unb wiber.
„IBir wollen uns Heber oor bem bort nicht ganfen",
fagte er leife mit einer Gebärbe gegen bas Xenßer. „Ufas
inbeffen ben Xugenbhelben betrifft, ba f>afl bu bUh ge»
täufcht. JTCein BJerter, ich bin le£te Xöoche wieber einmal
acht Stunben im Äarger gefeffen. Das follte mich rehabi»
litieren. Unb nächfiens fann ich bir auch wieber einmal
etwas oorlefen."
UJaiblinger hatte feinen Jrjembfragen weit aufgefnöpft
unb ben Jiocf ausgewogen, feine mächtige, bunfel behaarte
Bruff fchaute bur«h ben jpembfpalt.
„Du bifl ein Diplomat," rief er feinbfelig, „man weif}
nie, wie man mit bir fleht. Aber ich will es jegt wiffen, bu.
XBarunt weichet ihr mir alle aus? BJarum fommt feiner
mehr ins chinefifcfje Gartenhaus? UJarunt läuft mir ber
Gfrörer baoon, wenn ich ihn anreben will? fleh, ich weif}
ja alles! flngfl habet ihr, elenbe lumpige Stiftlersangß!
3hr feib wie bie .Hatten, die ein Schiff oor bem Untergang
perlaffen! Denn baf} ich nä<hflen9 einmal aus bem Stift
herausgeworfen werbe, bas wiffet ihr ja beffer als ich.
3ch bin gegeichnet wie ein Baum, ber gefällt werben foll,
unb ihr gieht euch gurilcf unb fehet gu, bie Jjjänbe in ben
Xafchen, wie lang icfj’s wohl noch treibe. Unb wenn fie
ui
mich bann abfägen, bann feib if>r bie Schlauen unb fönnt
fagen: $aben wir’s nicht fcfjon lange gefagt? BJenn ber
Bürgersmann eine rechte Sreube hoben foll, bann muß
einer gef>enft werben, unb ber bin icf). Xlnb bu, bu ßef)ß
auef) bei benen brüben, unb oon bir iß es nicf>t recf)t, bu biß
bocf) bei Gott mehr afs bie gange «Hotte. Bu unb icf), wir
fönnten miteinanber bas ganje Patf in bie £uft fprengen.
Aber nein, bu fjoß beinen Bauer unb beinen 4f>artlaub, bie
laufen bir nach unb bilben ficf) ein, fie wären auch fo eine
Art oon Genius, wenn fie ficf) an beinern Jeuer wärmen,
llnb icf) fann allein bleiben unb an mir felber erßitfen, bis
icf) faput bin! Gs iß nur gut, baß icf) ben jpölbertin habe.
3cf> glaube, ben haben fie auch feinerjeit im Xübinger Stift
faputt gemacht."
„3a, ba muß icf) lachen", fing JHörife befänftigenb an.
„Bu fcf)impfß, icf) fäme nimmer %u bir ins Gartenbaus.
Aber wo fi£en wir benn grabe je£t? Xlnb icf) bin auef>
manchmal ben Dßerberg fjeraufgeßiegen, aber ber Büüb«
linger hotte in ber Betfei unb beim Eammwirt unb in
anberen Äneipen ju tun. Bielleicf)t iß er aucf> f)tcr brinnen
gefeffen unb hat bloß nicht auftun mögen, fo wie er’s ein«
mal bem £ubwig Uf>lanb gemacht f>ot."
Gr ßretffe bem «Rameraben bie $anb hinüber.
„Sieh, Bülheim, bu weißt, baß ich nicht immer mit bir
einoerßanben fein fann — bu biß es ja felber nicht. Aber
wenn bu meinß, ich höbe bich immer gern, ober wenn bu
gar befjaupteß, mir fei mein Plätzen im Stift ju lieb, unb
ich höbe Angß, für beinen Sreunb ju gelten, bann muß ich
einfach lachen. £ieber foll man mich brei Xage in ben «Rar»
ger fe^en, als baß ich an meinem Sreunb ben 3ubas mache.
BJeißt bu’s jeh't?"
BJaiblinger brütfte bie hingebotene J?anb fo heftig, baß
fein $reunb fchmerglicf) ben OTiunb oersog. Stürmifcf) fiel
er ihm um ben Jpals, ber ficf) feiner faum erwehren fonnte,
unb plöhlicf) hotte er bie Augen ooll Iränen, unb feine um*
fcfßagenbe Stimme flang hoch unb fnabenhaft.
„3cf> ojeiß ja," rief er fcfjluchgenb, „ach, *<h uttiß, ich bin
beiner gar nicht wert. Bas bumme Saufen hot mich her»
112
untergebrarf)t. Du weißt jo mrf)t, tote elenb irf) bin, bu
fennß bas olles nirfjt, toas irf) burdjmarfje unb toas mirf)
norf) tötet, bu fennß bas UJeib nirf)t, biefe wunberbare
rätfel^>ofte Srau, an ber irf) mirf) oerblute"
,,3rf) fenne fie fcfcon", meinte Ebuarb trösten, unb er
barf)te, mit einer ((einen Erbitterung gegen ben Sreunb, an
feine eigenen Srfjmergen um JJeregrina.
„Du fennß fie nic^t, fag’ ist), toenn bu fie aurf) gefefcen
f>äß unb ifjren Flamen weißt. Du, iß fie nirf)t wafmfinnig
frf)ön? Äann fie benn ettoas bafür, baß fie eine (fübin
ifl, unb fönnte fie fo rafenb frfjön fein, toenn fie’s nirfjt
wäre? 3<f> oerbrenne an if>r, irf) fann nitfct lefen mef>r,
frfjlafen, nirfjt bitten, erfl feit irf) if>ren Bufen gefügt
unb an ifjrem Jpals geweint f>abe, weiß irf), toas Srfjirf«
fal iß."
„Srfßrffal iß immer Siebe", fagte JTCörife (eife, unb
barf)te mef>r an peregrina als an ben Sreunb, beffen ßiir*
menbe Selbßenfblößung if)m quälenb war.
„flrf) bu," rief jener fdjmerglirf) unb fanf in feinen Si£
gurürf, „bu biß ein ^eiliger! Du ßel)ß überall nur wie
ein XOärf)ter babei unb f)aß überall nur Teil am Srfjönen
unb 3arten, unb nirf)t am J?äßUrf)en unb Giftigen. Du biß
ein ßiller guter Stern, aber üf>, irf) bin ein dornet, ist) bin
eine wilbe nu^Iofe Sarfel unb oerbrenne in ber JIarf)f. Xlnb
i<f> will es aurf) fo, irf) will oerflarfern unb oerbrennen, es
iß 0«t fo unb iß nirf)t frfmbe um mirf). lOenn irf) nur oor*
fjer norf) einmal etwas 6utes unb Großes frfjaffen fönnte,
nur ein einziges, ebles, reifes UJerf. €s iß ja alles nichts,
was ii> gemacht fjabe, alles frf)warf) unb eitel unb in mir
felbß befangen! Der bat es gefonnt, ber bort brüben im
Senßer! Der l>at feinen ^pperion fßngeßellt, ein Sternbilb
unb ein Denfmal feiner großen Seele, llnb bu fannß es
ttutf), bu wirß in aller Stille gute unb große BJerfe frf>af«
fen, bu Unf)eimtirf)er, bem irf) nie gang in’s Jperg fefjen
fann. Df), irf) fenne fie alle, ben Pßger in Stuttgart unb ben
Bauer unb alle miteinanber, ist) fyxbe fie burrf)frf)aut unb
ausgeteert unb oerbraucbt — wie Jlüffe, wie Jlüffe!
3tur bu f)aß immer ßanbgefxtlten, nur bu f>aß bein Ges
113
8 55>ic beutfcße JtotoeHe.
tjeimnts in bir bewahrt! ©ich fenn’ id) noch immer nicht,
bid) fann ttf) nicht auffnaefen unb oerbrauchen! JTtit mir
gebt es fcf)on abwärts, unb bu flehfl noch im Anfang. JTiir
wirb es geben wie unferem Jfjölberlin, unb bie Äinber wer*
ben mich ausiacben. Aber icb habe feinen ^pperion ge*
bicbtet!"
JTiörife war fef>r emfl geworben. ,,©u hofl ben Phaeton
gebietet," fagte er gart.
,,©en Phaeton! ©a wollte icb grie<hif<h fein, unb wie
»erlogen, wie wiberßcb ifl bas 3eug geworben! Sprich
nur immer oom Phaeton! ©ir fann idj’s nicht glauben,
wenn bu ihn noch tobfl, bu flehfl fo hoch über biefer Spotts
gebürt! Jtein, er ifl nichts wert, unb ich bin ein Stümper,
ein jantmerooller Stümper.
6s gebt mir immer fo, ich fange eine ©t<f)tung in fytlltr
Jreube an, es glüht unb fprubett in mir unb läßt mich
Tag unb 3la<ht nicht los, bis ich ben Strich unter bas lebte
.Kapitel gemacht höbe, ©ann mein’ ich XDunber, was ich
geleiflet hätte, unb nach einer BJeile, wenn ich’s wieber an*
fehe, ifl alles fab unb grau ober alles grell unb falfch
unb übertrieben. 3ch weif}, bei bir ifl bas gang anbers,
bu machfl wenig unb brauchfl 3eit bagu, aber bann ifl
es auch gut unb fann fich fehen taffen. Bei mir wirb aus
jebem Ginfall immer gleich ein Buch, unb ich muf} fagen,
es gibt nichts herrlicheres als fo fich h*ngufHirmen unb
ausgugiefien im Jlaufch unb Seuer bes Schaffens. Aber
nachher! nachher! ©a fleht ber Satan ba unb grinfl unb
geigt ben Pferbefuf}, unb bie Begeiferung war Schwinbet,
unb ber Ale Jlaufdf) war 6inbilbung. 6s ifl ein 5tuch!"
,,©u muf}t nicht fo reben", fing JTiörife gütig an, bie
Stimme oolt oon Trofl. „BJir finb ja noch Äinber, wir bür*
fen noch jeben Xag bas wegwerfen, was wir geflem ge*
macht unb fchön gefunben hoben. XOir müffen probieren
unb lernen unb warten, ©er Goethe hot auch Soeben ge»
fchrieben, oon benen er nichts mehr wiffen will."
„Natürlich ber Goethe!" rief BJaiblinger gereigt. ,,©as
auch fo rin «Ritter oon ber Gebulb, oom Abwarten unb
3ufammenfparen. 3<h «tag ihn nicht!"
114
plö^firf) hielt er imte, unb beibe 3ünglinge flauten oer»
rounbert auf. Jrpölberlin fjottc feinen Jenfierpla^ oertaffen,
burcf) bie laute, heftige Unterhaltung beängfitgt, nun fianb
er unb fchaute JTiörife an, fein Gefickt gucfte unruhig, unb
feine hagere, lange Jigur fah bebürftig unb teibenb aus.
Da beibe betroffen fchmiegen, neigte fiih ^ölberlin über
JTlcmBes Stuhl/ berührte ihn oorficfjtig an ber Schulter
unb fagte mit fonberbar f>of)ler Stimme: „Rein, Euer
Gnaben, ber Sperr von Goethe in DJehnar, ber Sperr oon
Goethe — ich Bann unb barf mich barüber nicht äußern."
Das gefpenfiifche Dajroifchentreten bes DJahnfinnigen
unb fein fdfjeinbares Gingehen auf ihr Gefpräch, bas bei
ihm äußer fl feiten mar, hatte bie Sreunbe unheimlich be»
rührt unb beinahe erfchrecft.
Seht fing Jpötberßn roieber an, burch bie Bleine Stube
gu wanbern, traurig unb geängßet hin unb h er B u vooru>
bem wie ein gefangener großer Bogel unb unoerflänbßche
bunBle DJorte oor fich hin gu reben.
„DJir hatten ihn gang oergeffen!" rief DJaibßnger ooll
Jteue unb «oar wie oerwanbelt. DJieber nahm er fich bes
Dichters wie ein fanfter Pfleger an, führte ihn ans Senßer
gurücB, lobte bie flusficht unb bie herrliche £uft, brachte
bie am Boben liegenbe Pfeife wieber in Orbnung, trößete
unb begütigte mütterlich. Unb wieber gewann JttöriBe ben
anfprurf)8ooIlen unb unbequemen Jreunb, ba er ihn fo
herzlich unb güteooll bemüht fah, non neuem fchntergooll
lieb unb machte fich ßille Dorwürfe, ihn feit langem wirB«
ßch oemachläffigt gu haben. Gr Bannte DJaibßngers phan>
tafßfche llbertreibungsfucht unb bas unheimlich rafche Auf
unb Ab feiner Stimmungen, aber was er non feiner ge«
fährtichen 3übin burchs ^pörenfagen mußte, mar freilich
bebenBÜch, unb bes Jreunbes nortger Ausbruch hatte ihn
ernßtich geängßigt. Der garte unb empfinbtiche JTtöriBe
hatte in DJaibßnger ßets ein Borbitb unnermüßßchen 3«*
genbübermutes unb üppig fchwettmber Äraft gefehen;
nun aber machte ber oon TrunB unb feeßfeher Selbflger«
ßörung befchäbigte unb entßellte JTlenfch auch ihnt einen
beängfHgenben GinbrucB, als gehe er oergweifetnb auf
8 *
einem abfchüffigen pfabe tiefer unb tiefer, einem unholben
Scf)icffal entgegen, fluch bie feltfame Vertrautheit, ja
Sreunbfchaft bes Sreunbea mit bem Geifles fronten erfaßen
ifjm heut* 1 « einer unheimlichen Bebeutfamfeit.
Srieblicf) faß inbeffen ber Sreunb neben feinem armen
Gaße im Senßer, ber ßro£enb Junge neben bem ergrauten
unb erlofchenen OTtann, Sie tiefer gerücfte Sonne fhrahlte
«ärmer unb farbiger am Gebirge roiber, im Xale fuhr
ein langes $Ioß aus Xannenßämmen ben Sluß hinab*
wärts, Stubenten faßen barauf, fchwangen bütjenbe Xrinf*
fel<he im Sonnenlicht unb fangen ein fräftigsfrohes £ieb,
baß es bis in bie fülle Jrjöhe herauffchallte.
IHörife trat gu ben beiben unb blüfte mit hinaus. Schön
unb milbe lag bie geliebte Gegenb gu feinen Süßen, mit
blanten £irf)tern blihte ber Itecfar herauf, unb mit ber
fatten lauen £uft wehte Gefang unb ungebärbige Jugenb»
iuß rote mit warnten £ebensatem herauf* HJarum faßen
fie hier fa arm unb beraubt, biefe Dichter bes Ubers
fchwanges, ber alte unb ber junge, unb warum ßanb er
felber, oon f«hwanfenber Sreunbßhaft, unb oon einer be*
fchämenb hoffnungslofen £iebe erfchüttert, fo unbefriebigt
unb traurig baneben? BJar bas nur feine Gntpfinblichfeit
unb Schwäche, baß er trüben Stimmungen fooft unter«
lag, ober war es wirtlich bas Schicffat ber Dichter, baß
ihnen feine Sonne fcheinen tonnte, beren Schatten fie nicht
in ber eigenen Seele fammeln mußten?
STlitleibig bachte er bem £eben Jrjölberlins nach, ber einß
nicht nur ein Dichter, fonbem auch ein begabter Philolog
unb ho<h 0 *ßmtter Ergieher gewefen war, mit Schiller im
Verfehr geßanben unb als J^ofmeißer im Jpaufe ber Srau
oon Äatb gelebt hatte. Jrjölberlin war, gerabe wie TRörife
auch, ein 3ögting bes theologifchen Stiftes gewefen unb
hätte Pfarrer werben follen, unb bagegen hatte er fich ge«
ßräubt, wie auch JTCörife fich bagegen gu ßräuben gebachte.
Seinen Hüllen nun hatte er burchgefe^t, aber wie hatte bie
Hielt ben untreu geworbenen Stiftler, ben garthergigen,
f<hücf)ternen Dichter empfangen? JIief>ts war ihm gewor»
ben als Armut, Demütigung, junger, Jfjeimatloßgfcit, bis
er aufgerteben mar unb ber jahrzehntelangen «Rranfheit
oetfiel, melche mentger ein TBafmfinn ju fein festen als
eine Ermübung unb f>offnungsIofe .Refignation bes oer«
brauchten Geifies unb Jrjerjens. ©a faß er nun, mit ber
göttlichen Stirn unb ben noch immer ergreifenb retnbltcfen»
ben Augen, bas Gefpenfl feiner fetbß, in eine taube, ent»
micfelungstofe «fiinbhett jurüefgefunfen, unb menn er noch
Bogen oollfcfjrteb, aus benen jumetlen ein mahrhaft ftfjö«
ner Tiers mie ein helles Auge aufbRcfte, fo mar es bocf>
nichts mehr als bas Spiel eines «fiinöes mit bunten JTio»
faiffleinen.
IBie JTlörife fo ergriffen unb nacfjftnnenb hinter ben
beiben ßanb, menbete ^ölberltn fitf) if>m ju unb flaute
eine IBeile flarr unb furfjenb in bas femjügige, überaus
jart belebte, etmas meiefje Jüngüngsgeficht, beffen Stirn
unb Augen ooll oon Geiß unb ooll oon feetifefjer Äinbbeit
roaren. Bielfeicfjt füllte ber Alte, mie ähnlich if>m felbfl
biefer Junge fei, oielleirfjt erinnerte ihn bie .Reinheit unb
befeelte jpelligfeit biefer Stirn unb ber tiefe, nocf> feines
jarteßen Rauches beraubte Jünglingstraum in biefen
herrlichen Augen an feine eigene Jugenb; bod> ifl es
jmeifelhaft, ob nicht auch biefe einfache Gebanfenfolge
f<f)on ju ermübenb für fein ©enfen mar, unb oielleicht
ruhte fein unergrünblicher, emfler Blicf nur in rein finn«
liehen Dergnügungen am Schönen auf bem Geficht bes
Stubenten.
BSährenb f*e alle brei eine TBeile fchmiegen unb jeber
ben JTachhull ber oorigen lebhaften Ausfprache in fich fort»
fchmingen fühlte, fam ben TBeinberg herauf bie Jungfer
Hotte 3immer gefliegen. IBaibünger fah fte oon meitem
unb fchaute bem ^eranfommen ber fräftigen JRäbchen«
geflalt mit (Klient TJergnügen ju, unb als fie näher fam
unb ihm, ber fie mit lautem 3uruf begrüßte, mit Hücheln
juniefte, tat er einen Sprung burchs anbere Senfler unb
ging ihr bie lebten Schritte entgegen.
„6s ifl mir eine Ehre/' rief er überfchtoenglich unb mies
einlabenb bie Steinflufen hinan» „es ifl mir eine Ehre, in
biefer £laufe auch einmal ein fo hübßhes Fräulein be«
grüßen gu bürfen. kommen Sie (jerein, werfe Jungfer
Softe, brei 'Oicfjfer werben gu 3f>ren Süßen fnien."
©03 JTiöbcfjen lachte, unb Ujr gefunbes ßefirfjt glühte rot
com rafdjen Berganßeigen. Sie blieb auf ber Weinen
Treppe ßefjen unb fjörte bem Ge töne bes Stubenten be»
lußigt ju, Rüttelte bann ober furj ben blonben «Kopf.
„Bleiben Sie lieber ßefjen, Jperr BJoibtinger, irf) bin nicht
ons «Knien gewöhnt, llnb geben Sie mir meinen ©idjter
heraus, itf> habe genug on bem einen."
„Aber Sie werben borf) wenigßens einen flugenblicf
fjereinfommen? 6s iß ein Tempel, Sräulein, unb feine
«Räuberhöhle. Sinb Sie benn gor nicht neugierig?"
„3ch famt’s ousfjolten, Jfjerr BJoibtinger. Eigentlich fyxb’
ich ntir einen Tempel immer anbers oorgeßetlt."
„So? llnb wie benn?"
„Jo, bas weiß ich nicht. Jebenfotts feierlicher unb ohne
Tabafroucf), wiffen Sie. JTein, geben Sie fief) feine JTiühe
mehr, es iß jo hoch nicht 3fjr 6rnß. 3cf) fomme nicht hinein,
ich muß gleich aueber umfefjren. Bringen Sie mir nur
ben ^ötberlin heraus, bitte, boß ich ihn heintbringen
fonn."
Hoch einigen weiteren Schergen unb Umßönblichfeiten
ging er benn hinein unb winfte bem «Kranfen gum Auf*
bruch, gob ihm feinen ^ut in bie Jpanb unb führte ihn
gur Tür. ^ötbertin fchien ungern weggugehen, man foh
es feinem Bticf unb feinen gögernben Bewegungen on, hoch
fogte er fein BJort ber Bitte ober bes Bebouerns. JRit ber
höftich^tabettofen Artigfeit, hinter welcher er feit fo nieten
Jahren fich ®or alter BJelt oerfefjangte unb oerborgen hielt,
wenbete er fich mit Bticf unb Uerneigung erß on JTtörife,
bann on BJoibtinger, fcfjritt fotgfam gur Tür unb wonbte
fich &ort mit einer lebten Berbeugung um. „Empfehle mich
Euer Eygetleng gong ergebenß. Euer Ejgelleng haben be»
fohlen. Ergebender ©iener, ©ero ^errfchoften."
Sreunbtich nahm ihn braußen Sötte 3immer bei ber
Jpanb unb führte ihn hinweg, unb bie gwei Stubenten
btieben auf ben Stufen ßefjen unb fofjen ben hinweg»
gehenben noch, n>ie fie gwifcfjen ben «Reben ben Berg hinab*
gingen unb rafcf> Heiner würben, ber lange feterltcfje JTCann
an ber jpanb feiner jungen Pflegerin. 3gr blaues «Rteib
unb fein großer fcgwa^er $ut waren noch lange ju fegen.
JTtörtPe fag, toie fein Sreunb mit traurigen BlidPen bem
entfcgroinbenben llnglücPlicgen folgte. 3gm lag baran, ben
empfinbticgen unb erregten JTtenfcgen ergeitemb ju 3 er*
(treuen; auch wollte er felbß es oermeiben, in ber JUigrung
einer unbewachten Stunbe alljuviel von feinem 3nneren
ju enthüllen, benn lüaiblinger hotte feit JTionaten aufge*
hört fein unbebingter Der trauter ju fein. JTtöriPe, ber an
einfamen Tagen (hmbenlang einer grunblofen lüegmut
nachhängen Ponnte, liebte es nicht unb hütete fich bavor,
biefe Seife feines Pompligierten XÖefens anberen ju geigen,
am wenigsten biefem Jreunbe, ber felbfl fo gern in einer
faft wiberlicgen Preisgabe feines 3nnerflen gu fcgwetgen
liebte.
Äurg entfchloffen, ben Bann gu brechen unb fich felbfl
famt bem Äameraben auf bie heitere Seite bes Eebens
ginüberguretten, fcglug er fich Matfchenb aufs «Knie, fegte
ein geheimnisvolles Geficht auf unb fagte im Tone fehlest
geheuchelter Gleichgültigleit: „Übrigens, biefer Tage höbe
ich einen ölten BePannten wieöergetroffen."
BJoibUnger fah ihn on unb fah fein bewegliches Geficht
vom leife guefenben BJetterleucgten gervorbreegenben S«»
mors überflogen, bie gePräufelten JTlunbwinfel fpielten wie
probenb in farPaßifcgen Sattungen, bie mageren HJangen
fpannten fich über ben ßarPen BacfenPnocgen in fpigbübi*
feger £aune unb bie eingePniffenen Augen fegienen vor ver»
galtener TRunterPeit gu Pniflern.
„30, wen benn?" fragte ÜJaibltnger in froger Span*
nung. „Äomm, wir wollen gineingegen."
3m Stübchen 30g JTtöriPe bie Jenflerlaben halb 3U, baß
fie in woglig warmer Dämmerung faßen. 6 r ging elafltfcg
gin unb ger, plöglicg blieb er vor Züatblinger flegen, lacgte
luftig auf unb fing an: „ga, weiß Gott, ber JTTann nennt
fieg Bogelbunfl, JTtufeumsbirePfor goaegira flnbreas
IJogelbunfl aus SamarPanb, unb er behauptete, auf einer
wichtigen, äußer(l wichtigen, folgenreichen Gefcgäftsreife 3 U
fein. Er font non Stuttgart mit Empfehlungen oon Schwab
unb JRatthiffon — unmöglich ihn abguweifen —, unb er
wollte noch am felben Abenb mit Egtrapofl nach 3ürich
»»eiterreifen, wo er oon hochflehenben Gönnern mit lln«
gebutb erwartet werbe. Jlur ber «Ruf biefes entgücfenben
TTCufenfipes, fagte er, unb ber fpegielle «Ruhm unb Glanj
bea theologifchen Stifts, biefer ehrwürbigen Pflangflötte.
ber ejfgellenteflen Geifier, habe ihn oeranlaffen fönnen,
feine eilige Jleife für wenige Stunben gu unterbrechen, unb
er bereue es nicht, nein wahrlich er hoffe es nie gu be»
reuen, obwohl feine Sreunbe in 3üruh, JTiailanb unb
Paris ihm feine Stunbe bes 3ufpötfommens oergetyen
würben. 3n ber lat, Tübingen fei gang charmant, unb
oornehmtich fo gegen flbenb in ben fllleen am Jtecfar
herrfche ein gerabegu raoiffantes Jpeltbunfel, oon einer
höchfl pittoresfen ©elifateffe, fogufagen romantifch'poe»
tifch. Oer Emir oon Belutfcfnflan, oon bem er beauftragt
fei, bie Abbitbungen alter fchönen Stäbte Europas in
Äupferflich gu fammetn unb Seiner Roheit mitgubringen,
er werbe entgücft fein, unb wo benn ein guter Äupfer»
(lecher wohne, un bon graveur sur cuire, aber oerfleht fich
ein JTTeifler, ein rechter Äünfller ooll esprit unb Gemüt.
3a, ob es übrigens hier warme Quellen gebe? Glicht! Er
glaube hoch baoon gehört gu hoben. Xlnb ob ber ©icfjter
Schubart noch lebe — er meine jenen Xingtücflichen, ber
oon Sriebrtch bem 6ütigen an bie Jpottentotten oerfauft
worben fei unb bort bie afrifanifche Jlationalhpmne ge«
bichtet höbe. Dh, er fei geflorben? Helas, ber Beflagena*
werte! — 3nbeffen war mir hoch gang fonberbar gumute,
wie ber «Kerl feine Suaba herunterraffelte unb bagu mit
ben langen bünnen Jungem an feinen filbemen Jlocf»
fnöpfen brehte. ©u ho fl ihn fchon gefehen, bucht’ ich
immer, biefen ©ireftor Bogelbunfi mit feinen warmen
Quellen unb feinen langen bünnen Spinnenfingem! ©a
holt ber JTtann eine ©ofe aus feinem blauen langen Tuch*
rocf, ber ihm hinten bis an bie Schuhe hinab ging, eine
©ofe heraus, unb wie er fie auffchraubt unb in ben ge«
fpenflifchett J^änben breht unb eine Prife nimmt unb bagu
120
in feiner heillos aufgeregten Bergnügtheit fo fjell und f>od)
gu metfern beginnt, und tote er dann fo füß und äußer fl
angenehm gu lächeln weiß und mit den Fingernägeln auf
der ©ofe den Parifer JTiarfcf) trommelt, da iß rnir’s wie
im Traum, und icf) quäle mich und rätfle t)erum wie ein
Kandidat im Ejamen, wenn’s brenglicf) wird, daß ihm der
Schweiß ausbricht und die Britlengläfer antaufen, ©er
i?err 0ooä)im Andreas Bogeldunß aus Santarfanb ließ
mir aber feinen Augenbücf gunt 3lacf>benfen, ordentlich
als wiffe er, wie mir zumute fei, und habe feine türfifcf>e
Freude dran und woite micf) ja noch recfjt lange fcfjmoren
(affen. Bon Stuttgart ergählte er, und oon den amänen
Gedichten des Sperrn Jltatthiffon, die er ihm eigenhändig
oorgelefen höbe und welchen eine gewiffe intereffant«pifante
Bteichfüchtigfect oon Kennern nicht abgufprechen fei, und im
gleichen Atem fragt er aufs angelegentluhße, ob die direfte
Poßroute nach 3üri<h über Btaubeuren führe, er höbe näm»
lieh oon einem Stücf Blei gehört, das dort irgendwo liegen
müffe und das oortrefflich in feine erßflaffige Sammlung
oon Sehenswürdigfeiten paffen möchte, ©en Bodenfee ge«
denfe er dann aucf> aufgufucf>en, um dort en passant am
Grabe des ©oftors JTiesmer feine Andacht gu oerriehten.
Bon dem tierifchen JTIagnetismus nämlich fei er ein alter
treuer Anhänger, wie er denn auch dem Profeffor Stelling
die Befanntßhaft mit dem Geiß des universi oerdanfe und
überhaupt ein Freund der Bildung dürfe genannt werden.
IBenigßens höbe er die Phantaßeßücfe oon Jrjoffmann ins
Perßfche überfe£t und laffe alle feine Kleider in Paris
arbeiten, fei auch oont feligen päfcha oon Affuan mit
einem wertoollen Orden deforiert worden. Gr ßelle einen
Stern dar, deffen 3acfen oon <Rrofodilgäf)nen gebildet wur*
den, und früher höbe er ihn gern auf der Bruß getragen,
einß aber einer Berliner Hofdame damit beim Tangen den
Jpats oerwundet, weswegen er auf das Tragen diefer hüb«
fcfjen ©eforation feitdem refigniert habe. Aber indem er das
jagt, fährt fich der Jjjerr JTtufeumsdireftor mit der flachen
$and fachte über den Scheitel, und das tat das JTtännlein
fo fofend und gephirhaft, daß ich am ein <S?aar breit hötte
121
hinaustachen müffen. Denn je£t (onnte ich ihn — wer
war’s?"
„HJtfpel!" rief Hfaiblinger entgürft auf.
„JUdjtig geraten. Gs war IBifpel. Aber er hatte (tcf) oer«
änbert, bas muß tcf) fagert. Gang teile begann ich atfo
meine Gntbecfung angubeuten unb fagte oorerfl, mir fei,
ich habe if>n fcfjon früher einmal gefef>en. 6r fächelt. Gr
fei gum erfienmal in feinem £eben in biefem fcharmanten
£anbe unb in biefer entgücfenben Stabt, beren Bitb in
Äupferßtcf) mitgunehmen er übrigens ja nicht oergeffen
bürfe, aber obfchon er fef>r bebauere, firf) nicht erinnern
gu fönnen, möchte es ja both immerhin wohl möglich fein,
baß ich ihn fef>on gefrf>en hätte. 3n Berlin o teilet ef)t? Ober
am Gnbe in Petersburg? Jtein? Ober in Uenebig? Auf
Äorfu? JTieht? 3a, bann tue es ihm teib, es müffe tnoht
ein angenehmer 3rrlum bes Jrjerm JTtagißers fein. —
,3Tein/ fagte ich, ,je£t fällt mir’s ein, es i(t inDrptib gerne«
fen!' — Gr ßu£t einen Augenblick. Drptib? 3a, richtig, ba
fei er auch einmal gewefen, als Gefellfehafter bei bem alten
Äönig Xttmon, ber aber teiber ingroifchen geflorben fein
foll. ,t>a fennen Sie oielleicht auch meinen Jreunb IBifpel?*
frage ich je£t unb fef>e ihm gerabe in bie Augen. — 3<h
fann fchtoören; er war’s, aber meinfl bu, er hätte mit
einer IBimper gegueft? Ttichts bergteichen! IBi — IBips —
IBipf fagt er nachbenMich, unb tut, als fönne er ben wilb»
fremben JTamen abfotut nicht ausfpreehen."
„Großartig!" jubette IBaibltnger, „bas fieht ihm gleich,
bem IBinbbeutet, bem Bogelbunß! Aber was hat er benn
eigentlich oon bir gewollt?"
„Ach, nichts Befonberes," lachte Jüörife, „ich ergäbt*
bir’s bann. Aber jetjt muß ich ritten Augenblick hinaus»
gehen."
Gr ßieß bie £aben wieber auf, gotben lag ber Abenb
braußen unb bie Berge blau im ©uft.
Gr ging hinaus, fam aber f<hon nach einer JTTinute wie»
ber gu* Tür herein, oollfommen oerwanbett, bas Gefleht
feltfam fehlaff mit füßtich gugefpi£tem JTTunbe, bie Augen
leer unb raßtos, bas $aar ein wenig herabgeßrichen, mit
122
fcf)mebenÖen oogelartigen Belegungen der Hrrne und
Spänne, mit auswärts gefpreigten Süßen auf den 3ef>en
hüpfend, gong BJifpel. Oagu hotte er eine f>ofje r feltfant
fabe Stimme angenommen.
„Schönen guten Abend, Jperr JTtagißer, fing er an und
machte ein weltmännifches Kompliment, den i^ut mit den
Singerfpi^en der £infen am Jlande faltend. Schönen gu*
ten Abend, ich höbe die 6hre und das Vergnügen, mich
3f>nen als den Jltufeumsbireftor Bogeldunß aus Samar»
fand oorgußetten. Sie erlauben roof>1, daß i<f> micf) ein
wenig bei 3f)nen umfefje? Gin angenehmer Aufenthalt hier
oben, en effet, erlauben Sie mir, 3f)nen gu diefem bebigiö*
fen Tusfulum gu gratulieren/'
„lOas führt 3hn denn t)tr, BJifpel?" fragte nun BJaib*
linger.
„Bogeldunß bitte, Oireftor Bogeldunß. Auch muß ich
ergebenß bitten, mich nicht mit 6r angureben, nicht meiner
unbedeutenden Perfon wegen, fondem aus Jlefpeft oor
den dwerfen hohen und dißinguierten Jrjerrfchoften, in de*
ren Oienßen gu ßehen ich die 6f) re höbe."
„Alfo, Jperr Oireftor, womit fann ich dienen?"
„Sie find der Sperr JTlagißer BJaiblinger?"
„Aber ja."
„Sehr gut. Sie find Ouhter. Sie find ein praftifches Genie.
— D bitte, feine überflüffige Befcheidenheit! Jüan iß oon
3hren BJerfen unterrichtet. 3ch fenne 3h« unßerblichen
BJerfe, mein Jperr. Born Tage im Phaeton oder die Gries
chenlieder der Unterwelt. JTein, bemühen Sie fid) nicht,
i cf) bin gang unterrichtet."
„Alfo weiter, gum Teufel, Sie Oireftor in der Oberwelt!"
„Oie sperren JTtagißer gehören ins Tübinger Stift! Oa
möchte ich sang ergebenß nachfragen, ob der Jjjerr denn
dort auch gufrteden iß?"
„3ufriedcn? 3m Stift? Oa müßt’ ich ein Bieh fein. 3n»
deffen hot die Sache gwei Seiten: die Herren oom Stift
find nämlich mit mir ebenfowenig gufrieden wie ich mit
ihnen."
123
„Sehr gut, tres bien.Berehrteßer! Ganj tote 1<S) mtr’s
gewünfcf)t habt. 3cf) bin nämlich in ber aimablen £age,
bem tyerrn JKagißer eine recht angenehme Berbefferung
feiner llmfiänbe offerieren ju fönnen."
„Df), fef)r oerbunben. Dorf ich fragen...?"
3Ttörife*BJifpel trat einen Meinen Schrift jurücf, fe£te
oorficfjftg feinen J?ut o«f ein Bücherbrett nieber, führte
mit ben firmen bie fublimßen $(ugbewegungen ous unb
flötete im f)öcf)f{en Disfant, bocf) geheimnisvoll gebämpf«
ten Tones:
„Sie fehen in mir, Bereiter, einen befcheibenen JTtann,
einen JITann ton wenig Berbienßen oielleicfjt, aber einen
JTtann, ber bas Seine ohne «Ruhmrebigfeit ju tun weiß,
unb ber fcf>on bie höchflen ^errfdfjaften ju bero 3ufrieben*
heit bebient hot* Erlauben Sie mir, mich ganj furj ju faf»
fen, wie es einem Jlianne gejiemt, beffen 3eit überaus
foßbar iß. 3cf) trage bie ßhmeichelhafteßen Empfehlungs»
briefe von ben sperren JTCatthiffon unb Schwab in meiner
Tafcfje. Es honbeit ficf) um eine nicht unwichtige flngele*
genheit. 4?ören Sie unb achten Sie wohl auf meine BJorte!
3cf> fuche einen Erfah für Sriebrich Schiller."
„jür Schiller? 3a, mein werter JTtann-"
„Sie werben mich oerfiehen, ja ich fchnteichle mir, Sie
werben mich billigen, 4?ören Sie! 3u ben heroorragem
ben JTtännern, bie bas 3f>re ohne Jluhmrebigfeit ju tun
wiffen, gehört ber fjerr £orb Soy in £onbon, einer ber
bißinguierteßen unb reichten JTiänner von Englanb, Prior
von Großbritannien, Sreunb unb Bertraufer Seiner Blaje»
ßät bes Königs, Schwager bes ITCinißers ber Sinanjen,
Pate bes Prinyen 3afob von Cumberlanb, Beßrer ber
Graffchaft-"
„3a, ja, fchon recht. Unb was ifl mit bem S)txxn £orb?"
„Der £orb weiß meine Talente ju ßhähen, ja ich barf
mich feinen Jreunb nennen, i?err JTCagißer. Es war ein*
mal auf einer fjofjagb in IBales, ba ßellte er mich bem
Baron &aßteworb oor mit ben BJorfen: ,Diefer JTiann
iß ein 3uwel, lieber Baron." Ein anberes JTlal, als bte
124
Pringeffin Uiftoria gerade gur Welt gefommen war —
ich war damals oott Spanten gurücfgefehrt —"
„Gut, gut, aber fahren Sie fort! ©er £orb Soj —"
„©er £orb Soj ift ein ungewöhnlicher JTiann, Sperr 3TIa»
gifier. 3ch batte damals die Ehre, ihn in feinem eigenen
IBagen jur 0agd begleiten gu dürfen. 6s war eine Sucf)8*
jagd, mein $err, und der Suchs wirb in England gu Pferde
gejagt, es ifl das £ieblingsoergnügen des Adels, fluch
der berühmte £orb Cfteflerfield foll ein großer Suchsjäger
gewefen fein, ebenfo £ord Bolingbrofe. Er flarb an Blut*
oergiftung."
„kommen Sie doch 8«r Sache, Sperr 1°
„3ch bin (lefs bei der Sache. £ine Suchsjagd ifi fogar
eine gang fcharmante Sache, wennfchon oielleicht eine ruffi*
f<he Büffeljagd noch intereffanter fein mag. 3th h°be einer
folgen Büffeljagd im Ural beigewohnt Aber, um mich
furj ju faffen, die großen Herren in England hoben fon»
berbare und foftfpielige Paffionen. 3ch fannte einen ^errn
oon der Dflinbifchen Kompanie, der tat nichts anderes, als
baß er wegen eines Schmerges im linfen Bein alle Ärjte
oon gang Europa gu fidf) fommen ließ. 3ch empfahl ihm
damals den £eibargt des Äurfürflen oon Braunfchweig —
nun höbe ich feinen Flamen oergeffen —"
„IBetchen jtamen? ©es Äurfürßen?"
„Jtein, des £eibargtes. 3ch bin untrößtich, ich hätte es
niemals für möglich gehalten. Er war ein gefchicfter
JTienfch, der fein Randwert oerfland. übrigens hot er dem
Sperrn in England doch nicht helfen fönnen. Es war für
mich ein rechter embarras. — Aber Sie hoben mich unter*
brochen. fllfo, es hondelt fi<h darum, einen £rfa£ für
Sriedrich Schiller gu finden, ©er £ord Sof will nämlich
einen deutfchen ©ichter in feiner Sammlung hoben. 3ch
felbft höbe ihn bagu überredet. Sie wiffen, ich bin gewiffer*
maßen felbfl ein Stücf oon einem bomme de lettres, und da
ich mancherlei «Keifen mache und oielerlei Befanntfchaften
habe, fonnte ich die nicht gang unintereffante Beobachtung
machen, daß fehr oiele oon den deutfchen ©ichtern Schwa*
ben find, und daß fehr oiele oon diefen fchwäbifchen ©ich*
125
tern bem theologifcfjen Stift angehören, unb baß fef>r viele
von ihnen wenig mit ihren Glücfsumßänben gufrieben gu
fein fcfjeinen. Eh bien, ba bachte ich mir, icf) fönnte bem
£orb So$ einen f<hwäbifcf)en Dieter beforgen. 6r begahlt
bie «Reife unb gibt 2000 Xaler jährlich* JTteine Grfunbi*
gungen im fluslanbe haben gu bem «Refultat geführt, baß
Sriebri<h Schiller ber berühmtefle fchwäbifche Dichter ifl,
unb ich bin nach 3ena gereift, um ihm meine Jlevereng gu
machen. £eiber erfuhr ich, baß Jperr Schiller fchon vor län»
gerer 3eit geßorben fei. £orb Soj t»Ul aber einen tebenbi*
gen Dichter haben-"
JKitten im Sah hielt JTlöriPe plöhlich inne. Don ber
Stabt herauf fchtug bie StiftsKrchenuhr, bie Sonne flanb
fchon tief. €s war fieben Uhr.
„Das gibt urieber eine 3lote", rief JTlöriPe ein wenig
befiimmert. „DJir Pommen immer rechtgeitig ins Stift,
unb ich habe eben erfl im Äarger gefeffen."
„fleh was/' meinte IDaiblinger, „e9 ifl bloß fchabe um
ben BJifpel. Die bumme «Rirchemihr! Jiotnm, wir fangen
noch einmal an/'
Aber JTlörife fchüttelte ben Äopf, er war plöhlich ernüch«
tert. Bebächtig (Irich er feine Staate gurecht unb fcfßoß
einen flugenblicP bie Augen, fein Gefecht fah mttbe aus.
„Äommfl bu mit?" fragte er bann. „IDenn ich beim
Xorwart ein bißchen bettele, läßt er uns vielleicht hoch noch
hinein.'*
IDaiblinger flanb unfehlüffig: $ene fcfjörie 3übin, fein
böfes Schief fal, erwartete ihn auf ben flbenb. 6r hatte fie
feit einer Stunbe gang oergeffen, er hatte fich feit langem
nicht mehr fo wohl gefühlt. 6inßweilen begann er bie £a»
ben gu fließen, JTlöriPe half mit, bann traten fie beibe
aus bem bunPel geworbenen Gartenhaus in ben warmen
flbenb, ber auf ben fleinemen Xreppenflufen rötlich glühte.
Jlun oerfchloß IDaiblinger bie Xüren oon außen.
,,3lein," fagte er, währenb er ben Schlüffel abgog, „ich
bleibe t)eut abenb braußen. Aber ich begleite bich noch in
bie Stabt. 6s iß f)ilbfcf> gewefen heut nachmittag, ich *»ar
fchon lang nimmer fo vergnügt. TDeißt bu, es geht mir
126
fcfunb bu mußt mir’s nicht nach tragen, wenn Itf> bi<h
oietleic i)t ein wenig ongefcfjrien habe. 6s gilt olles mir fei«
ber, auch roos etwa on bich abreffiert mar, unb wenn bu
fehlest non mir benfß, fo Bannß bu hoch nicht fcfjlecfjtcr
oon mir benBen, als ich’s felber tue/'
Sie gingen im flbenblicfjt bergabwärts ber Stabt entge*
gen, bie mit raucfjenben Kaminen unb fcf>rcrg befonnten
Dächern beleihen unb eng um bie mastig ragenbe Stifts*
fircfje her gebrängt lag.
„Du, fomm lieber mit ins Stift!" fing JRörife nach einer
Paufe bittenb an. „6s ifl nicht wegen bem Torwart. Aber
mir Bönnten bann ben flbenb etmas miteinanber lefen, im
ijjpperion ober im ShaBefpeare, es märe hübfch."
„3a, es märe hübfch"/ feufgte HJaiblinger. „Aber icf»
habe eine üerabrebung, es geht nicht. HJir wollen balb wie*
ber einmal gufammen frier braunen fein, bann mußt bu
auch beine Gebiete mitbringen. 6s finb hoch gute 3eiten
gemefen, wie ber Bauer unb ber Gfrörer noch Barnen, unb
wie mir ba im Gartenbaus unfere Äinbereien getrieben ha*
ben. BJer weiß, wie oft mir noch beteinanber fein Bönnen,
gar lang Bann’s nimmer bauern. $ür mich iß in Tübingen
Bein Boben mehr."
„So mußt bu nicht benBen. Du haß je^t eine 3eitlang
ein bißchen müß gelebt unb bir Seinbe gemacht, bas Bann
alles mieber anbers werben."
Seine Stimme Blang leicht unb trößlich, aber ber Sreunb
fchüttelte überzeugt ben mächtigen «Kopf, unb fein eigen«
williges, etmas gebunfenes Gefixt mürbe bitter.
„Sag’ felber, was hätte ich fchließlicf) baoon, wenn ße
mich wirBlich im Stift behielten! Am 6nbe müßte ich mein
Eyamen machen unb Pfarrer werben. BtBar EJaibttnger!
Pfarroerwefer HJaiblinger! 3cf> weiß ja nicht, was einmal
aus mir werben foll, aber bas nicht, bas gang gewiß nicht!
3u lernen iß frier auch nicht oiel, unfere Profefforen finb
ja Eeimfieber, vielleicht ben Jpaug ausgenommen. Hein, ich
laß es barauf anBommen! 3ch muß es auf eigenen Süßen
probieren, wie ber arme Jpölberlin feinergeit auch/ unb ich
bin ßärBer als er. 3ch bin nicht fo rein unb nobel wie er,
127
ober ich habe mehr «Kraft unb ein heißeres Blut, Am beßen
wär’s, ich ginge gleich je£t baoon, freiwillig, man fann
nicht jung genug anfangen, wenn man fich fein eigenes
£eben erobern will. Aber bu weißt ja, was mich in Xübüt«
gen f)ölt — an biefer Siebe will i cf) groß werben ober gu»
grunbe gehen!"
Er fcfjwieg plö^Iicf), als habe er guo'tel gefagt, unb an
ber nächßen Ecfe bot er bem anbern bie J?anb.
„fllfo gute JTarfjt, JTCörife, unb einen Gruß an ben
IDifpel!"
„Öen will ich ausrichten."
Sie hatten fi<h bie jfjänbe gefchüttelt, ba wanbte JHörife
fi i) noch einmal gurücf. Er blicfte bem Jreunbe ooll in bie
Augen unb fagte mit einem ungewöhnlich ernßhaftenTon:
„Du barfß nicht oergeffen, was für Gaben bu haß! Glaub
mir, man muß auf uiel oergidf)ten fönnen, wenn man
groß werben unb etwas «Rechtes fchaffen will/'
Öarnit ging er, unb fein Jreunb blieb ßefjen unb fah
ihm nach, wie ber fchmächtige 0Ung(ing nun mit plötzlicher
^aß gegen bie Burfagaffe unb bas Stift fjirteilte. Gr,
BJaiblinger, ber fonß feine Ermahnungen oertrug, war
für biefe IDorte unenbüch banfbar, benn er fühlte wohl
ihren heimlichßen, fößlichßen Sinn: Daß JTiörife an ihn
glaube. Das war für ihn, ber fooft an fich irre warb, ein
Troß unb eine tiefe Jltafmung.
Sangfam ging er weiter nach bem J?aufe feiner fchönen
0übin, ber fatalen Scfjtoeßer bes JJrofeffors JTtichaelis.
3ur felben Stunbe ging SFriebrich ^ölberlin in feinem
Erfergimmer raßlos auf unb nieber. 6r hatte feine Abenb»
fuppe pergehrt unb ben Teller, wie es feine Gewohnheit
war, oor bie Tür auf ben Boben geßettt. Er mochte nichts
in feiner «filaufe bulben, was nicht fein Eigentum war unb
gur Enge feines in fich gurücfgegogenen Dafeins gehörte,
nicht Teller noch Glas, nicht Bilb noch Buch.
Öcr JTachmittag ffang ßarf in ihm nach: Das geliebte
ßitte Räuschen im BJeinberg, bie wieber fommerfatte £anb»
fchaft, Slußblinfen unb Stubentengefang, Anblicf unb Ge»
fpräch ber beiben 3üngHnge, namentlich jenes fchönen, gar»
128
ten, beffen ttamen er nicht wußte. Unruhe trieb ihn, ob er
fcf>on mübe war, immer wieber auf unb ab, hin unb her,
unb manchmal blieb er am Senfter fielen unb flaute oer»
loren in ben flbenb.
HJieber einmal batte er beute bie Stimme bes £ebens oer*
nommen, unb fie Mang fremb unb aufreijenb in feiner
Scbattenwelt nach- Qugenb unb Schönheit, geifKges Ge*
fpräch unb ferne Gebanfenweiten batten ju ihm gefprochen,
gu ihm, ber einß Schillers Gaß unb ein Gelabener an ber
Tafel ber 6 ötter gewefen war. Aber er war mübe, er oer*
mochte nicht mehr nach ben goibenen $äben ju greifen,
nicht mehr bem oielßimmigen Gefang bes £ebens ju fol*
gen. 6 r oermochte nur noch bce bünne, oereinjelte JTCelobie
feiner eigenen Uergangenfjeit ju hören, unb bie toar nichts
als unenbliche Sebnfucht ohne Erfüllung gewefen. Gr war
alt, er war alt unb mübe.
Beim lebten £icht bes btnßerbenben Tages nahm ber
franfe JTCann nochmals bie Jeher jur J^anb, unb unter
wirre, Mangtofe Uerfe, mit benen ein baliegenber Bogen
groben Papiers beberft ßanb, fcbrieb er mit feiner fchönen,
eleganten ^anbfchrift biefe für je, traurige klaget
„Oas Angenehme biefer IBelt hab* ich genoffen,
Oer (fugenb Jreuben finb wie lang! wie lang! oerfloffett.
April unb JTlai unb (Julius finb ferne —
3<h bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne."
JTicht lange nach biefer 3eit mußte BJilhelm BJaiblinger
bas Stift unb Tübingen oerlaffen. Gr ging nach 3talien
unb iß arm unb oerlaffen als ein Äomet unb Abenteurer
in Jtom oerlofchen unb oerfchotlen.
* *
•
üTtörife oerblieb im Stift, fonnte fich am Gnbe ber Stu*
bienjeit aber nicht entfließen, Pfarrer ju werben. Jlach
g ®ie beutMt Stoben«.
129
miflglüsften Derfutfjen als 3ournalifl mußte er bocf) gu
Äreuge friecfjen, aber wie er nie ein ganger Pfarrer würbe/
fo ifl U>m nie ein ganges fieben unb 6lü<f guteil geworben.
Unter örfjmergen befdjieb er füf) unb formte In erbarbten
guten Stunben feine unoerwelflitfjen Gebiete.
Sriebricf) jpölberlin blieb in feinem Xilbinger Grfergint«
mer unb &at norf) gwangig 3af)re in feiner toten Oäm»
Rterung fortgelebt.
Hec D \ (ö t 11 unö öle Hielt
Von Start «Hötlger
Ö-, ler Dieter batte f«b erhoben oon feinem abfettigen
*Sig unb flattb mm/ aber ein wenig oornübergebeugt.
Unb/ war es nun bas Geräufeb in ber »title btefes Augen»
blicfs ober eine magifcbe 6rf(f>einung: fafl alte faften
if>n... 6r fprarf) aber fo: „Der DJert bes JHenfcben ifl
nie quantctatio ju benteffen. £r fann nicht wie ber Äeffet»
brucf oom UTianometer non bem Tun feiner Xage abge*
tefen werben. Der HJert eines Jllenfcben ifl gleißt einem
oerfttloffenen JJuwel unb ifl ru^enbes Sein. Der IDert
eines Jlienft^en bemifit ficb nach bem JTlafi, in bem er
Gott in ficf) bat ober ihn erfebnt..."
Der Affeffor wanbte ficb an Dngeborg, ble neben if)nt
fafi unb fagte: „Um Gotteswillen — was will ber? J^at
ber Xf>eologie fhibiert?" Das JTIäbcben aber fdjüttelte feine
JDorte wie ein läfHges Gefumme ab unb flarrte ben Jltann
an... Der batte eine Jlaufe gemacht unb Iäcbclte. —
„Dielteicbt finb meine IBorte 3bnen Iäcf)erticf) /y / fagte er
weiter. „Wie oft bin leb ausgelacbt worben . . . Aber
fcbließlicb fann unfereins boeb nur reben, was man ifl
unb meint. Atfo: Der Dlert eines JTtenfcben, fagte ich,
fann nur fo ungeheuer ferner gefeben werben... weit er
Sein ifl unb nicht Xat. Die Xat fann mit ihm in Derbin*
bung flebn, bebingt ihn aber nicht. 6s fei ein Jliettfcb, unb
er tue nur Gutes, er gebe täglich bie Jj>älfte feines 6r*
werbs ben Bebttrftigen, er fränfe niemanb, er gehe bei*
feite, wo 3anf ifl in IBorten ober Xaten. So fann biefer
3Henf<b boeb ber werttofeflen einer fein, bie Je ba waren;
fo fann er boeb ein Dtenfcb fein, ber oor bem Angeficbt
Gottes nicht ba ifl. Denn wer ift für ihn ba? Das ifl ber
Schaffenbe. llnb wer ifl ber Schaffenbe? Der ba £iebe
9*
131
.
hat. Plichts als Siebte. Siebe aber iß eben bas, was ich
nannte bas ruhenbe Sein. Siebe iß gteicfjbebeutenb mit bem
IPeitgeiß unb bem XPeltßnnen. Siebe iß bas innere aller
©inge. llnb wo etwas in ber XOelt mit ficf) unb ber XPelt
uneins iß, ba mangelt’s ber Siebe. — Unb wo ein JTlenfch
(eibet, ba (iebt ifjr ihn nitfjt; unb wo einer bttrßet in feiner
Seele, unb ihr wißt es unb reicht ihm nicht Jpanb unb
JTlunb, ba hobt ihr nicht Siebe, ©0 feib ihr gang ohne XPert.
Unb gäbt ihr, was ja fooft gefcfjieht, irgenbwem unb bem
Sernßen 6ruß unb Teilnahme unb bem Plächßen nicht, fo
feib ihr ohne Xpert. Plicht, baß ich fage, ber Xpert fei nach
bem mehr ober minber großen Tun gu meffen. — Unb fo
füge ich hingu: es fei ein JTlenfch, ber irre oie( unb oer*
fäume oiel unb tue an ßch ober an anbem, an Steemben
unb Sreunben nicht, was gu tun not fei, etwa weil er
noch in ßch gefpalten fei, ober weil er leibe an ßch ober
gu ßheu fei unb er höbe hoch Siebe, fo hot er ben Xpert,
ben ein JTlenfch oor Gott hoben muß, unb Gott wirb ihn
Tennen. Plehmet ein Beifpiel. 3ch war ein JTlenfch, °rm
unb cinfam, unb hotte wenig 6emeinfchaft mit ben JTlen«
fchert. 3ch liebte bort, wo ich nicht wieber eliebt würbe,
unb würbe geliebt, wo ich es nicht fah... löar ich etwas
JTlinberes benn heute, ba ihr meine Geßaltungen unter#
irbifcher Plöte unb Sehnfüchte in meinen Büchern hobt?
3ß mein Xpert geßeigert, feit ich »berufen" bin oon ber
Stimme, gu reben unb gu fdfjreiben? — Bin ich boburch ein
anberer?... Plein! XPar ich, was ich heute bin, nicht ßhon
als — Äinb? — So fef>t hoch, bas Äinb, mit bem mich
heute faß nichts mehr oerbinbet a(s ein Blicf, ben ich hin*
ttberfenbe wie übers JTleer (wie in ein Unerreichbares)
— bies Äinb, was war es ? — Aber in Gottes Blicf iß fein
XPert, ben niemanb fah, wohl bewahrt, ©enn fo wir bas
nicht fo gu benfen oermöchten, müßten wir oergehen in
namenlofer Traurigfeit. — ©as Äinb liebte ein JTläbchen,
als es gehn 3oh« olt ojar, unb bas JTläbchen war weiß,
blonb unb blau, ba es in feines Baters Garten herauf#
fam. Aber biefe Siebe blieb unerfüllt wie alle große Siebe,
unb fo warb ber XPert nicht gefehen. —"
132
S?\cr war toterer eine Paufe; einige bauten: er ifl gu
6 nbe — was hot er gewollt? Unb ber JTialer fprorf) leife
gur Sängerin: „VJorauf will er hinaus?" Oie gucfte bie
flcf)feln unb fah ben 3Iienfcf)en an. — 6r aber fpracf) wei*
ter: „VJir ntüffen noch weiter. 6s fei ein Jlienftf), oer«
worfen — wie etwa folche, bie ihren Aörper oerfaufen
(JItänner ober IVeiber), ober wie folrfje, bie ihren Geiß oer*
kauften emß («nb bie waren fchlimnter), unb bas Public
htm nannte fie Dichter unb Äünßler — fo fönnen fie noch
XDert haben, wenn anbers fie noch einen SunPen ber Siebe
haben... Unb fie noch hoben einen SunPen bes Bewußt«
feine ihrer Verworfenheit. Oenn fo ich weif), baß ich vex:
worfen bin, bin ich’s noch nicht gang. Ober fcf>on nicht mehr
gang. Unb fo ich noch Siebe habe, bin ich nicht aus bem
6 efichtefelb Gottes gerücft. — Gott aber — Gott aber, fage
ich" — unb ba fchwanb bae Sächetn oon feinem JTCunb,
unb er trat einen Schritt in bie Gefellfchaft hinein, „Gott
richtet anbers!... Oenn bei Gott ifl eine anbere Gerechtig»
Beit benn bei ben JHenfchen. Gott fiehet ben IVert bes JTlen»
fcfjen an, bie ruhenbe Perle in feiner Seele. 6s werben
oor ihn treten gwei JTCänner unb werben fprechen, ber
eine: Sieh Jrjerr, ich «oor ein guter Vater ber Äinber unb
ein treuer Gatte meiner Sr au, ich war nie untreu, ich höbe
bas JTteine bewahrt, ohne je bem anbern gu nehmen; ich
habe bie ßinber in Sitten gut aufgegogen. — Siehe mich
an,Jperr! So wirb ber^err reben:3ch fehe bichnoch nicht;
es rebet eine Stimme aus bem TUchts gu mir. Ou hafl bei»
ner Srau nie Ubles getan, ich weiß; aber ich fehe beine
Perle noch nicht; wo ifl bein IVert? IVo ifl beine große
Siebe?... Unb ber anbere Jltann wirb fprechen: 3ch höbe
ber 3Tieinen unb ben ÜTleinen Schmergen gemacht... Siehe
S)trr, bu weißt, mein Jrjerg war heiß; ich (lebte bie eine —
unb banach gefchah es, baß ich auch bie anbere liebte, unb
ba waren es ihrer gwei. Unb es war ein Schmerg uns
allen breien, unb es hätte bocf> wohl eine Seligkeit fein
mögen... Unb banach wußte ich, baß ich alles liebte, was
f<hön war, unb baß mein 4rjerg fehnte, groß gu werben—:
wie eine Sonne Uber alles hin. Sieh,, ich höbe oft geflan«
133
öen unö gefragt, warum bas fo alles fei. Unb f)abe es
nicht gefunben. ©er Jperr wirb fagen: Geh ein ju beines
Jrjerm Sreube — Ijättet ihr oermocf)t, bort fchon nur ber
Stimme eures Jpergens ju folgen, fo (>ättet if»r bort fchon
meine Seligkeit gehabt. Gel) ein, fiel), ba finb fie f<f>on
alle, bie bu liebteß unb bie bir fchön erfcfnenen; nimm
fie an bie Jrjanb, fjter wirb euer feines eine £iebe bem
anbern neiben. — ©enn bas follß bu wiffen, baß icf> weif},
wie bu nicf)t ohne UJert warft, unb baß bein D3ert war,
baß bu fehnteß unb liebtefi unb leiben fonnteß um beiner
£iebe unb beiner Sehnfucht willen. —
llnb es werben Äinber fommen unb fcfjeue ©läbchen«
feelen unb werben nicht wiffen, was fie reben follen; eben
ba fie fcfjeu finb unb ju befrfjeiben finb, um ihren Ißert
felbß red)t ju glauben, werben fie alfo nur ftumm ba*
ßefm; unb ber £err wirb fagen: 3cf> fel>e wofjl euren DJert
unb eure ruhenbe Perle, gefjet ein. Gehet ein! ©enn bie
Größe bes ©Wertes eines JTienfcf)en fann nicht gemeffen
werben an ber lat unb ben Taten, fonbern iß ruhenbes
Sein. — llnb es werben fommen bie Scfjaffenben, bie
ber ©Jelt gegeben haben bas 3f)re, auf baß fie reicher fei
unb fcfjöner unb lebenswerter, llnb wirb fommen, ber in
Gewalt unb ©lacht unb Araft ©Jerf auf ©Jerf türmte,
Shafefpeare wirb fommen unb Strinbberg, unb bie ©iel*
heit unb Größe ihrer ©Jerfe wirb hinter ihnen aufßehen,
bergehoch... llnb bei ihnen werben ßehen anbere, faß
namenlos, bie ber ©Jelt gaben fleine, winjige Schönheiten,
bie aber auch £iebenbe unb Schaffenbe waren; unb wer»
ben nicht geringer gefunben werben oon bem Blicf Gottes
als bie Großen, unb 6r wirb fagen: Gehet alle ein, ich
fehe wohl eure Perle unb euren ©Jert im ©erborgenen
ahn. llnb iß fein llnterfchieb unter euch» Sehet hinein,
ihr werbet bort alles finben, bas euch lieb unb fchön war,
alle Seelen oon ©Ingen unb ©tännern unb Jrauen, unb
euer Jperj wirb allen ßrahlen, benn es iß groß unb licht
wie Sonne. — llnb wirb eure £iebe, weil ihr oieles lieben
müßt, febem einzelnen nicht geringer fein. — llnb werben
alle hineingehen, auch bie <ftinber mit unb bie ©läbchen*
134
feelen, bie ba noch nichts toten noch tun fonnten; unb
«oerben olle g 1 e i cf) gewertet fein." —
Seife trat ber Dichter gurücf unb bucfte nteber mt großen
Seffel. Er faf) oor fi<f> nteber ouf feine Jrfönbe. Seine Ge*
liebte lächelte fcfjneU nach ihm f>irt unb bann in bie 6 efelt*
frf)oft hinein. Oie faß ßumnt. Oie Stille war faß pein«
lief)... 3Tur baß ein paar JTiänner abfeits farbonifcf) lä«
«heben unb ein Jlüßern begannen. Oer alte Freiherr
wiegte teife ben Äopf unb begann nach einem Jläufpern:
// 3f)re HJortC/ Jperr Ooftor, ßef)en in fo wenig ober in gar
feiner Beziehung gum Seben, wie wir es lernten unb ge«
wohnt ßnb, baß ße uns gang fremb anmuten-." Oer
Oichter bliefte frfjräg auf: „Ja, ja. Xlnb bo«h —"
„— unb wenn man fie recht oerßeht, wirb man ihnen
auch oft wiberfprechen ..." Oer Oichter niefte wieber. Er
hätte fagen fönnen: ich weiß! fchwieg aber, Jpafte auch
Suß, fjingugufügen: Jrjört ihr benn nicht? 3cf> meine bo«h
bie reine JTatur, fo wie ße Geiß gu werben oermag unb
geworben iß... XETarum oerßeht ihr nicht — ben 6eiß...
Er fchwieg aber.
3ngeborg hatte eine feine <Köfe auf ihrem Geßcht — aber
ße fah immer gerabeaus. Oer Oichter fah feine ber Oa«
men an. Er hatte bas Gefühl/ irgenbwelches Empßnben
für feine ßhönßen 6 ebanfen müßte ba in ihnen fein...
in einigen... Xlnb Charlotte unb 3nge unb Anna mußten
ihn wohl gang oerßefjen; er fah aber niemanben an. Auch
DTiagbalena unb Elfe, fügte er in Gebanfen htngu. Aber es
war bie Bangigfeit in ihnen... bie Surcht... er mußte
auch wohl baoon noch reben. Es würbe hoch wohl nies
manb gu ihm ßef)n, wenn es fich barum banbeite, eins
malErnßes fachlich oor ben Jüenfchen ausgufprechen.
Angeficht gu Angeficht.
Jliagbalene unb Charlotte faßen nebenemanber, neigten
ihre Gefichter einanber gu, unb Charlotte flüßerte: „Sie
fühlen’s hier bo<h nur wie Prooofatton oon ihm, unb er
paeft hoch nur feine Oichteribeen aus. Es iß nur peinlich;
er iß nicht für ße, unb fie finb nichts für ihn." — JTlagba»
lena antwortete ganj (elfe: „(Barten wir ab, was braus
wirb. Gr läßt ftcf) nicht furgerfjanb abmurffen.'* —
„Aber, Gott, es wirb bo<h nur unerquuflich werben..."
„(Bas b«|3t unerquicflicf)? 6s iß wenigßens nicht lang«
weilig/* ©er Sretfjerr fprach: „Jlobuße Gemüter fönnten
3i>re (Borte gefährlich beuten/ weit fie nicht wiffen, an
welche «Realitäten fie fie binben fotten..,,3<h fpreche
nicfjt für robuße Gemüter, i?err Baron.'* „3<h weiß, icf)
weiß, unb hoch — es fommt barauf an, testen Gnbes«
was Sie im £eben, in ber «Realität wollen..."
„3<h bin (ein Sojialreformer, (ein Gefellfchaftsreformer.
Ob man mich einen 6tf)t(er nennen will? Cs ßef)t in jeber*
manns Belieben. 3cf) füfjfe mich aber außerhalb a 11 biefer
Kategorien. 3cf> bin — eine Stimme... 6ine Stimme.. /'
6 r brach ab unb bacf)te: „Ah, itf) werbe ben JTiunb nicht
mehr auftun... Ah, fcheußüch, bies Gef übt..."
©er Affeffor begann, gang getaffen unb mit einer Xrof*
(enbeit in ber Stimme; auf feinem Gefixt ßanb eine un*
gebeure Korreftheit... ©er Dichter hotte Gefallen an ihm
unb bacbfe: 6r iß einSpmbol! JTian muß mit ihm rechnen.
Spmbote finb eben ba, ob im Guten, ob im Schielten,
©er Affeffor nicfte leicht nach bem Jreiberm hinüber:
„(Benn wir eingeben wollen auf bas, was ber Jperr ©o(tor
fagte (er legt, wenn ich recht oerßebe, (Bert barauf, Pro«
biente, 3u(unftsträume, 3u(unftsfpiegelungen mit berfet«
ben Offenheit in altem Umgang ausjufprecfjen, wie es bie
Dichter fonß nur in ihren (Berfen tun), ich foge, es fommt
barauf an, was gewollt wirb! Sperr Baron fagte es fchon
— was foll reatifiert werben? llnb ba taffen bie (Borte
oon eben, fo poetißh fie erfühlt fein mögen (ber Dichter
fchmunjelte in fuh hinein), nur eine ©eutung gu... (in
ber Kunßpaufe hielten alle ©amen ben Atem ein wenig
an, obwohl fie genau wußten, was folgen würbe) bie
(Borte fönnen in ber Profis nur bebeuten: Auflöfung bes
3eltgewebes unferer gefellfchaftlichen unb ßaatlicften Bin»
bung, auch wenn fie nicht fo gemeint finb. Die JRenfchen
werben aber in ber Prafts aus fotchen (Borten bas ma»
chen... Denn fo fchön bie (Borte über bie £iebe gemeint
136
fein werben — man weiß bo<h nicht recht, meint ber Dich*
ter mit feiner großen £iebesoerbrüberung nur eine Art
Sreunbfci)oftsbunb ober begreift er bie Gefcf)fecf)terltebe mit
ein. Uielletcfjt ifl er fo gütig, uns noch einiges Jlafjere —
(unb er fcf)(oß mit einem liebenswtirbigen Blicf ju ben Da*
men hin), wir werben gern hören — •—"
Oer Dichter bacfjte: Daß bicf) bas JTiäusIein beifit. Dich
fi£elt nicht nur beine Jleugierbe, mich über ein frfjweres
Thema ausjttholen. Ou willß mehr. Einer, ber, frfjeint’s,
immer aufs Ganje gebt. —
Aber er lächelte feinem HJiberfacher freunblich ju. IDol*
ien feben, was öadblirfjfeit oermag, badfjte er, unb begann.
„3<b geflebe, wenn unfereins fo!rf>e Dinge anfcblägt, fo
meinen wir erfimal ben Ton! Jlieine JBorte hatten ju*
nächfl gar nii)ts .Reales, noch feine Aar umriffene Ge*
ftattung im Auge..
Oer Affeffor ftrabfte. „HJir fönnen 3bnen jubiüigen,
bafi ba ein Problem liegt in 3bren DJorten. Aber pro*
bteme, bie blofi erfühlt, nicht aber auch b u r <b b a <b t finb,
follten oietleicht bocb beffer erfl ein noli me tangere fein..."
3ebt firablte ber Dichter. Oie £eutfeligfeit bes Gegenüber
oerbrofi ihn gar nicht. £r fprach (mit aller Befcbeibenbeit,
beren er fähig war): „Das Gefdf)ledf)t ber Dichter, bas ba
über bie fogenannte rauhe löirflichfeit ben fcfjönen Schein
log (bie Dichter lügen guoiet, fagte DTiehfcfje), bies Gefcf)lecf)t
ber Dichter ifl attsgeflorben; fie finb alle babm gegangen,
baher fie waren unb bahtn fie gehörten. Erbe ju Erbe,
Staub ju Staub. Des Geifies blieb oon ihnen fein Sünf*
chen... Beleihen Sie gütigfl, baß ich ein wenig aushole.
3eht finb bte Dichter an ber Jleihe, bie nur wahr fein
wollen. Aufgetan ifi fdjon bas Tor bes 3eitalters, wo bie
3Tlenfchen fleh gewöhnen, in „bie Augen bes Ulirfli*
chen" gu feljen... ohne Angfi. Aber bie Angfi werbe ich
noch einiges fagen... f o notwenbig ifl bas. Aber erfl oom
Problem. Xüas gewinnt Stimme im Dichter? Das £ e i b
ber Hielt unb bie Sehnfucht. ltnb was meint bie Sehn*
fucht? Die Schönheit. Aber nicht bie, fo ba £üge ifl, nicht
137
ben „fcfjönen Schein" uni» „Schleier" über olles £ebena
Ungeßaltete unb Ungeformte unb Hngefcfjlachte f)inge»
breitet — fonbern bie Schönheit, bie in bes Eebetts i^öher*
bilbung befielt. Die aber wirb nicht erbost, fonbern erlebt
unb erfühlt. Das Erleben ftf)ltefjt alles Geißige in fich.
fluch bas Denfen unb flnfchauen; wo blofi gebacht wirb,
ooltjieht fich eine untergeorbnete Beßhäftigung oon Jften»
fchen, bie oielleüht etwas Befferes tun füllten." — jr?ier er*
iaubte fuh auch ber Dichter eine Meine Äunßpaufe, obwohl
er fonfi gegen folche Äünßlichfeiten war. Er wußte, baß
}e&t alles auf ihn einßürjen würbe. — Er fühlte richtiges
Entjücfen...
Drei, oier ber Herren fprachen ju ihm herüber... Er
hörte ju unb fagte bann gelaffen: „Bleiben wir bei bem
jpaupteinwanb. Sie führen mir bie Ph‘lofoph en an. Blei*
ben wir bei $ant. Es iß ein 3rrtum, wenn Sie meinen,
ber fei bloß benfenbes Gehirn gewefen. IDas Äant geßat«
tete, waren große Erlebniffe unb Erßhtttterungen feines
3nnem. Er, wie jeber Phtlofoph, war fo gut Dichter wie
Denfer. Er war bie große Einheit. Äetne <Recf)enmafchine,
bie rein logifih bes Eebens Sinn ausrechnet... Er hatte in
fich bie große Xragif ber er, bie ein flltumfaffenbes wollen,
finben wollen, jur Erlöfung ber JTIenfchheit unb ihrer
felbß." —
„Das gibt es auch — bas flllumfaffenbe?" würbe ihm
gugerufen.
„Gewiß", antwortete ber Dichter. „Jtur iß es unb fann
es nicht fein ein „Spßem ber ]?hMofopbi e " — benn wir
wiffen, wie bas Sieben fouoerän über alte Spßetne hm*
wegfehreitet. Das Elmgenbe iß immer nur eins: Das
£eben fetber unb bie £iebr... Unb bamit fomnte ich 3 um
Anfang gurücf... JBir bürfen, wenn wir an ber 3ufunft
bauen, nicht, niemals, genau, real, fagen (unb fön«
nen es auch 8°r nicht): fo unb fo möge oon nun fortan
bas £eben ausfehen... IDir ßnb hoch feine Diftatoren, bie
bas £eben furjerhanb umgeßalten wollen! IBir oermöch*
ten es bann auch nicht, wenn wir fo wären. Sonbern wir
geben ben Ion, auf ben bes JTIenßhen Sühlen eingeßimmt
138
fein muß, an, utt9 gu gewährleißen, daß Schönheit des
Seins machfe.. ."
„3u oerfchwontmen", tönte es üjm entgegen...
Gr lächelte. „JVie denn? Oas Sehmergendße iß jedem
TRenfchen die Ginfamfeit. 3cf) meine nicht d i e Ginfamfeit,
die er immer wieder brauefit, um gu fid) fetbß gu finden
und in der er weiter wäd)ß. Sondern die, in der er mit
feinem beßen empfinden oerlaffen iß. Oie fcf)öne große
Gemeinfchaft braucht jeder Schaffende. lind jeder iß rei«
eher, als er feiber weiß. So oiete IVurgeln ßnd ihm
nun noch abgefchnitten, da er nieht heraus tommen darf
mit dem, was er meint, fefmt und möchte ... fei es int
Guten oder im Schlimmen-- JVüßten wir doch erß
einmal, was jeder möchte. XVas wiffen wir oon der Ge*
fchlechterßebe? Vielleicht iß fie noch nicht fo bald an der
Jleihe wie anderes. Vielleicht auch gerade fie. Aber das
tann ja auf fich beruhen. 6s gibt jftenfehen, die einfam
find oon Jtatur und an e i n e m Genüge haben. Gin JTiann
an einer Trau. Und umgetehrt. Aber es gibt die andern,
die anders fühlen. Gs gibt aber oor allem die, welche oor
allem feetifch lieben, mit Ginßhluß der Grotif oder ohne
Ginfchluß der Grotif... Grß aber muß man doch einmal
fehen, was alles da iß! 3m übrigen dente ich, bleibt es
dabei, daß dem oiel oergeben werde, der oiet geliebt hat."
Plöhtich fenfte er fein Stäupt und fprach gu einem f^erm
mit goldenem «Kneifer hinüber: „Jtein, das iß feine
Blasphemie... Jtein! Jtein! IVir wiffen nur, fo wir ehr»
lieh find: daß das£eben heute, wie es iß, fo oft die Untreue
bedingt. JVährend wir das £eben fo denfen möchten, daß
es nur die Xreue bedingt... HJann?"
„IVenn Eiebe und Schönheit frei werden?"
Oas fragte eine helle Stimme aus der Gcfe des 3immers.
„Gben dann," fagte der Oichter, „nur meine ich die Trei»
heit, die fich gebunden fühlt bei einem jeden in ihm
felbß: an die Güte des Jürgens, an ein heiliges JTlitfühlen,
an das Bedürfnis, behutfam mit dem Sergen des an»
dem gu fein, (jeder behutfam mit dem Sergen oon einem
jeden, auf daß feiner feinem wehe tue... 3<h rede mit
139
Bewußtfein ntcf)t oon Pflicht, benn tote oft bies UJort
ber Borwanb geroefen iß, fjeiligftc «Rechte abfeits füf)lenber
Jperjen ju erbroffeln, baoott will irf) oucf> nicht reben."
Aber es fant, tote er’s hoch im Xiefßen geahnt batte: bas
ßefpräcf) oerlief im Unfruchtbaren. 3n einer großen HUrr*
nis oon löorten oerfnäuelte ficf> alles, toas er Har unb gut
gefühlt batte. So blieb bei ben metflen eine IBilbnis oon
guten unb mißlichen Cmpfinbungen... Bis Charlotte bie
«Rettung fanb, an ben Slügel ging unb ju fpielen begann,
Chopin, ein paar Jtocturnos, unb bann Beethooen... unb
ba toar alles htnweggefpült, unb es blieb nur bas Cr*
fchauern.
So toar ber Dichter hoch nid)t mehr baju gefommen,
von ber flngfi ju fprethen. Als er aber hernach im Abenb
unter ben Platanen ßanb, auf bem «Kiesweg, gleich unter
ber Terraffe, im «Kreis berer, bie feinem fjerjen fchon ettoas
nähergefommen toaren, fragte 3nge auf einmal: „Sinb
Sie traurig?" Cr fah fie an unb toiegte bas Jrjaupt: „Xrau*
rig — faum! Aber bie Schwermut hat immer burch mein
£eben geweht, bod) iß fie eine ßrunbßimmung unb folgt
nicht aus bem einzelnen, zeitlichen Begebnis... freilich,
toäre mein £eben anbers gelaufen, oon allem Anfang an,
b. h- hätte ich früher oermocht, mich 3“ geben, toie ich ooar,
hätten Jlienfchen früher geglaubt an mich, hätte auch i«h
früher an mich geglaubt... Aber mein £eben lief eben fo,
toie es lief..."
Clfe fagte: „BJir hätten 3hnen toohl beißehen follen...
6 s iß toohl alles im unflaren geblieben."
6 r aber fprach: „Dies fagt mir ja, baß ihr mich ge*
hört habt." — Sein Blicf glitt fuchenb über bie weichen
Srauengeßalten hin. „$ür bie JTiänner bin ich — JTarr,
vielleicht ein weichlicher. Aber meine Stärfe weiß —
ich! — Bielleicht ber junge Sabrifant unb ber Stubent wä*
ren imßanbe, mich ju finben, aber fie getrauen fief» noch
nicht. — Jticht wahr, es gab einmal bie Älafßf unb gab
140
EJeimar...? Oos iß lange far... Sehr lange. Aber eoas
ntarfjt’s? llnb was war Xöeimar? Glich ts, banacf) ju
fernen lohnte. EJar hoch ba auch ein jeber allein. Xlnb
gumat bie Beßen. Berber oor alten unb Qean Paul...
Suchte bocf) jeber nur bas Seine. Jtein, es toar fein Bunb.
llnb fo toar textlich au<h feine Schönheit. EJir wollen fein
neues EJeimar erfehnen unb auch feinen 3enaer .Kreis.
Jpölberlin unb Brentano gingen oon ba aus unb enbeten
beibe (entlief) namenlos einfam. — EJas wir erfehnen bürf*
ten, ifl etwas 3arteres, aber auch EJirflicheres, etwas
Schöneres, aber auch Stärferes-" Charlotte fagte:
„3eigen Sie es uns. ♦. bamit wir wiffen, was Sie meinen/'
llnb 3nge faßte leife feine J?anb: „3a, geigen Sie es!"
llnb 6 er trüb, ihm gegenüberßehenb, fagte aud): „3a, fag
altes; bu quälß bief) bamit herum, bis in ben Traum beiner
Jläd)te / wenn ich bicf> manchmal belaufche..." „Tufl bu
bas?" fragte er finnenb. —
llnb fuhr fort: „Aber ich fann nichts bagu, baß ber
3weifel in mir ifl. könnten bie JTtenfchen, fönntet ihr
Armut ber Seele unb Eerfrembung unb EJeltfchwere auf
euch nehmen? Ach, wer fagt, baß nicht immer wieber bie
Angfl auffleht? Angfl oor ben UTtenfchen unb bem ßeben!
lEas nü£t es euch, baß ich füge, olle Angfl hohe es nur
mit Phontomen gu tun? Oaß fie ein Jlichts ifl? Oaß bort,
wenn ihr hinttbergetrefen wäret, ber große Trieben unb
bie große Schönheit fein würben, unb feine Angfl bort
mehr hinüberlangt...? EJas nü£t es euch?" 3nge fagte
leife: „3a, wenn wir glaubten..."
6 r neigte fein Gefielt. — „3ch bin mübe unb will oiel
Ounfel ber Jlacht auf mich bedien, toarm gu ruhen..."
llnb wanbte ficf> unb ging. Seine Geliebte folgte ihm. Oie
anbem blieben fchweigenb flef>n. —
Gertrub faßte auf bem Heimweg feinen Arm unb fagte:
„Ou oerfchwenbeß bich! 6s iß alles gwecflos. Auch wiffen
fie oielleicht nicht, wohin bu willß." — „3a, bu haß ja
ein «Red)f, fo gu fprechen. Ou biß anbers als ich. llnb
magß oielleicht recht hoben. Aber warum ertrag ich bie Gin*
famfeit fo fdfjmer? Jüan iß ja auch ju jmeien einfam. Jüan
tft auch ju jtoeien noch ©iel uneins mit ficf) felbß."
„Du biß es!"
„3a/ ich meiß, bu meniger. DJeü bu um bes Gliicfes
mitten mit mir alles anbere, alles £eiben unb alles 3n*fi<f>*
fetbß«uneins«fein leicht erträgfl. XBarum brenn* icf> benn
nad) £eben, nach ber JTtufif bes Jleigens auf grünenber
BJiefe?"
„3<b rate, mach bas tot in bir — wirf beine löerfe bin«
aus ins Jlamentofe unb märte bes übrigen." —
„3 d) bab mir bas felber fchon geraten. IBie oft! Xöenn
bu aber es rätß, hör’ icf) hoch ni(bt meine Stimme." —
„Ob/ nun toirfl bu bitter!" fagte fie unb manbte ficf) ab.
„0 nicht, nicht, es i|t nur bie Trauer* 7 , fagte er unb faßte
faxt Jpanb. Sie farnen ßbmeigenb nach ^>aus.
Er batte auf einen flbenb ben Stubenten, ben 3?abrtfan«
ten, 3ngeborg, Elfe, Charlotte, Jllagbatene, Tbefla unb
Erifa geloben; er roollte norm fjaus, unter ben Birfen,
oorlefen. Aber es mürbe nichts braus. Bis auf Tbefla,
Charlotte unb ben Stubenten (ber bat, jemanb mitbringen
ju bttrfen) fchrieben alle ab. Er mußte, baß er ju fpät ge«
laben batte, baß bas flbfchreiben nicht £aune mar; trob*
bem blieb eine ßarfe Bitterfeit in ihm. Gegen flbenb bes
Tages fam noch ein Geteilter, bas bie beiben ©amen auch
noch oerbinberte, ju fommen. Jlur ber Stubent fam mit
einer befannten ©ame halb burcfjnäßt an. So marb es ein
fiiller flbenb. Sie faßen im 3immer, ba es braußen noch
ju naß mar oom Oiegen. ©ie Bäume bufteten herein. Erß
ging bie Seit mit Heben babin; hinter feinen Xöorten gin»
gen bie Gebanfen bem Unlösbaren nach: toarum bas
Jlichtßimmenbe unb Trennenbe immer unter ben Illen*
fchen fei... ©as Gefpräcb, bem 3ufammenbang ber Äünße
nachgebenb, interefßerte ihn nun julegt nur menig, er
fühlte ja unerfchütterlich in fich, in ber Einheit feiner Seele,
mie bort aller Schönheit Urfeim fei — ob es nun bie Töne
feien ober ber Bitbausbrucf — ober beibes geeint in ber
142
Sprache, in ber Dichtung — was atfo war noch ju jagen?
fite aber ber Stubent Bann frf)ön treuherzig unb gleich*
wohl fcf)ü(f)tern ihn bat, botf) etwas ju lefen — war ihm
bie eigene Stimmung unrecht, unb er ging bin unb f>olte
bie Kerfe, bie mit einer großen Schwermut, aber auch in
Srieben enben.-
Das Sutten blieb borf> — bie DTäcfjte waren immer noch
bas Schwerfle. £r mußte ftef) immer felbß befcf)wiif)tigern
Ein anberer hätte es hoch ßhroer oermocht. 6r fragte jirf),
ob es ^errfdf)fu(f)t fei, baß er bie JTlenfchen ju einem
Jlhpthmus bringen ober zwingen wollte... llnb er glaubte
hoch ?u finben, baß es tiefßes Seinen in ihm fei. llnb
bann fragte Es in ihm: IDillß bu nur bas Deine?! llnb
antwortete p<h felbß: Das Kleine unb nicht bas Kleine!
Das Kleine, foweit es auch bas ber anbern iß. Das iß
meine Selbßfucht — ich will bie höhere, oergeißtgfe Gebens»
form. 3<h will ben Geißmenfchen, bie intenfioere £iebe, bie
oerfeinerte ErotiP. 3ch will bie XJertiefung bes Glücfs unb
bie Erweiterung ber ßlürfsmöglichfeiten bes Klenfehen.
Kluß ich barum wie ein Bettler burchs £eben gehn? llnb
wenn ich bas alles will, muß ich nicht felbß beginnen? —
llnb bin hoch einer ber Ausgefchloffenßen — troh aller
£iebe, bie ich oft nicht fah, unb manchmal fah, unb oor ber
ich hilflos ßehe wie mit leeren ^änben... XDarum bas
alles? XDarum bin ich ungefchicPt? XDarum muß ich gleich»
wohl wollen? — Obwohl es Selbßfucht iß, will ich auch
felbßfüchtig fein ... auf b i e f e XDeife, ja! —
Dann wieber ärgerte ihn alles Grübeln unb fragen
unb bie fchtaflofen Stunben ber Kacht. 3<h bin ein 3biot,
fagte er ju fich; alles fo wichtig ju nehmen, ju benPen,
anßatt bloß ju (eben... llnb fanb, baß alles Jlachben*
Pen ju nichts führe als nur jur JTlelancholie. 3mmer bloß
leben unb tun unb fchaffen! Aber bie leeren Stunben Pa»
men bo«h; unb ba oerfuchte er’s, am Xag §u fchlafen in
folgen Stunben. llnb bas gelang. Aber es war nur eine
halbe £r(öfung.
143
fln einem regengrauen JTachmittag tag er auch fo; unb
in ber Äüfjle biefes Tages mar es füß ju [djlafen. Gertrub
mar braußen im HJalb; er hotte nicht mttgefjen mögen, ba
er mtrflirf) miibe mar oon einer fcfjlerfjten 3Tad)t. JUäre ihm
ju biefer 3eit in feinem Straffen ein Jleues, Großes ge»
lungen, nach bem er fudjte, etroa bie monumentale epifche
Darßellung, fo f>ätte es if>n ablenfen fönnen. Denn feine
Arbeitsleißung litt unter bem Grübeln nur menig. Aber
bann fragte er fcfjon mieber, menn bie Arbeit ßocfte: ifi ba
ein 3ufammenf>ang? jroifchen bem Jlicfjtftnben in ber
Äunß unb bem fieben? — Aber bann fah er an, was er
geleifiet batte, mte er bie Sprache gemacht batte ju bem,
mas f’te in ltrjeiten geroefen mar: bie Einheit oon pia»
ßif unb JTIelobie, mußte, baß er, mit ganj menigen
anbern, bie Spraye aus ber Berfumpfung rettete. 3?o<h
mar’s nicht offenbar, aber bies mußte fo offenbar unb
Mar merben, mie ber Tag unfehlbar fommt hinter ber
Obacht. Auch fanb er manchmal, es möchte bas Jinben
bes Epos unb banach bes Dramas nur ruhig langfam
angehn... Denn ba er metaphpfifch fo tief bas HJerben
fühlte, mußte fein innerer Glaube fich ja oon 3eit ju 3eit
fojufagen automatifch mieberherßellen.
Er lag alfo unb fcfßief unb mürbe burch heftiges Klopfen
aufgeßört. Er hörte Stimmen, ging fchlaftrunten auf ben
Äorribor hinaus unb ßanb Gertrub unb 3ngeborg gegen«
über; bie lachte ihn, faß fchien’s, ein menig ängßlicf) an;
hinter ihr fchaute bas Gefielt ihrer ganj jungen Schmeßer
heroor, bie er ein paarmal fchon gefehen hotte* Er tön
cfjelte unb oerfchmanb im Schlafzimmer unb (am halb
frifch mit hellen Augen mieber.
Die beiben Schmeßem ßanben noch int 3immer; Gertrub
oerfchmanb in ber jftüche. So ßanben bie brei.
„Alfo ba feib ihr", fagte er. ♦. unb fah fie an. Trat bann
auf bas junge JTtäbchen ju unb fagte: „XOie alt biß bu?"
„Achtjehn!"
Er manbte ß<h an 3ngeborg: „Jung! DJie? Selig jung?
Aber Mug, paß mal auf, ich tu eine Srage an fie..."
144
„Sptfbt, bu heißt bocf) #ilbe —: ich glaube/ bu bift ein
fluges JTlöhchen. Alfo hör’, finbefi hu’s fonherbar,, wenn
ein Dieter lieben will/ was fcf)ön ifi in ber Hielt?"
6 r batte ben firm leicht auf ihre Schulter gelegt. Sie
lächelte ihn fchön unb Jung an. „3ch finbe nichts fetbfi«
oerftänblicher als bas!"
Cr fah 3ngeborg an, bie wartete. —
„Unb weiter, kleines, bafj ein dichter manchmal wohl
möchte, etwas Schönem auf bie Jpanb ober bie Klange ober
aufs Spaar Kiffen, auch auf ben JTCunb —?" „XParunt
foll er nicht bürfen. — 3ch benf mir, ober man fönnte
fich’s fo benfen, baß ber «Rünfller einen ßarfen Uerbrauch
oon £eben unb Crinnerung in feinen UJerfen hat, baß er
barum fooiel fucfjen unb fehen unb lieben muß!"
©er ©ichter antwortete nicht; er füfite bas JTtäbchen
gang einfach auf Spaat, Stirn unb JTlunb... ©ann fagte
er unb lächelte: „3ch wußte, bafj bu ein Kuges Ä’tnb biß.
Aber bei ber 3ngeborg barf ich bas nicht machen."
„©aoon weif} ich nirf)ts", rief Jpilbe... „3ch fenne gwar
feine anbern ©ichter, aber ich glaube, fie ftnb alle fo."
Sie nahm fanft feinen Arm oon ihrer Schulter, fprang
aus bem 3immer unb war fort — in bie Äüche hinüber.
©er ©ichter ßanb oor 3ngeborg; fie hatte ein wenig bie
$änbe gehoben, war’s gtir Abwehr, war’s, um fie bargu*
reichen?
„3ch wollte bie inbifchen Sprüche mttbringen, bie ich aus
meinem Buch für Sie abfchreiben wollte, aber Ich habe oer»
geffen..."
„Cin anbermal", fagte er unb fam noch einen Schritt
näher. „3ft Äleinchen nicht lieb unb flug?"
„XEJenn ich Papier unb Tinte unb Seher befäme, fchrieb
ich’s gleich auf," fagte 3ngeborg eifrig, „ich weif} bie
Sprüche auswenbig..."
„Äannfl bu haben." £r wenbete furg ab, an ben Tifch,
brachte Papier, Tinte unb Seher unb rücfte einen Stuhl
gurecht. Sie fing an gu fchreiben; er fchaute gu. Auf ein»
mal warf fie bie Seber hin: „3<h fann bie Berfe boch nicht",
rief fie unb lachte. €r hatte gerabe ben Arm um ihren
*45
10 »le »«llfCbe JlooeOe.
Spols gelegt/ fie bog ben Äopf jurürf, faf) if>n an-da
toar bas JTleer, bas JTieer — Blttf in Blicf unb Geficfjt an
Gefickt. — HJie ein Stürzen, Sinfen unb Sicf)f)alten... an
iljrem JTIunb, ^>als unb «Huben ber Stirn auf atmenber
Brufl...
Bis er, wie non füttern «Hegen aufwacbenb, füllte: fie
weinte. Seife glitt bie $anb übers J^aar. Aber fie frfjob
if>n weg... Stanb auf unb wollte geben.-llnb
QtttQ » ♦ ♦
3He $ludH o u $ fl t m
Don Alfred ©öblln
/V^rouer, enblofer Dfiefenplon. S<h»er oerfcfjattete £uft.
^ /gautlofc Schmetterlinge Int hellen Älee, Lupinen, per»
wachfenea, wüßes Ginßergebüfch, flarre Jpaferhalme. .Keine
Buche im oerfinfenden, fchwammigen Boden, feine Aloe,
Palme. 3n der Seme — wie »eit — eine tiefe, fchwarge
Jlegfamfeit, Tauchend an das J^imntelsbach, eine mattblin*
fende Blaffe, Bletallmaffe oon Blei und 3inn, ungeheuer.
Schwache £inien, Biegungen, ein .Knie umriffm, oon einer
Jpüfte eine Saite abwärts gefpannt, Bewegung, wie der
Sturj einer Sandlawine, ©er «Kumpf, wo mochte der
«Kumpf fein, ©ie Arme, wo mochten fie fich, dis )U wet»
eher S}ö\)t fich erheben, deines .Kopfes fehlen diefe Blaffe,
diefe XBolfenwanb gu bedürfen. 3f>r Anblicf fo erfchütternd,
3ungen lähmend. .Kein 3ch fonnte hier beflefjen bleiben,
ticffle Bewußtlofigfeit flrömte die Blaffe aus.
Gefauert auf einer bebiümten Bodenwelle, die eigenen
«Knie mit den Armen umfchQngend, mitten im fahlen
Grün, ein junger, bärtiger, blaffer Btann. 3m Purpur*
mantel, eine Äaifer frone auf dem rotblonden, dünnen
Jpaar, fo oon Brillanten bildend, daß die HJiefe weithin
flimmerte; die Sinflemis durchbrochen oon diefen furcht«
bar einfamen Bilgen. ©ie .Krone im mächtigen fchwebend
wie eine Ampel, an unfichtbaren Äetten. 6r trug die ftaifer*
frone der irdifchen IBelt, er hotte fie niemandem gurücfge«
(affen in der IBelt. öfter nahm er fie ab, während er fich
nach rechts und ßnfs fchaufelte. ©ie garten durchbluteten
jrjänbe wie in glühende Afcfje getaucht, glücflich fein Ge«
ficht, oor der Bruß hinter den beiden Goldfpangm raffelte
das oerweifte Sträußchen Blagdalenens.
10 *
147
Einmal trug er nufc Dtefe Ärone. Einen fommerltcfjen
JTlantel oon Beilchenf rbe hatte er Da, bte JFjaare fielen
ihm fnabenhaft über Die unruhige Stirn ouf ben bloßen
Dürren Späte, in ben oon BJirbeln Durchfurchten Olacfen.
Seinen Olacfen hielt OTtaria mit beiben weichen firmen um*
fchloffen, toährenb fie fniete unb ihr gerfnüllter blauer
JTtanlel losgelaffen rückwärts Über Serfen unb Sußfohlen
fiel; $elligfeit einer Ollorgenbämmerung ging oon ihr aus.
Sie fnieten nebeneinanber, (Herten abwärts/ (Herten bie
Erbe an. Oie Erbe geöffnet/ bie £änber rauchten, (fefus
weinte/ OTtaria fonnte ihn nicht befänftigen. „Wie wäre ich
Dein Sohn/ OTtaria," atmete er, „wenn ich mich beruhigen
fömtte." Sie trocfnete ihr Gefleht/ ihr bernfleingelbes langes
f?aar fnotete fie über Stirn, Augen unb Olafe, OTtunb, glitt
blinb gegen bas ferne furchtbare Schweigen. Unter Dem
falten Spaud) warf fie fich hin. Dumpf bie Spaart gerbet*
ßenb, barmte fie wie fchon taufenbmal um bie Erbe. .Rein
£aut. Schärfer, fcfjneibenb bie &älte. Sie wich.
Als 3*fus bie OTlutter fommen fah mit Dem ungeöffne*
ten Gefleht, weiße Blafen über ben Armen, bie $änbe
glangrot gequollen, Der Ollunb mahlenb, f<hob er ihre
Spaare in Die Späht, rieb fie warnt, Gefleht an Geficht. Spob
ihre ^änbe oon feinen Schultern ab. ORaria fprach fein
HJort, lag allein mit Dem Geficht im Gras.
Der Haler ließ ihn gehen, noch nie hatte ber Sohn mit
folcher 3nbrunfi ben glasharten Boben gu feinen Süßen
gefüßt.
Unb bann gefchah bas Unerhörte, baß 3efus oer*
fchwanb aus bem Fimmel, bem Ungeheuren aus ben
Augen oertoren, OTtaria oergweifelt geworfen auf ben Olüf*
fen gweier Xßilbgänfe, Damit Gott ihr Schreien nicht hörte
oor bem Gefchrei ber Bögel. Sie ging ihn fuchen über Die
Eänber, lief, tief, bie Gänfe trugen fie über bas XBaffer, fie
fanb ihn in Patäflina. &lein, in einen graugrünen Jlocf
gefleibet, in armfeßgen Sanbalen froch er gwifchen Tage*
töhnern, ^anb wer fern; ein rötlicher Spihbart nach oorn
umgebogen war ihm geooachfen; feine Augen fo (irahlenb
blaßblau, baß man fah, blefe Augen fonnten niemals wei*
148
nett. JTIaria fcfjridte oor 6ntfe0en, als ftc tf>n an bem mage=
ren Jpats, langfamm Schritt erfannte, baß es bis über
Me Berge nach flffon unb bis über bas JTleer nach «Rbobos,
Epbien, Ci)ios gehört würbe.
llnb bas ungeheure BJefen oben aus überweltlichem
Sinnen burcb ihr Stöhnen geroecft, erfannte im fpri*
f<f)en £anb ben Sohn, ber bie f)irtfmPertbe Srau bei ben
S«bultern 3f>n hungerte plöplicf) auf nach bcm fln*
blicf. Seinen «Rumpf warf er tief oor, baß ein Äracben er«
fcftolt, Berßen, Splittern eherner Gebirge. BJas fagte bies
Stöhnen? Ratten fie bie Göttlich fett fatt, wollten fie JTlen*
fcf>en werben, trieb es fie nach neuen Geiüßen? Gs frfjwelte
‘•um ihn, ber 3orn rauchte über feine Bruß, er füllte ficf)
gezwungen, wegjublirfen, feine Schulter fcfjob ficf) jurürf.
Die beriefelten ebenen, JTiänner, Strafen, Alleen tra»
genb, oerbrannte Berge, Täler oerfenfenb mit fcbwgrjen
IBalbungen, hinunterfchiebeob gegen bie Slüffe, grüne
Dfioenfjaine, EOeibenpflanjungen, Selber mit JTiais, ßar*
rem 3u«ferrof>r. UJarme Euftßröme über ben Städten, am
beißen Galiläifdjen JTleer £eu in Stapeln. Unter ben Ge»
besten ber ebene JTIaria. Sab fi<h btinb an ihrer Bosheit,
Jlieferigfeit, an ihrem Gram, ihrer Betäubung. Das Eager
bereiten, abnehmen, Gebete gießen über bie oerframpften
Jrjerjen. Körner trunffücbtig bes JTIorgens mit harten
Schritten über bie eroberten Straßen ftirrenb, bie Tuntfa
wattenb, hob« Schnürfchube, narfte &nie, Beradf)tung um
bie feeren glatten Sippen. Schlaue fchwarge Pbönijier aus
flachen Galeeren oom JTleere aufgefliegen, feitfchenb mit
JTlaßij, ßelfen Brofaten, tofen Seibenßoffen. Ausge*
fogene fcheue JJubäer. «ftfagenbe mit Ausfap. Jperan JTlen*
fchenherben unter griechifdjem Gefchrei oom Eibanon ge*
trieben, .Rubel fanfter Änaben, plattgefichtiger JTläbcben,
Tataren, Stooenen oom Schojarjen JTieer, unter Beitfchen»
hieben, Stocffchlägen hinüber auf bie SMaoenfchiffe.
Als Jefus bie JTiänner auf ben prächtigen Seibenfchuben
fab, gefaibt bie jpaare, Bärte mit Golbfäben burchftocbten,
als bie Srauen fummenb bie Tempeffhifen herunterfiiegen
in bunten langen Gewänbern, anfcbmiegenben Geweben,
149
hängenden wetten flrmeln, fbenfte er feiner Jliutter ein
rofenrotea vielfältiges .Kleid mit Brofatgürtel und einer
gläfernen Scfjnalle, darüber legte er einen meergrünen
JTtantel mit Goldborte, blumenbeflirft, dermelingefüttert,
gwei Perlenfcfjliefjen hielten idn über der Brufl jufammen;
der daubortige 6eidenf«f)leier oon der dünnen Stirnfpange
gehalten, baufbte fiel) fein neben den angegilbten HJangen
oor den bittenden £ippen. Sie warf die Ateider, Perlen,
Gürtel geflumpt oon fief) oor die .Kinder. ©erat er felbfl,
der eingeborene Sodn Gottes, der fib oerleugnete, da<f>te
an nicf)ta als fucf>en unter Sflaoen, Bettlern, Kranfen,
«Reiben, Gelehrten. £r bliefte ifjnen unter die Äugen. So*
weit oergaß er firf)/ daß er lote erwerfte, die dorf) glürflib
waren, dafj fie if)r Srfjicffal oon der Erde dinweggerafft
batte, Iote nob einmal ju dlefem £eben, als bcttte er ein
gang neues ©afein für fie oor. Gr frfjien eine neue Hielt
fboffen gu wollen unter den JTtenfrfjen, den Uberwurf>er*
ten, ein Hmfböpfer, Gegenfböpfer.
* ©ie Erregung wurf)9 in dem bimmllfb*tt oben. BJar
dies eine Uerfbwörung wie oor grauen Seiten? Sbon rie«
feiten, drehten fib die grauen TRaffen, das JTletall fräu»
feite, fyob fib, rollte ab in bläulib flammenden Spiralen.
3m Grimm dielt er an fib/ es follte fib olles bis ju Ende
erfüllen.
Es gefbof)/ toie er gefürbtet dotte. $ier wollte jemand
die JTtenfben umgießen, gegen idn, gegen Gott. JTtaria
und 3efus liefen flrm in flrm über die £änder, fbtenen
nibt gu wiffen, oon wo fie flammten/ nur die göttliben
JlTäbte, die in idnen wohnten, ju oerfbütten. BJas dot
Sprien in jenen lagen gefeden, wetbe Slamme doubte
Jltenfben, liere, pflangen an.
lind wie die Bitterleit in Gott wubS/ wurde 3efus füller.
Er oeränderte fib/ es legte fib über idn die fonderbare
«Hude, mit der JTiaria nibt fertig wurde, fo daß fie fib
an jenen Abfbied erinnerte im j^immel, an die tiefe 3n»
brunfl des flbfbtebs 3efus* oon feinem Uater. ©ie flngfl
wurde fie nibt los, wie fedr er fie berudigte. Er fbenfte
150
ifjr neue Perltnfcfjufje, liebfofenb bat, brängfe er fie, if>n
feine fchmupigen HJege allein treten ju (affen.
llnb ba mürbe ifjm plöplich über 3tacht Mar, unter einer
Spfomore jmißhen feinen ßhlafenben Begleitern hinge«
ßrecft, mährenb bie funfelnöen 6 eßirne (angfam Uber bie
ßhmarje ^immelsmölbung htnaufßiegen: baß fie ihn nicht
mollten, bie JTtenßhen, baß fie ihn nicht mochten, feine
£iebe nicht, Jltariaa Siebe nicht, Unb bafi er fte reijte, meit
er nicht oon ihnen ging.
Seine «Ruhe mürbe tiefer. Ala ber Tag tarn, ließ er nicht
ab ju tun mie oorher. Er reijte fie meiter mit plan, oh, er
mar fein «Rebell; er mußte, bafi t>iex für Siebe fein piap
mar; er hatte etmaa anberes oor. JUarla flehte ihn an, fein
menfchlid^es «Rleib oon fsch ju merfen. ltnb jäh mar er ent«
hüllt, als er im Jlegen bei Galiläa auf einem HJeinberg
fie an bie Bruß 30 g unb fagte: „könnte ich es, märe ich
bann bein Sohn?" Sie marf fleh ißn, jerriß ihr Gefleht.
Sie oerließ ihn, fuhr gum Sjimmel, in bie ftähe bes Un»
gef) euren fuchte fie ju bringen, feine Schulter ju berühren
um Beißanb. Aber ber ^immtißhe mar nur glücklich über
ihr Kleinen; biefe mar feine Abtrünnige unb mar ju tief
gefpannt ‘Denn er fühlte, fein Sohn begann auf Erben
ju ihm ju fprechen. Gr fühlte, maa bort gefchah, meffen
fich fein Sohn unterfing, gefchah für ihn, unb baß es
für ihn mar, maa er bort fprarh, fo mie ber Sohn jum
Kater fpricht, ehrerbietig unb ßolj, fetbßänbig, Gottes
Sohn ju Gott bem Kater. KHe 3efua nicht nachließ. HJie
er feine JTtutter trößete, bie ßch entfept oon ben JTtenßhen
abmanbte, bie JTtenßhen ju ermeichen fuchte, ßch oor ihr
ßinb ßellte, flagenb. Er beßhmor fie, er gäbe nicht nach.
Sie meinte über bie JTtenfdjen h* n , bies fei ein Gott, ihr
Sohn, ber ßch oerleugne. „3«h hat»’ es nicht gemollt," ßhrie
fie, „bies gab ich Wr nicht auf ben BJeg." Sie faßte ihn bei
ber $<mb, jerrte ihn oor bie Strafhäufer, jeigte ihm bie
fchmerjgeborßenen Gefangenen, Pein, JTiarter ber «Rieht»
ßätte. Er lächelte. Das Kolf höhnte über ben Gott aus bem
Sißherborf Paläßinas, es gäbe fchon ju oiel Götter. Er
ging feinen HJeg. Äeinen Singer bemegte her Kater.
So tief batte 3efua ben Scbnterj nicht oermufet, tote ber
ifi, ben JTtenfchen erleiben fönnen, ben er an bem Quer*
bäum oor bem Stobttor erlitt. Oer Bater, in einer t&fa
mutig millenlos, fonnte ni d)t toegfefjen. So tief mar 3 cfus
JTtenftf) gemorben, bafi er auffchrie, am ^oij ijängenb:
„Bater, bafi bu mich oerlaffen?" Xlnb botf) nicf>t nach gab
unb nicht bie göttliche JRaafe Uber fein Gefleht 30 g. Sein
JTtunb oertrocfnet, bie abgebrebten Äugen fifcbmeifi über*
(tautet, fein £eib aufgeriffen. 6 s mar nicht nur bas £eutf>*
ten am Fimmel, bas fcbmefelgelbe, bas anjeigte, Gott t)abe
firf) bewegt.
3efus fuhr auf jum Fimmel. 3Ttit Scbrecfen faf>en es,
bie ihn angenagelt batten. Uber ben Sufi Gottes lag er
gefrttmmt, zertrümmert, eine meiche Blaffe. Oer ijimmel
unb bie Gwigfeiten batten nie folgen flugenblirf erlebt mie
biefen.
„3tb b^be bicb nitbt oerlaffen", tönte es in feinen Obren.
Gr röchelte aus ber Grftarrung auf, fanf ferner jufammen.
Golbene Blicfe auf feinen blutrünfiigen geborfienen Schul»
fern, entfleifchtem Schabet, burchlöcberten firmen, heftiger
atmete er, lächelte betäubt in bie Steine hinein, meinte,
firecfte ficb lang bin. „JTlaria," feufjte er, „meine JTTutter."
„3<b höbe bich nicht o erlaffen", tönte es. Gr fchlofi bie
Äugen. Gr mufite, bie JTienfcbbeit fonnte gerettet merben.
152
Ueronlfa* # 6 f df i e 0
Bon Robert JTtufil
PXohannes; oon ba an füllte Johannes eine furchtbare
V_jEetrfjttgFeU, an bem xoas er wollte/ haarfcfmrf noch
oorbeigugreifen. JTCan fennt manchmal etwas nicht/ bas
man im Dunfein will/ aber man weif}, bafS man es oer«
fehlen wirb; man lebt bann fein £eben bahin wie in einem
oerfperrten 3immer, in bem man fich fürchtet. 6s äng«
fügte ihn manchmal etwas/ wie wenn er einmal plötzlich
gu winfeln anfangs fönnte, auf vier Gliebern gu lau*
fen unb an Beronifas paaren gu riechen; folche Borfiel«
langen fielen ihm ein. Aber nichts ereignete fich. Sie gin*
gen aneinanber oorbei; fie fahen einanber an; fie wechfet*
ten belanglofe ober fuchenbe XBorte — täglich.
llnb einmal gwar war ihm bas plöhlich wie eine Be«
gegnung in ber Cinfamfett, um bie bie wirre, regeltofe
Bähe mit einem Schlag fefl unb wie gewölbt wirb. Bero*
nifa fam bie Treppe herunter, an ber unten er wartete;
fo flanben fie oereingelt in ber Dämmerung. Unb er bachte
gar nicht, bafi er oon ihr etwas begehren wollte, aber wie
wenn fie beibe, wie fie baflanben, eine phantafie in einer
Aranfheit wären, fo anbers notwenbig erfchien ihm, bafS
er ba fagte: „.Komm, gehen wir gufammen fort." Doch
fie antwortete etwas, wooon er nur oerfianb: ...nicht
lieben... nicht heiraten... ich fann Demeter nicht oer«
laffen.
llnb noch einmal wiebetholte er feinen Berfuch, er fagte:
„Deronifa, ein JITenfcf), aber manchmal fchon ein BJort,
eine BJämte, ein ^auch ifl wie ein Steimhen in einem
BJirbel, bas bir plö^lich ben JTüttelpunft angeigt, um ben
bu bich brehfl.. .wir müßten gemein fam etwas tun, bann
fänben wir es oietteicht..." Doch ihre Stimme hatte noch
*53
mehr etwas £üßernea ols jenes JTtal, ba fie ihm bas gleiche
geantwortet fjatte wie }egt: „So unperfönlirf) fann wof)!
gar fein IRenfcf) fein, fönnte nur ein Iier... ja, oielleccht
wenn bu ßerben rnüßteß..Unb bann Jagte fte nein.
Unb ba faßte tf)n wieber bies, was eigentlich fein Ent*
fcfjluß war, Jonbern eine Bifton, nichts toas fich auf bie
10irfti<hfeit begog, fonbern nur auf ficf) felbft wie eine
JlTufif, er fagte: „3<h gef)« fort; gewiß, oietleicf)t werbe icf)
ßerben." Aber auch ba wußte er, baß es nicf)t bas war,
was er meinte.
Unb ßünblidj tn biefer 3eit fucfjte er ficf) «Rechenfcfjaft
gu geben unb fragte ficf», wie fie in IBahrheit fein mußte,
ba fie fooiel oermocfjte. Er fagte manchmal: DeronifU,
unb fühlte an ihrem Jlamen ben Schweiß, ber baran haf¬
tet, bas bemtttige, rettungstofe ^jinterhergehen unb bas
feuchtfaite Sicf>*mit*einer«flbfonberung*begnügen. ltnb er
mußte an ihren JTamen benfen, fooft er bie Meinen gwei
£öcfch«n über ihrer Stirn oor fich faf), biefe Meinen, forg*
faltig wie etwas Srembes an bie Stirn geMebten £öcfcf)en,
ober ihr £ächetn, manchmal wenn fie gu breien bei Tifcf)
faßen, llnb er mußte fie anfehen, fooft Demeter fprach;
aber er ßieß immer wieber auf etwas, bas ihn nicht oer*
flehen ließ, wie ein JTtenfch gleich ihr gum TRittelpunft
feines leibenfehaftlicf>en Entfchluffes geworben fein fonnte.
llnb wenn er nadjbachte, war fcfjon in feiner früheren
Erinnerung etwas (ängß Berflacfertes wie ber Duft oer»
löfcfjter bergen um fte, etwas Umgangenes wie bie Be*
fuchsgimmer im ^jaus, bie reglos unter £einenbegügen unb
hinter gefchloffenen Borhängen fcf>tiefen. Unb nur wenn er
Demeter fprechen hörte, Dinge fo grauenhaft gewohnt unb
farblos wie biefe oon niemanbem genügten JTTöbel, er*
fchien ihm bas altes wie ein £aßer gu britt
Unb trog allem mußte er fpäter, wenn er an fie bachte,
immer nur hören, wie fie nein fagte. Dreimal fagte fie
plöglich nein, unb er hörte fie gang unbekannt barin. Ein*
mal war es nur leife unb bennoch ft<h merfwürbig fchon
aus bem Borherigen (jerauslöfenb unb burch bas ^aus
gehoben, unb bann, bann war es wie ein Schlag mit ber
154
Peitfrf)« oder tote ein befinnungslofes SichfeflMammem,
aber bann axtr es noch einmal leife, gufantmengefunfen
unb faß wie ein Schmer) über XBehtun.
llnb guweilen, jept frfjon, wenn er an fie backte, war ihm,
als ob fie fehön wäre. Bon einer hächß gufamntengefehten
Schönheit, bie man fo leicfjt gu bewundern ©ergeffen unb
wieder häßlich finden fann. llnb er mußte benfen, wenn
fte oor ihm aus dem ©unfel des Kaufes auftauchte, bas
ficf) hinter U>r gang fonberbar ohne Bewegung wieder gu»
fammenfdjlofJ, unb mit ihrer maihtoollen/ ungewöhn»
liehen Sinnlichfeit — wie mit einer fremden Äranfheit be*
haftet — an ihm ©orilberglitt, er mußte bann jedesmal
benfen, baß fie ihn wie ein Tier empfand. 6r fühlte es
unbegreiflich unb furchtbar in feiner größeren XDirftich*
feit, als an bie er gu Anfang geglaubt hatte, llnb auch
wenn er fie nicht fah, fah er alles mit übermäßiger Oeut»
tichfeit oor fich, ihren hohen XOuchs unb ihre breite, ein
wenig flache Bruß, ihre niedrige, wölbungslofe Stirn mit
den dicht unb finfler gleich über diefen fremden, fünften
Eöcfchen gufammengefchloffenen paaren, ihren großen,
wollüßigen JTiunb unb den (euhten $laum fehwarger
der ihre Arme bebeefte. llnb wie fie den Äopf ge«
fenft trug, als ob ihn der feine Irjals nicht tragen fönnte,
ohne fich gu biegen, unb die eigentümliche, \ 1 fchamlos
gleichgültige Sanftmut, mit der fie den £eib ein wenig her*
oorbrüefte, wenn fie ging. Aber fie fprachen faum mehr
miteinander.
Beronifa hotte plöhtich einen Bogel rufen gehört und
einen andern ihm antworten, llnb damit endete es. 3Ttit
diefem Meinen gufälligen Cretgnis, wie das fo manchmal
geht, endete es, und es begann das, was nur mehr für
fie war.
Denn dann hufchte, oor fich tig, haßig, wie die Berührung
einer fpitjen, fchnellen, weißhaarigen 3unge, der Geruch
des hohen Gräfes und der HHefenblumen an den Geflehtem
entlang, llnb das lehte Gefpräch, das fich trag hingegogen
hatte, wie man etwas gwifchen den jingern bewegt, an
baa mtm tängß nicht mehr benft, brach ob. Ueronifa war
erfcfjrotftn; fie merfte erß nachträglich/ wie eigentümlich fte
erfchrocten war/ an ber Jlöte, bie ihr je£t ins Geßcht (lieg,
unb an einer Erinnerung, bie mit einemmol, über oiele
3ahre hinweg, wieber ba war, unoorbereitet, beiß unb le*
benbig. £9 waren in ber testen 3eit alterbings fo oiele
Erinnerungen gefommen, unb eo war ihr, als ob fie biefen
Pfiff fchon in ber Jtacht oorher gehört hätte unb in ber
Jlacht ooroorher unb in einer Olacht oor oiergefjn Xagen.
Unb ihr war auch, 0I9 ob fie fich irgenbwann früher fchon
mit biefer Berührung gequält hätte, oielleicht im Schlaf«.
Sie fielen ihr ein in ber testen 3eit, biefe fonberbaren 6rin»
nerungen, immer wieber, fie fielen linf9 unb rechts oon
etwas in ihr «in, baoor unb bahintcr, wie nach einem 3ie(
giehenbe Schwärme, ihre gange Äinbhect, biesmal aber
wußte fie mit einer faß unnatürlichen Gewißheit, baß eg
bas «nichtige felbfl war. £9 war eine Erinnerung, bie fie
mit einemmal ernannte, über oiele (fahre hinweg, enblich,
ungufammenhängenb, h«»ß unb noch tebenbig.
Sie liebte bamal9 bie Staate eineg großen Bemharbiner»
hunbes, befonbero bie bort oorne, wo bie breiten Bruft«
musfeln bei jebent Schritt über ben gewölbten .Knochen
wie jwei j?Ugel heroortraten; es waren ihrer bort fo über»
mächtig oiele unb fo golbigbraune, unb bas war fo fehr
wie unabfehbarer Aeichtum unb ruhig Grengenlofes, baß
fich bie flugen oerwirrten, wenn man fie auch gang ruhig
nur auf einen Slecf gerichtet ließ. Itnb währenb fie fonß
nichts empfanb als ein eingiges, ungeglieberte9, ßarfes Ge*
fühl bes Gernehabens, Jene gärtliche Äamerabfchaft eines
otergehnjährigen JTläbchens unb wie für eine Sache, war
es h^«« manchmal faß wie in einer £anbßhaft. BJenn
man geht, unb ba iß ber UJalÖ unb bie XBiefe unb ba ber
Berg unb bas Selb unb in biefer großen Orbnung febes
nur wie ein Stefanen fo einfach unb fügfam, aber furcht»
bar gufammengefeht ein febes, wenn man es für fleh an»
fchaut, unb oerhalten tebenbig, fo baß man plöhtich in
ber Bewunberung flngß befommf wie oor einem Xier,
bas bie Beine angieht unb reglos liegt unb lauert.
156
Aber einmal, als fie fo neben ihrem $unbe lag, war
ihr eingefallen, fo müßten bie JUefen fein; mit Berg uttb
Xal unb BJälbern oon paaren auf ber Brufl unb ding*
oögetn, bie in ben paaren f(baufetten, unb Meinen Saufen,
bie auf ben Singoögebt faßen, unb — weiter wußte fie
es nid)t, aber es brauchte noch fein Gnbe ju haben, unb
wieber war alles fo bintereinanbergefttgt unb eins in bas
anbere gepreßt, baß es nur wie eingef$tt<f>tert oon fooiet
Gewalt unb Orbnung fHIlgubatten fehlen. llnb fie backte
beimtief), wenn fte zornig würben, müßte bas plögtieb in
fein taufmbfättiges Seben fefjreienb auseinanberfabren unb
einen mit furchtbarer Sülle überfefjütten, unb wenn fie
bann in Siebe über einen berfielen, müßte es wie oon Ber*
gen ftampfen unb mit Bäumen rauften, unb Meine
webenbe fjaart müßten einem am Seibe geroaebfen fein
unb fribbetnbes Ungeziefer unb eine in Setigfeit über et*
was gang Unfagbares freifebenbe Stimme, unb ibr Atem
müßte bas altes in einen Schwarm oon Tieren einbütten
unb an fieb reißen.
Unb als fie ba bemerfte, baß es ihre fteinen fpigen
Brüße gerabefo f)ob unb fenfte, wie biefer zottige fitem
neben ibr auf unb nieber ging, wollte fie es pfögticb ni<bt
haben unb f>lc(t an fieb, wenn fie fonß etwas herauf»
befebwären fönnte. Aber als fie fieb ntebt mehr bagegen ju
ßemmen oermoebte unb ibr Atem bo«b wieber fo ju geben
begann, wie wenn ibn biefes anbere Seben tangfam an
fieb geige, febtoß fie bie Augen unb begann wieber an bie
Jliefen ju benfen, in einem unruhigen 3ieben oon Bitbem,
aber oiet näher fegt unb warm wie oon niebrig babin*
fhreiebenben BJolfen.
Als fie bann lange battaeb bie Augen wieber öffnete,
war altes wie früher, nur ber $unb ßanb }e0t neben ihr
unb fab fie an. Unb ba bemerfte fie mit einemmat, baß
fieb lautlos etwas Spibes, .Kotes, tu/hoeb Gefrümmtes aus
feinem meerfebaumgetben Blies beroorgefeboben hotte, unb
in bem Augenbtief, wo fie fieb Je|)t aufriebten wollte, fpttrte
fie bie lauwarme, guefenbe Berührung feiner 3unge in
ihrem ßeftefjt. Unb ba war fie fo eigentümlich gelähmt
*57
gewefen, tote... tote wenn fie felbß amf) ein Tier wäre,
und tro£ der abfcdeulicden flngfi, die fie empfand, durfte
ficd etwas ganj f)ei(J in ifjr jufammen, als ob je^t und
je$t... wie Dogelfdjreien und Slügelflattern in einer Jperfe,
bis es ßill wird und weicf) im £aut wie oon Jedem, die
iibereinandergieiten...
Xtnd das war dies oon damals, gerade diefes fonber«
bar fjeifie 6rfcfjrerfen war es, an dem fie je^t plöfyüd)
alles wiedererfannte. Denn man weif? nirfjt, woran man
es füf)tt, aber fie fpttrte es, baß fie |e0t, nacf) Qadren, in
genau der gleichen UJeife erfcfjrorfen war wie damals.
lind dort ßanb, der deute norf) abreifen follte, ^ofyxn»
nes, und da ßanb fie. Das waren bis dieser an drei»
jedn oder oiergedn Qadre, und idre Brüfie waren längß
nicdt rnedr fo fpi£ und neugierig rotgefcdnäbelt wie da»
tnals, fie d aften ficd ein ganj Nein wenig gefenft und
waren ein bißcden fo traurig wie jwel liegengelaffene
Papiermildcden auf einer weiten Jläcde, denn der Bruß*
forb datte ficd flctcf) in die Breite geflrerft, und das fad aus,
wie wenn der «Kaum um fie daoongewacdfen wäre. Aber
fie wußte das faum, weil fie es im Spiegel fad« — wenn
fie narft war, im Bade oder beim llmfleiben, denn fie tat
fcdon längß dabei nur medr das, was eben jur Saide ge«
dörte —, fondern fie fpürte es bloß fo am Gefüdl, weil
idr mancdmal oorfam, als fyättt fie ficd früder in idre
Kleider einfedließen getonnt, ganj feß und naed allm Sei»
ten, wädrmd es }e£t nur war, wie wenn man ficd mit
idnen beberfte, und wenn fie ficd erinnerte, wie fie fi<d
felbß, fo oon innen deraus, fpürte, uoar das früder wie
ein runder, gefpannter TBaffertropfen und je^t längß wie
eine Heine, weiddgeränberte £a<de; fo ganj breit und fcfjlaff
und fpannungslos war dies Empfinden, daß es wodl
überdaupt nichts als Xrägdeit und müde £äffigfeit ge»
wefen wäre, fy'ättt es ftid nicdt mamdmal angefüdlt, wie
wenn fiid etwas unoergleiidliid ZBeiides ganj, ganj lang*
fam in taufend järtlud oorficdtigen Salten oon innen far
an fie fcdmiegte.
lind es mußte bloß irgendwann einmal gewefen fein,
ij8
baß fie bem Seben näherßanb unb es beutlicfjeT fpürte, tote
mit ben ipänben ober tote am eigenen Seite, aber $on
lange hatte fte nicht mehr gemußt, tote bas mar, unb batte
nur gemußt, baß feitf>er ettoas gekommen fein mußte, toas
es oerbecfte. llnb batte nicht gemußt, mas es mar, ob ein
Traum ober eine flngfl im UJachen, unb ob fie oor ettoas
erfcfjrocfen mar, bas fie gefehen batte, ober oor ihren eige*
nen Augen; bis heute* Denn ingtoi hen hatte fich ihr
fchmaches alltägliches Seben über btefe Ginbrttcfe gelegt unb
hatte fie oermifcht mie ein matter, bauernber HJinb Spuren
im Sanb; nur mehr feine eintönigfeit hotte in ihrer Seele
geflungen, mie ein leife auf« unb abfchmellenbes Summen.
Sie fannte feine ßarfen Sreuben mehr unb fein ßarfes
Seib, nichts, bas fich merftich ober bteibenb aus bem übri»
gen herausgehoben hätte, unb allmählich toar ihr ihr Seben
inaner unbeutli<her gemorben. Die Tage gingen einer mie
ber anbere babin, unb eines gleich bem anberen famen bie
3ahre; fie fühlte mohl noch, baß ein jebcs ein menig h«n»
megnahm unb ettoas hingutat, unb baß fie fich longfam
in ihnen änberte, aber nirgenbs fe£te fich eines flar oon
bem anberen ab; fie hatte ein unftares, fließenbes Gefühl
oon fich fetbß, unb menn fie fich innerlich betaßete, fanb
fie nur ben IDechfel ungefährer unb oerhüllter Sormen,
mie man unter einer Derfe ettoas fich bemegen fühlt, ohne
ben Sinn gu erraten. 6s toar allmählich/ wie menn fie
unter einem meiihen Tuche lebte, gemorben ober unter einer
6(ocfe oon bünngefchliffenem Sporn, bie immer unburch*
fichtiger mürbe. Cie Dinge traten meiter unb meiter gurücf
unb oerloren ihr Geficht, unb auch ihr Gefühl oon fich felbß
fanf immer tiefer in bie Seme. 6s blieb ein leerer, unge*
heurer «Raum bagmifchen, unb in biefem lebte ihr Äörper;
er fah bie Dinge um fich, er lächelte, er lebte, aber alles
gefchah fo begiehungslos, unb häufig froch lautlos ein
gäher £fel burch biefe Hielt, ber alle Gefühle mie mit einer
Teermaste oerfchmierte.
llnb nur als biefe feltfame Bemegung in ihr entßanb,
bie fich hatte erfüllte, hatte fie baran gebacht, ob es nun
nicht oielteicht mieber mie oorbem merben fönnte. llnb
fpäter hatte fie roofjl auch barem gebaut, ob es nicht Siebe
fei; Siebe? lang» fcf>on märe bie gefommen uttb (angfam;
(angfam märe fie gekommen. Xlnb hoch für bas 3eitmaß
ihres Sehens gu rafch, bas 3eitmaß ihres Sebens mar noch
langfamer, es mar gang (angfam, es mar barnals nur
noch mie ein Iangfames öffnen unb HJieberfchließen ber
Augen unb bagmifchen mie ein Blicf, ber fi«h an ben Gingen
nicht halten fann, abgleitet, (angfam, unberührt oorbei»
gleitet JHit biefem Blicf hatte fie es fommen gefehen unb
fönnte barum nicht gtauben, baß es Siebe fei; fie oercib«
fcheute ihn fo bunfel mie a((es Srembe, ohne j?aß, ohne
Schärfe, nur mie ein fernes Sanb jenfeits ber Grenge, roo
meich unb troßtos bas eigene mit bem $bnme( gufammen«
fließt. Aber fie mußte feither, baß ihr Beben freubios ge«
morben mar, mell etmas fie gmang, a((es Srembe gu oer»
abfeheuen, unb mährenb ihr fonß nur mar mie femanbem
ber ben Sinn feines Tuns nicht meiß, bünfte fie Jefjt
manchmal, baß fie ihn bloß oergeffen haben unb fich olel-
(eicht erinnern fönnte. llnb es quälte pe etmas IBunber»
bares, bas bann fein müßte, mie bie nahe unter bem Be«
mußtfein treibenbe Erinnerung an eine michtige oergeffene
Sache, ltnb es begann bies a((es barnals, als Johannes
gurüeffehrte unb ihr gleich im erßen Augenblicf einfiel,
ohne baß fie mußte mogu, mie Gemeter ihn einß fcfjlug
unb Johannes gelächelt hatte.
Es mar ihr feither, als fei einer gekommen, ber bas
befaß, mas ihr fehlte, unb ginge bamit füll burch bie oer*
bämmembe Einöbe ihres Sebens. Es mar nur, baß er ging
unb bie Ginge oor ihren Augen fich gögemb gu orbnen
begannen, menn er barauffah; es fam ihr oor, manchmal
menn er über ft<h erfchrocfen lächelte, als ob er bie IBelt
einatmen unb im Selbe halten unb oon innen fpttren
fönnte, unb menn er fie bann mieber gang facht unb oor«
pchtig vor ftch hinßellte, erfchien er ihr mie ein Äünßler,
ber einfam für fich mit fliegenben «Heifen arbeitet; es mar
nicht mehr. Es tat ihr bloß mef>, mit einer blinben Ein*
bringtübfeit ber Uorßellung, mie fchön alles in feinen
Augen oielleicht mar, fie mar eiferfttchüg auf etmas, bas
160
er bloß oielleüht füllte. Denn obgleich unter ihren Blirfen
jebe Orbnung wieber gerfiel unb fie gu ben Dingen nur
bie gierige £iebe einer JTiutter für ein «Kinb hotte, bas gu
(eiten fie gu gering iß, begann ihre mübe £äffigfeit je£t
manchmal gu fchwingen wie ein Ion, toie ein Ion, ber im
Dbr Hingt unb irgenbwo in ber UJell einen «Raum roölbt
unb ein Eicht errtgünbet... ein £icf)t unb JRenßhen, beren
ßebärben aus oerlängerter Sehnfucht befielen, tote aus
£imen, bie über fi<h hinaus oerlängert fich erß weif, weit,
faß erß im Unenblidjen treffen. Er fagte, es finb 3beale,
unb ba befam fie JTiut, baß es wirflich werben könnte.
Unb es war üielleicf>t nur, baß fie fi<h fchon in bie ^öfje
gu richten orrfuchte, aber es fchmergte fie noch/ wie wenn
ihr «Körper franf wäre unb fie nicht tragen fönnte.
Unb bamals gefchah es auch, baß ihr alle anbern Er»
innerungen eingufaden begannen bis auf bie eine. Sie
famen alle, unb fie wußte nicht warum unb fühlte nur
an irgenb etwas, baß eine noch fehlte, unb baß es nur
biefe eine war, um beretwillen alle anbern famen. Unb
es bilbete fich in ihr bie Uorßellung, baß 3ahannes ihr
bagu helfen fönnte, unb baß ihr ganges £eben baoon ab*
hinge, baß fie biefe eine gewinne. Unb fie wußte auch,
baß es nicht eine «Kraft war, was fie fo fühlte, fonbern
feine Stille, feine Schwäche, biefe fülle, unoerwunbbare
Schwäche, bie wie ein weiter «Raum hinter ihm lag, in bem
er mit allem, was ihm gefchah, allein war. Aber weiter
fönnte fie es nicht ftnben, unb es beunruhigte fie, unb fie
litt, weil ihr immer, wenn fie fchon nahe baran gu fein
glaubte, baoor wieber ein Tier einfiel; es fielen ihr häufig
liere ein ober Demeter, wenn fie an 3ohannes badete, unb
ihr ahnte, baß fie einen gemeinfamen Seinb unb Der»
fucher hatten, Demeter, beffen Uorßellung wie ein großes
wuchernbes Gewächs oor ihrer Erinnerung lag unb beren
Kräfte an fich fog. Unb fie wußte nicht, ob bas alles in
biefer Erinnerung feinen Grunb hatte, bie fie nicht mehr
fannte, ober in einem Sinn, ber fich oor ihr erß bilben
follte. UJar bas £iebe? Es war ein UJanbern in ihr, ein
3ieherw Sie wußte es felbß nicht. Es war wie Gehen auf
35 ig bcutfdfte HobeHe*
161
einem DJeg, fcfjeintmr einem 3iel gu, mit einer langfam
bie Schritte gögern laffenben Erwartung, oorher, irgenb*
einmal, plötzlich einen gang anbern gu finben unb gu er*
Bennen*
Xlnb ba oerftanb er fie nicht unb mußte nid)t, toie fcfjtaer
es toar, biefes fchwanfenbe Gefüf>I non einem £eben, bas
ficf> auf etwas, bas fie noch gar nicf>t Bannte, für if*n unb
fie aufbauen follte, unb begehrte fie mit einer gang ein*
fachen UJirflichfeit, gur $rau ober irgenbwie* Sie fonnte
es nicht faffen, es erfchien if>r finnlos unb im flugenblicf
faß gemein* Sie fjatte niemals ein gerabehingielenbes Be*
gehren gefpürt, aber nie fo fef>r toie bamals erfdnenen ihr
bie JTtänner nur als ein üorwanb, bei bem felbfl man fich
nicht aufhalten foll, für etwas anberes, bas fidf) in ihnen
nur ungenau oerförpern fonnte* Unb fie fanf plö^licf)
wieber in ftcf) gurüdf unb fauerte in ihrer Jinflernis unb
flarrte ihn an, unb erßaunt empfanb fie biefes Sicf)*in*ficf)*
Berfcf)liefSen gum erffenmal toie eine finnliche Berührung,
ber fie ft cf) lüflem oor Bewußtfein hirtgab, es gang nahe
feinen Augen unb bocf) ihm unerreichbar gu tun* Es
flräubte fi<h etwas in tf>r toie ein weiches fniflernbes
«Rahenfell gegen ihn, unb als fäf>e fie einer Bleinen,
gli^ernben «Kugel nach, ließ fie ihr Jtein aus ihrem Ber*
(Tecf heraus unb oor feine 3Hiße rollen. * * Unb bann fchrie
fie, als er es gertreten roollte*
Unb ba nun, je£t, als ber flbfehieb fchon unwtberrufluh
gtoifchen ihnen aufgerichtet flanb unb mit gtoifchen ihnen
ben lebten BJeg ging, toar es gefchehen, baß plöfylid), mit
polier Beflimmtheit, in XJeronifa auch biefe oerlorenfte Er*
innerung emporfprang* Sie fühlte nur, baß fie es fei, unb
txmfjte nicht woran unb toar ein toenig enttäufcht, weil
fie an nichts ihres 3nhalts erfannte, warum fie -es fei;
unb fanb fich nur toie in einer erlöfenben «Rühle. Sie
fühlte, baß fie fchon einmal in ihrem £eben fo toie }e£t oor
Qohannes erfchrotfen toar, unb oerfianb nicht, toie es gu*
fammenhing, bafS ihr bas fooiel bebeutet hoben fonnte,
unb toas es in 3ufunft nun follte — aber es toar ihr
mit einemmal, als flttnbe fie toieber auf ihrem BJege, bort,
162
auf bem gleiten Punft, wo fie ihn einß oerlor, unb fie
empfanb, baß in biefem flugenblicf bas toirflicfje Erleb»
nis, bas Erlebnis an bem wirfüchen 0of>annes, feinen
Scheitelpunft Übertritten hatte unb beenbigt toar.
Sie (>atte in biefem flugenblicf ein Gefühl tote ein flus»
einanberfallen; obwohl fie ganj nafje beieinanberßanben,
war ihr fo fcbrög/ als fänfen unb fänfen fie ooneinanber
weg; Beronifa fab nach ben Bäumen feitlicb ihres EJegs,
fie flanben geraber unb aufrechter, als ibr natürlich ge»
fchienen hätte. Xlnb ba glaubte fte, ihr Olein, bas fie oor»
bem nur oerwirrt unb aus Ahnung gefprocfjen batte, erfl
oollenbs ju fühlen, unb begriff, baß er feinetbalben je^t
fortfubr unb es hoch nicht wollte, llnb es würbe ihr eine
XOeile lang babei fo tief unb fchwer, wie jwei Körper
nebenetnanberliegen, nur mehr fo eins unb bas anbre, ge*
trennt unb traurig unb jeber nur bas, was er für ficb iß,
weil es ja hoch beinahe fjtngabe geworben wäre, was fie
fühlte; unb es fam irgenb etwas über fie, bas fie Hein
unb fchwaeb unb ju nichts machte wie ein i?ünbchen, bas
flagenb auf brei Beinen hinft, ober wie ein jerfchliffenes
Fähnchen, bas hinter einem £uftf>auch baherbettelt, fo ganj
löße es fie auf, unb es war eine Sehnfucfjt in ihr, ihn pi
halten, wie eine weiche wunbe Scfmecfe, bie mit leifem
3ucfen nach einer ^weiten fucht, an beren 2eib es fte oer»
langt, aufgebrochen unb ßerbenb ju fleben.
Aber ba faf> fie ihn an unb wußte faum, was fte bachte,
unb ahnte, baß bas, was fie einzig baoon wufite, vielleicht
— biefe plöhliche Erinnerung, bie blanf unb allein in ihr
lag — überhaupt nichts war, bas man aus fich felbß
begreifen fonnte, fonbern nur baburch etwas, baß es —
irgenbeinmal burcf) eine große flngfl an einer Bollenbung
gehinbert — feitljer oerhärtet unb oerfchloffen fleh in ihr
oerbarg unb einem anbem, bas es hätte werben fönnen,
ben BJeg oerfperrte unb aus ihr herausfallen mußte wie
ein frember Äörper. Denn fchon begann ihr Gefühl für
(Johannes ju finfen unb abjuflrömen — in breiter, be»
freiter Slut brach etwas lange wie tot unb machtlos
barunter Gefangnes aus ihr heraus unb riß es mit fich,
11 *
163
— unb ott feiner Stelle wölbte ftcfc weit aus ber in if)r
bloßgelegten Seme ein feuchten, etwas pfeiterlos Steigen*
bes, etwas enbios Gehobenes unb wie burcb Xraumne0e
gufammenbangoerloren Glitjernbes empor.
llnb bas 6efpräcb, bas fie außen noch führten/ würbe
fur§ unb ficfernb, unb wäbrenb fie ftcf> noch bamit ab*
müßten, füllte Beronifa, wie es fcfjon gwifd>en ben HJor*
ten ju etwas anberem würbe, unb wußte enbgüitig, baß
er fortreifm mußte, unb brach es ab. 6s erfcfjten tf>r alles,
was fie noch fagten unb oerfucbfen, umfonß getan, ba
es entfliehen wer, baß er Weggehen unb mcf )t mehr wie*
berfebren foUte, — unb weil fie empfanb, baß fie gar
nt(bt mehr wollte, was fie fonß vielleicht bocb noch getan
hätte, gewann bas baoon Itbriggebliebene mit einer jöben
IDenburtg einen ßarren, unoerßänblicben flusbrucf; fie
wußte faum einen Sinn unb eine BegrUnbung bafür, es
war fcbnell unb hart, eine Xatfacbe, ein Gefaßt* unb Ge»
worfenwerben.
llnb wie er ba im Gewirr feiner BJorte noch immer oor
ibr ßanb, begann fie bas Unjureicbenbe feiner Gegenwart,
feines wirtlichen Bei*ibr»feins ju filblen, es brücfte fcbwer
auf etwas in ibr, bas ficb mit ber Erinnerung an ibn fcbon
irgenbwobin erbeben wollte, unb fie ßieß überall an feine
£ebenbigfeit, wie man an einen toten Körper ßößt, ber
ßarr unb feinbfelig unb allm Bemühungen wiberßebenb
iß, ihn jur Seite ju fcbieben. llnb wie fie merfte, baß er
fie noch immer fo bringenb anfab, erfcbien ihr 3°f)annes
wie ein großes erfcböpftes Tier, bas fie nicht oon ficb ob*
weiten tonnte, unb fie fühlte ihre Erinnerung in ficb rote
einen Meinen, beißen, umflammerten Gegenßanb in 0än*
ben, unb mit einemmal hätte es ibr beinahe bie 3unga
gegen ihn berausgeßreeft unb war ein fonberbar jwifeben
Slucbt unb £octung geteiltes Empftnben, faß wie bie Be*
bröngnis eines IBeibcbens, bas nach feinem Uerfolger
beißt.
3n biefem flugenblicf aber bub wieber ber BJinb an, unb
ihr Gefühl weitete ficb i n ib m unb löße ficb oon allem bar*
ten ICiberßanb unbJFjaß, ben es, ohne ibn aufougeben, wie
164
etwas fefjr DJeitfjes in f!cf) einfog, bis oon ihm nur ein
ganz oerlaffenes Entfern jurürfblieb, in bem ficf) Bero»
nifa, wäfjrenb fie es empfanb, gleuhfam felbfi jurürfüefj;
unb alles anbere ringsumher warb jittember oor Ahnung,
©as Unburchficßige, bas bisher wie ein bunfter Hebel
auf ihrem £eben gelaflet hatte/ war plö^lich tn Bewegung
geraten, unb es frfjien ihr, als ob formen lang gefugter
Gegenßänbe fah wie in einem Soleier abbrttcften unb
wieber oerfchwänben. Unb nichts noch ;war hob fo fein
Geficß heroor, bafj bte Singer es halten fonnten, alles
wich noch jwifchen ben leife taflenben UJorten aus, unb oon
nichts formte man fprechen, aber es war jebes XBort, bas
nun nicht mehr gefagt würbe, f<hon oon ferne wie burch
einen weiten Ausblicf gefehn unb oon jenem merfwttrbig
mitfchwingenben Her flehen begleitet, bas alltägliche Jrjanb*
tungen auf einer Bühne gufammenbrängt unb ju 3ei*
eben eines im flachen Äiefelgeflerf)t bes Bobens fonfl nicht
fießbaren UJeges auftürmt. XOie eine ganz bünne feibene
JTtasfe lag es über ber Hielt, ßlt unb filbergrau unb be*
wegt wie oor bem 3erreißen; unb fie fpannte ihre Augen,
unb es flimmerte ihr baoor, wie wenn fie oon unfaßbaren
Stößen gerüttelt würbe.
So flanben fie nebeneinanber, unb als ber Xöinb immer
ooller über ben BJeg fam unb wie ein wunberbares, wei*
<hes, buftiges Tier fich überallhin legte, über bas Geficß
ln ben Harfen, in bie Adjfelhößen ... unb überall atmete
unb überall weiche famtene Spaart ausflrecPte unb fich bei
jebem Erheben ber Brufl enger an bie Jpaut brürfte... täfle
fich beibes, ihr Entfeßn unb ihre Erwartung, in einer mtt*
ben, fchweren HJärrne, bie fhtmm unb blinb unb langfam
wie wehenbes Blut um fie ju freifen begann. Unb fie
mußte plößich an etwas benfen, was fie einmal gehört
hatte, baß auf ben JTtenfcßn JTtillionen Heiner DJefen
fiebetn unb mit jebem Atmen ungezählte Ströme oon £e»
ben fommen unb gehn, unb fie zauberte eine IBeile er*
flaunt oor biefen Gebanfen, unb es omrb ihr fo warm'
unb bunfet wie in einer großen, purpurnen XBoge, aber
bann fühlte fie nahe in biefern heißen Blutßrom ein zwei*
tes, und tote fie auffab, fland er oor U>r, und feine $aare
teerten im Hünbe gu if>ren gitternden paaren herüber, und
fte berührten einander frf)on gang leife mit ihren bebenden
Spieen; da patfte fie eine (nirfegende £ufl, wie wenn fitf)
taumelnd gwei Schwärme tiermengen, und fie f)ättc ifjr
£eben aus fief) berausreifien mögen, um in fjeifjer, fehlen«
der Jinflemis ihn rafend oor Xrunfenfteit gang damit gu
iiberfiäuben. Aber ifjre Körper flanden fieif und fiarr und
ließen blofi mit geftbloffenen Augen gefcfjefjen, toas da
heimlich oor firf) ging, als dürften fie es nicht toiffen, und
nur immer leerer und müder wurden fie, und dann fanden
fie ein wenig gufamnten, gang fanft und ruf)ig und fo
flerbensfiitt gärtlüb, wie wenn fie ineinander oerbluten
würden.
lind wie der XCünd firf) f>ob, war ihr, als fliege fein Blut
an tf>r unter den Jlörfen hinauf, und es füllte fie bis gum
£eibe mit Sternen und .Reichen und Blauem und Gelbem
und mit feinen Jaden und tagendem Berühren und mit
einer reglofen HJollufl, wie wenn Blumen im JBinde (lef)n
und empfangen. Und norf> als die untergebende Sonne
durch den .Rand ihrer Jlörfe frfjien, fland fie gang trag und
füll und frf)amIos ergeben, als ob man es fef)en fönnte.
Und nur gang, gang oergeffen dachte fie frf)on an jene grö*
fiere Sebnfucfjt, die fitf) noch erfüllen follte, aber das war
in diefem Augenblicf blofi fo leife traurig, wie wenn weit
weg die Glocfen läuten; und fie flanden nebeneinander und
hoben fid) grofi und ernfl — wie gwet rieftge liere mit
gebogenen Jlücfen in den Abendbimmel.
166
tf p i f o 6 t dom teufet $ c e
XJon Stefon 3weig
VV m Ufer bes Genfer See9, in ber Jiöfje ber Heinen
\Schweiger Stabt Billeneuoe, würbe in einer Som»
mernacfjt bes Jahres 1918 ein Jifcher, ber fein Boot in
ben See hmausgerubert batte, eines merfwttrbigen Gegen«
flanbes in ber JTiitte bes BJaffers gewahr, unb näher»
fomntenb erfannte er ein Gefährt au 9 tofe gehefteten Bai*
fen, bas ein nacfter Jliann in ungefrfjirfter Xöeife mit
einem als Jluber oertoenbeten Brett oorwärtsgutreiben
oerfurf)te. Staunenb fleuerte ber Sifcher heran, half bem
Grfchöpften mitleibig in fein Boot, becfte feine Blöße not*
bürftig mit Jietyen unb oerfucfjte bann mit bem frofijittern*
ben, frfjeu in ben HJinPel bes Bootes gebrücften JTtenfchen
*u fprecfjen; aber biefer antwortete in einer fremben
Sprache, oon ber nicht ein einziges IBort ber feinen glich*
Balb gab ber hilfreiche jebe weitere JRühe auf, raffte feine
Siehe empor unb ruberte mit rafchen Schlägen bem
Ufer ju.
3n bem JTtaße als im frühen Sichte bie Umriffe bes
Ufers aufglängten, begann auch bas flntlih bes nacften
JHenfchen fi<h ju erhellen; ein Knbliches Sachen fchälte fich
aus bem BartgewUhl feines breiten ÜTlunbes, bie eine
hanb h°ä fi<h hinüber, unb immer wieber fragenb unb
halb fchon gewiß flammelte er ein IBort, ba 9 wie Jloffipa
Hang unb immer glücffeliger tönte, je näher ber «Kiel gegen
bas Ufer fließ. Cnblich fnirfchfe ba 9 Boot an ben Stranb,
bes Sifchers weibliche flnoerwanbte, bie auf bie naffe Beute
harrten, flohen freifchenb, wie einfl bie JTtägbe JlaufiPaas,
auseinanber, ba fie bes nacften TRannes im Sifcfjernehe
anfichtig würben; allmählich erfl, oon ber feltfamen Äunbe
167
angelocft, fammelten ficfj oerfchiebene JRänner bes Oors
fes, betten fid) alsbalb toürbeberoufjt unb omtseifrig ber
toacfere HJeibel bes Ortes jugefellte. 3f)tn war es aus
reicher Erfahrung ber Ärtegsjeit unb mancher 3nflruftion
fofort gewiß, baß bies ein ©eferteur fein miiffe, ber oom
franjößfcben Ufer herbeigefchwommen mar, unb fcf>on
rüßete er junt amtlichen Uerfjör, bos ober balb on BJürbe
unb Xöert burcf) bie Xatfarfje oerlor, baß ber nacfte JTlenfch
(bem injroifcfjen einige, ber Bewohner eine Qotfe unb eine
otoilcfjfjofe jugeworfen) auf ode trogen nichts als immer
roieber ängfllirfjer unb unsicherer feine Sroge „Jlofftpo?
Jloffipa?" wieberholte. Ein wenig ärgerlich über feinen
Jliißerfotg, befahl ber HJeibel bem Sremben burcf) unntiß*
oerßänbüche ßebärbe, ihm ju folgen, unb umjof>It oon ber
injwifcf)en ermatten Gemeinbejugenb würbe ber noffe,
nacftbeinige JHenfcf) in feiner fdf)lottrigen £ofe unb 3<*cfe
auf bas fimtsbous gebracht unb bort oermahrt. Er wehrte
ficf) nicht, fprocf) fein BJort, nur feine gellen Augen waren
bunfet geworben oon Enttäufcfjung, unb feine fyofytn
Schultern bucften ficf) wie unter gefürchtetem Schlage.
Oie Äunbe oon bem menfcf)licf)en Sifdjfang hotte ficf)
injwifchen bis ju ben nahen Rotels oerbreitet, unb einer
ergbhUchen Epifobe in ber Eintönigfeit bes Tages froh,
famett einige Oamen unb Herren, ben wilben JTCenfchen
ju betrachten. Eine Oame fchenfte ihm ein Äonfeft, bas
er mißtrauifch wie ein Affe liegen ließ, ein -f>err machte
eine photographifche Aufnahme, alfe fchwapten unb fpra«
cf)en Iuflig um ihn herum, bis enbfich ber JTtanager eines
großen Goflhofes, ber lange im Auslanb gelebt hatte unb
mehrerer Sprachen mächtig war, an ben fchon ganj Her«
ängfiigten bas BJort nacheinanber in Oeutfch, 3talienifcf),
Englifch unb fcfjltefjlich «Huffifch richtete. Aaunt, baß er in
ber lebten Sprache ein BJort an ficf) oemommen, jucfte
ber Berängßigte auf, ein breites Sachen teilte fein gutmü»
tiges Geficht oon einem Ohr bis junt anberen, unb plöb*
lirf) ftcher unb freimütig erjähtte er feine ganje 6efcf)i<hte.
Sie war fehr lang unb fehr oerworren, nicht Immer auch
in ihren Einjetberichten bem jufältigm Oolmetfch oerflänb»
168
tief), doch in der IBefenheit war das Scfjirffal diefes JTten»
fchen bas folgende:
Cr hatte in «Rußland gefämpft, war dann eines Tages
mit taufend anderen in Waggons oerpaeft worden und
fefjr weit mit ihnen gefahren, dann wieder in Schiffe oer*
laden und noch länger mit Urnen gefahren durch Eänder,
wo es fo f>etfS war, daß, wie er fagte, einem die «Knochen
im $teifch weich gebraten wurden. Schließlich waren fte
wieder irgendwo gelandet und in HJaggons oerpaeft wor«
den und Ratten dann pliS^Ucf) einen $ügel ju (türmen,
worüber er nichts Höheres wußte, weil ihm gleich ju An*
fang eine «Kugel ins Bein getroffen habt. Den 3uf)örem,
denen der Dolmetfeh «Rede und Antwort überfe^te, war fo*
fort flar, daß diefer Flüchtling ein Angehöriger Jener ruffi*
fchen Dbifionen in Frankreich war, die man über die halbe
Cr de, über Sibirien und BJladimofloef an die franjöftfrfje
Front gefehlt hatte, und es regte fief> mit einem gewiffen
JTiitieid bei aden gleichzeitig die JTeugier, was ihn oer*
mocht habe, diefe feltfame Flucht ja oerfuthen. JTiit halb
gutmütigem, halb lißigem Eächetn erjählte bereitwillig der
Jluffe, faum genefen, habe er die Pfleger gefragt, wo «Ruß*
land fei, und fie hätten ihm die «Richtung gedeutet, deren
ungefähres Bild er durch die Stellung der Sonne und der
Sterne fiel) bewahrt hatte, und wie er dann heimlich ent*
wichen fei, nachts wandernd, tagsüber in drjeufchobem oor
den Patrouillen fi<h oerßeefend. Gegeffen habe er Früchte
und gebetteltes Brot, jehn Tage lang, bb er endlich an
diefen See gekommen fet. 3Tun wurden feine Crflärungen
undeutlicher; es fchien, daß er, aus der Stäbe des Baifat*
fees flammend, oermeint hatte, am andern Ufer, deffen
bewegte Ebnen er des Abends erblicfte, müffe «Rußland
liegen, jedenfalls hatte er f«h aus einer $ütte jwei Bai*
len geßohlen und war auf ihnen, bäuchlings liegend, mit
JF>ilfe eines gleichfalls entwendeten Steuerruders weit in
den See btnausgefommen, wo ihn der Fifcher auffand. Die
ängßtiche Frage, mit der er feine unflare Crjähbmg be*
fchtoß, ob er fchon morgen daheim fein fönne, erweefte,
faum überfehl/ durch ih re Unbelebrtbeit erß lautes Ge*
169
Vddyttr, bas aber balb gerührtem JItitleib mich/ uni» jeher
flopfte hem unficher unh faft Möglich um fich Bltcfenben
ein paar Gelbmünzen ober Banknoten ju.
3nja)ifchen mar auf telephonifche Berflänbigung aus
JTiontreuj ein böserer Polizeioffizier erfdf)ienen, her mit
nicht geringer 3Tiühe ein Protokoll über hen Borfall auf«
nahm.
Denn nicht nur, hafi her zufällige ©otmetfch fich ata
unjulöngücf) ermtes, baih murhe auch hie für einen BJefi«
länher ganz unfaßbare llnbilhung hiefes JTtenfchen flar,
heffen JBiffen um [ich felbfl nicht hen eigenen Bornamen
Borts überfchritt, unh her oon feinem ^eimatborf nur
äußerfi ©ermorrene ©arftellungen ju geben oermochte,
etma hafi fie £eibeigene hes Türflen JRetfcherffi feien (er
fagte £eibeigene, obmohl hoch feit einem JTCenfchenalter
hiefe Tron abgefchafft mar), unh hafi er fünfzig BJerfl
oom grofien See entfernt mit feiner Trau unh hrei Äin«
hem mohne. ©ie Beratung über fein Scfncffal begann,
inhes er mit fhmtpfem Blicf gehucft inmitten her Streiten«
hen (tanh; hie einen meinten, man müffe ihn her ruffifchen
Gefanhtfchaft in Bern übermeifen, anhere befürchteten oon
folcher JTtafjnahme eine Jlücffenbung nach Tranfreicf), her
Polizeibeamte erläuterte hie ganze Srfjmierigfeit her Trage,
ob er als ©eferteur ober als papierlofer fluslänher behan«
heit merhen folle, her Gemeinhefchreiber hes Ortes mehrte
gleich oornherein hie JftöglichBeit ab, hafi gerahe fie
hen fremhen Gffer zu ernähren unh z« bergen hätten. 6in
Tranzofe fchrie erregt, man folle mit hem elenhen Durch«
brenner nicht fooiel Gefehlten machen, er folle arbeiten
ober zurüeffpehiert merhen, zmei Trauen manhten f>eftig
ein, er fei nicht fchulh an feinem Hnglücf, es fei ein Ber«
brechen, Blenfchen aus ihrer Heimat in fremhes £anb ju
oerfcf)icfen. Schon hrohte aus hem zufälligen Anlaß ein
politifcher 3mift fich z« entfpinnen, al9 ein alter fytrx, ein
Däne, plö^licb bazmifchenfuhr unh energifch erBlärte, er
bezahle hen Unterhalt hiefes JTtenfchen für acht läge, in»
Zmifdhen follten hie Behärhen mit her Gefanhtfchaft ein
ubereinfommen treffen, melche unermartete £öfung fo«
170
wohl bte amtlichen als bte prioaten Parteien oollPommen
3ufrtebenflellte.
UJäfjrenb ber immer erregter werbenben DisPuffion
batte ficf) ber feheue Blicf bes Flüchtlings allmählich er*
hoben unb hing unoerwanbt an ben £ippen bea einjigen
in biefem Getümmel, bea Tltanagers, oon bem er wußte,
baß er ihm oerflänblich fein Scf)t<#fal fagen Pönnte. Sumpf
fcf)ien er ben IBirbel ju fpüren, ben feine Gegenwart er»
regte, unb gan3 unbewußt, als je£t ber IDortlärm ab»
fchwoll, f>ob er burch bie Stille bie Jrjänbe flehentlich gegen
ihn auf wie Frauen oor einem ^eiligenbtlb. Das «Hüh*
renbe biefer Gebärbe ergriff unwiberftehlich jeben eingel*
nen. Der Jlfanager trat herjüch auf ihn ju unb beruhigte
ihn, er möge ohne flngft fein, er Pönne unbehelligt f)itr
oertoeilen, unb im Gafihof mürbe für bie nächße 3 eit für
ihn oollPommen geforgt werben. Der «Ruffe wollte ihm bie
$anb Püffen, bte ihm ber anbere rürftretenb rafch entjog.
Dann wies er ihm noch bas Ttachbarhaus, eine Pleine
Dorfwirtfchaft, wo er Bett unb Ttahrung finben würbe,
wieberholte bie 1 )er%lid)e Beruhigung unb ging bann, ihm
noch einmal freunbüth juwinPenb, bie Straße ju feinem
jpotel empor.
Unbeweglich flarrte ber Flüchtling ihm nach/ unb in bem
Tltaße, als ber einzige, ber feine Spraye oerftanb, firf) ent*
fernte, oerbüflerte fich wieber fein fchon erhelltes Gefielt.
TTtit oerjehrenben Blicfen folgte er bem Gntfchminbenben
bis hinauf 3U bem hochgelegenen Sjotel, ohne bie anbern
TTCenfcben 3U beachten, bie fein feltfames Gehaben beflaun«
ten unb belachten. Als ihn bann einer mitleibig anrührte
unb in ben 6afthof wies, fielen feine ferneren Schultern
gleichfam in ficf) jufammen, unb gefenPten Hauptes trat
er in bie Xür. Titan öffnete ihm bas Schan^immer. Cr
brüefte fich an ben Xifch, auf ben bie TTtagb 3um Gruß ein
6las Branntwein flellte, unb blieb bort oerhangenen Bltcfs
ben ganjen Bormittag unbeweglich fi£en. ltnabläffig fpäh*
ten 00m Fenßer bie DorfPinber lytrzin, lachten unb fchrien
ihm etwas 3U — er hob nicht ben .Kopf. Cintretenbe betrach*
teten ihn neugierig, er bfieb, ben .Kopf an ben Xifch gebannt.
mit Prummern Jlürfen fi£en, frfjamfmft und frfjeu. lind als
mittags jur Cffensjeit ein Schmarrn £eute den «Kaum mit
£ad)en füllte, Hunderte HJorte ii>n umfrfjwirrten, die er
nirfjt oerfland, und er, feiner Sremdfjeit entfe^lirf) gewahr,
taub und fhtmm inmitten einer allgemeinen Bewegtheit
fafi, gitterten if)m die jjände fo fef>r, da(S er Paum den
£öffel Suppe beben Ponnte. piö^lirf) lief eine dicfe Xräne
die BJange herunter und tropfte ferner auf den Xtfrf).
Srf>eu fof> er firf) um. Oie andern Ratten fie benterPt und
frf>wtegen mit einemmal. lind er frf)ämte firf): immer tiefer
beugte fi<f> fein fernerer, fh-uppiger Äopf gegen das
fchwar^e ^otj.
Bis abends blieb er fo fi^en. JTienfrfjen Pamen und gut*
gen. Cr füllte fie nirf)t und fie nidjt mef>r if>n: ein Stü<f
Spotten, fafi er im Schatten des Ofens, die jpände frf>wer
auf den Xifcf) gefüllt. Alle oergafien if>n, und Peiner oon
ihnen merPte, daf} er firf) in der Dämmerung plötjlirf) auf»
hob und den BJeg gegen das Jrjotel dumpf rote ein Xier hin«
auffrf>ritt. Cine Stunde und §wei fland er dort oor der
Xür, die UTtü^e deoot in der Jpand, ohne Jemanden mit
dem BlitP an}urüf)ren: endlich fiel diefe feltfame Geflatt,
die flarr und frfjroarj tote ein BaumflrunP oor dem Hcfjt-
funlelnden Cingang des Jpotels im Boden rourjelte, einem
der £aufburfrf)en auf, und er holte den JTlanager. BJieder
flieg eine Pteine JpetligPeit in dem oerdiiflerteri Gefirf)t auf,
als feine Sprache ifjn grüßte.
„Blas toillfl du, Boris?" fragte der JTtanager gütig.
„ 3 h* toollt oerjeihen," flammelte der $lürf)tling, „ich
roollte nur wiffen — ob trf) narf) S au fe darf."
„Geroiß, Boris, du darffl narf) $aufe", lächelte der Ge»
fragte.
„morgen frfjon?"
3 Tun ward aurf) der andere emfl. ©as £ärf)eln oerflog
auf feinem Gefixt, fo flehentlich toaren die BJorte gefagt.
„Jlein, Boris, |e£t norf) nirf)t ... Bis der Ärieg oor»
bei tfl."
„lind warnt? BJann ifl der .Krieg oorbei?"
„Oas weif} ich nirf)t; wir JTtenfdjen wiffen es nicht."
173
„ltnb früher? Äann ich nicht früher gehen?"
„Bein, Boris/'
„3fl es fo »eit?"
„3a."
„Biele Tage noch ?"
„Biele läge."
,,3cf) »erbe boch geben, ^err! 3cf) bin flarf. 3cf) »erbe
nicht rnübe."
„Aber bu fannfl nicht, Boris. 6 s ifl noch eine 6 ren 3 e ba»
3 »if<hen."
„Sine ßrenje?" £r blicfte flurnpf. Oos IBort »or ihm
fremb.
©onn fagte er »ieber mit feiner merf»ürbigen £art»
näcfigfett: ,,3cf) werbe hlnttberfchwintmen."
Oer JTTonoger lächelte beinahe. Aber es tat ihm botf)
»eh, unb er fagte fanft: „Bein, Boris, bas gebt nirf>t. Eine
ßrenje, bas ifl frembes £anb. Oie Blenfchen laffen bich
nicht burdf)/'
„Aber ich tue ihnen hoch nichts! 3cb habe mein Gewehr
roeggeworfen. BJarum follen fie mich nicht ju meiner Srau
laffen, wenn ich fie bitte um Chnfli willen ?"
Oer JTtanager »urbe immer ernfler. Bitterfeit flieg in
ihm auf. „Bein," fagte er, „fie werben bich nicht hinüber»
laffen, Boris; bie JRenfchen hören je 0 t nicht mehr auf
Chrifli IBort."
„Aber, was foll ich tun, Jjjerr? 3cb fann boch nicht fnw»
bleiben! Oie JTtenfchen oerflehen mich b* e * nicht, unb ich
oerflehe fie nicht/'
„Ou wirfl es fchon lernen, Boris."
„Bein, £err," er bog ben «Kopf tief, „ich fann nichts
lernen. 3cb fann nur am Selb arbeiten, fonfl fann ich
nichts. X0as foll ich b'ttr tun? 3cb will nach Jpaufe! 3eig’
mir ben IBeg!"
„Gs gibt je£t feinen IBeg, Boris."
„Aber, Sperr, fie fönnen mir boch nicht oerbieten, ju mei*
ner Srau hetmjufehren unb ju meinen Äinbern! 3ch bin
boch nicht Solbat mehrl"
„Sie fönnen es, Boris."
*73
„Unb ber 3ar?" 6r fragte es gang plö^liifj, gitternb oor
Erwartung unb Efjrfürdjtigfett.
„Es gibt feinen 3aren meljr, Boris. Oie JTtenfrfjen fjaben
ifjn abgefe^t."
„Es gibt feinen 3aren meljr?" Oumpf flarrte er Öen
anbern an. Ein le^tes £irfjt erlofrfj in feinen Biitfen, bann
fagte er gang mübe: „3rfj fann alfo nirfjt narfj Jjjaufe?"
„3e&t nirfjt. Ou mußt warten/ Boris."
„£ange?"
„3rfj weiß nirfjt."
3mmer büfierer würbe bas Gefickt im Ounfet. „3<fj Ijabe
frfjon folange gewartet! 3rfj fann nirfjt meljr warten. 3eig’
mir ben BJeg! 3rfj will es borfj oerfurfjen!"
„Es gibt feinen UJeg, Borts, An ber Grenge nehmen fie
bitfj fefl. Bleibe f)kr, wir werben für birfj Arbeit finben!"
„Oie JTIenfrfjen oerßefjen mirfj fjier nirfjt, unb irfj oer»
flefje fie nirfjt", erwiberte er fjartnäcfig. „3cfj fann fjier
nirfjt leben! Jrjilf mir, Ifjerr!"
„3dj fann nirfjt, Boris."
„Jrjilf mir um Cfjrißi willen, Jperr! Jpilf mir, trfj fann
nirfjt meljr!"
„3rfj fann nirfjt, Borb. .Rein JRenfrfj fann }e0t bem
anbern fjelfen."
Sie ßanben einanber fhtmm gegenüber. Boris brefjte
bie Jltü&e in ben fpänben. „Xöarum fjaben fie micfj bann
aus bem Jrjaus gefjolt? Sie fagten, irfj müffe Jlußlanb
oerteibigen unb ben 3aren. Aber «Rußlanb ifl borfj weit
oon fjier, unb bu fagß, fie fjaben ben 3aren... wie fagß
bu?"
„Abgefe^t."
„Abgefetjt." Sinnlos wieberfjolte er bas Wort. „Xöas
folt irfj je0t tun, Jjjerr? 3rfj muß narfj Jpaufe! JTleine Äinber
frfjreien narfj mir. 3rfj fann fjier nirfjt leben! Jpilf mir, fjilf
mir, Jjjerr!"
„3cfi fann nirfjt, Borb."
„llnb fann niemanb mir fjelfen?"
„3#&t ntemanb"
174
Der «Hüffe beugte immer tiefer bas Sjoxupt, bann fagte
er plö^Iicf) bumpf: „3d> banfe bir, J?err" unb manbte ftrf)
um.
Gang langfam ging er ben DJeg hinunter. Der JTCanager
faf) ibm lange narf), rounberte fUf> no d), bafi er nicf)t bem
Gaflfjof jufdjritt, fonbem bte Stufen fjtnab an ben See.
6r feufjte tief unb ging mteber an feine Arbeit im Jjjotel.
ein 3ufall mollte es, bafS ebenberfelbe Siftfjer am nä<f)*
flen JTtorgen ben narften £etcf)nam bes ertrunfenen auf»
fanb. €r batte forgfam bie gefcfjenfte JFJofe, JTtübe unb
3atfe an bas Ufer gelegt unb mar ins DJaffer gegangen,
mie er aus if>m gekommen, ein Protokoll mürbe über ben
Dorfall aufgenommen unb, ba man ben JTamen bes
Sremben nirf)t fannte, ein billiges Jrjoljfreuj auf fein Grab
geflellt, eines jener Meinen Äreuje über namenlofem Scf)i(f«
fal, mit benen jetjt Guropa bebetft ifl non einem Gnbe bis
junt anbern.
*75
Da* fj a u * de* 01 i $ t t *
Bon 3ofef Ponten
Cjr>0 bie Stait p<h Ins ßanb jerfrümelte, wohnten
*^^^'wir. Jlirfjf im Brtiffeler Steinweg — in einer ob*
gängigen Seiten(h-aße, bie fic^t gegen ein Gebirge totfief.
Gin phwarges Gefängnis log ouf ber einen Seite über
«Rleinleutegärten, auf ber onbent/ hinter Ärautfelbern, ein
rotes Srauenfloper. liefe ousjementterte JRouerjpIinber
aufgeiaffener Gasfeffei waren bo, bie ieicfyen ertranfter
fjunbe unb Äo^en trieben ouf bem giftigen BJoffer. Ser*
ner gab es eine fjerrentofe Gfeuburg unb einen oerwilberten
Porfroolb, in bem ein "Bad), aus bem unbefannten Gebirge
fontmenb, über ^jinbemiffe tofle; ein gewaltiger Steinfarg
ous ber «Ritter» unb Boroötergeit fionb in einer moopgen
grufeligen Ärppta, auch ein Jtömeraltor ober Grobpein
mit bem Jlanten irgenbeines JTiorcius toar bo — einerlei!
©enn olles bas toar nicfjt ^olb fo merfwürbig als bos
Sonberborpe: bos Sjaua bes flrjtes.
©os Jpaus bes Atgtes war bos merfwürbigpe Saus ouf
ber IDelt. Aber bie Gropen füllten nichts oon feinem
Steuer! ©os JITilchmäbchen, aus bem Bauernhöfe ber
Burg fcereinfa&renb, lieferte bort in ber Sriif>e bie TTTilch,
ber Popbote, ous ber Stobt f>erousfommenb, fpäter bie
Briefe ob. S* n unb toieber fam auch irgenbein 3*ntonb,
läutete, würbe obgefertigt, ging. Auf bos 3iei>en am Äfin*
gelfnopfe, ouf bos mon oon broufjen nie einen Gtorfenfon
hörte, würbe bie Tür fpoltweit geöffnet — bie Sperrfette
blieb oorgelegt. Gin Arm nahm herein unb reifte hinaus
— wieber oerfcfpop [ich bie Xttr. ©ap bie JTtenphen ficf)
oor biefer Xür fo furj obfpeifen fiepen, ohne Uerbarf)t ju
fchöpfen! ©oP bie Polizei bos jpaus nicf)t beobachtete!
Aber es follte uns JJungens — wir waren fchon jiemfich
emmcfjfen, feiner mar jünger als gehn Jafjre — fcfjon recht
fein! DJir mürben bte unbegreifliche Berfäumms nach«
|) 0 len! Oos jpaus mar unfer «fjaus, unfer fcfjrerfücfjes
Geheimnis! DJir mürben heimliche Seme fein! DJir mürben
bas Geheimnis eines Tages lüften, unb bie DJelt follte
frf>aubernb erfennen, an melcf) fcfjrerflicfjen, vielleicht bluti»
gen Oingen fie ahnungslos vorübergegangen mar.. ♦
DJir belagerten bas J?aus heimlich viele JTTonate, ben
gangen Sommer eines langen Jahres hindurch, von früh
im Srühling an, als mir mieber auf bie Strafe hinaus«
gelaffen maren. DJir hatten einen heiligen Gib über einer
toten Ra£e, einer brennenben «Serge unb bem in einem
Ameifenbau nacftgenagten Schübel eines JHarbers gefchmo«
ren. DJir hatten mit einer Rabel aus bem Arme hervor*
geholte Blutstropfen gegenfeitig getrunfen unb gang fürch*
terlich gefchmoren. JReine Brüber maren ausgefchloffen,
ihnen traute ich nicht — mer traut feinen Brübem? DJir
maren ihrer fieben ober acht, männlichen Gefchiechts, nur
Annchen, bas mar ein DJeib. Aber fie fcf>lug fich tvie ber
Stärffle von uns unb benahm fich überhaupt fo grunban*
flänbig, bafS fie hätte ein JTlann fein fönnen.
DJir hatten einen befHmmten Plan ausgearbeifef, mo*
nach immer einer von uns, bie vertracfte Scfmlgeit natür«
lieh ausgenommen, auf DJache mar. Oie etgentlirfjc «Kriegs»
geit maren bie Serien, unb gegen Gnbe ber großen Som«
merferien ging benn auch bas vor fich, mas ich in biefer
Gefchichte ergäfjlen mill. Oas Jrjaus lag in ber langen
Strafe für fich allein, als Reihenhaus mit großen naeften
Giebelmauern; aber merfmürbigermeife blieb es allein lie*
gen, fooft auch fonfl rin Jleubau errichtet mürbe; fiets
lehnte er fich an einen anbem Bau ober Blocf an. Als
Söhne von Jttännern bes Baugemerbes fiel bas uns auf.
DJir machten uns bebeutenbe Augen unb mitten nach <*uf«
märts mit bem «Kopfe.
Oie Senfler bes Grbgefchoffes fah man fiets mit inneren
£aben verfchloffen, bei Rocht unb Tag. DJir hätten bitter?
gern einmal in bas 3immer an ber Straße geflaut. DJas
mochte barin vor fich 9 e h en —?
12 ®te beuttefc« Jtowlh.
177
Pah, mir tourten es: gräßliche “Dinge, bie uns unge«
heuer fpannten...
3 laef) hinten, ins Ärautfelb hinein, 30 g eine JTCauer. IBir
oerfuehten, über fie in ben Garten, ^of ober mas bahinter
fein mochte, 31 t flauen, unb bo mir feine £eiter onlegen
burften, um nicht Auffefjen 3 U erregen, fo machten mir eine
Ppromibe oon £eibern: 0afob (lieg, in bie jrjänbe ber ßar«
fen Anna tretenb, auf bie Schultern 0of>onn8, melier ber
fräftigße mor, unb auf 0 afob (lieg £ombert; bo ober auch
biefer noch nicf)t on bie JRauerfrönung reichte, fo Heiterte
i<f> — ber fleinfle, ober nicht feigfle ber Gaffenjungen! —
an ber JItenfcfjenleiter hoch; fcf)on flonb icf> oben ouf bem
roacfelnben Gebäu unb roollte über bie «Krone bltrfen —
ba flür 3 te ber £eiberturm in ficf) hinein. 0ohann, bos Erb»
gefcfjoß, hatte nachgegeben (er behauptete fpäter, Annexen
habe ihn gefielt, ober bos mor nicht mohr, er mor einfach
fchiopp gemefen!). 3ef) fah plöhlicf) — es mar am Abenb
— bie Sonne tm Dflen untergehen, bann ein Seuermerf
oon Sternen unb Sinflernis. Als idf) mieber 3 U mir tarn,
log ich mit gebrochenem Bein im Bette. 3mor heilte ber
Bruch fchnell aus, ober es gingen hoch bie halben Serien
barüber hin. Als ich gegen beren Enbe mit noch eingefchien«
tem Beine oor ber Sefhtng mieber erfchien, mar bie aflge«
meine £age unoeränbert. ©er Seinb mar ober unabfäffig
beobachtet morben.
Einen Angriff oon ber Gartenfeite gaben mir ouf. Glicht
megen ber lächerlichen JUauerhöhe, bie mir biesmal be>
gmurtgen haben mürben (benn 0 ohann hatte mährenb ber
gon 3 en 3eit meines Sernfeins rohes Ochfenblut 00 m Jlteh«
ger getrunfen unb behauptete, je 0 t fräftig genug 3 U fein),
fonbern meil bie JRauerfrone mit aufrechten Slafcfjenfcher»
ben in 3ementbettung gefpieft mor. Diefe abf<heulicf)e
BJehr, bie uns gegen alle guten Sitten 3 U o er flößen fehlen,
gob es felbfl brüben ouf ber JRauer bes Gefängnishofes
nicht. 3n ber Jläf>e (lanb ein müber Pflaumenbaum, giem*
lieh hach/ aber fränflief). JTtichael, ein Äletterer mie feiner
oon uns, gelangte ouf ben Pflaumenbaum; aber mie er
fi<h auf einem Afle oormärtsfehob unb bie £aubfrone aus»
178
einanberbog, um tn ben S°f gu blicfen, brach ber Aß,
3TEicf>aeI ßürgte ab unb würbe ebenfalls besinnungslos gu
Bett gebraut. 6 r fpucfte Blut unb flarb halb barauf,
{ebenfalls fd)ieb er aus unfern Unternehmung aus.
Das Anbeißen auf biefer Sette gaben nur auf. 6 s mar
flar, nur im geraben Angriff fonnte bas Saus genommen,
bas Geheimnis ber ßummen Blauem gelüftet werben.
Ginbringen oon oorn! Ourch bie Xür! Oa fagte JTiichael
— er lebte bamals noch, fpucfte aber fcfjon heftig Blut —
i cf) müffe ber fein, ber es täte. Alle ßimmten bei, befonbers
Annchen. Oas allgemeine 3utrauen fcfjtoellte mich nicht
wenig, ich nahm wortlos an — fefjob aber bie Ausführung
oon einem Tag auf ben anberen hinaus. 3ch erntete oiel
Ghre oorauf, Annchen Hißte mich oor oerfammelter JTtann*
fchaft; aber bie Bereitwilligfeit, mir Gfjren auf Borfchuß
gu geben, nahm fchnell ab, unb bie Ungebulb, meine Xat
gu fehen, gu. 3 cf) fam in bie f)öcf)ße innere Bebrängnis,
benn — ich merfte, baß ich feige war. Aber was halfs?
Johann, als größter unb ßärfßer, fanb bereits freche
BJorte. Oie Xat brängte! Oie Ausführung bes Bunbes»
befchluffes würbe nach einer furgen entfchloffenen Jlebe
0ohanns, ber mich mit Achtung bebroht hotte, auf ben
übermorgigen Abenb angefegt.
3cf> ging heimlich in bie Kirche unb betete lange auf ttaef»
ten Änien gu meinem Schuh* unb Ttamenspatron, bem
heiligen Subertus, Bifchof oon £üttich. 3n ben Opferßocf
warf ich einen Grofchen. Jlun fonnte nichts fehlen!
£e£ten Stoß unb Schwung gab ber JTIonbfcheinabenb.
Oer Argt, bas war ber Befi 0 er bes Saufes, war am DTlor»
gen oerreiß, wie bie Späher glaubwürbig gemelbet hatten;
feine Äinber waren aileingeblieben. Ufas wir am Abenb
bes Xages fahen, fonnten wir uns nicht erflären, aber es
war fehr merfwürbig. BJir waren nach bem Abenbeffen
noch einmal herausgefommen unb ßanben bei JTtonbfchem
in ber nachtleeren Straße oor bem Saufe. BJeiß oon
Blonb war bas Saus. Oa fahen wir Gefpenßer hinter ben
Scheiben! £eibhaftige Gefpenßer! Gefpenßer in langen
£eintüchern, welche ungeheure Arme reiften. Balb war e 9
12 *
179
ourf), ate mürben bletch' Ääfe aus bem fhtßeren 3nnem
bes Jpaufes an bie Senßer getragen, an bte Senßer ber
höheren Stocfroerfe, benn bas Erbgeßhoß blieb oerßhlof«
fen — rußig unb grabesßill lag e9 töte immer guoor. ©te
Ääfe mürben ab« unb jugetragen, fie mürben aucf) riefig
groß unb bann mteber Mein, e9 mürbe bamit non ben Ge»
fpenßern bas feierliche Äreuj gemacht, mie bie prteßer es
mit ber JRonßranj tun. ©09 erßhien uns als eine unge«
heure Gottesläßerung! Johann ßieß mich in bie Jltppen,
fagte leife unb grimmig: „TRorgen!" JTtir mar es eisfalt
im JUicfen, unb ba ich oor 3ähneMappern nichts ermibem
fonnte, ntcfte ich nur ftumm. Alle beßaunten mich «nb
hielten fich in achtungsoolter Entfernung. Ein Schuhmann
bummelte burch bie Straße, aber ber lüächter ber Orb»
nung — fthöne JBächter, biefe Schuhleute! — fah an bent
S)oxx\t nichts Auffälliges, betrachtete oieimehr uns auf
Berbachtsmeife, beruhigte fich aber batb unb ging, laut
ben JRonb angäfmenb, baoon. 3cf) mar beinahe ohnmäch«
tig, bemühte mich febocf), nichts ju benfen, gar nichts mir
oorjußellen, befinnungslos ju merben. 3m Taumel
riß ich mich gufammen — fieh ba! ich fühlte mich ein
ganjer JRann. 3ch fagte: „Auf morgen, £eute!" JTIit feßer
Stimme fagte ich bas unb ging nach Jrjaufe. „Auf mor«
gen!" fagten bie anbem halblaut, unb alle oerloren ft<h.
“Die Straße mar balb leer, möhrenb bie Gefpenßer meiter
fpuf ten...
Jrjabe ich uns übrigens fchon oorgeßellt? Alfo mir
hießen, fathoüfcf) unb biblifch, einfach unb fchlicht: Johann,
jjafob, 0ofef, peter, Sranj, JRicßael (ber Ausgeßhiebene),
£ambert, Hubert unb Anna. Jtamen mie Emil, Bruno,
^ilbegarb unb anbere führten in ber Borßabt nur bie Äin*
ber aus proteßantifchen ober fonßmie ungläubigen Santi«
lien, unb TRenßhen mit folgen Bornamen maren uns oer«
bächtig. Alfo auch bte Äinber bes Arztes. Emil f)icß ber
Ülteße. Er mar ein aufgefchoffener 3unge, fein Sjaar mar
ßrohgelb, lang unb mit BJaffer forgfältig an ben Schäbel
geMebt. JTtit BJaffer geßrählfe £aare hatten auch bie
anberen jmec ober brei Meinen Jungens unb bie JRäbchen.
180
DJte bie anbern 3ungens ^tefjert, wußten wir nicht. Oie
Äinber gingen nicht in unfere Schule. Sie gingen über»
fjoupt in feine Schule, benn es i)teß, baf} ber Argt unfere
Schulen, überhaupt alle Spulen, für erbärmlich unb über»
ftiiffig halte unb feine Ätnber gu jpaufe unterrichte. Ob*
gleich bas non ber llberflüffigfeit ber Schulen ficf) hören
lief), fo fonnte es uns hoch nichts helfen. Oie JTtutter war
tot. Oas war ein fonberbarer Äerl, ber Argt! Er hatte
feine Praxis, er mochte non Sott weif} weichem Einfom*
men leben, fehr einfach unb fehr fparfam, benn bie Familie
war nicht genährt wie wir unb unfere Uäter. fluch ber
Argt trug bas J?aar, langes graues ipaar, mit waffernaffer
Bürfte fefl an ben Äopf geflrtegeit. IBir hatten ihn feit
JRenfchengebenfen in einem langen altertümlichen «Kocf ge«
fehen, ber einmal grün gewefen fein mochte. Sehr feiten
erfchien er auf ber Strajle, unb bann immer mit feinen
Äinbern. Er führte gwei feiner 3ungen an feiner rechten
unb iinfen Jrjanb — lächerlich, unfere Uäter hätten uns
einmal an bie ^anb nehmen foiien! —, bas halbe Ou£enb
JHäbchen, auch alle mit angeflatfcf)tem £aar, gingen j?artb
in Jpanb oorauf. Oft hatten wir im Jrjofe ober Sorten
lachen hären, Ballfpieien, Jleifenfchiagen — ber Alte
fpielte mit feinen Äinbernl DJenn unfere Uäter bas mit
uns getan hätten — lächerlich; erflens hatten unfere Uäter,
ben gangen Tag auf ihren Bauten befchäftigt, bagu feine
3 eit, unb gweitens... nein, wie ungemütlich, wenn unfere
Alten mit uns hätten fpielen wollen! Ais wir am JTionb*
abenb nach fya ufe gefommen waren, brachte ich bas St*
fpräch bei Xifch auf ben Argt unb bie Samtlie. Oer Uäter,
ber nur beim Effen für uns gu fprechen war, fagte, mehr
gur JTiutter als gu uns, baf} ber „Sonberfing" (ber Argt
nämlich) eines Begräbniffes in ber Familie wegen nach
Oftlanb gereift fei, oon wo er oor fahren hergefommen.
Oie fonfl faß immer flumme TRutter frug bagwifchen,
ob benn bie „Blauen" (nämlich bie Proteßanten) auch ihre
Toten begrüben? Sie habe gehört, baf} fie fie oon wüben
Uögein freffen Uef}en. Oer Uäter lachte aufgeflärt unb
fagte, ber Sonberiing glaube, baf} bie TTlenfchcn oon JTatur
gut feien, büß fte nur burch bie öffentliche 6rjtef)ung fcf)te<f)t
mürben. Baß Schläge bei -Kinbern nichts hälfen — babei
blinzelte er meinem Bruber Jftattbias ju, Uber ben her
Sehrer ficf> beflogt hotte —, baß -Kinber nie groufam feien/
ober burch bie Schule unb bos Beifpiet ber 3Ttttntenf<hen
groufam mürben. Biefen unb onbern Itnfinn höbe ein
oerrücfter Pbilofopb gelehrt, unb nach ben £ehren biefes
Phifofophen giefje ber JTorr feine -Rinber ouf, unterrichte
fie felbß, holte fte non jebem BerPefjr mit ber Außenwelt
ab, fpiele mit ihnen unb führe fie in bie Jiotur fpajieren.
6 r höbe es gut, fönne es pcg leißen — mir fchien, boß ben
Bater etwas wurmte —, er fei ein &apitaliß (ober was
für einer! lochte ber Boter berb ouf), er lebe nur für feine
ßinber. Als meinem Boter bicfe BJorte entfahren waren,
ärgerte er fich offenbar über ß<h felbß, bünjelte JUatthtos
wieber ju, ber ßumm aufßanb unb ins Jlebenjimmer
folgte. Balb härten wir ben Stocf ouf nocftes Blotthios*
ßeifch Plotfchen, unb JTiattbcas fchrie jämmerlich. BJir
machten uns nichts baraus, benn bas gefchah uns onbern
auch oft genug, wenn ber £ehrer fich über uns bePlagt
hotte, ober aus toufenb minberen Anläffen. JTTafthtas war
auch nach bem legten Schlage fofort ßili, Pam ins 3immer
jurücf, wifchte bie Tränen ab unb war wieber tußig. BJir
würben bann ju Bett gefchicft, bie JButter räumte ben Xifch
ab, unb ber Bater ging an feinen 3eichentifch. -Kaum im
Bette, fchüef ich ein.
Ber Tag war ba! Als ich aufwachte, war ich fofort bet
ootter Bewußtheit. 6r war es, mein Tag! 3cf> niefte ihm
oertraulich burchs Senßer hinaus ju unb fprong mit bei»
ben Süßen aus bem Bett, fuhr in bie S?oJe, wufch mich ge»
hörig, frühßücfte wie fonß unb befchäftigte mich ben Tag
über irgendwie, richtete unfern j^ofbunb ob, reparierte
SreimarPen, reinigte bas Album (wenn ich on obenbs ge»
bacht hätte, wäre mir fehlest geworben) tftiemanb merfte
mir etwas an. 3ch ließ mich bei ben Äomeraben nicht bliP*
Pen. BJohl fab Ich oom Senßer aus, baß ße ben ganjen
Tag burch bie Straße ßrichen unb mit ben Augen 3 wifchen
bem Arjtbaufe unb ber XBohnung meiner eitern wechfel»
182
ten. 3cf) mußte, }ebe irgenbmie oerbäcf)tige öeränberung
mürbe mir gemeldet «erben. 6s mürbe aber nichts gerne!«
bet/ unb niemanb lief} ficf) fefjert. 3of)ann fanbte mof)l einen
Boten mit ber Srage, ob icf> oielIeicf>t franf fei. 3cf) fertigte
ben Boten furj ab mit bem Befcf)eibe, icf) fei bocf) nicfjt
3 of)ann. Damit mar es bann gut; icf> faf), mie 3of>ann oon
ben anbern ausgelacf)t mürbe unb nacf) Jpaufe ging. Jtur
Annexen tarn jur Äaffeeftunbe unb überbracf)te meiner
JTIutter einen Äucfjen als Gefcf>enf ber U)ren. JTCeine JTlut*
ter, banfbar aufgeräumt/ fcfmitt Um fogteuf) an, unb Ann»
cfjen oerfucfjte mit uns. Sie faß mir gegenüber unb blin«
jette mir, mäfjrenb fie meiner JTIutter erjäf)lte, mieoie! Gier
if>re JTIutter in ben Äucfjen gefcf)lagen fjabe, in geheimer
TJJe'tfe ju. (Das ftärfte micf) mätfjfig.) Dann ging fie.
Eangfam fam bie Dunfelf>eit. JTacf) bem Abenbbrote ging
ber Bater jum Regeln, bie JTIutter ju Annas JTIutter fort.
TBir maren frfjon ju Bett gefcfßcft, aber icf) machte mir nocf)
bies unb bas ju fcfjaffen, unb a(s bie eitern fortgegangen
maren, betrat icf) — icf) mußte felbfl nicf)t mie — bie
Straße.
6 s mar JTacf)t. Dunfel. Der JTlonb fßnter birfen HJotfen.
Die £uft mar lau. 6s mar angenehm marm.
•Raum mar icf) ins Sreie getreten, ba tauchten aus $aus«
türen unb IBinfeln bie üerfcfjmorenen auf. Johann juerft.
Cr (acf)te f)öf)nifcf). Aber ein Bticf in mein Geficf)t — er
mürbe fef>r ernß unb ärgerte ficf). 3«f> überließ ben Tropf
ficf) felbfl. Annexen trat neben micf), faßte micf) bei ber
£anb unb führte micf), of)ne ein lBort ju oerßeren unb
micf) anjubßcfen, oor bas ^aus. Dort fa& fie mir ooß ins
Geficfjt, [teilte micf) mit beiben Jrjänben mie eine Sigur mit«
ten in bie Straße unb oerließ micf). (Da ßanb icf) nun —
maf>rf>aftig; es mar fcf>recfluf>!)
Die «Ranteraben maren uns gefolgt, in unauffälligen
Gruppen unb mit oergebenen Abßänben oerftef)t ficf).
Einige Ratten aus TJerlegenfjeit einen Singer im JTtunbe.
5cf) faf), baß Peter größere Angft tyxtte als icf), ber Geifer
floß ifmt am Singer entlang aus bem JTtunbe in ben
Arme!. (Peters Angft macfjte mir fonberbaren JTlut.) Die
Äanteraben jerßreufen ftcf) in bte «Kleinleutegärten hüben
unb bte Ärautfelber brühen. Rieht fern; ich mußte, nie»
ntanb mürbe rrticf» im Stiche laffen. Jlur gohann, glaube
ich, ber feige Sunb, hat ftcf) gebrücft.
Ote Strafe mar leer, Auch ber Schulmann fam heute
nicht. (Später f)abe tcf> gehört, flnn«f>en habe bie Uorfichf
gebraucht/ unfern Rlitoerfchmorenen Sronj — ber mußte
nämlich „Dnfel" jum Schutjmann fagen — ju beßimmen,
ben Schulmann bis JTtittemacht mit Aartenfpiel aufjuhal»
ten.) ürüben, unter ber Gefängnismauer, hörten mir einen
Solbaten auf feinen Jiagelfrfjuhen um bas Gefängnis
tropfen.
IBie mir jumute mar? Das roeiß ich nicht mehr; i«h
glaube, mir mar gar nicht jumute. 3cf) mar ja befinnungs»
los! 3<h machte bie größten Anßrengungen, es ju bleiben.
O« hatte ich an ber dünget geriffen! BJie es
gekommen mar, meiß ich nicht — ich hatte an ber Klingel
geriffen. 3<h hörte eine Schelle im leeren Saufe bellen.
Bor bem Tone fuhr ich entfett jufammen. 3ch habe bei
ber ganzen Unternehmung nie mehr gejittert als in bem
Augenblicke, ba brinnen bie Schelle gellte. DJie follte es auch
nicht fein? Sonß hatten mir hoch nie eine Schelle ant»
morten hören, menn braußen jemanb mit einem Klingel»
juge frug. Aber ich bachte an Annchen unb buchte auch,
glaube ich, an Ehre» Pflicht unb alterhanb männliches! 3ch
hatte mich mieber in ber Jr>anb. 3cf) riß aufs neue ben
^tingeljug, biesmal fräftiger. Aber noch immer rührte (l<h
im Saufe nichts. Da riß ich bie Klingel milb mie ein
Befeffener.
6 s half! 3m jmeiten Stocf mürbe ein Senßer geöffnet,
unb 6mil rief in bie Straße hinab: „BJer iß ba?"
Das hatte ich nicht ermartet. 3cf> hatte eine bunfle
Ahnung, antmorten ju müffen: nientanb, ober beffer,
überhaupt nicht ju antmorten, aber ich rief in meiner Per*
mirrung: ,,3cf)!"
„3ch! 3ch! BJer iß 3ch?" rief 6mil.
Öa fchämte ich mich furchtbar megen meiner bummen
Antmort, trat in ben Türbogen jurücf, machte mich, mit
Z84
bern Jlücfen mich an bie Xür preffenb, bünn, fo bafj 6mil
mich nicht fcfjen fomtte. 6mtl rief in bie DTarfjt hinaus:
„BifT bu es etwa, Bater?"
Äeine Antwort oon mir. ©amt rifj id) toieber wie toll
an ber .Klingel. 3 d) frfjellte nicht mehr, id) läutete, ltn*
unterbrochen. ({Jebe Surcht war hin!)
©as SenfTer mürbe oben gefchloffen, unb es bßeb eine
TBeile füll, fluch ><h gab «Ruhe. 6ntil mußte hoch 3eit hoben/
in feine £ofe gu fahren unb heruntergufommen.
6 rfl in biefem flugenblicf überlegte ich mir, was ich
eigentlich wollte. 3n bas J?aus fommen, ja! Aber was
bann? Böfes tun? D nein! eigentlich mar ja mein Ber*
fprechen ausgeführt, meine oerpfänbete 6hre eingelöfl,
menn id) ins ijaus gebrungen mar. IBenn es mir gelungen
mar, oielleicht nur bis in ben Hausflur oorgubringen. Aber
mas bann? Damit mar bie Sache benn hoch nicht erlebigt,
bas mar flar. ©och mit gefagt, Böfes tun? Jtiemals! 3ch
hatte ja auch fein JTteffer, fein Seuerjeug. 3cf> wollte nicht
morben, nicht fiehlen — o nein! llnfere Bäter, unb be»
fonbers mein Bater, waren angefehene Bürger, fluch wohl*
habenb mar mein Bater, unb gu (Tehlen hotten mir nicht
nötig. 3ch taflete meine Xafchen in ber Suche nach etwas
ab, um mir fogufagen oom EJerfgeug meine Aufgabe bif»
tieren gu (affen. 6ott fei ©anf, ich hatte ja eine JTtasfe!
Natürlich hotte ich eine JTtasfe! Eine fcfjroarge oon Saft»
nacht, flnnchen hotte fie geflem bei ber lebten Beratung
noch auf meinem Seficht angeprobt, ©as eine Schlufibanb
mar fchobhaft geroefen, fie hotte bie JTtasfe mitgenommen
unb ein neues barangenäht. BJir trugen überhaupt —
bas hätte ich übrigens nicht oergeffen bürfen gu fogen —
bei unfern heimlichen 3ufammenfünften unb Beratungen
immer JTtasfen. Schwarge, gelbe, rote. Ohne JTtasfen
mären mir ja feine Berfcfnoorenen gemefen. ©er Schwur
in Ehren, aber bie tfjauptfache mar hoch bie JTtasfe! ltnb
wie nötig mar mir je£t bie JTtasfe; unbebingt nötig! 3cf)
burfte ja nicht erfannt werben. Cmil hotte gmar nicht meine
Stimme erfannt, aber er hotte mich hoch ficher oft genug
in ber Straße gefehen. 6r burfte mich um feinen Preis ber
185
HJett erf ernten! 6 t f>ötte mich Ja feinem Hafer angegeben/
unb ber f>ätte micf) angejetgf. HJäre oietleicht gar ju met«
nem Hafer gefommen. Jltc^f ausjubenfen! 3<f> fürcf>tete
nicht bie Stocffjicbe Haters, mein Si^fletfrf) roar baoon ge*
gerbt, aber meinem Hafer öffentlich Unef>re antun — eher
märe icf) in bas giftige HJaffer bes Gastanfs gegangen ju
ben toten ^unben unb .Rahen!
3 cf) 30 g bie fcbmarje JRasfe an. 6 s toar pemlid) »arm
barunter. Sie Hielte auch an ben IHimpem. 3ch brummte
oor mich hin, um feßjußellen, ob icf) — für alle Sälle! —
meine Stimme oeränbem fönnte. Das hätte ich beute, flatt
mit Bafletn unb Jli<f)tstun ben Xag bur<b 3 Ubringen, üben
follen, Teufel! Aber nun mar es 3 U fpät. 3<b oerfucf)te, fo
Hef 3 U fprerfjen, mie ber Hafer fprach; bocf) bas gelang
nicht. Herbammt, aber egal! 3cb mürbe frfjon nirf)t erfannt
»erben, icb f>atte Ja auch nichts Böfes oor...
3m 4>aufe blieb es füll. 3<f> riß mieber an ber Glocfe unb
[(baute ber Drbnung halber bie Straße f)irtaitf unb hinab,
ob nicht hoch ber Schulmann ober irgenbmer fäme. Aber
unnötige Sorge, niemanb fant, unb märe Jentanb gefom*
men, bie Herfchmorenen in ben Ärautfelbem hätten mi«b
gemarnt — ber Pfiff für fotcf>e Sälle mar eingeübt morben
—, menigßens auf Annchen mar Herlaß.
Da ... hörte ich etmas hinter ber Tür. Slüfiern. 6 mil
unb feine größte Scfjmeßer mo«bfen hinter ber Xür flehen.
3cb hatte bas leife Schleifen nacfter Sohlen gehört, meinte
i«h- ^ 6 s mar mir auch, als fähe ich ben fchmachen £icht*
fchein einer .Rerje im Schlüffelloche. Die beiben fllteßen
flanben gemiß hinter ber Xür, gitternb oor Surcht, unb
»arteten. 3cf) »artete oor ber Xür. $efmar meine Ge*
bulb 3 U 6 nbe. 3ch riß mieber furg unb energifch am
61ocfenflrang.
„HJer iß benn ba — 3 um Xeufel?" frug fofort bie
Stimme 6 mils hinter bem Brette. Daß 6 mit „jum Xeufel"
fagte, gefiel mir ^außerordentlich. 6 r mar ein mürbiger Geg»
ner. 3ch mürbe ihn anßänbig behanbetn. Daß er herunter*
gefommen mar, im nachtfchlafenben Jr>aus, unb bie
Scfweßer mit ihm (hoch bas mürbe Annexen ficher auch
186
getan hoben), mar aller 6f)re mert. Aber baf} er „jum
Teufel" fagte, mar einfach groß!
3rf> antmortete natürlich nicht. 3tf> hörte mein Jrjerj fo
(aut Hopfen — ich meinte/ bie Amber milfiten es burch
bas Türbrett hören.
„Biß bu es borf), Bater?" frug je0t Emil. „Biß bu
etma früher jurürfgefommen V‘
Äeine Antmort oon mir.
„&r iß fortgegangen"/ l)örfe ich bas JTläbrfjen flüßem.
3<b belehrte fie anbers, fyal 3 d) riß bie Alingel.
„6s mirb ber Poßbote fein", fagte 6mil beiläufig — es
mar beuttich, mie er feine llnrube bef>errfrf)te. jcf) hörte
Jteßeln an ber Sperrfette. Aber bie Tür mürbe nicht ge»
öffnet.
„Sfobtn Sie ein Telegramm?" frug 6mil laut, /,6s mirb
Öem Bater etmas jugeßoßen fein*'/ fagte er prachtooll fa<h»
lieh unb brüberlidf) ruhig jur Schmefier. „flngßige bicf>
ni<f)t, 4?ilbegarb, mir müffen es tragen."
Gleich mürbe bie Tür aufgehen! 3cf> brüefte mich in bie
6 cfe jmifchen ber JTiauermanbung unb bem linfen Tür«
ftügel, ber fefl bleiben mürbe, menn ber rechte fich öffnete.
„Aber jum genfer, fo reben Sie bocf)t" brüllte je£t 6mil.
(herrlich: genfer! JTicht mahr?) „tyaben Sie 3hre 3unge
oerloren ober finb Sie befoffen?" („Befoffen" mar ent»
fchieben etmas roh.)
„Bielleicht ifl ber JItann flumm", entfchulbigte leife Jpil»
begarb.
„Bielleicht..." brummte jornig 6mil unb liefi bie Sperr*
fette fallen. Sie fchlug (aut miber bas $)olj ber Tür. „j)il*
begarb, (>a(te bie Äerje", fagte Cmil brinnen laut unb un»
befümmert. „IBill hoch fe(>en, roer ju nachtfchlafenber
3eit ..." fagte ber Jrjelb noch. £in Schlüffel arbeitete im
Schlöffe.
3e0t mürbe es fommen! (3<h fühlte, ich war fühn mie
ber Teufel!) BJenn bie Tür fich öffnete, mußte ich um
jeben Preis hinein.
t>ie Tür ging auf. Sofort hotte ich eine J?anb unb eine
3erfe im Spalte. 3<h glitte an einem Türflügel entlang unb
187
fcbob mich mit meiner rückwärtigen Breitfeite, inbem id>
©orn auf oier Jingern unfern Pfiff in bie Ttacbt Riefte,
Öen gegerbten Körperteil ooran, in bas 3nnere bes Kaufes.
3m 3Tu waren bie Berfcfjworenen ba. Alle masfiert
Erfler war Jafob, {weiter Annexen. 3<b warf mich herum,
unb wir fluteten ins j?aus. „6s finb nur Kinber", hörte
irf) Emil rufen. Das ärgerte mief).
Emil unb Jpilbegarb waren im Jpentbe. Oben auf bem
Treppenabfab flanben Eilbarb unb Xbusnelba — Ja, fo
hießen fie! 3m Augenblick fannte icb »b^c Ttamen! —, bie
beibe noch jung waren, oielleicbt im Alter non Abc«
Schüßen. Sie febrien unb flüchteten. Emil war ein fiarfer
großer Junge, faß ein Erwaibfener unb in meinem Alter.
Er (lanb guerfl flarr. Dann warf er ficb wie ein £öwe in
bie Schar ber Einbrecher. Aber unfer waren ju oiete, feine
Kraft brach, er würbe in ben Keller geftoßen unb ber
Schlüffe! abgejogen. ^ilbegarb blieb unbeachtet. Sie febrie
in merfwürbigem Sifiefton, hielt waefer bie Kerje hoch,
wäbrenb wir Emil erlebigfen, Somit wir beffer feben fönn«
ten, unb febrie gleichmäßig. Kein 3weifet, fie würSe fo noch
baßeben, wenn wir {urücffämen, naebbem wir bas $aus
unterfucht batten. Denn bas taten wir! 3uerß bas 3immer
neben ber Haustür im Erbgefchoß, bas mit ben oerfchloffe*
nen Senßern, mit ben ewigen Soljlaben, bas tms oon ber
Strafe fiets fo unoerfchämt berausgeforberf hatte. Das
3immer irgenbwelcber Blaubartgeheimniffe! löir fielen
auf bie Tür, wir fprangen hinein. Das ging febr einfach,
bie Tür war nicht ©prfcbloffen, — bas 3lmmer leer. 3m
matten ßicf>tfcf)ein oon j)ilbegarbs Kerje im $lur fchien
uns feine fyofye Seen ungeheuerlich. £eer? £eer, bas ge«
beimnisootte 3immer ? Keine abgefebnittenen Köpfe, feine
aufgereihten 3ebennäget, feine Sfatpe, feine Bütten oott
roten Blutes? £eer —? (Sehr natürlich, es war bas löarte«
{immer für bie Patienten gewefen, bas ausgeräumt wor«
ben war, als ber Arjt feine Prajis aufgegeben batte, um
fich ausfchliefilich bem £eben mit feinen Kinbern ju wib»
men. So fam es nachher heraus.) Aber uns erbofle fie
mächtig, bie £eere unb OTücbternbeit bes rätfetbaften Kau»
188
mes. 3urücf in Öen Stur/ an bie anbere Xür! ©ort wür*
ben bie Bütten fielen! Auch biefe Xür gab wiberßanbstos
nad). ©as hintere 3immer war, tote wir fofort erfennen
tonnten, bas Stubierjimmer bes Hafers, bie IBänbe toaren
mit Büchern bis an bie ©ecfe zugebaut. 3Titr, ber ich an ber
Spi£e toar, fcfjlug baoor ein fo gewaltiger Jlefpeft in bie
6 tieber, baß Id) UJaff erbrang befarn unb im Flurwinfel
an oorgefebener örtlich feit, bie id) leicht fanb, austreten
mußte. Uber mir auf ben Ireppenßufen polterten fcfjon
bie Schuhe ber Semebrüber hinauf. 3cf) hinterher unb balb
toieber oorauf. 3immer nach 3immer tat ftch auf, im erßen
6 t od toaren bie XBohnräume unb bas Schlafzimmer bes
Paters. JTirgenbwo etwas Befonberes, Auffälliges, fo
etwa... fagen wir eine Kapelle jum Gögenbienß mit inbi*
(«hen Golbfiguren, eine Geißelfammer, eine Reliquien»
fapelle für bie abgeßorbenen einbalfamierten Jpausfaben.
Aber wir fanben ein geweißtes 3immer mit Xurngeräten,
fchwebenben «Reefs, Sfranteln, ^olj* unb Gifenßäben für
Freiübungen. «Kann man unfere Gnttäufcfiung oerßehen?
©ann fann man auch unfern 3om begreifen, Unferer
Unternehmung war fojufagen ber ßttliche Boben entzogen,
©er fogenannte Saal im erßen Stocf war finßer, febwarz.
Aus Angß fingen wir an zu fchreien. ©aburch Z u Hiut
gefommen, fchrien wir unausgefebt, währenb wir f)öh c r
ßürmten. Unten fchrie Jpilbegarb in ihrem hohen Xon, oben
fchrien bie «ftinber (benn im zweiten Stocf fcfjliefen bie Äin«
ber, nach oorn bie Knaben, nach braten bie JRäbchen). Xhus*
nelba hatte nicht oerfäumt, ihre «Kerze auf bie Xreppe z«
ßetlen, als fie flüchtig gegangen war, fo baß feiner oon
uns ein Beinunglücf erlitt. Sie unb 6'tlharb waren in bie
Betten zurücfgefrochen. UJir ßampften, raufchten, beulten
bur<h bie 3immer. ©a fanben wir unferen Xriumpf). Unfer
Genügen war oollfommen! Jjjin unb ber, hin unb b**/ 8**
fprungen, getanzt unb bie Äinber in ben Betten gefchrecft.
©ie einen weinten, bie anberen, ben &opf unter ber ©eefe,
fchrien, baß es wie aus einem «Keller Wang; bas jüngße
lag wie leblos ba. Aber es würbe nicht ßerben, ba toar
feine Gefahr! 6s würbe ßcb fchon erholen. Cin Junge im
189
Bett (>atte bas Dtachtlichh ein Irinfglas mit öl unb
S(f)rotmmbocf)t barauf, in ber Jjjanb unb fab uns entgei«
ßert ju. IDir tanjten einjeln unb in Gruppen; toir tanjten
auch im Greife; wir miiffen nicht fc^Iecfjt ausgefcbaut
haben: oor bem Gefixt bie fchmarjen, rotem gelben JTtas*
Jen, ber eine eine bunte Detfe, oom Boben aufgenommen,
ber anbere ein weißes £afen umgefchlagen, aus einem Bette
geriffen. llnb 6ef<f>rei wie in einer ^ejennacht. Da batte
ich einen großartigen Einfall. 3eb befahl — mar i(b nicht
ber Anführer? — alle 3ungens foUten fi<b an bie Jrjänbe
faffen, Anna in ber JTiitte auf einen Schemel nieberhocfen.
£s gefchah; wir liefen, tanjten, fprangen, roßen um fie,
je länger, um fo heftiger, unb fangen:
Die Anna faß auf einem Stein, einem Stein,
einem Stein,
bie Anna faß auf einem Stein —
einem Stein!
Sie fämmte fi<b ihr golbenes Sjaar, golbenes
$?aa r, golbenes J^aar,
fie fämmte fich ihr golbenes £aar —
golbenes 4?aar!
llnb als fie bamit fertig war, fertig war, fer*
tig war,
unb als fie bamit fertig war —
fertig war!
Da fing fie an ju weinen, weinen, weinen,
ba fing fie an ju weinen —
weinen!
Sag, Anna, warum weineß bu, weineß bu,
weineß bu,
fag’ Anna, warum weineß bu —
weineß bu!
3cf) weine/ weü ich fierben mufj, fierben mufj,
fierben mufj,
ich weine, wett ich fierben mufj —
fierben mufj!
fluffcfjrei bes Meinen Qungen: bas 7l<id)tüd)t war ttmt
ins Bett entfalten; bas DI batte ficf) in bte £afen er«
goffen; bas Bett fianb in flammen.
Gefcfjrei unb Sntfe£en! Die Berfcf)worenen f(offen burtf)
bie Tür ab unb bie Treppen hinunter. Sine Karaffe XOaffer
ins Bett gegoffen — aber es holf nichts mehr.
Bei bem grellen Seuerfcfjein fprangen bie Kütber oon
ihren Sägern, auch bie, welche mit bem .Kopf unter ber
Derfe gelegen hotten. Den fleinflen flarren Qungen rifj ich
aus bem Bette; ho! er fianb fofort auf feinen Beinen unb
fonnte laufen wie bie anberen. Die Kinber fchwammen ben
Berf<f)worenen nach bie Treppe hinab. Sin Griff oon mir
burcb alle Betten, um mich gu überzeugen, bafj fie teer
waren — oh, es würbe fcf>on niemanb gu Schoben fom»
men! — auch ich fprang aus bem brennenben 3immer.
Die Treppe hinabgeflogen! Unten (iefjen fie eben ben Smil
frei, unb attes, Berfehxoorene unb Kinber, weifje Jpemben,
jchtoarge JTiasfen bttrcheinanber, ergoß fid) burch bie
Haustür hinaus.
Die Strafje war (eer unb bunfel. Aber bie Senfler bes
oberfien Storfes waren rot unb bie Strafje unheimlich er*
leuchtet. Der Solbat brüben neben bem Gefängnis fchofj
Alarm in bie £uft, unb batb läutete auch im Klofler flür»
mifch bie 6lorfe. Die Berfchworenen floben nach Jpaufe.
Auch ich. 3ch fam in bie IBohnung; ber Kater war noch
nicht oom .Kegeln baheim. Kleiber ab unb hinein ins Bett.
3ch (iefj mich burch ben oom £ärm ber JTacht erwachten
Hiatthias aus oerflelltem Schlaf werfen.
Jrjei, bas war ein £eben in ber Strafje! Aus bem gweiten
Storf fnallten je£t bie flammen. Die Feuerwehr rafle her«
an, $arfe(n lohten, fchweiten; rot flammten bie Srghelme
ber Seuerleute. Schläuche gufammengefchraubt, balb flieg
ber Strahl, birf wie ber Stamm bes Pflaumenbaumes, oon
dem TTCicfael (ber Erledigte) abgeßürgt war, aufwärts unb
fcfte in die Siammen. IBeißer Dampf! Die Straße füllte
ficf mit fcfwargen JTtenfcfen. poligei war aucf ba unb
machte ficf) wichtig...
6 s iß wirflicf niemanb gu Schaben gefommen. Die Ätn*
ber würben oon mitleidigen Santilien für bte tfacft auf«
genommen; ber Bater, gerade oom Regeln feimfommenb,
brachte Silfarb gu uns. 3cf räumte ifm mein Bett ein.
Alles tabelte ßreng ben Argt, ber feine Äinber allein gelaf»
fen. Der gweite Stocf brannte aus. Aber icf förte am näcf«
fien Xage oon Bater, baß bas Spxua gut oerficfert fei unb
alfo aucf) ber Argt feinen Schaden erleiden werbe. Df,
ber Bater fcfimpfte nicf)t fcflecft auf ben oerrücften Dof«
tor! 6r fönne frof fein, baß ifm feine „BSangenbude'*
— fo fagte Bater — oon ber Belieferung fefön wieder
aufgebaut werbe. Unb die Bauleute befämen aucf) eüoas
gu tun. Der 3om auf ben Argt war groß in ber gangen
Borßabt. Jtiemand glaubte ben Grgäfiungen ber Binder.
6 s feien nur alles ^aliuginationen ber kleinen gewefen,
die ficf) oerlaffen gefüflt unb fefreefliefe Xräume gefabt
fätten. Dabei fei denn eines, bas aus Angß fein Jtacft*
lieft angegttnbet, irgendwie unoorfieftig gewefen. Selbß
6 mi(s deutlicf er 6rgäf tung würbe fein Glauben beigemef«
fen, um fo weniger, als die poligei beßimmt erflärte, es
fei in ber gewiffen Ttacftßunbe fein JTCenfcf in ber Straße
gewefen. Tticfts fam feraus...
3Iocf lange f at es damals in ber Jtacf t gebrannt. Die
Dampffprife fat einen XeUf oon lBaffer auf ben gweiten
Stocf gepumpt. Die BJolfen lagen rot. Die Slammen fcfno*
ben wie eine iperde oon IBilbpferben. Die Dacf fparren ger«
barßen fnaltenb. 6s regnete glüfenbe Jtägel. 3cf fonnte
bas alles oom Senßer aus fefr fcf ön fef en. €s war groß«
artig!
192
Daniel u n Ö Ö e t H n \ f e t
Bon Crnfl BJeifS
\ n biefer Jlacht träumte ber Äa'tfer oon Babplon tn
feinem taufenbfenfirigen Palafie.
©tefer 5ürfl war ber fchönfle, tlügfte, reichfle JTtann
feiner 3eit unb ber glücffeligfie. 3Torf) im After oon fünfzig
(fahren fyattt er bas Ausfehen unb ben frohblüfjenben
JRunb, ben lichtflrahlenben Blicf ber erflen 3«genb.
©ie mit ifjm geboren waren, bie mit ihm in bie erfien
Schlachten gegogen unb, auf ben Armen ber fiegreichen
Krieger getragen, im TTIittagsfubel gurücfgefefjrt waren
— bie Gewaltigen unb bie Jläte feines «Keines, bie Jreunbe
feines Augen Jpergens, affe waren fchon gealtert, mübe,
perglommen, fpötabenbliche Seelen. 3n matter «Kühe fager»
ten fie im grünen ©ämmer, im fühlen 3nnern ihrer weiten
Schlöffen Cr, ftebufabnegar, «ftaifer oon Babplon, begatt«
berte alle Blenfchen um ihn burch ben Smaragbglang
feiner fnabenhaften, fchmalen Augen, hoch über bem Ge«
wölfe feines fchwargblauen Bartes, burch bie gewichtlofe
Anmut feines königlichen Ganges, burch fein leifes Herr«
fcherwort. JTie oor ihm noch nach ihm hat bie bewohnte
Crbe einen £önig feiner Art gefehen. Cr, ber riefige, h°h s
JTtann, hielt fleh aufrecht auf bem Xfyron unter bem ge«
blumten Baibachin, feine Sinfe, fo gart gegüebert, faßte
einen elfenbeinernen Stab mit filbernen Jlingen, bas 3ei»
chen feiner JTtacht. Cr trug feine IBaffe, mitten im Gewühl
ber fchwarg gepangerten Trabanten weilte er ohne
Schwert, er faß fchlicht unter ben anbem, fprach Jlecht oom
frühen JTIorgen an, empfing bie Heerführer, Statthalter,
Satrapen, bie JTtinifler bes Hmtfes, bie Priefler, Iraban«
ten, bie Dberflen beT Sflaoen unb Sflaoinnen, bie Scf>ap«
meifler, Steueroerwalter, bie Gefanbten ber fremben Böl*
13 SDt* fceitfftfe Tabelle.
193
fer, befugter uni) oerbünbeter Stämme, laufcfjte allen
fremben Sprachen unb ben eintönigen ÜJorten ber Dol»
metftfjer, blitfte fte an unb lä$elte, wäfrrenb in ben Saiten
feines weiten, fommerlitfjen Gewanbes feine Eieblingstiere,
ifabeiifarbene UJinbfpiele ruhten unb mit ifjrer blauroten,
langen 3unge bie Meinen 5üße beffen Uebfofien, oor bem
bie Grbe gitterte non ifjrem Aufgang bi9 gum Untergang,
be9 Sjtxxn non Babplon, .Kaifers oon Werften, Scf)af)3 ber
beiben gtüiflicfun Arabien, Sultans ber Gewürghtfeln,
JTToguls oon Jnbien, Königs über 3uba unb i^re längfi
gerßörte Sefie, Qerufalem.
Abenbs ritt er auf feibenen Sattelbecfen fein feingfie»
briges Pferb. Oie ungefcfjmürften 3ügel läffig in ber Ein»
fen. JTiit ber rechten ^anb flreifte ber riefige JTiann bie
Slanfen bes fjodjatmenben Tieres, er f>afrf)te eine Blume,
bie aus bem in JTiillionen rotmmelnben Bolfe feiner Diener
unb Untertanen if)m gugeworfen tourbe, wenn er o{)ne Be»
gleitung au9 ben Toren feines Ijojjen Srfjloffes burcf) bie
HJacf)ttürme ritt, oorbei an Paläßen, Gartenmauern unb
Bafaren, über bie f)o<b gezwungene Brürfe, bie über bie
UJaffer Babptons füf)rt. Sein ebles Gefickt toar angef>au(f)t
oom roten Staube, ber fyod) in ben Straßen ber niemals
raftenben Stabt lag.
Jüan nannte ifm ben Sommerfttrß, ben geregten £ö»
nig, ber nid)t mit bem Tobe flraft notf) aucf) mit JTiartem
peinigt. 6r f)iefS ber Uolfserwä<e, bie Quelle ber ^olb»
feligfeit, bas Jjjerg ber armen BJelt unb if>r Trofl.
An feinem ^ofe waren taufenb flrgte, aber er war nie
franf. Gr fjatte taufenb Tafelgenoffen, längfi befiegtc Sür»
flen, lanbfrembe Satrapen, breigefjn Häuptlinge ber brei»
gefjn oerbannten Stämme Gfraels, gweitaufenb JTtame*
lurfen, unjäf)lige Didßer, Sänger, Priefler, Blumengttcfcter,
Düftebereiter, Äörfje, Jleitfnetfjte, Seibenweber, Golb»
Zrniebe, Sattler unb Scfjneiber, unb niemanb gäfßte bie
Hanbwerler aller Gewerbe, bie in bem Abglang feiner mit*
ben 3läf>e wohnten, fein Brot aßen unb feinen HJein
tranfen.
194
Er gog ötc längßen, geraben Straßen burcf) fein £anb.
Cr erbaute an feinen Slüffen Oämme, um bie Bewäfferung
ber Selber gu oerbeffern, er ßiftete oiele öffentliche Bäber,
bie Greife fammelte er in flfpien, unb bie Bettler ließ er
nicht ohne Obbach unb Brot. Gr ließ Brüten aus weißem,
weit herbeigetragenem Stein unb bunflen, eifenßarfen f)öl*
Jemen Bohlen in bas Bett ber Slüffe fchlagen. Gr ließ
Tempel errichten, mit golbenen Bilbern barin unb fupfer»
nen «Roßen für bie Opfer, unb er opferte allen Göttern
unb banfte allen für fein Gtütf unb fein Gefegnetfein.
Gr fannte ber JHenfchen IHefen unb ihre böfen Gebart»
fen unb ihre guten gugteich. So teilte er Strafe aus unb
£of>n unb wog richtig mit ber XBage, bie ihm oerliehen
war.
Gr gog gegen Sürßen gu Selbe, unb bie ßarfe Seße 3eru»
falem wiberßanb ihm nicht. Das geblenbete 6ef<hlecht 0u*
bas würbe in ihrem lebten .Röntg geblenbet. Oer heilige
Berg ging in .Rauch unb Slammen auf, bie oerßoßene Ge*
meinfchaft ber 3uben würbe in 3ebefia, 3°jofim unb Ra»
hei noch einmal oerßoßen, fie würben im Schlangenoer»
lies gehalten, ben falten, giftigen Tieren gleich, nach
Schlangenart befleibet mit «Regen unb getrotfnet mit XOinb
unb gefüttert mit eflem toten Gewürm, bis jur 6eburt
bes Sohnes, bes reinen Prirtgen Gottes, ber Oaniel hieß*
Oocf) JTebufabnegar führte nur bas Schwert eines anbern,
er fannte bie Jtamen ber Bölfer alle nicht, bie ihm unter»
tan waren, noch bie ihm bienen mußten, nachbem fie felbß
Könige unb Sperrtet gewefen. So würbe iburch bie blinbe,
leichte, freubige J?anb bes JTebufabnegar bas Gefchlecht
3ubas geßraft unb bie JTacf>fommen Oaoibs oerfümmert.
Sein IJolf war reich unb gufrieben bis gu biefer 3eit,
alle Jpäufer ooll Gefreibe, Sjyab unb Gut, itarnet, Pferb,
Gfel unb «Rinb, J?erb unb Hausgerät. Bis gunt lebten Oie*
ner bes Äaifers hotte jeber Äleib, Oecfe, Teppich unb HJanb»
behäng, oor bie Senßer gu fpannen gegen bie JFjlhe, Golb,
Silber, Gifen, Äupfer, Schmucf für bie Srauen, «Ring unb
.Rette, Gewürg unb feine Speife aller Art. £ange herrfchte
Srieben in ben fchönen Gärten unb £achen in ben Gaffen.
T 9?
13 *
Alles war gefegnet unteT bem gefegnefen ^errfdjer. Olea
ifl öle Gefehlte DTebuPabnejars bis ju feinem Traum.
3n berfelben Jtocf)t, bo bas £id>t Gottes Daniels f>oF>e
Stirn firelfte unb in feinen blauen/ Haren Augen auf»
ging mit wtffenbem Glanj, ba Parn über ben Äaifer ein
Traum unb ein böfes Gefleht.
IDie tief er im weiten, hoben, offenen Sommerfaal fcf) tief,
ben Kopf oon Seibe umf(f>meiif)elt, auf £einwanb t»om
reinflen Saben ben Körper gebettet, auf ber ferneren Fai*
(erlichen £ager(latt, Geburt unb Sterbelager feines Ge»
fcf)lecf)tes: Gewappnete ju feinen ^äupten, Jtetfige ju fei*
nen Süßen, alle unerbittlichen ^jerjens unb nie übertroffen
in U»rer Treue; Dienerinnen, golbäugige, über feine linPe
i?anb gebeugt. JTIit ihren herabfatlenben buftenben Siech»
ten feine friegerifche Jtechte befchattenb, fpät in ber Jtacht.
6s war nicht froher Schlaf, ber ihn berfte, ba er (lohnte
unb bitter feufjte, ba feine fonfl fo freubenoolle Stirn in
EJellengewittern gefurcht war, ba feine $änbe über ber
hoch atmenben Bru(l in einem Knäuel fich oerfchlangen,
Jlattern gleich, bie auf h*tfiem, fanbigem Boben Fniflernb
fich paaren. Seine £ippen, gebörrt im (Irömenben, Peuchen»
ben 4?auch, waren bleich über bem fchwarjblauen GewölF
feines Bartes.
Jüan wollte ihn werfen unb löfen, brachte Sarfeln unb
auf £euchter geflerfte wohlriechenbe dichter, man rief ihm
ins Ohr unb fcf)lug mächtige Glorfen vergebens. Aber in
ber JTlitte ber Jlad)t erhob er fich, Kaifer oon Babplon,
richtete fich auf im hell beleuchteten Saat, fafjte bie Säulen,
bie baumflarPen Streben, bie bis an bie getäfelte Derfe
reichten, als wären es Stämme oon Bäumen im UJalbe,
er taflete an ben glatten, fchön befangenen BJänben wie
blinb. Seine offenen, fmaragbfarbenen, fchmalen, Pnaben»
haft gefchnitfenen Augen in büflerem Seuer, feine Ohren
oerfchloffen, feine Schritte im Gemache, fchleppenb jur Tür
unb jurürf, wie gefangen, an eine .Kette gefchloffen. Die
XDächtcr riefen im pof e, bie Jlachtrunbe fcfjlug an bie
Glorfen, gegen bas tief, ruhig tönenbe 6rj; ben ^weiten,
196
den JTTorgengang fünbeten fie an, ober immer noch irrte
er, ber einfl glücffelige Sürfl, wie ein Jrember, ein Ge«
blenbeter, ein Träumenber, nie gu weifen, ein Toter, nie
3 U beleben, burcf) bas weite, fühle Sommergentarf). Oben
in ber oon neun JTiauern umgürteten, weißen faif er liehen
Burg auf ben immergrünen ^ügeln, über bem Teiche,
über ben ßotgen Pappeln, ben buftenben Beeten, auf ber
Spi£e ber mächtigen Stabt gwifcfjen ben Strömen ber
UJelt, Babplon.
3 ept fefjrte er ficf) gu ber fiagerflatt, aber nicht um gu
ruhen. 6 r ergriff bie oier aus 6 rg gegoffenen, tief in ben
Boben eingeiaffenen £öwentapen, bie Stüpen bes Bettes
unb if>ren auf ewige 3eiten gegrünöeten Unterbau, eine
nach ber anbent, rüttelte an ihnen unb lockerte fie nicht.
Dann griff er bem ehernen £öwen in bas aufgeriffene
JTiaul, er ßemmte [ich mit beiben -Knien mächtig gegen bie
Brufl bes fchweren, riefigen Tieres, er brüefte bie Daumen
beibe bem £öwen in bie ehernen Augenhöhlen, flöhnenb hob
er bas ungeheure Tier aus bem Boben, ber in feinen
Grunbfefien bebte. So entwurgelte er bie £agerßatt unter
furchtbarem brachen, bis ins Beben ber JTiauern. fofyt be*
tub er fich mit ber gangen £aß. Uber feinen Jlatfen, ben
Äopf in bes -Äaifers Haupthaar gebettet, ragte ber Pupferne
£öwe, bie feibenen Riffen, bie leinenen Betten hingen f)tr»
ab über feinen gebeugten, bienenben «Hülfen, fo fchleppte
er bie £agerßatt an bie Pfoßen beim Senfler. JTiit ben
3ähnen faßte er bas SenflergehHnge, ben fein gewirften
Teppich, raffte ihn unb öffnete bas jenßer. 6 r trug bie
fihwere £aß auf bem «Rücfen, hoch feine Gewänber am
£eibe. Bloß fein oom gefenften Raupte tief herab»
wallenber Bart, in golbenen 5unfen oom -Kergenglang her
metallifch erfunfelnb, betfte bes nacften Sürßen JTebufaÖ«
negar aufgehobene Schorn. Sein «Rücfen glängte in hefti¬
gem Schweiß unter ber unföniglichen Bürbe.
3 n feinen Jpänben wanfte bas ungeheure Gewicht bes
oier fähigen, gleißenben Tieres, eingebettet in bie fünßlich
gewirften Riffen, auf benen er geruht hotte bis jeht. 3Tun
ruhte olles auf feinen Achfeln.
197
Unter ben Senflern bunfelten bte herrlichen, buftenben
Gärten. £ichtgefpiegelt im ooaten Teuf) fchwanften bte
hohen Pappeln mit ihren Hebengebinben, bie Palmen mit
blauen, üppigen Blüten in ben lüinfeln oerrauf cfjenb,
gähnte ^trfdfje wollten füll in leichtem, febernbem Gange
jur Hachttränfe eilen, Hachtoöget, aneinanbergefchmiegt
tote fchwarge, glängenbe Ärüge, hielten ficf) im bitten
£aube geborgen, hellere Hebet famen oon weitem, in faum
erfennbarer Seme fchimmerte bie feuchte J^öfjle ber Sthlan»
gen, wo bie Könige ber 3uben fotange gehäuft, weiter noch
im Umfreis fchwebte bie ungeheure, für feinen Bfitf ganj
ju burthmeffmbe, herrliche Stabt Babplon, an bem [eiben*
gtängenben Stuffe gelegen, oon facfeltragenben JTTännern
jur 3Xad)t burthfehriffen unb treu bewacht. Unter ben
leicht gehäufelten löolfen am Hanbe bes Jrjimmels, faum
noch ju ahnen im gartfehwebenben Schimmern, im mor»
genfrühen Hebel über bem Sluffe ber aufgebenbe Tag.
3n biefe Tiefe ließ ber Äaifer bie Stätte feiner Hube
fallen. Schmettemb ftürjte bas Grj burch bie Pfoflen ber
Senfler, über bie aufraufchenben 3wetge ber Pappeln flat»
terte e9 hinab, ba9 leicht gewirfte Gewebe feftwamm licht
im erwadf>enbm JTtorgen auf bem fcfuoargen Gewäffer bes
Teiches, J^otj mit golbenen Jtänbern, Äiffen wie Schwäne
gebaufcht, unter Schilf gebüeft unb oerflecft. Oer riefige
^errfdfjer aber brüefte [ich fcf)eu in bie leeren XBinfel, er
oerlor [ich jwifchen ben Spuren ber ausgeriffenen HJur«
jeln unter bem leeren Baibachin. Seine einft Waren flugen
waren getrübt, bie mächtigen, fchänen firme aufgeftüpt
auf bie im Srofl gitternben bläulichen .Knie. BJachenb unb
fchiafenb gugteich. So flarrt er burch bte Gewalten ber Sei»
nen unb ifi nicht unter ihnen. Gewaltige beugen [ich gu
feinm J?äupten, Jleifige beten gu feinen Süßen, jpotbfelige
liebfofm feine Hechte, unb jugenblich Schöne weinen über
feiner £infen. Seine Sohlen finb fchwarj. 3h« erweeft
nichts. Gr mht, wie ein Tier in ber ZBitbnis feine Glieber
um [ich fchlingt, naeft auf bem naeften Gflrich, ben bie
Süße ber eitenben Oiener befchmupt haben. Seine Treuen
rufen ihn: £ieber Äaifer, erwache! er antwortete nicht, fo
198
war er oerßört. Denn Jrieben war um ifyn bis gu Me*
fer Stacht. JRtt feinem wallenben, fchwargblauen Barte
wärmt er feine narften Süße, benn e9 friert ihn fefjr. So
Bauert er bis tm morgen, ba er oöllig erwart.
3n bäfem 5euer blinBte am morgen fein Blirf, in halt*
(ofem 3ittern faßt feine j[>anb nach bem elfenbeinernen
Stabe mit ben fUbernen Hingen, bem 3etrf)en feiner macht.
6r hüllt ficf) in bie rafcf>elnben fcbarlachfarbenen Hieiber
feiner tiebßen, jüngßen SBlaoin, oerbirgt fi<f> bi9 gu ben
flugen unb winBt allen, bamit fie geben. Sein 5uß flößt
ooll Xlngebuib nach ben IBinbfpieien, bie an fdjön gewirB*
fer Hoppei gebunben gu ihm bereingefübrt werben. Dann
fcblögt er mit bem Stabe ben Boben, ruft ben böchßen ber
Heicbsoerwefer unb gebietet ifjm: Sorbere gufammen auf
eine Stunbe alle bie Sternbeuter unb HJeifen, 3auberer
unb Cfjaibäer, bamit fie oor mich treten unb mir meinen
Traum fagen foilen. Bor flbenb folien fie oor mein fln*
gefidf)t Bommen, benn ich oermödjte nicfjt gu fcfjlafen noch
Hube ju finben, ebe icb weiß, was mir geträumt bot.
Bor flbenb oerfammeiten ficb bie Sternbeuter, Cbalbäer,
3auberer unb BJeifen unb füllten ben weiten Sommer*
faal mit bem oerflümmelten Gßricb unb ber ausgeriffenen
Stätte feines Schlafes, llnter ihnen war Daniel, ber Sohn
3ojaBims, bes oertriebenen Hänigs oon 0[uba, er, ber Pring
Gottes. Der Haifer fpra«f) gu ihnen: ,,3cf) batte einen
Traum, ein böfes Gefickt. 3<h will wiffen, was e9 für ein
Traum gewefen iß.
man wollte mich werfen, ich hörte e9 nicht, man wollte
mir £i<bt günben, ich fab cs nicht, ich wollte ruhen unb
ben Trieben ber Stacht Boßen unb habe mein £ager aus
bem Boben geriffen unb mein Hiffen Über bie Bäume ge*
ßürgt. BJas war mein Traum? Sprecht unb fürchtet euch
nicht
3ch habe immer in Hlarbeit gelebt. Stun bat mich etwas
oerßört, fo baß ich riecht mag Hat halten, Hrieg führen,
Trieben fchließen, in meiner Stabt Hecht fprechen, effen,
trinBen, noch meine Siebße Bofen, noch mich bes Gutem
freuen, bas Böfe einbämmen, noch mich wafchen, mein
199
fyaar falben, meine Augen ergeben, meine Brufi in Jreube
öffnen unb aufatmen, es fei benn, bafj ihr mir fagt, meine
£ieben, was mir geträumt hat, biefe 3Tatfit, in biefem
Saal/'
Da fpracfjen bie Chalbäer auf chalbäifch jum Äaifer:
Äatfer, Gott oerleibe bir (anges £eben. Sage beinen
Änecfjten ben Xraum, fo toollen roir if»n bir beuten."
Der Äaifer antwortete ben Cfjalbäern: „Es ifl mir ent»
fallen.
XDerbet if>r mir meinen Xraum nicf>f ameigen, ben irf) bte
le^te 3tacf)t geträumt habe »ie nie einen Xraum juoor, fo
toerbet ifjr umfommen, meiner DTiilbe uneraehtet, eure
Käufer follen fcfjänblicf) jerflört werben unb eure lüeiber
oerfloßen unb eure Äinber mit ihnen.
XUenn ihr aber meinen Xraum finbef unb if>r ihn an»
jeigt, foltt if)r 6efrf>enfe unb Gaben oon mir hoben. Denn
ich hungere nach Trieben. 3f>r folit grofie Gf>re oon mir
erhalten, benn ich bürfle fehr, ju erfennen, toas war."
Die Sternbeufer unb Chatbäer antworteten: „Der b°b e
Jrjerr fage feinen «Rnedfjten ben Xraum, fo wollen mir ihn
beuten. Gs ifl fein JTtenfch auf Grben, ber fagen fönnte,
toas ber «Raifer forbert. So ifl fein ^errfcher, toie groß
unb mächtig er fei, ber fotches oon einem BJeifen, Stern»
feher unb Chalbäer forbere. Denn toas ber .Raifer forbert,
ifl ju hoch. Cs gibt auch fonfl niemanb, ber es bem floljen
Jr>erjen ber BJelt, bem .Raifer DTebufabnejar, fagen fönnte>
ausgenommen bie Götter, bie nicht bei ben Jltenfchen
wohnen."
Da ergürnte fi<h ber .Raifer, erblaßte unb warf feinen
Stab in bie Jleihe ber Sternbeufer unb traf ihrer einen ins
Auge, bas ausrann. Doch toagte niemanb, ju flüchten.
Denn er war ergrimmt, wie man ihn nie gefannt hatte
bie Xage feines £ebens bis }e£t.
Daniel fürchtete fich nicht, er trat oor ben .Röntg unb
beugte fich oor ihm.
Der kaifer blirfte ihn an unb fragte: „BJer bifl bu?"
Denn er fannte ihn nicht.
200
„3cft war ein Äupferfdjntieb, ein jrfonbwerfer unfern bes
Ataffers, in ber engen Straße, wo bie Äarawanen muft
bent glücflicften Arabien geftert. 3cf> woftnte tief in bem
niebern Aiertel am Sluffe befcftatfet. Dort traf mieft ber
i?err, ber Gott meines Aolfes, rief mir ju. 3cft wollte einer
fein wie alle, hungrig mit ben hungrigen unb gefättigt
mit iftnen, wacft mit ben AJacften, träumenb mit benXräu»
menben unb erwacftenb mit iftnen, meine Meinen XOerfe
aus Äupfer gebreftt unb bie feinen Säben in ber Stamme
gejogen, unb bas übrige AJerf in meiner J^anb, wie alle
es feftaffen in unferem Viertel. 3cft rief nuftt Gott, aber
er rief mieft. Denn was wäre itft, bafj ieft wagen wollte,
Gott ju nennen? BJenn ieft AJaffer oerlangte, gab er mir
föfllieftflen AJein bie Sülle. Aber laß mieft allein, ftofter
Äaifer, mit bir, lege bieftt bein Oftr an meinen JTlunb, unb
ieft will bir alles oerfünben, ba mir nieftts oerborgen ifl."
Oer Äaifer entlief} alle, bie iftn fonfl nieftt oerliefien bei
Tag unb bei JTacftf. 3n bie Arme bes fcftlanfen, ruftigen
Knaben Oaniel feftmiegte fieft ber riefige JTlann, er oer*
barg in ber Gllbogenbeuge bes 3üngltngs fein mübes,
oerhörtes Stäupt, fein feftwarjblauer Bart flreifte bie glat»
ten, falten, fterrlieft gerunbeten Änie bes Änaben, unb
blidfte ber AJeltfürfl empor, bann faft er Oaniels gewaltige
Augen ooll jarteflen, blauen Glanjes über fieft leucftten,
unb er faßte Sreunbfcftaft unb £iebe ju iftrn, unb er ftob
mit feiner Äaiferftanb bie «Reiftte bes Änaben Oaniel ju
feinen Augen unb fragte: „Äannfl bu benn bie oerflof»
fenen Xräume jurürflenfen mit ber Jrfcnb wie mit einem
3auberflabe?"
„$ofter Äönig, bu träumtefl, bu trügefl biefe ganje
AJelt auf bem Sunbament beiner Seftultern. 6bene, Ge»
birge, AJaffer unb £anb, SlufSufer unb Bäcfte, bie burift
AJälber riefeln, unb AJüflen, bie noeft niemanb betreten
ftat, Käufer, barin ju woftnen, einzeln unb in unerntefi»
lieften Stabten wie Babplon, Gerät in ben niebern Jütten,
JUifhmg unb Grj um bie Glieber ber Ärieger, Selber,
Srü(ftte, Getreibe in Samen, gefammelt in ben Aornftäu»
fern, alles georbnet, wie bie AJelt ftier georbnet ifl, unb ge*
201
recht, tote bu es gerichtet fjafi in ben 3of)ren ber 6?errfcf>aft,
olles (lanb ouf Beinen betben flarfen Schultern aufgericf)«
fet, olles, toos JItenfchen bauen, toos fie befipen unb oer»
(ieren, olles, toos lebt unb ft<f> trn tfjergfchlag regt, es
toor of>ne Ausnahme ouf beine Schultern geloben, barnit
bu es trägfl, unb bu hattefl es über bir unb fonntefl es
oon unten f>er fef>en, tote es wuchs, tote bie Raufer aufge»
richtet tourben, unb ber überholte Turm, in neun Stocfroer«
fen rogenb, oon Treppen umgürtet, mott burcfjleuchfet mit
Seuer, prächtig unb überherrlich; toie bte SFelber ficf) be*
grünten, toie bie gerben fidf) oermehrten unb bte Uölfer on
ben reichen Ernten ficf) föttigten unb noch übrigbehielten,
unb Sriebe toor überall, bis fie flarben unb onbere OTten«
fcf>engeftf)le(f)teT bie Türen ber Speicher auftaten, unb ans
bere Gefdf>ledF)ter ficf) ihres £ebens freuten, bis es gu Enbe
toor. Oos beine ober toor nicht gu Enbe. Ou toarfl ouser*
toohlt unb oon ben onbern gef (hieben, toie ich es bin, Do«
niel, 3o}aKms Sohn, unb bennocf) ooterlofe BJeife unb
mutterlos, obgleich meine iTCutter noch lebt. Allein flau»
beft bu unter Seiner £a(l, unb bu trugfl fie allein, toeil fie
bir aufgetan toor/'
„Sprich toeiter," fogte ber Äoifer, „bu fagfl, toie es
toor."
„So toor es bir gegeben, felbfl biefe Kielt gu tragen, bir
allein, fie gu orbnen als 3Tteifler ber Klugheit, bie Tiere gu
jähmen, bie üölfer im Kriege gu fcheiben unb bie Stämme
im Bunb gu oereinen als £önig. Brücfen gu fchtagen über
bie Ströme als Baumeifier, biefe Stobt Bobpion, bas
IBunber ber Kielt, aufgurichten aus gebrannten 3iegelh,
mit gefchüffenen Steinen fie gu gieren, Tempel gu errichten
unb Sinn gu fliften in ollem, toos bu trugfl ouf biefen gtoei
Schultern. Ou f)afl bie Hielt nicht gerufen: aber fie rief
bich: fei bu mein i?err! So ifl bein Turm ber feit
JTlenfchengebenfen. So huttefl bu Gewalt über alles unb
trugfl es freubig, bu toarfl mutig, flarf, fröhlich/ ohne Sou»
bem, bu hörtefl ouf feinen Gott, bficftefl in Träume nicht.
Oein fluge fchaute flor, beine Jrjänbe erfaßten milb, toos
fie toirften, bein Bort toor geglättet, beine Stirn frieblich,
202
Öelne 3 unge mit HJetsfjeit gefegnet int Geriet unb im Selb»
friegsplan, beine Sippen ooll Siebfofungen, menn bu bei
ben ©einen meiltefl, fo roarfl bu gefegnet wie nur je ber
JHenfcfjen einer, Sieg, Sreube unb Jrieben, .Kraft, Gefunb*
beit. Klarbeit, gerechtes Gemicht, fenfrechtes JTiafJ, Speife
unb Tranf, Schäle, Quroelen, Kornfpeicher, Übriges, was
bes 3T?enfcf)en Sjtxi münfcht. fluf beinen Schultern bie
löelt. 3n beinern 3nnern aber löeisheit, JTttlbe unb Ge*
malt über alles/'
,,©as mar mein Traum, aber mein Seben auch- 4?eute
ruhe icb int leeren, bunflen Gemache, einem fremben Kna»
ben auf bie Knie gefcbmiegt, oerfförten Gefirfjts unb ooll
Üngfl oor ber fünftigen JIacf)t. Wo ifl meine Scham, mein
Stolj, mein fönigliches Scbmeigen?"
„©ein Traum mar fo: Über bir 30 g, mie eine löolfe
ins 6 emitter gief>t, ein jmeiter Jlebufabnegar auf. 3 n
Stürme gefleibet, nicht in feine Seinmanb mie bu. Gs mar
fein JItenfcf), fonbern etmas anberes, mie es bie löelt noch
nicht gefef>en t)at. ©u marfl es felbft, fyöfyer als ber erfle,
ferner mie ein Stein, ohne eigene IDärme, marm in ber
DJärme, falt im Eife, frieblos, ba er oon einem Enbe ber
JÖelt jum anbern rollte ju bir unb nichts oerfchont, auch
fich nicht, unb ooller Trieben, ba er oon nichts meifS, auch
oon fich nicht.
So ifl ber tieffle Trieben nicht bei ben Königen, nicht bei
ben Göttern. Glaube es nicht! OTur bei ben Steinen, fei es,
bafi fie flehen unb ragen mie Säulen, morauf man Seben*
bes geben läfSt, fei es, baf$ fie am Fimmel, aneimanbers
gefettet, als Geflirne in blauen Sichtern bafnnjiehen. ©iefer
Stein trug beine 3üge, Kaifer Dlebufabnejar, bu toarfl
cs aber nicht, ©enn bu fjattefl flngft oor feiner Schmere,
obgleich bu hoch bie übrige löelt ohne 3ittern auf beinen
Schultern trugfl, bu batefl, oerfchone mich, unb flebtefl, lafi
mich ausgehen unb lebenb entnommen, unb fnietefl oor
ihm mie nie oor einem JTlenfchen ober König ber Öleiche
ober 6ott bes Rimmels, bie bu fanntefl; mit Jlarnen nur
fanntefl bu fie unb nicht oon flngeficht. Er aber, ber anbere
Jlebufabnegar, erbarmte fich nicht. Er mar mie Erbe, bie
203
fpricfjt. Aber er fchwieg noch, unb bu fahfl nur feine £ip*
pen bewegt unb bie Arme erhoben. 6r rofie burcf) bie
£üfte, bis fie brannten, er burcf)brtchf mit «Sracfjen unb
Donnern bein fefigegrünbefes Sjaua, achtet nicht ber Decfe
fjier oben mit ben golbenen 3terafen, f$ont ntdfjt bie Äfei«
8er auf beinern «Äörper, lief? bie Deinen nimmermehr leben,
er fiel auf bich, unb bu fafjtefl if>n in beinen beiben Armen
auf, unb ihr würbet beibe eins unb oon nun an eine neue
Gefiatt. Du hobft bith auf, unb ihr beibe wichet oon ban»
nen, unb bas Bolf erfannte euch nicht mehr, unb man
nannte euch mit neuem Damen unb gitterte fe|>r.
Aber was bu auf beinen Schultern getragen hattefl, war
alles oernichtet, benn bie Stäbte waren gerflampft, bie Dör*
fer fah man nicht mehr, wo fie geflanben hatten. Don un*
ten, wie Äinber eine Schlange anjfaffen unb fie gerreiflen,
hatte ber Sturm bie Brücfen aufgehoben unb fie gerriffen,
bie fchönen Bäume, an ben Jlüffen gepflanzt, mußten oer«
borren, bie Blumenbeete im faiferlichen Garten gertrefen
fein. Das Bieh war oerhungert, unb bie JTtenfchen litten
gro(le Dot. Da war fein gerechtes Gericht gwifchen ben
Toren, fein gutes JTtafJ auf ben Tifchen ber ^änbler, fein
gerabes Senfblei in ben ^änben ber DTeifler, feine Pferbe
unb Äiihe in ben Ställen, fein Gerät in ben Jütten, feine
Drbnung in ben Gefefjen unb in ber DJelt fein Sinn. X0o
Babplon war, fyiefb ber Drt: UJüfte unb oerfluchter Ort.
Das höfl öu .gefehlt, bis bu erwachteft."
„BJar bas mein Traum, fo h<*be ich ihn felbft mir ge*
beutet. Denn ich t)abt bie eherne Stätte meiner «Ruhe aufge*
hoben, meine ^eimat gur Dacht aus bem Boben geriffen
unb aus ben Senftem geftürgt, bis alles im Teiche unter
ben Pappeln oerfanf. 3ch war ruhig bis heute nacht unb
gefaßt bis gu biefem furchtbaren Traum. Jüan hat meine
jrjanb nie gittern fehen, benn ich h a & e auch über mich 8 e *
herrfcht. Je^f aber laß es mich bir teife fagen, ich fürchte, ,ich
bin oerflört für immer. Du bifl jung. Du biß wiffenb. Du
biß flar unb träumfl nicht. Jpalte mich feß, benn es wütet
in mir, bamit ich nicht Jpanb anlege an mich. Soll ich fein
204
tote ein 3rrer, ber bie Schelle trögt, bamit man p(f) »or
ihm hüte, ein Befeffener, mich feffafi nicht erfennen, (eben*
bigen £eibes geblenbet fein, bann will idF> nicht fein. Sieber
toitt ith flerben, als ba|i man mich oon mir in Stütfen
reißt. Bleibe bei mir, fdjöner, fluger -Knabe Daniel, benn
itf> fiircfjtc micf). 3d) will bir ein Gheengewanb antun, bir
ein £anbhaus bauen, ein Sommerbäuathen am «Ranbe ber
JItauer, hier unter ben Senflern, näher bei mir, im Sthat»
ten ber Pappel, am Xlfer bes Teiles, tot» es fühl ifl unb
ber Staub nirfjt hinbringt wä-brenb ber 3eit ber Dürre. Der
.Knechte follfl bu oier haben ober oierjig ober oieTfjunbert
unb alles, tooran bein Sptr% Sreube haben fann. Du follfl
mein leiblicher Bruber fein, benn ber eigene Bruber oerläfjt
einen nitht! Wein -Reith magfl bu (latt meines Sohnes
oon mir überfommen, toenn bu mith fjetlfl unb fegnefl
mit bem flärfflen Segen beines Gottes. Denn ein Gott hat
bUb htraufgebratht burth bie Wachttürme, bie Wege bes
Palafles bis hier in meinen Saal, unb ein Gott hat mein
armes Jr>aupt bir auf beinen Schoß gelegt unb meine Ge»
banfen oor bir ausgebreitet, wie man ein jufammenge*
rolltes .Reisblatt ausetnanberrollt. Du mußt einer fein,
ber bei ben 6öttern roohnt, ber fpricht, wie fie bort fprecben.
So fannfl bu allein mich (Öfen, wenn ich gebunben bin,
mith heilen, wenn ith franf bin. Du fannfl mith fegnett.
Denn ith bin oerflutf>t. Weine Wacht ifl bem anbern ein
Greuel. Allen bin ith ein gereihter -König, man heißt mith
ben Sommerfürfl, bie Quelle ber Jpolbfeligfeit, bas Jperj
ber armen Hielt unb ihren Xrofl. 3<h war es einmal, both
bin ith es nitht mehr/'
„So fann ich bith both nicht heilen, wärefl bu au<h franf.
Das hat mir mein Gott nicht gegeben. Bifl bu gebunben,
mag ein anberer bith löfen. Bifl bu oerflucht, fo bleibe oer*
flucht. Wag fein, ich habe Wohlgefallen an bir gefunben,
benn ith hatte nie Haler, Wutter, noch Sreunb, noch Ge«
führten. 3th möchte benn Gutes gerne an bir tun. Aber es
ifl mir oerfagt. Denn nitht ju heilen, nicht ju löfen, nicht
ju fegnen bin ith in bie Welt gefommen, fonbern nur um
ju fünben, ju beuten, alles ju wiffen, nichts ju hm als ben
205
Dienß meines Spttm. Denn er hat mich auserwählt, wäh*
renb icf> fchlief, non meiner Jpanbwerfsarbeit ermübet."
„Du biß jung/' fagte ber Äotfer, „bief) onjufef>en i(l
fchön. Bleibe nur bei mir. Klar bies ber letjte Xraum ober
i(l Schwereres für mich noch aufgehoben? Ber laß mich
nicht. 6s iß flbenb geworben. 3<h will bir bas ßhönße
Brot brechen, ben reinßen JBein fchenfen, bas weicfjße Bett
betten. Sei mein Gaß. Darum bitte ich bich/ Äatfer oon
Babplon, bich, Daniel, bas wiffenbe Ätnb, Sohn bes ge»
bienbeten Königs 3ojaKm, bich, ben lichten jßrinjen bes
finßern Gottes, ber Ttebufabnejar mit Jtebufabnejar be*
[traft/*
,/Ich will bei bir bleiben, Äaifer oon Babplon, neben bir
gehen, ju beinen Süßen fipen auf ben unterßen Stufen
bes Xhrones. Aber oon beinern Brote nicht effen, beinen
Klein nicht trinfen, beine Srauen nicht berühren, rein blei»
ben, meinem Gotte ju Ehren, ber Daniel fegnet mit Da»
niel/*
„So fei es, wie bu es willß**, fagte ber ßaifer, unb
Daniel lebte neben ihm.
206
&uguß und feine Hluttec
Don Osfar £ocrfe
CC^Xurrf) überfchwengliche £iebe jur JRuffer unb außer»
fc- ;C gewöhnliche UngefdjicMichfeit jeicfjnete ficf) fluguß
Stieofärjler feit feinen früfjeßen Tagen aus. Sein erßes
größeres Scfjicffal, erlitten im ^weiten £ebensjahre, oer»
einigte fchon biefe beiben JRerfmale feines IDefens unb
machte fie im Meinen Äircfjborfe allbekannt.
Seiner TTTutter ^ütte befaß jwei 3ugänge jum Boben,
einen oom Jlur unb einen oon ber Sd^Iafßube her. Sie
£ufe bes ^weiten war für gewöhnlich burcf) einen Oecfel
geßhloffen unb ber Stubenbecfe angeähnficht. Als bie Xöeif)»
nacht nabe mar, ßuf;l ber JTachtwächter einen Tannen»
ßrunf unb brachte ihn ber HJitme. Oie hörte fogleich auf,
in ben roten Jeberbeutel gu greifen unb Pfülmen oon ben
Pofen ju rupfen unb ßieg, ben weihnachtlichen Engel»,
Schaum» unb jfcttenßaat ju holen, auf ben Boben. Oamit
fluguß nichts merfe unb in ber IBohnßube bleibe, gab fie
ihm ein paar lange Jeberfiele in bie ipanb, wollte bie Slur»
treppe hinanßeigen, ben JHtterfram über bie anbere Treppe
leife in bie Schlafßube tragen unb biefen IBeg wieber gu»
rücftun, als fomme fie oon braußen herein. Oas £ufen»
breft fonnte ße nicht in feine üeißen (egen, fotange ihr firm
belaben war. Sie fe£te baher ben umfangreichen Äarton
facht auf ihr Bett unb wollte gerabe bas £o<h fchließen, als
plöhlich fluguß bartn auftauchte unb mit großem ßeflap«
per unb 6 ef ehr ei herunterholperte. 3wifchen ihm unb ber
TRutter webte unjemißbar immer etwas wie ein feines
JRariengarn, auch burch JTtauern unb Jemen hin* Oas
Äinb hatte fi<h bie Jlurtreppe mühfam hinaufgearbeitet,
war blinblings über ben Boben gerannt unb in bas £och
geßürjt. 6r fchlug fich auf ben breiunbjwanjig Stufen
207
blutig unb tourbe franf unb oerfcf)wollen ins Bett gelegt
Cr pfiffe auch wohl ßerben fönnen, unb es toar baher fein
BJunber, toenn feine JRutter, bie eben erfl ihren JTtann
oerloren, toährenb ber nächften Tage fefjr ungtticflich
fchwieg unb feine minber beteiligte Tante ben Borfall im
Dorfe gefcfjäftig oerbreitete.
Damit toar ber Grunb oon flugufis Stellung ju feiner
Hielt gelegt: bie JRutter tote einen Engel anjufefjen, bie
Tante 3 U Raffen, oon beiben biefe Gefühle erxoibert ju fin*
ben unb im JTtunbe ber Dorfleute ein Gefpött unb Getäch»
ter ju fein.
Sür bas le£te festen if>n bas Srf)t<ffaf burch feine JTtiß*
geftalt befiimmt ju haben. 6 r hotte einen DJafferfopf, ber
ihm groar mit Glücf ausgepumpt toorben toar, fo baß er
oernünftig wie bie anberen Äinber fich enttoicfelte, aber
oon roher ober oerßecfter Graufamfeit gegen fchulblofe
Berunßaltung finb bte toenlgflen JHenfchen frei, unb fann
man fagen, baß biefe Graufamfeit (lets ein Unrecht fei
unb nicht oieltei<f)t ein Benmßttoerben eigener Äraft unb
6 efunbheit? Sreilief) toirb ba auch bie 3ärtli«hfeit finge*
höriger zärtlicher. Unb bie £iebe ber JTlutter flugufis hotte
nichts Demütigenbes. 5rau Stieofärjler toar inbeffen arm
unb geriet mit ihrer Schwerer, bie bei ihr im engen $aufe
roohnte unb ettoas Hermögen befaß, oft in 3wiß, wenn
es fich um Gelbausgaben honbelte, zumal für flugufl. Die
HJittoe tourbe baburch ju f<f»roff gegen ihre Schweßer unb
fafl hötfchelig gegen ihren Sohn, flugufl lernte gegen bie
Tante Unbehaglichfeit fühlen in bem JTtaße, toie fie ihm
unbarmherzig oorfam unb ihn oerflatfchte.
Hngefchicft toar ber HJafferfopf wirfHeh. 6 r toar ein
Einffer, unb toeil er oerfehloffenen JTlunbes feinen HJeg
ging, tourbe er balb ber bumme flugufl bes Dorfes. Daß
er im Jpeufchober oerfanf unb am Jrjofenboben heroorge»
jogen toerben mußte, baß ber Schwamm feiner Schiefer»
tafel an einem ju langen Binbfaben penbelte unb ihn 3 U
5all brachte, mußte er überhart büßen. Die fleinen Ge*
häffigfeiten ber £eute quälten ihn nachträglich fef>r, unb im
weichen, oon ber JTlutter liebeooll aufgefchüttelten Bett
tag er oft tote auf einem großen OTeffetfiffen. ttÜe er occt
auf bte erbe, feine Äanteraben oiel auf ben Jpimmet fahen,
— ihre Gefinnungert waren oerfcfjieben wie bie Sorben bes
Rimmels unb ber Erbe.
Ser mißgefchicfte «Knabe hatte unter alten Äameraben
bas JTIißgefchicf, beim 3ufd)auen eines Steinfprengens
oon einem abgefptitterten, fdfjarffantigen «Keil getroffen gu
werben unb bas rechte fluge gu oerlieren. Sie ungefcfjitfte
rechte Jpanb unb bie gerieftere tinfe flreicfjetten bie «Kinn»
fpitje ber Srau Stieofärgler. Sie fuhr bafür mit ihrer Jrjanb
burrf) bie rötti<f)>btonben Jpaare bes lüafferfopfes unb
frf)ä0te fief» fetig/ wie einen fo weiten XDeg bie Singer gu
frauen Ratten.
Sie Schute war füT flugufi eine Qual. 3ur Erholung
lernte er im gwötften £ebensjahre bei ber JTiutter febni^en,
fcf)Uchte Jpolggegenßänbe, beßimmt, auf bem 3ahrmarft
feilgeboten gu werben unb im bunfetflen Künfel ber Gliche
ober unter ben Xifchen witber «Kinberßuben traurig gu oer*
fchroinben. Sein oerftorbener Kater, ein bürftiger «Kätner
unb Gelegenheitsarbeiter, batte folgen «Kram einß mit ber
JTiutter hergußetten begonnen. Seine Bube hatte ihren reget»
mäßigen pta£ oor ber «Kutßherfneipe am JTIarftplah ber
3Iacf)barßaöt erhalten, wo Srau Stieofärgler fie noch im»
mer auffchtug. Gs erquiefte flugufi, mit bem getiebteflen
BJefen bei einer Befcfjäftigung gu fi£en, bie gwifchen ihnen
beiben btieb, unb fotch wunberßhöne Singe gu fertigen.
Sie unbefannten £eute, bie fie fauften, fpotteten nicht wie
bie Sörfter; oft flaunten fie über bie Klare, unb bas machte
ihn im flitlen beleihen flotg unb froh, itnb ber ^anbet
brachte einigen Gewinn, fo baß ber Xante bas Xrutjre<f)t
ihres Beutels auf eineKIeite genommen war. fluguß geigte
fich bei ber Schnitzarbeit merfwürbig gefchieft. Sie Jpänbe
waren in jenen Stunben feine Seele, unb bie JTiutter wußte
bas. Sie freute fich, *°ie bas Jpolg oon flugufls £iebe gu
ihr ergäbtte: Gs entßanben Quirle mit ben regetmäßigßen
3acfen, ohne Xabet gerunbete Stampffeuten, wohtausge*
höhlte Jrjolgtöffel in alten Größen, wie ein fo hoher Grab ber
Kottenbung oon nur mit bem JTIeffer bearbeiteten Gegen»
14 $te beirtfd&e Lobelie.
209
ßänben irgenb oerlangt »erben tonnte. $ür bie kleinen
unter ben Äinbern »urben ßeife Pferbe aus »eifern i?ol§
mobeltiert unb Schafe, bie jtd) von ihnen nur burcf) einen
Orufel aufgeflebter XUolIe unterfchieben, fo»ie Puppen/ bie
auch ben Xufrf) faßen ju füllen betonten in Blutflecfen auf
ber Batte unb beulenblauen Augen. — Alles »ar Anfang*
Ucf)feit an bie TRutter.
Oas erwies fitf) beutlicf) genug, als Auguß, »eil er in
^olj mit 6 lUit ju arbeiten oerßanb, jum benachbarten
Xifäßer in bie £et>re gegeben »urbe. Berbarb er nicht all»
guoiel, fo lag er feinem Jrjanbmerf mit Xrägheit ob, Oer
JTteißer machte fein ^efß baraus unb ßhalt.
Einmal hotte Auguß ein Sargbrett um ein Jpaarbreit
ju für; geßhnitten, ein paar HJochen fpäter ben Seim in
einer Sargecfe fo ßarf aufgetragen, bafj er breüg heroor»
quoll; beibe JTTale nahm Auguß mit feiner JITutter fo»ie
ber JTTeißer am Begräbnis teil; beibe JTTale erfuhr bie
Xrauergefellßhaft (beim Heimgänge oom Sriebbof) aus
behaglichen Bemerfungen bes Xifthlers, »as ber Sehrling
oerfehlt. Oiefer fühlte fith beloben, als hätte er ben Xoten
felbß geßhänbet. Oie JITutter faßte ihn feßer an ber ^>anb.
Oaheim fagte Jrau Stieofärjler:
„Auguß, »enn ich ßerbe, für mich mathß bu nitht ben
Sarg, »enn bu es ihnen nicht gut genug ßhaffß. — Sie
follen bich nicht tränten unb mich in ber 6 rbe.'*
„JTein, JITutter. — 3<f> fann nicht in Spolj arbeiten."
„Ach, bu fannß fchon."
„Aber es iß nicht unfer liebes S? 0 I 3 ."
„Auguß — »enn es für mich »äre?"
„Ou »irß ja nicht ßerben."
„JTTein Cinaug."
„JTTein 3weiaug."
Oas »ar ßhon im XBinter. 3u X0eil>nachten fchenfte
$rau Stieofärjler bem Sohne ein Paar Äropfßiefel. Bier
forgfältig gewölbte Seberringe trennten bie Schäfte oon
ben eigentlichen Schuhen, unb bie Schäfte waren auf bas
fauberße abgeßeppt, geßhweift befchnitten unb am Jlanbe
mit hellblauen Sinien bemalt. Auguß ßellte bie Stiefel auf
210
ben ^etllgabenbtifcf) unb flreic falte batb fie, batb bte JTlut»
ter. Oie Seiertage gerflörten fein Glttif.
Oo flugufl in ber Ätrrfje gang oorn unter ben Äonfir»
ntanben faß unb bie Stimme bes Pfarrers unabgefcbwäcbt
fjörte, tonnte er wäbrenb ber Anbacbt gwar bie Gebanten
an feinen (folgen Befig unterbrücfen, aber fobalb bas legte
flmen oerflungen mar, ba<f)te er: 3n was für gutem £eber
(leiten meine Jüfie boü&t Cr betam Selbflgefüfjl unb war»
tete niifct, bis bie JTlutter aus bem Gebränge gu i&m (lief?.
Ir blieb mehrmals auf ber Straße flehen unb muflerte
eine Stiefel, flampfte beutlicbe Spuren in ben Schnee, um
fore gewirf)tigen formen rttifwürts gu betrauten, unb bie
cfjmugigflen Sifmeeftumpen naf>m er mit ben Singem
orgfam non ben Sorten, wenn fie fl«f> aßgu frfjwer bort
angebrtttff Ratten, j)atbwü<bfige Burfcfjen (achten fon aus,
bis bie JTlutter gu fom brang unb if>n fortgog.
Oie Sreube an ben neuen Stiefeln war oergältf. 5rau
Stieofärgter befeuerte flugufl gum Geburtstage ein Sinnig*
meffer, bas frumrn war wie ein Gntenbats. flugufl wollte
es oortäuflg nlifjt benugen, trug es aber immer bei ficb
unb gog f)örf>(l plögiief) mitten im Oorfe bas Futteral aus
ber Xafrfje unb würbe babei wieberum bdud)fl. flugufl
fegte fiif) gu $aufe f>art nieber an ben Tiftf) unb fpieite
wie abwefenb geräufeboott mit bem JTleffer. Oie JTlutter
fragte nacf> feinem Äummer.
* bin eben ber burnrne flugufl", entgegnete er berb.
Sie (teilte ficf> nur hinter fon. Sie empfanben beibe eine
ausgebrenbe Srfjwüle, bie gu febweigen gwang.
Xlnb fie blieben in biefem fümmerlHben Seben, bis bie
JTlutter fi<b tränt nieberlegte unb fühlte, bafi es gum Tobe
war. Sie batte ben Sobn oft am Bett, wenn er aus ber
Arbeit tarn, ber trofllofen Scbreinerarbeit, unb weit ein
Tiftbler einmal Särge bauen muß, wenbeten ficb ber bei«
ben Gehanten ohne Scbeu wieber babin. Sorge um ben
Sobn unb Groll gegen bie oerbittemben JTtenftben fpülten
ber JTlutter no<b einmal jenes HJort oon ber £ippe:
„UJenn iib flerbe, für mich maebfl bu niibt ben Sorg."
flueb ibr war bie grobe Tifcbterei ein Sinttbilb ber groben
14*
2ZZ
Xöelt im Gegenfah gur traulichen Hausarbeit geworben,
too weiße Späne Sie Seelen ber Meinen Geräte umfchlüpf»
ten unb oerßecften.
„ Jlein, Jliutter."
Gin langes Schweigen oerlieh ber «Hebe unb Gegenrebe
einen bitteren Jlachbrucf.
„Aber wirß bu ßerben, Jliutter?"
Sie ging barauf nicht ein.
„Jüan xoürbe es wohl auch fowiefo nicht oon bir oer*
langen/' fagte fie, „aber bu würbeß es gern machen?"
Gr nicfte fchwer mit feinem HJafferfopf.
,/Jch mache bir lieber aus unferm S)oii —". Gr brach
ab, wie oon Grauen gefaßt.
Gr fah fcheu ju ihr hin. Sie wanbte ben Blicf in ben gel»
ben flbenb unb lächelte. Gr fchaute nun an ihr oorbei ins
Dfenfeuer unb lächelte auch.
fluguß war oötlig oertaffen. Daß bie Jliutter abgefchie»
ben fei, begriff er in ben erßen Stunben nach bem ltnglücf
nicht; er felbß tarn fich oor wie in ein frembes Dorf in
frembem £anb entrücft. Gr faß am Bett ber JTlutter unb
fhreichelte ihr wie im £eben bie Äinnfpihe. Jlur wenn bie
Xante ab« unb guging, gucfte feine Hunb oom mütterlichen
Geficfjt gurücf, unb baß fie gurücfgucfen mußte, füllte ihn
mit H Q ß Qtgen bie frembe Berwanbte. Der breite Gang,
bie brollig oerjerrte Schmergensmiene ärgerten ihn.
„Gehß bu nicht gum Xifchler?" fragte bie Xante.
„Jlein", antwortete er.
„Das brauchß bu auch nicht", fagte fie milbe unb ging
hinaus.
Gr buchte barüber nicht nach, fonbern begann bie JTlut*
ter wiebeT gu ßreicheln. Gr hörte bie Xante nebenan mit
bem Xifchler reben, unb nach einer UJeile traten beibe gu
ihm herein.
„Jla, je£t brauchß bu bis gum Begräbnis nicht gu arbei»
ten", fagte ber,Xifchler, fchwieg ein wenig, betete, gog bann
lautlos einen 3ollßocf aus ber Jlocftafche, nahm ber Srau
Stieofärgler bas JTlaß gum Sarge unb entfernte fich.
212
„Jltutfer, [ollß bu toirflicf) in einen Sorg?" bacf>te
fluguß, „unb frembe £eute [ollen lf>n bir machen? Bloß
wir oerflef)en jo gu frfjni^en. Oos DJerf ihrer fremben
ipänbe wirb btcf) gubecfen gang unb gar, baß nichts gu
fef)en bleibt? Oos BJerf ihrer ^änbe wirb bicf) mir weg*
nehmen? BJo ich bir felbß bie Bretter [ägen fönnte?"
„Aber bie £eut’ gum Begräbnis eintaben mußt bu",
unterbrach bie Xante [eine Betrachtungen. „Donnerstag
vormittag iß es."
BJie, er [ollte bie fremben £eute holen, bamit [ie ihm
bie JTCutter wegnähmen im Sarg aus frembem Jjjolg von
feinbticher Jfjanb? 6r [chiittelte beßimmt ben Äopf.
„fluguß," fuhr bie Xante fort, „[oll ich vielleicht im
Dorfe umherrennen, unb ber junge £ümmel fijjt gu
£aufe?"
fluguß fchwieg.
Als [ie in ber Xür war, [chluchgte ihr fluguß mit röcheln»
ber Stimme nach:
„3TTuß [ie benn in einen Sarg?"
„BJas benn [onß?"
„JRuß benn einer aufs Begräbnis fommen?"
Die Xante erwiberte: „Du biß bo«h wohl nicht recht ge»
[cheif. BJerben wir [ie benn verfcf>arren wie einen frepier*
ten Jrjuttb?"
„IlJarum mü[[en ße benn babei [ein?" fragte fluguß.
„Blich möchteß bu wohl am liebßen auch hier loffen unb
gang allein folgen? — £aß hoch uns anbere gehen unb bleib’
b u hier, bann biß bu uns ja los."
3Ttit biefen UJorten war [ie hinaus.
fluguß blieb gurttcf, er überließ [ich fhmbenlang [einer
Xrauer. Sie war gerreißenb unb hoch bumpf, voll wühlen*
ber Gebanfen unb bo<h gebanfenmübe. Schließlich er[chien
bie Xante unb rief giemlich gütig:
„Cffen!"
Cr folgte nicht.
Sie brachte ihm bie Scf>ü[[et herein, [e^te [ie neben ihre
auf einen Stuhl unb fagte beinahe bittenb: „3ß!"
213
©a ergriff er ben £8ffel unb führte ifjn gum JTtunbe,
aber jeber Blitf gehörte ber Jltutter. Berfcfjüttefe Suppe
nefcte bas Bett ber Toten.
Oie Tante trug bie leere Scf)üffel hinaus unb fam mit
einem rotbunten Bett wieber, bas fie an Stelle bes wei«
(Sen über bie Tote breitete, Hugu(l faf) ifjr (iarr gu unb
meinte bann leife unb fle^enb: „IBarum trägfi bu if)r bas
Seiertagsbett f)inaus?"
„HJarum f>a(l bu es befüjmu&t?"
„Sie nimmt es bocf) gang gewiß nicfjt Übel, Tante/'
„Jtein, wentTfie tot ifi — wie foll fie wof>l." Sie feufgte.
„£a(S es bocf) ba", fagte er gebroden unb breitete ifjr
hilflos bie Arme nadf).
„Aber, Muguft, fief> bocf>, wie es ausfiefjt", tröflete fie
unb war hinaus.
„Aber i <f> f>abe es i(>r bocf) begogen, Tante, irf) f)abe
es —'*
Sie borgte flüchtig gurücf. „IBas?"
„Saß es if)r bocf)/'
Sie murmelte etwas oon: erfl trorfnen.
Oer .Knabe fenfte feinen bitfen Äopf in bas rotbunte
Bett unb oerfjarrte in quätigem ^inbrüten, bis bie Tante
if>n aufflörte:
„Jtun gef) gu ben Jtacfjbarn."
6r wor (Hll.
„Cs ift bocf) Seit."
„Xöarum follen fie mir bie JTtutter roegnebmen?" Oa«
bei Mang ein wlnfelnbes, tierfjaftes BJeinen hinter feinen
gefcfüoffenen 3äf)nen fjeroor.
„Xtm Gottes willen, Augufl!" wimmerte bie Tante, if)n
rüttelnb.
er faf> fie f>ei(J an.
Sie (trief) ifjm nun naef) ber IBeife ber Jltutter burcf) bas
j?aar, rebete oiele JBorte, woraus er nichts befielt, brachte
if>m fd)ließlicf) bie Scfjirmmüfce unb bie Aropfftiefel,
(«dürfte ifjm nochmals ein, was er ausguridjten f)ätte, unb
fefiob if>n pefilicf) fanft gur Tür hinaus. Beim näcf)ften
3?aufe breite er um unb fragte:
214
„ 22 ? a 8 foll tcf) fagen?''
Dann oerfchtoanb er richtig ln ber Tür eines Jtachbar»
Kaufes.
Er vollbrachte ben Jlunbgang. Als er jurürffam, toar er
jerbrochen oon Gefühlen tiefer Demütigung. So toar er
Senn oon Tür ju Tür getoanbert toie einer, ber jum Bet«
teln gejooungen toirb. ÖJie er innerlich bie rings oernom«
menen, nur halb gehörten unb fchon halb bergeffenen
HJorte blutig untereinanber rührte! Jtur bie eine üufSe»
rung, bafi man fich toerbe beeilen müffen, um oom Jahr»
marfte re<htjeitig jum Begräbnis heim ju fein, hatte ihn
mehr als anbere gequält. Als ertoiefe man feiner JHutter
eine 6 nabe, xoenn man bie 22 ?ürfe(buben bes IHarftes ein«
mal oerfäumte! Er aber, er hatte mit biefem Gange feine
JHutter im Stich gelaffen: Jebe Einlabung toar eine neue
Jtränfang für fie. Aus beiben Augen, bem fehenben toie
bem btinben, fielen Tränen, als er toieber an ben ßetcf)»
nam trat.
Die JHutter toar in feiner Abtoefenheif getoafchen unb
aufgebahrt toorben. Sie erfchien ihm heiliger. Ettoas tote
Turcfjt 30 g fein ^erj einen Augenblick jufammen. Das ifl
bie Berührung mit ben anberen! ging es ihm bur<hs Jpirn.
Er rührte mit brei Singern leife an bie Jpäfelei bes Sterbe*
Heibes, fniete nieber unb betete. Dann fafS er auf allen
Stühlen ber Stube herum, ging hin unb toieber, toiegte
feinen großen Äopf in fchmer 3 tichen Gebanfen unb flrei*
chelte ber JHutter bie Äinnfpi^e, manchmal fafl reibenb.
Als er fich fpät nachts nieberlegte, begriff er nicht mehr,
toie er bie fremben £eute hatte einlaben fönnen, ihm feine
JHutter toeg 3 unehmen.
Am anberen JHorgen brachte er einen Armvoll S°lj
oom Boben, fu<hte fein neues Schnihmeffer hervor, rücfte
einen Schemel an bie Bahre unb formte einen ^ofglöffel.
Die Tante erfunbigte fich flaunenb nach Öem 3toed biefes
Beginnens. Er müffe hoch ettoas tun. Aber jefjt? fragte
bie Tante toeiter. Jlun Ja, es fei ihm gerabe eingefallen.
Sie fammelte ^> 0(3 unb Spähne 3 ufammen unb toollte fie
htnausnehmen. Stein, fie rnüffe ihn (affen. — Jüarum
nur? —
„Übermorgen ifl 3ahrmarft", preßte er gewaltfam her»
oor.
,,©u willft bo<h nicht etwa am Begräbnistage behter
JTtutter auf ben 3af)rmarft?"
Stein, baran hotte er ernfHicf) nicht gebacht/ nur bie Ar»
beit, bie eine oerfchömte Bermittlerin feiner fchönfien Ge*
fühle gewefen war, noch einmal an ber Seite ber ihm €nt»
riffenen oerrichten wollen, hoch hotte ih m ber Sltarft un*
befiimmt oorgefchtoebt bie gange fdjlaffofe Stacht hinburch,
fo baß er ftd) feiner gur Ausflucht bebiente. Allein bie
Srage ber Xante erfchien ihm als rohe unb unoerantwort*
liehe Bergewaltigung feines 3nnern, unb wie eine Abwehr
ber gangen BJelt, beren Belüftung er fich nicht entringen
tonnte, entfuhr ihm bie Antwort:
„jawohl, ich werbe hin!"
„Pfui! — fo etwas nur gu reben", warf ihm bie Xante
oon ber Seite ins 6eficf)f unb fammelte ben «Reft bes $?olges
heftig ein.
Augufl fließ ihr bie Bürbe aus bem Arm unb flanb
breitbeinig, mit gefalteten Jrjänben unb fratjenfehneiben*
bem JTtunbe oor ihr.
Sie rief oerhalten: „BJarte!" unb fchlug bie Xür gu.
Sie fürchtete fich ober.
Er fchichtete bas Jrjolg auf ben Schemel unb fchob ben
Jliegel ber Xür ins Schloß. Als bie Xante aufmachen
wollte, oerhielt er fich flül. 6r tat bie 3eit über nichts, fon*
bem laufchte, ängflete fich unb trieb in beflemmenbem
3wange eine traurige £erbe fhtmpfer Blicfe über bas Ge*
ficht ber JTtutter. Auch einem gweiten Jlütteln an ber Xür
öffnete er nicht. Gegen Abenb oernahm er nochmals
Schritte, unb wie er an ben Stimmen ernannte, flanb nun
bie Xante mit bem Xifchler braußen. Sie probierten ben
©rüder, Augufl flürgte an bie Bahre ber JTtutter unb fchrie
laut oor 3om. ©ie beiben im Slur flüflerten unb brumm»
ten, beoor fie fich entfernten. Sie wußten wohl mit bem
-Knaben unb feinem Gemütsguflanbe nichts gu beginnen.
216
Augufl war beruhigt. £r (egte ficf) feine Arbeit bequem
nuf öen Schoß, nachöem er öie Campe angefietft batte,
fcf>nitt öen holbferßgen Söffet gu 6nÖe unö bettete ihn
»ei d) auf öie Bruß öer JTlutter. AnÖere Älöbcfjen fcfjienen
ihm gu Quirlen geeignet/ unö beim Schlage gehn (agen
fünf Stücf fauber neben öem Söffet unö beöecf ten öie JTiut»
ter bis an öen jpals. Jtocf) ein fcfjon beinahe oollenöetes
Ecfbrett für Öie Äüche, öas gum Ginßetfen oon mancherlei
Gerätßielen öurchlöchert war, befcfmipfelte er hier unö öort
unö fenfte auch Öiefea flüchtig (ächelnö öer JRutter ans
S?tr%. ©a es jeöoch einen ziemlichen Ctnörucf in öas Toten«
tuch machte, überlegte er fich, öie ©inge allefamt feien gu
fchtoer, unö pachte fie befjutfam auf Öen Gröboöen in Öie
Jlähe Öes Ofens. JTur einen Keinen Söffet neßelte er öer
Toten unter öie $üße.
£r hoffte, ohne es fich öeutßch gu Bewußtfein gu führen,
öie Tante werbe feine Arbeit am nächßen JTlorgen per*
brennen, ihm öamit gwar einen Keinen Scfjmerg bereiten,
jeöoch auch ®om $ortmühen unö öer unfeßgen Qual Öer
Jriarftgeöanfen erlöfen. 6r blieb lange im Bett, ihr 3eit
gu (affen. Als er aus feiner .Kammer heroorfam, (ag noch
a((es wie pertaffen, öas UollenÖete, öas JTCaterial unö
DJerfgeug, öie Späne.
©ie Stauer öes Geöanfens, öaß öie große Gruppe öer
ihm Seinößchen mit ihrem J?otge gu Grabe gog unö er
mit Öem feinen gu JTtarfte, gewannen im Caufe öes Tages
eine magifche Gewatt über ihn. Jlahmen fie öen £eib öer
JItutter mit, fo begteitete ihn ihre Seele. So Küge(te er es
fich, wenn auch nicht öeutßch, h erau9 , unö erbachte fich
JHärchen pon £eib unö Seele, wie er öiefe Begriffe: „£rfb"
unö „Seele" in Öer Schute aufgefaßt hotte.
Die fotgenöe 3Tacf)t war noch wirrer als öie jüngfhter*
gangene. ©ie Träume waren fchrecfßch: feine JTtutter, eine
JUefin, würgte ihn, unö er fchlug fie.
Gegen JHorgengrauen flanö er leife auf, gog Öen Äar»
ren aus öem Schuppen, beluö ihn, machte fich reifefertig,
warf Öer eingigen Äuh eine neue Streu unter, lief gwifchen*
ein gur JTlutter, horchte auf öer fchlafenöen Tante Atem*
217
güge unb wußte bei altem nur falb, bafi es feine Süße
waren, welche bie Erbe traten, unb feine ^jänbe, welche bie
Türen aufmalten. 6s war noch faum grau braußen, fo
war er oorgefahren, trat nochmals fchnett gur JTtutter,
gab ihr einen Äuß auf bie Stirn unb ging bann.
6r fcf)tug in ber Stabt fein 3elt auf. Die Bubenbepger
wunberten ficf) über ben .Knaben, ber bebachtfam, ohne
aufgufchauen, bie Stangen gufammenfegte unb fie an
ben Stetten, wo tf)m bie JTtutter Serben gegeigt fatt e,
untereinanber mit Striefen befeßtgte. 6r (am gußanbe unb
fegte fitf) brinnen im 3elt auf feinen Äüchenßuht. Sangfam
flieg bas Sonnenlicht tjerab auf bas graue Steinpflaßer
innerhalb feiner £einewanb. Die Quirle waren über fei*
nem stopfe angebracht, leuchteten mattweiß unb waren
wie Sterne am IBeihnachtsbaum. Aber bie JItitchbretter
hatte er hinter fich flrahtenförmig oereinigt: fie waren lang
unb gr ß unb wie eine Sonne, bie aus bem Äalenber in
bie IBirfüchfeit gefegt ifl. Auguß fah unter feine Jahre
jung aus, wie er gwißhen feinen DJaren fchweigenb auf bie
Käufer wartete, fchon flunbentang. Je länger fie ausblie«
ben, beflo ßhlimmer (itt er oor llngebutb. ltnb bie innere
Quat oerharrte wie ein totes JTTeer.
Auf bem Tonbanfbrett oor ihm flanben ln ausgerich*
teter Jleihe, eins bicf)t neben bem anbern, gehn jener fiel*
fen Pferbchen. Auf ihnen ritten begehrlich bie Bticfe oor*
beiwanbernber Knaben unb JTTäbchen. Augufl bemerkte es
wohl. 6r beugte fich f<htießtich mit einmal über bie
Schranfe, faßte ein rotjärfiges, fchorargäugiges Äinb im
Alter oon etwa oier Jahren unb gab ihm ein Pferb mit
ber Bemerfung: bas fcfjenfe ich bir. Das Mang wie ein
gugerauntes, oerMärtes Geheimnis. Sie nahm bas Pferb*
böefthen gögernb, flanb (litt, fah ihn ein XBettchen an unb
fnifte bann tief. Aus einer Entfernung oon fünf Schritten,
mitten auf bie Straße wie gebannt, mußerte fie ihn bann
noch lange, währenb ber JTtenf<henf<hub an ihr oorüber*
brängette. Auguß empfanb burch bas weggegebene 6e*
fchenf eine füße Befchwerung feiner Seele. Das würbe bie
JTtutter toben, unb er faßte ptägtich nicht, wie ße heute
218
nicht neben ihm flehen fömtte, bicf)t neben ihm, f>ier ouf
bem Steinpflafler, im bunfelbrounen «Korf unb blauen
Schal. Cr ließ nach unb nach .Knaben unb JItäbcf>en auch
bie übrigen Pferbe entgeitlos mitnebmen.
£ange 3 eit fanb er feinen Käufer. JTian nahm wof)l an,
ber .Knabe fei nur jur Aufficfjt jurürfgelaffen, berweil ficf>
bie Ärämerfrau entfernt batte, wie er jo auch unaufmerf»
fam mit niebergefcfjlagenem Blicfe unb bisweilen beweg*
ten £ippen bafaß unb mit gefalteten 4 pönben wie ein ju*
genblicfjer Tltöncb in feiner Cinfiebelei.
Cr bebaute, baß bie IRutter leblos in ber Stube rufje
unb bie Begräbnisleute ficf) oerfammelten.
Sie Jßutter erwacbte mit einmal unb rief ihn. Sie £eute
entfetten ficf). Sie achtete bes nicht, fonbern fab ficf) nur
nach if>m um, unb weil er nicf)t ba war, legte fie ficf) wie»
ber in ben Sarg unb 30g felber ben Sexfel auf ficf) nieber.
Jüan orbnete ficf), als wäre nichts gefächen, unb 30g wirf«
lief) 3um .Kirchhof« — ZBaren bie Glocfen atts bem Sorf
nicht 3U hören? — 3 f>m würbe bange. Cr fcf>loß bie Augen
unb wünfebte, alles möchte boeb nicf)t wahr fein, unb öff¬
nete bie £iber, ba trotteten bie JTIenfcben in ihren JTtänteln
wie oorber, unb viele faben 3U ihm herein.
Giner forberte enblicf) ein Äücbenbrett. Als Auguß bas
Gelb einflecfte, fcbneu3te er ftcf> bie Jtafe unb weinte. Sie
Aäufer faben’s unb meinten, er weine, weil er nichts tos
werbe. Gin Anbrang entflanb oor feinem 3 elte. Jüan nahm
ihm oiet ab unb (egte fogar öfter einige Pfennige Uber
ben Preis bin* 6r reichte oerwirrt unb baßta mehrfach
oerfebrte Singe, fchluchjte aus Beflommenfieit oor ber
Sülle 3ubrängenber JT?enfcf)en auf unb hörte fchon Ber»
mutungen über ficb unter ben Umflebenben tun. Gr be«
meißerte ben S<f)mer3 nicht mehr. Gilig! eilig! brängte es
in ihm. IBäre er bie Singe los! .Könnte er b«m! Ufas
brauchte er überhaupt weiter 3U oerfaufen! BJ03U bie Sor»
bernben befriebigen! Bur fcbnell fort!
Gingen nicht bie Glocfen? — 3 °/ man läutete.
Gr (ifpelte beim Berfau*en ratlos: ,, 3 'bt bommeln fle
fchon!'*
IBas if>m fei, fragten mehrere Stimmen.
,,3cf) muß nacf) Jpaufe", fcfjlucfjjte er rauf), bie Olafe
fcfjneugenb. „Sie bommeln ja f<f)on fo laut/*
„Otun ja, es iß bocf) Donnerstagsanbacfjt."
69 entlaub ein fragen burcfreinanber. Ein alter OTtann
»erlangte nocf) einen Quirl. „Olein, nein," toefjrte er ent»
fcfßeben ab, „irf> muß nacf) Jrjaufe." Eine $rau fucf)fe
ifjn rüf>rfelig gu trößen, mußte aber in ein £a<f>en f)in»
ausprußen.
Er begann eilig fein Seit abgubrecfjen. Er wicfelte bas
Segeltucf), bie Sparren unb bie übriggebliebenen BOaren
toifb burcfjeinanber, wollte nur baoonfommen. üorfjer
mußte er einem poügißen lang unb breit Olebe fielen;
bas befcf>wicf>tigte if>n ein wenig. Dorf) bann faßte er ben
Jrjanbwagen am Deicf)felfreug. — Er mußte nocf) einmal
ablaben, weif bie Pfahle quer tagen unb bas Gefährt fo
unmöglich burrf) bie bidftfgefülften Straßen gu (feuern war,
aber auf ber Cf>auffee trabte er, baß if>m ber fitem ausfe^te
unb er einen Sticf)frf)merj im llnterleibe befam.
Dennocf), als er im Dorfe anfarn, war oon einem Bes
gräbnis nichts mef>r gu fef>en, nur Matfcf)te nocf) ber Xoten»
gröber auf bem Hircf>f)of ben frifcfjen IpUget gured)t.
fluguß ging im Schritt, aus angenommenem Stolg gegen
bie £eute, aber es würbe ein Siebenmeifenfcfjritt, benn er
fdjämte ficf) oor allen Senßern unb fcfjraf auf, wenn fein
DOagen über einen Stein raffelte. Dann glaubte er, jemanb
fjielte if)n an unb wollte if)n prügeln; — er fjätte es guge»
laffen, weil er es oerbient glaubte.
3u $aufe war bie Stube leer. Er faf) Haßen unb Hißen
an, als wäre bie OTtutter bort f)ineingefcf)loffen unb »er»
funfen. Ein faber Gerucf) fom bisweilen auf. Die beiben
Stühle, auf benen ber Sarg geruf)t fratte, ßanben nocf)
mitten in ber Stube, fluguß legte ßrf) gwifcfjen if)nen auf
bie Erbe unb ßöfrnte.
Die Xante tat ben OTTunb ni(f)t auf, wanberte mit if>rer
brotligen Xrauermiene f)in unb fcfjien bas frampfoolfe
Hinn immer f)öf>er gu giefjen — balb fcfjnappte bie über*
ßef>enbe Oberlippe gu unb fcfßucfte es in ben JTlunb.
220
fluguß fyatte baa Bebürfnis, ficf) irgenbwie oor tf)r gu recfjt*
fertigen. BJie ober? Unbewußt tot er ea, inbem er ficf)
obenba if>r gegenüber oor bie £ampe fefcte unb if)r fein
(jeltbefcfjienenea Geficfjt barbot. 6r flarrte unabläffig, fie¬
berhaft ins £icf>t. Gleich auf ben Äirchhof gu gef>en, brachte
er nicht fertig. Cr erroortete erfl nocf> ben Pfarrer, ber if)tn
Borijoltungen machen würbe, ben £ef)rer, ben Xifcfüer, fo»
oiele onbere, unb bann mürbe oucf) bie Xante gu reben
beginnen, unb er würbe nicf)t einen Uerfucf) machen, ficf)
gu oerteibigen. llnb bann!
Jliemanb fam, nur bie JRutter, ein farbiges UJinbge»
biibe, fcf)webte hinter if)nt.
6r ging gu Bett, nocf> als überall im Dorf baa Sicht
brannte.
Gnblicf) f)örte er bie Xante in ihre Kammer geften.
Äaum war bie Xür ins Schloß gefrf>nappt, fo fprang er
auf. BJie geißesabwefenb rif} er bie Stiefel fjinter ber
Spinbfrone f>eroor, herunter, unb gog fie über bie Süße.
6a waren bie Äropfßiefel. Oie anberen, bie er taga an ben
Süßen gehabt, ßanben unter bem Bett. 6r f>atte ficf) gar
nicht angufleiben beabficf)tigt, fonbern nur bas Scf)ni£mef»
fer aus bem Spinbe fjerausgreifen wollen, aber in Ge»
banfen an bas gweite Gefcfjenf ber JTtutter bas erfle ge»
pacft. Oocf) befann er ficf), gog bas Jlteffer aus bem Sutte»
ral, fcf>ritt gittemb ans Senßer, f>ob ben linfen flrm, macfjte
eine gurürfgeßemmte Sauft unb fucfjte nacf) ber Pulsaber.
Oas JTleffer war oöllig fcfjmarg in ber flemlofen Itacftf.
fluguft ftanb unb ftanb. Oie Stiefel f>atten if>n er werft;
fie ließen if>n forgen, beim Gef>en nicht gu poltern — eine
nafje, irbifche Sorge. Xlnb bas Jlteffer rettete if)n oom Xobe.
Oer JTtutter Gaben brachten if)m linbernbe Sgenen bes £e*
bens gurürf, unb allgemarf) oerbreitete ficf) in if)nt eine füße
JBefjmut. 6r taßete ficf) auf 3ef)enfpitjen bis gum Bett, fehle
ficf) auf ben Jlanb unb fpielte mit bem Sutteral bes Jltef»
fers. Beim Grwacf>en am näcf>ßen JTTorgen lagen Stiefel
unb JReffer oor if>m in ber Sonne — gum gweitenmal Ge»
fcfjenfe feiner JTtutter.
221
Biele Qafrre fjtnburcf) arbeitete er nun weiter, an groben
Xifcfjen unb Särgen wie am Äleittgeug, unb bie XDeth»
nacfjtsfichte betrachtete er mit bem Gebanfen, baß ihre
Seele beibes berge. Sein innerer 3wiefpalt im HJeltemp«
finben hat ficf> immer mehr jugetan, fo baß er einmal wirf»
lieh ben fcherjhaften Berfuch machte, einen Sarg unb einen
£öffel aus bemfelben Stamme ju fefjaffen unb foleher»
maßen bas hölzerne Grabgut ber JRutter ju oereinigen.
Schließlich erjählten bie £eute oon einer frohen unb tap»
feren Gewohnheit bes alten Schreinermeißers Auguß
Stieofärjler: Qeber Sarg feiner Arbeit mußte ihm ein paar
Abfälle für Äinberfpieljeug ausliefern/ unb oon jeber
XCJiege oerwahrte er bie Jpobel* unb Sägefpäne, um fie
ins Äopffiffen eines Xotenfch reines ju fchütten Jlülb, nah
unb fcf)ön wie inniges Spiel lagen £ebens Anfang unb
Gnbe oor feinen Augen.
323
tftcißarfec
BonAlbrechtSchaeffer
hrifiacfer hieß ein IRenfcf). Er mar um bie 3eit un*
\£/ ferer Gef<f)icf)te ungefähr ferfjjig 3aljre alt, unb fein
Harne toar nicf)t eigentlich Chriflacfer, fonbem etwas an»
bers. Aber weil er ihn fpäter mit Erlaubnis ber Dbrigfeit
oeränberte, benn ber ursprüngliche Harne war nicht eben
fchön, fo fei er auch beswegen mit biefer lebten Sorm feines
Hamens genannt.
Diefer Chriflacfer flanb in einem öffentlichen Dienß. Er
hatte ben Xitel eines «Rates, obwohl feine Arbeit weniger
barin beflanb, jemanbem ober etwas ju raten/ als in
lauter burchaus nicht rätfelhaften unb feßgelegten Dingen:
Sehreiben, ^Rechnen, Drbnen oon 3af)len ober Papieren
ober Aften, was nicht näher befchrieben ;u werben braucht,
hiermit oerbrachte er bie meiße 3eit feines Xages, fogar
mehr baoon als unbebingt nötig war; benn er h«tte fein
3 uhaufe als fi<h felbft, unb bas war ;u bürftig, um fich ba»
nach ju fehnen, wie man balb fehn wirb: weshalb er tag»
lieh auch noch ein mehr ober minber großes Stücf feiner
Sreijeit in bem oertrauten Dun ft feiner Schreibßube, über
feinem Stehpult am Jenßer oerbrachte. Dies ßanb Ubri»
gens oom Xenßer aus (infs, fo baß er, ba man fich beim
Schreiben mehr nach (infs als nach rechts ju wenben pflegt,
feiten einen BUcf hinaustat; wo benn freilich auch nicht oiet
mehr 3 U fefjen gewefen wäre als bas Sicht.
Xtnfere Gefrf>tcf)te beginnt mit bem Augenbticf, wo Chrift»
aefer beim morgenbliäjen ^erantreten an fein Pult ein
Blatt barauf fanb, bas eine etwas ungewöhnliche Heuig»
feit enthielt. Es war nämlich eine Anweifung oom Jltini»
ßerium felbß, bie unter Einbeulung auf geonffe gefell»
fchaftliche Beränberungen ber 3eit ben öffentlichen Beam*
223
ten im Derfef>r mit bem JJubliPum eine bisher nicfjt üfaücfje
3uoorPommenheit gur Pflicht machte. Als Chrißacfer biea
(ad/ bemerPte er, beffen 6etoof;nheit es fonß toor, nichts gu
bemerfen, baß bie fein3imnter teilenden Schreiber hinter
feinem «Rücfen, obmohl er fie got nicht fehen Ponnfe, mit
ihren Sehern innehielten unb ihn beobachteten. Cr los in»
folgebeffen bie Anmenbung breimal unb fonnte ße aus»
menbig, allein/ mie alles, roas er machte/ nur mit bem
IJerßanb: in feinem toefentlichen Qnnern hotte er bef<h(of»
fen, Peine Kenntnis baoon gu nehmen. Aber, bies mufi
angegeben »erben, er mar ßch nicht etma befonberer litt»
höflichfeit ober gar Grobheit in feinem Benehmen gegen
anbere bemußt; er mar, mie er mar, unb bachte niemals
baräber nach.
öies mar am Samstag, Am Sonntagnachmittag gog
er bie bem läge entfprechenbe «Kletbung an unb ging —
ba es fchönes BJetter mar, nur mit 4put unb StocP burch
bie Stabt, in beren älterem StabtteU er oier Xreppen eines
alten Kaufes erPIetterte, um fchließlich, bunhaus nicht
atemlos, an einer Tür gu Kingein, bie ein reinliches JTtäb*
chen ihm auftat. 6(eich barauf ßanb er in einem altmobifch
eingerichteten, oon ber 3Tacf)mittagsfonne erfüllten 3im*
mer unb begrüßte eine ihm gleichaltrige alte Dame, bte in
Senßerfonne unb farbigen Blumenßöcfen mit einer ruhb
gen SreunblichPeit faß unb feine Begrüßung facht ermi»
berte.
Oies mar bie Schmefier eines großen Aßronomen, bef*
fen £eben unb Arbeit fie als fleißige Gefährtin geteilt, ber
fte aber vor einem Gahrgefjnt oerlaffen unb in einer etmas
ratlofen CinfamPeit, meil XlntätigPeit gurücfgelaffen hotte.
Doch blieb ße in einem Iebenbigen, nicht nur fchriftlichen,
fonbern auch perfönlichen BerPehr mit vielerlei JTlenfchen,
gelehrten unb ungelehrten, bie fie oerehrten; unb an ben
Sonntagnachmittagen oerfammelten fleh manche baoon,
jung unb alt, um ihre nicht alternben Augen unb mitunter
fo viele, baß man ftch ojunbern Ponnte, mie Chrißacfer es
unter ihnen aushielt. Cs läßt ßch auch nicht begrünben,
allein er mar ba; benn bie alte Srau mar eine Qugenb»
224
freundin oon ihm und möglich ermeife der einzige noch
flimmernde llberrefl ous lebendigeren Tagen. 6r hatte
einen Sil), bequem genug, in einer 6cfe des 3immers, auf
dem er gemeinhin flillfaß, fobald Gäfle erfchienen, und
den niemand ihm flreitig machte. Übrigens fam er immer
fo früh, daß er die Treundin eine DJeile für fi<h allein batte,
wobei er freilief) wenig gu ihrem Gefpräch beitrug, fondern
nur mit einer feltenen Äußerung des Beßätigens ihrem
bunten 6rgäf)len oon £rmachfenen und hindern, Runden
und ©ienflboten, wiffenfrfjaftltcfjen und andern Jteuig»
feiten guhörte. BJenn irgend jemand die Alte fragte, war»
um fie den Griesgram in ihrer Jtäf>e ertrage, antwortete
lie in ihrer unwiderfprechlichen Sacfjtfjett, fie fenne if>n nur
als geduldig und teilnehmend, und was er fonfl etwa
treibe, gehe fie gar nichts an.
An diefem Sonntag fand Chrißacfer bereits einen Gaß
oor; und gwar nicht nur dies, fondern einen gang fremden,
und gwar obendrein auf dem ihm hö<hß eigenen Si£; und
fd)ließli$ war es nicht einmal eine menfehliche, fondern
eine Tiergeßalt, nämlich ein ungewöhnlich großer grauer
£ater, der fleh auf dem Si^ftffen ausgeßreeft hatte. 3<h
weifi nicht, ob Chrißacfer ihn f<hön fand; aber er hatte die
gange nur oerfleinerte Jttajeßät eines gelagerten Tigers
und war überdies unter der .Kehle und der Schwangmurgel
mit je einem weißen Tlecfen oergiert. Chrißacfer, in gögem»
dem Jlähertreten, fagte: „XBas ifl denn das?" DieTreun*
din überhörte die eigentliche Albernheit diefer Trage und
beantwortete fl« mit der fachlichen Grftärung, es fei ein
finnifcher .Kater; fein hiefiger hätte diefes tiefe und weiche
Grau, noch auch ö*efe Größe. Chrißacfer, je£t oor dem
Tremdling flehend, beugte flcf) über ihn und bemerfte nach
einer JUeile: „6r flinft." Die Treundin antwortete nichts,
und nach einem Schweigen fuhr Chriflacfer fort: „6r ߣt
auf meinem Stuhl."
„3age ihn weg", befahl die Trau.
Chriflacfer uderte, denn es war ihm peinlich, oielleuht
nicht nur ein Tier, fondern überhaupt etwas £ebendiges gu
berühren. IDeil aber das Tier durchaus feine JTXiene
225
15 $te beutfd&e S&obeBe.
machte, ßcb etwa oon Chrißacfers Bticf weggaubern gu la|«
fen, beförderte er es mit einem plötzlichen Aufwallen ber
llngebulb unb mit einer Art Hieb feiner oollen 4panb gegen
bas Hinterteil Ijolb frfjiebenb oom Stuhl herunter. Oer
Äoter flog gegen ein Xifch<hen, oon bem Xifrf)rf)en flog et«
was 3erbrerf)licf)e8; ber .Kater quietfcfjte, unb bie alte Oame
blicfte mißbilligend über if>re Brille hinweg. Chrißacfer
jebocf) fe£te ftcf); bie Sreunbin begann nach wenigen Augen«
blicfen unbeeinflußt bas gewohnte Gefpräcf). Als fpäterhin
6äfle gekommen waren, als man um ben runben Xifrf)
faß unb Xee tranf, bemerfte Chrißacfer mit großem TTtiß«
fallen bie allgemeine Anerkennung unb 3uneigung, bie bas
Xier ftcf) erfrf)lirf), nur oermittels feines Borbanbenfeins.
6s würbe oon jebermann gefüttert unb geßreichelt, aus«
genommen natürlich oon Chrißacfer, ber fiel) oielmehr ge»
wiffermaßen etwas barauf jugute tat, baß ber Aufbring«
li<f>e ßcf) an jebermann heranmachte, außer an it>n- piö£«
(ich aber batte er ein frf)were9, wenn auch weiches Gewicht
auf feinem Schoß unb erfannte erßaunt ben .Kater, ber
auch bereits über ben Xellerranb oor ihm mit Heiner 3unge
hinweglangte.
Oiefe Bertraufichfeit eines erflärten Sreinbes war fo un*
oerfchämt, fo unüberßeigßch, baß ße Chrißacfers BJib be«
täubte, er ben Beleibiger bei ber &ef)le paefte, aber auch
ßhon auffchrie unter einem brennenben JUß über feiner
Hanb. Gr aber faßte bo«h fräftiger gu, trug auffpringenb
bie Beßie gum offenen Jenßer unb ßhleuberte ße hinaus.
Alles fchrie auf, unb gwei Äinber, bie am Xifrf) nicht
Plah batten unb auf einem Stuhl jufammen faßen wie
ein ßameßßher 3wi(ling, umfchlungen unb rechts unb
linfs ein Bein feitwärts aufgeßeflt, riffen atiseinanber unb
ßürgten, gum Senßer bas eine, bas anbere gur Xür. Chriß»
aefer, feltfam mit etwas niemals Gmpfunbenem über»
goffen, beugte ßch über bas Äinb hinaus unb fah in ber
Xiefe ber Straße unten bie Äa£e gang ßUl, aber, fooiel aus
ber Höhe frfßen, ߣenb. llnb im nächßen Augenblick war
ße oerßhwunben. Chrißacfer wanbte ßch langfam gegen
oiele empörte Augen um, bie jeboch auswichen, als ihre
226
Blirfe ftrf) mit Cbrißarfers freujten. 69 mar ßifl. Aber nach
einer ZBeile rourbe bas Geräufcf) ber B?obnungstür hörbar,
bie Stritte bes «Ktnbes tappten, allein beoor es felbß
bar mürbe, fab Cbrißarfer burrf) bie Xürfpalte einen grauen
Schatten beranftbleieben, ber aber unter allerlei JHöbeln
bintoeg an ber IBanb unter bas große Sofa oerfthroanb.
Die toeiblicben Anmefenben fielen auf bie Änie, um ibn
beroorjulorfen. UJäbrenb ber allgemeinen Bermirrung
oerfcbtoanb Cbrifiacfer. 3m Treppenhaus, too er mabr*
nahm, baß er gitterte, unb um feine brennenbe, aber faunt
blutenbe Jrjanb fein Xafcbentucb mirfelte, erftbien ihm bas
Tier toieber, oon oben gefeben, in ber Tiefe ߣenb; unb
Cbrißarfer fcbnob mit einer gemiffen Hochachtung ein
Sachen: Sie fallen immer auf ihre Biere.
Bon ben nächßen Tagen iß nichts ju erzählen, außer
baß am Donnerstag ber BJocbe ein Cbrißarfer, fooiet
er mußte, ganj unbefannte9 Sthulftnb auf ihn §ulief —
es mar aber bie eine Själ fte bes 3mittings —, ihm bie
3unge herausßrerfte unb rief: „ütfth, bie Äa£e iß mieber
gefunb! Sie iß ganj mieber gefunb!" IBorauf es umbrehte
unb baoontief mit fpringenbem Tornißer unb fliegenben
Haarjöpfen. Cbrißarfer, nicht ganj erflärlichermeife, er«
innerte ßch in ber nächßen Sefunbe an ben Geßchtsaus*
brurf ber ^ugenbfreunbin in Jenem Augenblirf, mo er fith
nach ber Hinrichtung bes «Raters oom Senßer roeg um*
manbte; einen bei unoeränbertem Geßcf)t eigentlich leeren,
aber brobenben Ausbrurf, burch ben, mie aus ben Augen«
Öffnungen einer Jltasfe, Augen auf ihn bßrften, bie breißig
unb mehr 3°& re jünger maren; gefaben, mie man eine
BJaffe gefaben fühlt, mit Erinnerung an ein ganj ähn«
Hches Gefchehen. Aber Cbrißarfer ließ es nur aufbtinfen
unb fchloß oor ihm ben Blirf.
BJas gefthah am fommenben Sonntag? Cbrißarfer be«
trat bas befannte 3immer, man Öarf vielleicht fagen mit
etmas befchleunigtem puls. Das erße, mas er fab, mar
ber «Kater, ber mitten auf ber leeren Stäche bes Teppichs
ßanb, augenbtirfs jebotb megfprang, fehtnbenfang mie
tollgemorben im 3immer umherjagte unb plöblith mit
IS»
227
fchmetternbem Älirren burcf) eine Senflerfcf)etbe ins Sreie
fcf>oß. Cfjrißacfer ßanb bas $erg, unb feine Augen oer*
öunfelten ficf). 6r umfite nicht, wie lange er (lanb, aber
öanacf) machte er fefjrt unb oerliefi 3immer unb ijaus.
Auf ber Xreppe begegnete ihm niemanb, unb auch unten
mar niemanb gu fef>en.
eine plöhücf) geißesfranf geworbene ober felbflmörbe»
rifcfje Äa£e iß, gurnal *° e nn 3rrßnn ober Selbßmorb in
einer, obfcfjon nicht anguerfennenben Begiehung gu einem
fleljt, eine fiörenbe Sache; unb wenn Chrißacfer ihrer, als
er fchlaflos im Bette lag, auch gerabe nicht bachte, fo bachte
er anbere Ginge, bie fchlaflos machen fömten. Gie Äam»
mer, in ber er lag, war faum halb fo breit wie lang, war
fahl, «nb fein furges Bett — er fcf)licf aus Sparfamfeit
noch in bem Änabenbett, in bem er ßebgehnjäfmg beim
Tobe feiner JAutter fcfjlicf — flanb in ihrer hinteren ^älfte,
fo bafB er im Siegen über bas Smfienbe hinweg gegen bas
(leine hochßhenbe Jenßer fah. Cr war hoch nun eben im
Ginbämmern, als ein (ühier Jpaucf) ihn bie Augen wieber
auffchlagen liefi, unb er erfannte, baß bas Senfler fleh nüt
beiben Slügeln geöffnet hotte. 6s war nichts ltngewöhn»
liches baran, wenn er tatfächlich unterlaffen hotte, es gu
oerriegeln, unb ber UJinb es aufgebrüc(t hotte. Aber es
war (ein HJinb, unb er erinnerte fich nicht, ben Jliegel
oergeffen gu hoben; unb als hätte er im Augenblicf bes
Siberhebens noch gefehen, wie bie Slügel fleh fonft in ber
JTlitte teilten unb nach innen brehten, fo hotte er bie nicht
geheure Borflellung einer großen unb gebieterifchen j?anb,
bie bas Senfler gegen ihn aufßhlug wie ein Bucf>, Cr lag
eine HJeüe noch ßill auf bem Jiücfen, oor Augen bas bleich
erhellte Bierecf im Gunfel; fdßoß bie Augen wieber, ba er
aufflehn wollte, wie man mitunter in bem Augenblicf einer
Bewegung, bie man machen muß, oielmehr bie anbere
macht, bie man im gleichen Augenblicf machen möchte,
llnb als er fie wieber öffnete, war bas bleiche Quabrat
faß ungefüllt oon bem fchwargen Schattenriß, bes Katers.
Chrißacfers Jperg ßanb mit einem fchlagenben Jlucf ooll»
tommen ßill, als wäre ein B(i£ burchgefahren, aber ein
32$
fcbmarger. £r rang lange nach Atem, f;örte fein Df)r ooll
oon Saufen, bann tangfam frfjmere ^>erjfrf)läge, ein Aus*
fe0en unb plö^ftcf) babütßürgenbes Srfrfctgen. Still faß bas
Tier. llnb bann brach an Cbriftatfers Schläfen ber Srf)meiß
aus; er fcbtoß bie Augen.
3m Dunfel, ba nichts mef>r (tcbtbar mar, fämpfte (ich
C^riflarfer gu bem Befrfjluß burrf), es fei eine jpaltugination
gemefen. Aber er öffnete tro^bem bie Augen ungegähtte
JTlinufen lang nicht, um ber Halluzination genügenb 3eit
gu taffen, ftch gu entfernen. Als er frf>tießtich ben Bticf auf
bas Sen ft er magte, mar es in ber Tat leer, vernahm er
aber gugteich einen teifen unb leisten Salt unb tourte, ba 9
Tier mar im «Kaum, ihm burrf) fein Bett oerborgen. €r
blieb (litt, jeborf) über feinen gangen Körper hin mar feine
Jpaut in Bemegung, ats ob fit in mingigen Tieren tebenbig
mürbe, um fortgutaufen. Jrjörbar mar nichts ats bas
Df)renraufrf)en. Plä^ticf) mußte er fein öe(irf)t auf bie
Seite menben unb neben feiner Bettffatt f)inunterfef)n;
unb ba flanb bas Tier. Stanb, f (bäuerlich groß, ben dürfen
gemötbt, ebenfo ben Srfjmang, unb ben .Kopf runb erhoben.
Chriftacfer fielen bie Augen gu. 6r öffnete fte, unb bas
Tier faß auf bem Bettranb. 3e£t frfjien ber le£te Augen«
blitf gefommen, mo entroeber altes gufammenfHirgen
mußte ober eine ^anbtung getan roerben. Allein Cf>rifl*
acfer blieb füll mie bisher, grabe ausgeftrerft auf bem
."Hülfen, bie Jpönbe an ben Seiten unb mit etmas gefpreig*
ten Süßen, an beren Sorten er bas S ?ofg bes Sußbrettes
fteben füllte. 3Tun fab er burcb bie Klarheit ber oottfom«
menen Betäubung ben .Kater mit ber ibm eigentümlichen
lautlofen XJorftcht bie Pfoten erbeben, über bas nä<b fftie*
genbe Bein binmeg gegen bas Sußenbe bes Bettes (teigen
unb fid) enblitb bort hintegen, gufammengerottt, fo baß
Cbrißarfer auf beiben Schienbeinen bie mei<be Bürbe oer»
fpürte. 3To<b magte er nicht gu atmen, aber bann fam
iangfam etmas mie ein meines, tauttofes Sichobtöfen unb
Abfallen oon feiner Bruß, ähnlich mie man eine meiche
Jttaffe oon Schnee oon einem Dacbranb fleh obtöfen fleht;
unb tangfam banacb fam fein Äöroer- feine Seele, fein
229
ganzes Sein mit HJärnte, ^erjgang, Atemgang wieber in
Drbrn 3ugleirf) mit einem unen&lidjen Atemjug, Öen
er entlief}, füllte feine Brufi ficb mit Grlöfung — tote toenn
ju einem JTtörber am Xobesntorgen ber genfer fäme, um
if>m ju fagen, er fei frei. Cbriftacfer lächelte mit einer fafl
ftfjlud^jenben Ueriegenbeit; unb toenig fpäter entfrfjtief er.
Cbriflacfer fab int Traum auf eine IBanb gemalt bie
Oreieinigfeit, ein Jliefenauge im Dreiecf, bas mit fur<bt»
barem Orofjen um fleh ju freifen begann unb babei, wäb*
renb bas ©reiecf ficb fchmal unb fpi£ in bie Spöf)t fcfjob,
ju ber jufammengerollten Sigur bes Äaters tourbe. Oafj
feine eigenen Beine, jtotfcfjen benen bas Tier flcb gelegt
batte, bies Oreiecf bilbeten, wußte Cbriflacfer im Traum
nicht; allein bie Grfcbeinung hotte nun ettoas Berubigenbes
unb lief} ibn burcb ficb btnburcb fcbtoeben in bas Traum»
tofe.
Ob bas, toas Cbriflacfer an ber nächtlichen Crfcheinung
bes Tieres entfett botte, bie Cinbilbung toar, ber burchs
Senfler gefprungene .Rater fomme ju ihm, um ficb ju
rächen; ober es fei nur ein ihm ähnliches Tier, bas ber 3u»
fall ins Senfler getrieben; ober — unb biefe Sinbitbung
batte oermutlich bas llbergetolcht — es toar ber Getfl ober
Oämon eines 3erfcbmetterten, ber ihm erfehien: bas batte
er am morgen oergeffen. llnb toeil fein erfler Blicf beim
Erwachen ben Befucher nicht fanb, tneber jtoifchen feinen
Süßen, noch fonfltoo, fo toar es nur natürlich, baf} er im
frifchen JTTorgenglanj unb fonberbar frifcben Beftf} feiner
Gtieber befchloß, bas Jtacbfereignis für geträumt anjus
feben. Oie Geräufche feiner Auftoartefrau toaren im 3le»
benraum hörbar, ein 3ei<hen für ihn, baf} es hohe 3eit
war, feiner täglichen Pflicht nachjugeben. Als er aber fer»
tig angefleibet fein IBobnjimmer betrat, lag ber Jlachtgafl
eben bort, wo fein Auge ihn fucbte, nämlich auf bem Si£
feines am Senfler flebenben Obrenflubtes. Oie Tür war
jwar wäbrenb ber jlacht gefcfjloffen gewefen; aber immer»
bin war es möglich/ baf} er, jum Äammerfenfler hinaus
unb jum morgens geöffneten IBobnjimmerfenfler hinein,
bortbin gefunden hotte. Oie aufwartenbe Alte, bie oötlig
230
taub war utti> infolgebeffen nicht fpracf), auch bie Anwefen*
|>eU Cfmflacfers erfl eine UJeile fpäter bemertte, äußerte
nichts über ben Srembling. Cfjrifiorfer (lanb oor if»m unb
fagte, was er ju bem erflen ober eigentlichen Äater gefagt
hotte: 6r fünft. Ober oielmehr fogte er nicht fo, fonbern
er fogte: „Du fünf fl." llnb biefer £out ber Annäherung
war bem Xon eine9 JTluftfinflruments ju oergleichen, bos
mitunter bos Schweigen einer gangen £onbfrf»aft gu be*
freien unb feinen lautlofen 3nf»olt ausgufprechen oermog.
Denn bos 3immer toor morgenhell, fouber unb glängenb,
bie £uft innen oollgefogen mit bem freieren Atem bes
Draußen unb bur<hfprengt mit Anbeutungen oon monnig»
fadjer Seme in 6rb* unb Pflangenöüften. Cfmflacfers
Du on bos Xier toor in HJahrheit feine erfte Anrebe an ben
unter ben Senflern liegenben Garten.
6r feQte ft 6) gu feinem mageren Äoffee unb feilte feine
Semmel mit bem Äoter, ber gu biefem 3toe<f anfam. 3u
feinem Gerßenaufguß tranf er aus Sparfamfeit feine
Tlülcf). Jlun warb ihm flor, baß JUiltf) erforberlich toäre,
unb er ging gur Xür, um ber Aufwartefrau bestoegen
einen Auftrag gu geben. Den Slur befretenb, hörte er bie
Älingel unb öffnete, obwohl bies einer ßrengen Gewöhn*
heit guwiberlief, mit eigener Jpanb. Draußen ßanb ein flei«
nes, bunfelhaariges, gefunbbäcfiges unb burcfjaus unoer»
legenes JTtäbchen, bas einen Äniy machte unb fagte: „Jllut*
ter läßt oielmals banfen."
„Xöofür?" fragte Cfmflacfer unb hatte erröten müffen,
Wenn er ftd) oöllig bewußt gewefen wäre, baß biefes ber
erße echte Danf war, ben er feit 3ahren befam; benn
Scheinbanfe hörte er freilich jeben Xag mehr als genug
aus bem JTTunbe feiner «Klienten. Daß er gerabe nun fra*
gen mußte, wofür, war bejeirfjnenb. — Das Äinb antwor«
tefe nicht gleich, oergog fein Gefleht gum £achen, unb bie
runbe IKfton eines Äa^enfopfes fchwebte ptö^lUh feltfam
hinburch, als es fagte: „HJeil Sie heute nacht füll waren."
Darauf fnijte es wieber unb lief bie Xreppe hinab. Chriff»
acfer mußte ficf> an bie JTIilch erfl burch ben Anblicf bes
Äaters wieber erinnern, ba er oergeßlich ins 3immer gu«
231
rücfgegangen war, unb er begab fleh noch einmal hinaus
unb erlebigte feinen Dorfa^. HJoran er bachte, toar bien,
bafi in bem 3immer unter bem feinen bie JTTutter bes Äin»
bes franf (ag; bafi er felber bie Gewohnheit batte, wäbrenb
ber Jladyt gu erwachen, gu oerfrfjiebenen Stunben, einmal
um elf, einmal oielteicht um gwei; banarf) aufgufleben unb
eine beliebig lange 3eit in feinem DJobngimmer auf* unb
abjufcf)lürfen — nicht unnüp. Oenn in biefen Stunben
toar er ber £afl träger feiner 3ufunfts träume, bie er, beute
mel>r, beute minber, angenehm bebrücft oon ihren bppotbe*
larifehen ober Pfanbbrief» ober Sparfaffen*5iguren, bin
unb ber fcbleppte. Oie .Kranfe barunter batte ibn am geflri*
gen Tage bitten taffen, bie9 einguflellen, unb toenn es auch
ungewiß toar, ob er gefolgt märe, batte er es jebcnfalls
über bem nachmittäglichen Ereignis mit bem Äater oer*
geffen» Siebe ba, aber ber .Rater felbfl batte bie Erfüllung
bes löunfebes beforgt unb ibn mit Grauen unb mit Erlö»
fung in Schlaf oerfenft. Er aber batte ben OanP bafür in
Empfang genommen. Cbriflacfer bacf)te: furios!
Auf bas .Kommen ber TTtilcf) fonnte er nicht warten,
batte aber ber Srau begreiflich gemacht, bafi fie für bie
JSabe befKmmt fei; er fonnte alfo beruhigt feines XDeges
ins Amt geben. Oort war e9 nun wie immer. Aber e 9 war
gang anbers. Cbriflacfer nahm ben £euten, bie mit An*
liegen gu U)m famen, ihre Papiere ober ibr linoerflänbms
ober ihre .Klagen ab, mit wenigen Xöorten ober gang
fchweigfam, ober fchliefilicb feine gange Ausfunft in eine
eingige farblofe Derorbnungsrebe gufammenbünbelnb, fo
beute wie immer bisher. Allein wenn er fprach, bann war
es etwa fo, wie wenn, gwar ungefchicft, aber auf einem
nicht mehr oerflimmten «Rlaoier gefpielt würbe. Xtnb fo*
gar wenn er fefjwieg, Cbriflacfer bemerfte e9 felbfl, fo war
bas Schtoeigen feine Äluft, fonbern ein Strom, fein Ab*
bruch, fonbern eine Paufe, nicht abwebrenb, fonbern —
nein, angiebenb nicht, aber eben nicht abwehrenb. Cbrifls
acfer, wie gefagt, bemerfte nicht nur bies, fonbern auch,
bafi feine Schreiber es merften; unb feins oon beiben war
ihm guwiber.
232
6r pflegte mittags nicht nach $aufe gu gehen, fonbern
in einem nahen Speifehaus gu effen, bemach auf feinem
burdj ein ßiffen erweichten Amtsfiuf>l eine halbe Stunbe
bie Augen gu fließen unb ftcfj bie übrige Jreigeit mit Af«
ten gu oertreiben, Auch am Abenb, tote tf>on berietet/
blieb er tneiß natf) Amtsfchluß an feinem Pult; unb beute
gögerte er feinen Heimgang länger als gewöhnlich hinaus,
obtool)! er burchaus bie Abficht butte, es nicht gu tun, unb
bie 3eit über beßänbig eines Empfinbens war, baß er
felbfl wieber unb wieber quer bur«b ficb h*nburch ging.
6s bunfelte bereits, als er fein 3immer betrat, aber er ge<
wahrte bo<b feinen 6afl bort, wo er ihn am morgen ge»
funben hatte, auf bem Si£ feines Ohrenßuhls. Chriflacfer
ging hin gu ihm unb fagte: ,,3tf) habe nur einen folgen
Stuhl; gwei fönnen nicht barauf fitjen, ausgenommen ber
eine unten unb ber anbere oben. Auf blr mag ich nicht
fihen; willß bu auf mir?"
6r hob bas weiche Tier mit ben untergefcbobenen S?än-
ben, fehte fich unb legte es auf feine «Snie, wo es, feine
£age nur wenig in bas ihm Bequemere oeränbemb, liegen
blieb. XDas aber Chrißacfer geht auf fich liegen hatte, bas
hatte gwar einer -Ka0e Eeßalt, aber es war etwas anbe»
res: unb es lag auch nicht auf feinen Änten, fonbern auf
feiner Brufl. Was es war, wußte Chriflacfer lange 3eit
nicht, aber wir fönnen für ihn wiffen, baß es fein bis«
heriges £eben war, bas mit feiner Bergeslafl, fonbern nur
mit einer fchmergliehen, aber weichen bebrücfte. Sich lang»
fam auflöfenb in ihren Orucf, oergaß er langfam bie £aß;
benn fein Auge warb offen für bie Eeßalt. Er fah fich als
Knaben, als TTtann, finblich unb alternb; fah bie Schatten
eines nie wirflich gefehenen Baters unb bie etwas füm»
merliehen Figuren ber JTtufter unb einer übermütterüchen
Schweßer oor ihm, wie fie ihr Dafein für bas feine tn
fchöpften unb auf bie gütigße HJetfe oon ber Welt ein
riefig IJerfehrtes gogen aus einer oerfehrten Wingigfeit oon
Äeim. Er fah ben fetbßfüchtigen Jforbernben oergärtelt gu
einer JTttßbefchaffenheit oon nur noch forbernber Selbß*
fucht. Wohlhabenheit war feine in bem Jpausßanb, unb
233
fo mar Denn bas Beße für tf)n, «Kleib ober Speife, toas tn
ben Kräften feiner Sorgerinnen ßanb, immer mangelhaft
unb bot Anlaß gum jrjerabfe0en, gum dritteln unb OTör«
geln; unb als Chrißacfer ermachfen mar, ba mar er oer»
machfen. Jlotf) einmal fam eine leichtere $riß, eine eigent»
liehe OTiärchengeit, too mie auf ben 3auberfprutf) ber Elfen
im $ügel ber BucM fiel, unb ber Ärummgemefene grabe
ßanb in ber fehnfüefjtigen Schlankheit bes Engels, ber in
ihm lange oerborgen getoefen. Oie 3ugenbfreunbin er»
fchien, glühenb in ber gleichen, mehr als irbifchen Srifehe,
bie mir bodj nirgenbs füßer erfüllt faf>en als auf ber Erbe,
unb in einer unangreiflichen Xabellofigfeit, bie mit ßlücf
ttbermältigte. Spattt aber Chrißacfer je an einem Elfen»
hügel geflanben? Spattt er überhaupt jemals gemußt, baß
er bueflig mar? Olein; unb ber niemals roirflich gemefene
Ausmuchs, ber oon 3auber niemals oertrieben toar, ent«
faltete fein unrebtuhes 6eheimnis mieber, unmahmehmbar
ba gu fein. Oenn in feinem JTtäbehenleib fleht ein anberer
Jpimmelsgefanbter als ber, an ben mir glauben. Cf)riß*
aefer mar’s imßanbe unb gergmeifelte unb gernörgelte fief)
auch &ie Bollfommenheit. Oiefe aber mar oon fräftiger
Olatur unb feljte fi<h mit allen BJaffen gur BJehr. Chriß«
aefer fah bie häßli<hß' Cpoefje feines £ebens mie einen
Sumpf unb — geißergleich ober mie OTTünchhaufen am
3opf fich felber herausreißenb — lanbete er in bem JRaunt
bes oergmeifelten Enbes, ooll oon 6eräten ber Aßronomie.
Er ßanb barin unb fah gmifcfjen fich unb ber gerßörten
Bollfommenheit in OTläbchengeßalt am Boben bie gerßörte
magifche, oielmehr magifch gemefene Spiegelfcheibe bes
Xeleffops, hingefchleubert oon feiner j?anb unb gerfplittert
mie ein OTienfchenalter banach eine Jenßerfcheibe burch bie
Slucht bes oon ihm gefcheuchten Xiers. Oanach entfernte
Chrißacfer fich für immer oon allen Geßirnen ober auch
nur oon einem eingigen, feinem guten.
Oiefes fah Chrißacfer, her Betagte, im 3auber einer auf
feinen «Knien liegenben «Rahe. Bielleicht, ba es mittlermeile
Olacht um ihn marb, meinte er; oielleicht lächelte er nur.
Ober oieüeicht meinte er nur — unb lächelte bann. Sein
234
£eben ging »etter nach biefer Jlaä)t, mir glauben, auf eine
etmas anbere HJeife. Jüan möge nicht eine unüberjeu»
genbe üufjerücf)feit barin fefjen, bafi Cfjrifiacfer amtlichen
Orts barunt einfatn, ben oerunflaltenben erflen Äonfo*
nanten feine9 JTamens bur<h bie jmei f)ödF)fl oerfrfjönern*
ben ju erfe^en, mit benen mir ihn brauchten. 6s mürbe U>m
gefiattet, obgleich mit einem £ä<heln ber Bewürbe — nicht
fo fefjr megen ber Xatfacf>e, als megen ber nicht befonbers
amtlichen Sorm feiner Eingabe. Oenn zur Begrünbung
ber ünberung mar unter anberem angeführt, bafi er, ber
Unterzeichnete, gcoar immer ein Chriftacfer gemefen fei, es
aber heute erfl miffe, meil bie Saat aufging.
235
Des Goldene
Do« Bruno Srtmf
i.
3 ot>annes flbrecht, ber Gehilfe bes Begirfsgeometera,
ein hünenhafter Junger JTiann, ging von Sengenau
nach Diesbach, um eine Bermeffung oorgunehmen. 6s
mar brei lthr an einem heißen, wotfenlofen Qulinachmit«
tag, unb ber BJeg hotte feinen Schatten. 3n bem Körper
bes'jungen JTCannea fiebete unb brängte bas Blut, er fchritt
mächtig aus unb fühlte mit Sufi ben Schweif} unter feinen
unfommerlid) bunflen .Kleibern riefeln.
6r hatte ungefähr bie Jpälfte feines Ganges gurücfgelegt,
ba fah er, gleich hinter ber Stelle, wo ber XBeg nach Jrjoch»
berg abgweigt, im Selbe ein junges JTtäbchen arbeiten. Sie
war gang allein in ber heißen fummenben öbe, unter ber
teuihtenben Glocfe bes Rimmels. IBie fie ben Schritt bes
JTCannea härte, richtete fie fich auf, legte bie Jrjanb über bie
flugen unb fah gu ihm hin. 6s war ein gang junges ©ing
noch, aber fchon HJeib, braun, fefl unb erregenb. Sie lachte
unb nicfte, flbrecf)t fchof} bas Blut in bie flugen, er fühlte
einen Xaumel unb fchritt über bie Stoppeln gu ihr hin, ehe
er es wuf}te. B3as bann gefprochen würbe, bas oermochte
er niemals gu fagen, auch fpäter oor bem Xlnterfuchungs*
richter nicht. Gewif} ifi, baß er bie Xafche mit ben 3nflru»
menten fallen Bef} unb feinen flrm um ben Jlücfen bes
TRäbchens legte. Sie trug nur ein jrjemb, bas f>etf3 war
unb feucht. Bon ihrer jungen Äraft ging ein jrjauch aus,
ber ihm bie Gebanfert nahm, ein jrjauch, in bem er gugteidj
ben fltern ber immer jungen, fruchtbaren 6rbe einfog. 6r
tüf}te fie, fie Bef} es lachenb gefcfjehen unb öffnete weit
ihren gefunben, törichten JItunb, er rif} an ben Änöpfen
ihres $embes unb nahm ihre Brüße heroor, bie fchon reif
waren, fefl unb hoch*
236
Seine große 6nthaltfamfeit in Dem Meinen Ort, wo er
als Beamter gu Jlücfftcfjten gelungen toar, (fand gegen
iijn auf als ein Jeinb, 6er junger feiner fiebenunbgtoangig
3af>re oernlrfjtete in einem flugenbltcf fein £eben. 6r flanS
oor ihr 6a, niebergebücft, f>atb auf 6en .Knien unb batte
fein Geficht in ihre Brufl eingewühlt, flugen un6 JTtunb
babenb in ihrem jungen Ouft. Dann lag fie auf 6er Erbe,
gwifchen gwei Garben, unb er Uber ihr, nicht entfchloffen,
fie gu befi^en, fonbern oon einer ungeheuren, bumpfbrau«
fenben Gemalt in bies Srfntffal geflogen. JXun er fl begann
fie fleh heftig gu wehren. Aber er hatte nicht mehr bie «Klar*
heit, biefen löcberflanb in feinem Ernfl gu begreifen, bas
Blut bröhnte mit Sturmglocfenton in feinen Ohren, feine
flugen waren gefchloffen, fein JTtunb flammelte, feine
mächtigen JTTanneshänbe hielten als unempfinbliche «Klatn*
mem bie Beute. 6r wußte nicht mehr, wo er war, nicht
was er tat, nicht wen er befaß unter ber fengenben Glut
bes Geflims.
3 .
flm folgenben lag erfchien ber Bafer bes Jüäbchens
bei bem Gemeinbefchreiber unb erfuchte ihn, eine Straf»
angeige an bie Behörbe abgufaffen. Berßänbiges 3ureben
half nicht, auch nicht, baß ber Xäter, oon Scham unb Jleue
überwältigt, fich gu jeber Sühne bereit erMärte, baß er fich
oerpflichten wollte, bas überfallene JTtäöchen nach wenigen
(fahren gur Srau gu nehmen. Es ßimmte ben hartgeßirn»
ten Bauern ebenfowenig um, baß bie kleine fich oon ber
anfänglichen Beflürgung fofort erholt unb gleich ont erßen
Jflorgen ihr Jpeimjagen unb .Klageführen eine Oummheit
genannt hatte.
XBas Johannes flbrecht gum Berberben würbe, war ein
bösartiges 3ufammentreffen: ber Bauer war oor (urgent
bei einem Grengflreit oon ber Bermeffungsbehörbe ins lln»
recht gefegt worben, unb (ein Angebot, noch weniger aber
irgenbdn Gefühlsgrunb hätte ihn baoon abhalten (önnen,
biefe unoerhoffte Jlache ausgufoßen.
237
So ging bas Scfjicffat fernen Schritt. Die Poligeibehörbe
bes Ortes, bie erß bie Der^aftung abgelehnt fratte, mußte
ft<h nacf) telegrapf)ifrf)er Xöeifung gu ihr bequemen, 3 °*
Cannes flbrerfjt mürbe als llnterfucfjungsgefangener in
bte Stabt gebracht unb ßanb n ad) gehn Eöorfjen oor bem
Srf)tDurgertcf)t.
3i)m festen fein Stern. Denn bas JTtäbcfjen, beffen Auf»
treten ifjm oermutfich Jltilberung ber Strafe, oielletchf einen
Sreifprurf) ermirft fjätte, lag mit einer fiebrigen Erfran»
fung baheint im hochgetürmten Bett, unb ßatt eines mttnb»
liehen Berichtes biente bas protofoll ihrer erfien flusfage,
beffen naefter 3 nf)alt bocf) recht belafienb mar. Strafmeh»
renb fenfte ber ltmßanb ihrer großen JJugenb bie BJage
unb mehr noch ber ihrer Erfranfung. Denn obmohl fie ßch
einfach an einem füllen Septemberabenb bei oerfpätetem
Baben erfüllet hatte, führte abficfjtsooll ber Staatsanmalt
unb mit ihm, irrenb, bie Gefcf)toorenen btes fiebrige .Rranf«
liegen auf Abrechts Überfall gurüef, ben bte robuße Jlatur
bes TRäbcfjens feit langem fcfjon oerrounben hatte. 3 ofnm»
nes flbre<f)t mürbe gu groeijähriger 3uehthausßrafe oer»
urteilt
3*
Sr entßammte einer ßrenggerichteten Proteßantenfami«
fie unb naljm feine Gefangenftfiaft als eine geregte, nicfjt
gu fyarte Sühne bemütig h*n. Seine Eltern lebten nid)t
mefjr, bie eingige Schmeßer mar in einem entfernten Xeil
bes £anbes oerheiratet unb mürbe eine bürgerliche Ein«
büße nicht gu oerminben hoben; biefer Xlmßanb gemährte
ihm einigen Xroß.
Über ben Berluß feines Amtes brauchte er nicht ge«
trößet gu merben. Er mar ein ßarfer unb froher JTtenfch
oon JTatur aus, unb feine fleinfiche Xätigfeit hotte ihn
niemals gefreut. B3of)l mar es fchön, mit mächtigen Scf)rit«
ten über bie Straßen gu manbem, oon Dorf gu Dorf, burch
leuchtenbe Glut ober ßampfenb burch hochgelagerte Schnee»
moffen. 3eboch in ber Amtsßube bie ängßfiche Arbeit über
ben Äotoßerblättem mar menig nach feinem bergen, unb
238
auch mtt ben TReßgeröten oerwinfelte Grengen gu jiefjen
gtotfchen Heinlichen, netbifcfjen Bauern, war nicht fein Be*
ruf. Aden gehörte bie bampfenbe nährenbe Erbe, es war
Anmaßung unb war lächerlich, fie in Stufen gu fcfjnet*
ben unb biefe StücMjen mit 3iffern unb Settern gu be»
nennen. 6r war gum Bauern geboren, benn er liebte ben
Boben unb wünfchte ficf), ihn mit feinen unverbrauchten
Kräften gu wenben unb frudjtgeugenb gu oerwanbeln.
llnb er hatte oft, in ber engen Gaffe feines Amtes tra*
benb, baoon geträumt, wie er in unerfcfjloffenen Sänbern
überm 3Iieer werbenb allein wäre mit ber unberührten,
oerheißenben Schotte.
3n folgen Hoffnungen lebte er auch nun unb türgte
fich mit ihnen bie öbe feiner Strafgeit. Er faß mit ben
anbern fhtmm im triften Arbeitsfaal, er fchnitt Schuh*
fohlen gurecht mit feinen (tarfen Fingern, unb währenb
fein Blicf fhmtpf auf ber fchmuhiggrauen hörferigen Platte
bes Uferftifches gu haften fehlen, hob fich tat leuchtenben
Sicht fein tropifcher Befih oor ihm auf: ein niebriges (an*
ges weißes Haus, nah an einem mächtig giehenben Strome
gelegen, weitauf, weitab Selber mit Halmen, Stauben unb
großblättrigen Äräutern, fein Eigentum, oon ihm ber fahr«
taufenbalten HJilbnis abgerungen, unb bureh bie ßarfen
Sarben ber Abenbflunbe gu ihm h*rwanbelnb ein uttge*
heurer 3ug oon Jtinbern unb Schafen, größer als bie
unfern, fchöner als bie unfern unb mit fettfam geboge*
nen, geklungenen Hörnern.
4«
Oie Tiere, bie er befi^en unb pflegen würbe, erfüllten
oft feinen Sinn. Er hatte in feiner gutmütigen Art bie
wortlofe Äreatur alljett geliebt; aber nun war es ihm,
als habe er fich burcf) feine wilbe Tat oon ben Jttenfchen
gefchieben unb fei fünftighin auf jene einfacheren Erben*
gefchwißer noch mehr oerwiefen. Glicht mit Sreunben,
faum mit einer Srau beoölferte er bie 3uhmft feines Se*
bens; ln f einen Träumen fuhr er bichtwolligen BJibbern
239
durchs Wies, bte Jlinber brüllten lelfe, wenn er fie freunb«
lief) beim gottigen Stirnhaar griff, unb ein großer fchwar»
3 er J?unb oon neufunblänbifcher Jlaffe f)telt fich treu unb
eng neben ihm, toenn er ben eroberten Befifc burebßreifte
im weißen tropifrf)en £id)t.
Sold)« Bilber bewahrten ihn nicht baoor, unter feiner
Cktfamleit gu (eiben. Do<h niemals oerfudjte er einen 3u*
fammenbang mit ben anberen Sträflingen gu finben. UJas
er getan batte, toar ber IBabnfinn einer JHtnute, war bie
ilbervoältigung bureb einen böfen Geiß, es batte mit bem
.Kern feines Xöefens nichts gu fchaffen, er wollte nicht fen»
nen, nicht fich nahe wlffen, was in biefem Haufe an fchlim«
men Trieben (ebenbig war. 6 r hatte gefehlt, nun büßte er
es, er burchfchritt eine gweijäbrige Grabesßille, in ber er
allein war mit feinem Gewiffen; jenfeits locfte ein neuer
Tag. Jüan guefte bie Achfeln über ihn, oerfuchte nicht mehr
mit ihm gu flüßem, wenn man im Hahnentritt ben halb*
ßünbigen Gang auf bem 3ucf)tbaubof abfoloierte, unb
hatte ihn oergeffen, währenb er nahe war.
Gingig fein BJärter fchien oon tätiger Abneigung gegen
ihn erfüllt gu fein. Dies geigte fich halb. Jltanche ber Sträf»
Ünge nämlich, bie fich oertrauenswürbig führten, würben
oor bie Stabt gu Erbarbeiten hinausgeführt, unb 3<>ban»
nes, ben es fef>r nach £uft unb Anßrengung oerlangte,
erbat biefe Erlaubnis. Drei Tage lebte er in ßürmifeber
Hoffnung. Dann fam bie Abfage. llnb fie ging ficherlich
nicht oon bem Dtreftor aus, ber ben guchtoollen Gefange»
nen wohl fannte.
„Du wirß fchon bei uns im H aus bleiben müffen",
fagte ber ZDärter, als er ihm morgens auffcf)loß gum Gang
in ben Arbeitsfaal. Er fab Abrecht einen Augenblicf an unb
fügte bann giftig b'ngu: „Du Saupelgl"
5-
Diefer XBärter war ein Keiner, gebrungener JTCenfch mit
fehr htrgen Armen unb ungeheuren Hänben. Uber ber
Stirn, bie gwei Singer breit unb allgeit rot war, ßanben
240
graubtonbe Sorten aufrecht, bte gelben Augen lagen ganj
flach an ber Oberfläche des Gefichts. Das 6rfd>recfenbe aber
war/ gtoifcf)en ben ©oggenfinnlaben unb bem militärifchen
Schnurrbart, ein fchmal unb fcfjarf gezeichneter JTCunb, ein
harter blaffer Strich mitten in ber elenben Banalität biefer
Sralje, ber ohne 3ufammenhang mit bem übrigen unb
mie geborgt ober geflöhten erfdjien. 6s batte ettoas lln»
heimliches, wenn biefes JRünbchen fich auftat, um ein ge*
meines löort ;u entlaffen. Jüan fah bei biefer Gelegen»
heit zwei «Reihen Heiner, fpi£er, regelmäßiger 3äfme, bie
überaus fchmu£ig maren.
Oiefer Schließer, ein »erheirateter Blann, hoch ohne «Kin»
ber, nicht mehr jung, ber lange (fahre hinburch als Unter»
Offizier Oienfl getan battt, mar nicht gleichmäßig hurt
gegen bie ihm ausgelieferten Sträflinge. 6s gab löege,
eine Art nlebriger Bertraulichfeit mit ihm herzuftellen. Ser»
oilität freilich »erlangte er immer, hoch bereitete es ihm
Genugtuung, bem einen ober anbem Eiebling bas £eben
ZU erleichtern. So ging bie Sage, baß er einem oft rürf»
fälligen ferneren Betrüger fogar BJeißbrot, BJein unb 3i»
garetten beforge, ja baß er mit biefem gemeingefährlichen
Schtoinbler, einem Berberber »on BJitmen unb BJaifen,
in beffen firaffreien 3mifchenzeiten famerabfchaftlich-»er»
fefjre.
Johannes Abrecht hotte feinen Äerfemteißer eigentlich
niemals recht angefehen. Gr mar folgfam, er untermarf
fleh, aber ln feiner Ilnterorbnung mar nichts fJerfönliches,
er fanb fich mit bem Schließer ab mie mit ber bitfen Blauer
unb bem 3ellenfchtoß, gegen bie eine Auflehnung gleich
finnlos mar. Beeilet cf)t brachte eben biefe Haltung ben
BJächter zur BJut, ihn, ber fich «tmas barauf zugute tat,
gerabe »on feinen gebilbeten Häftlingen michtig genommen
ZU merben. JTtöglich auch, baß ben JTlann, ber brunten in
feinem Äellergelaß eine bürre, unfinnliche unb hömifche
Srau fi£en hotte, Abrechts Bergehen neibootl empörte.
IBahrfcheinlicher, baß bie Bosheit unb Graufamfeit feiner
Tlatur nur zufällig unb mahllos Abrecht gegenüber her*
»orbrach, ben er fo gelaffen unb unangreifbar feine Strafe
13 ®f« beutfie ff!ob*a«.
24 T
abbüßen faf). Cr lauerte barauf, Ujm fcfjaben, lf>n oerf)öh*
nen unb oerßören gu tonnen.
eines Abenbs im gmeiten Frühjahr trat er einmal an
bas Gucfloch, um ben Gehaßten gu beobachten. 6s mar
halb acht Uf>r unb bie 3e((e noch hell. Johannes ßanb in
feinem geßreiften Mittel mitten im Jlaum unb manbte bem
jüaußher bas gefrorene Hinterhaupt gu. 6r blicfte auf«
märts nach ber hochgelegenen Senßerlufe, gmifchen beren
Gitterßäben ein Baumtoipfel mit ungleich gegacften Blät«
tem fichtbar mar unb bahinter ber rotgltthenbe flbenbhim*
mel. 6iner ber menigen Bäume nämlich, mit benen ber H®f
bepflangt mar, eine hochßämmige lllme, ragte in fünf ober
fechs JTTeter Cntfernung gerabe oor biefer 3ellenlufe auf,
unb borthin fchaute Johannes flbrecht erhobenen Hauptes
unb fo angeßrengt laußhenb, baß ber flusbrucf auch von
rücfroärts gu erfennen mar.
Oer Schließer legte fein Ohr an bas Sehloch unb oer«
nahm Uogelgegmitßher, fchmetternbe rhpthmifche £aute.
Oer 6efangene ßanb unb gab fich h* n * ©**9 mar feine
Sreube feit UJochen, in ber Srühe unb am flbenb. Auf bie
IDieberfehr biefer Bogelrufe hatte er feit bem Sjerbft ge»
märtet, ben langen, finflem, ßtnAnlofen JBinter hinburcf).
Cr hörte nicht nur Meine Böge! fingen, menn er fo ßanb>
bie IBäiber unb Gärten unb ebenen ber gangen Crbe fan»
gen ihm gu, bie Tiere ber Crbe grüßten ihn; in biefen £au*
ten mar bas KJachfgebefl ber Hunbe, mar H a huenfchrei
unb bas fanfte Kleinen ber £ämmer, mar bas Kliehern
mitber Pferbe unb ber bumpfe «Ruf ber Büffel in einer
künftigen, erträumten H e ‘ mat überm JTieer. Oie Freiheit
grüßte ihn unb bas £eben nach bunfler Buße.
Oer UJärter fchioß auf unb trat ein: „S," fagte er nach
einer Stille, „Bongert läßt bu btr oormachen, bu Sau«
bär? JTlarfch, fußh bich! Oa!" llnb er mies auf bie Prit»
fche, bie er eine Stunbe guoor beim Abfperren ber 3elle
oon ber IBanb h*runtergefrf)toffen hatte.
Oer Gefangene gehorchte. Oer KJärter oerließ ben
Jlaum, fam faß augenblttflich mit einer Trittleiter mieber,
erßieg fie unb fchioß mit brachen bie Öffnung. Oann
242
horchte er mit Anflrengtmg empor unb grcmaffcerte un»
luftig, ba man ben Uogelgefang noch immer ©ernannt,
wenn auch nur als ein fernes, fernes, gärtltches, trauriges
Jlufen.
„Dir wirb man bafür tun/' bemerfte er mit ^of>n, „fag
ihnen nur Abieu, beinen JITuflfanten, bu Sauigel!"
3t»ei Xage barauf würbe bem Sträfling eine anbere
3 e((e angetoiefen, burch beren £ufe ber (eere Jjimmel her»
einftfjten. 3n ungeheuren Abftänben nur faf) Johannes bie
Schwalben in ber t>elltn öbe oorübergucfen.
6 .
Gin halbes Jahr noch trennte ihn oon feiner Cntlaffung,
llnb nun er fl begann feine Strafe ihn wahrhaft gu quälen.
Jtun erfl lernte er bas grauenoolle erwachen fennen, ben
erfien Blicf in einen untragbar entfallen unb häßlichen
Tag, bem noch fo oiele gleiche folgen follen bis gum Tag
ber Befreiung. Sein Plan für biefen ftanb fefl. Cr würbe
»or bas JTtäbchen h»ntreten, bem er Gewalt gugefügt unb
würbe bei ihr unb bei ben eitern nochmals anhalten. Spra«
chen fie ja, war es gut, fprachen fie nein, wie gu oermuten
blieb, fo würbe er ihr bie Jpälfte feines Meinen üermögens
als jrjeiratsgut überfchreiben. JTtif bem JTefl aber, fürs
erfle oor Triangel fl eher, würbe er brüben überm JTteer
ein £eben ber freien Arbeit beginnen, neu geboren. 6r
würbe fo wenig Spuren hinter fich laffen wie bas Schiff,
bas ihn hinüfaerfuhr, Spuren im Jlteertoaffer ließ.
Seine Abfichten alfo hatten fich nicht oeränbert, aber in
feine Sehnfucht nach Freiheit, bie fanft unb gefaßt ge»
wefen war, mifchte fich üergweiflung unb J?aß. ©iefetn
£aß gegen ben JTtenfchen, ber ihn peinigte unb fehmähte,
wollte er entrinnen, oon ihm noch mehr als oon «Heue unb
Xrauer unb JITafel erhoffte er Teilung in ber £uft bes
JTteeres unb ber tropifd^en £änber. Äaum wagte er mehr
ben JTtenfchen angufefjen, aus Jurcht oor ber eigenen un«
bänbigen JTatur, bie ihn fchon einmal fo unheilooll über»
wältigt hatte. JTtif niebergefchlagenem Blicf flanb er oor
16*
243
ihm ba, ;ucf>too(( unb unterwürfig, ltnb ßünbtich faß wie«
berholte er ficf> ben Sah, ber ihm Troß war unb jeffel:
„Bin icf) er fl frei, fo werbe ich ben ba niemals wieber*
fe^en, niemals, niemals l"
3njwif<^en wuchs fein Berlangen nach ber Bähe leben«
bigen Blutes. 6 s feinte fitf) nacf) bem löeibe. Aber es
waren nicht grobe IBünfche, bie in lf>m fluteten: fonbern
3 ärtlicf)Feit, fanfte Gemeinfchaft, gefcfrenfte unb empfan«
genbe Güte war, was ihm als bas 4F>errlichße erglänjte.
BJenn if>m bie Meine Braune oom fommerlief>en Acfer er»
laubte, bas Unrecht an ifjr ju fühnen, — welch ein £eben
wollte er ihr bereiten, in wie fcfjü^enben Armen follfe fie
ruhen. Oft war fie in feinen Gebanfen, 3ug für 3ug
glaubte er fie ju fennen unb 3 U lieben, bie er boeh faum
rec tft wahrgenommen batte in ber weißen Glut oon Sonne
unb Jlaufcf). UJarb fie’s aber nicht — nun, er würbe eine
anbere finben, brüben im neuen £anb. Xlnb fein Berlangen
formte ein fchmales jartes Gefdjäpf mit buftenbem, bunf»
lern Jrjaar, bas aus großen Augen gut unb oertrauenb
ju ihm auffaf)* Ach, es brauchte ja gar feine Srau ju fein,
gar fein Blenfdjfcnwefen, nur irgenbein Stücf £eben, bas
er warten unb f<hüt)en fonnte! Bur ein Jpunb brauchte es
3 U fein, ber fleh an fein Änie brürfte, nur ein jahnter Bogel,
gar fein Blenßhenwefen, nur irgenbein Stücf £eben, bas
freunblirf) unb gläubig in feiner Bähe fchlug. Bur nicht
mehr allein fein mit biefen toten Blauem unb ihrem teuf»
lifchen Schließer! 6 s fam fo weit mit ihm, baß er bes
Bachts feine Techte ipanb fi<h aufs S}t rj legte unb mit ber
linfen ben puls ber rechten faßte, um fo hoppelt ein £eben
ju fpüren.
Sommer war ba, unb mit jebem Tag glaubte 3©han»
nes Abrecht, nun fei bas Blaß erfüllt, nun fönne ber ©urß
nach bem Eebenbigen nicht höh** ntehr ßeigtn, nun feien bie
Grenzen menfchlichen £eibens erreicht für ihn. IBohl fagte
er r«h vor, baß balb, baß in wenig mehr benn h«nbert
Tagen bas 6 nbe gewiß fei, wohl ßellte er mit erzwungener
Überlegung fein Schicffal neben bas ber Taufenbe, bie län»
ger, bie lange, bie ewig 3 U fchmachten hatten; feine Jlech»
244
nung drang ihm Ins Blut, und er litt. Oie (lummen, fdjlim*
men Häupter der Sträflinge in der JBerfflatt ju betrauten,
mar (eine Erleichterung; auch 1>atte der Jeinb es erreicht,
daß er non fieben Xagen drei in der oälttgen Abgefcf)lof«
fenheit feiner 3el(e jubringen mußte. Oa gefdjah das
BJunber.
r-
Eines Abends (am er aus dem Arbeitsfaal jurücf. Oer
BJärter, der mit ihm eingetretrn mar, fd)loß die Pritfche
non der löanb, die (rächend in ihr Stornier niederfiel,
blitfte fi<h um, fand roiitend (einen Anlaß jur Befcfjimp«
fung und fchlug die fcbroere Xür hinter ficf) ju. Sein feind«
feliger Schritt oerhallte.
0ohannes Abrecht blieb eine HJeüe flehen, das Gefecht
dem Geoiert erblaffenden Sommerabendhimmels gugemen*
det, das leer oon Gefchöpfen mar, und (ehrte fich dann
matt der öden EinfamPeit des Gelaffes gu. Sein Blicf fiel
auf die traurige Eagerflatt.
Oa fah er mitten auf der rauhen, graubraunen UJoll»
deefe grüngolden leuchtend ein lebendes, ein fleh bemegen*
des Kleinod. 0ohannes griff mit beiden fänden nach fei«
nem bergen.
Es mar ein «Rätfel, mie der £auf(öfer hrreingePommen
mar. Ourchs Senßer fliegen (onnte er nicht, fooiel mußte
Johannes oon der Tlatur diefer Arten; mie unmahrfchein«
lieh aber, mie über alle Begriffe erjlaunlich und beglüP«
(end, daß er den löeg über die 3e(lenfchmelle gefunden
haben follte, der fo feiten offen ßand. 0a, es mar ein
UJunber gefchehen.
Johannes näherte fich leif*, ols mollte er den Schmalen,
kleinen nicht fchrecPen, er ließ fich ohne £aut an der armen
Bettßatt nieder, lag in feinen Sträflingshofen auf den
.Knien und fah aus großer Jläf)c mit glücPlichen Augen auf
dies lebende, fich regende GefchenP. Oer .Kleine f)ob müh»
fam eins feiner fechs feingliedrigen braunen Beinchen um
das andere und ßrebfe über den rauhen mirren Silg der
?45
©erfe f)tntotg. JTiamfjmal hielt er reflgniert unb ermttbet
on. Seine grttngolbenen Slügelberfen glänzten im Abenb*
fidjt, fein JXötfenfrf)ilb«f)en glttbte und flimmerte als bas
föflücbfle 3uroel. Seine 5üf)Ier arbeiteten gart unb laut»
lofer als irgenb etroas it» ber Hielt, unb feine freiliegenben
Augen bücften untrer.
©u fannfl mtcf) gemif} nid>t fef>en, bu ni i)t, barf)te $0*
Cannes, id) bin ja tote ein Berg für birf), tote eine Berg«
fette, Äletntr, Äletner. Aber icf) fann bicf> fefjen, mir brtngfl
bu Sreube unb ben GrufJ ber 5reif)eit, bu biflja fo fd)ön.
©orf) uoenn bu aud> f>äf$ H<f> m'drefl unb röd)eft unb micf>
ßäd)tft, i d) märe bir bod> gut unb naf>e, unb bu fäßcfl bo<b
in meinem Jpergen. £afi btcf) berühren, lafS mirf) bas leben«
bige Golb beiner Slügel anrübren, mein Ijolber Meiner
DJobltäter! — Unb er flrecfte bebutfam eine gitfembe
Jfjanb aus.
©a aber geftbab bas groeite KJunber: ber Ääfer fdjien
ibn roabrgunebmen, ibn, ben JTCenfcf)en in feiner fUf>(enben
Gegenmart. €r f<bien gu fluten. ©ann machte er unbe«
Rolfen im Mettenben Silg eine Klenbung unb fam auf 3o*
Cannes Abrerf)t gu, gerabenmegs auf bie Bruff bes fnien»
ben JTtannes.
8 .
Hier oermag gu fagen, ob e9 möglich ober ob es Kn»
bifdjer Traum ifl, ein 3nfeft gu gäbmen, gu gemimten unb
jum Aameraben gu machen. XDas miffen mir benn! IBir
mlffen nid)t, mas ln ben Jpotjfafern bes Afles oor fid)
gebt, ben mir überm Änie abbred>en, mir miffen nid)t, ob
ber Stein fcbidfaüos gerfplittert, ben ein Äinberarm ge»
f<b(eubert hat. IBir miffen nichts. IBir mafcfjen uns ben
Scblaf ous ben Augen unb betreiben unfere Gefcfjäfte mit
grimaffenboftem 6mfl unb beigen unfern Aörper mit Jtab*
rung unb umarmen ein JBeib, beffen Biutmärme uns ge*
fällt unb bas uns fo fremb ifl mie Baum unb Stein unb
Tier, unb (egen uns am Abenb nieber gur tieferen ©untpf*
beit. IBir miffen nichts.
246
(Johannes Abrecht glaubte, baß er firf» ben Meinen Gol»
benen gemonnen habe, unb alfo mar es fo. ©er mar nun
fein £eben. ©ie Tage, bie in ber Cingelhaft oerbracf)t mer*
ben mußten, mären nun bie fcfjöneren. Aber auch bie anbe*
ren, an benen er er fl abenbs au9 ber DJerfflatt gurücf»
fehrte, toaren erträglich, benn eine Crmartung erfüllte unb
fürgte fie.
Er hatte gtt fämpfen um feinen frf)tmmemben Befitj.
JRit ganger Seele horchte er auf ben Schritt bes Schließers,
ber fie beibe nicht überragen burfte, unb er ocrgicfjtete mit
f ©urffqualen auf feinen Xrunf lÖaffer, benn es gab fein
Berfled in ber 3elle außer bem BÖafferfrug. ©en entleerte
er heimlich, ohne Geräufch, unb bort, in tönerner liefe
unb Seuchte, faß nun ber Golbene tagelang unb »artete,
©ort faß er bei Gräfern unb armen Blüten, bie ihm fein
menfchücher Sreunb oon ben Sängen im Suchthaushof
heimfich heraufbrachte.
Sie fpielten. ETte liebfofenb Metterte ber Schlaufe über
bie Singer bes JItanne9, facht taßenb, nimmer erfchrecft.
Unb rafpelte an einem ^älmchen, fog an einer £ömen*
gafmblüte, bie ber JTtamt ihm hinhiett.
Johannes Abrecht hatte nicht an feinem Berflanbe ge»
litten. Cr mußte, toen er liebte: ein armes geringes «Käfer»
tier, beffen £eben gu Cnbe ging mit biefem Sommer. Aber
mit biefem Sommer ging ja auch bie eigene Qual gu Cnbe,
bis an bie Schmede bes £ebens mürbe ihn ber mingige
Gefährte aus Golb geleiten unb ihn bann entlaffen gu all
ben 6efcf)öpfen braußen, bie Johannes tätig gu lieben ge»
bacf)te. UJas oerfchtug es benn, moher bie Sreube fam; im
lebten Augenblick oor ber fchmargen Bergmeiflung mar fie
gu ihnt gefommen, mie follte er beuteln unb oerneinen
unb fich mehr münfchen oor bem lebenben «Rletnob, bas
fo tröfllich fchintmerte im Eicht ber fcheibenben Sommer»
tage.
3ch fann bir nicht genug £iebe geigen, Atemes, Äoß*
bares, bachte er, ich fann bir nicht genug 6utes tun, benn
alles oerßehß bu nicht» Aber menn btt nicht mehr lebß
247
unb beine Armeen bewegß, gutoel, bontt werbe Id) noch
mit meinen flarfen Armen bie Erbe Heben unb betreuen/
uon ber bu toteber ein .Krümdjen geworben biß.
9-
Xtm bie JTiitte eines Tages ber Eingelhaft fniete 3of)<m»
nes Abrecf)t bei feinem Sreunb auf bem ßeinernen Boben.
Er fjatte ben Speifenapf oor ßcf> hingeßellf, unb auf beffen
«Ranb machte nun ber Golbene fpielenb bie Jlunbe. JTtanch»
mal l)ielt if>m 3of)annes quer ben 3eigefinger entgegen/
bann fht|}te bas Tierchen/ fd)ien feitwärts gu äugen unb
bewegte wie nerfenb bas oorberße, fürgeße Paar feiner
Gtieber.
©te Tür fnarrte unb fiel wieber gu. gohannes fprang
empor unb faf> mit löblicher Angß bem IDärter ln bas
böfe Gefidjt. ©effen Stirn war röter als fonß, bie flachen
Augen ffimmerten, unb ber Heine TTtunb war nichts als
ein fcf>arfer, bleicher Strich. Abred)t wußte fogleid), baß
nichts mehr gu oerbergen war, baß jener ihn beobachtet
hatte. Ungefd)icft unb flehenb hob er ferne Arme, nicht
oiet anbers als ber Äleine, ben er fchütjen wollte. 6r oer*
fuchte gu fpred>en.
„0alt’s JTtaul," fagte ber Schließer, „geig, was bu ba
haß!"
„D nicht, o nicht!" fagte Abrecht mit oerfagenbcr
Stimme. „Tun Sie ihm nichts."
©er IDärter bücfte fich, hob bas Tierchen auf, bas er«
wartenb an ber gleichen Stelle fi0engebtieben war, faf>
flüchtig hin auf bas frabbelnbe ©ing in feiner Sauß, ließ
es bann gleichmütig fallen unb gertrat es mit einer ©re«
hung bes Süßes. JTtan hörte ein Änirfchen.
,,©ir wirb man’s beibringen, bich gu antüßeren!"
3ohannes Abrecht war auf ben Schemel in ber Ede ge«
funJen. Er faß ba, bas Gefickt in ben Jpänben oerborgen,
unb rührte fich nicht Er faß eine halbe JTUnute, bie OTägel
243
In bie Schläfen eingefrallt, unb fyttlt fein Jpaupt, feinen
£eib, fein 3cf) mit ungeheurer Gewalt auf bem Sih gurücf.
„JRarfcf), puh* «3 auf!" fagte ber IBärter unb ßieß ihn
an. flbrecht erhob fich mit gu Boben gerichteten Blicfen
unb nahm gehorfam aua ber 6cfe ben UHfchluntpen.
©er Äleine mar gut gertreten. ÜTian fah einen giemllch
großen Jlecf auf bem 6ßrtd), ßhwargen Gtieberbrei unb
ein toenig Biutfaft oon unbeßimmter Sarbe. llnb nur ein
toingiges Gcfchen ber einen Slügelbecfe war unoerfehrt ge»
blieben unb blihte grüngolben im Schmuh ber Bemich*
tung.
Johannes wifchte forgfam bas 6ange fort, ohne bie
flugen gu erheben, ©er Schließer fanb nichts mehr gu
fagen, fah fich noch einmal um unb ging baooh, wenig
befriebigt.
io
6r wußte nicht, ber JTCann, wie nah in Jener halben
JTiinute ber ©ob an feiner haarigen Gurgel oorbeigeßrichen
war. 6r wußte nicf)t, ber Tropf, warum ficf> Abrechts
^änbe fo wütenb in bie eigenen Schläfen eingefrallt hotten.
6r hotte einem Gefangenen einen 3eitoertreib weggenom»
men, pflichtgemäß, baßa.
©er beße 3eitoertreib auf biefer Grbe aber Iß ber Spafb.
333er weiß bas benn nicht! ©as wiffert feit alters bie
©ummtäpfe aller Rationen, bie ihre öbe JTluße bamit aus«
füllen, anbere Nationen gu hoffen unb gu fchmähen. 333ie
aber foll ber ootlenbs £angeweile noch fühlen, Ja über«
houpt ben 3eitablauf, beffen Jperg einmal ln ben unterßen
teuflifchen Grunb eines anbem Ipergens getaucht iß unb
aus biefem Schacht wieber aufgefaucht, als ein €imer ge»
füllt bis gum «Jtanbe mit Jlacheoerlangen.
3wei JTXonafe trennten ben Sträfling Abrecht non feiner
Gntlaffung. Sie waren nicht mehr für ihn als eine furge,
oon Bränben burchloberte macht. 6r ßanb unb ging unb
arbeitete unb fäuberte fich unb fein Gelaß, ohne 3wang
249
unb ohne Anteil, unb fpürte mit entfehlicfjer £ufl, wie bie
Tlamrnt tiefer unb tiefer in fein 3nneres fraß. Stunben«
lang tonnte er auf feinem Schemel fcorfen ober unter öer
Siljbecfe im Dunfel liegen unb 6inen Sa£, Einen Gehanten
in fich bewegen. Sünjtgmal unb fünfhunbertmal tonnte
er fich fhtmm bie gleichen löorte toieö er holen: ZDie tann
ein JÜenfcf) bas tun? Gin foicher JTtenfd) barf nicht leben.
Solch ein JTtenfcf) oerpeßet bie Hielt!
Aber er wußte auch, baß ber anbere bereits nicht mehr
lebte. Sein Urteil war gefprochen. 3n Jener halben JTtinute
war es fchwer gewefen, ihn nicht ju töten. Aber nun war
es leicht, nun foflete es gar feine JRühe mehr ju war»
fen, nun lag fogar eine Art oon bitterer IPoItuß barin,
ben Teufel unterm fichern Beil noch umherlaufen ju laf*
fen, übermütig unb wie unbebroht.
DTein, er war nicht wahnfinnig geworben in feiner Spoft.
Auch als er ben Golbenen hegte unb liebte, war er es ja
nicht gewefen. 3n jebem Augenblicf fah er, was mit ihm
oorging: er liebte einen fleinen glänjenben Ääfer, ber
nichts war unb altes bebeutete. Auch je£t wußte er wohl,
baß nur Geringes gefchehen war: jemanb hatte ein 3nfeft
vertreten. Älar hätte er ju fagen oermocht: was ba ge»
flehen iß, baß einer einem wehrlofen Gefangenen bie eine,
einzige, armfelige Jreube oemichtet, ohne Sinn, nur um
wehe ju tun, bas iß fein großes Ereignis. Aber biefes Gr«
eignis bebeutet alles, was auf ber Grbe haffenswert iß,
oerachtenswert, oertilgenswert. niemals iß auf Erben et»
was Geringeres, Xlnbebeutenberes gefchehen unb niemals
etwas Größeres unb Böferes unb Schauerlicheres, llnb
wenn ich blefen UJächter töte, wenn ich biefem Uiebrtgßen
ber Jtiebrigen ben gemeinen Spats jubrücfe ober ihm ein
JTteffer in ben Schlunb ßoße, fo töte ich ben Teufel, fo jer«
trete ich äer Schlange ben Äopf, unb barum muß es ge»
fchehen unb barum wirb es gefchehen, unb barum weiß ich
nicht unb will nicht wiffen, was jenfeits biefer Tat für mich
liegt, unb barum hungere ich nach ih* unb barum giere
ich nach ih*> «nb barum oollfiihre ich fie. Amen. Amen.
Amen.
250
II.
Johannes flbrerfjt ging durch die Straßen des Außen«
quartiers der Stadtmitte ju, fugend, auf ungefährem
XBege. Seine Kleider faßen ihm ungc tohnt locfer am
£eibe, nur die Stiefel fchienen ihm fchtoer. Oer Süjhut
fchmanfte unficher auf feinem feinhaarigen Raupte. 3n
der $and trug er einen Meinen Eederfoffer.
6 s mar etn fcböner, mÜdfonniger $erbßntorgen, und
fogar ffier draußen batte die Stadt ein freundliches Ge»
ficht. Oie JTtenfchen fafjen (ußig aus, und die faufenden
DJagen der eleftrifchen Bahn Mingelten hell. Schon nach
ettt paar 6 cfen glaubte Johannes roeit gegangen 3 U fein,
hier dachte roobl Miner mehr daran, tooher er femmen
fönne. Und ohne feinen J?ut abjunehmen, hielt er einen
jungen JTtenfchen an und fragte ihn nach der Uhr. „Biel»
leicht toiirden Sie mir auch das Oatum fagen," fügte er
mit teifer Stimme htoju. ©er andere ßu£te. „Oer neun*
undjamngigße September iß", fagte er und machte, daß er
daoonfam.
So hotten fie ihn 30 m Tage oor der 3eit entlaffen. 6 in
fonderbares Gefchenf mar das eigentlich nach diefen 3 roei
Jahren. Und nacf>denMl<h ging er meiter. Schließlich ßand
er mit feinem Äöfferchen, das er eng an fich drücfte, auf
der oordern Plattform eines eleftrifchen XBagens. £eute
ßiegen auf und fprangen ab, feiner beachtete ihn, das Ge»
mtthl auf den Straßen murde immer heiterer und dichter.
£ange folgte er mit den Blicfen einem J^andfarren, der an
einer 6 cfe ßand, gan 3 ooll mit herrlichen Pfirfichen. Jeder
fonnte dort betreten und ßch für ein menig Geld oon
den ßhönen Jrüchten faufen. 6 r blicfte in feinen Geld*
beutet, in dem 3 ufammengefa(tet eine größere Summe lag.
6 r hotte fich mohl oerfehen — damals.
Hieltetcht mar der XBagen mit den Pßrßchen die Urfache,
daß er am großen JTTarftplah ausßieg und fich » n einem
der alten Gaßhäfe, die dort liegen, ein 3 immer anmeifen
ließ. 6 r ßieg mit dem j?ausfnecht die fchmale, gemundene
Xreppe empor, auf der es nach Gemüfe und nach oer*
251
fchüttetem Eanbmein roch, unb flanb bann pod), fafl
unterm Giebel, in einer einfachen Stube. JTotf) einmal
mürbe er gebürt. 6s mar mieber ber ^ausfnerfjt, feurfjenb,
mit einem flnmelbejetfel in ber ^anb. Qohannes Rbvedft
füllte if>n umflänbltcf) aus unb benu£te babei, ohne nach»
ubenfen, einen erfunbenen Jtamen, ben einer fremben
Stabt unb toillfürlirfje Daten. 6r merfte, mie ihm bie Bud)<
(laben frember mären nach ber jmeijährigen 6ntroöhnung.
Dann ging er baran, (einen Meinen leisten Äoffer aus»
jupacfen, unb es mürbe ifjm feltfam jumute, als er bie
Iöäfcheflücfe herausnahm unb bie jrnei Bürfien unb bie
Seife Unb ben Äamm unb einen Meinen Spiegel unb bas
Äafiergeug unb alles, mas ba fo forgfältig jufammen»
gedichtet lag, mie für eine Bergnügungsreife oon jmei
Tagen. Dort im Laufe mar ihm ni$fs gelaffen morben
oon bem JTtitgebradjten. Unberührt fjatte bas Äöfferchen
pebenbunbert Tage lang im Speicherraum geflanben, oer»
fehen mit einem 3eftel, ber eine 3ellennummer trug unb
ein Datum.
Der träge Gebanfe fam U)m in ber Betäubung bes
neuen Tages, als fei nicfjt nur fein Äoffer, als fei auch
er biefe ganje 3eit über beifeite geflellt gemefen, habe ge»
märtet unb feinerlei Gfiflenj geführt, unb als müffe es
nun möglich fein, am gleiten fünfte bas fiebensfeil mie»
ber anguMtttpfen.
BJar bas fo? Bein, bas mar nicht fo.
12 .
6r trat ans offene Senfler unb legte beibe ipänbe um
bas 6ifen ber niebem Baluflrabe. Drunten mar freubiges
Gemüht oon Farben unb Ställen. Der Plat} jrotfcfjen bem
alten, gejarften .Hathaus unb ber ungleichen Läuferreihe,
ju ber fein Gaflhof gehörte, mar ganj bebecft oom Durch»
einanber bes IHarfttags. 3n ber burchfonnten Äüf>le be»
megten fich bie JTtenfchen heiter ju ihren Gefchäften; oon
5rücf)ten unb Blumen unb blättrigen Pftanjen leuchteten
alte Berfaufsfiänbe, 5reunblid)leit Fjerrfrfjte, JTlangel war
fern, unb bas £eben festen leitet.
Deutlich unb nafje lag bies alles vor Johannes ba unb
gleichwohl non ihm abgetrennt, nicht 3 « ergreifen, nicht als
Jlealität, in bie man ntit wenigen Stritten gelangen
fonnte. Dies war bie Hielt, bie wirdiche, bies war bas
JTlenfchenbafein, aber er hotte nicht teil baran, noch nid>t.
DJäre er bie alte Gaßhausßiege hinunter gegangen unb hin*
ausgetreten auf biefen fonnigen piah, gewiß wäre bies
alles oor ihm gurürfgewichen, unb in ber Ferne hätte bas
heitere 6 etriebe weitergefpielt.
Schöne Früchte waren ba; welch gütiges, reiches Wert
hatte bie Sonne getan, währenb er felber oor ihr oerbannt
war. Solch eine fchöne Frucht war aufgefpeidjertes, feß»
geworbenes Sonnenlicht, bas fonnte er fich nicht faufen
— noch nicht! Da ffcrnb auch wieber ein Äorb mit Pfir«
fichen. Ein Pfirfich, bas war bie Bollenbung. Die Jlatur
wollte einmal seigen, wie groß unb ijtnlid) fie fei, unb ba
brachte fie fpielenb bas Äößlichße heroor: einen Pfirfich
ober einen Schwan ober ein rofiges Stücf Ärißall. 3n ber
Schule, einß, hotte man ihn gelehrt, was bas IDort Pfir*
fich befagte. Perfifche Frucht befagte es. perfien! Sein
Traum oon JTleerfahrt, Frembe unb füblicher 6 lut 30 g
hinter Schleiern an Johannes oorüber. 3to<h burfte er bie
Jpänbe nicht attsflrecfen, um ben Schleier 3 U 3 ertei(en,
aber bie Stunbe war nahe.
Er ermunterte fich nnb bliefte gefammetter in bie aus»
gebreitete Fröhlichkeit. Da fah er an einem ber Derfaufs»
ßänbe ben ^änbler mit feinem Jpunbe fpielen. Es war
ein gefunber JTlann oon fünfzig Jahren, in einem wolle*
nen Mittel unb mit einer iöollmühe auf bem Schöbe!; ber
$unb ein deiner luftiger Scherenfchleifer, mit oiel 3 U gro*
ßen, hängenben Ohren unb einem 3 U langen Schwans.
Er hatte fleh an einem Gemüfeforb in bie ^öhe gerichtet,
unb ber JFfönbter neefte ihn mit einem Bünbel JTtobrrüben.
Der Schwade ging auf ben Sehers ein, balb erhob er bas
rechte unb balb bas linfe feiner farsen Uorberbeine unb
patfehte mit ber Pfote brollig nach bem gelben Bunb. JTCit
253
tintmmal ober ctmrf fein Jrjerr bie Jlüben fort, pacfte ben
Äleinen fefl bei einem Df>r unb lad)te if)nt mit feiner freunb»
licken Gr imaffe gang nahe in fein fchwarges Gefecht. Oa
rifl ber fid) (os unb fing an, aus Jüetbesfräften bellenb
unb juchgenb einen $reubentang um ben Berfaufsßanb
ausjufüfjren.
Oiea aber faf) 3of)onnes bereits nid)t mefjr. HJie er bas
^ünbcfjen fpielenb bie furgen Borberglieber bewegen faf),
war mit einemmal ber Soleier oor feinen Augen gerrtffen,
er wußte, was if>n noch oon ber Hielt unb non ber 3ufunft
trennte. £r hörte jenes Anirfchen auf bem Steinboben, er
hörte jene mitleiblofen, unfagbar gemeinen löorte, er faf)
jene gelben Augen unb fah jenen 3Ttannsßiefet in feiner
Drehung. Oie Welt war wieber »oll oom Peßhaud) bes
böfeßen, bes unter (len JHenftfjen unb 3°f) Q m«9’ Blut wie«
ber angefUtlt mit bem ungeheuerßen S°ß unb unbeirr«
barer .Rachgier. Äein Ginwanb, feine Überlegung, feine
Borausfid)t fonnte ßanbhalten oor biefem Stärfßen, oor
biefer jlotwenbigfect. 6^er mochte man ein Seil aus#
fpannen, um bas JTCeer gu bämmen.
,,3cf) werbe ihn töten", fagte er oor fief) f)in. 3um erßen*
mal fprad) er atts, was er feit IBochen wußte unb wollte.
Behutfam fcf)(oß er bas Jenßer unb oerriegelte bie Xür,
als fönnte einer oon braußen in feine Gebanfen entbrechen.
Oann ließ er fid) in ber JUitte ber Kammer am leeren
Tifdje nieber, ၜte bie Stirn in bie ^anb unb begann
ruh'tg, georbnet, gu planen.
*3-
Am nädjßen Tage halte er ein ausführliches Gefpräch
auf bem Auswanberungsbureau. Bon bort begab er fich
nach bem Aonfulat jenes fübamerifanifchen Staates unb
würbe oon bem B eamttn, einem beutfehen f?erm in oor*
gerüeften 3obren, höflich belehrt. Oann erß löße er feine
Schiffsfarte für ein nicht fef>r entferntes Oatum unb orb*
nete auch bas Jlötige in bem £agerraunt, wo feine Jpabe
oerwahrt würbe.
Am Abend begann er feine Jlachforfchungen. Allein ea
bedurfte oerfchiedener und metfjodifcher Streifjüge, um
feine Xat unfehlbar oorjubereiten.
3Ttcf>t ferne Dort dem 3uchthaus, ein kleines Stücf weiter
draußen an der halber (teilten Uorflabtflraße, befand ficf>
die löirtfcbaft „3ur Eintracht". Sie war der Erholungsort
für das IHachtperfonal. ^ier faßen die Xöärter beiein»
ander, bei Bier und Sfat, aus diefer niedrigen und mufft*
gen Schanffhtbe, darin es ihnen wohl war, fehrten fie
jurücf jum forreften Oienß oder jur feigen Befriedigung
ihrer böfen Iriebe. Abendetang umßreifte Johannes den
Drt, jroeimal auch fehrte er hier ein, tranf unerfannt und
ßitt feinen Schoppen und hörte die einfältigen «Reden der
^erfermeißer. Jta<h diefen «Reden hätten fie ebenfogut S}UU
macher fein fönnen oder Steuerboten oder 3igarrenoer*
fäufer.
JHit einer befondern Sorgfalt ßudierte er den BJeg,
der jum Gefängnis jurürfführte. IBar man die Straße
ßadtwärts ein Stütfchen hinaufgegangen, fo bog jur £in»
fen eine fchmale Gaffe ab, die jroifchen der äußern 3ucht»
hausmauer und einem langen, fchwargen £agerfcf)uppen
hindurchleitefe. Auf diefem Pfad gelangten die EJärter an
den hintern Eingang jur Anßalt.
Johannes fannte die Xagesordnung des Kaufes, auth
den Xurnus jener abendlichen Erholung im XBtrtshaus
hatte er rafch feßgeßellt, es galt nur das eine: den Der*
urteilten ohne Begleitung ;u treffen. Um ficher ju gehen,
lauerte er ihm probeweife auf.
6egen die neunte Stunde toar er in der Gaffe. Er (fand
in der Xürnifche des Schuppens, eng in die Sinflemis ge»
drückt, und wartete. Ein Stücf oon ihm entfernt brannte an
einem Eifenarm, der aus der 3uchthausmauer ragte, trüb
eine Öllaterne. Jeder, der ftcf> oon der Straße her näherte,
war deutlich ju ernennen. Ein XBärter fam bald, ein gro*
ßer höherer JTlann: wie er unter dem £ampenticht hin*
dtnrchfchritt, unterfrfned Johannes den freundlichen und
ernßen flusdrucf feines langen Gefichts.
255
IBarum fonnte ber nicf>t mein Kerfermeifler fein, backte
er ruf>tg, bann läge jegt nicf)t ber furchtbare ©rucf auf
meinem bergen. — Oer JTtann ging fietigen Schrittes oor»
über, bort an ber Pforte läutete er, ihm würbe geöffnet,
unb bie Xür fiel gu.
„3a, ben hätte ich nicht töten mttffen", fagfe ber £auf<her
oor fi<h h^. Cr buchte bies mit einem füllen Bebauern
über bas ihm felbfl auf erlegte Schief fal, aber ohne jebes
JTlitleib mit bem Berbammten. Ufas er oorhatte, war ja
nicht bas Crgebnis eines Cntfchluffes, ber auch gu änbem
war; hier gab es feine 23af>l. 3 e °er JTlenfch, ber unnenn*
bar Böfe, er flanb gwtfchen 3ohannes unb ber IBelt. Cs
war nicht möglich, auch nur einen Schritt in bas Oafein
hinausgutun, ehe biefe JBanb niebergeriffen war. Cigent«
lieh fianb fie gar nicht außerhalb, biefe IBanb, fie war
nicht ein Stücf JTtann, bas unter bem freien Jpimmel auf«
ragte, fie ftanb in flbrecfjts Blut als ein furchtbar biefer
Klumpen ober Knollen oon ^afj unb Cfel unb Berath*
tung. 3hm war es all bie läge, als lebe er nur auf Bebin«
gung unb Jrifl, als fei ihm nur eben fo oiel Kraft gelaffen,
um bie Xat gu tun, unb als werbe er erfl bann, wenn ber
klumpen gerflört unb fortgewafchen fei, frei wieber atmen
unb fchlurfen unb wollen unb lieben fönnen, als werbe
erfl bann wieber fein Blut ruhig unb mitbe burch ben
gangen «Körper freifen.
3hnt fiel ein, wie ehemals baheim einer feiner Schul«
fameraben fchwer franf gewefen war; ber flrgt hatte oon
einer Blutoergiftung gefprochen unb hotte bem Buben eine
SSlberlöfung burch bie Äbern geleitet, ba war er genefen.
3ohannes erinnerte fi<h beutlich an ben Cinbruef, ben ihm
bas bamals gemacht hotte; wie in feiner Borflellung ein
mattfehimmember, fühlenber Silberflrom jenem burchs
Blut floß unb alle giftigen Keime fanft mit fich fortnahm
unb tilgte. 3°, fo würbe auch ihm gumute fein, wenn
bie Xat ootibracht war.
3n biefem flugenblicf fah er fein Opfer fommen. Kurge,
ftampfenbe Schritte bogen in bie Gaffe ein, unb fchon er«
bliefte flbrecht bort unter ber Sateme, für einen Augen«
256
blirf f>el( beleuchtet, bas platte, gemeine Gefickt, bie Augen,
Öen Schnaujbart, bte Kinntaben. «Rafcfj Pam er näher,
ahnungslos unb fingenb. Johannes hörte bte UJorte eines
Gaffenhauers in ber furchtbaren Stimme.
„Cs braucht ja nicht grabe Flanell §u fein'', fang er
unb war an Abrechts reglofer Perfon f<hon oorüber.
„6s Pann ja auch eoentuel! fein", hörte 3ohannes noch.
Gin Sachen pacPte ihn ttber ble SinnlofigPeit biefes Xejtes,
ben ber bösartige ©untmPopf gewif} entfiel!te; ootl ohn
unb fpaß unb triumphierenber HJottufl lachte er laut los,
weil ber ba in oergnügter Stumpfheit fo Schulter gegen
Schulter an feinem eifemen Schüffal oorüberflreifte.
Gs läutete ba hinten, es warb aufgetan, unb bumpf
bonnernb fchlug hinter bem bort bie Pforte ju.
14 -
Am änbem morgen fuhr er mit ber Kleinbahn hinaus.
6s ging erfl burcb bie höflichen Sieblungen ber Bann«
meile, bann eine fchwache Stunbe burch freunbliches, welli*
ges Sanb. Gr oerliefS ben 3ug unb fdFjritt auf ber Sanb«
ftrafje gegen $ochberg.
Jperbfltich braun unb oerlaffen lagen bie Selber in ber
Ptaren Suft; Johannes fchritt fafl behaglich aus in feiner
bunPlen, wärmenben Kteibung. Tlicht lange unb er ftanb
an ber Stelle, wo facht aufwärtsführenb bie Seitenfirafäe
nach ^ochberg abbiegt.
^ier war es, buchte 3ohannes Abrecht, unb blicffe auf
bas leere, fchweigenbe Selb, auf bie Bobenwelle, bte ba»
mals ootl oon reifem Korn gewefen war, unb an ber fich
fein SchicPfal entfchieben hatte.
Xöäre ich ein Stttnbchen fpäter gegangen, bachte er, mein
Seben würbe fich nicht oeränbert haben. Ober hätte ich
einen anbem DJeg genommen, ober wäre es weniger h*i|3
gewefen, ober hätte bas Kinb baheim Kartoffeln fchälen
müffen. An folgen llmflänben hängt nun ein Oafein. Gin
3ufa(( alles, ein 3ufall bös unb gut!
17 Sie bcutfc&e hobelte.
2 57
Aber wöf)renb er fo backte uni» auf feie vergebenen
Stoppeln fjinfal), ba wußte er aucf) fcf>on, baß es töricht
war, von 3 ufall gu fprecfjen. 6 s toar ja gar ntcfjt möglich,
jenes Ereignis unb biefe gwei 3af)re in GebanPen gu tilgen,
fein £eben toar magifrf) gewiefen, magifrf) gebogen wor»
ben, narf) bunPler gewaltiger Soßung, Jpatte er benn aucf)
nur bie Säf)igPeit, bas Gefrfjefjene anbers gu roünfcfcen,
fagte nicfjt ein gemeinter 3nßinPt in feiner Bruß 3a unb
nJiüfommen gu jeber UJanbtung, gu jebem Gefcfjicf ? Er*
lebte er nicfjt gefaxt unb bejafcenb feinen Soll unb feine
Strafe, ben ÄerPer unb bie neue Sretfjeit, bas heimatlos»
toerben unb bie Grüße bes ltnbePannten? IBillPommen
Bös unb Gut!
©ocf> nicf)t willPontmen! Eins nirf)t: nirfjf ber Abgrunb
bes Jrjergens, nirfjt bas Gemeine, nirf)t bas Graufame, nirfjt
ber f)ätnifcf)e Xeufel, nicf)t ber, ber ben BJefcrlofen martert!
Alles, alles, alles iß fßnguneljmen, iß gu ertragen, iß gut»
gufjeifjen, alles läßt ficf) umfaßen mit $reunbfrf>afts»
armen, altes ßrf) einfcfjßeßen in eine fcfjitffalbereite Brufl:
tiefer Sturg unb Elenb unb junger unb Srfjmerg unb
Berlaffenf)eit unb Berloren&eit unb Berßoßenfjeit, aber
bies nicf)t, jener nief>t, er nicht! — Bor 3of>annes’ Augen
roallte roter ©unß auf. Er faf) bie Stelle feines Srfßcffats
nirf)t mef)r, fie toar if>m nichts mefjr.
Er machte ficf) frei unb frf>ritt ben BJeg nacf> ^ocfjberg
f>inauf. 3m Orte fragte er narf) bem Jpaufe bes Bauern
unb ging burrf) bie Straßen, non niemanb beachtet.
IBenige Ratten if)n f)ier gePannt, unb bie JTlenfcfjen ver»
geffen. Bafl) ßanb er oor bem £of, ber nicf)t befonbers
ßattßrf) toar unb nirf>t ämtlirf).
3n ber Stube faß ber Bauer am Iifrfje. 3of)annea
nannte feinen Jlamen, ofjne Erregung, aber auf einen
Übeln Empfang gefaßt. Es gefrf>af) jeboef) nicfjts. „3a",
fagte ber Jllann nur, „toas iß benn?"
3of>attnes trug mit Purgen BJorten feine Srage vor.
„3a", fagte ber Bauer unb war notf) immer nief>t auf«
geßanben, „ba weiß irf) nirfjt . . . Oie Gefrf>irf)te iß ja ver=
geffen, es war' vielleicht nirfjt gut, wenn man ba wieber
258
anfinge. ltnb gu 3f)rem Amt werben Sie ja auch nimmer
fommen?"
„Dein, freilief)' 7 , fagte flbreeht unb bliefte auf ben ruf)i*
gen Jliann. HJo war beffen 3orn f>in, ber if»n in bie Der»
breef)erhelle gefdjleubert batte? 3wei Jaijre waren bie 6wig»
feit. IDar einer noch ber gleite JTlenfcb nach gwei 3obren?
Er felber füllte ja nichts beim flnblicf bea einfiigen Sein»
bea.
„JTlörfjten Sie bie 3obomta feben?" fragte ber nun, „ich
fann fie 3fmen rufen/' Sr (lanb auf unb ging über ben
Jr>of gum Eingang bea Schuppens; Johannes fab burtf)a
Senfier, wie er bort ßebenblieb unb ina Xor bineinfpracb.
3ofjanna f)ief5 fie. Das batte 3of)annea flbreeht oergeffen
gehabt ober niemala gewußt. Aber nun fehlen ea if>m,
ata fönne frfjon biefpr Jiamenagleirfjfjeit wegen gar feine
Derbinbung gußanbe fommen. Ea war gewiß nicht oer»
nünfüg, aber irgenbwie frfjien ihm bie Unmöglich feit
burrf) biefen Hmßanb beftegelt. Dies war ihm nicht be»
ßimmt.
Das JRäbeben trat ein mit bem Dater. flbreeht f>ätte pe
frfjtnerlicf) wiebererfannt, fie wäre if)m oermutlicf) nicht ein»
mal aufgefallen in einer Schar oon anberen. Er fab ein
bo<f>aufgef<boffenea Oing, nicht bübßb, nicht f)äf31i<f), auch
nicht befonbera braun oon Jrjaut nun im ^jerbße, währenb
feine Erinnerung fi<b hoch gerabe an biefer Gebräuntbeit
folange feßgebaften hotte. Derlegen ßanb pe ba, büefte
feitwärta, unb legte ihre Jpanb in bie feine.
Er fpra<b: ,,3cf) möchte Sie um Dergeibung bitten wegen
bamats, Sräulein 3ohonna."
Sie wußte gang offenbar nlchta gu fagen unb murmelte
fchließüch, holb unoerflänblief):
„Ea war nicht fo fchlimm."
„3ch hob« 3hrem Dater f<hon gefagt, baß ich gern alles
an 3hnen gutmachen möchte. 3ch höbe gefragt, ob er boeb
vielleicht will, baß wir uns heiraten."
Sie bliefte ihn gum erßenmal an, auch pe hotte ihn ja
niemala recht gefeben, unb wunberte fieb wohl über bas
ernße, fchmak Jliännergepcht. Dann murmelte fie:
17 *
259
„3rf> weiß nirf)t, 4?err Abrerfjt ... Oie £eute l)aben’s
frf>on beinahe oer gef fett!"
„60 ifl aurf) norf) ein anberer ba, ber fie fjeiraten tollt",
fagte ber Dater oon fernem Stuf)! f>er, „fte ifl bloß no<f>
ju jung, er fl ftebjefjn."
„So", fogte Abrerfjt, „bo wünfrfje icf) Glücf. 60 ifl frfjön,
baß irf) 3f>nen botf) nic&t 3f>r £eben oerborben f)obe. 3rf)
habe otel an Sie benfen ntüffen, Sröulein 3of>anno —
bort."
Sie liefi nun bie Augen fefl ouf if>m fjaften. „Jpaben
Sie’s fefjr arg gelobt?" fragte fie leife.
„flcf) nein", fagte er nage, ltnb bann braute er, oöllig
frei nun unb mit feinen Gebanfen fcfjon faurn mef)r in bie*
fer Stube, fein anbres Anerbieten oor, nannte bie Summe
unb fragte 303 eimal, ob bies fo vtd>t fei. 3 of)anna frf>aute
if>n neugierig unb ein wenig töricht an bei feinen BJorten;
aber ber IJater ließ ftcf) alles mehrmals auseinanberfe^en,
of)tte Oanf unb of>ne Grflaunen, fo als Ijanbelfe es ftdj
um eine Sarfje, auf bie er lange mit Anfprurf) gerechnet
f)ätte. Als bies erlebigt war, floate baa Gefprärf).
„Oie Srau unb mein Soljn finb in ßengenau auf bem
JTlarlt", fagte ber Dater enblicf). „Aber mögen Sie mrf)f
einen Äaffje, £err Abrecf>t?"
3 of>annes lernte ab, allein bas JTläbrfjen war frfjon
braußen, frof) offenbar, baß bie Situation p<f> auflöfle.
Darf) wenigen JTiinuten fam fie 3 urü<f, mit tarnten unb
einer Xaffe unb mit einer Art oon fef>r weißem Brothirfjen,
einem bicfen, buftenben £aib. 3 of)annes aß unb tranf, unb
bie beiben faf>en if>m 3U. 6 efprorf)en würbe fafl nichts
mefjr, benn man f>afte firf) nirftts mefjr 3 U fagen.
Scfjliefilt d) 30 g Abred)t fein $af)rplanf>eft aus ber Tafele.
„BJenn irf) Sie l)infaf)re, bann friegen Sie norf) ben 3ug
um brei 1 Ifyv fecfjjefm", fagte ber Bauer. DJieber oerfucftte
3 of)annes abgulefmen, mit ein wenig trübem Spott im
fersen. Aber wieber war ber Bauer frfjon auf bem DJeg,
um ein 3 ufpannen.
„Dater, uf> fafjr’ mit' 7 , rief if>m bie Iorf)ter nacf).
260
Bo fuhren fie denn gur Station; oorne raubend der
JTCann, neben tf)m das JRäbel, auf der (»intern Banf
3 of)annes, gang allein, wie ein ^>err. Gr blicfte auf den
SUicten des Bauern, auf den fcfjntäleren der Tochter im
Umfcf)lagetueb und auf ihren mit gelben Blumen ge«
fdjmücften Jput, den fie ihm gu 6f»ren aufgefe£t hotte, und
der tellerartig und ungefcbicft gang oben auf ihrem «Äopfe
fdjroanfte.
So fuhren fie durchs Dorf, fo fuhren fie die 3weigßraße
hinunter. Sie famen gur «Kreugungsßelle, fie tarnen gu
jenem welligen Seid. Aber weder Bater noch Totster blirf*
ten nach dem braten Stücf £and hinüber, das ihnen ge»
(»orte, und (Johannes, der nun in feinen Gedanfen vor«
geneigten Jrjauptes dafaß, merfte erß lange 3eit fpäter,
daß fie vorüber waren.
15 -
Um fünf Uf>r war er wieder in feinem Gaßbof, um acht
machte er ficb durch die Dämmerung der Straßen auf
feinen JBeg. Cr fpürte den mild fühlen Abend nicht, er fab
nichts von dem Treiben der JTlenfcben, die ihrer Berufslaß
ledig ficb auf Genuß oder «Hube freuten. Gr wanderte gu
Suß die weite Strerfe, um feinen Gliedern Befcbäftigung
gu geben, und mußte ficb gügeln, um nicht nach dem 3iele
gu rafen.
Alle die Tage ja batte er ficb gegügelt und begwungen,
batte er die in ibm wühlende Glut gugefchüttet und nieder«
gehalten, um mit Saffung das JTofwenbige gu ordnen.
Stun aber, da er der Slamme ihren «Haub freigab, da fie
aufgüngeln und oergehren durfte, nun bedeutete jeder
Augenblick des löartens Ärampf und Qual. Stun war
fein Körper nichts andres mehr denn ein Gefäß der Jlache,
fein Auge nur fpäbende Angel, feine J?and nur fiebere Blaffe
und Tod. Gin peinooll fefmendes Bedangen war fein gan*
ges 3cb. So giert der vom Schmerg Gefolterte nach dem
Gnde feiner Slot, fo der rafend Berliebte nach dem einen
£eibe, fo der Berfchmachtende im lochenden BJüßenbrand
261
rtocf) bem XrunB, ber nicht Bommen farm. Sein Xrunf aber
war bereit, er toar ihm gewiß, bies tobenbe lieber war
ju füllen, unb bie Stillung toar nahe.
3Tun rannte er borf) unb toar an feinem Siet, lang ehe
es flug toar, bort ju fein. Aber frfjon berfte bie frilfje 3Tarf)t
if>n »öllig ju, reglos ßanb er in feiner JTifrfje, unb enblicf)
berufjigfe i) auch fein fitem unb fein tobenbes £erj, fo
baß er in bie Stille hmaushorcfjen Bonnte. Jliemanb ging
oorbei, traurig ßanb bie Gefängnismauer, bie £aterne
flimmerte öb\
flbrecf)t fühlte in feiner Xafdje nach bem griffeßen
JTteffer, unb toie bie j?anb es fanb, wußte er auch fcf)on,
baß er es nicht gebrauchen werbe. .Kein drittes follte gwi*
fchen feinem lebenbigen 3cf>, bas fich rächte, unb jener
Sra 0 e ßehen, nichts, auch Bein Gifen.
„3ch erwürge ihn", fagte er flüßernb oor fich h»«. 6 r
ballte im Sinßern bie rechte Jauß mit aller .Kraft, bie ihn
erfüllte. „3ch bin ßarf, einen Steinblocf Bönnfe ich 3 er*
fpalten", fprad) er wieber, aber er wußte nicht, ob feine
Sippen bie UJorte ausgebilbet hatten.
3hm fiel ein, baß er nun feinen plan hoch nicht befolge.
3n feinem 3immer am JTiarft lagen bie Gegenßänbe jur
Bermummung, lag ein falfcher Bart, ben er ficf) oorforg*
lieh befchafft, lag überbSes eine £aroe aus fchwarjem Stoff.
Aber wäre auch beibes nicht einfach oergeffen gewefen, er
hätte es hoch nicht brauchen mögen. 6 r ßanb feinem
Scforffal gegenüber am großen Xag, am Xag ber 6 r»
füttung, er hätte ihm nacBt gegenüberßehen mögen.
«ültf oilber Klarheit horch tt er nach rücfwärts in bie
3eit. Als fpräche bie gemeine Stimme an feinem Ohr, ihm
gerabewegs ins $irn hinein, fo hörte er fie:
Oir wirb man’s beibringen, bich ju amüfieren, bu Sau*
tgel. 0 4 tr wirb man bafür tun. Jttarfch, pufc es auf . . .
Unb bas Änirfchen.
©a Barnen Schritte in bie Gaffe, wirr unb ungleich. Unb
Abrecht fah beim £aternenfchein jwei ber 3uchthausbeam»
ten rebenb miteinanber nadf) Jpaufe gehen.
262
Er erbltrfte ben mit bem fangen menfcfjlicfjen Geficfjt unb
einen Unbefonnten. Sie waren worüber/ läuteten/ oer*
fcfjwanben.
JBenn nun autf> jener nicfjt allein fam! XOie tettf>t war
bies bocf) möglich, tro£ alter Borausficf)t. Dein, es fcfjien
nur mögticf, es würbe nicf)t fein. Oie ungeheure, unwieber*
bringlictje flnfpartnmtg biefer Stunben, nie unb nimmer
fonnte fie oerloren fein. So tourbe nicfjt werfet)roenbet in
ber DJelt!
Don biefem flugenblitf an ftanb er tn oöttiger Seftigfeh
ba, in ber Stille bes Tobes, unb harrte. Er war ein eiferner
JTtusfel, nichts anberes mehr, unb oätßg, oöttig bereit.
16.
Br fam. Oer Schritt erftang, ben 3of>amtes aus ober
Kerfergeit fannte, getjaeft, t>art unb feinbfetig. 3a, ba fam
er, allein. 3oi)onnes faf) ihn unter ber £aterne hinburcf)*
gehen, nun hatte er noch gwangig Stritte gu tun, nun noch
fünf. 3of)annes ftanb unb war etn HJerfgeug, eine 3ange,
bereit gu frfjnappen unb gu parfen. 3«*/ nun hatte er ihn,
gelobt fei ber Fimmel, enblicf), enblid)!
JTtit einem «Jlucf, einem Sprung war er aus bem Berftecf
heraus, hatte mit feinen beiben j)änben ben Sehtb an ber
Kehl« unb rifi ihn herum. Oer wollte auffcf)reien tnt grau*
figen Scfjrecf, aber ber £aut warb ihm l>inuntergeprefSt, er
fc^tug um fief), wollte greifen, wollte treffen, aber bie ftei*
nernen Säufte hielten if)n würgenb in ber Entfernung, unb
feine furgen Arme hieben bie £uft. Oie Xtniformmü^e war
gu Boben gefallen, ber Schein ber £aterne fiel grell auf
bas furge Sjaar, bas ficf> borftig gu fträuben f<f)ien, unb
auf bas oergerrte <5eficf>t.
Unb 3of><mnes faf) if>n. DJofjl war feine gange -Kraft tn
ber Klammer feiner Säufte oerfammelt, aber fein fluge
blieb flar, unb fein Seift erfamtfe, in finfterer .Ruhe.
Schweigen fjerrfcf)te. Kaum brang ein Gurgeln aus ber
Kehle bes JTtenfcfjen, ein piepfen gleich bem einer JTtaus,
gleich bem eines gang flehten Xters war alles, was er f>er*
263
oorbradjte. Sein Heiner JTCunb ßanb offen als ein runbes
£o 6), unb gwifcfjen ben fpi^tgen frfjmu^igen 3äf)nen be*
roegte ftd) rafttos, eilfertig bte 3unge. Die flauen flugen
aber, fie traten heroor, fie gingen heroor, es war als müß»
fen fie überlaufen unb ausrinnen in ber nädjßen Sefunbe.
Johannes faf) bas alles, er faf) ben JTtenfdjen ba oor fi<f>
fchwanfen, roanfen, er wußte, baß Ohnmacht unb Enbe
nur norf) bas Hierf einer fürgeßen Spanne fei, unb baß
feine Äraft wof)l genüge, um bies 6nbe gu erreichen. Jtein,
er würbe nicht erlahmen, Spier fianb, mit ben Säuflen an
ber Gurgel bes Böfen, mehr als ein eingelner JTienfcf), ber
fid) rächte.
3n Johannes’ bergen war laflenbe Stille. Der Drucf,
ber ungeheure, frfjmergfjafte Drucf, ber Drang nad) Er*
löfung burd) bie rädjenbe Tat, er war nod) immer ba; um
ihn abguwerfen, brauchte es Tob, festes Jlödjeln, le£te
3ucfung. Diefe wilbe, bumpfe Seljnfudjt war es, bie fei*
nen würgenben Saußen bie Äraft gab. Ja, nun f>tefS es, gu
Enbe preffen, nun f)iefS es abfdßießen, nun f)<eß es töten.
Unb ba fing Johannes an gu reben. llber bie ausgerecf*
ten «Hädjerarme hinweg fprad) er bem anbem in feine
gemarterte 5ra 0e hinein, mit flarer, falter, gebänbigter
Stimr e, unb hörte fid) felbfl in feltfamer Srembheit.
„Spc >e ich bich, höbe ich bief), bu! Ufeifit bu, wer ich bin?
Du mußt flerben. Siehß bu, was i«h mit bir tue? JTlit
meinen Säuflen preffe ich bir bas £eben aus. 3tur ein paar
flugenb liefe lebfl bu noch, unb bie finb fchrecflich- Über
lange nicht fdjrecflid) genug. Denn bu bifl ja ein Teufel,
bas unterfle gemeinße 6efd)öpf bifl bu! Ein Stüef Schuft,
fo graufig, fo fd)eußlid), baß es feine Strafe für bich 8«bt.
Totwürgen iß ja nicht genug, nichts iß genug für bich.
Jebes Glieb müßte man bir eingetn gerbrechen, bie Spaut
müßte man bir in .Kiemen gerfd>neiben, bas Sleifch
müßte man bir mit 3angen herausreißen, bu Quäler, bu
genfer, bu feiger, gemeiner Schinberfnedjt! DJas hoben
fie bir getan, bie bort büßen? XBas höbe ich öir getan?
JTteinß bu benn, bu Teufel, es gäbe in biefer Hielt gar
feine Gerechtigfeit, meinß bu benn, bir ginge alles fo fpinl
264
Aber bu btß am Cnbe. Du baß juoiel getan. Du biß ja
gar fein JTtenfcb, bu biß ja bie Schlange, bu btfl ja alles
Clenbe unb Schlechte in ber Hielt, oon beinern Ißeßfyaud),
bu Stürf flas, iß ja bie Hielt ooll, man fann ja nicf)t mef>r
atmen, folang bu noch ba biß! Aber i<f> löfrf)’ bi<b aus,
icb tnürge bicf> ab, bu barffl nicht mehr fein!"
Cr mußte fitf) nach oonoärts beugen unb merfte, baß
ber anbere in bie Änie gebrochen tnar. Cr lag ba oor ihm,
bas purpurrote Geficfjt in oief)if4>er Bergtoeiflung nach
oben gemenbet, bie flugen oerbrebt, halb gebrochen fdjon,
ben fab^enben JTtunb offen mit roeit ^eroorlecfenber
3 unge. Johannes fab ibn, unerfebttttert, ungerührt, ja mit
fieigenber HJut. Cr oerfuefite, ben Drucf feiner löblichen
Säufle noch ju oerßärfen, alle Gemalt bes paffes, ber Her«
adjfung, ber überßanbehen fieiben preßte er in fie hinein,
llnb niebergebüeft fpie er feine DJorte gegen bie fierbenbe
£aroe, nun nicf>t mehr flar, nun nicht mefjr gebänbigt,
fonbern mit einer unmenfcfjUt^en Stimme, bie (reifste unb
umfrftlug.
„Äennß bu mich notf), bu, femtß bu mitf> notf), ober bifl
bu hinüber? flugen auf, fiel) midf)! 3tf) bin’s, ben bu ge«
martert f>afl, unb ber bttf» nun abtut! 3cf), ber Sträfling
aus ber 3elle breiunbneunjig! HJetßt bu noch, bie Höget,
bie Singoögel? 3°/ i«f> habe fie fingen hören, bie flehten
Högel, ja, mitf) bat bas gefreut, mitf), ber bid> je£t ermor«
bet, bat bas gefreut. Unb ba bifl bu bingegangen unb bafl
mir bie £ufe gugefeblagen, unb tneil man’s botf> nod) ge*
hört bat, bifl bu jum Direftor gelaufen unb bafl mitb in
ein anberes £otb gefperrt. Unb bu bafl mich geßoßen, unb
bu baß mitb gepufft, unb bu baß mitb angeßbrien, unb
bu baß mitb ausgeböbnt, unb bu baß mir bas Cffen bm«
geßbmiffen, unb bu baß mitb beßbmubt, unb bu baß mitb
geplagt unb gefoltert — mitb/ einen toebrlofen Trtann,
einen »nebrlofen, toebrlofen Hlann. Da, oerretfe, ba toürge,
ba ftbnappe nach £uft, ttacb beinern lebten JTtaulooll £uft!
Da, ba, ba, fpürß bu müh? Aber bu follß autb genau
tniffen, tnofür bu ßirbß. Soll itb btr’s fagen? Sür einen
Ääfer ßirbß bu, für einen flehten Ääfer... Xöar itb benn
265
nicf)t ein armer, armer JTlenfcb? 3rf) batte Ja nichts auf
ber Welt 3<h war ja nabe baran, oerrücft ju »erben,
Jtocf) einen Xag ober jwei, unb i cf) wäre gewiß verrtictt ge*
worben. ltnb ba fom eine Meine Sreube für micf), eine
«Rettung. Ufas war’a benn für eine Jreube, bu? Gtn Ää*
fer war’s, ein 3nfeft, ein Ding fo Hein, faunt ju fefjen.
Unb baa batte ttf) lieb, unb auf baa freute icf> micf), unb
mit bem fpielte ich unb fprarf» icf) unb braute ea fertig, baß
es mich fannte, unb biefea armfeiige Ding toar meine
ganje BJelt, bas toar mein allea — ich armer, armer
JTlenfcf)! Unb baa f>afl bu mir genommen, baa, bas baß
bu auf ben Boben geftfjmiffen unb baß ea vertreten mit
beinern gemeinen brecfigen JTlanns(liefet! 3(1 fo etwas
möglich, i(l fo einer wie bu gefcfmffen oon Gott, barf ber
leben? Jlein. Der muß weg. Dem fein fitem mufi (IUI
fein. Da gib U)n f>er beinen Atem, ben lebten..."
Unb immer bie JTlarmorfäufle um bie 6urget bes oer»
löfcbenben Jrjenfers, ;ifcf>te er if>m m graufiger 3Tad)äffung
mit beffen einfligem Xonfall ins 6efirf)t:
„Was baß bu benn ba? ßib’s f)er, was bu baß. Dir
bringt man’s noch bei. Da, pu£ es auf!"
Jllit einemmal aber, mitten im Donner unb Dunfl feiner
Jlacbe, gefcfjaf) bas Große mit Johannes Abrecftf, bas
Göttliche gefcfjaf) mit ihm. Gr fab, wie ber JTlenfcf) ba unter
if>m in feiner flgonie fcfjwacb, bewußtlos, oerfinfenb, feine
beiben Arme bewegte. Gr fab biefe beiben furjen Arme
bUfebeifcbenb, gnabeflebenb, mit unficberen, armfetigen Be*
wegungen fidb rübren, gwei Xaßer eines oergebenben We»
fens. So winft ein franfes Äinb oertangenb mit ben ürm*
eben, fo regt eine Meine unbewußte .Kreatur bie bünnen
Gßeber.
Durch Johannes’ ^im unb £eib unb ^änbe ging ein
Strom, ein mitber, löfenber, erlöfenber Strom. Sein Griff
loderte ficb unb gab frei, feine JTlusfeln alle fpannten fi<b
ab, bureb feine Bruß webte es wie tüble £uft oon JTleer
unb Sternen. Unb wäbrenb ber JTlenfcb brunten lautlos
nach oorne fanf, richtete fich Johannes empor, er atmete
tief, ein 3ucfen wie oon XBeinen ober £ächeln lief über fein
266
mageres 6efi<f)t, er lernte flcf> aufrecht an bte Gefängnis*
mauer.
So ßanb er, Me tobbringenben Jrjönbe ftarf» auf bie
eigene Bruß gepreßt. Jlur toenige Augenbütfe flanb er fo/
flugenbliefe, Me eine unbeßimmbar furje ober lange 3eit
für if>n mährten, unb eine unfaßbar mächtige, milbe Gr*
neuerung burcfjflrömte mit ifjrer Silberflut fein erlößes
3<f). Gr oermocfjte niefjt ju benfen, fpäter, fpäter mürbe er
benfen fönnen, er gab fiel) f»n unb mürbe burc$ma((t unb
mürbe geteilt/ unb ein Glücf ofjne Jlamen mar fein, 6r*
leucfjtung, Befreiung unb Barmfierjigfeit.
Cr öffnete feine Augen unb beugte fiel) nieber ju bem,
ber ba auf bem Antli^ lag. Sanft naf>m er ifjn bei ben
Schultern unb richtete ü)n auf. Oie Bruß bes DTtannes f>ob
fi<#>, feine 3üge, bei no d) gefrfjloffenen £ibern, maren in
Regung, gofjannes fniete neben i f>m nieber, lernte ben
ferneren £eib in feinen Arm unb blitfte ben 3urürffef)ren*
ben an. Oas öbe £id)t ber £aterne bedien if)n.
Abre«f)t t>ielt biefen Körper mit jrjönben, bie ßcf) nirf>t
erinnerten, er faf) biefen JTtann mit Augen an, bie i^n nie
gefef>en Ratten. Gin armes feltfames JTtünb<f>en ßanb [falb
offen in biefem Geficfß, ein ,ftinbermünbcf)en mit Meinen
fptyen 3äf)ncf)en, beffen untere £ippe mef)mütig f>erabf)ing.
Gr begann mit oorfitätigen Singem bie Schläfen bes
JTtannes ju mafßeren, mä&renb fein linfer Arm ifjn ßetig
ßü£te. Unb n ad} menigen Stritten frfjon öffnete jener bie
Augen. Sie maren trübe, fafjen no6) nicfjts unb fcfjloffen
fief) mieber. Gr gurgelte unb röchelte. Cannes fu^r fort
in feiner JTtü&e, tangfam, metfjobifcf), genau, als märe er
allein auf ber UJelt mit biefem Grroarfjenben, als führte
nirgenbmo ein BJeg in bie Straßen ber JTtenfc&en. Jltancf)»
mal nur mußte er innefjalten unb aufatmen, um einer
Glücffeligfeit ^err ju merben, bie if>n fcfjmatf) machen
mollte.
Unb plö0li(f> merfte er, baß jener ifm anfaf>, baß bas
£eb;en oöllig in lfm jurürfgefefjrt mar. Gr füllte einen
JBiberßanb im ganzen £eib bes Gefräftigten, er ließ ifm
los, ßanb tangfam auf unb trat ein menig jurütf. 3m
267
BficP bes anbern erPannte er bie Xobesar.gß, gerne fjäffe
er if>n beruhigt, ifm getrößet, ober er mußte, baß bies nicfjt
fein Ponnte, unb ließ ii>n läefcelnb, oerjicfuenb, gewähren.
Da erfjob aud) jener fief) mit löonPen. Er lernte firfj
briiben on bie JTtauer bes Schuppens, immer weit offenen
Blirfs, bie $änbe (unter fief) gefpreijt. linb fo begann er,
fi(f> baoonjutaßen, immer noef) gewärtig, fein llberwinber
werbe ifjm folgen, fef)ob er ftcf) langfam baoon, in ber
Jlicf)tung ber Pforte. Da ging aucf) 3of)amtes fßnmeg,
finnenb, oerfunPen, nocf) feines neuen 3ußanbs nicf)t
mächtig — in ber Jltrfjfung ber Kielt.
l 7*
IBofß wenbeten fief), wäfjrenb er bafßngütg gegen bie
JTiitte ber Stabt, feine GebanPen auf ben 3urttefbleibenben,
mit fanftem erbarmen unb mit ber Sreube, baß jener
notf) lebe. .Keine Sorge mifef)te ficf) (»nein, ber anbere
Pönnte if)m nae£fef)en Taffen, ifm oerfolgen, oerfjaften. So
würbe ber Sdßcffalsabenb nicf» enben. BJar’s aber aucf)
anbers, er würbe es (»nnefjmen, nichts Ponnte bas änbern
an bem f»mmlifcf)m Ertrag biefer Jlacf». Dfme Jurcf»
ging er baf)tn unb wußte bocf) nief)t, wie ganj er gefcf)üftt
war.
Denn ber anbere, angetangt bei bem Pleinen Xor unb
eingelaffen in fein £ogis, bacf)te roafjrlicf) niefjt an üerfol»
gung. 3ittemb, frierenb, legte er fiel) nieber. 6r ließ fief)
oon feiner Srau einen Tee aufgießen, fie braute if>n brum«
ntenb ans Bett unb faf> je£t erß fein armfelig oerßörtes
Geficfjt. Sie befragte if)n, ofme Einbringlicf)Peit freilief),
benn fein Ergeben berührte fie wenig. Er aber wagte nicf»
ju ergäf)len. Jlod) war es ifmt, als Pönnte bas Scfjrecfficfjc
wieber aufßef>en unb bafein, wenn man es nannte, fef»on
füfjlte er wieber bie Steinfauß an feinem j?als unb grub
fief) unter bie Äiffen, (»er in feinem Bett nocf) oon flngß
unb Graufen gefcf)ütte(t.
Erß fpät in ber Jtacf», als er aus bem Schlaf mit
Schreien auffufjr, gab er eine ErPlörung. Aber tote bie
268
Srau nun anfing, fuh gegen Öen JTliffetäter ju empören
unb feifenb oerlangte, man müffe ihn faffen unb flrafen,
ba wehrte er ab, notier Cntfe£en, unb feine Änechtshänbe
fpreijten ftcf) im Jlarferticht ber Äerje.
„Uein, nein!" fchrie er, „wenn fte Um fangen, bann
lomrnt er toieber ju mir unb bringt mich um in ber 3etle!"
llnb er lief} bie $rau frfjroören, bafj (einer non ihr bas
Gefchefmis erfahren werbe. Um Jluhe ju hoben, oerfprach
fie es.
Hm nächflen Tag blieb er (ran(, unfähig aufjufhhen.
Cr fcf)Iotterte, wenn fich norm JFenjier bie Blätter ber Ulme
bewegten, non ber man t)kv bie unterften flfte faf>. Cr
fchrie auf, wenn bie Xür ging unb feine 5rau hereintrat
ober ber Hnfialtsarjt. Unb auih als er nach wenigen Xa»
gen bas Bett oerliefi unb fich anfchicfte, toieber &er(er*
meifler ju fein, blieb er nerwanbett Cr fitrch tete fi<h nor
feinen Gefangenen, er wagte faum mit einem allein $u
bleiben unb fuhr jufammen, wenn eine Schtafprltfche, bie
er felbfl losfchlofj, raffetnb nieberfiel in ihr Scharnier.
Batb würbe es Mar, bafi er bem ©ienfl nicht mehr ge»
wachfen war. ©ie Berwaltung, ber er als ein pflichttreuer
Beamter galt, bemühte fich unb fanb einen Sofien für ihn
in bem flrmeemufeum bes £anbes. ©ort ging er nun um»
her, flumm unb äng|Kich, jwifchen ben 3eichen oerfcholle»
nen «Ruhms unb ben UJerheugen einer Jlof)eit, beren 5orm
fich gewanbett hot. ©er Dienfi war leicht, unb er hotte
mehr freie Stunben als ehemals, aber bies würbe ihm
nicht jum £eil. Cs war (eine Sreube für ihn, frühjeitig
heimju(ommen in bie noch engere ©ienflwohnung, bie ihm
nun juflanb. ©enn feine Srau, lieblos unb hämifch fchon
juoor, war notier JRifJmut unb Bitterfeit gegen biefen
JTCann, ber nun auch fein einjiges, feine militärifche Sorfch*
heit, oerloren hotte, ber übellaunig unb fchrecfhaft bei ihr
fafj in bem ärmlichen Gelaß, unb beffen Gegenwart fie
baran hinberte, bie mautfertigen Xreppenfhmben mit ben
Nachbarinnen ausjutoftcn, bie ihr Bergntigen gewefen
waren.
269
Sie gürnte ibm oucf), weil fein Gebrerf>en fie nötigte/
auf i>en Pfennig gu feben. Oenn bie neue letztere Sfel*
lung war geringer begablt unb fein Jtebenoerbienß ntrfjr
ber Jlebe wert. Ufas ftcf) in biefes Jpeeresmufeum hinein*
fanb, bas waren nicf)t £eute, bie freigebig XrinPgelber oer*
teilten: ba9 waren fjalbwücf)ftge Kinber aus ben Spulen/
entweber rubelweife mit ihren £ef>rem ober ohne flufficfjt
in Meinen Xrupps, fefjr bereit, Unfug gu fliften; bas wa»
ren Kleinbürger unb Meine Beamte, beren Kümmerlicfjfeit
ftrf) an ben Sieden alten Blutes unb an ben großen JBor*
ten ber Sahnen tücber erregten, ober Solbaten mit ihren
5Dienfbnäbd>en. Kam aber je einmal ein anfebnlicber
Srember, ber mit wachen Augen an bem Gtoriengerüm*
pel oorüberfcbritt, unb erbat ber ficf) Befcf)eib, fo gab biefer
B3äcf)ter eine Ponfufe, Purge unb unfreunblicbe Antwort,
bie aflgu beutücf) nterPen Heß, baß er nichts wußte. Oa
Heß ihn benn ber Befuc^er mit einem Kopfniden ßefjen,
unb ber Armfelige fcfjlicf) weiter burcf) bie froftigen Säle,
unter ben bunten Se^en oon Stanbarten unb Sahnen bin
unb gwiftben all bem roßigen Blutgerät: Partifane, Kar»
taune unb JTlorgenßern.
18 .
Johannes Abrecbt war weit fortgelangt gegen bie innere
Stabt bin unb fanb ficb wieber auf einer Banf mitten in
ben gepflegten Gartenanlagen eines großen, ^eiteren
Planes. 6s war einer ber gebämpft frf)önen Xage, mit
benen bie gute ^abresgeit Abfcbieb nimmt, unb oiele 3Tten*
fcben waren noch warf) unb genoffen ben Abenb. Auf ben
Sanbwegen um Johannes bet war es füll, oereingelte
Paare nur bewegten fi<b mit Slüßem, aber braußen an
ben Straßen, bie um ben Gartengrunb liefen, faßen bie
£eute im Sreien oor ben Jleßaurants mit bunten Geträn»
Pen oor ficb unb plauberten unb lachten. Das Plang fcbön
aus ber Seme, gumal melancboltfcb munterer Geigenton
oon irgenbwober alle bie Stimmen begleitete unb oerPlärte.
Oie weit berausgeßellten £einwanbmarPifen ber Jtcßau»
270
ranfs und die feltenen großblättrigen pflangen der Anlage
gaben dem piafj etwas Sremdländifc^es, Cntrücftes, und
fremdländtfrf) innig und glühend war auch die Smaragd*
färbe des furgen, dichten «Hafens, den non fyofyen TRaßen
draußen die Bogenlampen mit ihrer unwirtlichen Jlamme
beßrahlten.
(Johannes faß und blicfte oor fi<h hin, und Friede war
in feiner Bruß. Cr war einen ungeheuer weiten HJeg ge»
gangen, er fiand an einem 3iel gu furger, wonneooller
Jlaß, die ftiße BTattigfeit eines lang Gequälten, nun Cr*
lößen, füllte fein $erg, und der filbeme Älang der entfern*
ten Biolinen und der Stimmer des weichen Jlafens floß
damit gufantmen. Cr fah hin Uber die Heine, unirdifche
XOiefe und mußte lächeln, und einige fchöne XUorte tarnen
ihm in den Sinn, ein Bers wohl/ den er aus der Binder*
Seit wußte:
„Jrjier weidet der Sriede feine weißen £ämmer/'
Cr faß und ruhte. Die JTacht fchritt oor, die Stimmen
oon draußen wurden fpärlicher, einzelner, das IRuftfgetön
war oerßummt, ohne daß er es merfte, das £icf>t oon
manchen IRaßen oerlofch, über das fmaragdene Gras leg*
ten ficf> die braunen Schatten, ein fühler Atem durchßrich
die Gebüfche.
IBas iß mit mir gefdjehen heute abend, dort in der Gaffe,
dachte 3°honnes Abrecht, und richtete pcf) in die ^öfje,
was war das für ein Augenblicf? 3ch werde es nie mehr
wiffen. Cs iß etwas, das ficf> meinen Gedanfen gang ent«
jieht, ich hübe ja auch niemals gelernt gu denfen. Aber
wäre ich auch gelehrt und u»ife, ich tönnte es doch nicht
mehr gufantntenbringen, denn es liegt wohl außerhalb
aller JBorte und oberhalb der Bernunft.
BJas iß es gewefen? 3<h hoßte ihn und wollte ihn täten,
da hob er feine Arme und bewegte fie fo. ♦. lind da habe
ich olles oerßanden. XOar es, weil er feine Arme fo bewegt
hat, daß ich on den Goldenen denfen mußte? 3a, auch
darum. So hot der Goldene feine braunen Glieder geregt,
wenn wir gufammen gefpielt hoben, lind dann hot der
IBärter ihn ger treten. Aber das war es nicht allein. XBie
271
er feine Arme fo bittend f)ob, da fad er aucfj aus rote ein
Heines Kind in feinen Kiffen. Geroif} (>abe icf) das aucf) fo
gemailt/ früher, gu Jpaufe, als icf) Hein roar. UTir find ja
alte gar mcfjt fo fefjr ooneinander getrennt/ roie roir immer
glauben/ wo ifl denn die Grenge? Hier will ficf) da oer*
nteffen, gu fcfjeiben und abgufondern und gu fagen: fo ifl
der, und fo ifl das, und dies ifl gut, und jen’s ifl f<f)lecf)t?
3a, folcf) ein Gefühl ifl es ungefähr gewefen, was dort in
der Gaffe mit einemmal in micf) eindrang und was mir fo
lind und mild durcf) die Adern rann roie erlöfendes Silber.
Aber es roar nocf) etwas Befferes und Grüneres, glaube
icf>, nur läßt ficf)’s nicf)t fagen.
Oer HJärter roar einmal ein Heines Kind und in dem
Augenblick, als er flerben foltte, da roar er’s wieder, und
für das, was bagroifcfjenliegt, fann er nichts. Er weif)
toainfcfjeinlicf) gar nidfrt, dafi er bös ifl und graufam, und
meint, er tue das «Rechte. Und der Heine Goldene, der micf)
getröflet f>at in meiner 3elte, er ifl ja aucf) nicf)t bloß gum
Xroft und gur Scfrönfjeit da, und lcf> weif} gang gut, daß er
fiel) fonfl nicf)t oon Blumen ernährt, die ifmt einer bringt,
und daf} er niefjt geduldig in einem IBafferfrug fi$t, fon*
dem daf} er die Heineren Käfer jagt, und daf} er «Raupen
frif}t und roinjige Scf>necfen und roef>rlofe, naefte löür«
mer, und icf>, roer bin denn icfj, daf} icf) urteile: dies ifl gut,
und dies ifl böfe und marfje micf) gum «Richter und maefje
micf) gum Jläcfjer? Ein JTiäbel f>ab’ icf) überfallen im Seid
an einem f)eif}en Xag, und f>eute f>abe icf) einm JTiord be»
geben wollen. 3cf) f>ab’ ifm nicf>t begangen, aber was f>at
micf) abgef>alten davon? Ein Wunder, die Gnade. Sreificf),
icf) glaube gu roiffen, daf} icf) tro£ IBollufl und Xotfcf)lag
doef) etwas anderes bin als jener. Einen 20ef)rlofen quä»
len, das möchte icf) roof>l nicf)t. JRag fein. Aber roof)er
neunte icf) das 6efe£ und das Urteil, wo flefjt der «Richter»
fluf)l, vor den man das alles tragm fann?
Gibt’s ein Gericht? Hier weif}, für welches Of>r alle die
Stimmen gufammenftingen. Oa ifl das Gute ein f)etter
Xon, da ifl das Böfe ein dunfler, mächtiger Baf}. Hier
weif}, roer weif}. 3(1 uns nicf)t felber manchmal, roar mir
272
nicht btute tn ber Gaffe, als hörte ich auf einen Augenbtitf
bie Harmonie. Als bränge ein Purjer, herrlicher $all burrf)
eine rofcf) geöffnete Xürl Da wiffen wir plötjlicf), wie Mein
unb eng unb buntm alles war, was wir gebaut unb ge*
urteilt haben...
3a, ^ute abenb iß mir nun, als wüßte irf), wo mein
IBeg führt, als fönnte ich ihn nie mehr oerfehlen. Als
freiße bie IQahrheit filbern in meinem Blut unb fei nicht
mehr fortguwefchen für biefes ganje £eben. Aber tff bas
nun fo? Äenne ich }e£t beffer bie Kräfte, bie in mir am
HJerfe finb, Penn’ icf) nun beffer meinen Meinen pta£ im
großen plan?
Äenn* ich ben feinen? UJarum würbe er fo erfchaffen,
er, bcn ich töten wollte? Xöarum hat er biefen JTiunb unb
btes Äinn unb bies Auge? BJer ifl er benn, was foll er
benn hier? €r lebt unb hanbelt unb weiß nichts oon fich
unb frf)wmbet bahin, was iß’s bann gewefen? — £eben
iß’s bann gewefen, £eben! UHllPommen Bös unb Gut!
Gin flarfer löinbßoß fuhr burch bie BUfche unb Bäume.
3ohannes atmete tief.
3a, fo iß’s. So iß’s. häßlich unb ^enrlich, Bös unb
Gut — willkommen, willPontmen! D £ebeni Hoch bin
ich Jung. Du breiteß bich oor mir aus, große, leuchtenbe
Stäche mit allen beinen Gefahren unb Ungeheuern. Auf
einem JTteerfchiff fahre ich hinaus, mit 3ugenbPräften noch
unb neu gefegnet unb gan$ bereit, bich/ Gewaltiges, ju
grüßen unb bich Sreunb ju heiße«, famt alten, allen, alten
beinen 6efchöpfenl
m
18 fcsutfd&e KobeIte.
3M e 4 t 6 y 11 e 0 o u t a in
Bon Jltaj Äreü
AL^ftober 1859 ß Qr & Me Äomteffe Baurain, ein altes
v JTtäbchen. bas im Schatten ber Tuilerien tote oiele
ihres Stanbes auf bie Jleflauration ber Bourbonen gehofft,
unter ber Glut biefes Jpimoartens ein eigenes £eben oötlig
mißartet unb oergeffen batte.
©er Jleffe Anbrö Baurain toar fefjr erßaunt, einen
Jladjlafi oorjufinben, ber feine Annahmen beträchtlich
übertraf. Jleben unerheblichen 6 elb fiel ihm bas £anbgut
Cbaiuit in P 6 rigorb ju. Äein JTtenftf) fjotte oon biefem
Beßb eine Ahnung gehabt, auch ber flatfchbaften JTlagb
toar er entgangen, man batte oon feiner «Reife ber Baurain
baf)in gehört, unb nun plö£licf) toar, aus bürftigen Ein»
fünften unb jufäiligen 6 enüffen gufammengefpart, bie Bi»
fion eines länblicben Befi£es oorbanben. Einmai, batte bie
Baurain gemeint, toürbe ber Graf oon Cbamborb «König
fein, unb unter ben £üien fönnte ein Schloß unb eine ^err*
fcbaft entfleben. Es toäre ihr größter Ebrgeij getoefen,
ihren Abel als Stü$e ber Monarchie ins £anb fnnausgu»
tragen.
Als elenber Xorfo hätte öiefe 3bee geenbet unb als eine
erfcbüttembe Armfetigfeit, beren ganje Tiefe man nur be*
griff, toenn man bie £ehmhütten oon Chatuit fab. Gin
Biehhalter fümmerte ficf> um nichts, es toar ber fargfie
Boben biefer £anbf<baft, bie Sonne jerbrannte immerju
bie Briefen. Bas Dbß eines ungepflegten Gartens (iahten
fich bie Buben, toöhrenb in Paris bie Baurain ihr trocfenes
Brot aß unb in einem Jrjinterjimmer bem lob entgegen»
fchrumpfte. Ein JTIann ohne Hnfprüche, ein Bauer, gan 3
hingegeben bem Acfer unb ber 3ucht geringen Biehs,
mochte hier oielleicht ein £eben ohne materielle ^öhepunfte
274
führen. Jüan mußte mit ber Sonne um bie Wette laufen,
tonnte mit getrümmfen Jlütfen bte Surcfjen abfchreiten
unb oielleicht gefunb bleiben- ©arüber hinaus ßanb nichts
ju erwarten, unb bie Auffahrt fönigiuger lOagen märe
felbß bem Gehanten nach nur ein löig gemefen- Oie alte
Oarne hatte im leßament noch einen (egten Scfjerj per*
fucfjt:
„JTlögen Bie, lieber Oleffe, ba unten bie Xrüffe(n fin*
ben, ju benen itf) 3hnen jroei Sememe hinterlaffe."
AnbrS, oon ben bourbonifchen Sfrupeln ungeplagf, faf>
nur bas plus. Ging es nicht beffer, fo tonnte man bie
Älitfcfje oerfaufen, unb bas £eben in Paris mar für einen
oergnügten JTlonat fichergeßellt. JTlit biefem murmßichi»
gen Erbteil begann fein Aufßieg.
Cfjaluit felbfl mar ein Ort, eine flehte Stabt beinahe,
in ber man am £eben oorbeifchüef unb beshalb bie mun»
berbarflen Oinge faf). Sott ging mitunter noch fic^tbar
burrf) bie Gaffen. JTtan flanb oertraut mit ihm unb er*
tannte ihn an, mo man in Paris, £pon, Borbeauj lfm
ftfjon außer Äurs gefegt gatte. Alles Sonberbare gegärte
in ben Berehg biefer minbfcgiefen Raufer, baju Srau
JTionacre.
Sie ganbelte mit Seife, Äergen unb öl. früher mar
noch eine Seilerbagn habet gemefen. BJer ficg igrer Spot*
patgie erfreute, fanb in einem Jpinterjhnmer .Rat für alle
bistreten Angelegengeiten. Srau JTionacre las ntcgt aus
^affeefag noch ; ug fie bie harten, aber fie mußte immer
Befcheib, fie eruierte ben Gänfebieb, marnte oor allju gro*
ßen £iebesgoffnungen, tünbigte Jpagelfchlag unb Jleblaus
an, unb gatte in jeher Affäre eine fo fichere ipanb, baß
fie jum 3nbegriff ber JTlütterlicgteit anftieg, ben fie niegt
entmeigte; bas geißt fie nahm für igre JTteinungen feinen
Sou unb ließ es immer babei bemenben, baß man igr im
HJinter etmas gur Seuerung, im tyer bß einen Äorb
Dbß fegiefte, im Sommer mürbe fie ju fleinen Wahrten
über £anb mitgenommen, unb im Srügiing gingen igr
bie Blumen nicht aus. Oas genügte igr oöllig. Sie hätte
felbß bas nicht oerlangt, menn man es ihr oorentgalten
2 75
18 *
hätte. Senn fie behauptete, fein Jflecfjt gu höben, ein Ge«
fchäft aus biefem magifcfjen EJiffen gu matten. Sie be*
fannte flets, baf} fie in Äorrefponbeng mit ben Geiflem
Abgegebener ftünbe, unb es wäre ßrofanation, bie JTtei«
nun gen, JTtitteilungen, Singergeige, bie ifjr aus jener
fremben Sphäre aufgegwungen würben, in Gelb urngu*
fefcen.
Anbr6 hatte fef>r halb Sufi bei Srau Jltonacre gefafit,
unb bie außerorbentliche ^öflicfjfeit, mit ber er fie bef>an<=
bette unb i(>r Keine flufmerffamfeiten erwies, wie er ihrem
6 efcf)äft gu oerbienen gab unb mit feinen Anliegen über
Ginrichtung bes 6utes gu ifjr fam, bamit gewann er fie
fe&r fcfjnell unb oollflänbig. Anfangs tat fie nichts, ihm
ihre offulten Oienfle angubieten. Sie batte eine gewiffe
Scheu, biefem JTienfcfjen, ber fo befonbers fchien unb eine
gang ungewöhnliche Glegang an fid) batte, mit einer Sache
gu fommen, bie fie allen hingab, befonbers aber, über bie
fie felber nicht recht flar war, unb in ber fie beinahe etwas
3rres unb IJerbächtiges gu fühlen meinte.
Cs war ein hahnebüchener ©iebflahl auf feinem fleinen
Gut gefchehen, ber ihn aufgeregt gu ihr führte: man hatte
ihm gwei «Kummete über Jiacht weggenommen, hatte
fämtlichen £afer für feine Pferbe über ben of geflreuf
unb unter heftigem Sthabernacf aus feinem h^bfehen
Seoresferoice, bas noch aus ber Sontainebleauer 3eif ber
Daurains flammte, ausgerechnet fämtliche lintertaffen bei«
feite gebracht.
„3a, ich weif}/' fagte Srau Jltonacre, „weshalb Sie gu
mir fommen/* Gr hatte noch gar nicht ben JTtunb aufge*
macht. „Se^en Sie fich Mtia* HJir werben es gleich ha*,
ben!"
Sie fperrte bie Tür nach bem £abcn ab. JPährenb fte
mit einer langen Stricfnabet langfam in ber irjaartolte
herumfrahte, ftarrte fie mit einem öngfltich taufchenben
Auge auf ben Xifch. Sie fe£te fich, eine löetle gefefjab gar
nichts. Anbrö war gefpannt, er glaubte nicht fehr an biefe
«Rünfle, bie er für eine Sabel hielt. 3m Augenblicf oergaf}
er gang feine Angelegenheit unb meinte ber «Richter eines
276
Projeff cs 3 « fein, in bem fi<f> ein bortnäcfiger Berbrecber
feit)er ben Sangftoß gab. Oie Petroleumlampe Uber it>r
penbette gai toenig. Oie Älopftöne tarnen. Cr börte fie
felber. Srau JItonacre oeränberte if)re Haltung nicht, nur
Hnbr 6 würbe aufgeregt.
„HJas hören Sie?" fragte er.
Sie runjelte bie Brauen, er oerflanb, bafi fie nicht ge*
flört fein woUte. Oann fing fie an ju fcbreiben, ber Jlap*
port toar bergeftetlt.
flb, fie wirb lange fTreiben fönnen, toas bot bas auf
ficf), fie wirb mich bttpieren wie alle biefe «ftlatfcbbafen,
unb am Cnbe ifl fein Simfe Crnflboftigfeit babinter.
Sie ftbrieb ungemein flüffig, if>re grobe $anb 30 g fcbnell
über bas Papier bin, man hätte ben roten, ferneren Sin*
gern ni<bt biefe Cleganj jugetraut. flts fie aufbörte unb
etwas erfcfjöpft jurücf in ben Seffel rutftbte, mit bem Sin¬
ger bas Papier leicht oon fi<b fcbnippenb, erfcbraf er bocb:
hier war bie fjanbfcbrift ber alten Baurain. Cr botte pe
feiten gefeben, aber niemanb fonfl fcbrieb biefe etwas fpi*
nöfen ängfiücben 3üge ohne fetten Strich, mit ein wenig
XDib unb einer Meinen Oofis Sartasmus. Oiefe Schrift
fpiegelte ben Cbarafter ber oerflorbenen Oame bis in bie
feinften Salten wieber.
J^ier (ianb bie genaue Betreibung ber beiben Täter,
eines Unechtes mit einem oerfHintmelfen Obr unb eines
jrjausmäbcbens, bas er wegen bummer £iebf<baften fürj»
Iicf> oor bie Tür gefegt botte. Cs waren auch noch BJarnun*
gen gegen eine britte Perfon ausgefproeben.
flnbrö ging biefen Oingen na«b, es war fein XBort ju*
oiel, bie Oiebe würben gefaxt, bie Cegenflänbe am bejeief)*
neten Drt gef unb en, ber britte Oerbäcbtige im JRoment
einer neuen Tat gepaeft.
Aber als alles wieber jur Jtabe gefommen war, ttabm
er es nicht emfl. 3ur JTlonacre meinte er, es fei febr nett
oon ibr getoefen. Um auf bie richtige Säbrte gu bringen,
er glaubte nicht anbers, als bafi fie oon ben Oingen bureb
irgenbeine Scbwabbaftigfeit XBinb befommen bobe. Seine
Parifer Sfepfis war 3 U febr elngefreffen, 3ufä(Ie unb raffi*
277
nierte Gaunereien foltten if>n nicht oerblüffen. 6ine Ge»
legenfjeit, biefer Srau feßer auf ben 3ahn gu fügten, würbe
fomrnen.
Gme lUeile lang befcfjäftigfe er fie nur mit Unerheblich»
feiten, als wolle er fie arglos machen. Dann tarn er Änall
unb Salt mit einem großen Anliegen heraus, beffen Trag»
toeite unb Uergmeigtheit fie faum gang überfehen tonnte:
es fei nötig, fein Meines Gut mit allerhanb Steuerungen
gu oerforgen, man müffe lanbmirtfchaftliche JTtafcfjinen
non ber lebten Äonßruftion faufen, bie Ställe feien gu er»
weitern, bann eine DJafferleitung gu (egen, überhaupt bas
Gange müffe, wenn es fiel) lohnen folte, auf einen brei»
teren 3ußanb gebracht werben. Sonfl täte er beffer, gu oer»
taufen unb bie paar Fronten in Paris aufgueffen. IDar,
was biefe Srau tat, ein Schwtnbel, fo mürbe fie gewiß
oerfuchen, ihn, an bem fie intereffiert mar, mit Meinen
6 ef«häften unb für fpäter gewiß mit allerlei üieferungen,
hier gu holten* BJar aber etwas an ber Sache, fo mochte bie
Baurain mit ihren mpßifcf>en Borfchlägen herausrücfen.
Die Baurain tat es. Die Älopfgeidjen tarnen. Srau JTto»
nacre fchrieb, fie würbe blaß oon ber Anßrengung unb
ßöhnte leife in fich hinein, manchmal wifchte fie mit ber
j?anb über bas Geficht, als lägen Spinngewebe barauf.
£s ging lange fo. Anbr6 hoitte in ber Sofaeife, bie Dunfei»
heit regte ihn eigenartig auf. Gr wollte bem Schriftgug
folgen unb faf> angefpannt auf ihre Jjjänbe, aber es ging
oiel gu f<hnell. Sie fe^te bisweilen in ber 3eite ab, bas
allein ernannte er, es würben «Kolumnen oon 3ahlen, Sta«
men.
Als er bas Papier befam, las er Anweifungen, wie er
ben Brocten Vermögen, ben bie Baurain ihm neben bem
Gut hinterlaffen hatte, gur Börfe bringen folle, wie hoch
mit ^ppothefen er Chatuit noch belaßen bürfe, um Be»
triebsmittel gu betommen. Dann hätte er JTteyifaner unb
Xürfen gu faufen gu ben unb ben Beträgen, Berliner unb
englißhe Aftien. Sie gab Termine an, bis gu benen bie
Stücfe gu halten feien, bann müffe er ebtgelne begegnete
Partien abßoßen. 6s ergäbe fich ein Gewinn in ber unb
278
der $öf)e, mit dem er Weiterarbeiten müffe. Oie Borfcf)läge
waren ungemein fachlich gehalten, ihre flffurateffe wer»
blüffte ihn.
Hnbr 6 wippte neroös mit dem SätfS und fcfjeuerte auf
feinem pia£ herum. OafJ die JHonacre über die diffijilfien
törfenbegriffe orientiert war# hielt er jwar nicht für un*
möglich? aber immerhin für umoahrfcheinllch. IBas ihn
mehr erflaunte, war die genaue Bezeichnung feiner Her*
mögenswerte, die oon ihren Sängern aufgefehrieben da*
ftanden. DJaa tonnte fie oon diefen Oingen wiffen, die in
einem fJarifer Schubfach oenoahrt läge und deren Jlas
men und 3iffern er felber nur oage im Gedächtnis hafte!
Jüan follte es oerfuchen, dachte er. Oer SpafB wiegt
einen Berlufl auf. Und wenn das alte JTtäbchen dahinter
flecft — ah? was wiffen wir Jltenfchen über die Geifier der
flbgefchiedenen, was wiffen wir, ju welchen mpflifchen
Jleften und höhnen Beflimmungen wir uns auflöfen.
Unfere Subflanj fann fich oerflüchtigen, fa, aber unfere
geifligen Sunftionen haben Hufgaben ju erfüllen. Gr fam
fich tieffinnig oor, als er diefen Gebanfen gefaßt und fich
felber und feine Jleugierde damit befriedigt hatte, lind
er fchtoß: was wiffen wir, was eine Xante Baurain noch
mit uns oorhat! Sie fann fich mit Bonaparte oerföhnen,
um ihr armfelig jerfloffenes £eben im Abglanz meiner
£aufbahn dennoch anfieigen zu fehen.
Gr fniff Öen 3ettel zufantmen und ging. Gs war eine
3Tleile bis zum Gut. 3mmerhin, dachte er, während er in
den hart gewordenen XOegrinnen fchlürfte, man wird es
nicht fehr hoch anfangen. Oiefe alte JTJonacre hat irgend
etwas läuten hören, fie fann mir etwas aufhängen wollen
und hofft, ich fei der 6impet, auf ihre Spielereien herein*
zufaHtn.
flnbrö faß noch eine Stunde lang auf einer IBagendeich*
fei, die fcf>räg in feinen $of ragte. Gr hatte eine £aterne
jwifchen den fänden baumeln, und manchmal fiel der
trübe Schein auf die buntgemalte JRabonna am Scheu«
nentor.
279
6 r oerfucf)te ben erßen Borfcfjlag. Ißlö^üd) war er fin«
fißh unb mußte ntcht, tote er btefe Gehöfte anpa«fen follte.
6 s mürbe ihm fcfjmer, bie Sä£e ricfjtig aufs Papier gu
bringen, er ßolperte fdjon bei ber Anrebe an ben Banfier,
unb e9 bauerte gmet Xage, bis er ben Börfenauftrag auf«
getrieben hatte. Dann martete er mit allen Spannungen
bes Spielers. Oie 3eitungen famen unb batten tf>r befon«
beres 3ntereffe für ifjn auf einer Seite, bie et bisher über«
haupt nicht gefannt batte. 6s riß ibn mit Sieber herum,
er batte fogleich alle Erregungen ber Börfe im Blut, unb
3nßinfte toaren ba, bie er ftcf) nie batte träumen taffen.
3uerß toar es eine Siucht oon 3ablen unb Begriffen, in
bie er feine rechte Orbnung bringen fonnte, aber er
machte gerabegu einen Jlucf unb gerriß in ficf) biefe JTebel.
0 a9 mejrifanißhe Papier fiel in leichten Meinen Sprüngen,
bas brachte ihn maßlos auf, unb fchon gab er alles oer«
loren. Aber am fünften Xage manbte ßch bie Sache, bie
Spefulation befam großes Sormat. Oann hielt es plöfj«
lief) an einem Punft an, ber Pegel rührte fich nicht. Anbr6
erinnerte fich, &aß bie Baurain einen Berfaufstermin ge*
nannt hatte, bie 3eit mar ba, er folgte. Äaum batte er
feinen Gemimt eingeßricben, ba flog bie 3TUne auf.
6 r oerfuchte es mit anberen Borfcblägen. Balb fanb er
fich gurecht, balancierte bie Chancen gegeneinanber, folgte
aber gurneiß bem inneren Xrieb, biefer gmeiten Stimme
bes 3cf)S. 6s ßachelte ihn, ihr gu miberfprechen, im lebten
flugenblicf mollte er bie Oispoßtionen ber Baurain um*
ßoßen, fo ßcher fühlte er ßch ßhon. Oann gehorchte er hoch
unb fam mit bem oerfprocf>enen Geminn heraus. Oie
Gleichheit ojar ungeheuerlich, faß marf es ihn um. 6r
magte gar nicht naebgubenfen, menn er es hoch tat, fe^te
eine Xrübung ein, bie ihm bie Ohtge ins ltnfeharfe entgog.
6 r mußte ihnen ben £auf laffen. 3mar beglücfte ihn bie
fchnetle Häufung ber JRittel, aber eine IBeile mehrte ßch
feine naioe BTännlichfeit, einer fotchen JTIagie ausgeliefert
gu fein. Schließlich glitt er fogufagen mit sollen Segeln
in ein Abenteuer, bas ihm entgegengefommen mar, bas
280
fich an ihn längte, unb bas neben allem JJrttfelnben noch
bie Annehmlichkeit batte, lufratio gu fein.
6 s würbe feine Gewohnheit, febe BJoehe einmal ober
öfter gu Srau TRonacre gu geben, fich in ihr grünes Sofa
ju werfen unb auf eine Antwort ber Xante Baurain gu
warten. Sie JRottacre f>atte firf> manchmal geßräubt, if>r
war es ein blaspbemifches Unternehmen/ bie Abgefcbie®
bene in biefe profanen Getbgefcfjäfte gu oerwicfeln. Sas
warf ihren tiefßen Glauben um, fie empörte f«b, aber
ihre Schwäche oermochte nicht, ben leibenfchaftlichen An«
fhtmt biefes Spielers abguwehmt. Anbrö gab ihr (eine
Setails mehr über feine Erfolge, es war unnüh, fie auf
ben Grunb feiner Unternehmungen fehen gu taffen. Alles,
was fie mit ftiegenben Jrjänben auf bie 3ettel fcfjrteb, war
gu bunt für fie, gu oerworren, als baß fie hütte Aar fehen
tonnen.
6 s war immer um bie Spätnachmittage. Ser Jlaunt
hatte an fich f<hon wenig Sjeltigteit, gegen ben Garten gu
war er mit einem Meinen Barorfgitter um bie Jenßer oer«
riegelt, unb BJein unb Geißblatt wucherten grün herein.
Eine breite Petroleumlampe frfjwang über bem Scheitel ber
3rrau, weifte bort einen gelben Schein. Sie fah Anbr6 faum
an, niemals in bie Augen, folange fie 3nßrument war.
Bisweiten würbe fie, was nicht in ihrer Jiatur lag, ärger«
lieh« Sarum fümmerte fich Anbr6 inbeffen nicht, weber ihr
3uftanb noch bie Schwantungen ihrer Jleroen waren für
ihn ba; unb ob fie fahrig war ober gefammett, bas jging
ihn nichts weiter an. Er war gang unb gar ein befeffener
JTtenfrf), ber nichts anberes wollte, als feine Papiere an
ber Börfe placieren unb hierfür tobfichere Xips haben Sas
war alles. Er oergaß oollfommen ben fonberbaren IBeg,
ben fie gu ihm nahmen; bas Gefchäft nur galt, unb wie
es gußanbe tarn, betraf ihn nicht.
Sie Borausfagen ber Baurain erfüllten fich mit einer
Eyaftbeit, bie ihm bennoch bisweiten Angß machten. Sann
oerfuchte Anbrö einen eigenen BJeg gu gehen unb geriet in
Berluß. Er beachtete biefe Signale unb gab alle Siet«
föpfigfeit auf, bas JUicfgrat war ihm gebrochen. Es hatte
281
nichts als biefes mpflifchen ^Rapports beburft, if>n in eine
unerhörte AbhängigPeit gu werfen.
Das Gut Cfjoluit würbe non ^anbwerPern weggefegt,
ber befrfjeibene Stallbeßanb oerfchleubert, bos JRobUtar
oerfieigert. 6s oerging Pein ^af)t, unb man hätte an ble
Crfüllung traumhafter DJünfcf;e benPen Pönnen: Anbr6
baute fich ein wunberoolles Befi^tum, bas allen heimlichen
GebanPen feiner ffüngtingsgeit Gefialt gab. Gin Schloß in
•Renaiffanceftil griff mit gwei Slügeln in ben Ißaxt hinein,
dahinter lag bie ÖPonontie, ber nichts fehlte, was für ihren
Bebarf oollPommen war. Seine JÖcPer reichten bis gur Dor*
bogne. Gr ließ fich Schaluppen bauen, eine 0a<ht unb einen
Pichten $afen, es war als Spielerei gebaut, aber ba er
nichts mehr in Pleiner Sorm betreiben Ponnte unb ln allem
eine große Jrjanb hatte, würben es Anlagen oon 3Ttußer«
gültigPeit. UTian fprach nicht nur in ben benachbarten
Arronbiffements baoon. Das JRinißerium nannte ihn ein
BeifpieL JTapoleon erwähnte bei ber Gröffnung einer lanb*
wirtfchaftltchen Ausßetlung bie Güter oon Chaluit als
einen nationalen Sfolg, er bePorierte ben Beßrer.
Breit bot ftch ihm bie 3uPunft att, mit ber er in phan«
taßifchen Träumen einmal gefpielt hatte. Cr bachte nun
nach Paris gu jief)en unb bie große Jlolle feines Gelbes
unb GlücPes gu halten.
Aber es blieb ber Sali Jltonacre. Ohne fie Ponnte er nicht
fein. Seine Unternehmungen würben ins UngtücP um*
ßhtagen, wenn er biefen «Rat nicht mehr hätte. Cs war ihm
fchon gang gur Gewohnheit geworben, bie 3eicf)en ber Bau*
rain jebergeit in Gmpfang gu nehmen unb ihnen blinb*
lings gu gehorchen, unb wenn bie Dinge in Sluß waren
unb er nichts gu fragen hatte, fo Pam er mit ber £uß unb
J?>aß bes Spekulanten hoch gu ihr. Trieb er fich «in paar
Tage in Paris umher, einen BlicP in bie DJelt gu werfen
unb bie leichten Seiten mitgunehmen, fo hatte er Peinen
Genuß; er würbe gehest oon ber elenben Surcht, etwas
gu oerpaffen, einen Tip nicht rechtgeitlg gu bePontmen. Ber*
ßimmt über fein Ausbleiben, hätte ie Baurain gang
fchweigen Pönnen. Die JTtonacre Ponnte ßerben, tmb alles
282
würbe gu 6nbe fein. 6r fof) ntcf>t, bafi es genüg war, was
er befafl/ unb bafj aus bem Sefefj ber Trägheit heraus bie»
fer Beftfc fi<h galten unb befefligen werbe, wenn man ihm
Hegen unb Sorgfalt gab. Das Spiel hatte ftcf) überfragen
unb er mit ihm.
6 r backte heran, bte JRonaere mit nach Paris gu neh*
men; ftf)UefJlief> fprach er es aus, er wolle für fie forgen,
fie fotte es wunberbar haben In einem eigenen ^aus ttaf>e
bei ben Xuilerien; fie werbe ben «Raifer unb bte Paraben
fefjen. 6r Sprach auch non einem pia£ in ber Oper unb oon
IBagenfahrten feben nachmittag ins Bois be Boulogne.
Xlnb wenn fie irgenbeinen BJunfch habe, fo werbe er for»
gen, bafj man ihn erfülle.
Uber ba geigte es fich plöhlich, bafj biefe Srau oon allem
nichts oerflanb. Sie hatte feine Ahnung oon Selb unb was
es bebeutete, oon. ben erflaunlidjen JRögticfjfetten, bie man
fttf) bamit auftun fonnte. 3t>r Jj^origont blieb Chaluit, über
ein Meines Dampfboot, bas einmal bie Dorbogne herauf«
puffte, oerlor fie ben Äopf. Der «Raifer war etwas weithin
Abflraftes, bas man nieht fef)en fönne, auef) wenn man in
Paris wohne. llnb mit ben übrigen Dingen mußte fie
nicht einmal bem Hamen nach etwas angufangen.
Als Anbr6 if>r crgählte, gu welker ungeheuren Aus*
behnung fein Bermögen burdf) bie «Ratfchläge ber Baurain
gekommen fei, würbe fie plö0ticf> fcfjeu unb fing an gu
weinen. Sie oerflanb feinen Deut, unb ber Prunf eines
Bouleoarbhotels, ben er oor U>r aufrifj, machte ihr äefften
Schrecfen, fie befam Angfl, fith in folthe Sachen hirtein»
gubenfen. Das nächfle JTtal mufjte er fie giemüch unfanft
gwingen, überhaupt fi«h an ben Xtfd) gu fe£en. Sie rebel»
Berte, fie werbe mißbraucht, fie feifte unb fuhr auf Sitg*
huhen fahrig im 3immer umher. Aber als fie bas weiße
Blatt oor ftch fah unb ben Griffel, war fie wieber bei ber
Sache, flrich bas Jrjaar gurütf unb leefte am Stifte Der
magere £ichtf<hein fiel auf bas Papier. Da war fie ooltenbs
geblenbet, fd>wieg. Unb bte «Rlopftöne famen.
3tt einer wüfenben BJelle würbe Anbrös Bermögen auf
eine ungeheure 4?öl>e hiuaufgefchnellt. Da gab er es auf,
283
an Paris ju benfen, unb würbe ganj Sflaoe biefes flrbtU
fcns in einem «Kreis oon Gelb unb Papier unb Deoifen unb
Coupons, oon 3 af)Ien, cyotifcfjen Begriffen unb befiialt»
ftfjen 5 Bttnf<ben einer fouoeränen Hielt. Bon feinem
Scbreibtifcb aus fonnte er in bie parfbäume fefjen, aber
biefes Grün war tot, unb ber leichte Schauer eines IBinbes,
ber über ben «Hafen ging, würbe nicht Bilb noch Borfiel*
lung in ihm. Gr wufite genau, wie man aus JBeijen JTlil»
Itone» prägte, wie man JTiärfte fontrollierte unb ben Ge*
genfpieier neroös machte, baf? er oerlor, was man oon
Ö)m gewinnen wollte«. Aber er fonnte feine jwei JTZinuten
in einem Boot fifcen unb mit ber Jpanb burrf) bas Schilf
flreicf)en, es langweilte ihn, ferne Gebanfen gingen fofort
ben XBeg, biefe Schäfte unb Kolben umjufepen unb einen
Jpanbetsartifel großen Stils baraus ju machen.
Gs gefcfjaf) wof>l einmal, baf? ihn fcbauberte, unb eine
Jpanb fuhr eifig in feine Brufl hinab. Dann frf>wamm er
nächtelang im Xrunf, lief? SVeunbe fommen unb XDetber
unb aus Paris bie Xän3erinnen oom Barietö, lief? reife
BJeine über bie 6läfer flief?en unb barf)te, alles müffe
fid) in biefem «Kaufet) erlöfen. Aber wäbrenb bie IBollufi
fief) entlub, jagte ifjn ein 6eräufcb hoch, bie Jliufifer muf?*
ten fcf)wetgen, er meinte, jemanb habe geflopft, bie
Jfrauen riffen Um an fief), unb bie Düfte füf?er Parfüme
rangen um fein Gefügt. Gr fcfjüttelte alles ab unb flanb
grau unb jerquält mitten unter ben blübenben £eibern.
Gr batte ein GefKit, unb feine Farben fiegten, wo er
fie einfepte. Diefe Unbebingtbeit feines Glücfes batte etwas
Grauenhaftes. Jüan fannte Anbr6 in ben Euyusgefcbäften
ber «Hue be «Hiooli als einen fafl mpftifeben Auftraggeber,
ber etwas oon bem Spleen ber panfees batte aber man
fannte ibn, ohne ibn ein einziges JTial gefeben ju haben,
eine unbedingte Bereitfcbaft erfüllte feine Befehle. Der
«Kreis aus reftlofer Grgebenbeit, ber aus ben JTianifefia*
tionen bes alten Fräuleins Baurain feinen Ausgang nahm,
fe£te ftcb in biefen Eieferanfen, Jreunben, Xrinfern, Dir*
nen, Deputierten, 3 ournaliflen, Banfleuten fort: biefes
ä tout pnx bes fiegreicben Börfenmannes, ber ju fommam
284
beeren gewohnt t(l unb Jeben «Rücffchfag neu in eine oor«
teilhafte «Rechnung umfchaltet. Anbr6 fragte auch int tief*
(len llnterberoußtfein nicht mehr nach ben «Raffeln biefes
«Rapports, bas toar eine Sache wie Äartenfpiel, 3 igaretten*
breijen, Befuehelaufen. Xlnb um ihm herum machte man
fich feine Gebanfen; wiefo ber einflige Slaneur aus gweif*
flaffigen fJartfer Salons ficf> hinaufgefehwungen habe in
einen feenhaften Beftg. Jüan nahm bas hin wie bie Tf)efe,
baß Gelb aus .unergrünblichen «Referooiren ficf) oermehre,
wo es fich gu fammetn nur ben erjlen Anlaß oorgefunben
habe. Sie beugten fich ßhontlos oor einem Saftor, mit
brtn man eben rechnete, ben man nicht liebte, weil man ihn
ausgunugen glaubte, unb ber hoch nicht ausgunugen war,
weil feine Jltcttel ins Grengenlofe liefen.
3 eher wartete, baß Anbr6 fyeirattn werbe. 6r fonnte fich
bie Tochter eines ^ergogs faufen, bas Joubourg St. Ger*
’main hätte nicht mit ber IBünper gegucft, ihn bort ein«
giehen gu fehen. Unter bem liberalen Äaifertum JTapo*
leons waren £eufe groß geworben unb in bie Ariflofratie
aufgeriicft, beren ^erfunft oom Geruch ber fallen um»
wittert war. 3 Tlan nahm hier nichts mehr Übel. Aber Anbr6
hatte nicht einmal eine JTlaitreffe, er hatte nicht einmal
3 eit, fich um Srauen länger als eine Biertelßunbe gu be*
fümmem. Das erlebigte er furg unb fchweigenb. Der &ai*
fer ließ ihn gu einem Jener pompöfen Empfänge in bie
Tuiterien laben. Aber er fagte ab, ohne wahren Grunb,
benn baß er franf fei, glaubte niemanb. 6r machte fich
auch nichts baraus, eine Äränfung gu prooogieren. Er ritt
felbß gur Poft unb gab bie Depefcfje auf.
3 Tiargu 6 rite Bellanger, bie ber Äatfer in biefer 3 eit fehr
liebte, wttnfchte Baurain wie einen 3 irfusaft in ber
gu fehen. Jtapoleon fegte alle $ebel in Bewegung, feine
Spröbigfeit gu brechen, beren Xlrfache er nicht heraus*
finben fonnte. Er bot ihm feine Staatstoagen an, bamit
er nach Btarrig fäme, unb fdjitfte ihm bas Offigiersfreug.
Anöre fah ben Boten mit guefenbem Gefleht eine IBeile
lang an, als fuche er aus llnterßem heraus feflgu*
(leiten, was eigentlich tos fei Dann meinte er teife, ber
285
JTlonorcf) folle bas nicht oerlangen; wenn e9 ber ^ofroün»
fd)e, werbe er ein Äinberafpl für P^rigorb ßiften, in bent
man taufenb Pfleglinge unterbringen fönne, unb es folle
an nichts fehlen; er wolle auch jtoangig löaifenmäbdjen
ausflatten, unb wo man UJofjlfätigfeit oerlange/ ba folle
man if)n fogleid) benachrichtigen. Aber er fönne nicht forn*
men. ltnb er batte baju einen Ausbrucf oöttigen Grfdjöpft*
feins. Auf feine Srage fonfl wegen ber Jleife fei er ein*
gegangen unb, als er mit bent 5 ufi fcfjon im Steigbügel
geftanben fei, f)abe er nur noch gerufen, man möge ihn
ber 6nabe bes «ßaifers empfehlen.
6 r ritt immer im Salopp unb würbe bie Segenbe ber
Cfjauffee oon Cfjaluit.
Oie .Rollen waren oertaufcfjt. Ufas bie alte Paurain mit
ihrer fleinücfjen Sparfamfeit nicht batte in bie ausgemer«
gelten Singer befommen fönnen, eine JTtadjt, eine 6el»
tung, ein Schloß unb Gunfl, war über ihn ausgefdjüttet;
er batte bie ^änbe auf ben Globus legen fönnen, unb lang*
fam wäre bas flüffige Jener ber .Kugel nach feinem Hüllen
gefirömt. Aber er hatte ben Xöillen nicht unb aud> nicht
ben Sinn. Seine 3 bee war nur bas Spiel bes Jrjäufens,
ber große Coup oon ZOod>e ju löoche, hinter bem nichts
flanb oon einem 3 beol ober einer ntenfd)lid)en Jreube.
Alles war einer llppigfeit oerfallen. OieOerfe feines Speife*
faales hatte Baubrp mit gigantifchen JTlalereien belegt,
BUber ber EJellen, aus benen bie ewige Denus weiß unb
fleifchßch (Keg. 6r biß auf feinen Jlägeln herum unb fah
Körper unb Körper machtooll über ben ptafonb fich
fireden. Jjjier war er nichts unb faß beziehungslos gwifchen
ben Gegenßänben, bie er herangefd)leppt hatte.
SUr oierunbjwanjig Stunben in Paris, hatte er im
Soper bes Db6on, als man guerß Augiers „Contagion"
gab unb 6ot als Segarb nicht mit ber £angeweite bes pub*
lifurns fertig werben fonnte, eine Srau gefehen, bereu
Glan; feine Augen burchbrad). 6r wußte nicht, woher biefe
Grfchütterung ihn befiel. Jlie hatte bas Gefchlecht etwas ln
ihm ausgemacht. Sie fam bie Sreitreppe herunter, weiche
gezwungene Schultern, fchlanfe lüften, rotes Spaax unb
2S6
ein fcfjwarjes heftiges Auge; ober ber DTIunb toor ber eines
Äinbes. Sie trug naije^u feinen Scfjmucf. Anbr6, gewofjnt,
olles in 3iffern, 3af)len, BJorte umgubenPen, toar fofort
babei: weither Summe es bebürfe, ben großen ©iantanten
bes TKaljarabfcfjas non ©jaipur, oon bem man jetjt überall
fpracf), in if)r Jjjaar ju Rängen. Aber er fam bomit nuf)t
weiter. ©er warme Sjxxui) tf)rer Jrjaut flricf) oorüber. ©o
überfiel if>n groufom feine GinfamPeit, er fjafte fie nie be»
merft, jetjt faf) er, wie groß ber ^of)lraum war, ber ifjn
umgab. Bielleicfjt ließ er ficf) mit Golb ousfüllen, ober bos
mußte einen erßicfen. DJeber £eben nocf) |örtlid>es Blut
freiflen in ifjnt, unb er würbe bos bo nicfjt foufen fönnen.
Gine üerjücfung trifft if>n, er weiß biefen Augenblicf
tong, was JTlufif iß. Seine Jrjanb rnadjf einen Bogen über
* bie Jnenfcf)en f)in, unb olles fiat eine tiefe, leucfjtenbe .Kraft.
Sein &)zr% fpttrt, wie bas Blut in bie Äommern fcfßeßt.
Dloger £eteffier, ber hinter if)nt ßef>t, fiefjt biefen auf blühen»
ben Bticf, er nirft nur: aurf) fie fei ju foufen.
©o jerbroef) olles, unb ber einzige JTtoment feines £ebens
toor worüber, in bem if)nt oor ficf) geefelt fjotte, oor feinen
jufommenfrfjorrenben SHngern, oor ber £aß, bie ifm täglich
brüefenber in ben Staub bog. Gr toortete, bis biefe ©ome
om Porto! in iljren ©Jagen flieg, fjatte ben Umgang nocf)
nicfjt über bie Schulter gezogen, unb bos Sjaar ftoeferte
im JTlärgobenb.
„JTlabame," fogte er hinein unb griff naef) bem Schlag,
„man müßte fcfjon biefen ©iamanten, af), Sie toiffen bocf>
— ober toenn tef) borüber rtacfjbenfe — 3f)re Stirn, JTias
bome, unb 3f>r JRunb —"
Gr oerirrte ficf) oollenbs, weil er im Schweigen unb Brü*
ten feit 3of>ren wortfcfjwacf) geworben war. Anbrö ließ
ben Schlag los, feine $anb war ofrne BJillen, bie Pferbe
jogen an. Gr fonnte nicf)t mefjr bos Geftdjf biefer Srou
erfennen, unb wenn er es bebadjte, befom er bie 3üge nicfjt
mef)r jufommen. Bielleicfjt jefm JTltnufen lang ßonb er
noef) unter bem gtüfjenben £icf)ferbogen bes Portals, ©ie
Kutfcfjer fcfjnaljten, eine -Kette oon Gquipogen glitt oor«
über. Anbrö füllte, boß feine DJimpem ficf) foeften.
287
©er Sommer 1870 fam f)eiß, unb bas .Korn fcfjmoll
f^on auf bett fl (fern, als man 00m «Krieg fpracf). Dicfe
IBolfen gogcn oon Borbeau; herauf, fein B 3 inb batte fie
gurechtgefchliffen, fte reißen gang langfam über ben blaffen
Fimmel, unb man hätte an nichts anberes benfen mögen.
Aber bie 3 üge fegten hinüber nach £pon unb hinauf nach
Burgunb. ©epefrfjen oergerrten bie 6efichter ber Srauen.
©ie Jleferoißen gogen fingenb gu ben Bahnhöfen, unb in
Paris/ toährenb man flattemb bie Sahnen auf30g über
ben Palais unb mit Jleoeille unabläffig bie Bouleoarbs in
einen taumelnben 6efang riß, fchallte ber Schritt ber Came»
lots gu biefem heiferen „fl Berlin! fl Berlin!", mit bem fie
gum gweiten TTtale napoleonifch in ben Dflen aufbrachen.
Jüan toar wieber gang Station, man war Sieg unb unge«
heuere 3 uoerficht. ©ie Söffer mürben in ben .Kellern ange»
fchlagen, unb ber große Strom blutenben BJeins fchüttete
fidf> aus in bas frangößßhe Jrjerg.
flnbrö traf bie XBitwe tftonacre nicht in ihrem £aben.
£r warf bie lüren unb rief laut nach ihr. $ier toar es
wichtig, er fpürte bie Cntfcheibung unb ben gang großen
Coup, ber nur einmal in feine $anb gelegt mürbe, pacfte
man es richtig, fo machten einen bie Jpeereslieferungen gum
tfülliarbär. Auf biefe JUchtigfeit fam es an; nur bie ßbpi*
tinifche Baurain fonnte wißen, wohin bie Kraniche bes
lBeltgefchehens reißen.
fluch im Äergenlager war bte tflonacre nicht, unb in
ber «Raffinerie fragten tfläufe. Gr fragte auf ben Gaffen,
mitten auf bem tflarft ßanb fie ßhtießlich, unanfehnlich,
er meinte, ße fei fehr oerfallen unb mager geworben; bie
Kleiber hingen locfer über ihrem £eib. Sie geßifulierte mit
ben anberen, bie IBelt war oon weit her mit Kanonen*
fchüffen hereingebrochen. Aber bie tfionacre glaubte nicht,
was ba ergählt würbe, ihre Meine enge Stirn begriff nicht bie
Bielfatt unb ©ummheit, bas Gefchöft unb bie 3 ornesaus>
brüche, bie in weiten ©teilen bie Meine ßorbogne hinter f«h
ließen. Als man ihr ßmpte Beifpiele oorhielt, oon Cinbrü*
chen in ihr $aus unb Gegenwehr, ba erfaßte fie es, unb mit
breitem Pathos warf ße ß<h ber Begeiferung in bie Arme,
288
fc&rie etwas oon 5 er Xrifotore, in bie dngefjüllt fie einmal
Gegraben fein möchte.
flnbrö wartete, fie fratte ihn gefefjen, aber 5 iefe wirf«
Itcfje Hielt Gatte fie fo feß gepacft, 5 afJ jenes artbere blaß
hinter iGr fortrutfchte. 6r(l als er bicht jwtfcGen 5 ie Ceute
trat, 5 ie iGnt plah macGten unb froG waren, bafi er je0t
ju iGnen hielt, faf> fie ihn an. flnbrS gab ein paar 3 Ttei»
nungen Ger, bann laoierte er, warf fragen auf, über bie
man fi(G breit ausließ; wäGrenbbeffen brängte er bie 3 Tio«
nacre ab.
Später Gotte er fie an iGrern Xifch. Oie £ampe brannte
niiGt, eine üble 6 itft bebrücfte ben «Kaum, bas ganje
£ager rotG, bie Äerjen, bie Seifen, öle unb Jpanf, unb alles
* war ein breiiger Ounfi. ^ätte man ein StreicGGolj in bie
£uft geGalten, fo Götten bie fcGweren «Rüche Seuer fangen
rnüffen. Oie Jltonacre rebete (aut, natürlicG werbe alles
gut ausgeGen; nun, bas müffe man fagen, franfreich Gobe
nie fowenig ju risHeren geGabt wie biesmal. Oer «ftaifer
fei ein nobler Jliann, er wiffe, was er täte, man fönne fich
unbebingt auf iGn oerlaffen. Uber biefer Btsmarcf, ein
läiGerlicGer Gernegroß in ÄanonenfHefeln — aG, wie rafcG
werbe er in feiner angemaßten «Rüftung erßicfen, näcG«
(lens werbe ficG bas geigen. Ob ber Jperr Graf es nicht auch
glaube?
flnbrö räfelte ficG int Sofa herum. £r brannte auf et«
was gang anberes. Ttatürtid), bas fei ja feine frage, aber
es ginge iGn nicGt oiel an; er wünfche feine 6efcGäfte gut
unb glatt ausjufüGren. Oas fei nicht weniger Patriotis*
mus, man müffe ben Betrieb flott in Sang Gölten, bie
Selbwirtfchaft, bann bie J?o<Göfen, bie Gruben, SifenbaG«
nen, bie Spinnereien, ben immenfen $eeresbebarf. Sie
wiffe bo<G, was bas bebeute, nicGt waGr? £s gäbe Sol«
baten, bie man an bie front fcGtcfe, fie legten ficG auf ben
Bauch unb fcGöffen unb rücften oor, bis man in Berlin
flänbe. Oamit werbe ber «Krieg äußerlich geführt, fie lie«
ßen iGr Blut, man lüfte natürlich ben $ut oor ihnen, & la
bonne G<ure! Sie fchlügen ficG tüchtig, unb es (ohne ficG...
Uber bahinter in ben Soffen unb GefcGäftsGäufern pjürbe
289
19 2>ie bcutfi^e Lobelie.
teifer mit ben ungeheueren IDöffen bes Gelbes unb ber
XBaren ein gweiter Ärieg gefchlagen, auf ben Bomnte es
nicht weniger an. Ober glaube fie, Srau JTlonacre, bafS
bas eine unwichtige Sache fei?
flnbrö blühte auf/ er hatte fich in eine löorthihe hinein*
geworfen/ bie an ihm ungenannt war. Gr fragte fich auch
nicht/ warum er etwas oor biefer $rau oerteibigte, was
gar nicht angegriffen war/ unb ernannte nicht/ baß er einen
fernen «Huf in fich fetber nieberhe£en wollte.
,/HJas benn tut bas Sjttr,“ fuhr er fort, „wenn bie
Granaten ausgehen, weil bie Subrifen ausgelöfcht fittb,
bas |eißt weil aus ben Gruben (eine <Kof)len mehr Bom»
men unb fein Grg geförbert wirb? Oie preußifche Spring*
flut überfällt euch, man ftiehlt eure Äerjen unb wicBelt
ben lebten laben Spagat um euren Jrjals!"
Sie fah ihn bumm an. Das ging weiter, als fie je ge*
ahnt hatte. Aber es mochte richtig fein. Baurain Bannte bie
XDelt, es war gut, auf ihn gu hören. 3um erfien JTtale be«
Bam fein Treiben eine Gloriole in ihren Augen.
Dann aber fei bas nicht bas eingige, entwicBelte Anbr6
noch; ber Jriebe werbe Bommen, man werbe bem gefchla»
genen Gegner — benn gefchlagen werbe er hoch — bie
Türen ooltenbs einbrücBen, man werbe feine JTiärBte oBBu*
pieren. Die Solge würben gang ungeheuerliche Abfa£ge*
biete fein. Das werbe ein größeres SranBreich geben! 3n*
beffen, fotle man warten, bis biefer Triebe ba fei, wenn*
gleich es fich nur um ein paar BJochen hanbeln Bönne?
Ober gerabe beshalb: man müffe fich m bie Arbeit ßür«
gen, bie 3nbußrie bereit machen, flü^en, ihr Büttel aus
allen Jleferooiren gubröngen, um fofort aus bem Bollen
über bie Grengen gu werfen, wenn man er fl am «Rhein
flünbe. 6s Bäme nur barauf an, rechtgeitig gu wiffen,
was h‘« wichtig werbe, „fragen wir bie alte Baurain!"
fchloß er.
Das hatte er niemals fo refpeBtlos gerufen: bie alte Bau»
rain, wie man oon einem alten $if<hweib unten an ber
Dorbogne rebete. Unb bamit hotte er ber JTlonacre ben
Stift in bie 4?anb gebrücBt unb ßanb oor ihr breit als ein
290
Tor, in bas bie Sülle eines neuen Sommers eingefallen
«»erben fonnte.
Oie DJitrce backte feinen Augenblick nach, fie batte alle
Kontrolle über ficb oertoren, ber Jlaufcf» ber Trompeten
unb bie fcbmellenben IDorte Anbräs hotten fie gerbrücft,
unb fie t»ar nur noch 3nßrument. Sie fcbrieb furg, fafl
baflig, bas Papier fcfjrie leife unter ben (teilen grabenben
Strichen, in benen bas Blut ber Baurains ficb mpftifcb
aus ibr preßte. Sie fcbrieb einige Jtamen aus totbringi*
fcben ^üttenroerfen, oon JHetallfabrifen unb flaatlicben
Unternehmungen. Oas mar alles. Aber bie Jtamen mären
hartnäckig unterflricben, gweintal, breimal, bas mußte b«I»
ßen: fyitx war nicht ausguweicben, bie Summen, bie ber
Settel angab, gingen ins Pbontaßifcbe. Anbr6 gucfte, als
er fie las, er 0atte für Anlage ober Gewinn noch nie in
biefe Sphären geßreift. Oas machte ihn gum Gott, unb er
fab fein ipaus mit ben Schäden JTZontegumas gefüllt, ber
Dßen fcbtoamm herein auf gewaltigen Schiffen. Gr atmete
tief, unb einen Augenblick rührte fein Jjjirn an ben HJabn»
finn, ber bie Grengen bes Begreiflichen überflutet unb ein»
gebt ln bie großen JZebet ber Bergerrung.
Oa fcb«>or er ficb, er «»erbe gang «on biefem Sluch fleh
löfen, ber ihn erßicfen machte; er «»erbe, wenn bies ge»
fchafft fei, ficb langbin in ein Boot legen unter ben blaffen
HJimpeln,^bie fein IBappen trügen, bann fönnten bie
Srüblingsoögel pfeifen unb JTtöwen ihre Schwünge um
bie Gaffel gieben. JTtit ungeheurer Schnelligkeit entmtcfel«
ten ficb Bilber, bie «on Äeig unb gauberbaften Serben
waren; er atmete tangfam, unb bie gange milbe Güte, bie
möglich iß in biefer eit, trat ein in feine ßungen.
Als er feine Aufträge telegraphiert hotte, ritt er bebäcb»
tig gurücf. Gin Heiner fommerlicher «Kegen ging in filber»
nen Tropfen über ihn bin, er febmeefte ihn wohlig auf bem
Jpanbrücfen; er hotte folange nichts gemerft oon bem, was
gefchab, er war nur immergu Gelb gewefen. Oann «erftel
er einem guten Schlaf. Als er erwachte, war es mittag.
Anbr6 faß bie Tage banach in einer merhoürbigen Stille
auf ber Terraffe. Seine Haltung war weich unb aufgelöß
19 *
291
tote e9 nientanb an if>m farmte. 6r faf) öftere nacf> bem
löetter. Jüemals trat er an ben Schreibttfcf). Oie JTtamfett
traf lfm Im Garten, wohin er fonß feiten fam. 6r fuhr
mit ber ^anb über bie oott erblühten «Kofenßäntme, baß
ficf) bie fchweren Blüten fchmerjltcf) entblätterten, bann lag
e9 wie Blut ju feinen Süßen, er faf) lange f>in unb ging
weiter. IBagen unb Gärten unb bie Boote auf bem Sluß
mußten inflanb gefegt werben. 69 war al(e 9 nocf> ganj
unverbraucht, man hatte nur ben Staub herunterjufegen.
piöhüch riß er bao Pferb aua bem Stall, eine ifabett»
farbene Stute, bie er in Satten großer 6ile ju reiten pflegte.
Sie trug ben 3 aum noch nicht, ate er fle bem Burfchen au9
ber Jpanb 30g, fich auffchwang unb auo bem H°f trieb.
Gleich hinter ber öfonomie traf er ben Xelegraphenboten.
6r griff in bie hochgehobene j?anb, feine Augen oer«
brehten fich mef>rmal9 fchnett, er fonnte BJorte unb 3 if«
fern nicht lefen, ba9 Blut f<hoß in bie Pupille, ba fcfjlug
er mit einem Schrei nach oorn gegen ben Pferbef>al9.
Oen JTiann berührte eg wenig. Uietteicfjt war ein JTTörfer
über einen Bruberleib gefprüht, man hotte ben Solbaten
irgenbwo oerfcharrt unb alle Spur verwifcht, ehe biefer
hier eine Ahnung befam, baß eg ju 6nbe war. So etwas
gefchah je£t oft, man mußte ea hinnehmen, biefes Schief»
fal fehmeeft unabänberlich fchlecht. 6r brehte fich ohne einen
Gruß um. Sein Schritt hatte eine aufreijenbe Gleichgültig»
feit. 3 n ben Senßern ber Bauernhäufer flanb brennenb
bao flbenblicht. 6r taufchte Scfjerje aug mit ben £euten,
bie auo aufgeworfelter 6rbe Kartoffeln gruben, bie 3u»
rufe flochten fich jur Kette eine holbe JTleile weit. Oann
fam ein IBalb, bie Sonne jerßäubte jwifchen ben Kronen,
unb alleo Himmelsblau hing in winjigen Se0en barüber.
Oas grüne Ounfel war ganj warm. 6r baeftte nicht an
ben JTCenfchen, bem er unwiffenb eben einen Pfeil in bie
Stieren gejagt hatte.
©achte nicht, bann hörte er. 0emanb fe£te feuchenb
hinter ihm fytr. 69 war bag Schnaufen eine9 Ebers. Oie*
fer Baurain machte tierifch ganj breite Schritte, er war un*
beholfen, maß bie Straße nicht ab, fefttug gegen einen
292
Stamm und taumelte quer über die Jlinne. JTCtf gefpreigten
Jingern griff er bei jedem Xa(t feines Jußes weit tjor,
als fei er blind. Das <S?aar ßand ßeil über der Stirn, um
die Dfjren fiel es franfig herunter. Ilberroand man die erfle
Turcfjt, fo mußte man das Gefpenß belaßen. Seine fingen
waren aus den $öf)len oorgefcftwollen, da faß (ein Blut
mefyr in der Jpaut, und es fdjien, als ob eine Jtteile 10 eg
das $ett gwif<f)en den Jtippen weggefcfjntolgen hätte. Diefes
Gelaufe mar ein Grauen. Dumm f)interf>er trabt das
Pferd, flndrö mar gwangig Schritte geritten, hatte es ge»
fcftfagen, aber mef>r fjolte er nlcf>t aus if>m heraus, nun
fprang er wieder herunter, und als ein Statten ttrollte
das Xier dicf)t an feiner Jerfe narf) in 3 ic(ga(f und allen
Sprüngen diefes BJeges.
Uber den Ort fiel ein Gewitter f>er, aber flndrS oergaß
das Pferd, fprang dur<f> die Xür gur JTionacre. Das Pferd
rodf> mit der S<f)nauge in den Gang, der Jlegen wufcf) if>m
den Bug glängend, als fei es aus der Schwemme fjocbges
ritten.
„Jlufen Sie die Baurain!" f<f>rie Andr 6 in den £aden.
Gr hatte norf) gar ni d)t gefefjen, ob jemand dort war. Die
Jltonacre fprang auf. „ 3 efus JTlaria —!"
„galten Sie das Blaut! Die Baurain! Berßefcen Sie
nicf>t?"
Gr f>atte gang oergeffen, wie alles gufamnten&ing, auf
einmal war die JTlonacre die Baurain, die Gefickter mecfj»
feiten, das Jltundßürf wurde felber der Geiß und der Be»
fehl, dann oermifcfjte ficf) altes, und er mußte firf> fogar
auf die JTanten befinnen. Gr faf) tief und lange fucfjend
in das Gefixt der Srau, befcfjmu^te es mit taufend Ge»
danfen und wifcfße altes wieder weg durcf) einen 3 weifel.
„IBie fef>en Sie aus?" Da war er pfö^ticf) angelangt und
wußte, daß fie nur der gemeinte 3 ugang war gur Baurain.
„ 3 ünden Sie die Sampe an! Jlufen Sie das Bieß, das
Bieß!"
Cr (niete fcfjon im Sofa und (läpperte in entfe£lid)em
Srößeln, die Beine hatte er gang eng f>eraufgegogen gegen
den Bauet) wie ein «Rind, das bald weinen würde, Born
293
Gong f)er fdjoll ber S?uf feines Pferbes, ber gegen ble Tür«
bofßen fließ. ©te JRonacre goß öl auf bie £ampe. 6s ging
ntcfjt fcfjnell genug, unb Tropfen flatfcf)ten auf ben Tifcf).
Anbrä gifcf>te mit ber Jleitpeitfcfte burtf) bie £uft.
„XOonn benn nun!" rief er, ober es mar faß feine
Stimme in if>nt. Sie merbe feinen guten 6mpfong fjoben,
meinte er gmifcf)en ben 3äf>nen burcf). DJos fjatte |tcf) biefe
Srf)t»inMerin in feine Gefefjäfte gu mifcfjen. 6r fuf)r bie
3Ronacre on: ,,B5o3 erloubte ficf> biefe IJaurain, mir .Rats
fcfßäge gu geben? J?ot fotcf) ein HJeib je ©erßanben, mos
Gelb ifl? BJo f>aben Sie fie?" 6r firerfte bie Jpanb ous,
unb ber Schotten baoon griff langfam über ben Tifcf).
©er JRonacre gingen bie Strähnen ins Gefixt, baß es
ousfof), ols gälten fitf) bie Jurcfjen ©erboppelt unb ein
namenlofes Alter fei mit ollen 3ügen bes Glenbs über
fie gefommen. „Gott wirb abmifcfjen olle Tränen!" betete
fie f)i$ig, Anbrä follte es nirfjt f>ören. Sie mußte fponton,
er ßanb ouf ber onberen Seite unb gtoubte nichts. 3f>re
flngß pfiff burcf) bie 3of)nlürfen.
Baurain mor gong rufßg gemorben. 6r fingerte in ber
Tafele unb fifcf>te einen Graphit heraus. „fUtons!"
©a fdjrumpfte fie gufammen mie ein Äinberbolfon, nur
gab fie feinen £out, er [af> es unb mortete auf biefen Ton;
fie f)ing gang frfjfaff im Stufjl, eine Jpütfe, ous ber man bie
5rucf)t gefernt f)Otte.
„AI)," fogte er unb fjatte ein £äcf)*tn, „Sie mollen mief)
betrügen, Sie f>oben biefes BJeib on ben jingern, Sie f>af»
ten als .Kupplerin gu tfjr, es iß boef) fo, unb meil icf) fein
Gelb mefjr f>abe, meinen Sie, ber Spaß iß gu 6nbe. Jo,
f>ier — fein Sou iß mef>r bo! Alles ouf eine .Karte gefegt!
Coeur ©ome! Unb Pique Aß fom heraus! Jleiner Tifdf)!
Schlag ins Genicf! IBas mollen Sie noef)! Jlufen Sie JRa»
bame, rufen Sie bie .Komteffe, icf) mill es if)r ins Geprfjt
fagen."
©ie £ampe fcf>monfte noef) immer, bo nafmt bie JRona*
cre ben Griffel. Anbrä mollte bie Scf>riftgüge ©erfolgen,
ober bie Spiegelfcfjrift ©erriet lf>m nicfjts. Als er fjinter fie
trat, bro<f> fie ob unb fefjob bos Blatt gonj) an bie .Kante.
294
6m wertig Blut trot in if)r Gefickt, unb Anbr6 mußte ben«
fen, fie iß einmal ein fjübfrfjes JRäbrf>en gewefen. Oie un«
gefußten «Küffe biefer ^afjrc fielen ifjm ein. Oann fcfjrieb fie
weiter. 3n feinem ^irn ßanben bie Bütten mit Gelb in
einem ßarren «Regiment, ßanben Fabrifen, S?od)öfen,
Äorn branbete über fltfer, unb Schiffe fcfrfingerten im
Sturm ber Dgeane. Sie fuhren braußen nocf) unter feinem
Flamen unb wußten ntcfjt, baß if>m feine pianfe mefjr
gehörte. Seine i?anb griff gegen bie Augen, als fei es gu
f>ell, als gerßöre ein ßicfjt feine Sefjfraft. Oer «Rütfen gab
narf), er bracf) in bas Sofa gurüdf. Seine 3unge frfjmecfte
Galläpfel. Oie JRonacre faf), baß er ni(f)ts als einen toten
Stfjetn in ber 3ris hatte, fie glaubte, ein Kleinen floate
heraus, unb rief. Aber er l)örfe ni<f)t. Schließlich ging fie
hinaus, bie Schelle über ber Xür batte gefrfjeppert; man
wollte fie, unb f)ier war alles fertig.
KJas es benn gäbe? rief Anbr6 plö^licf), unb feine 6r*
innerungen frfjwanften burefjeinanber. Oie £ampe l>atte
blaues £tcf)t. 6s rorf> nach Orangen. An ber UJanb ber
Stich oon Fontainebleau unb bem faiferli«f>en Abieu oor
ber Garbe gerßhmolg. 6in JTigger tangte grinfenb feinen
Cancan, er 1>atte eine «Krone aus Golbpapier auf unb
rauchte bie h°® Qnna * Oajraifrfjen wirbelte ber Spaf)i fein
Gewehr aus ben «Rahmenleißen, bie Bajoneftfpi^e gleite
gegen bas Sofa, Anbrö fühlte ben Stich feftr tief in ber
hüffe. 6r wirf) aus, ber ptüfcf) mußte aus Granit fein, unb
wofjitt er trat, gab ber Boben eine Reifere JTtufiP. Oa befam
er ben KHfcf) gwifdfjen bie Finger.
Sein Sper$ erhob fi<h tangfam, benn bies ging if)n etwas
an, aber es bauerte furchtbar lange, ef>e bas Bewußtfein
ben «Kanal bis gu ihm abgelaufen hatte. 6rß ßreiffe es
gegen eine Platte mit «Krebfen, man präfentierte ihm «Kerf)*
nungen, bie er unterfrf>rieb, er ßanb in einem Parf, burcf)
ben Flieber brachen 6lrf>e mit maffigen Schaufeln auf ihn
gu. 6r brefjte ben 3ettel burrf) bie Finger, es würbe ein
Xaftßocf baraus. Oa faf) er bie S°rtbf<hrtft ber Baurain.
„Altes Fälfrf)ung!" 3n ungeheurer Gefcfjwmbigfeit frf)al*
tete er bas «Rab ber gef>n 3af>re gurücf unb glaubte unter*
*95
wegs in biefem rafenben Ablauf gu fehen, täte falfcf) bic
Margen ineinanbergriffen. Er las:
„Sie, mein JTeffe, waren einem 3rrfum oerfallen, ber
grob unb ftf»iecf)t war. Jüan hat feinen Sinn für eure
6 efcf)äfte in unferer Ebene. 3war fief)t es mir nicht gu,
morafiftfje Entrüfhing gu geigen. Aber bie £eibenfcf)aft
unb Armut meiner £ebensgeit war noch fefjr als Erfah*
rung in mir. 3nbem icf) fie ausflrahlte, gab ich 3f>nen
bie OTtägßchfeit, im Spiel auf eine ^öf)e gu treiben, bie
icf) einmal gu einem heiligen 3 wecf erwünfcf)te. ©och be»
friebigte ein harmlofer HJohlfianb Sie nicht, Sie oer=>
fielen ber Gefie bes Gelbes. 3nbem Sie alfein bas JTtafi*
lofe gelten liefjen, wollten Sie mich gwingen, bie Alraune
3ljrer Äaffenfchränfe gu fein, ©a fcfjitfte icf) bie Qagb
in einen eifigen JÜtf)er hinauf, Sie fühlten nicht einmal,
wie bie £uft um 3f>ren S?ala gufamntenfror. 3e£t habe
ich bie TReute gurücfgepfiffen. 3Tian jongliert nicht mit
uns XDefen ber großen Stille. £eben Sie wohl!"
Anbrfi flrecfte bie Jrjanb aus, weil er meinte, jetttanb
habe 3 U ihm gefprochen. ©as 3immer war leer. An ben
Xifchfanten hörte er Singer flopfen, ein -Kaug f«f>rie aus
ben JJolffem, £ouisbors regneten aus ber £ampe, unb
überall fchrieben fpinnenhafte ^änbe einen ^Rapport
nteber.
Er fchrie: „Schweig hoch, alte ©ime!" Aber es pochte
feltfam unb regelmäßig. Seine $änbe frallten fi<h in bas
Sofa; als er nichts aus ben fJolfiern herausgreifen fonnte,
fchti^te er mit bem Xafchenmeffer bie grünen Bcgüge freug
unb quer auf, ohne baß eine Eule ins 3immer geflattert
wäre. 3 itternb trieb er ben ©och* in ber £ampe hoch/ baß
ber 3 plinber plante unb eine branbige Schwärze heraus*
blatte. XDährenb er herumtapfle, tigerten Sunfen unb «Ruß
fein Geficht. Er fcfüug nach bem JTigger, ber wieber OTa»
poleon war unb bie Jrjanb an ber Bruft 1)iel t, bie Scheibe
bes Bilbes gerbrach, ©a rannte er fort.
3m Slur prallte er gegen bie JTfonaere unb pacfte fie, er
befam ihre fcf>laffe, warme Brufl gwifchen bie Singer unb
296
gögerte einen flugenblicf; bas HJarme ging ihm fett»
fam burch bie Glieber, als f;abe er non mütterlichen Oin»
gen eine ftynung. BJeil aber alles Bewußtfem non Blühen
unb Sühlen in flnbrb abgebroffelt mar, erreichte es nicht
mehr fein Jpirn. Seine jpanb riß burch if>r S)aax, ein altes,
'hart unb rauh geworbenes 5} aar. Oa gog er fie fort burdh
ben Sturfchacht nach ber Straße. Sie fließ mit Meinen Sau»
flen in feine Seiten/ aber jebesmal gerrte biefes Sträuben
an ihrem Jpaar, unb fie wimmerte wie eine £a£e. Das
pferb oor bem ipaus fpifcte bie Ohren/ es wanbte fich unt.
flnbr6 lief hinaus.
3n ber Serne würbe eine Xrommel gerührt/ Taft einer
3eit, ber bumpf unb groß burch ben gangen Jrjintergrunb
Ö*«0-
Oie £eute ßanben gefnäult gufammen. Oas Xrommeln
fchnurrte näher. Oa waren «Konffribierte, £eute ohne JTton»
tur, ein Sahnenträger unb ein fchmu^iger Seibfolbat, unb
einer, gang jung noch, hatte eine gerbeulte Xrompete, bie
unter feinen Berfuchen gerfe^te £aute oon fich Q<*b. 6s war
gang bunfet, man fah nur Schatten, bie Bli£e bes Gewit»
fers fuhren flach über ben Jporigont.
„Oer Äaifer iß gefangen!" fagte ber Schuhmacher Jto*
querolle gu flnbr4, unb merfte nicht, baß in beffen Stngem
wimmernb biefe Srau h*ng.
Gebrüll brach oom OTtarft auf, fchlug in BJellen näher,
„Bioe la Jt4publique!", brach in bie Gruppen ein unb tau»
melte fort.
Oie Xrommel fam je£t ooll in Xaft. flnbrös Pferb fe£te
über bie Straße, herrenlos, es verlor auch noch ben Sattel.
Jloquerolle fagte: „Oie iß Sranfreich, bies Pferb../' Sie
waren nun alle babei, fchrien unb vergaßen ben 3ufam«
menbruch unb bauten nur noch baran, auf ein neues
£eben htngumarfchieren.
„Xöas meinen fie?" fragte flnbr4. UTiemanb hörte. „6i
nun/' flüßerte er in feine hohle Sauß, „biefe Meine ger»
fchrumpelte Baurain, biefe bumme Meine Baurain!"
3hr fagt: „Bitte la <H4publique!? Bin ich nicht mehr
ba?"
297
Oie Straße war nur norf) Trommeln, bie gange Stabt
war es unb bafjtnfer bas gange Jranfreicf). JTtan faf) ficf)
gar ni<f)t nach ihm um.
flnbr 6 riß bie JTtonacre fjocf), erß mit ben paaren, bann
ßemmte er plöblicb, ein Athlet, fie quer über feinen «Kopf.
,lothringer Hochöfen 54 ! Kanonen 255 ! ^anffpinnerei
oon Toulon 480 !" 6 r firniß ben Körper aufs pf taffer
unter bie £eute. Oie Trommel fcfjlug oor ihm. „Xöie biefe
Uaurain flopft", frfjrie er unb ßerfte firf) bie Finger In bie
Obren. „3<b will bas nicht! Schweigen foll fiel'* Aber als
man weiter anfchlug, ging er gegen ben Trommler los.
Oa rannte ber gange J?aufe über ihn weg.
i e c & No
Don Arnolb llü£
OO ts Jlicfjorb Troll neun ßof)re olt war, holte ft cf) feine
VDIutter JTIaria, bie EHtwe eines Chemifers, bei Jti»
cfjarbs £ef>rer «Rat, was mit bem Äinbe ju beginnen fei.
Cinwanbfrei be 9 Knaben Begabung/ fo war bie Aus fünft,
bas Borwärtsfommen auf ber höheren Schüfe oöllig frag»
los. Bebenflicf) bleibe fein Charafter. JTtaria Troll nlcfte
f<f)ön unb fchwermütig in ihrer IDitmentracht, bie fie im*
mer noch trug, weil fie ihrer anmutigen Blonbhett fleibfam
war. Aus fecf)S ober fieben 3ufcf)riften biefes Wohlwollen»
ben £ef>rers wußte fie, baß JUcfjarb ungewöhnlich reijbar,
ja, gefährlich rof> fei. Sie wagte nicht mehr, fo füf>n wie
fie e 9 nach ber britten 3ufcf)rift getan, bie Artung be 9 Äin»
bes als üblich jungenhaft unb im Äerne gefunb ju beuten,
benn furj nach jenem Brief war es gefcf>ehen, baß bas
Äinb, rafenb über ben mütterlichen Uerweis, fäntpfertfth,
finnlos»jomig gegen fie losgefprungen war, unb feine für
fein Alter ohnehin bebeutenbe JSraft war burch bie IDuf fo
graufig geßetgert, baß biefe jierliche Srau ihn wie einen
ebenbürtigen Gegner befämpfen mußte unb nur ntühfam
befiegte. 3n faum ßillbares BJeinen brach naih bergleichen
Bönbigungen ber Änabe aus, unb JTIaria wähnte, fo heiße
Tränen fönnten einem oergtfteten Born ftcherfich nicht ent*
quellen.
Oer fiehrer fprach fehr behutfam, taßete in feinen t?ra*
gen wie mit Arjthänben, gab 3 U erwägen, baß JUcharb
ßets ber Angreifer fei, baß bie OTlitfchüler in großer Furcht
oor ihrem fräftigen Tprannen ihm nicht einmal einen
Spipnanten ju geben wagten, unb baß... €r fragte un*
enblich liebeooll, wie benn $rau Trolls oerßorbener Jltann
... Aber nein, unmöglich, oöllig unmöglich, Un JTiann war
299
feelengut. So, unb weiter jurücf? Sie lächelte. JTte etwas
befanntgeworben. Er fefje bie So d)t wof)l hoch gor ju
fbtfler unb ju wichtig on, JUdjarb fei ein Bengel, gewiß,
gewiß, ober nach Borfaf>ren ju frogen? Ttein, bas ffinge
jo nach Äriminafpfpcfjotogie. ein wenig verlebt fragte fie
je^t äbfchließenb nach ber geeigneten Schule. empfehle
firf) eigentlich bie BeßalozzuOberrealfcfmle, bie in ihrem
BJofmbejirf fiege? Jüan rebe mancherlei Itngünßiges non
biefer Anßalt; man foge, baß bie Herren Beßrer bort „rot //
feien, ober man fprecfje auch non einem einzigartigen 3ug
ber Jllenfcbticbfeif, ber gerabe biefe Schule auszeicfme. Der
£ef>rer riet faß heftig jur fje(iolojjif<f)ule als zur einzigen,
bie für ein Äinb wie JUcfjorb überhaupt in Troge fomme.
Jtie, nie bürfe er in ÄorporoIsf)önbe geraten, nur Bater»
f)änbe, Baterbänbe fönnten hier Reifen. Bei biefem XDort
errötete ber UTtann, ober fie merfte unb witterte nichts.
So fam ber Änabe in bie Peflalozziföutc, füllte ficf) fo»
fort fef>r wobt, würbe gerobezu nerwöbnt, benn er war ge»
fcbeit, bübftb, gepflegt, unb baß feine fcbarfgrauen Augen
ein wenig fcbielten, war noch ein 3auber on ibm. Einige
£ebrer beßrltfen übrigen», baß er fcf>te(e, unb gaben nur
ZU, baß feine Augen ungleich groß unb unfpmmetrifcb
gegeneinanbergeßetlf feien. TRan buibete, baß er immer
abgetenft f«f>ien, unb es war in ber Tot nur Schein, benn
über bie tänbelnben, baßetnbcn Ttnger hinweg borcbte er
febr aufmerffam unb begriff vorzüglich. 3®» f<hie* un»
beimlicb war oftmals fein Erfoffen, es war ein Ergreifen,
ein Sugriff, ein An*fi<b*beran*reißen, ein Jlaub, unb
manchmal fprong er auf, weil ein neues BJiffen in ibnt
oufgefprungen war, unb fefjrte feine Beuigfeit fiommenb
in bie Älaffe, fab ßcf> babei nad) ollen Seiten um, ober
nicht eitel, fonbern berrifcb, als gebühre ihm atemtofes £ou»
fcben oller. Die £ebrer fob er hierbei feltfanterweife nur
flüchtig on, als fönten fte faum in Betracht. Dafür fprü*
benb, tobernb gegen bie 3ttitfchüler; er warf feine Blicfe
wie Steine heraus, zielte, traf, wollte jerfcfjmettern mit
biefen Bticfen.
Bolb war er bei ben Äinbern unbeliebt; vielleicht erwie»
300
fett tfmt bie £ef>rer guoiel unbebaute Jleoereng, oielleichf
au<f> witterten bie in oller 3ungf>unbel)aftigfeit noch JTIäßi*
gen boa frf;recflich Jliaßlofe in ihm, ben JTtaffenwiber»
forfjer oon Bluts wegen. 3Tocf) anfänglichen 3weifäntpfen
ßritt man nur noch mit Schifane gegen ihn. Jüan tüftelte,
nur um tftn neugierig gu machen, oergönnte aber ben gies
rigen £außh eräugen nicht einen Brofamen bes albernen
Geheimniffes. Ober man fpielte unb ließ ihn nicht mit*
fpieten. Cr oergichtete, tief aber bafür Primanern in bie
Beine, balgte fich mit ihnen unb mar fo betörenb tapfer,
baß fie ihn liebten. «Raunt fpürte er es, fo toar er mißoer*
gnügt, fonnte bie Großen nicht mehr brauchen.
3n einer JJaufe warf er einen Stein ins SFenßer bes
£ehrerjimmers, freute fich an ber ungeheuerlich anwach»
fenben Xlnterfuchung, trieb fich wie ein (fagbhunb an ber
Peripherie bes Schülerflumpens herum, ber fich im J?of
um ben fluffichtslehrer brobelnb ballte, unb enblich fprang
er mit fchmettember Gewalt jwifchen rechts unb Unfs
Strauchelnben mitten ln ben «Kreis unb melbete fich: „3ch
war es, ich wollte Ubers Jpaus werfen." Oer £ehrer war
ärgerlich über bie bröhnenbe flnfamntlung, in beren JTtitfe
er, wie er fehr gut wußte, nicht anbers als lächerlich wir*
fen fonnte, unb gab bem 3ungen eine Ohrfeige. 3ugteich
fpottete er: „So ein Änirps will übers Jrjaus werfen?
Frechheit!" „BJas?" fcf>rie «Kicharb tobenb, griff einen
liefet, traf herrlich übers j?aus — es war eine gewaltige
£eiflung — unb rief: „Abfuhtlich fchmiß ich ins Senßer
rein, abftchtlicf)! 7 * hierauf weinte er unerhört heftig, fo baß
ihm ber £ef)rer felber freunblich gufprach. 6r aber hoßte
ihn oon Stunbe an, obwohl es Or. J?auptmann war, ben
alle liebten. Jüan achtete ihn befonbers wegen feiner
lBi^igfeit, jeben fecfen flnwurf eines 3ungen lenfte er ge*
niaßfch ins errötenbe Gefleht bes braßen Schüßen rnrücf.
Als gang befonbers jugenbhaft galt gerabe biefer JTtann,
unb fo gut auch «Rinber wittern, wenn es gilt, bie Schwä«
cfjen ihrer Herren gu entbeefen, ihnen entging boef>/ baß
biefer freundliche, geißreiche, oerßänbnisoolle JTTann ber
eitelße ihrer £ehrer war.
101
3m nächßen 3o^re würbe £>r. Jpauptmann JUcfjarbs
Älaffenlehrer uttb unterrichtete im öeutfcfjen unb Cngli*
fcfjen. Jlach einer D 3 ocf)e war er von bem £naben völlig
überwunben, in feine Jähigfeiten verliebt/ von feinem
Temperament entgücft, von feiner BJilbheit ein bißchen
fentimentablprifch beraufcht, unb er braute für biefen £ieb»
iing ben Jlamen „ber 5>ämon" ouf, ber natürlich) nur un«
ter ben fiehrern gebraucht würbe. 6 r erklärte in fcharfer
Sormulierung, bafi Scfmlgucht gum Verbrechen werbe, fo*
bolb eine wahrhaft bämonifche JJcrfönlichfeit ficf) if>r un»
terwerfen folle, unb fchrieb JUcharb ungewöhnliche DJil»
lenafraft gu. hierin wiberfprath ber ßeifflicfje: „3<h fehe
ben 3ungen fchon lange voller Sorge an," fagte er, „was
er fo fräftig vollführt, bas gelingt ihm gerabe, wenn er
nur fehr fcf;wach will. Alle feine deinen Untaten gefche»
hen im Sommer, unb groar gegen 6 nbe bea Vormittage,
weil er bann mübe ifl." hierüber unterhielten ficf) bann bie
Herren fo h e f% unb flug, baß fie ben lebenbigen 3 ungen
über ben toten Theoremen halb vergaßen.
Ala bie wohltätige Quäferfpeifung auch in ber Pefla*
logjifchule begann, würbe Jlicharb, ala Sohn einer DJitwe,
gu ben Bebürftigen gerechnet, unb ea fiel auf, wie gierig er
aß: er fraß, fcfjlang, ßampfte Jleisbrei unb biefen Äafao
mit BJeißbrot in fiel) hm««* ©r. ^auptmann, ber gwei*
mal wöchentlich bie Aufficht führte, fanb auch hierin noch
jperrlich?eiten. „Solche 3ähne müßten alle haben, mit fol»
«hen 3ähnen beißt man fich burch." JUcharb fah fort, wenn
er ^auptmanna Augen fpürte. Cr würbe bann wahrhaft
häßlich unb glich, er, ber unfinnig Tapfre, einem feigen
jpunbetier. ^auptmann ßreichelte ihn einmal übera tyaar,
baa er liebte, unb Jlicharb gitterte fo, baß ber &a?ao aua
feiner Schüffel fprang, unb ßierte wie irrfinnig genau auf
ben Bauch bea Mehrere, fo baß viele lachen mußten.
An jenem Tage, ea war ber 29 . Auguß, in ber gleichen
Biertelfiunbe gefchah bann noch etwaa Unerhörfea: 6 in
größerer 3«nge ßieß verfehentlich Jlicharb, ber ein weißea
Äreug am ürrnel trug, weil er geimpft war, unb Jlicharb
fchrie wie fchwerverwunbet: „Oenfß bu, baa tut nicht
302
toef) ?'* Jtein, es formte wahrlich nicht fonberlicf) weh getan
haben, bennoch fchlug Troll, ehe S Q uptmann es hmbem
formte, mit feinem Gßnapf fo fürchterlich auf ben großen
Jungen ein, baß ber nieberbrach, aus fiaffenber IBunbe
entfc^Ucf) blutenb, fo fcfjrecflich unb efelhaft, baß einige
Ätnber ftcf) übergaben, ats bas ftfjöne .Rnabenblut über
bie Sliefen floß. Großes Bemühen natürlich um ben Ber«
wunbeten, aber fief>e, <Ricf)arb trat mit feinem Blechnapf,
an bem noch Blut unb Jpaare hafteten, an ben Speifefeffel
unb rief ben Schüler, ber bie Äelle hanbhabte, jeljt aber
unter ben erfchrocfenen Gaffern ßanb, mit frecher lauter
Stimme: „Gib mir Jleues, ich habe meine Portion ausge«
fchütfet/' Oer Gerufene trat auch mtrflich, wie behebt, an
bas fleine Scheufal heran, um ju willfahren, ba fprang
Ooftor Sauptmann auf. „Ou toiibes Tier!" fchrie er ra«
fenb unb fchlug «Richarb ins Geficht, oiele JTtale.
JRaria Troll mürbe in bie Schule gebeten, unb als
Sauptmann fie fah, erfannte er, baß er JUcharb bisher toie
ein oerfleibetes 3Tiäb<hen geliebt hatte; er fanb Saar,
JTtunb unb bas £icf)t ber Augen an biefer Srau wieber
unb liebte fie. Oaher oerfocht er in ber £ehreroerfamm«
lung fanatifch einen oerföhnttchen Stanbpunft. Gr erflärte
bie Hoheit aus einem JTtangel an Phantafie, aus Erregbar»
feit, aus tatfächUchem Schmerzgefühl ber Gmpfßelle. Gr
toies barauf hin, baß ein Elfjähriger einen Sninfjehnjähri*
gen angegriffen habe, er, ein „roter" £ehrer unb Sriebens*
freunb, geriet faß in Bergöfterung helbifcher Art. Blanche
lächelten ba ein toenig. Oer Oireftor ließ fich ©erführen,
auch fah er gum erßenmal «Richarbs naturgemaltiges BJei»
nen, er bachte an bie eigenen «Kinber unb bie Bätfelart
jegliches Blenfchen. Aber als er ben Knaben fanft be»
rührte, oertoanbelte fich «Richarb fofort in einen feigen, hoch
bifßgen S un b.
Oer Kaplan fprach in ber Jleligionsßunbe ju ihm: „Ou
biß tapfer, brum fei auch jetjt tapfer, wenn ich bich table.
Ott barfß beiner BJut nicht nachgeben, bu hätteß ben
Sannemann ja totfchlagen fönnen. S)öxt bo<h: bu wärß
ein JRörber geworben, bas mußt bu mal ganj genau be»
303
benfen. einen JRenfcfjen fo febr fragen, baß er nie wieber
atmet, nie mehr ble Augen aufmaebt, nlcf)t mefjr nach
Jpaufe tarnt, bie eitern warten unb warten: Äommt er
nicht enbllrf) gum JIKttageffen? fyxl er etwa Arreß? Jtein,
er bat nicht Arreß, totgefdf>(agen iß er non einem tapfem
jungen, bem er aus Uerfef>en an ben 3mpfblattern web*
getan bat." „Gr bat mich boeb geßoßen," beult* Jücharb,
„leb mußte Ibn bauen." „Aber boeb nicht fo! Jliebt fo
beßialifch! ©enf boib nur, wenn bu Gefebwißer bütteß.
Brüber ganfen fief) boeb oft! UKe oft bat mich mein Bru«
ber Otto gehauen unb ich ihn, unb Ich bin fogar .Kaplan
geworben... ©u wilrbefi ja beinen eigenen Bruber er»
febtagen, bu würbefi gu einem Kain werben, bu würbeß
ja Abel erfblagen, Jlicharb 1" ©er Knabe (Kerfe ihn an.
„3«b bin ber eingige gu Jjjaufe", flüfierte er, wieberbolte
es bann fettfam triumpbierenb: „3<b bin ja ber einzige!"
©a beging ber Kaplan, ben bie Augen bes Kinbes fottber«
bar entfebten, bie Xlngefcfjicftirfjfett, baß er fagte: „JUir
wollen alle für ihn beten/' Sie gehorchten, aber Jlicharb
brüllte: „Jtein, nein!" ©er Kaplan feftritt mit gefalteten
<f?änben bis an feinen Banfplab unb fagte mit guefenben
läppen: „Beleibige Gott nicht!" Aber Jlicharb warf ben
Kopf auf bie Banf unb wimmerte: „Jlein, nein!" ©en
Kaplan faßte fo große Surcht, baß er oon feinem eigenen
Gebet nichts wußte, nur noch Bangigfeit war in feiner
Seele unb ein gang oergagter Auf f ehr ei: „Gott, Gnabe!"
3« ber näcbßen Stunbe, im Gnglifcben, oerwecbfelte ein
Schüler bas BJort „no“ mit „not“, ©r. ^auptmann fchalt
ungebulbig „©aß no ,fein' beißt, fönnteß bu enblieb wif*
fen!" Unb plöblieb, wunberbar, machten alle in ßebanfen
ben gleichen Bßortwib, brebten (ich nach Jlicharb Iroll um,
unb einige Tiefen fogar leife: „No, nol“ ipauptmann
fonnte ßcf) bas nicht beuten, unb auch Jlicharb fühlte ßcb
nicht getroffen, er war gang bei ber Sache, er war nicht im»
ßanbe, Kain im „fein" gu oernebmen, batte Blut, Bruber»
morb, Gebet fchon wieber oergeffen. Bon ba an batte er
ben Spi^namen JTo. Jüan blieb ihm bie Grflärung fchul«
big, warum man ihn fo nenne, unb er erriet bie KJabrbeit
304
nicht unb freute fttf) fogar ein wenig, baß er enbltcf) eine«
ltlfnomen hotte.
SFafl genau ein 3af>r banach würbe Troll wieberum junt
flngeflagten. 6 r hotte einen jungen JTtenfchen feiner
Straße, feinen JITitfchüler, mit bem Tafcbenmeffer in ben
Oberarm 'geflogen. Xlrfarfje ober Anlaß: eine bumme
DTetferei: ,,©u fjafl ja fo bübfthe Jrjaare, bu brennfl fte bir
wohl?"
3n biefer Äonferenj fagte ©r. £efoe, ber Biologe« ber
jugleirf) Scfjularjt mar, etwas Graufiges: Bb jur oor*
jäfjr n üuäferprügelei höbe er JUcfjarb Troll nur bem
JTamen nach gefannt. Damals fei er aber neugierig ge«
toefen, unb bei feiner üuäferauffufjt JTlittroocbs, ja, ba fei
ihm, ganj fpielertfcfj eigentlich, ber Ginfall gefommen, bie»
fen blutbürßigen gelben aus ben 42 3 ungen ^erausju«
finben, unb jtnar etnjig unb allein auf Grunb ber pfjpfio*
gnomifcfjen Derbrerf)ermerfmale. Grabe bamals hätte er
einen einfcfjlägigen fluffap irgenbtoo in einer ülußrierfen
3eitung, alfo feinem «oiffenfcf)aftticf>en Organ, burchgelefen.
„Xlnb alä ich in alle jroeiunboierjig Paar «ftnabenaugen
gefefjen hotte," fpracb er, „fühlte icf>: ber f)ier, biefer hüb»
fcfjc Burfcfje hier, mit ben eigentümlichen Äugen, ber muß
es fein. ,3Bie f>ei(3t bu benn?' fragte ich. ^Ricfjarb Troll/
fagte er, unb fab mich fo blanf an, baß icf) ihm auch gut
fein mußte, wie College Jrjauptmann es noch beute iß. 3e»
benfatts feine völlige Hnbersbaftigfeit fühlte icb bamals.
©as möchte ich ju bebenfen geben, es fommt mir nach trag»
Beb graufig oor."
„Die JTiörbermerfmale?" rief Jpauptmann erfiuft.
„3a, bie JTierfmale bes fogenannten geborenen JTTör»
bers."
©ies BJort war toie ein locfrer Blocf, ber an ber ©etfe
lauert,’ alle ^armlofen brunten fürchterlich ju jermalmen.
UJtlbfänge, Taugenichtfe, Tunichtgute, ja, fie hotten hu»
mane JTamen für manchen fragwürbigen Burfchen, aber
einen geborenen JTTörber fannten fte noch nicht, ©ie Bäter
unter ihnen waren wie oon Jrofl befallen, ihre Jpänbe
fpielten erregt, weil bie ^erjen fo bebten. „IBir tragen
20 bnrtfifie SfafreE*.
305
eine ungeheuere Uerantmortung 77 , fagte jernanb leife. Oer
Oireftor faf) melf aus, er fenfte ben &opf. Cr hatte foeben
für ben .Knaben fprecfjen mollen, je£t fürchtete er fid> Ein»
mal noch um Gnabe für »h« bitten, einmal noch Hoffnung
machen, roeit bo<h bas Seben fo rätfelhaft fei, reich an fön»
ßerniffen, reich an Jähen Erhellungen Soeben noch fogen
mollen: „JTleine Jperren, ßoßen mir ihn nicht hinaus.
DJenn irgenbmo, bann bei uns . . 3efyt fchämte er fleh
faß. Er »artete auf Jrjauptmanns Stimme. 3rgenbein
3omiger fchrie es heraus: „Oie Sentimentalität muß eine
Grenge haben, föinfhunbert 3ungen gegen einen! 7 ' Oas
löße, ermutigte, beraufchte. Oie Angß oor fünftiger Untat
fpornte bie JTtänner gu Unerbittlichkeit. „3ugegeben, er
iß franf! UJir flnb fein .Rranfenhaus, mir ßnb eine
Schule! 77 Schließlich brei, oier, fünf Stimmen gugleicf>:
„Geborener JHörber! 7 ' Unb oier anbere Stimmen bagu:
„Geborener JItörber! 77 Unb bann grollte ein gucf)ttofer
Chor in Jtotmehr bas fchrecfliche UJort. ©er Oireftor fagte
mübe: „3ch benfe, mir fönnen gur Abßimmung fchreiten. 77
Als hoch noch ©r. Jpauptmann ums UJort bat, niefte
ber Oireftor hoffnungslos. UJie einen Seinb fahen ihn alle
an. «Rechthaberei, Eitelfeit, Sophißeret, Glattheit bes £ite»
raten fcfjienen Ihnen plöhtich an ihm enttarnt. BJill er o*
nig in einen Äeffel foefjenben Gifts träufeln unb uns gu«
reben: Xrinft? j^auptmann mar fo erregt, baß er lange
nicht fprechen fonnte. Enblich: „3ch bitte gum leptenmal
um Ttachficht für «Richarb Xrotl. 3cf> merbe feine JTlutter
heiraten, ich merbe fein üater fein. Seit bem Kriege iß er
oaterlos. 3ch glaube feß, baß ich ihn behüten fann. BJenn
Sie ihn aber Je£t ausßoßen, merbe ich ihn nicht behüten
fönnen. 7 '
Sie fchmiegen befchämt. Sonberbar, rührenb unb auch
lächerlich: plögtich hatten bie oorigen DJorte bes 3omes
nicht mehr fo böfen Xon, ber Steinbtocf in ber Oecfe mürbe
plöhlich gu meichem Xuch? Oiefe braoen JHänner, bie fo«
eben bas JTtpßerium bes JKörbers geahnt hatten, coagten
nicht unfollegial gu fein. Oer «Knabe 3Io mar plöhlich bas
Äinb eines oon ihnen. „Unter biefen Umßänben . ♦."
306
UJic töricht zaghaft tönte öle oertraute «Rebewenbung ootl
nttlben -Klanges! „Oos änbert ja allerbings . . ."
So blieb ber Änabe 3lo in ber Schule.
Oer ©ireftor ließ ihn ju ßcf> berufen unb fagte: „Einer
beiner £ef>rer wirb bein Bafer werben; er Hebt bidj tängß
wie ein Bater." „Bier?" lallte .Richarb. „4?err Or. Haupt«
mann", antwortete ber ©ireftor unb ärgerte ßcf) ein wenig,
weü er im Augenbltcf nicf)t wußte, ob bie Bezeichnung
„Herr" in biefem 3ufammenhang nicht uietleicfjt ßint»
mungsßörenb fei. Jücharb fcfjrie: „3Iein, nein! J^err OU
reftor, oerbiefen Sie es tf)tn! TRetne JRutter hat mir noch
gor nichts gefagt, fie bat flngß! Jtein, nein!"
Oer -Knabe Bo log oor Or. Hauptmawt auf ben flnien:
„Sie bürfen meine JRutter nicht heiraten." Er fchwor gan$
f mb lieh: „3ch gebe 3hnen mein Ehrenwort, baß ich je^l
immer anßänbig fein werbe." Hauptmann antwortete:
„Oeine JRutter würbe fehr unglücklich fein, wenn bu es
uns nicht erlaubß, benn ße liebt mich fo fehr, wie ich ße.
BJitlß bu ße unglücklich machen? Bür werben uns fchon
»ertragen, wir brei."
Sür bie Bloche, in ber bie ^ochjeit ßattfmben follte,
würbe ber 3unge oom Unterricht beurlaubt unb ju einem
Bruber JRarias, einem Sörßer, gefehlt, flm Hochzeitstage
fuhr er eigenmächtig in bte Stabt zurücf. Oer Bruber tele»
graphierte, hoch bie beiben glücklichen JTienfchen öffneten
fein Telegramm; zu albern oiele tagen mit Glücfwünfchen
geßapelt. 3n ber Bacf>t fchüef «Richarb auf ber Treppe.
JRorgens gegen acht flingelte er.
„JBer iß benn ba?" fragte ber Bater oon innen.
„3ch"
„IBer ich? «Rifhorb, bu?"
„3a", fchluchzte er.
fltö ber neue Bater öffnete, fchoß «Richarb ihm mit einer
pißote burch ben £eib unb war ein JRörber.
20 *
307
Die 1 u t t e t
Bon fltfreb XPotfenflein
| | ber ben befonnten Jriebhof frocf) ber £eicf)engug be*
- Vbaort oon bccfen fcf)margflrahlenöen Ritten bem
Schatten ber Gräber gu. ©er Sohn ber Toten folgte mit
rafchem Scfjritt bem ©arge. UJenn fein heftiger regeUofer
Gang aus ben «Keiften fiel, gucfte bie gefenfte Stirn oon
ber ÜTtäfte bes Sarges unb bie Schultern f(hoben fich ge*
bannt unter bas bunfle $olj. ©ie Träger ftrecften fchnell
ihre Arme aus, eine Jpanb Hopfte ihm auf bie Schulter unb
brücfte ihn mieber in ben 3ug, ber mit ruhigen Hebungen
unb Senfungen feiner Glieber über ben Sanb fnirfihte.
©as nachnäfelnbe Harmonium o er flammte, bie XGege
mürben enger, ©ie £eute nicften unb fahen hinab auf fleife
Tflarmorfcftriften, Gitferfpiften, ftängenbe Bäume, niebrige
Stabt ber Toten. ©Jären mir allein, bacftte er unb flarrte
nach bem fantigen Jpaupt bes 3uges, bas auf oier JTacfen
ooranfchmanfte, fprühenb blirfte »ie Sonne aus ben oier
metallenen Gcfen. — JRuffer, fjöllifcfje drallen fcftarren an
meinem bergen — Engel pochen marnenb oon ber anberen
Seite — fie alle mollen Xlntreue. ©och fürchte bu nichts,
ich öffne nur bem, ber mir mehr Schmergen, mehr Schmer*
gen bringt! 3cft höre, mas bu mir brei bleiche Tage unb
Jläcftte lang gugeflüflert als bu noch unoer*
fchtoffen lagfl, in unferem falt ftallenben 4paufe —: 3cft
höre, mie bu es immer noch aus beinern Äaflen mifb unb
oergmeifelt fchreifl, bafi ber blaue fymmd in «deinen
©hren gerbtrfl — ©enn es bleibt menig 3eit, bis fie bei*
nen JTtunb oerflopfen. ©h, ich oerflehe buh gut, menn ich
auch jung unb oermirrt bin. ©u oerlangfl nach mir —
Ober oerlange ich nach bir —? Es ifl nicht genug, bies finb*
308
liehe Brennen in meiner Bruß, nicht genug. 3ß großer
Srfjmerj fo erträglich groß? So hat mich mancher Stein
eines Qungen geßhmerjt, i>er mich an ben Äopf traf. IBie
groß tß ber Xob? Abenteuerlicher «Hiefe — butbe ich, ba|3
ein bequemer $Ugel aus bir wirb? ltnb biß hoch Xob bes
einen £eibes, ber mich geboren hat. Jltutter, ich toanble
unb rage, freuje frech deinen nun höljernen £eib. 3eh löße
mich einß aus bir, bamit bu allein ßürbeß! So iß es
in ber Orbnung, murmeln hinter mir bie Jllunbtoinfel ber
falfchen Xrauer —
Cr brehte ßch um. Gebämpfter XBortßhwall, Jtebel fiel*
ner Unterhaltung 30 g in langen Schwaben heram Aber
wie mit boppeltem Antlih oorroärts gewanbt, fing er aus
ber Spur bes Sarges eine getragene Stimme auf:... Jltein
£inb, bu gehß mit ihnen, nicht mit mir... Stein, Jltutter,
ich bin fein Berräfer... ltnterßheibeß bu bich ©on ihnen,
wie bu’s wünßhteß?... Jltefjr, wünfchte ich, mehr, hoch
fiel) meine bebrücfte Bruß... 3<h fehe beine Bruß wie eine
blühenbe IBiefe unter eiligen XBolfen ßch ausbreiten —
lebenbig — unb hier ein Scfmeefelb, bir ßhon unähnlich,
beine Jltutter ... Sieh, Jltutter, ich gehe rafch bir nach ...
lim beine Xrauer rafch er ins Grab ju ©erfenfen, mit Be»
wegungen unbefangen unb frifch ... Du biß hart, Jltutter,
ich fühle fie ja felbß mit BJiberwitlen, biefe Glieber, bie bir
gehören unb fidf) ruchlos bewegen: So fomm, laß bich oon
ihnen nicht mehr oerhöhnen, ßeig auf in meinem Blute mit
gefpenßißhem Jtechtl'3cf) |oll ßerben wie bu! IBenn auf
ber ößlichen Crbe ber £iebenbe nach bem Jpingegangenen
ßch oerbrennt unb bie 3ufallsorbnung bes Xobes nicht
bulbet: 3ch will noch mehr tun, geliebte Jltutter, brechen
auch biefe Orbnung jwifchen ber fjugenb unb bem Alter ...
CusWieb ßehen. Aber höre, ftüßerte er, auch graufam wie
ber Jpprann auf bem Scheiterhaufen — wünfchte ich ju»
gleich mit mir alle biefe §u oerbrennen! 3ißhenb, brum»
menb, freifchenb fammelte ßch bas friebliche Getöfe ber
fchwatjenben Jteihen unter ben Ahornen unb Afajten, unb
machte hinter ihm halt. 3n tierißh unbefangener llnterhal»
tung, baß bie Bögel barüber lautlos hinjufliegen fchienen,
3°9
fof) er ein $eer oon fremben Geficf)fern onrürfen: Aua auf«
geriffetten Augen, geneigten Ohren, gappelnben JTtünbem,
flirnrunjelnb ober läcfjelnb Jlocfjbar on OTachbar ange«
fnüpft, fcfttooll ihre Sprache burcf) bie geamnbenen JBege
unb tocrbelte fern mit bem gefühllosen Srf)toonje bes
3uges ben Staub auf.
^ter hotte er fie alle beifammen, eine enblofe unbetei»
ligte JTtenge fchlofS fich burch bie Blauer hinöurcf) bem
Jriebhof an. Sie reichte bte in bie gefefjäffige Stabt ju»
rücf, fie brängte fich ohne Sinn bte ju biefen bunflen
BJegen oor unb türmte bie Sinnlofigfeit bes Gebens ring9
um ihn unb um biefen Xob auf. Ufas tat ihr Gefchrei oer«
roanöt unb oertraut mit ihm? 6ht größeres ßlücf toar es,
ber Xoten ähnlich ju fehn als ben lauen Sümpfen biefer
Geflehter. Xlnb gurgelte es nicht felbfl unter ihren grün*
bumpfen Oberflächen, bafj bie Hielt nun ju Gnbe fei?
©a parfte er fie, toie fie aus HJolmungen, £äben, Sehen«
fen ahnungslos, aus Arbeit, JTluftf unb £iebe unerfchöpf«
lieh hwomoimmelten unb oor bem aufgäfmenben Grabe
jurüeffanfen in entfe^ter XGellenbeosegung: Xlnb ooller
£ufl, bem Xobe ber geliebten JTlutter noch einen Sinn ju
geben, inbem er auch bem ungeliebten Schmält ein Gnbe
machte — ja, Xob ju fein —, fchleuberte er fie hinab.
Blaffe nach Blaffe ber fremben Geflehter — bie toohl aus
Xobesangfi noch fo menfchlich oerbunben ihn anfahen, hoch
in HJahrheit öbe, überflüffig, oergänglich gegen
bie Xote. ©ie 6rbe aber frf)lucfte lachenb alles, als fei es
nichts, fie ergab noch feinen Jpüget: Bte er julefü fich felbfl
unb 0)09 nun fchon oergangen toar, Spiele, Bücher, Xänje
unb JBanberungen, fuchenbe ©ämmerungen, läge unb
Jlächte mit Sreunben unb Sührern, alle er fie ^errlidjfelt
hinabfehüttete — bie Arme ganj ooll genommen fchüttete
er bas Jpaus ber Äinbheit hinab, bew mit ihr gerfieli auf
bunten Stühlen Gefpenfler alter innigen Gefpräcfje, hohl
ber fingenbe unb bonnernbe Slügel an ber leeren HJanb,
ber 6arten troefen, bie Xreppen fliegen nicht mehr, bie
IBege brachen ab — bie oerflümmelte Hielt opfere ich bir
nun ganj —
310
Cr fuhr auf. HJie ein leblofer Doge! fanf ein fcfjtoarjer
£eib langfam oon ben Acbfeln unb roten Bacfen ber £eute
bernieber jur Erbe. Sie öffnete ficf) bafür, es fanf toeifer
unb fcfjmanb unter ben Siifien binroeg. Aber bie JTtenfcfjen
blieben oben, fie orbnete ficf) in birfent Äranj um bas
ecfige £ocf). XBorte begannen ju raffeln, mit tr offenen unb
metallenen Blumen, ©amt fchmebten oon allen Seiten Arme
unb Stiele ber Spaten auf ihn ju unb boten U>m Erbe. Bin
SufJ trat ungebulbig gegen feinen, ein JTtunb jifcfjte: Es
ifl bas £et)te!... bb er bie Erbe nahm unb jmifcben ben
Fingern f)inabflie(Jen KefS. Sogleich polterten bie Schollen
ifjre erlöse paufenbe Scf)lu(Jmufif, bie Spaten fcfjnitten ein,
fie fcbarrten unb toölbten bie Erbe, flatfcfjenb. Setrappet
30 g um ben Drt herum, über Bretter unb Sanb Hang es
ab, unb balb mar fein Schritt mehr 3 U hören. £eifes Reuten
oon einer £erbe geretteter Dpfertiere lief hinter ber tiefen
roten Sonne um ben Jrjorijont, BJeiterfjeulen bes £ebens.
— Bine große Ebene lag t>ier toof)l bi 9 gum fäorigont
bin — nur bicht oor ibm machte ber Boben einen bürten
Bucfel. ©er falte Geruch oon Tulpen fUmbaber — er fab
einen Schotten neben ficf) liegen unb brebte ficf) um: Ein
Baum, niemanb ging mehr jmifchen ben Gräbern.
Er flanb biuabgebücft, lange, ba näherten ficf) noch
Schritte. Ein alter behaglich fchletchenber Jliann fam,
neben bent eine Schlange IBaffer auf bie Blumen fpie. Au 9
feiner Pfeife quollen bicfe löolfen in bie £uft, mo noch
Bienen unb Schmetterlinge lautlos flogen. Schturfenb unb
raufchenb hämmerte es oorüber, unb eine oollfommcne
Stille folgte.
Aber eingegtoängt gmlfchen jmei breiten Jlüflern, bas
Geficht an bie Borfe gepreßt, in ahnungsooller Jreube
über fönen rafchen Sprung in bies Perflerf: mie ein Äinb
hätte er noch einen anbem befragen mögen, toarum er
ficf> oerborgen hatte —! ©och er mußte es fcf>on, bie Ent«
fcheibung hatte fcfjon in ihm gelegen, jefyt mar fie bell
o)ie ein Sifcf) aus bem lange oerbecfenben Schlamm herauf*
gefHegen. Sein Blut unb feine Seele fprubelten gang in
biefem Sprung. Er allein mar hier auf bem bämmernben
Jriebfjof, unb er allein blieb f>ier, was follten tfjr anbere
Opfer —
6 r winfte hinüber, balb würbe bas Xor gefcfjloffen wer»
ben, bann fam er. Aus ber träge fortfcfirettenben Dämme«
rung 30 g er firf) in ben alten tieferen 3riebf)of gurürf.
3tebelf)afte blinbe Slüget fireiften bort fcfjon untrer, bie
Gräber würben niebriger, jerfreffener Efeu unb fcarte
Spinnweben in Dornen fpannten firf) oor bie SüfSe.
Die Steine begannen ficf> ju neigen, grau unb nanten*
los, ber Jriebfjof fanf mit fcf>iefen Äreujen in Grä»
berfjaufen Hein unb flruppig jufantnten, als feien f>ier
alte 3t»erge begraben: bis alles ju leeren Beeten oertoifcfjt
lag. BJeiter no<S) fanf es, burcf) j?öf)ten, Pfüfcen unb
S$äcf>te fielt hinunter, in bittere Dämpfe oon £aub unb
oergangenem steifet) hinein führte ber BJeg, ins innere,
Jlüffe fitferten burcf) bie o>acf)fenbe unterirbifrfje Jtacfjt —
6 r f)ielt an unb wartete, an einen leife wiegenben Baum
gelernt. Jern faf) er in ber Jlicfjtung bes Grabes ein £icf)t
aus ben Straften fjereinblinfen, bas er fief) merfte. 6 f)er»
nes Starren flang wie eine Glocfe oon ber TTiauer f>er:
bas Xor bräunte unb fiel ju. .Rings um bie JTCaue* fcf>lu<
gen bie Itfjren, er f>orrf)te —
6 s regte fief) auef) in ben unterirbifefjen Gelaufen —
in ben Xlfjren ber Gwigfeit — Die Dämmerung bebte, er
flarrte f)in: ^ob firf) nirfjt bas Grab bort unter bem ftei»
nen £lcf>t, f)Ob fief) wie ein Berg — oon innen aufgeffoßen
— oon einer erflieften Stimme-Die Blumen fcfjnell*
fen ab, regneten naf)e f)eran, geifterfjafte J?änbe fingen fie,
feierlich fenften fie fief) auf fein ^aupt unb fcfjmücften
es — Der naefte ^ügel fcfjweifte firf) unb ging auf, aus
feinem ScfjofS auferflanb eine weifSe unbewegte Geflalt.
So füllte er auef) fief) felbft eifemfefl werben, um bem
jief>enben TRagnefen gerabe ans S?tr$ ju fliegen. 3m
frfjroarjen Sful)l mit golben betriebener fleinerner £ef>ne
flreefte fie bequem bie Beine aus: Schönes £ärf)eln faf) if)n
burcf) bie gefefrfoffenen Augen teuflifcf) an unb bog ifjren
ITtunb auf, if)re Brauen nieber, wie einanber fpiegelnbe
JTIonbe. Aus bem Schwung ber 3Täfe fief) entfaltenb wie
313
ein Socket frf>t»ebfe bie Stirn mit tangenben Slecfen bemalt,
aus zauberhaftem hinter grunbe traten GebanPen uor unb
breiteten fi4> in fcfnllernben ranblofen Sorben gleich einer
Uberfcf)wemmung aus. Darüber wie große 3rrlirf)ter gucf»
ten burtf) bas Jpaupt bie Seuer einer anberen Hielt. 3af)l*
lofe Arme, göttlich gefaltet auf ben Scfjenfeln, oerfcfjränft
über ber Braß, an «Knie unb Dtfange gelernt, leer in bie
£uft erhoben, famen aus ben Schultern unb lüften, piöh'
lieh umfchlang fie ihn, mit oollem Hmfaffen — gleich bem
erßen erßicfenben Eintritt in ben HJeihraucf) ber hiwtntel«
nahen Kirche, gleich ber erßen Umarmung —
Doch es würbe milber, je näher fie ihn gog: Sie worf
bie Jltaste ab, fie lächelte aus hellen unbefangenen BJim*
pern. Die JTtutter toar es, fo fyatte fie oft feltfam oer*
toanbelt bie Augen gefchloffen, wenn er bei ihr faß. 3<h
muß oor bir ßerben, flttßerte fie... HJarum fagß bu
bas?... HJeil bu mich noch allgufehr liebß: 0eber wirb
geboren, bamit er allein lebt... 3m bämmernben 3immer
fein Äinn in ihren Schoß gebrüeft, ben Arm blinb um
ihren ^jals geklungen, fo fühlte er in eine gute bunfle
fjöhle fich gurütffinfen, wo noch Schimmer ber erßen
Sterne niebertropfte. Don biefer erßen tiefen Sj>öt>le prallte
ber .Kampf ab, ber tagsüber wütenb fefjon in feine Jju»
genb griff. Hfie herrlich unb feltfam, baß fie folange nach
meiner Geburt noch lebt —! Sie brüefte ein wenig fpöttifd)
feine Jrjanb, benn er hotte gefagt: DJenn bu ßirbß, töte
ich mich... Durch ihr in garten Bogen aufßrebenbes Ge*
ficht gwifchen ben fchmaten Schultern ßhwebfe er, wie
burch ein hohes JTCittelfchiff bem Schimmer ihrer Augen
gu, fah gebannt hinein wie in bie Gwigfeit. Sie fchüttelte
ben .Kopf, aber fie niefte fefjon zugleich... 3cf> oerlaffe bich
nicht, fagte er... unb wäfjrenb fie ihn abwehrte, fühlte
er hoch oerwanbelte Arme um feine Bruß unb JFjüfte fich
fchlingen, Öffnungen brängten fich ouf, fie fogen willig
feine fchwämterifchen BJorte, mit Sragen fchienen fie ihn
gu binben: HJenn ich ßerbe —? heftig griff er in feine
Xafche: BJenn bu ßirbß, erfchieße ich mich! Schon mit gang
befriebigtem JXicfen beugte fie fich ouf feinen JTCunb, ber
313
Stuf)! fcfjaufeftt ins öunfel geworbene 3intmer gurücf, er
beugte fich nach, ouf ihrem JTlunb, er faulte, ob nicht
botf) eine anbere Antwort fönte — Äam nicht aus ber
liefe eine onbere? Gr taumelte oorgeneigt — er ging —
6 r ging, bie JBaffe fefl in ber Jrjanb, bie er trunfen aus
ber Xafche gezogen batte. Seine «Rnie waren noch ffeif,
forgfam beobachtete er bas Sicht, bas ihm bie «Richtung
geigte. Ss hing wie nahe über bem Grabe, währenb es
jenfeits ber JTlauer hi n * er einem Senfler flanb, beffen
Äreug grau mitfehimmerte. ©ort festen fie firf) je^t um
bie Xifcfje, effen bampfte, bas fo gut ans Seben binbet,
Xüren fcfjlugen hin unb her, Slügel, bie bie HJänbe auf*
heben, behagliches Sleifcf) unterhielt fich, fang unb legte
fich gufammert — ©er Sriebhof flieg, in Geäfl, er war
fchwellenbes Geäber auf ber 3Ta<ht. ©ie Blätter floppten
eingeln auf unb gu, fie geigten ihre blinfenben dürfen, ootl
oon bem toten Saft, ben ihre DJurgel aus biefer 6rbe fog.
Jjjier wie ber leblofe Baum gu wurgeln! ben BJinb gu emp»
fangen unb unfehutbig nur burch ihn fich gu regen — ohne
Berantwortung für bie nichtigen Bewegungen bes eigenen
BJillens — nur mit ben unfuhtbaren Gebärben bes
BJachstums an ber oergangenen Erbe JTahrung gu fau»
gen —! Cr machte größere Schritte, er fah oor fich bie
weißen winfenben Xtmriffe unb einen Jpügel barin, wie
bie Brufl einer $rau —
piöfjlicf) (lolperte er unb fiel. Als er auffprang, war bas
Sicht oerfchwunben. Gr brehte fich um, alles war bunfel.
Gr begann gu taffen. Uberall traf er Öffnungen fleiner
BJege, bie «Richtung freifte um ihn, nicht mehr gu erraten,
©iefe XUolfen lagen auf bem ipimmel. Gr wartete. Sie
fchoben fich bichter ineinanber.
Gr begwang fich unb fing an, langfam burch bie ©unfel*
heit oor fich hin 3« greifen. 3n feine emporgeflretfte
J?anb unb in bie anbere unten flreicf>enbe legten fid) enblos
Säulen unb Stämme, marmorn unb roflig Stäbe, 5igu*
ren, Schalen, «Ranfen, geferbte Xafefn. Gin Grab ohne
Stein fam nicht. Jtiebergebürff, auf bie «Knie geworfen,
enblich unten friechenb, um nichts gu ttberfehen, fuhr er
314
burch Schlamm unb Sanb, unb füllte bas Oicficht ber
JRonumente über fich nur wachfen. Oie XOcge freugten
einanber in finnlofer JTienge, verfchwanben wie Augen»
blicfsmücfen unb lehrten wimmetnb wieber. 6r fjätte jeben
non if)neft nehmen wollen, jeber, faum betreten, verwirrte
ihn unb machte ifjrt ungläubig. £s würbe ein gögernbes,
haftenbes Sueben — obwefenb unb bo<b auf biefer gongen
£rbe gleicbgeitig fucfjte er, bolb tauf enbf ach gerfchnitten.
DJöbrenb ber Sriebbof ficf> ibm groufont entgog, prägten
feine Sornten fi<h ben jrjänben höhnifch ein, non «Kiefeln
wie mit Abbrücfen bes Gräberfelbs gebügelt. Unb jetjt —
fenfte f«h nicht wieber ber Jrtebbof — war es nicht wieber
im «Kreis ber ölte Abhang, ber gur «Solle führte —? Dürr
brobette 6rob on Grob mit immer älterem JTiober ge*
füllt — Cr traf in Stacheln, je£t in teufllfch lebenbe iJTiaffe,
feuchte £ippen, gwei Steine gruben fich in feine j?anb, er
fchrie unter bent Bi|3 — Soffungslos hielt er on, flemmte
fich gegen ben Abhang.
Aber bie bumpfen Düfte mohnenb aus bem Boben »er*
wehrten gebe .Ruhe unb trieben ihn: Suche! bie Jtad)t geht
vorbei —! JTiit einem Jlucf auf bie 3ehen gefiellt fdF>n«(lte
er fich ob. Durch Dunfl, burch Geflräud) unb 3weige
faufle er vorwärts, gepeitfcht, fiel, fiie(5 on IBänbe, warf
fich gurücf, warf ficf) fopffchüttelnb weiter. Die Ge*
fchoffe ber Sinfiernis hogelten feinem Sturmlouf entgegen,
bie fieinerne £uft fchmetterte auf ihn ein mit JTZarmor»
fugein, Gifenfreugen. Bon Gitterfpifjen blutenb losgeriffen,
fchweißtriefenb hoch über Anhöhen unb £öcher, auch wo
es nichts gu überfpringen gob, befinnungslos fchoffen feine
Süfie fchon wie jlügel hin. Dos £eichenfelb, gong mit bem
bichten, fuchenben Beh feiner Sprünge übergogen, gitterte
unter bem aufbrecfjenben irjimmel voller Sterne.
Unb fchon war biefes einfame ^inrofen unter ben Ster*
nen nicht mehr finnlos unb traurig wie vorher. Berwan»
belnb rann bie wilbe Bewegung burch feine Getenfe, fie
trat über verborgene Schwellen, wo hinter ben Xüren ber
Brufl unb ber Stirn länger, bie 5äifie feiner unfichtboren
Kräfte, wartenb flanben: unb mitgeriffen in bie weiten
Ääume (limmten fie ein in £auf unb JTtufif. DJie Änie,
S ?oor unb Äinn langte innen ber Quell einer BJanblung,
ber bergige Sriebfjof ging in HJellen, ein TReer frfjlug über
ben 6runb ooller feigen: Seine Bewegungen/ non ber
Toten ihm geboren/ fcfjufen nun aufgelöß ficf> felbß um.
Durch bie Seifen ber Gräber flutenb, über Gnfc^riften, Bit»«
men unb ßtippen, bie Sunfen bes Rimmels fpiegelnb, gwi*
fcfjen benen IBrorfe fcfjwanfenb oerfanfen, flob er auf unb
ob, unb feine Glieber turnten ficf) in eine neue Sretheit.
Trunfen fcfjwang, fcfjaufelte unb Momm er unb wußte
nicf)t, war er noch auf blefem Selbe — flog er wie oom
Sprungbrett über bie JTTauer fcfjon auf XBiefen — flricfjen
aus ben H3of>nungen bie erwachenben Träume ber JTten*
fcfjen —, bis er noch einmal, gurücffliegenb wie ein Ball,
irgenbwo mit fingenbem fitem gwifdjen ben Gräbern
lag*
«Cr feucfjte, er flrecfte fich aus. Cr berührte auf bem Bo«
ben ein eifernes Meines Ding —: bie BJaffe, fjier oerloren,
als er geflolpert war. Dann gleich einer g erbrochenen JTta«
fcfjine neben einer glürflicfj bampfenben begann es neben
feinem Atmen gu Mappern unb gu giften, oor feinen
fcfjwimmenben Augen liefen Jpimmel unb Crbe in bleicfjen
Zeigen burcfjeinanber: Die Decfel ber XOolfen waren ge*
borßen, Mtodfjige Sternbilber fliegen auf, Jlebel unb Änor*
pel, rings nicften unb frängten fi<f> mit bleicfjen Schleifen
Sfelette über ben Fimmel. Sie warfen narfj ihm bie Speere
leerer Singer, fjeulenb fanfen fte im Bogen wie «Kafeten
heran, ben erflen oergangenen brängten gafjllofe nach,
gtmt wuchtigen Angriff fich gu oerfchmetgen: Aber jämmer*
licfje £ücfen blieben überall, öbe JTacfjt weinte burcfj bie
£ächer bes gebrocfjnen Gewühls, mit harten Schultern unb
Schößen prallten fie ooneinanber ab unb bilbeten gwifchen
fich nur ohnmächtige Wählen wie im 3nnern ihrer Äörper.
Da fnicften fie ein, in taufenbfachm armfeligen £emuren»
gelenfen, bie aneittanber nicht mehr h'ranreichten, unb
frocfjen gu ihm unb hielten ihnt leer fcfjmeichelnb wie
Äah«t beinerne Bacfen hin, baß er fie mit feinem Sleifcfj
anfülle — 6r fprang auf —
316
6 r flrecfte bie Arme aus: Denn bort — ein Strom, ber
tote ein XOunber aufwärtsfirömte, er festen aus bem oer»
funfenen bergen bes £icf)ts: Ein flamnternber «Kern, an«
brängenb gegen bie Erbe mit ihren Gefpenflem unb JTien«
fcf)en, flieg burcf) ein Blutbab ber Treube unb fanbte riefen*
haft wehenben fegenben Brucf oor fich f>er.
Er öffnete ben JTtunb, Bälle flarfer reiner £uft flogen
herein, bie Dual follte enben, unb er brauchte fief) nicht mehr
gu rühren: 6s follte etwas für ihn gefchehn. BJie ber IDan*
berer nachts fleh bas £icht angttnben lief}, unb als es wie*
ber ertofeh, ein anberer fam unb es angünbete, unb als
es wieber erlofch, gu fich fprach: 3e^t warte ich flatt auf
JHenfchen auf ben morgen Gottes —: fo brannten nun
bie Schatten in ben Bäumen unb Steinen aus, bie Erbe
raufchte, wie ein rafcher fahrenbes Schiff, Bogelflimmen
barüber. Eine le0te BJolfe rerfte fich unb geigte mit begei«
flertem Finger borthin, wo ber J?immel oulfantfcf) auf*
ftanb. llnb er, auf bie 3e{>en fich flellenb unb mit ber win*
gegen Bewegung eine unermeßliche Strecfe in ben Hielten*
raum wachfenb: traf fe^t am Jporigont ben giiihenben
Gipfel ber Sonne.
Oberhalb ber Erbe war morgen. ^>ier fam allein für
ihn ber Tag. Schon fah er bie fleinen Jrjügel auf ber Brufl
bes abgeflorbenen »Reiches liegen, an benen er in biefer
Jlacht nur bie Bergängßchfeit gefühlt hatte. Unflerb*
lichfeit fpornte nun wieber fichtbar bie Schöpfung, unauf«
haltfame feurige Leiterin fehle herauf aus bem flbgrunb
unb gerrif) Ihm bie lebten JTebel ber «Rinbhect — mit flgur
ber 3ugenb.
Bern riefenhaft lächetnben flntlih ber Sonne entgegen nur
wenige Schritte ging er: benn gang nahe fanb er bas Grab.
Er bliefte hinunter, fein ^erg fchwebte über bem toten
bergen. Er füfjte es noch einmal innig, hoch bleich wie
ein JTConb aus fchwargem Gewäffer fcfßen es empor, wäh*
renb ber JTlunb bes Tages fich heifi ou f feinen Üacfen
fenfte. Bann aber war es, als fchtöffe fich ein feltfamer
Ofling, unb als fei er noch immer nicht entronnen. Hße gww
fchöne Trauen, bie eine aus ber Grube fich h e &enb, bie
317
andere aus dem blauen Gewölbe ftcf) bücfend, reiften fie
einander mit fchrägen Blirfen die «Bände. Stocfend begann
er wetterjugehn, dte runde «Kette ihrer Arme umfcf)lof 3
ifm'bei jedem Betritt: Glich diefes £icf)t mit den gewölbten
Brauen des Rimmels, dem er juging, nicht doch dem ©un«
fei, das mit der Toten aus dem «Rund der Gr de auf f ah?
3TaJ)m der Spuf des £ebens fein Gnde, da der morgen
an den Xotenacfer fließ und jufantmen mit dem frijlal»
lenen Grab des ütf>ers nur der Xotenacfer ringsum wuchs?
Gr fcfjritt an der JTtauer entlang. Ghern und diinn und
leicht wie ein Bogel bing das Xor darin. Gs war noch ge»
Stoffen — und doch, es war offen, wie fein Jrjintmel fein
fonnte, Sturm webte hindurch wie über freies JTCeer. Slü»
gelnde Stimmen jubelten heran: XBunderß du dich, noch
immer gefangen? ©u ließeß etwas für dich gefchehen —
aber du haß noch nichts getan! Atme in den anwehenden
Tag er ft, dich jeugend! 6 s braufte und flang in der
mufchel feines Ohrs: Stelle dich an einen Ort außerhalb
der toten UJelt, und du wirft fie bewegen!
©a fchienen die toten greife entbannt fi<f> aufjutun. Und
jwifchen dem Jubel der Gngel fchlug über die Scherben
und 3acfen der JTtauer auch der erwachende Arbeitsfturm:
eine Stadt, eine IBelt oon JItenfchen, die er im Eeichenjuge
einfam wütend für die tote JTtutter hatte hinopfern wollen.
Jlun flatterte aus der Unbefanntheit ihrer 6 efi<hter eine
beglüefende Ahnung der IBelt ihm ju, wie eine Sahne der
Befreiung, die ihn oom allju Jtahen befreite — £iebe ju
den Unbekannten, 3 U den Bielen, oon der JTtitfter er|t je£t
entwöhnte £iebe.
Seine Arme, die wie Quellen aus den Schultern fpran»
gen, (egten fich auf die «Klinfe. Bon anwogender Srifche
nur durch die dünne bebende XBand getrennt, wartete er
auf Öffnung.
3Ut Reife 3 u f i <ft f e 1 6 fi
Von.fiafimlrEbf<hmib
CCAoifp coar In «Äanaba on einer Stelle geboren/ welche
<*m' : 'bas Df>r eines Äinbes nie oergißt, gwifcfjen einem
Strom unb bem Urwalb. Sie brauste i^ren Vater nicht gu
befielen, baß er fie ihr £eben fetbfl in bie Ipanb nehmen
lief). Seine JTlittel gefiatteten ihr jebe Saune, bas £eben gu er*
proben. 3n ben JKärchen, bie mir im entgücfenbfien Teil
unferes £ebens hören, gogen bie jungen «Ritter aus, bas
fürchten gu lernen. Sie taten es, weil ihre Eyißeng unan*
greifbar toar, unb ihrer Xapferfeit nichts anberes übrig*
blieb, als in bie DJälber gu reiten unb liebenswürbige 6 e*
fpenffer gu erwarten. 6 in JTtäbcf)en, bas über eine unge»
wohnliche Klugheit, Schönheit, riefige TRittel unb einen
bebingungslofen Stolg oerfügte, hatte im 3 ahre 1910 nicht
mehr biefe JTtöglichPetten, bie Sprache ber Vögel fennengu»
lernen. 6 s blieb ihr nichts übrig, als auf einer gefahr*
loferen Jleife bas £eben gu fuihen, bas ihr bie JTIacht ihres
Vaters oorenthielt. fln bie Sprößlinge behüteter großer
Käufer fchlägt bas Schtcffal nicht feine Xrommel. Daifp
reifte, mit ben Erinnerungen einer gewaltigen Sehnfucht
an ihre Jpelmat belafiet, benn (eine JTiufif ber IVelt brachte
aus ihrem Ohr bie oereinte Jftelobie ihrer IVölber unb bes
£orengo. Oies ifi eines ber größten ßeheimniffe ihrer
jpanblungen. 6 in gweites war eine Vifiön, bie fcf)on ihre
Äinberträume burchleuchtet hatte, bie ßeflalt eines TTtannes
ber mit brutalen 3ügen in ihrem Xraum erfchien, ben fie
haßte, obwohl fie merfte, wie alles in ihr gu ihm brängte,
unb ber immer bie 3 üge unb bie Sigur bes Ergengels am
Schluß annahm. Sie nannte ihn JHonfep. Oa bies in
einem inbianifchen OiafePt XVolf bebeutet, enthüllt fich
eine neue Ph a f c ihres £ebens rafch. 3n Europa warf fie
319
ficf) in alle Strömungen/ bie biefes cf)aotifche £anb ifjr totes.
Schließlich waren es ein holbes ©upenb JTCänner, bie ifjr
©afein umworben, oon benen nur gwe't BJöIfe blieben, bie
fie besten, ©en Srangofen £e Beau, ben OTorweger «Hofen»
franp unb ben Schotten JReir 6Iisf)o übertoonb fie rafcf)
mit ihrem Staturell, bos [ich in feinem Stolg nicht gu beu»
gen oermochte. 3f>re erfte £iebe war |<hon in Äonaba Caf*
pare Spmes gewefen, ben fie auch nie oergaß. ©en ©eut»
(chen Stefan oerriet fie ben Behörben, als fie fürchtete,
baß er ihr HJefen gu beherrfchen begann, fln biefem PUnft
fängt biefe Gefrfjicfjte einer Läuterung an, bie £äuterung
einer Srau, bie Heber flerben wollte als leiben unb fich
unterwerfen, bie in oerhängnisooüe Beziehungen einge»
fpannt war, bie oon Sefmfucht gu ihrer Jpehnat oergehrt
warb, währenb fie mit XOolluß bie frentbe BJeft bereite,
bie Sefchichte einer Srau, bie über bie XOelt ihre 3ugenb
wieber fucht unb auf ber 3agb nach bem Glücf oon einem
Ergengel entführt iß, was aHerbings ein Xraum iß.
Als ©aifp burch einen Brief Stefan ben frangöfifchen Be*
hörben oerraten hotte unb er abgehoit war aus jenem
Meinen £anbf)aus, welches bie 3uf(ucijt bes JTiannes war,
ber eines ber fühnßen Jilillionenoerbrechen hinter fich
hatte, ging bie erfle UJanblung in ihr oor. Sie hatte feinen
3weifel, baß Stefan um ihre Schulb wußte. BJie bie ©inge
lagen, fonnte er oergeihen. ©enn er hotte ©aifp entführt
unb hielt fie wie eine Gefangene. 3hr Berrat u>ar if>r Schlag
in einem Ärieg, ber um ihre £iebe ging. Sie liebte biefen
JTtann, ber bie Energie felbfl war, ohne 3weife(, aber fie
beßanb barauf, es nicht einmal fich felbfl eingugefiehen.
3n bem flugenblicf bes Berrats liebte fie ihn grengenlos.
Sie oerlor ben Berflanb beinahe. Sie erlangte in Paris
bie Erlaubnis, Stefan gu fehen. Er weigerte fich, fie 3 U
empfangen. Sie fchrieb ihnt Briefe unb wartete eine
BJoche.
©ie Briefe famen gurücf. Eine Stacht lag fie erflarrt wie
Eis. ©iefe Stacht entflieh über ihr £eben. ©iefe Stacht brach
3*0
fie auf mie eine Srucfjt unb fror fie mieber ein. flm Jttors
gen mar fie ein anberer JTlenfcf). Sie f)ätte ficf) einen anbes
ren Flamen geben fönnen.
Als fie ein Bein aus bent Bett fe£te, fiel fie oor Scf)mäcf)e
gurücf in Of)nmacf)t. Sie oerfucfcte es immer roieber. Sie
BJimpern fenften ficf) tief unb fcfjneibenb über if>re Brauen.
Sie gog ficf) am ßfoßen f)odf), immer in falber Df)n«
macfjt. 6s gelang if>r gu fereilen. Oie 3ofe führte fie ins
Bab. Als bas faftfcf)äumenbe BJaffer fie ummailte, ließ
fie ficf) fofort ben Xelepfjonf>örer geben. Sie rief ben heften
Berteibiger an, ben (färb bamals befaß: „Jleimen Sie
an?" fragte fie gitternb.
,,BJenn Sie meine Bebingungen annef)tnen."
,,3<f) neunte an."
,,flf)..." Sie fanf in bas BJaffer gurücf. Sie fefjob bas
Gummibarett Uber bie Jpaare unb tauchte gang unter. Oie
£üf)le machte fie tebenbig. Jlafcf) fprang fie heraus unb
ließ ficf) anfleiben.
flm flbenb tafte if>r Xelepfjon. Oer flnroalt teilte mit:
ber Gefangene lef>ne ifjn ab. Sie biß bie 3äf)ne gufammen.
Sie oertangte üm gu fef)en. 6r mar in einem anberen
Gefängnis gur Unter fucf)ung. £r burfte feine Bifite am
nehmen. Sie fcf)rieb ifmt; ,,BJarum meiff Ou ben flboofaten
ab, ber JRme. Steinbeil mit ben roten paaren ins £eben
gurüeffpraef). XBarum..." 6r antroortete nicf)t.
Oer £ufembourggarten rauf cf) te auf mie ein fcfjreienbes
Xier. £s mürbe Jperbfl. 3n oioletten blauen Oampffäulen
lagen bie £icf)ter ber Bouleoarbs. Oer fleine Springbrunnen
ber Source mürbe bunfler. Oas Blut ber Alleen flricf) in
einen ttberjagten jpimmet. Xäg(icf) feftritt fie binburcf). Oie
Xrommelroirbel ber BJacfjen fnatterten um if)r Df)r. 3f>r
Gang mar feltfam, fie oerfcf)ränfte bie Arme oor bem £eib
unb f)iett bie Singer feß. Sie ging geben Xag gu bem Ge«
fängnis.
3n ben 3iäcf)ten fcfjrieb fie Briefe. Sie erflärte. ,,3cf)
liebte Oicf)", fcfjrieb fie. „Äonnte icf) anbers ba als ber Ge*
recf)tigfeit folgen? Bin icf) oom Gfenb oerf«f)ont? 3cf) liebe
©icf) mef>r mie ge. BJarum fagft Ou nicf)t basfelbe. 3cf) oer*
21 Sie beutfd&e SRobeUe.
321
riet ©icf). -Kann es ©ttf> frönten, wo Ou weißt, worum icf)
es «tot. 3cf) wäre glürflicf), wenn Ou mir olles Hnglücf
gäbeß ber Hielt. 3d) würbe es nehmen, wenn es oon Oir
fäme unb Oeiner Hebe/'
Oie £abenfcbe'tben würben fiebrig oor $erbß. Oie Blot»
ter glitten gefcf)üttelt ouf ben Boben. 3f>r Sufi rührte fie
raufdfjenb ouf. Oie Abenbe gfuteten mit gelben Rebeln unb
frühen falten £aternen. Oie IBagen fuhren in fleinen 3üol»
Fen oon Ounß.
Sie ßbrieb: „Befrfjmu^e micf). 3<f> will }ebe 6miebrigung
trogen. 3<f) forbere nicht, baß Ou mich tiebß. Soge, baß
ich Oi«f) elenb motfjfe bis an Oein 6nbe. Uber laß mein
BJort, bos Oicf) fucht, nirf)t verzollen. 6s gebt nur no<b
Oir."
Ourcf) ben £uyembourg gef>enb, bie J?änbe oerFreugt, fab
fie bie große Sontäne. BJilbe graue Ballen oon IBolFen
fcbwanben im Süben. ZBeicbe Oämmerung nifiete in ben
Alleen. Oie ßarren Rappeln bebrobten ben ^jimmel, ouf*
gereift. Oann fiel langfom ber Schnee.
Sie wacbte ouf nocbts unter einem Iraunt. Oas Äiffen
war feucbt oon Iränen. Sie gitterte oor 61ü(f. Rur bie
fleine £ampe brebte fie ouf. Sie rief>tete ficb ouf in bie
Änie, ihre SchenFet brücften bie runb aufßeigenbe HJabe,
fie faltete ben Spiegel auseinanber, unb barüber gebeugt
fcbnitt fie bie Staate ob bis gum Ratfen. Sie ßblug fie ein
unb tat fie in eine Snoeloppe. Oarouf fcbrieb fie: meine
$aare.
Oer Brief fam gurücf. Oie große Straße unten brauße
gebämpft, ein witber roter ^immet bäumte über ber Stabt.
Run legte fie ben Äopf feß in ben Racfen:
Sie begab ficb &i* Rächt noch bem 3ußiggebäube. 3br
Auge fud)te. Ounfel wie Glas rollte bie Seine oorüber.
Sintflut fprengfe bo«b oon ben Brücfen hinauf in bie Racbt
Brefchen in bos Ounfel.
Sie fah einen Schatten. 6r löße ß<h oon einer Pforte unb
glitt an ihr oorbei. Sie brücfte ihre J?anb feß in feine.
Oas Papier fnitterte. Sie fam in einen IBocf)träum im
Heller, ein Gas brannte frei. Sie legte etwas ouf ben Xif<h
322
unb ging hinaus. 3f>r JTlunb warb frfjön in biefen Togen.
Oie £ippen faßen oufetnonber tote gwei Tiere fo fefl. Oie
JUigel ber 3iafe bebten einonber gu, fie gogen fich gufant«
men. Oie Brauen, gärtlicf) in Seibe fcf)immernb, erhoben
ficf) im Oreiecf unb (lürgten ineinonber in einer biegfamen
gefcfjmeibigen Umarmung.
Sie trat in bas Bureau ihrer Gefanbtfchaft. Sie trat burcf)
brei «Räume. Sünf JRtnuten fprath fie mit einem eleganten
^erm mit ejotifch ffimmernbem fluge. Sie fetjte ein Teie»
gramm auf an ihren Bater. Oarauf gab if>r ber ^>err feine
«Rarte mit einigen BJorteru
Sie fuhr bie Cfjamps etpfäes hinunter, Bäume finden
vorüber. Sie fuhr in einer Schleife in bas ungeheure
Baffin ber JJtace be ta Concorbe. Sie bogen, glitten unb
gelten. Sie flieg aus unb ging über bie Teppich flufen
eines Tümifleriums. Sie geigte ifjre «Rarte. Sie flanb in
einem Salon.
Ein fcfjöner JTiann in fchwargem Schnurrbart, der fein
elegifches Geficfjt hinunter fiel bis tief gum «Rinn, trat ein.
Cr fiupte, als er fie fah. Sie legte ein Bünbei in einem
perlgeflicften Ctui auf ben Tifcf). Cr verbeugte fich, fcfjlug
babei bie Augen weich gu ihr auf, Iecfte mit bem Blirf
über ihren ^ais. Sie trat an ihm vorbei. 6in größerer
Salon. Sie wartete eine Stunbe unb lernte bie Teppiche
austvenbig, bie blaue Seibe ber gezwungenen Stühle.
Sine brongene Qungfrau ritt auf einem Brabanter fühn
vor ihr.
ein fchntaler, grauer Jperr traf ein. 6r xvar nicht groß.
Cr trug benfeiben Schnurrbart unb ein bunfeigeranbetes
Blonofei an einer fchwargen Schnur. 6r fam näher, bis
er fie genau fah, f<hob ihr einen Seffel gurecht unb fepte
fich ih r gegenüber. Oann las er bie «Rarte unb fah fcf>orf
barüber tveg auf fie.
„Cs hanbelt fi«h um einen flusiänber. 3n ber Tat?"
Sie nicfte.
6r notierte ben Flamen. Cr vergog feine JTtiene, flanb
auf, ging ans Jenfler unb murmelte ben Oiarnen noch ein»
21 *
323
mal. Sie faf> geradeaus. 3n einem «Kamin fnallte ein
Bucfjenfdjett.
Dann »andte fid) der Jlücfen oom Senfler und fam gu*
rücf. Sein 6eficf)t trug eine garte Jpöflidjfeif. Gr begann gu
reden oort Gefeflfdjaft und Säurten, fanadifcfjer Jagd. Er
lobte die 3er|treuung der Oper, die nun die Ballette »ie*
der belebte. 6r fragte forglid)/ ob U)r XBagen toarte und ob
fie pelge darin fjabe bei der «Kälte. Sein Auge bli£te auf
in Erinnerung. Er fannte ü)ren Onfel, den tfforquis Sri*
baurt. Er fragte fie nad) feiner Quadrille. Sie gab if)m
Antwort auf Antwort, er führte. Sie gab fie widerwillig
mit falten Sippen, wartend.
©ann fcfjlug er mit der weißen J?and, die n‘td)t »elf
»ar, leicfjt auf das «Knie feines ttbergelegten Beines. Sein
Bli(f bohrte fiel) in den ifjren:
,,©arf i«f) 3f)nen den Abend meinen Ulagen f dürfen?"
Sie fland auf. ©ie Augen dielt fie offen, ©ie Jpände
oerfnoteten prf) ineinander gu einem weißen Ballen, ©ie
Sippen »aren eine weiße Sinie.
©ann fenfte fie unmerflid) den Kopf und ging hinaus.
Er läutete rafd>. Eine Seifentür ging auf, ein fafadufarbi»
ger Page... fie frf>ritt hinaus.
Am TRorgen oerließ fie gerfnitterten Kleides den Heben*
raum eines «Keßaurants des Bouleoard des Capucines.
Sie dielt einen Augenbürf fröflelnd. Ein TTtann in einem
fermeren Pelg füßte ifjre $and. Sie flieg in ifjren XOagen.
3wei Xage fpäter erhielt fie die Hacfmcfü: der Gefan*
gene »eigert fiel), Sranfreicf) gu oerlaffen.
3Tiit einem Paffepartout j ng fie in das Gefängnis.
Auf dem Gang gab id* ein löärter einen Brief. Sie lernte
pd> an das oergitterte Senfler und brad) if)n auf. Er
fdjrieb: „BJenn id) ein IDort bitten darf: laß mied, »ie
id> bin."
Sie fefjrte um. Als fie fjinaustrat, lagen fd>aufelnd die
3»eige der Kaflanien in einem füßen HJind. 3f)re Knofpen
»aren aufgebrodjen. Gin dünner, grüner Abgtang fpiegelte
fdjTOärmerlfd) in dem flamingonen Jlofa der Suft. 3n gro*
ßen, goldenen Spiegeln der Sonne [landen gewölbte Jpäu«
324
fer. ©ie Bahnen flürgten braufenb in bas garte £icf)t. ©uf*
tige, f)eile IBolfen paffierten ben ijjimmel unb gitterten. Cin
Jpunb i)ob firf) in ber Xür, beijnte bie Beine narf) hinten
unb bie Scheibe be 9 6 eftirn 9 in einem Äreis auf fei«
nem JTiaul.
Sie nahm bie $änbe ausetnanber, bie ficf) gefaltet, als
feien fie oerroacfjfen, unb fjielt bie Arme ein wenig abfeits
oom «Körper. ©a war e9, al9 ob bie Sonne ficf) in fie ftürge.
Sie fab fitf) um. Auf bem Afpbalt lag ber Srübüng unb
rauf cf) te in ber füfjen £uft.
Sie flieg in ben IBagen. Alle Autos, bie ficf) freugten,
waren offen. Auf ben Pelgen unb bem Samt lag bie
Sonne mit warmem Slang, ©ie Aoenuen bufteten unge*
fjeuer. Sie bref)te bie Jpänbe in ben Gelenfen unb fog bie
£uft ein.
Pfö^litf) fcf)(ucf)gte fie oor Glücf. Sie f>ob bas Papier
unb las es. Jlirf)f 9 war umfonfl, if)r Opfer rühmte fie:
fie f>atte ein 3eicf)en oon if)m unb lächelte wieber. Cs
war nur ein Sa£. ©ocf) e 9 war genug.
Sie (lieg ab unb fcfcrieb auf ba 9 JTtinifterium: ,,3cf) oer«
gicfjte auf bie «Kompenfation."
Sie warf ben Brief ein. ©ann lief? fie pacfen.
Olun famen if)r Blüten fcfjon entgegen in ber prooence.
©09 blaue Banb be 9 Jrjorigonts locfte mit ungewiffen
Scheinen, ©ie BJagen rollten, bie 3 üge brauflen immer
nur ben einen Flamen. Sie gab ficf) f)in unb fanb ifjn in
ben ©ingen.
BJartenb auf ifm, freute fie ntcf)f bie 3 eit.
©en 3 ettel trug fie in einem metallenen Ctui, ba 9 fie
am Armbanb trug. 69 brannte tf)re Jpaut unb machte bie
Sef)nfucf)t wieber flill im BJarten.
Sie reifle JHonafe. Sie reifte gwei 3af)re. Ste lag auf
Gletfrfjern in bie Sonne f)ineingeflrecft. ©ie Sfunben floffen
über fie f)tn, fie fürstete fie nidf)t. Sie war nocf) jung, in
Oer gweiten Raffte ber 3wangig. Sie fcfjrieb an Stefan
nicht mehr. Sie hörte fein Urteil. 69 beglückte fie bie 3abl
ber 3abre, bie fie warten follte. Sie reifle weiter.
3f>r HJagen ^erteilte bie ebenen. Oie fruchtbare Brette ber
ITCittellänber ßreute blonbe ernten unb IBälber oor fie
aus. Sie fuf>r am fübtichen Sfranb unb mollüßig blauem
Jjimntel. Sie mar oiel unter JTZenfchen. Bei einer Jlegatta
trug ihr Boot eine Sahne an ber Gaffel: Stefans rotes
Tuch: mit ber ringlofen filbernen Sauft, bie Abern jer*
mühlten.
3hre Sippen lagen herb aneinanber, als ob fie firf) lieb*
ten. 31>r Blicf trug einen Keinen Trofj. Sie fah feine
DTlänner.
Auf einem JFJafenbamm einmal fprach ße abenbs im
Juni ein JTTann an, als fie oom Boot fam, bas braußen
toeit anferte. 6 r roch nadf) Schnaps. Seine «Rteibung mar
oerlubert, fein Auge allein trug ein Seuer, bas ben 3Ttuf
trug gegen bas Seben. Oies oerbanb ihn ihr. Sie fah län*
ger in fein Geficht, als ber «Kode jiemte. 6 r rifS fie an ftrf).
3n feinem Griff noch sögerte fie furj, bis fie ihn unter bas
$inn bie J?anb ßieß unb rafcij baoonging. Sie oergaß es.
Sie gab ftcf» hm bem Treiben, bas fie mitnahm mie in
einer IBolfe.
Sie machte fieh feine Geßalt mehr. 6 h fie einfchlief, tarn
aus ber Traumnähe feine fefie umriffene Sigur unb 30 g
ihre Brüfte an feine mächtigen «Rippen, baß fie oerfchmel»
jenb in ben Schlaf fuhr mit gelöflen Gliebern. 6 in Gefühl
bes HJartens, feüg allem überhoben, füllte fie nur noch.
Sie mußte ßrahtenb, baß ihre 3eit fam, unb bie Sicher»
heit erfüllte ihr iperg. 3hr 3iel ßanb in Sehnfucht mie ein
bunfler Stern über ihr unb banb ihr Auge.
Oas Bilb bes OTTannes glitt ihr aus ben irjänben. Sie
reiße fchmeifenb. 6 in ©ampfer fchäumte blaues TReer oor
ihr jurücf. Sie trat in ein meißes Spaua mit Sahnen. Auf
einem Baifon ßehenb, hob fie bie jpänbe fchräg über bie
Stirn. Sie fah nichts als JTieer.
Am JTIorgen fchritt ße hinunter. Oer Sanb hämmerte
meiß, unb bie «Rühle ber £uft ßanb mefenlos um ße er*
ßarrt.
Als fie nahe ben BJellen mar, oolljog es füh. 3n ihr
Gefühl bes JBartens fchob fich eine anbere Sigur. 3m Oer»
326
lauf ber 3eif oerlor ficf) bie GPflafe für ben Berratenen.
Di)ne bafS fte es gemerPt, (>atte bie Gewalt bes 3ugenb»
geliebteh fte toieber burcfjbrungen. Sie flonb ouf einer
Xöoge unb faf) fte an, unb fte füllte fte mitten in ifjrem
Gefüf)l. 3f)r eigentlicfjfies Grieben fcf>uf ficf) bie H3irPltcfj*
Peit. Oos löarten oujf Stefan toor ein Sutten nacf) ber
größeren £iebe: nacf) Co f p or e.
Cofpares Bilbnis formte ficf) lange ftf)on unter ber
Rillte ber onberen Gefialt.
Sie ging borouf gu mit toogenber Bruft. 3f)re weißen
Scfjuf )t traten ins Blaffer. Oie Küfile toucfjs tf>r in ben
Körper. Sie trat jurttcP unb gab ficf) f)in ber £uft, bie nun
fanft bie Sttrn if)r beflricf). Sie ging jurücf in bas £anb
unb Pef)rte toieber an bas JTCeer, bas nidf)t einmal fcfjäumte.
3f)r S?tr% unb ifjr Körper flrecften ficf) toofjlig in bas Blau
unb bie 8uft bes JTieeres, bie fie umgaben mit ber Blollufl
ber XOeite. Sie fcf>Iof5 bie fingen. Gin $ifcf>erfcf)rei jer»
trümmerte bie Stille, ber Fimmel toogte. Sie faf) auf in
bie alte Älarfjeit. Um bie SFifcfjerboote banb ficf) ein bunP=
ler ßranj.
Sie läcfjelte.
3f)re £ippen löflen ficf) unb lagen gefcf)toungen fcfjön
nebeneinander, ols hätten fie ficf) genoffen unb toarteten
innen oereint auf neue Beflügelung. Sie tourbe fcfjöner
an fluge unb J?als. 3f)re Brüfle f)oben ficf) mit tf)rem Stolj
unb if)rer Haltung. Ste fcfjritt toie in fiets oon if)r felbfi
bejauberter £uft.
Sie änberte if)r £eben ni<f>t nacf) außen. Sie brafjtete
nicfjt. Sie lebte fern jeber Unrufje unb Grregung. Oas alte
XDarten blieb, nur mit einer anberen flilleren Sigur, bie
nicfjt auslofcf). Oer Jrjorijont if>res ^erjens gebar fie immer
oon neuem unb (feilte fie in bie Jrifcf)e ber blauen IRorgen.
Sie grüßte oon Borgebirg unb Segel. Oie Gefialt lag auf
bem Berbecf ber Oampfer, in ber Arena ber glüfjenben
Prooence flanb fie plö^licf) in if)rer Soge. .Keine XBolPe mit
fierabfallenbem Schotten, Peine Slut überfcfjauerte biefe
Jlufje.
327
An biefem Sfranb blieb fic lange. Oie JTtonafe glitten
an ber Brandung ber fiüfte entlang. Sie faf> bie XDelt nicht
mehr. Oie IBelt mar in ihr felbß befefügt. Sie genoß bas
Gefühl ber enbltcben «Ruhe unb 3uoerficbt, nur lebenb in
ber Schönheit ber £anbfd)aft unb bem füßen JTieer ihrer
Empfinbung. 3&r h er i fdjlug in febent Gefcfjeijenen nur
ben Xrommelfcblag ihrer (IUI geworbenen öef)nfucf)t.
3b* 3ug fuhr nach Süben. 3br £eben blieb fcbweifenb
offne linrafl. Sie fragte nach nichts, was fte fudjte. Ge«
bulbigt oon JRännern, entflieh fte ficf) für feinen. 3n ihr
3immer flürjten halluzinierte, bie if>re Sdjenfel begehrten.
Sie wies fte hinaus mit einem leifert £acf)en. Sie fucfjte
nicht. Sie fuhr auf Skiffen unb faf> frembe
große Stäbte unb XBolfen barüber.
3n höngematten lag fte am Xlfer (liller großer Ströme.
3m Bogen ber Bobs, am Steuer, fcbwang fte aus Schweiger
Schluchten gu Xal. 3hr OTiunb rief bie Signale ber großen
kennen. 3n ifjr S)aar bogen fiel) Blumen, Jleif, Sturm.
3m Süben Italiens, unter freiem ^irrtmcl arxjtfcfjen öl»
laternen, fab fie eine Oper auf einer Scfjimerenbüfme. 6 ine
armfelige Sängerin feuchte in ber weiten Jlacfjt. Sie
hörte bas Gelabter ber trauen unb bie geißlofen «Reben
ber JTCänner. „XDas fpotten Sie?" fragte fie einen hageren
Oid)ter, „finb 3f)re Berfe nicf)t ooll oom JUitleib?" 6 r
fdjloß bie Augen. Am anbern Xag oerließ fie bas Meine
ließ ber gelben S^äu^tr. DJocfjenlang, liebeootl bem bunten
Xreiben fitfj oertaufdfjenb, fang fie bie «Rolle ber Oper auf
ben Meinen Bühnen. löas unten faß unb oorbeigog, war
ein Strom, eine Blaffe, waren £i<f)ter unb Augen. Sie fab
fie ungenau. 3licf)ts Außeres befam Gewalt über fie. 3n
allem Grieben blieb bie gleiche £age ber Seele. 3f>r Geficfjt
würbe tiefer unb fcfjöner.
BJieber im Sommer erreichte fie Paris.
3m IBagen ßeljenb, im wogenben Ouft ber Aoertue
IBagram, fefjort umftnfenb, fab fte Cafpare, ber oorbei«
ing. 3bre Geflehter erbleichten, hingen faffungslos oer»
ßrieft ineinanber. Sein 5uß blieb gelähmt. Jlur ihre Augen
umfchlangen fich.
328
Sie wollte beit JTtunb öffnen, ©ie Sippen hielten ft cf) feft.
Sie fchrie gu bem Sührer, bafj er halte. Äein Saut. 3hr
flrnt bebte ein wenig, aber er erreichte nicht bie Schulter
be9 Chauffeurs, ©er ©Jagen fuhr fie oorbei irt9 Gewühl.
Sie neigte ben blaufcfjtoargen «Kopf gurüd im jrjotel.
©ie 3ähne aufeinander, gab fie bie ©ummer bes fanabw
fchen Älubs. Sie erfuhr bie flbreffe Cafpares. Sie gab feine
©ummer. Sie hörte eine Stimme, ©ie Stimme einer Srau.
Sie nahm alle «Kraft gufammen, bie fie fo weit getragen,
groang bie ©tusfein gum Unerhörten unb fagte ihren
©amen, ©un fprach bie Stimme lange: er war oerreift,
gang oor furgem, jeber Anruf war ihm gu melben, er gab
jebe Stunbe feine neue flbreffe, aus jebent «Reflaurant tefe«
phonierte er. Cr rief bereits breimal an au9 Calais. Sie
würbe gang ruhig. Sie gab ihre Hummer, legte bie Jpänbe
auf bie Sehne bes Seffeto, bie Siber fielen gu, fajt fchlief fie.
©amt rafte bas Xelephön.
Sie wollte aufflehn, aber wie blaues Gewölf umfpannte
fie unfichtbar ber «Raum. Sie fah auf ein wogenbes paar
junger brauner Brüfte, auf benen Perlen fchäumten. Sie
fah auf flürmenbe Senben, bie mit gefchmeibigem Stolg
in große Beine glitten, ©ie «Robe raufchte um fie wie ein
Xier.
3hr flrm hielt herabgefunfen ben ^örer am «Knie,
©ann lächelte fie unb hob ihn. Sie fagte leis ihren ©a*
men. ©ann blieb atemlofe Stille,
piöhlich jagte gang aus ber Seme feine Stimme auf.
„Calais.“
„Da ifp."
„3ch irrte. 3<h glaubte bir nachgufahren."
„3ch bin hier."
,,©u bleib ft“... atemlos.
//3a."
„3ch fah beinen ©Jagen."
„3a... mein ©Jagen."
„3cf> fahre bie ©acht gurücf."
„Cs ift winbig braußen."
„©ein ©Jagen fuhr rafch"
329
„Gs war ein gewöhnlicher ©Jagen. Du fäfyrft ntcfjt mit
ihnen?"
3n Slufen fam bas Gemach auf fie gu. 3f)r 8}t rg frf)Iug
gegen bie ©Jänbe.
„Jpallo,.. ©aifp."
„Ga... i(l... gute... Jlacfjt."
©er $örer fanf herunter gunt Änie. 3fyr TRunb flanb
ein wenig geöffnet. Sie fog bie Sefunben guritcf bes lang
fcfjon beendeten Gefprärfjs. Sie ging gunt Xifef) unb legte
Bücher genau aufeinanber. ©arauf (lellte fie eine Bafe.
„©Teichen Ilnfinn fyabtn wir gerebet", fagte fie, bebenb
por Glücf.
„Gr fommt!"
Sie griff nach ber Stelle: „©er ©Jagen." ©raufjen
3Ta«f)t.
©er Ttlonb lag atif ber Cfjauffee rtefertgrofj jwifcfjen
ben Bäumen. Sie fuhren barauf gu. Gr hob fidf), unb fie
fuhren in bie Schleife. JTTanbelbäume fianben reglos in
ber fommerlicfjen JTacfjt. ©ie Gärten (lanben unbewegt,
jebe in ber runben ©Jolfe ihres eigenen ©ufts. Sie füllte
faum ben ©Jinb, ber wie ein fliegenbes 4j>aar fi<b um fie
legte. Sie fuhr in eine riefenbaft breite Straße mit Ulmen.
6s war fein Geflim mehr am Fimmel, ©ie JTacfjt braute
leis por ficf) f)in. ©ie große fü&ne Sront eines Scf)loffes
baute fid) in bie bunfle Bläue. Seine belle £inien gogen
bie «Räuber ab gegen bie ©acht. Gin ^of mit Pflaßer*
(leinen gähnte mit wogenben Schatten, ©er Sali pon Son*
tänen perbanb ficf) mit fernem Braufen eines oerfcf)lafenen
Parfs. JTlilifjige Särbung brang burcf) bie ©ämmerung.
©as war ©erfailles, bie Senfler brachen auf. BJie lag ber
JTiorgen über ihm bell unb tönenb. DJie empfanb fie
unfagbar bie £uft.
„3urütf."
Sie fab hinter (i«b, als fie burcb bie Porte be St. Cloub
fuhr, ©a flanb am Gnbe ber Allee eine rote Sonne.
Sie fcblief brei Stunben, nahm ein Bab unb legte ficf)
lefenb auf ben ©iwan.
330
Ilm neun Pom eine -Sorte: Cofpore Spmes. 6r ßanb
einen Augenbücf, ofjnc ftcf> gu rühren oor bem Xepptcf).
Oie bunPte Umrahmung ber Xür umfloß ihn. Seine Stirn
mar noch flöfjfem mit einer garten JRelancholie. Seine
meiße ^FjanS, Sie gu ßhreiben mußte unb ben 3üge( re«
gierte, fotlt ben fyut gegen bie Jrjüffe. Sein S?aar über
ber bellen Stirn mar fdjmorg mit einem Stimmer gur
Oltoe.
Oonn fob ße nur noch bie graue JpelligPeit unter fei»
nen BJimpem, bie ßarP ousbrecbenb bur<b feine Xraurig»
Peit lobte.
Sie ßanb auf, ging rubig auf ibn gu. 3t>rt -Köpfe tebn»
ten gueinanber. Oie Sonne banb ihre Xöangen mit einem
ungerreißbaren golbenen «Ring. Oie Arme floffen inein«
anber. Oie lüften fcbmiegten ftcb gufammen, bie Bruß
Pam in einen leifen jpergßhlag. Ohne Saß fie ficb Püßten,
oerßhmolgen fie gu einer eingigen $igur.
Sie bog ben JtacPen bo<b non feinem 6efi d)t unb fpraib
mie aus ihm gu ficb, mie aus ibr gu ibm, es Plang mie bas
gleiche. Sie fyörte ßaunenb feine Stimme unb fpracb es
felbß gleicbgeitig mit £iebe:
„Jlun biß bu ba/‘
„3a Oaifp."
„Jlun biß bu ba ... nun gibt es nichts anberes mehr.
„Jlicbts, mas uns trennt/'
„Jlun fahren mir gu mir."
„3a — Oaifp."
Schon ßanbcn gepacft ihre Äoffer. Sie fuhren gurücp,
-Kanaba entgegen. 6in Schiff ßhiug bie grünücb»braune
See gur böchßen Erregung. Sie beßieg es an ber Seite
Cafpares. 6s mar ihre lebte Jahrt bem Gtücf unb ber
Jlube entgegen. Sie ßanb mit ihm an ber «Reeling. Sie
fühlte feinen Arm. Sie lächelte in ben nebet, bie UJelt fiel
hinter ße.
Oie Xage rannen oorüber, fie fpürte ße nicht. Sie lebte
nur bem Augenblicf, in bem ße metfer ßrömte. 3br Ge«
fühl oereinigt mit bem Cafpares taßete nach ihm:
„Biß bu rnttbe?"
,,3cf) bin gliitfltd)."
Sie fcf)liefen ßeftcfjt on Gefleht. Jlicfjts burfte in einen
fjtneihge^en, non bem bas anbre nicht roufjte. JTid)ts fjtn*
ter ihnen beflemmte fie in ihrer Berfchmeijung. Äein Ge*
banfe fam in eines, bas ben anberen nicf;t wie ein Strahl
jugletcf) burcf)fuf)r.
So fam bie Stille über (ie, inbem fie (ich erfüllte, ©er
Slug felbff ber JTiötnen fcfjlug Schatten in ihre Seele.
„Siehfi bu bas Boot?"
Tränen famen ifjr / fie fah es nicht.
„6s war eine Xäufchung."
Er amnbte fiel) jur Seite. Sie lächelte ifm an.
3i)r Süllen nahm Xiefe an, bie fie nicht geahnt. ©urcf)
tf)n oerrouefjs fie allem.
Sie lag bie Jlächte, bie faf)lblau if>re Überfahrt um*
fpannten, unter feinem ÄufS. ©urcf) bas Glas tnogte enb»
los bas Jlieer. ©er f)immel nahm fein Enbe. Sie beugte
fid; hinüber. XOieber mar es, als fie fpraef), als ob er rebe:
„Jlun fehlt mir nichts mehr."
Er faf> in if)r Auge, ohne ju fprecfjen.
Unter biefem Blicf oermuchs fie tangfam allem, unb
£anbfd)aft, Schiff unb JTionb fcfjaufelten in ber fanften
UJelle ihres Gefühls, ©er Schlag ihrer Jperjen tnar gleich
unb pflanjte ficf> fort, als ob er bie Erbe burchbränge.
Alles befam teil unb oertnob fiel) hinein. 3f»r Glücf toucf )9
füll über fie.
©ie 3Tacf)t, beoor fie £anb faf)en, befüeg fie bas ©ecf, fie
fcfjlicf) fief) au9 ber Sabine, ©as JTteer lag um fie in be*
täubenber Jlulje. Sie lefjnte gegen bie Jleeling. Jtur ba9
Stampfen ber 3Ttafcf)inen pochte in bie DJeite. Gepeinigt
oom Glücf, bas aus if)r hinausfchroolt, toanbte fie ben
Äopf gegen bie IBellen, bie ohne Paufe groß unb foflbar
gegen bas Schiff anliefen, fie folgte ihnen weiter unb tnei*
ter, unb plö^licf) in biefer ungeheuren «Ruhe überfiel fie
Surcfjt. Sie fenfte ben Äopf.
©a flanb Cafpare hinter ihr. Sie erbleichte oor Bexne*
gung. Sie machte einen Schritt, als ob fie jum erftenmal
ifjn fähe. 3hr Jüunb traf feinen, als feine Arme fie ntänn*
332
lief) und flähfern fdf>on umwanden. Seine Sippe fuhr über
die Socfe ihrer Stirn.
Unfähig gu reden/ falten fie hinaus. Oie 3Tacf)t ging tie«
fer auseinander oor ihnen. Sie nahm fein Ende.
„a<h will dich lieben."
„3ft es nicht tote gum erflenmal?"
flus marmorn erglühender flchfel fah fie übemältigt
Dom Glürf hinüber.
Oas Sicht band ihre .Köpfe gufammen. Sangfam löflen
fich Xränen und blieben an den Sidem. Blau fpannte fith
gwifchen die JTtafle. Gr gog den firm um ihren Jtacfen.
Schläfe an Schläfe...
Oer borgen brach glühend über die Oämtnerung.
BJeifie Segel floaten mit Sichtern am Jporigont. Cafpare
fland am Berdecf.
Sie bogen in den Sorengo. fitem der Jpeimat diefen gan»
gen Xag umfchotl fie. XDieder (landen oor fie getürmt die
Säulen der Klippen. Unter dem Oonner geiöfter .Kanonen
(loben Schwärme oon JHötnen in die Suft mit (leigenden
Spiralen, bb in der fallenden Oämtnerung fie oerfläubten
wie .Hauch.
Sie (land mit Cafpare am Bug:
„BJir find da."
Seine Stimme war neben ihr:
„Bangt dir?"
„3lein. Ou bifl da."
Oa fielen die flnfer. Oie 3TTaf<hinen flampften. 3m
weifiwirbelnben Oampf der Schornfleine legte das SaHreep
(ich an die er fie Spi£e des Strandes, der dunfel in Xer*
raffen (ich aufhob.
Sie fchritten hinüber. „Jrjier fland ich ob Kind."
Cafpare wandte fl<h um, toie um die Koffer befchäftigt.
Sie fah ihn die Jpand danach flrecfen — mit einer unoergefi*
liehen Bewegung. 3hr Brief flrich über die Kundung des
Sandes. Oie Bäume raufchfen unfichtbar im Ounfel über
ihr.
Sie wandte (ich um. Oa gefchah das XBunder, das diefe
Cpoche ihres Sebens abfehtofS und ihr die Ginfi<ht über ihr
333
£ebert gab, bas fooiel heißt tote: bie £äuterung. Sie faf)
bas Schiff mit aufgerecften Segeln, einer unßerblichen 6r*
fcheinung gleichend, firf) non ihr löfen unb gurücffrfjweben
in bie ©ätnmerung bes JTteeres.
flus bem Schatten eines Gefährts fam eine $igur.
Ttod) eije fie begriff, baß fie allein war, prallte if>r fluge
bagegen. 3f>r Änie ßürgte auf ben Boben. ©er Äopf bog
firf) wie ein Bufrf).
©ie ^janb bes Jremben bog ihren Äopf in bie
6 s würbe bell um feinen JTtunb, fie faf) feine 3äf>ne.
Sie erfannte bie Sigur ihrer Äinberträume. B o 11 f cf)ei*
nenblagbiesma(bas£ä(f)eln besGrgengels
weißglühenb um fein Gefickt. Sein Scheitel war
blonb auf bie Seite gezogen. JTtit einer unbegreiflichen Be»
wegung fagte er: „JTteine 3eit iß ba."
Sie gitterte unb ließ ben «Kopf finfen, er fiel auf bie 6rbe.
3n ihrem fluge lag ber Schimmer bes feinen. Sie faf> ge*
bienbet nicht bas Gras, bas in ihr Geficf)t firf> legte. Sie
wimmerte in bie 6rbe: „JTtonfep ..."
„Steh auf," fagte ber Grgengel, ben fie mit ber Sprache
ihrer Äinbheit JTtonfep nannte.
3h* Schrei gellte: „Cafpare."
©ie Bäume raufrf)ten im ©unfel gefaltet unb bogen fi<h,
ohne baß fie fie faf>.
©er lirwalb bröhnte aus ber iPerne. ©ie Stämme wieg»
ten ftrf) aneinanber. Böget fchrien bumpf aus bem Schlaf.
Sie weinte wie ein Äinb ein bilnnes ©Jemen. 3hre Änie
festen fich auf ben Boben, fie ßü$te fich mit ben j^änben.
Auf ben oieren Hämmerte fie ftch an bie 6rbe, ihr Äopf
ßieß in einen Bufcf).
Eine Stimme fagte: „3<h parlamentiere nicht mehr."
©a hörten bie Änie auf gu fliehen.
©ie $aare hingen gerwühlt in bas Gefixt, fie bog ben
Äopf hinauf, unb ihr JTtunb oergerrte fich in ßaß:
,,©u. ♦brüllte fie.
„Steh auf."
Seine Stimme hotte bie furchtbare 6ewalt einer anberen
JBelt, beren Güte ben ©onner hot, mit bem bie BJahrheit
334
grauenhaft fein fann. Oas JHäbcfjen fpürte ben entfehlich*
(len Bergewaltiger. XOo fie ftcfj am 6nÖe mahnte ihres un»
ruheoollen lüeges, erfchten erfl ber große 3erßörer. Aber
ba fie feinen Sinn nicht gleich oerflanb, warf fie fich ihnt
mit aller Äraft entgegen.
3hre Eenben rourfjfen grab. Sie wagte, ihm in bas Gefleht
ju fehen. Sie fchleuberte auffcfjreienb ihren Blicf in fein Ge*
ficht. Oie bunflen Brauen jerfdjlugen fich flach tat Oreiecf
gueinanber gefreugt. Oas graue Eicht brach aus ihrem
Auge unb fprengte bie ©unfelheit unb flammte oor XOut.
Allein fein Auge gerfcfjoß es wie einen Spiegel. Sie (lanb
ohne Befinnung. 3hr Blicf fiel gufammen. Sie wanbte
fich ihnt gu mit einem JTeigen ber Ach fei.
6r fing fie auf. Seine Eippe fing ihre in einer graufa«
men Umarmung. Gr pacfte fie um bie ijjüfte. Oann warf
er fie neben fi<h in bie Potfier bes Xöagens, ber mit auf«
heulenben IRotoren in bie Jtacf)t hinaus (ließ. 3f>re Älei*
ber fchtoanben unter feinen Jrjänben. Oie Eiber gefchloffen.
gab fie jebern Orucf feiner £>anb nach*
6r Hißte ihren Eeib, ber unter feinen Singern fich run»
bete toie eine Jrucht. 6r Hißte alle Strahlen ber tätowierten
großen Sonne, bie um ihren Jlabel lag. Oie feinen roten
Striemen begannen aufgubrennen mit breiten Jlänbern.
Sein Jltunb mar ohne Erbarmen. Sie fühlte fich gang nur
glühen unb leben an ihrem Eeib. Unb währenb bas SFeuer
ber Augen ertofcf), ßanb in ber gweifachen Oämmerung
bes Jlaums ihr Eeib toie ein Geßirn mit einem .Ärang non
Strahlen, bie fich an ben XDänben brachen.
Oas raufchenbe JReer fiel mit ben Schiffen hinter ihr
gurücf. Oas Eanb ber Jpeimat brach auf mit ben UJäl*
bern. Oiefer IRann hielt fie, baß fein Gebanfe ihr Jrjirn
fanb. Uergehenb an ihm, entflammt oon feinen Äüffen,
bie ihr Blut burchjagten, brachen bie Augen ihr. Sie fchtug
ßöhnenb unter ihm bie jjjänbe oor bie Augen unb rief oer*
zweifelt: Cafpare. 6r Hißte fie xoilber. Sie gab fich ihnt hin
unb fchrie burch bie Senßer:
„Cafpare..."
335
Sein JTtunb bedpte ben ihren. Sie jaudjjte. Sie füllte
nichts onberes um ftd), ober ihr iperg hielt fefl tro£ ber
IHa^t feiner Umarmung, unb blinb fcftrie fie toieber:
' . pe ♦ « ♦ re “ ™*
Sie fanf gurücf, erfcfjöpft, in bie Polfier. 3hre Sippe toar
feucht unb rot. Sie bebte.
„“Du toirfl ihn nie mehr fef>en."
Sie fagte fefl in ifjr deinen:
„3cf> habe if>n ollein geliebt."
©a ließ ber Erjengel ihrer Äinberträume bie Brutalität
fahren, bie if>n ben JTtännern ihres Sehens ähnlich, xoenn
auch riefig überlegen machte. Ctroas oon bem Engel
Filippo Sippis fam in fein Geficfjt.
Seine jpanb traf ihr Änie mit einer beruhigenben Be«
rührung:
„Er war bein Phantom oom Gtücf. Begreife bies nur.
Es hat bein Seben geblenbet bis heute. Du fannß aber nicht
über bein Scf)itffal."
Sie fah ihn fefl an unb fragte leis:
„das will ein Seben oon mir, bas mir alles jemißt?"
„Schau auf bein Jrjerj."
Sie lächelte mit ben TRunbxoinPeln, bie fich nach unten
bogen:
„3(1 es nicht ooll Sehnfucht?"
©er dagen jog aus bem dalb. Sie fahen ben 3Ttonb
über bie Scheiben feurig fchxoingen. ©a flog ihr aus bem
fchranfenlofen ©unPel Der Rächt hinter fi<h xoie ein Echo
mit ber Stimme bes dalbes ihr le£tes dort bonnemb
jurücf:
©ie Sehnfucht.
Sie fah auf, frtumphierenb unb erfchrecft. Sie fah ben
Engel lächeln: „Schau."
©ie helle JTtonblanbfchaft jog fich jufammen. 3m her»
untergetaffenen Senfler bes flutos gerann fie jum Spiegel,
gart tote Silber, eine metallene platte.
3hr Geficht oerfing fich barin. 3hre eigenen Augen fahen
fie aus biefent Spiegel an, ber eigene «Kopf bilbete fich ihr
536
entgegen. Sie fab bie 3tafe, tm dürfen efmas fübner, bte
Schläfen eingebogen unter bem Sjaar tute oon gu großer
Sebnfucf)t. Das gange Gefickt faf) auf fie, fein Soleier oer*
»irrte es. Cs »ar if>r nicfjt mehr fremb.
Sie fämpfte einen jpergfcf)lag mit bem JTtunbe, ber fie
anfaf). Dann lächelte fie. Sie mußte nicht mef>r »einen.
Die Saite be»egte ficf) leife gitternb.
Sie »ar fo fef>r ooll £eib, baß fie ben .Kopf neigte unb
fie anfaf). Da neigte ficf) bas Bitb in bem Spiegel if)r ent*
gegen. Cs fam auf fie gu, unb ber bittere JTZunb »urbe
geünber, je näher er if>r fam, um fo froher. Sie »ehrte
ficf) nicht mehr, unb fo oerfcfjmofgen fie facht miteinanber
»ie g»ei Schatten. Sie gingen ineinanber ein.
3f)r fluge »urbe oor ßiller IXJef)mut leuch tenb. Sie fenfte
ficf) gurüd?. 3n einem füßen Strom burd; liefen fie alle
Scf)mergen, bie fie erlitten, alles £eib, gegen bas fie gef>a»
bert. Sie füllte ficf) in ihrer Trauer tief bebrücft. Sie faf)
gurücf, roo ber Spiegel »ie eine £anbfd)aft ficf) auffcf)fug.
Sie faf) bie JTIänner, bie ihr £eben beßimmten: Sie fab
Cafpare traurig. Sie irrte fucfjenb nach Stefan burcf) bie
Crbe...
Dann faf) fie anbere, bie in ben Spiegel fauchten. „3cf)
habe »ef>e getan'*, fagte fie. Sie faf) £e Beau oerfcf)»inben,
aber er trug ein £äcbeln in feinem Auge ooll Geiß. Glücf
fam über fie immer linber.
3f>r fluge traf ben Sremben. Cr beugte ficf) über fie:
„3lun begreifß bu?"
Sie blicfte auf ihren Gürtel, in bem Stefans Safjne
ßecfte, im roten Tucf) ber Piraten bie ringlofe ßlberne
Sauß... fein Gefickt mefjr »ie fein XDappen. Die £inie
ber Aber burcbȟblte bas Silber bes Gelenfes.
Da ßanb fein .Kopf in bem Spiegel. Quaörattfcf), ge*
bartet bog fid> bas .Kinn um bie XBangen. Der Schatten
g»ifcben feinen Schläfen über ber Stirn, ber ibn ibr ent*
femte, glängte ein »enig. Aber Die Brauen lief bie $alte.
Cr ßanb oor JTionfep. Die Stäche feiner Stirn roanbte ficb
unbefiegt gegen ibn. Da fab fie, er lächelte. „3<h fyxbe bicb
nie oerßanben", flüßerte fie. Sie begriff ihn. Cs »ar
22 $te beuifd&e Lobelie.
337
fcfjüocrcr fern Schtcffal gu tragen, ata ea gu befämpfen. 3Tt!t
fchmerglicher Berhaltung, groß, fcfjtoanb er oon ihr, ber
fein £eben, brutaler unb wilber ata ein anberea, fo befiegte.
Sie flaunte, ata hätte fie nie gefefjen. 3n alle Poren trat
if>r baa £eben näher. 3f)r war, fie fähe gunt erftenmal.
£e Beau fianb in bem Spiegel. Jtofenfran£. 6rif JIteir
Glifha. Alle, b'te ihr £eben gefüllt, gogen oorüber. An jebem
Äopf würbe ihr Gefitfjt noch fliller. Auf jebea Stirn fianb
ber Schatten unb glänzte mit einem entfagenben Triumph.
Sie mürbe mübe in ben Augen, bie nicht weinten, ©a
fianb mit großem $euer im Blicf ber .Kopf bea, ber bie ltn*
rafl oererbte in ihr Blut. Sie faf) ihren Ahnen. Gr war
fchön wie ein Sott. Seine Schläfe war hart unb gebogen.
Seine Brufl umfchlug eine BJolfe. ©er heiße Geruch feinea
£ebena färbte gebunfelt baa monbfilbeme JTtefall. Gr trat
heroor. ©er JTlunb lachte oor Begehren. Gr neigte ft<h ein
wenig.
©a flüfterfe fie feinen 3Tamen gärtlicf) unb empfanb ihn
überall: eine Aber burchrann fein Geficht, baß ea gucf te unb
ruhig warb. Seine Stirn glühte furg in einem fchweren
Schein, er hotte oiel getragen.
„Xöäre es fchön, wäre es nur erträglich ohne bies?"
Sie fah mit heiterem Blicf in bea Grgengeta Auge.
©ann fagte fie:
„Cafpare?"
©a befam fein .Kopf ben bunflen Glang, ber richtete,
wieber:
„Schweig", rief ber Gngel ungebulbig unb. flreng,
„Xöillfl bu gurücf in bie Torheit beiner Sehnfucht?"
Sie fah ihn on. 3hr war, fie oerflehe ihn gang. Sie lä»
«helfe unb legte bie j?anb in bie feine. 6a gab nichta, waa
fie nicht begriff, fo war fie oott £iebe, baa le£te gu begreifen.
,,©u hottefl nie 3eit, blch gu befinnen. Schau in mein
Geficht: biß bu gereift an bem Glücf, baa ea nicht gibt, unb
baa bu fuchtefl? Jlein, bu wuchfefl an bem, waa bu oer*
lorfl. ©u nahmfl nur, bu genoffeß. ©u unterwarfß bi«h
nie/'
Sie gitterte unb fah tf>n immer an.
338
„3*."
Er wurde milder:
„3ef) weiß, du warf} gut aus Siebe manchmal. Aber nur,
wenn du (iebteß. Don da aus nur fafjft du die IDelt. Ou
tatef} \d)led)t auch aus Siebe. Begreif/} du, daß dies nicf)f
das leijte iß?"
Sie niefte: „3a."
„XDeißt du, warum ich nicht litt, als es dir fehlest ging
und du ßhrieß, daß du deine Kindheit erßrebteß. So Ieicf>t
iß das nicht. Weißt du, warum der Engel die ltnbefüm»
mertf>eit deiner Sagend nid)t gurücftrug in deine Bruß...?
Ou mußteß erß leiden. Ou mußteß dich befömpfen. Ou
mußteß fo tief fallen, daß dir nichts mehr blieb und du
dann erß das Ewige gewahrteß, weil du fefjr weit oon ihm
entfernt warß. Erß wenn du dich lange unterwarfeß, erß
dann fefjrt Uber das llberwundene die Scf)Iic^tf)eit deiner
Kindbett gurüef.
Begreif/} du die Seiden, die du befämpft fraß, ßatt daß
du ße liebteß?"
„Aber'', fagte Oaifp weinend, „icf) liebe fie."
„Es ßnd die Keinen erß. JTtit den ßeigenden fahren
werden ße größer. Oie wilden werden erß fommen."
Sie lächelte: „3<h bin bereit."
3(>r war, es entfalte fiel) ein Seben in if>r, das ße nach
außen durdf)dringe in einem unbefannten Gefühl. ©as alte
Gelebte ßhwand lang/am als Traum. Oas, was ße gelebt,
tarn mit neuen Gefühlen.
„IDas willß du mehr oon mir?" fragte ße.
Sie faf> ein Sätteln in feinem fefjon undeutlichen Gefickt:
„3<h will nichts mehr nun", fagte er. „3eh wollte dir
nur Beine Prüfung erfparen."
„BJer biß du?" fragte fie erfchauernd.
Es war dunfel im XBagen. Sein Geftcfjt glängte nicht
mehr. Sie fah feinen JTtund nicht mehr deutlich. Es war
fo, als fage er:
„Ou... felbß-dein... Schieffal."
Sie wagte nicht aufgufehen. Es überfiel ße wie mit
Bleien. Aber ihr Auge hatte eine ßitte Äraft. Sie hob die
22 *
339
£iber. Gang ooll JTtilbe ftrafjltc fte graues £i<ht gart in
bte Dämmerung. Da faf> fte fein Gefecht fich oerbrettern,
als fchwimme es in ben «Raum.
6s würbe ein «Kopf wie aus XOacfjs gegoffen fo runb,
ohne Braue, ohne flusbrucf wie eine .Kugel... Cfjarafter
nirgenbs unb an jebem Drt. Äinn war wie Stirn, unb
wenig ünberung beflanb ihm gwifchen Df>r unb Jtafe. Auf
bem Gefecht frf)webte bas £ä$e(n wie eine Klage, bie tfjr
£eben mafj.
Da fai) fie gum erflenmal hinein unb ertrug es.
Da wich es oon if>r langfam unb gart. Das Gefickt tä»
ehelte ooll Güte, Auch ber Grgengel, ber ihren Traum feit
ber Äinbheit bewahrt batte, wicf) nun aus ihrem £eben,
beffen 0agb nun gu 6nbe ging, nacfjbem er als flärffter
ber Klölfe ihr ben llnfinn ihres £ebens bewies, inbem
er ihr Srieben brachte. 6r hatte, flug wie alle Abgefanbten
Gottes gewartet bis gum 6nbe unb erfl gefprochen, nach*
bem fie alles erlebt hatte.
Klee in einem bumpfen Traum lag fie im Klagen.
Sie fah ihren Partner faunt mehr. 3f)r eigenes Heines
£ebensfpiel fah fie beenbet in einem ungeahnten Sinn.
Der le£te KJolf, ber fie gum 3iel gehest, bafj fie ihr £eben
begreife, oerlief? fie. Jtoch fchwanfte bas £äei)eln. Dann
lofcf) ber lebte Partner aus wie ber Glang auf feinem Ge«
ficht mit ber beenbeten Beftimmung.
Sie war allein, bie 3ugenb hinter fich... große Geflime
über ihrem Blicf, bie fie erflaunten.
Sie weinte nicht mehr, bie £ippen oerflärt, ben Äopf
hingegeben jebem ßefchicf, bas fomme, bafj fie barin reife.
5f>re Klangen waren milb. Der Blicf in bie eigene Brufl
gefehrt.
So fah fie bie £anbf<haft in ber Stacht oorüberbraufen.
Aber fie war mit ihr oereinigt wie noch nie. Stiller,
wunfchlofer empfanb fie jebes Ding. Sie gog fie nicht mehr
in ihr Glücf. Sie oerflanb fie. Sie fühlte ben Schmerg bes
Spalters, ber ihre £aterne flreifte. Sie fpürte bas Schleifen
bes Klinbes an ihrem $aar. Die .Kronen ber Bäume, bie
fich im Dunfel über ihr falteten, bogen fich in ihr. Sie
340
hörte baa Sterben ber «Rebe aus Öen HJölbern gu ihr Pom*
men. Oer bomternbe itrwalb fpielte gebömpft auf ihr.
Sie füllte ficf) gittern bis ouf ben lebten Grunb. 3T£ef)r
erglängte ifjr Geficbt oor £iebe, eins füblenb ficf) «nb oer*
bunben ftbmerglicb oller «Kreatur.
Ste föloß bie Augen. Ste legte ficf) gurüc? in ben Ufa»
gen, bie großen longgeformten 6lieber belebten fid) fcbön.
Sie f)ob bie unoerfefjrte Bruß über bem gezwungenen
£eib. Oie «Räber flogen über ben Boben ber Heimat, fie
fpürte es nicht. Sie faf) in bos Spiel ber 6eßirne: 3of>re
ber «Reife, bie bunfel borüber ficf) bogen. Sie lächelte. Sie
füllte tief, wie ßorP fie fei gunt £ieben unb wie tief fie bereit
fei, es war fefjr oiel noch oor bem Tob.
Oo umwehte ihr oerfunPenes Geficbt ein «Kaufeben: wie
oon gwei ungeheuer entfalteten Jlügeln umbrauße fie bie
£uft. Oie SüßigPeit erbulbeten £eibes burebbrang plö0licf>
ihre Abern mit unbefebreiblicbem Glücf. Cs war wie bie
Seligfeit ihrer 3ugenb. Sie Pebrte, anbers, in fie gurüeP, 3n
ihr felbß war eine unerbittlich weiche Stimme: „6s gibt
Peinen llnterfcbieb bes DJeges. Jlur bas 3iel iß bas gleiche,
©u baß bie Oemut. Geb, lebe. HJas bu nun berübrß
auch, iß meine Spur/' 6s war ihr faß, ße ßblafe, aber ber
JTtonb ßanb feurig über ihrem Gefickt.
341
$et 1 e % t t Kaffee
Bon Klabunb
^Vjer fotfcrlitfjc Knabe toaste auf. Cr fchtug ben gelb*
eibenen XJorfjonc jurücf. Cr Iaufcf)te toie ein H«fe,
ber JTiänncfjen macht. Oie regelmäßigen fltemjüge ber
fchlafenben Oiener unb Cunuchen brangen aus bem Bor«
jimmer burrf) bie bünne Sanbelfjotjtoanb 3 « ihm. 6 r erhob
ficf); eine funfloolle europäifcfje Ufjr, ein SchmieÖ, ber auf
einen flmboß fjämmert, begann fieben gu fcfjlagen. Cr läu«
tete mit einer Weinen golbenen 6 loefe, bte auf einem JTiafja*
gonitifd)(f)en neben Bern Jtufjebett lag. Oie Flügeltüren
totsten auf, unb ber Dberhofmeißer, ein JTIanbarin lebten
Grabes, erfcf)ien. Jieunmal berührte feine Stirn ben Boben
cor bem Kaifer, ber in roten £eberfrf>ul)en, einem gelben,
mit Spmbolen beßieften JTCantel auf einem Blaufuchsfelt
flanb. Orei Oiener fprangen toie aus bem Bauch bes fet¬
te« JUanbarinen heroor: ber erfie offerierte eine Taffe mit
Tee, ber jooeite eine Schale mit Konfitüren, ber britte eine
£acfbofe mit 3igaretten. Oer Kaifer nippte im Stegen am
Tee. Cr betrachtete aufmerffam bie Frühlingslanbfchaft,
bie auf ber Taffe abgebilbet toar: blüfjenbe flprifofen»
bäume, barunter ein £iebespaar, in ber Ferne ein
Teich, eine 6 onbeI, im Hintergrund ein SjilQel mit einer
Pagobe. Oer Kaifer fräufelte bie £ippen, als er bas £iebes*
paar fah, in ltnfchutb jeber Seligfeit hingegeben. Gine
Falte burchbrach feine glatte, finbliche Stirn. Oer Oiener,
ber bas Teebrett hielt, jitterte. Kaum oermochte er fief) auf
feinen bebenben Knien ju holten. Oer Kaifer ßellte bie
Taffe nieber, baß fie flirrte. Cr machte eine H an bbetoe*
gung. Oie brei Oiener fchnellten jurücf. Oer biefe JRanba»
rin erneuerte ben neunmaligen Kotau. Oann fpraef) er,
mit ju Boben gefenften Bliefen: „Oie Taffe, in ber ber
342
. Diener pttatt 9 n 9 *^ ee fwoierte, erregte bas JTüß*
faden 6uer ^imnttifchen JTiajeßät. 3cf) »erbe Befehl geben,
ben Diener ausjupeitfchen." Der «Katfer überhörte bie ge«
flüfierten Worte: „£aß 4r>i fontmen."
Spi, bte Amme, watfchelte auf ihren gefchwoltenen Süßen
gerbet. Die Augen bes Knaben leuchteten, als er fie ah,
„3ief> mich an, Sp i." „IDelches Geraanb befehlen 6uer 3Tia»
jeßät? Das himmelblaue, mit Orangenbtüten beßtcfte?
Das fchwarje mit ben Sternen unb hintmtifctjen Siguren?
Das braune mit ben Darfieilungen bes Acferbaues unb
ber Biehjucht? Das purpurrote mit ben Spmboten ber
gtürflicften £iebe?" — Der .Knabe mar erblaßt. 6r ßampfte
mit bem 5uß bem Blaufuchs auf ben präparierten Schabet,
baß er fnacfte. Die Amme fah fcfjief oon unten, bie Arme
bemütig über bem coet<f)üchen Bauch gefaltet, ju ihm ent*
por. 6r manbte fich nach ber BJanb unb jerbrücfte eilig
eine Träne, bie eines Gaffers unb Gottes nicht toürbig war.
„Jüan hot mir Sep*pen genommen. JTCan hot mein Sptx%
oerwunbet." Die Amme fchwieg. „Ats ich geßern nacht,
oon jtoei Eunuchen begleitet, bie Gemächer ber Äaiferin,
meiner Srau Gemahlin, auffuchte, trat mir ein 3eremo*
nienmeißer, ein bürrer, fragmürbiger Intrigant mit einem
neunmaligen .Kotau unb einem Grinfen bes Bebaüerrts
entgegen: 3hre JTiajeßät, bie Srau .Kaiferin, toäre in brin*
genber poiitifcher Jltiffion am fpäten Abenb ju 3t)rer JTta*
jeßät ber .Kaiferinmttme Tfje*hi in ben Sommerpataß be»
rufen worben. Jüan habe mir foeben einen Boten gefchicf t.
Der Bote höbe mich nicht mehr erreicht. 3Tun fage fetbß,
was für eine potttifche JTtifßon fann $ep*pen, bie ein
Äinb iß, fünfzehn Jahre alt unb noch ein Jahr jünger
als ich, in ihre Weinen unwiffenben £änbe nehmen? Diefe
Jrjänbe finb baju ba, mich 8« ßreicheln, wenn ich Schmer»
jen höbe. BJann wirb Tfje*hi, bie böfe BJarjenfröte, mir
5ep«pen, meine £ibe(te, wieber fchicfen? Sie wirb fie oer*
fchfingen, wie ße altes oerfchtingt, was in ihre 3Iäf>e
fommt. llnb babei foßümiert fie fich ats .Kwanpin, ats
Göttin ber Barmherjigfeit! Sie martert mich, nur weit ich
ber Äaifer bin unb weit fie JJläne mit mir oor hot, bte
343
bunfel finb tote bie Anfrfjläge ber Oämonen bes Horbens."
Sji fcf)toieg nocf) immer. Sie tat, als fjabe fie nichts oon
ben HJorten bes «Kaifers gehört.
Oer .Kaifer trat an ein Jenflef. Gin junger Gärtner toar
baoor befdjäftigt, Strauber ju befcfmeiben. ,,3<f) toill fei»
nes oon biefen faiferlicf)en Geooänbem mef)r am £eibe t>a>
ben" — ber «Knabe fnirfcfjte voie ein Pferb in ber «Kanbare
— n$?h gef) ju bem Gärtner ba, gib if)m einige .Käfcf) unb
oerfi(f)ere ifm meiner faiferlicf)en Gnabe: er foil mir feine
«Kleiber leifjen." $i toollte ettoas fagen. Oer «Kaifer fdjnitt
if>r mit einer fcfjarfen Jfjanbbetoegung bie DJorte ab, ef>e
fie ben JTCunb ©erließen. Sji toatfcf)elte oon bannen. Sie
fam mit ben f<f>mu£igen £appen jurücf. Oer «Kaifer toar
entjücft unb flatfcfjte in bie 4?änbe. Gr warf fie fiel) über
unb befaf) fief) im Spiegel. „Gnblicf) fefje idf) einmal toie
ein JRertfcf) aus — toas meinfl bu, Sjii’i DJenn icf) in biefer
JTtasfe unter meine Armee trete — werben fie in mir ben
«Kaifer erfennen?" Gr riß bas Senfter auf, fprang in bie
Sträurfjer unb Stauben unb war oerfcfjwunben. Sji fcfjrie
roiber alle Gtifette auf. Oann froef) fie jammernb jum
Dberfjofmeifier, ber fofort einige JRanbarine erfler «Klaffe
hinter bem «Kaifer fjerfcf)icfte. —
Oer «Kaifer fdjlug fi<f> burcf) Seitentoege unb Geflrüpp.
Gr fam an einen oerfallenen Xurm; flieg if>n hinauf unb
faf) f)inab. Oas £anb lag nocf) oor bem erflen Jrüijling.
Bäume, Käufer, Briefen, Oärfjer, «Kuppeln, Grbe, Jpimmel:
alles gelb in grau unb grau in gelb, monatelang fefjon
f>errfcf)ten biefe Farben über f?efing. Sie ermübeten if>n.
Gr feinte fiel) naef) blauem JTteer, naef) grünen EJiefen,
naef) roten £ippen, naef) ben roten bemalten £ippen feiner
fleinen «Kaiferin — beren £ippen rot unb jart waren wie
bie £ippen ber gefjeintnisoollen Göttin im Xempel ber Gnt»
fjaltfamfeit, bie nur er fannte. Gr f>atte fie entbeeft eines
Xages in einem l>alboerfcf)ütteten Getoölbe, bas jerfcfjlagen
worben war oon ben 6efcf)offen ber fremben Barbaren.
Sie toar bie befie, bie reinfie, bie fef)önffe Göttin. Gr betete
ju if>r in allen fcfjmerglicfjen Stunben feines Oafeins. —
Oer «Kaifer lag auf bem Xurm, auf bem peljiges, grau«
344
fübernes JRoos wucherte, Oo hörte er UJefjflogen unb faf>
in einen. Spof, mo ber Diener, ber ihm früh ben Xee feroiert
hatte, mit Bambushieben regaliert mürbe. Uber bie gelbe
ipaut floffen Heine, bellrote Blutbarfje. Der Äoifer empfanb
ein leifes IBoblbefjagen, als er bas «Rot in all bem Grau
unb Gelb auffchimmern fab. Cr flieg ben gebrechlichen
Xumt hinab, wobei er eine Siebermaus ins Xageslicf)t
fcheuchte. Cr ging meiter burch bie unenbtichen Gärten.
6r ging meiter burch Heine 3ppreffenhaine, an £otos*
teilen, Keinen Xempeln, JTIarmorbauten oorbei, an
£anbfd)aften, bie er noch nie gefehen. Cr flieg auf einer
Brücfe empor, bie fich mie ein Äantelrücfen mälbte: in
neun Bögen Uber neun Kanäle. Huf ber Jf?öbe ber Brücfe
blieb er, an bas Gelänber gelehnt, flehen unb blicfte hinab,
mo bie Gärtner im Xeich bie alten £otospflangen oerfepten
unb jungen .Raum gaben. 3n ber JTCitte ließen fie eine
Heine ZOafferflraße für bie Gonbein unb £ufljad)ten fret.
JRanche ber Gärtner flanben bis jum Jlabel im löaffer.
Cinige fangen ein monotones £ieb:
Lotosblüte,
Xocf)ter bes Rimmels,
£uflgeborne, fiuflerforne,
löte balb oeröuftefl, oerblühfl, oerfaulfl
fluch bu —
Ciner ber fluffeher fah jufätlig jur Brücfe empor unb ent*
beefte ben Äaifer in ber Gärtnertracht. Cr fchmang feinen
Bambusflab: „S)t, bu Saulpelj, bu £ump, bu Xagebieb,
millfl mie ber Äaifer oom Xhron gufehen, mie anbere arbei*
ten! herunter mit bir, fonfl laffe ich Wf bie Baflonabe auf
bie Sußfohlen geben!" Der Äaifer lachte unb tief bie Brücfe
auf ber anberen Seite fünf hinab. Cr fanb einen .Kahn
tofe angefettet unb flafte fich auf bas anbere Ufer. Cnten
unb IBaffertauben begleiteten feinen filbernen Xöeg. 6r
fprang über eine JBiefe, bann in ein bichtes Sarngebüfcf».
3n einer £lchtung marf er fich ju Boben unb fchlief fofort
ein.
Als er aufmachte, faß ein JTIäbchen neben ihm, vielleicht
fiebjehn Jahre alt. Sie lächelte oerlegen unb fragte fich
345
ihren grinbigen «Ropf. Sie war fjübftf), ober fchntuptg unb
oerwahrfofi. „Störe icf) bich in beinen Xräumen? Oie
UJinbe be9 Sübens mögen bir gemogen fein unb bir gört»
(irfjer als bie Jjjanb einer Geliebten über bie Stirn fireicfjen."
„JTlögen bie Oämonen bes Jlorbens bir immer fern bfei»
ben unb möge Ämanpn aus bem filbernen «Rrug, ben fie
in ihrer Einfen f)ä(t, bir einig bo9 DJaffer bes Eeben9 ou9
ben püquellen fpenben. 3cf) freue mich, bir gu begegnen."
Oer Äoifer richtete ficf) ein wenig ouf. Eibellen flogen über
tf>m f)'m, gelbe Schmetterlinge, bie wie flotternbe Jüan*
barine ausfahen. „Ou bifl wof>f oon beiner flrbeitsflette
weggelaufen?" Sie blicfte ihm forfcfjenb ins Gefickt. „3eig
beine $änbe." Sie nahm feine Jrjänbe. „Sie finb gort, ofs
batten fie nie gearbeitet, llnb f)ier: wa9 bebeuten biefe
Jlinge?" Oer «Raifer erfcfjraf. Gr hatte bei feiner üerwanb*
fung oergeffen, bie faiferlichen Jlinge: ben riefigen in Bril»
fönten gefaßten Saphir, ben Jling ber neun heiligen Perlen
abgufegen. Gr fächelte oerlegen: „Oie Steine finb foffcf).
3d> habe fie mof in ber Oorflobt einem Xänbler für ein
paar «Räfdf) abgefauft." Oa9 JTläbchen breite feine j?anb
mit ben Steinen in ber Sonne, bie ba9 Gebüfrf) gu burcf>*
brechen begann. „Aber fie finb hübfcf) unb gtängen gierftcf).
Schenf mir einen Jling! TTJenn bu magfl, will ich bich ba»
für Beben/' Oer «Raifer bachfe: wenn ich bie Jlinge oon
mir gebe, bin ich fein «Raffer mehr. Sie gehören gu ben
3nfignien bes «Raifertums. Jahrfmnberte haben bie Söhne
bes Rimmels ben bfauen Saphir af9 Spmbof bes j?im*
metsgemölbes getragen, unb jept foff tcf> ihn einem fchmut«
gigen JTläbchen hinwerfen, beffen Uater ein Jlicffchahfufi
unb beffen JTCutter ein JTläbchen aus einer nieberflen Xee»
fchänfe ifl. Gin JTläbchen, bas ich nicht fenne, ba9 ich nicht
Bebe, unb oon bem idf) mich auch, bie Götter mögen mich
behüten, nicht Beben faffen werbe. Oas ben unermefjßchen
DJert bes Jlinges nicht einmal ahnt unb ihn bem erflen
beften JTlanbfchufolbaten ober Xortenbäcfer weiter oer*
fchenfen wirb. — Oer Gebanfe ber Sinnfofigfeit biefes Ge*
fchenfe9 unb ber tiefen Sefbflerniebrigung unb Oemüti»
gung entgücfte ihn aber berart, baß er ben Jling mit bem
346
Sopfjtr oom Finger firetfte, eine Sefunbe gauberte, unb
• if>n bann tf>r an bie Jpanb ffecfte. Ste pfiff oor Sreube tote
eine S?a felntaus unb legte feine beiben Jjjänbe an ihre jun*
gen Brüfie. „BJer bift bu?" fragte er. „3<h biene als
Äürfjenmäbrfjen im Sommerpataff ]Jiü Schau 3fjrer er»
fjabenen JTTajefiät ber $rau Kaiferinroitme Xfje«f)i." Oer
Kaifer fprang auf bie Beine. ,,3cf) fjobe bir einen «Ring
gefcfjenft, unb menn er auch nidf)t otel XUert befitjt, fo bifl
bu mir bocf) einen Meinen Gegenbienft fcfjulbig. 3cf) bin
augenbficflirf) ohne Stellung, ber Gärtnerberuf besagt mir
nic^t mehr recht, bring mich 3« beinern Küchenmeifler. Gr
foll mich als .Küchenjunge anfiellen. Jltit meinen Kennt»
nifen ber Gemüfe unb Pilje unb Srüchte unb Salate per»
mag ich ‘hot gemifj bientich ju fein." Oas JTtäbchen
Matfchte in bie Jrjänbe: „Komm." XBenige Schritte hinter
ber Sarnherfe mar bie Blauer bes ]Jalafigartens. 3n ber
JTlauer mar eine mingige Öffnung, burch bie fich beibe
burchjmängten. Jlocf) einige Schritte burch eine Jjjecfen»
rofenhecfe, unb fie fianben auf ber Strafje an ber großen
Blauer. Oie Strafje mar oon Gefchrei, faufenben «Rief»
fchah9, Jrjänblern, GauMem, Cfeln, räubigen Jpunben, trip*
pelnben Srauen, jaulenben Kinbern, Strafjenmufifanten
belebt. 3elfe unb Buben maren errichtet. Jrjier pries einer,
einen fpi^en, unmahrfcheinlich oerfilgten S?ut auf bem
Kopfe, Sunbeherg an Stäbchen gebraten an. Jrjier gab es
Gfetefleifth, Srofchfchenfel in meifjer Gierfauce. J?ier mar
eine Bäcferei oon «Retshtchen unb 3ucfertorten. Gs roch
nach fchlechtem öl unb rangigem Jett. OTach Blofchus, nach
Knoblauch. 3Tach Sroiebeln, bie jeber britte im BTtunbe
faute. Oen Jrauen bot ein Krüppel, bem beibe Beine fehl»
ten, unb ber in einem Meinen Jrjoigmagen fich mit gmei
Stäbchen oormärts bemegfe, Otied)Mffen an. Gin Ber»
bredjer, eine hölgerne Kraufe um ben $?ala, mürbe oon
Solbaten oorübergetrieben. Gr grtnfle frech unb höhnte bie
Borübergehenben mit unflätigen «Rebensarten, unter be*
nen „Xochter einer Schilbfröte" noch bie gertngfle mar.
IBahrfager unb 3auberer batten ihre Buben. Oer eine
fagte aus «Reisförnern, ber anbere aus £tnien ber Jjjanb,
347
ber britte ö«s ben 3ei<hm bes Rimmels wahr. Je nach ber
flnjahl ber «Käf<h beforn man Böfes ober Gutes geweis«
fagt. Oie «Reichen Ratten insgefamt Glürf «nb Seligfeit ju
emärtigen. Aus Teefcfjänfen flang Gitarrenmufif. Eine
Xheatergruppe fptcltc unter freiem Spimmel eine fjiflori*
frfje Xragöbie „Oer lepte «Kaifer ber JTtingbpnaflie." Oer
Äaifer (am gerabe gurecht, um gu fefjen, rate ber fe£te
aus ber JTtingbpnaflie fich bie Schnur umlegte. Er frfjau*
berte ein wenig. Spatte ihm ber £iferaf, ber ihn in Gefchichts*
wiffenfcfjaft unterrichtete, bas furchtbare Enbe ber JTtings
oerheimlicht? Ober phantafierte ber Schaufpieler nur, ein
grell gefchminfter Burfche mit ben Allüren eines £ufl»
fnaben? Bei einem ©rachenoerfäufer faufte ber &aifer
einen Papierbrachen. Er lief? ihn über ben Buben empor*
(leigen, ben heiligen gelben Orachen. XOilb unb ungebörbig
tangte er im DJinbe. Oa rifi bie bünne Schnur, kopfüber
fchoß ber Orache gu Boben unb war oerfchwunben. Oer &aU
(er erfchraf wieberum. BJas waren bies alles für üble Bor*
bebeutungen? Oer lepte «Raifer ber JTtingbpnaflie, ber hei*
lige Orache, ber er(l fleil emporflieg, um plö^ltcf) untergu*
gehen. BJar ber Saben, an bem Chinas Gefcfjicfe hingen,
fo bünn unb leicht jerreifjbar? Oer «Raifer traf auf einen
HJahrfager gu: „Sag mir bie Waf)rf)eU! // Oer BJahrfager
wog bie paar föifch in feiner Jpanb. Es war ein 3auberer,
ber in einer «Ruine bes Puan ming puan, bes alten Som*
merpatafles, häufle. Er flrich (ich feinen Bart unb fagte:
„BJenn man bie JBinb* unb BJaffergötter beunruhigt, fo ifl
Sturm unb wilbe Slut gu erwarten. JTtan erhöhe ft<f> nicht
gu ben Göttern, wenn man nur ein JTtenfch ifl. Oie Xernpel
baue man Hein, bafl fie fich ber Erbe anfchmiegen: beflo
eher finbet ber Geifl bes Rimmels gu ihnen. Bon Uten*
fdhen, bie mit hatten unb BJanjen gu häufen gezwungen
finb, ifl feine friebfertige Gefinnung gu erwarten. JTtan
mache bie JTtenfchen gtücfücher, fo werben fie beffer wer*
ben. ©er Große opfere fich um ein kleines, ber kleine um
ein Großes auf. Oas Opfer ifl ber Sinn bes £ebens unb
ber Sinn bes Xobes. Oie 6nabe träuft oon ben Göttern
wie Spart einem Baumflamm."
348
©er Äoifer ;ing rtocfjbertflicf) oon bannen, hinter ihm
trippelte bas Äücfjenmäbchen, ben blauen Saphir eitel in
ber Sonne brefjenb. Sie führte ihn gu einem Seitentor bes
neuen Palaßes, wo ein DTIanbfrfmfolbat, gu bem fte tn
gewiffen Begebungen gu ßehen fcfjien, BJacf)e 6r
faute Xabaf unb fpurfte träge oor ficf) bin. Der Äaifer trat
auf ibn gu unb oerneigte ficf): „JTtein älterer Bruber möge
©ergeben, wenn fein jüngerer Bruber ibn tn feinen JTie»
bitaüonen ßört. 3cb bin einer UJilbgans begegnet unb
ihrem Slug gefolgt. 3cf> toäre entjürft, bicb als meinen
Sreunb begrüßen gu bürfen, benn icf) gebenfe bie Stellung
eines Äücf)enbeamten in biefem erlauchten Jpaufe angu«
nehmen/' „Tritt nur ein", jagte ber Solbat, ein wenig
barftf), aber ni<bt unfreunblicb/ ber bübfcbe 3unge Qefiel
ihm: „Du fommß gu einer wunberlichen Stunbe. S t jätteß
bu an einem ber ^aupftore Einlaß begehrt/ man hätte
bicb nicht t)ereinQelatfm" „Was bebeutef beine Olebe,
Chang?" fagte bas JTläbchen, „bu machß mich gang ängfl«
lieh." „Oie Pfeile, bie ben ßolgen JVeif>er treffen toerben,
finb fchon gefpipt. Das bunte .Kleib bes faiferlichen Pfauen
wirb balb oerblaffen. 6s ifl «Reoolution in ber Stabt."
„Jleoolution?" fragte ber Äaifer unb mußte ficf) bas Xöort
flarmachen. „löarum Jleoolution unb gegen wen?" „Ge«
gen wen anbers als gegen ben Äaifer," fagte ber Solbat,
„haß bu bicb nie mit Politif befebäftigt?" ©er Äaifer
fihüttelte ben .Kopf. „Politif iß bas, was bie alte, böfe
Äaiferinwitwe Xfge»hi betreibt. 6s fann nicht gut fein." ©er
Solbat rungelte bie Stirn: „Sei nicht fo oorlaut. ltnb fprich
oor allem oon 3t)rer JTiajeßät ber Äaiferinwitwe in einem
anbern Xon. Bielleicht biß bu gar felbß ein Jleoolutio*
när?" ©er Äaifer lächelte aus feinem bleichen Geficht h Er *
aus. ©er Solbat fuhr, ohne eine Antwort gu erwarten,
fort: „6s finb einige £iteraten gweifelhafter Grabe, Jlechts*
anwälte unb Oledfjtaoerbreber, aus bem Auslanb, aus
Amerifa gurütfgefommen. Sie haben ficf) bie 3öpfe abge*
fchnitten unb tragen 3plinber unb Gehröcfe wie bie weißen
Barbaren. OTun wollen fie, baß wir alle uns bie 3öpfe
abfehneiben unb 3ptinber unb Gehröcfe tragen: beshalb
349
iß Jleoolutlon. Berßehß bu bas?" ©er Äaifer ntrffe. „Ste
flefjen alfo mit ben weißen Barbaren im Bunbe. QU finb
Berräter unferes Bolfes. IBie entfehltcf)." Oer Solbat
nicfte. Er fputfte ben braunen Saft Im Bogen an bie
JRauer. „Sie haben geheime Gefellfchaffen gegrünbet unb
im Bolfe agitiert gegen ben Äaifer unb bte Äaiferimoittoe
im Flamen ber JTtenfchenrechte: ber Freiheit, ber ©emo*
fratie, bes Selbßbeßimmungsrechtes ber Bölfer." ©er
Äatfer buchßabierte oor fich hin: «ber Uten—fchen—rech—
te— 4 . . toas bebeutet benn bas? China iß hoch ein .Kai»
ferreich feit 3af)rtaufenben. Oer Kaifer ifi Sohn bes Sjim*
mets, ber JTtitfler gtoifchen ben JITenfchen unb Schang»ti,
bem Geiß bes Rimmels. B3ie wollen fie mit ben Göttern
oerfehren, wenn fie feinen Kaifer mehr haben?" „£ieber
3unge," fagte ber Solbat gärtÜcf), „jeber will eben ein Kai»
fer fein unb perfönlicf) mit bem Geiß bes Rimmels in Ber»
binbung treten." Oann lachte ber Solbat unb machte mit
ber rechten .fjanb eine Gebärbe bes 6e(b;ählens unb Gin»
fäcfelns. „Beim heiligen Oelphin, bu bifl aber fchtoer oon
Begriffen: oerbienen wollen fie — bas, was bte Jüan»
barine als Stelloertreter bes Kaifers bisher oerbient haben,
bas wollen fie felbfl oerbienen. Xael! Xael! Käfcf)! Ääfch!
Kwai gau für bie Keinen £umpen, nachbem bie großen
abgetreten finb."
Oer Kaifer toar oerblüfft oon ber Suaba bes Solbaten,
bie auf ihn einftürmte. Gang begriff er ihn nicht. Seit toann
hanbeife es fich int £eben bes 3Ttenfchen um Xael ober
Käfch? Bas toaren hoch gang nebensächliche, lächerliche
metallifche Begriffe, mit benen man ipunbeherg am «Roß,
einen Papierbrachen, oielleicht auch eine Jrau faufen
fonnte. Aber ber Geiß bes Rimmels — toas hatte er mit
Xaels gu tun? Oas Jltäbchen brängte: „Komm nur herein.
Oas Xor toirb balb gefcfßoffen unb bu mußt toiffen, wo*
ran bu biß." Oer Kaifer oerbeugte fleh oor bent Solbaten,
bat, ihn Seiner Jpochwofßgeborenen Samilie gu empfehlen
unb folgte bem JTiäbchen. Oas Jltäbchen führte ihn gunt
Küchenmeißer BJang, ber mit frebsrotem Geßcfjt in einer
Xerrine rührte. „3ch bringe Euer ipochwotßgeboren einen
350
btenßeifrigen Änecht." Oer Äatfer trug feinen UJunfcf) mit
Anßanb oor. „JXun gut," fagte ber gutmütige IDang, ber
nie nein fagen konnte, auch ben Srouen gegenüber nicht,
er ahnte, baß burcf) Annahme bes «Küchenjungen gum
minbeßen bei JToa etwas für if)n heraus« ober herein*
fpringen werbe. „Jtun gut, mir wotlen’s mit bir probieren.
&annß bu auch ferneren? Ou haß ein hübfches, gelecktes
6efkht, fo als lecke bi«h beine JTiutter, bie Ka^e, jeben Sag
breimal ab. Jüan könnte bicf) bei J?of präfentieren." Oer
tfaifer hatte bie JTIanieren ber Oiener bei ben feinen ßubte«
ren können. Cr glaubte bei Jpofe ßtlgerecht aufmarten gu
können. „Jtun gut. IDir werben fehen. Jloa wirb bi<h gum
Bekleibungsmeißer bringen."
Gerabe, als ber &aifer in bie kleibfame, weiße Xracf)t
ber Diener gehüllt würbe, entßanb eine Aufregung im
Palaß, bie ßd) non ben Soren ins 3entrum ber 6emächer
ber Äaiferinwitwe unb oon ba in alle Seitenflügel ßrah*
(enförmig fortpflangte. Oer £aifer war aus bem alten
Palaß oerfd>wunben unb tro<} eifrigßer Sorfcbungen nicht
aufgufinben. Jltan hatte ihn in ben neuen Palaß in Sicher«
heit bringen wollen: er war gewiß ben «Kebellen, ben oer*
fluchten .Republikanern unb irrfinnigen Anhängern ber
weßlichen Barbarenibeologie, in bie j?änbe gefallen. Oie
&aiferinwitwe war außer fi<h. Sie fchlurfte in ihrem Ge*
heimgemach, bas oon Parfüm betäubenb roch, aßhmatifch
aufgeregt auf unb ab. Png, ber Dbereunuch unb ihr Ber*
trauter, immer hinter ihr her wie ein Büchlein hinter ber
ijjenne. „Png, was foll ich tun?" Sie tat einen 3ug aus
einer Opiumpfeife, bie in einer Ccke tag. „Cr iß baoon*
gelaufen. Das iß es. Cr iß felber ein 'Rebell, ber Sohn bes
Rimmels, Png. Cin ungeratener Qunge Iß es, bem wir
immer no(h guoiel nachgefehen haben. BJas wirb er tun?
Cr bekommt es fertig, fid) gu ben Jlebetlen gu fchlagen unb
gegen mich gu konfpirieren: als kaiferlicher .Republikaner,
als republikanifcher Äaifer. Sfchang*tü»tfi, ben fie gu ihrem
Präfibenten machen wollen, iß ein alter Jlarr unb Äna*
benfchänber. Cr wirb fich in ben Äaifer oerlieben, unb wir
haben bie Beßherung." Sie fchnaufte fchwer unb fah wie
35i
ein großer brauner tProfcf) aus, ber auf £anb frfjtoer atmet
„9ng, was macht bie junge Äaiferin?" „Sie hat ficf) in ben
Scfjlaf geweint/ JTlajefiät." „Sinb bie Xöad)en oerftärft?
3(1 für ben Jall eines Abzuges burcf) ben geheimen unter»
irbifchen Sang alles in Orbnung?" „Alles in Orbnung,
JTlajefiät!" Oie Greif in lief} ficf) jammernb auf ein Riffen
fallen unb griff nach fanbierten Jlüffen, bie in einer Schale
auf einem Xifch<hen fianben. „9ng, was wäre aus ien
JTtanbfchus geworben/ wenn idh nicf)t gewefen wäre/' Sie
wiegte wie ein JTiarabu ben .Kopf. „löir muffen ben Kaifer
wieber haben, fo ober fo. 3um Glücf ifl bie junge Kaiferin
fcbwanger. Oaf} fie einen Sohn gebärt: bafür werbe ich
forgen ..." —
Oie junge Kaiferin liefj ficf) bas Abenbeffen in ihrem
Schlafzimmer feroieren, wäf>renb fie auf bem Kang lag.
Zufällig fiel if)r Blitf auf einen ber Oiener. Sie fenfte bie
Jöintpern, befahl ben Eunuchen unb zwei Oienern, bas
Sintmer ju oertaffen. Oer britte blieb. „Äwang*fü! / ' rief fie
leibenfä>aftlicf) unb brüefte ihn, ber faum 3eit hatte, bie
Paftete beifeite ju (teilen/ an if>re Bruft. „Oie Htinbe bes
Sttbens fraben bid> ju mir gewebt. löte oerlangte mich
nach bir! JTticf) unb bein Kinb!" Sie führte feine jrjanb
unter bie Oecfe, wo er unter ihrem (eibenen Jrjemb bie
erfle Jtegung (eines Kinbes (pürte. Sine Träne wollte wie»
ber in fein Auge. Sr bef>errfdf>te ficf). „3cf) bin oerfolgt unb
weif} nicht oon wem. 3rf) bin geraubt unb weif} nicht W03U.
3hre JTlajefiät bie Kaiferinmitme lief} mir fagen, alles ge»
fchehe gu meiner perfönlichen unb ber Opnaflie Sicherheit.
6s tobte ein Aufflanb in ber Stabt. Jlieber mit bem Kaifer,
riefen (ie. 3(1 bas wahr, Kwang*fü? löas hafl hu ihnen
getan? Ou fannft boch niemanbem Böfes tun?" Oer Kai*
(er judte bie Achfeln: „Aber oielleicfjt bin ich böfe, oietleicht
bin ich für bi? Aufrührer bas böfe Prinzip, unb bas ifl’s,
was fte oernichten wollen. Jüan hat micf) aufgezogen in
bem Stauben/ baf} ich bes Rimmels Sohn (ei/ ber Stell«
oertreter Gottes auf Srben: aus ber Snabe bes Seiftes
heraus. Jpabe ich mir biefe Snabe erworben, erfämpft?
Wo höbe ich ein Opfer gebracht? $ep»pen: ich bin ein arm»
352
feliger ITCenfch, ni d>ta weiter. 3cf) habe nie etwas getan:
toeber Gutes noch Böfes. 3 e £ ( ntiifSte icfj eine Xat tun:
aber welc&e?" 6r fiel in Sinnen. Sep*pen fireicfjelte feine
Stirn: „Du biß aus bem alten Palaß geflogen in ber
Xracf)t eines Dieners?" Der &aifer lächelte: „D nein. D3o*
oor hätte lcf> fließen follen? 3cf) wußte nichts oon ber
Rebellion, als ich oon jpaufe wegging im Gewanb eines
Gärtnerburfcfjen. Das Sd)irffal iß oor mir hergelaufen.
Als ich hier anfam, war es fchon ba unb berichtete mir in
Geßaft eines Solbaten ber Xorwache, was gefcfjehen." Die
Äaiferin flreicfjelte feine Jpanb, ihr Xaßfinn oermißte eine
golbene Unebenheit, fie jog bie Jrjanb erfchrecft herauf:
„<Rwang«fü, wo iß ber himmlifche Saphir? bas Spmbol
beiner Äaiferfraft?" — Der «Äaifer fämpfte: ,,3 : ep;pen
— wirß bu mich begreifen? 3ch hübe ben Stein oerfchenft,
erbleiche nicht, Sep=pen, ganj einfach, ja eigentlich finn*
unb gwecflos oerfchenft. Die Perfon, bie ben Stein empfan»
gen hat, weiß gar nicht, was es mit ihm für eine Bewanbt»
nis hat. Unb habe ihn oerfchenft, weif, ja weil ich an bie
Xrabition ber 3ahr(mnberte nicht mehr glaube, fonbern
nur noch an mich. Dielleicht glaube ich auch nicht an mich,
oielleicht zweifle ich nur an mir: aber 6taube unb 3weifei
finb ja Äinber eines Hafers. Gntweber bas Äaiferfum be»
ßeht ahne ben Jling in mir — ober es beßeht gar nicht.
Dielleicht haben wir es fchon oerloren. Unb überbies —
er lächelte höflich — Öen «Ring mit ben neun heiligen Per»
len befipe ich ja noch." — Die «Kaiferin lag ba, bie Augen
gefcfßoffen, Xränen gwißhen ihren DJimpem. 6r oerließ
fie auf ben 3ehenfpipen, burcfjfchrift im Dominanter bie
Reihe ber Eunuchen, bie oor ihm auswichen, ohne JU
wiffen warum. 6r oerließ bei feinem Sreunb, bem Sol*
baten ber britten Seitenwache, ben Palaß, gelangte bur<h
bas £och in ber JTtauer in ben Parf bes alten Palaßes unb
fchlicf) auf Seitenwegen jum Schloß. Das Senßer ju fei»
nem Schlafzimmer ßanb offen. Er fchwang fich hinein. Er
hörte im Dorjimmer bie Diener unb Eunuchen aufgeregt
wifpern. Er warf fich An gelbes Gewanb über unb fchellte.
Die Xüre ging auf, Diener mit £eu<htern erfchienen. Der
23 $le beutfc&e Lobelie.
353
Aaifer fianb in her JTtitfe bes ^Raumes: „Jluft mir S*/
bie flmrrte!"
IDie ein Sauffeuer oerbreitete ficb bie 3ta<bri<f)t, bafi ber
Äoifer toieber ba fei. IDang gerftbmetterte oor Sreube bei*
nab feine Stirn im .Kotau. Gr hätte feinen «Kopf perloren,
toenn ber Äaifer nie i)t gurütfgefebrt märe.
Sl matfd>elte oerfcf)iafen, fehlest gedämmt unb unatts*
geträumt berbei. 3br Gefielt batte noch einige bunbert
Klüngeln mehr als am lag. „S}\, falbe mir bas Saar, öle
mir ber. .Körper, fleibe micf> in bas fibtoarge Getoanb, bas
mit ben Sternen unb ^immelsfiguren beflieft ifl. 3eb habe
einen f>eiIiQctt Gang gu tun." „Cuer JTtajeflät: bas
febtoarge Getoanb ifl bas Getoanb bes faiferlicben Opfers
gur interfonnentoenbe oben auf bem JTtarmoraltar." —
„Xu, toie tef> bir fage."
Jlocb einmal rief ber Äaifer bas Gottesgeriebt an. 6r
wählte bas Bambusorafel, neun Bambusfläbe oerfebiebe*
ner Sänge. Gr gog gefebloffenen Auges einen Stab. Gs toar
ber fürgefle. Gott batte gefproeben. Gefalbt, geölt unb ge*
febmürft, ein perlenbiabem auf bem Saupt, ein golbenes
Ärummfcbtoert an ber Seite, fcf>rttt ber Äaifer aus bem
Palafl unb bie heilige breigeteiite Strafje gum Xempel auf*
toärts. Gine Äräbe freugte feinen HJeg. Das erfie JTlorgen*
rot hämmerte herauf. 3m Srübwinb läuteten bie ßlotftn
unb GIö<f(ben unjäbliger Pagoben. Gr fcf>ritt ben mittleren
XDeg, ben Xöeg, ber nur oon ben Geiflern befebritten toer»
ben burfte, unb ben feines IRenfcben Sufi bisher gegan*
gen. Cr burebguerte bie Salle ber Cntbaltfamfeit. 3n einer
oerborgenen Jlifcbe fianb bie .Kwanpin aus pabe. Oie
Sippen rot gefebminft toie Sep»pen, bie linfe Brufl leiebt
entblößt. Oer .Kaifer füfite bie Uber bem Sergen fidf> toöl*
benbe Brufl. Gr febritt toeiter bie neun mal neun JItarmor»
flufen gum Opferbttgel empor. Als er oben angetangt toar,
bßcb er aufatmenb flehen. Äeine ITCmifler unb TRiniftran»
ten, feine länger unb Xängerinnen, Cböre unb Jltufiffa*
pellen waren bei ibm toie fonfl beim nächtlichen Opfer
bes Äaifers gur 3eit ber HJinterfonnenwenbe. 3n ben
Stemenmantet gehüllt toie Jener, ber über ihm thronte,
354
unb beffen Gletthnis unb Senbbofe er toar, flonb er allein
unb einfant feinem Gott gegenüber unb bof ihm flolj unb
bemütig gugleich bas Opfer feines Seibes unb Gebens. Orei»
mol fniete er oor if>m nieber. JTeunmal beugte er bie Stirn
im «Kotau. S<f)ong«ti, ber ßeifl bes Rimmels, fom im 6e»
fponn ber JTiorgenröte über ben Jjjorigont gefahren. Oa
öffnete ber Äaifer ficf) mit bem golbenen Schwert bie Aber
om Sjala unb lief? fein Blut in bie JlTarmorfcfjafe rinnen.
Oos Blut bes ^immeisfobnes oermifdjte ficf) mit ben b(uti<
gen Tränen, bie ber Geifi bes Rimmels aus ber morgen*
röte bwnieberxDeinte. — Oie fedjgefjn Tore Pefings fliegen
aus bem Staub ber Rächt. Oort, im 3entrum bes Paiafles,
flanb bas innerfle Tor, bas Tor ber fnntmlifcfjen «Reinheit,
bas er nicht batte betreten bürfen. Oie voeflüchen Jpügel
hoben fi<h aus ber Oämmerung. Auf bem Bahnhof lief
ber fibirifche CyprefS ein. Um biefe Stunbe ffürmfen bie
Rebelten ben patafl. Sie fanben ben «Kaifer, bas «fjaupt
über bie DTtarmorfchale gebeugt unb fie mit beiben JF>än»
ben umflammernb. Oie «Kaefertmmftoe unb bie junge «Kai«
ferin hotten ben Sommerpalaff bureh ben geheimen unter«
irbifchen Gang oerlaffen unb befanben ficf), oon faifer»
liehen Truppen umgeben, auf ber $(ucht außerhalb pe»
fings. Jioa fchenfte ben Jting mit bem blauen Saphir bem
Solbaten ber britten Torwache. 6s toar berfefbe, ber als
General TuOBei fpäter bie Gefchicfe Chinas einige 0ahre in
feiner Jrjanb holten follte. —
355
6t$ JJeÜegritto Äotojji
Don Otto 3aref
I ^ellegrino «Katajji, ber junge preisgefrönte Dichter,
irrte burcf) bte Schwüle ber neapolitanischen Dächte.
Des Xages fcfjrieb er in feinem 3 tmmer bie glühenben
Jamben feiner Xragöbien, fdjaute er in bebenber Grwar«
tung in bie abenblitfjen Sefie am £ofe ber Sängerin Jlotca.
3{>re Stimme plätfrfjerte in feinen glatten Herfen unb bas
Auftauchen ihres XDefens fräufelte ben Slufi ber Gebanfen.
Aber, in fpäter Dacht, fam er aus ben Dtarmorhallen ihres
Palaßes, beraufcht oon bem Hlirbel üppiger Xänje, ge«
bienbet oon bem Sauber ihres Ganges unb ber blenbenben
Pracht ihrer Pagen: bas erfle Anfehtagen bes JReeres
gegen ben harten Stranb ber Bucht, bas bunfelfie Auf leuch»
ten bes Orion über ben Giebeln ber Stabt, über bem üefuo
bas fchtoörgliche Glimmen ber ewigen HJolfe — unb Sefi,
Xanj, Grlöfung unb bie Jlocca felbft flohen aus feinem Be»
umfitfein, für immer oerfprengt unb oerloren in ber fref»
fenben £eere bes oom Geifle 3ergrämten. Dafür 30 g nicht
ein in fein leeres Gefühl. Ginfamfeit blieb, ber Schnterj bes
Schaffenben unb fein Gebtlbe ber Hielt berührte ihn. Pelle«
grino «Ratajji fpottete bann ber Schönheit, bie er fah. „XBas
foll mir bas. Dacht über Deapet, bie mir ben Scf>muh »nei«
ner Jreube enthüllt, aber mich, gerfiörte fie bie fühlenben
Stunben bes Xefles, oerßößt, ohne mich oor ihrem Altar ju
Boben ju jwingen." Gr wußte: in biefer Hielt gab es fein
6 lücf für ihn; unb was er oon ber anberen Hielt hielt —
nun ja, er fpottete nicht öffentlich barüber, bie Eücfen ber
großartigen Dichtungen mußte man mit bem Damen Got«
tes oerßopfen. Gr bacf>te oft: „TDarum bin ich tn Deapel
geboren; wäre ich ein Deutscher unb müßte Dichter fein —
es gäbe noch eine Sehnfucht für mich: Deapel. DJie aber:
356
ln Tteapel ©W>ter fein?" ltnb, mit ber großen Geße feiner
©ramen: >,3cb werbe ßerben. D Jteapel, bu wrrß mich
ßerben fefjen." Xlnb, nacf)öem er Stunben am jrjafen oer*
»eilt fyattt, ohne baß es ihm nur einmal gelang, bas 6lütf
ber Schönheit gu empfinben, raße er plöfjlicb auf: ,,3cf)
will es! ©as örfjtcffal! ©as, was größer iß als id>! 3<b
will enblirf) fo tief unter tauchen, baß ich mich oergeffe; nur
gang befeffen bin oon einem Großen, Gewaltigen, bas in
micf) tritt unb bem icf> nicht begegnen will mit blaffer 3ro*
nie unb mit bem f>öf(i<f>ert Äopfnirfen bes BJiffenben.
3rgenbwo, gebest, blutenb, franf: aber nur einmal auf«
geben in einem Schieffal! Xlnb bann: Sterben!" Auffprtn*
genb aus ber morbenben Schönheit ber Ttaeht, ßürgte er
in bas rote 5euer gtttbenber Sampions, mitten in ben Gaf»
fen bes $afens; atmete TTlußf oon Bläfem, genoß ben ge*
bebnten Sing*Sang einer gefehminften Perfon unb fog,
in ben gerfepten jJolßem am Iifcbe ber Äafehemme, ben
Geruch brüllenber JTlatrofen unb bas brünßige Gelächter
betrunfener ©irnen ein. Sab unb fab, immer fiebernb,
mit Jlaubtieraugen, flcf> in bas Tteue einfraltenb, hungrig,
wabnfinnig oor Sebnfuefjt: gu fipen, betört gu fein unb
blöbe gu flauen. Bis er, ein wenig ruhiger, plö£lt<b
wußte: 3ebt genieße ich; — aber in biefem XDtffen fdfjon
blaß erfcbraf, baß ein bonrfeharfes Berßeben auch biefe
Stunbe bes Bergeffens bewachte.
Als £ärm neben ihm ertönte, würbe er ßill. 6r lachte
oergnttgt, in reger Erwartung auf ben Ausgang bes Xu»
multes wartenb. Aus einem Berßecf war ein bärtiger
Jifcher auf ben jungen JTlatrofen, ber neben ihm faß, ge*
fprungen unb riß ihm bas brünette, loefere BJeib aus ben
Armen, ©er Gonbelier, aus beffen offenem Jjjembe mp*
ßifcheXätowlerungen frauenhaft leuchteten, riß bas Trieffer
aus ben Stiefelßbäften unb toarf ßcb über ben Angreifer;
es gelang ihm, bas BJeib, bas grell lacbenb feine Sreube an
bem Kampfe geigte, an ficb gu reißen; er fcbwang, wäbrenb
er mit tiefem Griff ben iinfen Arm um Öte Geliebte fcbtang,
bas JTteffer wilb über ber Bruß bes Bärtigen,-unb
fanf, oon einem Scbl°9 in bas Genicf getroffen, lautlos
357
gufammen. Oer Sifcfjer geigte böfmifch grinfenö Öen blute«
gen OoIch, Öen er in Öen Säußen oerborgen hielt* Blut
fpri£tc auf/ überf<f)wemmte Öie oerfcfjmu^ten Xifcf>tilcf>er
unö Öas Beinfleiö Öer Brünetten, Öie fcfjon, blaß, aber be*
raufest unö eitel, öte JHusfeln öes Siegers quetfchte. Oie
Gäße, faum berührt oon öem Ereignis, fcf)toasten nun
ettoas leifer unö oerließen (angfam Öas £ofal. Oer XBirt
ftfjleppte mit Öem Bärtigen Öen Getroffenen ins Sreie unö
warf ifjn in Öie Jl<xd)t. ßöfcfjte öann Öas £icf>t öer Ampeln
unö wollte öie Xür oerfcfjließen. Oa er fl erwachte pellegrino
aus feinem Xaumcl, fcfjrie auf in wa^nfinniger Angß unö
wäre in irr finniger IBut gegen Scf)ränfe unö Stühle ge«
taumelt, ()ätte öer XBirt ihn nicht gepacft unö gur Xür ge«
f(hoben. „Qi), öas Schwein hot Blut am ürrnel", maulte
er; unö: „Jlun los; unö fauber gewaf«hen!"'llnÖ öer ©ich»
ter Jlataggi trat in öie leere Gaffe, wanfte gurücf, fließ
gegen öie oerriegelte Xür, fprang wieöer in öie ungewiffe
Slnßernis öer Straße, unö ßotperte über Öen .Körper öes
BerblufenÖen. Er ßarrte; fanf neben ihm nieöer. Sanö fich
in fchwerer ©unfelbeit neben einem SterbenÖen, öer fein
£eben öem flugenblicf oerf<henft hotte, fü$ öas Jlicf)t3 einer
Stunöe, für öie 6(ut eines «Kaufcbes opferte. „XBas bin i(h
neben öir", flüßerte er, hoßig, ohne Klang. „Oas £eben:
was iß es nun. Schief fal erlebte ich* Aber: boß öu es ge»
ßbaffen; unö mußt alfo ßerben öafür? Oöer: hot es öith
gepacft, überrafcht, eröroffelt; befiegt? — Jlein, ich ertrage
öas nicht. 3<h will helfen; helfen! 3<b will es überwältigen,
will größer fein. Oir, öir guliebe, aus £iebe, ja! Ein
JTienfth blutet. XBer hilft ihm?! IBer hilft mir! DJpr hilft
mir!!'*
„Schreien Sic nicht fo. £ier! Angefaßt/' Pellegrino er«
fror, als öie Geßalt eines JTtannes, öer bei Öem 3üng«
ling hocfte, ihn erfchrecfte. Oen Kopf öes Blaffen hielt jener
in Öen Jrjänöen, taßete feine Bruß ab, faß war es, als lieb»
foße er fein fraufes Jpaar. StanÖ p(ö£(i<b auf: ,Nehmen
Sie ihn alfo. Bei öen Süßen! So!" Xlnö Pellegrino, wit*
lenlos unö feinem Befehl gehorfam, trug öie £aß öes Bur»
fchen einige Schritte in öie ©unfetheit, tappte nun bölgeme
Stufen empor, berührte bie BJanb eines Jpaufes, folgte
bem Boranfcgreitenben burcg eine fnarrenbe Xür; unb nun
immer furge, gerriffene Treppen aufwärts, göger unb
göger. Qegt, unter bem Dacg wogt, ben Äörper abgeflellt;
ber anbere entgünbet ein deines Siegt, öffnet ben «Kaum;
fie tragen noeg einmal. Dann finb fie angelangt.
3m Äergenliegt, bas ber feltfame JTlenfeg in ber niebri»
gen Daegfammer angünbet, ernennt Pellegrino mit Scgref*
fen ben bärtigen 5ifcger. Cr will auffcgreten, prefit aber
bie Jjjanbfläcgen gegen bie Sippen, fügft babei bas füfje
Blut bes Berwunbeten; fucfjt nacf> feiner IBaffe, aber fügrt
fie niegt bei ficg. Stegt unfcglüffig im «Raum. — Der Siftger
framt beim Sicgtfegecn nacf) IBatte unb Scharpie. HJirft,
wägrcnb er bie XDunbe bes Burfegen freilegt unb aus»
wäfcgt, bagrot fegen: „fragen Sie niegt! fragen Sie niegt,
mein Jperr!" Xlnb flögnt plöglicg laut, tiergaft, fegmerg»
ooll auf; roeegfelt immer oon neuem bie blutgetränkten
Segen mit frifeger Seinroanb unb rebet bagu, gang meid)
unb unterwürfig: „3<g bin feglecgL Aber: id) bin niegt
fcglecgt, mein Sperr. Sie müffen bas oerflegen. Einer mufi
bas oerflegen. BJer finb Sie? Ogne 3weife(, was wir einen
Gebilbeten nennen, Alfo werben Sie bas fennen." llrtb,
auf ign gufpringenb: „Sagen Sie, Jperr, teg befegwöre Sie!
Sagen Sie, ifl baslöagnfinn? — Der bort gat feinen Ber»
banb. Cr fcgläft fegt rugig. IBir fönnen ein wenig gegen,
kommen Sie, gum Baifon, bort!" — Cr nimmt bas Siegt
unb gegt, Pellegrino an ber J?anb mitgerrenb, öffnet bie
Xür gum Baifon, ber niebrig unb abfegüffig in bie JTacgt
ginausfpringt, mit weitem Ausblicf in ben aufgegenben
Blorgen; in ber Xiefe, fenfreegt barunter, ber breite .Kanal
ber Stabt. —
„TBagnftnn, mein Sperr, bas ifl es. XBagnfinn, ja. Aber
nidgt ber Ütagnfinn ber Siebe. Bein, icg liebte biefe Perfon
niegt. 3<g bin oergeiratet, ja, icg gäbe Äinber; og, gübfege
.Kinber, unb icg bin rugig, wenn icg fie fege; fo feltfam
rugig, gebänbigt möcgte icg fagen. Jletn, icg gaffe ben JIten«
fegen, bas ifl es. 3cg gaffe alles: bas Seben, aueg mein
Seben, ja, aueg .meines; unb bas IBeib, aueg mein XBeib;
359
obgleich fte gut ifl unb jung. Aber ich f)offe fit auch fie;
alles; bie JTleffen in ber Äirche, ben Taumel bet Stabt unb
bie Jlulje ber Bürger. Bor allem aber bie glücklichen JTlen«
fcfjen baffe icf). Das Glücf, bas icf) oor mir faf), bas u>ar
es; ben 3ungen hätte ich morben fönnen. — Sie iß nicht
fcf)limm, bie BJunbe; er blutete etwas, aber er wirb leben.
Sehen Sie: jefct, je£t, in feiner Obnmacbt, ba liebe icf) ibn.
BJirb er leben — leb werbe ibn oon mir geben laffen unb
werbe febweigen. Aber: Dann febon, in biefem Augenblick
f<bon baffe l«b ibn." 6f febwieg. Der röcbelnbe Atem bes
Äranfen warb bbrbar. Dabunb erbiet, begann ber JItann
wieber bafiiger gu reben: „3<b bin nicht ungebilbet, mein
Jrjerr; ich bin gewohnt, neue Bücher gut gu lefen unb habe
mehr nachgebacbt, als — als — bie Glürflichen bort oben.
Übrigens, feit gehn 3abren, lefe ich nicht mehr; nein, mein
Urteil ifl fertig. Die BJelt ifl für mich lein Jlätfel mehr,
llnb gu bem Geheimnis, bas ich erlannt habe, fam noch
feiner! 3n allen Büchern fanb ich es noch nicht. Das ifl
es: ber Spaßl Den habe ich mir gerettet, ich allein. 3<h gang
allein! Das habe icf) allein erbaut, oerfleben Sie bas, mein
Jrjerr; unb banach lebe ich!" Dann, (angfam, mit weiche«
rer Stimme: „Jlur bie baffe leb nicht, bie Äinber, nein,
biefe nicht. 3ch liebe fie unfagbar, unb febe ich fie, fo habe
ich JTIitleib mit ihnen, ja; Sie müffen es mir glauben! 3ch
habe JTIitleib, bafi fie OHenfcben werben müffen." €r ging
etwas auf unb ab, blieb flehen unb beutete auf ben Bur«
fchen: „Sehen Sie, als ber in feinem Blut gufammenfanf,
blaß, fraftlos, regungslos unb ohne Bewußtfein, — ba
fab ich bas Äinb Tn ihm; unb liebte ihn. Ob, ich n>i(( ihn
pflegen, ja; bann aber foll er mir nicht mehr begegnen!"
Dabei fanf er neben bem Äranfen nieber, rücfte bie Aiffen
über feinem &opfe gurecht, nahm bie Tücher oon ber
BJunbe unb wenbete fich um, neues Berbanbgeug gu
boten. Dabei fab man, als -Rergenlicbt bas Gefleht erhellte,
er batte Tränen in ben Augen. —
Die naffen Sappen preßte er auf bie BJunbe, legte bie
Tücher barüber, wollte nun leife auffleben. Da entfiel ihm
ein fauberer Seinenlappen, ben er in ber $anb hielt: u 3d)
360
bin ungefchtcft", fagte er gutmütig, unb holte ble «Äerge.
„Hun, nun, ich werbe es finben." Sab oor fi<h bin, taßete
ben Äörper ab, ßreifte über bte J^olgbiete, (eucbtete bem
Jüngling ins Gefidrjt-unb läßt bie Äerje fallen, f(breit
auf, fpringt gurücf, ßürgt wilbrafenb bur<b bas 3immer;
finft plöbticb «n furchtbarem Kleinen gufatntnen. — pelle»
grino, über ihn gebeugt, hörte aus gerhacften, erßicften
Kehllauten, heraus: „Er — tfl — tot! Er — iß — tot!!"
©er ©icbter günbete bas Eicht toieber an unb flarrte in bie
wäcbferne Bläffe bes Jünglings. Unb fcblucbgt auf: „Alfo
febe ich bas Schief fal! Sehe es. Unb frage, frage wieber
... Aber: fann ich noch fragen? Erßarre ich nicht? .Keine
Träne höbe ich? — 3cf) bin fcblecbtü 3cf> werbe fierben —
benn: 3eh höbe feinen Sehmerg unb feine Träne."
Heben ihm fagte eine eifige Stimme: „Kür werben ihn
begraben." ©er Jifcber, febr ruhig — im flacfernben Eichte
fehlen es, als lächle er — nahm ben Eeichnam, unb Pelle»
grino half ihm babei. „UJobin", fragte er. — „3n bas
Grab", fpricht ber Bärtige, gang ßill unb ehrfurchtsooll.
Geht auf ben Baifon gu, öffnet ihn, tritt hinaus: „Sehen
Sie, bas i(i Heapel; bie Sterne, ber Defuo unb bas Jlteer.
©as iß bie Ewigfeit. Sühlen Sie nicht, baß ich nicht
baffe, in biefem Augettblicf. 3<h würbe ihn nicht h‘ er be»
graben fonß. Äinber unb Tote — liebe ich* .Kommen Sie;
Sie müffen gang heraustreten, fo; noch mehr! Unb nun —
geben Sie acht — h e ben Sie an; es iß gut fo. JTun, los*
gelaffen!" Sie hatten ben Körper fchwebenb über bem nie»
brigen Gitter gehalten. Jegt, ber Eeichnam finft mit bump*
fern Eaut in bas KJaffer bes Kanals. —
©er TRann, an bie JTtauerwanb gelehnt, begann fofort,
febr innig unb ruhig: „3cb höbe 3hnen nicht alles gefagt.
3ch h°br 3hnen gefagt, baß auch i<h Hlitleib hoben fann.
©as hoben Sie gefehen, nicht wahr? Sie hoben es ge*
feben! Sie werben fortgeben oon hier unb glauben: ber
4?aß regiert nicht! So werben Sie benfen; ja, gewiß, bas
müffen Sie. Aber ich höbe 3fmen nicht alles gefagt. Je^t
hören Sie: 3ch fönnte es 3(>nen fagen, wie es wahr iß.
©aß ich ber Sohn bes Grafen ponti bin, bes berühmten
361
Ponti, ber für fein IJaterlanb peben S<hlocf)fen fiegte. Aber
bann fam ber Pöbel, oerbrannfe feine Güter unb jerrifi
feinen £eib. llnb roir Ätnber, icf), mit breijefjn 3af>ren,
fanben in bem Sorge bes großen Uaters ein jerfKicfeltes
Gerippe. Seitbem, bos mürben Sie begreifen, fjaffe icf) bie
JTlenfchen. Aber: bies ifl es nicht allein. Glauben Sie nicht,
baß bies nur eine JTCöglicf)Pett mar, bas faßliche ju
fefjen? 3cf) mar begnabet, in früherer Äinbf>eit bas Böfe
ju erfahren. DJas icf) erlebte, mar nicf)t bie Gefcfjicfjte bes
Grafen Ponti. Bürger unb Jtarren erleben nichts afs Ge»
fcf>icf>te, menn fie in bas £e£te bücfen. Das Sieben, ben Sinn
erlebte icf). Selben Sie: feitbem höbe icf) gefaßt, als Änabe
"fcf)on. llnb aucf) micf) fjaffe icf) feitbem; aber icf) lebe, icf)
ertrage es, ju leben, benn icf), icf) allein meiß, mofür icf)
lebe. — 3cf) allein meiß, mofür man lebt. — llnb nun,
jum Schluß, aucf) bas jage icf) 3f)nen, benn Sie merben
es nicf)t meiter erjäf>len", (unb er lächelte plö^licf)): „Gin
3al)r barauf, an einem heißen Sommertag entberfte icf>:
icf) liebe; Einen f)übfcf>en Änaben; icf) füllte, mie icf) blaß
mürbe, menn icf) if>n fal>. XÖir fuhren jufdmmen hinaus;
aufs JTieer. 3cf) faf) if)n nur an; er ruberte. llnb bann jfam
biefer Tag: Diefer Änabe, ben ich liebte, lag franf in einem
armfeligen Bett. Damals mar ich noch reich; ein !e$tes
Gut meines Uaters, im Teffin, blieb uns unb gehört noch
heute ben Pontis. 3cf) ging täglich ihn befuchen; pflegte
ihn, rief örjte herbei, forgfe für ihn. Als er gefunb mar,
gingen mir jmei burcf) bie Straßen. 3cf) fannte ein Sjaua,
mo mir allein fein lonnten, eine Stube unter bem Dach»
firff, nahe bem JTieer — ber Dime einer Scf>enfe gab ich
ein Xrinfgelb, unb ich erhielt ben Scfjtüffel. Dort jog ich ben
jungen aus; er mar nur Banfbarfeit unb tat, mas ich
mollte. 3<h befahl: „Geh hinaus, ich mill bicf) im JRonbticf)t
fehen." llnb er, er trat auf ben Baifon, benn ich höbe if)nt
bas £eben gerettet, llnb Öort, als er nacft unb gefunb in
bie Jlacht ragte, ba: pacfte ich ihn, marf ihn über bas
Gitter, in bie Tiefe. — llnb biefes nur, nur beshatb, meil
ich JTlitleib bemiefen hotte unb nicht bie Äraft befaß, auch
ihn, auch ben Änaben ju hoffen. — Sie mollen nun mif»
363
fett/' fuf>r er fef>r rufjig fort, „was aus mir würbe? 01),
man oerjagte mirf) natürlich); es fam auf. Aber 16) war
gu jung, man fonnte mi<f> nuf>t /trafen. Sefcen Sie —
Das anbere ifl belanglos, nur biefes i/i mistig — feitbem
fjabe \6) mid& oon bem 3immer nie getrennt; es ifl bie»
fes 3immer unb bies ifl ber Baifon. Unb nun wiffen Sie
es; es tut mir nichts, bafi Sie mirf) angeigen fönnen. Das
berührt mief> nirf)L Sie biirfen es tun, irf) f>inbere Sie nirf>t
baran. 36) will, bafi Sie es wiffen: irf) fcinbere Sie nirfjt
baran. — Aber'' — unb plö^Ucf) frf)Tie er unb flemmt
fit!) breit oor bie Tür. „Aber: baß au<f> Sie, au6) Sie mirf)
im JTlitCeiÖ gefef>en f>aben: bafttr werben Sie flerben/' Xlnb
in bemfetben Augenblirf flürgt er ben Jlürfen bes Dichters
über bie Brüfhtng, frfjlägt mit ber frfjroeren .Kraft ber
häufle auf fein Jjjaupt; ber Jlumpf gleitet nun ofjne IBiber»
flanb über bas Gitter, frfjwebt furg in ber £uft unb finft
in bie Tiefe. —
So flarb pellegrlno «Kataggi, ber junge, preisgefrönte
Dlrfjter, ber burcf) bie 0Tärf)te JTeapels Irrte, fein Srfj'uffal
gu furfjen. —
363
Ute öeutfifjc HoUellc Occ (Segentooct
Cin JTacf) ra o r t pon Jrjanns Jllartin Elßer
• Tify der 3ufall führte öle Dichter und die Jlooellen
Vbiefes Banbeo gufammen. Sondern bewußter plan
und flarer XDiHe. Geboten werben follte die beutfefje 3lo*
peile der Gegenwart mit dem gongen Berantwartunga«
gefüllt für den Anfprucfj, der in der Maren Übergriff liegt,
aus dem Erlebnis und lötffen heraus, daß man jept wie«
der oon einer deutfdjen Jlooelle im großen Sinne fprecfjen
fann.
Oie Ausßrafßungen jener 3eit, da des £efers Sehnfucf>t
nach Eroberung didfjterifcfjer und geifliger Bereicherung an
der Jlooelle oorüberging, find noch nicht oerblafit. 3ntmer
lebt in toeiten greifen noch die Abneigung gegen die Auf«
nähme diefer fnappen Profafunßwerfe. 3mmer regt fieh
noch das Borurteil gegen die Jlooelle als einer innerlich
und äußerlich unbefriedigenden epifchen Gattung. Oie
deutfehe Jlooelle der Gegemoart wird diefe Abneigung
überwinden, toeil fie nichts mehr gu tun huf mit jener
fonoentionellen, unter heutigen Oichtern unmöglichen Art,
in der ein fl ein Paul S e Pfe feine Xriumphe feierte.
Damals ging die Jlooelle oon einem äußerlichen Sor*
menbegriff aus. Sie hotte ihn der altitalienifchen, der alt«
frangöfifchen Epif entnommen, ohne deren geißige, feelifche
Haltung, ohne deren HJefensgehalt, innere £ebendigfeit,
Blutfülle beachten, gcfchweige denn anflreben gu Minnen.
Ilm einmaliges unerhörtes Ereignis gruppierte fidf» der
Tauber gearbeitete, glatt ergählte Stoff, um jenen ^epfe«
fchen „Sollen", der gwei Generationen hindurch als Aenn»
geichen der Jlooelle angefehen wurde. Jüan hielt fi<h mit
diefer Forderung nach „einer fich ereigneten, unerhörten
Begebenheit 1 ' an Boccaccio, Goethe, Aleiß, man oerfnüpfte
3 6 4
bamif Spielhagena Jorberung, baß bie Jlooelle es nur
mit fertigen C^orofteren unb einem ÄonfliPt jur Offen«
barung biefer C^arnPtere ju tun bube. JTian wollte auf
biefem DJege jum objePtioen Erjä^ler, ben man für ben
Plafftfchen hielt, werben unb warb bamit jum blutleeren.
Oenn biefe gefdßoffene Jlooelle alter Art würbe nur Oicf)*
tung, wenn bie PerfönlicfjPeit bes Oicf>ters unb bas er«
lebte £eben fo ßarP in fie einßrömte, baß fie ifjre Beßim*
mung von hier aus unb nicht oon ihrer äußeren Sorm
her erhielt. Oie 6 oethefcfje, «fileißfcfje, DJithelm Jlaabefche,
ßottfrieb Äellerfche Jlooelle ifi — wohl eingefpannt in
bie übernommene Sorm — groß allein burch bie Perfön»
lichPeit ihrer Berfaffer unb beren natürlicher Einheit mit
ber Sorm. DJenn bie Größe ber PerfönlichPeit, bie .Kraft
bes Erlebens oerfagte, warb biefe Jlooelle ju einer leeren
Sorm, wie in oielen DJerPen paul Jrjepfes unb feiner 3 eit»
genoffen.
Als bie Entwicflung bes 19 . Qahrhunberts bann bie
Jlichtung jur materiellen ObjePtioität im wiffenfchaftlieh
analpfierenben Jlaturalismus, in ber fejierenben Analpfe
bes Jmpreffionismus oerßärPte, löße firf) bie, Jlooelle wie
felbßoerßänblich auf. Oie gefamte Epoche bes Jlaturalis»
mus oon Arno Jjjolg bis Qohannes Schlaf, oon Gerhart
jpauptmann bis Subermann Pennt bie Jlooelle nicht: fie
hatte fich in bie 3 ußanbsfchilberung oerloren. DJofß pflegte
bie Xrabition ber Plaffißhen unb realißifchen 3eit noch bie
.Kunßform, bie aber nur bichterifche Bebeutung wie in
IDilbenbruchs «Kinbernooellen burch XlrfprünglichPeit bes
Erlebens begann.
Erß als um bie 3ah r hunbertwenbe bie JTlacht bes JTla«
terialismus in Äunß unb DJiffenfchaft ju jerbröcfeln be»
gann, als ber Geiß in feiner SelbßänbigPeit unb bluthaften
XlrfprünglichPeit wieber fein Jrjiaupt erhob, begann bte
Jiooelle oon neuem aufjubauen. freilich, juerß noch recht
jage: burch Anfdßuß an bie alte ober jüngere Irabition,
an bie altitalienifche, altprooenjalifche Jiooelle bes JTlittel»
alters mit P a u l E r n ß, an bie realißifche Gottfrieb Äeller»
JlooeUe mit Jlicar ba jpuch fowie fpäterhin noch an bie
365
lebensfefle, finnerfüllte flnefbote beutfcher Dolfsepif im
JTlttfelalter mit IDilhelmSchaefer.
Spier begann bie beutfche Jlooelle ber Gegenmart. IDenn
fie auch guerfl in ben in ben neugiger 3af>ren her*
oorgetretenen JTooellen ber 1864 geborenen Jlicarba
4? u cf) ficf) formal noch an bie Schüfe Gottfrieb Leders, in
(bes 1866 geborenen) p a u 16 r n fl feit 1900 erfcfjelnenben
Gefehlten nocf) an bie altitalientfchen, altprooengalifchen
Dorbilber unb in bes 1868 geborenen «Rheinlänbers DJII*
f)eIm Scfjaefers 1908 herausgebrachte Dnefboten an
bie alfbeutfche Gpif anfcf)loß, fo gefdjaf) biefe Jtachfotge bocf)
ni<f)t mehr au 9 äußerlichem jormaltsmus unb mit bem 3 ief
abfoluter, miffenfcf>aftltch>rationalifiif(her Objeltioctät, fon*
bem in erfühlter Spntf>efe ber Subjeftioität bes einzelnen
Dichters mit ber hißorifchen Sorm. Die brei Dichter über»
nahmen bie alte 5orm, fomeit fie ihnm biente, ihr 3nneres
ausgufprecf>en. Jlicarba Jrjueh toirfte ihre gange feelifche
Jlomantif in bas Äelterfehe Getoanb, Paul Grnfl feine
fcharfe ßeifiigfeit in ben Brotat ber Jrührenarffance unb
DJilhelm Scfjaefer feine Befeelung unb feinen 4r)umor ln
bie Dolf 9 tum 9 form. Diefe brei Dichter befreiten bie Jto»
pelle oon ber jorberung ber Objeltioität bei oorerfl noch
gemährter objeftioer Saffung. IDenn mir beute JUcarba
S}u<f)8, Paul Gmfls, DJilhelm Schaefers in biefemBanbe
gebrachte Jlooellen lefen, erleben mir fie nicht mehr als
Beifpiel eines Jlooellenflils, fonbern als flusbrucf be*
flimmter geifltger ptrfönlichfeiten, bie in einem «Kultur»
freis leben unb gmar blutooll, geiflig leben. Sie hoben
infolgebeffen im meiteren Derlaufe ihres Schaffens bie
allgemeine Generationentmicflung gur Sehnfucht hi»
aucf) mitgemacht: bas JTlotio „bes Sängers" mte bas bes
„?ami(ienbi(bes oon Gopa" mie fchließtich bas ber „ltra»
nia" ifl bas JTlotio ber Sehnfucht gum Geifie, gum Unenb*.
liehen, gur Freiheit, gur Seele, gu Gott. f
Der Durchbruch im umfaffenben JTTaße erfolgte bann|
burch bas DJerf einer Dichtergeneration, oon ber mir hier,
3atob DJaffermann (geb. 1873 ), Hermann
#effe (geb. 1877 ) unb Äarl «Röttger (geb. 1877 )
366
bringen, fietyt ifl oom AnfrfjtufJ on eine ältere $orm ober
oon beten Erneuerung feine «Rebe mehr, fonbern bie 3lo»
oelle roöchfl unmittelbar aus bem neuen Erleben unb Be*
fennen heraus. 2 Bof)l Ratten biefe ©icf)ter ln ^ugenbroerfen
noch Xrabitionelles gebracht/ tote etroa ipeffe mit 4peimat*
bUbem in Gottfrieb Kellers Stil, aber unaufhaltsam brach
bie Soslöfung oom «Realen, materiellen fich Bahn. Das
Subjeft allein beherrfcht fortan bie Jlooelle. ©er JTlenfch
{fl im ©ichter erwacht unb offenbart fich felbfl. Jtun aber
nicht gur impreffioniflifchen Afribie einer pfpchologifchen
flnalpfe, fonbern auf Grunb feines Verhältniffes gum Etoi*
gen ; gur 3 bee, auf 6 runb feines IBefens. materiell tfl bas
Elementare bes JTCenfchen Stoff ber Jtooelle, ibeell aber
fein Sehnfuchtsjiel in ber Siebe, in ber Güte, in Gott.
BJaffemtanns „Amulett" enthüllt ben Sieg ber Siebe unb
in ihm bes JTtenfchen unb bes Sebens Sinn, ipermann
Reffes Xttbinger JTooelle bringt erfimalig ben Jlamen
i-jö Iber lins herbei unb bamit bie reine, über bas materiali*
fiifche ©afein erhabene Geifligfeit unb Äarl «Röttger fchil»
bert flar bas jept gütige Verhältnis bes ©ichters gur
IBelt, bas oorerfl oom Bürger, oom JTtenfchen bes Alltags
nicht oerflanben, nicht erfaßt toirb.
hiermit ifl bie beutfche JTooelle ber Gegenwart geboren.
Seit etwa 1910 ifl ihre Entwicklung flarer unb flarer ge*
toorben. ©er .Krieg, bie JTachfriegsgeit hat biefen BJeg gum
Abfoluten oerfürgt. ©ie 3nnerlichfeit allein beflimmt je£t
nicht nur Gehalt, fonbern auch bie Sorm ber JTooelle. ©ie
3nnerlichfeit fo unmittelbar wie möglich ausjubrücfen ifl
eingig Aufgabe ber JTooelliflen toie aller ©ichter, wie aller
Zünftler. An bie Stelle bes flaffigifüfchen Sormalismu®,
bes realiftifchen 3mpreffionismus, bes analpfierenben Pfp*
chologismus ifl ber Ejrpreffionismus getreten. Bei ber
fcharfen Abgrengung unb fieberen Klarheit feines Offen»
barungswiltens einer burch Generationen unterbrüeften
unb oerfchwiegenen 3nnenwelt unb beren Bejahungen gu
ben ewigen 3been ber Güte, ber Siebe, bem Erleben Gottes
genügte bie Sprache ber oorangegangenen Stilperioben
nicht mehr: bie Sehnfucht nach unbedingter DJahrbaftigfeit
367
im Ausbrusf ber Snnenmett führte borurtt JUT »ölttgert
Umroöljung unb Erneuerung ber Sprache unb bes Stils.
3roei Dichter, ber 1878 geborene, ober erß feit 1915 on bie.
breitere Öffentlichkeit gelongenbe Alfreb O ö b l in unb
ber 1890 geborene, mit feinem erßen Buch „Oie fecfja
JTCünbungen'' ebenfalls 1915 heroortretenbe Äofimir
Ebfchmib mürben hier Süfjrer unb Borbilö für bie
Sprache ber Efßafe. Sie tourben es ober nicht nur tm
formalen, äußerlichen Sprorfjfinne: fie fonnten bie er»
neuerte Sprocke nur geben, toeil fie auch innerlich erneuert
mären; ihre Sprache unb ber Gehalt ihrer Epif maren eine
natürliche Einheit, mie grabe bie hier gebrachten JTooellen
„Slucht aus bem S} immel" unb „Oie «Reife ju fich felbß"
mit feltener Sülle unb Schönheit betoetfen.
Ubermunben mar mit biefer entfehiebenen Jpelmfehr jum
Geifle unb ju Gott, mit biefem Erleben bes Emigen unb
llnenbßchen alle 3 ioi(ifationsbehabenj, alle Seffelung an
bas JTiaterielle ober nur Sinnliche nach ber Art ber $er»
jogin »on Affp*«Romane Heinrich JTtanns, Ubermunben
mar bie £rife bes 3nbioibualismus im Gegenfap ber Bür«
ger unb Äünßler nach Art Thomas JTianns, übermunben
bie JTlitleibtheorie Gerhart Jpauptmanns gegenüber ber re*
alen unb fojiafen Umroelt. Thema marb jept ber JTienfcf)
an fich in feiner abfoluten JTatur, mie etma «Robert
JTCufil (geb. 1880 ) ihn grabe in feinen Urfräften offen»
hart, mie auch Stefan 3 meig (geb. 1881 ) ihn in ber
tiefen Berbunbenheit bes Jluffen mit feiner jrjeimat ent»
beeft ober mie 30 fef Ponten (geb. 1883 ) ihn mit faß
graufamer unb bo<h großartiger Selbßoerßänblichfeit in
ben Äinbem erfchaut. Oiefe abfolute JTatur erfährt aus
ihrer Sehnfucht jum Emigen heraus, im geißig fehenben
JTienfchen immer bie große Ermecfung, bie große Xlmfehr
3 um Abfoluten, jum Gbeale, ju Gott. Oie Oichter merben
nicht mübe, balb in ber HJelt ber «Realität, batb im farbigen
Jleiche ber Phantafie, balb burch bie Größe ber Schlichtheit,
balb burch ben Jlaufch ber Efßafe biefe ltmhehr ju geßal*
ten: Ernß XBeiß (geb. 1884 ) mie Älabunb (geb.
1891 ) in ihren orientaüfehen unb oßafiatif<hen Äaifer»
368
träumen, Dsfar Soerte (geb. 1884) unb Albre<f>t
Schaeffer (geb. 1885) *** & er HJelt ber Armut unb bes
Alltags, Bruno 5 r a n f (geb. 1887) un ^ «HIaj ÄreII
(geb. 1887) in ber XOelt bes Grauens unb ber Senfation,
Arnolb ltlit} (geb. 1888) unb Alfreb 10olfen*
fl ein (geb. 1888) (mt «Reitze ber Äinbheit, ber Gnttoicf«
lung unb Otto 3ar e f (geb. 1898) in einer &iflorifd)en
Jlenaiffanceroelt, in ber bas ^iflorifcfje aber n«ht mef)r
profefforal»floffiich gegeben, fonbem Sebenselement ifl.
llnb wie audj immer bie Dichter im «Kerne ju bemfelben
Sebensfeim unb ©afeinsfem oorflofien, niemals finb fie
fi<h gleich: Brüber finb fie nur barin, bafi fie Oief>ter allein
ju fein oermögen aus IBahrhaftigfeit oor ihrem Geroiffen,
aus Eingabe an if>r Blut unb Urmenerleben, aus Berttnt*
wortungsgefttbl gegen Gott, aus Jrjerjensgüte unb 6ef>n«
fuef)t nach Siebe. Trägheit bes ^erjens wohnt nicht in
if>nen. Sie finb beraufcht oon ber IBeite, Größe, UJilbfjeit
unb Schönheit bes Seberts unb fie anerfennen bies Seben
um bes JTtenfcben toiUen, fie anerfennen ben JTtenfchen
um feiner Sefjnfurf)t ju Gott willen.
So ifl bie beutfdfje JTooelle ber Gegenwart fjeute toie*
ber eine Offenbarung 00m BJefen bes beutf<f>en JTtenfchen
unfern Seit wie aud), ba fie nur bas Abfoiute gelten läßt,
bes beutfefjen JTtenfchen überhaupt. Sie hat ben I 0 eg jum
llnoergängtirfjen gefunben, lebt nur im llnoergänglichen
unb toirb barunt, wie alle große unb wahre «Kunfl, in
ihren reifflen Stütfen unoergänglich fein.
369
Seite
DUtttrba£u<B (gtB. 18. 7. 1864): ©tr ©ängtr .... 5
$aul<Ernft (gtB. 7. 3. 1866): (Sin gamilunbtlb ton ©op« . 37
98Bil$tIm ©<Batftr (gtB. 20. 1. 1868): Urania . . . 59
3aloB3Bafftrmann (gtB. 10. 3. 1873): ©a« Imulett 69
£trmann Jp t f f t (gtB. 2. 7. 1877); 3 W ^rtffelfiBttt
©arltnBau«.100
Karl Dtöttger (gtB. 23. 12. 1877); ©tr ©i<Bttr unB Bit
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3U f r t b © 8 BI i n (gtB. 10. 8. 1878): (Die glu<Bt au« btm
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DtoBtrt ÜHufil (gtB. 8. 11. 1880): Sötrenifa« 3fBf4«tb 153
@t(fan3tt>ttg (gtB. 28. 11. 1881): (Epifobt vom ©tnftr
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3oftf $onfttt (gtB. 3. 6. 1883): ©a« J&au« bt« Ärjtt« 176
<E e n fl 5B t i g (geb. 23. 2. 1884): ©anul nnb btr tfaiftr 193
Oblar Sotrlt (gtB. 13, 3. 1884): 3(uguft ©titblärjltr
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3UBrt<Bt ©<Batfftr (gtB. 6. 12. 1885): ©B«M« • 223
SSruno 5*«»! (gtB. 13.6. 1887): ®tr ©albtnt . . . 236
9)1 ar ÄrtII (gtB. 24. 9. 1887): ®it ©iBbUt »aurain . . 274
Xrnolb UUff (gtB. 11. 4. 1888): ©tr ÄnaBt ölo . . . 299
3f If rtb SEBolf tnfltin (gtB. 28. 12. 1888): ©it 9Jlutttr 308
jUftmir ® b f <B nt t b (gtB. 5. 10. 1890): ®tt Steife ju
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ÄlaBunb (gtB. 4. 11. 1891): ©tr Itglt Äaiftr .... 342
Otto Sattl (gtB. 20.2.1898): ©a« ©<B«Ifal bt« ?)t«t-
grino SXatajji.356
J&a»»«®Urtt»eifUr (gtB. 11.6. 1888): ©itbtulfat
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DEUTSCHE BUCH.GEMEINSCHAFT
BERLIN SW61 / TELTOWER STRASSE 29
Es erscheinen m gleichem Format und Ausstattung:
Bildung und Wissen
Deri, Max, Das Bildwerk. Eine Anleitung zum Erleben von
Werken der Baukunst, Bildhauerei und Malerei. Mit
vielen Abbildungen. (20)
Wagner, Richard, Briefe und Tagebuchblätter an Mathilde
Wesendonk, Herausgegeben von Geh. Rat Prof. Dr.
R. Sternfeld. (23)
Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Herausgegeben
von Dr. A. Ruest. (24)
Kügelgen, Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Heraus¬
gegeben von Geh. Rat Dr. R. Sternfeld. (25)
Schopenhauer, Die Grundprobleme der Ethik . Eingeleitet
und mit Anmerkungen versehen von Dr. Chr. Herr¬
mann. (26)
Ranke, L. o., Historische Charakterbilder . Herausgegeben
von Geh. Rat Prof. Dr. R. Sternfeld. (27)
Filchner, Dr. Wilhelm, Tschung-Kue. Das Reich der Mitte.
Land und Leute in China. 32 Bildtafeln. (28)
Gottstein, Prof. Dr., Modernes Heilwesen. Gesundheitslehre
und Gesundheitspolitik. (29)
Eckermann, Gespräche mit Goethe. Durchgesehene Text¬
ausgabe mit Sachregister. 2 Bände, die nur zusammen
abgegeben werden. (38/39)
Leben des Benvenuto Cellini. Von ihm selbst geschrieben.
Übersetzung von J. W. Goethe. Mit 5 Vollbildern. (40)
Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Mensch¬
heit. Herausgegeben von A. Beil. (45)
Plaßmann, Prof. Dr. J., Das Himmelsbuch. Versuch einer
Darstellung der Hauptlehren der Astronomie für weitere
Kreise. Mit 74 Abbild, und einer Sternenkarte. (48)
Beyer, Dr. Alfred, Der Sieg des Denkens. Gesunder
Menschenverstand und Alltagsleben. (51a)
Beyer, Dr. Alfred, Technik des Denkens. Probleme der
naiven Vernunft. Mit vielen Abbildungen. (Als Er¬
gänzung zu „Der Sieg des Denkens“ Nr. 51a.) (51b)
Bei Bestellung genügt die Angabe der eingeklammerten
Nummerl
DEUTSCHE BUCH.GEMEINSCHAFT
BERLIN SW61 / TELTOWER STRASSE 29
Es erscheinen in gleichem Format und Ausstattung:
Bildung und Wissen
Kirnt, der Denker und Erzieher. Herausgegeben in Ver¬
bindung mit der Kant-Gesellschaft von Dr. Ch. Herr¬
mann, (53)
Freiherr vom Stein . Ein Lebensbild. Herausgegeben von
Dr. H. M. Elster. (61)
Loti, P., Reise durch Persien . Mit 8 Bildtafeln. (62)
Deutsche Mystik. Eingeleitet und ausgewählt von Dr.
L. Schreyer. (71)
Feuerbach, Anselm, Ein Vermächtnis. Neue Ausgabe mit
einer Einführung über das Leben und Schaffen des
Künstlers von M. Fleischhack. Mit 16 Kunstdruck¬
bildern. (72)
Schomburgk, Hans, Wild und Wilde im Herzen Afrikas.
Mit vielen Abbildungen nach Originalaufnahmen. Mit
einem Vorwort von Carl Hagenbeck. (73)
Jacques, Norbert, Im Kaleidoskop der Weltteile. Mit
17 Bildern und einem Nachwort von Dr. Hanns Martin
Elster. (82)
Brehm, A. E., Das Leben der Tiere. I. Band: Die Säuge¬
tiere. Neu bearbeitet und mit Anmerkungen versehen
von Fritz Bley. (85)
Jugendschriften
herausgegeben vom Berliner Lehrerverband
Gfimm, Ausgewählte Märchen. Herausgegeben von A. Sa-
muleit, mit Bildern von Hans Baluschek. (30)
Deutsche Sagen. Die Auswahl besorgte E. Jaedicke, die
Bilder zeichnete E. Feyerabend. (31)
Andersen, Ausgewählte Märchen. Die Auswahl gab E. Guder
heraus. Mit Bildern von A. W. Baum. (32)
Bei Bestellung genügt die Angabe der eingeklammerten
Nummerl